PRIMS Full-text transcription (HTML)
die ſchönſten Sagen des klaſſiſchen Alterthums.
Erſter Theil.
Mit einem Titelbilde.
[I][II]

Nach Paul Veronese

PERSEUS.
[III]
Die ſchönſten Sagen des klaſſiſchen Alterthums.
Nach ſeinen Dichtern und Erzählern
Erſter Theil.
Mit einem Titelbilde.
Stuttgart. Verlag von S. G. Lieſching. 1838.
[IV][V]

Vorwort.

Es iſt eine ſchöne Eigenthümlichkeit der Mythen und Heldenſagen des klaſſiſchen Alterthums, daß ſie für die Blicke des Forſchers und für das Auge der Einfalt einen zwar verſchiedenartigen, aber doch gleich mächtigen Reiz haben. Während der Gelehrte in ihnen den Anfängen alles menſchlichen Wiſſens, den Grundgedanken der Religion und Philoſophie, der erſten Morgendämmerung der Geſchichte nachgeht, entzückt den unbefangenen Betrachter die Entfaltung der reichſten Ge¬ ſtalten, das Schauſpiel einer gleichſam noch in der Schöpfung begrif¬ fenen Natur und Geiſterwelt; er ſieht mit Luſt und Bewunderung die Erde mit Göttern und Götterſöhnen aus dem Chaos emporſteigen und in raſchen Bilderreihen den Prometheusfunken im Menſchen den Kampf mit der Barbarei beginnen, die Cultur der Wildniß, die Bildung der Barbarei, die Vernunft oder die Nothwendigkeit der LeidenſchaftVI den Sieg abringen. Die innere lebendige Kraft dieſer Bilder iſt auch ſo groß, daß dieſelbe nicht von der vollendeten Kunſtgeſtalt abhängig erſcheint, in welcher wir einen guten Theil jener Gebilde von den größten Dichtern verarbeitet beſitzen, ſondern daß die ſchlichteſte Darſtellung genügt, ihre Größe auch vor denjenigen zu entfalten, für welche die Kunſtform eher ein Hemmniß als eine Förderung des Verſtänd¬ niſſes ſeyn muß. In dieſem Fall iſt die Jugend im Beginn ihrer klaſſiſchen Bildung. Die Heroenſage, von der ihre Phantaſie mit dem erſten Unterrichte in den Sprachen der Alten Bruchſtücke auf¬ nimmt, übt einen Zauber über ihren Geiſt, lang ehe ſie im Stande iſt, dieſelbe in den Schöpfungen der Dichter zu faſſen. Nähere Be¬ kanntſchaft mit dieſen Mythen wird ſogar als Vorſchule für die höhere Bildung ein frühzeitiges Bedürfniß, das auch unſre Literatur längſt gefühlt hat und dem ſie durch Hülfsbücher aller Art bald in wiſſen¬ ſchaftlich belehrender, bald in unterhaltender Form abzuhelfen geſucht hat und noch ſucht.

In vorliegendem Buche nun wird der Verſuch gemacht, die ſchön¬ ſten und bedeutungsvollſten Sagen des klaſſiſchen Alterthums den al¬ ten Schriftſtellern und vorzugsweiſe den Dichtern einfach und vom Glanze künſtleriſcher Darſtellung entkleidet, doch, wo immer mög¬VII lich, mit ihren eigenen Worten nachzuerzählen. Man iſt längſt von der Anſicht zurückgekommen, daß dieſe auf mythiſchem Boden ſpie¬ lende und von Mythen durchwobene Geſchichten zum Mittel dienen könnten, der Jugend gelegentlich hiſtoriſche, geographiſche und natur¬ wiſſenſchaftliche Kenntniſſe beizubringen und daß man ſie gar zum Vehikel eines moraliſchen Lehrkurſes gebrauchen dürfe. Die Moral, die auch der antiken Weltanſchauung nicht fehlte, muß in der Dar¬ ſtellung ſelbſt empfunden werden, und auf das Einſeitige und in weſentli¬ chen Stücken Irrthümliche derſelben, auf ihre Unzulänglichkeit gegen¬ über der Offenbarung des Chriſtenthums, wird eine mündliche Unter¬ weiſung des Vaters oder Lehrers den jungen Leſer beſſer aufmerkſam machen, als das Buch ſelbſt, das von demſelben zunächſt nur mit der Abſicht, ſich eine angenehme und doch würdige Erholung zu ver¬ ſchaffen, in die Hand genommen werden ſoll. Nur dafür hat der Verfaſſer geſorgt, daß alles Anſtößige entfernt bleibe, und deßwegen unbedenklich alle diejenigen Sagen ausgeſchloſſen, in welchen unmenſch¬ liche Greuel erzählt werden, die nur eine ſymboliſche Erklärung gewiſ¬ ſermaßen entſchuldigt, die aber als Geſchichte dargeſtellt als welche der Jugend dieſe Sagen doch gelten müßen nur einen empörenden Eindruck auf ſie machen könnten. Wo aber unſern höheren BegriffenVIII von Sittlichkeit widerſtrebende oder auch ſchon im Alterthum als unſittlich und widernatürlich anerkannte Verhältniſſe (wie in der Oedipusſage) in einer ihrer Totalrichtung nach hochſittlichen Mythe nicht verſchwiegen werden konnten, glaubt ſolche der Bearbeiter dieſer Sagen auf eine Weiſe angedeutet zu haben, welche die Jugend weder zum Ausſpinnen unedler Bilder noch zum Grübeln der Neu¬ gier veranlaßt. Vorausgeſetzt wird bei dieſem Buche nur die allge¬ meinſte Kenntniß der griechiſch-römiſchen Mythologie und Vorzeit, wie ſie die Schulbildung unſrer vaterländiſchen Jugend bei Zeiten verſchafft. Das ganze Werk iſt auf drei Bände berechnet, wovon der zweite die Geſchichten von Troja, der dritte und letzte die Sagen von Ulyſſes und Aeneas enthalten wird.

Stuttgart, im Septbr. 1837.

G. Schwab.

[IX]

Inhalts-Ueberſicht.

Erſtes Buch.
  • Seite.
  • Prometheus3.
  • Die Menſchenalter11.
  • Deukalion und Pyrrha15.
  • Io20.
  • Phaethon29.
  • Europa35.
  • Kadmus44.
  • Pentheus49.
  • Perſeus58.
  • Ion67.
  • Dädalus und Ikarus82.
X
Zweites Buch.
  • Seite.
  • Die Argonautenſage.
    • Jaſon und Pelias91.
    • Anlaß und Beginn des Argonautenzuges93.
    • Die Argonauten zu Lemnos96.
    • Die Argonauten im Lande der Dolionen101.
    • Herkules zurückgelaſſen103.
    • Pollux und der Bebrykenkönig106.
    • Phineus und die Harpyien108.
    • Die Symplegaden112.
    • Weitere Abentheuer114.
    • Jaſon im Pallaſte des Aeetes119.
    • Medea und Aeetes122.
    • Der Rath des Argos126.
    • Medea verſpricht den Argonauten Hülfe130.
    • Jaſon und Medea132.
    • Jaſon erfüllt des Aeetes Begehr138.
    • Medea raubt das goldene Vließ144.
    • Die Argonauten, verfolgt, entkommen mit Medea148.
    • Weitere Heimfahrt der Argonauten154.
    • Neue Verfolgung der Kolchier160.
    • Letzte Abentheuer der Helden162.
    • Jaſons Ende170.
XI
Drittes Buch.
  • Seite.
  • Meleager und die Eberjagd179.
  • Tantalus185.
  • Pelops187
  • Niobe191.
  • Salmoneus198.
Viertes Buch.
  • Aus der Herkulesſage.
    • Herkules der Neugeborne201.
    • Die Erziehung des Herkules203.
    • Herkules am Scheidewege204.
    • Des Herkules erſte Thaten208.
    • Herkules im Gigantenkampf210.
    • Herkules und Euryſtheus214.
    • Die drei erſten Arbeiten des Herkules215.
    • Die vierte Arbeit des Herkules bis zur ſechsten220.
    • Die siebente, achte und neunte Arbeit des Herkules225.
    • Die drei letzten Arbeiten des Herkules229.
    • Herkules und Eurytus238.
    • Herkules bei Admetus240.
    • Herkules im Dienſte der Omphale248.
    • Die ſpäteren Heldenthaten des Herkules252.
    • Herkules und Deïanira256.
    • Herkules und Neſſus258.
    • Herkules, Jole und Deïanira. Sein Ende260.
XII
Fünftes Buch.
  • Seite.
  • Bellerophontes271.
  • Theſeus.
    • Seine Geburt und Jugend277.
    • Seine Wanderung zum Vater280.
    • Theſeus in Athen283.
    • Theſeus bei Minos285.
    • Theſeus als König290.
    • Der Amazonenkrieg293.
    • Theſeus und Pirithous. Lapithen - und Centaurenkampf294.
    • Theſeus und Phädra299.
    • Theſeus auf Frauenraub306.
    • Theſeus 'Ende. 308.
  • Die Sage von Oedipus.
    • Des Oedipus Geburt, Jugend, Fluch, Vatermord312.
    • Oedipus in Theben, heirathet ſeine Mutter316.
    • Die Entdeckung318.
    • Jokaſte und Oedipus ſtrafen ſich324.
    • Oedipus und Antigone326.
    • Oedipus auf Kolonos328.
    • Oedipus und Theſeus333.
    • Oedipus und Kreon335.
    • Oedipus und Polynices337.
XIII
Sechstes Buch.
  • Seite.
  • Die Sieben gegen Thebe.
    • Polynices und Tydeus bei Adraſt345.
    • Auszug der Helden. Hypſipyle und Opheltes348.
    • Die Helden vor Thebe angekommen352.
    • Menökeus355.
    • Der Sturm auf die Stadt359.
    • Der Brüder Zweikampf363.
    • Kreon's Beſchluß368.
    • Antigone und Kreon371.
    • Hämon und Antigone372.
    • Kreon's Strafe375.
    • Beſtattung der Thebaniſchen Helden377.
  • Die Epigonen379.
  • Alkmäon und das Halsband382.
  • Die Sage von den Herakliden.
    • Die Herakliden kommen nach Athen386.
    • Demophoon388.
    • Makaria393.
    • Die Rettungsſchlacht395.
    • Euryſtheus vor Alkmene399.
    • Hyllus, ſein Orakel und ſeine Nachkommen401.
    • Die Herakliden theilen den Peloponnes406.
    • Merope und Aepytus408.
[1]

Erſtes Buch.

Prometheus. Die Menſchenalter. Deuka¬ lion und Pyrrha. Io. Phaethon. Europa. Kadmus. Pentheus. Perſeus. Ion. Dädalus und Ikarus.

Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 1[2][3]

Prometheus.

Himmel und Erde waren geſchaffen: das Meer wogte in ſeinen Ufern, und die Fiſche ſpielten darin; in den Lüften ſangen beflügelt die Vögel; der Erdboden wimmelte von Thieren. Aber noch fehlte es an dem Geſchöpfe, deſſen Leib ſo beſchaffen war, daß der Geiſt in ihm Woh¬ nung machen und von ihm aus die Erdenwelt beherrſchen konnte. Da betrat Prometheus die Erde, ein Sprößling des alten Göttergeſchlechtes, das Jupiter entthront hatte, ein Sohn des erdgebornen Uranusſohnes Japetus, kluger Erfindung voll. Dieſer wußte wohl, daß im Erdboden der Same des Himmels ſchlummere; darum nahm er vom Thone, befeuchtete denſelben mit dem Waſſer des Fluſſes, knetete ihn und formte daraus ein Gebilde, nach dem Ebenbilde der Götter, der Herren der Welt. Dieſen ſei¬ nen Erdenkloß zu beleben, entlehnte er allenthalben von den Thierſeelen gute und böſe Eigenſchaften und ſchloß ſie in die Bruſt des Menſchen ein. Unter den Himmli¬ ſchen hatte er eine Freundin, Minerva, die Göttin der Weisheit. Dieſe bewunderte die Schöpfung des Titanen¬ ſohnes und blies dem halbbeſeelten Bilde den Geiſt, den göttlichen Athem ein.

So entſtanden die erſten Menſchen und füllten bald vervielfältigt die Erde. Lange aber wußten dieſe nicht, wie ſie ſich ihrer edlen Glieder und des empfangenen Götterfunkens bedienen ſollten. Sehend ſahen ſie umſonſt,1 *4hörten hörend nicht; wie Traumgeſtalten liefen ſie umher, und wußten ſich der Schöpfung nicht zu bedienen. Unbe¬ kannt war ihnen die Kunſt, Steine auszugraben und zu behauen, aus Lehm Ziegel zu brennen, Balken aus dem ge¬ fällten Holze des Waldes zu zimmern, und mit allem die¬ ſem ſich Häuſer zu erbauen. Unter der Erde, in ſonnen¬ loſen Höhlen, wimmelte es von ihnen, wie von bewegli¬ chen Ameiſen: nicht den Winter, nicht den blüthenvollen Frühling, nicht den früchtereichen Sommer kannten ſie an ſicheren Zeichen; planlos war alles, was ſie verrich¬ teten. Da nahm ſich Prometheus ſeiner Geſchöpfe an; er lehrte ſie den Auf - und Niedergang der Geſtirne be¬ obachten, erfand ihnen die Kunſt zu zählen, die Buchſta¬ benſchrift; lehrte ſie Thiere ans Joch ſpannen und zu Genoſſen ihrer Arbeit brauchen, gewöhnte die Roſſe an Zügel und Wagen; erfand Nachen und Segel für die Schiffahrt. Auch fürs übrige Leben ſorgte er den Men¬ ſchen. Früher, wenn einer krank wurde, wußte er kein Mittel, nicht was von Speiſe und Trank ihm zuträglich ſey, kannte kein Salböl zur Linderung ſeiner Schäden; ſondern aus Mangel an Arzneien ſtarben ſie elendiglich dahin. Darum zeigte ihnen Prometheus die Miſchung mil¬ der Heilmittel, allerlei Krankheiten damit zu vertreiben. Dann lehrte er ſie die Wahrſagerkunſt, deutete ihnen Vorzeichen und Träume, Vogelflug und Opferſchau. Fer¬ ner führte er ihren Blick unter die Erde und ließ ſie hier das Erz, das Eiſen, das Silber und das Gold entdecken; kurz in alle Bequemlichkeiten und Künſte des Lebens leitete er ſie ein.

Im Himmel herrſchte mit ſeinen Kindern ſeit Kur¬ zem Jupiter, der ſeinen Vater Kronos entthront, und5 das alte Göttergeſchlecht, von welchem auch Prometheus abſtammte, geſtürzt hatte.

Jetzt wurden die neuen Götter aufmerkſam auf das ebenentſtandene Menſchenvolk. Sie verlangten Verehrung von ihm für den Schutz, welchen ſie demſelben angedei¬ hen zu laſſen bereitwillig waren. Zu Mekone in Grie¬ chenland ward ein Tag gehalten zwiſchen Sterblichen und Unſterblichen, und Rechte und Pflichten der Men¬ ſchen beſtimmt. Bei dieſer Verſammlung erſchien Pro¬ metheus als Anwalt ſeiner Menſchen, dafür zu ſorgen, daß die Götter für die übernommenen Schutzämter den Sterblichen nicht allzuläſtige Gebühren auferlegen möch¬ ten. Da verführte den Prometheus ſeine Klugheit, die Götter zu betrügen. Er ſchlachtete im Namen ſeiner Geſchöpfe einen großen Stier, davon ſollten die Himmli¬ ſchen wählen, was ſie für ſich davon verlangten. Er hatte aber nach Zerſtückelung des Opferthieres zwei Hau¬ fen gemacht; auf die eine Seite legte er das Fleiſch, das Eingeweide und den Speck, in die Haut des Stieres zuſammengefaßt, auf die andere die kahlen Knochen, künſtlich in das Unſchlitt des Schlachtopfers eingehüllt. Und dieſer Haufen war der größere. Jupiter der Göt¬ tervater, der allwiſſende, durchſchaute ſeinen Betrug und ſprach: Sohn des Japetus, erlauchter König, guter Freund, wie ungleich haſt du die Theile getheilt! Pro¬ metheus glaubte jetzt erſt recht, daß er ihn betrogen, lä¬ chelte bei ſich ſelbſt und ſprach: Erlauchter Jupiter, größter der ewigen Götter, wähle den Theil, den dir dein Herz im Buſen anräth zu wählen. Jupiter er¬ grimmte im Herzen, aber gefliſſentlich faßte er mit bei¬ den Händen das weiße Unſchlitt. Als er es nun aus¬6 einander gedrückt und die bloßen Knochen gewahrte, ſtellte er ſich an, als entdeckte er jetzt eben erſt den Be¬ trug und zornig ſprach er: Ich ſehe wohl, Freund Ja¬ petionide, daß du die Kunſt des Truges noch nicht ver¬ lernt haſt!

Jupiter beſchloß ſich an Prometheus für ſeinen Betrug zu rächen, und verſagte den Sterblichen die letzte Gabe, die ſie zur vollendeteren Geſittung bedurften, das Feuer. Doch auch dafür wußte der ſchlaue Sohn des Japetus Rath. Er nahm den langen Stängel des markigen Rieſenfenchels, näherte ſich mit ihm dem vorüberfahrenden Sonnenwa¬ gen, und ſetzte ſo den Stängel in gloſtenden Brand. Mit dieſem Feuerzunder kam er hernieder auf die Erde, und bald loderte der erſte Holzſtoß gen Himmel. In innerſter Seele ſchmerzte es den Donnerer, als er den fernhinleuchtenden Glanz des Feuers unter den Men¬ ſchen emporſteigen ſah. Sofort formte er, zum Erſatz für des Feuers Gebrauch, das den Sterblichen nicht mehr zu nehmen war, ein neues Uebel für ſie. Der ſei¬ ner Kunſt wegen berühmte Feuergott Vulkanus mußte ihm das Scheinbild einer ſchönen Jungfrau fertigen; Minerva ſelbſt, die, auf Prometheus eiferſüchtig, ihm ab¬ hold geworden war, warf dem Bild ein weißes, ſchim¬ merndes Gewand über, ließ ihr einen Schleier über das Geſicht wallen, den das Mädchen mit den Händen ge¬ theilt hielt, bekränzte ihr Haupt mit friſchen Blumen und umſchlang es mit einer goldenen Binde, die gleich¬ falls Vulkanus ſeinem Vater zu lieb kunſtreich verfertigt und mit bunten Thiergeſtalten herrlich verziert hatte. Merkurius der Götterbote mußte dem holden Gebilde Sprache verleihen, und Venus allen Liebreiz. Alſo hatte7 Jupiter unter der Geſtalt eines Gutes ein blendendes Uebel geſchaffen, und nannte ſie Pandora, das heißt die Allbeſchenkte, denn jeder der Unſterblichen hatte dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Geſchenk für die Menſchen mitgegeben. Darauf führte er die Jung¬ frau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermiſcht mit den Göttern luſtwandelten. Alle mit einander bewunder¬ ten die unvergleichliche Geſtalt. Sie aber ſchritt zu Epi¬ metheus, dem argloſeren Bruder des Prometheus, ihm das Geſchenk Jupiters zu bringen. Vergebens hatte dieſen der Bruder gewarnt, niemals ein Geſchenk vom Olympiſchen Jupiter anzunehmen, damit dem Menſchen kein Leid dadurch widerführe, ſondern es ſofort zurück¬ zuſenden. Epimetheus, dieſes Wortes uneingedenk, nahm die ſchöne Jungfrau mit Freuden auf, und empfand das Uebel erſt als er es hatte. Denn bisher lebten die Ge¬ ſchlechter der Menſchen, von ſeinem Bruder berathen, frei vom Uebel, ohne beſchwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr Geſchenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel verſehen. Kaum bei Epimetheus angekommen, ſchlug ſie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefäſſe eine Schaar von Uebeln und verbreitete ſich mit Blitzesſchnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zu unterſt in dem Faſſe verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rath des Götter¬ vaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe ſie her¬ ausflattern konnte und verſchloß ſie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte inzwiſchen in allen Geſtalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag und bei Nacht unter den Menſchen umher, heimlich und ſchweigend, denn Jupiter hatte ihnen keine Stimme gege¬8 ben; eine Schaar von Fiebern hielt die Erde belagert, und der Tod, früher nur langſam die Sterblichen be¬ ſchleichend, beflügelte ſeinen Schritt.

Darauf wandte ſich Jupiter mit ſeiner Rache gegen Prometheus. Er übergab den Verbrecher dem Vulkanus, und ſeinen Dienern, dem Kratos und der Bia (dem Zwang und der Gewalt). Dieſe mußten ihn in die ſcythiſchen Einöden ſchleppen und hier, über einem ſchauderhaften Abgrund, an eine Felswand des Berges Caucaſus mit unauflöslichen Ketten ſchmieden. Ungerne vollzog Vul¬ kanus den Auftrag ſeines Vaters, er liebte in dem Tita¬ nenſohne den verwandten Abkömmling ſeines Urgroßva¬ ters Uranos, den ebenbürtigen Götterſprößling. Unter mitleidsvollen Worten, und von den roheren Knechten geſcholten, ließ er dieſe das grauſame Werk vollbringen. So mußte nun Prometheus an der freudloſen Klippe hängen, aufrecht, ſchlaflos, niemals im Stande, das müde Knie zu beugen. Viele vergebliche Klagen und Seufzer wirſt du verſenden, ſagte Vulkanus zu ihm, denn Jupiters Sinn iſt unerbittlich und alle die erſt ſeit kurzem die Herrſchergewalt an ſich geriſſen*)Jupiter hatte den Kronos (Saturn) ſeinen Vater, und mit ihm die alte Goͤtterdynaſtie, geſtuͤrzt und ſich des Olymps mit Ge¬ walt bemaͤchtigt. Japetos und Kronos waren Bruͤder, Pro¬ metheus und Jupiter Geſchwiſterkinder., ſind hartherzig. Wirk¬ lich ſollte auch die Qual des Gefangenen ewig oder doch dreißigtauſend Jahre dauern. Obwohl laut aufſeufzend, und Winde, Ströme, Quellen und Meereswellen, die All¬ mutter Erde und den allſchauenden Sonnenkreis zu Zeu¬ gen ſeiner Pein aufrufend, blieb er doch ungebeugten9 Sinnes. Was das Schickſal beſchloſſen hat, ſprach er, muß derjenige tragen, der die unbezwingliche Gewalt der Nothwendigkeit einſehen gelernt hat. Auch ließ er ſich durch keine Drohungen Jupiters bewegen, die dunkle Weiſſagung, daß dem Götterherrſcher durch einen neuen Ehebund*)Mit der Thetis. Verderben und Untergang bevorſtehe, näher auszudeuten. Jupiter hielt Wort; er ſandte dem Gefeſ¬ ſelten einen Adler, der als täglicher Gaſt an ſeiner Le¬ ber zehren durfte, die ſich, abgewaidet, immer wieder er¬ neuerte. Dieſe Qual ſollte nicht eher aufhören, bis ein Erſatzmann erſcheinen würde, der durch freiwillige Ueber¬ nahme des Todes, gewiſſermaßen ſein Stellvertreter zu werden ſich erböte.

Jener Zeitpunkt erſchien früher, als der Verurtheilte nach Jupiters Spruch erwarten durfte. Als er dreißig Jahre an dem Felſen gehangen, kam Herkules des Weges, auf der Fahrt nach den Heſperiden und ihren Aepfeln begriffen. Wie er den Götterenkel am Caucaſus hängen ſah, und ſich ſeines guten Rathes zu erfreuen hoffte, er¬ barmte ihn ſein Geſchick, denn er ſah zu, wie der Adler, auf den Knieen des Prometheus ſitzend, an der Leber des Unglückſeligen fraß. Da legte er Keule und Löwen¬ haut hinter ſich, ſpannte den Bogen, entſandte den Pfeil und ſchoß den grauſamen Vogel von der Leber des Ge¬ quälten hinweg. Hierauf löste er ſeine Feſſeln und führte den Befreiten mit ſich davon. Damit aber Jupiters Bedingung erfüllt würde, ſtellte er ihm als Erſatzmann den Centauren Chiron, der erbötig war an Jenes Statt zu ſterben; denn vorher war er unſterblich. Auf daß10 jedoch Jupiters Urtheil, der den Prometheus auf weit längere Zeit an den Felſen geſprochen hatte, auch ſo nicht unvollzogen bliebe, ſo mußte Prometheus fortwäh¬ rend einen eiſernen Ring tragen, an welchem ſich ein Steinchen von jenem Caucaſus-Felſen befand. So konnte ſich Jupiter rühmen, daß ſein Feind noch immer an den Caucaſus angeſchmiedet lebe.

11

Die Menſchenalter*)Dieſe Sage iſt unabhaͤngig von der vorigen, und ſtimmt nicht mit ihr uͤberein. .

Die erſten Menſchen, welche die Götter ſchufen, wa¬ ren ein goldenes Geſchlecht. Dieſe lebten, ſo lange Kro¬ nos (Saturnus) dem Himmel vorſtand, ſorgenlos und den Göttern ſelbſt ähnlich, von Arbeit und Kummer entfernt. Auch die Leiden des Alters waren ihnen unbekannt; an Händen, Füßen und allen Gliedern immer rüſtig, freuten ſie ſich, von jeglichem Uebel frey, heiterer Gelage. Die ſe¬ ligen Götter hatten ſie lieb und ſchenkten ihnen auf rei¬ chen Fluren ſtattliche Heerden. Wenn ſie verſcheiden ſollten, ſanken ſie nur in ſanften Schlaf. So lange ſie aber lebten, hatten ſie alle möglichen Güter, das Erdreich gewährte ihnen alle Früchte von ſelbſt und im Ueberfluſſe, und ruhig mit allen Gütern geſegnet, vollbrachten ſie ihr Tagewerk. Nachdem jenes Geſchlecht nach dem Beſchluſſe des Schickſals von der Erde verſchwunden war, wurden ſie zu frommen Schutzgöttern, welche, dicht in Nebel ge¬ hüllt, die Erde rings durchwandelten, als Geber alles Guten, Behüter des Rechts, und Rächer aller Vergehungen.

Hierauf ſchufen die Unſterblichen ein zweites Men¬ ſchengeſchlecht aus Silber; dieſes war ſchon weit von jenem abgeartet, und glich ihm weder an Körpergeſtal¬ tung, noch an Geſinnung. Sondern ganze hundert Jahre wuchs der verzärtelte Knabe noch unmündig an Geiſt unter der mütterlichen Pflege im Aelternhauſe auf, und wenn einer endlich zum Jünglingsalter herangereift war,12 ſo blieb ihm nur noch kurze Friſt zum Leben übrig. Un¬ vernünftige Handlungen ſtürzten dieſe neuen Menſchen in Jammer, denn ſie konnten ſchon ihre Leidenſchaften nicht mehr mäßigen und frevelten im Uebermuthe gegen einander. Auch die Altäre der Götter wollten ſie nicht mehr mit den gebührenden Opfern ehren. Deßwegen nahm Jupiter dieſes Geſchlecht wieder von der Erde hin¬ weg, denn ihm gefiel nicht, daß ſie der Ehrfurcht gegen die Unſterblichen ermangelten. Doch waren auch dieſe noch nicht ſo entblößt von Vorzügen, daß ihnen nach ihrer Entfernung aus dem Leben nicht einige Ehre zum Antheil geworden wäre, und ſie durften als ſterbliche Dämonen noch auf der Erde umherwandeln.

Nun erſchuf der Vater Zeus (Jupiter) ein drittes Geſchlecht von Menſchen, dieſes nur aus Erz. Das war auch dem ſilbernen völlig ungleich, grauſam, gewaltthä¬ tig, immer nur den Geſchäften des Krieges ergeben, im¬ mer Einer auf des Andern Beleidigung ſinnend. Sie verſchmähten es von den Früchten des Feldes zu eſſen und nährten ſich vom Thierfleiſche; ihr Starrſinn war hart wie Diamant, ihr Leib von ungeheurem Gliederbau; Hände wuchſen ihnen von den Schultern, denen niemand nahekommen durfte. Ihr Gewehr war Erz, ihre Woh¬ nung Erz, mit Erz beſtellten ſie das Feld; denn Eiſen war damals noch nicht vorhanden. Sie kehrten ihre eigenen Hände gegen einander; aber ſo groß und entſetzlich ſie waren, ſo vermochten ſie doch nichts gegen den ſchwar¬ zen Tod und ſtiegen, vom hellen Sonnenlichte ſcheidend, in die ſchaurige Nacht der Unterwelt hernieder.

Als die Erde auch dieſes Geſchlecht eingehüllt hatte, brachte Zeus, der Sohn des Kronos, ein viertes Geſchlecht13 hervor, das auf der nährenden Erde wohnen ſollte. Dieß war wieder edler und gerechter, als das vorige. Es war das Geſchlecht der göttlichen Heroen, welche die Vorwelt auch Halbgötter genannt hat. Zuletzt vertilgte aber auch ſie Zwietracht und Krieg, die Einen vor den ſieben Thoren Thebe's wo ſie um das Reich des Königes Oedipus kämpften, die Andern auf dem Gefilde Troja's, wohin ſie um der ſchönen Helena willen zahllos auf Schiffen gekommen waren. Als dieſe ihr Erdenleben in Kampf und Noth beſchloſſen hatten, ordnete ihnen der Vater Zeus ihren Sitz am Rande des Weltalls an, im Ocean, auf den Inſeln der Seligen. Dort führen ſie nach dem Tode ein glückliches und ſorgenfreies Leben, wo ihnen der fruchtbare Boden dreimal im Jahre honig¬ ſüße Früchte zum Labſal emporſendet.

Ach wäre ich, ſo ſeufzet der alte Dichter Heſio¬ dus, der dieſe Sage von den Menſchenaltern erzählt, wäre ich doch nicht ein Genoſſe des fünften Menſchen¬ geſchlechtes, das jetzt gekommen iſt; wäre ich früher ge¬ ſtorben, oder ſpäter geboren! denn dieſes Menſchenge¬ ſchlecht iſt ein eiſernes! Gänzlich verderbt, ruhen dieſe Menſchen weder bei Tage noch bei Nacht von Kümmer¬ niß und Beſchwerden, immer neue nagende Sorgen ſchi¬ cken ihnen die Götter. Sie ſelbſt aber ſind ſich die größte Plage. Der Vater iſt dem Sohne, der Sohn dem Vater nicht hold, der Gaſt haßt den ihn bewirthenden Freund, der Genoſſe den Genoſſen; auch unter Brüdern herrſcht nicht mehr herzliche Liebe, wie vor Zeiten. Dem grauen Haare der Aeltern ſelbſt wird die Ehrfurcht verſagt, Schmachreden werden gegen ſie ausgeſtoßen, Mißhand¬ lungen müſſen ſie erdulden. Ihr grauſamen Menſchen,14 denket ihr denn gar nicht an das Göttergericht, daß ihr euren abgelebten Aeltern den Dank für ihre Pflege nicht erſtatten wollet? Ueberall gilt nur das Fauſtrecht; auf Städteverwüſtung ſinnen ſie gegeneinander. Nicht der¬ jenige wird begünſtigt, der die Wahrheit ſchwört, der ge¬ recht und gut iſt; nein, nur den Uebelthäter, den ſchnö¬ den Frevler ehren ſie; Recht und Mäßigung gilt nichts mehr, der Böſe darf den Edleren verletzen, trügeriſche, krumme Worte ſprechen, falſches beſchwören. Deßwegen ſind dieſe Menſchen auch ſo unglücklich. Schadenfrohe, mißlautige Scheelſucht verfolgt ſie und grollt ihnen mit dem neidiſchen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der Scham und der heiligen Scheu, welche ſich bisher doch noch auf der Erde hatten blicken laſſen, verhüllen trau¬ rig ihren ſchönen Leib in das weiße Gewand, und ver¬ laſſen die Menſchen, um ſich wieder in die Verſammlung der ewigen Götter zurückzuflüchten. Unter den ſterblichen Menſchen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und keine Rettung von dieſem Unheil iſt zu erwarten.

15

Deukalion und Pyrrha.

Als das eherne Menſchengeſchlecht auf Erden hauſte und Jupiter, dem Weltbeherrſcher, ſchlimme Sage von ſeinen Freveln zu Ohren gekommen, beſchloß er ſelbſt in menſchlicher Bildung die Erde zu durchſtreifen. Aber allenthalben fand er das Gerücht noch geringer als die Wahrheit. Eines Abends in ſpäter Dämmerung trat er unter das ungaſtliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon, welcher durch Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch einige Wunderzeichen merken, daß ein Gott gekommen ſey, und die Menge hatte ſich auf die Kniee geworfen. Lykaon jedoch ſpottete über dieſe frommen Gebete. Laßt uns ſehen, ſprach er, ob es ein Sterblicher oder ein Gott ſey! Damit beſchloß er im Herzen den Gaſt um Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm laſtete, mit ungeahntem Tode zu verderben. Noch vorher aber ſchlach¬ tete er einen armen Geißel, den ihm das Volk der Mo¬ loſſer geſandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder in ſiedendem Waſſer, oder briet ſie am Feuer und ſetzte ſie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tiſch. Ju¬ piter, der alles durchſchaut hatte, fuhr vom Mahle em¬ por und ſandte die rächende Flamme über die Burg des Gottloſen. Beſtürzt entfloh der König ins freie Feld. Der erſte Wehlaut, den er ausſtieß, war ein Geheul, ſein Gewand wurde zu Zotteln, ſeine Arme zu Beinen; er war in einen blutdürſtigen Wolf verwandelt.

Jupiter kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den Göttern Rath, und gedachte das ruchloſe Menſchenge¬ ſchlecht zu vertilgen. Schon wollte er auf alle Länder16 die Blitze verſtreuen; aber die Furcht, der Aether möchte in Flammen gerathen und die Achſe des Weltalls ver¬ lodern, hielt ihn ab. Er legte die Donnerkeile, welche ihm die Cyklopen geſchmiedet, wieder bei Seite, und be¬ ſchloß, über die ganze Erde Platzregen vom Himmel zu ſenden, und ſo unter Wolkengüſſen die Sterblichen auf¬ zureiben. Auf der Stelle ward der Nordwind ſammt allen andern Wolken verſcheuchenden Winden in die Höh¬ len des Aeolus verſchloſſen, und nur der Südwind von ihm ausgeſendet. Dieſer flog mit triefenden Schwingen zur Erde hinab, ſein entſetzliches Antlitz bedeckte pech¬ ſchwarzes Dunkel, ſein Bart war ſchwer von Gewölk, von ſeinem weißen Haupthaare rannte die Fluth, Nebel lagerten auf der Stirne, aus dem Buſen troff ihm das Waſſer. Der Südwind griff an den Himmel, faßte mit der Hand die weit umherhangenden Wolken und fing an ſie auszupreſſen. Der Donner rollte, gedrängte Regen¬ fluth ſtürzte vom Himmel; die Saat beugte ſich unter dem wogenden Sturm, darnieder lag die Hoffnung des Landmanns, verdorben war die langwierige Arbeit des ganzen Jahres. Auch Neptunus, Jupiters Bruder, kam ihm bei dem Zerſtörungswerke zu Hülfe, berief alle Flüſſe zuſammen und ſprach: Laßt euren Strömungen alle Zü¬ gel ſchießen, fallt in die Häuſer, durchbrechet die Dämme! Sie vollführten ſeinen Befehl, und Neptun ſelbſt durch¬ ſtach mit ſeinem Dreizack das Erdreich und ſchaffte durch Erſchütterung den Fluthen Eingang. So ſtrömten die Flüſſe über die offene Flur hin, bedeckten die Felder, riſ¬ ſen Baumpflanzungen, Tempel und Häuſer fort. Blieb auch wo ein Pallaſt ſtehen, ſo deckte doch bald das Waſ¬ ſer ſeinen Giebel und die höchſten Thürme verbargen ſich17 im Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr unterſchieden; Alles war See, und geſtadeloſer See. Die Menſchen ſuchten ſich zu retten, ſo gut ſie konnten; der Eine erkletterte den höchſten Berg, der andere beſtieg einen Kahn und ruderte nun über das Dach ſeines verſunkenen Landhauſes oder über die Hügel ſeiner Weinpflanzungen hin, daß der Kiel an ihnen ſtreifte. In den Aeſten der Wälder arbeiteten ſich die Fiſche ab; den Eber, den ei¬ lenden Hirſch erjagte die Fluth; ganze Völker wurden vom Waſſer hinweggerafft, und was die Welle verſchonte, ſtarb den Hungertod auf den ungebauten Haidegipfeln.

Ein ſolcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen im Lande Phocis über die Alles bedeckende Meerfluth hervor. Es war der Parnaſſus. An ihn ſchwamm Deukalion, des Prometheus Sohn, den dieſer gewarnt und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit ſeiner Gattin Pyrrha im Nachen heran. Kein Mann, kein Weib war je er¬ funden worden, die an Rechtſchaffenheit und Götterſcheu dieſe beiden übertroffen hätten. Als nun Jupiter vom Him¬ mel herab ſchauend die Welt von ſtehenden Sümpfen über¬ ſchwemmt und von den vielen tauſendmal Tauſenden nur ein einziges Menſchenpaar übrig ſah, beide unſträflich, beide andächtige Verehrer der Gottheit, da ſandte er den Nord¬ wind aus, ſprengte die ſchwarzen Wolken und hieß ihn die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde, und die Erde dem Himmel wieder. Auch Neptun der Meeresfürſt legte den Dreizack nieder und beſänftigte die Fluth. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüſſe kehr¬ ten in ihr Bett zurück; Wälder ſtreckten ihre mit Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folg¬Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 218ten, endlich breitete ſich auch wieder ebenes Land aus, und zuletzt war die Erde wieder da.

Deukalion blickte ſich um. Das Land war verwü¬ ſtet und in Grabesſtille verſenkt. Thränen rollten bei dieſem Anblick über ſeine Wangen, und er ſprach zu ſei¬ nem Weibe Pyrrha: Geliebte, einzige Lebensgenoſſin! So weit ich in die Länder ſchaue, nach allen Weltgegen¬ den hin, kann ich keine lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden mit einander das Volk der Erde, alle andern ſind in der Waſſerfluth untergegangen. Aber auch wir ſind unſres Lebens noch nicht mit Gewißheit ſicher. Jede Wolke, die ich ſehe, erſchreckt meine Seele noch. Und wenn auch alle Gefahr vorüber iſt, was fangen wir Einſamen auf der verlaſſenen Erde an? Ach, daß mich mein Vater Prometheus die Kunſt gelernt hätte, Menſchen zu erſchaffen und geformtem Thone Geiſt einzugießen! So ſprach er, und das verlaſſene Paar fing an zu weinen; dann warfen ſie vor einem halbzerſtörten Altar der Göttin Themis ſich auf die Knie nieder und begannen zu der Himmliſchen zu flehen: Sag 'uns an, o Göttin, durch welche Kunſt ſtellen wir unſer untergegangenes Geſchlecht wieder her! O hilf der verſunkenen Welt wieder zum Leben!

Verlaſſet meinen Altar, tönte die Stimme der Göt¬ tin, umſchleiert euer Haupt, löſet eure gegürteten Glieder, und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.

Lange verwunderten ſich beide über dieſen räthſel¬ haften Götterſpruch. Pyrrha brach zuerſt das Schweigen. Verzeih mir, hohe Göttin, ſprach ſie, wenn ich zuſam¬ menſchaudre, wenn ich dir nicht gehorſame und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerſtreuung ihrer Gebeine19 kränken will! Aber dem Deukalion fuhr es durch den Geiſt wie ein Lichtſtrahl. Er beruhigte ſeine Gattin mit dem freundlichen Worte: Entweder trügt mich mein Scharfſinn oder die Worte der Götter ſind fromm und verbergen keinen Frevel! Unſre große Mutter, das iſt die Erde, ihre Knochen ſind die Steine; und dieſe, Pyrrha, ſollen wir hinter uns werfen!

Beide miſtrauten indeſſen dieſer Deutung noch lange. Jedoch, was ſchadet die Probe, dachten ſie. So gingen ſie dann ſeitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider, und warfen, wie ihnen befohlen war, die Steine hinter ſich. Da ereignete ſich ein großes Wunder: das Geſtein begann ſeine Härtigkeit und Spröde abzulegen, wurde geſchmeidig, wuchs, gewann eine Geſtalt; menſch¬ liche Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deut¬ lich, ſondern rohen Gebilden, oder einer in Marmor vom Künſtler erſt aus dem Groben herausgemeißelten Figur ähnlich. Was jedoch an den Steinen Feuchtes oder Erdigtes war, das wurde zu Fleiſch an dem Kör¬ per; das Unbeugſame, Feſte ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewan¬ nen mit Hülfe der Götter in kurzer Friſt die vom Manne geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe geworfenen weibliche.

Dieſen ſeinen Ursprung verläugnet das menſchliche Geſchlecht nicht, es iſt ein hartes Geſchlecht und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachſen iſt.

2*20

Io.

Inachus, der uralte Stammfürſt und König der Pe¬ lasger, hatte eine bildſchöne Tochter mit Namen Io. Auf ſie war der Blick Jupiters, des Olympiſchen Herrſchers gefallen, als ſie auf der Wieſe von Lerna der Herden ih¬ res Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in Menſchengeſtalt, und fing an, ſie mit verführeriſchen Schmeichelworten zu verſuchen: O Jungfrau, glücklich iſt, der dich beſitzen wird; doch iſt kein Sterblicher deiner werth, und du verdienteſt des höchſten Jupiter Braut zu ſeyn! Wiſſe denn, ich bin Ju¬ piter. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Hai¬ nes, der uns dort zur linken in ſeine Kühle einlädt; was machſt du dir in der Gluth des Tages zu ſchaffen? Fürchte dich doch nicht, den dunkeln Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauſet, zu betreten. Bin doch Ich da, dich zu ſchirmen, der Gott, der den Scepter des Him¬ mels führt, und die zackigen Blitze über den Erdboden verſendet. Aber die Jungfrau floh vor dem Verſucher mit eiligen Schritten, und ſie wäre ihm auf den Flügeln der Angſt entkommen, wenn der verfolgende Gott ſeine Macht nicht mißbraucht, und das ganze Land in dichte Finſterniß gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felſen zu rennen, oder in einen Fluß zu ſtürzen. So kam die unglückliche Jo in die Gewalt des Gottes.

21

Juno, die Göttermutter, war längſt an die Treu¬ loſigkeit ihres Gatten gewöhnt, der ſich von ihrer Liebe ab, und den Töchtern der Halbgötter und der Sterblichen zuwandte; aber ſie vermochte ihren Zorn und ihre Eiferſucht nicht zu bändigen, und mit immer wachem Mißtrauen be¬ obachtete ſie alle Schritte Jupiters auf der Erde. So ſchaute ſie auch jetzt gerade auf die Gegenden hernieder, wo ihr Gemahl ohne ihr Wiſſen wandelte. Zu ihrem großen Erſtaunen bemerkte ſie plötzlich, wie der heitere Tag auf Einer Stelle durch nächtlichen Nebel getrübt wurde, und wie dieſer weder einem Strome, noch dem dunſtigen Boden entſteige, noch ſonſt von einer natürlichen Urſache herrühre. Da kam ihr ſchnell ein Gedanke an die Untreue ihres Gatten; ſie ſpähte rings durch den Olymp und fand ihn nicht. Entweder ich täuſche mich, ſprach ſie ergrimmt zu ſich ſelbſt, oder ich werde von meinem Gatten ſchnöde gekränkt! Und nun fuhr ſie auf einer Wolke vom hohen Aether zur Erde hernieder, und gebot dem Nebel, der den Entführer mit ſeiner Beute umſchloſſen hielt, zu weichen. Jupiter hatte die Ankunft ſeiner Gemahlin geahnt und um ſeine Geliebte ihrer Rache zu entziehen, verwandelte er die ſchöne Tochter des Ina¬ chus ſchnell in eine ſchmucke, ſchneeweiße Kuh. Aber auch ſo war die holdſelige Jungfrau noch ſchön geblieben. Juno, welche die Liſt ihres Gemahls alsbald durchſchaut hatte, pries das ſtattliche Thier, und fragte, als wüßte ſie nichts von der Wahrheit, wem die Kuh gehöre, von wannen und welcherlei Zucht ſie ſey. Jupiter, in der Noth und um ſie von weitrer Nachfrage abzuſchrecken, nahm ſeine Zuflucht zu einer Lüge und gab vor, die Kuh ent¬ ſtamme der Erde. Juno gab ſich damit zufrieden, aber22 ſie bat ſich das ſchöne Thier von ihrem Gemahl zum Geſchenke aus. Was ſollte der betrogene Betrüger ma¬ chen? Giebt er die Kuh her, ſo wird er ſeiner Geliebten verluſtig; verweigert er ſie, ſo erregt er erſt recht den Verdacht ſeiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann raſches Verderben ſenden wird! So entſchloß er ſich denn, für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und ſchenkte die ſchimmernde Kuh, die er noch immer für un¬ entdeckt hielt, ſeiner Gemahlin. Juno knüpfte, ſcheinbar beglückt durch die Gabe, dem ſchönen Thier ein Band um den Hals, und führte die Unſelige, der ein verzweifelndes Menſchenherz unter der Thiergeſtalt ſchlug, im Triumphe da¬ von. Doch machte der Gattin dieſer Diebſtahl ſelbſt Angſt und ſie ruhte nicht, bis ſie ihre Nebenbuhlerin der ſicherſten Hut überantwortet hatte. Daher ſuchte ſie den Argus, den Sohn des Areſtor, auf, ein Ungethüm, das ihr zu dieſem Dienſte beſonders geeignet ſchien. Denn Argus hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweiſe ſich ſchloß und der Ruhe ergab, wäh¬ rend die übrigen alle, über Vorder - und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne zerſtreut, auf ihrem Poſten ausharrten. Dieſen gab Juno der armen Io zum Wächter, damit ihr Gemahl Jupiter die entriſſene Geliebte nicht entführen könne. Unter ſeinen hundert Augen durfte Io, die Kuh, des Tages über auf einer fetten Triſt weiden; Argus aber ſtand in der Nähe und wo er ſich immer hinſtellen mochte, erblickte er die ihm anvertraute; auch wenn er ſich abwandte, und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen war, ſchloß er ſie ein, und belaſtete den Hals der un¬ glückſeligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub23 waren ihre Speiſe, ihr Bett der harte, nicht einmal immer mit Gras bedeckte Boden, ihr Trank ſchlammige Pfützen. Io vergaß oft, daß ſie kein Menſch mehr war, ſie wollte Mitleiden erflehend ihre Arme zu Argus erheben: da ward ſie erſt daran erinnert, daß ſie keine Arme mehr hatte. Sie wollte ihm in Worten rührende Bitten vortragen: dann ent¬ fuhr ihrem Munde ein Brüllen, daß ſie vor ihrer eigenen Stimme erſchrack, welche ſie daran mahnte, wie ſie durch ihres Räubers Selbſtſucht in ein Vieh verwandelt wor¬ den ſey. Doch blieb Argus mit ihr nicht an Einer Stelle, denn ſo hatte es ihn Juno geheißen, die durch Verände¬ rung ihres Aufenthalts ſie dem Gemahl um ſo gewiſſer zu entziehen hoffte. Daher zog ihr Wächter mit ihr im Lande herum, und ſo kam ſie auch mit ihm in ihre alte Heimath, an das Geſtade des Fluſſes, wo ſie ſo oft als Kind zu ſpielen gepflegt hatte. Da ſah ſie zum erſten¬ mal ihr Bild in der Fluth; als das Thierhaupt mit Hörnern ihr aus dem Waſſer entgegenblickte, ſchauderte ſie zurück und floh beſtürzt vor ſich ſelbſt. Ein ſehnſüch¬ tiger Trieb führte ſie in die Nähe ihrer Schweſtern, in die Nähe ihres Vaters Inachus; aber dieſe erkannten ſie nicht; Inachus ſtreichelte wohl das ſchöne Thier, und reichte ihm Blätter, die er von dem nächſten Strauche pflückte; Io beleckte dankbar ſeine Hand, und benetzte ſie mit Küſſen und heimlichen menſchlichen Thränen. Aber wen er liebkoſte, und von wem er geliebkost wurde, das ahnete der Greis nicht. Endlich kam der Armen, deren Geiſt unter der Verwandlung nicht gelitten hatte, ein glücklicher Gedanke. Sie fing an, Schriftzeichen mit dem Fuße zu ziehen, und erregte durch dieſe Bewegung die Auf¬ merkſamkeit des Vaters, der bald im Staube die Kunde24 las, daß er ſein eigenes Kind vor ſich habe. Ich Un¬ glückſeliger, rief der Greis bei dieſer Entdeckung aus, indem er ſich an Horn und Nacken der ſtöhnenden Toch¬ ter hing, ſo muß ich dich wiederfinden, die ich durch alle Länder geſucht habe! Wehe mir, du haſt mir weniger Kummer gemacht, ſo lange ich dich ſuchte, als jetzt, wo ich dich gefunden habe! Du ſchweigſt? Du kannſt mir kein tröſtendes Wort ſagen, mir nur mit einem Gebrüll antworten! Ich Thor, einſt ſann ich darauf, wie ich dir einen würdigen Eidam zuführen könnte, und dachte nur an Brautfackel und Vermählung. Nun biſt du ein Kind der Herde Argus, der grauſame Wächter, ließ den jam¬ mernden Vater nicht vollenden, er riß ſie von dem Vater hinweg und ſchleppte ſie fort, auf einſame Waiden. Dann klomm er ſelbſt einen Berggipfel empor und verſah ſein Amt, indem er mit ſeinen hundert Augen wachſam nach allen vier Winden hinauslugte.

Jupiter konnte das Leid der Inachustochter nicht länger ertragen. Er rief ſeinem geliebten Sohne Merkur, und befahl ihm, ſeine Liſt zu brauchen, und dem verhaßten Wächter das Augenlicht auszulöſchen. Dieſer beflügelte ſeine Füſſe, ergriff mit der mächtigen Hand ſeine einſchläfernde Ruthe und ſetzte ſeinen Reiſehut auf. So fuhr er von dem Pallaſte ſeines Vaters zur Erde nieder. Dort legte er Hut und Schwingen ab, und behielt nur den Stab; ſo ſtellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an ſich und trieb ſie auf die abgelegenen Fluren, wo Io waidete und Argus die Wache hielt. Dort angekommen, zog er ein Hirten¬ rohr, das man Syringe nennt, hervor und fing an ſo anmuthig und voll zu blaſen, wie man von irdiſchen Hir¬ ten zu vernehmen nicht gewohnt iſt. Der Diener Juno's25 freute ſich dieſes ungewohnten Schalles, erhob ſich von ſeinem Felſenſitze und rief hernieder: Wer du auch ſeyn magſt, willkommener Rohrbläſer, du konnteſt wohl bei mir auf dieſem Felſen hier ausruhen. Nirgends iſt der Gras¬ wuchs üppiger für das Vieh, als hier, und du ſiehſt, wie behaglich der Schatten dieſer dicht gepflanzten Bäume für den Hirten iſt! Merkur dankte dem Rufenden, ſtieg hinauf und ſetzte ſich zu dem Wächter, mit welchem er eifrig zu plaudern anfing, und ſich ſo ernſtlich ins Geſpräch vertiefte, daß der Tag herumging, ehe Argus ſich deſſen verſah. Dieſem begannen die Au¬ gen zu ſchläfern, und nun griff Merkur wieder zu ſeinem Rohre, und verſuchte ſein Spiel, um ihn vollends in Schlummer zu wiegen. Aber Argus, der an den Zorn ſeiner Herrin dachte, wenn er ſeine Gefangene ohne Feſ¬ ſeln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn ſich auch der Schlummer in einen Theil ſeiner Augen ein¬ ſchlich, ſo wachte er doch fortdauernd mit dem andern Theile, nahm ſich zuſammen, und, da die Rohrpfeife erſt kürzlich erfunden worden war, ſo fragte er ſeinen Geſel¬ len nach dem Urſprunge dieſer Erfindung. Das will ich dir gerne erzählen, ſagte Merkur, wenn du in dieſer ſpäten Abendſtunde Geduld und Aufmerkſamkeit genug haſt, mich anzuhören. In den Schneegebirgen Arkadiens wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe), mit Namen Syringe. Die Waldgötter und Satyrn, von ih¬ rer Schönheit bezaubert, verfolgten ſie ſchon lange mit ihrer Werbung, aber immer wußte ſie ihnen zu entſchlü¬ pfen. Denn ſie ſcheute das Joch der Vermählung, und wollte, umgürtet und jagdliebend wie Diana, gleich dieſer in jungfräulichem Stande verharren. Endlich wurde auf26 ſeinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige Gott Pan die Nymphe anſichtig, näherte ſich ihr und warb um ihre Hand dringend und im ſtolzen Bewußtſeyn ſeiner Hoheit. Aber die Nymphe verſchmähte ſein Flehen und flüchtete vor ihm durch unwegſame Steppen, bis ſie zuletzt an das langſame Waſſer des verſandeten Fluſſes Ladon kam, deſſen Wellen doch noch tief genug waren, der Jungfrau den Uebergang zu wehren. Hier beſchwor ſie ihre Schutzgöttin Diana, ehe ſie in die Hand des Gottes fiele, ihrer Verehrerin ſich zu erbarmen und ſie zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und umfaßte die am Ufer zögernde; aber wie ſtaunte er, als er, ſtatt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr umfaßt hielt; ſeine lauten Seufzer zogen vervielfältigt durch das Rohr, und wiederholten ſich mit tiefem, kla¬ gendem Geſäuſel. Der Zauber dieſes Wohllautes tröſtete den getäuſchten Gott. Wohl denn, verwandelte Nymphe, rief er mit ſchmerzlicher Freude, auch ſo ſoll unſre Ver¬ bindung unauflöslich ſeyn! Und nun ſchnitt er ſich von dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte ſie mit Wachs unter einander und nannte die lieblichtö¬ nende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade, und ſeitdem heißt dieſes Hirtenrohr Syringe ....

So lautete die Erzählung Merkurs, bei welcher er den hundertäugigen Wächter unausgeſetzt im Auge be¬ hielt. Die Mähre war noch, nicht zu Ende, als er ſah, wie ein Auge um das andere ſich unter der Decke gebor¬ gen hatte, und endlich alle die hundert Leuchten in dich¬ tem Schlaf erloſchen waren. Nun hemmte der Götter¬ bote ſeine Stimme, berührte mit ſeinem Zauberſtabe alle die hundert eingeſchläferten Augenlieder und verſtärkte ihre27 Betäubung. Während nun der hundertäugige Argus in tiefem Schlafe nickte, griff Merkur ſchnell zu dem Sichel¬ ſchwerte, das er unter ſeinem Hirtenrocke verborgen trug, und hieb ihm den geſenkten Nacken, da wo der Hals zu¬ nächſt an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und Rumpf ſtürzten nach einander von Felſen herab und färb¬ ten das Geſtein mit einem Strome von Blut.

Nun war Jo befreit und obwohl noch unverwandelt, rannte ſie ohne Feſſeln davon. Aber den durchdringenden Blicken Juno's entging nicht, was in der Tiefe geſchehen war. Sie dachte auf eine ausgeſuchte Qual für ihre Nebenbuhlerin und ſandte ihr eine Bremſe, die das un¬ glückliche Geſchöpf durch ihren Stich zum Wahnſinne trieb. Dieſe Qual jagte die Geängſtigte mit ihrem Sta¬ chel landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Scy¬ then, an den Kaukaſus, zum Amazonenvolke, zum Cimme¬ riſchen Iſthmus und an die Maeotiſche See; dann hin¬ über nach Aſien und endlich nach langem verzweiflungs¬ vollem Irrlaufe nach Aegypten. Hier am Strande des Nilufers angelangt, ſank Jo auf ihre Vorderfüße nieder und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre ſtummen Au¬ gen zum[Olymp] empor, mit einem Blicke voll Haders gegen Jupiter. Den jammerte dieſes Anblickes; er eilte zu ſeiner Gemahlin Juno, umfing ihren Hals mit den Ar¬ men, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen, das ſchuldlos an ſeiner Verirrung war, und ſchwor ihr beim Waſſer der Unterwelt, bei dem die Götter ſchwören, von ſeiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulaſſen. Juno hörte während dieſer Bitte das flehentliche Brüllen der Kuh, das zum Olymp emporſtieg. Da ließ ſich die Göt¬ termutter erweichen, und gab dem Gemahle Vollmacht,28 der Mißſtalteten den menſchlichen Leib zurückzugeben. Jupiter eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier ſtrich er der Kuh mit der Hand über den Rücken: da war es wunderbar anzuſchauen. Die Zotteln flohen vom Leibe des Thieres, das Gehörn ſchrumpfte zuſammen, die Scheibe der Augen verengte ſich, das Maul zog ſich zu Lippen zuſammen, Schultern und Hände kehrten wieder, die Klauen verſchwanden, nichts blieb von der Kuh übrig als die ſchöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Ge¬ ſtalt erhob ſich Io vom Boden und ſtand aufrecht in menſchlicher Schönheit leuchtend. Am Nilſtrome gebar ſie dem Jupiter den Epaphus, und weil das Volk die wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte, ſo herrſchte ſie lange mit Fürſtengewalt über jene Lande. Doch blieb ſie auch ſo nicht ganz von Juno's Zorne ver¬ ſchont. Dieſe ſtiftete das wilde Volk der Kureten auf, ihren jungen Sohn Epaphus zu entführen, und nun trat ſie aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an, den Geraubten aufzuſuchen. Endlich, nachdem Jupiter die Kureten mit dem Blitz erſchlagen, fand ſie den ent¬ führten Sohn an der Gränze Aethiopiens wieder, kehrte mit ihm nach Aegypten zurück und ließ ihn an ihrer Seite herrſchen. Er heirathete die Memphis, und dieſe gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen erhielt. Mutter und Sohn wurden von dem Nilvolke nach beider Tode mit Tempeln geehrt, und erhielten, ſie als Iſis, er als Apis, göttliche Verehrung.

29

Phaethon.

Auf herrlichen Säulen erbaut, ſtand die Königsburg des Sonnengottes, von blitzendem Gold und glühendem Karfunkel ſchimmernd; den oberſten Giebel umſchloß blendendes Elfenbein, gedoppelte Thüren ſtrahlten in Sil¬ berglanz, darauf in erhabener Arbeit die ſchönſten Wun¬ dergeſchichten zu ſchauen waren. In dieſen Pallaſt trat Phaethon, der Sohn des Sonnengottes Phöbus, und verlangte den Vater zu ſprechen. Doch ſtellte er ſich nur von ferne hin, denn in der Nähe war das ſtrahlende Licht nicht zu ertragen. Der Vater Phöbus, von Pur¬ purgewand umhüllt, ſaß auf ſeinem fürſtlichen Stuhle, der mit glänzenden Smaragden beſetzt war; zu ſeiner Rechten und ſeiner Linken ſtand ſein Gefolge geordnet, der Tag, der Monat, das Jahr, die Jahrhunderte und die Horen; der jugendliche Lenz mit ſeinem Blüthenkranze, der Sommer mit Aehrengewinden bekränzt, der Herbſt mit einem Füllhorn voll Trauben, der eiſige Winter mit ſchneeweißen Haaren. Phöbus, in ihrer Mitte ſitzend, wurde mit ſeinem allſchauenden Auge bald den Jüngling gewahr, der über ſo viele Wunder ſtaunte. Was iſt der Grund deiner Wallfahrt, ſprach er, was führt dich in den Pallaſt deines göttlichen Vaters, mein Sohn? Phaethon antwortete: Erlauchter Vater, man ſpottet mein auf Erden, und beſchimpft meine Mutter Klymene. Sie ſprechen, ich erheuchle nur himmliſche Abkunft, und ſey von einem dunkeln Vater geboren. Darum komme ich, von dir ein Unterpfand zu erbitten, das mich vor aller Welt als deinen wirklichen Sprößling darſtelle. 30So ſprach er; da legte Phöbus die Strahlen, die ihm rings das Haupt umleuchten, ab, und hieß ihn näher herantreten; dann umarmte er ihn und ſprach: deine Mutter Klymene hat die Wahrheit geſagt, mein Sohn, und ich werde dich vor der Welt nimmermehr verläugnen. Damit du aber ja nicht ferner zweifelſt, ſo erbitte dir ein Geſchenk! Ich ſchwöre beim Styx, dem Fluſſe der Unterwelt, bei welchem alle Götter ſchwören, deine Bitte, welche ſie auch ſey, ſoll dir erfüllt werden! Phaethon ließ den Vater kaum ausreden. So erfülle mir denn, ſprach er, meinen glühendſten Wunſch, und vertraue mir nur auf einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens.

Schrecken und Reue ward ſichtbar auf dem Ange¬ ſichte des Gottes. Drei, viermal ſchüttelte er ſein um¬ leuchtetes Haupt und rief endlich: O Sohn, du haſt mich ein ſinnloſes Wort ſprechen laſſen! O dürfte ich dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du verlangſt ein Geſchäft, dem deine Kräfte nicht gewachſen ſind; du biſt zu jung; du biſt ſterblich, und was du wünſcheſt, iſt ein Werk der Unſterblichen! Ja, du erſtre¬ beſt ſogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen vergönnt iſt. Denn auſſer mir vermag keiner von ihnen auf der gluthenſprühenden Axe zu ſtehen. Der Weg, den mein Wagen zu machen hat, iſt gar ſteil, mit Mühe er¬ klimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch friſches Roſſegeſpann. Die Mitte der Laufbahn iſt zu oberſt am Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in ſolcher Höhe ſtehe, da kommt mich oft ſelbſt ein Grauſen an und mein Haupt droht ein Schwindel zu faſſen, wenn ich ſo herniederblicke in die Tiefe, und Meer und Land weit unter mir liegt. Zuletzt iſt dann die Straße ganz31 abſchüſſig, da bedarf es gar ſicherer Lenkung. Die Mee¬ resgöttin Thetis ſelbſt, die mich dann in ihre Fluthen aufzunehmen bereit iſt, pflegt alsdann zu befürchten, ich möchte in die Tiefe geſchmettert werden. Dazu bedenke, daß der Himmel ſich in beſtändigem Umſchwunge dreht, und ich dieſem reißenden Kreislaufe entgegen fahren muß. Wie vermöchteſt du das, wenn ich dir auch meinen Wa¬ gen gäbe? Darum geliebter Sohn, verlange nicht ein ſo ſchlimmes Geſchenk, und beſſere deinen Wunſch, ſo lange es noch Zeit iſt. Sieh mein erſchrecktes Geſicht an. O könnteſt du durch meine Augen in mein ſorgenvolles Va¬ terherz eindringen! Verlange, was du ſonſt willſt von allen Gütern des Himmels und der Erde! Ich ſchwöre dir beim Styx, du ſollſt es haben! Was umarmſt du mich mit ſolchem Ungeſtüm?

Aber der Jüngling ließ mit Flehen nicht ab, und der Vater hatte den heiligen Schwur geſchworen. So nahm er denn ſeinen Sohn bei der Hand und führte ihn zu dem Sonnenwagen, Vulkans herrlicher Arbeit. Achſe, Deichſel und der Kranz der Räder waren von Gold, die Speichen Silber; vom Joche ſchimmerten Chryſolithen und Juwelen. Während Phaethon die herrliche Arbeit beherzt anſtaunte, thut im gerötheten Oſten die erwachte Morgenröthe ihr Purpurthor und ihren Vorſaal, der voll Roſen iſt, auf. Die Sterne verſchwinden allmählig, der Morgenſtern iſt der letzte, der ſeinen Poſten am Him¬ mel verläßt, und die äußerſten Hörner des Mondes ver¬ lieren ſich am Rande. Jetzt giebt Phöbus den geflügel¬ ten Horen den Befehl, die Roſſe zu ſchirren; und dieſe führen die gluthſprühenden Thiere, von Ambroſia geſät¬ tigt, von den erhabenen Krippen und legen ihnen herr¬32 liche Zäume an. Während dieß geſchieht, beſtrich der Vater das Antlitz ſeines Sohnes mit einer heiligen Salbe, und machte es dadurch geſchickt, die glühende Flamme zu ertragen. Um das Haupthaar legte er ihm ſeine Strah¬ lenſonne, aber er ſeufzte dazu, und ſprach warnend: Kind, ſchone mir die Stacheln, brauche wacker die Zügel; denn die Roſſe rennen ſchon von ſelbſt, und es koſtet Mühe, ſie im Fluge zu halten; die Straße geht ſchräg in weit umbiegender Krümmung; den Südpol wie den Nordpol mußt du meiden. Du erblickſt deutlich die Gleiſe der Räder. Senke dich nicht zu tief, ſonſt geräth die Erde in Brand; ſteige nicht zu hoch, ſonſt verbrennſt du den Himmel. Auf, die Finſterniß flieht, nimm die Zügel zur Hand; oder noch iſt es Zeit; beſinne dich, liebes Kind; überlaß den Wagen mir, laß mich der Welt das Licht ſchenken, und bleibe du Zu¬ ſchauer!

Der Jüngling ſchien die Worte des Vaters gar nicht zu hören, er ſchwang ſich mit einem Sprung auf den Wagen, ganz erfreut, die Zügel in den Händen zu haben, und nickte dem unzufriedenen Vater einen kurzen, freundlichen Dank. Mittlerweile füllten die vier Flügel¬ roſſe mit gluthathmendem Wiehern die Luft und ihr Huf ſtampfte gegen die Barren. Thetis, Phaethons Großmut¬ ter, welcher nichts vom Looſe des Enkels ahnte, that dieſe auf; die Welt lag in unendlichem Raume vor den Blicken des Knaben, die Roſſe flogen die Bahn aufwärts, und ſpalteten die Morgennebel, die vor ihnen lagen.

Inzwiſchen fühlten die Roſſe wohl, daß ſie nicht die gewohnte Laſt tragen, und das Joch leichter ſey, als ge¬ wöhnlich; und wie Schiffe, wenn ſie das rechte Gewicht33 nicht haben, im Meere ſchwanken, ſo machte der Wagen Sprünge in der Luft, ward hoch empor geſtoßen und rollte dahin, als wäre er leer. Als das Roſſegeſpann dieß merkte, rannte es, die gebahnten Räume verlaſſend, und lief nicht mehr in der vorigen Ordnung. Phaethon fing an zu erbeben, er wußte nicht, wohin die Zügel lenken, wußte den Weg nicht, wußte nicht, wie er die wilden Roſſe bändigen ſollte. Als nun der Unglückliche hoch vom Himmel abwärts ſah, auf die tief, tief unter ihm ſich hinſtreckenden Länder, wurde er blaß und ſeine Kniee zitterten von plötzlichem Schrecken. Er ſah rück¬ wärts; ſchon lag viel Himmel hinter ihm, aber mehr noch vor ſeinen Augen. Beides ermaß er in ſeinem Geiſte. Unwiſſend, was beginnen, ſtarrte er in die Weite, ließ die Zügel nicht nach, zog ſie auch nicht weiter an; er wollte den Roſſen rufen, aber er kannte ihre Namen nicht. Mit Grauen ſah er die mannigfaltigen Stern¬ bilder an, die in abentheuerlichen Geſtalten am Himmel herumhingen. Da ließ er, von kaltem Entſetzen gefaßt, die Zügel fahren, und wie dieſe herabſchlotternd den Rücken der Pferde berührten, ſo verließen die Roſſe ihre Spur, ſchweiften ſeitwärts in fremde Luftgebiete, gingen bald hoch empor, bald tief hernieder, jetzt ſtießen ſie an den Fixſternen an, jetzt wurden ſie auf abſchüſſigem Pfade in die Nachbarſchaft der Erde herabgeriſſen. Schon berühr¬ ten ſie die erſte Wolkenſchichte, die bald entzündet auf¬ dampfte. Immer tiefer ſtürzte der Wagen, und unver¬ ſehens war er einem Hochgebirge nahe gekommen. Da lechzte vor Hitze der Boden, ſpaltete ſich, und weil plötz¬ lich alle Säfte austrockneten, fing er an zu glimmen; das Haidegras wurde weißgelb und welkte hinweg; wei¬Schwab, das klaſſ. Altherthum. I. 334ter unten loderte das Laub der Waldbäume auf; bald war die Glut bei der Ebene angekommen: nun wurde die Saat weggebrannt; ganze Städte loderten in Flam¬ men auf, Länder mit all ihrer Bevölkerung wurden ver¬ ſengt; rings brannten Hügel, Wälder und Berge. Da¬ mals ſollen auch die Mohren ſchwarz geworden ſeyn. Die Ströme verſiegten, oder flohen erſchreckt nach ihrer Quelle zurück, das Meer ſelbſt wurde zuſammengedrängt, und was jüngſt noch See war, wurde trockenes Sand¬ feld.

An allen Seiten ſah Phaethon den Erdkreis entzün¬ det; ihm ſelbſt wurde die Gluth bald unerträglich; wie tief aus dem Innern einer Feuereſſe athmete er ſiedende Luft ein, und fühlte unter ſeinen Sohlen wie der Wagen erglühe. Schon konnte er den Dampf und die vom Erd¬ brand emporgeſchleuderte Aſche nicht mehr ertragen; Qualm und pechſchwarzes Dunkel umgab ihn; das Flü¬ gelgeſpann riß ihn nach Willkühr fort; endlich ergriff die Gluth ſeine Haare, er ſtürzte aus dem Wagen, und brennend wurde er durch die Luft gewirbelt, wie zuweilen ein Stern bei heiterer Luft durch den Himmel zu ſchieſſen ſcheint. Ferne von der Heimath nahm ihn der breite Strom Eridanos auf und beſpülte ihm ſein ſchäumendes Angeſicht.

Phöbus der Vater, der dieß Alles mit anſehen mußte, verhüllte ſein Haupt in brütender Trauer. Damals, ſagt man, ſey ein Tag der Erde ohne Sonnenlicht vorüberge¬ flohen. Der ungeheure Brand leuchtete allein.

35

Europa.

Im Lande Tyrus und Sidon erwuchs die Jungfrau Europa, die Tochter des Königes Agenor, in der tiefen Abgeſchiedenheit des väterlichen Pallaſtes. Zu dieſer ward nachmitternächtlicher Weile, wo untrügliche Träu¬ me die Sterblichen beſuchen, ein ſeltſames Traum¬ bild vom Himmel geſendet. Es kam ihr vor, als er¬ ſchienen zwei Welttheile in Frauengeſtalt, Aſien und der gegenüberliegende, und ſtritten um ihren Beſitz. Die eine der Frauen hatte die Geſtalt einer Fremden; die andere und dieß war Aſien glich an Ausſehen und Geberde einer Einheimiſchen. Dieſe wehrte ſich mit zärtlichem Eifer für ihr Kind Europa, ſpreche[nd], daß ſie es ſey, welche die geliebte Tochter geboren und geſäugt hätte. Das fremde Weib aber umfaßte ſie, wie einen Raub, mit gewaltigen Armen, und zog ſie mit ſich fort, ohne daß Europa im Innern zu widerſtreben vermochte. Komm nur mit mir, Liebchen, ſprach die Fremde, ich trage dich als Beute dem Aegiserſchütterer Jupiter ent¬ gegen; ſo iſt dirs vom Geſchicke beſchieden. Mit klopfen¬ dem Herzen erwachte Europa, und richtete ſich vom La¬ ger auf, denn das Nachtgeſicht war hell wie ein Anblick des Tages geweſen. Lange Zeit ſaß ſie unbeweglich auf¬ recht im Bette, vor ſich hinſtarrend, und vor ihren weit aufgethanen Augenſternen ſtanden noch die beiden Weiber. Erſt ſpät öffneten ſich ihre Lippen zum bangen Selbſtge¬ ſpräche: Welcher Himmliſche, ſprach ſie, hat mir dieſe Bilder zugeſchickt? Was für wunderbare Träume haben mich aufgeſchreckt, die im Vaterhauſe ſüß und ſicher3 *36ſchlummerte? Wer war doch die Fremde, die ich im Traume geſehen? Welch eine wunderbare Sehnſucht nach ihr regt ſich in meinem Herzen! Und wie iſt ſie ſelbſt mir ſo liebreich entgegen gekommen und, auch als ſie mich gewaltſam entführte, mit welchem Mutterblicke hat ſie mich angelächelt! Mögen die ſeligen Götter mir den Traum zum Beſten kehren!

Der Morgen war herangekommen; der helle Tages¬ ſchein verwiſchte den nächtlichen Schimmer des Traumes aus der Seele der Jungfrau, und Europa erhub ſich zu den Beſchäftigungen und Freuden ihres jungfräulichen Lebens. Bald ſammelten ſich um ſie ihre Altersgenoſſin¬ nen und Geſpielinnen, Töchter der erſten Häuſer, welche ſie zu Chortänzen, Opfern und Luſtgängen zu begleiten pflegten. Auch jetzt kamen ſie, ihre Herrin zu einem Gange nach den blumenreichen Wieſen des Meeres ein¬ zuladen, wo ſich die Mädchen der Gegend ſchaarenweiſe zu verſammeln und am üppigen Wuchſe der Blumen und am rauſchenden Halle des Meeres zu erfreuen pflegten. Alle Mädchen waren in ſchmucke blumengeſtickte Gewande gekleidet; Europa ſelbſt trug ein wunderwürdiges Gold¬ geſticktes Schleppkleid voll glänzender Bilder aus der Götterſage; das herrliche Gewand war ein Werk des Vulkanus, ein uraltes Göttergeſchenk des Erderſchütterers Neptunus, das dieſer der Libya geſchenkt hatte, als er um ſie warb. Aus ihrem Beſitze war es von Hand zu Hand als Erbſtück in das Haus des Agenor gekommen. Mit dieſem Brautſchmuck angethan eilte die holdſelige Europa an der Spitze ihrer Geſpielinnen den Meereswieſen zu, die voll der bunteſten Blumen ſtanden. Jubelnd zer¬ ſtreute ſich die Schaar der Mädchen da und dorthin, jede37 ſuchte ſich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war. Die eine pflückte die glänzende Narciſſe, die andere wandte ſich der Balſam ausſtrömenden Hyacinthe zu, eine dritte erwählte ſich das ſanfter duftende Veilchen, andern gefiel der gewürzige Quendel, wieder andere mähten den gel¬ ben lockenden Krokus. So flogen die Geſpielinnen hin und her; Europa aber hatte bald ihr Ziel gefunden, ſie ſtand, wie unter den Grazien die ſchaumgeborne Liebes¬ göttin, alle ihre Genoſſinnen überragend und hielt hoch in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Roſen.

Als ſie genug Blumen geſammelt, lagerten ſich die Jungfrauen, ihre Fürſtin in der Mitte, harmlos auf dem Raſen und fingen an Kränze zu flechten, die ſie, den Nymphen der Wieſe zum Dank, an grünenden Bäumen aufhängen wollten. Aber nicht lange ſollten ſie ihren Sinn an den Blumen ergötzen, denn in das ſorgloſe Ju¬ gendleben Europa's griff unverſehens das Schickſal ein, das ihr der Traum der verſchwundenen Nacht geweiſ¬ ſagt hatte. Jupiter, der Kronide, war von den Geſchoßen der Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Götterva¬ ter zu beſiegen vermochten, getroffen und von der Schönheit der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den Zorn der eiferſüchtigen Juno fürchtete, auch nicht hoffen durfte, den unſchuldigen Sinn der Jungfrau zu bethören, ſo ſann der verſchlagene Gott auf eine neue Liſt. Er verwandelte ſeine Geſtalt, und wurde ein Stier. Aber welch ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wieſe geht, oder unters Joch gebeugt den ſchwer beladenen Wagen zieht; nein, groß, herrlich von Geſtalt, mit ſchwellenden Muskeln am Halſe und vollen Wampen am Bug, ſeine Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrech¬38 ſelt und durchſichtiger, als reine Juwelen; goldgelb war ſeine Leibfarbe, nur mitten auf der Stirne ſchimmerte ein ſilberweißes Maal, dem gekrümmten Horne des wachſen¬ den Mondes ähnlich; bläulichte, von Verlangen funkelnde Augen rollten ihm im Kopfe.

Ehe Jupiter dieſe Verwandlung mit ſich vornahm, rief er zu ſich auf den Olymp den Merkurius und ſprach, ohne ihm et¬ was von ſeinen Abſichten zu enthüllen: Spute dich, lieber Sohn, getreuer Vollbringer meiner Befehle! Siehſt du dort un¬ ten das Land, das links zu uns emporblickt? Es iſt Phönicien: dieſes betritt, und treibe mir das Vieh des Königes Age¬ nor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirſt, gegen das Meeresufer hinab. In wenigen Augenblicken war der geflügelte Gott, dem Winke ſeines Vaters ge¬ horſam, auf der ſidoniſchen Bergwaide angekommen und trieb die Heerde des Königes, unter die ſich auch, ohne daß Merkur es geahnt hätte, der verwandelte Jupiter als Stier gemiſcht hatte, vom Berge herab nach dem ange¬ wieſenen Strande, eben auf jene Wieſen, wo die Tochter Agenors, von tyriſchen Jungfrauen umringt, ſorglos mit Blumen tändelte. Die übrige Heerde nun zerſtreute ſich über die Wieſen ferne von den Mädchen; nur der ſchöne Stier, in welchem der Gott verborgen war, nä¬ herte ſich dem Raſenhügel, auf welchem Europa mit ihren Geſpielinnen ſaß. Schmuck wandelte er im üppigen Graſe einher, über ſeiner Stirne ſchwebte kein Drohen, ſein funkelndes Auge flößte keine Furcht ein: ſein ganzes Aus¬ ſehen war voll Sanftmuth. Europa und ihre Jungfrauen bewunderten die edle Geſtalt des Thieres und ſeine fried¬ lichen Gebärden, ja ſie bekamen Luſt, ihn recht in der Nähe zn beſehen, und ihm den ſchimmernden Rücken zu39 ſtreicheln. Der Stier ſchien dies zu merken, denn er kam immer näher und ſtellte ſich endlich dicht vor Europa hin. Dieſe ſprang auf und wich anfangs einige Schritte zurück; als aber das Thier ſo gar zahm ſtehen blieb, faßte ſie ſich ein Herz, näherte ſich wieder und hielt ihm ihren Blumenſtrauß vor das ſchäumende Maul, aus dem ſie ein ambroſiſcher Athem anwehte. Der Stier leckte ſchmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte Jung¬ frauenhand, die ihm den Schaum abwiſchte, und ihn lieb¬ reich zu ſtreicheln begann. Immer reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja ſie wagte es und drückte einen Kuß auf ſeine glänzende Stirne. Da ließ das Thier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere gemeine Stiere brüllen, ſondern es tönte wie der Klang einer lydiſchen Flöte, die ein Bergthal durchhallt. Dann kauerte er ſich zu den Füßen der ſchönen Fürſtin nieder, blickte ſie ſehnſüchtig an, wandte ihr den Nacken zu und zeigte ihr den breiten Rücken. Da ſprach Europa zu ih¬ ren Freundinnen, den Jungfrauen: Kommt doch auch näher, liebe Geſpielinnen, daß wir uns auf den Rücken dieſes ſchönen Stieres ſetzen und unſere Luſt haben: ich glaube, er könnte unſerer Viere aufnehmen und beherbergen, wie ein geräumiges Schiff. Er iſt ſo ſanftmüthig anzu¬ ſchauen, ſo holdſelig; er gleicht gar nicht anderen Stie¬ ren: wahrhaftig, er hat Verſtand, wie ein Menſch und es fehlt ihm gar nichts als die Rede! Mit dieſen Wor¬ ten nahm ſie ihren Geſpielinnen die Kränze, einen nach dem andern, aus den Händen und behängte damit die geſenkten Hörner des Stieres; da ſchwang ſie ſich lächelnd auf ſeinen Rücken, während ihre Freundinnen zaudernd und unſchlüßig zuſahen.

40

Der Stier aber, als er die geraubt, die er gewollt hatte, ſprang vom Boden auf. Anfangs ging er ganz ſachte mit der Jungfrau davon, doch ſo, daß ihre Genoſ¬ ſinnen nicht gleichen Schritt mit ſeinem Gange halten konnten. Als er die Wieſen im Rücken und den kahlen Strand vor ſich hatte, verdoppelte er ſeinen Lauf und glich nun nicht mehr einem trabenden Stiere, ſondern einem fliegendem Roß. Und ehe ſich Europa beſinnen konnte, war er mit einem Satz ins Meer geſprungen, und ſchwamm mit ſeiner Beute dahin. Die Jungfrau hielt mit der Rechten eins ſeiner Hörner umklammert, mit der Linken ſtützte ſie ſich auf den Rücken; in ihre Gewänder blies der Wind, wie in ein Segel; ängſtlich blickte ſie nach dem verlaſſenen Lande zurück, und rief umſonſt den Geſpielinnen; das Waſſer umwallte den ſe¬ gelnden Stier, und, ſeine hüpfenden Wellen ſcheuend, zog ſie furchtſam die Ferſen hinauf. Aber das Thier ſchwamm dahin wie ein Schiff; bald war das Ufer verſchwunden, die Sonne untergegangen, und im Helldunkel der Nacht ſah die unglückliche Jungfrau nichts um ſich her, als Wogen und Geſtirne. So ging es fort, auch als der Morgen kam; den ganzen Tag ſchwamm ſie auf dem Thiere durch die unendliche Fluth dahin; doch wußte die¬ ſes ſo geſchickt die Wellen zu durchſchneiden, daß kein Tropfen ſeine geliebte Beute benetzte. Endlich gegen Abend erreichten ſie ein fernes Ufer. Der Stier ſchwang ſich ans Land, ließ die Jungfrau unter einem gewölbten Baume ſanft vom Rücken gleiten und verſchwand vor ih¬ ren Blicken. An ſeine Stelle trat ein herrlicher, götter¬ gleicher Mann, der ihr erklärte, daß er der Beherrſcher der Inſel Kreta ſey, und ſie ſchützen werde, wenn er41 durch ihren Beſitz beglückt würde. Europa in ihrer troſt¬ loſen Verlaſſenheit, reichte ihm ihre Hand als Zeichen der Einwilligung, und Jupiter hatte das Ziel ſeiner Wünſche erreicht. Auch er verſchwand, wie er gekommen war. Aus langer Betäubung erwachte Europa, als ſchon die Morgenſonne am Himmel ſtand. Mit verirrten Blicken ſah ſie um ſich her, als wollte ſie die Heimat ſuchen. Vater, Vater! rief ſie mit durchdringendem Wehelaut, beſann ſich eine Weile und rief wieder: Ich verworfene Tochter, wie darf ich den Vaternamen nur ausſprechen? Welcher Wahnſinn hat mich die Kindesliebe vergeſſen laſſen! Dann ſah ſie wieder, wie ſich beſinnend, umher und fragte ſich ſelbſt: Woher, wohin bin ich ge¬ kommen? Zu leicht iſt Ein Tod für die Schuld der Jungfrau! Aber wache ich denn auch und beweine einen wirklichen Schimpf? Nein, ich bin gewiß unſchuldig an allem, und es neckt meinen Geiſt nur ein nichtiges Traumbild, das der Morgenſchlaf wieder entführen wird! Wie wäre es auch möglich, daß ich mich hätte entſchlieſ¬ ſen können, lieber auf dem Rücken eines Unthieres durch unendliche Fluten zu ſchwimmen, als in holder Sicher¬ heit friſche Blumen zu pflücken! So ſprach ſie und fuhr mit der flachen Hand über die Augenlieder, als wollte ſie den verhaßten Traum verwiſchen. Als ſie aber um ſich blickte, blieben die fremden Gegenſtände unverrückt vor ihren Augen; unbekannte Bäume und Felſen umga¬ ben ſie, und eine unheimliche Meeresflut ſchäumte, an un¬ heimlichen Klippen ſich brechend, empor am niegeſchauten Geſtade. Ach, wer mir jetzt den verfluchten Stier aus¬ lieferte, rief ſie verzweifelnd: wie wollte ich ihn zerflei¬ ſchen: nicht ruhen wollte ich, bis ich die Hörner des Un¬42 geheures zerbrochen, das mir jüngſt noch ſo liebenswürdig erſchien! Eitler Wunſch! Nachdem ich ſchamlos die Hei¬ math verlaſſen, was bleibt mir übrig, als zu ſterben? Wenn ich nicht von allen Göttern verlaſſen bin, ſo ſen¬ det mir, ihr Himmliſchen, einen Löwen, einen Tiger! Vielleicht reizt ſie die Fülle meiner Schönheit, und ich muß nicht warten, bis der entſetzliche Hunger an dieſen blühen¬ den Wangen zehrt! Aber kein wildes Thier erſchien; lächelnd und friedlich lag die fremde Gegend vor ihr und vom unumwölkten Himmel leuchtete die Sonne. Wie von Furien beſtürmt, ſprang die verlaſſene Jungfrau auf. Elende Europa, rief ſie, hörſt du nicht die Stimme dei¬ nes abweſenden Vaters, der dich verflucht, wenn du dei¬ nem ſchimpflichen Leben nicht ein Ende machſt! Zeigt er dir nicht jene Eſche, an welche du dich mit deinem Gür¬ tel aufhängen kannſt? Deutet er nicht hin auf jenes ſpitze Felsgeſtein, von welchem herab dich ein Sprung in den Sturm der Meeresflut begraben wird? Oder willſt du lieber einem Barbarenfürſten als Nebenweib dienen, und, als Sclavin, von Tag zu Tag die zugetheilte Wolle abſpinnen, du, ei¬ nes hohen Königes Tochter? So quälte ſich das un¬ glückliche verlaſſene Mädchen mit Todesgedanken, und fühlte doch nicht den Muth in ſich, zu ſterben. Da ver¬ nahm ſie plötzlich ein heimliches ſpottendes Flüſtern hin¬ ter ſich, glaubte ſich belauſcht, und blickte erſchrocken rück¬ wärts. In überirdiſchem Glanze ſah ſie da die Göttin Ve¬ nus vor ſich ſtehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott, mit geſenktem Bogen zur Seite. Noch ſchwebte ein Lä¬ cheln auf den Lippen der Göttin, dann ſprach ſie: Laß deinen Zorn und Hader, ſchönes Mädchen! Der verhaßte Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen43 darreichen, ich bin es, die dir im väterlichen Hauſe jenen Traum geſendet. Tröſte dich, Europa! Jupiter iſt es, der dich geraubt hat; du biſt die irdiſche Gattin des unbeſieg¬ ten Gottes: unſterblich wird dein Name werden; denn der fremde Welttheil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!

44

Kadmus.

Kadmus war ein Sohn des phöniziſchen Königes Agenor, ein Bruder der Europa. Als Jupiter dieſe, in einen Stier verwandelt, entführt hatte, ſandte den Kadmus und deſſen Brüder ſein Vater aus, ſie zu ſuchen und ohne ſie erlaubte er ihnen nicht wieder zurückzukom¬ men. Lange hatte Kadmus vergebens die Welt durchirrt, ohne Jupiters Schliche entdecken zu können. Als er die Hoffnung verloren hatte, ſeine Schweſter wieder aufzu¬ finden, ſcheute er ſeines Vaters Zorn, wandte ſich an das Orakel Phöbus-Apollo's und forſchte, welches Land er inskünftige bewohnen ſollte. Apollo gab ihm die Weiſung: Du wirſt ein Rind auf einſamen Auen tref¬ fen, das noch kein Joch geduldet hat. Von dieſem ſollſt du dich leiten laſſen, und an dem Platze, wo es im Graſe ruhen wird, erbaue Mauern und nenne die Stadt Theben.

Kaum hatte Kadmus die kaſtaliſche Höhle verlaſſen, wo Apolls Orakel war, als er ſchon auf der grünen Waide eine Kuh ſich bedächtig ergehen ſah, die noch kein Zeichen der Dienſtbarkeit um den Nacken trug. Laut¬ los zu Phöbus betend folgte er mit langſamen Schritten den Spuren des Thieres. Schon hatte er die Furth des Ccphiſſus durchwatet und war über eine gute Strecke Landes gekommen, als auf einmal das Rind ſtille ſtand, ſein Gehörn gen Himmel ſtreckte und die Luft mit Brül¬ len erfüllte; dann ſchaute es rückwärts nach der Schaar der Männer, die ihm folgte, und kauerte ſich endlich im ſchwellenden Graſe nieder.

45

Voll Dankes warf ſich Kadmus auf der fremden Erde nieder und küßte ſie. Hierauf wollte er dem Jupiter opfern, und hieß die Diener ſich aufmachen um ihm Waſſer aus lebendigem Quell zum Trankopfer zu holen. Dort war ein altes Gehölz, das noch von keinem Beile jemals ausgehauen worden war, mitten darin bildete durch zuſammengefügtes Felsgeſtein, mit Geſtrüppe und Strauchwerk verwachſen, eine Kluft, reich an Quellwaſſer, ein niedriges Gewölbe. In dieſer Höhle verſteckt ruhte ein grauſamer Drache. Weithin ſah man ſeinen rothen Kamm ſchimmern, aus den Augen ſprühte Feuer, ſein Leib ſchwoll von Gift, mit drei Zungen ziſchte er, und mit drei Reihen Zähne war ſein Rachen bewaffnet. Wie nun die Phönizier den Hain betreten hatten, und der Krug, niedergelaſſen, in den Wellen plätſcherte, ſtreckte der bläuliche Drache plötzlich ſein Haupt weit aus der Höhle und erhub ein entſetzliches Ziſchen. Die Schöpf¬ urnen entgleiteten der Hand der Diener, und vor Schrecken ſtockte ihnen das Blut im Leibe. Der Drache aber ver¬ wickelte ſeine ſchuppigen Ringe zum ſchlüpfrigen Knäuel, dann krümmte er ſich im Bogenſprunge, und über die Hälfte aufgerichtet ſchaute er auf den Wald herab. Dann reckte er ſich gegen die Phönizier aus, tödtete die Einen durch ſeinen Biß, die andern erdrückte er mit ſeiner Um¬ ſchlingung, noch andere erſtickte ſein bloßer Anhauch und wieder andere brachte ſein giftiger Geifer um.

Kadmus wußte nicht, warum ſeine Diener ſo lange zauderten. Zuletzt machte er ſich auf, ſelbſt nach ihnen zu ſchauen. Er deckte ſich mit dem Felle, das er einem Lö¬ wen abgezogen hatte, nahm Lanze und Wurfſpieß mit ſich, dazu ein Herz, das beſſer war, als jede Waffe. Das46 erſte was ihm beim Eintritt in den Hain aufſtieß, wa¬ ren die Leichen ſeiner getödteten Diener und über ihnen ſah er den Feind mit geſchwollenem Leibe triumphiren und mit der blutigen Zunge die Leichname belecken. Ihr armen Genoſſen, rief Kadmus voll Jammer aus, entwe¬ der bin ich euer Rächer, oder der Gefährte eures Todes! Mit dieſen Worten ergriff er ein Felsſtück und ſandte es gegen den Drachen. Mauern und Thürme hätte wohl der Stein erſchüttert, ſo groß war er. Aber der Drache blieb unverwundet, ſein harter ſchwarzer Balg und die Schuppenhaut ſchirmten ihn wie ein eherner Panzer. Nun verſuchte es der Held mit dem Wurfſpieß. Dieſem hielt der Leib des Ungeheuers nicht Stand, die ſtählerne Spitze ſtieg tief in ſein Eingeweide nieder. Wüthend vor Schmerz drehte der Drache den Kopf gegen den Rücken und zermalmte dadurch die Stange des Wurf¬ ſpießes, aber das Eiſen blieb im Leibe ſtecken. Ein Streich vom Schwerte ſteigerte noch ſeine Wuth, der Schlund ſchwoll ihm auf, und weißer Schaum floß aus dem giftigen Rachen. Aufrechter als ein Baumſtamm ſchoß der Drache hinaus, dann rannte er mit der Bruſt wieder gegen die Waldbäume. Agenors Sohn wich dem Anfalle aus, deckte ſich mit der Löwenhaut und ließ die Drachenzähne an der Lanzenſpitze ſich abmüden. Endlich fieng das Blut dem Unthier aus dem Halſe zu fließen an, und röthete die grünen Kräuter umher; aber die Wunde war nur leicht, denn es wich jedem Stoß und Stiche aus, und verſtattete ihnen nicht feſt zu ſitzen. Zu¬ letzt jedoch ſtieß ihm Kadmus das Schwert in die Gurgel, ſo tief, daß es rücklings in einen Eichbaum fuhr und mit dem Nacken des Ungeheuers zugleich der Stamm47 durchbohrt wurde. Der Baum wurde von dem Gewichte des Drachen krumm gebogen und ſeufzte, weil er ſich den Stamm von der Spitze des Schweifes gepeitſcht fühlte. Nun war der Feind überwältigt.

Kadmus betrachtete den erlegten Drachen lange; als er ſich wieder umſah, ſtand Pallas-Athene (Minerva), die vom Himmel herniedergefahren war, zu ſeiner Seite, und befahl ihm ſofort die Zähne des Drachen als Nachwuchs künftigen Volkes in aufgelockertes Erdreich zu ſäen. Er gehorchte der Göttin, öffnete mit dem Pflug eine breite Furche auf dem Boden, und fing an die Drachenzähne, wie ihm befohlen war, die Oeffnung entlang auszuſtreuen. Auf einmal begann die Scholle ſich zu rühren, und aus den Furchen hervor blickte zuerſt nur die Spitze einer Lanze, dann kam ein Helm hervor, auf welchem ein far¬ biger Buſch ſich ſchwenkte, bald ragten Schulter und Bruſt, und bewaffnete Arme aus dem Boden, und endlich ſtand ein gerüſteter Krieger, vom Kopf bis zum Fuße der Erde entwachſen, da. Dieß geſchah an vielen Orten zugleich, und eine ganze Saat bewaffneter Männer wuchs vor den Augen des Phöniziers empor.

Agenors Sohn erſchrack und war gefaßt darauf, einen neuen Feind bekämpfen zu müſſen. Aber einer von dem erdentſproſſenen Volke rief ihm zu: Nimm die Waffen nicht, menge dich nicht in innere Kriege! So¬ fort holte dieſer auf einen der ihm zunächſt aus der Furche hervorgekommenen Brüder mit einem Schwert¬ ſtreich aus; ihn ſelbſt ſtreckte zu gleicher Zeit ein Wurf¬ ſpieß nieder, der aus der Ferne geflogen kam. Auch der, welcher ihm den Tod gegeben, verhauchte unter einer Wunde den kaum empfangenen Lebensathem bald wieder. 48Der ganze Männerſchwarm tobte in fürchterlichem Wech¬ ſelkampfe; faſt alle lagen mit zuckender Bruſt auf dem Boden und die Mutter Erde trank das Blut ihrer eben erſt geborenen Söhne. Nur fünf waren übrig geblieben. Einer davon er ward ſpäter Echion genannt warf zuerſt auf Minervens Geheiß die Waffen zur Erde, und erbot ſich zum Frieden; ihm folgten die Anderen.

Mit dieſer fünf erdentſproſſenen Krieger Hülfe baute der phöniziſche Fremdling Kadmus die neue Stadt, dem Orakel des Phöbus gehorſam, und nannte ſie, wie ihm befohlen war, Theben.

49

Pentheus.

Zu Theben ward Bacchus oder Dionysos, der Sohn Jupiters und Semele's, der Enkel des Kadmus, wunderbar geboren, der Gott der Fruchtbarkeit, der Er¬ finder des Weinſtocks. In Indien erzogen, verließ er bald die Nymphen, ſeine Pflegerinnen, und durchreiste die Länder, um allenthalben die Menſchen zu bilden, den Bau des herzerfreuenden Weines zu lehren, und die Ver¬ ehrung ſeiner Gottheit zu gründen. So gütig er gegen ſeine Freunde war, ſo hart beſtrafte er diejenigen, die ſeinen Gottesdienſt nicht anerkennen wollten. Schon war ſein Ruhm durch die Städte Griechenlands und bis zur Stadt ſeiner Geburt, nach Theben, gedrungen. Dort aber herrſchte Pentheus, welchem Kadmus das Königreich über¬ geben hatte, der Sohn des erdentſproßenen Echion und der Agave, einer Mutterſchweſter des Bacchus. Dieſer war ein Verächter der Götter und zu meiſt ſeines Ver¬ wandten, des Dionyſos. Als nun der Gott mit ſeinem jauchzenden Gefolge von Bacchanten herannahte, um ſich dem Könige von Theben als Gott zu offenbaren, hörte dieſer nicht auf die Warnung des blinden, greiſen Se¬ hers Tireſias, und als ihm die Nachricht zu Ohren kam, daß auch aus Theben Männer, Frauen und Jungfrauen zur Verehrung des neuen Gottes hinausſtrömten, fing er an ergrimmt zu ſchelten: Welch ein Wahnſinn hat euch bethört, ihr drachenentſproſſenen Thebaner, daß ihr, die kein Schlachtſchwert, keine Trompete jemals geſchreckt hat, jetzt ein weichlicher Zug von berauſchten Thoren und Weibern beſiegt? Und ihr Phönizier, die ihr weit überSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 450Meere hierher gefahren ſeyd, und euren alten Göttern eine Stadt gegründet, habt ihr ganz vergeſſen, aus wel¬ chem Heldengeſchlecht ihr gezeugt ſeyd? Wollt ihr es dul¬ den, daß ein wehrloſes Knäblein Theben erobere, ein Weichling mit balſamtriefendem Haar, auf dem ein Kranz aus Weinlaub ſitzt, in Purpur und Gold anſtatt in Stahl gekleidet, der kein Roß tummeln kann, dem keine Wehr, keine Fehde behagt? Wenn nur Ihr wieder zur Beſinnung kommet, ſo will ich ihn bald nöthigen, einzuge¬ ſtehen, daß er ein Menſch iſt, wie ich, ſein Vetter, daß nicht Jupiter ſein Vater und alle dieſe prächtige Gottes¬ verehrung erlogen iſt! Dann wandte er ſich zu ſeinen Dienern, und befahl ihnen, den Anführer dieſer neuen Raſerey, wo ſie ihn anträfen, zu faſſen und in Feſſeln herzuſchleppen.

Seine Freunde und Verwandte, die um den König waren, erſchracken über dieſen frechen Befehl, ſein Ahn¬ herr Kadmus, der in hohem Greiſenalter noch lebte, ſchüt¬ telte das Haupt und mißbilligte das Thun des Enkels; aber durch Ermahnungen wurde ſeine Wuth nur geſtachelt, ſie ſchäumte über alle Hinderniſſe hin, wie ein raſender Fluß über das Wehr.

Unterdeſſen kamen die Diener mit blutigen Köpfen zurück. Wo habt ihr den Bacchus? rief ihnen Pentheus zornig entgegen. Den Bacchus, antworteten ſie, haben wir nirgends geſehen. Dafür bringen wir hier einen Mann aus ſeinem Gefolge. Er ſcheint noch nicht lange bei ihm zu ſeyn. Pentheus ſtarrte den Gefangenen mit grimmigen Augen an, und ſchrie dann: Mann des To¬ des! denn auf der Stelle mußt du, den andern zu einem warnenden Beiſpiele, ſterben! Sag an, wie heißt dein51 und deiner Eltern Name, wie dein Land; und, ſag 'auch, warum verehrſt du die neuen Gebräuche?

