PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Biographien der Wahnſinnigen.
Erſtes Baͤndchen.
Leipzig. 1796.
[II][III]

Vorrede.

Kann ich Dank erwarten, wenn ich den Irrenden vor dem nahen Abgrund warne, iſt's Pflicht, daß ich den erhitzten Wanderer hindere, an der kuͤhlen Quelle durch jaͤhen Trunk ſeinen Tod zu finden, ſo habe ich dieſe erfuͤllt, und kann jenen hoffen,* 2IVwenn ich Sie bitte, den Inhalt dieſes kleinen Buͤchleins wohl zu be - herzigen. Wahnſinn iſt ſchrecklich, aber noch ſchrecklicher iſt's, daß man ſo leicht ein Opfer deſſelben werden kann. Ueberſpannte, heftige Leidenſchaft, be - trogne Hoffnung, verlohrne Ausſicht, oft auch nur eingebildete Gefahr, kann uns das koſtbarſte Geſchenk des Schoͤ - pfers, unſern Verſtand, rauben, und welcher unter den Sterblichen darf ſich ruͤhmen, daß er nicht einſt im aͤhn - lichen Falle, folglich in gleicher Ge - fahr war? Wenn ich Ihnen die Biographien dieſer Ungluͤcklichen erzaͤhle, ſo will ich nicht allein Ihr Mitleid wecken, ſondern Ihnen vorzuͤglich be - weiſen, daß jeder derſelben der Ur - heber ſeines Ungluͤcks war, daß esV folglich in unſrer Macht ſteht, aͤhn - liches Ungluͤck zu verhindern. Freilich kann ich dem reißenden Strome nicht mehr widerſtehen, wenn ich mich kuͤhn in ſeine Tiefe wage, aber Dank und Lohn verdient doch derjenige, der mich durch Beiſpiele von ſeiner Tiefe uͤberzeugt, und, ehe ich das Ufer uͤberſchreite, vor der nahen Gefahr warnt. Wie herrlich, wie erhaben wuͤrde ich mich belohnt duͤnken, wenn meine Erzaͤhlungen das leichtglaͤubige Maͤdchen, den unvorſichtigen Juͤngling an der Ausfuͤhrung eines kuͤhnen Plans hinderten, der ihnen einſt den Verſtand rauben koͤnnte.

Sollten meine Leſer dieſes Baͤnd - chen mit Beifall aufnehmen, ſo wirdVI in der kommenden Michaelismeſſe das zweite ganz gewiß folgen. Dies zur Nachricht fuͤr die unberufnen Nachah - mer, die ſo oft und wiederholt auf meinem Felde zu ernden ſuchen.

C. H. Spieß.

Inhalt.

  • I.
  • Katharine P***rin. Seite 1
  • II.
  • Joſeph Carl. 31
  • III.
  • Wilhelm M *** r. und Karoline W g. [5]9
  • IV.
  • Jakob W *** r. 101
Inhalt.
  • V.
  • Friedrich M *** r und ſeine Familie. S. 121
  • VI.
  • Karoline S von H. 155
[1]

Katharine P***rin.

Heiter gieng am Abende des letzten Aprils die Sonne unter, rein und glaͤnzend ſtieg ſie am fol - genden Morgen uͤber die Gebirge empor, und ver - kuͤndigte mit freundlichem Blicke der erwachenden Erde, daß mir ihr der junge, blumenreiche Mai nahe. Ihre Strahlen weckten mich, ich erſtieg froh und munter die hohen Gebirge, welche von allen Seiten die boͤhmiſche Bergſtadt Ellbogen um - faſſen, in ihrem engen Schooße zwar vaͤterlich fuͤr Sturm und Wetter ſchuͤtzen, aber auch nur karg und ſparſam auf ihrem magern Ruͤcken ernaͤhren. Schon lange hatte ich nicht frei geathmet; der mehr als launigte, oft heimtuͤckiſche April hatte mich zwar oft mit lachendem Blicke zum Spa - ziergange geladen, aber auch ſelten ungeneckt wieder heim ziehen laſſen. Immer jagte mich ſein kalter Freund, der boͤſe Nordwind, vom Berge herab, oft uͤberraſchte er mich mit einem ſchnellen Regenſchauer, wenn ich, im Thale gelagert, michErſt. Baͤndch. A2allzutief im Anſchauen des bluͤhenden Gaͤnſebluͤm - chens verlohr, oder, gelockt vom duftenden Veil - chengeruch, unter den Felſen umher kroch.

Seine Macht hatte nun geendet, ich wollte die ſanfte Regierung ſeines jungen Nachfolgers vollkommen genießen, erſtieg gluͤcklich den hohen Galgenberg, und ſtand jetzt angelehnt an ſei - ner hoͤchſten Spitze. Die Ausſicht, welche er von daaus gewaͤhrt, iſt reizend und ſchoͤn, ich hatte ſie ſchon im Zirkel meiner Freunde, oft auch allein, genoſſen, immer fand mein Auge neue Gegenſtaͤnde, immer kehrte ich belohnt zu - ruͤck. Heute hofte ich, nach ſo langer Zeit, mich wieder an dieſem Anblicke zu laben, aber meine gereizte Erwartung wurde nach dem gewoͤhnli - chen Looſe der Sterblichen ganz vereitelt. Di - ker, undurchdringlicher Nebel fuͤllte alle die rei - zenden Thaͤler, welche man von hieraus ſonſt uͤberblicken konnte, er deckte die kleinen Silberbaͤ - che, welche ſich ſo angenehm unter Fichten und Tannen von Bergen herab nach dem Egerfluſſe ſchlaͤngeln, er verbarg die romantiſchen Huͤtten und Scheunen, mit welchen die benachbarten Ber - ge und Thaͤler uͤberſaͤet ſind, er verhinderte mich, zuzuſehen: wie die Eger im langſamen, ſchleichen - den Gange den Namen der Stadt, einen Ellbo - gen, bildet, und endlich verdruͤßlich uͤber den all - zulangen Aufenthalt im ſchnellen, eilenden Laufe links in's Felſenthal hinab rauſcht. Nur die Ruͤ - ken der hoͤchſten Berge hoben ſich aus dem Ne -3 belmeere empor, mein Auge irrte darinne umher, und konnte ſelten einen Ruhepunkt finden, weil der neidiſche Nebel ſie mir, indeß er ſich hoͤher hob, immer wieder raubte. Die Sonne kaͤmpfte mit ihm, ich beſchloß, dem Kampfe zuzuſehen, und, wuͤrde die Sonne Sieger, ihr Siegesfeſt feiern zu helfen. Gehuͤllt in meinen Mantel, ge - lagert am Boden, beſchuͤtzt von einem Felſenſtuͤcke, harrte ich geduldig des Ausgangs. Es war alles ſtill und oͤde um mich her, nur das Weibchen ei - nes Emmerlings baute im nahen Wachholderſtrau - che ſein Neſt und zwitſcherte froͤhlich, wenn ihm der geliebte Gatte eine kleine Feder im Schnabel herbeitrug. Jetzt hoben ſich in der weiten Ferne aus dem Nebelmeere die Thuͤrme der Marie Kul - mer Kirche empor, bald ſah ich auch ihre Fenſter, ſie glaͤnzten, von der Sonne beleuchtet, gleich Spiegeln und blendeten mein Auge, es ſank hin - ab in den dunkeln Wald, der ſie umgiebt, und deſſen Spitzen nun auch ſichtbar wurden. Ich erinnerte mich der großen Raͤuberhoͤhle, auf wel - cher dieſe Kirche erbaut ward, meine Einbil - dungskraft regte ſich, ich ſah die Raͤuber, mit Beute beladen, heimziehen, ſie fuͤhrten gefeſſelte Jungfrauen in ihrer Mitte, ermordeten ſie erbaͤrm - lich, und ſtuͤrzten ihre Leichname in tiefe Berg - ſchachten. Ich ſchauderte! Mein Auge eilte weg von dieſer Schreckensſzene, und blieb an der alten Veſte hangen, welche jetzt noch in Ellbo - gens Ringmauern ſteht, und einſt von den maͤch -A 24tigen Markgrafen von Wohburg erbaut wurde. Kein Fenſter blendete hier meinen Blick, ich konnte ungehindert in dieſen Ruinen umher wan - deln, ungehindert uͤberlegen: wie einſt drei Bruͤ - der dieſes maͤchtigen Stammes in wenigen Gemaͤ - chern Raum fanden, und doch oft alle Edlen rings umher fuͤrſtlich bewirtheten. Meine Ein - bildungskraft riß mich abermals mit ſich fort, ich war mit ihrer Huͤlfe eben der Minneſaͤnger der ſchoͤnen Markgraͤfin Johanna geworden, ſang eben, auf der Harfe ſpielend, ihr Lob, als mein Auge unten an der Veſte ein kleines Fenſterlein gewahrte, das dem Gefaͤngniſſe, in welchem einſt Popel Lobkowitz blutete, ſparſames Licht gab. Meine Harfe ſchwieg, ich dachte des ſchrecklichen Huſſitenkriegs, ich ſah rauben, pluͤndern, mor - den; ich zitterte, mein geſenktes Auge ſtarrte am Boden, und weigerte ſich, ferner umher zu blicken. Viele kleine Huͤgel, die in Grabesgeſtalt zu mei - nen Fuͤßen umher lagen, beſchaͤftigten es bald auf's neue, der Gedanke des Todes ward in mei - ner Seele rege. Wenn auch dein Koͤrper einſt ruhen und ſchlafen wird, dachte ſie jetzt und lei - tete die Augen nach jenen unermeßlichen Gefilden empor, in welchen ſie einſt zu wohnen hofte! Ich ſaß lange traurig und denkend, ich wollte mich zerſtreuen, blickte rechts, und die Ruinen des nahen Galgens, den Kaiſer Joſephs Gebot, gleich allen ſeinen Mitbruͤdern, zerſtoͤrt hatte, la - gen vor mir. Schnell durchbebte der Gedanke5 mein Herz, daß dieſe Huͤgel wahrſcheinlich die Graͤber waͤren, in welchen die Opfer der Gerech - tigkeit, die ihr an dieſer Staͤtte gebracht wurden, ruhten. O ihr Armen! dachte ich jetzt, euch iſt wohl; aber weh, weh war euch's gewiß damals, als ihr, umgeben von der gaffenden Menge, eu - ren Todeskampf kaͤmpftet; zum letztenmale in der weiten Natur umher blicktet, und dann hinge - ſchleppt wurdet, um unter der Hand des Henkers euer Leben zu enden! Vielleicht blutete manch - mal die verfolgte Unſchuld an dieſer Staͤtte! Vielleicht flehte ſie hier oft vergebens um Rettung und Huͤlfe, und ſtarb verzweifelnd! Kalter Schauer ergriff mich, ich ſprang auf, und wan - delte unter den Graͤbern umher. Ich gieng an den langen und großen Huͤgeln kalt voruͤber, weil mein Gefuͤhl hier die Ruheſtaͤtte der Raͤuber und Moͤrder vermuthete, ich weilte geruͤhrt an den kuͤrzern und kleinern, weil ich muthmaßte, daß hier diejenigen ſchliefen, welche das Schwert gerichtet hatte. Der Gedanke, daß unter dieſen ſich auch Kindermoͤrderinnen befaͤnden, ergriff mein Herz, und engte es maͤchtig. Ich ſah die ſchuldloſe Dirne unbefleckt und rein im einſamen Thale luſtwandeln, ihr Verfuͤhrer, ein abgefeim - ter Wohlluͤſtling, ſchlich hinter ihr her, ruͤhrte ihr offnes Herz, raubte ihre Unſchuld, und eilte frohlockend von dannen. Meine Einbildungskraft uͤberhuͤpfte einen Zeitraum von neun Monden, ich erblickte die naͤmliche Dirne wieder in ihrer6 Schlafkammer; ſtarr und verzweiflungsvoll um - her blickend, ſaß ſie einſam auf ihrem Bette, ſie rang ihre Haͤnde, ſie flehte zu Gott um Rettung aus der Schande, die ihr unwiderruflich drohte. Sie hatte ihren Zuſtand vor aller Augen bis jetzt verborgen, noch am Abende legte der alte Vater ſegnend ſeine Hand auf ihr Haupt, und nannte ſie die Hofnung ſeiner alten Tage. Am Morgen ſollte er erfahren, daß ſein einziges Kind zur Hure geworden ſei! Dieſer Gedanke allein war ihr mehr als Hoͤlle! Sie duldete die Schmerzen der Geburt im Stillen; als ſie aber gebahr, und ihr Schmerzenskind weinend die Schande der Mut - ter zu verkuͤndigen begann, da ergriff es die Un - gluͤckliche im Gefuͤhle der innigſten Schaam, und erſtickte es im Bette. Die That ward bald ent - deckt, und ſie blutete hier unter dem Schwerte des Henkers! Allmaͤchtiger, richte du: ob er, der Verfuͤhrer, der Meineidige, welcher ihre Ehre ſo boshaft vernichtete, und raubte, was er nicht wieder geben konnte, nicht auch Theil hatte an der blutigen That, nicht hier zu bluten ver - diente?

Eben wollte ich noch mehrere Faͤlle durchgehen, welche oft den rechtſchaffnen Mann zu kleinen Verbrechen verleiten, zu groͤßern zwingen, und wahrlich unverdient zum Hochgerichte fuͤhren, als ein melodiſcher Geſang, welcher aus dem nahen Thale herauf erſcholl, meine Aufmerkſamkeit weck - te. Der dicke Nebel hinderte mein Auge, nach7 den Saͤngern umher zu ſpaͤhen, ich horchte von neuem, und hoͤrte nun deutlich, daß der Geſang ſich immer naͤhere. Es waren zwei weibliche Stimmen, ein reiner Discant, begleitet von ei - nem ſehr wohlklingenden Alte. Sie ſangen aus - drucksvoll und mit einem Gefuͤhle von Andacht, welches ſich nicht beſchreiben laͤßt; da ich oft den Namen der Mutter Gottes in dieſem Liede nen - nen hoͤrte; ſo ſchloß ich, daß es fromme Pilgrin - nen waͤren, welche nach irgend einer Kirche wall - fahrteten. Der angenehme Ton lockte mich maͤch - tig, ich wollte eben folgen, als ich die beiden Saͤngerinnen gerade auf mich zu kommen ſah, ſie ſangen noch immer, ich wollte ſie nicht ſtoͤren, und trat abſeits. Der Nebel umfloß ſie nicht mehr, die Strahlen der Sonne beleuchteten ſie hell. Voran gieng im langſamen, feierlichen Gange ein junges, huͤbſches Maͤdchen. Ihr gro - ſes, ſchwarzes Auge ſtarrte gen Himmel, ihre Haͤnde waren zu ihm empor gefaltet, in ihrem Geſichte gluͤhte feurige Andacht, die mir an Schwaͤrmerei zu grenzen ſchien, weil ſich oft die ſanften Zuͤge ihres ſo ſchoͤnen Geſichtes unregel - maͤßig verzogen. Ihr folgte ein kleines Muͤtter - chen, das vom Alter tief gebuͤckt war, es ſtrickte fleißig an einem Strumpfe, und ſchien ohne be - ſondere Theilnahme mit zu ſingen. Das Maͤdchen ſtand jetzt mitten unter den Grabhuͤgeln, ſein Gefuͤhl erhob ſich, ſeine Andacht verdoppelte ſich, ſie ſchwieg gedraͤngt von innerer Empfindung8 ſtille, ihre Lippen beteten, endlich begann ſie den Geſang von neuem. Da ſie ihn dreimal wieder - holte, ſo gewann ich Zeit, das ganze Lied in mei - ne Schreibtafel zu ſchreiben. Es ſind ſeit dieſer Zeit viele Jahre verfloſſen; aber wenn ich mich dieſes Lieds erinnere, ſo toͤnt es noch immer me - lodiſch in meinem Ohre. Man denke ſich ein ſchoͤnes Maͤdchen, das im groͤßten Gefuͤhle der Andacht, mit feſtem Glauben an ſichere Erhoͤ - rung, auf der hoͤchſten Zinne eines Berges ſteht, ſeine Haͤnde zum Himmel empor hebt, und mit einem Ausdrucke, der ſich nicht beſchreiben laͤßt, ſchoͤn und melodiſch ſingt, dann nur kann man die Empfindungen meſſen, die es in mir erregte. Das Lied hat gar keine poetiſchen Schoͤnheiten, iſt voll Fehler, aber es iſt mir heilig geworden, ich mag, ich wills nicht aͤndern, ich ſchreibe es woͤrtlich ab, ich fuͤge die harmoniſche Melodie bei, und erwarte den Eindruck, welchen es, ge - ſungen von einem ſchoͤnen Munde, auf meine Le - ſer machen wird:

Sei gegruͤßt viel tauſendmal!
Sei gegruͤßt! o Jungfrau rein!
Du wuͤrkſt Wunder ohne Zahl,
Du erhoͤreſt groß und klein!
Darum rufe ich zu dir:
Mutter Gottes! Ach, hilf mir!
9
Hier lieg ich zu deinen Fuͤßen,
Mutter Jeſu, hoͤr mich an!
Ich will meine Suͤnden buͤßen,
Die ich jemals hab gethan!
Darum rufe ich zu dir:
Mutter Gottes! Ach, hilf mir!
Wann einſt kommt mein Lebensende,
Und das matte Herz ſchon bricht,
Dann, o Mutter, zu mir wende
Dein liebreiches Angeſicht!
Darum rufe ich zu dir:
Mutter Gottes! Ach, hilf mir!

Als dieſes dreimal wiederholte Lied geendigt war, kniete das Maͤdchen nieder, es betete auf's neue inbruͤnſtig, und warf ſich endlich ganz auf die Erde. Die Alte lagerte ſich unfern davon auf einen Stein, ſtrickte emſig fort, und harrte ruhig des Endes. Mehr als eine Viertelſtunde herrſchte tiefe Stille um uns her, ich wagte es nicht, das Maͤdchen in ſeiner Andacht zu ſtoͤren, blieb unverruͤckt auf meinem Platze ſtehen. End - lich erhob ſich die Betende, ihr feuriges, aber Freude verkuͤndigendes Auge ſuchte die Alte. Mutter, liebe Mutter, ſprach ſie im feſten, zu - verſichtlichen Tone, ich habe die Seele des Moͤr - ders, der unter mir ruht, erloͤßt, eben iſt er mir erſchienen, und hat ſich freundlich bedankt.

10

Die Mutter. (ohne im Stricken inne zu halten) Nun! nun! Iſt ſchon recht!

Die Tochter. Itzt will ich nur noch dieſen hier (indem ſie mit dem Finger auf ein Grab zeigte) erloͤſen, und dann gehen wir heim!

Die Mutter. Aber es iſt ſchon hoch am Tage!

Die Tochter. Er ſeufzte ſo erbaͤrmlich. Hoͤrt nur, wie er ſtoͤhnt! Ich muß mich ja ſeiner er - barmen, damit mir dort auch einſt Vergebung werde.

Die Mutter. (im kalten Tone) Mach's nur nicht zu lange, ſonſt vergeht der ganze Vormittag. Du weißt, daß wir kein Brod haben; wenn du nicht fleißig ſpinnſt, ſo kann ich dir auch keins geben.

Die Tochter. Ich will hernach recht fleißig ſeyn, will's gewiß wieder einbringen, aber (mit ſchmerzhaftem Gefuͤhle) jetzt muß ich ja beten.

Sie gieng einige Schritte weiter, warf ſich auf ein anderes Grab, und betete von neuem. Das ſonderbare Geſpraͤch hatte meine Neugierde ſehr gereizt, ich ſchlich leiſe zur Mutter hinab, die mich freundlich gruͤßte.

Ich. Iſt dies Maͤdchen eure Tochter?

Die Alte. Ja, lieber Herr, ja! (ſie ſeufzte tief).

11

Ich. Warum ſeufzt ihr?

Die Alte. Hab's wohl Urſache! Bin eine ungluͤckliche Mutter! Erzog ein Kind, das mich einſt ernaͤhren ſollte, und kann's nun nicht hoffen.

Ich. Ein ſo andaͤchtiges Kind wird gewiß willig fuͤr ſeine alte Mutter arbeiten.

Die Alte. Ach, Herr! Sie war fromm und arbeitſam, ſie wuͤrde es noch ſeyn, wenn ſie nicht ihren Verſtand verlohren haͤtte!

Ich. (mit einem Seitenblicke nach der Betenden) Iſt ſie wahnſinnig?

Die Alte. Ja, leider! Schon ſeit einigen Jahren. Sonſt arbeitete ſie vom fruͤhen Morgen bis in die ſpaͤte Nacht, jetzt nur, wenn's ihr einfaͤllt.

Ich. Und was thut ſie ſonſt?

Die Alte. Beten, nichts als Beten! Oft, wenn ſie am Spinnrade ſitzt, und ich mir eben denke, daß ſich Gott ihrer erbarmt, ihr Leiden gelindert hat, ſpringt ſie auf, wirft ſich auf die Knie, und hat Erſcheinungen, die ſie den gan - zen Tag an der Arbeit hindern. Dann muß ich immer auch weinen, und komme mit meiner Strickerei ſchlecht vorwaͤrts. Gott! was wird am Ende noch aus uns werden, wenn mich endlich der Kummer auch auf's Lager wirft, und wir gar nichts mehr verdienen koͤnnen! Es mag12 viele ungluͤckliche Muͤtter auf der Welt geben, aber eine Mutter, die ein wahnſinniges Kind hat, iſt gewiß die ungluͤcklichſte unter allen.

Ich. Glaubt's nicht, gute Frau, glaubt's nicht! Waren die Muͤtter derjenigen Kinder, welche hier ruhen, nicht noch ungluͤcklicher?

Die Alte. Ach, Gott, ja wohl! Wenn ich mir dieſer Leiden denke, da wird mir angſt und bange: Drum hindere ich's auch nicht, wenn meine Tochter hieher beten geht. Sie hat zwar ihren Verſtand verlohren, aber beten kann ſie trotz einem Pfarrer; da denke ich mir denn, Gott muͤſſe ſo inbruͤnſtiges Gebet auch hoͤren, er hoͤrt ja das Lallen der Kinder, die eben ſo unvernuͤnf - tig, wie ſie, ſind.

Ich. Kommt ſie oft hieher beten?

Die Alte. Alle Freitage! Wenn's ſchlim - mes Wetter macht, und ich nicht mit ihr, ſie auch nicht allein gehen laſſen will, ſo weint ſie unaufhoͤrlich, und arbeitet den ganzen Tag nichts. Oft macht ſie mir ſo bittre Vorwuͤrfe daruͤber, daß ich mir ein Gewiſſen daraus mache, und ih - ren Willen erfuͤlle, weil fuͤr die armen Verlaßnen ohnehin wenige beten, und ſie ihrer großen Suͤn - den wegen doch alle im Fegfeuer ſchmachten muͤſ - ſen. Zwar, wenn's wahr iſt, was meine Toch - ter ſagt, ſo ſind ſie ſchon laͤngſt alle erloͤßt, aber wer kann's wiſſen; ſie mag daher beten, ſo lange ſie will.

13

Ich. Durch welchen Zufall iſt ſie denn wahn - ſinnig geworden?

Die Alte. Es kamen allerhand Umſtaͤnde zuſammen. Anfangs war ſie nur traurig und tief - ſinnig, hernach fieng ſie an irre zu reden, und ſo blieb's! (zu ihrer Tochter, welche ſich eben aufrichtete) Kaͤthe! Kaͤthe! Wollen wir nicht nach Hauſe gehen?

Kaͤtchen. Ja, liebe Mutter, ja! (ſie kam zu uns herab, ſchien aber noch im - mer zu beten).

Die Alte. (zu ihr) Siehſt du nicht, daß ein fremder Herr hier ſteht? (ſie gruͤßte mich freundlich) Du biſt ſehr erhitzt! (ihr den Schweiß abwiſchend) Ruhe ein wenig aus, dann wollen wir wieder gehen.

Kaͤtchen. (mit zufriedner Miene) Ich habe recht fleißig gebetet.

Die Alte. Daran fehlt's nie, wenn du nur auch arbeiten wollteſt.

Das arme, gute Kaͤtchen ſchien dieſen Vor - wurf nicht zu hoͤren, ſie genoß mit zufriedner Miene die Fruͤchte ihres Gebetes im Stillen, und ſetzte ſich ruhig der Mutter zur Seite. Ich hatte jetzt volle Gelegenheit, ſie genau zu betrach - ten. Ihr Geſicht war wuͤrklich ſchoͤn, ihre wohl - geformte Habichtsnaſe, ihr kleiner Mund, das große, ſchmachtende Auge erhob es weit uͤber das Alltaͤgliche! Wenn ſie ſtill vor ſich hinblickte, da14 glich ſie ganz einer Madonna, der eben ein Engel den Gruß des Herrn bringt; wenn ſich aber ihr Au - ge hob, und ſchuͤchtern umher blickte, da verrieth ein gewiſſes Etwas, das ſich nicht beſchreiben laͤßt, ihre innere Zerruͤttung. Ich wuͤrde ſie noch lange ſtillſchweigend angeſtaunt haben, wenn ihr umher irrendes Auge mich nicht gefaßt, und auf's neue freundſchaftlich gegruͤßt haͤtte.

Ich. Wie geht dir's, liebes Kaͤtchen?

Kaͤtchen. (freundlich und ſehr ge - ſchwaͤtzig) Gott ſei Dank, recht gut! Es beſ - ſert ſich taͤglich, ich habe Hofnung, meine Ver - nunft wieder zu erhalten, wenn ich dieſe einmal ganz beſitze, dann will ich recht fleißig arbeiten, und meine arme Mutter bis in den Tod redlich ernaͤhren.

Die Alte. Das gebe der liebe Gott!

Ich. Willſt du denn jetzt nicht auch ar - beiten?

Kaͤtchen. O freilich, ich arbeite immer, wenn ich nicht bete! Aber beten muß ich oft und viel, ſonſt kann ich nicht beſtehen! (mit zufriednem Tone) Ich habe heute ſchon zwei arme Seelen erloͤßt! (ſehr geſchwaͤtzig) Sehen Sie, ich will's Ihnen wohl erzaͤhlen, wie es mir eigentlich gekommen iſt. Es war am hei - ligen Abende, die Mutter hatte einen Butterwe - ken gebacken, ich weifte mein Garn ab, und der Butterwecken ſtand auf dem Tiſche, da kam15 mein Bruder von der Wanderſchaft heim. Es war in der Stube ſchon dunkel, ich konnte ihn nicht gleich erkennen, aber wie ich ihn erkannte, da hatte ich große, große Freude Mutter, ſprecht ſelbſt, ob ich mich nicht recht freute, ob ich ihn nicht herzlich kuͤßte?

Die Alte. Ja, ich muß es ſelbſt bezeugen!

Kaͤtchen. Und doch hat er mich neulich recht erbaͤrmlich gepeitſcht!

Die Alte. Weil du nicht folgen, nicht arbei - ten wollteſt.

Kaͤtchen. (nachdenkend) Wo bin ich denn geblieben?

Die Alte. Schweig nur, ſchweig! (zu mir) Sie wird mit ihrer Erzaͤhlung nie fertig, miſcht alles untereinander und verdirbt nur die Zeit, die uns zur Arbeit ſo nothwendig iſt.

Ich. Ich will ſie euch reichlich lohnen, aber erlaubt, daß ſie weiter erzaͤhlen darf.

Die Alte. Nun, ſo erzaͤhl, Kaͤthe, erzaͤhl, wenn's der Herr ſchon ſo haben will.

Kaͤtchen. So helft mir nur, Mutter! Ja, ja! ich weis ſchon alles ſelbſt! Du brauchſt das Haͤuschen nicht, ſagte der Bruder, fuͤr dich wird ſich keine Heirath finden, gieb mir's ich kanns beſ - ſer brauchen! (fuͤr ſich hinſtaunend) Ach, er war ſo ſchoͤn! weiß wie Milch, und roth wie Blut! Er liebte mich recht herzlich, und wollte16 mich heirathen, und mit mir in meinem Haͤus - chen wohnen; hernach deſertirte er, und da gab ich dem Bruder das Haͤuschen, und hernach hernach (mit ſchauderhaftem Gefuͤhle) haben ſie ihn erſchoſſen und unter den Galgen be - graben, und dann! Ach dann mußte ich immer, immer fuͤr ihn beten! Wie ich in die Kirche kam, da ſtand er am Altare und las die Meſſe; aber er war's nicht, nein, er war's nicht! Auf der Kanzel ſtand er auch einmal, aber er war's nicht, nein, er war's nicht; Ach, wenn ich ihn nur erloͤßt haͤtte! Ich muß beten, ich muß fuͤr ihn beten! Nein, er war's nicht! er war's nicht! (leiſe) Sie haben ihn erſchoſſen, und unter den Galgen begraben.

Sie betete jetzt ſtill vor ſich, ich wollte ſie nicht ſtoͤhren, nicht neue Gefuͤhle des Schmerzens in ihr wecken, und doch hatten die Bruchſtuͤcke ihrer Geſchichte mein Herz ſehr geruͤhrt, es wuͤnſchte, ſie ganz zu wiſſen, um vollkommnen Antheil dar - an nehmen zu koͤnnen. Ich wagte es, die Mut - ter auf's neue zu bitten, und fand ſie bereitwil - lig, mir alles zu erzaͤhlen. Mein ſeeliger Gatte, ſprach ſie, war ein ehrlicher und rechtſchaffner Mann, er wirkte Struͤmpfe, und ernaͤhrte mich und ſeine zwei Kinder redlich. Der Sohn lernte das naͤmliche Handwerk, und gieng hernach in die Fremde; da er den Vater ſchon viel gekoſtet hatte, ſich ſelbſt zu ernaͤhren im Stande war, ſo wollte er der Tochter doch auch etwas hinter -laſſen,17laſſen, und vermachte ihr in ſeinem letzten Wil - len das Haͤuschen, welches er mit ſauerm Schweiße erworben und erkauft hatte. Wenn Sie zum Thore hinein gehen, ſo koͤnnen Sie das Haͤuschen, rechts am Thurme angebaut, ſtehen ſehen, es iſt klein, ſehr klein, aber mein Gott - ſeeliger meinte, daß um des Haͤuschen willen ſich doch vielleicht ein junger Handwerksmann finden wuͤrde, der das Maͤdel heirathen, und mich mit ihr bis an meinen Tod ernaͤhren wuͤrde. Er ſtarb, wir weinten beide lange um ihn, und naͤhrten uns mit unſrer Haͤnde Arbeit. Unter der Zeit ward Friede mit den Preuſſen, die Sol - daten kehrten zuruͤck, mit ihnen kam auch ein junger Auslaͤnder an, welcher das Strumpfwir - kerhandwerk gelernt hatte, und durch Zufall mit meiner Tochter bekannt wurde. Wenn ich dann und wann in die Kirche gieng, und fruͤher nach Hauſe kam, ſo traf ich ihn immer bei ihr. Da er ſich ſelbſt gegen mich erklaͤrte, daß er redliche Abſichten auf's Maͤdchen habe, daß ſeine Kapi - tulation bald zu Ende gehe, und er ſich dann hier anſaͤſſig machen wolle; ſo konnte ich im Grunde gegen dieſen Umgang nichts Anwenden, aber er war mir doch auch nicht angenehm, weil ein Maͤdchen dadurch ſo leicht bei allen jungen Leuten verſchrien wird, und, wenn der Soldat nicht redlich denkt, am Ende ſitzen bleibt. Es war uͤbrigens ein lieber, ſtiller Menſch, der ſich nach dem Zeugniſſe aller, die ich darum befragte,Erſt. Baͤndch. B18gut und ehrbar aufgefuͤhrt hatte. Wenn ſie ihren Verſtand haͤtte, und aufrichtig reden wollte, ſo muͤßte ſie's ſelbſt geſtehen, daß ich ihr alles, was aus dieſem Umgange uͤbles entſtehen koͤnne, muͤtterlich vorgeſtellt habe; aber ſie war dazumal ein leichtes, fluͤchtiges Ding, ließ meine Ermah - nung zu einem Ohre hinein zum andern hinaus - gehen, und ſaß immer wieder mit ihrem Solda - ten auf der Ofenbank, wenn ich fruͤher als ge - woͤhnlich heimkam. Bald hernach kam mein Sohn aus der Fremde zuruͤck, er hatte ſich in ſeinem Handwerke freilich manche Kenntniß, aber kein Geld geſammlet, er hofte ſich jetzt zu Hauſe beſ - ſer zu ernaͤhren, und hoͤrte mit Wehmuth, daß ſein verſtorbner Vater der Schweſter das Haͤus - chen vermacht hatte, worauf er ſeine groͤßte Hof - nung gegruͤndet hatte. Beide waren meine Kin - der, ich wuͤnſchte von ganzem Herzen, beide gluͤcklich zu ſehen, da aber der Sohn jetzt am er - ſten Huͤlfe bedurfte, ſo laͤugne ich's nicht, daß ich oft ſelbſt der Tochter zuredete, ſie moͤchte ihm das Haͤuschen abtreten. Er konnte in dieſem Falle ſogleich ſein Handwerk treiben, ſich wahr - ſcheinlich bald gluͤcklich verheirathen, und mir Un - terhalt auf meine alten Tage ſichern. Anfangs wollte ſie von dieſem Vorſchlage gar nichts hoͤ - ren, berief ſich immer auf's vaͤterliche Teſtament, und verſicherte mich, daß ihr Soldat eben ſo gute Struͤmpfe wirken, und mich auch ernaͤhren koͤnne. Als aber kurz nachher die Garniſon verwechſelt19 wurde, und ihr Geliebter nach der Hauptſtadt zu liegen kam, auch, ungeachtet ſeines Verſpre - chens, nichts von ſich hoͤren ließ, da ward ſie un - gewoͤhnlich traurig und ſtille, arbeitete zwar im - mer, aber nicht mehr ſo fleißig, und verdiente kaum dasjenige, was ſie ſelbſt zu ihrer Nahrung brauch - te. Ich machte ihr daruͤber Vorwuͤrfe, bewies ihr deutlich, daß man ſich auf's Verſprechen der jun - gen Soldaten nicht verlaſſen koͤnne, und rieth ihr muͤtterlich, ſich in ihr Schickſal zu fuͤgen, und denjenigen zu vergeſſen, der ganz gewiß ihrer ſchon laͤngſt vergeſſen habe. Sie verſprach Folge zu leiſten, weinte aber immer noch im Stillen, und weigerte ſich hartnaͤckig, dem Bruder das Haͤuschen abzutreten, der es, da ſich eben eine Heirath fuͤr ihn fand, hoͤchſt noͤthig brauchte. Man ſah aus dieſer Weigerung deutlich, daß ſie immer noch auf die Zuruͤckkunft ihres Soldaten hofte; da dieſe aber nie erfolgte, ſo war mir's lieb und angenehm, wenn ihr der Bruder oft die Unmoͤglichkeit zu beweiſen ſuchte. An Oſtern vor drei Jahren kam er mit der Nachricht heim, daß der ſo lange erwartete Geliebte auf's neue kapi - tulirt haͤtte, und kurz nachher, vielleicht aus Reue, mit vielen andern deſertirt ſey. Er gab vor, daß er dieſe Nachricht aus dem Munde ei - nes Fuhrmanns gehoͤrt habe, welcher eben in der[Hauptſtadt] war, als der Ungluͤckliche wieder zu - ruͤck gebracht, und in's Stockhaus gefuͤhrt wurde. Meine Tochter hoͤrte dieſe traurige Nachricht mitB 220Entſetzen, ſie ſprach kein Wort, weinte aber die ganze Nacht bitterlich, und erregte durch ihr Schluchzen mein Mitleid. Ich hielt gleich An - fangs die ganze Erzaͤhlung meines Sohnes fuͤr Erdichtung, und ſprach am Morgen deswegen hart mit ihm, weil er mir und ſeiner Schweſter ſo unverdiente Kraͤnkung mache; aber er behaup - tete ſeine Ausſage, und fuͤhrte kurz darauf den Fuhrmann ſelbſt in unſere Stube, der alles be - ſtaͤtigte, und noch hinzufuͤgte, daß der Entflohne wohl ſchwerlich mit dem Leben davon kommen wuͤrde, weil er ſich bei ſeiner Gefangennehmung widerſetzt, und einige Bauern ſchwer verwundet habe. Kaͤtchen hatte ſich eben an ihren Spinn - rocken geſetzt, als er dies erzaͤhlte; wie ich den Mann hinausbegleitete, und ingeheim noch ein - mal nach ſicherer Nachricht forſchen wollte, hoͤrte ich in der Stube einen Fall, ich ſprang hinein, und meine Tochter lag ohnmaͤchtig am Boden. Sie muß durch dieſen ungluͤcklichen Fall ſich et - was im Gehirne verletzt haben, denn von dieſer Zeit an war's nicht mehr richtig mit ihr. Ich ſchleppte ſie auf's Bette, ſie ſprach ſogleich irre, ſah mich fuͤr den Soldaten an, und nahm ſo ruͤhrend von mir Abſchied, daß ich ſelbſt mit weinen mußte. Am Mittage bewegte ich ſie doch, ſich mit uns zu Tiſche zu ſetzen, ihr Bru - der lenkte das Geſpraͤch auf's Haͤuschen, und ſie war ſogleich willig, es ihm abzutreten. Ich muß noch weinen, wenn ich daran denke: Gott ſchenke21 dir die Freuden, ſagte ſie zu ihm, die ich in die - ſem Haͤuschen zu genießen hofte, und du wirſt gewiß recht gluͤcklich und zufrieden darinne leben! Sie arbeitete die folgenden Tage nicht, und brachte ſie meiſtens in der Kirche betend zu, ich war mit der nahen Hochzeit meines Sohnes be - ſchaͤftigt, und konnte ſie nicht immer beobachten. Am Abende vor dieſer vermißte ich ſie erſt ſpaͤt, ſuchte ſie in allen Haͤuſern vergebens, und mußte die Nacht hindurch troſtlos um ſie jammern. Fruͤh, als der Tag graute, gieng ich wieder nach ihr umher. Gott weis, wie mir dazumal zu Muthe war, ich beweinte ſie ſchon als todt, und ſuchte ihren Leichnam an der Eger. Einige Kin - der verſicherten mich, daß ſie ſolche am ſpaͤten Abende auf dem Galgenberge geſehen haͤtten, ich eilte dahin, und fand ſie mitten unter den Graͤ - bern auf der Erde liegend, ſie war mehr todt als lebendig, ihre rothen Augen bewieſen deutlich, daß ſie die ganze Nacht geweint hatte. Sie kannte mich nicht, ſprach ganz irre, und behaup - tete, daß man ihren Geliebten erſchoſſen, und unter den Galgen begraben habe. Moͤglich und wahrſcheinlich iſt, daß ihr vielleicht irgend ein lo - ſer Bube dieſe Nachricht, welche ſich nie beſtaͤtig - te, erzaͤhlt hatte, denn wenn ich ſie eines andern uͤberreden wollte, ſo ſagte ſie immer: Er hat mir's ja erzaͤhlt! Er hat's beſchworen! Ich brachte ſie nur mit Muͤhe heim, ich mußte ſie bald hernach zu einer Verwandtin fuͤhren, weil22 ſie die Hochzeitmuſik nicht hoͤren konnte, und daruͤber ganz raſend wurde: Von dieſer Zeit an iſt's mit ihr ſo, wie Sie ſolche jetzt ſehen, ge - blieben, bald ſchlimmer, bald auch etwas beſſer. Manchmal arbeitet ſie einige Tage anhaltend und fleißig, manche Woche auch gar nichts, und da geht mir's ſehr hart, weil ich nicht ſo viel ver - dienen kann, als wir zu unſerm nothwendigen Unterhalte brauchen.

Ich. Ernaͤhrt ſie und euch denn nicht der Bruder, es iſt ja ſeine Schuldigkeit?

Die Alte. Lieber Gott, wo ſoll er's herneh - men, wenn er's auch thun wollte. Das Hand - werk geht jetzt ſehr ſchlecht, er hat vollauf zu ſtreiten, um ſein Weib und ſeine zwei kleine Kin - der zu ernaͤhren, er kann uns mit nichts unter - ſtuͤtzen. Bekaͤme ich nicht als eine arme Buͤr - gersfrau alle Wochen einige Groſchen aus dem Spitale, ſo muͤßten wir oft hungrig ſchlafen gehen.

Ich. Aber die Aermſte klagte vorhin, daß er ſie unbarmherzig peitſchte, dies ſollte er doch nicht thun, und ihr eben ſo wenig zulaſſen.

Die Alte. Es thut dem muͤtterlichen Herzen ſehr weh, wenn es zu dieſem letzten Mittel ſchrei - ten muß. Aber, lieber Herr, Hunger thut auch weh! Wenn ſie ſo eine ganze Woche im Bette liegt, oder umher ſchlendert, ſtaͤrker als mancher Holzhauer ißt, und doch nichts arbeiten will, da23 reißt endlich die Geduld. Sie fragt nicht: Mut - ter! Wo nehmt ihr's Brod her? Wie koͤnnt ihr's verdienen? Sie fordert ihr richtiges Eſſen, und zankt wohl noch obendrein mit mir, wenn ich's aus Noth knapp zurichte. Ich dulde lange, aber wenn ich gar keine Huͤlfe mehr ſehe, dann muß ich zur Schaͤrfe ſchreiten.

Ich ſchwieg lange, ich konnte nicht mehr fra - gen, das unverdiente Leiden der Ungluͤcklichen preßte mein Herz zu ſtark. Ich verſetzte mich in ihren Zuſtand, dachte mir ihre Lage und fuͤhlte ſie ſchrecklich. Ewig von ſchwarzen Bildern und Traͤumen, die ihre uͤberſpannte Einbildungskraft ſich taͤglich neu ſchaft, gequaͤlt und gemartert, uͤberall von dem blutenden Geliebten ihres Her - zens begleitet, immer mit ſeiner ſchrecklichen Er - ſcheinung geaͤngſtiget, ſtets Troſt ſuchend, und ihn ſelbſt im Tempel des Ewigen nicht findend! Gepeitſcht von einem Bruder, dem ſie alles, was ſie beſaß, freiwillig opferte! O es muß ein ſchreckliches Gefuͤhl ſeyn! Es kann kein un - gluͤcklicheres Geſchoͤpf auf dieſer Welt umher wal - len! Ich blickte nach ihr hin, ſie ſaß ruhig und ſorglos da, ſchien von allem, was ihre Mutter erzaͤhlt hatte, nicht das geringſte gehoͤrt zu ha - ben, ſie betete noch immer, wenigſtens verriethen es ihre Lippen, die ſich unaufhoͤrlich bewegten, indeß ihr Auge in die ferne Gegend ſtarrte, und oft freundlich laͤchelte.

24

Ich. (heimlich zur Mutter) Hat ſich denn der Tod ihres Geliebten beſtaͤtigt?

Die Alte. Ach, leider, nein! Ich erfuhr's nachher ſpaͤter, daß er weder auf's neue kapitu - lirt habe, noch auch deſertirt ſei. Es kamen ſo - gar einige Briefe auf der Poſt an meine Tochter, ich konnte ſie vor Jammer nicht leſen, er ver - ſprach ihr, wie mir andre ſagten, noch immer's Heirathen. Ich ließ ihm den Zuſtand meines Kindes berichten; ſeit der Zeit haben wir keine Nachricht mehr von ihm erhalten.

Ich. Großer Gott! das war zu hart! Man raubte ihr alſo ihr Haͤuschen mit Liſt; und mit dieſem auch ihren Verſtand!

Die Alte. (weinend) Ich habe keinen Theil an der That, ich darf ſie einſt auch nicht verantworten. War's Betrug, ſo ward ich mit ihr betrogen.

Ich. Habt ihr ſie denn nicht von dem Leben ihres Liebhabers unterrichtet? Ihr nicht ſeine Briefe gezeigt?

Die Alte. Wir thaten's, aber es wurde ſchlimmer mit ihr. Sie glaubte es nicht, und hatte nachher oͤftere Erſcheinungen, die ſie oft bis zur Raſerei brachten.

Kaͤtchen. (aufſtehend) Kommt Mut - ter, wir wollen nach Hauſe gehen, wir haben kein Brod, ich muß arbeiten! (mit vieler Freude) Ach, ich werde heute recht fleißig25 ſeyn, denn ich war ſo gluͤcklich, zwei arme See - len zu erloͤſen! (mit Wehmuth). Wenn ich ihn nur auch erloͤſen koͤnnte! Es wird mir doch noch gelingen, die Mutter Gottes hat es mir ſchon oft verſprochen! Wenn ich nur mit dem rechten Fuß in die Kirche treten koͤnnte, aber ſo ſehr ich mich auch bemuͤhe, ſo kommt der linke immer voraus, und dann iſt s vorbei! Ich muß nur recht fleißig beten, dann wird's ſchon gehen, dann kann ich und er noch recht gluͤck - lich werden.

