Auf den erſten Band dieſer Sammlung der ſchönſten Sagen des klaſſiſchen Alterthums, der eine Mannigfaltigkeit kleinerer Mythen und Geſchichten in ſich ſchloß, folgt in gegenwärtigem zweiten Bande eine einzige Sage, aber die großartigſte der alten Zeit, die Sage von Troja, und zwar von der Stadt Grün¬ dung bis zu ihrem Untergange, mithin in einer Vollſtändigkeit, wie ſie als Erzählung aus den Quellen noch nie in dieſer Geſtalt zuſammengefaßt worden iſt. Der Bearbeiter wünſcht und hofft, daß das Ganze, auf dieſe Weiſe überſchaulich gemacht, nicht nur der Jugend neu und intereſſant erſcheinen, ſondern auch manchem ältern Leſer der Ilias als eine im Geiſte dieſes unſterblichen Gedichts wenigſtens verſuchte Vervollſtändigung nicht unwillkommenVIII ſeyn werde. Um ſo mehr hat er die Pflicht, ſich darüber auszu¬ weiſen, daß jene Ergänzung von ihm nicht willkührlich, ſondern mit gewiſſenhafter Benützung der Alten ſelbſt, deren Quelle ihrer¬ ſeits die epiſchen Darſtellungen einzelner cykliſchen Dichter waren, vorgenommen worden iſt.
Im erſten Viertel des vorliegenden Bandes mußte ſich der Verfaſſer für den Strom der Erzählung mit den trübe fließenden Quellen jener rhetoriſchen Machwerke behelfen, die wir, aus ſpäteſter Zeit, unter den Namen des Dictys Cretenſis, und des Dares Phrygius beſitzen. Doch bildet ihr Bericht, aus welchem immer das mit Homer am leichteſten Vereinbare herausgeſucht wurde, nur das hiſtoriſche Grundgewebe oder die Kette der Bege¬ benheiten, während die berühmteſten Dichter des griechiſchen und römiſchen Alterthums, Sophokles, Euripides, Horaz, Ovid u. A. den farbenreichen Einſchlag ihrer Phantaſie zu dem Geſpinſte beiſteuerten.
Den Kern der Sage bildet ſodann die Ilias Homers, welchem der Erzähler auch für die beiden andern Theile dieſes Bandes den allgemeinen Ton der Darſtellung abzulauſchen, und deſſen Färbung er in demjenigen Theile, in welchem er der ein¬ zige Berichterſtatter iſt, ſo unverkümmert, als es in ungebundener Rede und doch dabei zuſammengedrängtem Vortrage geſchehenIX konnte, beizubehalten ſich beſtrebt hat. Die Homeriſche Geſchichte der Ilias bildet auf ſolche Weiſe faſt die Hälfte des zweiten Bandes. Täuſcht den Verfaſſer dieſes Buches ſeine Hoffnung nicht, ſo iſt die innere Geſtalt der unverderblichſten Dichtung auch unter Aufopferung der poetiſchen Form nicht verloren gegangen, und ihr Götterleib ſchimmert noch durch das prunkloſe Gewand der ſchlichteſten Proſa hindurch.
Das letzte Viertel des Bandes iſt wieder mehreren Dichtern entnommen: Pindar, Sophokles, Virgil ſind wiederholt berückſich¬ tigt worden; doch iſt hier der Darſteller ſo glücklich geweſen, in der Fortſetzung Homers durch den Dichter Quintus, deſſen weiterer Name, Vaterland und Zeitalter in eine ungerechte Ver¬ geſſenheit oder Unſicherheit gehüllt ſind, und den nur die Gelehr¬ ſamkeit bald Calaber, bald Smyrnäus benannt hat, eine ächt poetiſche Grundlage, und Stoff wie Form zu fortlaufender Erzäh¬ lung vorzufinden. Die Paralipomenen dieſes Poeten ſind ein klaſſiſches Kunſtwerk und werden hoffentlich in ihrer Schönheit und Größe, gleich den Schöpfungen anderer Dichter, durch die treffliche metriſche Ueberſetzung des Herrn Profeſſors Platz in Wertheim, der das Publikum in der Sammlung verdeutſchter Klaſſiker entgegenſehen darf, ſich bald die Anerkennung aller Freunde ächter Poeſie gewinnen. Der künſtleriſchen UebertragungX jenes Gedichtes, welche der Erzähler dieſer Sagen im Manu¬ ſkripte zu benützen Gelegenheit gehabt hat, verdankt ſeine Dar¬ ſtellung an Farbe und lebendigem Ausdrucke nicht wenig, und der genannte Gelehrte möge den öffentlichen Dank, welcher ihm hier dargebracht wird, nicht verſchmähen.
Was die allgemeinen Grundſätze betrifft, nach welchen auch der gegenwärtige Sagenkreis vom Verfaſſer in der Erzählung behandelt worden iſt, ſo ſind ſie dieſelben, die bei Abfaſſung des erſten Bandes befolgt worden ſind; und der Bearbeiter freut ſich, daß ihre Anwendung den Beifall billiger und einſichtiger Richter erlangt hat.
G. Schwab.
[XI]In uralten Zeiten wohnten auf der Inſel Samothrace, im ägäiſchen Meere, zwei Brüder, Iaſion und Dardanus, Söhne des Jupiter und einer Nymphe, Fürſten des Lan¬ des. Von dieſen wagte Iaſion, als ein Götterſohn, ſeine Augen zu einer Tochter des Olymp zu erheben, warf eine ungeſtüme Neigung auf die Göttin Demeter [Ceres], und wurde zur Strafe ſeiner Kühnheit vom eigenen Vater mit dem Blitze erſchlagen. Dardanus, der andere Sohn, ver¬ ließ, tief betrübt über den Tod ſeines Bruders, Reich und Heimath, und ging hinüber auf das aſiatiſche Feſtland, an die Küſte Myſiens, da wo die Flüſſe Simois und Ska¬ mander vereinigt in das Meer ſtrömen, und das hohe Idagebirge ſich nach dem Meere abgedacht in eine Ebene verliert. Hier herrſchte der König Teucer, Kretiſchen Ur¬ ſprungs, und nach ihm hieß auch das Hirtenvolk jener Gegenden Teukrer. Von dieſem Könige wurde Dar¬ danus gaſtfreundlich aufgenommen, bekam einen Strich Landes zum Eigenthum und die Tochter des Königes zur Gemahlin. Er gründete eine Anſiedlung, das Land wurde nach ihm Dardania und das Volk der Teukrer von nun an Dardaner genannt. Ihm folgte ſein Sohn Erichthonius in der Herrſchaft, und dieſer zeugte den Tros, nach wel¬ chem die Landſchaft nun Troas, der offene Hauptort des Landes Troja, und Teukrer oder Dardaner jetzt auch1 *4Trojaner oder Troer genannt wurden. Nachfolger des Köni¬ ges Tros war ſein älteſter Sohn Ilus. Als dieſer einſt das benachbarte Land der Phryger beſuchte, wurde er von dem Könige Phrygiens zu eben angeordneten Kampfſpielen eingeladen, und trug hier im Ringkampfe den Sieg davon. Er erhielt als Kampfpreis fünfzig Jünglinge und eben ſo viele Jungfrauen, dazu eine buntgefleckte Kuh, die ihm der König mit der Weiſung eines alten Orakelſpruches über¬ gab, wo ſie ſich niederlegen würde, da ſollte er eine Burg gründen. Ilus folgte der Kuh, und da ſie ſich bei dem offenen Flecken lagerte, der ſeit ſeinem Vater Tros der Sitz des Landes und ſeine eigene Wohnung war, auch ſchon Troja hieß, ſo baute er hier auf einem Hügel die feſte Burg Ilion oder Ilios, auch Pergamus geheißen, wie denn das ganze Weſen von nun an bald Troja, bald Ilion, bald Pergamus genannt wurde. Ehe er jedoch die Burg anlegte, bat er ſeinen Ahnherrn Zeus um ein Zei¬ chen, daß ihm die Gründung derſelben genehm ſey. Am folgenden Tage fand er das vom Himmel gefallene Bild der Göttin Athene, Palladium genannt, vor ſeinem Zelte liegen. Es war drei Ellen hoch, hatte geſchloſſene Füße, und hielt in der rechten Hand einen erhobenen Speer, in der andern Rocken und Spindel. Mit dieſem Bilde hatte es folgende Bewandniß. Die Göttin Athene [Minerva] wurde nach der Sage von ihrer Geburt an bei einem Triton, einem Meergott, erzogen, der eine Tochter Namens Pallas hatte, die gleichen Alters mit Athene und ihre ge¬ liebte Geſpielin war. Eines Tages nun, als die beiden Jungfrauen ihren kriegeriſchen Uebungen oblagen, traten ſie zu einem ſcherzhaften Wettkampfe einander gegenüber. Eben wollte die Tritonentochter Pallas einen Streich auf5 ihre Geſpielin führen, als Jupiter, für ſeine Tochter ban¬ gend, den Schild aus Ziegenfell, die Aegide, dieſer vor¬ hielt. Dadurch erſchreckt, blickte Pallas furchtſam auf, und wurde in dieſem Augenblicke von Athene tödtlich verwundet. Tiefe Trauer bemächtigte ſich der Göttin, und ſie ließ zum dauernden Andenken ein recht ähnliches Bild ihrer gelieb¬ ten Geſpielin Pallas verfertigen, legte demſelben einen Bruſtharniſch von dem gleichen Ziegenfelle, wie der Schild war, um, der nun auch Aegispanzer oder Aegide hieß, ſtellte das Bild neben die Bildſäule Jupiters und hielt es hoch in Ehren. Sie ſelbſt aber nannte ſich ſeitdem Pallas Athene. Dieſes Palladium nun warf, mit Einwilligung ſeiner Tochter, Jupiter vom Himmel in die Gegend der Burg Ilios herunter, zum Zeichen, daß Burg und Stadt unter ſeinem und ſeiner Tochter Schutze ſtehe.
Der Sohn des Königes Ilus und der Eurydice war Laomedon, ein eigenmächtiger und gewaltthätiger Mann, der Götter und Menſchen betrog. Dieſer dachte darauf, den offenen Flecken Troja, der noch nicht befeſtigt war, wie die Burg, mit einer Mauer zu umgeben und ſo zu einer förmlichen Stadt zu machen. Damals irrten die Götter Apollo und Poſeidon (Neptunus), die ſich gegen ihren Vater Jupiter empört hatten und aus dem Himmel geſto¬ ßen waren, heimathlos auf der Erde umher. Es war der Wille des Zeus, daß ſie dem Könige Laomedon an der Mauer Troja's bauen helfen ſollten, damit die Lieblings¬ ſtadt Jupiter's und Athene's der Zerſtörung trotzende Mauern hätte. So führte ſie denn ihr Geſchick in die Nähe von Ilios, als eben mit dem Bau der Stadtmauern begonnen wurde. Die Götter machten dem Könige Laomedon ihre Anträge, und da ſie auf der Erde nicht blos müßig gehen6 durften, noch ohne Arbeit mit Ambroſia geſpeist wurden, ſo bedingten ſie ſich einen Lohn aus, der ihnen auch ver¬ ſprochen ward, und fingen nun an zu fröhnen. Neptu¬ nus half unmittelbar bei dem Bau; unter ſeiner Leitung ſtieg die Ringmauer breit und ſchön, eine undurchdringliche Schutzwehre der Stadt, in die Höhe. Phöbus Apollo weidete inzwiſchen das Hornvieh des Königes in den ge¬ wundenen Schluchten und Thälern des waldreichen Gebir¬ ges Ida. Die Götter hatten verſprochen, auf dieſe Weiſe dem Könige ein Jahr lang zu fröhnen. Als nun dieſe Friſt abgelaufen war, auch die herrliche Stadtmauer fertig ſtand, entzog der trügeriſche Laomedon den Göttern gewalt¬ ſam ihren geſammten Lohn, und als ſie mit ihm rechteten und der beredte Apollo ihm bittere Vorwürfe machte, ſo jagte er beide fort, mit der Androhung, dem Phöbus Hände und Füße feſſeln zu laſſen, beiden aber die Ohren abzu¬ ſchneiden. Mit großer Erbitterung ſchieden die Götter, und wurden Todfeinde des Königs und des Volkes der Trojaner, auch Athene kehrte ſich von der Stadt, die bis¬ her ihre Schützlingin geweſen war, ab, und ſchon jetzt war, einer ſtillſchweigenden Einwilligung Jupiters zu Folge, die eben erſt mit ſtattlichen Mauern verſehene Hauptſtadt mit ihrem Königsgeſchlecht und Volke dieſen Göttern, zu welchen ſich mit dem glühendſten Haſſe in kurzer Zeit auch Juno geſellte, zum Verderben überlaſſen.
7Das weitere Loos des Königes Laomedon und ſeiner Tochter Heſione iſt ſchon von uns berichtet worden*)Erſter Band, S. 252 – 254.. Ihm folgte ſein Sohn Priamus in der Regierung. Dieſer vermählte ſich in zweiter Ehe mit Hekuba oder Hekabe, der Tochter des phrygiſchen Königes Drymas. Ihr erſter Sohn war Hektor. Als aber die Geburt ihres zweiten Kindes herannahete, da ſchaute Hekuba in einer dunkeln Nacht im Traume ein entſetzliches Geſicht. Ihr war, als gebäre ſie einen Fackelbrand, der die ganze Stadt Troja in Flammen ſetze und zu Aſche verbrenne. Erſchrocken meldete ſie dieſen Traum ihrem Gemahle Priamus. Der ließ ſeinen Sohn aus erſter Ehe, Aeſakus mit Namen, kom¬ men, welcher ein Wahrſager war, und von ſeinem mütterlichen Großvater Merops die Kunſt Träume zu deuten erlernt hatte. Aeſakus erklärte, ſeine Stiefmutter Hekuba werde einen Sohn gebären, der ſeiner Vaterſtadt zum Verderben gerei¬ chen müſſe. Er rieth daher, das Kind, das ſie erwartete, auszuſetzen. Wirklich gebar die Königin einen Sohn, und die Liebe zum Vaterland überwog bei ihr das Muttergefühl. Sie geſtattete ihrem Gatten Priamus, das neugeborne Kind einem Sklaven zu geben, der es auf den Berg Ida tragen und daſelbſt ausſetzen ſollte. Der Knecht hieß Agelaus. Dieſer that wie ihm befohlen war; aber eine Bärin reichte dem Säugling die Bruſt und nach fünf Tagen fand der Sklave das Kind geſund und munter im8 Walde liegen. Jetzt hob er es auf, nahm es mit ſich, erzog es auf ſeinem Aeckerchen wie ſein eigenes Kind und nannte den Knaben Paris.
Als der Königsſohn unter den Hirten zum Jünglinge herangewachſen war, zeichnete er ſich durch Körperkraft und Schönheit aus, und wurde ein Schutz aller Hirten des Berges Ida gegen die Räuber, daher ihn jene auch nur Alexander, d. h. Männerhilf, nannten.