Frei und ohne Furcht erwiederte Jener: Mein Name iſt Akötes, meine Heimath Mäonien, meine Eltern ſind aus dem gemeinen Volke. Keine Fluren, keine Heerden ließ mir der Vater zum Erbtheil, er lehrte mich nur die Kunſt mit der Angelruthe zu fiſchen, denn dieſe Kunſt war all ſein Reichthum. Bald lernte ich auch ein Schiff regieren, die leitenden Geſtirne, die Winde, die wohlgele¬ genen Häfen kennen, und fing an, Schiffahrt zu trei¬ ben. Einſt, auf einer Fahrt nach Delos, gerieth ich an eine unbekannte Küſte, wo wir anlegten. Ein Sprung brachte mich auf den feuchten Sand, und ich übernachtete hier noch ohne die Gefährten am Ufer. Des andern Tages machte ich mich mit der erſten Morgenröthe auf, und beſtieg einen Hügel, um zu ſehen, was der Wind uns verſpreche. Inzwiſchen hatten auch meine Gefähr¬ ten gelandet, und auf dem Rückwege nach dem Schiffe begegnete ich ihnen, wie ſie gerade einen Jüngling mit ſich ſchleppten, den ſie am verlaſſenen Geſtade geraubt hatten. Der Knabe, von jungfräulicher Schönheit, ſchien vom Weine betäubt, taumelnd wie von Schläfrigkeit, und hatte Mühe, ihnen zu folgen. Als ich Angeſicht, Hal¬ tung, Bewegung des Jünglings näher ins Auge faßte, ſchien ſich mir an demſelben etwas Ueberirdiſches zu of¬ fenbaren. Was für ein Gott in dem Jüngling ſey, ſo ſprach ich zu der Mannſchaft, weiß ich noch nicht recht; aber ſo viel iſt mir gewiß, daß ein Gott in ihm iſt. Wer du auch ſeyeſt, ſprach ich weiter, ſey uns hold und fördere unſere Arbeit! Verzeih auch dieſen, die dich geraubt! Was fällt dir ein, rief ein anderer, laß4 *52du das Beten! Auch die übrigen lachten über mich, von Raubgier verblendet, und ſomit faſſten ſie den Knaben, um ihn in das Schiff zu ſchleppen. Vergebens ſtellte ich mich entgegen: der Jüngſte und Kräftigſte unter der Rotte, aus einer Tyrrheniſchen Stadt wegen eines Mor¬ des flüchtig, packte mich an der Gurgel und ſechleuderte mich hinaus. Ich wäre im Meere ertrunken, wenn mich das Tackelwerk nicht aufgefangen hätte. Inzwiſchen war der Knabe wie in tiefem Schlummer auf dem Schiffe, wohin man ihn gebracht hatte, gelegen. Plötzlich, wie vom Geſchrei erwacht und vom Rauſche zurückgekehrt, raffte er ſich auf, trat unter die Schiffer und rief: Wel¬ cher Lärm? Sprecht ihr Männer, durch welches Geſchick kam ich hierher? Wohin wollt ihr mich bringen? Fürchte dich nicht Knabe, ſprach einer der falſchen Schiffer, nenne uns nur den Hafen, nach welchem du gebracht zu werden wünſcheſt, gewiß wir ſetzen dich ab, wo du es verlangſt. Nun wohl, ſprach der Knabe, ſo richtet den Lauf nach der Inſel Naxos, dort iſt meine Heimath! Die Betrüger verſprachen es ihm bei allen Göttern und hießen mich die Segel richten. Uns zur rechten Seite lag Naxos. Wie ich nun die Segel rechtshin ſpanne, winken und murmeln ſie mir alle zu: Unſinniger, was machſt du? Was für ein Wahnwitz plagt dich? Fahr links! Ich erſtaunte darüber, und be¬ griff ſie nicht. Nehme ſich ein anderer des Schiffes an! ſprach ich, und trat auf die Seite. Als ob das Heil unſrer Fahrt allein auf dir beruhte! ſchrie mich ein roher Geſelle an, und verrichtete das Geſchäft anſtatt meiner. So ließen ſie Naxos liegen, und ſteuerten in der entgegengeſetzten Richtung. Hohnlächelnd, als ob er53 den Trug jetzt erſt bemerke, ſchaute der Götterjüngling vom Hinterverdeck in die See, und mit verſtellten Thrä¬ nen ſprach er: Wehe, nicht dieſe Geſtade verhießet ihr mir, Schiffer, dieß iſt nicht das erbetene Land! Iſt es auch Recht, daß ihr alten Männer ein Kind auf dieſe Weiſe täuſchet? Aber die gottesvergeſſene Rotte ſpottete ſeiner und meiner Thränen, und ruderte eilig davon. Plötzlich aber, als umſchlöße ſie ein trockenes Schiffs¬ werft, ſtand die Barke mitten im Meere ſtill. Vergebens ſchlagen ihre Ruder die See, ziehen ſie die Segel herab, ſtreben fort mit doppelter Kraft. Epheu fängt an die Ruder zu umſchlingen, kriecht rückwärts in geſchlängelter Windung herauf, ſtreift mit ſeinen ſchwellenden Träub¬ chen ſchon die Segel; Bacchus ſelbſt denn er war es ſteht herrlich da, die Stirn mit beerenbelaſteten Trau¬ ben bekränzt, den mit Weinlaub umſchlungenen Thyrſus¬ ſtab ſchwingend. Tiger, Luchſe, Panther erſchienen um ihn gelagert, ein duftiger Strom von Wein ergoß ſich durch das Schiff. Jetzt ſprangen die Männer ſcheu em¬ por, in Furcht und Wahnſinn. Dem erſten, der auf¬ ſchreien wollte, krümmte ſich Mund und Naſe zum Fiſchmaul, und ehe die andern ſich darüber entſetzen konnten, war auch ihnen das gleiche geſchehen, ihr Leib ſenkte ſich von blauen Schuppen umgeben, der Rückgrat wurde hochge¬ wölbt, die Arme ſchrumpften zu Floßfedern ein, die Füße vereinigten ſich zu einem Schwanze. Sie waren alle mit¬ einander zu Fiſchen geworden, ſprangen in das Meer und tauchten auf und nieder. Ich von zwanzigen war allein übrig geblieben, aber ich zitterte an allen Gliedern und erwartete jeden Augenblick dieſelbe Verwandlung. Bacchus jedoch ſprach mir freundlich zu, weil ich ihm ja54 nur Gutes erwieſen habe. Fürchte dich nicht, ſagte er, und ſteure mich gen Naxos. Als wir dort gelandet hatten, weihte er mich an ſeinem Altar zum feierlichen Dienſte ſeiner Gottheit ein.

Schon zu lange horchen wir deinem Geſchwätz, ſchrie jetzt der König Pentheus, auf, ergreifet ihn, ihr Diener, peinigt ihn mit tauſend Martern und ſchickt ihn zur Unterwelt hinab! Die Knechte gehorchten und war¬ fen den Schiffer gefeſſelt in einen tiefen Kerker. Aber eine unſichtbare Hand befreite ihn.

Nun begann erſt die ernſtliche Verfolgung der Bac¬ chusfeier. Des Pentheus eigene Mutter, Agave und ihre Schweſtern, hatten Theil an dem rauſchenden Gottes¬ dienſte genommen. Der König ſandte nach ihnen aus, und ließ alle Bacchantinnen in den Stadtkerker werfen. Aber ohne Hülfe eines Sterblichen werden auch ſie ihrer Bande ledig, die Pforten ihres Gefängniſſes thun ſich auf, und ſie rennen in bacchiſcher Begeiſterung frei in den Wäldern umher. Der Diener, der abgeſandt worden, mit bewaffneter Macht den Gott ſelbſt einzufangen, kam ganz beſtürzt zurück, denn Jener hatte ſich willig und lä¬ chelnd den Feſſeln dargeboten. So ſtand er jetzt gefangen vor dem Könige, der ſelber nicht umhin konnte, ſeine ju¬ gendliche göttliche Schönheit zu bewundern. Und doch beharrte er in ſeiner Verblendung, und behandelte ihn als einen Betrüger, der den Namen Bacchus fälſchlich führe. Er ließ den gefangenen Gott mit Feſſeln belaſten und im hinterſten und tiefſten Theile ſeines Pallaſtes, in der Nähe der Pferdekrippen, in einem dunkeln Loche ver¬ wahren. Auf des Gottes Geheiß ſpaltete jedoch ein Erd¬ beben das Gemäuer, ſeine Bande verſchwanden. Er trat55 unverſehrt und herrlicher als zuvor in die Mitte ſeiner Verehrer.

Ein Bote über dem andern kam vor den König Pentheus und meldete ihm, welche Wunderthaten die Chöre begeiſterter Frauen, von ſeiner Mutter und ihren Schweſtern angeführt, verrichteten. Ihr Stab durfte nur an Felſen ſchlagen, ſo ſprang Waſſer oder ſprudelnder Wein heraus, die Bäche floßen unter ſeinem Zauberſchlage mit Milch, aus den hohlen Bäumen träufelte Honig. Ja, fügte einer der Boten hinzu, wäreſt du zugegen geweſen, o Herr, und hätteſt den Gott, den du jetzt ſchiltſt, ſelbſt geſehen, du würdeſt dich in Gebeten vor ihm nie¬ dergeworfen haben!

Pentheus, immer entrüſteter, bot auf dieſe Nachrichten alle ſchwerbewaffneten Krieger, alle Reiter, alle Leichtbe¬ ſchildeten gegen das raſende Weiberheer auf. Da erſchien Bacchus ſelbſt wieder, und trat als ſein eigener Abgeord¬ neter vor den König. Er verſprach, ihm die Bac¬ chantinnen entwaffnet vorzuführen, wenn nur der Kö¬ nig ſelbſt die Frauentracht anlegen wolle, damit er nicht als Mann und Uneingeweihter von ihnen zerriſ¬ ſen werde. Ungerne und mit ſehr natürlichem Mi߬ trauen ging Pentheus auf den Vorſchlag ein; doch folgte er endlich dem Gotte zur Schlachtbank. Aber als er hinausſchritt zur Stadt, war er ſchon vom Wahn¬ ſinne, den ihm der mächtige Gott zugeſandt hatte, beſeſſen. Ihm däuchte es, als ſchaue er zwei Sonnen, ein gedop¬ peltes Theben, und jedes ſeiner Thore zwiefach. Bacchus ſelbſt kam ihm vor, wie ein Stier, der mit großen Hör¬ nern an dem Kopfe vor ihm herſchreite. Er ſelbſt wurde wider Willen von bacchiſcher Begeiſterung ergriffen, ver¬56 langte und erhielt einen Thyrſusſtab, und ſtürmte in Ra¬ ſerei dahin. So gelangten ſie in ein tiefes, quellenrei¬ ches, von Fichten beſchattetes Thal, wo die Bacchus¬ prieſterinnen ihrem Gotte Hymnen ſangen, andere ihre Thyrſusſtäbe mit friſchem Epheu bekleideten. Des Pen¬ theus Augen aber waren mit Blindheit geſchlagen, oder ſein Führer Bacchus hatte ihn ſo zu leiten gewußt, daß ſie die Verſammlung der begeiſterten Frauen nicht gewahr wurden. Der Gott faßte nun mit ſeiner wunderbar in die Höhe reichenden Hand den Gipfel eines Tannenbau¬ mes, beugte ihn hernieder, wie man einen Weidenzweig biegt, ſetzte den wahnſinnigen Pentheus darauf, und ließ den Baum ſachte und vorſichtig allmählig wieder in ſeine vorige Lage zurückkehren. Wie durch ein Wunder blieb der König feſt ſitzen und erſchien auf einmal, hoch auf dem Tannenwipfel hingepflanzt, den Bacchantinnen im Thale, ohne daß er ſie erblickte. Dann rief Dionyſos mit lauter Stimme ins Thal hinab: Ihr Mägde, ſchauet hier den, der unſere heiligen Feſte verſpottet; beſtrafet ihn! Der Aether ſchwieg, kein Blatt im Walde regte ſich, kein Schrei eines Wildes ertönte. Auf richteten ſich die Bacchantinnen, ſperrten ihre Augenſterne weit auf, und horchten auf der Stimme Hall, die zum zweitenmal er¬ tönte. Als ſie in dem Wort ihren Meiſter erkannt, ſchoſſen ſie dahin, ſchneller denn Tauben; wilder Wahnſinn, vom Gotte geſandt, trieb ſie mitten durch die angeſchwol¬ lenen Waldbäche. Endlich waren ſie nahe genug gekom¬ men, um ihren Herrn und Verfolger auf dem Tannenwi¬ pfel ſitzen zu ſehen. Schnell flogen Kieſel, abgeriſſene Tannenäſte, Thyrſusſtäbe gegen den Unglücklichen empor, ohne die Höhe zu erreichen, in der er zitternd ſchwebte.

57

Endlich durchwühlten ſie mit harten Eichenäſten den Bo¬ den rings um den Tannenbaum, bis die Wurzel bloß war, und Pentheus unter lautem Jammergeſchrei mit der ſtür¬ zenden Tanne aus der Höhe zu Boden fiel. Seine Mut¬ ter Agave, vom Gotte geblendet, daß ſie den Sohn nicht wieder erkannte, gab das erſte Zeichen zum Morde. Dem Könige ſelbſt hatte die Angſt ſeine volle Beſinnung wie¬ der gegeben. Mutter, rief er, ſie umhalſend, kennſt du deinen Sohn nicht mehr, deinen Sohn Pentheus, den du im Hauſe Echions geboren? Hab 'Erbarmen mit mir, ſey du es nicht, Mutter, die meine Sünden am eigenen Kinde ſtraft! Aber die wahnſinnige Bacchusprieſterin, ſchäu¬ mend und mit weit aufgeſperrten Augen, ſah nicht ihren Sohn in Pentheus, ſondern glaubte einen Berglöwen in ihm zu erblicken, faßte ihn an der Schulter und riß ihm den rechten Arm vom Leibe; die Schweſtern verſtümmel¬ ten den linken; die ganze, wüthende Rotte ſtürmte auf ihn ein, jede ergriff ein Glied des Zerriſſenen; Agave ſelbſt umklammerte das entriſſene Haupt mit blutigen Fingern und trug es als ein Löwenhaupt auf einen Thyr¬ ſusſtab geſteckt durch die Wälder des Cithäron.

So rächte der mächtige Gott Bacchus ſich an dem Verächter ſeines Gottesdienſtes.

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Perſeus.

Perſeus, der Sohn Jupiters, wurde mit ſeiner Mutter Danae von dem Großvater Akriſius, Könige von Argos, dem ein Orakelſpruch geſagt hatte, daß ein Enkel ihm Leben und Thron rauben würde, in einen Kaſten eingeſchloſſen und ins Meer geworfen; Jupiter behütete ſie in den Stürmen des Meeres, und ſie ſchwammen bei der Inſel Seriphos ans Land. Dort herrſchten zwei Brüder, Dik¬ tys und Polydektes. Diktys fiſchte eben, als der Kaſten angeſchwommen kam, und zog ihn ans Land. Beide Brüder nahmen ſich der Verlaſſenen liebreich an; Poly¬ dektes erhob die Mutter zu ſeiner Gemahlin, und der Sohn Jupiters, Perſeus, wurde von ihm ſorgfältig erzo¬ gen.

Als Perſeus herangewachſen war, überredete ihn ſein Stiefvater, auf Thaten auszuziehen und etwas Großes zu unternehmen. Der muthige Jüngling zeigte ſich willig, und bald waren ſie einig darüber, daß Perſeus der Me¬ duſa ihr furchtbares Haupt abſchlagen und dem Könige nach Seriphos bringen ſollte. Perſeus machte ſich auf den Weg und kam unter Leitung der Götter in die ferne Gegend, wo Phorkus, der Vater vieler entſetzlicher Unge¬ heuer, hauste. Zuerſt traf er auf drei ſeiner Tochter, die Gräen oder Grauen; dieſe waren grauhaarig von Geburt an; alle drei mit einander hatten ſie nur Ein Auge und Einen Zahn, die ſie einander gegenſeitig abwechslungsweiſe zum Gebrauche liehen. Perſeus nahm ihnen beides weg, und als ſie ihn flehentlich baten, das unentbehrlichſte ih¬ nen doch wieder zu geben, zeigte er ſich zur Zurückerſtat¬59 tung mir unter der Bedingung bereit, daß ſie ihm den Weg zu den Nymphen zeigen ſollten. Dieſes waren andere Wundergeſchöpfe, die Flügelſchuhe, einen Schubſack als Taſche und einen Helm von Hundefell beſaßen. Wer ſich damit bekleidete, konnte fliegen, wohin er wollte; ſah, wen er wollte, und wurde von Niemand geſehen. Die Töchter des Phorkus zeigten dem Perſeus den Weg zu den Nymphen und erhielten Zahn und Auge von ihm zu¬ rück. Bei den Nymphen fand und nahm er, was er wollte, warf den Schubſack um, ſchnallte die Flügelſchuhe an ſeine Knöchel und ſetzte den Helm aufs Haupt. Dazu erhielt er von Merkurius eine eherne Sichel, und ſo aus¬ gerüſtet flog er zu dem Ocean, wo die andern drei Töch¬ ter des Phorkus, die Gorgonen, hausten. Die dritte, die Meduſa hieß, war allein ſterblich; darum war auch Perſeus ausgeſandt worden, ihr Haupt zu holen. Er fand die Ungeheuer ſchlafend; ihre Häupter waren mit Drachenſchuppen überſäet, mit Schlangen, ſtatt Haaren bedeckt, große Hauzähne hatten ſie, wie Schweine, eherne Hände, und goldene Flügel, mit welchen ſie flogen. Jeden, der ſie anſah, verwandelte dieſer Anblick in Stein. Das wußte Perſeus. Mit abgewandtem Geſichte ſtellte er ſich deßwegen vor die Schlafenden, und fing nur in ſeinem ehernen, glänzenden Schilde ihr dreifaches Bild auf. So erkannte er die Gorgo Meduſa heraus, Minerva führte ihm die Hand, und er ſchnitt dem ſchlafenden Ungeheuer ohne Gefährde das Haupt ab. Kaum war dieß vollbracht, ſo entſprang dem Rumpfe ein geflügeltes Roß, der Pe¬ gaſus, und ein Rieſe, Chryſaor. Beides waren Geſchöpfe des Poſeidon oder Neptunus. Perſeus ſchob nun das Haupt der Meduſa in den Schubſack, und entfernte ſich60 rücklings, wie er gekommen war. Indeſſen hatten ſich die Schweſtern Meduſa's vom Lager erhoben. Sie er¬ blickten den Rumpf der getödteten Schweſter und erho¬ ben ſich auf ihren Fittichen, den Räuber zu verfolgen. Dieſen aber verbarg der Nymphenhelm vor ihren Augen und ſie konnten ihn nirgends inne werden. In der Luft faßten inzwiſchen den Perſeus die Winde und ſchleuderten ihn, wie Regengewölk, bald da bald dorthin; als er über den Sandwüſten Libyens ſchwebte, rieſelten blutige Tro¬ pfen vom Meduſenhaupte auf die Erde nieder, welche ſie auffing und zu bunten Schlangen belebte. Seitdem iſt jenes Erdreich an feindſeligen Nattern ſo ergiebig. Perſeus flog nun weiter weſtwärts und ſenkte ſich endlich im Reiche des Königes Atlas nieder, um ein wenig zu raſten. Dieſer hütete einen Hain voll goldener Früchte mit einem gewaltigen Drachen. Umſonſt bat der Beſieger der Gorgone ihn um ein Obdach. Für ſein goldenes Beſitzthum bange, ſtieß ihn Atlas unbarmherzig von ſei¬ nem Pallaſte fort. Da ergrimmte Perſeus und ſprach: Du willſt mir nichts gönnen: empfange du wenigſtens ein Geſchenk von mir. Er holte die Gorgo aus ſeinem Schubſacke hervor, wandte ſich ab und ſtreckte ſie dem König Atlas entgegen. Groß wie der König war, wurde er augenblicklich zu Stein und in einen Berg ver¬ wandelt, Bart und Haupthaar dehnten ſich zu Wäldern aus; Schultern, Hände und Gebein wurden Felsrücken; ſein Haupt wuchs als hoher Gipfel in die Wolken. Per¬ ſeus nahm ſeine Fittiche wieder, und ſchnallte ſie ſich an die Sohlen, hängte ſich den Schubſack um, ſetzte den Helm auf und ſchwang ſich in die Lüfte. Auf ſeinem Fluge kam er an eine Küſte Aethiopiens, wo der König Cepheus61 regierte. Hier ſah er an eine hervorragende Meeres¬ klippe eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupt¬ haar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen Thränen gezittert, ſo würde er ſie für ein Marmorbild gehalten haben. Faſt hätte er in der Luft die Flügel zu bewegen vergeſſen, ſo bezaubert war er von dem Reize ihrer Schönheit. Sprich, ſchöne Jungfrau, redete er ſie an, du, die du ganz anderes Geſchmeide verdienteſt, warum biſt du hier in Banden? nenne mir doch den Namen dei¬ nes Landes, nenne mir deinen eigenen Namen! Das ge¬ feſſelte Mädchen ſchwieg verſchämt; ſie ſcheute ſich den fremden Mann anzureden, und hätte gern ihr Angeſicht mit den Händen bedeckt, wenn ſie ſie hätte regen können. So aber konnte ſie nur ihre Augen mit quellenden Thrä¬ nen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben möchte, ſie habe eine eigene Schuld vor ihm zu verber¬ gen, erwiederte ſie: Ich bin Cepheus des Königs der Aethiopier Tochter, und heiße Andromeda. Meine Mut¬ ter hatte gegen die Töchter des Nereus, die Meeres¬ nymphen, geprahlt, ſchöner zu ſeyn als ſie Alle. Darüber zürnten die Nereiden, und ihr Freund, der Meeresgott, ließ eine Ueberſchwemmung und einen alles verſchlingenden Haifiſch über das Land kommen. Ein Orakelſpruch ver¬ ſprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Toch¬ ter der Königin, dem Fiſche zum Fraße hingeworfen würde. Das Volk drang in meinen Vater, dieſes Rettungsmittel zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an dieſen Felſen zu binden.

Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgeſprochen, als die Wogen aufrauſchten und aus der Tiefe des Mee¬ res ein Scheuſal auftauchte, das mit ſeiner breiten Bruſt62 die ganze Waſſerfläche umher einnahm. Das Mädchen jammerte laut auf; zugleich ſah man Vater und Mutter herbeieilen, beide troſtlos, doch in der Mutter Zügen drückte ſich noch dazu das Bewußtſeyn der Schuld aus. Sie umarmten die gefeſſelte Tochter, aber ſie brachte ihr nichts mit als Thränen und Wehklagen. Jetzt begann der Fremdling: Zum Jammern wird euch noch Zeit genug übrig bleiben; die Stunde der Rettung iſt kurz. Ich bin Perſeus, der Sprößling Jupiters und der Danae, ich habe die Gorgone beſiegt, und wunder¬ bare Flügel tragen mich durch die Luft. Selbſt wenn die Jungfrau frei wäre und zu wählen hätte, wäre ich kein verächtlicher Eidam! Jetzt werbe ich um ſie, mit dem Erbieten, ſie zu retten. Nehmet ihr meine Bedingung an? Wer hätte in ſolcher Lage gezaudert? Die erfreuten El¬ tern verſprachen ihm nicht nur die Tochter, ſondern auch ihr eigenes Königreich zur Mitgift.

Während ſie dieſes verhandelten, war das Unthier wie ein ſchnellruderndes Schiff herangeſchwommen und nur noch einen Schleuderwurf von dem Felſen entfernt. Da plötzlich, das Land mit dem Fuße abſtoßend, ſchwang ſich der Jüngling hoch empor in die Wolken. Das Thier ſah den Schatten des Mannes auf dem Meere. Während es auf dieſen tobend losging, als auf einen Feind, der ihm die Beute zu entreißen drohte, fuhr Perſeus aus der Luft wie ein Adler herunter, trat ſchwebend auf den Rücken des Thieres, und ſenkte das Schwerdt, mit dem er die Meduſe getödtet hatte, dem Hayfiſch unter dem Kopf in den Leib, bis an den Knauf. Kaum hatte er es wieder herausgezogen, ſo ſprang der Fiſch bald hoch in die Lüfte, bald tauchte er wieder unter in die63 Fluth, bald tobte er nach beiden Seiten, wie ein von Hunden verfolgter Eber. Perſeus brachte ihm Wunde um Wunde bei, bis ein dunkler Blutſtrom ſich aus ſeinem Rachen ergoß. Indeſſen troffen die Flügel des Halbgotts, und Perſeus wagte nicht länger, ſich dem waſſerſchweren Gefieder anzuvertrauen. Glücklicherweiſe erblickte er ein Felsriff, deſſen oberſte Spitze aus dem Meere hervorragte. Auf dieſe Felswand ſtützte er ſich mit der Linken, und ſtieß das Eiſen drei bis viermal in das Gekröſe des Un¬ gethüms. Das Meer trieb die ungeheure Leiche fort, und bald war ſie in den Fluthen verſchwunden. Perſeus hatte ſich indeſſen ans Land geſchwungen, hatte den Fel¬ ſen erklommen und die Jungfrau, die ihn mit Blicken des Dankes und der Liebe begrüßte, der Feſſeln entledigt. Er brachte ſie den glücklichen Eltern, und der goldene Pallaſt empfing ihn als Bräutigam. Noch dampfte das Hochzeitmahl und die Stunden ſtrichen dem Vater und der Mutter, dem Bräutigam und der geretteten Braut in ſorgenfreier Eile dahin, als plötzlich die Vorhöfe der Königsburg mit einem dumpfen brauſenden Getümmel ſich füllten. Phineus, der Bruder des Königes Cepheus, der früher um ſeine Nichte Andromeda geworben, aber in der letzten Noth ſie verlaſſen hatte, nahte mit einer Schaar von Kriegern und erneuerte ſeine Anſprüche. Den Speer ſchwingend, trat er in den Hochzeitſaal und rief dem erſtaunten Perſeus zu: Sieh mich hier, der ich komme, die mir entriſſene Gattin zu rächen, weder deine Flügel, noch dein Vater Jupiter ſollen dich mir entreiſ¬ ſen! So rief er, ſchon zum Speerwurfe ſich anſchickend; da hub ſich Cepheus, der König vom Mahle. Raſender Bruder, rief er, welcher Gedanke treibt dich zur Un¬64 that? Nicht Perſeus raubt dir die Geliebte; ſie wurde dir ſchon damals entriſſen, als wir ſie dem Tode preisgaben, als du zuſaheſt, wie ſie gefeſſelt wurde, und weder als Oheim noch als Geliebter ihr deinen Beiſtand lieheſt. Warum haſt du nicht ſelbſt dir den Preis von dem Fel¬ ſen geholt, an den er geſchmiedet war? So laß wenig¬ ſtens den, der ihn ſich errungen hat, der mein Alter durch die Rettung meiner Tochter getröſtet, in Ruhe!

Phineus antwortete ihm nichts, er betrachtete nur abwechſelnd mit grimmigen Blicken bald ſeinen Bruder, bald ſeinen Nebenbuhler, als beſänne er ſich, auf wen er zuerſt zielen ſollte. Endlich nach kurzem Verzuge ſchwang er mit aller Kraft, die der Zorn ihm gab, den Speer gegen Perſeus; aber er that einen Fehlwurf und die Waffe blieb im Polſter hängen. Jetzt fuhr Perſeus vom Lager empor und ſchleuderte ſeinen Spieß nach der Thüre, durch welche Phineus eingedrungen war, und er würde die Bruſt ſeines Todfeinds durchbohrt haben, wenn dieſer ſich nicht mit einem Sprunge hinter den Hausaltar geflüchtet hätte. Das Geſchoß hatte die Stirne eines ſei¬ ner Begleiter getroffen und jetzt kam das Gefolge des Eingedrungenen mit den längſt von der Tafel aufgeſtör¬ ten Gäſten ins Handgemenge. Lang und mörderiſch war der Kampf; aber der Eingebrochenen war die Mehrzahl. Zuletzt wurde Perſeus, an deſſen Seite ſich umſonſt die Schwiegereltern und die Braut ſchutzflehend ſtellten, von Phineus und ſeinen Tauſenden umringt. Die Pfeile flo¬ gen an ihnen von allen Seiten vorbei, wie Hagelkörner im Sturme. Perſeus hatte die Schultern an einen Pfei¬ ler gelehnt und ſich ſo den Rücken gedeckt. Von da zur Heerſchaar der Feinde gewendet, hielt er den Anlauf65 der Feinde ab und ſtreckte einen um den andern nieder. Erſt als er ſah, daß die Tapferkeit der Menge erliegen müſſe, entſchloß er ſich, das letzte aber untrügliche Mit¬ tel, das ihm zu Gebote ſtand, zu gebrauchen. Weil ihr mich genöthiget, ſprach er, will ich mir die Hülfe bei meinem alten Feinde holen! Wende ſein Antlitz ab, wer noch mein Freund iſt! Mit dieſen Worten zog er, aus der Taſche, die ihm immer an der Seite hing, das Gor¬ gonenhaupt, und ſtreckte es dem erſten Gegner zu, der jetzt eben auf ihn eindrang. Suche Andere, rief dieſer verächtlich beim erſten flüchtigen Blicke, die du mit dei¬ nen Mirakeln erſchüttern kannſt. Aber als ſeine Hand ſich heben wollte, den Wurfſpieß abzuſenden, blieb er mitten in dieſer Geberde verſteinert, wie eine Bildſäule. Und ſo widerfuhr es einem nach dem andern. Zuletzt waren nur noch zweihundert übrig. Da hub Perſeus das Gorgonenhaupt hoch in die Luft empor, daß alle es erblicken konnten und verwandelte die zweihundert auf einmal in ſtarres Geſtein. Jetzt erſt bereute Phineus den unrechtmäßigen und unvernünftigen Krieg. Rechts und links erblickt er nichts als Steinbilder in der mannig¬ faltigſten Stellung. Er ruft ſeine Freunde mit Namen, er berührt ungläubig die Körper der Zunächſtſtehenden: Alles iſt Marmor. Entſetzen faßte ihn und ſein Trotz verwandelte ſich in demüthiges Flehen. Laß mir nur das Leben, dein ſey das Reich und die Braut! rief er und kehrte ſein verzagendes Angeſicht ſeitwärts. Aber Perſeus, über den Tod ſeiner neuen Freunde erbittert, kannte kein Erbarmen. Verräther, ſchrie er zornig, ich will dir für alle Ewigkeit ein bleibendes Denkmal in meines Schwähers Hauſe ſtiften! und ſo ſehr PhineusSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 566bemüht war, dem Anblicke zu entgehen, ſo traf doch bald das ausgeſtreckte Schreckensbild ſein Auge: ſein Hals erſtarrte, ſein feuchter Blick erharſchte zu Stein. So blieb er ſtehen mit furchtſamer Miene, die Hände geſenkt, in knechtiſcher, demüthiger Stellung. Ohne Hinderniß führte jetzt Perſeus ſeine Geliebte, Andromeda, heim. Lange glückliche Tage erwarteten ihn und er fand auch ſeine Mutter Danae wieder. Doch ſollte er an ſeinem Großvater Akriſius das Verhängniß erfüllen. Dieſer war aus Furcht vor dem Orakelſpruche zu einem fremden Könige ins Pelasgerland geflohen. Hier half er Kampf¬ ſpiele feiern, als eben Perſeus ankam, der auf der Fahrt nach Argos begriffen war, wo er ſeinen Großvater be¬ grüßen wollte. Ein unglücklicher Wurf mit der Scheibe traf den Großvater von des Enkels Hand, ohne daß Dieſer Jenen kannte oder treffen wollte. Nicht lange blieb ihm verborgen, was er gethan. In tiefer Trauer begrub er den Akriſius außerhalb der Stadt und ver¬ tauſchte das Königreich, das ihm durch des Großvaters Tod zugefallen war. Doch verfolgte ihn der Neid des Geſchickes nicht länger. Andromeda gebar ihm viele herrliche Söhne und der Ruhm des Vaters lebte in ihnen fort.

67

Ion.

Der König Erechtheus von Athen, erfreute ſich einer ſchö¬ nen Tochter, die Krëuſa hieß. Mit dieſer hatte ſich, ohne Wiſſen ihres Vaters, Apollo vermählt, und ſie hatte ihm einen Sohn geboren, welchen ſie aus Furcht vor dem Zorn ihres Vaters in eine Kiſte verſchloß und in der Höhle ausſetzte, wo ſie ihre heimlichen Zuſammenkünfte mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, daß ſich die Götter des Verlaſſenen erbarmen würden. Um aber den neugebornen Knaben nicht ohne Erkennungszeichen zu laſſen, hing ſie ihm den Schmuck um, den ſie als Jungfrau zu tragen pflegte. Apollo, dem als einem Gotte die Geburt ſeines Sohnes nicht verborgen geblie¬ ben war, und der weder ſeine Geliebte verrathen, noch den Knaben ohne Hülfe laſſen wollte, wandte ſich an ſei¬ nen Bruder Merkurius, welcher als Götterbote, ohne Aufſehen zu erregen, zwiſchen Himmel und Erde zu ver¬ kehren hatte. Lieber Bruder, ſprach er, eine Sterb¬ liche hat mir ein Kind geboren, es iſt die Tochter des Königes Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem Vater hat ſie es in einem hohlen Felſen verborgen; hilf mir es retten, bring es, in der Kiſte, in der es liegt und mit den Windeln, in die es gewickelt iſt, nach mei¬ nem Orakel zu Delphi, und lege es dort auf die Schwelle des Tempels. Das übrige laß meine Sorge ſeyn, denn es iſt mein Kind. Merkur, der geflügelte Gott, eilte nach Athen, fand den Knaben an der bezeichneten Stelle und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in wel¬ chem er verſchloſſen lag, nach Delphi, wo er ihn vor5 *68den Pforten des Tempels niederſetzte und den Deckel des Korbes öffnete, damit das Kind bemerklich würde. Dieß geſchah bei Nacht. Am andern Morgen, als ſchon die Sonne emporſtieg, kam die Delphiſche Prieſterin nach dem Tempel geſchritten, und als ſie ihn betreten wollte, fiel ihr Auge auf das neugeborne Kind, das in der Kiſte ſchlummerte. Sie hielt daſſelbe für die Frucht irgend eines Verbrechens und war ſchon geneigt, es von der heiligen Schwelle fortzuſtoßen, als das Mitleid doch in ihrer Seele die Oberhand gewann, denn der Gott wandte ihr Herz und ſprach in demſelben für ſeinen Sohn. Die Prophetin nahm alſo das Kind aus dem Korbe und zog es auf, ohne ſeinen Vater und ſeine Mutter zu kennen. Der Knabe erwuchs um den Altar ſeines Vaters ſpielend und wußte nichts von ſeinen Eltern. Er wurde ein ſtatt¬ licher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn ſchon als kleinen Tempelhüter gewohnt worden waren, ſetzten ihn zum Schatzmeiſter über alle Geſchenke, die der Gott erhielt, und ſo brachte er fortwährend ein ehrbares und heiliges Leben im Tempel ſeines Vaters zu.

Inzwiſchen hatte Krëuſa von dem Gotte nichts mehr erfahren und mußte wohl glauben, daß er ihrer und ihres Sohnes vergeſſen habe. Um dieſe Zeit geriethen die Athener in einen Krieg mit den Bewohnern der Nach¬ barinſel Euböa, der bis zur Vertilgung geführt wurde und in welchem die letztern unterlagen. In dieſem Kam¬ pfe war den Athenern beſonders wirkſam ein Fremdling aus Achaja beigeſtanden. Es war dieß Xuthus, ein Sohn des Aeolus, der ſelbſt ein Sohn Jupiters war. Zum Lohne ſeiner Hülfe begehrte und erhielt er die Hand der Königstochter Krëuſa; aber es war, als ob der ihr69 heimlich angetraute Gott die Geliebte ſeinen Zorn empfin¬ den ließe, daß ſie ſich einem Andern vermählt hatte, denn ihre Ehe war nicht mit Kindern geſegnet. Nach langer Zeit verfiel Krëuſa auf den Gedanken, ſich an das Orakel zu Delphi zu wenden und von ihm Kinderſegen zu er¬ flehen. Dieß war es, was Apollo gewollt, denn er hatte ſeines Sohnes keineswegs vergeſſen. So brach die Für¬ ſtin mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von Dienerinnen auf, und wallfahrtete zu dem Tempel nach Delphi. Als ſie vor dem Gotteshauſe ankamen, trat ge¬ rade der junge Sohn Apollo's über die Schwelle, um gewohnter Weiſe die Pfoſten der Thore mit Lorbeerzwei¬ gen zu ſchmücken. Da fiel ſein Auge auf die edle Ma¬ trone, welche auf die Thore des Tempels zugewandelt kam, und der beim Anblicke des Heiligthums Thränen über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren würdige Geſtalt ihm auffiel, beſcheiden um die Urſache ihres Kummers zu befragen. Es wundert mich nicht, o Jüngling, erwiederte ſie ſeufzend, daß meine Traurig¬ keit deinen Blick auf ſich zieht; habe ich doch Geſchicke zu beweinen, dir man mir wohl anſehen mag. Die Göt¬ ter verfahren oft hart mit uns Sterblichen! Ich will deinen Kummer nicht weiter ſtören, ſprach der Jüng¬ ling, aber ſage mir, wenn es zu wiſſen erlaubt iſt, wer du biſt und von wannen du kömmſt. Ich bin Krëuſa, antwortete die Fürſtin, mein Vater heißt Erechtheus, mein Vaterland iſt Athen. Mit unſchuldiger Freude rief der Jüngling: Ei, aus welchem berühmten Lande, aus welch berühmtem Geſchlechte ſtammſt du! Aber ſage mir, iſt es wahr, wie man es auf Bildern bei uns ſieht, daß deines Vaters Großvater Erichthonius aus der Erde, wie ein70 anderes Gewächs empor geſproſſen iſt, daß die Göttin Minerva den erdgeborenen Knaben in eine Kiſte einge¬ ſchloſſen, ihm zwei Drachen als Wächter beigegeben und das Kiſtchen den Töchtern des Cekrops zur Bewahrung überlaſſen habe; daß dieſe aus Neugierde daſſelbe eröffnet und beim Anblicke des Knaben in Wahnſinn gerathen und ſich von dem Felſen der Cekropiſchen Burg herabge¬ ſtürzt? Krëuſa bejahte die Frage ſchweigend, denn das Schickſal ihres Urahns erinnerte ſie an das Geſchick ih¬ res verlorenen Sohnes. Dieſer aber, der vor ihr ſtand, fuhr fort unbefangen weiter zu fragen: Sage mir auch, hohe Fürſtin, iſt es wahr, daß dein Vater Erechtheus ſeine Töchter, deine Schweſtern, auf den Ausſpruch eines Orakels und mit ihrem freien Willen dem Tode geopfert, um über die Feinde zu ſiegen? Und wie kam es, daß du allein gerettet worden biſt? Ich war, ſprach Krëuſa, ein neugeborenes Kind und lag in den Armen der Mutter. Und iſt es auch wahr, ſo fragte der Jüngling weiter, daß dein Vater Erechtheus von einem Erdſpalt verſchlungen worden iſt, daß der Dreizack Nep¬ tuns ihn verderbt hat, und daß in der Nähe ſeines Erd¬ grabes eine Grotte iſt, die mein Herr der pythiſche Apol¬ lo ſo lieb hat? O ſchweige mir von jener Grotte, Fremdling, unterbrach ihn ſeufzend Krëuſa, in ihr iſt eine Treuloſigkeit und ein großer Frevel begangen wor¬ den. Die Fürſtin ſchwieg eine Weile, ſammelte ſich wie¬ der und erzählte dem Jüngling, in welchem ſie den Tem¬ pelhüter des Gottes erkannte, daß ſie die Gemahlin des Fürſten Xuthus, und mit dieſem nach Delphi gewall¬ fahrtet ſey, um für ihre unfruchtbare Ehe den Segen des Gottes zu erflehen. Phöbus Apollo, ſprach ſie mit ei¬71 nem Seufzer, kennt die Urſache meiner Kinderloſigkeit; er allein kann mir helfen. So biſt du kinderlos, Unglückliche? ſagte betrübt der Jüngling. Ich bin es längſt, erwiederte Krëuſa, und ich muß deine Mutter be¬ neiden, guter Jüngling, die ſich eines ſo holdſeligen Soh¬ nes erfreut. Ich weiß nichts von einer Mutter und von einem Vater, gab der junge Mann betrübt zur Ant¬ wort, ich lag nie an eines Weibes Bruſt; ich weiß auch nicht, wie ich hierher gekommen bin, nur ſo viel weiß ich aus dem Munde meiner Pflegemutter, der Prieſterin die¬ ſes Tempels, daß ſie ſich meiner erbarmt und mich groß gezogen hat; das Haus des Gottes iſt ſeitdem meine Wohnung und ich bin ſein Knecht. Bei dieſen Mitthei¬ lungen wurde die Fürſtin ſehr nachdenklich, doch drängte ſie ihre Gedanken in die Bruſt zurück und ſprach die trau¬ rigen Worte: Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der es gegangen iſt, wie deiner Mutter, um ihretwillen bin ich hierher gekommen und ſoll das Orakel befragen. So will ich denn dir, als dem Diener des Gottes, ihr Geheim¬ niß anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der dieſe Wall¬ fahrt auch gemacht, aber unterwegs abgelenkt hat, um das Orakel des Trophonius zu hören, den Tempel be¬ tritt. Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit dem großen Gotte Phöbus Apollo vermählt geweſen zu ſeyn und ihm ohne Wiſſen ihres Vaters einen Sohn ge¬ boren zu haben. Dieſen ſetzte ſie aus, und weiß ſeitdem nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht ſchaut oder nicht. Ueber ſein Leben oder ſeinen Tod den Gott auszuforſchen, bin ich im Namen meiner Freundin hier¬ her gekommen. Wie lang iſt es her, daß der Kna¬ be todt iſt? fragte der Jüngling. Wenn er noch72 lebte, ſo hätte er dein Alter, o Knabe, ſprach Krëuſa. O wie ähnlich iſt das Schickſal deiner Freundin und das meine, rief mit dem Ausdrucke des Schmerzens der junge Mann; ſie ſucht ihren Sohn und ich ſuche meine Mutter. Doch iſt, was ihr geſchehen iſt, fern von dieſem Lande geſchehen, und leider ſind wir beide einander ganz fremd. Hoffe auch nicht, daß der Gott von ſeinem Drei¬ fuße dir die gewünſchte Antwort ertheilen wird. Biſt du doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer Treuloſigkeit anzuklagen; er wird nicht über ſich ſelbſt Richter ſeyn wollen! Halt ein, Jüngling, rief jetzt Krëuſa, dort ſehe ich den Gatten jener Frau herannahen; laß dir nichts von dem merken, was ich dir, vielleicht allzu vertraulich, vorgeplaudert habe.

Xuthus kam fröhlich in den Tempel und auf ſeine Gemahlin zugeſchritten. Frau, rief er ihr entgegen, Trophonius hat einen glücklichen Ausſpruch gethan: ich ſoll nicht ohne Kinder von hinnen ziehen! Aber ſage mir, wer iſt dieſer junge Prophet des Gottes? Der Jüngling trat dem Fürſten beſcheiden entgegen und er¬ zählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollo's ſey, und im innerſten Heiligthume die vornehmſten Delphier ſelbſt, durchs Loos ausgewählt, den Dreifuß umlagern, von dem jetzt eben die Prieſterin Orakel zu geben bereit ſey. Als der Fürſt dieſes hörte, befahl er Krëuſen, ſich mit den Zweigen zu ſchmücken, welche Bittflehende zu tragen pfle¬ gen, und an dem Altare des Gottes, der mit Lorbeer umwunden unter freiem Himmel ſtand, zu Apollo zu be¬ ten, daß er ihnen ein günſtiges Orakel ſenden möge. Er ſelbſt eilte nach dem Heiligthume des Tempels, indeß der junge Schatzmeiſter des Gottes im Vorhofe ſeine Wache73 fortſetzte. Es hatte nicht ſehr lange gedauert, ſo hörte dieſer die Thüren des innerſten Heiligthums gehen und ſich dröhnend wieder ſchließen, dann ſah er den Xuthus in freudiger Beſtürzung herauseilen, dieſer warf ſich mit Ungeſtüm dem Jüngling um den Hals, nannte ihn zu wiederholtenmalen ſeinen Sohn und verlangte ſeinen Handſchlag und ſeinen Kindeskuß. Der junge Mann aber, der von allem dem nichts begriff, hielt den Alten für wahnſinnig, und ſtieß ihn mit jugendlicher Kraft von ſich. Doch Xuthus ließ ſich nicht abweiſen. Der Gott ſelbſt hat es mir geoffenbart, ſprach er; ſein Spruch lautete: Der erſte, der mir drauſſen begegnen würde, der ſey mein Sohn und ein Göttergeſchenk. Wie das möglich iſt, weiß ich zwar nicht, denn meine Gattin hat mir nie zuvor Kinder geboren. Doch trau 'ich dem Gotte; mag er ſelbſt ſein Geheimniß enthüllen. Jetzt gab ſich auch der Jüngling der Freude hin; doch nur halb und mitten unter den Küſſen und Umarmungen ſei¬ nes Vaters mußte er ſeufzen: o geliebte Mutter, wer biſt du, wo biſt du? wann wird es mir vergönnt ſeyn, auch dein theures Antlitz zu ſchauen? Dazu kamen ihm große Zweifel, wie die kinderloſe Gemahlin des Xuthus, die er nicht zu kennen glaubte, ihn als unerwarteten Stiefſohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht geſetzlichen Erben ihres Fürſten empfangen würde. Sein Vater hieß ihn aber guten Muthes ſeyn: er verſprach ihm, ihn den Athenern und ſeiner Gattin als einen Fremd¬ ling und nicht als ſeinen Sohn vorzuſtellen und gab ihm den Namen Ion, d. h. Gänger, weil er im Tempel den ihm Entgegengehenden als ſeinen Sohn erkannt hatte.

Krëuſa war indeſſen von dem Altare Apollo's, vor74 dem ſie ſich betend niedergeworfen, nicht gewichen. Sie wurde endlich in ihrem brünſtigen Flehen von ihren Die¬ nerinnen unterbrochen, welche ſich ihr unter Weheklagen nahten. Unglückliche Herrin, riefen ſie ihr entgegen, dein Gatte zwar iſt in große Freude verſetzt, du aber wirſt nie ein eigenes Kind in deine Arme nehmen und an deine Bruſt legen. Ihm freilich hat Apollo einen Sohn gegeben, einen erwachſenen Sohn, den ihm vor Zeiten, wer weiß, welch ein Nebenweib geboren hat; als er aus dem Tempel trat, kam ihm dieſer entgegen, er wird ſich ſeines wiedergefundenen Kindes freuen, du aber wirſt wie zuvor einer Wittwe gleich im öden Hauſe woh¬ nen. Die arme Fürſtin, deren Geiſt der Gott ſelbſt mit Blindheit geſchlagen zu haben ſchien, daß ſich ein ſo nahe liegendes Geheimniß ihm nicht enthüllte, brütete über ihrem traurigen Schickſal eine Weile fort. Endlich fragte ſie nach der Perſon und dem Namen des Stiefſohnes, den ſie ſo unvermuthet erhalten hatte. Es iſt der junge Tempelhüter, den du ſchon kennſt, erwiederten die Die¬ nerinnen; ſein Vater hat ihm den Namen Ion gegeben, wer ſeine Mutter iſt, wiſſen wir nicht, jetzt iſt dein Gatte zu dem Altare des Bacchus gegangen, um heimlich für ſeinen Sohn zu opfern und dann mit ihm den Erken¬ nungsſchmaus zu feiern, uns hat er unter Androhung des Todes verboten, dir, o Herrin, die Geſchichte zu entdecken, nur unſre große Liebe zu dir hat uns vermocht, dieſes Verbot zu übertreten. Du wirſt uns ja nicht bei ihm verrathen! Jetzt trat aus dem Gefolge ein alter Diener hervor, der dem Stamme der Erechthiden mit blin¬ der Treue anhing und ſeiner Gebieterin mit großer Liebe zugethan war. Dieſer ſchalt den Fürſten Xuthus75 einen treuloſen Ehebrecher und ließ ſich von ſeinem Eifer ſo weit verleiten, daß er ihr das Anerbieten machte, den Baſtard, der das Erbe der Erechthiden unrechtmäßiger¬ weiſe an ſich bringen würde, aus dem Wege zu räumen. Krëuſa glaubte ſich von ihrem Gatten und von ihrem früheren Geliebten, dem Gott Apollo, verlaſſen, und betäubt von ihrem Kummer, lieh ſie den frevelhaften Anſchlägen des Greiſen allmählig ihr Ohr und machte ihn auch zum Vertrauten ihres Verhältnißes zu dem Gott.

Als Xuthus mit Ion, in welchem er unbegreiflicher¬ weiſe einen Sohn gefunden zu haben meinte, den Tempel des Gottes verlaſſen hatte, begab er ſich mit ihm nach dem doppelten Gipfel des Berges Parnaſſus, wo der Gott Bacchus nicht weniger heilig, als Apollo ſelbſt, von den Delphiern verehrt und mit ſeinem wilden Orgien¬ dienſte von den Frauen gefeiert wird. Nachdem er hier ein Trankopfer ausgegoſſen zum Danke für den gefunde¬ nen Sohn, errichtete Ion im Freien mit Hülfe der Die¬ ner, die ihn begleitet hatten, ein herrliches und geräumi¬ ges Zelt, das er mit ſchön gewirkten Teppichen bedeckte, die er aus Apollo's Tempel hatte herbeiſchaffen laſſen. In dem Zelte wurden lange Tafeln ausgeſtellt und mit ſilbernen Schüſſeln voll köſtlicher Speiſen und goldenen Bechern voll des edelſten Weines, belaſtet, dann ſandte der Athener Xuthus ſeinen Herold in die Stadt Delphi und lud ſämmtliche Einwohner ein, an ſeiner Freude Theil zu nehmen. Bald füllte ſich das große Zelt mit bekränz¬ ten Gäſten und ſie tafelten in Herrlichkeit und Freude. Beim Nachtiſche trat ein alter Mann, deſſen ſonderbare Gebärden den Gäſten zur Beluſtigung dienten, mitten in76 den Saal des Zeltes und maßte ſich das Amt des Mund¬ ſchenken an. Xuthus erkannte in ihm jenen greiſen Die¬ ner ſeiner Gemahlin Krëuſa, lobte den Gäſten ſeinen Eifer und ſeine Treue, und ließ ihn arglos ſchalten. Der Alte ſtellte ſich an den Schenktiſch und fing an ſich der Becher anzunehmen, und die Gäſte zu bedienen. Als nun gegen den Schluß des Mahles die Flöten ertönten, befahl er den Knechten, die kleinen Becher von der Ta¬ fel wegzunehmen und den Gäſten große ſilberne und gol¬ dene Trinkgefäſſe vorzuſetzen. Er ſelbſt ergriff das herr¬ lichſte Gefäß, und trat, als wollte er damit ſeinen neuen jungen Herren ehren, an den Schenktiſch, füllte es bis zu oberſt mit köſtlichem Weine, ſchüttete aber zugleich un¬ vermerkt ein tödtliches Gift in den Becher. Indem er ſich nun damit dem Ion näherte und einige Tropfen des Weines als Trankopfer auf den Boden goß, entfuhr zu¬ fälliger Weiſe einem der naheſtehenden Knechte ein Fluch. Ion, der unter den heiligen Gebräuchen des Tempels aufgewachſen war, erkannte darin eine böſe Vorbedeutung und befahl, indem er den vollen Becher auf den Boden ſchüttete, daß ihm ein neuer Becher gereicht würde, aus welchem er ſelbſt feierlich das Trankopfer ausgoß, wäh¬ rend alle Gäſte aus ihren Bechern daſſelbe thaten. Wäh¬ rend dieß geſchah, flatterte eine Schaar heiliger Tauben, die im Tempel des Apollo unter dem Schirme des Got¬ tes aufgefüttert werden, luſtig in das Zelt herein. Als ſie die Ströme Weines ſahen, die von allen Seiten aus¬ gegoſſen wurden, ließen ſie ſich, lüſtern gemacht, auf den Boden nieder und fingen an von dem herumſchwimmen¬ den Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen: und allen übrigen ſchadete das Trankopfer nicht, nur die eine77 Taube, die ſich an die Stelle geſetzt hatte, wo Ion ſeinen erſten Becher ausgegoſſen, ſchüttelte, ſo wie ſie den Trank gekoſtet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen aller Gäſte, zu ächzen und zu toben an, und ſtarb unter Flügelſchlag und Zuckungen. Da erhub ſich Ion von ſeinem Sitze, ſtreifte ſein Gewand zürnend von den Ar¬ men, ballte die Fäuſte und rief: wo iſt der Menſch der mich tödten wollte? rede, Alter! denn du haſt deine Hand dazu geliehen, du haſt mir den Trank gemiſcht! damit faßte er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht wieder los zu laſſen. Dieſer, überraſcht und erſchrocken, geſtand die ganze Frevelthat, als von Krëuſen herrührend. Da verließ der durch Apollos Orakel für des Xuthus Sohn erklärte Ion das Zelt und alle Gäſte folgten ihm in wilder Aufregung nach. Als er draußen im Freien ſtand, erhub er die Hände, umringt von den vornehmſten Delphiern und ſprach: Heilige Erde, du biſt mein Zeu¬ ge, daß dieſes fremde Erechthidenweib mich mit Gift aus dem Wege räumen will! Steiniget, ſteiniget ſie! erſcholl es von der Verſammlung der Delphier wie aus Einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf, die Verbrecherin zu ſuchen. Xuthus ſelbſt, dem die ſchreck¬ liche Entdeckung ſeine Beſinnung geraubt hatte, wurde von dem Strome mit fortgeriſſen, ohne zu wiſſen, was er that.

Krëuſa hatte am Altar Apollo's die Früchte ihrer verzweifelten That erwartet. Dieſe aber keimten ganz anders auf, als ſie vermuthet hatte. Ein Toſen aus der Ferne ſchreckte ſie aus ihrer Verſunkenheit auf, und noch ehe es ganz nahe kam, war dem heranſtürmenden Haufen einer der Knechte ihres Gemahls, der ihr ſelbſt vor An¬78 dern getreu war, vorangeeilt, und hatte kaum Zeit gehabt, die Entdeckung ihres Frevels und den Beſchluß, den das Volk von Delphi gefaſſt hätte, ihr zu melden. Ihre Dienerinnen ſchaarten ſich um ſie. Halte dich feſt am Altare, Gebieterin, riefen ſie, denn ſollte dich auch der heilige Ort nicht vor deinen Mördern ſchützen, ſo wer¬ den ſie doch durch deine Ermordung eine unſühnbare Blutſchuld auf ſich laden! Indeſſen kam die tobende Schaar der Delphier, von Ion angeführt, dem Altare immer näher. Noch ehe ſie bei demſelben angelangt wa¬ ren, hörte man des Jünglings zürnende Worte, die der Wind durch die Luft führte: Die Götter haben es gut mit mir gemeint, rief er in lautem Grimme, daß dieſer Frevel mich von der Stiefmutter befreien ſollte, die mich zu Athen erwartete. Wo iſt die Verruchte, die Viper mit der Giftzunge, der Drache mit dem todſpeienden Flammenauge? Auf, daß die Mörderin vom höchſten Felſen in den Abgrund geſtürzt werde! Das ihn be¬ gleitende Volk brüllte Beifall.

Jetzt waren ſie am Altare angekommen und Ion zerrte an der Frau, die ſeine Mutter war, und in der er nur ſeine Todfeindin erkannte, um ſie von dem Aſyl, auf deſſen Heiligkeit und Unverletzlichkeit ſie ſich berief, hinwegzureißen. Aber Apollo wollte nicht, daß ſein eige¬ ner Sohn der Mörder ſeiner Mutter würde. Auf ſeinen göttlichen Wink war das Gerücht von dem gedrohten Verbrechen Krëuſens und der Strafe, welche ſie dafür er¬ warte, ſchnell bis in den Tempel und zu den Ohren der Prieſterin gedrungen, und der Gott hatte ihren Sinn er¬ leuchtet, ſo daß ſie einen raſchen Blick in den Zuſammen¬ hang aller Ereigniſſe warf, und ihr plötzlich klar wurde,79 daß ihr Pflegling Jon nicht des Xuthus, wie ſie ſelbſt nebelhaft prophezeit hatte, ſondern Apollo’s und Krëuſa’s Sohn ſey. Sie verließ den Dreifuß und ſuchte das Kiſtchen hervor, in welchem der neugeborene Knabe ſamt einigen Erkennungszeichen, die ſie gleichfalls ſorgſam auf¬ bewahrt hatte, einſt zu Delphi vor dem Tempelthor aus¬ geſetzt worden war. Mit dieſem im Arme eilte ſie ins Freie und nach dem Altare, wo Krëuſa gegen den ein¬ dringenden Jon um ihr Leben kämpfte. Als Jon die Prieſterin herannahen ſah, ließ er ſogleich von ſeiner Beute ab, ging ihr ehrerbietig entgegen und rief: Sey mir willkommen, liebe Mutter, denn ſo muß ich dich nen¬ nen, obgleich du mich nicht geboren haſt! hörſt du, wel¬ chen Nachſtellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich einen Vater gefunden, ſo ſinnt auch ſchon die böſe Stief¬ mutter auf meinen Tod! Nun ſage mir, Mutter, was ſoll ich thun; denn deiner Mahnung will ich folgen! Die Prieſterin erhob warnend ihren Finger und ſprach: Jon, geh mit unbefleckter Hand und unter günſtigen Vogelzeichen nach Athen! Jon beſann ſich eine Weile, eh er antwortete. Iſt denn der nicht fleckenlos, ſprach er endlich, der ſeine Feinde tödtet? Thue du nicht alſo, bis du mich gehört haſt, ſagte die ehrwürdige Frau. Siehſt du dieß alte Körbchen, das ich, mit fri¬ ſchen Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? In dieſem biſt du einſt ausgeſetzt worden, aus ihm habe ich dich hervorgezogen. Jon ſtaunte. Davon, Mutter, ſprach er, haſt du mir nie etwas geſagt. Warum haſt du es ſo lange vor mir verborgen? Weil der Gott, antwortete die Prieſterin, dich bis hierher zu ſeinem Prie¬ ſter haben wollte. Jetzt, wo er dir einen Vater gegeben80 hat, entläßt er dich nach Athen. Was ſoll mir aber dieſes Kiſtchen helfen? fragte Ion weiter. Es enthält die Windeln, in welchen du ausgeſetzt worden biſt, lieber Sohn! antwortete die Prieſterin. Meine Windeln? ſprach Ion heftig. Nun, das iſt ja eine Spur, die mich auf meine rechte Mutter führen kann. O erwünſchte Ent¬ deckung! Die Prieſterin hielt ihm nun das offene Kiſt¬ chen hin und Ion griff gierig hinein, und zog die rein¬ lich zuſammengewickelte Leinwand heraus. Während er ſeine bethränten Augen auf die koſtbaren Ueberbleibſel heftete, hatte ſich Krëuſa's Angſt allmählig verloren und ein Blick auf das Kiſtchen ihr die ganze Wahrheit ent¬ deckt. Mit einem Sprunge verließ ſie den Altar und mit dem Freudenrufe: Sohn! hielt ſie den ſtaunenden Ion umſchlungen. Dieſem ſchlich ſich aufs neue Mi߬ trauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Frem¬ den als eine Hinterliſt und wollte ſich unwillig losma¬ chen. Aber Krëuſa ſelbſt raffte ſich zuſammen, trat ei¬ nige Schritte zurück und ſprach: Dieſe Leinwand ſoll für mich zeugen, Kind! Wickle ſie getroſt auseinander, du wirſt die Zeichen finden, die ich dir angebe. Die Stickerei, die ſie ſchmückt, iſt das Werk meiner mädchen¬ haften Nadel. In der Mitte des Gewebes muß ſich das Gorgonenhaupt finden, umringt von Schlangen, wie auf dem Aegisſchilde! Ungläubig entfaltete Ion die Windeln, aber mit einem plötzlichen Freudenſchrei rief er aus: O großer Jupiter, hier iſt die Gorgone, hier ſind die Schlangen! Noch nicht genug, ſprach Krëuſa, es müſſen in dem Kiſtchen auch kleine goldne Drachen ſeyn, zur Erinnerung an die Drachen in der Kiſte des Erichthonius; ein Halsſchmuck für das neugeborne Knäbchen. Ion durchforſchte den81 Korb weiter und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch die Drachenbilder hervor. Das letzte Zeichen, rief Krëuſa, muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven ſeyn, die vom erſtgepflanzten Oelbaume Minervens ſtammen, und den ich meinem neugebornen Knaben aufgeſetzt. Jon durchſuchte den Grund des Kiſtchens, und ſeine Hand brachte einen ſchönen grünen Olivenkranz hervor. Mutter, Mutter! rief er mit einer von ſchluchzenden Thränen unterbrochenen Stimme, fiel Krëuſen um den Hals und bedeckte ihre Wangen mit Küſſen. Endlich riß er ſich von ihrem Halſe los, und verlangte nach ſeinem Vater Xuthus. Da entdeckte ihm Krëuſa das Geheimniß ſeiner Geburt und wie er des Gottes Sohn ſey, dem er ſo lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëuſens wurden ihm jetzt klar, und er fand ſelbſt den verzweifel¬ ten Anſchlag ſeiner Mutter auf des unerkannten Sohnes Leben verzeihlich. Xuthus nahm den Jon, obgleich nur als Stiefſohn, doch auch ſo als ein theures Götterge¬ ſchenk in ſeine Arme und alle drei erſchienen wieder im Tempel, dem Gotte zu danken. Die Prieſterin aber weiſ¬ ſagte von ihrem Dreifuß herab, daß Jon der Vater ei¬ nes großen Stammes werden ſollte, Jonier nach ſeinem Namen genannt; auch dem Xuthus weiſſagte ſie Nach¬ kommenſchaft von Krëuſen, einen Sohn, der Dorus heißen ſollte, und der weltberühmten Dorier Vater werden. Mit ſo freudigen Erfüllungen und Hoffnungen brach das Fürſtenpaar von Athen mit dem glücklich ge¬ fundenen Sohn nach der Heimath auf, und alle Einwoh¬ ner Delphi's gaben ihm das Geleite.

Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 682

Dädalus und Ikarus.

Auch Dädalus aus Athen war ein Erechthide, ein Sohn des Metion, ein Urenkel des Erechtheus. Er war der kunſtreichſte Mann ſeiner Zeit, Baumeiſter, Bild¬ hauer und Arbeiter in Stein. In den verſchiedenſten Gegenden der Welt wurden Werke ſeiner Kunſt bewun¬ dert und von ſeinen Bildſäulen ſagte man, ſie leben, gehen und ſehen, und ſeyen für kein Bild ſondern für ein beſeeltes Geſchöpf zu halten. Denn während an den Bildſäulen der früheren Meiſter die Augen geſchloſſen waren, und die Hände, von den Seiten des Körpers nicht getrennt, ſchlaff herunter hingen, war er der erſte, der ſeinen Bildern offene Augen gab, ſie die Hände aus¬ ſtrecken und auf ſchreitenden Füßen ſtehen ließ. Aber ſo kunſtreich Dädalus war, ſo eitel und eiferſüchtig war er auch auf ſeine Kunſt, und dieſe Untugend verführte ihn zum Verbrechen und trieb ihn ins Elend. Er hatte ei¬ nen Schweſterſohn, Namens Talos, den er in ſeinen eige¬ nen Künſten unterrichtete, und der noch herrlichere An¬ lagen zeigte als ſein Oheim und Meiſter. Noch als Knabe hatte Talos die Töpferſcheibe erfunden; den Kinn¬ backen einer Schlange, auf den er irgendwo geſtoßen, gebrauchte er als Säge und durchſchnitt mit den gezackten Zähnen ein kleines Brettchen, dann ahmte er dieſes Werkzeug in Eiſen nach, in deſſen Schärfe er eine Reihe fortlaufender Zähne einſchnitt, und wurde ſo der geprie¬ ſene Erfinder der Säge. Ebenſo erfand er das Drechſel¬ eiſen, indem er zuerſt zwei eiſerne Arme verband, von welchen der eine ſtille ſtand, während der andere ſich83 drehte. Auch andere künſtliche Werkzeuge erſann er, alles ohne die Hülfe ſeines Lehrers, und erwarb ſich damit hohen Ruhm. Dädalus fing an zu befürchten, der Name des Schülers möchte größer werden, als der des Meiſters, der Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinter¬ liſtig um, indem er ihn von Minerva's Burg herabſtürzte. Während Dädalus mit ſeinem Begräbniſſe beſchäftigt war, wurde er überraſcht; er gab vor eine Schlange zu verſcharren. Dennoch wurde er vor dem Gerichte des Areopagus wegen eines Mordes angeklagt und ſchuldig befunden. Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in Attika umher, bis er weiter nach der Inſel Kreta floh. Hier fand er bei dem Könige Minos eine Freiſtätte, ward deſſen Freund und als berühmter Künſtler hoch angeſehen. Er wurde von ihm ausgewählt, um dem Minotaurus, einem Ungeheuer von abſcheulicher Abkunſt, der ein Dop¬ pelweſen war, das vom Kopfe bis an die Schultern die Geſtalt eines Stieres hatte, im übrigen aber einem Men¬ ſchen glich, einen Aufenthalt zu ſchaffen, wo das Unge¬ thüm den Augen der Menſchen ganz entrückt würde. Der erfindſame Geiſt des Dädalus erbaute zu dem Ende das Labyrinth, ein Gebäude voll gewundener Krümmun¬ gen, welche Augen und Füſſe des Betretenden verwirrten. Die unzähligen Gänge ſchlangen ſich in einander, wie der verworrene Lauf des geſchlängelten, phrygiſchen Fluſ¬ ſes Mäander, der in zweifelndem Gange bald vorwärts, bald zurück fließt und oft ſeinen eigenen Wellen entgegen kommt. Als der Bau vollendet war und Dädalus ihn durchmuſterte, fand ſich der Erfinder ſelbſt mit Mühe zur Schwelle zurück, ein ſo trügeriſches Irrſal hatte er gegründet. Im Innerſten dieſes Labyrinthes wurde der6 *84Minotaurus gehegt, und ſeine Speiſe waren ſieben Jünglinge und ſieben Jungfrauen, die, vermöge alter Zinsbarkeit, alle neun Jahre von Athen dem Könige Kreta's zugeſandt werden mußten.

Indeſſen wurde dem Dädalus die lange Verbannung aus der geliebten Heimath doch allmählig zur Laſt und es quälte ihn, bei einem tyranniſchen und ſelbſt gegen ſeinen Freund mißtrauiſchen Könige ſein ganzes Leben auf einem vom Meere rings umſchloſſenen Eilande zu¬ bringen zu ſollen. Sein erfindender Geiſt ſann auf Ret¬ tung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich ganz freudig aus: die Rettung iſt gefunden; mag mich Minos immerhin von Land und Waſſer ausſperren, die Luft bleibt mir doch offen; ſo viel Minos beſitzt, über ſie hat er keine Herrſchergewalt. Durch die Luft will ich davon gehen! Geſagt, gethan. Dädalus überwältigte mit ſei¬ nem Erfindungsgeiſte die Natur. Er fing an Vogelfedern von verſchiedener Größe ſo in Ordnung zu legen, daß er mit der kleinſten begann, und zu der kürzeren Feder ſtets eine längere fügte, ſo daß man glauben konnte, ſie ſeyen von ſelbſt anſteigend gewachſen. Dieſe Federn verknüpfte er in der Mitte mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die ſo vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, ſo daß ſie ganz das Anſehen von Flügeln bekamen. Däda¬ lus hatte einen Knaben Namens Ikarus. Dieſer ſtand neben ihm, und miſchte ſeine kindiſchen Hände neugierig unter die künſtliche Arbeit des Vaters: bald griff er nach dem Gefieder, deſſen Flaum von dem Luftzuge bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, deſſen der Künſt¬ ler ſich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater ließ es ſorglos geſchehen, und lächelte zu den unbeholfenen85 Bemühungen ſeines Kindes. Nachdem er die letzte Hand an ſeine Arbeit gelegt hatte, paßte ſich Dädalus ſelbſt die Flügel an den Leib, ſetzte ſich mit ihnen ins Gleichgewicht und ſchwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte. Dann, nachdem er ſich wieder zu Boden geſenkt, belehrte er auch ſeinen jungen Sohn Ikarus, für den ein kleineres Flügelpaar gefertigt und bereit lag. Flieg immer, lie¬ ber Sohn, ſprach er, auf der Mittelſtraße; damit nicht, wenn du den Flug zuſehr nach unten ſenkteſt, die Fittige ans Meerwaſſer ſtreifen und von Feuchtigkeit beſchwert dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder, wenn du dich zu hoch in die Luftregion verſtiegeſt, dein Gefieder den Sonnenſtrahlen zu nahe komme und plötzlich Feuer fange. Zwiſchen Waſſer und Sonne fliege dahin, im¬ mer nur meinem Pfade durch die Luft folgend. Un¬ ter ſolchen Ermahnungen knüpfte Dädalus auch dem Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch zitterte die Hand des Greiſen, während er es that, und eine bange Thräne tropfte ihm auf die Hand. Dann um¬ armte er den Knaben und gab ihm einen Kuß, der auch ſein letzter ſeyn ſollte.

Jetzt erhoben ſich Beide mit ihren Flügeln. Der Vater flog voraus, ſorgenvoll wie ein Vogel, der ſeine zarte Brut zum erſtenmal aus dem Neſte in die Luft führt. Doch ſchwang er beſonnen und kunſtvoll das Gefie¬ der, damit der Sohn es ihm nachthun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu ſehen, wie es dieſem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Inſel Samos zur linken, bald Delos und Paros, die Eilande, vor¬ übergeflogen. Noch mehrere Küſten ſahen ſie ſchwinden, als der Knabe Ikarus, durch den glücklichen Flug zuverſichtlich86 gemacht, ſeinen väterlichen Führer verließ, und in verwege¬ nem Uebermuthe mit ſeinem Flügelpaar einer höheren Zone zuſteuerte. Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die Nachbarſchaft der Sonne erweichte mit allzukräfti¬ gen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zuſammen¬ hielt, und ehe es Ikarus nur bemerkte, waren die Flügel aufgelöſt und zu beiden Seiten den Schultern entſunken. Noch ruderte der unglückliche Jüngling und ſchwang ſei¬ ne nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu faſſen, und plötzlich ſtürzte er in die Tiefe. Er hatte den Na¬ men ſeines Vaters als Hülferuf auf den Lippen; doch ehe er ihn ausſprechen konnte, hatte ihn die blaue Mee¬ resfluth verſchlungen. Das alles war ſo ſchnell geſchehen, daß Dädalus, hinter ſich nach ſeinem Sohne, wie er von Zeit zu Zeit zu thun gewohnt war, blickend, nichts mehr von ihm gewahr wurde. Ikarus, Ikarus! rief er troſtlos durch den leeren Luftraum. Wo, in welchem Bezirke der Luft ſoll ich dich ſuchen? Endlich ſandte er die ängſtlich forſchenden Blicke nach der Tiefe. Da ſah er im Waſſer die Federn ſchwimmen. Nun ſenkte er ſeinen Flug und ging, die Flügel abgelegt, ohne Troſt am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den Leichnam ſeines unglückſeligen Kindes ans Geſtade ſpiel¬ ten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der ver¬ zweifelnde Vater ſorgte für das Begräbniß des Sohnes. Es war eine Inſel, wo er ſich niedergelaſſen, und wo der Leichnam ans Ufer geſchwemmt worden war. Zum ewigen Gedächtniß an das jammervolle Ereigniß erhielt das Eiland den Namen Ikaria.

Als Dädalus ſeinen Sohn begraben hatte, fuhr er von dieſer Inſel weiter nach der großen Inſel Sicilien. 87Hier herrſchte der König Kokalus. Wie einſt bei Minos auf Kreta fand er bei ihm gaſtliche Aufnahme, und ſeine Kunſt ſetzte die Einwohner in Erſtaunen. Noch lange zeigte man da einen künſtlichen See, den er gegraben, und aus dem ein breiter Fluß ſich in das benachbarte Meer ergoß; auf den ſteilſten Felſen, der nicht zu erſtür¬ men war, und wo kaum ein paar Bäume Platz zu ha¬ ben ſchienen, ſetzte er eine feſte Stadt, und führte zu ihr einen ſo engen und künſtlich gewundenen Weg empor, daß drei oder vier Männer hinreichten, die Veſte zu ver¬ theidigen. Dieſe unbezwingliche Burg wählte dann der König Kokalus zur Aufbewahrung ſeiner Schätze. Das dritte Werk des Dädalus auf der Inſel Sicilien war eine tiefe Höhle. Hier fing er den Dampf unterirdiſchen Feuers ſo geſchickt auf, daß der Aufenthalt in einer Grotte, die ſonſt feucht zu ſeyn pflegte, ſo angenehm war, wie in einem gelinde geheizten Zimmer, und der Körper allmählig in einen wohlthätigen Schweiß kam, ohne dabei von der Hitze beläſtigt zu werden. Auch den Venustempel auf dem Vorgebirge Eryr erweiterte er, und weihte der Göttin eine goldene Honigzelle, die mit der größten Kunſt ausgearbeitet war und einer wirklichen Honigwabe täuſchend ähnlich ſah.

Nun erfuhr aber König Minos, deſſen Inſel der Baumeiſter heimlich verlaſſen hatte, daß Dädalus ſich nach Sicilien geflüchtet habe, und faßte den Entſchluß, ihn mit einem gewaltigen Kriegsheere zu verfolgen. Er rüſtete eine anſehnliche Flotte aus und fuhr damit von Kreta nach Agrigent. Hier ſchiffte er ſeine Landtruppen aus, und ſchickte Botſchafter an den König Kokalus, wel¬ che die Auslieferung des Flüchtlings verlangen ſollten. 88Aber Kokalus war über den Einfall des fremden Tyran¬ nen entrüſtet, und ſann auf Mittel und Wege, ihn zu verderben. Er ſtellte ſich an, als ginge er in die Abſich¬ ten des Kreters ganz ein, verſprach ihm in Allem zu willfahren und lud ihn zu dem Ende zu einer Zuſammen¬ kunft ein. Minos kam und wurde mit großer Gaſtfreund¬ ſchaft von Kokalus aufgenommen. Ein warmes Bad ſollte ihn von der Ermüdung des Weges heilen. Als er aber in der Wanne ſaß, ließ Kokalus dieſe ſo lange heitzen, bis Minos in dem ſiedenden Waſſer erſtickte. Die Leiche überließ der König von Sicilien den Kretern, die mit ihm gekommen waren, unter dem Vorgeben, der König ſey im Bade ausgegleitet und in das heiße Waſſer gefallen. Hierauf wurde Minos von ſeinen Kriegern mit großer Pracht bei Agrigent beſtattet und über ſeinem Grabmal ein offener Aphroditentempel erbaut. Dädalus blieb bei dem Könige Kokalus in ununterbrochener Gunſt; er zog viele und berühmte Künſtler und wurde der Grün¬ der ſeiner Kunſt auf Sicilien. Glücklich aber war er ſeit dem Sturze ſeines Sohnes Ikarus nicht mehr, und, während er dem Lande, das ihm eine Zuflucht gewährt hatte, ein heiteres und lachendes Anſehen durch die Werke ſeiner Hand verlieh, durchlebte er ſelbſt ein kummervolles und trübſinniges Alter. Er ſtarb auf der Inſel Sicilien und wurde dort begraben.

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Zweites Buch.

Die Argonautenſage.

Jaſon und Pelias. Anlaß und Beginn des Argonau¬ tenzuges. Die Argonauten zu Lemnos. Dieſelben im Lande der Dolionen. Herkules zurückgelaſſen. Pollux und der Bebrykenkönig. Phineus und die Harpyien. Die Symplegaden. Weitere Abentheuer. Jaſon im Pallaſte des Aeetes. Medea und Aeetes. Der Rath des Argos. Medea verſpricht den Argonau¬ ten Hülfe. Jaſon und Medea. Jaſon erfüllt des Aeetes Begehr. Medea raubt das goldne Vließ. Die Argonauten, verfolgt, entkommen mit Medea. Weitere Heimfahrt der Argonauten. Neue Verfolgung der Kolchier. Letzte Abentheuer der Helden. Jaſons Ende.

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Jaſon und Pelias.

Von Aeſon, dem Sohne des Kretheus, ſtammte Ja¬ ſon ab. Sein Großvater hatte in einer Bucht des Lan¬ des Theſſalien die Stadt und das Königreich Jolkos ge¬ gründet und daſſelbe ſeinem Sohne Aeſon hinterlaſſen. Aber der jüngere Sohn, Pelias, bemächtigte ſich des Thrones; Aeſon ſtarb, und Jaſon, ſein Kind, war zu Chiron dem Centauren, dem Erzieher vieler großen Hel¬ den, geflüchtet worden, wo er in guter Heldenzucht auf¬ wuchs. Als Pelias ſchon alt war, wurde er durch einen dunkeln Orakelſpruch geängſtigt, welcher ihn warnte, er ſollte ſich vor dem Einſchuhigten hüten. Pelias grübelte vergeblich über dem Sinne dieſes Worts, als Jaſon, der jetzt zwanzig Jahre den Unterricht und die Erziehung des Chiron genoſſen hatte, ſich heimlich aufmachte, nach Jolkos in ſeine Heimath zu wandern und das Thronrecht ſeines Geſchlechtes gegen Pelias zu behaupten. Nach Art der alten Helden war er mit zwei Speeren, dem einen zum Werfen den andern zum Stoßen, ausgerüſtet; er trug ein Reiſekleid und darüber die Haut von einem Panther, den er erwürgt hatte; ſein unbeſchorenes Haar hing lang über die Schultern herab. Unterwegs kam er an einen breiten Fluß, an dem er eine alte Frau ſtehen ſah, die ihn flehentlich bat, ihr über den Strom zu hel¬ fen. Es war die Göttermutter Juno, die Feindin des Königes Pelias. Jaſon erkannte ſie in ihrer Verwand¬92 lung nicht, er nahm ſie mitleidig auf die Arme und watete mit ihr durch den Fluß. Auf dieſem Wege blieb ihm der eine Schuh im Schlamme ſtecken. Dennoch wanderte er weiter und kam zu Jolkos an, als ſein Oheim Pelias gerade mitten unter allem Volke auf dem Marktplatze der Stadt dem Meeresgotte Neptunus ein feierliches Opfer brachte. Alles Volk verwunderte ſich über ſeine Schön¬ heit und ſeinen majeſtätiſchen Wuchs, Sie meinten, Apollo oder Mars ſey plötzlich in ihre Mitte getreten. Jetzt fielen auch die Blicke des opfernden Königes auf den Fremdling und mit Entſetzen bemerkte er, daß nur der eine Fuß deſſelben beſchuhet ſey. Als die heilige Hand¬ lung vorüber war, trat er dem Ankömmling entgegen und fragte ihn mit verheimlichter Beſtürzung nach ſeinem Namen und ſeiner Heimath. Jaſon antwortete muthig, doch ſanft: er ſey Aeſons Sohn, ſey in Chirons Höhle erzogen worden und komme jetzt, das Haus ſeines Vaters zu ſchauen. Der kluge Pelias empfing ihn auf dieſe Mit¬ theilung freundlich und ohne ſeinen Schrecken merken zu laſſen. Er ließ ihn überall im Pallaſte herumführen und Jaſon weidete ſeine Augen mit Sehnſucht an dieſer erſten Wohnſtätte ſeiner Jugend. Fünf Tage lang feierte er hierauf das Wiederſehen mit ſeinen Vettern und Ver¬ wandten in fröhlichen Feſten. Am ſechſten Tage ver¬ ließen ſie die Zelte, die für die Gäſte aufgeſchlagen wa¬ ren, und traten miteinander vor den König Pelias. Sanft und beſcheiden ſprach Jaſon zu ſeinem Oheim: Du weißt, o König, daß ich der Sohn des rechtmäßigen Königes bin, und alles, was du beſitzeſt, mein Eigenthum iſt. Dennoch laſſe ich dir die Schaaf - und Rinderheer¬ den und alles Feld, das du meinen Eltern entriſſen haſt;93 ich verlange nichts von dir zurück, als den Königſcepter und den Thron, auf welchem einſt mein Vater ſaß. Pelias war in ſeinem Geiſte ſchnell beſonnen. Er er¬ wiederte freundlich: Ich bin willig deine Forderung zu erfüllen, dafür ſollſt aber auch du mir eine Bitte gewäh¬ ren und eine That für mich ausrichten, die deiner Ju¬ gend wohl anſteht und deren mein Greiſenalter nicht mehr fähig iſt. Denn mir erſcheint ſeit lange in nächt¬ lichen Träumen der Schatten des Phrixus und verlangt von mir, ich ſolle ſeine Seele zufrieden ſtellen, nach Kol¬ chis zum Könige Aeetes reiſen und von da ſeine Gebeine und das Vließ des goldenen Widders zurückholen. Den Ruhm dieſer Unternehmung habe ich dir zugedacht: Wenn du mit der herrlichen Beute zurückkehrſt, ſollſt du Reich und Scepter in Beſitz nehmen.

Anlaß und Beginn des Argonautenzuges.

Mit dem goldenen Vließe aber verhielt es ſich alſo: Phrixus, ein Sohn des Böotiſchen Königs Athamas, hatte viel von der Nebengattin ſeines Vaters, ſeiner böſen Stiefmutter Ino, zu dulden. Um ihn vor ihren Nach¬ ſtellungen zu bewahren, raubte ihn, mit Hülfe ſeiner Schweſter Helle, die eigene Mutter Nephele. Sie ſetzte die Kinder auf einen geflügelten Widder, deſſen Vließ oder Fell von gediegenem Golde war und welchen ſie von dem Gotte Merkurius zum Geſchenk erhalten hatte. Auf dieſem Wunderthiere ritten Bruder und Schweſter durch die Luft über Land und Meere hin. Unterwegs wurde das Mägdlein von Schwindel überwältigt. Sie94 fiel in die Tiefe und fand ihren Tod in dem Meere, das von ihr den Namen Helle's Meer, oder Helleſpontos erhielt. Phrixus kam glücklich in das Land der Kolchier, an der Küſte des ſchwarzen Meeres. Hier wurde er von dem Könige Aeetes gaſtfreundlich aufgenommen, der ihm eine ſeiner Töchter zur Gattin gab. Den Widder opferte Phrixus dem Jupiter, dem Beförderer der Flucht; ſein Vließ gab er dem Könige Aeetes zum Geſchenk. Dieſer weihte daſſelbe dem Mars, und befeſtigte es mit Nägeln in einem Haine, der dieſem Gott geheiligt war. Zur Bewachung des goldenen Vließes beſtellte Aeetes ei¬ nen ungeheuren Drachen, denn ein Schickſalsſpruch hatte ſein Leben vom Beſitze dieſes Widderfelles abhängig ge¬ macht. Das Vließ wurde in der ganzen Welt als ein großer Schatz betrachtet; und lange trug man ſich auch in Griechenland mit der Nachricht von demſelben. Man¬ chen Helden und Fürſten gelüſtete es darnach; ſo hatte Pelias nicht falſch gerechnet, wenn er hoffte, ſeinen Neffen Jaſon durch die Ausſicht auf eine ſo herrliche Beute zu reizen. Jaſon ließ ſich auch bereitwillig finden; er durch¬ ſchaute die Abſicht ſeines Oheims, ihn in den Gefahren dieſes Zuges untergehen zu laſſen, nicht, und verpflichtete ſich feierlich das Abentheuer zu beſtehen. Die berühmte¬ ſten Helden Griechenlands wurden zu dem kühnen Unter¬ nehmen aufgefordert. Am Fuße des Berges Pelion, aus einer Holzart, die im Meere nicht fault, wurde unter Minerva's Leitung, von dem geſchickteſten Baumeiſter Griechenlands, ein herrliches Schiff mit fünfzig Rudern erbaut, und nach ſeinem Erbauer Argos, dem Sohne des Areſtor, Argo genannt. Es war das erſte lange Schiff, auf welchem ſich Griechen in die offene See wagten. 95Die Göttin Minerva hatte dazu das weiſſagende Brett von einer redenden Eiche des Orakels zu Dodona geſtif¬ tet, das eine Stelle in dem Tafelwerke fand. Das Schiff war auswendig mit vielen geſchnizten Arbeiten geziert und gleichwohl ſo leicht, daß es die Helden zwölf Tage¬ reiſen weit auf der Achſel tragen konnten. Als das Fahrzeug fertig und die Helden verſammelt waren, wur¬ den die Plätze der Argoſchiffer (Argonauten) verloost. Jaſon war Befehlshaber des ganzen Zuges, Tiphys war der Steuermann; Lynceus, der ſcharfblickende, machte den Lootſen des Schiffs. Im Vordertheile des Schiffs ſaß der herrliche Held Herkules, im Hintertheile Peleus, der Vater des Achilles und Telamon der Vater des Ajax. Im innern Raume befanden ſich unter andern Caſtor und Pollux, die Jupitersſöhne, Neleus, der Vater Neſtors, Admetus, der Gemahl der frommen Alceſte, Meleager, der Beſieger des kalidoniſchen Ebers, Orpheus, der wun¬ dervolle Sänger, Menötius, der Vater des Patroklus, Theſeus, nachher König von Athen und ſein Freund Pi¬ rithous, Hylas, der junge Gefährte des Herkules, Nep¬ tuns Sohn Euphemus, und Oïleus, der Vater des klei¬ neren Ajax. Jaſon hatte ſein Schiff dem Neptunus ge¬ widmet und vor der Abfahrt wurde ihm und allen Mee¬ resgöttern ein feierliches Opfer mit Gebeten dargebracht. Als Alle im Schiffe Platz genommen, wurden die Anker gelichtet, die fünfzig Ruderer begannen ihren regel¬ mäßigen Taktſchlag, ein günſtiger Wind ſchwellte die Se¬ gel und bald hatte das Schiff den Hafen von Jolkus hinter ſich. Orpheus mit lieblichen Harfentönen und be¬ geiſterndem Geſang belebte den Muth der Argoſchiffer, luſtig fuhren ſie an Vorgebirgen und Inſeln vorbei, erſt96 am zweiten Tage erhob ſich ein Sturm und trieb ſie in den Hafen der Inſel Lemnos.

Die Argonauten zu Lemnos.

Auf dieſer Inſel hatten das Jahr zuvor die Weiber alle ihre Männer, ja das ganze männliche Geſchlecht, vom Zorn der Venus verfolgt und von Eiferſucht getrie¬ ben, weil jene ſich Nebenweiber aus Thracien geholt hatten, ausgerottet. Nur Hypſipyle hatte ihren Vater, den König Thoas verſchont und in einer Kiſte dem Meere zur Rettung übergeben. Seitdem fürchteten ſie unaufhör¬ lich einen Angriff von Seiten der Thracier, der Verwand¬ ten ihrer Nebenbuhlerinnen und blickten oft mit ängſtli¬ chen Augen nach der hohen See hinaus. Auch jetzt, wo ſie das Schiff Argo heranrudern ſahen, ſtürzten ſie alle miteinander aufgeſchreckt aus den Thoren, und ſtrömten, mit Waffen angethan, wie Amazonen, ans Ufer. Die Helden verwunderten ſich höchlich, als ſie das ganze Geſtade voll von bewaffneten Weibern und keinen Mann erblickten. Sie fertigten in einem Nachen einen Herold mit dem Friedensſtabe an die ſeltſame Verſammlung ab, der von den Frauen vor die Königin Hypſipyle gebracht wurde und in beſcheidenen Worten die Bitte der Argo¬ ſchiffer, um gaſtliche Raſt, vorbrachte. Die Königin ver¬ ſammelte ihr Frauenvolk auf dem Marktplätze der Stadt; ſie ſelbſt ſetzte ſich auf den ſteinernen Thron ihres Vaters; Ihr zunächſt lagerte ſich, auf einen Stab geſtützt, die greiſe Amme, dieſer zur Rechten und zur Linken ſaßen je zwei blondhaarige, zarte Jungfrauen. Nachdem ſie der97 Verſammlung das friedliche Anſinnen der Argonauten vorgelegt, ſprach ſie aufgerichtet: Liebe Schweſtern, wir haben eine große Frevelthat begangen und in der Thor¬ heit uns männerlos gemacht, wir sollen gute Freunde, wenn ſie ſich, uns darbieten, nicht zurückſtoßen. Aber wir müſſen auch dafür ſorgen, daß ſie nichts von unſerer Unthat erfahren. Darum iſt mein Rath, den Fremden Speiſe, Wein und alle Nothdurft in ihr Schiff tragen zu laſſen, und durch ſolche Bereitwilligkeit ſie ferne von un¬ ſern Mauern zu halten.

Die Königin hatte ſich wieder niedergeſetzt und da¬ gegen die alte Amme erhoben. Mit Mühe richtete ſie ihren Kopf aus den Schultern auf und ſprach: Sendet immerhin den Fremdlingen Geſchenke: dieß iſt wohlge¬ than. Denket aber auch daran, was euch bevorſteht, wenn die Thracier kommen. Und wenn ein gnädiger Gott dieſe ferne hält, ſeyd ihr darum vor allem Uebel ſicher? Zwar die alten Weiber, wie ich, können ruhig ſeyn, wir werden ſterben, ehe die Noth dringend wird, ehe alle unſere Vorräthe zu Ende ſind. Ihr Jüngeren aber, wir wollet Ihr alsdann leben? werden ſich die Ochſen für euch von ſelbſt ins Joch ſpannen und den Pflug durchs Ackerfeld ziehen? werden ſie an eurer Statt, wenn das Jahr herum iſt, die reifen Aehren ab¬ ſchneiden? denn ihr ſelbſt werdet dieſe und andere harte Arbeiten nicht allein verrichten wollen. Ich rathe euch, weiſet den erwünſchten Schutz nicht ab, der ſich euch dar¬ bietet; vertrauet Gut und Habe den edelgeborenen Fremd¬ lingen an, und laßt ſie eure ſchöne Stadt verwalten! Dieser Rath gefiel allen Weibern von Lemnos wohl. Die Königin ſchickte eine der beiſitzenden Jungfrauen mitSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 798dem Herold auf das Schiff, um den Argonauten den günſtigen Beſchluß der Frauenverſammlung kund zu thun. Die Helden waren über die Nachricht hoch erfreut, ſie glaubten nicht anders, als Hypſipyle ſey ihrem Vater, nach deſſen Tode, in friedlicher Uebernahme der Herr¬ ſchaft gefolgt. Jaſon warf den purpurnen Mantel, ein Geſchenk der Minerva, über ſeine Schultern und wan¬ delte der Stadt zu, einem ſchimmernden Sterne ähnlich. Als er in die Thore einzog, ſtrömten ihm die Frauen mit lautem Gruße nach und erfreuten ſich des Gaſtes. Er aber heftete mit ſittſamer Scheu die Augen auf den Boden und eilte dem Pallaſte der Königin zu. Dienende Mägde thaten die hohen Pforten weit vor ihm auf; die Jungfrau führte ihn in das Gemach ihrer Herrin. Hier nahm er, dieſer gegenüber, auf einem prachtvollen Stuhl Platz. Hypſipyle ſchlug die Augen nieder und ihre jung¬ fräulichen Wangen rötheten ſich. Verſchämt wandte ſie ſich an ihn mit den ſchmeichleriſchen Worten: Fremdling, warum weilet ihr ſo ſcheu außerhalb unſerer Thore? dieſe Stadt wird ja nicht von Männern bewohnt, daß ihr euch zu fürchten hättet. Unſre Gatten ſind uns treulos ge¬ worden; ſie ſind mit Thraciſchen Weibern, die ſie im Kriege erbeutet, in das Land ihrer Nebenweiber gezogen und haben ihre Söhne und männlichen Diener mit ſich genommen; wir aber ſind hülflos zurückgeblieben. Da¬ rum, wenn es euch gefällt, kehret hier, bei unſrem Volke, ein, und magſt du, ſo ſollſt du an meines Vaters Thoas Statt, die deinigen und uns beherrſchen. Du wirſt das Land nicht tadeln, es iſt bei weitem die fruchtbarſte Inſel in dieſem Meere. Geh daher, guter Führer, melde dei¬ nen Genoſſen unſern Vorſchlag und bleibet nicht länger99 außerhalb der Stadt. So ſprach ſie, und verhehlte nur die Ermordung der Männer. Ihr erwiederte Jaſon: Königin, die Hülfe, die du uns Hülfsbedürftigen anbie¬ teſt, nehmen wir mit dankbarem Herzen an; wenn ich meinen Genoſſen die Nachricht zurückgebracht habe, will ich in eure Stadt zurückkehren, aber den Scepter und die Inſel behalte du ſelbſt! Nicht als ob ich ſie verachtete: aber mich erwarten ſchwere Kämpfe im fernen Lande. Jaſon reichte der königlichen Jungfrau die Hand zum Abſchiedsgruße, dann eilte er zurück ans Ufer. Bald kamen auch die Frauen auf ſchnellen Wagen nach, mit vielen Gaſtgeſchenken. Ohne Mühe überredeten ſie die Helden, die ihres Führers Botſchaft ſchon vernommen hatten, die Stadt zu betreten und in ihren Häuſern ein¬ zukehren. Jaſon nahm ſeine Wohnung in der Königs¬ burg ſelbſt, die Andern da und dort; nur Herkules, der Feind weibiſchen Lebens, blieb mit wenigen auserleſenen Genoſſen zurück auf dem Schiffe. Jetzt füllten fröhliche Mahlzeiten und Tänze die Stadt; duftiger Opferdampf ſtieg zum Himmel; Einwohnerinnen und Gäſte ehrten den Schutzgott der Inſel, Vulkanus, und Venus, ſeine Ge¬ mahlin. Von Tag zu Tag wurde die Abfahrt verſcho¬ ben und noch lange hätten die Helden bei den freund¬ lichen Wirthinnen verweilt, wenn nicht Herkules vom Schiffe herbeigekommen wäre und die Genoſſen, ohne der Weiber Wiſſen, um ſich verſammelt hätte. Ihr Elen¬ den ſchalt er, hattet ihr nicht genug Frauen im eigenen Lande? ſeyd ihr der Hochzeit bedürftig hierhergekommen? wollt ihr als Bauern zu Lemnos das Feld pflügen? Freilich! ein Gott wird für uns das Vließ holen und es uns zu Füßen, legen! Lieber laſſet uns jeden in ſeine7*100Heimath zurückkehren; jener mag ſich mit Hypſipyle ver¬ mählen, die Inſel Lemnos mit ſeinen Söhnen bevölkern und von fremden Heldenthaten hören!

Keiner wagte gegen den Helden, der ſo ſprach, die Augen aufzuheben, oder ihm zu widerſprechen. Von der Verſammlung weg rüſteten ſie ſich zur Abfahrt. Aber die Lemnierinnen, ihre Abſicht errathend, umſchwärmten ſie wie ſummende Bienen mit Klagen und Bitten. Doch ergaben ſie ſich zuletzt in den Entſchluß der Helden, Hyp¬ ſipyle trat mit thränenden Augen aus der Schaar her¬ vor, nahm Jaſon bei der Hand und ſprach: Geh, und mögen dir die Götter, ſammt deinen Genoſſen, wie du es wünſcheſt, das goldene Vließ verleihen! Wenn du je zu uns zurückkehren willſt, ſo erwartet dich dieſe Inſel und das Scepter meines Vaters. Aber ich weiß es wohl, du haſt dieſe Abſicht nicht. So gedenke denn we¬ nigſtens meiner in der Ferne! Jaſon ſchied mit Be¬ wunderung von der edlen Königin, und beſtieg zuerſt das Schiff, nach ihm die andern Helden alle. Sie lös¬ ten die Taue, mit welchen das Schiff ans Land gebun¬ den war, die Ruderer ſetzten ſich in Bewegung und in kurzer Zeit hatten ſie den Helleſpont hinter ſich.

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Die Argonauten im Lande der Dolionen.

Thraciſche Winde trieben hier das Schiff in die Nähe der Phrygiſchen Küſte, wo auf dem Eilande Cy¬ zikus die erdgeborenen Giganten in ungezähmter Wild¬ heit, und die friedlichen Dolionen neben einander wohn¬ ten. Jenen hingen ſechs Arme, zwei von den mächtigen Schultern und vier an den beiden Seiten, vom Leibe herunter; dieſe ſtammten vom Meeresgotte ab, der ſie auch gegen jene Ungeheuer ſchirmte. Ihr König war der fromme Cyzikus. Dieſer und ſein ganzes Volk, als ſie von der Ankunft des Schiffes und dem Geſchlechte der Männer gehört, gingen den Argonauten liebreich ent¬ gegen, empfingen ſie gaſtfreundlich und überredeten ſie noch weiter zu rudern und das Schiff im Hafen der Stadt vor Anker zu legen. Der König hatte längſt ei¬ nen Orakelſpruch erhalten, wenn die göttliche Schaar der Heroen käme, ſo ſollte er ſie liebreich aufnehmen und ja nicht bekriegen. Er verſah ſie deßwegen reichlich mit Wein und Schlachtvieh. Er ſelbſt war noch ganz jung und kaum erſt war ihm der Bart gewachſen. Im Kö¬ nigshauſe lag ihm ſeine Frau in den erſten Wehen; dennoch verließ er ſie, um, dem Götterſpruche folgſam, das Mahl mit den Fremden zu theilen. Hier erzählten ſie ihm von dem Ziel und Zweck ihrer Fahrt, und er unterrichtete ſie über den Weg, den ſie zu nehmen hätten. Am andern Morgen beſtiegen ſie einen hohen Berg, um ſelbſt die Lage der Inſel und das Meer zu überſchauen. Inzwiſchen waren von der andern Seite des Eilands die Giganten hervorgebrochen und hatten den Hafen mit102 Felsblöcken geſperrt. In dieſem lag das Schiff Argo, von Herkules, der auch diesmal nicht an das Land ge¬ ſtiegen war, bewacht. Als dieſer die Ungeheuer das bos¬ hafte Werk unternehmen ſah, ſchoß er ihrer viele mit ſeinen Pfeilen zu Tode. Zu gleicher Zeit kamen auch die übrigen Helden zurück und richteten mit Pfeilen und Speeren unter den Giganten eine furchtbare Niederlage an, ſo daß ſie in dem engen Hafen wie ein umgehauener Wald da lagen, die einen mit Kopf und Bruſt im Waſ¬ ſer, mit den Füßen auf dem Uferſande, die andern mit den Füßen im Meere, mit Kopf und Bruſt am Ufer; beide Fiſchen und Vögeln zur Beute beſtimmt. Nach¬ dem die Helden dieſen glücklichen Kampf beſtanden, lös¬ ten ſie unter günſtigem Winde die Ankertaue und ſegelten hinaus in die offene See. Aber in der Nacht legte ſich der Wind; bald erhob ſich ein Sturm von der entgegen¬ geſetzten Seite und ſo wurden ſie genöthigt, noch einmal am gaſtlichen Lande der Dolionen vor Anker zu gehen, ohne daß ſie es wußten: denn ſie glaubten ſich an der Phrygiſchen Küſte. Ebenſo wenig erkannten die Do¬ lionen, die bei dem Geräuſche der Landung ſich aus ihrer nächtlichen Ruhe erhoben hatten, die Freunde wieder, mit denen ſie geſtern ſo fröhlich gezecht hatten. Sie griffen zu den Waffen und eine unglückſelige Schlacht entſpann ſich zwiſchen Gaſtfreunden. Jaſon ſelbſt ſtieß dem gütigen Könige Cyzikus den Speer mitten in die Bruſt, ohne ihn zu kennen und von ihm gekannt zu ſeyn. Die Dolionen wurden endlich in die Flucht ge¬ ſchlagen und ſchloſſen ſich in die Mauern ihrer Stadt ein. Am andern Morgen wurde beiden der Irrthum offenbar.

