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Biographien der Wahnſinnigen.
Drittes Baͤndchen.
Leipzig,bei Voß und Compagnie. 1796.
Biographien der Wahnſinnigen.
Drittes Baͤndchen.
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Amalie F…

Schoͤn und artig war Amalie als Kind, eine der ſchoͤnſten und artigſten ihres Geſchlechts war ſie als Jungfrau. Ihre Eltern liebten ſie als das einzige Pfand ihrer Liebe mit in - nigſter Zaͤrtlichkeit, ſahen es gerne, wenn die Juͤnglinge der großen Stadt ihr tiefe Kom - plimente machten, und hoͤrten es noch lieber, wenn ſie, hingeriſſen von der Allgewalt ihrer Schoͤnheit, laut ausriefen, daß ſolch ein Maͤd - chen des Koͤnigs Krone verdiene. Sie hatten durch thaͤtigen Fleiß und gluͤckliche InduſtrieBiogr. d. W. 3. B. A2ein anſehnliches Vermoͤgen erworben, ſie muͤh - ten ſich, es nach Kraͤften zu mehren, damit Amalie einſt in den Armen eines redlichen Mannes vollkommen ein Gluͤck genieſſen koͤnne, welches ſie der vielen Sorgen und haͤufigen Geſchaͤfte wegen nur ſparſam und kaͤrglich ge - noſſen hatten. Sie ſahen dieſem gluͤcklichen Zeitpunkte mit Begierde entgegen, und woll - ten dann im ruhigen Genuſſe eines geſchaͤft - freien Alters zuſehen, wie ihr geliebtes Kind ein Gluͤck genieſſen wuͤrde, das ihnen ſo man - chen kummervollen Tag, ſo manche ſchlafloſe Nacht gekoſtet hatte.

Amalie kannte die wohlthaͤtige Abſicht ih - rer guten Eltern, ſie ehrte ſolche mit dem reinſten, kindlichſten Danke, aber ſie fuͤhlte noch nicht Drang nach Maͤnnerliebe, noch nicht Sehnſucht nach ihrem oft ſo gefaͤhrlichen Ge - nuſſe, ihr war ſo innig wohl, wenn ſie frei und ohne Zwang umher wandeln, die Reitze3 der Natur deren eifrige Verehrerin ſie von Jugend auf war ungeſtoͤrt genieſſen, ihre Wunderwerke ungehindert bewundern konnte. Ein nicht allzukleiner Garten, der das Hinter - theil des vaͤterlichen Hauſes umgraͤnzte, war im Fruͤhlinge, Sommer und Herbſte ihr Lieb - lingsort. Wenn ihre Eltern, oder die Die - ner und Maͤgde derſelben ſie ſuchten, ſo fan - den ſie ſolche allemal in dem angenehmen Gar - tenſaale, deſſen Fenſter hohe Pfirſchen und Aprikoſenbaͤume, noch hoͤhere Weinreben be - ſchatteten. Hier naͤhte und ſtrikte, hier las und ſpielte ſie auf dem Klaviere, hier fuͤt - terte ſie Huͤhner und Tauben, welche im nahen Hofe niſteten, und immer am Fenſter des Saals der reichlichen Wohlthat ihrer Gebie - terin harrten.

Ehemals[umfaßten] unnuͤtze Buchsbaͤume die regelmaͤſſigen Vierecke des Gartens, in ihrer Mitte gruͤnten Tarbaͤume in mancherleiA 24Figuren, und unter ihren dunkeln Schatten trauerten Tulpen, Nelken und Narziſſen. Ama - liens freier Wille hatte ihn in einen der fruchtbarſten Kuͤchengaͤrten verwandelt, ſie zog den groͤßten Spargel, den ſchoͤnſten Blumen - kohl, ſie pfluͤckte die ſaftigſte Pfirſche, die ſuͤſ - ſeſte Traube, und fuͤhlte ſich ganz gluͤcklich, wenn ihr guter Vater die Frucht ihres Fleiſſes mit beſonderm Appetite genoß, und ihre Kunſt mit zaͤrtlichen Ausdruͤcken bewunderte. Der Mutter Ermahnung, daß ſolche Arbeit die zarten Haͤnde verderbe, machte dann keinen Eindruck auf ihr Herz. Sie ſah ihre Schoͤn - heit zwar als ein wohlthaͤtiges Geſchenk des Schoͤpfers an, aber ſie war nicht eitel genug, ſich zur Vermehrung derſelben das kleinſte Ver - gnuͤgen zu entſagen, und eben dies erhoͤhte den Werth derſelben. Sie glich vollkommen der Roſe, die in freier Luft, geſtaͤrkt durch Thau und Regen, ihre vollen Knospen oͤfnet, da die meiſten ſtaͤdtiſchen Schoͤnheiten ſonſt ſo5 ganz der Blume im Treibhauſe gleichen, der jedes kuͤhle Luͤftchen ſchadet, die jeder ſtarke Sonnenſtrahl verſengt.

Eben feierte Amalie ihren zwanzigſten Ge - burtstag, als ihr Vater ſie in ihrem Gar - ten uͤberraſchte, mit vaͤterlichem Gefuͤhle ihre Hand faßte, und ſie nach dem kleinen Saale fuͤhrte.

Vater. Du duͤnkſt dich wohl recht zu - frieden und gluͤcklich, wenn du in deinem Garten umher wandeln, und zuſehen kannſt, wie deine Pflanzen ſo herrlich gedeihen, zur Vollkommenheit, zum Genuſſe empor reifen?

Amalie. Ach ja, lieber Vater, ja! Wenn in der Nacht der Regen mich weckt, und fruͤh die aufgehende Sonne mein Fenſter be - leuchtet, da eile ich im ſchnellſten Fluge herab, um zu ſehen, wie alle Gewaͤchſe, zum neuen6 Wachsthume geſtaͤrkt, daſtehen, und freue mich dann ſo innig, ſo aufrichtig mit ihnen.

Vater. Ich glaubs, glaubs herzlich ger - ne! Auch ich fuͤhlte einſt dieſe Wonne im ſtaͤrkern Grade. Ich ſah Jahre lang zu, wie du, meine theure Tochter, zur Vollkommen - heit empor keimteſt, wie ſich nach und nach alle deine Reitze und Tugenden entwickelten. Du bluͤhſt lange ſchon herrlich, ſoll ich nie Fruͤchte von dir erwarten?

Amalie. Ich verſtehe ſie nicht, beſter Vater, habe ich ſie vielleicht beleidigt, ſind dies Vorwuͤrfe

Vater. Keine Vorwuͤrfe, ein ſo liebes, gutes Kind verdient ſie nicht. Ich will dich nur an deine kuͤnftige Beſtimmung erinnern. Du feierſt heute deinen zwanzigſten Geburts -7 tag, dies Alter berechtigt mich, mit dir auf - richtiger, als ſonſt zu ſprechen.

Amalie. Ich erwarte noch immer mit gleicher Sehnſucht ihre naͤhere Erklaͤrung.

Vater. Sie ſoll dir ſogleich werden. Deine Freundinnen, welche mit dir ſpielten, mit dir emporwuchſen, haben ſchon alle ge - heurathet, viele derſelben ſind ſchon gluͤckliche Muͤtter, ihre Eltern genießen ſchon den ſuͤßen Lohn ihrer Erziehung, ich allein erwarte ihn noch immer vergebens.

Amalie (hoch erroͤthend). Wie ſoll wie kann denn ich ich habe ja keinen Lieb - haber.

Vater. Aber der Verehrer in Menge, welche ſich alle in die zaͤrtlichſten Liebhaber umwandeln werden, wenn es anders dein klei -8 ner Eigenſinn erlaubt. Viele gute und edle Juͤnglinge warben bei mir ſchon um deine Hand, ich verwieß ſie an dich, aber ſie kehr - ten bald traurend zuruͤck, und klagten mir, daß du ihre Blicke nicht ſehen, ihre Seufzer nicht hoͤren wolleſt.

Amalie. Lieber, theurer Vater, ich bin ſo gluͤcklich, wollen Sie mich denn un - gluͤcklich wiſſen? Ich fuͤhle noch keine Neigung zur Heurath, moͤglich, daß ſie in Zukunft ſich naͤhert, moͤglich, daß ſie bald erſcheint, dann will ich ihres Rathes achten, aber jetzt. O laſſen ſie mich ferner unter ihrem Schutze leben! Die Liebe meiner Eltern, mein kleiner Garten iſt der einzige Wunſch meines Herzens. Goͤnnen ſie mir ihn noch laͤnger, ich wuͤrde keines ohne Trauer vermiſſen koͤnnen.

Vater. Es thut mir weh

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Amalie. O wenn es ihnen auch nur unangenehme Stunden verurſacht, dann will ich ja gerne mein eignes Gluͤck vergeſſen, wil - lig ſelbſt ungluͤcklich ſein, um nur Sie ruhig zu wiſſen.

Vater. Gott bewahre mich fuͤr jedem Zwange, ſelbſt fuͤr dem Scheine deſſelben. Nun kein Wort mehr davon! Wenn du auch itzt ſelbſt meine Einwilligung zur vortheilhaf - teſten Heirath forderteſt, ſo wuͤrde ich ſie dir weigern, weil ichs nur fuͤr ein Opfer des Gehorſams, nicht fuͤr freien Willen achten wuͤrde. Du biſt mein einziges Gluͤck, meine einzige Freude auf dieſer Erde! Weh mir, wenn ichs durch einen vielleicht thoͤrichten Wunſch gemindert ſaͤhe.

Amalie. Dank, tauſend Dank, beſter der Vaͤter, ich

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Vater. Halt ein, ich verdiene ihn nicht, ich ſagte dirs ja ſchon deutlich, daß mein Ei - gennutz mich ſo nachgebend mache. Itzt von etwas andern! Dein Garten gruͤnt und bluͤht herrlich, kein Plaͤtzchen iſt mehr vor - handen, wo noch eine Staude, ein Baum gepflanzt werden koͤnnte. Du wirſt bald ge - ſchaͤftlos darinne umher wandern muͤſſen.

Amalie. Das eben nicht, denn eben das Wachſen und Gedeien aller, die ich pflanzte, labt mein Herz, aber wenn er groͤſ - ſer waͤre, wenn ich freien Raum rings um - her haͤtte, dann wollte ich manche ſchoͤne Idee ausfuͤhren, die itzt ungenutzt ſchlummern muß, nur manchmal meine Einbildungskraft angenehm beſchaͤftigt.

Vater. Alſo haͤtte ich deinen Wunſch doch ſo ziemlich errathen. Ich ſann hin und her, womit ich an deinem[Geburtstage] dein11 Herz erfreuen koͤnnte denn ein Bindband haſt du doch wohl erwartet?

Amalie. Erhielte ich nicht ſchon das ſchoͤnſte und koſtbarſte? (ihm um den Hals fallend) den deutlichſten Beweiß ihrer vaͤter - lichen Liebe?

Vater. Schmeichlerin! Wie innig ſie zu kuͤſſen verſteht! Solch ein Kuß iſt des Lohns ſchon werth! Sag mir einmal: Da du ſo eine große Freundin der Natur und der Oekonomie biſt, war denn deine reiche Einbildungskraft nie ſo freigebig, dich mit einem Landgute zu beſchenken, an deſſen ſchoͤ - nen Garten fruchtbare Felder und Wieſen, rieſelnde Baͤche und ſchattichte Waͤlder graͤnz - ten?

Amalie. Oft, lieber Vater, ſehr oft. Da wars, als ob ſie ihre Fabriken und Hand -12 lung aufgegeben haͤtten, auf einem ruhigen, ſtillen Landgute mit mir wohnten, und ich die ganze große Wirthſchaft fuͤhrte. Ach, wie ge - ſchaͤftvoll ich da umher eilte! Aus der Kuͤche in den Stall, aus dem Stalle in den Gar - ten, aus dieſem auf die Wieſen oder zu den Schnittern des Feldes, und wie ich mich dabei ſo froh und gluͤcklich duͤnkte! Solch eine Wonne laͤßt ſich nur fuͤhlen, nicht be - ſchreiben.

Vater. Und wenns nun wuͤrklich ſo waͤ - re

Amalie. (voll Freude) Wenns wirklich ſo waͤre, guter Vater, wenns wirklich ſo waͤre!

Vater. Deine reine Freude iſt der ſchoͤnſte Lohn meiner That, ich habe meine Fabrik mit anſehnlichem Gewinne verkauft,13 meine Handlung niedergelegt, und gehe itzt, mit dem Hrn. von H** den Kauf ſeines Landgutes abzuſchlieſſen, will dirs zu deinem Geburtstage verehren. Daß du deine guten Eltern mit dir dahin nehmen, ihrer pflegen, ihnen ein ruhiges Alter verſchaffen wirſt, bin ich im Voraus uͤberzeugt.

Amalie. O gewiß! O gewiß! Ach Gott, mein Dank iſt ſtumm! Ich fuͤhls, empfinde es nur!

Vater. Du kennſt doch dies Landgut und ſeine angenehme Lage.

Amalie. Ob ichs kenne? Genoß ich nicht mit ihnen im Fruͤhjahre dort einige der gluͤcklichſten Tage meines Lebens? Wenn ich mich noch ruͤckerinnere, am hohen Fenſter ſtehe, hinab blicke ins Thal, das die breite Elbe durchſtroͤmt, und an ihrem Ufer fette14 Schweizerkuͤhe, Schwane, Gaͤnſe, Enten, Pferde und Fiſcher im bunten Gewuͤhle ſchaue, und nun denke, daß dies immer ſo dauern, immer ſo ſeyn ſoll! Ach, Vater, die Freude macht mich zum Kinde. Ich wuͤrde weinen wie dieſes, wenn ſie nur mit mir ſcherzten.

Vater. Nein, ich ſcherze nicht, ich habe deine Meinung gehoͤrt, ſie war mir zu wiſſen noͤthig. Zu Mittage ſiehſt du mich wieder, und Nachmittage fahren wir auf dein Landgut, um dort in laͤndlicher Einſamkeit deinen Geburtstag zu feiern.

Er gieng die entzuͤckte Amalie ſtaunte ihm noch lange nach, ſie muͤhte ſich verge - bens, den Genuß ihres kuͤnftigen Gluͤcks zu faſſen, ihr kleiner Garten ward ihr zu enge, ſie eilte zur Mutter, und ſank weinend in ihre Arme. Die gute Mutter war von al - lem unterrichtet, ſie lobpreißte mit ihr des15 Vaters Entſchluß, meinte aber zugleich, daß eine kleine Liſt denſelben gefoͤrdert habe. Er will, ſagte ſie, dich raſtlos beſchaͤftigen, da - mit du, wenn du die Laſt der allzuhaͤufigen Geſchaͤfte nicht mehr ertragen kannſt, dir ei - nen Gehuͤlfen ſuchſt, der ſie mit dir theile. Amalie beſaß ein gutes, dankbares Herz. Freude und Ueberraſchung hatte es noch mehr geoͤfnet, ſie gelobte daher der Mutter, des Vaters Wunſch nach Kraͤften zu foͤrdern, und ſo bald der aͤchte Geliebte erſcheine, ihn zu ihrem Gehuͤlfen zu waͤhlen.

Nach dem Eſſen ſtieg Amalie mit ihren Eltern in den Wagen, um in ihrer Geſell - ſchaft nach dem bereits erkauften Landgute zu fahren. Ihre Freude war groß und uͤber - ſchwenglich. Man muß ſelbſt die Oekonomie leidenſchaftlich lieben, um alle das Vergnuͤ - gen fuͤhlen und mit genieſſen zu koͤnnen, wel - ches die gluͤckliche Amalie dort im vollem16 Maaße genoß; ich enthalte mich daher jeder Beſchreibung, gehe zu wichtigern Begebenhei - ten uͤber.

Es war eben Erndezeit. Amalie eilte je - den Morgen, jeden Abend zu den Schnit - tern, labte ſie reichlich und ſah dann mit Wonne zu, wie dieſe den Reichthum des Landmanns dort in Garben ſammleten, da auf Waͤgen luden, und endlich hingeriſſen vom innern Gefuͤhle frohe Erndelieder an - ſtimmten. An einem ſchwuͤlen Nachmittage ſchlenderte ſie eben aus dieſer Abſicht durchs lange Dorf, hatte beinahe ſchon das Ende deſſelben erreicht, als ſich hinter ihr ein klaͤgliches Geſchrei erhob; ſie blickte ruͤckwaͤrts, ſahe Greiſe und Kinder aͤngſtlich nach den Huͤtten eilen, und hoͤrte deutlich rufen, daß ein großer, wuͤthender Hund durchs Dorf renne, ſchon einige ſpielende Kinder gebiſſen habe. Sie erſchrack ob der nahen Gefahr,wußte17wußte nicht, ob ſie vor oder ruͤckwaͤrts gehen ſolle, und ſah endlich den Hund auf ſich zuei - len. Ein altes Muͤtterchen, das ſeinen kleinen Enkel retten wollte, wurde von ihm zu Boden geſtuͤrzt, und nun eilte er unaufhaltſam nach Amalien zu. Angſt und Schrecken hemmte ihre Kraͤfte und Stimme. Sie eilte jam - mernd vorwaͤrts, erblickte die wuͤthende Beſtie ſchon hinter ſich, und ſtuͤrzte, indem ſie ſich in ihr Kleid verwickelte, huͤlferufend und ſinnlos zu Boden. Als ſich ihre Sinne wie - der ſammleten, und ſie empor blickte, ſtand ein fremder Juͤngling vor ihr; er hielte un - ter ſeiner Linken einen bloßen Degen, und reichte ihr mit traurigem, aber doch freund - lichem Blicke, die Rechte. Unfern von ihr waͤlzte ſich der wuͤthende Hund in ſeinem Blute, vom Dorfe herauf erſcholl aus dem Munde der Herbeieilenden das Lob des muthi - gen Retters.

Biogr. d. W. 3. B. B18

Amalie (zu dem Juͤngling). So habe ich ihnen mein Leben zu danken? So haben ſie meine armen Eltern der Verzweiflung entriſſen?

Der Juͤngling (blickte ſtaunend in ihr Angeſicht, laͤchelte etwas bitter und ſchwieg).

Amalie. Wie ſoll, wie kann ich ihnen die edle That lohnen? O Gott, wenn ich mir die drohende Gefahr, den gewiſſen, ſchrecklichen Tod denke, ſo beben alle meine Glieder. (ſie lehnt ſich auf ſeine Schultern). Und nun gerettet durch ſie, edler Unbekann - ter! Ich muß nochmals fragen: Wie ſoll ich ihnen die That lohnen? Vermags dieſe Thraͤne der Freude ?

Der Juͤngling. Sie gnuͤgt! Sie gnuͤgt! (duͤſter) Fraͤulein! Iſt ihnen itzt beſſer?

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Amalie. Bin ich nicht gerettet?

Juͤngling. (mit feſtem, ernſten Tone) So leben ſie wohl! Dort kommen Leute, wel - che ſie nach Hauſe fuͤhren werden.

Er entfernte ſich ſogleich mit ſchnellen Schritten nach dem Walde, welcher unfern dem Dorfe lag. Vergebens flehte Amalie im ruͤhrendſten, ſchmelzendſten Tone um Ruͤck - kehr, vergebens ſandte ſie aus dieſer Ab - ſicht dem immer ſchneller Eilenden Boten nach, die erſtern wurden raſch zuruͤck gewieſen, die ſpaͤtern konnten ihn nicht mehr erreichen, ihr Auge verlohr ihn im Walde, und Amalie trauerte tief, daß ſie den Namen ihres Ret - ters nicht einmal im Gebete nennen koͤnne. Sie ſetzte ſich ermattet auf der kleinen An - hoͤhe nieder, Greiſe und Kinder ſtanden ne - ben ihr, und erzaͤhlten ihr: Wie der unbe - kannte Juͤngling, als ſie um Huͤlfe rief, raſchB 220aus dem nahen Graben, in welchem er wahr - ſcheinlich gelagert lag, empor ſprang, ſeinen Degen zog, und mit zwey kraftvollen Hieben den wuͤthenden Hund zu Boden ſtreckte. Sein Bild ſchwebte klar und deutlich vor Amaliens Augen. Er war groß und ſchoͤn, ſein brau - nes Haar rollte in verwirrten Locken um ſein Haupt, deckte ſeine gewoͤlbte Stirne, an deren Ende ein paar große, ſchwarze Augen oft wild, nur einmal freundlich hervorblick - ten. Sein von der Sonne verbranntes, aber doch bleiches Angeſicht, verkuͤndigte Krankheit oder inneres Leiden. Seine Kleidung verrieth ehemaligen Reichthum, denn ſie war nach der neueſten Mode gemacht, bewies aber auch eben ſo deutlich wenigſtens nahende Armuth, denn ſie war ſchon abgetragen, hie und da merklich beſchmuzt. Der erſt ſich faͤrbende Bart war uͤbrigens der aͤchte Beweiß, daß der Unbekannte kaum vierundzwanzig Jahre zaͤhle, vielleicht ſich ihnen erſt nahe. Er hatte Ama -21 lien vom ſchmaͤhligen Tode gerettet, ſie nicht eher, als bis die Einwohner des Dorfs zu ihrer Unterſtuͤtzung herbei eilten, verlaſſen. Es war daher kein Wunder, daß die Geſtalt des edlen und ſchoͤnen Retters tiefen Ein - druck auf ihr Herz machte, es mit Wuͤnſchen fuͤllte, die ſie bisher noch nicht gekannt hatte.

Noch ſtaunte ſie dem Entflohenen in die weite Ferne nach, hofte vergebens, daß er ruͤckkehren wuͤrde; als ein Greis ihr eine Schreibtafel uͤberreichte, welche er in dem Gra - ben gefunden hatte. Sie war geoͤfnet, nicht unedle Neugierde des Weibes, ſondern ſehn - liches Verlangen, den Retter durch dieſen gluͤcklichen Zufall naͤher kennen zu lernen, ver - leitete Amalie, ſolche zu durchblaͤttern. Sie war leer, nur zwei Seiten waren beſchrieben, es ſchienen fluͤchtige Gedanken, welche der Verfaſſer eben entworfen hatte, als Amaliens aͤngſtliches Geſchrei ihn zu Huͤlfe rief. Ama -22 lie las ſie mehr als einmal, ſie karakteriſirten das Gefuͤhl, die Denkungsart und den un - gluͤcklichen Zuſtand des Juͤnglings deutlich. Sie war eitel genug, das Ende derſelben auf ſich zu deuten, und dies erhoͤhte den Werth des gefundenen Schatzes um ein großes.

Liebe! Liebe! Liebe! ſo ſtand in der Schreibtafel geſchrieben, du biſt ein unbe - greifliches Weſen! Wie ſoll, wie kann ich mir deine entgegengeſetzten Wuͤrkungen er - klaͤren? Du machſt aͤußerſt gluͤcklich, aber auch noch weit ungluͤcklicher! Nein, nein! Nie gluͤcklich! Du biſt nur ein ſuͤßes Gift, das zum[Genuſſe] reizt, langſam, aber auch ſicher toͤdtet. Du biſt das aqua toffana der menſchlichen Sinne, Begierden und Leiden - ſchaften! So will ich dich kuͤnftig nennen, und mich fuͤr deinem Genuſſe huͤten, nicht leeren den goldnen Becher, den mir mit laͤchelnder Miene das Meiſterſtuͤck der Schoͤp -23 fung reicht. Du theilſt dich in verſchiedene Zweige, du liebſt als Freund, als Mut - ter und Vater, als Bruder und Kind, als Gatte und zaͤrtlicher Liebhaber; aber du biſt und bleibſt Gift! Betruͤgt nicht auch der Frennd den Freund, flucht nicht oft der Vater dem Kinde, haßt nicht das Kind die Eltern, der Bruder die Schweſter, wird nicht die Gattin dem Manne, die Geliebte dem Liebhaber oft ungetreu? Aqua toffana des menſchlichen Geſchlechts! So will ich dich kuͤnftig nennen! Schoͤn und reitzend gieng ſie geſtern vor mir uͤber, lockend und anziehend war ihre Geſtalt! Ich haͤtte vor ihr niederknien und ſie anbeten moͤgen, wie ſie mitleidig und liebevoll den gefallenen Buben[aufhob], ihm das Butterbrod wieder in die Hand ſteckte, ſeine Wangen ſtreichelte, und ſeine Thraͤnen trocknete. Millionen wenn ich ſie beſaͤße haͤtte ich geopfert, um die Stelle des gefuͤhlloſen Buben ein -24 nehmen, den Strich ihrer ſeidnen Hand fuͤh - len, den unnachahmlichen Blick ihres gro - ßen Auges auffangen zu koͤnnen; aber, aber

Hier hatte zum groͤßten Mißvergnuͤgen der leſenden Amalie der unbekannte Schreiber ge - endet. Mit innigem, noch nie gefuͤhlten Ver - gnuͤgen wiederholte ſie die lezten Zeilen, wenn ſie aber bis ans Ende kam, da ſank ihr Blick traurig zu Boden, das zweimal wiederholte Aber ſchien ſo ganz das angenehme Lob ver - nichten zu wollen. Daß ſie es uͤbrigens ſei, von welcher der Unbekannte ſpraͤche, ward ihr um deswillen zur vollen Ueberzeugung, weil ſie ſich deutlich der ganzen Handlung erin - nerte, welche ſie geſtern an einem kleinen Bauernbuben geuͤbt hatte.

Sie ſuchte endlich nach mehrern Lichte in der Schreibtafel umher, und fand in einer25 Falte derſelben zwei kleine Zettel. Großmuͤ - thiger Wilhelm, ſtand auf einem derſelben mit Bleiſtift geſchrieben, kehre zuruͤck, und troͤſte deine ungluͤckliche Mutter! Heilloſer Bube, war der Innhalt des zweiten, wenn du es noch einmal wagſt, in der Naͤhe mei - nes Schloſſes zu erſcheinen, ſo vergeſſe ich, daß ich dein Vater war, und ſchieſſe dich gleich einem ſchaͤdlichen Raubthiere nieder. Nimm dies zur lezten Warnung, und packe dich auf ewig von hinnen! Mit vielen Thraͤ - nen ſchien das erſtere betraͤufelt, mit keiner einzigen das leztere.

Amalie nahm innigen Antheil am Schick - ſale der ungluͤcklichen Mutter, des wahr - ſcheinlich noch ungluͤcklichern Sohnes; ſie ſchau - derte fieberhaft empor, wenn ſie ſich den wuͤ - thenden Vater dachte, der ſein eignes, ge - wiß unſchuldiges Kind ſo grauſam von ſich ſtieß, es ſogar zu ermorden drohete. Sie26 blickte dankbar gen Himmel, weil er ihr ei - nen ſo guten Vater geſchenkt hatte, aber ſie weihte auch dem ungluͤcklichen Juͤnglinge reich - liche Thraͤnen, weil er, mit des Vaters Zorn und Fluch belaſtet, unſtaͤtt und fluͤchtig umher irren mußte.

Eben fiel es ihr aufs Herz, daß ihre Eltern durch falſche Nachricht getaͤuſcht, um ſie zagen koͤnnten, und wollte nach dem Schloſſe ruͤckkehren, als man ihr meldete, daß beide ſchon in ſchneller Eile ſich nahten. Sie verbarg die Schreibtafel in ihre Taſche, und wallte ihnen entgegen. Angſtvoll blickten die Aermſten ſie an, als ſie ſich naͤherten, freudetrunken ſanken ſie in ihre Arme, als ſie die gluͤckliche Rettung erfuhren, welche ſie vorher nur wuͤnſchen, nicht hoffen konnten. Auch ſie wuͤnſchten den edlen Unbekannten eh - ren, danken und lohnen zu koͤnnen, neue27 Boten wurden ausgeſandt, kehrten aber gleich den erſtern ohne ihn zuruͤck.

Amalie trauerte aufs neue, ihr gutes Herz war des Dankes ſo voll, es preßte und aͤngſtigte unaufhoͤrlich ihre ſonſt ſo ſorgenfreie Bruſt. Sonſt ruhte ſie die ganze Nacht un - geſtoͤrt im Arme des wohlthaͤtigen Schlafes, itzt durchwachte ſie oft halbe Naͤchte in ban - gem Gefuͤhle und ſtummen Staunen. Im - mer ſtand der edle Juͤngling vor ihr, bald laͤchelte, bald drohte er. Sein Ungluͤck machte gerechten Anſpruch auf ihr Mitleid, auf ihre Huͤlfe, ſie trauerte tief, daß ſie ihm die letztere nicht leiſten koͤnne. Schoͤn und reitzend, ſprach ſie oft hingeriſſen vom innigen Gefuͤhle, ſtand er vor mir, lockend und anziehend war ſeine Geſtalt, aber, aber er floh, und ich kann ihn nicht wie - der ſehen, nicht danken fuͤr ſeine große Wohl - that!

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Um nicht neues Ungluͤck zu erfahren, ſo antwortete ſie wenigſtens oft dem fragenden Vater, beſuchte ſie nicht mehr die Schnitter des Feldes, ſaß immer nur unthaͤtig und trau - rend in den Lauben des Gartens, weil ſie dort ungeſtoͤrt an den Unbekannten denken, ſeine Schreibtafel durchblaͤttern, und ſeine Sen - tenzen leſen konnte. Oft ſtand ſie auch auf dem hohen Altane des Gartens, irrte gedan - kenlos mit ihrem Blicke in der reizenden Gegend umher, und ward nur dann aufmerk - ſam, wenn ſie in der Ferne oder Naͤhe einen einzelnen Wanderer erblickte. Sehr oft fuͤhr - te ſie ihr forſchendes Auge, ihre immer ge - reizte Einbildungskraft irre, ſie eilte dann ohne einer Gefahr zu gedenken ins Freie, und kehrte mißmuthig zuruͤck, wenn ſie uͤber - zeugt wurde, daß der Wanderer ihrem Juͤngling nicht gleiche.

29

Bei einer aͤhnlichen Gelegenheit ſtieg ſie bis ans Ufer der Elbe hinab; gegen uͤber lag eine kleine Inſel, welche hohe Weiden und Erlen beſchatteten, ihr wohlthaͤtiger Schat - ten, ihre melancholiſch umher ſchwankenden Aeſte luden ſie zum Genuſſe ein. Ein kleines Schifchen lag am Ufer, ſie rufte die nahen Fiſcher herbei, und ließ ſich nach der Inſel fuͤhren. Verſunken in ſuͤßen Traͤumen, um - herſchweifend im reizenden, oft aber auch ge - fahrvollen Irrgarten der Liebe denn Ama - lie liebte ſchon wirklich vergaß ſie die be - ſtimmte Ruͤckkehr, ſah nicht, daß ſchwarze Gewitterwolken ſich uͤber die Berge herab ins Thal ſenkten, und fuͤrchterlichen Sturm ver - kuͤndigten. Zu ſpaͤt erwachten die ſchlafen - den Fiſcher, machten Amalien die drohende Gefahr kund, und hoften mit Gottes Bei - ſtande in ſchneller Eile noch uͤberzuſchiffen, ehe der Sturm zu wuͤthen beginne. Wahr - ſcheinlich wuͤrde ſich Amalie zu der gefahrvol -30 len Ueberfahrt nicht entſchloſſen, lieber das Ende des Sturms auf der Inſel abgewartet haben, wenn nicht die Schiffer ſie verſichert haͤtten, daß jeder anhaltende Platzregen die Inſel, ihrer niedrigen Lage wegen, uͤber - ſchwemme, und ſie dann ſicher ein Raub der Wellen wuͤrde, wenn dieſer allen Anzeichen nach erfolgen ſollte.

Mit bebendem Herzen betrat Amalie das Schifchen, noch mehr zitterte und zagte ſie, als in der Mitte des Stroms der Sturm zu wuͤthen begann, den Kahn unaufhaltſam mit ſich fortriß, und nach einigen Schifmuͤhlen hinſchleuderte, welche am Ufer des Stroms lagen. Schon entſagten die ermatteten Schif - fer jeder Hofnung zur Rettung, ſchon ließen ſie die unnuͤtzen Ruder ſinken, und hoben die Haͤnde zum lezten Gebete empor, als das kleine Schiff im vollen Laufe an einen Pfahl ſtieß, und ſchnell umſchlug. Die Fiſcher ſuch -31 ten ſich durch Schwimmen zu retten; Ama - lie vermochte es nicht, ob ſie gleich ihr langes Kleid, das ſich gleich einem Seegel auf dem Waſſer ausbreitete, nicht ſinken ließ. Die Vorſtellung des gewiſſen Todes raubte ihr die Sinne; wie ſie wieder denken und fuͤhlen konnte, lag ſie am Ufer des Fluſſes, der unbekannte Juͤngling ſtand neben ihr, und hielte ihre Linke in ſeiner Rechten, um den Schlag ihres Pulſes zu beobachten. Sein Haar, ſeine Kleider trieften vom Waſſer, Fieberkaͤlte ſchuͤttelte ſeine Glieder, und ruͤt - telte ſeine Zaͤhne, er laͤchelte freundlich, wie ſie die Augen oͤfnete, er ließ ihre Hand ſin - ken, wie ſie Dank ſtammelte. Der Muͤller eilte mit ſeinen Leuten herbei. Pflegt ihrer, bis der Sturm voruͤber zieht, und fuͤhrt ſie dann in die Arme der harrenden Eltern zu - ruͤck, ſprach der Unbekannte, und entfernte ſich ſchnell. Bleib, bleib! geliebter Retter! rief zwar Amaliens ſchwache Stimme ihm nach,32 aber der Sturm verwehete das leiſe Lispeln der Matten, er hoͤrte ihren Ruf nicht, und zog eilend von dannen.

Eine neue Ohnmacht, die Folge des vie - len verſchluckten Waſſers, bemaͤchtigte ſich Amaliens Sinnen, ſie erwachte erſt nach ei - ner halben Stunde in den nahen Huͤtten, wo - hin ſie die Muͤller getragen hatten. Ihre El - tern ſtanden weinend vor ihr, troſtlos rang die zaͤrtliche Mutter die Haͤnde, verzweif - lungsvoll raufte der Vater ſein Haar, ſie ſah's, aber ihr erſtes Wort war doch die Frage: Ob ihr edler Retter abermals ver - ſchwunden ſei? Eine Thraͤne ſchlich uͤber ihre bleiche Wange, als die Muͤller verſicherten, daß man ihn nicht mehr geſehen, nicht wiſſe: Wohin er ſeinen Weg genommen habe? Vater und Mutter muͤhten ſich vergebens, ſie durch Scheingruͤnde der moͤglichen Entdek -kung33kung zu troͤſten, ſie nannte ſich hoͤchſt un - gluͤcklich, weil ſie nicht dankbar ſein konnte.

Wie man ſie nach dem Schloſſe getragen, und der herbeigerufene Arzt verſichert hatte, daß ſie gluͤcklich gerettet, und keine Gefahr des Lebens vorhanden ſei, gab der Vater ih - ren Bitten nach, und ſandte in alle Gegen - den Boten aus, welche den Retter ſeines Kindes wenigſtens auf einen Tag, auf eine Stunde in ſein Schloß laden ſollten. Auch die Muͤller wurden auf Amaliens Verlangen herbeigerufen, und mußten ausfuͤhrlich erzaͤh - len, wie der unbekannte Juͤngling ſie geret - tet habe.

Er ſaß, ſprach einer derſelben, eben in meinem Gaͤrtchen, und trank Milch, um die er mich gebeten hatte, als der Sturm be - gann. Ich trat zu ihm, und bat ihn, in die Huͤtte zu kommen: aber er lachte bitter,Biogr. d. W. 3. B. C34und verſicherte mich, daß er ſich nie beſſer befinde, als wenn er im Freien zuſehen koͤn - ne, wie wilder Sturm in fruchtbaren Gefil - den wuͤthe. Ich geſteh's aufrichtig, daß mir dieſe menſchenfeindliche Antwort wehe that, und wollte ihn eben verlaſſen, als er mit ein - mal in die Ferne ſtarrte, pfeilſchnell auf - ſprang, und nach dem Fluſſe hinab lief, ich folgte ihm muͤhſam, und ſah gleich ihm, daß der Sturm das kleine Schiff auf dem Stro - me herab gegen die Muͤhlen treibe, ich rann - te zuruͤck, um mit meinen Knechten dort Huͤlfe leiſten zu koͤnnen, beweinte aber auf - richtig ihren Tod, wie ich das Schiff nicht mehr, und die Fiſcher im Waſſer erblickte. Um wo moͤglich, Rettung zu verſuchen, rann - te ich mit meinen Knechten am Ufer auf - waͤrts, und ſah deutlich, wie die Fiſcher das Land gluͤcklich erreichten, der fremde Unbe - kannte aber eben unſre Jungfrau ſchwimmend durch die Wellen trug. Wir frohlockten ihm35 entgegen, aber ſeine Blicke waren nur auf die Ohnmaͤchtige gerichtet, er legte ſie nahe am Ufer nieder, und entfernte ſich erſt dann, als wir bei ihm anlangten.

Nach dieſer Erzaͤhlung wurde die Begier - de, dem edlen Retter danken zu koͤnnen, in den Herzen der guten Eltern gleich ſtark rege, auch ſie wuͤnſchten, daß die ausgeſandten Bo - ten ihn finden, und aufs Schloß fuͤhren moͤchten. Mit eben ſo ſtarker Sehnſucht er - warteten ſie die Ruͤckkehr derſelben, trauerten und weinten mit ihrer Tochter, als alle ohne Hofnung, ohne Troſt ruͤckkehrten. Keiner hatte ihn geſehen, keiner mit ihm geſprochen, er ſchien einer wohlthaͤtigen Gottheit zu glei - chen, die nur dann zu Huͤlfe herbeieilte, wenn Amaliens Leben in Gefahr ſchwebte; die ploͤtzlich verſchwand, wenn ſie fuͤr dieſe Rettung danken wollte.

C 236

Ungeachtet aller Verſicherung des Arztes, daß alle Gefahr geendet habe, fand man Amalien doch am andern Morgen in einer anhaltenden Fieberhitze. Angſt und Schrecken, die jaͤhe Erkaͤltung hatte auf ihren Koͤrper; betrogene Hofnung, getaͤuſchte Sehnſucht, den geliebten Retter zu ſprechen, auf ihre Seele gleich ſtark gewuͤrkt. Der Arzt erſchrak, als er ſie in dieſem Zuſtande traf, er ver - heelte den Eltern die Gefahr nicht, in wel - cher ſie einige Tage nachher wirklich ſchwebte, aus welcher ſie endlich nicht die Kunſt des Arztes, ſondern jugendliche Kraft und Staͤrke gluͤcklich rettete. Groß war dieſe Zeit uͤber der liebenden Eltern Jammer, ſie wichen nicht von dem Bette des einzigen Kindes, und hoͤrten es deutlich, wie ſie oft durch Huͤlfe des fie - briſchen Irrwahns in Waͤldern umher irrte, ihren Retter ſuchte, und nirgends fand.

37

Nach vier Wochen konnte ſie zum erſten - male wieder im Garten umher ſchleichen, und die Reize des nahenden Herbſtes genießen. Tod waren fuͤr ſie ſeine Freuden, die er auf ſo vielerlei Art, auf ſo mancherlei Weiſe ge - waͤhrt. Ihr Herz war mit Sehnſucht, mit inniger Liebe gefuͤllt, ſie fuͤhlte es deutlich, daß ſie nur in den Armen des Retters gluͤck - lich leben, nur in dieſen die Freuden der Natur genießen koͤnne. Immer ſchwebte ſein Bild vor ihren Augen, bald ſah ſie ihn, wie er mit maͤnnlicher Staͤrke den wuͤthenden Hund toͤdtete, noch oͤfterer, wie er ſie in ſeinen Armen aus den Fluthen rettete. Ge - taͤuſcht durch ihre lebhafte Einbildungskraft, ſchmiegte ſie ſich dann feſt an ſeine Bruſt, und ſchauderte traurend zuruͤck, wenn das angenehme Bild verſchwand, ſie verlaſſen und einſam da ſtand. Die Schreibtafel des Unbe - kannten, welche ſie ſtets bei ſich trug, war ihr ehe ſchon theuer, itzt theurer als alle38 Schaͤtze der Erden; ſie beſchaͤftigte ſich ſtun - denlang damit, und mehrte dadurch ihre Me - lancholie um ein großes, weil jedes Wort, das darinne geſchrieben ſtand, ſie uͤberzeugte, daß ihr Liebling ungluͤcklich ſei, wahrſchein - lich mit Elend und Mangel kaͤmpfte, vielleicht um deswillen unſtaͤt und fluͤchtig umher irre.

Mit dieſen Gedanken beſchaͤftigt, ging ſie einige Wochen nachher nach einem kleinen Buchenhain ſpatzieren, ihr folgten zwei Die - ner, welche der beſorgte Vater zu ihrem Schutze geordnet hatte, ſie waren ihr nicht laͤ - ſtig, weil ſolche ſie nie in ihren Gedanken ſtoͤhr - ten, nur ſtill hinter ihr her ſchlenderten. Der Weg nach dem Haine fuͤhrte durch eine Allee von Obſtbaͤumen, ihre Aeſte bogen ſich unter der Laſt der vielen Fruͤchte; ehemals wuͤrde dieſer Anblick ihr das groͤßte Vergnuͤ - gen gewaͤhrt haben, itzt war er ihrem Auge laͤſtig, es weilte nur auf den gelben Blaͤt -39 tern, die hie und da hervorblickten, und den nahenden Winterſchlaf verkuͤndigten. O koͤnnte ich mit euch ruhen und ſchlafen, rief ſie aus, und unwillkuͤhrliche Thraͤnen waͤſſer - ten ihr großes Auge.

Noch immer war dieſer Gedanke ihre Be - ſchaͤftigung, als ſie ſchon auf einem großen Steine im Walde ſaß, und die Diener hinter ihr mit einmal laut und aͤngſtlich zu ſchreien begannen. Amalie fuhr erſchrocken empor, forſchte nach der Urſache, aber die Diener konnten fuͤr Schrecken nicht antworten, zeig - ten mit ihrer Rechten unaufhoͤrlich nach einem Baume. Amaliens Blick folgte, ſie ſah an dem Aſte deſſelben einen Menſchen hangen, ihr zweiter Blick[uͤberzeugte] ſie ſchon, daß dies ihr Retter, der ungluͤckliche,[unbekann - te] Juͤngling ſei. Die Hofnung, Vergelterin zu werden, ihn auch aus den Armen des Todes zu retten, hielte ſie aufrecht, ſie eilte40 hinzu, und rufte die noch immer ſtaunenden Diener zur Huͤlfe herbei. Durch ihr flehen - des Bitten bewogen, loͤßte einer derſelben mit ſeinem ſcharfen Meſſer das Strumpfband, an welchem der ungluͤckliche Selbſtmoͤrder hing, er ſank herab, lag ſtarr und tod zu Amaliens Fuͤßen. Sie jammerte, rang nach Huͤlfe, fand keine, und befahl endlich, ihn nach dem Schloſſe zu tragen. Unterwegs traͤu - felten ihre Thraͤnen oft auf die bleiche Wan - ge des Juͤnglings, ſie beſchwor die Diener, daß ſie die Art ſeines Todes niemanden ent - decken moͤchten, ſie verſprach ihnen immer - dauernde Verſorgung, wenn ſie ihrer Bitte achten wuͤrden, und ſie gelobten ſtrenges Stillſchweigen.

Jeder der Schloßbewohner glaubte, daß man den Juͤngling tod im Walde gefunden habe, und da ſein Geſichte noch nicht ent - ſtellt, ſeine Wangen mehr bleich als blau41 waren, ſo glaubte dies auch der herbeieilen - de Wundarzt, irrte nicht, wenn er ihn als einen jaͤh Erſtickten oder vom Schlage getrof - fenen Menſchen behandelte. Als er kurz nach - her die Adern deſſelben oͤffnete, und noch Blut floß, da gewaͤhrte er der harrenden Amalie[Hofnung], und Zeichen des nahenden Lebens machten dieſe bald zur frohen Gewißheit. Reine, aͤchte Freude glaͤnzte zum erſtenmale wieder auf ihren Wangen, faͤrbte dieſe hoch - roth, als man ihr meldete, daß der Juͤng - ling wieder athmete, und die Augen oͤfne. Vater und Mutter theilten dieſe Freude red - lich mit ihr, und ſahen es gerne, daß ihr Kind auf ſo ſchoͤne Art an dem Unbekannten wieder vergolten habe, was er ohne Lohn an ihr uͤbte.

Noch hatte der Ungluͤckliche kein Wort ge - ſprochen, als der Wundarzt Amaliens Bit - ten nachgab, und ſie vor ſein Bette treten42 ließ, ſie wuͤnſchte abſichtlich mit ihm einige Worte allein ſprechen zu koͤnnen, und hatte ſich deswegen aus dem Zimmer ihrer Eltern weggeſchlichen. Des Juͤnglings Auge ſtarrte, als ſie eintrat, wild und unruhig umher, es blieb an ihr hangen, und ſtaunte ſie an. Amalie trat zu ihm, und bog ſich mitleidig auf ihn herab. Thraͤnen ſammelten ſich in ſeinen Augenwinkeln, er wollte ſprechen, und vermochte es nicht.

Amalie (ſeine Hand ergreifend, und wahrſcheinlich auch druͤckend). Sein und blei - ben ſie ruhig! Verſchmaͤhen ſie nicht die Huͤl - fe der dankenden Freundinn. Kann es ſie[be - ruhigen], ſo ſchwoͤre ich Ihnen auf meine Eh - re, daß niemand weiß, wie ich ſie fand und rettete.

Der Juͤngling (ſchwach). Sie? Sie retteten mich?

43

Amalie. War's nicht Pflicht, nicht Schuldigkeit? Nicht Wiedervergeltung? O Grauſamer, du thateſt mir weh, ſehr weh, daß du mir ſo hartnaͤckig jeden Dank rauben wollteſt.

Der Juͤngling (ſehr geruͤhrt). Ich ich muß danken Und dieſe Schonung meiner Ehre .

Thraͤnen rollten uͤber ſeine bleichen Wan - gen, er deutete mit dem Finger darauf, um Amalien zu uͤberzeugen, daß dieſe Opfer ſei - nes Dankes waͤren. Der Wundarzt nah'te ſich itzt, und bat dringend um Entfernung, weil heftige Gemuͤthsbewegung dem Kranken aͤußerſt ſchaͤdlich ſei.

Amalie wich dieſem Bewegsgrunde willig, und ſah mit Vergnuͤgen, als ſie an der Thuͤre ruͤckblickte, daß das Auge des Juͤng -44 lings ihr dankbar folge. Sie hatte wahrge - nommen, daß dem Kranken reine Waͤſche mangle, ſie ſandte ſolche ſogleich durch ihre Diener, nnd ordnete dieſe zu ſeinen Waͤrtern und Waͤchtern, damit nicht neuer Anfall der Verzweiflung ihre Huͤlfe vernichte. Froh ging ſie am Abende ſchlafen, froͤhliche Bilder der Zukunft umgaukelten ſie traͤumend, weil Wundarzt und Diener ſie verſicherten, daß alle Gefahr ſchwinde, und der Kranke mit gutem Appetite die Suppe genoſſen habe, welche ſie ihm ſandte. Noch froͤhlicher er - wachte ſie, und kleidete ſich mit ſchneller Eile an, als man ihr am Morgen meldete, daß der Fremde in ihrem Vorzimmer harre, ſie zu ſprechen verlange. Er trat bald hernach auf ihr Geheiß ein, ſie zitterte ihm entge - gen, und reichte ihm ihre Rechte.

