Schoͤn und artig war Amalie als Kind, eine der ſchoͤnſten und artigſten ihres Geſchlechts war ſie als Jungfrau. Ihre Eltern liebten ſie als das einzige Pfand ihrer Liebe mit in - nigſter Zaͤrtlichkeit, ſahen es gerne, wenn die Juͤnglinge der großen Stadt ihr tiefe Kom - plimente machten, und hoͤrten es noch lieber, wenn ſie, hingeriſſen von der Allgewalt ihrer Schoͤnheit, laut ausriefen, daß ſolch ein Maͤd - chen des Koͤnigs Krone verdiene. Sie hatten durch thaͤtigen Fleiß und gluͤckliche InduſtrieBiogr. d. W. 3. B. A2ein anſehnliches Vermoͤgen erworben, ſie muͤh - ten ſich, es nach Kraͤften zu mehren, damit Amalie einſt in den Armen eines redlichen Mannes vollkommen ein Gluͤck genieſſen koͤnne, welches ſie der vielen Sorgen und haͤufigen Geſchaͤfte wegen nur ſparſam und kaͤrglich ge - noſſen hatten. Sie ſahen dieſem gluͤcklichen Zeitpunkte mit Begierde entgegen, und woll - ten dann im ruhigen Genuſſe eines geſchaͤft - freien Alters zuſehen, wie ihr geliebtes Kind ein Gluͤck genieſſen wuͤrde, das ihnen ſo man - chen kummervollen Tag, ſo manche ſchlafloſe Nacht gekoſtet hatte.
Amalie kannte die wohlthaͤtige Abſicht ih - rer guten Eltern, ſie ehrte ſolche mit dem reinſten, kindlichſten Danke, aber ſie fuͤhlte noch nicht Drang nach Maͤnnerliebe, noch nicht Sehnſucht nach ihrem oft ſo gefaͤhrlichen Ge - nuſſe, ihr war ſo innig wohl, wenn ſie frei und ohne Zwang umher wandeln, die Reitze3 der Natur — deren eifrige Verehrerin ſie von Jugend auf war — ungeſtoͤrt genieſſen, ihre Wunderwerke ungehindert bewundern konnte. Ein nicht allzukleiner Garten, der das Hinter - theil des vaͤterlichen Hauſes umgraͤnzte, war im Fruͤhlinge, Sommer und Herbſte ihr Lieb - lingsort. Wenn ihre Eltern, oder die Die - ner und Maͤgde derſelben ſie ſuchten, ſo fan - den ſie ſolche allemal in dem angenehmen Gar - tenſaale, deſſen Fenſter hohe Pfirſchen und Aprikoſenbaͤume, noch hoͤhere Weinreben be - ſchatteten. Hier naͤhte und ſtrikte, hier las und ſpielte ſie auf dem Klaviere, hier fuͤt - terte ſie Huͤhner und Tauben, welche im nahen Hofe niſteten, und immer am Fenſter des Saals der reichlichen Wohlthat ihrer Gebie - terin harrten.
Ehemals[umfaßten] unnuͤtze Buchsbaͤume die regelmaͤſſigen Vierecke des Gartens, in ihrer Mitte gruͤnten Tarbaͤume in mancherleiA 24Figuren, und unter ihren dunkeln Schatten trauerten Tulpen, Nelken und Narziſſen. Ama - liens freier Wille hatte ihn in einen der fruchtbarſten Kuͤchengaͤrten verwandelt, ſie zog den groͤßten Spargel, den ſchoͤnſten Blumen - kohl, ſie pfluͤckte die ſaftigſte Pfirſche, die ſuͤſ - ſeſte Traube, und fuͤhlte ſich ganz gluͤcklich, wenn ihr guter Vater die Frucht ihres Fleiſſes mit beſonderm Appetite genoß, und ihre Kunſt mit zaͤrtlichen Ausdruͤcken bewunderte. Der Mutter Ermahnung, daß ſolche Arbeit die zarten Haͤnde verderbe, machte dann keinen Eindruck auf ihr Herz. Sie ſah ihre Schoͤn - heit zwar als ein wohlthaͤtiges Geſchenk des Schoͤpfers an, aber ſie war nicht eitel genug, ſich zur Vermehrung derſelben das kleinſte Ver - gnuͤgen zu entſagen, und eben dies erhoͤhte den Werth derſelben. Sie glich vollkommen der Roſe, die in freier Luft, geſtaͤrkt durch Thau und Regen, ihre vollen Knospen oͤfnet, da die meiſten ſtaͤdtiſchen Schoͤnheiten ſonſt ſo5 ganz der Blume im Treibhauſe gleichen, der jedes kuͤhle Luͤftchen ſchadet, die jeder ſtarke Sonnenſtrahl verſengt.
Eben feierte Amalie ihren zwanzigſten Ge - burtstag, als ihr Vater ſie in ihrem Gar - ten uͤberraſchte, mit vaͤterlichem Gefuͤhle ihre Hand faßte, und ſie nach dem kleinen Saale fuͤhrte.
Vater. Du duͤnkſt dich wohl recht zu - frieden und gluͤcklich, wenn du in deinem Garten umher wandeln, und zuſehen kannſt, wie deine Pflanzen ſo herrlich gedeihen, zur Vollkommenheit, zum Genuſſe empor reifen?
Amalie. Ach ja, lieber Vater, ja! Wenn in der Nacht der Regen mich weckt, und fruͤh die aufgehende Sonne mein Fenſter be - leuchtet, da eile ich im ſchnellſten Fluge herab, um zu ſehen, wie alle Gewaͤchſe, zum neuen6 Wachsthume geſtaͤrkt, daſtehen, und freue mich dann ſo innig, ſo aufrichtig mit ihnen.
Vater. Ich glaubs, glaubs herzlich ger - ne! Auch ich fuͤhlte einſt dieſe Wonne im ſtaͤrkern Grade. Ich ſah Jahre lang zu, wie du, meine theure Tochter, zur Vollkommen - heit empor keimteſt, wie ſich nach und nach alle deine Reitze und Tugenden entwickelten. Du bluͤhſt lange ſchon herrlich, ſoll ich nie Fruͤchte von dir erwarten?
Amalie. Ich verſtehe ſie nicht, beſter Vater, habe ich ſie vielleicht beleidigt, ſind dies Vorwuͤrfe — —
Vater. Keine Vorwuͤrfe, ein ſo liebes, gutes Kind verdient ſie nicht. Ich will dich nur an deine kuͤnftige Beſtimmung erinnern. Du feierſt heute deinen zwanzigſten Geburts -7 tag, dies Alter berechtigt mich, mit dir auf - richtiger, als ſonſt zu ſprechen.
Amalie. Ich erwarte noch immer mit gleicher Sehnſucht ihre naͤhere Erklaͤrung.
Vater. Sie ſoll dir ſogleich werden. Deine Freundinnen, welche mit dir ſpielten, mit dir emporwuchſen, haben ſchon alle ge - heurathet, viele derſelben ſind ſchon gluͤckliche Muͤtter, ihre Eltern genießen ſchon den ſuͤßen Lohn ihrer Erziehung, ich allein erwarte ihn noch immer vergebens.
Amalie (hoch erroͤthend). Wie ſoll — wie kann denn ich — ich habe ja keinen Lieb - haber.
Vater. Aber der Verehrer in Menge, welche ſich alle in die zaͤrtlichſten Liebhaber umwandeln werden, wenn es anders dein klei -8 ner Eigenſinn erlaubt. Viele gute und edle Juͤnglinge warben bei mir ſchon um deine Hand, ich verwieß ſie an dich, aber ſie kehr - ten bald traurend zuruͤck, und klagten mir, daß du ihre Blicke nicht ſehen, ihre Seufzer nicht hoͤren wolleſt.
Amalie. Lieber, theurer Vater, ich bin ſo gluͤcklich, wollen Sie mich denn un - gluͤcklich wiſſen? Ich fuͤhle noch keine Neigung zur Heurath, moͤglich, daß ſie in Zukunft ſich naͤhert, moͤglich, daß ſie bald erſcheint, dann will ich ihres Rathes achten, aber jetzt. — — O laſſen ſie mich ferner unter ihrem Schutze leben! Die Liebe meiner Eltern, mein kleiner Garten iſt der einzige Wunſch meines Herzens. Goͤnnen ſie mir ihn noch laͤnger, ich wuͤrde keines ohne Trauer vermiſſen koͤnnen.
Vater. Es thut mir weh — —
9Amalie. O wenn es ihnen auch nur unangenehme Stunden verurſacht, dann will ich ja gerne mein eignes Gluͤck vergeſſen, wil - lig ſelbſt ungluͤcklich ſein, um nur Sie ruhig zu wiſſen.
Vater. Gott bewahre mich fuͤr jedem Zwange, ſelbſt fuͤr dem Scheine deſſelben. Nun kein Wort mehr davon! Wenn du auch itzt ſelbſt meine Einwilligung zur vortheilhaf - teſten Heirath forderteſt, ſo wuͤrde ich ſie dir weigern, weil ichs nur fuͤr ein Opfer des Gehorſams, nicht fuͤr freien Willen achten wuͤrde. Du biſt mein einziges Gluͤck, meine einzige Freude auf dieſer Erde! Weh mir, wenn ichs durch einen vielleicht thoͤrichten Wunſch gemindert ſaͤhe.
Amalie. Dank, tauſend Dank, beſter der Vaͤter, ich — —
10Vater. Halt ein, ich verdiene ihn nicht, ich ſagte dirs ja ſchon deutlich, daß mein Ei - gennutz mich ſo nachgebend mache. Itzt von etwas andern! — — Dein Garten gruͤnt und bluͤht herrlich, kein Plaͤtzchen iſt mehr vor - handen, wo noch eine Staude, ein Baum gepflanzt werden koͤnnte. Du wirſt bald ge - ſchaͤftlos darinne umher wandern muͤſſen. — —
Amalie. Das eben nicht, denn eben das Wachſen und Gedeien aller, die ich pflanzte, labt mein Herz, aber wenn er groͤſ - ſer waͤre, wenn ich freien Raum rings um - her haͤtte, dann wollte ich manche ſchoͤne Idee ausfuͤhren, die itzt ungenutzt ſchlummern muß, nur manchmal meine Einbildungskraft angenehm beſchaͤftigt.
Vater. Alſo haͤtte ich deinen Wunſch doch ſo ziemlich errathen. Ich ſann hin und her, womit ich an deinem[Geburtstage] dein11 Herz erfreuen koͤnnte — denn ein Bindband haſt du doch wohl erwartet? — —
Amalie. Erhielte ich nicht ſchon das ſchoͤnſte und koſtbarſte? (ihm um den Hals fallend) den deutlichſten Beweiß ihrer vaͤter - lichen Liebe?
Vater. Schmeichlerin! Wie innig ſie zu kuͤſſen verſteht! Solch ein Kuß iſt des Lohns ſchon werth! — — Sag mir einmal: Da du ſo eine große Freundin der Natur und der Oekonomie biſt, war denn deine reiche Einbildungskraft nie ſo freigebig, dich mit einem Landgute zu beſchenken, an deſſen ſchoͤ - nen Garten fruchtbare Felder und Wieſen, rieſelnde Baͤche und ſchattichte Waͤlder graͤnz - ten? —
Amalie. Oft, lieber Vater, ſehr oft. Da wars, als ob ſie ihre Fabriken und Hand -12 lung aufgegeben haͤtten, auf einem ruhigen, ſtillen Landgute mit mir wohnten, und ich die ganze große Wirthſchaft fuͤhrte. Ach, wie ge - ſchaͤftvoll ich da umher eilte! Aus der Kuͤche in den Stall, aus dem Stalle in den Gar - ten, aus dieſem auf die Wieſen oder zu den Schnittern des Feldes, und wie ich mich dabei ſo froh und gluͤcklich duͤnkte! — — Solch eine Wonne laͤßt ſich nur fuͤhlen, nicht be - ſchreiben.
Vater. Und wenns nun wuͤrklich ſo waͤ - re — —
Amalie. (voll Freude) Wenns wirklich ſo waͤre, guter Vater, wenns wirklich ſo waͤre!
Vater. Deine reine Freude iſt der ſchoͤnſte Lohn meiner That, ich habe meine Fabrik mit anſehnlichem Gewinne verkauft,13 meine Handlung niedergelegt, und gehe itzt, mit dem Hrn. von H** den Kauf ſeines Landgutes abzuſchlieſſen, will dirs zu deinem Geburtstage verehren. Daß du deine guten Eltern mit dir dahin nehmen, ihrer pflegen, ihnen ein ruhiges Alter verſchaffen wirſt, bin ich im Voraus uͤberzeugt.
Amalie. O gewiß! O gewiß! Ach Gott, mein Dank iſt ſtumm! Ich fuͤhls, empfinde es nur!
Vater. Du kennſt doch dies Landgut und ſeine angenehme Lage.
Amalie. Ob ichs kenne? Genoß ich nicht mit ihnen im Fruͤhjahre dort einige der gluͤcklichſten Tage meines Lebens? Wenn ich mich noch ruͤckerinnere, am hohen Fenſter ſtehe, hinab blicke ins Thal, das die breite Elbe durchſtroͤmt, und an ihrem Ufer fette14 Schweizerkuͤhe, Schwane, Gaͤnſe, Enten, Pferde und Fiſcher im bunten Gewuͤhle ſchaue, und nun denke, daß dies immer ſo dauern, immer ſo ſeyn ſoll! Ach, Vater, die Freude macht mich zum Kinde. Ich wuͤrde weinen wie dieſes, wenn ſie nur mit mir ſcherzten.
Vater. Nein, ich ſcherze nicht, ich habe deine Meinung gehoͤrt, ſie war mir zu wiſſen noͤthig. Zu Mittage ſiehſt du mich wieder, und Nachmittage fahren wir auf dein Landgut, um dort in laͤndlicher Einſamkeit deinen Geburtstag zu feiern.
Er gieng die entzuͤckte Amalie ſtaunte ihm noch lange nach, ſie muͤhte ſich verge - bens, den Genuß ihres kuͤnftigen Gluͤcks zu faſſen, ihr kleiner Garten ward ihr zu enge, ſie eilte zur Mutter, und ſank weinend in ihre Arme. Die gute Mutter war von al - lem unterrichtet, ſie lobpreißte mit ihr des15 Vaters Entſchluß, meinte aber zugleich, daß eine kleine Liſt denſelben gefoͤrdert habe. Er will, ſagte ſie, dich raſtlos beſchaͤftigen, da - mit du, wenn du die Laſt der allzuhaͤufigen Geſchaͤfte nicht mehr ertragen kannſt, dir ei - nen Gehuͤlfen ſuchſt, der ſie mit dir theile. Amalie beſaß ein gutes, dankbares Herz. Freude und Ueberraſchung hatte es noch mehr geoͤfnet, ſie gelobte daher der Mutter, des Vaters Wunſch nach Kraͤften zu foͤrdern, und ſo bald der aͤchte Geliebte erſcheine, ihn zu ihrem Gehuͤlfen zu waͤhlen.
Nach dem Eſſen ſtieg Amalie mit ihren Eltern in den Wagen, um in ihrer Geſell - ſchaft nach dem bereits erkauften Landgute zu fahren. Ihre Freude war groß und uͤber - ſchwenglich. Man muß ſelbſt die Oekonomie leidenſchaftlich lieben, um alle das Vergnuͤ - gen fuͤhlen und mit genieſſen zu koͤnnen, wel - ches die gluͤckliche Amalie dort im vollem16 Maaße genoß; ich enthalte mich daher jeder Beſchreibung, gehe zu wichtigern Begebenhei - ten uͤber.