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Bitterer Schmerz ergriff den Argonautenführer Ja¬ ſon mit allen ſeinen Helden, als ſie den guten Dolionen¬ könig in ſeinem Blute liegen ſahen. Drei Tage lang trauerten in friedlicher Vermiſchung die Helden und die Dolionen, rauften ſich die Haare und ſtellten den Ge¬ bliebenen zu Ehren gemeinſchaftlich Trauerkampfſpiele an; dann ſchifften die fremden Helden weiter. Elite, die Gemahlin des gefallenen Dolionenköniges, erdroſſelte ſich mit dem Stricke, noch ehe ſie geboren hatte.

Herkules zurückgelaſſen.

Nach einer ſtürmevollen Fahrt landeten die Helden in einem Meerbuſen Bithyniens, bei der Stadt Cios. Die Myſier, die hier wohnten, empfingen ſie gar freund¬ lich, thürmten dürres Holz zum wärmenden Feuer auf, machten den Ankömmlingen aus grünem Laub eine weiche Streu, und ſetzten ihnen noch in der Abenddämmerung Wein und Speiſe zur Gnüge vor. Herkules, der alle Bequemlichkeiten der Reiſe verſchmähte, ließ ſeine Ge¬ noſſen beim Mahle ſitzen und machte einen Streifzug in den Wald, um ſich aus einem Tannenbaum ein beſſeres Ruder für den kommenden Morgen zu ſchnitzen. Bald fand er eine Tanne, die ihm gerecht war, nicht zu ſehr mit Aeſten beladen, in der Größe und im Umfang wie der Aſt einer ſchlanken Pappel. Sogleich legte er Kö¬ cher und Bogen auf die Erde, zog ſein Löwenfell aus, warf ſeine eherne Keule auf den Boden und zog den Stamm, den er mit beiden Händen gefaßt, mit ſammt den Wurzeln und der daran hängenden Erde heraus, ſo104 daß die Tanne dalag, nicht anders, denn als hätte ſie ein Sturm entwurzelt. Inzwiſchen hatte ſich ſein junger Gefährte Hylas auch vom Tiſche der Genoſſen verloren. Er war mit dem ehernen Kruge aufgeſtanden, um Waſ¬ ſer für ſeinen Herrn und Freund zum Mahle zu ſchöpfen und auch alles andere ihm für ſeine Rückkehr vorzube¬ reiten. Herkules hatte auf ſeinem Zuge gegen die Dryo¬ pen ſeinen Vater im Wortwechſel erſchlagen, den Kna¬ ben aber aus dem Hauſe des Vaters mit ſich genommen und ſich zum Diener und Freunde nachgezogen. Als dieſer ſchöne Jüngling an dem Quelle Waſſer ſchöpfte, leuchtete der Vollmond. Wie er ſich nun eben mit dem Kruge nach dem Waſſerſpiegel neigte, erblickte ihn die Nymphe des Quelles. Von ſeiner Schönheit bethört, ſchlang ſie den linken Arm um ihn, mit der rechten er¬ griff ſie ſeinen Ellenbogen und zog ihn ſo hinunter in die Tiefe. Einer der Helden, Polyphemus mit Namen, der die Rückkehr des Herkules nicht ferne von jenem Quell erwartete, hörte den Hülfeſchrei des Knaben. Aber er fand ihn nicht mehr, dagegen begegnete er dem Her¬ kules, der aus dem Walde zurückkam. Unglücklicher, rief er ihm entgegen, muß ich der Erſte ſeyn, der Dir die Trauerbotſchaft melde! Dein Hylas iſt zum Quelle gegangen und nicht wieder zurückgekehrt; Räuber führen ihn gefangen davon, oder wilde Thiere zerreißen ihn; ich ſelbſt habe ſeinen Angſtruf gehört. Dem Herkules floß der Schweiß vom Haupte, als er es hörte, und das Blut wallte ihm gegen die Bruſt. Zornig warf er die Tanne auf den Boden und rannte, wie ein von der Bremſe geſtochener Stier Hirten und Herde verläßt, mit durchdringendem Rufe durch das Dickicht der Quelle zu.

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Jetzt ſtand der Morgenſtern über dem Bergesgipfel; günſtiger Wind erhub ſich. Der Steuermann ermahnte die Helden ihn zu benützen und das Schiff zu beſteigen. Schon fuhren ſie im Morgenlichte fröhlich dahin, als ihnen zu ſpät einfiel, daß zwei ihrer Genoſſen, Polyphe¬ mus und Herkules, von ihnen am Ufer zurückgelaſſen worden. Ein ſtürmiſcher Streit erhob ſich unter den Helden, ob ſie ohne die tapferſten Begleiter weiter ſegeln ſollten. Jaſon ſprach kein Wort; ſtille ſaß er und der Kummer fraß ihm am Herzen, den Telamon aber über¬ mannte der Zorn: Wie kannſt du ſo ruhig ſitzen? rief er dem Führer zu; gewiß fürchteteſt du, Herkules möchte deinen Ruhm verdunkeln! Doch was helfen da Worte? und wenn alle Genoſſen mit dir einverſtanden wären, ſo will ich allein zu dem verlaſſenen Helden umkehren. Mit dieſen Worten faßte er den Steuermann Tiphys an der Bruſt, ſeine Augen funkelten wie Feuerflammen, und gewiß hätte er ſie gezwungen, nach dem Geſtade der Myſier zurückzukehren, wenn nicht die beiden Söhne des Boreas, Kalais und Zethes, ihm in den Arm gefallen wären und ihn mit ſcheltenden Worten zurückgehalten hätten. Zugleich ſtieg aus der ſchäumenden Fluth Glau¬ kus, der Meergott, hervor, faßte mit ſtarker Hand das Ende des Schiffes und rief den Eilenden zu: Ihr Hel¬ den, was ſtreitet ihr euch? Was begehret ihr wider den Willen Jupiters, den muthigen Herkules mit euch in das Land des Aeetes zu führen? Ihm ſind ganz andere Arbeiten zu verrichten vom Schickſale beſtimmt. Den Hylas hat eine liebende Nymphe geraubt, und ihm zu lieb iſt er zurück¬ geblieben. Nachdem er ihnen Solches geoffenbart, tauchte Glaukus wieder in die Tiefe nieder, und das dunkle106 Waſſer ſchäumte in Wirbeln um ihn. Telamon war be¬ ſchämt, er ging auf Jaſon zu, legte ſeine Hand in des Helden Hand und ſprach: Zürne mir nicht, Jaſon! der Schmerz hat mich verführt, unvernünftige Worte zu reden! Uebergieb meinen Fehler den Winden, und laß uns Wohl¬ wollen üben wie früher! Jaſon gab der Verſöhnung gerne Gehör und ſo fuhren ſie bei ſtarkem und günſtigem Winde dahin. Polyphemus fand ſich bei den Myſiern zurecht und baute ihnen eine Stadt. Herkules aber ging weiter, wohin ihn die Beſtimmung Jupiters rief.

Pollux und der Bebrykenkönig.

Am andern Morgen legten ſie mit Sonnenaufgang an einer weit ins Meer hinaus geſtreckten Landzunge ſich vor Anker. Dort befanden ſich die Ställe und das länd¬ liche Wohnhaus des wilden Bebrykenköniges Amykus. Dieſer hatte allen Fremdlingen das läſtige Geſetz aufge¬ legt, daß Keiner ſein Gebiet verlaſſen ſollte, ehe er ſich mit ihm im Fauſtkampfe gemeſſen. Auf dieſe Weiſe hatte er ſchon viele Nachbarn umgebracht. Auch jetzt näherte er ſich mit verächtlichen Worten dem gelandeten Schiffe: Höret, ihr Meervagabunden, rief er, was euch zu wiſſen noth iſt! Kein Fremdling darf mein Land verlaſſen, ohne mit mir gerungen zu haben. So ſuchet denn euren tapferſten Helden aus und ſtellet ihn mir; ſonſt ſoll es euch übel ergehen! Nun war unter den Argoſchiffern der beſte Fauſtkämpfer Griechenlands, Pollux, der Leda Sohn. Dieſen reizte die Ausforderung und er rief dem Könige zu: poltere nicht, wir wollen deinen107 Geſetzen gehorchen und in mir haſt du deinen Mann ge¬ funden! Der Bebryke blickte den kühnen Helden mit rollenden Augen an, wie ein verwundeter Berglöwe den, der ihn zuerſt getroffen hat. Pollux aber, der jugendliche Held, ſah heiter aus, wie ein Stern am Himmel; er ſchwang ſeine Hände in der Luft, um ſie zu verſuchen, ob ſie von der langen Ruderarbeit nicht erſtarrt ſeyen. Als die Helden das Schiff verlaſſen, ſtellten die beiden Kämpfer ſich einander gegenüber. Ein Sclave des Kö¬ niges warf ein gedoppeltes Paar von Fechterhandſchuhen zwiſchen ſie auf den Boden. Wähle, welches Paar du willſt, ſagte Amykus, ich will dich nicht lange looſen laſſen! Du wirſt aus Erfahrung ſagen können, daß ich ein guter Gerber bin und blutige Backenſtreiche zu er¬ theilen verſtehe! Pollux lächelte ſchweigend, nahm das Handſchuhepaar, das ihm zunächſt lag, und ließ es ſich von ſeinen Freunden an die Hände feſtbinden. Daſſelbe that der Bebrykenkönig. Jetzt begann der Fauſtkampf. Wie eine Meerwelle, die ſich dem Schiff entgegen wälzt und welche die Kunſt des Steuermanns mit Mühe abweist, ſtürmte der fremde Ringer auf den Griechen ein und ließ ihm keine Ruhe. Dieſer aber wich ſeinem Angriffe immer kunſtvoll und unverletzt aus. Er hatte die ſchwa¬ che Seite ſeines Gegners bald ausgekundſchaftet und ver¬ ſetzte ihm manchen unabgewehrten Streich. Doch nahm auch der König ſeines Vortheils wahr und nun krachten die Kinnbacken und knirſchten die Zähne von gegenſeiti¬ gen Schlägen und ſie ruhten nicht eher aus, als bis beide athemlos waren. Dann traten ſie bei Seite, fri¬ ſchen Athem zu ſchöpfen und ſich den ſtrömenden Schweiß abzutrocknen. Im erneuten Kampfe verfehlte Amykus108 ſeines Widerpartes Haupt und ſein Arm traf nur die Schulter, Pollux aber traf den Gegner über das Ohr, daß ihm die Knochen im Kopfe zerbrachen und er vor Schmerz in die Kniee ſank.

Da jauchzten die Argonauten laut auf; aber auch die Bebryken ſprangen ihrem Könige bei, kehrten ihre Keulen und Jagdſpieße gegen Pollux und ſtürmten gegen ihn heran. Vor ihm ſtellten ſich ſchirmend die Genoſſen mit blanken Schwerdtern auf. Ein blutiges Treffen ent¬ ſpann ſich; die Bebryken wurden in die Flucht geſchla¬ gen und mußten in das Innere des Landes weichen. Die Helden warfen ſich auf ihre Ställe und Viehheerden und machten reichliche Beute. Die Nacht über blieben ſie am Lande, verbanden die Wunden, opferten den Göt¬ tern und blieben beim Becher wach. Sie bekränzten ihre Stirnen mit dem Uferlorbeer, an den auch das Schiff mit ſeinen Tauen angebunden war, und ſangen zur Ci¬ ther des Orpheus eine tönende Hymne. Das ſchweigende Ufer ſchien ihnen mit Luſt zuzuhorchen, ihr Lied aber be¬ ſang Pollux, den ſiegreichen Sohn Jupiters.

Phineus und die Harpyien.

Der Morgen ſetzte dem Mahl ein Ziel und ſie fuh¬ ren weiter. Nach einigen Abentheuern warfen ſie die Anker, gegenüber am Bithyniſchen Lande, an einem Ufer¬ gebiete aus, wo der König Phineus, der Sohn des Hel¬ den Agenor hauste. Dieſer war von einem großen Uebel heimgeſucht. Weil er die Wahrſagergabe, die ihm von Apollo verliehen worden, mißbraucht hatte, war er im109 hohen Alter mit Blindheit geſchlagen worden; und die Harpyien, die gräßlichen Wundervögel, ließen ihn keine Speiſe ruhig genießen. Was ſie konnten, raubten ſie; das Zurückgebliebene beſudelten ſie ſo, daß man es nicht genießen, ja ſelbſt die Nähe ſolcher Speiſen nicht aus¬ halten konnte. Doch war dem Phineus ein Troſtſpruch vom Orakel Jupiters gegeben: Wenn die Boreasſöhne mit den griechiſchen Schiffern kommen würden, ſollte er wieder Speiſe genießen können. So verließ denn der Greis, auf die erſte Nachricht von des Schiffes Ankunft, ſein Gemach. Bis auf die Knochen abgemagert war er anzuſchauen wie ein Schatten, ſeine Glieder zitterten vor Altersſchwäche, vor den Augen ſchwindelte ihm, ein Stab unterſtützte ſeine ſchwankenden Tritte und als er bei den Argonauten angekommen war, ſank er erſchöpft zu Bo¬ den. Dieſe umringten den unglücklichen Greis und ent¬ ſetzten ſich über ſein Ausſehen. Als der Fürſt ihre Nähe vernommen, und ſeine Beſinnung wieder zurückgekehrt war, brach er in flehende Bitten aus: O, ihr theuren Helden, wenn ihr wirklich Diejenigen ſeyd, welche die Weiſſagung mir bezeichnet hat, ſo helfet mir: denn nicht nur meines Augenlichtes haben die Rachegöttinnen ſich bemächtigt, auch die Speiſen entziehen ſie meinem Alter durch die gräßlichen Vögel, die ſie mir ſenden! Ihr lei¬ ſtet eure Hülfe keinem Fremdling; ich bin Phineus, Age¬ nors Sohn, ein Grieche. Einſt habe ich unter den Thra¬ ciern geherrſcht, und die Söhne des Boreas, welche Theilnehmer eures Zuges ſeyn müſſen und mich retten ſollen, ſind die jungen Brüder Cleopatra's, die dort meine Gattin war. Auf dieſe Entdeckung warf ſich ihm Ze¬ thes, des Boreas Sohn, in die Arme und verſprach ihm,110 ihn mit Hülfe ſeines Bruders von der Qual der Har¬ pyien zu befreien; und auf der Stelle bereiteten ſie ihm ein Mahl, das der räuberiſchen Vögel letztes ſeyn ſollte. Kaum hatte der König die Speiſe berührt, als die Vögel, wie ein plötzlicher Sturm, mit Flügelſchlag aus den Wolken herabgeſtürzt kamen und ſich gierig auf die Spei¬ ſen ſetzten. Die Helden ſchrieen laut auf; aber die Har¬ pyien ließen ſich nicht ſtören, ſie blieben, bis ſie alles aufgezehrt hatten, dann ſchwangen ſie ſich wieder in die Lüfte und ließen einen unerträglichen Geruch zurück. Aber Zethes und Kalais, die Boreasſöhne, verfolgten ſie mit gezücktem Schwert. Jupiter verlieh ihnen Fittiche und unermüdliche Kraft, die ſie wohl brauchen konnten, denn die Harpyien kamen in ihrem Fluge dem ſchnellſten Weſtwinde zuvor. Aber die Boreasſöhne waren rüſtig hinter ihnen drein, und oft meinten ſie die Ungeheuer ſchon mit Händen greifen zu können. Endlich waren ſie ihnen ſo nahe, daß ſie dieſelben ohne Zweifel erlegt hät¬ ten, als plötzlich Jupiters Botin, Iris, ſich aus dem Aether herabſenkte und das Heldenpaar ſo anredete: Nicht iſt's erlaubt, ihr Söhne des Boreas, die Jagd¬ hunde des großen Jupiter, die Harpyien, mit dem Schwerdte zu fällen. Doch ſchwöre ich euch den großen Göttereid beim Styx, daß die Raubvögel den Sohn des Agenor nicht mehr beunruhigen ſollen. Die Söhne des Boreas wichen dem Eide und kehrten nach dem Schiffe um.

Unterdeſſen pflegten die griechiſchen Helden den Leib des Greiſen Phineus, hielten eine Opfermahlzeit und lu¬ den den Ausgehungerten dazu ein. Dieſer verzehrte gie¬ rig die reinen und reichlichen Speiſen, es war ihm, als weidete ſich ſein Hunger im Traume. Während ſie die111 Nacht über auf die Rückkehr der Boreasſöhne warteten, theilte ihnen der alte König Phineus zum Danke von den Früchten ſeiner Wahrſagergabe mit. Vor allen Din¬ gen, lautete ſeine Rede, werdet ihr in einem Engpaſſe des Meeres die Symplegaden begegnen; dies ſind zwei ſteile Felſeninſeln, deren unterſte Wurzeln nicht bis zum Meeresboden reichen, ſondern die in der See ſchwim¬ men; oft treiben ſie einander entgegen, und dann ſchwillt die Meeresflut in der Mitte mit fürchterlichem Toben an. Wollet ihr nicht mit Mann und Maus zerquetſcht werden, ſo rudert zwiſchen ihnen durch, ſo ſchnell wie eine Taube fliegt. Dann werdet ihr ans Geſtade der Mariandyner kommen, wo der Eingang zur Unterwelt iſt. An vielen andern Vorgebirgen, Flüſſen und Küſten fahret ihr dann vorüber, an Frauenſtädten der Amazo¬ nen, am Lande der Chalyber, die in ihres Angeſichtes Schweiß das Eiſen aus der Erde graben. Endlich wer¬ det ihr zur Kolchiſchen Küſte gelangen, wo der Phaſis ſeinen breiten Strudel ins Meer ſendet. Hier werdet ihr die gethürmte Burg des Königes Aeetes erblicken; hier hütet der ſchlafloſe Drache das Goldvließ, das über dem Wipfel des Eichbaums ausgebreitet hängt.

Die Helden hörten dem Greiſe nicht ohne Grauen zu und wollten eben weiter fragen, als ſich die Söhne des Boreas aus den Lüften in ihre Mitte herniederſenk¬ ten und den König mit der tröſtlichen Botſchaft der Iris erfreuten.

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Die Symplegaden.

Phineus nahm dankbar und gerührt Abſchied von ſei¬ nen Rettern, die weiter, und mancherlei neuen Schickſa¬ len entgegen fuhren. Zuerſt wurden ſie durch vierzig¬ tägige Nordweſtwinde aufgehalten, bis Opfer und Gebet zu allen zwölf Göttern ihnen zu friſcher Fahrt verhalf. Sie waren im beſten Seegeln begriffen, als ein lautes Toſen ihnen von ferne ſchon ans Ohr ſchlug. Es war das Krachen der immer zuſammenſtoßenden und immer wieder zurückprallenden Symplegaden, der Wiederhall der Ufer und das Ziſchen des zuſammengepreßten Meeres. Tiphys der Steuermann ſtellte ſich wachſam ans Steuer¬ ruder. Euphemus der Held erhub ſich im Schiffe und hielt auf der flachen Rechten eine Taube. Wenn dieſe, hatte Phineus ihnen geweiſſagt, furchtlos zwiſchen den Felſen durchflöge, ſo dürften auch ſie kecklich die Durch¬ fahrt wagen. Eben öffneten ſich die Felſen: Euphemus ließ die Taube fliegen; Alle richteten ihre Häupter in Erwartung empor. Die Taube flog mitten hindurch, aber ſchon näherten ſich die Felſen wieder, das ſchäu¬ mende Meer wallte ziſchend einer Wolke gleich auf; ein Brauſen erfüllte Waſſer und Luft; jetzt ſtießen die Fel¬ ſen zuſammen und klemmten der Taube die letzten Schwanzfedern ab, doch war ſie glücklich hindurch ge¬ kommen. Mit lauter Stimme ermunterte Tiphys die Ruderer, dann aber öffneten ſich die Felſen wieder und die in den Zwiſchenraum ſtrömende Flut zog das Schiff mit ſich hinein. Jetzt hing das Verderben über ihrem Haupte: eine Thurmhohe Woge wälzte ſich ihnen entge¬113 gen, bei deren Anblick Alle die Köpfe bückten. Aber Tiphys hieß mit dem Rudern inne halten und die ſchäu¬ mende Welle wälzte ſich unſchädlich unter dem Kiele hin und hob das Schiff hoch über die zuſammenſchwimmenden Felſen empor. Die Helden arbeiteten, daß die Ruder ſich krümmten; jetzt riß der Strudel das Schiff wieder mitten in die Felſen hinab. Schon ſtießen die Felſen zu beiden Seiten an den Bauch des Schiffes; da gab ihm die Schutzgöttin Minerva einen unſichtbaren Stoß, daß es glücklich durchkam und die zuſammenſchlagenden Fel¬ ſen nur eben noch die äußerſten Bretter des Hintertheiles zermalmten. Als erſt die Helden den Aether und die offene See wieder vor ſich ſahen, da athmeten ſie von der Todesangſt wieder auf und es war ihnen, als wä¬ ren ſie aus der Unterwelt emporgetaucht. Das iſt nicht durch unſre Kraft geſchehen, rief Tiphys, wohl fühlte ich hinter mir die göttliche Hand Minervens, deren Schnellkraft das Schiff durch die Felſen ſtieß! Nichts haben wir fortan zu fürchten; alle andern Arbeiten nach dieſer Gefahr hat uns Phineus als leicht geſchildert. Aber Jaſon ſchüttelte traurig ſein Haupt und ſprach: Guter Tiphys, ich habe die Götter verſucht, daß ich dieſes Unternehmen mir von Pelias auflegen ließ; lieber hätte ich mich von ihm in Stücke ſollen hauen laſſen! Jetzt bringe ich in Seufzen die Nächte nach den Tagen zu, nicht für mich beſorgt, nein, nur auf Euer Leben und Heil bedacht, und wie ich aus ſo gräßlichen Gefahren euch der Heimat unverloren zurückgeben ſoll. So ſprach der Held, ſeine Genoſſen zu verſuchen. Dieſe aber ju¬ belten ihm freudig zu und verlangten vorwärts.

Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 8114

Weitere Abentheuer.

Unter mancherlei Schickſalen fuhren die Helden nun weiter. Auf der Fahrt erkrankte ihnen ihr treuer Steuer¬ mann Tiphys, ſtarb und mußte am fremden Ufer begra¬ ben werden. An ſeine Stelle wählten ſie denjenigen unter den Helden, der des Steuers am kundigſten war. Er hieß Amäus und weigerte ſich lange, das ſchwierige Geſchäft zu übernehmen, bis ihm Juno, die Göttin, Muth und Zuverſicht ins Herz gab. Dann aber ſtellte er ſich ans Ruder und lenkte das Schiff ſo gut, als wenn Tiphys ſelbſt noch am Steuer ſäße. Nach zwölf Tagen kamen ſie mit vollen Segeln an die Mündung des Fluſſes Kallichorus; hier ſahen ſie auf einem Hügel das Grabmal des Helden Sthenelus, der mit Herkules in den Amazonenkrieg gezogen und hier von einem Pfeile getroffen am Meeresufer verſchieden war. Sie wollten eben weiter ſchiffen, als der klägliche Schatten dieſes Helden, von Proſerpina aus der Unterwelt entlaſſen, ſichtbar ward und ſehnſüchtig nach den ſtammesverwand¬ ten Männern blickte. Er ſtand zu oberſt auf ſeinem Grabhügel in der Geſtalt, in welcher er in die Schlacht gegangen war: ein purpurner Buſch mit vier ſchönen Federn wehte ihm vom Helme. Doch war er nur we¬ nige Augenblicke zu ſchauen und tauchte bald wieder in die ſchwarze Tiefe hinunter. Erſchrocken ließen die Hel¬ den die Ruder ſinken. Nur Mopſus, der Wahrſager, verſtand das Verlangen der abgeſchiedenen Seele: er rieth ſeinen Genoſſen, den Geiſt des Erſchlagenen mit einem Trankopfer zu ſühnen. Schnell zogen ſie die Se¬115 gel ein, banden das Schiff am Strande an, und indem ſie ſich um den Grabhügel ſtellten, benetzten ſie ihn mit Trankopfern und verbrannten geſchlachtete Schafe. Dann fuhren ſie weiter und weiter und gelangten endlich zur Mündung des Fluſſes Termodon. Dieſem glich kein an¬ derer Strom auf der Erde: aus einer einzigen Quelle tief in den Bergen entſprungen, theilte er ſich bald in eine Menge kleinerer Arme, und ſtürmte in ſo viel Aus¬ flüſſen ins Meer, daß nur viere zu einem Hundert fehl¬ ten. Sie wimmelten wie eine Menge Schlangen in die offene See. An dem breiteſten Ausfluſſe wohnten die Amazonen. Dieſes Weibervolk ſtammte vom Gotte Mars ab und liebte die Werke des Krieges. Hätten die Argo¬ nauten hier gelandet, ſo wären ſie ohne Zweifel in einen blutigen Krieg mit den Frauen gerathen, denn dieſe wa¬ ren den tapferſten Helden im Kampfe gewachſen. Sie wohnten nicht in einer Stadt vereinigt, ſondern auf dem Lande zerſtreut und in einzelne Stämme getrennt. Ein günſtiger Weſtwind hielt die Argonauten von dieſem krie¬ geriſchen Weibervolke fern. Nach der Fahrt eines Tags und einer Nacht kamen ſie, wie ihnen Phineus geweiſſagt hatte, an das Land der Chalyber. Dieſe pflügten nicht das Erdreich, pflanzten keine fruchttragenden Bäume, weideten keine Herden auf der thauigen Wieſe, ſie gru¬ ben nur Erz und Eiſen aus dem rauhen Boden und tauſchten gegen dieſes ihre Lebensmittel ein. Keine Sonne ging ihnen ohne ſchwere Arbeit auf, in ſchwarzer Nacht und dichtem Rauche verbrachten ſie arbeitend ihren Tag.

Noch an mancherlei Völkern kamen ſie vorüber. Als ſie einer Inſel, mit Namen Aretia, oder Marsinſel, gegenüber waren, flog ihnen ein Bewohner dieſes Ei¬8 *116lands, ein Vogel mit kräftigem Flügelſchlage, entgegen. Als er über dem Schiffe ſchwebte, ſchüttelte er ſeine Schwingen und ließ eine ſpitze Feder fallen, die in der Schulter des Helden Oïleus ſtecken blieb. Verwundet ließ der Held das Ruder fahren: die Genoſſen ſtaunten, als ſie das geflügelte Geſchoß erblickten, das ihm in der Schulter ſteckte. Der, der ihm zunächſt ſaß, zog die Fe¬ der heraus und verband die Wunde. Bald erſchien ein zweiter Vogel: den ſchoß Klytius, der den Bogen ſchon geſpannt hielt, im Fluge, ſo daß der getroffene mitten in das Schiff herabfiel. Wohl iſt die Inſel in der Nähe, ſagte da Amphilanus, ein erfahrener Held, aber trauet jenen Vögeln nicht. Gewiß ſind ihrer ſo viele, daß, wenn wir landeten, wir nicht Pfeile genug hätten, ſie zu erle¬ gen. Laſſet uns auf ein Mittel ſinnen, die kriegsluſtigen Thiere zu vertreiben. Setzet Alle eure Helme mit hohen nickenden Büſchen auf; alsdann rudert abwechslungsweiſe zur Hälfte, zur andern ſchmücket das Schiff mit blinken¬ den Lanzen und Schilden aus. Dann erheben wir alle ein entſetzliches Geſchrei: wenn das die Vögel hören, dazu die wallenden Helmbüſche, die ſtarrenden Lanzen, die ſchimmernden Schilde ſehen, ſo werden ſie ſich fürchten und davon flattern. Der Vorſchlag gefiel den Helden und alles geſchah, wie er ihnen gerathen hatte. Kein Vogel ließ ſich blicken, ſo lange ſie heranruderten und als ſie der Inſel näher gekommen, mit den Schilden klirrten, flogen ihrer unzählige aufgeſchreckt an der Küſte auf und in ſtürmender Flucht über das Schiff hin. Aber wie man die Fenſterladen eines Hauſes vor dem Hagel ſchließt, wenn man ihn kommen ſieht, ſo hatten ſich die Helden mit den Schilden gedeckt, daß die Stachelfedern herabfie¬117 len, ohne ihnen zu ſchaden; die Vögel ſelbſt flogen weit übers Meer den jenſeitigen Ufern zu. Die Argonauten landeten auf dieſer Inſel nach dem Rathe des wahrſa¬ genden Königes Phineus.

Sie ſollten hier Freunde und Begleiter finden, die ſie nicht erwartet. Kaum nämlich hatten ſie die erſten Schritte am Ufer gethan, als ihnen vier Jünglinge im armſeligſten Auszuge, von Allem entblößt, begegneten. Einer von dieſen eilte den nahenden Helden entgegen und redete ſie an. Wer ihr auch ſeyd, gute Männer, ſprach er, kommt armen Schiffbrüchigen zu Hülfe! Thei¬ let uns Kleider mit, unſre Blöſſe zu bedecken und Spei¬ ſen, unſern Hunger zu ſtillen! Jaſon verſprach ihnen freundlich alle Hülfe und erkundigte ſich nach ihrem Na¬ men und Geſchlecht. Ihr habt wohl von Phrixus ge¬ hört, dem Sohne des Athamas, erwiederte der Jüng¬ ling, der das goldne Vließ nach Kolchis gebracht hat? Der König Aeetes hat ihm ſeine ältere Tochter zur Ehe gegeben, wir ſind ſeine Söhne und ich heiße Argos. Unſer Vater Phrixus iſt vor kurzem geſtorben, und nach ſeinem letzten Willen hatten wir uns zu Schiffe geſetzt, die Schätze, die er in der Stadt Orchomenos gelaſſen, abzuholen! Die Helden waren hocherfreut und Jaſon begrüßte ſie als Vettern, denn die Großväter Athamas und Kretheus waren Brüder geweſen. Die Jünglinge erzählten weiter, wie ihr Schiff im wüthenden Sturme zerbrochen ſey, und ein Brett ſie an dieſe unwirthliche Inſel getragen habe. Als ihnen aber die Helden ihr Vorhaben mittheilten und ſie zur Theilnahme an dem Abentheuer aufforderten, da verbargen ſie ihr Entſetzen nicht. Unſer Großvater Aeetes iſt ein grauſamer Mann,118 er ſoll der Sohn des Sonnengottes und deswegen mit übermenſchlicher Macht begabt ſeyn; unzählige Kolcher¬ ſtämme beherrſcht er, und das Vließ hütet ein entſetzli¬ cher Drache. Manche der Helden wurden bei dieſem Berichte bleich. Peleus jedoch, einer von ihnen, erhub ſich und ſprach: Glaube nicht, daß wir dem Kolcher¬ könige unterliegen müſſen; auch wir ſind Götterſöhne! Giebt er uns das Vließ nicht in Güte, ſo werden wir es ihm ſeinen Kolchiern zum Trotz entreiſſen! So ſprachen ſie mit einander noch länger beim reichlichen Mahle. Am andern Morgen ſchifften ſich die Söhne des Phrixus, gekleidet und geſtärkt, mit ihnen ein, und die Fahrt ging vorüber. Nachdem ſie einen Tag und eine Nacht gerudert, ſahen ſie die Spitzen des Kaukaſusgebir¬ ges über die Meeresfläche hervorragen. Als es ſchon dunkelte, hörten ſie ein Geräuſch über ihren Häuptern: es war der Adler des Prometheus, der ſeinem Fraß ent¬ gegen hoch über das Schiff dahin flog; und doch war ſein Flügelſchlag ſo mächtig, daß alle Segel von ihm wie im Winde ſich bewegten. Denn es war ein Rieſenvogel und er ſchlug die Luft mit ſeinen Flügeln wie mit großen Segeln. Bald darauf hörten ſie aus der Ferne das tiefe Stöhnen des Prometheus, in deſſen Leber der Vogel ſchon wühlte. Nach einiger Zeit verhallten die Seufzer und ſie ſahen den Adler wieder hoch über ſich durch die Lüfte zurückrudern.

Noch in derſelben Nacht gelangten ſie ans Ziel und in die Mündung des Fluſſes Phaſis. Freudig kletterten ſie an den Segelſtangen empor und tackelten das Schiff ab; dann trieben ſie es mit den Rudern in das breite Bett des Stromes, deſſen Wellen vor der gewaltigen119 Maſſe des Fahrzeugs ſich ſcheu zurückzuziehen ſchienen. Zur Linken hatten ſie den hohen Kaukaſus und Cyta, die Hauptſtadt des Kolcherlandes; zur Rechten breitete ſich das Feld und der heilige Hain des Mars aus, wo der Drache das goldne Vließ, das an den blätterreichen Ae¬ ſten einer hohen Eiche hing, mit ſeinen ſcharfen Augen bewachte. Jetzt erhub ſich Jaſon am Borde des Schif¬ fes, er ſchwenkte hoch in der Hand einen goldenen Becher voll Weins und brachte dem Fluſſe, der Mutter Erde, den Göttern des Landes und den auf den Fahrt verſtor¬ benen Heroen ein Trankopfer dar. Er bat ſie alle, mit liebreicher Hülfe ihnen nahe zu ſeyn und über den Tauen des Schiffes, das ſie eben anbinden wollten, zu wachen. So wären wir denn glücklich zum Kolchiſchen Lande gelangt, ſprach der Steuermann Amäus; nun iſt's Zeit, daß wir uns ernſtlich berathen, ob wir den König Aeetes in Güte angehen oder auf irgend eine andere Weiſe unſer Vorhaben ins Werk ſetzen wollen Mor¬ gen, riefen die müden Helden. Und ſo befahl denn Jaſon, das Schiff in einer ſchattigen Bucht des Fluſſes vor Anker gehen zu laſſen. Alle legten ſich zu ſüßem Schlummer nieder, der ſie jedoch nur mit kurzer Raſt erquickte, denn bald öffnete ihnen das Morgenroth die Augenlieder.

Jaſon im Pallaſte des Aeetes.

Der frühe Morgen vereinigte die Helden zur Raths¬ verſammlung. Jaſon erhub ſich und ſprach: Wenn euch meine Meinung gefällt, ihr Helden und Genoſſen, ſo ſollt120 ihr Uebrigen alle ruhig, doch die Waffen in der Hand, im Schiffe bleiben; nur ich, die Söhne des Phrixus und zwei aus eurer Mitte wollen uns nach dem Pallaſte des Königes Acetes aufmachen. Hier will ich es verſuchen und ihn zuerſt mit höflichen Worten fragen, ob er das goldene Vließ in Güte uns überlaſſen wolle. Nun zweifle ich nicht: er wird die Bittenden, auf ſeine Stärke trotz¬ end, abweiſen. Wir aber werden auf dieſe Weiſe aus ſeinem eigenen Munde die Gewißheit erhalten, was uns zu thun iſt. Und wer kann es verbürgen, daß unſere Worte nicht doch vielleicht ihn günſtig ſtimmen werden? Hat doch auch früher die Rede über ihn vermocht, daß er den unſchuldigen Phrixus, der vor ſeiner Stiefmutter floh, in den Schutz ſeiner Gaſtfreundſchaft aufnahm. Die jungen Helden billigten alle die Rede Jaſons. So griff er ſelbſt zum Friedensſtabe des Merkurius und verließ mit des Phrixus Söhnen und mit ſeinen Genoſſen Telamon und Augeas das Schiff. Sie betraten ein mit Weiden bewachſenes Feld, das circäiſche genannt; hier ſahen ſie mit Schaudern eine Menge Leichen an Ketten aufgehängt. Doch waren es keine Verbrecher oder gemordete Fremd¬ linge; vielmehr galt es in Kolchis für einen Frevel, die Männer zu verbrennen oder in die Erde zu begra¬ ben, ſondern ſie hängten ſie, in rohe Stierfelle gewickelt, an den Bäumen auf, ferne von der Stadt, und überlie¬ ßen ſie der Luft zum Austrocknen. Nur die Weiber wur¬ den, damit die Erde nicht zu kurz käme, in dieſe begraben.

Die Kolchier waren ein gar zahlreiches Volk; da¬ mit nun Jaſon und ſeine Begleiter von ihnen und dem Mißtrauen des Königes Aeetes keine Gefahr liefen, hängte Juno, die Beſchirmerin der Argonauten, ſo lang ſie un¬121 terwegs waren, eine dichte Nebelwolke über die Stadt, und zerſtreute ſie erſt wieder, als ſie glücklich in dem Pallaſte des Königes angekommen. Da ſtanden ſie denn in dem Vorhofe und bewunderten die dicken Mauern des Königshauſes, die hochgeſchweiften Thore, die mächtigen Säulen, die hier und dort an den Mauern vorſprangen. Das ganze Gebäude umgürtete ein hervorſtehendes ſtei¬ nernes Geſimſe, das mit ehernen Dreiſchlitzen abgekantet war. Schweigend traten ſie über die Schwelle des Vor¬ hofes. Dieſe umgrünten hohe Rebenlauben, darunter perlten vier immerfließende Springquelle; der eine ſandte Milch empor, der zweite Wein, der dritte duftendes Oel, der vierte Waſſer, das im Winter warm, im Sommer eiskalt war. Der kunſtreiche Vulkanus hatte dieſe köſtli¬ chen Werke geſchaffen. Derſelbe hatte dem Beſitzer auch Stierbilder aus Erz gefertiget, aus deren Munde ein furchtbarer Feuerathem ging, und einen Pflug aus lauterm Eiſen geſchaffen, Alles dem Vater des Aeetes, dem Son¬ nengotte zu Dank, der den Vulkan in der Giganten¬ ſchlacht einſt auf ſeinen Wagen genommen und gerettet hatte. Aus dieſem Vorhofe kam man zu dem Säulen¬ gange des Mittelhofes, der ſich zur Rechten und zur Lin¬ ken hinzog und hinter welchem viele Eingänge und Ge¬ mächer zu ſchauen waren. Querüber ſtanden die zwei Hauptpalläſte, in deren einem der König Aeetes ſelbſt, im andern ſein Sohn Abſyrtus wohnte. Die übrigen Gemächer hielten die Dienerinnen und die Töchter des Königes, Chalciope und Medea, beſetzt. Medea, die jün¬ gere Tochter, war ſonſt wenig zu ſchauen, faſt alle Zeit brachte ſie im Tempel der Hekate (Proſerpina) zu, deren Prieſterin ſie war. Dießmal aber hatte Juno, die Schutz¬122 göttin der Griechen, ihr in das Herz gegeben, im Pal¬ laſte zu bleiben. Sie hatte eben ihr Gemach verlaſſen und wollte das Zimmer ihrer Schweſter aufſuchen, als ſie den unerwartet daher ſchreitenden Helden begegnete. Beim Anblicke der Herrlichen that ſie einen lauten Schrei. Auf ihren Ruf ſtürzte Chalciope mit allen ihren Diene¬ rinnen aus ihrem Gemache hervor. Auch dieſe Schwe¬ ſter brach in einen lauten Jubelruf aus und ſtreckte dank¬ ſagend ihre Hände gen Himmel, denn ſie erkannte in vieren der jungen Helden ihre eigenen Kinder, die Söhne des Phrixus. Dieſe ſanken in die Arme ihrer Mutter und lange nahm das Grüßen und Weinen kein Ende.

Medea und Aeetes.

Zuletzt kam auch Aeetes heraus mit ſeiner Gemahlin Idya, denn der Jubel und die Thränen ihrer Tochter hatten ſie herausgelockt. Sogleich füllte ſich der ganze Vorhof mit Getümmel: hier waren Sklaven damit be¬ ſchäftigt, einen ſtattlichen Stier für die neuen Gäſte zu ſchlachten; dort ſpalteten andere dürres Holz für den Herd; wieder andere wärmten Waſſer in Becken am Feuer: da war keiner, der nicht im Dienſte des Königes etwas zu thun gefunden hätte. Aber ihnen Allen unge¬ ſehen ſchwebte hoch in der Luft der Liebesgott, zog einen ſchmerzbringenden Pfeil, ſenkte ſich mit dieſem unſichtbar zur Erde nieder, und hinter Jaſon zuſammengekauert, ſchnellte er vom geſpannten Bogen das Geſchoß auf die Königstochter Medea, der bald der Pfeil, deſſen Flug Niemand und ſie ſelbſt nicht bemerkt hatte, unter der123 Bruſt wie eine Flamme brannte. Wie ein ſchwer Er¬ kranktes mußte ſie einmal über das andere hoch aufath¬ men; von Zeit zu Zeit warf ſie heimliche Blicke auf den herrlichen Helden Jaſon; Alles andere war aus ihrem Gedächtniſſe geſchwunden; ein einziger ſüßer Kummer be¬ mächtigte ſich ihrer Seele; Bläſſe wechſelte auf ihrem Antlitz mit Purpurröthe.

In der frohen Verwirrung war Niemand auf die Verwandlung aufmerkſam, die mit der Jungfrau vorge¬ gangen war. Die Knechte trugen die zubereiteten Spei¬ ſen herbei; und die Argoſchiffer, die ſich vom Schweiße der Ruderarbeit im warmen Bade gereinigt hatten, lab¬ ten ſich, fröhlich zu Tiſche ſitzend, an Speiſe und Trank. Ueber dem Mahle erzählten dem Aeetes ſeine Enkel das Schickſal, das ſie unterwegs betroffen hatte, und nun fragte er ſie auch leiſe nach den Fremdlingen. Ich will es dir nicht bergen, Großvater, flüſterte ihm Argos zu, dieſe Männer kommen, das goldene Vließ unſers Vaters Phrixus von dir zu erbitten. Ein König, der ſie gern aus ihrem Vaterland und ihrem Eigenthum vertreiben möchte, hat ihnen dieſen gefährlichen Auftrag ertheilt. Er hofft, ſie werden dem Zorne Jupiters und der Rache des Phrixus nicht entgehen, bevor ſie mit dem Vließ in ihre Heimat zurückkommen. Ihr Schiff hat ihnen Pallas (Minerva) bauen helfen, kein ſolches, wie wir Kolchier ſie gebrauchen, von denen wir, deine Enkel, freilich das ſchlechteſte bekommen haben, denn im erſten Windſtöße ging es zu Scheitern. Nein, dieſe Fremdlinge haben ein Schiff, ſo feſt gezimmert, daß alle Stürme vergebens da¬ gegen ankämpfen, und ſie ſelbſt ſitzen unaufhörlich an dem Ruder. Die tapferſten Helden Griechenlands haben ſich124 in dieſem Schiffe verſammelt. Und nun nannte er ihm die Vornehmſten mit Namen, meldete ihm auch Jaſons, ihres Vetters, Geſchlecht.

Als der König dieſes hörte, erſchrack er in ſeinem Herzen und wurde zornig auf ſeine Enkel, denn durch ſie veranlaßt, glaubte er, ſeyen die Fremdlinge an ſeinen Hof gekommen. Seine Augen brannten unter den bu¬ ſchigen Brauen und er ſprach laut: Geht mir aus den Augen, ihr Frevler, mit euren Ränken! Nicht das Vließ zu holen, ſondern mir Scepter und Krone zu entreißen, ſeyd ihr hierhergekommen! Säßet ihr nicht als Gäſte an meinem Tiſch, ſo hätte ich euch längſt die Zungen aus¬ reißen und die Hände abhauen laſſen und euch nur die Füße geſchenkt, um davon zu gehen! Als Telamon, des Aeakus Sohn, der zunächſt ſaß, dieſes hörte, ergrimmte er im Geiſt, wollte ſich erheben und dem Könige mit gleichen Worten vergelten. Aber Jaſon hielt ihn zurück und antwortete ſelbſt mit ſanften Worten: Faſſe dich, Aeetes, wir ſind nicht in deine Stadt und deinen Pallaſt gekommen, dich zu berauben. Wer möchte ein ſo weites und gefährliches Meer befahren, um fremdes Gut zu ho¬ len? Nur das Schickſal und der grauſame Befehl eines böſen Königes brachte mich zu dieſem Entſchluſſe. Ver¬ leih uns das goldene Vließ auf unſere Bitte als eine Wohlthat: du ſollſt in ganz Griechenland dafür verherr¬ licht werden. Auch ſind wir bereit, dir ſchnellen Dank abzuſtatten: gibt es einen Krieg in der Nähe, willſt du ein Nachbarvolk unterjochen, ſo nimm uns zu Bundes¬ genoſſen an, wir wollen mit dir ziehen. So ſprach Ja¬ ſon beſänftigend; der König aber ward unſchlüſſig in ſeinem Herzen, ob er ſie auf der Stelle ſollte umbringen125 laſſen, oder ihre Kräfte vorher auf die Probe ſetzen. Nach einigem Beſinnen däuchte ihm das Letztere beſſer und er erwiederte ruhiger, als zuvor: Was braucht es der ängſtlichen Worte, Fremdling? Seyd ihr wirklich Göt¬ terſöhne, oder ſonſt nicht ſchlechter als ich, und habt Luſt nach fremdem Gute, ſo mögt ihr das goldne Vließ mit euch fortnehmen, denn tapfern Männern gönne ich Alles. Aber vorher müßt ihr mir eine Probe geben und eine Arbeit verrichten, die ich ſelbſt ſonſt zu thun pflege, ſo gefährlich ſie iſt. Es weiden mir auf dem Felde des Mars zwei Stiere mit ehernen Füßen, die Flammen ſpeien. Mit dieſen durchpflüge ich das rauhe Feld, und wenn ich alles umgeackert, ſo ſäe ich in die Furchen, nicht der Ceres gelbes Korn, ſondern die gräßlichen Zähne eines Drachen; daraus wachſen mir Männer hervor, die mich von allen Seiten umringen und die ich mit meiner Lanze Alle erlege. Mit dem frühen Morgen ſchirre ich die Stiere an, am ſpäten Abend ruhe ich von der Ernte. Wenn du das Gleiche vollbracht haſt, o Führer, ſo magſt du noch am ſelben Tage das Vließ mit dir fortnehmen nach deines Königes Haus; eher aber nicht, denn es iſt nicht billig, daß der tapfere Mann dem ſchlechteren weiche. Jaſon ſaß bei dieſen Reden ſtumm und unſchlüſſig da, er wagte es nicht, ein ſo furchtbares Werk kecklich zu verſprechen. Indeſſen faßte er ſich und antwortete: So groß dieſe Arbeit iſt, ſo will ich ſie doch beſtehen, o Kö¬ nig, und wenn ich darüber umkommen ſollte. Schlim¬ meres als der Tod kann auf einen Sterblichen doch nicht warten, ich gehorche der Nothwendigkeit, die mich hierher geſendet hat. Gut, ſprach der König, geh jetzt zu126 deiner Schaar, aber beſinne dich! Gedenkſt du nicht Al¬ les auszuführen, ſo überlaß es mir und mach dich aus dem Staube.

Der Rath des Argos.

Jaſon und ſeine zwei Helden erhoben ſich von ihren Sitzen; von den Söhnen des Phrixus folgte ihnen allein Argos, denn er hatte den Brüdern gewinkt, drinnen zu bleiben. Jene aber verließen den Pallaſt. Aeſons Sohn leuchtete von Schönheit und Anmuth. Die Jungfrau Medea ließ ihre Augen durch den Schleier nach ihm ſchweifen und ihr Sinn folgte ſeinen Fußſtapfen wie ein Traum. Als ſie wieder allein in ihrem Frauengemache war, fing ſie an zu weinen, dann ſprach ſie zu ſich ſelbſt: Was verzehre ich mich in Schmerz? was geht mich je¬ ner Held an? mag er der Herrlichſte von allen Halb¬ göttern ſeyn, oder der ſchlechteſte, wenn er zu Grunde gehen ſoll, ſo mag er's! Und doch o möchte er dem Verderben entrinnen! Laß ihn, ehrwürdige Göttin Hekate, nach Hauſe zurückkehren! Soll er aber von den Stieren überwältigt werden, ſo wiſſe er vorher, daß ich wenig¬ ſtens über ſein trauriges Loos mich nicht freue!

Während Medea ſich ſo härmte, waren die Helden unterwegs nach dem Schiffe und Argos ſagte zu Jaſon: Du wirſt meinen Rath vielleicht ſchelten: dennoch will ich ihn dir mittheilen. Ich kenne eine Jungfrau, die mit Zaubertränken umzugehen verſteht, welche Hekate, die Göt¬ tin der Unterwelt, ſie brauen lehrt. Können wir dieſe auf unſere Seite bringen, ſo bezweifle ich nicht, daß du127 ſiegreich aus dem Kampfe hervorgehen wirſt. Willſt du es, ſo gehe ich hin, ſie für uns zu gewinnen. Wenn es dir ſo gefällt, mein Lieber, erwiederte Jaſon, ſo widerſtrebe ich nicht. Doch ſteht es ſchlecht um uns, wenn unſere Heimfahrt von den Weibern abhängt! Un¬ ter ſolchen Reden langten ſie beim Schiffe und den Ge¬ noſſen an. Jaſon berichtete, was von ihm begehrt wor¬ den ſey und was er dem Könige verſprochen habe. Eine Zeitlang ſaſſen die Genoſſen ſtumm einander anblickend, endlich erhob ſich Peleus und ſprach: Held Jaſon, wenn du dein Verſprechen erfüllen zu können glaubſt, ſo rüſte dich. Haſt du aber nicht volle Zuverſicht, ſo bleibe fern und ſieh dich auch nach keinem von dieſen Männern hier um, denn was hätten ſie anders zu erwarten, als den Tod?

Bei dieſem Worte ſprang Telamon auf und vier andere Helden, Alle voll kampfluſtigen Muthes. Aber Argos beruhigte ſie und ſprach: Ich kenne eine Jung¬ frau, die weiß mit Zaubertränken umzugehen: ſie iſt eine Schweſter unſrer Mutter, nun laßt mich zu meiner Mut¬ ter gehen und ſie überreden, daß ſie die Jungfrau uns geneigt mache. Alsdann kann erſt wieder von jenem Abentheuer, zu welchem ſich Jaſon erboten hat, die Rede ſeyn. Kaum hatte er ausgeſprochen, ſo geſchah ein Zei¬ chen aus der Luft. Eine Taube, der ein Habicht nach¬ jagte, flüchtete in Jaſons Schooß, der nachſtürzende Raubvogel aber fiel auf dem Boden des Hinterſchiffes nieder. Jetzt erinnerte ſie einer der Helden daran, daß auch der alte Phineus ihnen geweiſſagt, Venus die Göttin, würde ihnen zur Rückkehr verhelfen. Alle Hel¬ den ſtimmten darum dem Argos bei; nur Idas, der128 Sohn des Aphareus, erhob ſich unwillig von ſeinem Sitze und ſprach: Bei den Göttern, ſind wir als Weiber¬ knechte hierher gekommen, und, anſtatt uns an den Mars zu wenden, rufen wir die Venus an? Soll der Anblick von Habichten und Tauben uns vom Kampfe abhalten? Wohl, ſo vergeſſet den Krieg und gehet hin, ſchwache Jungfrauen zu betrügen. So ſprach er zornig, viele Helden murrten leiſe. Aber Jaſon entſchied für Argos, das Schiff ward am Ufer angebunden und die Helden harreten der Rückkehr ihres Boten.

Aeetes hatte unterdeſſen außerhalb ſeines Pallaſtes eine Verſammlung der Kolchier gehalten. Er erzählte ihnen von der Ankunft der Fremdlinge, ihrem Begehren und dem Untergang, den er ihnen bereitet hätte. Sobald die Stiere den Führer umgebracht hätten, wollte er einen ganzen Wald ausreißen und das Schiff mit ſammt den Männern verbrennen. Auch ſeinen Enkeln, die dieſe Abentheurer herbeigeführt hätten, dachte er eine ſchreck¬ liche Strafe zu.

Mittlerweile ging Argos ſeine Mutter mit bittenden Worten an, daß ſie ihre Schweſter Medea zur Beihülfe bereden möchte. Chalciope ſelbſt hatte Mitleid mit den Fremdlingen gefühlt, aber nicht gewagt, dem grimmigen Zorn ihres Vaters entgegenzutreten. So kam ihr die Bitte des Sohns erwünſcht und ſie verſprach ihren Bei¬ ſtand.

Medea ſelbſt lag in unruhigem Schlummer auf ih¬ rem Lager und ſah einen ängſtigenden Traum. Ihr war, als hätte der Held ſich ſchon zu dem Kampfe mit den Stieren angeſchickt. Er hatte aber dieſen Kampf nicht um des goldenen Vließes willen unternommen, ſondern129 Um ſie als Gattin in die Heimat zu führen. Nun war es ihr im Traume, als ob ſie ſelbſt den Kampf mit den Stieren beſtände, die Eltern aber wollten ihr Ver¬ ſprechen nicht halten und dem Jaſon den Kampfpreis nicht geben, weil nicht ſie, ſondern er, geheißen war, die Stiere anzuſchirren. Darüber war ein heftiger Streit zwiſchen ihrem Vater und den Fremdlingen entbrannt und beide Theile machten ſie zur Schiedsrichterin. Da wählte ſie im Traume den Fremdling; bitterer Schmerz bemächtigte ſich der Eltern, ſie ſchrieen laut auf und mit dieſem Schrei erwachte Medea.

Der Traum trieb ſie nach dem Gemach ihrer Schweſter, aber lange hielt die Schaam ſie unſchlüſſig im Vorhofe, viermal verließ ſie ihn und viermal kehrte ſie wieder zurück, und endlich warf ſie ſich wieder wei¬ nend in ihrem eigenen Gemache nieder. So fand ſie eine ihrer vertrauten jungen Dienerinnen. Dieſe hatte Mitleid mit der Herrin und meldete der Schweſter Me¬ dea's, was ſie geſehen hatte. Chalciope empfing dieſe Botſchaft im Kreis ihrer Söhne, als ſie eben ſich mit ihnen berieth, wie die Jungfrau zu gewinnen wäre. Sie eilte in das Gemach der Schweſter und fand ſie, die Wangen zerfleiſchend und in Thränen gebadet. Was iſt dir geſchehen, arme Schweſter, ſprach ſie mit inni¬ gem Mitleid, welcher Schmerz peinigt deine Seele? hat der Himmel dir eine plötzliche Krankheit geſendet? hat der Vater über mich und meine Sohne Grauſames zu dir geſprochen? O daß ich ferne wäre vom Elternhaus, und da, wo man den Namen der Kolchier nicht hört!

Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 9130

Medea verſpricht den Argonauten Hülfe.

Die Jungfrau erröthete bei dieſen Fragen ihrer Schweſter, und Schaam verhinderte ſie, zu antworten: bald ſchwebte ihr die Rede zu äußerſt auf der Zunge, bald floh ſie in die tiefſte Bruſt zurück. Endlich machte ſie die Liebe kühn, und ſie ſprach mit verſchlagenen Wor¬ ten: Chalciope, mein Herz iſt betrübt um deine Söhne, es möchte ſie der Vater mit den fremden Männern auf der Stelle tödten. Solches verkündet mir ein ſchwerer Traum, möge ein Gott ihm die Erfüllung verweigern. Unerträgliche Angſt bemächtigte ſich der Schweſter: Eben deswegen komme ich zu dir, ſprach ſie, und beſchwöre dich, mir gegen unſern Vater beizuſtehen. Weigerſt du dich, ſo werde ich mit meinen ermordeten Söhnen dich noch vom Orkus aus als Furie umſchweben! Sie um¬ faßte mit beiden Händen Medeens Knie und warf das Haupt in ihren Schooß; beide Schweſtern weinten bit¬ terlich. Dann ſprach Medea: Was redeſt du von Fu¬ rien, Schweſter? Beim Himmel und der Erde ſchwöre ich dir, was ich thun kann, deine Söhne zu retten, will ich gerne thun. Nun, fuhr die Schweſter fort, ſo wirſt du auch dem Fremdling um meiner Kinder willen irgend einen Trug an die Hand geben, jenen furchtbaren Kampf glücklich zu beſtehen, denn von ihm geſendet, fleht mein Sohn Argos mich an, dem Gaſtfreunde deine Hülfe zu erbitten.

Das Herz hüpfte der Jungfrau vor Freuden im Leibe, als ſie dieſes hörte, ihr ſchönes Angeſicht erröthete, ihr funkelndes Auge umhüllte einen Augenblick der Schwin¬131 del, und ſie brach in die Worte aus: Chalciope, das Morgenroth ſoll meinen Blicken nicht mehr leuchten, wenn dein und deiner Söhne Leben nicht mein erſtes iſt. Haſt du doch mich, wie mir oft die Mutter erzählte, zugleich mit ihnen geſäugt, als ich ein kleines Kind war; ſo liebe ich dich nicht nur wie eine Schweſter, ſondern auch wie eine Tochter. Morgen in aller Frühe will ich zum Tempel der Hekate gehen und dort dem Fremdlinge die Zaubermittel holen, welche die Stiere beſänftigen ſollen. Chalciope verließ das Gemach der Schweſter und mel¬ dete den Söhnen die erwünſchte Botſchaft.

Die ganze Nacht lag Medea in ſchwerem Streite mit ſich ſelbſt. Habe ich nicht zu viel verſprochen, ſagte ſie in ihrem Innern, darf ich ſo viel für den Fremdling thun? Ihn ohne Zeugen ſchauen, ihn anrühren, was doch geſchehen muß, wenn der Trug gelingen ſoll? Ja, ich will ihn retten; er gehe frei hin, wohin er will: aber an dem Tage, wo er den Streit glücklich vollbracht ha¬ ben wird, will ich ſterben. Ein Strick oder Gift ſoll mich vom verhaßten Leben befreien. Aber wird mich dieſes retten, wird mich nicht üble Nachrede durchs ganze Kolchierland verfolgen und ſagen, daß ich mein Haus beſchimpft habe, daß ich einem fremden Manne zu lieb geſtorben ſey? Unter ſolchen Gedanken ging ſie, ein Käſtchen zu holen, in welchem heil - und todbringende Arzeneien ſich befanden. Sie ſtellte es auf ihre Kniee und hatte es ſchon geöffnet, um von den tödtlichen Gif¬ ten zu koſten; da ſchwebten ihr alle holden Lebensſorgen vor, alle Lebensfreuden, alle Geſpielinnen; die Sonne kam ihr ſchöner vor, als vorher, eine unwiderſtehliche Furcht vor dem Tode ergriff ſie; ſie ſtellte das Käſtchen9 *132auf den Boden. Juno, die Beſchützerin Jaſons, hatte ihr Herz verwandelt. Kaum konnte ſie die Morgenröthe erwarten, um die verſprochenen Zaubermittel zu holen und mit ihnen vor den geliebten Helden zu treten.

Jaſon und Medea.

Während Argos mit der glücklichen Nachricht nach dem Schiffe der Helden eilte, als kaum das Morgenroth den Himmel erhellte, war die Jungfrau ſchon vom Lager aufgeſprungen, band ihr blondes Haar auf, das bisher in Trauerflechten heruntergehangen, wiſchte Thränen und Harm von den Wangen und ſalbte ſich mit köſtlichem Nektaröl. Sie zog ein herrliches Gewand an, das ſchön gekrümmte, goldne Nadeln feſthielten, und warf einen weißen Schleier über ihr ſtralendes Haupt. Alle Schmer¬ zen waren vergeſſen; mit leichten Füßen durcheilte ſie das Haus und befahl ihren jungen Dienerinnen, deren zwölfe in ihren Frauengemächern waren, ſchnell die Maul¬ thiere an den Wagen zu ſpannen, der ſie nach dem Tem¬ pel der Hekate bringen ſollte. Inzwiſchen holte Medea aus dem Käſtchen die Salbe hervor, die man Prome¬ theusöl nannte; wer, nachdem er die Göttin der Unter¬ welt angefleht, ſeinen Leib damit ſalbte, konnte an jenem Tage von keinem Schwertſtreiche verwundet, von keinem Feuer verſehrt werden, ja, er war den ganzen Tag an Kräften jedem Gegner überlegen. Die Salbe war aus dem ſchwarzen Saft einer Wurzel bereitet, die aus dem Blute emporgekeimt war, das aus der zerfreſſenen Leber des Titanenſohnes auf die Heiden des Kaukaſus geträufelt133 war. Medea ſelbſt hatte in einer Muſchel den Saft die¬ ſer Pflanze als koſtbares Heilmittel aufgefangen.

Der Wagen war gerüſtet; zwei Mägde beſtiegen ihn mit der Herrin, ſie ſelbſt ergriff Zügel und Peitſche und fuhr, von den übrigen Dienerinnen zu Fuße begleitet, durch die Stadt. Ueberall wich der Königstochter das Volk ehrerbietig aus dem Wege. Als ſie durchs freie Feld am Tempel angekommen war, flog ſie mit gewandtem Sprunge vom Wagen und ſprach zu ihren Mägden mit liſtigen, verſtellten Worten: Freundinnen, ich habe wohl ſchwer geſündigt, daß ich nicht ferne von den Fremdlin¬ gen geblieben bin, die in unſerm Lande angekommen ſind! Nun verlangt gar meine Schweſter und ihr Sohn Ar¬ gos, ich ſoll Geſchenke von ihrem Führer annehmen, der die Stiere zu bändigen verſprochen hat, und ihn mit Zaubermitteln unverwundlich machen! Ich aber habe zum Scheine zugeſagt, und ihn hierher in den Tempel beſtellt, wo ich ihn allein ſprechen ſoll. Da will ich die Ge¬ ſchenke nehmen, und wir wollen ſie nachher unter ein¬ ander vertheilen. Ihm ſelbſt aber werde ich eine ver¬ derbliche Arzenei reichen, damit er um ſo gewiſſer zu Grunde geht! Entfernet euch indeſſen, ſobald er kommt, damit er keinen Verdacht ſchöpfe und ich ihn allein em¬ pfangen kann, wie ich verheißen habe.

Den Mägden gefiel der ſchlaue Plan. Während dieſe im Tempel verweilten, machte ſich Argos mit ſei¬ nem Freunde Jaſon und dem Vogelſchauer Mopſos auf. So ſchön war kein Sterblicher, ja keiner der Götterſöhne zuvor je geweſen, wie heute Jupiters Gemahlin ihren Schützling Jaſon mit allen Gaben der Huldgöttinnen ausgerüſtet hatte. Seine beiden Genoſſen ſelbſt, ſo oft134 ſie ihn unterwegs betrachteten, mußten über ſeine Herr¬ lichkeit ſtaunen. Medea war unterdeſſen mit ihren Mäg¬ den im Tempel, und obwohl ſie ſich die Zeit mit Sin¬ gen verkürzten, ſo war doch ihr Geiſt in ganz andern Gedanken, und kein Lied wollte ihr lange gefallen; ihre Augen weilten nicht im Kreiſe ihrer Dienerinnen, ſon¬ dern ſchweiften durch die Tempelpforte verlangend über die Straße hinaus. Bei jedem Fußtritt oder Windhauch richtete ſich ihr Haupt begierig in die Höhe. Nicht lan¬ ge, ſo trat Jaſon mit ſeinen Begleitern in den Tempel, hoch einherſchreitend und ſchön wie Sirius dem Ocean entſteigt. Da war's der Jungfrau, als fiele ihr das Herz aus der Bruſt, Nacht war vor ihren Augen und mit heißem Roth bedeckte ſich ihre Wange. Inzwiſchen hatten ſie die Dienerinnen alle verlaſſen. Lange ſtanden der Held und die Königstochter einander ſtillſchweigend gegenüber, ſchlanken Eichen oder Tannen ähnlich, die auf den Bergen tiefgewurzelt in Windſtille regungslos bei einander ſtehen. Plötzlich aber kommt ein Sturm und alle Blätter zittern in rauſchender Bewegung; ſo ſollten, vom Hauch der Liebe angeweht, ſie bald vielbe¬ wegte Worte tauſchen. Warum ſcheueſt du mich, ſo brach Jaſon zuerſt das Schweigen, nun, da ich allein bei dir bin? Ich bin nicht, wie andere prahleriſche Männer, und war auch zu Hauſe nie ſo. Fürchte dich nicht zu fragen und zu ſagen, was dir beliebt; aber vergiß nicht, daß wir an einem heiligen Orte ſind, wo betrügen ein Fre¬ vel wäre: darum täuſche mich nicht mit ſüßen Worten; ich komme als ein Schutzflehender und bitte dich um die Heilmittel, die du deiner Schweſter für mich verſprochen. Die harte Nothwendigkeit zwingt mich, deine Hülfe zu135 ſuchen; verlange welchen Dank du willſt, und wiſſe, daß du den Müttern und Frauen unſerer Helden, die uns vielleicht ſchon, am Ufer ſitzend, beweinen, durch deinen Beiſtand die ſchwarzen Sorgen zerſtreuen, und in ganz Griechenland Unſterblichkeit erlangen wirſt.

Die Jungfrau hatte ihn ausreden laſſen; ſie ſenkte ihre Augen mit einem ſüßen Lächeln; ihr Herz erfreute ſich ſeines Lobes, ihr Blick erhub ſich wieder, die Worte drängten ſich auf ihre Lippen und gern hätte ſie Alles zu¬ mal geſagt. So aber blieb ſie ganz ſprachlos, wickelte nur die duftende Binde von dem Käſtchen ab, das Ja¬ ſon ihr eilig und froh aus den Händen nahm. Sie aber hätte ihm auch freudig die Seele aus der Bruſt gegeben, wenn er ſie verlangt hätte, ſo ſüße Flammen wehte ihr der Liebesgott von Jaſons blondem Haupte zu; ihre Seele war durchwärmt wie der Thau auf den Roſen von den Strahlen der Morgenſonne durchglüht wird. Beide blick¬ ten verſchämt zu Boden, dann richteten ſie ihre Augen wieder aufeinander und ſchickten ſehnende Blicke unter den Wimpern hervor. Erſt ſpät und mit Mühe hub die Jungfrau an: Höre nun, wie ich dir Hülfe ſchaffen will. Wenn dir mein Vater die verderblichen Drachen¬ zähne zum Säen überliefert haben wird, dann bade dich einſam im Waſſer des Fluſſes, bekleide dich mit ſchwar¬ zen Gewändern, und grabe eine kreisförmige Grube; in dieſer errichte einen Scheiterhaufen, ſchlachte ein weibli¬ ches Lamm und verbrenne es ganz darauf; dann träufle der Hekate ein Trankopfer ſüßen Honigs aus der Schaale und entferne dich wieder vom Scheiterhaufen: auf keinen Fußtritt, auf kein Hundegebell kehre dich um, ſonſt wird das Opfer vereitelt. Am andern Morgen ſalbe dich mit136 dieſem Zaubermittel, das ich hier dir gereicht habe; in ihm wohnt unermeßliche Stärke und hohe Kraft: du wirſt dich nicht den Männern, ſondern den unſterblichen Göttern gewachſen fühlen. Auch deine Lanze, dein Schwerdt und deinen Schild mußt du ſalben, dann wird kein Eiſen in Menſchenhand, keine Flamme der Wunder¬ ſtiere dir ſchaden oder widerſtehen können. Doch wirſt du ſo nicht lange ſeyn, ſondern nur an jenem einen Tage: dennoch entziehe dich auf keine Weiſe dem Streit. Ich will dir auch noch ein anderes Hülfsmittel an die Hand geben. Wann du nämlich die gewaltigen Stiere einge¬ ſpannt und das Blachfeld durchpflügt haſt, und ſchon die von dir ausgeſäete Drachenſaat aufgegangen iſt, ſo wirf unter ſie einen mächtigen Stein: um dieſen werden jene raſenden Geſellen kämpfen, wie Hunde um ein Stück Brod; indeſſen kannſt du auf ſie einſtürzen und ſie nie¬ dermachen. Dann magſt du das goldene Vließ unange¬ fochten aus Kolchis mit dir nehmen: dann magſt du ge¬ hen; ja gehe nur, wohin dir zu gehen beliebt! So ſprach ſie und heimliche Thränen rollten ihr über die Wange hinab; denn ſie dachte daran, daß der edle Held weit fort über die Meere ziehen werde. Traurig redete ſie ihn an, indem ſie ihn bei der Rechten faßte, denn der Schmerz ließ ſie vergeſſen, was ſie that: Wenn du nach Hauſe kommſt, ſo vergiß nicht den Namen Medea's; auch ich will deiner, des Fernen gedenken. Sage mir auch, wo dein Vaterland iſt, nach welchem du auf deinem ſchönen Schiffe zurückkehren wirſt. Mit dieſen Reden der Jungfrau bemächtigte ſich auch des Helden eine un¬ widerſtehliche Neigung und er brach in die Worte aus: Glaube mir, hohe Fürſtin, daß ich, wenn ich dem Tode137 entrinne, keine Stunde bei Tag und bei Nacht dein ver¬ geſſen werde. Meine Heimath iſt Jolkos in Hämonien, da wo der gute Deukalion, der Sohn des Prometheus, viele Städte gegründet und Tempel gebaut hat. Dort kennt man euer Land auch nicht mit Namen. So woh¬ neſt du in Griechenland, Fremdling, erwiederte die Jung¬ frau; dort ſind die Menſchen wohl gaſtlicher, als hier bei uns; darum erzähle nicht, welche Aufnahme dir hier geworden, ſondern gedenke nur in der Stille mein. Ich werde dein gedenken, wenn Alles dich hier vergäße. Wäreſt du aber im Stande, mein zu vergeſſen, o, daß dann der Wind einen Vogel aus Jolkos herbeiführte, durch welchen ich dich daran errinnern konnte, daß du durch meine Hülfe von hier entronnen biſt! Ja, wäre ich dann vielmehr ſelbſt in deinem Hauſe und könnte dich mahnen! So ſprach ſie und weinte. O du Gute, antwortete Jaſon, laß die Winde flattern und den Vo¬ gel dazu, denn du ſprichſt Ueberflüſſiges! Aber wenn du ſelbſt nach Griechenland und in meine Heimath kämeſt, o wie würdeſt du von Frauen und Männern verehrt, ja wie eine Gottheit angebetet werden, weil ihre Söhne, ihre Brüder, ihre Gatten durch deinen Rath dem Tod entronnen und fröhlich der Heimath zurückgegeben ſind; und mir, mir würdeſt du dann ganz gehören, und nichts ſollte unſere Liebe trennen, als der Tod. So ſprach er, ihr aber zerfloß die Seele, als ſie Solches hörte. Zugleich ſtand vor ihrem Geiſt alles Schreckliche, womit die Trennung vom Vaterlande drohte, und dennoch zog es ſie mit wunderbarer Gewalt nach Griechenland, denn Juno hatte es ihr in's Herz gegeben. Dieſe wollte,138 daß die Kolchierin Medea ihr Vaterland verlaſſen und zu des Pelias Verderben nach Jolkos kommen ſollte.

Inzwiſchen harrten in der Ferne die Dienerinnen ſtill und traurig; denn die Zeit war längſt da, wo die Fürſtin nach Hauſe zurückkehren ſollte. Sie ſelbſt hätte die Heimkehr ganz vergeſſen; denn ihre Seele erfreute ſich der trauten Rede, wenn nicht der vorſichtigere Ja¬ ſon, wiewohl auch dieſer ſpät, ſo geſprochen hätte: Es iſt Zeit zu ſcheiden, daß nicht das Sonnenlicht früher ſcheide, als wir, und die Andern Alles inne werden. Laß uns an dieſem Orte wieder zuſammenkommen.

Jaſon erfüllt des Aeetes Begehr.

So ſchieden ſie. Jaſon kehrte fröhlich zu ſeinen Genoſſen und dem Schiffe zurück. Die Jungfrau begab ſich zu ihren Dienerinnen. Dieſe eilten ihr alle entgegen, ſie aber ſah es nicht; denn ihre Seele ſchwebte hoch in den Wolken. Mit leichten Füßen beſtieg ſie den Wagen, trieb die Maulthiere an, die von ſelbſt nach Hauſe rann¬ ten, und kam zum Pallaſte zurück. Hier hatte Chalciope voll banger Sorge um ihre Söhne längſt auf ſie ge¬ wartet. Sie ſaß auf einem Schemel, das gebeugte Haupt mit der linken Hand geſtützt; ihre Augen waren feucht unter den Augenliedern, denn ſie dachte daran, in wel¬ ches Uebels Genoſſenſchaft ſie verſtrickt wäre.

Jaſon erzählte unterdeſſen ſeinen Genoſſen, wie ihm die Jungfrau das herrliche Zaubermittel gereicht habe, zugleich hielt er ihnen die Salbe entgegen. Alle freuten ſich; nur Idas, der Held, ſaß ſeitwärts und knirſchte mit139 den Zähnen vor Zorn. Am andern Morgen ſandten ſie zwei Männer ab, den Drachenſaamen von Aeetes zu er¬ bitten, der ſich nicht lange weigerte. Er gab ihnen von deſſelben Drachen Zähnen, den Kadmus bei Theben um¬ gebracht hatte. Er that es ganz getroſt, denn er hielt es gar nicht für möglich, daß Jaſon es nur bis zum Säen der Zähne bringen könnte. In der Nacht, die auf dieſen Tag folgte, badete ſich Jaſon und opferte der He¬ kate ganz, wie Medea ihn geheißen. Die Göttin ſelbſt vernahm ſein Gebet und kam aus ihren tiefen Höhlen hervor, die entſetzliche, umringt von gräßlichen Drachen, die flammende Eichenäſte im Rachen trugen. Hunde der Unterwelt ſchwärmten bellend um ſie her. Der Anger zit¬ terte unter ihrem Tritt und die Nymphen des Fluſſes Phaſis heulten. Selbſt den Jaſon ergriff Entſetzen, als er heim¬ kehrte, aber dem Gebote der Geliebten getreu, ſchaute er ſich nicht um, bis er wieder bei ſeinen Genoſſen war: und ſchon ſchimmerte die Morgenröthe über dem Schnee¬ gipfel des Kaukaſus.

Jetzt warf Aeetes ſeinen ſtarken Panzer über, den er im Kampfe mit den Giganten getragen; auf ſein Haupt ſetzte er den goldnen Helm mit vier Büſchen und griff zu dem vierhäutigen Schilde, den, außer Herkules, kein anderer Held hätte aufheben können. Sein Sohn hielt ihm die ſchnellen Roſſe am Wagen: dieſen beſtieg er und flog, die Zügel in der Hand, aus der Stadt, ihm nach unzähliges Volk. Wie ſelbſt zum Kampfe gerüſtet, wollte er dem Schauſpiele beiwohnen. Jaſon aber hatte ſich nach Medea's Anleitung mit dem Zauberöle Lanze, Schwert und Schild geſalbt. Rings um ihn her verſuch¬ ten die Genoſſen ihre Waffen an der Lanze, aber ſie140 hielt Stand, und jene vermochten es nicht, ſie auch nur ein wenig zu krümmen; ſie war an ſeiner feſten Hand wie zu Stein geworden. Darüber ärgerte ſich Idas, des Aphareus Sohn, und führte ſeinen Streich auf den Schaft unter der Spitze; aber der Stahl fuhr zurück, wie der Hammer vom Ambos, und fröhlich ſchrieen die Helden auf in der frohen Ausſicht auf den Sieg. Jetzt erſt ſalbte ſich Jaſon auch den Leib; da fühlte er entſetz¬ liche Kraft in allen Gliedern, ſeine beiden Hände ſchwol¬ len auf von Stärke und verlangten nach dem Kampf. Wie ein Kriegsroß vor der Schlacht wiehernd den Bo¬ den ſtampft, ſich aufrichtet und mit geſpitzten Ohren den Kopf erhebt, ſo ſtreckte ſich der Aeſonide im Gefühle ſei¬ ner Streitbarkeit, hob die Füße, ſchwang den Erzſchild und die Lanze mit der Hand. Dann ruderten die Hel¬ den mit ihrem Führer bis zum Marsfelde, wo ſie den König Aeetes und die Menge der Kolchier ſchon antra¬ fen, jenen am Ufer, dieſe auf den Klippenvorſprüngen des Kaukaſus gelagert. Als das Schiff angebunden war, ſprang Jaſon mit Lanze und Schild gerüſtet aus dem¬ ſelben und empfing ſofort einen funkelnden Erzhelm voll ſpitzer Drachenzähne. Dann hing er das Schwert mit einem Riemen um die Schultern und ſchritt vor, herrlich wie Mars oder Apollo. Auf dem Blachfeld umherblick¬ end, ſah er bald die ehernen Joche der Stiere auf dem Boden liegen, dabei Pflug und Pflugſchaar, Alles ganz aus Eiſen gehämmert. Als er ſich das Geräthe näher betrachtet, ſchraubte er die Eiſenſpitze an den ſtarken Schaft ſeiner Lanze und legte den Helm nieder. Hier¬ auf ſchritt er von ſeinem Schilde gedeckt weiter, nach den Fußſtapfen der Thiere forſchend. Dieſe aber brachen141 von einer andern Seite unvermuthet aus einem unter¬ irdiſchen Gewölbe hervor, wo ihre feſten Ställe waren, beide Flammen ſchnaubend und in dicken Rauch gehüllt. Jaſons Freunde ſchracken zuſammen, als ihr Blick auf die Ungeheuer fiel, er aber ſtand mit ausgeſpreizten Bei¬ nen, den Schild vorgehalten, und erwartete ihren An¬ lauf, wie ein Meerfels die Fluten. Sie kamen auch wirklich, mit den Hörnern ſtoßend, auf ihn angeſtürzt, und doch vermochte ihr Anlauf ihm nicht ein Glied zu verrücken. Wie in den Schmiedewerkſtätten die Blas¬ bälge murren und bald mächtige Feuer ſprühen machen, bald mit ihrem Athem inne halten, ſo wiederholten ſie brüllend und Flammen ſpeiend ihre Stöße, daß den Helden die Glut wie lauter Blitzſtralen umzückte. Ihn aber ſchirmte das Zaubermittel der Jungfrau. Endlich ergriff er den Stier zur Rechten am äußerſten Horn und zog ihn mit allen ſeinen Kräften, bis er ihn an die Stelle geſchleppt, wo das eherne Joch lag. Hier gab er ſeinen ehernen Füßen einen Fußtritt und warf ihn mit gekrümmten Knieen zu Boden. Auf dieſelbe Weiſe zwang er auch den zwei¬ ten, der auf ihn losrannte, mit einem einzigen Streich auf die Erde nieder. Dann warf er ſeinen breiten Schild weg und hielt, von ihren Flammen bedeckt, die beiden niedergeworfenen Stiere mit beiden Händen feſt. Aeetes mußte die ungeheure Stärke des Mannes bewundern. Inzwiſchen reichten ihm Kaſtor und Pollux, wie es unter ihnen verabredet war, die Joche, die auf dem Boden la¬ gen, und er befeſtigte ſie mit Sicherheit an das Genick der Thiere. Dann erhub er die eherne Deichſel und fügte ſie in den Ring des Joches. Die Zwillingsbrüder ver¬ ließen nun ſchnell das Feuer, denn ſie waren nicht gefeyt142 wie Jaſon. Dieſer aber nahm ſeinen Schild wieder auf und warf ihn am Riemen hinter den Rücken; dann griff er auch wieder zu dem Helme voll Drachenzähne, faßte ſeine Lanze und zwang mit ihren Stichen die zornigen und Flammen ſprühenden Stiere, den Pflug zu ziehen. Durch ihre Kraft und den mächtigen Pflüger wurde der Boden tief aufgeriſſen und die gewaltigen Erdſchollen krachten in den Furchen. Jaſon ſelbſt folgte mit feſtem Tritt und ſäte die Zähne in den aufgepflügten Boden, vorſichtig rückwärts blickend, ob die aufkeimende Giganten¬ ſaat ſich nicht gegen ihn erhebe; die Thiere aber arbeiteten ſich mit ihren ehernen Hufen vorwärts. Als noch der dritte Theil des Tages übrig war, am hellen Nachmittage, war das ganze Blachfeld, obgleich es vier Jaucherte faßte, von dem unermüdlichen Pflüger umgeackert, und nun wurden die Stiere vom Pflug erlöst; dieſe ſchreckte der Held mit ſei¬ nen Waffen, daß ſie über das offene Feld hin flohen; er ſelbſt kehrte zum Schiffe zurück, ſo lange er die Furchen noch leer von Erdgebornen ſah. Mit lautem Zuruf umringten ihn von allen Seiten die Genoſſen: er jedoch ſprach nichts, ſondern füllte ſeinen Helm mit Flußwaſſer und löſchte ſeinen brennenden Durſt. Dann prüfte er die Gelenke ſeiner Knie und erfüllte ſein Herz mit neuer Streitluſt, wie ein ſchäumender Eber ſeine Zähne gegen die Jäger wetzt. Denn ſchon waren das ganze Feld entlang die Giganten hervorgekeimt: der ganze Marshain ſtarrte von Schilden und ſpitzen Lanzen und erglänzte von Hel¬ men, ſo daß der Schimmer durch die Luft bis zum Him¬ mel emporblitzte. Da gedachte Jaſon an das Wort der ſchlauen Medea: er faßte einen großen runden Stein auf dem Felde, vier kräftige Männer hätten ihn nicht143 vom Boden heben können; er aber ergriff ihn leicht mit der Hand und warf ihn ſpringend weit hin mitten unter die bodenentſproſſenen Krieger. Er ſelbſt barg ſich, ins Knie geworfen, kühn und vorſichtig unter ſeinem Schilde. Die Kolchier ſchrieen laut auf, wie das Meer braust, wenn es ſich an ſpitzen Klippen bricht: Aeetes ſelbſt ſtarrte voll Verwunderung dem Wurfe des ungeheuren Steines nach. Die Erdgebornen, wie ſchnelle Hunde, fingen auf einmal an herumzuhüpfen, gingen auf einan¬ der los, brachten ſich gegenſeitig mit dumpfem Knirſchen um, ſie fielen auf ihre Mutter Erde unter ihren Lanzen nieder, wie Tannenbäume oder Eichen, welche Windwirbel umgeriſſen haben. Als ſie mitten im Gefechte begriffen waren, ſtürzte Jaſon unter ſie, wie ein fallender Stern, der als Wunderzeichen mitten durch die dunkle Nachtluft ſchießt. Jetzt zog er ſein Schwert aus der Scheide, theilte hier und dort Wunden aus, hieb Manche, die ſchon ſtanden, nieder, mähte Andere, die erſt bis zu den Schul¬ tern hervorgewachſen waren, wie Gras ab; Andern ſpal¬ tete er das Haupt, als ſie ſchon zum Kampfe rannten. Die Furchen ſtrömten von Blute, wie ein Abzugsbach, die Verwundeten und Todten ſtürzten nach allen Seiten hin und Viele ſanken mit blutigen Köpfen wieder ſo tief in den Boden, als ſie hervorgetaucht waren.

An der Seele des Königes Aeetes nagte zehrender Aerger; ohne ein Wort zu ſprechen drehte er ſich um und kehrte zur Stadt zurück, nur darauf ſinnend, auf welche Weiſe er wirkſamer gegen Jaſon verfahren könnte. Un¬ ter dieſen Begebenheiten war der Tag zu Ende gegangen und der Held ruhte unter den Glückwünſchen ſeiner Freunde von der Arbeit.

144

Medea raubt das goldne Vließ.

Die ganze Nacht hindurch hielt der König Aeetes die Häupter ſeines Volkes um ſich im Pallaſte verſam¬ melt und rathſchlagte, wie die Argonauten zu überliſten wären, denn er war es wohl inne geworden, daß Alles, was ſich den Tag zuvor ereignet hatte, nicht ohne Mit¬ wirkung ſeiner Töchter geſchehen war. Juno, die Göt¬ tin, ſah die Gefahr, in welcher Jaſon ſchwebte; deßwegen erfüllte ſie das Herz Medea's mit zagender Furcht, daß ſie zitterte wie ein Reh im tiefen Walde, das der Jagd¬ hunde Gebell aufgeſchreckt hat. Sogleich ahnte ſie, daß ihre Hülfe dem Vater nicht verborgen ſey; ſie fürchtete auch die Mitwiſſenſchaft der Mägde; darum brannten ihre Augen von Thränen und die Ohren ſauſten ihr. Ihr Haar ließ ſie wie in Trauer hängen, und, wäre das Schickſal nicht zuwider geweſen, ſo hätte die Jungfrau durch Gift ihrem Jammer zur Stunde ein Ende gemacht. Schon hatte ſie die gefüllte Schale in der Hand, als Juno ihr den Muth aufs Neue beflügelte und ſie mit verwandelten Gedanken das Gift wieder in ſeinen Be¬ hälter goß. Jetzt raffte ſie ſich zuſammen; ſie war ent¬ ſchloſſen zu fliehen, bedeckte ihr Lager und die Thürpfo¬ ſten mit Abſchiedsküſſen, berührte mit den Händen noch einmal die Wände ihres Zimmers, ſchnitt ſich eine Haar¬ locke ab und legte ſie zum Andenken für ihre Mutter auf's Bett. Lebewohl, geliebte Mutter, ſprach ſie wei¬ nend, lebe wohl, Schweſter Chalciope und das ganze Haus! O Fremdling! hätte dich das Meer verſchlungen, ehe du nach Kolchis gekommen wäreſt! Und ſo verließ ſie ihre145 ſüße Heimat, wie eine Gefangene fliehend den bittern Kerker der Sklaverei verläßt. Die Pforten des Pallaſtes thaten ſich vor ihren Zauberſprüchen auf; durch enge Seitenwege rannte ſie mit bloßen Füßen, mit der Linken den Schleier bis über die Wangen herunterziehend, mit der Rechten ihr Nachtgewand vor der Befleckung des Weges ſchützend. Bald war ſie, unerkannt von den Wächtern, draußen vor der Stadt und ſchlug einen Fu߬ pfad nach dem Tempel ein, denn als Zauberweib und Gifttrankmiſcherin war ſie vom Wurzelſuchen her aller Wege des Feldes wohlkundig. Luna, welche ſie ſo wan¬ deln ſah, ſprach zu ſich ſelbſt, lächelnd herniederſcheinend: So quält denn doch nicht mich allein die Liebe zum ſchönen Endymion! Oft haſt du mich mit deinen Hexen¬ ſprüchen vom Himmel hinweggezaubert: jetzt leideſt du ſelbſt um einen Jaſon bittere Qualen. Nun, ſo geh nur, aber, ſo ſchlau du biſt, hoffe nicht, dem herbſten Schmerz zu entfliehen! So ſprach Luna mit ſich ſelber, jene aber trugen ihre Füße eilig davon; endlich beugten ihre Schritte gegen das Meeresufer ein, wo das Freuden¬ feuer, das die Helden wegen Jaſons Siege die ganze Nacht hindurch auflodern ließen, ihr zum Leitſterne dien¬ te. Dem Schiffe gegenüber angekommen, rief ſie mit lauter Stimme ihren jüngſten Schweſterſohn Phrontis; dieſer, der mit Jaſon ihre Stimme erkannte, erwiederte dreimal den dreifachen Ruf. Die Helden, die dieß mit hörten, ſtaunten Anfangs, dann ruderten ſie ihr entgegen. Ehe das Schiff ans jenſeitige Ufer gebunden war, ſprang Jaſon vom Verdeck ans Land, Phrontis und Argos ihm nach. Rettet mich, rief das Mädchen, indem ſie die Knie ihrer Neffen umfaßte, entreißt mich und euch mei¬Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 10146nem Vater! Alles iſt verrathen und keine Hülfe mehr; laßt uns zu Schiffe fliehen, eh er die ſchnellen Roſſe be¬ ſteigt; das goldne Vließ will ich euch verſchaffen, indem ich den Drachen einſchläfere. Du aber, o Fremdling, ſchwöre mir zu den Göttern vor deinen Genoſſen, daß du mich Verwaiſte in der Fremde nicht beſchimpfen willſt! So ſprach ſie traurig und erfreute Jaſons Herz. Er hub die ins Knie Geſunkene ſanft vom Boden auf, umfaßte ſie und ſprach: Geliebte, Jupiter und Juno, die Beſchirmerin der Ehe, ſeyen meine Zeugen, daß ich nach Griechenland zurückgekehrt, dich als rechtmäßige Gattin in mein Haus einführen will! So ſchwor er und legte ſeine Hand in die ihrige. Dann hieß Medea die Helden noch in der Nacht das Schiff nach dem hei¬ ligen Haine rudern, um dort das goldne Vließ zu ent¬ führen. Die Helden fuhren mit dem Schiffe davon, Ja¬ ſon und die Jungfrau gingen über den Pfad einer Wieſe dem Haine zu. Dort ſuchten ſie den hohen Eichbaum, an welchem das goldene Vließ hing, ſtralend durch die Nacht, einer Morgenwolke ähnlich, die von der aufgehen¬ den Sonne beſchienen wird. Gegenüber aber reckte der ſchlafloſe Drache, aus ſcharfen Augen in die Ferne blickend, ſeinen langen Hals den Herannahenden entgegen und ziſchte fürchterlich, daß die Ufer des Fluſſes und der ganze große Hain widerhallte. Wie über einen ange¬ zündeten Wald die Flammen ſich hinwälzen, ſo rollte das Unthier mit leuchtenden Schuppen in unzähligen Krümmungen daher. Die Jungfrau aber ging ihm keck entgegen, ſie rief mit ſüßer Stimme den Schlaf, den mächtigſten der Götter, an, das Ungeheuer einzulullen; ſie rief zur mächtigen Königin der Unterwelt, ihr Vorha¬147 ben zu ſegnen; nicht ohne Furcht folgte ihr Jaſon. Aber ſchon durch den Zaubergeſang der Jungfrau eingeſchläfert, ſenkte der Drache die Wölbung des Rückens, und ſein ge¬ ringelter Leib dehnte ſich der Länge nach aus, nur mit dem gräßlichen Kopfe ſtand er noch aufrecht und drohte die Beiden mit ſeinem aufgeſperrten Rachen zu faſſen. Da ſprengte Medea ihm mit einem Wacholderſtengel unter Beſchwörungsformeln einen Zaubertrank in die Au¬ gen, deſſen Duft ihn mit Schlummer übergoß; jetzt ſchloß ſich ſein Rachen und ſchlafend dehnte ſich der Drache mit ſeinem ganzen Leibe durch den langen Wald hin.

Auf ihre Ermahnung zog nun Jaſon das Vließ von der Eiche, während das Mädchen fortwährend den Kopf des Drachen mit dem Zauberöl beſprengte. Dann ver¬ ließen beide eilig den beſchatteten Marshain und Jaſon hielt von ferne ſchon freudig das große Widdervließ ent¬ gegen, von deſſen Wiederſchein ſeine Stirn und ſein blon¬ des Haar in goldenem Schimmer glänzten; auch beleuch¬ tete ſein Schein ihm weithin den nächtlichen Pfad. So ging er, es auf der linken Schulter tragend; die goldne Laſt hing ihm vom Hals bis auf die Füße herunter; dann rollte er es wieder auf, denn immer fürchtete er, ein Menſch oder Gott möchte ihm begegnen und ihn des Schatzes berauben. Mit der Morgenröthe traten ſie ins Schiff, die Genoſſen umringten den Führer und ſtaunten das Vließ an, das funkelte wie Jupiters Blitz; Jeder wollte es mit den Händen betaſten: aber Jaſon litt es nicht, ſondern warf einen neugefertigten Mantel darüber. Die Jungfrau ſetzte er auf das Hinterverdeck des Schiffes und ſprach dann ſo zu ſeinen Freunden: Jetzt, ihr Lie¬ ben, laßt uns eilig ins Vaterland zurückkehren. Durch10 *148dieſer Jungfrau Rath iſt vollbracht, weswegen wir unſere Fahrt unternommen haben; zum Lohne führe ich ſie als meine rechtmäßige Gemahlin nach Hauſe; ihr aber helft mir ſie als die Gehülfin ganz Griechenlands beſchirmen. Denn ich zweifle nicht: bald wird Aeetes da ſeyn und mit allem ſeinem Volke unſere Ausfahrt aus dem Fluſſe hindern wollen! Deßwegen ſoll von euch abwechslungs¬ weiſe die eine Hälfte rudern, die andere, unſere mächtigen Schilde aus Rindshaut den Feinden entgegenhaltend, die Rückfahrt ſchirmen. Denn in unſerer Hand ſteht jetzt die Heimkehr zu den Unſrigen und die Ehre oder Schande Griechenlands! Mit dieſen Worten hieb er die Taue ab, mit denen das Schiff angebunden war, warf ſich in volle Rüſtung und ſtellte ſich ſo neben das Mägdlein, dem Steuermann Ancäus zur Seite. Das Schiff eilte unter den Rudern der Mündung des Fluſſes entgegen.

Die Argonauten, verfolgt, entkommen mit Medea.

Inzwiſchen hatten Aeetes und alle Kolchier Medea's Liebe, Thaten und Flucht erfahren. Sie traten bewaff¬ net auf dem Markte zuſammen und bald ſah man ſie mit lautem Schalle das Ufer des Fluſſes hinabziehen: Aeetes fuhr auf einem feſtgezimmerten Wagen, mit den Pferden, die ihm der Sonnengott verliehen; in der Linken trug er einen runden Schild, in der Rechten eine lange Pechfackel; an ſeiner Seite lehnte die gewaltige Lanze. Die Zügel der Roſſe handhabte ſein Sohn Abſyrtus. Als ſie aber an der Mündung des Fluſſes angekommen waren, da fuhr das Schiff, von den unermüdlichen Ruderern getrie¬149 ben, ſchon weit auf der hohen See. Fackel und Schild entſank dem König; er hub die Hände gen Himmel, rief Jupiter und den Sonnengott zu Zeugen der Uebelthaten und erklärte grimmig ſeinen Unterthanen: wenn ſie ihm die Tochter nicht, zu Waſſer oder zu Lande ergriffen, herbeiführen würden, daß er, ſeines Herzens Gelüſte fol¬ gend, Rache üben könnte, ſo ſollten ſie es Alle mit ihren Häuptern büßen. Die erſchrockenen Kolchier zogen noch an demſelben Tage ihre Schiffe in die See, ſpannten die Segel aus und fuhren hinaus ins Meer; ihre Flotte, welche des Königes Sohn Abſyrtus befehligte, glich einer unabſehbaren Vogelſchaar, welche die Luft verdunkelnd über die See dahin ſchwirrt.

In die Segel der Argonauten blies der günſtigſte Wind, denn Juno's Wille war es, daß die Kolchierin Medea ſo bald als möglich das Verderben in des Pelias Haus bringen ſollte. Schon mit der dritten Morgenröthe banden ſie das Schiff beim Fluſſe Halys am Ufer der Paphlagonen an. Hier brachten ſie auf Medea's Geheiß der Göttin Hekate, die ſie gerettet hatte, ein Opfer. Da fiel ihrem Führer und auch andern Helden bei, daß der alte Wahrſager Phineus ihnen zur Rückfahrt auf einem neuen Wege gerathen hatte, der Gegenden aber war Kei¬ ner kundig. Nun belehrte ſie Argos, der Sohn des Phri¬ xus, der es aus Prieſterſchriften wußte, daß ſie nach dem Iſterfluſſe ſteuern ſollten, deſſen Quellen fern in den rhipäiſchen Bergen murmeln und der das Füllhorn ſei¬ ner Waſſer zur Hälfte ins joniſche, zur andern Hälfte ins ſiciliſche Meer ergießt. Als Argos dieß gerathen, erſchien die breite Himmelsfurche eines Regenbogens in der Richtung, in welcher ſie fahren ſollten, und der gün¬150 ſtige Wind ließ nicht ab zu wehen und das Himmelszei¬ chen hörte nicht auf zu leuchten, bis ſie glücklich an die joniſche Mündung des Fluſſes Iſter gelangt waren.

Die Kolchier ließen aber mit ihrer Verfolgung nicht nach und kamen, ſchneller ſegelnd, mit ihren leichten Schiffen noch vor den Helden an der Mündung des Iſters an. Hier legten ſie ſich in Hinterhalt an den Buchten und Inſeln des Ausflußes und verſtellten den Helden, als dieſe ſich in der Mündung des Stromes vor Anker gelegt, den Ausweg. Die Argonauten, die Menge der Kolchier fürchtend, landeten und warfen ſich auf eine Inſel des Fluſſes; die Kolchier folgten und ein Treffen bereitete ſich vor. Da traten die bedrängten Griechen in Unterhandlung, und von beiden Theilen wurde verabredet, daß jedenfalls die Griechen das goldene Vließ, das der König dem Helden Jaſon für ſeine Arbeit ver¬ ſprochen hatte, davon tragen ſollten; die Königstochter Medea aber ſollten ſie auf einer zweiten Inſel, im Tem¬ pel der Diana, ausſetzen, bis ein gerechter Nachbarkönig als Schiedsrichter entſchieden hätte, ob ſie zu ihrem Vater zurückkehren, oder ob ſie den Helden nach Griechenland folgen ſollte. Bittere Sorgen bemächtigten ſich der Jung¬ frau, als ſie ſolches hörte, ſogleich führte ſie ihren Ge¬ liebten ſeitwärts an einen Ort, wo keiner ſeiner Genoſſen ſie hören konnte; dann ſprach ſie unter Thränen: Ja¬ ſon, was habt ihr über mich beſchloſſen? hat das Glück Alles bei dir in Vergeſſenheit geſenkt, was du mir mit heiligem Eide in der Noth verſprochen? In dieſer Hoff¬ nung habe ich Leichtſinnige, Ehrvergeſſene, Vaterland, Haus und Eltern verlaſſen, was mein Höchſtes war. Für deine Rettung treibe ich auf dem Meere mit dir151 um; meine Vermeſſenheit hat dir das goldne Vließ ver¬ ſchafft; für dich habe ich Schmach auf den Frauenna¬ men geladen, deßwegen folge ich dir als dein Mädchen, als dein Weib, als deine Schweſter ins griechiſche Land. Und darum beſchirme mich auch, laß mich nicht allein hier, überlaß mich nicht den Königen zum Urtheil. Wenn mich jener Richter meinem Vater zuſpricht, ſo bin ich verloren, wie wäre dir dann deine Rückkehr angenehm? wie könnte Jupiters Gemahlin, Juno, dieſes billigen, ſie, deren du dich rühmeſt? Ja wenn du mich verläſſeſt, ſo wirſt du einſt, in Elend verſunken, mein gedenken. Wie ein Traum ſoll dir das goldne Vließ in den Hades ent¬ ſchwinden! Aus dem Vaterlande ſollen dich meine Rache¬ geiſter treiben, wie ich durch deine Verkehrtheit aus mei¬ nem Vaterlande getrieben worden bin! So ſprach ſie in wilder Leidenſchaft und gedachte Feuer in das Schiff zu legen, Alles zu verbrennen und ſelbſt hinein zu ſtür¬ zen. Bei ihrem Anblicke ward Jaſon ſcheu, das Gewiſ¬ ſen ſchlug ihm und er ſprach mit begütigenden Worten: Faſſe dich, Gute! mir ſelbſt iſt jener Vertrag nicht Ernſt! Suchen wir ja nur einen Aufſchub der Schlacht, weil eine ganze Wolke von Feinden uns umringt, um deinet¬ willen. Denn Alles was hier wohnt, iſt den Kolchiern befreundet und will deinem Bruder Abſyrtus helfen, daß er dich als Gefangene dem Vater zurückbringe. Wir alle aber, wenn wir jetzt den Kampf beginnen, werden elendiglich umkommen, und deine Lage wild noch hoff¬ nungsloſer, wenn wir geſtorben ſind und dich den Fein¬ den als Beute zurücklaſſen. Vielmehr ſoll jener Vertrag nur ein Hinterhalt ſeyn, der den Abſyrtus ins Verderben ſtürzt; denn wenn ihr Führer todt iſt, ſo werden den152 Kolchiern die Nachbarn keine Hülfe mehr leiſten wollen. So ſprach er ſchmeichelnd und Medea gab ihm den grä߬ lichen Rath: Höre mich. Ich habe einmal geſündigt und, vom Verhängniß verblendet, Uebles gethan. Rück¬ wärts kann ich nicht mehr, ſo muß ich vorwärts ſchrei¬ ten im Frevel. Wehre du im Treffen die Lanzen der Kolchier ab; ich will den Bruder bethören, daß er ſich in deine Hände gibt. Du empfange ihn mit einem glän¬ zenden Mahle; kann ich dann die Herolde überreden, daß ſie ihn zum Zwiegeſpräch allein mit mir laſſen: als¬ dann ich kann nicht widerſtreben magſt du ihn tödten und die Schlacht den Kolchiern liefern. Auf dieſe Weiſe legten die Beiden dem Abſyrtus einen ſchwe¬ ren Hinterhalt. Sie ſandten ihm viele Gaſtgeſchenke, darunter ein herrliches Purpurkleid, das die Königin von Lemnos dem Jaſon gegeben hatte, das einſt die Huldgöt¬ tinnen ſelbſt dem Gotte Dionyſus (Bacchus) gefertiget und das mit himmliſchem Dufte getränkt war, ſeit der nektartrunkene Gott darauf geſchlummert hatte. Den Herolden redete die ſchlaue Jungfrau zu, Abſyrtus ſollte im Dunkel der Nacht auf die andere Inſel zum Dianen¬ tempel kommen; dort wollten ſie eine Liſt ausdenken, wie er das goldene Vließ wieder bekäme und es dem Könige, ihrem Vater, zurückbringen könnte; denn ſie ſelbſt, ſo heuchelte ſie, ſey von den Söhnen des Phrixus mit Gewalt den Fremdlingen überliefert worden. Nachdem ſie ſo die Friedensboten bethört hatte, ſpritzte ſie von ihren Zauberölen in den Wind, ſo viel, daß ihr Duft auch das wildeſte Thier vom höchſten Berge herabzulocken kräftig geweſen wäre. Es geſchah, wie ſie gewünſcht hatte. Abſyrtus, durch die heiligſten Verſprechungen be¬153 trogen, ſchiffte in dunkler Nacht nach der heiligen Inſel hinüber. Dort allein mit der Schweſter zuſammengekom¬ men, verſuchte er das Gemüth der Verſchlagenen, ob ſie wirklich eine Liſt gegen die Fremdlinge hegte; aber es war, als wenn ein ſchwacher Knabe durch einen ange¬ ſchwollenen Bergſtrom waten wollte, über den kein kräfti¬ ger Mann ungeſtraft ſetzen kann. Denn als ſie mitten im Geſpräche waren, und die Schweſter ihm Alles zu¬ ſagte, da ſtürzte plötzlich Jaſon aus dem verborgenen Hinterhalte hervor, das bloße Schwert in der Hand. Die Jungfrau aber wandte ihre Augen ab und bedeckte ſich mit dem Schleier, um den Mord ihres Bruders nicht mit anſehen zu müſſen. Wie ein Opferthier ſtürzte der Königsſohn unter den Streichen Jaſons und beſpritzte Ge¬ wand und Schleier der abgekehrten Medea mit ſeinem Bruderblut. Aber die Rachegöttin, die nichts überſieht, ſah aus ihrem Verſtecke mit finſterem Auge die gräßliche That, die hier begangen ward.