Der Juͤngling (dieſe kuͤſſend). Mein Fraͤulein, ich komme ihnen zu danken

45

Amalie. Nicht auch den ſchon laͤngſt ſchuldigen Dank abzuholen? Ich verwahrte ihn tief in meinem Herzen, er ward mir oft zur ſchweren Laſt. Ich hoffe, daß ſie ihn nicht verſchmaͤhen, mich davon befreien wer - den.

Der Juͤngling. Was that ich, das des herrlichen Danks wuͤrdig waͤre? Ich ret - tete ihr Leben, aber ſie, mein Fraͤulein, retteten Leben und Seele. Schon beim na - henden Tode wird's heller! Es giebt eine Ewigkeit, einen Belohner des Guten und Boͤſen! Ich bin nun uͤberzeugt, will dulden und leiden, ſo lange er's fordert; daß ich's vermag, danke ich ihnen mit dem geruͤhrte - ſten Herzen. Leben ſie wohl! Er ſah die edle That, er nur allein kann ſie belohnen, ich traue auf ihn, er wird's gewiß thun!

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Amalie (zitternd und bebend). Wie, ſie wollen uns wieder verlaſſen? (lang - ſam) Mich verlaſſen?

Der Juͤngling. Muß ich nicht! Ich habe die ganze Nacht nach Ausſicht und Huͤlfe gerungen; ich fand nur eine moͤgliche. Sonſt verachtete ſie mein ſtolzes Herz, itzt will, und muß ich ſie ergreifen. Ich hoffe, daß irgend ein mitleidiger Offizier mich als einen Soldaten annehmen, und mir dieſen harten Stand durch menſchliche Behandlung erleichtern wird. Ich muß eilen, ihn auszu - fuͤhren, damit nicht zu fruͤhe Reue ihn ver - nichtet, und mich aufs neue zur Verzweif - lung reizt.

Amalie. Nein! Nein! Gott be - wahre! Sie bleiben bey mir, bey meinen Eltern, werden ihr Sohn, und mein (ſie ſtockt) und mein Bruder, mein Geſell -47 ſchafter. (der Juͤngling ſchuͤttelt mit dem Kopfe) Sie muͤſſen bleiben, und ſollte ich kniend ſie bitten! Werden, koͤnnen ſie dann mich ver - laſſen?

Der Juͤngling. O Gott! Wie ſelig wuͤrde ich mich in Ihrer Geſellſchaft duͤnken! Wie angenehm wuͤrden meine Tage dahin ſchwinden, aber bald wuͤrde auch ſchwarze Verlaͤumdung O daß ich's als Kind geſtehen muß! Verlaͤumdung eines Va - ters mich dieſem ſeligen Gluͤcke entreiſſen, und dann waͤre ich ja noch ungluͤcklicher, muͤßte ein Raub der Verzweiflung werden. Drum iſt's Pflicht, daß ich ſcheide, da es noch moͤglich iſt. Das Ungluͤck hat mich zu ſeinem Lieblinge erwaͤhlt, bisher ſuchte es mich emſig, ob ich ihm gleich zu entgehen ſuchte, itzt will ich es ſuchen, und ſehen, ob es mich auf ewig feſſeln, oder den An - blick des Duldenden fliehen wird.

48

Amalie. Wenn blos die Sorge, daß irgend eine Verlaͤumdung den lebhaften Dank in meinem und meiner Eltern Herzen mindern koͤnne, ſie zu ſolch einem Schritt verleitet, ſo ſchwoͤre ich ihnen bei Gott dem Allmaͤchtigen, daß dies nie geſchehen wird, nie geſchehen kann, ſo ſollen meine Eltern ſogleich in ih - rer Gegenwart meinen Schwur wiederholen. (ſie wollte gehen, der Juͤngling hielt ſie zuruͤck.)

Der Juͤngling. Ich bin ſchon uͤber - zeugt.

Amalie (freudenvoll). Und bleiben?

Der Juͤngling. Und bleibe, weil mei - ne Retterin es fordert.

Amalie. Und nehmen aus der Hand des Vaters, der Mutter und der Schweſterjede49jede Huͤlfe, jede Unterſtuͤtzung an, die ſie noͤ - thig haben.

Der Juͤngling (mit ſich kaͤmpfend). Verzeihen, vergeben ſie, aber es koſtet mich Muͤhe, den unbaͤndigen Stolz zu daͤmpfen, der das einzige Erbtheil meines Vaters iſt. Ja, ich nehme alles an, womit ihre unver - diente Guͤte einen Ungluͤcklichen beſchenken will.

Amalie. Nur zu belohnen wuͤnſcht.

Sie fuͤhrte nun den Unbekannten ins Zimmer ihrer Eltern, und ſah mit Vergnuͤ - gen zu, wie dieſe von wahrer Dankbarkeit beſeelt, ihm gleiche Antraͤge machten, mit edler Großmuth ihre Neugierde bekaͤmpften, nicht nach der Urſache ſeines Ungluͤcks forſch - ten, ſondern es nur durch das Verſprechen aller moͤglichen Huͤlfe zu lindern ſuchten. DerBiogr. d. W. 3. B. D50Juͤngling erkannte ihre edle Behandlung mit innigem Danke, und gelobte, nicht allein zu bleiben, ſondern ſich auch ganz der Lei - tung des guten Alten zu uͤberlaſſen, der ſich's mehr als einmal von ihm ausbat, daß er ihn Vater nennen moͤge. Kommen ſie, lieber Sohn, ſprach er endlich zum geruͤhrten Juͤnglinge, ich muß mit ihnen in meinem Kabinete allein ſprechen. Mit gluͤhender Wange und weinendem Auge kehrte endlich der Juͤngling zur harrenden Amalie zuruͤck, und geſtand ihr auf einem Spaziergange im Garten, daß der gute Vater ihn mit einer vollen Geldboͤrſe beſchenkt, und von ihm ver - langt habe, daß er morgen nach der nahen Stadt reiſen, ſich dort ſeinem Stande gemaͤß equipiren ſolle.

Amalie. Sie kehren doch aber ſo bald als moͤglich zuruͤck?

51

Der Juͤngling. Gott, im Himmel! Sie koͤnnen fragen? Waͤr's nicht der Wille des neuen, allzuguͤtigen Vaters, der's mit vollem Rechte erkennt, daß man die Men - ſchen nur nach den Kleidern beurtheilt, ich wuͤrde nicht von der Sonne weichen, die mich itzt ſo huldvoll anlaͤchelt, in deren Strah - len ich mich nie zu waͤrmen hofte.

Amalie (laͤchelnd). Nun wohl, ich will ſehen: Ob der neue Bruder die Schwe - ſter auch wuͤrklich zaͤrtlich liebt? Ihre fruͤhere oder allzulange verzoͤgerte Ankunft wird's ent - ſcheiden.

Der Juͤngling. Dann bin ich morgen wieder hier.

Amalie. Dieſe Eile wuͤrde die Abſicht des Vaters und den Entzweck ihrer Reiſe vernichten. Warten ſie, ich will's berechnen! D 252Wenn ſie kein Geld ſparen, und dies haben ſie wahrlich nicht noͤthig, ſo koͤnnen ſie in acht, laͤngſtens zehn Tagen wieder hier ſein. (ſcherzend) Ja, ja, lieber Bruder Wilhelm, in zehn Tagen erwartet dich deine Schweſter mit Sehnſucht, und wird an deiner Liebe zweifeln, wenn du ſpaͤter wiederkehrſt.

Der Juͤngling (etwas unruhig). Sie nannten mich Wilhelm? Woher wiſſen ſie es, daß ich mich ſo nenne?

Amalie (etwas verwirrt). Warum ſoll ich's laͤugnen? Als ſie mich aus den Klauen des wuͤthenden Hundes retteten, fand ein Bauer ihre Schreibtafel im Graben. Daß ich ſie begierig durchblaͤtterte, wenigſtens den Namen meines Retters darinne zu finden hofte, muß ich ihnen frei geſtehen. Sie war ſeit langer Zeit, das einzige, aber gewiß theure Andenken, welches ich von ihnen be -53 ſaß, itzt will ich es ihnen gerne zuruͤckgeben, da ſie verſprochen haben, mich nicht mehr zu verlaſſen.

Wilhelm. So wenig dieſe Schreibtafel auch enthielt, ſo ſehe ich doch ein, daß ſie durch ihren Beſitz mein ungluͤckliches, aͤußerſt trauriges Schickſal beinahe ganz kennen lern - ten. Wie ich ſehe, ſo habe ich dadurch in ihren Augen nichts verloren, es iſt daher Pflicht, ihnen alles aufrichtig zu erzaͤhlen, da - mit mir nicht verlaͤumderiſche Zungen rauben, was ihr guͤtiges Herz mir bisher in ſo vol - lem Maaße ſchenkte.

Ich bin der einzige Sohn eines Edel - manns in B , ich nenne mich Wilhelm von L . Meine Mutter Ach ihr fruͤher Tod war die ganze Urſache meines Un - gluͤcks! Meine Mutter liebte mich zaͤrt - lich, und erzog mich ſorgfaͤltig, ſie ver -54 mochte wenig uͤber das rohe, oft wilde Herz meines Vaters, aber manchmal gelang es ihr doch, mit ihren ſanften Vorſtellungen Eingang zu finden, und dann benutzte ſie ſolche redlich, um mein Gluͤck zu foͤrdern. Mein Vater hatte nicht die geringſte Erzie - hung erhalten, er konnte nur reiten, jagen, trinken und mit vieler Muͤhe ſeinen Namen unterſchreiben, er achtete es daher gar nicht fuͤr noͤthig, mir eine beſſere Erziehung zu gewaͤhren. Nur durch Jahre langes und un - ermuͤdetes Bitten vermochte es meine Mut - ter uͤber ihn, daß ich nach der Hauptſtadt in eine ritterliche Akademie geſandt, und dort erzogen ward. Ich war der guten Mut - ter einzige Freude und Vergnuͤgen, ſie hatte nicht aus Liebe, ſondern aus Zwang geheu - rathet, und doch entſagte ſie willig aller ih - rer Freude, um mich nur vor den Mißhand - lungen des oft grauſamen Vaters zu retten,55 und einen beſſern, thaͤtigern Mann aus mir zu bilden.

Anfangs mußte ich ſie jedes Jahr, wenn die Schulferien eintraten, beſuchen; als aber mein Vater mich einigemal barbariſch pruͤgel - te, weil ich auf der Jagd einen Fuchs ge - fehlt, einmal gar aus Verſehen eine Hirſch - kuh geſchoſſen hatte, ſo entſagte ſie auch die - ſem Vergnuͤgen, und ließ mich nicht mehr heimholen.

Wie ich endlich meine Studien vollendet hatte, und nun Dienſte des Staats ſuchen wollte, auch wuͤrklich ſchon gegruͤndete Hof - nung dazu hatte, da ſandte mir meine Mut - ter einen Eilboten, und befahl mir, ſo ſchnell als moͤglich aufs vaͤterliche Schloß ruͤck - zukehren, weil der Vater wuͤthe und tobe, ſie zu ermorden und mich zu enterben drohe, wenn ich ſeine Ahnen und Familie ſo ſchimpf -56 lich entehren, ein elender Federheld, ein kriechender Hofſchranze werden wollte. Als ich dem Befehle der guten Mutter getreu, daheim anlangte, ſtand ſie weinend am Fen - ſter, und hob ihre Haͤnde bittend in die Hoͤ - he, mein Vater empfieng mich mit tiefem Ernſte an der Thuͤre, und fuͤhrte mich ſtill - ſchweigend in ſein Kabinet. Auf dem Tiſche lagen zwei Piſtolen, er nahm ſie unter den Arm, und ſah mich lange mit finſterm Blicke an. Biſt, ſprach er endlich, eine wahre Zuk - kerpuppe geworden! Wie das alles gepudert, geſchnerkelt und gedrechſelt iſt! Wie's witter[t], als ob Biſamkatzen hier niſteten! Schwoͤren wollte ich einen hohen Eid, und meine Se - ligkeit rein erhalten, daß du nicht mein Sohn ſeiſt, wenn dir nicht der liebe Gott aus Erbarmen eine Naſe ins Geſicht gepflanzt haͤtte, welche die verdammten Staͤdter doch nicht verhunzen konnten, die der meinigen noch immer aͤhnlich ſieht. Du haſt mir neu -57 lich geſchrieben, ſo hat mir wenigſtens deine ſaubre Mutter vorgeleſen, daß du feſt ent - ſchloſſen ſeiſt, Dinte zu lecken, Federn zu kaͤuen, und mit gleißneriſchen Worten den Obrigkeiten ihre Rechte zu ſchmaͤlern, die einſt ihre Vorfahren mit Muth und Blut theuer erkauften, ich kann unmoͤglich glau - ben, daß mein Blut ſo ganz ausarten ſollte, und habe dich herberufen, um deine Mei - nung zu hoͤren, und dir meinen Willen zu verkuͤndigen.

Ich kannte den wuͤthenden Jaͤhzorn mei - nes Vaters aus fruͤherer Erfahrung, ich ſah ein, daß er fuͤrchterlich wuͤthen, mich ſicher vernichten wuͤrde, wenn ich auch nur mit Gruͤnden ſeine einmal gefaßte Meinung wider - legen wollte, ich geſtand ihm daher offen, daß ich Staatsdienſte fuͤr meine Beſtimmung gehalten haͤtte, weil er mich ſtudieren ließe, daß ich aber Stolz genug von ihm geerbt haͤt -58 te, mit Freuden jedem Dienſte zu entſagen, wenn er es nicht ausdruͤcklich fordere. Nein! nein! rief er haſtig aus, und warf die Piſto - len weg, ich fordre es nicht! Du biſt doch mein Sohn! Sieh, waͤrſt du hartnackig auf deinem verdammten Vorſatze beſtanden, ich haͤtte dir, ſo wahr Gott lebt, eine Kugel durch den Kopf gejagt; itzt umarme ich dich aber als meinen Sohn, werde dich im - mer als ſolchen erkennen, wenn du fortfaͤhrſt, meinen Willen zu beobachten. Laß es gehen, Wilhelm, fuhr er fort, die verdammten Staͤdler haben dich zwar ganz verhunzt, aber ich wills uͤber mich nehmen, noch aus dir ei - nen braven Kerl zu machen, haſt du das ver - dammte Geſchmiere und Gekritzle begreifen lernen, ſo wird dir's auch nicht ſchwer wer - den, dich in ritterlichen Thaten zu uͤben, die ſchon in deinem Blute keimen muͤſſen, wenn's aͤcht und rein auf dich kam.

59

Er erlaubte mir nun, meine Mutter zu beſuchen, die mich weinend umarmte, und mir zaͤrtlich dankte, daß ich mich ſo willig der wilden Laune meines Vaters gefuͤgt hatte. Er war bei Tiſche munter und froͤhlich, als ich in einem gruͤnen Jagdrocke erſchien, und nannte mich zum erſtenmale ſeinen lieben Sohn, als ich nachmittags ſeinen wildeſten Hengſt auf der Reitbahn gluͤcklich umher tum - melte. Das iſt, rief er dann immer aus, die wuͤrdige Beſchaͤftigung eines Kavaliers, und nicht das elende Federgeſchmiere, wel - ches jeder buͤrgerliche Schlucker nachahmen kann, weil eine Feder einen Pfennig, ein ſolcher Hengſt aber hundert Dukaten koſtet. Ich mußte taͤglich mit ihm auf die Jagd gehen, und da ich nach Monatsfriſt ſo gluͤcklich war, einen Hirſch zu erlegen, den er ſelbſt im Schuſſe gefehlt hatte, ſo war ſeine Freude groͤßer, als wenn ich Vicekoͤnig des Landes geworden waͤre.

60

Am Abende nach dieſer in ſeinen Augen ſo wichtigen Heldenthat, erklaͤrte er mich wuͤr - dig und faͤhig, ſeinen Namen auf die Nach - welt fortzupflanzen. Suche dir, ſprach er zu mir, ein Maͤdchen, das dir behagt, du mußt binnen Monatsfriſt heurathen. Fuͤr deinen und deines Weibes Unterhalt will ich ſorgen, und euch beide ſtandesmaͤßig erhal - ten; nur fordere ich, daß ſie wenigſtens ſechszehn Ahnen zaͤhle, und nicht die Toch - ter eines Federhelden, ſondern eines aͤchten Ritters ſei. Dies ſind meine einzigen Bedin - gungen, uͤbrigens haſt du freie Wahl in der Nachbarſchaft rings umher, mußt aber bin - nen Monatsfriſt enden, ſonſt waͤhle ich, und dann bleibt nur blinder Gehorſam dein Loos! Da ich den Starrſinn meines Vaters nur allzugut kannte, zuverlaͤßig wußte, daß ſeinen einmal gefaßten Entſchluß kein Zufall vernichten konnte, ſo hielte ich am andern Morgen Rath mit meiner Mutter. 61Mein Herz kannte noch nicht die Feſſeln der Liebe, mein Auge hatte wohl manches Maͤd - chen ſchoͤn gefunden, aber mein Herz noch keins geliebt, ich hofte daher mit Grunde, daß ſie mich leiten, mit dem beſten und tu - gendhafteſten Maͤdchen der Gegend bekannt machen wuͤrde.

Die theure, mir ewig unvergeßliche Mutter vergoß Thraͤnen der Freude, als ſie meine Bitte hoͤrte, ſie hatte ſchon oft in den angenehmen Stunden der Einſamkeit, in wel - chen ſie ungehindert traͤumen und wuͤnſchen konnte, mir eine Gattin auserkohren, ſie verſprach mich heute noch mit ihr bekannt zu machen, und fuhr mit mir in die nahe Nach - barſchaft, wo ein alter Edelmann haußte, welcher Ahnen genug, Geld aber um ſo we - niger hatte, uͤberdies kein Federheld, ſondern ein aͤchter Jaͤger und Ritter war. Meine Mutter hatte mir ſchon unterwegs erzaͤhlt,62 daß ſie die juͤngſte ſeiner Toͤchter fuͤr mich be - ſtimmt habe, weil ſie fein gefaͤllig, duldſam, und das Ebenbild ihrer Mutter ſei, die ſich auch nach der wilden Laune und dem harten Starrſinne ihres Mannes fuͤgen muͤſſe, der guten Tage nur wenige zaͤhle. Wir wurden aͤußerſt freundlich empfangen; ſchon der bloße Gedanke, daß der reiche Erbe unter ſeinen Toͤchtern eine Gattin waͤhlen koͤnne, machte den rauhen Alten gefaͤllig und freundlich. Ich ſah und ſprach die juͤngſte ſeiner Toͤchter, ih - re angenehme Geſtalt, noch mehr aber ihre Anmuth und gefaͤlliges Weſen feſſelten ſogleich mein freies Herz. Moͤglich, daß die Eile, mit welcher mein Vater eine Gattin von mir forderte, und die Furcht, daß ich keine ſchoͤ - nere und beſſere finden koͤnnte, mich ſogleich beſtimmte. Genug, ich reiſte aͤußerſt verliebt von dannen, und nahm die ſuͤſſe Hofnung mit mir, daß auch ich geliebt wuͤrde.

63

Amalie (hoch erroͤthend). Das war ſchneller, als ich's dachte.

Wilhelm (tief ſeufzend). Ja wohl, mein Fraͤulein, ja wohl! und vielleicht eben darum auch ſo ungluͤcklich! Um des Vaters Gunſt ferner zu erhalten, entdeckte ich ihm ſogleich alles, und er war mit mei - ner Wahl vollkommen zufrieden. Ob ich gleich, ſprach er, das Maͤdchen nicht kenne, ſo kenne ich doch Vater und Mutter, ich habe an die - ſen nichts auszuſtellen, du an jener nichts, auf dieſe Art ſind alle Theile zufrieden. Freilich iſt ſie arm, wird auſſer ihrer Perſon wenig ins Haus bringen, aber dies iſt mir nicht unangenehm, ſo koͤnnen doch die Leute nicht einmal ſagen, daß mein Sohn durch eine Frau reich ward; wie ſie's oft von mir ſchwaͤtzten, weil deine Mutter ein paar elen - de Tauſend Thaler von ihren Eltern zur Mit - gift erhielt.

64

Nach ſeinem Verlangen reiſte ich am an - dern Morgen wieder zu meiner Geliebten, bat ſie zu uns zu Tiſche, und fuͤhrte ſie mei - nem Vater entgegen, als er von der Jagd ruͤckkehrte. Er empfing ſie außerordentlich freundlich, nannte ſie ſchoͤn und liebenswuͤr - dig, ſtreichelte ihre Wange und kuͤßte ihre Stirne, ſie mußte bei Tiſche an ſeiner Seite ſitzen, er ſprach nur mit ihr, und ward ganz entzuͤckt, als die Holde aus Liebe zu mir ſich außerordentlich muͤhte, ſeinen Bei - fall zu erhalten. Von dieſer Zeit an war ſie oft in unſerm Hauſe, der Bund unſrer Lie - be ward daher taͤglich feſter und inniger. Mein Vater hatte der Hochzeit wegen ſchon einmal Abrede mit ihren Eltern genommen, itzt ſchien er ſie abſichtlich durch kahle Aus - reden zu verzoͤgern, obgleich meine Geliebte ihm immer theuerer und ſchaͤtzbarer zu werden ſchien, ſogar manches mit einem Worte vonihm65ihm erhalten konnte, was wir oft vergebens von ihm zu erſtehen ſuchten.

Schon lange hatte Abzehrung, die Folge des vielen Grams und Kummers, am Leben meiner Mutter genagt, immer kraͤnkelte ſie, war wenige Tage geſund, itzt da der Herbſt ſich nahte, begann ihr Leiden ſtaͤrker, ſchien nach der Verſicherung des Arztes bald ganz enden zu wollen. Mein Vater fand in der Krank - heit der guten Mutter neuen Stof zur Ver - zoͤgerung der ſehnlich gewuͤnſchten Hochzeit. Obgleich die Kranke ihn oft verſicherte, daß ihr die Gewißheit meines Gluͤcks Labſal in ihrem Leiden, Beruhigung in ihrem Tode ſein wuͤrde, ſo beſtand der Vater doch hart - naͤckig auf ſeiner Weigerung, und behauptete, daß der Sohn, wenn die Mutter auf dem Krankenlager ſchmachte, nicht Feſte der Freu - de feiern koͤnne. Wir mußten dieſen edlenBiogr. d. W. 3. B. E66Bewegsgrund ehren, und den Ausgang ge - duldig erwarten.

Zu meinem Troſte war meine Geliebte die meiſte Zeit auf unſerm Schloſſe, und pflegte meine gute Mutter, die vielleicht um meinetwillen ſich am liebſten von ihr die Ar - zeney reichen, und das Kopfkuͤſſen ruͤcken ließ. Ich war dann immer im Zimmer der Kranken gegenwaͤrtig, und genoß die Freude, mich im Blicke meiner Verlobten zu ſonnen. Aber mein itzt wieder aͤußerſt muͤrriſcher Vater goͤnnte mir dies Gluͤck nicht lange, ich mußte ſtets mit ihm auf die Jagd ziehen, oft im Walde noch laͤnger unter mancherlei Vorwand weilen, wenn er zu Hauſe der Ruhe genoß. Daher kam's, daß ich ſelbſt in der Sterbeſtunde meiner Mut - ter nicht zugegen war, erſt heimkehrte, als ſie ſchon vollendet hatte. Meine Geliebte brachte mir weinend ihren Segen, aber er67 haftete nicht, mit ihr ward meine Freude, mein Gluͤck, meine Ruhe zu Grabe getragen.

Der Mutter Tod war nun wuͤrklich ein aͤchtes Hinderniß meiner Verbindung gewor - den. Die Verlobte konnte nicht laͤnger in unſerm Schloſſe weilen, ſie ſchied ahndend und aͤußerſt traurig von mir, ich durfte ſie nicht begleiten, weil nach der Verſicherung meines Vaters kein Platz im Wagen ſei, und er ſie ſelbſt heimfuͤhrte; ich durfte ſie nicht beſuchen, weil es ſich nach ſeinem Aus - ſpruche, nicht zieme, daß der trauernde Sohn geckenmaͤßig auf verliebten Spaziergaͤngen um - herirre. Ihre Briefe waren daher mein ein - ziger Troſt, ihr groͤßtes Vergnuͤgen, die mei - nigen.

Schon hatte ich einen langen Monden, ohne ſie zu ſehen und zu ſprechen, durch - ſchmachtet, als mein Vater mich in ſein Ka -E 268binet berief. Ich habe, ſprach er kalt und ernſt zu mir, die Sache reiflicher und beſſer uͤberlegt, ich finde, daß deine Heurath un - noͤthig ſei, offenbar zur Hinderung deines Gluͤckes zu fruͤh beginnen wuͤrde. Deiner Mutter Tod hat Veraͤnderungen hervor ge - bracht, die ich nicht voraus ſah, ich werde vielleicht ſelbſt noch einmal heurathen, kann mehrere Kinder bekommen, und dies verur - ſacht dann eine andere Einrichtung, die nur die Zukunft entſcheiden kann. Bis dahin wirſt du wohl thun, wenn du in die Stadt zu - ruͤckkehrſt, ſie ohne meine ausdruͤckliche Er - laubniß nicht verlaͤßt, und dich um einen Dienſt bewirbſt, der dich in den Stand ſezt, eine Frau aus eignem Vermoͤgen zu ernaͤhren.

Vergebens muͤhte ich mich, ihm durch eigne, vorher geaͤußerte Gruͤnde zu wider - legen, er geſtand offen, daß er ſich geirrt69 habe, nun allzu gut einſehe, daß der Adel nicht entehrt werde, wenn er dem Staate diene. Vergebens ſuchte ich ihm zu beweiſen, daß itzt Entſagung der Heurath unmoͤglich ſei, ihm und mir zum Nachtheile und Schimpfe gereichen werde, er verſprach alles auf ſich zu nehmen, alles ohne dieſen zu enden. Und damit du's nur weißt, fuhr er raſch auf, dein Maͤdchen gefaͤllt mir ſelbſt, ich werde ſie eheſtens heurathen, bin mit dem Vater ſchon richtig, in drei Wochen iſt die Hoch - zeit. Wollte dir's zwar verheelen, um dir die kleine Kraͤnkung zu erſparen, weil du mich aber zwingſt, ſo ſage ich dir lieber itzt, was du am Ende doch erfahren mußt. Du ſiehſt itzt ein, daß deine Gegenwart dir und meiner Braut nicht viel Vergnuͤgen gewaͤhren wird, drum folge meinem Rathe, und kehre nach der Stadt zuruͤck.

Ich will, und vermags nicht, ihnen mei - ne Empfindung zu ſchildern, ich ſtand nie -70 dergedonnert und angeheftet am Boden, das glaͤnzende Licht, welches mir ſo lange ſchon in der Ferne leuchtete, jeden meiner Schritte leitete, war verloſchen, ich tappte im Fin - ſtern, wagte keinen Schritt vorwaͤrts. Ohne Gefuͤhl und ohne Weigerung duldete ich's, wie mein Vater mich unter dem Arme ergrif, nach dem Wagen ſchleppte, und mit mir zur Stadt fuhr. Nur dunkle Erinnerung die - ſer ſchrecklichen Reiſe ruht noch in meinem Gedaͤchtniſſe, Plane zur Flucht, zur ſchnel - len Entfuͤhrung beſchaͤftigten meine Einbil - dungskraft, und hielten mich aufrecht. Ich ſah ruhig zu, wie der hartherzige Vater mancherlei Stoff zu Frauenkleidern einkaufte, und murrte nicht, wenn er mich wohl gar fragte: Ob dieſe oder jene Farbe ſeiner Braut gut ſtehen werde?

Wie er abreiſte, wollte auch ich mit dem feſten Vorſatze, ihm die Beute zu entreiſſen,71 nachfolgen; aber mein Koͤrper unterlag, ein hitziges Fieber ergrif mich in der folgenden Nacht, ich konnte erſt nach drei langen Wo - chen wieder anhaltend denken, nach einem Monate erſt mein Lager verlaſſen. Die Hof - nung, daß meine Gelebte wacker kaͤmpfen, nicht des Vaters Hand annehmen wuͤrde, ſtaͤrk - te mich, und gab mir die verlohrnen Kraͤfte wieder. Fremde Waͤrter, die gleichguͤltig in mein Leiden blickten, keine meiner Fragen beantworten konnten, ſaßen mir bis dahin zur Seite, ich entließ ſie, und eilte, ſo ſchnell es die wohlbelohnten Poſtknechte vermochten, nach meiner Heimath.

Um des Vaters Zorn nicht zu reitzen, und mich vor ſeinen Blicken beſſer verbergen zu koͤnnen, ſtieg ich bei einem Jaͤger in der Nachbarſchaft ab. Er bewillkommte mich mit - leidig, und entdeckte mir endlich unverholen, daß meine Ankunft zu ſpaͤt erfolgt, meine72 theure Karoline ſchon ſeit einer Woche mit meinem Vater auf ewig verbunden ſei. Ich tobte, raßte, ſank in Ohnmacht, erwachte wieder und rang vergebens nach Huͤlfe. Be - ſeelt mit dem wuͤthenden Muthe der Ver - zweiflung, eilte ich gerade aufs vaͤterliche Schloß, ſtuͤrmte unaufhaltſam nach ihrem Zimmer, in welchem ich ſie nach der Verſiche - rung einer mitleidigen Magd finden ſollte. Die arme Leidende ſaß am Fluͤgel, ſpielte traurig ein raſches Jagdlied, mein Vater ſtand gelehnt an ihrem Stuhle, und horchte mit Wohlgefallen zu. Mein feſter Tritt weckte ſie und ihn empor, Karoline erkannte mich, ſprang eilend auf, und ſank weinend in meine Arme.

Was ich in dieſem ſchrecklichen Augen - blicke dachte, ſagte und that, weiß ich ſelbſt nicht; er rauſchte gleich einem jaͤhen Gewit - terſturme voruͤber. Ein Schuß, das Sauſſen73 einer nahen Kugel weckte mich zur Empfin - dung empor. Mein Vater, der indeß ſeine Piſtolen geholt hatte, wollte eben die zweite auf mich abdruͤcken, als Karoline in ſeine Arme ſank, und es verhinderte. Wie ſie ihn beſaͤnftigte, wenigſtens am Kindermord hinderte, kann ich ebenfalls nicht ſagen, nur ſo viel erinnere ich mich noch, daß er mir Verzeihung zuſicherte, wenn ich mich ſogleich entfernen wuͤrde. Was ſeine Drohung gewiß nicht vermocht haͤtte, vermochte ihre Bitte, ich ging oder wankte vielmehr willig von dan - nen, und durchwachte die quaalvolle Nacht bei dem Jaͤger, bei welchem ich vorher Ein - kehr genommen hatte.

Schon am andern Morgen erhielte ich die troͤſtende Nachricht von ihr, daß mein Va - ter nicht mehr zuͤrne, daß ſie ſogar gegruͤn - dete Hofnung habe, er werde mir vergoͤn - nen, im Schloſſe wie ehe zu wohnen, ihr74 durch meine Gegenwart den unertraͤglichen Kummer zu verſuͤſſen. Ohne zu bedenken, daß dieſes Huͤlfsmittel mir und ihr in der Folge gleich ſtark ſchaͤdlich ſein muͤſſe, hofte ich mit ihr, und erhielte noch am nemlichen Tage von ihr den Zettel, welchen ſie in mei - ner Schreibtafel gefunden und geleſen haben. Mein Vater liebte ſie heftig, er konnte nicht ihren Bitten, noch weniger ihren Thraͤnen widerſtehen, ſie hatte daher durch mancherlei Scheingruͤnde, vorzuͤglich aber durch erſtere, die Einwilligung zu meiner Ruͤckkehr erhalten. Nur machte er's, als ich, ihrer Einladung getreu, wirklich ruͤckkehrte, zur unverletzli - chen Bedingung, daß wir uns nie, als nur in ſeiner Gegenwart, ſehen und ſprechen ſoll - ten. Wir gelobten's, aber wir hielten es nicht.

Ich wuͤrde zu weitlaͤuftig werden, wenn ich ihnen alle die Kunſtgriffe erzaͤhlen wollte,75 die wir taͤglich anwandten, um uns nur eine Minute lang allein zu ſehen und zu ſprechen. Nicht Verſicherung der ehemals ſo zaͤrtlichen Liebe, ſondern Klagen uͤber unſer Ungluͤck, Ringen und Sehnen nach aͤchter Huͤlfe und Troſt waren dann der Inhalt unſerer Ge - ſpraͤche. Ich und ſie ſahen zu gut ein, daß Liebe nicht mehr moͤglich, im Gegentheile hoͤchſt ſtraͤflich ſei, und ich ſchwoͤre zu Gott dem Allmaͤchtigen, daß ich keinen Kuß foderte, ſie keinen gewaͤhrte.

Einen vollen Monden hatten wir ſo quaal - voll durchlebt, als mein Vater in die Nach - barſchaft auf eine Jagd geladen wurde. Wi - der ſeine Gewohnheit nahm er mich nicht mit ſich, erneuerte aber, als er ſchied, ſein Verboth mit ſtrengem Ernſte. Dieſer War - nung ungeachtet fanden wir uns doch im na - hen Luſtwaͤldchen, wo uns eine dunkle Laube Sicherheit zu gewaͤhren ſchien. Eben wollte76 ich mir von ihr erzaͤhlen laſſen, wie's moͤg - lich war, daß ſie mir untreu werden, daß ſie meinen Vater ehelichen konnte, als er wuͤthend in die Laube ſtuͤrzte, mich beim Haaren ergrif, und ſinnlos auf der Erde umher ſchleppte. Wie ich erwachte, ſtand ein Jaͤger bei mir, welcher mir im Namen des Vaters kund machte, daß ich ein Kind des Todes ſein, das Leben meiner itzigen Mut - ter ſelbſt in Gefahr ſetzen wuͤrde, wenn ich es je wagte, mich dem vaͤterlichen Schloſſe wieder zu nahen.

Ich taumelte fort, irrte drei Tage durch in Waͤldern umher, und trank nicht, hofte auf dieſe Art mein Leben und das un - ertraͤgliche Leiden zu enden. Da ich ohne an - dern Endzweck umher wandelte, hatte ich mich dem Schloſſe meines Vaters binnen die - ſer Zeit oft genaͤhert, einige ſeiner Jaͤger waren mir ſogar begegnet: ich erhielte am77 dritten Tage durch einen derſelben den Zettel, welchen ſie ebenfalls in meiner Schreibtafel fanden. Durch dieſe erfuhr ich zugleich, daß mein Vater die ungluͤckliche Karoline noch am nemlichen Abende nach einem unbekannten Orte fortgefuͤhrt habe, erſt heute ohne ſie zuruͤckge - kehrt ſei. Dieſe Nachricht, die mehrere be - ſtaͤtigten, nicht die Drohung des unnatuͤrlichen Vaters bewog mich, eine Gegend zu verlaſ - ſen, in welcher ich namenloſes Elend, un - nennbaren Schmerz geduldet, der frohen, ſeligen Augenblicke nur wenige genoſſen hatte. Nicht Abſicht, nur Ungefaͤhr fuͤhrte mich zu dem Jaͤger, bei dem ich abgeſtiegen war, auch dieſes nur, nicht jene war Urſache, daß ich nach meinem Koffre fragte. Schmerz und Wuth ergrif mich aufs neue, als mir der Jaͤger durch Zeugen bewieß, daß mein Vater alle meine Sachen ſelbſt abgeholt haͤtte. Zur gaͤnzlichen Ueberzeugung reichte er mir einen Zettel, auf welchem ungefaͤhr folgende Worte78 geſchrieben ſtanden: Alles was du, ungera - thener Sohn, bisher beſaßeſt, war ein Ge - ſchenk deines Vaters, er nimmts zuruͤck, weil du dich des Namens eines Sohnes un - wuͤrdig gemacht haſt, er laͤßt dir nur ſo viel, als einem Bettler, wie du in der Zukunft ſein wirſt, noͤthig iſt. Willſt du ſeinen letz - ten Rath achten, ſo werde Soldat; Preußen und Oeſtereich ruͤſten ſich itzt gegen einander; wo du hingehſt, wirſt du eine Kugel finden, die dein Lohn ſein wird, wenn du es je wie - der wagſt, dich meinem Angeſichte zu naͤ - hern, oder mich Vater zu nennen. Dies ſchreckliche Todes-Urtheil eines Vaters war itzt, nebſt einem kleinen Buͤndel Waͤſche, den mir der Jaͤger uͤbergab, mein ganzer Reichthum. Ich irrte damit planlos umher, ruhte in Waͤldern und Felſenhoͤhlen, floh und haßte die Menſchen, ſuchte ſie nur dann, wenn der Hunger mehr als mein innerer Schmerz an mir nagte.

79

Das Schickſal fuͤhrte mich endlich in ihre Gegend. Sie forderten aufrichtige Er - zaͤhlung meines Leidens, ſie muͤſſen es mir daher vergeben, wenn ich aufrichtig ſpreche, es dem elenden Bettler nicht verargen, wenn auch er ſchoͤn findet, was doch nur eines Koͤ - nigs wuͤrdig iſt.

Amalie (verwirrt, aber mit ſichtbarem Vergnuͤgen). O nein! ſprechen ſie ohne Ruͤckhalt; daß ich innigen Antheil an ihrem Leiden nahm, und immer nehmen werde, be - weiſen ihnen meine Thraͤnen.

Wilhelm. Lohne es ihnen der Ewige, kein Sterblicher vermags nicht, iſt's wenig - ſtens nicht wuͤrdig. Am Tage zuvor, ehe der wuͤthende Hund ſie verfolgte, ſahe ich ſie zum erſten male. Die ganze, pracht - volle Natur, die am ſchoͤnſten iſt, wenn ſie zur Vollkommenheit reift, hatte bisher nicht80 den geringſten Eindruck auf mich gemacht, aber das Meiſterſtuͤck der Schoͤpfung vermoch - te es um ſo ſtaͤrker. Ich ſah's, und das kummervolle Bild meiner ehemaligen Verlob - ten, meiner itzigen Mutter, ſchwand aus meinen Augen, beſchaͤftigte nicht mehr meine Einbildungskraft, ich ſah nur das holde, mitleidige Maͤdchen, das ſich des armen ge - fallenen Knaben erbarmte, und mit ſo ſicht - barem Vergnuͤgen uͤber die kleine, aber doch edle That bei mir voruͤberging. Ich genoß die Wonne, ſie aus einer nahen Gefahr zu retten. Das Bild, wie ſie mir ſo innig und gefuͤhlvoll dankten, blieb feſt vor meiner Seele ſtehen, aber noch feſter die Ueberzeu - gung, daß ein ſolcher Engel den elendeſten und ungluͤcklichſten der Sterblichen nur gleich - guͤltig anblicken koͤnne.

Amalie (hingeriſſen vom innern Ge - fuͤhle). O wie ungerecht, wie unbillig!

Wil -81

Wilhelm. Dies war die Urſache, daß ich lieber forteilte, als ichs noch ver - mochte, nicht ruͤckkehrte, um vielleicht, ich geſteh's offen, die Erniedrigung dulden zu muͤſſen, daß man mir eine kleine That mit einigem Gelde belohnen werde. Aber die Be - gierde, ſie noch oͤfterer zu ſehen, und ins - geheim bewundern zu koͤnnen, ließ mich doch nicht aus dieſer Gegend wandern, trieb mich immer zuruͤck, und gluͤcklich duͤnkte ich mich dann, wenn ich ſie nur ſah; ruhte ſanft auf Laub oder Stein, wenn ihr Bild vor mir ſtand und mich anlaͤchelte. Zum erſten - male fuͤhlte ich meine Armuth tief, zum er - ſtenmale preßte ſie mir eine bittere Thraͤne aus, als ich ſie nach der kleinen Inſel hin - uͤber ſchiffen ſah, ein unwiderſtehlicher Trieb mich ihnen nachzog, ich uͤberſchiffen wollte, und vergebens in allen Taſchen einige Gro - ſchen ſuchte, um die Schiffer zu bezahlen. Ich kann die Empfindungen, die mich durch -Biogr. d. W. 3. B. F82ſtroͤmten, nicht ſchildern, der nahende Sturm ſtimmte ſo ganz damit, und hielte mich auf - recht. Ich war ſo gluͤcklich, ſie wieder zu retten, es ſchien, als ſie endlich die Augen oͤfneten, als ob ſie mich nicht mehr kannten, ſich nicht mehr meiner erinnerten; das Ge - fuͤhl meines Elends, meiner Unwuͤrdigkeit ergrif mich aufs neue, ich eilte fort, und ſank entkraͤftet in einer Hoͤhle nieder, in welcher ich ſchon oft geruhet hatte. Mit Ta - ges Anbruch wanderte ich fort, wollte nach dem Rathe des Vaters die mitleidige Kugel ſuchen. Verzweiflung hatte ſchon lange mit mir gekaͤmpft, itzt begann ſie mich zu uͤber - winden, weil ich uͤber einen Monat lang ent - fernt von derjenigen, deren Anblick allein mir noch Troſt gewaͤhren konnte, umher irrte. Ich beſchloß, das Ende meines Lebens ſelbſt zu ſuchen, es nicht erſt durch Sklave - rey zu erkaufen. Nur einmal wollte ich ſie noch in der Ferne ſehen, und dann ſterben;83 ich kam am vorigen Tage im Walde an, er - fuhr durch einen Holzbauer, daß ſie toͤdlich krank waͤren. Da nun auch der einzige Wunſch meines Herzens vernichtet war, ſo ward end - lich der lange Vorſatz zur ungluͤcklichen That. Das Gefuͤhl des Todes war ſchrecklich, ich wuͤrde ewig ungluͤcklich ſein, wenn ſie mich nicht gerettet haͤtten.

Der Juͤngling ſchwieg, Amalie wollte ſprechen, ihm wenigſtens fuͤr ſein Zutrauen danken, und mit der angenehmern Zu - kunft troͤſten, aber ſie vermochte es nicht, denn ſeine Erzaͤhlung hatte Sturm in ihrem Buſen erregt. Ihr liebendes Herz hatte ſchreckliche Qualen geduldet, als er ihr er - zaͤhlte, daß er ſchon verlobt ſei, und die Verlobte auch als Mutter noch liebe, ſie nicht vergeſſen koͤnne; es hatte neue Hofnung ge - ſchoͤpft und Wonne gefuͤhlt, als der Juͤngling ſo offen bekannte, daß ihr Anblick der Ver -F 284lobten Bild aus ſeinem Herzen verdraͤngt ha - be. und ſie nun unumſchraͤnkt darinne herr - ſche, aber ſein namenloſes Leiden heiſchte auch Mitleid, ſie zollte es mit haͤufigen Thraͤ - nen, ſie konnte aber nicht ſprechen, ergrif ſeine Hand, und druͤckte ſie mit Staͤrke.

Feuriger glaͤnzte itzt das matte Auge des Juͤnglings, angenehme Roͤthe faͤrbte ſeine Wangen, als er ſah und fuͤhlte, daß er nicht verachtet wuͤrde, er kuͤßte die wohlthaͤtige Hand mit Innbrunſt, er druͤckte ſie an ſein klopfendes Herz, und der Bund der Liebe ward ſtillſchweigend geſchloſſen. Noch hatten ihn freilich nicht Worte bekraͤftigt, nicht Schwuͤre verſiegelt, aber er war doch feſt und dauerhaft. Kehren ſie nur bald zuruͤck! fluͤ - ſterte am Ende Amalie, und wiſchte ſich die Thraͤnen aus den Augen, weil ein Diener nahte, der ihnen verkuͤndigte, daß das Mit - tagsmal bereitet ſei.

85

Wie dies[geendet] war, meldete ein an - derer Diener, daß der Wagen, welcher Wil - helmen nach der Stadt fuͤhren ſollte, ange - ſpannt ſei. Sein Auge ſuchte Amalien, ein Blick der Liebe ſtaͤrkte, und verſicherte ihn, daß man ihn ſehnlich ruͤckerwarten werde. Er nahm dankbaren Abſchied von allen, und eilte vorwaͤrts.

Amaliens Eltern ſprachen nun offener und freier, jedes entdeckte ſeine Meinung uͤber den fremden Juͤngling. Die gutherzige Mut - ter war voll von Lobſpruͤchen uͤber ſein gefaͤl - liges und ſittſames Betragen, ſie glaubte uͤberzeugt zu ſein, daß ſicher unverdiente Un - gluͤcksfaͤlle den Aermſten bisher ſo unfreund - lich verfolgt haͤtten. Strenger und nicht ſo billig urtheilte der Vater, auch er ruͤhmte des Juͤnglings hoͤfliche und edle Lebensart, aber er glaubte auch feſt, daß nicht unver - dientes Ungluͤck, ſondern weit wahrſcheinli - cher jugendliche Fehler, Verfuͤhrung und86 Leichtſinn ihn in dies Ungluͤck geſtuͤrzt haͤtten, und nun planlos in der Irre umher jagten. Wenn er wiederkehrt, fuͤgte der Vater hin - zu, will ich offen mit ihm ſprechen, ſein zerruͤttetes Gluͤck wiederherſtellen, und ihn mit ſeinen Eltern, die freilich nicht ohne Urſache mit ihm zuͤrnen werden, auszuſoͤh - nen ſuchen. Er hat das Leben meines einzigen Kindes zweimal gerettet, er verdient dieſen Lohn vollkommen, und wird itzt vorſichtiger handeln, da Ungluͤck ihn weiſer gemacht hat.

Amalien that's weh, ihren Liebling ſo verkannt zu ſehen, ſie vertheidigte der Mut - ter Meinung, als aber der Vater die ſeini - ge hartnaͤckig behauptete, ſo erzaͤhlte ſie ihm zum Beweiſe ihrer Meinung die ganze Ge - ſchichte des ungluͤcklichen Juͤnglings. Der Va - ter ſchien nun zu ihrem groͤßten Vergnuͤgen vollkommen uͤberzeugt. Wenns wirklich ſo iſt, dann hat der Aermſte, ſprach er mit Thraͤ -87 nen im Auge, ſchrecklich geduldet, dann ver - dient er, daß ich ſein Vater werde und ewig bleibe!

Amaliens Herz ward durch dieſe Verſiche - rung geoͤfnet, ſie ließ es dem geruͤhrten Al - ten nicht undeutlich merken, daß ſie es gerne ſehen wuͤrde, wenn er ihn durch unaufloͤsliche Bande an ſich feſſele, und gab ihm ſogar Winke, wie er dieſe am beſten knuͤpfen koͤn - ne. Der Vater ſchwieg, ſchuͤzte am andern Morgen dringende Geſchaͤfte vor, und reiſte ab, ohne daß Amalie erfahren hatte: Wohin er reiſen wuͤrde? Wenn ſie bei der Mutter nach der Urſache dieſer ſchnellen Reiſe forſchte, laͤ - chelte dieſe geheimnißvoll, verſicherte ſie aber zugleich, daß kein Ungluͤck dieſe ſchnelle Ab - reiſe verurſacht habe. Amalie ſuchte zwar oft im Stillen die Urſache derſelben zu[ergruͤn - den], als aber die Zeit nahte, daß Wil - helm ruͤckkehren ſollte, da vergaß ſie des88 Vaters, gedachte nur der Wonne, die ihrer harrte.

Ohne es wirklich zu wollen, ging ſie am zehnten Tage nach Wilhelms Abreiſe ſpazie - ren, ohne es zu wiſſen, wandelte ſie auf der Straße nach der Stadt, ſchauderte won - nevoll aus tiefen Gedanken empor, als ein Wagen voruͤber rollte, und Wilhelm ihr aus dieſem entgegen ſprang. Der Willkomms - gruß war innig und herzlich, der Abend ſo reitzend und ſchoͤn, ein Fußſteig kruͤmmte ſich durch die Wieſen, fuͤhrte durchs Luſt - waͤldchen nach dem Schloſſe, ſie waͤhlten die - ſen, und ließen den Wagen fortfahren.