Es war eben Erndezeit. Amalie eilte je - den Morgen, jeden Abend zu den Schnit - tern, labte ſie reichlich und ſah dann mit Wonne zu, wie dieſe den Reichthum des Landmanns dort in Garben ſammleten, da auf Waͤgen luden, und endlich hingeriſſen vom innern Gefuͤhle frohe Erndelieder an - ſtimmten. An einem ſchwuͤlen Nachmittage ſchlenderte ſie eben aus dieſer Abſicht durchs lange Dorf, hatte beinahe ſchon das Ende deſſelben erreicht, als ſich hinter ihr ein klaͤgliches Geſchrei erhob; ſie blickte ruͤckwaͤrts, ſahe Greiſe und Kinder aͤngſtlich nach den Huͤtten eilen, und hoͤrte deutlich rufen, daß ein großer, wuͤthender Hund durchs Dorf renne, ſchon einige ſpielende Kinder gebiſſen habe. Sie erſchrack ob der nahen Gefahr,wußte17wußte nicht, ob ſie vor oder ruͤckwaͤrts gehen ſolle, und ſah endlich den Hund auf ſich zuei - len. Ein altes Muͤtterchen, das ſeinen kleinen Enkel retten wollte, wurde von ihm zu Boden geſtuͤrzt, und nun eilte er unaufhaltſam nach Amalien zu. Angſt und Schrecken hemmte ihre Kraͤfte und Stimme. Sie eilte jam - mernd vorwaͤrts, erblickte die wuͤthende Beſtie ſchon hinter ſich, und ſtuͤrzte, indem ſie ſich in ihr Kleid verwickelte, huͤlferufend und ſinnlos zu Boden. Als ſich ihre Sinne wie - der ſammleten, und ſie empor blickte, ſtand ein fremder Juͤngling vor ihr; er hielte un - ter ſeiner Linken einen bloßen Degen, und reichte ihr mit traurigem, aber doch freund - lichem Blicke, die Rechte. Unfern von ihr waͤlzte ſich der wuͤthende Hund in ſeinem Blute, vom Dorfe herauf erſcholl aus dem Munde der Herbeieilenden das Lob des muthi - gen Retters.
Biogr. d. W. 3. B. B18Amalie (zu dem Juͤngling). So habe ich ihnen mein Leben zu danken? So haben ſie meine armen Eltern der Verzweiflung entriſſen?
Der Juͤngling (blickte ſtaunend in ihr Angeſicht, laͤchelte etwas bitter und ſchwieg).
Amalie. Wie ſoll, wie kann ich ihnen die edle That lohnen? O Gott, wenn ich mir die drohende Gefahr, den gewiſſen, ſchrecklichen Tod denke, ſo beben alle meine Glieder. (ſie lehnt ſich auf ſeine Schultern). Und nun gerettet durch ſie, edler Unbekann - ter! Ich muß nochmals fragen: Wie ſoll ich ihnen die That lohnen? Vermags dieſe Thraͤne der Freude — —?
Der Juͤngling. Sie gnuͤgt! Sie gnuͤgt! (duͤſter) Fraͤulein! Iſt ihnen itzt beſſer?
19Amalie. Bin ich nicht gerettet?
Juͤngling. (mit feſtem, ernſten Tone) So leben ſie wohl! Dort kommen Leute, wel - che ſie nach Hauſe fuͤhren werden.
Er entfernte ſich ſogleich mit ſchnellen Schritten nach dem Walde, welcher unfern dem Dorfe lag. Vergebens flehte Amalie im ruͤhrendſten, ſchmelzendſten Tone um Ruͤck - kehr, vergebens ſandte ſie aus dieſer Ab - ſicht dem immer ſchneller Eilenden Boten nach, die erſtern wurden raſch zuruͤck gewieſen, die ſpaͤtern konnten ihn nicht mehr erreichen, ihr Auge verlohr ihn im Walde, und Amalie trauerte tief, daß ſie den Namen ihres Ret - ters nicht einmal im Gebete nennen koͤnne. Sie ſetzte ſich ermattet auf der kleinen An - hoͤhe nieder, Greiſe und Kinder ſtanden ne - ben ihr, und erzaͤhlten ihr: Wie der unbe - kannte Juͤngling, als ſie um Huͤlfe rief, raſchB 220aus dem nahen Graben, in welchem er wahr - ſcheinlich gelagert lag, empor ſprang, ſeinen Degen zog, und mit zwey kraftvollen Hieben den wuͤthenden Hund zu Boden ſtreckte. Sein Bild ſchwebte klar und deutlich vor Amaliens Augen. Er war groß und ſchoͤn, ſein brau - nes Haar rollte in verwirrten Locken um ſein Haupt, deckte ſeine gewoͤlbte Stirne, an deren Ende ein paar große, ſchwarze Augen oft wild, nur einmal freundlich hervorblick - ten. Sein von der Sonne verbranntes, aber doch bleiches Angeſicht, verkuͤndigte Krankheit oder inneres Leiden. Seine Kleidung verrieth ehemaligen Reichthum, denn ſie war nach der neueſten Mode gemacht, bewies aber auch eben ſo deutlich wenigſtens nahende Armuth, denn ſie war ſchon abgetragen, hie und da merklich beſchmuzt. Der erſt ſich faͤrbende Bart war uͤbrigens der aͤchte Beweiß, daß der Unbekannte kaum vierundzwanzig Jahre zaͤhle, vielleicht ſich ihnen erſt nahe. Er hatte Ama -21 lien vom ſchmaͤhligen Tode gerettet, ſie nicht eher, als bis die Einwohner des Dorfs zu ihrer Unterſtuͤtzung herbei eilten, verlaſſen. Es war daher kein Wunder, daß die Geſtalt des edlen und ſchoͤnen Retters tiefen Ein - druck auf ihr Herz machte, es mit Wuͤnſchen fuͤllte, die ſie bisher noch nicht gekannt hatte.
Noch ſtaunte ſie dem Entflohenen in die weite Ferne nach, hofte vergebens, daß er ruͤckkehren wuͤrde; als ein Greis ihr eine Schreibtafel uͤberreichte, welche er in dem Gra - ben gefunden hatte. Sie war geoͤfnet, nicht unedle Neugierde des Weibes, ſondern ſehn - liches Verlangen, den Retter durch dieſen gluͤcklichen Zufall naͤher kennen zu lernen, ver - leitete Amalie, ſolche zu durchblaͤttern. Sie war leer, nur zwei Seiten waren beſchrieben, es ſchienen fluͤchtige Gedanken, welche der Verfaſſer eben entworfen hatte, als Amaliens aͤngſtliches Geſchrei ihn zu Huͤlfe rief. Ama -22 lie las ſie mehr als einmal, ſie karakteriſirten das Gefuͤhl, die Denkungsart und den un - gluͤcklichen Zuſtand des Juͤnglings deutlich. Sie war eitel genug, das Ende derſelben auf ſich zu deuten, und dies erhoͤhte den Werth des gefundenen Schatzes um ein großes.
„ Liebe! Liebe! Liebe! “ſo ſtand in der Schreibtafel geſchrieben, „ du biſt ein unbe - „ greifliches Weſen! Wie ſoll, wie kann ich „ mir deine entgegengeſetzten Wuͤrkungen er - „ klaͤren? Du machſt aͤußerſt gluͤcklich, aber „ auch noch weit ungluͤcklicher! Nein, nein! „ Nie gluͤcklich! Du biſt nur ein ſuͤßes Gift, „ das zum[Genuſſe] reizt, langſam, aber auch „ ſicher toͤdtet. Du biſt das aqua toffana der „ menſchlichen Sinne, Begierden und Leiden - „ ſchaften! So will ich dich kuͤnftig nennen, „ und mich fuͤr deinem Genuſſe huͤten, nicht „ leeren den goldnen Becher, den mir mit „ laͤchelnder Miene das Meiſterſtuͤck der Schoͤp -23 „ fung reicht. Du theilſt dich in verſchiedene „ Zweige, du liebſt als Freund, als Mut - „ ter und Vater, als Bruder und Kind, als „ Gatte und zaͤrtlicher Liebhaber; aber du „ biſt und bleibſt Gift! Betruͤgt nicht auch „ der Frennd den Freund, flucht nicht oft der „ Vater dem Kinde, haßt nicht das Kind die „ Eltern, der Bruder die Schweſter, wird „ nicht die Gattin dem Manne, die Geliebte „ dem Liebhaber oft ungetreu? Aqua toffana „ des menſchlichen Geſchlechts! So will ich dich „ kuͤnftig nennen! — — Schoͤn und reitzend „ gieng ſie geſtern vor mir uͤber, lockend und „ anziehend war ihre Geſtalt! Ich haͤtte vor „ ihr niederknien und ſie anbeten moͤgen, wie „ ſie mitleidig und liebevoll den gefallenen „ Buben[aufhob], ihm das Butterbrod wieder „ in die Hand ſteckte, ſeine Wangen ſtreichelte, „ und ſeine Thraͤnen trocknete. Millionen — „ wenn ich ſie beſaͤße — haͤtte ich geopfert, „ um die Stelle des gefuͤhlloſen Buben ein -24 „ nehmen, den Strich ihrer ſeidnen Hand fuͤh - „ len, den unnachahmlichen Blick ihres gro - „ ßen Auges auffangen zu koͤnnen; aber, „ aber — — “
Hier hatte zum groͤßten Mißvergnuͤgen der leſenden Amalie der unbekannte Schreiber ge - endet. Mit innigem, noch nie gefuͤhlten Ver - gnuͤgen wiederholte ſie die lezten Zeilen, wenn ſie aber bis ans Ende kam, da ſank ihr Blick traurig zu Boden, das zweimal wiederholte Aber ſchien ſo ganz das angenehme Lob ver - nichten zu wollen. Daß ſie es uͤbrigens ſei, von welcher der Unbekannte ſpraͤche, ward ihr um deswillen zur vollen Ueberzeugung, weil ſie ſich deutlich der ganzen Handlung erin - nerte, welche ſie geſtern an einem kleinen Bauernbuben geuͤbt hatte.
Sie ſuchte endlich nach mehrern Lichte in der Schreibtafel umher, und fand in einer25 Falte derſelben zwei kleine Zettel. Großmuͤ - thiger Wilhelm, ſtand auf einem derſelben mit Bleiſtift geſchrieben, kehre zuruͤck, und troͤſte deine ungluͤckliche Mutter! Heilloſer Bube, war der Innhalt des zweiten, wenn du es noch einmal wagſt, in der Naͤhe mei - nes Schloſſes zu erſcheinen, ſo vergeſſe ich, daß ich dein Vater war, und ſchieſſe dich gleich einem ſchaͤdlichen Raubthiere nieder. Nimm dies zur lezten Warnung, und packe dich auf ewig von hinnen! — — Mit vielen Thraͤ - nen ſchien das erſtere betraͤufelt, mit keiner einzigen das leztere.
Amalie nahm innigen Antheil am Schick - ſale der ungluͤcklichen Mutter, des wahr - ſcheinlich noch ungluͤcklichern Sohnes; ſie ſchau - derte fieberhaft empor, wenn ſie ſich den wuͤ - thenden Vater dachte, der ſein eignes, ge - wiß unſchuldiges Kind ſo grauſam von ſich ſtieß, es ſogar zu ermorden drohete. Sie26 blickte dankbar gen Himmel, weil er ihr ei - nen ſo guten Vater geſchenkt hatte, aber ſie weihte auch dem ungluͤcklichen Juͤnglinge reich - liche Thraͤnen, weil er, mit des Vaters Zorn und Fluch belaſtet, unſtaͤtt und fluͤchtig umher irren mußte.
Eben fiel es ihr aufs Herz, daß ihre Eltern durch falſche Nachricht getaͤuſcht, um ſie zagen koͤnnten, und wollte nach dem Schloſſe ruͤckkehren, als man ihr meldete, daß beide ſchon in ſchneller Eile ſich nahten. Sie verbarg die Schreibtafel in ihre Taſche, und wallte ihnen entgegen. Angſtvoll blickten die Aermſten ſie an, als ſie ſich naͤherten, freudetrunken ſanken ſie in ihre Arme, als ſie die gluͤckliche Rettung erfuhren, welche ſie vorher nur wuͤnſchen, nicht hoffen konnten. Auch ſie wuͤnſchten den edlen Unbekannten eh - ren, danken und lohnen zu koͤnnen, neue27 Boten wurden ausgeſandt, kehrten aber gleich den erſtern ohne ihn zuruͤck.
Amalie trauerte aufs neue, ihr gutes Herz war des Dankes ſo voll, es preßte und aͤngſtigte unaufhoͤrlich ihre ſonſt ſo ſorgenfreie Bruſt. Sonſt ruhte ſie die ganze Nacht un - geſtoͤrt im Arme des wohlthaͤtigen Schlafes, itzt durchwachte ſie oft halbe Naͤchte in ban - gem Gefuͤhle und ſtummen Staunen. Im - mer ſtand der edle Juͤngling vor ihr, bald laͤchelte, bald drohte er. Sein Ungluͤck machte gerechten Anſpruch auf ihr Mitleid, auf ihre Huͤlfe, ſie trauerte tief, daß ſie ihm die letztere nicht leiſten koͤnne. Schoͤn und reitzend, ſprach ſie oft hingeriſſen vom innigen Gefuͤhle, ſtand er vor mir, lockend und anziehend war ſeine Geſtalt, aber, aber — er floh, und ich kann ihn nicht wie - der ſehen, nicht danken fuͤr ſeine große Wohl - that!
28Um nicht neues Ungluͤck zu erfahren, ſo antwortete ſie wenigſtens oft dem fragenden Vater, beſuchte ſie nicht mehr die Schnitter des Feldes, ſaß immer nur unthaͤtig und trau - rend in den Lauben des Gartens, weil ſie dort ungeſtoͤrt an den Unbekannten denken, ſeine Schreibtafel durchblaͤttern, und ſeine Sen - tenzen leſen konnte. Oft ſtand ſie auch auf dem hohen Altane des Gartens, irrte gedan - kenlos mit ihrem Blicke in der reizenden Gegend umher, und ward nur dann aufmerk - ſam, wenn ſie in der Ferne oder Naͤhe einen einzelnen Wanderer erblickte. Sehr oft fuͤhr - te ſie ihr forſchendes Auge, ihre immer ge - reizte Einbildungskraft irre, ſie eilte dann — ohne einer Gefahr zu gedenken — ins Freie, und kehrte mißmuthig zuruͤck, wenn ſie uͤber - zeugt wurde, daß der Wanderer ihrem Juͤngling nicht gleiche.
29Bei einer aͤhnlichen Gelegenheit ſtieg ſie bis ans Ufer der Elbe hinab; gegen uͤber lag eine kleine Inſel, welche hohe Weiden und Erlen beſchatteten, ihr wohlthaͤtiger Schat - ten, ihre melancholiſch umher ſchwankenden Aeſte luden ſie zum Genuſſe ein. Ein kleines Schifchen lag am Ufer, ſie rufte die nahen Fiſcher herbei, und ließ ſich nach der Inſel fuͤhren. Verſunken in ſuͤßen Traͤumen, um - herſchweifend im reizenden, oft aber auch ge - fahrvollen Irrgarten der Liebe — denn Ama - lie liebte ſchon wirklich — vergaß ſie die be - ſtimmte Ruͤckkehr, ſah nicht, daß ſchwarze Gewitterwolken ſich uͤber die Berge herab ins Thal ſenkten, und fuͤrchterlichen Sturm ver - kuͤndigten. Zu ſpaͤt erwachten die ſchlafen - den Fiſcher, machten Amalien die drohende Gefahr kund, und hoften mit Gottes Bei - ſtande in ſchneller Eile noch uͤberzuſchiffen, ehe der Sturm zu wuͤthen beginne. Wahr - ſcheinlich wuͤrde ſich Amalie zu der gefahrvol -30 len Ueberfahrt nicht entſchloſſen, lieber das Ende des Sturms auf der Inſel abgewartet haben, wenn nicht die Schiffer ſie verſichert haͤtten, daß jeder anhaltende Platzregen die Inſel, ihrer niedrigen Lage wegen, uͤber - ſchwemme, und ſie dann ſicher ein Raub der Wellen wuͤrde, wenn dieſer allen Anzeichen nach erfolgen ſollte.
