PRIMS Full-text transcription (HTML)
Problematiſche Naturen.
Problematiſche Naturen.
Roman
Vierter Band.
Berlin. Verlag von Otto Janke. 1861.
[1]

Erſtes Kapitel.

Baron Felix war angekommen mitten in der Nacht. Er war bei guter Zeit von dem Fährdorfe in ſeinem eignen Wagen aufgebrochen, als es dem Kammerdiener ſchwer aufs Herz fiel, der Toilette¬ kaſten ſeines Herrn möchte ſich nicht bei dem übrigen Gepäck befinden, da er denſelben unter die Bank des Bootes zwiſchen ſeine Füße geſtellt, und wahrſchein¬ lich ſtehen gelaſſen hatte. Schüchterne Hindeutung Jean's auf die Möglichkeit dieſes Falls großer Zorn von Seiten des Baron Felix und Androhung von Ohrfeigen, Stockprügeln und Entlaſſung auf offener Heerſtraße angeſtellte Nachforſchung ſchlie߬ lich, da ſich das corpus delicti wirklich nicht fand, Umkehr. Leider war unterdeſſen das Fährboot mit dem hochwichtigen Kaſten unter der Bank bereits ab¬ geſegelt. Bis es wieder an der Landungsbrücke an¬ legte, vergingen mehre Stunden, denn es war unter¬F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 12deſſen eine gänzliche Windſtille eingetreten und die Leute hatten ſich mit den ſchweren Rudern zur Verzweiflung des Baron Felix, der ſie vom Strande aus durch ein Taſchenteleskop beobachtete Zoll um Zoll hinüber arbeiten müſſen. So war der Abend bereits tief hereingeſunken, als der Baron zum zweiten Male diesmal mit dem Kaſten von dem Fährdorfe aufbrach. Er war in einer fürchter¬ lichen Laune. Er hatte verſprochen, heute noch auf Grenwitz einzutreffen, da er den Augenblick, ſeine ſchöne Couſine zu ſehen, nicht erwarten könne. Eine Verzögerung ſeiner Ankunft konnte ihm leicht übel ausgelegt werden. Beſſer alſo, in tiefer Nacht, als gar nicht kommen. Auf der andern Seite aber war eine nächtliche Fahrt durch Wald und feuchtes Moor noch dazu in einem offnen Wagen keineswegs nach dem Geſchmacke des jungen Ex-Lieutenants, der jedenfalls in Folge der ungeheuren Strapazen auf dem Exercierplatze und bei den Paraden ſehr an Rheumatismus litt und eine Erkältung wie die Peſt fürchtete. Er wählte alſo von den zwei Uebeln, ſich dem Verdacht der Gleichgültigkeit, oder der Gefahr einer Erkältung auszuſetzen, das kleinere und drohte nur ſeinem Jean, daß er (Baron Felix) von der Größe ſeines Schnupfens morgen früh die Größe der3 Strafe für ſeine (Jean's) Nachläſſigkeit werde ab¬ hängen laſſen.

Es war deshalb eine nicht unbedeutende Beruhi¬ gung für Jean, als ſein Herr am nächſten Morgen (man hatte die nächtliche Ruhe des Schloſſes ſo wenig wie möglich geſtört und ſich von einem der heraus¬ gepochten Bedienten die ſchon längſt bereit ſtehenden Zimmer anweiſen laſſen) mit ſehr guter Laune er¬ wachte, ſeinen Cacao wie gewöhnlich im Bett zu trinken begehrte und nachdem er ſich halb hatte an¬ kleiden laſſen die zweite, wichtigere Hälfte beſorgte er eigenhändig ihn fortſchickte, um Herrn Timm, deſſen Anweſenheit auf dem Schloſſe er erfahren hatte, bitten zu laſſen, ihn auf ein paar Minuten auf ſeinem Zimmer zu beſuchen.

Ah voilà, lieber Timm, wie geht es Ihnen? ſagte Baron Felix, das letzte Wort auffallend marki¬ rend, als der Angeredete bald darauf eintrat. Sie entſchuldigen, daß ich Ihnen ſo früh läſtig falle: aber ich zum Teufel, nun hat der Eſel von Jean wie¬ der heißes ſtatt warmes Waſſer gebracht entſchul¬ digen Sie! Jean, warmes Waſſer, Nilpferd! nun ſagen Sie, wie geht es Ihnen, lieber Timm? freue mich, Sie hier ſo zufällig zu treffen. Wie geht es Ihnen? und der Baron ſtreckte dem Angeredeten1*4einen der Finger ſeiner linken Hand, die er eben ab¬ getrocknet hatte, entgegen.

Danke, Baron, paſſabel! ſagte Albert, den dar¬ gebotenen Finger ſehr flüchtig, denn ſich durch vor¬ nehme Grobheit imponiren zu laſſen, gehörte nicht zu Alberts Schwächen, mit etwa zwei Fingern ſeiner Hand berührend; ich glaubte ſchon, Sie (mit Beto¬ nung) würden mich bis auf den Namen vergeſſen haben.

Bewahre, ſagte Felix, fiel mir heute Morgen ſogleich auf, als Jean mir die Geſellſchaft hier her¬ zählte. Aber wie gottvoll Sie ſich in Civil aus¬ nehmen! hahaha! wenn Sie ſo die Kameraden ſähen! wirklich gottvoll, auf Ehre! und Felix blieb, eine Bürſte in der einen und einen kleinen Toilettenſpiegel in der andern Hand, vor Albert ſtehen, ſich ihn von Kopf bis zu den Füßen wie ein fremdes merkwürdi¬ ges Thier anſehend.

Meinen Sie? ſagte Albert trocken; freut mich! kann Ihnen leider das Compliment nicht zurückgeben, da ich erſt die folgenden Stadien Ihrer Toilette ab¬ warten muß. Aber das Eine kann ich Ihnen ſagen jünger ſind Sie unterdeſſen nicht geworden. Haben Sie nicht noch eine Cigarre? oder iſt die Havana, die Sie rauchen, die letzte Ihres Geſchlechts?

5

Dort auf dem Tiſch! ſagte Felix; in dem Ebenholzkäſtchen Sie müſſen die Feder nach unten drücken nicht jünger geworden? aber hoffentlich doch auch nicht älter, ich meine auffallend zum wenigſten erfreue ich mich, wie Sie ſehen noch meiner ſämmtlichen Zähne und zum mindeſten fünf Sechſtel meiner Haare und Felix bürſtete mit unendlichem Wohlgefallen die allerliebſten natürlichen kurzen brau¬ nen Locken, die wirklich noch ziemlich üppig ſeinen wohlgeformten Kopf bedeckten.

Nun, mit den Haaren mag's noch gehen, ſagte der unbarmherzige Albert, der jetzt auf einem Sopha Platz genommen hatte und dem vor dem Spiegel eifrig beſchäftigten Felix mit heimlicher Schadenfreude muſterte; aber wo haben Sie nur alle die Falten in ihrem Geſicht her bekommen? die ſcharfe Morgen¬ beleuchtung iſt wirklich nichts mehr für Sie. Ich machte Ihnen früher das Compliment, Sie hätten eine frappante Aehnlichkeit mit Byron; aber jetzt ſehen Sie wenigſtens wie Byron's Vater aus. Und dann Sie waren niemals durch Fülle ausgezeichnet, jetzt ſind Sie wirklich auf ein Minimum reducirt.

Je ſchlanker, deſto eleganter, meinte Felix; und übrigens kommt das wieder; ich wurde in der letzten Zeit von meinem Doctor etwas knapp gehalten.

6

Das alte Leiden?

Nun wenigſtens eine neue Auflage.

Vermehrt und verbeſſert?

Es ging noch; aber damit iſt es jetzt vorbei. Wir ſind ſolid geworden; wir werden uns zur Ruhe ſetzen wie finden Sie dieſe Beinkleider? iſt es nicht eine geiſtreiche Combination des militairiſchen und des Civilſchnitts? ganz meine Erfindung! wir werden heirathen

Das ſollten Sie bleiben laſſen, Baron!

Weshalb?

Wenigſtens ſollten Sie eine ältere, verſtändige Dame heirathen.

Weshalb?

Weil Sie, fürchte ich, über kurz oder lang doch einer mütterlichen Freundin bedürftiger ſein werden, als einer anſpruchsvollen jungen Gemahlin.

Pah, mon cher, ich habe die Ehre, aus einer Familie zu ſtammen, in der man ungeſtraft liederlich ſein darf. Ein bischen Rheumatismus das iſt das Aeußerſte. Was ſagen Sie zu dieſem Rock?

Gar nichts; Sie wiſſen, ich war nie ein Kenner in dieſen Dingen.

Freilich, Sie waren ſtets das unſaubere Gefäß, in welches ſich die Schale des Zorns unſeres guten7 Obriſten leerte. Wiſſen Sie, daß ſich der arme Teufel erſchoſſen hat?

Nein, weshalb?

Die Einen ſagen, Schulden halber; die Andern, weil er die Schande nicht hat überleben wollen, daß bei der letzten großen Parade eine ganze Compagnie von ſeinem Regiment mit Tuchhoſen ſtatt mit weißen Hoſen angerückt kam, und er deshalb vom Comman¬ direnden über dieſe Schweinerei zur Rede geſtellt wurde.

Gott hab ihn ſelig!

Amen. Apropos! wie lange ſind Sie denn ſchon hier auf Grenwitz? ich höre, ſchon ſeit Wochen; da müſſen Sie die Geſellſchaft ja aus - und inwendig kennen. Ja, was ich eigentlich wiſſen wollte: Wie befindet ſich denn mein würdiger Onkel und meine vortreffliche Frau Tante? und wie ſieht denn meine Couſine haben Sie ſchon eine ſolche Uhr geſehen? doppelter Secundenzeiger der Zeiger oben zeigt Monat und Datum direct aus London ich glaube, es iſt die erſte, die auf dem Continent ge¬ tragen wird. Apropos! wer kann denn heute Nacht das hübſche, ſchwarzäugige, kleine Ding geweſen ſein, das wir auch aufgeſtört hatten und das im allerlieb¬ ſten Nachtcoſtüm über den Flur huſchte es ſchien8 eine Art Wirthſchafterin oder dergleichen. Ihr habt doch keinen Beſuch weiter auf dem Schloſſe?

Nein

Alſo ganz en famille? Wollen Sie gefälligſt die Klingel über Ihrem Kopfe ziehen? Ich dächte, ich ſähe heute ganz ausnehmend wohl aus Jean! hab ich Dir nicht geſagt, Kameel, daß Du dieſen Rock hier nicht tragen ſollſt gleich zieh 'den neuen an! und dann geh' und frage bei der gnädigen Herrſchaft an, ob ich jetzt meine Aufwartung machen dürfe.

Der Herr Baron haben ſchon zweimal nach dem Herrn Baron gefragt.

Nun, dann ſag ', ich würde gleich kommen. Au revoir, lieber Timm. Ich hoffe. Sie an der Mittagstafel zu ſehen und Felix warf noch einen letzten Blick in den Spiegel, goß etwas Eau de Co¬ logne auf ſein feines weißes Taſchentuch und ſchritt durch die Thür, welche ihm Jean pflichtſchuldigſt öff¬ nete, davon, ohne ſich weiter nach Albert, der ihm auf dem Fuße folgte, umzuſehen.

Dieſer ſchaute dem Enteilenden mit einem höhni¬ ſchen Lächeln auf den ſchmalen feinen Lippen nach: lieber Timm, murmelte er; ich will Dir den lieben Timm und das Sie anſtreichen, Du Affe! ...

9

Es war am Abend deſſelben Tages. Man hatte ſo eben die Mahlzeit, die bei gutem Wetter jetzt ſtets auf der Terraſſe eingenommen wurde, beendet und bereitete ſich zu einem gemeinſchaftlichen Spaziergange vor, den man, auf den Vorſchlag der Baronin, durch den Buchwald nach dem Strande machen wollte. Os¬ wald hätte ſich ausſchließen mögen, da ihm in ſeiner augenblicklichen Stimmung die Geſellſchaft wirklich peinlich war, aber Felix, der ein großes Gefallen an dem ſchweigſamen, ernſten Mann zu finden ſchien, hatte ihn ſo lange gebeten, kein Störenfried und Spiel¬ verderber zu ſein, daß er ſich endlich, zu Bruno's großer Freude, zum Mitgehen entſchloß. So brach man denn auf und gelangte bald in den ſchönen Wald, wo in den grünen Zweigen noch die rothen Abend¬ lichter ſpielten und die Vögel ſangen. Felix hatte der Baronin den Arm gegeben; Fräulein Helene ging an ihres Vaters Seite; Oswald, Albert und die Kna¬ ben und Mademoiſelle Marguerite gingen voran oder folgten, bald einzeln, bald paarweiſe, wie der ſchmale Waldweg es eben erlaubte. Felix, den ſein Arzt be¬ ſonders vor Erkältung gewarnt hatte, fand es im Wald doch kühler und feuchter, als er vermuthet, und er wünſchte im Stillen ſehnlichſt, daß die Partie ſich nicht zu ſehr in die Länge ziehen möchte. Indeſſen10 hielt er es natürlich für gerathener, dieſen ſeinen ge¬ heimen Wünſchen keine Worte zu leihen, ſondern dem reizenden Einfall dieſes romantiſchen Spaziergangs ein Compliment zu machen.

Es freut mich, wenn ich damit Ihrem Geſchmack entſprochen habe, lieber Felix, ſagte Anna-Maria; ich geſtehe, ich hätte Ihnen ſo viel Sinn für die ein¬ fachen Freuden des Landlebens nicht zugetraut. Wie gut trifft es ſich, daß auch Helene dieſen Geſchmack theilt. Ihr werdet einmal ein recht verſtändiges, ſolides Leben führen, wie es ſich für eure Verhält¬ niſſe ſchickt.

Nun, meine Verhältniſſe, liebe Tante

Werden ſich beſſern, ich bin davon überzeugt; aber Sie werden viel zu thun haben, lieber Felix, bis Sie ganz frei aufathmen können. Wie lange hat es gedauert, bis ſelbſt wir nur die allergrößten Hinder¬ niſſe aus dem Wege geräumt hatten! und von einer wirklichen Beherrſchung der Situation können wir erſt in ein paar Jahren ſprechen, wenn Stantow und Bärwalde uns hoffentlich nicht länger vorenthalten werden können und die übrigen Güter in neue und, ich denke, beſſere Pacht kommen. Sie ſollten Ihre Güter auch neu vermeſſen laſſen, lieber Felix. Sie finden in Timm einen fleißigen und geſchickten Arbeiter. 11Ich bin ganz überraſcht, daß Sie den jungen Mann ſchon von früher her kennen; von der Cadettenſchule, nicht wahr?

Ja, liebe Tante; er war ein großer

Liebling ich glaube es gern; iſt er es doch auch hier bei uns Allen.

Das wollte ich nun eigentlich nicht ſagen ver¬ ſetzte Felix lachend; indeſſen man hatte ihn allerdings im Allgemeinen ſehr gern. Er war der unermüd¬ lichſte Spaßmacher; und wenn es ſich um einen Genie¬ ſtreich handelte, ſo ſtand er ſicher an der Spitze. Indeſſen, man thut gut, ihm den Daumen etwas auf's Auge zu halten; er gehört zu den Leuten, die, wenn man ihnen den kleinen Finger giebt, die ganze Hand nehmen.

In der That! ſagte Anna-Maria, die Augen¬ brauen in die Höhe ziehend; ich habe den jungen Menſchen bis jetzt ſtets für die Beſcheidenheit ſelbſt gehalten; für viel beſcheidener, als z. B. unſern Herrn Stein.

Wirklich? meinte Felix; ich hätte nun gerade gedacht, daß Herr Stein ſich ſeiner Stellung voll¬ kommen bewußt iſt.

Nun, Sie werden ihn noch näher kennen lernen. 12Er iſt einer der arroganteſten Menſchen ſeines Stan¬ des, die mir je vorgekommen ſind.

Wir wollen ihm das austreiben, ſagte Felix, ſeinen äußerſt winzigen Schnurrbart drehend; mit ſolchen Leuten muß man kurzen Prozeß machen. Ich kenne das. Dieſe Bürgerlichen ſind ſich Alle gleich. Sobald ſie merken, daß wir ſein wollen, was wir von Rechtswegen ſind die Herren im Staat und im Haus kriechen Sie zu Kreuz. Sie werden nur übermüthig durch unſere Schuld. Man muß ſie fortwährend in dem Bewußtſein ihrer Stellung halten. Sie ſind zu gut gegen den Menſchen geweſen: das iſt Alles. Ich wunderte mich, offen geſtanden, ſchon heute Mittag, mit welcher Nachſicht ſich Fräulein Helene ſeine Zurechtweiſung ich weiß nicht mehr, um was es ſich handelte gefallen ließ.

Nun Helene iſt ſonſt nicht gerade ſeine Freundin; wie ſie denn überhaupt eine wahrhaft ariſtokratiſche Antipathie gegen alles Plebejiſche hat. Nähren Sie dieſe Grundſätze ja! ich glaube, Sie werden ſo den nächſten Weg zu ihrem Herzen finden.

Nun, ich denke, dieſer Weg wird ja wol nicht ſo übermäßig ſchwer zu entdecken ſein; ſagte Felix mit ſelbſtgefälligem Lächeln: ich habe einige Erfahrung in dieſem Capitel, ma chère tante!

13

Die Sie in dieſem Falle brauchen werden; lieber Felix. Helene iſt ein ſehr eigenthümlicher, ſchwer zu berechnender Charakter. Ich geſtehe, daß ich noch nicht gewagt habe, ihr unſer Project offen darzulegen. Ich wollte erſt die Wirkung abwarten, die Sie ohne Zweifel auf ihr Herz hervorbringen werden. Sie haben hier die beſte Gelegenheit, ſich ihr in dem liebenswürdigſten Lichte zu zeigen; ja nicht einmal einen Nebenbuhler haben Sie zu fürchten. Wir leben ſehr zurückgezogen, und ich werde mit Eiferſucht dar¬ über wachen, daß dieſe Zurückgezogenheit auch wäh¬ rend Ihres Aufenthalts ſo wenig wie möglich geſtört wird.

Verzeihen Sie, liebe Tante, wenn ich in dieſem Punkte anderer Meinung bin, ſagte Felix; ich müßte mir wahrlich mein theures Lehrgeld wiedergeben laſſen, wenn ich den Vergleich mit den jungen Standesge¬ noſſen hier auf dem Lande ſcheuen zu müſſen glaubte. Im Gegentheil; ich bin äußerſt begierig, mit dieſen Gelbſchnäbeln in die Schranken zu treten! Jeder, den ich aus dem Sattel hebe, iſt ein Schritt näher zu meinem Ziele, wenn es denn wirklich ſo ſehr weit geſteckt ſein ſollte. Nein! bitten Sie ſo viel Geſell¬ ſchaft wie möglich. Machen Sie meine und Helene's Anweſenheit zu einer Veranlaſſung, kleine Diners,14 Soupers, Thees u. dgl. zu geben; und hernach faſſen wir Alles in einem großen Balle zuſammen, auf wel¬ chem dann unſere Verlobung der ganzen Geſellſchaft mitgetheilt wird, die dann natürlich über ein Ereig¬ niß, das ſie ſeit Wochen erwartet hat, in ein obligates Staunen geräth.

Sie ſind kühn, lieber Felix, ſagte die Baronin, der dieſe Methode, auch beſonders der Koſtſpieligkeit wegen, nur halb gefiel.

Wozu hätte ich denn ſonſt des Königs Rock ſo lange Jahre getragen? erwiederte Felix, ſeiner Tante galant die Hand küſſend.

Während deſſen von der Baronin und Felix ſo ruhig über Helene's Schickſal debattirt wurde, hatte zwiſchen dieſer und ihrem Vater ein Geſpräch ſtatt¬ gefunden, das die feingeſponnenen Pläne der Baronin und den vermeintlich raſchen Siegeslauf des jungen Ex-Lieutenants auf eine gar eigenthümlich naive Weiſe durchkreuzte.

Der alte Baron liebte ſeine ſchöne Tochter mit aller Liebe, deren ſein braves Herz fähig war, liebte ſie um ſo mehr, als er über die Gerechtigkeit der Beſtimmungen, welche das junge Mädchen von dem Majoratsvermögen ausſchloſſen, von jeher nicht geringe Zweifel gehabt hatte. Dazu kam, daß er die Zurück¬15 ſetzung, welche die Tochter von Seiten der Mutter bis dahin erfahren hatte, ſehr wol empfand, wenn er auch zu ſchwach geweſen war, Maßregeln dagegen zu ergreifen, und vor allem der Hamburger Verban¬ nung ein Ende zu machen. Auch dem Heirathsproject hatte er ſeine Zuſtimmung nur gegeben, weil ihm Anna-Maria eingeredet hatte, ſo könne die Ungleich¬ mäßigkeit in dem Schickſal der beiden Kinder am beſten ausgeglichen werden, da Helene, als die Gattin Felix ', nach Malte's etwaigem Tode, dann doch ge¬ wiſſermaßen zur Erbſchaft gelangte, wenigſtens in den vollen Genuß des Vermögens käme. Aber auch hier hatte er Helene's vollkommen freie Zuſtimmung als unumgängliche Bedingung ſtipulirt, wogegen er ſich wieder verpflichtet hatte, die Leitung der Angelegen¬ heit den geſchickten Händen ſeiner Gemahlin zu über¬ laſſen und vor allem ſich vor einer vorzeitigen Ent¬ hüllung des Planes in Acht zu nehmen.

Nun aber hatten die Eindrücke der letzten Zeit an dieſen Vorſätzen und Entſchlüſſen arg gerüttelt. Zuerſt war ihm in Hamburg, als ihn ein plötzlicher Fieber¬ anfall auf das Krankenlager warf, der Gedanke ge¬ kommen, er könnte in nächſter Zeit ſterben und He¬ lene dann ganz verlaſſen daſtehen, ohne ſeinen Rath, ohne ſein Veto, das er im äußerſten Falle der Ausfüh¬16 rung der Pläne Anna-Maria's entgegenzuſetzen feſt entſchloſſen war. Er hatte ſeine Tochter immer ge¬ liebt, aber jetzt betete er ſie an. Sie war ſo ſchön, ſo ſtolz, und gegen ihn, den alten Vater, ſo freund¬ lich beſcheiden, daß ſein Herz, wenn er dachte, er könnte aus dem Leben gehen, ohne das Schickſal dieſes ſeines Lieblings ſicher geſtellt zu haben, Angſt und Trauer zugleich empfand. Wäre nun Felix der Mann geweſen, wie er ſich den Gemal ſeiner Tochter wünſchte, ſo hätte noch Alles gehen mögen. Aber das war Felix keineswegs. Der alte Baron war ſeiner Zeit auch ein junger Baron und war, wie Felix, Offizier geweſen. Er wußte ſehr wohl, welchen Verſuchungen ein junger und reicher Edelmann in dieſer Lage ausgeſetzt iſt; er ſelbſt war dieſen Ver¬ ſuchungen nicht immer entgangen und hatte in ſeinem reiferen Alter, als ſein von jeher ernſt geſtimmter Geiſt ſeine naturgemäße Richtung erlangt hatte, mit bitterer Reue die Sünden ſeiner heißblütigen Jugend beklagt. Er hatte an ſeinem Vetter Harald das le¬ bendige Beiſpiel gehabt, wohin die ungezügelten Lei¬ denſchaften zuletzt führen, und ſein durch die Liebe zu ſeiner Tochter und durch die Erfahrung in dieſem einen Falle doppelt ſcharfes Auge erkannte ſofort, daß ſein Neffe Felix in einem hohen Grade der Sclave17 dieſer Leidenſchaften geweſen ſein mußte, vielleicht noch war. Er hatte den jungen Mann vor ein paar Jahren geſehen, als dieſer eben die Cadettenſchule verließ. Damals hatte er eine angenehme Erinnerung an den ſchlanken, kräftig gebauten Jüngling mit dem friſchen hübſchen Geſicht und den lebhaften hellen Augen davongetragen; jetzt ſah er von dieſer aller¬ liebſten Erſcheinung nur noch einen traurigen Schat¬ ten. Eine geſpenſtige Magerkeit, tiefe Furchen in dem jugendlich-alten Geſicht, die großen blauen Augen gläſern oder von einem fieberhaften Glanze leuchtend und ſtets mit dem ſtarren, frechen Blick, der deut¬ licher ſpricht, als eine lange Lebensbeſchreibung die Bewegungen haſtig und fahrig, offenbar in der Abſicht, die innere Mattigkeit und Schlaffheit zu ver¬ decken die Rede vorlaut und über Alles mit der¬ ſelben ſouveränen Oberflächlichkeit weghuſchend das ganze Weſen von einer krankhaften Eitelkeit wie zerfreſſen ſo oder ungefähr ſo erſchien Felix dem beſorgten Vater, trotzdem deſſen Menſchenfreundlichkeit hier wie überall die ſchlimmſten Flecken des Bildes gutmüthig vertuſchte.

Es that ihm leid, daß er ſich von ſeiner Gemalin das Verſprechen hatte abnehmen laſſen, in dieſer An¬ gelegenheit nicht ſelbſtſtändig handelnd aufzutreten. EsF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 218kam ihm vor, als ob er ſich mit dieſem Verſprechen doch übereilt habe, und auf jeden Fall hielt er dafür, daß eine geſchickte Sondirung, wie denn Helene ſelbſt in dieſem Punkte denke, kein Bruch des Verſprechens ſei. So ſagte er denn, nachdem ſie eine Weile ſchwei¬ gend nebeneinander hergegangen waren, ihren Arm in den ſeinen legend:

Wie befindeſt Du Dich, meine Tochter?

Ich danke, Vater, gut; weshalb? erwiederte Fräulein Helene, etwas überraſcht über dieſe plötz¬ liche Frage.

Ich dächte, Du ſäheſt etwas blaß aus.

Das kommt wohl nur von der ungünſtigen Be¬ leuchtung hier unter den grünen Bäumen, antwor¬ tete das junge Mädchen heiter; ich befinde mich aber wirklich ganz wohl.

Ich fürchtete immer, der plötzliche Wechſel der Luft, der Lebensweiſe, des Umgangs würde Dir ſchädlich ſein. Du biſt zu lange vom Hauſe fortge¬ weſen.

Das iſt nicht meine Schuld, lieber Vater.

Ich weiß es wol, ich weiß es wol; aber meine Schuld iſt es auch nicht; ich habe ſtets der Abkürzung der Penſionszeit das Wort geredet, aber

Nun, ich bin ja endlich hier und wir wollen das19 Verſäumte möglichſt nachholen. Wir wollen recht viel zuſammen ſpazieren gehen; ich will Dir aus Deinen Lieblingsbüchern vorleſen; es ſoll ein reizendes ſtill¬ vergnügtes Leben werden, und das junge Mädchen nahm die Hand ihres Vaters und führte ſie an ihre Lippen.

Du biſt ein liebes gutes Kind, ſagte der Baron und ſeine Stimme zitterte etwas: gebe Gott, daß ich mich Deiner noch recht lange zu erfreuen habe.

Aber, beſter Vater, ſchon wieder ſolche hypochon¬ driſche Gedanken! Du biſt ja jetzt, Gott ſei Dank, wieder ſo rüſtig, wie immer. Weshalb ſollten wir nicht noch lange glücklich zuſammen leben!

Aber wenn Du uns verließeſt.

Ich ſterbe fürs erſte noch nicht, deshalb ſei nur ganz unbeſorgt; ſagte Fräulein Helene lachend.

Das wolle auch Gott verhüten! aber die Kinder werden ja nicht blos durch den Tod von den Eltern getrennt. Wenn Du nun heiratheſt, ſo müſſen wir uns doch darauf gefaßt machen, Dich abermals zu verlieren, nachdem wir Dich kaum wieder gewonnen haben.

Aber, Papa, Du ſprichſt ja gerade, als ob ich wo möglich morgen ſchon heiraten ſoll! Ich denke ja gar nicht daran. Auch die Mutter fing geſtern2*20von dieſem Capitel an. Wollt Ihr mich denn wirk¬ lich ſo gerne wieder los ſein?

So, ſo, alſo Deine Mutter hat ſchon mit Dir geſprochen, hm, hm! ſagte der Baron, der natürlich nicht anders dachte, als daß die Baronin, mit dem längſt beſprochenen und vorbereiteten Plan endlich hervorgetreten ſei, und der die Zeit, den Tag vor Felix 'Ankunft, auch ganz paſſend gewählt fand; ſo, ſo! hm, hm! Nun, und wie gefällt Dir denn Dein Couſin?

Wer? Felix? fragte Helene, die für den Augen¬ blick in ihrer Unbefangenheit den Zuſammenhang dieſer Frage mit dem Vorhergehenden nicht einmal ahnte.

Ja.

Er kommt mir vor, wie der Champagner, den wir heute Mittag tranken. Die erſten Tropfen ſchmeckten recht gut, als ich das Glas eine Weile hatte ſtehen laſſen, fand ich den Wein ſehr fade und abgeſchmackt. Aber Ihr habt mich doch nicht etwa für Couſin Felix beſtimmt? fragte Fräulein Helene, der dieſer Gedanke jetzt erſt durch den Kopf ſchoß, mit großer Lebhaftigkeit.

Bewahre, das heißt: ganz, wie Du willſt; ich will ſagen: es wird Deinem Willen in dieſer Hinſicht nie21 ein Zwang auferlegt werden, erwiederte der alte Baron, der weder die Wahrheit ſagen durfte, noch lügen wollte, mit ziemlicher Verwirrung.

Helene antwortete nicht; aber der angeregte Ge¬ danke arbeitete in ihrem lebhaften Geiſte weiter. Sie verglich das geſtrige Geſpräch, das ſie auf ihrem Zimmer mit ihrer Mutter gehabt hatte, mit dem ſo¬ eben geführten ... es bedurfte nicht einmal eines ſo ſcharfſinnigen Kopfes, als der ihre war, um den Zu¬ ſammenhang zwiſchen dieſen beiden Unterredungen und den Sinn der hingeworfenen Andeutungen zu entdecken. Ihr ſtolzes Gemüth empörte ſich, wenn ſie dachte, daß man, ohne ſie zu fragen, ohne ihre Meinung ein¬ zuholen, im Voraus über ihr Schickſal entſchieden und ihre Hand verſprochen habe; daß dieſer Felix, vor dem ihr reines keuſches Herz ſie inſtinctiv warnte, vielleicht ſchon in dieſem Augenblick ſie als die ſeine betrachtete! Dieſe Gedanken nahmen ſie ſo ganz in Anſpruch, daß ſie nicht einmal in das bewundernde: Ah, wie ſchön! wie herrlich! einzuſtimmen vermochte, in das die übrige Geſellſchaft ausbrach, als man einige Minuten ſpäter aus dem Walde auf den Rand des hohen Ufers hinaustrat.

In der That war das Schauſpiel das ſich den Blicken darbot, wol der Bewunderung werth. Die22 Sonne war ſoeben in das Meer geſunken und ſchien die in allen Schattirungen von Roth und Gold pran¬ genden Wolken wie in einem Strudel hinter ſich her¬ zuziehen. Von dem Punkte, wo ſie untergegangen war, ſchoſſen lichte Streifen durch die Wolken nach allen Seiten bis hoch hinauf in den durchſichtig blauen Himmel. Die See war nach dem Horinzonte hin ein Feuermeer, und auf einzelnen höheren Wellen zitterten die goldenen Funken bis zum Strand herüber. Das hohe vielfach zerklüftete Kreideufer und der Buchwald, der es krönte, waren von dem rothen Abendſchein, wie von einer bengaliſchen Flamme angeſtrahlt. Rings umher tiefe feierliche Stille, nur unterbrochen von dem dumpfen Rauſchen der Wogen unten auf den Kieſeln des Strandes, und dann und wann von dem grellen Schrei einer Möve, die über den erregten Waſſern flatterte.

Die Geſellſchaft ſtand, in Betrachtung des herrlichen Schauſpiels, das mit jedem Augenblicke wechſelte, verloren, gruppenweis da. Oswald, dem die ewigen Ach's und Oh's, an denen ſich beſonders die Baronin und Felix überboten, nachgerade langweilig wurden, hatte ſich etwas von den Uebrigen entfernt und ſich auf die bloß liegende Wurzel einer mächtigen Buche geſetzt.

23

Haben Sie noch einen Platz für mich? fragte Helene, die ihm gefolgt war.

Ich räume Ihnen gern den meinigen ein, ſagte Oswald aufſtehend.

Nur für ein paar Augenblicke; ich weiß nicht, der Spaziergang hat mich außergewöhnlich müde ge¬ macht.

Sie ſind heute Morgen vielleicht zu lange im Garten geweſen.

Nein, aber Apropos, wie kommt es, daß ich Sie heute und auch ſchon geſtern nicht geſehen habe?

Bloßer Zufall.

Das freut mich.

Weshalb?

Ich fürchtete, aufrichtig geſtanden, ich hätte Sie aus dem Garten vertrieben; ich dachte, dies ewige Sichbegegnen mit derſelben bewußten Perſon wäre Ihnen unleidlich geworden.

Sie denken in der That äußerſt beſcheiden von der bewußten Perſon.

Nein, ſpotten Sie nicht; ich dachte es im Ernſt ja und noch mehr! Sie ſind ſeit vorgeſtern Abend ſehr ſtill und, wie mir vorkam, beſonders kurz gegen mich. Sie haben mir auch geſtern meine Literatur¬24 ſtunde, auf die ich mich ſo freute, nicht gegeben. Bin ich vielleicht unwiſſentlich die Veranlaſſung

Wie meinen Sie?

Nun, ich rede manchmal, was vielleicht hart oder anmaßend klingt; wenigſtens iſt mir dieſer Vorwurf oft gemacht worden; aber ich meine es wirklich nicht ſo

Und Helene blickte mit ihren großen dunkeln Augen freundlich zu Oswald empor, der in Bewun¬ derung ihrer Schönheit und in Erſtaunen über dieſe plötzliche und unerklärliche Milde und Theilnahme ver¬ loren, vor ihr ſtand.

Was ſehen Sie mich ſo verwundert an?

Daß ſich ſo viel Güte hinter ſo viel Stolz ver¬ ſtecken kann!

Iſt es denn die Welt werth, daß wir ihr unſer Herz zeigen?

Eine ſonderbare Frage in dem Munde eines ſo jungen Mädchens.

Freilich, wir dürfen ja über nichts nachdenken. Wir ſind, wenn's hoch kommt, hübſche Puppen, mit denen man ſpielt und die man an den erſten Beſten verſchenkt, der merken läßt, daß er uns gern haben möchte.

25

Couſine, rief Felix, wir wollen zum Strande hinabgehen; wollen Sie mit?

Nein! ſagte Helene, ohne ſich nach dem Sprechen¬ den umzuwenden.

Es iſt eine reizende Partie; rief Felix.

Möglich; erwiederte das junge Mädchen kurz, ohne ihre Stellung zu verändern.

Aber Felix war nicht der Mann, ſich ſo leicht ab¬ weiſen zu laſſen. Er kam zu dem Platze, auf dem ſich Oswald und Helene befanden, herüber und ſagte:

Aber Helene, Sie werden doch dieſe erſte Bitte, die ich an Sie richte, nicht abſchlagen?

Weshalb nicht? erwiederte dieſe und der Ton ihrer Stimme klang eigenthümlich ſcharf und bitter: ich kann das Bitten und die Bittenden nicht leiden, das können Sie nicht früh genug lernen.

Haben Sie ſich den Fuß vertreten, theuerſte Cou¬ ſine? fragte Felix.

Weshalb?

Weil Sie ſo unbeweglich ſitzen und in ſo ſchau¬ derhafter Laune ſind; erwiederte Felix lachend und ging ohne ein Zeichen, daß ihn das Benehmen He¬ lene's irgend verletzt habe, zu den Uebrigen.

Wollen Sie ſich nicht der Geſellſchaft anſchließen, Herr Doctor? fragte Helene, auf deren Wangen26 noch die Erregung der letzten kleinen Scene brannte, als jetzt die Andern den ziemlich ſteilen Weg, der zum Strand führte, hinabzuſteigen begannen.

Sie wünſchen allein zu ſein?

Nicht doch; im Gegentheil, ich freue mich, wenn Sie hier bleiben wollen. Nach der geiſtreichen Un¬ terhaltung von heute Mittag und heute Abend fühlt man das Bedürfniß, endlich einmal ein verſtändiges Wort zu ſprechen. Sie haben mir noch immer nicht geſagt, ob ich Ihnen, ohne es zu wiſſen und zu wollen, durch irgend eine unvorſichtige Bemerkung vielleicht, weh gethan habe?

Nein, durchaus nicht. Ich habe vorgeſtern Abend eine Nachricht erhalten, die mich ſehr betrübt ... Er¬ innern Sie ſich des Profeſſor Berger von ihrer Bade¬ reiſe nach Oſtende vor drei Jahren?

Ei gewiß! wie könnte man den vergeſſen! Mir iſt, als ob ich ihn geſtern geſehen hätte, ſo deutlich ſteht er vor mir mit ſeinen hellen Augen unter den buſchigen Brauen und ſtets mit einem Bonmot auf den Lippen. Was iſt mit ihm? er iſt doch nicht gar todt?

Nein, ſchlimmer als das er iſt wahnſinnig geworden.

Um Gotteswillen! der Profeſſor Berger dieſes27 Bild der Klarheit und Geiſteshoheit! Wie iſt das möglich? Wiſſen es die Eltern ſchon?

Nein, und bitte, ſagen Sie auch nichts; ich könnte es jetzt nicht ertragen, daß darüber geſprochen würde.

Sie hatten den Profeſſor wol recht lieb?

Er war mein beſter, vielleicht mein einziger Freund.

Wie beklage ich Sie, ſagte Helene, und auf ihrem ſchönen Antlitz war die Theilnahme, die ſie empfand, deutlich zu leſen; ein ſolcher Verluſt muß fürchterlich ſein. Und Sie ſtehen hier ganz allein mit ihrem Kummer, und Keiner nimmt Theil an Ihrem Schmerz.

Ich bin das von jeher gewöhnt geweſen.

Haben Sie denn keine Eltern, keine Geſchwiſter, Verwandte?

Meine Mutter ſtarb, als ich noch ein Kind war; mein Vater vor mehren Jahren; Geſchwiſter habe ich nie gehabt; Verwandte, wenn ich welche habe, nie gekannt.

Helene ſchwieg und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenſchirms Linien in den Sand.

Plötzlich hob ſie den Kopf und ſagte in einem Ton, der halb wie eine Klage und halb wie eine Herausforderung klang:

28

Wiſſen Sie, daß man Eltern und Geſchwiſter ja! und ſelbſt Verwandte, haben und doch recht allein ſein und ſich recht einſam fühlen kann? Und Sie haben es noch immer gut; Sie ſind ein Mann; Sie können für ſich ſelbſt handeln, während

Das junge Mädchen brach ab, als fürchtete ſie, ſich von ihren Empfindungen zu weit hinreißen zu laſſen. Sie ſtand auf und trat einige Schritte von Oswald weg dicht an den Rand des ſteilen Ufers. Es war ein wunderſam ſchönes Bild, dieſe ſtolze, ſchlanke Geſtalt auf dem lichten Hintergrunde des goldenen Abendhimmels, der ihr herrliches Haupt, mit deſſen dunklen Locken der Seewind ſpielte, wie mit einem Glorienſchein umgab. Und wie ein Engel des Himmels erſchien ſie Oswald, in deſſen krankes Herz ihre guten mitleidigen Worte wie milder Regen auf eine welke Blume gefallen waren. Und nun zum erſten Male erinnerte er ſich wieder des Geſpräches, das er am Tage ſeiner Zurückkunft von Saſſitz mit dem Doctor gehabt hatte. Alſo wirklich! dies holde, herrliche Geſchöpf ſollte auch verkauft werden, wie Melitta verkauft worden war! Sie ſagte es ſelbſt! aus ihrem eigenen Munde hatte er es nur eben ge¬ hört: ſie hatte keinen Freund! ſie ſtand allein da in der Welt! ſie konnte nicht für ſich ſelbſt handeln! 29Und ſie hatte noch Mitleid und Troſt für ihn, ſie, die ſelbſt des Mitleids und des Troſtes nein, thä¬ tiger Hülfe ſo ſehr bedurfte! Die Schwachen, die Hülfloſen zu ſchützen iſt das Recht und die Pflicht des Mannes es hätte wol wenig kühne Abenteuer gegeben, in welche ſich Oswald in dieſem Augenblicke nicht ohne Zögern für die ſchöne Verfolgte geſtürzt hätte. Er dachte nicht daran, daß des Ritters erſte Pflicht die Treue gegen die Dame ſeines Herzens iſt, und daß für eine Andere eine Lanze brechen, während er in Gefahr ſchwebt, jene zu verlieren, weder von Weisheit noch von Edelmuth zeugt.

Da gellte von dem Strande, auf dem die Uebrigen jetzt angekommen waren, ein Schrei empor und wie Helene, die ſich von Schwindel ganz frei wußte, noch einen Schritt näher an den Rand trat und ſich über den Abhang beugte, ein zweiter, noch geller, noch ſchriller, noch angſtvoller.

Um Himmelswillen, rief Helene; was kann denn da geſchehen ſein? Mir däucht, es war Bruno's Stimme. Laſſen Sie uns ſo ſchnell wie möglich hin¬ abeilen!

Der Weg zum Strande, der ſich im Zickzack an dem Kreidefelſen hinwand, war trotz ſeiner Steilheit im Nu von den jungen Leuten zurückgelegt. Als ſie30 athemlos unten ankamen, ſahen ſie Bruno ohnmäch¬ tig, von Albert gehalten, während die Anderen rath¬ los umherſtanden.

Holen Sie Waſſer, ſchnell! ſagte Oswald, Al¬ bert den Knaben abnehmend und dieſem das Hals¬ tuch abknüpfend und die Kleider öffnend, woran noch Niemand gedacht hatte.

Wie iſt denn dies gekommen? fragte Helene, die kalten Hände Bruno's in ihre Hände nehmend und angſtvoll in ſein ſchönes blaſſes Geſicht ſtarrend.

Es weiß Niemand von uns, ſagte die Baronin.

Es wird ein Anfall von Schwindel ſein, meinte Felix.

Unterdeſſen hatte Oswald von dem Waſſer, welches Albert in Bruno's Hut gebracht hatte, des Knaben Stirn und Schläfen und Bruſt reichlich be¬ netzt. Helene erinnerte ſich, daß ſie ein Fläſchchen Eau de Cologne bei ſich führe, und half Oswald in ſeinen Bemühungen. Es gelang ihnen in Kurzem, den Ohnmächtigen wieder zu ſich zu bringen. Er ſchlug langſam die großen Augen auf, ſein erſter Blick fiel auf Helene, die ſich über ihn beugte.

Biſt Du todt, ganz todt? murmelte er, die Augen wieder ſchließend.

Man glaubte, er habe den Verſtand verloren.

31

Komm zu Dir, Bruno! ſagte Helene, dem Kna¬ ben mit leiſer Hand über Stirn und Augen ſtreichelnd.

Bruno ergriff dieſe Hand und drückte ſie feſt auf ſeine Augen, durch deren geſchloſſene Wimpern ſich zwei große Thränen drängten. Dann richtete er ſich mit Oswald's Hülfe vollends auf.

Mir iſt wieder ganz wohl! ſagte er; ich bin wol gar ohnmächtig geweſen? Wie lange habe ich ſo gelegen?

Nur ganz kurze Zeit, ſagte Oswald, Bruno's Geſicht mit ſeinem Taſchentuche abtrocknend und den Anzug wieder in Ordnung bringend.

Du haſt uns einen rechten Schrecken verurſacht; was hatteſt Du denn nur? fragte die Baronin.

Ich weiß es nicht, antwortete der Knabe, deſſen blaſſe Wangen plötzlich hohe Purpurgluth bedeckte; es kam ganz plötzlich. Danke, danke, ich glaube, ich kann jetzt mit Herrn Stein's Hülfe ganz gut weiter kommen.

Wir wollen wieder umkehren, ſagte die Baronin. Daß einem doch jedes, auch das beſcheidenſte Ver¬ gnügen durch irgend einen Unfall verleidet wird!

Man ſtieg langſam das Ufer wieder hinauf und trat, ziemlich einſilbig und verſtimmt, den Rückweg durch den Wald an. Felix, der ſich zu erkälten fürch¬32 tete, ermahnte zu größerer Eile; Oswald bemerkte trocken, er wolle die übrige Geſellſchaft nicht aufhalten, man möge ihm indeſſen erlauben, mit Bruno langſam zu folgen. Helene erklärte, daß ſie bei Bruno bleiben würde; der alte Baron, der bei dem ganzen Vorfall eine große, wenn auch thatloſe Theilnahme an den Tag gelegt hatte, ſchlug vor, die Geſellſchaft ſolle ſich in einen Vortrab und einen Nachtrab theilen, er ſelbſt wolle den letzteren führen.

Du wirſt Dir den Schnupfen holen, lieber Gren¬ witz, ſagte die Baronin; ich dächte, Du kämeſt mit uns.

Nein, ich werde bei den Anderen bleiben, ſagte der alte Baron mit einer Beſtimmtheit, die Alle, viel¬ leicht ihn ſelbſt, überraſchte.

Er gab ſeiner Tochter den Arm, blieb aber in der Nähe Oswald's und Bruno's, eine harmloſe Unterhaltung, wie er ſie liebte, mit ihnen führend und ſich von Zeit zu Zeit nach des Patienten Be¬ finden erkundigend.

Ich befinde mich wohl, ganz wohl, verſicherte dieſer ein Mal über das andere; doch fühlte Oswald, daß er ſich feſt auf ſeinen Arm ſtützte und daß ſeine Hände kalt waren.

Sie kamen, lange nach den Anderen, auf dem33 Schloſſe an. Der alte Baron wünſchte gute Beſſe¬ rung, als Oswald ſich ſofort mit Bruno auf deſſen Zimmer begab, wo er den Knaben ſich ſogleich zu Bett legen ließ.

Du biſt kränker, Bruno, als Du zugeben willſt, ſagte er, ſich zu ihm auf's Bett ſetzend, nicht wahr, Du haſt Deine alten Schmerzen?

Ja, ſagte Bruno, deſſen Zähne zuſammenſchlu¬ gen und auf deſſen Stirn der kalte Schweiß ſtand.

Oswald beeilte ſich, die alten Hausmittel, wie jenes erſte Mal, herbeizuſchaffen; und es gelang ſeinen Bemühungen auch jetzt, das Uebel zu heben, wenig¬ ſtens die Schmerzen in kurzer Zeit zu lindern.

Wirſt Du auch mir nicht ſagen, Bruno, was Dich ſo bewegt hat? fragte Oswald da.

Doch! ſagte der Knabe, ich wollte es nur nicht in der Anderen Gegenwart, weil ich ihr albernes Ge¬ lächter ſchon im voraus hörte. Ich war etwas hinter den Anderen zurückgeblieben und durch einen Vorſprung des Ufers von ihnen getrennt. Ich dachte immer, ihr würdet nachkommen und deshalb ging ich ſo langſam und blickte oft nach oben. Da ſah ich plötzlich Helene ganz nahe an den Rand des Ufers treten, das an dieſer Stelle wol hundert Fuß und darüber lothrecht hinabfällt. Ich ſchrie laut auf inF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 334entſetzlicher Angſt, da trat ſie noch näher bog ſich ſogar herüber und da wurde mir es ſchwarz vor den Augen nun und das Uebrige weißt Du ja. Aber ich höre Malte kommen. Gute Nacht, Oswald.

Gute Nacht, Du Wilder!

Oswald küßte ſeinen Liebling auf die Stirn und ging nachdenklich auf ſein Zimmer. Er lehnte ſich in das offene Fenſter und ſchaute lange, in Sinnen und Brüten verloren, in den Garten hinab. Die Nacht war finſter; nur hier und da ſchimmerte ein Stern auf Augenblicke durch den Wolkendunſt. Manch¬ mal rauſchten die Bäume lauter auf, als ſprächen ſie ängſtlich in einem wirren, unruhigen Schlaf; der Brun¬ nen der Najade plätſcherte dazwiſchen, leiſe und ab¬ gebrochen, als erzähle er eine alte unheimliche Ge¬ ſchichte.

Dein Leben gleicht dieſer Nacht, ſprach Oswald bei ſich: hier und da ein Stern, der ſo bald wieder verſchwunden iſt, und ſonſt Alles chaotiſches Dunkel. Du haſt recht, guter Berger: unſer Leben iſt ein hohles Nichts, und wer nur überhaupt einen Ver¬ ſtand zu verlieren hat, muß ihn darüber verlieren. Wollteſt Du bewirken, daß Dir Dein Schüler ſobald als möglich nachfolgen könnte, als Du mich hierher ſchickteſt? Da biſt Du nun an demſelben Orte, wo35 Melitta iſt und auch Oldenburg. Vielleicht ſiehſt Du ſie, wenn ſie Arm in Arm an Deiner Zelle vorüber¬ gehen; vielleicht kommt Dir bei der Gelegenheit der Verſtand wieder, den andere Leute bei dem Anblick verlieren würden. Ich könnte ja auch eine kleine Reiſe nach N. machen, meine guten Freunde zu beſuchen; wer weiß? vielleicht gefällt mir der Ort ſo ſehr, daß ich gleich da bleibe.

Wie geht es Bruno? tönte eine Stimme aus dem Garten herauf. Es war Helene's Stimme. Os¬ wald ſah ihr helles Gewand durch das Dunkel her¬ aufſchimmern.

Ich danke, gut! antwortete er hinab.

Schlafen Sie wohl!

Und das helle Gewand verſchwand in den Büſchen.

Nein, das Leben iſt mehr wie ein hohles Nichts, murmelte Oswald, indem er das Fenſter ſchloß; hätte Berger dieſes Mädchen geſehen, er hätte wieder an das Leben geglaubt. Und doch! er hat ſie ja geſehen, geſehen und bewundert und beſungen, und iſt doch wahnſinnig geworden ... o, es iſt ein ſchauerliches Ding, dieſes Leben öde und dunkel und geſpenſtiſch und das einzige Reelle eine holde, freundliche Stimme, die uns ſchlafen gehen heißt.

3*
[36]

Zweites Kapitel.

Es kommen im Familienleben, genau wie im Leben der Völker, gewiſſe Zeiten, wo Alle mehr oder weniger deutlich fühlen, daß ſich etwas Großes, Außerordent¬ liches vorbereite; wo die dunkle Zukunft ihren drohen¬ den Schatten weit hineinwirft in die Gegenwart, die Gemüther der Einen verdüſtert, die der Andern mit vagen Hoffnungen erfüllt, überall aber eine wühlende Unruhe in den Geiſtern erzeugt, die dann ihrerſeits wiederum dazu beiträgt, das Hereinbrechen deſſen, was dieſe fürchten und Jene herbeiwünſchen, zu be¬ ſchleunigen.