Wilhelms Geſtalt hatte ſich um vieles veraͤndert, ſein verwirrtes Haar war itzt kunſtvoll und doch kunſtlos gelockt, ſeinen ſchlanken Koͤrper machte ein wohlgeformtes Kleid noch ſchlanker. Luſt und frohe Hofnung89 hatte ſeine Wangen hoch geroͤthet, ſeine Au - gen mit Kraft und Feuer gefuͤllt. Sie wall - ten nahe am Orte voruͤber, wo Amalie den Verzweifelnden rettete. O damals war's ſchrecklich! Damals war's ganz anders! rief er aus, und ſank vor Amaliens Fuͤſſen nie - der. Sie wollte ihn aufheben, und vermochte es nicht, ſie ruhte auf ſeinen Schultern, duldete Kuͤſſe des Dankenden, erwiederte ſie am Ende, und geſtand ihm in abgebroche - nen, aber deutlichen Worten, daß ſie ihn ſchon lange graͤnzenlos liebe. Er dankte aufs feurigſte und zaͤrtlichſte, Freudenthraͤnen be - nezten ihre Hand, und waren der Beweiß, daß er ſpreche, wie ſein Herz denke.

Schon ging die Sonne unter, als ſie das Waͤldchen verließen, ſie ſchlichen lang - ſam nach dem Schloſſe, und doch ſchienen ſie ihrem Gefuͤhle nach zu ſchweben, die ganze Natur tanzte im bunten Gewuͤhle vor ihren90 Augen, alles ſchien zu lachen, zu ſcherzen und Theil zu nehmen an der Wonne, die ihr Herz empfand. Mit beſorgter Miene kam ihnen die Mutter entgegen, und weckte ſie aus der gluͤcklichen Schwaͤrmerei. Haͤtte mich nicht der Kutſcher verſichert, ſprach ſie im Tone des ſanften Vorwurfs zu Amalien, daß dein Retter dein Begleiter ſei, ich wuͤr - de uͤber dein langes Außenbleiben Todesangſt gefuͤhlt haben.

Amalie wollte ſich[entſchuldigen], aber eben ihre Entſchuldigungen bewieſen der er - fahrenern Mutter deutlich, daß ihr Kind lie - be. Die Blicke, welche beim Abendmale im - mer auf Wilhelmen gerichtet waren, und be - ſchaͤmt zur Erde ſanken, wenn der Mutter Auge ihnen begegnete, uͤberzeugten ſie vol - lends. Als die Diener das Zimmer verlaſ - ſen hatten, ergrif die Mutter der Tochter Hand und laͤchelte.

91

Amalie. Theure Mutter! Wie ſoll ich dies geheimnißvolle Laͤcheln deuten?

Die Mutter. Wie du willſt, nur nicht ungerecht. Du wuͤnſchteſt ſchon laͤngſt zu wiſ - ſen: wohin dein Vater gereiſt ſei? Itzt will ich dir's entdecken: Er will dein Gluͤck vermehren!

Amalie. (verwunderungsvoll). Mein Gluͤck?

Die Mutter. Dies (mit einem bedeu - tenden Blick auf Wilhelmen) ſcheint freilich keiner Vermehrung faͤhig, aber ich hoffe doch ganz gewiß, daß der gute Vater dir viele Freude ruͤckbringen wird.

Amalie. Ich verſtehe ſie immer we - niger.

92

Die Mutter. Sollſt es bald vollkom - men. Ich verſprach freilich zu ſchweigen, aber die Gelegenheit iſt zu ſchoͤn, ich muß zum erſtenmale in meinem Leben beweiſen, daß ein Weib nicht zu ſchweigen verſteht. Die Erzaͤhlung, welche du uns neulich von dei - nes Retters ungluͤcklichem Schickſale machteſt, traf deines Vaters Herz mit Macht. Er be - ſchloß, ihm ſeine edle Thaten zu lohnen, ihn mit ſeinem Vater auszuſoͤhnen, oder dieſem wenigſtens zu ſagen, daß er ihm Va - ter werden wolle, wenns der aͤchte wirklich zu ſein aufhoͤre.

Wilhelm (erſchrocken). O dann un - ternahm er eine Unmoͤglichkeit. Gott, ich fuͤrchte nun alles, fuͤrchte mit Recht, daß des unnatuͤrlichen Vaters Jaͤhzorn den groß - muͤthigen Vermittler auch gegen den unſchul - digen Sohn erbittern wird.

93

Die Mutter. Sorgen ſie nicht! Er reiſte mit dem feſten Vorſatze ab, alles mit Gelaſſenheit zu ertragen, ſich vorzuͤglich von der Wahrheit ganz zu uͤberzeugen, um dann ungehindert an ihrem Gluͤcke zu arbeiten.

Wilhelm. Dies wird meines Vaters Verlaͤumdungskunſt vollkommen vernichten. Ha! daß ich nur hoffen, nur waͤhnen konn - te: Ich wuͤrde, ich koͤnne einſt noch gluͤcklich ſein!

Die Mutter. Ruhig, lieber Sohn, ruhig! Sie kennen das Herz meines Gatten nicht. Sein Vorſatz iſt, nicht Verlaͤumdung, nur unwiderlegbare Beweiſe koͤnnten ihn ver - nichten, und dieſe wird ihr Vater gewiß nicht liefern. Morgen kann er wieder zuruͤck - kehren, bis dahin harren ſie geduldig, und glauben indeß feſt, daß er, daß ich's red - lich mit ihnen meine.

94

Wilhelm dankte fuͤr ihre guͤtige Meinung, aber ſein unruhiger, trauriger Blick bewies deutlich, daß er neues Ungluͤck ahnde. Ver - gebens ſuchte ihn Amaliens Blick zu[ermun - tern], vergebens fluͤſterte ſie ihm zu, daß keine Verlaͤumdung ihre innige Liebe zu ihm ſchwaͤchen koͤnne, er ſchied traurig, und blickte ſeufzend gen Himmel.

Amalie ſaß ſchon am andern Morgen lange allein in der Gartenlaube; es war zwar ein unfreundlicher, nebelvoller Herbſt - tag, aber ſie hatte ihrem Wilhelm auf dem geſtrigen Spaziergange erzaͤhlt, daß ſie je - den Morgen dieſe Laube beſuche, ſie hofte, verſtanden zu werden, und harrte itzt ver - gebens. Eben wollte ſie mißvergnuͤgt ins Schloß ruͤckkehren, als ein Bauer ſie im Garten ſuchte, und ihr einen kleinen Zettel uͤberreichte. Ein fremder Herr, ſprach er, gab mir ihn dieſen Morgen, und bat mich95 ſehr, ihnen ſolchen allein zu uͤberreichen. Als er fortging, oͤfnete ihn Amalie ahn - dungsvoll und ſchaudernd.

Mein unerbittliches Schickſal, ſtand mit Bleiſtift darauf geſchrieben, zwingt mich zur neuen Flucht. Sie wird mir beinahe unmoͤg - lich, zentnerſchwer haͤngts au meinen Fuͤßen, aber ich muß fliehen, wenn ich nicht ganz ungluͤcklich werden will. Erfaͤhrt mein grim - miger Vater meinen Aufenthalt, ſo iſt ſchmaͤhliches Gefaͤngniß mein unverdientes Loos! O daß ich nicht ganz aufrichtig mit ihnen ſprach, ſie nicht wenigſtens bat, meine ungluͤckliche Geſchichte ihren Eltern zu ver - ſchweigen; aber es iſt geſchehen, und ich muß fliehen. Ich war einige Augenblicke graͤnzenlos gluͤcklich, um mein kuͤnftiges, im - mer dauerndes Ungluͤck recht lebhaft fuͤhlen zu koͤnnen. Sicher wird mein Vater heute mit dem ihrigen auf dem Schloſſe anlangen,96 hoͤren ſie nicht zu, wenn er mir fluchen, glau - ben ſie nicht, was er erzaͤhlen, behaupten und zu beweiſen ſuchen wird. Das Unge - heuer, welches mich verfolgt, iſt mein Va - ter, ich fuͤrchtete, zu viel zu verliehren, wenn ich ihnen alles erzaͤhlte, ſie wuͤrden mit Grunde beſorgt haben, daß der Sohn eines ſolchen Boͤſewichts nicht redlich denken koͤnne. Noch einmal! Glauben ſie nicht, was ſelbſt die beſtochenen Richter glauben, die mich gleich ihm verfolgen. Sollte es aber doch moͤglich ſein, daß die Verlaͤumdung in ihrem Herzen Eingang faͤnde, ſo bitte, flehe und beſchwoͤre ich ſie, daß ſie mich wenigſtens be - dauern, und feſt uͤberzeugt bleiben, daß ſie immer und ewig mit der groͤßten Zaͤrtlichkeit verehren, bis zum lezten Athemzuge anbe - ten wird, der Ungluͤcklichſte unter den Sterb - lichen, Wilhelm L .

Amalie97

Amalie lehnte ſich zitternd an den Stamm einer Linde, ſie liebte zum erſtenmale, liebte heiß und zaͤrtlich, hatte ſich unendliche Won - ne und Freude im Arme des Geliebten ge - traͤumt, ſah ſie itzt mit einmal ſchwinden, Kummer und Schmerz ſich nahen. Haͤtte ſie in dieſem Augenblicke die Straſſe gekannt, auf welcher ihr Geliebter wandelte, ſie wuͤr - de Vater und Mutter verlaſſen, Ungluͤck und Elend willig mit ihm getheilt haben. So groß, ſo unumſchraͤnkt iſt die Macht der Lie - be, wenn einmal das Herz ſich ihr geoͤfnet, die Vernunft ihr die Zuͤgel uͤberlaſſen hat! Darum, liebes Maͤdchen, huͤte dich, zu lie - ben, ehe du uͤberzeugt biſt: ob du ohne Hinderniß lieben kannſt? [Denn] biſt du ein - mal hingeſunken in die Arme des Geliebten, haſt du gekuͤßt ſeinen Mund, gehoͤrt ſeine Schwuͤre, ſo rettet dich nichts mehr, du biſt feſt an ihn gekettet, ſinkſt und faͤllſt mit ihmBiogr. d. W. 3. B. G98in den Abgrund, den eigne That oder der Vorſehung Wille zu ſeinen Fuͤßen oͤfnete.

Lange ſtaunte noch Amalie in die Ferne, ſuchte ihren Wilhelm und fand ihn nicht, al - les war wuͤſte und oͤde um ſie her, der Ne - bel ſank, die Sonne lachte freundlich auf ſie herab, aber ſie fuͤhlte ihre wohlthaͤtige Waͤr - me nicht, Fieberkaͤlte durchzitterte ihr Herz, und verbreitete ſich durch ihren ganzen Koͤr - per, ihre Zaͤhne klapperten, und entpreßten dem ſtarrenden Auge eine Thraͤne des bittern Kum - mers. Sie ſuchte Troſt, fand ihn nirgends, und eilte in die Arme ihrer Mutter. Mit verwirrtem und traurigem Blicke kam ihr dieſe ſchon am Eingange des Gartens entgegen, auch ſie hatte einen Brief in ihrer Hand, ihre Miene, mit welcher ſie ihn oft anſah, be - wies deutlich, daß er die Urſache ihres Kum - mers enthalte.

99

Amalie (weinend und ſchluchzend). Hat er auch Abſchied von ihnen genommen?

Die Mutter. Wer? liebes Kind, wer?

Amalie. Mein Wilhelm.

Die Mutter. Wo iſt er? Wo treffe ich ihn?

Amalie (kann aus Uebermaaß des ſchmerz - haften Gefuͤhls nicht ſprechen, und deutet mit der Hand in die Ferne).

Die Mutter. So iſt er fort? So be - ſtaͤtigt er wirklich die Nachricht, welche ich eben durch deinen Vater erhielt?

Amalie. Nachricht? Welche Nach - richt?

G 2100

Die Mutter (fuͤhrt ſie nach dem Gar - ten zuruͤck, den Brief oͤfnend). Hoͤre, und ſtaune mit mir:

Theures Weib! Gieb dem ungluͤcklichen Juͤngling, der unſerm einzigen Kinde zwei - mal das Leben rettete, den Beutel mit Gold, welchen du rechts in meiner Schatulle findeſt, rathe ihm zur ſchnellen, eiligen Flucht aus unſerm Lande, aus Deutſchlands Graͤnzen. Ich bin ihm das Leben meines Kindes ſchul - dig, ich halte es fuͤr Pflicht das ſeinige zu retten, ohne zu uͤberlegen: ob ich recht handle, wenn ich einen uͤberwiesnen Moͤr - der den Armen der ſuchenden Gerechtig - keit entreiſſe? Ich wollte ſein Gluͤck gruͤnden, und hab's ohne Verſchulden ganz vernichtet. Er ſchmachtete ſchon zwei Monden lang im Gefaͤngniſſe, er iſt durch Zeugen uͤberwieſen, daß er mit ſeiner Stiefmutter im vertrauten Umgange lebte, mit ihr zweimal den Vater101 zu vergiften ſuchte, ihn einmal wirklich ver - giftete. Nur die Kunſt der Aerzte hat ihn vom Tode errettet, dem er itzt langſam und abzehrend entgegen ſchmachtet. Die Gehuͤlfin ſeiner ſchwarzen That, ſeine Stiefmutter hat ſchon durch des Henkers Schwerd ihr Leben geendet, uͤber den Fluͤchtling iſt das ſchreck - liche Urtheil des Rades ſchon ausgeſprochen. Ich konnte und durfte es nicht hindern, daß der mit vollem Rechte Rache heiſchende Vater ſeinen Aufenthalt den Gerichten entdeckte, die ihn morgen ſchon bei euch ſuchen werden. Ich verzoͤgere aus Abſicht meine Ruͤckkehr, da - mit mir nicht Verantwortung uͤber ſeine Flucht werde. Ich ſende euch meinen Bedienten in Geheim mit dieſer Nachricht voraus. Sollte der Ungluͤckliche noch in der Stadt ſein, wo - hin ich ihn ſandte, ſo ſchickt dieſen Bedien - ten, der von allem unterrichtet iſt, ihm mit dem Golde nach, damit er ſich rette, und in der Ferne eine That bereue, die ihn in102 aller Menſchen Augen verhaßt machet, die Gott ihm nur allein vergeben kann. Bei aller Angſt, die ich hier am Bette des ergrimmten Vaters dulde, danke ich doch Gott, daß ich vorher pruͤfte, ehe ich be - ſchloß, und ungeachtet du es widerrietheſt, nicht blindlings glaubte. Gott, was wuͤrde aus dir und mir, aus meinem armen Kinde geworden ſein, wenn ich es mit einem Va - termoͤrder verbunden haͤtte! Lies Amalien dieſen Brief vor, ich zweifle nicht, daß ſein Inhalt maͤchtig genug ſein werde, die Liebe zu ihm zu tilgen, welche ich ſchon in ihrem dankbaren Herzen empor keimen ſah.

Aber der Brief war's nicht vermoͤgend! Amalie trauerte tief und innig, weil ſie mehr ihres Wilhelms, als des Vaters Worten glaubte, und die ſchreckliche Erzaͤhlung fuͤr eine Verlaͤumdung des harten und ergrimm - ten Vaters achtete. Sie ſprach mit der Mut -103 ter laut daruͤber, als der andere Tag ver - floß, und die Gerichte nicht erſchienen; ſie beweinte noch immer den entflohenen Gelieb - ten, als endlich der Vater ruͤckkehrte, ihr durch umſtaͤndliche Erzaͤhlung die Wahrheit ſeines Briefes ſo deutlich bewies, daß ſie nur im Verborgenen noch um ihn trauern, ihn nur in ihrem Herzen entſchuldigen konnte. Sie ſchiens gleichguͤltig zu achten, als end - lich die Gerichte, welche erſt der Formalitaͤt wegen durch die Landesregierung erſucht wer - den mußten, wirklich nach ihm forſchten, und genau unterſuchten: ob niemand durch fruͤhe Warnung ſich zu ſeinem Mitſchuldigen ge - macht habe?

Amalie nannte von dieſer Zeit an, den Namen ihres Retters nicht mehr, aber ihre Lebhaftigkeit, ihre Theilnahme an allen laͤnd - lichen Geſchaͤften ging ganz verlohren, ſie ſaß am liebſten auf ihrem Zimmer, ſie bat drin -104 gend, ſie den Winter uͤber nicht nach der Stadt zu fuͤhren, und ſah es nicht gerne, wenn ihre Eltern ſie in ihrer Einſamkeit ſtoͤhrten, oder gar Geſellſchaft in ihr Zimmer fuͤhrten. Der Fruͤhling begann, Vater und Mutter hoften, daß der Alleserfreuende auch ihrer Tochter Herz erfreuen werde, aber ihre Erwartung ward durch den Erfolg getaͤuſcht, Amalie trauerte noch immer in ihrem Zimmer, als die Veilchen lieblich dufteten, und ihre ſchoͤnen Abrikoſenbaͤume ſchon verbluͤht hatten. Sie gab zwar oft den ſanften Ermahnungen des Vaters nach, ging mit ihm im Garten, und uͤber Feld ſpazieren, aber ſie ſtaunte im - mer gedankenvoll in die Ferne, und trat ge - fuͤhllos die Pflanzen zu Boden, welche ſie ſonſt ſo emſig gepflegt hatte.

Moͤglich, daß Gram uͤber das innere Leiden ſeines Kindes des Vaters Tage ver - kuͤrzte, er ſtarb im folgenden Herbſte an ei -105 nem Nervenfieber, nachdem er zuvor ſeine Tochter dringend gebeten hatte, ihre Tage mit mehr Freude zu genießen. Sein Tod machte tiefen Eindruck auf Amaliens Herz, und vermehrte ihre Trauer um ein großes. Wenigſtens konnte und durfte es ihr niemand verdenken, wenn ſie unter dieſem Vorwande noch einſamer lebte, ihr Zimmer aͤußerſt ſel - ten verließ. Ihre Mutter trauerte ſelbſt aufs innigſte uͤber den Verluſt ihres geliebten Gat - ten, und ſah's gerne, wenn ihr Kind mit ihr klagte und weinte; aber ſie erſchrack auch herzlich, als ihr der beſuchende Arzt die ge - wiſſe Vermuthung entdeckte, daß ſchleichende Abzehrung am Leben ihrer Tochter nage, und ſie nothwendig im nahenden Fruͤhjahre die Waſſer zu Spaa trinken muͤſſe, wenn das Ue - bel nicht unheilbar werden ſolle.

Da fieberhafte Anfaͤlle die Mutter verhin - derten, Amalien zur beſtimmten Zeit ſelbſt106 zu begleiten, ſo vertraute ſie ſolche einer al - ten Muhme, die eines Pfarrers Wittwe war, und von Amalien immer vorzuͤglich ge - liebt wurde. Amalie hatte ſich lange gewei - gert, die Reiſe zu unternehmen, und laͤ - chelte ſanft, wenn der Arzt ihr die Gefahr groͤßer ſchilderte, als ſie ſelbſt war. Sie wuͤrde ſeinen Rath nicht befolgt haben, wenn nicht die Mutter ausdruͤcklichen Gehorſam ge - fordert, und ſie verſichert haͤtte, daß laͤn - gere Weigerung ſie aͤußerſt kraͤnken werde.

Amalie blieb ſich auf der Reiſe immer gleich, nahm an nichts Antheil, bezeugte keine Freude uͤber die ſchoͤne Gegend, welche ſie durchreiſte, und trank ſchon einige Wo - chen ohne Erfolg den Brunnen, als ſie einſt nach der Verſicherung der alten Muhme aͤuſ - ſerſt luſtig und munter von da in ihre Woh - nung zuruͤckkam. Sie iſt itzt, ſchrieb bald darauf die frohe Alte der Mutter, ganz ein107 anderes Maͤdchen geworden, puzt ſich wieder, geht den ganzen Tag ſpazieren, iſt bey al - len Freudenfeſten und Pikniks gegenwaͤrtig, und kommt oft ſpaͤt in der Nacht vom Tanze nach Hauſe.

Die gute Mutter wurde durch dieſe Nach - richt ſehr getroͤſtet, ſie dankte dem Arzte fuͤr ſeinen guten Rath, und lobte die kraͤftige Wirkung des Waſſers; aber ihr Dank und Lob dauerte nicht lange, verwandelte ſich in unheilbaren, tiefen Jammer, als die Muh - me ohne Amalien ruͤckkehrte, der ſtaunenden Mutter die ſchreckliche Nachricht brachte, daß ihre Tochter wahrſcheinlich mit einem Gelieb - ten aus Spaa entflohen ſei, all' ihr Geld und Koſtbarkeiten mit ſich genommen, ihr nur ſo viel gelaſſen habe, als zur Ruͤckreiſe noͤthig war. Zur Beſtaͤtigung ihrer Erzaͤh - lung zeigte ſie der jammernden Mutter ei - nen Zettel von Amaliens Hand geſchrieben,108 welchen ſie auf ihrem Nachttiſche gefunden hatte.

Eilen ſie, ſtand darauf geſchrieben, nach Hauſe, und troͤſten ſie meine arme Mutter mit der Verſicherung, daß mich zwar mein unvermeidliches Schickſal wahrſcheinlich auf ewig von ihr trennt, daß ich aber den Schritt freiwillig wage, ihn nie zu bereuen, gegruͤn - dete Hofnung habe. Sie ſoll bald Nachricht von mir erhalten, ich zweifle dann nicht, daß ſie mir mein vaͤterliches Erbe nicht vorenthal - ten wird, damit ich in den Armen eines red - lichen Mannes, um deswillen ich eine ſo gute Mutter verließ, ruhig und zufrieden leben kann. Theure Mutter, trauern ſie nicht, wenn ſie dies leſen, bedenken ſie, daß ihre Tochter daheim verwelkt waͤre, und itzt in der Ferne herrlich bluͤhen, ihnen jederzeit Nachricht von ihrem Befinden geben, und nie aufhoͤren wird, ſie um den muͤtterlichen Se - gen zu bitten.

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Dies war aller Troſt, alle Hofnung, an welche ſich durch einen langen Monat die kla - gende Mutter halten konnte. Die redliche, aber auch mit der großen Welt ganz unbe - kannte Pfarrerswittwe konnte keine ihrer Fra - gen beantworten, ihr in dem Labyrinthe von Zweifel, und Ahndung gar keinen Weg zei - gen. Sie war immer huͤbſch daheim geſeſſen, hatte Arndts Paradies-Gaͤrtlein durchblaͤt - tert, indeß Amalie ungehinderte Freiheit ge - noß, ihren Plan zu entwerfen, und auszu - fuͤhren.

Nach Monatsfriſt ward der Leidenden der erſte Troſt, ſie erhielte einen Brief von ih - rer Tochter. Dieſe bat ſie des gewagten Schrittes wegen innig und ruͤhrend um Ver - gebung, ſchilderte ihr aber die Liebe zu ei - nem der edelſten Maͤnner ſo groß, und ihr kuͤnftiges Gluͤck in ſeinen Armen ſo reizend, daß die gute Mutter willig verzieh, und110 zum erſtenmale wieder froͤhlicher athmete. Noch, ſchrieb Amalie am Ende, kann ich ihnen den Namen desjenigen, deſſen Liebe mich ſo graͤnzenlos gluͤcklich macht, nicht nen - nen, aber bald ſollen ſie alles erfahren. In - deß bitte ich ſie, mir von meinem vaͤterli - chen Erbe fuͤnf tauſend Thaler nach Luͤbeck an Wechsler R . zu uͤberſenden, welcher be - reits den Auftrag hat, es weiter zu ſchicken. Verzeihen ſie mir dieſe Vorſicht, ſie iſt zu meinem Gluͤcke noͤthig. Dies wuͤrden ſie uͤbri - gens um ein großes befoͤrdern, wenn ſie alle Kapitalien, die mir mein Vater hinterließ, indeß aufkuͤndigten, damit ich ſolche zur Zeit erhalten, und in dem Lande anlegen kann, wo ich kuͤnftig leben werde.

Die getroͤſtete Mutter achtete es nicht fuͤr noͤthig, den Rath weiter blickender Freunde zu hoͤren, ſie ſandte die geforderte Summe nach Luͤbeck, verſprach in einem111 Briefe, alles zu erfuͤllen, was ihr geliebtes Kind fordere, zur Vermehrung ihres Gluͤcks heiſche, und beſchwor nur am Ende ihre Tochter, ihr wenigſtens doch noch einmal in ihrem Leben die Wonne zu goͤnnen, ſie zu umarmen, und zu ſegnen.

Hoffend und fuͤrchtend verſtrichen nun ei - nige Monate ohne weitere Nachricht. Die aufs Neue leidende Mutter wandte ſich des - wegen an den Wechsler R . zu Luͤbeck. Er berichtete ihr, daß er das Geld richtig erhalten, es laut Ordre an einen jungen, ſchoͤnen aber ganz unbekannten ſchen Offizier[ausgezahlt] habe, und ſonſt nichts berichten koͤnne.

Neue Monate verfloſſen ohne Troſt; das Leiden der duldenden Mutter mehrte ſich, nagte an ihrem Leben, und vernichtete es ganz, als die Blaͤtter wieder zu ſproſſen be -112 gannen. Sie ſtarb ohne Troſt, ohne Nach - richt: wie es ihrem einzigen Kinde gehe? Ob es noch hienieden walle, oder ihrer dort ſchon harre? Die Gerichte nahmen das große und anſehnliche Vermoͤgen in Empfang, ver - walten es noch, weil erſt itzt die naͤchſten Anverwandten ſolches zu fordern beginnen.

Lange blieb dieſen Amaliens Schickſal un - erforſchlich, erſt durch ungefaͤhren Zufall er - fuhren ſie es ſeit kurzem, und ſetzen mich in Stand, ihre weitere Geſchichte zu erzaͤhlen: Amalie trank, wie ich ſchon erwaͤhnt habe, das Waſſer zu Spaa aus Gehorſam, vergaß es oft zu trinken, wenn ſie ſich aus dem Ge - tuͤmmel, welches den Brunnen umgab, los - riß, und in der ſchoͤnen Wildniß umher irr - te. Die ganze Gegend ſtimmte dann ſo ganz mit ihrem Gefuͤhle, mit ihrer Melancholie, die Herz und Seele fuͤllte. Wenn ich ihn nur noch einmal ſehen, und mit der Verſicherungtroͤ -113troͤſten koͤnnte, daß ich ihn noch liebe! rief ſie dann immer aus, und ſuchte ihn vergebens unter den Luſtwandelnden, welche hie und da in Gruppen gelagert ſaßen, dort wieder einzeln auf den Bergen umher kletterten.

An einem ſchoͤnen Morgen ſaß ſie eben mit dieſem Gedanken auf einem Abhange, als ſie dicht unter ſich einen Juͤngling erblickte, welcher, in einen Kaputrock gehuͤllt, nach - denkend da ſas, und ein ofnes Buch in der Hand hielt. Seine Phiſionomie erinnerte ſie lebhaft an ihren Wilhelm, es ward leicht in ihrem Herzen, licht in ihrer Seele, ſie zit - terte ahndend bei ihm voruͤber. Der Juͤng - ling ſprang erſchrocken empor, ſank langſam zuruͤck, und rief freudig aus: Sie iſt's! Er iſt's! antwortete Amalie, und ſank in ſeine Arme. Der Bund der Liebe ward er - neuert, und durch Kuͤſſe des frohen Will - komm's gefeiert.

Biogr. d. W. z. B. H114

Schon waren alle Brunnengaͤſte nach der Stadt zuruͤckgekehrt, als Wilhelm und Ama - lie noch immer am Abhange ſaßen, ſich ihr Leiden, ihr Schickſal erzaͤhlten. Wilhelm be - wies, daß ſchaͤndliche Verlaͤumdung und un - gegruͤndete Eiferſucht des Vaters ihn ſo ſchreck - lich verfolgt habe. Wahr iſt alles, was ich ihnen, ſprach er, ſchon ehedem erzaͤhlte, nur verſchwieg ich's, daß der Vater meine ungluͤckliche Mutter ſogleich nach dem Gefaͤng - niſſe ſchleppte, und mich, da ich ſeinem Grimme entflohen war, raſtlos ſuchte, end - lich im Walde fand und gleich der Mutter den Gerichten uͤberlieferte. Staunend ſtand ich und ſie, als die Gerichte Bekenntniß der ſchaͤndlichen Thaten von uns forderten, die wir nie geuͤbt, nie beſchloſſen hatten. Ver - gebens ruften wir Gott zum Zeugen und Schuͤtzer an, als rachſuͤchtige Buben, die mein Vater im Dienſte hatte, wider uns auftraten, und beſchworen, was wir nie ge -115 than hatten. Wahrſcheinlich ſchreckte ſie mein drohender Blick, denn erſt ſpaͤter erfuhr ich, daß ſie mich weniger als meine Stiefmutter beſchuldigt hatten, die Ungluͤckliche wurde zur Folter, und als ſie aus Schmerz auf dieſer alles bekannte, was die Richter heiſchten, zum Tode verurtheilt. Ein Brief, den ſie in ihrer lezten Stunde an meine Familie ſchrieb, und worinne ſie ihre und meine Un - ſchuld mit den kraͤftigſten Worten verthei - digte, rettete mich nach der Hand aus dem Gefaͤngniſſe, meine Freunde beſtachen, von meiner Unſchuld uͤberzeugt, den Kerkermei - ſter, und entriſſen mich der blinden Rachſucht des immer noch tobenden Vaters.

Amalie glaubte und trauete Wilhelms Worten, denn ſie liebte und verſicherte ihn, daß er durch die treue Erzaͤhlung ſeines un - gluͤcklichen Schickſals in ihrem Herzen nichts verlohren, vielmehr alles gewonnen habe. H 2116Sie forſchte emſig nach der Erzaͤhlung ſeines weitern Schickſals.

Als ich ſie ſo ſchnell verlaſſen mußte, er - zaͤhlte er weiter, da kaͤmpfte die Verzweif - lung aufs neue mit mir, ich wuͤrde ganz ge - wiß geendet haben, wenn der Gedanke: Ein Engel liebt dich! mich nicht geſtaͤrket, mir nicht die Moͤglichkeit, ihn noch einmal wie - der zu ſehen, zum neuen Ziele ausgeſteckt haͤtte. Ich irrte zwar troſtlos, aber doch nach Rettung umherblickend vorwaͤrts, ich duͤnkte mich nirgends ſicher vor der grauſen Rache meines Vaters, ich ſchiffte uͤbers Meer und kam nach . Dort fand ich unvermu - thet Freunde, die ſich meines Elends erbarm - ten, ich ward der Monarchin vorgeſtellt, und ſie ernannte mich zum Hauptmanne eines Re - giments, das ſie eben errichtet hatte. Um nicht einſt auch hier entdeckt und verfolgt zu werden, gab ich mir den Namen einer Fa -117 milie, mit der ich nahe verwandt bin, und ich haͤtte nun zufrieden und gluͤcklich leben koͤn - nen, wenn nicht die ſehnſuchtsvollſte Liebe an meinem kleinſten Vergnuͤgen genagt, mich bald unfaͤhig gemacht haͤtte, je mehr eines derſelben zu genießen. Ueberall ſah ich ihr Bild, uͤberall ruhten ſie in meinen Armen, und wenn ich ſie dann feſt an mein Herz druͤcken wollte, da ſchwanden ſie, und ließen mir Sehnſucht, Kummer und Trauer zuruͤck.

Amalie. Ging's mir beſſer?

Wilhelm. Als ich hofnungslos auf dem Krankenlager ſchmachtete, mit Sehn - ſucht das Ende meiner Leiden erwartete, da traten meine neuen Freunde zu mir, und forderten, daß ich nach dem Rathe des Arz - tes den Brunnen zu Spaa trinken ſollte. Vergebens ſchuͤtzte ich die Koſten und[den] Mangel an Gelde vor, ſie halfen dem leztern118 auf der Stelle ab, und ich mußte aus Dank - barkeit ihrer Bitte Gewaͤhrung zuſichern. Ohne Hofnung eines gluͤcklichen Erfolgs reiſte ich ab, die angenehme Reiſe erheiterte mich ein wenig, und weckte in mir die Luſt zum[fernern] Leben und Dulden. Der Arzt hatte mir vorzuͤglich Zerſtreuung angerathen, ich ſuchte ſie emſig, als ich zu Spaa anlangte, und hofte ſie im Spiele zu[finden]. Moͤglich, daß Betruͤger mit mir ſpielten, noch moͤgli - cher aber, daß meine geringe Aufmerkſam - keit die Urſache meines Ungluͤcks war, ich verlohr in einem Tage mein ganzes Geld, rettete nur etwas weniges zur[fernern] Zeh - rung, zur Ruͤckreiſe nichts. Eben ſaß ich hier, rang nach Mitteln, wie ich der neuen Verlegenheit ausweichen koͤnne, ſuchte mit gierigem Auge einen Retter

Amalie (ihn ins Wort fallend). Und fandeſt ihn in mir. Armer Wilhelm, Kum -119 mer und Mangel ſoll dich nimmer kraͤnken, wenn du die Huͤlfe deiner Amalie nicht ver - ſchmaͤhſt, ſie wuͤrdigſt, deine aͤchte Freun - din zu ſein.

Wilhelm widerſprach, nahm aber end - lich doch das Gold, welches ſie ihm mit dem groͤßten Vergnuͤgen reichte. Schon auf dem Spaziergange des Nachmittags ward uͤber die Mittel, wie ſie ſich in Zukunft ungeſtoͤrt lie - ben koͤnnten, mancherlei geredet. Wilhelm bewies durch unumſtoͤßliche Gruͤnde, daß er ihr ohne Gefahr ſeines Lebens nicht folgen koͤnne, aber doch folgen wuͤrde, wenn ſie ſich von ihm trennte. Amalie erkannte durch dieſen Entſchluß die Groͤße ſeiner Liebe, und verſprach ihm zu folgen, da er's nicht ver - moͤge.

Die Liebenden ſahen ſich nun taͤglich, faſt ſtuͤndlich, und wenn die alte Muhme feſt120 glaubte, daß die ihr anvertraute Tochter auf dieſem oder jenem Balle in Zuͤchten und Eh - ren tanze, ſo ſchlich dieſe, verfuͤhrt durch heiſſes Flehen und Bitten, mit ihrem Wil - helm nach ſeiner einſamen[Wohnung], ſchmach - tete in ſeinen Armen, gewaͤhrte und genoß die Fruͤchte der Liebe. Moͤglich, daß ſie ſchon in dieſen gefahrvollen Stunden die hei - ligen Lehren der Mutter vergaß, die ange - nehme Stimme der Verfuͤhrung hoͤrte, und dem Geliebten gewaͤhrte, was der Gatte nur fordern ſoll; moͤglich, daß eben dieſe That ſie ſo eng und feſt an ihn kettete, einer der vorzuͤglichſten Bewegsgruͤnde war, daß ſie die Mutter verließ, und mit ihm nach einem fremden Lande fluͤchtete.

Genug, daß ſie dies that, und nach Monatsfriſt mit ihrem Wilhelm im Hafen zu . landete. Da er ihr ſchon vorher erklaͤrt hatte, daß zur Heurath eines Offiziers der121 Wille der Monarchin erfordert wuͤrde, da er hinzu fuͤgte, daß ſie ſolchen nie gewaͤhre, wenn die Braut nicht eignes Vermoͤgen be - weiſen koͤnne, ſo hatte ſie ſchon von Luͤbeck aus an ihre Mutter geſchrieben, und Wil - helm hatte ſelbſt den Wechsler beſtimmt, wel - chem das Geld geſchickt werden ſollte. Amalie duldete es uͤberdies aus oben angefuͤhrten Gruͤnden willig, daß ihr Geliebter bis zu erhaltener Erlaubniß fuͤr ſie im abgelegen - ſten Theile der großen Stadt eine Wohnung miethete, und war zufrieden, wenn er ſie nur oft beſuchte, und ihr einige Stunden des Tags widmete. Ein neuer, wichtiger Grund, bald Wilhelms Gattin zu werden, aͤußerte ſich kurz nachher deutlich. Amalie fuͤhlte ſich ſchwanger, und bat ihren Wilhelm dringend, ſie fuͤr der nahen Schande zu retten, ſich in Gottes und der Menſchen Gegenwart als Vater des werdenden Kindes zu bekennen.

122

Dieſen gerechten Wunſch zu erfuͤllen, nahm Wilhelm Urlaub, reiſte nach Luͤbeck, um dort das Geld erheben, und dann unge - hindert der Monarchin Erlaubniß fordern zu koͤnnen. Amalie ſchied ungerne von ihm, nur der Gedanke, daß die Reiſe der Frucht ihrer Liebe ſchaden koͤnne, bewog ſie, ihn ruhig daheim zu erwarten, ſonſt haͤtte ſie nichts abgehalten, mit ihm zu reiſen. Seine Brie - fe, welche ſie immer richtig erhielt, troͤſte - ten ſie anfangs, waren aber bald der Stof zu großem Kummer, als er ihr berichtete, daß er zwar das Geld richtig erhoben, aber wegen gefahrvollen Winden und uͤblem Wetter die Ruͤckreiſe zu Lande unternehmen muͤſſe.

Erſt nach langen drei Monaten kehrte er in ihre Arme zuruͤck, fand ſie jammernd und weinend. Ihre Hausfrau, welche ſie freilich nur fuͤr die Maitreſſe eines Offiziers nahm, aber doch wegen ihres ſanften, ſtillen Ka -123 rakters und ihrer eingezogenen Lebensart eine Art von Hochachtung gegen ſie fuͤhlte, hatte in Wilhelms Abweſenheit Bekanntſchaft mit ihr gemacht, und einige Wochen vor ſeiner Ankunft, ſie oft laut und ſtark bedauert. Da Amalie nach der Urſache dieſes ſonſt nie geaͤußerten Mitleids forſchte, ſo geſtand ihr jene, daß ſie vollen Grund dazu zu haben glaube. Soll ich ſie nicht bedauern, ſprach ſie, ſie ſitzen den ganzen Tag daheim, hof - fen und harren auf die Ankunft ihres Gelieb - ten, und waͤhnen nicht, daß er vielleicht nie die Stadt verlaſſen, ſie wahrſcheinlich in den Armen einer andern vergeſſen hat.

Amalie. Gott, das waͤre ſchrecklich.

Die Hausfrau. Schrecklich oder nicht ſchrecklich, aber wahr bleibt's doch. Schon vor fuͤnf Tagen ſah ich ihn auf dem Parade - platz ſtehen, und heute, als ich vom Markte124 zuruͤckkehrte, fuhr er mit einem ſchoͤn gepuz - ten Frauenzimmer in einem ofnen Wagen bei mir voruͤber. Sein freundlicher Blick, mit welchem er ſeine Gefaͤhrtin anſah, die laͤ - chelnde Miene, mit welcher ſie ſeine Erzaͤh - lung anhoͤrte, ſchien mir Beweis genug, daß ihre Bekanntſchaft nicht erſt heute begonnen habe.

Daß dieſe Schreckenspoſt tiefen Eindruck auf Amalien machte, ſchrecklichen Jammer uͤber die folgenden Tage und Naͤchte verbrei - tete, wird jedes fuͤhlende Herz leicht einſe - hen, wenn es ſich in ihre Lage verſetzt, nur einige Minuten das toͤdtende Gefuͤhl zu em - pfinden ſucht: Du gabſt ihm alles! Du biſt ſchwanger und nun von ihm verachtet, ver - laſſen! Ein Brief, welcher indeß von . datirt anlangte, der Amalien ſichere Hofnung machte, daß der Verfaſſer in einigen Tagen gewiß nachfolgen wuͤrde, verhinderte es noch,125 daß die ſelbſtmoͤrderiſchen Gedanken, welche anhaltend mit ihr kaͤmpften, nicht zum Vor - ſatze wurden.

Eben, als Wilhelm anlangte, hatte die allzu geſchaͤftige Hausfrau ihr aufs neue er - zaͤhlt, daß er in einem oͤffentlichen Garten mit dem Frauenzimmer ſpazieren gegangen ſei, daß ſie ihn mit dem Finger gedroht, und er ſie veraͤchtlich angeblickt habe. Seine Gegen - wart, ſein Erſtaunen, als Amalie ihm die Urſache ihrer Thraͤnen erzaͤhlte, troͤſteten bald die Leichtglaͤubige. Auch bewies der Brief, welchen er ihr von der Mutter brach - te, und das erhobne Geld nur allzu deutlich, daß Wilhelm wirklich zu Luͤbeck war. Zwar brachte er Amalien nur drei tauſend Thaler, und hatte fuͤnfe erhalten, aber es ſchien ihr ganz natuͤrlich, daß er ſolche, ob er gleich uͤber Tauſend mit ſich genommen hatte, auf der weiten Reiſe verzehrt habe. Der Brief126 ihrer guten, alles ſo willig verzeihenden Mut - ter, die Ankunft ihres Geliebten, die Ver - ſicherung ſeiner ewigen Trene waren ihr reich - licher Erſatz fuͤr das wenige Geld, dem nach der Mutter Verſicherung ohnehin das vaͤter - liche große Erbtheil binnen einem halben Jahre folgen ſollte. Ihr Herz hatte ſchon lange keine Freude gefuͤhlt, es war begierig nach dem reichen Genuſſe, es vergab und verzieh willig, und duͤnkte ſich aufs neue in den Armen des Geliebten gluͤcklich.

Freilich minderte ſich dies Gluͤck um ein großes, als ihr Wilhelm entdeckte, daß er keine Hofnung zur Erlaubniß der Heurath ha - be, wenn er nicht deutlich beweiſen koͤnne, daß ſeine Braut ſechs tauſend Thaler im Ver - moͤgen habe; aber ihre uneigennuͤtzige Liebe fand bald neuen Rath und Troſt, ſie oͤfnete mit zufriedener Miene ihre Schatulle, legte alle ihre Koſtbarkeiten und den groͤßten Theil127 ihrer Baarſchaft auf den Tiſch, und fragte Wilhelmen laͤchelnd: Ob dies alles wohl den Werth von ſechs tauſend Thalern ausmachen werde? Wilhelm meinte, daß es wohl noch mehr betragen koͤnne, und nahms auf ihre Bitte uͤber ſich, die Koſtbarkeiten in baares Geld zu verwandeln, und dann die vollen ſechs tauſend Thaler nach gewoͤhnlichem Ge - brauche bei der Kriegskaſſe zur Sicherheit und zum Beweiſe im Namen ſeiner kuͤnftigen Gat - tin verzinnslich anzulegen. Schon am an - dern Morgen brachte er ihr die troſtreiche Nachricht, daß er die Juweelen gut verkauft habe,[und] nun hineile, um die Bittſchrift mit allen erforderlichen Beweiſen verſehen beim Kriegskollegium einzureichen. Freudig klopfte Amaliens Herz, wenn er ihr dann in der Folge oft die angenehme Nachricht brachte, daß in einigen Tagen die Gewaͤh - rung ſeiner Bitte erfolgen muͤſſe.

128

Eben ſprach er mit Amalien von ihrer kuͤnftigen Einrichtung; wie ſie ruhig und vergnuͤgt mit einander leben wollten, als ſein Bedienter ihn aufſuchte, und ihm eilfertig mel - dete, daß eben ein Hof-Lakei ihn in ſeiner Wohnung geſucht habe, um ihm zu ſagen, daß er morgen fruͤh im Kabinete der Monar - chin erſcheinen ſolle. Beide verſchwendeten nun die Zeit mit Muthmaßungen, und da ſie keine wahrſcheinliche finden konnten, ſo ward am Ende beſchloſſen, daß Amalie den Ausgang ruhig erwarten, Wilhelm hingegen ſo gleich nach erfolgter Audienz ſie beſuchen, und von allem unterrichten wolle.

Obgleich Amalie ruhiges Harren gelobt hatte, ſo durchwachte ſie doch ahndungsvoll die lange Nacht, und blickte ihren Wilhelm troſtlos an, als er mit ſichtbar verlegner Miene zu ihr ruͤckkehrte.

Amalie.129

Amalie (zitternd). Ich bin auf alles gefaßt, und heiſche nur ſtrenge Wahrheit.

Wilhelm. Sie ſoll dir werden, doch bitte ich dich vor allem, ſei ruhig! Meine Bothſchaft kann wohl Verzoͤgerung, aber kei - nesweges Vernichtung[unſrer] nahen Heurath enthalten.

Amalie (traurig). Verzoͤgerung? Als ob in dieſer nicht ſchon namenloſes Leiden fuͤr mich laͤge.

Wilhelm. Es ſteht bei dir, ſie zu vernichten.

Amalie. Bei mir? O dann biſt du morgen mein auf ewig.

Wilhelm. Hoͤre und urtheile. Als ich ins Kabinet der Monarchin trat, laͤchelteBiogr. d. W. 3. B. I130ſie ſanft. Ich hoͤre, ſprach ſie, er will heu - rathen? Wenns Ew. Majeſtaͤt, antwortete ich, gnaͤdigſt erlauben, ſo iſt's mein feſter Wille. Nachdem ſie nach dem Namen meiner Braut, nach ihrem itzigen und kuͤnf - tigen Vermoͤgen geforſcht hatte, ſo begluͤckte ſie mich mit ihrer Erlaubniß.

Amalie. O die Holde! O die Gute!

Wilhelm. So dachte auch ich, aber ſchaudernd zog ſich's durch's Mark des Ruͤk - kens, als ſie hinzu fuͤgte: Bring 'er morgen ſeine Braut zu mir, ich will mir das Ver - gnuͤgen machen, ihr ſelbſt dieſe ſchriftliche Erlaubniß einzuhaͤndigen, und in ihren Mie - nen zu leſen: Ob ſie ihn recht innig und zaͤrtlich liebt?

Amalie. War's dies alles? O ich gehe ja gerne zu ihr. Mag ſie's dann auch ſehen,131 daß deine Liebe mich zur Gluͤcklichſten der Sterblichen macht. Was ſchadet es?

Wilhelm. Es wuͤrde mein groͤßter Triumph ſein, wenn dein jetziger Zuſtand nicht zum offenbaren Verraͤther unſers ver - trauten Umgangs wuͤrde, wenn dieſer nicht vielleicht die Monarchin zum Zorne, wenig - ſtens zur Ungnade gegen mich reizte.

Amalie. O Gott, daß ich dies vergeſ - ſen konnte! Was ſoll ich nun beginnen? O, warum uͤberlegten wir's nicht fruͤher, daß dem uͤbereilten Schritte Strafe folgen muͤſſe.

Wilhelm. Noch iſt Abhuͤlfe moͤglich, aber ich wiederhole es noch einmal feierlich, daß ich ſie ohne deine Einwilligung nicht be - nutzen werde. In der Eile und Verlegenheit, in welche mich das Verlangen der Monarchin verſetzte, fiel mir die vielleicht gluͤckliche Ent -I 2132ſchuldigung bei, daß ich meine kuͤnftige Gat - tin ſogleich zu ihr fuͤhren wuͤrde, wenn ſie bereits in der Reſidenzſtadt angelangt waͤre. Es iſt moͤglich, fuͤgte ich hinzu, daß ſie bin - nen Monatsfriſt, aber auch wahrſcheinlich, daß ſie erſt in zwei oder drei Monden hier ankommt. Nun, antwortete die Monarchin, ſo hat's ja keine Eile! Wenn ſie ankommt, ſo fuͤhre er ſie zu mir, und die Erlaubniß ſoll ihr ſogleich werden. Ich dankte ehrfurchts - voll, und eilte hieher, um dir alles zu er - zaͤhlen, und dich nochmals zu verſichern, daß es ganz allein von dir abhangen ſoll: Ob du ſogleich und in deinem jetzigen Zuſtande vor der Monarchin erſcheinen, oder die nahende Entbindung abwarten willſt? Biſt du zum er - ſtern entſchloſſen, ſo werde ich willig dir fol - gen und nicht murren, wenn das ſcharfſich - tige Auge der Monarchin mich ungnaͤdig an - blicken wird. Behagt dir um deiner und mei - ner Ehre willen die kleine Verzoͤgerung beſſer,133 ſo werde ich dir innig dafuͤr danken, dich aber auch eben ſo eifrig bitten, mich dann durch keinen Vorwurf zu kraͤnken, weil ich dir freie Wahl goͤnnte, und es ganz bei dir ſteht, heute ſchon wider Vermuthen hier anzulangen, und morgen mit mir zur Mo - narchin zu gehen.

