PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I][II]
Die Verwaltungslehre.
Fünfter Theil.
Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.1868.
[III]
Die Innere Verwaltung.
Zweites Hauptgebiet. Das Bildungsweſen. Erſter Theil. Das Elementar - und das Berufsbildungsweſen in Deutſchland, England, Frankreich und andern Ländern.
Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.1868.
[IV][V]

Vorrede.

Ich muß mit dem Bekenntniß beginnen, daß ich bei keinem Theile des ganzen Verwaltungsrechts ſo klar wie bei dem vorliegen - den das Bewußtſein gehabt habe, daß es mir unmöglich ſein werde, das Material auch nur bis zu dem Grade zu bewältigen, den ich in den bisherigen Theilen meiner Arbeit erreicht habe. Je weiter man in dieß Gebiet dringt, je mehr muß man die Ueber - zeugung gewinnen, daß die vollſtändige Bearbeitung deſſelben das ganze Leben, die ganze Kraft eines Menſchen fordert und daß der - jenige ſehr viel und Hochwichtiges geleiſtet haben wird, dem es gelingt, hier auch nur den weſentlichen Anſprüchen nach allen Seiten hin zu genügen.

Ich verſtatte mir jedoch dieſes aufrichtige Bekenntniß nicht, um für die Mängel des Folgenden in gewöhnlicher Weiſe Entſchul - digung zu finden. Denn ich habe beim Beginn meiner Arbeit ge - wußt, wie viel ich nicht werde leiſten können. In dieſem Bewußt - ſein aber mußte ich mich fragen, worin denn eigentlich neben jenen Mängeln, die der Fachmann in jedem Theile finden wird, das Ziel und damit der Werth einer ſolchen Arbeit beſtehen könne und ſolle.

Ich will auch dieß mit ganzer Offenheit ſagen, auf die Gefahr hin, mißverſtanden zu werden.

In der großen, faſt täglich wachſenden Literatur über das Bildungsweſen ſowohl im Ganzen als über einzelne Theile fehlen drei Dinge, ohne welche ſie ſtets unvollkommen bleiben wird.

Zuerſt fehlt eine Arbeit, welche alle Gebiete des geſammten Bildungsweſens als ein Ganzes umfaßt und damit die GrundlageVI des organiſchen Bewußtſeins und Verſtändniſſes deſſelben liefert. So viel wir wiſſen, iſt die Aufſtellung eines ſolchen Syſtems über - haupt noch nie verſucht, geſchweige denn durchgeführt. Daß aber daſſelbe für die Wiſſenſchaft unabweisbar geworden iſt, nachdem das öffentliche Recht es im wirklichen Leben bereits hergeſtellt, iſt nicht fraglich.

Zweitens fehlt vielleicht wohl gerade aus dem obigen Grunde eine klare Beſtimmung der meiſten Einzelbegriffe und ihrer Grenzen gegen einander. Es iſt ziemlich vergeblich, nach einer wiſſenſchaftlichen und damit allgemein gültigen Beſtimmung des Weſens von Volks - und Bürgerſchule, von wiſſenſchaftlichen und wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten, von Real - und Gewerbeſchule und hundert andern Erſcheinungen zu ſuchen, denn ſelbſt Wieſe’s Definitionen beziehen ſich nur auf preußiſche, nicht einmal gleich - artige Verhältniſſe. Die Wiſſenſchaft hat alle dieſe Dinge ſo ſehr der Praxis und dem Experimente überlaſſen, daß die letzteren ſich ſchon deſſen entwöhnt haben, bei der erſteren überhaupt darüber Rath zu ſuchen. Und doch iſt ein rechtes Verſtändniß des in jedem Lande wirklich vorhandenen, gültigen Syſtems des öffentlichen Bil - dungsweſens und ſeines Rechts ohne ſolche feſte Begriffsbeſtim - mungen, ja wenn man will ohne Schema, geradezu nicht möglich.

Drittens fehlt dieſem Theile der Wiſſenſchaft des öffentlichen Rechts, was ſo ziemlich auch allen andern fehlt, das Bewußtſein und die Erkenntniß der nationalen oder individuellen Geſtalt des Bildungsweſens in den Kulturländern. Wir haben namentlich in neueſter Zeit ſehr ſchöne Arbeiten über Englands und Frankreichs Bildungsweſen; aber wir haben keine Vergleichung derſelben, weil eben das feſte Syſtem, das tertium comparationis, mangelt.

Einer der Hauptgründe für dieſe Mängel beruht nun wohl auf der hiſtoriſchen Thatſache, daß bisher eine innere oder gar äußere Einheit, eine Gemeinſchaft des Bewußtſeins der Aufgaben und ihres organiſchen Ineinandergreifens für alle Theile des Bil - dungsweſens gefehlt hat und fehlt. Es exiſtiren noch ſehr wenig Berührungen zwiſchen den Lehrern in den Schulen, den Lehrern auf den Vorbildungsanſtalten und dem Profeſſorenthum an denVII Hochſchulen. Hier herrſcht noch das große hiſtoriſche Princip der ſtändiſchen Körperſchaften und ihrer Abgeſchloſſenheit. Es ſind noch ganz verſchiedene Welten, die Volksſchule, das Gymnaſium und die Univerſität. Und geht man gar hinüber in die Arbeit der allgemeinen Bildung, namentlich in die der Preſſe, wie weit iſt da die Erkenntniß entfernt, daß auch ſie den gleichen Beruf mit allen andern habe und daß ſie deßhalb mit jenen in innerer und äußerer Gemeinſchaft, in gegenſeitigem Heben und Tragen, wirken müßten.