Eine ſolche Zeit fieberhafter Spannung war denn jetzt auch für die vor Kurzem noch ſo ſtille Geſell¬ ſchaft auf Schloß Grenwitz hereingebrochen. Bruno's plötzlicher Unfall, von dem er ſich übrigens ſchon am nächſten Tage erholte, hätte für die Scharfſichtigeren ein Symptom von dem ſein können, was da Alles37 unter der glatten Hülle geſelliger Höflichkeit und pein¬ lich genau beobachteter Formen in der Tiefe gährte und kochte: geheime Liebe und tief verſteckter Haß! Feindſchaften unter der Maske trefflichſten Einver¬ nehmens und guter Kameradſchaft! herzliche Sym¬ pathien, die ſich unter dem Anſchein von Gleichgültig¬ keit, ja Abneigung verbargen! Selbſt die Phyſiogno¬ mie des äußeren Lebens war verändert. Die tiefe, faſt beängſtigende Stille, die ſonſt in dem weiten Raume, welchen der Schloßwall einſchloß, herrſchte, wurde jetzt gar vielfach geſtört. Baron Felix, der zum Anachoreten ſehr wenig Talent beſaß, mochte es ſich nicht verſagen, wenigſtens einer oder der andern ſeiner gewohnten Beſchäftigungen in der Einſamkeit von Schloß Grenwitz nachzuhängen. Am Tage nach ſeiner Ankunft waren ſeine beiden ſchönen Reitpferde glücklich angelangt, und ſo konnten bei den weiteren Ausflügen der Geſellſchaft, die zu Wagen unternommen wurden, wenigſtens zwei der Herren beritten gemacht werden. In einem entlegeneren Theile des Gartens war unter ſeiner Leitung ein kleiner Schießſtand hergerichtet wor¬ den, und in den ſpäteren Nachmittagsſtunden ertönte jetzt ſehr oft (zu der Baronin geheimem Entſetzen) der kurze, ſcharfe Knall gezogener Piſtolen bis in die ge¬ heiligte Stille der nach dem Garten gelegenen Wohn¬38 gemächer. Da Reiten, Schießen und Jagen Vergnü¬ gungen ſind, die durch Gemeinſamkeit weſentlich erhöht werden, ſo waren Oswald, Albert und ſelbſt Bruno in keinem Augenblick vor Felix ſicher, der fortwährend auf der Jagd nach einem Gefährten zu dieſer oder jener Unternehmung war, und ſtets ſo lange bat und quälte, bis man ſich wol oder übel ſeinen Wünſchen accommodirte. Felix gehörte zu den Menſchen, die niemals müßig ſind, ohne doch eigentlich jemals wirk¬ lich beſchäftigt zu ſein, mochte er nun ſtundenlang bei ſeiner Toilette zubringen und zwiſchendurch die Chan¬ ſons von Béranger, oder ein paar Capitel aus den liaisons dangéreuses (ſeinen Lieblingsbüchern) leſen; mochte er ſich mit der zweckmäßigſten Conſtruction einer Angelruthe die Zeit vertreiben oder die mangel¬ hafte Dreſſur ſeines Hühnerhundes vervollſtändigen, oder von ein paar Muſikſtücken die erſten Takte ſpie¬ len, um mit keinem zu Ende zu kommen er war ſtets und zu jeder Zeit der geſchäftige Müßiggänger, der die vortrefflichſten Naturanlagen in der Verfol¬ gung von lauter frivolen und oberflächlichen Zwecken vergeudete. Denn Felix war eine ſehr begabte Natur, deren nachhaltige Kraft ſelbſt ein überaus wüſtes und leichtſinniges Leben nicht gänzlich hatte vernichten kön¬ nen. Ein Streben nach dem Höheren, die Ahnung39 des Ideals war in der fieberhaften Raſtloſigkeit, mit der er ſich auf alles Neue warf, in dem Ehrgeiz, welcher ihn trieb, überall der Erſte zu ſein, oder wenigſtens als ſolcher zu erſcheinen, ja ſelbſt in ſeiner maßloſen Eitelkeit und in der unglaublichen Sorgfalt, die er auf ſeine äußere Erſcheinung verwandte, unver¬ kennbar. Hätte er jemals den Ernſt des Lebens ken¬ nen gelernt, hätte er nur einmal ſein Brod mit Thrä¬ neu eſſen müſſen, er wäre vielleicht zu retten geweſen. So ließ er ſich, ohne jemals über ſeine Lage nach¬ denken zu wollen oder zu können, von dem Strudel ſeiner Leidenſchaften näher und immer näher an den Punkt treiben, wo er, wenn nicht ein Wunder da¬ zwiſchen trat, unfehlbar verſinken mußte.

Ob es ihm mit der Aenderung ſeines Lebens, über die er mit der Baronin ſo viel correſpondirt hatte, Ernſt war? wol ſchwerlich. Das[Garniſonsleben] war ihm langweilig geworden; die Schaar der Gläu¬ biger immer dringender und ſeine Situation der Art, daß, als er betreffenden Orts um längeren Urlaub einkam, man ihm zu verſtehen gab, er thäte, wenn ſeine Geſundheit wirklich ſo angegriffen ſei, vielleicht beſſer, ſogleich ſeinen Abſchied zu nehmen. Gerade in dieſer kritiſchen Zeit machte ihm die Baronin Gren¬ witz ihre Anerbietungen betreff Helene's. Felix, der40 hier einen Ausweg fand, an den er noch gar nicht gedacht hatte denn Anna-Maria's Gemüthloſigkeit in Geldangelegenheiten war ihm aus Erfahrung be¬ kannt griff mit beiden Händen zu, obgleich eine Heirat nicht eben nach ſeinem Geſchmack war. In¬ deſſen war er bereit, ſich auf jeden Fall auch in dieſe Bedingung zu fügen. Wie angenehm war er deshalb überraſcht, als ihm in ſeiner Couſine, die er bis da¬ hin nicht gekannt hatte, ein Weſen entgegentrat, ſchö¬ ner, anmuthiger, als irgend eine der Damen, die er bisher mit ſeiner Neigung beehrt hatte ein Weſen, das die Seine zu nennen, den Stolzeſten der Stolzen entzückt haben würde. So waren denn nicht zwei Tage vergangen, als Felix für ſeine ſchöne Couſine in ſeinem Herzen eine Leidenſchaft fühlte, die freilich, genau betrachtet, bloße Eitelkeit war, ihm ſelbſt aber wie ein ganzes Wunder vorkam. Selbſtiſche Menſchen ſind auf Alles eitel, ſelbſt auf die natürlichſten Ge¬ fühle, und ſo konnte denn Felix nicht müde werden, die Baronin von ſeiner Liebe, wie von einem achten Wunder der Welt, zu unterhalten und ſich auch gegen die Uebrigen, beſonders Oswald, über die Herr¬ lichkeit eines auf das Höchſte gerichteten Strebens auszulaſſen. Ob ſeine Leidenſchaft erwiedert wurde? Felix zweifelte nicht einen Augenblick daran. Hatte41 er nicht bis jetzt noch überall reüſſirt? war ſein Glück bei den Frauen nicht ſprichwörtlich ſelbſt unter den Kameraden, von denen ſich doch ſo ziemlich jeder Einzelne für einen Paris hielt? und hatte er nicht ſchon ſo oft erfahren, daß ſich die Liebe hinter dem Anſchein der Gleichgültigkeit, ja der Abneigung ver¬ birgt? Freilich trieb ſeine ſchöne Couſine die Komödie ziemlich weit; freilich behandelte ſie ihn mit einer Kälte, einer Geringſchätzung, die manchmal gradezu beleidigend war aber er ließ ſich dadurch in dem felſenfeſten Glauben an ſeine unwiderſtehliche Liebens¬ würdigkeit nicht beirren und verſpottete die Baronin, wenn dieſe ihn wieder und immer wieder zur Vor¬ ſicht ermahnte. Denn Anna Maria ſah, da keine per¬ ſönliche Eitelkeit die Klarheit ihres Blickes trübte, in dieſer Angelegenheit viel ſchärfer als Felix. Sie, die an ſich ſelbſt die Energie des Charakters ſo hoch ſchätzte, mußte im Stillen die conſequente Gleich¬ mäßigkeit in Helene's Betragen, die beſcheidene Feſtig¬ keit, mit der ſie ihre Anſichten ausſprach und be¬ hauptete. bewundern. Es war ein Etwas in der ſtolzen Schönheit ihrer Tochter, wovor ſie ſich unwill¬ kürlich beugte - ein Lichtglanz aus einer höheren Welt, als die Welt durchaus egoiſtiſcher Intereſſen, in welcher ſie ſelbſt ſich bewegte. Helene ſelbſt42 war nach jenem Abend am Strande wo möglich noch ſtiller und zurückhaltender geworden. Sie flüchtete, wenn ſie irgend konnte, in die Einſamkeit ihres Zim¬ mers. Wenn ſie in der Geſellſchaft war, ſchloß ſie ſich am liebſten an ihren Vater an, oder ſuchte es auf den Spaziergängen ſo einzurichten, daß Bruno ihr Begleiter war. Sie hatte ſtets einen kleinen Dienſt für ihn; bald mußte er ihr den Hut, bald die Man¬ tille tragen, bald hatte er ihr eine Blume zu pflücken, die auf der andern Seite des Grabens wuchs, bald ihr an einer ſteileren Stelle des Ufers die Hand zu reichen. Bruno unterzog ſich dieſem Dienſte mit einem milden Ernſt, der freilich den Spott des Baron Felix zuweilen herausforderte, für Jeden aber, der ſich für den Knaben intereſſirte, und die wilde Un¬ bändigkeit ſeiner Natur kannte, etwas unendlich Rüh¬ rendes hatte. Sein Weſen ſchien, ſobald Helene's Blick auf ihn ruhte, wie umgewandelt. Er war dann ſanft und freundlich, dienſtfertig und zuvorkommend; ein Wort von ihr, nur ein Wink ihrer langen, dunkeln Wimpern genügte, ihn, wenn er ſich ja einmal von ſeiner alten Heftigkeit hinreißen ließ, ſofort zu be¬ ſänftigen. Dieſe Heftigkeit machte ſich vor allem gegen Felix Luft, gegen den er einen Haß und eine Ver¬ achtung, die er ſich kaum zu verbergen bemühte,43 empfand. Stets hatte er ein höhniſches, bitteres Wort für ihn in Bereitſchaft; die mancherlei kleinen Blößen, die jener ſich in ſeiner maßloſen Eitelkeit der Geſellſchaft gegenüber gab, fanden in Bruno einen unerbittlichen, grauſamen Verfolger, der um ſo läſtiger war, als ſeine Jugend ihn nicht als ebenbürtigen Gegner erſcheinen ließ, gegen den man mit anderen Waffen kämpfen konnte, als höchſtens mit einem von oben herab geführten Hiebe, der meiſtens ganz vor¬ trefflich parirt wurde. Felix ſelbſt empfand dies einigermaßen, und wenn ihm der Knabe auch nicht gefährlich ſchien, ſo war er ihm doch im hohen Grade unbequem. Wo Helene war, da war auch Bruno, und traf es ſich ja einmal auf den Spaziergängen, daß ſie allein zurückgeblieben war, und war Felix eben im beſten Zuge, von der Liebe im Allgemeinen denn weiter war er noch nicht gekommen zu ſprechen, ſo geſellte ſich wie auf Verabredung Bruno zu ihnen, und Felix, der von Botanik und Minera¬ logie nicht das Mindeſte verſtand, blieb nichts übrig, als die Beiden ihren naturwiſſenſchaftlichen Beſtre¬ bungen zu überlaſſen. Wie würde er ſich gewundert haben, wenn er gehört hätte, daß dieſe Verhandlun¬ gen abgebrochen wurden, ſobald er aus dem Gehör¬ kreiſe war, daß Bruno, die Blume, über die ſie ſo44 eben geſprochen hatten, zerraufend, durch die Zähne ſagte: Sieh, Helene, ſo zerreißeſt Du mein Herz, wenn Du ſchwach genug biſt, dieſen Felix zu lieben! Das alte Lied, Bruno? Ja, das alte Lied; und ich will Dir es ſingen, ſo lange ich noch, Athem in der Bruſt habe! Meinſt Du, ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn Tante und Felix die Köpfe zuſammen ſtecken und von Zeit zu Zeit verſtohlen auf Dich blicken? O! mein Auge iſt ſcharf, und mein Ohr iſt es nicht minder. Geſtern, als ich an ihnen vorüber¬ ſtrich, meinte der ſaubere Herr: ſie wird ſchon zur Vernunft kommen! ſie das biſt Du: und zur Ver¬ nunft kommen, heißt: ſie wird allen Stolz ſo weit vergeſſen, und einen ſolchen jämmerlich eitlen Pfauen, wie ich einer bin, heiraten. Aber, wie kommſt Du nur auf dieſe Gedanken, Bruno? Nun, ich dächte, ſie lägen nahe genug; und Dir gehen ſie auch durch den Kopf, oder weshalb blickteſt Du oft ſo in Dich verſunken vor Dich hin und dann plötz¬ lich zu Felix oder zu Oswald hinüber, als ob Du ſie mit einander verglicheſt. Ja, vergleiche ſie nur immer! Du wirſt dann den Unterſchied entdecken zwiſchen einem Manne und einem Affen. Du haſt wol Herrn Stein ſehr lieb, Bruno? Iſt er denn immer ſo ſtill und traurig, wie jetzt? Bewahre45 er kann ſo ausgelaſſen ſein, wie ein Füllen, ich weiß nicht, was ihm fehlt, oder ich weiß es wol, aber Aber? Aber ich darf es nicht ſagen; oder ja, Dir darf ich es ſagen, denn Du biſt nicht wie die anderen Menſchen. Mir iſt immer, als müßteſt Du mir ins Herz ſehen dürfen, wie ſie ſagen, daß uns Gott ins Herz ſchaut; als dürfe man vor Dir, wie vor Gott keine Geheimniſſe haben. Aber ich will nicht, daß Du ein Geheimniß verräthſt. Ich ver¬ rathe nichts, denn Oswald hat mir nie ein Wort ge¬ ſagt. Ich weiß nur, daß er ſo ſtill und traurig iſt, ſeitdem Tante Berkow fort iſt. Es wurde doch heute Mittag darüber geſprochen, wie lange ſie wol noch fortbleiben, ob ſie wol nach Herrn von Berkow's Tode wieder heiraten würde, und da ſah ich, wie Oswald ſich entfärbte und während des ganzen Ge¬ ſpräches die Augen nicht von ſeinem Teller hob. Und dann, als Felix meinte: daß Baron Oldenburg, der ja auch, wie er ganz zufällig durch einen Freund erfahren, nach N. gereiſt ſei, vielleicht darüber nähere Auskunft geben könnte, hob er ſchnell, mit einem zor¬ nigen Blick zu Felix hinüber, den Kopf und öffnete den Mund, als ob er etwas ſagen wollte; aber er ſagte nichts und biß ſich in die Lippen; und heute Abend iſt er noch ganz beſonders verſtimmt. Und46 das Alles heißt? Das Alles heißt, daß Oswald Tante Berkow ſehr lieb hat und daß er nicht mag, wenn über ſie geſprochen wird; eben ſo wenig wie ich es mag, wenn Tante und Felix über Dich ſprechen. Ach, Du weißt ja nicht, was Du redeſt. Natür¬ lich, das iſt immer das Ende vom Liede; ich weiß nichts; ich bin ein dummer Junge; heiſa, heiſa, hopſaſa! ich habe keine Ohren, zu hören, keine Augen, zu ſehen? warum? weil ich erſt ſechszehn Jahre alt bin und mein Bart noch einiges zu wünſchen übrig läßt.

Wie Helene dieſe Mittheilung aufnahm? ob ſie im Stillen nicht doch eine Art von Enttäuſchung em¬ pfand? ob ſie die Melancholie in Oswald's großen blauen Augen nicht doch anders erklärt hatte? viel¬ leicht hätte ſie ſelbſt ſich darüber keine Rechenſchaft zu geben vermocht; auf jeden Fall aber wurde das Intereſſe, welches ſie ſeit dem Abend am Strande für Oswald zu empfinden begonnen hatte, noch be¬ deutend erhöht. Sie fing an, ihn noch genauer als vorher zu beobachten; ſie war aufmerkſam auf jedes ſeiner Worte; ſie ſang und ſpielte vorzugsweiſe gern die Lieder und Muſikſtücke, die ſeinen Beifall hatten; ſie freute ſich, als er wieder, wie früher, des Mor¬ gens in den Garten kam, und empfand es mit einiger47 Genugthuung, daß der jetzt ſo ſchweigſame bei dieſen Gelegenheiten ſtets gute freundliche Worte für ſie hatte und auf jedes von ihr angegebene Thema, bald ernſt, bald launig, immer aber mit dem herzlichen Ton eines älteren Bruders, der einer lieben Schweſter gern von ſeinem reicheren Wiſſen mittheilt, einging. Uebte der Zauber von Oswald's Perſönlichkeit ſeinen Einfluß auf das ſtolze, aber für alles Schöne und Edle tief empfängliche Herz des jungen Mädchens? war es Eiferſucht? war es nur eine Art von Oppo¬ ſition gegen die ihr immer deutlicher werdenden Pläne ihrer Mutter, die ſie gerade jetzt an einem Mann, über welchen ihr ariſtokratiſches Auge ſonſt wol weg¬ geblickt hätte, ein ſolches Intereſſe nehmen ließ? ... Die verſchiedenartigſten Empfindungen bekämpften ſich in ihrem Herzen, wie oft an einem tiefblauen Som¬ merhimmel leichte, graue Wolken durcheinander trei¬ ben und fließen bis der Sturm in ſeiner Vollgewalt hereinbricht.

[48]

Drittes Kapitel.

Die Baronin hatte dem von Felix geäußerten Rath, an dem geſelligen Leben des Adels der Umge¬ gend in ſeinem Intereſſe einen lebhafteren Antheil zu nehmen, nach reiflicher Ueberlegung folgen zu müſſen geglaubt, und es dauerte nicht lange, als faſt kein Tag verging, an welchem nicht die Familie entweder in die Nachbarſchaft gebeten war, oder, was noch häufiger geſchah, ſelbſt Beſuch zu empfangen hatte. Man ſchien entzückt, daß Schloß Grenwitz, früher we¬ gen ſeiner Gaſtlichkeit mit Recht weit und breit be¬ rühmt, wieder, wie ſonſt, der Vereinigungspunkt der geſchäftigen Müßiggänger werden ſollte; man billigte höchlichſt Anna-Maria's Entſchluß, das klöſterlich ſtille Leben, das ſie bis dahin geführt, mit einem neuen glänzenderen und einer ſo alten ruhmreichen Familie würdigeren zu vertauſchen; man ſagte ihr ſo viele Schmeicheleien über ihre Unterhaltungsgabe,49 über ihr Talent, große Geſellſchaften zu arrangiren, daß ſie die Koſten, welche dieſe ihr ganz ungewohnte Gaſtfreundſchaft veranlaßte, vor ihrem eigenen, in Geldangelegenheiten äußerſt ſtrengen und zarten Ge¬ wiſſen durch die unumgängliche Nothwendigkeit der Maßregel, ſo gut es gehen wollte, zu entſchuldigen ſuchte.

Oswald hatte auf dieſe Weiſe ſchon mehre der ihm vom Balle in Barnewitz her bekannten Geſichter wieder geſehen; aber noch keines von denen, die ihm ein vorzüglicheres Intereſſe abgewonnen hatten. Es war ein eigenthümlicher Zufall, daß an einem Nach¬ mittage, theils gebeten, theils ungebeten, ſich beinahe Alle zuſammenfanden, die damals für ihn mehr oder weniger merkwürdig geworden waren, bis andere Er¬ eigniſſe und andere Perſonen in den Vordergrund traten und jene verdrängten. Mit ſehr verſchiedenen Empfindungen ſah er nach und nach von Barnewitz mit ſeiner Gemalin Hortenſe, Herrn von Cloten, den Grafen Grieben und Andere eintreten und ſein In¬ tereſſe wurde geradezu ein peinliches, als zuletzt, ganz unerwartet noch ein Wagen vorfuhr, aus welchem Adolf und Emilie von Breeſen und die Tante Breeſen, deren zahnloſen Mund und ſpitze Zunge Oswald noch ſehr wohl in[Andenken] hatte, ſtiegen.

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 450

Hierher, mein feiner, junger Herr! rief die alte Dame, als ſie nach den erſten Begrüßungen ihn er¬ blickte; warum ſind Sie nicht uns zu beſuchen ge¬ kommen, wie Sie verſprochen hatten? habe ich Sie deshalb meinem ungerathenen Neffen als das Muſter eines wohlerzogenen jungen Mannes, der da weiß, was er alten Damen ſchuldig iſt, vorgeſtellt? habe ich deshalb Ihre Ausſprache des Franzöſiſchen mei¬ ner naſeweiſen Nichte als muſtergültig gerühmt? Schämen Sie ſich! ich beehre Sie mit meiner Un¬ gnade!

Ich verdiene dieſe durchaus nicht, gnädige Frau! ſagte Oswald. Ich konnte nicht kommen, wie ich wollte, und geſetzt, ich hätte wirklich eine Unterlaſſungs¬ ſünde begangen, ſo bin ich doch wahrlich, auch ohne Ihre Ungnade, ſchwer genug beſtraft.

Ja, ja ſchöne Redensarten, daran fehlt es Ihnen nicht. Sind Sie auch nicht weniger unartig, wie die andern jungen Leute, ſo ſind Sie doch ein wenig weniger plump, und ſchon deshalb muß ich Ihnen verzeihen. Hier haben Sie meine Hand, und nun ſehen Sie zu, wie Sie mit meiner Nichte fertig werden, ohne daß ſie Ihnen die hübſchen Augen auskratzt.

Damit wandte die alte lebhafte Dame Oswald den51 Rücken, und ließ ihn in einem von ſeiner Seite ſehr wenig erwünſchten tête à tête mit der hübſchen Emilie, die, ohne die Augen von dem Boden zu erheben, mit leicht gerötheten Wangen und unruhig wogendem Buſen vor ihm ſtand.

Oswald war feſt entſchloſſen, das kindiſche und doch gefährliche Spiel mit dem leidenſchaftlichen Mäd¬ chen nicht wieder zu beginnen. Er wünſchte und hoffte, daß ſie ſelbſt zur Beſinnung gekommen ſein möge. Er ſah es deshalb nicht ungern, als Fräulein Emilie einige gleichgültige Worte, die er an ſie rich¬ tete, ſcheinbar unbefangen beantwortete und ſich ſodann zu einer Gruppe junger Mädchen geſellte, die ſich um Helene geſchaart hatte, um den modiſchen Schnitt eines weißen Kleides, das ſie heute zum erſten Male trug, zu bewundern.

Auch ſeine Begegnung mit Herrn von Cloten war weniger unerquicklich, als er nach ihrem letzten un¬ verhofften Zuſammentreffen auf Oldenburg's Solitüde erwarten konnte. Der junge Edelmann that ſehr er¬ freut, ihn nach ſo langer Zeit wieder zu ſehen; er¬ kundigte ſich angelegentlich nach Oldenburg, erinnerte an das Piſtolenſchießen in Barnewitz und fragte, ob Oswald ihm heute Revanche geben wollte.

Oswald war einigermaßen geſpannt, zu ſehen, wie4 *52ſich Cloten und Barnewitz gegen einander benehmen würden. Zu ſeiner nicht geringen Verwunderung ſchien zwiſchen dieſen beiden Herrn das vollſtändigſte Einvernehmen zu herrſchen. Oldenburg hatte ſich in dieſer Angelegenheit als ein ausgezeichneter Diplomat gezeigt. Er hatte Jedem der Beiden weiß gemacht, daß der Andere nach ſeinem Blute lechze, und ſo die beiden Männer, die, nicht ohne alle Urſache, das Le¬ ben, das ſie führten, viel zu behaglich fanden, um ohne gewichtige Veranlaſſung daraus zu ſcheiden, für ſeine Vermittlungsvorſchläge geneigt gemacht. Herrn von Barnewitz hatte er Cloten's Liebeshandel mit Hortenſe als eine ganz unſchuldige Tändelei dargeſtellt, und ge¬ ſchworen, wie er überzeugt ſei, daß dieſer junge Mann mit jener Dame zu keiner Zeit in einem intimeren Verhältniß geſtanden habe, als viele andere Bekannte, zum Beiſpiel er ſelbſt eine arge Zweideutigkeit, die indeſſen von dem nicht ſehr ſcharfſinnigen Ehemanne als ein Argument für die Unſchuld ſeiner Frau an¬ geſehen wurde. Dem jungen ländlichen Don Juan dagegen hatte er den Rath gegeben, in Barnewitz 'Gegenwart ein paar Mal ungezogen und grob gegen Hortenſe zu ſein, und vor allem ſich irgend eine der Damen ihres Cirkels auszuwählen, um ihr möglichſt auffallend den Hof zu machen. Cloten äußerſt froh,53 ſich ſo leichten Kaufs aus dem fatalen Handel zu zie¬ hen, hatte Oldenburg's Rath pünktlich befolgt und von Stund an begonnen, Fräulein von Breeſen zum Gegenſtand ſeiner Huldigungen zu machen. Er war indeſſen bisher in ſeinen Bemühungen ſehr wenig glücklich geweſen. Im Gegentheil. Er hatte viel Spott und Hohn aus dem Munde des übermüthigen Mädchens über ſich ergehen laſſen müſſen; ſeine Lie¬ besverſicherungen wurden mit ironiſchen Bemerkungen zurückgewieſen und ſeine Ritterdienſte mit einer Gleich¬ gültigkeit entgegen genommen, die ihn, wenn es ihm wirklich Ernſt geweſen wäre, zur Verzweiflung ge¬ bracht haben würden. Und es war ihm, wie es in ſolchen Dingen zu gehen pflegt, nach und nach wirk¬ lich Ernſt mit der anfänglich ſo leichtſinnigen Tän¬ delei geworden. Fräulein Emilie gehörte nicht zu den Damen, mit welchen man ungeſtraft ſpielen und tän¬ deln kann. Sie war ſo reizend ſelbſt in ihrem Ueber¬ muth, ſo liebenswürdig ſelbſt in ihrer Ungezogenheit, daß der unglückliche Vogelſteller ſich von Tag zu Tag tiefer in die Netze, die er ſelbſt gelegt hatte, ver¬ ſtrickte, und jetzt Alles darum gegeben haben würde, ein freundliches Wort aus dem angebeteten Munde zu erhalten. Wie überraſcht war er deshalb, wie außer ſich vor Entzücken, als ihm Fräulein Emilie,54 die er kaum noch anzureden wagte, heute mit der größten Freundlichkeit entgegenkam, ihn auf dem Spa¬ ziergang, den man durch den Garten machte, zum Be¬ gleiter erwählte, ihren Sonnenſchirm von ihm tra¬ gen, ſich Blumen von ihm pflücken, ein im Saale vergeſſenes Taſchentuch von ihm holen ließ, mit einem Worte, ſcheinbar Alles that, die ihm in den letzten Wochen zugefügten Beleidigungen in einer Stunde wieder gut zu machen.

Cloten ſchwamm in einem Meere von Seligkeit; ſeine waſſerblauen Augen ſtrahlten; er drehte ohne Aufhören ſeinen kleinen blonden Schnurrbart und lächelte dumm vergnügt, ſo oft ihm eine Aeußerung, wie: nun, Cloten, kann man gratuliren? oder: recht ſo, Cloten nur nicht ängſtlich! und ähnliche in's Ohr getuſchelt wurden.

Oswald wußte nicht, was er von dieſer Komödie denken ſollte. Im Anfang glaubte er, Emilie wolle ihm nur zeigen: ſieh! es fehlt mir nicht an Bewun¬ derern! Er konnte nicht annehmen, daß ein ſo geiſt¬ volles und mochten ihre Fehler ſein, welche ſie wollten immerhin liebenswürdiges, und jedenfalls ſehr hübſches Mädchen ſich ernſtlich für einen ſo faden Menſchen, wie Cloten, intereſſiren könnte. Als der Abend aber hereinbrach, die Geſellſchaft ſich55 aus dem Garten allmälig in die nach dem Raſenplatz führenden Zimmer zurückzog, und zuletzt nur noch Emilie mit Herrn von Cloten unermüdlich draußen promenirten, mußte er ſich wohl der Meinung der Geſellſchaft, daß die Verlobung zwiſchen Cloten und Fräulein von Breeſen nicht mehr lange auf ſich warten laſſen werde, anſchließen. Es that ihm leid um das Mädchen, das ſich ſo wegwerfen konnte; dann aber dachte er wieder: Du brauchteſt Dir wahrlich wegen eines ſo leichtſinnigen Geſchöpfes keine ſo großen Ge¬ wiſſensbiſſe zu machen. Sie ſind im Grunde Eines des Andern vollkommen würdig. Ob ſich dieſer Cloten nicht ſchämt, vor den Augen der Frau, die er liebte, ein ſolches Schauſpiel aufzuführen?

Er wandte ſich zu Hortenſe von Barnewitz, die in einer Fenſterniſche des Saales ganz allein ſtand. Die hübſche Blondine ſchien, ſehr gegen ihre Gewohnheit denn ſie war eine der gefeiertſten und verwöhn¬ teſten Damen dieſe Vernachläſſigung von Seiten der Herren heute gern zu ſehen.

Werden Sie heute nicht tanzen, gnädige Frau? fragte Oswald.

Soll denn getanzt werden? antwortete Hortenſe, wie aus einem Traum erwachend.

Gewiß. Die Baronin läßt ſoeben das Klavier56 in den Saal ſchaffen. Herr Timm hat ſich erboten, zu ſpielen; ich wollte mir erlauben, die gnädige Frau um den erſten Tanz zu bitten, im Fall Sie ſich noch nicht verſagt haben.

Ich mich verſagt? Bewahre! die Zeiten ſind vor¬ über, wo ich auf Wochen voraus zu jedem Tanz en¬ gagirt war. Ich überlaſſe das jetzt den Jüngeren.

Sie belieben zu ſcherzen.

Keineswegs. Sie ſind der Erſte und weil ich fürchte, daß Sie auch der Letzte ſein werden, will ich lieber gar nicht anfangen, ſondern Sie bitten, ſich ein wenig zu mir zu ſetzen, und die Zeit, die Sie mit mir vertanzen wollten, in aller Ruhe zu verplaudern. Iſt es Ihnen recht?

Die Frage beantwortet ſich ſelbſt, ſagte Os¬ wald, Hortenſe einen Stuhl herbeiziehend.

Setzen Sie ſich auch! ſagte dieſe. Ich höre, Herr Doctor; Sie haben ein großes Talent zur Sa¬ tire; laſſen Sie mich eine Probe dieſes Talentes hören; an Stoff kann's Ihnen ja nicht fehlen, wenn Sie von unſerem Standpunkt aus einen Blick auf die Ge¬ ſellſchaft hier im Saale werfen. Welche von den Damen halten Sie für die hübſcheſte?

Sie meinen die am wenigſten häßliche?

Sie Spötter! Freilich, außer einigen erträglichen57 Toiletten iſt nicht viel Hübſches wahrzunehmen. Wie finden Sie Helene Grenwitz?

Ich finde ſie gar nicht, trotzdem ich ſie überall mit den Blicken ſuche.

Dort, rechts von der Thür. Sie ſpricht mit ihrem Couſin Felix. Wie ſteht denn die Angelegen¬ heit? hat Felix ſich noch immer nicht erklärt?

Jedenfalls noch nicht gegen mich.

Das glaube ich gern. Aber glauben Sie, daß er ſich, erklären wird?

Nein.

Weshalb?

Weil ich die ganze Sache für unerklärlich halte.

Schwärmen Sie etwa für Fräulein Helene?

Ganz unendlich.

Sie intereſſiren ſich überhaupt wohl beſonders für junge Mädchen, die eben aus der Penſion kommen?

Nur, wenn ſie wirklich intereſſant ſind.

Nicht immer; oder Sie wollen doch nicht be¬ haupten, daß Emilie Breeſen dies Beiwort verdient?

Ich habe auch nie für Fräulein von Breeſen ge¬ ſchwärmt.

Deſto mehr die Kleine für Sie. Lisbeth von Meyen iſt die Vertraute von Emilien's Liebeskummer58 geworden und Lisbeth hat natürlich die ganze Sache ausgeplaudert.

Aber das iſt ja unmöglich!

Beruhigen Sie ſich nur! Sie ſehen ja, das gute Kind hat ſich ſchnell genug wieder getröſtet. Heute ſchwärmt ſie für Cloten; ein ander Mal wird ſie für einen Andern ſchwärmen. Die Kleine hat Talent, ſie kann es noch einmal weit bringen. Mich dauert nur der arme Cloten.

Aber weshalb begiebt er ſich in die Gefahr?

Freilich, und noch dazu ohne ſeinen Mentor.

Wer iſt das?

Baron Oldenburg. Er wird den Rath ſeines edlen Freundes mißverſtanden haben und die kleine Emilie aus purem Mißverſtändniß heirathen.

Sie belieben in für mich unergründlichen Räth¬ ſeln zu ſprechen, gnädige Frau.

Ich bitte um Verzeihung ... Sagen Sie, ſind Sie wirklich, wie die Fama ſagt, in der kurzen Zeit der Buſenfreund des Barons geworden?

Die Fama hat in dieſem Falle wie ſtets aus der Mücke einen Elephanten gemacht.

Glauben Sie, daß ich es gut mit Ihnen meine? ſagte Hortenſe und ſie blickte Oswald voll in die Augen.

59

Ich habe keinen Grund, das Gegentheil anzu¬ nehmen; antwortete dieſer, den das Geſpräch, wel¬ ches er ganz abſichtslos angeknüpft hatte, auf eigen¬ thümliche Weiſe zu intereſſiren begann.

So folgen Sie meinem Rath: hüten Sie ſich vor dem Baron, wie vor ihrem ſchlimmſten Feind!

Weshalb?

Weil er falſch iſt bis ins innerſte Herz hinein.

Sie kennen den Baron genau?

Ganz genau.

Und verzeihen Sie mir, wenn ich eine ſo ſchwere Beſchuldigung eines Mannes, den ich ich ich geſtehe es bis jetzt hoch geachtet habe, nicht ſofort zu glauben vermag haben Sie Beweiſe von des Barons Falſchheit?

Tauſend für einen.

Geben Sie nur einen!

Es bleibt unter uns, was ich Ihnen erzählen werde?

Das verſpreche ich.

So hören Sie. Sie kennen meine Couſine Me¬ litta. Nun, ſie hat ihre Schwächen wie wir Alle, aber ſie iſt doch im Grunde eine charmante Frau, die ich ſehr lieb habe, und um die es mir leid thun ſollte, wenn ſie ſich, wie es den Anſchein hat, wieder in60 dieſelben ſchlechten Hände giebt, aus denen ich ſie mit ſo viel Mühe glücklich erlöſt zu haben glaubte. Wenn Melitta nicht ſo gut iſt, wie ſie ſein könnte Ol¬ denburg allein hat es auf dem Gewiſſen. Er hat ihr, als ſie noch ein junges Mädchen war, mit ſeinen tollen Ideen den Kopf verdreht, daß ſie zuletzt nicht mehr Recht von Unrecht unterſcheiden konnte. Er hat, als ſie endlich die ausgezeichnete Partie mit Herrn von Berkow gemacht hatte, das ganze, im An¬ fang ſo ſchöne Verhältniß zerſtört; und wenn Berkow zuletzt vor Eiferſucht toll geworden iſt, es kann Nie¬ manden verwundern, der es, wie ich, mit angeſehen hat, wie es die Beiden trieben. Endlich gelang es mir, bei Melitta auszuwirken, daß ſie Oldenburg auf einige Zeit wenigſtens fortſchickte. Er ging; aber, als wir vor ein paar Jahren Italien bereiſten, ſtellte ſich Oldenburg wieder ein ob zufällig, ob von Melitta herbeigerufen ich laſſe es unentſchieden. Nach ihrem Benehmen ſollte ich freilich das Letztere ver¬ muthen. Das alte Lied begann von Neuem. Ein¬ ſame Promenaden, Austauſch von Liebesſchwüren, wo¬ bei ſie ſich ſelbſt durch die Anweſenheit dritter Per¬ ſonen nicht geniren ließen mit einem Worte: es war für Jemand, die, wie ich, etwas ſtreng in ſolchen Sachen denkt und die, wie ich, Melitta noch dazu ſo61 aufrichtig liebte, ein recht häßliches Schauſpiel. Ver¬ gebens bat und beſchwor ich Melitta, an ihren kranken Gemal, an ihr Kind zu denken. Ich predigte tauben Ohren. Da entſchloß ich mich zu einem verzweifelten Mittel. Um ihr Oldenburgs Treuloſigkeit von der mir von anderen Seiten die fabelhafteſten Dinge erzählt waren zu beweiſen, ließ ich mich herbei, ihn glauben zu machen, ich ſelbſt liebte ihn. Es ge¬ hörte dazu nicht viel, denn der Baron iſt eben ſo eitel, wie er verrätheriſch und zügellos in ſeinen Lei¬ denſchaften iſt. Bald verfolgte er jetzt mich mit ſeinen Huldigungen natürlich, ohne ſich Melitta gegen¬ über zu verrathen. Dabei ſprach er ſo lieblos, ſo ſchlecht von meiner armen Couſine, daß ich kaum im Stande war, die Maske, die ich vorgenommen hatte, feſtzuhalten. Und doch mußte ich es, bis Oldenburg, von ſeiner Leidenſchaft hingeriſſen, blind in das Netz rannte, das ich ihm ſtellte. Ich wußte es ſo einzu¬ richten, daß er es war im Garten der Villa Serra di Falco bei Palermo mir eine feurige Liebeser¬ klärung machte, während Melitta ſechs Schritte davon hinter einem Myrthengebüſche ſtand. Die Arme! es war eine ſchmerzliche Operation, aber ich konnte ihr nicht anders helfen. Oldenburg war natürlich am nächſten Morgen verſchwunden. Ich ſuchte Melitta62 zu zerſtreuen, ſo gut es ging, und ich muß geſtehen, ſie zeigte ſich gefaßter, als ich nach einer ſo ſchmerz¬ lichen Enttäuſchung, einer ſo tiefen Demüthigung für möglich gehalten hätte. Ich hoffte, daß die grauſame Lehre, die ſie empfangen, ihr ein für alle Mal über Oldenburg die Augen geöffnet hätte; hoffte es um ſo mehr, als der Baron ihr durch mehrjährige Abweſen¬ heit Zeit genug zur Beſinnung ließ. Da plötzlich taucht er vor einigen Wochen ganz unerwartet wieder auf. Mir ahnte ſofort nichts Gutes denn das Erſcheinen dieſes Mannes iſt immer von etwas Außer¬ gewöhnlichem begleitet. Wie er es angefangen hat, ſich wieder Melitta's Gunſt zu erwerben, wie es möglich iſt, daß Melitta ſchwach genug ſein konnte, ihm wieder ihre Gunſt zu gewähren ich weiß es nicht denn Beide haben in einem hohen Grade das Talent, ihre Handlungen den Blicken der Men¬ ſchen zu entziehen. So viel ſteht feſt: eine Ausſöh¬ nung von der wir bei einem ſo erfahrenen Paare annehmen müſſen, daß ſie eine vollſtändige war kam zu Stande, und damit die Feier dieſer Ausſöh¬ nung möglichſt geheim bleibe, machen ſie eine gemein¬ ſchaftliche Badereiſe; und wohin? nach N., dem Orte, wo der Gemal Melitta's ſeit ſieben Jahren krank liegt! Wahrlich, ich bedaure Melitta. Wenn ſie dar¬63 auf ausging, ihren Ruf zu ruiniren, ſie hätte es hier bequemer haben können. Denn geſetzt auch, Berkows tödtliche Krankheit iſt nicht fingirt, was hat denn Ol¬ denburg, der dieſe Krankheit jedenfalls mit veranlaßt hat, dabei zu thun? und glaubt denn Melitta, daß der Baron ſie nach dem Tode Berkows heirathen wird? Du lieber Himmel! wenn Oldenburg alle Frauen heirathen ſollte, denen er in ſeinem Leben Liebe geſchworen, er müßte ſich ein Serail anlegen, in welchem alle Stände von der Herzogin bis zur Kammerjungfer, alle Nationen und ich glaube auch alle Racen vertreten wären. Aber, mein Gott, was iſt Ihnen? Sie ſehen ja wie eine Leiche aus! Sind Sie nicht wohl?

Es iſt nur die übergroße Hitze, ſagte Oswald, ſich erhebend; ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie ſo plötzlich verlaſſe. Ich will verſuchen, ob die friſche Abendluft mich wieder herſtellt.

Er machte Hortenſe eine ſehr förmliche Verbeugung und entfernte ſich, ohne ihre Antwort abzuwarten.

Nun, was bedeutet denn das? fragte dieſe, in¬ dem ſie dem Forteilenden verwundert nachſah. Hat meine vortreffliche Couſine auch hier eine Eroberung gemacht? und habe ich, ohne es zu wiſſen und zu wollen, zwei Fliegen mit einer Klappe geſchlagen? 64Eigentlich wollte ich blos Oldenburg einen Freund rauben, wenn ich Melitta bei der Gelegenheit auch um einen Bewunderer ärmer gemacht habe deſto beſſer. Ich glaube, aus dem jungen Menſchen wäre etwas zu machen. Freilich ich muß jetzt etwas vorſichtig ſein, denn Barnewitz iſt nach der letzten Affaire mit Cloten ein wahrer Othello da kommt er ja ... nun, lieber Barnewitz, ſiehſt Du Dich auch einmal nach Deiner verlaſſenen kleinen Frau um? ich ſitze hier nun ſchon den ganzen Abend und ſchmachte nach Dir.

Warum tanzt Du denn nicht?

Meinſt Du, daß es mir Vergnügen macht, wenn Du nicht dabei biſt?

Ich habe mit dem jungen Grieben und Anderen ein kleines Jeu arrangirt; aber ich kann ſchon einmal mit Dir herumſpringen. Komm! ſie fangen eben einen Walzer an. Das iſt ſo meine Force!

Und das glückliche Paar trat in die Reihe der Tanzenden.

Unterdeſſen irrte Oswald in dem Garten umher, ruhelos, wie ein von furchtbaren Schmerzen Gepei¬ nigter. Aus den offenen Fenſtern und Thüren der Zimmer ſtrahlten die Lichter; um den Raſenplatz herum hatte Anna-Maria Laternen von buntem Papier auf¬65 ſtellen laſſen, die der helle Mondſchein allerdings ziem¬ lich überflüſſig machte. Von Zeit zu Zeit traten ein¬ zelne Paare auf den Platz hinaus und promenirten in der balſamiſchen Nachtluft. Es war eine feſtliche, heiter ſchöne Scene, die Oswald's verdüſtertes Ge¬ müth beleidigte, wie wenn ein Freund zu unſeren Qualen lächelt. Er erſtieg den Wall, ſetzte ſich auf eine Bank und ſtarrte, den Kopf in die Hand ge¬ drückt, in das Waſſer des Grabens, auf dem die Mondesſtrahlen unheimlich glitzerten.

Wäre es nicht beſſer, Du machteſt Deinem elen¬ den Daſein ein ſchnelles Ende, murmelte er, als daß Du Dir zur Qual und Keinem zur Freude die Bürde des Lebens weiter ſchleppſt? Willſt Du denn fortvegetiren, bis Dir jede Illuſion zerſtört iſt, bis Du Alles und Jedes, was Du werth und heilig hieltſt, über Bord geworfen haſt, über Bord haſt werfen müſſen? willſt Du denn warten, bis Dir die Geduld vollends ausgeht, wie dem edlen, großherzigen Berger? So alſo ſieht das Bild der Frau aus, vor der Du wie vor einer Heiligen gekniet haſt? das iſt der Mann, deſſen Hand in der Deinen zu halten, Dir eine Ehre ſchien? Du warſt ihr nichts als ein Spielball ihrer hochadligen Laune, und er hat ſeinen allerliebſtenF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 566freiherrlichen Scherz mit Dir getrieben? Aber das iſt ja nicht möglich! nicht möglich? warum denn nicht? iſt die Welt, in der ſich dieſe Menſchen bewegen, nicht durch und durch verfault und verrottet? iſt ihr ganzes Leben nicht eine gemeine Intrigue? betrügt hier nicht die Gattin den Gatten? und dieſer jene? verkauft nicht der Vater ſeine Tochter? verkuppelt nicht die Mutter ihr eigen Fleiſch und Blut? verräth nicht der Freund den Freund? plaudert eine Kokette nicht die Geheimniſſe der andern aus? weshalb wähnſt Du denn, ſie würden mit Dir, dem Plebejer, dem Arbeiter für Lohn und Brot, beſſer verfahren? Und doch, und doch! es iſt entſetzlich! Das Weib, das Du angebetet, wie eine Gottheit, die Maitreſſe eines Anderen, ihn betrügend, Dich betrügend, um von ihm wieder betrogen zu werden! Und Du, gutmüthiger Narr, kämpfſt wie ein Wahnſinniger mit Deiner Lei¬ denſchaft für das holde, herrliche Geſchöpf, die einzig Reine in dieſem Hexenſabbath! denn ſie iſt rein und gut, oder es giebt nichts Reines auf dieſer Welt. Nein, nein! und wenn Alles um Dich her Lug und Trug iſt, und ſchwarzer, tückiſcher Verrath auf dieſen einen hohen Stern willſt Du Dein Auge hef¬ ten es iſt Dein Stern! denn nur das unerreichbar Hohe iſt Deiner Liebe werth! um die Irrlichter, die67 auf dem Sumpfe tanzen, mögen ſich die Molche mit den Kröten zanken.

Ein leichtes Geräuſch an ſeiner Seite machte ihn aus ſeiner gebückten Stellung auffahren. Eine ſchlanke Frauengeſtalt in einem weißen Gewande ſtand vor ihm. Durch eine Lücke in dem Laubdache oben fiel ein Mondenſtrahl auf die ſchlanke, weiße Geſtalt.

Es war Emilie von Breeſen.

Still! ſagte ſie, als Oswald ſich mit einem leiſen Ruf der Verwunderung erhob; bleiben Sie ſitzen! Ich ſah Sie aus dem Saale gehen; ich bin Ihnen gefolgt, weil ich Sie ſprechen will, ſprechen muß. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Es be¬ darf nur eines Wortes ... eines einzigen Wortes, das über mein Leben entſcheiden ſoll. Liebſt Du mich? ja? oder nein?

Das junge Mädchen hatte Oswald's Hand er¬ griffen, die ſie mit krampfhafter Heftigkeit preßte. Ja? oder nein? wiederholte ſie in einem Tone, der die Leidenſchaft, die in ihr wühlte, deutlich genug verrieth.

Aber Oswald's Ohr war taub gegen dieſen Ton; ſein Herz verſchloſſen, wie das Haus eines Mannes, den die Diebe in der Nacht zuvor beſtohlen haben.

Sie irren ſich ohne Zweifel in der Perſon, 5*68ſagte er mit ſchneidendem Hohne. Ich heiße Os¬ wald Stein; Herr von Cloten iſt, ſo viel ich weiß, drinnen im Saale; und er ſuchte ſeine Hand aus der des Mädchens loszumachen.

Habe ich das verdient? ſagte dieſe mit von Thrä¬ nen faſt erſtickter Stimme, und ſie ließ die Arme wie in Verzweiflung ſinken.

Die Nacht iſt kühl, ſagte Oswald, der ſich er¬ hoben hatte; der Thau beginnt zu fallen; Sie werden ſich in dem leichten Anzug erkälten. Darf ich die Ehre haben. Sie in den Saal zurückzubegleiten?

O mein Gott, mein Gott! murmelte Emilie, das ertrage ich nicht! Oswald, ſtoße mich nicht ſo von Dir! wie hab 'ich mich nach dieſem Augenblicke geſehnt! wie habe ich mir tauſend - und tauſendmal wiederholt, was ich Dir Alles ſagen wollte! wie habe ich gehofft, daß Du mich wieder in die Arme nehmen würdeſt, o, mein Himmel, was rede ich? Oswald, habe Mitleid mit mir! Du kannſt meinen Uebermuth von heute Abend nicht ſo grauſam ſtrafen wollen. Ich wollte Dich ein wenig necken; ich dachte jeden Augenblick, Du würdeſt zu mir treten, und dann wollte ich Dir Alles ſagen. Aber Du kamſt und kamſt nicht; und ich mußte die Komödie weiter ſpielen, ſo ſchwer es mir wurde.

69

Sind Sie ſicher, mein Fräulein, daß Sie nicht ſelbſt noch in dieſem Augenblick Komödie ſpielen?

Emilie antwortete nicht. Sie ſank mit einem leiſen Stöhnen auf die Bank, preßte ihr Geſicht in die Hände und ſchluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.

Oswald gehörte nicht zu den Männern, die un¬ gerührt ein Weib können weinen ſehen. Er trat dicht vor die Unglückliche und ſagte in viel milderem Ton:

Wollen Sie mir ein paar Augenblicke ruhig zu¬ hören?

Emilien's einzige Antwort war ein krampfhaftes Schluchzen.

Glauben Sie mir, fuhr Oswald fort; ich be¬ daure von ganzem Herzen, daß eine ſolche Scene wie dieſe möglich wurde, und ich fühle, daß ich einzig und allein die Schuld davon trage. Hätte ich Ihnen an jenem Abend geſagt, was ich Ihnen heute ſagen muß, Ihr Stolz würde Alles längſt entſchieden haben. Ich kann Sie nicht lieben; das klingt ſehr wunderlich gegenüber einem ſo holden, liebenswürdigen Geſchöpf, aber es iſt dennoch wahr. Warum wollen Sie nun Ihre Liebe an Jemand verſchwenden, der ſich des koſtbaren Geſchenkes ſo ganz unwürdig zeigt? warum nicht Jemand damit beglücken, der mehr Talent zum Glücklichſein und Beglücktwerden hat, als ich? Ich70 bin gerade jetzt in einer ſehr gedrückten Stimmung, die mich wol noch mehr wie gewöhnlich unfähig macht, die Dinge und die Menſchen in dem rechten Lichte zu ſehen. Verzeihen Sie mir daher, wenn ich Sie vorhin durch bittere, unüberlegte Worte gekränkt habe, zu denen ich kein Recht hatte und die ich nicht hätte brauchen dürfen, ſelbſt wenn ich im Recht geweſen wäre. Ich bitte, ich beſchwöre Sie: vergeſſen Sie, was zwiſchen uns vorgefallen iſt! und laſſen Sie ſich vor Allem durch dieſe Kränkung nicht zu Entſchlüſſen verleiten, die Sie ſpäter und zu ſpät bereuen würden. Sie haben geſehen, was es heißt, ſeine Liebe einem Unwürdigen ſchenken. Sollte Ihnen dieſe Erfahrung künftig in der Wahl, die Sie über kurz oder lang treffen werden, zu Statten kommen, ſo will ich gern für den Augenblick von Ihnen verkannt ſein, gern Ihren Haß, ſelbſt Ihre Verachtung auf mich geladen haben.

Emilie hatte, während Oswald ſprach, allmählig zu weinen aufgehört. Jetzt ſtand ſie auf und ſagte in beinahe ruhigem Ton:

Es iſt genug! Ich danke Ihnen, Sie haben mir die Augen geöffnet. Sie ſollen nie wieder von mir beläſtigt werden. Sagen Sie mir nur noch dies Eine: werde ich einer Anderen geopfert? lieben Sie eine Andere?

71

Ja, ſagte Oswald nach kurzem Bedenken.

Es iſt gut! Und nun hören Sie dies! Wie ich Sie geliebt habe, mit aller Gluth meines Herzens, ſo haſſe ich Sie jetzt; und wie ich noch vor wenigen Minuten mein Leben freudig für Sie dahingegeben haben würde, ſo heiß wünſche ich jetzt, mich für dieſe Schmach an Ihnen zu rächen. Und ich werde mich rächen; ich werde

Wiederum brach ſie in leidenſchaftliches Weinen aus; aber ſie bezwang ſich ſogleich wieder.

Sie ſind es nicht werth, daß ich ſo viel Thränen um Sie weine. Nun ſetzen Sie Ihrem Benehmen die Krone auf und folgen Sie mir auf dem Fuße in den Saal, damit doch ja die Welt erfahre, welche Närrin ich geweſen bin!

Und ſie eilte von Oswald fort, den Wall hinab, an dem Raſenplatze vorüber nach dem Saal, wo noch immer eifrigſt getanzt wurde. Von Cloten, der ſie überall in den Zimmern vergeblich geſucht hatte und jetzt melancholiſch an einen Thürpfoſten gelehnt ſtand, erblickte ſie ſofort und kam eiligſt auf ſie zu.

Mein gnädiges Fräulein! haben mich in wahre Todesangſt verſetzt! war bei Gott au désespoir! glaubte wahrhaftig, der Himmliſchen Einer habe Sie mir entführt.

72

Ich habe in aller Stille über das, was Sie mir vorhin ſagten, nachgedacht, Herr von Cloten, ant¬ wortete Emilie.

Wahrhaftig! Sie ſind ein Engel! und ich darf hoffen! fragte von Cloten, der die gerötheten Augen¬ lieder und das aufgeregte Weſen des jungen Mädchens natürlich zu ſeinen Gunſten auslegte.

Gehen Sie zu meiner Tante!

Wirklich? wahrhaftig? ich kann es nicht glauben! rief der junge Mann, und ſein freudiger Schrecken war keineswegs gemacht.

So gehen Sie nicht hin! antwortete Fräulein Emilie in einem Ton, der jeden Unbefangenen um die Feſtigkeit des Bundes, der hier geſchloſſen werden ſollte, bange gemacht hätte.