Amalie. Nein, Theurer, nein! Ich ſehe die Wichtigkeit deiner Gruͤnde ein, und ehre ſie, ohne an einen Vorwurf zu denken. Ich muß dir ja vielmehr danken, daß du mich auf ſo gute Art aus der groſſen Angſt und Verlegenheit retteteſt. Ich harre gedul - dig, bis ich ohne Scheu vor den Thron der Monarchin treten kann.

Wilhelm. Ehe du ſichern Entſchluß faſſeſt, mußt du mich noch hoͤren. Die Ret - tung wird gluͤcklich gelingen, aber ich kann und darf dir's nicht bergen ſie iſt auch ge -134 fahrvoll. Oft ſpricht die Monarchin mit man - chen der Hofleute uͤber verſchiedene Sachen, oft erfaͤhrt ſie dadurch Dinge, die gar nicht vor ihr Ohr kommen ſollten. Leicht und mehr als wahrſcheinlich moͤglich iſt's daher, daß ſie ſich bei einigen nach meinem Thun und Laſſen erkundigt, daß dieſe erzaͤhlen, was ſie wiſſen, und hinzufuͤgen, daß ich meine meiſten Stunden bei einem Maͤdchen verlebe, das ich zu heurathen gedenke. Dann wuͤrde ſie meine Nothluͤge entdecken, Betrug ahn - den, und ihre Guͤte ſich gewiß in immer - waͤhrenden Zorn verwandeln.

Amalie. O allzu Vorſichtiger! Aber nein, du haſt Recht, der Zufall iſt leicht und moͤglich. Wie koͤnnen wir ihn abwenden?

Wilhelm. Daruͤber harre ich deines Raths, der meinige, ob er gleich aufrichtig ſein wuͤrde, koͤnnte dich an meiner Liebe135 zweifeln laſſen, und dann waͤre mein Gluͤck, meine Wonne auf immer zerſtoͤhrt.

Amalie. Ich verſtehe den Wink, und werde ihn nach Kraͤften benutzen. Du mußt, ſo ſchwer es mir auch fallen wird, mich we - niger, und unter dieſer Zeit nur im Geheim beſuchen, damit die geſchwaͤtzigen Hofleute nicht erzaͤhlen, was ſie nicht erfahren koͤn - nen. Sprech ich ſo recht, wie du's forderſt?

Wilhelm. Wie's die Klugheit heiſcht, aber der Liebende achtet ſie nicht, und ich werde dich fleißiger als je beſuchen.

Amalie (ihn umarmend). Ich danke dir fuͤr den Beweis deiner Liebe, es wuͤrde mich aͤußerſt geſchmerzt haben, wenn du ihn nicht geleiſtet haͤtteſt, aber ich fordere ihn nicht, weil er dich und mich leicht ungluͤck - lich machen koͤnnte. Du haſt Recht, ſtrenge136 Vorſicht iſt noͤthig, ich werde dich daher nur Abends, und auch dann nur, wenn man dich in keiner Geſellſchaft vermißt, bei mir erwarten, und mich damit troͤſten, daß die kurze Trennung dich mir auf ewig ſichern wird.

Wilhelm hatte gegen dieſen Entſchluß, ob er ihn gleich ſelbſt weiſe nennen mußte, noch manches einzuwenden; aber er gab end - lich der Vorſtellung ſeiner Geliebten nach, und verſprach in Zukunft nur bei Nachtzeit, nur verkleidet zu erſcheinen. Im laͤngern Ge - ſpraͤche fand endlich Amalie noch uͤberdies, daß die ganze Verzoͤgerung ein wahres Gluͤck fuͤr ſie ſei, weil ſie, wenn auch die Heurath noch ſo ſchnell vollzogen wuͤrde, doch nicht haͤtte in Geſellſchaften erſcheinen koͤnnen, ſich dort auf jeden Fall uͤbler Nachreden blosſtel - len wuͤrde, weil der Tag ihrer Heurath je - dem bekannt ſein mußte, ihre nahe Ent -137 bindung aber eben ſo wenig verborgen bleiben konnte.

Ehe Wilhelm ſchied, rieth er ihr, daß ſie ſobald als moͤglich von ihrer Mutter das vaͤterliche Erbtheil heiſchen ſollte, damit ſie nach erfolgter Entbindung mit mehr Pracht in der Welt erſcheinen, und alle zum Be - kenntniſſe zwingen koͤnne, daß ſie ihren Gat - ten durch Liebe und Reichthum zum Gluͤcklich - ſten der Sterblichen gemacht habe. Amalie fand auch dieſen Rath gut und billig, ſie ſchrieb ſchon am andern Tage an ihre Mut - ter, Wilhelm trug den Brief ſelbſt auf die Poſt, aber er ging, wie ſchon das Vorher - gehende beweiſt, verlohren, kam wenigſtens nicht in der Mutter Haͤnde.

Wilhelm beſuchte nun ſeine Amalie nie mehr am Tage, und da er oft zum Abend - eſſen geladen wurde, auch ſelten am Abende. 138Sie lebte ganz einſam, war zufrieden, wenn ſie ihren Wilhelm wenigſtens nur die Woche einmal ſah, und ſchoͤne Buͤcher leſen konnte, die er ihr reichlich ſchickte.

Da Wilhelm der geſchwaͤtzigen Hausfrau, welche ſeiner Amalie durch ihre ungegruͤndete Erzaͤhlung ſo großen Jammer verurſacht hat - te, im gerechten Ausbruche des Zorns ſehr hart begegnet war, und nun mit Recht be - ſorgen mußte, daß ſie aus Rache jeden ſei - ner naͤchtlichen Beſuche in der Stadt verbrei - ten und erzaͤhlen wuͤrde, ſo ſuchte er fuͤr ſeine Amalie eine andere und beſſere Woh - nung, fand ſie bald hernach, und Amalien eben ſo willig, ſolche ſogleich zu beziehen; denn auch ſie war mit dem Betragen ihrer Wirthin unzufrieden, weil ſie oft noch be - haupten wollte, was doch eine offenbare Un - moͤglichkeit war. Sie war aͤußerſt vergnuͤgt, als ſie in ihrer neuen Wirthin eine recht gute,139 gefaͤllige Hausfrau, und in ihren zwei Toͤch - tern warme Freundinnen fand, die ſie mit groͤßter Sorgfalt und Eifer bedienten, ieden ihrer Wuͤnſche zu errathen und zu erfuͤllen ſuchten.

Schon war Amalie ihrer Entbindung na - he, als an einem Sonntage Nachmittags, den ihre neue Wirthin ſammt ihren Toͤchtern mit einer kleinen Spazierfahrt feierten, et - was leiſe an ihre Thuͤre klopfte. Ihr Wil - helm hatte ſie ſchon volle acht Tage nicht be - ſucht, ſie hofte Nachricht von ihm zu erhal - ten, oͤfnete ſie freudig, und trat verdruͤß - lich zuruͤck, als ſich ihre ehemalige Wirthin mit einem freundlichen Gruße hereindraͤngte.

Wirthin. Da ich eben hier vorbeiging, und durch Zufall ihre Wohnung erfuhr, ſo konnte ich mir's nicht abſchlagen, ſie ein we - nig zu beſuchen.

140

Amalie (gleichguͤltig). Es iſt mir ein beſonderes Vergnuͤgen, ſie

Wirthin. Und zu ſehen: Wie ſie ſich befinden? Wie ſie ſich bei der nun allgemein bekannten Heurath benehmen?

Amalie (verwundernd). Heurath?

Wirthin. Ich finde ſie ruhig[und] ge - laſſen! Das iſt freilich das beſte Mittel, welches ſie beſonders in ihren jetzigen Umſtaͤn - den ergreifen koͤnnen, aber recht und billig iſt's doch nicht, daß er ihnen das Maul machte, ſie aus den Armen ihrer Eltern ent - riß, und endlich in dieſem Zuſtande ſitzen ließ.

Amalie. Frau! Wollen ſie mir mei - nen Verſtand, mein Leben rauben? Doch ich kenne ſie ja! Womit habe ich's141 denn verdient oder verſchuldet, daß ſie ſich ordentlich bemuͤhen, mein armes Herz ſo grauſam zu quaͤlen?

Wirthin. Hab ich's nicht gedacht, mir's nicht vorgeſtellt, daß ſie immer noch hintergangen und betrogen werden, ſo will ich nicht ehrlich ſein! Alſo wiſſen ſie wirklich noch nichts?

Amalie. Was ſoll ich denn wiſſen?

Wirthin. Was die ganze Stadt weiß, was ſie am meiſten betrift, und ſie doch nicht erfahren haben. Aber ſie werden auch tref - lich bewacht! Noch ruhen die ſchimpf - lichen Namen, mit welchen mich der Herr Offizier zu beehren beliebte, ſchwer auf mei - nem Herzen, ich dachte: Kommt Zeit, kommt Rath; ſie wird's einſt zu ſpaͤt er - kennen, daß ich's gut mit ihr meinte! 142Itzt bin ich hier, um es ihnen zu be - weiſen.

Amalie. Zu beweiſen? Madam! wenn ſie dies koͤnnten!

Wirthin. O ich vermags nur allzu gut, und wenn ſie mir folgen wollen, ſo ſollen ſie in einer halben Stunde mit ihren eignen Augen uͤberzeugt werden.

Amalie (haſtig). Ich will, ich will!

Wirthin. Nur muß ich ihnen zuvor alles erzaͤhlen.

Amalie. Alles, ja alles!

Wirthin. Sie wohnen itzt in einem Hauſe, das in der ganzen Stadt im uͤbel - ſten Rufe ſteht. Ihre Wirthin hat keine143 Toͤchter. Dieſe und die Maͤdchen, welche ſie immer beſuchen, ſind oͤffentliche Freuden - dirnen, die ſich ungeſcheut der Wolluſt weihen.

Amalie. Gerechter Gott! Nein, es iſt unmoͤglich!

Wirthin. Sie ſollen uͤberzeugt wer - den. Schon am andern Tage kannte und er - fuhr ich ihre ſchoͤne, neue Wohnung, aber ich dachte mir: was geht's dich an, viel - leicht will ſie's ſelbſt nicht beſſer haben! Wenn ich mich aber wieder erinnerte, daß ſie rei - cher und rechtſchafner Eltern Kind waͤren, daß ſie ſo innig und fleißig am Morgen und Abende ihre Haͤnde zu Gott empor hoben, ſo ward mir weh im Herzen, und ich be - ſchloß, ſie einmal im Voruͤbergehen zu warnen. So oft ich aber auch kam, ſo ward ich unter mancherlei Vorwand abgewieſen, und nicht144 zu ihnen gelaſſen. Unter dieſer Zeit ward's in der Stadt allgemein bekannt, daß ihr Ge - liebter ein ſehr ſchoͤnes, aber nicht reiches Hoffraͤulein heurathe, und bei Hofe, weil ſie ein Liebling der Monarchin ſei, großes Gluͤck machen werde.

Amalie. Nein, Nein! Das Geruͤcht war falſch! Es iſt nicht moͤglich!

Wirthin. Hoͤren ſie nur weiter, und denken ſie immer, daß ich ſie von allem zu uͤberzeugen gekommen bin. Wenn ich dies alles hoͤrte, ſo dachte ich immer an ſie, und weihte ihnen manche Thraͤne. Ich erkundigte mich nach allem genauer, erfuhr allezeit mehr Gewißheit, und da ich ſelbſt im Hauſe, wo das Fraͤulein wohnte, eine alte Bekanntſchaft erneuerte, ſo ſah ich nicht allein den Herrn mit dem Fraͤulein recht oft ſpazieren fahren, ſondern hoͤrte auch, daß am verfloßnen Don -nerſtage145nerſtage die wirkliche Vermaͤhlung gefeiert werden wuͤrde.

Amalie. O mein Herz! Mein armes Herz!

Wirthin. Es koſtete mich Muͤhe und Geld, mich mit eignen Augen zu uͤberzeu - gen, ich draͤngte mich gluͤcklich in die Kapel - le, ich ſah, wie ihr Geliebter das Fraͤulein nach dem Altare fuͤhrte, und mit ihr auf ewig verbunden ward. Die Monarchin, der ganze Hof war gegenwaͤrtig, es wurde alles praͤchtig gefeiert. Nach der Trauung fuhren ſie nach Hof, und ſpeiſten an der oͤffentli - chen Tafel; geſtern und vorgeſtern waren be - ſondere Feſte auf einem Luſtſchloſſe vor der Stadt; heute iſt Ball und Souper in dem Hofgarten, wenn ſie mir folgen wollen, ſo koͤnnen ſie dort die Neuvermaͤhlten ſehen, esBiogr. d. W. 3. B. K146aus aller Munde erfahren, daß ich keine Ver - laͤumderin, keine Luͤgnerin bin.

Amalie. Ich will! Gott wird mir Kraft verleihen! Ich will mich uͤber - zeugen! Ha, Ha! Das nagt! Das ſchmerzt! (tritt ans Fenſter) Allmaͤch - tiger! Du legteſt mir die Laſt auf, du wirſt ſie mir auch tragen helfen! Kommen ſie, kommen ſie! ich will mich von ſeinem Mein - eide uͤberzeugen, und dann ihnen erſt recht danken! Ach recht innig danken!

Sie ergrif nun ihren Mantel, und eilte am Arme der Wirthin auf die Gaſſe. Oft nahte ſich Ohnmacht, oft mußte ſie ruhen, aber ſie ſprang immer wieder haſtig empor, und wallte weiter. Als ſie in den Garten kam, und die Menge Menſchen erblickte, ſchiens ihr leichter zu werden. Sie ging[ru - hig] am Arme der Fuͤhrerin, und forſchte147 einigemal, wenn ihr die ſchreckliche Gewißheit werden wuͤrde. Ihre Fuͤhrerin verſprach ſie ſo bald als moͤglich, und drang mit ihr vor - waͤrts nach dem Orangerieplatz, wo ſie das Brautpaar zu treffen hofte. Auch fand ſie ſolches bald.

Der wirklich ungetreue Boͤſewicht ſaß mit ſeiner neuen Gattin auf einem erhabenen Platze, er ſcherzte, taͤndelte mit ihr, und begoß ihren Buſen mit Pomeranzen-Bluͤthen. Die neugierige Menge ſtand gaffend in der Tiefe, und unter dieſen auch Amalie, wel - che ſich wankend auf den kraftvollen Arm ih - rer Fuͤhrerin ſtuͤtzte. Fieberkaͤlte durchſchau - derte ihre Nerven, durchbebte ihre Sin - ne, und ſchuͤttelte ſie zur Empfindung, zum Gefuͤhle empor. Sie ſah den Treuloſen mit ſeiner Gattin ſcherzen, ſie hoͤrte ringsumher die Menge ausrufen: Dies iſt ein ſchoͤnes, aber auch ein gluͤckliches Paar! Sie fuͤhlteK 2148ſich betrogen, verlaſſen, ſie breitete verge - bens ihre Arme aus, druͤckte ſie leer an ſich, und ſank zu Boden.

Ihre Fuͤhrerin empfahl ſie der Aufſicht der Naͤchſtſtehenden, und eilte, um einen Wagen herbeizuholen, der ſie bis nach ihrer Wohnung fuͤhren koͤnne. Indeß ſie nach die - ſem umher rannte, erregte die Ohnmaͤchtige Aufmerkſamkeit unter der Menge, alles reihte ſich um ſie, und das vergnuͤgte Brautpaar ſtieg hinab, um ebenfalls zu erfahren: Was die Aufmerkſamkeit des Poͤbels mehr als ihr Gluͤck reitzen koͤnne? Eine Ohnmaͤchtige! rief Wilhelms Gattin mitleidig aus, und reichte ihr Riechflaͤſchchen hin, um ſie damit zu wek - ken. Eine Ohnmaͤchtige! ſtammelte Wilhelm nach, und erkannte auf den erſten Blick die hintergangene und betrogene Amalie. Er blickte aͤußerſt verlegen umher, und ſah zu ſeinem groͤßten Vergnuͤgen, daß ſich eben149 Amaliens neue Wirthin mit ihren Maͤdchen herbei draͤngte, welche die Ohnmaͤchtige auf - hoben, und eilend forttrugen. Iſt's eine ſolche! riefen viele aus, welche die Wirthin kannten, dann haͤtten wir unſer Mitleid ſpa - ren koͤnnen! Ja wohl! Ja wohl! antwor - teten andere, und die Menge zerſtreute ſich wieder, folgte nicht der Ohnmaͤchtigen, weil man ſie des Mitleids und fernerer Geſellſchaft unwuͤrdig achtete. Wilhelms Blick allein folgte ihr, und kehrte erſt dann zufrieden zuruͤck, als er ſah, daß man in der naͤch - ſten Allee die Ohnmaͤchtige in einen Wagen hob, und eilend davon fuͤhrte.

Er erdichtete am Abende Dienſtgeſchaͤfte, um ſich auf ein kleines Stuͤndchen von ſeiner Gattin zu trennen, und eilte in einen Man - tel gehuͤllt nach Amaliens Wohnung, um dort zu erfahren: wie es geſchehen konnte, daß ſie ſeines[ausdruͤcklichen] Verbots ungeachtet150 ausgegangen, und bis in den Garten gedrun - gen ſei? Die Wirthin, welche von allem, was Wilhelm unternahm, unterrichtet war, und fuͤr ihr Stillſchweigen von ihm reichlich bezahlt wurde, konnte ihm das Raͤthſel nicht loͤſen, weil ſie ſogleich nach dem Eſſen mit ihren Maͤdchen nach dem Garten gegangen war, gar nicht vermuthen konnte, daß Amalie eben - falls dahin kommen wuͤrde. Sie hatte ſolche erſt dort ohnmaͤchtig am Boden erblickt, und es fuͤr das rathſamſte geachtet, ſie ſo ſchnell als moͤglich nach Hauſe zu fuͤhren.

Wilhelm billigte dieſe Vorſicht, aber er tadelte auch um ſo ſtaͤrker die wenige Wach - ſamkeit der Wirthin, die er doch ſo freige - big bezahlt hatte. Er fragte nun: wie es Amalien ergehe? Wie ſie ſich benaͤhme, und was ſie ſpreche? Die Antwort der Wirthin ließ ihm keinen Zweifel uͤbrig, daß Amalie ſeine Heurath erfahren habe. Denn ſie hatte151 ſich zwar nur erſt ſeit kurzem aus der Ohn - macht erholt, noch nichts Zuſammenhaͤngen - des geredet, aber doch einigemale die Worte: Verheurathet! Seine Gattin! ausgeſpro - chen.

Der Treuloſe uͤberlegte noch lange mit ſeiner ſchwarzen Gehuͤlfin: ob es nicht moͤg - lich ſei, Amalien eines andern zu uͤberreden, und kam mit der Erſtern endlich dahin uͤber - ein, daß ſo wohl ſie, als ihre Maͤdchen, jede beſonders und einzeln, ihr erzaͤhlen ſoll - ten, daß man zwar ſogleich von ihrer Krank - heit ihrem Geliebten Nachricht gegeben habe, er aber erſt morgen erſcheinen koͤnne, weil er ſchon ſeit drei Tagen das Vermaͤhlungsfeſt einer Hofdame feiern helfe, zu ihrem Braut - fuͤhrer ſei erwaͤhlt worden, und es ihr wahr - ſcheinlich um deswillen verſchwiegen habe, da - mit die Idee einer vollzogenen Heurath ſie wegen der noͤthigen Verzoͤgerung der ihrigen152 nicht kraͤnken moͤge. Gelingt die Liſt, fuͤgte der Boͤſewicht hinzu, ſo komme ich morgen wieder, und ſuche ſie zu beſtaͤtigen, gelingt ſie nicht, ſo muß ich andere Maasregeln er - greifen, damit ich nicht durch ſie verrathen, und in der Laufbahn meines Gluͤckes geſtoͤhrt werde.

Am folgenden Morgen erſchien er aber - mals bei der Wirthin, dieſe berichtete ihm mit trauernder Miene, daß die Liſt der Er - wartung nicht entſpreche. Sie ſagte, erzaͤhlte ſie ihm, zwar nur ein einzigesmal: Nein, nein! man betruͤgt mich nicht mehr! Aber die Miene, mit welcher ſie die ganze Erzaͤh - lung anhoͤrte, bewies deutlich, daß ſie kein Wort davon glaube. Uebrigens, fuͤgte ſie hinzu, lebe ich der ruhigen Hofnung, daß keine weitere Liſt noͤthig ſein, und der Jam - mer bald mit ihr enden wird. Sie liegt in ihrem vollen Anzuge auf dem Bette, will153 nichts trinken, nichts eſſen, ſchlaͤgt oft ſtun - denlang die Augen nicht auf, und hat ſich im Anfalle des Schmerzes, der ſie itzt oft ergreift, die Lippen ſchon ganz wund gebiſſen. Treibt ſie's heute noch ſo fort, ſo endet's morgen ſicher mit ihr. Um ſo beſſer, ſprach der Gottloſe, ſo erſpare ich mir den Beſuch bis auf andere Zeit, und trift ihre Vermu - thung ein, ſo erwarte ich auf der Stelle Nachricht. Der Bothe ſoll gut belohnt werden.

Er ging alſo mit dieſer ſchrecklichen Hof - nung von dannen, daß diejenige, welche ihm alles gab, was ſie beſaß, welche ihm Vater - land und Unſchuld opferte, bald enden, und nicht vor Gerichte als einen Raͤuber und Moͤr - der ihn anklagen wuͤrde! Es durchſchaudert un - willkuͤhrlich meine Nerven, wenn ich mir ih - ren Schmerz, und ſeine ſchwarze That den - ke! Gerne wuͤrde ich an der Wahrheit der154 leztern zweifeln, und mich der Menſchheit zu Liebe mit den Gedanken troͤſten, daß die Sage die That vergroͤßerte, durch erdichtete Nebenumſtaͤnde dunkler zu faͤrben ſuchte, aber aller Troſt ſchwindet, und die That wandelt ſich zur vollen Gewißheit, wenn ich mich des ehrwuͤrdigen Greiſes erinnere, welcher mir die ganze Geſchichte erzaͤhlte, fuͤr ihre Wahr - heit buͤrgte, und mich dringend bat, ſie bald bekannt zu machen, damit die unbefleckte Un - ſchuld die Gefahr kennen lerne, und dem Schmeichler nicht traue, nicht glaube, der ſie ihr zu rauben ſucht.

Am folgenden Abende brachte ein Bothe Wilhelmen die Nachricht, daß die Hofnung ſich immer mehre, und aͤußerſt wahrſcheinlich ſchon die folgende Nacht zur Gewißheit wer - den wuͤrde. Er laͤchelte, und uͤberſandte der Wirthin ein kleines Pulver, welches ſie Amalien reichen moͤchte, wenn ſich der Anfall erneuere. 155Wie der Bothe zuruͤckkehrte, ging die Wir - thin mit dem Pulver nach Amaliens Zimmer; ſie und ihre Maͤdchen hatten vorher einige Gaͤſte zu bewirthen gehabt, waren ſchon ſeit einer Stunde nicht bei der Kranken geweſen, und hielten's nicht fuͤr noͤthig, weil ſie ſtets ſtill und meiſtens ſinnlos auf ihrem Bette lag. Die Wirthin erſtaunte ſehr, als ſie ſolche dort nicht mehr traf, vergebens nach ihr das ganze Haus durchſuchte. Wilhelm ward von dieſem neuen Zufalle ſogleich benach - richtigt, forſchte vergebens ingeheim in der ganzen Stadt nach ihr umher, durchlebte ei - nige Tage in quaalvoller Angſt, vergaß aber bald alles, als niemand ſie finden konnte, und der Gedanke, daß ſie ſich wahrſcheinlich im Fluſſe ertraͤnkt habe, immer mehr zur Gewißheit wurde.

Wie's kam und geſchah, daß Wilhelm ſo aͤußerſt undankbar, ſo grauſam an Ama -156 lien handelte, will ich itzt in Kuͤrze erzaͤh - len. Alles, was Amaliens Vater von ihm ſchrieb, war reine Wahrheit. Seine Mutter ſtarb, als er auf der Univerſitaͤt zu . ſtu - dieren ſollte, aber die meiſte Zeit im Trun - ke, Spiele und naͤchtlichen Schwaͤrmereien verſchwendete. Eben hatte er ſeine akademi - ſchen Jahre, aber keineswegs ſein Studium vollendet, als ſein Vater ihm berichtete, daß er naͤchſtens wieder heurathen, und es gerne ſehen wuͤrde, wenn er zur Hochzeit nach Hauſe kaͤme.

Schon war dieſe vollzogen, wie er auf dem vaͤterlichen Schloſſe anlangte, er ſah ſeine junge, ſchoͤne Stiefmutter zum erſtenmale, fand ſie aͤußerſt reizend, und ſah, ſeinen Grundſaͤtzen gemaͤß, den Namen, welchen er ihr geben mußte, als gar kein Hinderniß an, ſie innig zu lieben. Sein Vater liebte die Jagd auſſerordentlich, und gab ihm volle157 Gelegenheit, der Stiefmutter Geſellſchaft zu leiſten, ihr zu bekennen, was er fuͤhle. Ihr Gatte war ſchon uͤber ſechzig alt, ſie mußte ihn wider Willen ehelichen, ſein Sohn war ein ſchoͤner, feuriger Juͤngling Urſa - chen genug, um den Abſcheu zu tilgen, der ihr Herz fuͤllte, als ſie zum erſtenmale hoͤr - te, daß der Sohn ihres Gatten ſie liebe. Er heiſchte Troſt, ſie gewaͤhrte ihn anfangs ſchwach, bald ſtaͤrker, und endlich auf ſolche Art, daß dem Verfuͤhrer nichts mehr zu wuͤnſchen uͤbrig blieb. Der betrogene Vater entdeckte bald die ſchreckliche That, er uͤber - zeugte ſich[augenſcheinlich], verſtieß den unna - tuͤrlichen Sohn, und vergab der flehenden Gattin.

Wie ſich die Liebenden abermals ſahen und fanden, kann ich nicht genau beſtimmen, aber daß es geſchah, daß ſie in dieſen Zuſammen - kuͤnften die Vergiftung des ungluͤcklichen Al -158 ten beſchloſſen, ſie dreimal auszufuͤhren ſuch - ten, nur einmal halb vollendeten, iſt durch gerichtliche Akten bewieſen.

Der aͤußerſt gekraͤnkte Alte ſchwieg nun nicht laͤnger, er bemaͤchtigte ſich des in der Naͤhe lauernden Sohns, und uͤberlieferte ihn ſammt der ungetreuen Gattin dem Gerichte. Dies ſprach uͤber beide das verdiente Todes - urtheil aus, konnte es nur an der ungluͤck - lichen Verfuͤhrten vollziehen, weil Wilhelm wahrſcheinlich durch Huͤlfe einiger Univerſitaͤts - freunde dem ſchmaͤhlichen Tode gluͤcklich ent - rann.

Mit ſeiner nun folgenden Geſchichte habe ich meine Leſer ſchon bekannt gemacht. Er kam auf ſeiner neuen Flucht, die ihn von Amaliens Seite trennte, bis nach , fand dort Unterſtuͤtzung, und erhielte wirklich eine Lieutnantsſtelle. Ein Hoffraͤulein, deren159 Mutter ein Liebling der Monarchin war, fand den neuen Offizier ſchoͤn, und dieſer war bald kuͤhn genug, ihr ebenfalls zu ſagen, daß er ſie aufs innigſte und zaͤrtlichſte liebe. Die Art, mit welcher ſeine Erklaͤrung aufge - nommen wurde, gab ihm gegruͤndete Hof - nung, daß er nicht vergebens bitten werde, durch ſolch eine Heurath ſich leicht in die Hoͤhe ſchwingen koͤnne. Er verdoppelte ſeinen Eifer, und dieſer ward bald mit dem Be - kenntniſſe belohnt, daß man ihn wieder lie - be, daß ſelbſt die Mutter eine Heurath mit ihm nicht misbilligen wuͤrde, wenn er nur wenigſtens Hauptmann ſein wuͤrde, und dann ſo viel Vermoͤgen darthun koͤnne, als zur Sicherſtellung des erforderlichen Wittwenge - halts noͤthig waͤre. Fuͤr die Hauptmanns - ſtelle, ſetzte die Geliebte hinzu, wird meine Mutter bei erſter Gelegenheit ſorgen, fuͤr das Geld muͤſſen ſie aber dann ſorgen, weil meine Mutter außer der Gnade der Monar -160 chin kein großes Vermoͤgen beſitzt, und um jener willen ihr Kind nicht ohne die geringſte Ausſicht einer lebenslaͤnglichen Verſorgung verheurathen darf.

Wilhelm hatte kein Vermoͤgen, noch weniger eines von ſeinen Freunden zu hoffen, aber er machte der Geliebten doch zu letztern Hofnung, vermehrte dieſe bald durch erdich - tete Briefe, weil er eine Zeitlang anhaltend gluͤcklich ſpielte, und bei der Fortdauer die - ſes Gluͤcks die erforderliche Summe bald zu - ſammen zu bringen glaubte. Er ward kurz nachher zum Hauptmanne ernannt, aber itzt auch um ſo dringender von der Geliebten an der Erfuͤllung ſeines Verſprechens erinnert.

Nicht um, wie er vorgab, das Geld aus ſeinem Vaterlande abzuholen, ſondern um in Spaa ſein Gluͤck im hoͤhern Spiele zu verſuchen, nahm er im Fruͤhjahr Urlaub, undhatte161hatte dort eben ſeine ganze Baarſchaft ver - ſpielt, als die ungluͤckliche Amalie ihn ſah und fand. Daß ihm in dieſen Umſtaͤnden ihr Anblick angenehm war, wird jeder ohne Ver - ſicherung glauben, wenn ich noch hinzu fuͤge, daß er ſie wirklich einſt liebte, und ſie nie ganz vergeſſen konnte. Seinem eignen Ge - ſtaͤndniſſe nach, fuͤhrte er ſie wirklich aus der Abſicht nach ., um ſie zu heurathen, als er aber dort anlangte, ſeine ehemalige Ge - liebte ihn mit voller und inniger Liebe em - pfing, aͤußerſt ſorgfaͤltig forſchte: ob er er - fuͤllt habe, was er verſprochen hatte, und mit empfindlicher Rache drohte, wenn er ſie durch ungegruͤndetes Verſprechen am groͤßern Gluͤcke hindere, da ward ſein falſcher Ehr - geiz rege, er erdichtete eine lange Erzaͤh - lung, die ſich damit ſchloß, daß ſein Va - ter geſtorben ſei, und er erſt in einigen Mon - den aus dem anſehnlichen Erbe die erforder - liche Summe erheben koͤnne. Amaliens GoldBiogr. d. W. 3. B. L162ſetzte ihn in den Stand, der Geliebten an - ſehnliche Geſchenke zu machen, und dadurch ſeine Ausſage zu beſtaͤtigen.

Wie er nach Luͤbeck reiſte, um dort die fuͤnftauſend Thaler zu erheben, war's ſchon in ſeinem Herzen beſchloſſen, die Ungluͤckli - che auf die ſchrecklichſte Art zu hintergehen, und dies Geld zu der Heurath mit dem Fraͤu - lein zu verwenden. Seine Neigung zum Spiele, das er nicht genug kannte, haͤtte ihm bald dieſer Ausſicht beraubt, aber die allzu gute Amalie war guͤtig genug, die fehlende Sum - me durch ihre Koſtbarkeiten zu erſetzen, deren Werth weit hoͤher als jene war, und den Un - empfindlichen in den Stand ſetzte, ſeiner nunmehr erklaͤrten Braut einen Theil derſel - ben zum Geſchenke zu verehren. Die Audienz bei der Monarchin war ein Werk ſeiner Er - dichtung, er wollte dadurch nur Amalien zur Vorſicht und Verzoͤgerung der verſprochenen163 Ehe bewegen. Wie vollkommen ihm dieſe Liſt gelang, habe ich bereits erzaͤhlt.

Noch hielt er's fuͤr noͤthig, nicht mit der Ungluͤcklichen zu brechen, weil der Mutter Brief ihm Hofnung machte, daß das anſehn - liche vaͤterliche Erbe bald folgen wuͤrde, dies wollte er erſt in Sicherheit bringen, und dann die Verlaſſene, Betrogene, Entehr - te Es faͤllt mir ſchwer, die Menſch - heit durch Erzaͤhlung ſo ſchwarzer[Greueltha - ten] zu entehren! Es thut mir innig weh, mein eignes Geſchlecht durch ofnes Bekennt - niß zu brandmarken, aber die Wahrheit for - derts, ich bin ihr zur Warnung aller dies Opfer ſchuldig Der Boͤſewicht geſtand es am Ende ſeiner Tage ſelbſt, daß er ſie dann durch Gift zu toͤdten, um ſich von ih - ren Vorwuͤrfen zu befreien, beſchloſſen hatte.

L 2164

Jeder meiner Leſer wird nach dieſer Er - zaͤhlung nun uͤberzeugt ſein, daß das Pul - ver, welches er ihr nach der zu fruͤhen Ent - deckung durch den Bothen uͤberſandte, ſicher auch toͤdtendes Gift in ſich enthielt. Wohl ihr, der ſchrecklichen Dulderin, wenn es fruͤ - her angekommen waͤre, und ihr namenloſes Leiden geendet haͤtte. Sie wuͤrde dann ent - feſſelt vom irdiſchen Schmerze und Jammer hinuͤber zum ewigen Lohne, der ihr nur fuͤr ihre unendliche Quaal Erſatz ſein konnte, ge - wandelt ſein.

Wilhelm lebte durch zwei Jahre mit ſei - ner Gattin in einer hoͤchſt unzufriedenen Ehe, man ſah ein, daß er mehr verſprochen hatte, als er itzt erfuͤllen konnte, und dies gab oft Anlaß zu Hader und Zanke, weil ſeine Gat - tin eben ſo wie er zur Verſchwendung geneigt war,[und] dieſe ſie ganz natuͤrlich in Schul - den und Noth ſtuͤrzte, aus der eben die zu guͤ -165 tige Monarchin ſie retten wollte, wie des Unerforſchlichen Gericht uͤber den Boͤſewicht be - gann, der ganz ſicher uͤberzeugt zu ſein glaub - te, daß Amalie ſchon laͤngſt geendet haͤtte, ihn nie mehr zur Verantwortung ziehen wuͤrde.

Der Kronprinz ging einſt an einem ſchoͤ - nen Sommerabende, in ſeinen Mantel ge - huͤllt, ganz allein in den entlegenen Gaſ - ſen der Stadt ſpazieren; wie er in die klein - ſte derſelben einlenken wollte, ſah er zwei Weiber an der Thuͤr des Eckhauſes ſitzen, ſie waren im tiefen Geſpraͤche begriffen, und erregten ſeine Aufmerkſamkeit dadurch, daß ſie beide gefuͤhlvoll und theilnehmend weinten. Er blieb an der Ecke ſtehen, und hoͤrte ih - rem Geſpraͤche zu.

Gott wird's, ſprach die eine, doch einſt ſchrecklich ſtrafen und raͤchen, ſie hat daher vollkommen Recht, daß ſie ihm nicht vorgreift,166 nicht im Namen der Leidenden Klage erhebt, die ſie doch nicht erweiſen kann, und am Ende wohl gar in Schimpf und Schande ſtecken bleibt. Genießt er, wie ſie mich verſichert, die Protektion des Hofs, ſo kann ihm unſer eins nicht ſchaden, aber wenn ich ihm einſt begegne, ſo ſpeie ich doch vor ihm aus, und denke mir in meinem Herzen: es giebt auf der Welt keinen groͤßern Boͤſewicht, als du biſt!

Dieſe wenigen Worte, welche dem Hor - chenden gar nichts enthuͤllten, ſondern nur zur naͤhern Entdeckung reizten, bewogen ihn, ſich dem Platze zu naͤhern, den eben eine der Frauen mit den gewoͤhnlichen Abſchiedsworten verlaſſen hatte. Er gruͤßte die Ruͤckgebliebene freundlich, ſprach vom Wetter und andern gleichguͤltigen Dingen, und ſuchte am Ende dem Ziele naͤher zu kommen. Aber die freund - liche Alte blieb ganz verſchloſſen, nahm ihn167 fuͤr einen Spion, und beantwortete keine ſei - ner Fragen. Schon wollte er ſich unbefriedigt entfernen, als ein Buͤrger voruͤber ging, den Kronerben erkannte, und ihn als dieſen gruͤßte. Dieſer Gruß machte die Alte ſo - gleich aͤußerſt redſelig, ſie verſprach ihm al - les zu erzaͤhlen, wenn er ihr kleines Zimmer mit einem Beſuche beehren wolle. Der Prinz verſprachs, und folgte ihr nach.

Wenn meine Leſer in dieſer Alten Ama - liens ehemalige, redliche Wirthin bereits er - kannten, ſo muß ich ihnen offenherzig geſte - hen, daß ſie ſich in ihrer Muthmaßung nicht betrogen, und zu Frommen derer, welche etwan einer entgegengeſetzten Meinung waren, nur noch hinzufuͤgen, daß ſie es wirklich war. Ich uͤbergehe die ganze Erzaͤhlung der Alten, weil ſie meinen Leſern ohnehin bekannt iſt, ich beginne nur, wo Amalie aus dem Hauſe der ſchaͤndlichen Kuplerin entfloh.

168

Da ſchwere und ſchreckliche Verzweiflung mit der Ungluͤcklichen kaͤmpfte, ſie die Laſt des marternden Gefuͤhls nicht zu ertragen vermochte, ſo rang ſie nach Luft und Huͤlfe, ſprang raſch von ihrem Lager auf, kam unbe - merkt aus dem Hauſe, und wandelte ohne Plan, vielleicht auch ohne Bewuſtſein in den Gaſſen umher. Die Hand des Ewigen denn Zufall und Ungefaͤhr darf ich dies nicht nennen fuͤhrte ſie vor dem Hauſe ihrer ehe - maligen Wirthin voruͤber.

Dieſe hatte ſie lange vergebens im Gar - ten geſucht, erſt ſpaͤter erfahren, daß ſie wieder in die Klauen ihrer laſterhaften Wir - thin gefallen ſei, und weihte ihr eben, vor der Thuͤre ſitzend, einen theilnehmenden Seuf - zer, als Amalie bei ihr voruͤber wankte. Sie ſah ihr Leiden, ihre ſchreckliche Zerruͤt - tung der Sinne, nahm ſie mitleidsvoll bei der Hand und fuͤhrte ſie nach dem Zimmer,169 welches ſie ehe ſchon bewohnt hatte. Dort pflegte ſie ihrer mit inniger Sorgfalt, eilte nach Huͤlfe, als die ungluͤckliche Dulderin bald hernach ein todtes Kind gebahr. Die Geburt deſſelben war aͤußerſt ſchmerzhaft und gefahrvoll, aber Amalie ſprach dieſe ganze Zeit uͤber kein Wort, verrieth durch keine Miene den ſchrecklichen Schmerz, welchen ſie dulden mußte. Als man ihr den neugebohrnen, aber auch todten Knaben zeigte, da laͤchelte ſie freundlich, wollte ihn kuͤſſen, ſtieß ihn aber haſtig von ſich, und fragte nie mehr nach ihm. Die Folgen der ſchweren Geburt wa - ren noch gefahrvoller, ſie kaͤmpfte oft mit dem Tode, nur ihre jugendlichen Kraͤfte uͤberwan - den ihn.

Als der Arzt ſie fuͤr geſund erklaͤrte, da ward man erſt uͤberzeugt, daß ihr Ungluͤck ihr den Verſtand geraubt habe. Sie und trank gleich einer Geſunden, ſprach aber nie170 ein Wort mehr, und verrieth keine andern Symptomen ihres Wahnſinns, als daß ihre Rechte immer auf ihrem Herzen ruhte, ſie mit dieſer oft den innern, wahrſcheinlich ſtets nagendenden Schmerz herauszugraben ſuchte, und dadurch oft ihre linke Bruſt ver - wundete. Immer ſtarrte ihr Auge nach die - ſem oder jenem Gegenſtande, nur dann, wann ihre Wohlthaͤterin die Stimme ihres Treuloſen nachzuahmen ſuchte, da ward ſie aufmerkſam, und wenn irgend jemand den Namen Wilhelm nannte, da fuhr ſie er - ſchrocken empor, ſtarrte wild umher, und wuͤhlte am Ende fuͤrchterlich und mit ſchmerz - hafter Miene in der linken Bruſt, unter welcher ihr betrogenes Herz klopfte.

Ich fand, endete die Wirthin, in ihrer Taſche eilf Louisd'or, ich ernaͤhre ſie ſchon durch volle zwei Jahre, gebe ihr willig zu eſſen, was gut und theuer iſt, will mein171 weniges Vermoͤgen gerne zu ihrem Beſten verwenden, ſo lange es dauert, aber wenns endet, und ich die Ungluͤckliche nicht mehr un - terſtuͤtzen kann, dann will ich ſie Gottes Barmherzigkeit empfehlen, und zu ihm ſa - gen: Stehe du ihr bei, ich that, was ich vermochte!

Des edlen Prinzen Geſicht gluͤhte, er wiſchte eine Thraͤne aus ſeinem Auge, und verlangte die Ungluͤckliche zu ſehen. Alles uͤberzeugte ihn, daß die Wirthin ſtrenge Wahrheit geſprochen habe, ihr Zimmer war ſauber, noch reinlicher ihr Bette und Klei - dung. Sie ſaß in einem Lehnſtuhle, und ſtarrte mit ihrem großen Auge nach einem Bilde, das an der Wand hing. Ihre un - nachahmliche, leidende Miene ruͤhrte das Herz des Prinzen aufs aͤußerſte, er wollte den Namen Wilhelm ausſprechen, er ver - mochts nicht; druͤckte der Wirthin ſeine volle172 Boͤrſe in die Hand, und ſchied ſchweigend, aber noch tiefer fuͤhlend.

Am andern Morgen ſandte er nach Wil - helmen, der bereits Obriſter geworden war. Sie werden mich begleiten, ſprach er mit ernſtem Blicke, und ging nebſt zwei ſeiner Ad - jutanten nach dem Hauſe, in welchem Amalie duldete. Wie er in dieſes trat, blickte er nach Wilhelmen um, der mit bleichem An - geſichte folgte, Entdeckung und Strafe um ſo mehr ahndete, weil die Wirthin den Prin - zen als einen ſchon Bekannten bewillkommte. Haben ſie Muth, ſprach der Prinz zu ihm, mir weiter zu folgen? Wilhelm neigte ſich zitternd und bebend.

Der Prinz. Haben ſie Muth mir zu folgen? Ich fordere Antwort.

173

Wilhelm. Wenns Ew. Hoheit befehlen!

Der Prinz. Sie werden kein Wort ſprechen, ſich mit keinem Laute verrathen, nur hoͤren und ſehen!

Er ging voran, Wilhelm folgte in der Mitte der Adjutanten, der Prinz oͤfnete leiſe die Thuͤre, und blieb unter dieſer ſtehen. Amalie ſtarrte wie geſtern vor ſich hin, nur ſchien ſie des Verraͤthers Gegenwart zu ahn - den, denn ſie wuͤhlte mit ſchmerzhafter Mie - ne in ihrem Buſen. Wilhelm ſtuͤtzte ſich auf die Nebenſtehenden, welche, ohne ſeine Schuld zu kennen, das Bild des Kummers und Schmerzes theilnehmend anſtaunten.

Dies iſt ihr Werk, das Meiſterſtuͤck ih - res Herzens! ſprach der Prinz im unterdruͤck - ten aber grimmigen Tone zu Wilhelmen, und174 lehnte die Thuͤre leiſe zu. Oder iſt's nicht ſo? fragte er weiter. Koͤnnen ſie die That entſchuldigen?

Wilhelm war uͤberraſcht, der Leidenden Anblick hatte ſein Herz getroffen, und ihm die Verſtellungskraft geraubt, er konnte nicht antworten, nicht laͤugnen.

Prinz. Und deine Strafe, Boͤſewicht? Etwann dieſer Rock der Ehre? (Wilhelm ſank zu ſeinen Fuͤſſen nieder) Um der Unſchuldigen willen, die du gleich ihr lok - teſt, will ich nicht dein oͤffentlicher Anklaͤger werden, aber wenn du nicht noch heute frei - willige Entſagung deines Dienſtes einreichſt, nicht morgen ſchon die Hauptſtadt, und in drei Tagen meiner Mutter Reich verlaͤßt, ſo werde ich Strafe fuͤr eine That finden, fuͤr welche das Geſetz keine beſtimmte, weil es den Menſchen derſelben nicht faͤhig achtete. 175Ich wuͤrde nebenbei von dir Erſatz fuͤr die Ungluͤckliche fordern, wenn du ihr Ehre und Verſtand wieder zu geben vermoͤchteſt. Geh, und wenn dich Verzweiflung quaͤlt, ſo ſei dies dein einziger Troſt, daß ich der Ver - laßnen Vater ſein, ihr Leiden nach Kraͤften mildern werde.

Wilhelm. Großmuͤthigſter der Sterbli - chen! Verzeihung! Erbarmung!

Prinz. Mit dir? (bitter lachend) Sie werde dir, wie du ſie gabſt! Meide mein Angeſicht, erfuͤlle die Bedingung, oder ich werde auch der Verlaßnen Raͤcher!

Auf ſeinen Wink mußten die Adjutanten den Obriſten hinabfuͤhren, er wankte fort, kam am Abende ſchon um ſeinen Abſchied ein, und verſchwand am andern Tage aus der Re - ſidenz. Viele, welche ſeine Umſtaͤnde kannten,176 meinten, daß er der vielen Schulden wegen entflohen ſei; ſelbſt ſeine Gattin war dieſer Meinung, und troͤſtete ſich bald uͤber ſeinen Verluſt, weil ſie ihn laͤngſt nicht mehr liebte. Nur einige wenige erfuhren die wahre Urſa - che, und ehrten im Stillen die Gerechtigkeit des Prinzen, der ſeine Mutter ſelbſt bat, ihr bereits gegebnes Wort zu erfuͤllen, und die unſchuldigen Glaͤubiger des Entflohnen zu bezahlen.

Ehe der edle Prinz das Haus der Dul - derin verließ, trat er ins Zimmer ihrer wohl - thaͤtigen Wirthin, und forſchte genau: wie viel ſie fuͤr die anſtaͤndigſte Pflege, Wartung und Koſt der Ungluͤcklichen des Jahrs hindurch fordere? Die Gnuͤgſame heiſchte zweihundert Thaler, der Prinz gab ihr eine Anweiſung auf vierhundert, welche ſie jaͤhrlich aus ſeiner Kaſſe erheben ſollte, und als er am Abende ſeiner erhabnen Gattin die ruͤhrende Geſchichtever -177vertraute, ſo legte dieſe ſogleich noch jaͤhrlich zweihundert Thaler dazu. Die Wirthin ward dadurch in den Stand geſetzt, ſich ganz dem Dienſte der Leidenden zu widmen, ihr uͤber - dies noch eine eigne Waͤrterin zu halten.