Mit bebendem Herzen betrat Amalie das Schifchen, noch mehr zitterte und zagte ſie, als in der Mitte des Stroms der Sturm zu wuͤthen begann, den Kahn unaufhaltſam mit ſich fortriß, und nach einigen Schifmuͤhlen hinſchleuderte, welche am Ufer des Stroms lagen. Schon entſagten die ermatteten Schif - fer jeder Hofnung zur Rettung, ſchon ließen ſie die unnuͤtzen Ruder ſinken, und hoben die Haͤnde zum lezten Gebete empor, als das kleine Schiff im vollen Laufe an einen Pfahl ſtieß, und ſchnell umſchlug. Die Fiſcher ſuch -31 ten ſich durch Schwimmen zu retten; Ama - lie vermochte es nicht, ob ſie gleich ihr langes Kleid, das ſich gleich einem Seegel auf dem Waſſer ausbreitete, nicht ſinken ließ. Die Vorſtellung des gewiſſen Todes raubte ihr die Sinne; wie ſie wieder denken und fuͤhlen konnte, lag ſie am Ufer des Fluſſes, der unbekannte Juͤngling ſtand neben ihr, und hielte ihre Linke in ſeiner Rechten, um den Schlag ihres Pulſes zu beobachten. Sein Haar, ſeine Kleider trieften vom Waſſer, Fieberkaͤlte ſchuͤttelte ſeine Glieder, und ruͤt - telte ſeine Zaͤhne, er laͤchelte freundlich, wie ſie die Augen oͤfnete, er ließ ihre Hand ſin - ken, wie ſie Dank ſtammelte. Der Muͤller eilte mit ſeinen Leuten herbei. Pflegt ihrer, bis der Sturm voruͤber zieht, und fuͤhrt ſie dann in die Arme der harrenden Eltern zu - ruͤck, ſprach der Unbekannte, und entfernte ſich ſchnell. Bleib, bleib! geliebter Retter! rief zwar Amaliens ſchwache Stimme ihm nach,32 aber der Sturm verwehete das leiſe Lispeln der Matten, er hoͤrte ihren Ruf nicht, und zog eilend von dannen.
Eine neue Ohnmacht, die Folge des vie - len verſchluckten Waſſers, bemaͤchtigte ſich Amaliens Sinnen, ſie erwachte erſt nach ei - ner halben Stunde in den nahen Huͤtten, wo - hin ſie die Muͤller getragen hatten. Ihre El - tern ſtanden weinend vor ihr, troſtlos rang die zaͤrtliche Mutter die Haͤnde, verzweif - lungsvoll raufte der Vater ſein Haar, ſie ſah's, aber ihr erſtes Wort war doch die Frage: Ob ihr edler Retter abermals ver - ſchwunden ſei? Eine Thraͤne ſchlich uͤber ihre bleiche Wange, als die Muͤller verſicherten, daß man ihn nicht mehr geſehen, nicht wiſſe: Wohin er ſeinen Weg genommen habe? — — Vater und Mutter muͤhten ſich vergebens, ſie durch Scheingruͤnde der moͤglichen Entdek -kung33kung zu troͤſten, ſie nannte ſich hoͤchſt un - gluͤcklich, weil ſie nicht dankbar ſein konnte.
Wie man ſie nach dem Schloſſe getragen, und der herbeigerufene Arzt verſichert hatte, daß ſie gluͤcklich gerettet, und keine Gefahr des Lebens vorhanden ſei, gab der Vater ih - ren Bitten nach, und ſandte in alle Gegen - den Boten aus, welche den Retter ſeines Kindes wenigſtens auf einen Tag, auf eine Stunde in ſein Schloß laden ſollten. Auch die Muͤller wurden auf Amaliens Verlangen herbeigerufen, und mußten ausfuͤhrlich erzaͤh - len, wie der unbekannte Juͤngling ſie geret - tet habe.
Er ſaß, ſprach einer derſelben, eben in meinem Gaͤrtchen, und trank Milch, um die er mich gebeten hatte, als der Sturm be - gann. Ich trat zu ihm, und bat ihn, in die Huͤtte zu kommen: aber er lachte bitter,Biogr. d. W. 3. B. C34und verſicherte mich, daß er ſich nie beſſer befinde, als wenn er im Freien zuſehen koͤn - ne, wie wilder Sturm in fruchtbaren Gefil - den wuͤthe. Ich geſteh's aufrichtig, daß mir dieſe menſchenfeindliche Antwort wehe that, und wollte ihn eben verlaſſen, als er mit ein - mal in die Ferne ſtarrte, pfeilſchnell auf - ſprang, und nach dem Fluſſe hinab lief, ich folgte ihm muͤhſam, und ſah gleich ihm, daß der Sturm das kleine Schiff auf dem Stro - me herab gegen die Muͤhlen treibe, ich rann - te zuruͤck, um mit meinen Knechten dort Huͤlfe leiſten zu koͤnnen, beweinte aber auf - richtig ihren Tod, wie ich das Schiff nicht mehr, und die Fiſcher im Waſſer erblickte. Um wo moͤglich, Rettung zu verſuchen, rann - te ich mit meinen Knechten am Ufer auf - waͤrts, und ſah deutlich, wie die Fiſcher das Land gluͤcklich erreichten, der fremde Unbe - kannte aber eben unſre Jungfrau ſchwimmend durch die Wellen trug. Wir frohlockten ihm35 entgegen, aber ſeine Blicke waren nur auf die Ohnmaͤchtige gerichtet, er legte ſie nahe am Ufer nieder, und entfernte ſich erſt dann, als wir bei ihm anlangten.
Nach dieſer Erzaͤhlung wurde die Begier - de, dem edlen Retter danken zu koͤnnen, in den Herzen der guten Eltern gleich ſtark rege, auch ſie wuͤnſchten, daß die ausgeſandten Bo - ten ihn finden, und aufs Schloß fuͤhren moͤchten. Mit eben ſo ſtarker Sehnſucht er - warteten ſie die Ruͤckkehr derſelben, trauerten und weinten mit ihrer Tochter, als alle ohne Hofnung, ohne Troſt ruͤckkehrten. Keiner hatte ihn geſehen, keiner mit ihm geſprochen, er ſchien einer wohlthaͤtigen Gottheit zu glei - chen, die nur dann zu Huͤlfe herbeieilte, wenn Amaliens Leben in Gefahr ſchwebte; die ploͤtzlich verſchwand, wenn ſie fuͤr dieſe Rettung danken wollte.
C 236Ungeachtet aller Verſicherung des Arztes, daß alle Gefahr geendet habe, fand man Amalien doch am andern Morgen in einer anhaltenden Fieberhitze. Angſt und Schrecken, die jaͤhe Erkaͤltung hatte auf ihren Koͤrper; betrogene Hofnung, getaͤuſchte Sehnſucht, den geliebten Retter zu ſprechen, auf ihre Seele gleich ſtark gewuͤrkt. Der Arzt erſchrak, als er ſie in dieſem Zuſtande traf, er ver - heelte den Eltern die Gefahr nicht, in wel - cher ſie einige Tage nachher wirklich ſchwebte, aus welcher ſie endlich nicht die Kunſt des Arztes, ſondern jugendliche Kraft und Staͤrke gluͤcklich rettete. Groß war dieſe Zeit uͤber der liebenden Eltern Jammer, ſie wichen nicht von dem Bette des einzigen Kindes, und hoͤrten es deutlich, wie ſie oft durch Huͤlfe des fie - briſchen Irrwahns in Waͤldern umher irrte, ihren Retter ſuchte, und nirgends fand.
37Nach vier Wochen konnte ſie zum erſten - male wieder im Garten umher ſchleichen, und die Reize des nahenden Herbſtes genießen. Tod waren fuͤr ſie ſeine Freuden, die er auf ſo vielerlei Art, auf ſo mancherlei Weiſe ge - waͤhrt. Ihr Herz war mit Sehnſucht, mit inniger Liebe gefuͤllt, ſie fuͤhlte es deutlich, daß ſie nur in den Armen des Retters gluͤck - lich leben, nur in dieſen die Freuden der Natur genießen koͤnne. Immer ſchwebte ſein Bild vor ihren Augen, bald ſah ſie ihn, wie er mit maͤnnlicher Staͤrke den wuͤthenden Hund toͤdtete, noch oͤfterer, wie er ſie in ſeinen Armen aus den Fluthen rettete. Ge - taͤuſcht durch ihre lebhafte Einbildungskraft, ſchmiegte ſie ſich dann feſt an ſeine Bruſt, und ſchauderte traurend zuruͤck, wenn das angenehme Bild verſchwand, ſie verlaſſen und einſam da ſtand. Die Schreibtafel des Unbe - kannten, welche ſie ſtets bei ſich trug, war ihr ehe ſchon theuer, itzt theurer als alle38 Schaͤtze der Erden; ſie beſchaͤftigte ſich ſtun - denlang damit, und mehrte dadurch ihre Me - lancholie um ein großes, weil jedes Wort, das darinne geſchrieben ſtand, ſie uͤberzeugte, daß ihr Liebling ungluͤcklich ſei, wahrſchein - lich mit Elend und Mangel kaͤmpfte, vielleicht um deswillen unſtaͤt und fluͤchtig umher irre.
Mit dieſen Gedanken beſchaͤftigt, ging ſie einige Wochen nachher nach einem kleinen Buchenhain ſpatzieren, ihr folgten zwei Die - ner, welche der beſorgte Vater zu ihrem Schutze geordnet hatte, ſie waren ihr nicht laͤ - ſtig, weil ſolche ſie nie in ihren Gedanken ſtoͤhr - ten, nur ſtill hinter ihr her ſchlenderten. Der Weg nach dem Haine fuͤhrte durch eine Allee von Obſtbaͤumen, ihre Aeſte bogen ſich unter der Laſt der vielen Fruͤchte; ehemals wuͤrde dieſer Anblick ihr das groͤßte Vergnuͤ - gen gewaͤhrt haben, itzt war er ihrem Auge laͤſtig, es weilte nur auf den gelben Blaͤt -39 tern, die hie und da hervorblickten, und den nahenden Winterſchlaf verkuͤndigten. O koͤnnte ich mit euch ruhen und ſchlafen, rief ſie aus, und unwillkuͤhrliche Thraͤnen waͤſſer - ten ihr großes Auge.
Noch immer war dieſer Gedanke ihre Be - ſchaͤftigung, als ſie ſchon auf einem großen Steine im Walde ſaß, und die Diener hinter ihr mit einmal laut und aͤngſtlich zu ſchreien begannen. Amalie fuhr erſchrocken empor, forſchte nach der Urſache, aber die Diener konnten fuͤr Schrecken nicht antworten, zeig - ten mit ihrer Rechten unaufhoͤrlich nach einem Baume. Amaliens Blick folgte, ſie ſah an dem Aſte deſſelben einen Menſchen hangen, ihr zweiter Blick[uͤberzeugte] ſie ſchon, daß dies ihr Retter, der ungluͤckliche,[unbekann - te] Juͤngling ſei. Die Hofnung, Vergelterin zu werden, ihn auch aus den Armen des Todes zu retten, hielte ſie aufrecht, ſie eilte40 hinzu, und rufte die noch immer ſtaunenden Diener zur Huͤlfe herbei. Durch ihr flehen - des Bitten bewogen, loͤßte einer derſelben mit ſeinem ſcharfen Meſſer das Strumpfband, an welchem der ungluͤckliche Selbſtmoͤrder hing, er ſank herab, lag ſtarr und tod zu Amaliens Fuͤßen. Sie jammerte, rang nach Huͤlfe, fand keine, und befahl endlich, ihn nach dem Schloſſe zu tragen. Unterwegs traͤu - felten ihre Thraͤnen oft auf die bleiche Wan - ge des Juͤnglings, ſie beſchwor die Diener, daß ſie die Art ſeines Todes niemanden ent - decken moͤchten, ſie verſprach ihnen immer - dauernde Verſorgung, wenn ſie ihrer Bitte achten wuͤrden, und ſie gelobten ſtrenges Stillſchweigen.
Jeder der Schloßbewohner glaubte, daß man den Juͤngling tod im Walde gefunden habe, und da ſein Geſichte noch nicht ent - ſtellt, ſeine Wangen mehr bleich als blau41 waren, ſo glaubte dies auch der herbeieilen - de Wundarzt, irrte nicht, wenn er ihn als einen jaͤh Erſtickten oder vom Schlage getrof - fenen Menſchen behandelte. Als er kurz nach - her die Adern deſſelben oͤffnete, und noch Blut floß, da gewaͤhrte er der harrenden Amalie[Hofnung], und Zeichen des nahenden Lebens machten dieſe bald zur frohen Gewißheit. Reine, aͤchte Freude glaͤnzte zum erſtenmale wieder auf ihren Wangen, faͤrbte dieſe hoch - roth, als man ihr meldete, daß der Juͤng - ling wieder athmete, und die Augen oͤfne. Vater und Mutter theilten dieſe Freude red - lich mit ihr, und ſahen es gerne, daß ihr Kind auf ſo ſchoͤne Art an dem Unbekannten wieder vergolten habe, was er ohne Lohn an ihr uͤbte.
Noch hatte der Ungluͤckliche kein Wort ge - ſprochen, als der Wundarzt Amaliens Bit - ten nachgab, und ſie vor ſein Bette treten42 ließ, ſie wuͤnſchte abſichtlich mit ihm einige Worte allein ſprechen zu koͤnnen, und hatte ſich deswegen aus dem Zimmer ihrer Eltern weggeſchlichen. Des Juͤnglings Auge ſtarrte, als ſie eintrat, wild und unruhig umher, es blieb an ihr hangen, und ſtaunte ſie an. Amalie trat zu ihm, und bog ſich mitleidig auf ihn herab. Thraͤnen ſammelten ſich in ſeinen Augenwinkeln, er wollte ſprechen, und vermochte es nicht.
Amalie (ſeine Hand ergreifend, und wahrſcheinlich auch druͤckend). Sein und blei - ben ſie ruhig! Verſchmaͤhen ſie nicht die Huͤl - fe der dankenden Freundinn. Kann es ſie[be - ruhigen], ſo ſchwoͤre ich Ihnen auf meine Eh - re, daß niemand weiß, wie ich ſie fand und rettete.
Der Juͤngling (ſchwach). Sie? Sie retteten mich?
43Amalie. War's nicht Pflicht, nicht Schuldigkeit? Nicht Wiedervergeltung? O Grauſamer, du thateſt mir weh, ſehr weh, daß du mir ſo hartnaͤckig jeden Dank rauben wollteſt.
Der Juͤngling (ſehr geruͤhrt). Ich — ich muß danken — — Und dieſe Schonung — meiner Ehre — —.
Thraͤnen rollten uͤber ſeine bleichen Wan - gen, er deutete mit dem Finger darauf, um Amalien zu uͤberzeugen, daß dieſe Opfer ſei - nes Dankes waͤren. Der Wundarzt nah'te ſich itzt, und bat dringend um Entfernung, weil heftige Gemuͤthsbewegung dem Kranken aͤußerſt ſchaͤdlich ſei.
Amalie wich dieſem Bewegsgrunde willig, und ſah mit Vergnuͤgen, als ſie an der Thuͤre ruͤckblickte, daß das Auge des Juͤng -44 lings ihr dankbar folge. Sie hatte wahrge - nommen, daß dem Kranken reine Waͤſche mangle, ſie ſandte ſolche ſogleich durch ihre Diener, nnd ordnete dieſe zu ſeinen Waͤrtern und Waͤchtern, damit nicht neuer Anfall der Verzweiflung ihre Huͤlfe vernichte. Froh ging ſie am Abende ſchlafen, froͤhliche Bilder der Zukunft umgaukelten ſie traͤumend, weil Wundarzt und Diener ſie verſicherten, daß alle Gefahr ſchwinde, und der Kranke mit gutem Appetite die Suppe genoſſen habe, welche ſie ihm ſandte. Noch froͤhlicher er - wachte ſie, und kleidete ſich mit ſchneller Eile an, als man ihr am Morgen meldete, daß der Fremde in ihrem Vorzimmer harre, ſie zu ſprechen verlange. Er trat bald hernach auf ihr Geheiß ein, ſie zitterte ihm entge - gen, und reichte ihm ihre Rechte.
Der Juͤngling (dieſe kuͤſſend). Mein Fraͤulein, ich komme ihnen zu danken — —
45Amalie. Nicht auch den ſchon laͤngſt ſchuldigen Dank abzuholen? Ich verwahrte ihn tief in meinem Herzen, er ward mir oft zur ſchweren Laſt. Ich hoffe, daß ſie ihn nicht verſchmaͤhen, mich davon befreien wer - den.