Mein Gott, Emilie, Engel, zürnen Sie nicht! ich eile, ich fliege

Und Herr von Cloten entfernte ſich in augen¬ ſcheinlichſter Verwirrung, um Emiliens Tante aufzu¬ ſuchen.

Emilie blieb auf demſelben Platze ſtehen, bleich, die Arme verſchränkt, die großen Augen ſtarr auf die Gruppen der Tanzenden geheftet, ohne mehr zu ſehen, als wenn ſie die Blicke in's Leere gerichtet hätte.

73

Sie ſind klüger, wie wir Andern! ſagte eine Stimme dicht neben ihr.

Es war Felix von Grenwitz; er hatte ſich auf einen Stuhl geworfen und trocknete ſich mit einem Battiſttaſchentuche die naſſe Stirn.

Lächerlich, bei der Hitze herumzuſpringen; ich dächte wir hörten endlich einmal auf. Und nun hat noch gar Helene Herrn Timm am Klavier abgelöſt; das Mädchen hat doch wahrlich wunderliche Einfälle. Meinen Sie nicht auch, Fräulein Emilie?

Vielleicht fehlt es ihr an einem Tänzer.

Unmöglich.

Nun, vielleicht an dem rechten Tänzer.

C'est à dire?

An dem, mit welchem ſie gern tanzt.

Ich bin ſtets hier geweſen.

Sie bilden ſich doch nicht etwa ein, daß Sie der Glückliche ſind?

Wer denn ſonſt?

Wiſſen Sie nicht, wo Herr Stein geblieben iſt?

Nein, weshalb?

Ich frage nur Fräulein Helenen's halber. Be¬ merken Sie nicht, wie ſie die großen, ſtolzen Augen fortwährend ruhig, aber unaufhörlich durch den Saal ſchweifen läßt?

74

Das kann doch unmöglich Ihr Ernſt ſein?

Weshalb denn nicht? Iſt Herr Stein nicht eine ſehr hübſcher Mann? und hat nicht Helene, wie Sie ſelbſt ſagen, wunderliche Einfälle?

Mein Fräulein, ſagte Felix ernſt; wollen Sie mir die Gnade erweiſen, mir zu ſagen, ob Sie be¬ ſondere Gründe zu dieſer eigenthümlichen Vermuthung haben?

Natürlich habe ich beſondere Gründe.

Und wollen Sie die Güte haben, mir dieſe Gründe zu nennen?

Das kann ich nicht.

In dieſem Augenblick kam Herr von Cloten mit vor Freude ſtrahlendem Geſicht.

Mein gnädiges Fräulein, ſagte er; Ihre Frau Tante wünſcht Sie zu ſprechen. Darf ich die Ehre haben, Sie zu ihr zu begleiten?

Sogleich! ſagte Emilie, und dann zu Felix: Verlaſſen Sie ſich auf das, was ich Ihnen ſagte; ich habe ſcharfe Augen und Ohren.

Sie nahm Cloten's Arm.

Der Sache muß ich auf den Grund kommen, ſagte Felix bei ſich, als die Beiden ſich entfernt hatten. Helenen's Benehmen in den letzten[Tagen] iſt wirklich auffallend.

75

Er trat an das Klavier: Soll ich Ihnen die Blätter umſchlagen, Helene?

Danke! antwortete Helene trocken; ich ſpiele aus dem Kopf.

Nach einer kleinen Pauſe: Bitte, Couſin, gehen Sie fort; es ängſtigt mich, wenn Jemand ſo dicht hinter mir ſteht.

Ich dächte, Doctor Stein hätte geſtern eine halbe Stunde lang hinter Ihnen geſtanden, ohne daß Sie irgend welche Angſt verrathen hätten.

So werde ich aufſtehen; ſagte Helene, griff ein paar ſchnelle Schlußaccorde und ging, ohne das Ah! der mitten im beſten Tanze Geſtörten zu beachten, von dem Klavier fort.

Das iſt doch ſtark; ſagte Felix bei ſich.

Weshalb hörte denn Helene ſo plötzlich auf zu ſpielen? fragte die Baronin, welche die Scene aus der Entfernung beobachtet hatte, herantretend.

Ich weiß es nicht; ſie wird mir wohl etwas übel genommen haben. Sie iſt doch eigenſinniger und launiſcher, als ich dachte. Meinen Sie nicht auch, Tante, daß der Menſch, der Stein, mit ſeinen cor¬ rupten Anſichten doch einen ſchädlichen Einfluß nicht bloß auf Bruno, ſondern auch auf Helene ausübt?

76

Ich habe Ihnen ja immer geſagt, daß ich dem Menſchen nicht im mindeſten traue.

So jagen Sie ihn doch fort.

Ohne alle Veranlaſſung?

Pah, die findet ſich. Wollen Sie mir die Er¬ laubniß geben, eine zu ſuchen?

Aber ohne, daß ein Scandal daraus wird.

Laſſen Sie mich nur machen.

Es muß ſo eingerichtet werden, daß er ſelbſt um ſeine Entlaſſung bittet.

Weshalb?

Ich habe meine Gründe und Felix, ſagen Sie Grenwitz nichts davon. Er iſt in der letzten Zeit ſo rechthaberiſch und eigenſinnig geworden! Ich fürchte ſogar, er ſinnt darauf, unſer Project mit Helene zu ſtören. Ich bitte Sie, Felix, ſeien Sie vorſichtig! Ich wäre außer mir, wenn die Sache ſich zerſchlüge, nachdem ich ſie ſchon unter der Hand nach allen Seiten als ein fait accompli dargeſtellt habe.

Pah! Tante, ſchon wieder ängſtlich? Vertrauen Sie mir: ich pflege zu Ende zu bringen, was ich anfing.

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Viertes Kapitel.

Als Oswald, nach der peinlichen Scene mit Emilie von Breeſen auf ſein Zimmer kam denn zur Geſellſchaft zurückzukehren, war ihm unmöglich ſah er auf ſeinem Tiſche ein Packet liegen, das wäh¬ rend ſeiner Abweſenheit dort hingelegt ſein mußte. Schon der Zuſatz zur Adreſſe: Hierbei die bewußten Bücher mit vielem Danke zurück. Ihr getreuer B. ſagte ihm: von wem dieſes Packet gebracht war, und was es enthielt. Und ſeltſam! er zögerte, das Band, welches es umſchloß, zu löſen. Es war ihm, als ob er kein Recht mehr zu Melitta's Briefen habe, ſeit¬ dem ſein Herz ihr nicht mehr ganz gehörte, als ob vor allem ſie, deren Herz er nie vollſtändig beſeſſen, nie das Recht gehabt, ihm dieſe Zeichen der Liebe zu geben. Endlich, faſt mechaniſch, öffnete er das Packet. Es waren drei Bücher darin. Aus dem mittleren78 fielen zwei Briefe der eine von Melitta, der andere von Bemperlein. Melitta's Brief enthielt nur wenige herzliche Worte, die über die lange Trennung, in welcher ſich mit dem weiten Raum auch noch ſo vieles Andere zwiſchen die Herzen, die einſt voller Seligkeit aneinander geſchlagen, drängen könnte, klagten; und ſchließlich die Hoffnung eines recht baldigen Wieder¬ ſehens ausdrückten. Der Brief trug keine Unterſchrift. Er könnte ja in fremde Hände fallen; ſagte Os¬ wald bitter. Ich will noch großmüthiger ſein, ich will dieſen Zeugen eines Verhältniſſes, deſſen ſie ſich zu ſchämen beginnt, vernichten; und verbrannte das Papier an der Flamme des Lichtes. Der Brief von Bemperlein war ausführlicher, aber er handelte faſt nur von Profeſſor Berger. Bemperlein war während ſeines kurzen Aufenthalts in Grünwald ſehr viel in der Geſellſchaft des Profeſſors, an welchen ihn Os¬ wald ſo warm empfohlen hatte, geweſen, und hatte ſich die Gunſt des wunderlichen Mannes im hohen Grade erworben, ebenſo wie er ſich ſeinerſeits für den genialen Gelehrten begeiſterte. Man kann ſich daher ſein Entſetzen vorſtellen, als Dr. Birkenhain ihm eines Tages mittheilte, ſo eben ſei der Profeſſor Berger in das Krankenhaus abgeliefert worden. Bemperlein ſchrieb Oswald, daß er ſogleich um die Erlaubniß79 gebeten habe, Berger beſuchen zu dürfen; daß ihm dieſe Erlaubniß gegeben ſei, und daß er ſeitdem jeden Tag viele Stunden bei dem Kranken zugebracht habe, der ſeine Geſellſchaft jeder andern vorziehe. Berger ſpreche größtentheils vollkommen vernünftig, nur komme er bei der geringſten Veranlaſſung auf ſeine fixe Idee des Nichts zurück. Er finde es ganz in der Ord¬ nung, daß man ihn in eine Irrenanſtalt gebracht habe, denn ſage er, der Unterſchied zwiſchen den Leuten draußen und denen drinnen beſtehe nur darin, daß jene das werden könnten und reſpective werden würden und eigentlich werden müßten, was dieſe ſchon ſeien. Wenn z. B. Dr. Birkenhain nur gefälligſt einmal ſeinen Kopf auseinander nehmen wollte, ſo würde er die abſolute Hohlheit deſſelben mit eigenen Augen wahrnehmen und ſich in ſeinem Hauſe ein behagliches, ſonniges Zimmer anweiſen laſſen, um in aller Stille über das große Ur-Nichts nachzudenken. Bemperlein ſchrieb, daß Dr. Birkenhain Berger's Wahnſinn nur für temporär halte und die beſtimmte Hoffnung habe, den ausgezeichneten Mann in kurzer Zeit ſeinen Freun¬ den und Schülern geheilt zurückzuſenden.

Was uns ſelbſt angeht, ſchloß Bemperlein, ſo wird Ihnen die gnädige Frau ja wol Alles der Ord¬ nung gemäß berichtet haben. Ich füge nur noch hinzu,80 daß unſers Verbleibens hier, Gott ſei Dank, nun wol nicht mehr lange ſein wird. Herr von Berkow wird täglich ſchwächer; die Schwindſucht macht reißende Fortſchritte. Birkenhain giebt ihm nur wenige Tage. Wir bleiben auf jeden Fall, bis Alles entſchieden iſt. Ich ſehe dieſem Augenblick mit einer Ungeduld ent¬ gegen, die ganz rein von Selbſtſucht iſt. Aus dem Tode dieſes Unglücklichen, der nun ſchon ſeit Jahren kaum noch zu den Lebenden gehört, wird für zwei Menſchen ein neues Leben erblühen zwei Menſchen, die mir unendlich werth und theuer ſind.

Wirklich? ſagte Oswald, den Brief auf den Schooß ſinkend laſſend. Biſt Du deſſen ſo gewiß, guter Bemperlein? Freilich, was ahnt Dein reines Herz von adligem Verrath und freiherrlicher Tücke? [Und] doch! weshalb erwähnt auch er Oldenburg's Anweſenheit nicht? was hat er davon, ein Factum zu verſchweigen, von dem er wiſſen mußte, daß es mich intereſſiren würde? So iſt auch er in dem Com¬ plott? Wohl; ſo willſt du fortan dich auf Niemand verlaſſen, als auf dich ſelbſt! Unter den Wölfen muß man heulen, und der iſt ein Narr, der unter Betrü¬ gern und Lügnern den ehrlichen Mann ſpielen will. Heuchelt Ihr ich kann es auch; ſpielt Ihr Komö¬ die ich will nicht im Parterre ſitzen; lacht Ihr81 Euch ins Fäuſtchen ich werde nicht weinen, und wer zuletzt lacht, lacht am beſten. Ha, ha, ha!

Ich freue mich, Sie in ſo ausgezeichneter Laune zu treffen; ſagte eine Stimme hinter ihm.

Oswald fuhr von ſeinem Stuhle empor und ſtarrte die lange Geſtalt, die plötzlich, wie aus dem Boden gewachſen, vor ihm ſtand, erſchrocken an.

Es was Baron Oldenburg.

Ich bitte um Entſchuldigung, ſagte er, Oswald die Hand, welche dieſer zögend ergriff, entgegenſtreckend daß ich ſo unangemeldet und wie Nikodemus in der Nacht bei Ihnen erſcheine. Aber ich komme dieſen Augenblick erſt von meiner Reiſe zurück und hörte von einem Bedienten, der mit einem Präſentirbrett voll Gläſer und Taſſen an mir vorbeirannte, Sie ſeien auf Ihr Zimmer gegangen. Der Mann hatte eben nur noch Zeit, mir den Weg zu beſchreiben, und klapperte mit ſeinen Gläſern weiter. Und da bin ich denn nun, und, wie geſagt, freue mich, Sie in guter Stimmung zu finden, denn ſonſt hätte ich kaum den Muth, Ihnen zu ſagen, weshalb ich da bin. Wiſſen Sie, wo wir heute Nacht vor einem Monat waren? Es iſt die Nacht, welche uns die braune Gräfin zum Rendezvous beſtimmte. Nehmen Sie noch ſo viel Intereſſe an mir und unſerer kleinen Pflege¬F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 682befohlenen, um mich zu dem bewußten Platze zu be¬ gleiten?

Ich ſtehe in einigen Minuten zu Ihrer Verfü¬ gung, ſagte Oswald; erlauben Sie nur, daß ich mich ein wenig zu unſerer Fahrt zurecht mache.

Er nahm eins der beiden Lichter, die auf dem Tiſche brannten und ging in die Nebenſtube.

Ziehen Sie ſich ja warm an; rief ihm Olden¬ burg nach; es iſt jetzt ſehr kühl gegen Morgen, noch dazu im Walde.

Hm! "murmelte er, als Oswald verſchwunden war; er ſieht bleich und angegriffen aus, und war weniger freundlich, als ſeine Gewohnheit iſt. Er wird doch nichts von meinem Aufenthalte in N., den ich ihm ſo ſorgfältig verheimlichte, erfahren haben? Ich muß ihn ein wenig aushorchen. Es wäre fatal, denn ich ſpreche mit Niemanden gern über mein Ver¬ hältniß zu Melitta, mit ihm am wenigſten.

Unterdeſſen ſagte Oswald, während er ſich um¬ zog, vor ſich hin: Jetzt gilt es klug ſein, wie die Schlange. Spielt Ihr mit mir, ſo will ich mit Euch ſpielen.

Er trat wieder ins Zimmer.

Ich bin bereit.

So wollen wir aufbrechen. Mein Wagen hält83 vor dem Thor; ſagte der Baron, während ſie die Treppe, die nach dem Garten führte, hinunterſtiegen; die Czika ſitzt, in meinem Mantel gehüllt, darin. Meinen Sie nicht auch, daß es gerathen iſt, das Kind zu der Zuſammenkunft mitzunehmen? Wenn die Zigeunerin wirklich des Kindes Mutter iſt, ſo ſind wir ihr wol dieſe Aufmerkſamkeit ſchuldig. In jedem Fall kann ſie ſich überzeugen, daß das Kind lebt und geſund iſt und ſich in ſeinen neuen Verhältniſſen wohl befindet. Aber was bedeutet denn dies rege Leben im Schloß? Anna-Maria iſt doch ſonſt keine Freun¬ din von Feſtgelagen. Iſt Malte vielleicht fortgelaufen geweſen und wieder zurückgekehrt und wird dem Kalbe jetzt ein Kalb geſchlachtet?

Es handelt ſich nicht um einen verlornen Sohn, ſondern um eine wiedergefundene Tochter, ſagte Os¬ wald, ſich zu einem ſcherzhaften Tone zwingend; Fräulein Helene iſt aus der Penſion zurück. Seit¬ dem reiht ſich Feſt an Feſt.

Tempora mutantur; lachte Oldenburg; das muß ja eine Circe von Mädchen ſein, die ſolche Metamorphoſen zu Wege bringen kann. Iſt ſie ſchön?

Mir erſcheint ſie ſo.

Laſſen Sie uns einmal an die Fenſter treten, 6*84ſagte Oldenburg, als ſie jetzt quer über den Raſenplatz ſchritten; ich bin unendlich neugierig, dies Wunder zu ſehen. Es wird uns ja Niemand bemerken.

Er ſchritt nach der Treppe, die auf den Perron hinaufführte. Oswald folgte. Die Thüren waren jetzt, wo es draußen kühler wurde, geſchloſſen, auch die Fenſter; aber die Vorhänge waren nicht herunterge¬ laſſen; man konnte von dieſem Standpunkte aus Alles beobachten, was in den blendend hell erleuchteten Zim¬ mern vorging.

Als ſie an das Fenſter traten, ſaß ihnen gerade gegenüber Helene am Clavier, Felix ſtand hinter ihrem Stuhl. Er beugte ſich über ſie und ſchien eifrig mit ihr zu ſprechen. Oldenburg's falkenſcharfes Auge hatte ſogleich die Gruppe erfaßt:

Wer iſt der junge Mann? fragte er.

Als Oswald nicht antwortete, warf der Baron den Blick auf ihn und ſah, daß er die Unterlippe zwiſchen die Zähne gepreßt hatte und die ſtarren Au¬ gen nicht von den Beiden am Clavier wegwandte. Felix beugte ſich noch tiefer; Oswald preßte die Lippe, daß das Blut durch die Haut ſprang. Da ſtand He¬ lene plötzlich auf, und ſchritt durch die Gruppen der Tänzer, die durch das Aufhören der Muſik wie am Boden gefeſſelt waren, oder lachend weiter zu tanzen85 verſuchten, hindurch, gerade auf das Fenſter zu, vor welchem Oldenburg und Oswald ſtanden, die ein paar Schritte zurück in den Schatten traten. Sie blieb, in der Fenſterniſche angelangt, ſtehen, die Arme über dem Buſen verſchränkt, die großen ſtrahlenden Augen auf den Mond gerichtet, deſſen goldene Scheibe draußen an dem tiefblauen nächtlichen Himmel ſchwamm. Es war unmöglich, etwas Schöneres zu ſehen, als ihr von der Aufregung der eben mit Felix gehabten Scene noch leidenſchaftlich erregtes, in dem Strahl des Mondes geiſterhaft bleiches, von dem herrlichen blau¬ ſchwarzen Haare eingerahmtes Geſicht. Es war ein Antlitz von hinreißender Gewalt des Ausdrucks, grauen¬ haft lieblich und tödlich ſchön. Ein Herr es war Adolf von Breeſen trat an ſie heran, und ſprach zu ihr. Sie antwortete ihm kurz, ohne die Stellung zu verändern, ohne kaum die Lippen zu regen. Er verbeugte ſich und trat zurück. Dann, als ob ſie ſich eines Andern beſonnen hätte, wandte ſie ſich und ſchritt wieder zum Clavier zurück, ſetzte ſich und be¬ gann von Neuem zu ſpielen. Wie von einem Zau¬ berſtabe berührt, kamen die Paare der Tanzenden wieder in Bewegung und das bunte Bild, das Oldenburg und Oswald zuerſt erblickt hatten, war wieder hergeſtellt.

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Wer war der Fant, welcher dies Intermezzo ver¬ anlaßte? fragte Oldenburg, als ſie wieder in den Garten hinabgingen.

Felix von Grenwitz, ihr Couſin.

Ein allerliebſtes Püppchen; und die junge Schön¬ heit ſoll die Puppe zum Gemahl haben; nicht?

Ich glaube.

Und wie erſcheint Ihnen das?

Wie die Welt dem Hamlet: ekel, ſchal und flach und unerſprießlich.

Meine böſe Ahnung geht in Erfüllung; mur¬ melte Oldenburg durch die Zähne.

Sie ſagten?

Ich dachte eben daran, ob Karl wohl den Wa¬ gen in die Höhe geſchlagen hat, damit meine kleine Czika nicht ganz unter freiem Himmel ſitzt. Freilich, ihr wäre es am liebſten, wenn ſie nie eine andere Decke über ſich hätte. Auf unſrer Reiſe jubelte ſie jedesmal, ſo oft wir in die Nacht hineinfuhren, und ſie die vielgeliebten Sterne über ſich leuchten ſah.

Und darf man fragen, was Sie ſo plötzlich aus unſerer Nähe riß? fragte Oswald, und ſeine Stimme bebte.

Eine Angelegenheit, die eigentlich nur indirect für mich von Bedeutung iſt. Die Krankheit eines87 Mannes, deſſen Tod auf das Geſchick einiger Per¬ ſonen, die mir werth ſind, von großem Einfluß ſein kann.

Der Baron wartete, ob Oswald etwas erwiedern würde.

Ich war eitel genug, zu glauben, daß meine Ab¬ reiſe einige Senſation in der Geſellſchaft hier erregen würde, fügte er hinzu, als Oswald ſchwieg, dies ſcheint indeſſen nicht der Fall geweſen zu ſein.

Man iſt ſeit ſo langen Jahren gewohnt, Sie un¬ vorbereitet kommen und gehen zu ſehen, daß man ſich nachgerade daran gewöhnt hat, ſagte Oswald, doch da hält Ihr Wagen glaube ich.

Wo iſt Czika, Karl? fragte der Baron?

Sie liegt im Wagen, feſt eingeſchlafen, ant¬ wortete der Kutſcher, der vom Bocke geſtiegen war, den Tritt herabzulaſſen, ich habe ſie ſorgfältig zu¬ gedeckt.

Wir wollen ſie zwiſchen uns nehmen, wie da¬ mals, als wir, von Barnewitz kommend, ſie auf der Landſtraße fanden.

Der Baron war ſchon im Wagen.

Biſt Du es, Herr? fragte das Kind, aus dem Schlaf erwachend.

Ja, mein Herz.

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Wer iſt der Mann bei Dir?

Dein Freund, der Mann mit den blauen Augen.

Er ſoll bei uns bleiben, murmelte Czika ſchlaf¬ trunken, ſich an Oswald, der nun auch eingeſtiegen war, ſchmiegend. Czika iſt müde; Czika will in Dei¬ nen Armen ſchlafen.

Ich glaube, ſagte der Baron, als ſich der Wagen in Bewegung ſetzte, Sie haben einen unauslöſchlich tiefen Eindruck auf Czika gemacht. Sie ſpricht ſehr oft von Ihnen und fragt, warum der Mann mit den blauen Augen ſo bezeichnet ſie Sie ſtets nicht wieder kommt? Es iſt doch ein wunderliches Ding, das Menſchenherz; ein unergründliches Räthſel, zu dem der Weiſeſte der Weiſen keinen Schlüſſel hat. Wer erklärt uns das Wunder der Sympathien und Antipathien? Welche Mühe habe ich mir gegeben, das Herz dieſes Kindes mir zueigen zu machen! Ich möchte ſo gern etwas auf der Welt mein eigen nennen! Und iſt es mir gelungen? Ich weiß es kaum. Sie folgt mir, aber nur wie ein Kind, dem die Mutter geſagt hat: geh mit dem Herrn und ſei hübſch artig! Ich bin ihr heute noch, was ich ihr am erſten Tage war. Ich habe ſie mit der zärtlichſten Sorge umgeben. Sie nimmt Alles hin, wie eine Gabe, die man nicht aus¬ ſchlägt, um den Geber nicht zu beleidigen.

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Aber machen es nicht alle Kinder mehr oder weniger ſo? erwiederte Oswald; iſt es nicht ihr gutes Recht, ſich lieben zu laſſen, ohne weiter dankbar dafür zu ſein? Und dann: was iſt am Ende eine Liebe, die auf Dank rechnet? Heißt es nicht auch hier: wer Lohn begehrt, der hat ſeinen Lohn dahin?

Mögen Sie das nie an ſich ſelbſt erfahren! ſagte der Baron mit bewegter Stimme, und mögen es Andere nie durch Sie erfahren! Wüßten Sie, was hoffnungsloſe Liebe iſt, wüßten Sie auf der anderen Seite, was es heißt: das Gefühl mit ſich herum¬ tragen, Liebe, warme aufrichtige Liebe mit Kälte, mit Gleichgültigkeit erwiedert zu haben Sie würden ſo nicht ſprechen. Nein, nein! Ein Herz, das uns liebt, iſt ein Schatz, den wir nicht verachten dürfen, und flögen uns Aller Herzen zu. Ein Herz, das uns liebt, gekränkt zu haben, iſt eine Erinnerung, die auf unſerem Gewiſſen brennt und die keine neue Liebe, und wäre ſie wirklich edler und reiner, als die, welche wir damals fühlten, wieder auslöſcht.

Und haben Sie dieſe Erfahrung an ſich ſelbſt gemacht?

Leider, ja! Ich habe in meinem Leben viele Ver¬ hältniſſe angeknüpft und wieder gelöſt, ohne daß ich darüber Gewiſſensbiſſe empfunden hätte. Wußte ich90 doch nur zu wohl, daß die guten Herzen nicht brechen würden! Es waren Conta meta Geſchäfte, bei denen Jeder ſeine Rechnung gefunden hatte, oder die, ſchlimmſten Falls, den einen oder den andern und meiſtens beide Partner ſo bettelarm ließen, wie ſie vorher geweſen waren. Nur einmal ich war da¬ mals noch ziemlich jung und das gereicht mir einiger¬ maßen zur Entſchuldigung nur einmal habe ich mich des Frevels ſchuldig gemacht, ein Weſen, von dem ich überzeugt ſein konnte, daß es mich treu und aufrichtig liebte, mit ſchnödem Undank zu belohnen. Die Geſchichte würde mir unvergeßlich ſein, auch wenn ſie nicht durch die Begegnung mit der braunen Gräfin auf eine wunderliche Weiſe mir wieder in die Erinnerung gerufen wäre. Habe ich Ihnen nicht er¬ zählt, wie ich einſt vor vielen Jahren im fernen Un¬ garlande, als ich mich auf dem Gute eines Bekannten, den ich unterwegs aufgefiſcht hatte, zum Beſuch auf¬ hielt, ganz zufällig ein Zigeunermädchen fand

Ja; ſagte Oswald; ich erinnere mich Ihrer Er¬ zählung, die durch das Hereintreten Herrn von Cloten's unterbrochen wurde, ſehr wohl. Ich vergaß hernach, Sie um die Fortſetzung zu bitten. War es nicht ſo? Sie hatten das Mädchen, als Sie einſt, fern von der Wohnung, durch den Wald ſchweiften, in einem Zi¬91 geunerlager, das für den Augenblick von der übrigen Bande verlaſſen war, gefunden. Sie erblicken und ſie lieben, war eins. Sie verlebten mit ihr in der romantiſchen Einſamkeit mehre glückliche Tage. Die Geſchichte ſchloß mit folgendem Tableau: Ein Zi¬ geunerlager im Walde Sonnenuntergang unter dem überhangenden Dache einer breitaſtigen Buche ein liebendes Paar auf ſchwellendem Moos¬ teppich

Ihr Gedächtniß iſt gut, ſagte der Baron, auch haben Sie die Stimmung, welcher ich damals dem Bilde gab, getreu reproducirt. Ich werde nachträglich noch einige Schlagſchatten hineinzeichnen müſſen. Ich ſaß alſo mit der Zingarella Xenobi war ihr ſüßer Name in der von Ihnen angedeuteten Situation. Ich ſang das alte Finklerlied von der Liebe, die nimmer enden würde, und das holde Vögelchen traute der alten falſchen Weiſe und ſchmiegte ſich innig und immer inniger an mein Herz. Da plötzlich ertönte Hufſchlag durch den ſtillen Wald und das Lachen nnd Schwatzen einer fröhlichen Kavalkade. Ich hatte kaum noch Zeit, die Kleine unſanft von meinem Schooß zu ſtoßen und mich zu erheben, als die Schaar ſchon unter den hohen Bäumen hervor auf den Platz geſprengt kam. Es waren meine Wirthe: der junge Graf Cryvani92 mit ſeinen Schweſtern und mehre Herren und Da¬ men aus der Nachbarſchaft. Sie können ſich die nun folgende Scene denken. Ich wurde ſofort umringt und mit Fragen überſchüttet: Wo ich geweſen wäre? wie ich hierher gekommen wäre? Ich dachte, die Wölfe hätten Sie zerriſſen! rief der Eine: oder Sie hätten ſich aus unglücklicher Liebe erſchoſſen, ein Anderer. Ich habe des Räthſels Löſung! ſchrie ein Dritter: Liebe freilich iſt im Spiel, aber bei Leibe keine unglückliche. Sehen Sie dort! und er deutete mit dem Stiel ſeiner Reitpeitſche auf meine arme Xenobi, die ſich bei der Annäherung der Kaval¬ kade ſcheu hinter dem dicken Stamm der Buche ver¬ ſteckt hatte. Ein allgemeines Gelächter belohnte den Witzbold. Nur ein Geſicht blickte finſter drein. Es war die jüngſte und hübſcheſte der Schweſtern, der ich noch zuguterletzt den Hof gemacht hatte und die, glaube ich, in ihrer Weiſe was freilich nicht viel ſagen will mich mit ihrer Neigung beehrte, mir wenigſtens ſchon einige nicht mißzuverſtehende Zeichen ihrer Gunſt gegeben hatte. Ich ſchämte mich plötzlich meiner armen Xenobi ganz entſetzlich und hatte nur den einen Wunſch, mich aus der Affaire zu ziehen, ohne die ſtolze Georgina zu beleidigen. Ich ſpielte den Entrüſteten, ich behauptete tagelang im93 Wald umhergeirrt, und nur eben erſt auf das Zigeu¬ nerlager geſtoßen zu ſein. Woher hat denn das Mäd¬ chen die goldene Kette um den Hals, die wir kürzlich noch an Ihnen bewunderten? fragte Georgina. Sie hat ſie mir geſtohlen, während ich, von meiner Wanderung ermüdet, ſchlief; rief ich. So nehmen ſie ihr die Kette wieder ab. Ich hätte Georgina ermorden können, aber ich hatte mich zu feſt in meine freche Lüge verſtrickt; Widerruf ſchien unmöglich. Xenobi kam mir zuvor. Hier, Herr! ſagte ſie, nimm, was ich Dir geſtohlen habe; und ſie reichte mir das Geſchmeide. Ich werde die zitternde Hand, das von Schmerz und Zorn entſtellte Geſicht des armen Geſchöpfes nie vergeſſen. Machen wir, daß wir nach Hauſe kommen! rief Herr von Cry¬ vani; es zieht ein Wetter herauf. Ich beſtieg das Pferd eines der Bedienten, und fort ging es durch den dämmrigen Wald. Ich wagte nicht, mich nach Xenobi umzublicken. Georgina, an deren Seite ich ritt, würde mir es nie vergeben haben. Ich hatte mir die Gunſt der Dame vollſtändig wieder erobert, aber um welchen Preis! Als ich am Abend des fol¬ genden Tages früher konnte ich mich nicht von der Geſellſchaft losmachen in den Wald gerannt war, mein Unrecht wieder gut zu machen, fand ich94 wol nach vielem Suchen den Platz, aber nicht mehr Xenobi. Die Bande hatte, als ſie ihren Schlupf¬ winkel verrathen ſah, ihre Zelte abgebrochen und war wer weiß wohin gezogen. Von Xenobi habe ich nie wieder eine Spur entdecken können.

Der Baron ſchwieg und blies den Rauch ſeiner Cigarre in mächtigen Wolken in die Luft.

Sehen Sie, hub er nach einer langen Pauſe wieder an, ich bin fromm genug, oder abergläubiſch genug, wenn Sie wollen, um anzunehmen, daß ich durch dieſe That ſchnöden Verrathes einen Fluch auf mich geladen habe, den keine Reue wieder ſühnt; einen Fluch, deſſen Erfüllung mein ganzes ſo verfehltes Leben iſt. Von da ab iſt es mein Schickſal geweſen, Liebe zu ſäen und Gleichgültigkeit zu ernten, bis ich zuletzt aus Verzweiflung in den ſtinkenden Pfuhl der Blaſirtheit geſprungen bin, um mich vor mir ſelbſt zu retten. Und nun werden Sie auch begreifen, was mir Czika iſt ein Engel im eigentlichſten Sinne des Wortes, ein holder Bote des Himmels, der mir Friede! Friede! in das kranke Herz ſingt. Hat mir das Bild des Kindes doch ſchon ſeit Jahren vor der Seele geſchwebt, glaubte ich doch die Erfüllung meiner Träume ſchon zweimal leibhaftig vor mir zu ſehen. Hier iſt die rothe Roſe Xenobi noch einmal, aber in95 dem Morgenthau ſüßeſter Unſchuld. Die rothe Roſe hat nun der Sturm des Lebens wol ſchon lange ge¬ knickt, und hätte ich ſie auch damals treuer bewahrt was würde die Welt, die kalte, freche, läſternde Welt aus der romantiſchen Liebe eines Barons und einer Zingarella zuletzt gemacht haben! Damals war ich zu jung und hätte die Geliebte vor dieſer ſchnöden Welt nicht vertheidigen können; jetzt bin ich ein Mann geworden und habe blos ein Kind, einen Findling, zu ſchirmen und zu ſchützen. So ſind jetzt die Chancen alle für mich. Ich werde der Zigeunerin geben, was ſie verlangt, und wärmſten, aufrichtigſten Dank in den Kauf. Ich hoffe, ſie hat die Verabredung nicht vergeſſen. Halt, Karl! Wir müſſen hier ausſteigen, um durch den Wald zu gehen. Ich kenne den Pfad von früher her noch ziemlich gut. Es iſt die Stunde, welche uns die braune Gräfin beſtimmte. Wir kom¬ men gerade zur rechten Zeit.

Wollen wir nicht doch die Kleine lieber hier laſſen? ſagte Oswald.

Weshalb? fragte der Baron, der ſchon aus dem Wagen geſtiegen war.

Das Kind hängt ſehr an der Frau, die ja am Ende doch ſeine Mutter iſt. Vielleicht wird es bei ihrem Anblick von der alten Liebe zum Waldesleben96 erfaßt, und es giebt zum mindeſten eine peinliche Scene.

Oswald ſprach die Worte leiſe, denn Czika regte ſich in ſeinen Armen.

Czika will mit, ſagte das Kind plötzlich; Czika will in den Wald und den Mond und die Sterne durch die Zweige tanzen ſehen. Czika kennt jeden Baum und jeden Buſch.

Sie ſtand auf dem feuchten Waldboden und klatſchte vor Vergnügen in die Hände und tanzte und lachte und rief:

Kommt, kommt! Du, Herr, und Du, Mann mit den blauen Augen! Czika will Euch einen ſchönen Platz zeigen, Czika kennt jeden Baum und jeden Buſch im weiten Wald.

Sie huſchte[auf] einem ſchmalen Pfad, der ſich von dem Wege, auf dem der Wagen hielt, ſeitwärts in den dichteſten Forſt ſchlug, vorauf, wie eine wilde Katze durch die Büſche ſchlüpfend, deren dünne Zweige wieder hinter ihr zuſammenſchlugen. Nur mit großer Mühe folgten die beiden Männer. Czika war nicht zu bewegen, ihren Lauf zu hemmen. Ihre einzige Antwort auf das: nicht ſo ſchnell, Czika! nimm uns mit, Czika! war der helle, luſtige Schrei des jungen Falken, den ſie wieder und wieder, lauter und ſchriller,97 wie Antwort heiſchend, erſchallen ließ. Plötzlich er¬ tönte die Antwort durch den ſtillen Wald, derſelbe ſtolze Schrei, deſſen ſich Oldenburg und Oswald noch ſo deutlich von jenem Morgen erinnerten, als die Zigeunerin aus der Ferne den Ruf der Kleinen be¬ antwortete.

Da leuchtete ein rother Schein durch die hohen Stämme der Bäume, der mit jedem Augenblick heller und heller wurde. Wir ſind gleich am Ziele, ſagte der Baron, welcher voranging.

Wirklich traten ſie nach wenigen Minuten auf die Lichtung heraus, die Oswald von dem Nachmittage, als er ſich auf dem Wege zu Melitta im Walde ver¬ irrt hatte, ſo unvergeßlich war. Auf derſelben Stelle, nicht weit vom Rande des Sumpfes, wo damals die Zigeuner ihre Mahlzeit kochten, brannte jetzt wieder ein Feuer, aber groß und mächtig, wie um die Scene in das hellſte Licht zu ſetzen. Die Kronen der mäch¬ tigen Bäume glühten purpurroth oder tauchten in ſchweren Schatten, je nachdem die Flamme des Holz¬ ſtoßes emporloderte oder zuſammenſank; von dem dun¬ klen Waſſerſpiegel des Sumpfes erglänzte der Wieder¬ ſchein und, umfloſſen von dieſer magiſchen Be¬ leuchtung, erblickten die Männer, als ſie athemlos denF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 798Saum der Lichtung erreichten, die braune Gräfin auf den Knien vor Czika, die ſie mit Küſſen und Lieb¬ koſungen überhäufte, während das Kind ſich vergeblich bemühte, ſie vom Boden empor zu ziehen und ſich endlich zu ihr auf die Knie warf, ihr Haupt an dem Buſen des Weibes verbergend.

Schweigend und regungslos ſtanden die beiden Männer, tief ergriffen von dem Schauſpiel einer ſo leidenſchaftlichen Zärtlichkeit.

Da erhob ſich die Zigeunerin und das Kind an die Hand nehmend, trat ſie auf die Beiden zu und ſagte zu Oldenburg, der ſie mit weit aufgeriſſenen Augen anſtarrte:

Kennſt Du mich, Herr?

In dieſem Augenblick leuchtete die Flamme hell auf und jeder Zug in dem edelſtolzen Geſicht des egyptiſchen Weibes und jede Linie ihres ſchlanken, hohen Leibes war wie vom Tageslicht erhellt.

Xenobi! ſchrie der Baron, ſeine Arme ausbrei¬ tend, Xenobi!

Das braune Weib ſtürzte ſich mit einem Schrei wahnſinnigen Entzückens an ſeine Bruſt und klammerte ſich an ihn, als ob ſie ſich nie wieder von dem ge¬ liebten Manne trennen wolle. Aber im nächſten Mo¬ ment ſchon riß ſie ſich los, trat ein paar Schritte99 zurück und ſtand da, unbeweglich, die Hände über dem vollen Buſen faltend. Czika ſtand zwiſchen ihr und dem Baron, die großen dunklen Augen voller Ver¬ wunderung von dieſem zu jener, von jener zu dieſem wendend.

Der Baron nahm ſie bei der Hand und ſagte, näher an die Zigeunerin tretend, in einem Tone, der, ſo ſehr er ſich auch zu beherrſchen ſuchte, deutlich die ungeheure Erregung, die in ihm wühlte, verrieth:

Xenobi, iſt dieſes Kind

Er vermochte nicht weiter zu ſprechen; er rang mühſam nach Worten. Endlich ſtammelte er:

Dein und mein Kind?

Ja, Herr! ſagte die Zigeunerin, ohne ſich zu regen; die dunkeln glänzenden Augen feſt auf das Antlitz des Barons heftend.

Oldenburg hob das Kind in ſeinen Armen empor und drückte es feſt an ſeine Bruſt. Oswald fühlte, daß er die Drei allein laſſen müſſe und zog ſich bis an den Rand des Waldes zurück. Dort ſetzte er ſich. Es war dieſelbe Stelle, auf der er an jenem Nach¬ mittage gelegen hatte, als er den köſtlichen Traum von Melitta träumte, und von wo aus er hernach Czika auf dem Cymbal hatte ſpielen hören, während die braune Gräfin am Feuer ſchaffte und mit ihrer7*100tiefen weichen Stimme die ungariſche Volksweiſe ſang. Wie vieles hatte ſich nicht ſeit jenem Tage geändert! was hatte er nicht Alles gewonnen und wieder ver¬ loren! Damals hatte ſein Herz der ſchönen Frau ſo ſehnſuchtsvoll entgegengeſchlagen; heute erfüllte die Erinnerung an ſie ſeine Seele mit Trauer und Schmerz. Warum hatte ſie ihn ſo unendlich glücklich gemacht, wenn ihre Liebe doch nur die ſouveräne Laune eines Augenblicks war, nur ein hübſches Spiel, der Stunden Einerlei auszufüllen, über den momentanen Bruch ihres Verhältniſſes zu Oldenburg beſſer hinwegzukom¬ men? Hatte er das Gefühl, daß ſie, die hochgeborne Dame, die ſtolze Ariſtokratin, ihn über kurz oder lang doch verleugnen werde, werde verleugnen müſſen, nicht immer mit ſich herumgetragen? hatte ſich dieſer Ge¬ danke nicht ſelbſt in den ſonnigſten Augenblicken der Liebe wie ein düſterer Schatten zwiſchen ihn und die reizende Frau geſtohlen? Hatte er nicht, als der Name Oldenburg's zum erſten Mal ſein Ohr berührte, in dieſem Manne, wie von einem Dämon getrieben, ſeinen Nebenbuhler erkannt? Und mußte er ſich nicht eingeſtehen, daß dieſer Mann Alles beſitze, in dem Herzen einer ſtolzen Frau eine heroiſche Leidenſchaft zu entflammen? Rang und Reichthum, eminente Ga¬ ben, den Muth des Ritters ohne Furcht und Tadel,101 und gerade genug vom Libertin, um ein Weib, welches nicht ganz reines Herzens iſt, zu beſtricken?

Und wie gut ſtand ihm ſein Weltſchmerz und die Duldermiene? Sollte man, wenn man ihn hörte, nicht glauben, er werde nächſtens in die Wüſte gehen und ſich von Heuſchrecken nähren? Jetzt wird er die Zigeunerin mit ſich auf ſeine Solitüde nehmen, damit die Einſamkeit bis zu Melitta's Rückkehr etwas we¬ niger einſam ſei ....

So wühlte ſich Oswald gefliſſentlich tief und tiefer in die bitterſten Empfindungen hinein. Die neue Leidenſchaft, die in ſeinem Herzen zehrte, machte ihn taub und blind gegen die Stimme ſeines Gewiſſens, gegen die augenſcheinlichſten Beweiſe von der Falſch¬ heit ſeiner gehäſſigen Vermuthungen. Er hatte ein dumpfes Gefühl davon, wie krank er war, wie ab¬ gehetzt und müde, wie unfähig, über ſich ſelbſt zur Klarheit zu kommen. Er wäre am liebſten geſtorben, um all dem Wirrſal zu entfliehen, wie ein Schwim¬ mer, wenn er fühlt, daß ihn die Kräfte verlaſſen, und weiß, daß keine Rettung mehr für ihn iſt, ſich in den Abgrund ſinken läßt. Er drückte das Geſicht in ſeine Hände, um nichts mehr zu ſehen und zu hören ...

Eine Hand, die ſich auf ſeine Schulter legte, riß102 ihn aus ſeinem wirren Traum. Es war Oldenburg. Der Baron war allein. Das Feuer des Holzſtoßes flammte nur noch auf Augenblicke empor und drohte zu verlöſchen. Der Mond, über den graue Wolken¬ ſchleier zogen, flimmerte geiſterhaft in dem dunklen Waſſer des Sumpfes. Unheimlich ziſchelte und flüſterte der Wind in den langen Binſen des Ufers.

Wo iſt Czika? fragte Oswald.

Fort, erwiederte der Baron; laſſen Sie uns aufbrechen. Es iſt ſpät.

Wird ſie nicht wiederkommen?

Ich weiß es nicht.

Und Sie haben zugegeben, daß dies Kind, Ihr Kind, der Zigeunerin folgt in die weite Welt!

Was ſollte ich thun? Iſt es nicht ihr Kind tauſendmal mehr als meines? hat ſie es nicht mit Schmerzen geboren, es genährt und gepflegt und be¬ ſchirmt viele, viele Jahre, durch Regen und Sonnen¬ ſchein, in Noth und Armuth, im wilden Wald, auf der offenen Landſtraße? Hat ſie nicht für dies Kind gebettelt und geſtohlen und vielleicht gethan, was noch ſchlimmer iſt? Was habe ich für mein Kind gethan? nichts nichts, als ſeine Mutter vor den Augen eines vornehmen Pöbels zur Diebin gemacht, ſie wie einen verlaufenen Hund von mir verjagt, einer elenden103 Kokette zu Liebe? Nein, nein! ich habe kein Anrecht an dieſem Kinde!

Während der Baron ſo ſprach, ſtieß er mit dem Fuße die halb verkohlten Feuerbrände aus dem Holz¬ ſtoß in den Sumpf, daß ſie ziſchend verlöſchten.

Weshalb hat denn die braune Gräfin Sie auf¬ geſucht? weshalb Ihnen das Kind in die Hände ge¬ ſpielt? weshalb dieſes Rendezvous ſelbſt herbeigeführt?

Sie wollte den Geliebten ihrer Jugend, den ein¬ zigen Mann, den ſie vielleicht je geliebt hat, noch einmal ſehen; ſie wollte ihm das Kind, ſein Kind, in die Hände legen und zurücktauchen in ihre Waldes¬ nacht. Aber ſie kann ohne das Kind nicht leben und das Kind nicht ohne ſie. So mußte ich denn Beide ziehen laſſen.

Aber weshalb nicht Beide mit nach Cona neh¬ men?

Soll ich den Falken an die Kette legen? Der Falk fühlt ſich nur wohl in dem unermeßlichen Aether¬ meer; er ſtirbt in der dumpfen Stubenluft. Kommen Sie! es iſt für uns civiliſirte Menſchen die höchſte Zeit, daß wir in's warme Bett kommen.

Der Baron ſtieß den letzten Brand hinunter in's Waſſer; die Männer wandten ſich, zu gehen.

104

Zwiſchen den haſtig treibenden Wolken hervor blickte der Mond trübäugig in das ſchwarze Waſſer des Sumpfes, und die langen Binſen, die am Rande wuchſen, flüſterten: hier iſt kühle Ruh 'für alles Er¬ denleid.

[105]

Fünftes Kapitel.

So! aus der Verlegenheit wären wir glücklich! ſagte Albert, ein Packet Werthpapiere in eine volumi¬ nöſe, abgetragene Brieftaſche ſtopfend, die unter andern auch verſchiedene Schreiben in kaufmänniſcher Hand enthielt, welche, obgleich die meiſten darunter von nicht ganz neuem Datum, noch immer nicht beant¬ wortet waren. Es iſt doch Alles in Allem ein gutes kleines Frauenzimmer; nicht übermäßig geſcheidt aber das iſt in dieſem Falle nur eine Tugend mehr. Ich glaube wirklich, ich könnte meine Natur ſo weit verleugnen, die kleine Samariterin zu heiraten. Viel¬ leicht führe ich gar nicht ſo ſchlecht dabei. Wer weiß? am Ende ſteckt noch irgendwo in einem verborgenen Winkel meines Innern der Keim zu einem ſoliden Spießbürger, der nur der Wärme des häuslichen Heerdes bedarf, um ſich glorreich zu entwickeln. Die Sache iſt freilich, wie ich mich kenne, äußerſt proble¬106 matiſch, aber ſo ganz und gar unmöglich iſt ſie denn doch nicht. Ich ſehe mich ſchon im Geiſt an der Seite der kleinen Frau des Sonntag Nachmittags ehrſam durch die Felder wandern, das Lied der Spatzen und die Philippiken der theuren Ehehälfte gegen die ſteigende Unverſchämtheit der Bäcker und Fleiſcher mit langen Ohren einſaugend, während vor uns her zwei junge Weltbürger wandeln, die eine flüchtige Aehn¬ lichkeit mit einer mir ſehr werthen Perſon haben, und hinter uns aus einem, von einem Mädchen für Alles gezogenen Wägelchen ein feines Stimmchen erſchallt, welches den beredteſten Commentar zu den ſtaatsöko¬ nomiſchen Abhandlungen der kleinen Frau liefert! Oh! ...

Albert ſtöhnte laut auf, als ob er ſich auf dieſer imaginären Promenade den Fuß an einem ſehr reellen Stein geſtoßen hätte. Er ſprang von dem Sopha auf und ging mit den Armen auf dem Rücken nach¬ denklich im Zimmer auf und ab. Die Karten ſind fertig, ſagte er, vor ſeinem Zeichentiſche ſtehen blei¬ bend; Anna-Maria hat mich abgelohnt; ich habe eigentlich hier nichts mehr zu thun, und die Frage der gnädigen Frau, wann ich abzureiſen gedächte, war auch ziemlich deutlich. Wie ich dieſe ſtolze, nichts¬ nutzige Brut haſſe Alle, keinen und keine aus¬107 genommen, nicht einmal die ſchöne hochnaſige Helene, die mich immer mit ſo kühler Verachtung aus ihren großen Augen anſieht; und am wenigſten meinen edlen Freund Felix, der, glaube ich, nicht übel Luſt hätte, mir Hörner aufzuſetzen, ehe ich noch zu dieſem Schmuck ein legitimes Recht habe. Könnte ich doch euch Allen, wie Ihr da ſeid, einen recht gründlichen Schabernack ſpielen, daß ihr euer Leben lang an mich denken ſolltet! auch zum Beiſpiel den Erben von Stantow und Bärwalde in der Perſon ja, in welcher Perſon? hic haeret aqua.

Aus den Briefen, die ich habe, iſt wol etwas aber nicht viel zu machen. Ich kann noch nicht ein¬ mal die vortreffliche Anna-Maria damit ins Bocks¬ horn jagen. Fände ich nur Gelegenheit, den Koffer der alten Mutter Clauſen durchzuſtöbern! Es iſt bei mir zur fixen Idee geworden, daß da etwas zu finden ſein muß. Aber vergebens, daß ich die Gelegenheit gründlich ſtudirt habe, daß ich Tag und Nacht ums Haus geſchlichen bin, einen Moment abzuwarten, wo die Alte ſich einmal daraus entfernt; ſie ſitzt darin feſt, wie eine Kröte unter dem Stein. Ad vocem dieſes liebenswürdigen Jünglings! Ich habe ſchon daran gedacht, ob man ihn nicht nolens volens zum Prätendenten machen könnte; denn die ganze Farce108 als einen luſtigen und nebenbei lucrativen Masken¬ ſcherz anzuſehen, wird ihm wol ſeine dumme Ehrlich¬ keit nicht erlauben. Es iſt merkwürdig, wie ehrlich die Leute ſind, denen es an nichts fehlt! Die beſte Methode, alle Spitzbuben loszuwerden, beſtände offen¬ bar darin, Jedem von ihnen eine anſtändige Penſion zu geben. Und dieſer Stein iſt gar nicht einmal ſo glücklich ſituirt. Er hat kein Vermögen warum ſollte er ſich ſonſt mit anderer Leute Kindern plagen? Er wäre gerade der Mann, ein anſtändiges Vermögen anſtändig durchzubringen. Und es paßt ſo weit Alles. Er hat genau das erforderliche Alter; er hat, wie er mir geſagt hat, ſeine Mutter kaum und andere Ver¬ wandte, excepto patre, nie gekannt. Und überdies hat er eine zufällige, aber frappante Aehnlichkeit mit der älteren Grenwitzer Linie. Ich wollte, ich wäre er, daß heißt mit meinem Hirn dazu. In welcher fragwürdigen Geſtalt wollte ich bald vor euch hin¬ treten ...

Ein ſchüchternes Klopfen an der Thür unterbrach Albert's Meditationen. Da auf ſein Herein! Nie¬ mand eintrat, ging er ſelbſt und öffnete. Ein kleiner blondköpfiger barfüßiger Bauerknabe ſtand da, und ſchaute mit nicht allzu klugen Augen fragend zu ihm auf.

Zu wem willſt Du, Kleiner?

109

Sind Sie der Candidat auf dem Schloſſe?

Ja wohl! ſagte der alle Zeit zu Scherz und Kurzweil aufgelegte Albert.

Mutter Clauſen hat mich herſchickt

Wer?

Mutter Clauſen hat mich herſchickt

Komm herein, Kleiner; ſagte Albert, den Knaben bei der Hand in das Zimmer führend, und die Thür hinter ihm ſchließend;

Was will denn Mutter Clauſen von mir?

Mutter Clauſen liegt auf den Tod, und hat mich herſchickt zu dem Herrn Candidaten, er ſoll doch noch einmal zu ihr kommen.

Der Knabe athmete tief auf, als er die Berges¬ laſt ſeiner Commiſſion vom Herzen hatte. Albert griff nach ſeiner Mütze.

Ich komme gleich mit Dir, oder lauf nur voran, und ſag ': ich käme gleich. Und höre! wenn dich Jemand im Schloſſe fragt, woher du kommſt, ſag' nur: Du hätteſt Deine Beſtellung ſchon ausgerichtet. Hier haſt Du einen Silbergroſchen und nun mache, daß Du fortkommſt!