Nun geſchah es eines Tages, als er mitten im abweg¬ ſamſten und ſchattigſten Thale, das ſich durch die Schluch¬ ten des Berges Ida hinzog, zwiſchen Tannen und Stein¬ eichen, ferne von ſeinen Heerden, die den Zugang zu dieſer Einſamkeit nicht fanden, an einen Baum gelehnt mit ver¬ ſchränkten Armen hinabſchaute durch den Bergriß, der eine Durchſicht auf die Palläſte Troja's und das ferne Meer gewährte, daß er einen Götterfußtritt vernahm, der die Erde um ihn her beben machte. Eh er ſich beſinnen konnte, ſtand, halb von ſeinen Flügeln, halb von den Füßen getra¬ gen, Merkur der Götterbote, den goldnen Heroldsſtab in den Händen, vor ihm; doch war auch er nur der Verkün¬ diger einer neuen Göttererſcheinung: denn drei himmliſche Frauen, Göttinnen des Olymp, kamen mit leichten Füßen über das weiche, nie gemähete und nie abgeweidete Gras einhergeſchritten, daß ein heiliger Schauer den Jüngling überlief und ſeine Stirnhaare ſich aufrichteten. Doch der geflügelte Götterbote rief ihm entgegen: „ Lege alle Furcht ab; die Göttinnen kommen zu dir als zu ihrem Schiedsrichter: dich haben ſie gewählt zu entſcheiden, welche von ihnen Dreien die ſchönſte ſey. Jupiter befiehlt dir, dich dieſem Richteramte zu unterziehen: er wird dir ſeinen Schirm und Beiſtand nicht verſagen! “ So ſprach Merkur und erhob9 ſich auf ſeinen Fittigen, den Augen des Königsſohnes ent¬ ſchwebend, über das enge Thal empor. Seine Worte hatten dem blöden Hirten Muth eingeflößt, er wagte es, den ſchüchtern geſenkten Blick zu erheben und die göttlichen Geſtalten, die in überirdiſcher Größe und Schönheit ſeines Spruches gewärtig vor ihm ſtanden, zu muſtern. Der erſte Anblick ſchien ihm zu ſagen, daß eine wie die andere werth ſey, den Preis der Schönheit davon zu tragen: doch gefiel ihm jetzt die eine Göttin mehr, jetzt die andere, ſo wie er länger auf einer der herrlichen Geſtalten ver¬ weilt hatte. Nur ſchien ihm allmählig eine, die jüngſte und zärteſte, holder und liebenswerther als die andern, und ihm war, als ob aus ihren Augen ein Netz von Liebesſtrahlen ausgehend, ſich ihm um Blick und Stirne ſpänne. Indeſſen hub die ſtolzeſte der drei Frauen, die an Wuchs und Hoheit über die beiden andern hervorragte, dem Jünglinge gegenüber an: „ Ich bin Juno, die Schwe¬ ſter und Gemahlin Jupiters. Wenn du dieſen goldenen Apfel, welchen Eris, die Göttin der Zwietracht, beim Hoch¬ zeitmahle der Thetis und des Peleus unter die Gäſte warf, mit der Aufſchrift: „ der Schönſten, “mir zuerkenneſt, ſo ſoll dir, ob du gleich nur ein aus dem Königspallaſte verſtoßener Hirte biſt, die Herrſchaft über das ſchönſte Reich der Erde nicht fehlen. “— „ Ich bin Pallas, die Göttin der Weisheit, “ſprach die andere mit der reinen, gewölbten Stirne, den tiefblauen Augen und dem jung¬ fräulichen Ernſt im ſchönen Antlitz; „ wenn du mir den Sieg zuerkennſt, ſollſt du den höchſten Ruhm der Weisheit und Männertugend unter den Menſchen ärnten! “ Da ſchaute die dritte, die bisher immer nur mit den Augen geſprochen hatte, den Hirten mit einem ſüßen Lächeln10 noch durchdringender an, und ſagte: „ Paris, du wirſt dich doch nicht durch das Verſprechen von Geſchenken bethören laſſen, die beide voll Gefahr und ungewiſſen Erfolges ſind! Ich will dir eine Gabe geben, die dir gar keine Unluſt bereiten ſoll; ich will dir geben, was du nur zu lieben brauchſt, um ſeiner froh zu werden: das ſchönſte Weib der Erde will ich dir als Gemahlin in die Arme führen! Ich bin Aphrodite, die Göttin der Liebe! “
Als Venus dem Hirten Paris dieß Verſprechen that, ſtand ſie vor ihm, mit ihrem Gürtel geſchmückt, der ihr den höchſten Zauber der Anmuth verlieh. Da erblaßte vor dem Schimmer der Hoffnung und ihrer Schönheit der Reiz der andern Göttinnen vor ſeinen Augen, und mit trunkenem Muthe erkannte er der Liebesgöttin das goldene Kleinod, das er aus Juno's Hand empfangen hatte, zu. Juno und Minerva wandten ihm zürnend den Rücken und ſchwuren die Majeſtätsbeleidigung ihrer Geſtalt an ihm, an ſeinem Vater Priamus, am Volk und Reiche der Trojaner zu rächen, und alle miteinander zu verderben, und Here [Juno] insbeſondere wurde von dieſem Augenblicke an die unverſöhnlichſte Feindin der Tro¬ janer. Venus aber ſchied von dem entzückten Hirten mit holdſeligem Gruße, nachdem ſie ihm ihr Verſprechen feier¬ lich und mit dem Göttereide bekräftiget wiederholt hatte.
Paris lebte ſeiner Hoffnung geraume Zeit als uner¬ kannter Hirte auf den Höhen des Ida; aber da die Wünſche, welche die Göttin in ihm rege gemacht hatte, ſo lange nicht in Erfüllung gingen, ſo vermählte er ſich hier mit einer ſchönen Jungfrau Namens Oenone, die für die Tochter eines Flußgottes und einer Nymphe galt, und mit welcher er auf dem Berge Ida bei ſeinen Heerden glück¬11 liche Tage in der Verborgenheit verlebte. Endlich lockten ihn Leichenſpiele, die der König Priamus für einen ver¬ ſtorbenen Anverwandten hielt, zu der Stadt hinab, die er früher nie betreten hatte. Priamus ſetzte nämlich bei die¬ ſem Feſte als Kampfpreis einen Stier aus, den er bei den Hirten des Ida von ſeinen Heerden holen ließ. Nun traf es ſich, daß gerade dieſer Stier der Lieblingsſtier des Paris war, und da er ihn ſeinem Herrn dem Könige nicht vorenthalten durfte, ſo beſchloß er wenigſtens den Kampf um denſelben zu verſuchen. Hier ſiegte er in den Kampf¬ ſpielen über alle ſeine Brüder, ſelbſt über den hohen Hektor, der der tapferſte und herrlichſte von ihnen war. Ein anderer muthiger Sohn des Königs Priamus, Deiphobus, von Zorn und Schaam über ſeine Niederlage überwältigt, wollte den Hirtenjüngling niederſtoßen. Dieſer aber flüch¬ tete ſich zum Altare Jupiters, und die Tochter des Pria¬ mus, Kaſſandra, welche die Wahrſagergabe von den Göttern zum Angebinde erhalten hatte, erkannte in ihm ihren ausgeſetzten Bruder. Nun umarmten ihn die Eltern, vergaßen über der Freude des Wiederſehens die verhäng¬ nißvolle Weiſſagung bei ſeiner Geburt, und nahmen ihn als ihren Sohn auf.
Vorerſt kehrte nun Paris zu ſeiner Gattin und ſeinen Heerden zurück, indem er auf dem Berge Ida eine ſtatt¬ liche Wohnung als Königsſohn erhielt. Bald jedoch fand ſich Gelegenheit für ihn zu einem königlicheren Geſchäfte, und nun ging er, ohne es zu wiſſen, dem Preis entgegen, den ihm ſeine Freundin, die Göttin Aphrodite, verſpro¬ chen hatte.
12Wir wiſſen, daß, als König Priamus noch ein zarter Knabe war, ſeine Schweſter Heſione von Herkules, der den Laomedon getödtet und Troja erobert hatte, als Sieges¬ beute fortgeſchleppt und ſeinem Freunde Telamon geſchenkt worden war. Obgleich dieſer Held ſie zu ſeiner Gemah¬ lin erhoben und zur Fürſtin von Salamis gemacht, ſo hatte doch Priamus und ſein Haus dieſen Raub nicht verſchmerzt. Als nun an dem Königshofe einmal wieder die Rede von dieſer Entführung war und Priamus ſeine große Sehnſucht nach der fernen Schweſter zu erkennen gab, da ſtand in dem Rathe ſeiner Söhne Alexander oder Paris auf und erklärte, wenn man ihn mit einer Flotte nach Griechenland ſchicken wolle, ſo gedenke er mit der Götter Hülfe des Vaters Schweſter den Feinden mit Ge¬ walt zu entreißen und mit Sieg und Ruhm gekrönt nach Hauſe zurückzukehren. Seine Hoffnung ſtützte ſich auf die Gunſt der Göttin Venus, und er erzählte deswegen dem Vater und den Brüdern, was ihm, bei ſeinen Heerden begegnet war. Priamus ſelbſt zweifelte jetzt nicht länger, daß ſein Sohn Alexander den beſondern Schutz der Himm¬ liſchen erhalten werde und auch Deiphobus ſprach die gute Zuverſicht aus, daß, wenn ſein Bruder mit einer ſtattlichen Kriegsrüſtung erſchiene, die Griechen Genugthuung geben und Heſione ihm ausliefern würden. Nun war aber unter den vielen Söhnen des Priamus auch ein Seher, Namens Helenus. Dieſer brach plötzlich in weiſſagende Worte aus und verſicherte, wenn ſein Bruder Paris ein Weib aus13 Griechenland mitbringe, ſo werden die Griechen nach Troja kommen, die Stadt ſchleifen, den Priamus und alle ſeine Söhne niedermachen. Dieſe Wahrſagung brachte Zwieſpalt in den Rath. Troilus, der jüngſte Sohn des Priamus, ein thatenluſtiger Jüngling, wollte von den Prophezeihun¬ gen ſeines Bruders nichts hören, ſchalt ſeine Furchtſamkeit und rieth, ſich von ſeinen Drohungen nicht vom Kriege abſchrecken zu laſſen. Andere zeigten ſich bedenklicher. Priamus aber trat auf die Seite ſeines Sohnes Paris, denn ihn verlangte ſehnlich nach der Schweſter.
Nun wurde von dem König eine Volksverſammlung berufen, in welcher Priamus den Trojanern vortrug, wie er ſchon früher unter Antenor's Anführung eine Geſandt¬ ſchaft nach Griechenland geſchickt. Genugthuung für den Raub der Schweſter und dieſe ſelbſt zurückverlangt hätte. Damals ſey Antenor mit Schmach abgewieſen worden, jetzt aber gedenke er, wenn es der Volksverſammlung ſo gefalle, ſeinen eigenen Sohn Paris mit einer anſehnlichen Kriegsmacht auszuſenden und das mit Gewalt zu erzwin¬ gen, was Güte nicht zuwege gebracht. Zur Unterſtützung dieſes Vorſchlags erhub ſich Antenor, ſchilderte mit Unwil¬ len, was er ſelbſt, als friedlicher Geſandter, Schmähliches in Griechenland geduldet hatte, und beſchrieb das Volk der Griechen als trotzig im Frieden und verzagt im Kriege. Seine Worte feuerten das Volk an, daß es ſich mit lau¬ tem Zurufe für den Krieg erklärte. Aber der weiſe König Priamus wollte die Sache nicht leichtſinnig beſchloſſen wiſſen und forderte Jeden auf zu ſprechen, der ein Beden¬ ken in dieſer Angelegenheit auf dem Herzen hätte. Da ſtand Panthous, einer der Aelteſten Troja's, in der Ver¬ ſammlung auf, und erzählte, was ſein Vater Othryas,14 von der Götter Orakel belehrt, ihm ſelbſt in jungen Jahren anvertraut hatte. Wenn je einmal ein Königsſohn aus Laomedons Geſchlechte eine Gemahlin aus Griechen¬ land ins Haus führen würde, ſo ſtehe den Trojanern das äußerſte Verderben bevor. „ Darum, “ſchloß er ſeine Rede, „ laſſet uns den trügeriſchen Kriegsruhm nicht verführen, Freunde, und unſer Leben lieber in Frieden und Ruhe dahinbringen, als auf das Spiel der Schlachten ſetzen und zuletzt mit ſammt der Freiheit verlieren. “ Aber das Volk murrte über dieſen Vorſchlag und rief ſeinem Könige Priamus zu, den furchtſamen Worten eines alten Mannes kein Gehör zu ſchenken und zu thun, was er im Herzen doch ſchon beſchloſſen hätte.
Da ließ Priamus Schiffe rüſten, die auf dem Berge Ida gezimmert worden, und ſandte ſeinen Sohn Hektor ins Phrygerland, Paris und Deiphobus aber ins benach¬ barte Päonien, um verbündete Kriegsvölker zu ſammeln; auch Troja's waffenfähige Männer ſchickten ſich zum Kriege an, und ſo kam bald ein gewaltiges Heer zuſammen. Der König ſtellte daſſelbe unter den Befehl ſeines Sohnes Paris, und gab ihm den Bruder Deiphobus, den Sohn des Panthous, Polydamas, und den Fürſten Aeneas an die Seite; die mächtige Ausrüſtung ging in die See und ſteuerte der griechiſchen Inſel Cythere zu, wo ſie zuerſt zu landen gedachten. Unterwegs begegnete die Flotte dem Schiffe des griechiſchen Völkerfürſten und ſpartaniſchen Königes Menelaus, der auf einer Fahrt nach Pylos zu dem weiſen Fürſten Neſtor begriffen war. Dieſer ſtaunte, als er den prächtigen Schiffszug erblickte, und auch die Trojaner betrachteten neugierig das ſchöne griechiſche Fahr¬ zeug, das feſtlich ausgeſchmückt einen der erſten Fürſten15 Griechenlands zu tragen ſchien. Aber beide Theile kannten einander nicht, Jeder beſann ſich, wohin wohl der Andere fahren möge, und ſo flogen ſie auf den Wellen aneinander vorüber. Die trojaniſche Flotte kam glücklich auf der Inſel Cythere an. Von dort wollte ſich Paris nach Sparta begeben und mit den Jupitersſöhnen Caſtor und Pollux in Unterhandlung treten, um ſeine Vatersſchweſter Heſione in Empfang zu nehmen. Würden die griechiſchen Helden ſie ihm verweigern, ſo hatte er von ſeinem Vater den Befehl, mit der Kriegsflotte nach Salamis zu ſegeln und die Für¬ ſtin mit Gewalt zu entführen.
Ehe jedoch Paris dieſe Geſandtſchaftsreiſe nach Sparta antrat, wollte er in einem der Venus und Diana gemein¬ ſchaftlich geweihten Tempel zuvor ein Opfer darbringen. Inzwiſchen hatten die Bewohner der Inſel die Erſcheinung der prächtigen Flotte nach Sparta gemeldet, wo in der Abweſenheit ihres Gemahls Menelaus die Fürſtin Helena allein Hof hielt. Dieſe, eine Tochter Jupiters und der Leda, und die Schweſter des Kaſtor und Pollux, war die ſchönſte Frau ihrer ganzen Zeit und als zartes Mädchen ſchon von Theſeus entführt, aber von ihren Brüdern ihm wieder entriſſen worden*)Vergl. Bd. I, S. 306. 307.. Als ſie, zur Jungfrau auf¬ geblüht, bei ihrem Stiefvater Tyndareus, König zu Sparta, heranwuchs, zog ihre Schönheit ein ganzes Heer Freier herbei, und der König fürchtete, wenn er Einen von ihnen zum Eidam wählte, ſich alle Anderen zu Feinden zu ma¬ chen. Da gab ihm Odyſſeus von Ithaka, der kluge grie¬ chiſche Held, den Rath, alle Freier durch einen Eid zu verpflichten, daß ſie dem erkohrenen Bräutigam gegen jeden16 Andern, der den König um dieſer Heirath ſeiner Tochter willen anfeinden würde, mit den Waffen in der Hand beiſtehen wollten. Als Tyndareus dieß vernommen, ließ er die Freier den Eid ſchwören, und nun wählte er ſelbſt den Sohn des Atreus, Agamemnons Bruder, Menelaus den Argiverfürſten, gab ihm die Tochter zur Gemahlin und überließ ihm ſein Königreich Sparta. Helena gebar ihrem Gemahl eine Tochter, Hermione, die noch in der Wiege lag, als Paris nach Griechenland kam.