Der Juͤngling. Was that ich, das des herrlichen Danks wuͤrdig waͤre? Ich ret - tete ihr Leben, aber ſie, mein Fraͤulein, retteten Leben und Seele. Schon beim na - henden Tode wird's heller! Es giebt eine Ewigkeit, einen Belohner des Guten und Boͤſen! Ich bin nun uͤberzeugt, will dulden und leiden, ſo lange er's fordert; daß ich's vermag, danke ich ihnen mit dem geruͤhrte - ſten Herzen. Leben ſie wohl! Er ſah die edle That, er nur allein kann ſie belohnen, ich traue auf ihn, er wird's gewiß thun!
46Amalie (zitternd und bebend). Wie, ſie wollen uns wieder verlaſſen? — — (lang - ſam) Mich verlaſſen?
Der Juͤngling. Muß ich nicht! Ich habe die ganze Nacht nach Ausſicht und Huͤlfe gerungen; ich fand nur eine moͤgliche. Sonſt verachtete ſie mein ſtolzes Herz, itzt will, und muß ich ſie ergreifen. Ich hoffe, daß irgend ein mitleidiger Offizier mich als einen Soldaten annehmen, und mir dieſen harten Stand durch menſchliche Behandlung erleichtern wird. Ich muß eilen, ihn auszu - fuͤhren, damit nicht zu fruͤhe Reue ihn ver - nichtet, und mich aufs neue zur Verzweif - lung reizt.
Amalie. Nein! Nein! — — Gott be - wahre! Sie bleiben bey mir, bey meinen Eltern, werden ihr Sohn, und mein — — (ſie ſtockt) und mein Bruder, mein Geſell -47 ſchafter. (der Juͤngling ſchuͤttelt mit dem Kopfe) Sie muͤſſen bleiben, und ſollte ich kniend ſie bitten! Werden, koͤnnen ſie dann mich ver - laſſen?
Der Juͤngling. O Gott! Wie ſelig wuͤrde ich mich in Ihrer Geſellſchaft duͤnken! Wie angenehm wuͤrden meine Tage dahin ſchwinden, aber bald wuͤrde auch ſchwarze Verlaͤumdung — — O daß ich's als Kind geſtehen muß! — — Verlaͤumdung eines Va - ters mich dieſem ſeligen Gluͤcke entreiſſen, und dann waͤre ich ja noch ungluͤcklicher, muͤßte ein Raub der Verzweiflung werden. Drum iſt's Pflicht, daß ich ſcheide, da es noch moͤglich iſt. Das Ungluͤck hat mich zu ſeinem Lieblinge erwaͤhlt, bisher ſuchte es mich emſig, ob ich ihm gleich zu entgehen ſuchte, itzt will ich es ſuchen, und ſehen, ob es mich auf ewig feſſeln, oder den An - blick des Duldenden fliehen wird.
48Amalie. Wenn blos die Sorge, daß irgend eine Verlaͤumdung den lebhaften Dank in meinem und meiner Eltern Herzen mindern koͤnne, ſie zu ſolch einem Schritt verleitet, ſo ſchwoͤre ich ihnen bei Gott dem Allmaͤchtigen, daß dies nie geſchehen wird, nie geſchehen kann, ſo ſollen meine Eltern ſogleich in ih - rer Gegenwart meinen Schwur wiederholen. (ſie wollte gehen, der Juͤngling hielt ſie zuruͤck.)
Der Juͤngling. Ich bin ſchon uͤber - zeugt.
Amalie (freudenvoll). Und bleiben?
Der Juͤngling. Und bleibe, weil mei - ne Retterin es fordert.
Amalie. Und nehmen aus der Hand des Vaters, der Mutter und der Schweſterjede49jede Huͤlfe, jede Unterſtuͤtzung an, die ſie noͤ - thig haben.
Der Juͤngling (mit ſich kaͤmpfend). Verzeihen, vergeben ſie, aber es koſtet mich Muͤhe, den unbaͤndigen Stolz zu daͤmpfen, der das einzige Erbtheil meines Vaters iſt. Ja, ich nehme alles an, womit ihre unver - diente Guͤte einen Ungluͤcklichen beſchenken will. — —
Amalie. Nur zu belohnen wuͤnſcht.
Sie fuͤhrte nun den Unbekannten ins Zimmer ihrer Eltern, und ſah mit Vergnuͤ - gen zu, wie dieſe von wahrer Dankbarkeit beſeelt, ihm gleiche Antraͤge machten, mit edler Großmuth ihre Neugierde bekaͤmpften, nicht nach der Urſache ſeines Ungluͤcks forſch - ten, ſondern es nur durch das Verſprechen aller moͤglichen Huͤlfe zu lindern ſuchten. DerBiogr. d. W. 3. B. D50Juͤngling erkannte ihre edle Behandlung mit innigem Danke, und gelobte, nicht allein zu bleiben, ſondern ſich auch ganz der Lei - tung des guten Alten zu uͤberlaſſen, der ſich's mehr als einmal von ihm ausbat, daß er ihn Vater nennen moͤge. Kommen ſie, lieber Sohn, ſprach er endlich zum geruͤhrten Juͤnglinge, ich muß mit ihnen in meinem Kabinete allein ſprechen. Mit gluͤhender Wange und weinendem Auge kehrte endlich der Juͤngling zur harrenden Amalie zuruͤck, und geſtand ihr auf einem Spaziergange im Garten, daß der gute Vater ihn mit einer vollen Geldboͤrſe beſchenkt, und von ihm ver - langt habe, daß er morgen nach der nahen Stadt reiſen, ſich dort ſeinem Stande gemaͤß equipiren ſolle.
Amalie. Sie kehren doch aber ſo bald als moͤglich zuruͤck?
51Der Juͤngling. Gott, im Himmel! Sie koͤnnen fragen? Waͤr's nicht der Wille des neuen, allzuguͤtigen Vaters, der's mit vollem Rechte erkennt, daß man die Men - ſchen nur nach den Kleidern beurtheilt, ich wuͤrde nicht von der Sonne weichen, die mich itzt ſo huldvoll anlaͤchelt, in deren Strah - len ich mich nie zu waͤrmen hofte.
Amalie (laͤchelnd). Nun wohl, ich will ſehen: Ob der neue Bruder die Schwe - ſter auch wuͤrklich zaͤrtlich liebt? Ihre fruͤhere oder allzulange verzoͤgerte Ankunft wird's ent - ſcheiden.
Der Juͤngling. Dann bin ich morgen wieder hier.
Amalie. Dieſe Eile wuͤrde die Abſicht des Vaters und den Entzweck ihrer Reiſe vernichten. Warten ſie, ich will's berechnen! D 252Wenn ſie kein Geld ſparen, und dies haben ſie wahrlich nicht noͤthig, ſo koͤnnen ſie in acht, laͤngſtens zehn Tagen wieder hier ſein. (ſcherzend) Ja, ja, lieber Bruder Wilhelm, in zehn Tagen erwartet dich deine Schweſter mit Sehnſucht, und wird an deiner Liebe zweifeln, wenn du ſpaͤter wiederkehrſt.
Der Juͤngling (etwas unruhig). Sie nannten mich Wilhelm? Woher wiſſen ſie es, daß ich mich ſo nenne?
Amalie (etwas verwirrt). Warum ſoll ich's laͤugnen? Als ſie mich aus den Klauen des wuͤthenden Hundes retteten, fand ein Bauer ihre Schreibtafel im Graben. Daß ich ſie begierig durchblaͤtterte, wenigſtens den Namen meines Retters darinne zu finden hofte, muß ich ihnen frei geſtehen. Sie war ſeit langer Zeit, das einzige, aber gewiß theure Andenken, welches ich von ihnen be -53 ſaß, itzt will ich es ihnen gerne zuruͤckgeben, da ſie verſprochen haben, mich nicht mehr zu verlaſſen.
Wilhelm. So wenig dieſe Schreibtafel auch enthielt, ſo ſehe ich doch ein, daß ſie durch ihren Beſitz mein ungluͤckliches, aͤußerſt trauriges Schickſal beinahe ganz kennen lern - ten. Wie ich ſehe, ſo habe ich dadurch in ihren Augen nichts verloren, es iſt daher Pflicht, ihnen alles aufrichtig zu erzaͤhlen, da - mit mir nicht verlaͤumderiſche Zungen rauben, was ihr guͤtiges Herz mir bisher in ſo vol - lem Maaße ſchenkte.
Ich bin der einzige Sohn eines Edel - manns in B —, ich nenne mich Wilhelm von L —. Meine Mutter — — Ach ihr fruͤher Tod war die ganze Urſache meines Un - gluͤcks! — — Meine Mutter liebte mich zaͤrt - lich, und erzog mich ſorgfaͤltig, ſie ver -54 mochte wenig uͤber das rohe, oft wilde Herz meines Vaters, aber manchmal gelang es ihr doch, mit ihren ſanften Vorſtellungen Eingang zu finden, und dann benutzte ſie ſolche redlich, um mein Gluͤck zu foͤrdern. Mein Vater hatte nicht die geringſte Erzie - hung erhalten, er konnte nur reiten, jagen, trinken und mit vieler Muͤhe ſeinen Namen unterſchreiben, er achtete es daher gar nicht fuͤr noͤthig, mir eine beſſere Erziehung zu gewaͤhren. Nur durch Jahre langes und un - ermuͤdetes Bitten vermochte es meine Mut - ter uͤber ihn, daß ich nach der Hauptſtadt in eine ritterliche Akademie geſandt, und dort erzogen ward. Ich war der guten Mut - ter einzige Freude und Vergnuͤgen, ſie hatte nicht aus Liebe, ſondern aus Zwang geheu - rathet, und doch entſagte ſie willig aller ih - rer Freude, um mich nur vor den Mißhand - lungen des oft grauſamen Vaters zu retten,55 und einen beſſern, thaͤtigern Mann aus mir zu bilden.
Anfangs mußte ich ſie jedes Jahr, wenn die Schulferien eintraten, beſuchen; als aber mein Vater mich einigemal barbariſch pruͤgel - te, weil ich auf der Jagd einen Fuchs ge - fehlt, einmal gar aus Verſehen eine Hirſch - kuh geſchoſſen hatte, ſo entſagte ſie auch die - ſem Vergnuͤgen, und ließ mich nicht mehr heimholen.
Wie ich endlich meine Studien vollendet hatte, und nun Dienſte des Staats ſuchen wollte, auch wuͤrklich ſchon gegruͤndete Hof - nung dazu hatte, da ſandte mir meine Mut - ter einen Eilboten, und befahl mir, ſo ſchnell als moͤglich aufs vaͤterliche Schloß ruͤck - zukehren, weil der Vater wuͤthe und tobe, ſie zu ermorden und mich zu enterben drohe, wenn ich ſeine Ahnen und Familie ſo ſchimpf -56 lich entehren, ein elender Federheld, ein kriechender Hofſchranze werden wollte. Als ich dem Befehle der guten Mutter getreu, daheim anlangte, ſtand ſie weinend am Fen - ſter, und hob ihre Haͤnde bittend in die Hoͤ - he, mein Vater empfieng mich mit tiefem Ernſte an der Thuͤre, und fuͤhrte mich ſtill - ſchweigend in ſein Kabinet. Auf dem Tiſche lagen zwei Piſtolen, er nahm ſie unter den Arm, und ſah mich lange mit finſterm Blicke an. Biſt, ſprach er endlich, eine wahre Zuk - kerpuppe geworden! Wie das alles gepudert, geſchnerkelt und gedrechſelt iſt! Wie's witter[t], als ob Biſamkatzen hier niſteten! Schwoͤren wollte ich einen hohen Eid, und meine Se - ligkeit rein erhalten, daß du nicht mein Sohn ſeiſt, wenn dir nicht der liebe Gott aus Erbarmen eine Naſe ins Geſicht gepflanzt haͤtte, welche die verdammten Staͤdter doch nicht verhunzen konnten, die der meinigen noch immer aͤhnlich ſieht. Du haſt mir neu -57 lich geſchrieben, ſo hat mir wenigſtens deine ſaubre Mutter vorgeleſen, daß du feſt ent - ſchloſſen ſeiſt, Dinte zu lecken, Federn zu kaͤuen, und mit gleißneriſchen Worten den Obrigkeiten ihre Rechte zu ſchmaͤlern, die einſt ihre Vorfahren mit Muth und Blut theuer erkauften, ich kann unmoͤglich glau - ben, daß mein Blut ſo ganz ausarten ſollte, und habe dich herberufen, um deine Mei - nung zu hoͤren, und dir meinen Willen zu verkuͤndigen.
Ich kannte den wuͤthenden Jaͤhzorn mei - nes Vaters aus fruͤherer Erfahrung, ich ſah ein, daß er fuͤrchterlich wuͤthen, mich ſicher vernichten wuͤrde, wenn ich auch nur mit Gruͤnden ſeine einmal gefaßte Meinung wider - legen wollte, ich geſtand ihm daher offen, daß ich Staatsdienſte fuͤr meine Beſtimmung gehalten haͤtte, weil er mich ſtudieren ließe, daß ich aber Stolz genug von ihm geerbt haͤt -58 te, mit Freuden jedem Dienſte zu entſagen, wenn er es nicht ausdruͤcklich fordere. Nein! nein! rief er haſtig aus, und warf die Piſto - len weg, ich fordre es nicht! Du biſt doch mein Sohn! Sieh, waͤrſt du hartnackig auf deinem verdammten Vorſatze beſtanden, ich haͤtte dir, ſo wahr Gott lebt, eine Kugel durch den Kopf gejagt; itzt umarme ich dich aber als meinen Sohn, werde dich im - mer als ſolchen erkennen, wenn du fortfaͤhrſt, meinen Willen zu beobachten. Laß es gehen, Wilhelm, fuhr er fort, die verdammten Staͤdler haben dich zwar ganz verhunzt, aber ich wills uͤber mich nehmen, noch aus dir ei - nen braven Kerl zu machen, haſt du das ver - dammte Geſchmiere und Gekritzle begreifen lernen, ſo wird dir's auch nicht ſchwer wer - den, dich in ritterlichen Thaten zu uͤben, die ſchon in deinem Blute keimen muͤſſen, wenn's aͤcht und rein auf dich kam.
59Er erlaubte mir nun, meine Mutter zu beſuchen, die mich weinend umarmte, und mir zaͤrtlich dankte, daß ich mich ſo willig der wilden Laune meines Vaters gefuͤgt hatte. Er war bei Tiſche munter und froͤhlich, als ich in einem gruͤnen Jagdrocke erſchien, und nannte mich zum erſtenmale ſeinen lieben Sohn, als ich nachmittags ſeinen wildeſten Hengſt auf der Reitbahn gluͤcklich umher tum - melte. Das iſt, rief er dann immer aus, die wuͤrdige Beſchaͤftigung eines Kavaliers, und nicht das elende Federgeſchmiere, wel - ches jeder buͤrgerliche Schlucker nachahmen kann, weil eine Feder einen Pfennig, ein ſolcher Hengſt aber hundert Dukaten koſtet. Ich mußte taͤglich mit ihm auf die Jagd gehen, und da ich nach Monatsfriſt ſo gluͤcklich war, einen Hirſch zu erlegen, den er ſelbſt im Schuſſe gefehlt hatte, ſo war ſeine Freude groͤßer, als wenn ich Vicekoͤnig des Landes geworden waͤre.