Der Knabe entfernte ſich, über Albert's großmüthi¬ ges Geſchenk Albert's wohlüberlegten Befehl, ſich mög¬ lichſt ſchnell davon zu machen, vergeſſend. Er ſetzte110 ſich, unten auf dem Schloßhofe angekommen, auf den Rand des Brunnens der Najade, und überlegte, den Groſchen in der Hand herumdrehend, ob er ſich jetzt gleich die ganze Welt, oder vorläufig nur einen Stieg¬ litz kaufen ſollte, den ihm ein anderer Bauerknabe heute Morgen zum Verkauf angeboten hatte?

Er mochte wol eine Viertelſtunde da geſeſſen haben, bis er zuletzt, vom vielen Umherlaufen ermüdet, ein¬ nickte. So fand ihn Oswald, der von einem ein¬ ſamen Spaziergange zurückkehrte. Da das Bild des auf dem Rande des Brunnens ſchlafenden zerlumpten Knaben ihn intereſſirte, trat er näher. Der Knabe fuhr in die Höhe und rieb ſich verwundert die Augen.

Wie kommſt Du hierher, Kleiner? fragte Oswald.

Mutter Clauſen hat mich herſchickt! ſagte jener, der in dieſem Augenblick nicht wußte, ob er ſeine Be¬ ſtellung ſchon ausgerichtet hatte, oder nicht.

Was iſt mit Mutter Clauſen? fragte Oswald, der ſofort ahnte, es müßte ſeiner alten Freundin etwas zugeſtoßen ſein.

Mutter[Clauſen] hat mich herſchickt, wiederholte der Knabe; ſie liegt auf den Tod, und läßt dem Herrn Candidaten ſagen, er möchte

Mehr hörte Oswald nicht. Die gute, alte Frau, an der er im Anfang ſo lebhaftes Intereſſe nahm111 und die er doch in der letzten Zeit ſo ganz vergeſſen hatte, im Sterben, vielleicht allem, ohne Hülfe, ohne daß ihr eine freundliche Hand das Kiſſen glättete er eilte, was er konnte, durch das kleinere Thor auf dem Wege hin, der zu den Häuslerwohnungen führte, denſelben Weg, welchen Albert eine Viertelſtunde zu¬ vor, in nicht geringerer Eile zurückgelegt hatte ...

Albert war, als der Knabe ſich entfernt hatte, durch den Garten nach dem kleinen Thor geſchlichen. Niemand hatte ihn fortgehen ſehen. Die Familie war ausgefahren; Oswald glaubte er auf ſeinem Zimmer.

Fortes fortuna juvat; dachte er, während er unter den Weidenbäumen, mit denen der Weg beſetzt war, hinlief. Es iſt jetzt noch Alles auf dem Felde. Die Alte hätte ſich keine paſſendere Stunde zum Ster¬ ben ausſuchen können. Ich will nur hoffen, daß ſie ſchon todt iſt, wenn ich komme, und ich ſo aller un¬ nöthigen Auseinanderſetzungen überhoben bin.

In wenigen Minuten hatte er das Dorf erreicht; aber er vermied die Hauptſtraße, ſondern lief an den Gärtchen, die hinter den Hütten lagen, entlang, bis er zu der Wohnung Mutter Clauſen’s kam. Hier ſprang er über den niedrigen Zaun und trat durch die offene Hinterthür auf den kleinen Flur. Er horchte,112 ob ſich etwas im Hauſe rege. Er hörte nichts, als das Ticken der großen Schwarzwälder-Uhr aus der Stube Jochen's, und von der Dorfſtraße her das Lachen von ein paar Kindern Mutter Clauſen's kleinen Pflegekindern die ſich in der Abendſonne im Sande balgten.

Jetzt nur um Himmelswillen keine mitleidige Seele bei der Kranken in der Stube, murmelte Albert, leiſe die Thür, die zu dem Stübchen der Alten führte, aufdrückend.

Er trat auf den Fußſpitzen ein. Es dunkelte ſchon in dem niedrigen engen Raum. Albert's erſter Blick fiel auf die große Lade, die noch wie damals in der Ecke ſtand; ſein zweiter auf die Geſtalt der Alten. Sie ſaß auf dem großen Lehnſtuhle, in welchem Baron Oscar geſtorben war. Sie hatte ihren Sonn¬ tagsſtaat angelegt; ihr Eichenſtock lehnte neben ihr man hätte glauben ſollen, ſie habe ſich bereit ge¬ macht, nach Faſchwitz in die Kirche zu gehen und ſei nur eben noch ein wenig eingenickt, ſich auf den lan¬ gen, langen Weg vorzubereiten.

Biſt Du es, Junker! ſagte ſie mit zitternder Stimme, und ſie hob das Haupt mit dem ſchnee¬ weißen Haar empor und blickte nach der Thür. Tritt näher ganz nahe, daß ich Dich mit der Hand be¬113 rühren kann. Wo biſt Du? Es iſt dunkel um mich her, ich ſehe Dich nicht. Scheint nicht der Mond durch die Bäume? hörſt Du, wie die Nachtigall ſingt? horch! wie ſüß, wie ſchön! ... Oscar, Du darfſt die Lieſe nicht verlaſſen; ſie weint ſich ſonſt die alten Augen aus. Und dem Harald mußt Du ſagen: daß er die arme Marie nicht ſo quält. Sonſt muß ſie hinaus in die wilde Nacht. Leb 'wohl, liebes Kind! Ja, ja, ich will Alles verbrennen; es liegt ſicher in der Lade. Mutter Clauſen kann nicht leſen; es kommt der Rechte ſchon zur rechten Zeit.

Der Kopf der Sterbenden ſank herab auf die Bruſt. Albert glaubte ſie todt. Er trat an die Lade, hob den ſchweren Deckel und durchwühlte haſtig und doch methodiſch genau den Inhalt. Es lagen Frauenkleider darin, die nicht der Mutter Clauſen gehört haben konnten, ſtädtiſche Kleider, wie ſie junge Mädchen vor fünfundzwanzig Jahren trugen; verwelkte Blumen¬ ſträuße, verblichene Bänder, ein paar einfache Schmuck¬ ſachen: ein Band von rothen Korallen, ein kleines goldenes Kreuz an einem ſchwarzen Sammetbande. Das Alles mochte für einen Andern von hohem Intereſſe ſein, aber für Albert hatte es nicht den mindeſten. Er wurde ungeduldig, als er, ein Stück nach dem andern herausnehmend, nichts von demF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 8114fand, was er ſuchte. Endlich da! auf dem Boden des Koffers, in der Ecke, unter einer ſchwarzſeidenen Robe verſteckt ein ziemlich bedeutendes Packet Briefe, Papiere das war's! Er ließ es in die Taſche ſeines Rockes gleiten; er nahm mit beiden Armen, was er aus dem Koffer genommen hatte, ſtopfte es hinein, ſo gut es gehen wollte, drückte den Deckel wieder zu und, wie er ſich jetzt von den Knien aufrichtete, waren das nicht Schritte, die eilig näher kamen? Im Nu war er an dem Fenſterchen, das von der Stube aus in das Gärtchen hinter dem Hauſe führte. Er riß es auf, er zwängte ſich mit einer Schnelligkeit hindurch, die dem gewandteſten Gauner zu hoher Ehre gereicht haben würde; kroch auf allen Vieren durch die Johannisbeerbüſche, ſprang über den niedrigen Zaun und war im nächſten Augen¬ blick in den goldnen Wogen eines Roggenfeldes ver¬ ſchwunden.

Als Albert ſeinen Rückzug durch das Fenſter eben bewerkſtelligt hatte, trat Oswald, athemlos von ſeinem raſchen Lauf, in das Zimmer. Er glaubte ſchon zu ſpät zu kommen, er kniete neben der Alten nieder und nahm ihre welken, erkaltenden Hände in die ſeinen.

Und dieſe Berührung ſchien die Sterbende noch einmal zum Leben zu erwecken. Sie richtete ſich115 gerade auf und ſagte, dem vor ihr Knieenden die Hände aufs Haupt legend, mit einer Stimme, die ſchon von jenſeits des Grabes herüberzutönen ſchien: Der Herr ſegne und behüte Dich! der Herr gebe Dir Frieden!

Amen! murmelte Oswald.

Die Hände der Alten glitten ſanft auf ihren Schooß. Oswald blickte empor. Der Schein der untergehenden Sonne fiel durch das niedrige Fenſter; das Antlitz der Alten war wie verklärt in dem roſigen Licht. Aber das roſige Licht verſchwand; und der graue Abend ſchaute herein auf das bleiche Antlitz einer Todten.

Oswald drückte ihr die Augen zu. Von drüben her ſchallte durch die offene Thür das monotone Tik-tak der Wanduhr; von der Straße tönte das Lachen und Jauchzen der ſpielenden Kinder .... Was weiß das Leben vom Tode? was der Tod vom Leben? was die Ewigkeit von Beiden?

8 *
[116]

Sechstes Kapitel.

Am nächſten Morgen noch vor dem Frühſtücke war Herr Timm abgereiſt. Er hatte den Baron ge¬ beten, ihn bis nach B., dem nächſten Städtchen, fahren zu laſſen, von dort wolle er Extrapoſt nehmen. Der gaſtfreundliche Baron fragte: ob es denn ſo große Eile habe? ob er ſich nicht ein paar Tage von ſeiner angeſtrengten Arbeit ausruhen wolle? Da Al¬ bert indeſſen geſtern Abend einen bedeutenden Auftrag erhalten zu haben vorgab (der Poſtbote hatte ihm in der That einen Brief gebracht), ſo ließ ſich dagegen allerdings nichts einwenden, und der Baron befahl dem ſchweigſamen Kutſcher, die ſchwerfälligen Braunen anzuſpannen. Herr Timm ſagte Allen flüchtig Lebe¬ wohl und fuhr von dannen. Es vermißte ihn Nie¬ mand Niemand, mit Ausnahme der kleinen Genferin. Aber ſie vergoß ihre heißen Thränen in der Stille ihres Stübchens und die Geſellſchaft ſah von ihrem117 Kummer nichts, als die rothgeweinten Augen, die ſie durch heftigen Kopfſchmerz erklären zu können hoffte, wenn ſie Jemand darnach fragte. Es fragte ſie aber Keiner.

Hatten doch Alle genug mit ſich ſelbſt zu thun! war doch Jeder vollauf mit dem, was ihm zunächſt am Herzen lag, beſchäftigt!

Der Tod der alten Frau war für Oswald ein neuer Schlag. Wieder war ihm eines der wenigen Weſen, an denen er einen innigeren Antheil nahm, ganz plötzlich geraubt. Es war, als ob ſein verdü¬ ſtertes Gemüth nicht zur Ruhe kommen, als ob an ſeinem Himmel der letzte helle Streifen verſchwinden, und gänzliche Nacht ihn umgeben ſollte! Er hatte Mutter Clauſen nur ſelten geſehen, aber es war jedes Mal unter ſo eigenthümlichen Verhältniſſen geweſen; er hatte jedes Mal einen ſo tiefen, ja erſchütternden Eindruck von dieſen Begegnungen davongetragen, daß ihm jetzt war, als hätte er eine Ahne verloren, deren zärtliche Liebe er mit Gleichgültigkeit und Undank ver¬ golten hatte. Wie beſtimmt hatte er ſich vorgenommen, als er das letzte Mal mit Albert in ihrer Hütte ge¬ weſen war, die alte Frau nicht wieder aus den Augen zu verlieren; nachzufragen, ob er ihr in irgend einer Weiſe dienen, irgendwie ihr einſames Alter erfreuen118 könne? Sie hatte ſeiner in ihrer letzten Stunde ge¬ dacht; er hatte in all dieſen Tagen keine Minute Zeit gehabt, an ſie zu denken. Sie hatte nicht ſterben mögen, ohne ihm ihren Segen zu geben; was hatte er ihr im Leben Gutes gethan, dieſen Segen zu ver¬ dienen? Was half es nun der Todten, daß er für ihr Begräbniß Sorge trug? daß er mit Bruno hinter dem Leiterwagen herging, auf dem man ihren ſchmuck¬ loſen Sarg über die Haide nach Faſchwitz fuhr, ihn auf dem dortigen Friedhofe in die Gruft zu ſenken? daß er nach Grünwald ſchrieb und eine kleine Mar¬ mortafel beſtellte, auf daß ihr Grab nicht wie einer Geächteten Grab ſei? Wie hätte ihm die Lebende für den geringſten Theil all der Mühe, die er ſich jetzt um die Todte gab, ſo herzlich gedankt!

Und war es, weil er ihn ſo wenig verdient hatte, daß der Segen der Sterbenden nicht in Erfüllung ging? Der Frieden, den ſie auf ihn herabflehte mit dem letzten Hauch ihres Mundes, wollte nicht einziehen in ſein Herz. Wie ein Verzweifelter kämpfte er mit der raſenden Leidenſchaft, die ſich wie ein wilder Or¬ kan über ihn geſtürzt hatte, aber jeder neue Tag mußte ihn nur immer mehr von ſeiner Ohnmacht überzeugen. Brachte ihn doch jeder neue Tag oft auf lange Stun¬ den in die Geſellſchaft des ſchönen Mädchens; trat119 ſie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den ſtolzen Lippen entgegen, ſobald der leuchtende Som¬ mermorgen die kurze und doch für ihn ſo lange Nacht verdrängt hatte; ſaß er ihr doch bei Tiſche gegenüber; brachten die Unterrichtsſtunden, gemeinſame Spazier¬ gänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem ſo kleinen Cirkel auf dem Lande beinahe unvermeidlich ſind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen in Berührung! Er ſelbſt nannte ſeine Leidenſchaft nicht Liebe, ſondern nur lebhafte Theilnahme, Freund¬ ſchaft er ſuchte ſich einzureden, daß er dieſe Theil¬ nahme, dieſe Freundſchaft ganz ebenſo empfunden haben würde, wenn ſein Verhältniß zu Melitta das¬ ſelbe geblieben wäre, ihm der Zufall nicht Melitta's Bild in einem ſo ganz anderen Lichte gezeigt hätte. Daß es weder von Klugheit, noch von Loyalität zeuge, dem trügeriſchen Zufall zum Herrn zu machen über das Wohl und Wehe eines noch vor kurzem ſo heiß geliebten Weibes; daß ſeine prahlenden Vernunft¬ gründe nur ſchlaue Sophismen einer wilden Leiden¬ ſchaft ſeien Oswald wäre der Erſte geweſen, dies in dem Falle eines Anderen zu entdecken und zu rügen, aber die Klugheit, die Loyalität, die wir in der Be¬ urtheilung fremder Angelegenheiten ſtets bereit haben, fehlen uns nur zu oft in unſeren eigenen; und weiſe120 denken und ſprechen und thöricht handeln ſind be¬ kanntlich ſehr heterogene Dinge, die ganz vortrefflich Hand in Hand gehen können.

Freilich mochte es einem leidenſchaftlichen Herzen ſchwer fallen, von ſo viel Schönheit, Anmuth und Geiſt nicht gerührt zu werden. Empfanden doch Alle, die mit Helene in Berührung kamen, den wunderbaren Zauber ihrer Perſönlichkeit; ſchien es doch faſt un¬ möglich, nicht mit Heftigkeit für oder gegen ſie Partei zu nehmen; gab es doch ſelbſt in der Geſindeſtube unter den Leuten lebhafte Scenen, da der ſchweigſame Kutſcher, auf die junge Baroneſſe anſpielend, brummte: es ſei nicht Alles Gold, was glänze, worauf die alte brave Köchin erwiederte: zu ſchlechten und misgün¬ ſtigen Menſchen kämen die lieben Engel allerdings nicht, was denn eine unerquickliche Debatte über ſchlechte Menſchen im Allgemeinen und Beſondern herbeiführte, bei der es von beiden Seiten ziemlich ſcharf herging und, wie es bei ſolchen Gelegenheiten zu geſchehen pflegt, verſchiedene helle Streiflichter auf die Familienangelegenheiten der gnädigen Herrſchaft geworfen wurden. Denn ſelbſt in dieſen Regionen war man ſo ziemlich darüber einig, daß Baron Felix ſich nicht bloß zum Vergnügen ſo lange auf Schloß Grenwitz aufhielt; ja Felix 'Kammerdiener behauptete:121 es gäbe gewiſſe Leute, die über gewiſſe Dinge eine ziemlich gewiſſe Auskunft geben könnten, daß aber Verſchwiegenheit die erſte Pflicht eines guten Bedien¬ ten ſei. Er wolle nur ſo viel ſagen, daß ſein Herr eine Sache, die er angefangen habe, auch zu Ende bringe, und daß er (der Kammerdiener) der unma߬ geblichen Meinung ſei, es gebe kein Mädchen auf Erden, das ſeinem Herrn auf die Dauer widerſtehen könne eine Behauptung, die von dem weiblichen Theil der Geſellſchaft mit großer Entrüſtung zurückgewieſen wurde.

Was den Blicken dieſer Leute nicht entging, konnte Oswald's durch die Liebe hundertfach geſchärftem Auge nicht verborgen bleiben. Mußte er doch täglich wahr¬ nehmen, wie Baron Felix Alles aufbot, ſich die Gunſt ſeiner ſchönen Couſine zu erwerben: Alle Gewandt¬ heit, die er ſich in tauſend Intriguen auf den glatten Parquets großſtädtiſcher Salons angeeignet, allen Witz, mit dem ihm die Natur keineswegs kärglich ver¬ ſehen hatte; alle Vortheile, die ihm ſein Verhältniß als naher Verwandter geſtattete. Mußte er doch ſehen, mit welcher Umſicht die Baronin dieſe Bemühungen auf alle Weiſe unterſtützte, und Felix in jeder Hinſicht ebenſo unermüdlich wie geſchickt ſecundirte. Zwar ſagte er nein! oder ſchwieg, wenn Bruno nach Tiſche,122 nach einem Spaziergang mit zornigem Antlitz dieſe oder jene neue Frechheit von dem Affen, dem Felix erzählte; aber er wußte recht gut, daß der Knabe nicht falſch geſehen oder gehört hatte, und ſein einziger Troſt war, daß Helenen's Stolz in die Verbindung mit einem ihrer ſo ganz und gar unwürdigen Mann nun und nimmermehr willigen werde.

Was Fräulein Helene ſelbſt betraf, ſo ging ſie ihren ſtillen Weg, ohne ſcheinbar weder nach rechts noch links zu blicken, nur daß in der letzten Zeit ihr Betragen noch zurückhaltender, ihre Miene noch vor¬ nehmer, ihr Lächeln noch ſeltener geworden war. Sie fühlte ſehr wol, daß ſie in dem Kampfe, der ihr drohte, allein ſtehen, daß ſie. vergeblich an das Herz der kalten, egoiſtiſchen Mutter, vergeblich an die Ein¬ ſicht des alten, ſchwachen Vaters, vergeblich an die Ritterlichkeit des frivolen, zügelloſen Felix appelliren würde, und daß ſie ſich auf Niemand verlaſſen könne, als auf ſich ſelbſt. Aber dieſes Bewußtſein, das andere Mädchen in dem Alter Helenen's zu Boden gedrückt haben würde, diente nur dazu, den Muth dieſes hochherzigen Geſchöpfes, in welchem die ganze Kraft ihrer Familie, nur in edlerer, geläuterter Form wieder geboren zu ſein ſchien, anzuſchüren und zu entflammen. Die Annäherung, die zwiſchen ihr und123 der Mutter ſtattgefunden hatte, war nur eine ſchein¬ bare geweſen. Nie ſtehen ſich zwei Weſen ſchroffer gegenüber, als wenn ſie, mit der gleichen Energie, mit derſelben Kraft des Willens und Vollbringens ausgeſtattet, nach verſchiedenen Zielen ſtreben. Zwi¬ ſchen der Baronin, die nur weltliche Zwecke kannte und verfolgte, und ihrer Tochter, die einem vielleicht übertriebenen, immer aber hochſinnigen Idealismus huldigte, war auf die Dauer keine Vereinigung möglich.

Das ſprach auch Helene wiederholt in den Briefen aus, welche ſie jetzt häufig an ihre liebſte Freundin und einzige Vertraute, Miß Mary Burton, nach Ham¬ burg ſchrieb. Dearest Mary, hieß es in einem derſelben, wie oft haſt Du Dich über das grauſame Geſchick beklagt, welches Dich mit Reichthum über¬ ſchüttete, um Dir alle Verwandte zu rauben, Eltern, Geſchwiſter, Couſins und Couſinen alle jene Freunde und Freundinnen, die uns die Natur ſelbſt mit auf den Lebensweg giebt. Aber, glaube mir, liebes Mäd¬ chen, es giebt noch ein ſchlimmeres Loos, als das Deine. Die Wehmuth, die Dich bei dem Gedanken erfaßt, allein dazuſtehen in der Welt, iſt nicht ohne eine gewiſſe Süßigkeit. Wie oft ſprachſt Du mit Entzücken von Deinem Bruder Harry, der Dir in124 der Blüthe ſeiner Jahre geraubt wurde, von Deiner Schweſter Kitty, der holden Blume, die ſo früh ver¬ welkte Du ſagteſt, ſie ſeien Dir nicht geſtorben, könnten Dir nicht ſterben, denn ſie lebten ſchöner und herrlicher in Deiner Erinnerung fort. Die Schatten der lieben Todten umſchwebten Dich überall, ſie ſeien Dir eine liebe Geſellſchaft, in der Du Dich unendlich wohler fühlteſt, als oft, ſehr oft in der kalten, egoiſtiſchen, die Dich umgiebt. O gewiß: das Leben iſt der Güter höchſtes nicht; aber die Liebe iſt es. Das Leben ohne Liebe iſt ganz werthlos, Liebe ohne Leben kann noch immer köſtlich ſein. Deine Verwandten ſind geſtorben, aber ſie leben Dir; meine Verwandten leben, aber für mich find ſie todt. Es iſt ein grauſes Wort, theuerſte Mary, aber ich ſtreiche es dennoch nicht wieder aus, denn es iſt wahr, und wir haben ja geſchworen, uns nie die Wahrheit zu verhehlen, koſte uns ihr Bekenntniß noch ſo viel. Ja, ſie ſind todt für mich, meine Verwand¬ ten, und ob ich gleich die Hälfte meines Lebens hin¬ geben möchte, ſie ins Leben zu rufen mit frommen Wünſchen iſt hier nichts gethan. Wer lebt denn für uns? Doch nur die, in deren Herzen wir allezeit eine ſichere Zufluchtsſtätte finden vor allem Leid, das uns bedrängt, vor allen Zweifeln, die uns ängſtigen; die125 nichts wollen, als unſer Glück, und unſer Glück nicht in der Erfüllung ihrer eigenen Wünſche, in der Be¬ friedigung ihrer eigenen Selbſtſucht erblicken. Und iſt dies nicht der Fall bei den Meinigen? kann ich ihnen mein Herz erſchließen? muß ich nicht ſtets fürchten, bei ihnen anzuſtoßen, wenn ich ſpreche, wie ich denke? fragen ſie nach meinen Neigungen? ängſtigen Sie mich nicht vielmehr mit Zumuthungen, mit Andeutun¬ gen, die mir das Blut erſtarren machen? Freilich mein guter alter Vater er würde, wenn es zum Aeußerſten käme, mich nicht verlaſſen; aber, großer Gott, iſt denn die Furcht, es könne bis dahin kommen, nicht ſchon ſchlimm genug? und iſt denn der Beiſtand, den man ſich ertrotzen muß, etwas, worauf wir mit vollem Vertrauen, mit gläubiger Zuverſicht blicken können? Ach, Mary, ich kann Dir nicht ſagen, wie fremd, wie unheimlich mir der Geiſt iſt, der in meinem elterlichen Hauſe waltet, wie ſehr ich mich zurückſehne nach unſerem ſtillen Penſionsleben, wo wir, wenn uns auch die Welt draußen verſchloſſen war, in unſeren Träumen und ach! vor allem in unſerer herzlichen Freundſchaft eine ſchönere und reichere Welt fanden. Hier hab 'ich Niemand, dem ich einen Blick in dieſe Welt verſtatten möchte. Niemand, als einen Knaben, bei dem ich auf Verſtändniß nicht rechnen kann, und126 einen Mann, den ich lieben könnte, wenn er mein Bruder wäre, und von dem mich jetzt eine unüber¬ ſteigliche Kluft trennt. Du weißt, von wem ich ſpreche. Ich will Dir nicht verſchweigen, daß ich in letzterer Zeit an dieſem Manne ein Intereſſe gewonnen habe, das ich nie für möglich gehalten hätte ein Be¬ kenntniß, welches Deinen Spott herausfordern wird und das ich Dir dennoch, kraft der Heiligkeit unſeres Covenants, ſchuldig bin. Vielleicht fühle ich mich nur deshalb zu ihm hingezogen, weil er unglücklich iſt. Er ſteht, wie Du, allein, ganz allein da in der Welt; ſeine Mutter hat er kaum gekannt, ſeinen Vater ſchon vor Jahren verloren, Brüder und Schweſtern nie gehabt. Er iſt noch jung, aber reiche Herzen erleben viel in kurzer Zeit; und er muß viel erlebt und viel gelitten haben. Es liegt eine Schwermuth auf ſeiner hohen Stirn, in ſeinen tiefblauen großen Augen, die für mich etwas unendlich Rührendes hat; manchmal zuckt es ſo ſchmerzlich um ſeinen Mund, daß ich viel, ſehr viel darum geben könnte, dürfte ich zu ihm treten und ſprechen: ſage mir, was Dich quält; vielleicht kann ich Dir helfen, und vermag ich auch das nicht, kann ich doch mit Dir fühlen. Du weißt, theure Mary, daß ich durch und durch Ariſtokratin bin, daß ich einen angebornen Widerwillen vor allem127 Gemeinen und Plebejiſchen habe. Wir Beide ſind in der Ueberzeugung aufgewachſen, daß die unteren Stände mit dem Adel der Geburt auch des Adels der Geſinnung entbehren, daß wir bei ihnen auf ein Verſtändniß deſſen, was uns hoch und theuer iſt, in keinem Falle rechnen können. Ich geſtehe, daß ich ſeit meiner Ankunft in Grenwitz von dieſem Vorurtheil denn ſo muß ich es jetzt bezeichnen in manchen Punkten zurückgekommen bin, daß ich wenigſtens jetzt eingeſehen habe, wie zu der Regel ſich doch auch Aus¬ nahmen finden. Stein iſt eine ſolche Ausnahme. Ich habe noch kein Wort aus ſeinem Munde gehört, das den Plebejer verrathen hätte, dagegen viele, ſehr viele, die mir wie aus der Seele geſprochen waren, die ein lautes Echo in meinem Herzen fanden. Er ſpricht mit einer Anmuth, wie ich es noch von keinem Men¬ ſchen gehört habe, mit einer reichen Modulation der Stimme, die wie Muſik in meinem Ohre klingt, ſo daß ich oft noch ſtundenlang nachher verſuche, die Art und Weiſe, den Tonfall, mit dem er dies oder jenes ſprach, in meiner Erinnerung zurückzurufen. Es liegt für mich ein unendlicher Zauber in einer ſchönen klangreichen Stimme; es iſt mir immer, als ſprächen die Menſchen mit dem Herzen; als könnte ich, oft ſchon nach wenigen Worten, ſagen: dies iſt128 ein guter, dies iſt kein guter Menſch. Und bei Stein wenigſtens trifft es zu. Ich habe ſchon manche Pro¬ ben von ſeiner Herzensgüte geſehen. So ſtarb vor ein paar Tagen in unſerem Dorfe eine ſteinalte Frau, die früher Wirthſchafterin auf dem Schloſſe geweſen war und von dem Vater eine kleine Penſion hatte. Niemand kümmerte ſich um ſie, nur Stein, der auch nach ihrem Tode für ihr Begräbniß Sorge trug, ja ſie zu ihrer letzten Ruheſtätte, mit Bruno, den weiten Weg bis zum Friedhofe begleitet hat. Das iſt ihm im Schloſſe ſehr übel ausgelegt worden und ich mußte ſehr liebloſe Bemerkungen darüber mit anhören; be¬ ſonders von einer gewiſſen Perſon, die Gott danken ſollte, wenn er ſie nur einmal auf den Gedanken einer ſo guten That kommen, geſchweige denn eine ſolche wirklich ausführen ließe. Aber ich will dieſer Perſon nicht die Ehre anthun, noch mehr Worte über ſie zu verlieren. Ich habe beſchloſſen, daß ſie in Wirklich¬ keit für mich nicht exiſtiren ſoll, und ſo ſoll ſie es auch nicht in Worten .............

Dieſer Brief, in welchem ſich Fräulein Helene ſo unumwunden über die Perſonen ihrer Umgebung aus¬ ſprach, wurde nie beantwortet, denn er gelangte nie an ſeine Adreſſe.

[129]

Siebentes Kapitel.

Es war in der Nachmittagsſtunde. Der alte Baron ſchlief in dem Wohnzimmer. Er ſaß in dem großen Schaukelſtuhl; die Zeitung, in welcher er ge¬ leſen hatte, war ihm aus der welken herabhängenden Hand geglitten. Er ſah recht verfallen aus in dieſem Augenblicke; recht wie ein alter Mann, der nicht mehr viele Jahre zu leben hat und deſſen Leben die leich¬ teſte Krankheit ein raſches Ende machen kann. So mochte Anna-Maria denken, die ihm gegenüber auf ihrem gewöhnlichen Platze geſeſſen und ihn eine geraume Zeit, in tiefes Nachdenken verloren, aufmerk¬ ſam betrachtet hatte. Jetzt ſtand ſie auf, und deckte leiſe ein dünnes Taſchentuch über das Geſicht des Schlafenden. Dann ſah ſie auf die Pendeluhr über dem Kamin. Es war bald vier, die Stunde, in welcher nach der unwandelbaren Ordnung des Hau¬ ſes der Kaffee getrunken werden mußte im Gar¬F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 9130ten, wie ſtets, wenn das Wetter es erlaubte. Die Baronin ſtand im Begriff ihren Gemahl zu wecken, ſie beſann ſich indeſſen eines anderen, ſchritt durch die offene Thür in den Garten hinab, und fragte den Be¬ dienten, welcher das Kaffeeſervice in die Laube trug, ob Baron Felix ſchon gerufen ſei? Noch nicht, gnädige Frau! So gehen Sie hinauf; ich ließe ihn bitten, doch, wo möglich, ſogleich zu kommen, und hören Sie! ſagen Sie Mademoiſelle, ich wolle heute ſelbſt den Kaffee ſerviren, ſie möge nur in der Wäſch¬ kammer bleiben. Zu Befehl, gnädige Frau. Und, was ich ſagen wollte, Sie brauchen die An¬ deren noch nicht zu rufen. Zu Befehl, gnädige Frau.

Der Mann ging ſeine Aufträge auszurichten. Anna - Maria ſchritt an der Laube vorüber in einen langen, ganz überwölbten Buchengang, der von dem großen Raſenplatze aus mehre hundert Schritte bis in ein Gehölz führte, wo eine kleine verfallene Kapelle ſtand. Sie ſchien ganz vergeſſen zu haben, daß ſie Felix in die Laube beſchieden hatte, denn ſie ging immer weiter, die Augen auf den Boden geheftet, bis ſie das Ende des Ganges und die Kapelle erreicht hatte.

Es war eine liebliche, ſüß melancholiſche Stelle. Uralte Rieſenbäume überwölbten den Platz mit ihren131 breiten Laubkronen, daß kaum ein Sonnenſtrahl ſich hineinſtehlen konnte. Der Boden war mit dichtem Moos bedeckt: langes Gras wuchs zwiſchen den um¬ hergeſtreuten Steinflieſen; die weitklaffenden Spalten des alten Gemäuers waren von dunkelgrünem Epheu überſponnen; hier und da ragte ein hoher blühender Buſch aus den Ruinen. Auf dem morſchen Kreuz in einer der leeren Fenſterniſchen ſaß ein Vögelchen und ſang. Das war der einzige Laut, den man vernahm. Er ſchien die Stille rings umher nur noch ſtiller zu machen.

Einen Liebhaber der Einſamkeit würde der Platz entzückt haben. Aber die Baronin erhob kaum ein¬ mal die Augen vom Boden, ſich flüchtig umzuſehen, Sie hatte überhaupt ſehr wenig Sinn für Sonnen¬ ſtrahlen, die durch ein dichtes Laubgitter zittern, für blaue Schatten und andere Requiſiten landſchaftlicher Schönheit, und heute vorzüglich war ihr Geiſt von ganz anderen Dingen in Anſpruch genommen. Sie ſetzte ſich auf eine Steinbank unmittelbar unter der leeren Fenſterniſche, in welcher das Vögelchen ſang, nahm aus der Taſche ihres Kleides einen Brief und begann denſelben noch einmal zu leſen.

Es war der Brief, den Helene heute Morgen in dem guten Glauben, daß das Wort der Mutter, ſie9*132werde ſich nie um ihre Correſpondenz kümmern, eine Wahrheit ſei, geſchrieben, und in dem vollen Ver¬ trauen auf die Heiligkeit des Briefgeheimniſſes ihrem Kammermädchen übergeben hatte mit dem Auftrage, ihn in die Küche zu tragen, wo der Poſtbote ſich an einer Taſſe Kaffe erquickte. Das Mädchen war der Baronin auf dem Flur begegnet, und von dieſer ge¬ fragt worden, von wem der Brief ſei? Auf die Ant¬ wort: von dem gnädigen Fräulein; hatte die Baronin ſich den Brief geben laſſen, mit der Weiſung, den Poſtboten hernach zu ihr auf's Zimmer zu ſenden, da ſie ſelbſt noch mehre Aufträge für ihn habe.

So war Helenen's Brief in die Hände der Mut¬ ter gekommen. Es war ein Zufall, einer jener Zufälle, den böſe Dämonen eigens in der Abſicht herbeizu¬ führen ſcheinen, ein ſo ſchon den Mächten der Fin¬ ſterniß mehr als denen des Lichts zugethanes Gemüth gänzlich verwirren und vom rechten Pfade wegzulocken. Ohne dieſen Zufall wäre die Baronin vielleicht nie auf den Gedanken gekommen, ſich auf dieſem krum¬ men Wege in das Herz ihrer Tochter zu ſtehlen. Aber das Projekt der Heirath Helenen's mit Felix war bei ihr, wie es bei ſelbſtiſchen und eigenwilligen Naturen zu geſchehen pflegt, zur fixen Idee geworden. Der Geſundheitszuſtand ihres Gemals erſchien ihr 133 gleichviel ob mit Recht oder Unrecht äußerſt be¬ denklich; für Malte, der in der That ein ſehr ſchwäch¬ liches Kind geweſen und, zum Theil durch die Schuld der überzärtlichen Eltern, aus einer Krankheit in die andere gefallen war, hatte ſie ſtets gefürchtet; es war in ihren Augen mehr wie wahrſcheinlich, daß Felix über kurz oder lang der Herr ſein würde und ſie hielt es daher für eine gute Politik, ihn auf jede Weiſe an ſich zu feſſeln. Sie hatte dabei im Anfang auch Helenen's Vortheil, wie ſie ihn nun verſtand, im Auge gehabt. Sie wollte mit ihrer eigenen Zu¬ kunft auch die Zukunft der Tochter ſicher ſtellen, und fand es bequem, daß dies mit einem Schlage ge¬ ſchehen konnte. Felix ſchien zum Schwiegerſohn einer herrſchſüchtigen Schwiegermutter wie geſchaffen. Er war leichtſinnig, fügſam, ein Feind von Geſchäften, und durchaus geneigt, ſo lange es ihm nicht an Geld oder Credit gebrach, die Sachen gehen zu laſſen, wie ſie wollten und konnten. Die Baronin bedachte nicht, daß ſolche Menſchen gerade am ſchwerſten zu behan¬ deln ſind, daß grenzenloſer Leichtſinn und ein frecher, grauſamer Egoismus, der, was ſich ſeiner Befriedi¬ gung entgegenſtellt, ſchonungslos opfert, ganz vor¬ trefflich Hand in Hand gehen. Sie glaubte von Felix nichts zu befürchten zu haben. Felix hatte134 mit ſeinem höfiſchen, geſchmeidigen Weſen, ſeinem: wie Sie wollen, liebe Tante; richten Sie das ganz nach Ihrem Gutdünken ein, liebe Tante ihr ganzes Herz gewonnen, ſo weit ſie überhaupt ein Herz hatte.

Deſto größere Sorge machte ihr Helene. Sie konnte es ſich nicht verhehlen, daß die von beiden Seiten verſuchte Annäherung doch zu keinem, oder ſtreng genommen, dem entgegengeſetzten Reſultat ge¬ führt hatte. Daß ſie dabei alle Schuld auf die un¬ kindliche Geſinnung , auf die überſpannten Ideen Helenen's ſchob, war natürlich, änderte aber an der Sache ſelbſt nichts. Und nun mußte ſie noch dazu bemerken, daß Helene offenbar ihrem Vater ein größe¬ res Vertrauen ſchenkte, als ihr; daß ſie ſich zu Bruno viel mehr hingezogen zu fühlen ſchien, als zu ihrem Bruder Malte; daß ſie gegen Oswald, ſelbſt gegen Albert artiger und zuvorkommender war, als gegen ihren Couſin. Felix hatte gelacht, als ihm die Ba¬ ronin dieſe Bemerkung mittheilte; er hatte dies für ein gutes Zeichen erklärt. Je ungezogener, je beſſer! hatte der Ex-Lieutenant gemeint; und dabei einen Vergleich zwiſchen Pferden und Mädchen, der etwas ſtark nach der Wachtſtube ſchmeckte, gezogen. Indeſſen die Baronin pflegte ihren eigenen Augen zu trauen,135 und ihre Augen beſtätigten ſie täglich mehr in der Richtigkeit ihrer Beobachtung. Nun hatte auch Felix zuletzt angefangen, etwas weniger ſicher zu ſein. Emilie von Breeſen's Wort an jenem Abend war wie ein ſcharf gefiderter Pfeil durch ſeine Selbſtgefälligkeit, in die er ſich wie in einen Harniſch hüllte, gedrungen. Die Eiferſucht ſieht falkenſcharf. Emilie fühlte, daß nur die Liebe zu einer Andern dieſe Veränderung in Oswald bewirkt haben konnte, und mit jener wunder¬ baren Divinationsgabe, die bei den Frauen die ſchwer¬ fällige Logik des Mannes mehr wie erſetzt, hatte ſie im Nu herausgefunden, daß ihre Nebenbuhlerin Nie¬ mand anders ſein könne, als die ſchöne Helene. Felix hatte in ſeiner raſchen Weiſe den in ihm angeregten Gedanken, um ihn los zu werden, der Baronin mit¬ getheilt, die Baronin in ihrer bedächtigen Weiſe dar¬ über gebrütet, bis das im Anfang ganz Unglaubliche ihr wahrſcheinlicher und immer wahrſcheinlicher er¬ ſchien, und ſie zuletzt beſchloß, es koſte was es wolle, der Sache auf den Grund zu kommen.

Da ſpielt ihr der Zufall den Brief Helenen's in die Hände. Dieſer Brief, an die vertrauteſte Freun¬ din ihrer Tochter, mußte ihren Verdacht beſtätigen oder zerſtreuen, ihr den Schlüſſel zu dem Herzen ihrer Tochter liefern. Daß dieſer Schlüſſel in ihrer136 Hand zu einem Diebeswerkzeug wurde was galt es ihr! Sie wollte Gewißheit um jeden Preis! Und hat nicht eine Mutter ein Anrecht auf die Geheim¬ niſſe ihrer Tochter? und wenn dieſe Tochter ſich, wie nur zu ſehr zu befürchten ſtand, auf Abwege verirrte, iſt es nicht heilige Pflicht der Mutter, ſie davon zurückzubringen, ſelbſt durch ein gewaltſames Mittel?

So ſuchte die Baronin ſich das Gehäſſige ihres Schrittes wegzuraiſonniren. Den Menſchen fehlt es nie an Beſchönigungsgründen für eine Handlung, die ſie auf jeden Fall auszuführen entſchloſſen ſind.

Und da ſaß ſie nun auf der ſteinernen Bank ne¬ ben dem alten Gemäuer unter der Fenſterniſche, in welcher das Vögelchen ſo luſtig zwitſcherte und ſtu¬ dirte den Brief, den unſeligen Brief, den ſie nun ſchon beinahe auswendig wußte. Die Frucht von dem Baume der Erkenntniß, die ſie ſo freventlich geſtohlen, war bitter, ſehr bitter. Sie hatte ihre Tochter nie geliebt; jetzt aber haßte ſie ihre Tochter ... Alſo wirklich! ihr ſchlimmſter Verdacht beſtätigt! für alle ihre Güte mit ſchwarzem Undank belohnt! des Egois¬ mus von ihrem eigenen Kinde angeklagt! in allen ihren Plänen von dieſem Starrkopf durchkreuzt! He¬ lene im beſten Einverſtändniß mit den beiden Verha߬137 ten! Fräulein von Grenwitz in Liebe zu einem Mieth¬ ling, einem gemeinen Menſchen, der bei ihren Eltern in Lohn und Brod ſtand! Denn was bedeuteten zu¬ letzt all die ſchönen Phraſen von Oswald's Liebens¬ würdigkeit, Oswald's Herzensgüte, von dem Antheil, den ſie an ſeinem geheimen Kummer nahm? Die Baronin verſtand ſich freilich ſchlecht auf die Sprache der Liebe; ſo viel aber wußte ſie: die Gleichgültigkeit ſpricht ſo nicht. Dahin alſo war es gekommen! He¬ lene wollte Krieg! gut ſie ſollte ihn haben. Es ſollte ſich zeigen, wer die Stärkere war: die Mutter oder die Tochter. Jetzt zurückweichen? zugeben, daß dieſes ungerathene Kind ihren Willen durchſetzt? den jahrelang erwogenen Vorſatz einer thörichten Mädchen¬ laune opfern? Nimmermehr!

Aber was jetzt thun? noch einmal es mit ſchein¬ barer Güte verſuchen? oder die Maske fallen laſſen und befehlen, wo mit Bitten nichts auszurichten war? Und vor allem: wie weit Felix in das Geheimniß einweihen? würde ſich nicht ſein Stolz regen, wenn er erführe, wie tief er in den Augen Helenen's ſtand, wie ſehr ſie ihn verachtete? Konnte er nicht zurück¬ treten? und ſetzte dann Helene nicht doch ihren Willen durch? triumphirte die Tochter dann nicht doch über die Mutter? ...

138

Ehe die Baronin über dieſen Punkt mit ſich ins Klare kommen konnte, vernahm ſie Schritte ganz in ihrer Nähe. Sie faltete eiligſt den Brief zuſammen und verbarg ihn haſtig in der Taſche ihres Kleides.

Es war Felix. Er hatte Niemand in der Laube gefunden, und zufällig einen Blick in den Buchengang werfend, die Baronin in der Tiefe deſſelben zu er¬ blicken geglaubt.

Alſo doch, ſagte er, als ſich die Baronin bei ſei¬ ner Annäherung erhob, ich wußte wahrlich nicht, ob Sie es waren. Der Kaffee ſteht in der Laube; aber wie König Philipp auf dem Thron, einſam und allein. Es ſcheint ſich alle Welt, wie ich, verſchlafen zu haben.

Setzen Sie ſich hierher zu mir, lieber Felix, ſagte die Baronin; es hat mit dem Kaffee keine ſo große Eile. Wir können hier ungeſtörter ſprechen als dort.

Ein allerliebſt verſchwiegenes Plätzchen zu einem ehrbaren Rendevous, erwiederte Felix lachend, neben der Baronin auf dem Bänkchen Platz nehmend.

In dieſem Augenblick verſtummte das Vögelchen, das oben in der Fenſterniſche geſeſſen hatte und flog in einen der Bäume. Das bleiche, von dunkeln Locken eingerahmte Geſicht eines Knaben erſchien139 in der Höhlung und ſchaute herunter, um ſofort, nachdem es die Beiden erblickt hatte, wieder zu ver¬ ſchwinden.

Daß Sie doch noch immer zum Scherz aufgelegt ſind, lieber Felix! ſagte die Baronin.

Noch immer? erwiederte Felix, was iſt denn geſchehen, weshalb ich weinen ſollte? Sie können wol nicht vergeſſen, was ich Ihnen neulich Abends ſagte? Pah! ich habe mich lange von dem Schreck erholt; es war ein blinder Schuß, glauben Sie mir!

Ich wollte, ich könnte ihre Zuverſicht theilen, lieber Felix; aber ich habe meine guten Gründe an¬ derer Meinung zu ſein. Ich habe Helene ſeitdem ge¬ nauer beobachtet; ich kann mich von dem Gedanken nicht losmachen, daß doch etwas an der Sache iſt.

Aber, verzeihen Sie mir, Tante; Sie haben ein bewunderungswürdiges Talent, Alles ſchwarz zu ſehen. Es war ein kindiſcher Einfall von der kleinen Bree¬ ſen; ſie wollte mich ärgern voilà tout! Ich kann Helenen nicht zutrauen, daß ſie mir einen Schul¬ meiſter vorzieht. Es wäre ja lächerlich, horriblement lächerlich, ſagte der Ex-Lieutenant und betrachtete wohlgefällig ſeine lackirten Stiefel.

Und geſetzt auch, Helene könnte ſich nicht ſo weit vergeſſen daß es nur die thörichte Laune eines140 Augenblicks wäre, verſteht ſich ohnehin von ſelbſt ſind Sie denn mit ihrem Betragen, Ihnen gegen¬ über, zufrieden?

Sie wird ihr Betragen ändern, ſobald ſie ſieht, daß wir Ernſt machen.

Und wenn ſie es nicht ändert?

Nun, ſo ſind wir Gott ſei Dank noch nicht ver¬ heiratet; ſagte Felix in der Bewunderung ſeiner Stiefel verloren, wahrſcheinlich nicht genau wiſſend, was er ſagte.

Dann können wir ja auch unſer Geſpräch ab¬ brechen, ſagte die Baronin ſich erhebend; wenn Sie mit einer ſolchen Gleichgültigkeit von dem Schei¬ tern eines Planes ſprechen können, an deſſen Aus¬ führung, ſollte ich denken, uns Beiden beinahe gleichviel gelegen ſein muß, ſo verlohnt es ſich auch nicht der Mühe, weiter darüber zu ſprechen.

Aber, theuerſte Tante, ſagte Felix aufſpringend und der Baronin die Hand küſſend; Sie ſind auch wahrlich heute in einer ſchauerlichen Laune. Wie können Sie ein Wort, bei dem ich mir, auf Ehre, nicht das Mindeſte gedacht habe, ſo übel nehmen? Es fuhr mir ſo heraus. Sie wiſſen ja, daß meine Zunge Vieles ſpricht, was ich bei Leibe nicht ver¬ antworten möchte. Setzen Sie ſich wieder, ich bitte141 Sie ... Sie ſagten, wenn Helene ihr Betragen nicht ändert? meine ernſte Antwort iſt: ſo heirathe ich ſie doch. So etwas findet ſich, wenn man nur erſt im Wagen ſitzt; auf der erſten Station wird ge¬ weint; auf der zweiten geſchmollt; auf der dritten fängt man an zu lächeln; auf der vierten

Genug! ſagte die Baronin, Sie ſind ein un¬ verbeſſerlicher Leichtfuß, der

Ueberall da hingelangt, wo er hingelangen will. Und deshalb laſſen Sie Ihre Bedenken fahren und uns zum Kaffee gehen, der ſonſt wahrlich kalt wird.

Nicht ſo ſchnell! ſagte die Baronin; wozu rathen Sie denn nun?

Wozu ich immer gerathen habe. Sagen Sie He¬ lene'n da ich ja doch einmal auf keinen Fall mich direct in die Sache miſchen ſoll Du heiratheſt Deinen Vetter, Baron Felix von Grenwitz, und zwar binnen hier und irgend einer beliebigen Zeit. Ab¬ gemacht, Sela.

Iſt das Ihr Ernſt?

Mein wohlerwogener Ernſt. Wann wollen Sie den großen Ball geben?

Uebermorgen.

Gut. Das iſt eine vortreffliche Gelegenheit, der Geſellſchaft unſere Verlobung anzukündigen. Sagen142 Sie Helene nur: wenn Du am Donnerſtag Abend nicht Felix 'Verlobte biſt, gehſt Du am Freitag früh in die Penſion zurück. Sie ſollen ſehen: Das hilft.

Ich fürchte, die Drohung dürfte den entgegen¬ geſetzten Erfolg haben. Man hat Helene in Hamburg viel zu ſehr verwöhnt. Ich glaube, ſie ginge heute lieber zurück, als morgen.

Eh bien! ſo ſchicken Sie die kleine Widerſpen¬ ſtige nach Grünwald in die Muſterpenſion von Fräu¬ lein Bär. Es iſt das freilich, wie mir die kleine Breeſen, die dort erzogen iſt, neulich mittheilte, eher eine Strafanſtalt als eine Penſion; aber je ſchlimmer, deſto wirkſamer ich meine, die Drohung; denn daß es ma chère cousine nicht zum Aeußerſten kom¬ men laſſen, ſondern ſich, genau zur rechten Zeit, be¬ ſinnen wird, darauf hin will ich mich hängen laſſen. Verzeihen Sie, Tante; ich weiß, Sie lieben die ſtar¬ ken Ausdrücke nicht.

Es iſt wirklich eine recht üble Angewohnheit von Ihnen, ſagte die Baronin, ſich erhebend, während Felix ihrem Beiſpiele folgte.

Die ich Ihnen zu Gefallen ablegen werde, er¬ wiederte er, der Baronin den Arm bietend.

143

Noch eins, ſagte dieſe, ſtehen bleibend; glauben Sie, daß Grenwitz darein willigen wird?

Ob ich das glaube? rief Felix mit einem für den alten, guten Baron wenig ſchmeichelhaften Lachen; ob ich das glaube? Ma foi, chère tante, da müßte mein ſehr würdiger Onkel doch nicht beinahe zwanzig Jahre unter Ihrem Commando geſtanden haben. Wie lange habe ich denn die Ehre, unter Ihnen zu dienen? ein paar Wochen, und ich dächte, ich hätte ſchon ganz gut gehorchen gelernt.

Sie ſind ein Schmeichler, ſagte die Baronin gütig, aber man kann Ihnen nicht bös ſein.

Und das würdige Paar entfernte ſich, Arm in Arm.

Als ihre Stimmen nicht mehr zu vernehmen waren, ſchaute das Knabengeſicht wieder vorſichtig zu der Fenſterniſche heraus. Es war noch bleicher, als vor¬ hin. Der Knabe ſtreckte nach den davon Gehenden drohend den Arm aus, und ſeine Lippen murmelten einen grimmigen Fluch. Dann, als die Beiden nicht mehr zu ſehen waren, ließ er ſich aus der Fenſter¬ niſche herab auf die Bank, wo ſie geſeſſen hatten. Neben der Bank, in dem dicken Mooſe, lag ein ſchlecht zuſammengefalteter Brief, den die Baronin aus der Taſche verloren hatte. Der Knabe hob ihn auf und144 als er ſah, daß er von Helene's Hand war, drückte er ihn mit ſtürmiſcher Zärtlichkeit an ſeine Lippen. Dann verbarg er ihn ſorgſam in ſeiner Bruſttaſche, blickte ſich noch einmal vorſichtig um, und war im näch¬ ſten Augenblick in dem dichten Gebüſch verſchwunden.

[145]

Achtes Kapitel.