Wie nun die ſchöne Fürſtin Helena, die in ihrem Pallaſte während des Gemahls Abweſenheit freudloſe Tage ohne Abwechslung verlebte, von der Ankunft der herrlichen Ausrüſtung eines fremden Königsſohnes auf der Inſel Cythere Kunde erhielt, wandelte ſie eine weibliche Neu¬ gierde an, den Fremdling und ſein kriegeriſches Gefolge zu ſchauen, und um dieß Verlangen befriedigen zu können, veranſtaltete auch ſie ein feierliches Opfer im Dianen¬ tempel auf Cythere. Sie betrat das Heiligthum in dem Augenblicke, als Paris ſein Opfer vollbracht hatte. Wie dieſer die eintretende Fürſtin gewahr ward, ſanken ihm die zum Gebet erhobenen Hände und er verlor ſich in Stau¬ nen, denn er meinte, die Göttin Aphrodite ſelbſt wieder zu erblicken, wie ſie ihm in ſeinem Hirtengehöfte erſchienen war. Zwar war der Ruf ihrer Schönheit längſt zu ſeinen Ohren gedrungen, und Paris war begierig geweſen, ihrer Reize in Sparta anſichtig zu werden. Doch hatte er gemeint, das Weib, das ihm die Göttin der Liebe verhei¬ ßen hatte, müſſe viel ſchöner ſeyn, als die Beſchreibung von Helena lautete. Auch dachte er bei der Schönen, die ihm verſprochen war, an eine Jungfrau und nicht an die Gattin eines Anderen. Jetzt aber, wo er die Fürſtin von17 Sparta vor Augen ſah, und ihre Schönheit mit der Schön¬ heit der Liebesgöttin ſelbſt wetteiferte, ward ihm plötzlich klar, daß nur dieſes Weib es ſeyn könne, das ihm Venus zum Lohne für ſein Urtheil zugeſagt hatte. Der Auftrag ſeines Vaters, der ganze Zweck der Ausrüſtung und Reiſe ſchwand in dieſem Augenblick aus ſeinem Geiſte; er ſchien ſich mit ſeinen Tauſenden Bewaffneter nur dazu ausge¬ ſendet, Helena zu erobern. Während er ſo in ihre Schön¬ heit verſunken ſtand, betrachtete auch die Fürſtin Helena den ſchönen aſiatiſchen Königsſohn mit dem langen locki¬ gen Haarwuchs, in Gold und Purpur mit orientaliſcher Pracht gekleidet, mit nicht unterdrücktem Wohlgefallen, das Bild ihres Gemahls erbleichte in ihrem Geiſte und an ſeine Stelle trat die reizende Geſtalt des jugendlichen Fremdlings.
Indeſſen kehrte Helena nach Sparta in ihren Königs¬ pallaſt zurück, ſuchte das Bild des ſchönen Jünglings aus ihrem Herzen zu verdrängen und wünſchte ihren noch immer auf Pylos verweilenden Gatten Menelaus zurück. Statt ſeiner erſchien Paris ſelbſt mit ſeinem erleſenen Volke in Sparta, und bahnte ſich mit ſeiner Botſchaft den Weg in des Königes Halle, obgleich dieſer abweſend war. Die Gemahlin des Fürſten Menelaus empfing ihn mit der Gaſtfreundſchaft, welche ſie dem Fremden, und mit der Auszeichnung, welche ſie dem Königsſohne ſchuldig war. Da bethörte ſeine Saitenkunſt, ſein einſchmeicheln¬ des Geſpräch, und die heftige Gluth ſeiner Liebe das unbewachte Herz der Königin. Als Paris ihre Treue wanken ſah, vergaß er den Auftrag ſeines Vaters und Volkes und nur das trügeriſche Verſprechen der Liebes¬ göttin ſtand vor ſeiner Seele. Er verſammelte ſeineSchwab, das klaſſ. Alterthum. II. 218Getreuen, die bewaffnet mit ihm nach Sparta gekommen waren, und verführte ſie durch Ausſicht auf reiche Beute, in den Frevel zu willigen, welchen er mit ihrer Hülfe aus¬ zuführen gedachte. Dann ſtürmte er den Pallaſt, bemäch¬ tigte ſich der Schätze des griechiſchen Fürſten, und entführte die ſchöne Helena widerſtrebend und doch nicht ganz wider Willen nach der Inſel und ſeiner Flotte.
Als er mit ſeiner reizenden Beute auf der See durch das ägäiſche Meer ſchwamm, überfiel die eilenden Fahrzeuge eine plötzliche Windſtille: vor dem Königsſchiffe, das den Räuber mit der Fürſtin trug, theilte ſich die Woge und der uralte Meeresgott Nereus hub ſein ſchilfbekränztes Haupt mit den triefenden Haar - und Bartlocken aus der Fluth empor und rief dem Schiffe, welches wie mit Nägeln in das Waſſer geheftet ſchien, das ſelber einem ehernen Walle glich, der ſich um die Rippen des Fahrzeugs auf¬ geworfen hatte, ſeine fluchende Wahrſagung zu: „ Unglücks¬ vögel flattern deiner Fahrt voran, verfluchter Räuber! Die Griechen werden kommen mit Heeresmacht, verſchwo¬ ren, deinen Frevelbund und das alte Reich des Priamus zu zerreißen! Wehe mir, wie viel Roſſe, wie viel Män¬ ner erblicke ich! Wie viele Leichen verurſachſt du dem dardaniſchen Volke! Schon rüſtet Pallas ihren Helm, ihren Schild und ihre Wuth! Jahre lang dauert der blu¬ tige Kampf, und den Untergang deiner Stadt hält nur der Zorn eines Helden auf. Aber wenn die Zahl der Jahre voll iſt, wird griechiſcher Feuerbrand die Häuſer Troja's freſſen! “
So rief der Greis und tauchte wieder in die Fluth. Mit Entſetzen hatte Paris zugehört, als aber der Fahr¬ wind wieder luſtig blies, vergaß er bald im Arm der19 geraubten Fürſtin der Prophezeihung und legte mit ſeiner ganzen Flotte vor der Inſel Kranae vor Anker, wo die treuloſe und leichtſinnige Gattin des Menelaus ihm jetzt freiwillig ihre Hand reichte und das feierliche Beilager gehalten wurde. Da vergaßen beide Heimath und Vater¬ land und zehrten von den mitgebrachten Schätzen lange Zeit in Herrlichkeit und Freuden. Jahre vergingen, bis ſie nach Troja aufbrachen.
Die Verſündigung, die ſich Paris als Geſandter zu Sparta gegen Völkerrecht und Gaſtrecht zu Schulden kom¬ men laſſen, trug im Augenblick ihre Früchte und empörte gegen ihn ein bei dem Heldenvolke der Griechen Alles vermögendes Fürſtengeſchlecht. Menelaus, König von Sparta, und Agamemnon, ſein älterer Bruder, König von Mycene, waren Nachkommen des Tantalus, Enkel des Pelops, Söhne des Atreus, aus einem an hohen wie an verruchten Thaten reichen Stamme; dieſen beiden mächtigen Brüdern gehorchten außer Argos und Sparta die meiſten Staaten des Peloponneſes, und die Häupter des übrigen Griechenlands waren mit ihnen verbündet. Als daher die Nachricht von dem Raube ſeiner Gattin Helena den König Menelaus bei ſeinem greiſen Freunde Neſtor zu Pylos traf, eilte der entrüſtete Fürſt zu ſeinem Bruder Agamemnon nach Mycene, wo dieſer mit ſeiner Gemahlin Klytämneſtra, der Halbſchweſter Helena's, regierte. Dieſer theilte den Schmerz und den Unwillen ſeines2*20Bruders; doch tröſtete er ihn und verſprach, die Freier Hele¬ na's ihres Eides zu gemahnen. So bereisten die Brüder ganz Griechenland und forderten ſeine Fürſten zur Theil¬ nahme an dem Kriege gegen Troja auf. Die erſten, die ſich anſchloſſen, waren Tlepolemus, ein berühmter Fürſt aus Rhodos, ein Sohn des Herkules, der ſich erbot, neun¬ zig Schiffe zu dem Feldzuge gegen die trügeriſche Stadt Troja zu ſtellen; dann Diomedes, der Sohn des unſterb¬ lichen Helden Tydeus, der mit achtzig Schiffen die muthig¬ ſten Peloponneſier der Unternehmung zuzuführen verſprach. Nachdem dieſe beiden Fürſten mit den Atriden zu Sparta Rath gepflogen, erging die Aufforderung auch an die Dioskuren oder Jupitersſöhne Kaſtor und Pollux, die Brüder Helena's. Dieſe aber waren ſchon auf die erſte Nachricht von der Entführung ihrer Schweſter dem Räu¬ ber nachgeſegelt und bis zur Inſel Lesbos, ganz nahe an die trojaniſche Küſte gekommen; dort ergriff ein Sturm ihr Schiff und verſchlang es. Die Dioskuren ſelbſt ver¬ ſchwanden; aber die Sage verſicherte, ſie ſeyen nicht in den Wellen umgekommen, ſondern ihr Vater Jupiter habe ſie als Sternbilder an den Himmel verſetzt, wo ſie als Beſchirmer der Schifffahrt und Schutzgötter der Schiff¬ fahrenden ihr ſegenvolles Amt von Zeitalter zu Zeitalter verwalten. Indeſſen erhub ſich ganz Griechenland und gehorchte der Aufforderung der Atriden; zuletzt waren nur zwei berühmte Fürſten noch zurück. Der eine war der ſchlaue Odyſſeus aus Ithaka, der Gemahl Penelope's. Dieſer wollte ſein junges Weib und ſeinen zarten Knaben Telemachus der treuloſen Gattin des Spartanerköniges zu Liebe nicht verlaſſen. Als daher Palamedes, der Sohn des Fürſten Nauplius aus Euböa, der vertraute Freund des21 Menelaus, mit dem Sparterfürſten deswegen zu ihm kam, heuchelte er Narrheit, ſpannte zu dem Ochſen einen Eſel an den Pflug und pflügte mit dem ſeltſamen Paare ſein Feld, indem er in die Furchen, die er zog, ſtatt des Sa¬ mens Salz ausſtreute. So ließ er ſich von beiden Helden treffen und hoffte dadurch von dem verhaßten Zuge frei zu bleiben. Aber der einſichtsvolle Palamedes durch¬ ſchaute den verſchlagenſten aller Sterblichen, ging, während Odyſſeus ſeinen Pflug lenkte, heimlich in ſeinen Pallaſt, brachte ſeinen jungen Sohn Telemachus aus der Wiege herbei und legte dieſen in die Furche, über die Odyſſeus eben hinwegackern wollte. Da hob der Vater den Pflug ſorgfältig über das Kind hinweg und wurde von den laut aufſchreienden Helden ſeines Verſtandes überwieſen. Er konnte ſich jetzt nicht länger mehr weigern, an dem Zuge Theil zu nehmen, und verſprach, die bit¬ terſte Feindſchaft gegen Palamedes in ſeinem liſtigen Her¬ zen, zwölf bemannte Schiffe aus Ithaka und den Nachbar¬ inſeln dem Könige Menelaus zur Verfügung zu ſtellen.
Der andere Fürſt, deſſen Zuſtimmung noch nicht erfolgt, ja deſſen Aufenthalt man nicht einmal kannte, war Achil¬ les, der junge, aber herrliche Sohn des Peleus und der Meeresgöttin Thetis. Als dieſer ein neugebornes Kind war, wollte ſeine unſterbliche Mutter auch ihn unſterblich machen, ſteckte ihn, von ſeinem Vater Peleus ungeſehen, des Nachts in ein himmliſches Feuer und fing ſo an zu vertilgen, was vom Vater her an ihm ſterblich war. Bei Tage aber heilte ſie die verſengten Stellen mit Ambroſia. Dieß that ſie von einer Nacht zur andern. Einmal aber belauſchte ſie Peleus, und ſchrie laut auf, als er ſeinen Sohn im Feuer zappeln ſah. Dieſe Störung hinderte22 Thetis ihr Werk zu vollbringen, ſie ließ den unmündigen Sohn, der auf dieſe Weiſe ſterblich geblieben war, troſtlos liegen, entfernte ſich und kehrte nicht mehr in den Pallaſt ihres Gatten zurück, ſondern entwich in das feuchte Wellen¬ reich der Nereiden. Peleus aber, der ſeinen Knaben gefähr¬ lich verwundet glaubte, hub ihn vom Boden auf und brachte ihn zu dem großen Wundarzt, dem Erzieher ſo vieler Helden, dem weiſen Centauren Chiron. Dieſer nahm ihn liebreich auf, und nährte den Knaben mit Bärenmark und mit der Leber von Löwen und Ebern. Als nun Achilles neun Jahre alt war, erklärte der griechiſche Seher Kalchas, daß die ferne Stadt Troja in Aſien, welcher der Untergang durch griechiſche Waffen bevorſtehe, ohne dieſen Knaben nicht werde erobert werden können. Dieſe Wahr¬ ſagung drang auch zu ſeiner Mutter Thetis hinab zur See in ihr unſterbliches Ohr, und weil ſie wußte, daß jener Feldzug ihrem Sohn den Tod bringen würde, ſo ſtieg ſie wieder empor aus dem Meere, ſchlich ſich in ihres Gatten Pallaſt, ſteckte den Knaben in Mädchenkleider, und brachte ihn in dieſer Verwandlung zu dem Könige Lyko¬ medes auf der Inſel Scyros, der ihn unter ſeinen Mäd¬ chen als Jungfrau heranwachſen ließ und in weiblichen Arbeiten großzog. Als aber dem Jüngling der Flaum um das Kinn zu keimen anfing, entdeckte er ſich in ſeiner Ver¬ kleidung der lieblichen Tochter des Königes, Dëidamia. Die gleiche zärtliche Neigung vereinigte in der Verborgen¬ heit den Heldenjüngling mit der königlichen Jungfrau und während er bei allen Bewohnern der Inſel für eine Ver¬ wandte des Königs galt und auch bei Dëidamia für nichts anderes gelten ſollte, war er heimlich ihr Gemahl gewor¬ den. Jetzt, wo der Götterſohn zur Beſiegung Troja's23 unentbehrlich war, entdeckte der Seher Kalchas, dem wie ſein Geſchick, ſo auch ſein Aufenthalt kein Geheimniß geblie¬ ben, dieſen letztern den Atriden. Und nun ſchickten die Fürſten den Odyſſeus und den Diomedes ab, ihn in den Krieg zu holen. Als die Helden auf der Inſel Scyros ankamen, wurden ſie dem Könige und ſeinen Jungfrauen vorgeführt. Aber das zarte Jungferngeſicht verbarg den künftigen Helden, und, ſo ſcharfſichtig der Blick der beiden Griechenfürſten war, ſo vermochten ſie doch nicht, ihn aus der Mädchenſchaar heraus zu erkennen. Da nahm Odyſ¬ ſeus ſeine Zuflucht zu einer Liſt. Er ließ, wie von unge¬ fähr, in den Frauenſaal, in dem die Mädchen ſich befan¬ den, einen Schild und einen Speer bringen, und dann die Kriegstrompete blaſen, als ob der Feind heranrückte. Bei dieſen Schreckenstönen entflohen alle Frauen aus dem Saale, Achilles aber blieb allein zurück und griff muthig zu dem Speer und zu dem Schilde. Jetzt ward er von den Fürſten entlarvt und erbot ſich, an der Spitze ſeiner Myrmidonen oder Theſſalier, in Begleitung ſeines Erzie¬ hers Phönix und ſeines Freundes Patroklus, welcher mit ihm einſt bei Peleus aufgezogen worden war, mit fünfzig Schiffen zu dem griechiſchen Heere zu ſtoßen.