Nachdem Jaſon ſich von dem Morde gereinigt und den Leichnam begraben hatte, gab Medea den Argonauten mit einer Fackel das verabredete Zeichen. Dieſe, die ſich während der Unterhandlungen wieder auf ihr Schiff zu¬ rückbegeben hatten, landeten jetzt auf der Dianeninſel und fielen, wie Habichte über Taubenſchaaren oder Löwen über Schafheerden, über die ihres Führers beraubten Be¬ gleiter des Abſyrtus her. Keiner entging dem Tode. Ja¬ ſon, der den Seinigen zu Hülfe kommen wollte, erſchien zu ſpät, denn ſchon war der Sieg entſchieden.

154

Weitere Heimathfahrt der Argonauten.

Auf des Peleus Rath ſchifften die Helden aus der Mündung hervor und ſchleunig davon, ehe die zurückge¬ laſſenen Kolchier zur Beſinnung kommen konnten. Dieſe, als ſie inne wurden, was geſchehen war, gedachten An¬ fangs die Feinde zu verfolgen, aber Juno ſchreckte ſie mit warnenden Blitzen vom Himmel, und da ſie zu Hauſe den Zorn des Königes fürchteten, wenn ſie ihm Sohn und Tochter nicht zurück brächten, ſo blieben ſie auf den Dianeninſeln in der Mündung des Iſter zurück und ſie¬ delten ſich hier an.

Die Argonauten aber ſchifften an mancherlei Ge¬ ſtaden und Inſeln vorüber, auch an dem Eilande, wo die Königin Kalypſo, die Tochter des Atlas, wohnte. Schon glaubten ſie in der Ferne die höchſten Bergſpitzen des heimiſchen Feſtlandes aufſteigen zu ſehen, als Juno, welche die Plane des erzürnten Jupiters fürchtete, einen Sturm gegen ſie erhob, der ihr Schiff mit Ungeſtüm an die unwirthliche Inſel Elektris trieb. Jetzt begann auch das weiſſagende Holz, das Minerva mitten in den Kiel eingefügt hatte, zu ſprechen und entſetzliche Furcht ergriff die Horchenden. Ihr werdet Jupiters Zorn und den Irrfahrten des Meeres nicht entgehen, tönte das hohle Brett, bevor nicht die Zaubergöttin Circe euch den grau¬ ſamen Mord des Abſyrtus abgewaſchen hat. Kaſtor und Pollux ſollen zu den Göttern beten, daß ſie euch die Pfade des Meeres öffnen, und ihr Circe finden könnet, die Tochter des Sonnengottes und der Perſe. So ſprach der hölzerne Mund des Schiffes Argo um die155 Abenddämmerung. Schauder und Furcht ergriff die Hel¬ den, als ſie den ſeltſamen Propheten ſo Schreckliches ver¬ künden hörten. Die Zwillinge Kaſtor und Pollux allein ſprangen auf und hatten den Muth, zu den unſterblichen Göttern um Schutz zu beten; das Schiff aber ſchoß wei¬ ter bis in die innerſte Bucht des Eridanus, da wo einſt Phaethon verbrannt vom Sonnenwagen in die Fluth ge¬ fallen war. Noch jetzt ſchickt er aus der Tiefe Rauch und Gluth aus ſeiner brennenden Wunde hervor, und kein Schiff kann mit leichten Segeln über dieſes Gewäſſer hinfliegen, ſondern es ſpringt mitten in die Flamme hin¬ ein. Ringsumher am Ufer ſeufzen, in Pappeln verwan¬ delt, Phaethon's Schweſtern, die Heliaden, im Winde, und träufeln lichte Thränen aus Bernſtein auf den Boden, welche die Sonne trocknet und die Fluth in den Eridanus hineinzieht. Den Argonauten half zwar ihr ſtarkes Schiff aus dieſer Gefahr, aber alle Luſt nach Speiſe und Trank verging ihnen; denn bei Tage peinigte ſie der unerträg¬ liche Geruch, der aus den Fluthen des Eridanus vom dampfenden Phaethon aufſtieg, und bei Nacht hörten ſie ganz deutlich das Wehklagen der Heliaden, und wie die Bernſteinthränen gleich Oeltropfen ins Meer rollten. An den Ufern des Eridanus hin kamen ſie zu einer Mündung des Rhodanus und wären hineingeſchifft, von wannen ſie nicht lebendig herauskommen ſollten, wenn nicht Juno plötzlich auf einer Klippe erſchienen wäre, und mit furcht¬ barer Götterſtimme ſie abgemahnt hätte. Dieſe hüllte das Schiff ſchirmend in ſchwarzen Nebel und ſo fuhren ſie an unzähligen Celtenvölkern viele Tage und Nächte vorbei, bis ſie endlich das Tyrrheniſche Ufer erblickten und bald darauf glücklich in den Hafen der Inſel Circe's einliefen.

156

Hier fanden ſie die Zaubergöttin, wie ſie, am Meer¬ geſtade ſtehend, ihr Haupt in den Wellen badete. Ihr hatte geträumt, das Gemach und ganze Haus über¬ ſtröme von Blut, und die Flamme freſſe alle Zaubermit¬ tel, mit welchen ſie ſonſt die Fremdlinge behext hatte, ſie aber ſchöpfe mit hohler Hand das Blut und löſche das Feuer damit. Dieſer entſetzliche Traum hatte ſie mit der Morgenröthe vom Lager aufgeſchreckt und ans Meeres¬ ufer getrieben, hier wuſch ſie Kleider und Haare, als ob ſie blutbefleckt wären. Ungeheure Beſtien, nicht andern Thieren ähnlich, ſondern aus den verſchiedenſten Gliedern zuſammengeſetzt, folgten ihr heerdenweiſe, wie das Vieh dem Hirten aus dem Stalle. Die Helden ergriff entſetz¬ liches Grauſen, zumal da ſie der Circe nur ins Angeſicht zu ſehen brauchten, um ſich zu überzeugen, daß ſie die Schweſter des grauſamen Aeetes ſey. Die Göttin, als ſie die nächtlichen Schrecken von ſich entfernt hatte, kehrte ſchnell wieder um, lockte den Thieren und ſtreichelte ſie, wie man Hunde ſtreichelt.

Jaſon hieß die ganze Mannſchaft im Schiffe bleiben, er ſelbſt ſprang mit Medea ans Land, und zog das wi¬ derſtrebende Mädchen mit ſich fort, Circe's Pallaſte zu. Circe wußte nicht, was die Fremden bei ihr ſuchten. Sie hieß ſie auf ſchönen Seſſeln Platz nehmen. Jene aber flüchteten ſtill und traurig an den Heerd und ließen ſich dort nieder. Medea legte ihr Haupt in beide Hände, und Jaſon ſtieß das Schwert, mit welchem er den Abſyr¬ tus umgebracht hatte, in den Boden, legte die Hand auf daſſelbe und ſtützte ſein Kinn darauf, ohne die Augen aufzuſchlagen. Da merkte Circe, daß es Schutzflehende ſeyen und verſtand ſogleich, daß es ſich um den Jammer157 der Verbannung und die Sühnung eines Mordes handle. Sie trug Scheu vor Jupiter, dem Beſchirmer der Flehen¬ den und brachte das verlangte Opfer dar, indem ſie eine Hündin, die friſch geworfen hatte, ſchlachtete und den reinigenden Jupiter dazu anrief. Ihre Dienerinnen, die Najaden, mußten die Sühnungsmittel aus dem Hauſe und in's Meer tragen; ſie ſelbſt ſtellte ſich an den Heerd und verbrannte heilige Opferkuchen unter feierlichen Ge¬ beten, um den Zorn der Furien zu beſänftigen und die Verzeihung des Göttervaters für die Mordbefleckten anzu¬ rufen. Als Alles vorüber war, ließ ſie die Fremden erſt auf die glänzenden Stühle ſetzen und ſetzte ſich ihnen gegen¬ über. Dann fragte ſie die Fremdlinge über ihr Geſchäft und ihre Schiffahrt, woher ſie kämen, warum ſie hier ge¬ landet und wofür ſie ihren Schutz begehrt hätten: denn ihr blutiger Traum war ihr wieder in den Sinn gekom¬ men. Als die Jungfrau nun ihr Haupt aufrichtete und ihr ins Angeſicht ſah, fielen ihr die Augen des Mädchens auf: denn Medea ſtammte ja, wie Circe ſelbſt, vom Son¬ nengotte; und alle Abkömmlinge dieſes Gottes haben ſtrahlende Augen voll Goldglanz. Nun verlangte ſie die Mutterſprache der Landesflüchtigen zu hören, und die Jungfrau fing an, in kolchiſcher Mundart, Alles, was mit Aeetes, den Helden und ihr geſchehen war, der Wahr¬ heit nach zu erzählen; nur die Ermordung ihres Bruders Abſyrtus wollte ſie nicht geſtehen. Aber der Zaubergöt¬ tin Circe blieb nichts verborgen; doch jammerte ſie ihrer Nichte und ſie ſprach: Arme, du biſt unehrlich geflohen und haſt einen großen Frevel begangen. Gewiß wird dein Vater nach Griechenland kommen, den Mord ſeines Sohnes an dir zu rächen. Von mir jedoch ſollst du kein158 weiteres Uebel leiden, weil du eine Schutzflehende und dazu meine Verwandte biſt. Nur verlang 'auch keine Hülfe von mir. Entferne dich mit dem fremden Manne, wer es auch ſeyn mag. Ich kann weder deine Plane, noch deine ſchimpfliche Flucht billigen! Ein unendlicher Schmerz ergriff die Jungfrau bei dieſen Worten. Sie warf den Schleier über ihr Haupt und weinte bitterlich, bis der Held ſie an der Hand ergriff und die Wankende mit ſich aus Circe's Pallaſt hinausführte.

Doch Juno erbarmte ſich ihrer Schützlinge. Sie ſandte ihre Botin Iris auf dem bunten Regenbogenpfade zur Meeresgöttin Thetis hinab, ließ dieſe zu ſich rufen und empfahl das Heldenſchiff ihrem Schirm. Sogleich mit Jaſon's und Medea's Ankunft an Bord fingen nun ſanfte Zephyre zu wehen an; leichteren Muthes lichteten die Helden die Anker und ſpannten die hohen Segel aus. Mit ſanftem Winde wogte das Schiff weiter und bald ſtellte ſich ihnen eine ſchöne blühende Inſel dar, die der Sitz der trügeriſchen Sirenen war, welche die Vorüber¬ ſchiffenden durch ihre Geſänge anzulocken und zu verder¬ ben pflegten. Halb Vögel halb Jungfrauen ſaßen ſie im¬ mer auf ihrer Warte und kein Fremder, der vorüberfuhr, entging ihnen. Auch jetzt ſangen ſie den Argonauten die ſchönſten Lieder zu, und ſchon waren dieſe im Begriffe, die Taue nach dem Ufer zu werfen und anzulegen, als der thraciſche Sänger Orpheus ſich von ſeinem Sitze er¬ hob und ſeine göttliche Leier ſo mächtig zu ſchlagen be¬ gann, daß ſie die Stimmen der Jungfrauen übertönte; zugleich blies ein tönender gottgeſandter Zephyr in den Rücken des Schiffes, ſo daß der Sirenengeſang ganz in den Lüften verhallte. Nur Einer der Genoſſen, Butes,159 der Sohn des Teleon, hatte der hellen Stimme der Si¬ renen nicht zu widerſtehen vermocht, ſprang von der Ruderbank ins Meer und ſchwamm dem verführeriſchen Hall entgegen. Er wäre verloren geweſen, wenn ihn nicht die Beherrſcherinn des Berges Eryr in Sicilien, Venus, erblickt hätte. Sie riß ihn mitten aus den Wirbeln her¬ aus und warf ihn auf ein Vorgebirge dieſer Inſel, wo er hinfort wohnen blieb. Die Argonauten betrauerten ihn für todt und ſchifften neuen Gefahren entgegen, denn ſie kamen an eine Meerenge, wo auf der einen Seite der ſteile Fels der Scylla in die Fluten hinausragte und das Schiff zu zerbrechen, auf der andern Seite der Strudel der Charybdis die Waſſer in die Tiefe riß und das Schiff zu verſchlingen drohte. Dazwiſchen irrten unter der Fluth vom Grunde losgeriſſene Felſen, wo ſonſt die glühende Werkſtätte des Vulkanus iſt; jetzt aber rauchte ſie nur und erfüllte den Aether mit Finſterniß. Hier begegneten ihnen von al¬ len Seiten die Meernymphen, des Nereus Töchter; im Rücken des Schiffes faßte die Fürſtin derſelben, Thetis ſelbſt, das Steuerruder. Alle miteinander umgaukelten das Schiff und wenn es ſich den ſchwimmenden Felſen nähern wollte, ſo ſtieß es eine Nymphe der andern zu, wie Jungfrauen, die Ball ſpielen. Bald ſtieg es mit den Wellen hoch zu den Wolken, bald ſtieg es wieder in den Abgrund hinab. Auf dem Gipfel einer Klippe ſah, den Hammer auf die Schulter gelehnt, Vulkanus dem Schauſpiele zu, und vom geſtirnten Himmel herab Jupiters Gemahlin Juno; dieſe aber ergriff Minervens Hand, denn ſie konnte es ohne Schwindel nicht mit anſehen. Endlich waren ſie den Gefahren glücklich entgangen und fuhren weiter auf der offenen See, bis ſie zu einer Inſel kamen, wo160 die guten Phäaken und ihr frommer König Alcinous wohnte.

Neue Verfolgung der Kolchier.

Hier waren ſie aufs gaſtlichſte aufgenommen worden und wollten ſich eben recht gütlich thun als plötzlich an der Küſte ein furchtbares Heer der Kolchier erſchien, de¬ ren Flotte auf einem anderen Wege bis hierher vorge¬ drungen war. Sie verlangten die Königstochter Medea, um ſie in das väterliche Haus zurückzuführen, oder be¬ drohten die Griechen mit einer mörderiſchen Schlacht ſchon jetzt, und noch mehr, wenn Aeetes ſelbſt mit einem noch gewaltigeren Heere nachkommen würde. Der gute König Alcinous aber hielt ſie, da ſie ſchon in die Schlacht eil¬ ten, zurück, und Medea umfaßte die Kniee ſeiner Gemah¬ lin Arete: Herrin, ich flehe dich an, ſprach ſie, laß mich nicht zu meinem Vater bringen; wenn du anders dem menſchlichen Geſchlechte angehörſt, das allzumal durch leich¬ ten Irrthum in ſchnelles Unglück ſtürzt. So iſt auch mir die Beſonnenheit entſchwunden. Doch nicht Leichtſinn, ſon¬ dern nur entſetzliche Furcht hat mich zur Flucht mit die¬ ſem Manne bewogen. Als Jungfrau führt er mich in ſeine Heimath. Darum erbarme dich meiner, und die Götter mögen dir langes Leben und Kinder, und deiner Stadt unſterbliche Zier gewähren. Auch den einzelnen Helden warf ſie ſich flehend zu Füßen: ein Jeder aber, den ſie anrief, hieß ſie gutes Muthes ſeyn, ſchüttelte die Lanze, zog ſein Schwerdt und verſprach ihr beizuſtehen, wenn Alcinous ſie ausliefern wollte.

161

In der Nacht rathſchlagte der König mit ſeiner Ge¬ mahlin über das kolchiſche Mädchen. Arete bat für ſie und erzählte ihm, daß der große Held Jaſon ſie zu ſei¬ ner rechtmäßigen Gemahlin machen wolle. Alcinous war ein ſanfter Mann und ſein Gemüth wurde noch weicher, als er dieſes hörte, Gerne würde ich, erwiederte er ſei¬ ner Gemahlin, die Kolchier den Helden und der Jungfrau zulieb auch mit den Waffen vertreiben, aber ich fürchte das Gaſtrecht Jupiters zu verletzen; auch iſt es nicht klug den mächtigen König Aeetes zu reizen, denn, ſo ferne er wohnt, er wäre doch im Stande Griechenland mit einem Kriege zu überziehen. Höre daher den Rathſchluß, den ich gefaßt habe. Iſt das Mädchen noch eine freie Jung¬ frau, ſo ſoll ſie ihrem Vater zurückgegeben werden; iſt ſie aber des Helden Gemahlin, ſo werde ich ſie dem Gat¬ ten nicht rauben, denn dieſem gehört ſie vor dem Vater. Arete erſchrack, als ſie dieſen Entſchluß des Königes hörte. Noch in der Nacht ſandte ſie einen Herold zu Jaſon, der ihm alles hinterbrachte und ihm rieth ſich noch vor An¬ bruch des Morgens mit Medea zu vermählen. Die Helden, welchen Jaſon den unerwarteten Vorſchlag mittheilte, wa¬ ren es alle zufrieden und ſo wurde unter den Liedern des Orpheus, in einer heiligen Grotte, die Jungfrau feierlich zur Gattin Jaſons eingeweiht.

Am andern Morgen, als die Ufer der Inſel und das thauige Feld von den erſten Sonnenſtrahlen ſchimmerten, rührte ſich alles Phäakenvolk auf den Straßen der Stadt, und am andern Ende der Inſel ſtanden die Kolchier auch ſchon unter den Waffen. Alcinous trat verſprochenerma¬ ßen hervor aus ſeinem Pallaſte, das goldne Scepter in der Hand, zu richten über das Mädchen; hinter ihm gin¬Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 11162gen ſchaarenweiſe die edelſten Phäaken einher; auch die Frauen waren zuſammengekommen, um die herrlichen Helden der Griechen zu ſchauen, und viele Landleute hatten ſich verſammelt, denn Juno hatte das Gerücht weit und breit ausgeſtreut. So war Alles vor den Mauern der Stadt bereit, und die Opfer dampften zum Himmel empor. Schon lange harrten hier die Helden der Entſcheidung. Als nun der König auf ſeinem Throne Platz genommen hatte, trat Jaſon hervor und erklärte mit eidlicher Be¬ kräftigung die Königstochter Medea für ſeine recht¬ mäßige Gemahlin. Sobald Alcinous dieſes hörte und Zeugen der Vermählung aufgetreten waren, that er mit einem feierlichen Schwure den Ausſpruch, daß Medea nicht ausgeliefert werden ſollte, und ſchirmte ſeine Gäſte. Vergebens widerſetzten ſich die Kolchier; der König hieß ſie entweder als friedliche Gäſte in ſeinem Lande wohnen oder mit ihren Schiffen ſich aus ſeinem Hafen entfernen. Sie aber, die den Zorn ihres Landesherrn fürchteten, wenn ſie ohne ſeine Tochter zurückkehreten, wählten das Letztere. Am ſiebenten Tage brachen auch die Argonau¬ ten, ungern von Alcinous entlaſſen und herrlich beſchenkt, zur Weiterfahrt auf.

Letzte Abentheuer der Helden.

Wieder waren ſie an mancherlei Ufern und Inſeln vorübergeſegelt und ſchon erblickten ſie in der Ferne die heimiſche Küſte des Pelopslandes (Peloponneſos), als ein grauſamer Nordſturm das Schiff erfaßte und mitten durchs Libyſche Meer neun volle Tage und Nächte auf ungewi¬163 ſſem Pfade dahinjagte. Endlich wurden ſie an das Sand¬ wüſtenufer der afrikaniſchen Syrten verſchlagen, in eine Bucht, deren Gewäſſer mit dichtem Seegras und trägem Schaume bedeckt, wie ein Sumpf in ſtarrer Ruhe brü¬ tete. Rings um breiteten ſich Sandflächen aus, auf de¬ nen kein Thier, kein Vogel ſichtbar ward. Hier wurde das Schiff von der Fluth ſo dicht aufs Geſtade geſchwemmt, daß der Kiel ganz auf dem Sande aufſaß. Mit Schrecken ſprangen die Helden aus dem Schiff und mit Entſetzen erblickten ſie den breiten Erdrücken, der ſich, der Luft ähnlich, ohne Abwechslung ins Unendliche ausdehnte. Kein Waſſerquell, kein Pfad, kein Hirtenhof zeigte ſich; alles ruhte in todtem Schweigen. Weh uns, wie heißt dieſes Land? wohin haben uns die Stürme verſchlagen? So fragten einander die Genoſſen. Wären wir doch lieber mitten in die ſchwimmenden Felſen hineingefahren! Hätten wir lieber gegen Jupiters Willen etwas unter¬ nommen und wären in einem großen Verſuch unterge¬ gangen! Ja, ſagte der Steuermann Ancäus, die Fluth hat uns ſitzen laſſen und wird uns nicht wieder abholen. Alle Hoffnung der Fahrt und Heimkehr iſt abgeſchnitten, ſteure wer da kann und will! Damit ließ er das Steuerruder aus der Hand gleiten und ſetzte ſich weinend im Schiffe nieder. Wie Männer in einer verpeſteten Stadt unthätig, Geſpenſtern gleich, dem Verderben ent¬ gegen ſehen, ſo trauerten die Helden, dem öden Ufer ent¬ lang ſchleichend. Als der Abend gekommen war, gaben ſie einander traurig die Hände zum Abſchiede, warfen ſich, ohne Nahrung genommen zu haben, der eine da, der an¬ dere dort im Sande nieder und erwarteten, in ihre Män¬ tel gehüllt, eine ſchlafloſe Nacht hindurch, den Tag und11 *164den Tod. Auf einer andern Seite ſeufzten die phäaki¬ ſchen Jungfrauen, welche Medea vom König Alcinous zum Geſchenke bekommen hatte, um ihre Herrin gedrängt; ſie ſtöhnten wie ſterbende Schwäne, ihren letzten Geſang in die Lüfte verhauchend; und gewiß wären ſie Alle, Männer und Frauen, untergegangen, ohne daß Jemand ſie betrauert hätte, wenn ſich nicht die Beherrſcherinnen Libyens, welche drei Halbgöttinnen waren, ihrer erbarmt hätten. Dieſe erſchienen, mit Ziegenfellen vom Hals bis an die Knöchel bedeckt, um die heiße Mittagsſtunde dem Jaſon und zogen ihm den Mantel, mit dem er ſein Haupt bedeckt hatte, leiſe von den Schläfen. Erſchrocken ſprang er auf und wandte den Blick voll Ehrfurcht von den Göttinnen ab. Unglücklicher, ſprachen ſie, wir kennen alle deine Mühſale, aber traure nicht länger! Wenn die Meeresgöttin den Wagen des Neptunus losgeſchirret hat, ſo zollet eurer Mutter Dank, die euch lang im Leibe ge¬ tragen hat: dann möget ihr ins glückſelige Griechenland zurückkehren. Die Göttinnen verſchwanden und Jaſon erzählte ſeinen Genoſſen das tröſtliche, doch räthſelhafte Orakel. Während Alle ſich noch darüber ſtaunend be¬ ſannen, ereignete ſich ein eben ſo ſeltſames Wunderzei¬ chen. Ein ungeheures Meerpferd, dem von beiden Sei¬ ten goldne Mähnen über den Nacken wallten, ſprang vom Meer ans Land und ſchüttelte den Waſſerſchaum ab, der von ihm ſtäubte, wie mit Windesflügeln. Freudig erhub jetzt der Held Peleus ſeine Stimme und rief: Die eine Hälfte des Räthſelwortes iſt erfüllt: die Meeresgöttin hat ihren Wagen abgeſchirrt, den dieſes Roß gezogen hat, die Mutter aber, die uns lang im Leibe getragen, das iſt unſer Schiff Argo; dem ſollen wir jetzt den ſchuldigen165 Dank bezahlen. Laßt es uns auf unſere Schultern neh¬ men und über den Sand hintragen, den Spuren des Meerpferdes nach. Dieſes wird ja nicht in den Boden ſchlüpfen, ſondern uns den Weg zu irgend einem Stapel¬ platze zeigen. Geſagt, gethan. Die Götterſöhne nahmen das Schiff auf ihre Schultern und ſeufzten zwölf Tage und zwölf Nächte wandernd unter der Laſt. Immer ging es über öde waſſerloſe Sandflächen hin; hätte ſie ein Gott nicht geſtärkt, ſie wären am erſten Tage erlegen. So aber kamen ſie endlich glücklich an die tritoniſche Meerbucht; hier legten ſie es von den Schultern nieder, und ſuchten, vom Durſte gepeinigt, wie wüthende Hunde, nach einem Quell. Unterwegs begegnete der Sänger Orpheus den Hesperiden, den lieblich ſingenden Nymphen, welche auf dem heiligen Felde ſaßen, wo der Drache La¬ don die goldenen Aepfel gehütet hatte. Dieſe flehte der Sänger an, den Schmachtenden eine Waſſerquelle zu zei¬ gen. Die Nymphen erbarmten ſich und die Vornehmſte unter ihnen, Aegle, fing an zu erzählen: Gewiß iſt der kühne Räuber, der geſtern hier erſchienen iſt, dem Dra¬ chen das Leben und uns die goldenen Aepfel genommen hat, euch zum Heile erſchienen, ihr Fremdlinge. Es war ein wilder Mann, ſeine Augen funkelten unter der zorni¬ gen Stirne; eine rohe Löwenhaut hing ihm über die Schultern, in der Hand trug er einen Oelzweig und die Pfeile, mit welchen er das Ungeheuer erlegt hat. Auch er kam durſtig von der Sandwüſte her; da er nirgends Waſſer fand, ſtieß er mit ſeiner Ferſe an einen Felſen. Wie von einem Zauberſchlag entfloß dieſem reichliches Waſſer und der ſchreckliche Mann legte ſich bis an die Bruſt auf den Boden, ſtemmte ſich mit beiden Händen166 an den Felſen und trank nach Herzensluſt, bis er wie ein geſättigter Stier ſich auf die Erde legte. So ſprach Aegle und zeigte ihnen den Felsquell, um den bald alle Helden ſich drängten. Der erfriſchende Trunk machte ſie wieder fröhlich, und: wahrlich, ſprach einer, nachdem er die brennenden Lippen noch einmal genetzt, auch getrennt von uns hat Herkules ſeine Genoſſen noch gerettet! Möchten wir ihn doch auf unſerer ferneren Wanderung noch begegnen! So machten ſie ſich auf, der eine da, der andere dorthin, den Helden zu ſuchen. Als ſie wie¬ der zurückgekommen waren, glaubte ihn nur der ſcharf¬ blickende Lynceus von ferne geſehen zu haben, aber nur etwa ſo wie ein Bauer den Neumond hinter Wolken er¬ blickt zu haben meint, und er verſicherte, daß Niemand den Schweifenden erreichen werde. Endlich, nachdem ſie durch unglückliche Zufälle zwei Genoſſen verloren und be¬ trauert hatten, beſtiegen ſie das Schiff wieder. Lange ſuchten ſie vergebens aus der Tritoniſchen Bucht in die offene See zu gelangen; der Wind bließ ihnen entgegen und das Schiff kreuzte unruhig in dem Hafen hin und her wie eine Schlange, die vergebens aus ihrem Verſteck hervorzudringen ſtrebt und ziſchend mit funkelnden Augen ihr Haupt da und dorthin kehrt. Auf den Rath des Sehers Orpheus ſtiegen ſie daher noch einmal ans Land und weihten den einheimiſchen Göttern den größten Opfer¬ dreifuß, den ſie im Schiffe beſaßen und den ſie am Ge¬ ſtade zurückließen. Auf dem Rückwege begegnete ihnen der Meeresgott Triton in Jünglingsgeſtalt. Er hub eine Erdſcholle vom Boden auf und reichte ſie als Zeichen der Gaſtfreundſchaft dem Helden Euphemus, der ſie in ſeinem Buſen barg. Mich hat der Vater, ſprach der Meergott,167 zum Beſchirmer dieſer Meeresgegend geſetzt. Sehet, dort wo das Waſſer ſchwarz aus der Tiefe ſprudelt, dort iſt der ſchmale Ausweg aus der Bucht ins offene Meer: dorthin rudert; guten Wind will ich euch ſchicken. Dann ſeyd ihr nicht mehr ferne von der Pelopsinſel! Luſtig ſtiegen ſie ins Schiff; Triton nahm den Dreifuß auf die Schulter und verſchwand damit in den Fluthen. Nun kamen ſie, nach einer Fahrt von wenigen Tagen, unan¬ gefochten nach der Felſeninſel Karpathos und wollten von da nach dem herrlichen Eilande Kreta überſchiffen. Der Wächter dieſer Inſel war aber der ſchreckliche Rieſe Ta¬ los. Er war allein noch übrig aus dem ehernen Geſchlechte der Menſchen, welche einſt Buchen entſproſſen waren, und Jupiter hatte ihn Europa als Schwellenhüter ge¬ ſchenkt, daß er dreimal des Tages, mit ſeinen ehernen Füßen, die Runde auf der Inſel machen ſollte. Dieſer war am ganzen Leibe von Erz und deßwegen unverwund¬ lich, nur am einen Knöchel hatte er eine fleiſcherne Sehne und eine Ader, darinn Blut floß. Wer dieſe Stelle wußte und ſie treffen konnte, durfte gewiß ſeyn ihn zu tödten, denn er war nicht unſterblich. Als die Helden auf die Inſel zuruderten, ſtand er auf einer der äußerſten Klip¬ pen mit ſeiner Wacht beſchäftigt; ſobald er ihrer anſichtig ward, bröckelte er Felsblöcke los und fing an ſie gegen das herannahende Schiff zu ſchleudern. Erſchrocken ruder¬ ten die Argonauten rückwärts; ſie hätten, obwohl auf's neue von Durſt geplagt, das ſchöne Kreta auf der Seite gelaſſen, hätte ſich nicht Medea erhoben und den Er¬ ſchrockenen zugeredet: Höret mich, Männer! Ich weiß wie dieſes Ungeheuer zu bändigen iſt. Haltet das Schiff nur außerhalb der Steinwurfweite! Dann hob ſie die168 Falten ihres purpurnen Gewandes empor und beſtieg die Schiffsgänge, über welche Jaſons Hand ſie hinleitete. Mit ſchauerlicher Zauberformel rief ſie dreimal die le¬ benraubenden Parzen an, die ſchnellen Hunde der Un¬ terwelt, die in der Luft hauſend allenthalben nach den Lebendigen jagen. Hierauf verzauberte ſie die Augenlie¬ der des ehernen Talos, daß ſie ſich ſchloßen und ſchwarze Traumbilder vor ſeine Seele traten. Er ſank im Schlafe zuſammen, und ſtieß den fleiſchernen Knöchel an eine ſpitze Felſenkante, daß das Blut, wie flüſſiges Blei, aus der Wunde quoll. Von dem Schmerz aufgeweckt, verſuchte er es wieder einen Augenblick ſich aufzurichten; aber, wie eine halb angehauene Fichte der erſte Wind¬ ſtoß erſchüttert und ſie endlich krachend in die Tiefe ſtürzt, ſo taumelte er noch eine kurze Zeit auf ſeinen Füßen und ſtürzte dann entſeelt, mit ungeheurem Schall, in die Mee¬ restiefe.

Jetzt konnten die Genoſſen ungefährdet landen, und erholten ſich auf dem geſegneten Eilande bis zum Mor¬ gen. Kaum über Kreta hinausgeſchifft, erſchreckte ſie ein neues Abentheuer. Eine entſetzliche Nacht brach ein, die kein Strahl des Mondes, kein Stern erleuchtete; als wäre alle Finſterniß aus dem Abgrunde losgelaſſen, ſo ſchwarz war die Luft, ſie wußten nicht, ob ſie auf dem Meere, oder in den Fluthen des Tartarus ſchifften. Mit aufgehobenen Händen flehte Jaſon zu Phöbus Apollo, ſie aus dieſem gräßlichen Dunkel zu befreien; Angſtthrä¬ nen ſtürzten ihm von den Wangen, und er verſprach dem Gotte die herrlichſten Weihgeſchenke. Dieſer vernahm ſein Flehen, er kam vom Olymp hernieder, ſprang auf einen Meerfels, und den goldenen Bogen hoch in den169 Händen haltend, ſchoß er ſilberne Lichtpfeile über die Ge¬ gend hin. In dem plötzlichen Lichtglanze zeigte ſich ihnen eine kleine Inſel, auf welche ſie zuſteuerten und wo, vor Anker gelegt, ſie die tröſtliche Morgenröthe erwarteten. Als ſie wieder im heiterſten Sonnenlichte auf der hohen See da¬ hin fuhren, da gedachte der Held Euphemus eines nächtlichen Traumes. Ihm hatte gedäucht, die Erdſcholle des Triton, die er an der Bruſt liegen hatte, beginne ſich zu beleben, und aus ſeinem Buſen zu rollen, dann geſtalte ſie ſich zu einem Jungfrauenbilde, das ſprach: Ich bin die Toch¬ ter des Triton und der Libya, vertraue mich den Töch¬ tern des Nereus an, daß ich im Meere wohne bei Anaphe; dann werde ich wieder ans Sonnenlicht hervor¬ kommen und deinen Enkeln beſtimmt ſeyn. An dieſen Traum erinnerte ſich jetzt Euphemus, denn Anaphe hatte die Inſel geheißen, bei der ſie den Morgen erwartet hatten. Jaſon, dem der Held den Traum erzählte, ver¬ ſtand ſeinen Sinn alsbald: er rieth dem Freunde, die Erdſcholle, die er auf dem Herzen trug, in die See zu werfen. Dieſer that es und ſiehe da, vor den Augen der Schiffenden erwuchs aus dem Meeresgrund eine blü¬ hende Inſel mit fruchtbarem Rücken. Man nannte ſie Kalliſte, d. h. die Schönſte, und Euphemus bevölkerte ſie in der Folge mit ſeinen Kindern.

Dies war das letzte Wunder das die Helden erleb¬ ten. Bald darauf nahm ſie die Inſel Aegina auf. Von dort der Heimat zuſteuernd, lief ohne weiteren Unfall das Schiff Argo, mit ſeinen Helden, glücklich in den Hafen von Jolkos ein. Jaſon weihte das Schiff auf der corinthiſchen Meerenge dem Neptunus, und als es längſt in Staub zerfallen war, glänzte es, in den Him¬170 mel erhoben, am ſüdlichen Firmament als ein leuchten¬ des Geſtirn.

Jaſons Ende.

Jaſon gelangte nicht zu dem Throne von Jolkos, um deſſentwillen er die gefahrvolle Fahrt beſtanden, Me¬ dea ihrem Vater geraubt, und an ihrem Bruder Abſyrtus einen ſchändlichen Mord begangen hatte. Er mußte das Königreich dem Sohne des Pelias, Akaſtus, überlaſſen, und ſich mit ſeiner jungen Gemahlin nach Corinth flüch¬ ten. Hier wohnte er zehn Jahre mit ihr, und ſie gebar ihm drei Söhne. Die beiden Aelteſten waren Zwillinge und hießen Theſalus und Alkimenes; der dritte, Tiſan¬ der, war viel jünger. Während jener Zeit war Medea nicht nur um ihrer Schönheit willen, ſondern auch wegen ihres edlen Sinnes und ihrer übrigen Vorzüge, von ihrem Gatten geliebt und geehrt. Als aber ſpäter die Zeit die Reize ihrer Geſtalt allmählig vertilgte, wurde Jaſon von der Schönheit eines jungen Mädchens, der Tochter des Corintherköniges Kreon, mit Namen Glauce, entzündet und bethört. Ohne daß ſeine Gattin darum wußte, warb er um die Jungfrau und nachdem der Va¬ ter eingewilligt und den Tag der Hochzeit beſtimmt hatte, ſuchte er erſt ſeine Gemahlin zu bewegen, daß ſie frei¬ willig auf die Ehe verzichten ſollte. Er verſicherte ſie auch, daß er die neue Heirath nicht ſchließen wolle, weil er ihrer Liebe überdrüſſig ſey, ſondern aus Fürſorge für ſeine Kinder ſuche er in Verwandtſchaft mit dem ho¬ hen Königshauſe zu treten. Aber Medea ward entrüſtet171 über dieſen Antrag, und rief zürnend die Götter an, als Zeugen ſeiner Schwüre. Jaſon achtetete dieß nicht und vermählte ſich mit der Königstochter. Verzweifelnd irrte Medea in dem Pallaſte ihres Gatten umher. Wehe mir, rief ſie möchte die Flamme des Himmels auf mein Haupt hernieder zücken! Was ſoll ich länger leben? Möchte der Tod ſich meiner erbarmen. O Vater, o Va¬ terſtadt, die ich ſchimpflich verlaſſen habe! O Bruder, den ich gemordet und deſſen Blut jetzt über mich kommt! Aber nicht an meinem Gatten Jaſon war es, mich zu ſtrafen, für ihn habe ich geſündigt! Göttin der Ge¬ rechtigkeit, mögeſt du ihn und ſein junges Kebsweib ver¬ derben!

Noch jammerte ſie ſo, als Kreon, Jaſons neuer Schwiegervater, im Pallaſte ihr begegnete. Du finſter Blickende, auf deinen Gemahl Ergrimmte, redete er ſie an, nimm deine Söhne an der Hand und verlaß mir mein Land auf der Stelle; ich werde nicht nach Hauſe kehren, ehe ich dich über meine Grenzen gejagt. Medea, ihren Zorn unterdrückend, ſprach mit gefaßter Stimme: Warum fürchteſt du ein Uebel von mir, Kreon? Was haſt du mir Böſes gethan, was wareſt du mir ſchuldig? Du haſt deine Tochter dem Manne gegeben, der dir ge¬ fallen hat. Was gieng ich dich an? Nur meinen Gat¬ ten haſſe ich, der mir Alles ſchuldig iſt. Doch, es iſt ge¬ ſchehen: mögen ſie als Gatten leben. Mich aber laßt in dieſem Lande wohnen; denn obgleich ich tief gekränkt bin, ſo will ich doch ſchweigen und den Mächtigeren mich unterwerfen. Aber Kreon ſah ihr die Wuth in den Au¬ gen an, er traute ihr nicht, obgleich ſie ſeine Kniee um¬ ſchlang und ihn bei dem Namen der eigenen, ihr ſo ver¬172 haßten Tochter Glauce beſchwor. Geh, erwiederte er, und befreie mich von Sorgen! Da bat ſie nur um ei¬ nen einzigen Tag Aufſchub, um einen Weg zur Flucht und ein Aſyl für ihre Kinder wählen zu können. Meine Seele iſt nicht tyranniſch, ſprach da der König, ſchon viel thörichte Nachgiebigkeit habe ich aus falſcher Scheu geübt. Auch jetzt fühle ich, daß ich nicht weiſe handle, dennoch ſey es dir geſtattet, Weib.

Als Medea die gewünſchte Friſt erhalten hatte, be¬ mächtigte ſich ihrer der Wahnſinn und ſie ſchritt zur Voll¬ führung einer That, die ihr wohl bisher dunkel im Geiſte vorgeſchwebt, an deren Möglichkeit ſie jedoch ſelbſt nicht ge¬ glaubt hatte. Dennoch machte ſie vorher einen letzten Verſuch, ihren Gatten von ſeinem Unrecht und ſeinem Frevel zu über¬ zeugen. Sie trat vor ihn und ſprach zu ihm: O du ſchlimmſter aller Männer, du haſt mich verrathen, haſt einen neuen Ehebund eingegangen, während du doch Kinder haſt. Wä¬ reſt du kinderlos, ſo wollte ich dir verzeihen; du hätteſt eine Ausrede. So biſt du unentſchuldbar; ich weiß nicht, meinſt du, die Götter, die damals herrſchten, als du mir Treue verſpracheſt, regieren nicht mehr, oder es ſeyen den Menſchen neue Geſetze für ihre Handlungen gegeben worden, daß du glaubſt meineidig werden zu dürfen? Sage mir, ich will dich fragen, als wenn du mein Freund wäreſt: wohin räthſt du mir zu gehen? Schickſt du mich zurück in meines Vaters Haus, den ich verrathen, dem ich den Sohn getödtet habe, dir zu lieb? Oder welche andere Zuflucht weißeſt du für mich? Für¬ wahr, es wird ein herrlicher Ruhm für dich, den Neu¬ vermählten, ſeyn, wenn deine erſte Gattin mit deinen ei¬ genen Söhnen in der Welt betteln geht! Doch Jaſon173 war verhärtet. Er verſprach ihr, ſie und die Kinder mit reichlichem Gelde und Briefen an ſeine Gaſtfreunde verſehen, zu entlaſſen. Sie aber verſchmähte Alles: Geh, vermähle dich, ſprach ſie, du wirſt eine Hochzeit feiern, die dich gereuen wird! Als ſie ihren Gemahl verlaſſen hatte, reuten ſie die letzten Worte wieder, nicht weil ſie andern Sinnes geworden war, ſondern weil ſie fürchtete, er möchte ihre Schritte beobachten und ſie an der Aus¬ führung ihres Frevels verhindern. Sie ließ daher um eine zweite Unterredung mit ihm bitten und ſprach zu ihm mit veränderter Miene: Jaſon, verzeih mir, was ich geſprochen; der blinde Zorn hat mich verführt, ich ſehe jetzt ein, daß Alles, was du gethan haſt, zu unſerm ei¬ genen Beſten gereichen ſoll. Arm und verbannt ſind wir hierher gekommen, du willſt durch deine neue Heirath für dich, für deine Kinder, zuletzt auch für mich ſelbſt ſorgen. Wenn ſie eine Weile ferne geweſen ſind, wirſt du deine Söhne zurückberufen, wirſt ſie theilnehmen laſſen an dem Glücke der Geſchwiſter, die ſie erhalten ſollen. Kommt herbei, kommt herbei, Kinder, umarmet euren Vater, verſöhnet euch mit ihm, wie ich mich mit ihm verſöhnet habe! Jaſon glaubte an dieſe Sinnesänderung, und war hoch erfreut darüber, er verſprach ihr und den Kindern das Beſte; und Medea fing an, ihn noch ſicherer zu machen. Sie bat ihn, die Kinder bei ſich zu behalten, und ſie allein ziehen zu laſſen. Damit die neue Gattin und ihr Vater dieſes dulde, ließ ſie aus ihrer Vorrathskammer köſtliche goldene Gewänder holen und reichte ſie dem Jaſon als Brautgeſchenk für die Kö¬ nigstochter. Nach einigem Bedenken ließ dieſer ſich überreden und ein Diener ward abgeſandt, die Gaben174 der Braut zu bringen. Aber dieſe köſtlichen Kleider wa¬ ren mit Zauberkraft getränkte giftige Gewande, und als Medea heuchleriſchen Abſchied von ihrem Gatten genom¬ men hatte, harrte ſie von Stunde zu Stunde der Nach¬ richt vom Empfang ihrer Geſchenke, die ein vertrauter Bote ihr bringen ſollte. Dieſer kam endlich und rief ihr entgegen: Steig in dein Schiff, Medea, fliehe! fliehe! deine Feindin und ihr Vater ſind todt. Als deine Söhne mit ihrem Vater das Haus der Braut betraten, freuten wir Diener uns alle, daß die Zwietracht verſchwunden und die Verſöhnung vollkommen ſey. Die junge Königin empfing deinen Gatten mit heiterem Blick; als ſie aber die Kinder ſah, bedeckte ſie ihre Augen, wandte das Antlitz ab und verabſcheute ihre Gegenwart. Doch Jaſon beſänftigte ihren Zorn, ſprach ein gutes Wort für dich und breitete die Geſchenke vor ihr aus. Als ſie die herr¬ lichen Gewande ſah, wurde ihr Herz von der Pracht ge¬ reizt, es wandte ſich und ſie verſprach ihrem Bräutigam in Alles zu willigen. Als dein Gemahl mit den Söhnen ſie verlaſſen hatte, griff ſie mit Begierde nach dem Schmuck, legte den Goldmantel um, ſetzte den goldenen Kranz ſich ins Haar, und betrachtete ſich vergnügt in einem hellen Spiegel. Dann durchwandelte ſie die Gemächer und freute ſich wie ein kindiſches Mädchen ihrer Herr¬ lichkeit. Bald aber wechſelte das Schauſpiel. Mit ver¬ wandelter Farbe, an allen Gliedern zitternd, wankte ſie rückwärts, und bevor ſie ihren Sitz erreicht hatte, ſtürz¬ te ſie auf den Boden nieder, erbleichte, begann die Au¬ genſterne zu verdrehen und Schaum trat ihr über den Mund. Wehklagen ertönte in dem Pallaſte, die einen Diener eilten zu ihrem Vater, die andern zu ihrem künf¬175 tigen Gatten. Inzwiſchen flammte der verzauberte Kranz auf ihrem Haupte in Feuer auf; Gift und Flamme zehr¬ ten an ihr in die Wette und als ihr Vater jammernd herbeigeſtürzt kam, fand er nur noch den entſtellten Leich¬ nam der Tochter. Er warf ſich in Verzweiflung auf ſie; von dem Gifte des mörderiſchen Gewandes ergriffen hat auch er ſein Leben geendet. Von Jaſon weiß ich nichts.

Die Erzählung dieſer Gräuel, ſtatt die Wuth Me¬ deas zu dämpfen, entflammte ſie vielmehr; und ganz zur Furie der Rachſucht geworden, rannte ſie fort, ihrem Gatten und ſich ſelbſt den tödtlichſten Schlag zu verſe¬ tzen. Sie eilte nach der Kammer, wo ihre Söhne ſchlie¬ fen, denn die Nacht war herbeigekommen. Waffne dich mein Herz, ſprach ſie unterwegs zu ſich ſelber, was zö¬ gerſt du, das Gräßliche und Nothwendige zu vollbringen? Vergiß, Unglückliche, daß es deine Kinder ſind, daß du ſie geboren haſt. Nur dieſe eine Stunde vergiß es! Nachher beweine ſie dein ganzes Leben lang. Du thuſt ihnen ſelbſt einen Dienſt. Tödteſt du ſie nicht, ſo ſterben ſie von einer feindſeligen Hand.

Als Jaſon in ſein Haus geflogen kam, die Mörde¬ rin ſeiner jungen Braut aufzuſuchen und ſie ſeiner Rache zu opfern, ſcholl ihm das Jammergeſchrei ſeiner Kinder entgegen, die unter dem Mordſtahl bluteten; er trat in die aufgeſtoßene Kammer und fand ſeine Söhne wie Schuldopfer hingewürgt, Medea aber war nicht zu erbli¬ cken. Als er in Verzweiflung ſein Haus verließ, hörte er in der Luft ein Geräuſch über ſeinem Haupte. Em¬ porſchauend ward er hier die fürchterliche Mörderin ge¬ wahr, wie ſie auf einem mit Drachen beſpannten Wagen, den ihre Kunſt herbeigezaubert hatte, durch die Lüfte da¬176 vonfuhr, und den Schauplatz ihrer Rache verließ. Ja¬ ſon hatte die Hoffnung verloren, ſie je für ihren Frevel zu ſtrafen; die Verzweiflung kam über ihn, der Mord des Abſyrtus wachte wieder auf in ſeiner Seele; er ſtürzte ſich in ſein Schwerdt und fiel auf der Schwelle ſeines Hauſes.

[177]

Drittes Buch.

Meleager und die Eberjagd. Tantalus. Pelops. Niobe. Salmoneus.

Schwab, das klaſſ. Althertum. I. 12[178][179]

Meleager und die Eberjagd.

Oeneus, der König von Kalydon, brachte die Erſt¬ linge eines mit beſonderer Fülle geſegneten Jahres den Göttern dar, der Ceres Feldfrüchte, dem Bacchus Wein, Oel der Minerva und ſo jeder Gottheit die ihr willkommene Frucht, nur Diana wurde von ihm vergeſſen und ihr Altar blieb ohne Weihrauch. Dieß erzürnte die Göttin, und ſie beſchloß Rache an ihrem Verächter zu nehmen. Ein verheerender Eber wurde von ihr auf die Fluren des Königes losgelaſſen. Gluth ſprühten ſeine rothen Augen, ſein Nacken ſtarrte; gleich Schanzpfählen richte¬ ten ſich ſeine ſtruppigen Borſten auf, aus dem ſchäumen¬ den Rachen ſchoß es ihm wie ein Blitzſtrahl, und ſeine Hauer waren gleich rieſigen Elephantenzähnen. So ſtampfte er durch Saaten und Kornfelder hin; Tenne und Scheuer warteten vergeblich auf die verſprochene Erndte; die Trauben fraß er mit ſammt den Ranken, die Oliven¬ beeren mit ſammt den Zweigen ab; Schäfer und Schäfer¬ hunde vermochten ihre Heerden, die trotzigſten Stiere ihre Rinder nicht gegen das Ungeheuer zu vertheidigen. End¬ lich erhub ſich der Sohn des Königes, der herrliche Held Meleager, und verſammelte Jäger und Hunde, den grau¬ ſamen Eber zu erlegen. Die berühmteſten Helden aus ganz Griechenland kamen, zu der großen Jagd eingeladen, unter ihnen auch die heldenmüthige Jungfrau Atalante12 *180aus Arkadien, die Tochter des Jaſion. In einem Walde ausgeſetzt, von einer Bärin geſäugt, von Jägern gefun¬ den und erzogen, brachte die ſchöne Männerfeindin ihr Leben im Walde zu und lebte von der Jagd. Alle Män¬ ner wehrte ſie von ſich ab, und zwei Centauren, die ihr in dieſer Einſamkeit nachſtellten, hatte ſie mit ihren Pfeilen erlegt. Jetzt lockte ſie die Liebe zur Jagd hervor in die Gemeinſchaft der Helden. Sie kam, ihr einfaches Haar in einen einzelnen Knoten gebunden, über den Schultern hing ihr der elfenbeinerne Köcher, die Linke hielt den Bogen; ihr Antlitz wäre an Knaben ein Jung¬ ferngeſicht, an Jungfrauen ein Knabengeſicht geweſen. Als Meleager ſie in ihrer Schönheit erblickte, ſprach er bei ſich ſelbſt: Glücklich der Mann, den dieſe würdiget, ihr Gatte zu ſeyn! Mehr zu denken erlaubte ihm die Zeit nicht, denn die gefährliche Jagd durfte nicht länger aufgeſchoben werden.

Die Schaar der Jäger ging einem Gehölze mit ur¬ alten Stämmen zu, das, in der Ebene anfangend, ſich einen Bergesabhang hinanzog. Als die Männer hier an¬ gekommen waren, ſtellten die Einen Netze, die Andern ließen die Hunde von der Feſſel los, wieder Andere folg¬ ten ſchon der Fährte. Bald gelangte man in ein ab¬ ſchüſſiges Thal, das die geſchwollenen Waldbäche ausge¬ hölt; Binſen, Sumpfgras, Weidengebüſch und Schilfrohr wucherten unten im Abgrunde. Hier hatte das Schwein im Verſtecke gelegen und, von den Hunden aufgejagt, durchbrach es das Gehölz, wie ein Blitzſtrahl die Wetter¬ wolke, und ſtürzte ſich wüthend mitten unter die Feinde. Die Jünglinge ſchrieen laut auf und hielten ihm die eiſernen Spitzen ihrer Speere vor; aber der Eber wich181 aus und durchbrach eine Koppel von Hunden. Geſchoß um Geſchoß flog ihm nach, aber die Wunden ſtreiften ihn nur und vermehrten ſeinen Grimm. Mit funkelndem Auge und dampfender Bruſt kehrte er um, flog wie ein vom Wurfgeſchoße geſchleuderter Felsblock auf die rechte Flanke der Jäger und riß ihrer drei, tödtlich verwundet, zu Boden. Ein Vierter, es war Neſtor, der nachmals ſo berühmte Held, rettete ſich auf die Aeſte eines Eich¬ baumes, an deſſen Stamm der Eber grimmig ſeine Hauer wetzte. Hier hätten ihn die Zwillingsbrüder Caſtor und Pollux, die hoch auf ſchneeweißen Roſſen ſaßen, mit ihren Speeren erreicht, wenn das borſtige Thier ſich nicht ins unzugänglichere Dickicht geflüchtet hätte. Jetzt legte Ata¬ lante einen Pfeil auf ihren Bogen und ſandte ihn dem Thier in das Gebüſch nach. Das Rohr traf den Eber unter dem Ohr und zum erſtenmal röthete Blut ſeine Borſten. Meleager ſah die Wunde zuerſt und zeigte ſie jubelnd ſeinen Gefährten: Fürwahr, o Jungfrau, rief er der Preis der Tapferkeit gebühret dir! Da ſchäm¬ ten ſich die Männer, daß ein Weib ihnen den Sieg ſtrei¬ tig machen ſollte, und alle zumal warfen ihre Speere; aber gerade dieſer Schwarm von Geſchoßen verhinderte die Würfe, das Thier zu treffen. Mit ſtolzen Worten erhob jetzt der Arkadier Ancäus die doppelte Streitaxt mit ſeinen beiden Händen und ſtellte ſich zum Hieb ausholend auf die Zehen. Aber der Eber ſtieß ihm die beiden Hauer in die Weichen, ehe er den Streich vollführen konnte, und er ſtürzte von Blut gebadet, mit entblößten Gedärmen, auf den Boden. Dann warf Jaſon ſeinen Speer; allein dieſen lenkte der Zufall in den Nacken einer unſchuldigen Dogge. Endlich ſchoß Meleager zwei Speere hintereinander ab. Der erſte fuhr182 in den Boden, der zweite dem Eber mitten in den Rücken. Das Thier fing an zu toben und ſich im Kreiſe zu drehen. Schaum und Blut quoll aus ſeinem Munde, Meleager verſetzte ihm mit dem Jagdſpieß eine neue Wunde in den Hals und nun fuhren ihm von allen Seiten die Spieße in den Leib. Der Eber, weit auf der Erde ausgeſtreckt, wälzte ſich ſterbend in ſeinem Blute. Meleager ſtemmte ſeinen Fuß auf den Kopf des Getödteten, ſtreifte mit Hülfe ſeines Schwertes die borſtige Hülle ſeines Rückens vom Leibe des Thieres nieder, und reichte ſie mit ſammt dem abgehauenen Haupte, aus dem die mächtigen Hauer hervorſchimmerten, der tapfern Arkadierin Atalante. Nimm die Beute hin, ſprach er, die von Rechtswegen mir ge¬ hörte; ein Theil des Ruhmes ſoll auch auf dich kommen! Dieſe Ehre mißgönnten die Jäger dem Weibe, und rings in der Schaar erhob ſich ein Gemurmel. Mit geballten Fäuſten und lauter Stimme traten vor Atalante die Söhne des Theſtius hin, Meleagers Muttersbrüder. Auf der Stelle, riefen ſie, lege die Beute nieder, Weib, und erſchleiche nicht, was uns zugehört; deine Schönheit dürfte dir ſonſt wenig helfen, und dein verliebter Gaben¬ ſpender auch nicht! Mit dieſen Worten nahmen ſie ihr das Geſchenk weg und ſprachen dem Helden das Recht ab, darüber zu verfügen. Dieß ertrug Meleager nicht. Vor Jähzorn knirſchend ſchrie er: Ihr Räuber frem¬ den Verdienſtes! lernet von mir, wie weit Drohungen von Thaten verſchieden ſind! Und damit ſtieß er dem einen, und eh der ſich beſinnen konnte, auch dem andern Oheim den Stahl in die Bruſt.

Althäa, die Mutter Meleagers, war auf dem Wege nach dem Göttertempel, um Dankopfer für den Sieg183 ihres Sohnes darzubringen, als ſie die Leichen ihrer Brüder herbeibringen ſah. Sie zerſchlug ſich wehklagend die Bruſt, eilte in ihren Pallaſt zurück, legte ſtatt der goldenen Freudengewänder ſchwarze Kleidung an und er¬ füllte die Stadt mit Jammergeſchrei. Aber als ſie er¬ fuhr, daß der Urheber des Mordes ihr eigener Sohn Meleager ſey, da verſiegten ihre Thränen, ihre Trauer ward in Mordluſt verwandelt, und ſie ſchien ſich plötzlich auf etwas zu beſinnen, das ihrem Gedächtniß längſt ent¬ ſchwunden war. Denn als Meleager nur erſt wenige Tage zählte, da waren die Parzen bei dem Wochenbette ſeiner Mutter Althäa erſchienen. Aus deinem Sohne wird ein tapferer Held, verkündigte ihr die erſte; dein Sohn wird ein großmüthiger Mann ſeyn, ſprach die zweite; dein Sohn wird ſo lange leben, ſchloß die dritte, als der eben jetzt auf dem Herde glühende Brand vom Feuer nicht verzehrt wird. Kaum hatten ſich die Parzen ent¬ fernt, ſo nahm die Mutter das hell auflodernde Brand¬ ſcheit aus dem Feuer, löſchte es in Waſſerfluth, und, liebevoll für das Leben ihres Sohnes beſorgt, verwahrte ſie es im geheimſten ihrer Gemächer. Entflammt von Rache dachte ſie jetzt wieder an dieſes Holz, und eilte in die Kammer, wo es in einem heimlichen Verſchloſſe ſorg¬ ſam aufbewahrt lag. Sie hieß Kienholz auf Reiſig le¬ gen und fachte einen lodernden Brand an. Dann ergriff ſie das hervorgeſuchte Holzſcheit. Aber in ihrem Herzen bekämpfte ſich Mutter und Schweſter, blaſſe Angſt und glühender Zorn wechſelten auf ihrem Angeſichte, viermal wollte ſie den Aſt auf die Flammen legen, viermal zog ſie die Hand zurück. Endlich ſiegte die Schweſterliebe über das Muttergefühl. Wendet eure Blicke hierher, 184ſprach ſie, ihr Strafgöttinnen, zu dieſem Furienopfer! und ihr, kürzlich geſchiedene Geiſter meiner Brüder, fühlet was ich für euch thue, ſieget und nehmet als theuer er¬ kauftes Todtengeſchenk die unſelige Frucht meines eigenen Leibes an! Mir ſelbſt bricht das Herz von Mutterliebe und bald werde ich dem Troſte, den ich euch ſende, ſelbſt nachfolgen. So ſprach ſie, und mit abgewendetem Blick und zitternder Hand legte ſie das Holz mitten in die Flammen hinein.

Meleager, der inzwiſchen auch in die Stadt zurück¬ gekehrt war, und über ſeinem Siege, ſeiner Liebe und ſeiner Mordthat in wechſelnden Empfindungen brütete, fühlte plötzlich, ohne zu wiſſen woher, ſeinen innerſten Leib von einer heimlichen Fiebergluth ergriffen, und ver¬ zehrende Schmerzen warfen ihn auf das Lager. Er be¬ ſiegte ſie mit Heldenkraft; aber es jammerte ihn tief, eines unrühmlichen und unblutigen Todes ſterben zu müſſen. Er beneidete die Genoſſen, die unter den Strei¬ chen des Ebers gefallen waren, er rief den Bruder, die Schweſtern, den greiſen Vater und mit ſtöhnendem Munde auch die Mutter herbei, die noch immer am Feuer ſtand und mit ſtarren Augen dem ſich verzehren¬ den Brande zuſah. Der Schmerz ihres Sohnes wuchs mit dem Feuer, aber als allmählig die Kohle ſich in der bleichenden Aſche verbarg, erloſch auch ſeine Qual und er verhauchte ſeinen Geiſt mit dem letzten Funken in die Luft. Ueber ſeiner Leiche wehklagten Vater und Schweſtern und ganz Kalydon trauerte, nur die Mutter war ferne. Den Strick um den Hals gewunden, fand man ihre Leiche vor dem Herde niedergeſtreckt, auf welchem die verglommene Aſche des Feuerbrandes ruhte.

185

Tantalus.

Tantalus, ein Sohn des Zeus, herrſchte zu Sipy¬ lus in Phrygien, und war außerordentlich reich und be¬ rühmt. Wenn je einen ſterblichen Mann die olympiſchen Götter geehrt haben, ſo war es dieſer. Seiner hohen Abſtammung wegen wurde er zu ihrer vertrauten Freund¬ ſchaft erhoben, zuletzt durfte er an der Tafel Jupiters ſpeiſen, und Alles mit anhören, was die Unſterblichen unter ſich beſprachen. Aber ſein eitler Menſchengeiſt ver¬ mochte das überirdiſche Glück nicht zu tragen, und er fing an, mannigfaltig gegen die Götter zu freveln. Er verrieth den Sterblichen die Geheimniſſe der Götter; er entwandte von ihrer Tafel Nektar und Ambroſia, und vertheilte den Raub unter ſeine irdiſchen Genoſſen; er barg den köſtlichen goldenen Hund, den ein anderer aus dem Tempel Jupiters zu Kreta geſtohlen hatte, und als dieſer ihn zurückforderte, läugnete er mit einem Eide ab, ihn erhalten zu haben. Endlich lud er im Uebermuthe die Götter wieder zu Gaſte, und um ihre Allwiſſenheit auf die Probe zu ſetzen, ließ er ihnen ſeinen eigenen Sohn Pelops ſchlachten und zurichten. Nur Ceres verzehrte von dem gräßlichen Gericht ein Schulterblatt, die übrigen Götter aber merkten den Greuel, warfen die zerſtückelten Glieder des Knaben in einen Keſſel, und die Parce Klotho zog ihn mit erneuter Schönheit hervor. Anſtatt der verzehrten Schulter wurde eine elfenbeinerne ein¬ geſetzt.

Jetzt hatte Tantalus das Maaß ſeiner Frevel er¬ füllt und wurde von den Göttern in die Hölle geſtoßen. 186Hier wurde er von quälenden Leiden gepeinigt. Er ſtand mitten in einem Teiche und die Waſſer ſpielten ihm um das Kinn, dennoch litt er den brennendſten Durſt und konnte den Trank, der ihm ſo nahe war, niemals er¬ reichen. So oft er ſich bückte, und den Mund gierig ans Waſſer bringen wollte, entſchwand vor ihm die Fluth verſiegend, der dunkle Boden erſchien zu ſeinen Füßen; ein Dämon ſchien den See ausgetrocknet zu ha¬ ben. So litt er zugleich den peinigendſten Hunger. Hin¬ ter ihm ſtrebten am Ufer des Teiches herrliche Frucht¬ bäume empor, und wölbten ihre Aeſte über ſeinem Haupte. Wenn er ſich emporrichtete, ſo lachten ihm ſaftige Bir¬ nen, rothwangige Aepfel, glühende Granaten, liebliche Feigen und grüne Olivenbeeren ins Auge; aber ſobald er hinauf langte, ſie mit ſeiner Hand zu faſſen, ſo riß ein Sturmwind, der plötzlich angeflogen kam, die Zweige hoch hinauf zu den Wolken. Zu dieſer Höllenpein ge¬ ſellte ſich beſtändige Todesangſt, denn ein großes Fel¬ ſenſtück hing über ſeinem Haupte in der Luft und drohte unaufhörlich auf ihn herabzuſtürzen. So ward dem Ver¬ ächter der Götter, dem ruchloſen Tantalus, dreifache Qual, niemals endend, in der Unterwelt beſchieden.

187

Pelops.

So ſchwer der Vater an den Göttern ſich verſün¬ digt hatte, ſo fromm ehrte ſie ſein Sohn Pelops. Er war nach der Verbannung ſeines Vaters in die Unter¬ welt in einem Kriege mit dem benachbarten Könige Troja's aus ſeinem phrygiſchen Reiche vertrieben worden, und wanderte nach Griechenland aus. Eben erſt beklei¬ dete ſich das Kinn des Jünglings mit ſchwärzlicher Wolle, aber ſchon hatte er ſich im Herzen eine Gattin auserſehen. Es war dieß die ſchöne Tochter des Königes von Elis, Oenomaus, mit Namen Hippodamia. Sie war ein Kampfpreis, der nicht leicht zu erringen war. Das Orakel hatte nämlich ihrem Vater vorhergeſagt, er werde ſterben, wenn ſeine Tochter einen Gatten erhielte. De߬ wegen wandte der erſchrockene König alles an, um jeden Freier von ihr zu entfernen. Er ließ eine Verkündigung in alle Lande hinausgehen, daß derjenige ſeine Tochter zur Gemahlin erhalten ſollte, der ihn ſelbſt im Wagen¬ rennen überwinden würde. Wen aber er, der König, beſiegte, der ſollte ſein Leben laſſen. Der Wettlauf ge¬ ſchah von Piſa aus, nach dem Altare des Neptunus auf der Meerenge bei Corinth, und die Zeit zur Abfahrt der Wagen beſtimmte er alſo: Er ſelbſt wollte erſt gemächlich dem Jupiter einen Widder opfern, während der Freier mit dem vierſpännigen Wagen ausführe; erſt wenn er das Opfer beendigt hätte, ſollte Oenomaus den Lauf beginnen und auf ſeinem von dem Wagenlenker Myrtilus ge¬ leiteten Wagen, mit einem Spieß in der Hand, den Freier verfolgen. Gelänge es ihm, den vorauseilenden188 Wagen einzuholen, ſo ſollte er das Recht haben, den Freier mit ſeinem Spieße zu durchbohren. Als die vielen Freier, welche Hippodamia wegen ihrer Schönheit zählte, dieſes vernahmen, waren ſie alle getroſten Muthes. Sie hielten den König Oenomaus für einen altersſchwachen Greis, der, im Bewußtſeyn, mit Jünglingen doch nicht in die Wette rennen zu können, ihnen abſichtlich einen ſo großen Vorſprung bewilligte, um ſeine wahrſcheinliche Niederlage aus dieſer Großmuth erklären zu können. Da¬ her kam einer um den andern nach Elis gezogen, ſtellte ſich vor dem Könige, und begehrte ſeine Tochter zum Weibe. Dieſer empfing ſie jedesmal freundlich, überließ ihnen ein ſchönes Viergeſpann zur Fahrt und ging hin, dem Jupiter ſeinen Widder zu opfern, wobei er ſich gar nicht beeilte. Dann erſt beſtieg er einen leichten Wagen, vor welchen ſeine beiden Roſſe Phylla und Har¬ pinna geſpannt waren, die geſchwinder liefen, als der Nordwind. Mit ihnen holte ſein Wagenlenker die Freier jedesmal noch lange vor Ende der Bahn ein, und un¬ verſehens durchbohrte ſie der Speer des grauſamen Kö¬ nigs von hinten. Auf dieſe Art hatte er ſchon mehr denn zwölf Freier erlegt, denn immer holte er ſie mit ſei¬ nen ſchnellen Pferden ein.

Nun war Pelops vor ſeiner Fahrt nach der Gelieb¬ ten an der Halbinſel, die ſpäter ſeinen Namen führen ſollte, gelandet. Bald hörte er, was ſich zu Elis mit den Freiern zutrage. Da trat er nächtlicher Weile ans Meeresufer, und rief ſeinen Schutzgott, den mäch¬ tigen Dreizackſchwinger Neptunus an, der ihm zu Füßen aus der Meeresfluth emporrauſchte. Mächtiger Gott, rief Pelops ihn an, wenn dir ſelbſt die Geſchenke der189 Liebesgöttin willkommen ſind, ſo lenke den ehernen Speer des Oenomaus von mir ab, entſende mich auf dem ſchnell¬ ſten Wagen gen Elis, und führe mich zum Siege. Denn ſchon hat er dreizehn liebende Männer ins Verderben ge¬ ſtürzt, und noch ſchiebt er die Hochzeit der Tochter auf. Eine große Gefahr duldet keinen unkriegeriſchen Mann. Ich bin entſchloſſen, ſie zu beſtehen. Wer doch einmal ſterben muß, was ſoll der ein namenloſes Alter in Fin¬ ſterniß daſitzend erwarten, alles Edlen untheilhaftig? Darum will ich den Kampf beſtehen: du gib mir er¬ wünſchten Erfolg!

So betete Pelops und ſein Flehen war nicht verge¬ bens. Denn abermals rauſchte es in den Waſſern, und ein ſchimmernder goldner Wagen mit vier pfeilſchnellen Flügelroſſen ſtieg aus den Wellen empor. Auf ihn ſchwang ſich Pelops und flog, die Götterpferde nach Gefallen lenkend, mit dem Wind in die Wette nach Elis. Als Oenomaus ihn kommen ſah, erſchrack er, denn auf den erſten Blick erkannte er das göttliche Geſpann des Meergottes. Doch verweigerte er dem Fremdlinge den Wettkampf nach den gewohnten Bedingungen nicht; auch verließ er ſich auf die Wunderkraft ſeiner eigenen Roſſe, die es dem Winde zuvorthaten. Nachdem die Roſſe des Pelops von der Reiſe durch die Halbinſel geraſtet, betrat er mit ihnen die Laufbahn. Schon war er dem Ziele ganz nahe, als der König, der das Widderopfer wie gewöhnlich verrich¬ tet hatte, mit ſeinen luftigen Roſſen plötzlich ihm auf den Nacken kam, und ſchon den Speer ſchwang, dem kühnen Freier den tödtlichen Stoß zu verſetzen. Da fügte es Neptunus, der den Pelops beſchirmte, daß mitten im Laufe die Räder des königlichen Wagens aus den Fu¬190 gen gingen und dieſer zuſammenbrach. Oenomaus ſtürzte zu Boden, und gab vom Falle den Geiſt auf. In dem¬ ſelben Augenblicke hielt Pelops mit ſeinem Viergeſpann am Ziele. Als er hinter ſich blickte, ſah er den Pallaſt des Königes in Flammen ſtehen; ein Blitzſtrahl hatte ihn angezündet und zerſtörte ihn von Grund aus, daß nichts als eine Säule davon ſtehen blieb. Pelops aber eilte mit ſeinem Flügelgeſpann dem Brennenden zu, und holte ſich die Braut aus den Flammen.

191

Niobe.

Niobe, die Königin von Theben, war auf Vieles ſtolz. Amphion, ihr Gemahl, hatte von den Muſen die herrliche Leyer erhalten, auf deren Spiel ſich die Steine der Thebiſchen Königsburg von ſelbſt zuſammenſetzten; ihr Ahnherr war Tantalus, der Gaſt der Götter; ſie war die Gebieterin eines gewaltigen Reiches und ſelbſt voll Hoheit des Geiſtes und von majeſtätiſcher Schönheit; nichts aber von allem dieſem ſchmeichelte ihr ſo ſehr, als die ſtattliche Zahl ihrer vierzehn blühenden Kinder, die zur einen Hälfte Söhne und zur andern Töchter waren. Auch hieß Niobe unter allen Müttern die glücklichſte, und ſie wäre es geweſen, wenn ſie nur ſich ſelbſt nicht dafür ge¬ halten hätte; ſo aber wurde das Bewußtſeyn ihres Glückes ihr Verderben.

Einſt rief die Seherin Manto, die Tochter des Wahr¬ ſagers Tireſias, von göttlicher Regung angetrieben, mit¬ ten in den Straßen die Frauen Thebens zur Verehrung Latona's und ihrer Zwillingskinder, Apollo's und Dianens auf, hieß ſie die Haare mit Lorbeern bekränzen und from¬ mes Gebet unter Weihrauchopfer darbringen. Als nun die Thebanerinnen zuſammenſtrömten, kam auf einmal Niobe im Schwarm eines königlichen Gefolges, mit einem golddurchwirkten Gewande angethan, prunkend einherge¬ rauſcht. Sie ſtrahlte von Schönheit, ſoweit es der Zorn zuließ, ihr ſchmuckes Haupt bewegte ſich zugleich mit dem über beide Schultern herabwallenden Haar. So ſtand ſie in der Mitte der, unter freiem Himmel, mit dem Opfer beſchäftigten Frauen, ließ die Augen voll Hoheit auf dem192 Kreiſe der Verſammelten ruhen und rief: Seyd ihr nicht wahnſinnig, Götter zu ehren von denen man euch fabelt, während vom Himmel begünſtigtere Weſen mitten unter euch weilen? Wenn ihr der Latona Altäre errichtet, war¬ um bleibt mein göttlicher Name ohne Weihrauch? Iſt doch mein Vater Tantalus der einzige Sterbliche, der am Tiſche der Himmliſchen geſeſſen hat, meine Mutter Dio, die Schweſter der Plejaden, die als leuchtendes Geſtirn am Himmel glänzen; mein einer Ahn iſt Atlas der Gewaltige, der das Gewölbe des Himmels auf dem Nacken trägt; mein anderer Ahn Jupiter, der Vater der Götter; ſelbſt Phrygiens Völker gehorchen mir, mir und meinem Gatten iſt die Stadt des Kadmus, ſind die Mauern unterthan, die ſich dem Saitenſpiel Amphions gefügt ha¬ ben; jeder Theil meines Pallaſtes zeigt mir unermeßliche Schätze, dazu kommt ein Antliz, wie es einer Göttin werth iſt, dazu eine Kinderſchaar, wie keine Mutter ſie aufweiſen kann. Sieben blühende Töchter, ſieben ſtarke Söhne, bald eben ſo viele Eidame und Schwiegertöch¬ ter. Fraget nun, ob ich auch Grund habe ſtolz zu ſeyn! waget es noch ferner, mir Latona, die unbekannte Tita¬ nentochter, vorzuziehen, welcher einſt die breite Erde kei¬ nen Raum gegönnt hat, wo ſie dem Jupiter gebären könnte, bis die ſchwimmende Inſel Delos der Umherſchweifenden aus Mitleid ihren unbefeſtigten Sitz darbot. Dort wur¬ de ſie Mutter zweier Kinder, die Armſeelige. Das iſt der ſiebente Theil meiner Mutterfreude! Wer läugnet, daß ich glücklich bin, wer zweifelt daß ich glücklich bleibe? For¬ tuna hätte viel zu thun, wenn ſie gründlich meinem Beſitze ſchaden wollte! Nehme ſie mir dies oder jenes, ſelbſt von der Schaar meiner Gebornen, wann wird je ihr Haufe193 zu der armen Zwillingszahl Latonens herunterſinken. Darum fort mit den Opfern, heraus aus den Haaren mit dem Lorbeer! Zerſtreuet euch in eure Häuſer und laßt euch nicht wieder über ſo thörichtem Beginnen treffen!

Erſchrocken nahmen die Frauen die Kränze vom Haupte, ließen die Opfer unvollendet und ſchlichen nach Hauſe, mit ſtillen Gebeten die gekränkte Gottheit verehrend.

Auf dem Gipfel des deliſchen Berges Cynthus ſtand mit ihren Zwillingen Latona und ſchaute mit ihrem Göt¬ terauge, was in dem fernen Theben vorging. Seht, Kinder; ich, eure Mutter, die auf eure Geburt ſo ſtolz iſt, die keiner Göttin außer Juno weicht, werde von einer frechen Sterblichen geſchmäht, ich werde von den alten heiligen Altären hinweggeſtoßen, wenn ihr mir nicht beiſteht, meine Kinder! Ja, auch ihr werdet von Niobe beſchimpft, werdet ihrem Kinderhaufen von ihr nachgeſetzt! Latona wollte zu ihrer Erzählung noch Bitten hinzufügen, aber Phöbus unter¬ brach ſie und ſprach: Laß die Klage, Mutter, ſie hält die Strafe nur auf! Ihm ſtimmte ſeine Schweſter bei: beide hüllten ſich in eine Wolkendecke und mit einem raſchen Schwung durch die Lüfte hatten ſie die Stadt und Burg des Kad¬ mus erreicht. Hier breitete ſich vor den Mauern ein ge¬ räumiges Brachfeld aus, das nicht für die Saat beſtimmt, ſondern den Wettläufen und Übungen zu Roß und Wa¬ gen gewidmet war. Da beluſtigten ſich eben die ſieben Söhne Amphions: die einen beſtiegen muthige Roſſe, die andern erfreuten ſich des Ringſpieles. Der Älteſte, Ismenos, trieb eben ſein Thier im Viertelstrabe ſicher im Kreiſe um, den ſchäumenden Rachen ihm bändigend, als er plötzlich: wehe mir! ausrief, den Zaum aus den erſchlaffenden Händen fahren ließ, und einen Pfeil mittenSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 13194ins Herz geheftet, langſam rechts am Buge des Roſſes herunterſank. Sein Bruder Sipylus, der ihm zunächſt ſich tummelte, hatte das Geraſſel des Köchers in den Lüf¬ ten gehört, und floh mit verhängtem Zügel, wie ein Steuermann vor dem Wetter jedes Lüftchen in den Se¬ geln auffängt, um in den Hafen einzulaufen. Dennoch holte ihn ein durch die Lüfte ſchwirrender Wurfſpieß ein, zitternd haftete ihm der Schaft hoch im Genick und das nackte Eiſen ragte zum Halſe heraus. Ueber die Mähne des Pferdes am geſtreckten Halſe herab gleitete der tödtlich Getroffene zu Boden und beſprengte die Erde mit ſeinem rauchenden Blut. Zwei andere, der eine hieß wie ſein Großvater, Tantalus, der andere Phädimus, lagen mit¬ einander ringend, in feſter Umſchlingung Bruſt an Bruſt verſchränkt. Da tönte der Bogen aufs Neue und, wie ſie vereiniget waren, durchbohrte ſie beide ein Pfeil. Beide ſeufzten zugleich auf, krümmten die ſchmerzdurch¬ zückten Glieder auf dem Boden, verdrehten die erlö¬ ſchenden Augen und hauchten mit Einem Athem die Seele im Staub aus. Ein fünfter Sohn, Alphenor, ſah dieſe fallen: die Bruſt ſich ſchlagend flog er herbei und wollte die erkalteten Glieder der Brüder durch ſeine Umarmungen wieder beleben, aber unter dieſem frommen Geſchäfte ſank auch er dahin, denn Phöbus Apollo ſandte ihm das tödtliche Eiſen tief in die Herzkammer hinein, und als er es wieder herauszog, drängte ſich mit dem Athem das Blut und das Eingeweide des Sterbenden hervor. Damaſichthon, den ſechsten, einen zarten Jüng¬ ling mit langen Locken, traf ein Pfeil in das Kniege¬ lenke; und während er ſich rückwärts bog, das unerwar¬ tete Geſchoß mit der Hand herauszuziehen, drang ihm ein195 anderer Pfeil bis ans Gefieder durch den offenen Mund hinab in den Hals, und ein Blutſtrahl ſchoß wie ein Springbrunnen hoch aus dem Schlunde empor. Der letzte und jüngſte Sohn, der Knabe Ilioneus, der dieß Alles mit angeſehen hatte, warf ſich auf die Kniee nie¬ der, breitete die Arme aus und fing an zu flehen: O all ihr Götter mit einander, verſchonet mich! Der furchtbare Bogenſchütze ſelbſt wurde gerührt, aber der Pfeil war nicht mehr zurückzurufen. Der Knabe ſank zuſammen. Doch fiel er an der leichteſten Wunde, die kaum bis zum Herzen hindurchgedrungen war.

Der Ruf des Unglückes verbreitete ſich bald in die Stadt. Amphion der Vater, als er die Schreckenskunde hörte, durchbohrte ſich die Bruſt mit dem Stahl. Der laute Jammer ſeiner Diener und alles Volkes drang bald auch in die Frauengemächer. Niobe vermochte lange das Schreckliche nicht zu faſſen; ſie wollte nicht glauben, daß die Himmliſchen ſo viel Vorrechte hatten, daß ſie es wag¬ ten, daß ſie es vermöchten. Aber bald konnte ſie nicht mehr zweifeln. Ach, wie unähnlich war die jetzige Niobe der vorigen, die eben erſt das Volk von den Altären der mächtigen Göttin zurückſcheuchte und mit hohem Nacken durch die Stadt einherſchritt! Jene erſchien auch ihren liebſten Freunden beneidenswerth, dieſe des Mitleids wür¬ dig ſelbſt dem Feinde! Sie kam herausgeſtürzt auf das Feld, ſie warf ſich auf die erkalteten Leichname, ſie ver¬ theilte ihre letzten Küſſe an die Söhne, bald an dieſen, bald an jenen. Dann hub ſie die zerſchlagenen Arme gen Himmel und rief: Weide dich nun an meinem Jammer, ſättige dein grimmiges Herz, du grauſame La¬13 *196tona, der Tod dieſer Sieben wirft mich in die Grube; triumphire, ſiegende Feindin!

Jetzt waren auch ihre ſieben Töchter, ſchon in Trauer¬ gewande gekleidet, herbeigekommen und ſtanden mit flie¬ genden Haaren um die gefallenen Brüder her. Ein Strahl der Schadenfreude zückte bei ihrem Anblick über Niobe's blaſſes Geſicht. Sie vergaß ſich, warf einen ſpottenden Blick gen Himmel und ſagte: Siegerin! nein, auch in meinem Unglücke bleibt mir mehr, als dir in deinem Glück. Auch nach ſo vielen Leichen bin ich noch die Siegerin! Kaum hatte ſie's geſprochen, als man eine Sehne ertönen hörte, wie von einem ſtraff an¬ gezogenen Bogen. Alles erſchrack, nur Niobe bebte nicht, das Unglück hatte ſie beherzt gemacht. Da fuhr plötzlich eine der Schweſtern mit der Hand ans Herz; ſie zog einen Pfeil heraus, der ihr im Innerſten haftete. Ohn¬ mächtig zu Boden geſunken, neigte ſie ihr ſterbendes Ant¬ litz über den nächſtgelegenen Bruder. Eine andere Schwe¬ ſter eilt auf die unglückſelige Mutter zu, ſie zu tröſten; aber von einer verborgenen Wunde gebeugt, verſtummt ſie plötzlich. Eine dritte ſinkt im Fliehen zu Boden, an¬ dere fallen, über die ſterbenden Schweſtern hingeneigt. Nur die letzte war noch übrig, die ſich in den Schooß der Mutter geflüchtet und an dieſe, von ihrem faltigen Gewande zugedeckt, ſich kindiſch anſchmiegte. Nur die Einzige laßt mir, ſchrie Niobe wehklagend zum Himmel, nur die Jüngſte von ſo Vielen! Aber während ſie noch flehte, ſtürzte ſchon das Kind aus ihrem Schooße nieder und einſam ſaß Niobe zwiſchen ihres Gatten, ihrer Söhne und ihrer Töchter Leichen. Da erſtarrte ſie vor Gram; kein Lüftchen bewegte das Haar ihres Hauptes;197 aus dem Geſichte wich das Blut; die Augen ſtanden un¬ bewegt in den traurigen Wangen; im ganzen Bilde war kein Leben mehr; die Adern ſtockten mitten im Pulsſchlag, der Nacken drehte, der Arm regte, der Fuß bewegte ſich nicht mehr; auch das Innere des Leibes war zum kalten Felsſtein geworden. Nichts lebte mehr an ihr, als die Thränen; dieſe rannen unaufhörlich aus den ſteinernen Augen hervor. Jetzt faßte den Stein eine gewaltige Windsbraut, führte ihn fort durch die Lüfte und über das Meer und ſetzte ihn erſt in der alten Heimath Niobe's, in Lydien, im öden Gebirge, unter den Steinklippen des Sipylus nieder. Hier haftete Niobe als ein Marmor¬ felſen am Gipfel des Berges, und noch jetzt zerfließt der Marmor in Thränen.

198

Salmoneus.

Salmoneus, der Herrſcher in Elis, war ein reicher, ungerechter und in ſeinem Herzen übermüthiger Fürſt. Er hatte eine herrliche Stadt, Salmonea genannt, ge¬ gründet, und ging in ſeinem Stolze ſo weit, daß er von ſeinen Unterthanen göttliche Ehren und Opfer forderte und für Jupiter gehalten ſeyn wollte. Als Jupiter durch¬ zog er auch ſein Land und die griechiſchen Völkerſchaften auf einem Wagen, der dem Wagen des Donnerers gleichen ſollte. Er ahmte dabei Jupiters Blitz durch emporge¬ worfene Fackeln, ſeinen Donner durch den Hufſchlag wil¬ der Roſſe nach, die er über eherne Brücken trieb. Men¬ ſchen ließ er niedermachen und gab vor, der Blitz habe ſie getödtet. Jupiter ſah vom Olymp herab das thörichte Beginnen. Aus dichten Wolken griff er einen ächten Blitz heraus und ſchleuderte ihn wirbelnd auf den im wahnſinnigen Uebermuthe dahinfahrenden Sterblichen her¬ unter. Der Donnerſtrahl zerſchmetterte den König und vertilgte die von ihm erbaute Stadt ſammt allen ihren Bewohnern.

[199]

Viertes Buch.

Aus der Herkulesſage.

Herkules der Neugeborne. Die Erziehung des Her¬ kules. Herkules am Scheidewege. Des Herkules erſte Thaten. Herkules im Gigantenkampfe. Her¬ kules und Euryſtheus. Die drei erſten Arbeiten des Herkules. Die vierte Arbeit bis zur ſechsten. Die ſiebente, achte, und neunte. Die drei letzten Arbei¬ ten. Herkules und Eurytus. Herkules bei Adme¬ tus. Herkules im Dienſte der Omphale. Die ſpä¬ tern Heldenthaten des Herkules. Herkules und Deï nira. Herkules und Neſſus. Herkules, Jole und Deïanira. Sein Ende.

[200][201]

Herkules der Neugeborne.

Herkules war ein Sohn Jupiters und der Alkmene; Alkmene eine Enkelin des Perſeus; der Stiefvater des Herkules hieß Amphitruo, auch er war ein Enkel des Perſeus und König von Tirynth, hatte jedoch dieſe Stadt verlaſſen, um in Theben zu wohnen. Juno, die Gemah¬ lin Jupiters, haßte ihre Nebenbuhlerin Alkmene und gönnte ihr den Sohn nicht, von deſſen Zukunft Jupiter den Göttern ſelbſt Großes verkündet hatte. Als daher Alk¬ mene den Herkules geboren, trug ſie ihn, aus Furcht vor der Göttermutter, aus dem Pallaſte und ſetzte ihn an ei¬ nem Platze aus, der noch in ſpäten Zeiten das Herkules¬ feld hieß. Hier wäre das Kind ohne Zweifel verſchmach¬ tet, wenn nicht ein wunderbarer Zufall ſeine Feindin Juno ſelbſt, von Minerva begleitet, des Weges geführt hätte. Minerva betrachtete die ſchöne Geſtalt des Kindes mit Verwunderung, erbarmte ſich ſein und bewog die Be¬ gleiterin, dem Kleinen ihre göttliche Bruſt zu reichen. Aber der Knabe ſog viel kräftiger an der Bruſt, als ſein Alter erwarten ließ; Juno empfand Schmerzen und warf das Kind unwillig wieder zu Boden. Jetzt hob Minerva daſſelbe voll Mitleid wieder auf, trug es in die nahe Stadt und brachte es der Königin Alkmene als ein armes Findelkind, das ſie aus Barmherzigkeit aufzu¬ ziehen bat. So war die leibliche Mutter, aus Angſt vor202 der Stiefmutter, bereit geweſen, die Pflicht der natürli¬ chen Liebe verläugnend, ihr Kind umkommen zu laſſen; und die Stiefmutter, die von natürlichem Haſſe gegen daſſelbe erfüllt iſt, muß, ohne es zu wiſſen, ihren Feind vom Tode erretten. Ja noch mehr. Herkules hatte nur ein paar Züge an Juno's Bruſt gethan: aber die weni¬ gen Tropfen Göttermilch hatten genügt, ihm Unſterblich¬ keit einzuflößen.

Alkmene hatte indeſſen ihr Kind auf den erſten Blick erkannt und es freudig in die Wiege gelegt. Aber auch Juno hatte erfahren, wer an ihrer Bruſt gelegen und wie leichtſinnig ſie den Augenblick der Rache vor¬ übergelaſſen habe. Sogleich ſchickte ſie zwei entſetzliche Schlangen aus, die, das Kind zu tödten beſtimmt, durch die offenen Pforten in Alkmene's Schlafgemach geſchli¬ chen kamen und, ehe die Dienerinnen des Gemaches und die ſchlummernde Mutter ſelbſt es inne wurden, ſich an der Wiege empor ringelten und den Hals des Knaben zu umſtricken anfingen. Der Knabe erwachte mit einem Schrei und richtete ſeinen Kopf auf. Das ungewohnte Halsband war ihm unbequem. Da gab er die erſte Probe ſeiner Götterkraft: er ergriff mit jeder Hand eine Schlange am Genick und erſtickte die beiden mit einem einzigen Druck. Die Wärterinnen hatten die Schlangen jetzt wohl bemerkt; aber unbezwingliche Furcht hielt ſie ferne. Alkmene war auf den Schrei ihres Kindes erwacht; mit bloßen Füßen ſprang ſie aus dem Bett und ſtürzte Hülfe rufend auf die Schlangen zu, die ſie ſchon von den Hän¬ den ihres Kindes erwürgt fand. Jetzt traten auch die Fürſten der Thebaner, durch den Hülferuf aufgeſchreckt, bewaffnet in das Schlafgemach; der König Amphitruo,203 der den Stiefſohn als ein Geſchenk Jupiters betrachtete und lieb hatte, eilte erſchrocken herbei, das bloße Schwerdt in der Hand. Da ſtand er vor der Wiege, ſah und hörte was geſchehen war; Luſt, mit Entſetzen gemiſcht, durch¬ bebte ihn über der unerhörten Kraft des kaum gebornen Sohnes. Er betrachtete die That als ein großes Wun¬ derzeichen und rief den Propheten des großen Jupiter, den Wahrſager Tireſias, herbei. Dieſer weiſſagte dem Könige, der Königin und allen Anweſenden den Lebens¬ lauf des Knaben: wie viele Ungeheuer auf Erden, wie viele Ungethüme des Meeres er hinwegräumen, wie er mit den Giganten ſelbſt im Kampfe zuſammenſtoßen und ſie beſiegen werde und wie ihn am Ende ſeines mühe¬ vollen Erdenlebens das ewige Leben bei den Göttern und Hebe, die ewige Jugend, als himmliſche Gemahlin erwarte.

Die Erziehung des Herkules.

Als Amphitruo das hohe Geſchick des Knaben aus dem Munde des Sehers vernahm, beſchloß er, ihm eine würdige Heldenerziehung zu geben, und Heroen aller Ge¬ genden verſammelten ſich, den jungen Herkules in allen Wiſſenſchaften zu unterrichten. Sein Vater ſelbſt unter¬ wies ihn in der Kunſt einen Wagen zu regieren; den Bogen ſpannen und mit Pfeilen zielen, lehrte ihn Eury¬ tus; die Künſte der Ringer und Fauſtkämpfer Harpaly¬ kus. Eumolpus lehrte ihn den Geſang und den zierlichen Schlag der Leyer; Kaſtor, der Jupiterszwilling, die Kunſt ſchwerbewaffnet und geordnet im Felde zu fechten. 204Linus aber, der greiſe Sohn Apollo's, lehrte ihn die Buch¬ ſtabenſchrift. Herkules zeigte ſich als gelehrigen Knaben; aber Härte konnte er nicht ertragen; der alte Linus war ein grämlicher Lehrer. Als er ihn einſt mit ungerechten Schlägen zurecht wies, griff der Knabe nach ſeinem Zitherſpiel und warf es dem Hofmeiſter an den Kopf, daß dieſer todt zu Boden fiel. Herkules, obgleich voll Reue, wurde dieſer Mordthat halber vor Gericht gefor¬ dert; aber der berühmte, gerechte Richter Rhadamanthys ſprach ihn frei und ſtellte das Geſetz auf, daß wenn ein Todtſchlag Folge der Selbſtvertheidigung geweſen, Blut¬ rache nicht ſtattfinde. Doch fürchtete Amphitruo, ſein überkräftiger Sohn möchte ſich wieder Aehnliches zu Schul¬ den kommen laſſen, und ſchickte ihn deswegen auf das Land zu ſeinen Ochſenheerden. Hier wuchs er auf und that ſich durch Größe und Stärke vor Allen hervor. Als ein Sohn des Zeus war er furchtbar anzuſehen. Er war vier Ellen lang, und Feuerglanz entſtrömte ſeinen Augen. Nie fehlte er im Schießen des Pfeils und im Werfen des Spießes. Als er achtzehn Jahre alt geworden, war er der ſchönſte und ſtärkſte Mann Griechenlands und es ſollte ſich jetzt entſcheiden, ob er dieſe Kraft zum Guten oder zum Schlimmen anwenden werde.

Herkules am Scheidewege.

Herkules ſelbſt begab ſich um dieſe Zeit von Hirten und Herden weg in eine einſame Gegend, und überlegte bei ſich, welche Lebensbahn er einſchlagen ſollte. Als er ſo ſinnend da ſaß, ſah er auf einmal zwei Frauen von205 hoher Geſtalt auf ſich zu kommen. Die eine zeigte in ihrem ganzen Weſen Anſtand und Adel, ihren Leib ſchmückte Reinlichkeit, ihr Blick war beſcheiden, ihre Haltung ſitt¬ ſam, fleckenlos weiß ihr Gewand. Die Andere war wohl¬ genährt und von ſchwellender Fülle, das Weiß und Roth ihrer Haut durch Schminke über die natürliche Farbe ge¬ hoben, ihre Haltung ſo, daß ſie aufrechter ſchien als von Natur, ihr Auge war weit geöffnet und ihr Anzug ſo ge¬ wählt, daß ihre Reize ſoviel möglich durchſchimmerten. Sie warf feurige Blicke auf ſich ſelbſt, ſah dann wieder um ſich: ob nicht auch andere ſie erblickten; und oft ſchaute ſie nach ihrem eigenen Schatten. Als Beide nä¬ her kamen, ging die Erſtere ruhig ihren Gang fort, die Andere aber, um ihr zuvorzukommen, lief auf den Jüng¬ ling zu und redete ihn an: Herkules! ich ſehe, daß du unſchlüſſig biſt, welchen Weg durch das Leben du einſchla¬ gen ſollſt. Willſt du nun mich zur Freundin wählen, ſo werde ich dich die angenehmſte und gemächlichſte Straße führen: keine Luſt ſollſt du ungekoſtet laſſen, jede Unan¬ nehmlichkeit ſollſt du vermeiden. Um Kriege und Ge¬ ſchäfte haſt du dich nicht zu bekümmern, darfſt nur dar¬ auf bedacht ſeyn, mit den köſtlichſten Speiſen und Ge¬ tränken dich zu laben, deine Augen, Ohren und übri¬ gen Sinne durch die angenehmſten Empfindungen zu er¬ götzen, auf einem weichen Lager zu ſchlafen und den Ge¬ nuß aller dieſer Dinge dir ohne Mühe und Arbeit zu ver¬ ſchaffen. Sollteſt du jemals um die Mittel dazu verle¬ gen ſeyn, ſo fürchte nicht, daß ich dir körperliche oder geiſtige Anſtrengungen aufbürden werde, im Gegentheil, du wirſt nur die Früchte fremden Fleißes zu genießen und nichts auszuſchlagen haben, was dir Gewinn bringen206 kann. Denn meinen Freunden gebe ich das Recht Alles zu benützen.

Als Herkules dieſe lockenden Anerbietungen hörte, ſprach er verwundert: O Weib, wie iſt denn aber dein Name? Meine Freunde, antwortete ſie, nennen mich die Glückſeligkeit; meine Feinde hingegen, die mich he¬ rabſetzen wollen, geben mir den Namen der Liederlichkeit.

Mittlerweile war auch die andre Frau herzugetre¬ ten. Auch ich, ſagte ſie, komme zu dir, lieber Herkules, denn ich kenne deine Eltern, deine Anlagen und deine Erziehung. Dieß Alles gibt mir die Hoffnung, du wür¬ deſt, wenn du meine Bahn einſchlagen wollteſt, ein Mei¬ ſter in allem Guten und Großen werden. Doch will ich dir keine Genüſſe vorſpiegeln, will dir die Sache dar¬ ſtellen, wie die Götter ſie gewollt haben. Wiſſe alſo, daß von allem was gut und wünſchenswerth iſt, die Götter den Menſchen nichts ohne Arbeit und Mühe gewähren. Wünſcheſt du, daß die Götter dir gnädig ſeyen, ſo mußt du die Götter verehren; willſt du, daß deine Freunde dich lieben, ſo mußt du deinen Freunden nützlich werden; ſtrebſt du von einem Staate geehrt zu werden, ſo mußt du ihm Dienſte leiſten; willſt du, daß ganz Griechenland dich um deiner Tugend willen bewundere, ſo mußt du Griechenlands Wohlthäter werden; willſt du erndten, ſo mußt du ſäen; willſt du kriegen und ſiegen, ſo mußt du die Kriegskunſt erlernen; willſt du deinen Körper in der Gewalt haben, ſo mußt du ihn durch Arbeit und Schweiß abhärten. Hier fiel ihr die Liederlichkeit in die Rede. Siehſt du wohl, lieber Herkules , ſprach ſie, was für ei¬ nen langen mühſeligen Weg dich dieſes Weib zur Zu¬ friedenheit führt? Ich hingegen werde dich auf dem kür¬207 zeſten und bequemſten Pfade zur Seligkeit leiten. Elende, erwiederte die Tugend, wie kannſt du etwas Gutes beſitzen? oder welches Vergnügen kennſt du, die du jeder Luſt durch Sättigung zuvorkommſt? Du ißeſt, ehe dich hungert, und trinkeſt, ehe dich dürſtet. Um die Eßluſt zu reizen, ſuchſt du Köche auf, um mit Luſt zu trinken, ſchaffſt du dir koſtbare Weine an und des Sommers gehſt du umher und ſucheſt nach Schnee; kein Bett kann dir weichlich genug ſeyn, deine Freunde läßeſt du die Nächte durchpraſſen und den beſten Theil des Tages ver¬ ſchlafen: darum hüpfen ſie auch ſorgenlos und geputzt durch die Jugend dahin, und ſchleppen ſich mühſelig und im Schmutze durch das Alter, beſchämt über das was ſie gethan, und faſt erliegend unter der Laſt deſſen, was ſie thun müſſen. Und du ſelbſt, obwohl unſterblich, biſt gleich¬ wohl von den Göttern verſtoßen und von guten Menſchen verachtet. Was dem Ohre am lieblichſten klingt, dein eigenes Lob, haſt du nie gehört; was das Auge mehr als Alles erfreut, ein eigenes gutes Werk, haſt du nie geſehen. Ich hingegen habe mit den Göttern, habe mit allen guten Menſchen Verkehr. An mir haben die Künſt¬ ler eine willkommene Gehülfin, an mir die Hausväter eine treue Wächterin, an mir hat das Geſinde einen liebreichen Beiſtand. Ich bin eine redliche Theilnehmerin an den Geſchäften des Friedens, eine zuverläßige Mit¬ kämpferin im Kriege, die treueſte Genoſſin der Freund¬ ſchaft. Speiſe, Trank und Schlaf ſchmeckt meinen Freun¬ den beſſer als den Trägen. Die Jüngeren freuen ſich des Beifalls der Alten, die Aelteren der Ehre bei den Jungen; mit Vergnügen erinnern ſie ſich an ihre frühe¬ ren Handlungen und fühlen ſich bei ihrem jetzigen Thun

208glücklich, durch mich ſind ſie geliebt von den Göttern, geliebt von den Freunden, geachtet vom Vaterland. Und kommt das Ende, ſo liegen ſie nicht ruhmlos in Vergeſſen¬ heit begraben, ſondern, gefeiert von der Nachwelt, blühen ſie fort im Angedenken aller Zeiten. Zu ſolchem Leben, Herkules, entſchließe dich, und vor dir liegt das ſeligſte Loos.