Die Behauptung von Felix 'vielgewandtem Kam¬ merdiener betreffs der Unwiderſtehlichkeit ſeines Herrn in Liebesaffairen war zwar als eine Beleidigung des ſchönen Geſchlechts im Allgemeinen und des in der Küche verſammelten, weiblichen Dienſtperſonals im Beſonderen von dieſem letzteren auf's heftigſte be¬ ſtritten worden, der Vielgewandte indeſſen hatte dazu nur geheimnißvoll gelächelt, ſich, nach der Weiſe ſeines Herrn, in den Stuhl zurückgelehnt, die Beine von ſich geſtreckt und mit einem vielſagenden Zwinkern ſeines rechten Auges auf die geblickt, welche in dem unerquicklichen Dispüt die höchſte moraliſche Entrü¬ ſtung und die größte Zungenfertigkeit zeigte die hübſche Luiſe nämlich, Helene's Kammerzofe. Die hübſche Luiſe war auf dieſen Blick hin ſehr roth ge¬ worden und ſo plötzlich verſtummt, daß es ſelbſt die Aufmerkſamkeit des ſchweigſamen Kutſchers erregte undF. Spielhagen, Problematiſche Naturen IV. 10146ihn zu der Wiederholung ſeiner früheren Bemerkung veranlaßte: es ſei nicht Alles Gold, was glänze. Dar¬ auf hatte die hübſche Luiſe an zu weinen gefangen, die alte, brave Köchin ſich ihrer aber angenommen und gemeint: Der Herr Kammerdiener ſolle ſich ſchä¬ men, durch gehäſſige Inſinuationen und böſe Blicke ein armes Mädchen in ſchlechten Ruf zu bringen; der Vielgewandte, welcher merkte, daß er zu weit gegangen ſei, ſich ſodann zu der Erwiederung genöthigt geſehen: wie es ihm nicht eingefallen ſei, auf irgend eine der anweſenden Damen direct anzuſpielen, und daß er mit ſeinem Zwinkern ſchlechterdings gar nichts habe ſagen wollen. Dieſe ſo äußerſt loyale parlamentari¬ ſche Erklärung hatte denn ſchließlich den ſo freventlich geſtörten Frieden der um den Küchenheerd verſammel¬ ten Geſellſchaft wiederhergeſtellt.

Indeſſen verhielt ſich leider die Sache genau ſo, wie der Vielgewandte freilich mit grober[Verletzung] der ſeinem Herrn ſchuldigen Treue und der Verſchwie¬ genheit, auf die er ſich ſo viel zu gut that an¬ gedeutet hatte. Baron Felix hatte die für Andere beſonders ſeinen Kammerdiener und oft auch für ihn ſelbſt ſehr unbequeme Gewohnheit, ſich in jedes hübſche Mädchen, das ihm auf ſeinem Lebenswege begegnete, und wär's auch nur auf ein paar Tage,147 Stunden, Minuten, gleichviel zu verlieben, und jede nur einigermaßen paſſende Gelegenheit zur An¬ knüpfung einer Intrigue zu benutzen. So war er denn noch nicht vierundzwanzig Stunden auf dem Schloſſe geweſen, als er ſchon Mademoiſelle Mar¬ guerite und die hübſche Luiſe als diejenigen Perſonen herausgefunden hatte, welche beſonders dazu geeignet ſein dürften, ihm die Langeweile des Landlebens und die Unbequemlichkeit einer Brautwerbung tragen zu helfen. Er hatte Albert, den buon camerado ſo vieler ähnlicher Heldenthaten in der Cadettenzeit, über Mademoiſelle auszuholen verſucht und ſeinem Jean den Auftrag ertheilt, die Moralität der hübſchen Luiſe gelegentlich auf die Probe zu ſtellen. Albert war einen Augenblick in Zweifel geweſen, ob er Felix 'ſaubern Plan nicht wenigſtens ſo weit begünſtigen ſollte, um einen Grund zu haben, auf den er ſich ſtützen könnte, wenn es ihm ſpäter vielleicht einmal darauf ankäme, mit Marguerite zu brechen. Dann aber hatten die Eiferſucht und der Haß, welchen er gegen ſeinen frü¬ heren Kameraden, den Glückspilz , empfand, doch den Sieg davon getragen. Er hatte Felix erzählt, wie er ganz beſtimmt von Mademoiſelle ſelbſt wiſſe, daß ſie mit einem Candidaten der Theolo¬ gie, der Himmel weiß wo? ich glaube in Grünwald 10 *148verlobt ſei, daß er ſelbſt verſucht habe, ſich die Gunſt der ſchwarzäugigen Genferin zu erwerben, und alſo von der gänzlichen Hoffnungsloſigkeit nach dieſer Seite hin etwas auszurichten vollkommen überzeugt ſei.

Felix, obgleich er ſonſt nicht der Mann war, ſich durch dergleichen Mittheilungen einſchüchtern zu laſſen, tröſtete ſich um ſo leichter über das Fehlſchlagen dieſes ſeines Planes, als ihm der Vielgewandte mitgetheilt hatte, daß eine ſofort angeſtellte, forcirte Recognos¬ cirung nach der andern Seite durchaus von dem gün¬ ſtigſten Erfolg gekrönt worden ſei, und daß er ſeinem Herrn ſchon im voraus zu dieſer Acquiſition gratu¬ liren zu können glaube. Don Juan Felix hatte dar¬ auf unter Beiſtand des Vielgewandten nach allen Re¬ geln vielgeübter Kunſt das Vögelchen in das Garn zu locken verſucht, und ſich denn auch nicht weiter ge¬ wundert, als es ſchon nach wenigen Tagen in die kunſtgerecht aufgeſtellten Netze flatterte.

Die Einrichtung des Schloſſes mit ſeinen labyrin¬ thiſchen Corridoren, ſeinen vielen großen und kleinen Treppen, auf denen man unverſehens in Etagen ge¬ langte, in die man gar nicht wollte, mit ſeinen un¬ zähligen Thüren, von denen die eine ausſah, wie die andere, machte für Jemand, der die Localität nicht ganz genau kannte, die Durchführung eines galanten149 Abenteuers zu einer äußerſt ſchwierigen und bedenk¬ lichen Sache. Das hatte auch Felix erfahren, indem er ſich einige Mal auf ſeinen nächtlichen Wanderungen gründlich verirrte und nur mit der äußerſten Mühe und nach ſtundenlangem vorſichtigen Umhertappen ſein Zimmer wieder gewann. Er zog es deshalb vor, in dem Garten, der ſich mit ſeinen ſchattigen Gängen und ſtill verſchwiegenen Lauben auch ganz vortrefflich dazu eignete, und in den man ſowol aus der Leute¬ wohnung, wie aus dem Herrenhauſe ohne große Mühe gelangen konnte, den angeſponnenen Roman weiter zu führen.

So hatte er ſich denn auch in dieſer Nacht aus dem Schloſſe geſtohlen, und harrte, in den dichten Boskets, von denen aus man die Front des alten Schloſſes und die Leutewohnung, die in einer Linie daran gebaut war, beobachten konnte, ſeines armen Opfers. Die Schloßuhr ſchlug zwölf die Stunde, welche er zum Rendezvous beſtimmt hatte. Der Mond ſchien hell, die Thautropfen auf den Blumen und Blättern glitzerten in ſeinen Strahlen; Felix konnte auf ſeiner Uhr ſehen, daß die Schloßglocke eine Vier¬ telſtunde zu ſpät geſchlagen hatte. Die Lichter im Schloß waren erloſchen; nur in zwei der Fenſter des hohen Parterres ſchimmerte durch die rothen Vor¬150 hänge der Schein einer Lampe. Es war Helenen's Zimmer. Felix ſah in regelmäßigen Zwiſchenräumen die undeutlichen Umriſſe ihrer Geſtalt hinter dem Vor¬ hang offenbar ſchritt ſie im Zimmer auf und ab. Dann mußte ſie ſich wieder an das Clavier geſetzt haben, denn einzelne Töne, den Lauten des Vogels gleich, der im hellen Mondſchein träumend ſein Lied zu ſingen verſucht, irrten durch den ſtillen Garten; die Töne floſſen zuſammen zu Accorden und endlich ſtrömte in vollen rauſchenden Wogen Beethoven's herrliche Sonate pathétique, wie der Geſang eines Engels, der um Mitternacht mit ausgebreiteten Flü¬ geln über die Erde ſchwebt, und alles Erdenleid und alle Erdenqual in ſeinem göttlichen Herzen ſammelt und es ausſtrömt in ein feierliches Lied voll unend¬ licher Schwermuth und himmliſcher Süßigkeit ...

Ob Felix in dieſem Augenblick, wo er, den Arm auf eine Urnenſäule gelehnt, lauſchend daſtand, nicht doch eine Art von Gewiſſensbiß empfand darüber, daß er, der Wüſtling, der Unreine die Hand auszuſtrecken, die Augen zu erheben wagte zu ihr, der Keuſchen, Reinen? ... Felix war nicht ohne alles Gefühl; er konnte ſich ſelbſt für das Schöne und Große begei¬ ſtern, wenn dieſe Begeiſterung auch nur immer ſehr kurze Zeit anhielt, und vor dem erſten Anhauch irgend151 eines frivolen Gedankens, wie eine ſchöne bunte Sei¬ fenblaſe, die eine ganze Welt auf ihrer ſchillernden Oberfläche ſpiegelt, zerflatterte. Vielleicht nahm er ſich in dieſem Augenblick vor, ein anderes Leben zu beginnen, die Thorheiten abzuſtreifen, und er, der eine ſo unendlich hohe Meinung von ſeinen Vorzügen hatte, mochte alles Ernſtes glauben, daß er nur zu wollen brauche, um zu können. Er hörte mit einer gewiſſen Andacht der Muſik zu. Er war Kenner ge¬ nug, um zu fühlen, daß die Sonate nicht ſchöner, nicht ſeelenvoller geſpielt werden konnte; er ſagte bei einzelnen Paſſagen leiſe bravo! bravo! als ob er ſich in einem Concertſaale befände. Aber Helene und Beethoven, Tugend und Muſik und was noch ſonſt Alles in dieſen Minuten durch ſein Hirn gezogen ſein mochte Alles war im Nu verſunken, wie eine Fata Morgana, als ſein Ohr jetzt den leiſen Schritt eines Menſchen vernahm. Der Schritt kam von einer an¬ dern Seite, als Felix erwartete. Indeſſen die hübſche Luiſe mochte ja einen Umweg gemacht haben, um die breiteren, von dem Mondſchein allzu hell beſchienenen Gänge in der unmittelbaren Nähe des Schloſſes zu vermeiden. Der Schritt kam näher und näher, und Felix, der auf den geiſtreichen Einfall gerieth, ſich ein wenig ſuchen zu laſſen, drückte ſich dicht in die Ge¬152 büſche. Wie groß war aber ſein Erſtaunen, als er ſtatt der hübſchen Luiſe, Bruno an ſich vorüberſchleichen ſah. Im erſten Augenblick mußte Felix über dieſe Enttäuſchung lachen; im nächſten aber ſchon fiel ihm ein, daß durch dieſe Dazwiſchenkunft ſein Rendezvous mehr wie bedenklich werde, und daß es unter dieſen Umſtänden wol das Gerathenſte ſein möchte, ſich in das Schloß zurückzuſtehlen. Wer weiß, wie lange ſich der Junge hier herumtreiben wird; am Ende iſt er gar verliebt, oder er iſt verrückt, oder beides, denn er ſieht nach beidem aus; oder er iſt mondſüchtig und geht ſo ein paar Stunden hier ſpazieren. Der ver¬ dammte Bengel! überall ſteht er mir im Wege; ich hätte große Luſt, ihm nächſtens einige fühlbare Be¬ weiſe meiner freundſchaftlichen Geſinnung zu geben. Auf jeden Fall will ich ihm das Feld räumen. Jetzt kann man noch als verſpäteter Liebhaber eines Mond¬ ſcheinabends auftreten; ſpäter geht das nicht mehr gut. Aber der Tante wollen wir doch von dieſen nächtlichen Excurſionen der Zöglinge des Herrn Stein erzählen.

Felix hatte den Weg nach dem Schloſſe faſt zu¬ rückgelegt, ohne Bruno zu ſehen, und ſchon hoffte er, daß der Knabe ſich aus dem Garten entfernt habe und ſein Rendezvous doch noch zu Stande kommen153 könne, als er über einen kleinen offenen Platz ſchrei¬ tend, der halb vom Mondſchein erhellt und halb im Schatten lag, Bruno auf einer Bank ſitzen ſah, die Augen nach Helenen's Fenſter gerichtet, aus denen noch immer die Tonwellen rauſchten. Der Knabe ſchien ſo in andächtiges Hören verloren, daß er Felix erſt bemerkte, als dieſer ſchon ganz nahe war.

Weshalb treibſt Du Dich denn hier noch ſo ſpät umher, ſagte Felix, deſſen Aerger ſich mindeſtens in einigen unfreundlichen Worten Luft machen mußte; ich werde es der Tante ſagen.

Bekümmere Dich um Deine eigenen Angelegen¬ heiten, ſagte Bruno, der in der erſten Ueberraſchung aufgeſprungen war und ein paar Schritte auf den Platz gethan hatte, trotzig ſtehen bleibend, als er in dem Herkommenden den verhaßten Felix erkannte.

Du biſt ein naſeweiſer Burſche, ſagte Felix.

Und Du ein gemeiner Schurke, erwiederte Bruno.

Der Dich für Deine Unverſchämtheit züchtigen wird, ſagte Felix, dem mit untereinandergeſchlagenen Armen vor ihm ſtehenden Knaben einen Backenſtreich verſetzend.

Bruno taumelte ein paar Schritte zurück; Felix ſah, nicht ohne einen leichten Schauder zu empfinden, wie die Augen des Knaben buchſtäblich glühten; dann154 brach ein Schrei aus ſeiner Kehle, dumpf und rö¬ chelnd ein mächtiger Sprung, wie eines Leoparden, der ſich auf ſeine Beute ſtürzt und im nächſten Moment lag Felix am Boden und die ſtarken Hände Bruno's ſchloſſen ſich wie eiſerne Klammern um ſeine Kehle. Felix rang wie ein Verzweifelter, den Knaben von ſich abzuſchütteln und wieder in die Höhe zu kommen, aber vergebens. So oft er ſich auch mit dem Körper emporbäumte, ſo oft er Bruno mit den Armen von ſich fortzudrücken verſuchte, jedes Mal fühlte er ſeine Anſtrengungen von einer unwiderſteh¬ lichen Kraft paralyſirt, und feſter und feſter ſchloſſen ſich die ſchlanken Finger um ſeinen Hals.

Laß mich los, Bruno, ſtöhnte er.

Befiehl Deine Seele Gott, denn Du mußt ſter¬ ben, knirſchte Bruno.

Felix fühlte, wie ſeine Kräfte ihn verließen, wäh¬ rend die ſeines Gegners mit jedem Augenblick zu wachſen ſchienen. Todesangſt ergriff ihn. Er wollte um Hülfe rufen, aber kein Laut entrang ſich ſeinen bebenden Lippen; er fühlte ein dumpfes Sauſen in ſeinen Ohren, das immer lauter und lauter wurde; vor ſeinen Augen wurde es Nacht, durch die Millionen kleine Sterne ſchoſſen wüſte Gedanken jagten wie vor dem Sturmwind treibende Wolken durch ſein Ge¬155 hirn plötzlich, als ihm der letzte Schimmer von Bewußtſein zu ſchwinden drohte, fühlte er, wie die entſetzliche Laſt von ſeiner Bruſt verſchwand und als er endlich die Kraft fand, ſich vom Boden zu er¬ heben und um ſich zu blicken, war er allein. Der Mond ſchien hell vom tiefblauen Himmel; das Licht in Helene's Zimmer war erloſchen; die Muſik war verſtummt Felix hätte glauben können, den Kampf mit Bruno geträumt zu haben, wenn nicht die heftigen Schmerzen, die er an mehr als einer Stelle ſeines Körpers fühlte, ſeine über und über mit Sand be¬ deckten Kleider und der rings umher aufgewühlte Bo¬ den ihm zur Genüge bewieſen hätten, daß dies Alles nur zu wirklich geweſen war.

Mit einem von Scham und Wuth erfüllten Herzen ging er in das Schloß, wie ein Wolf, der die Hürde beſchleichen wollte und von einer edlen Dogge zer¬ zauſt und zerbiſſen in den Wald zurückgeſchickt wird.

[156]

Neuntes Kapitel.

Die Baronin hatte noch an demſelben Abend den Brief Helenen's vermißt. Dieſe Entdeckung erfüllte ſie mit nicht geringer Unruhe. Wie leicht konnte der Brief in fremde, das heißt in Hände fallen, die ihn Helenen wieder auslieferten, und wie viel hatte ſie ſich dann dem ſtolzen, unbeugſamen Mädchen gegen¬ über vergeben! Aller Vortheil, den ſie durch die ge¬ naue Kenntniß von dem Gemüthszuſtand ihrer Tochter, über dieſe errungen, und den ſie durch Anſpielungen, Drohungen ſo geſchickt auszubeuten gedacht hatte, war unwiederbringlich verloren. Es war fatal, äußerſt fatal!

Die Baronin erinnerte ſich ganz genau, den Brief in die Taſche ihres Kleides geſteckt zu haben, als Felix den Gang herauf kam. Wahrſcheinlicherweiſe hatte ſie ihn alſo an der Kapelle verloren. Sie er¬ innerte ſich, daß ſie während der Unterredung mit157 ihrem Neffen einmal das Taſchentuch gezogen hatte, um die Beleidigte mit noch größerer Würde zu ſpielen. Indeſſen war es heute Abend zu ſpät, noch Nachfor¬ ſchungen anzuſtellen; ſie mußte es ſich gefallen laſſen, eine beinahe ſchlafloſe Nacht zuzubringen und am nächſten Morgen mit einem heftigen Kopfweh aufzu¬ wachen. Sie ging alsbald in den Garten nach der Kapelle. Der Brief war nicht da; auch nicht in dem Buchengange, oder in der Laube. Im höchſten Maße verdrießlich über dieſen böſen Zufall ging die Baronin in's Schloß zurück.

Dort erwarteten ſie andere Unannehmlichkeiten. Oswald ſchickte herunter, um zu melden, daß Bruno ſich nach einer ſchlafloſen Nacht ſehr unwohl fühle, und daß er (Oswald) bitte, man möge einen reiten¬ den Boten zu Dr. Braun ſenden. Auch ließ er bitten, Malte für heute unten zu behalten, da er, bis der Doctor käme, Bruno nicht gern allein laſſen möchte. Die Baronin ließ zurückſagen: ſie hoffe, daß es mit Bruno's Unwohlſein nicht viel auf ſich haben und daß die in dem Unterricht eintretende Pauſe nicht zu lange dauern werde. Uebrigens würde heute im Laufe des Vormittags noch ſo wie ſo in die Stadt geſchickt.

Ein paar Stunden ſpäter ließ Felix ſich entſchul¬ digen, wenn er heute nicht zum Frühſtück komme; er158 fühle ſich nicht ganz wohl; gedenke indeſſen, an der Mittagstafel zu erſcheinen.

Felix verſpürte in der That noch einige unange¬ nehme Folgen ſeines Kampfes mit Bruno. Zuerſt und vor allem die brennende Scham, einem Knaben unterlegen zu ſein, vielleicht nur einem Zufall, einer plötzlichen Anwandlung von Großmuth ſein Leben zu verdanken zu haben. Sein ganzer Leichtſinn gehörte dazu, ihm über dieſen unangenehmen Gedanken weg¬ zuhelfen. Er ſuchte ſich einzureden und nach und nach gelang es ihm auch die Sache ſei ſo ernſt¬ haft nicht geweſen, und wenn er nicht, als Bruno ſich ſo unerwartet über ihn ſtürzte, ausgeglitten wäre, und wenn dann ſein verdammter Rheumatismus ihm nicht die Arme gelähmt hätte, würde er ja den Jungen abgeſchüttelt haben, wie eine Fliege, ihm eine tüchtige Tracht Schläge obendrein gegeben haben. Daß vorläufig er die Schläge bekommen und daß die Fliege feſt zuzupacken verſtand, das bewieſen die blauen Flecken, die Felix, beſonders auf der Bruſt und am Halſe, aus dem Kampfe als ſichere Zeichen der Nie¬ derlage davon getragen hatte. Der Vielgewandte ge¬ rieth in einiges Staunen, als er ſeinen Herrn in einem Zuſtande ſah, der nur zu ſehr an die ſelige Cadettenzeit erinnerte, wo Franzbranntwein und aqua159 Goulardi zu den nothwendigſten Toiletterequiſiten ge¬ hörten. Der Vielgewandte bewies, daß er die Kunſt, Beulen und blaue Flecke zu behandeln, ebenſo wenig verlernt habe, als ſein Herr das Talent, ſich ſolche zu holen, und ſchon gegen Mittag ſah ſich Felix in einem ſalonfähigen Zuſtande. Dennoch zweifelte er, ob er bei der Tafel erſcheinen ſolle, oder nicht. Der Gedanke Bruno gegenüberzutreten, des Knaben dunkle Augen voll Hohn und Schadenfreunde auf ſich ruhen zu ſehen, vielleicht gar in Oswald's Blicken wahrzu¬ nehmen, daß er von den Ereigniſſen der verwichenen Nacht vollkommen unterrichtet ſei, war ihm äußerſt peinlich. Es fiel ihm ordentlich eine Laſt vom Her¬ zen, als Jean berichtete, die Tafel werde heute ſehr klein ſein, denn Junker Bruno und Herr Stein wür¬ den nicht erſcheinen. So warf er denn noch einen Blick in den Spiegel, goß ſich drei Tropfen Eßbou¬ quet mehr wie gewöhnlich auf ſein feines Battiſt¬ taſchentuch und ſchritt durch die Thür, die ihm der Vielgewandte pflichtſchuldigſt öffnete, obgleich mit der Erinnerung an die Niederlage geſtern Abend be¬ laſtet, leicht und frei und vor allem unwiderſtehlich wie immer.

Auch die Baronin fühlte ſich nicht wenig erleich¬ tert, als ſie im Laufe des Morgens keine Verände¬160 rung in Helenen's Betragen oder auf ihrem Geſicht, in ihren großen Augen zu erblicken vermochte. Die Baronin war heute Morgen ganz beſonders zuvor¬ kommend gegen Helene.

Indeſſen war das Mittagsmahl nichts weniger wie belebt; obgleich Felix ſein ganzes Unterhaltungs - Talent aufbot. Der alte Baron hatte ſich perſönlich nach Bruno's Befinden erkundigt und war ärgerlich, daß noch immer nicht nach dem Doctor geſchickt war, wenn auch heute Nachmittag ein Wagen in die Stadt führe, verſchiedenes zu der großen Geſellſchaft morgen benöthigtes zu holen, ſo ſei das kein Grund, weshalb nicht einer von den Leuten heute Morgen hätte hinreiten können. Die Baronin war verſtimmt über dieſen ihr in Gegenwart der Anderen ausgeſproche¬ nen Tadel, und meinte; ſie habe freilich nicht bedacht, daß es ſich um Bruno handle, der allerdings größere Anſprüche machen dürfe, wie zum Beiſpiel ſie ſelbſt, die an einem ſehr heftigen Kopfweh leide, oder Felix, der ebenfalls die ganze Nacht und den Vormittag unwohl ge¬ weſen ſei. Helene hob die Augen kaum von ihrem Teller und öffnete kaum einmal den Mund; und die Augen der kleinen Marguerite waren heute noch verweinter, als in den vorhergehenden Tagen. Felix und Malte ſprachen ſich nach und nach auch aus, und zuletzt161 war es ſo ſtumm um den Tiſch her, wie bei einem egyptiſchen Todtenmahl.

Die Baronin und Felix blieben nach Tiſche allein, da der Baron ſich ausnahmsweiſe auf ſein Zimmer zurückgezogen hatte. Felix hatte während der Mahl¬ zeit überlegt, ob er nicht doch beſſer thäte, das Er¬ eigniß von geſtern Abend natürlich nach ſeiner Auffaſſung zu erzählen, bevor Bruno Gelegenheit habe, ſich gegen irgend Jemand, Oswald ausgenom¬ men, darüber zu äußern. So benutzte er denn das tête-à-tête mit der Baronin, ihr mitzutheilen verſteht ſich, lachend und mit der Bitte, die curioſe Geſchichte nicht weiter gelangen zu laſſen wie er geſtern Abend durch den hellen Mondſchein verlockt worden ſei, noch etwas im Garten zu promeniren, wie er Bruno in einer höchſt eigenthümlichen Weiſe um die Fenſter Helenen's habe ſchleichen ſehen, wie er den Jungen zu Bett geſchickt habe, darüber mit ihm in Streit gerathen, mit dem Fuße ausgeglitten, hingefallen und für einen Augenblick der Beſiegte ge¬ weſen ſei. Natürlich nur für einen Augenblick, dann habe Bruno die verdienten Schläge erhalten, und die würden auch wol der Grund ſeiner heutigen Krank¬ heit ſein.

Die Baronin fühlte ſich durch dieſe humoriſtiſcheF. Spielhagen, Problematiſche Naturen IV. 11162Schilderung einer ſehr ernſten Begegnung auf das unangenehmſte berührt. Ihre Befürchtungen betreff des Briefes regten ſich wieder ... Bruno zur Nacht¬ zeit unter Helenen's Fenſter? was hatte er da zu thun? Der Umſtand ſah ſehr verdächtig aus. Wenn Bruno den Brief gefunden hätte! wenn er geſtern Abend die Abſicht gehabt hätte, ihn Helenen wieder zuzuſtellen ... Die Baronin ſtöhnte bei dieſem ent¬ ſetzlichen Gedanken.

Was haben Sie, liebe Tante?

O nichts. Ich ſeufze nur über das Unglück, welches uns dieſer Stein ins Haus brachte. Wenn ich etwas in meinem Leben bedauere, ſo iſt es, den Menſchen nicht am erſten Abend wieder fortgeſchickt zu haben, wie ich wirklich große Luſt hatte. Es hat nicht leicht Jemand einen ſo unangenehmen Eindruck auf mich gemacht, als dieſer junge Mann.

Aber Tante, ſo holen ſie doch nach, was Sie an jenem erſten Abende leider verſäumten: jagen Sie ihn doch fort. Ich begreife wahrhaftig nicht, weshalb Sie ſo viel Umſtände mit ihm machen.

Die Baronin wollte nicht ſagen, daß ſie die tau¬ ſend Thaler nicht verſchmerzen würde, welche Oswald contractlich zu fordern hatte, wenn ihm im erſten Jahre ſeines Engagements gekündigt würde. Ehe ſie163 indeß eine Antwort bereit hatte, ertönte auf dem Flure die quäkeude Stimme des Paſtor Jäger, der ſich nach der gnädigen Herrſchaft erkundigte.

Einen Augenblick ſpäter trat Seine Hochehrwürden an der Seite ſeiner Gemalin ins Zimmer.

Es bedurfte keines beſonders ſcharfſinnigen Auges, um ſofort zu ſehen, daß etwas ganz Außerordentliches dem würdigen Paare begegnet ſein mußte. Der Paſtor trug den ganz neuen ſchwarzen Frack, den er nur bei den feierlichſten Gelegenheiten anzuziehen pflegte und Primula hatte eine äußerſt maleriſche Verzierung von Kornähren an ihrem gelben Strohhute, ſo daß ſie heute noch eine Schattirung gelber ausſah, wie ge¬ wöhnlich. Der Blick des Paſtors ſuchte vergeblich die gewohnte Demuth zu heucheln; die runden Brillen¬ gläſer ſelbſt glitzerten triumphirend; und was Pri¬ mula betrifft, ſo hatte ſich ihr poetiſches Gemüth jetzt von allem Erdenreſt befreit; ſie durfte ſcheinen, was ſie war.

Ich komme, gnädige Baronin, ſagte der Paſtor, Anna-Maria galant die Hand küſſend, einmal mich nach Ihrem und der lieben Ihrigen werthen Befinden pflichtſchuldigſt zu erkundigen, ſodann Ihnen die Mittheilung eines Ereigniſſes zu machen, das wir ich darf ja wol ſagen wir, meine edle Gönnerin? 11 *164ſchon lange freilich erwarteten, erhofften, will ich lieber ſagen, deſſen endliches Eintreffen uns indeß doch wol Alle überraſcht. Ich bin als Profeſſor nach Grünwald berufen worden.

Vorläufig extraordinarius, ſagte Primula, aber der ordinarius wird wol nicht lange auf ſich warten laſſen.

Auch iſt mir die Stelle eines Nachmittag-Predi¬ gers an der Univerſitätskirche ſo gut wie gewiß.

Warum nicht: gewiß? Jäger; ſagte Primula; ich dächte, das Schreiben des Profeſſors Dunkelmann ließe nur eine Auslegung zu.

Ei, das ſind ja herrliche Nachrichten, meine lieben Freunde; ſagte die Baronin; erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Neffen, Baron Felix, vorſtelle Herr und Frau Paſtor, wollte ſagen: Profeſſor Jäger, lieber Felix das ſind ja herrliche Nachrichten. Alſo doch endlich! Nun, ich habe es ja immer geſagt; über kurz oder lang mußte es doch kommen; freilich wir verlieren viel; aber das Glück der Freunde muß uns theurer ſein, als der eigne Vortheil. Nehmen Sie meinen herzlichſten Glückwunſch entgegen.

Auch den meinigen; ſagte Felix.

Danke, meine gnädige Frau, danke, Herr Baron, danke, danke! ſagte der Paſtor, ſich vergnügt die165 Hände reibend; ja, ja! unverhofft kommt oft, und gehofft kommt auch wol einmal. Als meine letzte größere Schrift, in welcher ich den eigentlichen Wort¬ laut des Titels eines verloren gegangenen Werkes des Kirchenvaters Philochryſos bis zur Evidenz nachwies, in allen kritiſchen Journalen eine ſo ich darf wol ſagen außerordentliche Anerkennung fand, konnte ich den Erfolg mit ziemlicher Gewißheit zum voraus angeben.

Wann werden Sie uns denn nun verlaſſen?

Nun zu Michaelis ſpäteſtens; wahrſcheinlich aber noch früher; ich werde für das Winterſemeſter drei private Vorleſungen, eine publice und gratis, und endlich eine über die verloren gegangenen Schriften des Philochryſes, privatissime und gratis ankün¬ digen.

Du nimmſt Dir zu viel vor, Jäger, zu viel! hauchte Primula in zärtlichen Tönen: o, dieſe Männer, dieſe Männer! jeder Einzelne iſt ein Prometheus, der den Himmel ſtürmen möchte.

Wer hat mich denn zu meinem kühnen Streben begeiſtert, wenn nicht Du? ſagte der Paſtor, Pri¬ mula dankbar die Hand drückend.

Schießen Sie mit der Piſtole? fragte Felix, um dem Geſpräch eine andere Wendung zu geben.

166

Nun, ein wenig; ich will ſagen ſo viel wie gar nicht. Ich war früher wol auf der Haſen - und Hühnerjagd nicht ganz unglücklich omen in nomine, ha, ha, ha! aber ſeitdem das Conſiſtorium ſich ſehr energiſch gegen dieſe lärmenden Vergnügungen ausgeſprochen hat, liegt das Eiſen müßig in der Halle; um mit dem Dichter zu ſprechen.

Du kannſt jetzt, in Deiner Eigenſchaft als Pro¬ feſſor, der edlen Waidmannskunſt wol wieder obliegen, Jäger; ſagte Primula. Ha, ich denke es mir herr¬ lich, ſo mit vorgeſtreckter Piſtole einem Wildſchweine gegenüberzutreten ...

Ich würde indeſſen Ihrem Herrn Gemal rathen, ſich zu dieſer Jagd mit einer Büchsflinte, und wo möglich auch einem Hirſchfänger zu verſehen, ſagte Felix lachend; aber im Ernſt, Herr Profeſſor, wollen Sie ein wenig mit mir nach der Scheibe ſchießen.

Gewiß, gewiß! rief der Paſtor aufſpringend; ich ſtehe zu Ihren Dienſten, zu Ihren Dienſten.

Der Paſtor war etwas blaß geworden; aus ſeiner Aufregung zu ſchließen, hätte man glauben ſollen, es handle ſich um ein Duell auf Leben und Tod.

Willſt Du nicht doch lieber bleiben? ſagte Pri¬ mula, welcher plötzlich die Sache in einem ſehr be¬167 denklichen Lichte erſchien. Du biſt heute nicht ſo ruhig wie ſonſt; wenn Dir ein Unglück paſſirte, gerade jetzt, wo Du dem Ziel Deiner Wünſche ſo nahe biſt; Jäger, ich ertrüge es nicht; und die Dichterin brach in Thränen aus und klammerte ſich an ihren Gemal an, deſſen Anſtrengungen, ſich von der ſüßen Laſt zu befreien, keineswegs ſehr energiſch waren.

Guſtava , murmelte er; liebes Guſtchen, es iſt weniger gefährlich, wie Du denkſt. Sind Ihre Piſtolen mit einem Stecher verſehen, Herr Baron?

Allerdings; ſagte Felix, den dieſe Scene nicht wenig amüſirte. Wenn ſie geſtochen ſind, dürfen Sie nicht nieſen, oder ich ſtehe für nichts.

Bleibe, bleib ', mein Jäger; flehte Primula.

Es wird nicht ſo gefährlich ſein, ſagte der Paſtor mit bleichen Lippen.

Das meinte neulich auch Kamerad von Schna¬ belsdorf, ſagte Felix; Nehmen Sie ſich in Acht, Schnabelsdorf, ſagte ich. Dummes Zeug, ſagte Schnabelsdorf, und faßt die Piſtole an der Mündung. Im nächſten Augenblick war er um einen Finger ärmer.

Dies entſcheidet; ſagte Primula, ſich emporrich¬ tend; Jäger, Du bleibſt, ich befehle es Dir. Befaſſe168 Dich nicht mit Dingen, die Du nicht verſtehſt. Piſtolen¬ ſchießen iſt kein Kinderſpiel.

So triftigen Gründen wußte ſelbſt ein ſo geiſt¬ reicher Kopf, wie der des Paſtors, nichts entgegen¬ zuſetzen. Er ließ ſich wieder in ſeinen Stuhl ſinken und ſagte, ſich den Schweiß mit dem Taſchentuch von der Stirn wiſchend:

Sie ſehen, Herr Baron: Eheſtand iſt Weheſtand. Wenn Sie einmal erſt verheiratet ſind, wird der glän¬ zende Cavalier auch vor dem umſichtigen Hausvater zurücktreten müſſen. Aber, wie iſt mir denn: man darf ja wol gratuliren?

Und der Paſtor ließ den Kopf erſt auf die rechte Schulter ſinken, um die Baronin anzulächeln; ſodann auf die linke, um Felix dieſelbe Gunſt zu erweiſen.

Fragen Sie in ein paar Tagen wieder nach; erwiederte die Baronin ausweichend. Was ich ſagen wollte: ſo iſt ja jetzt durch Ihre Ernennung der Ver¬ luſt, welchen die Univerſität durch Berger erlitten hat, mehr wie ausgeglichen. Ihre Vocation ſteht doch mit jenem Ereigniß in keinem Zuſammenhang?

In keinem directen wenigſtens, ſagte der Paſtor, obgleich ich nicht in Abrede ſtellen will, daß Berger ſeinen Einfluß nicht zu meinen Gunſten angewendet169 haben würde, und ſomit immerhin ſeine Erkrankung für mich ein nicht ungünſtiges Zuſammentreffen der Umſtände genannt zu werden verdient.

Hat man denn gar keine Vermuthung, wie dies ſo plötzlich gekommen iſt? fragte die Baronin.

Nun, meine Gnädigſte, plötzlich können wir nun wol ſo eigentlich nicht ſagen; erwiederte der Paſtor, ſein Geſicht in die ernſteſten Falten legend und ſeine Mundwinkel herabziehend; ich geſtehe, daß mich dies Ende in keiner Weiſe überraſcht hat und daß ich den Profeſſor im Grunde ſtets für mindeſtens halb wahn¬ ſinnig gehalten habe. Wer mit Berger behauptet, daß alle ſogenannten Beweiſe von dem Daſein Gottes, des allmächtigen Schöpfers Himmels und der Erden, auf einen Trugſchluß, eine petitio principii hinaus¬ liefen, der iſt ſchon wahnſinnig, auch wenn er noch ſcheinbar wie ein Vernünftiger ſpricht. Wer über die geheiligten Inſtitutionen des Königthums von Gottes Gnaden und des Erbadels freventlich ſpotten, ſie Ueberreſte einer barbariſchen Zeit, die hinter uns liegt, nennen kann, der iſt ſchon toll, obgleich er Pro¬ feſſor iſt und Collegien vor einem überfüllten Audi¬ torium lieſt. Ich weiß es wol, daß geſchrieben ſteht: richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet; aber ich kann mich dennoch, dieſen Fall erwägend,170 nicht entbrechen zu ſagen: Dies iſt der Finger des Herrn.

Wie wär's mit einer Partie Kegel, Herr Paſtor? ſagte Felix, der in der offenen Thür geſtanden und nicht zugehört hatte.

Mit Vergnügen, rief der Paſtor, auf dieſe Kugeln verſtehe ich mich. Ich war meiner Zeit in Grünwald ein famoſer Kegelſchütze.

Nach dem Kaffee, lieber Felix, ſagte die Baro¬ nin; ich habe noch mit dem Paſtor über einige ernſte Dinge zu ſprechen. Iſt es nicht entſetzlich, lieber Paſtor Jäger, daß wir den Zögling eines ſo abſcheu¬ lichen Menſchen in unſerem ſtillen Hauſe haben? daß ich die unſchuldige Seele meines Kindes ſolchen Hän¬ den anvertrauen ſoll? Um Himmelswillen rathen Sie mir, wie werde ich den Menſchen auf eine paſſende Weiſe wieder los?

Sie können ihn nicht ohne Weiteres fortſchicken?

Wir haben uns gegenſeitig auf vier Jahre ver¬ bindlich gemacht, und wenn wir nun alſo

Ich verſteh ', ich verſtehe, ſagte der Paſtor, der Anna-Maria's Geiz ſehr wol kannte; hm, hm! wir müßten einen Grund haben, hm, hm! Ja, ja, das kann uns helfen: es iſt jetzt eine Verordnung vorbe¬171 reitet, nach welcher die Hauslehrer ein Zeugniß des Pfarrers ihres betreffenden Kirchſpiels über ihre Reli¬ gioſität und Moralität beizubringen haben. Wir wollen es Herrn Dr. Stein ſchwer machen, ein ſolches beizubringen; und der Paſtor lächelte ſchlau.

Wiſſen Sie ſchon das Neueſte, meine Herrſchaf¬ ten, rief Felix, ein Billet, das ihm ſo eben von dem Bedienten, welcher das Kaffeeſervice in die Laube trug, übergeben war, in der Hand haltend; Cloten hat ſich mit der kleinen Breeſen verlobt; hier ſchickt er mir, als ſeinem beſten Freunde, die erſte Karte; die Anderen kriegen erſt morgen welche.

Ich kann Ihnen ein Paroli biegen, ſagte der Paſtor. Wer denken Sie, gnädige Frau, daß ſeit geſtern Abend wieder hier iſt?

Nun?

Frau von Berkow.

Nicht möglich!

Ich weiß es ganz genau. Sie hat, einem in dem Teſtament geäußerten Wunſch ihres Gemals zu¬ folge die Leiche deſſelben von N. hierher ſchaffen laſſen. Der Sarg kommt noch in dieſer Nacht, um morgen von mir auf dem Faſchwitzer Kirchhof eingeſegnet zu werden.

172

Dann können wir die ſchöne Frau wol nicht zu unſerem Ball morgen einladen? meinte Felix.

Aber Felix! ſagte die Baronin mit einem vor¬ wurfsvollen Blick.

Der Kaffee ſteht in der Laube, meldete der Be¬ diente.

So kommen Sie, meine Herrſchaften! ſagte die Baronin.

[173]

Zehntes Kapitel.

Unterdeſſen hatte Oswald an Bruno's Bett böſe, angſtvolle Stunden verlebt. Bruno's aufgeregtes Weſen in der letzten Zeit hatte ihn ſchon mehr wie einmal ernſtlich beſorgt gemacht. Die Ausbrüche lei¬ denſchaftlicher Heftigkeit, wie Oswald ſie an Bruno von den erſten Wochen ihres Zuſammenlebens kannte und die dann eine Zeit lang faſt gänzlich aufgehört hatten, waren jetzt häufiger und gewaltiger wie je. Ein Widerſpruch, das Mißlingen eines Unternehmens, einer Arbeit, eine verletzende Aeußerung über Tiſch aus dem Munde der Baronin waren hinreichend, die Dämonen in ihm zu entfeſſeln. Vergebens, daß Oswald ihn bat und beſchwor, dieſe Heftigkeit abzu¬ legen, durch die er ſich ſeinen Feinden gegenüber ſo viel vergebe, die es ſeinen Freunden oft unmöglich mache, für ihn Partei zu ergreifen ich kann nicht anders, war ſeine ſtete Antwort; es kommt über mich174 mit einer Gewalt, der ich nicht zu widerſtehen ver¬ mag. Es kocht in mir auf, es nagt an meinem Herzen, es hämmert in meinen Schläfen und dann weiß ich nicht mehr, was ich ſpreche oder thue. Wenn dann Oswald ſagte; er könne, wenn er nur wolle, ſo antwortete Bruno trotzig: ſchilt mich nur auch, wie die Andern; mache nur gemeinſchaftliche Sache mit den Andern. Ich will keine halben Freunde; wer nicht für mich iſt, der iſt gegen mich. Dann, wenn er ſah, wie er Oswald durch dieſe und ähnliche Reden gekränkt hatte, warf er ſich ſtürmiſch in ſeine Arme und bat ihn unter heißen Thränen um Verzei¬ hung. Habe Mitleid mit mir, rief er. Du weißt nicht, wie grenzenlos unglücklich ich bin. Vergebens, daß Oswald in ihn drang, zu ſagen, ob er irgend etwas Beſonderes auf dem Herzen habe? ob die wilde Sehnſucht in die Ferne, von der er früher ſo gefoltert wurde, jetzt wieder in ihm übermächtig ſei? Ich weiß es ſelbſt nicht, ſagte Bruno; ja ich möchte fort, weit, weit von hier, um nimmer wieder zu kehren; und dann möchte ich doch auch wieder nicht fort, nein nicht fort, nicht um Alles auf der Welt; ich weiß es nicht: ich glaube, ich möchte am liebſten ſterben.

Oswald rieth hin und her, was denn nur die Ur¬ ſache dieſes ſonderbaren Zuſtandes ſein möchte; aber175 wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den eigentlichen Kern des Geheimniſſes, das der Knabe in der tiefſten Tiefe ſeines Herzens vor Jedem, vielleicht vor ſich ſelbſt, ſcheu verbarg, entdeckte er doch nicht. Es iſt eine bekannte Erfahrung, daß ſelbſt kluge Men¬ ſchen in der Beurtheilung derer, welchen ihnen ge¬ rade am nächſten ſtehen, oft die wunderlichſten Fehl¬ ſchlüſſe machen, und gegen Vieles, was dem unbe¬ fangenen, vielleicht lange nicht ſo ſcharfſichtigen Auge des Dritten nicht entgeht, vollkommen blind ſind. Das iſt nicht möglich! ruft ein Vater, wenn man ihm er¬ zählt, daß ſein Sohn einen ſchlechten Streich begangen hat; das iſt nicht möglich! ruft ein Bruder, wenn man ihm mittheilt, daß ſeine Schweſter ſich mit ſei¬ nem beſten Freunde verlobt hat. Bald macht uns in dieſen Verhältniſſen die Liebe, bald die Abneigung blind; hier die Gleichgültigkeit gegen ein Wunder, welches unter unſern Augen vor ſich geht, dort eine edle Scham, welche uns den Blick niederſchlagen macht, eine Wange nicht zu ſehen, die ihr Erröthen ſonſt nicht vor uns verbergen könnte. Der Prophet gilt nichts in ſeinem Vaterlande, und in den aller¬ meiſten Fällen iſt das Herz des Bruders dem Bruder ein Buch mit ſieben Siegeln.

So war es auch in dieſem Fall. Oswald tröſtete176 ſich mit dem Gedanken, daß ja die Zeit des Ueber¬ gangs aus dem Knaben - in das Jünglingsalter für Alle eine Periode innerer und äußerer Stürme zu ſein pflegt, und daß bei ſo mächtigen Naturen, wie Bruno, die Revolution verhältnißmäßig gewaltiger ſein müſſe. Er hatte oft mit Bruno über Verhältniſſe geſprochen, die dem erſchloſſenen Auge nicht länger verborgen bleiben können, denn er hielt es für die heilige Pflicht eines Erziehers, gerade in dieſem Punkte der wühlenden Neugier, dem grübelnden Scharfſinn des Neophyten entgegenzukommen, und ihm die Thür zum Heiligthum der Natur lieber zu erſchließen, als zuzugeben, daß der Jünger durch die Schuld zur Wahrheit gelangt. Er wußte, daß Bruno's Sinn edel und ſein Herz rein war wie das Herz der Waſſer . Er war nach dieſer Seite hin vollkommen ruhig; er ahnte nicht, daß Bruno, edel und rein wie er war, mit allen Kräften ſeiner ſtarken Seele, mit der ganzen Gluth der eben erſt erwachten Sinnlichkeit, mit der namenloſen Seligkeit einer erſten Neigung, mit der ſtummen Verzweiflung einer Leidenſchaft, die keine Er¬ wiederung findet und finden kann, ſeine ſchöne Couſine liebte.

Er hatte Helenen nie vorher geſehen. Als er vor drei Jahren etwa in das Haus ſeiner Verwandten177 kam, war das junge Mädchen ſchon in der Penſion. Es wurde ſelten in der Familie von ihr geſprochen, und vielleicht erregte gerade dies und noch mehr der Umſtand, daß, wenn man von ihr ſprach, es meiſtens in ſehr kühlen Ausdrücken geſchah, Bruno's Aufmerk¬ ſamkeit. Mit jenem ſympathetiſchen Gefühl, welches der Arme für den Armen, der Verlaſſene für den Verlaſſenen, der Verſtoßene für den Verſtoßenen hat, ahnte er in ihr eine Leidensgefährtin. Nach und nach geſtaltete ſich für ihn das ſehr undeutliche Bild der Entfernten zu einer Art von Ideal, einem Inbegriff von allem Schönen und Herrlichen, das ſeine reiche Phantaſie erträumte. Der Name Helene, in deſſen weichem Klang er ſich berauſchen konnte, wie in dem Duft der Hyacinthe, trug nicht wenig dazu bei, ihm dieſe Geſtalt ſeiner Einbildungskraft lieb und theuer zu machen. Dann waren auch Zeiten gekommen, wo er dem Cultus der ſchönen Unbekannten untreu ge¬ worden war, wo er in Tante Berkow den höchſten, vollendetſten Ausdruck des ewig Weiblichen , das ihn, wie alle wahrhaft männlichen Naturen unwiderſtehlich anzog, zu erkennen glaubte, wo er ſich durch ein freundlich Wort Melitta's, für ein: Du lieber Junge! für ein Streicheln ſeiner Haare von ihrer lieben weißen Hand unbedenklich in jede Todesgefahr geſtürztF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 12178haben würde. Grade in der erſten Zeit von Oswalds Anweſenheit in Grenwitz hatte ſeine Liebe zu Tante Berkow in der Blüthe geſtanden. Melitta's um ein paar Jahre jüngeren Knaben hatte er ebenſo wie einen jüngeren Bruder behandelt, wie ihm die jugendlich ſchöne Mutter oft nur wie eine ältere Schweſter er¬ ſchienen war. Da Melitta grade in jener Zeit häufig nach Grenwitz herüberkam, und Bemperlein, um ſeinem Julius Geſellſchaft zu verſchaffen, den Umgang der Knaben aufs eifrigſte protegirte, ſo fehlte es Bruno nicht an Gelegenheit, Tante Berkow zu ſehen, ihr hundert kleine Pagendienſte zu leiſten, ihr in den Sattel zu helfen, Bella oder Brownlock eine halbe Stunde umherzuführen, mit der Reitpeitſche, dem Fe¬ derhut und den Handſchuhen hinter ihr zu ſtehen, wenn ſie darnach fragte. Tante Berkow war in dieſer Zeit ſein drittes Wort, und Oswald hatte es ſich gern gefallen laſſen, wenn ihm Bruno lange Ge¬ ſchichten erzählte, in denen Tante Berkow immer die erſte Rolle ſpielte.

Melitta hatte vielleicht nicht wenig dazu beigetragen, daß Bruno in Monaten ein Stadium der Entwickelung zurücklegte, zu welchem weniger feurige Naturen faſt eben ſo viele Jahre brauchen. Es iſt ein weit ver¬ breiteter Irrthum unter den Frauen, zu glauben, daß179 ſie Knaben, die ſchon beinahe Jünglinge ſind, noch als Kinder behandeln dürfen, daß ſie ſich mit ihnen kleine Freiheiten erlauben können, die ſchon in ganz kurzer Zeit ſehr große Freiheiten ſein würden. Sie bedenken nicht, daß die Sinnlichkeit in dieſer Zeit ein Schlaf in der Morgendämmerung iſt, den die leiſeſte Störung verſcheuchen kann; daß die Begierde in dieſer Periode wie ein Feuer iſt, das in grünem Holze lang¬ ſam fortglüht und bei dem geringſten Windſtoß in heller Lohe emporflammt. Sie würden außer ſich ſein, wenn man ihnen ſagte, daß ſie in aller Unſchuld eine Unſchuld für immer zerſtört haben; und doch iſt es nur zu oft der Fall.

Melitta ſelbſt ſah zuletzt ein, daß ſie Bruno nicht länger, wie ſie es bisher gethan, mit Julius oder auch nur mit Malte auf eine Stufe ſtellen dürfe; und wenn ſie jetzt von den Knaben ſprach, ſo meinte ſie damit vorzüglich die beiden letzteren. Sie hatte angefangen, Bruno wie einen Freund, wie einen jun¬ gen Bruder zu behandeln, wie einen Pagen, den man noch halbe Frauendienſte thun läßt, von dem man aber weiß, daß man ſich im Fall der Noth auf ſein muthiges Herz und ſeinen ſtarken Arm verlaſſen könnte. Und in der That, ein Kenner würde in einem Ring¬ kampf, in irgend einer athletiſchen Uebung unbedingt12*180auf Bruno gegen viel ältere und ſcheinbar gefährli¬ chere Gegner gewettet haben. Die klaſſiſche Statue eines Merkur, oder eines Bacchos oder jugendlichen Faun konnte nicht zarter gegliedert, nicht ebenmäßiger geformt ſein, als Bruno's ſchlanker und bei aller Schlankheit ſtarker Körper. Für Jemand, der ein Auge hat für die Schönheit, die ſich in der Bewegung entwickelt, war es ſchon eine Luſt, den Knaben nur gehen zu ſehen. Oswald, dem die Natur ein ſolches Auge verliehen hatte, war entzückt, wenn er Bruno bei dem Baden am Strande des Meeres beobachten durfte, wie der Knabe von einem Felsblock zum an¬ dern ſprang, mit einer Sicherheit, die das Gefühl der Furcht gar nicht aufkommen ließ, bis er den am weiteſten hinausliegenden erreichte, von dem er ſich kopfüber in die Wellen ſtürzte. Dabei war für Bruno eine Gefahr nicht vorhanden, oder vielmehr: er wollte nicht, daß dergleichen für ihn exiſtire. Wenn es irgend etwas auszuführen gab, das Andere auszuführen An¬ ſtand nahmen: ein durchgehendes Pferd aufzuhalten, eine Kirſche von dem oberſten Gipfel eines hohen Baumes zu holen, über einen Graben zu ſpringen, der ohne Brücke nicht zu paſſiren ſchien Bruno mußte das Wagſtück unternehmen; er zitterte vor Ver¬ langen, ſeine Wange glühte; er warf einen bittenden181 Blick auf die, welche er lieb hatte, und man mußte ihn gewähren laſſen und ließ ihn gewähren, weil man ſich ſagte: er kann mehr als die Uebrigen.

So war Bruno: ein Jüngling mehr, wie ein Knabe, mit einem Herzen, an deſſen Feuer ſich eine todte Welt hätte beleben können.

So ſah er Helenen.