Daß nun auch in dieſer Richtung ein unendlicher Fortſchritt geſchehen, iſt nicht zweifelhaft. Allein die Hauptſache bleibt zu thun. Es muß zu einem fundamentalen Princip des öffentlichen Lebens werden, daß alle Lehrer und alle Schriftſteller als Glieder Eines großen Organismus ſich in Einer und derſelben großen Ge - meinſchaft fühlen und wiſſen. Die erſte Bedingung für die Er - reichung dieſes Zieles iſt das wiſſenſchaftliche Syſtem, das ſie alle als Einheit auffaßt und in ihrem organiſchen Zuſammenwirken darſtellt. Und es iſt faſt wichtiger, daß überhaupt ein ſolches Syſtem aufgeſtellt werde, als daß es gerade ein unbedingt richtiges ſei. Die Wahrheit dieſes Satzes liegt in dem Obigen. So habe ich verſucht, das Syſtem aufzuſtellen, mit ſo viel Mitteln und Arbeits - kraft, als mir zu Gebote ſtanden. Und dabei gebe ich Eine Hoff - nung nicht auf.

Ein großer, nicht hoch genug anzuſchlagender Theil der gei - ſtigen Arbeit Deutſchlands liegt auf ſeinen Lehrſtühlen. Sie lehren nicht bloß, ſondern ſie zwingen den Lehrer zu lernen; viel mehr ſogar zu lernen, als er zu lehren vermag. Daher hat erſt der - jenige Theil des menſchlichen Wiſſens, der ſich ſeinen Platz auf einem Lehrſtuhle errungen, ſeine wahre Bedeutung gewonnen; denn der tägliche Vortrag iſt die Quelle der ewigen Jugend des Geiſtes. Nun haben wir allerdings Lehrſtühle der Pädagogik und Metho - dologie; allein wir haben gar keinen Lehrſtuhl für das Bildungs - weſen. Die ganze Arbeit unſerer Wiſſenſchaft beruht auf dem, was geſchehen ſoll für das geiſtige Leben; wie es geſchehen ſoll, das hat die Wiſſenſchaft bisher ganz der Praxis überlaſſen. Und doch iſt jenes ohne dieſes eine Seele ohne Körper; obwohl der StaatVIII Aemter und öffentliche Organe für die Verwaltung der Bildung ſeiner Angehörigen genug hat eine Verwaltungslehre für dieſe Organe beſitzt er nirgends. Das iſt ein großer Mangel. Und mit unſeren beſten Gefühlen ſprechen wir die herzliche Hoff - nung aus, daß auch das öffentliche Bildungsweſen recht bald ſeinen Lehrſtuhl an jeder Univerſität finden möge, wo ja doch die Geſundheitspflege und die Polizei, die Vor - mundſchaft und das Grundbuch, die Land - und die Forſtwirthſchaft und hundert andere Dinge ihren Platz, ihre Vertretung und ihre Koryphäen gefunden haben, wahrlich nicht zum Schaden des deut - ſchen Volkes!

Deßhalb nun, um auch dafür ein Subſtrat zu liefern, haben wir dieſe Arbeit unternommen. Wie allgemein und ernſt aber die Theilnahme an dieſen Fragen iſt, zeigt das lebendige Leben in Geſetzgebung und Literatur, die dieſen Gebieten angehören und die zum Theil erſchienen ſind, während unſere Arbeit gedruckt wurde. In der Geſetzgebung namentlich weiſen wir auf die entſtehende öſterreichiſchen und bayeriſchen neuen Schulgeſetze hin, die vom Geiſte des entſchiedenſten Fortſchrittes durchdrungen ſind. Die Lehrertage ihrerſeits arbeiten mit aller Kraft und wirken nach allen Richtungen. Namentlich aber ſchreitet unſere Zeit faſt mit Rieſenſchritten auf dem Felde der wirthſchaftlichen Vor - und Fachbildung fort, und jede Statiſtik wird hier von den Thatſachen überholt. Unſere Sache war es nicht, uns auf Statiſtik einzulaſſen. Es iſt ſehr noth - wendig, hier das große Princip der Arbeitstheilung aufrecht zu halten. Wir fordern das nicht für ſolche Arbeiten wie L. Wieſe’s höheres Schulweſen in Preußen, das einen ganz ſpeciellen amt - lichen Zweck hat, und das in ſeinem Anhang S. 622 ff. gewiſſe einſchlagende Inſtruktionen, Reglements und Statuten und der - gleichen mehr (!) zuſammenſtellt, ohne irgend einen Plan und ohne Ordnung, weil jene Verwaltung rein für ihre eigenen Zwecke arbeitet. Wohl aber fürchten wir geradezu, daß die meiſt ſehr bequeme Tendenz zur Sammlung von allerlei ſtatiſtiſchen Daten die eigentliche Arbeit der Wiſſenſchaft, das wahre organiſche Ver - ſtändniß des Ganzen, ein wenig verdränge. Was für die VerbindungIX der Statiſtik dieſes Gebietes mit der Staatenkunde überhaupt ge - ſchehen kann, dafür gibt Brachelli uns ein hochachtungswerthes Beiſpiel. Nur wenn wir uns die Arbeit theilen, werden wir des faſt übermächtigen Stoffes Herr werden. Und wir nun glauben unſrerſeits, daß dieß dadurch geſchehen wird, daß die Statiſtik ſich an das Syſtem der Wiſſenſchaft anſchließt denn dieſe ſoll das organiſche Weſen, jene die äußeren Grenzen der lebendigen That - ſachen geben. Können daher beide ein verſchiedenes Syſtem haben?

