PRIMS Full-text transcription (HTML)
Problematiſche Naturen.
Problematiſche Naturen.
Roman
Erſter Band.
Berlin.Verlag von Otto Janke.1861.
[1]

Erſtes Kapitel.

Es giebt problematiſche Naturen, die keiner Lage gewachſen ſind, in der ſie ſich befinden, und und denen keine genug thut. Daraus entſteht der ungeheure Widerſtreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt.
Goethe's Dichtung und Wahrheit.

Es war an einem warmen Juniabend des Jahres 184., als ein mit zwei ſchwerfälligen Braunen be¬ ſpannter Stuhlwagen mühſam in dem tiefen Sand¬ wege eines Tannenforſtes dahinfuhr.

Wird dieſer Wald denn nie ein Ende nehmen! rief der junge Mann, der allein in dem Hinterſitze des Fuhrwerks ſaß, und richtete ſich ungeduldig in die Höhe.

Der ſchweigſame Kutſcher vor ihm klatſchte ſtatt aller Antwort mit der Peitſche. Die ſchwerfälligen Braunen machten einen verzweifelten Verſuch, in Trab zu fallen, ſtanden aber alsbald von einem Vorſatze ab,F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 12den ihr Temperament und der tiefe Sand ſo wenig begünſtigten. Der junge Mann lehnte ſich mit einem Seufzer wieder in ſeine Ecke zurück, und fing wieder an, auf die einförmige Muſik des mühſam gleiſenden Fuhrwerks zu horchen, und ließ wieder die dunklen Stämme der Tannen an ſich vorübergleiten, auf die hier und da ein Streifen von dem Licht des Mondes fiel, der ſo eben über den Forſt heraufſtieg, Er be¬ gann von neuem, ſich den Empfang, der ſeiner auf dem Schloſſe harrte, und die ſo neue Situation, in die er treten ſollte, auszumalen; aber die überdies verſchwommenen Bilder einer unbekannten Zukunft wurden dunkler und dunkler; die ſchlummermüden Augen ſchloſſen ſich, und der erſte Ton, den ſein Ohr wieder vernahm, war der dumpfe Hufſchlag der Pferde auf einer hölzernen Brücke, die zu einem mächtigen ſteinernen Thorweg führte. Endlich, rief der junge Mann, ſich emporrichtend und neugierig um ſich ſchauend, als der Wagen raſcher hurch eine dunkle Allee rieſiger Bäume fuhr, auf einem mit Kies beſtreuten offenen Platze einen halben Bogen machte und jetzt vor dem Portale des Schloſſes hielt, auf deſſen dunklen Fen¬ ſtern die Mondesſtrahlen glitzerten.

Der ſchweigſame Kutſcher klatſchte zum Zeichen der Ankunft mit der Peiſche. Die einzige Antwort3 war der helle Ton einer Glocke in der Nähe, die langſam elf Uhr ſchlug. Als der letzte Ton verklungen war, that ſich die Hausthür auf, ein Diener trat heraus an den Wagen und hinter ihm wurde die Ge¬ ſtalt eines alten Herrn ſichtbar, deſſen runzliches Ge¬ ſicht von dem Schein der Kerze, die er mit der einen Hand gegen den Luftzug zu ſchützen ſuchte, hell be¬ leuchtet wurde.

Der junge Mann ſprang raſch aus dem Wagen auf den alten Herrn zu, der ihm die Rechte entgegen¬ ſtreckte und mit einer Stimme, deren Freundlichkeit das Zittern des Alters und ein etwas ausländiſcher Accent nicht verhüllten, ſagte:

Seien der Herr Doctor beſtens willkommen! Der junge Mann erwiederte herzlich den Druck der darge¬ botenen welken Hand: Im komme zwar etwas ſpät, Herr Baron, ſagte er, aber

Das thut nichts, das thut nichs, unterbrach ihn der alte Herr. Frau von Grenwitz iſt noch auf. Johann, tragen Sie die Sachen auf das Zimmer des Herrn Doctor! Wollen Sie hier hereintreten!

Oswald hatte auf dem mit Steinflieſen ausgelegten Vorſaal ſeinen Anzug flüchtig geordnet und folgte jetzt dem Baron in ein hohes, ſchönes Zimmer.

Als er eintrat, erhoben ſich zwei Damen, die an1*4dem Tiſch vor dem Sopha, wie es ſchien mit Leſen, beſchäftigt geweſen waren.

Meine Frau, ſagte der Baron, Oswald der älteren von den beiden Damen vorſtellend, einer hohen, ſchlanken Frau von etwa vierzig Jahren, die dem An¬ kömmling ein paar Schritte entgegengegangen war und jetzt mit einiger Förmlichkeit ſeine Begrüßung erwie¬ derte, und dann verbeugte er ſich auch vor der jün¬ geren, einer zierlichen kleinen Geſtalt mit einem etwas ſcharfen, echt franzöfiſchen, von langen engliſchen Locken eingerahmten Geſicht, da er in dem Umſtande, daß ſie ihm nicht beſonders vorgeſtellt wurde, keinen zwingen¬ den Grund ſah, dieſe Höflichkeit zu unterlaſſen.

Sie kommen ſpät, Herr Doctor Stein ſagte die Baronin mit einer tiefen, wohllautende Stimme, die mit dem kalten Licht ihrer großen grauen Augen nicht ganz harmonirte.

So früh, gnädige Frau, antwortete der junge Mann heiter, als es der widrige Wind, der heute Morgen das Fährboot um mehre Stunden aufhielt, und der Kutſcher des Herrn Baron, deſſen Geduld zu bewundern ich unterwegs reichlich Gelegenheit hatte, erlaubten.

Geduld iſt eine ſchöne Tugend, ſagte die Ba¬ ronin, nachdem ſie ihren Platz auf dem Sopha wieder5 eingenommen, und die Uebrigen ſich auf Stühlen um den Tiſch gereiht hatten; eine Tugend, die Sie vor Allen ſchätzen müſſen, da Sie dieſelbe in Ihrem Be¬ rufe ſo nöthig haben. Ich fürchte, die beiden Knaben werden Ihnen nur zu oft Veranlaſſung geben, dieſe Tugend im vollſten Umfange zu üben.

Ich verſpreche mir alles Gute von meinen zu¬ künftige Zöglingen, und bin zum voraus überzeugt, daß die Probe, auf die ſie meine Geduld ſtellen wer¬ den, keine Feuerprobe ſein wird.

Ich will es wünſchen, ſagte die Baronin, eine Arbeit, die ſie beim Eintritt des jungen Mannes aus der Hand gelegt hatte, wieder ergreifend; indeſſen werden Sie die Knaben gerade jetzt etwas verwildert finden, da ſich Ihre Ankunft leider um einige Tage verzögert hat, und Ihr Vorgänger uns nicht den Ge¬ fallen thun konnte oder wollte, ſeine Abreiſe ſo lange aufzuſchieben.

Es hieße gering von der guten Natur der Knaben denken, erwiederte Oswald, und nicht beſonders groß von dem Erziehertalente des Herrn Bauer, das mir ſehr gerühmt wurde, wenn ich wirklich fürchtete, ſein Einfluß auf dieſelbe ſollte ihn nicht einmal eine Woche überlebt haben.

Nun, Herr Bauer hatte ſeine Tugenden und auch6 ſeine Schwächen, ſagte die Baronin, die Stiche auf ihrer Arbeit zählend.

Das iſt ſo Menſchenloos, gnädige Frau, erwie¬ derte Oswald.

Will der Herr Doctor nicht eine Erfriſchung zu ſich nehmen, liebe Anna-Maria? ſagte hier der alte Herr; Oswald konnte nicht unterſcheiden, ob aus gaſt¬ freundlicher Fürſorge, oder um dem Geſpräch, das, er wußte ſelbſt nicht wie, einen etwas lebhaften Charakter angenommen hatte, eine andere Wendung zu geben.

Ich danke; ſagte Oswald trocken.

Sie haben, fuhr die Baronin, ohne dieſe Unter¬ brechung zu beachten, fort, wenn ich den Profeſſor Berger, der uns an Sie wies, recht verſtanden habe, ſich bis jetzt noch nicht mit Unterrichten und Erziehen beſchäftigt, Herr Doctor?

Nein.

Sie werden mich außerordentlich verbinden, wenn Sie mir gelegentlich Ihre Grundſätze in dieſer Be¬ ziehung ausführlicher darlegen wollten. Ich bin zum voraus überzeugt, daß wir in den Hauptpunkten einerlei Meinung ſein werden. Auf einige Differenzen in den Nebenſachen müſſen wir uns wohl Beide gefaßt machen. Ich werde Ihnen meine etwaigen Wünſche und An¬ ſichten ſtets unverhohlen äußern, und bitte Sie, gegen7 mich dieſelbe Rückhaltloſigkeit zu beobachten. Was den Umfang der Kenntniſſe der Knaben anbelangt, ſo wer¬ den Sie ſich darüber bald ſelbſt ein Urtheil bilden. Auch Ihrem Urtheil über den Charakter der Kinder wünſche ich nicht vorzugreifen; nur das glaube ich Ihnen ſagen zu müſſen, daß Sie in Malte, unſerm Sohn, einen etwas verzogenen Knaben, und in Bruno Sie wiſſen, daß Bruno von Löwen ein entfernter Verwandter meines Mannes iſt, den wir nach dem Tode ſeiner Eltern zu uns genommen haben einen Knaben finden werden, der eben gar nicht erzogen und in Folge deſſen auch zum Theil ſehr ungezogen iſt.

Liebe Anna-Maria, ſagte der

Ich weiß, was Du ſagen willſt, lieber Grenwitz, unterbrach ihn die Baronin, Bruno iſt nun einmal Dein erklärter Liebling, und unſere Anſicht über ihn wird wol noch lange verſchieden bleiben. Uebrigens magſt Du auch wol Recht haben, wenn Du behaupteſt, daß ich ihn nicht zu beurtheilen vermag, was übrigens weniger meine, als des Knaben Schuld iſt, deſſen dü¬ ſteres verſchloſſenes Weſen alle Annäherung von un¬ ſerer, wollte ſagen, von meiner Seite beharrlich zurück weiſt.

Aber, liebe Anna Maria,

Nun, laß es gut ſein, lieber Grenwitz, wir wollen8 Herrn Doctor Stein nicht gleich an dem erſten Abend, den er unter unſerm Dache iſt, das Schauſpiel der Uneinigkeit zweier Ehegatten geben. Ueberdies wird Herr Doctor Stein der Ruhe bedürfen. Mademoiſelle, wollen Sie die Güte haben, zu klingeln.

Dieſe letzten Worte wurden in franzöſiſcher Sprache an die junge Dame gerichtet, welche während dieſer ganzen Unterredung unbeweglich, ohne auch nur die Augen nach dem Ankömmling aufzuſchlagen, das Buch, aus dem ſie vorgeleſen haben mochte, noch immer in der Hand haltend, an dem Tiſche geſeſſen hatte. Jetzt erhob ſie ſich und ſchritt nach der Thür, neben der ſich der Klingelzug befand. Oswald kam ihr mit einem: Erlauben Sie, mein Fräulein, zuvor. Das Mädchen ſah ihn aus großen braunen Augen mit einem halb verwunderten und halb erſchrockenen Blicke an, der deutlich genug verrieth, wie wenig ſie an dergleichen Aufmerkſamkeiten gewöhnt war, und ging dann, die langen Wimpern ſchnell wieder ſenkend, zu ihrem Platz am Tiſche zurück,

Ein Diener trat ein und erhielt den Auftrag, Os¬ wald nach dem für ihn beſtimmten Zimmer zu bringen.

Ich hoffe, daß Sie vorläufig Alles nach Wunſch finden werden, ſagte die Baronin, als Oswald ſich mit einer ſtummen Verbeugung verabſchiedete; wenn9 Eines oder das Andere vergeſſen, oder weniger nach Ihrem Geſchmacke ſein ſollte, ſo haben Sie ja die Güte, dies auszuſprechen; ich wünſche dringend in un¬ ſerm eignen Intereſſe, daß Sie ſich in unſerm Hauſe behaglich fühlen.

Oswald verbeugte ſich noch einmal und folgte dem Diener aus dem Gemache.

Dieſer führte ihn über den Hausflur, an deſſen Wänden Oswald flüchtig im Schein der Kerze dunkle Portraits von alterthümlich gekleideten Herren und Damen in Lebensgröße bemerkte, eine ſteinerne Wen¬ deltreppe hinauf, durch lange Corridors in eine Flucht von kleinen Zimmern in ein größere? Gemach.

Dies iſt das Zimmer des Herrn Doctor, ſagte der Mann, die beiden Kerzen, die auf dem mit einem grünen Teppich bedeckten großen runden Tiſch in der Mitte des Gemaches ſtanden, anzündend. Die Thür dort führt in das Schlafgemach des Herrn Doctor,

Und wo ſchlafen die Knaben? fragte Oswald.

Der Herr Doctor gelangen aus Ihrem Schlafge¬ mach in das der Herren Junker. Haben der Herr Doctor noch ſonſt etwas zu befehlen?

Nein, ich danke.

Ich wünſche dem Herrn Doctor eine wohlſchlafende Nacht.

10

Gute Nacht.

Oswald war allein. Er war, eine Hand auf den Tiſch geſtützt, nachdenklich ſtehen geblieben, und hörte mechaniſch zu, wie die Schritte des Dieners allmälig auf dem Corridor verhallten. Jetzt ergriff er eine der beiden Kerzen, ging durch ſein Schlafgemach nach der Thür, von der ihm der Diener geſagt, daß ſie in das Gemach der Knaben führe, öffnete ſie behutſam und trat, das Licht mit der Hand ſchirmend, leiſe ein.

Die Betten der Knaben ſtanden dicht nebeneinander. Vor dem einen Bette lag ein Teppich, vor dem andern nicht. Ueber dem Bette ohne Teppich hing an der Wand eine kleine ſilberne, über dem mit dem Teppich eine noch kleinere goldene Uhr. In dem Bette unter der goldenen Uhr lag ein Knabe von vielleicht vierzehn Jahren, mit blondem, ſchlichtem Haar, und einem ſchmalen, feinen Geſicht, das in dieſem Augenblicke durch den halb geöffneten Mund etwas Albernes hatte; in dem Bette unter der ſilbernen Uhr ein Knabe, der wohl nur ein Jahr älter ſein mochte, als der erſte, aber mindeſtens um drei Jahre älter ausſah, und überhaupt mit jenem den ſonderbarſten Contraſt bildete. Während die Arme jenes ſchlaff auf der Decke lagen, hatte dieſer die ſeinen über der Bruſt verſchränkt. Der feſt geſchloſſene Mund, und die in dieſem Augen¬11 blick, wo ihn ein Traumbild herausfordern mochte, leiſe zuſammengezogenen dunklen Brauen, gaben dem blaſſen Geſicht mit den unregelmäßigen, aber nicht un¬ ſchönen Zügen einen Ausdruck von finſterem Trotz und Stolz, der einem gefangenen Königsſohn wohl ange¬ ſtanden haben würde.

Armer Knabe, ſagte Oswald bei ſich, als er mit unendlichem Intereſſe in das räthſelhafte junge Antlitz ſah, dir hat der Lenz des Lebens auch ſchon Thränen ge¬ bracht, wenn du überhaupt von einem Lenze ſprechen kannſt.

Er fühlte ſich ſeltſam ergriffen, er wußte ſelbſt kaum weshalb; aber er beugte ſich über den Schlum¬ mernden und küßte ihn auf die Stirn. Da regte ſich der Knabe im Schlaf, die Arme löſten ſich, er ſchlug die großen, tiefblauen Augen auf, und ſah durch die Nebel des Traumes zu Oswald empor. Und da zuckte es wie ein ſonniger Strahl über ſein Geſicht; alles Düſtre war verſchwunden, und ein warmes, hinreißend freundliches Lächeln ſpielte in den lebensvollen Zügen.

Ich habe Dich lieb, ſagte der Knabe.

Und ich Dich, antwortete Oswald.

Da wandte ſich Bruno auf die Seite und Oswald hörte an den tiefen regelmäßigen Athemzügen, daß er wieder feſt entſchlafen ſei. Hat er Dich wirklich ge¬ ſehen, oder biſt du ihm nur als Traumbild erſchienen? 12fragte ſich der junge Mann, als er, voll von dem Ein¬ druck dieſer kleinen Scene, in ſein Zimmer zurückſchritt. Er ſtellte das Licht wieder auf den Tiſch, trat an's Fenſter, öffnete es und lehnte ſich hinaus.

Der Himmel hatte ſich mit Wolkendunſt bedeckt, durch den der volle Mond, der ſchon tief am Himmel ſtand, nur als dunkelrothe Feuerkugel ſchien. Im Oſten wetterleuchtete es. Die Luft war ſchwül und drückend. In dem Schloßgarten tief unter dem Fenſter ſchimmerten die weißen Blüthenbäume. Tiefer finſtrer Schatten lag auf den Buchen und Eichen, die von dem hohen Wall, der den Garten umgab, rieſig in den Himmel wuchſen. Nachtigallen ſchlugen in vollen langgezogenen Tönen; ein Brunnen plätſcherte leiſe, wie im Schlaf.

Oswald fühlte ſich ſeltſam bewegt. Seine Vergangen¬ heit ging in dämmernden Bildern an ſeinem Geiſte vorüber, wie die Wolkenſchleier an dem Monde vor¬ über wallten; Ahnungen der Zukunft zuckten dazwiſchen, wie das Wetterleuchten gegen Aufgang. Da rauſchte es lauter in den Bäumen, die helle Glocke, die ihn bei ſeiner Ankunft begrüßt hatte, ſchlug langſam zwölf.

Er fuhr empor. Du wollteſt dir ja das Träumen abgewöhnen. ſprach er lächelnd zu ſich ſelbſt. So ſchlafe denn, da du, ohne zu träumen, nicht mehr wachen kannſt.

[13]

Zweites Kapitel.

Oswald war jetzt eine Woche auf Schloß Grenwitz, und die Woche war ihm vergangen wie ein Tag. Es lag in ſeiner Natur, alles Neue mit Leidenſchaft zu ergreifen, ſelbſt das Alltägliche, ſo lange es neu war, und hier hatte er Neues vollauf: eine neue Situation, neue Umgebung, neue Menſchen. Das Alles verſetzte ihn, wie es bei ſanguiniſchen Temperamenten ge¬ ſchehen pflegt, auf eine Zeit lang in die heiterſte Stimmung, in welcher es ihm ein Leichtes war, Dinge und Menſchen, und Alles und Jedes, womit er in Berührung kam, ſelbſt die Baronin mit ihren ſtrengen, kalten Zügen, ſelbſt den ſchweigſamen Kutſcher, gegen den er gleich am erſten Abend einen Haß gefaßt hatte, ſelbſt den kriechenden, zuthunlichen Bedienten mit ſeinem ewigen: Befehlen der Herr Doctor ganz liebens¬ würdig, zum mindeſten intereſſant zu finden. Von14 dieſer heiteren, verſöhnlichen Stimmung geben auch die Briefe Zeugniß, die er um dieſe Zeit an ſeine Freunde ſchrieb: Da wäre ich denn nun, heißt es in dem einen, auf dieſer neuen Station meines wunderlichen Lebens angelangt, und wahrlich, ich glaube es hier, bis Schwager Kronos die Pferde gewechſelt hat und wie¬ der in ſein ewiges Horn ſtößt, trotz meiner ſo oft von Ihnen geſcholtenen Ungeduld, wohl aushalten zu können. Ja, wenn ich nicht fürchten müßte, durch voreiligen Enthuſiasmus Ihren Spott herauszufordern, ſo hätte ich nicht übel Luſt, dem guten Stern, der mich hierher geführt, ein Danklied zu ſingen. Ich bin durchaus in der dazu nöthigen lyriſchen Stimmung. Ich habe in dieſen Tagen ſchon ſo viel Wald - und Seeluft geathmet, daß mein armes, vom Staube nichtsnutziger Folianten betäubtes Gehirn ſchier trunken iſt. Wahrlich, wenn die Menſchen dieſes paradieſiſchen Aufenthalts nicht ganz unwürdig ſind, ſo öffnet ſich mir für die nächſten Jahre eine ſchöne Zukunft.

Verzeihen Sie mir, mein Freund, daß ich zu dem großen Schritte, der mich hierher geführt, nicht Ihre ſpecielle Erlaubniß eingeholt habe, wie Sie nach dem blinden Gehorſam, mit dem ich Ihrer höheren Einſicht bis jetzt immer gefolgt bin, wohl erwarten konnten. Ich war einmal entſchloſſen, ihn zu thun. Sie, das15 wußte ich, würden mir Ihre Einwilligung verſagen: ſo wollte ich denn Ihren geharniſchten Gründen ein eben ſo geharniſchtes fait accompli entgegenſtellen und Ihrem guten Rath das uralte Vorrecht, zu ſpät zu kommen, nicht rauben. Ueberdies kam mir die Sache ſo plötzlich, und ich mußte meinen Entſchluß ſo ſchnell faſſen, daß ich eben nur Zeit hatte, Ihnen den¬ ſelben mit wenigen Worten anzukündigen; und endlich iſt es auch eigentlich der Profeſſor Berger, der die ganze Schuld trägt, wenn überhaupt von Schuld die Rede ſein kann, und auf deſſen Schultern ich hiermit feierlich alle Verantwortung wälze.

Wir haben uns, ſeitdem wir uns nun faſt vor einem Jahre in der Reſidenz trennten, ſehr ſelten und immer nur ſehr flüchtig geſchrieben. So werde ich auch wohl des Profeſſors Berger kaum ein paar Mal Erwähnung gethan haben, und es iſt daher die höchſte Zeit, daß ich Sie mit dieſem originellen Manne endlich bekannt mache, der in meiner jüngſten Vergangenheit eine ſo große Rolle geſpielt hat, und dem ich es einzig und allein zu verdanken habe, daß ich in der Haupt - und Staatsaction der Tragi-Komödie Examen ge¬ nannt keine kläglichere Rolle ſpielte.

Als ich damals von B. nach Grünwald zog, in der vagen Hoffnung, ich werde in dieſer ſtillen Muſen¬16 ſtadt, in der, wie ich mir hatte ſagen laſſen, das Gras in idylliſcher Ruhe auf den Straßen wachſe, die nöthige Sammlung finden, an der es mir in den lite¬ rariſchen Cirkeln, äſthetiſchen Thees und ſingenden Butterbroden der Reſidenz ſo gänzlich gebrach, erſchien mir unter den fürchterlichen Männern, die mich ſelig machen oder verdammen konnten, der Profeſſor Berger bald als der fürchterlichſte. Ich hörte von den paar Commilitonen, deren dreimal bedenkliche Bekanntſchaft zu machen ich nicht umhin konnte, wahrhaft unheim¬ liche Dinge von ſeiner erſtaunlichen Gelehrſamkeit und allerlei Beunruhigendes über ſein excentriſches Weſen, ſeine tolle Launenhaftigkeit und ſeinen großen Einfluß auf die übrigen Mitglieder der Prüfungscommiſſion, denen er durch ſein Wiſſen, mehr aber noch durch ſeinen Witz, mit deſſen beißender Lauge er Jeden ohne Anſehen der Perſon überſchüttete, gründlich imponire. Leibhaftig hatte ich den Entſetzlichen noch nicht geſehen. Er hatte einen ſeiner hypochondriſchen Anfälle, in welchen er ſich, wie man mir ſagte, bei Tage in ſeiner Stube einſchlöſſe und des Nachts in den Wäldern der Nachbarſchaft umherſchweife.

Da werde ich eines Tages von einer reichen Fa¬ milie, an die ich empfohlen war, zu Mittag geladen. Die Geſellſchaft war ſehr zahlreich, ich führte eine der17 jungen Damen vom Hauſe zu Tiſche, ein hübſches blondes Mädchen, deſſen Munterkeit mich während des Anfangs der Mahlzeit hinreichend feſſelte. Als aber die gewöhnlichen Themata, die man mit jungen Damen, die ſeit einem Jahre aus der Schule ſind, abzuhandeln pflegt, durchgeſprochen waren, wurde ich auf einen Herrn aufmerkſam, der mir gegenüberſaß. Es war ein unterſetzter, ſchon ältlicher Mann, mit einer maſſiven, wie aus Granit gehauenen Stirn, unter der ein paar kluge Augen hervorblitzten. Die etwas vollen Wangen verkündeten eine Neigung zum Wohlleben, die ſich denn auch in dem Eifer, mit welchem der Mann den guten Gaben der Ceres und des Bacchus zuſprach, deutlich genug zu erkennen gab. Die Züge um den großen, breiten Mund waren geradezu räthſelhaft: Sinnlichkeit, Witz, Schalkheit und Melancholie Dämonen und Genien ſchienen dort zu ſpielen.

Das Geſpräch wurde an dieſem Theile der Tafel bald ein allgemeines, und ich konnte mich, ohne auf¬ dringlich zu erſcheinen, hineinmiſchen. Man ſprach über Kunſt, Literatur, Politik. Ueberall ſchien der merkwürdige Mann zu Hauſe, überall überraſchte er uns durch die geiſtvollſten Aperçüs, durch blendende Antitheſen und wunderliche Paradoxen. Ja, er ſchien ſeine Freude daran zu haben, wenn er ſo ein Tröpf¬F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 218chen Fegefeuer hineingeſprengt hatte und die hölliſchen Flämmchen den guten Leuten auf der Naſe kitzelten. So ſtellte er denn auch gelegentlich die Behauptung auf, daß Revolutionen der Menſchheit nie etwas ge¬ nützt hätten, nie und nimmer etwas nützen würden. Sie kennen meine Anſichten über dieſen Punkt, der oft der Gegenſtand unſerer Geſpräche war. Ich nahm den Fehdehandſchuh auf; ich wurde warm bei meinem Lieblingsthema, um ſo wärmer, als der Mann mir gegenüber mich durch Kreuz - und Querſprünge irrlich¬ tergleich zu verwirren ſuchte. Ich vergaß Alles um mich her, ich wurde pathetiſch, ſatyriſch ich fühlte, daß ich gut ſprach, wenigſtens in meinem Leben nicht beſſer geſprochen hatte. Der Mann hatte zuletzt das Gefecht, das, wie ich ſpäter zu meiner Beſchämung er¬ fuhr, das luſtigſte Scheingefecht von der Welt für ihn war, aufgegeben und hörte mir, den großen Kopf ein wenig auf die rechte Schulter geneigt und mich unter den buſchigen Brauen mit ſeinen kleinen klugen Augen anblinzelnd und dabei ein Glas Hochheimer nach dem anderen ſchlürfend, behaglich zu. Bald darauf wurde die Tafel aufgehoben. Als ich meine Dame in das Theezimmer führe, frage ich ſie: Und wer war denn der Herr, mit dem ich mich in ein, für Sie ohne Zweifel ſehr langweiliges Geſpräch verwickeln ließ?

19

Wie, Sie kennen Profeſſor Berger nicht? ant¬ wortet mir die Kleine verwundert.

Das war Profeſſor Berger?

Nun freilich, ſoll ich Sie ihm vorſtellen?

Um Himmelswillen nicht, rief ich mit wahrhaftem Entſetzen; o, ich Kind des Unglücks!

Was iſt Ihnen? fragte die hübſche Blondine, was haben Sie?

Ich aber hatte ſchon ihren Arm aus dem meinen gleiten laſſen und ſuchte das entfernteſte Zimmer. Dort warf ich mich in einer einſamen Ecke auf einen niedrigen Divan, um über das Unglück, das ich angerichtet hatte, melancholiſche Betrachtungen anzuſtellen. Ich hatte mich alſo, während ich mit einem gutmüthigen Pudel zu ſpielen glaubte, mit einem grimmigen Bären gebalgt! Dieſer Mann war mir als eben ſo tückiſch geſchildert, wie er gelehrt und witzig war. Würde er ſich meiner Sarkasmen und Ausfälle nicht in jener ſchlimmen Stunde erinnern, wo ich hülflos auf dem Secirtiſch des Examinationsſaales vor ihm lag. Es war ein verzweifelter Fall.

Da hebe ich vor einem Geräuſch neben mir den Kopf, den ich nachdenklich in die Hand geſtützt hatte, in die Höhe vor mir ſteht der Profeſſor Berger. Ich erhebe mich von meinem Sitze.

2*20

Erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen ſetze, ſagt der ſeltſame Mann, indem er auf dem Divan Platz nimmt, und mich an ſeine Seite winkt. Sie gefallen mir und ich wünſche Ihre nähere Bekanntſchaft zu machen. Ich bin der Profeſſor Berger; mit wem habe ich die Ehre?

Mein Name iſt Stein.

Sie ſtudiren, oder vielmehr, was haben Sie ſtudirt?

Ich wollte, Herr Profeſſor, ich könnte auf dieſe Frage einfach Philologie antworten, da dies aber eine grobe Unwahrheit wäre, ſo kann ich nur ſagen: ich wünſche, ich hätte Philologie ſtudirt.

Wie ſo?

Weil mir alsdann die Ehre Ihrer näheren Be¬ kanntſchaft weniger bedenklich erſcheinen möchte.

Ein Lächeln ſpielte um den Mund des Profeſſors die Wange hinauf und verlor ſich in dem Winkel des rechten Auges.

Sie ſtehen vor dem Examen?

Ja, wie Sie kennen ja das Sprichwort, Herr Profeſſor.

Das Lächeln zuckte vom Auge wieder herunter zum Munde.

21

Und da erſchrecken Sie vor mir wie Hamlet vor ſeines Vaters Geiſt?

Wenigſtens erſcheinen Sie mir in ſehr fragwür¬ diger Geſtalt.

Nun wohl, da ſehen Sie ſelbſt, daß wir eben des¬ halb näher mit einander bekannt werden müſſen. Wollen Sie morgen Abend, oder wenn Sie ſonſt Zeit und Luſt haben, ein Glas Theepunſch mit mir trinken?

Ich ſagte natürlich nicht nein.

Und dies war der Anfang meiner Bekanntſchaft, ja ich darf wohl ſagen Freundſchaft mit dieſem außeror¬ dentlichen Manne. Wir ſind von dieſer Zeit an, ſo lange ich in Grünwald war, täglich zuſammen gekom¬ men, und ich ſchlage die praktiſchen Vortheile, die für mich aus dem Verkehr mit dem Gelehrten ſich er¬ gaben, lange nicht ſo hoch an, als die tiefen Blicke, die ich in dem vertraulichen Umgange mit dem Menſchen in einen der räthſelhafteſten Charaktere thun durfte, die mir vorgekommen ſind. Es muß, fürchte ich, eine Wahlverwandtſchaft zwiſchen ſeinem und meinem Weſen exiſtiren, oder wir hätten uns nicht ſo ſchnell finden, ſo rückhaltslos gegen einander ausſprechen, ſo auf Wort und Wink verſtehen können. Ich fürchte, ſage ich; denn Berger iſt ein ſehr unglücklicher Mann. Die Lichter ſeines glänzenden Humors ſpielen auf einem22 gewitterſchweren Hintergrunde. Er ſteht allein in der Welt, verkannt von Allen, gefürchtet von den Meiſten, geliebt von Niemanden. Warum dem ſo iſt, darüber könnte ich mich ſelbſt Ihnen gegenüber nicht auslaſſen, denn jede Freundſchaft iſt ein Tempel, zu dem jedem Dritten der Zutritt verſagt bleiben muß. Aber ich ſchaudere, ſo oft ich das Dunkel heraufbeſchwöre, das über ihn hereinbrechen muß, wenn einſt das Alter die ſtrahlende Fackel ſeines Genius, die jetzt einzig und allein die ſchauerliche Oede ſeiner Seele erhellt, düſtrer und düſtrer brennen macht. Vielleicht wer weiß es? mag das auch ein Glück für ihn ſein. Viel¬ leicht mag dann das Wort, das er jetzt oft halb im grimmen Spotte und halb voll wehmüthen Glaubens im Munde führt, das alte Wort: Selig ſind die Einfältigen, an ihm zur Wahrheit werden.

Der vertraute Umgang mit dem gelehrten Manne hatte mich in den Augen aller Andern in einen Nimbus gehüllt, in welchem ich, wie die homeriſchen Helden die Gefahren der Schlacht, die Schreckniſſe des Exa¬ mens ungefährdet durchwandeln konnte. Am Morgen des entſcheidenden Tages ſagte Berger zu mir: Wiſſen Sie, lieber Oswald, daß ich große Luſt habe, Sie durchfallen zu laſſen?

Warum?

23

Weil ich Sie zu verlieren fürchte; doppelt zu ver¬ lieren. Du lieber Himmel, welche Wandlungen können nicht mit einem Menſchen vorgehen, dem man den Großvaterſtuhl eines Amtes giebt, und die Schlaf¬ mütze einer Würde aufſetzt! Vielleicht kommen auch Sie noch dahin, den Horaz für einen großen Dichter zu halten, und den Cicero für einen eminenten Philo¬ ſophen; vielleicht werden Sie gar in dieſer engbrüſtigen Zeit aus lieber langer Weile ein gelehrter Profeſſor, wie ich.

Das Examen war vorüber; ich hatte, wie Berger ſagte, die Erlaubniß erhalten, das Stroh dreſchen zu dürfen. Da kommt er eines Tages mit einem Briefe in der Hand zu mir und fragt:

Haben Sie Luſt, in einer adligen Familie Erzieher zu werden?

Das könnte ich eben nicht behaupten.

Glaub's wohl; aber die Bedingungen ſind ſo vor¬ theilhaft, daß es ſich mindeſtens der Mühe verlohnt, die Sache in Ueberlegung zu ziehen. Sie müſſen ſich auf vier Jahre verbindlich machen.

Und das nennen Sie vortheilhafte Bedingungen. Vier Jahre! nicht vier Wochen!

Hören Sie nur! Von den vier Jahren haben Sie nur zwei in dem Hauſe zuzubringen, die übrige24 Zeit reiſen Sie mit Ihrem Zögling. Sie wollen die Welt ſehen, und Sie müſſen die Welt ſehen, und wäre es auch nur, um ſich zu überzeugen, daß die Men¬ ſchen überall mit Recht die Hunde ſo lieben. Sie haben kein Vermögen, zum Vagabunden ſind Sie zu civiliſirt. Eh bien! hier haben Sie die ſchönſte Ge¬ legenheit, die Ihnen ſo vielleicht nicht zum zweiten Male im Leben geboten wird.

Und wer iſt der Alexander, deſſen Ariſtoteles ich werden ſoll?

Ein junger Majoratsherr, wie der macedoniſche Pferdebändiger. Ich habe die noble Sippſchaft im vorigen Jahr in Oſtende kennen gelernt. Der Mann, ein Baron Grenwitz, iſt eine Null, die Frau Baronin ein X., das ich noch nicht habe herausrechnen können. Jedenfalls iſt ſie eine geſcheidte Frau. Ich weiß, daß dies für Sie keine geringe Empfehlung iſt. Sie ſpricht drei oder vier lebende Sprachen gut, ihre Mutterſprache nicht ausgenommen. Ich habe ſie ſogar in Verdacht, daß ſie mit ihrem jetzigen Hauslehrer, einem gewiſſen Bauer, der hier ſtudirt hat, und ein grundgelehrter Jüngling war, in aller Stille Latein und Griechiſch treibt.

Und Sie, der Sie mir ſelber ſagten, daß Sie ein Buch über den Adel und gegen den Adel geſchrie¬25 ben haben, das leider in Deutſchland, für das es be¬ rechnet iſt, nirgends gedruckt werden kann, Sie rathen mir, der ich über die Braminenkaſte dieſelben Pariasideen habe, mich in das Lager unſerer Erbfeinde zu begeben?

Das iſt ja eben der Humor davon, lachte Ber¬ ger; Sie ſollen hingehen wie ein Mohikaner in das Lager der Irokeſen: und ich freue mich ſchon im voraus auf die prächtigen Zöpfe, die Sie zurückbringen werden. Die hängen wir dann als Trophäen in unſerm Wig¬ wam auf, und haben unſere Freude daran.

Und wenn man mich ſelbſt dort ſcalpirt, wie dann?

Dann bin ich der letzte Mohikaner und rauche meine Friedenspfeife einſam und melancholiſch auf dem Grabe meines Unkas.

Er ſtützte den Kopf in die Hand und ſtarrte düſter vor ſich nieder. Ja, ja, ich weiß es, murmelte er, die große Schlange, wenn ſie es endlich müde iſt, die Menſchen anzuziſchen, wird in einen Sumpf kriechen und da einſam verrecken.

Ich ergriff ſeine Hand. Das wird nicht geſchehen, wenigſtens nicht, ſo lange ich lebe.

Er ſchaute mich wehmüthig an.

Aber Du wirſt vor mir ſterben, ſagte er: die große Schlange hat ein zähes Leben, und Du biſt weich.26 viel zu weich für dieſe harte Welt. Doch das bei Seite. Was ſagen Sie zu meinem Vorſchlag?

Daß er mir nur halb, und weniger als halb ge¬ fällt.

So muß ich denn doch den letzten Trumpf aus¬ ſpielen, rief Berger aufſpringend. So hören Sie denn, Sie Ungläubiger, daß jenes Haus, in das ich Sie ſenden will, einen Engel in ſich ſchließt, in Geſtalt eines wunderlieblichen Mägdeleins. Sie iſt die Schweſter Ihres Alexander und Gott ſei Dank, vor¬ läufig noch in Hamburg in Penſion. Ich haſſe ſie, denn ſie hat mir viel Qual bereitet. Alle wahnſinnigen Träume meiner Jugend lebten in mir auf bei ihrem Anblick und ängſtigten mich wie ſchöne Geſpenſter. Zuletzt lief ich davon, ſo oft ich ſie unter ihrem leichten Strohhute über den glatten Sand des Strandes heran¬ kommen ſah. Ja, ich will es nur geſtehen, ich habe die Sonette, die ich Ihnen neulich vorlas, die Sie freundlich genug waren, liebedurchglüht und Gott weiß, was noch ſonſt, zu finden, und die ich in der ſeligen Jugendzeit vor dreißig Jahren auf Helgoland gedichtet zu haben vorgab, im vorigen Jahre in Oſtende, vom Anblick der ſchönen Teufelin berauſcht, mit meinem Herzblut geſchrieben. Das ſagen Sie aber Niemanden wieder.

27

Weshalb nicht? Es würde mir ja doch keine Menſchenſeele glauben.

Da haben Sie freilich Recht; und nun?

Nun habe ich noch weniger Luſt, als vorhin. Ich wünſche nicht, die alberne Geſchichte der Liebſchaft eines Hauslehrers mit der Tochter des hochadligen Hauſes, eine Geſchichte, die ich mir ſchon in ſo und ſo vielen Romanen zum Ekel geleſen habe, an mir ſelbſt zu wiederholen. Und wenn das Mädchen wirk¬ lich ſo ſchön und liebenswürdig iſt, daß

Daß ſelbſt das dürre Holz friſche Blätter treibt, was da am grünen geſchehen ſoll? unterbrach mich lachend Berger. Nun wohl! verlieben Sie ſich! weshalb nicht! Lieber Freund, das Buch des Lebens für Leute unſeres Schlages führt denſelben Titel, wie einer der Romane Balzac’s: Illusions perdues. Jeder Tag ſchreibt nur ein neues Kapitel hinein, und je kürzer das Buch, deſto beſſer und intereſſanter iſt es. Aber da es nun einmal geſchrieben werden muß und nicht anders geſchrieben werden kann, ſo iſt es auch im Grunde gleichgültig, ob wir nach Weſten gehen oder nach Oſten. Wir machen dieſelben Erfahrungen hier wie dort. Darum ſage ich noch einmal: gehen Sie nach Grenwitz!

Was ſollte ich thun. Es erſchien mir als eine28 Pflicht, den Wunſch meines Freundes, dem ich ſo viel verdanke, zu erfüllen. Und dann, hatte Berger nicht recht, daß es gleichgültig ſei, ob ich nach Oſten gehe oder nach Weſten? Genug, ich packte meine Sachen, ſagte meinem Mentor Lebewohl und fuhr hinüber nach dieſem Eiland.

[24]

Drittes Kapitel.

Oswald hatte bis jetzt nur in Städten gelebt. Seine Sitten, ſeine Anſchauungen, ſeine Neigungen waren die eines Städters. So kam es denn, daß, als er ſich jetzt plötzlich wie mit einem Zauberſchlage auf das Land verſetzt ſah, der unſägliche Reiz der erſten leuch¬ tenden Sommertage in einem ſchönen ländlichen Auf¬ enthalte für ihn mehr als für die meiſten Menſchen etwas unſäglich Anziehendes, ja Hinreißendes und Be¬ rauſchendes hatte. Es war ihm Alles ſo neu und doch wieder ſo ſeltſam bekannt, wie wenn Jemand in eine Gegend kommt, die er ſchon lange vorher in ſei¬ nen Träumen geſehen. War dieſer blaue Dom, der ſich immer tiefer und tiefer wölbte, derſelbe Himmel, der ſich ſo troſtlos bleiern über dem Häuſermeer der Reſidenzſtadt ſpannte; waren dieſe funkelnden Lichter30 dieſelben öden Sterne, zu denen er, aus dem Theater oder einer Geſellſchaft kommend, kaum einmal flüchtig emporgeblickt hatte? Konnte ein Sommermorgen ſo reich an Glanz und Pracht, ein Sommerabend ſo weich und wollüſtig ſein? Hatte er denn den Geſang der Vögel nie vernommen, daß er ſich jetzt an ihren ein¬ fachen Liedern nicht ſatt hören konnte? Hatte er denn nie Blumen geſehen, daß er jetzt nicht müde wurde, ihre ſchönen Farben und wunderſamen Geſtalten zu betrachten? Es war ihm zu Muthe, wie Einem, der aus ſchwerer Krankheit wieder zum Leben erwacht. Die jüngſte Vergangenheit lag wie hinter einem dichten Schleier, aber weit Entferntes, im Meer der Ver¬ geſſenheit ſeit langen Jahren Verſunkenes tauchte wie eine glänzende, zauberiſche Spiegelung wieder über den Horizont der Erinnerung empor. Ei, da iſt ja auch Ritterſporn, rief er einſt in dieſen erſten Tagen freudig überraſcht, als er, träumend im Garten auf und ab wandelnd, dieſe Blume häufig auf den Beeten blühen ſah.

Nun freilich, ſagte Bruno, der bei ihm war, haben Sie denn noch nie welchen geſehen?

Es iſt lange her, murmelte der junge Mann, ſich niederbeugend und die phantaſtiſche Blume mit Rührung betrachtend. In ſeines Geiſtes Aug 'ſah er ſich wieder in einem kleinen lauſchigen Garten an der31 Stadtmauer herumſpielen und Steinchen, Blumen und andere Seltenheiten, die er auf ſeinen Entdeckungsreiſen fand, auf den Schooß einer ſchönen, jungen, blaſſen Frau ſammeln, die ihm jedes Mal, wenn er zu ihr kam, das lockige Haupt ſtreichelte und mit jener Ge¬ duld, die nur eine Mutter hat, nicht müde wurde, ſeine unzähligen Fragen zu beantworten. Und da hatte er ihr auch dieſe Blumen gebracht und die ſchöne Frau hatte geſagt: das iſt Ritterſporn. Und dann hatte ſie die Blume lange ſinnend angeſehen, bis ihr von dem langen Hinſtarren die Thränen in die Augen kamen und hatte ihn auf ihren Schooß genommen und ſein Haupt ſtürmiſch an ihre Bruſt gedrückt, und da mochte er denn wohl, von dem vielen Spielen müde, einge¬ ſchlafen ſein, denn in dieſem Augenblicke zerflatterte das Bild. Die junge, ſchöne Frau, das wußte er, war ſeine Mutter; ſie war geſtorben, als er noch nicht fünf Jahre alt war. Wer hat nicht an ſich ſelbſt ſchon die traurige Erfahrung gemacht, daß wir in dem Gewirre des Lebens, wo eine Erſcheinung die andere verdrängt, und wir ſtets unter der tyranniſchen Gewalt des Augenblickes ſtehen, Alles, ſelbſt das Theuerſte, ſelbſt die Eltern, die uns das Leben gaben, vergeſſen lernen. So hatte auch Oswald faſt ſchon vergeſſen, daß er je eine liebe Mutter gehabt; jetzt rief eine ein¬32 fache Blume die Erinnerung an die früh Verſtorbene mächtig in ihm wach. Die erſte Zeit, die er in der Einſamkeit des Landlebens verbrachte, verknüpfte ſich eng mit der erſten Zeit ſeines Lebens, denn er hatte ſeitdem nicht wieder der Natur ſo unbefangen und ſo tief in das holde, bezaubernde Antlitz geſchaut. Auch ſeines Vaters, der nun gerade vor zwei Jahren, ein¬ ſam, wie er gelebt hatte, geſtorben war, gedachte er jetzt mit jener dankbaren Liebe, die leider immer erſt dann in voller Blüthe ſteht, wenn diejenigen, denen ſie gebührt, ſich nicht mehr an ihrem Dufte laben kön¬ nen; ſeines Vaters, der wunderlichen Pygmäengeſtalt, die der Sohn ſchon als achtzehnjähriger Jüngling um zwei Köpfe überragte; des menſchenſcheuen Sonderlings, der in der ganzen Stadt der alte Candidat genannt wurde, und deſſen ſchwarzen abgeſchabten Frack, in dem er Sommer und Winter einherging, jedes Kind auf der Straße kannte; des räthſelhaften Mannes, der den reichen Schatz ſeines Wiſſens und ſeiner Güte gegen alle Welt verſchloß, nur nicht gegen den Sohn, an dem er mit unſäglicher Liebe hing, den er mit der rührenden Zärtlichkeit einer Mutter hegte und pflegte, und für den ihm, dem als Geizhals Verſchrieenen, nichts zu koſtbar geweſen war.

Dieſe lieben und doch auch wieder ſo ſchmerzlichen33 Erinnerungen zogen durch Oswalds Seele, während er in ſeinen Freiſtunden allein, oder mit ſeinen Zög¬ lingen in Garten, Feld und Wald umherſtreifte, ſich von Tage zu Tage mehr für das Landleben begeiſterte, und wenn er des Morgens, ehe die Unterrichtsſtunden begannen, noch ſchnell einmal in den Schloßgarten ge¬ eilt, in die thaufriſchen Kelche der Blumen geſchaut und ſich am Geſang der Vögel entzückt hatte, ſchlech¬ terdings nicht mehr begreifen konnte, wie es die Menſchen in den Städten, wie er ſelbſt es nur jemals in der Stadt habe aushalten können.

Und in der That hätte Schloß Grenwitz und ſeine Umgebung auch wohl einem durch landſchaftliche Schön¬ heiten verwöhnteren Auge das lebhafteſte Intereſſe ab¬ gewinnen müſſen, obgleich es von den Touriſten, die alljährlich die Inſel durchſchwärmten, niemals aufge¬ ſucht, höchſtens von Einem oder dem Anderen zufällig aufgefunden wurde, der ſich denn nicht genug wundern konnte, wie ein ſo lieblicher und in vieler Hinſicht ſo merkwürdiger Punkt in ſeinem Reiſehandbuche, in wel¬ chem doch ſonſt jeder nichtsnutzige Gaſthof verzeichnet ſtand, übergangen ſein konnte, blos weil er eine Meile von der großen Landſtraße entfernt lag.

Das Schloß trägt noch bis auf den heutigen Tag die Spuren von dem Reichthum und der Macht desF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 334alten ritterlichen Geſchlechts derer von Grenwitz, das ſeit undenklichen Zeiten hier begütert geweſen iſt, und die Burg zu ſeinem Schutz und den benachbarten Ba¬ ronen zum Trutz in der Mitte des vierzehnten Jahr¬ hunderts erbaute. Das untere Stockwerk des einen Flügels mit ſeinen rieſigen Quaderſteinen ſtammt noch aus dieſer Zeit, ebenſo wie der gewaltige runde Thurm, in welchem jetzt das alte und das neue Schloß zuſam¬ menſtoßen. Das neue Schloß wurde gegen das Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts in dem zopfigen Styl jener Zeit gebaut und nimmt ſich mit ſeinen verſchnör¬ kelten Säulen und wunderlichen Ornamenten neben dem alten ſchmuckloſen Thurm, mit welchem es jetzt in einer Front liegt, aus, wie ein zierlicher Herr aus Louis quatorze Zeit neben einem eiſengeharniſchten Kämpen aus den Zeiten von Crech und Poitiers.

Ein zwanzig Fuß und darüber hoher Wall, der in ein noch weit ehrwürdigeres Alter hinaufragt, als ſelbſt der alte Thurm, umgiebt das Schloß in einem ſo weiten Kreiſe, daß es ſammt den Nebengebäuden von dem eingeſchloſſenen Raume nur den kleinſten Theil einnimmt. Der Wall iſt jetzt längſt ſchon in eine fried¬ liche Promenade umgewandelt, über der hohe Buchen, Nußbäume und Linden ein dichtes Laubdach bilden. Der breite Graben, der ihn ſeiner ganzen Ausdehnung35 umzieht, iſt jetzt zum Theil verſumpft, mit dichtem Röhricht angefüllt, und wo das Waſſer ſich noch einen Raum offen gehalten, mit einem grünen Teppich von Waſſerpflanzen bedeckt, in welchem halbwilde Enten luſtig ſchnattern. Offenbar hatte dieſer Wall den Zweck gehabt, im Fall einer Fehde nicht nur die Hö¬ rigen der fehdeluſtigen Barone mit ihren Weibern und Kindern, ſondern auch die Heerden und die Vorräthe zu ſchirmen; auch hatten bis zur Zeit des Neubaues die Wirthſchaftsgebäude, die jetzt ziemlich entfernt vom Schloſſe außerhalb des Walles lagen, innerhalb deſſelben gelegen. Damals hatte der Wall nur einen Durch¬ gang gehabt, ein feſtes, mit einem Thurm verſehenes Thor, aus dem eine Zugbrücke über den Graben nach einem Brückenkopfe führte. Jetzt war der Thurm ab¬ getragen, die Brücke konnte nicht mehr aufgezogen werden und aus dem Brückenkopfe hatte man längſt Backöfen und andere nützliche Dinge gebaut. Von dieſem Hauptthor führte eine Allee vielhundertjähriger prachtvoller Linden auf das Portal des Schloſſes zu. Rechts von der Allee und vor der Front des Schloſſes war ein großer Raſenplatz, in deſſen Mitte ein ſteinernes Becken mit einer Najade als Schutzpatronin ſtand, die, wahrſcheinlich aus Schmerz, daß ihrem Brunnen ſchon3*36ſeit einem halben Jahrhundert das Waſſer fehlte, den Kopf verloren hatte.

Der ganze übrige Raum innerhalb des Walles war mit Gartenanlagen ausgefüllt, die aus der Zeit des Neubaus herrührten und mit ihren geraden Gängen, kunſtvoll verſchnittenen Taxushecken, Buchsbaumpyra¬ miden und ihren Sandſteingöttern, die allen Regeln der Aeſthetik und allen Geſetzen der Anatomie ſo naiv Hohn ſprechen, den Charakter dieſer Zeit deutlich genug documentirten. Hier und da freilich war ein Geiſt der Neuerung in die Anlagen gefahren. Der Buchs hatte ſeine verkrüppelten Glieder, ſo gut es gehen wollte, in eine naturgemäße Baumgeſtalt auszurecken verſucht; die beiden Zeiten eines Heckenganges hatten gemeinſchaftliche Sache gemacht und ſich zu einem un¬ durchdringlichen Geſtrüpp vereinigt; ein Gärtner, der für die ſtumme Sprache von Taxuspyramiden kein Ver¬ ſtändniß mehr beſaß, und eine praktiſchere Richtung verfolgte, hatte, unbekümmert um den äſthetiſchen Ein¬ druck, Aepfel -, Birnen -, Kirſchen - und Pflaumenbäume gepflanzt, wo er gerade Platz fand, und hier und da ſeinen Gemüſebeeten den Luxus der Blumenrabatten geopfert. So war die Schweſter der Najade im Hof von Himbeer - und Stachelbeerſträuchern faſt über¬ wuchert, aber ſie hatte ſich in ihr Schickſal zu finden37 gewußt, ihren Kopf behalten, und plauderte in ſtiller Nacht geſchwätzig von der guten alten Zeit.

So hatte von dem Rieſenwalle, der aus der grauen Heidenzeit ſtammte, bis zu den Spargelbeeten, die geſtern angelegt waren, ſeit einem Jahrtauſend jede Generation etwas zur Befeſtigung, Verſchönerung oder Verbeſſerung dieſes Wohnſitzes beigetragen. Vieles war ſpurlos verſchwunden, Vieles hatte ſich erhalten; Altes hatte der Zeit geſpottet, Neues war mit der Zeit alt geworden; aber da ſelbſt das Aelteſte die Spuren des Lebens, der fortdauernden Nutzbarkeit trug, ſo war nirgends ein Sprung, ein Riß bemerkbar, und das Ganze machte den wohlthuenden Eindruck, als ob es eben nicht anders ſein könnte. Zwar ſeinen primi¬ tiven Charakter hatte Schloß Grenwitz gänzlich einge¬ büßt, und wenn Oswald des Abends, von einem Spa¬ ziergange mit ſeinen Zöglingen zurückkommend, auf einer Stelle des Walles ſtehen blieb, von der er den ſchattigen, grasbewachſenen Hof, den blumenreichen Garten und das Schloß überblicken konnte, um deſſen graue Mauern das Zwielicht wogte und die ſchnellen Schwalben zwitſchernd kreiſ'ten, da glaubte er nicht die alte Stammburg fehdeluſtiger Barone, ſondern das ſtille Kloſteraſyl beſchaulicher Mönche vor ſich zu ſehen.