Und alle Melodien, die in ihm geſchlummert hatten, erklangen, und Alles, was er bisher Schönſtes und Lieblichſtes geträumt hatte, ſtand wahr und wirklich, verkörpert vor ihm. Der Knabe traute ſeinen Augen kaum; er war wie geblendet, wie trunken; er war wie Jemand, der aus einem ſchönen Traum zur ſchöneren Wirklichkeit erwacht und nicht zu ſprechen, ja kaum zu athmen wagt, um das, was er noch immer halb und halb für eine Sinnentäuſchung hält, nicht zu ver¬ ſcheuchen. So ging er in den erſten Tagen nach der Rückkehr der Familie wie im Traum umher, gegen die Gewohnheit mild und freundlich gegen Alle. Dann aber ſchwand die Traumesſeligkeit, und das Entzücken über die köſtliche Wirklichkeit wurde zum Schmerz. Ruhe hatte er nie gehabt, und leicht war ſein Herz nie geweſen; aber jetzt folterte ihn eine Unraſt, die ihm Schlaf und Hunger und Durſt verſcheuchte, die wie ein wildes Fieber in ihm brannte, und ſein armes182 Herz war wie ein Mann, der, was er Liebſtes und Theuerſtes hat, auf ſeinen Schultern vor dem ver¬ folgenden Feinde davonträgt und ſchaudernd dem Augen¬ blick entgegenſieht, wo er unter der Laſt zuſammen¬ brechen wird. Er wagte Helene's Namen nicht mehr auszuſprechen, aus Furcht ſein Geheimniß zu ver¬ rathen; er wagte nicht mehr, die Augen zu ihr auf¬ zuſchlagen. Und dennoch ſah er Alles, was um ihn her vorging, und der Plan der Baronin blieb für ihn nicht lange ein Geheimniß. Sein Haß gegen Felix kannte keine Grenzen, und er gab ſich ſehr wenig Mühe, dieſen Haß zu verbergen. Er forderte den Roué bei jeder Gelegenheit durch höhniſche und ſatyriſche Be¬ merkungen heraus, immer in der Hoffnung, Felix werde doch endlich einmal den hingeworfenen Handſchuh auf¬ heben; aber dieſer ließ ſich wie Alle, welche im Grunde ſich und die ganze Welt verachten, ſehr viel gefallen und erwiederte des Knaben grauſame Sarkasmen mit mehr oder weniger guten Witzen, ſo daß er die Lacher ſtets auf ſeiner Seite behielt. Und dann hatte er auf der andern Seite doch auch wieder eine viel zu gute Meinung von ſich, um ſich mit einem Gegner, den er ſo tief unter ſich glaubte, in einen ernſtlichen Streit einzulaſſen. Wäre er geſtern Nacht auf Bruno, der ihm ſein Rendezvous geſtört hatte, nicht ſo ärgerlich183 geweſen und hätte Bruno ſich nur ein wenig glimpf¬ licher ausgedrückt, es wäre auch ſelbſt jetzt noch nicht zum Aeußerſten gekommen.

Und Felix konnte von Glück ſagen, daß der Kampf keinen ſchlimmeren Ausgang für ihn genommen hatte. Er war dem Tode näher geweſen, als er wol ſelber glaubte. Bruno's Haß war durch die Vorgänge des Tages zur Raſerei geworden, und Felix 'brutale thät¬ liche Beleidigung machte das Gefäß des Zornes und Haſſes überlaufen. Und nun, nachdem der Lavaſtrom den Krater durchbrochen was konnte ihn in ſeinem vernichtenden Laufe aufhalten? Daß Felix von ſeiner Hand ſterben müſſe, daß ihn Gott in ſeine Hände geliefert habe, damit er, koſte es, was es wolle, das Weib, das er anbetete, von dem Scheuſal, das er ſo glühend haßte, befreie, das war in den kurzen und doch ſo langen Minuten, wo er mit Felix rang und auf Felix' Bruſt kniete, der einzige blutigrothe Licht¬ ſchein in der Nacht ſeiner Seele. Wenige Minuten, vielleicht Secunden und Felix ſtand nicht wieder von dem Platze auf.

Da war Bruno durch einen Schrei dicht neben ihm von ſeiner fürchterlichen Arbeit aufgeſchreckt wor¬ den. Emporblickend, hatte er flüchtig eine weibliche Geſtalt geſehen, die er im erſten Augenblick für Helene184 hielt. Er hatte ſein Opfer losgelaſſen und war auf¬ geſprungen. Die Geſtalt hatte ſich eilig entfernt, er war ihr ein paar Schritte gefolgt, bis jene in der Richtung nach dem Leutehauſe hin verſchwunden war und er ſeinen Irrthum eingeſehen hatte. Sich wieder über ſeine Beute zu ſtürzen, nachdem er einmal weg¬ geſcheucht war, war ihm unmöglich; er ſah, wie Felix ſich nach einigen vergeblichen Verſuchen in die Höhe richtete. Das war ihm genug geweſen; er konnte ſich in ſeine Kammer und in ſein Bett ſtehlen, ohne einen Mord auf dem Gewiſſen zu haben.

Und doch war er kaum weniger erregt. Sein Herz hämmerte, ſeine Pulſe flogen; glühende Hitze und Fieberfroſt wechſelten mit einander ab. Das verwor¬ ren klare Bild der Kampfesſcene drängte ſich immer wieder in den Vordergrund; der Triumph, ſeinen Todfeind ſo gänzlich beſiegt zu haben, wurde durch den Gedanken verbittert, daß Helene trotzdem noch immer nicht frei ſei. Das quälte ihn faſt noch mehr als die heftigen Schmerzen, die er, ſobald er nur einigermaßen zur Ruhe gekommen war, in der Seite empfand, und die gar nicht nachlaſſen wollten, ja, wie es ſchien, nur immer heftiger wurden und ſich von einem anfänglich kleinen Punkte aus, immer weiter verbreiteten.

185

Es war eine lange, bange Nacht für den unglück¬ lichen Knaben, dieſe kurze Sommernacht. Gegen Mor¬ gen ließ ihn die Müdigkeit in einen Zuſtand verfallen, der ſich vom Wachen nur dadurch unterſchied, daß noch fürchterlichere Bilder durch das Gehirn jagten. Er fuhr, vom Schmerz geweckt wieder auf; er ver¬ ſuchte ſich zu erheben, um Oswald zu wecken, der in dem Zimmer nebenan ſchlief (Malte ſchlief ſchon ſeit Wochen unten), aber er vermochte es nicht. Endlich es dauerte lange, bis ſein Stolz ſich dazu ent¬ ſchließen konnte rief er Oswald's Namen. Ein paar Augenblicke ſpäter war Oswald an ſeinem Bette.

Er erſchrak, als er den Knaben erblickte, in deſſen Geſicht dieſe eine Nacht furchtbare Verwüſtungen an¬ gerichtet hatte. Das ſchwarze Haar hing in verwor¬ renen Locken über das bleiche Geſicht, die dunklen Augen waren tief in den Kopf geſunken und glühten im Fieber.

Gieb mir Waſſer! rief Bruno, ſobald Oswald in ſeine Kammer trat.

Um Gotteswillen, was iſt dies, Bruno? ſagte

Oswald, während der Knabe gierig von dem Waſſer, das er ihm reichte, trank. Warum haſt Du mich nicht früher gerufen; ſo ſchlimm iſt der Anfall ja noch nie geweſen.

186

Es iſt nicht der alte Schmerz, ſagte Bruno; aber es wird wieder vorübergehen; es iſt jetzt ſchon bedeutend beſſer. Aengſtige Dich nicht, Oswald; ſieh, wenn ich ſo liege, fühle ich es viel weniger, faſt gar nicht; es war nur in der Nacht ſo bös; jetzt, da Du hier biſt und die Sonne ſcheint, wird es gleich beſſer.

Es ſoll ſofort Jemand zu Doctor Braun reiten! ſagte Oswald aufſpringend.

Nein, nein! bat Bruno; thue es nicht; Du weißt, wie fatal mir das immer iſt. Jetzt iſt über¬ dies noch Niemand im Hauſe auf; Du würdeſt Dich vergeblich bemühen. Und dann ich wollte Dich um etwas bitten. Komm! ſetze Dich wieder zu mir auf's Bett; ich fühle, daß ich nicht aufſtehen kann und es iſt die höchſte Zeit, daß der Brief in Helenen's Hände kommt.

Oswald glaubte, Bruno delirire; er faßte unwill¬ kürlich nach des Knaben Puls.

Bruno lächelte. Es war ein ſchwermüthiges Lächeln.

Nein, nein! ſagte er, fürchte nichts, ich bin noch vollkommen bei Sinnen. Höre ſelbſt, ob Alles, was ich Dir ſagen werde, nicht ausgezeichnet zuſam¬ men paßt.

Bruno erinnerte nun Oswald, wie er vom Anfang an behauptet habe, Felix ſei gekommen, ſich mit He¬187 lene zu verloben. Bis geſtern habe er allerdings keinen unumſtößlichen Beweis dafür gehabt; ſeit geſtern aber ſei auch dafür geſorgt. Er erzählte nun weiter, wie er am Nachmittage (es war ein Mittwoch) die alte Kapelle im Garten, ſeinen Lieblingsplatz, wo er am ungeſtörteſten ſeinen Grillen nachhängen konnte, aufgeſucht habe, und durch Stimmen in ſeiner Nähe aus dem Schlaf, in welchen ihn der ſchwüle Tag ver¬ ſetzt, aufgeweckt worden ſei; wie er nothgedrungen das Geſpräch zwiſchen der Tante und Felix habe be¬ lauſchen müſſen, wie er, als ſie fortgegangen, an der Stelle, wo die Baronin geſeſſen, den Brief Helenen's gefunden habe. Wie es ihm geſtern nicht möglich ge¬ weſen, Helenen den Brief zuzuſtellen, wie er den Plan gehabt, ihr denſelben in der Nacht, wenn ſie wie gewöhnlich bei offenem Fenſter ſpiele, mit ein paar Zeilen, worin er ihr ſagte, wo und wann er den Brief gefunden, in ihr Zimmer zu werfen. Wie er ſie nicht habe erſchrecken wollen und gewartet habe, bis ſie an's Fenſter treten würde, es zu ſchließen, um ihr mit ein paar Worten zu ſagen, um was es ſich handle; wie er von Felix überraſcht ſei und wie es ihm leid thue, daß er den Elenden nicht vollends erwürgt habe, wie er es verdiene.

Man kann ſich den Eindruck vorſtellen, den die188 leidenſchaftlichen und doch ſo klaren, ſo überzeugenden Worte Bruno's auf Oswald machten. Morgen ſchon ſollte das Entſetzliche geſchehen; allem Anſchein nach ahnte ſie nichts davon. Man wollte ſie durch Ueber¬ raſchung zwingen; ihr ein Wort abnöthigen, daß ſie hernach zurückzunehmen zu ſtolz ſein würde. Und welche Bewandtniß hatte es mit dieſem Brief, von dem Bruno und Oswald nur die Aufſchrift kannten, der mit Helenen's Petſchaft zugeſiegelt geweſen war und den die Baronin doch offenbar verloren hatte. Daß hier Verrath im Spiele ſei, daß dieſer Brief den Zwecken der Baronin hatte dienen müſſen, daß es nothwendig ſei, dieſen Brief wieder in Helenen's Hände gelangen zu laſſen, damit ſie erfuhr, welcher Waffen man ſich gegen ſie bediene, und ſie dieſe Waffen in dem nöthigen Augenblick, der morgen ſchon eintreten mußte, gegen ihre Gegner richten könne das Alles war natürlich auch Oswald ſofort klar, und nur über den einzuſchlagenden Weg konnten ſie ſich anfänglich nicht einigen. Bruno wollte, daß Os¬ wald Helenen nicht nur den Brief gebe, ſondern ihr auch den Inhalt des Geſprächs zwiſchen der Baronin und Felix mittheile. Oswald erklärte, daß das Letztere ſchlechterdings unmöglich ſei; Bruno, in ſeiner Eigen¬ ſchaft als Verwandter und als erklärter Günſtling189 Helenen's, dürfe ſich ſchon eher eine ſolche Indiscre¬ tion erlauben, ihm, dem Fremden verbiete die Schick¬ lichkeit jede Anſpielung auf ſo delicate Verhältniſſe.

Aber, rief Bruno; ich denke, Du biſt ihr Freund; ich denke, Du haſt ſie lieb! Wie kannſt Du Dich denn durch ſolche Bedenken, ob dies oder das auch nach den Regeln des Complimentirbuches erlaubt ſei oder nicht, abhalten laſſen, wenn es ſich um das Wohl oder Wehe ihres ganzen Lebens handelt. Denke, wenn man ihr durch Ueberraſchung das Ja abpreßt; ich würde verrückt, ich ertrüge es nicht

Und dennoch, Bruno, ich muß über dieſen Punkt ſchweigen; ich kann darüber nicht reden ich nicht.

Weshalb Du nicht?

Weil ich ſagte Dir ja ſchon, weil ich ein Fremder bin; weil ſie mir ſagen könnte, ſagen würde: mein Herr, was geht dies Alles Sie an? Den Brief will ich ihr geben; es iſt ihr Eigenthum; ſie kann verlangen, daß der Finder es ihr ſobald wie möglich wieder zuſtellt und bedenke doch, Bruno, dies ein¬ zige Factum ſpricht ja ganze Bände. Sie wird dann wiſſen, weſſen ſie ſich von jener Seite zu verſehen hat, und der Angriff trifft ſie auf ihrer Hut.

So willſt Du ihr den Brief geben?

Das will ich und zwar ſofort. Ich denke, Helene190 wird heute wie gewöhnlich ihre Morgenpromenade machen. Aber wie ſteht es mit Dir?

Beſſer, viel beſſer; ſagte Bruno, der von den heftigſten Schmerzen gefoltert wurde, aber fürchtete, daß Oswald in der Sorge um ihn die einzige Ge¬ legenheit, Helenen zu ſehen und zu ſprechen, verſäu¬ men könnte; viel beſſer! wenn ich die Hand ſo in die Seite drücke, fühle ich beinahe gar nichts. Mache nur, daß Du in den Garten kommſt, und höre! grüß ſie von mir und ſage ihr nicht, daß ich krank bin, nur ein wenig unwohl ich bin ja auch eigentlich nicht krank

Der Knabe ſank auf ſein Lager zurück und gab ſich Mühe, Oswald freundlich anzulächeln. Aber es war ein ſchmerzliches Lächeln trotz alledem und als die Thür ſich hinter Oswald geſchloſſen hatte, verbarg Bruno ſein Geſicht in den Kiſſen, um das dumpfe Stöhnen zu erſticken, das ihm die Qualen ſeiner Seele ebenſo auspreßten, als die Schmerzen ſeines Körpers.

[191]

Elftes Kapitel.

Oswald hatte vergeblich über die Stunde hinaus, in welcher Helene in dem Garten zu erſcheinen pflegte, gewartet. Gerade heute kam ſie nicht. Er ging mehrmals an ihrem Fenſter vorüber, ohne ſie zu ſehen. Er kehrte endlich, da es im Hauſe lebhafter zu werden begann, zu Bruno zurück, der ihn mit der größten Ungeduld erwartete. Bruno war außer ſich, daß dieſer Verſuch mislungen war; Oswald ſuchte ihn zu beruhigen, indem er hervorhob, wie aller Wahrſcheinlichkeit nach die Baronin und Felix die Durchführung ihres Planes bis auf den letzten Au¬ genblick verſchieben würden, es alſo auch morgen früh noch immer Zeit ſein würde, den Brief in Helenen's Hände gelangen zu laſſen.

Und jetzt, ſagte Oswald, muß ich Anſtalten treffen, daß nach dem Doctor geſchickt wird, denn dieſe Ungewißheit über Deinen Zuſtand iſt unerträglich.

192

Leider ſollten Oswald's Bemühungen ohne Erfolg bleiben. Der Bediente, welcher ihm die Antwort der Baronin, es werde im Laufe des Vormittags ſo wie ſo ein Wagen in die Stadt fahren, überbringen ſollte, hatte nicht gewagt ihm dieſe Beſtellung zu machen, ſondern geſagt: es ſolle ſogleich ein Bote hingeſchickt werden. So vertröſtete er ſich bis gegen Mittag. Da kam der alte Baron, ſich perſönlich nach Bruno's Zuſtand zu erkundigen. Er ſagte: ſo viel er wiſſe, ſei noch gar nicht in die Stadt geſchickt; er wolle indeſſen ſogleich dafür ſorgen. Der alte Herr war ordentlich böſe geworden über dieſe unverzeihliche Saumſeligkeit; Oswald glaubte jetzt beſtimmt, daß man ſich beeilen werde, das Verſäumte nachzuholen. Indeſſen verging Stunde auf Stunde, der Abend brach herein, und noch immer wollte ſich kein Dr. Braun blicken laſſen. Er ging ſelbſt hinunter, ſich zu erkundigen, was denn nun geſchehen ſei? Der Wa¬ gen, der gegen Mittag in die Stadt gefahren war, war eben zurückgekommen; auch hatte der mit der Beſtellung Beauftragte dieſelbe ausgerichtet, aber der Herr Doctor ſind auf vierundzwanzig Stunden ver¬ reiſt, und das Mädchen ſagte: ſie ſolle alle, die kä¬ men, an Dr. Balthaſar (den Collegen Braun's) wei¬ ſen. Nun wußte ich aber nicht, ob ich dahin gehen193 ſollte. Oswald gerieth in Zorn über dieſe aberma¬ lige Verzögerung. Er begab ſich ſofort zum Baron, den er bei der übrigen Geſellſchaft im Garten fand; ſagte ihm, was vorgefallen ſei und bat um die Er¬ laubniß, ſelbſt in die Stadt reiten zu dürfen, damit endlich einmal etwas in dieſer Sache geſchehe.

Ich verlaſſe Bruno ungern, ſagte er, aber ich ſehe kein anderes Mittel.

Die Krankheit wird ja ſo gefährlich nicht ſein, ſagte Anna-Maria.

Das zu beurtheilen vermag ich ſo wenig, wie Sie; erwiederte Oswald ſcharf; mir erſcheint Bru¬ no's Zuſtand bedenklich und ich halte es für meine Pflicht, dieſe meine Anſicht zur Geltung zu bringen, bis ich von Jemand, der ein Urtheil darüber hat, eines Andern belehrt werde.

Kommen Sie! ſagte der alte Baron; wir wollen den Jochen fortſchicken. Sie brauchen nicht von Bruno zu gehen. Jochen iſt ein verſtändiger Menſch; man kann ſich auf ihn verlaſſen.

Oswald machte der Geſellſchaft eine ſehr förmliche Verbeugung und entfernte ſich mit dem Baron.

Es iſt hübſch, wenn ein junger Mann ein ſo ſiche¬ res, feſtes Auftreten hat, ſagte Paſtor Jäger ironiſch.

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 13194

Der Apoll von Belvedere! ſagte Primula, man wußte nicht recht, ob ebenfalls ironiſch oder in einem Anfall poetiſcher Extaſe.

Ich denke, Seine Hoheit wird nächſtens von dem Piedeſtal herabſteigen, ſagte Felix.

Die geſtrengen Herren regieren bekanntlich nicht lange, ſagte die Baronin mit einem bedeutungsvollen Blick nach dem Paſtor, welchen dieſer mit einem ſchlauen Zwickern ſeines rechten Auges über das runde Brillenglas ſofort beantwortete.

Bruno fehlt auch alle Tage etwas Anderes, ſagte Malte, ſich Zucker über ſeine Erdbeeren ſtreuend.

Helene ſagte nichts. Sie ſaß da, den Blick feſt auf die Erde geheftet. Jetzt ſtand ſie auf und ging, ohne ein Wort zu ſagen aus der Laube, dem Schloſſe zu.

Du kommſt doch wieder, Helene? rief ihr die Mutter nach.

Ich glaube kaum, antwortete Helene ſich um¬ wendend; es wird mir etwas zu kühl hier draußen.

Sie ſetzte ihren Weg fort. Die Baronin und Felix warfen ſich einen vielſagenden Blick zu.

Der in die Stadt geſchickte Jochen war in der gehörigen Zeit zurück, um zu melden, daß er Dr. Bal¬195 thaſar nicht getroffen habe. Derſelbe ſei auf ein ent¬ ferntes Gut gefahren, wo ſich ein Mann den Arm gebrochen. Man wolle ihm indeſſen, ſobald er zurück komme, was wohl vor Einbruch der Nacht nicht ge¬ ſchehen werde, die Beſtellung ausrichten, und zweifle nicht, daß er derſelben Folge leiſten werde, wenn er ſelbſt nicht zu angegriffen ſei.

Dabei mußte ſich denn alſo Oswald beruhigen, ſo gut er es vermochte. Bruno's Zuſtand war ſo ziem¬ lich derſelbe geblieben. Die Schmerzen hatten viel¬ leicht etwas nachgelaſſen, aber ſich über eine größere Fläche verbreitet. Er gab ſich die größte Mühe, Oswald, deſſen Angſt mit jeder Stunde wuchs, je ſpäter es wurde, ohne daß ärztliche Hülfe erſchien, ſeine Befürchtungen auszureden. Es iſt nichts; es wird morgen ſchon wieder beſſer ſein; daß der Brief noch immer in unſeren Händen iſt, macht mir viel größere Sorge, als meine Krankheit. Könnteſt Du nicht einen Verſuch machen, Oswald, ihn, wie ich es geſtern wollte, durchs Fenſter in ihr Zimmer zu wer¬ fen? Wenn Dir Felix begegnet, ſag 'ihm nur: er ſolle an geſtern Nacht denken, dann wird er ſich ſchon aus dem Staube machen; oder beſſer, ſage nichts, und thu', was ich leider nicht gethan habe, erwürge ihn auf der Stelle.

13*196

Endlich, als Oswald die Hoffnung ſchon beinahe aufgegeben hatte, kam Dr. Balthaſar. Es war ein alter Mann, den die vielen Geſchäfte des Tages ver¬ drießlich gemacht hatten und der etwas von Lappa¬ lien, derentwegen man die Leute um ihre Ruhe bringe, durch die Zähne murmelte. Er unterſuchte Burno kaum, ſagte: es würde ſich ſchon von ſelbſt geben, übrigens wolle er morgen wieder kommen und eine Einreibung mitbringen.

Nun ſind wir auch noch ſo klug, wie vorher, ſagte Oswald, als der Doctor wieder fort war.

Ich ſagte Dir ja gleich, es hat nichts zu bedeu¬ ten. Leg 'Dich ſchlafen, Oswald! Du brauchſt es eben ſo nöthig, wie ich.

Indeſſen, die Beiden fanden nicht viel Ruhe in dieſer Nacht. Oswald hatte ſein Sopha neben Bruno's Bett ſtellen laſſen, und blieb angekleidet, um jeden Augenblick bereit zu ſein. Bruno's Zuſtand blieb der¬ ſelbe, nur daß ſeine Unruhe immer größer wurde, und er in immer kürzeren Zwiſchenräumen zu trinken ver¬ langte. Gegen Morgen war Oswald eingeſchlafen; Bruno weckte ihn, als die Sonne eine Stunde über dem Horizont war.

Oswald, ich kann Dich nicht länger ſchlafen laſſen, ſo leid es mir thut. Du mußt in den Garten,197 es iſt die höchſte Zeit. Wenn Du Helene auch heute nicht triffſt, ſo ſtehe ich auf und gehe zu ihr, und wenn ich darüber ſterben ſollte.

Wie geht es Dir?

Beſſer.

Das ſagſt Du ſtets.

Mache nur, daß Du fort kommſt.

Oswald ging in den Garten und ſuchte die Wall¬ promenade auf, wo er nun ſchon ſo manchen Morgen mit nicht leichtem Herzen dem ſchönen Mädchen be¬ gegnet war. Aber ſo ſchwer wie heute war ihm das Herz nie geweſen. Bruno's Krankheit, die jetzt herein drohende Kataſtrophe in dem Familiendrama, deſſen Entwicklung er mit ſo ſchmerzlichem Intereſſe verfolgt hatte, und in welchem er jetzt die zweideutige Rolle eines Zwiſchenträgers zu ſpielen verdammt war das Alles laſtete auf ſeiner Seele und machte, daß er von dem wonnigen Morgen nichts empfand, nichts bei dem warmen Sonnenſchein und den bläulichen Morgen¬ ſchatten, nichts bei dem Duft der unzähligen Blumen, nichts bei dem Schwirren und Tanzen der Myriaden von Inſecten, nichts bei dem Jubiliren der Vögel in den Bäumen. Konnten ihm die Blumen ſeinen Liebling wieder geſund machen? konnten ihm die Vö¬ gel Helenen herbeiſingen?

198

Doch da! da ſchimmerte ihr Kleid zwiſchen den Bäumen des Walles herüber. Das mußte ſie ſein. Sie ſchritt raſcher vorwärts, ſobald ſie ihn bemerkt hatte es ſchien ihr ſelbſt daran gelegen, ihn zu ſprechen.

Gott ſei Dank, daß Sie kommen, rief ſie ihm ſchon von weitem entgegen; ich habe faſt die ganze Nacht vor Sorge und Angſt nicht geſchlafen. Es geht gut nicht wahr? Sie würden ihn ja auch ſonſt nicht verlaſſen haben?

Es geht beſſer, wenigſtens ſagt Bruno ſo; aber ich fürchte, nichts weniger als gut. Sie wiſſen, er iſt ein Held, auch im Ertragen von Schmerzen.

Ja, das iſt er! ſagte Helene; ich liebe ihn wie meinen Bruder; nein! viel, viel mehr, wie meinen Bruder. Der Gedanke, ihn zu verlieren, iſt für mich entſetzlich. Sie glauben nicht, wie ich mich ſeinet¬ halben quäle.

Gewiß nicht mehr, als er ſich Ihrethalben; ſagte Oswald.

Wie das? fragte Helene, ihre großen Augen forſchend auf Oswald's Geſicht heftend.

Ich will nicht durch eine lange Einleitung die koſtbaren Augenblicke, in denen ich ungeſtört mit Ihnen ſprechen kann, verlieren; ſagte Oswald. Dieſen Brief199 hier, deſſen Aufſchrift von Ihrer Hand iſt, der Ihnen alſo ohne Zweifel gehört, hat Bruno vorgeſtern Abend gefunden, an der Kapelle, unmittelbar nach einer Un¬ terredung, welche die Baronin mit Baron Felix über Familienangelegenheiten auf derſelben Stelle gehabt hatte, und die Bruno, der ſich zufällig in der Kapelle befand, mit anzuhören nicht umhin konnte. Er hat mich gebeten, Ihnen Ihr Eigenthum wieder zuzuſtellen. Ich brauche Ihnen nicht zu ſagen, daß es von dem Augenblick an, wo es in Bruno's Hände gelangte, heilig gehalten worden iſt.

Helenen's Verwirrung war mit jedem Worte, das Oswald ſprach, größer geworden. Purpurgluth wechſelte auf ihrem ſchönen Angeſicht mit einer geiſterhaften Bläſſe. Ihr Buſen wogte; ihre Hand zitterte, als ſie den Brief, den ihr der junge Mann überreichte, und auf den ſie nur einen Blick zu werfen brauchte, um ihn als denſelben zu erkennen, den ſie geſtern Morgen an Mary Burton geſchrieben hatte, entgegen¬ nahm. Entſetzen über den ſchwarzen Verrath, den man an ihr geübt; jungfräuliche Scham, ihre inner¬ ſten geheimſten Gedanken ſchonungslos profanirt zu ſehen; der Unwille, daß Jemand, er ſei wer er ſei, erfahren habe, wie ſie von den Ihrigen, von ihrer eigenen Mutter ſchmachvoll behandelt worden ſei 200 Alles ſtürmte auf ſie ein, wie ein Orkan, der ſelbſt ihre Kraft zu überwältigen drohte.

Und dies letzte Gefühl des beleidigten Stolzes fand zuerſt einen Ausdruck.

Ich danke Ihnen; ſagte ſie, ſich zu ihrer gan¬ zen ſtattlichen Höhe emporrichtend, für Ihren Eifer, mir zu dienen. Indeſſen, Sie und Bruno haben der Sache, wie es ſcheint, ein viel größeres Gewicht bei¬ gelegt, als ſie in der That verdient. Ich habe dieſen Brief, weil Einiges darin ſtand, was ich nach reiflicher Ueberlegung nicht gutheißen konnte, gefliſſentlich nicht abgehen laſſen; ich werde ihn aus der Taſche verloren haben. Ich erinnere mich, daß ich geſtern Abend in der Nähe der Kapelle war; ich

Weiter konnte ſie nicht ſprechen; die Thränen, die ſie ſo lange zurückgehalten, brachen gewaltſam hervor, und rollten über ihre Wangen. Sie wandte ſich ab, als ſie fühlte, daß ſie ſich nicht beherrſchen konnte, und winkte Oswald mit der Hand, ſie allein zu laſſen.

Oswald war vielleicht nicht weniger außer ſich, als Helene. All ſeine Liebe zu dem ſchönen, ſtolzen Mädchen, für das er ſo freudig ſein Leben hingegeben hätte und von dem er jetzt ſo verkannt zu werden fürchten mußte, wogte wie ein ſiedend heißer Quell in ihm empor, und erfüllte ſeine Bruſt bis zum Zer¬201 ſpringen. Er hätte ihr zu Füßen ſtürzen, ihr Alles, Alles, was er ſo lange vor ihr verborgen, geſtehen mögen; aber er bezwang ſich mit einer übernatür¬ lichen Anſtrengung und ſagte ſo ruhig als er ver¬ mochte:

Ich verſichere Sie, mein Fräulein, daß dieſe Scene Ihnen kaum peinlicher ſein kann, wie mir ſelbſt, und daß ich dieſelbe um keinen Preis herbei¬ geführt haben würde, wenn mir Bruno's fieberhafte Ungeduld, die ich durch eine Weigerung zu ſteigern fürchten mußte, eine Wahl gelaſſen hätte. Es iſt mir ſchmerzlich, ſehr ſchmerzlich, von Ihnen verkannt zu werden; ich ahnte es gleich, daß es Ihnen unmöglich ſein würde, den Boten von ſeiner Botſchaft zu trennen.

Er verbeugte ſich vor dem noch immer weinenden Mädchen, und wandte ſich, zu gehen.

Nein, nein! rief ſie, wie, um ihn zurückzuhalten, die Hand nach ihm ausſtreckend; Sie dürfen ſo nicht gehen. Mögen es Die verantworten, die mich zum Aeußerſten getrieben haben, wenn ich die Ehre meiner Familie, die Ehre der Meinigen preisgeben muß. Ja, Sie haben mir einen Dienſt geleiſtet, einen großen Dienſt. Dieſer Brief iſt nur durch Verrath in die Hände Derer gekommen, die ihren Raub ſo ſchlecht zu bewahren verſtanden. Dieſer Brief trennt mich202 auf immer von den Meinigen; er ſoll mich nicht auch von Bruno trennen, den ich ſo herzlich liebe, von Ihnen, der Sie ſtets ſo gut und freundlich zu mir geweſen ſind. Ich habe Sie immer für meinen Freund gehalten, Sie immer hoch geſchätzt und geehrt wie hoch, das möge Ihnen dieſer Brief ſelbſt be¬ weiſen. Leſen Sie ihn! Wenn alle Welt weiß, wie ich über Sie denke, ſo dürfen Sie es am Ende ja auch wol wiſſen.

Und das junge Mädchen reichte Oswald den Brief hin. Ihr Antlitz glühte, aber nicht mehr vor Zorn oder Scham. Ihre dunkeln Augen leuchteten, aber wie einer Heldin, die ſich für eine heilige Sache zu opfern im Begriff ſteht.

Leſen Sie nur! ſagte ſie mit einem eigenthüm¬ lichen Lächeln, als Oswald ſie ungläubig anſtarrte; fürchten Sie nicht, daß es mich hinterher reuen wird. Ich weiß, daß Ihr Herz einer Andern gehört, die ſeit geſtern wieder in unſerer Nähe iſt. Bruno, der Alles weiß, hat es mir verrathen. Ich will von Ihnen nichts, als was ich ſchon habe Ihre Freund¬ ſchaft. Leſen Sie den Brief, und wenn Sie ihn ge¬ leſen haben, verbrennen Sie ihn in Gottes Namen.

Ehe Oswald ſich von ſeinem grenzenloſen Erſtau¬ nen über dieſe wunderbare Rede nur ſo weit erholen203 konnte, ein einziges Wort über die Lippen zu bringen, war das junge Mädchen ſchon die Treppe, die von dieſer Stelle in den Garten führte, hinab und eilte durch die blumenreichen Beete dem Schloſſe zu.

Was iſt das? ſagte Oswald bebend; narrt mich denn ein Traum? Melitta zurück? und jetzt zurück gerade jetzt? ha, ha, ha!

Es war ein ſchauerliches Lachen. Oswald ſah ſich erſchrocken um, ob ein Andrer gelacht habe, ein ſchadenfroher Dämon, der ſich an ſeiner Qual weidete.

Er hielt den Brief noch immer in ſeiner Hand. Es war ihm, als ob er erſt, wenn er dieſen Brief leſe, Melitta ganz verlieren, erſt jetzt das letzte Band, das ihn an Melitta feſſelte, zerreißen würde. Für einen Augenblick erſchien ihm Helene wie eine ſchöne Teufelin, die an ihn herangetreten ſei, ihn zu ver¬ ſuchen ... Wenn er dieſen Brief ungeleſen ver¬ brannte? konnte dann nicht Alles gut werden? Konnte ihm Melitta nicht doch erhalten bleiben? ...

Und indem er ſo dachte, hatte er den Brief ent¬ faltet und ihn zu leſen begonnen ...

Er war mit der Lectüre zu Ende ... er ſaß, den Kopf in die Hand geſtützt in der Ecke der Bank, auf die er ſich, ohne zu wiſſen, was er that, geſetzt hatte ... Vor ihm auf dem Erdboden ſpielten die204 Lichter mit den Schatten; in den dichten Laubkronen über ihm flüſterte der Morgenwind und ſangen die Vögel in dem Garten unten wiegten ſich bunte Schmetterlinge über den Blumenwäldern der Beete ... er ſah das Alles, er hörte das Alles, aber er empfand nichts dabei, nichts als das Eine, daß, wenn es ein Paradies auf Erden für ihn gegeben hatte, er jetzt auf immerdar daraus vertrieben ſei.

[205]

Zwölftes Kapitel.

Es war einige Stunden ſpäter. Die Baronin ſaß in ihrem Zimmer auf ihrem gewöhnlichen Platze in der Nähe der geöffneten Fenſterthür. Sie hatte eine Stickerei auf dem Schooße; aber ihre Hände waren müßig; nur, wenn ſich Schritte der Thür, die nach dem Flure führten, näherten, nahm ſie ſchnell die Arbeit auf, und nähte ein paar Stiche, um ſie, ſobald der Schritt vorüber war, wieder in den Schooß ſinken zu laſſen. Das wiederholte ſich mehrmals, denn es war heute ein ſehr lebhaftes Treiben im Schloſſe. Die Vorrichtungen zu dem Ball heute Abend, hielt Alles in Athem, und machte es der wirthſchaftlichen Baronin ſehr ſchwer, hier ſo müßig zu ſitzen, während ihre Gegenwart in Küche und Spei¬ ſekammer ſo nöthig war. Aber ſie hatte Fräulein Helene bitten laſſen, wenn ſie mit ihrem Klavierſpiel206 fertig ſei, zu ihr zu kommen, und Helene ſollte ſie ruhig, gelaſſen, zu einem freundſchaftlich ernſten Ge¬ ſpräch aufgelegt finden.

Aeußerlich wenigſtens. In ihrem Herzen freilich ſah es anders aus. Zwar die Sorge um den Brief ſchien ſich als unnöthig erwieſen zu haben. Offenbar war er noch nicht wieder in Helenen's Hände gelangt und das war für den Augenblick die Hauptſache. So konnte man doch alle Pfeile, die man aus der Lec¬ türe geſammelt hatte, abſchnellen, ohne fürchten zu müſſen, daß ſie auf den Schützen zurückſprängen. Nichtsdeſtoweniger hatte die kluge und muthige Frau nie einer Unterredung mit irgend Jemand und ſie hatte doch, da die ganze Laſt der Verwaltung des großen Vermögens faſt ganz allein auf ihren Schul¬ tern lag, manche wichtige Verhandlung zu führen ge¬ habt ſo voller Unruhe entgegen geſehen. Sie dachte im Allgemeinen nicht ſehr hoch von den Men¬ ſchen und berechnete den Werth der Einzelnen nach der Höhe des Preiſes, für welchen ſie ihre ſogenannten Ueberzeugungen aufzugeben bereit waren. Denn daß ſich Jeder kaufen laſſe, wenn er nur den rechten Käufer finde, war bei der Baronin, wie bei Vielen, bei Allen, die dem Gott Mammon von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe dienen,207 ein Grundſatz, der nicht weiter bewieſen zu werden brauchte.

Sie hätte ihre Tochter ſo gern unter die allge¬ meine Regel gebracht, von der ſie ſelbſt eine Aus¬ nahme zu machen keineswegs beanſpruchte, aber es war unmöglich. Eine geheime Stimme, die ſie nicht zum Schweigen bringen konnte, ſagte ihr: Helenen iſt ihre Seele nicht um dreißig Silberlinge feil, nicht um eben ſo viele Millionen, um keinen Preis der Welt. Eine andere Mutter würde dieſer Gedanke mit Entzücken erfüllt, ſie würde in ihrer Tochter ihr beſſeres Selbſt verehrt, ihr Ideal angebetet und hei¬ lig gehalten haben. Die Baronin wußte nichts von einer ſolchen Schwärmerei. Der Genius, der auf der ſtolzen Stirn ihrer Tochter thronte, der aus ihren dunkeln Augen ſo groß, ſo edel hervorſchaute er war ihr fremd, unheimlich, feindlich ſie hatte nichts mit ihm zu ſchaffen. Helene war das Kind ihres Geiſtes, aber nicht ihres Herzens. Helene hatte das weiche Gemüth, den braven, rechtlichen Sinn des Va¬ ters geerbt, dieſelben Eigenſchaften, welche die Baronin im Grunde an ihrem Gemahl fortwährend bekämpfte. Daß ſie nun außerdem noch den ſcharfen Verſtand der Mutter hatte, daß ſie die Heiligthümer ihres Herzens mit der blanken Waffe des Geiſtes208 ſchirmen, daß ſie die blanke Geiſteswaffe niemals in einer unedlen Sache entweihen konnte, gerade das mußte ihr Weſen für ein edles Gemüth ſo hinreißend, mußte es einem unedlen ſo verhaßt machen.

Aber die Baronin gab ſich, wie geſagt, in dieſem Augenblicke alle Mühe in einer verſöhnlichen, fried¬ lichen, freundſchaftlichen Stimmung zu ſein. Sie ge¬ rieth bei dieſem Verſuch ſogar in eine Art von lar¬ moyanter Stimmung. Vielleicht hoffte ſie, daß Thrä¬ nen, Alles in Allem, doch das beſte Mittel ſeien, das edele Herz der Tochter zu rühren und ſie für die ſelbſtiſchen Zwecke der Mutter zu gewinnen.

Da klopfte es an die Thür. Die Baronin griff ſchnell nach ihrer Arbeit. Auf ihr herein! trat Helene in das Zimmer. Die etwas kurzſichtige Baronin be¬ merkte nicht gleich, daß das edelſtolze Antlitz des jun¬ gen Mädchens ſehr bleich war, aber nicht von jener krankhaften Farbe, wie ſie die Feigheit auf die Wan¬ gen malt, ſondern von jener Marmorbläſſe, die ſich ſehr wohl mit Augen verträgt, aus denen eine he¬ roiſche Seele leuchtet.

Es thut mir leid, liebe Tochter, ſagte die Ba¬ ronin, daß ich Dich heute in Deinem Morgenfleiße ſtören muß. Ich habe Dich rufen laſſen, um über eine Sache von der äußerſten Wichtigkeit recht ruhig,209 recht freundſchaftlich mit Dir zu ſprechen. Aber ſetze Dich doch! dort, mir gegenüber auf den Stuhl, in welchem Dein Vater zu ſitzen pflegt.

Ich danke, ſagte Helene ſtehen bleibend.

Der abgemeſſene, faſt kurze Ton in welchem das junge Mädchen dieſe beiden Worte ausſprach, machte die Baronin von ihrer Arbeit in die Höhe blicken. Sie bemerkte jetzt zum erſten Male die blaſſen Wangen ihrer Tochter, und ihre eigenen Wangen ent¬ färbten ſich.

Du fühlſt Dich doch nicht unwohl? ſagte ſie, und ihre Stimme war weniger feſt, wie ſonſt. In dieſem Falle wollen wir unſere Unterredung auf eine gelegenere Zeit verſchieben. Du wirſt ſo ſchon für heute Abend Deine Kräfte nöthig haben.

Ich fühle mich vollkommen wohl, erwiederte das junge Mädchen; ich ſtand ſogar eben ſelbſt in Begriff, Dich um eine Unterredung bitten zu laſſen, da auch ich Dir Einiges von Wichtigkeit mitzuthei¬ len habe.

Du mir? ſagte die Baronin, ihre großen, tief liegenden Augen ſpührend auf das bleiche Antlitz ihrer Tochter heftend. Du mir? was kann das ſein? laß doch hören?

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 14210

Es iſt dies! ſagte Helene. Ich fand vorgeſtern Abend in der Nähe der Kapelle einen Brief

Die Baronin hob ihr Haupt, und warf Helenen einen Blick zu, in welchem Beſtürzung, Zorn, Furcht und Trotz auf eine ſeltſame Weiſe gemiſcht war.

Einen Brief, fuhr Helene fort, den ich vor¬ geſtern Morgen geſchrieben und Luiſen zur Beſorgung übergeben hatte. Der Brief war natürlich, als ich ihn Luiſen gab, verſiegelt, als ich ihn wiederfand, war er erbrochen. Ich kann nicht glauben, daß Luiſe, die mir überdies zugethan ſcheint, ein ſolches Intereſſe an meiner Correſpondenz nimmt, um ſich auf die Gefahr hin, ihren Dienſt zu verlieren, eines ſolchen Verge¬ hens ſchuldig zu machen, muß alſo annehmen, daß irgend Jemand ſonſt im Schloß es der Mühe werth hält, meinen Geheimniſſen nachzuſpüren. Nun war es meine Abſicht, zu fragen, was Du mir in dieſer Sache zu thun räthſt.

Die Baronin hatte, während Helene ſprach, ſehr eifrig genäht. Jetzt blickte ſie wieder auf und ſagte:

An wen war der Brief!

An Mary Burton.

Haſt Du Dich in dem Briefe frei geäußert?

Wie man an eine Freundin eben ſchreibt.

211

Standen Sachen darin, von denen Du nicht gerne möchteſt, daß ſie Anderen zu Geſicht kämen?

Allerdings.

Auch nicht Deinen Eltern?

Helene ſchwieg. Auch nicht Deinen Eltern?

Ja.

Zum Beiſpiel, daß Deine Eltern für Dich todt ſind, ebenſo wie Deine übrigen Verwandten?

Du haſt den Brief geleſen?

Wie Du ſiehſt.

So habe ich nichts weiter zu ſagen und zu fragen.

Helene verbeugte ſich und wandte ſich, zu gehen.

Bleib, ſagte die Baronin; wenn Du nichts weiter zu ſagen haſt, ſo habe ich noch mehre Fragen an Dich zu richten, die Du mir gütigſt beantworten wirſt. Was den Brief betrifft, ſo beruhige Dich. Wenn Eltern ihren Kindern die Erlaubniß geben, frei zu correſpondiren, thun ſie's in der Erwartung, daß die Kinder dieſer Erlaubniß würdig ſind. Sehen ſie ſich in dieſer Erwartung betrogen, nehmen ſie ihre Erlaubniß zurück. Darin liegt nichts Außerordentli¬ liches. Das aber iſt außerordentlich, wenn ein Kind, das von ſeinen Eltern nur Liebe erfahren hat, ſich14*212von dieſen ſeinen Eltern losſagt; das iſt außerordent¬ lich, wenn ein Kind die Stirn hat, dies zu denken, eine Hand, es niederzuſchreiben, den Muth, dieſes ſchriftliche Bekenntniß ihrer Armuth Andern unter die Augen zu bringen. Was haſt Du darauf zu erwie¬ dern?

Nichts.

Und wenn nun dieſes Kind die Gefühle der Liebe, die ſie ihren Eltern, der Zuneigung, die ſie ihren übrigen Verwandten zum mindeſten ſchuldet, nur ver¬ leugnet, um Fremde damit zu beglücken, eine ſoge¬ nannte Freundin zum Beiſpiel, die weiter kein Ver¬ dienſt hat, als mit ihr in einer Penſion geweſen zu ſein; einen Knaben, der aus Gnade und Barmherzig¬ keit in dem Hauſe ihrer Eltern aufgenommen wurde; einen bezahlten Diener ihrer Eltern ja wol, mein Fräulein! einen bezahlten Diener, mit dem die Eltern nebenbei im höchſten Grade unzufrieden ſind was haſt Du darauf zu erwiedern?

Nichts.

Und wenn nun Deine Eltern Dir doch verzeihen; wenn Deine Verwandten, obgleich Du es nicht ver¬ dienſt, Dir ihre Liebe dennoch nicht entziehen wollen; wenn Du ſiehſt, daß Eltern and Verwandte ſich die Hand reichen, mit vereinten Kräften Dich, die ſchon213 mehr als halb verloren iſt, zu retten; wenn Deine Eltern Dir in der Perſon eines Gemals einen Freund und Beſchützer geben wollen, der Dich in Zukunft vor ſolchen Thorheiten ich will einmal einen mil¬ den Ausdruck wählen vor ſolchen Thorheiten, wie Du ſie an Mary Burton geſchrieben haſt, bewahren wird; und wenn einer Deiner liebenswürdigſten Ver¬ wandten die Güte haben will, dieſes ſchwierige Amt eines Gatten, Freundes und Lehrers bei Dir zu über¬ nehmen, wirſt Du darauf wieder nichts zu erwiedern haben?

Doch! ſagte Helene, die ohne eine Miene zu verändern, bleich und ſtill dageſtanden hatte, die gro¬ ßen dunkeln Augen mit dem Ausdruck unerſchütterli¬ chen Muthes auf ihre Mutter richtend, welche bei den letzten Worten aufgeſtanden war und ihr jetzt gegen¬ über ſtand, doch! ich habe darauf zu erwiedern, daß ich tauſendmal lieber ſterben, als Felix 'Gattin wer¬ den will.

Sie ſagte das ruhig, langſam, gleichſam jede Sylbe wägend.

Und wenn Deine Eltern es befehlen?

So kann ich nicht und ſo werde ich nicht gehorchen.

Und wenn ſie heute Abend der verſammelten Ge¬ ſellſchaft Deine Verlobung mit Felix ankündigen?

214

So werde ich der verſammelten Geſellſchaft ſa¬ gen, was ich Dir ſoeben geſagt habe.

Iſt das Dein wohlerwogener Entſchluß?

So wahr mir Gott helfe: ja!

Nun denn! ſo ſage ich mich von Dir los, wie Du Dich von mir losgeſagt haſt! ſo gehe denn hin und wirf Dich dem Bettler in die Arme! Aber nein! noch giebt es Mittel, dieſe Schande wenigſtens vor der Welt zu verbergen. Morgen packſt Du Deine Sachen; übermorgen gehſt Du in die Penſion zurück.

Ein Strahl wie von Freude brach aus Helenen's dunkeln Augen und ein zartes Roth flog über ihre bleichen Wangen.

Ich gehe gern, ſagte ſie.

Aber nicht nach Hamburg, ſagte die Baronin, und es lag eine grauſame Ironie in Ton und Wort; ich habe genug von Mary Burton. Du gehſt nach Grünwald. Ich habe ſchon an Fräulein Bär geſchrie¬ ben. Sie iſt nicht ganz ſo nachſichtig wie Madame Bernhard, aber mit der Zeit der Güte und Nachſicht iſt es jetzt auch vorbei. Begieb Dich auf Dein Zim¬ mer. Um ſechs Uhr wünſche ich Dich zum Ball an¬ gezogen zu ſehen. Ueberlege Dir noch einmal, was Du thun willſt. Ich gebe Dir bis dahin Bedenkzeit. Du kannſt gehen.

215

Helene ging, ohne ein Wort zu erwiedern, nach der Thür. Als ſie dieſelbe faſt erreicht hatte, trat der alte Baron herein.

Wo willſt Du hin, mein Mädchen? ſagte er, die Hand freundlich nach ihr ausſtreckend.

Helene ergriff die Hand; drückte ſie an ihre Lip¬ pen und ſagte:

Verurtheile mich nicht, Vater, ohne mich gehört zu haben.

Dann eilte ſie aus dem Zimmer.

Was hat das Mädchen? ſagte der alte Herr; ihr voller Erſtaunen nachſehend.

Komm, Grenwitz, ſagte die Baronin, ich habe über eine Sache von Wichtigkeit mit Dir zu ſprechen.

[216]

Dreizehntes Kapitel.

Die Unterredung zwiſchen der Baronin und ihrem Gemal dauerte eine geraume Zeit, aber Anna-Maria war heute nicht glücklich in ihren diplomatiſchen Be¬ mühungen. Eben ſo wenig wie ſie im Stande gewe¬ ſen war, den Stolz ihrer Tochter zu beugen, ver¬ mochte ſie den ſonſt ſo fügſamen Gatten diesmal zu ihren Anſichten zu bekehren. Es iſt, eine bekannte Erfahrung, daß ſehr nachgiebige und lenkbare Naturen in manchen Punkten ſehr ſtarr und eigenſinnig ſein können. Es iſt, als ob ſich der überall geſchlagene, überliſtete, überrumpelte Wille auf dieſe Punkte, wie in uneinnehmbare Feſtungen geworfen habe, um ſich dort bis aufs Aeußerſte zu vertheidigen. Die Baro¬ nin hatte das in den langen Jahren ihrer Herrſchaft ſchon mehr wie einmal erfahren. Hin und wieder hatte ſich in dem Gatten, der ihrer höheren Einſicht ſonſt ſo blindlings vertraute, der mit einer Art von217 abgöttiſcher Verehrung an ihr hing, ein Geiſt des Widerſpruchs geregt, oft, wo ſie es am allerwenigſten erwartete. Sie hatte durch kluge, rechtzeitige Nach¬ giebigkeit dann jedes Mal dergleichen Meinungsver¬ ſchiedenheiten zu beſeitigen gewußt, was ihr um ſo leichter geworden war, als es ſich meiſtens um höchſt gleichgültige Dinge handelte. Wenn ſie die Fälle, wo dieſe Rechthaberei ihres Gemals hervorgetreten war, mit einander verglichen hätte, würde ſie bemerkt ha¬ ben, daß es ſtets der gerade Sinn, die unverwüſtliche Gutmüthigkeit des Barons geweſen waren, die ſich gegen eine egoiſtiſche Maßregel der Baronin in aller Beſcheidenheit, aber großer Beſtimmtheit aufgelehnt hatten. Wie ſehr auch der alte Herr ſeinen Verſtand gefangen gegeben hatte, es lebte in ihm ein Etwas, das mächtiger war, als alle Sophismen, mit denen ihn ſeine Gattin umgarnte; ein göttlicher Funke, der gelegentlich noch immer zur Flamme werden konnte. Dieſes Etwas, dieſer göttliche Funke war die Liebe, war die Fähigkeit, ſich ſelbſt über dem Andern zu vergeſſen, ſein Glück in dem Glück Anderer zu finden. Wo dieſe Fähigkeit noch beſteht, da iſt, und wäre das Individuum noch ſo tief geſunken, noch Alles zu ret¬ ten; wo ſie verloren, iſt Alles verloren. Denn ein wahreres Wort iſt nie geſprochen, als jenes Wort,218 welches die Liebe über alles Wiſſen und jede höchſte Kraft des Menſchen ſetzt, und ſie die größte nennt unter allen Tugenden.