60Am Abende nach dieſer in ſeinen Augen ſo wichtigen Heldenthat, erklaͤrte er mich wuͤr - dig und faͤhig, ſeinen Namen auf die Nach - welt fortzupflanzen. Suche dir, ſprach er zu mir, ein Maͤdchen, das dir behagt, du mußt binnen Monatsfriſt heurathen. Fuͤr deinen und deines Weibes Unterhalt will ich ſorgen, und euch beide ſtandesmaͤßig erhal - ten; nur fordere ich, daß ſie wenigſtens ſechszehn Ahnen zaͤhle, und nicht die Toch - ter eines Federhelden, ſondern eines aͤchten Ritters ſei. Dies ſind meine einzigen Bedin - gungen, uͤbrigens haſt du freie Wahl in der Nachbarſchaft rings umher, mußt aber bin - nen Monatsfriſt enden, ſonſt waͤhle ich, und dann bleibt nur blinder Gehorſam dein Loos! — — Da ich den Starrſinn meines Vaters nur allzugut kannte, zuverlaͤßig wußte, daß ſeinen einmal gefaßten Entſchluß kein Zufall vernichten konnte, ſo hielte ich am andern Morgen Rath mit meiner Mutter. 61Mein Herz kannte noch nicht die Feſſeln der Liebe, mein Auge hatte wohl manches Maͤd - chen ſchoͤn gefunden, aber mein Herz noch keins geliebt, ich hofte daher mit Grunde, daß ſie mich leiten, mit dem beſten und tu - gendhafteſten Maͤdchen der Gegend bekannt machen wuͤrde.
Die theure, mir ewig unvergeßliche Mutter vergoß Thraͤnen der Freude, als ſie meine Bitte hoͤrte, ſie hatte ſchon oft in den angenehmen Stunden der Einſamkeit, in wel - chen ſie ungehindert traͤumen und wuͤnſchen konnte, mir eine Gattin auserkohren, ſie verſprach mich heute noch mit ihr bekannt zu machen, und fuhr mit mir in die nahe Nach - barſchaft, wo ein alter Edelmann haußte, welcher Ahnen genug, Geld aber um ſo we - niger hatte, uͤberdies kein Federheld, ſondern ein aͤchter Jaͤger und Ritter war. Meine Mutter hatte mir ſchon unterwegs erzaͤhlt,62 daß ſie die juͤngſte ſeiner Toͤchter fuͤr mich be - ſtimmt habe, weil ſie fein gefaͤllig, duldſam, und das Ebenbild ihrer Mutter ſei, die ſich auch nach der wilden Laune und dem harten Starrſinne ihres Mannes fuͤgen muͤſſe, der guten Tage nur wenige zaͤhle. Wir wurden aͤußerſt freundlich empfangen; ſchon der bloße Gedanke, daß der reiche Erbe unter ſeinen Toͤchtern eine Gattin waͤhlen koͤnne, machte den rauhen Alten gefaͤllig und freundlich. Ich ſah und ſprach die juͤngſte ſeiner Toͤchter, ih - re angenehme Geſtalt, noch mehr aber ihre Anmuth und gefaͤlliges Weſen feſſelten ſogleich mein freies Herz. Moͤglich, daß die Eile, mit welcher mein Vater eine Gattin von mir forderte, und die Furcht, daß ich keine ſchoͤ - nere und beſſere finden koͤnnte, mich ſogleich beſtimmte. Genug, ich reiſte aͤußerſt verliebt von dannen, und nahm die ſuͤſſe Hofnung mit mir, daß auch ich geliebt wuͤrde.
63Amalie (hoch erroͤthend). Das war ſchneller, als ich's dachte.
Wilhelm (tief ſeufzend). Ja wohl, mein Fraͤulein, ja wohl! und vielleicht eben darum auch ſo ungluͤcklich! — — Um des Vaters Gunſt ferner zu erhalten, entdeckte ich ihm ſogleich alles, und er war mit mei - ner Wahl vollkommen zufrieden. Ob ich gleich, ſprach er, das Maͤdchen nicht kenne, ſo kenne ich doch Vater und Mutter, ich habe an die - ſen nichts auszuſtellen, du an jener nichts, auf dieſe Art ſind alle Theile zufrieden. Freilich iſt ſie arm, wird auſſer ihrer Perſon wenig ins Haus bringen, aber dies iſt mir nicht unangenehm, ſo koͤnnen doch die Leute nicht einmal ſagen, daß mein Sohn durch eine Frau reich ward; wie ſie's oft von mir ſchwaͤtzten, weil deine Mutter ein paar elen - de Tauſend Thaler von ihren Eltern zur Mit - gift erhielt.
64Nach ſeinem Verlangen reiſte ich am an - dern Morgen wieder zu meiner Geliebten, bat ſie zu uns zu Tiſche, und fuͤhrte ſie mei - nem Vater entgegen, als er von der Jagd ruͤckkehrte. Er empfing ſie außerordentlich freundlich, nannte ſie ſchoͤn und liebenswuͤr - dig, ſtreichelte ihre Wange und kuͤßte ihre Stirne, ſie mußte bei Tiſche an ſeiner Seite ſitzen, er ſprach nur mit ihr, und ward ganz entzuͤckt, als die Holde aus Liebe zu mir ſich außerordentlich muͤhte, ſeinen Bei - fall zu erhalten. Von dieſer Zeit an war ſie oft in unſerm Hauſe, der Bund unſrer Lie - be ward daher taͤglich feſter und inniger. Mein Vater hatte der Hochzeit wegen ſchon einmal Abrede mit ihren Eltern genommen, itzt ſchien er ſie abſichtlich durch kahle Aus - reden zu verzoͤgern, obgleich meine Geliebte ihm immer theuerer und ſchaͤtzbarer zu werden ſchien, ſogar manches mit einem Worte vonihm65ihm erhalten konnte, was wir oft vergebens von ihm zu erſtehen ſuchten.
Schon lange hatte Abzehrung, die Folge des vielen Grams und Kummers, am Leben meiner Mutter genagt, immer kraͤnkelte ſie, war wenige Tage geſund, itzt da der Herbſt ſich nahte, begann ihr Leiden ſtaͤrker, ſchien nach der Verſicherung des Arztes bald ganz enden zu wollen. Mein Vater fand in der Krank - heit der guten Mutter neuen Stof zur Ver - zoͤgerung der ſehnlich gewuͤnſchten Hochzeit. Obgleich die Kranke ihn oft verſicherte, daß ihr die Gewißheit meines Gluͤcks Labſal in ihrem Leiden, Beruhigung in ihrem Tode ſein wuͤrde, ſo beſtand der Vater doch hart - naͤckig auf ſeiner Weigerung, und behauptete, daß der Sohn, wenn die Mutter auf dem Krankenlager ſchmachte, nicht Feſte der Freu - de feiern koͤnne. Wir mußten dieſen edlenBiogr. d. W. 3. B. E66Bewegsgrund ehren, und den Ausgang ge - duldig erwarten.
Zu meinem Troſte war meine Geliebte die meiſte Zeit auf unſerm Schloſſe, und pflegte meine gute Mutter, die vielleicht um meinetwillen ſich am liebſten von ihr die Ar - zeney reichen, und das Kopfkuͤſſen ruͤcken ließ. Ich war dann immer im Zimmer der Kranken gegenwaͤrtig, und genoß die Freude, mich im Blicke meiner Verlobten zu ſonnen. Aber mein itzt wieder aͤußerſt muͤrriſcher Vater goͤnnte mir dies Gluͤck nicht lange, ich mußte ſtets mit ihm auf die Jagd ziehen, oft im Walde noch laͤnger unter mancherlei Vorwand weilen, wenn er zu Hauſe der Ruhe genoß. Daher kam's, daß ich ſelbſt in der Sterbeſtunde meiner Mut - ter nicht zugegen war, erſt heimkehrte, als ſie ſchon vollendet hatte. Meine Geliebte brachte mir weinend ihren Segen, aber er67 haftete nicht, mit ihr ward meine Freude, mein Gluͤck, meine Ruhe zu Grabe getragen.
Der Mutter Tod war nun wuͤrklich ein aͤchtes Hinderniß meiner Verbindung gewor - den. Die Verlobte konnte nicht laͤnger in unſerm Schloſſe weilen, ſie ſchied ahndend und aͤußerſt traurig von mir, ich durfte ſie nicht begleiten, weil nach der Verſicherung meines Vaters kein Platz im Wagen ſei, und er ſie ſelbſt heimfuͤhrte; ich durfte ſie nicht beſuchen, weil es ſich nach ſeinem Aus - ſpruche, nicht zieme, daß der trauernde Sohn geckenmaͤßig auf verliebten Spaziergaͤngen um - herirre. Ihre Briefe waren daher mein ein - ziger Troſt, ihr groͤßtes Vergnuͤgen, die mei - nigen.
Schon hatte ich einen langen Monden, ohne ſie zu ſehen und zu ſprechen, durch - ſchmachtet, als mein Vater mich in ſein Ka -E 268binet berief. Ich habe, ſprach er kalt und ernſt zu mir, die Sache reiflicher und beſſer uͤberlegt, ich finde, daß deine Heurath un - noͤthig ſei, offenbar zur Hinderung deines Gluͤckes zu fruͤh beginnen wuͤrde. Deiner Mutter Tod hat Veraͤnderungen hervor ge - bracht, die ich nicht voraus ſah, ich werde vielleicht ſelbſt noch einmal heurathen, kann mehrere Kinder bekommen, und dies verur - ſacht dann eine andere Einrichtung, die nur die Zukunft entſcheiden kann. Bis dahin wirſt du wohl thun, wenn du in die Stadt zu - ruͤckkehrſt, ſie ohne meine ausdruͤckliche Er - laubniß nicht verlaͤßt, und dich um einen Dienſt bewirbſt, der dich in den Stand ſezt, eine Frau aus eignem Vermoͤgen zu ernaͤhren. — —
Vergebens muͤhte ich mich, ihm durch eigne, vorher geaͤußerte Gruͤnde zu wider - legen, er geſtand offen, daß er ſich geirrt69 habe, nun allzu gut einſehe, daß der Adel nicht entehrt werde, wenn er dem Staate diene. Vergebens ſuchte ich ihm zu beweiſen, daß itzt Entſagung der Heurath unmoͤglich ſei, ihm und mir zum Nachtheile und Schimpfe gereichen werde, er verſprach alles auf ſich zu nehmen, alles ohne dieſen zu enden. Und damit du's nur weißt, fuhr er raſch auf, dein Maͤdchen gefaͤllt mir ſelbſt, ich werde ſie eheſtens heurathen, bin mit dem Vater ſchon richtig, in drei Wochen iſt die Hoch - zeit. Wollte dir's zwar verheelen, um dir die kleine Kraͤnkung zu erſparen, weil du mich aber zwingſt, ſo ſage ich dir lieber itzt, was du am Ende doch erfahren mußt. Du ſiehſt itzt ein, daß deine Gegenwart dir und meiner Braut nicht viel Vergnuͤgen gewaͤhren wird, drum folge meinem Rathe, und kehre nach der Stadt zuruͤck.
Ich will, und vermags nicht, ihnen mei - ne Empfindung zu ſchildern, ich ſtand nie -70 dergedonnert und angeheftet am Boden, das glaͤnzende Licht, welches mir ſo lange ſchon in der Ferne leuchtete, jeden meiner Schritte leitete, war verloſchen, ich tappte im Fin - ſtern, wagte keinen Schritt vorwaͤrts. Ohne Gefuͤhl und ohne Weigerung duldete ich's, wie mein Vater mich unter dem Arme ergrif, nach dem Wagen ſchleppte, und mit mir zur Stadt fuhr. Nur dunkle Erinnerung die - ſer ſchrecklichen Reiſe ruht noch in meinem Gedaͤchtniſſe, Plane zur Flucht, zur ſchnel - len Entfuͤhrung beſchaͤftigten meine Einbil - dungskraft, und hielten mich aufrecht. Ich ſah ruhig zu, wie der hartherzige Vater mancherlei Stoff zu Frauenkleidern einkaufte, und murrte nicht, wenn er mich wohl gar fragte: Ob dieſe oder jene Farbe ſeiner Braut gut ſtehen werde?
Wie er abreiſte, wollte auch ich mit dem feſten Vorſatze, ihm die Beute zu entreiſſen,71 nachfolgen; aber mein Koͤrper unterlag, ein hitziges Fieber ergrif mich in der folgenden Nacht, ich konnte erſt nach drei langen Wo - chen wieder anhaltend denken, nach einem Monate erſt mein Lager verlaſſen. Die Hof - nung, daß meine Gelebte wacker kaͤmpfen, nicht des Vaters Hand annehmen wuͤrde, ſtaͤrk - te mich, und gab mir die verlohrnen Kraͤfte wieder. Fremde Waͤrter, die gleichguͤltig in mein Leiden blickten, keine meiner Fragen beantworten konnten, ſaßen mir bis dahin zur Seite, ich entließ ſie, und eilte, ſo ſchnell es die wohlbelohnten Poſtknechte vermochten, nach meiner Heimath.
Um des Vaters Zorn nicht zu reitzen, und mich vor ſeinen Blicken beſſer verbergen zu koͤnnen, ſtieg ich bei einem Jaͤger in der Nachbarſchaft ab. Er bewillkommte mich mit - leidig, und entdeckte mir endlich unverholen, daß meine Ankunft zu ſpaͤt erfolgt, meine72 theure Karoline ſchon ſeit einer Woche mit meinem Vater auf ewig verbunden ſei. Ich tobte, raßte, ſank in Ohnmacht, erwachte wieder und rang vergebens nach Huͤlfe. Be - ſeelt mit dem wuͤthenden Muthe der Ver - zweiflung, eilte ich gerade aufs vaͤterliche Schloß, ſtuͤrmte unaufhaltſam nach ihrem Zimmer, in welchem ich ſie nach der Verſiche - rung einer mitleidigen Magd finden ſollte. Die arme Leidende ſaß am Fluͤgel, ſpielte traurig ein raſches Jagdlied, mein Vater ſtand gelehnt an ihrem Stuhle, und horchte mit Wohlgefallen zu. Mein feſter Tritt weckte ſie und ihn empor, Karoline erkannte mich, ſprang eilend auf, und ſank weinend in meine Arme.
Was ich in dieſem ſchrecklichen Augen - blicke dachte, ſagte und that, weiß ich ſelbſt nicht; er rauſchte gleich einem jaͤhen Gewit - terſturme voruͤber. Ein Schuß, das Sauſſen73 einer nahen Kugel weckte mich zur Empfin - dung empor. Mein Vater, der indeß ſeine Piſtolen geholt hatte, wollte eben die zweite auf mich abdruͤcken, als Karoline in ſeine Arme ſank, und es verhinderte. Wie ſie ihn beſaͤnftigte, wenigſtens am Kindermord hinderte, kann ich ebenfalls nicht ſagen, nur ſo viel erinnere ich mich noch, daß er mir Verzeihung zuſicherte, wenn ich mich ſogleich entfernen wuͤrde. Was ſeine Drohung gewiß nicht vermocht haͤtte, vermochte ihre Bitte, ich ging oder wankte vielmehr willig von dan - nen, und durchwachte die quaalvolle Nacht bei dem Jaͤger, bei welchem ich vorher Ein - kehr genommen hatte.
Schon am andern Morgen erhielte ich die troͤſtende Nachricht von ihr, daß mein Va - ter nicht mehr zuͤrne, daß ſie ſogar gegruͤn - dete Hofnung habe, er werde mir vergoͤn - nen, im Schloſſe wie ehe zu wohnen, ihr74 durch meine Gegenwart den unertraͤglichen Kummer zu verſuͤſſen. Ohne zu bedenken, daß dieſes Huͤlfsmittel mir und ihr in der Folge gleich ſtark ſchaͤdlich ſein muͤſſe, hofte ich mit ihr, und erhielte noch am nemlichen Tage von ihr den Zettel, welchen ſie in mei - ner Schreibtafel gefunden und geleſen haben. Mein Vater liebte ſie heftig, er konnte nicht ihren Bitten, noch weniger ihren Thraͤnen widerſtehen, ſie hatte daher durch mancherlei Scheingruͤnde, vorzuͤglich aber durch erſtere, die Einwilligung zu meiner Ruͤckkehr erhalten. Nur machte er's, als ich, ihrer Einladung getreu, wirklich ruͤckkehrte, zur unverletzli - chen Bedingung, daß wir uns nie, als nur in ſeiner Gegenwart, ſehen und ſprechen ſoll - ten. Wir gelobten's, aber wir hielten es nicht.