[38]

Viertes Kapitel.

Und ein ſtilles, klöſterlich ſtilles Leben war es denn auch das Leben auf dem Schloſſe Grenwitz. Alle Unruhe, aller Lärm waren aus dem Bereich verbannt, den der alte Wall wie eine epheuberankte Kirchhofs¬ mauer umgab. Hier ertönte kein Hundegebell, kein Pferdewiehern; ſtill glitten die Stunden dahin, wie die Schatten des Zeigers der Sonnenuhr über dem Por¬ tale; ſtill, wie die Blumen im Garten dufteten und blühten. Hier ſchien ſelbſt der Wind leiſer in den Wipfeln zu rauſchen, die Vögel leiſer in den Zweigen zu ſingen; und was die Bewohner ſelbſt betraf, ſo konnte die Wanduhr auf dem Vorſaal in ihrem Eichen¬ ſchrank nicht freier von aller Neuerungsſucht ſein und ihr Tagewerk pünktlicher und ſyſtematiſcher vollbringen. Die Dienſtboten thaten ihre Obliegenheiten mit der Regelmäßigkeit von Automaten. Ja in die Möbel39 ſelbſt ſchien dieſer ſtrenge Geiſt der Ordnung gefahren, ſo daß Oswald ſich des Gedankens nicht erwehren konnte, ſie rückten ſich in aller Stille von ſelber zurecht, falls einmal eines von ſeiner ihm angewieſenen Stelle abgekommen ſein ſollte. So wenig nun Oswald in ſeinem bisherigen Leben an eine ſo peinliche Ordnung gewöhnt war, und ſo ſehr ſich auch im Grunde ſeine Natur dagegen ſträubte, ſo leicht wurde es ihm doch bei der Geſchmeidigkeit ſeines Weſens und bei der ver¬ ſöhnlichen, milden Stimmung, in die ihn der tiefe Frieden rings umher verſeßte, ſich dieſelbe zu finden. Er that, was er die Leute um ſich her thun ſah, und erwiderte die förmlichen Verbeugungen, mit denen man ſich hier begegnete, mit demſelben Grad von Ernſthaf¬ tigkeit, den er auf einer Maskerade in einer Menuet zur Schau getragen haben würde.

Er hatte es in den erſten Tagen mit den Lehr¬ ſtunden nicht allzu genau genommen, und ſich deſto eifriger mit ſeinen beiden Zöglingen draußen umher getummelt. Sie hatten den Buchwald, der ſich von Schloß Grenwitz eine halbe Stunde bis hart an das Meer erſtreckte, nach allen Richtungen durchſtreift, hatten ein Hünengrab und eine Höhle entdeckt, und waren oft ſchon von den hohen Kreideufern zum Strand hinabgeklettert, hatten dort, auf einem der mächtigen40 Röllſteine ſtehend, die Fluth heranbrauſen ſehen und gejubelt, wenn der Donner der Brandung ihre Stimme übertönte.

Auf dieſen Streifzügen, die Oswald ſcherzend ihre Vorſtudien zum Homer nannte, hatte er vielfach Ge¬ legenheit, die Naturen ſeiner beiden Zöglinge zu beob¬ achten. Ein größerer Gegenſatz war kaum denkbar. Bruno war groß für ſeine Jahre, dabei ſchlank und geſchmeidig und ſchnell wie ein Hirſch. Malte, der junge Majoratsherr, ſah neben ſeinem ſtolzen Gefähr¬ ten zurückgeblieben und verkümmert aus. Seine Schul¬ tern waren ſchmal, ſeine Bruſt eingeſunken, und ſeine eckigen und unſchönen Bewegungen ſtachen ſeltſam gegen die hinreißende wilde Anmuth ab, mit der Bruno ging, lief und ſprang. Malte ſcheute vor jeder Gefahr, ja vor jeder Anſtrengung, im Gefühl ſeiner Körperſchwäche und aus angeborner oder anerzogener Feigheit zurück; für Bruno war kein Baum zu hoch, kein Felſen zu ſteil, kein Graben zu breit, ja es ſchien, als ob er ge¬ fliſſentlich die Glut ſeiner Seele durch körperliche Er¬ müdung dämpfen wollte. Oswald flocht eine Krone aus Buchenlaub und drückte ſie dem Knaben auf die bläulich-ſchwarzen Locken, um ihn einem jungen Bacchan¬ ten noch ähnlicher zu machen. Aber wie in ſeinem Heimathlande Schweden aus eiſiger Winternacht ur¬41 plötzlich der duftende, lächelnde Frühlingsmorgen her¬ vorblüht, ſo wechſelten Sonnenſchein und Sturm in ſeinem Gemüthe übermüthige Luſt und an Schwermuth grenzende Niedergeſchlagenheit, herzliches, faſt kindliches Sichhingeben und düſtrer, mehr als knabenhafter Trotz ſchnell und unvermittelt, wie Lichter und Schatten auf den Hängen eines Gebirges an einem Tage, wo der Wind die Wolken pfeilſchnell an der Sonne vorüberjagt. So fand Oswald den Knaben, einen Fremdling im Hauſe ſeiner Verwandten, von den Einen gehaßt, von den Andern gefürchtet, ein unergründliches Räthſel für Alle, ſelbſt für den alten guten Baron, der dem Knaben, oft mehr aus ange¬ borner Großmuth, als aus Ueberzeugung, ſtets das Wort redete. Aber für Oswald hatte ein Blick in das traumumflorte dunkle Auge des Knaben genügt, den verwandten Dämon zu erkennen, und der myſtiſche Bund, den ſie in jenem Augenblick geſchloſſen, hatte jede Stunde ihres Zuſammenlebens nur gefeſtigt. Bruno hatte ihm an dem erſten Tage den düſtern Trotz entgegengebracht, den er gegen Alle zu zeigen gewohnt war. Er hatte ihn mit ſcheuem, durchdrin¬ gendem Blick zwei, drei weitere Tage beobachtet, und dann war vor Oswalds liebevollem, freundlichem Weſen der Argwohn von ihm gewichen, wie die Nebel vor42 den Strahlen der Sonne, ſein dunkles Auge war größer und glänzender geworden, als ob das unverhoffte Glück, einen Menſchen zu finden, der ihn liebte und den er wieder lieben dürfe, ihn blende und verwirre; und dann war all die ſtürmiſche Zärtlichkeit ſeiner Seele, die er ſo lange und ſo ſorgſam hatte verſchließen müſſen, hervorgebrochen, mächtig unwiderſtehlich, wie ein Bergſtrom, der die Felſenſchranken geſprengt hat und jauchzend in das Thal hinunterſtürmt.

Wiſſen Sie, ſagte der Knabe da zu Oswald, daß ich ſchon im voraus entſchloſſen war, Sie zu haſſen?

Warum, Bruno? iſt der Haß für Dich ſo ſüß? Ach nein! aber ich glaubte, es ſeien alle Erzieher wie unſer erſter, und da dachte ich, was dem Einen recht iſt, iſt dem Andern billig.

Und wie war denn Herr Bauer?

Nun, er machte ſeinem Namen Ehre, ſagte der Knabe ſpöttiſch.

Ei, ei, mein ſtolzer Junker, willſt Du mir den Bauer verachten?

Gewiß nicht! rief der Knabe eifrig, mein Vater war ſelbſt ein Bauer, trotzdem daß er ein Edelmann war; ich habe ihn oft genug hinter dem Pfluge herge¬ hen ſehen aber dieſer Mann war roh und plump43 wie ein Bauer, und feig dazu. Einmal, nach Tiſche ich weiß nicht, was ich wieder verbrochen hatte, ſchlug er mich in's Geſicht, weil Tante zugegen war und er glaubte, er thue ihr einen Gefallen. Ja, er ſchlug mich und das Auge des Knaben blitzte auf bei der Erinnerung an dieſe Schmach und die Zornes¬ ader auf ſeiner bleichen Stirn ſchwoll.

Und da, Bruno?

Da nahm ich das Meſſer, das vor mir auf dem Tiſche lag und ſprang auf ihn ein, und der Elende lief vor mir, um Hülfe ſchreiend, zur Thür hinaus. Und als ich das ſah und die bleichen Geſichter um mich her, mußte ich lachen und ging unbeläſtigt aus dem Saale. Und ich wäre am liebſten gleich in die weite Welt gerannt, aber Onkel kam hinter mir her und verſprach mir, der Menſch ſolle nun und nimmer wieder Hand an mich legen dürfen. Onkel iſt gut; Sie glauben nicht, wie gut er iſt; aber er fürchtet ſich vor der Tante; Alle fürchten ſich vor ihr; aber ich habe ſie doch lieb, denn ſie hat Muth wie ein Mann und ich haſſe nur die Feigen. Malte iſt ein Feigling.

Malte iſt ſchwach und kränklich, und Du mußt Nachſicht mit ihm haben; aber, wenn Du die Tante wirklich lieb haſt, warum biſt Du ſo unfreundlich gegen ſie?

44

Bin ich unfreundlich? Der Knabe ſchwieg. Eine Wolke zog über ſeine Stirn, ſeine Naſenflügel zuckten und ſein dunkelblaues Auge war wie eine Gewitter¬ wolke, als er jetzt, haſtig aufblickend, ſagte:

Ich bin unfreundlich, ich weiß es. Aber wie ſoll ich anders ſein? Ich eſſe hier im Hauſe Gnadenbrod, ſoll ich noch dafür danken? Ich kann es nicht, ich will es nicht, und wenn ſie mich aus dem Hauſe jagten. Sehen Sie, Oswald, ich habe oft gewünſcht, man jagte mich fort, ja, ich habe es darauf angelegt, daß ſie es doch ja thäten; dann ginge ich in die weite Welt und verdiente mir mein tägliches Brod, wie tauſend und tauſend andere Knaben, die nicht ſo ſtark und ſo muthig ſind, wie ich. Heute noch, als wir am Strande gingen, und der Dreimaſter am Horizonte auftauchte und wieder verſchwand, da wünſchte ich ſo heiß, ſo heiß, ich hätte mitſegeln können, als Schiffs¬ junge, als Matroſe nur fort, fort von hier, gleich¬ viel wohin.

Wenn ſo der Knabe die geheimſten Wünſche ſeines Herzens rückhaltlos ſeinem Freunde und Lehrer offen¬ barte, da geſchah es denn wohl, daß dieſen ein Zweifel beſchlich, ob er, der ſelbſt den Weg, den er zu gehen hatte, ſo wenig deutlich ſah, der rechte Mann ſei, den wilden, leidenſchaftlichen Knaben zu leiten. Aber je45 weniger er ſich im Stande fühlte, ausſchweifende Wünſche, chimäriſche Hoffnungen zu bekämpfen, die er ſelbſt im Stillen theilte, deſto mehr verſchwand die Kluft zwiſchen Lehrer und Schüler deſto brüder¬ licher wurde nur ihr Verhältniß. Noch hatte kein menſchliches Weſen einen ſo tiefen Eindruck auf Oswald gemacht, als dieſer wunderſame Knabe. Er liebte ihn, wie ein Künſtler das Werk, an dem er ſchafft, wie ein Vater den Sohn, in welchem er zu verwirklichen hofft, was ihm ſelbſt zu erreichen verſagt war, wie eine Mutter das Kind, für das ſie wachen, ſorgen und ſchaffen muß. Allnächtlich, wenn er ſich müde geleſen und gearbeitet, ging er, ehe er ſelbſt ſein Lager ſuchte, in das Gemach des Knaben er hätte nicht ſchlafen können, ohne ſeinen Liebling noch einmal geſehen zu haben. Jenes Schamgefühl, das edleren Naturen ver¬ bietet, die ganze Fülle ihrer Zärtlichkeit zu zeigen, machte ihn den Tag über karg mit Liebkoſungen; aber jetzt nahm er des Schlafenden Hände, und ſtreichelte ſie, und küßte den Knaben zärtlich auf die Stirn.

Dich nennen ſie lieblos. Dich, meinen Liebling, deſſen Herz nur nach Liebe und abermals nach Liebe hungert. Und wenn ſie alle Dich verkennen und haſſen, ich verſtehe Dich und will Dich lieben.

[48]

Fünftes Kapitel.

Die Wirthſchaftsgebäude und Häuslerwohnungen, die zu dem Gute gehörten, lagen, wie wir ſahen, außer¬ halb des Walles, den man, um die Verbindung zwiſchen dem Schloſſe und dem Hofe zu erleichtern, nach dieſer Seite durchbrochen hatte. Ein hölzernes Gitterthor, das nicht einmal verſchloſſen, und eine Brücke, die nicht aufgezogen werden konnte, ſprachen für den fried¬ lichen Sinn der Nachkommen jener kriegeriſchen Barone, welche das maſſive Thor auf der andern Seite mit ſeiner in ſchweren Eiſenketten hängenden Zugbrücke er¬ baut hatten. Der Verkehr zwiſchen dem Schloſſe und dem Hofe beſchränkte ſich ſo ziemlich auf den Aus¬ tauſch oft höchſt energiſcher diplomatiſcher Noten zwiſchen der Wirthſchafterin und dem Verwalter, die über das Quantum und die Qualität der Naturalien, welche dieſer jener zu liefern hatte, ſtets weſentlich verſchiedener47 Meinung waren. Das Gut war, wie die übrigen Beſitzungen der Familie, verpachtet; der Pächter, ein Herr Bader, wohnte auf einem der Nebengüter, das er ebenfalls in Pacht hatte, und kam ſelten nach Grenwitz, deſſen Bewirthſchaftung er ſeinem Inſpector überließ.

Oswald, für den die Landwirthſchaft eben ſo neu war, wie das Leben auf dem Lande, lenkte ſeine Schritte bald häufig nach dem Hofe, um ſich von dem Inſpec¬ tor durch die Ställe und Scheunen führen und ſich von demſelben etwas in die Myſterien des Ackerbaus und der Viehzucht einweihen zu laſſen. Der Inſpector, Namens Wrempe, war ein rieſiger Mann, der ſtets in gewaltigen Stulpenſtiefeln einherging und dem Aber¬ glauben zu huldigen ſchien, er werde ſeine ungeheure Körperkraft verlieren, wenn er ſeinen ſtruppigen ſchwarzen Bart ſchöre, oder dem Regenwaſſer das ausſchließliche Privilegium, ſein ſonnverbranntes Geſicht zu waſchen, entzöge. Das breite Platt jener Gegend war ſeine Mutter - und Vaterſprache, das Hochdeutſche haßte er und hielt Alle, die es ſprachen, in ſeinem Herzen für Schelme; ſeine Stimme glich, aus der Ferne gehört, weſentlich dem Gebrüll eines etwas heiſeren Löwen. Seine Feinde ſagten ihm nach, daß er eine üble Ge¬ wohnheit habe, ſich von Zeit zu Zeit zu betrinken; da48 er dies aber alle Monat höchſtens einmal und dann immer gleich auf mehrere Tage that, um die übrige Zeit deſto energiſcher zu ſein, ſo drückten ſeine Freunde und zumal ſein Brodherr über dieſe kleine Schwäche freundlich die Augen zu. Oswald unterhielt ſich gern mit dem Manne, der in ſeiner täppiſchen Gutmüthig¬ keit, ſeinem derben, oftmals freilich auch rohen Weſen, ſeiner mit Sprichwörtern reichlich untermiſchten Rede ein nicht ſchlechter Repräſentant der Landleute jener Gegend war.

So hatte er denn auch eines Nachmittags mit den Knaben einen Spaziergang nach dem Hofe gemacht. Sie fanden ihn faſt ausgeſtorben. Die Leute und die Thiere waren auf dem Felde. In dem Pferdeſtall ſtanden nur die vier ſchwerfälligen Braunen des Barons, die vor lieber langer Weile mit den eiſernen Ketten ihrer Halfter ein melancholiſches Quartett ausführten. Vor der Thür des Stalles ſaß der ſchweigſame Kutſcher und ſtarrte in den blauen Himmel, da er, wenn er ſeine Pferde gefüttert, auf Erden weiter nichts zu thun hatte. Um ſeine Füße ſtrich ſpinnend ein großer ſchwarzer Kater, der ihn, als ſein spiritus familiaris, überall hin begleitete und ſelbſt auf dem Bocke zwiſchen ſeinen Füßen unter dem Schurzfell ſaß. In dem Kuh¬ ſtall fanden ſie nur eine Kuh, die ihr heute geborenes49 Kälbchen durch fleißiges Lecken in eine Verfaſſung zu bringen ſuchte, wie ſie dem Ehrgeize einer reſpectablen Kuhmutter, die etwas auf ſich und die Ihrigen hält, wünſchenswerth ſcheinen mag. Auf dem Dünger vor dem Stalle ſcharrten die Hühner, unbekümmert um den Streit zweier junger Hähne, die über einen un¬ glücklichen kleinen Käfer, der auf dem Rücken liegend in ruhiger Ergebung ſein Schickſal erwartete, in Un¬ frieden gerathen waren. Ein alter Hahn, welcher der Vater der beiden feindlichen Brüder ſein mochte, war auf eine Wagendeichſel geflogen und krähte einmal über das andere, entweder aus Freude über den ritterlichen Sinn ſeiner Sproſſen, oder um eine Wolke zu ſigna¬ liſiren, die eben über das Scheunendach heraufkam. Auf dem einen Ende des Daches ſaß eine Störchin auf ihrem Neſt. Der Storch kam eben herbeigeflogen und brachte die Beute ſeiner Jagd, eine kleine Schlange, mit nach Hauſe. Die Störchin klapperte bei dieſem Anblick vor Vergnügen, der Storch, im Bewußtſein erfüllter Pflicht, blieb ihr die Antwort nicht ſchuldig. Von dem kleinen Teiche neben dem Pferdeſtalle hatten die Enten unter dem Vortritt eines vielerfahrenen Enterichs einen Reihenmarſch quer über den Hof be¬ gonnen, da ſich ein ziemlich gut verbürgtes GerüchtF. Spielhagen, Problematiſche I 450unter ihnen verbreitet hatte, es ſei hinter der einen Scheune ein Sack Korn aufgegangen.

Oswald hatte mit vielem Vergnügen das Still¬ leben eines ländlichen Hofes an einem warmen Som¬ mernachmittag betrachtet; Bruno den ſchweigſamen Kutſcher über die beiden einzigen Themata, bei denen man es mit einiger Ausſicht auf Erfolg konnte, über ſeine Pferde und ſeinen Kater, in eine Unterhaltung zu verwickeln geſucht; Malte ſich unterdeſſen gelang¬ weilt, da er überhaupt nur ſehr wenigen Dingen Ge¬ ſchmack abgewinnen konnte, und zu dieſen Dingen Enten und Hühner, wenigſtens ſo lange ſie im Licht der Sonne wandelten, ſicherlich nicht gehörten. Er drang deshalb darauf, den Spaziergang fortzuſetzen, und ſo gingen ſie denn von dem Hofe durch das Dörfchen jämmerlicher kleiner Kathen, um auf das Feld zu ge¬ langen, In einiger Entfernung vor ihnen auf dem mit Weiden beſetzten Wege ſchien ein Knecht ſeinen Wagen im Graben umgeworfen oder feſtgefahren zu haben. Die Pferde ſtanden quer über den Weg und er zerrte an ihnen herum und fluchte und ſchimpfte, wie das Leute ſeines Schlages bei ſolchen Gelegenhei¬ ten zu thun pflegen. Zuletzt ſchien dem Manne die geringe Geduld, die ihm die Natur verliehen und der wahrſcheinlich reichlich genoſſene Schnaps noch übrig51 gelaſſen hatte, vollends auszugehen. Er faßte das eine der Vorderpferde in den Zügel und trat und ſtieß es unbarmherzig mit ſeinen plumpen, in plumpen Stiefeln ſteckenden Füßen. Oswald wurde auf das Alles eigent¬ lich erſt aufmerkſam, als Bruno mit dem Ausrufe: der Barbar, der Unmenſch! wie ein Pfeil von ihm fort auf den Wagen zueilte.

Im Nu hatte er denſelben erreicht und befahl dem Knecht mit einer mehr vor Zorn, als von der An¬ ſtrengung des eiligen Laufes bebenden Stimme, ſeine Mißhandlungen einzuſtellen.

Ich weiß, was ich zu thun habe! rief der Kerl, und trat das Pferd, das ſich vor Angſt immer mehr in den Strängen verwickelte, von neuem.

Im Augenblick läßt Du das Thier, oder

Oho! rief der Knecht, oder was

Oder ich ſtoße Dir mein Meſſer in den Leib

Der Mann taumelte ein paar Schritte zurück und ſtarrte Bruno voller Entſetzen an. Es war nicht Furcht vor dem Meſſer, das der Knabe in ſeiner er¬ hobenen Rechten hielt denn der Knecht war ein großer, ſtarker Mann, der ſeinen Gegner mit einem Schlage ſeiner ſchweren Fauſt hätte zu Boden ſchmet¬ tern können und er war überdies betrunken es war Furcht vor dem Dämon, der aus Bruno's dunkeln4*52Augen blitzte, Furcht vor der gewaltigen Leidenſchaft, die dem Knaben das Blut aus den Wangen zum Herzen trieb und ſeine Naſenflügel und die ſeinen Lip¬ pen zucken machte.

Das Thier iſt immer ſo tückiſch ſtammelte der Mann, wie zur Entſchuldigung.

Aber Bruno würdigte ihn keiner Antwort. Mit haſtigen Händen und geſchickt, als ob er im Leben nur mit Pferden umgegangen wäre, löſte er die Stränge, in denen ſich das Thier verwickelt hatte, wobei ihm Oswald, der jetzt herbeigekommen war, eine mehr durch ihre gute Abſicht löbliche, als durch praktiſchen Erfolg ausgezeichnete Hülfe leiſtete. Dann ſprang der Knabe nach dem Graben, ſchöpfte ſeinen mit Wachsleinen über¬ zogenen Strohhut voll Waſſer und wuſch dem Pferde die Wunden an den mißhandelten Beinen.

In dieſem Augenblicke ſetzte ein Reiter aus den Weiden an der Seite über den Graben auf den Weg. Es war der Inſpector Wrempe, der die Scene von fern geſehen hatte und im Galopp über die Felder herbeigeritten war.

Nun komm 'ich, ſagte der Dachdecker, und fiel vom Dach! Was iſt denn das für' ne Wirthſchaft! Warum fährſt Du durch den Graben, wenn Du zehn Schritte davon über die Brücke fahren kannſt. Und53 die braune Liſe maltraitirt er ſagte aber: mal¬ traiſirt ich will Dir Deine Faulheit eintränken, Du Himmeltauſendſappermenter!

Dieſe energiſche Rede halten, vom Pferde ſpringen, in die Hand ſpeien, um den Griff ſeiner ſchweren Reit¬ peitſche feſter faſſen zu können, und anfangen, damit den breiten Rücken des Knechts nach allen Regeln zu bearbeiten, war für den dienſteifrigen Inſpector das Werk eines Augenblicks.

Ich laſſe mich nicht ſchlagen, Herr Inſpector, remonſtrirte der Menſch.

Du läßt Dich nicht ſchlagen, Du Lümmel, ant¬ wortete der, unverdroſſen weiter arbeitend, glaub's wohl, aber Deine Schläge kriegſt Du doch.

Oswald, dem dieſe Scene peinlich wurde, ſo reich¬ lich der Menſch ſeine Züchtigung verdient hatte, bat Herrn Wrempe, es nun gut ſein zu laſſen. Der ver¬ ſtattete ſeinem Zorn noch einen letzten kräftigen Hieb, und ſagte dann, wie zum Schluß einer vernünftigen Auseinanderſetzung:

Na, nu komm, Jochen! wir wollen den Wagen wieder in Schick bringen.

Dann ſtemmte er ſeine mächtigen Schultern gegen das Fuhrwerk, hob und ſchob es zurecht, als ob es ein Kinderwägelchen geweſen wäre. Die Pferde, die54 jetzt wieder ruhig geworden waren, zogen an, und der Knecht konnte jetzt ſeinen Weg fortſetzen.

Fahr 'langſam nach Hauſe und vergiß nicht, was ich Dir geſagt habe! rief ihm der Inſpector nach.

Aber Sie haben ja nur durch Schläge zu ihm geſprochen! ſagte Oswald lächelnd.

Ja, verſtehen es die Kerle denn, wenn man ver¬ nünftig mit ihnen ſpricht!

Haben Sie denn je den Verſuch gemacht?

Herr Wrempe ſchien durch dieſe Frage einigermaßen in Verlegenheit geſetzt. Er ſagte zur Antwort: Das hat mich warm gemacht!

Dann zog er eine Branntweinflaſche, die mindeſtens ein halbes Quart hielt, aus der Taſche, ſetzte den Daumen an die Stelle, bis zu welcher er den Inhalt zu leeren gedachte, trank, hielt die Flaſche abermals gegen das Licht und that, da er zu finden ſchien, daß er ſeine Aufgabe nicht vollſtändig gelöſt hatte, noch einen herzhaften Schluck. Dann beſtieg er ſein Pferd, das, an dergleichen Scenen gewöhnt, ruhig dageſtanden hatte, wünſchte freundlich guten Abend, ſetzte wieder über den Graben und ritt im Galopp davon.

Bei Bruno wurde Alles zur Leidenſchaft. Die Glut ſeiner Einbildungskraft verdichtete die Schemen der Poeſie zu Menſchen von Fleiſch und Blut. Der55 Tod Hektor's entlockte ihm Thränen des Mitleids und des Zornes, und der moraliſche Unwille, der ihn er¬ faßte, wenn er vor ſeinen Augen eine Ungerechtigkeit, eine Grauſamkeit verüben ſah, war ſo groß, daß er in ihm ein phyſiſches Unwohlſein zu Wege brachte.

So fand Oswald, als er in der Nacht nach dieſem Vorfall an Bruno's Bett trat, daß ſein Liebling gegen ſeine Gewohnheit noch wach war. Das mehr als ſonſt blaſſe Geſicht des Knaben und der kalte Schweiß auf ſeiner Stirn machten ihn beſorgt, und der Knabe geſtand denn auch nach einigem Zögern, daß er, nur um ſeinen Freund nicht zu ängſtigen, ſein Unwohlſein verheimlicht habe, und jetzt große Schmerzen leide. Oswald wollte ſogleich die Leute wecken und nach dem Doctor ſchicken, aber Bruno bat ihn, davon abzuſtehen, da dergleichen in dem Schloſſe immer ſogleich zu einer Haupt - und Staatsaction gemacht werde, und ihn die Umſtändlichkeit, die man bei ſolchen Gelegenheiten be¬ wieſe, nur beängſtige und noch kränker mache.

Uebrigens, ſagte er, bin ich an dieſe Anfälle ſchon gewöhnt und wenn Sie die Güte haben wollen, nur etwas Thee zu bereiten und mir ein paar Tropfen von der Eſſenz zu geben, die der Doctor neulich für mich verſchrieben hat das Fläſchchen ſteht auf mei¬ nem Pult ſo ſollen Sie ſehen, geht es bald vorüber.

56

Oswald beeilte ſich, das Gewünſchte herbeizuſchaffen. Er gab dem Knaben von der Medicin, er ließ ihn den Thee trinken, er rückte ihm das Kopfkiſſen zurecht, er holte noch eine Decke herbei, er that Alles mit jener Umſicht und Gewandtheit, mit der feinfühlende Men¬ ſchen, auch wenn ſie nicht daran gewöhnt ſind, mit Kranken umzugehen, die profeſſionirten Krankenwärter beſchämen.

Mit Ihnen als Pfleger iſt es beinahe ein Ver¬ gnügen, krank zu ſein, ſagte Bruno, dankbar die Hand ſeines Freundes drückend.

Still, ſtill! ſagte der, thue mir nur den Ge¬ fallen und habe keine Schmerzen mehr.

Ich will mein Möglichſtes thun, ſagte der Knabe lächelnd.

Wirklich ging Oswalds Wunſch bald in Erfüllung. Die kalten Tropfen auf der Stirn des Kranken wur¬ den zu warmen, und alsbald umhüllte ihn die gütige Natur mit tiefem Schlaf, um ſtill und heimlich das geſtörte Gleichgewicht des Organismus wieder herzu¬ ſtellen. Manchmal nur noch zuckte die feine, ſchmale Hand, die Oswald in der ſeinen hielt; dann ließ auch das nach, und der Arzt aus dem Stegreife gratulirte ſich im Stillen zu dem guten Erfolge ſeiner Kur. Aber er mußte doch wohl noch einige Beſorgniß vor einem57 Rückfalle haben, denn er entzog leiſe ſeine Hand der des Knaben, holte aus ſeinem Zimmer einen Lehnſtuhl und ſetzte ſich zu Häupten des Bettes. Die Lampe hatte er ausgelöſcht, damit die ungewohnte Helle den Schläfer nicht beläſtige, und ſo ſaß er denn im Dunkeln und ſah das Mondlicht, das durch eine Spalte des Vorhanges fiel, langſam an der Wand hingleiten und horchte auf die regelmäßigen Athemzüge des Knaben, bis ihn ſelbſt die Müdigkeit überwältigte.

[58]

Sechstes Kapitel.

Es war in den Abendſtunden eines der nächſten Tage, daß in dem Gartenſaale des Schloſſes zwei Damen ſaßen, von denen die eine die Baronin Gren¬ witz, die andere eine junge Frau, die vor ein paar Stunden zu Pferde von einem benachbarten Gute auf Beſuch gekommen war. Die Fenſterthür, die aus dem Gemache in den Garten und zunächſt auf einen großen, von hohen Bäumen umgebenen Raſenplatz führte, in deſſen Mitte eine Flora aus Sandſtein ſchon ſeit an¬ derthalb Jahrhunderten ſteinerne Blumen aus ihrem Horne ſchüttete, war weit geöffnet. In dem Zimmer, welches nach Norden lag, war es ſchon dämmerig, draußen aber lag noch der Abendſchein warm auf dem Raſen und den prächtigen Buchen und Eichen, und die Geſtalten der beiden Damen, die an einem Tiſche ſaßen, den man in die Thür geſchoben hatte, zeichneten ſich ſcharf auf dem hellen Hintergrunde ab.

59

Ein größerer Gegenſatz war nicht leicht denkbar. Die Baronin von Grenwitz war kaum vierzig Jahre alt, aber die Strenge ihrer männlich feſten Züge, die großen, kalten grauen Augen, die ſie ſo forſchend und ſo lange auf den Sprecher richtete, die Gemeſſenheit ihrer Bewegungen, ihre hohe, weit über das gewöhn¬ liche Frauenmaaß hinausreichende Geſtalt, vorzüglich aber ihre eigenthümliche Art ſich zu kleiden, ließen ſie manchmal faſt um zehn Jahre älter erſcheinen. Sei es übergroße Einfachheit, ſei es, wie Andere wollten, eine an Geiz grenzende Sparſamkeit, ſie bevorzugte Stoffe, die ſich, wie das Hochzeitskleid der würdigen Pfarrerin von Wakefield, mehr durch Dauerbarkeit, als durch irgend glänzende Eigenſchaften empfahlen, und ſie liebte einen Schnitt der Kleidung, von dem man deshalb nicht behaupten konnte, er ſei nicht mehr mo¬ diſch, weil er es eigentlich niemals geweſen war. Wie die Erſcheinung der Baronin für den erſten Augenblick auf Jeden den Eindruck der Würde machte, ſo be¬ merkte auch der aufmerkſame Beobachter in ihrer in jedem Momente muſterhaften Haltung und vor allem an dem ſtets ruhigen, gleichmäßigen Ton ihrer etwas tiefen, wohllautenden Stimme und ihrer immer ge¬ wählten Sprache, die jeden vulgären Ausdruck ſorg¬60 fältig vermied, daß ſie ſich dieſes Eindrucks wohl be¬ wußt war und ihn auf jede Weiſe zu erhalten ſuchte.

Ob die Dame, welche ſich bei der Baronin befand, ſich durch die ſtattliche Erſcheinung derſelben imponiren ließ, oder es für paſſend hielt, wenigſtens den Anſchein davon anzunehmen, laſſen wir dahingeſtellt; ſo viel iſt ſicher, daß ſie ſich in dieſem Momente einer Haltung befleißigte, die mit dem Ausdruck ihres Geſichts, ja nicht einmal mit ihrem Anzuge übereinzuſtimmen ſchien. Sie trägt ein Reitgewand von dunkelgrünem Sammet, das hinreichend in die Höhe geſteckt iſt, um die Ama¬ zone nicht beim Gehen zu hindern und ihre ſchmalen Füße, die in eleganten Stiefelchen ſtecken, zu verhüllen. Das enganſchließende Gewand hebt die ſchönen Formen des jugendlich-vollen Körpers vortheilhaft hervor, und der kleine runde Hut, der nebſt Handſchuhen und Reit¬ peitſche auf einem kleinen Tiſche in ihrer Nähe liegt, muß dieſem wohlgebildeten Kopfe mit den üppigen, braunen Haaren, die, einfach in der Mitte geſcheitelt, in reichen Wellen über Stirn und Ohren fallen und hinten zu einem Kranze aufgebunden ſind, vortrefflich ſtehen. Sie ſitzt der ſtreng wirthſchaftlichen und mu¬ ſterhaft fleißigen Baronin, die an einem Stück Lein¬ wand, das möglicherweiſe eine Serviette iſt, eifrig näht, gegenüber und ſcheint mit dem Sticken eines61 Namenszuges in einer ſchon geſäumten Serviette be¬ ſchäftigt. Dies nimmt ſich nun freilich bei ihrem An¬ zuge wunderlich genug aus, auch ſcheint dieſe Arbeit der Amazone nicht eben zuzuſagen, wenigſtens hebt ſie, als jetzt die Baronin aufſteht, um im Hintergrunde des Zimmers etwas zu ſuchen, ſchnell den Kopf in die Höhe und zeigt ein hübſches Geſicht mit kindlich-weichen Zügen und großen braunen, in feuchtem Schimmer glänzenden Augen, und dies Geſicht hat jetzt genau den Ausdruck eines übermüthigen Schulmädchens, deſſen ſtrenge Lehrerin auf einen Augenblick den Rücken wendet.

Was ſagten Sie, liebe Anna-Maria, fragte die Amazone, indem ſie ſich, als die Baronin ſich um¬ wandte, wieder über ihre Arbeit beugte.

Ich fragte Sie, liebe Melitta, ob Sie noch genug rothes Garn hätten?

Melitta machte eine Miene, als ob ſie ſagen wollte, mehr wie zu viel; ſie begnügte ſich indeß zu ſagen: ich denke, es wird reichen.

Die Baronin hatte ſich auf ihren Platz geſetzt und nahm die für einen Augenblick unterbrochene Conver¬ ſation wieder auf.

So ſcheint doch wenig Hoffnung auf eine voll¬ kommene Geneſung? ſagte ſie.

Wenig oder keine, antwortete Melitta; beſonders62 in der jüngſten Zeit, wo die Anfälle von Tobſucht gänzlich aufgehört haben. Doctor Birkenhain ſchreibt mir, daß nur ein Wunder Carlo'n vom Blödſinn retten könnte; das heißt wohl ſo viel, als: er iſt unrettbar verloren. "

Es iſt ein hartes Loos, das der Allmächtige über Sie verhängt hat, meine arme Melitta, ſagte die Baronin.

Melitta zuckte die Achſeln, antwortete aber nicht.

Es war in dieſen ſelben Räumen, fuhr die Ba¬ ronin, die nicht anzunehmen ſchien, daß das angeſchla¬ gene Thema Melitta irgendwie peinlich ſein könnte, ruhig fort, daß ich Berkow zum letzten Mal geſehen habe. Ich geſtehe, daß ich ſchon an jenem Abend, als er den ſo ärgerlichen Streit mit Ihrem Vetter Barnewitz anfing Baron Oldenburg ſuchte vergeb¬ lich, die wirklich fatale Scene abzukürzen mich eines leiſen Verdachtes nicht erwehren konnte.

Melitta von Berkow ſchienen dieſe Proben von dem vortrefflichen Gedächtniß der Baronin nicht eben zu entzücken; ſie wurde unruhig und warf, augenſchein¬ lich ohne recht zu wiſſen, was ſie ſagte, die Frage hin:

Haben Sie nichts von Oldenburg gehört?

Der Baron iſt ſeit acht Tagen zurück.

63

O! rief Melitta mit einem Ausdruck, der Frau von Grenwitz von ihrer Arbeit aufſehen machte.

Was haben Sie, Melitta?

Ich bin ſo ungeſchickt, ſagte dieſe, und preßte ein Tröpfchen Blut aus dem Daumen der linken Hand; alſo Oldenburg iſt zurück? Was bringt ihn denn auf einmal wieder her? Hat er ſich in Egypten eben ſo gelangweilt, wie hier?

Die Contracte mit ſeinen Pächtern laufen nächſten Martini ab, eben ſo wie auf einigen unſerer Güter. Ich vermuthe, daß ihn dies zur Rückkehr bewogen hat. Er ſcheint noch menſchenſcheuer geworden zu ſein, als er es ſchon damals war. Griebenow, unſer Förſter, iſt ihm im Walde begegnet; bei uns hat er ſich noch nicht ſehen laſſen.

Nun, dieſe Unaufmerkſamkeit des Barons werden Sie ja leicht verſchmerzen, liebe Anna-Maria; Sie waren ja nie beſonders gut auf ihn zu ſprechen.

Ich wüßte auch nicht, daß Oldenburg mir je Veranlaſſung gegeben hätte, das zu thun; mir ſo wenig wie irgend Einem von uns. Ein Mann, welcher der Religion, ich möchte beinahe ſagen, offen Hohn ſpricht, der die Würde ſeines Standes, die Intereſſen ſeiner Standesgenoſſen ſo weit vergißt, auf den Kreistagen, auf den Landtagen, bei jeder Gelegenheit die Partei64 der Neuerer zu ergreifen; der unſere Societät nur auf¬ zuſuchen ſcheint, um ſich über uns luſtig zu machen ein ſolcher Mann hat es ſich ſelbſt zuzuſchreiben, wenn wir unſer Intereſſe und unſere Theilnahme Anderen zuwenden, die es beſſer verdienen.

Ei, an Intereſſe von Seiten der Anderen hat es, däucht mir, Oldenburg ſchon damals nicht gefehlt, und wird es, glaube ich, ihm auch jetzt wieder nicht fehlen. Ich weiß eigentlich nicht, weshalb ſich alle Welt ſo viel um einen Mann bekümmert, der ſich an die Welt im Großen und Kleinen ſo ſehr wenig kehrt.

Das iſt wohl ſehr erklärlich, liebe Melitta. Die Oldenburgs gehören zu unſeren älteſten Familien, es kann uns nicht gleichgültig ſein, ob der letzte Sproſſe einer ſolchen Familie ein Plebejer wird, oder nicht.

Oldenburg wird nie ein Plebejer werden, ſagte die jüngere Dame mit einiger Wärme.

Ei, ei, liebe Melitta! Sie nehmen ſich ja des Barons recht lebhaft an. Wollen Sie auch etwa ſeinen unmoraliſchen Lebenswandel vertheidigen, ſeine Liebes¬ affairen, mit denen er die chronique scandaleuse nicht nur unſerer Gegend bereichert hat?

Ich habe nie, ſo viel ich weiß, etwas Unmora¬ liſches gethan oder gut geheißen, ſagte Frau von Berkow noch lebhafter wie zuvor. Und was Herrn65 von Oldenburg's Privatleben betrifft, ſo erlaube ich mir darüber gar kein Urtheil, da es mir vollkommen fremd iſt. Uebrigens, fuhr ſie nach einer Pauſe und mit wieder ruhiger Stimme fort, ſollte es mich doch wirklich wundern, wenn Oldenburg in der That der Don Juan wäre, zu dem man ihn durchaus machen will. Sie werden mir zugeben, liebe Anna-Maria, daß er weder die Schönheit noch die Gewandtheit be¬ ſitzt, welche die nothwendigen Eigenſchaften der Reprä¬ ſentanten dieſer Rolle ſind.

Darüber erlaube nun wieder ich mir kein Urtheil, ſagte die Baronin, nicht ohne merkliche Ironie, das müßt Ihr jungen Frauen unter Euch abmachen.

Junge Frauen, rief Melitta lachend. Sie ließ die Arbeit in den Schooß ſinken und lehnte ſich bequem in den Stuhl zurück, die Baronin, die unverdroſſen weiter nähte, mit einem Blick betrachtend, in welchem ſich ein gut Theil Schalkheit mit einem ganz kleinen Theil Böswilligkeit miſchte, junge Frauen! Wiſſen Sie, liebe Anna-Maria, daß ich noch in dieſem Jahre dreißig werde? Mein Julius wird im nächſten Monat zwölf nur vier Jahre jünger wie Ihre Helene. Apropos, wie geht es denn dem lieben Kinde? Soll ſie denn ewig in dem Hamburger Penſionat bleiben? Wie lange iſt ſie denn nun ſchon da? zwei, nein esF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 566ſind ja ſchon drei Jahre! Und nicht ein einziges Mal hier geweſen in der ganzen Zeit! Sie werden Ihr eigenes Kind nicht wieder erkennen, liebe Grenwitz!

Das Hamburger Penſionat iſt ſo ausgezeichnet, wird von Allen ſo gerühmt, daß ich mir ein Gewiſſen daraus machen würde, das Mädchen nicht ſo lange wie möglich dort zu laſſen. Uebrigens haben Sie wohl vergeſſen, liebe Berkow, daß wir mit Helenen im vorigen Sommer in Oſtende waren, und da Sie ſo große Sehnſucht nach der jungen Dame zu empfinden ſcheinen, will ich Ihnen auch in allem Vertrauen mittheilen, daß Sie dieſelbe noch in dieſem Sommer auf Grenwitz werden begrüßen können.

Noch in dieſem Sommer! ei, ſieh! das hängt doch wohl nicht etwa mit Oldenburg's Rückkehr zuſammen? Verzeihen Sie meine Indiscretion! aber ich erinnere mich, daß Sie vor einigen Jahren, als der Baron von ſeiner erſten großen Reiſe zurückkehrte, einmal äußerten, wie Ihnen eine Verbindung mit Oldenburg wohl conveniren würde.

Damals kannte ich den Baron nicht, wie ich ihn leider ſeitdem kennen gelernt habe. Auch würde das Grenwitz 'Wünſchen nicht entſprechen, der Helenen, glaube ich, nach einer andern Seite halb und halb verſprochen hat.

67

Nach einer anderen Seite? doch nicht etwa an Ihren vortrefflichen Couſin Felix?

Wie geſagt, ich weiß nichts Beſtimmtes darüber; Grenwitz iſt ſo verſchloſſen; aber ich vermuthe es faſt daraus, daß er Felix beſtimmt hat, auf ein Jahr Urlaub zu nehmen und dieſes Jahr bei uns zuzubringen. Seine Geſundheit ſoll ſehr angegriffen ſein.

Hoffentlich nicht ſo angegriffen wie ſein Vermögen, ſagte Melitta trocken.

Sein Vermögen? Was wiſſen Sie denn von Felix Privatverhältniſſen?

Ich ſage nur, was alle Welt ſagt. Sie werden mir zugeben, Liebe, daß, wenn ſchon über Oldenburg die chronique scandaleuse nicht ſtumm iſt, ſie über Felix ſehr viel zu ſagen weiß, und an Stoff hat es ihr der Herr Lieutenant doch wahrlich nicht fehlen laſſen.

Felix iſt noch jung.

Nicht jünger als Oldenburg.

Fünf Jahre.

Das ſieht man ihm wahrlich nicht an; freilich, er hat etwas ſchnell gelebt, der gute Felix.

Man ſollte wahrlich glauben, liebe Melitta, daß Felix Ihnen näher ſtände, als es der Fall iſt. Auf¬ richtig, ich möchte gern wiſſen, was Sie von dieſer5*68Heirath denken, im Falle Grenwitz das Project nicht aufgeben ſollte.

Nun denn, aufrichtig: ich würde ſie für ein Un¬ glück, für ein um ſo größeres Unglück halten, je ſchöner und unſchuldiger Helene iſt. Was, um Alles in der Welt, kann den Baron zu dieſer Heirath beſtimmen? Denn daß eine Mutter zu ſolch einer Verbindung, die ihre Tochter namenlos unglücklich machen müßte, Ja ſagen ſollte, kann ich mir nimmermehr denken.

Melitta war aufgeſprungen, hatte ihre Reitpeitſche ergriffen und hieb damit ſauſend durch die Luft, als wollte ſie ſagen: das verdient der, welcher zu dieſem Bubenſtück die Hand bietet. In der ſchlanken, hoch aufgerichteten Frauengeſtalt hätte man kaum dieſelbe wieder erkannt, die ſich vorhin ſchüchtern über ihre Arbeit beugte, oder ſich läſſig in die Kiſſen des Stuhles ſchmiegte. Selbſt die Züge des Geſichtes ſchienen anders zu werden, ſchärfer, älter; das Feuer in den großen Augen loderte düſter auf. Offenbar hatte die Er¬ wähnung dieſer Heirath eine Saite in ihr angeſchlagen, die häßlich durch ihre Seele ſchrillte. Sie fuhr in demſelben aufgeregten Tone fort:

Felix iſt ein notoriſcher Wüſtling. Wie kann ein Wüſtling Liebe fühlen? Und geſetzt, Helenens Schön¬ heit, Unſchuld und Jugend trügen für eine Zeit über69 ſeine Blaſirtheit den Sieg davon, ſo kann dies nicht von Dauer ſein. Ein gründlich Blaſirter wird niemals wieder ein ganzer Mann; und kann Helene einen ſolchen halben Mann lieben? und iſt das Leben ohne Liebe werth, daß man es lebt? und können Sie das Unheil verantworten, das aus ſo einer liebloſen Ehe wie Un¬ kraut aufſchießt? Ich weiß

Die junge Frau ſchwieg plötzlich und ging mit ſchnellen Schritten in dem Gemache auf und ab. Dann nach einer kleinen Pauſe:

Und welch 'äußere Vortheile könnte dieſe Ehe ge¬ währen? Felix hat ſeiner ungemeſſenen Eitelkeit ſein Vermögen, wie ſeine Geſundheit zum Opfer gebracht. Seine Güter ſind verſchuldet, über und über; und Aus¬ ſichten hat er, ſo viel ich weiß, auch nicht

Nur daß er, wenn mein Malte ſtirbt, was Gott verhüten wolle, das Grenwitz'ſche Majorat erbt, ſagte die Baronin.

Ja ſo! ſagte Melitta gedehnt. Die letzte Be¬ merkung der Baronin hatte der edelmüthigen jungen Frau die Angelegenheit in einem ganz neuen Lichte gezeigt; dem unheimlichen Lichte vergleichbar, das aus der Blendlaterne eines Diebes auf das Schatzkäſtlein fällt, das er ſtehlen will. Sie hütete ſich indeſſen wohl, die Baronin, was in ihr vorging, merken zu laſſen,70 ſondern fuhr, ſich wieder in ihren Schaukelſtuhl wer¬ fend, in unbefangenem Tone fort:

Ich hoffe. Malte wird Felix 'Gläubigern nicht den Gefallen thun, vor der Zeit zu ſterben, er wird ja zuſehends kräftiger, und wenn Sie dem Jungen nur mehr Freiheit laſſen wollten

Freiheit! ſagte die Baronin; muß ich das Wort ſchon wieder hören! Ich laſſe ihm ſo viel Freiheit, als ich mit einer vernünftigen Erziehung für verträg¬ lich halte. Ich meine, daß, wer wie Malte einſt über ein bedeutendes Vermögen gebieten wird, nicht zeitig genug gehorchen, ſich einſchränken, ſich Unnöthiges, Ueberflüſſiges verſagen lernen kann. Wir haben ja an unſerem Neffen Felix das lebendigſte Beiſpiel, wo¬ hin die allzugroße Nachſicht führt.

Das iſt Alles wahr, ſagte Melitta, aber

Wir haben uns ja wohl über das Thema der Erziehung unſerer Kinder ein für alle Mal des Streites begeben, ſagte die Baronin mit dem Lächeln der Ueber¬ legenheit. Ich weiß, was ich will, und das werde ich mit Gottes Hülfe durchführen.

Apropos, habe ich Ihnen ſchon geſagt, daß ich meinen Julius in dieſen Tagen nach Grünwald auf's Gymnaſium ſchicken will? warf Melitta hinein.

Wieder ſo ein Wageſtück! antwortete die Baronin. 71 Baron Oldenburg hat auch ſo eine öffentliche Er¬ ziehung, wie ſie es nennen, genoſſen, und ich denke, die Reſultate ſind danach. Freilich hat man mit den Hauslehrern auch ſeine liebe Noth.

Sie haben ja jetzt einen neuen, nicht wahr? ſagte Melitta, die aufgeſtanden war und ſich in die Thür lehnte; wie iſt er denn?

Die Baronin zuckte die Achſeln.

Aber wie kann man das auch fragen, ſagte Me¬ litta lachend. Er wird ſein, wie alle Andern: ent¬ ſetzlich gelehrt, eckig, pedantiſch, langweilig. Bemper¬ lein, Bauer das iſt Alles ein Genre. Ich will einen Hauslehrer auf hundert Schritt erkennen. Ah! wer iſt der junge Mann, der da mit Bruno über die Wieſe kommt?

Die Frage blieb unbeantwortet, da in dieſem Augen¬ blick Mademoiſelle Marguerite in das Zimmer getreten und die Baronin aufgeſtanden war, ihr einige Auf¬ träge wegen der Abendmahlzeit zu geben. Melitta wandte ſich um, aber die Baronin hatte mit einem: Entſchuldigen Sie mich! das Zimmer verlaſſen. Melitta blieb allein, und mußte ſelbſt die Antwort auf ihre Frage zu finden ſuchen. Sie zog ſich ein wenig aus der Thür zurück und muſterte mit ihren ſcharfen Augen die Erſcheinung des unbekannten jungen Mannes.

[72]

Siebentes Kapitel.

Oswald war mit Bruno aus den Bäumen, die den Raſenplatz umſäumten, dem Schloſſe gegenüber heraus¬ getreten. Sein rechter Arm ruhte auf des Knaben Schulter, der wiederum ſeinen Arm um Oswalds Hüften geſchlungen hatte und lächelnd in das Geſicht des jungen Mannes aufſchaute, während dieſer ange¬ legentlich zu ihm ſprach. Als ſie ein paar Schritte auf die Wieſe gemacht hatten, blieben ſie ſtehen. Os¬ wald deutete mit der Hand nach der Richtung, aus der ſie gekommen waren, und Bruno ſprang in das Gehölz zurück. Der junge Mann ſtand, die Rückkehr ſeines Freundes erwartend, und köpfte mit dem Stäb¬ chen, das er in der Hand trug, zum Zeitvertreib einige Gräſer, die allzu lang emporgeſchoſſen waren. Er hatte keine Ahnung davon, daß fünfzig Schritte von ihm ein Paar eben ſo ſchöner, wie ſcharfer Augen73 jeden ſeiner Züge muſterte, jede ſeiner Bewegungen ſorgfältig beobachtete.

Wenn das der neue Hauslehrer iſt, ſo iſt er ein Beweis mehr für den alten Satz, daß es zu jeder Regel Ausnahmen giebt. Der ſieht wahrlich nicht aus, als ob er zu der Familie der Bemperleins gehörte. Dieſen eleganten Sommeranzug haben Sie wohl mit aus der Reſidenz gebracht. Sehr nett, in der That, für einen Hauslehrer faſt zu nett. Sie ſcheinen etwas eitel zu ſein, mein Herr, und lange Conferenzen mit Ihrem Schneider zu halten. Aber Sie ſind hübſch gewachſen, das muß man Ihnen laſſen, und der kleine Schnurrbart ſteht Ihnen ausnehmend gut. Wollen Sie nicht gefälligſt einmal den Kopf in die Höhe heben; ich wünſchte, Ihre Augen zu ſehen. So sauve qui peut!

Melitta trat, als Oswald jetzt zufällig die Augen aufſchlug, ſchnell zurück, ſo daß ſie hinter der Thür verborgen war. Sie warf einen flüchtigen Blick in einen Spiegel, der ſich in der Nähe befand, und glät¬ tete raſch ihr üppiges Haar. Dann näherte ſie ſich verſtohlen wieder der Thür.

Bruno kam aus den Bäumen herbeigeſprungen, und zeigte Oswald ein Büchelchen: Hier iſt es, rief er, aber Sie bekommen es nicht. Oswald74 wollte den muthwilligen Knaben haſchen, der ihn immer mehr herankommen ließ, um ihm dann jedesmal durch eine blitzſchnelle Wendung, oder einen Satz, deſſen ſich ein Unkas nicht hätte zu ſchämen brauchen, zu entgehen.

Melitta war, durch das hübſche Schauſpiel ange¬ lockt, aus ihrem Verſteck getreten. Sobald Bruno ihrer anſichtig wurde, rannte er auf ſie zu, und Os¬ wald, der, über die unerwartete Erſcheinung der Ama¬ zone verwundert, ſtehen geblieben war, ſah, wie der Knabe ihre Hände ergriff und mit ſtürmiſcher Zärt¬ lichkeit an ſeine Lippen drückte.

Da biſt Du ja, mein Wilder! "ſagte die Dame und ſtreichelte die dunkeln Locken des Knaben, wo haſt Du denn den ganzen Nachmittag geſteckt?

Ich bin ſpazieren geweſen mit Oswald, wollte ſagen, mit Herrn Doctor Stein; rief Bruno, und dann zu Oswald ſich wendend, der grüßend näher ge¬ treten war, dies iſt Frau von Berkow, Oswald, von der ich Ihnen nur noch heute Morgen erzählte; dies iſt Herr Stein, Tante Berkow, den ich ſehr, ſehr lieb habe, und den Sie auch ein wenig lieb haben ſollen.