Des Herkules erſte Thaten.

Die Geſtalten waren verſchwunden und Herkules wieder allein. Er war entſchloßen, den Weg der Tugend zu gehen. Auch fand er bald Gelegenheit, etwas Gutes zu thun. Griechenland war damals noch voll von Wäl¬ dern und Sümpfen, von grimmigen Löwen, wüthenden Ebern und andern Ungeheuern durchſtreift. Das Land von dieſen Unthieren zu ſäubern und von den Räubern zu befreien, die dem Wanderer in den Einöden auflauer¬ ten, war der alten Helden größtes Verdienſt. Auch dem Herkules war dieſer Beruf angewieſen. Zu den Seinigen zurückgekehrt, hörte er, daß auf dem Berge Eithäron, an deſſen Fuße die Heerden des Königs Amphitruo weide¬ ten, ein entſetzlicher Löwe hauſe. Der junge Held war, nach den Worten, die er ſo eben gehört, bald entſchloß ſen. Er ſtieg bewaffnet hinauf ins wilde Waldgebirge, bezwang den Löwen, warf ſeine Haut um ſich und ſetzte den Rachen als Helm auf.

Während er von dieſer Jagd heimkehrte, begegneten ihm Herolde des Minyerköniges Erginus, welche einen ſchimpflichen und ungerechten Jahrestribut von den The¬209 banern in Empfang nehmen ſollten. Herkules, der ſich von der Tugend zum Anwalt aller Unterdrückten geweiht fühlte, ward mit den Boten, die ſich allerhand Mishand¬ lungen des Landes erlaubt hatten, bald fertig und ſchickte ſie, mit Stricken um den Nacken, verſtümmelt ihrem Kö¬ nige zurück. Erginus verlangte die Auslieferung des Thä¬ ters, und Kreon, der König der Thebaner, aus Furcht vor der drohenden Gewalt, war geneigt, ſeinen Willen zu thun. Da beredete Herkules eine Menge muthiger Jüng¬ linge, mit ihm dem Feinde entgegen zu gehen. Nun war aber in keinem Bürgerhauſe eine Waffe zu finden, denn die Minyer hatten die ganze Stadt entwaffnet, damit den Thebanern kein Gedanke an einen Aufſtand kommen ſollte. Da rief Minerva den Herkules in ihren Tempel und rüſtete ihn mit ihren eigenen Waffen aus, die Jüng¬ linge aber griffen zu den in den Tempeln aufgehängten Waffenrüſtungen, welche die Vorfahren erbeutet und den Göttern geweiht hatten. So ausgerüſtet zog er mit ſei¬ ner kleinen Mannſchaft den herannahenden Minyern bis zu einem Engpaſſe entgegen. Hier konnte den Feind die Größe ſeiner Kriegsmacht nichts nützen: Erginus ſelbſt fiel in der Schlacht und faſt ſein ganzes Heer wurde aufgerieben. Aber in dem Gefechte war auch Amphitruo, des Herkules Stiefvater, der wacker mit gekämpft hatte, umgekommen. Herkules rückte nach der Schlacht ſchnell gegen Orchomenos, die Hauptſtadt der Minyer, vor, drang zu den Thoren ein, verbrannte ihre Königsburg und zer¬ ſtörte die Stadt.

Ganz Griechenland bewunderte die außerordentliche That, und der Thebanerkönig Kreon, das Verdienſt des Jünglings zu ehren, gab ihm ſeine Tochter Megara zurSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 14210Ehe, die dem Helden drei Söhne gebar. Seine Mutter Alkmene aber vermählte ſich zum zweitenmale mit dem gerechten Richter Rhadamanthys. Die Götter ſelbſt be¬ ſchenkten den ſiegreichen Halbgott: Merkurius gab ihm ein Schwerdt, Apoll Pfeile, Vulkanus einen goldenen Köcher, Minerva einen Waffenrock.

Herkules im Gigantenkampfe.

Der Held fand bald eine Gelegenheit, den Göttern für ſo große Auszeichnungen einen glänzenden Dank ab¬ zuſtatten. Die Giganten, Rieſen mit ſchrecklichen Geſich¬ tern, langen Haaren und Bärten, geſchuppten Dra¬ chenſchwänzen ſtatt der Füße, Ungeheuer, welche die Gäa, oder Erde, dem Uranus, dem Himmel, geboren, wurden von ihrer Mutter gegen Jupiter, den neuen Weltbeherrſcher, aufgewiegelt, weil dieſer ihre ältern Söhne, die Titanen, in den Tartarus verſtoßen hatte. Sie brachen aus dem Erebus, (der Unterwelt) auf dem weiten Gefilde von Phlegra in Theſſalien hervor. Aus Furcht vor ihrem Anblick erblaßten die Geſtirne und Phöbus drehte den Sonnenwagen um. Gehet hin, und rächet mich und die alten Götterkinder , ſprach die Mutter Erde. An Prometheus frißt der Adler, an Ti¬ tyos zehrt der Geier, Atlas muß den Himmel tragen, die Titanen liegen in Banden. Geht, rächt, rettet ſie. Braucht meine eigenen Glieder, die Berge, zu Stufen, zu Waffen! Erſteiget die geſtirnten Burgen! Du, Ty¬ phoëus, reiß dem Gewaltherrſcher Scepter und Blitz aus der Hand; Enceladus, du bemächtige dich des Meeres211 und verjage den Neptunus! Rhökus ſoll dem Sonnen¬ gotte die Zügel entreiſſen, Porphyrion das Orakel zu Delphi erobern! Die Rieſen jubelten bei dieſen Worten auf, als hätten ſie den Sieg ſchon errungen, als ſchlepp¬ ten ſie ſchon den Neptunus oder den Mars im Triumphe daher, und zögen den Apollo am herrlichen Lockenhaar; der eine nannte ſchon Venus ſein Weib, ein andrer wollte Diana, ein dritter Minerva freien. So zogen ſie den theſſaliſchen Bergen zu, um von dort aus den Him¬ mel zu ſtürmen.

Indeſſen rief Iris, die Götterbotin, alle Himmliſchen zuſammen, alle Götter, die in Waſſer und Flüſſen woh¬ nen; ſelbſt die Manen aus der Unterwelt rief ſie herauf; Proſerpina verließ ihr ſchattiges Reich, und ihr Gemahl, der König der Schweigenden, fuhr mit ſeinen lichtſcheuen Roſſen zum ſtrahlenden Olympus empor. Wie in einer belagerten Stadt die Bewohner von allen Seiten zuſammen¬ laufen, ihre Burg zu ſchirmen, ſo kamen die vielgeſtalteten Gottheiten am Vaterheerde zuſammen. Verſammelte Göt¬ ter, redete ſie Jupiter an, ihr ſehet, wie die Mutter Erde mit einer neuen Brut ſich gegen uns verſchworen hat. Auf, und ſendet ihr ſo viele Leichen hinunter, als ſie uns Söhne herauf ſchickt! Als der Göttervater ausgeſprochen, ertönte die Wetterpoſaune vom Himmel, und Gäa drunten antwor¬ tete mit einem donnernden Erdbeben. Die Natur gerieth ln Verwirrung, wie bei der erſten Schöpfung, denn die Giganten rißen einen Berg nach dem andern aus ſeinen Wurzeln, ſchleppten den Oſſa, den Pelion, den Oeta, den Athos herbei, brachen den Rhodope mit der Hälfte des Hebrusquelles ab, und auf dieſer Leiter von Gebir¬ gen zum Götterſitz emporgeklommen, fingen ſie an, mit14 *212Feuerbränden von Eichen und ungeheuren Felſenſtücken, den Olymp zu ſtürmen.

Nun war den Göttern ein Orakelſpruch ertheilt wor¬ den, daß von den Himmliſchen Keiner der Giganten ver¬ nichtet werden könnte, und dieſe nur dann ſterben würden, wenn ein Sterblicher mitkämpfte. Gäa hatte dieß in Erfahrung gebracht, und ſuchte deßwegen nach einem Arzneimittel, das ihre Söhne, auch gegenüber von Sterblichen, unverletzlich machte. Auch war wirklich ein ſolches Kraut gewachſen: aber Jupiter kam ihr zuvor; er verbot der Morgenröthe, dem Mond und der Sonne, zu ſcheinen, und während Gäa in der Finſterniß herum¬ ſuchte, ſchnitt er die Arzneikräuter eilig ſelbſt ab, und ließ ſeinen Sohn Herkules durch Minerva zur Theilnahme am Kampfe auffordern.

Auf dem Olympus war inzwiſchen der Streit ſchon entbrannt. Mars hatte ſeinen Kriegswagen mit den wiehern¬ den Roſſen mitten in die dichteſte Schaar der heranſtürzenden Feinde gelenkt. Sein goldner Schild brannte heller, als Feuer, ſchimmernd flatterte die Mähne ſeines Helmes. Im Kampf¬ getümmel durchbohrte er den Giganten Pelorus, deſſen Füße zwei lebendige Schlangen waren. Dann fuhr er über die ſich krümmenden Glieder des Gefallenen zermalmend mit ſeinem Wagen hin; aber erſt bei des ſterblichen Her¬ kules Anblick, der eben die letzte Stufe des Olymps er¬ ſtiegen hatte, hauchte das Ungeheuer ſeine drei Seelen aus. Herkules ſah ſich auf dem Schlachtfeld um, und erkohr ſich ein Ziel ſeines Bogens: ſein Pfeilſchuß ſtreckte den Alcioneus nieder, der alsbald in die Tiefe ſtürzte, aber ſobald er ſeinen Heimathboden berührt hatte, mit erneuter Lebens¬ kraft ſich wieder erhob. Auf den Rath der Minerva ſtieg213 auch Herkules hinab, und ſchleppte ihn über die Gränze ſeines Geburtslandes hinaus; und ſo wie der Rieſe auf fremder Erde angekommen war, entfuhr ihm der Athem.

Jetzt ging der Gigant Porphyrion in drohender Stellung auf Herkules und Juno zugleich los, um ein¬ zeln mit ihnen zu kämpfen. Aber Zeus flößte ihm ſchnell ein Verlangen ein, das himmliſche Antlitz der Göttin zu ſchauen, und während er an Juno's umhüllendem Schleier zerrte, traf ihn Jupiter mit dem Donner, und Herkules tödtete ihn vollends mit ſeinem Pfeile. Bald rannte aus der Schlachtreihe der Giganten Ephialtes mit funkelnden Rieſenaugen hervor. Das ſind helle Zielſcheiben für unſre Pfeile! ſprach lachend Herkules zu dem neben ihm kämpfen¬ den Phöbus Apollo, und nun ſchoß ihm der Gott das linke, und der Halbgott das rechte Auge aus dem Kopf. Den Eurytus ſchlug Dionyſos (Bacchus) mit ſeinem Thyr¬ ſusſtabe nieder; ein Hagel glühender Eiſenſchlacken aus Vulkans Hand warf den Klytius zu Boden; auf den flie¬ henden Enceladus ſchleuderte Pallas Athene die Inſel Sicilien; der Rieſe Polybotes, von Neptunus über das Meer verfolgt, flüchtete ſich nach Kos, aber der Meer¬ gott riß ein Stück dieſer Inſel ab, und bedeckte ihn da¬ mit. Merkur, den Helm des Pluto auf dem Kopfe, erſchlug den Hippolytus, zwei Andere trafen der Parcen eherne Keulen. Die Uebrigen ſchmetterte Zeus mit ſeinem Donner nieder, und Herkules erſchoß ſie mit ſeinen Pfeilen.

Für dieſe That wurde dem Halbgott hohe Gunſt von den Himmliſchen zu Theil. Zeus nannte diejenigen unter den Göttern, welche den Kampf mit ausfechten geholfen, Olympier, um durch dieſen Ehrennamen die Tapfern von den Feigen zu unterſcheiden. Dieſer Benennung würdigte214 er nun auch zwei Söhne ſterblicher Weiber, den Dionyſos und den Herkules.

Herkules und Euryſtheus.

Jupiter, vor Herkules Geburt, hatte im Rathe der Götter erklärt, der erſte Perſeusenkel, welcher geboren werden würde, ſollte der Beherrſcher aller übrigen Nach¬ kommen des Perſeus werden. Dieſe Ehre war ſeinem und Alkmenens Sohne zugedacht. Aber Juno's Hinter¬ liſt, welche dieſes Glück dem Sohne der Nebenbuhlerin nicht gönnte, kam ihm zuvor und ließ den Euryſtheus, der auch ein Enkel des Perſeus war, obwohl er ſpäter als Herkules zur Welt kommen ſollte, früher geboren werden. Dadurch war Euryſtheus König zu Mycene im Argiverlande, und der ſpäter geborene Herkules ihm un¬ terworfen. Jener ſah mit Beſorgniß den ſteigenden Ruhm ſeines jungen Verwandten und berief ihn, als ſeinen Un¬ terthan, zu ſich, um ihm verſchiedene Arbeiten aufzutra¬ gen. Da Herkules nicht gehorchte, ſo ließ Jupiter ſelbſt, der ſeinem Rathſchluſſe nicht zuwider handeln wollte, ſeinem Sohne befehlen, dem Argiverkönige ſeine Dienſte zu widmen. Aber der Halbgott entſchloß ſich ungerne, der Diener eines Sterblichen zu ſeyn; er ging nach Delphi und befragte das Orakel darüber. Dieſes gab ihm zur Antwort: die von Euryſtheus erſchlichene Ober¬ herrſchaft ſey von den Göttern dahin gemildert, daß Her¬ kules zehn Arbeiten, welche Jener ihm auflegen würde, zu vollbringen habe. Wenn Solches geſchehen ſey, ſollte er der Unſterblichkeit theilhaftig werden.

215

Herkules fiel hierüber in tiefe Schwermuth: einem Geringeren zu dienen, widerſtrebte ſeinem Selbſtgefühl und däuchte ihm unter ſeiner Würde; aber Zeus dem Vater nicht zu gehorchen, erſchien ihm unheilbringend und unmöglich zugleich. Dieſen Augenblick erſah ſich Juno, aus deren Seele die Verdienſte des Herkules um die Göt¬ ter den Haß nicht zu tilgen vermocht hatten, und ver¬ wandelte ſeinen düſtern Unmuth in wilde Raſerei. Er kam ſo ganz von Sinnen, daß er ſeinen geliebten Vetter Jolaus ermorden wollte, und als dieſer entfloh, erſchoß er ſeine eigenen Kinder, die ihm Megara geboren hatte, im Wahne, ſein Bogen ziele nach Giganten. Es währte lange, bis er von dieſem Wahnſinne wieder frei wurde; als er zur Erkenntniß ſeines Irrthums kam, bekümmerte er ſich tief über ſein ſchweres Unglück, verſchloß ſich in ſein Haus, und vermied allen Verkehr mit den Menſchen. Als endlich die Zeit ſeinen Kummer linderte, entſchloß er ſich, die Aufträge des Euryſtheus zu übernehmen und kam zu dieſem nach Tirynth, das auch zu deſſen Königreiche gehörte.

Die drei erſten Arbeiten des Herkules.

Die erſte Arbeit, welche dieſer König ihm auferlegte, beſtand darin, daß Herkules ihm das Fell des nemäiſchen Löwen herbeibringen ſollte. Dieſes Ungeheuer hauſte auf dem Peloponnes, in den Wäldern zwiſchen Kleonä und Nemea in der Landſchaft Argolis. Der Löwe konnte mit keinen menſchlichen Waffen verwundet werden. Die Ei¬ nen ſagten, er ſey ein Sohn des Rieſen Typhon und der216 Schlange Echidna, die Andern, er ſey vom Mond auf die Erde herabgefallen. Alſo zog Herkules gegen den Löwen aus und kam auf ſeiner Fahrt nach Kleonä, wo er von einem armen Tagelöhner, Namens Molorchus, gaſt¬ freundlich aufgenommen wurde. Er traf dieſen an, wie er eben dem Jupiter ein Opferthier ſchlachten wollte. Gu¬ ter Mann, ſprach Herkules, bewahre dein Thier noch drei¬ ßig Tage am Leben: komme ich bis dahin glücklich von der Jagd zurück, ſo magſt du es Zeus dem Retter ſchlachten; erliege ich aber, ſo ſollst du es mir ſelbſt zum Todten¬ opfer bringen, als einem zur Unſterblichkeit eingegange¬ nen Helden. So zog Herkules weiter, den Köcher auf dem Rücken, den Bogen in der einen Hand, in der an¬ dern eine Keule aus dem Stamme eines wilden Oel¬ baumes, den er ſelbſt auf dem Helikon angetroffen und mit ſammt den Wurzeln ausgeriſſen hatte. Als er in den Wald von Nemea kam, ließ Herkules ſeine Augen nach allen Seiten ſchweifen, um das reißende Thier zu entdecken, ehe er von ihm erblickt würde. Es war Mit¬ tag und nirgends konnte er die Spur des Löwen bemer¬ ken, nirgends den Pfad zu ſeinem Lager erkunden, denn keinen Menſchen traf er auf dem Felde bei den Stieren oder im Walde bei den Bäumen an: Alle hielt die Furcht in ihre fernen Gehöfte verſchloſſen. Den ganzen Nachmit¬ tag durchſtreifte er den dichtbelaubten Hain, entſchloſſen, ſeine Kraft zu erproben, ſobald er des Ungeheuers anſich¬ tig würde. Endlich gegen Abend kam der Löwe auf ei¬ nem Waldwege gelaufen, um vom Fang in ſeinen Erd¬ ſpalt zurückzukehren: er war von Fleiſch und Blut ge¬ ſättigt, Kopf, Mähne und Bruſt troffen von Mord, mit der Zunge leckte er ſich das Kinn. Der Held, der ihn217 von ferne kommen ſah, rettete ſich in einen dichten Wald¬ buſch, wartete bis der Löwe näher kam und ſchoß ihm dann einen Pfeil in die Flanken zwiſchen Rippen und Hüfte. Aber das Geſchoß drang nicht ins Fleiſch, es prallte wie von einem Steine ab und flog zurück auf den mooſigen Waldboden. Das Thier hob ſeinen zur Erde gekehrten blutigen Kopf empor, ließ die Augen forſchend nach allen Seiten rollen und im aufgeſperrten Rachen die entſetzlichen Zähne ſehen. So ſtreckte es dem Halbgotte die Bruſt entgegen und dieſer ſandte ſchnell ei¬ nen zweiten Pfeil ab, um ihn mitten in den Sitz des Athems zu treffen; aber auch dießmal drang das Geſchoß nicht bis unter die Haut, ſondern prallte von der Bruſt ab und fiel zu den Füßen des Ungethüms nieder. Her¬ kules griff eben zum dritten Pfeile, als der Löwe, die Augen ſeitwärts drehend, ihn erblickte; er zog ſeinen lan¬ gen Schweif an ſich bis zu den hintern Kniekehlen, ſein ganzer Nacken ſchwoll von Zorn auf, unter Murren ſträubte ſich ſeine Mähne, ſein Rücken wurde krumm, wie ein Bogen. Er ſann auf Kampf und ging mit einem Sprung auf ſeinen Feind los: Herkules aber warf ſeine Pfeile aus der Hand und ſeine eigene Löwenhaut vom Rücken, mit der Rechten ſchwang er über dem Haupte des Thieres die Keule und verſetzte ihm einen Schlag auf den Nacken, daß er mitten im Sprunge wieder zu Bo¬ den ſtürzte und auf zitternden Füßen zu ſtehen kam, mit dem Kopfe wackelnd. Eh er wieder aufathmen konnte, kam ihm Herkules zuvor; er warf auch noch Bogen und Köcher zu Boden, um ganz ungehindert zu ſeyn, nahte dem Unthier von hinten, ſchlang die Arme um ſeinen Nacken und ſchnürte ihm die Kehle zu, bis es erſtickte,218 und ſeine grauenvolle Seele zum Hades zurückſandte. Lange verſuchte er vergebens, die Haut des Gefallenen abzuweiden, ſie wich keinem Eiſen, keinem Steine. End¬ lich kam ihm in den Sinn, ſie mit den Klauen des Thiers ſelbſt abzuziehen, was auch ſogleich gelang. Später ver¬ fertigte er ſich aus dieſem herrlichen Löwenfell einen Pan¬ zer und aus dem Rachen einen neuen Helm; für jetzt aber nahm er Kleid und Waffen, in denen er gekommen war, wieder zu ſich und machte ſich, das Fell des ne¬ meiſchen Löwen über den Arm gehängt, auf den Rückweg nach Tirynth. Als der König Euryſtheus ihn mit der Hülle des gräßlichen Thieres daherkommen ſah, gerieth er über die göttliche Kraft des Helden in ſolche Angſt, daß er in einen ehernen Topf kroch. Auch ließ er fort¬ hin den Herkules nicht mehr unter ſeine Augen kommen, ſondern ihm ſeine Befehle nur außerhalb der Mauern durch Kopreus, einen Sohn des Pelops, zufertigen.

Die zweite Arbeit des Helden war, die Hydra zu erlegen, die ebenfalls eine Tochter des Typhon und der Echidna war. Dieſe, zu Argolis, im Sumpfe von Lerna aufgewachſen, kam aufs Land heraus, zerriß die Herden und verwüſtete das Feld. Die Hyder war un¬ mäßig groß, eine Schlange mit neun Häuptern, von de¬ nen acht ſterblich, das in der Mitte ſtehende aber unſterb¬ lich war. Herkules ging auch dieſem Kampfe muthig entgegen: er beſtieg ſofort einen Wagen; ſein geliebter Neffe Iolaus, der Sohn ſeines Stiefbruders Iphikles, der lange Zeit ſein unzertrennlicher Gefährte blieb, ſetzte ſich als Roſſelenker an ſeine Seite, und ſo ging es im Fluge Lerna zu. Endlich wurde die Hyder auf einem Hügel bei den Quellen der Amymone ſichtbar, wo ſich219 ihre Höhle befand. Hier ließ Jolaus die Pferde halten; Herkules ſprang vom Wagen und zwang durch Schüſſe mit brennenden Pfeilen die vielköpfige Schlange, ihren Schlupfwinkel zu verlaſſen. Sie kam ziſchend hervor und ihre neun Hälſe ſchwankten aufgerichtet auf dem Leibe, wie die Aeſte eines Baumes im Sturm. Herkules ging unerſchrocken auf ſie zu, packte ſie kräftig und hielt ſie feſt. Sie aber umſchlang einen ſeiner Füße, ohne ſich auf weitere Gegenwehr einzulaſſen. Nun fing er an mit einem Sichelſchwerte ihr die Köpfe abzuſchlagen. Aber er konnte nicht zum Ziele kommen. War ein Haupt ab¬ geſchlagen, ſo wuchſen deren zwei hervor. Zugleich kam der Hyder ein Rieſenkrebs zu Hülfe, der den Helden empfindlich in den Fuß kneipte. Den tödtete er jedoch mit ſeiner Keule und rief dann den Jolaus zu Hülfe. Dieſer hatte ſchon eine Fackel gerüſtet, er zündete damit einen Theil des nahen Waldes an, und mit den Bränden überfuhr er die neu wachſenden Häupter der Schlange bei ihrem erſten Emporkeimen und hinderte ſie ſo, hervor¬ zutreiben. Auf dieſe Weiſe wurde der Held der empor¬ wachſenden Köpfe Meiſter und ſchlug nun der Hyder auch das unſterbliche Haupt ab; dieſes begrub er am Wege und wälzte einen ſchweren Stein darüber. Den Rumpf der Hyder ſpaltete er in zwei Theile, ſeine Pfeile aber tauchte er in ihr Blut, das giftig war. Seitdem ver¬ ſetzte des Helden Geſchoß unheilbare Wunden.

Der dritte Auftrag des Euryſtheus war, die Hirſch¬ kuh Cerynitis lebendig zu fangen; dieß war ein herrli¬ ches Thier, hatte goldene Geweihe und eherne Füße und weidete auf einem Hügel Arkadiens. Sie war eine der fünf Hindinnen geweſen, an welchen die Göttin Diana220 ihre erſte Jagdprobe abgelegt hatte. Dieſe allein von den fünfen hatte ſie wieder in die Wälder laufen laſſen, weil es vom Schickſal beſchloſſen war, daß Herkules ſich einmal daran müde jagen ſollte. Ein ganzes Jahr ver¬ folgte er ſie, kam auf dieſer Jagd zu den Hyperboreern und an die Quellen des Iſterfluſſes, und holte die Hin¬ din endlich am Fluſſe Ladon, unweit der Stadt Oenon, am artemiſiſchen Vorgebirge ein. Doch wußte er des Thieres nicht auf andere Weiſe Meiſter zu werden, als daß er es durch einen Pfeilſchuß lähmte und dann auf ſeinen Schultern durch Arkadien trug. Hier begegnete ihm die Göttin Artemis (Diana) mit Apoll, ſchalt ihn, daß er das Thier, das ihr geheiligt war, habe tödten wollen, und machte Miene ihm die Beute zu entreißen. Nicht Muthwille hat mich bewogen, große Göttin, ſprach Her¬ kules zu ſeiner Rechtfertigung, die Nothwendigkeit hat mich gezwungen ſo zu thun, wie könnte ich ſonſt vor Euryſtheus beſtehen? So beſänftigte er den Zorn der Göttin und brachte das Thier lebendig nach Mycene.

Die vierte Arbeit des Herkules bis zur ſechſten.

Sofort ging es an die vierte Unternehmung. Sie beſtand darin, den erymanthiſchen Eber, der, gleichfalls der Diana geheiligt, die Gegend des Berges Erymanthus verwüſtete, lebendig nach Mycene zu liefern. Auf ſeiner Wanderung nach dieſem Abentheuer kehrte Herkules un¬ terwegs bei Pholus, dem Sohne des Silenus, ein. Die¬ ſer, der wie alle Centauren halb Menſch halb Roß war, empfing ſeinen Gaſt ſehr freundlich und ſetzte ihm das221 Fleiſch gebraten vor, während er ſelbſt es roh verzehrte. Aber Herkules begehrte zu der feinen Mahlzeit auch ei¬ nen guten Trunk. Lieber Gaſt, ſprach Pholus, es liegt wohl ein Faß in meinem Keller, dieſes aber ge¬ hört allen Centauren gemeinſchaftlich zu, und ich trage Bedenken, es öffnen zu laſſen, weil ich weiß, wie wenig die Centauren nach Gäſten fragen. Oeffne es nur gu¬ ten Muths, erwiederte Herkules, ich verſpreche dir, dich gegen alle ihre Anfälle zu vertheidigen; mich dür¬ ſtet! Es hatte aber dieſes Faß Bacchus, der Gott des Weines, ſelbſt einem Centauren mit dem Befehle überge¬ ben, daſſelbe nicht eher zu eröffnen, als bis nach vier Menſchenaltern Herkules in dieſer Gegend einkehren würde. So ging denn Pholus in den Keller; kaum aber hatte er das Faß eröffnet, ſo rochen die Centauren den Duft des ſtarken alten Weines und umringten, haufenweiſe her¬ beiſtrömend, mit Felsſtücken und Fichtenſtämmen bewaffnet, die Höhle des Pholus. Die erſten, die es wagten einzu¬ dringen, jagte Herkules mit geſchleuderten Feuerbränden zu¬ rück; die übrigen verfolgte er mit Pfeilſchüſſen bis nach Malea, wo der gute Centaur Chiron, des Herkules alter Freund, wohnte. Zu dieſem flüchteten ſeine Stammesbrü¬ der. Aber Herkules hatte, als ſie eben mit ihm zuſam¬ mentrafen, auf ſie mit dem Bogen gezielt und ſchoß ei¬ nen Pfeil ab, der durch den Arm eines andern Centau¬ ren dringend, unglücklicherweiſe in das Knie Chirons fuhr, und dort ſtecken blieb. Jetzt erſt erkannte Herkules den Freund ſeiner früheren Tage, lief bekümmert hinzu, zog den Pfeil heraus, und legte ein Heilmittel auf, das der arzneikundige Chiron ſelbſt hergegeben hatte. Aber die Wunde, vom Gifte der Hyder durchdrungen, war unheilbar;222 Chiron ließ ſich in ſeine Höhle bringen und wünſchte hier in den Armen ſeines Freundes zu ſterben. Vergeblicher Wunſch! Der Arme hatte nicht daran gedacht, daß er zu ſeiner Qual unſterblich ſey. Herkules nahm von dem Gequälten unter vielen Thränen Abſchied und verſprach ihm, es koſte was es wolle, den Tod, den Erlöſer, zu ſenden. Wir wiſſen, daß er Wort gehalten hat. Als Herkules von der Ver¬ folgung der übrigen Centauren in ſeines Freundes Höhle zurückkehrte, fand er Pholus, ſeinen liebreichen Wirth, auch todt. Dieſer hatte aus einem Centaurenleichnam den Todespfeil gezogen; während er ſich nun wunderte, wie ein ſo kleines Ding ſo große Geſchöpfe hatte nieder¬ werfen können, entglitt das vergiftete Geſchoß ſeiner Hand, fuhr ihm in den Fuß und tödtete ihn auf der Stelle. Herkules war ſehr betrübt, er beſtattete ihn ehren¬ voll, indem er ihn unter den Berg legte, der ſeitdem Pholoë genannt ward. Dann ging er weiter, den Eber zu jagen, er trieb denſelben mit Geſchrei aus dem Dickicht des Waldes heraus, verfolgte ihn ins tiefe Schneefeld, fing hier das erſchöpfte Thier mit einem Stricke und brach¬ te es, wie ihm befohlen war, lebendig nach Mycene.

Darauf ſchickte ihn der König Euryſtheus zur fünf¬ ten Arbeit fort, die eines Helden wenig würdig war. Er ſollte den Viehhof des Augias in einem einzigen Tage aus¬ miſten. Augias war König in Elis und hatte eine Menge Viehherden. Sein Vieh ſtand nach Art der Alten in ei¬ ner großen Verzäunung vor dem Pallaſte. Dreitauſend Rinder waren da geraume Zeit geſtanden und ſo hatte ſich ſeit vielen Jahren eine unendliche Menge Miſt an¬ gehäuft, den nun Herkules zur Schmach, und, was un¬ möglich ſchien, in einem einzigen Tage hinaus ſchaffen ſollte.

223

Als der Held vor den König Augias trat, und ohne etwas von dem Auftrage des Euryſtheus zu erwähnen, ſich zu dem genannten Dienſte erbot, maß dieſer die herrliche Geſtalt in der Löwenhaut und konnte kaum das Lachen unterdrücken, wenn er dachte, daß einen ſo edlen Krieger nach ſo gemeinem Knechtsdienſte gelüſten könne. Indeſ¬ ſen dachte er bei ſich: der Eigennutz hat ſchon manchen wackern Mann verführt; es mag ſein, daß er ſich an mir bereichern will. Das wird ihm wenig helfen. Ich darf ihm immerhin einen großen Lohn verſprechen, wenn er mir den ganzen Stall ausmiſtet, denn er wird in dem einen Tage wenig genug hinaustragen. Darum ſprach er getroſt: Höre, Fremdling, wenn du das kannſt, und mir an einem Tage all den Miſt herausſchaffeſt, ſo will ich dir den zehnten Theil meines ganzen Viehſtandes zur Belohnung überlaſſen. Herkules ging die Bedingung ein, und der König dachte nun nicht anders, als daß er zu ſchaufeln anfangen würde. Herkules aber, nachdem er zuvor den Sohn des Augias, Phyleus, zum Zeugen je¬ nes Vertrages genommen hatte, riß den Grund des Vieh¬ hofs auf der einen Seite auf, leitete die nicht weit da¬ von fließenden Ströme Alphus und Penus durch einen Kanal herzu, und ließ ſie den Miſt wegſpülen und durch eine andere Oeffnung wieder ausſtrömen. So vollzog er einen ſchmachvollen Auftrag, ohne zu einer Handlung ſich zu erniedrigen, die eines Unſterblichen unwürdig geweſen wäre. Als aber Augias erfuhr, daß dieß von Herkules aus Auftrag des Euryſtheus geſchehen ſey, verweigerte er den Lohn und läugnete geradezu, ihn verſprochen zu haben; doch erklärte er ſich bereit, die Streitſache einem richter¬ lichen Spruche anheim zu ſtellen. Als die Richter bei¬224 ſammen ſaßen, das Urtheil zu fällen, trat Phyleus, von Herkules aufgefordert, auf, zeugte gegen ſeinen eigenen Vater und erklärte, daß dieſer allerdings über einen Lohn mit Herkules übereingekommen ſey. Augias wartete den Spruch nicht ab, er ergrimmte und befahl dem Sohne wie dem Fremdling, ſein Reich auf der Stelle zu verlaſſen.

Herkules kehrte nun unter neuen Abentheuern zu Euryſtheus zurück. Dieſer aber wollte die eben vollbrachte Arbeit nicht gültig ſein laſſen, weil Herkules Lohn dafür gefordert habe. Dennoch ſchickte er ihn ſogleich wieder auf ein ſechstes Abentheuer aus: und gab ihm auf, die Stymphaliden zu verjagen. Dieß waren ungeheure Raub¬ vögel, ſo groß wie Kraniche, mit eiſernen Flügeln, Schnä¬ beln und Klauen verſehen. Sie hausten um den See Stymphalis in Arkadien und beſaßen die Macht, ihre Federn wie Pfeile abzudrücken und mit ihren Schnäbeln ſelbſt eherne Panzer zu durchbrechen; dadurch richteten ſie in der Umgegend unter Menſchen und Vieh große Verwüſtungen an, und wir kennen ſie ſchon vom Ar¬ gonautenzuge her. Herkules, des Wanderns gewohnt, langte nach kurzer Reiſe bey dem See an, der, von ei¬ nem großen Gehölze dicht umſchattet, ruhte. In die¬ ſen Wald hatte ſich eben eine unermeßliche Schaar je¬ ner Vögel geflüchtet, aus Furcht, von den Wölfen ge¬ raubt zu werden. Herkules ſtand rathlos da, als er die ungeheure Menge erblickte, und nicht wußte, wie er über ſo viele Feinde Meiſter werden ſollte. Auf einmal fühlte er einen leichten Schlag auf der Schulter; hinter ſich blickend ward er Minerven's Rieſenerſcheinung gewahr, die ihm zwei mächtige eherne Klappern in die Hände gab, welche Vulkanus ihr verfertigt hatte; ſie bedeutete ihm,225 dieſe gegen die Stymphaliden anzuwenden, und verſchwand wieder. Herkules beſtieg nun eine Anhöhe in der Nähe des Sees und ſchreckte die Vögel, indem er die Klappern zuſammenſchlug. Dieſe hielten das gellende Getöſe nicht aus, ſondern flogen furchtſam aus dem Walde hervor. Darauf griff Herkules zum Bogen, legte Pfeil um Pfeil an und ſchoß ihrer viele im Fluge weg. Die andern verließen die Gegend und kamen nicht wieder.

Die ſiebente, achte und neunte Arbeit des Herkules.

Der König Minos in Kreta hatte dem Gotte Po¬ ſeidon (Neptun) verſprochen, ihm zu opfern, was zuerſt aus dem Meere auftauchen würde, denn Minos hatte be¬ hauptet, daß er kein Thier beſitze, das würdig ſey, zu einem ſo hohen Opfer zu dienen. Darum ließ der Gott einen ausnehmend ſchönen Ochſen aus dem Meere auf¬ ſteigen; den König aber verleitete die herrliche Geſtalt des Stieres, der ſich ſeinen Blicken darbot, denſelben heimlich unter ſeine Herden zu ſtecken und dem Poſeidon einen andern als Opfer unterzuſchieben. Hierüber er¬ zürnt, hatte der Merrgott zur Strafe den Stier raſend werden laſſen und dieſer richtete nun auf der Inſel Kreta große Verwüſtungen an. Dieſen Stier zu bändi¬ gen und vor Euryſtheus zu bringen, wurde dem Herkules als ſiebente Arbeit aufgetragen. Als er mit ſeinem An¬ ſinnen nach Kreta und vor Minos kam, war dieſer nicht wenig erfreut über die Ausſicht, den Verderber der In¬ ſel los zu werden, ja er half ihm ſelbſt das wüthende Thier einfangen und die Heldenkraft des Herkules bän¬Schwab, das klaſſ. Alterthum I. 15226digte den raſenden Ochſen ſo gründlich, daß, um den Stier nach dem Peloponneſe zu ſchaffen, er ſich von dem¬ ſelben auf dem ganzen Wege nach der See wie von einem Schiffe tragen ließ. Mit dieſer Arbeit war Euryſtheus zufrieden, ließ jedoch das Thier, nachdem er es eine kurze Weile mit Wohlgefallen betrachtet, ſofort wieder frei. Als der Stier nicht mehr im Banne des Herkules war, kehrte ſeine alte Raſerei zurück, er durchirrte ganz La¬ konien und Arkadien, ſtreifte über den Iſthmus nach Marathon in Attica und verheerte hier das Land wie vordem auf der Inſel Kreta. Erſt dem Theſeus gelang es ſpäter, Meiſter über ihn zu werden.

Als achte Arbeit trug nun ſein Vetter dem Herkules auf, die Stuten des Thraciers Diomedes nach Mycene zu bringen. Dieſer war ein Sohn des Mars, und Kö¬ nig der Bistonen, eines ſehr kriegeriſchen Volkes. Er be¬ ſaß Stuten, die ſo wild und ſtark waren, daß man ſie an eherne Krippen und mit eiſernen Ketten band. Ihr Futter beſtand nicht aus Haber, ſondern die Fremdlinge, welche das Unglück hatten, in die Stadt des Königes zu kommen, wurden ihnen vorgeworfen, und das Fleiſch der¬ ſelben diente den Roſſen zur Nahrung. Als Herkules ankam, war ſein Erſtes, den unmenſchlichen König ſelbſt zu faſ¬ ſen, und ihn ſeinen eigenen Stuten vorzuwerfen, nachdem er die bei den Krippen aufgeſtellten Wächter übermannt hatte. Durch dieſe Speiſe wurden die Thiere zahm, und er trieb ſie nun ans Geſtade des Meeres. Aber die Bis¬ tonen kamen unter Waffen hinter ihm her, daß Herkules ſich umwenden und gegen ſie kämpfen mußte. Er gab die Stuten ſeinem Liebling und Begleiter Abderus, dem Sohne Merkurs, zu bewachen. Als Herkules fort war,227 kam die Stuten wieder ein Gelüſte nach Menſchenfleiſch an, und Herkules fand, als er die Biſtonen in die Flucht geſchlagen hatte und zurückgekehrt war, ſeinen Freund von den Stuten zerriſſen. Er betrauerte den Ge¬ tödteten und gründete ihm zu Ehren eine Stadt ſeines Namens. Dann bändigte er die Stuten wieder, und ge¬ langte glücklich mit ihnen zu Euryſtheus. Dieſer weihte die Pferde der Juno. Ihre Nachkommenſchaft dauerte noch lange fort, ja der König Alexander von Macedo¬ nien ritt noch auf einem Abkömmling derſelben. Nachdem Herkules dieſe Arbeit ausgeführt, ſchiffte er ſich mit dem Heere des Jaſon, der das goldne Vließ holen ſollte, nach Kolchis ein, wovon wir ſchon erzählt haben.

Von langer Irrfahrt zurückgekehrt, unternahm der Held den Zug gegen die Amazonen, um das neunte Abentheuer zu beſtehen, und das Wehrgehenk der Ama¬ zone Hippolyta dem Euryſtheus zu bringen. Die Ama¬ zonen bewohnten die Gegend um den Fluß Thermodon in Pontus, und waren ein großes Frauenvolk, das einzig Männerwerk trieb. Von ihren Kindern erzogen ſie nur diejenigen, die weiblichen Geſchlechts waren. In Schaaren vereinigt, zogen ſie zu Kriegen aus. Hippolyta, ihre Königin, trug als Zeichen ihrer Herrſcherwürde den genannten Gürtel, den ſie vom Kriegsgotte ſelbſt zum Geſchenk erhalten hatte. Herkules ſammelte zu ſeinem Zuge freiwillige Kampfgenoſſen auf einem Schiffe, fuhr nach mancherlei Ereigniſſen ins ſchwarze Meer, und lief end¬ lich in die Mündung des Fluſſes Thermodon und in den Hafen der Amazonenſtadt Themiscyra ein. Hier kam ihm die Königin der Amazonen entgegen. Das herrliche An¬ ſehen des Helden flößte ihr Hochachtung ein, und als ſie15 *228die Abſicht ſeines Kommens erkundet, verſprach ſie ihm das Wehrgehenk. Aber Juno, die unverſöhnliche Feindin des Herkules, nahm die Geſtalt einer Amazone an, miſchte ſich unter die Menge der übrigen, und breitete das Gerücht aus, daß ein Fremder ihre Königin entführe. Augenblicklich ſchwangen ſich alle Männinnen zu Pferde und griffen den Halbgott in dem Lager an, das er vor der Stadt aufgeſchlagen hatte. Die gemeinen Amazonen fochten mit den Kriegern des Helden, die vornehmſten aber ſtellten ſich ihm ſelbſt gegenüber und bereiteten ihm einen ſchweren Kampf. Die erſte, die den Streit mit ihm begann, hieß, von ihrer Schnelligkeit, Aella oder Windsbraut, aber ſie fand an Herkules einen noch ſchnelleren Gegner, mußte weichen und ward auf windſchneller Flucht von ihm eingeholt und niedergemacht. Eine zweite fiel auf den erſten An¬ griff, dann Prothoe, die Dritte, die ſiebenmal im Zwei¬ kampfe geſiegt hatte. Nach ihr erlagen acht andere, darunter drei Jagdgefährtinnen der Diana, die ſonſt im¬ mer ſo ſicher mit dem Wurfſpieße getroffen hatten, nur dießmal ihr Ziel verfehlten, und vergebens unter ihren Schilden ſich deckend, den Pfeilen des Heros erlagen. Auch Alcippe fiel, die geſchworen, hatte, ihr Leben lang unvermählt zu bleiben; den Schwur hielt ſie, aber am Leben blieb ſie nicht. Nachdem auch Melanippe, die tapfere Führerin der Amazonen, gefangen war, griffen alle zur wilden Flucht, und Hippolyta, die Königin, gab das Wehr¬ gehenk heraus, wie ſie auch vor der Schlacht verſprochen hatte. Herkules nahm es als Löſegeld an, und gab Me¬ lanippe dafür frei. Auf der Rückfahrt beſtand der Held ein neues Abentheuer. Hier war Heſione, Laomedon's Tochter, an einen Felſen gebunden und einem Unge¬229 heuer zum Fraß ausgeſetzt. Ihrem Vater hatte Neptun die Mauern von Troja erbaut und den Lohn nicht erhal¬ ten; dafür verwüſtete ein Seeunthier Trojas Gebiet ſo lange, bis der verzweifelnde Laomedon ihm ſeine eigene Tochter preisgab. Als Herkules vorüberfuhr, rief ihn der jammernde Vater zu Hülfe, und verſprach ihm, für die Rettung der Tochter die herrlichen Roſſe zu geben, die ſein Vater von Jupiter zum Geſchenke bekommen hatte. Herkules legte an, und erwartete das Ungethüm. Als es kam und den Rachen aufſperrte, die Jungfrau zu verſchlingen, ſprang er in den Rachen des Thieres, zer¬ ſchnitt ihm alle Eingeweide, und ſtieg aus dem Getödteten, wie aus einer Mördergrube, wieder hervor. Aber Lao¬ medon hielt auch dießmal ſein Wort nicht, und Herkules fuhr unter Drohungen davon.

Die drei letzten Arbeiten des Herkules.

Als der Held das Wehrgehenk der Königin Hippo¬ lyta zu Euryſtheus Füßen niedergelegt hatte, gönnte dieſer ihm keine Raſt, ſondern ſchickte ihn ſogleich wieder aus, die Rinder des Rieſen Geryones herbeizuſchaffen. Dieſer beſaß auf der Inſel Erythia, im Meerbuſen von Gadira (Cadix), eine Herde ſchöner braunrother Rinder, die ein andrer Rieſe und ein zweiköpfiger Hund ihm hüteten. Geryones ſelbſt war ungeheuer groß, hatte drei Leiber, drei Köpfe, ſechs Arme und ſechs Füße. Kein Erden¬ ſohn hatte ſich je an ihn gewagt; Herkules ſah wohl, wie viele Vorbereitungen dieſes beſchwerliche Unternehmen erforderte. Es war weltbekannt, daß des Geryones Va¬230 ter, Chryſaor, der den Namen Goldſchwert von ſeinem Reichthum hatte, König von ganz Iberien (Spanien) war, daß außer Geryones noch drei tapfere und rieſige Söhne für ihn ſtritten, und jeder Sohn ein zahlreiches Heer von ſtreitbaren Männern unter ſeinem Befehle hatte. Eben darum hatte Euryſtheus dem Herkules jene Arbeit aufgetragen, denn er hoffte, auf einem Kriegszug in ein ſolches Land werde er ſein verhaßtes Leben doch endlich laſſen müſſen. Doch Herkules ging den Gefahren nicht erſchrockener entgegen, als allen ſeinen frühern Thaten. Er ſammelte ſeine Heere auf der Inſel Kreta, die er von wilden Thieren befreit hatte, und landete zuerſt in Libyen. Hier rang er mit dem Rieſen Antäus, der neue Kräfte erhielt, ſo oft er die Erde berührte; aber Herkules hielt ihn in die freie Luft empor und drückte ihn da zu Tode. Auch reinigte er Libyen von den Raubthieren; denn er haßte wilde Thiere und ruchloſe Menſchen, weil er in ihnen allen das Bild des übermüthigen und ungerechten Herrſchers erblickte, dem er ſo lange dienſtbar geweſen war.

Nach einer langen Wandrung durch waſſerloſe Gegenden kam er endlich in ein fruchtbares, von Flüſſen durchſtröm¬ tes Gebiet. Hier gründete er eine Stadt von ungeheurer Größe, und nannte ſie Hekatompylos (Hundertthor). Zuletzt gelangte er an den atlantiſchen Ocean, gegenüber von Gadira; hier pflanzte er die beiden berühmten Her¬ kulesſäulen auf. Die Sonne brannte entſetzlich, Herku¬ les ertrug es nicht länger, er richtete ſeine Augen nach dem Himmel, und drohte mit aufgehobenem Bogen, den Sonnengott niederzuſchießen. Dieſer bewunderte ſeinen231 Muth, und lieh ihm, um weiter zu kommen, die goldne Schale, in welcher der Sonnengott ſelbſt ſeinen nächtli¬ chen Weg vom Niedergange bis zum Aufgange zurück¬ legt. Auf dieſer fuhr Herkules mit ſeiner nebenher ſe¬ gelnden Flotte nach Iberien hinüber. Hier fand er die drei Söhne des Chryſaor mit drei großen Heeren, einen nicht weit vom andern gelagert, er aber erlegte die An¬ führer alle im Zweikampfe und eroberte das Land. Dann kam er nach der Inſel Erythia, wo Geryones mit ſeinen Herden hauste. Sobald der doppelköpfige Hund ſeine Ankunft inne wurde, fuhr er auf ihn los: allein Herkules empfing ihn mit dem Knüttel, erſchlug ihn und tödtete auch den rieſigen Rinderhirten, der dem Hunde zu Hülfe gekommen war. Dann eilte er mit den Rindern davon, aber Geryones holte ihn ein und es kam zu einem ſchwe¬ ren Kampfe. Juno ſelbſt erſchien, dem Rieſen beizuſte¬ hen; doch Herkules ſchoß ihr einen Pfeil in die Bruſt, daß die Göttin verwundet entfliehen mußte. Auch der dreifache Leib des Rieſen, der in der Gegend des Ma¬ gens zuſammenlief, fing hier den tödtlichen Pfeil auf und mußte erliegen. Unter glorreichen Thaten vollbrachte Herkules ſeinen Rückweg, indem er zu Lande die Rinder durch Iberien und Italien trieb. Bei Rhegium in Un¬ teritalien entlief ihm einer ſeiner Ochſen, ſetzte über die Meerenge und entkam ſo nach Sicilien. Sogleich trieb er auch die andern Ochſen ins Waſſer und ſchwamm, indem er einen Stier am Horne faßte, glücklich nach Si¬ cilien hinüber. Unter mancherlei Thaten kam der Held nun glücklich über Italien, Illyrien und Thracien nach Griechenland zurück und in dem Iſthmus an.

Jetzt hatte Herkules zehn Arbeiten vollbracht, weil232 aber Euryſtheus zwei nicht gelten ließ, ſo mußte er ſich bequemen, noch zwei weitere zu verrichten.

Einſt, bei der feierlichen Vermählung Jupiters mit Juno, als alle Götter dem erhabenen Paar ihre Hochzeitgeſchenke darbrachten, wollte auch Gäa, die Erde, nicht zurückbleiben; ſie ließ am Weſtgeſtade des großen Weltmeeres einen äſtereichen Baum voll goldener Aepfel hervorwachſen. Vier Jungfrauen, Heſperiden genannt, Töchter der Nacht, waren die Wächterinnen dieſes heili¬ gen Gartens, den außerdem noch ein hundertköpfiger Drache bewachte, Ladon, ein Sprößling des Phorkys, des berühmten Vaters ſo vieler Ungeheuer, und der erd¬ geborenen Ceto. Kein Schlaf kam je über die Augen dieſes Drachen, und ein fürchterliches Geziſch verkündete ſeine Nähe, denn jede ſeiner hundert Kehlen ließ eine andere Stimme hören. Dieſem Ungeheuer, ſo lautete der Befehl des Euryſtheus, ſollte Herkules die goldenen Aepfel der Heſperiden entreißen. Der Halbgott machte ſich auf den langen und abentheuervollen Weg, auf welchem er ſich dem blinden Zufall überließ, denn er wußte nicht, wo die Heſperiden wohnen. Zuerſt gelangte er nach Theſſalien, wo der Rieſe Termerus hauste, der alle Reiſenden, denen er begegnete, mit ſeinem harten Hirn¬ kaſten zu Tode rannte. Aber an des göttlichen Herkules Schädel zerſplitterte das Haupt des Rieſen. Weiter vor¬ wärts, am Fluſſe Echedorus, kam dem Helden ein an¬ deres Ungethüm in den Weg, Cycnus, der Sohn des Mars und der Pyrene. Dieſer, von dem Halbgotte nach den Gärten der Heſperiden befragt, forderte ſtatt aller Antwort den Wanderer zum Zweikampf heraus, und wurde von Herkules erſchlagen. Da erſchien Mars, der Gott233 ſelbſt, den getödteten Sohn zu rächen, und Herkules ſah ſich gezwungen, mit ihm zu kämpfen. Aber Jupiter wollte nicht, daß ſeine Söhne Bruderblut vergößen, und ein plötzlich mitten zwiſchen beide geſchleuderter Blitz trennte die Kämpfer. Herkules ſchritt nun weiter durchs illyri¬ ſche Land, eilte über den Fluß Eridanus und kam zu den Nymphen des Zeus und der Themis, die an den Ufern dieſes Stromes wohnten. Auch an ſie richtete der Held ſeine Frage. Geh zu dem alten Stromgotte Nereus, war ihre Antwort, der iſt ein Wahrſager und weiß alle Dinge. Ueberfall 'ihn im Schlafe und binde ihn, ſo wird er gezwungen den rechten Weg dir angeben. Herkules befolgte dieſen Rath, und bemeiſterte ſich des Flußgottes, obgleich dieſer nach ſeiner Gewohnheit ſich in allerlei Ge¬ ſtalten verwandelte. Er ließ ihn nicht eher los, bis er erkundet hatte, in welcher Weltgegend er die goldenen Aepfel der Heſperiden antreffen werde. Hierüber belehrt durchzog er weiter Libyen und Aegypten. Ueber das letztere Land herrſchte Buſiris, der Sohn des Neptunus und der Lyſianaſſa. Ihm war bei einer neunjährigen Theurung durch einen Wahrſager aus Cypern das grau¬ ſame Orakel geworden, daß die Unfruchtbarkeit aufhören ſollte, wenn dem Zeus jährlich ein fremder Mann ge¬ ſchlachtet würde. Zum Danke machte Buſiris den An¬ fang mit dem Wahrſager ſelbſt; allmählig fand der Bar¬ bar ein Gefallen an dieſer Gewohnheit und ſchlachtete alle Fremdlinge, welche nach Aegypten kamen. So wurde denn auch Herkules ergriffen und zu den Altären Jupi¬ ters geſchleppt. Er aber riß die Bande, die ihn feſſel¬ ten, entzwei, und erſchlug den Buſiris mit ſamt ſeinem Sohn und dem prieſterlichen Herold. Unter mancherlei234 Abentheuern zog der Held weiter, befreite, wie ſchon er¬ zählt worden iſt, den an den Caucaſus geſchmiedeten Ti¬ tanen Prometheus, und gelangte endlich, nach der An¬ weiſung des Befreiten, in das Land, wo Atlas die Laſt des Himmels trug, und in deſſen Nähe der Baum mit den goldenen Aepfeln von den Heſperiden gehütet wurde. Prometheus hatte dem Halbgotte gerathen, ſich nicht ſelbſt dem Raube der goldenen Früchte zu unterziehen, ſondern den Atlas auf dieſen Fang auszuſenden. Er ſelbſt erbot ſich dafür dieſem, ſo lange das Tragen des Himmels über ſich zu nehmen. Atlas bezeigte ſich willig und Her¬ kules ſtemmte die mächtigen Schultern dem Himmelsge¬ wölbe unter. Jener dagegen machte ſich auf, ſchläferte den um den Baum ſich ringelnden Drachen ein, oder tödtete ihn, überliſtete die Hüterinnen und kam mit drei Aepfeln, die er gepflückt, glücklich zu Herkules. Aber, ſprach er, meine Schultern haben nun einmal empfunden, wie es ſchmeckt, wenn der eherne Himmel nicht auf ih¬ nen laſtet. Ich mag ihn fürder nicht wieder tragen. So warf er die Aepfel vor dem Halbgott auf den Ra¬ ſen und ließ dieſen mit der ungewohnten, unerträglichen Laſt ſtehen. Herkules mußte auf eine Liſt ſinnen, um los zu kommen. Laß mich, ſprach er zu dem Himmels¬ träger, nur einen Bauſch von Stricken um den Kopf winden, damit mir die entſetzliche Laſt nicht das Gehirn zerſprengt. Atlas fand die Forderung billig und ſtellte ſich, nach ſeiner Meinung auf wenige Augenblicke, dem Himmel wieder unter. Aber er konnte lange warten, bis Herkules ihn wieder ablöſte, und der Betrüger wurde zum Betrogenen. Denn jener hatte nicht ſo bald die Aepfel vom Raſen aufgeleſen, als er mit den goldenen235 Früchten ſich aus dem Staube machte. Er brachte dieſe dem Euryſtheus, der ſie, da ſein Zweck, den Herkules aus dem Wege zu räumen, doch nicht erreicht war, dem Helden wieder als Geſchenk zurück gab. Der legte ſie auf dem Altare Minervens nieder; die Göttin aber wu߬ te, daß es der heiligen Beſtimmung dieſer göttlichen Früchte zuwider war, irgendwo anders niedergelegt zu werden, und ſo trug ſie die Aepfel wieder in den Gar¬ ten der Heſperiden zurück.

Statt den verhaßten Nebenbuhler zu vernichten, hat¬ ten die bisher ihm von Euryſtheus aufgetragenen Arbei¬ ten den Herkules nur in dem Berufe verherrlicht, der ihm vom Schickſal angewieſen war: ſie hatten ihn als Vertilger jeder Unmenſchlichkeit auf Erden, als den ächt Menſchlichen Wohlthäter der Sterblichen dargeſtellt. Das letzte Abentheuer aber ſollte er in einer Region beſtehen, wohin ihn ſo hoffte der argliſtige König ſeine Heldenkraft nicht begleiten würde; ein Kampf mit den finſtern Mächten der Unterwelt ſtand ihm bevor: er ſollte Cerberus, den Höllenhund, aus dem Hades heraufbrin¬ gen. Dieß Unthier hatte drei Hundsköpfe mit gräßlichen Rachen, aus denen unaufhörlich giftiger Geifer träufte, ein Drachenſchwanz hing ihm vom Leibe herunter und das Haar der Köpfe und des Rückens bildeten ziſchende geringelte Schlangen. Sich für dieſe Grauſen erregende Fahrt zu befähigen, ging Herkules in die Stadt Eleuſis im attiſchen Gebiete, wo eine Geheimlehre über göttliche Dinge der Ober - und Unterwelt von kundigen Prie¬ ſtern gehegt wurde, und ließ ſich von dem Prieſter Eu¬ molpus in die dortigen Geheimniſſe einweihen, nachdem er an heiliger Stätte vom Morde der Centauren entſündigt236 worden war. So mit geheimer Kraft, den Schrecken der Unterwelt zu begegnen, ausgerüſtet, wanderte er in den Peloponnes und nach der Lakoniſchen Stadt Tänarus, wo ſich die Mündung der Unterwelt befand. Hier ſtieg er, von Merkur, dem Begleiter der Seelen, geleitet, die tiefe Erdkluft hinab, und kam zur Unterwelt vor die Stadt des Königes Pluto. Die Schatten, die vor den Thoren der Hadesſtadt traurig luſtwandelten denn in der Unterwelt iſt kein heiteres Leben wie im Sonnenlichte, ergriffen die Flucht, als ſie Fleiſch und Blut in le¬ bendiger Menſchengeſtalt erblickten; nur die Gorgone Meduſa und der Geiſt Meleagers hielten Stand. Nach jener wollte Herkules einen Schwertſtreich führen, aber Merkur fiel ihm in den Arm und belehrte ihn, daß die Seelen der Abgeſchiedenen leere Schattenbilder und vom Schwerte nicht verwundbar ſeyen. Mit der Seele Me¬ leagers dagegen unterhielt ſich der Halbgott freundlich, und empfing von ihm ſehnſüchtige Grüſſe für die Ober¬ welt an ſeine geliebte Schweſter Deïanira. Ganz nahe zu den Pforten des Hades gekommen, erblickte er ſeine Freunde Theſeus und Pirithous; der letzte hatte ſich in der Unterwelt, vom andern begleitet, als Freier der Per¬ ſephone eingefunden und beide waren wegen dieſes fre¬ chen Unterfangens von Pluto an den Stein, auf den die Ermüdeten ſich niedergelaſſen hatten, gefeſſelt worden. Als beide den befreundeten Halbgott erblickten, ſtreckten ſie flehend die Hände nach ihm aus, und zitterten vor Hoffnung, durch ſeine Kraft die Oberwelt wieder erklim¬ men zu können. Den Theſeus ergriff auch Herkules wirklich bei der Hand, befreite ihn von ſeinen Banden, und richtete ihn vom Boden, an den er gefeſſelt gelegen237 hatte, wieder auf. Ein zweiter Verſuch, auch den Piri¬ thous zu befreien, mißlang, denn die Erde fing an, ihm unter den Füßen zu beben. Vorſchreitend erkannte Her¬ kules auch den Aſkalephus, der einſt verrathen hatte, daß Proſerpina von den Rückkehr verwehrenden Granat¬ äpfeln des Hades gegeſſen; er wälzte den Stein ab, den Ceres in Verzweiflung über den Verluſt ihrer Tochter auf ihn gewälzt hatte. Dann fiel er unter die Herden des Pluto und ſchlachtete eines der Rinder, um die See¬ len mit Blute zu tränken; dieß wollte der Hirte dieſer Rinder, Menötius, nicht geſtatten und forderte deßwegen den Helden zum Ringkampfe auf. Herkules aber faßte ihn mitten um den Leib, zerbrach ihm die Rippen und gab ihn nur auf Bitten der Unterweltsfürſtin Proſerpina (Perſephone) ſelbſt wieder frei. Am Thore der Todten¬ ſtadt ſtand der König Pluto und verwehrte ihm den Ein¬ tritt. Aber das Pfeilgeſchoß des Heroen durchbohrte den Gott an der Schulter, daß er Qualen der Sterblichen empfand, und, als der Halbgott nun beſcheidentlich um Entführung des Höllenhundes bat, ſich nicht länger wi¬ derſetzte. Doch forderte er als Bedingung, daß Herkules deſſelben mächtig werden ſollte, ohne die Waffen zu ge¬ brauchen, die er bei ſich führe. So ging der Held, ein¬ zig mit ſeinem Bruſtharniſche bedeckt und mit der Löwen¬ haut umhangen, aus, das Unthier zu fahen. Er fand ihn an der Mündung des Acheron hingekauert, und ohne auf das Bellen des Dreikopfs zu achten, das wie ein ſich in Widerhallen vervielfältigender, dumpfer Donner tönte, nahm er die Köpfe zwiſchen die Beine, umſchlang den Hals mit den Armen und ließ ihn nicht los, obgleich der Schwanz des Thieres, der ein lebendiger Drache war,238 ſich vorwärts bäumte, und der Drache ihn in die Weiche biß. Er hielt den Nacken des Ungethümes feſt und ſchnürte ihn ſo lange zu, bis er über das ungebärdige Thier Meiſter ward, da er es dann aufhob und durch eine an¬ dere Mündung des Hades bei Trözen im Argoliſchen Lande glücklich wieder zur Oberwelt auftauchte. Als der Höllenhund das Tageslicht erblickte, entſetzte er ſich und fing an den Geifer von ſich zu ſpeien; davon wuchs der giftige Eiſenhut aus dem Boden hervor. Herkules brachte das Ungeheuer in Feſſeln ſofort nach Tiryns und hielt es dem ſtaunenden Euryſtheus, der ſeinen eigenen Augen nicht traute, entgegen. Jetzt verzweifelte der Kö¬ nig daran, jemals des verhaßten Jupiterſohnes los zu werden, ergab ſich in ſein Schickſal und entließ den Hel¬ den, der den Höllenhund ſeinem Eigenthümer zurück in die Unterwelt brachte.

Herkules und Eurytus.

Herkules, nach allen dieſen Mühſalen endlich vom Dienſte des Euryſtheus befreit, kehrte nach Theben zu¬ rück. Mit ſeiner Gemahlin Megara, der er im Wahn¬ ſinne die Kinder umgebracht hatte, konnte er nicht mehr leben, er trat ſie daher mit ihrem Willen ſeinem geliebten Vetter Jolaus zur Gattin ab, und dachte ſelbſt auf eine neue Vermählung. Seine Neigung wandte ſich der ſchönen Jole zu, der Tochter des Königes Eurytus zu Oechalia, auf der Inſel Euböa, der den Herkules einſt als Knaben in der Kunſt des Bogenſchießens unterrichtet hatte. Dieſer König hatte ſeine Tochter dem Wettkämpfer verſprochen, der239 ihn und ſeine Söhne im Bogenſchießen übertreffen wür¬ de. Auf dieſe Bekanntmachung eilte Herkules nach Oe¬ chalia, und trat unter der Schaar der Bewerber auf. Er bewies in dieſem Wettkampfe, daß er kein un¬ würdiger Schüler des alten Eurytus geweſen: denn er beſiegte ihn und ſeine Söhne. Der König hielt ſeinen Gaſt in allen Ehren; im Herzen aber erſchrak er ge¬ waltig über deſſen Sieg, denn er mußte an das Schickſal der Megara denken, und fürchtete für ſeine Tochter ein gleiches Loos. Er erklärte daher auf die Anfrage des Helden, ſich wegen der Heirath noch längere Zeit bedenken zu wollen. Inzwiſchen war der älteſte Sohn des Eury¬ tus, Iphitus, ein Altersgenoſſe des Herkules, der eine neidloſe Freude über die Stärke und Heldenherrlichkeit ſeines Gaſtes empfand, ſein inniger Freund geworden, und wandte alle Künſte der Ueberredung an, um ſeinen Vater dem edlen Fremdling geneigter zu machen. Eury¬ tus aber beharrte auf ſeiner Weigerung. Gekränkt ver¬ ließ Herkules das Königshaus, und irrte lang in der Fremde umher. Was ihm hier bei dem Könige Admetus be¬ gegnet, ſoll der nächſte Abſchnitt erzählen. Mittlerweile kam ein Bote vor den König Eurytus, und meldete, daß ein Räuber unter die Rinderherde des Königes gefallen ſey. Es hatte dieß der liſtige und betrügeriſche Autoly¬ kus verübt, deſſen Diebereien weit und breit bekannt wa¬ ren. Der erbitterte König aber ſprach: dieß hat kein Anderer gethan, als Herkules; ſolche unedle Rache nimmt er, weil ich ihm, dem Mörder ſeiner Kinder, die Tochter verſagt habe! Iphitus vertheidigte ſeinen Freund mit warmen Worten und erbot ſich, ſelbſt zu Herkules zu gehen und mit ihm die geſtohlenen Rinder aufzuſuchen.

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Dieſer nahm den Königsſohn gaſtfreundlich auf und zeigte ſich bereitwillig, den Zug mit ihm zu übernehmen. In¬ deſſen kehrten ſie unverrichteter Dinge zurück, und als ſie die Mauern von Tiryns beſtiegen hatten, um mit den Blicken die Gegend durchſchweifen und die geſtohlenen Rinder irgendwo entdecken zu können, ſiehe, da bemäch¬ tigte ſich der unſelige Wahnſinn auf einmal wieder des Heldengeiſtes; Herkules, von Juno's Zorn getrieben, hielt ſeinen treuen Freund Iphitus für einen Mitver¬ ſchworenen des Vaters, und ſtürzte ihn über die hohen Stadtmauern von Tiryns herab.

Herkules bei Admetus.

Zu der Zeit, als der Held, aus dem Hauſe des Kö¬ nigs von Dechalia mit Unwillen entwichen, in der Irre umherſtreifte, hat ſich folgendes begeben. Zu Pherä in Theſſalien lebte der edle König Admetus mit ſeiner jun¬ gen und ſchönen Gemahlin Alceſtis, die ihren Gatten über Alles liebte, von blühenden Kindern umringt, von glücklichen Unterthanen geliebt. In früherer Zeit, als Apollo, der die Cyklopen getödtet hatte, aus dem Olymp entflohen war und ſich gezwungen ſah, einem Sterblichen dienſtbar zu werden, hatte ihn Admetus, der Sohn des Feres, liebreich aufgenommen, und er weidete ihm als Sklave ſeine Rinder. Seitdem ſtand er unter dem wirk¬ ſamen Schutze des ſpäter von ſeinem Vater Jupiter wie¬ der zu Gnaden angenommenen Gottes. Als nun die Lebenszeit des Königs Admetus verſtrichen und vom Schickſal ihm der Tod zuerkannt war, da wirkte ſein241 Freund Apollo, dem dieß als einem Gotte bewußt, bei den Schickſalsgöttinnen aus, daß ſie ihm gelobten, Ad¬ metus ſolle dem Hades, der ihn bedrohte, entfliehen, wenn ein anderer Menſch für ihn ſterben und in das Todtenreich hinabſteigen wollte. Apollo verließ daher den Olymp und kam nach Pherä zu ſeinem alten Gaſt¬ freunde, ihm und den Seinigen die Botſchaft von dem Tode, den das Geſchick über ihn beſchloſſen, zu überbrin¬ gen, zugleich aber ihm das Mittel anzugeben, wodurch er ſeinem Schickſal zu entrinnen vermöge. Admetus war ein redlicher Mann, aber er liebte das Leben und auch alle die Seinigen ſammt ſeinen Unterthanen erſchracken, daß dem Hauſe die Stütze, der Gattin und den Kindern Gatte und Va¬ ter, dem Volke ein milder Herrſcher geraubt werden ſollte. Deßwegen ging Admetus umher, und forſchte, wo er einen Freund fände, der für ihn ſterben wollte. Aber da war nicht Einer, der dazu Luſt gehabt hätte, und ſo ſehr ſie vorher den Verluſt, der ihnen bevorſtände, bejammert hatten, ſo kalt wurde ihr Sinn, als ſie von ihm hörten, unter wel¬ cher Bedingung ihm das Leben erhalten werden könnte. Selbſt der greiſe Vater des Königes, Pheres, und die gleichfalls hochbetagte Mutter, die den Tod jede Stunde vor ſich ſahen, wollten das wenige Leben, das ſie noch zu hoffen hatten, nicht für den Sohn dahingeben. Nur Alceſtis, ſeine blühende, lebensvolle Gattin, die glückliche Mutter hoffnungsvoll heranblühender Kinder, war von ſo rei¬ ner und aufopfernder Liebe zu dem Gemahl beſeelt, daß ſie ſich bereit erklärte, dem Sonnenlichte für ihn zu ent¬ ſagen. Kaum war dieſe Erklärung aus ihrem Munde gegangen, als auch ſchon der ſchwarze Prieſter der Tod¬ ten, Thanatos (der Tod), den Thoren des Pallaſtes nahte,Schwab, das klass. Alterthum. I. 16242ſein Opfer ins Schattenreich hinabzuführen. Denn er wußte Tag und Stunde genau, an welchem dem Adme¬ tus vom Schickſale beſtimmt geweſen war, zu ſterben. Als Apollo den Tod herankommen ſah, verließ er ſchnell den Königspallaſt, um, der Gott des Lebens, von ſeiner Nähe nicht entheiligt zu werden. Die fromme Alceſtis aber, als ſie den entſcheidenden Tag ſich nahen ſah, reinigte ſich, als Opfer des Todes, in flieſſendem Waſſer, nahm feſt¬ liches Gewand und Geſchmeide aus dem Schranke von Zedernholz und nachdem ſie ſo ſich ganz würdevoll ge¬ ſchmückt, betete ſie vor ihrem Hausaltare zur Göttin der Unterwelt. Dann umſchlang ſie Kinder und Gemahl, und trat endlich, von Tag zu Tage mehr abgezehrt, zur beſtimmten Stunde von ihren Dienerinnen umringt an der Seite ihres Gatten und ihrer Kinder in das Gemach, wo ſie den Boten der Unterwelt empfangen wollte. Hier ſchickte ſie ſich zum feierlichen Abſchiede von den Ihrigen an. Laß mich zu dir reden, was mein Herz begehrt, ſprach ſie zu ihrem Gemahle. Weil dein Leben mir theurer iſt, als das meinige, ſterbe ich für dich jetzt, wo mir das Sterben noch nicht drohte, wo ich, einen edlen Theſſalier zum zweiten Gemahle wählend, im beglückten Fürſten¬ hauſe hätte wohnen können. Aber ich wollte nicht leben, deiner beraubt, die verwaiſten Kinder anſchauend. Dein Vater und deine Mutter haben dich verrathen, da doch ihnen Sterben rühmlicher geweſen wäre; denn dann wä¬ reſt du nicht einſam geworden, und hätteſt keine Waiſen aufzuziehen gehabt. Doch, da es die Götter einmal ſo gefügt haben, ſo bitte ich dich nur, meiner Wohlthat ein¬ gedenk zu ſeyn, und den Kleinen, die du nicht weniger liebeſt als ich, die ich ſie verlaſſen muß, kein anderes243 Weib als Mutter zuzuführen, das, von Neid gequält, ſie ſelber plagen könnte. Denn oft ſind Drachen ſanftmüthi¬ ger als Stiefmütter. Unter Thränen ſchwur ihr der Gemahl, daß wie ſie im Leben die ſeine geweſen, ſo auch im Tode nur ſie ihm Gattin heißen ſolle. Dann über¬ gab ihm Alceſtis die wehklagenden Kinder, und ſank ohn¬ mächtig nieder.

Unter den Vorbereitungen zur Beſtattung geſchah es nun, daß der umherirrende Herkules nach Pherä und vor die Thore des Königspallaſtes kam. Eingelaſſen ge¬ rieth er in eine Unterredung mit den Dienern des Hau¬ ſes, und zufällig kam Admetus ſelbſt dazu. Dieſer nahm ſeinen Gaſt, den eigenen Kummer unterdrückend, mit großer Herzlichkeit auf, und als Herkules, durch den An¬ blick ſeiner Trauerkleider betroffen, ihn um ſeinen Verluſt befragte, erwiederte er, um den Gaſt nicht zu betrüben oder gar zu verſcheuchen, auf eine ſo verdeckte Weiſe, daß Herkules der Meinung war, es ſey eine ferne Anver¬ wandte des Admetus, die zu Beſuche bei dem Könige war, geſtorben. Er blieb daher fröhlichen Sinnes, ließ ſich von einem Sklaven in das Gaſtgemach geleiten, und hier Wein vorſetzen. Als ihm die Traurigkeit des Die¬ ners auffiel, ſchalt er dieſen um ſein übermäßiges Leid. Was ſiehſt du mich ſo ernſt und feierlich an? ſprach er. Ein Diener muß gefällig gegen Fremdlinge ſeyn! Was iſts auch, wenn eine Fremde in eurem Hauſe geſtorben iſt; weißt du denn nicht, daß dieß das allgemeine Loos der Menſchen iſt? Den Trübſeligen iſt das Leben eine Qual; geh, bekränze dich, wie du mich ſiehſt und trinke mit mir! Ich weiß, gewiß, ein überwallender Becher wird bald alle Runzeln deiner Stirne vertreiben. Aber der Diener wandte ſich16 *244mit Grauen ab. Uns traf ein Geſchick, ſprach er, dem nicht Lachen und Schmauſen ziemt. Fürwahr, der Sohn des Pheres iſt nur allzu gaſtfreundlich, daß er in ſo tie¬ fer Trauer einen ſo leichtſinnigen Gaſt aufgenommen hat! Soll ich nicht fröhlich ſeyn, erwiederte Herku¬ les verdrießlich, weil eine fremde Frau geſtorben iſt? Eine fremde Frau! rief der Diener verwundert. Dir mochte ſie fremd ſeyn; uns war ſie es nicht! So hat mir Admetus ſeinen Unfall nicht recht berichtet, ſagte Herkules ſtutzend. Aber der Sklave ſprach: Nun ſey du immerhin fröhlich; der Gebieter Weh geht ja nur ihre Freunde und Diener an! Aber Herkules hatte keine Ruhe mehr, bis er die Wahrheit erfahren hatte. Iſt's möglich? rief er. Eines ſo herrlichen Weibes ward er beraubt, und dennoch hat er den Fremdling ſo gaſtlich aufgenommen? Trat ich doch mit geheimem Widerwillen zum Thore hinein, und nun hab 'ich hier im Trauerhauſe das Haupt mit Kränzen geſchmückt, gejubelt und getrun¬ ken! Aber ſage mir, wo liegt das fromme Weib beſtat¬ tet? Wenn du den geraden Weg gehſt, der nach Lariſſa führt, antwortete der Sklave, ſo ſiehst du das ſchmucke Todtenmaal, das ihr ſchon aufgerichtet iſt. Mit dieſen Worten verließ der Diener weinend den Fremdling.

Alleingelaſſen brach Herkules in keine Klagen aus, ſondern der Held hatte ſchnell einen Entſchluß gefaßt. Ret¬ ten muß ich, ſprach er zu ſich ſelbſt, dieſe Geſtorbene, ſie wieder einführen in das Haus des Gatten; anders kann ich ſeine Gunſt nicht würdig vergelten. Ich gehe an das Grabmal; dort harre ich des Thanatos, des Todtenbeherrſchers. Ich finde ihn wohl, wie er kommt, das Opferblut zu trinken, das ihm über dem Denkmal245 der Verſtorbenen geſpendet wird. Dann ſpringe ich aus meinem Hinterhalte hervor, ergreife ihn ſchnell, umſchlinge ihn mit den Händen, und keine Macht auf Erden ſoll ihn mir entreißen, ehe er mir ſeine Beute überläßt. Mit dieſem Vor¬ ſatze verließ er in aller Stille den Pallaſt des Königs.

Admetus war in ſein verödetes Haus zurückgekehrt und trauerte mit ſeinen verlaſſenen Kindern in ſchmerz¬ licher Sehnſucht nach der geopferten Gattin, und kein Troſt getreuer Diener vermochte ſeinen Kummer zu lin¬ dern. Da betrat ſein Gaſtfreund Herkules die Schwelle wieder, ein verſchleiertes Weib an der Hand führend. Du haſt nicht wohl daran gethan, o König, ſagte er, mir den Tod deiner Gattin zu verhehlen; du nahmſt mich in dein Haus auf, als ob nur fremdes Leiden dich bekümmer¬ te; ſo habe ich unwiſſend groß Unrecht gethan, und im Unglückshauſe fröhliches Trankopfer ausgegoſſen. Doch will ich dich in deinem Ungemache nicht noch weiter be¬ trüben. Höre jedoch, warum ich noch einmal gekommen bin. Dieſe Jungfrau hier habe ich als Siegeslohn bei einem Kampfſpiele empfangen. Nun gehe ich hin, den König der Biſtonier in Thracien zu bekriegen. Bis ich dieſen Zug vollbracht habe, übergebe ich dir die Jungfrau als Dienerin, ſorge du für ſie als das Eigenthum ei¬ nes Freundes.

Admetus erſchrak, als er den Herkules ſo ſprechen hörte. Nicht, weil ich den Freund verachtet oder verkannt hätte, erwiederte er, habe ich dir meiner Gattin Tod verborgen, ſondern um mir nicht noch mehr Leiden da¬ durch zu bereiten, daß ich dich in eines anderen Freundes Haus davon ziehen ließe. Dieſes Weib aber, Herr, bitte ich dich, einem andern Bewohner von Pherä zuzuführen,246 nicht mir, der ich ſo viel gelitten habe. Haſt du ja doch genug Gaſtfreunde in dieſer Stadt. Wie könnte ich ohne Thränen dieſe Jungfrau in meinem Hauſe er¬ blicken? Den Männeraufenhalt könnte ich ihr nicht zur Wohnung geben, und ſollte ich ihr die Gemä¬ cher der verſtorbenen Gattin einräumen? Das ſey ferne! Ich fürchte die üble Nachrede der Pheräer, ich fürchte auch den Tadel der Entſchlafenen! So ſprach abweh¬ rend der König, aber ein wunderbares Sehnen zog ſeine Blicke doch wieder auf die tief verſchleierte Geſtalt. Wer du auch ſeyeſt, o Weib, ſagte er ſeufzend, wiſſe, daß du an Größe und Geſtalt wunderſam meiner Alceſtis gleicheſt. Bei den Göttern beſchwöre ich dich, Herkules, führe mir dieſe Frau aus den Augen, und quäle den Ge¬ quälten nicht noch mehr; denn wenn ich ſie erblicke, wähne ich mein verſtorbenes Gemahl zu ſehen, ein Strom von Thrä¬ nen bricht aus meinen Augen, und aufs Neue verſinke ich in Kümmerniß. Herkules unterdrückte ſein wahres Gefühl und antwortete betrübt: O wäre mir von Jupiter die Macht verliehen, dir dein heldenmüthiges Weib aus dem Schat¬ tenreich ans Licht zurückzuführen, und dir für deine Güte ſolche Gunſt zu erweiſen! Ich weiß, du thäteſt es, erwiederte Admet, wann aber kehrte je ein Todter aus dem Schattenreiche zurück? Nun, fuhr Herkules lebhafter fort, weil dieß nicht geſchehen kann, ſo geſtatte der Zeit, deinen Kummer zu lindern, den Todten geſchieht doch kein Gefallen mit deiner Trauer. Verbanne auch den Gedanken nicht ganz, daß eine zweite Gattin dir einſt noch das Leben erheitern kann. Endlich, mir zu Liebe nimm das edle Mädchen, das ich dir hier bringe, in dein Haus auf. Verſuch es wenigſtens; ſobald es dir nicht247 frommen ſollte, ſoll ſie dein Haus wieder verlaſſen! Admet ſah ſich von dem Gaſte, den er nicht beleidigen wollte, bedrängt; er befahl, jedoch nur ungerne, daß die Diener das Weib in die innern Gemächer geleiten ſollten. Aber Herkules gab dieſes nicht zu. Vertraue, ſprach er, mein Kleinod keinen Sklavenhänden, o Fürſt! Du ſelbſt, wenn es dir gefällt, ſollſt ſie hinein führen! Nein, ſprach Admet, ich berühre ſie nicht, ich würde ſchon ſo das Wort, das ich der geliebten Todten gegeben habe, zu verletzen glauben. Eingehen möge ſie, aber ohne mich! Doch Herkules ruhte nicht, bis er die Hand der Ver¬ ſchleierten ergriffen hatte. Nun dann, ſagte Herkules freudig, ſo bewahre ſie; blicke die Jungfrau auch recht an, ob ſie wirklich deinem Ehegemahl gleicht, und ende deinen Gram!

Damit enthüllte er die Verſchleierte und gab dem in Staunen zweifelnden König ſeine wiederbelebte Gemahlin zu ſchauen. Während er ſelbſt, wie leblos, die Lebende an der Hand hielt und ſich mit Furcht und Zittern an ihrem Anblicke weidete, erzählte ihm der Halbgott, wie er den Thanatos am Grabeshügel ergriffen und ſeine Beute ihm abgerungen habe. Da ſank Admetus in die Arme ſeines Weibes. Aber dieſe blieb ſprachlos und durfte ſeinen zärtlichen Ausruf nicht erwiedern. Du wirſt, belehrte ihn Herkules, ihre Stimme nicht wieder vernehmen, als bis die Todtenweihe von ihr genommen und der dritte Tag erſchienen iſt. Doch führe ſie getroſt hinein in dein Gemach und freue dich ihres Beſitzes. Er iſt dir zu Theil geworden, weil du an Fremdlingen ſo edle Gaſtfreundſchaft geübt haſt! Mich aber laß mei¬ nem Geſchicke nachziehen! So zeuch in Frieden, Held! 248rief Admetus dem Scheidenden nach. Du haſt mich in ein beſſeres Leben zurückgeführt; glaube mir, daß ich meine Seligkeit dankbar erkenne! Alle Bürger meines Königreichs ſollen mir Chortänze aufführen helfen, und Opferduft entſteige den Altären! Dabei wollen wir dein, o du mächtiger Jovisſohn, in Dank und Liebe ge¬ denken!

Herkules im Dienſte der Omphale.

Der Mord des Iphitus, obgleich im Wahnſinne ver¬ übt, lag ſchwer auf Herkules. Er wanderte von einem Prieſterkönige zum andern, um ſich reinigen zu laſſen; erſt zum Könige Peleus von Pylos, dann zu Hippokoon, König von Sparta: aber beide weigerten ſich deſſen; der dritte endlich, Deiphobus, ein König zu Amyklä, über¬ nahm es, ihn zu entſühnen. Nichtsdeſtoweniger ſchlugen ihn die Götter zur Strafe der Unthat mit einer ſchweren Krankheit. Der Held, ſonſt von Kraft und Geſundheit ſtrotzend, konnte das plötzliche Siechthum nicht ertragen. Er wandte ſich nach Delphi und hoffte bei dem pythiſchen Orakel Geneſung zu finden. Aber die Prieſterin verwei¬ gerte ihm, als einem Mörder, ihren Spruch. Da raubte er im Heldenzorn den Dreifuß, trug ihn hinaus aufs Feld und errichtete ein eigenes Orakel. Erboſt über dieſen kühnen Eingriff in ſeine Rechte, erſchien Apollo und forderte den Halbgott zum Kampfe heraus. Aber Jupiter wollte auch dießmal kein Bruderblut fließen ſehen; er ſchlichtete den Kampf, indem er einen Donnerkeil zwiſchen die Streitenden warf. Jetzt erhielt endlich Her¬249 kules einen Orakelſpruch, welchem zufolge er von ſeinem Uebel frei werden ſollte, wenn er zu dreijährigem Knechts¬ dienſte verkauft würde, das Handgeld aber, als Sühne, dem Vater gäbe, dem er den Sohn erſchlagen. Herku¬ les, von Krankheit überwältigt, fügte ſich in dieſen harten Spruch. Er ſchiffte ſich mit einigen Freunden nach Aſien ein und wurde dort von einem derſelben mit ſeiner Ein¬ willigung als Sklave verkauft an Omphale, die Toch¬ ter des Jardanes, die Königin des damaligen Maeoniens, was ſpäter Lydien hieß. Den Kaufpreis brachte der Verkäufer, dem Orakel gemäß, dem Eurytus, und als dieſer das Geld zurückwies, übergab er es den Kindern des erſchlagenen Iphitus. Jetzt wurde Herkules wieder geſund. Im Vollgefühle der wieder gewonnenen Körper¬ kraft zeigte er ſich anfangs auch als Sklave der Om¬ phale noch als Held, und fuhr fort, in ſeinem Berufe als ein Wohlthäter der Menſchheit zu wirken. Er züch¬ tigte alle Räuber, welche das Gebiet ſeiner Herrin und der Nachbarn beunruhigten. Die Cerkopen, die in der Gegend von Epheſus hauſten und durch Plünderung viel Schaden anrichteten, wurden von ihm theils erſchlagen, theils gebunden der Omphale überliefert. Den König Syleus in Aulis, einen Sohn des Neptunus, der die rei¬ ſenden Fremden auffing und ſie zwang, ihm die Weinberge zu hacken, erſchlug er mit dem Spaten, und grub ſeine Weinſtöcke mit den Wurzeln aus. Den Itonen, die wie¬ derholt ins Land der Omphale einfielen, zerſtörte er ihre Stadt von Grund aus, und machte ſämmtliche Einwohner zu Sklaven. In Lydien trieb damals Lytierſes, ein unächter Sohn des Midas, ſein Weſen. Er war ein reichbegüterter Mann und lud alle Fremde, die bei ſeinem250 Sitze vorüber reisten, höflich zu Gaſte. Nach dem Mahle zwang er ſie mit ihm in ſeine Aernte zu gehen und des Abends ſchlug er ihnen die Köpfe ab. Auch dieſen Ty¬ rannen brachte Herkules um und warf ihn in den Fluß Mäander. Einmal fuhr er auf einem dieſer Züge an der Inſel Doliche an, und ſah hier einen Leichnam, von den Wellen herangeſpült, am Geſtade liegen. Es war die Leiche des unglücklichen Icarus, der mit den wachs¬ gefügten Flügeln ſeines Vaters auf der Flucht aus dem Labyrinthe zu Kreta der Sonne zu nahe gekommen und in das Meer gefallen war. Mitleidig begrub Herkules den Verunglückten und gab der Inſel, ihm zu Ehren, den Namen Icaria. Für dieſen Dienſt errichtete der Vater des Icarus, der kunſtreiche Dädalus, das wohlgetroffene Bildniß des Herkules zu Piſa. Der Held ſelbſt aber, als er einſt dorthin kam, hielt das Bild, von der Dunkel¬ heit der Nacht getäuſcht, für belebt. Seine eigene Hel¬ dengebärde erſchien ihm als das Drohen eines Feindes, er griff zu einem Steine und zerſchmetterte ſo das ſchöne Denkmal, das ſeiner Barmherzigkeit vom Freunde geſetzt worden war. In die Zeit ſeiner Knechtſchaft bei Om¬ phale fiel auch die Theilnahme des Helden an der Jagd des calydoniſchen Ebers.

Omphale bewunderte die Tapferkeit ihres Knechts, und mochte wohl ahnen, daß ein herrlicher, weltberühm¬ ter Held ihr Sclave ſey. Nachdem ſie erfahren, daß er Herkules, der große Sohn Jupiters, ſey, gab ſie ihm nicht nur in Anerkenntniß ſeiner Verdienſte die Freiheit wieder, ſondern ſie vermählte ſich auch mit ihm. Aber Her¬ kules vergaß hier im üppigen Leben des Morgenlandes der Lehren, die ihm die Tugend am Scheidewege ſeines Ju¬251 gendlebens gegeben, er verſank in weibiſche Wolluſt. Da¬ durch gerieth er bei ſeiner Gemahlin Omphale ſelbſt in Verachtung: ſie kleidete ſich in die Löwenhaut des Helden, ihm ſelbſt aber ließ ſie weichliche lydiſche Weiberkleider an¬ legen, und brachte ihn in ſeiner blinden Liebe ſo weit, daß er, zu ihren Füßen ſitzend, Wolle ſpann. Der Nacken, dem einſt bei Atlas der Himmel eine leichte Laſt geweſen war, trug jetzt ein goldenes Weiberhalsband, die nervigen Heldenarme umſpannten Armbänder, mit Juwelen beſetzt, ſein Haar quoll ungeſchoren unter einer Mitra hervor; langes Frauengewand wallte über die Heldenglieder her¬ ab. So ſaß er, den Wocken vor ſich, unter andern jo¬ niſchen Mägden, ſpann mit ſeinen knochigen Fingern den dicken Faden ab, und fürchtete das Schelten ſeiner Her¬ rin, wenn er ſein Tagewerk nicht vollſtändig geliefert. War ſie aber guter Laune, ſo mußte der Mann in Wei¬ bertracht ihr und ihren Frauen die Thaten ſeiner Helden¬ jugend erzählen, wie er die Schlangen mit der Knabenhand erdrückt, wie den Rieſen Geryones als Jüngling erlegt, wie der Hyder den unſterblichen Kopf abgeſchlagen, wie den Höllenhund aus dem Rachen des Hades heraufgezogen. An dieſen Thaten ergötzten ſich dann die Weiber, wie man an Ammenmährchen ſeine Freude hat.

Endlich, als ſeine Dienſtjahre bei Omphale vorüber waren, erwachte Herkules aus ſeiner Verblendung. Mit Abſcheu ſchüttelte er die Weiberkleider ab, und es koſtete ihn nur das Wollen eines Augenblicks, ſo war er wieder der krafterfüllte Jovisſohn voll von Heldenentſchlüſſen. Das Erſte, was er, der Freiheit zurückgegeben, beſchloß, war, an ſeinen Feinden Rache zu nehmen.

252

Die ſpäteren Heldenthaten des Herkules.

Vor allen Dingen machte er ſich auf den Weg, den gewaltthätigen und eigenmächtigen König Laomedon, den Erbauer und Beherrſcher Troja's, zu züchtigen. Denn als Herkules, von dem Amazonenkampfe zurückkehrend, die von dem Drachen bedrohte Tochter dieſes Fürſten, Heſione, befreit hatte, hielt ihm der wortbrüchige Laomedon den verſprochenen Lohn, die ſchnellen Marspferde, zurück, und ließ ihn ſcheltend weiter ziehen. Jetzt nahm Herkules nicht mehr als ſechs Schiffe und nur eine geringe Menge Kriegsvolkes mit ſich. Aber unter dieſen waren die erſten Helden Griechenlands, Peleus, Oïkleus, Telamon. Zu dem Letztern war Herkules in ſeine Löwenhaut gekleidet gekommen, und hatte ihn eben beim Schmauſe getroffen. Telamon erhob ſich vom Tiſche, und reichte dem will¬ kommenen Gaſt eine goldne Schale voll Weines, hieß ihn ſitzen und trinken. Freudig bewegt von ſolcher Gaſt¬ freundſchaft, hub Herkules die Hände gen Himmel und betete: Vater Jupiter, wenn du je meine Bitten gnädig erhöret haſt, ſo flehe ich jetzt zu dir, daß du dem kinder¬ loſen Telamon hier einen kühnen Sohn zum Erben ver¬ leihen mögeſt, ſo unverwundbar, wie ich es in dieſer Haut des nemeiſchen Löwen bin. Hoher Muth ſoll ihm immer zur Seite ſeyn! Kaum hatte Herkules das Wort geredet, ſo ſandte ihm der Gott den König der Vögel, einen mäch¬ tigen Adler. Dem Herkules lachte darüber das Herz im Leibe; wie ein Wahrſager rief er begeiſtert aus: Ja, Tela¬ mon, du wirſt den Sohn haben, den du begehrſt, herrlich wird er ſeyn, wie dieſer gebieteriſche Adler, und Ajax253 ſoll ſein Name ſeyn, weithin gewaltig im Werke des Kriegsgotts. So ſprach er, und ſetzte ſich wieder nie¬ der zum Schmauſe; dann zogen ſie, Telamon und Her¬ kules, vereint mit den andern Helden, in den Krieg gegen Troja. Als ſie dort ans Land geſtiegen, übertrug Her¬ kules die Wache bei den Schiffen dem Oïkleus; er ſelbſt mit den übrigen Helden rückte gegen die Stadt vor. Inzwiſchen hatte Laomedon mit eilig zuſammengerafftem Volke die Schiffe der Heroen überfallen und den Oïkleus im Kampfe getödtet; aber als er ſich wieder entfernen wollte, wurde er von den Gefährten des Herkules um¬ ringt. Die Belagerung wurde unterdeſſen ſcharf betrie¬ ben; Telamon durchbrach die Mauer, und war der erſte, der in die Stadt eindrang. Erſt hinter ihm kam Her¬ kules. Es war das erſtemal in ſeinem Leben, daß der Held ſich in Tapferkeit von einem Andern übertroffen ſah; die ſchwarze Eiferſucht bemächtigte ſich ſeines Geiſtes und ein böſer Gedanke ſtieg in ſeinem Herzen auf: er zückte das Schwert, und war im Begriffe, den vor ihm herſchreitenden Telamon niederzuhauen. Dieſer blick¬ te um ſich, und errieth das Vorhaben des Herkules an ſeiner Gebärde. Schnell beſonnen las er die nächſt ge¬ legenen Steine zuſammen, und auf des Nebenbuhlers Frage, was er hier mache, erwiederte er: Ich baue Herkules, dem Sieger, einen Altar! Dieſe Antwort entwaffnete den eiferſüchtigen Zorn des Helden. Sie kämpf¬ ten wieder gemeinſam, und Herkules erlegte den Laome¬ don ſammt allen ſeinen Söhnen, mit Ausnahme eines einzigen, mit ſeinen Pfeilen. Als die Stadt erobert war, ſchenkte er Laomedon's Tochter Heſione ſeinem Freunde Telamon als Siegesbeute. Zugleich gab er ihr die Er¬254 laubniß, nach eigener Wahl Einen der Gefangenen in Freiheit zu ſetzen. Sie wählte ihren Bruder Podarkes. Es iſt recht, er ſey dein, ſagte Herkules, aber er muß vorher die Schmach erlitten haben, und Sclave ge¬ weſen ſeyn: dann magſt du ihn um den Preis, den du für ihn geben willſt, hinnehmen! Als der Knabe nun wirklich zum Sclaven verkauft war, riß Heſione ihren königlichen Schmuck vom Haupte, und gab ihn als Löſe¬ geld für den Bruder hin, daher trug dieſer den Namen Priamus (der Losgekaufte) davon. Von ihm wird die Sage Vieles zu erzählen haben.

Juno gönnte dem Halbgotte dieſen Triumph nicht. Auf der Heimfahrt von Troja begriffen, wurde er durch ihre Schickung von ſchweren Ungewittern überfallen, bis der ergrimmte Zeus ihrem Schalten Einhalt that. Nach mancherlei Abentheuern beſchloß der Held eine zweite Rache am König Augias zu nehmen, der ihm auch einſt den verſprochenen Lohn vorenthalten hatte, nahm ſeine Stadt Elis ein, und tödtete ihn mit ſammt ſeinen Söhnen. Dem Phyleus aber, der einſt wegen ſeiner Freundſchaft für Herkules vertrieben worden war, übergab er das Königreich Elis. Nach dieſem Siege ſetzte Herkules die olympiſchen Spiele ein, und weihte ihrem erſten Stifter, Pelops, einen Altar, auch den zwölf Göttern Altäre, je zweien Einen. Damals ſoll ſelbſt Jupiter in Menſchen¬ geſtalt mit Herkules gerungen, und, überwunden, ſei¬ nem Sohn zur Götterſtärke Glück gewünſcht haben. Dann zog Herkules gegen Pylus und den König Pe¬ leus, der ihm einſt die Entſündigung verweigert hatte; er überfiel ſeine Stadt, und machte ihn mit zehn ſeiner Söhne nieder. Nur der junge Neſtor, der in der Ferne255 bei den Gereniern erzogen wurde, blieb verſchont. In dieſer Schlacht verwundete Herkules ſelbſt den Gott der Unterwelt, den Hades, der den Pyliern zu Hülfe gekom¬ men war.

Noch war Hippokoon von Sparta übrig zu beſtra¬ fen, der zweite König, der ſich nach Ermordung des Iphitus der Reinigung des Mörders entzogen hatte. Auch die Söhne dieſes Königs hatten den Haß des Helden auf's Neue ſich zugezogen. Als er nämlich mit Oeonus, ſeinem Vetter und Freunde, nach Sparta gekommen war, fiel Jenen, der den Pallaſt des Hippokoon betrachtete, ein großer moloſſiſcher Schäferhund an. Oeonus be¬ grüßte ihn mit einem Steinwurfe. Da rannten die Söhne des Königs hervor und ſchlugen den Fremdling mit Knüp¬ peln todt. Um nun auch ſeines Freundes Tod zu rächen, verſammelte Herkules ein Heer gegen Sparta; auf dem Marſche durch Arkadien lud er auch den König Cepheus mit ſeinen zwanzig Söhnen zum Kampfe ein. Dieſer fürchtete jedoch einen Einfall von ſeinen Nachbarn, den Argivern, und lehnte es anfangs ab, mitzuziehen. Aber Herkules hatte von Minerva in einer ehernen Urne eine Locke des Meduſenhaupts erhalten. Dieſe übergab er der Tochter des Cepheus, Sterope, und ſprach: Wenn das Heer der Argiver anrückt, ſo darfſt du nur dieſe Locke, ohne auf ſie hinzublicken, dreimal über die Stadtmauern emporhalten: dann werden eure Feinde die Flucht ergrei¬ fen! Als Cepheus Solches hörte, ließ er ſich bewegen, mit allen ſeinen Söhnen auszuziehen. Die Argiver wurden auch glücklich von ſeiner Tochter abgetrieben; ihm ſelbſt aber ſchlug der Feldzug zum Unheil aus: er wurde mit allen ſeinen Söhnen erſchlagen, und außer dieſen auch256 der Bruder des Herkules, Iphiklus. Herkules ſelbſt aber eroberte Sparta und nachdem er den Hippokoon und ſeine Söhne getödtet, führte er den Tyndareus, den Vater der Dioskuren Caſtor und Pollux, zurück, und ſetzte ihn wieder auf den Thron, behielt ſich aber das eroberte Reich, das er ihm übergab, für ſeine Nachkommen vor.