Wie Alle, welche die Liebe im beſten Falle für einen ſehr überflüſſigen Luxus halten, und an ſich ſelbſt zu wenig Gelegenheit haben, dieſe wunderbare Kraft in ihren Wirkungen zu ſtudiren, beging die Baronin den Fehler, bei ihren Projecten dieſe Eigen¬ thümlichkeit ihres Gemals entweder gar nicht in Rech¬ nung zu bringen, oder doch viel zu gering anzu¬ ſchlagen. So war es auch in dieſem Falle geweſen. Sie hatte nicht bedacht, daß der Baron ja am Ende doch ſein Kind lieben und dann natürlich ihr Glück, ihre Ruhe höher anſchlagen könnte, als alle weltlichen Vortheile. Und nun geſchah wirklich das Unglaub¬ liche. Der alte Herr erklärte mit großer Entſchieden¬ heit, daß er die Vortheile, welche allen Betheiligten aus einer Verbindung zwiſchen Felix und Helene er¬ wachſen könnten, durchaus zu würdigen wiſſe; daß er ſich ſehr gefreut haben würde, wäre dieſe Verbindung zu Stande gekommen, daß es aber ſchließlich doch die Ruhe und das Glück Helenen's ſei, um die es ſich handle, und daß, wenn Helene erkläre, Felix nicht lieben zu können, die Sache damit ein für alle Mal abgemacht ſei. Dabei blieb er, mochte Anna-Maria219 ſagen, was ſie wollte. Und Anna-Maria ließ es an Worten, ja ſelbſt an Thränen nicht fehlen. Vergebens, daß ſie Helenen's Trotz, Helenen's unkindliches Be¬ nehmen in der eben ſtattgehabten Unterredung mit den ſchwärzeſten Farben ſchilderte, vergebens daß ſie dem alten Mann mit dem Aeußerſten drohte, ihm drohte, daß er nur zu wählen habe zwiſchen ſeiner treuen Gattin und ſeiner ungehorſamen Tochter, daß ſie in ihrem eigenen Hauſe nicht die Schmach erleben wolle, ihr eigen Kind über ſich triumphiren zu ſehen der alte Herr behauptete die einmal eingenommene Poſition mit einer zähen Hartnäckigkeit: Helene ſei nicht ſchlecht, ſie habe ſich in ihrer Heftigkeit vergeſſen können, aber ſie ſei nicht ſchlecht; ſie werde die Mutter um Verzeihung bitten, wenn ſie dieſelbe beleidigt habe; aber geſetzt, ſie ſei nicht ſo gut, wie er glaube, ge¬ ſetzt, ſie habe ſich gegen ihre Mutter vergangen, ſo ſei das doch immer kein Grund, ſie in eine ihr ver¬ haßte Ehe zu zwingen. Alles, was die Baronin erlangen konnte, war, daß, wenn Helene ſich nicht nachgiebig zeigen ſollte, ſie das elterliche Haus auf einige Zeit verlaſſen müſſe. Der Baron willigte dar¬ ein, weil er dieſe Trennung für das beſte Mittel hielt, Mutter und Tochter wieder zuſammen zu brin¬ gen, wenn ſich die Leidenſcheft nur erſt auf beiden220 Seiten ein wenig gelegt haben würde; und er hatte nichts dagegen, daß man Helene nach Grünwald an¬ ſtatt nach Hamburg ſchicke, da er ſo viel öfter Gele¬ genheit hatte, ſeine Tochter zu ſehen, und er über¬ haupt in der Stille die ganze Maßregel für ein Pro¬ viſorium hielt, deſſen vermuthlich ſehr kurze Dauer die lange Reiſe nach Hamburg gar nicht verlohne. Anna-Maria ihrerſeits mußte ſich nothgedrungen mit dieſem Reſultate zufrieden geben, um ſo mehr, als ſie fürchten mußte, daß Helene, wenn man ſie zum Aeußerſten treibe, die fatale Angelegenheit mit dem Briefe zur Sprache bringen werde. Dieſer Gedanke hatte ſie überhaupt in der ganzen Unterredung weniger energiſch erſcheinen laſſen, als wol ſonſt ihre Gewohn¬ heit war. Das böſe Gewiſſen hatte ſie feig gemacht und dieſe Feigheit dem Baron ſeinen Sieg weſentlich erleichtert. Er küßte ſeine Gemahlin auf die Stirn, wie er es nach einer Scene größerer oder kleinerer Uneinigkeit ſtets zu thun pflegte, dankte ihr für ihre Bereitwilligkeit, ſich ſeinen Anſichten und Wünſchen zu accommodiren, und ſprach die Hoffnung aus, daß in kurzer Zeit der geſtörte Familienfrieden vollkommen wieder hergeſtellt ſein werde.

Es drückt mir das Herz ab, wenn ich ſehe, daß die, welche ich am meiſten liebe auf Erden, unter ſich221 uneins ſind; ſagte der gute alte Mann und die Thränen ſtanden ihm in den Augen. Ich habe Gott alle dieſe Tage gebeten, er möge mich erleuchten, daß ich in dieſer Sache das Rechte thue, wie ich es denn gern in allen Dingen thäte. Es thut mir weh, wenn ich Dich gekränkt haben ſollte, liebe Anna-Maria, denn ich weiß, zu welcher Dankbarkeit ich Dir ver¬ pflichtet bin; aber ich habe auch Pflichten gegen meine Tochter und darf nicht zugeben, daß Du ſie mit dem beſten Willen von der Welt unglücklich machſt. Gott weiß, daß ich nur euer Aller Beſtes will; und nun, liebe Anna-Maria, laß uns zu Tiſch gehen, denn, wenn ich nicht irre, hat Johann ſchon zweimal gerufen.

Die Baronin ſollte heute nicht zur Ruhe kommen.

Das melancholiſche Mittagsmahl, an welchem weder Oswald, der Bruno nicht verlaſſen wollte, noch Helene, die ſich mit Kopfſchmerzen entſchuldigen ließ, Theil genommen hatten, war vorüber und der Baron eben fortgegangen, um ſich mit Helenen auszuſprechen und ſich nach Bruno's Befinden zu erkundigen. Die Baronin war mit Felix allein geblieben und jetzt in der äußerſt peinlichen Lage, ihm ſagen zu müſſen, daß ihr gemeinſames Project an dem hartnäckigen Wider¬ ſtand Helenen's und der Unbeugſamkeit des Barons geſcheitert ſei. Und das ſollte ſie eingeſtehen, ſie, die222 ſich ſo viel auf die unbeſchränkte Herrſchaft, welche ſie über ihren Gemahl, über alle ihr Näherſtehenden ausübte, zu gute that; ſie, die dieſe ganze Unterhand¬ lung nicht nur geleitet, ſondern auch den erſten Im¬ puls dazu gegeben, Felix zuerſt den Vorſchlag gemacht, Felix die Bedingungen geſtellt hatte Bedingungen, denen jener zum Theil ſchon nachgekommen war! ... Es war eine ſchwere Aufgabe für die ſelbſtiſche, herrſchſüchtige Frau!

Wie bereute ſie es jetzt, den Brief unterſchlagen zu haben! Sie hatte nicht viel mehr daraus gelernt, als was ſie nicht ſo ſchon wußte, und wie viel hatte ſie ſich vergeben! Sie durfte jetzt nicht mit voller Strenge gegen Helenen auftreten; durfte ihre unkind¬ liche Geſinnung , ihre lächerliche Bevorzugung um die Sache nicht ſchlimmer zu bezeichnen dieſes Stein dem Baron gegenüber nicht zu ſehr hervor¬ heben. Sie wußte, daß er beſonders in ſeiner jetzigen Stimmung einen ſolchen Vertrauensbruch niemals ſanctioniren würde. Ja ſelbſt gegen Felix, ihren Vertrauten, durfte ſie nicht ganz offen ſein. Sie mußte ihm ſagen, daß ſie die Schlacht verloren habe, und hatte nicht einmal den Troſt, ihm beweiſen zu können, daß es nur durch einen unglücklichen Zu¬ fall geſchehen ſei.

223

So mußte alſo der bittre Kelch geleert werden. Felix traute ſeinen Ohren kaum. Er, Felix von Gren¬ witz, ausgeſchlagen, zurückgewieſen, mit Verachtung behandelt in dem einen Fall, wo er wirklich ernſte Abſichten gehabt hatte? von einem Mädchen, das eben aus der Penſion kam? und möglicherweiſe wem ge¬ opfert? einem obſcuren Menſchen, deſſen ganzes Ver¬ dienſt darin beſtand, beinahe wie ein Gentleman aus¬ zuſehen? Felix that, als ob der Untergang der Welt durch dieſe Zeichen verkündet ſei. Und Helenen zu verlieren darüber würde ſich Felix noch zur Noth getröſtet haben; aber auch die Ausſichten auf Bezah¬ lung ſeiner Schulden, oder genauer auf eine ſo we¬ ſentliche Erhöhung ſeines Credits das war das Schlimmſte, das, worüber ein Mann wie Felix nicht ſo leicht hinwegkam. Helenen's Ausſteuer, die Summe, welche ihm ſein Onkel vorſchießen wollte, den zu Grunde gewirthſchafteten Gütern wieder aufzuhelfen, nein! ſo konnte man nicht mit ihm ſpielen wollen. Er hatte Alles gethan, was in ſeinen Kräften ſtand, er hatte ſeinen Abſchied genommen (nehmen müſſen, wäre richtiger geweſen); er war von der Baronin autoriſirt worden, vor der Geſellſchaft ſeine Bewer¬ bung um Helene nicht zu verſchweigen jetzt war Dienſt, Braut, Ehre Alles verloren.

224

Ich werde mir eine Kugel durch den Kopf jagen! rief Felix pathetiſch.

Die Baronin ſuchte den Aufgeregten zu beruhigen und es gelang ihr, nachdem ſie ihm die feierliche Ver¬ ſicherung gegeben, daß trotz der Erfolgloſigkeit ſeiner Bewerbung die übrigen Verabredungen nicht rückgängig gemacht werden ſollten.

Nachdem ſie ſich über dieſen äußerſt wichtigen Punkt geeinigt, konnten ſie mit größerer Ruhe über einige andre ſprechen, vor allem über den eigentlichen Grund von Helenen's Weigerung. Zu Felix 'nicht geringem Erſtaunen behauptete die Baronin heute ge¬ radezu, daß ein geheimes Liebesverhältniß zwiſchen Oswald und Helene beſtehe. Sie wollte nicht ſagen, was ſie veranlaßte, eine frühere Vermuthung jetzt für Gewißheit auszugeben; aber ſie blieb bei ihrer Be¬ hauptung, bis Felix zugab, daß die Sache freilich lächerlich, aber doch nicht geradezu unmöglich ſei. Der Menſch iſt ein ſchlauer Intriguant, ſagte er. Timm hat mich gleich im Anfang vor ihm gewarnt; ich habe nicht viel darauf gegeben, weil die Beiden auf einem ſehr guten Fuß zu ſtehen ſcheinen. Indeſſen, ich ſehe doch ein, Timm hat in dieſem Falle Recht gehabt.

In dieſem Augenblick wurde der Baronin ein er¬ preſſer Brief aus Grünwald eingehändigt.

225

Von Herrn Timm, ſagte ſie erſtaunt, den Brief erbrechend; ich bin doch neugierig, was mir der zu ſchreiben hat. Er hat doch ſein Geld richtig erhalten. Entſchuldigen Sie, lieber Felix.

Das Erſtaunen, die Beſtürzung, der Schrecken, welche ſich, während die Baronin las, auf ihrem Ge¬ ſicht malten, waren ſo ausgeprägt, daß Felix nicht umhin konnte, zu ſagen:

Aber Tante, was haben Sie? Sie ſind ja wie die Wand ſo weiß geworden?

Oh, es iſt ſchändlich! ſagte die Baronin: es iſt ſchändlich! dieſe Buben! es iſt eine abgekartete Sache! ein gemeines Complot! dieſe Buben!

Aber, um Himmelswillen, was giebt es denn? rief Felix.

Hier, leſen Sie! ſagte die Baronin, ihm mit zitternder Hand den Brief hinhaltend. Wie finden

Sie das? Leſen Sie laut! Das Ding iſt ſo amüſant, daß man es wol zweimal hören kann.

Felix nahm den Brief und las:

Gnädige Frau! Es iſt nicht meine Schuld, wenn

Ihnen der Inhalt dieſes Schreibens mißfallen ſollte.

Sie wiſſen, mit wie großer Verehrung ich an Ihnen und Ihrer ganzen Familie hänge, mit welchem Eifer ich Ihnen ſtets meine geringen Dienſte gewidmet habe,F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 15226wie dankbar ich für die liebenswürdige Gaſtfreund¬ ſchaft, die Sie mir ſtets und beſonders in den letzten, ſo glücklich verlebten Tagen bewieſen haben, geweſen bin. Wenn ich daher etwas ſage oder thue, was mit dieſen Gefühlen im Widerſpruch zu ſtehen ſcheint, ſo können Sie mit Beſtimmtheit annehmen, daß dieſer Widerſpruch eben nur ſcheinbar iſt, und daß mich ein höheres Princip als perſönliche Freundſchaft und individuelle Hochachtung zum Handeln zwingt: nämlich die Achtung vor der Gerechtigkeit, die wir Allen ſchuldig ſind.

Dieſes mir inwohnende Rechtlichkeitsgefühl aber (ein Erbſtück ohne Zweifel meines ſeligen Vaters) will, daß ich Ihnen eine höchſt eigenthümliche Ent¬ deckung, die ich in dieſen Tagen gemacht habe, und die für Sie von einer gewiſſen Bedeutung ſein dürfte, nicht einen Augenblick länger vorenthalte.

Sie wiſſen, daß mein verſtorbener Vater die Stellung eines Advocaten in Grünwald bekleidete, daß ſeine Praxis eben ſo groß war, wie der Ruf ſeiner Rechtlichkeit, Gewiſſenhaftigkeit und Klugheit, und daß die angeſehenſten Familien des Landes zu ſeiner Clientel gehörten. Unter andern ſtand er auch mit dem verſtorbenen Herrn Baron Harald von Gren¬ witz in ſteter Geſchäftsverbindung, aus der ſich, wie227 mir mein ſeliger Vater oft erzählt hat, wenn er auf vergangene Zeiten zu ſprechen kam, eine Art von Freundſchaft entwickelte. Wenigſtens behauptete mein Vater, daß der verſtorbene Baron ihn ſelbſt in den delicateſten Familienangelegenheiten wiederholt con¬ ſultirt habe. Die Wahrheit dieſer Behauptung wird beſtätigt durch die Entdeckung, von der ich eben ſpreche.

Sie beſteht in der ganz zufälligen Auffindung meh¬ rer Bündel Briefe und Papiere, die ſämmtlich dem Herrn Baron Harald gehörten und die dieſer meinem Vater zu einem Zwecke, der nicht angegeben (denn es befindet ſich dabei keine Erläuterung weder von der Hand meines Vaters, noch der des Barons) über¬ macht hat. Aller Wahrſcheinlichkeit nach ſollten ſie meinem Vater dienen, ihm die Auffindung jenes Kin¬ des, welchem der Herr Baron in dem Codicill ſeines Teſtaments das bewußte Legat ausſetzte, zu erleichtern oder überhaupt möglich zu machen. So viel wenig¬ ſtens ſteht feſt, daß eine ſolche Recherche nur mit Hülfe dieſer Briefe und Papiere angeſtellt werden und zu einem glücklichen Reſultat gebracht werden kann. Auch bin ich überzeugt, daß nur ſein plötzlicher Tod meinen Vater verhindert hat, dieſes Reſultat herbeizuführen, und daß ein geſchickter Juriſt noch zu15 *228jeder Zeit die Fäden, welche der Hand meines Vaters entfielen, wieder aufnehmen könnte.

Die Schriftſtücke ſind a. ein Bündel Briefe einer gewiſſen Mademoiſelle Marie Montbert an Baron Harald von Grenwitz; b. ein dito des Herrn Barons an Mademoiſelle Montbert; c. mehre Briefe eines gewiſſen Monſieur d'Eſtein an Mademoiſelle Montbert; d. verſchiedene Familienpapiere der Mademoiſelle Mont¬ bert; e. eine vollſtändige Abſchrift des von dem Herrn Baron Harald hinterlaſſenen Teſtaments, nebſt dem Codicill, in welchem, wie Ihnen bekannt iſt, nicht nur die Bedingungen angegeben ſind, welche der Herr Erblaſſer an die Auslieferung des Legats geknüpft hat, ſondern auch die Mittel und Wege, welche am wahrſcheinlichſten zu einer Entdeckung des zu jener Zeit noch ungeborenen Kindes reſp. deſſen Mutter führen könnten. Sie wiſſen, daß in dieſem Erläute¬ rungsbericht die Namen der Mademoiſelle Montbert und des Monſieur d'Eſtein vorkommen und es ver¬ ſteht ſich von ſelbſt, daß die genannten Perſonen mit denen, welche jene Briefe ſchrieben, identiſch ſind.

Bis hierher hat Alles, was ich Ihnen berichtete, für den Unbefangenen und Unbeteiligten wenigſtens, nichts beſonders Ueberraſchendes. Was ich Ihnen aber jetzt zu ſagen habe, iſt ſo außerordentlich, daß229 ich um die Erlaubniß bitten muß, Ihnen darüber mündlichen Bericht erſtatten zu dürfen. Ich will nur ſo viel andeuten, daß in den Briefen des Mr. d'Eſtein der Name vorkommt, welchen dieſer Herr, nachdem er die Flucht der Mademoiſelle Montbert von Gren¬ witz bewerkſtelligt haben würde, für die Zukunft an¬ nehmen zu wollen erklärt, und daß dieſer Name (Sie brauchen nur das d' und das E. wegzulaſſen) mit dem Namen eines Herrn, welcher ſeit einiger Zeit in Ihrer Familie lebt, übereinſtimmt. Ich füge hinzu, wie ich für mein Theil von der Identität dieſer Per¬ ſon mit dem noch immer unbekannten Erben von Stantow und Bärwalde (beſonders auch in Folge von Mittheilungen, welche mir die bewußte Perſon über ihre Familienverhältniſſe und früheſten Erinne¬ rungen machte) durchaus überzeugt bin.

Doch iſt dieſe meine individuelle Ueberzeugung natürlich noch immer nicht beweiſend, und ich nehme daher Anſtand, ſie, wie ich wol müßte, der bewußten Perſon mitzutheilen, um nicht Hoffnungen in ihr zu erregen, die ja doch möglicherweiſe nicht realiſirt wer¬ den könnten.

Ich breche hier ab, um meinem mündlichen Referat (kommen Sie vielleicht in nächſter Zeit nach Grünwald? oder befehlen Sie, daß ich Sie in Grenwitz beſuche?)230 nicht zuviel vorweg zu nehmen und dem Papiere nicht unnöthigerweiſe noch mehr anzuvertrauen.

Genehmigen Sie, gnädige Frau, den Ausdruck u. ſ. w.

Hier iſt noch ein Verte! ſagte Felix, das Blatt umwendend:

P. S. Ich habe die Abſicht, ſämmtliche Papiere, da ſie mir in meiner Wohnung nicht ſicher genug ver¬ wahrt ſcheinen, einem Advocaten zu übergeben, im Falle Sie nicht (was aber ſchleunigſt geſchehen müßte) anders darüber verfügen ſollten.

Ha, ha, ha! lachte Felix, da ſchaut der Fuchs zum Loch heraus! Im Falle Sie nicht anders dar¬ über verfügen ſollten, unterſtrichen; d. h. haben Sie die Güte, mir die Summe zu nennen, welche Sie für dieſe Papiere zahlen zu können glauben, und die Sache bleibt unter uns. Ha, ha, ha! ja, ja! der Timm iſt ein geriebener Burſche, das habe ich ſchon vor heute gewußt!

Alſo glauben Sie, daß er wirklich dieſe Papiere gefunden hat? fragte die Baronin erſtaunt.

Warum nicht? ſagte Felix; ich finde das Ding äußerſt wahrſcheinlich, und rathe Ihnen, ſich die Papiere in aller Eile zu kaufen, ehe ſie im Preiſe ſteigen.

Und glauben Sie auch, daß dieſer daß dieſer231 Menſch ich kann es kaum über die Lippen bringen, daß dieſer Stein wirklich Harald's Sohn iſt?

Möglich iſt es immer; ſagte Felix.

Nein, es iſt nicht möglich, rief die Baronin mit großer Heftigkeit; es iſt Alles ein hölliſcher Lug und Trug, ein abgekartetes Spiel zwiſchen den beiden Gaunern. Die Briefe ſind gefälſcht, ſind von Beiden, während ſie hier die Köpfe zuſammenſteckten, geſchmie¬ det und geſchrieben worden. Es iſt eine pure Erfin¬ dung, uns einen Schrecken einzujagen und Geld ab¬ zuſchwindeln oder gar! ha! jetzt hab ich's! Sehen Sie denn nicht, Felix, wo das Alles hinaus will? auf Helene haben ſie es abgeſehen! dem Einen Geld, dem Andern das Mädchen! ha, ha, ha! trefflich, trefflich! ſchade, daß Helene nicht auch darüber an Mary Burton geſchrieben hat, denn ich wette: ſie iſt mit im Complott! Aber nichts ſollen ſie haben! nichts, nichts! nicht einen Thaler keinen Groſchen!

Nehmen Sie die Sache nicht zu leicht, Tante! ſagte Felix. Timm iſt ein ſehr gewitzter Burſche, und wenn die Briefe wirklich gefälſcht ſind, ſo können Sie ſich darauf verlaſſen, daß es keine Stümperarbeit iſt, und uns ſehr viel zu ſchaffen machen kann. Wollen Sie meinen Rath hören?

Nun?

232

Laſſen Sie mich morgen, oder wann es iſt, nach Grünwald gehen und mit Timm ſprechen. Ich habe in früheren Zeiten ſchon manche abſonderliche Unter¬ handlungen mit ihm geführt; er weiß, daß er mir kein X für ein U machen kann. Ohne Geld kommen wir freilich nicht los; aber ich kriege die Papiere billiger, als Sie, oder ein Anderer.

Und was ſoll mit Herrn Stein geſchehen?

Den jagen wir mit Schimpf und Schande fort. Wollen Sie mir auch dies Geſchäft überlaſſen?

Ja; thun Sie, was Sie wollen, aber befreien Sie mich von dieſem Menſchen!

Ich will es ſchon machen. Es findet ſich heute Abend ſchon eine Gelegenheit. Mit mehr Eclat es geſchieht, deſto beſſer. Es ſoll ihm ſchon die Luſt vergehen, mit uns noch einmal anzubinden. Sie wer¬ den doch dem Onkel nichts von alle dem ſagen.

Um Himmelswillen nicht! rief die Baronin. Er wäre im Stande, heute noch Herrn Stein als unſern lieben Verwandten der Geſellſchaft vorzuſtellen. Er iſt ja ſchon beinahe kindiſch; ich kann mich von heute an in nichts mehr auf ihn verlaſſen.

Nun denn! ſagte Felix, ſeiner Tante die Hand küſſend; ſo verlaſſen Sie ſich auf mich. Wir wollen233 die Sache ſchon glücklich zu Ende bringen. Aber ich glaube, liebe Tante, es iſt die höchſte Zeit, daß wir Toilette machen. Um Himmelswillen! fünf Uhr ſchon, und um ſechs fängt die Geſellſchaft an wie ſoll ich in einer Stunde fertig werden!

[234]

Vierzehntes Kapitel.

Wagen auf Wagen rollten durch das große Thor auf den Schloßplatz, und hielten vor dem Portale ſtill. Geputzte Damen und Herren ſtiegen aus und wurden von den Dienern vorläufig in die Garderobe¬ zimmer gewieſen, um einige Minuten ſpäter in der weitgeöffneten Flügelthür, die in die Geſellſchafts¬ räume im Erdgeſchoß führte, von dem alten Baron und Felix empfangen zu werden.

Nach und nach verſammelte ſich ſo ziemlich der geſammte Adel der Umgegend. Schon die glänzen¬ den Equipagen, in welchen man heute gekommen war die meiſten waren mit vier, einige ſogar mit ſechs herrlichen Pferden beſpannt, Vorreiter in allen mög¬ lichen bunten Livreen nicht zu vergeſſen noch mehr aber der gewählte Anzug der Herren, die glänzende Toilette der Damen bewieſen, daß man ſich auf ein Feſt im größeſten Styl vorbereitet hatte. Man glaubte235 auch mit ziemlicher Gewißheit angeben zu können, um was es ſich heute eigentlich handelte; hatten doch die Baronin und Felix es an Hindeutungen auf ein Er¬ eigniß, das möglicherweiſe in nicht allzu langer Zeit eintreten könnte, keineswegs fehlen laſſen! Die Baro¬ nin und Felix hatten ſich durch dieſe voreiligen An¬ ſpielungen, wie es ſchien, einen ſchlimmen Tag be¬ reitet, und ſollten jetzt die Erfahrung machen, daß es viel leichter iſt, den Mund der Fama zum Reden als zum Schweigen zu bringen. Sie hatten alle Mühe, die bedeutungsvollen Mienen der Beſcheidneren, die zarten Andeutungen der Neugierigen, die directen Fragen der Zudringlichen zu überſehen, zu überhören, ausweichend zu beantworten, und bei dieſem Fegefeuer doch noch die offizielle geſellſchaftliche Freundlichkeit und Höflichkeit zu bewahren. Die Geſellſchaft ſchien im allgemeinen entſchloſſen, an dem Glauben einer Ver¬ lobung zwiſchen Felix und Helene feſthalten zu wollen, und vertröſtete ſich auf die Abendtafel, wo man ja doch endlich mit der Wahrheit hervortreten werde. Nur einige wenige Scharfſinnigere wollten aus ge¬ wiſſen Anzeichen ſchließen, daß die Ausſicht auf das bewußte Ende doch wohl nicht ganz ſo ungetrübt ſei, wie die Meiſten anzunehmen ſchienen. Sie machten da¬ rauf aufmerkſam, daß das Benehmen der Baronin236 heute um vieles förmlicher ſei, wie gewöhnlich, ja in manchen Augenblicken gradezu verlegen; daß der alte Baron außerordentlich zerſtreut ſei, und keineswegs den Eindruck eines glücklichen Familienvaters mache und was das Brautpaar ſelbſt betreffe, ſo ſei es doch zum mindeſten auffallend, daß Baron Felix ſich un¬ ausgeſetzt in großer Entfernung von ſeiner Couſine halte, und Fräulein Helene, obgleich ſie ſich nie durch große Lebhaftigkeit auszeichne, heute doch offenbar mehr wie eine ſchöne, kalte Marmorſtatue, als ein junges Mädchen an ihrem Verlobungstage aus¬ ſehe.

Die Aufmerkſamkeit der Geſellſchaft wurde für einige Zeit von dieſem geheimnißvollen Brautpaare abgelenkt, als jetzt, nachdem die ganze Geſellſchaft faſt verſammelt war, ein wirkliches Brautpaar erſchien, deſſen Verlobung in den letzten Tagen eine ſo unge¬ meine Senſation erregt hatte: Fräulein Emilie von Breeſen an dem Arme Arthur's von Cloten. Das junge Paar hatte zwar ſchon die üblichen Viſiten ge¬ macht; aber die Nachbarſchaft war groß. Zu Einigen hatte man beim beſten Willen noch nicht kommen können, Andere hatte man zu ſeinem größten Be¬ dauern nicht zu Hauſe getroffen es gab noch eine Menge Gratulationen in Empfang zu nehmen und237 zu erwiedern. Fräulein von Breeſen, Herr von Cloten bildeten bald den Gegenſtand und Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerkſamkeit hier im Kreiſe der Damen, dort im Kreiſe der Herren. Herr von Cloten ſchien überglücklich; er lachte und ſchwatzte unaufhör¬ lich, und es ſchien ein halbes Wunder, daß von ſei¬ nem kleinen blonden Schnurrbart auch nur ein ein¬ ziges Härchen übrig geblieben war ſo unausgeſetzt wirbelte und drehte er denſelben durch die Finger. Fräulein Emilie ſchien ihr Glück mit größerer Ge¬ laſſenheit zu tragen; ja jene Minorität der Scharf¬ ſichtigen wollte eine trübe Wolke auf ihrer Stirn be¬ merken, ſo viel Mühe ſich auch ihr reizender Mund gab, freundlich zu lächeln, und behauptete, daß ihr Auge oft ruhelos über die Geſellſchaft ſchweife, ohne auf ihrem glücklichen Bräutigam auch nur einen Mo¬ ment zu verweilen.

Es gab heute überreichen Stoff zu pikanten Klat¬ ſchereien.

Das Verhältniß von Cloten's zu der ebenſo lie¬ benswürdigen, wie gefährlichen Hortenſe von Barne¬ witz war in dieſer Geſellſchaft, in welcher es von Ge¬ ſchichtenträgern und Geberdeſpähern wimmelte, durch¬ aus kein Geheimniß geblieben, und die letzte große Geſellſchaft in Barnewitz, auf welcher es zwiſchen238 Cloten und dem Gemahl Hortenſe's zu einer ſo un¬ erquicklichen Scene kam und dieſe letztere die Unvor¬ ſichtigkeit beging, gerade in dieſem Augenblick in Ohn¬ macht zu fallen, hatte den letzten dünnen Schleier von dieſem Verhältniß fortgezogen. Nun war man äu¬ ßerſt neugierig, zu beobachten, wie ſich Hortenſe in ihren Verluſt ſchicken werde, und vor allem, ausfin¬ dig zu machen, wen die blonde Menſchenfiſcherin zum glücklichen Nachfolger ihres treuloſen Galan erkoren habe. Die Einen riethen auf den jungen Grafen Grieben, die Andern auf Adolf von Breeſen. Beide bewarben ſich eifrig um die gefährliche Gunſt der Circe. Für Jenen ſprach der Umſtand, daß er ein verſchmähter Bewerber der koketten Emilie war, und als ſolcher ganz beſonders zum Nachfolger Cloten's ſich zu qualificiren ſchien; für dieſen, daß er bei wei¬ tem der Hübſcheſte, Gewandteſte und Kühnſte der ganzen Schaar war lauter Eigenſchaften, welche die kluge Hortenſe ſehr wohl zu ſchätzen wußte.

Ich parire auf Grieben, ſagte der junge Sy¬ low; zwölf Flaſchen Champagner! wer hält?

Ich! rief von Nadelitz; pah! da müßte ich Breeſen nicht kennen.

Sechs Flaſchen Reugeld bis zum Cotillon heute Abend?

239

Ha, ha! hört Ihr's? Er verliert die Courage ſchon; aber angenommen; angenommen!

Wirklich ein famoſes Weib, die Barnewitz! ſagte Hans von Plüggen; ich wollte, ich ſtände auch auf der Candidatenliſte.

Nun zu der Ehre iſt leicht zu gelangen; meinte ein Andrer.

Ich weiß nicht, was Ihr an der Barnewitz fin¬ det; ſagte von Sylow. Da iſt doch die Berkow eine ganz andre Erſcheinung. Ich wollte die Berkow wäre hier.

Das wollten wohl noch Mehre! lachte Einer; aber Ihr wißt doch, daß Berkow todt und Melitta ſeit vorgeſtern zurück iſt?

Eine alte Neuigkeit.

Auch daß ſie ſich in Kurzem mit Oldenburg ver¬ loben wird.

Unſinn!

Ihr könnt Euch d'rauf verlaſſen; ich habe es von der Barnewitz. Die wird es doch wohl wiſſen.

Kommt denn Oldenburg heute nicht?

Ich hörte von Felix, daß er zugeſagt habe; aber Oldenburg hat ja ſeine beſondern Gewohn¬ heiten.

Melitta's Rückkehr und der Tod Herrn von240 Berkow's wurde nichts blos im Kreiſe der Jüngeren lebhaft debattirt. Melitta war eine der gefeiertſten Damen der Geſellſchaft und hatte trotzdem merk¬ würdigerweiſe wenig Neider und Feinde. Hin und wieder zwar wurde ihr ein etwas excentriſches Weſen, eine Neigung zum Beſondern, Ungewöhnlichen zum Vorwurf gemacht; dieſer meinte, ſie ſei ihm zu ge¬ bildet; jener, ſie kokettire mit dem Liberalismus aber im Allgemeinen wurde ihre Liebenswürdigkeit, ihre Gutmüthigkeit und Anſpruchsloſigkeit doch willig anerkannt; abgeſehen davon, daß der Zauber ihrer Erſcheinung über allen Widerſpruch erhaben war. Man freute ſich, daß ſie endlich von dem Alp, der ſo lange auf ihrem Herzen gelaſtet, erlöſt ſei und war äußerſt begierig zu wiſſen, wen ſie demnächſt mit ih¬ rer Hand beglücken werde. Denn daß eine ſo junge, lebensluſtige Frau jetzt, da ſie ſich wieder frei fühlen konnte, nicht lange unvermählt bleiben könne, ſchien unzweifelhaft. In der allerletzten Zeit war, man wußte nicht recht durch wen? das Gerücht verbreitet worden, Baron Oldenburg habe bei weitem die mei¬ ſten Ausſichten; ja, ganz unter der Hand, und als ein bloßes on dit, das man mittheilte, ohne ſich für die Wahrheit deſſelben verbürgen zu wollen, ja, ohne nur ſelbſt daran zu glauben, erzählte man ſich, eine241 Intimität zwiſchen dem Baron und Melitta habe von jeher beſtanden, und Herr von Berkow habe zu ſehr gelegener Zeit den Verſtand verloren. Man trug ſich ſogar mit gewiſſen Details aus der Geſchichte dieſes geheimnißvollen Verhältniſſes, die, wenn ſie begründet waren, den Ruf Melitta's einigermaßen compromit¬ tiren mußten. Man wußte nicht, von wem dieſe Ge¬ rüchte ausgegangen waren. Die ſcharfſichtige Mino¬ rität meinte: von Hortenſe Barnewitz, und das Ganze ſei eine Rache an Oldenburg für einen gewiſſen guten Rath, den er ſeinem Freunde Cloten vor einiger Zeit gegeben, und Cloten ſo blindlings befolgt habe, daß er ſich, als er die Augen aufthat, zu den Füßen Emi¬ liens von Breeſen wieder fand.

Unterdeſſen war die achte Stunde, in welcher der Ball beginnen ſollte, herbeigekommen. Die Baronin eröffnete denſelben an der Hand des Grafen Grieben. Graf Grieben hatte trotz des ſchmetternden Kreiſchens ſeiner Stimme alle Mühe die Muſik zu überſchreien, die auf ſeinen ſpeciellen Wunſch voraufging, da er auf den geiſtreichen Einfall gekommen war, die lange Reihe der tanzenden Paare nicht nur durch die Säle des Schloſſes, ſondern auch um den großen Raſen¬ platz und weiter in die dichteſten Theile des Gartens hinein und aus demſelben wieder zurück in den Ball¬F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 16242ſaal zu führen, wo er die Polonaiſe mit einem feier¬ lich langſamen Walzer ſchloß.

Das iſt ſo gute alte Sitte, gnä'ge Frau! kreiſchte er vergnügt der Baronin ins Ohr; mein Vater ſelig hielt's ſo und mein Großvater ſelig. Die Alten kannten den Rummel. Jugend hat keine Tugend. Meinen's nicht auch, gnä'ge Frau?

Ja wohl, ja wohl! ſagte die Baronin.

Tanz reihte ſich an Tanz. Die Geigen quinqui¬ lirten, der Baß brummte dazwiſchen. Die Geſichter der Tänzer fingen an ſich zu erhitzen; die Damen begannen ihre Fächer häufiger zu benutzen; die Die¬ ner, welche in den Pauſen mit Erfriſchungen umher¬ gingen, ſahen die Präſentirbretter immer ſchneller geleert aber die rechte Luſt wollte ſich doch nicht entzünden; es war, als ob ein Schleier über der Ge¬ ſellſchaft hing.

Weiß der Teufel, was das heute iſt, ſagte der junge Grieben, ſich die Stirn wiſchend, in einer der Pauſen an eine Gruppe von Tänzern, die mitten im Saal ſtand, herantretend; man tanzt ſich faſt die Beine ab, aber es geht nicht; man kommt nicht in Zug.

Nun, Sie können lange tanzen, bis Sie Ihre langen Beine abgetanzt haben, ſagte von Sylow,243 aber Sie haben Recht; ich habe ſchon ein paar Flaſchen getrunken, aber je mehr ich trinke, je melan¬ choliſcher werde ich.

Mir geht es ebenſo; ſagte ein Dritter; ich weiß nicht, woran es liegt; der Ball in Barnewitz neulich war viel vergnügter.

Woran es liegt? ſagte von Breeſen. Nun, ich dächte, das wäre klar genug. Der alte Baron ſieht aus wie ein Hahn, wenn's regnet; die Baronin, wie eine entthronte Hekuba heißt ja wohl Hekuba? Felix fängt mit Jedem Händel an, der in ſeine Nähe kommt und Fräulein Helene hat, glaube ich, den ganzen Abend noch nicht drei Worte geſprochen. Und dabei ſoll ein Menſch vergnügt ſein? Mir iſt, als ob eine Leiche im Haus wäre.

Nun, einen Kranken zum wenigſten giebt's; ſagte von Plüggen. Der alte Baron erzählte mir's eben: Bruno liegt ſchon ſeit geſtern zu Bett.

Deshalb iſt auch wohl der Doctor Stein nicht unten; ſagte Graf Grieben; ich glaubte, er habe noch ein Exercitium zu corrigiren und werde ſpäter erſcheinen, ha, ha, ha!

Sein Sie ſtill, Grieben; meinte Hans von Plüggen; Sie haben neulich ganz anders über den Doctor geſprochen.

16 *244

Ich habe geſagt, daß er ein verdammter Geck ſei, dem ich bei nächſter Gelegenheit ſeinen Stand¬ punkt klar machen würde, und das ſage ich noch.

Das iſt wörtlich, was auch Felix vorhin ſagte der Doctor ſcheint ja im Allgemeinen recht hübſch bei den Herren angeſchrieben zu ſein.

In deſto höherer Gunſt ſteht er bei den Damen, bemerkte von Nadelitz ironiſch.

Ja wohl; ſagte von Breeſen; er ſoll neulich auf dem Balle drei Schweſtern auf einmal unglücklich gemacht haben.

Wenigſtens haben ſie ſich nicht die Augen aus¬ geweint, wie man ſich von Fräulein von Breeſen erzählt; erwiederte Nadelitz, welchen die Anſpielung Breeſen's auf ſeine drei Schweſtern ärgerte, ziemlich gereizt.

Ich verbitte mir dergleichen! ſagte von Breeſen auffahrend.

Was Einem recht iſt, iſt dem Andern billig.

Ich habe keine Namen genannt.

Weil ohnehin Jeder mußte, wen Sie meinten.

Aber, Ihr Herren, tant de bruit pour une omelette! ſagte Plüggen; ich glaube, Ihr werdet Euch noch dieſes Menſchen wegen in die Haare fahren,245 damit die, welche behaupten, daß er Fortune bei un¬ ſeren Damen mache, doch ja Recht behalten.

Wißt Ihr ſchon das Allerneueſte, ſagte von Cloten, plötzlich ſeinen blonden Schnurrbart in die Gruppe ſteckend.

Nun?

Denkt Euch dieſer Stein doch ſt! da kommt Grenwitz kein Wort, wenn ich bitten darf.

Nun, meine Herren; ſagte Felix; wollen Sie nicht die Güte haben, zum Contretanz anzutreten; ich habe ſchon zweimal das Zeichen geben laſſen.

Felix ſagte das in einem beinahe gereizten Tone. Sein ſonſt nicht gerade blühendes Geſicht war ſtark geröthet. Augenſcheinlich hatte er die Flaſche ſchon mehr als räthlich zugeſprochen.

Als der Tanz zu Ende war, fanden ſich die Herren, welche vorhin durch Felix 'Dazwiſchenkunft in ihrer Unterhaltung geſtört waren, wie auf Verab¬ redung wieder zuſammen.

Nun, wo iſt Cloten mit dem Allerneueſten? ſagte von Sylow.

Hier! ſagte Cloten herantretend. Denkt Euch, dieſer Stein wir ſind doch ganz entre nous?

Ja, ja, nur weiter!

246

Hat die Frechheit, nun rathet einmal mit wem? ein Verhältniß anzuknüpfen

Aber, Cloten, Sie ſind unerträglich! werden Sie endlich einmal mit Ihrer Neuigkeit zu Platz kommen?

Mit Helene Grenwitz; ſagte von Cloten in ei¬ nem hohlen Geiſterton.

Nun, das wäre nicht übel; ſagte von Sylow.

Das ſieht dem Burſchen ähnlich; meinte von Grieben.

Hinc illae lacrimae! lachte Breeſen, bei dem noch einige lateintiſche Brocken von der Schulzeit her haften geblieben waren.

Und was das Schönſte iſt, fuhr Cloten fort; Fräulein Helene hat gar nichts dagegen; au con¬ traire, iſt bis über die Ohren in ihn verſchoſſen. Iſt das nicht allerliebſt?

Von wem haſt Du denn dieſe Mordgeſchichte, Cloten? fragte Adolf von Breeſen.

Aus ſehr guter Quelle; erwiederte Cloten mit einem bedeutungsvollen Zwinkern nach der Gegend des Saales, wo eben Emilie von Breeſen, mit Helene ſprechend, ſtand.

Hm, hm! ſagte Breeſen.

Die Geſchichte iſt nicht unwahrſcheinlich, meinte247 von Sylow. Nun erklärt ſich die Leichenbittermiene, die Grenwitzens heut ohne Ausnahme machen.

Ich ſagte ja gleich, daß hier irgend etwas los ſei; meinte von Breeſen. Es iſt mir übrigens ſehr lieb, daß ich mich mit dem Burſchen nicht tiefer ein¬ gelaſſen habe, wozu ich anfänglich ich geſtehe es offen, wirklich einige Luſt hatte. Der Menſch hat wirklich etwas ungemein Beſtechendes.

Er ſchießt famos; ſagte Sylow nachdenklich.

Famos oder nicht; ſagte Cloten; ich glaube gar, Ihr Herren, wir laſſen uns ſo viel von dem Menſchen gefallen, weil er nicht ſchlecht ſchießt. Nein, Ihr Herren, das geht nicht, geht wahrhaftig nicht! Ich ſchlage vor, wir ſuchen unſern Fehler wieder gut zu machen und behandeln den Menſchen, wenn er ſich wieder unter uns blicken läßt, mit der inſigneſten Ge¬ ringſchätzung wahrhaftig!

Auf Ehre! ſagte von Grieben, Cloten hat Recht. Ich werde den Burſchen das nächſte Mal mit der Reitpeitſche tractiren.

Schade, daß er nicht hier iſt, damit Sie Ihre Drohung gleich in Ausführung bringen können; ſagte von Breeſen ironiſch.

Quand on parle du loup ſagte von Sy¬248 low; da kommt er ja! Und ſein Pylades Oldenburg natürlich bei ihm!

Wirklich zeigten ſich in dieſem Augenblick durch die weitgeöffnete Flügelthür Oswald und Oldenburg in dem Nebenzimmer. Sie ſprachen einige Minuten mit einander; dann trat Oldenburg in den Saal, während Oswald von dem alten Baron draußen feſt¬ gehalten wurde.

[249]

Fünfzehntes Kapitel.

Oswald hatte während des ganzen Tages Bruno's Bett nur auf Augenblicke verlaſſen, nachdem er von jener denkwürdigen Unterredung mit Helene zurückgekommen war. Er hatte in der Pflege des lieben Kranken ſich ſelbſt zu vergeſſen geſucht.

Bruno ſelbſt vergaß ſeine Schmerzen, als ihm Oswald erzählte, er habe Helene geſprochen und den Brief in ihre Hände gelegt; ja er bemerkte nicht ein¬ mal Oswald's bleiches Geſicht und verſtörtes Weſen.

Nun iſt Alles gut, rief er, jetzt weiß ſie, woran ſie iſt. Jetzt können ſie ihr nichts mehr anhaben; jetzt iſt ſie auf ihrer Hut. O, der eine Gedanke ſchon hat mich geſund gemacht.

Leider war das aber nicht der Fall. Die Schmer¬ zen in der Seite ſtellten ſich ſchon nach wenigen Mo¬ menten mit deſto größerer Heftigkeit wieder ein. Os¬ wald hoffte mit Beſtimmtheit, daß Doctor Balthaſar250 ſein Verſprechen halten und im Laufe des Vormittags kommen werde. Aber der Vormittag verging und kein Doctor ließ ſich ſehen. Bruno's Zuſtand wurde nicht ſchlimmer, aber auch nicht beſſer, und Oswald war zu ſehr Laie, um ſich zu ſagen, daß ein Zuſtand, der nicht beſſer wird, ſich eben verſchlimmert. Indeſſen ließ es ihm doch keine Ruhe, bis gegen Mittag, wo der Arzt noch immer nicht gekommen war, ein reitender Bote in die Stadt geſchickt wurde. Der Bote brachte freilich die von Dr. Balthaſar verordnete Einreibung aus der Apotheke mit, meldete aber, daß der Doctor ſelbſt nicht in der Stadt geweſen ſei, und Dr. Braun erſt heute Abend zurückkommen würde. Er ſei ſelbſt in der Wohnung des Letzteren geweſen und habe dem Mädchen geſagt, daß der Herr Doctor, wenn irgend möglich, doch ja noch kommen möchte. Oswald war dem verſtändigen Menſchen, der ſelbſt an Bruno's Krankheit den lebhafteſten Antheil nahm, ſehr dankbar für dieſe Umſicht. Er athmete ordentlich auf, als er hörte, daß Braun, zu dem er ein felſenfeſtes Ver¬ trauen hatte, nicht mehr fern ſei. Unterdeſſen vergaß er nicht, das von dem Collegen deſſelben verſchriebene Mittel anzuwenden, welches indeſſen ſich ohne allen Erfolg zeigte, ſo daß Bruno endlich bat, von dieſer nutzloſen Cur abzuſtehen.

251

So vergingen, eine nach der andern, die langen, langen Stunden, die nur der Kranke kennt, der ſich ruhelos auf ſeinem Lager wälzt, und der, welcher, die Seele voll unausſprechlicher und ach! ſo hülfloſer Angſt, an dieſem Lager ſitzt und auf den Arzt harrt, der nicht kommen, und auf das kleinſte Symptom der Beſſerung, das ſich nicht zeigen will.

Der alte Baron ſchickte einige Mal herauf und ließ ſich nach Bruno's Befinden erkundigen; kam auch am Nachmittage einmal ſelbſt; dankte Oswald mit großer Herzlichkeit für ſeine treue Sorge, klopfte Bruno auf die heißen Wangen und ſagte: wenn er recht bald geſund würde, ſollte er auch das Reitpferd haben, das er ſich ſchon ſo lange gewünſcht hätte.

Es thut mir ſehr leid, ſagte er zu Oswald, als dieſer ihn zur Thür hinaus begleitet hatte, daß ge¬ rade heute die Geſellſchaft ſein muß. Es wäre mir ſchrecklich, denken zu müſſen, daß hier im Schloſſe ein Feſt gegeben wird, während Einer der Meinigen ge¬ fährlich krank liegt.

Oswald ſuchte, ſo gut er es vermochte, den guten alten Herrn zu beruhigen, obgleich ſein eigenes Herz voll ſchwerer Sorge war. Auch wagte er nicht, dem Baron gerade jetzt einen Entſchluß mitzutheilen, der in dieſen letzten Stunden bei ihm zur Reife gekommen war.

252

Es ſtand jetzt für ihn feſt: daß ſeines Bleibens in dieſem Hauſe nicht länger ſein dürfe.

Wie er fürder ohne Bruno würde leben können; wie er ſich von der Seligkeit, Helene'n täglich zu ſehen, würde losſagen können er wußte es nicht. Er wußte nur dies Eine: Du mußt fort.

Das wiederholte er ſich immer, während er Bruno's Kiſſen glättete, Bruno's heiße Hände in die ſeinen nahm, ihm das üppige Haar aus der Stirn ſtrich, ſeine glühenden Lippen netzte. Es war eine frauen¬ hafte Zartheit in dieſen Liebesdienſten.

Wenn meine Mutter lebte, ſie könnte mich nicht beſſer pflegen, ſagte Bruno, ihm dankbar die Hand drückend.

Du haſt Deine Mutter nie gekannt, Bruno.

Kaum, ich war erſt drei Jahre, als ſie ſtarb. Aber von meinem Vater weiß ich noch. Und nun fing der Knabe mit fieberhafter Lebendigkeit an von ſeinem Vater zu erzählen: wie ſchön und groß und ſtark er geweſen ſei, nicht ſo ſchlank wie Du, aber noch breiter in den Schultern, und mit langen dun¬ keln Locken, die ihm bis auf die Schultern wallten, wie der König Harfagar. Und von dem kleinen Gute, hoch oben in Dalekarlien, das der Vater mit noch zwei Knechten ganz allein bewirthſchaftet habe. Und253 wie geſchickt der Vater in Allem geweſen ſei, und wie er die Axt zu führen verſtanden habe, trotzdem er in ſeiner Jugend Page an dem Hofe der Königin ge¬ weſen war und ihr die lange ſeidene Schleppe ge¬ tragen hatte bei den prunkenden Feſten. Und von Thor, dem ſchnellen Traber, den der Vater vor den Schlitten ſpannte, und von den nordiſchen Winter¬ nächten, wenn die Sterne aus dem ſchwarzen Himmel funkelten wie lauter Diamanten, Rubinen und Sma¬ ragden, ſo hell, daß der Schnee in ihrem Scheine glitzerte. Und von dem Nordlicht, wie es plötzlich am Horizont aufflammt und ſeine Feuerarme bis zum Zenith hinaufſtreckt.

Wir müſſen zuſammen einmal nach Schweden reiſen, ſagte er; der Winter hier iſt nur Kinder¬ ſpiel; da ſollſt Du einmal Schnee und Eis zu ſehen bekommen! Hier iſt es heiß, unerträglich heiß ich wollte, ich läge in Eis und Schnee.

Und der Knabe warf ſein Haupt ruhelos auf dem Kiſſen umher und verlangte zu trinken.

Da tönte Muſik herauf aus dem Garten.

Was iſt das? ſagte Bruno, in die Höhe fahrend.

Oswald trat ans Fenſter.

Es iſt die ganze Geſellſchaft, ſagte er, ſie kom¬ men eben zwiſchen den Bäumen heraus. Graf Grie¬254 ben und Deine Tante eröffnen den Zug. Sie wollten hier an unſerem Fenſter vorüber, aber der Baron, der mit der Gräfin Grieben folgt, bedeutet ihnen den an¬ deren Weg einzuſchlagen. Die erſten Paare verſchwin¬ den ſchon wieder; aber immer neue Paare tauchen auf.

Iſt Helene ſchon vorüber? fragte Bruno, ſich in die Höhe ſtemmend.

Nein, noch nicht.

O, daß ich nicht aus dem Bette kann! rief Bruno, von der Anſtrengung und dem heftiger ge¬ wordenen Schmerz ermattet zurückſinkend.

Da iſt ſie!

Doch nicht mit Felix?

Nein, mit einem jungen Mann, den ich noch gar nicht geſehen habe.

Gleichviel, ſagte Bruno; mit Allen, nur nicht mit Felix.

Jetzt ſind die Letzten vorüber; ſagte Oswald, ſich wieder zu Bruno ans Bett ſetzend.

Bruno's Unruhe ſchien durch dieſe directe Erwäh¬ nung Helenens, die Beide, wie auf Verabredung, ſeit dem Morgen vermieden hatten, erhöht. Er fing wie¬ der an von Helene zu ſprechen. Oswald ſollte ihm erzählen, was ſie angehabt, ob ſie ſchön, ſehr ſchön ausgeſehen habe, viel ſchöner als alle übrigen Damen?255 ob ſie gelächelt habe, ob ſie einen Blick nach dem Fen¬ ſter emporgeworfen?

O, könnte ich doch nur aufſtehen! könnte ich ſie doch nur noch einmal ſehen!

Du wirſt ſie ja bald wieder ſehen, Bruno.

Ich weiß es nicht; gerade heute möchte ich ſie nur einmal, nur auf einen Augenblick ſehen. Es iſt mir, als ob ich ihr etwas zu ſagen hätte, was mir das Herz abdrückt. Und dann, wenn ſie den Felix fortſchickt, und ſie wird es thun ſo ſoll ſie ja wie¬ der in die Penſion zurück, und da kann es lange dauern, bis ich ſie wieder ſehe. Aber ich bleibe auch nicht hier, wenn ſie fort iſt. Komm mit, Oswald; wir wollen nach Hamburg. Du biſt ja ſo klug und geſchickt, Du wirſt ſchon irgend eine Beſchäftigung finden und ich auch irgend eine, gleichviel welche, wenn ich nur in ihrer Nähe ſein, ſie nur von Zeit zu Zeit ſehen darf.

Er verfiel in eine Art von Halbſchlaf, aus dem er Plötzlich wieder emporfuhr.

Warum iſt Helene fortgegangen?

Du träumſt, Bruno; ſie iſt nicht hier geweſen.

Auch Tante Berkow nicht?

Nein, Bruno.