Aber hienieden bluͤhte kein Gluͤck fuͤr die Ungluͤckliche, hienieden konnte ihr fuͤr namen - loſes Leiden kein Lohn werden, ſelbſt die vaͤ - terliche Fuͤrſorge des erhabnen Herrſchers ward ihr in der Folge Stof zu neuem Leiden. So ernſtlich der Prinz auch allen die zugegen wa - ren, Stillſchweigen auferlegt hatte, ſo we - nig ward doch ſein Gebot erfuͤllt, weil man ihn aufrichtig liebte, und gerne dem Volke im Voraus kund machen wollte, welch ein gerechter Fuͤrſt es einſt regieren wuͤrde. Alle, die dieſe Geſchichte erfuhren, wuͤnſchten auch die Leidende zu ſehen, und unter dieſen gabs ſehr viele, welche zugleich erfahren wollten: was fuͤr einen Eindruck der Name WilhelmBiogr. d. W. 3. B. M178auf die arme Wahnſinnige mache? Sie ſpra - chen ihn daher oft in ihrer Gegenwart aus, und Amalie wuͤhlte dann anhaltend in ihrem Buſen, verwundete ihre Bruſt ſo ſtark, ſo oft, daß bald ein unheilbarer Krebs an ihr nagte, und, aller Huͤlfsmittel ungeachtet, ihr Leben unter den ſchrecklichſten Schmerzen endigte.

Das edle Paar beweinte den Tod der Ungluͤcklichen, als es ſolchen erfuhr, und die gutherzige Wirthin genoß bis an ihr Ende den jaͤhrlichen Gehalt zum Lohne.

Vor zehn Jahren ward zu B der An - fuͤhrer einer Raͤuberbande vor Gerichte ge - ſtellt, zehne ſeiner Mitſchuldigen ſtarben auf ihn, und beſchuldigten ihn graͤßlicher Thaten, er allein laͤugnete jede derſelben, uͤberſtand179 die Schmerzen der Folter, und bekannte nichts. Als man aber ſeines Laͤugnens unge - achtet das Urtheil uͤber ihn ausſprach, ihn wirklich zur Richtſtatt fuͤhrte, und er den Henker mit dem Rade in der Hand auf ſich harren ſah, da ward ſein Herz erweicht, er verſprach alles und noch weit mehr zu beken - nen, und ward zuruͤckgefuͤhrt.

Es war Wilhelm, aus ſeiner freiwilligen Ausſage habe ich dieſe Geſchichte geſammlet, die Luͤcken derſelben gefuͤllt. Er hatte ſich An - fangs nach ſeinem Abſchiede aus wieder dem Spiele gewidmet, noch einige unſchul - dige Maͤdchen verfuͤhrt und betrogen, wurde in manchem Lande verbannt, geaͤchtet, und machte endlich mit Raͤubern Bekanntſchaft, die ihn ſeiner Faͤhigkeiten wegen bald zu ih - rem Oberhaupte waͤhlten. Neunzehn Men - ſchen bluteten unter ſeiner mordenden Hand;M 2180ihm wurden ſechs Tage zur Reue, zur Ver - ſoͤhnung vom Gerichte bewilligt. Er bete - te andaͤchtig,[duldete] reuemuͤthig hienie - den die gerechte, verdiente Strafe, und dort

Allmaͤchtiger, richte du! Ich darf, ich vermags nicht!

181

Marie L ...

Wenn dumpfer Glockenſchlag vom Thurme herab einen Leichenzug verkuͤndigt, da wird's mir immer zu enge im Gemache, ich eile ins Freie, und ſtarre dem Zuge nach, welcher den Vollendeten zu Grabe begleitet. Todes - gedanken fuͤllen dann mein Herz, die unlaͤug - bare Gewißheit, daß man auch mich einſt zur Verweſung hinuͤber tragen werde, ſteht feſt vor meinen Sinnen, vor meiner Seele. Wallt eine zahlreiche Menge hinter dem Sar - ge, ſehe ich haͤufige Thraͤnen fließen, und leſe in jedem Geſichte das ſchmerzhafte Ge - fuͤhl des Verluſtes, ſo wuͤnſche ich eben ſo zu ſterben. Es ſcheint mir dann ſo ſuͤß, ſo182 lohnend, die Achtung ſeiner Mitbruͤder und Freunde mit hinuͤber zu nehmen, es beweißt ſo deutlich, daß der Vollendete Menſchen - und Freundes-Pflicht redlich erfuͤllte, und izt noch den lezten Lohn erndet, der ihm hienieden werden konnte.

Traͤgt man aber eine Mutter zu Grabe, und ſehe ich hinter ihrem Sarge kleine Kin - der wallen, die ihren großen Verluſt noch nicht fuͤhlen, angſtvoll umherblicken, und ſich durch angenehmere Gegenſtaͤnde zu zer - ſtreuen ſuchen. Ach! dann blutet mein Herz, dann bleibt mein Blick feſt an den Ungluͤckli - chen hangen, die alles alles verlohren ha - ben! Wer wird ſie warten und pflegen? Wer uͤber ſie wachen? Wer jedes Ungluͤck und Un - gemach von ihnen entfernen? Vertraut die armen Waiſen der Tugendhafteſten, der Red - lichſten auf Erden. Sie hat, ſie kanns nicht haben das ſorgfaͤltige, zaͤrtliche, nie ſchla -183 fende Gefuͤhl der wahren Mutter, es iſt ein - zig in der Natur, es iſt anhaltender In - ſtinkt, der nie ſich mindert, aber auch nicht nachahmen laͤßt. Die armen, verlaßnen Kin - der werden es fruͤh genug fuͤhlen, daß ſie keine Mutter haben! Sie gleichen der Blu - me, welche im engen Raume eines Topfes bluͤht, ſie waͤchſt und gedeiht, aber nicht gleich jener, welche die Mutter Erde in ih - rem Schooſe ernaͤhrt.

Urtheile ich unbillig? Ein Beiſpiel, das ich aus tauſend aͤhnlichen waͤhle, ſoll's ſtaͤr - ker beweiſen.

Marie war die Tochter eines Landkraͤ - mers, der ſich und ſeine treue Gattin durch emſigen und redlichen Fleiß wohl ernaͤhrte. Sie gebar ihm drei Kinder, und ſtarb, als ſie ihn mit dem vierten erfreuen wollte. Marie war die aͤlteſte unter ihren Geſchwi -184 ſtern, und noch nicht ſechs Jahre alt, als man ihre gute Mutter zu Grade trug. Ihr Vater fuͤhlte den Verluſt der geliebten Gat - tin tief, tiefer als viele andere, weil ſie ihm drei unerzogene Kinder hinterließ, und ſein kleiner Handel ihm nicht erlaubte, da - heim zu ſitzen, und die Verlaßnen zu pfle - gen.

Um ihnen eine neue Mutter zu geben, ſuchte er eilend unter den Toͤchtern des Lan - des eine zweite Gattin, nicht wahre, aͤchte Liebe, ſondern Nothwendigkeit beſtimmte ſeine Wahl. Sein Herz trauerte noch um die Verlohrne, es war dieſem gleichguͤltig, wel - che er waͤhlen wuͤrde, ſein Verſtand rieth ihm nur, eine fleißige und gute Wirthin zu ſu - chen, er glaubte ſie in der Tochter eines be - nachbarten Kraͤmers zu finden, und zog nach vier Wochen ſein Trauerkleid aus, um ſie als ſeine Frau heimfuͤhren zu koͤnnen.

185

Beim erſten noͤthigen Abſchiede empfahl er ihr mit naſſem Blicke ſeine Kinder, ſie verſprach Erfuͤllung, aber ſie vergaß nur all - zu bald ihrer Zuſage. Es waren nicht ihre Kinder, ihr Herz fuͤhlte keinen Drang zur nothwendigen Pflege, ſie vernachlaͤßigte ſol - che auf eine auffallende Art, und wie der Vater wiederkehrte, hatte man Mariens juͤngſte Schweſter ſchon begraben.

Wohl ihr, ſprach der Vater im wehmuͤ - thigen Tone, wohl ihr, ſie ruht an ihrer Mutter Seite! Bald uͤberhaͤufte er aber die hartherzige Stiefmutter mit verdienten Vor - wuͤrfen, als alle Nachbarn ihm einſtimmig erzaͤhlten, daß Mangel an Pflege den Tod des Kindes befoͤrdert habe. Der Friede ſei - ner Ehe ward dadurch maͤchtig geſtoͤhrt, ſeine zweite Gattin widerſprach anhaltend und ſtark, reizte ſeinen Zorn oft ſo maͤchtig, daß er ſie mit Schlaͤgen zum Stillſchweigen zwang.

186

Weh dem Manne, Weh der Frau und tauſendfaches Weh uͤber jede Ehe, in welcher Schlaͤge den Kampf der haͤußlichen Zwiſtigkei - ten entſcheiden! Friede und Eintracht, die einzigen Stuͤtzen der Ehe, weichen dann un - aufhaltſam von dannen, Haß[und] Zwietracht bereitet ſich eine ſichere Wohnung, und ladet alle Freunde, eine ungeheure Zahl, zum Mitgenuſſe ein.

Um ſeines Lebens wieder froh zu werden, zog der betrogene Gatte aufs neue ſeinem Ge - werbe nach, kehrte nur ſelten heim, und blickte ſeufzend zum Himmel, als er einſt ſeinen einzigen Sohn, einen lieben, mun - tern Knaben, nicht mehr hienieden fand. Ende nur, Ende! ſprach er voll Schmerz zu ſeiner Gattin, du wirſt es dort einſt ſchwer verantworten muͤſſen!

187

Daß Vorwuͤrfe dieſer Art die unempfind - liche Stiefmutter noch mehr zum Zorne reiz - ten, kann man ſich leicht vorſtellen, ihre Begierde nach Rache ſuchte Nahrung, und fand ſie darinn, wenn ſie jedes geringe Ver - brechen der kleinen Marie mit unnachſichtli - cher Strenge beſtrafen konnte. Dieſe duldete im Stillen, weinte freilich oft ingeheim auf ihrer Mutter Grab, beſaß aber doch Muth und Staͤrke genug, die barbariſche Behand - lung ihrer Stiefmutter zu ertragen. Sie fand in der Folge, daß Schmeichelei der lez - tern Zorn ſtillen koͤnne, und muͤhte ſich an - haltend, ihr dieſe reichlich zu zollen; da - durch gewann ſie endlich das Herz der Uned - len, ward beſſer von ihr behandelt, und verſicherte dem heimkehrenden Vater, daß es ihr auch in ſeiner Abweſenheit wohl ergehe.

Der erfreute Vater ſuchte ſich nun wie - der mit ſeiner Gattin zu verſoͤhnen, aber188 ſeine Muͤhe gelang nicht, ſie haßte ihn herz - lich und wuͤnſchte ihn oft ingeheim den Tod. Sie zeugte kein Kind mit ihm, und nahm dies immer zum Vorwande, wenn ihre an - haltende, verdrießliche Laune Stof zu neuen Zaͤnkereien gab.

Marie war itzt ſchon ſiebzehn Jahr alt, und ſollte eben, auf ihre eigene Bitte, kuͤnf - tiges Jahr als Magd in die Dienſte eines Bauern treten, als ein kleines Kavallerie - kommando, um die verbotene Getraideaus - fuhr zu hindern, ins Dorf verlegt wurde. Die Soldaten kamen oft in den Laden, wel - cher in Mariens Hauſe zum Verkaufe offen ſtand. Sie nannten die Kraͤmerin ſchoͤn, und dieſe war eitel genug, dieſe gemeine Schmei - chelei durch wohlfeilen Kauf zu vergelten. Ein junger Unterofficier bewies ſich unter al - len am eifrigſten, er kam oft, ohne etwas zu kaufen, ſcherzte, taͤndelte, und ward189 von der eitlen Kraͤmersfrau bald ſtark und innig geliebt. Ich will nicht unterſuchen, ob er nur aus eigennuͤtziger Abſicht oder aus wahrer Neigung dieſe Liebe erwiederte, ge - nug, daß er das leztere behauptete, und bald Lohn in Menge erndete.

Um ungehindert mit ihrem Liebhaber bu - len zu koͤnnen, lud ſie ihn oft zum Beſuche ein, und um Mariens moͤglichen Verrath zu hindern, ſuchte ſie die Unſchuldige in aͤhnli - che Netze zu verwickeln. Auf ihr Verlangen brachte der Liebhaber die juͤngſten und ſchoͤn - ſten Soldaten mit ſich, welche ſich eifrig muͤh - ten, in Mariens Herzen Liebe zu wecken. Sie war wirklich reizend und ſchoͤn, und da - her ſchon der Muͤhe werth, die dieſe rohen Seelen an ihr verſchwendeten.

Lange kaͤmpfte, lange widerſtand Marie, endlich unterlag ſie den Schwuͤren und Ver -190 ſicherungen eines Einzigen, der ihr anhal - tend nachſchlich, ihr die Moͤglichkeit bewieß, daß er ſie heurathen, und in ſeiner Heimath mit ihr zufrieden und gluͤcklich leben koͤnne. Sie geſtand ihm Gegenliebe, ſie erlaubte ihm Kuͤſſe, vergalt ſogar einige derſelben, aber ſie kaͤmpfte wacker, und ſtieß ihn mu - thig von ſich, wenn der Kuͤhne mehr noch fordern wollte.

Die leichtſinnige, treuloſe Stiefmutter hoͤrte dieſe Nachricht mit innigem Verdruſſe; um es iſt ſchaͤndlich, aber wahr um Mariens ſchlafende Begierden zu wecken, hatte ſie oft in ihrer Gegenwart den Liebha - ber Gunſtbezeugungen gewaͤhrt, die ihre Un - treue an ihrem Ehemanne nur allzu deutlich beſtaͤtigten; izt nahte bald die Zeit ſeiner Heimkehr, ihr grante vor Entdeckung, ſie vermuthete ſogar, daß Marie blos deswegen ſo wacker kaͤmpfe, um ungeſcheut Verraͤthe -191 rin werden zu koͤnnen, und wandte daher alles an, den Fall der Ungluͤcklichen zu be - foͤrdern. Sie leitete den Kuͤhnen einſt ſelbſt zur Nachtszeit nach der Schlafkammer des anvertrauten Kindes, und frohlockte mit in - niger Schadenfreude, als ſie nachher uͤber - zeugt ward, daß ihre Schandthat gelungen ſei.

Die ungluͤckliche Marie fuͤhlte ihren Fall tief, ſie ſah die hoͤlliſche Liſt ihrer Stiefmut - ter ein, ſie erfuhr ſie ſelbſt durch den wirk - lich liebenden, izt bereuenden Liebhaber, und troͤſtete ſich mit der moͤglichen Hofnung, daß er wenigſtens ſein Verſprechen halten, und ſie heurathen wuͤrde. Er erneuerte dies Ge - luͤbde noch oft, als aber die Ausfuhr des Getraides wieder erlaubt ward, und die Soldaten nach ihrem Standquartiere ruͤckkehr - ten, da ward auch an ihr das Spruͤchwort erfuͤllt, daß ein Soldat in einem jeden Staͤdt -192 chen ein anderes Maͤdchen waͤhle. Er gelobte beim Abſchiede, ihr ſtets zu ſchreiben, er erfuͤllte ſein Geluͤbde nie, beantwortete kei - nen ihrer Briefe, in welchen ſie ihm in der Folge ihren ungluͤcklichen Zuſtand entdeckte, und vergebens um Mitleid und Huͤlfe flehte.

Die betrogne Ungluͤckliche konnte ihn nicht vergeſſen, das Pfand ſeiner treuloſen Liebe ruhte unter ihrem Herzen, mit jedem Mor - gen ahndete ſie Entdeckung, und mit dieſer das Ende ihres guten Rufs, die Verachtung aller Redlichen des Dorfs. Ihre Stiefmut - ter, welche am leichteſten ihren Zuſtand arg - wohnen konnte, entdeckte ihn auch zuerſt. Sie ſprach troͤſtend mit der Leidenden, zeigte ihr Wege und Mittel, wie ſie der[drohen - den] Schande ausweichen koͤnne, und wollte ſie eben unter einem erdichteten Vorwande zu einer entfernten Anverwandtin ſenden, als der Vater unverhoft heimkehrte.

Ein209[193]

Ein ſcharfer, anhaltender Blick welchen dieſer am andern Morgen auf Marien warf, vernichtete ihre Verſtellung, ſie ſtuͤrzte ſchluch - zend zu ſeinen Fuͤſſen nieder, bekannte ihr Ver - brechen und flehte um Mitleid. Er fuͤhlte ſein und ihr Ungluͤck tief, aber er vergab, und wil - ligte nicht in den Plan, welchen die Stiefmut - ter entworfen hatte, und izt erneuerte.

Was ich und du ſo leicht entdeckten, ſprach er, kann dem ganzen Dorfe nicht mehr verborgen ſein, man wuͤrde groͤſſere Verbrechen ahnden, wenn ſie ſich entfernte, und ihr noch ſtaͤrkere Verachtung bereiten. Sie muß bleiben, und mags der ganzen Welt be - weiſen, daß ſie eine ſorgloſe Stiefmutter hatte!

Im ganzen Dorfe behauptete man anfangs mit Recht, daß die Kraͤmersfrau es mit den Soldaten halte, und ihres Mannes Ehre ver - kaufe; als man aber Mariens Zuſtand wieBiogr. d. W. 3. B. N210[194]der Vater weislich vorausſah ſchon laͤngſt entdeckt hatte, da ſchwand dieſe Nachrede, ie - der glaubte nun, daß die leichtfertige Tochter die Soldaten ſo oft ins Haus gelockt, und da - durch ihren Fall ſelbſt befoͤrdert habe.

Man erzaͤhlte dieſe Meinung dem Vater offen, man bedauerte ihn, daß er ein ſo unge - rathnes Kind habe, und gab dadurch der liſti - gen Stiefmutter die herrlichſte Gelegenheit, nicht allein ihren guten Ruf zu retten, ſondern auch durch erdichtete und heimliche Verlaͤum - dung das Herz des Vaters von ſeinem ungluͤck - lichen Kinde abzuwenden. Sie erzaͤhlte und bewies ihm durch hundert geſchaͤftige Zeugen, daß ſie dieſen Umgang nicht geduldet, die Toch - ter oft vergebens gewarnt habe.

Marie, welche dieſe ſchreckliche Liſt nicht ahndete, duldete die Vorwuͤrfe ihres Vaters, die oͤffentliche Verachtung der Dorfbewohner im211[195] Stillen, und achtete ſie fuͤr eine natuͤrliche Fol - ge ihres ungluͤcklichen Falls. Weh thats ihrem Herzen freilich, daß der Vater, welcher ihr An - fangs ſo unbedingt vergab, izt ſeine Vorwuͤrfe ſo hart und anhaltend erneuerte, und nach ei - nigen Wochen ohne Seegen, ohne Abſchied wie - der von ihr ſchied, aber der heimliche Troſt der Stiefmutter, daß ſich dies alles aͤndern wuͤrde, und vorzuͤglich das Bewuſtſein, daß ſie ohne Vorſaz gefallen ſei, hielt ſie im Sturme auf - recht.

Am Abende vor ihrer Niederkunft, wie ſie eines nothwendigen Geſchaͤftes wegen uͤbers Dorf ging, ward ſie von einem Haufen muth - williger Buben aͤuſſerſt gekraͤnkt, ſie entfloh ih - rem ſchrecklichen Spotte mit Muͤhe, und weinte die ganze Nacht hindurch troſtlos. Fruͤh ward ſie mit einer Tochter entbunden, und genoß die Freuden einer Mutter im aͤuſſerſt kargen Maaſe. Neue Kraͤnkungen verbitterten ihr ſolche aufN 2212[196]die ſchrecklichſte Art. Keiner der vielen Dorf - bewohner wollte Pathe des Kindes werden, ie - der entſchuldigte ſich mit kraͤnkendem Spotte, nur mit vieler Muͤhe beredete man einen ar - men Tagloͤhner, dieſe nothwendige Pflicht zu erfuͤllen. Auch dieſer war hart genug, wie er das Kind auf ſeine Arme nahm, in Gegenwart der leidenden Mutter zu ſprechen: Komm, ar - mes Wuͤrmchen, komm! Da wir dir deinen ehrlichen Namen nicht geben koͤnnen, ſo wollen wir wenigſtens einen Chriſten aus dir machen!

Dieſe hartherzige Rede fuͤllte Mariens Herz mit unausſprechlichem Jammer. Ihre Stiefmutter raͤumte, als alle weggegangen wa - ren, eben das Zimmer auf. Die troſtloſe Ma - rie ſprach hart mit ihr, und bewies was ſie noch nie gethan hatte mit unumſtoͤßlichen Gruͤnden, daß ſie ihr allein dies Ungluͤck, dieſen Jammer zu danken habe, nie gefallen ſein wuͤr - de, wenn ſie ihren Fall nicht vorbereitet haͤtte.

213[197]

Verdiente Vorwuͤrfe erbittern das Herz des Laſterhaften am meiſten, er kann ihnen nichts, als ungeſtuͤme Wuth entgegenſetzen. Dies war auch hier der Fall, die Stiefmutter gebot Stillſchweigen, die Tiefgekraͤnkte ſchwieg nicht, und die Grauſame ſchleuderte im Anfalle der Wuth eine Schuͤſſel voll Waſſer, die ſie eben in Haͤnden hatte, nach ihr hin. Die Schuͤſſel flog voruͤber, aber das Waſſer beſpriz - te Marien heftig, ſie ſank ohnmaͤchtig zuruͤck, erwachte zwar nach anhaltender Bemuͤhung wieder, aber ihr Verſtand war auf immer ver - lohren.

Groß muß ihr Leid, tief ihr Jammer ge - weſen ſein, wenn mit dem Verſtande nicht auch Gefuͤhl und Empfindung des Ungluͤcks entfloh, denn man achtete anfangs ihren Wahnſinn fuͤr Verſtellung, und ſuchte dieſe durch die bitter - ſten Vorwuͤrfe, durch die haͤrteſten Mittel zu entfernen. Endlich uͤberzeugte man ſich von214[198] der ſchrecklichen Wahrheit, und uͤberließ ſie nun, ohne Huͤlfe zu verſuchen, dem Raube des Wahnſinnes.

Ihr Kind ſtarb nach zehn Wochen, ſie hat - te es zaͤrtlich geliebt, aber ſie ſahs ohne Ruͤh - rung, ohne Thraͤne zu Grabe tragen. Viel - leicht goͤnnte ihr der Wahnſinn die gluͤckliche Ue - berzeugung, daß es ihm jenſeits beſſer, als in dieſem Jammerthale, ergehen wuͤrde.

Anfangs ſprach ſie ſelten und aͤuſſerſt we - nig, ſaß mit ſtarrendem Blicke in einem finſtern Winkel des Zimmers, arbeitete gar nichts, for - derte aber auch nie Speiſe oder Trank. Man machte dem Vater ihr Ungluͤck kund, er eilte zur moͤglichen Huͤlfe herbei, aber ſie wurde vergebens verwendet. Tiefe Reue und innigen Schmerz fuͤhlte der Alte, als ihn ſein ungluͤck - liches Kind nicht mehr kannte, ihn mit Verach -215[199] tung von ſich ſtieß, ſtets ſeinen Anblick floh, nie mit ihm ſprach.

Wie ſich der Fruͤhling nahte, die Baͤume gruͤnten und bluͤhten, ſchien ſichs mit Marien zu beſſern, ſie ward mit einmal luſtiger, puzte ſich ſtets ſo gut, ſo ſchoͤn, als ſies vermochte, aber bald artete dieſer Putz in Karikatur aus, jeder hellgefaͤrbter Lappen wurde von ihr begierig ergriffen, und ohne Unterſchied zu ihrem Putze verwandt. Sie ſuchte nebenbei jedes Stuͤckchen leeres Papier zu erhaſchen, beſchrieb's mit ſinn - loſen Worten, und verſiegelte es ſorgfaͤltig.

Dieſe Veraͤnderung dauerte einige Mona - te, ſie ſprach in dieſer Zeit immer noch aͤuſſerſt wenig, that ſehr geheimnißvoll, begegnete allen mit ſichtbarem Stolze, und laͤchelte mitleidig, wenn man dieſen Stolz ruͤgte. Wenn ſie ſich, ihrer Einbildung nach, recht auszeichnend und ſchoͤn gepuzt hatte, ſo ging ſie im Dorfe umher216[200] ſpatzieren, gruͤßte jeden mit einem gnaͤdigen Kopfnicken, machte ſich aus einem breiten Blatte einen Faͤcher, und ſah es ſehr gerne, wenn die loſen Dorfjungen als Bediente hinter ihr her ſchritten, oder gar den Schlepp ihres Kleides trugen.

Einſt kam ſie athemlos mit einem groſſen beſchriebenen Papiere nach Hauſe, und machte es allen Anweſenden kund, daß ihr Geliebter ſich im Kriege hervorgethan habe, General ge - worden ſei, und naͤchſtens im Dorfe erſcheinen wuͤrde, um ſie als ſeine Gemahlin nach der Stadt zu fuͤhren. Dieſe Idee, welche ſie wahr - ſcheinlich ſchon lange im Stillen beſchaͤftigte, blieb nun unausloͤſchbar vor ihrer Seele ſte - hen, war der Urſtoff aller ihrer Reden und Handlungen. Sie ſtand jeden Tag mit der Gewißheit auf, daß ihr Gemahl heute an - kommen wuͤrde, und legte ſich mit der feſten Ueberzeugung nieder, daß er morgen erſchei -217[201] nen wuͤrde. Sie verſchwendete jeden Vormit - tag zu ihrem Putze, der oft aͤuſſerſt uͤbertrie - ben war, oft auch nachahmungswuͤrdige Er - findungskraft verrieth. Sie ging jeden Nach - mittag ihrem Geliebten entgegen, und kehrte ohne Trauer am Abende zuruͤck, wenn er ganz natuͤrlich nicht erſchien. Ihre geſchaͤf - tige Einbildungskraft ſchuf ſich einen kleinen Karren zur Kutſche um, in welchem ſie oft viele Stunden im vollen Staate ſaß, und es jedem Jungen mit dem freundlichſten Blicke lohnte, wenn er ſie darinne ſpazieren fuͤhrte.

Als ſie eben ein Haufe wilder Jungen auf dieſe Art ſpazieren fuͤhrte, und ſie auf eine hoͤchſt uͤbertriebne Art mit hundert Lappen behangen und gepuzt war, reiſte ich in Geſchaͤften durchs, Dorf, und kehrte im Wirthshauſe zur Mittagszeit ein. Ma - riens Karren ward nahe bei mir voruͤberge - zogen, ſie ſprang eilend herab, und naͤherte218[202] ſich mir mit hofnungsvollem, aber auch er - wartungsreichem Blicke. Ich ſtand, ahndete und fuͤhlte. Lange betrachtete mich die Un - gluͤckliche ſpaͤhend und pruͤfend, endlich begann folgendes Geſpraͤche.

Marie. Kommen Sie von der Armee?

Ich. Nein, liebes Kind!

Marie. (mit verachtungsvollem Blicke) Liebes Kind? Mit wem glaubt der Herr wohl zu ſprechen? Ich bin die Frau Generalin von Ebsdorf, ich erwarte ſtuͤnd - lich meinen Gemahl, und wollte mich nur erkundigen: Ob er (ſie legte einen be - leidigenden Nachdruck auf dieſes Er) ſeiner Suite nicht begegnet ſei?

Ich (mich faſſend) Nein, meine Gnaͤdige, ich war nicht ſo gluͤcklich.

219[203]

Marie (ſehr freundlich und ge - ſpraͤchig) O es iſt ein ſchoͤner, junger, al - lerliebſter Herr! Man kann's wahrlich ein Gluͤck nennen, wenn man ihn kennen lernt! Er hat mich ſchon gefunden, und blos aus Liebe geheurathet. Ich bin nur eines armen Kraͤmers Tochter aus dieſem Dorfe, aber ich lebe doch, wie ſie leicht ſehen koͤnnen, voll - kommen meinem Stande gemaͤß. Mein lie - ber Gemahl laͤßt es mir an nichts gebrechen. Er haͤlt mir Pferde, Wagen und Bediente in Menge. Ich habe ihm ſchon ein ſchoͤnes, allerliebſtes Fraͤulein gebohren, er liebt es raſend, und hat's zu ſich genommen. Das gute Kind muß ſchon recht groß gewachſen ſein; ich erwarte ihn und ſie mit groͤßter Begierde.

Ich konnte nicht antworten, das Gefuͤhl ihres ungluͤcklichen Zuſtands nagte an mei - nem Herzen, ſie nahm mein Stillſchweigen220[204] fuͤr Bewunderung ihrer Schoͤnheit. Ja, ja, ſprach ſie laͤchelnd, ſchoͤn bin ich, das haben noch alle, die mich ſahen, willig geſtanden. Ich wuͤnſche ihnen gluͤckliche Reiſe, und, wenn ſie etwann ihrer Frau entgegen reiſen, ſo bitte ich, ſie in meinem Namen zu gruͤſſen.

Sie ging wieder nach ihrem Karren, und laͤchelte huldreich auf mich herab, als ihn die Buben voruͤberzogen. Ich ſtarrte ihr lan - ge nach, endlich trat der Wirth herbei, und erzaͤhlte mir ihre ganze Geſchichte. Wie ich fortreiſen wollte, ſaß ſie in meinem Wagen, und wollte, ungeachtet aller Vorſtellung des Wirths, nicht weichen. Mir that's weh, als er ſie mit Gewalt heraushob, ſie ſchimpfte ſchrecklich, als ich in den Wagen ſtieg, und verſicherte mich, daß es ihr Gemahl raͤchen wuͤrde.

Erſt nach acht Jahren fuͤhrte mich mein Schickſal wieder durch dieſes Dorf. Meine221[205] erſte Frage war nach Marien. Sie lebte nicht mehr, hatte einige Monate vorher ihr Jammerleben vollendet. Haͤufiger Widerſpruch hatte ſie am Ende raſend gemacht, ſie war, mit Ketten belaſtet, geſtorben. Die Idee ihres Wahnſiuues wich auch in der Todes - ſtunde nicht, als der Prieſter zu ihr ins Zim - mer trat, ſtreckte ſie ihre Arme nach ihm aus, rief: Mein Gemahl, biſt du da? und verſchied!

Ihr Vater war ſchon vorher geſtorben. Kummer uͤber ſeine ungluͤckliche Tochter, und ſpaͤtere Ueberzeugung, daß ihre Stiefmutter wuͤrklich die ganze Urſache ihres Ungluͤcks war, hatte ſeinen Tod befoͤrdert. Niemand weinte an ſeinem Grabe, denn ſein Kind, welches er, ungeachtet ſeines Wahnſinnes, zum Erben ſeines Vermoͤgens eingeſezt hat - te, fuͤhlte ſeinen Verluſt nicht, und die treuloſe Gattin war frech genug, ihre Freude222[206] uͤber ſeinen Tod auch nicht an ſeinem offnen Sarge zu verbergen. Sie heurathete bald hernach einen jungen Tagloͤhner, der Mariens Ungluͤck an ihr im vollen Maaſe raͤchet, ihr jeden Tag durch ſaure Arbeit, durch harte Schlaͤge verbittert.

Heil mir, wenn die Abſicht, aus wel - cher ich dieſe kleine Geſchichte erzaͤhlte, nicht unbelohnt bleibt! Heil mir, wenn ich unter den vielen Tauſenden nur ein Maͤdchen vor Verfuͤhrung warne, und es ihm einleuchtend darſtelle, daß dieſer ſtets Ungluͤck ohne Zahl, Jammer ohne Ende folgt; daß ſie alle an - genehmen Ausſichten des Lebens vernichtet, alle Hofnungen toͤdet, und die Gefallne zur immerwaͤhrenden Dulderin und Buͤſſerin ver - urtheilt. Praͤge dir dies feſt ein, liebes Kind, und uͤberhuͤpfe dieſe große Wahrheit nicht mit leichtſinnigem Blicke!!!

223[207]

Das Hoſpital der Wahnſin - nigen zu P.

Wie ich zu P in H wohnte, mach - te mich mein guͤnſtiges Geſchick mit dem wuͤr - digen und verdienſtvollen Arzte bekannt, wel - chem das in dieſer Stadt erbaute große Hos - pital der Wahnſinnigen zur Leitung und Auf - ſicht anvertraut war. Wir ſprachen oft von dieſen Ungluͤcklichen. Ich ſah's ſo gerne, wenn Hofnung zur Geneſung in ſeinem Auge glaͤnzte, und hoͤrte es mit groͤßtem Vergnuͤ - gen, wenn er wuͤrklich durch Kunſt und raſt - loſe Bemuͤhung dem ſchrecklichen Wahnſinne ein Opfer entriſſen, den Geretteten wieder in die Arme ſeiner Verwandten und Freunde ruͤckgeſandt hatte.

224[208]

Seine Erzaͤhlungen weckten Verlangen in mir, das Haus des Jammers in ſeiner Ge - ſellſchaft beſuchen zu duͤrfen, und er war ſo gefaͤllig, mir meine Bitte zu gewaͤhren. Mein Herz ſchlug ſtaͤrker, meine Bruſt athmete hef - tiger und ſchneller, als ein Thuͤrhuͤter die verſchloßne Pforte oͤfnete, und wir in einen großen, mit hohen Mauern umgebenen Vor - hof eintraten.

Es war ein heiterer, warmer Fruͤhlings - tag, mehr als zwanzig, meiſtens noch junge Maͤnner, wallten darinne auf und nieder. Keiner ſprach mit dem andern, alle ſchritten tiefdenkend umher, ſprachen mit ſich ſelbſt, oft laut, oft nur mit[ausdrucksvoller] Pan - tomime. Keiner ſchien die Waͤrme der wohl - thaͤtigen Fruͤhlingsſonne zu fuͤhlen, oder An - theil zu nehmen am Wiedererwachen der ge - nußreichen Natur. Zwei derſelben muͤhten ſich ſogar, jedes Bluͤmchen auf einem großenRa -209Raſenplatze zu vernichten, und von einer Hollunderſtaude, welche in einer Ecke gruͤnte, die Blaͤtter abzupfluͤcken, und mit einem deut - lichen Rachegefuͤhl am Boden zu zertreten. Wahrſcheinlich war's oͤde und wuͤſte in ihrem Herzen, wahrſcheinlich konnte ihr Auge, das finſterer Wahnſinn truͤbte, die gruͤnende Hof - nung nicht ertragen.

Ich uͤberblickte mit traurigem Gefuͤhle die große Anzahl der Wallenden, und fragte mei - nen Fuͤhrer haſtig: Ob dieſe alle der fuͤrch - terliche Wahnſinn mit ſeinen ſchwarzen Fit - tigen decke? Sein trauriges Ja mehrte mein Mitleid, aber aͤchte, theilnehmende Freude fuͤllte mein Herz, als er mich mit dem fe - ſten Tone der Ueberzeugung verſicherte, daß er von allen dieſen noch Beſſerung hoffe, und raſtlos an ihrer Geneſung arbeite.

Biogr. d. W. z. B.[O]210

Wir traten vorwaͤrts; viele gruͤßten uns laͤchelnd und freundlich, nur einige gingen mit trotziger und finſtrer Mine voruͤber.

Eben wollte ich nach der Urſache dieſes auffallenden Unterſchieds forſchen, als mir mein Freund erzaͤhlte, daß ihm der finſtere Blick der Wenigen weit beſſer, als der freundliche Gruß der Uebrigen behage. Er - fahrung, ſprach er, hat mich uͤberzeugt, daß baldige Geneſung erfolgt, wenn ſich der arme Kranke vor mir verbirgt, oder mich mit finſterm, zuruͤckſchreckendem Blicke be - willkommt. Er fuͤhlt, er ahndet eine Ver - aͤnderung ſeines Zuſtandes, er trennt ſich hoͤchſt ungerne von ſeiner Lieblingsidee, ſieht ein, daß meine Arzenei dieſe Veraͤnderung verurſacht, haßt und flieht beide, weil der Kampf der ruͤckkehrenden Vernunft nur ſchwach beginnt, und der ſtaͤrkere Wahnſinn noch ſtets den Sieg erringt.

211

Im Hintergrunde des Vorhofes ſtand ein großer, runder Thurm vor meinem Blik - ke. Kleine, vergitterte Fenſter, das dum - pfe Kettengeraſſel, welches daraus ertoͤnte, gaben ihm das Anſehen eines Gefaͤngniſſes, und bewieſen zugleich, daß man Wahrheit geahndet habe. Ich ſchauderte zuruͤck, als mir mein Freund kund machte, daß in die - ſem Gefaͤngniſſe nur ſchuldloſe Menſchen ſchmachteten, welche meiſtens ohne Hofnung die Beute des Wahnſinnes waͤren, oft hart gefeſſelt werden muͤßten, damit ſie im An - falle der Raſerei nicht ihre Wohlthaͤter und Waͤrter ungluͤcklich machten.

Nie fuͤhlte ich's lebhafter, als izt: Welch ein koſtbares Kleinod die Vernunft ſei! Nur ſie unterſcheidet den eingebildeten, ſtolzen Menſchen vom reiſſenden, grimmigen Thiere! Ohne ſie muß er, gleich dieſem, um un - ſchaͤdlich zu ſein, mit Ketten belaſtet und imO 2212Kerker verwahrt werden! Allmaͤchtiger, guͤ - tiger Schoͤpfer! Sie iſt das Meiſterſtuͤck dei - ner Allmacht, ein Theil deines goͤttlichen Ur - ſtofs, und doch O daß ich nicht Anklaͤger meiner Mitbruͤder werden muͤßte! und doch achtet man dein unſchaͤzbares Geſchenk ſo wenig! Eine namloſe Menge ſpielt und taͤn - delt mit ihr gleich einer Puppe, giebt ſie den wilden Leidenſchaften zum Raube, und laͤßt ſie ſchmachten und mißhandeln unter ih - rer Geiſſel! Nur wenige ſchaͤtzen, bilden ſie, und ſuchen durch ſie zu ſchoͤpfen im Meere der hoͤhern Kenntniſſe, ſich an ihrer Hand, der Urquelle des aͤchten Gluͤcks, zu nahen. O daß meine Stimme der Staͤrke meines Ge - fuͤhls gleichen moͤchte, ſie wuͤrde wie Poſau - nenruf des lezten Gerichts durch die weite Welt ertoͤnen, und jedem Bewohner derſelben zurufen: Menſch! achte den Werth deiner Vernunft! Ohne ſie gleichſt du dem Loͤwen, welchen man im eng vergitterten Kaſten zur213 Schau umher fuͤhrt. Ohne ſie biſt du un - dankbarer, als ein Hund, der die naͤhrende Hand ſeines Wohlthaͤters dankbar lekt!

Der Arzt fuͤhrte mich durch die Thuͤre des Thurms nach einem großen, runden, aber ſehr reinlichen Saale. Ich ſtand zoͤgernd an der Thuͤre ſtille. Staͤrkeres Geraſſel der Ketten und ſchallende, zakende Stimmen ſchreckten mich zuruͤck. Mein Auge blickte furchtſam in die Hoͤhe, aus welcher beides herab ertoͤnte.

Ein breiter Gang, zu welchem in einer Ecke des Saals eine kleine Wendeltreppe em - por fuͤhrte, lief rings in der Mitte ſeiner Hoͤhe an der Wand umher. Ich ſah in die - ſer viele kleine Gemaͤcher, in welche man durch den Gang gelangen konnte, aller Thuͤ - ren ſtanden offen, aus welchen hie und da ein armer Wahnſinniger mit ſcheuem, oft214 fuͤrchterlichem Blicke hervorgukte, und dies ſchreckliche Laͤrm verurſachte.

Dieſe Ungluͤcklichen waren meiſtens nur mit einem langen, leinenen Hemde bekleidet, weil ſie, nach der Verſicherung des Arztes, keine andere Kleidung duldeten. Ihre Fuͤſſe waren mit Ketten belaſtet, welche ſie hin - derten, den Gang zu betreten, nur, wenn ſie den Kopf vorwaͤrts bogen, konnten ſie aus ihrem kleinen Gemache herausgucken.

Als mich endlich der Arzt vorwaͤrts fuͤhr - te, traten noch mehrere in die Thuͤre ihres Gemachs, ſprachen laut, ſchnell, aber un - verſtaͤndlich, und winkten uns, naͤher zu kommen.

Zwei noch junge, ſehr ſauber und an - ſtaͤndig gekleidete Offiziere gingen ganz allein und ohne Ketten mit in einander geſchlagnen215 Armen im Saale auf und nieder. Ihr Blick hing am Boden, ſie ſchienen uns nicht zu ſehen, wenigſtens nicht zu achten. Mein Blick folgte ihnen, mein Herz war gepreßt, es ſuchte und hofte Erleichterung, indem ich meinen Freund fragte: Ob dieſe nicht auch bald geneſen wuͤrden?

Nie! antwortete der Arzt im feſten To - ne der Ueberzeugung. Nie! wiederholte er mit einem Seufzer, ſie werden bis ans Ende ihres Lebens ſo auf und niederwallen, immer Plane zur Befoͤrderung ihres eingebildeten Gluͤcks entwerfen, und ſie doch nicht ausfuͤh - ren koͤnnen! O es ſind aͤuſſerſt merkwuͤrdige Menſchen, fuͤgte er hinzu, wenigſtens ſpielt hier die Natur ſehr geheimnißvoll und eben ſo wunderbar. Haͤtte ich nicht ſelbſt ſo oft die Simpathie, ſamt allen ihren Wuͤrkungeu mit Macht und Kraft beſtritten, ich wuͤrde216 hier einen der ſtaͤrkſten Beweiſe ihres Da - ſeins finden.

Dieſe Rede machte mich aufmerkſam, ich forſchte weiter, und fand meinen Freund wil - lig, ſich naͤher zu erklaͤren.

Dieſe beiden Offiziere, erzaͤhlte er mir, ſtanden zu verſchiedner Zeit in der Reſidenz - ſtadt eines kleinen Fuͤrſtenthums auf Werbung. Am Hofe deſſelben lebte eine junge, ſehr rei - che und eben ſo ſchoͤne Dame, beide verliebten ſich heftig in ſie, beide liebten hofnungslos, wurden melancholiſch und endlich wahnſinnig. Ihr hartes Schickſal brachte ſie hier zuſammen. Es iſt ſicher und erwieſen, daß ſie ſich vorher nie ſahen, nie kannten, denn, wie der Groſ - ſe, Hagere ſchon hier als ein Wahnſinniger ſchmachtete, ward der Kleinere erſt von einem ganz andern Regimente nach dieſer Stadt auf Werbung geſandt, aber in eben dem Augen -217 blicke, in welchem er nachher wenigſtens vier Jahre ſpaͤter in meiner Gegenwart in dieſen Saal gefuͤhrt ward, eilte ihm der erſtere mit ofnen Armen und dem lebhafteſten Gefuͤhle rei - ner Freude entgegen, umarmte ihn zaͤrtlich und kuͤßte ihn unzaͤhliche mal.

Von dieſem Augenblicke an ſind ſie unzer - trennliche Gefaͤhrden, ſcheinen immer nur ei - nen Sinn, einen Gedanken zu haben, nur ein einziges Weſen auszumachen. Alle ihre Bewegungen und Handlungen, ſelbſt die Be - friedigungen aller ihrer Inſtinkte ſind einander gleich, geſchehen auf einerlei Art und zur naͤm - lichen Zeit. Sie eſſen, trinken, wachen und ſchlafen miteinander. Hoͤrt der erſtere auf zu eſſen, ſo folgt der andere ſogleich nach, laͤßt dieſer die Haͤnde ſinken, ſo ſinken auch die Haͤn - de des erſtern. Laͤchelt er, ſo laͤchelt jener auch, kurz zu ſein Ich beobachte ſie ſchon vier Jahre, und habe noch nie an einem die -218 ſer ſeltnen Freunde irgend eine Empfindung, Gefuͤhl oder Stellung bemerkt, welche der an - dere nicht zugleich, ohne ihn anzublicken, nach - ahmte. Sie gleichen vollkommen den fremden Voͤgeln, welche man die Unzertrennlichen nennt, weil ſie ſtets nebeneinander ſitzen, mit einander freſſen und trinken.

Einſt wagte ich's, ſie zu trennen, aber beide raßten ſchrecklich, und ſanken einander wonnetrunken in die Arme, wie ich ſie wieder zuſammenfuͤhrte. Merkwuͤrdig, aber durch die ſorgfaͤltigſte Beobachtung iſt es uͤberdies erwie - ſen, daß ſie nie ein Wort mit einander, oder mit irgend einem Menſchen ſprachen. Sie ge - hen meiſtens ſtill, ohne jemanden zu beleidi - gen, im Saale auf und nieder, ſtehen nur ſelten ſtille, und ſuchen dann durch gleichfoͤr - mige, aber aͤuſſerſt ausdrucksvolle Pantomime ihren Schmerz, ihren Kummer auszudruͤcken. Wenn die Uhr im Saale Zehne ſchlaͤgt, ſo219 eilen ſie haſtig ins Bette, und ſtehen mit dem erſten Schlage der ſechſten Stunde wieder auf.

Sie putzen ſich ſtets ſorgfaͤltig, und brin - gen oft zwei Stunden an ihrer Toilette zu, ſie zittern und beben, wenn ich ſie in die freie Luft fuͤhren laſſe, ſie koͤnnen den Anblick der Sonne nicht ertragen, und ſinken ohnmaͤch - tig zu Boden, w[e]nn ich ſie mit Gewalt der Wuͤrkung ihrer Strahlen ausſetze, aber wenn der Mond ſich fuͤllt, ſo ſtehen ſie oft um Mitternacht auf, und ſtarren ſehnſuchtsvoll nach ihm hinauf. Wenn ein Frauenzimmer in den Saal tritt, ſo eilen ſie haſtig auf ſie zu, blicken ihr forſchend ins Geſichte, wei - chen aber traurend zuruͤck, wenn ſie diejenige nicht fanden, welche ſie wahrſcheinlich ſuch - ten.

Da ich vor zwei Jahren bemerkte, daß ſie jedes Stuͤckchen Papier eifrig ſammleten,220 zugleich darnach griffen, und, war das Stuͤck - chen auch noch ſo klein, ſich redlich darein theilten, ſo befahl ich ihnen, in meiner Ge - genwart Feder, Dinte und Papier zu reichen. Sie ergriffen alles mit groͤßter Begierde, ſez - ten ſich ſogleich zum Tiſche, ſchrieben lange und anhaltend, formirten endlich einen Brief, und ſteckten ihn in einen kleinen Riz der Mauer. Ich harrte mit Ungeduld auf den Augenblick, in welchem ich mich dieſer Briefe bemaͤchtigen koͤnne, ich war aͤuſſerſt begierig zu ſehen, ob ſie auch gleichfoͤrmig dachten und ſchrieben, aber ich ward in meiner Er - wartung ganz betrogen, weil beide Briefe leer, und in keinem der kleinſte Federzug enthalten war.

Keine Arzenei wuͤrkt auf ihre Koͤrper, meine ganze Kunſt wird an ihnen zur Stuͤm - perin, ich muß ſie ganz ihrem ungluͤcklichen Schickſale uͤberlaſſen, und als Menſchenfreund221 hoffen, daß der Tod ihr Leiden bald enden wird. Ich hoffe dies mit Zuverſicht, weil eine ſtarke Abzehrung an ihrem Koͤrper nagt, die ich eben ſo wenig zu hindern im Stande bin.