Sie gieng nun bergabwaͤrts, faltete ihre Haͤn - de, machte einige Schritte, und blieb dann im - mer gen Himmel blickend ſtehen. Die Mutter folgte, ich gieng mit dieſer, und erfuhr von der gutherzigen Alten noch manchen Umſtand, der mir merkwuͤrdig duͤnkte. Kaͤtchen verabſcheut den Tanz und kann keine Muſik hoͤren, wenn eine Hochzeit vor ihrem Fenſter voruͤber zieht, ſo ver - kriecht ſie ſich in ihr Bette, das ſie dann ſelten an dieſem Tage wieder verlaͤßt; wenn aber eine Leiche zum Thore hinaus getragen wird, ſo hin - dert ſie nichts, ihr zu folgen, und lange am Grabe des Verſtorbnen zu beten. Oft erſcheint ihrem phantaſiereichen Auge die Mutter Gottes, und verbietet ihr, die Stube zu verlaſſen, dann iſt nichts vermoͤgend, ſie in's Freie zu locken, wenn aber ein Soldat voruͤber geht, ſo eilt ſie, ungeachtet des Verbots, hinaus, und ſtarrt ihm lange nach. Sie geht ſehr fleißig in die Kirche,26 aber ſie betritt nie einen Stuhl, geht mit abge - meſſenen Schritten immer auf und nieder, laͤchelt links und rechts, und bleibt oft ſtundenlang vor einem Altare oder vor der Statue eines Heiligen ſtehen. Ihr Auge wird dann aͤußerſt beredt, es ſcheint mit der Statue zu ſprechen. Man kann, wie ich ſpaͤter ſelbſt beobachtete, deutlich ſehen, wenn ihr Herz Freude oder Leid empfindet, oft ſcheint ſie mit ſehnſuchtsvollem Blicke einer Ant - wort entgegen zu harren, und wenn dieſe ihrer Phantaſie gemaͤß endlich erfolgt, ſo dankt ihr Au - ge mit einem Ausdrucke, der ſich um ſo weniger beſchreiben laͤßt, weil die uͤbrigen Theile des Ge - ſichts gar keinen Antheil daran zu nehmen ſchei - nen, und bei dem Geſpraͤche ihrer Augen ganz gleichguͤltig bleiben.

Ehe wir das Thor erreichten, nahm ich Ab - ſchied von Mutter und Tochter; daß ich gab, was ich vermochte, und dann erſt ſchied, brauche ich wohl nicht weiter zu erwaͤhnen; ich konnte, ich wollte der Ungluͤcklichen nicht nach der Stadt folgen, meine Seele war truͤb und duͤſter, mein Herz traurig, ich ſuchte mich im Anſchauen der ſchoͤnen Natur zu zerſtreuen; aber es gelang nicht. Der Nebel war verſchwunden, heiter ſtand die Sonne am Himmel, ſchoͤn bluͤthen die Baͤume, melodiſch ſangen die Voͤgel, aber mein Herz blieb traurig, es haderte mit dem Ungluͤcke, das in ſo mancherlei Geſtalten hinter dem Menſchen einher wandert, und ihn oft ſchrecklich mißhandelt. 27 Wie ich wieder heimkehrte, erblickte ich das kleine Haͤuschen, worinne Kaͤtchen wohnte, es hieng gleich einem Schwalbenneſte am Thurme, zwei kleine Gemaͤcher fuͤllten es ganz, und die mit Papier verklebten Fenſterſcheiben verkuͤndigten laut die Armuth ſeiner Bewohner! Und doch war dies elende Haͤuschen Schuld an Kaͤtchens Ungluͤ - cke! War Urſache, daß das Meiſterſtuͤck der Schoͤpfung zerruͤttet umher wandelt! O Men - ſchen, ſeid nicht allzuſtolz auf euren Verſtand! Er iſt ein armſeliges Ding, eine zerbrechliche Waare in der Hand eines Kindes, das ſie ſorg - los auf den Boden fallen laͤßt, und auf immer zertruͤmmert!

Nach zehn langen Jahren fuͤhrte mich mein Schickſal wieder in Ellbogens Mauern! Mein er - ſter Blick war auf Kaͤtchens Haͤuschen gerichtet, die Anzahl der papiernen Scheiben hatte ſich in ihren Fenſtern anſehnlich vermehrt, und weiſſagte groͤßere Armuth. Ich beſuchte ſie am andern Morgen, die alte Mutter lebte noch immer, ſie empfing mich freundlich, aber Kaͤtchen ſahe ich nicht. Eine Empfindung, die Schmerz und Freu - de zugleich erregt, oder wenigſtens die Graͤnzlinie zwiſchen beiden beſtimmt, durchzitterte mein Herz, ich wuͤnſchte ſie wieder geſund zu ſehen, aber ich goͤnnte auch eben ſo willig ihrem leidenden Herzen die ſanfte, einzige Ruhe, wenn ſich's unter der Zeit nicht mit ihr gebeſſert haͤtte. Lebt Kaͤtchen nicht mehr? fragte ich forſchend. Das traurige28 Geſicht der Alten, mit welchem ſie ihre Haͤnde faltete, der langſame Athemzug, mit welchem ſich ein tiefer Seufzer von ihrer Bruſt loͤßte, ſchien mir im Voraus die Gewißheit ihres Todes zu verkuͤndigen, aber ich betrog mich diesmal ganz. Ach, Gott, ſprach die Alte, ſie lebt noch immer! Ihr Elend verbittert mir noch ſtets meine alten Tage, die ſich, wenn Jammer und Kummer ſie anders verkuͤrzen, bald enden muͤſſen.

Ich. Wo iſt ſie denn? Gewiß nicht zu Hauſe?

Die Alte. (nach einem Winkel hin - zeigend) da ſitzt ſie ja, und verzehrt eben ihr Morgenbrod! Komm her, Kaͤthe, und bewill - komm den Herrn!

Eine ſchlecht gekleidete Geſtalt erhob ſich nun aus dem Winkel und trat naͤher, ſie hielte in ih - rer gelben Hand ein Stuͤck ſchwarzes Brod, indeß ihr welkes, bleiches Geſicht daran kaute, und mich mit einem verzerrten Laͤcheln gruͤßte.

Ich. Unmoͤglich, das iſt nicht Kaͤtchen!

Die Alte. Ach, leider, iſt ſie's! (im bit - tern Tone) Ja, Herr! So kann Kummer und Elend arbeiten, ſo kann's zernichten, was Gott ſelbſt wohl gemacht nannte! (mit der Hand in der Stube umherzeigend) Sie ſehen hier die Werkſtaͤtte des Jammers, (auf Kaͤtchen deutend) und dies iſt ſein Meiſter - ſtuͤck. Ich fand keine Worte, meine Ver -29 wunderung auszudruͤcken, Kaͤtchen war vor zehn Jahren wirklich ein ſchoͤnes Maͤdchen, jetzt war ihr Geſicht bis zur Haͤßlichkeit herabgeſunken, nicht eine Spur der ehemaligen Schoͤnheit war mehr vorhanden, alle die ſo intereſſirenden, anzie - henden Mienen waren verſchwunden, ihr Auge ſelbſt war kleiner geworden, dicke, verzerrte Fal - ten umhuͤllten es. Ihr Geſicht verkuͤndigte nicht mehr unterdruͤckte Unſchuld, inneres Leiden, es war jetzt das Bild der vollendeten Narrheit. Ihr Haar, das ſich ehemals in natuͤrlichen Locken um Nacken und Schulter wiegte, war jetzt in einan - der gewirrt, und hob die Haube empor, die es decken ſollte. Fahles Gelb hatte die blaſſe Roͤthe ihrer Wangen verdraͤngt, ihr Kopf hing ſeit - waͤrts, ſelbſt ihr Koͤrper war kleiner geworden. So geht's ihr jetzt wohl ſchlimmer rief ich endlich nach langem Staunen aus.

Die Alte. Schlimmer eben nicht, nur daß jetzt auch die Hofnung zur Beſſerung ſchwindet. Sie treibt's noch immer im Alten, arbeitet nur, wenn's ihr beliebt, und betet ohne Unterlaß. Das Andenken an ihren Liebhaber, vorzuͤglich aber ſein eingebildetes, blutiges Ende, ſcheint nach und nach ganz aus ihrem Gedaͤchtniſſe zu verſchwinden, ſie ſpricht ſelten mehr von ihm, und nur in allgemeinen, fluͤchtigen Ausdruͤcken, aber der Verluſt ihres Haͤuschens liegt ihr noch gleich ſtark am Herzen, von dieſem ſpricht ſie oft und vielmals. Ich wollte noch vieles mit der30 Alten und Kaͤtchen ſprechen, noch manches ſie fragen; aber ich war's nicht vermoͤgend, inniges Mitleid mit ihrem jammervollen Zuſtande, und die gewiſſe Ueberzeugung, daß ich durch Fragen ihn nicht lindern koͤnnte, trieb mich in's Freie. Ich ſah und ſprach ſie nach der Hand oft, aber ich ſah und ſprach ſie nie, ohne mich immer deut - licher zu uͤberzeugen, daß der Verluſt des Ver - ſtandes jeden Vorzug des menſchlichen Koͤrpers, den er vor dem Thiere hat, nach und nach zer - ſtoͤrt, und ihn ganz bis zu dieſem herab - wuͤrdigt.

Kaͤtchen traͤumt oft und viel, erzaͤhlt jeden ihrer Traͤume am Morgen wieder, aber alle dieſe Traͤume haben keine Spur des Wahnſinns, ver - rathen oft viele und feine Beurtheilungskraft. Dieſer Umſtand war mir von jeher auffallend und merkwuͤrdig. Wenn ihr Koͤrper ruht, ihre Sinne keines Eindrucks faͤhig ſind, ſcheint ihr Geiſt faͤ - hig zu ſeyn, richtig denken und ſchließen zu koͤn - nen; aber ſobald ihr Koͤrper erwacht, ſind ihre Ideen wieder ganz zerruͤttet, voll des ſtaͤrkſten Wahnſinns! Sie ſingt ihr Lied noch im - mer, aber jetzt erregt's in ihrem Munde nicht mehr Bewunderung, nur Mitleid und Er - barmen.

Empfindſame Seelen, wenn ihr einſt in Ell - bogens romantiſchen Gegenden luſtwandelt, ſo ge - denkt des armen und nothleidenden Kaͤtchens! 31Weilt bei ihrem kleinen Haͤuschen, laßt eurer Lin - ken nicht wiſſen, was eure Rechte giebt! die alte Mutter wird's mit Danke, mit Thraͤnen empfan - gen, und Gott wird's lohnen!

Joſeph Karl.

Als ich vor zwei Jahren den wuͤrdigen und ver - dienſtvollen Freiherrn Emanuel M von W zu N in Boͤhmen beſuchte, ſeine vortrefliche Oekonomie bewunderte, und in ſeinen fruchtbaren Gefilden luſtwandelte, erblickte ich mitten im freien Felde einen Mann, deſſen Phyſiognomie mich ſo - gleich anzog, und mir in jedem Falle etwas außeror - dentliches verkuͤndigte. Er ſtand im Schatten ei - nes einzelnen Birnbaums, war angelehnt an ſei - nem Stamme, hielt ein gedrucktes Blatt in ſeiner Rechten, und ſchien den Inhalt deſſelben mit gie - rigem Blicke zu verſchlingen. Sein grauer, et - was abgetragner und doch noch ſaubrer Rock, ſei - ne ſchwarze Weſte und Beinkleider ließen mich mit Grunde muthmaßen, daß er ein Dorfſchul - meiſter ſei, der ſchwarz gebrannte Knotenſtock, welcher neben ihm lehnte, beſtaͤtigte dieſe Muth - maßung, aber der Kopf des Mannes wider - ſprach ihr ganz. So, dachte ich, indem ich ihn32 betrachtete, muß Sokrates ſtudiert, ſo tief und forſchend muß er geblickt haben, als er die Gruͤn - de zum Beweiſe ſeiner Unſterblichkeit ſammelte. Ein duͤnnes, ſchon vom Alter gebleichtes Haar beſchattete ſparſam ſeine Schlaͤfe, und verrieth deutlich den Mangel an Saͤften, die ihm anhal - tendes Studium geraubt hatte. Seine breite, hochgewoͤlbte Stirne, welche ſich maͤchtig faltete, verrieth den Forſcher und Denker, ſeine lange, ſpitzige Habichtsnaſe beſtaͤtigte dieſe Muthma - ſung, der unmerkbar laͤchelnde Mund bewies in - nere Zufriedenheit und Seelenruhe. Das Ganze dieſes merkwuͤrdigen Geſichts heiſchte Ehrfurcht, und ſchien ſie ganz zu verdienen. Ich wagte es nicht, ihn im Leſen zu ſtoͤren, und wollte ruhig harren, bis er geendet habe, um dann Bekannt - ſchaft mit einem Manne zu machen, deſſen Aeuſ - ſeres ſo viel verſprach. Ein kleines Geraͤuſch, das ich nach langem Harren abſichtlich erregte, und wodurch ich ſeine Aufmerkſamkeit auf mich ziehen wollte, mißlang ganz, es ſtoͤhrte ihn nicht in ſeinem tiefen Nachdenken, mit welchem er noch immer den Inhalt des Blattes zu beherzigen ſchien. Ich harrte auf's neue, aber vergebens, endlich bewog mich mein kleines, dichteriſches Verdienſt, womit ich freilich nur in entfernter Ehrfurcht auf die Bekanntſchaft eines Philoſo - phen Anſpruch machen konnte, zu der Kuͤhnheit, mich ihm zu naͤhern. Der Schatten meines Haup - tes fiel auf ſein Blatt, er blickte ſeitwaͤrts, undſah33ſah mich vor ſich ſtehen. Darf ich wohl ſo frei ſeyn, ſprach ich mit der ad captationem benevolen - tiae erforderlichen Ehrfurcht, und Sie, beſter Herr, auf einige Augenblicke in ihren tiefen Be - trachtungen ſtoͤhren? Ein langer, anhaltender Blick war ſeine ganze Antwort; aber es lag ſo viel in dieſem einzigen Blicke, daß ich einige Sei - ten brauchen wuͤrde, um alles zu beſchreiben, was ich darinne eben ſo deutlich las, als wenn er mir's mit den ausdruckvollſten Worten geſagt haͤtte. Anfangs ſchien ſein Blick Zorn zu verkuͤn - digen. So, dachte ich, zuͤrnt ein Koͤnig, der eben das Wohl ſeines Landes entſcheiden will, und in dieſer Entſcheidung durch einen unver - ſchaͤmten Bettler geſtoͤhrt wird. Bald hernach wandelte ſich dieſer grimmige Blick in ein unnach - ahmliches Laͤcheln um, welches uͤber ſein ganzes Geſicht eine herablaſſende Freundlichkeit oder viel - mehr Huld verbreitete, die mir großmuͤthige Ver - zeihung ankuͤndigte. So, dachte ich dankend, ver - zeiht ein Koͤnig die unverſchaͤmte Kuͤhnheit, und winkt dem Verbrecher Gnade zu. Der ganze Blick, im Zuſammenhange uͤberſetzt, ſchien ungefaͤhr zu ſagen: Kuͤhner Sterblicher! deine Keckheit iſt groß, aber meine Milde kennt keine Graͤnzen, ich verzeihe ſie dir willig!

Ehe ich eine neue Entſchuldigung wagen konn - te, wandte er ſich abſeits, ſteckte ſein Blatt inErſt. Baͤndch. C34die Taſche, ergriff ſeinen Knotenſtock, und wan - derte feldeinwaͤrts. Ich wagte es nicht, ihm nachzublicken, vielweniger zu folgen, und war vollkommen zufrieden, daß er mir meine Kuͤhn - heit ſo großmuͤthig vergeben hatte. Ich ſchlich endlich auch weiter, die herrlichſten Kornfelder wallten vor mir in unzaͤhlichen Wellen, ich wollte die groͤßten Aehren meſſen, aber der tiefdenkende Mann ſchien wieder vor mir zu ſtehen, und ich wich ehrfurchtsvoll zuruͤck. Daß dieſer Mann ein großer Philoſoph, ein tiefdenkender Forſcher, ein Haller oder ein Euler ſeyn muͤſſe, kam mir nun nicht mehr aus dem Sinne. Seine Phyſiognomie hatte mich davon zu deutlich uͤberzeugt, und Zwei - fel waͤre nach ſo feſter Ueberzeugung in dieſen Au - genblicken Thorheit geweſen. Meine Neugierde regte ſich nach und nach maͤchtig, ich wuͤnſchte ſo herzlich zu erfahren: wer er eigentlich ſei? Ob vielleicht, was mir am wahrſcheinlichſten duͤnkte, der fremde Gelehrte in nahen Badoͤrtern die Kur brauche, und gleich mir eine Spazierreiſe nach dieſen ſchoͤnen Gefilden gemacht habe? Ueber bei - de Fragen hofte ich daheim naͤhere, wenigſtens ei - nige Auskunft zu hoͤren, und beſchleunigte daher meinen Ruͤckweg.

Wie ich am Schloſſe anlangte, verkuͤndigte die Glocke den Mittag, ich eilte ſtaͤrker, und er - blickte im Hofe auf's neue den mir ſo merkwuͤrdi - gen, grauen Mann, er ſtand mit dem Ruͤcken ge -35 gen mich gekehrt, und zeichnete mit ſeinem Stocke einige Figuren im Sande. Meine Ehrfurcht wag - te es nicht, ihn zu ſtoͤhren, aber mein Herz labte ſich mit der angenehmen Hofnung, daß der gaſt - freie Herr des Schloſſes den ſeltnen Gelehrten ſi - cher zur Tafel geladen habe, und es mir dann beſſer gluͤcken werde, Bekanntſchaft mit ihm zu machen. Ich erwog eben: ob dieſe Figuren nicht irgend eine mathematiſche, aͤuſſerſt ſchwere Aufga - be loͤſen ſollten? als ein Ochſenknecht nahe an dem grauen Manne voruͤber gieng und ihn mit einer treuherzigen Freundlichkeit auf die Achſel klopfte. Wie gehts? Karl, wie gehts? fragte er ihn lachend, und drehte ihn, zu meinem groͤßten Erſtaunen, einigemal im Kreiſe herum. Gott im Himmel, dachte ich, der Kerl verkennt ihn ſicher, er wird's fuͤr Beleidigung nehmen, und vielleicht die Einladung verſchmaͤhen! Aber der graue Mann dachte, zu meiner groͤßten Freude, billiger. Ein Blick, eben ſo zornig, und am Ende eben ſo guͤtig, wie derjenige war, den ich vor kurzem ſo bewundert hatte, war alles, womit er dieſe rohe Beleidigung ahndete. Sein Stock war ihm im Drehen entfallen, er hob ihn ſtillſchweigend auf, und zeichnete von neuem. Da der kuͤhne Knecht bei mir voruͤber gieng, ſo hielt ich's fuͤr Pflicht, ihn auf ſeinen groben Fehler aufmerkſam zu ma - chen, und in Guͤte zur Abbitte zu bewegen.

C 236

Ich. Kennt ihr denn den Herrn dort?

Der Knecht. He? Was ſagen Sie?

Ich. Ob ihr den Herrn dort kennt?

Der Knecht. Welchen Herrn?

Ich. Den ihr vorhin im Kreiſe herum dreh - tet, der jetzt mit ſeinem Stocke am Boden zeich - net.

Der Knecht. Ach! den Herrn! (lachend) den kenne ich recht gut!

Ich. Wer iſt er denn?

Der Knecht. Der naͤrriſche Schneider aus Neukirchen.

Ich. Naͤrriſche? Schneider? O ihr ſeid wohl ſelbſt nicht recht bei Sinnen!

Der Knecht. Gott ſei dank, noch bin ich's, ob's mich aber nicht auch einmal treffen kann, ſteht bei ihm!

Ich. Unmoͤglich! Unmoͤglich! Dieſer Mann ſollte naͤrriſch ſeyn?

Der Knecht. (weiter gehend) Nun ge - ſcheid iſt er wenigſtens nicht, das werden Ihnen alle Leute ſagen, wenn Sie mir's nicht glauben wollen.

Hier ſtand ich, betrogen in meiner Erwartung, worauf ſich die Hofnung der naͤhern Bekanntſchaft mit einem großen Gelehrten gegruͤndet hatte, ich war unentſchloſſen: Ob ich der Ausſage des37 Knechts Glauben beimeſſen? Nicht vielmehr die - ſen fuͤr wahnſinnig halten ſollte? Wenigſtens ſchien des letztern Phyſiognomie nicht zu wider - ſprechen, da des grauen Mannes ſeine hingegen offenbar das Gegentheil bewieß. Um nicht laͤn - ger im Labyrinthe ungewiſſer Zweifel umher zu irren, eilte ich in's Schloß; ich erblickte unter mehrern Gaͤſten den ſo redlichen und wuͤrdigen Pfarrer des Orts und fuͤhrte ihn ſogleich an's Fenſter.

Ich. (mit geſpannter Erwartung) Kennen Sie den grauen Mann, welcher mit ſei - nem Stabe am Boden zeichnet?

Der Pfarrer. Ich kenne ihn.

Ich. Wie heißt er? Wer iſt er?

Der Pfarrer. (laͤchelnd) Ein großer, ein wichtiger Mann!

Ich. (mit innerer Selbſtzufrieden - heit) Dacht's ja gleich, daß mich mein Bischen phyſiognomiſche Kenntniß nicht truͤgen koͤnne.

Der Pfarrer. Und fuͤr was nahm ihn dieſe?

Ich. Fuͤr einen großen Philoſophen, fuͤr ei - nen tiefdenkenden Forſcher, fuͤr

Der Pfarrer. O gefehlt, weit gefehlt!

Ich. Gefehlt? Sollte er mehr noch ſeyn?

Pfarrer. Allerdings! Verſteht ſich aber in ſeiner Einbildung.

38

Ich. (im ſinkenden Tone) Einbildung?

Pfarrer. Ja, denn in der Wirklichkeit iſt er nur ein armer Schneider.

Ich. Ein armer Schneider?

Pfarrer. Der lange ſchon ſeinen Verſtand verlohren hat, ſich aber in ſeinem Wahnſinne groͤ - ſer, und wahrſcheinlich auch gluͤcklicher, als wir alle, duͤnkt.

Ich. So waͤre er wirklich wahnſinnig? Aber ſeine Phyſiognomie?

Pfarrer. Verraͤth allerdings keine Spur des Wahnſinns, wenn Sie alſo uͤber die Kennt - niß derſelben ſich ein Syſtem verfertigt haben, ſo muͤſſen Sie die ſeinige als eine Ausnahme von der allgemeinen Regel anſehen.

Ich. So wurde meine Erwartung noch nie geſpannt, ſo noch nie betrogen! Iſt er ſchon lan - ge wahnſinnig?

Pfarrer. Vielleicht ſchon zwanzig Jahre.

Ich. So lange ſchon! Worinne beſteht dieſer Wahnſinn?

Pfarrer. Er theilt ſich vollkommen in zwei Theile, welche ſich nach zwei Buͤchern ordnen, in denen er unaufhoͤrlich lieſt, und ſie fuͤr ſeinen groͤßten Schatz haͤlt.

Ich. Was ſind das fuͤr Buͤcher?

Pfarrer. Eine alte boͤhmiſche Kronik, dann39 ein eben ſo altes, wahrſcheinlich Viſionen und Traͤumereien enthaltendes Buch. Er laͤßt das letztere keinem Sterblichen ſehen, und gewaltſame Wegnahme wuͤrde ihn raſend machen. Lieſt er in der Kronik, ſo waͤhnt er ein aͤchter und wahrer Abkoͤmmling Kaiſer Karl des Vierten zu ſeyn, macht dann Anſpruch auf den boͤhmiſchen Thron, und betheuert hoch, daß ihm dieſer einſt noch wer - den muͤſſe. Hat er aber das unbekannte Buch ge - leſen, ſo ſpricht er von einer Oberwelt, in welcher er ſelbſt einſt war und die er, ſeinen verwirrten Ideen gemaͤß, oft aber recht romantiſch, ſchildert. Er predigt dann Buße, und ermahnt die jungen Leute in warmen, kraͤftigen Ausdruͤcken zur Tu - gend. Oft miſchen ſich auch beide Ideen in ſei - nem Geſpraͤche wunderlich durcheinander, er geht von einer zur andern uͤber, und wird denen, die nicht davon unterrichtet ſind, unverſtaͤndlich.

Ich. Kann ich nicht mit ihm ſprechen? Dies nicht alles aus ſeinem Munde hoͤren?

Pfarrer. Das wird ſchwer halten, denn es giebt oft Wochen und Monden, in welchen er aͤußerſt verſchloſſen umherwandelt, und uͤber neuen Ideen bruͤtet; dann kann man ihm ſelten Rede abgewinnen, er weiß jeder Frage ſehr geſchickt auszuweichen, und vereitelt die Neugierde des Forſchers. Am offenherzigſten ſpricht er gemeinig - lich mit dem Herrn des Schloſſes, der ihm ſehr40 viele Wohlthaten erweißt, ihn taͤglich ſpeißt und vollkommen ernaͤhrt.

Ich wandte mich nun mit einer Bitte an die - ſen, er war ſo gefaͤllig, ihre Gewaͤhrung zuzuſi - chern, mehrere Gaͤſte nahmen Antheil an unſerm Geſpraͤche, und aͤußerten gleiches Verlangen, den merkwuͤrdigen Mann zu ſehen, und naͤher kennen zu lernen. Es ward nun verabredet, ihn durch geſchickte Fragen auf den Gegenſtand zu leiten, vorzuͤglich aber nicht Unglauben zu verrathen, oder uͤber ſeine Aeuſſerung zu lachen, weil beides ihn ſogleich zuruͤckſcheuen, und jeden neuen Verſuch unmoͤglich machen wuͤrde. Der Herr des Schloſ - ſes gieng ſelbſt, ihn zu holen, weil er ſchwerlich einem ſeiner Bedienten gefolgt waͤre. Er trat kurz darauf mit ihm in's Zimmer; tiefe Stille herrſchte in der zahlreichen Verſammlung, jeder bewunderte ſeine ehrwuͤrdige Phyſiognomie, jeder winkte meiner Bemerkung daruͤber vollen Beifall zu. Der graue Mann ſtutzte ſehr, als er ſo viele Fremde im Zimmer erblickte, ich zitterte ſchon vor den uͤblen Folgen, und bereuete meine Geſchwaͤ - tzigkeit, wodurch ich die Neugierde aller erregt hatte. Zu meiner großen Freude ſah ich aber bald, daß dieſe Verlegenheit ſchwinde, ſeine furchtſame Miene ward wieder nachdenkend, er knoͤpfte ſeine Weſte auf, ſteckte die rechte Hand darein, und lehnte ſich mit dem Ruͤcken gegen die Mauer. Jetzt, meine Herrn, ſprach nun der41 Herr des Schloſſes, koͤnnen Sie beſſer urtheilen: ob die Ferne Sie getaͤuſcht hat? Sie behaupte - ten einſtimmig, daß dieſer Mann dem Portraͤte Kaiſer Karls des Vierten aͤuſſerſt aͤhnlich ſaͤhe, entſcheiden Sie nun! Dieſe Lockſpeiſe war fuͤr den Aermſten zu reizend, er erregte mein ganzes Mitleid, als er ſogleich die tiefdenkende Forſchers - miene in eine laͤchelnde verwandelte, ſich aufrecht ſtellte, und, indem er ſeinen Kopf rechts und links drehte, unſer Urtheil zu fordern ſchien.

Einige aus der Geſellſchaft. Nein, wir haben uns nicht betrogen! Er ſieht ihm voll - kommen aͤhnlich!

Andre. Vollkommen! Vollkommen!

Der graue Mann. (mit aͤuſſerſtem Wohlgefallen umherblickend) Glaub's gerne! (mit geheimnißvoller Miene) denn es hat ſeine wichtigen Gruͤnde, und ein Ding, das ſeine wichtigen Gruͤnde hat, muß auch wichtige Wahrheiten enthalten. (auf's neue umherblickend) Ich weiß nicht; ob Sie mich verſtanden haben.

Einige. Vollkommen! Vollkommen!

Der graue Mann. Nun daher kommt's, daß ich zwar ein armer Schneider bin, aber doch Karl dem Vierten aͤhnlich ſehe. (er lehnte ſich wieder an die Wand, und verſank in tiefes Nachdenken)

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Der Herr des Schloſſes. Wie nennt er ſich denn?

Der graue Mann. Ich nenne mich Joſeph, mein Zuname iſt Karl! ſo nannten ſich alle meine Voreltern, und daher kommt's, daß ich in gera - der Linie von weiland meinem hoͤchſtſeeligen Ahn - herrn, Kaiſer Karl dem Vierten, abſtamme.

Einer aus der Geſellſchaft. Dann waͤren Sie ja mit unſerm Kaiſer verwandt?

Der graue Mann. (mit ernſtem Bli - ke) Fuͤgt huldreichſt und gnaͤdigſt hinzu, denn er verdient's! Wir ſind unſerm vielgeliebten Neffen und Vetter mit vieler Freund - ſchaft zugethan! Wir goͤnnen ihm das Gluͤck, uͤber Boͤhmen zu regieren, von ganzem Herzen! (ſeufzend) Die Laſt der Regierung erfordert jetzt ſtarke Schultern, die unſrigen ſind zu ſchwach, wir behalten uns unſre Rechte auf beſſe - re Zeiten bevor. (Ein Bedienter, der an der Thuͤre ſtand, fieng an zu lachen).

Der graue Mann. (mit Anſtand und Wuͤrde) Kerl, du verdienteſt, daß ich dich zum Koche Kaiſer Wenzel des Vierten machte, und gleich dieſem lebendig braten ließe, aber ich ver - gebe dir's in hohen Gnaden! Meide mein Ange - ſicht! (der Herr des Schloſſes winkte, und der Bediente wollte gehen)

Der graue Mann. (freundlich, und43 im gewoͤhnlichen Tone) Bleibe er, Chri - ſtoph, bleibe er nur! Es iſt alles vergeben und vergeſſen!

Pfarrer. Wie kann er denn aber von Karl dem Vierten abſtammen? Wie iſt denn das moͤglich?

Der graue Mann. Das fragen Sie, ehr - wuͤrdiger Herr? Sie? Sind Sie denn in der Geſchichte ſo ganz unbekannt? (mit Ironie) Vor ſo vielen Zeugen moͤchte ich ſo etwas doch nicht eingeſtehen!

Pfarrer. Meine Frage verraͤth keine Un - wiſſenheit! Ich wollte nur eigentlich wiſſen, von welcher Gemahlin des Kaiſers ſein Ahnherr geboh - ren worden? Karl hatte, wie bekannt, vier Ge - mahlinnen.

Der graue Mann. (mit wichtiger, aber laͤchelnder Miene) Er hatte ihrer fuͤnfe.

Pfarrer. Nur viere. Die erſte war Blan - ka, Karls von Valois Tochter, die zweite

Der graue Mann. (ihm einfallend) War Agnes, des Pfalzgrafen Rudolphs Tochter, die dritte war Anna, Herzog Heinrichs Tochter, die vierte (er ſtockte, und muſterte mit ſeinem Blicke die Geſellſchaft)

Pfarrer. Nun, die vierte war Eliſabeth, Herzogs von Pommern Tochter.

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Der graue Mann. (unwillig) Das war die fuͤnfte.

Pfarrer. Wie nannte ſich denn alſo die vierte?

Der graue Mann. (mit Wuͤrde und Stolz) Es gnuͤgt, wenn wir es wiſſen!

Einige aus der Geſellſchaft. Wir wuͤnſchten es aber auch ſo gerne zu wiſſen!

Der graue Mann. (einige Schritte hervortretend) Die vierte war Blanka, Karls rechtmaͤßige, aber nicht oͤffentlich anerkann - te, Gemahlin. Als der Kaiſer einſt auf ſeinem Luſtſchloſſe, Bubenez genannt, jagte, ſah er ein ſchoͤnes Bauernmaͤdchen, Namens Blanka, verliebte ſich in ſie, und nahm ſie mit auf ſein Schloß. Dort gebahr ſie ihm einen Sohn, der Karl ge - nannt wurde, und von dieſem Karl ſtamme ich in gerader Linie ab, bin jetzt der zehnte ſeines er - lauchten Stammes; die damals noch lebende Anna verfolgte die Mutter ſammt dem jungen Prinzen auf's aͤuſſerſte, aber der Kaiſer nahm ſich beider vaͤterlich an. Er gab den Großen ſeines Reichs den Prinzen zur Erziehung, und ſchuͤtzte die Mutter auf ſeinem Schloſſe. Als die Kaiſe - rin ſtarb, erklaͤrte der Kaiſer ſeinen natuͤrlichen Sohn fuͤr aͤcht, und ließ ſich in geheim mit der ſchoͤnen Blanka trauen. Erſt als dieſe auch ſtarb, ſchritte er zur fuͤnften Ehe, und heirathete Eliſa -45 bethen. Dieß alles weis ich gewiß, denn wie ich Anno 1767 in der Oberwelt war, da ward mir dieß und noch weit mehr kund gethan; auch er - hielte ich daruͤber ein foͤrmliches Patent, welches ich aber auf der Ruͤckreiſe verlohren habe.

Der Herr des Schloſſes. Was hilft das alles! Er wird doch nie Koͤnig werden!

Der graue Mann. (ſeinen Zeigefin - ger an die Naſe legend) Es wird eine Zeit kommen, in welcher ich ruhig und im Frie - den uͤber Boͤhmen regieren werde, und dann, gnaͤdigſter Herr, (mit geruͤhrter Stimme) will ich's Ihnen tauſendfach lohnen, was Sie dem armen, verlaßnen, oft verachteten, ſtets verkannten Karl jemals gutes gethan haben.

Der Herr des Schloſſes. Dann werden es aber meine Knechte, die ihn immer necken, theuer bezahlen muͤſſen.

Der graue Mann. Nein! Nein! (lang - ſam und feierlich) Des Koͤnig's erſte Tu - gend muß Milde und Gnade ſeyn! Ich werde alles vergeben und vergeſſen, aber mein Vetter bekommt fuͤnf und zwanzig Pruͤgel.

Pfarrer. Dieſem muß er auch alles ver - zeihen.

Der graue Mann. Dieſer bekommt fuͤnf und zwanzig! Dabei bleibt's! So wahr ich Karl bin! Dies iſt mein hoͤchſter Schwur! Er46 hat's ſchon zweimal gewagt, freventlich Hand an mich zu legen, und mich gleich einem Buben mit der Ruthe zu zuͤchtigen. (mit aͤuſſerſtem Nachdrucke) Er bekommt fuͤnf und zwanzig, dann kaufe ich ihm aber die Muͤhle, welche un - ten im Thale liegt, da kann er ruhig und zufrie - den leben.

Nach einer kleinen Stille, welche jetzt in der ganzen Geſellſchaft herrſchte, trat aus den vielen anweſenden fremden Geiſtlichen ein junger Ka - plan hervor, und unternahm's, uns durch neue Fragen, die er an den grauen Mann ſtellte, zu unterhalten. Seine Abſicht, durch welche er wahrſcheinlich ſeinen Witz wollte glaͤnzen laſſen, ſchien anfangs ganz zu mißlingen. Der graue Mann beantwortete einige ſeiner Fragen nur mit ſtummen Blicken, endlich begann er zu ant - worten.

Der Kaplan. Hoͤr 'er, mein lieber Karl! wenn er einſt Koͤnig in Boͤhmen wird, muß er mich zum Erzbiſchof von Prag machen.

Der graue Mann. (ihn mit laͤcheln - dem Blicke meſſend) Wird ſchwerlich ge - ſchehen koͤnnen.

Der Kaplan. Warum denn nicht! Ach der gute Karl thut's gewiß!

Der graue Mann. (mit dem Kopfe ſchuͤttelnd) Es geht nicht! Es geht nicht!

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Der Kaplan. Aber warum denn nicht?

Der graue Mann. Es gaͤbe Urſache zum Murren. Unſer Koͤnig, wuͤrden die Leute ſagen, iſt ein Narr, jetzt hat er auch einen Narren zum Erzbiſchof gemacht, das wird eine naͤrriſche Re - gierung werden!

Alles lachte, der Kaplan zog ſich beſchaͤmt in einen Winkel, ich ſelbſt konnte mich nicht enthal - ten, mit Oldenholm auszurufen: wenn das Narrheit iſt; ſo liegt doch wenigſtens viel Metho - de darinne! Keiner wollte es nun wieder wagen, den wahnſinnigen Wahrheitsverkuͤndiger mit neuen Fragen zu belaͤſtigen, er konnte ruhig denken, und ungeſtoͤrt ſeinen Plan zur kuͤnftigen Regie - rung ordnen, denn dies iſt eins ſeiner Lieblings - geſchaͤfte. Die Neugierde der Geſellſchaft war noch nicht halb befriedigt, viele, an deren Spitze ich mit ſtand, wuͤnſchten etwas von ſeinem Auf - enthalte in der Oberwelt zu erfahren, der gefaͤlli - ge Herr des Schloſſes erbarmte ſich unſrer auf's neue. Wie war's denn, ſagte er, in der Ober - welt?

Der graue Mann. (mit vieler Waͤr - me) O ſchoͤn, herrlich! Wenn ich dort haͤtte bleiben koͤnnen, dann wuͤrde ich an kein irrdiſches Reich mehr denken! Ach! es war eine ſelige Zeit, ſo wohl kann mir's hienieden nie werden.

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Der Herr des Schloſſes. Wie lange war er denn dort?

Der graue Mann. Acht volle Wochen, ſie ſchwanden mir wie Stunden! Ich bat um laͤngere Erlaubniß, aber ſie wurde mir abge - ſchlagen.

Der Herr des Schloſſes. Wie ſieht's denn aber oben aus? Eben ſo wie in unſrer Welt?

Der graue Mann. Eben ſo! Nur viel ſchoͤner, ach, viel ſchoͤner! Es herrſcht ewiger Fruͤhling, kein Winter. Alles waͤchſt von ſich ſelbſt, und gedeiht vortreflich! Kuͤhe giebt's da wie die Elephanten, und die Kornaͤhren ſind ſo lang, als ich bin!

Der Herr des Schloſſes. (laͤchelnd) Da haͤtte er uns einigen Saamen mitbringen ſollen!

Der graue Mann. Was haͤtte es genuͤtzt! Er waͤre hier doch nicht gerathen. Unſre Suͤn - den, unſre Miſſethaten machen das Vieh ſo klein! die Kornaͤhren ſo duͤnn, und den Boden ſo un - fruchtbar. Oben giebt es beſſere, andaͤchtigere Menſchen! Ich war dort alle Tage in der Kir - che, wenn der Name Gottes genennt wurde, da ſtuͤrzte die ganze Schaar zu Boden, und betete an den Maͤchtigen, der alle Himmel, und alleunzaͤhl -49unzaͤhlbare Erden mit Weisheit und Ordnung regiert.

Der Herr des Schloſſes. Giebt's dort keine Advokaten, keine Doktoren?

Der graue Mann. (laͤchelnd) Nichts, von allen rein nichts! Auch keine Richter, keine Gefaͤngniſſe! Wer irgend etwas verbricht, oder einen Fehltritt begeht, der muß ſeine Wanderung vom Anfange beginnen?

Ich. Wanderung?

Der graue Mann. (mich ernſthaft anblickend) Ja! ja! Wanderung! Dieſe Erde iſt nur der Ort der Strafe und Beſſerung! Oben iſt das Paradies, in welchem unſre Stamm - eltern erſchaffen, und daraus verſtoßen wurden, jetzt wird es von unſern Geiſtern bewohnt.

Ich. Das verſtehe ich nicht ganz!

Der graue Mann. (laͤchelnd) Glaub's gerne, aber den Unwiſſenden muß man belehren. Fragen Sie, ich will antworten.

Ich. Iſt denn die Oberwelt, in welcher Sie waren, derjenige Ort, welchen unſre Religion Himmel nennt?

Der graue Mann. Ja, darinne liegt's eben verborgen! Ihre Frage beweißt, daß Sie noch ganz unwiſſend ſind, es wahrſcheinlich auchErſt. Baͤndch. D50bleiben, weil es aͤuſſerſt ſchwer iſt, einem Kinde den Mechanismus einer Uhr begreiflich zu machen. Wenn man ſich auch noch ſo beſtimmt auszudruͤ - ken glaubt, ſo verſteht's das Kind doch nicht, und fragt am Ende alberner, als vorher. Sehen Sie: dasjenige geiſtige Weſen, was wir unſre Seele nennen, iſt anfangs von Gott in der Oberwelt erſchaffen worden, jetzt wird's dort ge - zeugt und gebohren, hat einen Anfang, aber kein Ende; waͤchſt und gedeiht, wie unſer Koͤrper, iſt aber Geiſt, und kein Koͤrper. Verſtehen Sie mich?

Ich. Vollkommen.

Der graue Mann. Je groͤßer dieſer Geiſt waͤchſt, je groͤßer werden auch ſeine Kenntniſſe, er hat freien Willen, ſie zum Boͤſen oder zum Guten anzuwenden. Geſchieht das letztere, ſo ſteigt er nach zweihundert Jahren eine Stufe hoͤ - her, die ihm der Vollkommenheit naͤher fuͤhrt, denn Paulus ſah ja ſelbſt ſieben Himmel. Han - delt er aber boͤſe, ſo wird ſein Geiſt ſo klein wie eine Raupe, er wird gleich dieſer in ein dickes, feſtes Gewebe eingeſponnen, und durch ein klei - nes Loch auf unſre Erde herabgeſtuͤrzt, hier faͤllt er nun in den thieriſchen Koͤrper eines neugebohr - nen Kindes, iſt feſt eingehuͤllt, kann nicht reden, nicht denken, nicht handeln.

Ich. Wie lernt er dies aber?

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Der graue Mann. (geheimnißvoll) Ja, wie lernt er's? Die Vorſehung gab ihm in ſeine dunkle Huͤlle ein kleines Meſſerchen mit. Er beginnt ſogleich das Werk ſeiner Erloͤſung, und ſchabt damit an der Huͤlle, die ihn umgiebt, dieſe wird nach und nach durchſichtiger, der Geiſt kann hie und da durchblicken, und der thieriſche Koͤrper faͤngt an zu handeln, der Geiſt regiert, bewegt ihn. Je fleißiger dieſer ſchabt, je groͤßer werden natuͤrlich die Kenntniſſe des Kindes, das zum Juͤnglinge, zum Manne empor reift, und bei der Arbeit des Geiſtes auch immer an Kennt - niſſen zunimmt. Daher kommt's, daß es dum - me, einfaͤltige, aber auch ſehr gelehrte und ver - nuͤnftige Menſchen giebt, je nachdem ihr Geiſt fleißig ſchabt oder nicht ſchabt: denn je duͤnner ſeine Huͤlle wird, je mehr kann er ſehen und denken.

Ich. Oft ſtirbt aber das neugebohrne Kind ſogleich, oder in wenig Tagen, wenn

Der graue Mann. (eifrig) Dies iſt ſehr natuͤrlich! Der Geiſt wird nach Maßgabe ſeiner Verbrechen auf Stunden, Tage, Monden, oder Jahre in den thieriſchen Koͤrper verbannt. Iſt die Zeit ſeiner Strafe voruͤber, ſo fliegt der Geiſt empor, und der Koͤrper ſtirbt, verweßt. Verleitet unter dieſer Zeit der Geiſt den KoͤrperD 252zu boͤſen Handlungen, ſo muß er entweder hinab zur Hoͤlle, aus welcher keine Erloͤſung zu hoffen iſt, oder er kommt noch um einen Grad tiefer, als er auf Erden war, in's Fegfeuer, aus wel - chem noch Erloͤſung zu hoffen iſt.

Ich. Hat der Geiſt aber gut gehandelt?

Der graue Mann. So kehrt er nach der Oberwelt zuruͤck, und lebt dort von neuem. Ich habe da mit einem meiner Vorfahren geſprochen, welcher ſchon fuͤnfmal auf unſrer Erde war, aber jetzt hat er ſich's feſt vorgenommen, nie wieder herab zu kommen.

Ich. Waren wir denn auch ſchon einmal in der Oberwelt?

Der graue Mann. O weh! Wie koͤnnen Sie ſo albern fragen? Haben Sie eine Seele?

Ich. Ich hoff's.

Der graue Mann. Wenn Sie dieſe haben, ſo muß ſie auch aus der Oberwelt gekommen ſeyn, denn nur dort koͤnnen die Geiſter gezeugt und gebohren werden.

Ich. Aber mein Geiſt erinnert ſich ja deſſen nicht.

Der graue Mann. Das kann und darf er nicht, ſo lange er noch mit dem Haͤutchen oder Gewebe umgeben iſt. Schaben Sie fleißig, mein Herr Geiſt, ſo kann's Ihnen auch gluͤcken, wie53 es mir gegluͤckt iſt. Im Jahre 1767 am erſten Maie gelang es meinem arbeitſamen Geiſte, das ſchon aͤuſſerſt duͤnne Haͤutchen mit einmal zu ver - nichten, es platzte, und mein Geiſt konnte frei denken, frei handeln, und ſich ſeines vorigen Zuſtandes erinnern. Er wollte ſich vom irrdi - ſchen Koͤrper losmachen, aber es war nicht moͤg - lich, er wandelte nach der Oberwelt, der Koͤr - per gieng mit, aber wir durften nicht dort blei - ben, weil die Zeit der Strafe noch nicht vollendet iſt! (nachdenkend) Haben Sie ſchon ei - nen Taubſtummen geſehen?

Ich. O ja!

Der graue Mann. Das ſind elende Ge - ſchoͤpfe! Blos Koͤrper, blos Maſchine; als ſie gebohren wurden, fiel eben kein Geiſt aus der Hoͤhe herab, und nun wandeln ſie ſo lange oh - ne dieſen herum, bis irgend einmal ein herab - gefallener Geiſt kein neugebornes Kind findet, und in ſeinem Koͤrper den Wohnſitz nimmt. Da - her kommt's, daß man jetzt in Zeitungen lieſt, wie die Stummen reden lernen.

Pfarrer. Hat denn der alte Jobſt auch einen Geiſt?

Der graue Mann. Der iſt ja ein Narr, liegt an der Kette, und raßt.

Pfarrer. Eben deswegen frag ich.