Ich wuͤrde zu weitlaͤuftig werden, wenn ich ihnen alle die Kunſtgriffe erzaͤhlen wollte,75 die wir taͤglich anwandten, um uns nur eine Minute lang allein zu ſehen und zu ſprechen. Nicht Verſicherung der ehemals ſo zaͤrtlichen Liebe, ſondern Klagen uͤber unſer Ungluͤck, Ringen und Sehnen nach aͤchter Huͤlfe und Troſt waren dann der Inhalt unſerer Ge - ſpraͤche. Ich und ſie ſahen zu gut ein, daß Liebe nicht mehr moͤglich, im Gegentheile hoͤchſt ſtraͤflich ſei, und ich ſchwoͤre zu Gott dem Allmaͤchtigen, daß ich keinen Kuß foderte, ſie keinen gewaͤhrte.
Einen vollen Monden hatten wir ſo quaal - voll durchlebt, als mein Vater in die Nach - barſchaft auf eine Jagd geladen wurde. Wi - der ſeine Gewohnheit nahm er mich nicht mit ſich, erneuerte aber, als er ſchied, ſein Verboth mit ſtrengem Ernſte. Dieſer War - nung ungeachtet fanden wir uns doch im na - hen Luſtwaͤldchen, wo uns eine dunkle Laube Sicherheit zu gewaͤhren ſchien. Eben wollte76 ich mir von ihr erzaͤhlen laſſen, wie's moͤg - lich war, daß ſie mir untreu werden, daß ſie meinen Vater ehelichen konnte, als er wuͤthend in die Laube ſtuͤrzte, mich beim Haaren ergrif, und ſinnlos auf der Erde umher ſchleppte. Wie ich erwachte, ſtand ein Jaͤger bei mir, welcher mir im Namen des Vaters kund machte, daß ich ein Kind des Todes ſein, das Leben meiner itzigen Mut - ter ſelbſt in Gefahr ſetzen wuͤrde, wenn ich es je wagte, mich dem vaͤterlichen Schloſſe wieder zu nahen.
Ich taumelte fort, irrte drei Tage durch in Waͤldern umher, aß und trank nicht, hofte auf dieſe Art mein Leben und das un - ertraͤgliche Leiden zu enden. Da ich ohne an - dern Endzweck umher wandelte, hatte ich mich dem Schloſſe meines Vaters binnen die - ſer Zeit oft genaͤhert, einige ſeiner Jaͤger waren mir ſogar begegnet: ich erhielte am77 dritten Tage durch einen derſelben den Zettel, welchen ſie ebenfalls in meiner Schreibtafel fanden. Durch dieſe erfuhr ich zugleich, daß mein Vater die ungluͤckliche Karoline noch am nemlichen Abende nach einem unbekannten Orte fortgefuͤhrt habe, erſt heute ohne ſie zuruͤckge - kehrt ſei. Dieſe Nachricht, die mehrere be - ſtaͤtigten, nicht die Drohung des unnatuͤrlichen Vaters bewog mich, eine Gegend zu verlaſ - ſen, in welcher ich namenloſes Elend, un - nennbaren Schmerz geduldet, der frohen, ſeligen Augenblicke nur wenige genoſſen hatte. Nicht Abſicht, nur Ungefaͤhr fuͤhrte mich zu dem Jaͤger, bei dem ich abgeſtiegen war, auch dieſes nur, nicht jene war Urſache, daß ich nach meinem Koffre fragte. Schmerz und Wuth ergrif mich aufs neue, als mir der Jaͤger durch Zeugen bewieß, daß mein Vater alle meine Sachen ſelbſt abgeholt haͤtte. Zur gaͤnzlichen Ueberzeugung reichte er mir einen Zettel, auf welchem ungefaͤhr folgende Worte78 geſchrieben ſtanden: Alles was du, ungera - thener Sohn, bisher beſaßeſt, war ein Ge - ſchenk deines Vaters, er nimmts zuruͤck, weil du dich des Namens eines Sohnes un - wuͤrdig gemacht haſt, er laͤßt dir nur ſo viel, als einem Bettler, wie du in der Zukunft ſein wirſt, noͤthig iſt. Willſt du ſeinen letz - ten Rath achten, ſo werde Soldat; Preußen und Oeſtereich ruͤſten ſich itzt gegen einander; wo du hingehſt, wirſt du eine Kugel finden, die dein Lohn ſein wird, wenn du es je wie - der wagſt, dich meinem Angeſichte zu naͤ - hern, oder mich Vater zu nennen. — — Dies ſchreckliche Todes-Urtheil eines Vaters war itzt, nebſt einem kleinen Buͤndel Waͤſche, den mir der Jaͤger uͤbergab, mein ganzer Reichthum. Ich irrte damit planlos umher, ruhte in Waͤldern und Felſenhoͤhlen, floh und haßte die Menſchen, ſuchte ſie nur dann, wenn der Hunger mehr als mein innerer Schmerz an mir nagte.
79Das Schickſal fuͤhrte mich endlich in ihre Gegend. — — Sie forderten aufrichtige Er - zaͤhlung meines Leidens, ſie muͤſſen es mir daher vergeben, wenn ich aufrichtig ſpreche, es dem elenden Bettler nicht verargen, wenn auch er ſchoͤn findet, was doch nur eines Koͤ - nigs wuͤrdig iſt.
Amalie (verwirrt, aber mit ſichtbarem Vergnuͤgen). O nein! ſprechen ſie ohne Ruͤckhalt; daß ich innigen Antheil an ihrem Leiden nahm, und immer nehmen werde, be - weiſen ihnen meine Thraͤnen.
Wilhelm. Lohne es ihnen der Ewige, kein Sterblicher vermags nicht, iſt's wenig - ſtens nicht wuͤrdig. — — Am Tage zuvor, ehe der wuͤthende Hund ſie verfolgte, ſahe ich ſie zum erſten male. Die ganze, pracht - volle Natur, die am ſchoͤnſten iſt, wenn ſie zur Vollkommenheit reift, hatte bisher nicht80 den geringſten Eindruck auf mich gemacht, aber das Meiſterſtuͤck der Schoͤpfung vermoch - te es um ſo ſtaͤrker. Ich ſah's, und das kummervolle Bild meiner ehemaligen Verlob - ten, meiner itzigen Mutter, ſchwand aus meinen Augen, beſchaͤftigte nicht mehr meine Einbildungskraft, ich ſah nur das holde, mitleidige Maͤdchen, das ſich des armen ge - fallenen Knaben erbarmte, und mit ſo ſicht - barem Vergnuͤgen uͤber die kleine, aber doch edle That bei mir voruͤberging. Ich genoß die Wonne, ſie aus einer nahen Gefahr zu retten. Das Bild, wie ſie mir ſo innig und gefuͤhlvoll dankten, blieb feſt vor meiner Seele ſtehen, aber noch feſter die Ueberzeu - gung, daß ein ſolcher Engel den elendeſten und ungluͤcklichſten der Sterblichen nur gleich - guͤltig anblicken koͤnne.
Amalie (hingeriſſen vom innern Ge - fuͤhle). O wie ungerecht, wie unbillig!
Wil -81Wilhelm. Dies war die Urſache, daß ich lieber forteilte, als ichs noch ver - mochte, nicht ruͤckkehrte, um vielleicht, ich geſteh's offen, die Erniedrigung dulden zu muͤſſen, daß man mir eine kleine That mit einigem Gelde belohnen werde. Aber die Be - gierde, ſie noch oͤfterer zu ſehen, und ins - geheim bewundern zu koͤnnen, ließ mich doch nicht aus dieſer Gegend wandern, trieb mich immer zuruͤck, und gluͤcklich duͤnkte ich mich dann, wenn ich ſie nur ſah; ruhte ſanft auf Laub oder Stein, wenn ihr Bild vor mir ſtand und mich anlaͤchelte. Zum erſten - male fuͤhlte ich meine Armuth tief, zum er - ſtenmale preßte ſie mir eine bittere Thraͤne aus, als ich ſie nach der kleinen Inſel hin - uͤber ſchiffen ſah, ein unwiderſtehlicher Trieb mich ihnen nachzog, ich uͤberſchiffen wollte, und vergebens in allen Taſchen einige Gro - ſchen ſuchte, um die Schiffer zu bezahlen. Ich kann die Empfindungen, die mich durch -Biogr. d. W. 3. B. F82ſtroͤmten, nicht ſchildern, der nahende Sturm ſtimmte ſo ganz damit, und hielte mich auf - recht. Ich war ſo gluͤcklich, ſie wieder zu retten, es ſchien, als ſie endlich die Augen oͤfneten, als ob ſie mich nicht mehr kannten, ſich nicht mehr meiner erinnerten; das Ge - fuͤhl meines Elends, meiner Unwuͤrdigkeit ergrif mich aufs neue, ich eilte fort, und ſank entkraͤftet in einer Hoͤhle nieder, in welcher ich ſchon oft geruhet hatte. Mit Ta - ges Anbruch wanderte ich fort, wollte nach dem Rathe des Vaters die mitleidige Kugel ſuchen. Verzweiflung hatte ſchon lange mit mir gekaͤmpft, itzt begann ſie mich zu uͤber - winden, weil ich uͤber einen Monat lang ent - fernt von derjenigen, deren Anblick allein mir noch Troſt gewaͤhren konnte, umher irrte. Ich beſchloß, das Ende meines Lebens ſelbſt zu ſuchen, es nicht erſt durch Sklave - rey zu erkaufen. Nur einmal wollte ich ſie noch in der Ferne ſehen, und dann ſterben;83 ich kam am vorigen Tage im Walde an, er - fuhr durch einen Holzbauer, daß ſie toͤdlich krank waͤren. Da nun auch der einzige Wunſch meines Herzens vernichtet war, ſo ward end - lich der lange Vorſatz zur ungluͤcklichen That. Das Gefuͤhl des Todes war ſchrecklich, ich wuͤrde ewig ungluͤcklich ſein, wenn ſie mich nicht gerettet haͤtten.
Der Juͤngling ſchwieg, Amalie wollte ſprechen, ihm wenigſtens fuͤr ſein Zutrauen danken, und mit der angenehmern Zu - kunft troͤſten, aber ſie vermochte es nicht, denn ſeine Erzaͤhlung hatte Sturm in ihrem Buſen erregt. Ihr liebendes Herz hatte ſchreckliche Qualen geduldet, als er ihr er - zaͤhlte, daß er ſchon verlobt ſei, und die Verlobte auch als Mutter noch liebe, ſie nicht vergeſſen koͤnne; es hatte neue Hofnung ge - ſchoͤpft und Wonne gefuͤhlt, als der Juͤngling ſo offen bekannte, daß ihr Anblick der Ver -F 284lobten Bild aus ſeinem Herzen verdraͤngt ha - be. und ſie nun unumſchraͤnkt darinne herr - ſche, aber ſein namenloſes Leiden heiſchte auch Mitleid, ſie zollte es mit haͤufigen Thraͤ - nen, ſie konnte aber nicht ſprechen, ergrif ſeine Hand, und druͤckte ſie mit Staͤrke.
Feuriger glaͤnzte itzt das matte Auge des Juͤnglings, angenehme Roͤthe faͤrbte ſeine Wangen, als er ſah und fuͤhlte, daß er nicht verachtet wuͤrde, er kuͤßte die wohlthaͤtige Hand mit Innbrunſt, er druͤckte ſie an ſein klopfendes Herz, und der Bund der Liebe ward ſtillſchweigend geſchloſſen. Noch hatten ihn freilich nicht Worte bekraͤftigt, nicht Schwuͤre verſiegelt, aber er war doch feſt und dauerhaft. Kehren ſie nur bald zuruͤck! fluͤ - ſterte am Ende Amalie, und wiſchte ſich die Thraͤnen aus den Augen, weil ein Diener nahte, der ihnen verkuͤndigte, daß das Mit - tagsmal bereitet ſei.
85Wie dies[geendet] war, meldete ein an - derer Diener, daß der Wagen, welcher Wil - helmen nach der Stadt fuͤhren ſollte, ange - ſpannt ſei. Sein Auge ſuchte Amalien, ein Blick der Liebe ſtaͤrkte, und verſicherte ihn, daß man ihn ſehnlich ruͤckerwarten werde. Er nahm dankbaren Abſchied von allen, und eilte vorwaͤrts.
Amaliens Eltern ſprachen nun offener und freier, jedes entdeckte ſeine Meinung uͤber den fremden Juͤngling. Die gutherzige Mut - ter war voll von Lobſpruͤchen uͤber ſein gefaͤl - liges und ſittſames Betragen, ſie glaubte uͤberzeugt zu ſein, daß ſicher unverdiente Un - gluͤcksfaͤlle den Aermſten bisher ſo unfreund - lich verfolgt haͤtten. Strenger und nicht ſo billig urtheilte der Vater, auch er ruͤhmte des Juͤnglings hoͤfliche und edle Lebensart, aber er glaubte auch feſt, daß nicht unver - dientes Ungluͤck, ſondern weit wahrſcheinli - cher jugendliche Fehler, Verfuͤhrung und86 Leichtſinn ihn in dies Ungluͤck geſtuͤrzt haͤtten, und nun planlos in der Irre umher jagten. Wenn er wiederkehrt, fuͤgte der Vater hin - zu, will ich offen mit ihm ſprechen, ſein zerruͤttetes Gluͤck wiederherſtellen, und ihn mit ſeinen Eltern, die freilich nicht ohne Urſache mit ihm zuͤrnen werden, auszuſoͤh - nen ſuchen. Er hat das Leben meines einzigen Kindes zweimal gerettet, er verdient dieſen Lohn vollkommen, und wird itzt vorſichtiger handeln, da Ungluͤck ihn weiſer gemacht hat.
Amalien that's weh, ihren Liebling ſo verkannt zu ſehen, ſie vertheidigte der Mut - ter Meinung, als aber der Vater die ſeini - ge hartnaͤckig behauptete, ſo erzaͤhlte ſie ihm zum Beweiſe ihrer Meinung die ganze Ge - ſchichte des ungluͤcklichen Juͤnglings. Der Va - ter ſchien nun zu ihrem groͤßten Vergnuͤgen vollkommen uͤberzeugt. Wenns wirklich ſo iſt, dann hat der Aermſte, ſprach er mit Thraͤ -87 nen im Auge, ſchrecklich geduldet, dann ver - dient er, daß ich ſein Vater werde und ewig bleibe!
Amaliens Herz ward durch dieſe Verſiche - rung geoͤfnet, ſie ließ es dem geruͤhrten Al - ten nicht undeutlich merken, daß ſie es gerne ſehen wuͤrde, wenn er ihn durch unaufloͤsliche Bande an ſich feſſele, und gab ihm ſogar Winke, wie er dieſe am beſten knuͤpfen koͤn - ne. Der Vater ſchwieg, ſchuͤzte am andern Morgen dringende Geſchaͤfte vor, und reiſte ab, ohne daß Amalie erfahren hatte: Wohin er reiſen wuͤrde? Wenn ſie bei der Mutter nach der Urſache dieſer ſchnellen Reiſe forſchte, laͤ - chelte dieſe geheimnißvoll, verſicherte ſie aber zugleich, daß kein Ungluͤck dieſe ſchnelle Ab - reiſe verurſacht habe. Amalie ſuchte zwar oft im Stillen die Urſache derſelben zu[ergruͤn - den], als aber die Zeit nahte, daß Wil - helm ruͤckkehren ſollte, da vergaß ſie des88 Vaters, gedachte nur der Wonne, die ihrer harrte.
Ohne es wirklich zu wollen, ging ſie am zehnten Tage nach Wilhelms Abreiſe ſpazie - ren, ohne es zu wiſſen, wandelte ſie auf der Straße nach der Stadt, ſchauderte won - nevoll aus tiefen Gedanken empor, als ein Wagen voruͤber rollte, und Wilhelm ihr aus dieſem entgegen ſprang. Der Willkomms - gruß war innig und herzlich, der Abend ſo reitzend und ſchoͤn, ein Fußſteig kruͤmmte ſich durch die Wieſen, fuͤhrte durchs Luſt - waͤldchen nach dem Schloſſe, ſie waͤhlten die - ſen, und ließen den Wagen fortfahren.