Wir können nicht ſchließen, ohne einer Arbeit zu erwähnen, die wir nicht mehr haben benützen können. Wir meinen A. Beer und F. Hochegger: Die Fortſchritte des Unterrichtsweſens in den Kulturſtaaten Europa’s 1867. Erſter Band. Die Arbeit ſcheint zunächſt aus einer Reihe von Journalartikeln entſtanden zu ſein und behält dieſen Charakter auch in ihrer gegenwärtigen Form. Wenn man einen ſyſtematiſchen Gedanken über das Bildungsweſen mitbringt, iſt vieles in dieſem Werke recht gut zu benutzen. Auf Vollſtändigkeit macht es wohl ſelbſt weder für Frankreich noch für Oeſterreich einen Anſpruch. Die Literatur iſt, wie es ſcheint, grund - ſätzlich nicht berückſichtigt; ebenſowenig iſt die pragmatiſche Geſchichte der Geſetzgebung gegeben. Was namentlich Frankreich betrifft, ſo iſt die eigentliche Bedeutung der Geſetze von 1833 und 1850 und 1852 kaum recht verſtanden, das Syſtem Duruy weit überſchätzt; die Zuſammenſtellung des Collège de France mit der Univerſität (namentlich S. 63) läßt einigen Zweifel darüber entſtehen, ob das Weſen der letzteren überhaupt richtig erfaßt iſt; die Behauptung, daß die École polytechnique an der Spitze des techniſchen Stu - dienweſens ſtehe, iſt uns unbegreiflich geblieben. Was Oeſterreich betrifft, ſo iſt Fickers Abhandlung bei Schmid an exactem Mate - rial weit reicher, wird aber gar nicht angeführt; auch auf Hel - fert wird keine weitere Rückſicht genommen. Wie es möglich war, in einer wiſſenſchaftlichen, für das ganze deutſche Publikum be - ſtimmten Arbeit die lokale und höchſt unfertige Kategorie der ſog. Mittelſchule, bei der man ſich ſtets zu viel oder zu wenig denken muß, beizubehalten, iſt uns unverſtändlich geblieben. Das WerkX liefert einen neuen Beweis dafür, daß ohne ſtrenge, wiſſenſchaft - liche Ordnung und ſpeciell ohne Unterſcheidung von gelehrter und wirthſchaftlicher, von Vor - und Fachbildung, die Behandlung auch ganz bekannter Stoffe kein recht faßbares Reſultat ergeben kann. Uebrigens wird ſelbſt der Fachkundigſte aus der geſchmackvollen Bearbeitung viel lernen. Fehlt das Inhaltsverzeichniß, weil das Syſtem fehlt? Wir ſind namentlich auf den Band geſpannt, der England behandeln wird. Das Verſtändniß des engliſchen Bil - dungsweſens wird von jetzt an der Prüfſtein für das Verſtändniß des Bildungsweſens überhaupt bleiben; erſt bei England erkennt man, daß ein Nebeneinanderſtellen noch ſehr weit von einer Vergleichung entfernt iſt.

Wir haben uns entſchloſſen, die Darſtellung des Allgemeinen Bildungsweſens äußerlich von der der Elementar - und Berufsbil - dung zu ſcheiden. Es wird das wohl der Einheit des Gedankens keinen Eintrag thun. Aber die Preſſe forderte ihre eigene Behand - lung und wir möchten viel lieber im Intereſſe der Sache wünſchen, daß unſere Leſer in dieſer äußeren Scheidung das Gefühl des in - neren Zuſammenhanges, als bei äußerer Verbindung das der in - neren Entfremdung beider Theile mit ſich nähmen.

Wien, Ende 1867.

Dr. L. Stein.

[XI]

Inhalt. Die Verwaltung und das geiſtige Leben.