Der graue Mann. (ſeufzend) Ja54 wohl hat er einen! Sein Geiſt war arbeitſam und thaͤtig, aber er ſchabte ſtets an einem Or - te, machte gluͤcklich ein Loch in die Huͤlle, doch iſt's zu klein, jetzt kann er nicht heraus: win - det, kruͤmmt ſich, aber es geht nicht.

Pfarrer. Zu welchem Amte, mein lieber Karl, wird er mich wohl faͤhig finden, wenn er einſt Koͤnig wird?

Der graue Mann. Sie, Ehrwuͤrdiger Herr, mache ich zum oberſten Schulmeiſter meines Lan - des, denn ich ſeh's mit großem Vergnuͤgen, wenn Sie oft in die Schule gehen, die Kinder zur Thaͤ - tigkeit, zum Fleiße ermahnen, und ihnen Ihre eigne Kenntniſſe mittheilen. Das nutzt, das fruchtet! denn jemehr unſere Geiſter ihre Haͤut - chen verduͤnnen, je gluͤcklicher kann's auf dieſer Welt werden.

Die Speiſen rauchten ſchon lange auf der Ta - fel, wir mußten Platz nehmen, und indeß wir's thaten, entfernte ſich der graue Mann. Ich konnte ihn nicht mehr ſehen, nicht mehr ſprechen, denn er war uͤber Feld gewandert, und niemand konnte ihn finden. Nach Tiſche ließ ich mir ſeine Lebensgeſchichte vom Pfarrer erzaͤhlen:

Karl war der einzige Sohn eines Schuſters, der ſich redlich, aber kuͤmmerlich, naͤhrte. Als der Knabe acht Jahre alt war, ſtarb Vater und Mutter; ein Bruder der letztern nahm die ver -55 laßne Waiſe zu ſich. Alle Zeitgenoſſen erinnern ſich, daß Karl in der Schule vorzuͤglich gut lern - te, und immer vom Schulmeiſter beſonders gelobt wurde. Er wollte ſehr gerne ſtudieren, da aber ſein Vetter die Koſten dazu nicht hergeben konn - te, ſo mußte er wider ſeinen Willen ein Schnei - der werden. Er war ſtets ſtill und fleißig, aber er brachte es in ſeinem Handwerke nicht einmal zur mittelmaͤßigen Vollkommenheit, und verrieth in ſeiner Arbeit oft große Zerſtreuung. Endlich gieng er einige Jahre auf die Wanderſchaft, kam aber nicht viel geſchickter nach Hauſe; er wuͤrde indeß doch daheim ſein Brod verdient haben, wenn er nur fleißig haͤtte arbeiten wollen, aber nur Hunger konnte ihn zur Arbeit zwingen: hatte er ein Stuͤckchen trocknes Brod, ſo ſperrte er ſich in ſein Stuͤbchen ein, und las Buͤcher, welche ihm der Zufall in die Haͤnde fuͤhrte. Daß er die meiſten unrecht verſtand, ſich darinne Ideen zum Wahnſinne ſammlete, lehrte und bewieß die Folge. Wahrſcheinlich wuͤrde er ein großer, ein tiefdenkender Gelehrter geworden ſeyn, wenn ſeine Armuth ihn in der Jugend nicht am Studieren gehindert haͤtte. Selbſt ſein beinahe fuͤnf und zwanzigjaͤhriger Wahnſinn hat die Spuren ſeines offenen Kopfes, ſeines Genies noch nicht ganz vertilgt. Er ſchreibt eine gute, lesbare Schrift, er iſt ſehr gut in der Geſchichte bewandert und ſpricht vom puniſchen wie vom huſſiten Kriege mit gleicher Wahrheit. Er kann die Bibel beinah56 auswendig, und iſt in der Rechenkunſt weit uͤber's Mittelmaͤßige hinaus.

Da er ſtets eingezogen, immer nur fuͤr ſich lebte, nie an oͤffentlichen Oertern, nur in der Kirche aͤußerſt richtig, erſchien, ſo vermißten ihn ſeine Freunde erſt einſt an einem Sonntage, als er wahrſcheinlich ſchon eine ganze Woche zuvor in ſeinem kleinen Stuͤbchen ohne Pflege und Huͤlfe krank gelegen war. Sie fanden ihn wenigſtens dort ohne Gefuͤhl, ohne Verſtand. Nach langer, anhaltender Pflege kehrte endlich ſeine Geſundheit, aber nie mehr ſein Verſtand, zuruͤck. Die Zeit ſeiner Krankheit ſtimmt genau mit derjenigen uͤberein, welche er in der Oberwelt will zuge - bracht haben. Anfangs ſprach er auch nur von dieſer; die Idee, daß er ein Abkoͤmmling Karl des Vierten ſei, kam erſt lange nachher zum Vorſchei - ne, iſt aber jetzt der groͤßte Gegenſtand ſeiner Beſchaͤftigung.

Als Kaiſer Joſeph ſtarb, und ſich die boͤhmi - ſchen Staͤnde zur Huldigung ſeines erlauchten Nachfolgers in Prag verſammelten, ſandte er wirklich eine Schrift an dieſe ehrwuͤrdige Ver - ſammlung, worinne er gegen die Wahl eines neuen Koͤnigs foͤrmlich proteſtirte, und jene auf ſeine Rechte, die er auf die boͤhmiſche Krone zu haben vermeinte, aufmerkſam zu machen ſuchte. Ich beſitze das von ihm ſelbſt entworfene Konzept die - ſer merkwuͤrdigen Schrift, ich wuͤrde ſie woͤrtlich57 herſetzen, wenn ſie nicht eine genaue Wiederho - lung desjenigen enthielte, was ich ſchon durch ihn ſelbſt erzaͤhlen ließ. Nachdem er den hohen Lan - desſtaͤnden genau erwieſen hat, daß er von Karl dem Vierten abſtamme, verirrt er ſich auf einmal in die Oberwelt, und ſpricht lange Zeit von die - ſer, endlich kehrt er zuruͤck, und macht billigere Bedingungen. Sollte, ſagt er, etwann aus mei - ner gerechten Anforderung ein Krieg entſtehen, ſo will ich in Gnaden davon abſtehen, und bin's zu - frieden, wenn der kuͤnftige Koͤnig mir das Pleiß - ner - und Egerland abtritt, welches Kaiſer Al - brecht an den Koͤnig Wenzel verpfaͤndet hat, und das mir daher (wie? und warum? weis ich nicht) unſtreitig zugehoͤrt. Will man mir, faͤhrt er noch billiger fort, aber die Pfandſumme von fuͤnfzig tauſend Mark, nebſt den vertagten Inter - eſſen, welche bis heutigen Tag eine Summe von einer Million, einmalhundert achtzig tauſend Mark ausmachen, ohne Weigerung auszahlen, ſo begebe ich mich hiermit freiwillig aller meiner gerechten Anſpruͤche, und will meine uͤbrigen Tage in Frie - de und Ruhe beſchließen.

Keiner ſeiner Freunde wußte etwas von dieſem kuͤhnen Schritte, wuͤrde vielleicht auch in der Fol - ge nie etwas davon erfahren haben, wenn ſeine Schrift nicht die Aufmerkſamkeit der Landesſtelle erregt haͤtte. Sie ſchloß ganz natuͤrlich auf Wahn - ſinn, forderte aber doch Bericht, und befahl, den58 armen Karl in Verwahrung zu nehmen; da aber die Obrigkeit ſeine ganzen Umſtaͤnde einberichtete, und zugleich erwieß, daß ſein Wahnſinn von kei - ner gefaͤhrlichen Art ſei, ſo ward er noch ferner der Verſorgung ſeiner Freunde uͤberlaſſen.

Er lieſt aͤuſſerſt gerne Zeitungen, und iſt ſehr genau mit allen politiſchen Begebenheiten bekannt. Er geht jederzeit auf die Poſt, und holt die Zei - tungen, welche in ſeinem Geburtsorte gehalten werden, er lieſt ſie dann unterwegs; ſehr wahr - ſcheinlich war das Blatt, welches ich in ſeiner Hand erblickte, auch ein Zeitungsblatt. Die trau - rigen Begebenheiten Frankreichs reizten ſeine Auf - merkſamkeit ſehr, er behauptet, daß er mit dem Hauſe Bourbon verwandt ſei, und ebenfalls An - ſpruch auf Frankreichs Krone machen koͤnne.

Vor Jahresfriſt iſt er aus der Gegend ver - ſchwunden. Fuhrleute wollen ihn zu Strasburg geſehen und erkannt haben; hat ihn vielleicht der ungluͤckliche Gedanke, von Frankreichs verwaißtem Throne Beſitz zu nehmen, zu dieſer Reiſe verlei - tet, ſo hat er wahrſcheinlich ſchon laͤngſt ſein Le - ben unter der Guillotine geendigt.

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Wilhelm M***r und Karoline W g.

Im ſchrecklichen ſiebenjaͤhrigen Kriege, welcher halb Deutſchland verwuͤſtete, manchem Hausvater ſeine Haabe, mancher Mutter ihren Sohn raub - te, reiſte der junge Wilhelm auf die Univerſitaͤt nach Leipzig. Sein Vater, ein Landpfarrer, war ſchon laͤngſt geſtorben, ſeine noch lebende Mutter hatte ihr Aeuſſerſtes gethan, um ihn auf der Schule zu ernaͤhren, ſie konnte ihm jetzt nicht mehr als zehn Thaler und ihren muͤtterlichen Se - gen mit auf die Reiſe geben, ſie hofte, daß der hofnungsvolle Juͤngling durch ſeine gute, untadel - hafte Auffuͤhrung bald Goͤnner zu Leipzig finden wuͤrde, die ihn unterſtuͤtzen und Vater der[ver - laßnen] Waiſe werden ſollten. Als er zu Kolditz uͤbernachtete, wurde das Staͤdtchen von feindli - chen Huſaren uͤberfallen, ſie fanden den jungen Wilhelm, er war ſchoͤn, jung und wohlgewachſen und wurde am andern Morgen, nebſt mehrern jungen Leuten, nach des Feindes Land gefuͤhrt, um dort als Soldat zu dienen. Seine Gelaſſen - heit, mit welcher er ſich in ſein unverdientes Schickſal fuͤgte, ſein Eifer, mit welchem er ſich im60 Exerzieren uͤbte, und endlich ſeine nicht geringen Kenntniſſe, welche er ſich auf der Schule geſam - melt hatte, erwarben ihm bald die Achtung ſeiner Vorgeſetzten, ſie erleichterten ihm nicht allein ſein ungluͤckliches Loos, ſie halfen ihm auch vorwaͤrts. Er diente im andern Jahre ſchon als Korporal unter dem Regimente, welches ihn gefangen ge - nommen hatte. Sein Schickſal, das nun wieder zu laͤcheln ſchien, fuͤhrte ihn in ein ruhiges Win - terquartier nach M***dorf, wo er bei dem Pfar - rer des Orts ein gutes Quartier fand, und von dieſem bald als Sohn, von ſeinen drei erwachſe - nen Toͤchtern als Bruder geliebt wurde. Die juͤngſte derſelben war ein ſehr ſchoͤnes, bluͤhendes und gefuͤhlvolles Maͤdchen, ſie nahm warmen An - theil an dem Schickſale der ebenfalls ſchoͤnen, und leider auch empfindſamen Juͤnglings, ihr in - niges Mitleid verwandelte ſich bald in eben ſo in - nige Liebe, der Juͤngling fuͤhlte und erwiederte ſie im vollen Maße. Zeit und Gelegenheit war der - ſelben gleich guͤnſtig. Lottchens zwei Schweſtern waren von einer alten Muhme, die ſie zu beerben hoften, nach der Stadt berufen worden, ſie muß - te daheim bleiben, und die Wirthſchaft fuͤhren, weil die Mutter ſchon laͤngſt geſtorben war. Der alte Vater gieng gewoͤhnlich ſehr fruͤh zu Bette, die muͤden Knechte und Maͤgde folgten bald nach, und nun konnten die Liebenden oft halbe, manch - mal ganze Naͤchte Arm in Arm allein ſitzen, ſich ewige Liebe ſchwoͤren; und ihre reinen, unſchuldi -61 gen Fruͤchte ungeſtoͤrt genießen. Kalte gefuͤhlloſe Seelen, deren feuchtes Pflegma jede Leidenſchafts - flamme ſogleich loͤſcht, kann's wundern, daß dieſe geheimen Zuſammenkuͤnfte bald ſtrafbar wurden; mich wundert's, daß die Liebenden einen langen Monat kaͤmpften, und nicht fruͤher unterlagen. Umſtaͤnde und Gelegenheit verleiten oft den redli - chen Mann zu Verbrechen, die des Hochgerichts wuͤrdig ſind. Zeit und Gelegenheit rauben dem liebenden Maͤdchen allemal ihren groͤßten Schatz, die nur einmal bluͤhende Unſchuld, mit welcher ih - re ſtolze Nachbarinn ſich deswegen nur noch bruͤ - ſten kann, weil ihr nicht gleiche Gelegenheit wur - de. Vater! Mutter! Dein iſt die Pflicht, die fuͤhlende Tochter vor dieſer zu warnen, vor dieſer zu ſchuͤtzen; haſt du dieſe vernachlaͤßigt, ſo iſt dein die Schuld ihres Falles, ſo kann die Ungluͤck - liche von dir mit vollem Rechte, Mitleid, Troſt und Huͤlfe fordern, denn ihr Ungluͤck war dein Werk, ihre Thraͤnen klagen dich bei Gott an, und traͤufeln in deine Suͤndenſchaale.

Lottchen und Wilhelm liebten ſich aͤußerſt zaͤrt - lich, aber ſie bangten auch oft vor der fuͤrchterli - chen Zukunft, vor der wahrſcheinlichen ſchreckli - chen Trennung. Die Friedensgeruͤchte, welche ſich dieſen Winter hindurch immer mehr und mehr verbreiteten, durch alle Zeitungen beſtaͤtigt wur - den, belebten ihr Herz mit Hofnung, beſchleunig - ten aber auch eben ſo wahrſcheinlich den Fall des62 unſchuldigen Maͤdchens. Wilhelm hofte mit dem Frieden auch ſeine Entlaſſung zu erhalten, der Schulmeiſter des Orts war aͤußerſt alt, er brauch - te hoͤchſt noͤthig einen Subſtituten, Wilhelm woll - te dieſer werden. Er hatte Gruͤnde zu dieſer Hof - nung, denn die ganze Gemeinde, welche dieſen Dienſt zu vergeben hatte, liebte ihn, und verſi - cherte ihm ſolchen oft im voraus, wenn er Sonn - tags anſtatt des kranken Schulmeiſters recht an - genehm auf der Orgel praͤludirte, und mit melo - diſcher Stimme das Lied begann. Er wollte dann ſogleich ſein Lottchen heirathen, und konnte dies ebenfalls mit Grunde hoffen, weil der alte, lieb - reiche Vater oft im Scherze zu ihm ſagte: wenn Sie beim nahen Frieden hier Subſtitut meines alten Schulmeiſters werden wollen, ſo gebe ich Ihnen mein Lottchen zur Frau. So lange der Alte lebt, habt ihr die Koſt bei mir, und ſtirbt er einſt, ſo iſt ſein Dienſt im Stande, euch wohl zu ernaͤhren, denn er ſteht ſich beſſer als mancher Pfarrer im Gebirge!

Daß die Liebenden ihre Hofnung nicht auf Scheingruͤnde bauten, habe ich deutlich erwieſen, daß dieſe angenehme Ausſicht ſich bei der guͤnſti - gen Wendung noch Jahrelang verzoͤgern koͤnne, liegt freilich eben ſo klar am Tage aber wer kann im Sturme, im Drange der heftigſten Lei - denſchaft immer kalt uͤberlegen? Wer kann in63 der Fieberkaͤlte ſich die Medizin im Loͤffel tropfen, die der Arzt als heilſam verordnet hat?

Wie der Schnee ſchmolz, und Wilhelm mit ſeinem Lottchen oft ſchon im nahen Garten luſt - wandelte, erſchollen vom Gebirge herab wieder Kriegstrompeten, ihr Schall erſchreckte die Lieben - den maͤchtig, die folgende Zeitung brachte ſogar die Hiobspoſt, daß der Friedenskongreß fruchtlos auseinander gegangen ſei, daß die Blutfahne auf's neue wehen, das Schwert auf's neue wuͤ - then werde. Lottchen weinte, Wilhelm blickte traurig zur Erde, ſuchte Troſt fuͤr ſeine Geliebte, und fand keinen. Ehe noch eine volle Woche ver - floſſen war, und die Liebenden eben an einigen kleinen Scheingruͤnden traurig, aber doch hoffend nagten, kam ſchneller Befehl zum noch ſchnellern Aufbruche. Wilhelm ſollte ſich mit ſeiner wenigen Mannſchaft ſchon am Morgen des andern Tages zum Stabe, der einige Stunden von ihm entfernt lag, ziehen, und dann mit dem ganzen Regimen - te vorwaͤrts marſchiren. Schrecklich war die gan - ze Nacht, die er in den Armen ſeiner Geliebten durchwachte, noch ſchrecklicher wurde der Kampf der Trennung, weil Lottchen zwar nicht gewiß, aber doch durch dunkle Vorboten immer mehr und mehr uͤberzeugt wurde, daß ſie ſchwanger ſei. Die Furcht vor der großen und nahen Schande mar - terte ſie ſchrecklich, die Gewißheit der nahen Trennung machte ſie unfaͤhig, dieſe Martern zu64 ertragen. Wilhelm that, was er vermochte, er ſchwur ihr ewige Treue, er gelobte ihr fruͤh oder ſpaͤt ſeine Hand zum Erſatz fuͤr ihr kuͤnftiges Lei - den. Sie wird fuͤr dich, ſprach er, dann fleißig arbeiten, ſie wird dich bis in den Tod redlich und treu ernaͤhren! Auch verſprach er, ihr jeden Monat wenigſtens einmal zu ſchreiben, und den Brief an den alten Schulmeiſter zu addreſſiren. Dieſe Troſtgruͤnde ſtaͤrkten freilich Lottchens Muth auf einige Augenblicke, aber wenn ſie ſich wieder die Gefahren dachte, in welchen ihr Geliebter nun jeden Tag ſchweben wuͤrde, wenn ſie uͤber ihm das feindliche Schwert erblickte, oder ihn, von einer feindlichen Kugel getoͤdet, vom Pferde ſin - ken ſah, da ſchwand dieſer Muth aufs neue. Erin - nerte ſie ſich nun vollends ihres ſchrecklichen Zu - ſtandes, erblickte ſie ſich vom alten Vater ver - flucht, von ihren Schweſtern verachtet, von der ganzen Gemeinde verſpottet in ihrer einſamen Kammer, ſo war ſie der Verzweiflung nahe. Als der Tag anbrach, und Wilhelm nun ſcheiden mußte, da war ſie unfaͤhig, ihn bis an die Thuͤ - re zu begleiten, ſie warf ſich wuͤthend auf ihr Bette, verſtopfte ſich mit den Kiſſen den Mund, damit das Geſinde ihr Schluchzen nicht hoͤre, nicht Zeuge ihrer Verzweiflung werde.

Der alte Pfarrer, welcher nichts arges ahnde - te, und Wilhelmen wirklich als einen Sohn ge -liebt65liebt hatte, weinte ſelbſt, als dieſer Abſchied zu nehmen kam. Alles in der Welt iſt eitel, ſagte er treuherzig mit Salomo, und uͤbergab ſegnend den jungen Helden Gottes allmaͤchtigem Schutze.

Dieſer duldete zwar mit aͤußrer Standhaftig - keit, er ſchaͤmte ſich, vor ſeinen Huſaren mit Thraͤnen zu erſcheinen, aber ſein Herz blutete. Wie er um's Haus nach dem Dorfe hinabritt, und Lottchen ihm vom Bodenfenſter noch ſchluch - zend ein graͤßliches Lebewohl zurief, da brach's, er konnte ihr nur mit naſſem Auge danken, die aͤußerſte Beklemmung hatte ihm ſeine Sprache ge - raubt, ſeine Haͤnde gelaͤhmt. Er war noch gleich ſprachlos, als die gutherzigen Bauern ihn im Dorfe umringten, ihm Gluͤck und Segen wuͤnſch - ten, und ein Glas Brandwein zur Labung reich - ten. Ein Gluͤck fuͤr ihn, daß ſeine zitternde Hand es ganz verſchuͤttete, es haͤtte ihm in die - ſen Umſtaͤnden zum Gifte werden muͤſſen. Auf der Anhoͤhe blickte er noch einmal hinab in's kleine Thal, wo er der ſuͤßen Stunden ſo viele genoſſen hatte, am kleinen Kappfenſter des Pfarrhofes wehte das weiſſe Tuch ſeiner troſtloſen Geliebten, er ſah's, er fuͤhlte die Groͤße ihres Schmerzes und ſpornte ſein Pferd, damit er's nicht mehr ſaͤ - he, nicht vollen Stoff zur Verzweiflung ſammle.

Lottchen erſchien mit rothgeweinten Augen beim Mittagsmahle, ſie konnte nichts eſſen, hatteErſt. Baͤndch. E66Muͤhe, ihre Thraͤnen zu verbergen, der Vater ſahs, aber da Erinnerung an den guten Wilhelm ſein Auge ſelbſt truͤbte, ſo verdachte er's der Toch - ter um ſo weniger, weil er uͤberzeugt war, daß die jungen Leute ſich gerne geſehen hatten, und er wirklich nichts wuͤrde entgegen gehabt haben, wenn Wilhelm ohne Soldatenrock mit einer Aus - ſicht zu einem Dienſte um ſeiner Tochter Hand geworben haͤtte. Das war aber auch alles, was ſich der gute Alte dachte, ſein Herz, das des jungen Maͤdchens Empfindung nach ſeinem kalten Gefuͤhle maß, ahndete keine ſtaͤrkere, viel weni - ger ſtrafbare Vertraulichkeit. Er hatte ſeine Kin - der in Gottesfurcht erzogen, war von ihrem rei - nen, tugendhaften Lebenswandel uͤberzeugt, und hielt Abweichung davon fuͤr unmoͤglich. Er war gutherzig genug, ihren Gram zu dulden, er zankte nicht, wenn ſie in der Folge ſeine Suppe verſalzte, oder ſein Lieblingsgerichte, den Eier - kuchen, verbrannte. Des armen Lottchens Lage, ihr ſich immer mehrendes Leiden, verdiente aber auch dieſe Schonung, es war ſchrecklich, es war der Erbarmung aller Menſchen wuͤrdig. Sie hat - te zwar Staͤrke des Geiſtes genug, ſich uͤber den Abſchied des innig Geliebten zu troͤſten, ſie beſaß zwar Muth, ſich mit der Hofnung des gluͤcklichen Wiederſehns zu laben, aber die marternde Ver - muthung, daß ſie wirklich ein Pfand der Liebe unter ihrem Herzen trage, die in jeder Stunde der Nacht ſie weckte, mit jedem Morgen ſich neu -67 te, mit jedem Abende ſich beſtaͤtigte, und nach und nach zur ſchrecklichen Gewißheit wuchs, dieſe Vermuthung raubte ihr Staͤrke und Muth, Troſt und Hofnung, fuͤhrte ſie oft an den Abgrund der Verzweiflung, und weckte ſelbſt moͤrderiſche Ge - danken in ihr. Von beiden retteten ſie bisher im - mer noch die Briefe des heißgeliebten Wilhelms, die ſie oft jede Woche erhielt, und eben ſo fleißig beantwortete. Er ſchrieb ſo zaͤrtlich, er nahm ſo innigen Antheil an ihren Leiden, er waͤlzte die ganze Schuld des Verbrechens auf ſich; aber er flehte auch ſo ruͤhrend um Vergebung, daß die Leidende ſie ihm nie verſagen konnte, und um ſeinetwillen noch laͤnger zu dulden beſchloß.

Lottchen ſuchte indeß ihren Zuſtand vor aller Augen auf's ſorgfaͤltigſte zu verbergen, ſie hatte nicht Muth genug, ihn irgend jemanden zu ent - decken. Das Gefuͤhl der Schaam, der Schande war zu groß, es bekaͤmpfte den Vorſatz, welchen ſie oft deswegen faßte, und er unterblieb. Oft, wenn der alte Vater ſie mitleidig anlaͤchelte, und wegen ihrer bleichen Wangen theilnehmend nach ihrem Befinden fragte, wollte ſie ſich ihm zu Fuͤ - ſen werfen, alles bekennen und um Mitleid fle - hen, aber die Vorſtellung ſeines Jammers ſchreck - te ſie ſtets zuruͤck. Ihre jetzt mehr als je beſchaͤf - tigte Einbildungskraft zeigte ihr den Zuſtand des Leidenden Alten im Bilde, ſie ſah ihn, voll Entſe -E 268zen uͤber dieſe unerwartete Nachricht, leblos vom Stuhle ſinken, ſie hoͤrte, wie er ſtammelnd ihr fluchte, und Rache flehend verſchied. Dieſe noch graͤßlichere Vorſtellungen bewogen ſie immer zu laͤngerm Stillſchweigen, ſie ſann unter dieſer Zeit wohl auf Mittel, ihren Zuſtand ſtets verbergen zu koͤnnen, da ſie aber keine fand, ſo verſchob ſie die fuͤrchterliche Entdeckung von einer Zeit zur andern, und ſuchte nur immer noch einen Tag zu gewinnen, an welchem ſie ſchuldlos und ohne kraͤnkenden Vorwurf vor den Augen der Dienſtbo - ten umher wandeln konnte. Sie hatte Wilhelmen auf ſeine dringende Bitte gelobt, daß ſie nicht Hand an ſich und ihr Schmerzenskind legen wol - le, ſie beſchloß den Schwur zu halten, aber ſie hofte, daß die Geburt des aͤrmſten ihr Tod wer - den ſollte, und zoͤgerte daher ſtets noch laͤnger, ihn durch vorher genoßne und gefuͤhlte Schande zu verbittern.

Indeß ſie oft einſam mit ſich kaͤmpfte, ſich die ruͤhrenden Worte: Vater und Mutter haben mich verlaſſen, aber der Herr nimmt mich auf! zu ihrem Leichentext waͤhlte, und ſchwarze Schlei - fen band, die ihr Sterbekleid zieren ſollten, ſprach ſchon das ganze Dorf von ihrem ungluͤcklichen Zu - ſtande. Jede Hausfrau muthmaßte ihn ſchon lan - ge, jeder war er ſchon zur Gewißheit geworden; ihre Taille, die ſonſt eine der ſchoͤnſten war, hatte ſich zu ſehr veraͤndert, ſie mußte dem geuͤb -69 ten Auge dieſer Weiber auffallen. Lottchen wurde einſt, als man eine Kindbetterin begrub, auf dem Kirchhofe ohnmaͤchtig, der Anblick ihres kuͤnftigen Looſes mochte zu ſtark auf ihre Nerven gewirkt haben. Einige Weiber fuͤhrten ſie abſeits, loͤßten ihre Schnuͤrbruſt, und wurden dadurch von ihrem ungluͤcklichen Zuſtande ganz uͤberzeugt. Bald ſpra - chen auch die Juͤnglinge und Dirnen des Dorfs davon, es kraͤnkte die Vaͤter und Muͤtter, daß in ſo gefahrvoller, verfuͤhrungsreicher Zeit die Toch - ter des Pfarrers ihren Kindern ein ſo uͤbles Bei - ſpiel gab, und ſie gleichſam zur Nachahmung reiz - te. Einige wenige Mißvergnuͤgte, welche der al - te Pfarrer in aͤhnlichen Faͤllen, oft nur Vermu - thungen, mit zu harten Worten ermahnt hatte, nuͤtzten die guͤnſtige Gelegenheit zur Rache, und ermunterten die Gemeinde zur foͤrmlichen Klage. Einige Deputirte derſelben giengen wirklich in die Stadt zum Superintendenten, klagten ihren Pfar - rer der Verwahrloſung ſeines Kindes an, und for - derten, zur Steuer des allgemeinen Aergerniſſes, zur Warnung ihrer eigenen Kinder, hinlaͤngliche Genugthuung. Der rechtſchaffne Superintendent, welcher ganz natuͤrlich glaubte, daß dem Vater nicht unbekannt ſeyn koͤnne, was eine ganze Ge - meinde wiſſe, ſchrieb ſogleich dem alten Pfarrer und bat ihn mit ſchonenden Worten, ſeine Ge - meinde in der Stille zu beruhigen, ſie durch ein - heimiſche Genugthuung zu verſoͤhnen, weil er ſonſt bei wiederholter Klage an's Oberkonſiſtorium70 Bericht erſtatten muͤſſe, und dieſes leicht auf Ent - ſetzung vom Dienſte entſcheiden koͤnne. Der naͤch - ſte Poſtbote brachte dieſen Schreckensbrief mit. Lottchen harrte ſeiner beim alten Schulmeiſter; Wilhelm hatte ſchon drei Wochen nicht geſchrie - ben, ſein Regiment zog nach der Oder gegen die Ruſſen, ſie hofte ſo ſehnlich auf Troſt und Nach - richt von ihm, erhielt abermals keine, und eilte nach Hauſe, um in ihrem Kaͤmmerlein ungeſtoͤrt weinen zu koͤnnen. Ihr Jammer war durch einen Zufall noch um ein großes vermehrt worden, zwei Bauernweiber waren ihr auf dem Heimwege be - gegnet, hatten ſie nicht Jungfer Lottchen, nur ſchlechtweg Lottchen gegruͤßt, und ſich mit hoͤhni - ſchem Laͤcheln nach ihrem Wohlbefinden erkundigt. Die Ueberzeugung, daß man ihren ungluͤcklichen Zuſtand ſchon muthmaße, bald im ganzen Dorfe mit Gewißheit davon ſprechen werde, verurſachte ihr toͤdtliches Schrecken, ſie lag eben auf ihren Knien, und flehte Gottes Beiſtand an, als eine Magd ihr meldete, daß der Vater ſie eilend zu ſprechen verlange. Sie trocknete ihre Augen, und eilte zu ihm hinab. Der arme Alte ſaß in ſeinem Großvaterſtuhl, in ſeiner herabgeſunkenen Rechten hielt er einen offnen Brief, mit ſeiner Linken unterſtuͤtzte er auf ſeiner Naſe die Brille, welche ſein zitterndes Haupt herabzuſchuͤtteln droh - te. Er blickte ſtarr nach ſeiner Tochter, und fieng endlich laut zu ſchluchzen an.

71

Lottchen. (bebend und zitternd) Liebſter Vater, was iſt Ihnen widerfahren?

Vater. (im ſchrecklichen weinenden Tone) Kind des Jammers! kannſt du mir Troſt gewaͤhren, kannſt du's widerlegen, ſo eile, damit dich dein ſterbender Vater noch ſegnen kann. (mit erhoͤheter Stimme) Iſt's aber wahr! O dann fliehe eilend, damit dich mein ge - rechter Fluch nicht mehr erreicht, nicht dort auch ungluͤcklich macht.

Lottchen. (auf ihre Knie ſinkend) Vater! Vater!

Vater. (mit graͤßlicher Stimme) So iſt's wahr? Du antworteſt, du vertheidigſt dich nicht? (aufſpringend) O, ich ungluͤckſeli - ger! O, ich geſchaͤndeter! O, ich erbarmungs - wuͤrdiger Vater! Mutter! Mutter! Dein Lieb - ling, dein Lottchen, das du mir noch in deiner Todesangſt ſo dringend empfahlſt, das mir um dieſer ſchrecklichen Stunde willen ſo theuer wur - de, iſt gefallen, hat Ehre und Tugend vergeſſen, hat dein unbeflecktes Andenken bei der Nachwelt gebrandmarkt, ſtuͤrzt mich mit Leid und Kummer in die Grube! Sie haben Recht, daß ſie Genugthuung fordern, ich muß ſie leiſten! (ſtoͤßt Lottchen von ſich) Weg, weg, da - mit ich dich nicht laͤnger ſehe, ſonſt vermag ich's nicht! (Lottchen will fortwanken, mit geruͤhrter Stimme) Gott ſchuͤtze dich vor72 Verzweiflung, darum flehe und bitte ich ihn, mehr vermag ich nicht, mehr kannſt du nicht fordern! (Lottchen will ihm auf's neue zu Fuͤßen fallen) Weg! Weg! Sonſt wirſt du auch Vatermoͤrderin!

Lottchen wankte zur Thuͤre hinaus, eine vor - uͤbergehende Magd fand ſie ohnmaͤchtig am Bo - den, ſie rufte mehrere herbei, ſie trugen ſie in ihr Bette, weckten endlich ihre Sinne, und wach - ten die ganze Nacht an ihrem Lager. Es war eben Sonnabend, als dieſe ſchreckliche Szene ſich ereignete; am andern Morgen, wie Lottchen zu beten verſuchte, trat der alte Vater in ihre Kam - mer. Er war im Prieſterrocke gekleidet, und trug die Bibel unter dem Arme. Lottchen, ſprach er im ernſten, aber gefaßten Tone, du mußt heute in die Kirche gehen.

Lottchen. Wie vermag ich's?

Vater. (ihr geruͤhrt die Hand rei - chend) Dein Vater fordert's, er will dich und ihn mit Gott verſoͤhnen! Kannſt du ihm den Gehorſam verweigern?

Lottchen. (ihm die Hand kuͤſſend) Ich folge! Gott gebe, daß es mein letzter Gang ſei.

Vater. Verſuͤndige dich nicht auf's neue durch thoͤrichte Wuͤnſche, flehe zu ihm, nur er kann Kraft zur Beſſerung verleihen!

Der Vater gieng ſtandhaft fort, und Lottchen73 ließ ſich durch die Maͤgde ankleiden, ſie war nicht vermoͤgend allein zu gehen, die Maͤgde mußten ſie auch nach der Kirche fuͤhren, ſie nahmen Platz neben ihr, und gaben ihr oft ſtaͤrkenden Geiſt zu riechen, weil ſie immer ohnmaͤchtig zu werden drohte. Die ganze verſammlete Gemeinde ſah ihr Leiden, ſchloß auf Entdeckung und fuͤhlte Mitleid. Der Gottesdienſt begann, alle ſangen im trauri - gen Tone das froͤhliche Morgenlied; als nachher der alte Vater, welcher ſchon zwei und vierzig Jahre ihr Lehrer geweſen war, zum Altare wank - te, oft die truͤben Augen ſich wiſchte, und doch das Evangelium nur ſtotternd leſen konnte, da weinten ſchon viele, und das folgende Lied ward im noch traurigern Tone abgeſungen. Endlich be - ſtieg der ehrwuͤrdige Greis die Kanzel, er ruhte oft auf ihren Stufen, blickte nach Kraft in die Hoͤhe, und langte oben an, als ſchon tiefe Stille der Gemeinde ihn erwartete. Er rang fuͤrchterlich ſeine Haͤnde, und rief weinend aus: O meine Tochter! O meine Tochter, wie beugſt du mich! Dies, fuhr er fort, war nicht der Text, welchen ich zu meiner heutigen Predigt gewaͤhlt hatte, aber jetzt aus innerm Gefuͤhle waͤhlen muß. O meine Tochter! O meine Tochter! wie beugſt du mich! Zwei und vierzig Jahre ſtand ich aufrecht an dieſer heiligen Staͤtte, und ward geſtaͤrkt durch die innere Ueberzeugung, daß ich handelte, wie ich lehrte. O meine Tochter, wie beugſt du mich! Jetzt muß ich, vom ſchrecklichen Grame74 und Kummer niedergedruͤckt, an dieſer Staͤtte er - ſcheinen, darf's nicht wagen, meine Augen zu Gott zu erheben, muß reumuͤthig an meine Bruſt klopfen, und demuͤthig ausrufen: Gott ſei mir Suͤnder gnaͤdig! Ich kann nicht mehr, andaͤch - tige Zuhoͤrer, in euer Auge vertrauend blicken, tiefe Schaam feſſelt das meinige am Boden, weil ich euch Aergerniß gab, weil ich verdient habe, daß man einen Muͤhlſtein an meinen Hals haͤnge, und mich im Meere verſenkte, wo es am tiefſten iſt. Oft, liebe Hausvaͤter und Muͤtter, habe ich eure wenige Wachſamkeit, mit welcher ihr eure Kinder erzogt, in heftigen Worten getadelt, jetzt muß ich mich dieſes Verbrechens bei euch ankla - gen, muß ausrufen: Schaͤndlicher Vater! du haſt's geduldet, als deine Tochter buhlte, du haſt ruhig geſchlafen, als ſie deinen und ihren Ruf entehrte, als ſie dem Volke Aergerniß gab! Dir wird es ſchwer werden, deine Nachlaͤſſigkeit vor Gottes Throne zu verantworten, du kannſt nun nicht mehr freudig vor ihn hintreten und ſagen: Herr, hier bin ich, und diejenigen, die du mir gegeben haſt! Oft, liebe Jungfrauen und Juͤnglinge, habe ich euch ermahnt, auf dem Pfa - de der Ehre und Tugend zu wandeln! Oft habe ich in ſtrengen Worten eure unſchuldigen Luſtbar - keiten getadelt, ſie im heiligen Eifer den Reiz zur Suͤnde, den Anfang des Laſters genannt: jetzt muß ich ſchweigen, denn der Blick auf mein ge - fallnes Kind wuͤrde mich erinnern, daß ich ſtraf -75 barer, als ihr, war. Damit ich aber nicht mehr Schuld auf mich lade, als ich zu tragen faͤhig bin, und wirklich zu buͤßen verdiene, ſo frage ich dich, mein Schmerzenskind, meine Benjamine, an dieſer heiligen Staͤtte vor Gottes Angeſichte, und in Gegenwart der ganzen vor ihm verſamm - leten Gemeinde: ob ich nicht alles that, was mir Gott zu thun befahl? Ob ich dich nicht von fruͤ - her Jugend an zur ſtrengen Beobachtung ſeiner Gebote ermahnte? Dir nicht anſchauend die ſchrecklichen Folgen zeigte, welche jedes Laſter nach ſich ziehen muß? O, meine Tochter! O. meine Tochter, wie beugſt du mich!

Der ungluͤckliche Greis wollte noch weiter ſpre - chen, aber das laute Schluchzen der ganzen Ge - meinde, das klaͤgliche, fuͤrchterliche Winſeln ſei - nes Kindes hinderte ihn, er mußte harren, und im Stillen die Fruͤchte ſeiner ſchrecklichen Rede erwarten. Die Weiber verließen ihre Stuͤhle, die Jungfrauen folgten, alle draͤngten ſich zur Ungluͤcklichen, umarmten und kuͤßten ſie wechſels - weiſe. Vergebung, Vater, Vergebung, rief ein unſchuldiges Maͤdchen. Vergebung, riefen alle Weiber und Jungfrauen. Vergebung erſchall's von allen Emporkirchen der Maͤnner. Ich ver - zeihe, ich vergebe willig, ſprach der Greis im geruͤhrten Tone, ich hoffe, daß auch Gott ihr Flehen hoͤrt, und mit barmherzigem Auge auf ſie herabblickt. Der Kuß des Friedens ſoll ihr wer -76 den, wenn ich hinabſteige; aber jetzt muß ich mit euch, Andaͤchtige und Geliebte, noch einige Wor - te ſprechen. Ihr fordertet mit vollem Rechte bei meinem Obern Genugthuung uͤber das Aergerniß, welches euch und euern Kindern durch den Fall meiner Tochter ſo reichlich wurde. Ich gab ſie euch; ſeid ihr, gleich Gott, mit dem oͤffentlichen Bekenntniſſe der Schuld zufrieden? Oder fordert ihr mehr? Verdiene ich vielleicht nicht mehr euer Fuͤhrer, euer Lehrer zu ſeyn, ſo will ich heute noch mein Amt freiwillig niederlegen, will mit dem Wunſche, daß mein ungluͤckliches Kind den eurigen ewig zum warnenden Beiſpiel dienen moͤ - ge, von euch ſcheiden. Nein, nein, rief die ganze Gemeinde, bleiben Sie noch laͤnger un - ſer Vater und Lehrer! Wir bereuen den voreili - gen Schritt von ganzem Herzen! Wir nehmen die Klage zuruͤck! So lohn's euch Gott, ſprach der Greis weinend, der nicht will, daß mein graues Haupt mit Schande in die Grube fahre! Er ſtieg nun von der Kanzel herab, und nahte ſich dem ungluͤcklichen Lottchen, das in der Weiber Armen ruhte, und nur ſchluchzen, nicht mehr weinen konnte. Oft hatte Ohnmacht ſich ihr genaht, aber die Donnerworte des Vaters hat - ten ſie immer wieder zum Leben empor geſchreckt. In der ganzen Gemeinde herrſchte tiefe Stille und Erwartung, jeder wollte die Worte der Verſoͤh - nung hoͤren, damit er einſt Zeuge derſelben ſeyn koͤnne. Der alte Vater kuͤßte jetzt die Stirne ſei -77 nes Kindes, auch er ſchluchzte, und konnte nur Vergebung ſtammlen, die aber ſein Herz willig zu geben ſchien. Mit aller Kraft, die der armen Leidenden noch moͤglich war, riß ſie ſich jetzt aus den Armen der Weiber empor, und ſtreckte ihre Haͤnde flehend gegen die ganze Gemeinde. Ver - gebt, verzeiht auch ihr, ſprach ſie, und laßt dem ſchuldloſen Vater mein Verbrechen nicht entgelten. Nein, nein! rief abermals die ganze Gemeinde. Fluch treffe den, ſprach ein alter Bauer, der ihr und ihm den geringſten Vorwurf macht! Fluch! Fluch treffe ihn! ſchrien alle.

Der getroͤſtete Vater ſchlich nun nach der Sa - kriſtei, der alte, taube Schulmeiſter, welcher wahrſcheinlich von der herzangreifenden Szene nichts verſtanden hatte, ſtimmte ein neues Lied an, aber niemand war vermoͤgend mitzuſingen. Der Gottesdienſt ſchloß ſich mit dem angenehmſten Op - fer, mit Verſoͤhnung und Vergebung. Es war ruͤhrend anzuſehen, wie jetzt die Weiber und Jung - frauen die Leidende in ihrer Mitte nach Hauſe fuͤhrten, wie die Maͤnner und Juͤnglinge ihren alten Seelenhirten umgaben, ihn nochmals treu - herzig ihrer vollen Liebe verſicherten, und auch mit ihm nach der Pfarre zogen. Da Lottchen ſchon unterwegs ohnmaͤchtig ward, ſo fuͤhrten ſie die Weiber nach ihrer Kammer, und wachten von nun an abwechſelnd an ihrem Krankenlager. Am andern Morgen giengen zahlreiche Deputirte nach78 der Stadt, und brachten vom Superintendenten die Verſicherung zuruͤck, daß auf ihre dringende Bitte der Klage nicht gedacht werden ſollte. Eine volle Woche verfloß nun ruhig, es beſſerte ſich mit Lott - chen, und ihr alter Vater ſaß oft troͤſtend an ih - rem Bette, und ermahnte ſie mit kraͤftigen Wor - ten zur Standhaftigkeit, und Ausdauer in der har - ten Pruͤfung. Eben war er Sonntags in die Kir - che gegangen, als ſeine zwei andern Toͤchter aus der Stadt anlangten, ſie hatten das dunkle Ge - ruͤcht, welches ſich auch dort verbreitete, vernom - men, wollten ſich mit eignen Augen uͤberzeugen und uͤberhaͤuften nun die Ungluͤckliche mit den ſchmaͤhlichſten, ſchrecklichſten Vorwuͤrfen. Haͤtten nicht zwei ſtarke Bauerweiber an Lottchens Bette gewacht, ſie wuͤrden in ihrer Wuth die Huͤlfloſe erbaͤrmlich mißhandelt haben. Mit aͤhnlichem, unnatuͤrlichem Grimme, und eben ſo beißenden Vorwuͤrfen empfiengen ſie den alten Vater, als er aus der Kirche kam, ſie nannten ihn einen Kuppler ſeines eignen Kindes, und vergaßen der Ehrfurcht ganz, die ſie dem Vater ſchuldig waren. Der gekraͤnkte Alte antwortete nicht, verſperrte ſich in ſeine Studierſtube, und uͤberließ ſich ſeinem gerechten Schmerze. Wie die hartherzigen Schwe - ſtern neue Angriffe auf die Ungluͤckliche wagten, ſandten die Waͤchterinnen nach Huͤlfe: Weiber und Maͤnner verſammelten ſich bald in Menge, ſie ermahnten die Wuͤthenden mit kraͤftigen, baͤu - riſchen Worten zur Schonung, ſie bewieſen ihnen,79 daß noch nicht aller Tage Abend, und der ſich am ſicherſten duͤnke, oft dem Falle am naͤchſten ſei. Da aber die Ermahnung die Stolzen noch mehr erbitterte, ſo ergriffen die Bauern ſtillſchweigend Lottchens Bette, und trugen es auf ihren ſtarken Schultern nach der nahen Schule. Ein alter Greis blieb bei den ſtaunenden Schweſtern in der leeren Kammer. Wir haben, ſprach er endlich ernſthaft, heute vor acht Tagen im Gotteshauſe demjenigen Fluch gelobt, der dem armen Vater und ſeinem ungluͤcklichen Kinde einen Vorwurf macht. Gott hat ihn gehoͤrt, nehmt euch in Acht, daß er euch nicht ſchrecklich trift. Verſucht's nicht, uns zu folgen, wir werden ſonſt Vaterrecht brau - chen, denn das arme Lottchen iſt nun unſer Kind geworden.