Vor Jahresfriſt wagte ich eine kleine Liſt, und hofte große Wuͤrkung von ihr. Ich ſchrieb im Namen der Dame, deren Schoͤnheit ſie ungluͤcklich gemacht hatte, troͤ - ſtend an beide, machte ihnen entfernte Hof - nung, und ſuchte ſie dadurch aus ihrer koͤr - perlichen Unempfindlichkeit zu wecken, aber mein Vorſatz mißlang vollkommen, ſie ſtieſ - ſen die Briefe mit Verachtung und zornigem Blicke zuruͤck, waren nicht zu bewegen, ſie zu oͤfnen, ob ich ihnen gleich erklaͤrte, daß die ſchoͤne M aus B ſie durch mich an ſie abgeſandt habe. Selbſt ihr Name machte keinen Eindruck auf ſie, und die Hof - nung zu ihrer Rettung ſchwand nun ganz.

222

Mein Gefuͤhl war bei dieſer Erzaͤhlung mannigfaltig und ſchmerzhaft. Mein Ohr horchte, mein Auge beobachtete die Wan - delnden, und uͤberzeugte ſich bei jeder gleich - foͤrmigen Bewegung, daß mein Freund Wahr - heit ſpreche. Ich haͤtte ſo gerne mit den Lei - denden geſprochen, wurde aber bald uͤber - zeugt, daß die Befriedigung dieſer Hofnung eine wahre Unmoͤglichkeit ſei, denn ſie achte - ten meiner und des Arztes nicht, ſchienen es gar nicht zu hoͤren, wenn dieſer ſie fragte, und wandelten ſtillſchweigend voruͤber.

Wer wagts wer kann das Gefuͤhl, die Jahre lang dauernden, immer ſich ganz gleichen Handlungen dieſer Ungluͤcklichen er - klaͤren? Viele geheimen Wuͤrkungen der Na - tur liegen noch verborgen vor unſerm Blicke, wir forſchen vergebens, koͤnnen nur ſtaunen und anbeten.

223

Mein Freund fuͤhrte mich izt nach der klei - nen Treppe, welche zu den Gemaͤchern der geketteten Wahnſinnigen empor fuͤhrte. Er fragte nach dem Waͤrter derſelben, weil nur ſein Anblick die Raſerei der Ungluͤcklichen daͤm - pfen konnte. Er war nicht zu Hauſe, aber ſeine Tochter, eine ſtarke, nicht haͤßliche Dir - ne erſchien, und verſicherte mich mit einem zufriednen Blicke der mein Gefuͤhl empoͤr - te daß mir in ihrer Geſellſchaft kein Leid wiederfahren wuͤrde.

Sie ging voran, ich und mein Freund folgten. Beim erſten Gemache blieben wir ſte - hen. Ein ſchoͤner, noch nicht vier und zwanzig Jahr alter Juͤngling lag ausgeſtreckt am Bo - den, ſtuͤzte ſein Geſicht auf ſeine Hand, und traͤllerte eben ein bekanntes Volksliedchen. Er gruͤßte uns freundlich, wie wir naͤher traten, und traͤllerte weiter.

224

Der Arzt. Nun? wie gehts ihnen?

Der Wahnſinnige. Gut, herrlich! Was ſoll mir abgehen? Haͤtte mir eher den Tod eingebildet, als daß man in einem Narrenhau - ſe ſo angenehm und ſchoͤn bewirthet werden ſollte. (mich anblickend und nochmals gruͤſſend) Votre Serviteur, Monsieur! Be - ſuchen Sie uns auch? Wollen wahrſcheinlich ſehen: Wie wir hier leben? Ich verſichere Sie: Schoͤn und herrlich! Was kann ich mehr fordern? (in ſeinem Gemache um - her deutend) Ich habe ein praͤchtig moͤb - lirtes Zimmer, und mein ſchoͤner, allerlieb - ſter Engel, (der Tochter des Waͤrters den Fuß kuͤſſend) unſre brave Koͤchin kocht uns die beſten Speiſen! Mir geht nichts ab! Gar nichts! Ich lebe herrlich und zu - frieden! Haͤtte mich der Teufel nicht auf einer Miſttrage herein getragen, ſo waͤre ich ja gluͤcklicher, als ein Koͤnig! Aber nicht wahr,mein225mein ſchoͤnes Kind, (zur Koͤchin) deswe - gen lieben ſie mich doch von Herzen?

Ein Wahnſinniger trat izt grade uns ge - genuͤber in die Thuͤre ſeines Gemachs, und begann graͤßlich und unverſtaͤndlich zu ſchreien. Der muntere Juͤngling blickte hinuͤber.

Hoͤren ſie doch, ſprach er laͤchelnd, wie der Kerl tobt! Was ſpricht er denn fuͤr eine Sprache? Ich verſtehe Waͤlliſch, Franzoͤſiſch, Deutſch und Latein, aber das verſtehe ich nicht! Es giebt mancherlei Sprachen in der Welt, der Geier mag ſie alle lernen!

Apropos! Herr Doktor, ſie muͤſſen er - lauben, daß ich morgen zur Ader laſſe. Ich ſchlafe ſo unruhig, und wenn der Monsieur Teufel mir wieder einmal eine Viſite macht, ſo bin ich nicht ſtark genug, den Kerl zur Thuͤre hinaus zu werfen, und hiemit Punk -P226tum. Ich will ſchlafen gehen! (er ſtand auf, und warf ſich auf ſein Bette) Angenehme Ruhe, Allerſeits! Angenehme Ruhe!

Er legte ſich nun auf die Seite, und ſchien ſogleich zu ſchlafen. Wir traten ſeit - waͤrts, meine erſte Frage war: Ob mein Freund Hofnung habe, den Ungluͤcklichen wie - der herzuſtellen? Er zuckte zweifelnd die Achſeln. Noch, ſprach er, ſchaͤtze ich ihn nicht ganz fuͤr verlohren, aber ich habe auch we - nig Hofnung. Er iſt erſt ſechs Monate un - ter meiner Obſorge, aͤndert ſichs nicht bald mit ihm, ſo wird meine Bemuͤhung zwar nicht wanken, aber die Ueberzeugung ſich auch mit jedem Tage befeſtigen, daß ich ver - gebens arbeite. (laͤchelnd) Sie wuͤnſchen ſeine Geſchichte zu wiſſen, ich will ſie ihnen in Kuͤrze erzaͤhlen.

227

Er iſt das einzige Kind armer Eltern, des Vaters Bruder ſtudierte, ſchwang ſich durch Genie bei Hofe empor, und nahm den hofnungsvollen Juͤngling zu ſich, um ihn durch ſein Anſehen zu unterſtuͤtzen, und, weil er kinderlos war, einſt zum Erben ſeines anſehnlichen Vermoͤgens einzuſetzen. Der Juͤngling lernte und ſtudierte mit anhalten - dem Fleiſſe, ward bald der Liebling ſeines Onkels, erhielte von ihm, was ſein Herz nur wuͤnſchen konnte.

Schon in ſeinem zwei und zwanzigſten Jahre ward er zum Doktor der Rechte auf der Univerſitaͤt promovirt, ſollte bald her - nach einen eintraͤglichen Dienſt antreten, und die Tochter eines ſehr reichen Kaufmanns heurathen. Ob dieſe Heurath gleich der Lieb - lingsplan ſeines Onkels war, ſo widerſezte ſich der Neffe doch mit Ernſte derſelben. Der Onkel forſchte insgeheim nach der moͤglichenP 2228Urſache, und entdeckte bald, daß der feurige Juͤngling ein ſchoͤnes Stubenmaͤdchen zaͤrtlich liebe, ihr die Ehe verſprochen habe, und eben deswegen die vortheilhafte Heurath ſo ſtandhaft ausſchlage.

Ohne die moͤgliche Wuͤrkung zu uͤberle - gen, ſandte der Alte die Geliebte ſeines Vetters insgeheim, ohne daß der leztere ein Wort davon erfuhr, nach einer entle - genen Stadt, und hofte mit Zuverſicht, daß Abweſenheit dieſe Liebe heilen wuͤrde. Der Juͤngling ging voll Verzweiflung umher, als er ſich von ſeiner Inniggeliebten getrennt ſah, und wahrſcheinlich muthmaßte, durch welche Hand er getrennt wurde. Schon am dritten Tage war auch er aus der Hauptſtadt entflo - hen, und alle Nachfrage nach ihm vergebens.

Man hofte, ihn bei ſeiner Geliebten wieder zu finden, aber er erſchien nicht;229 endlich bangte man fuͤr ſein Leben, und be - ſchrieb im ganzen Lande ſeine Perſon und Kleidung. Auch ich las ſie, und erſtaunte, als einige Bauern ihn einſt auf einer Trage ins Spital brachten, und mir erzaͤhlten, daß ſie ihn im tiefen Walde halb tod gefunden haͤtten, aus ſeinen verwirrten Reden ſchluͤſ - ſen muͤßten, daß er wahnſinnig ſei.

Ich glaubte das leztere nicht, behandelte ihn mit Sorgfalt und Vorſicht, und hofte, daß mit den koͤrperlichen Kraͤften auch ſein Verſtand ruͤckkehren werde; aber mein Biſchen Kenntniß betrog mich diesmal ſchrecklich, mit den Kraͤften mehrte ſich auch ſein Wahnſinn, er drohte, den Waͤrter mehr als einmal zu erdroſſeln, und ich mußte ihn feſſeln laſſen.

Ich korreſpondirte vorher ſchon mit ſei - nem Onkel, und ſchrieb ihm izt, daß wahr - ſcheinlich er nur den Ungluͤcklichen retten230 koͤnne, wenn er ihn ſeine Geliebte wieder - ſchenke, und die Heurath mit ihr erlaube. Ehe ich Antwort von ihm erwarten konnte, erſchien der redliche Alte ſelbſt, und brachte die Geliebte ſeines ungluͤcklichen Neffens mit ſich.

Ich bereitete dieſen auf beider Empfang vor, aber er ſchien meine Erzaͤhlung gar nicht zu achten, ſcherzte uͤber andre Dinge, und war luſtig und froͤhlich. O beſter Freund, vergeſſen will ich die ruͤhrende Szene nie, als ich endlich den guten Alten ſamt der Gelieb - ten an ſein Bette fuͤhrte. Sie war ruͤhrend und herzangreifend!

Der Alte wollte den laͤngſt entbehrten Liebling umarmen, aber der Ungluͤckliche ſtieß ihn von ſich, weil er ihn fuͤr den Teufel an - ſah, der ihn zu holen kaͤme. Seine Gelieb - te reichte ihm ſchluchzend die Hand, aber wir231 mußten alles anwenden, um ſie ſeinen Haͤn - den zu entreiſſen, weil er ſie fuͤr untreu hielt, und mit aller Gewalt morden wollte. So ſehr ſich beide muͤhten, ihn von ſeinem un - gluͤcklichen Irrthume zu uͤberzeugen, ſo war doch jede Muͤhe vergebens, er raßte an - haltend und ſchrecklich, und ich war gezwun - gen, die Hoffenden troſtlos fortzuſchicken.

Fruͤh fand ich ihn wieder froͤhlich und lu - ſtig, er erzaͤhlte mir mit lachendem Munde, daß er geſtern mit dem Teufel gekaͤmpft, und ſein ungetreues Maͤdchen ermordet habe. Izt, rief er munter aus, bin ich wieder frei und ledig, kann mich nach Gefallen in eine andere verlieben.

Ich wagte es nicht, ſeine Freunde wie - der vor ſein Bette zu fuͤhren, und ſandte ſie mit dem Verſprechen heim, daß ich alles an - wenden wuͤrde, um ihn gerettet in ihre Ar -232 me zu liefern, aber noch bin ich nicht vor - waͤrts geſchritten. Die Idee vom Kampfe mit dem Teufel ſizt feſt in ſeiner Seele, er er - neuert ſie oft jeden Tag, und raßt dann fuͤrchterlich!

Sein trauernder Onkel ſchreibt mir jeden Poſttag, und will izt das arme Maͤdchen zur Erbin ſeines ganzen Vermoͤgens einſetzen, da - mit er doch, nach ſeinem eignen Ausdrucke, auf einer Seite die große Suͤnde verſoͤhne, zu welcher ihn ſein Ehrgeiz und zu große Habſucht verleitet hat.

Ich blickte nochmals ins Gemach des Un - gluͤcklichen, er ſchlief ſanft, ich haͤtte es ihm ſo gerne zugefluͤſtert, daß ſein Maͤdchen treu und gluͤcklich ſei, aber der Gedanke, daß er mich fuͤr den Teufel halte, und mir meine Ab - ſicht mit Tode lohnen konnte, hielte mich zu - ruck.

233

Wir gingen weiter, und ſtanden am zwei - ten Gemache. Eine lange, hagere Figur mit hohlen Wangen und fuͤrchterlich rollendem Auge ſaß an einem kleinen Tiſche, auf wel - chem viele Stuͤcke Papier umher lagen. Der Ungluͤckliche hatte eine Feder in der Hand, ſtarrte ein vor ſich liegendes Papier an, und ſprach ohne Unterlaß, indem er eine Summe zu addiren ſchien: Eins und Eins iſt Eins! Eins und Eins iſt Eins! Sichtbare Angſt herrſchte in ſeinem gan - zen Geſichte, ſo oft er dieſe Worte ausſprach, und doch wiederholte ſie ſein Mund beſtaͤn - dig.

Eben wollte ich meinen Freund nach der Urſache ſeines Wahnſinns fragen, als dieſer ſich dem Ungluͤcklichen naͤherte, und ihm hef - tig ins Ohr ſchrie: Eins und eins iſt zwei! Iſt zwei! ſeufzte der Aermſte. Iſt zwei! wiederholte er laͤchelnd, legte die Fe -234 der nieder, und wiſchte die Schweißtropfen von ſeiner Stirne.

Das iſt die einzige Wohlthat und Huͤlfe, ſprach izt der Arzt zu mir, die ich dem Un - gluͤcklichen gewaͤhren kann, nur Schade, daß ſie ſo kurz dauert, oft nur einen Augenblick fruchtet. Geben ſie acht, ehe eine Minute vergeht, wird er wieder zu addiren begin - nen, und wieder: Eins und Eins iſt Eins! ausrufen. Die Prophezeihung des Arztes ward fruͤher erfuͤllt, denn wie ich nach ihm hinblickte, nahm er ſchon wieder die Fe - der in die Hand, und wiederholte dieſe Wor - te unaufhoͤrlich.

Mein Freund ſtand traurig da, und blickte ſeufzend gen Himmel. Sollten ſie's wohl glauben, ſprach er mit warmen Gefuͤh - le, daß dieſes Wort, dieſer elende Rech - nungsfehler, den jeder Schulknabe beim er -235 ſten Anblick finden wuͤrde, einem geſchickten, rechtſchafnen Manne ſeinen Verſtand, ſechs unerzognen Kindern einen wuͤrdigen Vater, und einer zaͤrtlichen Gattin ihren Mann rau - ben konnte? Und doch geſchah's! Ach! un - ſer Verſtand iſt ein elendes Ding; Prinz Hamlet hat recht, wenn er ihn fuͤr eine Stecknadel feil bietet, wir verliehren ihn oft uͤber Dinge, die dieſen Werth nicht enthal - ten.

Meine Neugierde war heftig geſpannt, ich wuͤnſchte, den Ungluͤcklichen naͤher zu ken - nen, und mir ward Erhoͤrung!

Friedrich H hatte ſich durch emſigen Fleiß und aͤchtes Verdienſt eine Stelle bei der Staatskaſſe erworben, welche ihn wohl ernaͤhrte, und erlaubte, ſeine Geliebte als Frau heimzufuͤhren. Er lebte mit ihr zufrie - den und gluͤcklich, ſie gebahr ihm ſechs Kin -236 der, welche geſund und munter heranwuch - ſen, und den zaͤrtlichen Vater manche Freu - de gewaͤhrten, wenn er nach vollbrachten Dienſtſtunden in die Arme ſeiner Familie zu - ruͤckkehrte. Er lebte nicht ſparſam, aber haͤußlich; konnte zwar bei ſo zahlreichen Kin - dern nicht ſammlen, aber er gab auch nie mehr aus, als er einnahm. Er liebte Ord - nung und Richtigkeit im aͤuſſerſten Grade, trieb ſie oft bis zur Aengſtlichkeit, aber nie - mand verdachte ihm dies, weil er jaͤhrlich Mil - lionen einzunehmen und auszugeben hatte, und bei ſo großen Summen aͤuſſerſte Auf - merkſamkeit erfordert wurde. Seine Kaſſe muß - te jaͤhrlich viermal unterſucht werden, man kannte ſeine Redlichkeit und Treue, wollte aus dieſer Ruͤckſicht ihn oftmals den Abſchluß erſparen, aber er war nie zu bewegen, dieſe Wohlthat anzunehmen, und bat dringend, daß man das Geſetz ſtreng an ihm erfuͤllen moͤge.

237

Einſt nahte wieder die Unterſuchungszeit, er kam ſpaͤter, als gewoͤhnlich, aus dem Amte, brachte immer viele Rechnungen mit ſich, verſchloß ſich in ſein Zimmer, und be - ſuchte nicht, wie gewoͤhnlich, ſeine Kinder. Er lag ſchlaflos an der Seite ſeines Weibes, und antwortete nicht, wenn ſie nach der Ur - ſache ſeiner Seufzer forſchte.

An einem Morgen, deſſen vorhergehende Nacht er in ſeinem Zimmer durchwacht hatte, ließ er ſein Weib und Kinder zu ſich rufen, er entdeckte der erſtern weinend und haͤnde - ringend, daß ihm in ſeiner Kaſſe zehntau - ſend Gulden mangelten, daß ein ungewiſ - ſenhafter Beamte ihn um dieſe Summe be - trogen haben muͤſſe, er nun hingehen wolle, um dieſen Reſt anzuzeigen, und ſich freiwil - lig den harrenden Ketten zu uͤberliefern. Er umarmte ſein troſtloſes Weib, ſegnete ſeine Kinder, machte dem erſtaunten Praͤſidenten238 den großen Reſt bekannt, und ging, ohne daß dieſer es gebot, nach dem Gefaͤngniſſe.

Man unterſuchte ſogleich ſeine Kaſſe, fand ſeiner abgeſchloſſenen Rechnung gemaͤß, den Reſt richtig, und uͤbergab die Rechnung zur naͤhern Reviſion einem andern Rechnungs - verſtaͤndigen. Jeder, der den Redlichen kann - te, bedauerte ihn, und obgleich der Ungluͤck - liche der Verlaͤumdung am meiſten blosgeſtellt iſt, ſo glaubten doch alle einſtimmig, daß ein Liſtiger ihn betrogen habe, er nun fuͤr frem - des Verbrechen buͤſſen muͤſſe.

Schon am andern Morgen erſchien der Redliche, welchem die Reviſion der Rechnung anvertraut war, mit heiterm Geſichte vor dem Praͤſidenten, und bewies ſonnenklar, daß der rechtſchaffne H keinen Pfennig reſtire, ſich nur auf eine unbegreifliche Weiſe im La -239 teriren um die Summe von zehntauſend Gul - den verſtoſſen habe.

Der erfreute Praͤſident ſandte ſogleich nach dem Gerechtfertigten ins Gefaͤngniß, er ver - ſammlete, ehe er anlangte, die vielen Beam - ten ſeines Departements in ſeinem Zimmer, und wollte in ihrer Gegenwart den Ungluͤckli - chen von ſeiner Unſchuld uͤberzeugen. Ein Laͤrm auf der Gaſſe machte ihn bald aufmerkſam, er ſah hinab, und bereute es izt herzlich, daß er aus wahrer Freude zu raſch gehandelt habe. Er hatte ohne weitern Befehl nach dem Ge - fangnen geſandt, man ahndete Verhoͤr, und fuͤhrte ihn mit Wache durch die Gaſſe. Der neugierige Poͤbel ſtroͤmte bald herbei, und uͤberhaͤufte den Ungluͤcklichen mit Beſchimpfun - gen mancher Art.

Ich muß, ich will dies Verſehen ſchon wie - der durch die herrlichſte Genugthuung tilgen,240 ſprach der Praͤſident, und harrte des Kom - menden. Er trat mit blaſſem Angeſichte und verzweiflungsvollen Blicken ein, der Praͤſi - dent eilte ihm entgegen, und umarmte ihn zaͤrtlich. Sie ſind unſchuldig, rief er aus, ganz unſchuldig! Ich bitte tauſendmal um Ver - gebung, daß ich ſie aus wahrer, aber zu ra - ſcher Freude dem Spotte des Poͤbels ansſezte, aber ehe eine volle Stunde vergeht, ſoll ihre Unſchuld durch den Trommelſchlag in der Stadt bekannt gemacht werden. Ich will ſie in mei - nem Wagen nach Hofe fuͤhren, und dem Monar - chen als einen ſeiner treuſten Diener vorſtellen.

Friedrich ſchien den Inhalt dieſer Rede nicht zu fuͤhlen, er ſtarrte ſtillſchweigend vor ſich hin. Kommen ſie, fuhr der Praͤſident fort, und uͤberzeugen ſie ſich, daß ihr ganzer Reſt nur ein Additionsfehler war. Er fuͤhrte Friedrichen nun ſelbſt nach einem Stuhle, legte ihm die Rechnung vor, und bat ihn, dieſeein -241einzige Seite zu addiren. Friedrich erfuͤllte den Befehl auf der Stelle, er addirte voll - kommen richtig, wie er aber an zwei Aus - gabsſummen kam, von denen jede einzelne zehn - tauſend Gulden betrug, und welche eben neben - einander ſtanden, ſo ſprach er: Eins und eins iſt Eins! Iſt ja zwei, und folglich zwanzig - tauſend, rief der Praͤſident frohlockend aus, und alle Anweſenden jubelten mit ihm. Iſt zwei! Gott im Himmel! Iſt zwei! lallte Friedrich nach, und ſank ohnmaͤchtig vom Stuhle.

Man hatte große Muͤhe, ihn wieder zu wecken, und noch groͤßere, um ſich von der ſchrecklichen Gewißheit zu uͤberzeugen, daß ſein Verſtand verlohren ſei. Er ſprach irre, und begann, fuͤrchterlich zu raſen; man muß - te ihn binden, um ihn nach ſeiner Wohnung zu fuͤhren.

Biogr. d. W. 3. B. O.242

Das Leiden der guten Gattin muß ſchreck - lich geweſen ſein, als ſie ihren guten Mann gerechtfertigt, aber auch wahnſinnig erblickte. Man glaubte anfangs, daß ein hitziges Fie - ber ſeine Raſerei enden wuͤrde, aber ſie dau - erte fuͤrchterlich fort, und da ſeine Gattin und Kinder ſich oft aus Liebe zu ihm der To - desgefahr ausſezten, er einſt beinahe den aͤlteſten Knaben erdroſſelte, ſo ward er auf Befehl des Monarchen hieher gefuͤhrt, und meiner Sorge anvertraut.

Sein armes Weib genuͤßt mit ihren ver - laßnen Kindern bis an ihren Tod den ganzen Gehalt ihres Mannes. Der groͤßte und moͤg - lichſte Erſatz fuͤr ihr Leiden, aber auch der klein - ſte fuͤr ihre immer noch fortdauernde Liebe. Erſt vor einigen Monaten beſuchte ſie ihn, er kannte ſie nicht. Ihr Jammer war graͤnzen - los, aber ich konnte ihn nicht einmal durch243 Hofnung lindern, denn ſein Verſtand wird nie wiederkehren.

Nur mit anhaltender Sorgfalt konnte ich ſeine immer dauernde Raſerei mindern, aber ſie kehrt noch oft zuruͤck, und er muß aus nothwendiger Vorſicht Feſſeln tragen. Ich darf es ihm nie an Papier und Schreibge - raͤthe mangeln laſſen, dies beruhigt ihn mehr, als alle Arzeneien, er rechnet dann ohne Unterlaß, ſpricht immer: Eins und Eins iſt Eins, und wenn ich oder ein anderer ihm zurufe: Iſt zwei! ſo ſcheint zwar, ein noch glimmender Funke ſeiner Vernunft die Wahrheit zu faſſen, aber ſie ſchwindet oft in dem Augenblicke wieder, in welchem er ſie zu faſſen ſucht.

Mein Gefuͤhl fand keine Worte, ich weih - te dem Ungluͤcklichen eine Thraͤne, und folgte ſtillſchweigend zum dritten Gemache.

O. 2244

Ein kleiner, blaſſer, noch junger Mann hukte in der Mitte deſſelben. Seine Kette, an welche er angeſchloſſen war, reichte nicht bis zur Thuͤre, er blickte ſehnſuchtsvoll nach uns heraus, kuͤßte, gleich Kindern, ſeine Hand, und warf dieſe Kuͤſſe unſrer Fuͤhre - rin zu. Das iſt mein Schatz! das iſt mein Schatz! ſprach er leiſe, und mit einer Mi - ne, die mein ganzes Mitleid heiſchte.

Treten ſie nicht naͤher! rief der Arzt, und riß mich zuruͤck, als ich mich ihm nahen woll - te. Er iſt, fuhr er fort, unter allen meinen Patienten der gefaͤhrlichſte und voll Heimtuͤk - ke, er ſucht jeden mit dieſer unſchuldigen Miene zu locken, und wuͤrde ſie ſicher mor - den, wenn ſie ihm an Staͤrke und Kraͤften nicht uͤberlegen ſind. Ich kann ſeinen Zuſtand nicht lindern, bald wird er auch die Sprache verliehren, die ihn noch allein vom Thiere unterſcheidet. Ich muß ihn als wahrer Men -245 ſchenfreund das Ende ſeiner Leiden, den Tod wuͤnſchen, ob mir gleich eine ſehr große Sum - me geboten iſt, wenn ich ihn wieder geſund machen koͤnnte.

Sein Name und ſeine Geſchichte iſt ein Geheimniß, das ich zu verſchweigen verſprach. Er iſt der einzige Zweig einer ſehr beruͤhm - ten und reichen Familie, er ward ein Opfer der Liebe, mehr kann ich ihnen nicht ſagen.

Indem ich noch einmal auf ihn blickte, und mich unmoͤglich uͤberzeugen konnte, daß eine ſo leidende und anziehende Miene ſo ſchreckliche Heimtuͤcke verrathen koͤnne, trat der Waͤrter zu uns, welcher eben nach Hau - ſe gekommen war. Er ſah, daß ſich der ar - me Leidende, vielleicht in einem Anfalle von Raſerei, ſein langes Hemde am Halſe zer - riſſen habe, er trat zu ihm, um das geloͤß - te Band wieder zu befeſtigen. Ich ſtaunte,246 als ſich bei ſeiner Annaͤherung die Miene des Leidenden mit einmal veraͤnderte, er klap - perte, gleich einem wilden Thiere, mit den Zaͤhnen, ſchnapte oft nach der Hand des Waͤr - ters, und ſchmiegte ſich nur dann furchtſam in Winkel, als dieſer ihn aͤuſſerſt raſch an - redete, und Ruhe gebot.

Armer, bedauernswuͤrdigſter Ungluͤcklicher, auch ich wuͤnſche dir den Tod, und dort vol - len Lohn fuͤr dein unnennbares Leiden, denn hienieden gruͤnt kein Freudenblatt fuͤr dich, hienieden mußt du auch das einzige Labſal des huͤlfloſeſten Ungluͤcklichen, den Troſt dei - ner Mitmenſchen entbehren! Dein ſchreckli - cher Wahnſinn zwingt ſie, dich mit Furcht zu quaͤlen, wenn ſie dir Huͤlfe leiſten wol - len!

Hier koͤnnen ſie ohne Scheu eintreten, wenn ſie anders ruhig zuhoͤren wollen, ſprach247 mein Freund, als wir uns dem naͤchſten Ge - mache naͤherten.

Ein junger, aber wohlgekleideter Mann trat uns entgegen, und bewillkommte uns mit freundlichem Blicke; er ſchlepte eine Ket - te hinter ſich, ich wich zuruͤck, weil ich von dieſer auf Gefahr ſchloß. Mein Freund ſah's, und verſicherte mich, daß dieſe Kette nur die Flucht des Leidenden, nicht ſeine Ra - ſerei hindern ſolle.

Willkommen, willkommen, ſprach izt der freundliche Mann zum Arzte, ich danke ih - nen, daß ſie mich auch einmal wieder beſu - chen, und danke ihnen doppelt, daß ſie mir abermals einen ihrer Freunde auffuͤhren. (zu mir) Ich bin ihnen fuͤr die Ehre ihres Be - ſuches hoͤchſt verbunden, ſie werden die kurze Zeit, welche ſie mir ſchenken wollen, nicht bereuen, denn ſie lernen in mir den Ungluͤck -248 lichſten aller Menſchen kennen. Gern wollte ich ihnen einen Stuhl anbieten, aber ich ha - be keinen. Sehen ſie nur, ſehen ſie! (in - dem er im Zimmer umherzeigte) Eine kleine Bettſtelle, ein angenagelter Tiſch und Stuhl! Das iſt mein ganzer Hausrath! Ge - nug fuͤr einen Wahnſinnigen, aber viel zu wenig fuͤr einen Ungluͤcklichen, der ſich beſſe - rer Zeiten erinnert, und bei der groͤßten Selbſtverlaͤugnung dies Gefuͤhl nicht unter - druͤcken kann. Eben ſaß ich hier, und hader - te mit Gott: Warum er nur mir allein taͤg - lich, faſt ſtuͤndlich einen vollen Leidensbecher reiche, mich mit allmaͤchtiger Hand zwinge, ihn bis auf den lezten Tropfen zu leeren? Ich wollte, aber ich konnte nicht beten, meine Seele murrte, ich war der Verzweiflung na - he! Aber izt, izt iſt mir wieder wohl und leicht! Wenn ich nur einen Menſchen er - blicke, der Antheil an meinem Jammer nimmt, der nur mit einer mitleidigen Miene mich troͤ -249 ſtet, ſo fuͤhle ich mich wieder ſtark genug, ein Ungluͤck zu ertragen, unter deſſen Laſt der groͤßte Philoſoph erliegen wuͤrde. (meine Hand ergreifend) Ha, edler Mann, dein Blick ſtaͤrkt und labt! Du giebſt dem armen Bett - ler ein reichliches Allmoſen, er kann wochenlang ſich damit ſaͤttigen. Deine warme Theilnahme verdients, daß ich dich mit meinem Ungluͤcke bekannt mache, und weihſt du mir dann eine Thraͤne des Mitleids, ſo will ich ſie von dei - ner Wange kuͤſſen, und denken, ich habe Nek - tar aus Hebens Hand getrunken!

Mein Vater war ein reicher und angeſehe - ner Edelmann, ich bin izt ſein einziger und hoͤchſt ungluͤcklicher Sohn. Er war in ſeiner fruͤhen Jugend Soldat geworden, hatte mit Ruhm und Ehre dreißig Jahre lang gedient, wurde als General verabſchiedet, und liebte noch immer mit inniger Waͤrme jeden Solda - den. Er glaubte feſt, daß nur dieſer Stand250 einen jungen Menſchen bilden koͤnne, und ſand - te mich unter das Regiment eines ſeiner alten Kriegskammeraden, als ich erſt ſechzehn Jahre alt war. Ich diente brav und wacker, ward in meinem achtzehnten Jahre ſchon zum Offi - zier befoͤrdert, und hatte, ehe ich das dreiſ - ſigſte erreichte, die wahrſcheinliche Ausſicht auf eine Kompagnie.

Wenn du dieſe erhaͤltſt, ſprach mein al - ter Vater zu mir, als ich ihm ſchon als Un - terleutnant entdeckte, daß ich raſend verliebt ſei, ſo kannſt du deine Geliebte ohne Anſtand und mit meinem Segen heurathen, aber eher wird aus der Heurath nichts, weil mir von jeher ein Leutnant mit einer Frau unertraͤglich war. Ich machte dieſe harte Bedingung mei - ner Geliebten mit Thraͤnen kund, und erhielt von ihr das heilige Verſprechen, daß ſie mei - ner ſo lange mit aͤchter Treue harren wolle, bis ich ſie erfuͤllen koͤnne.

251

Wenn ſie je liebten, ſo werden ſie's aus Erfahrung wiſſen, daß Liebe aͤuſſerſt thaͤtig ſei, wenn ſie dadurch ihr Ziel erreichen kann. Ich liebte heftig, aber da der Lohn der Liebe von meiner Befoͤrderung abhing, ſo liebte ich auch eben ſo ſtark meinen Dienſt, und erfuͤllte jede Pflicht deſſelben mit raſtloſem Eifer. Mein Obriſter erkannte dieſen Dienſteifer, empfahl mich bei jeder Gelegenheit dem Generale des Regiments, ich ward in Jahresfriſt zehn andern vorgezogen, und, ehe ichs vermu - then konnte, zum Oberleutenante ernannt.

Nun mußte ich aber acht Jahre harren, ehe mich die Reihe zur hoͤhern Dienſtſtuffe wieder traf.

Eben war ich der aͤlteſte Oberleutenant, als mein alter Obriſter ſtarb, und ein jun - ger, reicher Fuͤrſt ſeine Stelle erhielt. Viele der Officiers murrten daruͤber, ich am ſtaͤrk -252 ſten und lauteſten, weil ich, wenn unſer verdienſtvoller Obriſtleutenant vorgeruͤckt waͤ - re, eben ſo wahrſcheinlich eine Hauptmanns - ſtelle erhalten haͤtte. Der junge Obriſte er - fuhr alles, und ließ mirs bei jeder Gelegen - heit deutlich merken, daß er Rache uͤben wuͤrde.

Zufall und Gelegenheit machte ihn mit meiner Geliebten bekannt, ſie hing noch im - mer mit ſeltner Treue an mir, aber ich ſah's deutlich, daß auch er ſie liebe, und mich durch falſche Verſprechungen aus ihrem Her - zen zu verdraͤngen ſuchte. Ich duldete im Stillen, aber mein Rachegefuͤhl mehrte ſich oft ſo maͤchtig, daß nur meines Maͤdchens Kuß es unterdruͤcken konnte.

Wie ein halbes Jahr verfloſſen war, ſtarb ein Hauptmann unſers Regiments, ſeine Stel - le konnte mir, meiner Meinung nach, gar253 nicht verſagt werden. Ich reiſte zu meinem Vater, und fand ihn willig, mir meine Heu - rath zu erlauben, ſo bald ich Kapitain ſein wuͤrde, er trat mir ſogar die Haͤlfte ſeiner Guͤter im Voraus ab, damit ich mit meinem kuͤnftigen Weibe ſtandesmaͤßig leben koͤnne. Wie ich zum Regimente ruͤckkehrte, hoͤrte ich mit Erſtaunen, daß mir ein anderer vorge - zogen ſei, und der Obriſte oͤffentlich geſagt habe, daß ich mir, ſo lange er beim Regi - mente ſei, keine Hofnung zur weitern Befoͤr - derung machen ſolle.

Ich fuͤhlte dieſe unedle Rache, dies groſ - ſe Unrecht tief. Ich wuͤthete, ich raßte, eilte zum Obriſten, und traf ihn nicht, ich ging nach der Wachtparade, und fand ihn unter einer Menge von Offizieren. Sein Anblick empoͤrte mich ſchrecklich, ich forderte ihn oͤf - fentlich, und wie er mich voll Verachtung an - blickte, ſo zog ich meinen Degen, wuͤrde254 ihn durchbohrt haben, wenn meine Kamme - raden mich nicht abgehalten haͤtten. Ich ward ſogleich arretirt und in den Kerker gefuͤhrt. Die ſcharfen Subordinationsgeſetze verurtheil - ten mich ohne Gnade zum Tode.

Mein alter Vater eilte zu meiner Ret - tung herbei, er heiſchte Huͤlfe und Rath von allen ſeinen Freunden, ſie erklaͤrten ihm ein - ſtimmig, daß nur verſtellter Wahnſinn mich vom Tode retten koͤnne. Er fand Mittel, mir den Rath kund zu machen, ich bereute meine That und befolgte ihn getreu. Die erkauften Aerzte beſtaͤtigten meinen Wahn - ſinn, nur der rachgierige Obriſte bezweifelte ihn, und brachte es durch ſein Anſehen bei Hofe dahin, daß man mich zwar nicht zum Tode verurtheilte, aber als einen gefaͤhrlichen Wahnſinnigen auf ewig in den Narrenthurm zu ſperren befahl.

255

So ſehr mein guter Vater auch flehte, mich ſelbſt zu bewachen verſprach, und mit alle ſeinem Haabe fuͤr jeden kuͤnftigen Fall haften wollte, ſo ward das Urtheil doch an mir vollzogen. Der redliche Alte konnte dies Ungluͤck nicht uͤberleben, er ſtarb, und meine Guͤter ſind izt in den Haͤnden eines mir un - bekannten Onkels, der damit nach Gefallen ſchalten kann, und nur hier meinen duͤrfti - gen Unterhalt bezahlen muß.

Schon oft erhoͤrte unſer gefuͤhlvoller Arzt mein Flehen, und berichtete nach Hofe, daß ich von meinem Wahnſinne vollkommen geheilt ſei, ſchon Jahre lang nicht die geringſte Spur deſſelben verrathe, aber allemal erfolgte die harte Antwort, daß dieſe Anzeige mein Ur - theil nicht lindern koͤnne, weil ich nach den klaren Buchſtaben deſſelben zum ewigen Ge - faͤngniſſe im Narrenthurme verurtheilt ſei. (er ging mit ſtarken Schritten im Gema -256 che auf und nieder) Ach es iſt ſchrecklich, ſo leiden zu muͤſſen! Zweimal habe ich ſchon dem Kriegskollegium eine Schrift eingereicht, in welcher ich erklaͤrte, daß mein Wahnſinn Ver - ſtellung war, ich flehte um den Tod, den das Geſetz gebot; aber man beantwortet meine Bitte nicht einmal, man wirft ſie hartherzig in einen Winkel, und vergißt des Elenden. (gen Himmel.) Wenn du gerecht biſt, ſo wirſt du's ahnden und raͤchen! Aber es ſcheint, als ob du mich auch nicht hoͤren wollteſt. Wie oft habe ich ſchon vergebens aus der Tiefe zu dir empor geſchrieen! Heiſcher war meine Stimme, und du hoͤrteſt ſie doch nicht. Ohne deinen Willen faͤllt kein Sperling vom Dache, ohne deinen Wink trennt ſich kein Haar vom Haupte! Bin ich denn weniger als ein Sper - ling oder ein Haar? (ſeine Ketten raſ - ſeln) Hoͤrſt du denn das Raſſeln meiner Ket - ten nicht? (er raſſelt ſchrecklich damit) Hoͤrſt du's nicht? (er ſtuͤrzte weinend) auf257auf ſein Bette) O ich bin das ungluͤck - lichſte deiner Geſchoͤpfe! Du hoͤrſt, du ſiehſt, du achteſt mich nicht!

Er verhuͤllte ſein Geſicht, und weinte im Stillen, auch meine Thraͤnen floſſen, ich ſah's ungerne, als der Arzt mich bei der Hand er - grif, und aus dem Gemache fuͤhrte. Er ſchenkte mir ſo willig ſein Zutrauen, es war grauſam, daß ich ohne Abſchied, ohne Troſt ſcheiden ſollte. Ich wollte wieder ruͤckkehren, mein Freund laͤchelte. Mir mißfiel dies Laͤ - cheln, es verrieth Unempfindlichkeit. Wie koͤn - nen ſie izt izt lachen? fragte ich etwas unwillig.

Der Arzt. Weil der Schein ſie truͤgt. Es waͤre ſchrecklich, wenn's ſo waͤre, wie's der arme Wahnſinnige erzaͤhlte.

Ich. So iſt's nicht ſo?

Biogr. d. W. 3. B. R258

Der Arzt. Nein, mein Theurer, nein! Nicht Wuͤrklichkeit, nur ſein Wahnſinn quaͤlt ihn ſo! Sehen ſie mich noch ſo ſtarr an, ich kann's doch nicht aͤndern! Der arme Ungluͤck - liche iſt wuͤrklich der einzige Sohn eines ſehr reichen Edelmanns, ſein Vater ſtarb, als er Leutenant war. Der Vater hatte ihm, ſeines Geitzes wegen, wenig Zulage gegeben, izt machte ihn ſein Tod zum unumſchraͤnkten Herrn einer großen Summe, er verſchwendete ſie ſorglos, vernachlaͤßigte den Dienſt ganz, ging mit liederlichen Dirnen um, und machte ih - nen große Geſchenke. Ganz natuͤrlich war's, daß er unter ſolchen Umſtaͤnden oft praͤterirt ward. So lange ſein Geld dauerte, achtete er dies nicht; wie's aber endete, da forderte er mit Ungeſtuͤm Befoͤrderung. Man verſprach ſie ihm, wenn er ſich beſſern wuͤrde, aber er erfuͤllte ſein Verſprechen nicht, machte haͤufi - ge Schulden, und ward endlich kaſſirt. Die - ſe Strafe weckte ihn aus ſeinem Leichtſinne, er259 ging tiefſinnig umher, ward melancholiſch, und endlich vollkommen wahnſinnig.

Als ihn ſeine Freunde hieher ſandten, und die moͤglichſt gute Pflege fuͤr ihn zu zahlen ver - ſprachen, redete er kein Wort, und wollte ſich ſtets morden. Mit anhaltender Kunſt und Muͤhe weckte ich wieder Gefuͤhl und Empfin - dung in ihm, er ſprach oft ſtundenlang ver - nuͤnftig, und gab mir gegruͤndete Hofnung zu ſeiner Rettung. Ich wollte ſchon ſeinen Freunden Nachricht davon ertheilen, und eben einen Brief an dieſe bei ihm abholen, als der Waͤrter mir berichtete, daß er raſe, jeden, der ſich ihm nahe, fuͤr ſeinen Obriſten halte, und ihn zu morden drohe. Ich eilte herbei, und mußte ihn feſſeln laſſen. Nach und nach beſſerte es ſich wieder mit ihm, aber er erzaͤhlte mir und allen, die ihn be -R 2260ſuchten, die Geſchichte, welche ſie ſo ſehr ruͤhrte.

Ich kann mir die Entſtehung derſelben deutlich denken. Als er raßte, forderte er ſeinen Obriſten, den er wahrſcheinlich der Kaſſation wegen haßte, beſtaͤndig auf ein Du - ell heraus. Wie ich ihn feſſeln ließ, hielte er auch mich fuͤr den Obriſten, uͤberhaͤufte mich mit Schmaͤhworten, und waͤhnte, daß ich ihn nach dem Gefaͤngniſſe fuͤhren laſſe. Die ſchwache Ruͤckkehr ſeines Verſtandes uͤber - zeugte ihn in der Folge, daß er im Narren - thurme ſei, die Vorſtellung ſeines ehemali - gen, heftigen Wahnſinns blieb, und daher entſtand die Geſchichte, welche izt den einzi - gen Gegenſtand ſeines Wahnſinnes ausmacht, aber mich auch uͤberzeugt, daß ich ihn nicht mehr retten kann, denn Erfahrung hat mich belehrt, daß keine Rettung mehr zu hoffen ſei, wenn das Bild des Wahnſinnes einmal261 feſt vor der Seele ſteht, ſich nicht mehr wen - det oder dreht, keiner andern Vorſtellung Platz geſtattet.

Schon ein Jahr lang raßt er nicht mehr, thut niemanden etwas zu Leide, koͤnnte un - gehindert im Vorhofe und Saale ſpazieren gehen, wenn nicht bei dem geringſten Schei - ne der Freiheit die Hofnung zur Flucht in ihm erwachte. Er klettert dann ohne Unter - laß an jeder Mauer empor, wuͤrde ſicher den Hals brechen, wenn ich ihm Freiheit goͤnnen wollte.

Wir gingen weiter. Im erſten Gemache, das wir betraten, ſaß in der Mitte deſſel - ben ein ehrwuͤrdiger Greis auf einem Lehn - ſtuhle, ſein weiſſes Silberhaar hing in ſpar - ſamen Locken um ſeine Schlaͤfe; eine große Narbe, die vom Haare herab uͤber den lin - ken Backen lief, und ſich erſt am Kinn en -262 digte, verunſtaltete den aͤchten Petruskopf ein wenig. Er laͤchelte ruhig und zufrieden, als wir an der Thuͤre ſtille ſtanden. Er winkte mit der Hand den Waͤrter zu ſich.

Wie theuer, ſprach er, haſt du (indem er auf mich und den Arzt deutete) die Sklaven bezahlt?

Der Waͤrter. Jeder derſelben koſtet mich hundert Zechinen.

Der Greis. Nimm ihnen die Feſſeln ab, ſie ſind frei! Das Geld dafuͤr wird Dir mein Kaſſier auszahlen, und noch funfzig Dukaten fuͤr deine Muͤhe! (zu uns) Das erſte europaͤiſche Schif wird euch nach eurem Vaterlande fuͤhren! Gruͤßt in meinem Na - men eure Weiber und Kinder! Wenn ſie beim frohen Willkomme Gott inbruͤnſtig dan - ken, ſo gebietet ihnen, daß ſie meiner in263 ihrem Gebete gedenken ſollen! Geht! Mehr fordere ich nicht! Kein Wort des Danks! Euer ſtummes Entzuͤcken, eure Thraͤnen ſind mir Danks genug! Gott mit euch! ihr frei - en Maͤnner!

Der Waͤrter ging, wir folgten. Der Arzt ergrif meine Hand, und druͤckte ſie mit Waͤrme. Das iſt mein Liebling, ſprach er mit geruͤhr - ter Stimme, ſein Wahnſinn iſt mir ſo ehr - wuͤrdig. Ich wuͤrde mich gluͤcklich ſchaͤtzen, wenn ich ihm ſeinen Verſtand wiedergeben koͤnnte, damit er die wenigen Tage ſeines Lebens noch fuͤhle, was er andern ſo willig goͤnnt und ſchenkt.

Er war der Sohn eines ſehr armen Edel - manns, ſeine zahlreichen Ahnen verſchaften ihm das Maltheſerkreuz. Da er nur von die - ſem beſſere Tage hoffen konnte, ſo zog er264 nach Maltha, um dort die erforderlichen Ka - ravannen mit, und ſich einer Kommende wuͤr - dig zu machen. Er kaͤmpfte mit großer Ta - pferkeit im erſten Seegefechte gegen die Tuͤr - ken, vermehrte dieſe Tapferkeit bei jeder Ge - legenheit, und ward von dem Großmeiſter nach einigen Jahren zum Befehlshaber einer Galeere ernannt. Sein Muth war groß, er wagte es einſt, drei feindliche große Schiffe anzugreifen, und haͤtte geſiegt, wenn alle Ritter gleich ihm gefochten haͤtten. Nicht Tapferkeit, nur allzu große Menge beſiegte ihn endlich, und nur dann erſt, als er am Boden blutete, und nicht mehr ſtreiten konn - te.

Harte Gefangenſchaft und Sklaverei war nun ſein Loos. Er ward zehnmal verkauft, und duldete oft ſchreckliche Qualen. Die Mit - glieder des ſo menſchenfreundlichen Ordens der Trinitaren fanden ihn endlich in Smirna,265 als er auf den Straſſen dieſer Stadt, gleich einem Pferde, einen Karren ziehen mußte. Er war damals ſchon fuͤnf und vierzig Jahre Sklave geweſen, und zaͤhlte ſechs und ſiebzig Lebensjahre. Sie erbarmten ſich ſeines Elen - des, und loͤßten ihn, ſeines hohen Alters wegen, mit einer geringen Summe.

Er ſchifte mit ihnen nach Maltha, und ward dort mit auszeichnender Hochachtung empfangen. Sein Ruhm, ſeine Tapferkeit lebte noch in den Herzen der alten Ritter, der Großmeiſter gebot ihm, Belohnung ſei - ner vieljaͤhrigen Leiden zu fordern, er bat um eine kleine Kommende in ſeinem Vaterlande, und reiſte mit der Verſicherung dahin ab, daß ihm die erſte ledige werden ſolle. Zwei deut - ſche Moͤnche des Trinitaͤr-Ordens begleiteten ihn auf ſeiner Reiſe, er war aͤuſſerſt froh und munter, und genoß die Frucht der Freiheit mit Juͤnglingskraͤften.