Man darf ſeine Waare nicht zu ſehr anpreiſen, Bruno, ſagte Oswald, ſich lächelnd vor der jungen Frau verbeugend, oder der Käufer wird ſtutzig.

Nicht, wenn der Verkäufer ſo gut accreditirt iſt,75 wie dieſer Wildfang bei mir, ſagte Melitta, leicht erröthend. Wie lange ſind Sie ſchon auf Grenwitz, Herr Doctor?

Seit vierzehn Tagen etwa, gnädige Frau.

Sagte mir die Baronin nicht, daß Sie aus der Reſidenz kämen? log Melitta, die neugierig war, zu erfahren, ob ſich ihre Vermuthung wegen Oswalds Anzug beſtätigte.

Nicht direct, gnädige Frau; ich lebte zuletzt in Grünwald.

In Grünwald? das intereſſirt mich. Da könnten Sie mir ja gleich die beſte Auskunft geben. Die Sache iſt nämlich die aber ich langweile Sie gewiß mit meinen indiscreten Fragen!

Bitte, gnädige Frau; ich würde mich glücklich ſchätzen, Ihnen irgendwie dienen zu können.

Sehr gütig. Die Sache iſt die. Ich will meinen Sohn er iſt ungefähr in Bruno's Alter

Oho, Tante, drei Jahre jüuger! rief Bruno, der ſich jetzt in einiger Entfernung auf einer Schaukel¬ bank wiegte.

Welch 'ſcharfes Ohr der Junge hat, ſagte Me¬ litta, ihre Stimme ſenkend. Alſo, ich will meinen Julius nach Grünwald auf's Gymnaſium ſchicken. Oder viel¬ mehr, ich muß, denn ſein Lehrer, ein Herr Bemper¬76 lein, der ſchon ſechs Jahre bei ihm iſt, hat eine Pre¬ digerſtelle bekommen und wird uns in dieſen Tagen verlaſſen. Nun weiß ich nicht aber da kommt die Baronin ich muß meine tauſend und eine Frage über tauſend und ein verſchiedene Dinge, die mir ſo voll¬ kommen fremd ſind wie meinem guten Bemperlein, der längſt verlernt hat, wie es in der Stadt ausſieht, wenn er es überhaupt jemals wußte, auf eine gelege¬ nere Zeit verſparen. Hier kommt man ja doch nicht dazu. Wie wär’s, Herr Doctor, wenn Sie mich in dieſen Tagen mit Ihrem Beſuche beehrten; morgen Nachmittag etwa?

Oswald verbeugte ſich.

Ich habe den Herrn Doctor gebeten, mir morgen ſeinen Beſuch zu ſchenken, ſagte Melitta, zur Baronin gewandt, die in dieſem Augenblick mit Mademoiſelle Marguerite wieder in's Zimmer trat. Es iſt wegen der Grünwalder Angelegenheit. Ihr habt doch nicht morgen Nachmittag etwas Beſonderes vor, denn ich möchte nicht, daß der Herr Doctor mir ein allzugroßes Opfer bringt.

Wir etwas vorhaben? "ſagte die Baronin; Sie kennen ja unſer ſtilles Leben, liebe Melitta; im Gegen¬ theil, ich denke, eine kleine Zerſtreuung der Art wird Herrn Doctor Stein, der die Einförmigkeit eines länd¬77 lichen Aufenthalts ſicher ſchon empfunden hat, recht willkommen ſein. Ich ſelbſt wollte Sie für morgen ſchon zu einem Beſuche zu beſtimmen ſuchen, Herr Stein; bei unſerm Paſtor, der ſchon empfindlich ſein wird, daß Sie ſich ihm noch nicht vorgeſtellt haben.

Nun, das läßt ſich ja ganz gut vereinigen, ſagte Melitta; morgen iſt Sonntag, der Paſtor Jäger wird entzückt ſein, wenn Sie die nicht allzu große Schaar ſeiner Zuhörer durch Ihre Perſon vermehren. Berkow iſt von Faſchwitz durch den Wald nur ein halbes Stündchen entfernt. Ich würde Sie gleich zu Mittag einladen, aber ich weiß, daß die Frau Paſtorin Sie nicht ſobald wieder fortlaſſen wird. Nun, was ſagen Sie, Herr Doctor?

Ich kann den Damen nur meinen tiefgefühlten Dank ausſprechen, daß Sie die Güte haben wollen, über meine Zeit beſſer zu disponiren, als ich es auf jeden Fall im Stande wäre, antwortete Oswald mit einer höflichen Verbeugung.

Das heißt: der Weiſe ſchickt ſich in das Unver¬ meidliche, ſagte Melitta lachend. Und hier kommt der Baron mit Malte, und wir können zu Tiſche gehen, wonach ich, offen geſtanden, großes Verlangen trage.

Die Tafel war auf dem niedrigen Perron, der nach78 dem Garten zu dem Schloſſe in ſeiner ganzen Länge angebaut war, unter einem Zeltdache gedeckt. Der Abend war herrlich. Die Sonne war im Untergehen. Roſige Lichter ſpielten in den Wipfeln der hohen Buchen, die den ſchattigen Raſenplatz umgaben. Schwalben ſchoſſen zwitſchernd und zirpend durch die klare Luft. Ein Pfau kam, durch das wohlbekannte Klappern der Teller herbeigelockt aus dem Gebüſch eilig über die Wieſe geſchritten, und ſammelte die Brocken auf, die der alte Baron ihm über das Steingeländer des Per¬ rons zuwarf.

Die Unterhaltung war heute um Vieles lebhafter, als es wohl ſonſt der Fall war. Die Baronin konnte, wenn ſie wollte, eine ſehr angenehme Wirthin machen, und ſie war, trotz ihrer zur Schau getragenen Abnei¬ gung gegen weltlichen Sinn, durchaus nicht ſo frei von Eitelkeit, daß es ihr gleichgültig geweſen wäre, neben Melitta überſehen zu werden. Melitta aber war in der liebenswürdigſten Laune; ſie ſcherzte und lachte, neckte und ließ ſich necken, unbefangen, harmlos, wie ein Kind. Es fiel Oswald, während er ſich dem Zauber von Melitta's reizender Erſcheinung willig überließ, nicht ein, zu glauben, ſeine Gegenwart könne etwas zur Erhöhung ihrer Stimmung beitragen, und doch war dies in einem hohen Grade der Fall. Es giebt wenige79 Frauen, die vollkommen indifferent dagegegen ſind, welchen Eindruck ſie auf ihre Umgebung hervorbringen, und Melitta gehörte durchaus nicht zu dieſen wenigen Frauen, wohl aber zu jenen Naturen von leicht erreg¬ licher Sinnlichkeit, die ſich durch gefällige und ſchöne Formen in einer Weiſe beſtechen laſſen, die kälteren Temperamenten unbegreiflich iſt. Nun war Oswald, ohne das zu ſein, was man einen ſchönen Mann nennt, von der Mutter Natur nichts weniger als ſtiefmütter¬ lich ausgeſtattet, und die gute Geſellſchaft, in der er ſich ſtets bewegt, hatte die natürliche Grazie ſeiner Manieren noch erhöht. Das Alles überraſchte Me¬ litta um ſo angenehmer, als ſie es bei einem Manne von einer nach ihren Begriffen ſo untergeordneten Stellung am wenigſten erwartet hatte. Oswald er¬ ſchien ihr mit jedem Augenblick bedeutender; ſie fing an, ihre brüske Einladung von vorhin doch recht un¬ paſſend zu finden, und zugleich entzückte ſie der Ge¬ danke, den liebenswürdigen jungen Mann ſo bald bei ſich zu ſehen. Es ſchmeichelte ihr, wenn, was über Tiſche mehr als einmal geſchah, Oswalds Blicke den ihren begegneten, und doch ſenkte ſie jedesmal die Wimpern vor einem Augenpaar, das bei aller Unbe¬ fangenheit ſo beredt und forſchend blicken konnte.

Nach Beendigung der Mahlzeit brachte die Baronin,80 da Melitta erklärte, noch ein Stündchen bleiben zu können, ein Reifſpiel in Vorſchlag, Bruno ſprang fort, die Reifen zu holen, die weder verlegt noch außer Stande waren, ein Umſtand, der gewiß für die muſter¬ hafte Ordnung, die in dem Schloſſe Grenwitz herrſchte, beredt genug ſpricht; und bald hatte ſich die Geſell¬ ſchaft auf dem Raſen in einem weiten Kreiſe aufge¬ ſtellt und die bunten Reifen flogen luſtig durch die weiche, warme Abendluft von Einem zum Anderen. Alle, ſelbſt der alte Baron, legten eine größere oder geringere Geſchicklichkeit an den Tag, mit Ausnahme von Malte, der ſeinen Reif in den meiſten Fällen, wo er ihm nicht unmittelbar auf den Stock geflogen kam, fallen ließ, eine Gelegenheit, die Melitta, ſeine Nach¬ barin, zum großen Aerger Bruno's, der die Spiel¬ regeln eingehalten wiſſen wollte, jedesmal benutzte, ihren Reif aus der Reihe einem der Mitſpieler blitz¬ ſchnell über den Kopf zu ſchleudern, wobei Oswald nicht umhin konnte, zu bemerken, daß Melitta ihn häufiger wie die Uebrigen auf dieſe Weiſe auszeichnete.

Unterdeſſen war der Abend tiefer herabgeſunken; der alte Baron hatte eine ſchwache Spur von Thau auf dem Raſen bemerkt; Abendthau aber war nach ſeiner Meinung reines Gift für Malte, der als kleines Kind eine Zeit lang viel an der Bräune gelitten hatte,81 und er mahnte deshalb dringend, das Spiel einzuſtellen. Melitta fand, daß es hohe Zeit für ſie ſei, aufzubrechen, und bat, ihrem Reitknecht Befehl zu geben, die Pferde zu ſatteln. Bruno war fortgeſprungen, den Auftrag auszurichten; die Baronin mit Mademoiſelle in das Zimmer getreten; der Baron beſchäftigt, Malte, der ſich durchaus erkältet haben ſollte, ein dickes Shawl¬ tuch um den Hals zu wickeln; Oswald und Melitta waren zum erſten Male ſeit ihrer unterbrochenen Con¬ verſation von vorhin allein geblieben. Melitta hatte von einem Roſenſtrauch, der zu den Füßen der Flora wuchs, eine Roſe gepflückt und betrachtete ſinnend die köſtliche Blume.

Verzeihen Sie, mein Herr, ſagte ſie plötzlich, leiſe und raſch, aber ohne die Augen aufzuſchlagen, daß ich vorhin die Unſchicklichkeit beging, Sie ohne weiteres um einen Beſuch zu bitten, der Ihnen am Ende beſchwerlich fällt, aber

Kein Aber, gnädige Frau; ich wiederhole im Ernſt, was ich vorhin aus bloßer Höflichkeit ſagte, daß ich mich glücklich ſchätzen würde, Ihnen irgendwie dienen zu können.

Sie kommen alſo morgen?

Wie Sie befehlen.

Nein: wie ich wünſche. Sehen Sie nur, wieF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 682wundervoll dieſe Roſe iſt! Lieben Sie auch die Roſen ſo?

Ich liebe Alles, was ſchön iſt, ſagte Oswald, nicht auf die Roſe, ſondern auf Melitta blickend.

Sie hob die langen Wimpern und ſchaute dem jungen Mann tief und voll in die leuchtenden Augen.

Da! ſagte ſie plötzlich und hielt ihm die Roſe entgegen, als ob er ihren Duft einathmen ſollte; er aber fühlte nur, wie ſich die ſchlanken Finger der Dame leicht wie ein Hauch auf ſeine Lippen legten.

Die Pferde ſind da, Tante! rief Bruno.

Ich komme! antwortete Melitta und eilte von Oswald fort.

Die Roſe lag zu ſeinen Füßen; er bückte ſich ſchnell, hob ſie auf und verbarg ſie an ſeiner Bruſt.

Mademoiſelle Marguerite brachte Melitta Federhut, Reitpeitſche und Handſchuh.

Iſt die Baronin im Zimmer?

Ja.

So will ich gehen, ihr Adieu zu ſagen.

Der alte Baron, Oswald und die Knaben gingen durch die Gitterthür des Parks nach dem Schloßhofe, wo ein Reitknecht zwei Pferde am Zügel führte. Oswald bewunderte die Schönheit der Thiere, beſonders das83 mit dem Damenſattel, ein herrliches Vollblut, Melit¬ ta's Lieblingspferd. Bella.

Melitta trat, von der Baronin und Mademoiſelle gefolgt, aus dem Portale raſch auf ihr Pferd zu. Der alte Baron hob ſie in den Sattel.

Adieu, adieu! rief ſie herunter. Allez! Bella! und ſo ſprengte ſie aus dem Schloßhof hinein in den dämmrigen Abend.

Die Anderen waren wieder in's Haus getreten. Oswald ſtand, die Augen nach dem Thor gerichtet, durch das Melitta verſchwunden war, in ſich verſunken da.

Wollen wir nicht hineingehen, Oswald? ſagte Bruno, ſeine Hand ergreifend; es iſt dunkel geworden.

Es iſt dunkel geworden, wiederholte der junge Mann und folgte träumend dem Knaben.

6*
[84]

Achtes Kapitel.

Der Baron hatte Oswald angeboten, ihn nach der Kirche fahren zu laſſen; der junge Mann aber, der die ſchwerfälligen Braunen noch von dem Abend ſeiner Ankunft her in böſem Angedenken hielt, es abgelehnt. Bruno und Malte erwarteten heute die Knaben eines benachbarten Edelmanns zum Beſuch. Bruno wäre am liebſten mit Oswald gegangen, da dieſer aber ſelbſt ihn zu bleiben bat, ſagte er:

Sie ſind recht froh, daß Sie mich auf ein paar Stunden los ſind, aber ich weiß, was ich thue. Ich gehe in den Wald und komme vor Abend nicht wieder nach Hauſe.

Das wirſt Du nicht thun, Bruno!

Und weshalb nicht? fragte der Knabe trotzig.

Weil Du mich lieb haſt.

Nun denn, ſo will ich Ihnen zu Liebe hier bleiben,85 den albernen Hans von Plüggen nicht prügeln und mich überhaupt ſo muſterhaft benehmen, daß ſelbſt Tante zufrieden ſein ſoll.

Thue das, lieber Junge. Leb 'wohl!

Leb 'wohl, Lieber, Beſter! rief der Knabe und warf ſich ſtürmiſch an die Bruſt ſeines einzigen Freun¬ des, und eilte von ihm fort, in den Garten, dort mit ſeinem wilden Herzen allein zu ſein.

Oswald ging aus dem Schloßhofe den Weg, von dem er wußte, daß er nach dem Pfarrdorfe führte. Die Sonne ſchien hell aus dem blauen Himmel, an welchem weiße Wolkenballen unbeweglich ſtanden. Es war nicht heiß, denn der Athem des nahen Meeres hauchte Kühlung durch die Sommerluft. Lerchen ju¬ belten hoch droben im blauen Raum verloren. An dem Rande des nahen Waldes, von dem eine Ecke, Oswald zur Rechten, weit in das bebaute Land hinein¬ ſchoß, zog ein Gabelweih ſeine Kreiſe. Auf den Fel¬ dern ſah man keine Arbeiter; die Ackergeräthe lagen müßig. In einer Koppel, an welcher der Weg vor¬ überführte, lagen in ſatter Ruhe Kühe und Kälber; ein paar muntre Füllen kamen an den Zaun, und ſahen neugierig nach dem Wanderer.

Oswald hatte ſchon den Hof des Gutes hinter ſich. Er kam auf dem mit Weiden an beiden Seiten86 beſetzten Wege an der Stelle vorüber, wo der Streit zwiſchen Bruno und dem Knecht ſtattgefunden hatte. Unwillkürlich blieb er ſtehen; die ganze Scene wurde wieder lebendig vor ſeinem Auge; er ſah den ſchönen Knaben, zürnend und drohend, wie ein jugendlicher Gott; und den feigen zurücktaumelnden Knecht. Schon that es ihm leid, daß er ſeinen Liebling zum Zurück¬ bleiben vermocht hatte. Er fühlte ſich ſo leicht, ſo froh an dieſem ſchönen Morgen, und es war ihm ſchon zur lieben Gewohnheit geworden, wenn ſeine Seele ein Feſt feierte, den Knaben zu Gaſt zu haben. Du, wie Al Hafi, Wilder, Guter, Edler! ſprach er bei ſich, was willſt Du in dieſer Welt von weibiſchen Männern! Fürchten ſie ſich doch jetzt ſchon vor Dir, da Du ein Knabe biſt, was werden ſie thun, wenn Du ein Mann geworden! Ein Mann thut uns noth, ſchreien die Gelehrten aller Arten. Wie wollt ihr Männer haben, wenn Haus und Schule und Leben ſich gegenſeitig unterſtützen, die ſtolze Kraft im Keim zu brechen! Da ſchnitzeln ſie an dem Bogen und ſchnitzeln immerfort, und wundern ſich, wenn das feine Ding hernach zerbricht. Pygmäengeſchlecht, das den Rieſen, den ein glücklicher Zufall an ihren öden Strand geworfen, mit tauſend und aber tauſend Fäden regungs¬ los an die platte Erde feſſelt!

87

Oswald war in dem beſten Zuge, ſich in eine mi¬ ſanthropiſche Stimmung hineinzureden, aber der helle, leuchtende Morgen duldete die Nachtgedanken nicht. Ein Bild, das Bild einer ſchönen Frau, das geſtern Abend, bevor der Schlummer ſeine Augen ſchloß, noch zuletzt vor ſeiner Seele geſtanden hatte, das als ein lieber Schatten durch ſeine Träume geglitten war und, wie der Nachklang einer köſtlichen Muſik, ihn ſchon den ganzen Morgen umſchwebt hatte, trat wieder vor ſeine Seele. Aber vergebens ſuchte er es zu bannen. Wer hätte nicht ſchon die Bemerkung gemacht, daß unſere Erinnerung die Geſtalten ganz unbedeutender, uns voll¬ kommen gleichgültiger Menſchen oft mit der kleinlichſten Genauigkeit, ohne daß wir es wollen oder wünſchen, uns vorführt, und ſich weigert, uns denſelben Dienſt, der jetzt wirklich ein Liebesdienſt wäre, bei den bedeu¬ tendſten und von uns am meiſten geliebten Menſchen zu leiſten? Iſt es, daß wir ſo ſelten vermögen, dieſe mit unbefangenem Auge zu betrachten? iſt es, daß, wo das Herz zum Herzen ſpricht und die Seelen in einander fließen, die Geſtalt, wie ein Kleid von dem Blitz verzehrt wird? daß es des Gleichniſſes, welches alles Vergängliche iſt, nicht bedarf für den Geiſt, der das Unvergängliche, die Idee, zu erfaſſen verſteht? Während Oswald nur an Melitta dachte, nur an ſie88 denken wollte, ſah er die Baronin, Mademoiſelle Mar¬ guerite, dieſe oder jene Dame ſeiner Bekanntſchaft, aber die Amazone im grünen Reitkleide zerflatterte ihm immer wie neckiſcher Nebel. So flattre fort, Du ſchöner Spuk! rief der junge Mann, und ſuchte ſeinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.

Das Terrain war bis dahin wellenförmig geweſen, jetzt wurde es eben, wie die Fläche des Meeres in der Windſtille. Eine weite Haide lag vor ihm, jenſeits derſelben das Kirchdorf, welches das Ziel ſeiner Wan¬ derung war. Andere Gehöfte bekränzten in weiter Ferne die Fläche. Die Weiden, die bis dahin den Weg begleitet hatten, wurden ſpärlicher und verſchwan¬ den zuletzt ganz. Hier und da hatte man auf der Haide die Raſendecke entfernt, um den Torf zu ge¬ winnen, der nun in langen ſchwarzen Reihen zum Trocknen aufgeſchichtet da lag. In den ſo entſtande¬ nen tiefen Gräben blinkte das Waſſer. Kiebitze und anderes Sumpfgevögel flatterte hin und wieder. In der weiten, öden Runde ſah Oswald keinen Menſchen, außer einer Frau, die ein paar hundert Schritte vor ihm auf einem Grenzſteine ſaß. Als er näher kam, fand er, daß es eine alte, ſehr alte Frau, in einem armſeligen, aber äußerſt reinlichen Anzuge war. Sie mußte wohl, von dem Wege ermüdet, auf dem Steine89 eingenickt ſein; denn ſie richtete den tief geſenkten Kopf ſchnell in die Höhe, als Oswald in ihre Nähe kam und betrachtete verwundert den jungen Mann.

Guten Morgen, Mütterchen! ſagte dieſer ſtehen bleibend; iſt das Dorf dort gerade vor uns Faſchwitz?

Ja! ſagte die Frau mit für ihr Alter auffallen¬ der Lebhaftigkeit, der junge Herr will wohl auch in die Kirche?

Ja, Mütterchen! wann fängt die Predigt an?

Die Alte warf einen Blick nach der Sonne und ſagte:

Ich hab 'zu lang geſchlafen; für mich iſt es nun ſchon zu ſpät; meine alten Beine tragen mich nicht mehr ſo ſchnell; aber Sie ſind ein junger Menſch, Sie kommen ſchon noch zur rechten Zeit. Nicht für ungut, wie iſt Ihr Name, junger Herr?

Stein Oswald Stein.

Stein? den Namen muß ich ſchon gehört haben.

Wohl möglich, er iſt nicht eben ſehr ſelten.

Stein hm, hm; nicht für ungut, wo ſind Sie her, Herr Stein?

Oswald, dem es Vergnügen machte, ſich ſo harm¬ los ausgefragt zu ſehen, und dem die Art der alten Frau wohl gefiel, ſetzte ſich, da es ihn eben nicht drängte, in die Kirche zu kommen, der Matrone gegen¬90 über, die ihn, die runzligen Hände auf die Knie ge¬ ſtemmt, aus ihren tief geſunkenen, immer aber noch ausdrucksvollen Augen forſchend anſah, auf den Stamm einer umgefallenen Weide und ſagte:

Aus Grenwitz, Mütterchen.

Aus Grenwitz? Sieh einmal! Da bin ich auch her. Mit Verlaub, Sie ſind wohl zum Beſuch auf dem Schloſſe?

Nicht ſo eigentlich; ich bin der Hauslehrer der Knaben.

Das iſt wohl nicht möglich?

Warum?

Nu, die Herren Candidaten ſehen ſonſt ganz an¬ ders aus. Oswald lachte.

Und Sie kommen den weiten Weg ganz allein, Mütterchen?

Ich hab 'keinen Menſchen, der mit mir gehen könnte. Mein Mann iſt längſt todt, und meine Jun¬ gens ſind todt und meine Dirnens ſind todt Alles todt.

Die alte Frau ſtrich ſich die Falten ihres Rockes über den Knieen glatt, als wollte ſie ſagen: Alle ein¬ geſcharrt, und die Erde glatt drüber gedeckt, keine Spur mehr von ihnen.

Oswald jammerte das einſame, hülfloſe Alter der91 Frau. Er ſagte, um doch etwas zu ſagen, wovon er glaubt, daß es der einfältigen Seele tröſtlich ſein könnte:

Nun, in jenem Leben werden Sie ja alle Ihre Lieben wiederfinden.

In jenem Leben? ſagte die Alte und blickte zum blauen Himmel hinauf, daran glaube ich nicht.

Wie? daran glauben Sie nicht? fragte Oswald verwundert.

Die Alte ſchüttelte den Kopf.

Sie ſind noch jung, Herr wie war Ihr Name? Stein ja Sie ſind noch jung, Herr Stein; wenn Sie erſt ſo viele Menſchen haben ſterben ſehen, wie ich, glauben Sie auch nicht mehr daran. Wenn ein Menſch geſtorben iſt, dann iſt er richtig todt richtig todt. Und dann, wo ſollten wohl all' die Menſchen hin bei der Auferſtehung, wie ſie es nennen? In unſerem Dorfe lebt kein Einziger mehr von Allen, mit denen ich jung geweſen bin. Und die Anderen, die nach mir geboren ſind, ſind alt geworden und auch geſtorben. Und ſo kommen immer Neue und immer Neue. Nein, auf der ganzen weiten Erde wäre kein Platz für all' die Menſchen!

Aber vielleicht auf anderen Sternen? warf Os¬ wald ein.

Wie ſollen ſie dort hinkommen? Nein, von der92 Erde kommt Keiner, aber unter die Erde kommen ſie Alle Alle und die alte Frau ſtrich die Falten ihres Rockes wieder über den Knieen glatt.

Die Körper wohl, aber die Seelen

Na, ich weiß nicht, ſagte die Matrone, den Kopf ſchüttelnd, aber das weiß ich, daß wenn einer geſtor¬ ben iſt, er richtig todt iſt, und wir ſagen: nun hat die liebe Seele Ruhe. Und etwas Beſſeres als Ruhe kann ſich auch Keiner nicht wünſchen, er mag ein Edel¬ mann oder ein Bauersmann ſein, jung oder alt.

Weshalb aber gehen Sie denn noch den weiten Weg in die Kirche, wenn Sie an nichts mehr glauben? fragte Oswald.

Wer ſagt das? ſagte die Matrone faſt entrüſtet; ich glaube an Gott, wie jeder Chriſtenmenſch; und rechtſchaffen und fromm muß man ſein, das hat mit der Auferſtehung nichts zu ſchaffen; und ſeine Pflicht muß man thun, das verſteht ſich von ſelbſt. Und nun, junger Herr, machen Sie, daß Sie fortkommen, es wird ſonſt gar zu ſpät. Ich will nur wieder um¬ kehren. Adjes! Damit ſtand ſie auf, ergriff einen Eichenſtock, der neben ihr an dem Stein gelehnt hatte, ſtreckte Oswald die welke, zitternde Hand hin, die dieſer nicht ohne ein Gefühl der Ehrfurcht drückte, und93 begann den Weg, den ſie gekommen war, langſam, langſam zurückzuwandern.

Das iſt eine merkwürdige Frau; ſprach der junge Mann bei ſich, während er raſcher weiter ſchritt; ich muß mich näher nach ihr erkundigen. Wer hätte ge¬ glaubt, daß die Sätze der Philoſophen vom neueſten Schlage, Sätze, die freilich nur uralte Münzen mit etwas anderem Gepräge ſind, ſelbſt in dieſen Schichten des Volkes curſiren. Nun, nun, wenn ſelbſt die Ein¬ fältigen und Friedfertigen anfangen, ſich darauf zu be¬ ſinnen, daß ſie Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben, ſo iſt ja wohl der letzte Tag der Dun¬ kelmänner gekommen.

[94]

Neuntes Kapitel.

Das Dorf Faſchwitz iſt ein Experiment der Re¬ gierung. Das Gut, eins der größten der Gegend, war wie faſt alle in dieſem Theil des Landes urſprüng¬ lich im Beſitz einer adligen Familie geweſen, und beim Ausſterben derſelben als erledigtes Lehen an die Krone zurückgefallen. Dieſe hatte, um ſich einen Stamm kleinerer Grundbeſitzer oder freier Bauern zu ſchaffen, an denen es hier faſt ganz gebricht, hier und an an¬ deren Orten förmliche Bauerncolonieen gegründet, in¬ dem ſie große Lehengüter parcellirte und die einzelnen Parcellen zu Spottpreiſen an Liebhaber verkaufte. Der Faſchwitzer Gemeinde hatte ſie eine Kirche gebaut, einen Prediger in den Ort geſchickt; es war nicht Schuld der Regierung, wenn die Faſchwitzer nicht ge¬ diehen.

Indeſſen ſtand zu wünſchen, daß ſie von den übri¬ gen ihnen gewährten Vortheilen und Vorzügen einen95 beſſeren Gebrauch machten, als von der Gelegenheit, ſich allſonntäglich geiſtige Nahrung zu verſchaffen, denn Oswald fand, als er ſich durch eine Seitenthür die Hauptthür war verſchloſſen Eingang verſchafft hatte, daß die andächtigen Zuhörer aus einigen Kin¬ dern, die wohl zum Confirmandenunterricht gingen und alſo ex officio da waren, einigen alten Frauen, die der langen Gewohnheit bis an's Ende treu bleiben, und aus einigen Gutsbeſitzerfamilien der Nachbarſchaft, die ihren Hörigen ein gutes Beiſpiel geben wollten, beſtand. Das Innere der Kirche bildete einen mäßig großen, wohl erhellten, nicht gewölbten Saal, in welchem Kanzel, Altar und Bänke ſchicklich vertheilt waren Alles ſehr neu, ſehr zweckmäßig und ſehr nüchtern. Da gab es keine kleinen buntbemalten Fenſterſcheiben, kein Altarbild, keine pausbäckigen Engel in Bronce oder Holz, keine Votivtafeln, keine halbverwelkten Kränze, und wodurch noch ſonſt der Katholik ſeinen gemüthlichen Beziehungen zu der überirdiſchen Welt, zu welcher ihm die Kirche eine Vorhalle iſt, einen Aus¬ druck zu verſchaffen ſucht. Das einzig Poetiſche in der Kirche waren die Schatten der Linden vor den Fenſtern, die auf der hellen gegenüberſtehenden Wand hin und her wogten, und die breiten Lichtſtreifen, die ſchräg durch den Raum fielen und der Phantaſie eine96 goldene Brücke bauten, aus dieſer nüchternen Atmo¬ ſphäre zu entrinnen in den Sommermorgen, der drau¬ ßen warm und duftig auf Wieſen, Feldern und Wäl¬ dern lag. Von der Zuhörerſchaft ſchien indeſſen Nie¬ mand dieſes Weges zu bedürfen, oder ihn praktikabel zu finden, mit Ausnahme etwa eines hübſchen zehn¬ jährigen Mädchens mit langen blonden Locken, die wohl ein lebhaftes Verlangen nach den bunten Blumen und weißen Schmetterlingen im Garten ihres Vaters, eines dicken Gutsbeſitzers, der neben ihr andächtig nickte, em¬ pfinden mochte, und deswegen von der hageren Gou¬ vernante oft zur Ruhe ermahnt werden mußte. Im Uebrigen trugen die Geſichter aller Anweſenden ganz entſchieden das Gepräge von Leuten, die ihre Gedanken zu Hauſe gelaſſen haben, und im beſten Falle von Menſchen, die ſich mit Anſtand langweilen.

Und in der That, es wäre ein Wunder geweſen, wenn dieſe Gemeinde ſich von dieſer Predigt hätte er¬ bauen laſſen und von dieſem Prediger. Oswald, der der Kanzel gegenüber hinter der Gutsbeſitzerfamilie zu ſitzen gekommen war, erkannte auf den erſten Blick, den er auf den Prediger richtete, und nach den erſten Worten, die er aus des Mannes Munde vernahm, daß hier zwiſchen Geiſtlichem und Gemeinde ungefähr ſo viel Sympathie beſtehe, wie zwiſchen einem ſchrift¬97 gelehrten Miſſionär und einem Stamme gutmüthiger wilder Menſchen. Auch ſchien der Prediger ſelbſt, ein kleiner, ſchmächtiger Mann von etwa vierzig Jahren mit einem durch trockene Studien ausgetrockneten Ge¬ ſicht, dies recht wohl zu empfinden; denn er war Os¬ walds, in welchem er natürlich ſofort den vielbeſpro¬ chenen neuen Hauslehrer von Grenwitz erkannte, kaum anſichtig geworden, als er ſeinen Vortrag hauptſächlich an ihn zu richten begann, als an den Einzigen, der im Stande ſei, den Werth der gelehrten Perlen zu würdigen, die ihn hier, vor ungebildetes Rüſſelvieh zu werfen, ein unverſtändiges Conſiſtorium nöthigte.

O, meine andächtigen Zuhörer, rief er, die be¬ brillten Augen auf Oswald richtend, der ſich, ſo gut es gehen wollte, hinter dem blonden Lockenkopf ver¬ ſteckte, o meine andächtigen Zuhörer, ihr ſehet, ein wie ſchwaches Ding dieſen ungeheuren Fragen gegen¬ über die menſchliche Vernunft iſt. Und dennoch, den¬ noch Vielgeliebte, giebt es irrende Brüder und Schwe¬ ſtern, die noch immer dem Nachtlicht ihrer eitlen Ver¬ nunft vertrauen, nachdem ſchon längſt auch für ſie die Sonne aufgegangen iſt. O ja! dieſes Stümpfchen ihrer Unſchlittkerze mag ihnen hell genug erſcheinen in den Tagen der gedankenloſen Jugend, den Tagen des Feſtes, der Herrlichkeit und der Freude; aber nicht alſo inF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 798den Tagen des kummervollen und gedankenſchweren Alters. Darum gebet auf das ſtolze Vertrauen auf die Vernunft, und haltet feſt an dem Glauben! Gebet auf die thörichte Zuverſicht auf euren geſunden Men¬ ſchenverſtand, wie ihr ihn nennt! O, meine andäch¬ tigen Zuhörer, dieſer geſunde Menſchenverſtand iſt ein kranker, ein ſehr kranker Menſchenverſtand, iſt ein Teufelsſpuk und ein Irrlicht, das Euch unaufhaltſam in den Sündenpfuhl der Verderbniß lockt!

Oswald wurde durch dieſe Rede, die ſich, mit Ci¬ taten aus der heiligen Schrift reichlich untermiſcht, noch über eine halbe Stunde fortſpann, auf eine eigen¬ thümliche, aber keineswegs angenehme Weiſe berührt. Der Gegenſatz zwiſchen der ſtillen, demüthigen Unter¬ werfung unter die großen, ewigen Geſetze der Natur, die aus den Worten der alten Frau und noch mehr aus ihrem ernſten, beſcheidenen Weſen geſprochen hatte, und der anmaßlichen Zuverſicht, mit welcher der Mann auf der Kanzel über ſo tief verborgene Dinge ſprach, und jedes geſunde Gefühl und jede natürliche Regung der Menſchenbruſt als eitel Lug und Trug und Sünde verdammte, war doch gar zu groß. Die ſchmuckloſe Weisheit der Matrone war friſch und duftig, wie ein Blümchen auf der Haide, die prunkende Klugheit des Predigers wie eine Pflanze, in der dumpfigen, ſchwülen99 Luft eines Zimmers üppig emporgeſchoſſen in Stiel und Blätter, aber ohne Saft und Kraft und Blüthen. Oswald war froh, als endlich der gelehrte Herr, nach¬ dem er noch ein letztes kräftiges Anathema gegen alle Andersdenkende geſchleudert und ihre Moralität gehörig verdächtigt hatte, bis zu dem Amen kam.

Es iſt gewißlich nicht wahr! ſagte der junge Mann bei ſich, als er auf den Fußſpitzen nach der kleinen Seitenthür ſchlich, durch die er eingetreten war. Und als draußen der blaue Himmel ſich wieder über ihm wölbte, und der Duft der Linden ihn umwehte, da athmete er tief auf, wie Jemand, der aus der heißen, erſtickenden Atmoſphäre eines Krankenzimmers in die balſamiſche Luft eines Gartens kommt.

Ich werde die Bekanntſchaft dieſes Mannes nicht machen, wenn ich es vermeiden kann, monologiſirte er weiter, während er den kleinen Hügel, auf dem die Kirche lag, hinunter, an mehren herrſchaftlichen Wagen, die unterdeſſen vorgefahren waren, vorüber, in's Dorf hineinging; was habe ich mit ihm zu ſchaffen! Seine Gedanken ſind nicht meine Gedanken und ſeine Sprache iſt nicht meine Sprache! wir würden uns in Ewigkeit nicht verſtehen. Ich halte nichts von jener ver¬ waſchenen Humanität, die mit Jedermann gut Freund iſt, und Niemanden zurückweiſt, weil es doch vielleicht7*100ein feſter Punkt iſt, um den ſich möglicherweiſe etwas kryſtalliſiren könnte; nichts von jener Käferphiloſophie, die jeden Fremden höflich umſummt, in der Hoffnung, die verborgene Blüthe zu finden, aus der ſich eine Nahrung ſaugen ließe. Der kluge Kaufmann ſchifft der Küſte vorüber, die zu arm zum Tauſchhandel iſt; und kommen doch die Worte: wer nicht für mich iſt, der iſt wider mich aus dem erhabenen Munde, der die Liebe gepredigt hat.

Oswald war, Dies und Aehnliches bei ſich überden¬ kend, auf's Gerathewohl, wie es ſeine Gewohnheit war, wenn ihn etwas lebhaft beſchäftigte, in dem ihm un¬ bekannten Dorfe, wo Häuſer und Scheunen und Ställe, Mauern und Gärten, dem Fremden unentwirrbar, durcheinander lagen, umhergewandert, und wollte eben aus einem ſchmalen Gange an der Seite eines ſtatt¬ lichen Hauſes auf eine breitere Straße einbiegen, als ihm der Pfarrer, der aus der Kirche kam, gegenüber¬ ſtand. An ein Ausweichen war nicht zu denken, und Oswalds Verſuch, höflich grüßend vorbeizukommen, mißlang gänzlich, denn der Pfarrer hatte ihn kaum er¬ blickt, als er ihm im eigentlichſten Sinne den Weg vertrat, und ihn, als ein geſchworner Anhänger der Käferphiloſophie, ſofort alſo anredete:

Ach! ich habe gewiß die Ehre und das Vergnügen101 Herrn Doctor Stein vor mir zu ſehen! Wie freund¬ lich von Ihnen, daß Sie mich zu beſuchen kommen. Aufrichtig, ich habe Sie ſchon ſeit einigen Tagen bei mir erwartet. Als ich neulich in Grenwitz war, der gnädigen Baronin meine Aufwartung zu machen, erfuhr ich leider, daß Sie mit Ihren Zöglingen einen längeren Spaziergang unternommen hätten, ſonſt würde ich mir die Freude nicht verſagt haben, Sie auf Ihrem Zim¬ mer aufzuſuchen. Meine Frau wird ſich glücklich ſchätzen, Sie unter unſerem beſcheidenen Dache zu begrüßen. Wollen Sie gefälligſt näher treten? Bitte, bitte, keine Umſtände!

Hier iſt kein Entrinnen möglich, dachte Oswald, und der Höflichkeit, dieſem Affen der Humanität, zu Liebe, ließ er ſich unter dem beſcheidenen Dache, das nebenbei ein ganz ſtattliches Haus bedeckte, eine Gaſt¬ freundſchaft aufnöthigen, der auszuweichen er noch eine Minute vorher entſchloſſen geweſen war.

Guſtava! Guſtave! Guſtchen! rief der Pfarrer auf der Hausflur; öffnete aber, da die Gerufene die ſichere Poſition hinter dem mit einem Vorhang ver¬ ſehenen Guckfenſterchen der Küchenthür nicht aufgeben mochte, bevor ſie über den Charakter des Fremden und den Zweck ſeines Beſuches genauer unterrichtet ſein würde, ſein Studirzimmer, und bat Oswald einzutre¬102 ten, bis er ſich ſeiner Amtstracht entledigt und ſeine Guſtava von dem werthen Beſuch benachrichtigt hätte.

Das Studirzimmer des geiſtlichen Herrn war ein großes, zweifenſtriges Gemach, in welchem einige Bücher¬ ſchränke, einige Heiligenbilder an der Wand, ein hartes, mit ſchwarzem, glänzendem Zeuge überzogenes Sopha, ein runder, mit Büchern bedeckter Tiſch in der Mitte, ein Stehpult mit einem Drehſeſſel davor in einem der Fenſter, und eine mit Tabaksduft reichlich geſchwängerte Atmoſphäre, das dem Eintretenden zuerſt in die Sinne Fallende war. Die letztgenannte Eigenthümlichkeit war ſo ausgeſprochen, daß Oswald einen Fenſterflügel öffnen mußte, wobei er eine ſtarke Anwandlung verſpürte, über die niedrige Brüſtung auf die ſonnebeſchienene Dorfgaſſe zu ſpringen und das Weite zu ſuchen.

Dieſer Fluchtverſuch wurde indeſſen durch die Zu¬ rückkunft des Pfarrers vereitelt. Der geiſtliche Herr präſentirte ſich jetzt in einem Anzuge aus ſchwarzem, wie Fett glänzenden Sommerzeuge. Er bat Oswald einige Augenblicke in ſeiner Klauſe verziehen zu wollen, da Guſtava noch in den Küchenräumen ſchalte. Oswald, der alle Hoffnung zu entrinnen aufgegeben hatte, machte jetzt nicht einmal den Verſuch, die Einladung des Pfarrers, zum Mittageſſen dazu¬ bleiben, auszuſchlagen.

103

Sie werden freilich nur paternum mensa tenui salinum finden, Urväter Hausrath auf dürftigem Tiſche, ſagte der Paſtor, der ſeinem Gaſte zeigen wollte, daß er ſein Latein noch nicht vergeſſen habe; aber Sie wiſſen: vivitur parvo bene; auch mit Wenigem lebt ſich's gut. Darf ich Ihnen, bis die Mahlzeit angerichtet iſt, eine Cigarre offeriren?

Oswald dankte, da er kein Raucher ſei.

O, eine vortreffliche Eigenſchaft das! eine klaſſiſche Eigenſchaft, ſagte der Paſtor, ſeinen eigenen Witz be¬ lächelnd; die Alten rauchten nicht, und Goethe, den ein frivoler, aber witziger Schriftſteller den großen Heiden nennt, war ein abgeſagter Feind der Pfeife und Cigarre. Sie erlauben, daß ich meiner Gewohn¬ heit, nach der Predigt ein leichtes Cigarrchen zu rauchen, getreu bleibe?

Bitte dringend, Herr Paſtor!

Finden Sie nicht paff, paff! daß das Rauchen paff, paff! ſo recht eigentlich ein ger¬ maniſches, ja, um mich ſo auszudrücken, ein chriſtlich - germaniſches Element iſt? ſagte der Pfarrer, der heute auf alle Fälle geiſtreich ſein wollte.

Sie würden durch dieſe Bemerkung den Spöttern der Religion eine Waffe in die Hände geben, ant¬ wortete Oswald trocken.

104

Wie das, Werthgeſchätzteſter?

Beſagte Spötter könnten behaupten, daß, ſich ſelbſt und Anderen einen romantiſchen blauen Dunſt vorzumachen, allerdings ein weſentlicher Zug germani¬ ſcher, beſonders chriſtlich-germaniſcher Natur ſei.

Der Pfarrer ſah Oswald mit einem ſchnellen, lauernden Blick halb über die Brillengläſer hinweg an, als hätte er gern auf einmal herausgebracht, wie weit er ſeinem Gaſte trauen dürfe. Da er es aber für einen Mann von klaſſiſcher Bildung unſchicklich fand, auf einen Scherz, auch wenn derſelbe an's Frivole ſtreifte, nicht einzugehen, ſo antwortete er mit ſauer¬ ſüßem Lächeln: Nicht übel, nicht übel! Aber was wäre vor den Spöttern ſicher? Freilich, wir könnten antworten: ex fumo lucem! ex fumo lucem! Licht aus dem Rauche! Aber ſetzen wir uns, lieber Freund, ſetzen wir uns! Wie befindet ſich denn der gute, liebe Baron und die gnädige Baronin? Ach! Sie können ſich glücklich ſchätzen, lieber Freund, in ſolchem Hauſe leben zu dürfen unter ſo vortrefflichen Menſchen, die mit dem Geburtsadel den wahren Adel der Seele verbinden vor Allem die gnädige Baroneß, eine fromme und ſehr gebildete Dame, die Alles ex fundamento kennen lernen will. Sie lieſt jetzt Schleier¬ machers Reden über die Religion

105

Sollte ſie wohl im Stande ſein, die zu verſtehen? bemerkte Oswald.

Der Pfarrer ſah Oswald wieder mit jenem eigen¬ thümlichen Blick über die Brillengläſer an, als müſſe er ſich den Mann genauer betrachten, der den Muth hatte, eine Anſicht, welcher er im Stillen vollkommen beipflichtete, ſo ungenirt laut werden zu laſſen. Er benügte ſich indeſſen damit, die Mundwinkel herunter und die Schultern und Augenbrauen in die Höhe zu ziehen, eine Gebehrdenſprache, die ſich ſein Beſuch nach Belieben in: Alles Schwindel, lieber Freund! oder: die Fähigkeiten dieſer Frau ſind incommenſurabel überſetzen konnte.

Freilich, fuhr er fort, Grünwald werden Sie vermiſſen; zumal den Umgang eines Mannes von einer ſo umfaſſenden Gelehrſamkeit, wie der Profeſſor Berger. Aber geht es mir denn anders? Auch ich kann ſagen: Barbarus hic ego sum, quia non intelligor ulli. Ich gelte hier für einen Sonderling, weil Niemand mich verſteht. Unſre Gutsbeſitzer ſind ohne Zweifel treffliche, würdige, gottesfürchtige und treu-königlich ge¬ ſinnte Männer; aber, im Vertrauen, die Bildung, ich meine natürlich nur die gelehrte, iſt arg vernachläſſigt. Ja, wenn die Herren ſich in ihrer Jugend des un¬106 ſchätzbaren Glückes einer wahrhaft rationellen Erziehung zu erfreuen gehabt hätten, wie Junker Malte

Sehr gütig, Herr Paſtor, obgleich von dieſem Compliment nur ein verzweifelt kleiner Theil auf meine Rechnung kommen dürfte. Ich wünſche nur, bei Malte käme die ratio nächſtens mehr zum Durchbruch, denn bis jetzt iſt er wahrlich eine höchſt irrationale kleine Größe.

Sie ſollten Urſache haben, mit dem jungen Baron unzufrieden zu ſein? ſagte der Paſtor im Tone Je¬ mandes, der etwas ganz Unerhörtes, Unglaubliches vernommen hat. Ach, verſtehe, verſtehe! Freilich der junge Bruno iſt vielleicht in mancher Hinſicht die begabtere Natur, obgleich er, wie ich in dem Confir¬ mationsunterricht, welchen ich den Junkern zu ertheilen die Ehre hatte, wohl bemerkte, für die Wahrheiten der chriſtlichen Religion nicht eben ſehr zugänglich iſt; in¬ deſſen non omnes possunt omnia omnia, wie¬ derholte der Pfarrer, der nicht wußte, wie er fort¬ fahren ſollte. Ja, was ich ſagen wollte, dafür iſt aber auch Malte wieder der Erbe eines ſo großen Vermögens!

Um ſo mehr ſcheint es mir wünſchenswerth, daß er dereinſt ein ganzer Mann wird. Iſt denn übrigens das Grenwitz’ſche Vermögen wirklich ſo bedeutend?

107

Ei, mein lieber Freund, rief der Paſtor im Tone ſanften Vorwurfs, daß Oswald eine ſo beklagenswerthe Unwiſſenheit in Betreff ſo hochwichtiger Dinge an den Tag legen konnte; ob es bedeutend iſt! Da ſind in dieſer Nachbarſchaft allein fünf, nein mit Stantow und Bärwalde, die allerdings nicht zum Majorat ge¬ hören, ſind es ſieben Güter. Und in den andern Theilen der Inſel laſſen Sie mich ſehen liegen noch ein, zwei, drei Güter. Das iſt ein Kapital von min¬ deſtens anderthalb Millionen. Anderthalb Millionen! wiederholte er, als könne ſich ſein Geiſt von einer ſo erhabenen Vorſtellung nicht gleich wieder losmachen.

Und das Vermögen iſt ein Majorat?

Ei gewiß! Mit Ausnahme, wie geſagt, von zwei der ſchönſten Güter, welche dem verſtorbenen Baron, dem Vetter des jetzigen, durch Erbſchaft von der Mutter Seite zufielen, und in dem Teſtamente auf eine gar beſondere Weiſe verclauſulirt ſind. Denken Sie ſich nur, lieber Freund, daß der verſtorbene Baron, der, ganz unter uns geſagt, eine überaus wüſte, unbändige Natur war, dieſe Güter dem Sohne einer ſeiner Mai¬ treſſen vermacht hat.

Aber Sie rechneten doch vorhin die beiden Güter mit zu dem Vermögen der Familie, ſagte Oswald.

Nun, unter uns kann man es immerhin, ſagte108 der Pfarrer, Oswald näher rückend, in leiſerem Ton. Denn kein Menſch weiß, wo dieſer Knabe lebt, ja ob er überhaupt lebt, ja nicht einmal, ob es wirklich ein Knabe oder ein Mädchen iſt.

Das iſt ja eine curioſe Geſchichte, ſagte Oswald lachend.

Eine äußerſt curioſe Geſchichte, ſagte der geiſt¬ liche Herr; eine lächerliche Geſchichte, wenn Sie wollen. Denken Sie nur: der Baron Harald ſie haben alle ſonderbare Namen in der Familie jener un¬ bändige Mann, der zur Zeit der heiligen Behme hätte leben müſſen, entbrennt in heißer Liebe zu einem armen Bürgermädchen ein Fall, der in ſeinem Leben frei¬ lich oft vorgekommen ſein mag, aber niemals ſolche üblen Folgen hatte. Er entführt ſie, halb mit Gewalt, hierher auf ſein Schloß. Nach einem halben Jahre entflieht ſie bei Nacht und Nebel. Ob ſie ihre Schande auf dem Grunde eines unſerer tiefen Moore verborgen hat, ob ſie wirklich nur entflohen iſt, Niemand weiß es. Der Baron iſt außer ſich, raſend. Er durchſucht vergebens die ganze Inſel. Um ſeinen Gram und ſeine Gewiſſensbiſſe zu betäuben, trinkt und ſpielt und lebt er noch wilder wie gewöhnlich, ſo daß er denn ein Paar Wochen ſpäter im Delirium ſtirbt. Als man das Teſtament eröffnet, findet man nun, daß er in109 einer Anwandlung von Reue, oder aus Caprice, wie Sie wollen, dem Kinde jener ſeiner Geliebten, gleich¬ viel ob Knabe oder Mädchen, falls es nur bis zu dem und dem beſtimmten Datum geboren iſt, die beiden herrlichen Güter, der Dirne ſelbſt aber den Nießbrauch des Vermögens auf Lebenszeit vermacht hatte. Wie finden Sie das?

Jedenfalls eignet ſich die Geſchichte mehr zu einer Tragödie, als zu einer Komödie, ſagte Oswald. Und hat man nie eine Spur von Mutter und Kind entdeckt?

Nie! obgleich teſtamentariſch es iſt wahrhaftig ein wahrer Scandal, und ich bedaure die gnädige Ba¬ ronin von ganzem Herzen alljährlich die Verſchollene dreimal in ſämmtlichen Blättern der Provinz aufge¬ fordert wird, ihre Anſprüche geltend zu machen.

Wie lange ſpielt dieſe Geſchichte nun?

So ein zwanzig Jahre und darüber.

Da iſt doch wohl kaum denkbar, daß die Arme noch am Leben iſt.

Es denkt auch Niemand mehr daran, lachte der Paſtor, Grenwitzen's würden auch nicht wenig ver¬ wundert ſein, wenn plötzlich ſo ein junger Landſtreicher ſich als ergebenſter Neffe vorſtellte und die beiden Güter und die Zinſen ſeit zwanzig Jahren für ſich beanſpruchte, um ſo mehr, als die gnädige Baronin,110 die von Hauſe aus ganz unter uns geſagt keinen rothen Pfennig Vermögen hat, nach dem Tode des Barons, da die Grenwitz’ſchen Beſitzungen, Gott ſei Dank, Majorat ſind, ſammt ihrer Tochter ſo arm ſein würde, als ſie vor ihrer Vermählung war.

Sie ſind ein großer Freund der Majorate?

Ei gewiß! Ich halte es für ein Glück, daß ſo bedeutende Vermögen nicht durch Erbtheilung zerſplit¬ tert werden können, und ſo eine Ariſtokratie reicher Grundbeſitzer möglich wird, die gleichſam ein Ballaſt ſein kann für das Staatsſchiff in Zeiten der Gefahr, die Gott noch lange abwenden möge von unſerm theuern Vaterlande.

Nun, ſagte Oswald, das Ding hat, wie alle andern, ſeine zwei Seiten.

Wer wollte ſich das verhehlen, ſagte der ge¬ ſchmeidige Paſtor. Aber ich für mein Theil habe zu lange die Ehre und das Glück gehabt, mit reichen, und in der ſchönſten Bedeutung des Wortes adligen Fa¬ milien zu verkehren, als daß ich nicht gewiſſermaßen ein Anhänger der Ariſtokratie ſein ſollte; und über¬ dies habe ich neuerdings nur zu trübe Erfahrungen darüber gemacht, wie ſehr der Beſitz in den Händen des Plebejers, um mich dieſes hiſtoriſchen Ausdruckes111 zu bedienen, Eitelkeit, Hoffahrt und weltlichen Sinn hervorruft oder begünſtigt.

Es thut mir leid, von meinen Freunden ſo etwas hören zu müſſen, ſagte Oswald.

Von Ihren Freunden? fragte der Paſtor ver¬ wundert.

Von meinen Freunden, allerdings. Denn ich fand mich ſtets, ohne es zu wollen und manchmal ohne es zu wiſſen, wo immer in der Geſchichte der große Ge¬ genſatz zwiſchen Ariſtokraten und Plebejern hervortrat, auf Seite der letzteren. Ich war ein geſchworner An¬ hänger der Grachen und anderer römiſcher Demagogen; ich ſchlug mich mit den Independenten gegen die Ca¬ valiere, und ich geſtehe, daß ich ſelbſt in den Bauer¬ kriegen viel mehr Sympathie gehabt habe für die armen, unterdrückten, gehudelten, geknechteten und in Folge dieſer brutalen Behandlung meinetwegen auch brutalen Bauern, als für die hochmögenden, reichsfreiherrlichen und trotz oder vielmehr wegen all' der Freiheit und Herrlichkeit oft nicht minder brutalen Grafen und Barone.