Lottchen wohnte jetzt wirklich im Oberſtuͤbchen der Schule, die Weiber des Dorfs umgaben ſie mit ſtaͤrkerer Wache, und ſandten die Suppe zu - ruͤck, welche die Schweſtern ihr am Abende mit einem kraͤnkenden und ſpoͤttiſchen Gruße ſandten. Sie haͤtten, lieſſen ſie ihnen ruͤckdeuten, ſchon ſelbſt noch Huͤhner zur Suppe, und wuͤrden ſie fuͤr ihr neues Kind nicht ſparen.

Am dritten Tage erfuhren einige Bauern, daß man auf dem Pfarrhofe nach einem Arzte geſandt habe, ſie muthmaßten Krankheit ihres lieben Pfarrers, und eilten ihn zu beſuchen. Sie fan - den ihn auf ſeinem Bette, er rang ſchon mit dem80 Tode, konnte nicht mehr hoͤren, nicht mehr ſpre - chen; ſeine beiden unnatuͤrlichen Toͤchter hatte ihn, nach Ausſage der Maͤgde, ſtets mit den kraͤn - kendſten Vorwuͤrfen gemartert, er haͤtte oft um Schonung gefleht, aber ſie war ihm nie worden. Als ſie am nemlichen Tage ihn beim Mittags - mahle auf's neue damit kraͤnkten, endete ſeine Geduld, er ſprach ſehr hart mit ihnen, und gieng in ſein Zimmer. Die Magd, welche ihm den Kaffe nachtrug, fand ihn ſinnlos am Boden; wahrſcheinlich hatte ihn der Schlag getroffen. Die Toͤchter waren nicht zugegen, wie die Bauern ankamen, ſie beſchaͤftigten ſich, die Schraͤnke und Kiſten zu verſperren, damit bei dem nahen Todes - falle nichts von ihrem Erbtheile entwendet wer - den koͤnne. Der kranke Vater bemuͤhte ſich aͤu - ßerſt, mit den anweſenden zu ſprechen, aber ſeine Muͤhe war vergebens. Er hob ſeine Linke, denn die Rechte hatte wirklich der Schlag gelaͤhmt, in die Hoͤhe, und deutete mit flehender Miene nach der Schule. Die Bauern verſtanden ſeine Bitte, und gelobten in kraͤftigen Worten und mit deut - lichen Mienen, daß ſie der Verlaßnen Vater ſeyn wollten. Ehe noch der Arzt anlangte, hatte er ſchon ausgerungen; als kurz vorher die unnatuͤrli - chen Toͤchter an ſein Sterbebette traten, und klaͤg - lich, aber nicht ernſtlich, ihre Haͤnde rangen, wandte der Sterbende ſein Angeſicht von ihnen, und ſtarb, indem er ſehnſuchtsvoll nach der Schu - le blickte.

Dieſ81

Dies alles hinderte die Verſtockten keineswe - ges, ihrer ungluͤcklichen Schweſter ganz allein die Urſache des vaͤterlichen Todes aufzubuͤrden, ſie behaupteten ſogar kuͤhn, daß der Vatermoͤrderin kein Theil am Erbe gebuͤhre, und ſchwuren, eher den letzten Rock zu verganden, als ihr gutwillig einen Groſchen zu uͤbergeben. Dies, ſprachen die anweſenden Bauern, werden wir hier beim Leich - name des Vaters nicht ausmachen, aber ſo viel ſchwoͤren wir euch, daß es der Aermſten, wenn ſie auch nicht das Geringſte erhaͤlt, doch an nichts mangeln ſoll. Wir haben's dem ſterbenden Vater gelobt, und werden treulich Wort halten. Seht zu, daß das ungerechte Haabe nicht einſt auf eurer Seele brennt.

Mit Lottchen hatte es ſich unter der ſorgfaͤlti - gen Pflege der Weiber abermals gebeſſert, ſie konnte im Bette aufſitzen, und gab Hofnung, bald in der Stube herum zu gehen. Der Richter des Dorfs hatte am Sterbetage ihres Vaters die ganze Gemeinde verſammlet, und mit ihr uͤber Lottchens kuͤnftiges Schickſal gerathſchlagt, alle hatten ſich ſchriftlich verbunden, mit freudigem Herzen den ausfallenden Theil zu ihrer Verſor - gung auf Lebenszeit beizutragen, des Richters einziger Sohn hatte ſogar hinzugefuͤgt, daß er, wenn Wilhelm nicht aus dem Kriege wiederkehre, ihr ſeine Hand bieten wolle, und mit ihr gluͤckli -Erſt. Baͤndch. F82cher als mit mancher andern zu leben hoffe. Da uͤbrigens Lottchen ſchon aͤußerſt viel gelitten hatte, und mehr zu leiden nicht faͤhig war, ſo ward beſchloſſen, ihr jetzt den Tod des Vaters nicht kund zu machen, und ſorgfaͤltig zu verhuͤten, daß niemand ihr ſolches entdecke; dieſer Vorſatz war ſehr leicht auszufuͤhren, weil immer einige Weiber des Dorfs bei Lottchen wachten, jeden, der ſich ihr naͤherte, vorher unterrichten, und alle, denen ſie nicht trauten, entfernen konnten: aber die gut - herzigen Seelen bedachten nicht, daß das arme Kind bald nach einer Unterredung mit dem Vater bangen, ſich ſtark genug fuͤhlen werde, ihn beſu - chen zu wollen. Ueberdies lag die Schule ſehr nahe an der Kirche, die Leiche des alten Vaters mußte nahe daran voruͤber getragen werden, Glo - ckengelaͤute und Trauerlieder mußten ſie aufmerk - ſam und argwoͤhniſch machen. Schon am andern Morgen forſchte Lottchen ſehr ſorgfaͤltig nach dem Befinden ihres Vaters, ſie hatte ihn im Traume im Sarge geſehen, und wollte nun mit Gewalt auf die Pfarre gehen. Mit vieler Muͤhe gelang es den Waͤrterinnen, ſie eines andern zu uͤberre - den, ſie brachten ihr Botſchaft vom Vater, der ihr Schonung und Ruhe gebot, und ſie morgen oder uͤbermorgen zu beſuchen verſprach. Dieſe Nachricht ſchien ſie zu beruhigen, als aber am Mittage alle Glocken der ganzen Gemeinde den Tod ihres Pfarrers verkuͤndigten, da forſchte ſie auf's neue aͤngſtlich nach der Urſache. Man er -83 zaͤhlte ihr, daß ein alter Bauer geſtorben ſei, ſie wollte es anfangs nicht glauben, als aber jeder, welcher ſie dieſen Tag beſuchte, ihre Frage eben ſo beantwortete, ſo wurde ſie am Abende ruhiger, und frage jetzt oft: ob ihr Vater die Leiche fuͤh - ren, und ſie dann beſuchen werde? Da die Waͤr - terinnen ihr Hofnung dazu machten, ſo ſchlief ſie ſanft, und konnte am Morgen das Bette verlaſ - ſen, ungeachtet die Anweſenden ſie eines andern zu bereden ſuchten. Die beſondere auffallende Muͤ - he, welche ſie am Mittage auf's neue anwandten, Lottchen zum Niederlegen zu bereden, mochte die Ungluͤckliche mißtrauiſch gemacht haben, ſie warf ſich in ihren Kleidern auf's Bette, und ſchien bald ſanft zu ſchlafen. Als die Glocken den Lei - chenzug verkuͤndigten, und dieſer ſich ſchon der Schule nahte, ruhte Lottchen noch immer, die Waͤchterinnen ſchlichen ſich leiſe an's Fenſter, und wollten auch mit Blicken Abſchied von ihrem treuen Lehrer nehmen. Der Anblick riß ſie hin, ſie ſchluchzten laut, und ſahen es nicht, wie das arme Lottchen leiſe ihr Bette verließ, und auch an's Fenſter ſchlich. Der Sarg, in welchem ihr Vater ruhte, ward eben voruͤber getragen, ihre Schweſtern folgten heulend in ſchwarzen Trauer - kleidern, und Lottchen ſank mit einem graͤßlichen Schrei zu Boden. Die Waͤrterinnen eilten ihr erſchrocken zu Huͤlfe, ſchleppten ſie aufs Bet - te, und weckten bald ihre Sinne, aber ihr Ver -F 284ſtand war unwiederbringlich verloren, der ſchreck - liche Anblick des todten Vaters, die noch ſchreckli - chere Vermuthung, daß ſie die Schuld deſſelben trage, hatte ihn zerruͤttet. Sie raßte, uͤberwaͤl - tigte oft die Waͤrterinnen, und ſuchte ein Werk - zeug, um ſich zu ermorden. Ich habe ihm den Dolch in's Herz geſtoßen, das Blut floß ſtrom - weiße von ſeinem Sarg herab, rief ſie immer, ich habe den ſchrecklichſten Tod verdient, ihr muͤßt mich binden, und dem Gerichte uͤberlie - fern!

Am Abende mußte die betruͤbte Gemeinde auch wirklich zu dieſem Mittel ſchreiten, und ihre Haͤnde feſſeln, denn ſie hatte ſich einigemal ſchon ſelbſt erdroſſeln wollen. Sie hoften noch immer ſehnlich auf Beſſerung, als ſie nicht erfolgte, holten ſie auf ihre Unkoſten einen beruͤhmten Arzt. Er konnte in ihren Umſtaͤnden wenig zu ihrer Lin - derung, zur vollkommnen Huͤlfe gar nichts, bei - tragen, doch behauptete er, daß es ſich mit ihrer Entbindung, die jetzt maͤchtig nahte, von ſelbſt beſſern werde. Ehe dieſe Stunde ganz nahte, duldete die arme Wahnſinnige ſchreckliche Mar - tern und Leiden, ihre Einbildungskraft fuͤhrte ſie jeden Tag oft und vielmals auf's Schaffot: dies war ihr einziger, nie ganz weichender Gedanke. Oft ſtand ſie vor ihren Richtern, bekannte mit ruͤhrenden Worten ihre ganze Schuld, und klagte ſich endlich ſelbſt als Vatermoͤrderin an; ſie ließ85 den Stab uͤber ſich brechen, ward zum Schwerte verurtheilt, und hoͤrte ihr Urtheil mit Standhaf - tigkeit an. Aeußerſt ruͤhrend und traurig war es fuͤr die Waͤrterinnen, wenn ſie ſich durch Huͤlfe ihres Wahnſinns nach dem Rabenſtein fuͤhren ließ, ſie wurde dann vergnuͤgt und froh, verſoͤhnte ſich innig mit Gott, ſprach mit den Anweſenden ernſtlich, und warnte jedes Maͤdchen mit den nachdruͤcklichſten Worten vor Verfuͤhrung und Ver - luſt der Unſchuld. Eine lange, anhaltende Ohn - macht, in welcher ſie ſich hingerichtet waͤhnte, endete dann immer die ſchreckliche Szene, welche ſie ſtets mehr und mehr entkraͤftete. Niemand hofte auf gluͤckliche Entbindung, jeder weiſſagte ihr im Voraus mit dieſer das Ende ihrer Leiden; endlich nahten ſich ihre Schmerzen, ſie waren der armen Wahnſinnigen neue, noch nie gefuͤhlte Em - pfindungen, ihre Einbildungskraft waͤhnte, daß ſie am Hochgericht ſtehe, und mit gluͤhenden Zangen gezwickt werde. Sie flehte oft ihre Hen - ker um Barmherzigkeit an, und nannte ſie un - menſchliche Barbaren. Nach vier und zwanzig - ſtuͤndigem Leiden gebahr ſie, zum Erſtaunen aller Anweſenden, ein geſundes, wohlgeſtaltes Maͤd - chen; die Aenderung, welche der verſtaͤndige Arzt prophezeiht hatte, erfolgte ſchnell. Alle Anweſen - de jubelten und frohlockten, als ſie ihr Schmer - zenskind forderte, und es mit allen Beweiſen der reinſten Zaͤrtlichkeit einer Mutter an ihr Herz druͤckte, ſie war aͤußerſt ſchwach, aber bei voll -86 kommnem Verſtande, ſie beantwortete jede Frage richtig, und ſchien ſich des Todes ihres Vaters gar nicht mehr zu erinnern, ſie beſchaͤftigte ſich ſtets mit ihrem Kinde, und laͤchelte wonnevoll, wenn ſie es anblicken konnte. Auf dieſe Art durchlebte ſie zwei gluͤckliche Tage, die Taufe des Kindes war fuͤr die ganze Gemeinde ein Feſt, alle Hausvaͤter und Muͤtter ſtanden ihm zu Ge - vatter, und erneuerten den Bund, Mutter und Kind bis an ihren Tod zu ernaͤhren. Man hatte das Maͤdchen in der Taufe Wilhelmine genannt, als man es der Mutter erzaͤhlte, forſchte ſie ſo - gleich nach Briefen von ihrem Wilhelm, da man ihr keine bringen konnte, ſo weinte ſie den ganzen Abend, und nannte ihr Kind eine vaterloſe Wai - ſe. In der folgenden Nacht ſchlief ſie ruhig, ſprach aber am andern Morgen ſchon wieder irre, dann und wann blickte, gleich der untergehenden Sonne, ihr Verſtand noch empor, aber bald ſank er, gleich dieſer, in die Dunkelheit hinab, und gieng nie mehr auf. Ihr Wahnſinn hatte ſich auf die gluͤcklichſte Art geaͤndert, ſie waͤhnte mit ihrem Kinde im Himmel zu ſeyn, und glaubte alle Freuden deſſelben zu genießen. Sie ſprach taͤglich mit Gott und ſeinen Engeln, ihre Einbil - dungskraft verwandelte einen Trunk friſches Waſ - ſer in Nektar, und ein Stuͤckchen Brod in Him - melsmanna. Die Gemeinde, welche noch immer auf Rettung hofte, brauchte den Arzt auf's neue, aber er erklaͤrte ihren Wahnſinn ſogleich fuͤr un -87 heilbar, und Rettung fuͤr unmoͤglich. Das un - gluͤckliche Lottchen, welches nun durch ihren Wahnſinn innere Zufriedenheit und Seelenruhe genoß, ward bald geſund, ihre Wangen roͤtheten ſich auf's neue, ſie war reizender und ſchoͤner als in den Tagen ihrer Unſchuld. Sie liebte ihr Kind mit ſeltener Zaͤrtlichkeit, ſie wartete und pflegte es mit einer Sorgfalt, der keine andere Mutter faͤhig war. Oft wiegten es, ihrer Einbildung nach, die Engel, aber ſie wich doch nie von ſei - ner Wiege, und beobachtete ſtets die kleinſte Be - wegung deſſelben. Ihre unnatuͤrlichen Schweſtern beſuchten ſie nie mehr, ſie theilten die ganze Erb - ſchaft unter ſich, und die redliche Gemeinde hin - derte es nicht, weil die Glieder derſelben glaub - ten, daß eine Klage daruͤber der Reue ihres Ge - luͤbdes aͤhnlich ſaͤhe, durch welches ſie ſich ver - bunden hatten, Lottchen ſammt ihrem Kinde zu ernaͤhren. Aber der gewiſſenhafte Superintendent duldete dies Unrecht nicht, er vertrat die Verlaß - ne, die Gerechtigkeit entſchied, und Lottchen er - hielt gleichen Antheil am Erbe des Vaters. Es ward den Vorſtehern der großmuͤthigen Gemeinde zur Verwaltung uͤbergeben, weil ſie einſtimmig erklaͤrten, daß ſie ihr einmal angenommenes Pfle - gekind nicht aus ihrer Mitte laſſen wollten. Das ganze Erbtheil beſtand in eilfhundert Thalern, ſie legten dieſe auf ſichere Zinſen, machten dieſe im - mer wieder zu Kapital, und ernaͤhrten Lottchen aus Eigenem, damit ihr unſchuldiges Kind einſt88 eine Summe erbe, mit welcher es ſich gut und redlich ernaͤhren koͤnne.

Lottchen lebte beinahe ſtets im Ueberfluſſe, alles, was ſonſt die Hausmuͤtter als einen Lecker - biſſen fuͤr ihr kuͤnftiges Kindsbette aufbewahrten, trugen ſie jetzt mit willigem Herzen auf die Schu - le, und weinten innig, wenn ihr wahnſinniges Pflegekind ſie fuͤr Engel anſah, und mit ihnen von den ſeligen Freuden des Himmels ſprach. Der neue Pfarrer war ein wahrer Menſchen - freund, er nahm warmen Antheil an Lottchens Schickſale, ermahnte ſeine Gemeinde oft zur Aus - dauer in ihrer wohlthaͤtigen Handlung, und fachte dadurch ihren Eifer auf's neue an. Lottchen be - hauptete, daß die weiſſe Farbe die Kleidung der Engel ſei, und wollte kein anderes Kleid anzie - hen, auch ihr Kind in keinem anderen ſehen. Es ward daher im Dorfe bald zum unverbruͤchlichen Geſetze, daß jede Dirne am Abend, wenn die Hausmutter Feierabend gebot, noch eine halbe Stunde laͤnger fuͤr Lottchen ſpinnen mußte, damit ſie nie Mangel an Leinewand haben ſollte. Oft leuchtete um Mitternacht noch am Fenſter der fleißigen Dirnen das Laͤmpchen, und wenn der Wanderer nach der Urſache forſchte, ſo ward ihm zur Antwort, daß die Dirne am Engelskleid ſpinne.

Vier Jahre waren nun in Drangſalen des Krieges verfloſſen, immer war das Dorf vor Ver -89 heerung geſchuͤtzt geblieben, rings umher hatten die Feinde fuͤrchterlich gewuͤthet, vor dieſem waren ſie ſchonend voruͤber gezogen. Jedermann glaub - te, daß das Gebet des Engels, ſo nannte man durchgehends Lottchen, dieſe gluͤckliche Wirkung hervor gebracht haͤtte, man ſchaͤtzte und liebte ſie deswegen immer ſtaͤrker. Lottchen lebte dieſe Zeit hindurch mit ihrem Kinde, das geſund und mun - ter heran wuchs, in ihrem ſeligen Zuſtande froh und zufrieden. Wilhelm hatte einigemal geſchrie - ben, ihr ſeine Geſundheit und ewige Fortdauer der zaͤrtlichſten Liebe berichtet. Man hofte bei Empfang des erſten Briefes auch große und gluͤck - liche Wirkung, aber man betrog ſich, die un - gluͤckliche Wahnſinnige waͤhnte, daß Wilhelm ſie durch ſeinen Brief aus dem Himmel zu locken ſuche, und ſie beſtand feſt darauf, daß ſie, der irrdiſchen Leiden muͤde, dieſen nie mehr verlaſſen wolle. Das war die ganze Antwort, welche man von ihr erhielt, die ſie endlich auch ſchriftlich gab, als der Pfarrer ſie forderte. Dieſer beant - wortete nun jeden Brief des armen Wilhelms, und ſchilderte ihm allemal den ungluͤcklichen Zu - ſtand ſeiner Geliebten; aber, war's Zufall oder Schickung, Wilhelm erhielt dieſe Antwort nie, er flehte in jedem neuen Briefe um Antwort, und bat am Ende diejenigen, welche ſeine Briefe etwann erbraͤchen, nur um Nachricht von des geliebten Lottchens Leben oder Tod. Wahrſchein - lich war der Krieg ſelbſt Schuld am Verluſte90 der Briefe, Wilhelms Regiment, das bei jeder Gelegenheit ſehr brav that, ſtand immer im An - geſichte des Feindes, und wenn die Antwort am beſtimmten Orte auch eintraf, ſo war oft Wil - helm meilenweit davon entfernt.

Endlich erhoͤrte Gott das Flehen der Millionen ſeiner Glaͤubigen und ſchenkte Deutſchland den Frieden. Wilhelm ſchrieb, daß er als Wacht - meiſter ſeinen Abſchied erhalten, ſich ein kleines Kapital erworben, und nun komme, um ſein Lott - chen zu heirathen, oder auf ihrem Grabe zu ſter - ben. Eben gieng der Pfarrer des Orts mit Lott - chen und ihrer kleinen Wilhelmine in ſeinem Gar - ten ſpazieren, als ein junger ſchoͤner Mann in haſtiger Eile die Gartenthuͤre oͤffnete, und mit off - nen Armen auf Lottchen zueilte. Es war Wil - helm, Lottchen erkannte ihn ſogleich, ſchrie fuͤrch - terlich um Huͤlfe, nahm ihr Kind auf den Arm und entfloh in ſchnellſter Eile. Wilhelm ſtand angewurzelt am Boden, ſolch einen Empfang hatte ſeine heiße Liebe ſich nie gedacht, ihr Grabhuͤgel wuͤrde ihn nicht ſo ſehr erſchreckt, nicht ſo aller Faſſung beraubt haben. Dies hat - te er laͤngſt vermuthet, aber jenes nie denken koͤnnen, nie denken wollen. Der Gedanke, daß Lottchen verheirathet, und wahrſcheinlich dies ihr Mann ſei, bemaͤchtigte ſich jetzt ſeiner Seele, und nagte geierartig an ſeinem Herzen. Der Pfarrer, welcher ſich nun mit ihm in's Geſpraͤch einließ,91 brauchte Muth und Staͤrke, um ihn vom Gegen - theile zu uͤberzeugen, und nach und nach zur Er - zaͤhlung von Lottchens ungluͤcklichem Schickſale vorzubereiten. Wilhelm jammerte ſchrecklich, als ihm die Erzaͤhlung ihrer Leiden ward, er beſtand hartnaͤckig darauf, daß ihn der Pfarrer nach der Schule fuͤhren ſollte. Er hofte, wenigſtens mit ihr ſprechen zu koͤnnen, und wollte nur ſein Kind ſehen, und ſegnen. Als der Pfarrer endlich ſeiner dringenden Bitte nachgab, und mit ihm nach der Schule gieng, ſahen ſie Lottchen am obern Fen - ſter ſtehen, und aͤngſtlich umherblicken. Der Pfarrer bewog Wilhelmen zum Stillſtande, ihr ſuchender Blick fand ſie bald, ſie ſtarrte den hof - fenden Wilhelm an; endlich laͤchelte ſie freund - lich und winkte ihn naͤher, wie er aber unaufhalt - ſam nach der Thuͤre rannte, da ſchrie ſie auf's neue erbaͤrmlich um Huͤlfe. Ihre Thuͤre war feſt verriegelt, Wilhelm konnte ſie nicht oͤffnen, ihr anhaltendes Jammergeſchrei bewog ihn endlich ſelbſt abzulaſſen, weil der Pfarrer ihm nebenbei dringend vorſtellte, daß weitere Gewalt ſie zur Raſerei verleiten koͤnne. Ihr klaͤgliches Geſchrei nach Huͤlfe hatte viele Bewohner des Dorfs her - beigelockt, ſie fanden den ungluͤcklichen Wilhelm und bewillkommten ihn mit naſſen Augen. Waͤ - ren ſie fruͤher gekommen, ſagte ein altes Muͤtter - chen, dann haͤtte ich noch einmal auf ihrer Hoch - zeit getanzt, aber jetzt werden wir wohl nur mit - einander weinen koͤnnen. Da Lottchen immer92 noch erbaͤrmlich ſchrie, ſo ſuchten ſie alle Gegen - waͤrtige zu beruhigen, aber ſie ſchwieg nicht eher ſtille, als bis Wilhelm ſich entfernte. Einige Bewohner des Dorfs fuͤhrten ihn, er weinte ſchrecklich, und rang ſeine Haͤnde fuͤrchterlich, Lottchen blickte mitleidig zum Fenſter herab. War - um weint er denn? fragte ſie endlich.

Der Pfarrer. Weil Sie ihn nicht ſehen, nicht ſprechen wollen.

Lottchen. (aͤngſtlich) Wie kann ich denn? Wenn er mir zu nahe kommt, ſo traͤgt er mich aus dem Himmel wieder in die Welt hinab, und da muß ich wieder auf's neue leiden! O dahin mag ich nicht mehr! Nein! Nein! da - hin gehe ich nicht.

Wilhelm. (ſchluchzend) Unvergeßliche! Mir ewig Theure! Ich will dir deinen Himmel, ſo ſchrecklich er mir auch iſt, nicht rauben! Ich will dich nur ſehen, nur mein Kind ſegnen.

Lottchen. (hebt Wilhelminen am Fenſter in die Hoͤhe) Siehſt du es nun? Iſt's nicht ein ſchoͤner Engel? O, es hat mir graͤßliche Schmerzen gekoſtet, aber nun iſt's auch meine einzige Freude.

Wilhelm. (auſſer ſich) Erbarme dich! Erbarme dich meiner! Erlaube, daß ich mich dir naͤhern, daß ich mein Kind kuͤſſen darf.

Lottchen. (aͤngſtlich) Nein! Nein! 93Haltet ihn, laßt ihn nicht loß! (zum Kinde) Siehſt du, dies dort war auf der Welt dein Vater.

Das Kind. (freudig in die Haͤnde klo - pfend) Mein Vater! Mein Vater! Ach, wie freue ich mich, daß ich nun auch einen Vater habe! (hinab rufend) Lieber Vater, komm herauf zu uns, damit ich dich herzen kann.

Wilhelm. (mit innigſtem Gefuͤhle) Engel, theures, liebes Kind, bitte deine Mutter, daß ſie es erlaubt, vielleicht ruͤhrt deine bekannte Stimme ihr Herz.

Das Kind. (die Haͤnde aufhebend) Bitte! bitte, liebe Mutter, erlauben Sie, daß der liebe Vater herauf kommen darf.

Lottchen. Nein! Nein! du verſtehſt es nicht, er will uns aus dem Himmel entfuͤhren!

Sie hob das Kind ſchnell hinab, und verſchloß das Fenſter, doch ſahen ſie bald alle auf's neue hinter dieſem ſtehen, und mitleidig auf den jam - mernden Wilhelm herabblicken. Sein Zuſtand war wirklich ſchrecklich und erbarmungswuͤrdig, er fand die Geliebte ſeines Herzens wieder, er ſah ſie in bluͤhender Schoͤnheit vor ſich ſtehen, er fuͤhl - te die heiſſeſte, innigſte Sehnſucht nach ihr, und durfte ſich ihr nicht naͤhern, konnte nicht einmal das Kind kuͤſſen, welches ſie ihm gebahr. Mit vieler Muͤhe, und nur mit der Verſicherung, daß94 es ihm morgen vielleicht beſſer gelingen wuͤrde, folgte er endlich ſeinen Begleitern nach dem Pfarrhofe, Lottchen oͤffnete ſogleich ihr Fenſter, und blickte ihm unverwandt nach. Sie ſtand am andern Tage fruͤher als gewoͤhnlich auf, ſie putzte ſich und ihr Kind mit auffallendem Fleiße, und trat mit ihm an's Fenſter; als bald darauf der ungluͤckliche Wilhelm vom Pfarrhofe herabeilte, aͤuſſerte ſie die groͤßte Freude, wie er ſich ihr aber ganz nahen wollte, da begann ihr Jammer - geſchrei von neuem.

Alle Verſuche, die Wilhelm und ſeine Freunde in der Folge anwandten, um Lottchen von ihrem Irrwahne zu uͤberzeugen, waren vergebens, die Idee, daß er ſie aus dem Himmel entfuͤhren wol - le, war zu tief in ihrer Seele eingewurzelt, ſie nahm jeden Verſuch als eine Folge derſelben, und ward daher immer mehr darinne beſtaͤrkt. Sie weinte, wenn Wilhelm nicht um die gewoͤhnliche Zeit erſchien, ſie ſprach oft vom Fenſter herab freundlich und lange mit ihm, erinnerte ihn an vergangene Dinge, erzaͤhlte, wie ſie ſich in ſeinen Armen gluͤcklich geduͤnkt haͤtte, nun aber im Him - mel noch weit gluͤcklicher ſei, ſie ermahnte ihn zur Nachfolge, und verſprach, ihn mit offnen Armen zu empfangen. Dieſe Verſicherung bewog den Pfarrer zu einer Liſt; er uͤberredete Wilhelmen, einige Tage nicht an Lottchen's Fenſter zu erſchei - nen, und brachte dieſer die Nachricht, daß er ge -95 faͤhrlich krank ſei, und ganz gewiß ſterben werde. Sie hoͤrte dieſe Trauerpoſt ruhig an, und aͤuſſerte am Ende die groͤßte Freude daruͤber. Dein Vater, ſprach ſie zu Wilhelminen, wird naͤchſtens zu uns kommen, und bei uns wohnen, wir muͤſſen uns auf ſeinen Empfang vorbereiten. Sie war nun aͤuſſerſt geſchaͤftig, putzte ſich und ihr Kind auf's ſchoͤnſte, raͤumte alles im Zimmer auf, und ließ wider ihre Gewohnheit die Thuͤre deſſelben offen. Dieſe Vorbereitung gab Hofnung zum gluͤcklich - ſten Erfolge, der daruͤber entzuͤckte und ungedul - dige Wilhelm ſtarb noch am nemlichen Abende, und der Pfarrer benachrichtigte ſie davon. So kann ich ihn alſo mit jedem Augenblicke erwarten, ſprach ſie frohlockend, und trat an's Fenſter. Wilhelm erhielt Nachricht von ihren Geſinnungen, er trat, wie's verabredet war, in einem weiſſen Kleide aus dem Pfarrhofe, und naͤherte ſich der Schule. Lottchen aͤuſſerte bei ſeinem Anblicke die groͤßte Freude, wie er aber naͤher kam, ward ſie unruhig, und ſchrie erbaͤrmlich, als er den ge - woͤhnlichen Platz uͤberſchreiten wollte. Es iſt ſchaͤndlicher Betrug, ſchrie ſie, er lebt noch, er iſt nicht todt, er hat noch ſeinen Koͤrper wie vor - her! Vergebens muͤhte ſich der Pfarrer, ſie eines andern zu uͤberreden, er bewieß, daß ſie auch noch einen Koͤrper habe, und doch im Himmel wohne, aber ſie behauptete das Gegentheil, und ſuchte zu beweiſen, daß ſeine bloͤden, irrdiſchen Augen ſo etwas nicht unterſcheiden koͤnnten. Er durfte96 es nicht hindern, als ſie die Thuͤre verſperrte, und ſie dieſen Abend niemanden mehr oͤffnete.

So viele, vergebne Verſuche erſchoͤpften die Hofnung des liebenden Juͤnglings, er uͤberließ ſich ganz dem Kummer und Grame, der nach ei - nigen Wochen ſichtbar an ſeiner ſchoͤnen Geſtalt nagte. Er uͤbergab ſein kleines Kapital dem Pfar - rer, und bat ihn, daß er ihn ein oder zwei Jah - re, welches die hoͤchſte Dauer ſeines ungluͤcklichen Lebens ſeyn wuͤrde, dafuͤr ernaͤhren ſolle. Der menſchenfreundliche Pfarrer legte es in ſein Pult, verſprach ihm Koſt und Wohnung, und verſicherte ihn nebenbei, daß dieſe Summe, wenn Gott fruͤh oder ſpaͤt ſein Leiden ende, das Erbtheil ſeines Kindes werden ſolle. Dieſes nur einmal in der Naͤhe zu ſehen, nur einmal zu kuͤſſen, war jetzt der einzige Wunſch des armen Wilhelms, aber auch dieſen verſagte ihm das harte Schickſal, denn die Mutter bewachte es mit groͤßter Sorgfalt und Mißtrauen, und ließ es nie unter der Aufſicht ei - nes Fremden. Sie unterrichtete in der Folge die kleine Wilhelmine im Naͤhen und Stricken, im Leſen und Schreiben, auch in der Religion, und in dieſer letztern ſo aͤcht und rein, daß der ſtreng - ſte Theolog nichts dagegen einwenden konnte, und doch war und blieb ſie wahnſinnig.

Wilhelm erſchien jetzt jeden Morgen wieder re - gelmaͤßig am Fenſter ſeines Lottchens, ſie erwarteteihn97ihn ſtets, und ſprach liebreich mit ihm. Wenn ſich dann, was gewoͤhnlich nach einer kleinen Vier - telſtunde geſchah, ihr Himmel wieder ſchloß, ſo eilte er in's Freie, irrte in Feldern herum, kam ſelten zum Mittagsmale nach Hauſe, ſtand aber richtig am Abende am Ufer des Baches, welcher das Dorf durchfloß. Lottchen gieng dann immer am gegenſeitigen Ufer ſpazieren, und ſprach ohne Furcht mit ihm, weil ſie waͤhnte, daß der Bach die Graͤnze zwiſchen Himmel und Erde ſei. Einſt wagte es Wilhelm, und ſprang hinuͤber, als er, von innerm Gefuͤhle hingeriſſen, ſeiner Leidenſchaft nicht mehr gebieten konnte. Lottchen ſank ohn - maͤchtig zu Boden, und erwachte mit einer fuͤrch - terlichen Raſerei, die ſich aber ſchon am dritten Tage, und, was Wilhelmen noch am gluͤcklich - ſten duͤnkte, mit gaͤnzlicher Vergeſſenheit ſeiner Kuͤhnheit endigte. Sie ſah, und ſprach ihn, wie ehe und zuvor, und gedachte derſelben nie.

Wilhelm verſank binnen Jahresfriſt in eine tiefe, finſtere Melancholie, die nahe an Wahn - ſinn graͤnzte, er ſprach oft den ganzen Tag kein Wort, wandelte am liebſten unter den Graͤbern des Kirchhofs umher, ruhte oft auf ſeinen Leichen - ſteinen, verſaͤumte aber nie die Zeit, wenn er ſein Lottchen ſehen konnte. Beide ſprachen jetzt wenig, blickten nur ſtill einander an, und kehrten dann wieder heim. Im ſpaͤten Sommer des folgendenErſt. Baͤndch. G98Jahres war Wilhelm einige Tage krank, und lag ſprachlos auf ſeinem Lager; wie es ſich wieder mit ihm beſſerte, und der Pfarrer ihn am folgen - den Sonntag mit in die Kirche nahm, wollte er nicht uͤber die Bruͤcke gehen, welche uͤber den Bach fuͤhrte. Er behauptete kuͤhn, daß er von Gott wegen Lottchens Verfuͤhrung in die Hoͤlle verur - theilt ſei, und nicht den Bach uͤberſchreiten duͤrfe, der die Graͤnze zwiſchen dieſer und dem Himmel bezeichne. Alle Beweisgruͤnde waren fruchtlos, und der Pfarrer ſah klar ein, daß Wilhelms Ver - ſtand nun auch verlohren ſei. Er aͤuſſerte uͤbri - gens nur in dieſem einzigen Punkte Wahnſinn, in allen andern Vorfaͤllen handelte er ſtets klug und vernuͤnftig, doch ſprach er, wie vorher, ſehr wenig, wollte nie zu Hauſe weilen, und gieng immer im Freien umher. Nie uͤberſchritt er aber den Bach, welcher ihn von Lottchen trennte, er harrte ihrer dort taͤglich, und ſie kam allemal zu ihm herab. Wenn der arme Wilhelm nachher auf ſeinen Wanderungen einen Dornſtrauch fand, ſo hob er ihn ſtets auf, und trug ihn tagelang auf ſeinem Ruͤcken. So lange ich, ſprach er dann zu denjenigen, welche nach der Urſache fragten, die - ſen Dorn auf meinem Ruͤcken trage, kann ſich ihn niemand in den Fuß treten, und Wunden, ſetzte er ſeufzend hinzu, thun weh, ſehr weh!

Im Fruͤhjahre, als der Schnee ſchmolz, und der Bach reißend und ſchnell durch das Dorf99 ſtroͤmte, vermißte man Wilhelm und Lottchen an einem Tage. Alle Bewohner irrten ſuchend herum, und konnten ſie nicht finden. Einige Voruͤberge - hende hatten beide noch vor kurzem an dem Bache ſtehend geſehen, beide blickten, nach ihrer Ver - ſicherung, ſich ſehnſuchtsvoll an, und winkten ein - ander unaufhoͤrlich. Erſt als der Bach am drit - ten Tage in ſeine Ufer zuruͤcktrat, fand man die Ungluͤcklichen auf einer uͤberſchwemmten Wieſe, ſie hielten einander feſt umſchlungen, und ſchienen auch noch im Tode die Wonne der Wiedervereini - gung zu fuͤhlen, denn ſie laͤchelten beide, und widerlegten den Satz, daß der Tod bitter ſchmecke.

Wahrſcheinlich hatte die Sehnſucht, welche beide ſo oft nach einer Umarmung aͤuſſerten, die Wirkung ihres Wahnſinns uͤberwunden, wahr - ſcheinlich waren ſie, vom innern Gefuͤhle hinge - riſſen, einander durch's Waſſer entgegengeeilt, und durch die Gewalt deſſelben fortgeriſſen wor - den. Zum groͤßten Gluͤcke hatte Lottchen ihr Kind nicht mit ſich genommen, es lag eben an den Blattern krank, ſonſt wuͤrde dies wahrſcheinlich auch ein Opfer des Todes geworden ſeyn.

Alle angewandte Huͤlfe war vergebens, keine Arzenei konnte ſie wieder erwecken. Sie wurden an einem Tage, und in einem Grabe beerdigt, das ganze Dorf folgte ihrer Leiche, und beweinteG 2100ihren Tod. Alle Juͤnglinge und Maͤdchen trugen ihrem Andenken zu Ehren Trauerkleider, und be - traten unter dieſer Zeit nie den Tanzboden. Der Pfarrer zierte ihre Ruheſtaͤtte mit einem weißen, einfachen Steine, worauf die Worte ſtehen: Himmel und Hoͤlle trennte, aber der Tod vereinigt ſie! Wenn man jetzt dieſe Schrift leſen will, ſo muß man ſich durch eine dichte Roſenhecke hindurch draͤngen, welche die Jungfrauen des Dorfs dahin pflanzten, und immer noch mit gleicher Sorgfalt pflegen.

Wilhelmine, die Frucht ihrer ungluͤcklichen Liebe, ward von dem Pfarrer des Orts, welcher nie heirathete, zu ſeinem Kinde angenommen, und mit einer Sorgfalt erzogen, die ſein Anden - ken noch im Grabe ehrt. Ich ſah ſie vor unge - faͤhr zehn Jahren, ſie war damals ſchon lange die Gattin eines Gerichtsverwalters, der ſie innig und zaͤrtlich zu lieben ſchien. Ihre vielen und herrlichen Kenntniſſe, ihr ſanfter, liebenswuͤrdiger Karakter hatten ihr die Bewunderung und Hoch - achtung der ganzen Gegend erworben. Sie war noch ſehr ſchoͤn, aber auf ihrer Stirne ruhten Kennzeichen innerer Schwermuth, welche das ſanfte Laͤcheln ihres Mundes nicht wegzuwiſchen vermochte. Ihr Gatte verſicherte mich, daß er ſehr gluͤcklich mit ihr lebe, ſich aber huͤten muͤſſe, ſie nur mit unbedeutenden Worten zu kraͤnken101 weil ihre allzu reizbare Seele alsdann anhaltend leide, und vielen Hang zur Melancholie verrathe.

Jakob W***r.

Im angenehmen Zillerthale der Grafſchaft Ti - rol lebte vor ungefaͤhr fuͤnfzehn Jahren Jakob W r, ein feuriger, muthiger und ſchoͤner Juͤngling. Sein Vater hatte ihm ein nicht allzu geringes Vermoͤgen hinterlaſſen, welches er durch kluge und nuͤtzliche Spekulation zu vermehren ſuchte. Da er nur baares Geld und keine Grundſtuͤcke beſaß, ſo pachtete er den graͤflich - F ſchen Maier - hof, und ward bald in der ganzen Gegend als der beſte und kluͤgſte Oekonom bekannt. Wenn er daheim war, ſo beſchaͤftigte er ſich mit ſeinem Viehe, Wieſen und Aeckern, ſuchte jedes derſel - ben zu verbeſſern, und war immer gluͤcklich ge - nug, ſeine Abſicht geſchwind zu erreichen, wenn's aber zu Hauſe was oͤfters geſchah an haͤu - figer Beſchaͤftigung mangelte, ſo zog er gerne uͤber's Feld, war bei jedem Freiſchießen, bei den meiſten laͤndlichen Gelagen zugegen, und behaup - tete auch auf beiden den erſten Rang, ſelten fehl - te er den Mittelpunkt der Scheibe, ſelten uͤber - traf ihn ein Taͤnzer, ſelten gewann ein ande - rer, wenn er ſich unter den Kegel - und Karten -102 ſpielern befand. Alle dieſe kleinen Ausſchweifun - gen, welche dem Landwirthe ſonſt immer nachthei - lig, oft ſchaͤdlich ſind, waren fuͤr ihn gerade das Gegentheil, er blieb als Schuͤtze, Taͤnzer und Spieler immer noch der ſpekulirende Oekonom, er benutzte jeden Zwiſchenraum, kaufte, verkauf - te, forſchte und fragte ſtets mit Vortheil, weil gute Geſellſchaft und Gelegenheit zur Freude das Herz des Verkaͤufers und Befragten geoͤffnet hat - te, beide aufrichtiger und williger machte, man - chem kleinen Gewinne zu entſagen, auf welchem ſie bei anderer Gelegenheit feſt beſtanden waͤren. Uebrigens ward er durch Erfahrung uͤberzeugt, daß auch in ſeiner Abweſenheit jeder Auftrag da - heim puͤnktlich erfuͤllt, ſein Nutzen auf alle moͤg - liche Art befoͤrdert wuͤrde, den er hatte treues Geſinde, und uͤber dies eine Haushaͤlterin, die eben ſo klug wie er, uͤberall umher blickte, und auf der Stelle nachholte, was etwan durch Zu - fall oder Mangel an Einſicht war vernachlaͤſſigt worden. Dieſe Haushaͤlterin war die Tochter ei - nes ſehr armen Mannes, noch jung, ſehr ſchoͤn, und gegen jedermann aͤußerſt gefaͤllig und freund - lich; ein liſtiger junger Bergknappe hatte ihr eini - ge Jahre zuvor die Heirath verſprochen, und ſie durch die heiligſten Schwuͤre um ihre Unſchuld be - trogen. Wie ſie ſich ſchwanger fuͤhlte, verließ er ſie ſchaͤndlich, und heirathete eine andere. Der ungluͤckliche Beweis ihrer Schande ſtarb bald nach der Geburt, und machte die Mutter faͤhig, wie103 der Dienſte ſuchen zu koͤnnen, ſie fand ihn bei dem jungen Jakob, welcher bald ihre Faͤhigkeiten erkannte, und mit vollem Vertrauen lohnte.

Als ſie durch zwei Jahre ſeine Wirthſchaft mit einer ſeltenen Treue und Emſigkeit gefuͤhrt hatte, und wahren Anſpruch auf Jakobs Dankbarkeit machen konnte, ward der muntere, froͤhliche Juͤng - ling auf einmal tiefſinnig und traͤge. Er beſuchte kein Freudenfeſt mehr, er arbeitete daheim wenig, ſaß immer traurig in der Stube, und blickte mit naſſem Auge ſeine Haushaͤlterin an, wenn dieſe liebreich und theilnehmend nach der Urſache ſeines Kummers forſchte. Heftige, nagende Liebe be - maͤchtigte ſich nach und nach ſeines Herzens; die ſchoͤne Marie ſo nannte ſich ſeine Haushaͤlte - rin hatte durch ihre gute Wirthſchaft, durch ihre Treue und Ordnung ſchon lange ſeine Dank - barkeit erregt, ihre ſchoͤne reizende Geſtalt hatte dieſe Dankbarkeit endlich in Liebe verwandelt, die nun mit Ungeſtuͤm die Befriedigung ihrer Wuͤnſche forderte. Jakob war ſchon vier und zwanzig Jahre alt, und folglich in einem Alter, das ihm vollkommne Gewalt gab, eine Gattin nach ſeinem Herzen zu waͤhlen; aber er hatte Bruͤder, welche noch ſtets ein vaͤterliches Anſehen uͤber ihn behaupteten, er hatte Schwe - ſtern, welche ſchon mit den reichſten und angeſe - henſten Maͤnnern im Thale verheurathet waren, er hatte Vettern und Freunde, welche wirklich in104 Dienſten des Monarchen ſtanden; er war uͤber - zeugt, daß er dieſe alle kraͤnken und beleidigen wuͤrde, wenn er eine arme gefallne Magd zu ſei - nem Weibe waͤhlte, da er doch ohne Scheu unter den reichſten und ſchoͤnſten Toͤchtern des Thals waͤhlen konnte. Dieſe Betrachtungen, die oft ta - gelang ſeinen Verſtand beſchaͤftigten, waren die Urſache ſeiner Trauer, ſeines Tiefſinns, er ſah die Wichtigkeit derſelben ein, aber er konnte auch eben ſo wenig dem immer ſtaͤrkern Eindrucke wi - derſtehen, den Mariens Schoͤnheit und ihre guten Eigenſchaften auf ſein Herz machten. Er kaͤmpf - te einige Monate vergebens, wie aber ſeine Lei - denſchaft ſich immer mehrte, ihm in die Zukunft nur martervolle Tage und graͤßliches Leiden ver - kuͤndigte, ſo ſprach er offen mit der ſchoͤnen Ma - rie, geſtand ihr ſeine Liebe, und fand ſie willig, dieſe im vollen Maaße zu erwiedern, wenn an - ders ſeine Geſchwiſter und Anverwandten ſie billi - gen wuͤrden. Doch da ich, ſetzte ſie traurig und ſtandhaft hinzu, von der Weigerung aller im Voraus uͤberzeugt bin, da ich gewiß weis, daß ſie mit groͤßtem Widerwillen eine arme gefallne Magd in der Mitte ihrer Familie ſehen wuͤrden, ſo bitte und beſchwoͤre ich dich, dein Vorhaben aufzugeben, und der Liebe zu einer Ungluͤcklichen zu entſagen. Ich will mir einen andern Dienſt ſuchen, Abweſenheit wird leicht den Eindruck loͤ - ſchen, welchen meine geringen Eigenſchaften auf dein Herz machten. Bedenke, daß ich dir gar105 nichts, nicht einmal meine Unſchuld zur Mitgift bringen kann, ſelbſt dieſer Gedanke wuͤrde dich einſt quaͤlen, wenn die Freunde dich um meinet - willen verfolgten und haßten. Daß dieſe ſchoͤnen und wahren Geſinnungen gerade das Gegentheil wirkten, den leidenden Juͤngling nur zur ſtaͤrkern Liebe reizten, darf ich wohl nicht erſt anfuͤhren, denn es waren Beweiſe des edlen Herzens ſeines Maͤdchens, und uͤberzeugten ihn, daß er mit ihr aͤuſerſt gluͤcklich und zufrieden leben wuͤrde.