Zum Verſammlungsort aller griechiſchen Fürſten und ihrer Schaaren und Schiffe wurde die Hafenſtadt Aulis in Böotien, an der Meerenge von Euböa, durch Aga¬ memnon auserſehen, den die Volkshäupter als den thätig¬ ſten Beförderer der Unternehmung zum oberſten Befehls¬ haber derſelben ernannt hatten.
In jenem Hafen ſammelten ſich nun außer den ge¬ nannten Fürſten mit ihren Schiffen unzählige andere. Die vornehmſten darunter waren der rieſige Ajax, der Sohn24 des Telamon aus Salamis, und ſein Halbbruder Teucer, der treffliche Bogenſchütze; der kleine, ſchnelle Ajax aus dem Lokrerlande; Meneſtheus aus Athen, Askalafus und Jalmenus, Söhne des Kriegsgottes mit ihren Minyern aus Orchomenus; aus Böotien Peneleus, Arceſilaus, Klonius, Prothoenor; aus Phocis Schedius und Epiſtro¬ phus; aus Euböa und mit den Abantern Elephenor; mit einem Theile der Argiver und andern Peloponneſiern außer Diomedes, Sthenelus, der Sohn des Kapaneus, und Euryalus, der Sohn des Mekiſtheus; aus Pylus Neſtor der Greis, der ſchon drei Menſchenalter geſehen; aus Arkadien Agapenor, der Sohn des Ancäus; aus Elis und andern Städten Amphimachus, Thalpius, Diores und Polyxenus; aus Dulichium und den echinadiſchen Inſeln Meges, der Sohn des Phyleus; mit den Aetoliern Thoas, der Sohn des Adrämon; aus Kreta Idomeneus und Me¬ riones; aus Rhodos der Heraklide Tlepolemus; aus Syma Nireus, der ſchönſte Mann im griechiſchen Heere; aus den kalydniſchen Inſeln die Herakliden Phidippus und Antiphus; aus Phylake Podarkes, Sohn des Iphiklus; aus Pherä in Theſſalien Eumelos, der Sohn des Admetus und der frommen Alceſtis; aus Methone, Thaumacia und Meliböa Philoktetes; aus Tricca, Ithoma und Oechalia die zwei heilkundigen Männer Podalirius und Machaon; aus Orme¬ nium und der Umgegend Eurypylus, der Sohn des Euä¬ mon; aus Argiſſa und der Gegend Polypötes, der Sohn des Pirothous, des Theſeusfreundes; Guneus aus Cyphos, Prothous aus Magneſia.
Dieß waren nebſt den Atriden, Odyſſeus und Achilles, die Fürſten und Gebieter der Griechen, die, Keiner mit wenigen Schiffen, ſich in Aulis ſammelten. Die Griechen25 ſelbſt wurden damals bald Danaer genannt, von dem alten ägyptiſchen Könige Danaus her, der ſich zu Argos im Peloponneſe niedergelaſſen hatte, bald Argiver, von der mächtigſten Landſchaft Griechenlands, Argolis oder dem Argiverlande; bald Achajer oder Achiver, von dem alten Namen Griechenlands, Achaja. Später heißen ſie Griechen, von Gräcus, dem Sohne des Theſſalus, und Hellenen, von Hellen, dem Sohne des Deukalion und der Pyrrha.
Unterdeſſen, ſo lange die Ausrüſtung der Griechen ſich vorbereitete, ward von Agamemnon im Rathe ſeiner Vertrauten und der erſten Häupter des Volkes, um auch gütliche Mittel nicht unverſucht zu laſſen, beſchloſſen, daß eine Geſandtſchaft nach Troja an den König Priamus abgehen ſollte, um ſich über die Verletzung des Völker¬ rechts und den Raub der griechiſchen Fürſtin zu beſchweren und die entriſſene Gattin des Fürſten Menelaus ſammt ihren Schätzen zurückzufordern. Es wurde hierzu in der Verſammlung der Kriegshäupter Palamedes, Odyſſeus und Menelaus auserwählt, und obgleich Odyſſeus im Herzen der Todfeind des Palamedes war, ſo unterwarf er ſich doch zum gemeinen Beſten der Einſicht dieſes Für¬ ſten, der in dem griechiſchen Heere um ſeines Verſtandes und ſeiner Erfahrung willen hoch gefeiert war, und über¬ ließ ihm willig die Ehre, am Hofe des Königs Priamus als Sprecher aufzutreten.
26Die Trojaner und ihr König waren über die Ankunft einer Geſandtſchaft, die mit einer anſehnlichen Schiffs¬ rüſtung erſchien, in kein geringes Staunen verſetzt. Sie wußten von der unmittelbaren Urſache der Sendung noch nichts, denn Paris verweilte noch immer mit ſeiner ge¬ raubten Gattin auf der Inſel Kranae und war in Troja verſchollen. Priamus und ſein Volk glaubten deswegen nicht anders, als der trojaniſche Kriegszug, der die Geſandt¬ ſchaft des Paris und die Zurückforderung der Heſione unterſtützen ſollte, habe Widerſtand in Griechenland gefun¬ den, und jetzt würden, nach Vernichtung deſſelben, die Griechen, übermüthig geworden, über die See herbeikommen, die Trojaner in ihrem eigenen Lande anzufallen. Die Nachricht, daß ſich griechiſche Geſandte der Stadt nähern, verſetzte ſie daher in nicht geringe Spannung. Indeſſen öffneten ſich Jenen die Thore willig, und die drei Fürſten wurden ſofort in den Pallaſt des Priamus und vor den König ſelbſt, der ſeine zahlreichen Söhne und die Häupter der Stadt zu einem Rathe zuſammenberufen hatte, geführt. Palamedes ergriff vor dem Könige das Wort, beklagte ſich bitter im Namen aller Griechen über die ſchändliche Verletzung des Gaſtrechtes, die ſich ſein Sohn Paris durch den Raub der Königin Helena zu Schulden kommen laſ¬ ſen. Dann entwickelte er die Gefahren eines Krieges, die dem Reiche des Priamus aus dieſer Unthat erwüchſen, zählte die Namen der mächtigſten Fürſten Griechenlands auf, die mit allen ihren Völkern auf mehr als tauſend Schiffen vor Troja erſchienen ſeyen, und verlangte die gütliche Auslieferung der geraubten Fürſtin. „ Du weißeſt nicht, o König, “ſo ſchloß er ſeine zornige Rede, „ was für Sterbliche durch deinen Sohn beſchimpft worden ſind,27 es ſind die Griechen, die Alle lieber ſterben, als daß einem Einzigen von ihnen durch einen Fremdling ungerächte Kränkung widerfahre. Sie hoffen aber, indem ſie dieſes Unrecht zu rächen kommen, nicht zu ſterben, ſondern zu ſiegen, denn ihre Zahl iſt wie der Sand am Meere und Alle ſind von Heldenmuth erfüllt und Alle brennen vor Begierde, die Schmach, die ihrem Volke widerfahren iſt, in dem Urheber zu tilgen. Darum läßt euch unſer ober¬ ſter Feldherr, Agamemnon, König der mächtigen Landſchaft Argos und der erſte Fürſt Griechenlands, und mit ihm laſſen euch alle anderen Fürſten der Danaer ſagen: Gebet die Griechin, die ihr uns geſtohlen habt, heraus, oder ſeyd Alle des Untergangs gewärtig! “
Bei dieſen trotzigen Worten ergrimmten die Söhne des Königes und die Aelteſten von Troja, zogen ihre Schwerter und ſchlugen ſtreitluſtig an ihre Schilde. Aber König Priamus gebot ihnen Ruhe, erhob ſich von ſeinem Königsſitze und ſprach: „ Ihr Fremdlinge, die ihr im Na¬ men eures Volkes ſo ſtrafende Worte an uns richtet, gön¬ net mir erſt, daß ich von meinem Staunen mich erhole. Denn weſſen ihr mich beſchuldiget, davon iſt uns Allen nichts bewußt; vielmehr ſind wir es, die wir bei euch uns über das Unrecht zu beklagen haben, das ihr uns andichtet. Unſre Stadt hat euer Landsmann Herkules mitten im Frieden angefallen, aus unſrer Stadt hat er meine un¬ ſchuldige Schweſter Heſione als Gefangene mit ſich geführt und ſie ſeinem Freunde, dem Fürſten Telamon auf Sala¬ mis, als Sklavin geſchenkt; und es iſt der gute Wille die¬ ſes Mannes, daß ſie von ihm zu ſeiner ehrlichen Gemah¬ lin erhoben worden iſt und nicht als Magd und Kebsweib dient. Doch konnte dieß den unehrlichen Raub nicht wieder28 gut machen, und es iſt ſchon die zweite Geſandtſchaft, die dießmal unter meinem Sohne Paris nach eurem Lande abgegangen iſt, meine freventlich geraubte Schweſter zurück¬ zuverlangen, damit ich wenigſtens noch in meinem Greiſen¬ alter mich ihrer erfreuen könne. Wie mein Sohn Paris dieſen meinen königlichen Auftrag ausgerichtet, was er gethan hat, und wo er weilt, weiß ich nicht. In meinem Pallaſte und in unſerer Stadt befindet ſich kein griechiſches Weib, dieß weiß ich gewiß. Ich kann euch alſo die ver¬ langte Genugthuung nicht geben, auch wenn ich wollte. Kommt mein Sohn Paris, wie mein väterlicher Wunſch iſt, glücklich nach Troja zurück, und bringt er eine entführte Griechin mit ſich, ſo ſoll euch dieſe ausgeliefert werden, wenn ſie anders nicht als Flüchtlingin unſern Schutz an¬ fleht. Aber auch dann werdet ihr ſie unter keiner andern Bedingung und nicht eher zurückerhalten, als bis ihr meine Schweſter Heſione aus Salamis wieder in meine Arme zurückgeführt habt! “
Der Rath der Trojaner ſtimmte zu dieſen Worten des Königs; aber Palamedes ſprach trotzig: „ Die Erfül¬ lung unſerer Forderung, o König, läßt ſich von keiner Bedingung abhängig machen. Wir glauben deinem ehr¬ würdigen Antlitz und der Rede deines Mundes, die uns verſichert, daß die Gemahlin des Menelaus noch nicht in deinen Mauern angekommen iſt. Sie wird aber kommen, zweifle nicht; ihre Entführung durch deinen unwürdigen Sohn iſt nur allzu gewiß. Was zu unſerer Väter Zeiten von Herkules geſchehen iſt, dafür ſind wir nicht mehr ver¬ antwortlich. Aber was einer deiner Söhne uns jetzt eben von empörender Kränkung zugefügt hat, dafür verlangen wir Rechenſchaft von dir. Heſione iſt willig mit Telamon29 davongezogen und ſie ſelbſt ſendet einen Sohn in dieſen Krieg, der euch bevorſteht, wenn ihr uns nicht Genug¬ thuung gebet, den gewaltigen Fürſten Ajax. Helena aber iſt wider Willen und freventlich geraubt worden. Danket dem Himmel, der euch durch eures Räubers Zögerung Bedenkzeit gegeben hat, und faſſet einen Beſchluß, der das Verderben von euch abwendet. “
Priamus und die Trojaner empfanden die übermüthige Rede des Geſandten Palamedes übel, doch ehrten ſie an den Fremdlingen das Recht der Geſandtſchaft: die Ver¬ ſammlung wurde aufgehoben und ein Aelteſter von Troja, der Sohn des Aeſyntes und der Kleomeſtra, der verſtän¬ dige Antenor, ſchirmte die fremden Fürſten vor allen Be¬ ſchimpfungen des Pöbels, führte ſie in ſein Haus und beherbergte ſie dort mit edler Gaſtlichkeit bis zum andern Morgen. Dann gab er ihnen das Geleite an den Strand, wo ſie die glänzenden Schiffe wieder beſtiegen, die ſie herbeigeführt hatten.