Herkules und Deïanira.

Nachdem der Heros noch mancherlei Thaten im Pe¬ loponnes verrichtet, kam er nach Aetolien und Kalydon zum Könige Oeneus, der eine wunderſchöne Tochter, Deïanira mit Namen, hatte. Dieſe erlitt mehr als ir¬ gend ein andres Aetolerweib bittere Noth durch eine ſehr läſtige Brautbewerbung. Sie lebte anfangs zu Pleuron, einer andern Hauptſtadt ihres väterlichen Reichs. Dort hatte ſich ein Fluß, Achelous genannt, als Freier einge¬ funden, und, in drei Geſtalten verwandelt, erbat er ſie von ihrem Vater. Das einemal kam er in einen leib¬ haftigen Stier verzaubert, das andremal als ſchillernder gewundener Drache, endlich zwar in Menſchengeſtalt, aber mit einem Stierhaupte, dem vom zottigen Kinne her¬ nieder friſche Quellbäche ſtrömten. Deïanira konnte einem ſo entſetzlichen Freier nicht ohne tiefe Bekümmerniß entge¬ genſehen; ſie flehte zu den Göttern inbrünſtig um ihren Tod. Lange hatte ſie dem Bewerber widerſtrebt, aber dieſer wurde immer dringender, und ihr Vater zeigte ſich nicht abgeneigt, ſie dem Stromgotte von uraltem Götter¬ adel zu überlaſſen. Da erſchien, wenn auch ſpät, doch immer noch zu rechter Zeit, als zweiter Freier Herkules,257 dem ſein Freund Meleager von der hohen Schönheit dieſer Kö¬ nigstochter erzählt hatte. Er kam mit der Vorahnung, daß er die liebliche Jungfrau nicht ohne heißen Kampf gewinnen würde, daher war er ſtreitbar ausgerüſtet, wie wenn er ſonſt in Fehden zog. Wie er auf den Pallaſt zu wandelte, flatterte ihm die Löwenhaut im Winde vom Rücken, ſein Köcher hallte von Wurfpfeilen, und er ſchwang in der Luft prüfend die Keule. Als der gehörnte Stromgott ihn kommen ſah, quollen die Adern ſeines Stierhauptes auf und er verſuchte ſein Horn im Stoße. Der König Oe¬ neus, wie er beide ſo kampfluſtig und furchtbar mit ihrer Werbung vor ſich ſtehen ſah, wollte keinen der mächtigen Liebhaber durch eine abſchlägige Antwort beleidigen, und verſprach ſeine Tochter demjenigen zum Weibe zu geben, der den andern im Kampf überwinden würde.

Bald begann auch vor den Augen des Königs, der Königin und ihrer Tochter Deïanira der wüthende Zwei¬ kampf. Von der Fauſt des Herkules, von ſeinem Bogen klang es, aber mitten durch Streich und Schuß fuhr, lange unverwundet, das gewaltige Stierhaupt des Strom¬ gottes und ſuchte den Gegner mit den tödtlichen Stößen ſeiner Hörner auf. Endlich wurde das Gefecht zum Ring¬ kampfe, Arm verſchlang ſich mit Arm, Fuß in Fuß, der Schweiß ſtrömte den Ringern von Haupt und Gliedern, beide ſtöhnten laut unter übermenſchlicher Anſtrengung. Zuletzt bekam der Sohn Jupiters die Oberhand und warf den ſtarken Flußgott zu Boden. Dieſer verwan¬ delte ſich ſofort in eine Schlange; aber Herkules, der mit Schlangen längſt zu handthieren verſtand, faßte ſie und hätte ſie erdrückt, wenn nicht Achelous plötzlich zu einer andern Verwandlung ſchreitend die Geſtalt eines StieresSchwab, das klass. Alterthum. I. 17258angenommen hätte. Doch Herkules ließ ſich nicht irre machen, er ergriff das Unthier an einem Horne und ſtürzte es mit ſolcher Macht zur Erde, daß das ergriffene Horn abbrach. Nun erkannte ſich der Stromgott für überwunden, und überließ dem Sieger die Braut. Achelous, der vor Zeiten von der Nymphe Amalthea das Horn des Ueber¬ fluſſes, mit Obſt aller Art, Granatäpfeln und Trauben angefüllt, erhalten hatte, tauſchte gegen dieſes Horn das eigene, das ihm Herkules abgebrochen hatte, wieder ein.

Die Vermählung des Helden brachte in ſeiner Lebens¬ weiſe keine Veränderung hervor, er eilte, wie zuvor, von Abentheuer zu Abentheuer, und als er wieder bei ſeiner Gattin und ihrem Vater zu Hauſe war, nöthigte ihn der unvorſätzliche Todtſchlag eines Knaben, der ihm bei der Mahlzeit das Waſſer zum Händewaſchen reichen ſollte, aber¬ mals zur Flucht, auf welcher ihn ſeine junge Gemahlin und ſein kleiner Sohn Hyllus, den ſie ihm geboren hatte, begleitete.

Herkules und Neſſus.

Die Reiſe ging nach Kalydon, zu dem Freunde des Helden, Ceyx. Es war die verhängnißvollſte, die Her¬ kules je unternommen hatte. Als er nämlich am Fluſſe Evenus angelangt war, fand er dort den Centauren Neſſus, der für Lohn die Reiſenden auf ſeinen Händen über den Fluß zu ſetzen pflegte und dieſes Vorrecht von den Göttern ſeiner Ehrlichkeit wegen erhalten zu haben behauptete. Herkules ſelbſt bedurfte nun freilich ſeiner nicht; er durchſchritt den Fluß mit mächtigen Schritten, ohne fremde Beihülfe. Deïaniren aber überließ er zum259 Hinüberſchaffen dem Neſſus, der ihn um den gewohnten Lohn anſprach; der Centaur nahm die Gemahlin des Her¬ kules auf die Schulter und trug ſie rüſtig durch das Waſſer. Mitten in der Fuhrt aber, durch die Schönheit des Weibes bethört, wagte er es, ſie mit ſchnöder Hand anzurühren. Herkules, der am Ufer war, hörte den Hül¬ feruf ſeiner Frau und wendete ſich ſchnell um. Als er ſie in der Gewalt des rauhbehaarten Halbmenſchen ſah, beſann er ſich nicht lange, holte aus ſeinem Köcher ei¬ nen beflügelten Pfeil hervor, und ſchoß den Neſſus, der mit ſeiner Beute eben ans Ufer emporſtieg, durch den Rücken, ſo daß das Geſchoß zur Bruſt wieder heraus¬ ging. Deïanira hatte ſich den Armen des zu Boden Sinkenden entwunden, und wollte ihrem Gatten zueilen, als der Sterbende, der noch im Tod auf Rache ſann, ſie zurückrief und die trügeriſchen Worte ſprach: Höre mich, Tochter des Oeneus! Weil du die letzte biſt, die ich getragen habe, ſo ſollſt du auch noch einen Vortheil von meinem Dienſte haben, wenn du mir folgen willſt! Faſſe das friſche Blut auf, das mir aus der Todes¬ wunde quoll, und jetzt da, wo der Pfeil, vom Geifer der lernäiſchen Schlange vergiftet, mir im Leibe ſteckt, ganz verdickt und leicht zu ſammeln ringsum ſteht, ſo wird es dir zu einem Zauber für das Gemüth deines Gatten dienen; färbſt du damit ſein Unterkleid, ſo wird er niemals ein anderes Weib, das ihm je vorkommt, mehr lieben, denn dich allein! Nachdem er Deïaniren dieſes tückiſche Vermächtniß hinterlaſſen, verſchied er augenblick¬ lich an der vergifteten Wunde Deïanira, obgleich ſie an der Liebe ihres Gatten nicht zweifelte, that doch nach ſeiner Vorſchrift, ſammelte das verdickte Blut in ein Ge¬17 *260fäß, das ſie bei der Hand hatte, und bewahrte es ohne Wiſſen des Herkules auf, der zu ferne ſtand, um zu ſehen was ſie that. Sie kamen darauf nach einigen andern Abentheuern miteinander glücklich zu Ceyx, dem Könige von Trachin, und ließen ſich mit ihren Begleitern aus Arkadien, die dem Herkules überall hin folgten, dort häus¬ lich nieder.

Herkules, Jole und Deïanira. Sein Ende.

Die letzte Fehde, die Herkules beſtand, war ſein

Feldzug gegen Eurytus, den König von Oechalia, gegen welchen er einen alten Groll hegte, weil derſelbe ihm ſeine Tochter Jole verweigert hatte. Er verſammelte ein großes Heer von Griechen, und zog nach Euböa, den Eurytus und ſeine Söhne in ihrer Stadt Oechalia zu be¬ lagern. Der Sieg folgte ihm: die hohe Burg wurde in den Staub geworfen, der König mit ſeinen drei Söhnen er¬ ſchlagen, die Stadt vertilgt. Jole, noch immer jung und ſchön, wurde die Gefangene des Herkules.

Derweil hatte Deïanira in Sorgen zu Hauſe auf Nachricht von ihrem Gatten geharrt. Endlich jauchzte im Pallaſte Freudengeſchrei empor. Ein Bote kam heran¬ geſprengt; dein Gemahl, o Fürſtin, lebt ſo meldete er der ängſtlich auf ſeine Botſchaft horchenden naht in Siegesruhm und führt jetzt eben die Erſtlinge des Kampfes den heimathlichen Göttern zu. Sein Diener Lichas, den er hinter mir her geſendet hat, verkündet auf offener Wieſe dem Volke den Sieg. Seine eigene An¬261 kunft verzögert ſich nur dadurch, daß er auf Euböa's Vorgebirge Cenäum dem Jupiter das ſchuldige Dankopfer darzubringen ſich anſchickt. Bald erſchien der Abgeord¬ nete des Helden, Lichas, und in ſeinem Geleite die Ge¬ fangenen. Heil dir, Gemahlin meines Herrn, ſprach er zu Deïanira, die Himmliſchen lieben den Frevel nicht; Herkules gerechte Sache iſt geſegnet worden; die üppigen Prahler mit ihrem verruchten Munde ſind alle in den Hades hinabgeeilt, die Stadt iſt in Knechtſchaft. Doch der Gefangenen, die wir hier bringen, ſollſt du ſchonen, läßt dein Gemahl dir ſagen, vor allem der unglücklichen Jungfrau, die ſich hier vor deine Füße wirft. Deïa¬ nira heftete einen Blick voll tiefen Mitleids auf das ſchöne, jugendliche Mädchen, das von Geſtalt und Auge lieblich glänzte, erhob ſie vom Boden, und ſprach: Ja ihr Lieben, herbes Mitgefühl hat mich gefaßt, ſo oft ich Unglückſelige heimatlos durch fremde Landſchaft herum¬ geſchleppt, und Freigeborne Sclavenloos dulden ſah. Zeus Ueberwinder, mögeſt du nie deinen Arm ſo gegen mein Haus erheben! Aber wer biſt du, jammervolles Mägdlein? du ſcheinſt unvermählt, und von hohem Stamme! Sage mir, Lichas, wer ſind die Eltern dieſer Jungfrau? Wie weiß ich das? Weswegen fragſt du dieß? antwortete der Abgeſandte mit verſtelltem Sinne und ſeine Miene verrieth ein Geheimniß. Sie iſt, fuhr er nach einigem Zögern fort, gewiß aus keinem der niedrigſten Häuſer Oechalia's. Da das arme Mädchen ſelbſt nur ſeufzte und ſchwieg, ſo forſchte Deïanira auch nicht weiter, ſondern befahl ſie in das Haus zu führen, und dort auf das Schonendſte zu behandeln. Während Lichas dieſem Befehl Folge leiſtete, trat der zuerſt angekommene Bote ſeiner Ge¬262 bieterin näher, und ſobald er ſich unbelauſcht wußte, flüſterte er ihr die Worte zu: Traue dem Abgeſandten deines Ge¬ mahls nicht, Deïanira. Er verbirgt dir die Wahrheit. Aus ſeinem eigenen Munde habe ich mitten auf dem Marktplatze von Trachin, in vieler Zeugen Gegenwart, gehört, daß dein Gatte Herkules ganz allein um dieſer Jungfrau willen die hohe Burg Oechalia's niedergeworfen hat. Es iſt Jole, die Tochter des Eurytus, die du auf¬ genommen haſt, von deren Liebe Herkules entbrannt war, ehe er dich kennen gelernt hat. Nicht als deine Sclavin, ſondern als deine Nebenbuhlerin, als Nebenweib iſt ſie in dein Haus gekommen! Ueber dieſer Mittheilung brach Deïanira in laute Wehklagen aus. Doch faßte ſie ſich bald wieder, und rief den Diener ihres Gatten, Lichas ſelbſt, herbei. Dieſer ſchwur anfangs beim höchſten Zeus, daß er ihr die Wahrheit geſagt habe, und ihm unbe¬ wußt ſey, wer die Eltern der Jungfrau wären. Lange beharrte er bei dieſer Lüge. Deïanira aber beſchwor ihn, des höchſten Jupiter nicht länger zu ſpotten. Wäre es auch möglich, daß ich meinem Gatten ſeiner Untreue wegen abhold würde, ſagte ſie zu ihm weinend, ſo bin ich nicht ſo unedler Geſinnung, daß ich dieſer Jung¬ frau zürne, die mir nie einen Schimpf angethan hat. Nur mit Mitleiden ſchaue ich ſie an, denn ihr hat die Schönheit all ihr Lebensglück zertrümmert, ja ihr ganzes Geburtsland in Knechtſchaft geſtürzt! Als Lichas ſie ſo menſchlich reden hörte, geſtand er Alles. Hierauf entließ ihn Deïanira ohne Vorwurf und befahl ihm nur ſo lange zu warten, bis ſie für die reiche Schaar von Gefangenen, die der Gemahl ihr zugeſendet, und zur Verfügung ge¬ ſtellt hatte, dieſem eine Gegengabe gerüſtet hatte.

263

Fern vom Feuer, unberührt vom Strahle des Lich¬ tes hatte Deïanira, der Vorſchrift des tückiſchen Centauren gemäß, die Salbe, die ſie vom giftigen Blute ſeiner Pfeil¬ wunde geſammelt, am verborgenen Orte bewahrt. An dieſes Zaubermittel, das ſie, unerfahren in den Ränken, welche Rache ſpinnt, für ganz unſchädlich hielt, und das ihr nur das Herz und die Treue des Gatten wieder ge¬ winnen ſollte, dachte nun die gedrängte Fürſtin zum er¬ ſtenmale wieder, ſeit ſie es ſorgſam verhüllt im Schranke geborgen. Jetzt galt es zu handeln. Sie ſchlich ſich da¬ her in das Gemach, und färbte mit einer Flocke von weißem Lämmerfließe, welche ſie mit der[Salbe] getränkt hatte, im Verborgenen ein köſtliches Unterkleid, das für Herkules beſtimmt war. Sorgfältig hütete ſie während dieſer Arbeit Flocke und Gewand vor dem Sonnenſtrahl, und ſchloß das blutroth gefärbte Kleid, ſchön zuſammen¬ gefaltet, in ein Käſtchen ein. Als dieß geſchehen war, warf ſie die Wolle, die zu nichts mehr dienlich, auf die Erde, ging und überreichte dem herbeigerufenen Lichas das für ihren Gemahl beſtimmte Geſchenk. Bring 'mei¬ nem Gemahl, ſprach ſie, dieſes ſchöngewobene Leibgewand, meiner eigenen Hände Werk. Kein andrer ſoll es tra¬ gen, als er ſelbſt, auch ſoll er das Kleid nicht dem Feuerherde oder dem Sonnenglanz ausſetzen, bevor er es, am feierlichen Opfertage damit geſchmückt, den Göt¬ tern gezeigt hat. Denn dieſes Gelübde habe ich gethan, wenn ich ihn je ſiegreich zurückkehren ſehen würde. Daß du ihm wirklich meine Botſchaft bringeſt, ſoll er an dieſem Siegelringe erkennen, den ich dir für ihn anvertraue. Lichas verſprach alles auszurichten, wie die Herrin be¬ fohlen; er verweilte keinen Augenblick länger im Pallaſt,264 ſondern eilte mit der Gabe nach Euböa, um den opfern¬ den Herrn nicht länger ohne Kunde von der Heimath zu laſſen. Einige Tage vergingen, und der älteſte Sohn des Herkules und der Deïanira, Hyllus, war ſeinem Vater entgegengeeilt, um ihm die Ungeduld der harren¬ den Mutter zu ſchildern und ihn zu beſchleunigter Heimkehr zu bewegen. Inzwiſchen hatte Deïanira zufällig das Ge¬ mach wieder betreten, wo das Zaubergewand von ihr ge¬ färbt worden war. Sie fand die Wollenflocke auf dem Boden liegen, wie ſie dieſelbe unachtſam hingeworfen, dem Son¬ nenſtrahl ausgeſetzt und von ihm durchwärmt. Ihr An¬ blick aber entſetzte ſie, denn die Wolle war wie zu Staub oder Sägſpänen zuſammen geſchwunden und aus den Ueberbleibſeln ziſchte ein blaſenvoller, giftiger Schaum auf. Eine dunkle Ahnung ergriff die jammervolle Frau, daß ſie Unglückſeliges begangen habe, und in entſetzlicher Unruhe durchirrte ſie ſeit dieſem Augenblicke den Pallaſt.

Endlich kam Hyllus zurück, aber ohne den Vater. O Mutter, rief er ihr mit Abſcheu zu, ich wollte du hätteſt nie gelebt, oder du wäreſt nie meine Mutter geweſen, oder die Götter hätten dir eine andere Sinnesart gege¬ ben! So unruhig die Fürſtin ſchon vorher war, ſo er¬ ſchrack ſie doch noch mehr bei dieſen Worten ihres Sohnes. Kind, erwiederte ſie ihm, was iſt denn ſo Gehäſſiges an mir? Ich komme vom Vorgebirge Cenäum, Mut¬ ter, entgegnete ihr der Sohn mit lautem Schluchzen, Du biſt es, die mir den Vater dahingewürgt! Deïanira wurde todtesbleich, doch raffte ſie ſich zuſammen und ſprach: Von wem weißeſt du Solches, mein Sohn, wer darf mich ſo entſetzlicher Unthat zeihen? Kein fremder Mund hat mich belehrt, fuhr der Jüngling fort, mit ei¬265 genen Augen habe ich mich von dem Jammerlooſe des Va¬ ters überzeugt. Ich traf ihn auf dem Vorgebirge Cenäum, wo er eben dem Ueberwinder Zeus auf vielen Dank¬ altären zugleich Brandopfer ſchlachten wollte. Da erſchien der Herold Lichas, ſein Diener, mit deiner Gabe, deinem verfluchten, mörderiſchen Gewande. Deinem Auftrage folgend, legte er das Unterkleid ſogleich an, und damit geſchmückt begann die Opferung zwölf ſtattlicher Stiere. Anfangs betete der Unglückſelige deines ſchönen Schmuckes froh, voll Heiterkeit. Plötzlich aber, als die Opferglut ſchon gen Himmel flammte, durchbrach ein heftiger Schweiß ſeine Haut, das Gewand ſchien, wie vom Schmied ange¬ löthet, an ſeinen Seiten zu kleben, und eine Zuckung fuhr durch ſein ganzes Gebein. Als fräße eine Natter an ſeinem Leibe, ſchrie der Gequälte brüllend nach Lichas, dem unſchuldigen Ueberbringer deines giftigen Gewandes; dieſer kam und wiederholte unbefangen deinen Auftrag; der Vater aber ergriff ihn am Fuße und warf ihn an die Felſen des Meeres, daß er zerſchmettert in der auf¬ ſpritzenden Fluth unterſank. Das ganze Volk jammerte bei dieſer That des Wahnſinnes auf, und niemand wagte ſich dem raſenden Helden zu nähern. Dieſer wälzte ſich bald auf dem Boden, bald ſprang er heulend wieder auf, daß rings Fels und Waldgebirge wiederhallten. Er ver¬ fluchte dich und euren Ehebund, der ihm zur Todesqual geworden. Endlich kehrte er ſich zu mir und rief: Söhn¬ lein, wenn du Mitleid mit deinem Vater empfindeſt, ſo ſchiffe mit mir ohne Zögerung fort, daß ich nicht im frem¬ den Lande ſterbe! Auf dieſes Verlangen legten wir den Armen in das Schiff, und unter Zuckungen brüllend iſt er hier angelangt, und bald wirſt du ihn lebendig oder266 todt vor dir ſehen. Das Alles iſt dein Werk, Mutter. Den allerbeſten Helden haſt du jämmerlich dahingemordet! Deïanira, ohne ſich auf dieſe ſchreckliche Rede zu rechtfertigen, verließ ihren Sohn Hyllus in ſchweigender Verzweiflung. Das Hausgeſinde, dem ſie ihr Geheimniß, den Gatten ſich durch des Neſſus Zauberſalbe treu zu er¬ halten, früher anvertraut hatte, belehrte den Knaben, daß ſein Jähzorn der Mutter Unrecht gethan. Er eilte der Unglücklichen nach, aber er kam zu ſpät. Sie lag im Schlafgemach todt auf dem Lager ihres Gatten ausge¬ ſtreckt, die Bruſt mit einem zweiſchneidigen Schwerte durchbohrt. Der Sohn umarmte jammernd die Leiche, und ſtreckte ſich dann zu ihrer Seite hin, ſeine Unbe¬ dachtſamkeit beſeufzend. Die Ankunft des Vaters im Pallaſte ſtörte ihn aus dieſer kläglichen Ruhe auf. Sohn, rief dieſer, Sohn, wo biſt du? Zieh doch das Schwert ge¬ gen deinen Vater, durchhaue mir den Nacken, und heile ſo die Wuth, in welche deine gottloſe Mutter mich ver¬ ſetzt hat! Zage nicht, ſey mitleidig mit mir, mit einem Helden, der, wie ein Mägdlein, in Thränen ſchluch¬ zen muß! Dann wandte er ſich verzweiflungsvoll an die Umſtehenden, ſtreckte ſeine Arme aus, und rief: Kennet ihr dieſe Glieder, denen das Mark entſaugt iſt, noch? Es ſind dieſelben, die den Schrecken der Hirten, den nemeiſchen Löwen gebändigt, die den Drachen von Lerna erwürgt, die den erymantiſchen Eber erlegen hal¬ fen, die den Cerberus aus der Hölle heraufgetragen! Kein Speer, kein wildes Thier des Waldes, kein Gigan¬ tenheer hat mich überwältigt; die Hand eines Weibes hat mich vertilgt! Darum, Sohn, tödte mich und ſtrafe deine Mutter!

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Aber als Herkules aus dem Munde ſeines Sohnes Hyllus unter heiligen Betheurungen erfuhr, daß ſeine Mutter die unfreiwillige Urſache ſeines Unglücks geweſen, und ihre Unbedachtſamkeit mit dem Selbſtmorde gebüßt habe, wandte ſich auch ſein Sinn vom Zorn zur Wehmuth. Er verlobte ſeinen Sohn Hyllus mit der gefangenen Jung¬ frau Jole, die ihm ſelbſt ſo lieb geweſen war, und da ein Orakel von Delphi gekommen, daß er auf dem Berge Oeta, der zum Gebiete von Trachin gehörte, ſein Leben beſchließen müſſe, ſo ließ er ſich, ſeinen Qualen zum Trotz, auf den Gipfel dieſes Berges tragen. Hier ward auf ſeinen Befehl ein Scheiterhaufen errichtet, auf wel¬ chem der kranke Held ſeinen Platz nahm. Und nun be¬ fahl er den Seinigen, den Holzſtoß von unten anzuzünden. Aber Niemand wollte ihm den traurigen Liebesdienſt erweiſen. Endlich entſchloß ſich, auf die eindringliche Bitte des vor Schmerzen bis zur Verzweiflung gequälten Helden, ſein Freund Philoktetes, ſeinen Willen zu thun. Zum Danke für dieſe Bereitwilligkeit reichte Herkules ihm ſeine unüberwindlichen Pfeile, nebſt dem ſiegreichen Bogen. Sobald der Scheiterhaufen angezündet war, ſchlugen Blitze vom Himmel darein, und beſchleunigten die Flammen. Da ſenkte ſich eine Wolke herab auf den Holz¬ ſtoß, und trug den Unſterblichen unter Donnerſchlägen zum Olymp empor. Als nun, da der Scheiterhaufen ſchnell zu Aſche verbrannt war, Jolaus und die andern Freunde der Brandſtätte ſich näherten, die Ueberbleibſel des Helden zuſammen zu leſen, fanden ſie kein einziges Gebein mehr. Sie konnten auch nicht länger zweifeln, daß Her¬ kules, dem alten Götterſpruche zu Folge, aus dem Kreiſe der Menſchen in den der Himmliſchen verſetzt worden ſey,268 brachten ihm ein Todtenopfer als einem Heros, und weih¬ ten ihn ſo zu einer allmählig von ganz Griechenland verehrten Gottheit ein. Im Himmel empfing den ver¬ götterten Herkules ſeine Freundin Minerva, und führte ihn in den Kreis der Unſterblichen. Juno ſelbſt verſöhnte ſich mit ihm, nachdem er ſein ſterbliches Geſchick vollen¬ det. Sie gab ihm ihre Tochter Hebe, die Göttin der ewigen Jugend, zur Gemahlin, und dieſe gebar ihm dro¬ ben im Olymp unſterbliche Kinder.

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Fünftes Buch.

Bellerophontes.

Theſeus.

Seine Geburt und Jugend. Theſeus in Athen. Theſeus bei Minos. Theſeus als König. Der Amazonenkrieg. Theſeus und Pirithous. Lapithen - und Centaurenkampf. Theſeus und Phädra. Theſeus auf Frauenraub. Sein Ende.

Die Sage von Oedipus.

Geburt, Jugend, Flucht, Vatermord. Oedipus in Theben, heirathet ſeine Mutter. Die Entdeckung. Oedipus und Antigone. Oedi¬ pus auf Kolonos. Oedipus und Kreon. Oedipus und Polynices.

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Bellerophontes.

Siſyphus, der Sohn des Aeolus, der liſtigſte aller Sterblichen, baute und beherrſchte die herrliche Stadt Korinth auf der ſchmalen Erdzunge zwiſchen zwei Mee¬ ren und zwei Ländern. Für allerlei Betrug traf ihn in der Unterwelt die Strafe, daß er einen ſchweren Mar¬ morſtein, mit Händen und Füßen angeſtemmt, von der Ebene eine Anhöhe hinaufwälzen mußte. Wenn er aber ſchon glaubte, ihn auf den Gipfel gedreht zu haben, ſo wandte ſich die Laſt um und der tückiſche Stein rollte wieder in die Tiefe hinunter. So mußte der gepeinigte Verbrecher von neuem und immer von neuem wieder das Felsſtück emporwälzen, daß der Angſtſchweiß von ſeinen Gliedern floß.

Sein Enkel war Bellerophontes, der Sohn des Ko¬ rintherköniges Glaukus. Wegen eines unvorſätzlichen Mordes flüchtig wandte ſich der Jüngling nach Tiryns, wo der Konig Prötus regierte. Von dieſem wurde er gütig aufgenommen und von ſeinem Morde gereinigt. Aber Bellerophontes hatte von den Unſterblichen ſchöne Geſtalt und männliche Tugenden empfangen. Deßwegen entbrannte die Gemahlin des Königes Prötus, Antéa, in unreiner Liebe zu ihm, und wollte ihn zum Böſen ver¬ führen. Aber der edelgeſinnte Bellerophontes gehorchte272 ihr nicht. Da verwandelte ſich ihre Liebe in Haß: ſie ſann auf Lüge, ihn zu verderben, erſchien vor ihrem Ge¬ mahl und ſprach zu ihm: Erſchlage den Bellerophontes, o Gemahl, wenn dich nicht ſelbſt unrühmlicher Tod treffen ſoll, denn der Treuloſe hat mir ſeine ſtrafbare Neigung bekannt, und mich zur Untreue gegen dich verleiten wol¬ len. Als der König ſolches vernommen, bemächtigte ſich ſeiner ein blinder Eifer. Weil er jedoch den ver¬ ſtändigen Jüngling ſo lieb gehabt hatte, vermied er den Gedanken, ihn zu ermorden, denn er machte ihm Grauen. Aber dennoch ſann er auf ſein Verderben. Er ſchickte daher den Unſchuldigen zu ſeinem Schwiegervater Jobates, dem Könige von Lycien, und gab ihm ein zuſammengefaltetes Täfelchen mit, das er dem Letzteren bei ſeiner Ankunft in Lycien, gleichſam als einen Em¬ pfehlungsbrief, vorweiſen ſollte; auf dieſes waren gewiſſe Zeichen eingeritzt, die den Wink enthielten, den Ueber¬ bringer hinrichten zu laſſen. Arglos wandelte Bellero¬ phontes dahin, aber die allwaltenden Götter nahmen ihn in ihren Schutz. Als er, über's Meer nach Aſien ge¬ fahren, am ſchönen Strome Xanthus angekommen war und alſo Lycien erreicht hatte, trat er vor den König Jobates. Dieſer aber, ein gütiger, gaſtfreundlicher Fürſt nach der alten Sitte, nahm den edeln Fremdling auf, ohne zu fragen, wer er ſey, noch woher er komme. Seine würdige Geſtalt und ſein fürſtliches Benehmen genügten ihm zur Ueberzeugung, daß er keinen gemeinen Gaſt beher¬ berge. Er ehrte den Jüngling auf alle Weiſe, gab ihm alle Tage ein neues Feſt und brachte den Göttern von Tag zu Tage ein neues Stieropfer. Neun Tage waren ſo vorübergegangen, und erſt als die zehnte Morgen¬273 röthe am Himmel aufſtieg, fragte er den Gaſt nach ſei¬ ner Herkunft und ſeinen Abſichten. Da ſagte ihm Belle¬ rophontes, daß er von ſeinem Eidam Prötus komme und wies ihm als Beglaubigungsſchreiben das Täfelchen vor. Als der König Jobates den Sinn der mörderiſchen Zeichen erkannte, erſchrack er in tiefſter Seele, denn er hatte den edeln Jüngling ſehr lieb gewonnen. Doch mochte er nicht denken, daß ſein Schwiegerſohn ohne gewichtige Urſache die Todesſtrafe über den Unglücklichen verhänge; glaubte alſo, dieſer müſſe durchaus ein todeswürdiges Verbrechen verübt haben. Aber auch er konnte ſich nicht entſchlie¬ ßen, den Menſchen, der ſo lange ſein Gaſt geweſen war, und durch ſein ganzes Benehmen ſich ſeine Zuneigung zu erwerben gewußt hatte, geradezu umzubringen. Er ge¬ dachte ihm deßwegen nur Kämpfe aufzutragen, in denen er nothwendig zu Grunde gehen müßte. Zuerſt ließ er ihn das Ungeheuer Chimära erlegen, das Lycien verwü¬ ſtete, und das göttlicher, nicht menſchlicher Art empor¬ gewachſen war. Der gräßliche Typhon hatte es mit der rieſigen Schlange Echidna gezeugt. Vorn war es ein Löwe, hinten ein Drache, in der Mitte eine Ziege, aus ſeinem Rachen ging Feuer und entſetzlicher Gluthauch. Die Götter ſelbſt trugen Mitleiden mit dem ſchuldloſen Jüngling, als ſie ſahen, welcher Gefahr er ausgeſetzt wurde. Sie ſchickten ihm auf ſeinem Wege zu dem Un¬ geheuer das unſterbliche Flügelroß Pegaſus, das Nep¬ tunus mit der Meduſa gezeugt hatte. Wie konnte ihm aber dieſes helfen? Das göttliche Pferd hatte nie einen ſterblichen Reiter getragen. Es ließ ſich nicht einfangen und nicht zähmen. Müde von ſeinen vergeblichen An¬ ſtrengungen war der Jüngling Quell Pirene, wo erSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 18274das Roß gefunden hatte, eingeſchlafen. Da erſchien ihm im Traume ſeine Beſchirmerin Minerva; ſie ſtand vor ihm, einen köſtlichen Zaum mit goldenen Buckeln in der Hand und ſprach: Was ſchläfſt du, Abkömmling des Aeolus? Nimm dieſes roſſebändigende Werkzeug; opfre dem Neptunus einen ſchönen Stier, und brauche des Zaums. So ſchien ſie dem Helden im Traume zuzu¬ ſprechen, ſchüttelte ihren dunkeln Aegisſchild und ver¬ ſchwand. Er aber erwachte aus dem Schlafe, ſprang auf und faßte mit der Hand nach dem Zaume. Und, o Wunder, der Zaum, nach dem er im Traume gegriffen, der Wachende hielt ihn wirklich und leibhaft in der Hand. Bellerophontes ſuchte nun den Seher Polyidus auf und erzählte ihm ſeinen Traum, ſo wie das Wunder, das ſich in demſelben zugetragen. Der Seher rieth ihm, das Begehren der Göttin ungeſäumt zu erfüllen, dem Neptunus den Stier zu ſchlachten, und ſeiner Schutz¬ göttin Minerva einen Altar zu bauen. Als dieß Alles geſchehen war, fing und bändigte Bellerophontes das Flü¬ gelroß ohne alle Mühe, legte ihm den goldenen Zaum an, und beſtieg es in eherner Rüſtung. Nun ſchoß er aus den Lüften herab, und tödtete die Chimära mit ſei¬ nen Pfeilen. Hierauf ſchickte ihn Jobates gegen das Volk der Solymer aus, ein ſtreitbares Männergeſchlecht, das an den Gränzen von Lycien wohnte, und nachdem er wider Erwarten den härteſten Kampf mit dieſen glücklich beſtanden, ſo wurde er von dem Könige gegen die männergleiche Schaar der Amazonen geſandt. Auch aus dieſem Streite kam er unverletzt und ſiegreich zurück. Nun legte ihm der König, um dem Verlangen ſeines Eidams doch endlich nachzukommen, eben auf dieſem Rückwege einen275 Hinterhalt, wozu er die tapferſten Männer des Lyciſchen Landes auserſehen hatte. Aber keiner von ihnen kehrte zurück, denn Bellerophontes vertilgte Alle, die ihn über¬ fallen hatten, bis auf den letzten. Nunmehr erkannte der König, daß der Gaſt, den er beherbergt, kein Ver¬ brecher, ſondern ein Liebling der Götter ſey. Statt ihn länger zu verfolgen, hielt er ihn in ſeinem Königreiche zurück, theilte den Thron mit ihm, und gab ihm ſeine blühende Tochter Philonoe zur Gemahlin. Die Lycier überließen ihm die ſchönſten Aecker und Pflanzungen zum Bebauen. Seine Gemahlin gebar ihm drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter.

Aber jetzt hatte das Glück des Bellerophontes ein Ende. Sein älteſter Sohn Iſander wuchs zwar auch zu einem gewaltigen Helden auf, aber er fiel in einer Schlacht gegen die Solymer. Seine Tochter Laodamia wurde, nachdem ſie dem Jupiter den Helden Sarpedon geboren, durch einen Pfeil Dianens erſchoſſen. Nur ſein jüngerer Sohn Hippolochus gelangte zu ruhmvollem Al¬ ter und ſchickte im Kampfe der Trojaner ſeinen helden¬ müthigen Sohn Glaukus, den auch ſein Vetter Sarpedon begleitete, mit einer ſtattlichen Schaar von Lyciern den Troern zu Hülfe.

Bellerophontes ſelbſt, durch den Beſitz des unſterb¬ lichen Flügelroſſes übermüthig gemacht, wollte ſich auf demſelben zum Olymp emporſchwingen, und, der Sterb¬ liche, ſich in die Verſammlung der Unſterblichen eindrän¬ gen. Aber das göttliche Roß ſelbſt widerſetzte ſich dem kühnen Unterfangen, bäumte ſich in der Luft und ſchleu¬ derte den irdiſchen Reiter hinunter auf den Boden. Bel¬ lerophontes erholte ſich zwar von dieſem Fall, aber, den18 *276Himmliſchen ſeitdem verhaßt und vor den Menſchen ſich ſchämend, irrte er einſam umher, vermied die Pfade der Sterblichen und verzehrte ſich in einem ruhmloſen und kummervollen Alter.

277

Theſeus.

Seine Geburt und Jugend.

Theſeus, der große Held und König von Athen, war ein Sohn des Aegeus und der Aethra, der Tochter des Königes Pittheus von Trözen. Seine väterliche Abkunft ſteigt zu dem Könige Erechtheus und zu jenen Athenern auf, die nach der Sage des Landes aus dem Boden deſſelben unmittelbar entſproſſen waren. Von der Mut¬ ter Seite war Pelops, durch die Zahl ſeiner Kinder der mächtigſte unter den Königen des Peloponneſes, ſein Ahnherr. Bei einem ſeiner Söhne, Pittheus, dem Grün¬ der der kleinen Stadt Trözen im Peloponneſe, kehrte der kinderloſe König Aegeus von Athen, der dort etwa zwan¬ zig Jahre vor Jaſons Argonautenzug herrſchte, ein, weil er ſein Gaſtfreund war. Dieſen Aegeus, den älteſten der vier Söhne des Königes Pandion, bekümmerte es ſchwer, daß ſeine Ehe mit keiner Nachkommenſchaft ge¬ ſegnet war. Er fürchtete nämlich gar ſehr die fünfzig Söhne ſeines Bruders Pallas, welche feindſelige Abſich¬ ten gegen ihn hegten und den Kinderloſen verachteten. So kam er auf den Gedanken, ſich heimlich und ohne Wiſſen ſeiner Gemahlin, nocheinmal zu vermählen, der Hoffnung, er werde ſo einen Sohn erhalten, welcher die Stütze ſeines Alters und ſeines Reiches werden könnte. Er vertraute ſich ſeinem Gaſtfreunde Pittheus und das gute Glück wollte, daß gerade dieſem ein ſeltſames Orakel zu Theil geworden war, das ihm verkündigte, daß ſeine Tochter kein rühmliches Ehebündniß eingehen, aber einen berühmten Sohn gebären werde. Dieß machte278 den König von Trözen geneigt, dem Manne, der ſchon zu Hauſe eine Gattin hatte, ſeine Tochter Aethra heim¬ lich zu vermählen. Als dieſes geſchehen war, blieb Aegeus nur noch wenige Tage zu Trözen und reiſte dann wie¬ der nach Athen zurück. Als er am Meeresufer Abſchied von ſeiner neuvermählten Gattin nahm, legte er Schwerdt und Fußſohlen unter ein Felsſtück und ſprach: Wenn die Götter unſerem Bunde, den ich nicht aus Leichtſinn ge¬ ſchloſſen habe, ſondern um meinem Haus und Land eine Stütze zu verſchaffen, hold ſind und dir einen Sohn ge¬ währen, ſo ziehe ihn heimlich auf und ſage keinem Men¬ ſchen, wer ſein Vater iſt. Iſt er ſo weit herangewach¬ ſen, daß er im Stande iſt, das Felsſtück abzuwälzen, ſo führe ihn an dieſe Stelle, laß ihn Schwerdt und Schuhe hervorholen und ſende ihn damit zu mir nach Athen. Aethra gebar auch wirklich einen Sohn, nannte ihn Theſeus und ließ ihn unter der Fürſorge ſeines Gro߬ vaters Pittheus aufwachſen; den wahren Vater des The¬ ſeus verheimlichte ſie dem Befehl ihres Gatten gemäß, und der Großvater verbreitete die Sage, daß er ein Sohn des Neptunus ſey. Dieſem Gott erwieſen nämlich die Trözenier beſondere Ehre als dem Schutzgott ihrer Stadt, brachten ihm die Erſtlinge ihrer Früchte zum Opfer und ſein Dreizack war das Abzeichen von Trözen. So gab es dem Lande keinen Anſtoß, wenn die Königstochter einer Leibesfrucht von dem hochgeehrten Gotte gewür¬ digt worden war. Als aber der Jüngling nicht blos zu herrlicher Körperſtärke heranwuchs, ſondern auch Kühn¬ heit, Einſicht und feſten Sinn zeigte, da führte ihn ſeine Mutter Aethra zu dem Steine, unterrichtete ihn über ſeine wahre Herkunft, und forderte ihn auf, die Erkennungs¬279 zeichen ſeines Vaters Aegeus hervorzuholen und nach Athen zu ſchiffen. Theſeus ſtemmte ſich an den Stein und ſchob ihn mit Leichtigkeit zurück; er band ſich die Sohlen unter die Füße und das Schwerdt an die Seite. Zur See zu reiſen aber weigerte er ſich, obgleich Gro߬ vater und Mutter ihn inſtändig darum baten. Der Landweg nach Athen war nemlich damals ſehr gefährlich, weil allenthalben Räuber und Böſewichter lauerten. Denn jenes Zeitalter brachte Menſchen hervor, die ſich zwar in Leibesſtärke und Thaten der Fauſt unüberwind¬ lich zeigten, aber dieſe Vorzüge nicht zu menſchenfreund¬ lichen Handlungen anwandten, ſondern ihre Freude an Uebermuth und Gewaltthaten hatten und alles mißhan¬ delten oder vertilgten, was ihnen in die Hände fiel. Einige derſelben hatte Herkules auf ſeinen Zügen erſchlagen. Um jene Zeit aber diente dieſer gerade als Sclave bei der Königin Omphale in Lydien und ſäu¬ berte zwar jenes Land, in Griechenland aber brachen die Gewaltthätigkeiten von Neuem hervor, weil niemand ihnen Einhalt that. Deßwegen war die Landreiſe aus dem Peloponnes nach Athen mit der größten Gefahr verbunden, und ſein Großvater beſchrieb dem jungen Theſeus genau jeden dieſer Räuber und Böſewichter, und welche Grauſamkeiten ſie an den Fremden zu verüben pflegten. Aber Theſeus hatte ſich längſt den Herkules und ſeine Tapferkeit zum Vorbilde genommen. Als er ſieben Jahre alt war, hatte dieſer Held ſeinen Gro߬ vater Pittheus beſucht, und wie derſelbe mit dem Könige zu Tiſche ſaß und ſchmauſte, durfte unter andern Kna¬ ben der Trözenier auch der kleine Theſeus zuſchauen. Herkules hatte bei'm Mahle ſeine Löwenhaut abgelegt.

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Die übrigen Knaben nun machten ſich, als ſie die Haut erblickten, auf die Flucht. Theſeus aber ging ohne Furcht hinaus, nahm einem der Diener eine Axt aus der Hand und rannte damit auf die Haut los, die er für einen wirklichen Löwen hielt. Seit dieſem Beſuche des Herku¬ les träumte Theſeus voll Bewunderung des Nachts von ſeinen Thaten und am Tage ſann er auf nichts anderes, als wie er dereinſt Aehnliches unternehmen wollte. Auch waren ſie blutsverwandt, denn ihre Mütter waren Kin¬ der von Geſchwiſtern. So konnte jetzt der ſechszehn¬ jährige Theſeus den Gedanken nicht ertragen, daß wäh¬ rend ſein Vetter überall die Frevler aufſuche und Land und Meer von ihnen reinige, er die ſich ihm darbieten¬ den Kämpfe fliehen ſollte. Was würde, ſprach er un¬ willig, der Gott, den man meinen Vater nennt, von die¬ ſer feigen Reiſe im ſichern Schooße ſeiner Gewäſſer den¬ ken, was würde mein wahrer Vater ſagen, wenn ich ihm als Kennzeichen Schuhe ohne Staub und ein Schwerdt ohne Blut brächte? Dieſe Worte gefielen ſeinem Gro߬ vater, der auch ein tapferer Held geweſen war. Die Mutter gab ihm ihren Segen und Theſeus ging davon.

Seine Wanderung zum Vater.

Der Erſte, der ihm in den Weg kam, war der Stra¬ ßenräuber Periphetes, deſſen Waffe eine mit Eiſen be¬ ſchlagene Keule war, von welcher er den Beinamen Keulenſchwinger führte und mit der er die Wanderer zu Boden ſchmetterte.

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Als Theſeus in die Gegend von Epidaurus kam, ſtürzte dieſer Böſewicht aus einem finſtern Walde hervor und verſperrte ihm den Weg. Der junge Theſeus aber rief ihm wohlgemuth zu: Elender! du kommſt mir eben gelegen, deine Keule wird dem wohl anſtehen, der als ein zweiter Herkules in der Welt aufzutreten geſonnen iſt! Mit dieſem Ausrufe warf er ſich auf den Räuber und erſchlug ihn nach einem kurzen Kampfe. Dem Ge¬ tödteten nahm er die Keule aus der Hand und trug ſie als Siegeszeichen und Waffe von dannen.

Einem andern Frevler begegnete er auf der Land¬ enge von Corinth; dieſes war Sinnis der Fichtenbeuger, ſo genannt, weil er, wenn er einen Wanderer in ſeine Gewalt bekommen hatte, mit ſeinen rieſenſtarken Händen zwei Fichtenwipfel herunter zu beugen pflegte; an die band er ſeinen Gefangenen und ließ ihn von den zu¬ rückſchnellenden Bäumen zerreiſſen. Mit der Erlegung dieſes Ungeheuers weihte Theſeus ſeine Keule ein. Sin¬ nis hatte eine ſehr ſchöne ſchlanke Tochter, Perigune mit Namen, die Theſeus bei der Ermordung ihres Vaters erſchrocken hatte fliehen ſehen und nun überall ſuchte. Das Mädchen hatte ſich an einen dicht mit Gartenge¬ wächſen bepflanzten Ort verſteckt und flehte, als verſtän¬ den ſie es, mit kindlicher Unſchuld dieſe Sträuche an, indem ſie ihnen unter Schwüren gelobte, ſie niemals zu verletzen oder zu verbrennen, wenn dieſelben ſie verdecken und retten wollten. Da ſie aber Theſeus zurückrief, mit der Verſicherung, ihr nichts zu Leide zu thun, vielmehr auf's Beſte für ſie zu ſorgen, kam ſie hervor und blieb ſeitdem in ſeinem Geleite. Er gab ſie ſpäter dem Deio¬ neus, dem Sohne des Königes Eurytus von Oechalia282 zur Gattin. Ihre ganze Nachkommenſchaft hielt den Schwur und verbrannte nie eines von den Gewächſen, welche ihre Ahnfrau geſchirmt hatten.

Aber nicht nur von verderblichen Menſchen ſäuberte er den Weg, auf welchem er einherzog, auch gegen ſchäd¬ liche Thiere glaubte er, auch hierin dem Herkules ähnlich, den Kampf wagen zu müſſen. So erlegte er denn unter anderm die Phäa, ſo hieß das kromyoniſche Schwein, welches kein gemeines Thier, ſondern ſtreitbar und ſchwer zu be¬ ſiegen war. Ueber ſolchen Thaten kam er an die Gränze von Megara, und ſtieß hier auf den Sciron, einen dritten berüchtigten Straßenräuber, der ſeinen Aufenthalt auf den hohen Felſen zwiſchen dem Megarerlande und Attika genommen hatte. Dieſer pflegte aus frechem Muthwil¬ len den Fremden ſeine Füße vorzuhalten, mit dem Be¬ fehle ſie zu waſchen, und während dieß geſchah, ſtürzte er ſie mit einem Tritt in's Meer. Dieſelbe Todesſtrafe vollzog nun Theſeus an ihm ſelber. Schon auf attiſchem Gebiete, bei der Stadt Eleuſis begegnete er dem Wege¬ lagerer Cercyon; dieſer forderte die Vorbeireiſenden zum Ringkampfe auf und, wenn er ſiegte, brachte er ſie um. Theſeus nahm ſeine Ausforderung an, überwand ihn und befreite die Welt von dem Ungeheuer. Nachdem er nun eine kleine Strecke weiter gereist war, kam er zu dem lezten und grauſamſten jener Straßenräuber, dem Dama¬ ſtes, den aber jedermann nur unter ſeinem Beinamen Prokruſtes, d. h. der Gliedausrecker, kannte. Dieſer hatte zwei Bettſtellen, eine ſehr kurze und eine ſehr lange. Kam nun ein Fremder in ſein Gehege, der klein war, ſo führte ihn der finſtere Räuber beim Schlafengehen zur langen Bettſtelle. Wie du ſiehſt, ſprach er dann, iſt283 meine Lagerſtatt für dich viel zu groß; laß dir das Bette anpaſſen, Freund! und damit reckte er ihm die Glieder ſo lange auseinander, bis er den Geiſt aufgab; kam aber ein langer Gaſt, ſo brachte er ihn zur kurzen Bett¬ ſtelle; und zu dieſem ſagte er: es iſt mir leid, Guter, daß mein Lager nicht für dich gemacht und viel zu klein iſt, doch dem ſoll bald geholfen ſeyn! und ſo hieb er ihm die Füße ab, ſo weit ſie das Bett überragten. Die¬ ſen, der ein Rieſe von Natur war, legte er in das kleine Bett des Räubers ſelbſt und ſchnitt ihm den Leib zuſam¬ men, daß er jämmerlich umkam. So widerfuhr den mei¬ ſten dieſer Verbrecher von der Hand des Theſeus nach der Weiſe ihres eigenen Unrechtes ihr Recht.

Auf ſeiner ganzen bisherigen Reiſe war dem The¬ ſeus nichts Freundliches begegnet. Endlich aber, als er zum Fluſſe Cephiſſus kam, traf er auf einige Männer aus dem Geſchlechte der Phytaliden, bei denen er gaſtfreie Aufnahme fand. Vor allen Dingen reinigten ſie ihn auf ſeine Bitte mit den gewohnten Gebräuchen vom vergoſ¬ ſenen Blute und bewirtheten ihn in ihrem Hauſe. Nach¬ dem er ſich gütlich gethan und den wackern Leuten ſeinen Dank mit herzlichen Worten bezeugt, lenkte er ſeine Schritte der nahen väterlichen Heimath zu.

Theſeus in Athen.

Zu Athen fand der junge Held nicht den Frieden und die Freude, die er erwartet hatte. Bei der Bürger¬ ſchaft herrſchte Verwirrung und Zwietracht, und das Haus ſeines Vaters Aegeus ſelbſt fand er in trauriger284 Lage. Medea, die auf ihrem Drachenwagen Corinth und den verzweifelnden Jaſon verlaſſen hatte, war zu Athen angekommen, hatte ſich in die Gunſt des alten Aegeus eingeſchlichen und verſprochen, durch ihre Zaubermittel ihm die Kraft ſeiner Jugend zurückzugeben. Deswegen lebte der König mit ihr in vertrautem Verhältniſſe. Durch ihren Zauber hatte das furchtbare Weib vorher Kunde von der Ankunft des Theſeus erhalten und nun überre¬ dete ſie den Aegeus, den der Parteizwiſt ſeiner Bürger mit Argwohn erfüllte, den Fremdling, in welchem der Greis den Sohn nicht ahnte, und den ſie ihm als einen gefährlichen Späher darzuſtellen wußte, als Gaſt zu be¬ wirthen und mit Gift aus dem Wege zu räumen. So erſchien denn Theſeus unerkannt beim Frühmahle und freute ſich den Vater ſelbſt entdecken zu laſſen, wen er vor ſich habe. Schon war ihm der Giftbecher vorgeſetzt, und Medea harrte mit Ungeduld auf den Augenblick, wo der neue Ankömmling, von dem ſie aus dem Hauſe vertrieben zu werden fürchtete, die erſten Züge daraus thun würde, die wirkſam genug ſeyn ſollten, ihm die jungen wachſamen Augen für immer zu ſchließen. Theſeus aber, den mehr nach der Umarmung ſeines Vaters als nach dem Becher verlangte, zog, ſcheinbar um das vorgelegte Fleiſch zu zerſchneiden, das Schwert, das ſein Vater für ihn un¬ ter den Felsblock hinterlegt hatte, damit Aegeus es gewahr werden und den Sohn in ihm erkennen ſollte. Dieſer ſah nicht ſobald das ihm wohlbekannte Schwerdt blinken, als er den Giftbecher umwarf, und nachdem er ſich durch einige Fragen vollends überzeugt hatte, daß er den vom Schickſal erſehnten Sohn in junger Heldenblüthe vor ſich habe, ſo ſchloß er ihn in ſeine Arme. Sofort285 ſtellte der Vater ihn der Verſammlung des Volkes vor, dem er die Abentheuer ſeiner Reiſe erzählen mußte, und das den früh erprobten Helden mit freudigem Jauchzen begrüßte. Gegen die falſche Medea hatte der König Ae¬ geus jetzt einen Abſcheu gefaßt, und die mordluſtige Zau¬ berin wurde aus dem Lande vertrieben.

Theſeus bei Minos.

Die erſte That, die Theſeus verrichtete, ſeitdem er als Königsſohn und Erbe des attiſchen Throns an ſeines Vaters Seite lebte, war die Aufreibung der fünfzig Söhne ſeines Oheims Pallas, welche früher gehofft hatten, den Thron zu erlangen, wenn Aegeus ohne Kinder ſtürbe, und welche ergrimmt waren, daß jetzt nicht bloß ein ange¬ nommener Sohn des Pandion, wie Aegeus war, König der Athener ſey, ſondern daß auch in Zukunft ein herge¬ laufener Fremdling die Herrſchaft über ſie und das Land führen ſollte. Sie griffen daher zu den Waffen und leg¬ ten dem Ankömmling einen Hinterhalt. Aber der Herold, den ſie mit ſich führten und der ein fremder Mann war, ver¬ rieth dieſen Plan dem Theſeus, der nun plötzlich ihren Hinterhalt überfiel und alle fünfzig niedermachte. Um durch dieſe blutige Nothwehr die Gemüther des Volkes nicht von ſich abzukehren, zog hierauf Theſeus auf ein gemeinnützliches Wageſtück aus, bezwang den Maratho¬ niſchen Stier, der den Bewohnern der attiſchen Stadt Tetrapolis nicht wenig Noth verurſacht hatte, führte ihn zur Schau durch die Stadt, und opferte ihn endlich dem Apollo.

286

Um dieſe Zeit kamen von der Inſel Creta zum Drit¬ tenmal Abgeordnete des Königs Minos, um den ge¬ bräuchlichen Tribut abzuholen. Mit demſelben verhielt es ſich alſo: der Sohn des Minos, Androgeus, war, wie die Sage ging, im Attiſchen Gebiete durch Hinterliſt ge¬ tödtet worden. Dafür hatte ſein Vater die Einwohner mit einem verderblichen Kriege heimgeſucht; und die Göt¬ ter ſelbſt hatten das Land durch Dürre und Seuchen ver¬ wüſtet. Da that das Orakel Apollo's den Spruch, der Zorn der Götter und die Leiden der Athener würden aufhören, wenn ſie den Minos beſänftigten und ſeine Verzeihung erlangen könnten. Hierauf hatten ſich die Athener mit Bitten an ihn gewendet und Frieden erhal¬ ten unter der Bedingung, daß ſie alle neun Jahre ſieben Jünglinge und ſieben Jungfrauen als Tribut nach Creta ſchicken ſollten. Dieſe ſollen nun von Minos in ſein be¬ rühmtes Labyrinth eingeſchloſſen worden ſeyn, und dort ſoll ſie der gräßliche Minotaurus, ein zwitterhaftes Ge¬ ſchöpf, das halb Menſch und halb Stier war, getödtet haben, oder ſie ſollen auf andere Weiſe verſchmachtet ſeyn. Als nun die Zeit des dritten Tributes herbeigekommen war, und die Väter, welche unverheirathete Söhne und Töchter hatten, dieſe dem entſetzlichen Looſe unterwerfen mußten, da erneuerte ſich der Unwille der Bürger gegen Aegeus, und ſie fingen an darüber zu murren, daß er, der Urheber des ganzen Unheils, allein ſeinen Theil an der Strafe nicht zu leiden habe, und nachdem er einen hergelaufenen Baſtard zum Nachfolger ernannt, gleichgül¬ tig zuſehe, wie ihnen ihre rechtmäßigen Kinder entriſſen würden. Den Theſeus, der ſich ſchon gewöhnt hatte, das Geſchick ſeiner neuen Mitbürger nicht als ein frem¬287 des zu betrachten, ſchmerzten dieſe Klagen. Er ſtand in der Volksverſammlung auf und erklärte ſich bereit, an dem Tribut Theil zu nehmen und ſich ſelbſt ohne Loos hin¬ zugeben. Alles Volk bewunderte ſeinen Edelmuth und aufopfernden Bürgerſinn, auch blieb ſein Entſchluß, ob¬ gleich ſein Vater ihn mit den dringendſten Bitten be¬ ſtürmte, daß er ihn des unerwarteten Glückes, einen Sohn und Erben zu beſitzen, doch nicht ſobald wieder berauben ſolle, unerſchütterlich feſt. Seinen Vater aber beruhigte er durch die zuverſichtliche Verſicherung, daß er mit den herausgelosten Jünglingen und Jungfrauen nicht in das Verderben gehe, ſondern den Minotaurus bezwingen werde. Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer nach Creta hinüberführte, zum Zeichen ihrer Rettungslo¬ ſigkeit mit ſchwarzem Segel abgeſendet worden. Jetzt aber, als Aegeus ſeinen Sohn mit ſo kühnem Stolze ſprechen hörte, rüſtete er zwar das Schiff noch auf dieſelbe Weiſe aus: doch gab er dem Steuermann ein anderes Segel von weißer Farbe mit, und befahl ihm, wenn Theſeus gerettet zurückkehre, dieſes auszuſpannen: wo nicht, mit dem ſchwarzen zurückzukehren, und ſo das Unglück zum Voraus anzukündigen.

Als nun das Loos gezogen war, führte der junge Theſeus die Knaben und Mädchen, die es getroffen hatte, zuerſt in den Tempel des Apollo, und brachte dem Gott in ihrem Namen den mit weißer Wolle umwunde¬ nen Oelzweig, das Weihgeſchenk der Schutzſtehenden, dar. Nachdem er das feierliche Gebet geſprochen, ging er von allem Volke begleitet mit den auserleſenen Jüng¬ lingen und Jungfrauen ans Meeresufer hinab und beſtieg das Trauerſchiff.

288

Das Orakel zu Delphi hatte ihm gerathen, er ſolle die Göttin der Liebe zur Führerin wählen und ihr Ge¬ leite ſich erbitten. Theſeus verſtand dieſen Spruch nicht, brachte jedoch der Venus ein Opfer dar. Der Erfolg aber gab der Weiſſagung ihren guten Sinn. Denn als Theſeus auf Creta gelandet hatte und vor dem Könige Minos erſchienen war, zog ſeine Schönheit und Helden¬ jugend die Augen der reizenden Königstochter Ariadne auf ſich. Sie geſtand ihm ihre Zuneigung in einer ge¬ heimen Unterredung und händigte ihm einen Knäul Fa¬ den ein, deſſen Ende er am Eingange des Labyrinthes feſtknüpfen und den er während des Hinſchreitens durch die verwirrenden Irrgänge in der Hand ablaufen laſſen ſollte, bis er an die Stelle gelangt wäre, wo der Mino¬ taurus ſeine gräßliche Wache hielt. Zugleich übergab ſie ihm ein gefeytes Schwerdt, womit er dieſes Un¬ geheuer tödten könnte. Theſeus ward mit allen ſeinen Gefährten von Minos in das Labyrinth geſchickt, machte den Führer ſeiner Genoſſen, erlegte mit ſeiner Zauber¬ waffe den Minotaurus und wand ſich mit allen, die bei ihm waren, durch Hülfe des abgeſpulten Zwirns aus den Höhlengängen des Labyrinthes glücklich heraus. Jetzt entfloh Theſeus ſammt allen ſeinen Gefährten mit Hülfe und in Begleitung Ariadne's, die der junge Held, be¬ glückt durch den lieblichen Kampfpreis, den er unerwar¬ tet errungen, mit ſich führte. Auf ihren Rath hatte er auch den Boden der kretiſchen Schiffe zerhauen und ſo ihrem Vater das Nachſetzen unmöglich gemacht. Schon glaubte er ſeine holde Beute ganz in Sicherheit und kehrte mit Ariadne ſorglos auf der Inſel Dia ein, die ſpäter Naxos genannt wurde. Da erſchien ihm der289 Gott Bacchus im Traum, erklärte, daß Ariadne die ihm vom Schickſal beſtimmte Braut ſey, und drohte ihm alles Unheil, wenn Theſeus die Geliebte nicht ihm überlaſſen würde. Theſeus war von ſeinem Großvater in Götter¬ furcht erzogen worden: er ſcheute den Zorn des Gottes, ließ die wehklagende, verzagende Königstochter auf der einſamen Inſel zurück und ſchiffte weiter. In der Nacht erſchien Ariadne's rechter Bräutigam, Bac¬ chus, und entführte ſie auf den Berg Drios; dort ver¬ ſchwand zuerſt der Gott, bald darauf ward auch Ariadne unſichtbar. Theſeus und ſeine Gefährten waren über den Raub der Jungfrau tief betrübt. In ihrer Traurigkeit vergaßen ſie, daß ihr Schiff noch die ſchwarzen Segel aufgezogen hatte, mit welchen es die attiſche Küſte ver¬ laſſen; ſie unterließen es, dem Befehle des Aegeus zu folge die weißen Tücher aufzuſpannen und das Schiff flog in ſeiner ſchwarzen Trauertracht der Heimathküſte entgegen. Aegeus befand ſich eben an der Küſte als das ſchwarze Schiff herangeſegelt kam, und genoß von einem Felſenvorſprunge die Ausſicht auf die offene See. Aus der Farbe der Segel ſchloß er, daß ſein Sohn todt ſey. Da erhub er ſich von dem Felſen, auf dem er ſaß, und im unbegränzten Schmerze des Lebens überdrüſſig, ſtürzte er ſich in die jähe Tiefe. Indeſſen war Theſeus gelan¬ det und, nachdem er im Hafen die Opfer dargebracht hatte, die er bei der Abfahrt den Göttern gelobt, ſchickte er einen Herold in die Stadt, die Rettung der ſieben Jünglinge und ſieben Jungfrauen und ſeine eigene zu verkündigen. Der Bote wußte nicht, was er von dem Empfange denken ſollte, der ihm in der Stadt zu Theil ward. Während die Einen ihn voll Freude bewillkommtenSchwab, das klaſſ. Alterthum I. 19290und als den Ueberbringer froher Botſchaft bekränzten, fand er andere in tiefe Trauer verſenkt, die ſeinen fröh¬ lichen Worten gar kein Gehör ſchenkten. Endlich löste ſich ihm das Räthſel durch die erſt allmählich ſich ver¬ breitende Nachricht vom Tode des Königes Aegeus. Der Herold nahm nun zwar die Kränze in Empfang, ſchmückte aber damit nicht ſeine Stirne, ſondern nur den Herolds¬ ſtab und kehrte ſo zum Geſtade zurück. Hier fand er den Theſeus noch im Tempel mit der Darbringung des Dank¬ opfers beſchäftigt, er blieb daher vor der Thüre des Tempels ſtehen, damit die heilige Handlung nicht durch die Trauernachricht geſtört würde. Sobald das Brand¬ opfer ausgegoſſen war, meldete er des Aegeus Ende. Theſeus warf ſich, vom Schmerz wie vom Blitze getrof¬ fen zur Erde, und als er ſich wieder aufgerafft hatte, eilten alle, nicht unter Freudenjubel, wie ſie es ſich ge¬ dacht hatten, ſondern unter Wehgeſchrei und Klageruf in die Stadt.

Theſeus als König.

Nachdem Theſeus unter vielen Klagen ſeinen Vater beſtattet hatte, weihte er dem Apollo, was er ihm gelobt hatte. Das Schiff, in welchem er mit den attiſchen Jüng¬ lingen und Jungfrauen abgefahren und gerettet zurückge¬ kehrt war, ein Fahrzeug von dreißig Rudern, wurde zum ewigen Andenken von den Athenern aufbewahrt, indem das abgängige Holz immer wieder durch neues erſetzt ward. Und ſo wurde dieſer heilige Ueberreſt alter Hel¬291 denzeit noch geraume Zeit nach Alexander dem Großen den Freunden des Alterthums gezeigt.

Theſeus, der jetzt König geworden war, zeigte bald, daß er nicht nur ein Held in Kampf und Fehde ſey, ſondern auch fähig einen Staat einzurichten und ein Volk im Frieden zu beglücken. Hierin that er es ſelbſt ſeinem Vorbilde Herkules zuvor. Er unternahm nämlich ein großes und bewundernswürdiges Werk. Vor ſeiner Re¬ gierung wohnten die meiſten Einwohner Attika's zerſtreut um die Burg und kleine Stadt Athen herum, auf einzel¬ nen Bauerhöfen und weilerartigen Dörfern. Sie konnten daher nur ſchwer zuſammengebracht werden, um über öf¬ fentliche Angelegenheiten zu rathſchlagen; ja bisweilen geriethen ſie auch über kleinliche Gegenſtände des Nach¬ barbeſitzes miteinander in Streit. Theſeus nun war es, der alle Bürger des attiſchen Gebietes in Eine Stadt vereinigte, und ſo aus den zerſtreuten Gemeinden einen gemeinſchaftlichen Staat bildete; und dieſes große Werk brachte er nicht wie ein Tyrann durch Gewalt zu Stande, ſondern er reiſte bei den einzelnen Gemeinden und Ge¬ ſchlechtern herum, und ſuchte ihre freiwillige Einſtimmung zu erlangen. Die Armen und Niedrigen bedurften keiner lan¬ gen Ermahnung, ſie konnten bei dem Zuſammenleben mit den Vermöglicheren nur gewinnen; den Mächtigen und Reichen aber verſprach er Beſchränkung der Königsgewalt, die bisher zu Athen unbeſchränkt geweſen war, und eine vollkommen freie Verfaſſung. Ich ſelbſt, ſprach er, will nur euer Anführer im Kriege und Beſchützer der Geſetze ſeyn, im Uebrigen ſoll allen meinen Mitbürgern Gleichheit der Rechte geſtattet werden. Dieſes leuchtete vielen der Vornehmen ein; andere, denen die Umwand¬19 *292lung der Staatsverhältniſſe weniger willkommen war, fürchteten ſich vor ſeiner Beliebtheit beim Volke, der großen Macht, die er bereits beſaß und ſeinem wohlbekann¬ ten kühnen Muthe. Sie wollten daher lieber der Ueber¬ redung desjenigen nachgeben, der ſie zwingen konnte.

So hob er denn alle einzelnen Rathhäuſer und unab¬ hängigen Obrigkeiten in den Gemeinden auf, und grün¬ dete ein allen gemeinſames Rathhaus mitten in der Stadt, ſtiftete auch ein Feſt für alle Staatsbürger, welches er das Allathenerfeſt nannte. Erſt jetzt wurde Athen zu einer förmlichen Stadt, und auch ſein Name Athen wurde jetzt erſt recht gangbar. Vorher war es nichts anders als eine Königsburg geweſen, Cekropsburg von ihrem Gründer benannt, und nur wenige Bürgershäuſer waren darum hergeſtanden. Um dieſe neue Stadt noch mehr zu vergrößern, rief er unter Zuſicherung gleicher Bürger¬ rechte aus allen Gegenden neue Anſiedler herbei, denn er wollte in Athen einen allgemeinen Völkerverein grün¬ den. Damit aber die zuſammengeſtrömte Menſchenmenge nicht Unordnung in den neu begründeten Staat brächte, theilte er das Volk zuerſt in Edle, Landbauern und Hand¬ werker, und wies jedem Stande ſeine eigenthümlichen Rech¬ te und Pflichten zu, ſo daß die Edeln durch Anſehen und Amtsthätigkeit, die Landbauern durch ihre Nützlichkeit, die Handwerker durch ihre Menge den Vorzug zu haben ſchienen. Seine eigene Gewalt als König beſchränkte er, wie er verſprochen hatte, und machte ſie von dem Rathe der Edeln und der Verſammlung des Volkes ab¬ hängig.

293

Der Amazonenkrieg.

Während Theſeus damit beſchäftigt war, den Staat durch Götterfurcht zu befeſtigen, und daher den Dienſt der Athene (Minerva) als Schutzgöttin des Landes be¬ gründete, auch dem Neptunus zu Ehren, deſſen beſon¬ derer Schützling er war und für deſſen Sohn er lange gegolten hatte, die heiligen Kampfſpiele auf dem Iſth¬ mus von Corinth einführte, oder doch erneuerte, wie einſt Herkules die olympiſchen Spiele dem Jupiter an¬ geordnet hatte, wurde Athen von einem ſeltſamen und auſſerordentlichen Kriege heimgeſucht. Theſeus hatte nämlich in jüngeren Jahren auf einem Fehdenzuge an der Küſte der Amazonen gelandet, und dieſe, die nicht män¬ nerſcheu waren, flohen ſo wenig vor dem ſtattlichen Hel¬ den, daß ſie ihm vielmehr Gaſtgeſchenke zuſandten. Dem Theſeus aber gefielen nicht nur die Geſchenke, ſondern auch die ſchöne Amazone, die deren Ueberbringerin war. Dieſe hieß Hippolyte, und der Held lud ſie ein, ſein Schiff zu beſuchen; als ſie dieſes beſtiegen hatte, fuhr er mit ſeinem ſchönen Raube davon. Zu Athen angekom¬ men, vermählte er ſich mit ihr. Hippolyte war nicht ungerne die Gemahlin eines Helden und eines herrlichen Königs. Aber das ſtreitbare Weibervolk der Amazonen war über jenen frechen Raub entrüſtet, und noch als derſelbe längſt vergeſſen ſchien, ſannen ſie auf Rache, nahmen eine Gelegenheit wahr, wo der Staat der Athe¬ ner unbewacht ſchien, und plötzlich eines Tages landeten ſie mit einer Schiffeſchaar, bemächtigten ſich des Landes und umzingelten die Stadt, in welche ſie im Sturm ein¬ brachen. Ja ſie ſchlugen mitten in derſelben ein ordent¬294 liches Lager und die erſchrockenen Einwohner hatten ſich auf die Burg zurückgezogen. Beide Theile verzögerten darauf aus Scheu den Angriff; endlich begann Theſeus den Kampf von der Burg herab, nachdem er dem Orakel gemäß dem Gotte des Schreckens ein Opfer gebracht hatte. Anfangs wichen die atheniſchen Männer dem Andrange der fremden Mannweiber und wurden bis zu dem Tempel der Furien zurückgedrängt. Dann aber er¬ neuerte ſich der Kampf von einer andern Seite her; der rechte Flügel der Amazonen wurde bis zu ihrem Lager zurückgetrieben und viele wurden getödtet. Die Königin Hippolyte ſoll in dieſer Schlacht, ihres Urſprungs un¬ eingedenk, mit ihrem Gemahl gegen die Amazonen ge¬ kämpft haben. Ein Wurfſpieß traf ſie an Theſeus Seite und ſtreckte ſie todt darnieder. Ihrem Gedächtniß wurde ſpäter eine Säule zu Athen errichtet. Den ganzen Krieg beſchloß ein Friedensſchluß, dem zu Folge die Amazonen Athen verließen und in ihr Vaterland zurückkehrten.

Theſeus und Pirithous. Lapithen - und Centaurenkampf.

Theſeus ſtand im Rufe außerordentlicher Stärke und Tapferkeit. Pirithous, einer der berühmteſten Helden des Alterthums, ein Sohn Ixions, empfand Luſt, ihn auf die Probe zu ſetzen, und trieb Rinder, die jenem gehörten, von Marathon weg; und als ihm zu Ohren kam, daß Theſeus die Waffen in der Hand ihm nachſetze, da hatte er, was er wollte, und floh nicht, ſondern wandte ſich um, ihm entgegen zu gehen. Als die beiden Helden ein¬ ander nahe genug waren, um einer den andern zu meſ¬295 ſen, da wurde jeder von Bewunderung der ſchönen Ge¬ ſtalt und der Kühnheit des Andern ſo ſehr ergriffen, daß ſie wie auf ein gegebenes Zeichen die Streitwaffen zu Boden warfen und auf einander zueilten. Pirithous ſtreckte dem Theſeus die Rechte entgegen und forderte ihn auf, ſelbſt als Schiedsrichter über den Raub der Rinder zu entſcheiden: welche Genugthuung Theſeus be¬ ſtimmen werde, der wolle er ſich freiwillig unterwerfen. Die einzige Genugthuung, die ich verlange, erwiederte Theſeus mit leuchtendem Blicke, iſt die, daß du aus einem Feinde und Beſchädiger mein Freund und Kampfgenoſſe werdeſt! Nun umarmten ſich die beiden Helden und ſchwuren einander treue Freundſchaft zu.

Als hierauf Pirithous die theſſaliſche Fürſtentochter Hippudamia, aus dem Geſchlechte der Lapithen, freite, lud er auch ſeinen Waffenbruder Theſeus zu der Hochzeit. Die Lapithen, unter denen die Feſtlichkeit gefeiert wurde, wa¬ ren ein berühmter Stamm Theſſaliens, rohe, zur Thiergeſtalt ſich neigende Bergmenſchen, die erſten Sterblichen, welche Pferde bändigen lernten. Die Braut aber, welche dieſem Ge¬ ſchlechte entſproßt war, hatte nichts den Männern dieſes Stammes Aehnliche. Sie war holdſelig von Geſtalt, zar¬ ten jungfräulichen Antlitzes und ſo ſchön, daß den Piri¬ thous alle Gäſte um ihretwillen glückſelig prieſen. Alle Fürſten Theſſaliens waren bei dem Feſte erſchienen; aber auch die Verwandten des Pirithous, die Centauren fan¬ den ſich ein, die Halbmenſchen, die von dem Ungeheuer abſtammten, das die Wolke, welche Ixion, der Vater des Pirithous, anſtatt der Juno umarmt hatte, dieſem dereinſt geboren: daher ſie auch alle zuſammen die Wolkenſöhne hießen. Dieſe waren die beſtändigen Feinde der Lapithen.

296

Dießmal aber hatte die Verwandtſchaft mit dem Bräuti¬ gam ſie den alten Groll vergeſſen laſſen und zu dem Freudenfeſte herbeigelockt. Die feſtliche Hofburg des Pi¬ rithous erſcholl von wirrem Getümmel; Brautlieder wurden geſungen, von Gluth, Wein und Speiſen dampf¬ ten die Gemächer. Der Pallaſt faßte nicht alle die Gäſte. Lapithen und Centauren, in bunten Reihen ge¬ mengt, ſaßen an geordneten Tiſchen in baumumſchatteten Grotten zu Gaſte.

Lange rauſchte das Feſt in ungeſtörter Fröhlichkeit. Da begann vom vielen Genuſſe des Weines das Herz des wildeſten unter den Centauren, Eurytion, zu ra¬ ſen, und der Anblick der ſchönen Jungfrau Hippodamia verführte ihn zu dem tollen Gedanken, dem Bräutigam ſeine Braut zu rauben. Niemand wußte wie es gekom¬ men war, niemand hatte den Beginn der unſinnigen That bemerkt, aber auf einmal ſahen die Gäſte den wü¬ thenden Eurytion, wie er die ſich ſträubende und hülfe¬ rufende Hippodamia an den Haaren gewaltſam auf dem Boden ſchleifte. Seine Unthat war für die weinerhitzte Schaar der Centauren ein Zeichen, Gleiches zu wagen; und ehe die fremden Helden und die Lapithen ſich von ihren Sitzen erhoben hatten, hielt ſchon jeder der Cen¬ tauren eins der theſſaliſchen Mädchen, die am Hofe des Königes dienten, oder als Gäſte bei der Hochzeit zuge¬ gen waren, mit rohen Händen als eine Beute gefaßt. Die Hofburg und die Gärten glichen einer eroberten Stadt. Das Geſchrei der Weiber hallte durch das weite Haus. Schnell ſprangen Freunde und Geſchlechtsverwandte der Braut von ihren Sitzen empor. Welche Verblendung treibt dich, Eurytion, rief Theſeus, den Pirithous zu297 reizen, während Ich noch lebe, und ſo zwei Helden in Ei¬ nem zu kränken? Mit dieſem Worte drängte er auf die Stürmenden ein und entriß dem wüthenden Räuber die Geraubte. Eurytion ſprach nichts darauf, denn er konnte ſeine That nicht vertheidigen, ſondern er hub ſeine Hand gegen Theſeus auf und verſetzte dieſem einen Schlag auf die Bruſt. Aber Theſeus griff da ihm keine Waffe zur Hand war einen ehernen Krug mit erha¬ bener Arbeit, der zufällig neben ihm ſtand; dieſen ſchmet¬ terte er dem Gegner in's Antlitz, daß er rücklings in den Sand fiel und Gehirn und Blut zugleich aus der Kopfwunde drang. Zu den Waffen! ſcholl es jetzt von allen Seiten an den Centaurentiſchen; zuerſt flogen Becher, Flaſchen und Näpfe; dann entriß ein tempel¬ räuberiſches Unthier die Weihgeſchenke den benachbarten heiligen Stätten; ein anderer riß die Lampe herab, die über dem Mahle voll Kerzen brannte, wieder ein anderer focht mit einem Hirſchgeweih, das an den Wänden der Grotte als Schmuck und Weihgeſchenk hing. Ein ent¬ ſetzliches Gemetzel wurde unter den Lapithen angerichtet. Rhötus, der Schlimmſte nach Eurytion, ergriff die größte Brandfackel vom Altare und bohrte ſie einem ſchon ver¬ wundeten Lapithen wie ein Schwerdt in die klaffende Wunde, daß das Blut wie Eiſen in der Eſſe ziſchte. Gegen dieſen jedoch hub der tapferſte Lapithe, Dryas, einen im Feuer geglühten Pfahl und durchbohrte ihn zwiſchen Nacken und Schulter. Der Fall dieſes Cen¬ tauren that dem Morden ſeiner raſenden Geſellen Ein¬ halt und Dryas vergalt nun den Wüthenden, indem er fünf hinter einander niederſtreckte. Jetzt flog auch der Speer des Helden Pirithous und durchbohrte einen rie¬298 ſigen Centauren, den Peträus, wie er gerade einen Eichen¬ ſtamm aus der Erde zu rütteln bemüht war, um damit zu kämpfen; ſo wie er den Stamm eben umklammert hielt, heftete der Speer ſeine ſchwer athmende Bruſt ans knorrige Eichenholz. Ein zweiter, Diktys, fiel vor den Streichen des griechiſchen Helden und zerknickte im Fal¬ len eine mächtige Eſche. Ein dritter wollte dieſen rä¬ chen, wurde aber von Theſeus mit einem Eichpfahl zer¬ malmt. Der ſchönſte und jugendlichſte unter den Cen¬ tauren war Cyllarus; goldfarben ſein langes Lockenhaar und ſein Bart, ſein Antlitz freundlich, Nacken, Schultern, Hände und Bruſt wie vom Künſtler geformt, auch der untere Theil ſeines Körpers, der Roßleib, war ohne Fehle, der Rücken bequem zum Sitzen, die Bruſt hoch¬ gewölbt, die Farbe pechſchwarz, nur Beine und Ro߬ ſchweif lichtfarbig. Er war mit ſeiner Geliebten, der ſchönen Centaurin Hylonome, bei'm Feſt erſchienen, die ſich bei'm Mahle liebkoſend an ihn lehnte, und auch jetzt mit ihm vereint im wüthenden Kampf an ſeiner Seite focht. Dieſen traf, von unbekannter Hand, eine leichte Wunde in's Herz, daß er ſterbend ſeiner Geliebten in die Arme ſank. Hylonome pflegte ſeine ſterbenden Glieder, küßte ihn und verſuchte vergebens den entfliehenden Athem aufzuhalten. Als ſie ihn verſcheiden ſah, zog ſie ihm den Wurfpfeil aus dem Herzen und ſtürzte ſich darein.

Noch lange wüthete der Kampf zwiſchen den Lapi¬ then und den Centauren fort, bis die letzteren ganz un¬ terlegen waren und nur Flucht und Nacht dem weitern Gemetzel ſie entrückte. Jetzt blieb Pirithous im unbe¬ ſtrittenen Beſitze ſeiner Braut, und Theſeus verabſchie¬ dete ſich am andern Morgen von ſeinem Freunde. Der299 gemeinſchaftliche Kampf hatte das friſchgeknüpfte Band dieſer Verbrüderung ſchnell in einen unauflöslichen Kno¬ ten zuſammengezogen.

Theſeus und Phädra.

Theſeus ſtand jetzt auf dem Wendepunkte ſeines Glücks. Gerade ein Verſuch, daſſelbe nicht nur auf Abentheuern zu ſuchen, ſondern es ſich an ſeinem eigenen Herde zu gründen, ſtürzte ihn in ſchwere Drangſal. Als der Held in der Blüthe ſeiner Thaten und in den erſten Jünglingsjahren die Geliebte ſeiner Jugend Ariadne ih¬ rem Vater Minos aus Creta entführte, wurde dieſe von ihrer kleinen Schweſter Phädra begleitet, welche nicht von ihr weichen wollte, und, nachdem Ariadne von Bac¬ chus geraubt worden war, den Theſeus nach Athen be¬ gleitete, weil ſie nicht wagen durfte, zu ihrem tyranni¬ ſchen Vater zurückzukehren. Erſt als ihr Vater geſtor¬ ben war, ging das aufblühende Mädchen in ihre Hei¬ math Creta zurück und erwuchs dort in dem Königs¬ hauſe ihres Bruders Deukalion, der als der älteſte Sohn des Königes Minos die Inſel jetzt beherrſchte, zu einer ſchönen und klugen Jungfrau heran. Theſeus, der nach dem Tode ſeiner Gemahlin Hippolyta lange Zeit unver¬ mählt geblieben war, hörte viel von ihren Reizen und hoffte, ſie an Schönheit und Anmuth ſeiner erſten Ge¬ liebten, ihrer Schweſter Ariadne ähnlich zu finden; Deu¬ kalion, der neue König von Creta, war auch dem Helden nicht abhold und ſchloß, als Theſeus von der blutigen Hochzeit ſeines theſſaliſchen Freundes zurückgekehrt war,300 ein Schutz - und Trutzbündniß mit den Athenern. An ihn wandte ſich nun Theſeus mit ſeiner Bitte, ihm die Schweſter Phädra zur Gemahlin zu geben. Sie wurde ihm nicht verſagt, und bald führte der Sohn des Aegeus die Jungfrau aus Creta heim, die wirklich von Geſtalt und äußerer Sitte der Geliebten ſeiner Jugend ſo ähnlich war, daß Theſeus die Hoffnung ſeiner jungen Jahre im ſpäteren Mannesalter erfüllt glauben konnte. Da¬ mit zu ſeinem Glücke nichts fehlen konnte, gebar ſie in den erſten Jahren ihrer Ehe dem Könige zwei Söhne, den Akamas und den Demophon. Aber Phädra war nicht ſo gut und getreu, als ſie ſchön war. Ihr gefiel der junge Sohn des Königes, Hippolytus, der ihres Al¬ ters war, beſſer als der greiſe Vater. Dieſer Hippolytus war der einzige Sohn, den die von Theſeus entführte Amazone ihrem Gemahl geboren hatte. In früher Ju¬ gend hatte dieſen Sohn der Vater nach Trözen geſchickt, um ihn bei den Brüdern ſeiner Mutter Aethra erziehen zu laſſen. Wie er erwachſen war, kam der ſchöne und züch¬ tige Jüngling, der ſein ganzes Leben der reinen Göttin Diana zu weihen beſchloſſen und noch keiner Frau ins Auge geſchaut hatte, nach Athen und Eleuſis, um hier die Myſterien mitfeiern zu helfen. Da ſah ihn Phädra zum erſtenmale; ſie glaubte ihren Gatten verjüngt wie¬ der zu ſehen, und ſeine ſchöne Geſtalt und Unſchuld ent¬ flammte ihr Herz zu unreinen Wünſchen; doch verſchloß ſie ihre verkehrte Leidenſchaft noch in ihre Bruſt. Als der Jüngling abgereist war, erbaute ſie auf der Burg von Athen der Liebesgöttin einen Tempel, von wo aus man nach Trözen blicken konnte, und der ſpäter den Namen Tempel der Venus Fernſchauerin erhielt. Hier301 ſaß ſie Tage lang, den Blick auf das Meer gerichtet. Als endlich Theſeus eine Reiſe nach Trözen machte, ſeine dortigen Verwandten und den Sohn zu beſuchen, beglei¬ tete ihn ſeine Gemahlin dorthin und verweilte geraume Zeit daſelbſt. Auch hier kämpfte ſie noch lange mit dem unlautern Feuer in ihrer Bruſt, ſuchte die Einſamkeit und verweinte ihr Elend unter einem Myrthenbaume. End¬ lich aber vertraute ſie ſich ihrer alten Amme, einem ver¬ ſchmitzten und ihrer Gebieterin in blinder und thörichter Liebe ergebenen Weibe, an, die es bald über ſich nahm, den Jüngling von der ſtrafbaren Leidenſchaft ſeiner Stiefmutter zu unterrichten. Aber der unſchuldige Hippo¬ lytus hörte ihren Bericht mit Abſcheu an, und ſein Ent¬ ſetzen ſtieg, als ihm die pflichtvergeſſene Stiefmutter ſo¬ gar den Antrag machen ließ, den eigenen Vater vom Throne zu ſtoßen und mit der Ehebrecherin Zepter und Herrſchaft zu theilen. In ſeinem Abſcheu fluchte er allen Weibern und meinte ſchon durch das bloße Anhören eines ſo ſchändlichen Vorſchlags entweiht zu ſeyn. Und weil Theſeus gerade abweſend von Trözen war denn dieſen Zeitpunkt hatte das treuloſe Weib erſpäht ſo erklärte Hippolytus auch keinen Augenblick mit Phädra unter Einem Dache verweilen zu wollen, ſondern machte ſich, nachdem er die Amme nach Gebühr abgefertigt, ins Freie, um im Dienſte ſeiner geliebten Herrin, der Göt¬ tin Diana, in den Wäldern zu jagen und ſo lange dem Königshauſe nicht wieder zu nahen, bis ſein Vater zu¬ rückgekehrt ſeyn würde und er ſein gepeinigtes Herz vor ihm ausſchütten könnte.

Phädra vermochte die Abweiſung ihrer verbrecheri¬ ſchen Anträge nicht zu überleben. Das Bewußtſeyn ihres302 Frevels und die unerhörte Leidenſchaft ſtritten ſich in ih¬ rer Bruſt; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als Theſeus zurückkehrte, fand er ſeine Gattin erhängt und in ihrer krampfhaft zuſammengeballten Rechten einen von ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem ge¬ ſchrieben ſtand: Hippolytus hat nach meiner Ehre ge¬ trachtet; ſeinen Nachſtellungen zu entfliehen iſt mir nur Ein Ausweg geblieben. Ich bin geſtorben, ehe ich die Treue meinem Gatten verletzt habe.

Lange ſtand Theſeus vor Entſetzen und Abſcheu wie eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er ſeine Hände gen Himmel und betete: Vater Neptunus, der du mich ſtets geliebt haſt, wie dein leibliches Kind, du haſt mir einſt drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wolleſt und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne ich dich an dein Verſprechen. Nur Eine Bitte will ich erfüllt haben; laß meinem verfluchten Sohn an dieſem Tage die Sonne nicht mehr untergehen! Kaum hatte er dieſen Fluch ausgeſprochen, als auch Hippolytus von der Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr ſeines Vaters unterrichtet, in den Pallaſt einging und der Spur des Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen des Vaters erwiederte der Sohn mit ſanfter Ruhe: Vater, mein Gewiſſen iſt jungfräulich. Ich weiß mich dieſer Unthat nicht ſchuldig. Aber Theſeus hielt ihm den Brief der Stiefmutter entgegen und verbannte ihn ungerichtet aus dem Lande. Hippolytus rief ſeine Schutzgöttin, die jungfräuliche Diana, zur Zeugin ſeiner Unſchuld auf und ſagte ſeinem zweiten Heimathlande Trözen unter Seufzern und Thränen Lebewohl.

303

Noch am Abende deſſelben Tages ſuchte den König Theſeus ein Eilbote auf und ſprach, als er vor ihn ge¬ ſtellt war: Herr und König, dein Sohn Hippolytus ſieht das Tageslicht nicht mehr! Theſeus empfing dieſe Botſchaft ganz kalt und ſagte mit bitterem Lächeln: hat ihn ein Feind erſchlagen, deſſen Weib er entehrt hat, wie er das Weib des Vaters entehren wollte? Nein, Herr! erwiederte der Bote. Sein eigener Wa¬ gen und der Fluch deines Mundes haben ihn umge¬ bracht! O Neptunus, ſprach Theſeus, die Hände dankend gen Himmel erhoben, ſo haſt du dich mir heute als ein rechter Vater bezeigt und meine Bitte erhört! Aber ſprich, Bote, wie hat mein Sohn geendet, wie hat meinen Ehrenſchänder die Keule der Vergeltung getrof¬ fen? Der Bote fing an zu erzählen: Wir Diener ſtriegelten am Meeresufer die Roſſe unſeres Herrn Hip¬ polytus, als die Botſchaft von ſeiner Verbannung und bald er ſelbſt kam, von einer Schaar wehklagender Ju¬ gendfreunde begleitet und uns Roſſe und Wagen zur Abfahrt zu rüſten befahl. Als Alles bereit war, hub er die Hände gen Himmel und betete: Jupiter, mögeſt du mich vertilgen, wenn ich ein ſchlechter Mann war! Und möge, ſey ich nun todt oder lebendig, mein Vater erfah¬ ren, daß er mich ohne Fug entehrt! Dann nahm, er den Roſſeſtachel zur Hand, ſchwang ſich auf den Wagen, er¬ griff die Zügel und fuhr von uns Dienern begleitet auf dem Wege nach Argos und Epidaurien davon. Wir waren ſo an's öde Meergeſtade gekommen, zu unſerer Rechten die Fluth, zur Linken von den Hügeln vorſprin¬ gende Felsblöcke, als wir plötzlich ein tiefes Geräuſch vernahmen, unterirdiſchem Donner ähnlich. Die Roſſe304 wurden aufmerkſam und ſpitzten ihr Ohr; und wir alle ſahen uns ängſtlich um, woher der Schall käme. Als unſer Blick auf das Meer fiel, zeigte ſich uns hier eine Welle, die thurmhoch gen Himmel ragte und alle Aus¬ ſicht auf das weitere Ufer und den Iſthmus uns benahm; der Waſſerſchwall ergoß ſich bald mit Schaum und To¬ ſen über das Ufer, gerade auf den Pfad zu, den die Roſſe gingen. Mit der tobenden Welle zugleich aber ſpie die See ein Ungeheuer aus, einen rieſenhaften Stier, von deſſen Brüllen das Ufer und die Felſen wiederhall¬ ten. Dieſer Anblick jagte den Pferden eine plötzliche Angſt ein. Unſer Herr jedoch, an's Lenken der Roſſe gewöhnt, zog den Zügel mit beiden Händen ſtraff an, und gebrauchte deſſelben, wie ein geſchickter Steuermann ſein Ruder regiert. Aber die Roſſe waren läufig ge¬ worden, biſſen den Zaum und rannten dem Lenker un¬ gehorſam davon. Aber wie ſie nun auf ebener Straße fort¬ jagen wollten, vertrat ihnen das Seeungeheuer den Weg; bogen ſie ſeitwärts zu den Felſen um, ſo drängte es ſie ganz hinüber, indem es den Rädern dicht zur Seite trabte. So geſchah es endlich, daß auf der andern Seite die Radfelgen auf die Felſen aufzuſitzen kamen, und dein unglücklicher Sohn kopfüber vom Wagen ge¬ ſtürzt und mit ſammt dem umgeworfenen von den Roſ¬ ſen, die ohne Führer dahin ſtürmten, über Sand und Felsgeſtein dahin geſchleift wurde. Alles ging viel zu ſchnell, als daß wir begleitenden Diener dem Herrn hät¬ ten zu Hülfe kommen können. Halbzerſchmettert hauchte er den Zuruf an ſeine ſonſt ſo gehorſamen Roſſe und die Wehklage über den Fluch ſeines Vaters in die Lüfte. Eine Felsecke entzog uns den Anblick. Das Meerungeheuer305 war verſchwunden, wie vom Boden eingeſchlungen. Wäh¬ rend nun die übrigen Diener athemlos die Spur des Wa¬ gens verfolgten, bin ich hierher geeilt, o König, das jammervolle Schickſal deines Sohnes dir zu verkünden!

Theſeus ſtarrte auf dieſen Bericht lange ſprachlos zu Boden. Ich freue mich nicht über ſein Unglück; ich beklage es nicht, ſprach er endlich nachſinnend und in Zweifel vertieft. Könnte ich ihn doch lebend noch ſehen, ihn befragen, mit ihm handeln über ſeine Schuld. Dieſe Rede wurde durch das Wehgeſchrei einer alten Frau un¬ terbrochen, die mit grauem, fliegendem Haar und zerriſſe¬ nem Gewande herbeieilend die Reihen der Dienerſchaft trennte und dem Könige Theſeus ſich zu Füßen warf. Es war die greiſe Amme der Königin Phädra, die auf das Gerücht von Hippolytus jämmerlichem Untergange von ihrem Gewiſſen gefoltert, nicht länger ſchweigen konnte, und unter Thränen und Geſchrei die Unſchuld des Jünglings und die Schuld ihrer Gebieterin dem Kö¬ nig offenbarte. Ehe der unglückliche Vater recht zur Be¬ ſinnung kommen konnte, wurde auf einer Tragbahre von wehklagenden Dienern ſein Sohn Hippolytus, zerſchmettert, aber noch athmend, in den Pallaſt und vor ſeine Augen getragen. Theſeus warf ſich reumüthig und verzweifelnd über den Sterbenden, der ſeine letzten Lebensgeiſter zu¬ ſammenraffte und an die Umſtehenden die Frage richtete: Iſt meine Unſchuld erkannt? Ein Wink der Nächſtſte¬ henden gab ihm dieſen Troſt: Unglückſeliger, getäuſch¬ ter Vater , ſprach der ſterbende Jüngling, ich vergebe dir! und verſchied.

Er wurde von Theſeus unter denſelben Myrthen¬ baum begraben, unter welchem einſt Phädra mit ihrerSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 20306Liebe gekämpft und deſſen Blätter ſie oft, in der Ver¬ zweiflung an den Aeſten zerrend, zerriſſen hatte, und wo nun, als an ihrem Lieblingsplatz, ihre Leiche beigeſetzt worden war, denn der König wollte ſeine Gemahlin im Tode nicht entehren.

Theſeus auf Frauenraub.

Durch die Verbindung mit dem jungen Helden Pirithous erwachte in dem verlaſſenen und alternden Theſeus die Luſt zu kühnen und ſelbſt muthwilligen Abentheuern wieder. Dem Pirithous war ſeine Gattin Hippodamia nach kur¬ zem Beſitze geſtorben, und da auch Theſeus jetzt ehelos war, ſo gingen Beide auf Frauenraub aus. Damals war die nachher ſo berühmt gewordene Helena, die Toch¬ ter Jupiters und der Leda, die in dem Pallaſte ihres Stiefvaters Tyndareus zu Sparta aufwuchs, noch ſehr jung. Aber ſie war ſchon die ſchönſte Jungfrau ihrer Zeit und ihre Anmuth fing an, in ganz Griechenland be¬ kannt zu werden. Dieſe ſahen Theſeus und Pirithous, als ſie auf dem genannten Raubzuge nach Sparta kamen, in einem Tempel der Diana tanzen. Beide wurden von Liebe zu ihr entzündet. Sie raubten ſie in ihrem Ueber¬ muth aus dem Heiligthum und brachten ſie zuerſt nach Tegea in Arkadien. Hier warfen ſie das Loos über die¬ ſelbe und einer verſprach dem andern brüderlich, ihm, wenn das Loos ihn verfehle, zum Raub einer andern Schön¬ heit behülflich zu ſeyn. Das Loos theilte die Beute dem Theſeus zu, und nun brachte ſie dieſer nach Aphidnä im attiſchen Gebiete, übergab die Jungfrau dort ſeiner Mut¬307 ter Aethra und ſtellte ſie unter den Schutz ſeines Freun¬ des. Darauf zog Theſeus weiter mit ſeinem Waffenbru¬ der und beide ſannen auf eine Herkuliſche That. Piri¬ thous entſchloß ſich nemlich, die Gemahlin Pluto's, Proſer¬ pina, der Unterwelt zu entführen und ſich durch ihren Beſitz für den Verluſt Helena's zu entſchädigen. Daß ihnen dieſer Verſuch mißglückte und ſie von Pluto zu ewigem Sitzen in der Unterwelt verdammt wurden, daß Her¬ kules, der Beide befreien wollte, nur den Theſeus aus dem Hades erretten konnte, iſt ſchon erzählt worden. Wäh¬ rend nun Theſeus auf dieſem unglücklichen Zuge abweſend war und in der Unterwelt gefangen ſaß, machten ſich die Brüder Helena's, Caſtor und Pollux auf und rückten ge¬ gen Attika heran, um ihre Schweſter Helena zu befreien. Indeſſen verübten ſie anfangs keine Feindſeligkeiten im Lande, ſondern kamen friedlich nach Athen und forderten hier die Zurückgabe Helena's. Als aber die Leute in der Stadt antworteten, daß ſie weder die junge Fürſtin bei ſich hätten, noch wüßten, wo Theſeus ſie zurückgelaſſen, wurden ſie zornig und ſchickten ſich, mit den ſie be¬ gleitenden Schaaren, zum wirklichen Kriege an. Jetzt erſchracken die Athener, und einer aus ihrer Mitte, mit Namen Akademus, der das Geheimniß des Theſeus auf irgend eine Art erfahren hatte, entdeckte den Brüdern, daß der Ort, wo ſie verborgen gehalten werde, Aphidnä ſey. Vor dieſe Stadt rückten nun Caſtor und Pollux, ſiegten in einer Schlacht und eroberten den Platz mit Sturm.

Zu Athen hatte ſich inzwiſchen auch Anderes begeben, was für Theſeus ungünſtig war. Meneſtheus, der Sohn des Peteos, ein Urenkel des Erechtheus, hatte ſich als20 *308Volksführer und Schmeichler der Menge gegen den leer¬ ſtehenden Thron aufgelehnt, und auch die Vornehmen auf¬ gewiegelt, indem er ihnen vorſtellte, wie der König ſie dadurch, daß er ſie von ihren Landſitzen in die Stadt hereingezogen, zu Unterthanen und Sklaven gemacht habe. Dem Volk aber hielt er vor, wie es, dem Traume der Freiheit zu lieb, ſeine ländlichen Heiligthümer und Götter habe verlaſſen müßen, und ſtatt von vielen guten einhei¬ miſchen Herren abhängig zu ſeyn, einem Fremdling und Deſpoten diene. Wie nun Aphidnä's Eroberung durch die Tyndariden Athen mit Schrecken erfüllte, da benützte Meneſtheus auch dieſe Stimmung des Volkes. Er bewog die Bürger, den Söhnen des Tyndareus, welche die Jung¬ frau Helena, ihren Wächtern entriſſen, mit ſich führten, die Stadt zu öffnen und ſie freundlich zu empfangen, da dieſelben nur gegen Theſeus, als den Räuber des Mädchens, Krieg führten. Ihr Betragen bewies, daß Meneſtheus dießmal wahr geſprochen hatte: denn obgleich ſie durch offene Thore in Athen einzogen und alles dort in ihrer Gewalt war, ſo thaten ſie doch Niemand etwas zu Leide, verlangten vielmehr nur, wie andere vornehme Athener und Verwandte des Herkules, in den Geheimdienſt der eleuſiniſchen Myſterien aufgenommen zu werden, und zogen dann mit ihrer geretteten Helena, von den Bürgern, die ſie liebten und ehrten, zur Stadt hinausgeleitet, wie¬ der in ihre Heimath.

Theſeus 'Ende.