Wilhelms Geſtalt hatte ſich um vieles veraͤndert, ſein verwirrtes Haar war itzt kunſtvoll und doch kunſtlos gelockt, ſeinen ſchlanken Koͤrper machte ein wohlgeformtes Kleid noch ſchlanker. Luſt und frohe Hofnung89 hatte ſeine Wangen hoch geroͤthet, ſeine Au - gen mit Kraft und Feuer gefuͤllt. Sie wall - ten nahe am Orte voruͤber, wo Amalie den Verzweifelnden rettete. O damals war's ſchrecklich! Damals war's ganz anders! rief er aus, und ſank vor Amaliens Fuͤſſen nie - der. Sie wollte ihn aufheben, und vermochte es nicht, ſie ruhte auf ſeinen Schultern, duldete Kuͤſſe des Dankenden, erwiederte ſie am Ende, und geſtand ihm in abgebroche - nen, aber deutlichen Worten, daß ſie ihn ſchon lange graͤnzenlos liebe. Er dankte aufs feurigſte und zaͤrtlichſte, Freudenthraͤnen be - nezten ihre Hand, und waren der Beweiß, daß er ſpreche, wie ſein Herz denke.
Schon ging die Sonne unter, als ſie das Waͤldchen verließen, ſie ſchlichen lang - ſam nach dem Schloſſe, und doch ſchienen ſie ihrem Gefuͤhle nach zu ſchweben, die ganze Natur tanzte im bunten Gewuͤhle vor ihren90 Augen, alles ſchien zu lachen, zu ſcherzen und Theil zu nehmen an der Wonne, die ihr Herz empfand. Mit beſorgter Miene kam ihnen die Mutter entgegen, und weckte ſie aus der gluͤcklichen Schwaͤrmerei. Haͤtte mich nicht der Kutſcher verſichert, ſprach ſie im Tone des ſanften Vorwurfs zu Amalien, daß dein Retter dein Begleiter ſei, ich wuͤr - de uͤber dein langes Außenbleiben Todesangſt gefuͤhlt haben. — —
Amalie wollte ſich[entſchuldigen], aber eben ihre Entſchuldigungen bewieſen der er - fahrenern Mutter deutlich, daß ihr Kind lie - be. Die Blicke, welche beim Abendmale im - mer auf Wilhelmen gerichtet waren, und be - ſchaͤmt zur Erde ſanken, wenn der Mutter Auge ihnen begegnete, uͤberzeugten ſie vol - lends. Als die Diener das Zimmer verlaſ - ſen hatten, ergrif die Mutter der Tochter Hand und laͤchelte.
91Amalie. Theure Mutter! Wie ſoll ich dies geheimnißvolle Laͤcheln deuten?
Die Mutter. Wie du willſt, nur nicht ungerecht. Du wuͤnſchteſt ſchon laͤngſt zu wiſ - ſen: wohin dein Vater gereiſt ſei? Itzt will ich dir's entdecken: Er will dein Gluͤck vermehren!
Amalie. (verwunderungsvoll). Mein Gluͤck?
Die Mutter. Dies (mit einem bedeu - tenden Blick auf Wilhelmen) ſcheint freilich keiner Vermehrung faͤhig, aber ich hoffe doch ganz gewiß, daß der gute Vater dir viele Freude ruͤckbringen wird.
Amalie. Ich verſtehe ſie immer we - niger.
92Die Mutter. Sollſt es bald vollkom - men. Ich verſprach freilich zu ſchweigen, aber die Gelegenheit iſt zu ſchoͤn, ich muß zum erſtenmale in meinem Leben beweiſen, daß ein Weib nicht zu ſchweigen verſteht. Die Erzaͤhlung, welche du uns neulich von dei - nes Retters ungluͤcklichem Schickſale machteſt, traf deines Vaters Herz mit Macht. Er be - ſchloß, ihm ſeine edle Thaten zu lohnen, ihn mit ſeinem Vater auszuſoͤhnen, oder dieſem wenigſtens zu ſagen, daß er ihm Va - ter werden wolle, wenns der aͤchte wirklich zu ſein aufhoͤre.
Wilhelm (erſchrocken). O dann un - ternahm er eine Unmoͤglichkeit. Gott, ich fuͤrchte nun alles, fuͤrchte mit Recht, daß des unnatuͤrlichen Vaters Jaͤhzorn den groß - muͤthigen Vermittler auch gegen den unſchul - digen Sohn erbittern wird.
93Die Mutter. Sorgen ſie nicht! Er reiſte mit dem feſten Vorſatze ab, alles mit Gelaſſenheit zu ertragen, ſich vorzuͤglich von der Wahrheit ganz zu uͤberzeugen, um dann ungehindert an ihrem Gluͤcke zu arbeiten.
Wilhelm. Dies wird meines Vaters Verlaͤumdungskunſt vollkommen vernichten. Ha! daß ich nur hoffen, nur waͤhnen konn - te: Ich wuͤrde, ich koͤnne einſt noch gluͤcklich ſein!
Die Mutter. Ruhig, lieber Sohn, ruhig! Sie kennen das Herz meines Gatten nicht. Sein Vorſatz iſt, nicht Verlaͤumdung, nur unwiderlegbare Beweiſe koͤnnten ihn ver - nichten, und dieſe wird ihr Vater gewiß nicht liefern. Morgen kann er wieder zuruͤck - kehren, bis dahin harren ſie geduldig, und glauben indeß feſt, daß er, daß ich's red - lich mit ihnen meine.
94Wilhelm dankte fuͤr ihre guͤtige Meinung, aber ſein unruhiger, trauriger Blick bewies deutlich, daß er neues Ungluͤck ahnde. Ver - gebens ſuchte ihn Amaliens Blick zu[ermun - tern], vergebens fluͤſterte ſie ihm zu, daß keine Verlaͤumdung ihre innige Liebe zu ihm ſchwaͤchen koͤnne, er ſchied traurig, und blickte ſeufzend gen Himmel.
Amalie ſaß ſchon am andern Morgen lange allein in der Gartenlaube; es war zwar ein unfreundlicher, nebelvoller Herbſt - tag, aber ſie hatte ihrem Wilhelm auf dem geſtrigen Spaziergange erzaͤhlt, daß ſie je - den Morgen dieſe Laube beſuche, ſie hofte, verſtanden zu werden, und harrte itzt ver - gebens. Eben wollte ſie mißvergnuͤgt ins Schloß ruͤckkehren, als ein Bauer ſie im Garten ſuchte, und ihr einen kleinen Zettel uͤberreichte. Ein fremder Herr, ſprach er, gab mir ihn dieſen Morgen, und bat mich95 ſehr, ihnen ſolchen allein zu uͤberreichen. Als er fortging, oͤfnete ihn Amalie ahn - dungsvoll und ſchaudernd.
„ Mein unerbittliches Schickſal, ſtand mit Bleiſtift darauf geſchrieben, zwingt mich zur neuen Flucht. Sie wird mir beinahe unmoͤg - lich, zentnerſchwer haͤngts au meinen Fuͤßen, aber ich muß fliehen, wenn ich nicht ganz ungluͤcklich werden will. Erfaͤhrt mein grim - miger Vater meinen Aufenthalt, ſo iſt ſchmaͤhliches Gefaͤngniß mein unverdientes Loos! O daß ich nicht ganz aufrichtig mit ihnen ſprach, ſie nicht wenigſtens bat, meine ungluͤckliche Geſchichte ihren Eltern zu ver - ſchweigen; aber es iſt geſchehen, und ich muß fliehen. Ich war einige Augenblicke graͤnzenlos gluͤcklich, um mein kuͤnftiges, im - mer dauerndes Ungluͤck recht lebhaft fuͤhlen zu koͤnnen. Sicher wird mein Vater heute mit dem ihrigen auf dem Schloſſe anlangen,96 hoͤren ſie nicht zu, wenn er mir fluchen, glau - ben ſie nicht, was er erzaͤhlen, behaupten und zu beweiſen ſuchen wird. Das Unge - heuer, welches mich verfolgt, iſt mein Va - ter, ich fuͤrchtete, zu viel zu verliehren, wenn ich ihnen alles erzaͤhlte, ſie wuͤrden mit Grunde beſorgt haben, daß der Sohn eines ſolchen Boͤſewichts nicht redlich denken koͤnne. Noch einmal! Glauben ſie nicht, was ſelbſt die beſtochenen Richter glauben, die mich gleich ihm verfolgen. Sollte es aber doch moͤglich ſein, daß die Verlaͤumdung in ihrem Herzen Eingang faͤnde, ſo bitte, flehe und beſchwoͤre ich ſie, daß ſie mich wenigſtens be - dauern, und feſt uͤberzeugt bleiben, daß ſie immer und ewig mit der groͤßten Zaͤrtlichkeit verehren, bis zum lezten Athemzuge anbe - ten wird, der Ungluͤcklichſte unter den Sterb - lichen, Wilhelm L — —. “
Amalie97Amalie lehnte ſich zitternd an den Stamm einer Linde, ſie liebte zum erſtenmale, liebte heiß und zaͤrtlich, hatte ſich unendliche Won - ne und Freude im Arme des Geliebten ge - traͤumt, ſah ſie itzt mit einmal ſchwinden, Kummer und Schmerz ſich nahen. Haͤtte ſie in dieſem Augenblicke die Straſſe gekannt, auf welcher ihr Geliebter wandelte, ſie wuͤr - de Vater und Mutter verlaſſen, Ungluͤck und Elend willig mit ihm getheilt haben. So groß, ſo unumſchraͤnkt iſt die Macht der Lie - be, wenn einmal das Herz ſich ihr geoͤfnet, die Vernunft ihr die Zuͤgel uͤberlaſſen hat! Darum, liebes Maͤdchen, huͤte dich, zu lie - ben, ehe du uͤberzeugt biſt: ob du ohne Hinderniß lieben kannſt? [Denn] biſt du ein - mal hingeſunken in die Arme des Geliebten, haſt du gekuͤßt ſeinen Mund, gehoͤrt ſeine Schwuͤre, ſo rettet dich nichts mehr, du biſt feſt an ihn gekettet, ſinkſt und faͤllſt mit ihmBiogr. d. W. 3. B. G98in den Abgrund, den eigne That oder der Vorſehung Wille zu ſeinen Fuͤßen oͤfnete.
Lange ſtaunte noch Amalie in die Ferne, ſuchte ihren Wilhelm und fand ihn nicht, al - les war wuͤſte und oͤde um ſie her, der Ne - bel ſank, die Sonne lachte freundlich auf ſie herab, aber ſie fuͤhlte ihre wohlthaͤtige Waͤr - me nicht, Fieberkaͤlte durchzitterte ihr Herz, und verbreitete ſich durch ihren ganzen Koͤr - per, ihre Zaͤhne klapperten, und entpreßten dem ſtarrenden Auge eine Thraͤne des bittern Kum - mers. Sie ſuchte Troſt, fand ihn nirgends, und eilte in die Arme ihrer Mutter. Mit verwirrtem und traurigem Blicke kam ihr dieſe ſchon am Eingange des Gartens entgegen, auch ſie hatte einen Brief in ihrer Hand, ihre Miene, mit welcher ſie ihn oft anſah, be - wies deutlich, daß er die Urſache ihres Kum - mers enthalte.
99Amalie (weinend und ſchluchzend). Hat er auch Abſchied von ihnen genommen?
Die Mutter. Wer? liebes Kind, wer?
Amalie. Mein Wilhelm.
Die Mutter. Wo iſt er? Wo treffe ich ihn?
Amalie (kann aus Uebermaaß des ſchmerz - haften Gefuͤhls nicht ſprechen, und deutet mit der Hand in die Ferne).
Die Mutter. So iſt er fort? So be - ſtaͤtigt er wirklich die Nachricht, welche ich eben durch deinen Vater erhielt?
Amalie. Nachricht? Welche Nach - richt?
G 2100Die Mutter (fuͤhrt ſie nach dem Gar - ten zuruͤck, den Brief oͤfnend). Hoͤre, und ſtaune mit mir:
„ Theures Weib! Gieb dem ungluͤcklichen Juͤngling, der unſerm einzigen Kinde zwei - mal das Leben rettete, den Beutel mit Gold, welchen du rechts in meiner Schatulle findeſt, rathe ihm zur ſchnellen, eiligen Flucht aus unſerm Lande, aus Deutſchlands Graͤnzen. Ich bin ihm das Leben meines Kindes ſchul - dig, ich halte es fuͤr Pflicht das ſeinige zu retten, ohne zu uͤberlegen: ob ich recht handle, wenn ich einen uͤberwiesnen Moͤr - der den Armen der ſuchenden Gerechtig - keit entreiſſe? Ich wollte ſein Gluͤck gruͤnden, und hab's ohne Verſchulden ganz vernichtet. Er ſchmachtete ſchon zwei Monden lang im Gefaͤngniſſe, er iſt durch Zeugen uͤberwieſen, daß er mit ſeiner Stiefmutter im vertrauten Umgange lebte, mit ihr zweimal den Vater101 zu vergiften ſuchte, ihn einmal wirklich ver - giftete. Nur die Kunſt der Aerzte hat ihn vom Tode errettet, dem er itzt langſam und abzehrend entgegen ſchmachtet. Die Gehuͤlfin ſeiner ſchwarzen That, ſeine Stiefmutter hat ſchon durch des Henkers Schwerd ihr Leben geendet, uͤber den Fluͤchtling iſt das ſchreck - liche Urtheil des Rades ſchon ausgeſprochen. Ich konnte und durfte es nicht hindern, daß der mit vollem Rechte Rache heiſchende Vater ſeinen Aufenthalt den Gerichten entdeckte, die ihn morgen ſchon bei euch ſuchen werden. Ich verzoͤgere aus Abſicht meine Ruͤckkehr, da - mit mir nicht Verantwortung uͤber ſeine Flucht werde. Ich ſende euch meinen Bedienten in Geheim mit dieſer Nachricht voraus. Sollte der Ungluͤckliche noch in der Stadt ſein, wo - hin ich ihn ſandte, ſo ſchickt dieſen Bedien - ten, der von allem unterrichtet iſt, ihm mit dem Golde nach, damit er ſich rette, und in der Ferne eine That bereue, die ihn in102 aller Menſchen Augen verhaßt machet, die Gott ihm nur allein vergeben kann. Bei aller Angſt, die ich hier am Bette des ergrimmten Vaters dulde, danke ich doch Gott, daß ich vorher pruͤfte, ehe ich be - ſchloß, und ungeachtet du es widerrietheſt, nicht blindlings glaubte. Gott, was wuͤrde aus dir und mir, aus meinem armen Kinde geworden ſein, wenn ich es mit einem Va - termoͤrder verbunden haͤtte! Lies Amalien dieſen Brief vor, ich zweifle nicht, daß ſein Inhalt maͤchtig genug ſein werde, die Liebe zu ihm zu tilgen, welche ich ſchon in ihrem dankbaren Herzen empor keimen ſah. “
Aber der Brief war's nicht vermoͤgend! Amalie trauerte tief und innig, weil ſie mehr ihres Wilhelms, als des Vaters Worten glaubte, und die ſchreckliche Erzaͤhlung fuͤr eine Verlaͤumdung des harten und ergrimm - ten Vaters achtete. Sie ſprach mit der Mut -103 ter laut daruͤber, als der andere Tag ver - floß, und die Gerichte nicht erſchienen; ſie beweinte noch immer den entflohenen Gelieb - ten, als endlich der Vater ruͤckkehrte, ihr durch umſtaͤndliche Erzaͤhlung die Wahrheit ſeines Briefes ſo deutlich bewies, daß ſie nur im Verborgenen noch um ihn trauern, ihn nur in ihrem Herzen entſchuldigen konnte. Sie ſchiens gleichguͤltig zu achten, als end - lich die Gerichte, welche erſt der Formalitaͤt wegen durch die Landesregierung erſucht wer - den mußten, wirklich nach ihm forſchten, und genau unterſuchten: ob niemand durch fruͤhe Warnung ſich zu ſeinem Mitſchuldigen ge - macht habe?