Während nun die Flotte zu Aulis ſich verſammelte, vertrieb der Völkerfürſt Agamemnon ſich die Zeit mit der Jagd. Da kam ihm eines Tages eine herrliche Hindin in den Schuß, die der Göttin Artemis oder Diana gehei¬ ligt war. Die Jagdluſt verführte den Fürſten: er ſchoß nach dem heiligen Wild und erlegte es mit dem prahlenden Worte: Diana ſelbſt, die Göttin der Jagd, vermöge nicht, beſſer zu treffen. Ueber dieſen Frevel erbittert ſchickte30 die Göttin, als in der Bucht von Aulis alles Griechenvolk gerüſtet, mit Schiffen, Roß und Wagen beiſammen war, und der Seezug nun vor ſich gehen ſollte, dem verſam¬ melten Heere tiefe Windſtille zu, ſo daß man ohne Ziel und Fahrt müſſig in Aulis ſitzen mußte. Die rathsbedürf¬ tigen Griechen wandten ſich nun an ihren Seher Kalchas, den Sohn des Theſtor, welcher dem Volke ſchon früher weſentliche Dienſte geleiſtet hatte, und jetzt erſchienen war, als Prieſter und Wahrſager den Feldzug mitzumachen. Dieſer that auch jetzt den Ausſpruch: „ wenn der oberſte Führer der Griechen, der Fürſt Agamemnon, Iphigenia, ſein und Klytämneſtra's geliebtes Kind, der Artemis opfert, ſo wird die Göttin verſöhnt ſeyn, Fahrwind wird kommen und der Zerſtörung Troja's wird kein übernatürliches Hin¬ derniß mehr im Wege ſtehen. “
Dieſe Worte des Sehers raubten dem Feldherrn der Griechen allen Muth. Sogleich beſchied er den Herold der verſammelten Griechen, Talthybius aus Sparta, zu ſich und ließ denſelben mit hellem Heroldsruf vor allen Völkern verkündigen, daß Agamemnon den Oberbefehl über das griechiſche Heer niedergelegt habe, weil er keinen Kindesmord auf ſein Gewiſſen laden wolle. Aber unter den verſammelten Griechen drohte auf die Verkündigung dieſes Entſchluſſes eine wilde Empörung auszubrechen. Menelaus begab ſich mit dieſer Schreckensnachricht zu ſeinem Bruder in das Feldherrnzelt, ſtellte ihm die Folgen ſeiner[Entſchließung], die Schmach, die ihn, den Menelaus, treffen würde, wenn ſein geraubtes Weib Helena in Feindes¬ händen bleiben ſollte, vor, und bot ſo beredt alle Gründe auf, daß endlich Agamemnon ſich entſchloß, den Greuel geſchehen zu laſſen. Er ſandte an ſeine Gemahlin31 Klytämneſtra nach Mycene eine briefliche Botſchaft, welche ihr befahl, die Tochter Iphigenia zum Heere nach Aulis zu ſenden, und bediente ſich, um dieſem Gebote Gehorſam zu verſchaffen, des in der Noth erdichteten Vorwandes, die Tochter ſolle, noch bevor das Heer der trojaniſchen Küſte zuſegle, mit dem jungen Sohne des Peleus, dem herr¬ lichen Phthierfürſten Achilles, von deſſen geheimer Ver¬ mählung mit Dëidamia Niemand wußte, verlobt wer¬ den. Kaum aber war der Bote fort, ſo bekam in Aga¬ memnons Herzen das Vatergefühl wieder die Oberhand. Von Sorgen gequält und voll Reue über den unüberlegten Entſchluß, rief er noch in der Nacht einen alten, ver¬ trauten Diener, und übergab ihm einen Brief an ſeine Gemahlin Klytämneſtra zur Beſtellung; in dieſem ſtand geſchrieben, ſie ſollte die Tochter nicht nach Aulis ſchicken, er, der Vater, habe ſich eines andern beſonnen, die Vermäh¬ lung müſſe bis aufs nächſte Frühjahr aufgeſchoben werden. Der treue Diener eilte mit dem Briefe davon, aber er erreichte ſein Ziel nicht. Noch ehe er vor der Morgen¬ dämmerung das Lager verließ, ward er von Menelaus, dem die Unſchlüſſigkeit des Bruders nicht entgangen war, der ebendeßwegen alle ſeine Schritte überwacht hatte, ergriffen, der Brief ihm mit Gewalt entriſſen und ſofort von dem jüngern Atriden erbrochen. Das Blatt in der Hand trat Menelaus abermals in das Feldherrnzelt des Bruders. „ Es gibt doch, “rief er ihm unwillig entgegen, „ nichts Ungerechteres und Ungetreueres, als den Wankelmuth! Erinnerſt du dich denn gar nicht mehr, Bruder, wie begie¬ rig du nach dieſer Feldherrnwürde wareſt, wie du vor übelverheimlichter Luſt brannteſt, das Heer vor Troja zu führen? wie demüthig du dich da gegen alle griechiſchen32 Fürſten gebärdeteſt, wie gnädig du jedem Danaer die Rechte ſchüttelteſt? Deine Thür war ſtets unverſchloſ¬ ſen; Jedem, auch dem Unterſten des Volkes, ſchenkteſt du Zutritt, und alle dieſe Geſchmeidigkeit bezweckte nichts Anderes, als dir jene Würde zu verſchaffen. Aber als du nun Herr geworden wareſt, da war Alles bald anders; da warſt du nicht mehr deiner alten Freunde Freund, wie vorher; zu Hauſe warſt du ſchwer zu treffen, drauſſen bei dem Heere zeigteſt du dich nur ſelten. So ſollte es ein Ehrenmann nicht machen; er ſollte am meiſten dann ſich unveränderlich gegen ſeine Freunde zeigen, wenn er ihnen am meiſten nützen kann! Du hingegen, wie haſt du dich betragen? Als du mit dem Griechenheere nach Aulis gekommen wareſt und, vom göttlichen Geſchicke heimge¬ ſucht, vergebens auf Fahrwind hoffteſt, und nun im Heere rings der Ruf ſich hören ließ: laßt uns davonſegeln und nicht vergebens in Aulis uns abmühen! wie zerſtört und troſtlos blickte da dein Auge umher, und wie wußteſt du mit ſammt deinen Schiffen keinen Rath! Damals beriefſt du mich, und verlangteſt nach einem Auswege, deine ſchöne Feldherrnwürde nicht zu verlieren. Und als hierauf der Seher Kalchas befahl, anſtatt eines Opfers der Artemis deine Tochter darzubringen, da gelob¬ teſt du nach kurzem Zuſpruche freiwillig deines Kin¬ des Opferung, und ſchickteſt Botſchaft an dein Weib Klytämneſtra, deine Tochter, ſcheinbar als Braut des Achilles, herzuſenden. Und jetzt, o Schande, beugeſt du doch wieder aus und verfaſſeſt eine neue Schrift, durch welche du erklärſt, des Kindes Mörder nicht werden zu können? Aber freilich, tauſend Andern iſt es ſchon ſo gegangen, wie dir. Raſtlos, bis ſie ans Ruder gelangt33 ſind, treten ſie ſpäter ſchimpflich zurück, wenn es gilt, das Ruder mit Aufopferung zu lenken! Und doch taugt keiner zum Heeresfürſten und Staatenlenker, der nicht Einſicht und Verſtand hat, und dieſelben auch in den ſchwierigſten Lagen des Lebens nicht verliert! “
Solche Vorwürfe aus dem Munde des Bruders waren nicht geeignet, das Herz Agamemnons zu beruhigen. „ Was ſchnaubſt du ſo ſchrecklich, “entgegnete er ihm, „ was iſt dein Auge wie mit Blut unterlaufen? Wer beleidigt dich denn; was vermiſſeſt du denn? Deine liebenswürdige Gattin Helena? Ich kann ſie dir nicht wieder verſchaffen! Warum haſt du deines Eigenthums nicht beſſer wahrge¬ nommen? Bin ich denn thöricht, wenn ich einen Mißgriff durch Beſinnung wieder gutgemacht habe? Viel eher han¬ delſt Du unvernünftig, der du aufs neue nach der Hand eines falſchen Weibes trachteſt, anſtatt daß du froh ſeyn ſollteſt, ihrer los geworden zu ſeyn. Nein, nimmermehr entſchließe ich mich, gegen mein eigenes Blut zu wüthen. Weit beſſer ſtände dir ſelbſt die gerechte Züchtigung deines buhleriſchen Weibes an. “
So haderten die Brüder miteinander, als ein Bote vor ihnen erſchien, und dem Fürſten Agamemnon die Ankunft ſeiner Tochter Iphigenia meldete, der die Mutter und ſein kleiner Sohn Oreſtes auf dem Fuße folgten. Kaum hatte der Bote ſich wieder entfernt, ſo überließ ſich Agamemnon einer ſo troſtloſen und herzzerreißenden Verzweiflung, daß Menelaus ſelbſt, der bei Ankunft der Botſchaft auf die Seite getreten war, jetzt ſich dem Bruder wieder näherte und nach ſeiner rechten Hand griff. Agamemnon reichte ſie ihm wehmüthig dar und ſprach unter heißen Thränen: „ Da haſt du ſie, Bruder; der Sieg iſt dein! Ich binSchwab, das klaſſ. Alterthum. II. 334vernichtet! “ Menelaus dagegen ſchwor ihm, von der alten Forderung abſtehen zu wollen; ja er ermahnte ihn ſelbſt jetzt, ſein Kind nicht zu tödten, und erklärte einen guten Bruder um Helena's willen nicht verderben und nicht ver¬ lieren zu wollen. „ Bade doch dein Angeſicht nicht länger in Thränen, “rief er. „ Giebt der Götterſpruch mir Antheil an deiner Tochter, ſo wiſſe, daß ich denſelben ausſchlage und meinen Theil dir abtrete! Wundre dich nicht, daß ich von der Heftigkeit meiner natürlichen Gemüthsart um¬ gekehrt bin zur Bruderliebe; denn Biedermanns Weiſe iſt es, der beſſern Ueberzeugung zu folgen, ſobald ſie in unſerm Herzen die Oberhand gewinnt! “
Agamemnon warf ſich dem Bruder in den Arm, doch ohne über das Geſchick ſeiner Tochter beruhigt zu ſeyn. „ Ich danke dir, “ſprach er, „ lieber Bruder, daß uns gegen Verhoffen dein edler Sinn wieder zuſammengeführt hat. Ueber mich aber hat das Schickſal entſchieden. Der blutige Tod der Tochter muß vollzogen ſeyn: das ganze Griechen¬ heer verlangt ihn; Kalchas und der ſchlaue Odyſſeus ſind einverſtanden; ſie werden das Volk auf ihrer Seite haben, dich und mich ermorden und mein Töchterlein abſchlachten laſſen. Und flöhen wir gen Argos, glaube mir, ſie kämen, und riſſen uns aus den Mauern hervor, und ſchleiften die alte Cyklopenſtadt! Deßwegen beſchränke dich darauf, Bru¬ der, wenn du in das Lager kommſt, darüber zu wachen, daß meine Gemahlin Klytämneſtra nichts erfahre, bis daß mein und ihr Kind dem Orakelſpruch erlegen iſt! “
Die herannahenden Frauen unterbrachen das Geſpräch der Brüder, und Menelaus entfernte ſich in trüben Gedanken.
Die Begrüßung der beiden Gatten war kurz und von Agamemnons Seite froſtig und verlegen; die Tochter aber35 umſchlang den Vater mit kindlicher Zuverſicht und rief: „ O Vater, wie entzückt mich dein lange entbehrtes Ange¬ ſicht! “ Als ſie ihm hierauf näher in ſein ſorgenvolles Auge ſah, fragte ſie zutraulich: „ Warum iſt dein Blick ſo un¬ ruhig, Vater, wenn du mich doch gerne ſiehſt? “ „ Laß das, Töchterchen, “erwiederte der Fürſt mit beklommenem Her¬ zen, „ den König und den Fürſten kümmert gar vielerlei! “— „ So verbanne doch dieſe Furchen, “ſprach Iphigenia, „ und ſchlage ein liebendes Auge zu deiner Tochter auf! Warum iſt es denn ſo von Thränen angefeuchtet? “— „ Weil uns eine lange Trennung bevorſteht, “erwiederte der Vater. — „ O wie glücklich wäre ich, “rief das Mädchen, „ wenn ich deine Schiffsgefährtin ſeyn dürfte! “— „ Nun, auch du wirſt eine Fahrt anzutreten haben, “ſagte Aga¬ memnon ernſt, „ zuvor aber opfern wir noch — ein Opfer, bei dem du nicht fehlen wirſt, liebe Tochter! “ Die letzten Worte erſtickten unter Thränen, und er ſchickte das ahnungsloſe Kind in das für ſie bereitgehaltene Zelt zu den Jungfrauen, die in ihrem Gefolge gekommen waren. Mit der Mutter mußte der Atride ſeine Unwahr¬ heit fortſetzen, und die fragende, neugierige Fürſtin über Geſchlecht und Verhältniſſe des ihr zugedachten Bräutigams unterhalten. Nachdem ſich Agamemnon von der Gemahlin losgemacht, begab er ſich zu dem Seher Kalchas, um mit dieſem das Nähere wegen des unvermeidlichen Opfers zu verabreden.
Derweilen mußte der tückiſche Zufall Klytämneſtra im Lager mit dem jungen Fürſten Achilles, der den Heerführer Agamemnon aufſuchte, weil ſeine Myrmidonen den längern Verzug nicht ertragen wollten, zuſammenführen, und ſie nahm keinen Anſtand, ihn als den künftigen Eydam3*36mit freundlichen Worten zu begrüßen. Aber Achilles trat verwundert zurück. „ Von welcher Hochzeit redeſt du, Fürſtin? “ſprach er. „ Niemals habe ich um dein Kind gefreit, nie iſt ein Einladungswort zur Vermählung von deinem Gemahl Agamemnon an mich gelangt! “ So begann das Räthſel ſich vor Klytämneſtra's Augen aufzu¬ hellen, und ſie ſtand unentſchloſſen und voll Beſchämung vor Achilles. Dieſer aber ſagte mit jugendlicher Gut¬ müthigkeit: „ Laß dich's nicht kümmern, Königin, wenn auch Jemand ſeinen Scherz mit dir getrieben hätte, nimm es leicht, und verzeih mir, wenn mein Erſtaunen dir wehe gethan hat. “ Und ſo wollte er mit ehrerbietigem Gruße davon eilen, den Feldherrn aufzuſuchen, da öffnete eben ein Diener das Zelt Agamemnon's, und rief mit verſtörter Miene den beiden Sprechenden entgegen; es war der vertraute Sklave Agamemnon's und Klytämneſtra's, den Menelaus mit dem Briefe ergriffen hatte. „ Höre, “ſprach er leiſe, doch athemlos, „ was dir dein treuer Diener zu vertrauen hat: deine Tochter will der Vater eigenhändig tödten! “ Und nun erfuhr die zitternde Mutter das ganze Geheimniß aus dem Munde des getreuen Sklaven. Kly¬ tämneſtra warf ſich dem jungen Sohne des Peleus zu Füßen, und ſeine Kniee wie eine Schutzflehende umfaſſend rief ſie: „ Ich erröthe nicht, ſo vor dir im Staube zu liegen, ich, die Sterbliche, vor dem Götterſprößling. Weiche, Stolz! vor der Mutterpflicht. Du aber, o Sohn der Göttin, rette mich und mein Kind von der Verzweif¬ lung! Dir, als ihrem Gatten, habe ich ſie bekränzt hier¬ her geführt; zwar eitler Weiſe, dennoch heiſſeſt du mir meines Mädchens Bräutigam! Bei allem, was dir theuer iſt, bei deiner göttlichen Mutter beſchwöre ich dich, hilf37 ſie mir jetzt retten. Sieh, ich habe keinen Altar, zu dem ich flüchten könnte, als deine Kniee! Du haſt Agamemnon's grauſames Unterfangen gehört; du ſieheſt, wie ich, ein wehrloſes Weib, in die Mitte eines gewaltthätigen Heeres eingetreten bin! Breite über uns deinen Arm aus, ſo iſt uns geholfen! “