266

Wie er zum erſtenmale wieder die deutſche Sprache allgemein ſprechen hoͤrte, ſo weinte er, gleich einem Kinde, ſtundenlang, und wie er die Graͤnze ſeines geliebten Vaterlan - des betrat, ſprang er aus dem Wagen, kuͤßte die Erde, betete inbruͤnſtig und anhaltend. Seine Begleiter harrten lange des Endes, als es aber nicht erfolgen wollte, hoben ſie ihn in den Wagen, und hoͤrten mit Erſtau - nen, daß er irre rede. Sie nahmens Anfangs fuͤr Schwaͤche des Alters, als es ſich aber nicht mit ihm beſſern wollte, da wurden ſie uͤberzeugt, daß ihm die Erfuͤllung ſeines ſehn - lichſten Wunſches den Verſtand geraubet habe.

Immer bat er auf der langen Reiſe Gott, daß er ihm nur das Gluͤck gewaͤhren moͤge, noch vor ſeinem Ende die Erde ſeines Vater - lands kuͤſſen zu koͤnnen. Er genoß es, aber er bezahlte es auch mit einem unſchaͤzbaren Preiſe, mit dem Verluſte ſeines Verſtandes. 267Die Moͤnche verpflegten ihn einige Zeit in ih - rem Kloſter, als aber der arme Wahnſinnige ihre kloͤſterliche Einſamkeit maͤchtig ſtoͤhrte, da meldeten ſie es den Maltheſerrittern, und die - ſe uͤbergaben ihn meiner Pflege.

Er lebt in ſeinem Wahnſinne froh und gluͤcklich, er glaubt, daß er ein aͤuſſerſt rei - cher, chriſtlicher Kaufmann zu Emirna ſei, achtet den Waͤrter fuͤr ſeinen Buchhalter, und ſendet ihn taͤglich aus, um Chriſtenſklaven los zu kaufen. Wenn er dann in meiner oder eines Fremden Geſellſchaft vor ihm er - ſcheint, ſo haͤlt er dieſe fuͤr erloͤſte Sklaven, und ſchenkt ihnen die Freiheit.

Auch er koͤnnte ungehindert und frei im Saale und Vorhofe umher wandeln, wenn er nicht die uͤbrigen Wahnſinnigen zur Wuth reizte. Sein Wahnſinn achtet ſie alle fuͤr Sklaven, er erloͤſt ſie in ſeiner gluͤcklichen268 Einbildung, und fordert dann, daß ſie Gott und ihm danken ſollen. Wenn ſie ſich nun ganz natuͤrlich nicht ſeiner Laune fuͤgen wol - len, ſo haͤlt er ſie fuͤr Renegaten, und be - leidigt ſie ſo lange, bis ſie ſich empfindlich an ihm raͤchen. Um ihn daher nicht taͤglicher Mißhandlung auszuſetzen, darf ich ihn nicht aus dem Gemache laſſen.

Anfangs gab ihm der Waͤrter, gleich al - len Uebrigen, eine Kette, aber er weinte ſchrecklich, und duͤnkte ſich wieder in der Sklaverei; ich konnte ſeine Thraͤnen nicht ſehen, nahm ihm die Kette ab, und ordnete einen Waͤchter an ſeine Thuͤre. Jzt iſt die - ſer aber nicht mehr noͤthig, weil er feſt glaubt, daß vor der Thuͤre Tuͤrken auf ihn lauern, und in die Sklaverei ſchleppen wol - len, er wuͤrde daher um keinen Preiß in der Welt die Schwelle uͤberſchreiten.

269

Ich habe Hofnung, daß der Tod bald ſein irdiſches Leiden enden, und ihn ins Gefilde des Lohns fuͤhren wird. Er iſt oft ſehr ſchwach und kraftlos, die ungeheuren Kraͤfte ſeines Koͤrpers widerſtreben izt nicht mehr, er wuͤrde hundert Jahre uͤberlebt ha - ben, wenn nicht vierzigjaͤhrige Sklaverei dar - an genagt haͤtte. O er muß viel und ſchreck - lich geduldet haben! Sein Ruͤcken iſt von tie - fen Narben durchfurcht, und die Haut ſeiner Haͤnde und Fuͤſſe iſt von ſchwerer Arbeit aͤuſ - ſerſt abgehaͤrtet.

Der Großmeiſter zu Maltha hat Wort gehalten, ihm ward eine Kommende, welche jaͤhrlich zehn tauſend[Gulden] traͤgt, da er ſie aber nicht genuͤſſen kann, ſo muß ihn ſein Nachfolger bis an ſeinen Tod ernaͤhren. Er thuts mit Gewiſſenhaftigkeit, und wuͤrde ihm gerne die theuerſten Weine, die koſtbarſten270 Speiſen bezahlen, wenn ichs erlauben koͤnn - te, und dieſe nicht ſein Elend vermehrten.

Der Arzt hatte wahr prophezeit, ſchon vierzehn Tage nachher ſtarb der arme Greis. Eine Viertelſtunde vor ſeinem Tode erhielt er den vollen Gebrauch ſeiner Vernunft wie - der. Wo bin ich denn? Bin ich wuͤrklich in meinem Vaterlande? fragte er den Waͤrter, und als dieſer es bejahte, ſo rief er freudig aus: So iſt ja mein innigſter Wunſch erfuͤllt, ſo ſterbe ich vergnuͤgt und mit der Gewißheit eines jenſeitigen Lohns! Dies konnte der arme Leidende mit Zuverſicht ſagen, denn wenn er dort nicht Lohn faͤnde, was ſollten, was koͤnnten wir hoffen? Wir, die wir nie Eltern, Freunde und Vaterland auf immer verlaſſen mußten, nicht ſchmachteten in Ket - ten der Sklaverei und des Wahnſinns! Oft den Becher der Freude leerten, und ſchon271 bebten, wenn nur der Kelch des Leidens vor uns uͤber ging.

Mein Freund fuͤhrte mich nun bei eini - gen Gemaͤchern voruͤber. Hier, ſprach er, koͤnnen ſie nur die hoͤchſt traurige Erfahrung ſammlen, daß der raſende Menſch tief unter dem Viehe erniedrigt ſei. Ich liebe ſie zu ſehr, als daß ich ihnen dieſen ſchrecklichen Anblick goͤnnen ſollte. Wilde, immerdauernde, oft wuͤthende Raſerei hat dieſe Ungluͤcklichen ſo entſtellt, daß ſie ſolche nicht fuͤr Menſchen erkennen wuͤrden. Gott gebe, daß ſie bald enden, ich kann ihnen mit aller meiner Kunſt nicht einmal Linderung geben! Noch will ich ſie mit zwei merkwuͤrdigen Maͤnnern bekannt machen, und dann gehen wir mit der Ueber - zeugung von hinnen: Daß Menſchenelend nicht zu zaͤhlen ſei!

Hier, ſprach mein Freund, indem er272 mich an ein anderes Gemach fuͤhrte, wollen wir wieder einkehren.

Ein kaum funfzigjaͤhriger Mann, deſſen Blick nicht Wahnſinn, ſondern tiefes Denken verkuͤndigte, ſaß an einem niedrigen Tiſche auf einem kleinen Fußſchemel, hielt zwiſchen ſeinem Knie einen alten Schuh, und flickte ſolcheu mit einer eilfertigen Emſigkeit. Gleich, gleich ſtehe ich zu Dienſten, ſprach er, indem er uns fluͤchtig anblickte, und noch eilfertiger arbeitete. Ehe ich mit meinem Freunde ſprechen konnte, ſprang er vom Schemel empor, ergrif ein Stuͤck Papier, verfertigte ein Maas daraus, und trat zu mir.

Was verlangen ſie, fragte er haſtig, Stiefel oder Schuhe? Ich blickte verlegen auf meinen Freund, und dieſer antwortete, daß ich nur ein paar Schuhe zu haben wuͤnſchte.

Alles273

Alles eins! alles eins, ſprach der Wahn - ſinnige, indem er an meinen Stiefeln umher maaß, ich mache Stiefeln und Schuhe, wie man ſie fordert! Habe zwar ſehr viel Arbeit, muß eben fuͤr ein ganzes Regiment neue Schuhe verfertigen, aber mit Gottes Huͤlfe werde ich doch auch fertig werden! Wenn man ein krankes Weib und ſieben Kinder zu ernaͤhren hat, muß man keine Kundſchaft verachten. Ihr Diener, mein Herr, ihr Die - ner! Morgen um dieſe Zeit kann ihr Be - dienter anfragen, ſie werden wohlfeil und gut bedient werden.

(er ſezte ſich wieder zu ſeiner Ar - beit rufend): Anne, gieb dem Herrn ei - nen Stuhl, und laß mir die Kinder nicht ſo ſchreien, gieb jedem ein Stuͤck Brod, ich habe ja heute vollanf gekauft. Weine nicht im - mer, haſt's nicht Urſache! So lange mir Gott Geſundheit und Arbeit giebt, hat's mitBiogr. d. W. 3. B. S274uns keine Noth. Klopft aber auch der Tod bei mir an! (laͤßt ſeine Arbeit ſinken, und blickt ſehnſuchtsvoll gen Himmel empor) Je nun, dann wird der da oben euch auch nicht verlaſſen! (horchend) Was ſagſt du? Betteln wirſt du mit deinen Kin - dern gehen muͤſſen? (weinend) Das waͤre ſchrecklich! Das wird Gott verhuͤten! Ich muͤßte im Himmel oben noch verzweifeln, wenn ichs ſaͤhe, und nicht helfen koͤnnte! Sei froͤhlich, Anne, ſei munter! Ich will recht fleißig arbeiten, damit wir uns ein Haͤuschen und ein Stuͤckchen Feld kaufen koͤnnen, dann koͤnnt ihr mich ruhig ſterben ſehen!

Er arbeitete nun aufs neue und aͤuſſerſt emſig. Sein trauerndes Geſichte erheiterte ſich nach und nach; Zufriedenheit und frohe Ausſicht thronte darinne. Wir traten auf den Gang.

275

Dieſer arme Wahnſinnige, ſprach mein Freund, iſt wuͤrklich ein Schuſter. Er lebte ehemals auf einem benachbarten Dorfe, er - naͤhrte ſich, ſein Weib und ſieben kleine Kin - der ſparſam, aber ehrlich. Alle ſeine Nach - barn nannten ihn nur den fleißigen Schuſter, weil oft um Mitternacht ſeine Lampe noch brannte, und die Voruͤberwandelnden ihn arbeitend, und ſein Weib ſpinnend erblick - ten.

Wie vor funfzehn Jahren Theuerung und Hungersnoth unſer armes Vaterland quaͤlte, viele Tauſende huͤlflos verſchmachteten, und eine fuͤrchterliche Epidemie den Arm manches arbeitenden Vaters laͤhmte, da nahte ſich auch Elend und Jammer ſeiner kleinen Huͤtte. Es war ihm ſchlechterdings unmoͤglich, nur das trockne Brod fuͤr ſeine Familie zu gewin - nen, er und ſein Weib mußte jedes entbehr - liche Kleidungsſtuͤck, und endlich auch dasS 2276Bette verkaufen, um den Hunger der armen Kinder nur nothduͤrftig zu ſtillen.

Als alles verkauft war, ſelbſt die taͤg - liche Arbeit immer ſparſamer wurde, warf Elend und Noth ſeine Gattin und alle ſeine Kinder aufs Krankenlager, auch er ſchwankte matt und kraftlos umher, konnte den Kran - ken kaum einen kalten Labetrunk reichen, und die wenige Arbeit nicht mehr foͤrdern. Wie er einſt troſtlos am Strohlager ſeines Wei - bes ſaß, alle ſeine Kinder wimmerten, und er der Leidenden aufrichtig geſtand, daß er nicht wiſſe: Wo er morgen einen Biſſen Brod hernehmen ſollte? Da ſprach ſein Weib: Va - ter, du mußt betteln gehen! Die allgemeine Noth wird die Herzen der Reichen doch oͤf - nen! Geh nach der Stadt, und bring uns Brod, ſonſt verſchmachten wir alle!

Er antwortete nicht, weinte ſchrecklich,277 und wankte, wie am Morgen die Kinder Brod heiſchten, haͤnderingend zur Thuͤre hin - aus. Ein eben ſo armer Nachbar begegnete ihm. Nachbar, ſprach er, ich muß betteln ge - hen, ſeid ſo barmherzig, und reicht meinem Weibe und Kindern dann und wann einen Trunk Waſſer, wenn ich wiederkomme, will ich redlich mit euch theilen.

Er eilte nun nach der Stadt, man fei - erte eben Weihnachten, und vieles Volk wall - te nach der Domkirche, wohin er ebenfalls folgte. Ein Prieſter wollte die Kanzel beſtei - gen, der verzweifelnde Vater ſprang vor - waͤrts, riß ihn zuruͤck, und betrat ſelbſt die - ſen ehrwuͤrdigen Plaz.

Hoͤrt mich, rief er im fuͤrchterlich ruͤhren - den Tone aus, hoͤrt mich! Wenn ihr Men - ſchen rettet mich, wenn ihr Chriſten ſeid. Ich bin der ungluͤcklichſte, der elendeſte un278 ter euch! Ich bin Gatte, und habe ein kran - kes Weib! Ich bin Vater, und habe ſieben kranke Kinder! Sie heiſchen Brod von mir, und ich kann ihnen keines geben. Kommt naͤher, blickt meine Haͤnde an, ſie ſind voll blutiger Schwuͤlen! Wenn ihr lange ſchon auf weichen Betten ruhtet, arbeitete ich noch, um ihren Hunger zu ſtillen, aber mein Verdienſt reichte nicht zu, ich habe alles verkauft, um ſie zu ſaͤttigen, ich habe nichts mehr, als die - ſe Lumpen, und die armen Wuͤrmer fordern noch immer Brod. Izt muß ich bet - teln gehen! Betteln fuͤr mein Weib, fuͤr meine Kinder! Ich erfuͤlle dieſe Pflicht mit ſchwerem Herzen, ſie ſezt mich in die Zahl der Muͤßiggaͤnger herab, und ich wars doch nicht, verdiente immer mein Brod im Schweiſ - ſe meines Angeſichts. Ich bettle fuͤr mein Weib und Kinder! Ich bettle in der Gegen - wart eures und meines Gottes, weil ich hoffe, daß ihr um ſo thaͤtiger ſeine Gebote279 erfuͤllen, und die Bitte des Armen nicht ver - ſchmaͤhen werdet. Erbarmt euch meines ar - men Weibes, ſie liegt daheim und jammert! Erbarmt euch meiner kranken Kinder, ſie win - ſeln fuͤr Hunger! Erbarmt euch des ungluͤck - lichſten der Vaͤter, welcher es hoͤren muß, und nicht helfen kann!

Wie er die lezten dieſer merkwuͤrdigen Worte ausgeſprochen hatte, ſank er ohnmaͤch - tig zuruͤck. Erſtaunen hatte bisher alle Ge - genwaͤrtige gefeſſelt, izt eilten viele herbei, dem Ungluͤcklichen beizuſtehen. Man hoͤrte lau - tes Schluchzen und Weinen, auch ich war in der Kirche und weinte mit. Es war ruͤhrend anzuſehen, wie alle mit empor geſtreckten Haͤnden ihre Gabe zur Unterſtuͤtzung darzu - reichen ſuchten. Es mußte Gott das wohlge - faͤlligſte Opfer ſein, als hunderte ſich herbei draͤngten, und den Schmachtenden nach ihren Wohnungen tragen wollten; ich war auch un -280 ter dieſer Zahl, und man goͤnnte mir nur um deswillen den Vorzug, weil ich ein Arzt war, und jeden Beitrag anzunehmen ver - ſprach.

Ehe ich ihn forttragen laſſen konnte, hat - ten ſich ſchon einige Menſchenfreunde mit Tel - lern an die Kirchthuͤren geſtellt, ſie ſammle - ten, was man geben wollte, und ehe es mir gelang, den Ungluͤcklichen aus einer Art von Starrſucht zu wecken, brachten ſie ihn ſchon ſechshundert zwei und funfzig Gulden, als einen Lohn ſeiner ruͤhrenden Predigt. Bis an den Abend mehrten ſich dieſe Beitraͤge bis auf eilfhundert Gulden.

Einige der Anweſenden forſchten nach ſei - nem Namen und Wohnorte, mehr als zwan - zig edle Frauen fuhren dann eilend nach ſei - nem Dorfe, nahmen Betten, Kleider und Speiſen mit ſich, um die Nackenden zu klei -281 den, die Hungrigen zu ſpeiſen! Wie froh, wie gluͤcklich haͤtte der gute und redliche Va - ter nun in der Mitte ſeiner Familie leben koͤnnen! Ich war ſo gluͤcklich, ſein Weib und alle ſeine Kinder vom nahen Tode zu retten, aber ihn dem ich ſo gerne geholfen haͤt - te konnte ich nicht wiedergeben, was er zur Rettung der Theuern opferte. Sein Ver - ſtand war verlohren! Schon ein Anfall von Wahnſinn mußte ihn verleitet haben, die Kan - zel zu beſteigen, er ſiegte ganz, als er ſeine merkwuͤrdige Rede vollendet hatte. Durch volle drei Jahre raßte er unaufhoͤrlich, ich mußte ihn feſſeln laſſen, und vermochte ſeine Pein gar nicht zu lindern.

Einſt beſuchte ihn was oft geſchah ſein Weib mit einigen ihren Kindern, ſie hatte ſich auf meinen Rath von dem reichen Almoſen eine kleine Wirthſchaft gekauft, und jammerte diesmal lauter, als je, weil ihr282 Gatte die Fruͤchte derſelben nicht mit genuͤſ - ſen konnte. Er lag ohne Empfindung da, hatte ſie noch nie erkannt, izt richtete er ſich mit einmal in die Hoͤhe, blickte ſtarr umher, und rief endlich aus: Weib, ſo lebſt du! ſo leben meine Kinder noch: Dann muß ich ja arbeiten! Nach dieſen Worten ſprang er vom Bette auf, forderte ſein Werkzeug, und raßte aufs neue ſo lange, bis ich ihm Werk - zeuge von Holz verfertigen ließ, und alles gab, was er forderte.

Er kennt nun allemal ſein Weib und ſeine Kinder, aber er glaubt feſt, daß er noch in ſeiner Huͤtte wohne, arbeitet ohne Unterlaß an einem Schuhe, den er beſtaͤndig flickt und wieder auftrennt. Wenn ihm ſein treues Weib ſein Gluͤck erzaͤhlt, und zum Genuſſe einladet, ſo laͤchelt er einige Minuten ganz zufrieden, faͤngt aber in den folgenden wieder emſig an zu arbeiten, und troͤſtet ſie mit der Verſicherung,283 daß er ſich durch anhaltenden Fleiß ſchon noch ein eignes Haus erwerben wolle.

Oft hat ſie mich kniend gebeten, ihr den geliebten Gatten zur eignen Pflege anzuver - trauen, ſie hofte, daß Ueberzeugung ihn viel - leicht retten koͤnne, ich hofte es anfangs mit ihr, aber er raßte, als man ihn aus ſeinem Gemache fuͤhrte, und endete nicht eher, als bis man ihn wieder dahin gebracht hatte.

Ich hab's uͤber mich genommen, Vater ſei - ner verlaßnen Kinder zu werden! Seine aͤlte - ſte Tochter dient in meinem Hauſe, ſein Erſt - gebohrner ſteht der Mutter in der Wirth - ſchaft bei, die uͤbrigen drei Knaben lernen ein Handwerk, und die juͤngſten zwei Maͤdchen ſind noch bei der Mutter. Alle fuͤhren ſich gut und rechtſchaffen auf, alle beſuchen ihren Vater fleißig, lieben ihn von ganzem Herzen, weil er alles fuͤr ſie that, und ihnen am Ende ſeinen Verſtand opferte.

284

Ich trat noch einmal zu ſeinem Gemache. Ehrfurcht und tiefe Hochachtung fuͤllten mein Herz, ich baute dem edlen Vater Statue und Tempel, und fragte mein Gedaͤchtniß: Ob es einen wuͤrdigern und groͤſſern Mann, als dieſen, kenne? Das iſt mein Liebling! rief ich endlich aus, und ſank in die Arme mei - nes Freundes! Gott wird's vergelten, ſprach ich, daß ſie der Vater ſeiner Kinder wurden, ſie werden Theil haben an ſeinem herrlichen Lohne!

Wir gingen weiter, an der naͤchſten Thuͤre ſtand ein alter, hagerer Wahnſinniger, welcher ein großes Packet Schriften in der Hand hielt, und mich durch eine Menge Gruͤnde zu uͤber - zeugen ſuchte, daß er ſeinen Prozeß auf die unrechtmaͤßigſte Art verlohren habe. Kommen ſie nur naͤher, ſprach er, und entfaltete ſeine Schriften, ſie werden das himmelſchreiende285 Unrecht deutlich einſehen, und mir ihren Bei - ſtand gewiß nicht verſagen.

Hatte er Weib und Kinder? fragte ich meinen Freund. Nein, antwortete dieſer, keins von beiden. Unter allen, welche hier dulden, wuͤrde er am wenigſten Mitleid verdienen, wenn Wahnſinn nicht ein Elend waͤre, welches man ohne Mitleid nicht betrachten kann.

Er war der Erbe eines ſehr reichen Vet - ters, welcher Kaufmann und Fabrikant war. Zu dumm, um die ſpekulatifiſche Handlung fortzuſetzen, und zu geizig, um einen ver - nuͤnftigen Gebrauch von ſeinem Reichthum zu machen, verkaufte er Waarenlager und Fabrik, ſperrte das baare Geld in eiſerne Kaͤſten, lieh nur auf Pfaͤnder von doppeltem Werthe, und nahm juͤdiſche Intereſſen. Sein Geiz mehrte ſich taͤglich, und erlaubte ihm nicht, an eine Heurath oder an irgend einen Genuß des286 menſchlichen Lebens zu denken. Er hungerte und darbte, um nur ſeinen Geldhaufen zu ver - mehren.

Ein noch minderjaͤhriger Verſchwender ver - pfaͤndete ihm einſt einige koſtbare Juwelen fuͤr tauſend Gulden. Der Vormund erfuhr's, und forderte ſie zuruͤck, weil man nach den Ge - ſetzen einem Minderjaͤhrigen kein Geld leihen darf. Der Geizige wollte nicht erſtatten, es kam zum Prozeſſe, der natuͤrlich verlohren ging, dem Ungluͤcklichen ſeinen Verſtand raub - te, als er die Juwelen zuruͤckgeben mußte, und die Pfandſumme von tauſend Thalern ver - lohr. Sein Vermoͤgen ſteht izt unter gericht - licher Verwaltung, er kann es nicht gen[u]ſſen. Er raßt nie, aber er iſt aͤuſſerſt heimtuͤckiſch, und will jeden erwuͤrgen, der nicht gleich ihm behauptet, daß er ſeinen Prozeß auf die un - rechtmaͤßigſte Art verlohren habe.

287

Nur naͤher, nur herein! rufte uns eine Stimme entgegen, als wir zum naͤchſten Ge - mache kamen. Ein huͤbſcher, noch junger Mann trat an die Thuͤre, haͤtte er nicht eine Kette hinter ſich geſchlept, ich wuͤrde ihn nicht fuͤr wahnſinnig gehalten haben. Sein ofner Blick, ſeine heitre Mine, ſein laͤchelndes Auge wi - derſprach dieſer Vermuthung ganz.

Sie kommen wahrſcheinlich, ſprach er im freundlichen Tone, mein Kunſtſtuͤck zu betrach - ten, ich mache mir ein Vergnuͤgen daraus, ſie damit bekannt zu machen, und wuͤnſche von ganzem Herzen, daß es ihnen nuͤtzen und ſie warnen moͤge.

Er trat izt hinter einen viereckigten Ka - ſten, der in der Mitte des Gemachs auf einem Stuhle ſtand, mit kleinen runden Oefnungen verſehen, und vollkommen einem Guckkaſten288 aͤhnlich war. Mein Freund fuͤhrte mich hin, und wir ſahen hinein.

Der Wahnſinnige. Geben ſie Acht, izt wird das Spiel beginnen. (mit lauter Stimme) Izt ſchwebt eine Spinne in der Mitte des Gemachs, ſie webt ihr kuͤnſtliches Netz, alles iſt fein und niedlich, alles ſchoͤn und ſimmetriſch! Geben ſie acht, viele Flie - gen ſummen ohne Argwohn umher, eben hat ſich eine im Netze verwickelt, die Spinne eilt herbei, ſaugt ihr das Blut aus, und toͤdet ſie qualvoll. Eben ſo fangen uns die liſtigen Weiber, und wenn wir im Netze der Liebe verwickelt ſind, ſo quaͤlen und martern ſie uns zu Tode.

Heiſa, da kommt ein luſtiger Knabe, er macht Seifenblaſen, und freut ſich der ſchoͤ - nen Farben. Der Thor bedenkt nicht, daß er ſich einſt im maͤnnlichen Alter mit Weh -muth289muth an dies Spiel erinnern wird. Er wird lieben, er wird Treue von ſeinem Weibe for - dern, und dieſe wird gleich der ſchoͤnſten Sei - fenblaſe in der Luft verſchwinden.

Hui! mich friert, es iſt grimmig kalt! Schnee deckt die Erde, und glattes Eis baut Bruͤcken uͤber den tiefen Fluß. Viele wallen ſorglos daruͤber, und ſtuͤrzen zu Boden, es geht ihnen wie den Maͤnnern, welche den Schwuͤren der Weiber trauen, ſie ſcheinen feſt zu halten, aber ſie ſind glatt wie Eis, wenn man ſicher darauf baut, ſo ſtuͤrzt man nie - der, und ſchlaͤgt ſich den Kopf entzwei.

Geben ſie Acht, es beginnen neue Sze - nen! Hurra! Hurra! Es giebt eine Jagd! Der ſichere Hirſch wird uͤberfallen, er eilt vorwaͤrts, die Jaͤger und Hunde verfolgen ihn! Hurra! Hurra! Das geht ſchnell und fluͤchtig! Ach der arme Hirſch! er weint,Bio. v. d. W. 3. T290lechzt, ſinkt und wird zerriſſen! Ein wahres Bild des menſchlichen Lebens! (mit ſanfter und geruͤhrter Stimme) Der Hirſch iſt der Redliche, Jaͤger und Hunde ſind ſeine Feinde denn welcher Redliche hat keine Feinde? Er wird verfolgt, bis er unterliegt! Nur Schade, daß ſo viele große Herren erklaͤrte Liebhaber dieſer Jagd ſind!

(im vorigen Tone) Heiſa! Da gehts luſtig zu! Ein reicher Herr feiert eben ſei - nen Geburtstag, eine Menge Gaͤſte ſchmauſen an ſeiner Tafel. Sehen ſie nur, wie er ſich bemuͤht, jedem vorzulegen, wie er ſogar ſei - nem treuen Jagdhunde auch ein Bein zu - wirft. Alles, ſpricht der weiſe Salo - mo, alles dauert auf dieſer Welt nur eine kurze Zeit! Der Reichthum des Freigebigen ſchwindet, und ſeine Freunde mit ihm. Er muß am Ende betteln gehen. Sehen ſie, hier wankt er am Stabe der Armuth voruͤber, nur291 ſein treuer Jagdhund begleitet ihn. Der lez - tere beweißt deutlich, daß man Dankbarkeit nur unter Thieren ſuchen, ſie von Menſchen nicht erwarten darf!

Geben ſie Acht, geben ſie wohl Acht! Izt kommt das lezte und beſte meiner Stuͤcke. Nun, meine Herren, was ſehen ſie?

Der Arzt. Einen Spiegel.

Der Wahnſinnige. Und in dieſem?

Der Arzt. Nichts.

Der Wahnſinnige. Gar nichts?

Der Arzt. Rein nichts!

Der Wahnſinnige. Hm! Hm! Merk - wuͤrdig, aber wahr! Es iſt der Spiegel der edeln und uneigennuͤtzigen Handlungen aller le - benden Menſchen. Da ſie nichts darinne er - blicken, ſo iſts erwieſen, daß alle, die aufT 2292Erden wohnen, vollkommne Taugenichtſe ſind. Ihr Diener, meine Herren, ihr Diener!

Er trat nun ſeitwaͤrts, und ſtaunte ſtill vor ſich hin. Endlich legte er ſeinen Zeigefin - ger an die Naſe, und trat wieder vor uns hin. Was iſt, ſprach er im langſamen To - ne, liſtiger als der Teufel und maͤchtiger wie Gott?

Wir ſchwiegen.

Ich will's ihnen erklaͤren! fuhr er laͤ - chelnd fort. Das Weib iſt's! Das Weib! Denn der Teufel mußte ſich der Huͤlfe eines Weibes bedienen, um den Mann verfuͤhren zu koͤnnen. Es iſt maͤchtiger wie Gott, denn dieſer brauchte ſechs Tage, um die Welt zu erſchaffen, und das Weib bedarf oft nur eines Augenblicks, um dieſe ſchoͤne Welt in eine Hoͤlle zu verwandeln! Leben ſie wohl! 293(mit vielem Nachdrucke) Und gedenken ſie meiner, wenn ein Weib ihnen Liebe ſtam - melt!

Er ging ruͤckwaͤrts, und der Arzt fuͤhrte mich nach dem Gange.

Wer iſt dieſer ſeltne Menſchen - und Wei - berfeind? fragte ich ihn ſogleich.

Der Arzt. Ich nicht, und niemand weiß es. Er wandelte vor ſechs Jahren mit ſeinem Guckkaſten im Lande umher, drang ſogar in die Geſellſchaftszimmer der Großen, und ſagte ihnen oft die bitterſten Wahrheiten. Sein Wahnſinn wurde erſt vollkommen entdeckt, als man ihn vor Gerichte zur Verantwor - tung zog.

Da er manches Frauenzimmer tief belei - digt und gekraͤnkt hatte, und man durch ſorg - faͤltiges Nachforſchen ſeinen Namen, Karakter294 und Vaterland nicht entdecken konnte, ſo ward er, auf Befehl des Monarchen, meiner Sorgfalt anvertraut. Er raßt, wenn ich ihm ſeinen Guckkaſten nehme, er lebt ruhig und zufrieden, wenn ich ihm dieſen laſſe. Dies iſt alles, was ich ihnen von ihm erzaͤhlen kann, denn er beantwortet keine einzige Fra - ge, welche mir mehr Licht geben koͤnnte. Wahrſcheinlich muß ein treuloſes Weib ihn betrogen, und falſche Freunde ihn verrathen haben, weil er den Schmerz daruͤber in allen ſeinen Handlungen und Reden aͤuſſert.

Ich verließ nun, an meines Freundes Hand, das Haus des Elendes. Den Ein - druck, den ſeine Bewohner auf mich mach - ten, fuͤhlte ich lange, fuͤhle ich oft noch!

295

Das ſteinerne Brautbette.

Wie ich einſt durch einen Theil der hohen und maͤchtigen Bergkette reiſte, welche Boͤh - mens Bewohner von ſeinen Nachbarn trennt, machte mich die ſchlechte Straſſe aͤuſſerſt mis - launiſch, ich achtete der brennenden Sonnen - hitze nicht, verließ meinen Wagen, und ſchlenderte auf einem Fußſteige fort, indeß jener in einem tiefen Hohlwege fuͤrchterlich umher ſchwankte. Die Gegend war roman - tiſch, oft auch fuͤrchterlich wild, ich wollte ſie genuͤſſen, aber alle meine Rippen wider -296 ſprachen dieſem Genuſſe, und bewieſen mir durch lebhafte Schmerzen, daß eine Gegend, welche dieſes Gefuͤhl vernrſache, unmoͤglich ſchoͤn ſein koͤnne.

Der Fußſteig, auf welchem ich wandelte, ſchlaͤngelte ſich in ein kleines Thal hinab, wel - ches hohe, unfruchtbare, oft nackende Felſen rings umher einſchloſſen, und die gerechte Sorge in mir erregten: Ob ich einen Aus - gang finden wuͤrde? In den Ritzen der Fel - ſen gruͤnten hie und da Kiefern und Tannen, ihre Zwergengeſtalt bewies deutlich, daß ſie nur ſparſame Nahrung fanden. Die Sonne ſtand hinter den hoͤchſten Bergen, und warf ihren Schatten ins Thal herab, ich eilte, ihn zu genuͤſſen, und ward, wie ich ruhte, wie - der heiter und munter.

Es war oͤde und leer im ganzen Thale, ein paar Ziegen kletterten auf den nahen Fel -297 ſen umher, und horchten ſchuͤchtern, wenn vom Berge herab die Raͤder meines Wagens raſſelten, oder dem unwilligen Kutſcher dann und wann ein lauter Fluch entſchluͤpfte. Mir grade gegenuͤber thuͤrmte ſich ein Fels empor, deſſen Spitze ſich in zwei Theile theilte, und dem Kuͤhnen, welcher ſeinen Gipfel zu erſtei - gen wagte, einen Ruheplatz in ſeiner Mitte bot.

Ich unterſuchte eben: Ob dieſen Platz Kunſt oder Natur geformt habe, und wollte mich grade vom erſtern uͤberzeugen, als ein altes Muͤtterchen mit einer Holzbuͤrde bei mir voruͤber ſchlich, und auf einem nahen Stein zu ruhen ſuchte. Ihr folgte ein jun - ges, ſtarkes Maͤdchen, das eine gleiche Buͤr - de trug, ſich unfern von mir lagerte, und nach dem Felſen hinſtarrte, welchen mein Auge erſt verlaſſen hatte.

298

Der Alte. (zu ihr) Gaffe nicht ſo hinuͤber, und bete lieber ein Vater Unſer, damit dich Gott fuͤr aͤhnlichem Ungluͤcke be - huͤte.

Die Dirne machte ſogleich ein Kreuz, und betete recht andaͤchtig.

Ich unterſuche nie die Abſicht eines Ge - betes, ſei dieſe auch welche ſie wolle, ſo bleibt mir der Betende immer ehrwuͤrdig, und ich ſtoͤre ihn hoͤchſt ungerne. Ich harrte daher, bis ſie gebetet hatte, und nahte mich dann erſt der Alten, um zu erfahren, was ſich auf dieſem Felſen Merkwuͤrdiges zugetragen habe.

Die Alte. Ja, mein lieber, guter Herr, das kann ich ihnen ſo eigentlich nicht erzaͤh - len, ich hab's nur einſt von meiner ſeeligen Mutter erfahren, und dieſe wußte es auch299 nur vom Hoͤrenſagen, und ſo mag dann man - ches verlohren gegangen ſein, was ich ihnen gerne erzaͤhlen wollte, wenn ich's recht zu erzaͤhlen wuͤßte. So viel iſt gewiß, daß vor einigen hundert Jahren auf dieſem Felſen ein ſchoͤnes Schloß ſtand, und darinne eine rei - che Edelfrau mit ihrer einzigen Tochter leb - te. Dieſe liebte einen jungen Herrn aus der Nachbarſchaft, welchen die Mutter nicht lei - den konnte, und es daher nie erlauben woll - te, daß ſie ihn heurathe. Aber die Tochter achtete der Mutter Verbot nicht, und ver - ſprach heimlich ihrem Liebhaber, ſo lange ſei - ner zu harren, bis die Mutter ſterben wuͤrde.

Kurz vor ihrem Tode erfuhr die Mut - ter dies Verſprechen, ſie ward aͤuſſerſt daruͤber boͤſe drohte der Ungehorſamen mit dem Fluche, und bat Gott inbruͤnſtig, daß er ihn hoͤren, und der Tochter Brautbette in einen Stein verwandeln moͤge, wenn ſie den jungen Ritter dahin fuͤhren wolle.

300

Die Mutter ſtarb, und die ehrvergeßne, ungehorſame Tochter reichte bald hernach ihrem Liebhaber die Hand. Sie feierten ihre Hoch - zeit mit großer Pracht auf dem Schloſſe, wel - ches auf dieſem Felſen ſtand. Wie ſie um Mit - ternacht nach der Brautkammer gingen, hoͤrte die Nachbarſchaft rings umher einen fuͤrchter - lichen Donnerſchlag. Am Morgen war das ſchoͤne Schloß verſchwunden, kein Weg und Steg fuͤhrte mehr nach dem Felſen. Die un - gehorſame Tochter ſaß ganz allein auf der Spitze deſſelben in dem ſteinernen Brautbette, welches man izt noch deutlich ſehen und be - trachten kann. Kein Menſch konnte ſie ret - ten, und jeder, welcher es wagen wollte, zu ihr hinauf zu klettern, ſtuͤrzte herab. Sie mußte ohne Huͤlfe auf dieſem Felſen verzwei - feln und Hungers ſterben. Ihren todten Koͤr - per fraſſen die Raben, und die Uhus ſchlepten ihre Gebeine in der Gegend umher, damit jedes ungehorſame Kind ſich ein Beiſpiel neh -301 men, und den lezten Willen ſeiner Eltern gewiſſenhaft erfuͤllen moͤge.

Aber dieſe allgemeine Volksſage, dies Maͤrchen, wie ſie es zu nennen belieben, muß doch Deutung und Urſprung haben! ſprach ich zum wuͤrdigen Amtmanne der Herr - ſchaft, bei welchem ich am Abende Gaſtfrei - heit genoß, und ihm die Erzaͤhlung des al - ten Muͤtterchens wiederholte.

Ich zweifle, antwortete er laͤchelnd, doch will ich ihnen zu Gefallen unſer beſtaͤubtes Archiv durchſtoͤbern, es iſt reichhaltig an Nach - richten aus der Vorzeit, und da die Ge - ſchichtſchreiber immer gewiſſenhaft anzeigen: Wie theuer man in jedem Jahre das Maas Korn, das Bund Knoblauch oder Zwiebeln bezahlte? ſo werden ſie dieſe merkwuͤrdige Geſchichte nicht vergeſſen haben, ſo werde ich gewiß etwas Aehnliches finden, wenn auch302 muͤndliche Sage und Erzaͤhlung das Ganze vergroͤſſert und verunſtaltet haͤtte.

Beim Abſchiede erinnerte ich ihn noch - mals an ſein Verſprechen, und erhielte nach Jahresfriſt folgende Geſchichte von ihm:

303

Hugo und Kleta.

Im Jahre 1316 wurde um die Zeit der Metten, die man am Feſte des heiligen Ja - kobs betet, dem edlen und geſtrengen Herrn Hanns von Ottenwald ein Toͤchterlein geboh - ren. Am Abende vorher begann die edle Frau die erſten Geburtsſchmerzen zu fuͤhlen. Der Himmel war ſchoͤn und heiter, ehe aber die Mitternacht ſich nahte, verfinſterten dun - kele Gewitterwolken die Sterne, der Sturm - wind ſaußte im Forſte, und bruͤllte in den Hoͤhlen der Felſen. Uhue und Eulen flatter - ten am Fenſterlein der Schlafkammer, und kraͤchzten fuͤrchterlich.

Wie's im Forſte noch immer tobte, der Blitz eine Eiche zerſpaltete, und der Sturm - wind hohe Tannen entwurzelte, erblickte das Toͤchterlein das Licht der Welt, es war hold304 und ſchoͤn, die Mutter kuͤßte es mit In - brunſt, der Vater nahm's wonnetrunken in ſeine Arme, Knechte und Maͤgde jubelten, nur der alte Vogt ſchlich traurend nach ſei - nem Gemache, und bat Gott wehmuͤthig, daß des Fraͤuleins Lebenstage nicht ſeiner Ge - burt gleichen moͤchten, denn er war wohl er - fahren in mancherlei Deutungen, und hatte die Erfahrung geſammlet, daß Gewitterſturm in der Stunde der Geburt auf mancherlei Un - gluͤck deute.

Das edle Toͤchterlein gedeihte vortreflich, es wuchs zur mannbaren Jungfrau empor, und reizte Alt und Jung zur groͤßten Be - wunderung ſeiner Schoͤnheit. Gott hoͤrte das Flehen der Eltern nicht mehr, ihre Ehe ward in der Folge nicht mit mehrern Kindern ge - ſegnet, ſie mußten ſich mit dem Einzigen be - gnuͤgen, und liebten es mit groͤßter Zaͤrt - lichkeit.

Edel -305

Edeldrud, ſo hieß die Jungfrau, ward fromm und tugendſam erzogen, ſie konnte kraͤftige Morgen - und Abendgebete aus dem Stegreife ſprechen, und wenn ſie in der Ka - pelle vorbetete, ſo eilten alle Bewohner der Veſte herbei, um nachzubeten, was ihr hol - der Mund ſo lieblich und andaͤchtiglich aus - ſprach. Auf einem der nahen Felſen, welche ſich, links und rechts der Veſte, in großer Anzahl in die Hoͤhe thuͤrmten, hatte einer ihrer Vorahnen eine Kapelle zu Ehren der heiligſten Jungfrau erbaut. Dorthin wall - fahrtete ſie oft mit ihrer Magd, und betete ſtundenlang, wenn ihr Vater in der Naͤhe jagte.

Eben war ſie ſiebzehn Jahr alt, als ſie auch dahin wallfahrtete, und nicht wieder - kehrte, wie die Sonne ſich ſchon hinter dem Forſte verſteckt hatte. Der beſorgte Vater ging aus, um ſie zu ſuchen, und fand ſieBiogr. d. W. 3. B. U306nicht in der Kapelle. Ihr Schleier hing un - fern davon an dem Aſte einer Tanne, unter deren Schatten man viele Huftritte erblickte.

Der arme Vater raßte, er ſandte ſchleu - niges Aufgebot an alle ſeine Leibeigne, und irrte mit ihnen in der ganzen Gegend um - her, um ſein einziges Kind zu ſuchen und zu finden. All ſeine Muͤhe war vergebens, er mußte heimkehren zur jammernden Mut - ter, und konnte ihr leidendes Herz mit kei - ner troͤſtenden Nachricht erfreuen. Die ſchoͤne Edeldrud war verſchwunden, keine Spur ver - rieth ihren Aufenthalt, keine Botſchaft von ihr erquickte die trauernden Eltern. Ehe ein Jahr verging, toͤdtete der Jammer die ar - me, ſchmachtende Mutter, ihre lezten Wor - te waren Seegen uͤber ihre geraubte Tochter, wenn ſie noch hienieden wallen ſollte; ihr lez - ter Blick bewies es deutlich, daß ſie ſolche307 dort zu finden, wenigſtens wieder zu ſehen hofte.

Der alte Vater ſaß nun einſam auf ſei - ner Veſte, er haßte die Jagd, weil dieſe ihm einſt allzu weit von ſeiner Tochter ent - fernt hatte, er haßte den Trunk, weil Edel - drud ihm nicht mehr den Becher kredenzte, er haßte Gelage und Geſellſchaft, weil bei - des ihn hinderte, an ſein geliebtes Kind zu denken, und ihrem Andenken eine Thraͤne zu weihen. Er ſprach aͤuſſerſt wenig, oͤfnete ſein Thor keinem Freunde, keinem Fremden, und hofte, daß Kummer und Gram ſein Meiſter - ſtuͤck bald vollenden, ihm gleich der Gattin zu ſeinen Vaͤtern verſammlen wuͤrde. Sechs lange Jahre hofte er dies vergebens, denn ſein ſtarker Koͤrper trozte dem Leiden der Seele, er konnte ihn wohl beugen, aber nicht zerſtoͤren.

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Einſt ſaß er noch um Mitternacht ohne Schlaf in ſeinem Gemache. Alles ruhte, nur er nicht. Das Bild ſeiner geliebten Tochter ſtand lebhaft vor ſeiner Seele. Nur einmal wuͤnſchte er ſie noch zu ſehen und an ſein Herz zu druͤcken. Ein Gepolter, welches aus der Ferne ertoͤnte, weckte ihn aus ſeinem Tief - ſinn, er oͤfnete das Fenſter und horchte. Es klopfte anhaltend am aͤuſſerſten Thore der Veſte, es daͤuchte ihm, als ob ein Kind wei - ne, und eine unverſtaͤndliche Stimme jam - mere. Er berief den Waͤchter, dieſer hatte ein gleiches vernommen, und heiſchte des Burgherrn Rath: Ob er das Thor oͤfnen, oder nur Nachfrage halten ſollte?

Der Burgherr war noch unentſchloſſen, er ging mit dem Waͤchter hinab, und beſtieg in ſeiner Geſellſchaft die Mauer.

Wer klopft bei ſo ungewoͤhnlicher Stun - de? fragte er, als das Klopfen ſich erneu - erte.

309

Jammernde, unverſtaͤndliche Toͤne erklan - gen in der Tiefe, ein kleines Kind rief: Mach auf da! Mach auf!

Der Waͤchter argwohnte Verraͤtherei, und widerrieths dem Burgherrn, als er die Bitte des Kindes erfuͤllen wollte. Er weckte die Knechte, ſie zuͤndeten Fackeln, und ſenkten ſie an einem Seile uͤber die Mauer hinab in die Tiefe, ihr Feuer verbreitete Licht umher.

Eine edle Dame, an deren Guͤrtel viel - faͤrbige Steine glaͤnzten, deren Hals und Arm mit großen Perlen umwunden war, ſtand na - he am Thore, ſie ſtreckte ihre Haͤnde bittend in die Hoͤhe, und hob ſtillſchweigend und jammernd ein kleines Kind empor, wenn man nach ihrem Namen und der Urſache ih - rer Ankunft forſchte. Man ſah in der Naͤhe und Ferne niemanden, argwohnte aber doch310 noch immer, weil die Dame keinem Rede ſtehen wollte.

Schon bat der herbeigeeilte Vogt den Burgherrn, die Unbekannte bis am Morgen harren zu laſſen, und wollte es ihr eben kund thun, als ſie ihr flehendes Angeſicht noch einmal zu ihm empor wandte. Er ſchau - derte zuruͤck. Gott und Marie! rief er aus, war dies nicht Jungfrau Edeldruds Blick? Iſts nicht ihre ganze Geſtalt?

Wie der Burgherr, deſſen Auge nicht mehr hell ſah, dieſe Vermuthung hoͤrte, und einige der Knechte ſie beſtaͤtigten, da achtete er keines moͤglichen Verraths, eilte hinab von der Mauer, half ſelbſt die Riegel zuruͤck - ſchieben, und zitterte und bebte, als die ed - le Frau mit ihrem Kinde herein, und zu ſei - nen Fuͤſſen niederſtuͤrzte. Er hob ſie ahndend empor, er druͤckte ſie mit frohem Entzuͤcken311 an ſein Herz, wie er ſein einziges, ſein ver - lohrnes Kind in ihr erkannte. Es iſt unſre Jungfrau Edeldrud! murmelten einige der Knechte. Sie iſt's! Sie iſt's! jubelte end - lich die ganze Menge, und draͤngte ſich lieb - koſend an ihre Seite.

Sie riß ſich mit einmal vom Halſe des Vaters los, und uͤberblickte mit unruhigem, ſuchendem Blicke die Menge. Ha, ich verſtehe! rief der Vater, ob dir dein Gefuͤhl gleich die Sprache geraubt hat, ſo ſpricht dein Blick doch deutlich. Du ſuchſt deine Mutter? Sie iſt nicht mehr hienieden, ſie hinterließ dir Seegen in Fuͤlle, nimm ihn aus der Hand deines Vaters, und murre nicht mit Gott, da er dir dieſen noch goͤnnte.

Edeldrud ſank wieder weinend und ſchluch - zend in die Arme des Vaters zuruͤck, er lei - tete ſie nach dem Saale. Der Vogt trug das312 kleine Kind auf ſeinen Armen neben her, es ſpielte mit dem grauen Haare des Vaters, und fragte ihn mehr als einmal; Ob er es liebe?