Der Pfarrer hörte dieſe Tirade mit jenem ungläu¬ bigen Lächeln an, mit dem man dem Bramarbaſiren junger Gelbſchnäbel zuhört, die ſich gern den Anſtrich von vollendeten Wüſtlingen geben möchten.

112

Sehr gut, ſehr gut! ſagte er. Ja, ja, wir geiſtreichen Leute gefallen uns in Paradoxen. Das klebt uns noch von den äſthetiſchen Thee's der Reſi¬ denz an, und da wollen wir hübſch in der Uebung bleiben, wenn uns zur Zeit auch nur ein armer Land¬ pfarrer hört.

Ich verſichere Sie, Herr Paſtor

Weiß ſchon, weiß ſchon! Aber leben Sie erſt einmal, wie ich, fünf Jahre lang unter Bauern! Glau¬ ben Sie, daß ich in der ganzen Zeit die Leute habe bewegen können, eine Glocke für unſer Gotteshaus zu kaufen, die anzuſchaffen ſie noch dazu verpflichtet ſind? Aber, wenn es darauf ankommt, einen Schmaus her¬ zurichten und andere weltliche Zwecke in's Werk zu ſetzen, fehlt es nie an Geld.

Nun, ſagte Oswald, der Adel hieſiger Gegend iſt auch nicht eben wegen ſeiner Nüchternheit und Ehr¬ barkeit berühmt.

Der Adel, lieber Freund! das iſt etwas ganz Anderes. Seine Deviſe iſt und muß ſein: leben und leben laſſen. Aber, Sie wiſſen, Eines ſchickt ſich nicht für Alle.

Und Manches ſchickt ſich für Keinen, fügte Os¬ wald hinzu.

Ach, hier kommt meine Guſtava, rief der Pfarrer,113 froh, ein Geſpräch abbrechen zu können, das ihm von Augenblick zu Augenblick weniger gefiel.

Die Frau Paſtorin, welche ſo eben in das Zimmer trat, war eine Dame in dem Anfang der vierziger Jahre, mit ſemmelblonden Haaren, ſehr hellblauen Augen und einem Geſicht, das in dieſem Augenblick von dem Küchenfeuer und der Eile, mit welcher ſie ihre Toilette gemacht hatte, noch von etwas lebhafter Farbe war, ſonſt aber kränklich, bleich, verwelkt und altjüngferlich ausſah. Sie trug ein Kleid von gelber ungefärbter Seide, an deſſen Gürtel eine goldene Uhr hing, und eine Haube mit gelben Bändern, ſo daß ſie Alles in Allem auf Oswald den Eindruck eines etwas verblichenen und nicht mehr ganz geſunden Kanarien¬ vogels machte, deſſen Beſitzer nach Norden wohnt. Auch ſie konnte kaum Worte (an denen es ihr übri¬ gens nicht gebrach) finden, welche ihre Freude aus¬ drückten, den Freund eines ſo hochmögenden Hauſes unter ihrem niedrigen Dache (dieſe Phraſe ſchien bei beiden Gatten ſtereotyp) zu erblicken, um ſo mehr, als es ihrem armen Jäger (das war der Name des Paſtors) ganz und gar an einem wiſſenſchaftlichen und gebildeten Umgange gebrach, ein Mangel, dem durch Oswalds Ankunft in hieſiger Gegend auf die erfreu¬ lichſte Weiſe (davon ſei ſie überzeugt) abgeholfen wäre.

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. 1. 8114

Mein armer Jäger wird mir hier noch zum Hy¬ pochonder werden, rief ſie, ihre waſſerblauen Augen zärtlich auf den Gegenſtand ihrer Beſorgniß richtend; ich thue, was in meinen ſchwachen Kräften ſteht, daß er die Geſellſchaft geiſtreicher und gelehrter Männer ſo wenig wie möglich vermißt, aber was kann eine arme, unwiſſende Frau denn in dieſer Hinſicht Großes thun!

Sie werden mich zwingen, Ihnen zu widerſprechen, ſagte Oswald, bei welchem der Humor über den Un¬ muth, mit dem ihn bisher die Heuchelei und Glei߬ nerei der würdigen Gatten erfüllt hatte, endlich den Sieg davon trug. Ich möchte behaupten, daß Un¬ wiſſenheit und Frau Paſtor Jäger niemals Freundinnen geweſen ſind, und jetzt ſchon ſeit Jahren auch nicht einmal die entfernteſte Bekanntſchaft zwiſchen ihnen exiſtirt.

Sie ſind zu gütig, wahrlich zu gütig, ſagte die hocherfreute Paſtorin. Ich will nicht leugnen, daß ich mich von jeher bemühte, den Vorwurf der Unfähig¬ keit für die Sphären höherer Bildung, welchen man uns armen Frauen

Es iſt angerichtet! rief das Dienſtmädchen zur Thür herein.

Sehen Sie, ſo macht das irdiſche Leben immer115 ſeine Rechte geltend, ſo oft wir verſuchen, einen küh¬ neren Flug zu nehmen, rief die Bewohnerin der Sphären höherer Bildung, während ihr Oswald ga¬ lant den Arm bot und der Paſtor das Ende ſeiner Cigarre ſo legte, daß er es nach Tiſche wiederfinden konnte.

8 *
[126]

Zehntes Kapitel.

Die Unterhaltung an der Mittagstafel, die in einem kühlen, ſchattigen Zimmer, das auf einen etwas kahlen und ſehr ſonnigen Garten ſah, angerichtet war, wurde bald ſehr lebhaft. Oswalds längerer Aufenthalt in Grünwald erwies ſich als ein unerſchöpfliches Thema. Die Paſtorin war ſelbſt eine Grünwalderin, eine der vielen Töchter des dort vor einigen Jahren verſtor¬ benen Superintendenten Gabriel Dunkelmann, der ge¬ rade noch lange genug lebte, ſeinem Schwiegerſohn die einträgliche Pfarre von Faſchwitz zu verſchaffen und dann das Zeitliche ſegnete. Oswald machte im Stillen die Bemerkung, daß die Frau Doctor denn der Paſtor hatte ſich dieſe akademiſche Würde durch eine grundgelehrte Diſſertation über die möglicherweiſe vor¬ handen geweſenen Schriften eines bis auf den Namen verſchollenen Kirchenvaters erworben ſchon damals117 durch Jugendreiz ſich nicht eben ausgezeichnet haben könne, und wunderte ſich auch nun nicht länger darüber daß der Tiſch ſo klein und das Haus ſo ſtill war. Die Frau Doctor kannte den Profeſſor Berger, ſie kannte mehre Familien, in denen Oswald eingeführt war. Das gab denn überreichen Stoff zu dem landes¬ üblichen Familienklatſch, bei welchem einige Damen, die ihrer Zeit der verblühten Superintendententochter zu nahe getreten ſein mochten, erfahren konnten, welche zweiſchneidige Waffe die Zunge einer Landpaſtorin unter Umſtänden iſt.

Unterdeſſen war der Nachtiſch aufgetragen, und der Paſtor hatte, nicht ohne einige Feierlichkeit eine zweite Flaſche entkorkt, die Paſtorin aber den Tiſch verlaſſen, um anzuordnen, daß der Kaffee heute in der Garten¬ laube ſervirt werde. Der Paſtor hatte ſich eine Ci¬ garre angezündet, einen Knopf an ſeiner ſchwarzen Weſte aufgemacht, augenſcheinlich nur in der Abſicht, ſich in der Illuſion, ein ſybaritiſches Mahl eingenom¬ men zu haben, zu beſtärken denn die Weſte ſaß ſchon ſchlotterig genug auf ſeinem hagern Leibe. Er forderte Oswald auf, mit ihm auf das Wohl der hoch¬ mögenden Familie, in welcher er ſich zu befinden das Glück habe, anzuſtoßen, eine Höflichkeit, die Oswald118 mit einem Toaſt auf die liebenswürdige, ebenſo ge¬ lehrte wie beſcheidene Wirthin erwiderte.

Danke, danke, lieber junger Freund, ſagte der geſchmeichelte Paſtor, Oswalds Hand zu wiederholten Malen drückend. Ja, Sie haben Recht, eine gelehrte, beſcheidene Frau! Haben Sie ihr angemerkt, daß ſie mit mehr als einer literariſchen Größe im lebhafteſten Briefwechſel ſteht, ja unter dem Pſeudonym Primula eine der eifrigſten Mitarbeiterinnen der *** Zeitung iſt?

Unmöglich! rief Oswald.

Ich verſichere Sie, lieber Freund; und Sie kön¬ nen nicht glauben, welche Freude es mir gewährt, wenn ich wieder und immer wieder im Briefkaſten leſe: Faſchwitz und P. B., Primula Beris, Guſtava's Chiffre: Tauſend Dank für Ihre liebenswürdige Sen¬ dung, oder: Sie haben uns durch Ihr reizendes Ge¬ dicht hoch erfreut, es wird ſchon in der nächſten Num¬ mer zum Abdruck kommen ꝛc.

Ich kann es mir denken, ſagte Oswald zerſtreut. Aber wollen wir nicht der liebenswürdigen Dichterin in den Garten folgen?

Festina lente! rief der Pfarrer, dem der Wein ſchon zu Kopfe ſtieg. Wir kommen ſo jung nicht wieder zuſammen. Ein gutes Glas Wein iſt ein ge¬ ſelliges Ding, und Guſtava iſt zu liberal geſinnt, uns119 die Freuden des Mahles zu verkürzen. Aller guten Dinge ſind drei, laſſen Sie uns noch eine Flaſche

Aber Jäger, der Kaffee wird ja kalt! tönte die ſcharfe Stimme der Primula Beris aus dem Garten durch das offene Fenſter.

Wir kommen, wir kommen, Guſtchen! rief der gehorſame Gatte. Geſegnete Mahlzeit, mein lieber junger Freund! (bei dieſen Worten umarmte er Os¬ wald); mein theurer Freund! (abermalige Umarmung)

Aber wir vergeſſen, daß der Kaffee auf uns war¬ tet, rief Oswald, mit Mühe einer dritten Umarmung entgehend, und den Weg nach dem Garten einſchlagend, während der Paſtor, ehe er ſeinem Gaſte folgte, noch ſchnell den letzten Reſt aus der Flaſche in ſein Glas ſchenkte, und daſſelbe eiligſt (diesmal wahrſcheinlich auf ſein eigenes Wohl) austrank.

Der Garten gewährte um dieſe Tageszeit gerade nicht den angenehmſten Aufenthalt. Denn die Anlagen waren noch ſehr jung; die Bäumchen meiſtens erſt in Mannshöhe, und in Folge deſſen das Ganze eine ſchattenloſe, proſaiſche, nüchterne Stätte, die auffallend an die Theologie des gelehrten Herrn erinnerte, auch inſofern, als hier wie dort das Nützlichkeitsprincip das oberſte zu ſein ſchien. Die Gemüſebeete waren ſorg¬ ſam gepflegt, Blumen aber ſah man wenig, nur einige120 Sonnenblumen mahnten durch ihre Farbe flüchtig an die Erſcheinung der Primula Beris und durch ihre Eigenſchaft, ſich der Sonne zuzuwenden, aus welchem Theile des Himmels ſie auch ſtrahlen mochte, an die Lebensphiloſophie ihres ausgezeichneten Gatten.

In der Laube, die glücklicherweiſe, von Jasmin dicht bedeckt, gegen die Sonne, welche jetzt heiß genug brannte, einen erträglichen Schutz gewährte, fanden ſie die Frau Paſtorin. Sie hatte neben ſich auf der Bank ein Arbeitskörbchen ſtehen, in welchem zwiſchen bunten Läppchen, Seide u. ſ. w. ein zierliches Büchelchen lag, deſſen Vorhandenſein Oswald einigermaßen beunruhigte.

Weh 'dir, dachte er, wenn dieſes Buch eine Samm¬ lung von Primula's in der *** Zeitung und ſonſt er¬ ſchienenen Gedichten iſt!

Er ſuchte den Paſtor bei dem Capitel über die Gemüſebeete feſtzuhalten; er mußte ſich mit eigenen Augen überzeugen, wie die vom Paſtor ſelbſt erfundene Verbeſſerung an den Bienenkörben denn eigentlich be¬ ſchaffen ſei; er ſprach endlich von der Nothwendigkeit, ſich baldigſt verabſchieden zu müſſen kurz, er that, was ein Mann in ſeiner kritiſchen Lage thun kann vergebens!

Wir ſollen Sie fortlaſſen, bei der Hitze! rief Primula und ließ ihre Hand (von Oswald nicht un¬121 bemerkt) auf das Arbeitskörbchen gleiten. Wir ſitzen hier zwar nicht im Schatten der gewaltigen Fichte und der weißen Pappel, aber doch im Schatten; und den wollten Sie vertauſchen mit der Hitze und dem Staub der Landſtraße? Unmöglich! noch eine Taſſe, werther Gaſt! Es iſt kein Falerner, wie ihn der glückliche Römer in der eben citirten Ode trinkt, aber doch ein Getränk, das einigen Anſpruch auf Claſſicität machen darf, ſeitdem unſer lieber Boß in ſeiner Louiſe es ſo verherrlicht hat. Sagen Sie, lieber Gaſtfreund, hat Ihnen nicht der Aufenthalt unter unſerm niedrigen Dache manche Reminiscenzen an die liebliche Idylle erweckt? Haben Sie nicht empfunden, daß in dieſen, von dem Treiben der Menſchen weit entfernten Stät¬ ten die ſanfte Stimme der Poeſie, die auf dem lauten Markte des Lebens ungehört verhallt, deutlich zu uns ſpricht?

Jetzt geſchieht das Entſetzliche! dachte Oswald.

Ich bewundere, ſagte er, wie Sie ſo ſinnig Altes und Neues, Wirklichkeit und Poeſie zu einem duftigen Kranze zu flechten verſtehen. Mir ſelbſt iſt leider in jüngſter Zeit die Proſa des Alltagslebens nah und näher getreten; ja, aufrichtig geſtanden, ich habe mich, was ich früher für unmöglich hielt, mehr und mehr mit ihr ausgeſöhnt, obgleich ich ſehr wohl weiß,122 daß ich dabei die Empfänglichkeit für die Reize der Dichtkunſt vollſtändig eingebüßt habe.

O, glauben Sie doch das nicht! rief Primula. Der Quell der Poeſie in uns kann wohl zu Zeiten weniger voll ſtrömen, aber gänzlich verſiegt er nie. Sie klagen ſich der Unempfänglichkeit für die Reize der Dichtkunſt an. Das ſollte mich eigentlich von meinem Vorhaben (hier legte ſie die Hand offen an das Büchelchen in ſchwarzem Einband mit Goldſchnitt) abbringen, Ihnen eine kleine Probe der Gedichte mit¬ zutheilen, die ich, wie Ihnen wohl nicht bekannt ſein wird, unter dem Pſeudonym Primula in der*** Zeitung veröffentlicht habe. Aber mein Glaube an die Macht der Poeſie, vor Allem der latenten Poeſie in Ihrem Herzen, iſt zu groß, als daß mich Ihre Sebſtverleum¬ dung vom Gegentheil überzeugen könnte. Darf ich einen Verſuch wagen, die Nichtigkeit meiner Anſicht auf die Probe zu ſtellen?

Wodurch habe ich ſo viel Güte verdient? mur¬ melte Oſwald, ſich voll Reſignation in die Ecke ſeiner Bank zurücklehnend und die Augen bis zu dem Winkel ſchließend, der glücklicherweiſe den Augen halb ſchlum¬ mernder und verzückter Zuhörer gemeinſam iſt.

Ich habe mein Büchelchen Kornblumen betitelt, ſagte Primula, hold beſchämt in dem Buche blätternd,123 weil die meiſten dieſer Poeſien auf meinen Spazier¬ gängen durch die Kornfelder, auf alle Fälle in einer ländlichen Umgebung erblüht ſind.

Wie ſinnig, hauchte Oswald.

Nach den Regeln der beſten Aeſthetiker, und nach dem Beiſpiele der Griechen, welche die Tragödie der Komödie voranſchickten, oder richtiger die Komödie auf die Tragödie folgen ließen, werde ich mir erlauben, Ihnen erſt ein ernſtes

Gewiß, gewiß, das wird den Reiz der einzelnen Gedichte erhöhen, ſagte Oswald, dem vor dieſer end¬ loſen Perſpective ſchauderte.

Willſt Du nicht, liebe Guſtava ſagte der Paſtor.

Laß mich meine eigene Wahl treffen, Jäger, ſagte die Dichterin in einem ſanften, aber entſchiedenen Tone, und dann ſich räuspernd:

Auf einen todten Maulwurf

Auf was? rief Oswald, erſchrocken in die Höhe fahrend.

Nun ſehen Sie, werther Freund, ſagte Primula, wie ſchon die Ueberſchrift allein Sie elektriſirt!

Freilich, freilich! murmelte Oswald, in ſeine Ecke zurückſinkend.

124

Auf einen todten Maulwurf, wiederholte die Dichterin, den ich am Wege fand:

Wie liegſt Du jetzt ſo ruhig da
Mit Deinem glatten Fell!
Dein Schickſal, ach, es geht mir nah,
Du ſchwärzlicher Geſell!
Sie ſchmähten Dich, ſie höhnten Dich,
Sie ſagten: Du biſt blind!
Das waren ſolche ſicherlich,
Die ſelber Blinde ſind.
Am Tage zeigteſt Du Dich nicht,
Gleich eitler Thoren Schaar,
Doch war's in Deiner Zelle licht,
In Deinem Buſen klar.
Und zu der Sterne hohem Lauf
Am nächt'gen Himmelsdom,
Sahſt Du von Deinem Hügel auf,
Du kleiner Aſtronom!
Wie lebteſt ſtill und harmlos Du,
Ein dunkler Ehrenmann!
Bei Tag nicht Raſt, bei Nacht nicht Ruh,
Wer ſieht Dir das nun an?
Nun liegſt Du, ach, ſo ruhig da
Mit Deinem glatten Fell.
Dein Schickſal, o! es geht mir nah,
Du ſchwärzlicher Geſell!

Das iſt ſchön, ſagte Oswald. Das iſt die echte Lyrik, wie wir ſie heute leider nur zu ſelten finden. Nicht die Treibhauslyrik jener Dichter, die mit An¬125 klängen an Heine beginnen, in der Mitte einige Le¬ nau'ſche Accorde anſchlagen und mit einer Freiligrath'¬ ſchen Fanfare ſchließen. Welch 'ein wahres, inniges Gefühl erwärmt dieſe Verſe; und dabei dieſe kernige Kraft der Sprache: Ein dunkler Ehrenmann! das iſt einfach, aber ſchön; das haben Sie Ihrem Göthe ab¬ gelauſcht.

Sie ſind wahrlich zu gütig, lieber Gaſtfreund! ſagte Primula hocherfreut. In der That, Sie be¬ ſchämen mich durch Ihr freigebiges Lob. Aber, ſeien Sie ehrlich, finden Sie nicht, daß, wenigſtens für den modernen Geſchmack, das Ganze doch ein wenig zu ideal gehalten iſt?

Vielleicht für unſere Realiſten, die allerdings in ihren Anforderungen etwas weit gehen, und in ihrem Beſtreben, Alles recht natürlich zu machen, im Fauſt nächſtens den Pudel auf die Bühne bringen und durch Kneifen in den Schwanz zum Bellen und Heulen ver¬ anlaſſen werden. Aber ich bin überzeugt, daß, wenn Sie nur wollen, Sie auch dieſen Herren gerecht werden können.

Was halten Sie von dieſem Gedichte? fragte die Dichterin: An meinen Haushahn. Os¬ wald lehnte ſich wieder in ſeine Ecke.

126
Gleich Richard von der Normandie,
Fürcht 'ſich mein Held im Leben nie,
Wem bangte nicht, ſobald er ſchrie:
Kikriki!

Das iſt naiv! ſagte Oswald.

Nicht wahr? ſagte Primula.

Am ſpäten Abend ſchwärmt er nie,
Doch munter iſt er Morgens früh,
Drum haßt ihn auch das faule Vieh.
Kikriki!
Für's Liebchen ſcheut er keine Müh ',
Bald kratzt er dort, bald kratz er hie,
Und fand er was, ſo ruft er ſie:
Kikriki!
Und iſt mein Held auch kein Genie,
Und ſein Geſang nicht Poeſie,
So ſtimmt mich doch, ich weiß nicht wie,
Sein kikriki!

Nun was ſagen Sie, lieber Freund?

Was ſoll ich ſagen, erwiderte Oswald, als daß Sie Ihre Abſicht vollkommen erreicht haben. Der Hörer glaubt ſich auf den Hühnerhof verſetzt. Die Töne, die Sie hier anſchlagen, ſind wahre Naturtöne, aus dem Herzen der Dinge heraus. Das Gedicht iſt ein kleines Meiſterſtück im modern realiſtiſchen Ge¬ ſchmack. Aber jetzt, verehrte Frau, eine Bitte: Wie ſehr es den Werth der Gedichte auch erhöht, ſie aus dem wohllautenden Munde der Dichterin zu hören 127 ich möchte mir den Eindruck dieſes letzten Gedichtes nicht gern verwiſchen laſſen. Was auch noch kommen mag, dies war die Grenze des Erreichbaren.

Nur dieſes Eine müſſen Sie mir noch erlauben. Es bildet mit den beiden andern gleichſam eine Tri¬ logie, ein Summarium deſſen, was ich den Thieren abgelauſcht. Darf ich beginnen?

Bitte!

An einen Maikäfer, der auf dem Rücken lag.
O Du Bacchant der luſt’gen Maiennacht!
Haſt Du geſchwelget in den Blüthendüften,
Haſt Du gebadet in den weichen Lüften,
Vom Abend bis der neue Tag erwacht?
Und haſt des Lebens Kürze nicht bedacht?
Nicht: wie ſo bald in dunklen Grabesgrüften
Ruhn zarte Knöchel, ach! und üpp'ge Hüften,
Und Lippen, die nur eben keck gelacht?
Jetzt liegſt Du matt auf Deinem Flügelſchild.
Ich leſe ſtumm in Deinen ernſten Zügen,
Und dunkle Runen ſeh ich dort geſchrieben.
Ach! nur ein Taumel war Dein beſtes Lieben!
Drum, die Du liebteſt, mußten Dich betrügen,
Des Maies Käfer, falſcher Liebe Bild.

Die ſchöne Vorleſerin war zu Ende. Da tönte in das entzückte Schweigen, in welches Oswald verſunken ſchien, und Primula jedenfalls verſunken war, das Rollen eines Wagens, der denn auch alsbald vor dem Hauſe ſtill hielt.

128

Frau Paſtorin, Frau Paſtorin! ſchrie das Dienſt¬ mädchen mit ängſtlichen Tönen in den Garten hinein.

Oswald athmete auf. Hier kam Beſuch, und mit dem Vorleſen war es auf alle Fälle vorbei. Vielleicht konnte er auch ſeinem Beſuch bei dieſer Gelegenheit ein Ende machen.

Es ſind Plüggens, liebe Guſtava, ſagte der Paſtor, der durch die Gartenhecke den Wagen recognoscirt hatte. Die gnädige Frau und zwei Fräulein Töchter. Willſt Du nicht eilen

Entſchuldigen Sie mich, werther Gaſtfreund, ſagte die Dichterin, eiligſt das Buch ſchließend; aber Sie wiſſen: ſo oft wir verſuchen, einen kühneren Flug zu nehmen

Frau Paſtorin, Frau Paſtorin! ſchrie es immer ängſtlicher von der Gartenthür her.

Ich komme! rief die verſtörte Primula, und eilte den ſonnebeſchienenen Gartenweg entlang dem Hauſe zu.

Wollen wir nicht ebenfalls ſagte der Paſtor.

Entſchuldigen Sie mich, wenn ich bitte, mich jetzt entfernen zu dürfen, unterbrach ihn Oswald.

Aber weshalb, lieber Freund? Frau von Plüggen iſt eine höchſt vortreffliche Dame und die Töchter, wenn auch nicht ſchön

Und wären ſie ſchön wie die Engelein, ich müßte129 auf das Vergnügen verzichten, ſie jetzt zu ſehen. Adieu, adieu! Entſchuldigen Sie mich bei Ihrer Frau Ge¬ mahlin! Nicht wahr, die Pforte dort iſt nicht ver¬ ſchloſſen? Au revoir!

Und damit eilte Oswald von dem Pfarrer, der viel zu gut von ſich und ſeiner Primula dachte, als daß er den eiligen Rückzug des Gaſtfreundes nicht einzig aus deſſen Scheu, mit der unbekannten hoch¬ adligen Familie zuſammenzutreffen, hätte erklären ſollen, fort aus dem Garten durch die Pforte auf die Dorf¬ ſtraße, von der Dorfſtraße hinaus auf die Felder; und gönnte ſich nicht eher Raſt, als bis die Bäume des Waldes, hinter welchem, wie er wußte, das Gut Melitta's lag, über ſeinem Haupte ſich wölbten.

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 9

Elftes Kapitel.

Der Waldweg, auf dem Oswald jetzt leicht und fröhlich dahinſchritt, ſchien wenig betreten und noch weniger befahren. Im Winter mochte es ein ver zweifelter Weg ſein, deſto ſchöner und poetiſcher war er nun im Sommer. Hier und da wucherten Gras und Lattig von einem der ſchlecht gehaltenen Gräben bis zum andern quer drüber hin; an manchen Stellen überwölbten ihn die hohen Buchen und Eichen mit ihren breiten Kronen. Je tiefer Oswald in die grüne Wildniß drang, deſto heimlicher und ſtiller wurde es um ihn her ſo heimlich und ſtill, daß er in dem Liede, welches er vorhin luſtig angeſtimmt hatte, plötz¬ lich abbrach, als fürchtete er, den Wald im Schlaf zu ſtören.

Denn in dieſer heißen Nachmittagsſtunde ſchläft der Wald. Das grüne Blättermeer rauſcht nicht in131 ſchwellenden Wogen; ſtill und unbeweglich trinkt es die Gluth der Sonne. Kaum daß es hier oder dort leiſe, ganz leiſe in einem der Bäume raſchelt. Das erweckt dann wohl einen oder den andern der ſchlafenden Nach¬ barn, aber ſie raunen nur dem Störenfried zu, daß jetzt keine Zeit zum Plaudern ſei, und träumen weiter. Die Vögel harren, im dichteſten Laube verſteckt, der Abendkühle. Das Weibchen ſchlummert auf dem Neſt über den halbflüggen Jungen; das Männchen ſitzt auf dem Zweige daneben, hat das Köpfchen unter den Flügel geſteckt und ſchlummert, müde von dem frühen Aufſtehen, dem jubelnden Geſang den lieben langen Morgen hindurch und der eifrigen Jagd auf Mücken und Würmchen. Die wiſſen, daß es jetzt gute Zeit für ſie iſt, und tanzen luſtig in den rothen Sonnen¬ ſtrahlen, die heimlich durch die Zweige ſchlüpfen, und kriechen und krabbeln und haſten ſich durch das warme, weiche Moos. Tiefe Ruhe! da tönt ein ſonderbarer heiſerer Schrei in kurzen, wie in Aerger ſchnell hinter¬ einander ausgeſtoßenen Tönen. Das iſt der Falk, des Waldes Förſter. Er iſt ein ſchlimmer Geſell, den ſein böſes Gewiſſen nicht ſchlafen läßt, und deshalb klingt auch ſein Ruf ſo grell und ſchrill, wie er jetzt ſtolz und einſam hoch droben in der blauen Luft über dem9*132ſtillen Blättermeer, ſeinem Revier, die wunderlichen, myſtiſchen Kreiſe zieht.

Ein blondköpfiger Junge, der am Rande des Wal¬ des ein paar Gänſe hütete, hatte Oswald geſagt, daß der Weg nach Berkow durch das Holz kaum eine halbe Stunde und nicht zu verfehlen ſei. Daß er dabei die ſchweigende Vorausſetzung gemacht hatte, der Wanderer werde auf dem Wege bleiben und des Weges achten, war natürlich. Da Oswald aber, wie es ſeine Ge¬ wohnheit war, weder das Eine noch das Andere ge¬ than hatte, alle Augenblicke über den Graben geſprun¬ gen und in den Wald hineingelaufen war, wo das Unterholz weniger dicht wucherte, und die hohen Hallen zwiſchen den mächtigen Stämmen gar zu verführeriſch lockten, und auf Alles geachtet hatte, nur nicht auf den Weg ſo mochte er es ſich denn auch nun ſelbſt zu¬ ſchreiben, als er aus dem Dickicht heraus, ſtatt auf den Weg, den er bisher gegangen war, zu gelangen, auf einen ſchmalen Waldpfad kam, und, denſelben in falſcher Richtung weiter gehend, immer tiefer und tiefer in den Forſt gerieth.

Oswald ſtand ſtill und lauſchte, ob er nicht die Stimme eines Menſchen das Pochen einer Axt ver¬ nehmen werde, aber er hörte nichts als den Schrei des Falken und das Klopfen ſeines eigenen Herzens. 133Luſtig rief er in den Wald hinein: Wo geht der Weg nach Berkow, Falk? Falk hallte das Echo zurück.

Endlich wurde es lichter zwiſchen den Bäumen. Schon glaubte er den Saum des Holzes erreicht zu haben. Statt deſſen trat er auf eine Lichtung heraus, die faſt ganz von einem kleinen, zum Theil mit hohen Binſen bedeckten See eingenommen wurde. An dem Rande entlang ſchreitend, ſcheuchte er ein Sommer - Entenpaar auf, das aus dem Röhricht hervorbrach und mit wunderbarer Haſt über den Sumpf fort in den Wald flog. Dann wieder lautloſe Stille.

Kommt Zeit kommt Rath, ſagte Oswald bei ſich. Vorläufig will ich mich aber ein wenig ausruhen, denn ich finde, daß ich nachgerade müde werde.

Er hing ſeinen Strohhut an einen Zweig, breitete ſein Taſchentuch über eine der mit dichtem Moos be¬ wachſenen Wurzeln einer vielhundertjährigem Buche und ſtreckte ſich behaglich in das Haidekraut.

Der Platz iſt wie zum Schlafen gemacht, ſprach er bei ſich, träumeriſch den Libellen zuſchauend, die über dem dunklen Waſſer des Sumpfes bald ſtillſtehend, bald pfeilſchnell fortſchießend, ihr wunderliches Weſen trieben. Wer weiß? Vielleicht iſt dies ein Zauber¬ wald, ſo ein von der Cultur überſehenes Stück Ro¬134 mantik, ein kleiner ſtehen gebliebener Reſt von den großen, großen Wäldern, die in Muſäus 'Märchen rauſchen; von dem Walde etwa, drin der Graf wohnte, der ſeine Töchter verkaufte, wenn er die Wechſel am Verfalltage nicht einlöſen konnte, eine Manier, ſeine Schulden zu bezahlen, die ſelbſt noch heutzutage im Schwang ſein ſoll. Und wer nun in dieſem Walde einſchläft, wozu ich große Luſt verſpüre, ſchläft ſo ein paar hundert Jährchen, ehe er's ſich verſieht, und wenn er aufwacht, wallt ihm ein ſchneeweißer Bart bis zum Gürtel. Darob geräth er denn in gerechtes Erſtaunen, und er fragt den erſten Bauer, der ihm begegnet, ob er ihm nicht den Weg nach Berkow zeigen könne? Berkow? antwortet der Angeredete höflich. Habe nie von einem ſolchen Ort gehört. Ich meine das Schloß im Walde, wo Melitta wohnt? Melitta? aber, guter Herr, das iſt ja nur ein altes Märchen. Ein Märchen? Nun gewiß! meine alte Großmutter hat es mir, wer weiß wie oft, erzählt. Vor vielen, vielen hundert Jahren ſtand in dieſer Gegend ein großer Wald; und in dem Walde hauſte eine Fee, die hieß Melitta. Sie hatte ſo wunderſchöne, lichtgraue Augen, wie ſie ein Menſchenkind gar nicht haben kann, und eine honigſüße Stimme, und deswegen nannten die Leute ſie Melitta. Sie war die beſte und ſchönſte135 Fee von der Welt, und hatte nur die eine kleine Schwäche, von Zeit zu Zeit Jemand in ihren Wald zu locken, damit er ſich unter den hohen Buchen und Eichen, von denen die eine immer ausſah wie die an¬ dere, verirrte. Darüber hatte ſie dann ihre Freude. Wenn ſie aber ſo einen armen Schelm verlocken wollte, ſetzte ſie ſich auf ihr Pferd Bella (denn an dieſer Fee war Alles ſchön, ſelbſt ihr Pferd), ritt in's Land hin¬ ein und ſuchte unter den jungen Männern, bis ſie den dümmſten fand. Die hatte ſie am liebſten. Den be¬ zauberte ſie dann mit ihrer Schönheit, ihrem lieben, holden, neckiſchen Weſen und ihrer honigſüßen Stimme; und um den Zauber feſt zu machen, ſchenkte ſie ihm etwas eine Roſe etwa. Nahm er die nun in ſeiner Dummheit, ſo mußte er am nächſten Tage in den Wald, er mochte wollen oder nicht. Da kommt er denn natürlich bald vom Wege ab und läuft die Kreuz und Quer herum, bis er ſich endlich am Fuße einer uralten Buche ſchlafen legt. Und wenn er nun ſo da¬ liegt und ſieht, wie die rothen Sonnenſtrahlen in den grünen Zweigen Verſteckens ſpielen und die blauen Li¬ bellen Haſchens auf dem ſchwarzen Waſſer, und hört, wie es in dem Röhricht flüſtert und droben in den Wipfeln der Bäume rauſcht, und weht und rauſcht Melitta, kommſt Du endlich. Steige herab136 von Deiner Bella! Du ſiehſt ja, daß ich hier feſt¬ gewachſen bin. O Du Liebe, Holde, Angebetete! Melitta, Süße! einen Kuß, einen einzigen Kuß! Und Du willſt fort, jetzt fort aber was iſt das? was will die braune Hexe? Nein, nein Du biſt nicht Melitta!

Oswald ſtützte ſich auf den Ellbogen und ſtarrte ſchlaftrunken in das braune Geſicht, das ſich über ihn beugte: Was willſt Du von mir?

Nichts Schlimmes, ſchmucker, junger Herr! Sah den jungen Herrn liegen, wußte nicht, ob ſchlafend oder todt; iſt gefährlich, zu ſchlafen im Wald am Sumpfes¬ rand, wenn man's nicht gewohnt iſt von Kindesbeinen.

Oswald, der ſich wieder vollkommen zurechtgefun¬ den hatte, betrachtete jetzt das Weib, das vor ihm ſtand, genauer und erkannte dann alsbald in ihr eine jener Zigeunerinnen, wie ſie hier zu Lande nicht ſelten, wahrſagend, hauſirend, muſicirend, bettelnd, gelegentlich auch ſtehlend, von Dorf zu Dorf und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen. Dieſe hier mochte nach dem Feuer ihrer dunklen Augen, den runden halbnackten Armen und der ſtraffen Haltung des ſchlanken hohen Leibes zu ſchließen, zwiſchen fünfundzwanzig und dreißig Jahre zählen; aber Wind und Wetter, Hunger und Kummer, vielleicht auch ſchlimme Leidenſchaften, hatten137 arge Verwüſtungen in dem einſtmals ſchönen Geſichte angerichtet, den Zügen eine unangenehme Schärfe gege¬ ben, die Augenhöhlen übermäßig vertieft, ja ſchon hier und da einzelne graue Streifchen in das üppige, blau¬ ſchwarze Haar geſtreut, das mit ſeinen dicken Flechten ein beſſerer Schutz für den edelgeformten Kopf war, als der Lappen rothen Zeuges, den ſie turbanartig herumgewunden hatte. Ihre Kleidung war ſehr ärm¬ lich und vielfach geflickt, ihre Füße nackt. Oswald ſah jetzt auch, daß an einem der nächſten Bäume ein wunderlich geformtes Inſtrument hing und allerlei Geräth umherlag. Ein mit einem rothen Federbuſch und einer bunten Decke geſchmückter Eſel ſtrich langſam durch die Stämme und ließ ſich das harte Waldgras vortrefflich ſchmecken.

Sind Sie ganz allein, gute Frau? fragte Oswald.

Nein, mein Bub iſt bei mir, der Cziko; er iſt in den Wald gangen, Waſſer zu holen; dies taugt nur für Fröſch 'und Kröten.

Und wie kommen Sie hierher an dieſen abgelegenen Ort?

Kenne den Platz ſchon ſeit vielen Jahren. Mache ſtets hier Raſt, wenn ich in dieſe Gegend komme. Schläft ſich billiger im Walde, als in der Dorfſchenke, guter Herr.

138

Da können Sie mir gewiß auch den Weg nach Berkow zeigen. Iſt es noch weit von hier?

Gar nit weit, der Bub ', der Cziko, ſoll Sie führen.

Das Weib legte die Hände an den Mund und ahmte den Ruf der Holztaube auf das täuſchendſte nach. Alsbald antwortete aus dem Walde ein heller Falkenſchrei, und nicht lange darauf kam ein Knabe herbeigeſprungen, der, wie er den Fremden erblickte, ſcheu und mißtrauiſch unter den Bäumen ſtehen blieb. Einige Worte indeſſen, ihm von ſeiner Mutter in einer Oswald unbekannten Sprache zugerufen, machten ihm Muth. Er trat, Oswald das Blechgefäß mit Waſſer, das er in der Hand trug, hinhaltend, furchtlos heran und ſagte: Willſt Du trinken, Herr?

Das Gefäß war nicht beſonders reinlich, aber der es anbot, viel zu ſchön, als daß Oswald es hätte zu¬ rückweiſen können, ſelbſt wenn er weniger durſtig ge¬ weſen wäre, wie er es war. Cziko war vielleicht zehn Jahre alt, aber auch er ſah älter aus. Der feuchte Nebelwind, der über die herbſtlichen Felder fegt, und der Schneeſturm, der durch den Hagedorn ſauſt, hatten alle Jugendfriſche von des Knaben wunderbar ſchönem Geſicht gewiſcht und den tiefdunklen Gazellenaugen einen Ausdruck halb des Kummers und halb des Trotzes139 gegeben, daß man nicht ohne Wehmuth hineinſchauen konnte.

Mit dem doppelt ſcharfen Blick der Bettlerin und der Mutter ſah das Weib wohl, welch tiefen Eindruck ihr Kind auf den Fremden machte.

Ja, er iſt ein braver Bub ', der Cziko, ſagte ſie, flink wie ein Eichhorn und tapfer wie eine wilde Katz, und das Cymbal ſchlägt er wie Keiner.

Iſt das ein Cymbal, was dort am Baume hängt? fragte Oswald, einigermaßen erſtaunt, daß dies In¬ ſtrument noch anderswo, als in Lenau'ſchen Gedichten exiſtire.

Geh, Cziko, zeig 'dem Herrn, was Du kannſt, ſagte die Frau.

Der Knabe nahm das Inſtrument herab, legte es auf einen Baumſtumpf zurecht und die Klöpfel ergrei¬ fend, begann er, erſt langſam, dann ſchneller und immer ſchneller hämmernd, eine wunderliche Muſik. Sein Herz ſchien voll von Muſik; ſeine mageren braunen Wangen rötheten ſich, die dunklen Augen, die er manch¬ mal träumend zu den Wipfeln erbob, leuchteten. Dann fiel er in ein anderes Tempo und eine andere Melodie, und nach den erſten Takten begann die Frau, die wäh¬ rend deſſen unter einem Keſſel ein Reiſigfeuer entfacht hatte, in tiefer, wohllautender Stimme, an dem Keſſel140 ſchaffend und ab - und zugehend, eines jener ſlaviſchen Volkslieder, deren süß-melodiſche Klage uns Wehmuth in's Herz und Thränen in die Augen lockt. Oswald ſaß da, den Kopf in die Hand geſtützt und hörte und ſchaute zu, wie im Traum. Es war, als ob die nie zuvor gehörten, melancholiſchen Töne ganz neue Ge¬ fühle in ihm wach riefen, ein tiefes Mitleid mit ſeiner, mit aller Weſen Exiſtenz und doch auch ein Sehnen und Schmachten nach einem unendlichen, namenloſen Glück.

Das Lied war zu Ende. Oswald fuhr empor. Er ſah auf ſeine Uhr. Schon drei Stunden waren vergangen, ſeitdem er den Wald betreten; er durfte, wollte er noch heute Melitta ſehen, keinen Augenblick länger zögern.

Kann mich der Cziko den Weg nach Berkow führen? ſagte er, auf die Frau zutretend und ihr ein paar Geldſtücke bietend. Die Zigeunerin ſtrich das Geld aus der flachen Hand, als ob es ihr nur darauf an¬ komme, die Linien derſelben genauer zu ſehen, und ſie an den Fingerſpitzen feſt haltend, ſchien ſie eifrig darin zu leſen.

Nun, ſagte Oswald lächelnd, da ſteht wohl nicht viel Gutes?

141

Viel Gutes, viel Schlimmes, ſagte die Zigeunerin, den Kopf ſchüttelnd.

Das iſt meiſtens ſo im Leben, ſagte Oswald; und worin beſtände denn das Gute?

Viel Gutes, viel Schlimmes, wiederholte die Zigeunerin. Jede gute Linie von einer ſchlimmen durchkreuzt; kann das Gute nicht nennen, ohne das Schlimme.

Nun ſo nenne es, wie es kommt, ſagte Oswald, der anfing, ungeduldig zu werden.

Viel zum Glück, und doch nicht glücklich, mur¬ melte die Zigeunerin. Männern Feind und Frauen Freund; raſch im Haſſen, raſch im Lieben; buntes Leben, früher Tod.

Nun, ſagte Oswald, das läßt ſich ja noch hören. Aber wie war das mit den Frauen? das intereſſirt mich.

Viel Gutes, viel Schlimmes, wiederholte das Weib, den Kopf noch tiefer beugend, als ſollte ihr auch die feinſte Linie nicht entgehen; viel, ſehr viel Liebe und doch wenig, ach! ſo wenig Glück!

Liebe ich jetzt?

Ja.

Und wen?

142

Eine ſehr vornehme, ſehr ſchöne und ſehr reiche Dame.

Hm! und liebt ſie mich auch?

Mehr, viel mehr, wie Du ſie!

Und wo ſteckt denn da das Schlimme?

Viel, viel Schlimmes; denn Du kannſt nicht treu ſein.

Woher weißt Du das?

Die Wahrſagerin zuckte mit den Achſeln. Hier ſteht noch eine Dame, und hier noch eine Du liebſt ſie alle; das ſollte nicht ſein; bringt Dir kein Glück.

Aber mit dem bunten Leben und dem frühen Tode hat es doch ſeine Richtigkeit? Nun denn, ſo kann ja auch das Unglück ſo groß nicht ſein. Und hier haſt Du noch etwas zum Lohn für die gute Kunde.

Danke, nehme nur für das Glück, das ich ver¬ künde, nichts für das Unglück.

Da wundert es mich freilich nicht, daß Sie ſo arm ſind, gute Frau! So nehmen Sie's als Boten¬ lohn für den Cziko.

Die Zigeunerin nahm mit wirklichem oder nur ge¬ machtem Widerſtreben das Geld und rief dem Knaben, der während dieſer Zeit fortwährend, in ſich verſunken, auf ſeinem Inſtrumente leiſe phantaſirt hatte, in ihrer Sprache ein paar Worte zu. Das Kind ſprang auf,143 trat vor Oswald und ſagte: Willſt Du kommen, Herr?

Adieu, liebe Frau! ſagte Oswald, nicht ohne Theilnahme dem Zigeunerweib in die dunklen, glän¬ zenden Augen ſchauend; wenn Sie nach Grenwitz kommen, vergeſſen Sie nicht, nach dem Doctor Stein zu fragen.

Die Frau kreuzte die Arme über dem vollen Buſen und neigte ſich tief. Oswald ergriff ſeinen Hut und folgte dem Cziko, der ſchon hinter den Bäumen faſt verſchwunden war.

[144]

Zwölftes Kapitel.

Nicht ſo ſchnell, Cziko! rief Oswald, den Schooß ſeines Rockes von den Dornen eines Buſches los machend; nimm Rückſicht auf meinen civiliſirten Zu¬ ſtand.

Der Knabe ging langſamer, hielt ſich aber immer in ſcheuer Entfernung von dem Fremden. Vergebens ſuchte ihn Oswald in ein Geſpräch zu verwickeln, wäh¬ rend er mühſam die Büſche auseinander drückte, durch die der Knabe wie eine wilde Katze ſchlüpfte. So waren ſie vielleicht eine Viertelſtunde gegangen, als ſie plötzlich aus dem dichten Wald in ein Gehölz gelang¬ ten, das ſchon zu dem Parke von Berkow gehören mußte. Reinlich gehaltene Wege, hier und da eine grüne Bank oder eine verwitterte Hermenſäule. Ueberall die Spuren ordnender Menſchenhand. Dann traten ſie auf einen breiteren Fahrweg, der wohl die Fort¬145 ſetzung deſſelben Weges ſein mochte, von welchem Os¬ wald abgekommen war, und der mit einem eiſernen Gitterthor endigte, das unmittelbar auf den Hof des Gutes führte. Cziko blieb ſtehen, deutete ſtumm auf das Thor; dann ſich vor Oswald mit verſchränkten Armen verneigend, ſprang er in die Büſche zurück und war im nächſten Augenblicke verſchwunden.

Ein geheimnißvoller Anfang, ſprach der junge Mann bei ſich, während er langſam, faſt zögernd auf das Thor zuſchritt. Iſt es die Nachwirkung der ſelt¬ ſamen Zigeunerwirthſchaft, oder die Vorahnung deſſen, was mir hier in dieſem Schloß der Zauberin begegnen ſoll, aber mir iſt wunderlich zu Muthe. Ich hätte am Ende doch beſſer gethan, den Wagen, welchen mir geſtern der alte Baron anbot, nicht auszuſchlagen. Ich wäre dann vielleicht dem Paſtor und ſeiner Primula entgangen, und auf jeden Fall käme ich jetzt, in ſtatt¬ licher Würde, von den ſchwerfälligen Braunen gezogen, angefahren, und nicht zu Fuß in bedeutend derangirter Toilette wie ein reiſender Handwerksburſch. Ei nun! Kleider machen wohl Leute, aber keine Männer, und Melitta, wenn mich nicht Alles trügt, verkehrt mit Männern lieber, als mit Leuten.

Er klinkte das unverſchloſſene Gitterthor auf, und trat in den Hof. Ein mächtiger Neufundländer Hund,F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 10146der im Graſe gelegen hatte, richtete ſich langſam empor, als er die Thür in den Angeln kreiſchen hörte und kam Oswald wedelnd entgegen. Nun, das iſt wenig¬ ſtens ein freundlicher Willkomm! ſprach der junge Mann bei ſich, während er, das prachtvolle Thier ſtreichelnd, weiter ſchritt. Rechts blickte er über ein niedriges Stacket in einen blühenden Garten. Mit dem Stacket in einer Linie war die Front des Herren¬ hauſes, ein zweiſtöckiges, ſchmuckloſes Gebäude, das ſich indeſſen mit ſeiner altersgrauen Farbe, dem großen ſteinernen Balkon über der Thür und den zwei gewal¬ tigen Linden davor, recht ſtattlich ausnahm. Die drei anderen Seiten des geräumigen Hofes waren von den Wirthſchaftsgebäuden eingenommen. Ein Stacket und eine Reihe junger Obſtbäume war parallel mit dem Wohnhauſe quer über den Hof gezogen, als Schranke zwiſchen dieſem und dem Raſenplatz vor dem Hauſe. Oswald blickte, an der Front deſſelben hinſchreitend, durch die offenen Fenſter in ſchöne Zimmer. Es war Niemand darin. Er blickte durch die ebenfalls offen¬ ſtehende Hausthür auf den mit Steinfließen ausgelegten Flur. Eine große Wanduhr ſchwatzte in der lautloſen Stille. Auch auf dem Hofe regte ſich nichts. Der ganze Platz war wie ausgeſtorben, nur die Spatzen zwitſcherten und lärmten in den Linden, und die147 Schwalben ſchoſſen an der Mauer hin zu ihren Ne¬ ſtern unter dem Dache, die Jungen zu füttern, und ebenſo eilig wieder davon.

Es wird Niemand zu Hauſe ſein, dachte Oswald. Du haſt den langen Weg vergebens gemacht. Oder kannſt Du mir ſagen, wo Deine Herrin iſt, Neufund¬ länder? Sollen wir einmal im Garten nachſehen?

Der Hund, als ob er verſtanden, was man von ihm wolle, trabte von Oswald fort nach einer Thür, die rechts neben dem Hauſe in den Garten führte; und blickte, dort ſtehend, ſich nach dem Fremden um.

Alſo wirklich im Garten?

Oswald drückte die Thür auf. Der Hund lief vor ihm her an Blumenbeeten vorüber in einen ſchmalen Heckengang bis zu ein paar Stufen, die rechts durch die Hecke auf eine Art Terraſſe führten. Dort ſah er ſich noch einmal nach Oswald um. Dann ſprang er die Stufen hinauf. Oswald folgte.

Zwiſchen hohen blühenden Sträuchern war das Thier verſchwunden. Indeſſen hatte der junge Mann kaum einige Schritte gethan, als ſich ſeinen Blicken ein Bild zeigte, das ihn regungslos an ſeine Stelle bannte. Er ſah auf einen kleinen offenen Platz, der auf zwei Seiten von den hohen Hecken, welche die ganze Terraſſe umſchloſſen, eingerahmt war. In der10*148Mitte ſchoß ein hochſtämmiger, breitäſtiger Tannen¬ baum wie eine Lanze machtvoll in vie Höhe. An dem Fuße des Baumes auf dem Teppich brauner Nadeln ſtand ein runder Gartentiſch und ein paar Stühle. In einem der Stühle, umfloſſen von dem weichen, träumeriſchen Licht des Sommernachmittags, ſaß Me¬ litta, den Kopf in die eine Hand geſtützt, während die andere mechaniſch die treue Dogge ſtreichelte, die ſich dicht an die Herrin drängte. Sie trug ein weißes Kleid, das in anmuthigen Linien den ſchlanken Leib umfloß und Buſen und Schultern nur zu verhüllen ſchien, um die ſchönen Formen deſto reizender zu um¬ ſchreiben. Auf dem Tiſch lagen Handſchuh, ein breit¬ rändiger Strohhut und ein aufgeſchlagenes Buch.

Sie ſaß ſo in ſich verſunken da, daß ſie den leich¬ ten Schritt Oswalds nicht vernahm, bis er vor ihr ſtand. Da hob ſie ſchnell den Kopf empor und unter¬ drückte nur mit Mühe einen Ruf freudigſter Ueber¬ raſchung, den Mann leibhaftig vor ſich zu ſehen, mit dem ihre Gedanken ſo eben beſchäftigt geweſen waren. Für einen Augenblick ſtockte ihr das Blut im Herzen, und dann mit Macht hervorbrechend, übergoß es die bleichen Wangen mit hoher Purpurgluth.

Sieh da! ſagte ſie, ſich raſch erhebend, und Os¬ wald die Hand entgegenſtreckend.

149

Verzeihen Sie, gnädige Frau, ſagte der junge Mann, die ſchöne zitternde Hand, die jetzt in der ſeinen ruhte, ehrfurchtsvoll an die Lippen führend, wenn ich unangemeldet

Aber nicht unerwartet Ihr dolce far niente ſtöre und ſo weiter, und ſo weiter unterbrach ihn Melitta. Kommen Sie, von Ihnen will ich keine Redensarten hören. Ueberlaſſen Sie das unſern hohlköpfigen Junkern. Setzen Sie ſich und bedanken Sie ſich zuvörderſt, daß Sie mich überhaupt noch fin¬ den. Bemperlein und Julius ſind, an Ihrem Kommen verzweifelnd, vor einer halben Stunde auf Beſuch in die Nachbarſchaft gefahren. So müſſen Sie denn mit mir allein vorlieb nehmen. Das iſt Ihre gerechte Strafe.

Wenn die Strafe gerecht iſt, ſo iſt ſie auf alle Fälle ſehr mild, antwortete Oswald heiter, und ich unterwerfe mich ihr mit der Demuth, die dem reuigen Sünder ziemt.

Sie ſehen auch wahrhaftig wie ein reuiger Sün¬ der aus! Aber im Ernſt, warum kommen Sie ſo ſpät, und

Und in ſo derangirter Toilette? Im Ernſt, gnä¬ dige Frau, ich konnte nicht früher und nicht anders erſcheinen. Wenn man, wie ich, den weiten, unbekannten Weg zu Fuß zurücklegt.

150

Wie kommen Sie aber auch auf den närriſchen Einfall?

Ich leide ſehr an närriſchen Einfällen, gnädige Frau.

Da theilen Sie mit mir daſſelbe Schickſal. Weiter!

Und wenn man ſich unterwegs von einer alten Frau eine Vorleſung über Unſterblichkeit, von einem Landpaſtor eine Predigt über daſſelbe Thema und von deſſen geiſtreicher Gemahlin erzählen laſſen ſoll: was ſie den Thieren abgelauſcht

Ach Sie Unglücklicher, rief Melitta, die Hände zuſammenſchlagend.

Wenn man ſich darauf im Walde verirren, am Rand eines Sumpfes einſchlafen, bei der Gelegenheit allerlei ſüßes, närriſches Zeug träumen, beim Erwachen ſich von einer Zigeunerin wahrſagen, ſich von deren Buben auf den rechten Weg bringen, und bei der An¬ kunft in dieſem verzauberten Schloß Niemanden finden ſoll, der den Fremden zur Chatelaine führt, als dieſen liebenswürdigen Hund, der ſo aufmerkſam zuhört, daß man glauben ſollte, er verſtünde unſre ganze Unter¬ haltung, ſo werden Sie mir zugeben müſſen, daß man mindeſtens eben ſo viel Zeit braucht, dies Alles zu thun, als zu erzählen.