Um zu erfahren, wie ſeine Freunde ſeinen fe - ſten Entſchluß aufnehmen wuͤrden, vertraute er ſeine Abſicht und innige Liebe einem guten Freun - de, der bei ſchicklicher Gelegenheit ſie jenen vor - tragen, und ihre Geſinnungen daruͤber erforſchen ſollte, dieſer verſprach ihm Vorſicht und in jedem Falle offne Nachricht. Am andern Tage war eine Hochzeit im naͤchſten Dorfe, alle ſeine Verwandten und auch er wurde geladen, ſo gerne er daheim bei ſeiner Marie geblieben waͤre, mußte er Wohl - ſtands halber doch auch dabei erſcheinen. Wie der Wein aller Herzen erfreute und oͤffnete, rufte ihn einer nach dem andern an's Fenſter und mach - te ihm die bitterſten Vorwuͤrfe uͤber ſeine niedrige, ſchandvolle Liebe, alle ſchloſſen mit den Worten, daß ſie ihn, wenn er die Magd heirathen wuͤrde, nie mehr fuͤr ihren Bruder, Vetter oder Schwa - ger erkennen, ihn und ſie ewig haſſen und verfol - gen wuͤrden. Jakob war, als er dieſe Vorwuͤrfe106 hoͤren mußte, ſchon ein wenig betrunken, aber doch bei voͤlligem Verſtande, ihn ſchmerzten nicht die harten Worte ſeiner Anverwandten, denn er hatte ſie vermuthet, ihn wunderte es aber um ſo mehr, wie es moͤglich ſei, daß alle ſeine Abſicht und Liebe wiſſen konnten, da er ſie doch erſt ge - ſtern einem einzigen Freunde vertraut hatte, der nicht gegenwaͤrtig war, und nach ſeiner Ueberzeu - gung noch mit keinem ſeiner Anverwandten hatte ſprechen koͤnnen. Er aͤußerte ſeine Verwunderung daruͤber gegen viele anweſende junge Burſche, und behauptete, als er im Zorne noch mehr trank, daß hier der Teufel ſelbſt die Hand im Spiele ha - ben muͤſſe. Wie er ziemlich berauſcht war, und eine lange Zeit einſam und tiefdenkend in einem Winkel geſchmollt hatte, gieng er ohne Abſchied fort. Am andern Tage ſuchte ihn einer ſeiner Knechte im Hochzeithauſe, wie er ihn dort nicht fand, ſo ward Sorge und Nachfrage um ihn lau - ter und aͤngſtlicher, man durchſuchte das ganze Thal, und konnte ihn nirgends finden. Alle glaubten nun einſtimmig, daß er in der Trun - kenheit den Weg verfehlt, und, da eben ſtrenge Kaͤlte herrſchte, ſehr tiefer Schnee lag, in irgend einer verſchneiten Kluft ſein Leben beendet habe. Marie und ſein ganzes Geſinde weinte laut um ihn, ſeine Freunde beklagten, und jeder, der ihn gekannt hatte, bedauerte ihn. Am ſiebenten Ta - ge nach ſeinem Verſchwinden hatte ſchon einer ſei - ner aͤltern Bruͤder die Wirthſchaft uͤbernommen,107 er ſandte einige Knechte nach den viele Stunden weit entlegenen Alpen, damit ſie das dort in Schuppen aufbewahrte Heu auf Schlitten in's Thal herab fuͤhren ſollten, ſie mußten, um dahin zu gelangen, ſich der gewoͤhnlichen Schneereife bedienen, ſonſt wuͤrden ſie unterwegs oft im tie - fen Schnee verſunken ſeyn. Wie ſie am Schup - pen ankamen, wunderten ſie ſich, daß die ge - woͤhnliche Leiter, welche ſonſt allemal angelehnt lag, weggenommen war, ſie erblickten ſie endlich oben auf dem Boden, und mußten viele Muͤhe anwenden, um dieſe zu erklettern. Dieſer Um - ſtand hatte Verdacht unter den Knechten erregt, ſie vermutheten, daß vielleicht Wilddiebe im Heue verborgen laͤgen, und durchſuchten es mit Vor - ſicht. Einer derſelben rief erſchrocken die andern herbei, weil er im Suchen einen Menſchen beim Kopf gefaßt hatte, der jetzt laut ſeufzte; ſie raͤumten vereint das Heu hinweg, und fanden zum groͤßten Erſtaunen ihren Herrn, den jungen Jakob. Noch lebte und athmete er, aber er kannte keinen, oͤffnete mit Muͤhe die Augen, und ſchloß ſie gleich wieder; er hielt beide Haͤnde auf ſeine Bruſt, und wollte dieſe Stellung durchaus nicht veraͤndern.

Die Knechte verfertigten ſogleich eine Trage, legten ihren Herrn darauf, und trugen ihn in den naͤchſten Berghof, der noch einige Stunden vom Thale entfernt lag, hier floͤßten ſie ihm einige108 Loͤffel warme Suppe ein, die er nur mit vieler Weigerung annahm. Erſt am andern Tage konn - ten ſie ihn nach ſeiner Wohnung tragen, und ei - nen Wundarzt zur Huͤlfe herbeirufen. Er war aͤußerſt ſchwach, als dieſer ankam, wollte aber die Haͤnde nicht von der Bruſt weggeben; da der Arzt hier eine Wunde muthmaßte, ſo mußte er Gewalt brauchen, und zwei ſtarke Knechte waren kaum maͤchtig genug, ihm die Haͤnde wegzuziehen. Man fand nicht die geringſte Verwundung, wie man aber die Haͤnde frei ließ, ſo bedeckte der ar - me Jakob ſogleich wieder ſeine Bruſt. Da man ſicher vermuthete, daß er volle ſieben Tage und Naͤchte im Heu verſteckt lag, wahrſcheinlich eben ſo lange hungerte und durſtete, ſo zweifelte der Wundarzt an ſeinem Aufkommen, und die anwe - ſenden Freunde ſandten nach einem Geiſtlichen. Wie dieſer kam, und mit dem Kranken ſprach, auch ſeine Beichte hoͤren wollte, ſo gab er frei - willig ſeine Haͤnde von der Bruſt weg, redete aber kein Wort, und bedeckte ſie wieder ſorgfaͤl - tig, als der Prieſter ſchied. Der Wundarzt be - handelte nun nach moͤglicher Einſicht den Kran - ken, er labte ihn vorſichtig; am achten Tage darauf konnte dieſer ſchon das Bette verlaſſen, und in der Stube umherſchleichen, aber er ſprach unter dieſer Zeit kein Wort, verkroch ſich gerne in ei - nen Winkel, und gab ſeine Haͤnde nie von der Bruſt weg. Er und trank daher auch nicht in Gegenwart anderer, und wollten ſeine Freunde,109 daß er eine Speiſe genießen ſollte, ſo mußten ſie ihm ſolche entweder ſelbſt reichen, oder ſich alle aus dem Zimmer entfernen.

Da er ſeinen Geſchwiſtern, ob ſie ihn gleich oft dringend baten, keine einzige Frage beantwor - tete, und dieſe nun wirklichen Wahnſinn argwohn - ten, ſo beſchloſſen ſie, ſeine ehemalige Haushaͤl - terinn zu ihm zu ſenden, und zu verſuchen: ob dieſe ihn nicht zu einer Antwort vermoͤgen koͤnne? Die arme Marie war ſogleich, als Jakob ver - lohren gieng, aus dem Hauſe verſtoßen worden, ein Bauer hatte ſie aus Mitleid in die Herberge genommen, hier beweinte ſie im Stillen ihr un - verdientes Ungluͤck, und weigerte ſich anfangs, im Hofe zu erſcheinen; wie ſie aber die wahre Ur - ſache und den Zuſtand ihres Geliebten erfuhr, ſo weigerte ſie ſich nicht laͤnger, und trat mit naſſen Augen in die Stube, in welcher ſie abſichtlich den armen Jakob allein fand. Gruͤß dich Gott, lieber Jakob, ſprach ſie ſchluchzend, wo biſt du*)Die Tiroler nennen jeden, auch den groͤßten Herrn Du. Ich fuͤhre dies blos deswegen hier an, damit man mich keiner Etiketsſuͤnde beſchuldige, wenn die Magd ihren Herrn Du nennt. denn ſo lange geweſen? Warum willſt du denn nicht ordentlich mit den Leuten reden? Jakob ſah ſie lange ſchmachtend an, laͤchelte und ſchwieg.

Marie. Willſt du denn auch mit mir nicht reden?

110

Jakob. (gab ſeine Haͤnde von der Bruſt weg, und blickte ſtarr auf Ma - rien) Nun, freut es dich nicht?

Marie. Was ſoll mich denn freuen? Daß du wieder ſprichſt? Ja wohl freut's mich.

Jakob. Nein! Sieh nur her! ließ nur!

Marie. Was ſoll ich denn leſen?

Jakob. Daß ich dich immer noch von gan - zem Herzen liebe, und ewig lieben werde.

Marie. Davon kann unter uns nicht mehr die Rede ſein!

Jakob. (traurig) Das weiß ich! Das weiß ich! Denn du wirſt den ungluͤcklichſten al - ler Menſchen wohl nicht mehr lieben koͤnnen; aber es muß dich doch freuen, daß du ſo deutlich von meiner Liebe uͤberzeugt biſt. Vor dir verberge ich mein Herz nicht, du wirſt immer alles Gutes darinnen leſen; (heimlich) aber vor meinen Bruͤdern und Schweſtern muß ich's wohl verber - gen, denn ſie wuͤrden mich noch mehr verfolgen, wenn ſie ſo deutlich uͤberzeugt wuͤrden, daß ich ſie von ganzem Herzen haſſe.

Marie. (mit Verwunderung) Wie ſprichſt du denn ſo albern? Wer wird denn in deinem Herzen leſen koͤnnen?

Jakob. Das fragſt du, da ich dich doch uͤberzeugt habe? Ja, liebe Marie, ja! (ſeufzend) Mit mir iſt eine große Veraͤnde - rung vorgegangen! Wer haͤtte dies glauben ſol -111 len? Wer haͤtte denken koͤnnen, daß es je moͤg - lich ſeyn wuͤrde? Und doch geſchah's! Auf Vet - ter Michels Hochzeit, da wurde meine Bruſt zur Laterne! Ich habe freilich in meinem Le - ben oft und ſchwer geſuͤndigt, aber, lieber Gott im Himmel! (weinend) dieſe Strafe habe ich doch nicht verdient. Es iſt ſchrecklich, uͤberlege es nur ſelbſt, es iſt ſchrecklich, wenn jeder Menſch mir nun ins Herz ſehen, und meine geheim - ſten Gedanken ſogleich auf der Stelle entdecken kann.

Marie. Lieber Jakob, was faͤllt dir denn ein? Du irrſt dich ganz

Jakob. (heftig) Ich mich irren, da ich dich und mich jeden Augenblick uͤberzeugen kann? (reißt ſeine Weſte auf, und zeigt ihr die bloße Bruſt) Siehſt du? Iſt hier und hier nicht alles von Glas, ſo durchſichtig, als ob's Kriſtall waͤre? Siehſt du mein Herz, und alle meine Gedanken darinne? Zweifelſt du jetzt noch?

Marie. Ich ſehe nichts, ich ſchwoͤre dir's bei Gott und ſeiner heiligen Mutter, daß deine Bruſt keinem Glaſe aͤhnlich ſieht, daß

Jakob. (zornig) Falſche, Ungetreue! Ich ſehe es ſchon, auch du haſt dich mit meinen Feinden verſchworen, willſt mich hintergehen, und unter die Leute locken, damit alle, was ich denke, ſehen und leſen koͤnnen. Aber du betruͤgſt dich,112 ihr betruͤgt euch alle, ich werde doch die Stube nicht verlaſſen, mich nicht dem Geſpoͤtte der Leute blos ſtellen. Geh fort, ich mag dich auch nicht mehr ſehen.

Marie. (weinend) Leb wohl! Gott ſchenke dir bald deinen Verſtand wieder.

Jakob. Verſtand? Verſtand? den hab ich vollkommen, ſonſt koͤnnte ich eure Liſt nicht ein - ſehen.

Marie ſchied nun von ihm, und hinterbrachte ſeinen Anverwandten alles getreu, was ſie mit ihm geſprochen hatte. Der Wundarzt, welcher auch zugegen war, benutzte dieſe Entdeckung auf der Stelle, er gieng zu Jakob, bedauerte ſeinen ungluͤcklichen Zuſtand, und ſtellte ſich, als ob er vollkommen davon uͤberzeugt waͤre; dadurch ge - wann er ſogleich das Vertrauen des Wahnſinni - gen, der nun zum erſtenmal mit ihm ſprach.

Wundarzt. Mach dir nichts daraus, lie - ber Jakob, es iſt nicht der erſte Fall, der mir in meiner Praxis vorkommt, ich habe ſchon drei aͤhn - liche Kranke gehabt, und zwei davon gluͤcklich kurirt.

Jakob. Ach, wenn das moͤglich waͤre! die Haͤlfte meines Vermoͤgens wollte ich dir ſchenken.

Wundarzt. Ich nehme weniger, und ku - rire dich doch! Morgen fruͤh bringe ich dir eingroßes,113großes, dickes Pflaſter, und lege es gerade uͤber das Glas, welches jetzt deine Bruſt ausmacht, die Leute koͤnnen dann nicht mehr hineinſehen, da - fuͤr ſtehe ich dir, und in fuͤnf, ſechs Wochen wird wieder Fleiſch daruͤber wachſen, und du ganz geſund werden.

Jakob. Das gebe der liebe Gott! Bringe lieber das Pflaſter ſogleich, damit wir's verſuchen koͤnnen: ob ich hoffen darf?

Wundarzt. Das iſt unmoͤglich, ich muß es vorher aus vielen Kraͤutern zuſammenkochen, auch mußt du mir aufrichtig erzaͤhlen: wie nach und nach das Glas zum Vorſchein gekommen iſt, damit ich mich darnach richten kann?

Jakob. Ach, lieber Gott, das geſchah mit einmal ſchnell und ploͤtzlich!

Wundarzt. Um ſo beſſer, dann koͤnnen wir auch eben ſo geſchwinde Heilung hoffen.

Jakob erzaͤhlte jetzt dem Wundarzte alles, was ſich mit ihm auf der Hochzeit zugetragen hatte, wie alle ſeine Verwandten mit einmal ſei - ne Liebe zu Marien entdeckten, und ihm bittre Vorwuͤrfe daruͤber machten. Dies, fuhr Jakob fort, erregte in mir die groͤßte Verwunderung, weil ich ſie keinem entdeckt, keinem aus ihnen vertraut hatte, ich kannte dazumal meinen un - gluͤcklichen Zuſtand noch nicht, und gieng endlich aus Mißmuth nach Hauſe. Wie ich ſchon naheErſt. Baͤndch. H114an's Dorf kam, ſchlug die Glocke eilfe, und vom Kirchhofe herauf kam mir eine weiſſe Frau entge - gen. Mir kam's Grauſen an, ich wollte aus - weichen, aber ehe ich's vermochte, ſtund die weiſ - ſe Frau ſchon vor mir. Es war meine verſtorbne Mutter. Schaͤme dich, ungerathenes Kind, ſprach ſie zornig, willſt du mir denn nichts als Schande machen? Du haſt eine Bruſt von Glaſe, jeder - mann wird deine Gedanken leſen, und deiner ſpot - ten. Verſteck dich! Verſteck dich! rief ſie noch dreimal aus, und verſchwand. Ich war aus Schrecken vom Wege abgewichen, und lag im tie - fen Schnee. Als ich wieder denken konnte, un - terſuchte ich ſogleich meine Bruſt, und fand ſie leider mit einem hellen Glaſe uͤberzogen, ich rann - te ſogleich auf und davon, kam bis auf die Alpen, und verſteckte mich dort, dem Rath meiner Mut - ter zufolge, recht tief in's Heu. Wie lange ich eigentlich dort mag gelegen ſeyn, weiß ich ſelbſt nicht. Anfangs war das Glas auf meiner Bruſt noch etwas weich, ich konnte es mit den Fingern biegen, nach und nach ward's immer haͤrter, jetzt gleicht's an Haͤrte und Klarheit dem reinſten Kri - ſtalle.

Dieſe deutliche Erzaͤhlung belehrte den verſtaͤn - digen Arzt, wie ſich nach und nach Jakobs Wahn - ſinn entwickelt und befeſtigt hatte. Hoffnungs - loſe, wenigſtens ſehr gehinderte Liebe war ihr Ur - ſtoff, hatte ihn ſchon lange vorher traurig und115 melancholiſch gemacht. Die ſtarken und heftigen Vorwuͤrfe ſeiner Freunde hatten ſein Herz gewal - tig erſchuͤttert; es war ſo leicht zu begreifen, daß ſein Freund, dem er Tags vorher ſeine Liebe ent - deckte, mit einem der Verwandten konnte geſpro - chen, und dieſer es den Uebrigen entdeckt haben, aber Jakobs Ueberlegungskraft war durch die bit - tern Vorwuͤrfe, durch die gaͤnzlich geraubte Hof - nung und endlich durch uͤbermaͤßigen Wein ſo ge - ſchwaͤcht worden, daß er Wunder ahndete, wo keines vorhanden war. Mit dieſen Gedanken be - ſchaͤftigt gieng er nach Hauſe, wahrſcheinlich be - taͤubte die Kaͤlte ſeine Sinne noch mehr, die Er - ſcheinung der Mutter war eine Frucht ſeiner erhitz - ten Einbildungskraft, und wenn es erwieſen iſt, was die Aerzte behaupten, daß Wahnſinn nur durch Verletzung eines edlen Theils der koͤrperli - chen Maſchine entſtehen koͤnne, ſo iſt hier Urſache genug vorhanden, ſich dieſe Verletzung denken zu koͤnnen. Jakob ſprang vom Wege ab, als er ſei - ne Mutter vor ſich ſtehen ſah, wahrſcheinlich blieb er lange ſinnlos im Schnee liegen, wahrſcheinlich verletzte die ſtrenge Kaͤlte ſein Nervenſiſtem. Moͤglich, daß er, als er wieder erwachte, wirk - liches Eis auf ſeiner Bruſt erblickte, und dies fuͤr Glas anſah! Wenn ich dieſen und aͤhnliche Faͤlle genau zergliedere, ſo muß ich allerdings mit Erſtaunen geſtehen, daß es aͤuſſerſt leicht ſei, die edelſte Gabe des Schoͤpfers, den Verſtand, zuH 2116verlieren! Jeder Menſch hat Leidenſchaft, jede Leidenſchaft tobt zuweilen, wie leicht ſtockt das dann immer laufende Rad unſrer Einbildungskraft, welches gleich einer Laterna magika die Bilder der Vergangenheit und Zukunft vor unſerer Seele vor - uͤber dreht, und dann ſteht es da das Bild, wel - ches ſie eben darſtellte, weicht nicht mehr, be - ſchaͤftigt ſtets den Geiſt und verleitet ihn zum Wahnſinne.

Am andern Morgen erſchien der Wundarzt mit dem verſprochnen Pflaſter richtig bei dem armen Jakob, er harrte voll Vertrauen darauf, und freute ſich innig, als jener ihn nun verſicherte, daß man nicht mehr in ſein Herz gucken, auch nicht den kleinſten Gedanken ſeiner Seele leſen koͤnne. Die unterrichteten Verwandten beſtaͤtigten des Wundarztes Ausſage, Jakob glaubte ſie feſt, und jeder hoffte jetzt mit Grunde, daß der Kranke vollkommen geneſen werde. Wahrſcheinlich wuͤrde dieſe Hofnung den gluͤcklichſten Erfolg gehabt ha - ben, wenn nicht ein Zufall ſie auf immer ver - nichtet haͤtte. Jakob trug ſein Pflaſter ſchon volle zwei Wochen, und glaubte dem Arzte vollkommen, wenn dieſer ihm beim Verbande verſicherte, daß das Glas ſich ſchon zu verlieren, und neues Fleiſch zu wachſen beginne. Eben hatte ihn dieſer kurz vorher mit dieſer Verſicherung abermals getroͤſtet, als Jakobs Bruder aus dem Walde heim kam, und ihn traurig in einem Winkel ſitzend fand. 117Was fehlt dir denn ſchon wieder? ſprach der Bruder im nicht ganz bruͤderlichen Tone. Ich ſeh's ſchon, fuhr er fort, du denkſt noch immer an deine Marie, und dieſe mußt du dir, wenn wir anders Bruͤder bleiben ſollen, ganz aus dem Sinne ſchlagen! Kaum hatte der unbeſonnene Bruder dieſe Worte ausgeſprochen, ſo ſprang Ja - kob verzweiflungsvoll auf, und riß das wohlthaͤ - tige Pflaſter von ſeiner Bruſt. Nun, rief er aus, bin ich vollkommen uͤberzeugt, daß dies Mittel auch nicht mehr wirkt, ich bin auf immer ungluͤck - lich, jedermann wird in mein Herz ſehen, und meine Gedanken leſen koͤnnen.

Von dieſer Zeit an ſchien alle Huͤlfe verge - bens, und jede Hofnung, daß es ſich wieder mit ihm beſſern koͤnne, auf immer verlohren. Der Wundarzt konnte ihm in jedem Falle nichts mehr nuͤtzen, weil er alle Arzenei verſchmaͤhte, ſich vor jedem Fremden ſorgfaͤltig verſteckte, und nie die Stube mehr verließ. Er gedachte in der Folge ſeiner Marie aͤuſſerſt ſelten, und vergaß ſie bald ganz; ſie iſt jetzt mit einem reichen Bauer verheurathet, deſſen Wirthſchaft ſie einige Jahre hindurch ſehr gut fuͤhrte, und der ihr endlich zum Lohne ſeine Hand reichte. Durch volle vier Jahre war Jakob zu allem unfaͤhig, er ſtack ſtets im dunkelſten Winkel der Stube, ſein Bruder, wel - cher an ſeiner Stelle den gepachteten Hof beſorgte, konnte ihn zu gar nichts brauchen, und da jener118 die Wirthſchaft nicht ſo verſtand, ſo wollte es mit dem Pachte auch nicht vorwaͤrts. Nach Verlauf dieſer Zeit ward Jakob wieder leutſeliger, die Idee ſeines Wahnſinnes blieb zwar feſt, aber er ſprach doch mit ſeinem Bruder, und ſein kluger Rath nutzte ihm augenſcheinlich. Im ſiebenten Jahre ſeines ungluͤcklichen Zuſtands bekam er eine leidenſchaftliche Neigung zum Kartenſpiele, er lockte bei jeder moͤglichen Gelegenheit die jungen Burſche in ſeine Stube, bedeckte ſich mit einem dicken Leder ſeine Bruſt, und ſpielte mit ihnen. Sein Gluͤck, und vorzuͤglich ſeine Geſchicklichkeit in jedem Spiele ward bald in der ganzen Gegend bekannt und bewundert. Augenzeugen verſicherten mich, daß er ſtets gewann, nie verlohr, jedes neue Spiel ſogleich vollkommen erlernte, und mit einer Aufmerkſamkeit ſpielte, die unnachahmlich war. Er brachte es nachher in dieſer Kunſt ſo weit, daß er jedem, wenn die Karten gegeben waren, vorausſagte, wie viel er Stiche machen, und wie viel er wuͤrde bezahlen muͤſſen; da dieſes immer richtig, auch wenn man neue Karten her - beiholte, eintraf, und alle Mitſpieler jedesmal verlohren, ſo wollte am Ende niemand mehr mit ihm ſpielen, und ſein thaͤtiger Geiſt mußte ſich neue Beſchaͤftigung ſuchen. Er fand ſie bald in der Wirthſchaft, und legte ſich jetzt wieder aufs Studium dieſer Kunſt, mit einem Eifer, der nie ermuͤdete. Sein Bruder uͤberließ ihm aufs neue die ganze Leitung des Hofes, er fuͤhrte ſie mit119 groͤßter Einſicht bis an ſeinen Tod, ob er gleich nie die Stube verließ, nie von ſeinem Wahnſinne befreit wurde. Er kannte noch von ehedem jeden Acker, jede Wieſe, er unterrichtete die Knechte genau, wie ſie jenen pfluͤgen, und dieſe behan - deln ſollten, und er fehlte in ſeinem Urtheile nie. Dieſer oder jener Acker, ſagte er oft zu den Knechten, muß links oder rechts von fruchtbarer Erde entbloͤßt ſeyn, ihr muͤßt ihn aufs neue uͤber - fuͤhren. Auf der obern Wieſe werden ſich ſum - pfichte Flecke aͤußern, ihr muͤßt ſie ableiten. Die Knechte erſtaunten, wenn ſie alles ſo fanden, und konnten nicht begreifen, wie ihr Herr, der doch nie die Stube verließ, ſo etwas wiſſen koͤn - ne. Er kannte alle Kuͤhe, er wußte genau: ob ſie wenig, oder viel Milch gaben? Und er ſah ſie doch nie, außer wenn ſie im Fruͤhjahre auf die Alpen, und im Herbſte wieder zuruͤck vor ſei - nem Fenſter vorbei getrieben wurden. Er waͤhlte dann immer diejenigen aus, welche den Winter uͤber ſollten gemaͤſtet werden, er ſchrieb ihnen das Futter vor, und verkaufte ſie am Ende, ohne ſie je mehr geſehen zu haben. Er ſagte dann immer allemal dem Kaͤufer: wie viel die Kuh Fleiſch und Inslicht haben muͤſſe, und betrog ſich in ſeinem Urtheile ſelten um einige Pfund. Er prophezeih - te mit vieler Richtigkeit die Witterung voraus, und benutzte dieſe Einſicht oft zu ſeinem Vorthei - le; er wußte es am fruͤhen Morgen ſchon, wenn Abends ein Gewitter kommen wuͤrde; in dieſem120 Falle betrog er ſich nie, und das ganze Dorf richtete ſich in der Sommerarbeit nach ihm. Wenn er am Abende die Knechte befragte: was ſie den Tag uͤber verrichtet hatten, ſo ſah er ih - nen ſtarr in's Geſicht, und wußte es dann ge - nau, wenn einer unter ihnen Unwahrheit ſprach. Durch dieſe Kenntniß erhielt er ſein Geſinde in Zucht und Ordnung, ſie arbeiteten alle fleißig und unverdroſſen, weil ſie uͤberzeugt waren, daß ihr Herr dieſen Fleiß am Abende in ihrem Ge - ſichte erkennen und beloben wuͤrde.

Ein Jahr vor ſeinem Tode ſchien ſich's mit ſeinem Wahnſinne merklich zu beſſern, er ſprach wenig mehr davon, und fragte nur ſelten die Knechte: ob ſie noch in ſeinem Herzen leſen koͤnn - ten? Wenn ſie's nun verneinten, ſo laͤchelte er freundlich, und rief froh aus: das gebe Gott! Er verſuchte es ſogar einigemal, bis an die Trep - pe zu gehen, welche in den Hof hinab fuͤhrte, aber wenn er die erſte Stufe betrat, ſo ergriff ihn ein heftiger Schauer, der ihn zur Ruͤckkehr zwang, und einige Tage auf's Krankenlager warf. Es war ein Kampf der Vernunft mit dem Wahn - ſinne, in welchem der letztere aber immer Sieger blieb.

Ein hitziges Fieber ergriff ihn im letzten Fruͤh - jahre, und raubte ihm alle Vernunft. Er raßte eilf Tage lang ſchrecklich, am zwoͤlften ſchien er121 aus einem tiefen Schlafe zu erwachen, und konnte wieder vernuͤnftig reden und denken. Er war aͤu - ſerſt ſchwach, aber er verſicherte alle, daß er von ſeinem Wahnſinne ganz befreit ſei, und ganz wohl einſaͤhe, daß die Bruſt eines Menſchen nicht von Glaſe ſeyn koͤnne. Er bereitete ſich ſtandhaft zum nahen Tode, lebte noch drei Tage bei voll - kommnem Verſtande, wie aber in der Nacht zum vierten ſein Todeskampf begann, da ſchien mit dieſem auch ſein Wahnſinn ruͤckzukehren. Oefnet meinen Sarg nicht, damit die Leute nicht in mei - nem Herzen leſen koͤnnen! Dies waren ſeine letz - ten Worte, mit welchen er verſchied!

Friedrich M**r und ſeine Familie.

Friedrich war der Sohn eines Landpfarrers zu W . Sein Vater ſtarb, als er auf der Schule ſtudierte, er hinterließ kein Vermoͤgen, und die arme Mutter war nicht im Stande, ihren Sohn laͤnger zu unterſtuͤtzen, ſie brachte ihn bei einem alten Staffirer und Vergolder in die Lehre, wel - cher ihm nicht allein ſeine Kunſt zu lernen, ſon - dern auch, da er keine Kinder hatte, vaͤterlich zu122 erziehen verſprach. Der hoffnungsvolle Knabe er - lernte bald alles, was ſein alter Meiſter ſelbſt konnte, und zog nach einigen Jahren in fremde Laͤnder, um ſich dort noch mehr in ſeiner Kunſt zu uͤben. Nach acht Jahren kam er erfahren und geſchickt nach Hauſe, fand Mutter und Lehrer tod, und keinen Freund, der ihn mit irgend et - was unterſtuͤtzen wollte. Nur durch anhaltenden Fleiß und Arbeit gewann er endlich ſo viel, daß er zu A Meiſter werden, und als dieſer beſſe - res Verdienſt ſuchen konnte. Er fand es anfangs ſehr reichlich, ſeine Geſchicklichkeit und Kenntniß ward bald in der Gegend bekannt, ein reiches Kloſter vertraute ihm in der neu erbauten Kirche viele Altaͤre und die Kanzel, er arbeitete dort zwei volle Jahre, und zog mit einigen hundert Thalern Gewinn, und mit verdientem Lobe be - lohnt nach Hauſe. Er duͤnkte ſich nun gluͤcklich und reich, ſpaͤhte unter den Toͤchtern des Landes umher, und fand bald ein Weib nach ſeinem Her - zen. Hanchen, ſo nannte ſich ſeine Gattin, war die verlaßne Waiſe eines Dorfſchulmeiſters, und hatte ſich von fruͤher Jugend an unter fremden Leuten ihr Brod verdienen muͤſſen, ſie brachte ihm zur Mitgift Unſchuld, Treue und Eifer zur Thaͤtigkeit und Arbeit mit. Er lebte mit ihr ſtets gluͤcklich und zufrieden, ſie gebahr ihm drei Soͤhne und eine Tochter, und erzog ſie zur Gottesfurcht und Tugend. Zehn Jahre lang hatte Friedrich immer ſo viel Arbeit, daß er ſich123 und ſeine Familie redlich ernaͤhren konnte, nach dieſer Zeit ſchien ihn das Gluͤck zu fliehen, meh - rere Glieder ſeiner Kunſt wohnten jetzt in A ; um ſo bekannt wie er zu werden, arbeiteten ſie ſehr wohlfeil, und zwangen Friedrichen ein glei - ches zu thun, wenn er anders nicht jede Arbeit verliehren wollte. Oft gewann er zum niedrig - ſten Preiſe herabgeſetzt, gar nichts, oft verlohr er dabei, und mußte in jedem Falle von dem erſpar - ten Kapital leben, das auf dieſe Art bald uͤber die Haͤlfte ſchmolz. Wie ſich nie eine beſſere Ausſicht oͤfnete, und ſogar noch ſchlimmere Zei - ten drohten, verließ er die Stadt A , und zog mit ſeiner Familie nach N g, wo er mit Rech - te mehrere Arbeit und Verdienſt erwarten konnte. Er fand beides in ſo weit, daß er wenigſtens nichts mehr zuſetzen, und vom Lohne der taͤgli - chen Arbeit ſich und ſeine Familie ernaͤhren konn - te. Er lebte ſechs Jahre zu N , und ſtand bei allen, die ihn kannten, im Rufe eines redli - chen Mannes.

Um dieſe Zeit wurde einem reichen Kaufman - ne aus ſeiner Schreibſtube eine eiſerne Kaſſe, wor - inne einige tauſend Thaler lagen, bei Nachtzeit geſtohlen. Der Kaufmann warf Argwohn auf ſei - nen Hausknecht, welcher unfern der Stube ſchlief, und ſeit einiger Zeit Bekanntſchaft mit einem Sol - daten gemacht hatte, der ihn oͤfters beſuchte, und ſogar in Gegenwart eines Handlungsbedienten124 einſt fragte: ob niemand in der Schreibſtube ſchla - fe? Der Hausknecht ward auf dieſe Anzeige ſo - gleich vom Gerichte arretirt, und da man ſein Ge - ſtaͤndniß durch fuͤnf und zwanzig Stockſtreiche ver - gebens zu erzwingen geſucht hatte, ihn auch durch Verdacht nicht uͤberzeugen konnte, ſogleich wieder entlaſſen. Eben wie dieſes geſchah, ſprach der Kaufmann in Gegenwart ſeines Balbiers von dieſem Diebſtahle, und fuͤgte noch hinzu, daß dieſer gewiß noch entdeckt werden muͤſſe, weil ſich die große eiſerne Kaſſe nicht ſo leicht verbergen laſſe. Die Kaſſe, fragte der Balbier voll Ver - wunderung, ward mit fortgeſchleppt?

Kaufmann. Ja, denn ſie war ſo feſt ver - ſchloſſen, daß die Diebe ſie ohne großes Geraͤuſch nicht oͤfnen konnten.

Balbier. Hm! dann bin ich der Gluͤckliche, welcher Ihnen Nachricht von dem Thaͤter geben kann. Ich habe unter meinen vielen Kunden auch einen Vergolder, welcher in der Gaſſe wohnt, er naͤhrt ſich mit ſeiner ſtarken Familie ſehr kuͤmmerlich. Wie ich geſtern fruͤher als ge - woͤhnlich zu ihm gieng, und, ohne anzuklopfen, eintrat, ſah ich nah am Bette einen eiſernen Ka - ſten ſtehen, welchen ich dort ſonſt nie erblickt hat - te. Vater, Mutter und Kinder blickten bei mei - nem Eintritte verſtoͤrt umher, und wie ich mein Balbierzeug oͤfnete, ſo bedeckte die Frau den ei -125 ſernen Kaſten unvermerkt mit einem Rocke, der groͤßere Sohn gieng ſpaͤter daran voruͤber, und warf noch ein weißes Tuch darauf, welches er abſichtlich von einem entfernten Stuhle holte. Mir fiel's anfangs ſehr ſtark auf, da ich aber den ganzen Tag viel zu thun hatte, ſo kam mir's wie - der aus dem Sinne.

Der Balbier machte nun auf Verlangen des Kaufmanns eine genaue Beſchreibung von der ei - ſernen Kaſſe, welche er bei dem armen Vergolder geſehen hatte; Merkmale und Kennzeichen, welche er angab, trafen mit der geſtohlnen vollkommen uͤberein. Alle Anweſende riefen, daß dies die ent - wendete Kaſſe ſei. Um ſich ganz zu uͤberzeugen, fuͤhrte der Kaufmann den Balbier nach ſeiner Schreibſtube, dort ſtand noch eine eiſerne Kaſſe, ſie war der Geſtohlnen ganz aͤhnlich, von einem Meiſter und mit den nemlichen Zierrathen verfer - tigt worden. Der Balbier verſicherte ſogleich, daß er eben eine ſolche Kaſſe, von dieſer Groͤße und Hoͤhe, mit allem dieſen Blumenwerke geziert, bei dem Vergolder geſehen habe, und dieſe Ausſage mit gutem Gewiſſen jederzeit eidlich zu beſtaͤtigen bereit ſei. Der Kaufmann machte ſogleich die An - zeige bei Gerichte, und Friedrich ward mit ſeiner ganzen Familie in's Gefaͤngniß gefuͤhrt. Man durchſuchte uͤberdies ſeine ganze Wohnung, fand aber weder Kaſſe noch Geld, nur in einer Komode ein und vierzig ganze Thaler, und drei Louisd'or. 126Beide Geldſorten waren in der geſtohlnen Kaſſe befindlich geweſen, und ob der Kaufmann es gleich nicht erweiſen konnte, daß es die nemlichen waͤ - ren, ſo war dies doch zur Vermehrung des Ver - dachts hinreichend. Ehe Friedrich noch verhoͤrt wurde, berief das Gericht ſeinen Hausherrn und die uͤbrigen Bewohner, alle gaben ihm und ſeiner Familie das beſte Zeugniß, und lobten vereint ihren ſtillen, ſittſamen und gottesfuͤrchtigen Lebens - wandel, nur die Magd des Hausherrn ſagte aus, daß Friedrich in der nemlichen Nacht, als der Diebſtahl veruͤbt wurde, gegen zehn Uhr Abends den Hauschluͤſſel unter dem Vorwande von ihr gefordert habe, daß ſeine Tochter ſehr an der Ko - lik leide, und er nicht wiſſe: ob er nicht viel - leicht in der Nacht den Arzt zu ihrer Huͤlfe her - bei rufen muͤſſe? Sie habe, fuhr ſie fort, gegen zwoͤlf Uhr auch das Hausthor oͤfnen hoͤren, und Friedrich haͤtte ihr am Morgen bei Uebergabe des Schluͤſſels ſelbſt erzaͤhlt, daß er nach einem Arzte aus war. Dieſe Erzaͤhlung, welche die Magd in jedem Falle beſchwoͤren wollte, gab abermals Stof zu groͤßerm Verdachte. Friedrich wurde nun ſelbſt vorgerufen, er beantwortete jede Frage ſtandhaft und ohne Stottern, wie er aber beweiſen ſollte, wo er in der Nacht auf den ſieben und zwanzig - ſten geweſen ſei, ſo behauptete er kuͤhn, daß er dieſe Nacht ſeine Stube nicht verlaſſen habe, und berief ſich auf das Zeugniß ſeiner ganzen Familie, die jetzt auch einzeln verhoͤrt wurde, und des Va -127 ters Ausſage einſtimmig beſtaͤtigte. Wie Friedrich darauf mit der Magd konfrontirt wurde, ſo erin - nerte er ſich erſt des Vorfalls, behauptete aber, daß dies in der Nacht auf den ſechs und zwan - zigſten geſchehen ſei. Da nun das Gericht for - derte, daß er dieſen Umſtand durch den Arzt, welchen er ſeiner Tochter zur Huͤlfe holte, bewei - ſen ſollte, ſo verſicherte Friedrich, daß er zwar lange am Hauſe deſſelben geklopft habe, von nie - manden aber ſei gehoͤrt worden, und endlich wie - der nach Hauſe gegangen ſei. Dieſe Ausſage ſchien dem Gerichte ganz natuͤrlich eine kahle Ent - ſchuldigung, und da die Magd ihre Anzeige wirk - lich beeidete, ſo wurde er in dieſem Punkte fuͤr convictus geachtet. Im fernern Verhoͤre laͤugnete Friedrich und ſeine ganze Familie alles, was man ſie beſchuldigen wollte, ſie verſicherten einſtimmig, daß nie ein eiſerner Kaſten, oder nur irgend et - was, welches dieſem aͤhnlich ſaͤhe, bei ihrem Bet - te geſtanden ſei, die Mutter laͤugnete, daß ſie ſolchen mit einem Rocke bedeckt habe, und der Sohn behauptete eben ſo feſt, daß er dieſen Tag gar kein weißes Tuch geſehen, vielweniger zu die - ſem Gebrauch verwendet habe; aber der Balbier, welcher von jeher als ein ehrlicher und rechtſchaff - ner Mann bekannt war, behauptete eben ſo feſt ſeine Ausſage, er ſagte es jedem Gefangnen ſtand - haft in's Geſicht, und beſchwor endlich ſeine Aus - ſage in Gegenwart aller.

128

Es war eine aͤuſſerſt ruͤhrende und der Erbar - mung wuͤrdige Szene, als der Balbier ſeinen Schwur leiſtete. Friedrich ſtand mit Verzweif - lung kaͤmpfend da, aber ſein Weib, ſeine Kinder knieten vor dem Balbier nieder, und baten ihn mit den ruͤhrendſten Worten, daß er doch ihr Un - gluͤck beherzigen, und uͤber eine unſchuldige Fa - milie kein ſo unverdientes, ſchreckliches Elend brin - gen moͤge. Wir wollen's vor Gottes Throne, ſagte die Mutter, beeiden, wir wollen keinen An - theil an ſeiner Seligkeit haben, wenn ein Wort eurer Ausſage Wahrheit enthaͤlt. Um Jeſu wil - len, der euch und uns erloͤßt hat, flehten die Kin - der, erbarmt euch unſrer armen Eltern, und uͤberliefert ſie nicht dem ſchmaͤhlichen Tode. Um des juͤngſten Gerichtes willen, rief wieder die Mutter, das einſt ſchrecklich uͤber euch richten wird, erbarmt euch meiner armen Kinder, die euch noch im Tode fluchen, und Gottes Rache uͤber euch auffordern werden! der Balbier weinte mit ihnen, und verſicherte, daß er um aller Welt Schaͤtze willen nicht unrecht ſchwoͤren, nicht alle ungluͤcklich machen werde, wenn er nicht, feſt von der Wahrheit uͤberzeugt, ſie auch vor Gottes Throne eben ſo ſtandhaft behaupten koͤnne, und daher von ihm keine Strafe zu erwarten habe, weil er als Buͤrger und Chriſt ſeine Pflicht er - fuͤlle. Wie er endlich ſeinen Eid geendet hatte, trat Friedrich zu ihm. Wenn Meineid denMen -129Menſchen Seligkeit raubt, ſo biſt du ungluͤcklicher als wir, und verdienſt unſern Dank, denn du giebſt uns, was du dir ſo muthwillig raubſt. Großer Lohn muß unſrer jenſeits harren, ſonſt iſt Gottes Gerechtigkeit ein Unding, ſchreckliche Stra - fe muß dir dort einſt werden, ſonſt iſt Gott un - billiger, als die Richter dieſer Erde! Er wollte noch mehr ſprechen, aber das Gericht gebot Stillſchweigen, und der ungluͤckliche Friedrich mußte als uͤberwieſener Verbrecher mit ſeiner gan - zen Familie in tiefe und finſtre Kerker wandern. Da ſie jetzt nicht mehr mit einander verhoͤrt wur - den, ſo ſahen ſie ſich auch nicht mehr, und ſchmachteten einſam in ihrem Kerker.

Wie Friedrich am andern Tage im letzten guͤ - tigen Verhoͤre ungeachtet aller Ueberzeugung doch feſt auf ſeiner Unſchuld beſtand, und nichts geſte - hen wollte, beſchloß das Gericht, mit Strenge gegen ihn, ſein Weib und den aͤlteſten Sohn zu verfahren, weil eben dieſe am meiſten des Ver - brechens verdaͤchtig waren, und das Geſetz ſelbſt das Bekenntniß von den uͤbrigen Kindern nicht forderte, wenn ſie nur, was ſehr wahrſcheinlich zu vermuthen war, bloße Kenntniß vom Diebſtahle, aber keine Theilnahme daran hatten. Friedrich bekam durch drei Tage mehr als hundert Stock - ſtreiche, welche ſeine Hartnaͤckigkeit bezwingen, und offnes Geſtaͤndniß von ihm erpreſſen ſollten. Erſt. Baͤndch. I130Wie dies geſchehen und verantwortet werden konn - te, weiß ich nicht; aber daß es wirklich geſchah, iſt ein bewaͤhrtes Faktum, weil am Ende das Volk ſich haufenweiſe ums Rathhaus verſammlete, des Ungluͤcklichen Jammergeſchrei nicht mehr hoͤ - ren wollte, und Gewalt zu brauchen drohte, wenn man laͤnger fortfahren wuͤrde, einen Menſchen ſo erbaͤrmlich zu martern. Ob ſein Weib und ſein Sohn mit einer aͤhnlichen Strenge behandelt? ob ſie, wie die allgemeine Sage gieng, wirklich auf die Folter geſpannt worden? kann ich nicht gewiß behaupten, aber ſo viel iſt erwieſen, daß ſie nichts geſtanden, und daß der ungluͤckliche Friedrich die ſchrecklichen Schmerzen der Schlaͤge deswegen ſtandhaft erduldete, weil er, ſeiner Ausſage nach, Weib und Kinder nicht einer aͤhn - lichen Behandlung ausſetzen wollte, wenn ſie, unſchuldig an der That, nicht gutwillig geſtehen wuͤrden, was er zur Aenderung der beinahe un - ertraͤglichen Pein, zur Erloͤſung aus dieſem Jam - merthal ſonſt ſo gerne geſtehen wuͤrde. Jetzt, ſprach er immer, wenn man ihn von der Marter - bank losband, ſehe ich's erſt ein, wie Liebe zum Weibe und Kindern ſtaͤrken kann. Um mein Le - ben zu retten, wuͤrde ich nicht zehne dieſer Hen - kerhiebe dulden; um jene zu retten, nicht in's unverdiente Ungluͤck zu ſtuͤrzen, habe ich ihrer ſchon ſo viele erduldet, und Gott wird mir Kraft geben, auch noch in Zukunft fuͤr ſie zu leiden, oder wenigſtens fuͤr ihre Rettung zu ſterben.