  • Seite
  • EinleitungXVII
  • Allgemeiner Theil.
  • I. Begriff und Weſen der Bildung an und für ſich.
  • I. Begriff der Bildung1
  • II. Die drei Grundformen der Bildung: Weſen der Elementar -, der Be - rufs - und der allgemeinen Bildung, und ihr organiſches Verhältniß zu einander3
  • III. Das Bildungsweſen und ſein Syſtem8
  • II. Das öffentliche Bildungsweſen.
  • I. Begriff des Bildungsrechts12
  • II. Princip und Syſtem des öffentlichen Bildungsrechts13
  • III. Geſchichte der verwaltungsrechtlichen Auffaſſung im Ganzen16
  • IV. Geſchichtliche Entwicklung20
  • 1) Das geſellſchaftliche und das ſtaatliche Princip des Bildungsrechts20
  • 2) Die Stadien des öffentlichen Bildungsweſens in der Geſchichte22
  • V. Der Charakter des Bildungsweſens in den Hauptſtaaten Europas39
  • England43
  • Frankreich45
  • Deutſchland52
  • Belgien53
  • Holland55
  • Italien56
  • Die Schweiz59
  • Schweden62
  • Rußland63
  • Serbien64
  • Rumänien65
  • XII
  • Beſonderer Theil.
  • Seite
  • Syſtem67
  • Erſter Theil. Das Volksſchulweſen.
  • Allgemeiner Theil.
  • I. Der Elementarunterricht an ſich71
  • II. Das Volksſchulweſen. Die Principien ſeines Rechts und ſeiner Verwaltung73
  • III. Das Volksſchulweſen der großen Kulturvölker78
  • 1) Was man als Charakter des Volksſchulweſens zu bezeichnen hat78
  • 2) Deutſchlands Volksſchulweſen und die Elemente ſeiner Geſchichte81
  • 3) Die Nachbildungen des deutſchen Volksſchulweſens in Holland und Dänemark92
  • 4) Englands Volksſchulweſen und das Syſtem der Staatsunterſtützung93
  • 5) Frankreichs Volksſchulweſen und die Instrnction primaire100
  • 6) Die franzöſiſchen Nachbildungen im Volksſchulweſen von Belgien, Italien und der Schweiz109
  • Beſonderer Theil.
  • Das Syſtem des Volksſchulrechts113
  • Erſte Gruppe. Oeffentliche Volksſchule114
  • A. Organismus der Verwaltung114
  • B. Das Schulrecht (Schulpflicht und Schullaſt) 121
  • C. Das Lehrerrecht128
  • D. Die Lehrordnung (das Schulenſyſtem, das Klaſſenſyſtem und die Bürgerſchule) 136
  • Zweite Gruppe. Privatſchulen145
  • Weſen und Recht derſelben145
  • Zweiter Theil. Berufsbildungsweſen.
  • Allgemeiner Theil.
  • I. Der Beruf und die Berufsbildung an ſich149
  • II. Das öffentliche Berufsbildungsweſen, ſein Recht und ſein Syſtem159
  • 1) Begriff und Princip159
  • 2) Das Rechtsſyſtem des öffentlichen Berufsbildungsweſens an ſich161
  • III. Charakter des öffentlichen Rechts der Berufsbildung bei den großen Kulturvölkern165
  • 1) Charakter dieſes Bildungsweſens nach dem Standpunkte Englands, Frankreichs und Deutſchlands165
  • XIII
  • Seite
  • 2) Charakter und Recht des Prüfungsweſens in dieſen Ländern170
  • a) Princip, Syſtem und Recht an ſich170
  • b) Elemente der Geſchichte des Prüfungsweſens171
  • c) Prüfungsweſen der Gegenwart176
  • d) Charakter und Recht des Prüfungsweſens in den Hauptſtaaten Europas181
  • Beſonderer Theil.
  • Die öffentlich rechtliche Organiſation der Berufsbildungsſyſteme bei den Hauptvölkern Europas190
  • Deutſchlands Berufsbildungsſyſtem.
  • Charakter191
  • Erſtes Gebiet. Das gelehrte Berufsbildungsſyſtem193
  • A. Das gelehrte Vorbildungsſyſtem (die gelehrten und hohen Schulen, Gymnaſien, Lyceen, Athenäen, Collegien) 193
  • I. Begriff und Formen der gelehrten Schulen193
  • II. Elemente der Entwicklung des hohen Schulweſens zum Gym - naſialweſen der Gegenwart (die Gymnaſialfragen) 196
  • III. Die Elemente des Gymnaſialweſens der Gegenwart209
  • B. Das gelehrte Fachbildungsſyſtem (das Univerſitätsweſen) 218
  • Zweites Gebiet. Das wirthſchaftliche Berufsbildungsſyſtem233
  • Weſen deſſelben233
  • Die Elemente der hiſtoriſchen Entwicklung des gegenwärtigen Syſtems238
  • A. Wirthſchaftliches Vorbildungsſyſtem248
  • I. Weſen deſſelben248
  • II. Das Syſtem der gewerblichen und wirthſchaftlichen Bildungs - anſtalten (die Fortbildungs - und die Vorbildungsſchulen) 250
  • III. Das öffentliche Recht des wirthſchaftlichen Vorbildungsſyſtems253
  • B. Das wirthſchaftliche Fachbildungsſyſtem261
  • I. Allgemeiner Charakter261
  • II. Begriff und Elemente der geſchichtlichen Geſtaltung der wirth - ſchaftlichen Fachbildung262
  • III. Das öffentliche Recht und die Organiſation des wirthſchaft - lichen Fachbildungsſyſtems (Herſtellung der Anſtalten, Lehrſyſtem, Prüfungsweſen) 268
  • Drittes Gebiet. Das künſtleriſche Berufsbildungsweſen282
  • Frankreichs Berufsbildungsſyſtem.
  • I. Charakter und hiſtoriſche Entwicklung bis zur Gegenwart286
  • II. Das Syſtem296
  • Charakter deſſelben296
  • A. Gelehrte Berufsbildung in Verbindung mit der wirthſchaftlichen (Bifurcationsſyſtem in lettres und sciences) 299
  • XIV
  • Seite
  • I. Vorbildungsweſen: gelehrt und wirthſchaftlich (Instruction se - condaire) 299
  • II. Gelehrte und wirthſchaftliche Fachbildung (die Instruction supérieure oder das Syſtem der Facultés. Das Collège de France und die Specialinſtitute) 307
  • A. Das Syſtem der Facultés308
  • B. Das Collège de France311
  • C. Specialinſtitute312
  • B. Die ſelbſtändige wirthſchaftliche Berufsbildung in Frankreich. (Außerhalb der Université) 313
  • A. Conservatoire des arts et métiers315
  • B. Specialſchulen316
  • C. Künſtleriſche Fachbildung318
  • Englands Berufsbildungsweſen.
  • I. Allgemeiner Charakter319
  • II. Grundzüge deſſelben324
  • III. Die Colleges und die Universities. (Das ſtändiſche Vor - und Fach - bildungsweſen der wiſſenſchaftlichen Bildung) 326
  • V. Das ſtaatsbürgerliche Bildungsweſen331
[XV]

Die Verwaltung und das geiſtige Leben.