Amalie nannte von dieſer Zeit an, den Namen ihres Retters nicht mehr, aber ihre Lebhaftigkeit, ihre Theilnahme an allen laͤnd - lichen Geſchaͤften ging ganz verlohren, ſie ſaß am liebſten auf ihrem Zimmer, ſie bat drin -104 gend, ſie den Winter uͤber nicht nach der Stadt zu fuͤhren, und ſah es nicht gerne, wenn ihre Eltern ſie in ihrer Einſamkeit ſtoͤhrten, oder gar Geſellſchaft in ihr Zimmer fuͤhrten. Der Fruͤhling begann, Vater und Mutter hoften, daß der Alleserfreuende auch ihrer Tochter Herz erfreuen werde, aber ihre Erwartung ward durch den Erfolg getaͤuſcht, Amalie trauerte noch immer in ihrem Zimmer, als die Veilchen lieblich dufteten, und ihre ſchoͤnen Abrikoſenbaͤume ſchon verbluͤht hatten. Sie gab zwar oft den ſanften Ermahnungen des Vaters nach, ging mit ihm im Garten, und uͤber Feld ſpazieren, aber ſie ſtaunte im - mer gedankenvoll in die Ferne, und trat ge - fuͤhllos die Pflanzen zu Boden, welche ſie ſonſt ſo emſig gepflegt hatte.
Moͤglich, daß Gram uͤber das innere Leiden ſeines Kindes des Vaters Tage ver - kuͤrzte, er ſtarb im folgenden Herbſte an ei -105 nem Nervenfieber, nachdem er zuvor ſeine Tochter dringend gebeten hatte, ihre Tage mit mehr Freude zu genießen. Sein Tod machte tiefen Eindruck auf Amaliens Herz, und vermehrte ihre Trauer um ein großes. Wenigſtens konnte und durfte es ihr niemand verdenken, wenn ſie unter dieſem Vorwande noch einſamer lebte, ihr Zimmer aͤußerſt ſel - ten verließ. Ihre Mutter trauerte ſelbſt aufs innigſte uͤber den Verluſt ihres geliebten Gat - ten, und ſah's gerne, wenn ihr Kind mit ihr klagte und weinte; aber ſie erſchrack auch herzlich, als ihr der beſuchende Arzt die ge - wiſſe Vermuthung entdeckte, daß ſchleichende Abzehrung am Leben ihrer Tochter nage, und ſie nothwendig im nahenden Fruͤhjahre die Waſſer zu Spaa trinken muͤſſe, wenn das Ue - bel nicht unheilbar werden ſolle.
Da fieberhafte Anfaͤlle die Mutter verhin - derten, Amalien zur beſtimmten Zeit ſelbſt106 zu begleiten, ſo vertraute ſie ſolche einer al - ten Muhme, die eines Pfarrers Wittwe war, und von Amalien immer vorzuͤglich ge - liebt wurde. Amalie hatte ſich lange gewei - gert, die Reiſe zu unternehmen, und laͤ - chelte ſanft, wenn der Arzt ihr die Gefahr groͤßer ſchilderte, als ſie ſelbſt war. Sie wuͤrde ſeinen Rath nicht befolgt haben, wenn nicht die Mutter ausdruͤcklichen Gehorſam ge - fordert, und ſie verſichert haͤtte, daß laͤn - gere Weigerung ſie aͤußerſt kraͤnken werde.
Amalie blieb ſich auf der Reiſe immer gleich, nahm an nichts Antheil, bezeugte keine Freude uͤber die ſchoͤne Gegend, welche ſie durchreiſte, und trank ſchon einige Wo - chen ohne Erfolg den Brunnen, als ſie einſt nach der Verſicherung der alten Muhme aͤuſ - ſerſt luſtig und munter von da in ihre Woh - nung zuruͤckkam. Sie iſt itzt, ſchrieb bald darauf die frohe Alte der Mutter, ganz ein107 anderes Maͤdchen geworden, puzt ſich wieder, geht den ganzen Tag ſpazieren, iſt bey al - len Freudenfeſten und Pikniks gegenwaͤrtig, und kommt oft ſpaͤt in der Nacht vom Tanze nach Hauſe.
Die gute Mutter wurde durch dieſe Nach - richt ſehr getroͤſtet, ſie dankte dem Arzte fuͤr ſeinen guten Rath, und lobte die kraͤftige Wirkung des Waſſers; aber ihr Dank und Lob dauerte nicht lange, verwandelte ſich in unheilbaren, tiefen Jammer, als die Muh - me ohne Amalien ruͤckkehrte, der ſtaunenden Mutter die ſchreckliche Nachricht brachte, daß ihre Tochter wahrſcheinlich mit einem Gelieb - ten aus Spaa entflohen ſei, all' ihr Geld und Koſtbarkeiten mit ſich genommen, ihr nur ſo viel gelaſſen habe, als zur Ruͤckreiſe noͤthig war. Zur Beſtaͤtigung ihrer Erzaͤh - lung zeigte ſie der jammernden Mutter ei - nen Zettel von Amaliens Hand geſchrieben,108 welchen ſie auf ihrem Nachttiſche gefunden hatte.
„ Eilen ſie, ſtand darauf geſchrieben, nach Hauſe, und troͤſten ſie meine arme Mutter mit der Verſicherung, daß mich zwar mein unvermeidliches Schickſal wahrſcheinlich auf ewig von ihr trennt, daß ich aber den Schritt freiwillig wage, ihn nie zu bereuen, gegruͤn - dete Hofnung habe. Sie ſoll bald Nachricht von mir erhalten, ich zweifle dann nicht, daß ſie mir mein vaͤterliches Erbe nicht vorenthal - ten wird, damit ich in den Armen eines red - lichen Mannes, um deswillen ich eine ſo gute Mutter verließ, ruhig und zufrieden leben kann. Theure Mutter, trauern ſie nicht, wenn ſie dies leſen, bedenken ſie, daß ihre Tochter daheim verwelkt waͤre, und itzt in der Ferne herrlich bluͤhen, ihnen jederzeit Nachricht von ihrem Befinden geben, und nie aufhoͤren wird, ſie um den muͤtterlichen Se - gen zu bitten. “
109Dies war aller Troſt, alle Hofnung, an welche ſich durch einen langen Monat die kla - gende Mutter halten konnte. Die redliche, aber auch mit der großen Welt ganz unbe - kannte Pfarrerswittwe konnte keine ihrer Fra - gen beantworten, ihr in dem Labyrinthe von Zweifel, und Ahndung gar keinen Weg zei - gen. Sie war immer huͤbſch daheim geſeſſen, hatte Arndts Paradies-Gaͤrtlein durchblaͤt - tert, indeß Amalie ungehinderte Freiheit ge - noß, ihren Plan zu entwerfen, und auszu - fuͤhren.
Nach Monatsfriſt ward der Leidenden der erſte Troſt, ſie erhielte einen Brief von ih - rer Tochter. Dieſe bat ſie des gewagten Schrittes wegen innig und ruͤhrend um Ver - gebung, ſchilderte ihr aber die Liebe zu ei - nem der edelſten Maͤnner ſo groß, und ihr kuͤnftiges Gluͤck in ſeinen Armen ſo reizend, daß die gute Mutter willig verzieh, und110 zum erſtenmale wieder froͤhlicher athmete. Noch, ſchrieb Amalie am Ende, kann ich ihnen den Namen desjenigen, deſſen Liebe mich ſo graͤnzenlos gluͤcklich macht, nicht nen - nen, aber bald ſollen ſie alles erfahren. In - deß bitte ich ſie, mir von meinem vaͤterli - chen Erbe fuͤnf tauſend Thaler nach Luͤbeck an Wechsler R —. zu uͤberſenden, welcher be - reits den Auftrag hat, es weiter zu ſchicken. Verzeihen ſie mir dieſe Vorſicht, ſie iſt zu meinem Gluͤcke noͤthig. Dies wuͤrden ſie uͤbri - gens um ein großes befoͤrdern, wenn ſie alle Kapitalien, die mir mein Vater hinterließ, indeß aufkuͤndigten, damit ich ſolche zur Zeit erhalten, und in dem Lande anlegen kann, wo ich kuͤnftig leben werde.
Die getroͤſtete Mutter achtete es nicht fuͤr noͤthig, den Rath weiter blickender Freunde zu hoͤren, ſie ſandte die geforderte Summe nach Luͤbeck, verſprach in einem111 Briefe, alles zu erfuͤllen, was ihr geliebtes Kind fordere, zur Vermehrung ihres Gluͤcks heiſche, und beſchwor nur am Ende ihre Tochter, ihr wenigſtens doch noch einmal in ihrem Leben die Wonne zu goͤnnen, ſie zu umarmen, und zu ſegnen.
Hoffend und fuͤrchtend verſtrichen nun ei - nige Monate ohne weitere Nachricht. Die aufs Neue leidende Mutter wandte ſich des - wegen an den Wechsler R —. zu Luͤbeck. Er berichtete ihr, daß er das Geld richtig erhalten, es laut Ordre an einen jungen, ſchoͤnen aber ganz unbekannten — ſchen Offizier[ausgezahlt] habe, und ſonſt nichts berichten koͤnne.
Neue Monate verfloſſen ohne Troſt; das Leiden der duldenden Mutter mehrte ſich, nagte an ihrem Leben, und vernichtete es ganz, als die Blaͤtter wieder zu ſproſſen be -112 gannen. Sie ſtarb ohne Troſt, ohne Nach - richt: wie es ihrem einzigen Kinde gehe? Ob es noch hienieden walle, oder ihrer dort ſchon harre? Die Gerichte nahmen das große und anſehnliche Vermoͤgen in Empfang, ver - walten es noch, weil erſt itzt die naͤchſten Anverwandten ſolches zu fordern beginnen.
Lange blieb dieſen Amaliens Schickſal un - erforſchlich, erſt durch ungefaͤhren Zufall er - fuhren ſie es ſeit kurzem, und ſetzen mich in Stand, ihre weitere Geſchichte zu erzaͤhlen: Amalie trank, wie ich ſchon erwaͤhnt habe, das Waſſer zu Spaa aus Gehorſam, vergaß es oft zu trinken, wenn ſie ſich aus dem Ge - tuͤmmel, welches den Brunnen umgab, los - riß, und in der ſchoͤnen Wildniß umher irr - te. Die ganze Gegend ſtimmte dann ſo ganz mit ihrem Gefuͤhle, mit ihrer Melancholie, die Herz und Seele fuͤllte. Wenn ich ihn nur noch einmal ſehen, und mit der Verſicherungtroͤ -113troͤſten koͤnnte, daß ich ihn noch liebe! rief ſie dann immer aus, und ſuchte ihn vergebens unter den Luſtwandelnden, welche hie und da in Gruppen gelagert ſaßen, dort wieder einzeln auf den Bergen umher kletterten.
An einem ſchoͤnen Morgen ſaß ſie eben mit dieſem Gedanken auf einem Abhange, als ſie dicht unter ſich einen Juͤngling erblickte, welcher, in einen Kaputrock gehuͤllt, nach - denkend da ſas, und ein ofnes Buch in der Hand hielt. Seine Phiſionomie erinnerte ſie lebhaft an ihren Wilhelm, es ward leicht in ihrem Herzen, licht in ihrer Seele, ſie zit - terte ahndend bei ihm voruͤber. Der Juͤng - ling ſprang erſchrocken empor, ſank langſam zuruͤck, und rief freudig aus: Sie iſt's! Er iſt's! antwortete Amalie, und ſank in ſeine Arme. Der Bund der Liebe ward er - neuert, und durch Kuͤſſe des frohen Will - komm's gefeiert.
Biogr. d. W. z. B. H114Schon waren alle Brunnengaͤſte nach der Stadt zuruͤckgekehrt, als Wilhelm und Ama - lie noch immer am Abhange ſaßen, ſich ihr Leiden, ihr Schickſal erzaͤhlten. Wilhelm be - wies, daß ſchaͤndliche Verlaͤumdung und un - gegruͤndete Eiferſucht des Vaters ihn ſo ſchreck - lich verfolgt habe. Wahr iſt alles, was ich ihnen, ſprach er, ſchon ehedem erzaͤhlte, nur verſchwieg ich's, daß der Vater meine ungluͤckliche Mutter ſogleich nach dem Gefaͤng - niſſe ſchleppte, und mich, da ich ſeinem Grimme entflohen war, raſtlos ſuchte, end - lich im Walde fand und gleich der Mutter den Gerichten uͤberlieferte. Staunend ſtand ich und ſie, als die Gerichte Bekenntniß der ſchaͤndlichen Thaten von uns forderten, die wir nie geuͤbt, nie beſchloſſen hatten. Ver - gebens ruften wir Gott zum Zeugen und Schuͤtzer an, als rachſuͤchtige Buben, die mein Vater im Dienſte hatte, wider uns auftraten, und beſchworen, was wir nie ge -115 than hatten. Wahrſcheinlich ſchreckte ſie mein drohender Blick, denn erſt ſpaͤter erfuhr ich, daß ſie mich weniger als meine Stiefmutter beſchuldigt hatten, die Ungluͤckliche wurde zur Folter, und als ſie aus Schmerz auf dieſer alles bekannte, was die Richter heiſchten, zum Tode verurtheilt. Ein Brief, den ſie in ihrer lezten Stunde an meine Familie ſchrieb, und worinne ſie ihre und meine Un - ſchuld mit den kraͤftigſten Worten verthei - digte, rettete mich nach der Hand aus dem Gefaͤngniſſe, meine Freunde beſtachen, von meiner Unſchuld uͤberzeugt, den Kerkermei - ſter, und entriſſen mich der blinden Rachſucht des immer noch tobenden Vaters.
Amalie glaubte und trauete Wilhelms Worten, denn ſie liebte und verſicherte ihn, daß er durch die treue Erzaͤhlung ſeines un - gluͤcklichen Schickſals in ihrem Herzen nichts verlohren, vielmehr alles gewonnen habe. H 2116Sie forſchte emſig nach der Erzaͤhlung ſeines weitern Schickſals.
Als ich ſie ſo ſchnell verlaſſen mußte, er - zaͤhlte er weiter, da kaͤmpfte die Verzweif - lung aufs neue mit mir, ich wuͤrde ganz ge - wiß geendet haben, wenn der Gedanke: Ein Engel liebt dich! mich nicht geſtaͤrket, mir nicht die Moͤglichkeit, ihn noch einmal wie - der zu ſehen, zum neuen Ziele ausgeſteckt haͤtte. Ich irrte zwar troſtlos, aber doch nach Rettung umherblickend vorwaͤrts, ich duͤnkte mich nirgends ſicher vor der grauſen Rache meines Vaters, ich ſchiffte uͤbers Meer und kam nach —. Dort fand ich unvermu - thet Freunde, die ſich meines Elends erbarm - ten, ich ward der Monarchin vorgeſtellt, und ſie ernannte mich zum Hauptmanne eines Re - giments, das ſie eben errichtet hatte. Um nicht einſt auch hier entdeckt und verfolgt zu werden, gab ich mir den Namen einer Fa -117 milie, mit der ich nahe verwandt bin, und ich haͤtte nun zufrieden und gluͤcklich leben koͤn - nen, wenn nicht die ſehnſuchtsvollſte Liebe an meinem kleinſten Vergnuͤgen genagt, mich bald unfaͤhig gemacht haͤtte, je mehr eines derſelben zu genießen. Ueberall ſah ich ihr Bild, uͤberall ruhten ſie in meinen Armen, und wenn ich ſie dann feſt an mein Herz druͤcken wollte, da ſchwanden ſie, und ließen mir Sehnſucht, Kummer und Trauer zuruͤck.
Amalie. Ging's mir beſſer?
Wilhelm. Als ich hofnungslos auf dem Krankenlager ſchmachtete, mit Sehn - ſucht das Ende meiner Leiden erwartete, da traten meine neuen Freunde zu mir, und forderten, daß ich nach dem Rathe des Arz - tes den Brunnen zu Spaa trinken ſollte. Vergebens ſchuͤtzte ich die Koſten und[den] Mangel an Gelde vor, ſie halfen dem leztern118 auf der Stelle ab, und ich mußte aus Dank - barkeit ihrer Bitte Gewaͤhrung zuſichern. Ohne Hofnung eines gluͤcklichen Erfolgs reiſte ich ab, die angenehme Reiſe erheiterte mich ein wenig, und weckte in mir die Luſt zum[fernern] Leben und Dulden. Der Arzt hatte mir vorzuͤglich Zerſtreuung angerathen, ich ſuchte ſie emſig