Wie ſie im Saale anlangten, fuͤhrte ſie der Vater zum Kredenztiſche, er ſchwenkte die Humpe, ſie war noch halb gefuͤllt. Ge - liebte Tochter, rief er wonnetrunken aus, fuͤlle mir den Becher! Immer flehte ich zu Gott, daß er mir dies Gluͤck gewaͤhren ſolle, er hat mein Flehen erhoͤrt, ich will's genuͤſ - ſen!

Edeldrud fuͤllte den Becher, Thraͤnen traͤufelten darein. Es ſind Thraͤnen der Freu - de, es ſind deine Thraͤnen, ſie koͤnnen nicht ſchaden, ſprach der Vater, und leerte den Becher. Izt, fuhr er fort, ſaͤttige aber auch meine Neugierde, die ſich maͤchtig regt. Wo warſt du dieſe lange Zeit? Wie kam dies313 Kind in deine Haͤnde. Iſt's das deinige? O ich will's als Enkel an meine Bruſt druͤk - ken, und ſollte es auch ein Baſtard ſein!

Edeldrud hob das Kind weinend empor, und legte es in die Arme ihres Vaters. Ihr Blick ſuchte den Himmel, und blieb betend an ihm hangen. Das Kind hing ſich an des Greiſes Hals, kuͤßte ſeine Wangen, und ſprach ſchmeichelnd: Mir gut ſein! Mich lieb haben!

Der alte Vater fuͤhlte dieſe Bitte tief, und ſchloß es mit Vatergefuͤhl an ſein Herz. Erzaͤhle, ſprach er zu Edeldruden, erzaͤhle offen und aufrichtig, es wird Wolluſt fuͤr mein Herz ſein, wenn es dir recht viel ver - geben kann!

Edeldruds Blick ſank zur Erde, ihr An - geſicht gluͤhte, Begierde nach Rache funkelte314 in ihrem Auge, ſie oͤfnete ihren ſchoͤnen Mund, und deutete mit der Hand darauf. Mutter kann nicht reden, ſprach das Kind, hat keine Zunge! Der alte Vater ſchauderte zuruͤck, alle Anweſende falteten die Haͤnde und ſtaunten. Lange wagte es keiner, die ſchreckliche Muthmaſſung zu pruͤfen; endlich nahte ſich der Vogt, und ſah nun deutlich, daß der ungluͤcklichen Edeldrud die Zunge wuͤrklich zur Haͤlfte abgeſchnitten, die Wun - de aber ſchon lange verheilt ſei.

Des Vaters Schmerz war groß und ſchrecklich, er zitterte und bebte, wenn er ſich das Leiden der Ungluͤcklichen dachte; er wuͤthete, wenn er uͤberlegte, daß er nicht Rache nehmen koͤnne an dem Urheber dieſer ſchaͤndlichen That. Die Nacht verfloß ſchlaf - los, alles jammerte, alles weinte und be - dauerte das harte Schickſal der Ungluͤcklichen.

315

Nach manchen Fragen, die Edeldrud nur durch Zeichen beantworten konnte, ward dem Burgherrn kund, daß wahrſcheinlich maͤchtige Raͤuber ſie ehemals aus der Kapelle entfuͤhrt, und ſo ſchrecklich mißhandelt hatten. Wie aber in der Folge ſich ihr hartes Schickſal ge - aͤndert, wie und durch wen ſie die ſchoͤnen Kleider, den koſtbaren Schmuck und die Edel - ſteine, welche ſie am Haupte, Halſe und Guͤrtel trug, erhalten hatte, konnte Edel - drud mit aller Muͤhe und Anſtrengung keinem der Anweſenden begreiflich machen. Nur ſo viel erfuhren ſie mit Gewißheit, daß das kleine Kind ein ſchoͤnes, liebes Maͤd - chen ihre Tochter, und ſie aus einer wei - ten Ferne mit ihr bis hieher geflohen ſei.

Endlich goͤnnte der Vater ſeinem wieder - gefundenen Kinde Ruhe, er fuͤhrte ſie nach ihrem ehemaligen Gemache; ſie weinte ſehr, wie ſie es betrat, und kniete betend an ihr316 Lager. Am Morgen beſuchte ſie der Vater, er hatte die ganze Zeit ſich mit ſeinem Vogte berathet, er hofte, durch wohlgeordnete Fra - gen mehreres Licht zu erhalten.

Liebſt du den Vater dieſes Kindes? ſprach er zu ſeiner Tochter.

Edeldrud. (bekraͤftigte es mit den deutlichſten Zeichen.)

Der Vater. War er dein Gatte? Wur - deſt du auf rechtmaͤſige Weiſe mit ihm ver - heurathet?

Edeldrud. (legte die Hand auf die Bruſt, und neigte ihr Haupt.)

Vater. War er ein Ritter? Oder mehr noch, als ein Ritter?

Edeldrud. (bejahte beide Fra - gen.)

317

Vater. War er unter denen, welche dich mir raubten? Hatte er Theil an der ſchrecklichen That, die ſie an dir uͤbten?

Edeldrud. (verneinte dieſe Fra - ge.)

Vater. Wurde er vielleicht dein Ret - ter?

Edeldrud. (beſtaͤtigte es mit groſ - ſer Freude.)

Vater. Wo iſt er? Lebt er noch?

Edeldrud. (weinte, und gab durch Zeichen zu verſtehen, daß ſie das be - zweifle.)

Vater. Wie ward'ſt du von ihm ge - trennt? Wie kamſt du hieher?

Edeldrud. (deutete auf ihr Kind, und ſuchte dem Vater begreiflich zu318 machen, daß dieſes alles erzaͤhlen wuͤrde.)

Der Vater verſtand die Deutung, und beſtuͤrmte nun das Kind mit vielen Fragen, aber ſeine Neugierde ward nur hoͤchſt maͤßig befriedigt. Das muntere, geſchwaͤtzige Maͤd - chen erzaͤhlte zwar vieles, aber doch nichts, was auf naͤhere Entdeckung haͤtte leiten koͤn - nen. Seiner Ausſage nach lebte die Mutter mit dem Vater auf einer ſchoͤnen Veſte, die ein praͤchtiger Garten umgab, in welchem ſie oft ſpazieren gingen. Der Vater liebte die Mutter recht ſehr, und dieſe liebte ihn auch recht ſehr. Sie hatten viele Knechte, Diener und Maͤgde, und lebten froh und zufrieden, nur die Mutter weinte manchmal; wenn aber der Vater kam, da wiſchte ſie ſchnell ihre Thraͤnen ab und laͤchelte.

Einſt gingen ſie froͤlich ſchlafen. In der Nacht erwachte die Kleine, wilde Maͤnner319 ſtanden mit Fackeln an ihrem Lager, riſſen ſie empor, und trugen ſie nach dem Vorhofe. Die Mutter ſtand ſchon weinend und haͤnde - ringend unter einem Haufen anderer Maͤn - ner, welche das Kind nicht kannte. Die Veſte ſtand in Flammen, den Vater ſah man nicht. Andere Fremde brachten Roſſe herbei, die Mutter mußte eines derſelben beſteigen; viele Reuter umgaben ſie, einer derſelben reichte der Mutter das Kind.

Lange, lange zogen ſie vorwaͤrts, muß - ten oft im Forſte ſchlafen, dann und wann auch hungern. Ehe die Sonne am Tage zu - vor unterging, kamen ſie in eine wilde Ge - gend, wo man nichts als Felſen und Steine ſah; die Mutter weinte viel. In der Nacht erwachte das Kind auf dem Arme der Mut - ter, dieſe lief ſchnell und eilend, ſprang wie ein Reh uͤber Steine und Felſen hinweg, und langte endlich am Thore der Veſte an, wo320 ſie heftig klopfte, und dem Kinde durch Zei - chen zu verſtehen gab, daß es rufen moͤge: Wer ſein Vater war? Wie er ſich nenne? In welchem Lande ſie wohnten? konnte das Kind nicht erzaͤhlen.

Da der Haufe, welcher nach der Ausſage des Kindes ſeine Mutter ſo lange gefangen mit ſich fuͤhrte, wahrſcheinlich nahe der Ka - pelle gelagert hatte, aus welcher ehemals Edeldrud geraubt wurde, ſo ſandte der Va - ter ſogleich den Vogt mit einer Menge Reiſi - gen aus, um dieſen auf die Spur zu kom - men, und ſo die moͤgliche Entdeckung zu foͤr - dern. Aber dieſer kehrte ſchon am Abende mit der Verſicherung zuruͤck, daß er zwar die Staͤt - te ihres Lagers zwiſchen den Felſen entdeckt, aber die weitere Spur verlohren habe. Wie ich aber, erzaͤhlte er weiter, beim Ruͤckzuge in der Kapelle betete, und eures Jammers lebhaft gedachte, da gab mir ſonder ZweifelGott321Gott einen Rath ein, der euch, wenn ihr ihn nuͤtzen wollt, dem Endzwecke naͤher fuͤhren wird. Beruft einen gelehrten Moͤnch aus dem nahen Benediktiner Kloſter, lohnt ihn gut, damit er der geſtrengen Frau die Kunſt zu ſchreiben lehre, ſie wird dann ihm alles kund machen koͤnnen, was ſich mit ihr zugetragen hat, und ihr werdet es durch ihn wieder er - fahren.

Der alte Vater ergrif dieſen Rath mit vie - len Freuden, er that ihm ſeiner Tochter kund, und dieſe aͤuſſerte große Begierde, dieſe Kunſt bald zu erlernen.

Schon am andern Morgen erſchien der Moͤnch, und gelobte, binnen Jahr und Tag der edlen Frau die Schreibekunſt vollkommen zu lehren. Alles harrte dieſer Zeit mit Be - gierde entgegen, ehe aber noch Edeldrud die Buchſtaben nachmahlen konnte, warf Alter,Biogr. d. W. 3. B. X322und wahrſcheinlich auch innerer Kummer, den Vater aufs Krankenlager, er beſtellte ſein Haus, ſezte ſein ungluͤckliches Kind zum Er - ben ſeiner Guͤter ein, und ſchied mit der ſichern Hofnung, daß ihm dort Aufklaͤrung werden, und der Ewige die Rache an dem ruchloſen Thaͤ - ter ſelbſt uͤben werde, die er hier nicht vollen - den konnte.

Edeldrud trauerte tief und lange am Gra - be ihres Vaters, ſie legte die Trauerkleider nie mehr ab, und ging immer als eine tiefge - beugte Witwe umher. Sie ließ ihre Veſte ſtets ſorgfaͤltig bewachen, und das Thor der - ſelben keinem Fremden oͤfnen. Wie ihr bald hernach der Vogt kund machte, daß er im For - ſte einen Haufen Reiſige getroffen habe, die ihm nicht Rede ſtehen wollten, ſo duͤnkte ſie ſich auf der Veſte nicht mehr ſicher, ſammlete ihre Schaͤtze, und zog mit ihrer Tochter, wel - che ſie innig liebte, gen Regensburg, wo ſie323 ſich ein Haus miethete, und aͤuſſerſt einſam lebte.

Der alte Moͤnch ward ihr lieb und theuer, ſie ernannte ihn zu ihrem Kaplan, nahm ihn mit ſich, und lernte bald die damals noch ſo ſeltne Kunſt, ſich durch geſchriebne Buchſtaben verſtaͤndlich zu machen. Er ward in der Folge ihr Dollmetſcher, und erklaͤrte dann immer, was ſie einem oder dem andern ſagen wollte.

Auch ihrer Tochter, welche ſich Kleta nann - te, mußte die Schreibekunſt lernen, und da ſie einſah, daß dies das einzige Mittel ſei, mit ihrer Mutter ſprechen zu koͤnnen, ſo er - warb ſie ſich bald ſo große Fertigkeit darinne, daß ſie, nach der Verſicherung des Moͤnches, nicht allein ſehr ſchoͤn, ſondern auch fertiger, als mancher gelehrte Mann ſchreiben konnte.

X 2324

Wie Kleta die Jahre des Maͤdchens ver - ließ, in den Stand der Jungfrauen trat, nach - zudenken und zu uͤberlegen begann, heiſchte ſie oft von ihrer Mutter die Erklaͤrung ihres ehe - maligen wunderbaren Schickſals, aber die Mutter erwiederte allemal, daß dieſes ihr izt noch nicht Frucht bringe, mehr Schaden als Nutzen verurſachen koͤnne.

Ich will, ſchrieb ſie ihr einſt mit Thraͤ - nen, dies Geheimniß nicht mit in mein Grab nehmen, du wirſt die ganze Erzaͤhlung mei - nes aͤuſſerſt grauſamen Schickſals nach meinem Tode in meinem Kleinodienkaͤſtchen verwahrt finden. Bis dahin erlaube mir aber zu ſchwei - gen, denn es wuͤrde mir aͤuſſerſt wehthun, wenn ich durch aͤchte Erzaͤhlung zwar dein Mitleid reitzen, vielleicht aber deine Liebe vermindert ſehen muͤßte. Es fiel mir ſchwer, meinen Vater todt zu ſehen, aber ich wuͤrde noch weit ſtaͤrker an ſeinem Grabe gejammert325 haben, wenn mich nicht die frohe Hofnung, daß nun das Bekenntniß meines Schickſals niemand mit Gewalt fordern koͤnne, getroͤſtet haͤtte. Bedenke dies, und ehre meinen Kum - mer. Kleta thats, und hielte redlich Wort, ſie forſchte nie mehr darnach, und glaubte izt, was der Moͤnch ihr ſo oft geſagt hatte, daß die Mutter ihn noch nie zum Vertrau - ten ihres Geheimniſſes gemacht habe.

Edeldrud lebte zu Regensburg ſehr ein - gezogen, ſie konnte mit niemanden ſprechen, und ſuchte daher jede Geſellſchaft zu vermei - den. Da ihr Haus ganz einem Kloſter glich, und ſie nur taͤglich mit verſchleiertem Ange - ſichte nach der Kirche ging, ſo nannte man ſie nur die fromme Stumme. Viele glaub - ten, daß ſie wuͤrklich ſtumm ſei, nur we - nige wußten es, daß ſie durch einen unbe - kannten Zufall ihre Zunge verlohren habe.

326

Als Kaiſer Ludwig von ſeinem ungluͤck - lichen Zuge aus Italien nach Deutſchland ruͤckkehrte, und mit ſeiner Hofſtatt in Re - gensburg einige Zeit weilte, war Kleta eben ſiebenzehn Jahr alt geworden. Alle, die ſie ſahen und kannten, lobpreißten ihre auſſeror - dentliche Schoͤnheit, und behaupteten einſtim - mig, daß noch keine ſchoͤnere und reitzendere Dirne in dieſer Stadt gelebt habe. Dieſer Ruf, welcher ſchon allgemein war, ehe der Kaiſer anlangte, verbreitete ſich bald am Hofe deſ - ſelben. Die jungen Ritter wuͤnſchten dieſe Perl der Schoͤnheit naͤher zu ſehen; ſie ſchli - chen an ihrem Hauſe voruͤber, und ſammle - ten ſich in der Kirche, wo ſie betete. Wann dann Kleta etwan ans Fenſter trat, oder in der Kirche ihren Schleier luͤftete, ſo war's, als wenn die Sonne aufging, aller Augen wandten ſich nach ihr, und verehrten ſie.

An der Spitze aller, welche Kletas große Schoͤnheit verehrten, und nach einem Blicke327 ihrer ſchoͤnen Augen geizten, ſtand Hugo von Immenthal, ein ſchoͤner, holder Juͤngling. Er war mit dem Kaiſer nach Italien gezo - gen, hatte ſich durch emſige Dienſte, durch ſeltne Treue bei ihm ſo beliebt und angenehm gemacht, daß er ihn, gleich ſeinem Sohne, liebte, und immer an ſeiner Seite gehen ließ. Alle wichen ehrfurchtsvoll zuruͤck, als ſie ſa - hen, daß des Kaiſers Liebling Kletas Schrit - ten eifrig folge, und offen erklaͤrte, daß er dieſe Jungfrau als Weib heimzufuͤhren wuͤn - ſche.

Durch raſtloſes Beſtreben hatte er Kleta aufmerkſam gemacht. Wenn er auf ſeinem ſchwarzen Streitroſſe die Straſſe herauf trab - te, ſo trat ſie immer ans Fenſter, und laͤ - chelte vergnuͤgt, wenn das gereizte Roß den feſten Reiter herabwerfen wollte, und doch nicht konnte. Wenn ſein Sporn hinter ihr in der Kirche klirrte, ſo luͤftete ſie ſtets den Schlei -328 er, und weilte oft lange mit ihrem Blicke auf ihm. Dies war aber auch alles, was er durch volle zwei Monden, von welchem jeder Tag ſeine Liebe mehrte, gewinnen konnte. Die Ehrfurcht erlaubte es ihm nicht, die Mutter ſammt der Tochter auf der Straſſe oder in der Kirche anzureden, und wollte er es wagen, unter irgend einem erdichteten Vorwande in ihr Haus einzudringen, ſo ward er immer mit der Verſicherung zuruͤckgwieſen, daß keinem Ritter der Eingang offen ſtehe. Jeder, mit welchem er ſprach, kannte die ſchoͤne Kleta, aber keiner unter allen hatte Zutritt in ihrem Hauſe, oder war faͤhig, ihm ſolchen zu bewuͤr - ken.

Wie ſchon namenloſe Liebe an ſeinem Her - zen nagte, er in mancher durchwachten Nacht hundert Plane entwarf, von welchen er am andern Tage keinen ausfuͤhrbar fand, machte ihm der Kaiſer kund, daß er zur Uebung ſei -329 ner Ritter ein Turnier feiern wolle, welches glanzvoll und praͤchtig beginnen, und zehn Tage lang dauern ſollte.

Hugos Herz ward durch dieſe Nachricht hoch erfreut, die immer thaͤtige Liebe zeigte ihm in dieſem Augenblicke Moͤglichkeit und Hof - nung. Er fragte: Ob der Kaiſer alle edle Jungfrauen der Stadt zum Feſte laden wuͤrde, und bat, als dieſer es bewilligte, der Herold dieſer kaiſerlichen Gnade werden zu duͤrfen.

Die Bitte ward bewilligt, ſchon am an - dern Morgen zog er mit kaiſerlichem Geleite durch die Straſſen, um alle edle Jungfrauen zu laden. Kletas Wohnung war ganz natuͤr - lich eine der erſten, welche er beſuchte. Ich komme im Namen des Kaiſers, ſprach er zum Thuͤrſteher, und dieſer oͤfnete nicht allein ehr - erbietig das Thor, ſondern ging auch, ſeiner geſtrengen Frau Botſchaft zu bringen.

330

Hugo harrte nicht lange, man fuͤhrte ihn nach einem Gemache, wo er Mutter und Tochter an einem Strickrahmen fand; er gruͤß - te die erſtere mit Ehrfurcht, und erklaͤrte der leztern des Kaiſers Einlandung mit ſtamm - lenden Worten. Kletas Wange hatte ſich hoch geroͤthet, als ſie den Ritter erblickte; ſie bleichte izt maͤchtig, als ſie ſeine Bothſchaft hoͤrte, und nicht wußte, wie ſie ſolche be - antworten ſollte. Sie blickte ihre Mutter an, und heiſchte Rath und Unterricht. Edeldrud ergrif den Griffel, ſchrieb ihr einige Worte auf die Schiefertafel, Kleta laͤchelte, und antwortete izt dem Ritter, daß ſie die hohe Ehre des Kaiſers ſchaͤtze, und ſeinem Befehle gemaͤß beim Feſte erſcheinen werde.

Hugo dankte, zoͤgerte ſo lange, als moͤglich, bewunderte die ſchoͤne Arbeit der noch ſchoͤnern Haͤnde, und ging endlich, weil er des Wohlſtands wegen nicht laͤnger blei -331 ben konnte. Kleta begleitete ihn bis an die Stufen der Treppe, er ſtammlete einige Wor - te der tiefſten Verehrung; die Jungfrau laͤ - chelte, und ſtand noch an der Treppe, wie er ſchon wieder auf ſeinem Roſſe ſaß. Wie ſie ins Gemach ruͤckkehrte, fand ſie ihre Mut - ter in Thraͤnen, ſie forſchte nach der Urſache, und fragte offenherzig: Ob ſie ſich vielleicht nicht geziemend betragen, ſie durch irgend etwas beleidigt habe?

Die Mutter trocknete ihre Thraͤnen, und verſicherte, daß dieſe nur einer traurigen Ruͤckerinnerung wegen floͤſſen. Du haſt, ſchrieb ſie, dich wohl und anſtaͤndig betragen. So ſehr ich's wuͤnſchte, konnte ich doch die Einladung nicht ablehnen. Es iſt eine große Ehre, in Turnierlogen Sitz nehmen zu duͤr - fen; wer ſie ausſchlaͤgt, beweißt deutlich, daß er ſie nicht verdient. Waͤrſt du einige Jahre aͤlter, ſo wuͤrde mir dieſe Einladung332 aus mancher Ruͤckſicht willkommen ſein. Viele Jungfrauen ſahen im Turniere ihren kuͤnfti - gen Gatten. Kummer und Jammer haben mich zum Grabe reif gemacht, ich wuͤrde aͤuſ - ſerſt ſchwer ſterben, wenn ich dich an meinem Sterbelager ohne Stuͤtze erblicken muͤßte. Vielleicht iſt mein Ende naͤher, als ich glau - be, vielleicht iſt es Gottes Fuͤgung, ich will ihr nicht vorgreifen.

Die Anſtalten zum herrlichſten Turniere, welches jemals gefeiert wurde, begannen nun mit vollem Ernſte, ſelbſt Edeldrud war ganz damit beſchaͤftigt. Ihr Herz hing ganz an dem einzigen Kinde, ſie wuͤnſchte, daß es glanzvoll erſcheinen moͤge, und oͤfnete ihr Schmuckkaͤſtchen, um Kletas Guͤrtel und Wams reichlich zu zieren. Hugo trabte unter dieſer Zeit taͤglich an Kletas Hauſe voruͤber, er traf ſie immer am Fenſter, und ward333 von ihr ſtets freundlich gegruͤßt. Sein Herz hofte, und war izt thaͤtiger, als vorher.

Noch hatte der Kaiſer keine der edlen Jungfrauen beſtimmt, welche nach Sitte und Gebrauch den Preiß austheilen ſollte; er war ſogar verlegen, welche er waͤhlen wuͤrde, weil unter allen Geladnen ſich keine befand, die ihres vorzuͤglichen Ranges wegen dieſe Ehre mit Recht fordern konnte. Gnaͤdiger Herr, ſprach Hugo, laßt das Loos entſchei - den. Sind die Jungfrauen verſammlet, ſo zaͤhle ich ihre Menge, thue eben ſo viel ſil - berne Kugeln, unter welchen ſich nur eine einzige goldene befindet, in einen Beutel, laß dann jede ziehen, und ihr ernennt die - jenige als Preißgeberin, welche die einzige goldene erhaͤlt.

Dem Kaiſer behagte dieſer Vorſchlag ſehr, er billigte ihn ganz, und Hugo erhielt den334 Auftrag, alles noͤthige zu beſorgen. Schon einige Tage vorher, ehe das Feſt begann, zogen aus der Naͤhe und Ferne die aufgebot - nen Ritter herbei, jeder fuͤhrte Reiſige und Knappen hinter ſich, der Tritt der ſtolzen Roſſe ertoͤnte Tag und Nacht in den Straſ - ſen, die ganze Stadt glich einem Turnier - platze.

Am fruͤhen Morgen des Feſtes zogen die zwoͤlf Ehrendamen, welche die Schaar der edlen Jungfrauen zu leiten und zu fuͤhren verordnet waren, durch alle Straſſen der Stadt, und ſammleten die Geladnen hinter ſich. Wie ſie an Kletas Wohnung anlangten, und der Herold ihre Gegenwart durch lauten Trompetenruf verkuͤndigte, ſeegnete Edeldrud ihre Tochter, und ſandte ſie hinab. Lautes Fliſtern durchlief die Menge, wie ſie am Thore erſchien; unwillkuͤrliches Staunen und tiefe Ehrfurcht feſſelte alle, wie ſie ihren milch -335 weiſſen Zelter beſtieg, und zwoͤlf in Scharlach gekleidete Diener ſich hinter ihr auf ihre Rap - pen ſchwangen.

Kleta trug einen Rock und Wams von dichtem, purem Goldſtuͤcke, ihr ſchwarz ſamt - ner breiter Guͤrtel war mit Edelgeſteinen ein - gefaßt, in ſeiner Mitte ſchlaͤngelte ſich eine Schlange von bunten Edelſteinen rings um ihren Koͤrper. Ihr ſchwarzes Haar war mit groſſen Perlen behangen, welche nachlaͤſſig auf die Arme herabſanken, und dieſe bis an die Haͤnde dicht umſchlungen. Ihr aufgeſchuͤrzter Schlepp war von ſchwarzem Sammet, welchen goldne Spangen faßten, und deſſen Saum ebenfals viele Edelſteine zierten, ſelbſt an ih - ren Halbſtiefeln und an der Decke ihres Zel - ters erblickte man dieſe Steine im Ueberfluſſe. Sie glich einer Koͤniginn, welche im Trium - phe durch die Stadt zog; alle Zuſchauer nann - ten ſie die Sonne, und achteten die uͤbrigeu336 nur als ihre Trabanten. Selbſt der Kaiſer erſtaunte ob ihrer Pracht und Schoͤnheit, als er den Zug von ſeinem Erker uͤberblickte, und forſchte begierig nach ihrem Stand und Namen.

Wie alle Jungfrauen im Saale verſamm - let waren, trat Hugo mit dem Beutel, wel - cher die Kugeln enthielt, in ihre Mitte. Freu - de und Wonne glaͤnzte in ſeinem Geſichte, der Liſtige war ſeines Wunſches, ſeiner geheimen Abſicht gewiß. Er hatte ſich einen Sack ver - fertigen laſſen, den eine Scheidewand an einer Ecke theilte, im groſſen Raume lagen die ſil - bernen, im abgetheilten die einzige goldne Ku - gel, er druͤckte dieſen zu, ſo lange andere griffen, er oͤfnete ihn, und verbarg jenen, als Kleta mit zitternder Hand hinein grif. Ihre Wangen roͤtheten ſich hoch, und aller Uebrigen bleichten maͤchtig, wie ſie in ihrer Hand die goldne Kugel erblickten. Niemand ahndete dieLiſt,337Liſt, nur der Kaiſer fragte ſeinen Liebling laͤchelnd: Wie's moͤglich ſei, daß das blinde Loos diesmal ſo hell geſehen habe?

Hugo fuͤhrte nun Kleta, als Koͤnigin des Turniers, in die Schranken, und von dort unter den reichgeſtickten Baldachin, welcher ihren erhabnen Sitz deckte. Er war vorbe - reitet auf dieſen Gang, und ſuchte ihn nach Kraͤften zu nuͤtzen. Schoͤne Preisgeberin, ſprach er kuͤhn und doch zagend, wuͤrde es euch wohl verdruͤſſen, wenn ich mich euch als Sieger nahte, und den Preis von euch for - derte?

Kleta. Wie waͤre dies moͤglich? Es wuͤrde mich im Gegentheile ſehr freuen, wenn ich die Gluͤckliche waͤre, welche eure Tapfer - keit kroͤnen koͤnnte.

Biogr. d. W. z. B. Y338

Hugo. Und wuͤrde der vom Kaiſer be - ſtimmte goldne Helm der einzige Lohn ſein, welchen ich aus eurer Hand erhielte?

Kleta. Ich verſtehe euch nicht.

Hugo. Wuͤrde nicht wenigſtens ein lieb - voller Blick mir den Preiß unſchaͤtzbar ma - chen? Mich nicht mit der Hofnung ſtaͤrken, daß unendlich groͤſſerer Lohn in der Hand der Geberin ruhe, mir vielleicht einſt werden koͤnne?

Kleta. (unſchuldig und gut) O ich verſichere euch, daß ich euch unter allen Rittern den Preiß am willigſten goͤnne, und euch willig, wenn's in meiner Macht ſtuͤnde, hoͤher als der Kaiſer lohnen wollte.

Hugo. O dann wollte ich ſelbſt mit dem Satane kaͤmpfen, und ihn uͤberwunden zu euern Fuͤſſen ſchleppen, damit er das Mei -339 ſterſtuͤck der Schoͤpfung knirſchend bewundre, und den Gluͤcklichſten unter den Sterblichen beneide!

Der Kampf auf Stich und Hieb, auf Beil und Kolbenſchlag dauerte zehn Tage lang. Hugo trat in dieſer Zeit vierzigmal in die Schranken, und verließ ſie immer als Sieger. Nur einmal wankte er maͤchtig, wie ein eiſenfeſter ſchwaͤbiſcher Ritter die Lanze an ſeinem Harniſche zerbrach. Kleta ſchrie laut auf, wie er vom Roſſe zu ſinken droh - te, aber Hugo ermannte ſich ſchnell, ſezte eine neue Lanze ein, und der Ritter ſchnell - te in Sand herab. Den heutigen Sieg dan - ke ich euch, ſprach er zu Kleta, wie er ſie am Ende des Spiels die Stuffen herabfuͤhr - te, ich hoͤrte eure Theilnahme, und fuͤhlte mich ſtaͤrker, als je. Kleta druͤckte unwill - kuͤhrlich ſeine Hand, und geſtand ihm offen, daß ſie noch vom jaͤhen Schrecken zittere, undY 2340es gerne ſehen wuͤrde, wenn er ſich kuͤnftig nicht immer an den ſtaͤrkſten wage.

In den Tagen des Kampfes wurden keine Freudenfeſte gefeiert, die Kaͤmpfenden bedurf - ten der Ruhe. Die Jungfrauen zogen immer unter der Obhut ihrer Ehrendamen wieder heim, und mußten, bis nach entſchiednem Siege, der kuͤnftigen Feſte und des damals ſo beliebten Reihentanzes harren.

Kletas Mutter laͤchelte zufrieden und ſtolz, wie ihr kund ward, daß ihre Tochter die Koͤnigin des Feſtes ſei. Das Loos war gerecht, ſchrieb ſie im Taumel der Freude auf die Tafel, deine Geburt berechtigt dich zu dieſer Ehre, du verdienſt ſie wuͤrklich. Kleta forderte naͤhere Erklaͤrung uͤber dieſe dunkle Rede, aber Edeldrud wiſchte die Worte ſchnell hinweg, und trat mit naſſem Blicke ans Fen - ſter.

341

Kleta hatte von fruͤher Jugend an ihre Tage in ſtiller Ruhe durchlebt, izt war ſie mit einmal ins bunte Hofgewuͤhle verwickelt worden, ſie taumlete, gleich einer Traͤumen - den, darinne umher, es war ihr weh und wohl ums Herz. Weh, wenn die Hunderte alle nach ihr hinſtarrten; wohl, wenn ſie un - ter den Hunderten den tapfern Hugo erblickte, deſſen reizende Geſtalt ihr immer mehr be - hagte, deſſen Tapferkeit ſie immer ſtaͤrker bewunderte. Sein Bild wanderte auch mit ihr ins ruhige Gemach, oft ſah ſie ihn in Augenblicken der erhizten Einbildungskraft nahe vor ihrem Sitze ſtehen, und fuhr ſo raſch empor, daß die Mutter ſorgfaͤltig nach der Urſache forſchte. Gern haͤtte ſie ihr ſolche geſtanden, wenn nicht immer geſchaͤftige Die - nerinnen gegenwaͤrtig geweſen waͤren, welche den Putz des kuͤnftigen Tages ordneten, und das Geſtaͤndniß hinderten.

342

Der eilfte Tag erſchien nun, und mit ihm die Stunde, in welcher die Kampfrichter den Tapferſten nennen, und Kleta ihm den Preiß reichen ſollte. Sie war diesmal in weiſſe und himmelblaue Seide gekleidet, und glich voll - kommen einer Huldgoͤttin, welche von hoͤhern Gefilden herabſteigt, um den Menſchen be - greiflich zu machen, daß es noch ſchoͤnere We - ſen, wie er, giebt. Die Ritter ſtanden in dichtem Haufen an den Schranken, in welchen die Richter ſaſſen, ſie erkannten einſtimmig den Hugo von Immenthal fuͤr den tapferſten. Der Herold rief ſeinen Namen aus, er trat mit entbloͤßtem Haupte aus dem Haufen her - vor, die Jungfrauen warfen Blumen und Kraͤnze auf ihn herab, er dankte, aber ſein Blick hing an Kleta, die mit zitternder Hand den Helm hob, und ihn gegen ihn ausſtreckte.

Du warſt der Tapferſte, ſprach ſie mit ſtammelnder Stimme, du verdienſt den er -343 ſten Preiß und Dank! Mit dieſem Helme lohnt dich der Kaiſer, welcher den Tapfern liebt. Mit dieſem Kuſſe (ſie zoͤgerte, und ſank endlich an ſeine Wangen) mit dieſem Kuſſe lohne ich dich im Namen aller edlen Jungfrauen, welche den tapfern Juͤng - lingen hold ſind!

Jubelgeſchrei und Trompetenklang ertoͤn - te weit und breit umher, viele Ritter wuͤnſch - ten ſich an Hugos Stelle, mehrere Jungfrau - en neideten Kletas Gluͤck, alle glaubten aber einſtimmig, daß Hugo einen doppelten Preiß, des Kaiſers Helm und Kletas Herz, erhal - ten habe. Hugo glaubte dies auch mit won - nevollem Entzuͤcken, und muͤhte ſich aͤuſſerſt, ſeinen Glauben durch frohe Hofnung, durch naͤhere Gewißheit zu ſtaͤrken. Er ſaß bei der Tafel ihr zur Seite, er eroͤfnete an ihrer Hand den Siegesreihen, und Kleta ſtammle - te ihm Liebe, als er ſie einſt nach einem Er -344 ker fuͤhrte, und, vom Tanz und Liebe er - hizt, Entſcheidung ſeines Gluͤckes von ihr heiſchte.

Der beobachtende Kaiſer ſah ſeines Lieb - lings Gluͤck, und goͤnnte es ihm vom Herzen. Auch ihm behagte Kletas Geſtalt und Betra - gen, nicht Juͤnglingsliebe, nicht Wallung der Wolluſt zog ihn nach ihr hin; er wußte ſich die Neigung ſelbſt nicht zu erklaͤren, ſie glich der Liebe eines Vaters, welcher ein verlohrnes, lang entbehrtes Kind unverhoft wiederfindet. Er ſprach oft mit ihr, und forſchte einſt mehr, als gewoͤhnlich, nach ihres Vaters Namen. Kleta achtete es fuͤr ungerecht, dem Kaiſer irgend etwas zu verſchwei - gen; er hoͤrte mit ſichtbarer Ruͤhrung zu, kuͤßte am Ende mit thraͤnendem Auge Kletas Stirne, und verſprach, des Eheſtens ihre Mutter zu beſuchen.

345

Die Tage des Feſtes floſſen ſchnell vor - uͤber, denn nichts rauſcht ſchneller, als Ge - nuß der Freude. Kleta fuͤhlte ſich ungluͤck - lich, als ſie wieder in der muͤtterlichen Woh - nung eingeengt war, nicht mehr am Arme des Geliebten die bunten Reihen durchfliegen, ſticken oder weben ſollte. Ihr geliebter Hugo hatte ihr beim Abſchiede verſprochen, am fol - genden Tage vor dem muͤtterlichen Hauſe zu erſcheinen, und wuͤrde er eingelaſſen, bei der Mutter um der Tochter Hand zu werben. Kleta achtete es fuͤr noͤthig, die gute Mut - ter darauf vorzubereiten; ſie zoͤgerte lange, endlich begann ſie doch.

Liebe Mutter, ſprach ſie ſtotternd und mit geſenktem Blicke, ihr habt wahrgeſpro - chen! Das Turnier, die Ehre, welche ich auf dieſem genoß, ſcheint Gottes Fuͤgung zu ſein. Hugo von Immenthal erhielte den Preis! Ach! ihr haͤttet nur ſehen ſollen, wie346 tapfer er kaͤmpfte! Er iſt des Kaiſers Lieb - ling! Sein Vater war ein edler, aber auch armer Ritter! Dies hat der Kaiſer erwogen und den tapfern Sohn mit vielen Guͤtern belehnt, mit noch mehrern be - ſchenkt! Er iſt izt wohlhabend und reich! Er koͤnnte zehn Weiber anſtaͤndig er - naͤhren.

Die Mutter. (laͤchelnd, dieſe und alle folgende Reden ſchreibend) Was willſt du mit allen dieſen Reden ſagen?

Kleta. Je nun! (ſtotternd) Ich wollte nur Wie ich ihm den Preis reichen, und im Namen aller Jungfrauen kuͤſſen mußte da dachte ich eurer Rede, und da Wie wir einſt den Rei - hen getanzt hatten, und ich im Erker Luft ſammlete, da trat er zu mir da frag - te er mich, drang[ungeſtuͤm] Nein,347 nicht ungeſtuͤm, aber doch auch heftig in mich, und da dachte ich wieder an eure Wor - te, und und verſteht ihr mich denn nicht, Mutter?

Mutter. (laͤchelnd) O! nur allzu gut! Du liebſt!

Kleta. Wenn dies Liebe iſt und freilich was kann es anders ſein? Ihr moͤgt wohl recht haben Aber dann liebt er mich auch, recht ſehr liebt er mich! Er will bei euch um mich wer - ben vielleicht heute noch! Ihr werdet ihn doch nicht abweiſen? Der Kaiſer billigt ſeine Wahl, auch er will ihm ſein Vorwort verleihen, und den Kaiſer, Mut - ter, den Kaiſer duͤrft ihr nicht beleidigen. Er iſt ſo lieb, ſo gut! Er ſprach oft mit mir. Er nannte mich ſeine Tochter, und Thraͤnen glaͤnzten in ſeinem Auge, wenu348 er mich ſo nannte. Er wird euch naͤchſtens heimſuchen, er hat's mir verſprochen; er haͤtte viel mit euch zu reden, ſagte er einige mal, und hofte, Freude und Troſt bei euch zu finden.

Die Mutter. (weinte heftig)

Kleta. Ihr weint auch? Darf Hugo nicht erſcheinen, wenn er kommt?

Die Mutter. Er darf! Ich will ihn kennen lernen, und entſpricht er meiner Er - wartung, ſo will ich deine Liebe nicht hin - dern, ſondern vielmehr foͤrdern Mein Ende naht ſich, ich fuͤhl's zu deutlich! Du bedarfſt eines Gatten! Ich werde vergnuͤgt ſterben, wenn ich dich an meinem Lager in ſeinen Armen erblicke.

349

Kleta. (voll Freude.) Ihr wollt ihn alſo ſehen, ſprechen, kennen lernen? O das habt ihr ja ſchon! War er nicht neu - lich ſchon bei euch? Brachte er nicht die Ein - ladung zum Turnierfeſte?

Die Mutter. (haſtig) Dieſer iſt's? Dieſer iſt Hugo von Immenthal?

Kleta. Ja! Ja! dieſer iſt's?

Die Mutter. (immer haſtiger) Der Ritter mit dem rollenden, ſchwarzen Auge? Mit der gebognen Habichtsnaſe?

Kleta. Ja, der Ritter mit dem ſchoͤ - nen Auge, mit der aͤchten Heldennaſe!

Die Mutter. (ſtuͤzt ihren Arm auf den Tiſch, verdeckt mit der Hand350 ihr Geſicht, nach langem Kampfe) Ich will ihn noch einmal ſehen, aber dann Liebe Tochter, wenn ich's hindern muß, ſo mußt du unbedingt folgen!

Kleta. Das waͤre ſchrecklich!

Die Mutter. Schrecklich, aber du mußt!

Der lange Morgen floß nun ſtill und traurig voruͤber. Edeldrud ſaß mit ſtarren Blicken auf ihrem Sitze, Thraͤnen ſchlichen oft uͤber ihre bleichen Wangen herab. Kleta ſchlich zagend und bangend im Gemache um - her, blickte nach ihrer Mutter, hofte, wuͤnſch - te und ahndete. Sie eilte zitternd ans Fen - ſter, wenn auf der Straſſe Huftritte ertoͤn - ten, ſie wankte traurig zuruͤck, wenn ein fremder Ritter voruͤberzog.

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Wie Nachmittags die Diener die unbe - ruͤhrten Speiſen wieder abgetragen hatten, meldete einer derſelben den Ritter Hugo von Immenthal. Die Mutter ſchauderte hoch em - por, Kleta zitterte und bebte; endlich wink - te Edeldrud, und er ward vorgelaſſen. Ihr Blick ſtarrte nach ihm hin, wie er eintrat; ſie verhuͤllte ihr Geſicht, wie er naͤher kam. Hugo ſtaunte ob des Empfanges, er blickte nach Kleta hin, welche ihn zu troͤſten wuͤnſch - te, aber nicht troͤſten konnte. Endlich faßte ſich Edeldrud, ſie nahm den Griffel in die Hand, und ſchrieb die Frage auf: Wie nann - te ſich euer Vater? Hugo konnte nicht le - ſen, Kleta mußte die Frage erklaͤren. Mein Vater, ſprach Hugo ſtandhaft, war einer der unſchuldigen Edlen, welche man faͤlſch - lich der Theilnahme an Kaiſer Albrechts352 Mord beſchuldigte, er nannte ſich Otto von Farwangen

Wie er dieſe Worte ausgeſprochen hatte, ſprang Edeldrud von ihrem Sitze empor, ſie ſtarrte fuͤrchterlich nach Hugo hin, ſie winkte mit der Hand, wollte gehen, vermochte es nicht, und ſtuͤzte ſich auf ihre Tochter. Da ſie immer nach dem andern Gemache zu ge - hen wuͤnſchte, ſo leitete ſie Kleta endlich da - hin.

Hugo ſtand lange ſtaunend und harrend im Gemache, endlich meldete ihm eine Die - nerin, daß die edle Frau ihn heute nicht ſprechen koͤnne, aber morgen um dieſe Zeit ganz gewiß wieder hier zu ſehen wuͤnſche, viel mit ihm zu ſprechen habe. Er ginghoffend353hoffend und fuͤrchtend, denn er liebte Kleta unausſprechlich, konnte ſich ohne ihren Beſitz kein Leben mehr denken.

Eben ſo ergings der gleich ſtark lieben - den Kleta, ſie ſtand weinend an ihrer Mut - ter Seite, welche einen fuͤrchterlichen Kampf zu kaͤmpfen ſchien, bald ihre Arme mit Em - pfindung der Freude und Sehnſucht ausſtreck - te, bald wieder ſchaudernd zuruͤckſank, und ihr Geſicht verhuͤllte. Als es ſchon Mitter - nacht war, und Kleta immer noch an ihrem Lager wachte, forderte ſie den Griffel, und ſchrieb folgende Worte auf:

Arme Kleta, ich bedaure dich, du kannſt, du darfſt nie Gattin des Hugo von Immen -Biogr. d. W. z. B. Z354thal werden! Entſage dieſer Liebe, die ich nicht billigen kann. Naͤhre ſie nicht mit der Hofnung, daß mein Tod dir freie Wahl gewaͤhren wird. Ich muß ſie dir rau - ben, muß alles verhindern, da ich noch lebe. Der Mutter Fluch iſt ſchrecklich, geht immer in ſtrenge Erfuͤllung! Er wuͤrde dich tauſend - faͤltig treffen, wenn du mein Gebot verach - teſt! Kleta! Kleta! wenn du dies vermoͤch - teſt, dann wuͤrde ich noch in der Ewigkeit die Stunde verwuͤnſchen, in welcher ich dich gebahr, und mit Gott rechten, warum er mir ein ſo ungehorſames Kind ſchenkte. Kleta! Kleta! wenn du mit ihm zum Al - tare wandelſt, ſo wird der Prieſter Fluch, ſtatt Seegen, uͤber euch ausſprechen, wenn du ihn als Gatte in deine Kammer fuͤhrſt, ſo moͤge dein Brautbette ſich in Stein, und355 die weichen Pfuͤhle deſſelben in ein brennen - des Schwefelbad verwandeln! Schaudre zu - ruͤck vor dieſem Fluche, und erinnere dich deſſen all dein Lebelang!

Schrecklich! Schrecklich! ſchrie die geaͤng - ſtigte Kleta, wie habe ich dies verdient, daß meine gute Mutter mir mit dem Fluche droht, mit einmal mich ſo graͤnzenlos un - gluͤcklich macht?

Daruͤber, ſchrieb Edeldrud, ein ander - mal, vielleicht bald naͤhere Erklaͤrung. Bis dahin ehre aber mein Gebot, und dulde im Stillen. Lange habe ich die Groͤſſe meines Ungluͤcks allein getragen, aber bald werde ich einen Theil deſſelben auf deine Schultern le - gen muͤſſen. Haſſe mich nicht, verachte mich nicht, ich kann's nicht aͤndern!

Z 2356

Kleta ſchwieg, die Groͤſſe ihres Jam - mers raubte ihr die Sprache, ſie ſuchte ſich zu faſſen, aber wenn ſie vorwaͤrts blickte, ihren Hugo, in den Armen einer andern, ſich verlaſſen ſah, da wollte ihr Herz brechen, ihr Muth ganz ſinken.

Wie der Morgen nahte, ſchien ihre Mut - ter zu ſchlummern, aber bald fuhr ſie aus dieſem Schlummer empor, und ließ ſich nach einem nahen Kloſter fuͤhren, von deſſen Thurme man eben die Fruͤhmeſſe verkuͤndig - te. Kleta folgte nicht, ſie war's nicht ver - moͤgend, Thraͤnen ſchienen eben ihren Schmerz erleichtern zu wollen, ſie warf ſich auf ihr Lager, und nezte es mit dieſen.

Nach einer Stunde weckte man ſie aus ihrem Schlummer, und berief ſie ans Lager357 der Mutter. Sie lag ſtarr und roͤchelnd auf dieſem, ſchien ſelbſt ihr einziges Kind nicht mehr zu kennen. Zwei Maͤgde hatten ſie nach dem Kloſter geleitet, ſie betete dort am Altare der Mutter Gottes, wo eben ein ehrwuͤrdiger Prieſter die Meſſe las; ſchon war dieſe beinahe geendigt, als der Prieſter ſtarr ſtehen blieb, und endlich ohnmaͤchtig zu Boden ſank. Wie die herbeigeeilten ihn weg - trugen, ſahen erſt die Maͤgde, daß ihre Frau ſich im gleichen Zuſtande befinde; ſie war ruͤckwaͤrts zu Boden geſunken, und roͤchelte gleich einer Sterbenden. Nur mit Muͤhe konnte man ſie nach Hauſe und auf ihr La - ger tragen.

Kleta warf ſich uͤber ſie hin, und ſuchte ſie durch ihr Geſchrei zu wecken, aber Edel -358 drud hoͤrte ſie nicht mehr. Der herbei gerufne Arzt erklaͤrte, daß der kalte Schlag*)So nannte man damals alle gewaltſame〈…〉〈…〉 kungen und Laͤhmungen, welche nicht durch die Wallung des Blutes entſtanden. ſie geruͤhrt habe, und keine Hofnung zu ihrer Rettung vorhanden ſei. Kleta ſank bei dieſer Nachricht troſtlos und ohnmaͤchtig zu Boden; wie ſie wieder erwachte, hatte ihre Mutter ſchon vollendet.

(Die Fortſetzung folgt.)

About this transcription

TextBiographien der Wahnsinnigen
Author Christian Heinrich Spiess
Extent375 images; 43895 tokens; 7547 types; 300133 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationBiographien der Wahnsinnigen Drittes Bändchen Christian Heinrich Spiess. . [4] Bl., 358 S. VoßLeipzig1796.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, 19 ZZ 8817-3http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=029693446

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; mts

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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