(Das Bildungsweſen.)

[XVI][XVII]

Die Verwaltung und das geiſtige Leben. (Das Bildungsweſen.)

Einleitung.

I.

Die Verwaltungslehre hat nun in ihrem erſten Haupttheile das phyſiſche Leben der Perſon in denjenigen Verhältniſſen dar - gelegt, in denen es theils die Bedingungen ſeiner Entwicklung von der Gemeinſchaft empfängt, theils ſelbſt eine dieſer Bedingungen der letzteren wird. Die Verwaltung dieſes phyſiſchen Lebens ent - hält die Geſammtheit der Aufgaben und Thätigkeiten, vermöge deren der Staat als perſönliche Geſtalt der Gemeinſchaft für jenes phy - ſiſche Leben der Perſon dieſe Bedingungen herſtellt. So entſtand das, was wir den Erſten Theil der Innern Verwaltung genannt haben.

Das zweite große Gebiet des menſchlichen Daſeins nun iſt das geiſtige Leben. Die Welt des Geiſtes iſt zwar untrennbar mit der des Leibes verbunden; allein dennoch iſt ſie in Weſen, Ent - wicklung und Ziel eine ſelbſtändige. Es iſt nicht nothwendig, ihre hohe Bedeutung hier hervorzuheben. Daß in ihr die Grundlage und der letzte Ausgangspunkt alles menſchlichen Daſeins gegeben iſt, iſt gewiß. Ebenſo gewiß iſt aber auch, daß dieſe geiſtige Welt der phyſiſchen in denjenigen Grundverhältniſſen, mit denen ſie ſich der Geſammtheit und der Gegenſeitigkeit des Lebens, Werdens undStein, die Verwaltungslehre. V. 11XVIIIVergehens zuwendet, gleichartig organiſirt iſt. Auch ſie hat Be - dingungen, welche ſie durch ſich ſelber nicht herzuſtellen vermag; auch ſie iſt eine der großen, vielleicht die größte Bedingung der geſammten Entwicklung der Menſchheit. Auch ſie bildet daher eine Aufgabe der Thätigkeit der Innern Verwaltung. Und die Geſammt - heit der Grundſätze, Geſetze, Thätigkeiten und Anſtalten, vermöge deren die Innere Verwaltung die, den Einzelnen unerreichbaren Bedingungen ſeiner individuellen geiſtigen Entwicklung und damit des geiſtigen Lebens der Völker herſtellt, nennen wir das Bil - dungsweſen.

Von allen Theilen der Verwaltungslehre iſt nun das Bildungs - weſen nicht bloß ſeinem Umfang, ſondern auch ſeinem Inhalt nach das ſchwierigſte. Das geiſtige Leben überhaupt iſt nicht allein un - endlich groß und vielgeſtaltig, ſondern die Beziehungen deſſelben ſind ſo mannigfach, daß ſie ſchwer eine feſte Geſtalt gewinnen und daher ſchwer eine feſte Darſtellung annehmen. Es iſt ſeinem in - nerſten Weſen nach frei und beſtändig geneigt, ſich einer äußern, beſtimmten Ordnung zu entziehen. Es wechſelt in ſeinen Formen am meiſten, weil eben in dieſen ſeinen Formen der Wechſel des ganzen Lebens zum höchſten geiſtigen Ausdruck gelangt. Es hat daher, wie das Folgende es zeigen wird, auch noch bei vielfach tiefgehender Erörterung des Einzelnen, im Ganzen und in ſeiner vollen organiſchen Einheit keine Bearbeitung gefunden. Und es iſt daher nothwendig vielleicht am nothwendigſten in der ganzen Verwaltungslehre ſich über die leitenden Grundbegriffe und ebenſo über ihre Namen einig zu ſein, ehe man in das Ein - zelne eingeht.

II.

Die erſte Vorausſetzung an ſich und beſonders im Hinblick auf die bisherigen Bearbeitungen iſt nun dafür wohl die, das Ver - hältniß der Verwaltungslehre zur Lehre vom geiſtigen Leben und ſeinen Grundformen feſtzuſtellen.

Wir nennen das geiſtige Leben, inſofern es aus einzelnen Kenntniſſen und Fähigkeiten beſteht, die ihrerſeits durch ArbeitXIX erworben und wieder durch Arbeit verwerthet werden, die geiſtige Güterwelt. Die einzelne Kenntniß und Fähigkeit, als Produkt geiſtiger Arbeit und wirthſchaftlicher Verwendung, und als Moment an der Produktion neuer Güter, iſt das geiſtige Gut, das neben ſeinem ſittlichen auch einen ſehr beſtimmten wirthſchaftlichen Werth hat und daher ſogar täglicher Gegenſtand des Verkehrs ſein kann. Die Grundſätze und Geſetze, nach welchen dieſe geiſtigen Güter dem Einzelnen durch die Mitarbeit Anderer erworben werden, bilden die Pädagogik. Die formalen Regeln der Lehre ſind in der Methodologie enthalten. Der Proceß dieſer Produktion des geiſtigen Güterlebens iſt die Bildung. Das ſind lauter Begriffe, welche noch im reinen Weſen der geiſtigen Perſönlichkeit liegen.