131

Da die allgemeine Stimme des Volks jetzt mehr als je behauptete, daß Friedrich, aller Be - weiſe ungeachtet, doch unſchuldig ſeyn koͤnne, da es warmen Antheil an ſeinem ſchrecklichen Schick - ſale nahm, und die Gefangnen uͤberdies gar nichts geſtanden, ſo beſchloß das Gericht, mit fernerer Strenge inne zu halten, und, bis nicht neue und wichtige Beweiſe oder ihr freiwilliges Geſtaͤndniß die Sache naͤher aufklaͤrte, ſie im Kerker zu verwahren. Daß es den Aermſten dort auch aͤuſſerſt elend ergieng, und man ſie wahrſcheinlich durch harte Begegnung zum Ge - ſtaͤndniſſe zwingen wollte, beweißt die Folge, denn ehe Gottes weiſe Fuͤgung dieſen ſchrecklichen Proceß ſelbſt entſchied, ſtarb Friedrichs Weib im Gefaͤngniſſe und zwei ſeiner Kinder waren dem Tode nahe. Der ungluͤckliche Gatte und Vater erfuhr von allem nichts, es wuͤrde in ſeiner Lage Troſt fuͤr ihn geweſen ſeyn, und Troſt ſollte ja der Elende nie erhalten.

Als er ſchon durch ein ſchreckliches, langes und martervolles halbes Jahr im Kerker geſchmach - tet hatte, taͤglich Gott um Tod, und immer ver - gebens flehte, traten einige angeſehene Buͤrger vor die Schranken des verſammleten Raths, und meldeten den erſtaunten Mitgliedern, wie ſie ſehr ſtarke Muthmaßung haͤtten, daß ein anderer den Diebſtahl beim Kaufmanne begangen, und derI 2132ungluͤckliche Vergolder wahrſcheinlich ganz unſchul - dig ſei. In ihrer Nachbarſchaft, erzaͤhlten ſie nun, wohne ein Schloſſer, von welchem es allge - mein bekannt, daß er zwar aͤußerſt geſchickt, aber eben auch ſo luͤderlich und daher ſehr arm ſei. Ehe der bekannte Diebſtahl veruͤbt wurde, war er, ihrer Ausſache nach, betraͤchtlich ſchuldig, hatte oft keinen Pfennig im Hauſe, und gieng mit ſei - nem Weibe in der ſchlechteſten und oft zerrißnen Kleidung einher. Seit kurzem, fuhren ſie fort, hat er alle ſeine Schulden bezahlt, er und ſein Weib gehen gut und wohlgekleidet einher, die letz - tere traͤgt goldne Hauben und Granaten um den Hals, welche wenigſtens ſechzig Gulden werth ſind, in ihrem Hauſe wird taͤglich geſotten und gebraten, aber nie gearbeitet. Er und ſein Ge - ſelle ſind taͤglich im Wirthshauſe zu finden, ſie verzehren dort oft an einem Abende eine Sum - me, welche ſie eine ganze Woche hindurch nicht zu verdienen im Stande ſind. Wir wollen, en - deten die Gutgeſinnten, ſie nicht geradezu des Diebſtahls beſchuldigen, nicht durch unſere Aus - ſage in's Ungluͤck ſtuͤrzen; wir fordern nur, daß ſie unterſucht und genau befragt werden: woher ſie das viele Geld erhalten haben, womit ſie jetzt ſo verſchwenderiſch umgehen, und jeden Recht - ſchafnen zum Argwohne berechtigen?

Der Rath ſandte auf dieſe Anzeige ſogleich ein Mitglied und Gerichtsdiener in die Wohnung des133 Schloſſers, welche dieſe genau unterſuchen, und faͤnden ſie mehrern Verdacht, den Schloſſer ſamt ſeinem Weibe und Geſellen in's Gefaͤngniß fuͤhren ſollten. Der Abgeſandte fand alle dreie daheim, der Schloſſer hatte ſich eben ſchoͤne ſilberne Schnallen gekauft, und zahlte ſie dem Verkaͤufer aus, er hielt einen Beutel in der Hand, in wel - chem der Rathsherr zweihundert Thaler an Golde fand. Er ließ alles genau durchſuchen, und ent - deckte bald einen Sack, in welchem ſich eilfhundert Stuͤck Konventions-Thaler befanden. Der Schloſ - ſer konnte ſich uͤber dieſes Geld gar nicht aus - weiſen, er verſicherte, daß er es gefunden habe, ungeachtet ſeine Frau kurz vorher behauptete, daß ſie es von einer alten Muhme zu Augsburg geerbt haͤtte. Seinem Auftrage getreu, ließ der Raths - herr alle ſogleich in's Gefaͤngniß fuͤhren. Als die Nachbarn rings umher dies ſahen, eilten ſie ihnen nach, und riefen mit lauter Stimme: dies ſind die Diebe des Kaufmanns, der arme Vergolder iſt unſchuldig! Ehe der Zug noch das Rathhaus erreicht hatte, folgten viele Tauſende, welche das nemliche riefen, und nun mit Ungeſtuͤmm die Los - laſſung und Freiheit des armen Friedrichs forder - ten. Geſchreckt durch die allgemeine Volksſtimme, vom erwachenden Gewiſſen vielleicht noch mehr geaͤngſtigt, geſtand der Schloſſer, als er vor die Schranken des Raths gefuͤhrt wurde, ſogleich den Diebſtahl, ſein Weib wollte zwar Anfangs alles laͤugnen, und von keiner Theilnahme etwas wiſ -134 ſen, als aber ihr Gatte und ſein Geſelle mit ihr konfrontirt wurde, ſo bekannte auch ſie alles aufrichtig.

Der Schloſſer hatte vor Jahresfriſt dem Kauf - manne zwei gleiche eiſerne Kaſſen verfertigen muͤſ - ſen; ſchon waͤhrend der Arbeit ſprach der Meiſter oft mit ſeinem Geſellen von dem vielen Gelde, welches einſt in dieſen Kaſſen ruhen wuͤrde; der Wunſch, ſie nur einmal leeren zu koͤnnen, ward bei beiden rege, und der letztere meinte, daß es eine ſehr geringe Suͤnde ſeyn muͤſſe, wenn der Arme ſich auf gute Art eines Theils des allzu großen Reichthums bemaͤchtigen koͤnnte. Bei die - ſer Aeuſſerung blieb es, bis einen Monat vor dem Diebſtahle der Schloſſer zum Kaufmanne berufen wurde, um die Kaſſe zu oͤfnen, von welcher er in haſtiger Eile den Schluͤſſel abgedreht hatte. Wie ſie geoͤfnet war, ſah der Schloſſer vieles Gold und Silber darinne liegen, das Verlangen dar - nach ward auf's neue und lebhafter rege; da er es allein nicht zu befriedigen vermochte, ſo ver - traute er's ſeinem Geſellen und bald nachher auch ſeinem Weibe. Beide willigten ein, und die Moͤglichkeit, wie man das Unternehmen gluͤcklich ausfuͤhren koͤnne, ward ſogleich gepruͤft. Der Schloſſer verſteckte ſich, als alles verabredet war, ſamt ſeinem Geſellen Abends unter den Faͤſſern und Ballen, welche im Vorhauſe des Kaufmanns lagen. Wie alles im Hauſe ſchlafen gegangen135 war, krochen ſie hervor, oͤfneten mit ihren Die - trichen die Thuͤre der Schreibſtube, ſchraubten das Schloß derſelben ab, und zerbrachen es, damit man gewaltſamen Einbruch argwohnen, und nicht etwan auf einen Schloſſer Verdacht werfen ſolle. Da die Kaſſe ſchwer zu eroͤfnen war, ſie auch im obern Stocke Geraͤuſch hoͤrten, ſo trugen ſie ſolche fort, und oͤfneten das Hausthor, vor welchem des Schloſſers Weib auf und ab ſchlich. Da die - ſe immer voran gieng, und ſogleich huſtete, wenn ſie etwas kommen hoͤrte, ſo kamen ſie gluͤcklich mit ihrer Beute nach der Wohnung. Es war ſchon drei Uhr nach Mitternacht, als ſie dort an - langten; weil ſie der Schwere wegen oͤfters ru - hen, ſich zweimal vor den Nachtwaͤchtern, welche durch die Straße giengen, verbergen mußten. Sie eroͤfneten noch in der Nacht die Kaſſe, und nahmen das Geld, welches in mehr als drei tau - ſend Thaler beſtand, heraus. Die leere Kaſſe ſtellten ſie zum Bette, und waren eben vom Schlafe aufgeſtanden, als der Balbier, welcher ſo ſchreckliches Ungluͤck uͤber den armen Friedrich gebracht hatte, in die Stube trat. Des Schloſ - ſers Frau bedeckte die Kaſſe wirklich mit einem Rocke, und der Geſelle warf nachher noch ein weißes Tuch darauf; ſie ſahen, wie der Balbier von ihnen weg, und nach Friedrichs Wohnung gieng, der nur zwei Haͤuſer von ihnen entfernt wohnte; ſie trugen die Kaſſe ſogleich in die Werk - ſtatt, und bedeckten ſie mit Schlacken und Kohlen. 136Sie waren in großer Angſt, und erſtaunten ſehr, wie der arme Friedrich am andern Tage in's Ge - faͤngniß gefuͤhrt wurde, ſie nahmen es fuͤr ein be - ſonders Wunder zu ihrer Rettung, als ſie nach - her die Anzeige des Balbiers mit allen Umſtaͤnden erfuhren. Anfangs, verſicherte der Schloſſer, waͤ - ren ſie ſehr traurig, und ſchon entſchloſſen gewe - ſen, das geſtohlne Geld durch einen katholiſchen Geiſtlichen dem Kaufmann zu uͤberſchicken, nach der Hand haͤtten ſie es aber uͤberlegt, daß hier Gottes Schickung augenſcheinlich wirke, Friedrich ihn vielleicht auf andere Art ſchrecklicher beleidigt habe, und es ihnen nicht zieme, ſeine weiſen Ab - ſichten zu hindern. Die Kaſſe zerhackten ſie am nemlichen Tage noch in vier Stuͤcke, und trugen ſie in der folgenden Nacht in den Fluß, welcher durch die Stadt rinnt. Sie ſahen jetzt freilich ſelbſt ein, daß Friedrichs Ungluͤck ihre Entdeckung befoͤrdert habe, weil ſie ſich ganz ſicher duͤnkten, das Geld nach Wohlgefallen benutzten, und nicht waͤhnten, daß ihr Aufwand die Aufmerkſamkeit der Nachbarn erregen koͤnne. Aeuſſerſt ruͤhrend, aber auch Schauer erregend war es fuͤr alle An - weſende, als des Schloſſers Frau offen geſtand, daß ſie am nemlichen Tage, als Friedrich durch ſein erbaͤrmliches Geſchrei das Mitleid des ganzen Volks erregte, nahe am Rathhauſe, ſich Stoff zu einer reichen Haube, und Taffent zu einem neuen Kleide gekauft habe. Ich hoͤrte, ſagte ſie, den Ungluͤcklichen immer ſchreien, mein Herz ward137 weich, mein Gewiſſen quaͤlte mich, wenn ich aber wieder die ſchoͤnen Sachen anblickte, ſo wich alles Mitleid, und ich dachte: beſſer du, als ich! Der Rath forſchte nun auf's genauſte: ob ſie nicht mehr Gehuͤlfen hatten, und ob nicht vielleicht, was allerdings wahrſcheinlich wurde der Bal - bier mit ihnen einverſtanden ſei? Aber alle be - theuerten hoch, daß niemand die geringſte Wiſſen - ſchaft davon gehabt habe, und verſicherten uͤber - dies, daß ſie gewiß jeden Theilnehmer willig nen - nen wuͤrden, da dies ihre Strafe wohl lindern, aber nicht vermehren koͤnne. Wie es uͤbrigens moͤglich geweſen, daß der Balbier mit einem Eide beſtaͤtigen konnte, daß er bei Friedrichen geſehen habe, was er doch nur bei ihnen geſehen hatte, muͤſſe er nun ſelbſt erklaͤren; ihnen ſei es ſtets ein Wunder geblieben, auch haͤtte der Schloſſer ihm am andern Tage ſogleich die Kundſchaft unter dem Vorwande, daß er ſich ſelbſt balbieren werde, aufſagen laſſen, damit er nie mehr Gelegenheit habe, ſich bei einem Beſuche eines beſſern zu er - innern. Alle verſicherten endlich, daß ſie von die - ſer Zeit an dem Balbier abſichtlich ausgewichen waͤren, und nie ein Wort mehr mit ihm geſpro - chen haͤtten.

Auf einſtimmigen Befehl des Raths ward nun nach dem Balbier geſandt, auch mußte das Ge - richt ſich an den Ort verfuͤgen, wo die Verbre - cher die Stuͤcke der eiſernen Kaſſe in den Fluß138 verſenkt hatten, um dieſe, wo moͤglich, aufzuſu - chen, und dadurch das erforderliche Korpus delikti herzuſtellen. Beide abgeſchickten Theile erſchienen bald wieder vor den Schranken, die erſtern hatten Wache nehmen muͤſſen, um den Balbier vor der Rache des Poͤbels zu ſchuͤtzen, weil dieſer ihn fuͤr einen Theilnehmer am Verbrechen hielt, und mit Gewalt ſteinigen wollte; die letztern waren wirk - lich ſo gluͤcklich geweſen, zwei große und weſent - liche Stuͤcke der zertruͤmmerten Kaſſe zu finden, und wurden von einer großen Menge Volks bis an's Rathhaus im Triumphe begleitet, weil eben dieſe Stuͤcke die Unſchuld des armen Friedrichs vollkommen erwieſen.

Noch war der Rath mit dem Verhoͤre des Bal - biers beſchaͤftigt, als die Gerichtsdiener meldeten, daß das Volk mit ſchrecklichem Ungeſtuͤme die Freiheit des unſchuldigen Verbrechers fordre, und die Gefaͤngniſſe mit Gewalt zu erbrechen drohe, wenn man ſie laͤnger verzoͤgre. Der Buͤrgermei - ſter trat nun ſelbſt auf den Balkon des Rathhau - ſes, er machte mit liebreichen Worten der großen Menge kund, daß das verſammlete Gericht ſelbſt nicht mehr an der vollkommnen Unſchuld des ar - men Friedrichs zweifle, nur noch ein Verhoͤr zum Beweiſe derſelben vollenden muͤſſe, und dann ge - wiß nicht ſaͤumen werde, die ganze Familie in Freiheit zu ſetzen, wenn man vorher allen ihre an - erkannte Unſchuld mit Vorſicht entdeckt haͤtte, weil139 allzu ſchnelle und uͤberraſchende Freude den Un - gluͤcklichen leicht toͤdtlich werden koͤnnte. Er verſi - cherte uͤberdies, daß dies alles noch heute, und wenigſtens in ein paar Stunden geſchehen werde. Ich will, fuͤgte er hinzu, nicht eher das Rath - haus verlaſſen, als bis ich ſie vollkommen gerecht - fertigt in eure Mitte fuͤhre. Das Volk jubelte und verſprach geduldig zu verharren. Das Ver - hoͤr des Balbiers wurde nun fortgeſetzt, er weinte bitterlich und jammerte ſchrecklich, als es ihm nach und nach kund gemacht wurde, welch ſchreckliches Ungluͤck er uͤber die Unſchuldigen gebracht habe. Er verſicherte auf's heiligſte, daß keine Theilnah - me, kein Haß, keine Privatabſicht ihn zur fal - ſchen Anklage und Meineide verleitet habe, daß er nun wohl ſeinen ſchrecklichen Fehler einſehe, aber noch immer vor Gott und ſeinem Gewiſſen behaupten koͤnne, daß nie ein Zweifel, als ob er dies nicht alles bei Friedrichen geſehen, ſein Herz geaͤngſtigt habe. Es war fruͤh am Morgen, er hatte noch gar kein ſtarkes Getraͤnke getrunken, war nicht krank, als er dies alles ſah, auch war von jeher ſein Gedaͤchtniß ihm ſtets getreu geblie - ben, er konnte ſich in jedem Falle kuͤhn darauf verlaſſen, und doch war keine andere Entſchuldi - gung moͤglich, als daß dieſes ihn das einzige mal in ſeinem Leben ſchrecklich, ſo traurig irre gefuͤhrt habe. Da das Gericht noch den vorigen Lebens - wandel des Meineidigen unterſuchen, ihn vorzuͤg - lich aber vor der Rache des ergrimmten Volks140 ſchuͤtzen mußte, ſo ward er indeß bis zur weitern Unterſuchung in das Zivilgefaͤngniß gefuͤhrt.

Der regierende Buͤrgermeiſter, welcher nach der gewoͤhnlichen Sitte nicht mit unter den Blutrich - tern ſaß, und daher keinen Theil an den ſchreck - lichen Quaalen hatte, welche Friedrich erdulden mußte, ließ ſich nun ſelbſt nach ſeinem Kerker fuͤhren. Er ſchauderte, als er den Unſchuldigen mit ſchweren Ketten belaſtet, auf moderndem Strohe erblickte, er mußte alle ſeine Standhaf - tigkeit ſammlen, ehe er mit ihm ſprechen konnte.

Friedrich. Wenn Sie kommen, mir mein Todesurtheil anzukuͤndigen, ſo beſchwoͤre ich Sie, nicht laͤnger damit zu zoͤgern. Koͤnnten Sie in mein Herz blicken, ſo wuͤrden Sie finden, daß dies mein einziger, mein ſehnlichſter Wunſch iſt.

Buͤrgermeiſter. Nein, lieber Freund, ich komme vielmehr, Sie zu troͤſten, und zu ver - ſichern

Friedrich. Vergeben Sie, daß ich Ihnen in's Wort fallen muß. Wo waͤre fuͤr mich Troſt zu finden? Oeffentlich des ſchaͤndlichſten Dieb - ſtahls uͤberwieſen, gebrandmarkt an meiner Ehre, verachtet von allen Redlichen, aͤrger als ein Vieh gequaͤlt und gemartert! O Herr! wer unter ſolchen Umſtaͤnden den Tod nicht wuͤnſcht, nicht zu Gott, welcher allein richten und lohnen kann, ſehnlich verlangt, der muß wirklich derjenige Boͤſewicht ſeyn, fuͤr welchen ich nur gehalten werde.

141

Buͤrgermeiſter. Sind Sie denn wirklich unſchuldig?

Friedrich. (mit den Ketten fuͤrch - terlich klirrend) Sie koͤnnen noch fragen? Ach, das iſt eben das Schrecklichſte, das iſt's eben, was maͤchtig zur Verzweiflung reizt! Ich bin unſchuldig und doch gefeſſelt!

Buͤrgermeiſter. Menſchen-Urtheil kann irren!

Friedrich. Wohl, wohl kann's irren! Er allein ſieht, er allein weiß es, und rettet doch nicht.

Buͤrgermeiſter. (zum Kerkermeiſter) Nehmt ihm die ſchweren Ketten ab, damit er ſanfter ruhen kann.

Friedrich. (entfeſſelt) Das waͤre doch Linderung in meinem Leiden! zwar die erſte, aber eben deswegen auch die ſchaͤtzbarſte. Nun kann ich ja ungehindert knien, ungehindert meine Haͤn - de zu Gott empor heben! (er kniet nieder) Allmaͤchtiger, ewiger Richter, wenn du etwann nur dein Ohr zu feſſelloſen Geſchoͤpfen herab neigſt, nur diejenigen mit gnaͤdigen Augen anblickſt, die ohne Kettengeraſſel ihre Haͤnde zu dir ausſtrecken, ſo blicke jetzt auf mich herab, hoͤre mich, hoͤre mich! Erbarme dich meines armen Weibes, mei - ner unſchuldigen Kinder, laß den Kelch des Lei - dens auch vor mir voruͤber gehen!

142

Buͤrgermeiſter. Gott wird dies inbruͤnſti - ge Gebet gewiß nicht unerhoͤrt laſſen!

Friedrich. Meinen Sie? Wenn es Ihnen nicht graut, Ihre Haͤnde auf dies Stroh zu le - gen, ſo werden Sie es naß und verfault von Jammerthraͤnen finden, die ich vergebens vor ihm weinte, oft war meine Stimme ſchon heiſcher vom Gebethe, oft

Buͤrgermeiſter. Sie werden doch nicht an Gottes Huͤlfe und Barmherzigkeit verzweifeln?

Friedrich. Nein, ſorgen Sie nicht! Wenn die Hoffnung des kuͤnftigen Lohns nicht waͤre, wenn dieſe mich nicht ſtandhaft erhielte O Gott, was waͤre dann ſchon aus mir ge - worden!

Buͤrgermeiſter. Kommen Sie mit mir, ich will Sie in ein beſſeres Gemach fuͤhren, hier iſt die Luft ſo ſchwer, ſo dumpfigt Kom - men Sie!

Friedrich. O Engel, was ſoll ich von dir denken, ich folge willig, ſchon funfzehn oder ſechs - zehn Wochen habe ich das Tageslicht nicht geſe - hen. Doch nein, nein, ich will noch laͤnger hier weilen: Erſt mein Weib, meine unſchuldigen Kinder! Sie ſind eben ſo unſchuldig wie ich, ſie verdienen Ihr ganzes Mitleid.

Buͤrgermeiſter. Es wird bereits auf aͤhn - liche Art fuͤr ſie geſorgt.

143

Friedrich. (mit groͤßter Freude) Alſo ſind auch ſie entfeſſelt? Alſo werden auch ſie das Tageslicht ſehen?

Buͤrgermeiſter. Ja, Lieber, ja!

Friedrich. Wie kommt, wie geſchieht denn dies? (aͤngſtlich) Sollte etwann

Buͤrgermeiſter. Sorgen und fuͤrchten Sie nichts mehr, Ihr Leiden wird bald und ſicher enden.

Friedrich. Waͤr's moͤglich? Koͤnnte ich denn wirklich Hier, hier an der Staͤtte meines Jammers, hier wo ich unzaͤhliche Thraͤnen vergoſ - ſen habe, hier bitte und beſchwoͤre ich Sie, mir's zu ſagen: ob ich hoffen kann? ob ich hoffen ſoll? O es waͤre ſchrecklich, wenn Sie Empfindungen in mir erregten, die Sie vielleicht nicht befriedigen koͤnnen!

Buͤrgermeiſter. Hoffen Sie kuͤhn, ich buͤrge Ihnen mit meinem Worte, mit meiner Ehre fuͤr alles.

Friedrich. Aber, wie iſt's denn geſche - hen?

Buͤrgermeiſter. Kommen Sie nur mit mir, das Gericht iſt hintergangen worden.

Friedrich. (ſchlaͤgt ſeine Haͤnde zu - ſammen) So lebt der alte Gott doch noch!

144

Buͤrgermeiſter. Man wird alles moͤgliche anwenden, Ihnen das Leiden, welches man Ih - nen aus Pflicht zufuͤgen mußte, wieder zu er - ſetzen.

Friedrich. (aufſchreiend) So waͤre vielleicht meine Unſchuld entdeckt?

Buͤrgermeiſter. Sie iſt's, ſie iſt's voll - kommen!

Friedrich. Vollkommen? vollkommen?

Buͤrgermeiſter. Ja! Ich wollte Sie nur nach und nach zu der unerwarteten Freude vor - bereiten.

Friedrich. Ach freilich unerwartet, aber auch ſpaͤt, ſehr ſpaͤt doch Herr, es war dein Wille, ich bin dein Geſchoͤpf, und darf nicht ha - dern! Iſt's denn aber auch gewiß? O beſter Herr, zuͤrnen Sie nicht, iſt's denn auch gewiß?

Buͤrgermeiſter. Sicher und gewiß! die - ſer Kuß, den ich Ihnen als Vorſteher der ganzen Stadt gebe, ſei Ihnen ein Beweiß, daß wir Sie alle von ganzem Herzen bedauren, und alles an - wenden werden, um Ihnen die moͤglichſte Genug - thuung zu verſchaffen. Kommen Sie jetzt

Friedrich. Ich komme, ich komme! Nur noch einen Blick in dieſen Kerker! (lebhaft) Und meine Ketten? O dieſe darf ich doch mit mir nehmen?

Buͤr -145

Buͤrgermeiſter. Ich will's nicht hindern, aber beſſern Nutzen wuͤrden Sie ſtiften, wenn Sie ſolche ihren Richtern zum Andenken und zur Warnung ſchenkten, damit ſie kuͤnftig vorſichtiger handeln, nie an der Unſchuld des Beklagten, im - mer nur an ſeinem Verbrechen zweifeln.

Friedrich mußte nun ſeinem Fuͤhrer folgen, er trug ſeine Ketten, und verweigerte ſie hartnaͤckig dem Waͤrter, welcher ſie ihm nachtragen wollte. Des Gehens ungewohnt, taumelte er gleich einem Kinde, und lallte auch aus Uebermacht der Freu - de wie dieſes. Ich, unſchuldig! Ich, wieder frei! Mein Weib, meine Kinder auch frei! Gott, wie gluͤcklich machſt du mich wieder! Dies waren die einzelnen, oft unterbrochnen Worte, wodurch er ſein Gefuͤhl auszudruͤcken ſuchte. Endlich lang - te er nebſt dem Buͤrgermeiſter in einem hellen Ge - mache an, deſſen Fenſter auf die Gaſſe giengen. Das ungewohnte Licht blendete ſein Auge, ſeine Bruſt konnte die leichtere, reine Luft nicht faſſen, er ſank ohnmaͤchtig zu Boden. Man labte und fuͤhrte ihn, als er wieder athmete, an's Fenſter. Das verſammlete Volk ahndete, daß er's ſei und jubelte laut. Friedrich bebte zuruͤck. Was iſt das, rief er zitternd, iſt's vielleicht doch Trug? Iſt die Menge vielleicht verſammlet, um mich ſterben zu ſehen?

Erſt. Baͤndch. K146

Buͤrgermeiſter. Gott bewahre! Sehen Sie denn nicht, wie ſie jauchzen, wie ſie ſich freuen, daß die Unſchuld endlich doch triumphirt, ſie wiſſen es ſchon, daß Sie heute noch vollkomm - ne Freiheit erhalten, und harren Ihrer, um Sie nach Hauſe zu begleiten.

Friedrich. Ach Gott im Himmel, du ge - waͤhrſt mir viel Freude, gieb mir doch auch Kraͤf - te, ſie zu genießen. Er trat wieder an's Fenſter, das Volk jauchzte von neuem, er dankte, und zeigte der Menge ſeine Ketten. Dieſer ruͤhrende Anblick riß das Volk hin, ſie forderten ihn in ihre Mitte. Wo iſt mein Weib, meine Kinder? rief jetzt Friedrich, ſie muͤſſen Antheil an dieſem Jubel nehmen!

Buͤrgermeiſter. Ihre Kinder werden gleich erſcheinen.

Friedrich. Und mein Weib?

Buͤrgermeiſter. Sie haben Elend und Ungluͤck im Kerker ertragen gelernt, Sie werden ſich zu faſſen wiſſen. Hienieden kann die Freude des Menſchen nicht vollkommen ſeyn.

Friedrich. (langſam) Iſt ſie todt?

Buͤrgermeiſter. Sie ſtarb ſchon vor zwei Monaten.

Friedrich. Im Kerker?

Buͤrgermeiſter. Ja?

147

Friedrich. Ohne Troſt? ohne Hofnung?

Buͤrgermeiſter. Sie ſtarb als Chriſtin, ſie genießt ſchon den Lohn, der Ihrer noch harrt.

Friedrich. (wiſcht ſich die Augen und betrachtet ſeine Hand) O ihr Hartherzi - gen! habt ihr keine Thraͤne fuͤr ein treues Weib? Ich kann nicht einmal mehr weinen.

Buͤrgermeiſter. Ihr iſt wohl!

Friedrich. Ach, wenn ſie nur nicht ver - zweifelnd ſtarb.

Buͤrgermeiſter. Freuen Sie ſich, Ihre Kinder kommen.

Friedrich. Meine Kinder! meine Kin - der!

Er ſank in ihre Arme, und lag ſprachlos darinne. Nur ſie fehlt, rief er endlich aus, dann waͤre die Freude vollkommen! Da man jetzt dem Buͤrgermeiſter meldete, daß das Volk mit Gewalt in's Rathhaus dringe, ſo fuͤhrte er Frie - drichen und ſeine Kinder ſelbſt hinab. Schon auf der Treppe empfieng ihn die Menge, ſie ergriffen ſogleich Friedrichen ſamt den Kindern, und tru - gen alle auf ihren Schultern hinab. Groß war der Jubel, laut das Freudengeſchrei, als aber alle die hagre, blaſſe Geſtalt der Unſchuldigen ſa - hen, da wich nach und nach die Freude der Ruͤh -K 2148rung, das Geſchrei verſtummte, man ſah nur Thraͤnen, hoͤrte nur Schluchzen. Friedrich benutz - te die Stille, er ſank auf ſeine Knie, die Kinder folgten. Allmaͤchtiger, rief er betend aus, ich danke dir! du haſt mich erhoͤrt, du haſt mich ge - rettet, ich danke dir in Gegenwart der Tauſen - den, welche nun dir thaͤtiger dienen, eifriger an dich glauben werden, weil du das Flehen der Un - ſchuld hoͤrteſt, und nicht zulaſſen wollteſt, daß ſie an deiner Barmherzigkeit zweifle. Er ſprach noch mehr, aber das Gemurmel der Menge machte ſeine Stimme unhoͤrbar, er mußte es dul - den, das man ihn mit ſeinen Kindern durch die meiſten Gaſſen herum trug, und ſeine Unſchuld mit lauter Stimme ausrief. Kinder und Weiber ſtreuten von Fenſtern herab Blumen, die mit Thraͤnen des Mitleids benetzt waren. Wie das Volk mit ihm am Hauſe des Kaufmanns voruͤber zog, wollte es aus uͤbertriebnem Eifer die Fenſter deſſelben einwerfen, aber Friedrich bat, und ihre Haͤnde ſanken zuruͤck. Endlich trug man ihn nach ſeiner Wohnung, ſie war oͤde und leer, die Ge - richte hatten all ſein Hausgeraͤthe in Verwahrung genommen; aber in einer Viertelſtunde war ſie mit weit ſchoͤnerm Geraͤthe angefuͤllt, welches die angeſehnſten Buͤrger der Stadt auf ihren Ruͤcken zum Geſchenke herbei trugen. Am Abende fuͤllten die Traͤger, welche Speiſen brachten, die Gaſſe, in welcher Friedrich wohnte, er konnte nur dan - ken, aber nicht annehmen.

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Am andern Tage brachten ihm Deputirte des Raths in einer feierlichen Prozeſſion das Buͤrger - Diplom fuͤr ihn und ſeine Kinder zum Geſchenke. Thaͤtige Menſchenfreunde eroͤfneten eine Subſcrip - tion, und ſanden ihm ſchon am nemlichen Tage tauſend Thaler; die ganze Stadt nahm Antheil an ſeinem Schickſale, wenn er ausgieng, folgte ihm noch immer eine große Menge, welche ſeine Unſchuld verkuͤndigte.

Friedrich war dieſe Zeit hindurch einem Kinde aͤhnlich, welches man auf einmal mit den herr - lichſten Spielereien uͤberhaͤuft, er gieng geſchaͤftig im Zimmer auf und nieder, ordnete die ſchoͤnen Moͤbeln, ſtellte ſie bald dort, bald dahin, er umarmte ſeine Kinder, er zaͤhlte das Geld, wel - ches er zum Geſchenke erhalten hatte, und be - gann wieder von neuem. Anfangs nahm man dies alles fuͤr Uebermaas der Freude, als aber dies immer gleich ſtark anhielt, als er oft Spiel - werk und Puppen kaufte, und von ſeinen erwach - ſenen Kindern forderte, daß ſie mit ihm ſpielen ſollten, da argwohnten dieſe Beginnen des Wahn - ſinns, und zogen einen Arzt zu Rathe; er beob - achtete ihn genau, und fand leider, daß ſein Verſtand, Gedaͤchtniß und Beurtheilungskraft taͤg - lich mehr und mehr ſchwinde, er ward, aller an - gewandten Mittel ungeachtet, in kurzer Zeit ganz zum Kinde, handelte und dachte wie dieſes. Voll - kommne Vergeſſenheit des Vergangnen, und all150 ſeiner Leiden folgte bald nach, er gedachte ſeines Gefaͤngniſſes eben ſo wenig wie ſeines verſtorb - nen Weibes. Er ſuchte abſichtlich die Geſellſchaft der kleinen Kinder, und waͤhnte ſich gluͤcklich, wenn er in ihrer Mitte ſitzen, und mit ihnen ſpie - len konnte. Er weinte gleich dieſen uͤber den Verluſt eines Spielwerks, als aber bald nachher ſeine Tochter ſtarb, ſo vergoß er keine Thraͤne. Seine uͤbrigen Kinder fuͤhrten ihn hinter ihrem Sarge, er folgte geduldig, und ſpielte mit kleinen Steinchen, welche er in die Hoͤhe warf, und wie - der zu fangen ſuchte. Als man ihren Sarg mit Erde bedeckte, da gukte er neugierig hinab, und lachte herzlich, weil ſich, nach ſeinem kindiſchen Ausdrucke, das große Loch ſo geſchwind wieder fuͤllte. Nie gedachte er ihrer mehr, ob er ſie gleich unter allen ſeinen Kindern am meiſten geliebt hat - te. Einer meiner Freunde beſuchte ihn ein Jahr nach erhaltener Freiheit, er fand ihn im kleinen Hausgarten, wo er oft ganze Tage mit Spielen zubrachte. Er ſaß unter einem Obſtbaume, ſeine Miene verrieth Freude und Vergnuͤgen, er fidelte auf einer kleinen Kindergeige, erzwang die graͤß - lichſten Mißtoͤne, und rief doch oft voll Entzuͤcken aus: O Jeſus! O Jeſus, das klingt ſchoͤn! Sei - ne Soͤhne, welche meinen Freund begleiteten, und mit naſſen Augen dem Spiel des Vaters zuſahen, hatten ihn ſchon unterrichtet, daß man keine Ant - wort von ihm erhalte, wenn man nicht Antheil an ſeiner Beſchaͤftigung nehme.

151

Mein Freund lagerte ſich neben ihm, und der arme Ungluͤckliche reichte ihm ſogleich ſeine Geige. Du kannſt nichts, rief er aus, als dieſer zu ſpie - len verſuchte, ich kann's beſſer, und nun fidelte er auf's neue erbaͤrmlich.

Friedrich. (zu ihm) Kannſt du ſingen?

Mein Freund. Nein!

Friedrich. (lachend) Kannſt auch gar nichts.

M. Freund. Wie heißt du denn?

Friedrich. Fritzel mit dem rothen Muͤtzel!

M. Freund. (auf ſeine Kinder zei - gend) Wer ſind denn dieſe hier?

Friedrich. (ſie anſtarrend) Das ſind des alten Staffiers ſeine Buben!

M. Freund. Was wollen ſie denn hier?

Friedrich. Sie ſuchen ihren Vater.

M. Freund. Wo iſt denn dieſer?

Friedrich. Ich weiß nicht! Kannſt du pfeifen?

M. Freund. (mit Thraͤnen) Nein, ich kann's nicht!

Friedrich. Warum weinſt du denn?

M. Freund. Die Aermſten dauern mich ſo ſehr, weil ſie ihren Vater ſuchen und nicht finden koͤnnen.

152

Friedrich. (traurig) Mich auch! Komm, wir wollen ihnen ſuchen helfen.

Er nahm jetzt meinen Freund bei der Hand, fuͤhrte ihn nach einem Roſenſtrauch, und verſteckte ſich ſchnell hinter dieſem, ehe noch jener uͤber die Urſache ſeines Verſteckens einig werden konnte, ſprang er ploͤtzlich hervor, und rief aus: da iſt er! da iſt er!

M. Freund. So biſt du ihr Vater?

Friedrich. Ich bin Fritzel mit dem rothen Muͤtzel.

M. Freund. Wer iſt denn der alte Staf - fier?

Friedrich. Ich weiß nicht.

M. Freund. Kennſt du ihn nicht?

Friedrich. Ich kenn 'ihn ſchon!

M. Freund. Wo iſt er denn?

Friedrich. Morgen kauf ich mir ein Schif, und da geh ich vor's Thor, ſetze es auf's Waſ - ſer, und fahre damit nach Rom, du darfſt aber nicht mit fahren.

Sein Sohn. Vater, wollt ihr nicht mit hinauf gehen?

Friedrich. (lachend) Der glaubt, daß ich ſein Vater ſei.

M. Freund. Biſt du's denn nicht?

153

Friedrich. (noch mehr lachend) Nein, ich bin's nicht.

M. Freund. (zum Sohn) Glaubt er dies wirklich?

Der Sohn. Gewiß, denn er kennt uns ſel - ten, nennt uns aber ſtets die Soͤhne des Staf - fiers. Fruͤh morgens, wenn er erwacht, oder wenn er, welches aber ſelten geſchieht, anhaltend nießt, ſo erkennt er uns gemeiniglich, erinnert ſich auch oft mit vieler Genauigkeit vergangner Din - ge; aber ehe eine halbe Stunde vergeht, iſt er wieder der Alte, und fuͤhlt ſich in ſeinem Wahn - ſinne gluͤcklich.

Indeß der alte Vater ſich einen kleinen Teich baute, und in ſeinen Haͤnden Waſſer herbei trug, ſprach mein Freund noch lange mit ſeinen Soͤh - nen. Sie glaubten, daß die allzu große Freude uͤber die ſchnelle und ſo gluͤckliche Errettung der Grundſtoff ſeines Wahnſinnes war. Vielleicht, meinten ſie, haͤtte eine Aderlaß, welche man im großen Jubel vergaß, das heftige Wallen ſeines Blutes gemindert, welches wahrſcheinlich zu ſtark in die kleinſten Blutgefaͤße drang, ſie uͤbermaͤßig ausdehnte und fuͤllte, daher auch gaͤnzliche Ver - geſſenheit und auſſerordentliche Schwaͤche der Ge - daͤchtnißkraft verurſachte. Der einzige Troſt, wel - cher den armen Kindern blieb, war die Ueberzeu - gung, daß ihr Vater in dieſem Zuſtande gluͤcklich und zufrieden lebe. Ein neues Spielwerk, wel -154 ches ſie ihm nie verſagten, machte ihn den ganzen Tag munter und froͤhlich, nur mußten ſie ſich ſorgfaͤltig huͤten, ihm nichts zu geben, was ihn an Kerker und Gefaͤngniß erinnern konnte, denn dies machte ihn, wenigſtens auf einige Stunden, aͤuſſerſt traurig. Ehe ſie dies noch wußten, brach - te ihm einſt die verſtorbne Schweſter eine Puppe nach Hauſe, welche eine mit Ketten behangene Sklavin vorſtellte, er fieng ſogleich zu weinen an, loͤſte ihre Ketten, und trug ſie den ganzen Tag ſtillſchweigend in ſeinen Armen herum; erſt Abends gelang es ihnen, die Puppe weg zu nehmen, am Morgen hatte er ſie ganz vergeſſen. Ungeachtet er auch nicht ein Kind beleidigt, ſo koͤnnen ſie ihn doch nie allein ausgehen laſſen, weil er den Weg nicht nach Hauſe finden kann, und ſich dann an eine Ecke ſetzt und bitterlich weint. Er geht gerne am Waſſer, noch lieber in ſchoͤnen Gaͤrten, am allerliebſten auf dem Kirchhofe ſpazieren, dort mahlt er ſtundenlang mit den Fingern die Buch - ſtaben auf den Leichenſteinen nach, betrachtet ſie dann mit groͤßtem Vergnuͤgen, und lobt am Ende laut und anhaltend ſeine ſchoͤne Arbeit. Sein aͤl - teſter Sohn ſtaffiert ſchoͤn und geſchmackvoll; der alte Vater, welcher in dieſer Kunſt Meiſter und Kenner war, ſieht ihm oft Stunden lang zu, aber er verraͤth nie die geringſte Kenntniß, nur ein ein - ziges mal vergoldete er eine Nuß, und bezeigte die groͤßte Freude uͤber ſeine Geſchicklichkeit. Er kennt ſelten einen ſeiner alten Freunde, die ihn155 oft beſuchen, und nur dann angenehm ſind, wenn ſie mit ihm ſpielen. Wenn er in der Geſellſchaft der Kinder iſt, ſo duldet er ſtandhaft jede Necke - rei, aber wenn Große ihn beleidigen, ſo ahndet er's immer nachdruͤcklich.

Noch lebt er, noch wallt er hienieden in die - ſem Jammerthale, aber ſeine Geſundheit welkt maͤchtig, bald wird ſein Geiſt ſich des Wahnſinns Feſſeln entledigen, und froh hinuͤber zum ewigen Lohne eilen, der ihm hier nicht werden konnte, weil irdiſche Freude nicht Erſatz fuͤr ſein ſchreckli - ches Leiden geweſen waͤre.

Karoline G von H .

Wie ich vor zehn Jahren uͤber Land reißte, eben in einem Walde einen hohen Berg hinan fuhr, er - blickte ich neben meinem Wagen eine alte Frau, welche unter einer großen Holzbuͤrde gebuͤckt ein - her ſchlich, und mit vielem Keuchen den Berg zu erklettern ſuchte. Das Alter iſt mir allemal ehr - wuͤrdig, erregt aber mein ganzes Mitleid, wenn es kummervoll einher ſchleicht, und am Ende ſeiner Tage noch die wenige Lebenskraft durch harte Ar - beit verſchwenden muß. Ich ſtieg aus, trat zu ihr, als ſie eben ruhte und wieder Athem zu ge -156 winnen ſuchte. Sie blickte mir forſchend in's Ge - ſichte, und ſah dann ſehnſuchtsvoll meinen Wagen an, der nahe bei ihr voruͤber fuhr. Dort hinten, ſprach ſie leiſe, koͤnnte mein Holz recht gut liegen, wenn's der Herr erlaubte, die ſtarken Pferde wuͤr - den es kaum merken. Ich rief meinen Kut - ſcher herbei, ließ das Holz aufladen, und gieng nun auf dem Fußſteige neben ihr her.

Die Alte. Bezahl's Gott tauſendmal! Sie fahren doch durch das Dorf, welches unten im Thale liegt?

Ich. Ja.

Die Alte. Und nehmen bis dahin mein Holz mit?

Ich. Von Herzen gerne.

Die Alte. So bezahle es Ihnen Gott noch einmal, denn (ſich voll ſchmerzhaftem Gefuͤhle anblickend) von mir werden Sie doch kein andres Trinkgeld als Dank erwarten!

Ich wollte eben das Geſpraͤch fortſetzen und ſie von meiner Uneigennuͤtzigkeit uͤberzeugen, als der ſonderbare Anzug der Alten meine ganze Neu - gierde weckte; er war zwar aͤußerſt armſelig, aber er verrieth doch deutliche Spuren, daß er einſt ſchoͤn geweſen war. Sie trug einen weißen Rock, der freilich jetzt ſehr gelb, durchgaͤngig ſehr geflickt, und bei ſolcher Arbeit aͤußerſt ſchmuzig ausſah, aber der Stoff beſtand aus dem feinſten Parchet,157 und am Ende deſſelben erblickte ich hie und da die Ruinen einer breiten Garnirung, welche von eben ſo feinem Mouſſelin ausgenaͤht war. Sie hatte ein kleines Leibchen von eben dieſem Zeuge an, das vorne mit einer alten ſeidnen Schleife gebun - den war, uͤber dieſem Leibchen trug ſie eine Art von Korſette, das einſt aus Taffet beſtand, nun aber mit wollnen und leinenen Flecken von aller - hand Farben beinahe uͤberzogen war. An ihren Fuͤſſen erblickte ich zerriſſne, ſeidne Struͤmpfe und alte Pantoffeln von ſeidnem Zeuge. Ihre ſchon ziemlich grauen Haare waren mit einem feinen, aber ſehr zerrißnen Strohhute bedeckt, an welchem noch hie und da ein Stuͤckchen Band oder Flor zu ſehen war. Der etwas fremde und beinahe ſchwaͤ - biſche Dialekt ihrer Sprache fiel mir gleich An - fangs auf, jetzt wirkte ihre Kleidung noch ſtaͤrker auf meine Neugierde, ſie ſchien mir ein deutlicher Beweiß zu ſeyn, daß die arme Alte einſt beſſere Tage genoſſen hatte. Gerne haͤtte ich dies alles naͤher erfahren, da aber Neugierde einen Ungluͤck - lichen immer beleidigt, und dieſer am meiſten Schonung verdient, ſo wuͤrde ich ſie ganz unter - druͤckt haben, wenn mir die treuherzige Alte nicht ſelbſt den Faden zum Geſpraͤche uͤberreicht haͤtte. Ach Gott, ſprach ſie eben ſeufzend, wo ſind die Zeiten?

Ich. Welche Zeiten?

Die Alte. Wo ich in ſchoͤnen Kutſchen mit158 vier Pferden fuhr, Geld und Gut in Menge be - ſaß, von Hunderten bedient, von Tauſenden an - gebetet wurde! (wiſcht ſich eine Thraͤne aus den Augen) damals war's anders und beſſer! Ich gab reichliches Allmoſen, half, wo ich helfen konnte, und jetzt: (tief ſeufzend) erbarmt ſich meiner niemand. O beſter Herr, Sie haben heute mehr gewonnen, als Sie glauben, Sie koͤnnen ſich nun kuͤhn ruͤhmen, daß Sie die elendeſte und ungluͤcklichſte Perſon auf der weiten Welt geſehen und geſprochen haben.