Die Dogge legte vertraulich den ungeheuren Kopf151 auf der Herrin Schooß und blinzelte zu ihr empor. Biſt mein braver Boncoeur, ſagte ſie, den Lieblings¬ hund tätſchelnd, machſt Deinem Namen Ehre. Siehſt im Haus und Hof hübſch nach dem Rechten; weißt wohl, daß es außer Dir und dem Baumann doch Nie¬ mand thut. Wiſſen Sie, daß mich Ihr Zuſammen¬ treffen mit der braunen Gräfin, ich meine der Zigeu¬ nerin, und der Czika, denn es iſt ein Mädchen, wie ich Ihnen zum Ruhme Ihres Scharfſinnes nur ſagen muß, ſehr intereſſirt.

Ein Mädchen, der Cziko?

Die Czika, ein Mädchen verlaſſen Sie ſich darauf; aber wo trafen Sie die Beiden?

Eine Viertelſtunde von hier im Walde, bei dem¬ ſelben Zauberſee, an deſſen Rande ich eingeſchlafen war.

Alſo doch auf Berkower Gebiet das freut mich.

Sie ſcheinen ſich in der That für die ſchöne Mutter und die ſchönere Tochter ich finde jetzt allerdings, daß das Kind für einen Knaben viel zu ſchön war ſehr zu intereſſiren, gnädige Frau. Wie kommt die Zigeunerin zu dem Namen: die braune Gräfin?

Ach! lachte Melitta, das iſt eine lange Ge¬ ſchichte und ein Beiſpiel von den närriſchen Einfällen, von denen ich, wie Sie, heimgeſucht werde, und die freilich bei mir meiſtens an das Gebiet der dummen152 Einfälle ſtreifen. Vor ſechs Jahren kam die Iſabel zum erſten Male in unſere Gegend. Sie war damals vielleicht zwanzig Jahre vielleicht, denn genau weiß ſie es ſelbſt nicht. Ihr Kind, die Ezika, war vier Jahre alt; das wußte ſie, denn es war wirklich ihr eigenes Kind und keine geſtohlene Prinzeſſin oder der¬ gleichen.

Woher wiſſen Sie das?

Aus der frappanten Aehnlichkeit zwiſchen Mutter und Kind, die Ihnen doch auch aufgefallen ſein muß. Beide waren damals bildſchön, ſo ſchön, wie ich nie wieder etwas geſehen habe. Ich glaube kein Menſch hätte ungerührt bleiben können bei dem Anblick dieſer ſo jugendlichen Mutter mit ihrem prächtigen Kinde, das in ſeiner wunderlichen Tracht und ſeinen üppigen dunklen Locken ſo gut für einen Knaben wie für ein Mädchen gelten konnte. Ich habe nur auf Murillo's Sonne-getränkten, Leidenſchaft-durchglühten Bildern ſpäter etwas Aehnliches geſehen. Ich, die ich die Schwäche habe, mich auf maleriſche Schönheit ver¬ ſtehen zu wollen, und ſelbſt ein wenig in dieſer herr¬ lichen Kunſt pfuſche, zeichnete und malte damals vom Morgen bis in den Abend Zigeunerköpfe. Ich vergaß nämlich zu ſagen, daß ich die Beiden ein paar Tage lang hier in Berkow feſthielt. Zufällig mußte ich da¬153 mals eine große Geſellſchaft geben. Und jetzt kommt der dumme Einfall um unſerer albernen Sippe einen Poſſen zu ſpielen, denn das war doch der eigent¬ liche Grund, kleide ich die Iſabel in das prächtigſte Kleid, das ich in meiner Garderobe auffinden kann, laſſe die Czika von meiner Kammerfrau herausputzen und präſentire ſie der Geſellſchaft als Iſabella Gräfin von Kryvan mit ihrem Töchterchen Czika, die ich im vorigen Jahre in Marienbad kennen gelernt hätte und die ſo eben aus dem fernen Ungarland mich zu be¬ ſuchen gekommen ſei.

Und was ſagte die Geſellſchaft?

Sie war entzückt. Ich hatte ihr vorher angekün¬ digt, daß Iſabella von dem ſtreng nationalen ungari¬ ſchen Adel ſei, der ſich das Wort gegeben habe, nie etwas Anderes, wie die Nationalſprache und außerdem nur noch Lateiniſch zu ſprechen.

Glaubte die Geſellſchaft denn das? und verſuchten die Herren nicht, eine lateiniſche Converſation zu be¬ ginnen?

Unſerer Geſellſchaft kann man Alles aufbinden, und was unſere Herren betrifft, ſo iſt lateiniſch ihnen ſpaniſch. Iſabella, das muß man ihr laſſen, füllte ihren Platz auf dem Sopha mit wahrhaft königlichem Anſtande aus, und die Griebens, die Trantows, die154 Cülows überſchütteten die Standesgenoſſin mit Auf¬ merkſamkeiten und bedauerten einmal über das andere ihre Unkenntniß der lateiniſchen Sprache, die es ihnen unmöglich mache, ſich mit der fremden Dame in eine, jedenfalls höchſt geiſtreiche und intereſſante Converſa¬ tion einzulaſſen. Die kleine Czika wanderte von einem Schooß auf den andern, und wurde mit Leckerbiſſen und Küſſen faſt erſtickt. Kurz, die Comödie ſpielte zu meiner größten Zufriedenheit bis zu Ende, und in den nächſten Tagen war die ganze Nachbarſchaft voll von der braunen Gräfin, wie man die Freundin Melitta's von Berkow kurzweg zu nennen beliebte. Nun wie gefällt Ihnen die Geſchichte?

Offen geſtanden nur halb, gnädige Frau. Ihrer vornehmen Geſellſchaft gönne ich die Myſtification von ganzem Herzen, aber es thut mir weh, wenn ich ſehe, wie der Arme und Hülfloſe, eben weil er arm und hülflos iſt, ſich zum Spielding des Reichen und Mäch¬ tigen hergeben muß.

Melitta ſah Oswald voll in die Augen und ant¬ wortete ohne die mindeſte Spur von Empfindlichkeit:

Sehen Sie, das iſt hübſch, daß Sie ſo denken; und noch hübſcher finde ich es, daß Sie es mir ſo geradezu ſagen. Aber ich habe Ihnen ja von vorn¬ herein zugeſtanden: es war ein dummer Streich, den155 ich nachher aufrichtig bereute und deſſen böſe Folgen ich, ſoweit ich vermochte, wieder gut zu machen mich bemühte. Denn, hören Sie nur, wie die Sache weiter verlief. Der braunen Gräfin hatte ich natürlich die Sachen geſchenkt, die ſie und die Czika bei der Co¬ mödie getragen. Das arme Weib, das mit dem Plunder nichts anfangen konnte, wollte ſie in der nächſten Stadt verkaufen. Man glaubte, ſie habe die Sachen geſtohlen, und verlangte, ſie ſolle ſich über den ehrlichen Erwerb derſelben ausweiſen. Sie vermochte es nicht, denn ſie hatte meinen Namen und den Namen meines Gutes vergeſſen, und überdies konnte kein Menſch aus ihrem Kauderwelſch klug werden. Die Herren vom Gericht beſchloſſen deshalb in ihrer Weis¬ heit, die braune Gräfin als Landſtreicherin und Diebin einzuſperren, bis ſich die Sache auf eine oder die an¬ dere Weiſe aufklären würde. Unglücklicherweiſe war ich ein paar Tage zuvor in ein benachbartes Bad ge¬ reiſt, und während ich dort die friſche Seeluft in vollen Zügen einſog, mußte die Aermſte wochenlang in dem dumpfen Gefängniſſe ſchmachten. Ach! und dieſen Leuten iſt die Freiheit Alles! Sehen Sie, das werde ich mir nie vergeben! Erſt nach meiner Rückkehr erfuhr ich durch einen Zufall das Unglück, welches ich angerichtet hatte. Natürlich that ich ſofort die nöthigen156 Schritte. Ich fuhr ſelbſt nach B. und öffnete den Kerker meiner armen braunen Gräfin. Aber, wie fand ich ſie wieder! Bleich, abgemagert, verhärmt, um ſo viele Jahre gealtert, als ſie Wochen gefangen geſeſſen hatte. Die kleine Czika ſah wo möglich noch ſchlimmer aus. Ich nahm ſie mit hierher nach Berkow; ich pflegte ſie, ich tröſtete ſie, ich beſchenkte ſie, ich that, was ich konnte. Aber die Reue kam hier wie überall zu ſpät. Der kleinen Czika war die Kerkerluft bis in's Herz gedrungen. Sie verfiel, kaum hier ange¬ kommen, in ein hitziges Fieber, und ich danke Gott noch heute, daß ſie mit dem Leben davon kam. Was hätte ich anfangen ſollen, wenn ſie geſtorben wäre!

Melitta ſchwieg und in ihrem Auge glänzte etwas, wie eine Thräne. Aber im nächſten Momente lachte ſie ſchon wieder und ſagte:

Nun, ſie ſtarb ja nicht, ſondern wurde wieder munter und friſch wie vorher, und ſpielte ſich mit meinem Julius hier wieder helle Augen und rothe Backen. Die Kinder hatten ſich ſehr lieb gewonnen, und ich hätte die Kleine gar zu gern hier behalten, ſie mit Julius zuſammen erziehen zu laſſen. Das Kind zeigte die köſtlichſten Anlagen, beſonders ein über¬ raſchendes Talent für Muſik. Die braune Gräfin wollte ich zu meiner Kammerfrau machen, oder wozu157 ſie wollte. Ich ſtellte ihr frei, ihr Leben nach ihrem Belieben einzurichten, und bat ſie nur, zu bleiben. Aber es war die alte Geſchichte von dem Froſch und dem goldenen Stuhl. Ein paar Wochen hielt ſie das zahme Leben aus; und eines ſchönen Morgens war ſie verſchwunden ſie und die Czika. Später ſind ſie wiederholt in dieſe Gegend gekommen, aber hierher zu mir kommen ſie nicht mehr. Die Iſabel grollt mir entweder noch, oder ſie iſt eiferſüchtig auf mich und fürchtet, ich werde ihr die Czika ſtehlen. Und doch muß ſie einſehen, daß ich es gut mit ihr meine. Die Leute im Dorf haben Befehl, ihr, wenn ſie vorſpricht, jede Gefälligkeit zu erweiſen, der Förſter hat den Auftrag, ſie unbeläſtigt im Walde zu laſſen; und ich verſage mir das Vergnügen, ſie aufzuſuchen, weil ich fürchte, ſie ganz zu verſcheuchen. Das iſt meine Geſchichte von der braunen Gräfin. Sind Sie mir noch bös?

Welches Recht hätte ich dazu?

Nun, Sie machten vorher ein ſo finſteres Geſicht, daß ich mich ganz als arme Sünderin fühlte.

Sie belieben zu ſcherzen. Was kann Ihnen an meinem Urtheil gelegen ſein?

Mehr, als Ihre jedenfalls halb erkünſtelte Be¬ ſcheidenheit zu glauben vorgiebt. Eine Frau hält ſtets158 große Stücke auf eines Mannes Urtheil, weil ſie in¬ ſtinctiv fühlt, daß des Mannes Kopf beſſer, das heißt nicht ſchneller, aber gründlicher, ſicherer denkt, als ihr leichtſinniges Frauengehirn. Und vor euch gelehrten Herren haben wir noch einen ganz beſonderen Reſpect. Ihr habt Alle um die Augen und um die Mundwinkel herum ſo etwas Myſtiſches, Unergründliches, ſo etwas

Oswald mußte laut auflachen.

Ja, lachen Sie nur. Ihnen mag das nicht ſo erſcheinen; aber wir fürchten uns vor eurem Wiſſen, auch wenn wir Einen oder den Andern unter euch, der gut¬ müthig genug iſt, ſich dazu herzugeben, zur Zielſcheibe unſeres Spottes machen. Da iſt mein Bemperlein, mein guter, treuer Bemperlein. Nun, er iſt wahr¬ haftig kein Genie, und kennt die Welt gerade ſo gut, wie ich das Griechiſche; und dennoch ziehe ich, wenn wir uns ſtreiten, jedesmal den Kürzeren. Das iſt doch ärgerlich. Nehme ich dagegen unſere Landjunker. Es ſind hübſche, ſehr hübſche Männer darunter, die in Landwehrlieutenants-Uniform ſich mit ihren blonden Schnurrbärten, ſonnegebräunten Geſichtern und hellen blauen Augen prächtig ausnehmen; aber in Civil ſehen ſie dumm aus. Sie haben das Stupide, Lebloſe von ſchönen Pferde - und Hundegeſichtern. Der Einzige159 von ihnen, der ſtudirt hat, ſieht aus, als wäre er aus einer anderen Welt.

Wer iſt dieſer Phönix?

Baron von Oldenburg.

Ein Schatten fuhr über Melitta's lebensvolles Antlitz, wie wenn eine Wolke über eine ſonnenhelle Landſchaft jagt. Sie ſtarrte auf ein paar Augenblicke vor ſich hin, wie wenn ſie den Faden des Geſprächs verloren hätte. Dann wie aus einem Traum erwachend:

Ja, was ich ſagen wollte und darum will ich, daß mein Julius ſtudirt. Aber ich ſchwatze und ſchwatze und frage nicht einmal, ob Sie nicht hungrig und durſtig und müde ſind, wozu Sie doch nach Ihren Kreuz - und Querfahrten das vollkommenſte Recht haben. Kommen Sie, wir wollen hineingehen und ſehen, ob wir nicht Jemand auftreiben können, der uns einige Erfriſchungen beſorgt. Mich verlangt ebenfalls darnach, denn es fällt mir ein, daß ich eigentlich nichts zu Mittag gegeſſen habe. Sind Sie noch gar nicht in dem Hauſe geweſen?

Doch, wenigſtens auf dem Hausflur. Ich fragte eine große Wanduhr, ob ich Frau von Berkow meine Aufwartung machen könne, aber ſie antwortete: Schnick - Schnack, Schnick-Schnack! Da ging ich wieder fort.

Melitta hatte ſich erhoben und ihren Strohhut160 aufgeſetzt, ohne ſich weiter um die langen Bänder zu kümmern, von denen das eine über den Buſen, das andere über den Rücken lief, und ſagte lächelnd, wäh¬ rend Oswald im Aufſtehen das Buch ergriffen und nach dem Titel geſehen hatte:

Für Sie ſpricht auch wohl jedes Ding ſeine Sprache?

So ziemlich. Dies Buch zum Beiſpiel ſagt mir: Frau von Berkow könnte mich auch ungeleſen laſſen, da es ſo viel beſſere Bücher zu leſen giebt.

Ja, du lieber Himmel, wir auf dem Lande leſen, was uns die Leihbibliothekare und die Buchhändler zu ſchicken belieben. Aber, was haben Sie gegen dieſe

Erſtens ärgert es mich, daß ich auf das Buch ſtoße, wo ich gehe und ſtehe. In Grünwald lag es auf jedem Tiſch; kaum war ich zwei Tage in Gren¬ witz, verfolgte es mich auch dahin, und nun muß ich es auch noch gar bei Ihnen finden. Ich habe es nicht bis über den zweiten Band hinaus bringen kön¬ nen, und Sie ſind zu meinem Erſtaunen ſchon im vierten. Wie können Sie ſich für dieſen Chourineur, dieſen Maitre d'école, dieſe Chouette, und wie das Geſindel ſonſt noch heißt, intereſſiren? Wahrlich, doch kaum ſo viel, wie für Beſtien in der Menagerie. Denn dieſe ſind doch wenigſtens Gottes Geſchöpfe,161 während jene nur die Ausgeburten der wüſten Phan¬ taſie eines verbrannten Dichtergehirnes ſind. "

Sie mögen Recht haben, ſagte Melitta, während ſie jetzt von der Terraſſe in den Garten hinabſtiegen. Es iſt vielleicht ein Unglück, daß ſolche Bücher ge¬ ſchrieben werden, und ein noch größeres Unglück, daß wir, und beſonders wir Frauen, in unſerer Erziehung und Bildung ſo verwahrloſt ſind, um an dieſen Büchern doch eine Art von Geſchmack zu finden. Uebrigens nehme ich Alles, was Sue von jenem Geſindel erzählt, auf Treu und Glauben hin, wie die Berichte eines überſeeiſchen Reiſenden von den Wundern, die er zu Waſſer und zu Lande erlebte, um ſo mehr, als er die Sphären der Geſellſchaft, die ich kenne, zum Theil ſehr wahr, ſehr treu ſchildert.

Iſt etwa Rudolphe, Grand Duc Régant de Gerolstein auch nach dem Leben?

Das weiß ich nicht, aber ſo viel weiß ich, daß Geſchichten, wie die des Marquis d' Harville und ſeiner Frau ſo oder ähnlich alle Tage im Leben vorkommen.

Oswald antwortete nicht; es fiel ihm ein, was er über das Verhältniß Melitta's zu ihrem Gemahl ge¬ hört hatte, wie Herr von Berkow nun ſchon ſeit ſieben Jahren in unheilbarem Wahnſinn lag. Eine Ahnung der trauervollen Scenen bis zum Hereinbrechen derF. Spielhagen, Problematische Naturen. I. 11162furchtbaren Kataſtrophe überkam ihn; es that ihm weh, daß er unverſehens an den Vorhang eines ſo dunkeln Familiendrama's gerührt hatte. Aber zugleich erfaßte ihn eine unendliche Theilnahme für die reizende Frau, die hier in dieſer grünen Wildniß die ſchönſten Jahre ihres Lebens einſam vertrauern ſollte. Was hilft ihr Jugend, Schönheit und Reichthum ohne Liebe! und wird ſie wohl ſo geliebt, wie ſie geliebt zu werden ver¬ dient, wie ſie geliebt zu werden wünſcht, ſie, durch deren weiche, ſchmachtende Augen man in unergründ¬ liche Tiefen von Zärtlichkeit und Leidenſchaft blickt?

Mitleid iſt der erſtgeborene Bruder der holden Schweſter Liebe. Während Oswald das Schickſal der ſchönen Frau beklagte, fühlte er, wie ein Quell ſchmerzlich ſüßer Gefühle warm aus ſeinem Herzen hervorbrach, und es bald bis zum Zerſpringen füllte. Und wenn die kalte klaſſiſche Liebe im Wellenſchaum geboren wird für die romantiſche moderne Liebe iſt die weiche, blumenduftgetränkte, warme Luft eines üppig blühenden Gartens eine günſtigere Atmoſphäre. Wollüſtige Schatten erfüllten die lauſchigen Bos¬ kets, träumeriſch lag der Nachmittagsſonnenſchein auf den grünen Raſenplätzen, in den dichten Kronen der Bäume jubelten die Vögel, Schmetterlinge wiegten ſich über den ſonnetrunkenen Blumenwäldern der Beete ....

163

Langſam wandelten die ſchlanken Geſtalten durch das grüne Revier; oft ſtill ſtehend, hier einen Roſen¬ buſch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke prangte als ſeine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen zuzuſchauen, das ſich luſtig von Aſt zu Aſt und von Zweig zu Zweig ſchwang. Immer mehr überkam Os¬ wald das Gefühl, als wandle er in einem herrlichen Traum; als träume er nur dieſen Sonnenſchein, dieſen Blumenduft, dieſen Vogelgeſang; als träume er nur Melitta's ſüße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen und auch Melitta war es, als ob ſie heute mit ganz anderen Augen ſehe, mit ganz anderen Ohren höre. Der fremde Mann, den ſie durch ihre Beſitzung führte, war ihr ſo vertraut, als kenne ſie ihn ſchon ſeit vielen, vielen Jahren, als habe ſie ihn immer gekannt; und was ſie ſeit Jahren tagtäglich geſehen, erſchien ihr jetzt beinahe fremd. So wahr iſt es, daß der Menſch dem Menſchen ewig nicht nur das Intereſſanteſte, ſon¬ dern auch das einzig Verſtändliche im ganzen Umfang des Daſeins iſt. Für eine Menſchenſeele, die mit unſerer Seele harmoniſch zuſammenklingt, werfen wir freudig all' den Plunder fort, mit dem wir, in Er¬ mangelung dieſes höchſten Glücks, das Einerlei der Stunden auszufüllen ſuchten. Und wenn dies ſchon für den Mann gilt, ſo gilt es doppelt und dreifach11*164für die Frau. Für ſie giebt es nur eine Seligkeit auf Erden: zu lieben, und nur ein Glück: geliebt zu ſein; und Melitta's ſeit Jahren nur mit oberflächlichen Nei¬ gungen, mit leeren Coquetterien hingehaltenes Herz ſchmachtete nach einer wahren tiefen Leidenſchaft; und Melitta fand die halb ehrfurchtsvollen, halb kühnen, aber immer aufrichtig bewundernden, zärtlich liebkoſen¬ den Blicke, mit denen der junge Mann an ihr hing und ſie wie mit einem unſichtbaren Zaubernetz, deſſen Maſchen ſich dichter und immer dichter woben, um¬ ſpann, viel zu ſüß, als daß ſie dem, der ihr dies ſüße Glück gewährte, nicht von Herzen hätte dankbar ſein ſollen.

Sie fühlte ſich unſäglich glücklich, und dennoch ernſter geſtimmt, als es wohl ſonst ihre Gewohnheit war. Der Sturm der Leidenſchaft, der in ihrer Seele langſam heraufzog, warf ſchon ſeine dunkeln Schatten über ihr ſonnenhelles Gemüth, und ſein erſter Anhauch zerriß den leichten Schleier, den die Zeit mühſam über ſo manches heitere Bild vergangener Tage gewebt hatte. Während Oswald den Bildungsgang, den er für Julius am geeignetſten hielt, entwarf, dabei auf ſein eigenes Leben zu ſprechen kam, und die ſchöne Frau, gleichſam als ein Zeichen ſeiner Liebe und Ver¬ ehrung, ſo manchen Blick in das tiefgeheimſte Leben165 ſeiner Seele thun ließ, fühlte ſie ſich mehr wie einmal auf das ſonderbarſte ergriffen. Manche Gedanken, die der junge Mann in ſeiner lebhaften Weiſe mit gefäl¬ liger Beredtſamkeit vortrug, hatte ſie, oft faſt in den¬ ſelben Worten, ſchon früher einmal gehört von einem Manne, der ihr ſehr theuer geweſen war, deſſen dä¬ moniſche Natur ihren regen Geiſt angelockt und gefeſ¬ ſelt, und deſſen rauhe Schroffheit ihren weichen Sinn abgeſtoßen und beleidigt hatte. Hier fand ſie die Roſen wieder, an deren üppigen Duft ſie ſich damals berauſcht, aber ohne die Dornen; hier fand ſie, was ſie dort ſo ſchmerzlich vermißt hatte: Schönheit der Formen, Grazie der Bewegung und Anmuth der Rede.

[166]

Dreizehntes Kapitel.

Im eifrigen Geſpräch in den Gängen zwiſchen den Beeten auf und abwandelnd, wurden ſie an ihre Ab¬ ſicht, in das Haus zu gehen, erſt erinnert, als ſie ſich demſelben zum zweiten Male näherten. Sie traten durch die offene Thür in einen Saal, deſſen harmoniſche Verhältniſſe und einfache, geſchmackvolle Decoration auf Oswald ſofort den angenehmſten Eindruck machten. Die hohen Kaſtanienbäume, unmitelbar vor den Fen¬ ſtern, hielten den Raum kühl und ſchattig. Das ge¬ dämpfte Licht that dem Auge wohl nach dem verſchwen¬ deriſchen Sonnenſchein draußen im Garten. Bequeme Seſſel in mancherlei Formen und Größen, amerikaniſche Rocking-chairs, franzöſiſche Cauſeuſen, ein großer Flügel, Tiſche mit Büchern und Bildwerken bedeckt, hier und da in dem weiten Gemache ſchicklich vertheilt, gaben demſelben bei allem Reichthum etwas ungemein Wohn¬167 liches, das auf das liebenswürdigſte mit der ſteifſtelligen Ordnung, die in dem Innern des Schloſſes Grenwitz herrſchte, contraſtirte.

Ich bin doch neugierig, ob Jemand auf mein Klingeln kommen wird, ſagte Melitta, ihren Hut auf den Tiſch werfend und nach der Klingelſchnur gehend. Unmöglich iſt es gar nicht, daß wir uns höchſtſelbſt in die Speiſekammer werden verfügen müſſen, notabene, wenn wir den Schlüſſel auftreiben können.

Sie klingelte und wandte ſich wieder zu Oswald, der eine der Marmorbüſten, welche die Wände des Saales ſchmückten, betrachtete.

Wie finden Sie dieſe Maske?

Sehr ſchön; es iſt die Rhodontiniſche Meduſe.

Ah! ich ſehe, Sie ſind ein Kenner.

Höchſtens ein Liebhaber. Ich habe in der Reſi¬ denz und ſonſt manches geſehen; meiſtens freilich nur Gypſe. Seit meinen Knabenjahren war es mein ſehn¬ lichſter Wunſch, einmal in das gelobte Land Italien zu wallfahren, um dem hohen Gott Apollo von Bel¬ vedere perſönlich meine Huldigung darbringen zu können.

Nun das iſt doch kein ſo unbeſcheidener Wunſch.

Wenn es unbeſcheiden iſt, zu wünſchen, was uns nicht beſchieden doch.

So wäre es unbeſcheiden, daß wir etwas zu ves¬168 pern wünſchen, denn das ſcheint uns auch nicht be¬ ſchieden; ſagte Melitta mit komiſch-klagendem Ton. Aber wird uns nicht oft gerade etwas beſchieden, weil wir es lebhaft, heiß, unbeſcheiden wünſchen? Das Schickſal gewährt uns unſern Wunſch, wie eine Mutter dem bettelnden Kinde das Stückchen Kuchen, nur um uns los zu werden.

Das Schickſal iſt kein launiſches Weib, ſondern ein harter felſenherziger Gott, und wenn wir etwas von ihm haben wollen, müſſen wir es ihm abtrotzen.

Das iſt er für euch Männer, und vielleicht iſt es gut, daß dem ſo iſt ihr würdet ſonſt zu über¬ müthig. Wir Frauen aber du lieber Himmel, was ſollte aus uns werden, wenn wir uns das bischen Glück ertrotzen ſollten. Wir legen uns lieber auf's Bitten und Betteln, und wenn wir eben alle Hoffnung aufgeben wollen und ganz am Glück verzweifeln dann, gerade dann ſehen Sie, da kommt der Bau¬ mann und mit ihm die Ausſicht auf unſer Vesperbrot.

Die Thür öffnete ſich und die Geſtalt eines langen, hageren Mannes, deſſen altes, runzliges Geſicht mit den buſchigen Augenbraunen, eine tiefe Narbe, die über die kahle Stirn am Auge vorbei bis tief in die Wange lief, und ein langer eisgrauer Schnurrbart etwas un¬ gemein Martialiſches gaben, erſchien auf der Schwelle.

169

Gnädige Frau? ſagte er mit einer Stimme, die aus einer tiefen Höhle zu kommen ſchien.

Ach Baumann, es ſind wohl außer Ihm Alle ausgegangen?

Zu Befehl.

Das habe ich aber gar nicht befohlen. Wo iſt Mamſell?

Drüben in Faſchwitz.

Und der Johann?

Bei Förſters.

Und die Mädchen?

Im Dorf.

Beſter Baumann, wir möchten gern etwas Abend¬ brot haben.

Zu Befehl.

Kann Er uns denn etwas verſchaffen?

Schwerlich.

Oder wenigſtens den Speiſekammerſchlüſſel auf¬ treiben?

Wird ſich kaum bewerkſtelligen laſſen.

Lieber guter Baumann, ſeh 'Er doch einmal zu, was ſich thun läßt.

Zu Befehl.

Damit machte die ſeltſame Geſtalt Kehrt und mar¬ ſchirte wieder zur Thür hinaus.

170

Nun was ſagen Sie zu meinem maître d'hôtel?

Daß der Mann auf jeden Fall ein Original iſt; aber weshalb hat er mich ſo unverwandt mit ſeinen alten klugen Augen angeſehen?

Melitta lachte.

Sie müſſen wiſſen, daß der alte Baumann ſchon Diener bei meinem Vater war, in deſſen Regiment er die Feldzüge gegen Napoleon mitmachte. Er hat mich, als ich ein Kind war, auf ſeinen Knieen geſchaukelt, mich nimmer ſeitdem verlaſſen und wird mich nicht verlaſſen, bis ich ſterbe oder er ſtirbt. Zweimal hat er mir das Leben gerettet, und, ohne daß ich es wollte oder wußte, im Stillen jeden Schmerz mit mir ge¬ theilt, ich möchte ſagen, auch jede Freude. Wenn ich zu ihm ſpräche: Baumann, Er muß morgen für mich nach Auſtralien reiſen, ſo würde er ſagen: zu Befehl! über Nacht ſeine Sachen packen, und vor Sonnenauf¬ gang ſchon unterwegs ſein; und wenn ich ſagte: es iſt nicht anders, Baumann, Er muß für mich ſterben, ſo und ſo er würde ſagen: zu Befehl! und nicht mit den grauen Wimpern zucken; aber wenn ich zu ihm ſagte: hören Sie, Baumann, ſtatt: höre Er, Baumann ſo würde er das für eine Aufkündigung unſerer Freundſchaft halten. Jetzt iſt er böſe, daß ich ihm nicht geſagt habe, wer Sie ſind. Weiß er das, und171 weiß er, daß ich Sie gern bei mir ſehe, dann iſt er zufrieden. Nun paſſen Sie auf, was geſchieht. Er kommt zurück und ſagt uns, daß er ſchlechterdings nichts für uns thun könne. Darauf gebe ich ihm die gewünſchte Auskunft, und mache Miene ſelber zu gehen. Dann wird Frieden geſchloſſen. Sie müſſen ihn aber gütig anſehen, wenn ich von Ihnen zu ihm ſpreche.

Keine Sorge, gnädige Frau: ich will ſo freundlich und mild lächeln, wie ein Engel von Guido Reni.

Abermals öffnete ſich die Thür. Der alte Diener erſchien; marſchirte in das Gemach, blieb genau auf demſelben Platze wie das erſte Mal ſtehen und ſagte, wiederum Oswald fixirend:

Keine Menſchenmöglichkeit nicht, gnädige Frau.

Aber Baumann, das iſt ja jammerſchade. Der Herr Doctor Stein iſt eigens aus Grenwitz, und noch dazu zu Fuß herübergekommen, um mit Herrn Bem¬ perlein über Julius zu ſprechen. Und nun ſind die Beiden fortgefahren, und wir können ihm nicht einen Biſſen, nicht ein Glas Wein vorſetzen; und ich ſelbſt habe heute Mittag, wie Er ſelbſt geſehen hat, gar nichts gegeſſen und komme nun faſt um vor Hunger.

Oswald mußte ſich ſehr zuſammennehmen, daß ſich das ihm anbefohlene Lächeln nicht in ein ſchallendes Gelächter verwandelte, als er ſah, wie die Miene des172 alten Mannes bei jedem Worte, das Melitta ſprach, heller und heller wurde, wie er den vorher auf den Gaſt fixirten Blick von dieſem zu jener, von jener zu dieſem wandte, als wollte er ſagen: Na, ſeht ihr, junges Volk, daß ihr ohne den alten Baumann nicht fertig werden könnt! und zuletzt ſagte:

Nun, was den Kellerſchlüſſel betrifft, ſo habe ich ſelbigen wie immer in meiner Taſche, gnädige Frau.

Ja, das iſt ja auch wahr, und wie iſt es mit dem Speiſekammerſchlüſſel?

Eine Menſchenmöglichkeit iſt noch, daß Mamſell ihn wieder unter den Abſtreicher gelegt hat, trotzdem ich ſie ſchon oft dieſerhalb verwarnet habe.

Will er denn einmal nachſehen, Baumann?

Zu Befehl.

Sobald ſich die Thür hinter dem alten Manne geſchloſſen hatte, warf ſich Melitta lachend in einen Schaukelſtuhl.

Habe ich es nicht geſagt? rief ſie, ſich hin - und herwiegend, luſtig wie ein Kind, das ſeinen Willen durchgeſetzt hat; habe ich es nicht geſagt?

Oswald hatte ſich ihr gegenüber an den großen runden Tiſch geſetzt, auf dem ein aufgeſchlagenes Album und allerlei Zeichenmaterialien lagen. Seine Hand173 ſpielte mit einer Bleifeder, während er Melitta, in Ge¬ danken verloren, anſchaute.

Wollen Sie mich zeichnen? rief Melitta.

Ich wollte, ich könnte.

Warum nicht, da liegt mein Album.

Das hilft mir nichts. Lehren Sie mich erſt die Kunſt, unmittelbar mit den Augen malen zu können.

Sehen Sie, das iſt es gerade, was ich immer wünſche. Wie oft, wenn mich eine Landſchaft, eine Geſtalt, ein Geſicht intereſſiren, denke ich: jetzt mußt du's treffen; und will ich nun auf das Papier bannen, was mir ſo klar vor den Augen ſteht, wird's eine Stümperei.

Ich bin überzeugt, Ihr Album wird das Gegen¬ theil beweiſen; darf man es beſehen?

Nein, man darf es nicht; aber Sie dürfen es. Im Grunde hat es nur Werth für mich; denn für mich ſteht nicht nur das darin, was ich gezeichnet habe, ſondern auch, was ich habe zeichnen wollen. Ueber¬ dies iſt mir mein Album eine Art von Tagebuch. Dieſes hier werde ich kurz vor meiner italieniſchen Reiſe angefangen haben.

So waren Sie in Italien?

Vor zwei Jahren mit meinem Vetter Barnewitz und ſeiner Frau. Ich wollte, Sie wären auch von174 der Parthie geweſen; einmal Ihrethalben, denn Sie ſind es werth, Italien zu ſehen, und ſodann meinet¬ halben, die ich dann hoffentlich nicht allein, oder in Begleitung von Wachspuppen durch die herrlichſten Gegenden und die reichſten Gallerien hätte wandern müſſen. Damals, wie ſtets, war es das Album, deſſen geduldigem Papier ich Alles ſagte, was ſonſt Niemand hören wollte.

Melitta hatte ſich erhoben und ſich neben Oswald geſtellt, der aufſtehen wollte, ihr einen Stuhl heran¬ zurücken. Sie aber, ihn daran zu verhindern, legte die Hand leicht auf ſeinen Arm und ließ ſie dort ein paar Augenblicke ruhen, ein paar Augenblicke, und doch lange genug, daß Oswald's Hand zitterte und ſeine Stimme bebte, als er jetzt, die erſten Blätter umwendend, ſagte:

Dieſe Skizzen ſind noch vor der italieniſchen Reiſe gezeichnet. Hier iſt der geheimnißvolle Teich, an deſſen Rand ich heute Nachmittag geſchlafen und geträumt habe.

Sie haben mir noch nicht erzählt, was Sie ge¬ träumt haben.

Doch, ich ſagte Ihnen ja: ſüßes, närriſches Zeug.

Von einer Dame natürlich?

Ja.

175

So wäre es indiscret, mehr wiſſen zu wollen.

Ach, wie reizend! rief Oswald, als er das nächſte Blatt umſchlug. Wie heimlich verſteckt liegt dieſes Häuschen im Walde! Gleich treuen Rieſenwächtern umſtehen es die alten Fichten. Wie eine ſchützende Gottheit breitet die Buche ihr mächtigen Aeſte darüber hin. Als wollten ſie ſagen: Du biſt unſer! klettern die Schlingpflanzen daran hinauf und ſchaukeln ſich vor den niedrigen Fenſter. Und wie träumeriſch ſchleicht der Bach zwiſchen hohen Binſen und Farren¬ kräutern hier durch die ſaftige Wieſe im Vordergrund! das iſt wunderhübſch gedacht, ſagte Oswald, von dem Blatt zu Melitta emporblickend.

Und weil Sie Alles ſo hübſch nachempfunden haben, ſo will ich Sie noch heute an Ort und Stelle führen.

Wie? ſo iſt dies keine Phantaſie?

Bewahre! höchſtens die Enten hier, die ſich vor dem Habicht in die Binſen ducken. Das Bächlein iſt der Abfluß Ihres geheimnißvollen Sees im Walde.

Alſo nur eine Fortſetzung meines Traumes, ſagte Oswald weiter blätternd.

Ein loſes Blatt kam ihm zunächſt in die Hände. Der Kopf eines Mannes im Profil war in ſchönen, kühnen Linien darauf gezeichnet. In einer Ecke ſtan¬ den die Buchſtaben A. v. O. und ein Datum.

176

Das Blatt wird verloren gehen, ſagte Oswald.

Mag es! antwortete Melitta.

Der Ton, in welchem ſie dieſe beiden Worte ſprach, war ſo eigenthümlich, ſo ganz ohne die gewöhnliche Süßigkeit ihrer Stimme, daß Oswald unwillkürlich zu ihr aufſchaute. Er ſah, daß ihre ſchönen Brauen wie im Schmerz zuſammengezogen waren, und ihre Lippen zuckten. Er ſenkte ſogleich ſeinen Blick und wollte das Blatt umſchlagen. Melitta legte ihre Hand auf ſeinen Arm und ſagte leiſe:

Wie finden Sie den Kopf?

Ein Sturm brauſte durch Oswald's Seele. Er hätte ſich von dem Seſſel zu Melitta's Füßen werfen und ausrufen mögen: ich liebe Dich ja, Melitta! Wie kannſt Du mein Urtheil hören wollen über den Mann, den Du geliebt haſt, vielleicht noch liebſt ... Aber er bezwang ſich und ſagte mit ſcheinbarer Ruhe:

Es iſt der Kopf eines Mannes, auf den mir Taſſo's Worte zu paſſen ſcheinen:

Und haben alle Götter ſich vereinigt,
An ſeiner Wiege Gaben darzubringen,
Die Grazien ſind leider ausgeblieben

Dieſer Mann wird niemals glücklich ſein, weil er nie¬ mals wird glücklich ſein wollen.

Und darum, ſagte Melitta, iſt dieſer Mann aus177 meinem Leben losgelöſt, wie dies Blatt aus dem Album. Wenn man die Erinnerung tödten könnte, wie man ein Blatt vernichten kann, ſo läge es nicht mehr hier. Da das aber nicht geht, ſo mag es bleiben, wo es iſt. Weiter!

Der Sturm in Oswald's Seele war vorüber¬ gebrauſt. Wie lindes Wehen des Frühlings überkam ihn der Gedanke: Sie könnte und würde dir das nicht ſagen, wenn ſie dich nicht ihres Vertrauens und ihrer Freundſchaft für würdig erachtete. Und ein Gefühl unſäglichen Glücks durchbebte ihn bei dieſem Gedanken. Es war für ihn jener hochherrliche, feierliche Augen¬ blick, der einmal oder das anderemal jedem Menſchen in der Nacht ſeines Lebens ſtrahlt jener Augenblick, wo die Himmel ſich uns aufthun, und die Engelſchaaren herniederſteigen, und Friede, Friede, Friede! in unſer gläubiges Herz ſingen.

In dieſer ſeligen Stimmung durchmuſterte er die folgenden Blätter, die Melitta auf ihrer italieniſchen Reiſe gezeichnet hatte: Landſchaften mit heitern, klaren Linien, Skizzen aus Städten: Paläſte, Straßen, Ruinen, zwiſchendurch ein keckes Lazaronigeſicht oder ein träu¬ meriſches Mädchenantlitz. Dann folgten Studien nach der Antike, zum Theil ſehr fleißige Studien, denn Manches war wieder und wieder gezeichnet, bevor esF. Spielhagen, Problematiſche Naturen I. 12178dem regen Schönheitsſinn Melitta's genügt hatte. Beſonders ſchön war der Kopf der Venus von Milo. Auf einem der nächſten Blätter war die ganze Geſtalt.

Wo haben Sie das gezeichnet? fragte Oswald; doch unmöglich nach einer Copie?

Nein, nach dem Original ſelbſt. Ich war damals in Italien eine halbe Katholikin geworden, und als ich in Paris im Louvre die hohe Geſtalt ſah, da ſagte ich zu mir: dieſe oder keine iſt deine Heilige. O, Sie glauben nicht, wie ſchön ſie iſt, wie ſchön und wie gut! und dieſer Ausdruck himmliſcher Güte, den die Milo¬ niſche Venus nicht nur vor allen andern Venusbildern, ſondern auch vor ſämmtlichen antiken Köpfen voraus hat, rührte mich faſt noch mehr wie ihre göttliche Schönheit. Vor der Miloniſchen Venus habe ich es zum erſten Male begriffen, wie es möglich ſei, vor einem Bilde, das Menſchenhand geſchaffen, zn beten, aufrichtig, inbrünſtig zu beten. Warum ſtützen Sie den Kopf ſo nachdenklich in die Hand? Hier, nehmen Sie dieſen Bleiſtift und ſchreiben Sie mir unter das Bild, was Sie eben gedichtet haben; denn ich habe es Ihnen angeſehen, daß Sie Verſe machten.

Oswald nahm den Griffel, den ihm Melitta halb im Scherz und halb im Ernſt bot, und ſchrieb, wäh¬179 rend die ſchöne Frau ihm über die Schulter blickte, mit zitternder Hand:

Fern zu Paris, im hohen Louvreſaale,
Inmitten all' der göttlichen Geſtalten,
Der marmorſchönen ach! und marmorkalten,
Da thronet ſie hoch auf dem Piedeſtale;
Sie, die im ſtillverſchwieg'nen Bergesthale,
Als träumeriſch die duft'gen Nebel wallten,
Anchiſes einſt in ſeinem Arm gehalten,
Bis ſie entſchwand im erſten Morgenſtrahle.
Die Göttin ſtarb. Man fand die ſchöne Leiche,
Und trug ſie ſtill in heil'ge Tempelhallen.
So herrſcht die Todte noch in ihrem Reiche.
Ach, aber Keinem von den Gläub'gen allen
Neigt gütig ſie das Angeſicht, das bleiche;
Taub bleibt ihr Ohr für frommer Beter Lallen.

Oswald legte den Griffel aus der Hand und ſchaute zu Melitta empor. Sein Blick begegnete dem ihrigen. Für ein paar Momente ruhten ihre Augen ineinander, als ob ſie Einer in des Andern Seele leſen wollten.

Da erſchien in der Thür zum Nebenzimmer, aus dem man ſchon ſeit einiger Zeit das Klappern von Tellern gehört hatte, der alte Baumann mit einer Serviette unter dem Arm und ſagte feierlich, wie der Comthur im Don Juan:

Gnädige Frau, es iſt angerichtet.

12*180

Schnell, kommen Sie, ehe unſer Habermus kalt wird, rief Melitta.

Nur noch die paar Blätter erlauben Sie, ſagte Oswald; ich ſehe, es iſt gleich zu Ende.

Es iſt nichts von Bedeutung mehr darin, ſagte Melitta faſt ungeduldig.

Ei, das iſt ja der Park von Grenwitz, rief Os¬ wald, indem er, vom Seſſel ſich erhebend, das letzte Blatt aufſchlug. Der Raſenplatz hinter dem Schloſſe. Hier die Flora, dort Bruno im vollen Lauf

Und hier ſind Sie!

Wo?

Dort.

Dieſer Nebelſtreif? ſagte Oswald, auf eine Stelle rechts neben der Flora deutend, wo man von einer Figur, die mit Gummi wieder weggewiſcht war, noch eben die Umriſſe erkennen konnte.

Dieſer Nebelſtreif! antwortete lachend Melitta. Ich wollte Sie erſt in Ihrer wirklichen Geſtalt zeich¬ nen, konnte aber nicht damit zu Stande kommen. Jetzt ſollen Sie als Erlkönig figuriren, der den Knaben Bruno haſcht; das heißt Bruno's Leib, denn ſeine Seele gehört Ihnen ſchon. Wie haben Sie es nur angefangen, den jungen Leoparden in den paar Tagen vollſtändig zu zähmen?

181

Durch ein Bischen aufrichtige Liebe. Shakeſpeare nennt als untrügliches Mittel, die Menſchen zu fangen, die Schmeichelei; ich finde, daß die Liebe ein noch viel ſichereres und dabei viel edleres iſt.

Und iſt nicht die Liebe die größte Schmeichelei?

So ſprachen Oswald und Melitta, während ſie in das Nebenzimmer gingen, ein hohes, ſchönes, mit alter¬ thümlichen Möbeln ausgeſtattetes Gemach, in deſſen Mitte auf einem runden Tiſchchen allerlei Erfriſchungen gar einladend ſervirt waren. Hinter dem einen der beiden reichgeſchnitzten, hochlehnigen Stühle ſtand kerzen¬ gerade, die Serviette unter dem Arm, der alte Bau¬ mann, einer Anerkennung ſeiner ausgezeichneten Ver¬ dienſte und fernerer Befehle gewärtig.

Nun was bietet uns denn unſer Tiſchlein-decke-dich? ſagte Melitta, ſich ſetzend und Oswald mit einer Hand¬ bewegung einladend, ihrem Beiſpiele zu folgen.

Kalten Braten Eingemachtes ganz char¬ mant, Baumann! Mamſell wird ſich ärgern, daß wir ohne ſie fertig geworden ſind.

Mamſell iſt vor einigen Minuten von Faſchwitz retournirt, ſagte Baumann, der an einem Nebentiſche eine Flaſche entkorkte.

Ich wette, ſie iſt gar nicht fortgeweſen, flüſterte182 Melitta lächelnd Oswald zu. Was haben wir denn für unſern Gaſt zum Trinken, Baumann?

Steineberger Cabinet, zweiundzwanziger, ſagte Baumann, Oswald's Glas mit dem goldigen Weine füllend.

Und für mich?

Friſches Brunnenwaſſer, etwa mit Himbeerſaft, antwortete Baumann kaltblütig, die Flaſche mit dem Stöpſel darauf vor Oswald hinſtellend.

Damit bin ich heute ſchlechterdings nicht zufrieden, Baumann! Wie ſteht es denn mit unſerm Champagner?

Reine alle, gnädige Frau.

Aber wir haben ja doch neulich erſt eine Kiſte bekommen?

Steht noch nietennagelfeſt im Keller.

Ach, das iſt ja jammerſchade, klagte Melitta. Und ich komme faſt um vor Durſt, und muß nun gerade heute ein ſolches Verlangen nach Champagner haben.

Nu, nu, tröſtete Baumann, wird ſich ja noch verwerkſtelligen laſſen.

Damit ſchritt er zur Thür hinaus.

Sehen Sie, ſo muß ich mir in meinem eigenen Hauſe Alles zuſammenbetteln, ſagte Melitta, aber Sie eſſen ja nicht! Und was für ein Stück Sie ſich183 da genommen haben! Das ſchlechteſte auf dem ganzen Teller. Gott, was ſeid ihr Männer doch für hülfloſe, unpraktiſche Geſchöpfe! Ich merke ſchon, daß ich für Sie ſorgen muß.

Und ſie begann, trotz Oswald's Verſicherung, daß er gar keinen Hunger habe, ſeinen Teller mit dem Beſten, was ſie auf dem Tiſch entdecken konnte, zu füllen.

Es ſchmeckt Ihnen nicht, ſagte ſie endlich faſt traurig, als ſie ſah, daß der junge Mann ſelbſt jetzt die Speiſen kaum berührte. Sind ſie krank?

Ich befand mich im Leben nicht wohler. Aber ſind Sie nie in der Stimmung geweſen, wo man Eſſen und Trinken für das Ueberflüſſigſte von der Welt, und die himmliſchen Götter ſelbſt, die doch noch des Nektars und des Ambroſia bedurften, für ſehr arm¬ ſelige Götter hält?

O gewiß kenne ich ſolche Stimmungen, antwortete Melitta; genau ſo war mir zu Muthe, als ich von meiner Tante zum erſten Mal auf den Ball geführt wurde. Aber das iſt lange, undenkbar lange her; ſeitdem hat meine Stimmung, ſo viel ich weiß, mit meinem Appetit nie wieder etwas zu thun gehabt.

Trotz dieſer Prahlerei indeſſen blieb auch für Me¬ litta außer ein paar eingemachten Früchten alles auf184 der Tafel Schaugericht. Das ſüße Feuer, das ihren Buſen höher wallen und ihre ſchönen Augen in noch zärtlicherem Lichte ſtrahlen machte, bedurfte zu ſeiner Nahrung nicht der Gaben der Ceres. Zum erſten Male an dieſem Nachmittage gerieth das Geſpräch in's Stocken. Von dem, was ihre Herzen bis zum Zerſpringen füllte, wagte Keiner zu ſprechen; und Alles ſonſt erſchien ſo gleichgültig, ſo nüchtern! Eine Verlegenheit, die ſie vergebens hinter dem Anſchein der Unbefangenheit zu verbergen ſich bemühten, über¬ kam ſie. Beide fühlten, wie eine ſtarke, unſichtbare Hand ihnen die Masken, mit denen wir auf dem Car¬ neval des Lebens unſere wahren Geſichter vor einander verhüllen, langſam abſtreifte. Wenn wir die Stimme des Gottes der Liebe hören in dem Garten des Pa¬ radieſes, ſo verſtecken wir uns vor ihm, und wenn er ſpricht: wo biſt Du? wagen wir nicht zu antworten ...

Aus dieſer wunderlichen Lage erlöſte ſie der alte Baumann, der jetzt das närriſche Kind der Champagne in ſeiner ſilbernen, mit Eis gefüllten Wiege herbei¬ brachte, und vor Oswald auf den Tiſch ſtellte. Wie er es in den wenigen Minuten bewerkſtelligen konnte, aus dem tiefen Keller und der nietennagelfeſten Kiſte das Gewünſchte herbeizuſchaffen, war eines der Räthſel, in die ſich der gute alte Mann zu hüllen liebte, und185 die er für jedes ſterbliche Auge undurchdringlich hielt. Mit kunſtgerechter Hand die Flaſche entkorkend, füllte er den perlenden Wein in die langen zierlichen Kelche, die er vom Büffet genommen, und ſchaute wohlgefällig lächelnd zu, wie ſeine Herrin faſt gierig den ſüßen Trank ſchlürfte und ihm das geleerte Glas hinhaltend rief: Encore, Baumann! und ſchenke Er ſich auch ein Glas ein, und trinke Er es auf das Wohl unſeres Gaſtes!

Der alte Diener that, wie ihm geheißen; füllte ſich am Büffet ein Glas, und dann, auf zwei Schritt an den Tiſch herantretend, rief er:

Zuerſt auf Ihr Wohl, gnädige Frau! denn das geht mir doch über Alles. Und möge der liebe Gott Ihre Augen allzeit ſo fröhlich blicken laſſen, wie zu dieſer Stunde! Und ſodann auf Ihr Wohl, junger Herr! und möge der Himmel Ihren Eingang in dieſes Haus geſegnen, daß nichts als Frieden und Freude daraus komme. Und das wünſcht Ihnen der alte Baumann!

So ſprach er und leerte langſam das Glas, den Kopf zurückbiegend, bis ſein Auge auf den pausbackigen Engelskopf in der Stuckatur der Decke gerade über ſeinem Scheitel traf; und das geleerte Glas dann wieder auf das Buffet ſetzend, trat er an's Fenſter,186 dem Paar am Tiſch den Rücken zukehrend, wie um ihre Unterhaltung nicht weiter zu ſtören.

Die Gegenwart des alten Dieners und der bele¬ bende Wein hatten ihre Zungen wieder gelöſt und ihre Blicke kühner gemacht. Sie ſchwatzten, ſcheinbar unbefangen, über allerlei gleichgültige Dinge, bis Os¬ wald Melitta an ihr Verſprechen, ihn noch heute nach dem Häuschen im Walde zu führen erinnerte.

Habe ich Ihnen das verſprochen? ſagte Melitta. Nun ſo muß ich es auch wohl thun, obgleich es mir jetzt beinahe leid iſt, denn Sie glauben nicht an meine Heilige, und ſind deshalb nicht würdig ihre Kapelle zu betreten.

Ihre Heilige?

Die hohe Frau von Milo. Ich muß Ihnen jetzt auch nur erzählen, wie weit meine Schwärmerei für die Göttliche ging. Nach meiner Rückkehr ver¬ folgte mich die Erinnerung an das ſchöne Bild im Louvre ſo, daß ich nicht ruhte, bis ich mir von Paris mit nicht geringen Koſten eine ausgezeichnete Gyps¬ copie verſchafft hatte. Weil ich aber nicht wagte, meine Heilige hier im Hauſe aufzuſtellen, brachte ich ſie nach dem Häuschen im Walde, das ſo eine Wald¬ kapelle wurde, zu der ich jedes Mal, wenn Beſuch in Berkow iſt, den Schlüſſel verloren habe; und wo ich187 oft ganze Tage und Nächte zubringe, wenn die dummen Menſchen mich einmal mehr als gewöhnlich geärgert haben, und ich, da ich keine Geſellſchaft haben kann, wie ich ſie wünſche, wenigſtens ganz einſam ſein will.

Und da machen Sie dann mit dem Harfner im Wilhelm Meiſter die traurige Erfahrung, daß wer ſich der Einſamkeit ergiebt, bald allein iſt; aber Ihnen hätte ich ſolche hypochondriſche Grillen am wenigſten zugetraut.

Warum nicht mir?

Weil Sie ſo gut und ſo heiter blicken blicken können.

Und wiſſen Sie nicht, daß gerade die heitern Augen am leichteſten weinen?

Ich möchte Sie um Alles in der Welt nicht weinen ſehen; ich glaube, das könnte mir das Lachen auf immerdar verleiden.