In ſeiner langen Gefangenſchaft im Hades hatte Theſeus Zeit gehabt, das Unbeſonnene und Unedle ſeiner309 letzten Handlungsweiſe, die mit ſeinem übrigen Helden¬ thum gar nicht zuſammenſtimmte, zu erkennen und zu be¬ reuen. Er kam als ernſter Greis zurück, und vernahm die Rettung Helena's durch ihre Brüder nicht mit Un¬ willen, denn er ſchämte ſich ſeiner That. Mehr beküm¬ merte ihn die Zwietracht, die er im Staate antraf, und obgleich er die Zügel der Regierung wieder ergriff und die Partei des Meneſtheus zurückdrängte, genoß er doch keine rechte Ruhe mehr ſein Leben lang. Und als er das Ruder des Staates mit Ernſt führen wollte, brachen aufs Neue Empörungen gegen ihn aus, an deren Spitze immer Meneſtheus ſtand, welcher hinter ſich die Partei der Edeln hatte, die immer noch von Pallas, ſeinem Oheime, und deſſen beſiegten und erſchlagenen Söhnen ſich die Pallantiden nannten. Diejenigen, welche ihn vorher ge¬ haßt hatten, verlernten allmählig auch die Furcht vor ihm, und das gemeine Volk hatte Meneſtheus ſo verwöhnt, daß es, anſtatt zu gehorchen, immer nur geſchmeichelt wer¬ den wollte. Anfänglich verſuchte nun Theſeus gewalt¬ ſame Mittel; als aber aufwiegleriſche Umtriebe und of¬ fene Widerſetzlichkeit alle ſeine Bemühungen vereitelte, da beſchloß der unglückliche König ſeine unbotmäßige Stadt freiwillig zu verlaſſen, nachdem er ſchon vorher ſeine Söhne Akamas und Demophon heimlich nach Euböa zu dem Fürſten Elephenor geflüchtet hatte. In einem Flecken von Attika, Gargettus genannt, ſprach er feierliche Ver¬ wünſchungen gegen die Athener aus, da wo man noch lange nachher das Verwünſchungsfeld zeigte; dann ſchüt¬ telte er den Staub von ſeinen Füßen, und ſchiffte ſich nach Scyrus ein. Die Einwohner dieſer Inſel hielt er für ſeine beſondern Freunde, und er beſaß darauf310 anſehnliche Güter, die er von ſeinem Vater ererbt hatte.

Damals war Lykomedes König von Scyrus. Zu dieſem ging Theſeus und bat ſich von ihm ſeine Güter aus, um auf denſelben ſeinen Sitz zu nehmen. Aber das Geſchick hatte ihn einen ſchlimmen Weg geführt. Lykome¬ des, ſey es, daß er den großen Ruf des Mannes fürch¬ tete, ſey's, daß er mit Meneſtheus in geheimem Einver¬ ſtändniſſe war, dachte darauf, wie er den in ſeine Hände gegebenen Gaſt, ohne Aufſehen zu erregen, aus dem Wege räumen könnte. Er führte ihn deßwegen auf den höch¬ ſten Felſengipfel der Inſel, der ſchroff in das Land hin¬ ausſprang. Er wollte ihn, war ſein Vorgeben, die ſchö¬ nen Güter, die ſein Vater auf dem Eilande beſeſſen hatte, mit Einem Blick überſchauen laſſen. Theſeus, oben ange¬ kommen, ließ ſeine Augen gierig über die ſchönen Gefilde ſtreifen: da gab ihm der treuloſe König einen Stoß von hinten, daß er über die Felſen hinabſtürzte und nur ſein zerſchmetterter Leichnam in der Tiefe ankam.

Zu Athen war Theſeus von dem undankbaren Volke bald vergeſſen und Meneſtheus regierte, als wenn er den Thron von vielen Ahnen ererbt hätte. Die Söhne des Theſeus zogen mit dem Helden Elephenor als gemeine Krieger vor Troja. Viele Jahrhunderte ſpäter, nach dem glorreichen Kriege gegen die Perſer, befahl das Ora¬ kel von Delphi den Athenern, des Theſeus Gebeine zu holen und ehrenvoll zu beſtatten. Aber wo ſollten ſie die¬ ſelben ſuchen? Und wenn ſie auch auf der Inſel Scyrus das Grab gefunden hätten, wie ſollten ſie ſeine Ueberreſte aus den Händen roher und den Fremden unzugänglicher Barbaren erlöſen? Da geſchah es, daß der berühmte311 Athener Cimon, der Sohn des Miltiades, auf einem neu¬ en Feldzuge die Inſel Scyrus eroberte. Während er nun mit großem Eifer das Grab des Nationalheros auf¬ ſuchte, bemerkte er über einem Hügel einen Adler ſchwe¬ bend. Er machte halt an dieſer Stelle, und ſah bald, wie der Vogel herabſchoß und die Erde des Grabhügels mit ſeinen Krallen aufſcharrte. Cimon erblickte in die¬ ſem Zeichen eine göttliche Fügung, ließ nachgraben und fand tief in der Erde den Sarg eines großen Leichnams, daneben eine eherne Lanze und ein Schwert. Er und ſeine Begleiter zweifelten nicht daran, des Theſeus Ge¬ beine gefunden zu haben. Die heiligen Ueberreſte wurden von Cimon auf ein ſchönes Kriegsſchiff mit drei Ruder¬ bänken gebracht und in Athen mit Jubel, unter glänzen¬ den Aufzügen und Opfern empfangen. Es war, als ob Theſeus ſelbſt in die Stadt zurückkehrte. So bezahlten nach Jahrhunderten die Nachkommen dem Begründer der Freiheit und Bürgerverfaſſung Athens den Dank, den ihm eine ſchnöde Mitwelt ſchuldig geblieben war.

312

Die Sage von Oedipus.

Des Oedipus Geburt, Jugend, Flucht, Vatermord.

Laïus, Sohn des Labdakus, aus dem Stamme des Kadmus, war König von Thebe, und lebte mit Jokaſte, der Tochter eines vornehmen Thebaners, Menökeus, lange in kinderloſer Ehe. Da ihn nun ſehnlich nach ei¬ nem Erben verlangte und er darüber den delphiſchen Apoll um Aufſchluß befragte, wurde ihm ein Orakelſpruch des folgenden Inhalts zu Theil: Laïus, Sohn des Labda¬ kus! Du begehreſt Kinderſegen. Wohl; dir ſoll ein Sohn gewährt werden. Aber wiſſe, daß dir vom Geſchicke ver¬ hängt iſt, durch die Hand deines eigenen Kindes das Leben zu verlieren. Dieß iſt das Gebot Jupiters des Kroniden, der den Fluch des Pelops erhört hat, dem du den Sohn geraubt haſt. Laïus war nämlich in ſeiner Jugend landesflüchtig, und im Peloponneſe am Hofe des Königs Pelops als Gaſt aufgenommen worden. Er hatte aber ſeinem Wohlthäter mit Undank gelohnt, und Chryſippus, den ſchönen Sohn des Pelops, auf den nemäi¬ ſchen Spielen entführt. Dieſer Schuld ſich bewußt, glaubte Laïus dem Orakel, und lebte lange von ſeiner Gattin getrennt. Doch führte die herzliche Liebe, mit welcher ſie einander zugethan waren, trotz der Warnung des Schickſals, beide wieder zuſammen, und Iokaſte gebar end¬ lich ihrem Gemahl einen Sohn. Als das Kind zur Welt gekommen war, fiel den Eltern der Orakelſpruch wieder ein, und um dem Spruche des Gottes auszuwei¬ chen, ließen ſie den neugebornen Sohn nach drei Tagen313 mit durchſtochenen und zuſammengebundenen Füßen in das wilde Gebirge Cithäron werfen. Aber der Hirte, wel¬ cher den grauſamen Auftrag erhalten hatte, empfand Mit¬ leid mit dem unſchuldigen Kinde, und übergab es einem andern Hirten, der in demſelben Gebirge die Herden des Königes Polybus von Korinth weidete. Dann kehrte er wieder heim, und ſtellte ſich vor dem Könige und ſeiner Gemahlin Jokaſte, als hätte er den Auftrag erfüllt. Dieſe glaubten das Kind verſchmachtet oder von wilden Thie¬ ren zerriſſen und die Erfüllung des Orakelſpruches dadurch unmöglich gemacht. Sie beruhigten ihr Gewiſſen mit dem Gedanken, daß ſie durch die Aufopferung des Kindes daſ¬ ſelbe vor Vatermord behütet hätten und lebten jetzt erſt mit erleichtertem Herzen.

Der Hirte des Polybus löste indeſſen dem Kinde, das ihm, ohne daß er es wußte, woher es kam, übergeben worden war, die ganz durchbohrten Ferſen der Füße und nannte ihn von ſeinen Wunden Oedipus, das heißt Schwellfuß. So brachte er ihn nach Korinth zu ſeinem Herrn, dem Könige Polybus. Dieſer erbarmte ſich des Findlings, übergab ihn ſeiner Gemahlin Merope, und zog ihn als ſeinen eigenen Sohn auf, für den er auch am Hofe und im ganzen Lande galt. Zum Jünglinge heran¬ gereift, wurde er dort ſtets für den höchſten Bürger ge¬ halten und lebte ſelbſt in der glücklichen Ueberzeugung, Sohn und Erbe des Königes Polybus zu ſeyn, der keine andere Kinder hatte. Da ereignete ſich ein Zufall, der ihn aus dieſer Zuverſicht plötzlich in den Abgrund der Zweifel ſtürzte. Ein Korinther, der ihm ſchon längere Zeit aus Neid abhold war, rief an einem Feſtmahle, von Wein überfüllt, dem ihm gegenübergelagerten Oedipus314 zu, er ſey ſeines Vaters ächter Sohn nicht. Von dieſem Vorwurfe ſchwer betroffen, konnte der Jüngling das Ende des Mahles kaum erwarten; doch verſchloß er ſeinen Zweifel ſelbigen Tag noch kämpfend in der Bruſt. Am andern Morgen aber trat er vor ſeine beiden Eltern, die freilich nur ſeine Pflegeältern waren, und verlangte von ihnen Auskunft. Polybus und ſeine Gattin waren über den Schmäher, dem dieſe Rede entfallen war, ſehr auf¬ gebracht, und ſuchten ihrem Sohn ſeine Zweifel auszure¬ den, ohne ihm jedoch dieſelben durch eine runde Antwort zu heben. Die Liebe, die er in ihrer Aeuſſerung erkannte, war dieſem zwar ſehr erquicklich; aber jenes Mißtrauen nagte doch ſeitdem an ſeinem Herzen, denn die Worte ſeines Feindes waren zu tief eingedrungen. Endlich griff er heimlich zum Wanderſtabe, und ohne ſeinen Eltern ein Wort zu ſagen, ſuchte er das Orakel zu Delphi auf, und hoffte von ihm eine Widerlegung der ehrenrührigen Beſchuldigung zu vernehmen. Aber Phöbus Apollo wür¬ digte ihn dort keiner Antwort auf ſeine Frage, ſondern deckte ihm nur ein neues, weit grauenvolleres Unglück, das ihm drohte, auf. Du wirſt, ſprach das Orakel, deines eigenen Vaters Leib ermorden, deine Mutter heirathen, und den Menſchen eine Nachkommenſchaft von verab¬ ſcheuungswürdiger Art zeigen. Als Oedipus dieſes ver¬ nommen hatte, ergriff ihn unausſprechliche Angſt, und da ihm ſein Herz doch immer noch ſagte, daß ſo liebe¬ volle Eltern, wie Polybus und Merope, ſeine rechten Eltern ſeyn müßten, ſo wagte er es nicht in ſeine Hei¬ math zurückzukehren, aus Furcht, er mochte, vom Verhäng¬ niſſe getrieben, Hand an ſeinen geliebten Vater Polybus legen und, von den Göttern mit unwiderſtehlichem Wahn¬315 ſinne geſchlagen, ein verruchtes Ehebündniß mit ſeiner Mutter Merope eingehen. Von Delphi aufbrechend, ſchlug er den Weg nach Böotien ein. Er befand ſich noch auf der Straße zwiſchen Delphi und der Stadt Daulia, als er, an einen Kreuzweg gelangt, einen Wagen ſich entge¬ genkommen ſah, auf dem ein ihm unbekannter alter Mann mit einem Herolde, einem Wagenlenker und zwei Die¬ nern ſaß. Der Roſſelenker, zuſammt dem Alten, trieb den Fußgänger, der ihnen in den ſchmalen Pfad gekom¬ men war, ungeſtüm aus dem Wege. Oedipus, von Natur jähzornig, verſetzte dem trotzigen Wagenführer einen Schlag. Der Greis aber, wie er den Jüngling ſo keck auf den Wagen anſchreiten ſah, zielte ſcharf mit ſeinem doppelten Stachelſtabe, den er zur Hand hatte, und verſetzte ihm einen ſchweren Streich auf den Scheitel. Jetzt war Oedipus außer ſich gebracht: zum erſtenmal bediente er ſich der Heldenſtärke, die ihm die Götter verliehen hatten, erhub ſeinen Reiſeſtock und ſtieß den Alten, daß er ſich ſchnell rücklings vom Wagenſitze herabwälzte. Ein Handgemenge entſtand; Oedipus mußte ſich gegen ihrer Drei ſeines Le¬ bens erwehren; aber ſeine Jugendſtärke ſiegte, er er¬ ſchlug ſie alle, bis auf Einen, der entrann, und zog davon.

Ihm kam keine Ahnung in ſeine Seele, daß er etwas Anderes gethan, als aus Nothwehr ſich an einem gemeinen Phocier oder Böotier mit ſeinen Knechten, die ihm ſammt demſelben ans Leben wollten, gerächt habe. Denn der Greis, der ihm begegnet, trug kein Zeichen hö¬ herer Würde an ſich. Aber der Gemordete war Laïus, König von Theben, der Vater des Mörders geweſen, der auf einer Reiſe nach dem pythiſchen Orakel begriffen316 war; und alſo war die gedoppelte Weiſſagung, die Vater und Sohn erhalten, und der ſie beide entgehen woll¬ ten, an beiden vom Geſchick erfüllt worden. Ein Mann aus Platäa, mit Namen Damaſippus, fand die Leichen der Erſchlagenen am Kreuzwege liegen, er¬ barmte ſich ihrer, und begrub ſie. Ihr Denkmal aus angehäuften Steinen mitten im Kreuzwege ſah nach vie¬ len hundert Jahren noch der Wanderer.

Oedipus in Theben, heirathet ſeine Mutter.

Nicht lange Zeit, nachdem dieſes geſchehen, war vor den Thoren der Stadt Thebe in Böotien die Sphinx erſchie¬ nen, ein geflügeltes Ungeheuer, vorn wie eine Jungfrau, hin¬ ten wie ein Löwe geſtaltet. Sie war eine Tochter des Typhon und der Echidna, der ſchlangengeſtalteten Nymphe, der fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schweſter des Höllenhundes Cerberus, der Hyder von Lerna, und der feuerſpeienden Chimära. Dieſes Ungeheuer hatte ſich auf einen Felſen gelagert, und legte dort den Bewohnern von Thebe allerlei Räthſel vor, die ſie von den Muſen erlernt hatte. Erfolgte die Auflöſung nicht, ſo ergriff ſie denje¬ nigen, der es übernommen hatte, das Räthſel zu löſen, zerriß ihn und fraß ihn auf. Dieſer Jammer kam über die Stadt, als ſie eben um ihren König trauerte, der, Niemand wußte von wem auf einer Reiſe erſchla¬ gen worden war, und an deſſen Stelle Kreon, Bruder der Königin Jokaſte, die Zügel der Herrſchaft ergriffen hatte. Zuletzt kam es, daß dieſes Kreon eigener Sohn, dem die Sphinx auch ein Räthſel aufgegeben, und der es317 nicht gelöst hatte, ergriffen und gefreſſen worden war. Dieſe Noth bewog den Fürſten Kreon, öffentlich bekannt zu machen, daß demjenigen, der die Stadt von der Wür¬ gerin befreien würde, das Reich, und ſeine Schweſter Jokaſte als Gemahlin zu Theil werden ſollte. Eben als jene Bekanntmachung öffentlich verkündigt wurde, betrat Oedipus an ſeinem Wanderſtabe die Stadt Thebe. Die Gefahr, wie ihr Preis reizten ihn, zumal da er das Le¬ ben, wegen der drohenden Weiſſagung, die über ihm ſchwebte, nicht hoch anſchlug. Er begab ſich daher nach dem Felſen, auf dem die Sphinx ihren Sitz genommen hatte, und ließ ſich von ihr ein Räthſel vorlegen. Das Ungeheuer gedachte dem kühnen Fremdling ein recht un¬ auflösliches aufzugeben, und ihr Spruch lautetete alſo: Es iſt am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geſchöpfen wechſelt es allem mit der Zahl ſeiner Füße; aber eben wenn es die meiſten Füße bewegt, ſind Kraft und Schnelligkeit ſeiner Glieder ihm am geringſten. Oedipus lächelte, als er das Räthſel vernahm, das ihm ſelbſt gar nicht ſchwierig erſchien. Dein Räthſel iſt der Menſch, ſagte er, der am Morgen ſeines Lebens, ſo lang er ein ſchwaches und kraftloſes Kind iſt, auf ſeinen zween Füßen und ſeinen zwo Händen geht; iſt er erſtarkt, ſo geht er am Mittage ſeines Lebens nur auf den zween Füßen; iſt er endlich am Lebensabend als ein Greis angekommen, und der Stütze bedürftig geworden, ſo nimmt er den Stab als dritten Fuß zu Hülfe. Das Räthſel war glücklich gelöſt, und aus Schaam und Ver¬ zweiflung ſtürzte ſich die Sphinx ſelbſt vom Felſen und zu Tode. Oedipus trug zum Lohne das Königreich von Theben und die Hand der Wittwe, welche ſeine eigene318 Mutter war, davon. Jokaſte gebar ihm nach und nach vier Kinder, zuerſt die männlichen Zwillinge Eteokles und Polynices, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die jüngere Iſmene. Aber dieſe vier waren zugleich ſeine Kinder und ſeine Geſchwiſter.

Die Entdeckung.

Lange Zeit ſchlief das grauenhafte Geheimniß und Oedipus, bei manchen Gemüthsfehlern ein guter und ge¬ rechter König, herrſchte glücklich und geliebt an Jokaſte's Seite über Thebe. Endlich aber ſandten die Götter eine Peſt in das Land, die unter dem Volke grauſam zu wü¬ then begann, und gegen welche kein Heilmittel fruchten wollte. Die Thebaner ſuchten gegen das fürchterliche Uebel, in welchem ſie eine von den Göttern geſandte Geiſſel erblickten, Schutz bei ihrem Herrſcher, den ſie für einen Günſtling der Götter hielten. Männer und Frauen, Greiſe und Kinder, die Prieſter mit Oelzweigen an ihrer Spitze, erſchienen vor dem königlichen Pallaſte, ſetzten ſich um und auf die Stufen des Altars, der vor demſelben ſtand, und harrten auf die Erſcheinung ihres Gebieters. Als Oedipus durch den Zuſammenlauf heraus¬ gerufen aus ſeiner Königsburg trat, und nach der Urſache fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und Klagelaut erfüllt ſey, antwortete ihm im Namen aller der älteſte Prieſter: Du ſieheſt ſelbſt, o Herr, welches Elend auf uns laſtet: Triften und Felder verſengt uner¬ trägliche Hitze; in unſern Häuſern wüthet die verzehrende Seuche, umſonſt ſtrebt die Stadt aus den blutigen Wo¬319 gen des Verderbens ihr Haupt emporzutauchen. In dieſer Noth nehmen wir unſere Zuflucht zu dir, geliebter Herr¬ ſcher. Du haſt uns ſchon einmal von dem tödtlichen Zins erlöſt, mit welchem uns die grimmige Räthſelſän¬ gerin zehntete. Gewiß iſt dieß nicht ohne Götterhülfe geſchehen. Und darum vertrauen wir auf dich, daß du, ſey es bei Göttern oder Menſchen, uns auch dießmal Hülfe finden werdeſt. Arme Kinder, erwiederte Oedipus, wohl iſt mir die Urſache eures Flehens bekannt. Ich weiß, daß ihr kranket, aber niemand krankt im Her¬ zen ſo, wie ich. Denn mein Gemüth beſeufzt nicht nur Einzelne, ſondern die ganze Stadt! Darum erwecket ihr mich nicht wie einen Entſchlummerten aus dem Schlafe; ſondern hin und her habe ich im Geiſte nach Rettungs¬ mitteln geforſcht, und endlich glaube ich Eines gefunden zu haben. Denn mein eigener Schwager Kreon iſt von mir zum pythiſchen Apollo nach Delphi abgeſandt wor¬ den, daß er frage, welch 'Werk, oder welche That die Stadt befreien kann.

Noch ſprach der König, als auch Kreon ſchon unter die Menge trat und den Beſcheid des Orakels dem Kö¬ nige vor den Ohren des Volkes mittheilte. Dieſer lautete freilich nicht tröſtlich: der Gott befahl, einen Frevel, den das Land beherberge, hinauszujagen, und nicht das zu pflegen, was keine Säuberung zu ſühnen vermöge. Denn der Mord des Königes Laïus laſte als eine ſchwere Blutſchuld auf dem Lande. Oedipus, ganz ohne Ahnung, daß jener von ihm erſchlagene Greis derſelbe ſey, um deſſenwillen der Zorn der Götter ſein Volk heimſuche, ließ ſich die Ermordung des Königs erzählen, und noch immer blieb ſein Geiſt mit Blindheit geſchlagen. Er er¬320 klärte ſich berufen, für jenen Todten Sorge zu tragen, und entließ das verſammelte Volk. Sodann ließ er in’s ganze Land die Verkündigung ausgehen, wem irgend eine Kunde von dem Mörder des Laïus worden wäre, der ſollte Alles anzeigen, auch wer in fremdem Lande darum wüßte, dem ſollte für ſeine Angabe der Lohn und Dank der Stadt zu Theil werden. Der dagegen, der für einen Freund beſorgt, ſchweigen und die Schuld der Mitwiſſer¬ ſchaft von ſich abwälzen wollte, der ſollte von allem Götterdienſt, von Opfermahlen, ja von Umgang und Unterredung mit ſeinen Mitbürgern ausgeſchloſſen wer¬ den. Den Thäter ſelbſt endlich verfluchte er unter ſchauerlichen Betheurungen, wünſchte ihm Noth und Plage durch das ganze Leben an, und zuletzt das Verder¬ ben. Und das ſollte ihm widerfahren, ſelbſt wenn er am Herde des Königes verborgen lebte. Zu allem dem ſandte er zwei Boten an den blinden Seher Tireſias, der an Einſicht und Blick ins Verborgene faſt dem wahrſagenden Apollo ſelber gleich kam. Dieſer erſchien auch bald von der Hand eines leitenden Knaben geführt vor dem Könige und in der Volksverſammlung. Oedipus trug ihm die Sorge vor, die ihn und das ganze Land quäle. Er bat ihn, ſeine Seherkunſt anzuwenden, um ihnen auf die Spur des Mordes zu verhelfen.

Aber Tireſias brach in einen Wehruf aus, und ſprach, indem er ſeine Hände abwehrend gegen den König ausſtreckte: Entſetzlich iſt das Wiſſen, das dem Wiſ¬ ſenden nur Unheil bringt! Laß mich heimkehren, König; trag du das deine, und laß mich das meine tragen! Oedipus drang jetzt um ſo mehr in den Seher, und das Volk, das ihn umringte, warf ſich flehend vor ihm auf321 die Kniee! Als er aber auch ſo keine weitern Aufſchlüſſe geben zu wollen bereit war, da entbrannte der Jähzorn des Königs Oedipus, und er ſchalt den Tireſias als Mitwiſſer oder gar Fauſthelfer bei der Ermordung des Laïus. Ja, wenn er nur ſehend wäre, ſo traute er ihm allein die Unthat zu. Dieſe Beſchuldigung löste dem blin¬ den Propheten die Zunge. Oedipus, ſprach er, ge¬ horche deiner eigenen Verkündigung. Rede mich nicht, rede Keinen aus dem Volke fürder an. Denn du ſelbſt biſt der Greuel, der dieſe Stadt beſudelt! Ja, du biſt der Königsmörder, du biſt derjenige, der mit den Theuer¬ ſten in fluchwürdigem Verhältniſſe lebt.

Oedipus war nun einmal verblendet: er ſchalt den Seher einen Zauberer, einen ränkevollen Gaukler; er warf Verdacht auch auf ſeinen Schwager Kreon, und beſchuldigte beide der Verſchwörung gegen den Thron, von welchem ſie durch ihre Lügengeſpinnſte ihn, den Er¬ retter der Stadt, ſtürzen wollten. Aber nur noch näher bezeichnete ihn jetzt Tireſias als Vatermörder und Gatten der Mutter, weiſſagte ihm ſein nahe bevorſtehendes Elend und entfernte ſich zürnend an der Hand ſeines kleinen Führers. Auf die Beſchuldigung des Königes war indeſ¬ ſen auch der Fürſt Kreon herbeigeeilt und es hatte ſich ein heftiger Wortwechſel zwiſchen Beiden entſponnen, den Jokaſte, die ſich zwiſchen die Streitenden warf, vergeblich zu beſchwichtigen ſuchte. Kreon ſchied unverſöhnt und im Zorn von ſeinem Schwager.

Noch blinder als der König ſelbſt war ſeine Ge¬ mahlin Jokaſte. Sie hatte kaum aus dem Munde des Gatten erfahren, daß Tireſias ihn den Mörder des Laïus genannt, als ſie in laute Verwünſchungen gegen SeherSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 21322und Seherweisheit ausbrach. Sieh nur, Gemahl, rief ſie, wie wenig die Seher wiſſen; ſieh es an einem Bei¬ ſpiel! Mein erſter Gatte Laïus hatte auch einſt ein Orakel erhalten, daß er durch Sohneshand ſterben werde. Nun erſchlug aber jenen eine Räuberſchaar am Kreuzweg, und unſer einziger Sohn wurde, an den Füßen gebunden, in's öde Gebirge geworfen und nicht über drei Tage alt. So erfüllen ſich die Sprüche der Seher! Dieſe Worte, die die Königin mit Hohnlachen ſprach, machten auf Oedipus einen ganz andern Eindruck, als ſie erwartet hatte. Am Kreuzweg, fragte er in höchſter Gemüths¬ angſt, iſt Laïus gefallen? O ſprich, wie war ſeine Ge¬ ſtalt, ſein Alter? Er war groß, antwortete Jokaſte, ohne die Aufregung ihres Gatten zu begreifen, die erſten Greiſenlocken ſchmückten ſein Haupt; er war dir ſelbſt, mein Gemahl, von Geſtalt und Anſehen gar nicht unähn¬ lich. Tireſias iſt nicht blind, Tireſias iſt ſehend! rief entſetzenvoll Oedipus, dem die Nacht ſeines Geiſtes auf einmal, wie durch einen Blitzſtrahl, erleuchtet ward. Doch trieb ihn das Gräßliche ſelber, weiter danach zu forſchen, als müßten auf ſeine Fragen Antworten kom¬ men, welche die ſchreckliche Entdeckung auf einmal als Irrthum darſtellten. Aber alle Umſtände trafen zuſam¬ men, und zuletzt erfuhr er, daß ein entronnener Diener den ganzen Mord gemeldet habe. Dieſer Knecht aber habe, ſowie er den Oedipus auf dem Throne ſah, flehent¬ lich gebeten, ihn ſoweit als möglich von der Stadt weg auf die Waiden des Königes zu ſchicken. Oedipus be¬ gehrte ihn zu ſehen und der Sklave wurde vom Lande hereinbeſchieden. Ehe er jedoch noch ankam, erſchien ein Bote aus Korinth, meldete dem Oedipus den Tod323 ſeines Vaters Polybus und rief ihn auf den erledigten Thron des Landes.

Bei dieſer Botſchaft ſprach die Königin abermals tri¬ umphirend: hohe Götterſprüche, wo ſeyd ihr? Der Va¬ ter, den Oedipus umbringen ſollte, iſt ſanft an Alters¬ ſchwäche verſchieden! Anders wirkte die Nachricht auf den frömmeren König Oedipus, der, obgleich er noch im¬ mer gerne geneigt war, den Polybus für ſeinen Vater zu halten, es doch nicht begreifen konnte, wie ein Götter¬ ſpruch unerfüllt bleiben ſollte. Auch wollte er nicht nach Corinth gehen, weil ſeine Mutter Merope dort noch lebte und der andere Theil des Orakels, ſeine Heirath mit der Mutter, immer noch erfüllt werden konnte. Dieſen Zwei¬ fel benahm ihm freilich der Bote bald. Er war derſelbe Mann, der vor vielen Jahren das neugeborne Kind von einem Diener des Laïus auf dem Berge Cithäron em¬ pfangen und ihm die durchbohrten und gebundenen Fer¬ ſen gelöſt hatte. Er bewies dem Könige leicht, daß er nur ein Pflegeſohn, wiewohl Erbe des Königes Polybus von Corinth ſey. Ein dunkler Trieb nach Wahrheit ließ den Oedipus nach jenem Diener des Laïus verlangen, der ihn als Kind dem Corinther übergeben hatte. Von ſeinem Ge¬ ſinde erfuhr er, daß dieß derſelbe Hirt ſey, der, von dem Morde des Laïus entronnen, jetzt an der Gränze das Vieh des Königes waide.

Als Jokaſte ſolches hörte, verließ ſie ihren Gemahl und das verſammelte Volk mit einem lauten Wehruf. Oedipus, der ſein Auge abſichtlich mit Nacht zu bedecken ſuchte, mißdeutete ihre Entfernung. Gewiß befürchtet ſie, ſprach er zu dem Volke, als ein Weib voll Hoch¬ muth, die Entdeckung, daß ich unedlen Stammes ſey. Ich21*324aber halte mich für einen Sohn des Glückes, und ſchäme mich dieſer Abkunft nicht! Jetzt nahte ſich der greiſe Hirte, der aus der Ferne herbeigeholt worden war und von dem Corinther ſogleich als derjenige erkannt wurde, der ihm einſt den Knaben auf dem Cithäron übergeben hatte. Der alte Hirt aber war ganz blaß vor Schre¬ cken und wollte alles läugnen; nur auf die zornigen Dro¬ hungen des Oedipus, der ihn mit Stricken zu binden be¬ fahl, ſagte er endlich die Wahrheit: wie Oedipus der Sohn des Laïus und der Jokaſte ſey, wie der furchtbare Götterſpruch, daß er den Vater ermorden werde, ihn in ſeine Hände geliefert, er aber ihn aus Mitleid erhalten habe.

Jokaſte und Oedipus ſtrafen ſich.

Aller Zweifel war nun gehoben und das Entſetzliche enthüllt. Mit einem wahnſinnigen Schrei ſtürzte Oedipus davon, irrte in dem Pallaſt umher und verlangte nach einem Schwerdt, um das Ungeheuer, das ſeine Mutter und Gattin ſey, von der Erde zu vertilgen. Da ihm, wie einem Raſenden, alles aus dem Wege ging, ſuchte er gräßlich heulend ſein Schlafgemach auf, ſprengte das verſchloſſene Doppelthor und brach hinein. Ein grauen¬ hafter Anblick hemmte ſeinen Lauf. Mit fliegendem und zerrauftem Haupthaar ſah er hier, hoch über dem Lager ſchwebend, Jokaſte, die ſich mit einem Strang die Kehle zugeſchnürt und erhängt hatte. Nach langem Hinſtarren nahte ſich Oedipus der Leiche mit brüllendem Stöhnen, ließ das hochaufgezogene Seil zur Erde herab, daß ſich325 die Leiche auf den Boden ſenkte, und, wie ſie nun vor ihm ausgeſtreckt lag, riß er die goldgetriebenen Bruſt¬ ſpangen aus dem Gewande der Frau. Dieſe hob er hoch in der Rechten auf, fluchte ſeinen Augen, daß ſie nimmer ſchauen ſollten, was er that und duldete, und wühlte mit dem ſpitzen Gold in denſelben, bis die Augäpfel durchbohrt waren und ein Blutſtrom aus den Höhlen drang. Dann verlangte er, ihm, dem Geblendeten, das Thor zu öffnen, ihn herauszuführen, ihn dem ganzen Thebanervolk, als den Vatermörder, als den Muttergatten, als einen Fluch des Himmels und ein Scheuſal der Erde vorzuſtellen. Die Diener erfüllten ſein Verlangen, aber das Volk em¬ pfing den einſt ſo geliebten und verehrten Herrſcher nicht mit Abſcheu, ſondern mit innigem Mitleid. Kreon ſelbſt, ſein Schwager, den ſein ungerechter Verdacht gekränkt hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu verſpotten, wohl aber um den fluchbelaſteten Mann dem Sonnenlicht und dem Auge des Volkes zu entziehen und ihm dem Kreiſe ſeiner Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Oedipus rührte ſo viel Güte. Er übergab ſeinem Schwager den Thron, den er ſeinen jungen Söhnen aufbewahren ſollte, und er¬ bat ſich für ſeine unſelige Mutter ein Grab, für ſeine verwaiſten Töchter den Schutz des neuen Herrſchers: für ſich ſelbſt aber begehrte er Ausſtoſſung aus dem Lande, das er mit doppeltem Frevel beſudelt, und Ver¬ bannung auf den Berg Cithäron, den ſchon die Aeltern ihm zum Grabe beſtimmt hatten, und wo er jetzt leben oder ſterben wollte, je nach der Götter Willen. Dann verlangte er noch nach ſeinen Töchtern, deren Stimme er noch einmal hören wollte, und legte ſeine Hand auf ihre unſchuldigen Häupter. Den Kreon ſegnete er für326 alle Liebe, die dieſer ihm, der es nicht um ihn verdient hätte, erwieſen, und wünſchte ihm und allem Volke beſſern Schutz der Götter, denn er ſelbſt erfahren hatte.

Dann führte ihn Kreon in das Haus zurück, und der jüngſt noch verherrlichte Retter Thebe's, der mächtige Herrſcher, dem viele Tauſende gehorchten, der Oedipus, der ſo tiefe Räthſel erforſcht und ſo ſpät erſt das eigene furchtbare Räthſel ſeines Lebens gelöſt hatte, ſollte, einem blinden Bettler gleich, durch die Thore ſeiner Vaterſtadt und an die Gränzen ſeines Königreichs wandern.

Oedipus und Antigone.

In der erſten Stunde der Entdeckung wäre der ſchnellſte Tod dem Oedipus der liebſte geweſen, ja er hätte es als eine Wohlthat aufgenommen, wenn das Volk ſich gegen ihn erhoben und ihn geſteinigt hätte. Und ſo erſchien ihm auch die Verbannung, um welche er flehte, und welche ſein Schwager Kreon ihm bewilligte, als ein Geſchenk. Als er aber in ſeiner Finſterniß zu Hauſe ſaß, und der Zorn allmählig auskochte, da fing er auch an, das Gräßliche zu empfinden, was das Herumirren eines blinden Verbannten in der Fremde für ihn haben mußte. Die Liebe zur Heimath begann mit dem Gefühle wieder zu erwachen, daß er für nicht beabſichtigte und nicht mit Bewußtſeyn begangene Verbrechen, theils durch den Tod Jokaſte's, theils durch die Blendung, die er an ſich ſelbſt vollzogen habe, doch eigentlich genug beſtraft ſey, und er ſcheute ſich auch nicht, den Wunſch zu Hauſe zu bleiben, gegen Kreon und ſeine eigenen Söhne Eteokles327 und Polynices laut werden zu laſſen. Aber da zeigte ſich, daß die Rührung des Fürſten Kreon nur eine vor¬ übergehende geweſen und auch ſeine Söhne eine harte und ſelbſtſüchtige Gemüthsart hatten. Kreon nöthigte ſei¬ nen unglücklichen Verwandten, auf ſeinem erſten Beſchluſſe zu verharren, und die Söhne, deren erſte Pflicht doch war, dem Vater zu helfen, verweigerten ihm ihren Bei¬ ſtand. Ja faſt ohne daß ein Wort gewechſelt wurde, gab man ihm den Bettelſtab in die Hand und ſtieß ihn zum Königspallaſte von Thebe hinaus. Nur ſeine Töch¬ ter fühlten kindliches Erbarmen mit dem Verſtoßenen. Die jüngere Tochter Iſmene blieb im Hauſe ihrer Brü¬ der zurück, um hier ſo viel als möglich der Sache des Vaters zu dienen und gleichſam der Anwalt des Ent¬ fernten zu ſeyn. Die ältere, Antigone, theilte mit dem Vater die Verbannung und lenkte die Schritte des Blin¬ den. So zog ſie mit ihm auf ſchwerer Irrfahrt herum, ſchweifte unbeſchuht und ohne Speiſe mit ihm durch die wilden Wälder; Sonnenhitze und Regenguß hielt die zarte Jungfrau mit dem Vater aus, und während ſie zu Hauſe bei den Brüdern die beſte Pflege genießen konnte, war ſie im Elende zufrieden, wenn nur der Vater ſatt wurde. Sein Wille war anfangs geweſen, in einer Wüſtenei des Berges Cithäron das elende Leben zu friſten oder zu en¬ digen. Doch, weil er ein frommer Mann war, wollte er auch dieſen Schritt nicht ohne den Willen der Göt¬ ter thun, und ſo pilgerte er vorher zum Orakel des pythiſchen Apollo. Hier ward ihm ein tröſtlicher Spruch zu Theil. Die Götter erkannten, daß Oedipus wider ſeinen Willen ſich gegen die Natur und die heiligſten Ge¬ ſetze der Menſchengeſellſchaft verſündigt hatte. Gebüßt328 mußte ein ſo ſchweres Vergehen freilich werden, wenn es auch unfreiwillig war; aber ewig ſollte die Strafe nicht währen. Darum eröffnete ihm der Gott: nach langer Friſt zwar, aber endlich doch harre ſeiner die Erlöſung, wenn er zu dem ihm vom Schickſale beſtimmten Lande gelangt wäre, wo die ehrwürdigen Göttinnen, die ſtren¬ gen Eumeniden, ihm eine Zufluchtsſtätte gönnten. Nun war aber der Name Eumeniden, die Wohlwollenden, ein Beiname der Erinnyen oder Furien, der Göttinnen der Rache, welche die Sterblichen mit einem ſo begütigenden Namen ehren und beſänftigen wollten. Der Orakelſpruch lautete räthſelhaft und ſchauerlich. Bei den Furien ſollte Oedipus für ſeine Sünden gegen die Natur Ruhe und Erlöſung von ſeiner Strafe finden! Dennoch ver¬ traute er auf die Verheißung des Gottes, und zog nun, dem Schickſal überlaſſend, wann die Erfüllung eintreten ſollte, in Griechenland herum, von ſeiner frommen Toch¬ ter geleitet und gepflegt, und vom Almoſen mitleidiger Menſchen erhalten. Immer bat er nur um Weniges, und erhielt auch nur Weniges. Aber er begnügte ſich damit immer, denn die lange Dauer ſeiner Verbannung, die Noth, und ſeine eigene edle Sinnesart lehrten ihn Begnügſamkeit.

Oedipus auf Kolonos.

Nach langer Wanderung, bald durch bewohntes, bald durch wüſtes Land waren die beiden eines Abends in einer ſehr milden Gegend bei einem anmuthigen Dorfe mitten im lieblichſten Haine angekommen. Nachtigallen329 flatterten durch das Gebüſch, und ſangen mit ſüßem Schall, Rebenblüthe duftete, mit Oliven - und Lorbeer¬ bäumen waren die rauhen Felsſtücke, welche die Gegend vielmehr ſchmückten, als entſtellten, überkleidet. Der blinde Oedipus ſelbſt hatte durch ſeine übrigen Sinne eine Empfindung von der Anmuth des Ortes, und ſchloß aus der Schilderung ſeiner Tochter, daß derſelbe ein geheilig¬ ter ſeyn müſſe. Aus der Ferne ſtiegen die Thürme einer Stadt auf, und ihre Erkundigungen hatten Antigone be¬ lehrt, daß ſie ſich in der Nähe von Athen befinden. Oedi¬ pus hatte ſich, von dem Wege des Tages müde, auf ein Felsſtück geſetzt. Ein Bewohner des Dorfes, der vorüber¬ ging, hieß ihn jedoch bald dieſen Sitz verlaſſen, weil der Boden geheiligt ſey, und keinen Fußtritt dulde. Da erfuhren denn die Wanderer bald, daß ſie ſich im Flecken Kolonos und auf dem Gebiet und in dem Haine der al¬ leserſpähenden Eumeniden befänden, unter welchem Namen die Athener hier die Erinnyen verehrten.

Nun erkannte Oedipus, daß er am Ziele ſeiner Wanderung angekommen und der friedlichen Löſung ſeines feindſeligen Geſchickes nahe ſey. Seine Worte machten den Koloneer nachdenklich, und er wagte es jetzt ſchon nicht mehr, den Fremdling von ſeinem Sitz zu ver¬ treiben, ehe er den König von dem Vorfall unterrichtet hätte. Wer gebietet denn in eurem Lande? fragte Oedi¬ pus, dem in ſeinem langen Elende die Geſchichten und Verhältniſſe der Welt fremd geworden waren. Kennſt du den gewaltigen und edlen Helden Theſeus nicht, fragte der Dorfbewohner, iſt doch die ganze Welt voll von ſeinem Ruhme! Nun, iſt euer Herrſcher ſo hoch¬ geſinnt, erwiederte Oedipus, ſo werde du mein Bote zu330 ihm, und bitte ihn, nach dieſer Stelle zu kommen; für ſo kleine Gunſt verſpreche ich ihm großen Lohn. Welche Wohlthat könnte unſrem König ein blinder Mann reichen? ſagte der Bauer und warf einen lächelnden, mit¬ leidigen Blick auf den Fremdling. Doch, ſetzte er hinzu, wäre nicht deine Blindheit, Mann, du hätteſt ein edles, hohes Ausſehen, das mich zwingt, dich zu ehren. Darum will ich dein Verlangen erfüllen, und meinen Mitbürgern und dem Könige deine Bitte melden. Bleibe ſo lange hier ſitzen, bis ich deinen Auftrag ausgerichtet habe. Jene mögen dann entſcheiden, ob du hier bleiben kannſt, oder gleich wieder weiter wandern ſollſt.

Als ſich Oedipus mit ſeiner Tochter wieder allein ſah, erhub er ſich von ſeinem Sitze, warf ſich zu Bo¬ den und ergoß ſein Herz in einem brünſtigen Gebete zu den Eumeniden, den furchtbaren Töchtern des Dunkels und der Mutter Erde, die eine ſo liebliche Wohnung in dieſem Haine aufgeſchlagen. Ihr Grauenvollen und doch Gnädigen, ſprach er, zeiget mir jetzt nach dem Aus¬ ſpruche Apollo's die Entwicklung meines Lebens, wenn anders ich in meinem mühſeligen Leben nicht immer noch zu wenig erduldet habe! Erbarmet euch, ihr Töchter des Dunkels, erbarme dich, ehrenwerthe Stadt Athene's, über das Schattenbild des Königs Oedipus, der vor euch ſteht, denn er ſelbſt iſt es nicht mehr!

Sie blieben nicht lange allein. Die Kunde, daß ein blinder Mann von Ehrfurcht gebietendem Ausſehen ſich in dem Furienhayne gelagert, den zu betreten Sterblichen ſonſt nicht vergönnt iſt, hatte bald die Aelteſten des Dor¬ fes, welche die Entweihung zu hindern gekommen waren, um ihn verſammelt. Noch größerer Schrecken ergriff ſie,331 als der Blinde ſich ihnen als einen vom Schickſale ver¬ folgten Mann zu erkennen gab. Sie fürchteten, den Zorn der Gottheit auf ſich zu laden, wenn ſie einen vom Himmel Gezeichneten länger an dieſem heiligen Orte dul¬ deten, und befahlen ihm, auf der Stelle ihre Landſchaft zu verlaſſen. Oedipus bat ſie inſtändig, ihn von dem Ziele ſeiner Wanderſchaft, das ihm die Stimme der Gott¬ heit ſelbſt angewieſen habe, nicht zu verſtoßen; Antigone vereinigte ihr Flehen mit dem ſeinen. Wenn ihr euch der grauen Haare meines Vaters nicht erbarmen wollet, ſprach die Jungfrau, ſo nehmet ihn doch um meiner, der Verlaſſenen willen auf: denn auf mir laſtet ja keine Schuld. Eilet, bewilliget uns eure Gunſt unverhofft! Während ſie ſolche Zwieſprache pflegten und die Einwoh¬ ner zwiſchen Mitleid und Furcht vor den Erinnyen in ihrem Entſchluſſe zweifelhaft hin und her ſchwankten, ſah Antigone ein Mädchen, auf einem kleinen Roſſe ſitzend, das Angeſicht mit einem Reiſehut vor der Sonne geſchützt, heraneilen. Ein Diener, gleichfalls zu Roſſe, folgte ihr. Es iſt meine Iſmene, ſagte ſie in freudigem Schrecken, ſchon glänzt mir ihr liebes, helles Auge! Gewiß bringt ſie uns neue Kunde aus der Heimath! Bald war die Jungfrau, das jüngſte Kind des verſtoßenen Königs, bei ihnen angelangt und vom Saumroſſe geſprungen. Mit einem einzigen Knechte, den ſie allein treu befunden, hatte ſie ſich von Theben aufgemacht, um dem Vater Nachricht von dem Stande der dortigen Angelegenheiten zu bringen. Dort waren ſeine Söhne von großer, ſelbſt¬ verſchuldeter Noth bedrängt. Anfangs hatten ſie die Ab¬ ſicht, ihrem Oheime Kreon den Thron ganz zu überlaſſen, denn der Fluch ihres Stammes ſchwebte ihnen drohend332 vor Augen. Allmählig aber, je mehr ihres Vaters Bild in die Ferne trat, verlor ſich dieſe Regung; das Verlan¬ gen nach Herrſchaft und Königswürde, und mit ihm die Zwietracht erwachte bei ihnen. Polynices, der das Recht der Erſtgeburt auf ſeiner Seite hatte, ſetzte ſich zuerſt auf den Thron. Aber Eteokles, der jüngere, nicht zufrieden, abwechslungsweiſe mit ihm zu herrſchen, wie der Bruder vorſchlug, verführte das Volk und ſtieß den älteren Bru¬ der aus dem Lande fort. Dieſer, ſo ging in Thebe das Gerücht, war nach Argos im Peloponnes entflohen, wurde dort der Schwiegerſohn des Königes Adraſtus, verſchaffte ſich Freunde und Bundesgenoſſen, und bedrohte ſeine Va¬ terſtadt mit Eroberung und Rache. Zugleich aber war ein neuer Götterſpruch ruchbar geworden, welcher dahin lautete, daß die Söhne des Oedipus ohne ihn ſelbſt nichts vermögen; daß ſie ihn ſuchen müßten, todt oder lebendig, wenn ihr eigenes Heil ihnen lieb wäre.

Dieß waren die Nachrichten, welche Iſmene ihrem Vater brachte. Der Chor horchte ſtaunend, und Oedipus hub ſich hoch empor von ſeinem Sitze: Alſo ſteht es mit mir, ſprach er, und königliche Hoheit ſtrahlte von dem blinden Angeſichte, bei dem Verbannten, bei dem Bett¬ ler, ſucht man Hülfe? Nun, da ich Nichts bin, werde ich erſt ein rechter Mann? So iſt es, fuhr Iſmene in ihren Nachrichten fort. Auch wiſſe, Vater, daß eben deßwegen unſer Oheim Kreon in ganz kurzer Zeit hierher kommen wird, und daß ich mich ſehr beeilt habe, ihm zuvor zu kommen. Denn er will dich überreden oder fangen, wegführen und an die Grenzen des thebani¬ ſchen Gebietes ſtellen, damit der Orakelſpruch ſich zu ſeinen und unſers Bruders Eteokles Gunſten erfülle, und333 deine Gegenwart die Stadt doch nicht entweihe. Von wem weißt du alles dieſes? fragte der Vater. Von Opferpilgern, die nach Delphi ziehen. Und wenn ich dort ſterbe, fragte Oedipus weiter, werden ſie mich in thebiſcher Erde begraben? Nein, erwiederte die Jung¬ frau, das duldet deine Blutſchuld nicht. Nun, rief der alte König entrüſtet, ſo ſollen ſie auch meiner nie¬ mals mächtig werden! Wenn bei meinen beiden Söh¬ nen die Herrſchſucht ſtärker iſt, als die kindliche Liebe, ſo ſoll ihnen auch der Himmel nie ihre verhängnißvolle Zwietracht löſchen, und, wenn auf mir die Entſcheidung ihres Streites beruht, ſo ſoll weder der, der jetzt den Scepter in Händen hat, auf dem Throne ſitzen bleiben, noch der Verjagte je ſein Vaterland wieder ſehen! Nur dieſe Töchter ſind meine wahren Kinder! In ihnen er¬ ſterbe meine Schuld, für ſie erflehe ich den Segen des Himmels, für ſie bitte ich auch um euren Schutz, mit¬ leidige Freunde! Gewähret ihnen und mir euren thäti¬ gen Beiſtand, und ihr erwerbet dadurch eurer Stadt eine mächtige Bruſtwehr!

Oedipus und Theſeus.

Die Koloneer hatte große Ehrfurcht vor dem blin¬ den Oedipus erfüllt, der in ſeiner Verbannung noch ſo gewaltig erſchien: ſie riethen ihm durch ein Trankopfer die Entweihung des Furienhaines zu ſühnen. Erſt jetzt erfuhren auch die Greiſe den Namen und die unverſchuldete Schuld des Königs Oedipus, und wer weiß, ob das Grauen vor ſeiner That ſie nicht auf's neue gegen ihn334 verhärtet hätte, wenn nicht ihr König Theſeus, den die Bot¬ ſchaft herbeigerufen hatte, jetzt eben in ihren Kreis ge¬ treten wäre. Dieſer ging freundlich und ehrerbietig auf den blinden Fremdling zu und redete ihn mit liebreichen Worten an: Armer Oedipus, mir iſt dein Geſchick nicht unbekannt, und ſchon deine gewaltſam geblendeten Augen ſagen mir, wen ich vor mir habe. Dein Unglück rührt mich tief in der Seele. Sage mir, was du bei der Stadt und mir ſucheſt. Die That, zu der du meine Beihülfe verlangſt, müßte eine ſchreckliche ſeyn, wenn ich mich von dir abwenden könnte. Ich hab 'es nicht ver¬ geſſen, daß auch ich gleich dir in fremden Landen heran¬ gewachſen bin, und viele Fährlichkeiten ausgeſtanden habe. Ich erkenne deinen Seelenadel in dieſer kur¬ zen Rede, antwortete Oedipus, ich komme dir eine Bitte vorzutragen, die eigentlich eine Gabe iſt. Ich ſchenke dir dieſen meinen leidensmüden Leib, freilich ein ſehr unſcheinbares Gut, aber doch ein großes Gut. Du ſollſt mich begraben und reichen Segen von deiner Mildigkeit ärnten! Fürwahr, ſagte Theſeus erſtaunt, die Gunſt, um welche du fleheſt, iſt klein. Verlange etwas Beſſeres, etwas Höheres, und es ſoll dir Alles von mir gewährt ſeyn. Die Gunſt iſt nicht ſo leicht, als du glaubſt, o König, fuhr Oedipus fort, du wirſt einen Streit um dieſen meinen elenden Leib zu beſtehen haben. Nun erzählte er ihm ſeine Verjagung und das ſpäte und eigennützige Verlangen ſeiner Verwandten, ihn wieder zu beſitzen; dann bat er ihn flehentlich um ſeinen Heldenbei¬ ſtand. Theſeus hörte aufmerkſam zu und ſprach endlich feierlich: Schon weil jedem Gaſtfreunde mein Haus offen ſteht, darf ich meine Hand nicht von dir abziehen;335 wie ſollte ich es thun, da du noch dazu mir und mei¬ nem Lande ſo viel Heil verſprichſt, und von der Hand der Götter an meinen Herd geleitet worden biſt! Er ließ dem Oedipus hierauf die Wahl, mit ihm nach Athen zu gehen, oder hier in Kolonos als Gaſt zu bleiben. Dieſer wählte das zweite, weil ihm vom Schickſale beſtimmt ſey, an der Stelle, wo er jetzt eben ſich befinde, den Sieg über ſeine Feinde davon zu tragen und ſein Leben rühm¬ lich zu beſchließen. Der Athenerkönig verſprach ihm den kräftigſten Schutz und kehrte in die Stadt zurück.

Oedipus und Kreon.

Bald darauf drang der König Kreon von Thebe mit Bewaffneten in Kolonos ein, und eilte auf Oedipus zu. Ihr ſeyd von meinem Eintritt ins attiſche Gebiet überraſcht, ſprach er zu den noch immer verſammelten Dorfbewohnern gewendet; doch ſorget und zürnet nicht: ich bin nicht ſo jung, im Uebermuthe gegen die ſtärkſte Stadt Griechenlands einen Kampf zu unternehmen. Ich bin ein Greis, den ſeine Mitbürger nur abgeſandt haben, dieſen Mann hier durch gütliche Ueberredung zu bewe¬ gen, mit mir nach Thebe zurückzukehren. Dann kehrte er ſich zu Oedipus und drückte in den ausgeſuchteſten Worten eine erheuchelte Theilnahme an ſeinem und ſei¬ ner Töchter Elend aus. Aber Oedipus erhob ſeinen Stab und ſtreckte ihn aus, zum Zeichen, daß Kreon ihm nicht näher kommen ſolle. Schamloſeſter Betrüger, rief er, das fehlte noch zu meiner Pein, daß Du kämeſt und mich gefangen mit dir fortführteſt! Hoffe nicht durch mich336 deine Stadt von der Züchtigung zu befreien, die ihr be¬ vorſteht. Nicht ich werde zu euch kommen, ſondern nur den Dämon der Rache werde ich euch ſenden, und meine beiden liebloſen Söhne ſollen nur ſoviel von the¬ baniſchem Boden beſitzen, als ſie brauchen, um ſterbend darauf zu liegen! Kreon wollte nun verſuchen, den blin¬ den König mit Gewalt hinwegzuführen, aber die Bür¬ ger von Kolonos erhoben ſich dagegen, ſtützten ſich auf Theſeus Wort und duldeten es nicht. Inzwiſchen hatten in dem Getümmel auf einen Wink ihres Herrn die The¬ baner Iſmene und Antigone ergriffen und von der Seite ihres Vaters weggeriſſen. Dieſe ſchleppten ſie fort, und trieben den Widerſtand der Koloneer ab. Kreon aber ſprach höhnend: Deine Stäbe wenigſtens habe ich dir entriſſen. Verſuch es jetzt, Blinder, und wandre weiter! Und durch dieſen Erfolg kühner gemacht, ging er auf's Neue auf Oedipus los, und legte ſchon Hand an ihn, als Theſeus, den die Nachricht vom bewaffneten Einfalle in Kolonos zurückgerufen hatte, auftrat. Sobald dieſer hörte und ſah, was geſchehen und noch im Werke ſey, entſandte er Diener zu Fuß und zu Roſſe auf der Straße hin, auf der die Töchter von den Thebanern als Raub fortgeführt wurden, dem Kreon aber erklärte er, ihn nicht eher freilaſſen zu wollen, als bis er dem Oedipus die Töchter zurückgegeben. Sohn des Aegeus, hub dieſer beſchämt an, ich bin wahrlich nicht gekommen, dich und deine Stadt zu bekriegen. Wußte ich doch nicht, daß deine Mitbürger ein ſolcher Eifer für dieſen meinen blin¬ den Verwandten, dem ich Gutes thun wollte, befallen habe, daß ſie den Vatermörder, den Gatten ſeiner Mut¬ ter, lieber bei ſich hegen würden, als ihn in ſein Vater¬337 land entlaſſen! Theſeus befahl ihm zu ſchweigen, ohne Verzug mit ihm zu gehen und den Aufenthalt der Jung¬ frauen anzuzeigen; und in Kurzem führte er die gerette¬ ten Töchter dem tief gerührten Oedipus in die Arme. Kreon und die Diener waren abgezogen.

Oedipus und Polynices.

Aber noch ſollte der arme Oedipus keine Ruhe ha¬ ben. Theſeus brachte die Nachricht von ſeinem kurzen Zuge mit, daß ein naher Blutsverwandter deſſelben, je¬ doch nicht aus Thebe kommend, Kolonos betreten und ſich an dem Altar des benachbarten Neptunustempels, wo Theſeus eben geopfert hatte, als Schutzflehender nieder¬ gelaſſen habe. Das iſt mein haſſenswerther Sohn Po¬ lynices, rief Oedipus zürnend aus! Es wäre mir un¬ erträglich, ihn anhören zu müſſen. Doch Antigone, die dieſen Bruder als den ſanfteren und beſſeren liebte, wußte die Zornaufwallung des Vaters zu dämpfen und dem Unglücklichen wenigſtens Gehör zu verſchaffen. Nachdem ſich Oedipus auch gegen dieſen den Arm ſeines Beſchü¬ tzers ausgebeten hatte, falls er ihn mit Gewalt hinweg¬ führen wollte, ließ er den Sohn vor ſich.

Polynices zeigte ſchon durch ſein Auftreten eine ganz andere Gemüthsart, als ſein Oheim Kreon, und Anti¬ gone verſäumte nicht, ihren blinden Vater darauf auf¬ merkſam zu machen. Ich ſehe jenen Fremdling, rief ſie, ohne Begleiter herzureiten! Ihm ſtrömen die Thrä¬ nen aus den Augen. Iſt er es, fragte Oedipus und wendete ſein Haupt ab. Ja, Vater, erwiederteSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 22338die gute Schweſter, dein Sohn Polynices ſteht vor dir. Polynices warf ſich vor dem Vater nieder und umſchlang ſeine Knie. An ihm hinaufblickend betrachtete er jam¬ mernd ſeine Bettlerkleidung, ſeine hohlen Augen, ſein ungekämmt in der Luft flatterndes Greiſenhaar. Ach, zu ſpät erfahre ich alles dieſes, rief er, ja ich ſelbſt muß es bezeugen, ich habe meines Vaters vergeſſen! Was wäre er ohne die Fürſorge meiner Schweſter! Ich habe mich ſchwer an dir verſündigt, Vater! Kannſt du mir nicht vergeben? Du ſchweigſt? Sprich doch etwas, Vater! Zürne nicht ſo unerbittlich hinweggewandt! O ihr lieben Schweſtern, verſucht ihr es, den abge¬ kehrten Mund meines Erzeugers zu rühren! Sage du ſelbſt zuvor, Bruder, was dich hergeführt hat, ſprach die milde Antigone, vielleicht öffnet deine Rede auch ſeine Lippen! Polynices erzählte nun ſeine Verjagung durch den Bruder, ſeine Aufnahme beim König Adraſtus in Argos, der ihm die Tochter zur Gemahlin gab, und wie er dort ſieben Fürſten mit ſiebenfacher Schaar für ſeine gerechte Sache geworben habe, und dieſe Bundesgenoſſen das thebaniſche Gebiet bereits umringt hätten. Dann bat er den Vater unter Thränen, ſich mit ihm aufzuma¬ chen, und nachdem durch ſeine Hülfe der übermüthige Bruder geſtürzt ſey, die Krone von Theben aus Sohnes Händen zum zweitenmal zu empfahen. Doch die Reue des Sohnes vermochte den harten Sinn des gekränkten Vaters nicht zu erweichen. Du Verruchter! ſprach er und hob den Niedergeworfenen nicht vom Boden auf, als Thron und Scepter noch in deinem Beſitze war, haſt du den Vater ſelbſt aus der Heimath verſtoßen, und in dieſes Bettlerkleid eingehüllt, das du jetzt an ihm be¬339 mitleideſt, wo gleiche Noth über dich gekommen iſt! Du und dein Bruder, ihr ſeyd nicht meine wahren Kinder; hinge es von euch ab, ſo wäre ich längſt todt. Nur durch meine Töchter lebe ich. Auch harrt euer ſchon der Götter Rache. Du wirſt deine Vaterſtadt nicht vertil¬ gen; in deinem Blute wirſt du liegen, und dein Bruder in dem ſeinen. Dieß iſt die Antwort, die du deinen Bundesfürſten bringen magſt! Antigone nahte ſich jetzt ihrem Bruder, der bei dem Fluche des Vaters entſetzt vom Boden aufgeſprungen und rückwärts gewichen war. Höre mein inbrünſtiges Flehen, Polynices, ſprach ſie ihn umfaſſend, kehre mit deinem Heere nach Argos zurück, bekriege deine Vaterſtadt nicht! Es iſt unmöglich, er¬ wiederte zögernd der Bruder; die Flucht brächte mir Schmach, ja Verderben! Und wenn wir Brüder beide zu Grunde gehen müſſen, dennoch können wir nicht Freunde ſeyn! So ſprach er, wand ſich aus der Schweſter Ar¬ men und ſtürzte verzweifelnd davon.

So hatte Oedipus den Verſuchungen ſeiner Ver¬ wandten nach beiden Seiten hin widerſtanden und ſie dem Rachegott preisgegeben. Jetzt war ſein eigenes Ge¬ ſchick vollendet. Donnerſchlag auf Donnerſchlag erſcholl vom Himmel. Der Greis verſtand ſeine Stimme und ver¬ langte ſehnlich nach Theſeus. Die ganze Gegend hüllte ſich in Gewitterfinſterniß. Eine große Angſt bemächtigte ſich des blinden Königes: er fürchtete von ſeinem Gaſt¬ freunde nicht mehr lebend, oder nicht mehr unverſtörten Sinnes getroffen zu werden, und ihm den vollen Dank für ſo viele Wohlthaten nicht mehr bezahlen zu können. Endlich erſchien Theſeus, und nun ſprach Oedipus ſeinen feierlichen Segen über die Stadt Athen. Dann forderte22 *340er den König auf, dem Heroldrufe der Götter zu folgen und ihn allein an die Stelle zu begleiten, wo er, von keiner ſterblichen Hand berührt und nur vom Auge des Theſeus geſchaut, enden ſollte. Keinem Menſchen ſollte er ſagen, wo Oedipus die Erde verlaſſen. Bleibe das heilige Grab, das ihn verſchlingen würde, verborgen, ſo werde es mehr als Speer und Schild und alle Bundes¬ genoſſen eine Schutzwehr gegen alle Feinde Athens ſeyn. Seinen Töchtern und den Bewohnern von Kolonos er¬ laubte er dann, ihn eine Strecke weit zu begleiten, und ſo vertiefte ſich der ganze Zug in die ſchauerlichen Schat¬ ten des Furienhaines. Keines durfte an Oedipus rühren; er, der Blinde, bisher von der Tochter Hand geleitet, ſchien auf einmal ein Sehender geworden, ging wunderbar ge¬ ſtärkt und aufgerichtet allen andern voran und zeigte ihnen den Weg zu dem vom Schickſal ihm beſtimmten Ziele.

Mitten in dem Haine der Erinnyen ſah man einen geborſtenen Erdſchlund, deſſen Oeffnung mit einer eher¬ nen Schwelle verſehen war, und zu welchem mehrere Kreuzwege führten. Von dieſer Höhle ging von uralter Zeit her die Sage, daß ſie einer der Eingänge in die Unterwelt ſey. In einen jener Kreuzwege nun trat Oe¬ dipus ein, doch ließ er ſich von dem Gefolge nicht bis zu der Grotte ſelbſt begleiten, ſondern unter einem hohlen Baume machte er Halt, ſetzte ſich auf einen Stein nieder und löste den Gürtel ſeines ſchmutzigen Bettlerkleides. Dann rief er nach einer Spende fließenden Waſſers, wuſch ſich von aller Unreinigkeit der langen Wanderung und zog ein ſchmuckes Gewand an, das ihm durch ſeine Töchter aus einer nahen Wohnung herbeigebracht wurde.

341

Als er nun völlig umgekleidet und wie erneuert daſtand, tönte unterirdiſcher Donner vom Boden herauf. Bebend warfen ſich die Jungfrauen, die bisher um ihren Vater bemüht geweſen waren, in ſeinen Schooß; Oedipus aber ſchlang ſeinen Arm um ſie, küßte ſie und ſprach: Kin¬ der, lebet wohl, von dieſem Tag an habt ihr keinen Va¬ ter mehr! Aus dieſer Umarmung weckte ſie eine don¬ nergleiche Stimme, von der man nicht wußte, ob ſie vom Himmel herab - oder aus der Unterwelt herauftönte. Was ſäumeſt du, Oedipus? Was zögern wir zu gehen? rief es. Als der blinde König die Stimme vernahm und wußte, daß der Gott ihn abfordere, machte er ſich aus den Armen ſeiner Kinder los, rief den König Theſeus zu ſich, und legte ſeiner Töchter Hände in die Hand deſ¬ ſelben, zum Zeichen ſeiner Verpflichtung, ſie nimmermehr zu laſſen. Dann befahl er allen andern, umgewendet ſich zu entfernen. Nur Theſeus an ſeiner Seite durfte auf die eherne Schwelle mit ihm zuſchreiten. Seine Töchter und das Gefolge waren ſeinem Winke gefolgt, und ſchauten ſich erſt um, als ſie eine gute Strecke rück¬ wärts gegangen waren. Da hatte ſich ein großes Wun¬ der ereignet. Von dem Könige Oedipus war keine Spur mehr zu erblicken. Kein Blitz war zu ſehen, kein Donner zu hören, kein Wirbelwind zu ſpüren; die tiefſte Stille herrſchte in der Luft. Die dunkle Schwelle der Unter¬ welt ſchien ſich ſanft und lautlos für ihn aufgethan zu haben, und durch den Erdſpalt war der entſündigte Greis ohne Stöhnen und Pein ſachte wie auf Geiſterflügeln zur Unterwelt hinabgetragen worden. Den Theſeus aber erblickten ſie allein, mit der Hand die Augen ſich über¬ ſchattend, als hätte er ein göttliches, überwältigendes342 Geſicht gehabt. Dann ſahen ſie, wie er, die Hände hoch gen Himmel gehoben, zu den Olympiern, und dann, demü¬ thig auf den Boden niedergeworfen, zu den Göttern der Unterwelt flehete. Nach kurzem Gebete kehrte der König zu den Jungfrauen zurück, verſicherte ſie ſeines väterlichen Schutzes und wandelte mit ihnen in tiefſinnige Betrach¬ tungen verſunken nach Athen zurück.

[343]

Sechstes Buch.

Die Sieben gegen Thebe.

Polynices und Tydeus bei Adraſt. Auszug der Helden. Hypſipyle und Opheltes. Die Helden vor Thebe angekommen. Menökeus. Der Sturm auf die Stadt. Der Brüder Zweikampf. Kreons Beſchluß. Antigone und Kreon. Hämon und Antigone. Kreons Strafe.

Die Epigonen. Alkmäon und das Halsband.

Die Sage von den Herakliden.

Die Herakliden kommen nach Athen. Makaria. Die Rettungs¬ ſchlacht. Euryſtheus vor Alkmene. Hyllus, ſein Orakel und ſeine Nachkommen. Die Herakliden theilen den Peloponnes. Merope und Aepytus.

[344][345]

Die Sieben gegen Thebe.

Polynices und Tydeus bei Adraſt.

Adraſtus, der Sohn des Talaus, König von Argos, hatte fünf Kinder, darunter zwei ſchöne Töchter, Argia und Deipyle. Ueber dieſe war ihm ein ſeltſamer Orakel¬ ſpruch geworden: er werde dieſelben dereinſt einem Löwen und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens beſann ſich der König, welchen Sinn dieſes dunkle Wort haben könne, und als die Mägdlein herangewachſen waren, gedachte er ſie ſo zu vermählen, daß die ängſtliche Wahrſagung auf keine Weiſe erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort ſollte nicht zu Schanden werden. Von zweierlei Seiten kamen zwei Flüchtlinge durch Argos Thore. Aus Thebe war Polynices von ſeinem Bruder Eteokles verjagt wor¬ den; Tydeus, des Oeneus Sohn, war aus Kalydon geflohen, wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht ab¬ ſichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen ſich vor dem Königspallaſte von Argos. In der Dunkelheit der Nacht hielten ſie ſich für Feinde und geriethen mit ein¬ ander ins Handgemenge. Adraſtus hörte das Waffenge¬ tümmel unter ſeiner Burg, ſtieg bei Fackelſchein von ihr herab und trennte die Streitenden. Als nun zu ſeinen beiden Seiten einer der Heldenſöhne ſtand, die noch eben mit einander gekämpft hatten, ſo erſtaunte der König wie vor einem plötzlichen Geſichte, denn von dem Schilde des346 Polynices blickte ihm ein Löwenhaupt, von des Tydeus Schild ſtarrte ihm ein Eberkopf entgegen. Der erſtere trug ſolches Abzeichen auf dem Schilde zu Ehren des Her¬ kules, der andere hatte ſich das Wappen zum Andenken an die Jagd des Kalydoniſchen Ebers und Meleagers gewählt. Adraſtus ſah jetzt die Deutung jenes dunkeln Orakelwor¬ tes vor ſich, und aus den Flüchtlingen wurden ihm Schwiegerſöhne. Polynices erhielt die Hand der ältern Tochter, Argia; die jüngere Tochter, Deipyle, wurde dem Tydeus zu Theil. Beiden gab er zugleich das Ver¬ ſprechen, ſie in ihre väterliche Reiche, aus denen ſie ver¬ trieben waren, wieder einzuführen.

Zuerſt wurde der Feldzug gegen Thebe beſchloſſen, und Adraſtus ſammelte ſeine Helden, ſieben Fürſten, ihn ſelbſt einbegriffen, mit ſieben Schaaren, um ſich. Ihre Namen waren Adraſtus, Polynices, Tydeus; Amphia¬ raus und Kapaneus, der erſte der Schweſtergemahl Adraſts, der andere ein Schweſterſohn; endlich ſeine zwei Brüder, Hippomedon und Panthenopäus. Aber Amphiaraus, der Schwager des Königs, der früher lange ſein Feind ge¬ weſen, war ein Prophet, und als ſolcher ſah er den unglückſeligen Ausgang des ganzen Feldzuges voraus. Nachdem er nun ſich vergebens bemüht hatte, den Adra¬ ſtus und die übrigen Helden von ihrem Vorhaben abwen¬ dig zu machen, ſuchte er einen Schlupfwinkel auf, den nur ſeine Gemahlin, Eriphyle, die Schweſter des Königes, kannte, und verbarg ſich dort aufs ſorgfältigſte. Lange ſuchten ihn die Helden vergebens, und ohne ihn, den er das Auge ſeines Heeres zu nennen pflegte, wagte Adraſt den Feldzug nicht zu unternehmen. Nun hatte Polynices, als er aus Thebe flüchtig werden mußte, das Halsband347 und den Schleier mitgenommen, die unglückbringenden Ge¬ ſchenke, die einſt Venus der Harmonia an ihrem Beila¬ ger mit Kadmus, dem Gründer Thebe's, verehrt hatte, und die jedem, der ſie trug, das Verderben brachten. Dieſe Gaben hatten auch wirklich ſchon der Harmonia ſelbſt, der Semele, der Mutter des Bacchus, und der Jokaſte den Untergang gebracht. Zuletzt hatte ſie Argia, die Gemahlin des Polynices, die auch unglücklich werden ſollte, beſeſſen, und jetzt beſchloß ihr Gemahl, mit einem derſelben, dem Halsbande, die Eriphyle zu beſtechen, daß ſie ihm und ſeinen Kampfgenoſſen den Aufenthalt ihres Gatten verriethe. Als das Weib, das längſt ſeine Schweſter um den herrlichen Schmuck, den ihr der Fremdling zugebracht, beneidet hatte, die funkelnden Edel¬ ſteine und Goldſpangen an dem Halsbande ſah, konnte ſie der Lockung nicht widerſtehen, hieß den Polynices fol¬ gen und zog den Amphiaraus aus ſeiner Zufluchtsſtätte hervor. Jetzt konnte dieſer ſich der Anſchließung an den Feldzug um ſo weniger entziehen, als er ſchon frü¬ her, da er ſich mit dem Adraſtus ausgeſöhnt und von ihm die Schweſter zur Ehe erhalten hatte, anheiſchig ge¬ macht, bei jeder künftigen Streitigkeit mit dem Schwager die Entſcheidung ſeiner Gattin zu überlaſſen. Er that ſeine Rüſtung an und ſammelte ſeine Krieger. Bevor er jedoch auszog, rief er ſeinen Sohn Alkmäon zu ſich und verpflichtete ihn mit einem heiligen Schwure, ſich nach ſei¬ nem Tode, ſobald ihm derſelbe kundbar würde, an der treuloſen Mutter zu rächen.

348

Auszug der Helden. Hypſipyle und Opheltes.

Auch die übrigen Helden rüſteten ſich, und bald hatte Adraſtus ein gewaltiges Heer um ſich verſammelt, das in ſieben Heerhaufen abgetheilt und von ſieben Helden befehligt, unter dem Schalle der Zinken und Trompeten, jauchzend und voll Hoffnung die Stadt Argos verließ. Aber ſchon auf dem Wege ſtellte ſich das Unglück ein. Sie waren in den Wald von Nemea gelangt, wo alle Quellen, Flüſſe und Seen ausgetrocknet waren, und des Tages Hitze mit brennendem Durſte ſie quälte. Panzer und Schilde wurden ihnen zu ſchwer, der Staub, der ſich von dem Zug auf der Straße erhob, ſetzte ſich ihnen auf den dürren Gaumen, ſelbſt ihren Roſſen trocknete der Schaum von dem Maule hinweg und ſie biſſen knirſchend mit trockenen Nüſtern in den Zaum. Während nun Adraſtus nebſt einigen Kriegern vom Heere vergebens nach Quellen die Waldungen durchirrte, ſtießen ſie auf einmal auf ein trauriges Weib von ſeltener Schöne, das einen Knaben an der Bruſt, mit wallenden Haaren und in ärmlicher Kleidung, doch mit königlicher Miene, unter dem Schat¬ ten eines Baumes ſaß. Der überraſchte König glaubte nicht anders, als eine Nymphe des Waldes vor ſich zu ſehen, warf ſich vor ihr auf ein Knie und flehte ſie für ſich und die Seinigen um Rettung aus der Noth an, mit welcher der Durſt ſie bedrohe. Aber die Frau ant¬ wortete mit geſenktem Auge und demüthiger Stimme: Fremdling, ich bin keine Göttin; Du magſt, wie dein herrliches Ausſehen mich vermuthen läßt, von Göttern ſtammen: wenn an mir etwas übermenſchliches, ſo muß es349 nur mein Leiden ſeyn, denn ich habe mehr geduldet, als ſonſt Sterblichen zu leiden auferlegt wird. Ich bin Hyp¬ ſipyle, einſt die gefeierte Königin der Amazonen auf Lemnos, die Tochter des herrlichen Thoas, jetzt nach unnennbarem Jammer von Seeräubern entführt und verkauft, die gefangene Sclavin des Königs Lykurgus von Nemea. Der Knabe, den ich ſäuge, iſt nicht mein eigenes Kind; er iſt Opheltes, der Sohn meines Herrn, und ich bin ihm zur Wärterin beſtellt. Aber was ihr von mir begehret, will ich euch gerne verſchaffen. Noch eine einzige Quelle ſprudelt in dieſer troſtloſen Ein¬ öde, und ihren geheimen Zugang kennt niemand, als ich. Sie iſt ergiebig genug, euer ganzes Heer zu erqui¬ cken. Folget mir! Die Frau ſtand auf, legte den Säug¬ ling ſorglich in's Gras und lullte ihn mit einem Wie¬ genliede in den Schlaf. Die Helden riefen ihren Ge¬ noſſen, und nun drängte ſich das ganze Heer Hypſipyle's Tritten nach auf geheimen Pfaden, die durch's dichteſte Waldgebüſch führten. Bald gelangten ſie zu einer fel¬ ſigen Thalſchlucht, aus der kühler Waſſerſtaub empor¬ drang und die erhitzten Angeſichter der vorderſten Krie¬ ger, die der Führerin und ihrem König vorangeeilt waren, mit leichtem Schaum erfriſchte. Zugleich rauſchte das Murmeln eines ſtarken Waſſerfalles an ihr Ohr. Waſ¬ ſer! ſo tönte der Freudenruf aus dem Munde der Vor¬ angedrungenen, die mit einigen Sprüngen ſchon unten in der Schlucht und mitten auf dem beſpülten Felsgeſteine ſtanden und die Strahlen des herabfließenden Quelles mit den Helmen auffaßten. Waſſer, Waſſer! wieder¬ holte das ganze Heer und der Jubelruf übertönte den Waſſerfall und hallte von den Bergen wieder, welche die350 Schlucht umgaben. Nun warfen ſich alle am grünenden Ufer des weithin ſich ſchlängelnden Baches nieder, und genoßen mit tiefen Zügen die langentbehrte Luſt. Bald fand man auch für Wagen und Roſſe Pfade, die durch den Wald bequem in die Tiefe hinabführten und die Wagenlenker fuhren, ohne die Roſſe auszuſpannen, mitten in die wallende Fluth hinein, da wo der Bach ſich zu ebenem Laufe ausbreitete, und ließen die Roſſe, die ihren Leib in den Wellen kühlten, unausgeſchirrt den langen Durſt ſtillen.

Alles war erquickt und die gute Führerin Hypſi¬ pyle, die Thaten und Leiden der Weiber von Lemnos erzählend, führte den Adraſtus und ſeine Helden, denen jetzt das Heer in ehrerbietiger Entfernung folgte, auf die breitere Straße zurück, dahin, wo ſie dieſelbe mit ihrem Pflegekind unter dem gewölbten Baume hatten ſitzen ſehen. Aber ehe ſie jener Stelle noch anſichtig wurden, erſchreckte die feinhörende Pflegerin aus der Ferne ein klägliches Kindeswimmern, das ihre Begleiter kaum ver¬ nahmen, ſie ſelbſt aber ſogleich als die Stimme ihres kleinen Opheltes erkannte. Hypſipyle war ſelbſt die Mut¬ ter großer und kleiner Kinder, die ſie, von den Räubern entführt, in Lemnos hatte zurücklaſſen müſſen. Nun hatte ſie ihre ganze Mutterliebe auf dieſen Säugling überge¬ tragen, dem ſie als Sclavin beigegeben war. Eine bange Ahnung durchzuckte ihr zärtliches Herz. Sie flog den Helden voraus und dem wohlbekannten Platze zu, wo ſie mit dem Kind an der Bruſt zu ruhen pflegte. Aber ach, der Kleine war verſchwunden und ihre irrenden Augen fanden keine Spur von ihm und vernahmen auch die Stimme nicht mehr. Als ſie ihre Blicke in weiterem351 Kreiſe umherſandte, ward ihr bald das entſetzliche Schick¬ ſal klar, das ihr Pflegekind getroffen hatte, während ſie dem Heere der Argiver den frommen Liebesdienſt leiſtete. Denn nicht weit von dem Baume lag eine gräßliche Schlange geringelt, ihren Kopf auf den ſchwellenden Bauch zurückgelegt in träger Ruhe das eben abgehaltene Mahl verdauend. Der unſeligen Pflegemutter ſträubte ſich das Haar und ihr Jammerſchrei erfüllte die Lüfte. Auf dieſes waren auch die Helden herbeigeeilt; der erſte, der den Drachen erblickte, war Hippomedon; ohne zu ſäumen, riß er ein Felsſtück aus dem Boden und ſchleuderte es auf das Ungethüm; aber ſein gepanzerter Rücken ſchüttelte den Wurf ab, als wäre es eine Handvoll Erde; da ſandte Hippomedon ſeinem erſten Wurfe den Speer nach und dieſer verfehlte ſein Ziel nicht; er fuhr der Schlange in den Rachen, durchs hervorſpritzende Gehirn, und die Spitze drang heraus zum Kamme. Das Unthier drehte ſich wie ein Kreiſel mit dem langvorragenden Speer in der Wunde, und hauchte endlich ziſchend ſeinen Athem aus.

Als die Schlange erlegt war, getraute ſich erſt die arme Pflegemutter der Spur ihres Kindes nachzugehen, ſie fand weithin die Gräſer vom Blute geröthet und endlich fernab von dem Ort ihrer Ruhe das nackte Ge¬ bein des Kindleins. Die Verzweifelnde ſammelte es in ihren Schooß und übergab es den Helden, die mit ihrem ganzen Heere dem unglücklichen Knaben, der ihnen zum Opfer gefallen war, nachdem ſie ſeine Ueberreſte feier¬ lich beſtattet, herrliche Leichenſpiele bereiteten, ihm zu Ehren die Nemeiſchen heiligen Kampfſpiele ſtifteten, und ihn unter dem Namen Archemoros, d. h. der Früh¬ vollendete, zuerſt als Halbgott verehrten.

352

Hypſipyle entging der Wuth nicht, in welche die Mutter des Kindes, die Gemahlin des Lykurgus, Eury¬ dice, der Verluſt ihres Sohnes verſetzte. Sie wurde von ihr in ein grauſames Gefängniß geworfen, und der fürch¬ terlichſte Tod war ihr geſchworen. Das Glück wollte, daß die verlaſſenen älteſten Söhne Hypſipyle's ihrer Mutter ſchon auf der Spur waren, und nicht lange nach dieſer Begebenheit in Nemea eintrafen, wo ſie die gefangene Mutter befreiten.

Die Helden vor Thebe angekommen.

Da habt ihr ein Vorzeichen, wie der Feldzug ſich enden wird! ſprach der Seher Amphiaraus finſter, als das Gebein des Knaben Opheltes entdeckt war. Aber die anderen alle dachten mehr an die Erlegung der Schlange, und prieſen dieſe als eine glückliche Vorbedeutung. Und weil ſich das Heer eben von einer großen Bedrängniß erholt hatte, ſo war Alles guter Dinge; der ſchwere Seufzer des Unglückspropheten wurde überhört, und der Zug ging luſtig weiter. Es währte nicht viele Tage mehr, ſo war das Heer der Argiver unter den Mauern von Thebe angekommen.

In dieſer Stadt hatte Eteokles mit ſeinem Oheim Kreon Alles zu einer hartnäckigen Vertheidigung vorbe¬ reitet, und ſprach zu den verſammelten Bürgern: Be¬ denket jetzt, ihr Mitbürger, was ihr eurer Vaterſtadt ſchuldig ſeyd, die euch in ihrem milden Schooße aufge¬ zogen und zu wackeren Kriegern gebildet hat. Ihr Alle, vom Jünglinge, der noch nicht Mann iſt, bis zum Manne353 deſſen Locke ſchon grau wird, wehret euch für ſie, für die Altäre der heimiſchen Götter, für Väter, Weiber und Kinder und für euren freien Boden! Mir meldet der Vogelſchauer, daß in der nächſten Nacht das Argi¬ verheer ſich zuſammenziehen und einen Angriff auf die Stadt machen wird. Darum ihr alle auf die Mauer¬ zinnen, an die Thore geeilt! Brecht vor mit allen Waf¬ fen! Beſetzt die Schanzen, ſtellt euch in die Thürme mit euren Geſchoßen, bewahret jeden Ausgang ſorgfältig und fürchtet euch nicht vor der Menge der Feinde! Draußen ſchleichen meine Kundſchafter umher, und ich bin gewiß, daß ſie mir genaue Kunde bringen. Nach ihren Mel¬ dungen werde ich handeln.

Während Eteokles ſo zu ſeinen Reitern ſprach, ſtand auf der höchſten Zinne des Pallaſtes mit einem greiſen Waffenträger ihres Großvaters Laïus die Jungfrau An¬ tigone. Sie war nach ihres Vaters Tode nicht lang unter dem liebevollen Schutze des Königes Theſeus zu Athen geblieben, ſondern hatte mit ihrer Schweſter Iſ¬ mene in ihre Heimath zurückverlangt, wohin eine unbe¬ ſtimmte Hoffnung, ihrem Bruder Polynices nützlich wer¬ den zu können, und auch die Liebe zu ihrer Vaterſtadt ſie trieb, deren Belagerung durch den Bruder ſie nicht billigen konnte und deren Schickſal ſie theilen wollte. Dort war ſie von dem Fürſten Kreon und ihrem Bru¬ der Eteokles mit offenen Armen aufgenommen worden, denn ſie betrachteten die Jungfrau als einen freiwilligen Geiſſel und eine willkommene Vermittlerin. Dieſe war jetzt die alte Cedertreppe des Pallaſtes emporgeſtiegen, und ſtand auf der Platform deſſelben, wo ihr der Greis die Stellung der Feinde erklärte. Ringsum aufSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 23354den Fluren um die Stadt, die Ufer des Iſmenus entlang und um die von Alters berühmte Quelle Dirce her, war das mächtige Feindesheer gelagert. Es hatte ſich eben in Bewegung geſetzt und Truppenſchaar ſonderte ſich von Truppenſchaar. Das ganze Gefilde ſchimmerte von Erz¬ glanz wie ein wogendes Meer. Maſſen von Fußvolk und Reiterei ſchwärmten brauſend um die Thore der be¬ lagerten Stadt. Die Jungfrau erſchrack bei dieſem An¬ blicke; der Greis jedoch ſprach ihr Troſt ein: Unſere Mauern ſind hoch und feſt, unſere Eichenthore liegen in ſchweren eiſernen Riegeln. Von innen bietet die Stadt alle Sicherheit, und iſt voll muthiger, den Kampf nicht ſcheuender Krieger. Darauf fing er an, die Fragen des Mädchens nach einzelnen hervorragenden Führern zu beantworten: Der dort im leuchtenden Helme, der, ſeinen blanken Erzſchild mit Leichtigkeit ſchwingend, einer Heer¬ ſchaar voranzieht, das iſt der Fürſt Hippomedon, der um das Gewäſſer Lerna's in Mycene wohnt, hoch ragt ſein Wuchs empor, wie eines erdentſproſſenen Giganten! Weiter rechts dort, der am Dircequell wandelt, in frem¬ der Waffentracht, wie ein Halbbarbar, das iſt deines Bruders Schwager, Tydeus, des Oeneus Sohn; er und ſeine Aetolier ſind Schildträger und die beſten Lan¬ zenwerfer: ich kenne ihn an ſeinem Wappenſchilde; denn ich bin ſchon als Unterhändler in das feindliche Lager abgeſchickt worden. Wer iſt denn, fragte jetzt das Mägdlein, der jugendliche Held dort, im unjugendli¬ chen Haare, der mit wildem Blicke an jenem Helden - Grabmal vorüberſchreitet, und dem völlig gerüſtetes Volk langſam nachfolgt? Das Parthenopäus, be¬ lehrte ſie der Alte, der Sohn Atalante's, der Freundin355 Diana's. Aber ſiehſt du dort die zwei Helden, am Grabe der Niobe'stöchter? Der ältere iſt Adraſtus, der Führer des ganzen Zuges: den jüngeren, kennſt du den? Ich ſehe, rief Antigone ſchmerzlich bewegt, nur die Bruſt und den Umriß ſeines Leibes, und doch erkenne ich ihn: es iſt mein Bruder Polynices! O könnte ich mit den Wolken fliegen und bei ihm ſeyn und meinen Arm um den Hals des lieben Flüchtlings ſchlagen! Wie fun¬ kelt ſeine goldne Rüſtung gleich der Sonne Morgenſtrahl! doch wer iſt der dort, der mit feſter Hand die Roſſe zü¬ gelnd, einen weißen Wagen lenkt, und die Geißel ſo ru¬ hig und beſonnen ſchwingt? Das iſt, ſprach der Greis, der Seher Amphiaraus, meine Herrin! Aber ſieheſt du dort den, der an den Mauern auf und ab geht und ſie mißt, und ſorglich die Stellen erkundet, an welchen die Baſteien dem Sturme zugänglich wären? Das iſt der übermüthige Kapaneus, der unſerer Stadt ſo ſchrecklich Hohn ſpricht, der euch zarte Jungfrauen an Lerna's Ge¬ wäſſer in die Knechtſchaft führen will! Antigone er¬ blaßte, und verlangte umzukehren: der Greis reichte ihr die Hand und geleitete ſie hinunter in die Mädchenzelle.

Menökeus.

Inzwiſchen hielten Kreon und Eteokles Kriegsrath, und beſetzten in Folge der gefaßten Beſchlüſſe jedes der ſieben Thore Thebens mit einem Führer, in dem ſie der Feinde Zahl die gleiche Zahl gegenüber ſtellten. Doch wollten ſie, bevor der Kampf um die Stadt ausbrach, auch vorher die Zeichen erforſchen, welche die Vogelſchau ihnen über den Ausgang des Kampfes gewähren könnte. 23 *356Nun lebte unter den Thebanern, wie die Sage von Oe¬ dipus ſchon erzählt hat, der Seher Tireſias, der Sohn des Everes und der Nymphe Chariklo; dieſer hatte als Jüngling die Göttin Minerva bei ſeiner Mutter über¬ raſcht und geſchaut, was er nicht ſchauen ſollte. Dafür war er von der Göttin mit Blindheit geſchlagen worden. Seine Mutter Chariklo hatte ihre Freundin zwar flehent¬ lich gebeten, ihm das Geſicht wieder zu geben, aber Minerva vermochte dieſes nicht mehr; doch erbarmte ſie ſich ſeiner und reinigte ihm dafür ſein Gehör, daß er alle Stimmen der Vögel verſtand. Und ſo war er von Stund 'an der Vogelſchauer der Stadt.

Zu dieſem jetzt greiſen Seher ſchickte Kreon ſeinen jungen Sohn Menökeus, daß er ihn in den Königspal¬ laſt geleite. Mit wankendem Knie, von ſeiner Tochter Manto und dem Knaben geführt, erſchien auch bald dar¬ auf der Alte vor Kreon. Dieſer drang in ihn, zu mel¬ den, was der Vögel Flug ihm vom Schickſale der Stadt verkündige. Tireſias ſchwieg lange; endlich ſprach er die traurigen Worte: Die Söhne des Oedipus haben ſich an ihrem Vater ſchwer verſündigt; ſie bringen ins Thebanerland bittere Trübſal. Argiver und Kadmeer werden ſich morden, die Söhne, einer von des andern Hand, fallen. Nur Eine Rettung weiß ich für die Stadt; aber ſie iſt für die Geretteten ſelbſt zu bitter, als daß mein Mund ſie offenbaren ſollte. Lebet wohl! Er wandte ſich und wollte gehen, aber Kreon flehte ſo lange bis er blieb. Du willſt es dennoch hören? ſprach der Seher in ſtrengem Tone; ſo vernimm es! Aber ſage mir zu¬ vor, wo weilt dein Sohn, Menökeus, der mich hergelei¬ tete? Er ſteht neben dir! erwiederte Kreon. Nun357 ſo fliehe er, ſo weit er kann, hinweg von meinem Göt¬ terſpruch! ſagte der Greis. Warum das? fragte Kreon. Menökeus iſt ſeines Vaters Kind, er kann ſchweigen, wenn er ſoll, und wird ſich freuen, wenn er das Mittel erfährt, das uns retten ſoll! So vernehmet denn, was ich aus dem Fluge der Vögel geleſen habe, ſprach Tireſias. Es kommt das Heil, aber über harte Schwelle. Der Jüngſte von der Drachenzähneſaat muß fallen; nur unter dieſer Bedingung wird Euch der Sieg! Weh mir, rief Kreon, was bedeutet dieſes Wort, o Greis? Daß der jüngſte Enkel des Kadmus ſterben ſoll, wenn die Stadt gerettet ſeyn will! Du verlangſt den Tod meines geliebteſten Kindes, meines Sohnes Menö¬ keus? ſo fuhr der Fürſt entrüſtet auf. Packe dich fort in die Stadt! Ich bedarf deines Seherſpruches nicht! Iſt die Wahrheit ungültig, weil ſie dir Leid bringt? fragte Tireſias ernſt. Jetzt warf ſich Kreon ihm zu Fü¬ ßen, umfaßte ſeine Knie, flehte den blinden Propheten bei ſeinem grauen Haare an, den Spruch zurückzuneh¬ men. Aber der Seher blieb unerbittlich: Die Forderung iſt unabwendbar, ſprach er. Am Dirce-Quell, wo einſt der Lindwurm gelagert war, muß er ſein Blut im Op¬ fertode vergießen; dann werdet ihr die Erde zur Freund¬ in haben, wenn ſie für das Menſchenblut, das ſie einſt dem Kadmus aus den Drachenzähnen emporſandte, wie¬ der Menſchenblut, und zwar verwandtes, empfangen hat. Wenn dieſer Jüngling hier ſich für ſeine Stadt aufop¬ fert, ſo wird er im Tode ihr Erretter ſeyn und für Adraſtus und ſein Heer wird die Heimkehr grauen¬ voll werden! Wähle dir nun, Kreon, welches Loos von zweien du willſt.

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Alſo ſprach der Wahrſager und entfernte ſich an der Hand ſeiner Tochter. Kreon ſtand in Schweigen verſunken. Endlich rief er angſtvoll: Wie gerne wollte ich ſelbſt für mein Vaterland ſterben! Aber dich, Kind, ſoll ich opfern? Flieh, mein Sohn, fliehe, ſo weit dich deine Füße tragen, aus dieſem verfluchten Lande, das zu ſchlimm iſt für deine Unſchuld. Geh über Delphi, Ae¬ tolien, Thesprotia zum Heiligthume Dodona's: dort birg dich in des Orakels Schutz! Gerne; ſprach Menö¬ keus mit leuchtendem Blicke, verſieh mich mit den nöthi¬ gen Reiſebedürfniſſen, Vater, und glaube mir, ich werde den rechten Weg nicht verfehlen. Als ſich Kreon bei der Willigkeit des Knaben beruhigte und auf ſeinen Po¬ ſten geeilt war, warf ſich dieſer, ſobald er allein war, auf die Erde nieder und betete mit Inbrunſt zu den Göttern: Verzeihet mir, ihr himmliſchen Reinen, wenn ich gelogen habe, wenn ich meinem alten Vater durch falſche Worte die unwürdige Furcht benommen! Zwar, daß er, der Greis, ſich fürchtet, iſt verzeihlich; aber welch ein Feiger wäre ich, wenn ich das Vaterland verriethe, dem ich das Leben verdanke. Höret darum meinen Schwur, ihr Götter, und nehmet ihn gnädig auf. Ich gehe, mein Vaterland durch meinen Tod zu erretten. Flucht würde mich ſchänden. Auf den Mauernkranz will ich treten, mich ſelbſt in die tiefe, dunkle Kluft des Drachen ſtürzen, und ſo, wie der Seher angezeigt hat, das Land erlöſen.

Freudig ſprang der Knabe auf, eilte nach der Mauer und that, wie er geſagt hatte. Er ſtellte ſich auf die höchſte Höhe der Burgmauer, überſchaute mit Einem Blicke die Schlachtordnung der Feinde, und verwünſchte359 ſie in kurzem feierlichen Fluche: dann zog er einen Dolch hervor, den er unter dem Gewande verborgen gehalten, durchbohrte ſich den Hals mit einer einzigen Wunde und ſtürzte von der Höhe herab zerſchmettert am Ufer des Dircequells zuſammen.

Der Sturm auf die Stadt.

Der Orakelſpruch war erfüllt; Kreon bezähmte ſei¬ nen Jammer; Eteokles theilte den ſieben Thorbeſchirmern ſieben Schaaren zu, und wo er dieſe hinweggenommen, ſtellte er Reiter hinter Reitern zum Erſatz auf, dazu leichtes Fußvolk hinter die Schildträger, um überall, wo die Mauern durch den Angriff leiden ſollten, ſie mit Heeres¬ macht ſchirmen zu können. Auch das Heer der Argiver brach jetzt auf, und der Sturm auf den Wall nahm ſei¬ nen Anfang. Der Kriegsgeſang erſcholl, und vom feind¬ lichen Heere wie von den Mauern der Thebaner herab ſchmetterten zu gleicher Zeit die Trompeten. Zuerſt führte Parthenopäus, der Sohn der Jägerin Atalanta, den Trupp der Seinigen, Schild an Schild gedrängt, wider eines der Thore. Auf dem Felde ſeines Schildes war ſeine Mutter abgebildet, wie ſie einen ätoliſchen Eber mit fliegendem Pfeil erlegte. Auf ein zweites Thor zog, Opferthiere auf ſeinem Wagen, der prieſterliche Seher Amphiaraus los, er trug ſchmuckloſe Waffen, ohne Wappenſchild oder ſonſtigen Prunk. Aufs dritte Thor rückte Hippomedon heran, auf ſeinem Schilde war der hundertäugige Argos zu ſchauen, wie er die von Juno in eine Kuh verwandelte Jo bewacht. Zum vierten Thore lenkte360 Tydeus ſeine Schaaren, der eine ſtruppige Löwenhaut im Schilde führte und mit wilder Gebärde in der Rechten eine Brandfackel ſchwang. Der vertriebene König Poly¬ nices befehligte den Sturm auf das fünfte Thor; ſein Schild ſtellte ein in Wuth ſich bäumendes Roſſegeſpann vor. Zum ſechſten Thore führte ſeine Kriegerſchaar Ka¬ paneus, der ſich vermaß, mit dem Gotte Mars in die Wette ſtreiten zu können: auf dem Eiſenrücken ſeines Schildes war ein Gigant ausgeprägt, der eine ganze Stadt, ihrem Grunde enthoben, auf den Schultern trug, welches Schickſal dieſer Schildträger der Stadt Thebe zugedacht hatte. Zum ſiebenten und letzten Thore endlich kam Adraſtus, der Argiverkönig, heran¬ gerückt. Auf dem Felde ſeines Schildes waren hundert Schlangen abgebildet, welche in ihren Kiefern thebaniſche Kinder davontrugen. Als alle nahe genug vor die Thore gerückt waren, wurde der Kampf zuerſt mit Schleudern, dann mit Bogen und Speeren eröffnet. Aber den erſten Angriff wehrten die Thebaner ſiegreich ab, ſo daß die Schaaren der Argiver rückwärts gingen. Da riefen Ty¬ deus und Polynices ſchnell beſonnen: Ihr Brüder, was brechet ihr nicht, ehe die Geſchoße euch niederwerfen, mit vereinigter Macht auf die Thore ein, Fußvölker, Reiter, Wagenlenker, alle miteinander? Dieſer Ruf, der ſich ſchnell durch das Heer verbreitete, belebte den Muth der Argiver aufs Neue. Alles lebte wieder auf, und der Sturm begann mit verſtärkter Macht, aber nicht glück¬ licher, denn zuvor. Mit blutbeſpritzten Köpfen ſanken ſie zu den Füßen der Vertheidiger nieder, und ganze Li¬ nien röchelten unter den Mauern ihr Leben aus, ſo daß der dürre Boden vor der Stadt von Blutbächen floß. 361 Da ſtürzte der Arkadier Parthenopäus wie ein Sturm¬ wind auf ſein Thor, und rief nach Feuer und Aexten, um es in den Grund zu hauen. Ein thebaniſcher Held, der auf der Mauer nicht ferne ſeinen Poſten hatte, Perikly¬ menus, beobachtete ſeine Anſtrengungen, und riß, als es höchſte Zeit war, ein Stück der ſteinernen Bruſtwehr von der Mauer, ſo groß, daß es eine ganze Wagenlaſt aus¬ gemacht hätte; dieſer Wurf zermalmte dem Stürmer ſein blondgelocktes Haupt und zerriß ihm die Knochen, daß er zerſchmettert zu Boden ſtürzte. Sobald nun Eteokles dieſes Thor geſichert ſah, flog er den andern zu. Am vier¬ ten traf er den Tydeus, der wüthete wie ein Drache, den die Sonne ſticht; er ſchüttelte ſein Haupt unter dem fliegenden Helmbuſch, und ſein Schild, den er über daſſelbe hielt, tönte von gellenden Glocken, die den Rand umgaben; er ſelbſt ſchwang mit der Rechten die Lanze hoch nach der Mauer, und eine ganze Schaar Schildträger umgab ihn, die einen Hagel von Speeren auf den höchſten Burgſaum aufwärts ſchleuderten, ſo daß die Thebaner ſich von dem Rande der Bruſtwehr flüchten mußten. In dieſem Augenblicke erſchien Eteokles, ſammelte ſie, wie ein Jäger zerſtreute Hunde, und führte ſie auf die Mauerzinne zurück. Dann eilte er weiter von Thor zu Thor. Da ſtieß er auch auf den tobenden Kapaneus, der eine vielſproſſige Sturmleiter wider die Stadt heran¬ trug, und prahlend ausrief, ſelbſt Jupiters Blitz ſolle ihn nicht aufhalten, die Grundveſte der eroberten Stadt zu brechen. Mit ſolchen Trotzworten legte er die Leiter an, und klomm unter ſeinem Schilde, umſaust von Stei¬ nen, die glatten Sproſſen empor. Aber ihn für ſeinen Frevelmuth zu züchtigen, blieb nicht den Thebanern über¬362 laſſen; Jupiter ſelbſt übernahm es, und traf ihn, als er ſchon über den Mauerkranz drang, mit ſeinem Don¬ nerkeule. Es war ein Schlag, daß die Erde dröhnte; ſeine zerriſſenen Gliedmaſſen flogen weit umher von der Leiter, das entflammte Haar flatterte gen Himmel, das Blut floß auf die Erde; Hände und Füße rollten im Kreiſe wie ein Rad; der Rumpf ſtürzte endlich feurig auf den Boden nieder.