So bald nun alle dieſe Verhältniſſe und Aufgaben nicht mehr durch Willkür und Neigung des Einzelnen, ſondern durch den be - wußten Willen der Gemeinſchaft der Menſchen beſtimmt werden, entſteht auch hier der Begriff und die Thätigkeit der Verwaltung oder das Bildungsweſen. Das Bildungsweſen hat daher die Päda - gogik, die Methodologie und den Begriff der Bildung voraus - zuſetzen. Das Bildungsweſen als Inhalt der Verwaltungslehre hat ſeinerſeits zur Aufgabe, die Geſtalt der bildenden Arbeit als beſtimmten Inhalt des Willens des Staats und damit als Bil - dungsrecht das öffentliche Recht der Ordnung für dieſe Bil - dung aufzuſtellen. Das öffentliche Bildungsweſen als Inhalt der Verwaltungslehre muß daher in jenen an ſich ganz freien und oft rein willkürlichen Proceß der bildenden Arbeit und der Pro - duktion der geiſtigen Güter eines Volkes feſte Kategorien hinein - bringen und beſtimmte Gränzen und Grundbegriffe in dem Fluß des geiſtigen Lebens[aufſtellen]. Wenn daher die Pädagogik und Methodologie lehren, wie die Bildung im Ganzen oder in ihren einzelnen Gebieten erworben werden ſoll den, durch das Weſen der Wiſſenſchaft geforderten Proceß der Produktion der geiſtigen Güter ſo lehrt das Verwaltungsrecht des Bildungsweſens, wie die Bildung durch die[organiſirte] Thätigkeit der Gemeinſchaft er - worben wird. Während für Pädagogik und Methodologie die Bildung als ein Werden und eine Arbeit erſcheint, erſcheint dieſelbeXX für die Verwaltungslehre als die beſtimmte äußere Geſtalt und Ordnung der Bildungszweige, Organe und Anſtalten, vermöge deren eben die Verwaltung und nicht mehr der Einzelne, jene bil - dende Thätigkeit als eine Aufgabe der Gemeinſchaft gegen ſich ſelbſt vollzieht. Erſt in der Verwaltungslehre gewinnt mithin die Bildung ihre feſte Geſtalt; und in dieſer objektiven Kriſtalliſirung des Bil - dungsweſens durch das Verwaltungsrecht liegt eigentlich der Werth und die formell höchſt wichtige Aufgabe der Verwaltungslehre gegen - über der abſtracten Wiſſenſchaft der Bildung.

Es hat nun einen großen Werth, ſich über dieß Verhältniß klar zu ſein. Denn es ergibt ſich daraus, daß das Bildungsweſen auf dieſe Weiſe erſt durch die Verwaltungslehre und ihr Recht eine praktiſche Wiſſenſchaft wird. Die Thätigkeiten und Anſtalten des Staats ſind am Ende der große Organismus, der die allgemeinen Principien der Bildungslehre verwirklichen ſoll; und dieſer Orga - nismus bringt nun ſeine Grenzen, ſeine Forderungen, ſeine Natur in die abſtrakten Wünſche und Beſtrebungen der Pädagogik und Methodologie hinein; alles Gute und Schlimme, Fortſchritt und Rückſchritt werden erſt wirklich durch das, was der Staat zum geltenden Bildungsrecht erhebt; was für die Bildung wirklich ge - ſchieht, geſchieht erſt durch die Verwaltung. Ohne eine ſelbſtändige Verwaltungslehre des Bildungsweſens wird daher jede Bearbeitung des letzteren entweder unpraktiſch oder werthlos.

Nun iſt es bis auf die neueſte Zeit ſo geweſen, daß die päda - gogiſchen Arbeiten eben dieſe praktiſche Seite des Bildungsweſens, ſein öffentliches Recht, entweder gar nicht, oder in ganz unter - geordneter Weiſe behandelt haben. Sie ſind daher auch zu keinem feſten Syſtem gekommen und eine wahre ſyſtematiſche Vergleichung iſt dadurch unthunlich geworden. Die Aufgabe des Folgenden iſt es nun, womöglich die feſten Elemente des öffentlichen Rechts und damit der Vergleichung des wirklich vorhandenen Bildungsweſens in der Weiſe aufzuſtellen, daß die beiden Zwecke, welche die Ver - waltungslehre hat, dadurch angebahnt werden; einerſeits, daß die Natur der großen öffentlich rechtlichen Inſtitutionen für das Bil - dungsweſen und ſein Recht in ihrem innern Zuſammenhange mitXXI dem poſitiv Geltenden erſcheinen, andererſeits, daß die Verſchieden - heit dieſes Rechts auf ihre wahre Quelle, die geſellſchaftliche und ſtaatliche Individualität der einzelnen Völker zurückgeführt werde.

Wird nun das erreicht, ſo iſt damit auch die Grundlage für ein Weiteres gegeben. Es iſt zwar unmöglich, den ganzen Stoff zu bewältigen und ebenſo unmöglich, die weitere Entwicklung des Rechts der Bildung beſtändig zu verfolgen. Aber Eins iſt mög - lich und darum auch nothwendig. Es müſſen die großen Grund - formen des Bildungsweſens, die in allem Wechſel des Rechts die - ſelben bleiben, feſtgeſtellt und es muß damit der Weg dafür ge - funden werden, daß jeder, dem die organiſche Grundgeſtalt des Ganzen klar iſt, nunmehr ohne Schwierigkeit die Stelle und die innere Bedeutung neuer Rechte, Anſtalten und Geſetze beſtimmen und meſſen könne. Das iſt das Streben der ſyſtematiſchen, or - ganiſchen Seite des Folgenden. Und gelänge das, ſo wäre es möglich, das Bildungsweſen und ſein Recht als ſelbſtändige Doctrin neben der Lehre von demjenigen hinzuſtellen, was jene Anſtalten lehren ſollen.