Und wieder ruhten ihre Blicke ineinander, und ihre Seelen küßten ſich.

Nun denn, ſo kommen Sie! ſagte Melitta.

Es zieht ein Gewitter herauf, bemerkte der alte Baumann vom Fenſter her, ohne ſich umzuwenden.

Bis es herauf iſt, ſind wir längſt drüben; ſagte Melitta, die ſich ſchon erhoben hatte. Und wenn Sie188 ſich vor einem Gewitter nicht mehr fürchten, wie ich oder fürchten Sie ſich vor einem Gewitter?

Oswald lächelte.

So ſoll uns das wahrlich nicht abhalten. Uebri¬ gens ſehe ich vom Gewitter keine Spur; ſagte ſie ſchon in der Thür des Gartenſaales.

In dieſem Augenblick zog ein blauer Schatten über den Garten, und eine Schaar Schwalben ſchoß zirpend und ſchreiend, dicht über die Erde ſtreifend, an der Thür vorbei.

Wollen wir doch lieber bleiben? ſagte Melitta, die ſchon den Fuß über die Schwelle geſetzt hatte, zu Oswald zurückgewandt.

Ich fürchte mich nicht vor dem Gewitter, ant¬ wortete Oswald, nicht nach dem Himmel, ſondern in ihre Augen blickend.

Und im Walde iſt es gerade am ſchönſten im Sturm und Gewitter! rief Melitta. Adieu, Bau¬ mann! Wenn der Wagen von Grenwitz kommt, ſchicke Er ihn nach der Förſterei. Der Kutſcher ſoll ſich im Waldhäuschen melden.

Baumann ſchaute den Enteilenden nach, bis Melitta's weißes Kleid zwiſchen den Büſchen verſchwunden war.

Wer ihn ſo auf der Schwelle des Hauſes ſtehen ſah, den alten, hohen Mann, mit dem weißen Bart189 und dem narbenvollen Geſicht, die noch immer ſtarken Arme über der treuen Bruſt verſchränkt und die klugen, treuen Augen nachdenklich in die Ferne gerichtet der mochte wohl denken, daß ein beſſerer Wächter nicht könnte gefunden werden. Aber ach! das Haus war leer; die geliebte Herrin war davon geeilt, hinein in den gewitterſchwülen Abend mit dem Fremden, dem Manne, den ſie ſeit geſtern kannte. Und er, der treue Diener, ſeufzte tief, während er mit geſenktem Haupte durch den Saal in das Eßzimmer zurückſchritt und langſam den Tiſch abzuräumen begann. Die guten Gottesgaben kaum berührt, murmelte er, das ge¬ fällt mir nicht. Wenn junges Volk keinen Hunger im Magen hat, hat es Narrenſpoffen im Kopf. Und an dem Wein haben ſie auch nur genippt. Da ſteht die Flaſche noch halb voll und morgen iſt er nicht mehr zu trinken ... morgen ... Der alte Mann ſetzte ſich an den Tiſch und ſtützte ſein ſorgenvolles, graues Haupt auf die runzlige Hand. Aber an Morgen denkt das junge Volk nicht. Morgen iſt der junge Herr mit ſeiner weichen Stimme und ſeinen großen blauen Augen wieder drüben in Grenwitz, und wer weiß, wo er übermorgen iſt. Aber der alte Bau¬ mann iſt hier morgen und übermorgen; und wenn die Gäſte fort ſind, ſieht das Haus ganz anders aus,190 und beim Auskehren, da findet es ſich ... Ja, ja, der alte Baumann ſieht, was die Andern nicht ſehen, und hört, was die Andern nicht hören. Ach, Bau¬ mann, ich wollte ich wäre todt! ach, Baumann, warum hat er mich damals aus dem Feuer getragen! Jetzt ſagt ſie: ich fürchte mich nicht vor dem Gewitter und: ſchicke er uns[nur] den Wagen nach, Baumann! Hm, hm! ich hätte es eigentlich nicht zugeben ſollen; ich hätte ſie bei Seite nehmen ſollen und zu ihr ſagen: Höre Kind, ſo und ſo! denke an das und das! ... Aber wenn ich die Kleine ſo glücklich ſehe, ſo fröhlich, wie damals, als ich ſie zuerſt auf dem Pony reiten lehrte, ein zwölfjähriges Ding, und ſie ſagte: bitte, bitte, lieber Baumann, nun laß er uns einmal ordent¬ lich jagen, da konnte ich auch nicht nein ſagen, und fort ging es, was die Thiere laufen wollten. Gerade ſo große, ſtrahlende Augen hatte ſie heute Abend wieder, und gerade ſo roſig und friſch ſah ſie wieder aus. Das arme, arme Kind! ... Ja ſo, du wollteſt ja nachſehen, ob oben die Fenſter alle ordentlich ſchließen, es iſt von wegen des Gewitters. "

[191]

Vierzehntes Kapitel.

Fröhlich wie Kinder aus der Schule eilten Oswald und Melitta aus dem Hauſe durch die grünen Laub¬ gänge des Gartens nach der Pforte, die aus dieſem heraus auf die Wieſen führte. Hinter der allmälig aufſteigenden Wieſe ragte der Wald. Gleich neben der Pforte und ein Stück am Garten hin lag ein halb verſumpfter, hie und da am Rande mit Weiden be¬ ſetzter Teich, da ſich das Waſſer des Waldbaches an dieſer tiefer gelegenen Stelle abermals ſtaute, um dann an dem Gutshof vorüber und hernach durch das Dorf luſtig hinabzuplätſchern. Auch die Wieſe war ſchon zum Theil verſumpft, mochte auch wohl im Frühjahr ganz unter Waſſer ſtehen; jetzt dienten große Steine als rohe Brücken über gar zu naſſe Stellen.

Der Weg iſt für Stadtherren ein wenig ſehr ländlich, nicht wahr, Herr Doctor? ſagte Melitta,192 leicht wie eine Gazelle von Stein zu Stein hüpfend: wir Naturkinder freilich ſind an dergleichen gewöhnt. Ich hätte ſie auch den längern Weg durch den Park und den Wald führen können; aber ſie müſſen Berkow auch von ſeiner Schattenſeite kennen lernen.

Nun wahrlich, gnädige Frau, wenn dies eine Schattenſeite von Berkow iſt, ſo verlangt mich nicht nach den Sonnenſeiten, ſagte Oswald lächelnd, in¬ dem er auf einem der Blöcke ſtehen blieb und ſeinen Hut abnahm, um ſich den Schweiß von der Stirn zu wiſchen. Denn die Luft war ſchwül, der blaue Schatten war vorübergezogen, die am Rande des Holzes ſtehende Sonne ſchoß glühende Strahlen, und ſie waren ſchnell gegangen.

Schon müde? ſagte Melitta, ebenfalls ſtehen bleibend und ſich den Hut abnehmend, um ihr reiches, braunes Haar nach hinten zu ſchütteln; kommen Sie, je ſchneller wir laufen, deſto früher kommen wir in den ſchattigen Wald. Ich zähle eins, zwei, drei und wer zuerſt ankommt

Nun?

Das wird ſich finden, Eins, zwei, drei oh!

Melitta war von dem Stein, auf welchem ſie ſtand, auf einen andern, niedrigeren geſprungen, und193 ſank mit einem Ausruf des Schmerzes in die Knie. Im Nu war Oswald an ihrer Seite.

Mein Gott, was iſt Ihnen, gnädige Frau?

O, nichts, nichts! Ich habe mir im Springen den Fuß etwas vertreten, es wird gleich wieder beſſer ſein.

Sie ſtützte ſich auf Oswalds Arm; blaß und vor Schmerz die Unterlippe zwiſchen den Zähnen preſſend. Aber die Farbe kam ihr wieder, als ſie zu Oswald aufſchaute.

Sein Sie unbeſorgt, ſagte ſie und ihre Stimme klang ſüßer wie je Ihre Wette haben Sie doch gewonnen. So! jetzt wird es ſchon wieder gehen.

Sie wollte ihren Arm aus Oswalds Arme ziehen; er aber mochte die ſchöne Beute nicht ſo bald wieder fahren laſſen.

Sie können, ohne ſich zu ſtützen, noch nicht gehen, und misgönnen Sie mir die Freude, Ihnen dieſen ge¬ ringen Dienſt leiſten zu dürfen?

Ich fürchte nur, der Weg iſt bei der Sonnengluth für Sie ſelbſt beſchwerlich genug. Oh!

Ein falſcher Tritt ließ Melitta abermals zuſammen¬ ſinken.

Wir werden ſtehen bleiben müſſen, ſagte ſie.

Ich will Sie die paar Schritte bis an den WaldF. Spielhagen, Problematiſche Naturen I. 13194hinauftragen; Sie können ſich da wenigſtens im Schatten ausruhen.

Melitta lächelte. Ich bin nicht ſo leicht wie eine Puppe.

Und nicht ſo ſchwach wie ein zehnjähriges Mäd¬ chen, rief Oswald, umfaßte Melittas ſchlanken Leib und ſie emporhebend, trug er ſie ſicher, wie die Mutter ihr Kind, über die letzten Steine hinauf bis an den Waldrand, wo die breiten Kronen der Buchen Schatten und Kühlung ſpendeten. Dort ließ er ſie ſanft aus ſeinen Armen auf das dichte Moos gleiten, indem er ſelbſt vor ihr ſtehen blieb. Melitta hatte ſich von dem Augenblicke an, wo der kühne junge Mann ſie empor¬ hob, nicht weiter geſträubt; ſie fühlte alsbald, daß er ſtark genug ſei, ſie zu tragen; aber ſie hielt es für thörigt, ihm die Laſt nicht ſo viel wie möglich zu er¬ leichtern, und hatte ſich dicht in ſeine Arme geſchmiegt.

Wie ſtark Sie ſind! ſagte ſie jetzt, bewundernd zu ihm aufſchauend.

Oswalds Herz hämmerte und ſeine Bruſt wogte, mehr vor innerer Erregung, als in Folge der An¬ ſtrengung. Er fühlte noch immer die elaſtiſchen Glieder, die er in ſeine Arme gepreßt, das weiche Haar, das ſein Geſicht umſpielt, den ſüßen Athem, der ſeine Stirn umweht hatte.

195

Unter ſolchen Umſtänden wäre es eine Kunſt, nicht ſtark zu ſein, antwortete er.

Aber angegriffen hat es Sie doch, geſtehen Sie es nur. Kommen Sie und ſetzen Sie ſich zu mir; auf dieſem Moosſopha iſt Platz für mehr als zwei.

Oswald ließ ſich neben Melitta, die ſich an den Stamm der Buche lehnte, in das weiche Moos ſinken, ſtützte den Kopf auf den Arm und ſchaute ſinnend em¬ por in ihr heiteres Antlitz. Nahte ſich der Traum am Sumpfesrand der Erfüllung? wird ſich das liebe, holde Geſicht zu ihm niederbeugen und ihn küſſen, wie die Traumgeſtalt? Oder iſt dies wieder nur ein Traum? ... Es überkam Oswald das wunderliche Gefühl, als habe er dies Alles ſchon einmal erlebt; als kennte er dieſen Platz: hier den dunkeln Hochwald, aus dem das Klopfen eines Spechtes ertönte, vor ihm die Wieſe, über deren langes Gras rothe Abendlichter wogten, drüben den ſtillen Garten, aus deſſen grünem Revier Melittas graues Schloß hervorragte ſeit vielen, vielen Jahren; als habe er Melitta ſelbſt in ſeinem früheren Leben oft geſehen, als Knabe ſchon, wenn er ſich recht tief in ein ſchönes, lauſchiges Mährchen hin¬ eingeleſen hatte, ſo daß zuletzt die holde Prinzeſſin or¬ dentlich leibhaftig vor ihm ſtand ... und auch Melitta mußte Aehnliches empfinden, denn vollkommen unbe¬13*196fangen, als wäre er ihr Bruder oder Gatte, nahm ſie ihm den Hut vom Haupt und drückte ihm ihr feines, duftendes Taſchentuch wiederholt auf die perlende Stirn und die blauen, träumeriſchen Augen.

Oswald ergriff die liebe Hand und preßte ſie an ſeine Lippen.

Die Hand muß ich Ihnen freilich laſſen, ſagte er; aber das Tuch kann ich Ihnen wahrlich nicht wiedergeben.

So behalten Sie es als Andenken an dieſe Stunde. Aber jetzt wollen wir weiter. Wir haben bis zur Waldkapelle doch noch eine ziemliche Strecke und der Himmel ſieht in der That drohend aus.

Melitta lehnte ſich auf Oswalds Arm, als ſie jetzt den ſchmalen Pfad einſchlugen, der erſt durch Buchen, dann zwiſchen einer Schonung jungen Laubholzes auf der einen und hochſtämmigen Nadelholzes auf der andern Seite tiefer in den Wald führte. Die Sonne goß über die niedrigen Büſche fort ihre letzten Strahlen purpurn über die Wipfel der Tannen; ein Vöglein ſtrömte in weichen, klagenden Tönen, als wenn es Abſchied nähme von der Sonne und vom Leben, ſeine ſüßen Abendlieder aus. Dann erloſch die Purpurgluth droben, das Vöglein verſtummte und Schatten nur Stille umfing die Liebenden. Aber der Schatten wurde düſterer und197 drohender, und die Stille wurde ſeltſam unterbrochen von dem Knarren und Stöhnen der Tannenrieſen, die ihre ſtarken Glieder reckten und dehnten, als wollten ſie prüfen, ob ihre Kraft noch ausreiche, dem Gewitter¬ ſturm, der über den Wald heraufzog, zu trotzen. Und jetzt begann es in den Büſchen unheimlich zu ziſcheln und zu flüſtern, dürres Laub flog, wie in toller Angſt, her vor der Windesbraut, die ſauſend in das Blätter¬ meer ſchlug, die Kronen der Buchen wie wahnſinnig durch einander peitſchte, die hohen Wipfel der Tannen mächtig bog und den Wald bis in die tiefſten Gründe aus ſeiner Ruhe ſchreckte. Das fahle Licht eines Blitzes zuckte auf; ſchon fielen große warme Tropfen durch die Blätter.

Melitta hatte ſich dicht an Oswald geſchmiegt, deſſen Herz mit dem Sturm aufjauchzte. Die Geliebte mit dem einen Arm an ſich drückend, ſtreckte er wie zum Kampf den andern zum gewitterſchwarzen Himmel auf. Nur zu, nur zu! murmelte er durch die zu¬ ſammengepreßten Zähne; ich fürchte Dich nicht! ... Wie, gnädige Frau, iſt Ihr Muth ſchon zu Ende? O, es iſt ſchön im ſtürmenden, donnernden Walde.

Melitta ſprach kein Wort; die Augen nicht vom Boden erhebend, eilte ſie weiter, ſchneller und immer ſchneller, bis der Wald ſich zu einer weiten Lichtung198 öffnete; und da lag vor ihnen, in dieſem Augenblick von dem röthlichen Lichte eines Blitzes hell erleuchtet, die Waldkapelle. Nur ein paar Schritte noch und ſie langten unter dem weit vorſpringenden Dache des im Schweizerſtyl allerliebſt ausgeführten Häuschens an. Raſch erſtieg Melitta die Stufen, die zu der niedrigen Veranda hinaufführten; ſie nahm einen kleinen Schlüſſel aus der Taſche ihres Kleides, drehte das Schloß auf, aber, anſtatt die Thür zu öffnen, lehnte ſie ſich zitternd gegen den Pfoſten. Sie war bleich; ihre Kraft ſchien gänzlich erſchöpft; ſie drückte die Hand auf das po¬ chende Herz. So ſah ſie Oswald, als er den Blick von der im Regen dampfenden Wieſe ein Anblick, der ihn ſtets mit einer eigenthümlichen Luſt erfüllte zu ihr wendete.

Mein Gott, gnädige Frau, was iſt Ihnen? was haben Sie?

O, nichts, nichts! ſagte ſie, beim erſten Ton ſeiner Stimme ſich aufraffend; es iſt nur der ſchnelle Lauf; jetzt iſt es ſchon wieder beſſer; kommen Sie!

Sie öffnete die Thür und trat ein; Oswald folgte. Aber er fuhr entſetzt zurück, als er in dem myſtiſchen Halbdunkel, das in dem Gemache herrſchte, eine hohe weiße Geſtalt erblickte, die aus der Wand hervorzu¬ ſchweben ſchien.

199

Was iſt das! rief er im erſten Schrecken.

Was? ſagte Melitta, welche die Fenſter öffnete, um die friſche Luft in das heiße, blumendufterfüllte Gemach ſtrömen zu laſſen.

Die Venus von Milo! rief Oswald, und ein wollüſtiger Schauder durchrieſelte ihn.

Meine Heilige! ich ſagte es Ihnen ja. Nun, wie finden Sie die Kapelle?

Es war ein nicht ſehr großes, aber verhältni߬ mäßig hohes Gemach; rechts und links je ein Fenſter, das auf die Veranda führte; der Thür gegenüber ſtand in einer Niſche auf einem niedrigen Piedeſtale das Bild der Göttin. Bequeme Gartenſtühle, eine Chaiſe longue, ein Tiſch, auf dem Bücher, Papiere, Zeichen¬ materialien, eine angefangene Stickerei, Reitpeitſche und Handſchuhe in maleriſcher Unordnung durcheinander lagen waren die einfache, ſchickliche Ausſtattung.

Sind Sie ſehr naß geworden? fragte Melitta, ihren Hut auf den Tiſch werfend, ohne die Antwort auf ihre vorige Frage abzuwarten. Und dann:

Gehen Sie da vom Fenſter fort, Sie werden ſich erkälten. Kommen Sie hierher, oder nein! ſetzen Sie ſich auf die Chaiſe longue und erholen Sie ſich!

Und wieder:

Wenn ich nur etwas für Sie herbeiſchaffen könnte!200 Aber, es iſt wahr, ich kann ja Thee bereiten. Wo ſind nur gleich die Sachen? Hier nein dort in dem Schrank.

Das Alles ſagte ſie haſtig, wie gedrängt von einer in ihr wühlenden Unruhe, mit raſchen, ungleichen Schritten im Gemache hin und her ſchreitend.

Oswald ergriff ihre Hand.

Sorgen Sie nur erſt für ſich ſelbſt, liebe, gnä¬ dige Frau; mir ſchadet das bischen Regen wahrlich nichts. Ihr Kleid iſt feucht und Ihre dünnen Stiefel ſind auch keine Fußbekleidung für das naſſe Gras der Wieſe.

O, für mich iſt leicht Rath geſchafft. Ich habe nebenan Alles, was ich brauche.

Nebenan?

Sagte ich Ihnen nicht, daß ich hier oft ſelbſt die Nächte zubringe? Die Thür dort führt in meine Garderobe.

So gehen Sie ſogleich hinein und kleiden Sie ſich um!

Melitta zog ihre Hand aus der des jungen Man¬ nes, und ging, ohne ein Wort zu erwidern, von ihm fort, und verſchwand durch eine Thür, die ſich neben der Statue befand, und die Oswald jetzt zum erſten Male bemerkte.

201

Er warf ſich in einen der Lehnſtühle und ſtützte den Kopf in die Hand; dann ſprang er wieder auf, lehnte ſich in's Fenſter und ſtarrte mit düſtern Augen hinein in den Sturm und Regen; dann ging er mit haſtigen Schritten in dem Gemache auf und ab; end¬ lich warf er ſich vor dem Piedeſtale der Göttin nieder und legte ſeine heiße Stirn auf ihre Marmorfüße.

Das Rauſchen eines Gewandes dicht neben ihm ſchreckte ihn aus ſeinem Fiebertraum.

Melitta, rief er, ihre Hände ergreifend, noch auf den Knieen, Melitta!

Sie ließ ihm ihre Hand, die er mit Küſſen bedeckte, mit der andern ſtreichelte ſie ſanft ſein Haar.

Melitta! rief er mit Thränen der Wonne im Auge zu ihr aufſchauend, Melitta!

Sie beugte ſich zu ihm nieder und küßte ihn zärt¬ lich auf die Stirn; dann aber eilte ſie von ihm fort, warf ſich in einen der Lehnſtühle und ſchluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.

Oswald fiel vor ihr nieder; er umfaßte ihre Knie; er drückte ſein glühendes Geſicht in ihren Schooß; er küßte ihr Gewand, ihre Hände. Melitta! ſüße, holde, weine nicht! Wie kannſt Du weinen, daß Du mich ſo namenlos glücklich machſt! Melitta, liebe, liebe Melitta! Deine Thränen tödten mich. Nimm202 lieber mein Herzblut Tropfen für Tropfen. Mein Blut, mein Leben, meine Seele ſind ja Dein! Me¬ litta, für dieſen Augenblick will ich Dir ewig danken; hörſt Du, Melitta, ewig

Um Gotteswillen, ſchwöre nicht! rief Melitta, auffahrend und ihm die Hand auf den Mund legend. Dann ergriff ſie ſeinen Kopf und küßte ihn leiden¬ ſchaftlich auf Stirn und Augen und Mund.

Und wieder ſprang ſie empor und eilte, wie von Dämonen verfolgt, in dem Gemache auf und ab. O, mein Gott, mein Gott! rief ſie, die Hände ringend. Sie eilte auf die Thür zu, als wollte ſie entfliehen, aber, ehe ſie dieſelbe erreichte, brach ſie zuſammen. Oswald fing ſie in ſeinen Armen auf; er trug ſie nach dem Sopha; er bedeckte ihre kalten Hände, ihre bebenden Lippen mit glühenden Küſſen; ein Freuden¬ ſchrei entrang ſich ſeiner gepreßten Bruſt, als die ſtarre Geſtalt ſich endlich wieder zu regen begann.

Sie richtete ſich halb empor und ihre Augen mit dem Ausdruck unendlicher Liebe auf ihn heftend, ſagte ſie leiſe leiſe und feſt, wie ein Kranker, der ſeinen Arzt fragt, ob Leben oder Tod das Ende ſein wird

Oswald, höre mich an! liebſt Du mich jetzt, in dieſem Augenblicke, ſo, wie Du glaubſt, daß Du ein Weib auf Erden lieben kannſt?

203

Ja, Melitta!

Nun denn, Oswald, ſo liebe ich Dich jetzt und immerdar! ............

Das Gewitter war vorübergebrauſt; ſchweigend ruhte der regenerquickte, duftende Wald; und über dem Wald erglänzte aus dem purpurnen Abendhimmel der Venus leuchtender Stern.

[204]

Funfzehntes Kapitel.

Wem iſt es nicht ſchon auf der Reiſe begegnet, daß er in der erſten Morgenfrühe durch die Straßen einer Stadt fuhr. Die Sonne vergoldet ſchon die Kirch¬ thurmſpitze, die Luft iſt kühl und erquickend, die Vögel ſingen in den alten Linden vor den Giebelhäuſern des Marktes die Natur wacht und prangt in Morgen¬ ſchöne und die Menſchen liegen noch alle in den Banden des Schlafes, drinnen in den ſchwülen, dum¬ pfigen Kammern. Der Reiſende kann es kaum be¬ greifen, daß ſich kein Fenſterladen öffnet, kein lächelndes Geſicht herausſchaut, ſich mit ihm des wonnigen Morgens zu freuen ... So fühlt der Liebende, der ſich eben der Gegenliebe verſichert, mit leuchtenden Augen um ſich ſchaut und Blumen und Menſchen an ſein über¬ ſtrömendes Herz drücken möchte. Aber die Blumen kümmerten ſich nicht um ihn, und die Menſchen haben205 dieſelben verſchlafenen oder von Sorgen den böſen Träumen verdüſterten Alltagsgeſichter. Die Sonne ſeiner Liebe, die ihn zu neuem Leben erweckte, für die Andern in der ſchwülen, dumpfigen Kammer ihres liebe - und freudeloſen Daſeins hat ſie kein Licht und keine Wärme.

Das fühlte Oswald, als er am nächſten Morgen nach einem kurzen, unruhigen Schlaf, der ſich wie ein trüber Letheſtrom über die Erinnerungen des vergan¬ genen Tages gewälzt hatte, erwachte. Aber die Seele empfängt Eindrücke, die fürder kein Schlaf es wäre denn der letzte, ewige wieder verwiſchen kann; und ſo hatte er denn kaum die Augen aufgeſchlagen, als das Bild jener herrlichen Frau mit leuchtender Klarheit vor ſeiner Seele ſtand. Was ſich ereignet hatte bis zu dem Augenblicke, wo ihm das Venusbild in der dämmerigen Waldkapelle entgegenſchwebte er hatte es vergeſſen; was nachher geſchehen war, als er Me¬ litta, die ihm bis in die Nähe des Wagens durch den Wald das Geleit gegeben, zum letzten Male in ſeine Arme gepreßt hatte, er wußte es nicht mehr. Aber die Küſſe, die er gegeben und empfangen, brannten noch auf ſeinen Lippen; aber der ſüße Athem, der ſich mit dem ſeinen vermiſcht, umkoſte ihn noch; aber die liebetiefen Augen, die in den ſeinigen geruht, ſie ſtrahlten206 ihm noch immer. O, dieſe Augen, dieſe zärtlich-lieb¬ koſenden, leidenſchaftlichblitzenden Augen! wie zwei helle Sterne, die ſelbſt das Frühroth nicht verlöſchen kann, ſchimmerten ſie und leuchteten ſie, und verfolgten ihn allüberall. Er ſah ſie, wenn er die eigenen Augen ſchloß: er ſah ſie, wenn er aus dem Fenſter, in dem er lehnte, in den hellen Morgenhimmel ſchaute; er ſah ſie, wenn er den Blick in die blauen Schatten ſenkte, die zwiſchen den hohen Bäumen lagen, unten in dem ſtillen, thaufriſchen Garten. Es war ihm, als ob er ſich todt weinen könnte, als ob er laut aufjauchzen müßte vor ſeligem Schmerz und ſchmerzlicher Seligkeit, als ob ſein ganzes Weſen ſich auflöſen, wie ein Ton in der Harmonie des Alls verklingen müßte ... Es giebt Momente, wo uns der Körper wie ein Hohn erſcheint. Wir möchten fliegen und kleben an dem Boden; wir möchten das Meer von Empfindungen, das in unſerer Bruſt wogt, in Worten ausſtrömen, und unſere Zunge ſtammelt; wir möchten ganz der Andere ſein, und ſind doch immer nur wir ſelbſt. O, dies iſt eine Qual, der zu vergleichen, welche der Scheintodte empfinden mag, wenn ſie ihm den Sarg ſchmücken, und er nicht einen Finger regen, nicht die Lippen bewegen kann, um ihnen zu ſagen: ich lebe ja! ... Oswald ſchlich ſich auf den Fußſpitzen in die Kammer der Knaben; er wollte we¬207 nigſtens ein liebes Antlitz, Brunos Antlitz ſehen. Das erſte Frühroth drang durch die geſchloſſenen Gardinen: im Zimmer war es auffallend kühl. Bruno hatte wieder einmal nach ſeiner Gewohnheit das Fenſter die ganze Nacht hindurch offen gelaſſen. Oswald ſchloß es, denn die Morgenluft wehte herein und Brunos Geſicht war von einem unruhigen Traum erhitzt. Wieder lag er da, wie in jener Nacht, als Oswald ihn zum erſten Mal erblickte mit über der Bruſt verſchränkten Armen, düſtern Trotz auf dem dämoniſchſchönen An¬ geſicht. Aber als Oswald ihn heute auf die Stirn küßte, öffnete er nicht, wie damals, die Augen, ihn voll Traumesſeligkeit anzulächeln; öffnete er nicht, wie da¬ mals, die Lippen, ihm das rührende Wort zuzuflüſtern: ich habe Dich lieb! die dunkeln Brauen zogen ſich nur noch finſterer zuſammen, und ſchmerzlich zuckte es um den ſtolzen Mund. Zu jeder andern Zeit würde Oswald dies für einen Zufall angeſehen haben; aber jetzt in ſeiner augenblicklichen weichen Stimmung ſchmerzte es ihn innig. Zürnt er dir noch, dachte er, daß du ihn geſtern zu Hauſe ließeſt? Ahnt er, daß ſeit geſtern ihm nicht mehr all deine Liebe gehört? Und doch! liebe ich ihn jetzt nicht nur noch mehr? Er ſtreichelte dem Knaben ſanft das dunkle Haar aus der finſtern Stirn; er hüllte die leichte Decke feſter um den208 ſchlanken Leib und ſchlich wieder aus dem Gemach mit viel weniger leichtem Herzen, als er es betreten hatte. Eine bange Ahnung von ſchwerem Leid, das ihm ſelbſt und Bruno und auch ihr! aus all' der Himmelsluſt erwachſen werde, durchbebte ihn. Er eilte in den Garten hinab, um im Freien freier athmen zu können, und ſchweifte umher in den dunkeln Laubgängen und zwiſchen den Beeten, und ſchüttelte den Thau von den Zweigen in ſein heißes Geſicht und ſchaute mit den düſtern verwachten Augen in die frommen Kinderaugen der Blumen. An den Gemüſebeeten fand er den Gärtner beſchäftigt. Es war doch wenigſtens ein Menſch; Os¬ wald ſehnte ſich darnach, die Stimme eines Menſchen zu hören. Er redete den Mann an; er erkundigte ſich, was er nie zuvor gethan, nach ſeinen Verhältniſſen: ob er verheirathet ſei? ob er Kinder habe? ob er die Kinder liebe? Der Mann gab ihm die ſchiefen, halben Antworten, die man gewöhnlich auf derartige Fragen von Leuten erhält, die, wenn ſie auch nicht weniger tief empfinden, wie der Gebildete, doch durch ihre Unge¬ wohnheit, ſich ihre Gefühle klar zu machen und in Worte zu bringen, oft den Anſchein ſtumpfer Gefühl¬ loſigkeit haben. Redſeliger wurde er, als er auf ſeine Pflanzungen zu ſprechen kam, die bei dem köſtlichen Wetter, wo herrlichſter Sonnenſchein mit warmen Ge¬209 witteregen abwechſelte, gar üppig gediehen. Aber Os¬ wald hörte nur noch mit halbem Ohre hin und ver¬ ließ plötzlich mit einem flüchtigen Gruße den Alten, der, ſich die Mütze aus der Stirn rückend, ihm ver¬ wundert nachſchaute, mit dem Kopfe ſchüttelte, und wieder zum Spaten griff. Oswald ſetzte ſeine raſt¬ loſe Wanderung durch den Garten fort, dann aber wurde es ihm auch hier zu eng in dem von dem hohen Walle rings eingeſchloſſenen Raum. Er eilte aus dem Garten über den Hof in das Feld, aus dem Felde in den Wald, weiter und weiter, dem Brauſen entgegen, das zuerſt dumpf, dann lauter und lauter an ſein Ohr drang.

Da trat er heraus aus den Buchen, deren breite Kronen ſich über ſeinem Haupte wölbten, auf das hohe Kreideufer, und weit, unermeßlich weit lag es vor ihm da das heilige, ewige Meer. Dort in der Ferne blitzten die weißen Kämme der Wogen auf, die, ſich unaufhaltſam heranwälzend, tief unter ſeinen Füßen zwiſchen den gewaltigen Steinen des ſchmalen Stran¬ des mit unaufhörlichem Donner brandeten Woge auf Woge, immer neue und immer neue, unzählig, ſinnverwirrend, wunderbar. Kein Segel war zu ſehen in der ungeheuren Runde; nur ganz am Horizont zog eine Rauchſäule von Oſten nach Weſten. Sie kamF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 14210aus dem Schlot eines Dampfers, der ſeine einſame Bahn, wer weiß woher? und wohin? raſtlos verfolgte. Ueber der ſchäumenden Brandung unter ihm flat¬ terten weiße Möven und ſtürzten ſich kreiſchend in die Salzfluth und ſchwangen ſich wieder auf und flatterten wieder hierhin und dorthin. Hoch oben in der blauen Luft zog ein Seeadler ſeine majeſtätiſchen Kreiſe, höher und immer höher, bis er Oswalds Blicken nur noch als ein ſchwarzer beweglicher Punkt erſchien. Aber ſelbſt das erhabene Schauſpiel des Meeres vermochte heute nicht ſeine Seele auszufüllen. Der Ocean iſt nicht ſo groß und ſo tief wie das menſchliche Herz, und wie köſtlich ſie auch Oswald ſonſt dünkte, die Muſik der Wogen, er hatte vor wenigen Stunden eine köſtlichere Muſik gehört. Nur den Adler droben be¬ neidete er. Ein Schlag deiner mächtigen Schwingen, und du ſchwebſt über Wälder und Felder fort bis zu Melitta's Haus!

Er ſprang empor, er eilte zurück in's Schloß, hinauf auf die Zinne des Thurmes; vielleicht konnte er von dort Melitta's Wohnung ſehen; und er jauchzte laut auf vor freudiger Ueberraſchung, als er wirklick, den ſpähenden Blick nach jener Seite richtend, den oberſten Giebel ihres Hauſes eben noch über den Rand des Waldes emporragen ſah. Ein wonnevoller Schauer211 durchrieſelte ihn; es war ihm, als hätte er den Saum ihres Gewandes berührt. In der Liebe, wie in der Religion, iſt Alles myſtiſch. Warum erquickt es den Gläubigen, wenn er beim Gebet das Antlitz nach Oſten wendet? warum iſt es ein Troſt für den Lie¬ benden, nur mit der Hand nach der Gegend zu deuten, wo die Geliebte wohnt?

Die Zeit, in der Oswald ſeine Unterrichtsſtunden zu beginnen pflegte, war herbeigekommen; er ging in ſein Zimmer; er fand die Knaben nicht, die gegen die Gewohnheit noch unten beim Frühſtück waren. Sein eigenes Frühſtück ſtand auf dem Tiſche.

Da klopfte es leiſe an die Thür und herein trat der alte Baron, mit einem Bündel Papiere in der Hand. Nach den erſten Begrüßungen und nachdem er ſich wegen ſeines ungewöhnlichen Beſuches (es war in der That das erſte Mal)[entſchuldigt] hatte, ſprach er:

Sie könnten uns (er ſagte niemals: ich, da er ſich ohne ſeine Gemahlin nicht denken konnte) einen rechten Gefallen erweiſen, Herr Doctor.

Ich vermuthe, Herr Baron, daß es ſich um die Papiere handelt, die Sie dort in der Hand haben.

Ja, ja. Sie wiſſen, daß Grenwitz und Stantow zu Martini aus der Pacht kommen. Nun möchten wir gern, daß die Güter neu vermeſſen würden, da die14*212Flurkarten, die vor fünfundzwanzig Jahren angefertigt wurden, ſehr ſchlecht ſind. Der erſte Brief alſo, den wir Sie zu ſchreiben bitten würden, wäre an unſern Feldmeſſer. Er heißt Albert Timm und wohnt in Grünwald. Sie würden ihn bitten, zu einer vorläu¬ figen Beſprechung ſofort herüberzukommen. Der zweite Brief iſt an unſern Advocaten, ebenfalls in Grünwald. Anna-Maria wünſcht eine Reviſion der Pachtcontracte. Hier iſt eine Abſchrift der jetzigen. Anna-Maria hat am Rande verzeichnet, was wir in dem neuen Entwurf aufgenommen wünſchen. Wenn Sie auch dieſes Schrift¬ ſtück mundiren wollten es iſt freilich etwas viel

Geben Sie nur, Herr Baron. Zu wann wünſchen Sie die Sachen geſchrieben?

Wenn es Ihnen bis Mittag möglich wäre? Wir haben den Knaben ſchon vorläufig angekündigt, daß ſie mich auf einer Fahrt nach Stantow begleiten ſollen. Sie haben doch nichts dagegen?

Ich denke, es wird wohl ſo das Beſte ſein.

Nun, dann leben Sie wohl, lieber Herr Doctor, und entſchuldigen Sie, daß wir Sie mit dieſen Sachen beläſtigen. Aber Sie wiſſen, Anna-Maria

Keine Entſchuldigung, Herr Baron

Wer je in einer ähnlichen Stimmung war, wie die, in welcher ſich Oswald an dieſem Morgen befand,213 und wem dann eine möglichſt proſaiſche Arbeit zuge¬ muthet wurde, wird begreifen, daß der junge Mann, ſobald der Baron das Zimmer verlaſſen hatte, das ganze Packet verächtlich in eine Ecke ſchleuderte.

Er warf ſich auf das Sopha und ſchloß die Augen, um von Melitta zu träumen. Aber je eifriger er ſich ihr geliebtes Bild vorzuſtellen ſuchte, deſto eigenſinniger ſteckte ſich das runzlige Geſicht des alten Barons da¬ zwiſchen. Das verwandelte ſich dann wieder in das der braunen Gräfin, dann zog ihm der Paſtor Jäger eine Fratze, und plötzlich ſtand Bruno im Zimmer, gehüllt in lange, wallende weiße Gewänder. Oswald wollte lachen über die tolle Maskerade, aber als er einen Blick in das Geſicht des Knaben warf, erſtarb das Lachen auf ſeinen Lippen. Ein Schauer durch¬ rieſelte ihn, ſeine Haare bäumten ſich die wachs¬ bleiche Farbe, die ſo ſeltſam von den blauſchwarzen Haaren abſtach, die weiten ſtarren Augen, ein namen¬ loſes Etwas in dem Ausdruck dieſer glanzloſen, ge¬ brochenen und doch ſo wunderbar beredten Augen das war nicht Bruno, das war der Tod, der leib¬ haftige Tod in Bruno's vielgeliebter Geſtalt ... Mit einem wilden Schrei fuhr Oswald in die Höhe. Das ſchreckliche Bild war verſchwunden, aber es bedurfte mehrer Minuten, bis der junge Mann ſich überzeugen214 konnte, daß es wirklich nur ein Bild geweſen. So deutlich hatte er mit geſchloſſenen Augen jedes Möbel im Zimmer, den Sonnenſtrahl, der durch das Fenſter fiel, die Staubatome, die in dem Strahle tanzten Alles, Alles geſehen.

Da hörte er das Knallen einer Peitſche, und das Knirſchen von Rädern in dem Sande vor dem Portal des Schloſſes. Der Baron fuhr eben mit den Knaben fort.

Oswald ging mit haſtigen Schritten in ſeinem Ge¬ mache auf und ab.

Warum heute, gerade heute das fürchterliche Bild! Muß Bruno ſterben, und zuvor mir ſterben, damit ich Melitta lieben kann! Iſt es nicht möglich, einen Bruder und eine Geliebte zu lieben zu gleicher Zeit mit gleicher Gluth der Seele? Iſt das Menſchenherz ſo klein, daß eine Empfindung, um darin wohnen zu können, die andere verdrängen muß? und iſt die Treu¬ loſigkeit Naturgeſetz?

Der junge Mann war wieder ruhiger geworden, aber die ambroſiſche Schönheit des Sommermorgens war verſchwunden. Die Sonne hatte keinen Glanz mehr für ihn, der Geſang der Vögel keine Süßigkeit, der übermüthig ſprudelnde Quell der Luſt in ſeinem Buſen war verſiegt.

215

Du biſt jetzt in der rechten Stimmung für die trockene Arbeit, ſagte er bitter und holte das Packet wieder aus der Ecke hervor, in die er es vorhin ge¬ ſchleudert hatte. Er ſetzte ſich an den Tiſch und be¬ gann zu ſchreiben. Zuerſt den Brief an den Geometer das ging noch; auch der Brief an den Advocaten kam, obgleich nicht ohne einige heimliche Verwünſchun¬ gen, glücklich zu Ende; aber die Abſchrift der beiden Contracte zu fertigen, mußte er ſeine ganze Geduld zu¬ ſammennehmen. Mehr noch als die Langweiligkeit der Arbeit ſelbſt, ärgerten ihn die von der Hand der Ba¬ ronin eingeſtreuten Bemerkungen, in welcher ſie die in den Contracten von ihr beliebten Veränderungen in den Augen des Advocaten, vielleicht auch in ihren eig¬ nen, zu motiviren ſuchte. Die Höhe der Pacht war in beiden Fällen faſt um das Doppelte geſteigert, was Oswald um ſo mehr Wunder nahm, als er den In¬ ſpector Wrampe wiederholt hatte ſagen hören: Herr Pathe, der Pächter der beiden Güter, ein außeror¬ deutlich fleißiger, ſtrebſamer und ökonomiſcher Mann, ſei ſo geſtellt, daß ihn eine einzige Misernte ruiniren müßte, In einer Notiz der Baronin hieß es: Herr P. iſt ein nachläſſiger Monſieur und ſein ſauberer In¬ ſpector W. iſt nicht beſſer. Je humaner man gegen dergleichen Menſchen iſt, deſto fauler werden ſie. In216 einer andern: Die dem Schloſſe von dem Gute Gren¬ witz zu leiſtenden Naturallieferungen müſſen auf jeden Fall doublirt werden, denn daß wir doch nur die Hälfte von dem bekommen, was uns zuſteht, und dieſe Hälfte unter den langen Fingern unſerer Leute noch mehr zu¬ ſammenſchrumpft, ſteht von vornherein anzunehmen. Durchſtrichen, aber nicht ſo, daß man ſie nicht noch hätte leſen können, waren die folgenden Worte: Sollte ja etwas übrig bleiben, ſo können wir ja den Reſt alle Sonnabende in B. (dem nächſten Landſtädtchen) auf dem Wochenmarkte verkaufen. An einer andern Stelle: Kann nicht contractlich ausgemacht werden, daß die Verwalter, Statthalter (Großknechte), Ausgeberinnen u. ſ. w. der Pächter jedesmal von dem Baron beſtätigt werden müſſen? Man wüßte dann doch, mit was für Subjecten man es zu thun hat, und behielte den Griff feſter in der Hand.

Und das Vermögen dieſer Menſchen beträgt Mil¬ lionen! rief Oswald und warf die Feder zornig auf den Tiſch. Schreibe ein Anderer das Gewäſch! Soll ich mich zum ergebenſten Werkzeug dieſer egoiſtiſchen, hochmüthigen, herzloſen Ariſtokratenbrut hergeben?

Und trüber und trüber wurde es in des jungen Mannes Seele. Nicht zum erſten Male wurde er heute daran gemahnt, wie ſchief, wie unhaltbar doch217 ſeine ganze Stellung ſei. Und was hatte ihn in dieſe Stellung getrieben, wenn nicht ſeine Freundſchaft zu dem Profeſſor Berger, deſſen Rath er gegen ſeine beſſere Ueberzeugung gefolgt war? Es fiel ihm ein, daß er den letzten Brief ſeines wunderlichen Freundes noch nicht beantwortet hatte. So ſetzte er ſich denn wieder hin und ſchrieb:

Es giebt kein Unrecht als den Widerſpruch das iſt, wenn ich mich recht erinnere, eine Ihrer Lieb¬ lingsmaximen, und die Cardinalregel, nach der Sie das Thun und Laſſen der Menſchen beurtheilen. Nun denn! So hatten Sie doppelt und dreifach Unrecht, mich in dieſe Situation hineinzureden und hineinzulachen, denn ſie iſt, wie ich ſie auch betrachten mag, aus Wider¬ ſprüchen zuſammengeſetzt. Ich ein Erzieher Anderer, der ich mich ſelbſt noch zu erziehen habe! Ich, der Ariſtokratenfeind, der Adelshaſſer in dem Schooße einer ariſtokratiſchen Familie halb der Freund und halb der Diener der hochadligen Sippe! Und was mich noch abſcheulicher dünkt, iſt, daß ich an den Genüſſen dieſes ariſtokratiſchen Lebens ſo harmlos Antheil nehmen kann, als hätte mich nie ein Schauer der Ehrfurcht erfaßt, wenn ich in der Schrift an die Stelle kam: Der Menſchen Sohn hat nicht, da er ſein Haupt hinlege! Sind dieſe Worte denn nicht auch für mich218 geſchrieben, für mich, dem kein Kiſſen zu wollüſtig, kein Teppich zu weich, keine Speiſe zu lecker, kein Wein zu koſtbar dünkt? für mich, der ich, weit entfernt, mich von dieſem Luxus angeeckelt zu finden, ihn nicht haſtig und gierig, wie der Sklave ſeine kurzen Augen¬ blicke der Freiheit, ſondern ruhig und bedächtig, durch¬ koſte und genieße, ihn hinnehme, wie etwas, das ſich eben von ſelbſt verſteht, wie etwas, zu dem man ge¬ boren und erzogen iſt. Soll die gnädige Frau Baronin Recht haben, die neulich hochmüthig behauptete, von allen ſogenannten Volksfreunden früher und jetzt habe nur noch jeder ſeinen perſönlichen Vortheil im Auge gehabt. Der Eine verkaufe ſeine Grundſätze ein wenig theurer als der Andere der Eine laſſe ſich ſeine Apoſtaſie mit Geld, ein Zweiter mit Ehrenſtellen, ein Anderer wieder anders bezahlen das ſei aber auch der ganze Unterſchied. Damals widerſprach ich natürlich lebhaft es war gleich zu Anfang meines hieſigen Aufenthalts ich weiß nicht, ob ich heute noch dazu den Muth hätte. Denn, mein Freund, ich denke an Marie Antoinette, und denke, wenn eine andere Frau, ſo ſchön und ſo geiſtreich, wie die unglückliche Königin, eine Frau mit den Augen und dem Schmelz der Stimme und dem Liebreiz, wie nun wie mein Ideal, die Frau, die ich lieben könnte, lieben müßte zu mir219 ſpräche: Die Abſchwörung Deiner Grundſätze iſt der Preis meiner Gunſt! Gott, ſie wird es nicht ſagen, ſie kann es nicht ſagen, denn ich will glauben, daß in dem ſchönſten Körper die ſchönſte Seele wohne; aber, wenn ſie dennoch in den Berurtheilen ihres Standes ſo befangen wäre wie dann? O, ich fühle, nein, ich weiß, daß ich ihren Worten, ihren Thränen nicht widerſtehen könnte; daß vor der Gluth ihrer Küſſe, dem Feuer ihrer Blicke die ſtolze Kraft hinſchmelzen würde wie Wachs: daß, wenn ſie ihre weichen Arme um mich ſchlänge, ich nicht im Stande wäre, mich los¬ zureißen; daß aus der gepreßten Bruſt kein Wort des Zornes, kein Wort des Hohnes ſich losringen würde, nein! nur das eine Wort: ich liebe Dich!

Sie lächeln, o mein Freund, daß mich eine bloße Hypotheſe, ein bloßes Problema ſo in Aufregung ver¬ ſetzen kann. Sie denken, in der kühlen Luft der Wirk¬ lichkeit gedeihen dergleichen phantaſtiſche Treibhaus¬ pflanzen nicht. Nun wohl, das Ganze iſt mir ein Problema, und wollte Gott, es bliebe problematiſch! ...

[220]

Sechszehntes Kapitel.

Gott zum Gruß, lieber Herr Collega! Viele Em¬ pfehlungen von Frau von Berkow, und hier ſchickt ſie Ihnen den Bemperlein und den Julius zur gefälligen Anſicht, aufgeſchnittene Exemplare werden nicht zurück¬ genommen.

So ſprach lächelnd ein kleiner, blaſſer, ſchwarz¬ haariger, Brille tragender, etwas unmodiſch, aber ſehr ſauber und nett gekleideter Herr von etwa dreißig Jahren, der am Nachmittag deſſelben Tages, einen Knaben an der Hand führend in Oswalds Zimmer trat.

Seien Sie beſtens willkommen! ſprach dieſer, ſich haſtig aus der Sophaecke erhebend, in welcher er, in Sinnen und Brüten verſunken, geſeſſen hatte, und reichte den Eintretenden nicht ohne einige Verwirrung die Hand. Mit[unendlichem] Intereſſe blieb ſein Blick auf dem Knaben haften, dem Sohn der Frau, die er221 liebte. Julius von Berkow war eine reizende Er¬ ſcheinung. Die Blouſe von dunkelgrünem Sammet, die er mit einem breiten Riemen um den ſchlanken Leib gegürtet trug, gab ihm das Anſehen eines allerliebſten kleinen Pagen. Dunkle Locken wallten in weichen Ringeln von dem edelgeformten Kopf; ſein Ge¬ ſicht war märchenhaft ſchön und zart, und Oswald zuckte zuſammen, als er ſeine warme, weiche Hand für einen Augenblick in der ſeinen hielt, und in die großen lichtbraunen, träumeriſchen Augen ſchaute. Es war ihm, als hätte er Melitta's Hand berührt, als hätte er in Melitta's Augen geſchaut.

Es iſt ſehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Bem¬ perlein, ſagte er, ſeine Verwirrung bemeiſternd, daß Sie noch die Zeit gefunden haben, herüber zu kommen. Aufrichtig, ich habe Sie heut halb und halb erwartet, um ſo mehr, als Bruno es für eine Unmöglichkeit hielt, Julius könne abreiſen, ohne vorher von ihm förmlichen Abſchied genommen zu haben.

Da ſprang die Thür auf, und herein ſtürzte Bruno, ein mächtiges Butterbrot in der Hand. Hurra, Julius, Zuckerpuppe! ſchrie er, Dein Glück, daß Du gekommen biſt! Ich wäre Dir ſonſt nach Grünewald nachgelaufen, Dich auf offener Straße durchzuprügeln. Hier, beiß ab! Das letzte Butterbrot, das wir für lange Zeit mit222 einander theilen! Und nun komm! wir wollen noch ein¬ mal durch den Garten und den Wald laufen. Sie bleiben doch zu Abend hier, Herr Bemperlein?

Non, Monseigneur! erwiederte dieſer, der ſich auf einen Stuhl geſetzt hatte und ſich den Schweiß von der Stirn trocknete; unſere Augenblicke ſind gezählt. Sie würden mich daher verbinden, wenn Sie Ihre Excur¬ ſionen nicht über den Garten ausdehnten und vor allem, wenn Sie Julius nicht wieder in den Graben würfen, wie das letzte Mal.

Julius, habe ich Dich in den Graben geworfen?

Nein, aber herausgezogen, nachdem ich hinein ge¬ fallen war.

Nun, ſo komm, mein Zuckerpüppchen! rief Bruno, hob den ſchmächtigen Knaben in ſeinen Armen empor und trug ihn zur Stube hinaus.

Iſt das ein Junge! ſagte Herr Bemperlein; Herr meines Lebens, iſt das ein Junge! Wahrlich, Herr College, ich bewundere Sie?

Weshalb?

Weil ich Sie in einen leichten Sommerrock gekleidet ſehe, und nicht umhüllt mit dreifachem Erz, wie der erſte Schiffer des Horaz, und wie, meiner Meinung nach, der Mann gepanzert ſein muß, der es mit ſolch '223einem Seeungeheuer, ſo einem Haifiſch, ſo einem ſtach¬ ligen Rogen ich meine Bruno zu thun hat.

Um Himmelswillen, Herr Bemperlein, ſagen Sie mir nicht, wenn wir Freunde werden wollen, daß Sie Bruno nicht leiden können.

Ich ihn nicht leiden können! Ich liebe ihn wie einen Sturm auf der See, den ich vom Ufer aus be¬ obachten kann, wie ein wildes Pferd, das mit einem Andern durchgeht, wie ein Gewitter, das eine Meile vor mir einſchlägt. Apropos! das war geſtern ein entſetzliches Gewitter. Wir ſind erſt um elf Uhr nach Hauſe gekommen. Frau von Berkow ſagte mir, Sie ſeien vollſtändig eingeregnet geweſen in dem Wald¬ häuschen.

Wollen Sie in der That ſchon morgen abreiſen? ſagte Oswald, dem Geſpräch eine andere Wendung zu geben.

Ob ich will? ſagte Herr Bemperlein in weiner¬ lichem Tone; ob ich will? durchaus nicht, Werthge¬ ſchätzter; aber muß! Das iſt es ja eben. Ach, wenn ich könnte, wie ich wollte, ich ginge im Leben nicht weg von Berkow; und auch im Tode nicht, denn ich würde mir als letzte Gunſt erbitten, dort begraben werden zu dürfen. Und wie es mit mir werden ſoll, wenn ich nun doch weggehe, daran, lieber College, mag ich gar224 nicht denken. Leben Sie einmal, wie ich, ſieben Jahre an ein und demſelben Ort, und laſſen Sie dieſen Ort Berkow ſein, und wachſen Sie feſt an dieſem Orte mit allen Wurzeln ihres Weſens, daß Sie jeden Spatz, der über Ihrem Fenſter niſtet, perſönlich kennen, und mit jedem Pferde in dem Stalle auf Du und Du ſtehen; und dann verſuchen Sie ſich loßzureißen und Sie werden empfinden, wie weh das thut.

Der gute Mann griff wieder nach ſeinem Taſchen¬ tuch und fuhr ſich unter dem Vorwande, den Schweiß von der Stirn abtrocknen zu wollen, ein paar Mal über die naſſen Augen.

Ich begreife das vollkommen, ſagte Oſwald mit ungeheuchelter Theilnahme.

Sie können das nicht begreifen, lieber Collega! Sehen Sie, da habe ich im vorigen Frühjahr ange¬ fangen, mir einen Epheu vor meinem Fenſter zu ziehen, und mich den ganzen Sommer und Winter darauf ge¬ freut, wie hübſch es in dieſem Herbſt ſich ausnehmen würde, wenn das Fenſter von unten bis oben berankt wäre, und wir, das heißt ich, mein Kanarienvogel und mein Laubfroſch, uns hinter den breiten Blättern ver¬ ſtecken könnten denn Sie glauben nicht, wie breite Blätter ich gezogen habe ſo groß, wie Weinblätter und in dieſem Herbſt wird mein Fenſter mit grünen225 Ranken ganz vergittert ſein; aber meine Stube wird leer ſtehen, nur die Sonnenſtrahlen werden durch die Blätter ſchimmern und die Regentropfen daran hin¬ unterrinnen, und keine Menſchen und keine Thierſeele wird ſich darüber freuen.