Achilles hob die vor ihm liegende Königin voll Ehr¬ furcht vom Boden und ſprach: „ Sei getroſt, Fürſtin! Ich bin in eines frommen, hülfreichen Mannes Haus aufge¬ zogen worden; am Heerde Chirons habe ich ſchlichte, red¬ liche Sinnesart gelernt. Ich gehorche den Söhnen des Atreus gerne, wenn ſie mich zum Ruhme führen, aber ſchnödem Befehle gehorche ich nicht. Darum will ich dich ſchützen, ſo weit es den Armen eines Jünglings möglich iſt, und nimmermehr ſoll deine Tochter, die einmal mein genannt wurde, von ihrem Vater hingewürgt werden. Ich ſelbſt erſchiene mir nicht unbefleckt, wenn meine erlogene Brautſchaft dieſes Kind verdürbe, ich käme mir wie der feigſte Wicht im Heere und wie der Sohn eines Miſſe¬ thäters vor, wenn mein Name deinem Gemahl zum Vor¬ wand eines Kindesmordes dienen könnte. “— „ Iſt das wirklich dein Wille, edler, mitleidiger Fürſt, “rief Kly¬ tämneſtra, auſſer ſich vor Freude, „ oder erwarteſt du vielleicht noch, daß auch meine Tochter deine Kniee als Schutzflehende umſchlingen ſoll? Zwar iſt es nicht jung¬ fräulich; aber wenn es dir gefällt, ſo wird ſie züchtiglich nahen, wie es einer Freigebornen ziemt. “— „ Nein, “ent¬ gegnete ihr Achilles, „ führe dein Mädchen nicht vor mein Angeſicht, damit wir nicht in Verdacht und üble Nachrede kommen, denn ein ſo großes Heer, das keine Heimat¬ ſorgen hat, liebt faules Geſchwätz; aber vertraue mir, ich38 habe nie gelogen. Möge ich ſelbſt ſterben, wenn ich dein Kind nicht rette. “ Mit dieſer Verſicherung verließ der Sohn des Peleus Iphigenia's Mutter, die jetzt mit un¬ verhehltem Abſcheu vor ihren Gatten Agamemnon trat. Dieſer, der nicht wußte, daß der Gemahlin das Geheim¬ niß verrathen war, rief ihr die zweideutigen Worte ent¬ gegen: „ Entlaß jetzt dein Kind aus dem Zelte und über¬ gib es dem Vater, denn Mehl und Waſſer und das Opfer, das unter dem Stahle vor dem Hochzeitsfeſt fallen ſoll, Alles iſt ſchon bereit. “— „ Vortrefflich, “rief Klytämneſtra, und ihr Auge funkelte, „ tritt ſelbſt aus unſerm Zelte heraus, o Tochter, du kennſt ja gründlich deines Vaters Willen, nimm auch deinen kleinen Bruder Oreſtes mit heraus! “ Und als die Tochter erſchienen war, fuhr ſie fort: „ Siehe Vater, hier ſteht ſie dir zu Gehor¬ ſam da, laß aber mich zuvor ein Wort an dich richten: ſage mir aufrichtig, willſt du wirklich meine und deine Tochter umbringen? “ Lange ſtand der Feldherr lautlos da, endlich rief er in Verzweiflung aus: „ O mein Ver¬ hängniß, mein böſer Geiſt! Aufgedeckt iſt mein Geheimniß, Alles iſt verloren! “— „ So höre mich denn, “ſprach Kly¬ tämneſtra weiter, „ ich will mein ganzes Herz vor dir ausſchütten. Mit einem Verbrechen hat unſre Ehe begon¬ nen, du haſt mich gewaltſam entführt, haſt meinen frü¬ heren Gatten erſchlagen, mein Kind mir von der Bruſt genommen und getödtet. Schon zogen meine Brüder Kaſtor und Pollux auf ihren Roſſen mit Heeresmacht gegen dich heran. Mein alter Vater Tyndareus war es, der dich den Flehenden rettete, und ſo wurdeſt du wieder mein Gemahl. Du ſelbſt wirſt es bezeugen, daß ich tadellos in dieſem Ehebunde war, deine Wonne im Hauſe und39 dein Stolz draußen. Drei Mädchen und dieſen Sohn habe ich dir geboren, und nun willſt du des älteſten Kin¬ des mich berauben, und frägt man dich warum, ſo ant¬ worteſt du: damit dem Menelaus ſeine Ehebrecherin wie¬ der zu Theil werde! O zwinge mich nicht, bei den Göt¬ tern, ſchlecht gegen dich zu werden, und ſey nicht ſchlecht gegen mich! Du willſt deine Tochter ſchlachten? welch Gebet willſt du dabei ſprechen, was willſt du dir beim Tochtermord erflehen? Eine unglückſelige Rückkehr, ſo wie du jetzt ſchmählich von Hauſe wegziehſt? Oder ſoll Ich etwa Segen für dich erbitten? Müßte ich doch die Götter ſelbſt zu Mördern machen, wenn ich es thäte! Warum ſoll es denn dein eigenes Kind ſeyn, das als Opfer fällt? Warum ſprichſt du nicht zu den Griechen: „ Wenn ihr vor Troja ſchiffen wollet, ſo werfet das Loos darüber, weſſen Tochter ſterben ſoll. “ Nun ſoll ich, deine treue Gattin, mein Kind verlieren, während er, deſſen Sache ausgefochten wird, Menelaus, ſeiner Tochter Her¬ mione ſich ohne Sorgen erfreuen darf, während ſeine treuloſe Gattin dieſes Kind in Sparta's Pflege geborgen weiß! Antworte, ob ich ein einziges unrechtes Wort geſagt habe. Ward aber von mir dir Wahrheit geſprochen, o ſo tödte doch deine und meine Tochter nicht, thu es nicht, beſinne dich! “
Jetzt warf ſich auch Iphigenia zu den Füßen ihres Vaters und ſprach mit erſtickter Stimme: „ Beſäße ich den Zaubermund des Orpheus, o Vater, daß ich Felſen len¬ ken könnte, ſo wollte ich mich mit beredten Worten an dein Mitleid wenden. Jetzt aber ſind alle meine Künſte nur Thränen und anſtatt des Oelzweigs umflechte ich dein Knie mit meinem Leibe, Verdirb mich nicht frühzeitig,40 Vater, lieblich iſt das Licht zu ſchauen, nöthige mich nicht, das zu ſehen, was die Nacht verbirgt! Gedenke deiner Liebkoſungen, mit welchen du mich als Kind auf deinem Vaterſchooße gewiegt haſt. Noch weiß ich alle deine Reden, wie du hoffteſt mich in eines edlen Mannes Wohnung ein¬ zuführen, mich in Wohlergehen und Blüthe zu ſchauen, wenn du heimgekehrt wäreſt. Du aber haſt das Alles vergeſſen; du willſt mich tödten! O thu es nicht, bei dieſer Mutter beſchwöre ich dich, die mich mit Schmerzen geboren hat, und jetzt noch größeren Schmerz um mich empfindet! Was gehen mich Helena und Paris an? Warum muß ich ſterben, weil er nach Griechenland gekommen iſt? O blicke mich an; gönne mir dein Auge, deinen Kuß, daß ich doch ſterbend noch ein Andenken von dir empfange, wenn dich mein Wort nicht mehr zu rühren vermag! Sieh deinen Knaben, meinen Bruder an, Vater; ſchweigend fleht er für mich. Er iſt noch ein Küchlein; ich aber bin herangereift! So laß dich doch erweichen und erbarme dich meiner. Das Licht zu ſchauen iſt für Sterbliche doch das Holdſeligſte! Elend leben iſt beſſer, als der allerſchönſte Tod! “
Aber Agamemnons Entſchluß war gefaßt, er ſtand unerbittlich wie ein Fels und ſprach: „ Wo ich Mitleid fühlen darf, da fühle ich Mitleid: denn ich liebe meine Kinder, ich wäre ja ſonſt ein Raſender. Mit ſchwerem Herzen, o Gemahlin, führe ich das Schreckliche aus, aber ich muß. Ihr ſehet ja, welch ein Schiffsheer mich umringt, wie viele Fürſten im Kriegspanzer mich umſtehen; dieſe Alle finden die Fahrt nach Troja nicht, Troja wird nicht erobert, wenn ich dich nicht opfere, Kind, nach dem Ausſpruche des Sehers. Dieſe Helden alle wollen den41 Entführungen der Griechenfrauen ein Ziel ſtecken; ſie ſind es feſt entſchloſſen; und bekämpfte ich nun dieſen Götter¬ ſpruch, ſo mordeten ſie euch und mich. Hier hat meine Macht eine Gränze, nicht meinem Bruder Menelaus, ſon¬ dern ganz Griechenland weiche ich. “
Ohne weitere Bitten abzuwarten, entfernte ſich der König und ließ die jammernden Frauen allein in ſeinem Zelte. Da hallte plötzlich Waffenlärm vor dieſem. „ Es iſt Achilles, “rief Klytämneſtra freudig. Vergebens ſuchte ſich Iphigenia in tiefer Beſchämung vor dem erheuchelten Bräutigam zu verbergen. Der Sohn des Peleus trat, von einigen Bewaffneten begleitet, haſtig in das Zelt: „ Unglückliche Tochter Leda's, “rief er, „ das ganze Lager iſt im Aufruhr und verlangt den Tod deiner Tochter; ich ſelbſt, der mich dem Geſchrei widerſetzte, wäre faſt geſtei¬ niget worden. “— „ Und deine Myrmidonen? “fragte Klytämneſtra mit ſtockendem Athem. „ Die empörten ſich zuerſt, “fuhr Achilles fort, „ und ſchalten mich einen liebes¬ kranken Schwätzer. Mit dieſem treuen Häuflein hier komme ich, euch gegen den anrückenden Odyſſeus zu vertheidigen. Tochter, klammere dich an deine Mutter; mein Leib ſoll euch decken, ich will ſehen, ob ſie es wagen, den Sohn der Göttin anzugreifen, von deſſen Leben das Schickſal Troja's abhängt. “ Dieſe letzten Worte, die einen Schim¬ mer von Hoffnung enthielten, gaben der Mutter den Athem wieder.
Jetzt aber machte ſich Iphigenia aus ihren Armen los, richtete ihr Haupt auf und ſtellte ſich mit entſchloſſenen Schritten vor die Königin und den Fürſten: „ Höret meine Reden an! “ſprach ſie mit einer Stimme, die alles Zit¬ tern verloren hatte, „ vergebens, liebe Mutter, zürnſt du42 deinem Gatten; er kann ſich nicht gegen das Nothwendige ſtemmen. Alles Lob verdient der Eifer dieſes Fremdlings, aber er wird es büßen müſſen, und du wirſt geläſtert wer¬ den. Höret deßwegen den Entſchluß, den mir die Ueber¬ legung eingegeben hat. Ich habe beſchloſſen, zu ſterben, ich verbanne jede niedrige Regung aus meiner freien Bruſt und will es vollenden. Auf mir ruht jetzt jedes Auge des herrlichen Griechenlands, auf mir die Fahrt der Flotte und der Fall Troja's, auf mir die Ehre der griechiſchen Frauen. Alles dieſes werde ich mit meinem Tode ſchirmen; mit Ruhm wird ſich mein Name bedecken, die Befreierin Griechenlands werde ich heißen. Soll ich, eine Sterbliche, der Göttin Artemis in den Weg treten, weil es ihr gefällt, mein Leben für das Vaterland zu verlangen? Nein, ich gebe es willig dahin, opfert mich, zerſtöret Troja, das wird mein Denkmal ſeyn und mein Hochzeitsfeſt. “
Mit leuchtendem Blicke, wie eine Göttin, ſtand Iphigenia vor der Mutter und dem Peliden, während ſie alſo ſprach. Da ſenkte ſich der herrliche Jüngling Achilles vor ihr auf ein Knie und rief: „ Kind Agamemnons! die Götter machten mich zum glückſeligſten Menſchen, wenn mir deine Hand zu Theil würde. Um dich beneide ich Griechenland, und um Griechenland, das dir angetrauet iſt, dich. Liebesſehnſucht ergreift mich nach dir, du Herr¬ liche, nun ich dein Weſen geſchaut habe. Erwäg 'es wohl! der Tod iſt ein ſchreckliches Uebel, ich aber möchte dir gerne Gutes thun, möchte dich heimführen zum Leben und Glück! “ Lächelnd erwiederte ihm Iphigenia: „ Män¬ nerkrieg und Mord genug hat Frauenſchönheit durch die Tyndaridin Helena angeregt, mein lieber Freund, ſtirb43 nicht auch du für ein Weib, noch tödte Jemand um mei¬ netwillen. Nein, laß mich Griechenland retten, wenn ich es vermag! “— „ Erhabene Seele, “rief der Pelide, „ thue was dir gefällt, ich aber eile mit dieſen meinen Waffen zum Altar, deinen Tod zu hindern. In deiner Unbeſon¬ nenheit darfſt du mir nicht ſterben, vielleicht nimmſt du mich noch beim Worte, wenn du den Mordſtahl auf dei¬ nen Nacken gezückt ſiehſt. “ So eilte er der Jungfrau voran, die bald darauf, der Mutter alle Klage verbietend und ihr den kleinen Bruder Oreſtes auf die Arme legend, im beſeligenden Bewußtſeyn, das Vaterland zu retten, dem Tode freudig entgegen ging. Die Mutter warf ſich im Zelt auf ihr Angeſicht und vermochte nicht, ihr zu folgen.
Unterdeſſen verſammelte ſich die ganze griechiſche Hee¬ resmacht in dem blumenreichen Haine der Göttin Diana vor der Stadt Aulis. Der Altar war errichtet und neben ihm ſtand der Seher und Prieſter Kalchas. Ein Ruf des Staunens und Mitleids ging durch das ganze Heer, als man Iphigenien, von ihren treuen Dienerinnen begleitet, den Hain betreten und auf den Vater Agamemnon zuwan¬ deln ſah. Dieſer ſeufzte laut auf, wandte ſein Angeſicht zurück und verbarg einen Thränenſtrom in ſein Gewand. Die Jungfrau aber ſtellte ſich dem Vater zur Seite und ſprach: „ Lieber Vater, ſiehe, hier bin ich ſchon! Vor der Göttin Altar übergebe ich mein Leben, wenn es der Göt¬ terſpruch ſo gebeut, den Führern des Heeres zum Opfer fürs Vaterland. Mich freut es, wenn ihr glücklich ſeyd und mit Siegeslohn zur Heimat wiederkehrt. Berühre mich drum auch kein Argiver, muthig und ſtill will ich den Nacken dem Opferſtahle bieten! “
44Ein lautes Staunen ging durch das Heer, als es Zeuge ſolchen Hochſinnes ward. Nun gebot Talthybius, der Herold, in der Mitte ſtehend, Stillſchweigen und Andacht. Der Seher Kalchas zog einen blanken ſchnei¬ denden Stahl aus der Seite und legte ihn vor dem Altar in einem goldenen Korbe nieder. Jetzt trat Achilles in voller Waffenrüſtung und mit gezücktem Schwerte vor den Altar. Aber ein Blick der Jungfrau verwandelte auch ſeinen Entſchluß. Er warf das Schwert auf die Erde, beſprengte den Altar mit Weihwaſſer, ergriff den Opfer¬ korb, umwandelte den Feſtaltar wie ein Prieſter und ſprach: „ O hohe Göttin Artemis, nimm dieſes heilige, freiwillige Opfer, das unbefleckte Blut des ſchönen Jung¬ frauennackens, das Agamemnon und Griechenlands Heer dir jetzo weiht, gnädig an, gib unſern Schiffen glückliche Fahrt, und Troja's Sturz unſern Speeren! “ Die Atriden und das ganze Heer ſtanden ſtumm zur Erde blickend. Der Prieſter Kalchas nahm ſeinen Stahl, betete, und faßte die Kehle der Jungfrau ſcharf ins Auge. Deut¬ lich hörte man den Fall ſeines Schlages. Aber, o Wun¬ der, in demſelben Augenblicke war die Jungfrau aus den Augen des Heeres verſchwunden. Diana hatte ſich ihrer erbarmt und eine Hindin von hohem Wuchs und herrlicher Geſtalt lag zappelnd auf dem Boden und beſprengte mit reichlichem Opferblute den Altar. „ Ihr Führer des ver¬ einten Griechenheeres, “rief Kalchas, nachdem er ſich von ſeinem freudigen Staunen erholt hatte, „ ſehet hier das Opfer, welches die Göttin Artemis geſandt hat, und das ihr willkommner iſt, als die Jungfrau, deren edles Blut den Altar nicht beſudeln ſollte. Die Göttin iſt verſöhnt, gibt unſern Schiffen fröhliche Fahrt und verſpricht uns45 die Erſtürmung Troja's. Seyd guten Muths, ihr See¬ gefährten, denn noch an dieſem Tage verlaſſen wir die Bucht von Aulis! “ So ſprach er, und ſah zu, wie das Opferthier allmählig vom Feuer verkohlt ward. Als der letzte Funke erloſchen war, unterbrach die Stille der Luft ein Sauſen des Windes, die Blicke des Heeres kehrten ſich nach dem Hafen, und ſahen hier die Schiffe im bewegten Meere ſchwanken. Mit lautem Jubelrufe ward aus Dianens Haine aufgebrochen, und alles Volk eilte nach den Zelten.
Als Agamemnon in dem ſeinigen ankam, fand er ſeine Gattin Klytämneſtra nicht mehr dort; ihr treuer Diener war ihm vorausgeeilt und hatte die ohnmächtig auf dem Boden Liegende mit der Nachricht von der Ret¬ tung ihrer Tochter erweckt und aufgerichtet. Mit einem flüchtigen Gefühl des Dankes und der Freude erhob die zur Beſinnung gekommene Königin ihre Hände gen Him¬ mel, dann aber rief ſie mit bitterem Schmerze: „ Mein Kind iſt mir doch geraubt! Er iſt doch der Mörder mei¬ ner Mutterfreude! Laß uns eilen, daß meine Augen den Kindesmörder nicht ſchauen! “ Der Diener eilte, den Wagen und das Gefolge zu beſtellen, und als Aga¬ memnon von dem Opferfeſte zurückkam, war ſeine Ge¬ mahlin ſchon fern auf dem Wege nach Mycene.