III.

Um dieſer Aufgabe auf allen Punkten zu entſprechen, haben wir unſere Arbeit nach folgenden Geſichtspunkten eingetheilt.

Der Allgemeine Theil geht davon aus, daß das Bil - dungsweſen ein Ganzes iſt, deſſen drei Gebiete ihrem Weſen und ihren Bedingungen nach nicht von einander getrennt ſind. Das Bildungsweſen als Verwaltungsaufgabe hat daher in allen ſeinen Theilen zunächſt ein gemeinſames Princip und für alle ſeine Thätig - keiten einen gemeinſamen Geiſt und Charakter, der ſich am Ende jedes ſpecielle Gebiet unterordnet. Und dieſen behandelt der All - gemeine Theil.

Der beſondere Theil faßt dagegen die einzelnen großen Gebiete des Bildungsweſens in ihrem Charakter und Recht für ſich auf und läßt die Thätigkeit und die Anſtalten der Verwaltung für jeden dieſer Theile wieder als ſelbſtſtändiges Ganze für ſich er - ſcheinen. Die drei Theile, in welche derſelbe zerfällt, enthaltenXXII daher zunächſt drei Aufgaben für ſich, eine jede nach den ihrem Weſen entſprechenden ſyſtematiſchen Elementen und wiederum nach derjenigen Geſtalt dargeſtellt, die ſie in jedem der großen Kultur - völker durch Geſchichte und Nationalität empfangen haben.

Das Kriterium des Werthes und der Richtigkeit dieſes ver - waltungsrechtlichen Syſtems wird dann in der Erfüllung der oben angegebenen Forderung durch daſſelbe beſtehen, daß jede auf die geſammte Verwaltung der geiſtigen Welt bezügliche Frage und jedes dazu gehörende Material ſowohl an neuen Geſetzen als auch an Statiſtik in demſelben ſeinen natürlichen Platz, und vielleicht auch einige für die Beurtheilung maßgebende Geſichtspunkte findet.

Das Kriterium des Werthes und der Richtigkeit[unſrer] Ge - ſammtauffaſſung aber wird darauf beruhen, ob es uns gelingt, die Ueberzeugung zu ſchaffen, daß alles wahre öffentliche Bildungs - weſen mit ſeinem machtvollen und nie ruhenden Organismus, mit ſeinen Grundſätzen und Anſtalten, mit ſeinen objektiv geltenden Beſtimmungen und mit ſeiner freien Thätigkeit das zum öffent - lichen Recht erhobene Bewußtſein des Staats von der auf pädagogiſcher Grundlage beruhenden Aufgabe ſeiner gei - ſtigen Verwaltung, und damit die organiſch gewordene und als ſolche erkannte Arbeit des Geiſtes für den Geiſt iſt.

[1]

Allgemeiner Theil.

I. Begriff und Weſen der Bildung an und für ſich.

I. Begriff der Bildung.

Um das weite Gebiet, welches vor uns liegt, klar zu überſehen, wird es nothwendig, zuerſt die einfachſten Grundbegriffe aufzuſtellen, und daran erſt die weitere Entwicklung derſelben anzuſchließen.

Die Grundlage aller Bildung iſt das, was wir das geiſtige Gut nennen. Es ſcheint nicht nothwendig, hier dieſen Begriff weiter zu erklären. Das organiſche Weſen des menſchlichen Geiſtes macht es nun zwar möglich, ein einzelnes geiſtiges Gut, eine einzelne Kenntniß oder Fähigkeit zu erwerben; aber es iſt unmöglich, bei dieſem Einzelnen ſtehen zu bleiben. Wie daſſelbe einerſeits aus der Anſtrengung des ganzen geiſtigen Lebens hervorgeht, ſo wirkt das erworbene andrerſeits auch auf das ganze geiſtige Leben wieder ein. Es gibt keine einzelne Kennt - niß oder Fähigkeit, kein einzelnes geiſtiges Gut für ſich. Sie ſtehen alle unter einander in lebendigem, ſich gegenſeitig erzeugenden Zuſam - menhang. Bei welchem einzelnen Gute der Menſch auch beginnen mag, immer ergibt ſich für ihn ein geiſtiges inneres Leben, in welchem er die äußere Welt in ſeinem Geiſte in ſich trägt, und das geiſtige Daſein der Dinge, eine unſichtbare Welt der Begriffe und Kräfte entwickelt, vermöge deren er die wirkliche ſich zum Verſtändniß bringt und ſie ſeinen Zwecken unterwerfen kann. Dieſen Zuſtand des Einzelnen nennen wir ſeine Bildung.