Ich. Das waͤre ſchrecklich.

Die Alte. (mit Nachdruck) Schrecklich, aber auch eben ſo wahr! Wenn ich Ihnen auch mein Leiden ſchildern wollte, Ihre theilnehmende Miene verdiente es, wenn ich Ihnen auch alles haarklein erzaͤhlen wollte, Sie koͤnnten ſich doch keinen Begriff davon machen. Es giebt gewiſſe innere Gefuͤhle, die keiner Beſchreibung faͤhig ſind. Nur derjenige, welcher im groͤßten Wohlleben er - zogen wurde, welcher ſehr reich, und beſſere Ta - ge gewohnt war, und nun im groͤßten Elende, in der jammervollſten Armuth ſchmachtet, kann mir ſeine Hand reichen, und ausrufen: mein Gefuͤhl iſt dem deinen aͤhnlich. Ich will ihn dann als meinen Bruder umarmen, und ger - ne mein Stuͤckchen ſchimmlichtes Brod mit ihm theilen.

159

Ich. O, ich kann mir dies Gefuͤhl vorſtellen, es muß nagend, es muß verzweiflungsvoll ſeyn.

Die Alte. Verzweiflungsvoll! Ja! ja! das iſt das wahre Wort! laͤngſt waͤre ich ein Raub derſelben geworden, laͤngſt moderte mein elender Koͤrper in einem Teiche, wenn nicht andere eben ſo ungluͤckliche Geſchoͤpfe meine Huͤlfe forderten!

Ich. So haben Sie Kinder?

Die Alte. (im bittern Tone) Kinder? Kinder? O Gott, wenn ich mehrere als eins haͤtte, dann waͤre mein Ungluͤck graͤnzenlos. Ich habe nur eins, und doch hat es mich mehrere Thraͤnen gekoſtet, als Sterne am Himmel ſind. Ich liebe es, ach, ich liebe es mit ſeltner muͤt - terlicher Zaͤrtlichkeit, aber ich muß weinen, wenn ich es anblicke. (meine Hand ergreifend) Herr, denken Sie ſich mein Ungluͤck, es iſt erſt zwanzig Jahr alt, und doch ſchon wahnſin - nig.

Ich. Gott im Himmel, wahnſinnig?

Die Alte. Die gute, ſanfte Karoline konnte mein und ihr Elend nicht ſo ſtandhaft ertragen, es raubte ihr das einzige, was man der Armuth ſonſt nicht rauben kann, ihren Verſtand. (wei - nend) Jetzt iſt ihr wohl, ſie fuͤhlt ihr Ungluͤck nicht mehr, ſie nagt zufrieden am trocknen Brode, das ihre alte Mutter vor den Thuͤren der harther - zigen Bauern erbetteln muß. Wie oft habe ich Gott gebeten, daß er mir's auch ſo wohl moͤchte160 werden laſſen, aber er hoͤrt meine Stimme nicht, er iſt taub gegen mein Flehen! Freilich, freilich habe ich ihn ſehr beleidigt, doch kann ja Reue ihn ſonſt verſoͤhnen! Oder iſt der Mutterfluch unaus - loͤſchbar? Das mag's ſeyn, mich druͤckt er we - nigſtens ſchrecklich.

Ich. Ich nehme den innigſten Antheil an Ihrem Ungluͤcke, ſtuͤnde es in meiner Macht, es zu tilgen, nur zu mildern, ich wuͤrde alles an - wenden.

Die Alte. Dank, edler Freund, Dank! Mitleid iſt auch ein Allmoſen, das des Elends Wunden ſalbt, und ſeine Schmerzen kuͤhlt. Glau - ben Sie's feſt, denn ich rede leider aus Erfah - rung. Ein Gulden, den mir ein gefuͤhlloſer Rei - cher zuwirft, verwundet allemal mein Herz, aber ein Pfennig, der mir mitleidsvoll in die Hand ge - druͤckt wird, thut ihm wohl. Ach, Gott! Ach, Gott! was habe ich alles dulden und erfahren muͤſſen!

Ich. Haben Sie denn gar keine Ausſicht auf beſſere Zeiten?

Die Alte. Keine, aber auf noch ſchlechtere deſto ſichere! Bald, recht bald werde ich nicht mehr kriechen koͤnnen, und dann will ich doch ſe - hen, was aus mir, aus meinem armen Kinde werden ſoll? Es ſteht zwar in der Bibel, daß Gott die Lilien auf dem Felde kleidet, und diejungen161jungen Raben fuͤttert, aber daß der Menſch ein gleiches erwarten, und fordern kann, davon ſteht nichts geſchrieben. Sorgt nicht fuͤr den andern Morgen, heißt's nur, denn jeder Tag hat ſeine Plage! (bitter lachend) Ja, ja, er hat ſie im vollen Maaß. Die Freuden des Him - mels muͤſſen ewig dauern, muͤſſen alle Beſchrei - bung uͤbertreffen, wenn ſie Erſatz fuͤr das irrdiſche Leiden ſeyn ſollen!

Ich. Haben Sie denn gar keine Freunde, von denen Sie Unterſtuͤtzung erwarten koͤnnten?

Die Alte. Freunde? Beſter Herr, dieſe Frage war wohl ſehr uͤberfluͤſſig! Kann Feuer und Waſſer in Harmonie mit einander beſtehen? Nun, Sie antworten nicht? Sie halten's fuͤr unnoͤthig, und haben recht. Ich habe Freunde, aber ſie ſind vornehm und reich, ſie fuͤhlen die Qualen der Armuth nicht, ſie ſchaͤmen ſich meiner, und fliehen, wenn ich mich nahe.

Ich. Das iſt ſchrecklich!

Die Alte. Nein, das iſt es nicht! In die - ſem Falle denken wir verſchieden. Der Stolz mei - ner Freunde kraͤnkt mich nicht, ich habe Kraft ge - nug, ihn zu verachten. Ich wuͤrde eher Hunger ſterben, mein einziges Kind lieber verſchmachten ſehen, ehe ich einen Pfennig aus ihrer Hand an - nehme. Tadeln Sie dieſen Vorſatz nicht, das Elend hat auch ſeine Launen, und dieſe iſt bei mirErſt. Baͤndch. L162feſtes Siſtem geworden. Ich beſitze jetzt Kuͤhn - heit genug, jeden Reiſenden, jeden Bauer um ein Allmoſen anzubetteln, es hat mich Muͤhe und un - zaͤhliche Thraͤnen gekoſtet, aber meinen Stolz ha - be ich doch nicht bekaͤmpfen koͤnnen, er weigert ſich ſchlechterdings, von denjenigen ein Allmoſen anzunehmen, deren Pflicht es waͤre, mir viele Tauſende als mein Eigenthum auszuzahlen.

Unter dieſem Geſpraͤche hatten wir den Gipfel des Bergs erreicht, eine ſchoͤne, angenehme und aͤußerſt fruchtbare Gegend lag vor uns. Mehr als zehn anſehnliche Doͤrfer, beſchattet von frucht - tragenden Baͤumen, konnte man von hier aus uͤberblicken. Die Alte hatte im eifrigen Geſpraͤche ihren Athem verſchwendet, ſie blieb ſtehen, um neuen zu ſammeln; endlich ſetzte ſie ſich nahe am Wege nieder, und ſtaunte mit verzognem Laͤcheln, das mehr einer ſchmerzhaften Empfindung glich, in die weite Gegend hinab. Ihr Geſpraͤch hatte mein Herz tief geruͤhrt, ich wollte mich nicht ſo fruͤh von ihr trennen, nicht ganz ohne Troſt ſchei - den, und nahm Platz neben ihr. Sie ſtuͤtzte ſich auf ihren Elbogen, ihr Laͤcheln, das mir gleich anfangs ſo weh that, verzog ſich nach und nach in ſtille Wehmuth, mehr als eine Thraͤne ſchlich langſam uͤber ihre hohlen Wangen herab, und traͤufelte in den Sand. Endlich hob ſie ihre Rech - te empor, und bezeichnete einigemal ſtillſchweigend damit den Umkreis der ganzen weiten Gegend. 163Einſt, rief ſie ſeufzend aus, alles, alles mein! Ich war die Gluͤcklichſte und Reichſte unter den Tauſenden, welche hier wohnen, jetzt bin ich die Aermſte und Ungluͤcklichſte unter ihnen. (ſchluch - zend) Ach, das thut weh! o, das nagt ſchreck - lich! (zu mir) Sie ſtaunen? O ſtaunen Sie nur, Sie haben volles Recht dazu. Staune ich doch ſelbſt oft, wie's geſchehen konnte, und doch geſchah's, ſo leicht, ſo natuͤrlich, ſo zuſammen - haͤngend, daß es mich wieder wundern wuͤrde, wenn es anders geſchehen waͤre. (haſtig) Ha - ben Sie Eile?

Ich. Ich muß heute noch in K eintreffen, und dahin

Die Alte. (mir einfallend) Gelangen Sie fruͤh genug, wenn Sie mir auch eine halbe Stunde ſchenken. Ich will Ihnen die Geſchichte meiner Leiden offen und treu erzaͤhlen.

Ich. Ich werde Sie mit der innigſten Theil - nahme anhoͤren.

Die Alte. Davon bin ich uͤberzeugt, ſonſt wuͤrde ich Ihnen dieſen Antrag nicht gemacht ha - ben. Es thut einem ſo wohl, wenn man Theil - nahme im Auge lieſt, und aus des Freundes Munde hoͤrt: dir geſchah Unrecht, dir haͤtte ein beßres Schickſal werden ſollen! Ich bin eine ge - bohrne Baronin von B . Dort unten rechts, in der blauen Ferne ragen uͤber die kleine AnhoͤheL 2164zwei Thuͤrme hervor, dieſe zieren das Schloß, in welchem ich gebohren und erzogen wurde. Mein Vater war der Beſitzer deſſelben, und Herr dieſer großen, anſehnlichen Herrſchaft, ich war die ein - zige Frucht ſeiner Ehe, in welcher er ſehr mißver - gnuͤgt lebte. Er ſtarb in der Mitte des ſiebenjaͤh - rigen Kriegs, und machte mich zur Erbin ſeines großen Vermoͤgens, welches in mehr als einer halben Million beſtand. Ich war damals acht - zehn Jahr alt, und, wie mich wenigſtens alle verſicherten, ſehr ſchoͤn. Daß um die Hand einer ſo reichen Erbin viele angeſehne und vornehme Juͤnglinge buhlten, koͤnnen Sie leicht denken, aber obgleich das Schloß ſelten von Freiern leer war, ſo geſchah's doch, daß ich durch zwei lange Jahre nicht waͤhlte, und immer noch ledig blieb. Meine Mutter, welche mich von fruͤher Jugend an als eine wahre Tirannin behandelte, mir nie einen muͤtterlichen Blick gewaͤhrte, und nun meine Vormuͤnderin geworden war, hielt's fuͤr Pflicht, ſich ſtets in die Angelegenheiten meines Herzens zu miſchen. So oft ein Freier ſich mir nahte, ſo oft war ſie auch ſogleich mit ihrem entſcheidenden Rathe zugegen. Dieſen, ſprach ſie dann immer, kannſt du nehmen, an dieſen oder jenen darfſt du aber nicht denken! da nun meine Empfindung nie mit der muͤtterlichen harmonirte, da ich immer nur denjenigen waͤhlen wollte, an welchen ich doch, ihrem Ausſpruche gemaͤß, nie denken ſollte, ſo unterblieb auch ganz natuͤrlich jede Heirath. 165Schon war ich feſt entſchloſſen, bis in mein vier und zwanzigſtes Jahr ledig zu bleiben, und dann nach eignem Sinne zu waͤhlen, wenn nicht ein Zufall meinen Entſchluß vernichtet, und mich auf ewig ungluͤcklich gemacht haͤtte. Die Feinde wa - ren damals aus dem groͤßten Theile Boͤhmens vertrieben worden, und unſre Truppen bezogen in unſrer Gegend die ruhigen Winterquartiere. Unter den vielen Offizieren, welche rings umher lagen, und bald in unſerm Schloſſe Unterhaltung ſuchten, befand ſich auch ein Lieutenant des ehe - maligen N Huſarenregiments. Er war von Geburt ein Graf aus Ungarn, aber ſehr arm, und lebte blos von ſeiner Gage. Wie ich den ſchoͤnen, bluͤhenden Juͤngling zum erſtenmale ſah, da ward ſchon der Gedanke in mir rege: ſolch einen Mann, und du waͤrſt gluͤcklich! Wie ich bald hernach deutlich merkte, daß er gleich guͤn - ſtig von mir urtheilte, mir uͤberall mit ſchmach - tendem Blicke nachſchlich, unter hundert andern nur mich allein ſah, da verſchafte ihm mein Herz bald Gelegenheit, mir ſeine heftige Liebe geſtehen zu koͤnnen; ich hoͤrte das Bekenntniß der - ſelben mit innigem Vergnuͤgen, und fuͤhlte mich nicht ſtark genug, ſeiner dringenden Bitte um[Ge - genliebe] lange zu widerſtehen. Ich gewaͤhrte ſie ihm bald im vollen Maaße, ich liebte ihn mit einer Innigkeit, die keiner Beſchreibung faͤhig iſt; ich ſah, ich hoͤrte nur ihn, alle andre Maͤnner waren mir mehr als gleichguͤltig, ich haßte jeden,166 der mich hinderte, meinen Karl einige Augenblicke laͤnger zu ſehen, und zu ſprechen. Ach, die Tage unſrer damaligen Liebe waren ſo ſelig, floſſen ſo ſchnell voruͤber! Wenn ich in ſeinen Armen die bunten Reihen durchwalzen konnte, wenn meine Wange dann an der ſeinigen ruhte, und er im ſchnellen Fluge mir einen Kuß raubte, da duͤnkte ich mich gluͤcklicher als eine Koͤnigin, die uͤber vie - le Laͤnder regiert, und Millionen Unterthanen be - herrſcht. Ich will Ihnen den herrlichen Genuß dieſer Liebe nicht laͤnger ſchildern, im Munde ei - nes alten Weibes kann ſolch eine Schilderung nicht wohl klingen, man haͤlt's fuͤr unmoͤglich, daß ſolch ein Gerippe einſt Liebe erregen konnte, und faͤhig war, wieder zu lieben. Der immer aufmerkſame Blick meiner Mutter bemerkte unſre Liebe bald, ſie befragte mich daruͤber im ſtreng - ſten Tone, und verſicherte mich hoch und theuer, daß mir ihr Fluch werden ſollte, wenn ich mich unterſtuͤnde, dem elenden Lieutenante Liebe zu verſprechen; ſie habe, fuͤgte ſie hinzu, eine weit beſſere und anſehnlichere Parthie im Vorſchlage, und wuͤrde mir ſolche ſchon entdecken, wenn ſie alles in Richtigkeit gebracht haͤtte. Ob ſolch eine Drohung meine zaͤrtliche Liebe ſchwaͤchen, oder hindern konnte? uͤberlaſſe ich Ihrem eignen Urthei - le, ſie machte mich nur etwas vorſichtiger, wenn heftige Liebe anders vorſichtig handeln kann. Ehe noch die Winterquartiere ſich endigten, war unter uns ſchon feſt verabredet und beſchloſſen,167 daß er meiner, bis ich großjaͤhrig waͤre, harren, und dann mein Herz und Vermoͤgen zum Lohne erhalten ſolle. Ob er mir dagegen auch etwas an - ders als ſein Herz verſichern koͤnne? wurde von mir nie gefragt, denn aͤchte, reine Liebe achtet keines Reichthums, und duͤnkt ſich auch in einer Strohhuͤtte gluͤcklich.

Als er endlich ſcheiden mußte, da vermochte ich mich kaum zu faſſen; meine hartherzige Mut - ter machte mir daruͤber die bitterſten Vorwuͤrfe, und bewillkommte mich oft mit Ohrfeigen, wenn ich mit rothgeweinten Augen vor ihr erſchien; aber ich duldete um ſeinetwillen, und freute mich, daß ich dadurch ſeiner Liebe ein Opfer bringen konnte. Noch war er nicht acht Tage von mir entfernt, als ſchon der junge und ſehr reiche Graf S*** auf unſerm Schloſſe anlangte, und mich ſogleich im feſten Tone verſicherte, daß er aus Liebe zu mir in ſo ſchlechtem Wege die Hauptſtadt verlaſ - ſen. Ich ahndete, daß er nicht ungerufen erſchie - nen ſei, und gab's ihm im erſten Geſpraͤche zu verſtehen, daß er wieder ohne Hoffnung ſcheiden muͤſſe. Er ſchien's nicht zu achten, er beſchaͤftig - te ſich einige Tage hindurch blos mit kleinen Spa - zierfahrten, die er in Geſellſchaft meiner Mutter im Gebiete meiner Herrſchaft unternahm. Einige Tage nachher ließ mir meine Mutter ſagen, daß heute viele Gaͤſte ankommen wuͤrden, und ich da - her meinen Anzug darnach einrichten ſollte. Ehe168 ich ihn noch vollendet hatte, kam meine Mutter, wider ihre Gewohnheit, auf mein Zimmer, ſtrei - chelte in Gegenwart der Dienſtmaͤdchen meine Wangen, und nannte mich mehr als einmal ihr gutes, liebes Kind. Wie darauf die Maͤdchen ſich entfernten, fragte ſie mich laͤchelnd: ob ich nichts ahnde? Da ich das Gegentheil verſicherte, ſo er - zaͤhlte ſie mir ganz offen, daß heute der Tag mei - ner Verlobung mit dem Grafen S*** gefeiert wuͤrde, daß ſie als Mutter mit ſeinen Eltern ſchon alles verabredet und ausgemacht habe, auch von mir uͤberzeugt zu ſeyn glaube, daß ich ihre muͤtterliche Fuͤrſorge mit Dank erkennen, und das große Gluͤck, mit einer ſo anſehnlichen Familie verwandt zu werden, ſchaͤtzen und ehren wuͤrde. Sie koͤnnen ſich mein Erſtaunen leicht denken, es war groß und anhaltend. Wie ich zu ſprechen ver - mochte, geſtand ich meiner Mutter gradezu, daß ich feſt entſchloſſen ſei, vor meiner Großjaͤhrigkeit nicht zu heurathen, und dann nach eignem Gefal - len zu waͤhlen. Sie raßte, ſie mißhandelte mich, aber ich blieb ſtandhaft. Sie ſchwur, daß ſie mich eher mit eignen Haͤnden ermorden, als in den Armen des elenden Lieutenants ſehen wollte, ich ſchwieg und weigerte mich endlich eben ſo feſt, jemals die Gattin des Grafen S*** zu werden. Meine Mutter wollte mir Bedenkzeit geben, aber ich verwarf ſie, weil feſter Entſchluß ſolche nicht brauche. Alle Verſuche, welche noch am nemli - chen Tage ihre und meine Freunde auf ihren Rath169 bei mir wagten, waren nicht vermoͤgend, mich in den Saal zu locken. Die beſtellten Zeugen muß - ten wieder abreiſen, und nahmen zu meinem groͤ - ſten Vergnuͤgen den verhaßten Grafen mit ſich fort.

Meine Mutter hatte mir ihren unverſoͤhnlichen Haß und Zorn ankuͤndigen laſſen, ich durfte es nicht wagen, vor ihren Augen zu erſcheinen, muß - te auf meinem Zimmer ſpeiſen, und ward wie ei - ne Gefangne behandelt. Dieſe Begegnung hinder - te mich aber doch nicht, Briefe an meinen Karl zu ſchreiben, und die ſeinigen zu erhalten. Sie waren meine einzige Freude, die herrlichſten Troͤ - ſter im Ungluͤck, ich las ſie des Tags wohl hun - dertmal, und ward nicht muͤde, ſie wieder zu le - ſen, weil ſie die theuerſten Verſicherungen ſeiner ewigen Liebe enthielten. Als auf dieſe Art eine Woche in ſtiller Ruhe verfloſſen war, erfuhr ich durch mein Kammermaͤdchen, daß meine Mutter jetzt oft von Geiſtlichen beſucht wuͤrde, und mor - gen nach dem Nonnenkloſter D*** verreiſen wolle. Die letzte Nachricht erregte Argwohn in meinem Herzen, ich ſandte mein Maͤdchen auf Kundſchaft zu einem alten Geſellſchaftsfraͤulein, welches das Vertrauen meiner Mutter im hoͤchſten Grade beſaß, und folglich auch die Abſicht ihrer Reiſe kennen mußte. Das ſchlaue Maͤdchen be - nahm ſich herrlich, und lockte der Alten den gan - zen Plan ab. Ihrer Nachricht zufolge, reißte170 meine Mutter wirklich in's Kloſter, um dort einen Platz fuͤr mich auszumachen, ich ſollte dann mit Gewalt dahin gebracht, genau bewacht, und ſo lange eingeſperrt bleiben, bis ich mich dem Willen der Mutter fuͤgen wuͤrde. Dieſe hoffte uͤberdies durch allerhand Scheingruͤnde und durch die Huͤlfe ihrer Freunde die Landesſtelle zu bewegen, daß ſie mich erſt im dreiſigſten Jahre meines Alters großjaͤhrig erklaͤren ſolle. Ich ſtaunte uͤber die Kunſtgriffe einer Mutter, welche zur Befriedigung ihres Stolzes ihr einziges Kind opfern und ungluͤck - lich machen wollte, aber mein Entſchluß war auch in der folgenden Nacht ſchon gefaßt. Wie am andern Tage meine Mutter wirklich nach dem Kloſter verreißte, packte ich alle meine Koſtbar - keiten, und etwas weniges an Waͤſche heimlich zuſammen, und wanderte am Abende unbemerkt zum Schloſſe hinaus. Mein Karl hatte mir zum letztenmale geſchrieben, daß er in einem zehn Mei - len weit entfernten Staͤdtchen ſtehe, und auf Pferde warte, welche er zum Regimente fuͤhren muͤſſe. Ich nahm meinen Weg dahin, wanderte die ganze Nacht, und langte am zweiten Tage gluͤcklich im Staͤdtchen an, ich fand ihn eben an ſeinem Schreibtiſche, als er einen Brief von mir beantworten wollte. Er flog mir entgegen, ich lag ſprachlos in ſeinen Armen, und hatte noch nicht einmal die Freude des Wiederſehens gefuͤhlt, als ein Wagen durch's Thor herein rollte, ich blickte hinab, und ſah meine Mutter, von meinem Onkel171 begleitet, raſch voruͤber fahren. Ich blieb ſtarr vor Entſetzen ſtehen, der Wagen hielt am nahen Rath - hauſe ſtille, und mein Onkel gieng eilend hinein. Ich war unfaͤhig zu handeln und zu denken, mein Karl faßte ſich ſchneller, er fragte mich: ob ich von jemanden im Hauſe ſei geſehen worden? Da ich's verneinte, und ihm verſicherte, daß ich ſei - nen Bedienten auf der Gaſſe getroffen, und durch ihn ſei hergefuͤhrt worden, ſo fuͤhrte er mich ſo - gleich in den Stall hinab, wo ſeine Reitpferde ſtanden. Im Winkel deſſelben lag viel Stroh, ich mußte mich darauf lagern, und er bedeckte mich ſorgfaͤltig damit. Spaͤt am Abende kam er wieder zu mir, und erzaͤhlte, daß mein Onkel ihn bereits beſucht, allerhand Fragen an ihn geſtellt habe, aber, ohne die eigentliche Abſicht zu entdecken, wieder fortgegangen ſei. Kurz darauf ſei das Haus ringsumher mit Waͤchtern umſtellt worden, welche zwar nur in der Gaſſe auf und abgiengen, aber doch ſtets die Thuͤre des Hauſes beobachte - ten.

Da er auf dieſe Art keine naͤhere Unterſuchung zu fuͤrchten hatte, und uͤberdies feſt entſchloſſen war, ſeine Thuͤre niemanden zu oͤfnen, ſo fuͤhrte er mich wieder um Mitternacht in ſein Zimmer. Dort konnten wir ungehindert ſprechen, und rathſchlagen; er verſprach zwar, mich gegen je - den tapfer zu vertheidigen, nicht aus ſeinen Ar - men zu laſſen, und oͤffentlicher Gewalt durch ſei -172 ne Huſaren Trotz zu bieten; da ich aber voraus ſah, daß dies ihn und mich in die groͤßte Gefahr ſtuͤrzen koͤnnte, ſo bat ich ihn dringend, auf an - dre Rettungsmittel zu denken. Karl fand ſie bald, er hatte eine alte, aber arme Tante zu Wien, ſie ſtand bei der Monarchin in Gnaden, wurde oft von ihr angehoͤrt, und hatte ihm ſelbſt durch ihr Vorwort die Lieutenantsſtelle beim Re - gimente verſchaft, er beſchloß, dieſer ſogleich alles zu ſchreiben, und mich ihrem Schutze zu empfeh - len. Der Brief war bald fertig, aber nicht ſo bald entſchieden; wie ich unerkannt aus der Stadt, und unverfolgt bis Wien gelangen koͤnne? Karl hatte zwar einen Bagagewagen nebſt Pferden und Kutſcher bei ſich, er verſicherte mich, daß er die - ſen zur Noth auf einige Wochen entbehren koͤnne, aber der Wagen ſtand in der Vorſtadt, und ich konnte bis dahin nicht ohne Entdeckung gelangen. Endlich fand ſeine Erfindungskraft auch hier ein Mittel, ich mußte mich ſogleich entſchließen, eine Uniform von ihm anzuziehen; wie ich mit meinem Anzuge fertig war, fieng eben der Tag an zu grauen. Er befahl ſeinem Bedienten, uns in ei - ner kurzen Zeit mit meinen Kleidern nach zu fol - gen, fuͤhrte mich nun kuͤhn die Treppe hinab, und zum Hauſe hinaus. Die lauſchenden Waͤch - ter wichen ehrerbietig zuruͤck, als ſie zwei Huſa - ren Arm in Arm gehen ſahen, und wir kamen gluͤcklich in der Vorſtadt an. Sein Kutſcher, ein treuer Kerl, verſprach, mich eben ſo gluͤcklich nach173 Wien zu fuͤhren; indeß er die Anſtalten dazu traf, kleidete ich mich um, nahm Abſchied von meinem Karl, und warf mich in den Wagen hinein, der einſam in einem Schuppen ſtand. Das weiße Regentuch, mit welchem er gewoͤhnlich bedeckt wurde, lag darinne; um von niemanden erkannt zu werden, kroch ich darunter, und harrte des Aufbruchs. Karl war, um allen Verdacht zu ver - meiden, ſchon wieder nach der Stadt zuruͤck ge - kehrt. Wie der Kutſcher die Pferde vorfuͤhrte, erblickte ich durch die Flechten, mit welchen der Wagen eingefaßt war, meinen Onkel, der ſich ſchleichend dem Kutſcher naͤherte. Wohin ſo fruͤh? Landsmann? ſprach er zu ihm. Nach Fourage, antwortete der Kutſcher und ſpannte an.

Mein Onkel. War dies Sein Herr, wel - cher eben von hier gieng?

Der Kutſcher. Ja!

Der Onkel. Und der andere Herr, wel - cher ihn aus der Stadt begleitete Wer war denn dieſer?

Kutſcher. Verdammt neugierig! Unſer Herr Kadet war's.

Der Onkel. Wo iſt er denn geblieben?

Kutſcher. Was weiß ich! Im Stalle oder in der Stube. Er gab nun den Pferden einen Hieb, und mein Onkel eilte nach dem Stalle.

174

Lange konnte ich mich von meiner Angſt und Schrecken nicht erholen, wir waren ſchon eine Stunde raſch auf der Straße vorwaͤrts gefahren, als ich mich immer noch nicht aufzublicken getrau - te. Mein ehrlicher Kutſcher ſprach mir nun Muth zu, und verſicherte mich, daß jede Gefahr vor - uͤber ſei. Seine Verſicherung, der ich anfangs nur ſchwach traute, beſtaͤtigte ſich in der Folge, wir erreichten am ſechſten Tage gluͤcklich die Re - ſidenzſtadt. Ich kehrte in einem Wirthshauſe ein, und gieng am andern Tage mit ſchwerem Herzen zu Karls Tante. Von ihrer Aufnahme hieng meine ganze Hofnung, und all mein Gluͤck ab, ſie empfieng mich mit kaltem, forſchendem Blicke, als ich ihr den Brief uͤberreichte; umarmte mich aber mit um ſo groͤßerer Waͤrme, als ſie ihn ge - leſen hatte. Sie forderte ſogleich eine genaue Erzaͤhlung von allem, was ſich mit mir zugetra - gen hatte, fragte oft: ob ich ihren Neffen recht herzlich liebe? und fragte noch oͤfterer: wie viel denn eigentlich meine vaͤterliche Erbſchaft betra - ge? Ich ſah's deutlich, daß dieſe vor - zuͤglich ihre Aufmerkſamkeit erregte, und mich ih - res Schutzes faͤhig machte; aber ich verargte es der guten Alten nicht, weil ihr das Gluͤck des geliebten Neffen ſehr eifrig am Herzen lag, und ſie ihn oft ihren lieben Sohn nannte.

Als ſie alles angehoͤrt, und genau gepruͤft hatte, verſprach ſie mir alle moͤgliche Hofnung,175 wenn ich nur ſo viel Geld mitgebracht haͤtte, daß ich mich ſtandesmaͤßig kleiden, und ein paar Monate ernaͤhren koͤnnte, denn, ſetzte ſie treuher - zig hinzu, von mir koͤnnen Sie wohl Fuͤrſprache und Verwendung, aber keine Unterſtuͤtzung im Gelde hoffen, weil ich kein Vermoͤgen beſitze, und von einer ſchmalen Penſion lebe, die mir unſre Monarchin aus beſondrer Gnade giebt. Ich zeigte ihr alle meine Koſtbarkeiten, ſie mochten wohl acht bis zehn tauſend Gulden werth ſeyn; die Tante ließ ſogleich Juden herbei rufen, und wir verkauften ſie noch am nemlichen Morgen fuͤr fuͤnf tauſend Gulden. Dieſe Summe ſchien der Tante hinlaͤnglich, mich wenigſtens ein Jahr ſtan - desmaͤßig, und zur Noth auch bis zu meiner Großjaͤhrigkeit zu ernaͤhren. Sie gieng bald her - nach aus, kaufte ein, was ich am nothwendigſten brauchte, und brachte mir die Nachricht mit heim, daß ſie ſchon in einem Kloſter Koſt und Wohnung fuͤr mich beſtellt habe. Da ich uͤber den Namen eines Kloſters ſchon erſchrack, und ihr meine Be - ſorgniß mittheilte, ſo verſicherte ſie mich, daß die Aebtiſſin ihre Verwandte ſei, mich als ihr eignes Kind pflegen wuͤrde, auch kein andrer Ort vorhanden waͤre, in welchem ein unverheurathetes Fraͤulein, ohne ſeinem Ruf zu ſchaden, wohnen koͤnne. Ich ſah die Wahrheit ihrer Rede ein, und billigte ihre Vorſorge; ſie verſprach mir dage - gen, mich nicht lange im Kloſter ſchmachten zu laſſen, meine ganze Geſchichte bei der erſten moͤg -176 lichen Gelegenheit der Monarchin vorzutragen, und ſie zu bitten, daß ſie die Heurath zum Beſten einer armen, aber alten und ſtets der Monarchin ergebnen Familie billigen moͤge. Ehe ich noch meine Wohnung im Kloſter bezog, erhielt ich Briefe von meinem Karl, der mir berichtete, daß meine Mutter noch durch zwei Tage im Staͤdt - chen geblieben ſei, und ihn kurz nach meiner Ab - reiſe ſelbſt beſucht habe. Sie raßte, als er ſie verſicherte, daß er mich nicht geſehen habe, und ſchwur ihm und mir die ſchrecklichſte Rache, wenn er meinen Aufenthalt nicht entdecken, und ich mich ihren Abſichten nicht fuͤgen wuͤrde. Da er aber ihre Drohung nicht achtete, und endlich Be - weiß oder Schonung forderte, ſo bot ſie ihm zwanzig tauſend Gulden, wenn er ſich ſchriftlich verbinden wolle, mich nie zu heurathen. Karl verwarf ganz natuͤrlich dieſen entehrenden An - trag, und ſie ſchied mit neuen Drohungen, die auch ſchon in Erfuͤllung zu gehen ſchienen, weil ſein Obriſte ihn zum Regimente berufen, und mit ſtrenger Strafe bedroht habe, wenn er nur der entfernten Wiſſenſchaft von meiner Entfuͤhrung oder Flucht uͤberzeugt werden koͤnne. Er verſi - cherte mich am Ende, daß er nicht zage, alles Ungemach dulden, und nichts fuͤrchten wuͤrde, wenn nur ſeine Leute nicht etwann mit Strenge zum Geſtaͤndniß gezwungen wuͤrden, weil der Obriſte ausdruͤcklich verlangt habe, daß er dieſe mit ſich bringen ſolle.

Ich177

Ich erzaͤhlte der alten Tante ſogleich alles, und bat ſie dringend, auf Rettungsmittel zu den - ken, ſie verſprachs, und forderte nur, daß ich noch am naͤmlichen Tage meine Wohnung im Klo - ſter nehmen ſolle, weil die Monarchin ſehr ſtreng uͤber den untadelhaften Ruf eines Maͤdchens wa - che, und nur dieſe freiwillig gewaͤhlte Wohnung mich vor ihrem immer regen Argwohne ſchuͤtzen koͤnne. Ich gehorchte ihrem Rathe, und zog ſo - gleich in's Kloſter. Am dritten Tage meldete mir die Pfoͤrtnerin, daß eine Kammerfrau der Kaiſe - rin mich zu ſprechen verlange, ich ſtaunte hoch, als dieſe mir erzaͤhlte, daß ſie von der Monar - chin den Auftrag habe, mich in die Burg zu fuͤh - ren. Sorgen Sie nicht, fuͤgte ſie hinzu, als ſie meine Todesblaͤſſe ſah. Ihre Tante iſt bei der Monarchin, und hat mir aufgetragen, Ihnen zu ſagen, daß alles gut gehen werde.

Ungeachtet dieſer troſtvollen Verſicherung zit - terte und bebte ich doch, und war kaum faͤhig, mich anzukleiden. Ich war einer Ohnmacht na - he, als ich zur Monarchin eingefuͤhrt wurde, ſie ſah meine Angſt und ſprach gnaͤdig und liebreich mit mir. Sie fragte mich vieles, ich konnte nur mit einem zitternden Ja und Nein antworten, als ſie aber forderte, daß ich ihr aufrichtig be - kennen moͤchte: ob ich meinen Karl von ganzem Herzen liebe, und ihn zu heirathen entſchloſſenErſt. Baͤndch. M178ſei? Da ſtuͤrzte ich weinend zu ihren Fuͤßen hin, und flehte um ihren Schutz, um ihr Mitleid. Sie hob mich mit ſichtbarer Ruͤhrung auf, und kuͤßte meine Stirne. Du ſollſt ihn haben, ſprach ſie im Tone eines Engels, ich will ſolche wahre Liebe nicht hindern, ich werde noch heute deiner Mutter ſchreiben, und ich hoffe, daß ſie ihre Einwilligung zu einer Heirath, die ich billige, nicht laͤnger verſagen wird. Damit du aber, fuhr ſie im huldreichſten Tone fort, deinen Ge - liebten nach Gefallen unterſtuͤtzen, und ſeiner mir ſtets ergebnen Familie durch dein anſehnliches Vermoͤgen neuen Glanz verſchaffen kannſt, ſo will ich ſogleich Befehl ertheilen, daß man dich großjaͤhrig ſpreche. Nun, ſagte ſie endlich, biſt du mit meinem Schutze zufrieden? Ich dankte mit innigem Gefuͤhle und mit einer Waͤrme, die mich mit Muth belebte, meiner Empfindung Wor - te zu geben. Sie hoͤrte mein Stammlen mit Wohlgefallen, und kuͤßte mich wieder, als ich ſie Mutter nannte. Wenn willſt du ihn denn hei - rathen? ſagte ſie freundlich, weil du mich zu dei - ner Mutter erwaͤhlt haſt, ſo muß ich dir ſchon beiſtehen. Dein Geliebter ſoll ſogleich auf einige Monate Urlaub erhalten, und dann wirſt du wohl nicht ſaͤumen, ihn ganz gluͤcklich zu machen? Ich wollte eben die Frage beantworten, als ein Kammerherr eintrat, und meine Mutter bei der Monarchin anmeldete. Eben recht, ſprach ſie ganz gelaſſen, ſo erſpare ich mir einen Brief179 und ihr die Antwort. Sie blickte nun nach mir hin, ich war aufgeſprungen, und hielt mich feſt an Karls Tante an. Fuͤhre ſie in's Kabinet, ſprach die Monarchin zu ihr, ich will erſt mit der Mutter ſprechen, und euch dann ſchon rufen laſ - ſen. Was ſie alles mit dieſer ſprach, habe ich ei - gentlich nie erfahren. Anfangs hoͤrte ich meine Mutter ſehr raſch reden, bald ſprach aber die Monarchin noch heftiger, hernach ſprachen beide leiſer, und ich hoͤrte meine Mutter laut ſchluchzen. Endlich rufte die Monarchin, und ich mußte er - ſcheinen. Mein Kind, ſprach die Erhabne, du haſt deine Mutter durch die uͤbereilte Flucht ge - kraͤnkt und beleidigt, bitte ſie um Verzeihung. Ich wankte hin zu ihr, umfaßte ihre Knie, und wein - te laut. Ich verzeihe dir alles, ſprach meine Mutter, und knirſchte mit den Zaͤhnen. Sie hat, fuhr die Monarchin fort, auf meine Fuͤrbitte die Einwilligung zu deiner Heurath ertheilt, bitte ſie um ihren Segen! Ich gehorchte, und meine Mutter ſegnete mich mit einem Tone, der nicht Segen, ſondern Fluch verkuͤndigte. Und nun ge - he Sie in Gottes Namen, ſprach die Monarchin im kalten Tone zu meiner Mutter, fuͤr's uͤbrige will ich ſchon ſorgen! Sie gieng ſchnell fort, und zog die Thuͤre mit Nachdruck hinter ſich zu.

Die Monarchin. (zu mir) Du haſt eine boͤſe Mutter! (zu Karls Tante) Mit MuͤheM 2180konnte ich ſie nur abhalten, nicht in meiner Ge - genwart ihr einziges Kind zu verfluchen. (ſeuf - zend) Es giebt doch ſehr harte Herzen! (zu mir, ſehr freundlich) Weißt du denn etwas neues? Dein Geliebter ſitzt beim Profoſen.

Ich. (erſchrocken) Beim Profoſen?

Die Monarchin. Und das mit vollem Rech - te. Er hat deine Flucht befoͤrdert, dich durch ſei - ne Pferde nach Wien fuͤhren laſſen! davon haſt du mir kein Wort erzaͤhlt.

Ich. Er that's aus Liebe.

Die Monarchin. (lachend) Soll denn die Liebe alles entſchuldigen? Wie lange ſoll ich ihn wohl dort ſitzen laſſen?

Ich. Ach, nicht lange! Ach, nur nicht lange!

Monarchin. Dann thaͤt's wohl Noth, daß ich eine Staffette nach ihm ſchickte.

Ich. Ja, ja, eine Staffette!

Monarchin. (lachend) Du biſt wenigſtens aufrichtig! Ich muß alſo ſchon deinen Willen er - fuͤllen. Jetzt gehe wieder nach Hauſe, und wenn der Graf ankommt, ſo will ich dir's ſchon wiſſen laſſen. Aber Strafe hat er doch verdient, du mußt mir alſo verſprechen doch nein! warum ſollte ich den Aermſten ſeine Angſt verlaͤngern! In einer Stunde wird die Staffette abgehen, man ſoll bei dir vorher erſt anfragen, und wenn du ihm ei -181 nige Zeilen ſchreiben willſt, ſo werde ich's richtig beſtellen laſſen.

Sie entließ mich nun, und ich eilte nach Hau - ſe, um in meinem Zimmer Gott danken zu koͤn - nen. Meine Freude war groß und unausſprech - lich, ich konnte ſie nicht faſſen, ich betete, weinte und ſprach mit mir ſelbſt, ich wollte ſchreiben, und vermocht's nicht. Wie der Kammerlakei den Brief von mir abfordern ließ, hatte ich noch keine Zeile geendigt; ich ſchrieb nun nur in hoͤchſter Eile, was ich haͤtte ausfuͤhrlich ſchreiben koͤnnen. Am ſech - ſten Tage, als ich eben aufgeſtanden war, und nachrechnete: ob mein Karl nicht etwann heute ſchon eintreffen koͤnne? ließ mich ſeine Tante in's Sprachzimmer rufen. Ich flog hinab, und mein Karl mir in die Arme. Er war Tag und Nacht als Kourier nach Wien geritten, um mich nur ei - nige Tage eher ſehen und ſprechen zu koͤnnen. Sein Haar hieng unordentlich umher, er ſah blaß und bleich aus, aber nie ſah ihn mein Auge ſchoͤ - ner, nie hatte ſeine Geſtalt ſo tiefen Eindruck auf mein Herz gemacht. Alles, ſo gar ſein mit Koth beſpritzter Rock war mir ein Beweis ſeiner hefti - gen und zaͤrtlichen Liebe.

Am folgenden Tage ließen wir uns bei der Monarchin melden, ſie empfieng uns mit neuer Huld und Gnade, ſchenkte meinem Karl den Kam - merherrnſchluͤſſel, und einen Ring, welchen er mir in ihrer Gegenwart an den Finger ſtecken mußte182 und den ſie mir mit in's Grab zu nehmen gebot. Seit dieſer ſeligen, mir unvergeßlichen Stunde hat mich vieles und graͤßliches Ungluͤck betroffen, ich habe Noth und Elend im hoͤchſten Grade geduldet, ich habe wochenlang gehungert, jahrelang gebet - telt, und mich mit der elendeſten Koſt begnuͤgt, aber nichts war vermoͤgend, mich zu bewegen, den Willen der unvergeßlichen Monarchin zu verle - tzen. Der Ring kann leicht einige tauſend Thaler werth ſeyn, und dieſe koͤnnten mich jetzt reichlich bis an meinen Tod ernaͤhren; aber ich habe den Ring noch, und will ihn mit bis in mein Grab nehmen! Ehe die Alte noch dieſe Worte aus - geſprochen hatte, zog ſie eine ſehr zerrißne Brief - taſche aus ihrem Sacke hervor, und legte ſie auf ihren Schooß; wie ſie ſolche oͤfnete, fiel ein Paͤck - gen Briefe heraus. Das ſind meines Karls Brie - fe, ſagte ſie ſeufzend, allzu haͤufige Thraͤnen ha - ben jeden Buchſtaben verletzt, ich kann ſie jetzt ſelbſt nicht mehr leſen, aber ſie ſind der einzige Ueberreſt ſeiner Liebe, und mir deswegen eben ſo ſchaͤtzbar wie dieſer Ring! Sie oͤfnete nun ein kleines Futteral, und reichte mir einen Ring, uͤber deſſen Glanz ich gleich beim erſten Anblicke erſtaunte. Es war ein Solitair vom ſchoͤnſten, reinſten Feuer, beinahe eine kleine Haſelnuß groß, au jour gefaßt, und ohne den geringſten Fehler. Ich bin kein aͤchter Kenner des Edelgeſteins, aber ich habe doch in meinem Leben ſo viele Brillanten geſehen, daß ich aͤcht von falſch unterſcheiden, und alſo dreiſt be -183 haupten kann, daß er den angegebenen Werth noch weit uͤberſteigen muͤſſe. Die Alte ſchien ſich an meinem Erſtaunen zu weiden, wenigſtens bewieß dies ein kleines Laͤcheln ihres Mundes, ihr Auge folgte aber jeder Wendung, welche ich mit dem Ringe vornahm, und blickte oft aͤngſtlich, wenn ich ihn nur ein wenig weit von ihr entfernte. Um nicht ihren Argwohn zu erregen, gab ich ihn zu - ruͤck, und ſah dann erſt, daß im Ringe einige Buchſtaben eingegraben waren, die ich nun nicht mehr leſen konnte. Indeß die Alte den Ring wie - der ſorgfaͤltig verbarg, und ihre Brieftaſche zu - ſammenpackte, begann zwiſchen uns folgendes Ge - ſpraͤch:

Die Alte. Sie ſtaunen? Ich habe es Ihnen, glaub 'ich, ſchon vorher geſagt, daß das Ungluͤck ſeine Launen hat. Dies iſt freilich eine ſeiner ſtaͤrkſten, aber ich kann mir nicht helfen, der Ring wird mit mir begraben.

Ich. Aber, Madam, Sie haben eine ungluͤck - liche Tochter.

Die Alte. Ja, ſie iſt ſehr ungluͤcklich, denn ſie iſt wahnſinnig.

Ich. Und wollen das einzige Mittel, welches ihr Ungluͤck lindern koͤnnte, mit in's Grab neh - men?

Die Alte. Was ſoll einer Wahnſinnigen der Ring nutzen?

184

Ich. Der Ring freilich nichts, aber das dar - aus geloͤſte Kapital koͤnnte ihren Zuſtand doch um vieles verbeſſern, ihr Koſt und Bedienung auf ih - re ganze Lebenszeit ſichern!