46Noch an demſelben Tage ging die Flotte der Griechen unter Segel, und der günſtigſte Fahrwind führte ſie ſchnell auf die hohe See. Nach einer kurzen Fahrt landeten ſie auf der kleinen Inſel Chryſe, um friſches Waſſer einzu¬ nehmen. Hier entdeckte Philoktetes, der Sohn des Kö¬ niges Pöas aus Meliböa in Theſſalien, der erprobte Held und Waffengefährte des Herkules, der Erbe ſeiner unüberwindlichen Pfeile, einen verfallenen Altar, welchen einſt der Argonaute Jaſon auf ſeiner Fahrt der Göttin Pallas Athene, der die Inſel heilig war, geweihet hatte. Der fromme Held freute ſich ſeines Fundes und wollte der Beſchirmerin der Griechen auf ihrem verlaſſenen Hei¬ ligthume opfern. Da ſchoß eine giftige Natter, dergleichen die Heiligthümer der Götter zu bewachen pflegten, auf den Herantretenden zu, und verwundete den Helden mit ihrem Biß am Fuße. Erkrankt wurde er wie¬ der zu Schiffe gebracht und die Flotte ſegelte weiter. Die giftige und ſtets weiter freſſende Wunde aber pei¬ nigte den Sohn des Pöas mit unerträglicher Qual, und ſeine Schiffsgenoſſen konnten den übeln Geruch des eitern¬ den Geſchwüres und ſein beſtändiges Jammergeſchrei nicht länger aushalten. Keine Spende, kein Opfer vermochten ſie ruhig darzubringen; in Alles miſchte ſich ſein unheiliger Angſtruf. Endlich traten die Söhne des Atreus mit dem verſchlagenen Odyſſeus zuſammen, denn die Unzufrieden¬ heit der Begleiter des kranken Helden fing an, ſich durch das ganze Heer zu verbreiten, welches fürchtete,47 daß der wunde Philoktetes das Lager von Troja ver¬ peſten und den Griechen mit ſeiner endloſen Wehklage das Leben verbittern möchte. Deßwegen faßten die An¬ führer des Volkes den grauſamen Entſchluß, als ſie an der wüſten und unbewohnbaren Küſte der Inſel Lemnos vorüberfuhren, den armen Helden hier auszuſetzen, und bedachten dabei nicht, daß ſie mit dem tapfern Manne ſich zugleich ſeiner unüberwindlichen Geſchoſſe beraubten. Der ſchlaue Odyſſeus erhielt den Auftrag, dieſen hinterliſtigen Anſchlag zu vollführen, er lud den ſchlafenden Helden ſich auf, fuhr mit ihm auf einem Nachen an den Strand, und legte ihn hier unter einer nahen Felſengrotte nieder, nach¬ dem er ſo viel Kleidungsſtücke und Lebensmittel zurück¬ gelaſſen hatte, als zur kümmerlichen Friſtung ſeines Lebens für die nächſten Tage nöthig waren. Das Schiff hatte am Strande nur ſo lange angehalten, als es Zeit bedurfte, den Unglücklichen auszuſetzen: dann ſegelte es, ſobald Odyſſeus zurückgekehrt war, weiter, und vereinigte ſich bald wieder mit dem übrigen Zuge.
Die griechiſche Flotte kam jetzt glücklich an die Küſte von Kleinaſien. Da aber die Helden der Gegend nicht recht kun¬ dig waren, ließen ſie ſich von dem günſtigen Winde zuerſt ferne von Troja an die myſiſche Küſte treiben, und legten ſich mit allen ihren Schiffen vor Anker. Längs des Geſtades fanden ſie zur Bewachung des Ufers allenthalben Bewaff¬ nete aufgeſtellt, die ihnen im Namen des Landesherrn48 verboten, dieß Gebiet zu betreten, bevor dem Könige ge¬ meldet wäre, wer ſie ſeyen. Der König von Myſien war aber ſelbſt ein Grieche, Telephus, der Sohn des Herkules und der Auge, der nach wunderbaren Schickſalen ſeine Mutter bei dem Könige Teuthras in Myſien antraf, des Königes Tochter Argiope zur Gemahlin erhielt, und nach deſſen Tode König der Myſier geworden war. Die Griechen, ohne zu fragen, wer der Herr des Landes wäre, und ohne den Wächtern eine Antwort zu ertheilen, griffen zu den Waffen, ſtiegen ans Land und hieben die Küſtenwächter nieder. Wenige entrannen und meldeten dem Könige Telephus, wie viel tauſend unbekannte Feinde in ſein Land gefallen ſeyen, die Wachen niedergemetzelt haben und ſich jetzt im Beſitze des Ufers befinden. Der König ſammelte in aller Eile einen Heerhaufen und ging den Fremdlingen entgegen. Er ſelbſt war ein herrlicher Held und ſeines Vaters Herkules würdig, hatte auch ſeine Kriegsſchaaren zu griechiſcher Heereszucht gebildet. Die Danaer fanden deswegen einen Widerſtand, wie ſie ihn nicht erwartet hatten; denn es entſpann ſich ein blu¬ tiges und lange unentſchiedenes Treffen, in welchem ſich Held mit Helden maß. Unter den Griechen that ſich in der Schlacht beſonders Therſander hervor, der Enkel des berühmten Königes Oedipus und Sohn des Polynices, der vertraute Waffengenoſſe des Fürſten Diomedes, der ſchon als Epigone ſich berühmt gemacht hatte*)S. Bd. I, S. 379 f.. Dieſer raste in dem Heere des Telephus mit Mord und erſchlug endlich den geliebteſten Freund und erſten Krieger des Königes an ſeiner Seite. Darüber entbrannte der König49 in Wuth und es entſpann ſich ein grimmiger Zweikampf zwiſchen dem Enkel des Oedipus und dem Sohne des Herkules. Der Heraklide ſiegte und Therſander ſank, von einem Lanzenſtiche durchbohrt, in den Staub. Laut ſeufzte ſein Freund Diomedes auf, als er dieß aus der Ferne ſah, und ehe der König Telephus ſich auf den Leichnam werfen und ihm die Rüſtung abziehen konnte, war er herzugeſprungen, hatte ſich den Leichnam des Freundes über die Schultern gelegt, und eilte mit Rieſenſchritten, ihn aus dem Kampfgewühle zu tragen. Als der Held mit ſeiner Laſt fliehend an Ajax und Achilles vorüberkam, durchfuhr auch dieſe Helden ein ſchmerzlicher Zorn, ſie ſammelten ihre wankenden Schaaren, theilten ſie in zwei Haufen und gaben durch eine geſchickte Schwenkung dem Treffen eine andere Geſtalt. Die Griechen waren jetzt bald wieder im Vortheil und als Teuthrantius, der Halb¬ bruder des Telephus, von einem Geſchoſſe des Ajax gefallen war und Telephus ſelbſt, in der Verfolgung des Odyſſeus begriffen, dem ſinkenden Bruder zu Hülfe kom¬ men wollte, ſtrauchelte er über einen Weinſtock; denn durch die Geſchicklichkeit der Griechen waren die kämpfen¬ den Schaaren der Feinde in eine Weinpflanzung gelockt worden, in der die Stellung der Danaer die günſtigere war. Dieſen Augenblick erſah ſich Achilles, und während Telephus vom Falle ſich aufrichtete, durchbohrte ſein Wurfſpieß die linke Weiche des Myſiers. Dieſer richtete ſich dennoch auf, zog das Geſchoß aus der Seite, und durch den Zuſammenlauf der Seinigen beſchirmt, entging er weiterer Gefahr. Und noch lange hätte das Treffen mit abwechſelndem Glücke fortgedauert, wenn nicht die Nacht eingebrochen wäre und beide Theile, der RuheSchwab, das klaſſ. Alterthum. II. 450bedürftig, ſich von dem Kampfplatze zurückgezogen hätten. Und ſo begaben ſich die Myſier nach ihrer Königsſtadt, die Griechen nach ihrem Ankerplatze zurück, nachdem von beiden Seiten viele tapfere Männer gefallen, viele ver¬ wundet waren. Am folgenden Tage ſchickten beide Theile Geſandte wegen eines Waffenſtillſtandes, damit die Leiber der Gefallenen zuſammengeſucht und begraben werden könnten. Jetzt erſt erfuhren die Griechen zu ihrem Stau¬ nen, daß der König, der ſein Gebiet ſo heldenmüthig ver¬ theidigt habe, ihr Volksgenoſſe und der Sohn ihres grö߬ ten Halbgottes ſey, und Telephus ward mit Schmerzen inne, daß ihm Bürgerblut an den Händen klebe. Nun fand es ſich auch, daß im griechiſchen Heere drei Fürſten waren, Tlepolemus, ein Sohn des Herkules, Phidippus und Antiphus, Söhne des Königes Theſſalus und Enkel des Herkules, dieſe drei alſo Verwandte des Königes Telephus. Dieſe nun erboten ſich, im Geleite der myſi¬ ſchen Geſandten vor ihren Bruder und Vetter Telephus zu gehen und ihm näher zu berichten, wer die Griechen ſeyen, die an ſeiner Küſte gelandet, und in welcher Abſicht ſie nach Aſien kämen. Der König Telephus nahm ſeine Verwandte liebreich auf und konnte ſich nicht genug von ihnen erzählen laſſen. Da erfuhr er, wie Paris mit ſeinem Frevel ganz Griechenland beleidigt hatte, und Menelaus mit ſeinem Bruder Agamemnon und allen verbünde¬ ten Griechenfürſten aufgebrochen ſey. „ Darum, “ſprach Tlepolemus, der, als ein leiblicher Halbbruder des Köni¬ ges, für die Uebrigen das Wort führte, „ lieber Bruder und Landsmann, entzeuch dich deinem Volke nicht, für das ja auch unſer lieber Vater Herkules an allen Orten und Enden der Welt geſtritten, von deſſen Vaterlandsliebe51 ganz Griechenland unzählige Denkmale aufzuweiſen hat; heile die Wunden wieder, die du, ein Grieche, Griechen geſchlagen haſt, indem du deine Schaaren mit den unſri¬ gen vereinigſt und als unſer Verbündeter gegen das meineidige Trojanervolk zieheſt. “
Telephus richtete ſich auf ſeinem Lager, auf welchem, von der Wunde des Achilles darniedergeſtreckt, er die grie¬ chiſchen Helden empfangen hatte, mit Mühe auf und erwiederte freundlich: „ Eure Vorwürfe ſind nicht gerecht, liebe Volksgenoſſen; durch eure eigene Schuld ſeyd ihr aus Freunden und Blutsverwandten meine blutigen Feinde geworden. Haben doch die Küſtenwächter, meinem ſtren¬ gen Befehle gehorſam, euch wie alle Landenden geziemend nach Namen und Abkunft gefragt und nicht nach roher Barbarenweiſe, ſondern nach dem Völkerrechte der Grie¬ chen mit euch gehandelt. Ihr aber ſeyd in der Meinung, daß gegen Barbaren Alles erlaubt ſey, ans Land geſprun¬ gen, ohne ihnen die verlangte Weiſung zu geben, und habt meine Unterthanen, ohne ſie anzuhören, niedergemacht. Auch mir habt ihr, “hier zeigte er auf ſeine Seite, „ ein Andenken hinterlaſſen, das mich, wohl fühle ich es, mein Lebenlang an unſer geſtriges Zuſammentreffen erinnern wird. Doch grolle ich euch darüber nicht, und kann die Freude, Blutsverwandte und Griechen in meinem Reiche aufgenommen zu haben, nicht zu theuer erkaufen. Höret nun, was in Beziehung auf eure Anforderung mein Be¬ ſcheid iſt. Gegen Priamus zu Felde zu ziehen, muthet mir nicht zu. Mein zweites Gemahl, Aſtyoche, iſt ſeine Tochter, dazu iſt er ſelbſt ein frommer Greis und ſeine übrigen Söhne ſind edelmüthig, er und ſie haben keinen Antheil an dem Verbrechen des leichtſinnigen Paris. Sehet4 *52dort meinen Knaben Eurypylus; wie ſollte ich ihm das Herzeleid anthun, und das Reich ſeines Großvaters zer¬ ſtören helfen! Wie ich aber dem Priamus nichts zu Leide thun will, ſo werde ich auch euch, meine Landsleute, auf keinerlei Weiſe ſchädigen. Nehmet Gaſtgeſchenke von mir, und faſſet Mundvorrath, ſo viel euch nöthig iſt. Dann gehet hin und fechtet in der Götter Namen euren Handel aus, den ich nicht ſchlichten kann. “
Mit dieſer gütigen Antwort kamen die drei Fürſten vergnügt in das Lager der Argiver zurück und meldeten dem Agamemnon und den andern Fürſten, wie ſie Freund¬ ſchaft im Namen der Griechen mit Telephus geſchloſſen. Der Kriegsrath der Helden beſchloß, den Ajax und Achil¬ les ſofort an den König zu ſenden, daß ſie das Bündniß mit ihm beſtätigten und ihn wegen ſeiner Wunde tröſteten. Dieſe fanden den Herakliden ſchwer an der Wunde dar¬ niederliegen und Achilles warf ſich weinend über ſein Lager und bejammerte es, daß ſein Speer unwiſſentlich einen Landsmann und edlen Sohn des Herkules getroffen. Der König aber vergaß ſeine Schmerzen und bedauerte nur, von der Ankunft ſo herrlicher Gäſte nicht unterrichtet geweſen zu ſeyn, um ihnen einen königlichen Empfang zu bereiten. Hierauf lud er die Atriden feierlich in ſeine Hofburg ein und empfing ſie mit feſtlicher Pracht und köſtlichen Geſchenken. Dieſe brachten auf die Bitte des Achilles die beiden weltberühmten Aerzte Podalirius und Machaon mit, die Wunde des Königes zu unterſuchen und zu heilen. Das letztere gelang ihnen zwar nicht, denn der Speer des Götterſohnes hatte ſeine eigene Kraft und die Wunden, die er ſchlug, widerſtanden der Heilung; doch befreiten die Linderungsmittel, die ſie auflegten, den König53 für den Augenblick von den unerträglichſten Schmerzen. Und nun ertheilte er von ſeinem Krankenlager aus den Griechen allerlei heilſame Rathſchläge, verſah die Flotte mit Lebensmitteln und ließ ſie nicht eher abziehen, als bis der Winter, der im Anzuge war, da ſie landeten, mit ſeinen härteſten Stürmen vorüber war. Darauf belehrte er ſie über die Lage der Stadt Troja und über den Weg, den ſie dahin zu machen hätten, und bezeichnete ihnen als einzigen Landungsplatz die Mündung des Fluſſes Skamander.
Obgleich in Troja noch nichts von der Abfahrt der großen griechiſchen Flotte bekannt war, herrſchte doch ſeit der Abreiſe der griechiſchen Geſandten Schrecken und Furcht vor dem bevorſtehenden Kriege in dieſer Stadt. Paris war inzwiſchen mit der geraubten Fürſtin, der herr¬ lichen Beute und ſeiner ganzen Flotte zurückgekommen. Der König Priamus ſah die unerbetene Schwiegertochter nicht mit Freuden in ſeinen Pallaſt eintreten und verſammelte auf der Stelle ſeine zahlreichen Söhne zu einer Fürſten¬ verſammlung. Dieſe ließen ſich durch den Glanz der Schätze, die ihr Bruder unter ſie zu vertheilen bereit war, und die Schönheit der Griechinnen aus den edelſten Fürſtengeſchlechtern, welche er im Gefolge Helena's mit¬ gebracht hatte und denjenigen ſeiner Brüder, die noch keine Frauen hatten, zur Ehe zu geben bereit war, leicht bethören, und weil ihrer viele noch jung und alle kampf¬ luſtig waren, ſo fiel die Berathung dahin aus, daß die54 Fremde in den Schutz des Königshauſes aufgenommen und den Griechen nicht ausgeliefert werden ſollte. Ganz anders hatte freilich das Volk der Stadt, dem vor einem feindlichen Angriff und einer Belagerung gar bange war, die Ankunft des Königsſohnes und ſeinen ſchönen Raub auf¬ genommen; mancher Fluch hatte ihn durch die Straßen verfolgt und hier und da war ſelbſt ein Stein nach ihm geflogen, als er die erbeutete Gemahlin in des Vaters Pallaſt geleitete. Doch hielt die Ehrfurcht vor dem alten König und ſeinem Willen die Trojaner ab, ſich der Auf¬ nahme der neuen Bürgerin ernſtlich zu widerſetzen.