Ich glaube, ich kann Ihnen das nachfühlen, ſagte Oswald.

Unmöglich, lieber Collega, unmöglich! ſeufzte der Andere. Ich ſage Ihnen, ſo ein Fenſter giebt es auf der weiten Welt nicht mehr. In der tiefen Niſche ſteht ein Lehnſtuhl, mit ſchwarzem Leder überzogen, den mir Frau von Berkow vor zwei Jahren zu meinem Geburtstage geſchenkt hat; eine Schlummerwalze, die Sie mir zu meinem letzten Geburtstag ſelbſt ge¬ häkelt hat, hänkt an der Lehne na, das läßt ſich eben nicht beſchreiben. Aber da ſo zu ſitzen an einem Sommerabend, wenn die Stimmen von Frau von Ber¬ kow und Julius aus dem Garten zu mir herauf tönen und der Rauch meiner Cigarre in blauen Streifen durch die Blätter herauszieht

Bei dieſen Worten blies Herr Bemperlein zwei mächtige Rauchwolken aus ſeiner Cigarre durch das geöffnete Fenſter, an dem er ſaß, und ſchüttelte weh¬ müthig den Kopf, als wollte er ſagen: das bringt hier. Spielhagen, Naturen I 15226nicht die mindeſte Wirkung hervor; das ſollten Sie einmal hinter meinem Epheu ſehen.

Ja, ja ſchaltete Oswald ein.

Nein, lieber Collega, Sie können ſich unmöglich in meine Stimmung verſetzen. Sie wiſſen nicht, welch ein liebenswürdiger Knabe Julius iſt. Sieben Jahre bin ich nun bei ihm, aber wenn er mir in allen dieſen Jahren auch nur eine böſe Stunde, ja nur Minute ge¬ macht hat, ſo will ich nicht Anaſtaſius Bemperlein heißen. Und nun die Frau von Berkow Sie kennen Sie nicht, lieber Collega

Oswald wandte ſich ab, denn er fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen ſchoß

Sie haben keine Ahnung, welch ein Engel von Güte dieſe Frau iſt. Was verdanke ich ihr nicht! Bevor ich nach Berkow kam, wußte ich von Luft und Sonnen¬ ſchein, und allem Schönen auf der Welt gerade ſo viel, wie ein Maulwurf ich war ein richtiger Bär, ein vollſtändiges Nilpferd, und daß ich jetzt einigermaßen einem Menſchen ähnlich ſehe, verdanke ich nur ihr. Und wie hat ſie ſich meiner in jeder andern Beziehung an¬ genommen. Einmal, erinnere ich mich, lag ich viele Wochen lang am Typhus darnieder. Die erſten Weſen, die ich deutlich erkannte, als ich aus meinem Torpor erwachte, waren die gnädige Frau und der alte Bau¬227 mann. Es war ein Sommernachmittag, wie heute. Meine Bettvorhänge waren halb zugezogen, Baumann und die gnädige Frau ſtanden ein paar Schritt entfernt am Tiſch. Wenn ich nicht ſelbſt krank werden will, ſo muß ich heute Nachmittag eine halbe Stunde ſpazieren reiten, Baumann, ſagte Frau von Berkow, daß er mir den Bemperlein unterdeſſen nicht ſterben läßt. Zu Befehl, ſagte der alte Baumann. Aber damit Sie nicht etwa glauben, lieber Herr Collega, daß ich in dieſer Behandlung von Seiten der gnädigen Frau eine Bevorzugung erblicke, die meinen ganz beſonderen Verdienſten zu Theil würde, ſo ſetze ich hinzu, daß ich Frau von Berkow dieſelbe Huld nur Gnade an viele Andere, zum Theil ganz gleichgültige Perſonen habe verſchwenden ſehen, ſo daß ich wahrlich glaube, das Herz dieſer Frau iſt aus durchaus edlerem Stoffe, als ſonſt die Menſchenherzen ſind, und daß ſie Gutes thun und Andere beglücken muß, gerade wie ein Kanarien¬ vogel ſingt und ein Eichhörnchen ſpringt, weil's eben ſo ihre ſchöne Natur iſt, und ſie nicht anders kann. Verzeihen Sie, lieber Collega, daß ich mit dieſen Dingen, die Sie nicht intereſſiren und nicht intereſſiren können, Ihre Zeit in Anſpruch nehme, aber mein Herz iſt wirklich zu voll, als daß es nicht überfließen ſollte, und ich habe das Vertrauen zu Ihnen, daß Sie mich15*228deshalb nicht für einen ſentimentalen Geſellen halten werden.

Ich kann Sie nur verſichern, daß Sie Ihr Ver¬ trauen keinem Unwürdigen ſchenken, Herr Bemperlein, auch wenn Sie mir nicht erlauben wollen, mit Ihnen ganz zu ſympathiſiren.

Ich Ihnen das nicht erlauben? Es iſt mein innig¬ ſter Wunſch, daß Sie das nicht vermöchten, um ſo mehr, als ich, offen geſtanden, hauptſächlich in der ganz egoiſtiſchen Abſicht herübergekommen bin, Sie in einer für mich hochwichtigen Angelegenheit um Rath zu fragen.

Mich?

Ja, Sie! Ich will Ihnen auch ganz offen ſagen, wie Sie dazu kommen, bei mir die Stelle des weiſen Einſiedlers im Walde, zu dem ſich die vom Zweifel ge¬ plagte Creatur flüchtet, einzunehmen. Sie ſind zu dieſem verantwortlichen Amte durch eine Stimme er¬ hoben, gegen die für mich kein Appel exiſtirt; ich meine durch die Stimme der Frau von Berkow. Ich ver¬ ſuchte ihr heute Morgen auseinanderzuſetzen, was ich Ihnen alsbald mit Ihrer gütigen Erlaubniß mittheilen will; ſie hörte mich mit himmliſcher Geduld von An¬ fang bis zu Ende an und ſagte dann, ihre Hand für einen Augenblick auf die meinige legend: Lieber Bem¬ perlein, ſagte ſie, wollen Sie meinen Rath hören? 229 Natürlich, gnädige Frau! ſagte ich. Nun denn, ſagte ſie, lieber Bemperlein, gehen Sie hinüber nach Grenwitz, bringen Sie Herrn Doctor Stein eine Empfeh¬ lung von mir, und erzählen Sie ihm ganz ausführlich, was Sie mir eben geſagt haben; und was er Ihnen dann antwortet, das nehmen Sie für meine Antwort.

Auf Oswalds Lippen ſchwebte ein ſtolzes Lächeln. Er ſah in dieſer Demuth Melitta's eine ihm darge¬ brachte Huldigung; er fühlte, daß ſie ihrer Liebe keinen reineren Ausdruck geben konnte, als durch dieſes Geſtänd¬ niß, wie fortan ihre Exiſtenz in der ihres Geliebten aufgehe.

Wie Sie ſich aus dieſer Verlegenheit ziehen wer¬ den, fuhr Herr Bemperlein fort, iſt Ihre Sache; die Stelle des Vertrauten iſt Ihnen einmal zugetheilt, und Sie müſſen dieſelbe herunterſpielen, ſo gut Sie können. Die Sache iſt nämlich einfach die, oder viel¬ mehr gar nicht einfach, ſondern ſehr complicirter Weiſe, auf alle Fälle indeſſen iſt die Sache die: Ich bin näm¬ lich ich habe nämlich Aber hier kann ich Ihnen das nicht erzählen, ich muß dazu den Himmel über mir haben, denn unter dem Himmel ſind mir die Ge¬ danken gekommen, die eine ſolche Revolution in meinem Innern hervorbrachten. Sie thäten mir alſo einen Gefallen, Herr Collega, wenn Sie mir nach Berkow das Geleit geben wollten. Unterwegs lege ich Ihnen230 meine Beichte ab. Jetzt will ich gehen, Julius zu rufen, und mich bei den Herrſchaften zu empfehlen. Machen Sie ſich unterdeſſen zurecht: aber laſſen Sie mich um Himmelswillen nicht lange warten. Zehn Minuten reichen vollkommen zu, und länger halte ich auch ein tête-á-tête mit Ihrer Baronin gar nicht aus. Alſo à revoir in zehn Minuten, es ſchadet nichts, wenn es auch nur neun ſind.

Als Oswald nach unten kam, complimentirte ſich gerade Herr Bemperlein vor dem alten Baron zur Thür der Wohnſtube hinaus.

Keinen Schritt weiter, Herr Baron! Uff! Nun laſſen Sie uns machen, daß wir wegkommen, Herr Collega. Wo iſt mein Julius?

Auf dem Hofe fanden ſie die Knaben. Bruno ſaß auf dem Rand des Brunnens der kopfloſen Rajade, und ſchlichtete Julius, der zwiſchen ſeinen Knieen ſtand, das lange lockige Haar.

Wie willſt Du denn ohne den Pony fertig werden, Julius?

Ja, ich will ſehen; vielleicht laſſe ich mir ihn nachſchicken.

Du Glücklicher, ich glaube, Du läßt Dir auch Deine Mama und Herrn Bemperlein nachſchicken, wenn’s ohne ſie nicht geht. Ich wollte, ich könnte231 mit Dir nach Grünwald, und ich ſähe dies verdammte Reſt im Leben nicht wieder.

Mama ſagte mir. Du hätteſt Herrn Stein ſo lieb, iſt das wahr?

Ich ihn lieb! ſagte Bruno, den Kopf trotzig in die Höhe werfend; weshalb ſollte ich ihn lieb haben? er iſt mir ganz gleichgültig. Er bekümmert ſich viel um mich! Er! Geſtern iſt er den ganzen Tag ohne mich umhergelaufen, und heute hatte er mich noch keines Blickes gewürdigt er iſt mir ganz gleichgültig; hörſt Du? ſag 'das nur Deiner Mama, ganz gleichgültig! Und damit verbarg er ſein Geſicht in Julius Locken und ſchluchzte.

Was iſt Dir, Bruno?

Mir? nichts! was ſollte mir ſein!

Bruno, ich begleite Herrn Bemperlein! rief Os¬ wald herüber.

Herr Doctor, ich begleite Julius! rief Bruno zurück.

Wo iſt Malte?

Soll ich Maltes Hüter ſein?

Malte iſt auf dem Zimmer des Barons, ſagte Herr Bemperlein; er iſt von der Fahrt ſehr ange¬ griffen; die Baronin meint, er fiebere etwas, und der Baron hat ihm auf dem Sopha ein Lager zurecht ge¬232 macht, wie einer jungen Katze. Welchen Weg nehmen wir?

Ich denke, wir gehen durch den Wald, ſagte Oſwald.

Sie gingen über die Zugbrücke, die ſeit zwei Jahr¬ hunderten nicht mehr aufgezogen werden konnte, durch die Lindenallee in den Wald, Herr Bemperlein und Oſwald voran, Bruno und Julius folgten in einiger Entfernung. Bruno hatte den Arm um Julius 'Nacken geſchlungen, er hatte heute, oder wollte heute für nichts Intereſſe haben, als für ſeinen Freund, den er immer ſehr geliebt und auf deſſen braune Augen er mehr als ein Gedicht gemacht hatte, und den er jetzt in der Tren¬ nungsſtunde mit ſtürmiſchen Zärtlichkeiten überhäufte.

Du wirſt fortreiſen, Julius, klagte er, und wenn Du drei Tage fort biſt, wirſt Du mich vergeſſen haben.

Ich werde Dich nie vergeſſen, Bruno.

So? weißt Du das gewiß? Da haſt Du ein beſſeres Gedächtniß, wie Oſwald, ich meine Herrn Doctor Stein. Der hat mir auch geſagt, daß er mich lieb hätte wie einen Bruder, und ſeit vorgeſtern Abend weiß er nicht mehr, daß ich auf der Welt bin. Jetzt erzählt er wahrſcheinlich Herrn Bemperlein, daß er ihn wie ſeinen Bruder liebt; ſieh nur, wie er ihm233 vertraulich den Arm giebt! Nach mir ſieht er ſich nicht eimal um. O, ich haſſe ihn, ich haſſe Alle, Alle nur Dich nicht, Julius!

Während ſo der unglückliche Knabe ſeine Liebe und ſeinen Kummer in den Buſen ſeines Freundes ſchüttete und wohl fühlte, daß auch der ihn nicht verſtände, und daß er allein, ganz allein ſei auf dieſer für ihn ſo freudeloſen Erde, ſprach Herr Bemperlein alſo zu Oswald:

[234]

Siebenzehntes Kapitel.

Wie geſagt, lieber Collega, mein Vater war ein Paſtor, mein Großvater, ja was ſage ich: meine beiden Großväter waren Paſtoren, denn meine Mutter war eine Pfarrerſtochter; mein Urgroßvater väterlicher Seits war wenigſtens ein Küſter, der die Tochter eines Schä¬ fers, alſo auch eines Paſtors, heirathete. Weiter habe ich meinen Stammbaum nicht verfolgen können aber ex ungue leonem! Sie ſehen, daß bis auf mich herab das eigentliche Geſchäft meiner Vorfahren das Weiden von Herden, Menſchen - oder Schaafherden ge¬ weſen iſt. Auch auf mir ſchien der Geiſt meiner Ahnen zu ruhen. Thiere auf die Weide bringen, war von jeher meine Leidenſchaft, und noch jetzt kann ich Stunden lang an das Gatter einer Koppel gelehnt ſtehen und den Kälbern und Füllen zuſehen, es iſt ohne Zweifel etwas Paradieſiſches in dieſem Zuſtand behaglichen Ge¬235 nuſſes, der uns an die Urzeit der Menſchen, mich zum wenigſten ſehr lebhaft an meine Jugendzeit erinnert. Denn mein erſter Freund war ein Gänſejunge, ſpäter war ein kleiner Schweinehirt mein Pylades, und der vertraute Umgang mit dieſem Eumaeus posthumus hat mich aus der Lectüre gewiſſer Geſänge der Odyſſee einen Genuß ſchöpfen laſſen, der Anderen, welche ohne meine gründliche Vorbildung daran gehen, ganz uner¬ klärlich ſein muß. Als mein Pylades zum Rinder¬ hirten avancirte, verließ ich weinend mein Heimaths¬ dorf, um nach Grünwald auf 's Gymnaſium zu gehen, wo ich ſogleich in die Tertia eintrat und von Lehrern und Schülern als ein kleines Ungeheuer angeſtaunt wurde, von Letzteren in Anbetracht meiner fabelhaften Toilette, in welcher ein paar Hoſen, die bis zum Knie hinauf von gutem Rindsleder beſtanden, noch nicht das merkwürdigſte Stück war, von Erſteren wegen meiner nicht weniger fabelhaften Gelehrſamkeit. Ich wußte den halben Virgil auswendig, las das neue Teſta¬ ment in der Urſprache ſo fließend, wie meine Mit¬ ſchüler Luther's Ueberſetzung und das Alles mit dreizehn Jahren! Mir graut jetzt ſelbſt, wenn ich daran denke. Damals indeſſen kam mir das Alles ſehr zu ſtatten; denn mein Vater, der eine zahlreiche Fa¬ milie zu ernähren hatte, und ſo arm war, wie die236 Mäuſe in ſeiner Kirche, konnte mir außer ſeinem Segen und ſechs Empfehlungsbriefen an eben ſo viel mitlei¬ dige Familien, die ſich jede zu einem Freitiſch wöchent¬ lich verſtanden, den ſiebenten Tag, an welchem ich keinen Freitiſch hatte, ſetzte ich nothgedrungen zum Faſttage ein für alle Mal ein ſo gut, wie nichts mit in die Stadt geben. Ich war alſo gänzlich auf mich angewieſen; aber ich hatte duraus keine koſtbaren Gewohnheiten, ſtatt deſſen aber das Talent, von einem Butterbrode ſatt zu werden, bei einem Thranlämpchen leſen und mit zugeſpitzten Schwefelhölzern ſchreiben, meine ſechs Schulſtunden abſitzen und noch eben ſo viele Privatſtunden geben zu können, ſo daß ich nicht nur die Miethe für mein Dachſtübchen und Alles un¬ umgänglich Nothwendige pünktlich bezahlte, ſondern auch ſchon nach zwei Monaten meine ledernen Hoſen mit einem Paar von ſtädtiſcherem Stoff und Schnitt vertauſchen durfte. Den Spitznamen Lederstrumpf indeſſen, den meine Mitſchüler mir gegeben hatten, und den bei dieſer Gelegenheit los werden, meine ſtille Hoffnung und die eigentliche Veranlaſſung meines Luxus geweſen war, behielt ich nach wie vor; und das war meine gerechte Strafe. Daß mir es im Uebrigen in der Schule gut ging, verdankte ich beſonders einer nicht ungeſchickten Politik, die ich unausgeſetzt verfolgte. 237Ich hatte nämlich bald herausgefunden, daß die Stärkſten und Größten in der Klaſſe auch zugleich immer die Dümmſten und Faulſten waren. Ich verfehlte alſo niemals mit ihnen ein Schutz - und Trutzbündniß ab¬ zuſchließen, das hauptſächlich auf folgende zwei Be¬ dingungen baſirt war: ich mache Dir Deine Arbeiten und dafür prügelſt Du mich weder ſelbſt, noch giebſt Du zu, daß mich ein Anderer prügelt; und ich muß geſtehen, daß dieſer Vertrag ſtets unverbrüchlich ge¬ halten wurde. Als ich ſiebenzehn Jahre alt war, fand mein Lehrer, daß ich ſchon ſeit einem Jahre zur Uni¬ verſität reif ſei, wenn darunter nämlich verſtanden wird, daß man mit Schulkenntniſſen allerdings ange¬ füllt iſt, wie ein Ei voll Dotter, im übrigen aber ſo unwiſſend und hülflos, wie ein Küchlein, das eben aus der Schale kroch. Daß ich Theologie ſtudirte, ſtand natürlich für mich ſo feſt, als daß ich einmal ſterben müßte. Söhne von penſionirten Hauptleuten werden in's Cadettencorps geſteckt, und Söhne von armen Landpaſtoren in's theologiſche Seminar geſchickt: das iſt ſo ſelbſtredend wie irgend ein anderes Stück der Naturgeſchichte. Wohl; ich ſtudirte alſo Theologie, das heißt, ich ging fleißig in's Colleg, und ſchrieb ganze Wagenladungen voll der abſtruſeſten Gelehrſam¬ keit. Im Uebrigen ſetzte ich ſo ziemlich mein Leben238 ſo fort, wie ich es von der Schule gewohnt war, ſelbſt mein Dachſtübchen hatte ich behalten, und Privat¬ ſtundengeben war mein Erwerbsquell nach wie vor, um ſo mehr, als jetzt einer meiner jüngeren Brüder bei mir lebte, dem ich das kleine Stipendium, das ich von der Universität erhielt Sie wiſſen, daß in Grünwald ein Student ohne Stipendium eine rara avis iſt überließ; ſo wie die Freitiſche, die ich jetzt ent¬ behren konnte, da die Caravanſerei des Convicts mir ihre gaſtlichen Thore geöffnet hatte. So verging das Triennium in etwas monotoner, aber nicht unbehag¬ licher Weiſe. Ein Tag ſah ſo ziemlich aus wie der andere; nur der Mittwoch hatte für mich eine etwas düſtere Phyſiognomie, weil es an demſelben Erbſen mit Schweinefleiſch im Convict gab, ein Gericht, an das ich mich, trotz meiner liberalen Grundſätze in dieſer Beziehung, niemals habe gewöhnen können. Ich mußte jedesmal, wenn die Schüſſel zu mir kam, an die ſchönen Sommermorgen denken, die ich im Eichwalde zugebracht hatte, wenn mein Eumaeus pothumus ſeine Heerde weidete, und ich die Eclogen des Virgil dazu las; und dann blieb mir der Biſſen im Munde ſtecken. Sie werden das wahrſcheinlich ſehr ſentimental finden, aber es hat ja Jeder ſeine Schwächen. Vom Leben ſah ich während dieſer Zeit ungefähr ſo viel, wie ein Ka¬239 meel in der Menagerie von der Wüſte. Mein Um¬ gang war äußerſt beſchränkt, er richtete ſich weſentlich nach meinen Mitteln; wie ich denn überhaupt glaube, daß zwiſchen dieſen Beiden eine Art Wechſelverhältniß ſtattfindet; wenigſtens bemerkte ich, daß die wohlhaben¬ deren Studenten immer heerdeweiſe angetroffen wurden, während die ärmeren einzeln durch die Gaſſen ſchlichen! Ich weiß nicht, ob das ſonſt im Leben auch ſo iſt. Vor dieſen wohlhabenderen Studenten denn es giebt deren ſelbſt in Grünwald, und in meinen Augen war jeder, der einen ſicheren Wechſel von funfzig Tha¬ lern jährlich hatte, ein Kröſus empfand ich übrigens allen möglichen Reſpect. Dieſe ſchnurrbärtigen, geſtie¬ felten Kater erſchienen mir als ſehr abſonderliche Ge¬ ſchöpfe Gottes, und ich konnte nie recht begreifen, wie eine, doch ſonſt auf die Ruhe ihrer Unterthanen ſo eiferſüchtige Regierung, ſie in ihrer ganzen unciviliſirten Freiheit umher laufen laſſen könne. Ich muß geſtehen, daß ich die drei Jahre hindurch in einer beſtändigen Furcht vor einer Herausforderung lebte. Nicht als ob es mir an perſönlichem Muth gebräche! Ich habe glücklicherweiſe hernach ein paar Mal im Leben Ge¬ legenheit gehabt, mich vom Gegentheil zu überzeugen: ich fürchtete mir die Schiefheit der Lage, in die ich mich bei einer ſolchen Eventualität verſetzt ſehen würde. 240Den ganzen ſogenannten Comment hielt ich nämlich von jeher für den abominabelſten Unſinn, verderblich für die Geſundheit, viel verderblicher aber noch für die Moral, denn er zwingt die jungen Gemüther ihr eigenes Denken und Fühlen heroiſch dem Moloch eines barbariſchen Ehrbegriffs, der lächerlichſten Carricatur eines Codex der Moral, die je erfunden iſt, zu opfern, und gewöhnt ſie auf dieſe Weiſe ſyſtematiſch an jenes blinde, katholiſche Gehorchen, welches mir die eigent¬ liche Sünde gegen den heiligen Geiſt zu ſein ſcheint. Ich weiß nicht, ob wir hierin einer Anſicht ſind, Herr College.

Vollkommen, antwortete Oswald.

Und nun rechnen Sie zu den Uebelſtänden dieſes modern-mittelalterlichen Studentenlebens, daß die Jüng¬ linge gerade in der Zeit, wo der Menſch am empfäng¬ lichſten iſt für die Eindrücke der Außenwelt, ſich her¬ metiſch in ihrer leidigen Kneipe abſchließen, anſtatt die gute Geſellſchaft aufzuſuchen, die ihnen den Schliff geben könnte, der ihnen wahrlich ſo ſehr fehlt, daß ſie in den Jahren, wo ſelbſt ſpäter ſehr bornirte Ariſto¬ kraten für Freiheit ſchwärmen, ſich der excluſiveſten Excluſivität befleißigen, und in dem Glanz ihrer bunten Kappen und kindiſchen Troddeln noch verächtlicher auf den Philiſter herabſehen, als der Gardelieutenant auf241 den Civiliſten; daß ſie in der Periode, wo ſie anfangen ſollten, ſich als Mitglieder eines großen Ganzen, als angehende Bürger zu fühlen, anfangen, einen Staat im Staate zu errichten: ſo haben Sie wahrlich bei¬ ſammen, was einem mir halbwegs verſtändigen Jüng¬ ling den Geſchmack an ſolchem albernen Studenten¬ treiben gründlich verleiden könnte.

Ja, ſagte Bemperlein, und es iſt ganz auf¬ fallend, wie lange der Rauſch, den ſich die jungen Leute während ihrer glorreichen Studentenzeit trinken, anhält. Da iſt hier in der Nähe unſer Landrath ein Herr von Sylow, ein Mann von vierzig Jahren der ſeit mindeſtens zehn Jahren verheirathet iſt. Geſtern nun, als ich mit Julius dort meinen Ab¬ ſchiedsbeſuch machte die Kinder ſind von jeher ſehr viel zuſammen geweſen kam der Landrath nach dem Abendeſſen auf ſeine Univerſitätszeit zu ſprechen, und gab uns, das heißt ſeinem Hauslehrer und mir, einen Abriß ſeiner ſtudentiſchen Heldenthaten. Glücklicher¬ weiſe war mein College ſeiner Zeit ein flotter Burſch in Halle geweſen, und konnte dem Landrath auf ſeine Fragen über den heutigen Stand des Comments die nöthige Auskunft geben. Und nun hätten Sie den edlen Herrn ſich ſollen ereifern hören über die Ver¬ ſunkenheit des heutigen Studentenlebens, über die ge¬F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 16242ringe Zahl der Paukereien, die unwürdig kleine Quan¬ tität Biers, ſo in einem Abend vertilgt würde, und ſo weiter und ſo weiter. Dabei glänzten ſeine Augen bei der bloßen Erinnerung an all die verſunkene Herr¬ lichkeit, und er ſprach ſich in eine ſolche Rührung hinein, daß er ſchließlich den ſentimentalen Wunſch äußerte, all die rheiniſchen Demokraten, wie er ſie nennt, die auf dem letzten Provinzial-Landtage wiederum die alten gottesläſterlichen Petitionen um Preßfreiheit, Freizügigkeit u. eingebracht hätten, möchten nur einen Hals haben, damit er machte eine bezeichnende Hand¬ bewegung des Geſchreies endlich einmal ein Ende würde.

Natürlich, ſagte Oswald, wenn die Herren jung ſind, ſingen ſie: Freiheit, die ich meine, das klingt ſehr poetiſch, wenn man es von fern hört, und ſie ſelbſt ſingen ſich dabei in eine gelinde Rührung hinein, in welcher ſie halb und halb glauben, ſie hätten in der That eine Meinung. Das iſt aber eine reine Hallu¬ cination, oder im Falle ja einmal einer wirklich etwas meint, ſo iſt es die Freiheit: den Philiſter verhöhnen, Fenſter einwerfen, die öffentlichen Locale unſicher machen, und andere Heldenthaten ungeſtraft verrichten zu können; und dann die ſpätere Freiheit, als ganz gehorſamſter Endesunterzeichneter in tiefunterthänigſter Demuth zu243 erſterben, wenn man es nur bis zum Subalternbeamten, und die Subalternbeamten und die ganze übrige Menſch¬ heit en canaille behandeln zu können, wenn man es bis zum Verwaltungschef gebracht hat. Aber wir ſind von unſerem Thema abgekommen. Die böſe Alter¬ native, entweder gegen ihre perſönliche Ehre, oder gegen die Standesehre verſtoßen zu müſſen, wurde Ihnen hoffentlich erſpart?

Ja, Dank der Vorſicht, die ich anwandte, vor den geſtiefelten Katern meine Mauſeexiſtenz möglichſt geheim zu halten. Als das Triennium vorbei war, und ich mein erſtes theologiſches Examen beſtanden hatte, war es mit meiner Beſorgniß ohnedies vorbei, denn einem ehrſamen Candidaten des Predigeramts verdenkt es ſchon Niemand, wenn er nichts von Terzen und Quarten wiſſen will. Ich hätte liebſten ſogleich auf dem Lande eine Stelle als Hauslehrer angenommen, aber mein Bruder war eben erſt nach Prima gekommen, und ich wollte ihn die zwei Jahre, die er noch auf dem Gymnaſium bleiben mußte, nicht allein laſſen, da ich ihn in der Kunſt, mit Schwefel¬ hölzern zu ſchreiben und in den übrigen Geheimniſſen des Lebens eines Dorfpfarrerſohnes in der Stadt nicht ſo perfect ſah, wie es im Intereſſe der Familie wün¬ ſchenswerth ſchien. Denn dieſer zweite Bruder ſollte16*244an ſeinem jüngeren Bruder die Stelle vertreten, die ich an ihm vertreten hatte, und dieſer jüngere Bruder mußte um dieſelbe Zeit auf die Tertia des Gymna¬ ſiums kommen, wenn jener die Univerſität bezog; ebenſo wie ich anfing zu ſtudiren, als er nach Tertia kam.

Aber wie iſt denn das möglich, ſagte Oswald erſtaunt.

Ja, ſehen Sie, Werthgeſchätzter, antwortete Herr Bemperlein, wie es möglich iſt, kann ich Ihnen nicht ſagen, daß es aber der Fall iſt, kann ich beſchwören. Ich bin der Aelteſte meiner Geſchwiſter, und am zwei¬ undzwanzigſten März geboren; dann kommt eine Schwe¬ ſter, genau zwei Jahre jünger, denn ſie iſt am einund¬ zwanzigſten März geboren, darauf ein Bruder, darauf wieder eine Schweſter, darauf wieder ein Bruder, und wieder eine Schweſter. Wie viel ſind das?

Ein halbes Dutzend, ſollte ich meinen, ſagte Oswald lächelnd.

Ganz richtig, ein halbes Dutzend, alle zwei Jahre auseinander und alle im März geboren, mit Ausnahme meiner jüngſten Schweſter, die am erſten April zur Welt kam. Sie iſt aber auch eine kometenhafte Er¬ ſcheinung in unſerem Planetenſyſtem und ſo zu ſagen: das Wunderkind der Familie. Denken Sie ſich, ſie iſt erſt achtzehn Jahre und ſchon verlobt.

245

Ich ſehe bei der ohne Zweifel großen Liebens¬ würdigkeit Ihrer Fräulein Schweſter nichts Außeror¬ dentliches darin, bemerkte Oswald.

Nichts Außerordentliches? rief Herr Bemperlein! nichts Außerordentliches? Ein ſolches Kind? Hei¬ rathen! mit achtzehn Jahren! Ich weiß wirklich nicht einmal, ob das überhaupt pſychologiſch und phyſiologiſch zuläſſig iſt; Sie lachen? Mag ſein: ich habe mich auf die Weiber nie verſtanden, und wüßte auch nicht, wie ich zu dieſer Kenntniß gelangt ſein ſollte, der Herr müßte ſie mir denn, von wegen meiner abſonderlichen Einfalt, im Traum geſchenkt haben. Alſo ich blieb noch faſt zwei Jahre in Grünwald, gab Privatſtunden, hielt Repetitorien mit jungen Studenten, die vor dem Examen ſtanden, und im Commersbuche beſſer Beſcheid wußten, als in den Kirchenvätern, und verdiente ſo viel, daß ich nicht nur ſelbſt ſehr gut leben konnte den Faſt¬ tag hatte ich aus reiner Gewohnheit beibehalten ſondern auch meinen Bruder pflichtſchuldig unterſtützte. Dieſer Bruder machte mir damals einigermaßen Sorge die ſich hernach als unnöthig erwieſen hat, denn er iſt jetzt in ſeinem vierundzwanzigſten Jahre ſchon wohlbeſtallter Hülfsprediger, aber er lernte etwas ſchwer, hatte ſchwache Augen, und war gegen Hunger und Kälte auf eine mir unbegreifliche Weiſe empfindlich. 246Ich ſah deshalb ein, daß es eine Barbarei ſein würde, ihm die Sorge für meinen jüngſten Bruder, der jetzt auf die Schule kam, zuzumuthen, zumal dieſer ein ſehr ſchwächlicher Knabe war er iſt jetzt ein kräftiger Burſche von zwanzig Jahren, ein braver, fleißiger Junge, der nächſtens ſein erſtes theologiſches Examen machen wird ja, wollte ich ſagen? richtig: er war damals ein ſchwächlicher, kränklicher Knabe, und be¬ durfte größerer Pflege. Für Beide aber das Nöthige herbeizuſchaffen

Und für Sie ſelber, ſchaltete Oswald ein.

Nun, das war das wenigſte; aber ich ſah ein, daß es ſo nicht länger ging, und da kam mir denn die Hauslehrerſtelle in Berkow, die mir zu der Zeit angeboten wurde, gerade recht. Vollkommen freie Station, ein fabelhafter Gehalt ich war überglück¬ lich. Jetzt hatte ich beide Arme frei, und konnte end¬ lich wirklich einmal etwas für die Familie thun.

Ich dächte, Sie hätten das ſtets nach Kräften, oder über ihre Kräfte gethan, ſagte Oswald.

Ach, Spaß, ſagte der Andere; die Luft war groß, aber die Kraft gering, und jetzt war die Unter¬ ſtützung nöthiger, wie je. Meine gute Mutter hatte ſchon lange gekränkelt, jetzt verfiel auch mein Vater in eine ſchwere Krankheit, die ſeine eiſerne Natur ſo247 untergrub, daß er ſich nie wieder ganz vollſtändig er¬ holte, ſo daß das Schlimmſte zu befürchten ſtand. Dabei waren meine drei Schweſtern noch unverſorgt. Welches Glück alſo, daß ich jetzt das prinzliche Ein¬ kommen von Zweihundert Thalern Gold hatte! Ich gab die eine Hälfte meinen Brüdern,

Und die andere Hälfte meinen Schweſtern, ſchal¬ tete Oswald ein.

Und die andere Hälfte meinen Schweſtern fuhr Bemperlein fort, und rieb ſich vergnügt die Hände.

Aber was behielten Sie denn für ſich?

Für mich? erwiderte Bemperlein erſtaunt. Sagte ich Ihnen nicht, daß ich vollkommen freie Station hatte? Und nun hören Sie nur! Ich war ein Jahr auf Berkow geweſen, da läßt mich eines Tages die gnädige Frau zu ſich rufen, und nachdem wir über Dies und Jenes geſprochen, ſagte ſie:

Sie ſind nun ein Jahr bei uns, lieber Bemper¬ lein, nun ſagen Sie mir einmal aufrichtig, ob es Ihnen bei uns gefällt. Das bedarf wohl keiner Frage, gnädige Frau, antwortete ich. Nun, das freut mich, ſagte ſie, aber haben Sie nicht noch irgend einen ſpeciellen Wunſch? Daß ich nicht wüßte, ſagte ich. Aber ihr Gehalt iſt doch, offenbar zu gering, ſagte248 ſie mit dem freundlichſten Lächeln. Ich war ſo er¬ ſtaunt über dieſe Worte, daß ich keine Antwort zu finden wußte.

Ich will Ihnen nur geſtehen, fuhr ſie mit himm¬ liſcher Güte fort, das ich die Zeit, die Sie jetzt hier ſind, nur als Probezeit angeſehen, und Ihren Gehalt darnach berechnet habe. Es iſt mir niemals eingefallen, zu glauben, daß ein Mann, dem ich die Erziehung meines Kindes mit vollkommener Sicherheit anvertrauen kann, überhaupt mit Geld zu bezahlen ſei; und wenn ich Sie jetzt bitte, mir zu erlauben, das geringe Ge¬ halt, das Sie bis jetzt bezogen haben, zu verdoppeln, ſo bemerke ich dabei ausdrücklich, daß ich mich nach wie vor als ihre Schuldnerin fühle.

War ich vorher noch nicht erſtaunt geweſen, ſo war ich es jetzt; oder vielmehr, ich war ſo gerührt weniger durch das großmüthige Geſchenk ſelbſt, als über die unbeſchreibliche Liebenswürdigkeit, mit dem es mir von der edlen Frau geboten wurde, daß mir die Thränen über die Backen liefen. Ich ſtammelte etwas von unmöglich annehmen können und dergleichen, da aber wurde ſie ordentlich zornig, daß ich nur ſchnell einlenkte und ſagte: ich nähme das Geſchenk nicht für mich, was unverantwortlich wäre, ſondern nur, weil ich für Andere ſorgen müßte, die für ſich ſelber noch249 nicht ſorgen könnten. Machen Sie damit, was Sie wollen, ſagte ſie ſchon in der Thür, aber bedenken Sie auch, daß Sie gegen ſich ſelbſt Verpflichtungen haben. Damit war die Sache zu Ende, aber noch nicht Frau von Berkow's Güte, die grenzenlos iſt. Doch ich wollte Ihnen eigentlich ganz etwas Anderes erzählen; nämlich, wie ich dazu kam, den Fehler zu entdecken, der ſich in die Rechnung meines Lebens ein¬ geſchlichen hat, und welches dieſer Fehler iſt.

Achtzehntes Kapitel.

In dieſem Augenblicke kam ein Reiter, der vor einigen Minuten aus einem Seitenwege auf den Haupt¬ weg gebogen war, im Galopp an ihnen vorüber. Ein großer Neufundländer, den Oswald zuerſt für Melitta’s Dogge hielt, galoppirte in langen Sprüngen neben dem Pferde her, einem herrlichen rabenſchwarzen Vollblut, deſſen Bruſt mit weißen Schaumflocken benetzt war. Der Reiter war, ſoweit man es in der Eile bemerken konnte, ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, lang und dürr, gegen die Gewohnheit der Gutsbeſitzer hier zu Lande in langen Beinkleidern ſtatt in Stulpen¬ ſtiefeln; ſeine Haltung zu Pferde durchaus die Haltung der Herren, welche man lateiniſche Reiter zu nennen pflegt. Aber es war das wohl mehr Nachläſſigkeit und die Gewohnheit, ſich gehen zu laſſen, als wirkliche Ungeſchicklichkeit, denn, als er faſt unmittelbar vor den251 ihm Entgegenkommenden war, die er, in Nachdenken oder Träumereien verloren, jetzt erſt bemerkte, warf er ſeinen Renner mit einer Kraft und Gewandtheit auf die Seite, die den tüchtigen Reiter bekundeten. Ex¬ cusez messieurs! rief er, flüchtig an den Hut grei¬ fend und weiter galoppirend.

Kennen Sie den Herrn? ſagte Oswald ſtehen bleibend und dem Manne nachſchauend, deſſen Züge ihm fremd und bekannt zu gleicher Zeit erſchienen waren.

Tiens! ſagte Herr Bemperlein, ebenfalls ſtehen bleibend, das muß der Baron Oldenburg geweſen ſein. Ja gewiß iſt's der Baron! rief er, als der Reiter jetzt bei den Knaben, die in der Entfernung von ein paar hundert Schritten folgten, angekommen, ſtill hielt, und ihnen vom Pferde herab die Hand reichte. Ich hätte ihn kaum wieder erkannt mit ſeinem ſchwarzen Bart und ſeinem gelben Geſicht. Er ſieht ja aus, wie ein wahrer Kabyle. Seit wann mag er denn wieder im Lande ſein?

Iſt er auf Reiſen geweſen? fragte Oswald mit angenommener Gleichgültigkeit.

Er iſt ſeit zehn Jahren eigentlich fortwährend auf Reiſen, erwiederte Herr Bemperlein: vor drei Jahren trafen ihn Frau von Berkow und Herr von Bernewitz und deſſen Gemahlin in Rom, und ſie ſind dann mit252 ihm durch Süd-Italien gereiſt. In Sicilien haben ſie ſich getrennt. Die Herrſchaften traten die Rückkehr an, und der Baron ging weiter nach Aegypten, Nubien, und Gott weiß wohin ihn ſein unruhiger Geiſt noch ſonſt getrieben haben mag. Aber wir ſind ſchon wieder von unſerm Thema abgekommen.

Herr Bemperlein fing mit der ihm eigenthümlichen Redſeligkeit abermals zu erzählen an, aber wenn Os¬ wald ſchon vorher nur mit halbem Ohre zugehört hatte, ſo ſchweiften ſeine Gedanken jetzt noch viel weiter ab .... Das war alſo der Mann, der einſt in Me¬ litta's Leben eine ſo große Rolle geſpielt hatte! Eine ſo große Rolle! Eine wie große Rolle? Sie hatte ihn nie wahrhaft geliebt vielleicht, gewiß nie wahr¬ haft geliebt aber iſt denn wahre Liebe immer der letzte Preis der höchſten Gunſt einer Frau? Giebt es nicht ſo dergleichen, wie Begierde ohne Liebe? oder auch Liebe ohne Begierde, oder der Wunſch, den Ge¬ liebten auf jede Weiſe an ſich zu feſſeln, auch durch die Luſt und die Erinnerung der Luſt Und ſo hätte Sie doch an der Seite des Mannes, an deſſen Wiege die Grazien ausgeblieben waren, geruht; wohl ohne Ruhe, ohne die tiefe Seligkeit zu finden, die ſie hoffte, aber doch geruht? O, in dem Gedanken war Höllenqual ...

253

So raunte und flüſterte ihm der Dämon der Eifer¬ ſucht wilde, ſchlimme Gedanken ins Ohr, die ſein Blut ſieden machten und ihm kalte Tropfen auf die Stirn trieben was Wunder, wenn er ſo Herrn Bem¬ perlein's Erzählung nur wie im Traume hörte. Nur ſo viel begriff er, daß der wunderliche, brave Mann erſt jetzt, nachdem die Noth des Lebens für ihn vorbei war und er in der grünen Einſamkeit von Berkow frei von aller Sorge aufathmen durfte, zum erſten Mal über ſeine ſogenannte Wiſſenſchaft, die zu prüfen, ihm bis dahin die Zeit gefehlt hatte, nachzudenken begann; daß er jetzt zum erſten Male mit den Heroen der neueren Literatur, vor allem mit Shakeſpeare, Be¬ kanntſchaft machte, daß er von den Dichtern auf die Philoſophen kam, und wie ihm vor allem in Spinoza eine Welt aufging, von der er, der Zögling theolo¬ giſcher Scholaſtik, keine Ahnung hatte; daß er von Spinoza, ſpäter von Schopenhauer angeregt, ſich auf das Studium der Natur, auf Botanik, Mineralogie, Phyſik geworfen, ſich mit Hülfe des alten Baumann ein kleines Laboratorium eingerichtet und fleißig expe¬ rimentirt habe, und daß auf ſeinen Retorten und Ti¬ geln der Glaube an die alleinſeligmachende Kraft der Profeſſoren-Religion, den ihm die Lectüre der Philo¬254 ſophen noch etwa gelaſſen hatte, vollkommen ver¬ dampft ſei.

Das ging nun ſo, ſo lang es ging, ſagte Herr Bemperlein, allein es kam nicht zum Sterben, aber doch zu dem Augenblick, wo ich mich entſchließen mußte, ob ich meinen heimlichen Abfall von dem Glauben meiner Väter offen erklären wollte, oder nicht. Eine ſehr einträgliche Pfarrſtelle in hieſiger Gegend, von der ein Onkel der Frau von Berkow, der ältere Herr von Bernewitz Patron iſt, wurde durch den Tod des In¬ habers erledigt. Herr von Bernewitz glaubte ſeiner Nichte einen Gefallen zu erweiſen, wenn er mir dieſe Stelle anbot, ich hatte weiter nichts zu thun, als am nächſten Sonntag eine Predigt in dem Pfarrdorfe zu halten, und die Sache war abgemacht. Nun müſſen Sie wiſſen, daß ich, als mir Herr von Bernewitz die Sache vorſtellte, im erſten Schrecken, halb aus Ueber¬ raſchung, halb um den guten Mann nicht zu kränken, und dann auch, weil wir (das heißt Frau von Berkow und ich) Julius 'Ueberſiedlung nach Grünwald be¬ ſchloſſen hatten, und ſo meines Bleibens in Berkow doch nicht länger ſein konnte: Ja geſagt und mich wirklich hingeſetzt habe, eine Predigt auszuarbeiten. Ich hatte mich ſeit ein paar Jahren glücklich um jede Ge¬ legenheit, wo mein theologiſch-declamatoriſches Talent255 ſich hätte zeigen können, herumzudrücken gewußt, und jetzt fühlte ich zu meinem Schrecken, daß ich die Kanzel¬ ſprache, und mehr noch als die Sprache, die Kanzel¬ logik vollſtändig verlernt hatte. Drei Abende hinter einander ſetzte ich mich zu der Siſyphusarbeit hin; aber nie kam ich auch nur über: meine andächtigen Zuhörer hinaus. Die contradictio in adjecto pei¬ nigte mich, ich wußte aus eigener Erfahrung, wie es mit der Andacht der Zuhörer beſtellt iſt. Andächtig kommt von Denken! Da, in der dritten Nacht, als ich mich voller Verzweiflung zu Bette gelegt hatte und voller Kummer eingeſchlafen war, erwägend, was wohl mein guter Vater und mein würdiger Großvater, den ich auch noch gekannt hatte, ſagen würden, wenn ſie den Unglauben ihres in ſo trefflichen Grundſätzen er¬ zogenen Sohnes und Enkels ſähen, hatte ich folgenden curioſen Traum, zu deſſen Erklärung ich vorher be¬ merken muß, daß Frau von Berkow mir an jenem Tage viel von den Muſeen des Louvre erzählt hatte.

Mir träumte alſo, ich trat in einen gewaltigen hohen und weiten Saal, an deſſen Wänden Sculp¬ turen und Gemälde ſtanden und hingen. Da ſaß Gott Vater ſelbſt, ein ſchöner bärtiger alter Mann, und reckte die Hand aus und ſchuf Himmel und Erde, dann kamen Adam und Eva, in weißem Marmor: Eva, ziemlich256 wohl erhalten Adam aber hatte den Kopf ver¬ loren; darauf Kain's Brudermord, ein großes Oel¬ gemälde, ebenſo wie ein darauf folgendes: Adam und Eva finden die Leiche des ermorderten Abel; auf welchem die Geſtalt des todesblaſſen Jünglings, der wie eine gebrochene Lilie anzuſchauen war, mich faſt zu Thränen rührte. So ging es weiter und weiter: Statue an Statue, Gemälde an Gemälde. Ich war nicht allein im Saale, im Gegentheil, viele Menſchen bewegten ſich an den Wänden und durch den Wald von Statuen hin. Vor einzelnen beſonders hervor¬ ragenden Werken, zum Beiſpiel dem Durchzug der Kinder Iſrael durch das rothe Meer einer rieſen¬ großen Freske ſtanden ganze Gruppen auch vor anderen, die ſich weniger durch hiſtoriſche Bedeutung, als durch das Pikante der dargeſtellten Situation aus¬ zeichneten. So mußte ich mich über das Betragen einer Schaar junger Mädchen ärgern, die vor einem Gemälde, darſtellend: Lot, von ſeinen Töchtern trunken gemacht, die Köpfe zuſammenſteckten und kicherten. Ueberhaupt erſchien mir das Benehmen der Geſell¬ ſchaft im hohen Grade anſtößig. Die Frauen lachten und ſchwatzten und kokettirten, die Herren ſchwatzten, plauderten und lorgnettirten, und einige mit langen Beinen und langen Zähnen wahrſcheinlich Eng¬257 länder hatten gar den Hut auf dem Kopf. Faſt Alle hielten ein Buch in der Hand, in welches die Ge¬ wiſſenhafteren von Zeit zu Zeit hineinſahen, wenn ſie ſich über eins der Kunſtwerke Auskunft holen wollten. Dies Buch ſchien mir der Katalog des Muſeums zu ſein, und da ich einen ſolchen ebenfalls zu haben wünſchte, weil ich die Reihenfolge der Propheten ver¬ geſſen hatte, und nun nicht wußte, ob der alte bär¬ tige Mann, No. 8, Habakuk, und der Jüngling N. 9, Zephanga, oder umgekehrt ſei, ſo wandte ich mich an einen alten Herrn, den ich mit einem Fliegenwedel an den Statuen beſchäftigt geſehen hatte, und den ich in Folge deſſen für einen der Cuſtoden hielt. Als ich näher trat, wandte ſich der Mann um, und ich erſchrak nicht wenig, als ich meinen eignen Großvater erkannte. Was wünſchen Sie, junger Mann? ſagte er in ſtren¬ gem Ton. Ich wiederholte ſchüchtern meine Frage. Hier haben Sie einen Katalog, ſagte er, von einem Tiſche, auf welchem eine große Menge jener Bücher lag, eins nehmend und mir reichend, koſtet fünfzehn Silbergroſchen. Ich ſchlug das Buch auf; ich wünſchte einen Katalog, ſagte ich, Sie haben mir Ganz richtig, ſagte der alte Mann mit melan¬ choliſcher Stimme; dies iſt der Katalog für das alte Muſeum; der Eingang in das neue Muſeum, in welchemF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 17258die Kunſtwerke von dem Jahre Eins chriſtlicher Zeit¬ rechnung bis zum Jahre 1793, wo die chriſtliche Re¬ ligion abgeſchafft, und die Göttin der Vernunft auf den Thron geſetzt wurde, aufgeſtellt ſind iſt dort! Er wies auf eine ſchöne breite Treppe, die aus dem Saale hinaufführte in andere Räume. Sie werden gut thun, ſich dort ebenfalls einen Katalog zu kaufen. Er koſtet zehn Silbergroſchen und Sie haben ſich des¬ halb an Ihren Vater zu wenden, welcher in jenem Theile des Gebäudes daſſelbe Amt verſieht, welches ich hier verſehe. Und damit wandte mir der alte Mann den Rücken, und fing wieder an, mit ſeinem langen Wedel die Statuen und Bilder abzuſtauben. Entſchuldigen Sie, lieber Großvater, ſagte ich. Ich bin Ihr Großvater nicht, antwortete der alte Mann, ruhig in ſeiner Beſchäftigung fortfahrend. Nun, Herr Cuſtos? fragte ich. Ja wohl, Cuſtos, nichts weiter, nichts weiter; murmelte der Greis. Wo haben denn, Herr Cuſtos, fuhr ich fort, die Kunſtwerke, die ſeit jener Zeit entſtanden ſind, ihre Stelle gefunden? Seit jenem denkwürdigen Jahre, ſagte der Alte, hat nichts Geſcheidtes mehr zu Stande kommen wollen. Zwar haben ſich noch einige Künſtler¬ ſchulen gebildet, aber es hat Alles kein rechtes Leben, und ihre Productionen können auf eigentlichen Kunſt¬259 werth keinen Anſpruch machen. Den Künſtlern ſelbſt fehlt der rechte Glaube, und ohne den läßt ſich nun einmal nichts Ordentliches malen oder meißeln, oder ſchreiben bei dieſem letzten Worte maß er mich mit einem ſtrengen Blicke, Oder ſchreiben; wie¬ derholte ich kleinlaut, an meine ungeſchriebene Probe¬ predigt denkend Oder ſchreiben, fuhr er fort und dann iſt das Publikum ſelbſt in neueſter Zeit ſehr gleichgültig geworden, und die Kritik ſitzt den Künſtlern zu unbarmherzig auf dem Nacken, und das verdirbt ihnen die naive Unbefangenheit und nacht¬ wandleriſche Sicherheit, ohne welche nun ein für alle Mal, aber jetzt muß ich Sie erſuchen, ſich zu ent¬ fernen, die Glocke hat ſchon lange geläutet, Sie ſind der Allerletzte. Er begleitete mich bis zum Ausgange des Saales, öffnete mir die Thür und lud mich mit einer ſteifen Verbeugung ein, hinauszuſpazieren. Ich that es die Thür fiel donnernd hinter mir zu, und ich erwachte.

Seit jenem Traum, fuhr Herr Bemperlein fort; machte ich keinen neuen Verſuch mehr. Ohne Glauben läßt ſich keine Predigt ſchreiben, ſagte ich zu mir, und wenn ſich auch noch zur Noth eine ſchreiben läßt, ſo läßt ſie ſich doch nicht halten, wenigſtens nicht von einem Manne, der, wie Du, ein Stück Gewiſſen und17*260weder Kind noch Kegel hat, die manchen ehrlichen Kerl ſchon Dinge haben ſchreiben und ſagen machen, die er nur ſo und auch kaum ſo vor Gott und der Welt verantworten kann. Daß ich alſo nicht mehr Paſtor werden könnte, ſtand bei mir feſt, und ich ſchrieb alſo heute Morgen an Herrn von Barnewitz, mich für die mir zugedachte Ehre zu bedanken, von der ich keinen Gebrauch machen könne, da ich mich entſchloſſen hätte, Julius nach Grünwald zu begleiten. Der Ein¬ fall kam mir nämlich, wie ich die Phraſe ſchrieb, und ich lief ſogleich zu Frau von Berkow, und theilte ihr meinen Entſchluß mit, worüber ſie ihre ungeheuchelte Freude zu erkennen gab. Nun ſagen Sie mir, mein vortrefflicher Freund, der Sie die Güte gehabt haben, dieſe lange Geſchichte anzuhören, was würden Sie thun, wenn Sie in meiner Lage wären? Bedenken Sie dabei, daß ich bereits achtundzwanzig Jahre alt bin, aber noch meine ſämmtlichen achtundzwanzig Zähne habe. Die Weisheitszähne ſind ausgeblieben, ſei es aus einer Vergeßlichkeit der Natur, ſei es aus einer weiſen Vorſicht des Schickſals, das daran dachte, wie ich ſo manchmal im Leben wenig genug zu beißen haben würde.

Was ich thun würde, wenn ich an Ihrer Stelle261 wäre? ſagte Oswald; wenn ich, wie Sie, ein wackrer, gewiſſenhafter, fleißiger

Bitte, bitte, Herr Collega; ſagte Bemperlein über und über roth werdend.

Ich ſage, gewiſſenhafter, fleißiger Mann wäre? Nun die Frage iſt ſehr leicht zu beantworten. Ich würde thun, was Sie bereits gethan haben; ich würde dem Paradies naiver Gedankenloſigkeit und harmloſen Glaubens wohlgemuth den Rücken kehren, nachdem ich einmal vom Baum der Erkenntniß gekoſtet, und mich, ſo wenig wie Sie, in den Stall ſperren laſſen, in welchem die Heuchler, die ſchnöden Hunde im Schafs¬ pelze der Demuth, ſo ohrenzerreißend und markerſchüt¬ ternd winſeln und heulen.

Ganz wohl, ganz wohl! ſagte Herr Bemperlein, ſich vergnügt die Hände reibend, und was würden Sie dann thun, Werthgeſchätzteſter?