Der König Adraſt erkannte aus dieſem Zeichen, daß der Göttervater ſeinem Vorhaben feindſelig ſey; er führte ſeine Schaaren aus dem Stadtgraben heraus und wich mit ihnen rückwärts. Die Thebaner dagegen, als ſie das Glück bringende Zeichen, das ihnen Jupiter geſandt hat¬ te, erkannten, brachen zu Fuß und zu Wagen aus der Stadt hervor; ihr Fußvolk ſtürzte mitten unter die argi¬ viſche Heerſchaar, Wagen rannten an gegen Wagen, Leichname lagen zu Haufen; der Sieg blieb den Theba¬ nern und erſt nachdem ſie die Feinde auf eine gute Strecke von der Stadt zurückgeworfen, kehrten ſie in dieſelbe zu¬ rück. Auf dieſer Flucht der Argiver geſchah es auch, daß der Thebaniſche Held Periklymenus den Seher Amphia¬ raus nach dem Strande des Fluſſes Ismenus verfolgte. Hier hemmte den mit Roß und Wagen Fliehenden das Waſſer. Der Thebaner war ihm auf den Ferſen. In der Verzweiflung hieß der Seher ſeinen Wagenlenker die Pferde ihren Weg durch die tiefe Fuhrt ſuchen, aber ehe er im Waſſer war, hatte der Feind das Ufer erreicht und ſein Speer drohte ſeinem Nacken. Da ſpaltete Ju¬ piter, der ſeinen Seher nicht auf unrühmlicher Flucht umkommen laſſen wollte, mit einem Blitze den Boden, daß er ſich aufthat, wie eine ſchwarze Höhle, und die363 Roſſe, die eben den Uebergang ſuchten, zuſammt dem Wagen, dem Seher und ſeinem Genoſſen verſchlang.

Der Brüder Zweikampf.

Auf ſolche Weiſe endete der Sturm auf die Stadt Thebe. Als Kreon und Eteokles mit den Ihrigen in die Mauern zurückgekehrt waren, ordnete ſich das geſchlagene Heer der Argiver wieder, und bald war es von Neuem im Stande, der belagerten Stadt näher zu rücken. Als dieß die Thebaner inne wurden, und die Hoffnung, das zwei¬ temal zu widerſtehen, nachdem auch ihre Kräfte durch den erſten Angriff nicht wenig geſchwächt worden, ziem¬ lich geſunken war, faßte der König Eteokles einen großen Entſchluß. Er ſandte ſeinen Herold zur Stadt hinaus nach dem Argiverheere, das, wieder dicht um die Mauern Thebe's gelagert, am Rande des Stadtgrabens lag, und ließ ſich Stille erbitten. Dann rief er, auf der oberſten Höhe der Burg ſtehend, ſeinen eigenen, inner¬ halb der Stadt aufgeſtellten Schaaren, und den die Stadt umringenden Argivern mit lauter Stimme zu: Ihr Da¬ naer und Argiver alle, die ihr hierher gezogen ſeyd, und ihr Völker Thebe's, gebet doch ſo vielfaches Leben nicht, ihr Einen, dem Polynices noch mir, ſeinem Bruder, ihr Anderen, Preis! Laßt vielmehr mich ſelbſt die Gefahr dieſes Kampfes übernehmen, und ſo allein im Gefechte mit meinem Bruder Polynices mich meſſen. Tödte ich ihn, ſo laßt mich allein den Herrn im Hauſe bleiben: fall 'ich von ſeiner Hand, ſo ſey ihm das Scepter überlaſſen, und ihr Argiver ſenket dann die Waffen und kehret in euer364 Heimathland zurück, ohne vor dieſen Mauern euer Leben nutzlos zu verbluten. Aus den Reihen der Argiver ſprang jetzt Polynices hervor, und rief zur Burg empor, daß er den Vorſchlag ſeines Bruders anzunehmen bereit ſey. Von beiden Seiten war man des blutigen Krieges, der nur Einem von zwei Männern zu Gute kommen ſollte, ſchon lange müde. Daher klatſchten beide Heere dem gerechten Gedanken Beifall. Es wurde ein Vertrag dar¬ über abgeſchloſſen und der Eid der Führer bekräftigte ihn von beiden Seiten auf dem Felde, das zwiſchen bei¬ den Heeren lag. Jetzt hüllten ſich die Söhne des Oedi¬ pus in ihre vollen Waffenrüſtungen; den Beherrſcher Thebens ſchmückten die edelſten Thebaner, den vertriebe¬ nen Polynices die Häupter der Argiver. So ſtanden beide im Stahle prangend da, ſtark und feſten Blickes. Bedenke, riefen die Freunde dem Polynices zu, daß Jupiter von dir ein Siegesdenkmal zu Argos erwartet! Die Thebaner aber ermunterten ihren Fürſten Eteokles: du kämpfeſt für die Vaterſtadt und für den Scepter; dieſer doppelte Gedanke verleihe dir den Sieg! Ehe der verhängnißvolle Kampf begann, opferten auch noch die Seher aus beiden Heeren zuſammentretend, um aus den Geſtaltungen der Opferflamme den Ausgang des Strei¬ tes zu muthmaßen. Das Zeichen war zweideutig, es ſchien Sieg oder Untergang Beiden zugleich zu ver¬ künden. Als das Opfer vorbei war und die beiden Brüder noch immer zwiſchen beiden Heeren einander gegenüber in kampfbereiter Stellung ſich befanden, erhob Polynices flehend ſeine Hände, drehte ſein Haupt rückwärts dem Argiverlande zu und betete: Juno, Beherrſcherin von Argos, aus Deinem Lande habe ich ein365 Weib genommen, in Deinem Lande wohne ich; laß deinen Bürger im Gefechte ſiegen, laß ihn ſeine Rechte färben mit des Gegners Blute! Auf der andern Seite kehrte ſich Eteokles zum Tempel der Minerva in Thebe: Gib, o Tochter Jupiters, flehte er, daß ich die Lanze ſieg¬ reich zum Ziele ſchleudere, in die Bruſt deſſen, der mein Vaterland zu verwüſten kam! Mit ſeinem letzten Worte ſchmetterte der Trompetenklang, das Zeichen des blutigen Kampfes, und die Brüder ſtürzten wilden Laufes auf einander ein und packten ſich wie zwei Eber, die die Hauer grimmig auf einander gewetzt haben. Die Lanzen ſausten an einander vorüber, und prallten beide von den Schilden ab; nun zielten ſie mit den Speeren ſich ge¬ genſeitig nach dem Geſichte, nach den Augen, aber die ſchnell vorgehaltenen Schildränder vereitelten auch dieſen Stoß. Den Zuſchauern ſelbſt floß der Schweiß in dich¬ ten Tropfen vom Leibe, bei'm Anblicke des erbitterten Kampfes. Endlich vergaß ſich Eteokles, und während er beim Ausfallen mit dem rechten Fuße einen Stein, der ihm am Wege lag, bei Seite ſtoßen wollte, ſtreckte er das Bein unvorſichtig unter dem Schilde hervor: da ſtürzte Polynices mit dem Speere heran, und durchbohrte ihm das Schienbein. Das ganze Argiverheer jubelte bei ſeinem Stoße, ſah darin ſchon den entſcheidenden Sieg. Aber während des Stoßes hatte der Verwundete, der ſeine Beſinnung keinen Augenblick verlor, die eine Schulter an ſeinem Gegner entblöſt geſehen, und warf ſeinen Wurf¬ ſpieß nach derſelben, der auch in der Schulter haftete, doch ſo, daß die Spitze ihm abbrach. Die Thebaner lie¬ ßen nur einen halben Laut der Freude von ſich hören. Eteokles wich zurück, ergriff einen Marmelſtein und zer¬366 ſchlug die Lanze ſeines Gegners in zwei Hälften. Der Kampf war jetzt gleich, da beide ſich ihres Wurfgeſchoſ¬ ſes beraubt ſahen. Nun faßten ſie raſch die Griffe ihrer Schwerter und rückten einander ganz nahe auf den Leib; Schild ſchlug gegen Schild, lautes Kampfgetöſe hallte. Da beſann ſich Eteokles auf einen Kunſtgriff, den er im theſſaliſchen Lande gelernt. Er wechſelte plötzlich ſeine Stellung, zog ſich nach hinten auf ſeinen linken Fuß zu¬ rück, deckte ſich den eigenen Unterleib mit Sorgfalt, ſetzte dann den vordern Fuß voran, und ſtach den Bruder, der auf eine ſo veränderte Haltung des Gegners nicht gefaßt war und den untern Theil des Leibes nicht mehr mit dem Schilde gedeckt hatte, mitten durch den Leib über den Hüften. Schmerzlich neigte ſich nun Polynices auf die Seite und ſank bald unter Strömen Blutes zuſam¬ men. Eteokles, nicht mehr an ſeinem Siege zweifelnd, warf ſein Schwert von ſich und legte ſich über den Ster¬ benden, ihn zu berauben. Dieß aber war ſein Verderben: denn jener hatte im Sturze ſein Schwert doch noch feſt mit der Hand umklammert, und jetzt, ſo ſchwach er ath¬ mete, war ihm doch noch Kraft genug geblieben, daſſelbe dem über ihn gebeugten Eteokles tief in die Leber zu ſtoßen. Dieſer ſank um, und hart neben dem ſterbenden Bruder nieder.

Nun öffneten ſich die Thore Thebe's, die Frauen, die Diener ſtürzten heraus, die Leiche ihres Herrſchers zu bejammern; Antigone aber warf ſich über ihren gelieb¬ ten Bruder Polynices, um ſeine letzten Worte von den Lippen zu nehmen. Mit Eteokles war es ſchneller zu Ende gegangen, als mit dieſem; nur noch ein tiefer Seuf¬ zer aus röchelnder Bruſt, und er war verſchieden. Po¬367 lynices aber athmete noch, wandte ſein brechendes Auge nach der Schweſter und ſprach: Wie beklage ich dein Loos, Schweſter, wie auch das Loos des todten Bruders, der aus einem Freunde mein Feind geworden iſt. Jetzt erſt, im Tode, empfinde ich, daß ich ihn geliebt habe! Du aber, liebe Schweſter, begrabe mich in meiner Hei¬ math, und verſöhne die zürnende Vaterſtadt, daß ſie mir, obſchon ich der Herrſchaft beraubt worden bin, wenig¬ ſtens ſo viel gewähre! Drücke mir auch die Augen mit deiner Hand zu: denn ſchon breitet die Nacht des Todes ihre Schatten über mich aus.

So ſtarb auch er in der Schweſter Armen. Nun erhob ſich lauter Zwiſt von beiden Seiten unter der Menge. Die Thebaner ſchrieben ihrem Herrn Eteokles den Sieg zu, die Feinde Jenem. Derſelbe Hader war unter den Anführern und den Freunden der Gefallenen; Polynices führte den erſten Lanzenſtoß! hieß es da. Aber er war auch der Erſte, der unterlegen iſt! ſcholl's von der andern Seite entgegen. Unter dieſem Streite wurde zu den Waffen gegriffen; glücklicherweiſe für die Thebaner hatten ſich dieſe geordnet und in voller Waf¬ fenrüſtung theils vor dem Zweikampfe, theils während deſſelben und bei ſeinem Schluſſe eingefunden, während die Argiver die Waffen abgelegt und, wie des Sieges gewiß, ſorglos zugeſchaut hatten. Die Thebaner warfen ſich alſo plötzlich auf's Argiverheer, ehe dieſes ſich mit Rüſtungen bedecken konnte. Sie fanden keinen Wider¬ ſtand; die waffenloſen Feinde füllten in ungeregelter Flucht die Ebene, das Blut floß in Strömen, denn der Wurf der Lanzen ſtreckte zu Hunderten die Fliehenden nieder. Bald war die Umgebung Thebe's von ſämmtlichen368 Feinden gereinigt. Von allen Seiten her brachten die Thebaner die Schilde der erlegten Feinde und andere Beute herbei und trugen ſie triumphirend in die Stadt.

Kreons Beſchluß.

Hierauf wurde an die Beſtattung der Todten gedacht. Die Königswürde von Thebe war nach dem Tode der beiden gefallenen Brüder an ihren Oheim Kreon gekom¬ men, und dieſer hatte nun über das Begräbniß ſeiner beiden Neffen zu verfügen. Sofort ließ er den Eteokles, als für die Vertheidigung der Stadt gefallen, mit könig¬ lichen Ehren und aller ſonſtigen Gebühr, feierlich zur Erde beſtatten; alle Bewohner der Stadt folgten dem Leichenzuge, während Polynices unbegraben und in Unehren dalag. Dann ließ Kreon unter Herolds¬ ruf durch die ganze Stadt verkündigen, den Feind des Vaterlandes, der gekommen ſey, die Stadt mit Feuer¬ gluth zu zerſtören, ſich am Blute der Seinigen zu ſätti¬ gen, die Landesgötter ſelbſt zu vertreiben, und was übrig bliebe, in Knechtſchaft zu ſtürzen den weder zu beklagen, noch ihm ein Grab angedeihen zu laſſen, vielmehr den Leichnam des Verfluchten unbegraben den Vögeln und Hunden zum Fraße zu übergeben. Zugleich gebot er den Bürgern ſelbſt Aufſicht darüber zu führen, daß dieſe kö¬ nigliche Willensmeinung vollzogen würde, und ſtellte noch beſondere Späher zu dem Leichname, welche dafür zu ſorgen hatten, daß niemand käme, denſelben zu ſteh¬ len oder zu begraben. Der Lohn deſſen, der dieß doch369 thäte, ſollte unerbittlich der Tod ſeyn; in offener Stadt ſollte er geſteinigt werden.

Dieſe grauſame Verkündigung hatte auch Antigone, die fromme Schweſter, mit angehört und war ihres Ver¬ ſprechens, das ſie dem Sterbenden gegeben, wohl eingedenk. Sie wandte ſich mit beſchwertem Herzen an ihre jüngere Schweſter Iſmene, und wollte dieſe bereden, mit ihr gemein¬ ſchaftlich das Wageſtück zu unternehmen, mit Hand an¬ zulegen und den Leib des Bruders ſeinen Feinden zu ent¬ reißen. Aber Iſmene war ein ſchwaches Mädchen und ſolchem Heldenmuthe nicht gewachſen. Haſt du denn, Schweſter, ſagte ſie weinend, den grauenhaften Un¬ tergang unſeres Vaters und unſrer Mutter ſchon ſo ganz vergeſſen, ja iſt dir das friſche Verderben unſrer Brüder ſchon aus dem Gedächtniſſe verſchwunden, daß du auch uns Zurückgebliebene noch ins gleiche Todesloos hinein¬ ziehen willſt? Antigone wandte ſich mit Kälte von ihrer furchtſamen Schweſter ab. Ich will dich gar nicht zur Helferin , ſagte ſie. Ich gehe hin, den Bruder al¬ lein zu begraben. Wenn ich dieß gethan habe, ſterbe ich mit Freuden und lege mich nieder neben dem, den ich im Leben geliebt habe!

Bald darauf kam einer der Wächter muthlos und zögernden Schrittes vor den König Kreon: der Leich¬ nam, den du uns zu bewahren gegeben, iſt begraben, rief er dem Herrſcher entgegen, und der unbekannte Thäter iſt uns entkommen. Wir wiſſen auch nicht, wie es geſchehen iſt. Als der erſte Tageswächter uns die That anzeigte, war es uns Allen ein Bekümmerniß. Nur ein dünner Staub lag auf dem Todten: ſo viel als nothwendig iſt, wenn ein Begräbniß vor den GötternSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 24370der Unterwelt für ein ſolches gelten ſoll. Kein Hieb, kein Schaufelwurf zeigte ſich, keine Wagenſpuren gingen durch den Boden. Unter uns Wächtern entſtand Streit darüber, jeder beſchuldigte den Andern, und am Ende kam es zu Schlägen. Zuletzt jedoch vereinigte man ſich, dir, o König, den Vorgang auf der Stelle zu melden, und mich traf dieſes unſelige Loos! Kreon gerieth auf dieſe Nachricht in großen Zorn, er bedrohte alle Wäch¬ ter, ſie lebendig aufhängen zu laſſen, wenn ſie ihm den Thäter nicht unverzüglich in die Hände lieferten. Dieſe mußten auch auf ſeinen Befehl den Leichnam wieder von aller Erde entblößen und hielten nach wie vor die Wache bei demſelben. So ſaßen ſie vom Morgen bis zum Mit¬ tage im heißeſten Sonnenſchein. Da erhub ſich plötzlich ein Sturm und der Luftkreis füllte ſich mit Staub. Die Wächter beſannen ſich noch über das unerwartete Zeichen, als ſie eine Jungfrau herankommen ſahen, die ſo weh¬ müthig wehklagte, wie ein Vogel, der ſein Neſt ausge¬ leert findet. Sie hatte in der Hand eine eherne Gie߬ kanne, die ſie ſchnell mit Staub füllte, dann näherte ſie ſich denn die Wächter, um von der Nähe des nun ſchon ſo lang unbegraben daliegenden Leichnams nicht zu leiden, ſaßen ziemlich ferne auf einem Hügel mit Vorſicht der Leiche, und ſpendete dem Todten, anſtatt des Begräbniſſes, einen dreifachen Aufguß von Erde. Da zögerten die Wächter nicht länger, ſie eilten herbei, griffen ſie und ſchleppten die auf der That ſelbſt Ertappte vor den zürnenden Herrſcher.

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Antigone und Kreon.

Kreon erkannte in der Thäterin ſeine Nichte Anti¬ gone. Thörin, rief er ihr entgegen, die du die Stirne zur Erde ſenkſt, geſtehſt oder läugneſt du dieſes Werk? Ich geſtehe es, erwiederte die Jungfrau und rich¬ tete ihr Haupt in die Höhe. Und kannteſt du, fragte der König weiter, das Geſetz, das du ſo ohne Scheu übertrateſt? Wohl kannte ich es, ſprach Antigone feſt und ruhig, aber von keinem der unſterblichen Göt¬ ter ſtammt dieſe Satzung. Auch kenne ich andere Geſetze, die nicht von geſtern und von heute ſind, die in Ewigkeit gelten und von denen niemand weiß, von wannen ſie kommen. Kein Sterblicher darf dieſe übertreten, ohne dem Zorn der Götter anheimzufallen; ein ſolches Geſetz hat mir befohlen, den todten Sohn meiner Mutter nicht un¬ begraben zu laſſen. Erſcheint dir dieſe Handlungsweiſe thöricht, ſo iſt es ein Thor, der mich der Thorheit be¬ ſchuldigt. Meinſt du, ſprach Kreon, noch mehr erbittert durch den Widerſpruch der Jungfrau, deine ſtarre Sinnesart ſey nicht zu beugen? Zerſpringt doch auch der ſprödeſte Stahl am erſten. Wer in eines An¬ dern Gewalt iſt, der ſoll nicht trotzen! Darauf ant¬ wortete Antigone: Du kannſt mir doch nicht mehr an¬ thun, als den Tod: wozu darum Aufſchub? Mein Name wird nicht ruhmlos dadurch werden, daß ich ſterbe, auch weiß ich, daß deinen Bürgern hier nur die Furcht den Mund verſchließt und daß alle meine That im Herzen billigen; denn den Bruder lieben, iſt die erſte Schwe¬ ſterpflicht. Nun ſo liebe denn, im Hades, rief der24 *372König immer erbitterter, wenn du lieben mußt! Und ſchon hieß er die Diener ſie ergreifen, als Iſmene, die vom Loos ihrer Schweſter vernommen hatte, herbeige¬ ſtürmt kam. Sie ſchien ihre weibliche Schwäche und ihre Menſchenfurcht ganz abgeſchüttelt zu haben. Mu¬ thig trat ſie vor den grauſamen Oheim, bekannte ſich als Mitwiſſerin und verlangte mit der Schweſter in den Tod zu gehen. Zugleich erinnerte ſie den König daran, daß Antigone nicht nur ſeiner Schweſter Tochter, daß ſie auch die verlobte Braut ſeines eigenen Sohnes Hämon ſey, und er durch ihren Tod ſeinem eigenen Sprößling die Ehe wegmorde. Statt aller Antwort ließ Kreon auch die Schweſter ergreifen und beide durch ſeine Schergen in das Innere des Pallaſtes führen.

Hämon und Antigone.

Als Kreon ſeinen Sohn herbeieilen ſah, glaubte er nicht anders, als das über ſeine Braut gefällte Urtheil müße dieſen gegen den Vater empört haben. Hämon ſetzte jedoch ſeinen verdächtigenden Fragen Worte voll kindlichen Gehorſams entgegen, und erſt, nachdem er den Vater von ſeiner frommen Anhänglichkeit überzeugt hatte, wagte er es, für ſeine geliebte Braut Fürbitte zu thun. Du weißeſt nicht, Vater, ſprach er, was das Volk ſpricht, was es zu tadeln findet. Dein Auge ſchreckt jeden Bürgersmann zurück, irgend etwas zu ſprechen, das deinem Ohre nicht willkommen iſt; mir hingegen wird es möglich, auch derlei Dinge im Dunkel zu hören. Und ſo laß mich dir denn ſagen, daß dieſe Jungfrau von373 der ganzen Stadt bejammert, daß ihre Handlung von der ganzen Bürgerſchaft als werth des Nachruhms ge¬ prieſen wird, daß niemand glaubt, ſie, die fromme Schwe¬ ſter, die ihren Bruder nicht von Hunden und Vögeln zerfleiſchen ließ, habe den Tod als Lohn verdient! Darum, geliebter Vater, gib der Stimme des Volkes nach; thu es den Bäumen gleich, die längs dem angeſchwollenen Waldſtrome gepflanzt, ſich ihm nicht entgegenſtemmen, ſondern der Gewalt des Waſſers nachgeben und unver¬ letzt bleiben, während diejenigen Bäume, die es wagen, Widerſtand zu leiſten, durch die Wellen von Grund aus entwurzelt werden. Will der Knabe mich Verſtand lehren? rief Kreon verächtlich aus; es ſcheint, er kämpft im Bunde mit dem Weib! Ja, wenn du ein Weib biſt! antwortete der Jüngling ſchnell und lebhaft denn nur zu Deinem Beſten iſt dieß Alles geſagt! Ich merke wohl, endete der Vater entrüſtet, blinde Liebe zu der Verbrecherin hält deinen Sinn in Banden: aber lebendig wirſt du dieſe nicht freien! Denn wiſſe: ferne, wo keine Menſchentritte ſchallen, ſoll ſie bei leben¬ dem Leibe in einem verſchloſſenen Felſengrabe geborgen werden. Nur wenig Speiſe wird ihr mitgegeben, ſo viel, als nöthig iſt, die Stadt vor der Befleckung zu bewahren, die der Greuel eines unmittelbaren Mordes ihr zuziehen würde. Mag ſie dann von dem Gotte der Unterwelt, den ſie doch allein ehrt, ſich Befreiung erfle¬ hen; zu ſpät wird ſie erkennen, daß es klüger iſt, den Lebenden zu gehorchen, als den Todten.

Zornig wandte ſich Kreon mit dieſen Worten von ſeinem Sohne ab, und bald waren alle Anſtalten ge¬ troffen, den gräßlichen Beſchluß des Tyrannen zu voll¬374 ziehen. Oeffentlich vor allen Bürgern Thebe's wurde Antigone nach dem gewölbten Grabe abgeführt, das ihrer wartete; ſie ſtieg unter Anrufung der Götter und der Geliebten, mit welchen ſie vereinigt zu werden hoffte, unerſchrocken hinab.

Noch immer lag der verweſende Leichnam des er¬ ſchlagenen Polynices unbegraben da. Die Hunde und Vögel nährten ſich von ihm, und befleckten die Stadt, indem ſie die Ueberreſte des Todten hin und her trugen. Da erſchien der greiſe Seher Tireſias vor dem Könige Kreon, wie er einſt vor Oedipus erſchienen war, und verkündete jenem aus dem Vogelfluge und der Opferſchau ein Unheil. Schlimmer, übelgeſättigter Vögel Gekrächz hatte er vernommen, das Opferthier auf dem Altare, ſtatt hell in Flammen zu verlodern, war unter trübem Rauche verſchmort. Offenbar zürnen uns die Götter, endete er ſeinen Bericht, wegen der Mißhandlung des erſchla¬ genen Königsſohnes. Sey darum nicht halsſtarrig, Herrſcher, weiche dem Todten, ſieh nicht nach Ermorde¬ ten! Welcher Ruhm iſt es, Todte noch einmal zu töd¬ ten? Laß ab davon; in guter Meinung rathe ich dir! Aber Kreon wies, wie damals Oedipus, den Wahrſa¬ ger mit kränkenden Worten zurück, ſchalt ihn geldgierig und bezüchtigte ihn der Lüge. Da entbrannte das Ge¬ müth des Sehers, und ohne Schonung zog er von den Augen des Königes den Schleier weg, der die Zukunft bedeckte! Wiſſe, ſprach er, daß die Sonne nicht untergehen wird, ehe du aus deinem eigenen Blute einen Leichnam für zwei Leichen zum Erſatze bringſt. Doppel¬ ten Frevel begehſt du, indem du den Todten der Unter¬ welt vorenthältſt, der ihr gebührt, und die Lebende, die375 der Oberwelt angehört, nicht heraufläßeſt zu ihr! Schnell entführe mich, Knabe! Laſſen wir dieſen Mann mit ſei¬ nem Unglück allein! So ging er an der Hand ſeines Führers, auf ſeinen Seherſtab geſtützt, davon.

Kreons Strafe.

Der König blickte dem zürnenden Wahrſager bebend nach. Er berief die Aelteſten der Stadt zu ſich, und befragte ſie, was zu thun ſey. Entlaß die Jungfrau aus der Höhle, beſtatte den preisgegebenen Leib des Jünglings! lautete ihr einſtimmiger Rath. Schwer kam es den unbeugſamen Herrſcher an, nachzugeben. Aber das Herz war ihm entſunken. So willigte er geängſtigt darein, den einzigen Ausweg zu ergreifen, der das Ver¬ derben, das der Seher verkündigt hatte, von ſeinem Hauſe abwälzen könnte. Er ſelbſt machte ſich mit Dienern und Gefolge zuerſt nach dem Felde, wo Polynices lag, und dann nach dem Grabgewölbe, in welches Antigone verſchloſſen worden war, auf, und im Pallaſte blieb ſeine Gemahlin Eurydice allein zurück. Dieſe vernahm bald auf den Straßen ein Klagegeſchrei, und als ſie auf den immer lauter werdenden Ruf ihre Gemächer endlich verließ und in den Vorhof ihres Pallaſtes heraustrat, kam ihr ein Bote entgegen, der ihrem Gemahl als Führer nach dem hohen Blachfelde gedient hatte, wo der Leib ſeines Neffen erbarmungslos zerriſſen, bis hieher nicht begraben lag. Wir beteten zu den Göttern der Unterwelt, erzählte der Bote, badeten den Todten im heiligen Bade, und verbrannten dann den Ueberreſt ſeines bejammernswür¬376 digen Leichnams. Nachdem wir ihm aus vaterländiſcher Erde einen Grabhügel aufgethürmt, gingen wir nach dem ſteinernen Gewölbe, in das die Jungfrau hinabgeſtiegen war, ihr Leben dort im elenden Hungertode zu enden. Hier vernahm ein vorangeeilter Diener ſchon aus der Ferne helltönende Jammerlaute vom Thore des grauen¬ vollen Gemaches her. Er eilte zu unſerem Herrn zurück, ihm Solches kund zu thun. Aber auch zu ſeinem Ohre war jener betrübte Klagelaut ſchon gedrungen, und er hatte darin die Stimme des Sohnes erkannt. Wir Die¬ ner eilten auf ſein Geheiß heran, und blickten durch den Felſenſpalt. Wehe uns, was mußten wir hier ſchauen? Tief im Hintergrunde der Höhle ſahen wir die Jungfrau Antigone in den Schlingen ihres Schleiers aufgeknüpft und ſchon entſeelt. Vor ihr lag, ihren Leib umſchlingend, dein Sohn Hämon, in heulender Wehklage die entriſſene Braut bejammernd und des Vaters Unthat verfluchend. Inzwiſchen war dieſer vor der Kluft angekommen und wandelte tiefaufſeufzend durch die offene Thüre hinein. Unſeliger Knabe, rief er, auf was ſinneſt du? Was droht uns dein verirrter Blick? Komm heraus zu deinem Vater! Flehend, auf den Knieen liegend, beſchwöre ich dich! Doch der Sohn ſtarrte ihn in Verzweiflung an, und riß ohne Antwort ſein zweiſchneidiges Schwert aus der Scheide, der Vater ſtürzte zu dem Gewölbe hinaus, und entwich dem Stoße. Hierauf bückte der unglückſelige Hämon ſich ſelbſt über ſein Schwert und trieb den Stahl tief durch ſeine Seite. Er ſank, aber noch ſinkend ſchlang er ſeinen Arm feſt um die Leiche der Braut, und liegt jetzt todt, wie er die Todte gefaßt hatte, in der Grabes¬ höhle. Eurydice hörte dieſe Botſchaft ſchweigend an377 und enteilte dann, ohne ein gutes oder böſes Wort zu ſprechen. Dem verzweifelnden Könige, der von Dienern begleitet, welche die Leiche ſeines einzigen Sohnes tru¬ gen, jammernd in den Pallaſt zurückkehrte, kam die Nach¬ richt entgegen, daß im Innern des Hauſes ſeine Gemah¬ lin entſeelt in ihrem Blute liege, mit einer tiefen Schwert¬ wunde im Herzen.

Beſtattung der thebaniſchen Helden.

Vom ganzen Stamme des Oedipus war jetzt, außer zwei Söhnen der gefallenen Brüder, nur noch Iſmene übrig. Von ihr erzählt die Sage nichts; ſie ſtarb unvermählt oder kinderlos, und mit ihrem Tode erloſch das unſelige Geſchlecht. Von den ſieben Helden, die gegen Thebe aus¬ gezogen waren, entkam dem unglücklichen Sturme und der letzten Schlacht der König Adraſtus allein, den ſein unſterbliches Roß, Arion, von Neptunus und Ceres er¬ zeugt, auf geflügelter Flucht rettete. Er erreichte glücklich Athen, nahm dort ſeine Zuflucht als Schutzflehender an den Altar der Barmherzigkeit, und flehte, einen Oelzweig in der Hand, die Athener an, ihn zu unterſtützen, daß er die vor Thebe gefallenen Helden und Mitbürger zu ehrlicher Beſtattung ſich erſtreiten könnte. Die Athener erhörten ſeinen Wunſch und zogen unter Theſeus mit ihm zu Felde. Die Thebaner wurden gezwungen, die Be¬ erdigung zu geſtatten. Nun errichtete Adraſtus den Leich¬ namen der gefallenen Helden ſieben gethürmte Scheiter¬ haufen und hielt am Aſopus, dem Apollo zu Ehren, ein Wettrennen. Als der Scheiterhaufen des Kapaneus brannte,378 ſtürzte ſich ſeine Gattin, Evadne, des Iphis Tochter, hin¬ ein, und verbrannte zugleich mit ihm. Der Leichnam des Am¬ phiaraus, den die Erde verſchlungen hatte, war nicht zum Begräbniſſe aufgefunden worden. Es ſchmerzte den Kö¬ nig, ſeinem Freunde dieſe letzte Ehre nicht bezeigen zu können. Ich vermiſſe, ſprach er, das Auge meines Heeres, den Mann, der beides war, der trefflichſte Se¬ her und der tapferſte Kämpfer im Streit! Als die feier¬ liche Beſtattung vorüber war, errichtete Adraſtus der Ne¬ meſis oder Vergeltung einen ſchönen Tempel vor Thebe, und zog mit ſeinen Bundesgenoſſen, den Athenern, wie¬ der aus dem Lande.

379

Die Epigonen.

Zehn Jahre nachher entſchloſſen ſich die Söhne der vor Theben umgekommenen Helden, Epigonen oder Nach¬ kömmlinge genannt, zu einem neuen Feldzuge gegen dieſe Stadt, den Tod ihrer Väter zu rächen. Es waren ihrer acht: Alkmäon und Amphilochus, die Söhne des Amphia¬ raus, Aegialeus, der Sohn Adraſt's, Diomedes, der Sohn des Tydeus, Promachus, des Parthenopäus Sohn, Sthe¬ nelus, der Sohn des Kapaneus, Therſander, des Poly¬ nices, und Euryalus, des Mekiſteus Sohn. Auch der alte König Adraſtus, aus dem Kampfe der Väter allein noch übrig, geſellte ſich zu ihnen, übernahm jedoch den Oberbefehl nicht, ſondern wollte ihn einem jüngeren und rüſtigeren Helden laſſen. Da befragten die Verbündeten das Orakel des Apollo darüber, wen ſie zum Anführer wählen ſollten. Dieſes bezeichnete ihnen den Alkmäon, des Amphiaraus Sohn. Alſo ward Alkmäon von ihnen zum Feldherrn gewählt. Er aber war ungewiß, ob er dieſe Würde annehmen dürfte, bevor er den Vater ge¬ rächt: deßwegen ging auch er hin zum Gotte und befragte das Orakel. Apoll antwortete ihm, er ſollte beides aus¬ führen. Seine Mutter Eriphyle war bisher nicht nur im Beſitze des verderblichen Halsbandes geweſen, ſie hatte ſich auch das zweite Unheil bringende Geſchenk Aphrodi¬ tens, den Schleier, zu verſchaffen gewußt. Therſander, der Sohn des Polynices, der den Schleier als Erbe beſaß, hatte ihn ihr, wie einſt ſein Vater das Halsband, geſchenkt, und ſie damit beſtochen, daß ſie ihren Sohn Alkmäon überreden ſollte, an dem Feldzuge gegen Thebe380 Theil zu nehmen. Dem Orakelſpruche gehorſam, über¬ nahm Alkmäon den Oberbefehl, und verſchob ſeine Rache auf die Heimkehr. Er brachte nicht nur aus Argos ſelbſt ein anſehnliches Heer zuſammen, ſondern viel kampfluſtige Krieger aus den Nachbarſtädten vereinigten ſich mit ihm, und nun führte er eine anſehnliche Streitmacht unter Thebe's Thore. Hier erneuerte ſich durch die Söhne der hartnäckige Kampf, wie er zehn Jahre früher von den Vätern gekämpft worden war. Aber die Söhne waren glücklicher als die Väter, und der Sieg entſchied ſich für Alkmäon. In der Hitze des Streites fiel nur Einer der Epigonen, Aegialeus, der Sohn des Königes Adraſtus, welchen der Anführer der Thebaner, Laodamas, des Eteo¬ kles Sohn, mit eigener Hand tödtete, dafür aber von Alkmäon, dem Feldherrn der Epigonen, erſchlagen wurde. Nach dem Verluſte ihres Führers und vieler Mitbürger verließen die Thebaner das Schlachtfeld und flohen hin¬ ter ihre Mauern zurück. Hier ſuchten ſie Rath bei dem blinden Tireſias, dem Seher, der, jetzt wohl hundert Jahre alt, noch immer in Thebe lebte. Er rieth ihnen den einzigen Rettungsweg einzuſchlagen, und, während ſie ei¬ nen Herold mit Friedenſaufträgen an die Argiver abſen¬ deten, die Stadt zu verlaſſen. Sie gingen den Vorſchlag ein, fertigten einen Abgeſandten an die Feinde ab, und während dieſer unterhandelte, luden ſie ihre Kinder und Frauen auf Wagen und flohen aus der Stadt. Im Dunkel der Nacht kamen ſie in eine Stadt Böotiens, die Tilphuſſa hieß. Aus dem Quelle, der bei der Stadt floß, that der blinde Tireſias, der ſelbſt geflüchtet war, einen kalten Trunk und ſtarb. Noch in der Unterwelt wurde der weiſe Seher ausgezeichnet. Er lief nicht gedankenlos381 umher wie andere Schatten, ſondern ſein hoher Sinn und Seherverſtand war ihm geblieben. Seine Tochter Manto hatte die Flucht nicht getheilt; ſie war in Thebe zurück¬ gelaſſen worden, und fiel hier den Eroberern, welche die verödete Stadt beſetzten, in die Hände. Dieſe hatten ein Gelübde gethan, das Beſte, was ſie von Beute zu Thebe finden würden, dem Apollo zu weihen. Nun urtheilten ſie, daß dem Gotte kein Theil der Beute beſſer gefallen könne, als die Seherin Manto, welche die göttliche Gabe von ihrem Vater ererbt hatte, und nicht in geringerem Maße beſaß. Deßwegen brachten die Epigonen dieſelbe nach Delphi, und weihten ſie hier dem Gott als Prieſterin. Hier wurde ſie immer vollkommener in der Wahrſager¬ kunſt und anderer Weisheit und bald die berühmteſte Seherin ihrer Zeit. Oft ſah man bei ihr einen greiſen Mann aus und ein gehen, den ſie herrliche Geſänge lehrte, die bald in ganz Griechenland wiedertönten. Es war der Maeonier Homerus.

382

Alkmäon und das Halsband.

Als Alkmäon von Thebe zurückgekehrt war, dachte er darauf, auch den zweiten Theil des Orakelſpruches zu erfüllen und an ſeiner Mutter, der Mörderin ſeines Va¬ ters, Rache zu nehmen. Seine Erbitterung gegen ſie war noch gewachſen, als er nach ſeiner Zurückkunft erfahren hatte, daß Eriphyle, auch ihn zu verrathen, Geſchenke ge¬ nommen habe. Er glaubte ſie nicht länger ſchonen zu müßen, überfiel ſie mit dem Schwerdte und ermordete ſie. Dann nahm er das Halsband und den Schleier zur Hand und verließ das älterliche Haus, das ihm ein Greuel ge¬ worden war. Aber obgleich die Rache des Vaters ihm vom Orakel befohlen worden war, ſo war doch auch wieder der Muttermord für ſich ein Frevel wider die Natur und die Götter konnten ihn nicht ungeſtraft laſſen. So wurde denn zur Verfolgung des Alkmäon eine Furie geſandt, und er mit Wahnſinn geſchlagen. In dieſem Zuſtande kam er zuerſt nach Arkadien zum Könige Oïkleus. Aber hier gönnte ihm die Furie keine Ruhe und er mußte wei¬ ter wandern. Endlich fand er eine Zufluchtsſtätte zu Phocis bei dem Könige Phegeus. Von dieſem entſündigt, erhielt er die Hand ſeiner Tochter Arſinoe, und die ver¬ hängnißvollen Geſchenke, Halsband und Schleier, wan¬ derten nun in ihren Beſitz. Alkmäon war jetzt zwar vom Wahnſinne frei, der Fluch jedoch noch nicht ganz von ſeinem Haupte genommen, denn das Land ſeines Schwä¬ hers wurde um ſeiner Anweſenheit willen mit Unfrucht¬ barkeit heimgeſucht. Alkmäon befragte das Orakel; dieſes aber fertigte ihn mit dem troſtloſen Ausſpruche ab: er383 ſollte Ruhe finden, wenn er in ein Land gekommen, das bei ſeiner Mutter Ermordung noch nicht vorhanden ge¬ weſen ſey. Es hatte nemlich Eriphyle ſterbend jedes Land verflucht, das den Muttermörder aufnehmen würde. Troſtlos verließ Alkmäon ſeine Gattin und ſeinen kleinen Sohn Klytus und ging hinaus in die weite Welt. Nach langem Umherirren fand er endlich doch, was ihm die Wahrſagung verheißen hatte. Er kam an den Strom Achelous und fand hier eine Inſel, die dieſer erſt ſeit Kurzem angeſetzt hatte. Hier ließ er ſich nieder und ward von ſeiner Plage ganz frei. Aber die Befreiung von dem Fluche und das neue Glück machten ſein Herz übermüthig: er vergaß ſeiner frühern Gemahlin Arſinoe und ſeines kleinen Sohnes und vermählte ſich abermals mit der ſchönen Kallirrhoe, der Tochter des Stromgottes Achelous, die ihm auch bald nach einander zwei Söhne, Akarnan und Amphoterus, gebar. Wie aber dem Alkmäon überall der Ruf von den unſchätzbaren Kleinodien voran¬ ging, in deren Beſitze man ihn glaubte, ſo fragte auch ſeine junge Gemahlin gar bald nach dem herrlichen Hals¬ band und Schleier. Dieſe Schätze jedoch hatte Alkmäon in den Händen ſeiner erſten Gattin gelaſſen, als er dieſe heimlich verließ. Nun ſollte ſeine neue Gemahlin nichts von jenem früheren Ehebund erfahren: ſo erdichtete er einen Ort in der Ferne, wo er die Koſtbarkeiten aufge¬ hoben hätte, und machte ſich anheiſchig, ihr dieſelben zu holen. Nun wanderte er nach Phocis zurück, trat wie¬ der vor ſeinen erſten Schwiegervater und ſeine verſtoßene Gattin und entſchuldigte ſich wegen ſeiner Entfernung mit einem Reſte von Wahnſinn, der ihn ausgetrieben habe und noch immer verfolge. Frei vom Fluche zu werden und384 wieder zurückzukehren, ſprach der Falſche, gibt es, wie mir geweiſſagt iſt, nur ein Mittel: wenn ich das Halsband und den Schleier, die ich dir geſchenkt habe, dem Gott nach Delphi als Weihgeſchenk bringe. Durch dieſe Trug¬ worte ließen Phegeus und ſeine Tochter ſich bereden und gaben beides her. Alkmäon machte ſich mit ſeinem Raube fröhlich davon; er ahnte nicht, daß die unheilvollen Ga¬ ben endlich auch ihm den Untergang bringen müßten. Es hatte nämlich einer ſeiner Diener, der um das Geheim¬ niß wußte, dem Könige Phegeus anvertraut, daß Alk¬ mäon eine zweite Gattin habe und den Schmuck zu ſich genommen, um ihn dieſer zu bringen. Nun machten ſich die Brüder der verſtoßenen Gemahlin auf ſeine Spur, eilten ihm zuvor, erlauerten ihn in einem Hinterhalte und ſtießen den ſorglos einherziehenden nieder. Halsband und Schleier brachten ſie ihrer Schweſter zurück und rühm¬ ten ſich der Rache, die ſie für ſie genommen. Aber Ar¬ ſinoe liebte auch den ungetreuen Alkmäon noch und ver¬ wünſchte ihre Brüder, als ſie ſeinen Tod vernahm. Jetzt ſollten die verderblichen Geſchenke ihre Kraft auch an Ar¬ ſinoe bewähren. Die erbitterten Brüder glaubten den Un¬ dank der Schweſter nicht hart genug beſtrafen zu können: ſie ergriffen ſie, ſperrten ſie in eine Kiſte und führten ſie in derſelben zu ihrem Gaſtfreunde, dem König Agapenor, nach Tegea, mit der falſchen Botſchaft, daß Arſinoe die Mörderin des Alkmäon ſey. So ſtarb ſie eines elenden Todes.

Inzwiſchen hatte Kallirrhoe den kläglichen Untergang ihres Gatten Alkmäon erfahren und mit dem tiefſten Schmerz durchzückte ſie das Verlangen nach ſchneller Rache. Sie warf ſich auf ihr Angeſicht nieder und flehte385 zu Jupiter, daß er ein Wunder thun und ihre kleinen Söhne, Akarnan und Amphoterus, plötzlich mannbar wer¬ den laſſen ſollte, damit ſie die Mörder ihres Vaters be¬ ſtrafen könnten. Da Kallirrhoe ſchuldlos war, erhörte Jupiter ihre Bitte, und die Söhne, die als unmündige Knaben zu Bette gegangen waren, erwachten als bärtige Männer voll Thatkraft und Racheluſt. Sie zogen aus und wandten ſich zuerſt nach Tegea. Hier kamen ſie gerade um dieſelbe Zeit an, als die Söhne des Phegeus, Pro¬ nous und Agenor, mit ihrer unglücklichen Schweſter, Ar¬ ſinoe, dort angelangt und im Begriffe waren, nach Del¬ phi zu reiſen, um dort den heilloſen Schmuck Aphrodi¬ tens im Tempel Apollo's als Weihgeſchenk niederzulegen. Dieſe wußten nicht, wen ſie vor ſich hatten, als die bär¬ tigen Jünglinge auf ſie eindrangen, den Mord ihres Va¬ ters zu rächen, und ehe ſie den Grund des Angriffes er¬ fahren hatten, waren ſie erſchlagen. Die Söhne Alkmäons rechtfertigten ſich bei Agapenor und erzählten ihm den wahren Hergang der Sachen; ſie wandten ſich dann nach Pſophis, traten hier in den Pallaſt und tödteten den König Phegeus mitſammt ſeiner Gemahlin. Verfolgt und gerettet verkündeten ſie ihrer Mutter die vollbrachte Rache; dann zogen ſie nach Delphi und legten, nach dem Rath ihres Großvaters Achelous, Halsband und Schleier als Weihgeſchenk im Tempel Apollos nieder. Als dieß geſche¬ hen war, erloſch der Fluch, der auf dem Hauſe des Am¬ phiaraus gelegen, und ſeine Enkel, die Söhne Alkmäons und Kalirrhoe's ſammelten Anſiedler in Epirus und gründeten Akarnanien. Klytius, der Sohn Alkmäons und Arſinoe's hatte nach des Vaters Ermordung ſeine mütterlichen Verwandten mit Abſcheu verlaſſen und in Elis eine Zuflucht gefunden.

Schwab, das klaſſiſche Alterthum. I. 25386

Die Sage von den Herakliden.

Die Herakliden kommen nach Athen.

Als Herkules in den Himmel verſetzt war und ſein Vetter Euryſtheus, König von Argos, ihn nicht mehr zu fürchten hatte, verfolgte ſeine Rache die Kinder des Halb¬ gottes, deren größerer Theil mit Alkmene, der Mutter des Helden, zu Mycene, der Hauptſtadt von Argos, lebte. Sie entflohen ſeinen Nachſtellungen und begaben ſich in den Schutz des Königes Ceyx zu Trachin. Als aber Eu¬ ryſtheus von dieſem kleinen Fürſten ihre Auslieferung ver¬ langte, und denſelben mit einem Kriege bedrohte, hielten ſie ſich unter ſeinem Schutze nicht mehr für ſicher, ver¬ ließen Trachin und flüchteten ſich durch Griechenland. Vaterſtelle bei ihnen vertrat der berühmte Neffe und Freund des Herkules, der Sohn des Iphikles, Jolaus. Wie dieſer in jungen Jahren mit Herkules alle Mühſale und Abenteuer getheilt hatte, ſo nahm er jetzt auch, ſchon ergraut, die verlaſſene Kinderſchaar des Freundes unter ſeine Flügel, und ſchlug ſich mit ihnen durch die Welt. Ihre Abſicht war, ſich den Beſitz des Peloponneſes, den ihr Vater erobert hatte, zu ſichern; ſo kamen ſie, unab¬ läſſig von Euryſtheus verfolgt, nach Athen, wo der Sohn des Theſeus, Demophoon, regierte, der den unrechtmäßi¬ gen Beſitzer des Thrones, Meneſtheus, eben verdrängt hatte. Zu Athen lagerte ſich die Schaar auf der Agora oder dem Markt, am Altare Jupiters, und flehte den Schutz des Atheniſchen Volkes an. Noch nicht lange387 ſaßen ſie ſo, als auch ſchon wieder ein Herold des Köni¬ ges Euryſtheus einhergeſchritten kam. Er ſtellte ſich tro¬ tzig vor Jolaus hin und ſprach in höhnendem Tone: Du meinſt wohl gar hier einen ſicheren Sitz gefunden zu haben und in eine verbündete Stadt gekommen zu ſeyn, thörichter Jolaus! Freilich, es wird auch jemand einfallen, deine unnütze Bundesgenoſſenſchaft mit der des mächtigen Euryſtheus zu vertauſchen! Darum fort von hier mit allen deinen Sippen gen Argos, wo euer nach Urtheil und Recht die Steinigung wartet! Jolaus ant¬ wortete ihm getroſt: Das ſey ferne! Weiß ich doch, daß dieſer Altar eine Stätte iſt, die mich nicht nur vor dir, dem Unmächtigen, ſondern ſelbſt vor den Heerſchaa¬ ren deines Herrn ſchützen wird, und daß es das Land der Freiheit iſt, in welches wir uns gerettet haben. So wiſſe, entgegnete ihm Kopreus ſo hieß der He¬ rold daß ich nicht allein komme, ſondern hinter mir eine genügende Macht, welche deine Schützlinge bald von dieſer vermeintlichen Freiſtätte hinwegreißen wird!

Bei dieſen Worten erhuben die Herakliden einen Klageruf, und Jolaus wandte ſich mit lauter Stimme an die Bewohner Athens: Ihr frommen Bürger! rief er, duldet es nicht, daß die Schützlinge eures Jupiter mit Gewalt fortgeführt werden, daß der Kranz, den wir als Flehende auf dem Haupte tragen, beſudelt wird, daß die Götter Entehrung und eure ganze Stadt Schmach treffe. Auf dieſen durchdringenden Hülferuf ſtrömten die Athe¬ ner von allen Seiten auf den Markt herbei und ſahen nun erſt die Schaar der Flüchtlinge um den Altar ſitzen. Wer iſt der ehrwürdige Greis? Wer ſind die ſchönen lockigten Jüng¬ linge? ſo tönte es von hundert Lippen zugleich. Als ſie25 *388vernahmen, daß es Herkules Söhne ſeyen, die den Schutz der Athener anflehen, ergriff die Bürger nicht nur Mit¬ leid, ſondern auch Ehrfurcht, und ſie riefen dem Herolde, der bereit ſchien, Hand an einen der Flüchtlinge zu legen, zu, von dem Altare zurückzutreten, und ſein Begehren beſcheidentlich dem Könige des Landes vorzutragen. Wer iſt der König dieſes Landes? fragte Kopreus, durch die entſchiedene Willensäuſſerung der Bürger eingeſchüchtert. Es iſt ein Mann, war die Antwort, deſſen Schiedsrich¬ terſpruche du dich gar wohl unterwerfen darfſt. Demo¬ phoon, der Sohn des unſterblichen Theſeus, iſt unſer König.

Demophoon.

Es dauerte nicht lange, ſo hatte den König in ſei¬ ner Burg die Kunde erreicht, daß der Markt von Flücht¬ lingen beſetzt und fremde Heeresmacht mit einem Herolde erſchienen ſey, ſie zurückzufordern. Er ſelbſt begab ſich auf den Markt und vernahm aus dem Munde des Herol¬ des das Begehren des Euryſtheus. Ich bin ein Argi¬ ver, ſprach zu ihm Kopreus, und Argiver ſind es, über die mein Herr Gewalt hat, die ich wegführen will. Du wirſt nicht ſo ſinnverlaſſen ſeyn, o Sohn des Theſeus, daß du, allein von ganz Griechenland, dich des rathloſen Unglückes dieſer Flüchtlinge erbarmeſt, und einen Kampf um dieſelben mit der Kriegsmacht des Euryſtheus und der mächtigen Bundesgenoſſenſchaft dieſes Fürſten vorzieheſt!

Demophoon war ein weiſer und beſonnener Mann. Wie ſollte ich, ſprach er auf die heftige Rede des389 Herolds, die Sache richtig anſehen und den Streit ent¬ ſcheiden können, ehe ich beide Parteien angehört habe. Darum ſprich du, Führer dieſer Jünglinge, was haſt du für dein Recht zu ſagen? Jolaus, an den dieſe Worte gerichtet waren, erhob ſich von den Stufen des Altares, neigte ſich ehrerbietig vor dem Könige und hub an: Kö¬ nig, nun erfahre ich zum erſtenmale, daß ich in einer freien Stadt bin: denn hier gilt reden laſſen und anhö¬ ren; anderswo aber bin ich mit meinen Schützlingen ver¬ ſtoßen worden, ohne daß mir Gehör geſchenkt worden wäre. Nun höre mich. Euryſtheus hat uns aus Argos vertrieben; keine Stunde hätten wir länger in ſeinem Lande verweilen dürfen. Wie kann er nun uns noch Unterthanen heißen, noch, als auf Argiver, auf mich und dieſe An¬ ſpruch machen, die er aller Unterthanenrechte und dieſes Namens ſelbſt beraubt hat? Es müßte denn derjenige, der aus Argos geflohen iſt, auch ganz Griechenland mei¬ den müſſen! Nein, wenigſtens Athen nicht! Die Einwoh¬ ner dieſer heldenmüthigen Stadt werden die Söhne des Herkules nicht aus ihrem Lande jagen. Ihr König wird die Schutzflehenden nicht vom Altare der Götter reiſſen laſſen. Seyd getroſt, meine Kinder, wir ſind im Lande der Freiheit, ja noch mehr, wir ſind bei Verwandten angekommen. Denn wiſſe, König dieſes Landes, daß du keine Fremd¬ linge beherbergſt. Dein Vater Theſeus, und Herkules, der Vater dieſer verfolgten Söhne, waren beide Urenkel des Pelops. Noch mehr, ſie beide waren Waffenbrüder; ja, der Vater dieſer Kinder hat deinen Vater aus der Unterwelt erlöst. " Als Jolaus ſo geſprochen, umfaßte er die Kniee des Königes, ergriff ſeine Hand und ſein Kinn, und gebärdete ſich in Allem, wie im Alterthum ein390 Schutzflehender ſich zu gebärden pflegte. Der König aber hub ihn von dem Boden auf und ſprach: Dreifache Nöthigung drängt mich, deine Bitte nicht abzuweiſen, o Held. Zuerſt Jupiter und dieſer heilige Altar; dann die Verwandtſchaft, und endlich die Wohlthaten, die ich vom Vater her dem Herkules ſchulde. Laſſe ich euch vom Altare hinwegreiſſen, ſo wäre dieß Land nicht mehr das Land der Freiheit, der Götterfurcht und der Tugend! Darum du Herold, kehre nach Mycene zurück und melde ſolches deinem Herrſcher. Nimmermehr wirſt du Dieſe mit dir führen! Ich gehe, ſprach Kopreus, und erhob drohend ſeinen Heroldsſtab, aber ich komme wieder mit argiviſcher Heeresmacht. Zehntauſend Schildträger har¬ ren auf den Wink meines Königes: er ſelbſt wird ihr Führer ſeyn. Wiſſe! ſein Heer iſt ſchon an deiner Grenze gelagert. Geh zum Hades, ſprach Demophoon ver¬ ächtlich, ich fürchte dich und dein Argos nicht!

Der Herold entfernte ſich, und jetzt ſprangen die Söhne des Herkules, eine ganze Schaar blühender Jüng¬ linge und Knaben, freudig vom Altare auf und bewill¬ kommten mit Gruß und Handſchlag ihren Blutsverwand¬ ten, den König der Athener, in welchem ſie ihren gro߬ müthigen Retter ſahen. Jolaus führte abermals das Wort für ſie, und dankte dem trefflichen Manne und den Bür¬ gern der Stadt mit Worten voll Rührung: Wenn uns je wieder Heimkehr beſcheert iſt, ſprach er, und wenn ihr Kinder Haus und Würden eures Vaters Herkules wieder in Beſitz nehmt, ſo vergeſſet dieſe eure Retter und Freunde nie, und nimmer laßt euch einfallen, dieſe gaſt¬ liche Stadt mit Krieg zu überziehen, ſondern erblicket391 vielmehr immer in ihr die liebſte Freundin und treueſte Bundesgenoſſin!

Der König Demophoon traf nun alle Anſtalten, das Heer ſeines neuen Feindes gerüſtet zu empfangen; er verſammelte die Seher und veranſtaltete feierliche Opfer. Dem Jolaus und ſeinen Schützlingen wollte er Wohnun¬ gen im Pallaſte anweiſen. Aber Jolaus erklärte den Altar Jupiters nicht verlaſſen und mit allen den Seini¬ gen unter Gebeten für das Heil der Stadt hier verhar¬ ren zu wollen. Erſt wenn der Sieg mit der Götter Hülfe errungen iſt, ſprach er, wollen wir unſre müden Leiber unter dem Dache der Gaſtfreunde bergen. Inzwiſchen beſtieg der König den höchſten Thurm ſeiner Burg und beobachtete das heranziehende Heer der Feinde, dann ſammelte er die Streitmacht der Athener, traf alle krie¬ geriſchen Anordnungen, berathſchlagte mit den Sehern und war bereit, die feierlichen Opfer darzubringen. Am Al¬ tare des Zeus war indeß Jolaus und ſeine Schaar in flehenden Gebeten begriffen, als Demophoon mit ſchnellen Schritten und verſtörtem Geſichte auf ſie zugegangen kam. Was iſt zu thun, ihr Freunde, rief er ihnen ſorgenvoll entgegen; wohl iſt mein Heer gerüſtet, die nahenden Argiver zu empfangen, aber der Ausſpruch aller meiner Seher knüpft den Sieg an eine Bedingung, die nicht zu erfüllen iſt. Das Lied der Orakel, ſagen ſie, lautet ſo: Ihr ſollt kein Kalb, oder keinen Stier ſchlachten, ſondern eine Jungfrau, die vom edelſten Geſchlechte iſt; nur dann dürft ihr, nur dann darf dieſe Stadt auf Sieg und Ret¬ tung hoffen! Wie ſoll nun aber Solches geſchehen? Ich ſelbſt habe blühende Töchter in meinem Königshauſe; aber wer darf dem Vater zumuthen, ein ſolches Opfer zu392 bringen? Und welcher andere der edelſten Bürger, der eine Tochter hat, wird ſie, wenn ich es auch wagen woll¬ te, ſie ihm abzuverlangen, mir ausliefern? So würde mir, während ich den auswärtigen Krieg zu beendigen bedacht bin, in der Stadt ſelbſt der Bürgerkrieg erwa¬ chen! Mit Schrecken hörten die Söhne des Herkules die angſtvollen Zweifel ihres Beſchützers. Weh uns, rief Jolaus, die wir Schiffbrüchigen gleichen, die ſchon den Strand erreicht haben, und vom Sturme wieder in die hohe See herausgeſchleudert werden! Eitle Hoff¬ nung, warum haſt du uns in deine Träume eingewiegt? Wir ſind verloren, Kinder, nun wird er uns ausliefern, und können wirs ihm verdenken? Doch auf einmal blitzte ein Strahl der Hoffnung in dem Auge des Greiſen. Weißeſt du, was mir der Geiſt eingiebt, König, was uns alle retten wird? Hilf mir dazu, daß es geſchieht! Liefere mich dem Euryſtheus aus, anſtatt dieſer Söhne des Herkules! Gewiß würde Jener am liebſten mir, dem ſteten Begleiter des großen Helden, einen ſchmählichen Tod anthun. Ich aber bin ein alter Mann: gern opfere ich meine Seele für dieſe Jünglinge! Dein Aner¬ bieten iſt edel, erwiederte Demophoon traurig, aber es kann uns nicht helfen. Meinſt du, Euryſtheus werde ſich mit dem Tode eines Greiſen zufrieden ſtellen? Nein, das Geſchlecht des Herkules ſelbſt, das junge, blühende will er ausrotten. Weißeſt du einen andern Rath, ſo ſage mir ihn, dieſer aber iſt vergeblich.

393

Makaria.

Jetzt entſtand ein ſolches Wehklagen nicht nur unter den Herakliden, ſondern auch unter den Bürgern Athens, daß das laute Jammergeſchrei empordrang bis zur Kö¬ nigsburg. Dort waren bald nach dem Einzuge der Flüchtlinge die greiſe Mutter des Herkules, Alkmene, von Alter und Leid gebeugt, und ſeine blühende Tochter Ma¬ karia, die ihm Deïanira geboren hatte, vor den Blicken der Neugierigen von Demophoon geborgen worden, und lebten in ſtiller Erwartung deſſen, das da kommen ſollte. Alkmene, hochbejahrt und in ſich gekehrt, vernahm von dem, was draußen vorging, nichts. Ihre Enkelin aber horchte auf die Jammerlaute, die aus der Tiefe empor¬ ſtiegen. Es ergriff ſie eine Angſt um das Schickſal ihrer Brüder, und ſie eilte, nicht bedenkend, daß ſie allein und eine in tiefer Zurückgezogenheit aufgewachſene Jungfrau ſey, in das Gewühl des Marktes hinunter. Die ver¬ ſammelten Bürger mit ihrem Könige und nicht weni¬ ger Iolaus mit ſeinem Schützlingen erſtaunten, als ſie die Jungfrau in ihre Mitte treten ſahen. Dieſe hatte ſich eine Weile unter dem Haufen verborgen gehalten und auf dieſe Weiſe erlauſcht, in welcher Noth ſich Athen und die Herakliden befänden, und welch ein verhängni߬ voller Orakelſpruch einem glücklichen Erfolge jeden Aus¬ weg zu verſperren ſchien. Mit feſten Schritten trat ſie daher vor den König Demophoon und ſprach: Ihr ſuchet ein Opfer, das euch den glücklichen Ausgang des Krieges verbürge, und durch deſſen Tod meine armen Brüder vor der Wuth des Tyrannen geſchützt werden394 mögen: eine reine Jungfrau aus edlem Stamme ſollet ihr ſchlachten. Habt ihr denn gar nicht daran gedacht, daß die jungfräuliche Tochter des adligſten Sterblichen, des Herkules, in ihrer Mitte weilt? Ja, ich ſelbſt biete mich als Opfer an, das den Göttern um ſo will¬ kommener ſeyn muß, da es freiwillig iſt. Wenn dieſe Stadt edelmüthig genug für Herkules 'Nachkommen einen ge¬ fahrvollen Krieg unternimmt und ihre Söhne zu Hun¬ derten opfern wird: wie ſollte ſich unter ſeiner Nachkom¬ menſchaft nicht auch ein Leben finden, das bereit iſt, ſo trefflichen Männern durch ſeine Opferung den Sieg zu ſichern? Wir wären nicht werth beſchirmt und gerettet zu werden, wenn keines unter uns ſo dächte! Darum führt mich immerhin an den Ort, wo mein Leib geopfert werden ſoll, bekränzet mich, wie man ein Opferthier bekränzt, zücket den Stahl, meine Seele wird willig ent¬ fliehen! Jolaus und alle Umſtehende ſchwiegen lange, nachdem das heldenmüthige Mädchen ihre feu¬ rige Anrede längſt geendet hatte. Endlich ſprach der Führer der Herakliden: Jungfrau, du haſt deines Vaters würdig geſprochen: ich ſchäme mich deiner Worte nicht, obwohl ich dein Geſchick beweine. Mir aber däuchte billig, daß alle Töchter deines Stammes zuſammenkämen, und das Loos entſchiede, welche für ihre Brüder ſterben ſoll! Ich möchte nicht durch das Loos ſterben, antwortete Makaria freudig, aber zögert nicht lange, daß nicht der Feind euch überfalle und der Orakelſpruch vergebens euch verliehen ſey. Heißet die Frauen des Landes mit mir gehen, daß ich nicht vor Männeraugen ſterbe. So ging die hochgeſinnte Jungfrau, von den edelſten Frauen Athens begleitet, freiwilligem Tode entgegen.

395

Die Rettungsſchlacht.

Bewunderungsvoll blickten der ſcheidenden Jungfrau König und Bürger Athens, voll Wehmuth und Schmerz die Herakliden und Jolaus nach. Aber das Schickſal erlaubte beiden Theilen nicht, ihren Gedanken und Em¬ pfindungen nachzuhängen. Denn kaum war Makaria ver¬ ſchwunden, als ein Bote mit freudiger Miene und lautem Rufe dem Altare zugeraunt kam. Seyd gegrüßt, ihr lieben Söhne! rief er, ſagt mir, wo iſt der Greis Jolaus; ich habe ihm Freudenbotſchaft zu bringen! Jo¬ laus erhub ſich vom Altare, aber er konnte den tiefen Schmerz nicht mit einemmal aus den Zügen verbannen, ſo daß der Bote ſelbſt ihn vor allen Dingen nach der Urſache ſeiner Traurigkeit fragen mußte. Ein häusli¬ cher Kummer bedrückt mich, erwiederte der alte Held, forſche nicht weiter, ſage mir lieber, was dein fröhlicher Blick Gutes bringt! Kennſt du mich denn nicht mehr, ſprach jener, den alten Diener des Hyllus, der ein Sohn iſt des Herkules und der Deïanira? Du weißſt, daß mein Herr ſich auf der Flucht von euch getrennt hat, um Bun¬ desgenoſſen zu werben. Nun iſt er zur guten Stunde mit einem mächtigen Heere gekommen, und ſteht dem Kö¬ nige Euryſtheus gerade gegenüber gelagert. Eine freu¬ dige Bewegung durchlief die Schaar der Flüchtlinge, die den Altar umringt hielten und theilte ſich auch den Bür¬ gern mit. Die greiſe Alkmene ſelbſt lockte dieſe frohe Botſchaft aus den Frauengemächern des Pallaſtes hervor, und der alte Jolaus, auf keine Widerrede achtend, ließ ſich Streitwaffen bringen, und ſchnallte ſich den Harniſch396 an den Leib. Er empfahl die Obhut über die Kinder ſeines Freundes und ihre Großmutter den Aelteſten Athen's, die in der Stadt zurückblieben. Mit der jungen Mann¬ ſchaft Athens und ihrem Könige Demophoon zog er ſelbſt aus, ſich mit dem Heere des jungen Hyllus zu ver¬ einigen. Als nun die verbündete Schaar in ſchöner Schlachtordnung ſtand, und das Feld weithin von blan¬ ken Waffenrüſtungen glänzte, gegenüber aber auf einen Steinwurf das gewaltige Heer des Königes Euryſtheus, er ſelbſt an der Spitze, ſeine unabſehbaren Reihen dehnte; da ſtieg Hyllus, der Sohn des Herkules, von ſeinem Streitwagen, ſtellte ſich mitten in die Gaſſe, welche die feindlichen Heere noch frei gelaſſen hatten, und rief dem gegenüber ſtehenden Argiverkönige zu: Fürſt Euryſtheus! ehe überflüſſiges Blutvergießen ſeinen Anfang nimmt, und zwei große Städte ſich um weniger Menſchen willen be¬ kämpfen und mit Vernichtung bedrohen, höre meinen Vorſchlag! Laß uns beide durch redlichen Zweikampf den Streit entſcheiden: falle ich von deiner Hand, ſo magſt du die Kinder des Herkules, meine Geſchwiſter mit dir führen, und handeln mit ihnen, wie dir gefällt; wird mir aber gegeben, dich zu fällen, ſo ſoll die väterliche Würde und ſeine Wohnung und Herrſchaft im Pelopon¬ nes mir und den Seinigen allen geſichert ſeyn! Das Heer der Verbündeten gab durch lauten Zuruf ſeinen Bei¬ fall zu erkennen, und auch die Schaaren der Argiver murrten zuſtimmend herüber. Nur der arge Euryſtheus, wie er ſchon vor Herkules ſeine Feigheit bewieſen hatte, ſchonte auch jetzt ſeines Lebens, wollte von dem Vorſchlage nichts hö¬ ren, und verließ die Schlachtreihe, an deren Spitze er ſtand, nicht. Auch Hyllus trat jetzt wieder zu ſeinem Heere zu¬397 rück, die Seher opferten, und bald ertönte der Schlacht¬ ruf. Mitbürger, rief Demophoon den Seinigen zu, be¬ denkt, daß ihr für Haus und Heerd, für die Stadt, die euch geboren und ernähret hat, kämpft! Auf der andern Seite beſchwor Euryſtheus die Seinigen, Argos und Mycene keinen Schimpf anzuthun, und dem Rufe dieſes mächtigen Staates Ehre zu machen. Jetzt ertön¬ ten die Tyrrheniſchen Trompeten, Schild klang an Schild, Geräuſch der Wagen, Stoß der Speere, Klirren der Schwer¬ ter erſcholl, und dazwiſchen der Wehruf der Gefallenen. Einen Augenblick wichen die Verbündeten der Herakliden vor dem Stoße der Argiviſchen Lanzen, die ihre Reihen zu durchbrechen drohten, doch bald wehrten ſie die Feinde ab, und rückten ſelbſt vor; nun entſtand erſt das rechte Handgemenge, das den Kampf lange unentſchieden ließ. Endlich wankte die Schlachtordnung der Argiver, ihre Schwerbewaffneten und ihre Streitwagen wandten ſich zur Flucht. Da kam auch den alten Jolaus die Luft an, ſeine Greiſenjahre noch durch eine That zu verherrlichen, und als eben Hyllus auf ſeinem Streitwagen an ihm vorbeirollte, um dem fliehenden Feindesheer in den Na¬ cken zu kommen, ſtreckte er ſeine Rechte zu ihm empor, und bat ihn, daß Hyllus ihn an ſeiner Statt ſeinen Wa¬ gen möge beſteigen laſſen. Hyllus wich ehrerbietig dem Freunde ſeines Vaters und dem Beſchützer ſeiner Brüder, er ſtieg vom Wagen und an ſeiner Statt ſchwang ſich der alte Jolaus in den Sitz. Es wurde ihm nicht leicht, mit ſei¬ nen greiſen Händen das Viergeſpann zu bewältigen, doch trieb er es vorwärts, und war an das Heiligthum der Palleniſchen Minerva gekommen, als er den fliehenden Wagen des Euryſtheus in der Ferne dahin ſtäuben ſah. 398Da erhob ſich Jolaus in ſeinem Wagen und flehte zu Jupiter und Hebe, der Göttin der Jugend, der unſterbli¬ chen Gemahlin ſeines in den Olymp verſetzten Freundes Herkules, ihm nur für dieſen Tag der Schlacht wieder Jünglingskraft zu verleihen, damit er ſich an dem Feinde des Herkules rächen könne. Da war ein großes Wun¬ der zu ſchauen: zwei Sterne ſenkten ſich vom Himmel hernieder und ſetzten ſich auf das Joch der Roſſe, zu¬ gleich hüllte ſich der ganze Wagen in eine dichte Nebel¬ wolke; dieß dauerte nur wenige Augenblicke, ſo waren Sterne und Nebel wieder verſchwunden, in dem Wagen aber ſtand Jolaus verjüngt, mit braunen Locken, aufrech¬ tem Nacken, nervigen Jünglingsarmen; in jugendfeſter Hand die Zügel des Viergeſpanns haltend. So ſtürmte er dahin und erreichte den Euryſtheus, als ſchon er die Scy¬ roniſchen Felſen im Rücken hatte, beim Eingang in ein Thal, durch welches der Argiver flüchten wollte. Euryſt¬ heus erkannte ſeinen Verfolger nicht und wehrte ſich von ſeinem Wagen herab; aber die dem Jolaus von den Göttern verliehene Jünglingsſtärke ſiegte, er zwang ſeinen alten Gegner vom Wagen herunter, band ihn auf ſeinen eigenen feſt und führte ihn ſo als den Erſtling des Sie¬ ges dem verbündeten Heere zu. Jetzt war die Schlacht ganz gewonnen, das führerloſe Heer der Argiver ſtürzte in wilder Flucht davon; alle Söhne des Euryſtheus und unzählige Streiter wurden erſchlagen und bald war kein Feind auf attiſchem Boden mehr zu ſehen.

399

Euryſtheus vor Alkmene.

Das Heer der Sieger war in Athen eingezogen, und Jolaus, der jetzt wieder in ſeiner vorigen Greiſen¬ geſtalt erſchien, ſtand mit dem gedemüthigten Verfolger des herkuliſchen Geſchlechtes vor der Mutter des Herku¬ les, Hände und Füße mit Feſſeln gebunden. Kommſt du endlich, Verhaßter! rief ihm die Greiſin zu, als ſie ihn vor ihren Augen ſtehen ſah. Hat dich nach ſo langer Zeit die Strafgerechtigkeit der Götter ergriffen? Senke dein Angeſicht nicht ſo zur Erde, ſondern blicke deinen Gegnern Aug 'in's Auge. Du biſt alſo der, der du mei¬ nen Sohn ſo viele Jahre hindurch mit Arbeit und Schmach überhäuft haſt, ihn ausgeſandt haſt, giftige Schlangen und grimmige Löwen zu erwürgen, damit er im verderb¬ lichen Kampf erliege, ihn hinuntergejagt haſt in das fin¬ ſtere Reich des Hades, damit er dort der Unterwelt verfiele? Und nun treibeſt du mich, ſeine Mutter, und dieſe Schaar ſeiner Kinder, ſo viel an dir iſt, aus ganz Griechenland fort, und wollteſt ſie von den beſchirmen¬ den Altären der Götter hinwegreißen? Aber du biſt auf Männer und eine freie Stadt geſtoßen, die dich nicht ge¬ fürchtet haben. Jetzt iſts an dir, zu ſterben, und du darfſt dich glücklich preiſen, wenn du nur ſterben mußt. Denn da du mannigfachen Frevel verübt haſt, ſo hätteſt du auch verdient durch mancherlei Qual einen vielfachen Tod zu leiden! Euryſtheus wollte dem Weibe gegenüber keine Furcht zeigen: er raffte ſich zuſammen und ſprach mit erzwungener Kaltblütigkeit: Du ſollſt kein Wort aus meinem Munde hören, das einem Flehen gliche; ich400 weigere mich nicht zu ſterben. Nur ſoviel ſey mir ver¬ gönnt zu meiner Rechtfertigung zu ſagen, daß nicht ich es geweſen bin, der freiwillig dem Herkules als Wider¬ ſacher entgegengetreten. Juno, die Göttin war es, die mir auftrug, dieſen Kampf zu beſtehen. Alles, was ich gethan habe, iſt in ihrem Auftrage geſchehen. Da ich mir nun aber einmal wider Willen den mächtigen Mann und Halbgott zum Feinde gemacht, wie hätte ich nicht darauf bedacht ſeyn ſollen, allem aufzubieten, was mich vor ſeinem Zorne ſicher ſtellen konnte? Wie hätte ich nicht nach ſeinem Tode ſein Geſchlecht verfolgen ſol¬ len, aus welchem lauter Feinde und Rächer ihres Vaters mir entgegen wuchſen? Thue nun mit mir, was du willſt; ich verlange nicht nach dem Tode; aber es ſchmerzt mich auch nicht, wenn ich das Leben verlaſſen ſoll. So ſprach Euryſtheus und ſchien mit Ruhe ſein Schickſal zu erwar¬ ten. Hyllus ſelbſt ſprach für ſeinen Gefangenen und die Bürger Athens riefen auch die milde Sitte ihrer Stadt an, die den überwundenen Verbrecher zu begnadigen pflegte. Aber Alkmene blieb unerbittlich, ſie gedachte aller Leiden, die ihr unſterblicher Sohn auf Erden zu dulden hatte, ſo lange er ein Knecht des grauſamen Königs war; ihr ſchwebte der Tod der geliebten Enkelin vor Augen, die ſie hierher begleitet hatte und freiwillig in den Tod ge¬ gangen war, um dem mit übergewaltiger Heeresmacht drohenden Euryſtheus den Sieg zu entreißen; ſie malte ſich mit grauſen Farben aus, welch Schickſal ihr ſelbſt und allen ihren Enkeln zu Theil geworden wäre, wenn Euryſtheus als Sieger und nicht als Gefangener jetzt vor ihr ſtände: Nein, er ſoll ſterben, rief ſie, kein Sterblicher ſoll dieſen Verbrecher mir entreißen! Da401 kehrte ſich Euryſtheus zu den Athenern und ſprach: Euch, ihr Männer, die ihr gütig für mich gebeten habt, ſoll auch mein Tod keinen Unſegen bringen. Wenn ihr mich eines ehrlichen Begräbniſſes würdiget und mich beſtattet, wo das Verhängniß mich ereilt hat, am Tempel der Pal¬ leniſchen Minerva: ſo werde ich als ein heilbringender Gaſt die Gränze eures Landes bewachen, daß kein Heer ſie jemals überſchreiten ſoll. Denn, wiſſet, daß die Nach¬ kommen dieſer Jünglinge und Kinder, die ihr hier be¬ ſchützet, euch einſt mit Heeresmacht überfallen und euch die Wohlthat ſchlecht lohnen werden, die ihr ihren Vä¬ tern erzeigt habt. Alsdann werde ich, der geſchworne Feind des Herkuliſchen Geſchlechtes, euer Retter ſeyn. Mit dieſen Worten ging er unerſchrocken zum Tode, und ſtarb beſſer, als er gelebt hatte.

Hyllus, ſein Orakel und ſeine Nachkommen.

Die Herakliden gelobten ihrem Beſchirmer Demo¬ phoon ewige Dankbarkeit und verließen Athen unter der Anführung ihres Bruders Hyllus und ihres väterlichen Freundes Jolaus. Sie fanden jetzt allenthalben Mit¬ ſtreiter und zogen in ihr väterliches Erbe, den Pelopon¬ nes, ein. Ein ganzes Jahr lang kämpften ſie hier von Stadt zu Stadt, bis ſie außer Argos Alles unterworfen hatten. Während dieſer Zeit wüthete durch jene ganze Halbinſel eine grauſame Peſt, welche kein Ende nehmen wollte. Endlich erfuhren die Herakliden durch einen Götterſpruch, daß ſie ſelbſt Schuld an dieſem Unglück ſeyen, weil ſie zurückgekehrt, bevor ſie es rechtmäßigerSchwab, das klaſſ. Alterthum. I. 26402Weiſe konnten. Deßwegen verließen ſie den ſchon einge¬ nommenen Peloponnes wieder, kehrten ins attiſche Ge¬ biet zurück und wohnten dort auf den Feldern von Ma¬ rathon. Hyllus hatte inzwiſchen, nach dem Willen ſeines ſterbenden Vaters die ſchöne Jungfrau Jole, um welche einſt Herkules ſelbſt ſich beworben hatte, geheirathet, und dachte unaufhörlich auf Mittel, in den Beſitz des angeſtammten Vatererbes zu kommen. Er wandte ſich daher abermals an das Orakel zu Delphi, und dieſes gab ihm zur Ant¬ wort: Erwartet ihr die dritte Frucht, ſo wird euch die Rückkehr gelingen. Hyllus deutete dieſes, wie es am natürlichſten ſchien, von den Feldfrüchten des dritten Jahres, wartete geduldig den dritten Sommer ab, und fiel dann auf's Neue mit Heeresmacht in den Peloponnes ein.

Zu Mycene war nach dem Tode des Euryſtheus der Enkel des Tantalus und Sohn des Pelops, Atreus, Kö¬ nig geworden; dieſer ſchloß bei der feindlichen Annäherung der Herakliden einen Bund mit den Einwohnern der Stadt Tegea und andrer Nachbarſtädte, und ging den Heranrü¬ ckenden entgegen. An der Landenge von Corinth ſtanden beide Heere einander gegenüber. Aber Hyllus, der immer gerne Griechenblut ſchonte, war hier wieder der Erſte, der den Streit durch einen Zweikampf zu ſchlichten be¬ müht war. Er forderte Einen der Feinde, wer da wollte, zum Streite heraus, und ſtellte, auf ſeine vom Orakel ge¬ billigte Unternehmung vertrauend, die Bedingung, wenn Hyllus ſeinen Gegner beſiegte, ſo ſollten die Herakliden das alte Reich des Euryſtheus ohne Schwertſtreich ein¬ nehmen; würde dagegen Hyllus überwunden, ſo ſollten die Nachkommen des Herkules fünfzig Jahre lang den Peloponnes nicht mehr betreten dürfen. Als dieſe Aus¬403 forderung im feindlichen Heere ruchtbar wurde, erhob ſich Echemus, der König von Tegea; ein kecker Kämp¬ fer in den beſten Mannesjahren, und nahm die Ausfor¬ derung an. Beide kämpften mit ſeltener Tapferkeit; zuletzt aber unterlag Hyllus, und ein finſteres Sinnen über die Zweideutigkeit des Orakelſpruchs, den er erhal¬ ten hatte, umſchwebte die Stirnfalten des Sterbenden. Dem Vertrage gemäß ſtanden jetzt die Herakliden von ihrem Unternehmen ab, kehrten wieder nach dem Iſth¬ mus um, und wohnten jetzt wieder in der Gegend von Marathon. Die fünfzig Jahre gingen vorüber, ohne daß die Kinder des Herkules daran dachten, dem Vertrage zuwider, ihr Erbland aufs neue zu erobern. In¬ zwiſchen war Kleodäus, der Sohn des Hyllus und der Jole, ein Mann von mehr als fünfzig Jahren geworden. Da nun der Vergleich abgelaufen und ihm die Hände nicht mehr gebunden waren, machte er ſich mit andern Enkeln des Herkules gegen den Peloponnes auf, als der troja¬ niſche Krieg ſchon dreißig Jahre vorüber war. Aber auch er war nicht glücklicher als ſein Vater, und kam mit ſei¬ nem ganzen Heer auf dieſem Feldzuge um. Zwanzig Jahre ſpäter machte ſein Sohn Ariſtomachus, der Enkel des Hyllus und Urenkel des Herkules, einen zweiten Verſuch. Dieß geſchah, als Tiſamenus, ein Sohn des Oreſtes, über die Peloponneſier herrſchte. Auch ihn führte das Orakel durch einen zweideutigen Rath irre; die Götter, ſprach es, verleihen dir den Sieg durch den Pfad des Engpaſſes. Er brach über den Iſthmus ein, wurde zurückgeſchlagen und ließ wie Vater und Großvater ſein Leben.

Neue dreißig Jahre gingen vorüber, und Troja lag ſchon achtzig Jahre in Aſche. Da unternahmen die Söhne26 *404des Ariſtomachus, des Kleodäus Enkel, mit Namen Teme¬ nus, Kresphontes und Ariſtodemus den letzten Zug. Trotz aller Zweideutigkeit der Orakelſprüche hatten ſie den Glau¬ ben an die Götter nicht verloren, gingen nach Delphi und befragten die Prieſterin. Die Sprüche aber lauteten von Wort zu Wort, wie ſie ihren Vätern ertheilt wor¬ den waren. Wenn die dritte Frucht abgewartet worden, ſo wird die Rückkehr gelingen. Und wiederum: die Götter verleihen den Sieg durch den Pfad des Engpaſ¬ ſes. Klagend ſprach da der älteſte der Brüder, Teme¬ nus: Dieſen Ausſprüchen iſt mein Vater, Großvater, und Urgroßvater gefolgt, und es iſt zu ihrer aller Ver¬ derben geweſen! Da erbarmte ſich ihrer der Gott und ſchloß durch ſeine Prieſterin ihnen den wahren Sinn des Orakels auf: An allen ihren Unglücksfällen, ſprach ſie, ſind eure Väter ſelbſt ſchuldig geweſen, weil ſie der Götter weiſe Sprüche nicht zu deuten wußten! Dieſe nemlich meinten nicht die dritte Frucht der Erde, die er¬ wartet werden müſſe, ſondern die dritte Frucht des Ge¬ ſchlechtes: die erſte war Kleodäus, die zweite Ariſtoma¬ chus, die dritte Frucht, der der Sieg prophezeiht iſt, das ſeyd ihr. Wiederum, unter dem Engpaſſe, der zum Wege führen ſoll, iſt nicht, wie euer Vater fälſchlich deutete, der Iſth¬ mus verſtanden, ſondern jener weitere Schlund, nämlich das dem Iſthmus zur Rechten liegende Meer. Jetzt wiſſet ihr den Sinn der Orakelſprüche. Was ihr thun wollet, das thuet mit der Götter Glück!

Als Temenus ſolche Auslegung vernahm, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, er rüſtete mit ſeinen Brüdern eilig ein Heer aus, und baute Schiffe zu Lokri, an dem Orte, der von dieſer Ausrüſtung den Namen405 Naupaktus, das heißt, Schiffswerft, bekam. Aber auch dieſer Zug ſollte den Nachkommen des Herkules nicht leicht werden, und ihnen viel Kummer und Thränen ko¬ ſten. Als das Heer verſammelt war, traf den jüngſten der Brüder, Ariſtodemus, der Blitzſtrahl, und machte ſeine Gattin Argia, die Ururenkelin des Polynices, zur Wittwe, und ſeine Zwillingsſöhne, Euryſthenes und Pro¬ kleus, zu Waiſen. Als ſie den Bruder beſtattet und be¬ weint hatten, und nun das Schiffsheer von Naupaktus aufbrechen wollte, fand ſich ein Seher bei demſelben ein, der von den Götter begeiſtert war und Orakelſprüche er¬ theilte. Sie aber hielten denſelben für einen Zauberer und Kundſchafter, der von den Peloponneſiern zum Ver¬ derben ihres Heeres abgeſandt ſey. Schon lange waren ſie ihm daher aufſäßig, bis Hippotes, der Sohn des Phy¬ las, ein Urenkel des Herkules, nach dem Seher einen Wurfſpieß warf, der ihn traf und auf der Stelle tödtete. Darüber zürnten die Götter den Herakliden: die See¬ macht wurde vom Sturm überfallen und ging zu Grunde; die Landtruppen wurden von einer Hungersnoth gepeinigt, und ſo löste ſich allmählig das ganze Heer auf. Teme¬ nus befragte auch über dieſes Unglück das Orakel. Um des Sehers willen, den ihr getödtet habt, eröffnete ihm der Gott, hat euch Unheil getroffen. Den Mörder ſollt ihr auf zehen Jahre des Landes verweiſen, und dem Drei¬ äugigen den Heerbefehl übertragen. Der erſte Theil des Orakels war bald erfüllt: Hippotes wurde aus dem Heere geſtoßen, und mußte in die Verbannung gehen. Aber der zweite Theil brachte die armen Herakliden zur Verzweif¬ lung. Denn wie und wo ſollten ſie einem Menſchen mit drei Augen begegnen? Indeſſen forſchten ſie unermüdlich406 und im Vertrauen auf die Götter nach einem ſolchen. Da ſtießen ſie auf Oxylus, Sohn des Hämon, und Nach¬ kommen des Oeneus, aus ätoliſchem Königsgeſchlechte. Dieſer hatte zu der Zeit, da die Herakliden in den Pelo¬ ponnes eingedrungen waren, einen Todſchlag begangen, der ihn aus ſeinem Vaterland Aetolien nach dem Länd¬ chen Elis im Peloponneſe zu flüchtigen nöthigte. Jetzt war er nach Jahresfriſt im Begriffe, von da in ſeine Heimath zurückzukehren, und begegnete auf ſeinem Maul¬ thiere den Herakliden. Er war aber einäugig, denn das andere Auge hatte er ſich in der Jugend mit einem Pfeile ausgeſtoßen. So mußte das Maulthier ihm ſehen helfen, und hatten ſie zuſammen der Augen drei. Die Herakli¬ den fanden auch dieſes ſeltſame Orakel erfüllt, wählten den Oxylus zum Heerführer, und als auf dieſe Weiſe die Bedingung des Geſchickes erfüllt war, griffen ſie mit friſchgeworbenen Truppen und neugezimmerten Schiffen die Feinde an, und tödteten deren Anführer Tiſamenus.

Die Herakliden theilen den Peloponnes.

Nachdem die Herakliden auf ſolche Weiſe den gan¬ zen Peloponnes erobert hatten, errichteten ſie dem Zeus, ihrem väterlichen Ahnherrn, drei Altäre, worauf ſie opfer¬ ten, dann begannen ſie die Städte durchs Loos zu ver¬ theilen. Das erſte Loos war Argos, das zweite Lacedä¬ mon, das dritte Meſſene. Sie wurden einig darüber, daß in einer Urne voll Waſſers geloſt werden ſollte. Nun ward beſchloſſen, daß jeder ein Loos hineinwerfen ſollte, das mit ſeinem Namen bezeichnet war. Da warfen Te¬407 menus und die Söhne des Ariſtodemus, die Zwillinge Euryſthenes und Procleus, bezeichnete Steine hinein, der ſchlaue Kreſphontes aber, der am liebſten Meſſene gewon¬ nen hätte, warf eine Erdſcholle in das Waſſer. Dieſe löste ſich auf. Nun wurde zuerſt über Argos gelost, und der Stein des Temenus kam zum Vorſchein; dann über Lacedämon: da kam der Stein der Ariſtodemusſöhne. Nach dem dritten fand man überflüſſig zu ſuchen, und ſo bekam Kreſphontes Meſſene. Als ſie hierauf mit ihren Begleitern den Göttern auf ihren Altären opferten, da wurden ihnen ſeltſame Zeichen zu Theil, denn jeder fand auf ſeinem Altare ein anderes Thier. Diejenigen, welche Argos durchs Loos erhalten hatten, fanden darauf eine Kröte; die, denen Lacedämon zu Theil geworden war, ei¬ nen Drachen; die endlich, die Meſſene bekommen hatten, einen Fuchs. Nachdenklich über dieſe Zeichen geworden, befragten ſie die einheimiſchen Wahrſager. Dieſe deute¬ ten die Sache alſo: Welche die Kröte erhalten haben, werden am beſten thun in ihrer Stadt daheim zu bleiben, denn das Thier hat keinen Schutz auf der Wanderung; die, denen ſich der Drache auf den Altar gelagert, wer¬ den gewaltige Angreifer werden, und mögen ſich immer¬ hin über die Gränzen ihres Landes hinauswagen; die endlich, denen der Fuchs auf ihren Altar gelegt worden, ſollen es weder mit der Einfalt halten, noch mit der Ge¬ walt: ihre Schutzwehr ſoll die Liſt ſeyn.

Dieſe Thiere wurden in der Folge die Schildwap¬ pen der Argiver, Spartaner und Meſſenier. Nun be¬ dachten ſie auch ihren einäugigen Führer, Oxylus, und gaben ihm das Königreich Elis zum Lohne ſeiner Feld¬ herrnſchaft. Vom ganzem Peloponneſe aber blieb nur das408 bergigte Hirtenland Arkadien unbeſiegt durch die Hera¬ kliden. Von den drei Reichen, die ſie auf dieſer Halb¬ inſel begründeten, hatte nur Sparta eine längere Dauer. Zu Argos hatte Temenus dem Deïphontes, auch einem Ururenkel des Herkules, ſeine Tochter Hyrnetho, die er unter allen ſeinen Kindern am meiſten liebte, zur Ehe gegeben, und zog ihn in Allem zu Rathe, ſo daß man vermuthete, daß er ihm und ſeiner Tochter auch die Regierung zuwenden wolle. Darüber ergrimmten ſeine eigenen Söhne, verſchworen ſich gegen ihn und erſchlugen ihren Vater. Die Argiver aber erkannten zwar den älteſten Sohn als König; weil ſie aber Freiheit und Gleichheit vor Allem liebten, ſo beſchränkten ſie die Kö¬ nigsgewalt ſo ſehr, daß ihm und ſeinen Nachkommen nichts übrig blieb, als der Königstitel.

Merope und Aepytus.

Kein beſſeres Loos, als ſeinen Bruder Temenus, traf den König von Meſſene, Kreſphontes. Dieſer hatte die Tochter des Königes Cypſelus von Arkadien, Merope, geheirathet, die ihrem Gemahl viele Kinder gebar, unter welchen Aepytus das jüngſte war. Für ſeine vielen Söhne und ſich ſelbſt erbaute er im Lande eine ſtattliche Kö¬ nigsburg. Er ſelbſt war ein Freund des gemeinen Vol¬ kes, und begünſtigte dieſes, wo er konnte, in ſeiner Ver¬ waltung. Darüber empörten ſich die Reichen und er¬ ſchlugen ihn ſammt allen ſeinen Söhnen, bis auf den jüngſten, Aepytus. Dieſen entzog die Mutter den Hän¬ den der Mörder und rettete ihn glücklich zu ihrem Vater409 Cypſelus nach Arkadien, wo der Knabe heimlich erzogen wurde. In Meſſenien hatte ſich indeſſen Polyphontes, ebenfalls ein Heraklide, des Thrones bemächtigt, und die Wittwe des ermordeten Königes gezwungen, ihm ihre Hand zu reichen. Da wurde es ruchtbar, daß noch ein Thronerbe des Kreſphontes am Leben ſey, und Polyphon¬ tes, der neue Herrſcher ſetzte einen großen Preis auf ſeinen Kopf. Aber Niemand war, der ihn verdienen wollte, oder auch nur konnte. Denn die Sage ging nur dunkel, und man wußte nicht, wo der Geächtete zu ſu¬ chen wäre. Mittlerweile wuchs Aepytus zum Jünglinge heran, verließ heimlich den Pallaſt ſeines Großvaters, und, ohne daß Jemand es ahnte, traf er zu Meſſene ein. Der Jüngling hatte von dem Preiſe gehört, der auf den Kopf des unglücklichen Aepytus geſetzt ſey. Da faßte er ſich ein Herz, kam als ein Fremdling, von Niemand gekannt, ſelbſt von der eigenen Mutter nicht, an den Hof des Königes Polyphontes, trat vor ihn und ſprach in Ge¬ genwart der Königin Merope: Ich bin erbötig, o Herr¬ ſcher, den Preis zu verdienen, den du auf das Haupt des Fürſten geſetzt haſt, der, als Sohn des Kreſphontes, deinem Throne ſo furchtbar iſt. Ich kenne ihn ſo genau wie mich ſelber, und will ihn dir in die Hände liefern.

Die Mutter erblaßte, als ſie dieſes hörte; ſchnell ſandte ſie nach einem alten vertrauten Diener, der ſchon bei der Rettung des kleinen Aepytus thätig geweſen war und jetzt, aus Furcht vor dem neuen Könige, fern vom Hof und der Königsburg lebte. Dieſen ſchickte ſie heim¬ lich nach Arkadien, um ihren Sohn vor Nachſtellung zu ſichern, vielleicht auch, ihn herbeizurufen, damit er ſich an die Spitze der Bürger ſtelle, denen ſich Polyphontes410 durch ſeine Tyranney verhaßt gemacht hatte, und den vä¬ terlichen Thron wieder erringe. Als der alte Diener nach Arkadien kam, fand er den König Cypſelus und das ganze Königshaus in großer Beſtürzung, denn ſein Enkel Aepytus war verſchwunden, und Niemand wußte, was aus ihm geworden war. Troſtlos eilte der alte Diener nach Meſſene zurück und erzählte der Königin, was geſchehen. Beide hatten nun keinen andern Gedan¬ ken, als daß der Fremdling, der vor dem Könige erſchie¬ nen ſey, den Preis zu verdienen, gewiß den armen Aepy¬ tus in Arkadien ermordet und ſeinen Leichnam nach Meſ¬ ſene gebracht habe. Sie beſannen ſich nicht lange, und da der Fremde, von Polyphontes in ſeine Königsburg aufgenommen, ſeine Wohnung in derſelben hatte, betrat die Königin, von Rachedurſt erfüllt, mit einer Art be¬ waffnet, und von ihrem Vertrauten, dem alten Diener, begleitet, nächtlicher Weile die Kammer des Fremden, in der Abſicht, den Schlummernden zu erſchlagen. Der Jüngling aber ſchlief ruhig und ſanft, und der Strahl des Mondes beleuchtete ſein Antlitz. Schon hatten ſich beide über ſein Lager gebeugt und Merope die Mordart erhoben, als der Diener, der, dem Schlafenden näher ſte¬ hend, ſein Angeſicht genauer betrachtete, plötzlich mit ei¬ nem angſtvollen Schrei der Ueberraſchung den Arm der Kö¬ nigin erfaßte. Halt ein, rief er, es iſt dein Sohn Aepytus, den du erſchlagen willſt! Merope ließ den Arm mit der Axt ſinken, und warf ſich über das Bett ihres Sohnes, den ſie mit ihrem lauten Schluchzen erweckte. Nachdem ſie ſich lange in den Armen gelegen, eröffnete ihr der Sohn, daß er gekommen ſey, nicht ſich den Mör¬ dern in die Hände zu liefern, ſondern dieſe zu beſtrafen,411 ſie ſelbſt von dem verhaßten Ehebund zu erlöſen und mit Hülfe der Bürger, die er für ſein gutes Recht zu ge¬ winnen hoffte, den Thron des Vaters zu beſteigen. Er verabredete hierauf gemeinſchaftlich mit der Mutter und dem alten Diener des Hauſes die Maßregeln, die zu er¬ greifen wären, um ſich an dem verhaßten und verruch¬ ten Polyphontes zu rächen. Merope legte Trauerkleider an, trat vor ihren Gatten und erzählte ihm, wie ſie ſo eben die Trauerbotſchaft von dem Tode ihres einzigen, noch übrigen Sohnes erhalten habe. Fortan ſey ſie be¬ reit, im Frieden mit ihrem Gatten zu leben, und des vo¬ rigen Leides nicht zu gedenken. Der Tyrann ging in die Schlinge, die ihm gelegt war. Er wurde vergnügt, weil ihm die ſchwerſte Sorge vom Herzen genommen war, und erklärte den Göttern ein Dankopfer bringen zu wollen, dafür daß alle ſeine Feinde jetzt aus der Welt verſchwunden ſeyen. Als nun die ganze Bürgerſchaft auf öffentlichem Markte, aber mit widerwilligem Herzen, erſchie¬ nen war denn das gemeine Volk hatte es immer mit dem liebreichen Könige Kreſphontes gehalten, und betrauerte auch jetzt ſeinen Sohn Aepytus, in welchem es die letzte Hoffnung verloren glaubte ; da überfiel Aepytus den opfernden König und ſtieß ihm den Stahl ins Herz. Jetzt eilte Merope mit dem Diener herbei, und beide zeigten dem Volke in dem Fremdling Aepytus den todt¬ geglaubten rechtmäßigen Erben des Thrones. Dieſes be¬ grüßte ihn jubelnd, und noch an demſelben Tage nahm der Jüngling den erledigten Thron ſeines Vaters Kre¬ ſphontes ein, und bezog an der Seite ſeiner Mutter die Königsburg. Er beſtrafte jetzt die Mörder ſeines Vaters und ſeiner Brüder, wie die Mitanſtifter des Mordes. Im412 übrigen gewann er durch ſein zuvorkommendes Weſen ſelbſt die vornehmen Meſſenier, und durch ſeine Freige¬ bigkeit alle, die zum Volke gehörten, und erwarb ſich ein ſolches Anſehen unter den Meſſeniern, daß ſeine Nach¬ kommen ſich Aepytiden ſtatt Herakliden nennen durften.

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TextDie schönsten Sagen des klassischen Alterthums
Author Gustav Schwab
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDie schönsten Sagen des klassischen Alterthums Nach seinen Dichtern und Erzählern Erster Theil Gustav Schwab. . XIV, 412 S. LieschingStuttgart1838.

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