Wie deutlich ich Beide geſehen! Sie kamen Hand256 in Hand durch die Thür herein; Helene in weiß, mit einem Kranz von dunkelrothen Roſen im Haar; Tante Berkow in ſchwarz, das Haar, wie ſie es immer trägt. Tante Berkow führte Dir Helene zu, und ihr ſankt euch in die Arme und weintet und küßtet euch; und dann trat Tante Berkow an mein Bett und ſagte: ſo Bruno, nun kannſt Du ſchlafen gehen. Da fielen mir die Augen zu; es wurde Nacht um mich her; ich ſank mit dem Bett tiefer und tiefer und ſchneller und immer ſchneller darüber bin ich vor Schreck auf¬ gewacht.

Fühlſt Du Dich kränker, Bruno? fragte Os¬ wald, den dieſe Phantaſieen beſorgt machten.

Im Gegentheil, erwiederte Bruno; der Schlaf hat mir ſehr wohl gethan. Meine Schmerzen ſind bedeutend geringer; aber ich fühle mich ſehr matt. Ich glaube, ich könnte ſchlafen.

Er legte ſein Haupt auf die Seite; aber ſchon nach wenigen Augenblicken fuhr er wieder auf:

Oswald, willſt Du mir einen recht, recht großen Gefallen thun?

Gewiß! was ſoll ich!

Bitte, zieh Dich an und geh hinunter in die Ge¬ ſellſchaft.

Um alles in der Welt nicht!

257

Bitte, bitte, thu's! thu's mir zu Liebe. Sieh! ich fühle mich ja jetzt viel beſſer und möchte gern ſchlafen und werde auch ſchlafen. Da kannſt Du mir ja doch nicht helfen.

Aber was ſoll ich unten?

Sieh, Oswald, ſagte Bruno; ich möchte doch Helene ſo unbeſchreiblich gern ſehen. Und ich kann nicht auf; ich fühle gar keine Kraft in meinen Glie¬ dern. Wenn nun Du ſie ſiehſt, ſo iſt mir, als hätte ich ſie auch geſehen. Bitte, bitte! geh hinunter! Du brauchſt ja mit Niemand zu ſprechen; nur, wenn es möglich iſt, ſage Helenen, ich ließe viel tauſendmal grüßen und wenn Du das geſagt haſt und ſie hat vielleicht geantwortet: und grüßen Sie Bruno auch von mir! dann komme ſchnell, recht ſchnell wieder, daß Du den Ton, in dem ſie es geſagt hat, nicht ver¬ gißt. Und höre, Oswald, da ich gerade daran denke: es könnte ja doch ſein, daß ich einmal plötzlich ſterbe, nein, lache nicht! ich rede im Ernſt dann gieb nicht zu, daß man mich umkleidet; ich will ſo, wie ich geſtorben bin, in den Sarg gelegt werden. Sieh! Du weißt, daß ich ſtets ein Medaillon auf dem Her¬ zen trage; es iſt von meiner Mutter, aber nicht des¬ halb allein halte ich es ſo heilig! Es iſt eine Locke von Helenens Haar darin, die ich ihr gleich in derF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 17258erſten Zeit einmal im Scherz abgeſchnitten habe. Wenn mir das Medaillon genommen würde ich glaube, ich hätte keine Ruhe im Grabe. Und nun, bitte, geh! es wird ſonſt ſo ſpät!

Oswald wußte nicht, was er thun ſollte. Gab er dem Verlangen des Knaben nicht nach, ſo mußte er fürchten, deſſen fieberhafte Unruhe, die ſich jetzt faſt gänzlich gelegt zu haben ſchien, wieder hervorzurufen. Auf der anderen Seite war ihm der Gedanke, ihn, wenn auch nur auf kurze Zeit, zu verlaſſen, ſehr pein¬ lich. Und doch hätte er auch Helenen ſo gern geſehen nur für einen Augenblick mußte ſich doch in dieſen Stunden Alles entſchieden haben.

Bruno machte ſeinen Zweifeln ein Ende.

Du haſt es mir verſprochen! ſagte er traurig, und nun willſt Du nicht, Du haſt mich nicht lieb!

Was ließ ſich dagegen thun? Oswald ging in das Nebenzimmer, ſein Schlafgemach, und kleidete ſich um. Er hatte ſich wohl noch nie in einer ſolchen Stimmung zu einer Geſellſchaft angekleidet. Das Ganze erſchien ihm eine ſchauerliche Ironie. Er erſchrack, als er ſein bleiches verwüſtetes Geſicht im Spiegel betrachtete. In dieſen letzten Stunden ſchien er um eben ſo viele Jahre gealtert zu ſein.

Er trat wieder an Bruno's Bett.

259

Laß Dich doch einmal betrachten, ſagte der Knabe, ſich halb aufrichtend. Wie ſtattlich Du aus¬ ſiehſt! wie ſchön! küſſe mich, Oswald!

Oswald nahm den Knaben in ſeine Arme und küßte ihn auf die ſchönen, ſtolzen jetzt ach, ſo bleichen Lippen. Dann ließ er ihn ſanft auf das Kiſſen gleiten.

Ich fühle mich ſehr, ſehr wohl; ſagte Bruno; beeile Dich nicht, ich werde, bis Du zurückkommſt, köſtlich ſchlafen.

17*
[260]

Sechszehntes Kapitel.

Auf dem Vorſaal unten begegnete Oswald dem Baron Oldenburg.

Ich hätte große Luſt wieder umzukehren, ſagte Oldenburg nach der erſten, von beiden Seiten ziem¬ lich förmlichen Begrüßung; ich glaubte nicht, daß die Geſellſchaft ſo groß ſei, bin zu Pferde gekommen und, wie Sie ſehen, nicht ganz etiquettemäßig ange¬ putzt. Wer iſt denn Alles da?

Ich komme ſelbſt erſt in dieſem Augenblick von oben? erwiederte Oswald; Bruno iſt ſeit vorgeſtern unwohl; jetzt hat er mich fortgeſchickt, weil er ſchlafen will.

O, das thut mir ja leid, ſagte Oldenburg; der Junge wird hoffentlich nicht ernſtlich krank werden. Sagten Sie mir nicht, daß er ein großer Liebling von Ihnen ſei?

Ja. Haben Sie keine Nachricht von

261

Von meiner Czika? nein.

Oldenburg's Geſicht verdüſterte ſich. Wollen wir eintreten? ſagte er.

In einem der Nebenzimmer zum Ballſaale begeg¬ neten ſie dem alten Baron. Oldenburg ging nach einer kurzen Begrüßung in den Saal, Oswald mußte dem alten Herrn einen ausführlichen Bericht über Bruno's Befinden während der letzten Stunden machen.

Nun, das iſt ja ſchön, recht ſchön, ſagte er, daß wir noch ſo mit einem blauen Auge davonkom¬ men; ich fürchtete ſchon, es würde ein Nervenfieber werden. Gehen Sie doch auch zu meiner Tochter und ſagen ſie ihr: daß es mit Bruno beſſer geht; ſie hat ſich ſchon ein paar Mal nach ihm erkundigt.

Oswald trat in den Saal. Man fing eben wieder einen Tanz an, den letzten vor der großen Pauſe, in welcher in den Sälen oben geſpeiſt werden ſollte. Er blieb in der Nähe der Thür auf dem Tritt des nie¬ drigen Divans, der ſich um den ganzen Saal herum¬ zog, ſtehen. Die Paare der Tanzenden wechſelten; bald kamen dieſe bald jene in ſeine Nähe. Einmal ſtand Emilie von Breeſen, die mit ihrem Bräutigam tanzte, dicht vor ihm. Sie that, als ob ſie ihn nicht bemerkte; ſie lachte und ſcherzte, vielleicht etwas zu262 laut aber es iſt ſchwer, wenn man eine Rolle ſpielt, zu welcher man ſich zwingen muß, die Grenzen nicht zu überſchreiten; von Cloten dagegen machte von dem Vorrecht der Leute in ſeiner Situation, die gleich¬ gültigſten Dinge im Flüſterton mit obligatem bedeu¬ tungsvollen Lächeln in die Ohren zu raunen, den aus¬ gedehnteſten Gebrauch.

Oswald hatte von der plötzlichen Verlobung dieſer Beiden gehört; er wußte wol am beſten, wie dieſelbe zu Stande gekommen war. Er erinnerte ſich, wie wegwerfend Emilie an dem Abend in Barnewitz ſich über Cloten geäußert hatte. Jetzt war ſie ſeine Braut. Es wird eine glückliche Ehe werden; dachte Oswald, und er mußte ſich ſagen, daß er nicht den kleinſten Theil der Schuld an dieſem Un¬ glück trage.

Ein paar Augenblicke ſpäter kam Helene in ſeine Nähe. Sie tanzte mit von Sylow. Oswald hatte ſie ſchon längere Zeit beobachtet, und bemerkt, daß ſie ſchweigend und kalt, wie eine Marmorſtatue neben ihrem Tänzer ſtand, der die Hoffnungsloſigkeit ſeiner Bemühungen, eine Converſation zu Stande zu brin¬ gen, eingeſehen zu haben und den Kronleuchtern eine ſpecielle Aufmerkſamkeit zu widmen ſchien. Sobald ſie Oswald erblickte, flog ein Strahl des Lebens über263 die ſchönen ernſten Züge. Sie winkte ihm mit den Augen zu ſich heran.

Wie geht es Bruno?

Danke! beſſer; er wollte ſchlafen.

Bleiben Sie hier?

Nein; ich werde bald wieder hinaufgehen.

Grüßen Sie Bruno und hier! nehmen Sie ihm dieſe Roſenknoſpe mit.

Helene nahm eine Roſenknoſpe aus dem Bouquet, welches ſie in der Hand trug, und gab ſie Oswald, der ſie mit einer Verbeugung entgegennahm. Er be¬ merkte, daß von Sylow's Aufmerkſamkeit ſich plötz¬ lich von den Kronenleuchtern abgewandt hatte, und daß die Augen des jungen Edelmannes mit einem Ausdruck, der ihm durchaus nicht gefiel, auf ihm hafteten.

Im nächſten Moment ſtand ein anderes Paar auf der Stelle.

Haſt Du Deinen alten Anbeter nicht geſehen,

Emilie? ſagte Cloten.

Wen?

Dort drüben, den Doctor Stein. Er ſtand vorhin dicht hinter uns.

Ach da! meinen alten Anbeter? Du biſt wol toll, Arthur!

264

Nun, nun! ſei nur nicht bös! ich glaube ja kein Wort von der ganzen Geſchichte. Aber um Himmelswillen, ſieh doch nur! Er ſpricht jetzt mit Helene Grenwitz; ſie giebt ihm eine Roſe. Nein, da hört doch aber Alles auf! wahrhaftig, Alles!

Ich ſagte Dir ja, daß die Beiden vollkommen einig ſeien. Er ſticht Euch Alle aus.

Wahrhaftig es iſt ſtark! aber ich habe dafür geſorgt, daß die Geſchichte unter die Leute kommt.

Was haſt Du gethan?

Nun, ich habe weiter erzählt, was Du mir vor¬ hin unter dem Siegel der Verſchwiegenheit mittheilteſt. Der ganze Saal weiß es ſchon, ha, ha, ha!

Aber das hatte ich Dir nicht erlaubt.

Ich glaubte in Deinem Sinne zu handeln. Herr Stein wird es bereuen, wenn er ſich nicht ſchleunigſt mit ſeiner Roſenknospe entfernt.

Was haſt Du vor?

Ich nicht allein; wir wollen dem Burſchen ſei¬ nen Standpunkt klar machen. Es wird eine jottvolle Geſchichte, wahrhaftig! Ich erzähle ſie Dir nachher. Ha, ha, ha!

Der glückliche Bräutigam führte ſeine Braut, da der Tanz zu Ende war, nach ihrem Platz zurück und wandte ſich zu von Sylow, der auf ihn zukam.

265

Haſt Du geſehen, Cloten?

Na ob!

Es iſt ein wahrer Scandal.

Ich bedaure nur den armen Felix.

Das müſſen wir ihm doch erzählen. Weißt Du nicht, wo er iſt?

Er ſagte vorhin, das Tanzen langweile ihn; er wollte zu den Spielern gehen. Barnewitz hat, glaube ich, eine Bank aufgelegt. Wir können auch hin; es wird nicht mehr getanzt vor Tiſche. Es iſt gerade noch Zeit, ein paar Louis zu gewinnen. Kommſt Du mit?

Natürlich.

Emilie von Breeſen hatte die Unterredung der Beiden aus der Ferne beobachtet. Sie ſah, wie ſie lachend, Arm in Arm, den Saal verließen. Auch Oswald ſah ſie nicht mehr. Eine entſetzliche Angſt ergriff ſie. Sie hatte in ihrer eiferſüchtigen Wuth zuerſt Oswald's Namen mit dem Helenen's in Ver¬ bindung gebracht; ſie hatte, ſich an Oswald zu rächen, ſchon vor einigen Tagen Felix die Entdeckung, die ſie gemacht zu haben glaubte, mitgetheilt. Sie hatte heute Abend wieder davon angefangen, um den geiſtloſen Neckereien Cloten's ein Ende zu machen. Jetzt erſt merkte ſie, daß ſie zu weit ge¬266 gangen ſei und daß ſie vielleicht Oswald, den ſie trotz alledem doch noch mit der ganzen Kraft ihres leidenſchaftlichen Herzens liebte, einer großen Ge¬ fahr ausgeſetzt habe. Sie hätte ihn vielleicht in der Raſerei ihrer Eiferſucht mit ihren eigenen Händen morden können aber ihn den brutalen Mißhand¬ lungen Cloten's und der Anderen ausſetzen der Gedanke war ihr fürchterlich. Sie blickte wie hülfe¬ ſuchend im Saal umher.

Ihr Bruder kam in ihre Nähe. Sie rief ihn.

Was willſt Du, Kleine?

Haſt Du Doctor Stein ſchon geſehen?

Ja, weshalb?

Du wollteſt ihn ja während der Jagdzeit auf ein paar Tage zu uns einladen. Es wäre doch unartig, wenn wir uns jetzt gar nicht um ihn küm¬ merten.

Emilie war ſehr roth geworden, als ſie das ſagte; ihre ganze Geiſtesgegenwart ſchien ſie verlaſſen zu haben.

Ihn zu uns einladen? rief Adolf von Breeſen, nun das fehlte wahrhaftig noch! damit die albernen Klatſchereien, die Lisbeth über Dich und ihn aufge¬ bracht hat, doch ja unſterblich werden ihn zu uns einladen? lieber wollte ich

267

Ich bitte Dich, Adolf! ſei ſtill, der halbe Saal kann ja hören, was Du ſagſt.

Höre, Kleine! ſagte der junge Mann in leiſem, aber ſehr beſtimmtem Ton. Das gefällt mir nicht. Du weißt, ich habe Dich lieb, wie ein Bruder nur ſeine Schweſter lieb haben kann; aber gerade deshalb muß ich dafür ſorgen, daß Du Dich in keine ſolche Thorheiten tiefer einläßt. Und ich werde dafür ſorgen, verlaß Dich d'rauf!

Damit wandte er ihr den Rücken und ging den Anderen nach zum Saal hinaus.

Emilie hatte Mühe, ihre Thränen zurückzuhalten. Ihre Angſt wuchs mit jeder Secunde. Es mußte Rath geſchafft werden ſo oder ſo. Das entſchloſſene Mädchen griff zu einem verzweifelten Mittel.

Sie ging auf Helene zu, die nicht weit von ihr mit andern Damen auf dem Divan ſaß und ſagte:

Auf ein Wort, Helene!

Was iſt's? ſagte Helene, aufſtehend.

Komm ein wenig weiter hierher. Helene, Du haſt den Doctor Stein lieb, nicht wahr?

Wie kommſt Du darauf? erwiederte Helene und die Gluth ſchoß ihr in die bleichen Wagen.

Gleichviel, ich habe ihn auch lieb; ich habe ihn ſehr lieb, wenn Du willſt und deshalb bitte ich268 Dich, ſage ihm Du kannſt es, ich kann es nicht, ſonſt würde ich es ſelber thun er ſollte ſich aus der Geſellſchaft entfernen. Cloten und mein Bruder und die Andern ſind ſehr aufgebracht über ihn. Ich fürchte, ſie führen etwas gegen ihn im Schilde. Bitte, bitte, Helene, ſage ihm: er ſolle fortgehen gleich ich wäre außer mir, wenn ihm auch nur die ge¬ ringſte[Beleidigung] von meinem Bruder oder von Cloten zugefügt würde.

Aber wo iſt er? ſagte Helene, welche die von Emilie ausgeſprochenen Befürchtungen, freilich nicht ganz aus denſelben Gründen, nur zu wahrſcheinlich fand. Ich glaube, er iſt ſchon wieder nach oben gegangen.

Wenn Du es nicht gewiß weißt, verlaſſe Dich nicht darauf. Frage doch den Bedienten da?

Haben Sie Herrn Doctor Stein nicht geſehen? fragte Helene.

Er iſt drüben, gnädiges Fräulein, in den Spiel¬ zimmern.

O, mein Gott, was ſollen wir thun? ſagte Emilie.

Baron Oldenburg! rief Helene; wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick hierher zu kommen?

Mit Vergnügen, mein Fräulein, ſagte der Ba¬269 ron, der, die Hände auf dem Rücken, ein Gemälde an der Wand betrachtete.

Was haſt Du vor, Helene?

Laß mich nur! Wollen Sie mir einen Gefallen thun, Herr Baron.

Mais, sans doute!

Suchen Sie den Doctor Stein auf; er iſt drü¬ ben in den Spielzimmern, und ſagen Sie ihm: ich ließe ihn bitten, ſogleich zu Bruno zurückzukehren. Hören Sie? ſogleich!

Es bedurfte nicht Oldenburg's Scharfblicks, um zu ſehen, daß dieſer Auftrag, den ein Diener eben ſo gut hätte ausführen können, eine tiefere Bedeutung hatte. Helene hatte die größte Mühe gehabt, die Worte in einem einigermaßen unbefangenen Tone her¬ vorzubringen, und Emilien's mit dem Ausdruck der geſpannteſten Erwartung auf ihn gerichtetes, von der innern Erregung blaſſes Geſicht, war ein ſehr deut¬ licher Commentar zu Helenen's Worten.

Iſt das Alles, mein Fräulein?

Ja.

Ich gehe, Ihren Auftrag ſofort und pünktlich aus¬ zurichten! ſagte der Baron, ſich verbeugend und mit, ſelbſt für ihn ungewöhnlich langen Schritten den Saal verlaſſend.

270

Unterdeſſen hatte Oswald, nachdem Helene mit ihm geſprochen, ſich zwecklos in den Zimmern herum¬ getrieben. Es war ſeine Abſicht geweſen, ſogleich hin¬ auf zu gehen; aber der Gedanke, Bruno, wenn er wirklich, wie er hoffte, eingeſchlafen ſein ſollte, nur zu ſtören; vielleicht der unbeſtimmte Wunſch, Helenen noch einmal zu ſehen, und jene dunkle dämoniſche Macht, die den Menſchen, unbekümmert um ſein Wohl oder Wehe, ſeinem Schickſal entgegentreibt, ließen ihn nicht dazu kommen. Ohne kaum zu wiſſen, wie er dorthin gerathen war, fand er ſich plötzlich in einem Zim¬ mer auf der andern Seite des Flurs, wo ſich eine Menge Herren um einen großen Tiſch drängten. Einige ſaßen, die Meiſten ſtanden. Herr von Bar¬ newitz ſaß in der Mitte, und hielt Bank. Er mußte viel Glück gehabt haben. Große Haufen von Gold - und Silberſtücken und Kaſſenſcheinen lagen vor ihm und vermehrten ſich mit jedem Augenblick. Felix ſaß in ſeiner Nähe. Er pointirte ſehr eifrig, aber, wie es ſchien, nicht beſonders glücklich. Sein Geſicht war ſtark geröthet, ſeine Augen mit Blut unterlaufen, die Adern auf ſeiner Stirn geſchwollen. Er hörte wenig auf die Herren, die hinter ihm ſtanden und von denen einige ihn noch aufzumuntern, andere zurückhalten zu wollen ſchienen. Oswald kam ihm zufällig gerade271 gegenüber zu ſtehen; Felix bemerkte ihn erſt nach eini¬ ger Zeit; man hätte ſehen können, daß von dem Augenblick an ſeine Unruhe noch größer wurde; er trank ein Glas auf das andere aus der neben ihm ſtehenden Weinflaſche, und verdoppelte und verdrei¬ fachte ſeine Einſätze, ohne einen andern Erfolg, als daß er doppelt und dreifach ſo viel und ſo ſchnell verlor, als vorher.

Eben war wieder eine Rolle Goldſtücke zu den übrigen, die vor Barnewitz aufgehäuft waren, gewan¬ dert; Felix griff in die Brieftaſche, die vor ihm lag, und holte eine Kaſſenanweiſung heraus.

Sie werden doch nicht das Ganze auf einmal ſetzen wollen, Grenwitz? ſagte von Grieben, ſeine Giraffengeſtalt zu ihm niederbeugend.

Sie ſind wol toll, Grenwitz? ſagte Cloten, der mit Sylow ſoeben hereintrat.

Ach was! ſagte Felix, das Andere hält nur auf.

Faites votre jeu, Messieurs! rief Barnewitz, ein neues Spiel Karten zur Hand nehmend.

Haben Sie geſetzt, Grenwitz?

Ja wol!

Coeurdame für mich. Damen immer für mich. Danke, Grenwitz, kommen Sie bald wieder ſo.

272

Felix ſchien für den Augenblick dieſem freundlichen Wunſche nicht entſprechen zu können. Sein wirrer Blick irrte über den Kreis derer, die den Tiſch um¬ ſtanden und blieb auf Oswald haften.

Sie da! rief er plötzlich überlaut; holen Sie mir doch einmal ein Glas Wein.

Oswald wurde erſt, als die Augen Aller ſich auf ihn wandten, inne, daß dieſe groben Worte an ihn gerichtet waren.

Der Menſch ſcheint nicht hören zu können, rief Felix. Sie ſollen mir ein Glas Wein holen, ver¬ ſtanden!

Ich glaube, ein Glas Waſſer würde Ihnen dien¬ licher ſein, ſagte Oswald, ohne ſeine Stellung zu verändern, mit ruhiger, feſter Stimme.

Es war ſo ſtill in dem Zimmer geworden, daß man eine Nadel hätte fallen hören.

Wie gefällt Ihnen das, meine Herren? ſagte Felix, um ſich blickend; mein Onkel hält ſich eine allerliebſte Sorte Bedienten, meinen Sie nicht?

Zeigen Sie ihm doch, wer Herr im Hauſe iſt, ſagte von Sylow.

Oder laſſen Sie ihn eine Stunde nachſitzen, meinte von Grieben.

273

Oder beſſer: geben Sie ihm die Ruthe, mit der er ſeine Buben züchtigt, ſagte von Cloten.

Oder ſtrafen Sie ihn mit der Verachtung, die er verdient; rief von Breeſen.

Oswald wandte ſeine Augen von Einem zum An¬ dern, wie ein Löwe, der nicht weiß, ob er ſich auf die Hunde, die ihn umheulen, ſtürzen ſoll oder nicht. Seine Geſtalt war hoch aufgerichtet. Vielleicht zitterte die Hand, die er auf den Tiſch gelegt hatte, etwas; aber ſicher nicht aus Feigheit.

Werden Sie gehen, oder nicht? rief Felix, auf¬ ſpringend und dicht vor Oswald tretend.

Treiben Sie die Unverſchämtheit nicht zu weit, ſagte Oswald, die Roſenknoſpe, die er für Bruno von Helene erhalten hatte, in das Knopfloch ſteckend; ich müßte ſonſt an Ihnen ein Exempel für die übrigen Burſche ſtatuiren.

Felix faßte nach Oswalds Bruſt. Oswald packte ihn mit ſtarken Armen, riß ihn in die Höhe und ſchmetterte ihn zu Boden, daß die Gläſer und das Geld auf dem Tiſche erklirrten.

Wer hat Luſt, der Zweite zu ſein? rief er mit Donnerſtimme; kommt heran, ihr feigen Wölfe, die ihr nur in Rudeln jagt!

Seine Augen blitzten vor Kampfesluſt; ſeine BruſtF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 18274wogte; ſeine Hände ballten ſich krampfhaft; er achtete in dieſem Momente ſein Leben keine Nadel werth.

Das ſahen Alle, und Keiner wagte, ſeine Heraus¬ forderung anzunehmen.

Felix hatte ſich wieder aufgerafft und war in die Arme der ihm zunächſt Stehenden zurückgetaumelt. Er war betäubt von dem ſchweren Fall; Blut ſtrömte ihm aus Naſe und Mund.

Ein drohendes Murren lief durch die Schaar. Man hörte einzelne Stimmen: ſollen wir das dul¬ den? ſchlagt ihn nieder! er darf nicht lebend vom Platz!

Sie drängten an ihn heran; ein wüſtes Schreien und Toben brach aus dem Haufen; Oswalds Blicke ſuchten den heraus, welcher zunächſt an die Reihe kommen ſollte.

Da ſtand plötzlich Oldenburg neben ihm.

Wie, meine Herren? rief er, ſich zu ſeiner ganzen ſtattlichen Höhe emporrichtend, zwanzig gegen Einen? Der Kampf iſt doch ein wenig zu ungleich. Wollen Sie ſich nicht lieber noch ein paar Bedienten zur Hülfe rufen?

Dies Wort wirkte wie ein Zauber. Er ſtellte für Jeden die ſchimpfliche Scene in das rechte Licht. 275Die Verſtändigeren wußten dem Barone Dank, daß er ihnen eine Schande erſpart hatte, die der nächſte Augenblick über ſie gebracht haben würde. Nur Einige ſchienen ſeine Dazwiſchenkunft übel zu em¬ pfinden.

Die Sache geht Sie nichts an, Baron, rief Grieben trotzig.

Erlauben Sie, Herr von Grieben, erwiederte Oldenburg, die Sache geht mich aus zwei Gründen etwas an. Einmal, weil ich es für die Pflicht jedes Mannes halte, darauf zu ſehen, daß es bei ſolchen Affairen, ich will nicht einmal ſagen, anſtändig, ſon¬ dern nur ehrlich zugeht, und zweitens, weil ich die Ehre habe, Herrn Doctor Stein meinen Freund zu nennen. Wenn Sie, oder irgend einer der Herren mich für das, was ich hier geſagt habe, zur Rechen¬ ſchaft ziehen zu müſſen glauben, ſo ſtehe ich gern zu Dienſten. Vorläufig aber verſtatten Sie mir, dafür zu ſorgen, daß die Angelegenheit meines Freundes, des Herrn Doctor Stein, wie es ſich unter Männern ziemt, zu Ende geführt wird. Ich werde in wenigen Augenblicken wieder unter Ihnen ſein, Ihre Auf¬ träge entgegenzunehmen. Wollen Sie mir Ihren Arm geben, Herr Doctor?

Der Baron nahm Oswald's Arm in den ſeinen18*276und führte ihn durch die Schaar der jungen Edelleute, die bereitwillig Platz gab, hindurch, zum Zimmer hinaus.

Draußen angelangt, ſagte er: Gehen Sie nur auf Ihr Zimmer. Ich folge Ihnen in wenigen Mi¬ nuten. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß Sie der Be¬ leidigte ſind.

Ja.

So werde ich Felix von Grenwitz in Ihrem Namen auf Piſtolen fordern.

Ihn und wer noch ſonſt Luſt hat, einen Gang mit mir zu machen.

Wir wollen uns vorläufig mit Grenwitz begnügen. An den Andern iſt Ihnen ja auch wohl ſo viel nicht gelegen. Wann?

Sobald wie möglich natürlich; morgen früh mei¬ netwegen.

Bon. Zehn Schritt Diſtance etwa?

Oder fünf.

Zehn reicht aus. Das Uebrige überlaſſen Sie mir. Alſo au revoir in Ihrem Zimmer.

Der Baron kehrte auf den Schauplatz der letzten Scene zurück, wo natürlich die Sache von zwanzig Zungen zugleich beſprochen wurde, die bei Oldenburg's Eintreten verſtummten. Oldenburg entledigte ſich277 ſeines Auftrags an von Grieben, der es übernommen hatte, Felix zu ſecundiren. Es wurde ein Rencontre auf die fünfte Stunde des folgenden Tages (im Fall Felix ſich bis dahin nicht erholt haben ſollte, auf die zehnte) verabredet; das Rendezvous: ein kleines Wäldchen auf dem Gute Herrn von Cloten's. Dann folgten die Herren man kann ſich denken, in wel¬ cher Stimmung der ſchon zweimal an ſie ergange¬ nen Aufforderung, ſich in den Ballſaal zu verfügen, um die Damen zur Abendtafel hinauf zu begleiten. Felix war ſchon vorher von Einigen auf ſein Zimmer geführt worden, da er zu berauſcht und von ſeinem Falle noch zu betäubt war, um weiter an der Geſell¬ ſchaft Theil nehmen zu können. Oldenburg begab ſich zu Oswald zurück.

Als er ihn nicht in ſeinem Zimmer fand, und ihn bei Bruno vermuthete, aus deſſen Zimmer das Licht durch die halb geöffnete Thür ſchimmerte, ging er leiſe dorthin und ſah Oswald über des Knaben Bett gebeugt.

Wie ſteht es? fragte er.

Ich fürchte, ſchlecht, ſagte Oswald, emporblickend; ſein Schlaf iſt ſehr unruhig und der Puls fliegt.

Laſſen Sie mich ſehen, ſagte Oldenburg, ich ver¬ ſtehe mich auf dergleichen.

278

Er iſt in der That ſehr krank, ſagte er nach einer kleinen Pauſe. Wie lange währt denn dies ſchon und wie hat es angefangen?

Oswald gab ihm mit fliegenden Worten eine Schil¬ derung von Bruno's Krankheit.

Und der Schmerz hatte vor einer Stunde völlig nachgelaſſen? fragte Oldenburg.

Ja, faſt gänzlich

Dann machen Sie ſich auf das Schlimmſte ge¬ faßt. Ich vermuthe, es hat eine Verletzung im Inneru ſtattgefunden, und jetzt iſt der Brand dazu getreten. Einer von uns muß nach dem Doctor. Er ſah nach der Uhr. Es iſt zehn; ich wollte vor Tiſch wieder nach Hauſe reiten. Mein Amanſor ſteht in dieſem Augenblick geſattelt vor der Thür. Reiten Sie nach der Stadt. Ich bin hier vielleicht jetzt nützlicher wie Sie. Sie haben hellen Mondſchein. Der Weg iſt gut. Nach B. iſt eine halbe Meile. In zehn Minuten ſpäteſtens müſſen Sie dort ſein. Ziehen Sie ſich ihren Frack aus und einen Ueberrock an. So! Peitſtche und Sporen brauchen Sie nicht. Almanſor iſt noch ganz friſch. Schonen Sie ihn nicht.

Der Baron hatte Oswald den Rock anziehen hel¬ fen, ihm den Hut auf den Kopf geſetzt. Oswald ließ279 Alles mit ſich geſchehen. Er fand ſich erſt auf Alman¬ ſors Rücken wieder, als ihm der Nachtwind um die Ohren pfiff, und Bäume und Häuſer, Hecken und Felder und Gärten rechts und links im Mondenſchein geſpenſterhaft an ihm vorüberflogen.

Und jetzt, war er auf der weiten Haide, die ſich hinter dem Dorfe bis nach Faſchwitz erſtreckt. Er ſah den Mondenſchein unheimlich glitzern in dem ſchwarzen Waſſer der tiefen Torfgräben; er hörte von Zeit zu Zeit den heiſeren Schrei eines Sumpfvogels, den er aus ſeinem Neſte aufgeſchreckt hatte; ſonſt nichts, nichts als den dumpfen Donner von Alman¬ ſors flüchtigen Hufen und den Nachtwind, der ſeufzend und klagend über die Haide ſtrich.

Und jetzt, als er mitten auf der Haide war war das nicht noch ein anderer Hufſchlag außer dem Almanſors, oder war es nur das Echo? Es kam näher und immer näher; Almanſor ſpitzte die Ohren und griff aus, ſchneller und immer ſchneller, als flöhe er vor dem Tod. Und doch kam es näher und immer näher. Oſwald blickte ſich um und ein Grauſen packte ihn, als er jetzt dicht hinter ſich eine lange ſchwarze Geſtalt auf einem ſchwarzen Pferde erblickte, deſſen Hufe den Boden nicht zu berühren ſchienen.

Noch eine Secunde und der ſchwarze Reiter war280 an ſeiner Seite, die Pferde jagten Kopf an Kopf und ſchnoben ſich an aus weit geöffneten Nüſtern.

Was beliebt? rief Oswald, ſein Grauſen be¬ meiſternd.

Nicht viel! erwiederte der ſchwarze Reiter mit einer tiefen hohlen Stimme. Wollte nur vermelden, daß meine gnädige Frau ſeit vorgeſtern zurück; ich dachte, der junge Herr wüßten's vielleicht nicht. Nicht für ungut, junger Herr! gute Nacht und gute Ver¬ richtung!

Der Reiter warf ſein Roß herum; Almanſor ſtürmte weiter; im nächſten Augenblicke ſchon war Oswald wieder allein.

War dies die Ausgeburt ſeines überreizten Hirns? war's Wirklichkeit? war es ein Phantom? war es der alte Baumann auf dem Brownlock geweſen? Oswald hätte es nicht zu ſagen gewußt.

Und wieder flogen Bäume und Häuſer, Hecken und Gärten rechts und links geſpenſterhaft im Mondenſchein an ihm vorüber. Ein Hund fuhr heulend nach Alman¬ ſors Hufen. Im nächſten Augenblick ſchon war Alles verſchwunden und unüberſehbare Kornfelder wogten und ziſchelten auf beiden Seiten der Landſtraße.

Dann ſchimmerten Lichter herüber, näher und näher. Eine helle Glocke ſchlug einen Schlag an;281 ſchon viertel auf elf! und wieder Häuſer rechts und links, Bäume und Hecken und Gärten. Dann ein dunkles Thor, und dann den Hufſchlag Almanſors auf dem Straßenpflaſter.

Wo wohnt der Doctor Braun?

Die Straße zu Ende; das letzte Haus links.

Vor dem bezeichneten Hauſe hielt ein Wagen. Aus der offenen Hausthür und den offenen Fenſtern in den Parterrezimmern ſchimmerte Licht.

Iſt der Doctor zu Hauſe?

Hier! ſagte Doctor Braun am Fenſter erſchei¬ nend. Von wo her?

Von Grenwitz. Ich bin's. Eilen Sie; Bruno liegt auf den Tod.

Wollte eben hinaus; rief Doctor Braun; ſchon in der Thür. Setzen Sie ſich zu mir. Ich will ſelber fahren. Karl kann Ihr Pferd langſam zurück¬ reiten. Sitzen Sie? ja; dann fort!

Der Wagen donnerte durch die dunkeln Straßen, durch das enge Thor, hinaus in die ſtille Mondnacht, die über Feldern und Gärten, und Wäldern und Wie¬ ſen ſo duftig und täumeriſch lag, denſelben Weg, den Oswald vor wenigen Minuten gekommen war. Die kräftigen Pferde des Doctors griffen mächtig aus, ſchon waren ſie wieder auf der Haide.

282

Es war nicht viel geſprochen worden von beiden Seiten. Oswald hatte von Bruno's Krankheit, wie es der Laie pflegt, Bericht erſtattet, auf Nebendingen verweilend, und das Wichtigſte auslaſſend. Doctor Braun hatte einige kurze Fragen gethan. Dann hat¬ ten Beide eine Zeit lang geſchwiegen.

Sie müſſen ſich auf das Schlimmſte gefaßt ma¬ men! hub Doctor Braun an. Es iſt, nach dem, was Sie mir geſagt haben, ſehr wahrſcheinlich, daß wir Bruno nicht mehr am Leben finden.

Oswald antwortete nicht. Ein Stöhnen brach aus ſeiner Bruſt, wie eines Gefolterten, wenn die Schrau¬ ben noch um eine Windung angezogen werden.

Der Doctor hieb in die Pferde, die nun im Ga¬ lopp weiter ſtürmten.

Ein paar Minuten ſpäter hielt der Wagen vor dem Portal. Das ganze Schloß ſchimmerte von Licht. Aus dem Speiſeſaale rauſchte die Muſik. Die Diener liefen geſchäftig ab und zu.

Als ſie in Bruno's Zimmer traten, erhob ſich der Baron von dem Bett, über das er gebeugt ſtand.

Gott ſei Dank, daß Sie kommen! ſagte er; ich habe ſchon an vielen Krankenlagern gewacht: ſo lang aber iſt mir keine Stunde geworden!

283

Er trocknete ſich ſeine Stirn; ſein ernſtes Geſicht war bleich; er ſchien auf's Tiefſte ergriffen.

Doctor Braun unterſuchte den Kranken, dann blieb er neben dem Bett ſtehen, ohne die Andern anzu¬ blicken.

Iſt keine Hoffnung?

Keine.

Da richtete ſich Bruno halb auf:

Biſt Du's, Mutter? kommſt mich einzulullen? wie geht doch noch die alte Weiſe?

Und in wunderbar ſüßen Tönen, leiſe, ganz leiſe, wie die Klänge einer Aeolsharfe, begann er ein ſchwe¬ diſches Lied zu ſingen, wie es ihm wol ſeine Mutter vor langen Jahren geſungen haben mochte.

Er lehnte ſich wieder in das Kiſſen zurück. Durch die tiefe Stille im Zimmer tönte nur das Schluchzen Oswalds; auch die Augen der beiden andern Männer ſtanden voll Thränen.

Biſt Du es, Oswald? fragte Bruno, weshalb weinſt Du? guten Abend, Herr Doctor; wo kommen Sie her? es geht wol zu Ende mit mir? Wo iſt Baron Oldenburg? Geben Sie mir die Hand. Sie ſind ſehr gut gegen mich geweſen. Doctor, muß ich ſterben? Ja? ſagen Sie es mir, ich bin kein Feigling, ich habe es ſchon ſeit geſtern gewußt; muß ich284 ſterben? ja! dann, Oswald, eine Bitte; ich will es Dir in's Ohr ſagen.

Oswald beugte ſich über ihn.

Er erhob ſich und ging nach der Thür. Olden¬ burg war ihm gefolgt.

Ich weiß, was Bruno will! ſagte er; er hat in ſeinen Phantaſien ſchon hundert Mal nach ihr verlangt; ich will ſie rufen. Es iſt ja eines Ster¬ benden letzte Bitte.

Er entfernte ſich, Oswald trat wieder an das Bett.

Kommt ſie?

Ja.

Lege mir das Kopfkiſſen etwas höher, Oswald, und ſtelle die Lampe da hin, daß der Schein über mich weg, gerade auf ſie fällt. Danke, ſo iſt es recht.

Sie kommt nicht doch! war das nicht ihre Stimme? ſchraube die Lampe tiefer, Oswald es wird ja ſo hell im Zimmer ... Helene!

Ein ſeliges Lächeln flog über ſein Geſicht.

Helene! wie bleich Du biſt! und doch wie ſchön! gieb mir die Roſe an Deinem Buſen! o, weine nicht! laß mich Deine Hand küſſen, Helene!

Helene neigte ſich zu ihm und küßte ihn auf den Mund.

285

Bruno ſchlang ſeine Arme um ihren Hals.

Ich liebe Dich, Helene!

Seine Arme glitten auf die Decke zurück. Doctor Braun zog Helene ſanft in die Höhe. Er beugte ſich über das Bett und lauſchte einen Augenblick. Indem er ſich wieder aufrichtete, ſtrich er mit der Hand leiſe über die Augen des Todten.

[286]

Siebenzehntes Kapitel.

Es war drei Tage nach den Ereigniſſen dieſer Nacht.

In der Frühe des Morgens hatte es geregnet; jetzt in den Vormittagsſtunden, blickte die Sonne auf Augenblicke aus den ſchweren Wolken, die ſich lang und langſam vor einem feuchten Weſtwinde nach Oſten ihr entgegenwälzten.

Auf dem Kirchhofe zu Faſchwitz gingen in der Lindenallee, die von dem einen Ende bis zum andern führt, und die Gräber der Adligen von denen der gewöhnlichen Sterblichen trennt, zwei Perſonen in ernſten Geſprächen auf und ab. Vor der einen Thür des Kirchhofs, aus der man unmittelbar auf die Landſtraße gelangt, hielt eine mit zwei Pferden be¬ ſpannte elegante Kutſche. Neben der Kutſche hin und her führte ein Reitknecht zwei ſchöne Pferde am287 Zügel. Kutſcher und Reitknecht unterhielten ſich nur im halblauten Ton, als ob ſie den alten Mann mit dem langen eisgrauen Schnurbart, der auf einem der Prellſteine an der Kirchhofsthür ſaß und von Zeit zu Zeit die tiefliegenden ernſten Augen durch das Gitter der Thür auf die in dem Lindengange auf und ab Wandelnden wandte, in ſeinen Betrachtungen nicht ſtören wollten.

Die auf und ab Wandelnden waren Melitta und Oldenburg. Melitta war nicht in Trauer, aber ihr liebes ſchönes Geſicht hatte einen Ausdruck von Schwer¬ muth, den man wohl früher nicht darin geſehen hatte. Selbſt das Lächeln, mit welchem ſie manche Bemer¬ kung ihres Begleiters beantwortete, war nicht das alte, freudige es war wie die Sonnenblicke heute aus den trüben melancholiſchen Wolken.

Und Sie wollen wirklich fort? fragte ſie, eine Pauſe, die in dem Geſpräche eingetreten war, unter¬ brechend.

Ich ritt nach Berkow hinüber, Ihnen meinen Abſchiedsbeſuch zu machen, und Sie zu fragen, ob Sie noch irgend Befehle für mich hätten. Daß dies keine leere Form war, können Sie daraus ſehen, daß ich Ihnen, als ich Sie nicht fand, hierher auf den288 Kirchhof gefolgt bin, obgleich Kirchen und Kirchhöfe, wie Sie wiſſen, durchaus nicht zu den Oertern ge¬ hören, die ich mit Vorliebe aufſuche.

Und wohin werden Sie diesmal Ihre Schritte lenken?

Ich weiß es noch nicht. Was ſoll ich hier? Da ich für die nicht leben kann, für die ich leben möchte, und da es in unſerer engbrüſtigen Zeit an jedem großen Zweck gebricht, an deſſen Erreichung ein Mann ſein Leben ſetzen könnte, ſo will ich denn auch, ein anderer Peter Schlemihl, meinen eignen Schatten ſuchen gehen. Ich fürchte nur, daß ich ihn niemals wieder finde, oder daß, wenn ich ihn finde, er ſich wieder von mir trennt, wie das letzte Mal.

Haben Sie die Spur der braunen Gräfin nicht verfolgt?

Nein. Es würde auch nichts geholfen haben. Wandernde Zigeuner hinterlaſſen keine Spuren, ſo wenig wie ein Schiff, das durch die Wogen ſtreicht. Wenn ich nicht wieder kommen ſollte, Melitta, laſſen Sie ſich Ihre Büſte, die ich in Rom von dem jungen Goldoni anfertigen ließ, und die jetzt in Cona in mei¬ nem Arbeitszimmer ſteht, geben. Oder wollen Sie ſie ſogleich haben?

Nein, ſagte Melitta; behalten Sie ſie immer¬289 hin. Ihre unendliche Güte verdiente wohl einen beſſeren Lohn als kalten Marmor.

Oder Marmorkälte? ſagte Oldenburg lächelnd.

Die empfinde ich nicht gegen Sie, Oldenburg, ſagte Melitta mit Wärme; wahrhaftig nicht. Ich liebe Sie wie einen um ein paar Jahre älteren Bruder, der halb und halb Vaterſtelle an uns ver¬ treten hat, und zu dem wir mit freudiger Verehrung und Dankbarkeit emporblicken. Es iſt unſer Schickſal, daß Sie mich mit einer anderen Liebe lieben müſſen, daß ich Sie mit keiner andern Liebe lieben kann.

Es iſt unſer Schickſal, Melitta, ja wohl! und nun laſſen Sie uns nicht weiter davon ſprechen. Gegen das Schickſal läßt ſich nichts thun. Wir kön¬ nen nur das Haupt beugen, und die Lorbeerkrone oder den Todesſtreich ſchweigend entgegen nehmen. Das habe ich in den letzten Tagen lernen können, wenn ich es ſonſt noch nicht gewußt hätte. Und nun, Melitta, da Du mich ſelbſt Deinen Bruder genannt haſt, laß mich auch wie ein Bruder mit Dir ſprechen. Darf ich?

Ja; ſagte Melitta, die den Kopf bei dieſen letzten Worten Oldenburg's geſenkt hatte, leiſe nach einer kleinen Pauſe.

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 19290

Bekämpfe Deine Liebe zu Oswald! Ich kann Dir nicht rathen, den Pfeil mit einem Ruck aus der Wunde zu ziehen, denn ich fürchte, Dein Leben würde mit Deinem Blute entſtrömen; aber ſträube Dich auch nicht gegen die Wirkungen der Zeit, die faſt ſo allmächtig iſt, wie das ewige Schickſal. Du wirſt nach einigen Wochen, einigen Monaten, gleichviel! aber Du wirſt in Kurzem ruhiger über dies Alles denken; willſt Du mir, Deinem Bruder, ver¬ ſprechen, dieſe ruhigeren und weiſeren Gedanken nicht wie eine Verſündigung an Deiner Liebe von Dir zu weiſen?

Ja.

Denn, Melitta, er iſt Dir doch verloren, auch wenn er dieſe ſeine neueſte Leidenſchaft überwinden ſollte. Er wird ſich auf ſeiner tollen Jagd nach dem Ideal, das er nie auf Erden außer ſich finden kann, weil es nur in ſeinem Gehirn lebt, in eine andere und wieder in eine andere Liebe ſtürzen; immer wähnen: dies iſt, wonach Du bis jetzt ver¬ geblich geſucht, und immer wieder das Trügeriſche dieſer Illuſion erkennen, bis er zuletzt in der Ver¬ zweiflung über ſein Schlemihlthum irgend einen Schritt thut, der ihn aller weiteren Sorgen um die291 confuſe Welt überhebt. Die letzten Tage haben ihn dieſem unvermeidlichen Ziele um eben ſo viele Jahre näher gebracht.

Wie ſteht es auf Grenwitz?

Felix iſt jetzt außer Gefahr, obgleich man ihn in den erſten Stunden aufgegeben hatte. Er wird aber wohl ſein Leben lang ein Invalide bleiben eine ſchwere Strafe für Jemand, der, wie er, ge¬ ſchwelgt in der Blumen Süßigkeit und jede Blume brach. Oswald's Kugel hat nur um eines Haares Breite ihr Ziel verfehlt. Felix wird Bruno's Tod ſein Leben zu danken haben. Oswald hat während des Duells kein Wort geſprochen, ſeine Miene blieb unbeweglich; nur als Felix ſtürzte, flog eine Art von Lächeln über ſein blaſſes Geſicht; er ſchien das Bild der vollkommenſten Ruhe, und nur, wer ihn genauer betrachtete, ſah, wie es in ihm wühlte, und bemerkte, daß von Zeit zu Zeit ein Fieberſchauer durch ſeinen Körper zuckte. Er hat ſich bei der ganzen Affaire mit einem bewunderungswürdigen Tact benommen, der ſelbſt der Schaar ſeiner Gegner Achtung abnö¬ thigte. Sogar Cloten fühlte ſich gedrungen, in die bewundernden Worte auszubrechen: es iſt wahrhaftig Schade, daß der Menſch nicht von Adel iſt.

19 *292

Und Helene?

Sie reiſte ein paar Stunden vor dem Duell mit ihrem Vater nach Grünwald. Ich glaube, man will das Mädchen dort in einer Art von anſtändiger Ver¬ bannung laſſen, bis eine Ausſöhnung mit der Mutter zu Stande gebracht werden kann. Das wird aber lange dauern. Die gute Frau iſt vorläufig ganz au¬ ßer ſich, und nur die Vorſtellungen Cloten's und An¬ derer, daß Felix durchaus der Beleidiger geweſen iſt, und durch ſein Betragen das Duell unvermeidlich ge¬ macht hat, haben ſie verhindert, Himmel und Hölle und die ganze Polizei gegen Oswald in Bewegung zu ſetzen.

Und Oswald?

Ich denke, er hat Dir geſchrieben?

Ja, aber nichts über ſeine Pläne für die Zu¬ kunft.

Von denen weiß auch ich nichts. Wir haben kaum drei Worte mit einander gewechſelt. Ich weiß nur, daß er, um den Ausgang des Duells abzuwarten, ſich während dieſer letzten Tage in B. beim Doctor Braun aufgehalten hat. Ich freue mich über dieſe Wahl ſeines neuen Freundes. Braun ſcheint ein eben ſo liebenswürdiger, wie geiſtreicher und verſtändiger293 Mann. Gebe der Himmel, daß er unſerm Telemach ein weiſerer Mentor iſt, als ich ihm bei dem beſten Willen zu ſein vermochte. Aber ich muß jetzt ſchei¬ den, Melitta. Mein Almanſor ſchlägt ſich ſonſt die Hufe ab. Haſt Du noch etwas hier zu thun?

Nein, ſagte Melitta; wir können gehen.

Wirſt Du oft hierherzurückkehren?

Schwerlich. Ich habe nur ſehen wollen, ob mei¬ nen Anordnungen Folge geleiſtet iſt. Sie wiſſen am beſten, daß der Todte, den ich zu beſuchen kam, ſchon ſeit langen Jahren nicht, ja daß er eigentlich nie für mich gelebt hat.

Dann laß uns gehen, Melitta.

Der Baron nahm den Arm der jungen Frau und führte ſie die Allee hinauf. Sie ſprachen weiter kein Wort. Der alte Baumann öffnete den Schlag der Kutſche. Oldenburg hob Melitta hinein und ſtand noch einen Augenblick, den Hut in der Hand, an dem offenen Fenſter. Als die Pferde anzogen, reichte ihm Melitta die Hand, er drückte ſie an ſeine Lippen. Er ſtand noch ein paar Augenblicke und ſah dem da¬ voneilenden Wagen nach. Dann winkte er ſeinem Reitknecht, beſtieg ſeinen Almanſor und ritt im Ga¬ lopp nach der entgegengeſetzten Richtung davon.

294

Dieſe letzte Scene hatten zwei Männer beobachtet, die in demſelben Augenblick, als Melitta und Olden¬ burg den Kirchhof verließen, durch die zweite Thür, welche auf die Dorfſtraße führte, eingetreten waren und auf ein friſches Grab, in der Nähe der Thür, auf der adligen Seite, und auf ein etwas älteres, auf der andern Seite, Kränze gelegt hatten. Es waren Oswald und Doctor Braun; beide in Reiſekleidern. Sie ſtanden, Arm in Arm, auf der Treppe der Kirche und ſahen der Abſchiedsſcene zwiſchen Oldenburg und Melitta zu. Als der Baron Melitta's Hand küßte, flog ein ironiſches Lächeln über Oswald's bleiches und verfallenes Geſicht.

Können wir gehen? ſagte er; Mir iſt, als brennte mir der Boden unter den Füßen.

Ich bin bereit, ſagte der Doctor. Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, hätten Sie dieſe Gegend ſchon längſt verlaſſen, und wenn es nach meinem Willen geht, kommen Sie nie wieder hierher zurück. Die Reiſe, die wir vorhaben, wird Sie wieder zu ſich ſelbſt bringen. Sie haben viel verloren, aber nichts, was ſich nicht wieder gewinnen ließe. Sie haben Vernunft und Wiſſenſchaft, des Menſchen aller¬ höchſte Kraft, verachtet; und doch iſt für Sie nur295 Rettung zu hoffen von eben dieſer Kraft, denn Sie erinnern ſich der Worte Ihres Lieblingsdichters:

was Amor uns entwendet,
Kann Apoll nur wiedergeben:
Ruhe, Luft und Harmonien
Und ein kräftig rein Beſtreben

Kommen Sie! laſſen Sie die Todten ihre Todten be¬ graben! für Sie muß jetzt ein neues Leben beginnen.

Ende.

Druck von F. Hoffſchläger in Berlin.

About this transcription

TextProblematische Naturen
Author Friedrich Spielhagen
Extent309 images; 52197 tokens; 8543 types; 353289 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationProblematische Naturen Vierter Band Friedrich Spielhagen. . 295 S. JankeBerlin1861.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, 7 Y 274-4http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=860743853

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; ocr

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