Dann, ſagte Oswald, wenn ich Sie wäre, würde ich mich erinnern, welche Mühſal ich ſchon als ſchwacher Knabe erduldet, und welchen Fleiß und welche Ausdauer ich bewieſen habe, blos um mir einen Wuſt von Kenntniſſen anzueignen, den ich jetzt froh bin, wieder vergeſſen zu können deſſen, ſage ich, würde ich mich erinnern, und dann meinen Ehrgeiz darein ſetzen, mir nun eine Wiſſenſchaft zu eigen zu machen,262 die ich nicht wieder vergeſſen möchte, weil ich ihr Jünger ſein darf, ohne vorher die freie Vernunft zu knebeln, und weil dieſe Wiſſenſchaft fruchtbar für mich und fruchtbar für meine Mitbrüder iſt.

Vortrefflich, vortrefflich, ſagte Herr Bemperlein, weiter, weiter!

Ich würde alſo mit einem Wort, fuhr Oswald fort, mich mit aller Macht auf die Naturwiſſenſchaften werfen, in denen Sie ſich ja ſchon verſucht haben, und würde mich, ſobald als möglich, nochmals in Grün¬ wald inſcribiren laſſen, diesmal aber nicht, um Theo¬ logie, ſondern etwa um Medicin zu ſtudiren.

Die mediciniſche Facultät in Grünwald iſt aus¬ gezeichnet, ſagte Herr Bemperlein.

Sie iſt anerkanntermaßen eine der beſten in Deutſchland, "fuhr Oswald fort. Dann würde ich noch ein paar andere Univerſitäten beſuchen, wenn das Geld reicht

Geld wie Heu, Geld wie Heu, rief Herr Bem¬ perlein, ſechs Jahre lang ein prinzliches Einkommen und freie Station, ich bitte Sie, Theuerſter, ich habe für ein halbes Jahrhundert zu leben.

Dann würde ich ein berühmter Arzt

Wiſſen Sie, ſagte Bemperlein, ſtehen bleibend und ſich nach den Knaben umſehend, im Flüſterton:263 Ich habe ſchon ein Paar von Julius Kaninchen heimlich mit Blauſäure vergiftet und hernach ſecirt, und die Fröſche in dem Sumpfe hinter unſerm Park haben keine Urſache, meine Freunde zu ſein.

Bravo! lachte Oswald, und dann heirathete ich.

Wirklich? fragte Bemperlein.

Nun natürlich, und erzeugte ein halbes Dutzend kleiner Bemperleins, die in der Folge alle große Bem¬ perleins und Alles Leuchten und Fackeln der modernen Wiſſenſchaft würden.

Auch die Mädchen? ſagte Bemperlein lachend.

Die Mädchen heirathen wieder tüchtige wahrheits¬ liebende Männer, und ſo hülfe ich theoretiſch und prak¬ tiſch die Zeit herbeiführen, wo die Freiheit erſcheinen wird, die wir meinen.

Ja, ja, rief Herr Bemperlein, ſo gehts, ſo gehts. Dank, tauſend Dank, mein trefflicher Freund, daß Sie die letzten Wolken des Zweifels durch Ihre muthigen Worte zerſtreut haben. Morgen reiſe ich mit Julius nach Grünwald.

Ich will Ihnen einen Empfehlungsbrief an Pro¬ feſſor Berger mitgeben, ſagte Oswald; er iſt mit allen naturwiſſenſchaftlichen Größen eng liirt.

Er riß ein Blatt aus ſeiner Brieftaſche, ſchrieb ein paar Worte an Berger darauf und übergab es Bemperlein.

264

Dank, beſten Dank! ſagte dieſer, das Blatt ein¬ ſteckend. Die Bekanntſchaft dieſes Mannes kann mir ſehr nützlich werden.

Auf jeden Fall. Sprechen Sie durchaus offen gegen ihn, ohne allen und jeden Rückhalt, dann dürfen Sie aber auch verſichert ſein, daß er mit ſeiner Herzens¬ meinung nicht hinter dem Berge halten wird. Viel¬ leicht empfiehlt er Ihnen, ſogleich auf eine größere Univerſität, etwa nach der Reſidenz zu gehen. Folgen Sie dann ſeinem Rath.

Nous verrons, nous verrons! rief Her Bem¬ perlein. Aber da ſind wir bei unſerm Parkthor an¬ gekommen. Sie treten doch näher!

Nein, nein! ſagte Oswald haſtig, ich möchte nicht gern ſo ſpät nach Grenwitz zurückkommen.

Nun denn, leben Sie wohl! In ein paar Tagen, wenn ich Julius in Grünwald inſtallirt, und mich über mich ſelbſt bei Berger ordentlich informirt habe, bin ich wieder hier, um definitiv Abſchied zu nehmen. Leben Sie wohl ſo lange, mein werthgeſchätzter Freund!

Adieu, adieu! ſagte Oswald, haſtig Bemperlein und Julius die Hand drückend, und Bruno mit ſich zurück in den Wald ziehend, als hielte ein Engel mit dem flammenden Schwerte Wache über dem Parkthore von Berkow.

[265]

Neunzehntes Kapitel.

Der Knabe und er gingen eine Zeit lang ſchwei¬ gend nebeneinander durch den Wald. Bruno war zu ſtolz, als daß er eine Unterhaltung mit dem hätte be¬ ginnen ſollen, der ihn ganz vergeſſen zu haben ſchien, und Oswald war mit ſeinen eignen Gedanken vollauf beſchäftigt ... Jeder Menſch, mit dem wir in nähere Beziehung treten, iſt ein Glas, das unſer eigen Bild ſo oder ſo zurückwirft, und in dem kryſtallhellen Spiegel von jenes Mannes kindlich reiner Seele, hatte Oswald ſein eignes Geſicht erblickt, aber wie erblickt? von Leidenſchaft zerriſſen, von Zweifel verdüſtert, ſo daß er vor ſich ſelbſt erſchrak. Und dieſer Mann, ſprach er bei ſich, kommt zu Dir, ſich von Dir Rath zu holen; der Sehende zu dem Blinden, der Geſunde zu dem Kranken! Er entdeckt einen Fehler in der Rechnung ſeines Lebens, und er ſetzt ſich hin und rechnet und266 rechnet und ruht nicht, bis das Facit ſtimmt, und Alles wieder ſchier und glatt iſt, und Du taumelſt durch's Leben, wie ein leichtſinniger Kaufmann, Schuld auf Schuld häufend, von einer tollen Speculation in die andere rennend, unbekümmert darum, wie es am Zah¬ lungstage werden ſoll. Jener Mann würde ſich eher die Hand abhauen, als ſie nach etwas ausſtrecken, das er nicht verdient hätte im Schweiße ſeines Angeſichts Du nimmſt die Gaben der goldigen Aphrodite und was Dir ſonſt ein günſtiges Geſchick gewährt, hin, wie Dein gutes Recht und murreſt nur, daß es nicht mehr iſt. Jetzt biſt Du ſchon nicht mehr zufrieden mit Melitta's Liebe, für die Du ihr auf den Knieen danken müßteſt, jetzt verlangſt Du, ſie ſollte Dich geliebt haben, ehe ſie Dich kannte, ſie ſollte wenigſtens mit ihrer Liebe auch die Erinnerung an dieſen Mann verloren haben. Wenn ich die Erinnernug tödten könnte, ſagte ſie. Nun, was uns gleichgültig iſt, vergißt man gar leicht, und was man nicht vergißt und nicht vergeſſen kann das iſt uns nicht gleichgültig. Alſo haßt ſie dieſen Mann? Aber der Haß iſt der wilde Bruder der holden Schweſter Liebe! Vielleicht liebt ſie ihn noch! Und woher kam er eben? Von ihr! ohne Zweifel. Bruno führt dieſer Seitenweg noch ſonſt wohin, außer nach Berkow?

267

Nein, und ich finde den Weg wirklich nicht inter¬ eſſant genug, um ihn zweimal an einem Tage zu gehen. Hier iſt ein anderer, der uns aus dem Walde herausführt und dann immer am Rande hin bis bei¬ nahe nach Hauſe; wollen wir den nicht einſchlagen?

Meinethalben, ſagte Oswald, ſogleich wieder in ſeinen böſen Traum zurückfallend. Alſo wirklich von ihr! Doch das iſt ja nicht möglich! Warum nicht mög¬ lich? Ein rollend Rad des Weibes Bruſt hat ge¬ drechſelt; die Lilienhöhen decken, was wankt und wechſelt das kann der Baron ſo gut wie Du in der Fritjofsſage geleſen haben. Er iſt ja auch ein Schriftgelehrter und dabei Baron und reich. Dem Manne kann es ja gar nicht fehlen; aber Melitta ſoll mir Rede ſtehen; ſie ſoll mir ſagen, daß ich Urſache habe, den Mann zu haſſen, wie ich ihn haſſe.

Bruno war, durch die Breite des Weges von ihm getrennt, ſchweigend neben Oswald hergegangen. Er bemerkte wohl deſſen Aufregung; er ſah, wie ſein Ge¬ ſicht ſich immer mehr verdüſterte, wie ſchmerzlich ſeine Lippen zuckten, wie ſeine Hand ſich krampfig ballte; er ſah, daß ſein Freund nicht glücklich war. Mehr bedurfte es bei dem großmüthigen Knaben nicht, um alle ſeine perſönliche Empfindlichkeit, ſeine eignen268 Klagen zu vergeſſen; er kam leiſe an Oswald heran und ſeine Hand ergreifend, ſagte er:

Was fehlt Dir, Oswald? Warum ſprichſt Du nicht? Zürnſt Du mir?

Ich Dir! mehr antwortete der junge Mann nicht; aber der Ton, mit dem er dieſe Worte ſprach, und der Blick, mit dem er ſie begleitete, waren genug, um Bruno von der Grundloſigkeit ſeines Verdachtes zu überzeugen, und die ſo lange zurückgeſtaute Fluth ſeiner Liebe in wildem Ungeſtüm hervorbrechen zu machen. Er umſchlang Oswald und drückte und herzte ihn unter Thränen und Schluchzen.

Bruno, Bruno, was iſt Dir? rief Oswald durch die ſtürmiſche Zärtlichkeit des Knaben erſchreckt.

Ich glaubte, Du liebteſt mich nicht mehr, ſchluchzte Bruno, und ſieh, Oswald, wenn auch Du mich nicht mehr lieben willſt, dann muß ich ſterben.

Das bleiche Todtenbild, das Oswald heute Morgen in ſeinem fieberhaft erregten Zuſtande ſo entſetzlich deutlich geträumt hatte, trat wieder vor ſeine Seele und gab dem leidenſchaftlichen Worte des Knaben eine fürchterliche Bedeutung. Sprachlos vor Rührung zog er den Weinenden an ſein Herz, und wiederholte ſich im Stillen das Gelöbniß, dieſem armen, verlaſſenen Knaben ein Bruder zu ſein.

269

So ſtanden ſie, ſich eng umſchlungen haltend ... Rothe Abendlichter ſpielten in den Wipfeln der Tannen, aus dem Walde tönte der ſanfte klagende Geſang eines Vögleins, ein ſüßer, feierlicher Augenblick ...

Da ſchlugen aus geringer Entfernung wüſte, hä߬ liche Töne an ihr Ohr laute drohende Stimmen von Männern, die in einem heftigen Wortwechſel be¬ griffen ſchienen Schelten, Fluchen dann auf einen Augenblick tiefe Stille und plötzlich der laute Ruf: Herr Gott! Hülfe! iſt denn Niemand da! Hierher!

Oswald und Bruno, die einen Augenblick, athem¬ los gelauſcht hatten, eilten jetzt in vollem Lauf der Stelle zu, von wo der Hülferuf ertönte. Sie kamen auf einen Platz, hart am Rande des Waldes, wo Holz gefällt wurde, und zwiſchen den einzelnen noch ſtehen¬ den Bäumen hier und da Klafter aufgeſchichtet waren. Neben einem halb beladenen, mit vier Pferden beſpann¬ ten Wagen lag ein Mann auf der Erde, mit Händen und Füßen um ſich ſchlagend, ein anderer hatte ſich über ihn gebeugt, ihn mißhandelnd, oder beſchwichtigend man konnte es nicht unterſcheiden. Als die Beiden herankamen, erhob ſich dieſer Letztere es war der Inſpector Wrampe und ſchrie ihnen entgegen:270 Schnell, Herr Doctor, um Gotteswillen! Der Kerl ſtirbt mir unter den Händen.

In der That, das Ausſehen des Mannes auf der Erde war entſetzlich genug. Das Geſicht verzerrt, die Augen verdreht, daß man nur das Weiße ſah, Schaum vor dem Munde, die Fäuſte geballt, der Körper in Krämpfen zuckend kaum, daß Oswald den rieſigen Knecht wieder erkannte, der damals durch ſeine Grau¬ ſamkeit gegen ſeine Pferde den Zorn Bruno's heraus¬ gefordert hatte.

Oswald war an der Seite des Menſchen nieder¬ gekniet, er wiſchte ihm den Schaum vom Munde, er band ihm die ſteife Binde ab, er ſuchte ihm eine beſſere Lage zu verſchaffen.

Haben Sie nichts, ihm unter den Kopf zu legen, rief er dem Inſpector zu, deſſen rohes, bärtiges Ge¬ ſicht die hülfloſe Angſt, die er empfand, unausſprechlich albern machte.

Unter den Kopf? unter den Kopf? hier! und dabei zog er ſeinen Rock aus und ſtopfte ihn als Kiſſen unter den Kopf des Mannes.

Iſt kein Waſſer in der Nähe? rief Oswald weiter.

Waſſer in der Nähe? Nein aber in dem Rock ſteckt eine Flaſche da das mag auch wohl helfen Herr Jeſus.

271

Oswald wuſch mit dem Branntwein die Stirn des Kranken, der allmälig etwas ruhiger wurde.

Wie iſt denn dies gekommen? fragte er.

Ja ich weiß es nicht; rief der Inſpector mit kläglicher Stimme. Ich komme hierher geritten, weil der Kerl mir zu lange im Holz trödelt, um ihm ein bischen den Marſch zu machen. Da ſitzt er bei ſeinem Wagen hier auf dem Baumſtamm und regt ſich nicht. Was haſt Du hier zu ſitzen, ſage ich. Warum ſoll ich hier nicht ſitzen? ſagte er. Biſt Du wieder be¬ ſoffen, Jochen? ſagte ich, denn ich ſah, daß er ganz wäſſ'rige Augen hatte, und ſeine Schnapsflaſche leer neben ihm lag. Selber beſoffen, ſagte er. Du biſt ein ganz infamer Schlingel, ſagte ich. Selber Schlingel, ſagte er. Na, Herr Doctor, ſo was kann man ſich doch nicht gefallen laſſen. So ich runter vom Pferde und meinem Kerl ein paar aufgezählt. Er in der größten Wuth auf mich los mit ein Mal fällt er, wie ein Ochs, auf die Erde und fängt an ach, Herr Jeſus, da geht es wieder los. So was hab 'ich mein Lebtag nicht geſehen.

Der Knecht bekam wieder einen Krampfanfall; Oswald ſelbſt befürchtete das Schlimmſte. Schnell, ſchnell, rief er, das Holz vom Wagen herunter, wir272 müſſen ihn langſam nach Hauſe fahren. Unterdeſſen reitet einer nach dem Arzt.

Ja, ja, ich will nach dem Doctor reiten, rief der Inſpector froh fortzukommen, und ſchon mit einem Fuß im Bügel.

Hier geblieben, herrſchte ihn Oswald an; wie kann ich ohne Sie den Mann fortſchaffen? Schämen Sie ſich nicht, Herr Wrampe, daß Sie ein ſolcher Haſenfuß ſind? Nehmen Sie ſich ein Beiſpiel an Bruno.

Bruno hatte Oswald nach Kräften unterſtützt, jetzt ſtand er auf dem Wagen und warf mit vollen Armen das ſchon aufgeladene Holz herab. Ich will zu dem Doctor reiten, Oswald! rief er herabſpringend.

Es wird wohl das Beſte ſein, Bruno, ſagte dieſer. Du kennſt den Weg und ich kann hier nicht fort. Schnallen Sie ihm die Bügel kürzer, Herr Inſpector.

Gleich, gleich, ſagte dieſer, aber ſchon hatte Bruno es ſelbſt gethan; mit einem Satze, ohne den Bügel zu berühren, ſaß er im Sattel und hatte die Zügel ergriffen. Das feurige Thier, die ungewohnte leichte Laſt fühlend, bäumte ſich.

Es wird Sie abwerfen, Junker! ſagte der In¬ ſpector.

273

Keine Furcht, "rief der Knabe. Ihre Peitſche her! Hop, allez! und damit hieb er das Pferd über den Hals und ſprengte im Galopp davon. Oswald ſah nur noch, wie er, an dem Rande des Waldes an¬ gekommen, über den breiten Graben ſetzte auf den Weg, von dem Weg über den andern Graben auf eine Wieſe, um, über dieſe weggaloppirend, ſchneller die Landſtraße zu gewinnen, die nach Faſchwitz und von dort weiter nach dem Städtchen führte, in welchem der Doctor wohnte.

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I 18
[274]

Zwanzigſtes Kapitel.

Unterdeſſen hatten der Inſpector und Oswald, nicht ohne einige Schwierigkeit denn Herrn Wrampe's Rieſenkraft ſchien durch den Schreck vollkommen para¬ lyſirt zu ſein den Kranken auf den Wagen geladen, nachdem ſie zuvor von dem Heu der nahen Wieſe und einigen Kleidungsſtücken eine Art von Lager darauf bereitet hatten. Oswald ſtieg mit hinauf, um den Kranken, der ſich jetzt in einem ganz lethargiſchen Zu¬ ſtande befand, nöthigenfalls zu ſtützen, und der In¬ ſpector lenkte die Pferde. Glücklicherweiſe dauerte die Fahrt nicht lange, da die Häuslerwohnungen auf der ihnen zugekehrten Seite der Landſtraße von Grenwitz nach Faſchwitz, den Wirthſchaftsgebäuden gegenüber, alſo bedeutend näher, als das Schloß ſelbſt lagen.

Sie wiſſen doch, wo der Mann wohnt? fragte Oswald, als ſie ſich dem Dorfe näherten.

275

Gleich in dem erſten Hauſe, antwortete Herr Wrampe, ſich in dem Sattel umdrehend und mit dem Peitſchenſtiel auf ein Häuschen zeigend, das eher einem großen Hundeſtall als einer kleinen Menſchenwohnung glich.

Iſt er verheirathet?

Geweſen, antwortete Herr Wrampe; er hat das arme Weib hier unterbrach er ſich, einen ſcheuen Blick auf das blaſſe Geſicht des Mannes wer¬ fend, als wolle er ſagen, von Todten und Todtkranken darf man nur das Beſte ſprechen.

Hat er Kinder?

Zwei, da ſind ſie vor der Thür mit Mutter Clauſen. Mutter Clauſen, he! der Jochen hat das böſe Weſen gehabt, bringen Sie doch die Kinder in's Haus, daß ſie ſich nicht erſchrecken. So rief der In¬ ſpector, den das Gefühl ſeines Unrechts außerordent¬ lich zartfühlend gemacht hatte, einer alten Frau zu, die im letzten Abendſonnenſchein vor der Thür der Hütte ſaß, während zwei kleine Kinder zu ihren Füßen im Sande ſpielten.

Als die alte Frau aufblickte, erkannte Oswald die¬ ſelbe Alte, mit welcher er auf dem Wege zur Kirche geſtern Morgen auf dem Moor die ſonderbare Unter¬ redung über Unſterblichkeit gehabt hatte. Die Alte18 *276warf einen Blick nach dem herankommenden Fuhrwerk, ergriff die Kinder, führte ſie in's Haus und kam wieder heraus, als der Wagen eben vor der Thür ſtill hielt.

Iſt er todt? fragte ſie, an den Wagen tretend.

Nein, Mütterchen! ſagte Oswald.

Ah, ſieh, der junge Herr von geſtern! Na, das gefällt mir von Ihnen, daß Sie Mitleid haben mit den armen Menſchen. Tragt ihn nur hier herein, ich habe die Kinder in meine Kammer gebracht.

Der Inſpector und Oswald hoben den Mann, der vollkommen regungslos war, vom Wagen, trugen ihn, nicht ohne ſich zu bücken, durch die Hausthür über den kleinen Flur in die niedrige Stube, und legten ihn dort auf ein breites, mit blauem Kattun überzogenes Bett. Die Alte folgte, hieß den Inſpector, ihr den Mann entkleiden helfen und ſagte ihm dann:

So, Sie können nun gehen; der Herr Stein und ich wollen ſchon mit dem Jochen fertig werden.

Der Inſpector ließ ſich dieſe Erlaubniß nicht zwei¬ mal ſagen; mit einigen unverſtändlichen Worten drückte er ſich aus der Stube, und Oswald ſah nur durch das Fenſter, wie er draußen, ehe er das Sattelpferd beſtieg, einen langen, langen Schluck aus ſeiner Flaſche that, als ob er nach ſolcher geiſtigen und körperlichen Anſtrengung einer Erquickung ganz beſonders bedürfe.

277

Oswald hatte ſich am niedrigen, offenen Fenſter auf einen Schemel geſetzt, und ſchaute ſich in dem Zimmerchen um. Man erkannte auf den erſten Blick, daß hier in dieſem Häuschen ein guter Geiſt waltete, der aber ſicherlich nicht in dem rohen Trunkenbolde dort auf dem Bett ſeine Wohnung aufgeſchlagen hatte. Das Bett war friſch überzogen, die Zimmerdecke, die Wände waren ſorgfältig gereinigt, der Fußboden mit Sand beſtreut. Die Luft im Zimmer war friſch, die kleinen Fenſterſcheiben ſo klar, wie es ihre grünliche Farbe und das Alter eben zuließen. Mutter Clauſen hatte am Bett geſeſſen, und wie Oswald aus einigen wunderlichen Manipulationen ſchloß, irgend eine mag¬ netiſche Kur mit dem Kranken vorgenommen, der jetzt in einen erquickenderen Schlaf zu fallen ſchien. Sie ſtand auf und ſagte: Ich will die Kinder zu Bett bringen, Sie bleiben doch ſo lange hier?

Auf Oswalds bejahende Antwort trippelte ſie da¬ von, kam nach einer Viertelſtunde wieder und ſetzte ſich zu dem jungen Mann an das Fenſter. Sie hatte ein Strickzeug in der Hand und ſtrickte mit einer für ihr Alter unbegreiflichen Schnelligkeit an einem Kinder¬ ſtrümpfchen. So ſaß ſie da, bald nach dem Kranken horchend, bald die Maſchen an ihrem Strumpfe zäh¬278 lend, bald Oswald aus ihren grauen, tiefliegenden Augen forſchend und freundlich anſehend.

Ich weiß nicht, was das iſt, ſagte ſie plötzlich, als ein rother Streifen der untergehenden Sonne durch das Fenſter auf Oswald's Geſicht fiel, ich muß Sie ſchon mal geſehen haben.

Nun ja, ſagte Oswald, geſtern Morgen auf der Haide.

Nein, nein nicht geſtern, vor einigen Jahren, ſo vor vierzig fünfzig etwa und darüber.

Wie alt ſind Sie denn, Mütterchen? fragte Os¬ wald, verwundert fünfzig Jahre und darüber als einige Jahre bezeichnen zu hören.

Nächſtes Chriſtfeſt werde ich zwei und achtig Jahr, antwortete die Alte, wieder emſig ſtrickend, als erin¬ nere ſie dieſe Frage, daß ſie keine Zeit mehr zu ver¬ lieren habe.

Zwei und achtzig Jahre! rief Oswald erſtaunt; und haben Sie während der Zeit hier ſtets im Dorfe gelebt?

Ja, immer hier; hier und auf dem Schloſſe. Dort bin ich geboren, am heiligen Chriſtabend im Jahre Eintauſend Siebenhundert Vierundſechzig, an demſelben Tage und zur ſelbigen Stunde, wie der Vater von dem verſtorbenen Baron

279

Wie lange iſt der nun todt?

Nun, es iſt jetzt ſo ein vierzig Jahr her, er wäre jetzt ebenſo alt wie ich, zweiundachtzig Jahr, hm, hm, zweiundachtzig Jahr wie der wohl ausſähe, auch ſo verſchrumpft? und war ein ſchmucker Burſch ei, das war ein ſchmucker Burſch!

Die Erinnerung an den drittletzten, längſt verſtor¬ benen Baron von Grenwitz, ſchien der Alten eine be¬ ſonders merkwürdige zu ſein; ſie ließ die magern, braunen Hände mit dem Strickzeug in den Schooß ſinken, und ſtarrte gedankenvoll vor ſich hin. Ein ſchmucker Burſch, murmelte ſie noch einmal, und die verſchrumpften Züge erhellte ein freundliches Lächeln; dann traten zwei große Thränen aus den geſenkten Wimpern und rollten langſam über die runzligen braunen Wangen auf die runzligen braunen Hände ... Was mochte ſie in dieſem Augenblicke erſchauen, die alte Frau? Sah ſie ſich wieder, wie ſie vor fünfund¬ ſechzig Jahren war, ein ſchlankes bildhübſches Ding mit großen grauen, blitzenden Augen und prächtigen reichen, dunkelblondem Haar, ſo wie ſie damals war, als ſie ſich des Nachts heruntergeſtohlen hatte, in den Schloßgarten, um dem Junker ein Stelldichein zu geben, dem wilden Junker, mit dem ſie zuſammen auf¬ gewachſen war, wie eine Schweſter, und den ſie wie280 einen Bruder liebte und wie ihren Herzallerliebſten, der ihr ſchwur, er wollte ſie zur gnädigen Frau machen, ſo bald er einmal der Herr ſei in Grenwitz. Damals war ſie jung geweſen und er war jung geweſen; und die Sonne hatte in jener alten Zeit ſo warm und mild geſchienen in ihr junges, morgenfriſches Herz, und die Lerchen hatten ſo lieblich ihr Triliri geſungen und der Mondſchein war auf ſo leiſen Füßen im Park herumgeſchlichen, daß er nicht einmal die Nachtigall ſtörte, die in dem Gebüſche ſo klagte und ſchluchzte, als ob ihr das kleine volle Herz brechen wolle vor Liebesſehnſucht und Liebespein denn ach! der Junker war dann fortgereiſt, weit, weit fort übers Meer, von ſeinen Eltern nach Schweden geſchickt zu ſeinen Verwandten, damit die dumme Geſchichte mit der Lieſe ein Ende nehme; und er ſandte ihr kein Wort, keinen Gruß ein, zwei, drei Jahre lang, und als er wieder kam von Schweden da, heiliger Gott! war er nicht allein eine ſchöne junge Frau ſaß bei ihm im Wagen, und die alten Herrſchaften waren glücklich, und die Dienerſchaft ſchrie Hurrah und ſie tanzten und jubelten. Aber in dem dichteſten Gebüſch des Schloßgartens hatte ſich ein Mädchen verſteckt, die hübſcheſte von allen Dirnen weit und breit, und die ſchluchzte leiſe, leiſe vor ſich hin, wie Thräne auf281 Thräne über ihre Wangen rollte, und von den vielen Thränen waren ihr die ſchönen Augen tief in den Kopf geſunken, und die blonden Haare waren grau geworden, und da ſaß ſie nun eine alte, ſteinalte Frau und noch immer floſſen ihr die Thränen über die runz¬ ligen braunen Wangen auf die runzligen braunen Hände.

Ein ſchmucker Burſch, ſagte ſie, wie ich mein Lebtage keinen wieder ſo ſchmuck geſehen habe, bis geſtern Morgen, als Sie plötzlich auf der Haide vor mir ſtanden. Da kamen Sie mir gleich ſo bekannt vor, und nun weiß ich auch, warum. Mit Verlaub, Junker, wie alt ſind Sie jetzt?

Dreiundzwanzig Jahr.

Dreiundzwanzig Jahre, ja, ja, ich wußte es wohl, dreiundzwanzig Jahre Du biſt jung geblieben und biſt noch immer ſo gut und ſchön.

Wieder ſah ſie Oswald an, aber nicht mit dem ſpürenden, ſuchenden Blick, wie vorher, ſondern klar und freudig, wie eine Ahne blickt, die einen Enkel an ihrem Lehnſtuhl ſpielen ſieht. Auf einmal ſtand ſie auf, trat an Oswald heran, und ihm die welken, zitternden Hände auf's Haupt legend, ſagte ſie langſam und feierlich mit einer Stimme, die nicht ihr zu gehören, die aus einer andern Welt herüberzuſchallen ſchien: Der Herr ſegne und behüte Dich, Oskar! Dann282 ſetzte ſie ſich wieder auf ihren niedrigen Schemel und ſtrickte wieder emſig, emſig, daß die Nadeln klapperten und dazu nickte ſie mit dem grauen Haupte, und lächelte ſelig vor ſich hin, als erzählte ihr eine Stimme, die nur ſie allein hörte, ein altes längſt verſchollenes, wunderherrliches Mährchen von Jugend und Liebe und Nachtigallengeſang.

[283]

Einundzwanzigſtes Kapitel.

In dem niedrigen Zimmer begann es zu dunkeln; die Nadeln der Alten klapperten immer haſtiger, die Schwarzwälder Uhr in der Ecke pickte lauter und lauter in der tiefen Stille, und Oswald ſaß noch immer am offenen Fenſter, den Kopf in die Hand ge¬ ſtützt, wie im Traum.

Das Geräuſch eines Wagens, der die Dorfſtraße hergefahren kam, erweckte ihn. Ein mit zwei Pferden beſpannter leichter Holſteinerwagen hielt vor der Hütte ſtill, ein Mann ſtieg raſch hinab und trat alsbald in die Stube.

Guten Abend, ſagte eine klare, etwas ſcharfe Stimme. Herr Doctor Stein? freue mich, Ihre Bekanntſchaft zu machen. Mein Name iſt Braun. Bruno hat mir ſchon erzählt, daß ich hier einen barm¬ herzigen Samariter finden würde wo iſt denn unſer284 Patient ach! dort im Bett wie wär's liebe Alte, wenn Sie uns etwas Licht verſchafften, unterdeſſen iſt Herr Doctor Stein ſo gut, und erzählt mir, was er von dem Falle weiß, nicht wahr?

Oswald gab, ſo gut er es vermochte, eine Schil¬ derung deſſen, was er geſehen hatte.

Ich dachte es mir ſchon, ſagte Doctor Braun; es iſt ein Anfall von Epilepſie. Hat Ihr Sohn ſonſt ſchon an dieſen Zufällen gelitten? fragte er die Alte, die jetzt, ein dünnes Talglicht mit der Hand ſchützend, ſo daß nur ein ſchwacher Schimmer deſſelben auf ihr runzliges Geſicht fiel, wieder in das Stübchen trat.

Es iſt nicht mein Sohn, auch war ſeine Frau nicht meine Tochter, ſagte Mutter Clauſen, das Licht auf einen Schemel vor das Bett ſetzend; aber ſeine Kinder ſind meine lieben Enkelchen.

Der Doctor warf einen forſchenden Blick in das Antlitz der alten Frau und dann ſchweifte ſein Auge fragend zu Oswald hinüber aber er hielt die Be¬ merkung, die er auf den Lippen hatte, zurück, nahm das Licht und leuchtete in das Geſicht des Kranken.

Oswald nahm es ihm aus der Hand; erlauben Sie, daß ich Ihnen leuchte.

Danke, ſagte der Doctor, den Kranken unter¬ ſuchend.

285

Während deſſen betrachtete Oswald ſich den An¬ kömmling genauer. Es war ein Mann, zwiſchen fünf¬ undzwanzig und dreißig Jahren, ſchlank und etwas dürr, in einen einfachen, bequemen, aber eleganten Sommeranzug gekleidet. Der Kopf war außeror¬ dentlich wohlgeformt, und mit ſehr dunklem Haar be¬ deckt, das zu dicht zu ſein ſchien, um ſich locken zu können und jetzt in einer eigenthümlichen, nicht un¬ ſchönen Weiſe wie ein niedriges Barret um die feſte, über die Augen etwas vorſpringende Stirn ſtand. Die Naſe war in keine beſtimmte Kategorie zu bringen, aber fein und ausdrucksvoll, ebenſo wie der Mund, deſſen Lippen, wie man es bei antiken Köpfen, beſon¬ ders Hermesköpfen findet, ſcharf und zart zugleich ge¬ formt waren, als ob ſie ſich zu einem hübſchen, geiſt¬ reichen Wort vollends öffnen wollten. Kinn und Wangen umzog ein dichter glänzender Bart, der mit dem Haupt¬ haar harmonirte, und den männlich-ſchönen Ausdruck des Geſichts vollendete. Auch bemerkte Oswald, wäh¬ rend der Doctor die Augenlider des Kranken hob, daß ſeine Hände von einer faſt frauenhaften Zartheit und Schönheit waren.

Es iſt, wie ich dachte, ſagte Doctor Braun, ſich emporrichtend, ein epileptiſcher Anfall. Ich kann nichts verſchreiben, da die Natur ſich hier ſelber hilft. 286Für den Augenblick iſt nur Ruhe nöthig. Morgen wird der Mann noch etwas ſchwach, ſonſt aber wieder ganz geſund ſein.

So ſind dergleichen Zufälle nicht gefährlich? fragte Oswald.

Sie können letal werden, antwortete der Doctor, zumal wenn, wie ich ſtark vermuthe, der Kranke ein Potator iſt. An eine radicale Heilung iſt nicht zu denken, wenigſtens nicht unter dieſen Verhältniſſen, da die Kur eine ſehr langwierige iſt.

Ich hatte mich ſchon darauf gefaßt gemacht, einen Theil der Nacht hier bleiben zu müſſen, ſagte Os¬ wald, das iſt denn alſo wohl nicht nöthig?

Gott bewahre. Ruhe, wie geſagt, iſt das einzige Erforderniß. Der Mann iſt Witwer? ſagte er, ſich in der Stube umſehend.

Die Anne iſt todt, ſagte Mutter Clauſen. Aber ich will ſchon wachen über den Jochen. Alte Leute, wie ich, brauchen nicht viel Schlaf; wir werden bald Zeit vollauf dazu haben. Gehen Sie nur ruhig nach Hauſe, Junker. Du biſt brav, das hab 'ich ja immer geſagt. Adjies, Herr Doctor, ſchönen Dank für den Jochen, da er ſich ſelbſt nicht bedanken kann, und ſich vielleicht auch nicht einmal bedankte, ſelbſt wenn er könnte. Adjies Junker.

287

Damit leuchtete ſie den Beiden zur Thür und zum Hauſe hinaus.

Wollen Sie mich nicht noch eine Strecke begleiten? ſagte der Doctor, als ſie vor der Thür ſtanden. Ich fahre von hier über Berkow, wo ich noch im Dorfe einen Beſuch machen muß, nach Hauſe, und Sie kön¬ nen ja abſteigen, wo Sie wollen. Der Abend iſt wahrhaft ambroſiſch, und in Grenwitz kommen Sie zum Abendbrod doch ſchon zu ſpät, wie ich Ihnen aus beſter Quelle berichten kann, da ich ſelber dort zu Abend gegeſſen habe.

Sie dort zu Abend gegeſſen? ſagte Oswald, ſich zu dem Doctor in den Wagen ſetzend; hat Sie denn Bruno nicht von B. geholt?

Der arme Junge hat den Weg vergeblich gemacht: denn während er ventre à terre dorthin jagte, ſaß ich ſchon ruhig in Grenwitz.

Und was führte Sie denn nach Grenwitz? wenn man fragen darf.

Der Doctor lachte. O tempora, o mores da ſieht man es! Der Mentor beſchützt und hütet anderer Leute Kinder, und weiß nicht, daß ſein lieber Telemach todtkrank zu Hauſe liegt.

Sie belieben zu ſcherzen.

Allerdings ſcherze ich; Malte iſt ſo geſund, wie288 ein Junge, der morgen die Schule ſchwänzen will, nur ſein kann. Aber da der Baron und die Baronin in der Erſchöpfung, welche bei einem ſolchen Zucker¬ püppchen nach einer längeren Promenade ſehr natürlich iſt, die Anzeichen eines heraufziehenden Typhus zu er¬ kennen glaubten, und keine Stimme im hohen Rathe ſich dagegen erhob, ſo mußte denn natürlich ſchleunigſt zu dem Unglücklichen geſchickt werden, der das wenig beneidenswerthe Vorrecht hat, allen Unſinn, der den Leuten durch den Kopf geht, ausbaden zu müſſen. Ich meine, zum Arzt. Und während ich nun nach dem Abendbrod welches, wie Sie wiſſen, oder wie die Baronin ſagt, wenigſtens wiſſen müßten in Gren¬ witz ſtets pünklich um acht Uhr ſervirt wird, eben in den Wagen ſteigen wollte, kommt der Prachtjunge, der Bruno, wie der Georg in Götz von Berlichingen in voller Carrière auf den Schloßhof geſprengt. Sie hätten das Entſetzen des Barons und der Baro¬ nin ſehen ſollen! Die guten Leute hätten nicht mehr erſchrecken können, wenn der Raugraf aus der Bürger¬ ſchen Ballade mit Holla und Huſſaſa über den Hof geritten wäre und verkündete in athemloſer Haſt, der Jochen läge auf den Tod und Doctor Stein wäre bei ihm, und er bäte mich, doch ſo ſchnell wie möglich zu kommen. Aber Apropos, wie iſt das? Die289 Alte nannte Sie Junker, ich vermuthe daraus, daß ich in Zukunft Herr von Stein werde ſagen müſſen.

Weshalb nicht gar Freiherr! lachte Oswald, dem die Weiſe ſeines neuen Bekannten ſehr gefiel. Nein, ich bin eben ſo wenig adlig, als Mutter Clauſen, die, ich weiß nicht weshalb? möglicherweiſe durch Re¬ miniscenzen ihrer Jugend verleitet, mich durchaus zu ihrem Junker haben will, eine Königin iſt.

Das iſt eine ſonderbare alte Frau, ſagte der Doctor. Sehen Sie, wie ſchön der Mond ſich dort über dem Waldrand erhebt, und wie duftig der Nebel über den Wieſen liegt! eine ſonderbare Frau. Ich erinnere mich jetzt, daß ſie mir auch ſonſt ſchon auf¬ gefallen iſt, ſie ſieht aus wie nun, wie nur gleich?

Wie eine alte, alte Frau aus irgend einem Grimm’¬ ſchen Märchen, die ſich gelegentlich in die allerſchönſte Prinzeß von der Welt verwandelt.

Ja, ganz recht ſie hat ein wunderbares Feuer in ihren alten Augen. Es iſt einem, als ob das alte Geſicht nur eine Maske für eine noch immer jugend¬ liche Pſyche ſei.

So iſt es auch, ſagte Oswald, und er erzählte dem Doctor die ſonderbare Unterhaltung, die er mit Mutter Clauſen geſtern Morgen auf der Haide ge¬ habt, und wie ihm die Rede der alten Frau ſo natür¬F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 19290lich und wahr erſchienen ſei, wie der Geſang der Haide¬ lerche, und welchen widerwärtigen Eindruck hernach die Predigt des eitlen Paſtors auf ihn gemacht habe.

Ja, ja, ſagte der Doctor, Göthe's Wort bleibt ewig wahr: Es ärgert die Menſchen, daß die Wahr¬ heit ſo einfach iſt. Um den Leuten weiß zu machen, es ſei ein, Wunder wie, großes Wunder, behängen ſie dieſelbe mit allerlei bunten Fetzen und Lappen, und führen ſie dann in Prozeſſion umher. Solche Men¬ ſchen aber, wie unſere Alte da, leſen nur ein Capitel in dem großen Buche des Alls, aber ſie leſen es wieder und immer wieder, ſechszig, ſiebzig Jahre lang, bis ſie es auswendig wiſſen. Und da das Ganze ja doch aus einem Geiſte geſchrieben iſt, ſo kommen ſie ſchließlich weiter, wie die große Heerde der Halb -, Viertel und Achtel-Gebildeten, die in unruhiger Haſt das Buch von vorn bis hinten und wieder zurück durchblättern, überall etwas heraus ſchnüffeln und am Ende denn doch ſo klug oder ſo dumm bleiben, wie ſie im Anfang waren.

Ja wohl, ſagte Oswald, ein lebendiger Beweis für die Richtigkeit Ihrer Bemerkung iſt zum Beiſpiel die Baronin von Grenwitz. Was hat dieſe Frau nicht alles geleſen: deutſch, franzöſiſch, engliſch, ſchwediſch; Heiliges und Profanes, die beſten und die dümmſten291 Bücher. Einmal treffe ich ſie über Rouſſeau's Con¬ feſſions, das andere Mal über einem Romane von Van der Velde; heute lieſt ſie Schleiermacher's Reden über Religion und morgen die letzte Schauergeſchichte von Dumas oder Eugen Sue ſie urtheilt in ein¬ zelnen Dingen vollkommen richtig; aber ſo wie die Rede auf die summa arcana, die höchſten Geheim¬ niſſe des menſchlichen Denkens kommt, oder ſo wie ſie auch nur die Menge einzelner richtiger Beobachtungen in einem allgemeinen Satze formuliren ſoll, beginnt ſie zu faſeln und bringt ſo alberne, abgedroſchene, ari¬ ſtokratiſche Gemeinplätze zu Tage, daß einem Hören und Sehen vergeht.

Dieſe Dispoſition der gnädigen Frau kann, deucht mir, gerade nicht zur Erhöhung der Annehmlichkeit Ihrer Stellung in Grenwitz beitragen, bemerkte der Doctor.

Allerdings, ſagte Oswald leichthin; ich ſuche in¬ deſſen dieſen Zuſatz von Wermuth dadurch abzuſchwächen, daß ich den philoſophiſchen Expectorationen der Dame ſo viel wie möglich ausweiche, und mich überhaupt in meinem Verhältniſſe zu der übrigen Familie auf das Nothwendige beſchränke.

Sollten Sie die Grenzen, die Sie ſich dabei im Intereſſe Ihrer Zeit und Ihrer guten Laune ziehen19*292zu müſſen glaubten, nicht etwas zu eng geſteckt haben? ſagte der Doctor, die Aſche ſeiner Cigarre an der Lehne des Wagens abklopfend.

Wie das? fragte Oswald nicht ohne einige Ver¬ wunderung.

Sie verzeihen meine Indiscretion, ſagte der An¬ dere, ſich noch etwas mehr zu Oswald herüber wen¬ dend, und ihn mit ſeinen hellen, klugen Augen voll anſehend. Sie wiſſen, daß wir Aerzte, wir mögen wollen oder nicht, zu der leidigen Rolle des Vertrau¬ ten in allen Familien, wo wir ein - und ausgehen ver¬ dammt werden. Auf einem oder dem andern Punkte hängt ſchließlich alles mit der phyſiſchen Natur, die wir zu controliren haben, zuſammen, und ſo kommt denn nach und nach auch alles vor unſer Forum, ſelbſt ſolche Dinge, die vor jedes andere eher zu gehören ſcheinen, als vor das ärztliche. Und wenn die Sache ſchließlich in gar keinem Zuammenhange mit der Diä¬ tetik des Leibes und der Seele ſteht, ſo denken die Leute: haſt du ihm ſo viel geſagt, kannſt du ihm das auch noch ſagen. So konnte denn auch heute die Ba¬ ronin die Bemerkung nicht unterdrücken, daß Sie (ich bin hier weder darauf aus, Ihnen Schmeichelhaftes noch Unangenehmes zu ſagen, ſondern einen Wink zu geben, den Sie beachten oder unbeachtet laſſen mögen,293 wie es Ihnen gut erſcheint), daß alſo Sie, der Sie die Gabe angenehmer Unterhaltung (ich brauche hier die Worte der Baronin) in einem ſo hohen Grade beſäßen, und ſich in den Formen des Umganges mit ſolcher Leichtigkeit bewegten, es verſchmähten, von dieſen Gaben den rechten Gebrauch zu machen, was um ſo mehr zu bedauern wäre, als durch dieſe Zurückhaltung (ich ſpreche immer noch in den Worten der Baronin) Malte, der nun einmal ein häuslicher Knabe ſei und ſich im Schooße der Familie am wohlſten fühle, um einen Theil der Vortheile käme, die er aus Ihrer Geſellſchaft, und aus dem intimen Verhältniſſe mit Ihnen ziehen könnte und ziehen würde.

Es iſt doch ſonderbar, ſagte Oswald nach einer kleinen Pauſe, welch 'Noli-me-tangere-Naturen wir Adamskinder ſind. Das, was Sie mir da ſagen, habe ich mir ſelbſt ſchon mehr als einmal geſagt; habe mir geſagt, daß, nachdem ich mich einmal dazu verſtanden habe, dem Wohle einer Familie meine Zeit und meine Kraft zu verkaufen, ich mich auch wohl zu andern Con¬ ceſſionen würde verſtehen müſſen und jetzt, da ich daſſelbe von Ihnen höre, berührt es mich doch unan¬ genehm ... Aber ſein Sie verſichert, daß ich wahr¬ lich nicht Ihnen, daß ich einzig und allein mir zürne, und zwar deshalb zürne, weil mich ein in ſo freund¬294 licher Abſicht ertheilter Wink auch nur einen Augen¬ blick ſtutzig machen konnte. "

Ich war gewiß, ſagte der Doctor, daß ich es mit einem Manne zu thun hatte, der die Spreu vom Weizen zu ſondern weiß; wäre ich das nicht geweſen, ſeien Sie überzeugt, ich hätte geſchwiegen.

Wiederum trat ein Pauſe in dem Geſpräch der jungen Männer ein; der Doctor bereute vielleicht im Stillen, daß ihm ſeine Gutmüthigkeit, wie ſchon ſo oft, das undankbare Geſchäft des ungebetenen Rathgebers aufgenöthigt hatte; Oswald verfolgte den in ihm an¬ geregten Gedanken und ſchien ganz vergeſſen zu haben, daß die hohen Stämme der Tannen ſehr ſchnell an ihm vorüberglitten und die raſchen Pferde des Doctors den Weg zwiſchen Grenwitz und Berkow faſt ſchon zurückgelegt hatten. Er fuhr erſchrocken in der Höhe, als er rechts vom Wege durch die Zweige ein Licht ſchimmern ſah. Er wußte, es kam aus dem Fenſter der Förſterwohnung von Berkow. Auf der entgegen¬ geſetzten Seite führte ein ſchmaler Pfad zu der Lich¬ tung im Walde, auf der Melitta's Eremitage ſtand. An derſelben Stelle des Weges, an der ſie eben jetzt anlangten, hatte ihn geſtern der Wagen des Barons erwartet.

Bitte, laſſen Sie hier halten, ſagte er haſtig295 zum Doctor. Ich ſehe zu meinem Schrecken, daß wir ſchon beinahe bis Berkow gekommen ſind. Es iſt die höchſte Zeit, daß ich zurückkehre.

Der Wagen hielt; Oswald ſtieg herab.

Ich hoffe, ſagte er, dem Doctor die Hand reichend, daß dies nicht die einzige und nicht die längſte Strecke geweſen iſt, die wir auf unſerem Lebenswege zuſammen fahren oder gehen werden.

Ich hoffe und wünſche daſſelbe, antwortete der Andere, es ſcheint mir, als ob wir in unſerem Denken und Fühlen manches Gemeinſame haben, und einer wahlverwandten Natur zu begegnen, iſt ein viel zu koſtbares Glück, als daß man es leichtſinnig verſcherzen dürfte. Jedenfalls komme ich bald wieder in dieſe Gegend. Leben Sie wohl indeſſen.

Der Wagen rollte davon, bald verhallte der Huf¬ ſchlag in der Ferne; das Licht in der Förſterwohnung erloſch, Oswald war allein mit der Nacht und dem Schweigen.

Und alsbald trat das Bild Melitta's vor ſeine Seele und glitt vor ihm her den ſchmalen Waldpfad entlang, auf dem er jetzt ſo heimlich und leiſe, wie ein Wilddieb, hinſchritt. Da trat er hinaus auf die Lich¬ tung, und blieb erſchrocken, wie wenn ein Blitz an ſeiner Seite eingeſchlagen hätte, ſtehen aus dem296 Fenſter der Eremitage ſchimmerte Licht! Melitta, die er auf dem Schloſſe glaubte, war hier, hier funf¬ zig Schritte von ihm entfernt er brauchte nur über den Wieſenteppich zu gehen und die paar Stufen der Treppe zu erſteigen die Thür zu öffnen. Os¬ wald lehnte an den Stamm der Buche, ſein wild ſchlagendes Herz ein wenig zu beruhigen. Und wenn ihn hier jemand ſähe, wenn er Melitta's Ruf leicht¬ ſinnig auf's Spiel ſetzte! ... Athemlos horchte er in die Nacht hinein ... Nichts vernahm er, als die wunderlichen, geheimnißvollen Stimmen, die man am Tage niemals hört, und die mit der Nacht geboren werden: ein Raunen und Flüſtern oben in den Zweigen, ein Raſcheln und Kniſtern in dem trockenen Laub am Boden das dumpfe Gebell eines Hundes drüben aus dem Dorfe ... Ein Nachtaar kam auf ſeinem wirren Fluge bis dicht an ſein Geſicht geflattert und ſchoß dann wieder davon. Sonſt rings umher tiefe Stille ... Da ſchlug ein dumpfer, drohender Laut an ſein Ohr. Er kam aus der breiten Bruſt von Melitta's Dogge, die vor dem Eingange der Eremi¬ tage Wache hielt. Der treue Wächter mußte die Nähe eines Fremden geſpürt haben, denn er erhob ſich, ſprang die Treppe hinab und umkreiste das Haus, wie ein Schäferhund ſeine Hürde.

297

Boncoeur, rief Oswald leiſe, als das Thier in ſeine Nähe kam, ici!

Das kluge Thier ſtutzte bei dem wohlbekannten Ruf, den es ſo oft aus ſeiner Herrin Munde vernommen, und kam, Oswald erkennend, in raſchen Sprüngen auf ihn zu, und legte ihm als Willkommen die mächtigen Tatzen auf Bruſt und Schulter.

So, ſagte Oswald, das ſchöne Thier ſtreichelnd; ſo, Boncoeur, Du erlaubſt alſo daß ich zu Deiner Herrin gehe? Komm!

Den Hund an den zottigen, langen Haaren feſt¬ haltend, ſchritt Oswald über die Wieſe. Auf der Treppe übertönten die Tatzen Boncoeurs den leichten Schritt Oswalds; ſo ſchlich er ſich auf der Gallerie, die ſich um das Häuschen zog, hin, bis er an das Fenſter kam. Das Fenſter ſtand auf, durch den vene¬ tianiſchen Epheu hindurch, mit dem es dicht berankt war, ſah Oswald hinein in das Zimmer. Auf dem Tiſch brannte eine Lampe, deren Glocke mit einem rothen Schleier bedeckt war, ſo daß der Venus heili¬ ges Bild in dem warmen Licht wie lebend erſchien. Zu den Füßen des Bildes ſaß Melitta, Oswald halb das Geſicht zukehrend, an dem Tiſche. Sie hatte ein Buch vor ſich aufgeſchlagen, aber offenbar las ſie nicht; die feine Hand, auf die ſie den Kopf ſtützte, in298 dem dunklen, reichen Haar begraben, ſchien ſie in tiefe Träumereien verſunken. Ein unausſprechlich rührender Ausdruck, halb von thränenreicher Schwermuth, und halb von unausſprechlicher Seligkeit lag auf ihren reinen, kindlich weichen Zügen. Oswald vermochte es kaum über ſich, das einzig ſchöne Bild, daß ſich ihm in dem Rahmen des kleinen Fenſters zeigte, zu zer¬ ſtören. Endlich nannte er leiſe ihren Namen.

Melitta hob den Kopf in die Höhe und die großen Augen auf das Fenſter heftend, lauſchte ſie einen Mo¬ ment. Aber dann lächelte ſie wehmüthig, als wollte ſie ſagen: es war nur ein Traum, und ſtützte das Haupt wieder in die Hand.

Melitta, ich bin's.

Diesmal hatte ſie es nicht geträumt. Mit einem Freudenſchrei fuhr ſie empor, nach der Thür, Oswald entgegen ſie ſchlang ihren Arm um ſeinen Hals, preßte ihre glühenden Lippen wieder und wieder auf ſeinen Mund, ſie legte ihren Kopf an ſeine Bruſt ſie ſchaute durch Thränen lächelnd zu ihm auf: Sieh Oswald, ich dachte nur eben an Dich! ich dachte: wenn er Dich liebt, ſo wird, ſo muß er heute kommen, und kommt er nicht, liebt er Dich nicht. Oswald, nicht wahr, Du liebſt mich? nicht, wie ich Dich liebe, aber doch ein wenig, nicht wahr, mein Oswald?

299

Sprachlos vor Rührung und Seligkeit umſchlang Oswald das geliebte Weib.

Melitta, Du biſt ſo grenzenlos gut und ſchön, daß wer Dich liebt, Dich grenzenlos lieben muß!

Vor der Thür der Eremitage, auf einer Stroh¬ decke, den rieſigen Kopf zwiſchen den Vordertatzen liegt Boncoeur. Die ſchnelle Bewegung ſeiner Ohren, ſo¬ bald ein Geräuſch aus dem Walde herübertönt, zeigt, daß er gute Wache hält. Er würde den Erſten, der es wagte, in dies Heiligthum der Liebe zu dringen, zerreißen.

Ende des erſten Bandes.

About this transcription

TextProblematische Naturen
Author Friedrich Spielhagen
Extent312 images; 53552 tokens; 9759 types; 363288 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationProblematische Naturen Erster Band Friedrich Spielhagen. . 299 S. JankeBerlin1861.

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; ocr

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