Als nun im Rathe des Priamus der Beſchluß gefaßt war, die Fürſtin nicht zu verſtoßen, ſandte der König ſeine eigene Gemahlin zu ihr in das Frauengemach, um ſich zu überzeugen, daß ſie freiwillig mit Paris nach Troja ge¬ kommen ſey. Da erklärte Helena, „ daß ſie durch ihre eigene Abſtammung den Trojanern ebenſoſehr angehöre als den Griechen: denn Danaus und Agenor ſeyen eben¬ ſowohl ihre eigenen Stammväter als die Stammhalter des trojaniſchen Königshauſes. Unfreiwillig geraubt, ſey ſie jetzt doch durch langen Beſitz und innige Liebe an ihren neuen Gemahl gefeſſelt und freiwillig die ſeinige. Nach dem, was geſchehen, könne ſie von ihrem vorigen Gatten und ihrem Volke keine Verzeihung erwarten; nur Schande und Tod ſtände ihr bevor, wenn ſie ausgeliefert würde. “
So ſprach ſie mit einem Strom von Thränen und warf ſich der Königin Hekuba zu Füßen, welche die Schutz¬ flehende liebreich aufrichtete, und ihr den Willen des Kö¬ niges und ſeiner Söhne verkündete, ſie gegen jeden Angriff zu ſchirmen.
55So lebte denn Helena ungefährdet am Königshofe von Troja und bezog darauf mit Paris einen eigenen Pal¬ laſt. Auch das Volk gewöhnte ſich bald an ihre Lieblich¬ keit und griechiſche Holdſeligkeit, und als nun endlich die fremde Flotte wirklich an der trojaniſchen Küſte erſchien, waren die Einwohner der Stadt minder verzagt, denn zuvor.
Sie zählten ihre Bürger und ihre Bundesgenoſſen, die ſie ſchon vorher beſchickt und deren wirkſamer Hülfe ſie ſich verſichert hatten, und ſie fanden ſich an Zahl und Kraft ihrer Helden und Streiter den Griechen gewachſen. So hofften ſie mit dem Schutze der Götter — denn außer Venus waren noch mehrere Götter, darunter der Kriegs¬ gott, Apollo und Jupiter der Göttervater ſelbſt, auf ihrer Seite — die Belagerung ihrer Stadt abtreiben und die Feinde zum ſchnellen Rückzuge nöthigen zu können.
Zwar war ihr Anführer, König Priamus ſelbſt, ein nicht mehr kampffähiger Greis, aber fünfzig Söhne, worunter neunzehen von ſeiner Gattin, der Königin Hekuba, umringten ihn theils im blühenden, theils im kräftigſten Alter, vor allen Hektor, nächſt ihm Deiphobus, und nach dieſen als die ausgezeichnetſten Helenus, der Wahrſager, Pammon, Polites, Antiphus, Hipponous, Polydorus und der zarte Troilus. Vier liebliche Töchter, Kreuſa, Lao¬ dice, Caſſandra, die wahrſagende Jungfrau, und die in der Kindheit ſchon von Schönheit ſtrahlende Polyxena umgaben ſeinen Thron. Dem Heere, das ſich jetzt ſtreit¬ fertig machte, ſtand als Oberfeldherr Hektor, der helm¬56 umflatterte Held vor, neben ihm befehligte die Dardaner Aeneas, der Schwiegerſohn des Königes Priamus und Gemahl Kreuſa's, ein Sohn der Göttin Aphrodite und des greiſen Helden Anchiſes, der noch immer ein Stolz des trojaniſchen Volkes war; an die Spitze einer andern Schaar ſtellte ſich Pandarus, der Sohn des Lykaon, dem Apollo ſelbſt ſeinen Bogen verliehen hatte; andere Schaa¬ ren, zum Theil trojaniſcher Hülfsvölker, führten Adraſtus, Amphius, Aſius, Hippothous, Pyläus, Akamas, Euphemus, Pyrächmes, Pylämenes, Hodius, Epiſtrophus; Chromis und Ennomus eine Hülfsſchaar von Myſiern; Phorkys und Askanius eine gleiche der Phryger, Meſthles und Antiphus die Mäonier, Naſtes und Amphimachus die Ka¬ rier, die Lycier Sarpedon und Glaukus.
Auch die Griechen hatten inzwiſchen gelandet und ſich längs dem Geſtade des Meeres zwiſchen den beiden Vor¬ gebirgen Sigeum und Rhöteum in einem geräumigen Lager¬ platz angeſiedelt, der einer ordentlichen Stadt nicht unähn¬ lich war. Die Schiffe waren ans Land gezogen worden und in mehreren Reihen hintereinander aufgeſtellt, ſo daß ſie ſich, weil der Boden des Ufers aufwärts ging, ſtufen¬ förmig übereinander erhoben. Die Schiffszüge der einzel¬ nen Völkerſchaften reihten ſich in der Ordnung aneinander, wie ſie gelandet waren. Die Schiffe ſelbſt waren auf Unterlagen von Steinen aufgeſtellt, damit ſie vom feuchten Boden nichts zu leiden hätten und luftiger ſtänden. In der erſten Reihe vom Lande aus hatten an den beiden äußerſten Enden der Telamonier Ajax und Achilles, beide das Geſicht gegen Troja gekehrt, jener zur Linken, dieſer zur Rechten ihre Schiffe aufgeſtellt, und ihre Lagerhütten aufgepflanzt, die wir nur uneigentlich und der Kürze57 halber Zelte nennen. Das Quartier des Achilles wenigſtens glich beinahe einem ordentlichen Wohnhauſe, hatte Scheu¬ nen und Ställe für Mundvorräthe, Wagenpferde und zahmes Vieh; und neben ſeinen Schiffen war Raum zu Wettrennen, Leichenſpielen und andern Feierlichkeiten. An Ajax ſchloſſen ſich die Schiffe des Proteſilaus an, dann kamen andere Theſſalier, dann die Kreter, Athener, Pho¬ cier, Böotier, zuletzt Achilles mit ſeinen Myrmidonen; in der zweiten Reihe ſtanden unter andern die Lokrer, Duli¬ chier, Epeer, in der dritten waren minder namhafte Völ¬ ker mit ihren Schiffen gelagert; aber auch Neſtor mit den Pyliern, Eurypylus mit den Orchomeniern, zuletzt Menelaus. In der vierten und letzten längs dem Meeres¬ geſtade ſelbſt ſtanden Diomedes, Odyſſeus und Agamemnon, ſo daß Odyſſeus in der Mitte, zur Rechten Agamemnon, links Diomedes lagerte. Vor Odyſſeus befand ſich die Agora, der freie Platz, der zu allen Verſammlungen und Verhandlungen beſtimmt war, und auf welchem die Altäre der Götter ſtanden. Dieſer Platz theilte auch noch die dritte Reihe, ſo daß ſie den Neſtor zur Linken, den Eury¬ pylus zur Rechten hatte. Der Raum nach dem Meere hin verengerte ſich, und auch die Agora nahm viel Platz weg, ſo daß die dritte und vierte Reihe die wenigſten Schiffe enthielt. Das ganze Schiffslager war wie eine ordentliche Stadt von vielen Gaſſen und Wegen durch¬ ſchnitten, die Hauptſtraßen aber liefen zwiſchen den vier Reihen durch; vom Lande nach dem Meere gingen Queer¬ gaſſen, welche die Schiffe jeder Völkerſchaft von einander trennten; die Schiffe ſelbſt waren von den Lagerhütten ihrer Völkerſchaften wieder durch kleine Zwiſchenräume abgeſondert, und jede Völkerſchaft zerfiel wieder in kleinere58 Unterabteilungen nach den verſchiedenen Städten oder Anführern. Die Lagerhütten waren aus Erde und Holz aufgebaut und mit Schilf bedeckt. Jeder Anführer hatte ſein Quartier in der vorderſten Reihe ſeiner Schaar, und ein jedes war nach dem Range des Bewohners mehr oder weniger ausgeſchmückt. Die Schiffe dienten zugleich dem ganzen Lager zur Vertheidigung. Noch vor ihnen hatten die Griechen einen Erdwall aufgeworfen, der erſt in der letzten Zeit der Belagerung einer Mauer Platz machte. Hinter ihm war ein Graben, vorn mit einer dichten Reihe von Schanzpfählen verſehen.
Zu allen dieſen ſchönen Einrichtungen hatten die Grie¬ chen während der langen Zeit, da König und Rath von Troja über die beſte Weiſe der Vertheidigung ſich beriethen, Muße gefunden. Ihre Krieger verrichteten zugleich den Schiffs¬ dienſt, und erhielten ihr Brod auf öffentliche Veranſtaltung. Für die übrigen Lebensbedürfniſſe hatte ein jeder ſelbſt zu ſorgen. Die gemeinen Streiter waren leicht bewaffnet und fochten zu Fuße. Die vornehmeren ſtritten auf Kriegs¬ wägen, ſo daß jeder ſtreitende Held einen andern Helden als Wagenlenker bei ſich hatte. Von Reiterei wußten die Völker jener alten Zeit noch nichts. Die Streit¬ wägen mit den größten Helden waren auch beſtimmt, in der erſten Reihe zu kämpfen, und ſollten immer das Vordertreffen bilden.
Zwiſchen dem Schiffslager der Griechen und der Stadt Troja breitete ſich, von den Flüſſen Skamander und Simois eingeſchloſſen, die ſich erſt beim griechiſchen Lager zu Einer Mündung vereinigten, die blumigte ſkamandriſche Wieſe und die Troiſche Ebene vier Wegeſtunden lang aus, die zum Schlachtfelde beſtimmt und wie geſchaffen war,59 und hinter welcher ſich mit hohen Mauern, Zinnen und Thürmen, die von Götterhand befeſtigte, herrliche Stadt und Burg Troja erhob. Sie lag auf einem Hügel weit hin ſichtbar; ihr Inneres war uneben und bergicht und von vielen Straßen durchſchnitten. Nur von zweien Sei¬ ten war ſie leichter zugänglich, und hier befand ſich auf der einen Seite das Skäiſche, auf der andern das Dar¬ daniſche Thor mit einem Thurme. Die übrigen Seiten waren höckricht und mit Gebüſchen verwachſen, und ihre Thore und Thörchen kamen wenig in Betracht. In der obern Stadt oder Burg Ilium, auch Pergamus genannt, ſtanden die Palläſte des Priamus, des Paris, die Tempel der Hekate, der Athene und des Apollo, auf der höchſten Spitze der Burg ein Tempel des Jupiter. Vor der Stadt am Simois, den Griechen zur Linken, war der Hügel Kallikotone, zur rechten führte die Straße an den Quellen des Skamander und dann an dem hohen Hügel Batina vorbei, der umgangen werden konnte, und außen vor der Stadt lag. Hinter Troja kam das Iliſche Feld, das ſich ſchon bergan zog und die unterſte Stufe des waldigen Idagebirges bildete, deſſen höchſter Gipfel Gargarus hieß, das bis in die Ebene hinablief, und deſ¬ ſen beide letzte Aeſte rechts und links von den Griechen das Sigeiſche und Rhöteiſche Vorgebirge bildeten. —
Noch ehe der Kampf zwiſchen beiden Völkern ſeinen Anfang nahm, wurden die Griechen durch die Ankunft eines werthen Gaſtes überraſcht. Der König Telephus von Myſien, der ſie ſo großmüthig unterſtützt hatte, war ſeitdem an der Wunde, die ihm der Speer des Achilles geſchlagen, unheilbar krank gelegen und die Mittel, die ihm Podalirius und Machaon aufgelegt hatten, thaten60 ſchon lange keine Wirkung mehr. Gequält von den uner¬ träglichſten Schmerzen hatte er ein Orakel des Phöbus Apollo, das in ſeinem Lande war, befragen laſſen, und dieſes hatte ihm die Antwort ertheilt, nur der Speer, der ihn geſchlagen, vermöge ihn zu heilen. So dunkel das Wort des Gottes lautete, ſo trieb ihn doch die Verzweif¬ lung, ſich einſchiffen zu laſſen und der griechiſchen Flotte zu folgen. So kam denn auch er bei der Mündung des Skamander an, und ward in die Lagerhütte des Achilles getragen. Der Anblick des leidenden Königes erneuerte den Schmerz des jungen Helden. Betrübt brachte er ſei¬ nen Speer herbei und legte ihn dem Könige zu den Fü¬ ßen ſeines Lagers, ohne Rath zu wiſſen, wie man ſich deſſelben zur Heilung der eiternden Wunde bedienen ſollte. Viele Helden umſtanden rathlos das Bett des gepeinigten Wohlthäters, bis es Odyſſeus einfiel, aufs Neue die großen Aerzte des Heeres zu Rathe zu ziehen. Podali¬ rius und Machaon eilten auf ſeinen Ruf herbei. Sobald ſie das Orakel Apollo's vernommen, verſtanden ſie als weiſe, vielerfahrene Söhne des Aeſkulapius ſeinen Sinn, feilten ein wenig Roſt vom Speere des Peliden ab, und legten ihn ſorgfältig verbreitet über die Wunde. Da war ein Wunder zu ſchauen: ſowie die Feilſpäne auf eine eiternde Stelle des Geſchwüres geſtreut wurden, fing dieſe vor den Augen der Helden zu heilen an, und in wenigen Stunden war der edle König Telephus, dem Orakel zu Folge, durch den Speer des Achilles von der Wunde deſſelben Speeres geneſen. Jetzt erſt war die Freude der Helden über den großmüthigen Empfang, der ihnen in Myſien zu Theil geworden war, vollkommen. Geſundet und froh ging Telephus wieder zu Schiffe, und wie jüngſt61 die Griechen ihn, ſo verließ jetzt er ſie unter Dankſagun¬ gen und Segenswünſchen, in ſein Reich Myſien zurück¬ kehrend. Er eilte aber, nicht Zeuge des Kampfes zu ſeyn, den ſeine lieben Gaſtfreunde gegen den eben ſo geliebten Schwäher beginnen würden.
Die Griechen waren noch mit dem Geleite des Königes Telephus beſchäftiget, als die Thore Troja's ſich aufthaten, und die völlig gerüſtete Heeresmacht der Trojaner unter Hektors Anführung ſich über die Skamandriſche Ebene ergoß, und ohne Widerſtand gegen die Schiffe der ſorg¬ loſen Achiver anrückte. Die Aeußerſten im Schiffslager, die zuerſt zerſtreut zu den Waffen griffen und den heran¬ ziehenden Feinden entgegeneilten, wurden von der Ueber¬ macht erdrückt. Doch hielt das Gefecht mit ihnen die Heerſchaar der Trojaner ſo lange auf, daß die Griechen im Lager ſich ſammeln, und auch ihrerſeits in einem geordneten Heerhaufen den Feinden entgegentreten konn¬ ten. Da geſtaltete ſich nun die Schlacht ganz ungleich. Denn wo Hektor ſelbſt zugegen war, gewannen die Trojaner die Oberhand, in die Schlachtreihen aber, die ferne von ihm fochten, drangen die Griechen ſiegreich ein. Der erſte namhafte Held unter den Griechen, der von der Hand des trojaniſchen Fürſten Aeneas in dieſer erſten Schlacht fiel, war Proteſilaus, des Iphiklus Sohn. Als verlobter Jüngling war er gen Troja gezogen, und der erſte Grieche, der bei ber Landung ans Ufer ſprang: ſo ſollte er auch als das erſte Heldenopfer fallen, und ſeine Braut Laodamia, die holdſelige Tochter des Argonau¬ ten Akaſtus, ſollte den Bräutigam, den ſie mit bangerSchwab, das klaſſ. Alterthum. II. 566Sorge in den Krieg hatte ziehen laſſen, nicht wieder erblicken.
Noch war Achilles vom Kampfplatz entfernt. Er hatte dem