Die Alte. (bitter lachend) Auf wie lan - ge? Auf ihre ganze Lebenszeit? (heftig) Nicht auf vier Wochen! Sie glauben gar nicht, was mein Kind alles braucht. Sie koͤnnen's gar nicht begreifen! Ich muß es doch ſeinem Stande ge - maͤß erziehen. Ich muß meiner Tochter doch vier Bediente, eine Kammerjungfer, zwei Stubenmaͤd - chen halten, ſie will auch Wagen und Pferde ha - ben! das alles koſtet Geld, ohne noch an Klei - dung und Koſt zu denken. Sagen Sie ſelbſt, ſind zwoͤlf Speiſen fuͤr eine ſolche Dame zu viel?

Ich. (voll Erſtaunen) Aber, Ma - dam!

Die Alte. (aͤuſſerſt zornig) Ei was! Madam! Madam! So nennt man jede Buͤr - gersfrau, mir gebuͤhrt der Titel Exzellenz, und ich werde mir ſolchen nicht von jedem fremden Laffen rauben laſſen! Gehe er mir aus dem Ge - ſichte, oder ich rufe meinen Bedienten, und laß ihn derb abpruͤgeln! Das iſt der Dank, wenn man ſich mit ſolchen hergelaufnen Burſchen ab - giebt, und ihre unverſchaͤmte Liebes-Erklaͤrung anhoͤrt. Wie koͤnnen Sie nur glauben, daß ſich eine Dame meines Ranges ſo weit herablaſſen kann, Ihnen ihre Hand zu reichen? Fuͤrſten und185 Grafen haben vergebens darum gebuhlt, wie wol - len Sie Sie ſich nur entfernte Hofnung machen?

Ich. (mit immer ſteigendem Er - ſtaunen) Aber um's Himmels willen, ich habe ja nicht daran gedacht, ich

Die Alte. Was? Sie wollen es jetzt laͤugnen? wollen mich Luͤgen ſtrafen? Die Ver - meſſenheit geht immer weiter! (laͤuft zum Kutſcher, der unſern von uns mit dem Wagen hielt) Er wird Zeuge ſeyn, und die Kuͤhnheit ſeines Herrn beſtaͤtigen!

Der Kutſcher. (im pflegmatiſchen Tone) Ich habe nichts gehoͤrt! Ich weiß nichts!

Die Alte. (im ſanften Tone) Sieht er! das gefaͤllt mir! Er iſt ſeinem Herrn treu, und dies verdient Belohnung. Da hat er einen Dukaten, vertrink er ihn auf meine Geſundheit! (ſich mit einem tiefen Komplimente ge - gen mich kehrend) Mit Ihnen, mein Herr, kann ich nun nicht laͤnger reiſen. Ihre Geſell - ſchaft iſt mir zu gefaͤhrlich, und Moͤglichkeit der Vereinigung laͤßt ſich nicht hoffen. Erlauben Sie, daß ich meinen Koffer abpacken laſſe, mein Wa - gen wird gleich nachkommen.

Sie gieng nun hinter den Wagen, zog ihre Holzbuͤrde herab, legte ſie auf ihre Schultern und gieng, gebuͤckt unter ihrer Laſt, ſtillſchwei -186 gend voruͤber. Erſtaunen hatte meine Zunge ge - feſſelt, ich konnte nichts reden, ſtand und gafte ihr nach. Da ſie mit ſchnellen Schritten den Weg nach dem Dorfe nahm, ſo befahl ich mei - nem Kutſcher, ſachte nachzufahren, und ſetzte mich ein.

Der Kutſcher. (im Fahren) Das Weib muß naͤrriſch ſeyn!

Ich. Moͤglich, aber hoͤchſt unwahrſcheinlich! Was hat ſie dir denn gegeben?

Der Kutſcher. Nun! Einen Dukaten!

Ich. Was? Einen Dukaten?

Der Kutſcher. Nun ja! da ſehen Sie nur! (er zeigte mir den Dukaten)

Ich. Sie muß wahnſinnig ſeyn! Du mußt der Aermſten das Geld zuruͤck geben.

Der Kutſcher. Herzlich gerne, wie koͤnnte ich von einer ſo armen Frau etwas annehmen, aber einem Narren darf man nicht widerſprechen, und ich war froh, als wir ſie nur los wurden.

Ich. Schon recht. Im Dorfe werden wir ſie ſchon wieder finden.

Ich uͤberlegte nun, was ich alles mit ihr ge - ſprochen hatte, ich pruͤfte jede ihrer Reden, ihre ſo lange, und richtige Erzaͤhlung, ich fand auch nicht den geringſten Wahnſinn darinne, und doch aͤuſſerte er ſich am Ende ſo deutlich. Es that187 mir ſehr wehe, daß ich das Ende einer Geſchich - te nicht erfahren hatte, die mich ſo ſehr intereſſir - te, die ſich wahrſcheinlich ſchrecklich enden mußte, weil die Aermſte am Ende ihrer Tage in der bit - terſten Armuth umher gieng. Noch hatte ich kei - nen Entſchluß gefaßt, als mein Kutſcher ſtille hielt, abſtieg, und nach einem Steine hinwander - te, auf welchem eben die Alte ruhte. Da hat Sie, ſagte er, den Dukaten zuruͤck, ſie wird ihn beſſer als ich brauchen koͤnnen. Bezahl's Gott tauſendmal, rief die Alte zu mir heruͤber, Gott wird's lohnen, was Sie an mir Armen ſo reich - lich geuͤbt haben! Der Kutſcher kehrte zuruͤck und lachte. Wenn ſie's ſo nehmen will, murmelte er, iſt's mir auch recht. Ich uͤberlegte, ob ich mich ihr nicht naͤhern, nicht wenigſtens den Verſuch wagen ſollte, den uͤbrigen Theil ihrer Geſchichte zu erfahren? Ihr freundlicher, laͤchelnder Blick ſchien mich einzuladen, die Neugierde ſiegte, ich gieng zu ihr.

Die Alte. Schoͤn willkommen! Schoͤn willkommen! Reiſen Sie auch wieder einmal bei uns voruͤber! Nun, das freut mich, da Sie beſonders (auf den Dukaten blickend) nicht auf mich vergeſſen haben. Wie lange wird's denn ſeyn, daß Sie hier vorbei reißten und mir meine Holzbuͤrde uͤber den Berg herauf fuͤhrten? Wenn ich nicht ganz irre, iſt wohl ſchon ein halbes Jahr voruͤber?

188

Ich. (mich faſſend) Ja, ja! ſo lange wird's ſicher ſeyn.

Die Alte. Gott, wie die Zeit verſchwindet! Alles verſchwindet, nur mein Ungluͤck nicht; al - les aͤndert ſich, nur mein Elend nicht! O Herr, das iſt ſchrecklich!

Ich. Ja wohl, ja wohl! Sie erzaͤhlten mir damals die Geſchichte Ihres Ungluͤcks, wir wur - den geſtoͤrt, ich waͤre ſehr begierig, ſie jetzt ganz zu hoͤren.

Die Alte. Von Herzen gerne! Ach! die Geſchichte meines Lebens iſt lehrreich fuͤr jeden, ich wollte, ich koͤnnte ſie von der Kanzel herab erzaͤhlen, ſie wuͤrde mehr wirken und nuͤtzen als manche Predigt. Wie weit habe ich ſie Ihnen denn erzaͤhlt?

Ehe ich antworten konnte, trat mein Kutſcher zu mir, und bat mich heimlich, daß ich mich nicht mehr mit der Naͤrrin abgeben moͤchte. Es koͤnnte, meinte er, nicht immer ſo wie vorhin gluͤcken, man haͤtte Beyſpiele, daß ſolche Leute recht ſanft und gut ſpraͤchen, aber mit einmal raſend wuͤrden, und jedem nach dem Leben trach - teten. Ich dankte fuͤr ſeinen wohlmeinenden Rath, und beruhigte ihn dadurch, daß ich mich in Acht zu nehmen verſprach. Ganz Unrecht hatte er nicht, das ſahe ich ſelbſt ein, aber meine Neu - gierde war maͤchtiger als die Gefahr, welche mir drohen konnte. Ich uͤberlegte nun, wie ich das189 Geſpraͤch auf's neue anfangen, und wie ich vor - zuͤglich der Erinnerung des Rings ausweichen koͤnne, welcher wahrſcheinlich den Stof zum Aus - bruche ihres Wahnſinns lieferte. Wie ich be - ginnen wollte, fragte mich die Alte auf's neue: wie weit ſie mir ihre Geſchichte erzaͤhlt habe?

Ich. Eben hatten Sie von der Monarchin die Erlaubniß erhalten, Ihren Karl zu heura - then, waren beide von ihr ſehr gnaͤdig aufgenom - men und reichlich beſchenkt worden.

Die Alte. Richtig, ich erinnere mich ſchon. Den ſchoͤnen Ring habe ich Ihnen doch ſchon ge - zeigt?

Ich. Ja, Sie thaten es!

Die Alte. Viele Leute verdenken mir's, daß ich ihn mit in's Grab nehmen will, aber ich kann nicht anders, ich muß den Willen meiner Monarchin ſtreng beobachten.

Ich. Da haben Sie vollkommen Recht.

Die Alte. Nicht wahr? Nun, das freut mich, daß Sie doch auch meiner Meinung ſind! O wie oft habe ich mich ſchon daruͤber geaͤrgert, wenn man mir vorwarf, daß ich es meinem ar - men Kinde ſtehlen, ſie ohne Verſorgung in Jam - mer und Elend zuruͤcklaſſen wuͤrde, aber die Leute verſtehen das nicht, und urtheilen nur nach ihrem eignen, groben Gefuͤhle, das nicht faͤhig iſt, dies alles zu empfinden, Sie ſind einer von den We -190 nigen, welche mit mir ſimpathiſiren, und verdie - nen daher mein ganzes Vertrauen: Ich will Sie nicht laͤnger mit der Schilderung unſrer Liebe un - terhalten, ſie war groß und innig, ſie ſchien mit jedem Tage ſich zu mehren. Vier Wochen nach - her war ich Karls Frau, die huldreiche Monar - chin hatte mich großjaͤhrig ſprechen laſſen, ich konnte nach Gefallen mit meinem großen Vermoͤ - gen ſchalten, und verſchrieb es meinem Karl ganz, wenn ich ohne maͤnnliche Erben ſterben ſollte.

Mein Hochzeittag war der wonnevollſte Tag meines Lebens, aber meine unnatuͤrliche Mutter truͤbte ihn maͤchtig. Kurz zuvor, ehe wir nach der Kirche fahren wollten, erhielt ich einen Brief von ihr, welcher die ſchrecklichſten Fluͤche uͤber mich enthielt. Sie habe mich, ſchrieb ſie, zwar in Gegenwart der Monarchin geſegnet, aber ſie nehme nun dieſen Segen zuruͤck, und wandle ihn in Fluch um, weil ich mich auf die hinterliſtigſte Art ihrer Vormundſchaft entzogen, und mein Ver - moͤgen, das ſie ihren Anverwandten zugedacht habe, an einen Fremden verſchrieben haͤtte. Nun folgte eine Reihe der ſchrecklichſten Fluͤche, deren Erinnerung mir jetzt noch Schauder erregt. Dein Vermoͤgen, ſchrieb ſie, ſoll ſchwinden, wie Waſſer im loͤchrichten Siebe, du ſollſt wahnſin - nige Kinder gebaͤhren, am Ende deiner Tage bet - teln gehen, und den letzten derſelben in Verzweif -191 lung enden muͤſſen. Drei dieſer ſchrecklichen Fluͤ - che ſind leider ſchon in Erfuͤllung gegangen. Gottes Barmherzigkeit wird vielleicht doch die Wirkung des letzten von mir gnaͤdig abwenden. Mein Karl ſuchte mich zwar zu troͤſten, und mir zu beweiſen, daß die Fluͤche einer ſolchen Mutter nicht wirken koͤnnten, aber ſein Troſt vermochte es doch nicht, zu hindern, daß ich ſelbſt am Al - tare noch weinte, und ihm meine Hand mit Thraͤnen reichte. Die Monarchin war ſo gnaͤdig, Karls Urlaub bis zum Fruͤhjahre zu verlaͤngern, das endlich ihren gluͤcklichen Laͤndern den Frieden brachte. Auf meine dringende Bitte legte Karl ſeine Stelle beim Regimente nieder, und zog mit mir auf meine Herrſchaft. Wir lebten hier aͤu - ſerſt zufrieden, und gluͤcklich, wir wuͤrden hoͤchſt wahrſcheinlich unſre Tage eben ſo gluͤcklich geen - det haben, wenn meine Mutter mich als ihr Kind betrachtet haͤtte. Ringsumher wohnten ihre naͤch - ſten Anverwandten, ihr Haß gegen mich brachte es bald dahin, daß dieſe uns nicht allein zu kraͤn - ken, ſondern auch auf die unredlichſte Art zu ver - folgen ſuchten. Von tauſend Beiſpielen nur ein: Ich liebte Natur und Einſamkeit, mein Karl baute, ohne daß ich's wußte, in einem ſchoͤnen Waͤldchen eine Eremitage, und wollte ſie am Ta - ge meiner Geburt mit einem laͤndlichen Feſte ein - weihen. Wie er alles dazu veranſtaltet hatte, und mich nun hinfuͤhrte, fanden wir die ganze ſchoͤne Anlage verwuͤſtet, und das Gebaͤude ſelbſt192 auf die ſchrecklichſte Art zerſtoͤrt. Wir erfuhren nach der Hand, daß mein Onkel dieſe Zerſtoͤrung in der Nacht veranſtaltet haͤtte, und meine Mutter, welche bei ihm wohnte, durch lange Zeit nicht ſo luſtig geweſen waͤre, als damals, wie ſie durch ihre Kundſchafter vernahm, daß ich weinend nach Hauſe gefahren ſei, und meinen Geburtstag ohne Feſt geendet habe.

Dieſe und unzaͤhliche Neckereien, welche uns jede Freude verbitterten, wenn wir ſie ahnden wollten, in eben ſo viele Prozeſſe verwickelt haͤt - ten, weckten nach und nach in uns den Vorſatz, dieſe Gegend auf einige Zeit zu verlaſſen, und in fremden Laͤndern Zerſtreuung zu ſuchen. Da ich meiſtens krank war, ſo giengen wir im folgenden Fruͤhjahre nach Spaa in's Bad. Das Waſſer machte mich froh und munter, ich fand Freun - dinnen, deren Umgang mir die Zeit ſehr ange - nehm verkuͤrzte, Karls Liebe minderte ſich nicht, ich fuͤhlte mich daher ganz gluͤcklich. Zu Spaa ward ſtark geſpielt, Karl fand Geſchmack daran, und verlohr anſehnliche Summen, die mir aber nicht weh thaten, weil ſie ſein Vergnuͤgen befoͤr - derten. Einige Freunde hatten ihn nach Piſa ge - laden, die Aerzte glaubten uͤberdies, daß mir die milde Luft Italiens ſehr heilſam ſeyn wuͤrde, wir reißten dahin, und Karl ſpielte dort ſchon mit ei - ner Leidenſchaft, die ihn oft Tage und Naͤchtevon193von mir entfernte; doch da er mir jede Abweſen - heit mit feuriger Liebe lohnte, ſo hielt ich's fuͤr grauſam, ihm ſein einziges Vergnuͤgen durch Vor - wuͤrfe zu verbittern. Im Karneval giengen wir nach Venedig, und von da nach Paris, wo wir zwei volle Jahre ſehr vergnuͤgt, aber auch ſehr theuer lebten. Karl fuͤhrte von jeher die Kaſſe, ich bekuͤmmerte mich nie um's Geld, unterſchrieb alles, was er mir vorlegte, ohne die geringſte Unterſuchung, er blieb ſtets der alte, treue Karl, mehr verlangte und forderte ich nicht. Er aͤußer - te bald hernach den Wunſch, London zu ſehen, ich fuͤgte mich willig jeder ſeiner Launen, und wir reißten im Fruͤhjahre dahin. Karls Leiden - ſchaft zum Spiele hatte ſich ſehr gemindert, aber er fand jetzt um ſo groͤßeres Vergnuͤgen am Pfer - derennen, und verwettete bei dieſem anſehnliche Summen. Als wir dort wieder zwei Jahre in der groͤßten Zerſtreuung durchlebt, und ich ihm eine Tochter gebohren hatte, fand ich ihn oft aͤu - ſerſt traurig und melancholiſch auf ſeinem Zimmer. Da ich muthmaßte, daß Englands dicke Luft auf ihn wirke, ſo ward mir das Land verhaßt, ich drang dar - auf, daß wir es je eher, je lieber verlaſſen ſollten. Karl verſprach's, verzoͤgerte aber immer ſein Ver - ſprechen von einer Zeit zur andern. Einſt kam ich aus dem Theater nach Hauſe, fand dort ei - nen Unbekannten, welcher mir einen Zettel uͤber - reichte, und ſogleich fortgieng; es war meinesErſt. Baͤndch. N194Karls Hand, er ſchrieb mir, daß er wegen Urſa - chen, die ich muͤndlich erfahren ſollte, im Verhaft ſitze, mich daher dringend bitte, ihn ſo bald als moͤglich zu beſuchen. Ich durchwachte die Nacht weinend, quaͤlte mich mit tauſend ſchrecklichen Vorſtellungen, und eilte am Morgen nach ſeinem Gefaͤngniſſe. Er ſank ſchluchzend in meine Arme, flehte um Vergebung und verfluchte ſeinen Leicht - ſinn, der mich und ihn ungluͤcklich gemacht habe. O, du kannſt mir nicht vergeben, du mußt mich ewig haſſen und verfluchen, ſchrie er immer, wenn ich ihn verſicherte, daß ich gefaßt ſei, das Schrecklichſte mit Gelaſſenheit anzuhoͤren. Erſt nach langer Zeit, und auf meine dringende Bit - te, ward mir ſeine allerdings ſehr ſchreckliche Erzaͤhlung. Als wir aus Boͤhmen abreißten, hat - ten wir dreißigtauſend Gulden, welche zu unſrer Reiſe beſtimmt waren, mit uns genommen. Karl verſpielte den groͤßten Theil dieſer Summe zu Spaa, und ſandte ſchon von dort aus an den Verwalter unſrer Guͤter eine Obligation auf vier - zig tauſend Gulden, welche er auf meine Herr - ſchaft aufnehmen ſollte. Ich hatte ſie ohne Unter - ſuchung unterſchrieben, und Karl fand das Geld ſchon zu Piſa, wie wir dort anlangten. Da der Verwalter ihm nebenbei ſchrieb, daß auf aͤhnli - che Obligationen Geld genug zu haben ſei, ſo ſpielte Karl ohne Zuruͤckhaltung, und verlohr dieſe Summe beinahe ganz. Schon von Venedig ward wieder eine neue Obligation verabſchickt, von195 Paris ebenfalls, und wie wir dieſe Stadt ver - ließen, ſo erhob Karl abermals fuͤnfzig tauſend Gulden, welche der Verwalter gegen Obligatio - nen uͤberſchickt hatte. Dieſe letzte Summe war in zwei Jahren wieder verſchwendet; Karl hatte unter dieſer langen Zeit nicht nach Boͤhmen geſchrie - ben, er that's jetzt, und erhielt von daher einen Brief, welcher ihn aus ſeinem Leichtſinne ſchreck - lich weckte. Sie haben, ſchrieb ihm der Ver - walter, durch fuͤnf Jahre zweimalhundert ſieben - zig tauſend Gulden Schulden auf Ihre Herrſchaft gemacht, und dieſe Summe, laut Ihren Origi - nalquittungen, richtig erhalten. Wie ich Ihnen die letzten fuͤnfzig tauſend Gulden nach Paris uͤberſandt hatte, kuͤndigten Ihre Glaͤubiger mit einmal alle Schuldpoſten auf. Ich gab Ihnen ſogleich Nachricht davon, und erhielt keine Ant - wort, ich ſchrieb fuͤnfmal nach Paris, ich ſtellte Ihnen die dringende Gefahr augenſcheinlich vor, ich bat um Ihre ſchleunige Zuruͤckkunft, Sie ka - men, Sie antworteten nicht. Die Schuldner klagten, die Herrſchaft wurde vom Gerichte feil gebothen, und, da keine andern Kaͤufer ſich fan - den, um die Schuldſumme von zweimal hundert ſiebenzig tauſend Gulden an den Onkel ihrer Frau Gemahlin verkauft; dieſer beſitzt ſie ſchon ein hal - bes Jahr, ich bin jetzt ſein Verwalter, und kann Ihnen daher keinen Pfennig mehr ſenden, weil Sie nichts mehr zu fordern haben. Daß Sie,N 2196fuͤgte er am Ende bei, den fuͤnfjaͤhrigen Ertrag der Herrſchaft ebenfalls erhalten haben, beweiſen Ihre Quittungen und meine Rechnungen, die ich jederzeit vorzulegen, bereit und willig bin.

Dieſer hoͤchſt traurige Brief war die Urſache von Karls Melancholie, er verſchwieg mir ihn, weil er noch an der Wahrheit des ſchrecklichſten Inhalts zweifelte, und von einigen Freunden, an welche er geſchrieben hatte, beſſere Nachricht er - wartete; aber alle beſtaͤtigten ſein Ungluͤck, und Karl mißbrauchte ſeinen Kredit zu London, um mir nur noch laͤnger daſſelbe verſchweigen zu koͤnnen. Wie er die ausgeſtellten Wechſel endlich nicht be - zahlen konnte, ward er in's Gefaͤngniß geſetzt. Ich fuͤhlte waͤhrend ſeiner Erzaͤhlung mehr den Verluſt ſeiner Freiheit, als meines Vermoͤgens, ich ſuchte nur jene zu retten, und eilte nach Hau - ſe, um meinen anſehnlichen Schmuck zu verkaufen. Seine Schulden betrugen nur fuͤnfzehnhundert Guineen, ich erhielt dieſe bald fuͤr alle meine Koſtbarkeiten, und fuͤhlte mich wieder gluͤcklich, als ich mit meinem Karl frei aus dem Gefaͤngniſſe wandern konnte.

Da meine Herrſchaft wenigſtens eine halbe Million werth war, und wir daher mit Recht of - nen Betrug beim Verkaufe vermuthen konnten, ſo beſchloſſen wir jetzt, ſogleich nach Boͤhmen zu rei - ſen, und, wenn nichts fruchten ſollte, der gerech - ten Monarchin unſre Noth zu klagen. Wir ver - kauften alles, was wir noch beſaßen, brachten197 vier tauſend Thaler zuſammen, und reißten da - mit nach Deutſchland. In Hamburg, wo wir der ſchlechten Witterung wegen einige Tage ruhen mußten, machte Karl mit einigen Schiffskapitai - nen Bekanntſchaft, ſie verleiteten ihn zum Spie - le, er gewann am erſten Tage eine anſehnliche Summe, verlohr aber am andern den ganzen Ge - winn, und den Ueberreſt unſers Vermoͤgens. Reue und Verzweiflung bemaͤchtigte ſich ſeiner gleich ſtark, er erklaͤrte die Geſellſchaft fuͤr falſche Spie - ler, ſie forderten Genugthuung und er wurde toͤdtlich verwundet in mein Zimmer getragen.

Ich will Ihnen meinen Jammer, mein Elend, das nun ſchrecklich begann und nie mehr endete, nicht ſchildern, beides war, wie meine Liebe, un - ermeßlich. Karl ſtarb in meinen Armen; wie ich ihn begraben, alle meine Leute entlaſſen und be - zahlt hatte, nun mit meinem Kinde weiter reiſen wollte, hatte ich noch hundert Thaler. Ich theil - te ſie ſparſam ein, und langte eben zu Wien an, als ich den letzten Thaler wechſeln ließ. Karls Tante, zu welcher ich meine Zuflucht nehmen wollte, war ein Jahr zuvor geſtorben, keiner meiner ehemaligen Freunde wollte ſich meiner an - nehmen, und wie ich es endlich wagte, mich bei der Monarchin melden zu laſſen, ſo ließ ſie mir ſagen, daß ſie von meiner Verſchwendung voll - kommen unterrichtet ſei, und es ſehr bedaure, daß ſie meine rechtſchaffne Mutter ſo unverdient ge - kraͤnkt habe. Von ihr haͤtte ich kuͤnftig keine Un -198 terſtuͤtzung zu hoffen, und wuͤrde ſehr klug han - deln, wenn ich auf immer die Reſidenz und ihr Angeſicht meidete. Ich mußte nun meines un - gluͤcklichen Kindes wegen den Bettelſtab ergreifen, ich wanderte volle zehn Jahre in vielen Laͤndern umher, fand immer auf den Schloͤſſern und in den Staͤdten gutherzige Menſchen, welche mich naͤhrten und kleideten. Ich ſprach hundert Advo - katen uͤber den Prozeß, welchen ich mit meinem Onkel zu fuͤhren gedachte, aber keiner wollte mir Beiſtand leiſten, weil meine Guͤter gerichtlich ver - kauft wurden, und dieſes nicht dafuͤr zu haften habe, wenn aus Mangel der Kaͤufer, dieſelben auch nur um den halben Werth bezahlt wurden. Meine Tochter war damals funfzehn Jahre alt, ich liebte ſie innig und zaͤrtlich, und ward von ihr eben ſo ſehr wieder geliebt. Eine ſchreckliche Begebenheit, die aber allen Menſchen ein Geheim - niß bleiben muß, machte ſie Wahnſinnig, und warf mich auf's Krankenlager. Da dies zu Graͤz in Steuermark geſchah, und die mitleidigen See - len, welche mich bisher ernaͤhrt hatten, mich nicht laͤnger bei ſich behalten wollten, ſo ward ich, gleich einer Bettlerin, auf dem Schub nach der Hauptſtadt meines Vaterlands verabſchikt, von dort fuͤhrte man mich krank und elend auf meine ehemalige Herrſchaft, und empfahl mich der Fuͤr - ſorge meiner Anverwandten. Meine Mutter war ſchon ſeit einigen Jahren geſtorben, ſie hatte mich vollkommen enterbt, und ihr eigenes Vermoͤgen,199 das in anſehnlichen Kapitalien beſtand, meinem Onkel vermacht. Schon aus dieſer Ruͤckſicht haͤtte er mich beſſer behandeln ſollen, aber er empfieng mich mit dem empfindlichſten Spotte, ſchimpfte weidlich uͤber die hohe Landesſtelle, welche ihn zwingen wollte, eine Bettlerin auf ſeinen Guͤtern zu ernaͤhren. Er ſchwur, daß er mich nicht in ſeinem Schloſſe dulden werde, und ſandte mich nach dieſem entlegnen Dorfe, wo mir ein elendes Hirtenhaus zu meiner Wohnung angewieſen wur - de. Seiner Anweiſung zufolge, ſoll ich monat - lich in ſeinem Rentamte zehn Gulden erheben, aber ich bin ſchon einige Jahre hier, und habe von ihm noch keinen Pfennig angenommen, ich ſchaͤme mich nicht, zu betteln, aber ich wuͤrde mich ſchaͤmen, von dem Urheber meines Ungluͤcks Wohlthaten anzunehmen. Denn dies war ſein Werk, er hat wie ich ſpaͤter erfuhr in Ge - ſellſchaft meiner Mutter alle meine Schuldbriefe eingeloͤßt, um mit einmal ſie alle aufkuͤndigen, und auf Bezahlung dringen zu koͤnnen. Er hat meinen Verwalter beſtochen, durch ſeine Huͤlfe wurden die Guͤter im niedrigſten Preiſe abgeſchaͤtzt, und dadurch fremde Kaͤufer abgeſchreckt, mehr da - fuͤr zu bieten. Er hat es ſogar dahin gebracht, daß die Herrſchaft nicht wie gewoͤhnlich ſequeſtrirt, ſondern ſogleich verkauft wurde. Sagen Sie ſelbſt: ob ich nicht Urſache habe, dieſen Mann zu haſſen? Ob's moͤglich iſt, daß ich eine elende Summe von ihm als Wohlthat annehmen kann,200 da er mir eine unendlich groͤßere ſchuldig iſt?

Sie ſchwieg nun ſtille, und wiſchte ſich die Thraͤnen von den Wangen, welche die Erinnerung ihres Ungluͤcks den Augen reichlich entlockt hatte. Wie ich noch vor ihr ſtand, einige Worte des Troſtes fuͤr ſie ſuchte, und keine fand, laͤutete man im Dorfe die Mittagsglocke, ſie horchte. Schon Mittag, ſprach ſie, dann muß ich nach Hauſe eilen, mein armes Kind wird hungern! Bei dieſen Worten ſtand ſie ſchnell auf, ließ ihre Holz-Buͤrde liegen, und gieng mit ſtarken Schrit - ten nach dem Dorfe. Ich befahl meinem Kut - ſcher, im Wirthshauſe die Pferde zu fuͤttern, und eilte ihr nach. Ich wollte, wo moͤglich, ihr Kind ſehen und ſprechen, ich fuͤhlte im Voraus, daß es meinem Herzen aͤuſſerſt weh thun wuͤrde, wenn ich ein junges, wahnſinniges Maͤdchen in der Geſellſchaft einer eben ſo wahnſinnigen Mutter ſprechen ſollte, aber dies Maͤdchen ſchien mir die groͤßte Ehrfurcht zu verdienen, weil es ganz ge - wiß aus Uebermaas der Empfindung, aus Schmerz uͤber das unverdiente Ungluͤck einer geliebten Mut - ter wahnſinnig wurde. Daß die letztere auch ih - ren Verſtand verlohren hatte, wunderte mich jetzt nicht mehr, denn wer uͤber ſolche Dinge den Verſtand nicht verliert, der hat wohl keinen zu verlieren.

Ich201

Ich naͤherte mich nun der kleinen Huͤtte, in welche die Alte ſchon eingetreten war, mit banger Erwartung, mit tiefer Ehrfurcht; ich oͤfnete leiſe die Stubenthuͤre, und uͤberblickte die Wohnung des Jammers mit Schaudern. In der armſeligen Wohnung ſtand kein Tiſch, kein Stuhl, nur am Ofen eine kleine hoͤlzerne Bank, und im Hinter - grunde ein Bette, das mit zerrißnen, aber doch ſaubern Vorhaͤngen umgeben war. Die Alte ſtand am Bette, zog die etwas geoͤfneten Vorhaͤnge wie - der zu, und ſchlich auf den Zehen nach dem Fen - ſter. Im Gehen erblickte ſie mich, ſie legte den Finger auf den Mund, und rief mir leiſe zu: ſie ſchlaͤft! ſie ſchlaͤft!

Die Alte. (freundlich) Sie wollen ge - wiß meine Tochter ſehen?

Ich. Nicht aus Neugierde, aus wahrer inne - rer Theilnahme!

Die Alte. Sie ſchlaͤft, aber das hindert's nicht, kommen Sie nur leiſe herbei. Sie werden ein ſchoͤnes, aber leider ein wahnſinniges Maͤd - chen ſehen.

Sie zog nun den Vorhang ſachte hinweg, ich naͤherte mich zitternd. Eine weiße, ſchoͤne Schlaf - haube, die mit einem breiten, blaßrothen Bande umwunden war, verkuͤndigte mir deutlich, daß die arme Mutter vielleicht manchen Kreuzer er - betteln mußte, ehe ſie das geliebte Kind mit die - ſem kleinen Putze erfreuen konnte. Thraͤnen fuͤll - ten mein Auge, ich konnte nichts ſehen, die Un -Erſt. Baͤndch. O202gluͤckliche hatte uͤberdies ihr Geſicht gegen die Wand gekehrt, die Blenden der Haube deckten es. Die Mutter merkte meine Verlegenheit, und dreh - te den Kopf der Schlafenden ſanft herum. In meinem ganzen Leben bin ich in meiner Er - wartung nie ſo arg, nie ſo uͤberraſchend betrogen worden, ich blickte, ich ſah feſt, ich traute meinen Augen nicht, ich wiſchte die Thraͤnen weg, ich ſah von neuem und ſah immer nur einen bemahlten Haubenſtock vor mir liegen, der mich mit ſeinen ſtarren, ſchwarz gemahlten Augen fuͤrchterlich an - grinßte. Mein Erſtaunen, meine Verwunderung, meine Verwirrung blieb der Mutter nicht unbe - merkt, es mehrte ihr ſanftes Laͤcheln, mit welchem ſie mich unverwandt anblickte. Nicht wahr, ſprach ſie endlich, ich habe eine ſchoͤne Tochter? Unterdruͤcken Sie ihr Erſtaunen nicht, mehrere Fremde haben Sie ſchon geſehen, und ſind mit der Verſicherung geſchieden, daß ſie nie ein ſchoͤ - neres Maͤdchen ſahen! O waͤre ſie nicht wahn - ſinnig, ihre Schoͤnheit, ihr ſchmachtender, einneh - mender Blick haͤtte ſchon laͤngſt das Herz eines Fuͤrſten geruͤhrt, ſie waͤre ſeine Gattin, und koͤnn - te ihre alte Mutter reichlich ernaͤhren! Aber nun iſt jede Ausſicht verlohren! Schlaf Karoline, ſchlaf! (ſie drehte den Kopf wieder ge - gen die Wand, und zog die Vorhaͤnge zu) der Schlaf iſt ihr einziges Gluͤck, denn ſchla - fend fuͤhlt ſie ihr Ungluͤck nicht. Jetzt wer - den Sie vergeben, ich muß in die Kuͤche gehen, und eine Suppe kochen.

203

Sie gieng geſchaͤftig fort, ich folgte langſam. Noch herrſchte immer Erſtaunen in meinem Bli - ke, ich ſtand auf dem freien Dorfplatze, blickte umher, und ſuchte mich zu faſſen. Ein ehrwuͤrdi - ger Prieſter gieng langſam voruͤber, er gruͤßte mich freundlich. Sie waren da unten in der Huͤtte? ſprach er, und laͤchelte von neuem.

Ich. Ja, ich war dort, und bin in meiner Erwartung ſehr betrogen worden.

Prieſter. Glaub's gerne, es iſt ſchon meh - rern ſo ergangen. Noch aͤrger ſind Sie aber be - trogen worden, wenn ſie Ihnen auch, ihre Ge - ſchichte erzaͤhlt hat, und Sie vielleicht in dieſer Gegend nicht bekannt ſind.

Sie hat mir alles erzaͤhlt, ich reiſe zum er - ſtenmale durch dieſe Gegend.

Prieſter. Dann werden Sie ſich weidlich wundern, wenn ich Sie auf meine Ehre verſiche - re, daß die ganze Geſchichte eine Erdichtung ih - rer Einbildungskraft, eine Erfindung ihres Wahn - ſinns iſt.

Ich. Das iſt unmoͤglich.

Prieſter. So muß es Ihnen freilich ſchei - nen, aber es iſt doch nicht anders. Um Sie mit einmal zu uͤberzeugen, darf ich Ihnen nur ſagen, daß dieſe ganze Herrſchaft einem Kloſter gehoͤrt, und dieſes ſolche ſchon uͤber zwei hundert Jahre eigenthuͤmlich beſitzt. Ich bin ein Mitglied deſſel - ben, und jetzt hier als Pfarrer angeſtellt. Wol - len Sie mir's nicht glauben, ſo befragen Sie alleO 2204Bewohner des Dorfs, und jeder wird Ihnen das naͤmliche erzaͤhlen.

Ich. Wer iſt denn alſo die wunderbare Alte, welche ſo vortreflich Erwartung zu erregen ver - ſteht?

Pfarrer. Das weis ich nicht, das weis niemand.

Ich. Immer wunderbarer, immer abentheu - erlicher!

Pfarrer. Vor ungefaͤhr ſechs Jahren fand ſie unſer menſchenfreundlicher Abt auf einem ein - ſamen Spaziergange. Sie ſas an einem Bache, hatte ihren Haubenſtock im Arme, und bemuͤhte ſich, ihm durch ein kleines Glas, Waſſer in den Mund zu ſchuͤtten. Da der Abt ſogleich Wahn - ſinn argwohnte, durch ihre ſonderbare Gebaͤrden noch mehr davon uͤberzeugt wurde, ſo wollte er ſie nicht dem blinden Ungefaͤhre uͤberlaſſen, und hielt es fuͤr Pflicht, fuͤr ihren Unterhalt Sorge zu tragen. Er fuͤhrte ſie nach dem Kloſter, und uͤbergab ſie der Aufſicht einer tugendſamen Ma - trone. Sie ſprach drei Monate kein Wort, und man fieng ſchon an, ſie fuͤr wirklich ſtumm zu halten, bis ſie einſt den Abt in ſeiner Kutſche vorbei fahren ſah. Sie rief ſogleich erſchrocken aus: das iſt mein[Onkel]! das iſt mein Onkel! und erzaͤhlte nun allen Anweſenden, ohne die Spur eines Wahnſinnes zu verrathen, die ganze Geſchichte, welche ſie Ihnen wahrſcheinlich auch erzaͤhlt hat. Da dieſe Geſchichte bei vielen, wel - che ſie hoͤrten, falſches Licht uͤber die Familie,205 von welcher ſie abzuſtammen vorgab, verbreitete, die Wahnſinnige uͤberdies den guten Abt von nun an einen grauſamen, barbariſchen und ungerechten Onkel nannte, ſo raͤumte ihr dieſer in dieſem ein - ſamen Dorfe, wo ſelten ein Reiſender vorbei kommt, eine Wohnung ein. Er hat ſie huͤbſch und ſauber einrichten laſſen, aber ſie duldet nicht das geringſte Geraͤthe darinne, wirft alles hin - aus, und behaͤlt nur das Bette, in welchem aber nicht ſie, ſondern der Haubenſtock ſchlaͤft, wel - chen ſie fuͤr ihr Kind ausgiebt. Ich habe den Auftrag vom Abte, ihr taͤglich hinlaͤngliche Spei - ſen zu ſenden, ſie nimmt ſolche allemal an, ſchuͤt - tet oder ſchenkt ſie aber auch allemal wieder weg; ſie lebt meiſtens vom trocknen Brode, welches ſie bei den Bauern bettelt, und genießt keine Sem - mel, wenn ihr auch ein gutherziges Weib ein Stuͤckchen ſchenkt. Alles Geld, was ſie dann und wann von Fremden erhaͤlt, ſchenkt ſie ſogleich wieder weg, erſt geſtern bekam ſie von einer be - nachbarten Edelfrau einen Dukaten, und ich bin uͤberzeugt, daß ſie ſolchen bereits weggeſchenkt hat. Sie geht faſt taͤglich nach Holz in den Wald, ſucht ſolches in den entfernteſten Gegen - den zuſammen, traͤgt's mit groͤßter Muͤhe bis in's Dorf, und wirft es dann weg. Wenn ich im Winter nicht fuͤr ihren Ofen ſorgte, ſo wuͤrde ſie ſicher erfrieren.

Ich. Wie heißt denn das Schloß, welches da hinten im Thale liegt?

206

Pfarrer. Das iſt unſer Kloſter, und dies nennt ſie ihr Schloß.

Ich. Sie muß doch von vornehmer Geburt ſeyn, denn ihre Brieftaſche, ihr Ring ſcheint es zu beſtaͤtigen.

Pfarrer. Allerdings! Wir haben beides ge - nau unterſucht, aber nichts endecket. Der Ring iſt wirklich aͤcht, und ſoll uͤber dreitauſend Gulden werth ſeyn. Weh dem, welcher ihr ſolchen zu nehmen ſucht, ſie raßt dann ſchrecklich. Im Rin - ge ſind die Buchſtaben: F. K. G. H. einge - graben.

Ich. Und die Briefe?

Pfarrer. Sind alle unlesbar. Das Pa - pier iſt gelb, und alle Buchſtaben ſind ſo in ein - ander gefloſſen, daß man nur ſelten ein unbedeu - tendes Wort leſen kann. Da ſie den Ring ſchon vielen, und mancherlei Leuten gezeigt hat, und leicht einmal einen zum Raube deſſelben verleiten kann, ſo machte ich ſchon oft dem Abte den Vor - ſchlag, einen aͤhnlichen aber falſchen verfertigen, und ihn unbemerkt gegen den aͤchten vertauſchen zu laſſen, aber er denkt zu gewiſſenhaft, glaubt, daß man's fuͤr Habſucht nehmen koͤnne, und will der Armen nicht ihren einzigen Troſt rauben.

Ich. Hat man denn gar keine Muthmaßung: woher ſie kam? wer ſie ſeyn koͤnne?

Pfarrer. Gar keine! daß ſie eine Auslaͤn - derin iſt, beweißt ihr Dialekt, mehr kann ich Ih - nen nicht ſagen, ob wir uns gleich Anfangs alle Muͤhe gaben, mehr zu erfahren. Wir haben die207 Beſchreibung ihrer Perſon ſogar in Zeitungen kund gemacht, aber nie erfolgte eine Nachfrage. Nur vor ungefaͤhr einem Monate kam ein fremder Herr hier an, brachte ein Zeitungsblatt, welches ihre Beſchreibung enthielt, mit ſich, und fragte ſehr be - gierig nach ihr. Ich fuͤhrte ihn ſelbſt in ihre Huͤt - te, er betrachtete ſie genau, ſchien ſehr geruͤhrt zu ſeyn, und ſprach endlich mit ihr in einer Spra - che, welche ich nicht verſtand, ſie antwortete ſehr fertig in eben dieſer Sprache, endlich gieng der fremde Herr ohne naͤhere Erklaͤrung fort.

Ich. Aber ich begreife nicht, wie ſie in ihrem Wahnſinne eine ſo wahrſcheinliche, zuſammenhaͤn - gende Geſchichte erſinnen konnte? Iſt ſie wirk - lich eine Auslaͤnderin, ſo wundert's mich noch mehr, weil ſie doch Kenntniß der Familien und Staͤdte des Landes beſitzt.

Pfarrer. Das iſt freilich ein Raͤthſel, wel - ches ich Ihnen nicht loͤſen kann, aber gewiß iſt es, daß ſie nicht Baronin B** heiſen, nicht ei - nen Grafen L** aus Ungarn zum Manne haben konnte, denn unſer Abt hat daruͤber die genauſten Nachrichten eingezogen, und iſt uͤberzeugt worden, daß ihre ganze Geſchichte, ſelbſt das mit der Mo - narchin, ein Werk ihrer verirrten Einbildungskraft ſei.

Ich. Zu welcher Religion bekennt ſie ſich denn?

Pfarrer. Zu der katholiſchen, wenn man gewiſſen aͤußerlichen Kennzeichen trauen darf, doch geht ſie nie zur Beichte, nie in die Kirche, ſie bleibt entweder am Eingange derſelben ſtehen, oder betet auf den Graͤbern des Kirchhofs andaͤch - tig und lange. Da ich ſie einigemal ſelbſt mit zur Kirche nehmen wollte, ſo verſicherte ſie mich mit vielem Ernſte, daß ſie auf ausdruͤcklichen Befehl des Pabſtes keine betreten duͤrfe, und von ihm mit dem Kirchenbanne ſei belegt worden.

Gerne haͤtte ich mehr mit dem Pfarrer geſpro - chen, aber der Schulmeiſter meldete ihm, daß ein Kranker ſeine ſchleunige Huͤlfe fordere, und er eilte208 mit einem freundlichen Gruſſe von dannen. Ich gieng nach dem Wirthshauſe, ſprach mit dem Wir - the von der ſeltnen Alten, und erfuhr durch ihn, daß mir der Pfarrer die ſtrengſte Wahrheit erzaͤhlt habe, mehr wußte er aber ebenfalls nicht, nur meinte er, daß ihr Wahnſinn wohl nur Verſtel - lung ſeyn koͤnne, weil ſie oft aͤußerſt vernuͤnftig ſpraͤche, und uͤber die wichtigſten Dinge ein ſo ge - lehrtes Urtheil faͤlle, daß ſelbſt die Profeſſores im Kloſter daruͤber erſtaunen muͤßten.

Ohne meine aͤußerſt geweckte Neugierde nur im geringſten weiter befriedigen zu koͤnnen, mußte ich endlich abreiſen, und da mich der Weg einige Jahre nicht in die Gegend fuͤhrte, ſo blieb mir die Geſchichte der Alten immer ein unaufloͤßliches Raͤthſel.

Vor zwei Jahren, als ich wieder in dieſe Ge - gend kam, und die Huͤtte der Alten durch den Dorfhirten bewohnt fand, erfuhr ich, daß ſie bald nach meiner Abreiſe zur Nachtszeit in einer ſchoͤnen Kutſche mit vier Pferden beſpannt, a〈…〉〈…〉 dem Dorfe ſei abgeholt worden. Niemand, ſel[b]〈…〉〈…〉der Pfar - rer konnte oder wollte mir mehr erzaͤhlen. Erſt vor kurzem erfuhr ich durch einen beſondern Zu - fall die hoͤchſt merkwuͤrdige, und wahre Geſchichte der Alten. Ich wuͤrde ſie meinen Leſern ſogleich mittheilen, wenn nicht noch einige beſondere Be - gebenheiten naͤhere Aufklaͤrung erforderten. Ich will dieſe wunderbare Geſchichte gerne ohne den ge - ringſten Zuſatz mit der ſtrengſten Wahrheitsliebe erzaͤhlen, und muͤßte unwahrſcheinlich werden, wenn ich die Aufklaͤrung verſchiedener dunkler Um - ſtaͤnde nicht abwarten wollte. In dem zweiten Baͤndchen wird alſo die Vollendung dieſer Ge - ſchichte folgen.

Ende des erſten Baͤndchens.

About this transcription

TextBiographien der Wahnsinnigen
Author Christian Heinrich Spiess
Extent223 images; 42446 tokens; 7305 types; 287925 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationBiographien der Wahnsinnigen Erstes Bändchen Christian Heinrich Spiess. . VI S., [1] Bl., 208 S. VoßLeipzig1796.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, 19 ZZ 8704-1http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=873446089

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; mts

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
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ShelfmarkSBB-PK, 19 ZZ 8704-1
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