Allein ſo wenig es ein für ſich allein beſtehendes einzelnes geiſtiges Gut gibt, ſo wenig iſt auch das geiſtige Leben des Einzelnen etwas für ſich allein beſtehendes. Wie das geiſtige Element ſeinem Weſen nach allgemein iſt, ſo iſt auch das Ergebniß daſſelbe. Es geht ſtets über die Gränze des Einzellebens hinaus. Es theilt ſich von dem EinenStein, die Verwaltungslehre. V. 12dem Andern mit. Es erzeugt ſich bei dem Einen durch den Andern. Der Einzelne wird mit dem, was er geiſtig beſitzt, zum Maß und Vorbild, mit dem was er dadurch gilt, zum Sporn, mit dem was er dadurch thut, zum Lehrer und Erzieher des Andern. Die Bildung iſt daher an und für ſich keine ruhende Thatſache, ſondern ſie iſt ihrem höheren Weſen nach ein beſtändig wirkender, lebendiger Proceß, vermöge deſſen und in welchem die menſchliche Gemeinſchaft die geiſtigen Güter für jeden Einzelnen durch organiſche, mehr oder weniger bewußte Thätigkeit, hervorbringt, und jede Bildung wird dadurch zu einem geiſtigen Zuſtand der Vertheilung und des Umfangs dieſer geiſtigen Güter durch jenen Proceß, den ich in einem gegebenen Momente als Thatſache auffaſſen kann. Wir nennen einen ſolchen Zuſtand, inſofern er zugleich einen hohen ſittlichen Inhalt hat, die Geſittung oder Civiliſation. Die Elemente der Geſchichte der Geſittung ſind daher vor allen Dingen in dem Bildungsweſen einer Zeit und eines Volkes gegeben. Das Syſtem des letzteren wird zur Baſis der erſteren; ohne jenes bleibt das Urtheil über dieſes ſtets in der Sphäre des ſubjek - tiven Eindrucks, und wenn die tiefer eingehende Geſchichtſchreibung überhaupt das Studium der Verwaltungslehre und des Verwaltungs - rechts künftig vorausſetzen wird, ſo wird die Geſchichte des menſchlichen Geiſtes ohne das Studium des Bildungsweſens ewig eine unfertige bleiben.

Indeß iſt es unſre Aufgabe nicht, dieß ſpeziell zu verfolgen. Wir haben vielmehr das Verhältniß der Bildung zum Staate und zur Verwaltung auf ſeine letzten Grundlagen zurückzuführen.

Iſt nämlich die Bildung und Geſittung ein ſo gewaltiger Faktor des Lebens, ſo wird ſie ſo wenig ſich dem Einfluſſe des Staats ent - ziehen, wie der Staat es vermag, ſich gegen ſie gleichgültig zu verhalten. Allein der Ausdruck Bildung bedeutet etwas ſo Allgemeines und Unbeſtimmtes, daß ein Verſtändniß dieſes Verhältniſſes erſt da beginnen kann, wo die Bildung durch Auflöſung in ihre elementaren Grund - formen ſelbſt eine feſte Geſtalt gewinnt. Es iſt kein Zweifel, daß es Sache der Pädagogik iſt, dieſe Auflöſung zu vollziehen. Allein wir können dieſelbe dennoch nicht als bekannt oder anerkannt vorausſetzen. Der Mangel des verwaltungsrechtlichen Elements in der Pädagogik hat hier eine umfaſſende, ausreichende Auffaſſung nicht entſtehen laſſen. Nicht daher um neue Begriffe aufzuſtellen, ſondern um die bekannten ſo zu ordnen, daß ſie der Verwaltungslehre genügen, müſſen wir den oben bezeichneten abſtrakten Begriff der Bildung genauer betrachten, ehe wir zu dem Inhalt des öffentlichen Bildungsrechts gelangen können.

Jener Begriff der Bildung nämlich, wie wir ihn aufgeſtellt, enthält ſchon den Punkt, von welchem die Wiſſenſchaft allein zu dem Begriff3 und Verſtändniß dieſes öffentlichen Bildungsrechts gelangen kann. In der That nämlich gibt es darnach überhaupt keine Bildung eines Einzelnen. Jeder Einzelne iſt vielmehr im Leben des Geiſtes zugleich ein Reſultat und ein mitwirkender Faktor der Bildung; jede Bildung des Einzelnen, jeder geiſtige Beſitz ſteht in der Mitte der großen Kette, welche die geiſtige Welt aller unter einander verbindet. In jeder individuellen Bildung ſpiegelt ſich die geiſtige Arbeit der ganzen geiſtigen Welt wieder, wie das Licht der Sonne in dem Thau - tropfen; jede individuelle Bildung gibt wieder das Ihrige für die Ge - ſammtbildung her, wie der Thautropfen die Wolke und den Strom bildet. Nichts iſt großartiger, nichts iſt lebendiger, ja nichts iſt ergrei - fender als dieſe tiefe, niemals ruhende, ewig ſich ſelbſt erzeugende Gegenſeitigkeit des geiſtigen Lebens aller Einzelnen und des Ganzen; nichts bringt ſo ernſte Beſcheidenheit in den Verſtand und ſo lebens - friſchen Muth in das Bewußtſein auch der höchſten Arbeit des Geiſtes, als dieß Bild, das ſich uns entrollt, wenn wir das was wir die Bil - dung nennen, als einen der wichtigſten, ja den allergewaltigſten Proceß der Weltgeſchichte anſchauen. Und wenn es die Aufgabe der Pädagogik iſt, nun ihrerſeits zu verſtehen, wie dieſer große Proceß im einzelnen Menſchen lebt und wirkt, ſo iſt es andrerſeits die Aufgabe der Verwaltungslehre, den zweiten Faktor derſelben, die menſchliche Gemeinſchaft in ihrer großen, den Volksgeiſt umfaſſenden Thätigkeit des Gebens und Empfangens der geiſtigen Güter zur Anſchauung zu bringen. Das iſt es, wornach wir zu ſtreben haben, und das iſt es, weßhalb die Pädagogik niemals ausreichen kann, wo es ſich um jene geiſtige Welt der Menſchheit handelt. Erſt wo ſich Pädagogik im höchſten Sinne des Wortes und Verwaltungslehre die Hände reichen, kann die Menſchheit ihr eigenes geiſtiges Leben und Werden erkennen, und durch das was ſie darin lernt, für Lernen und Lehre ſelbſt weiter gelangen.

Dieß zu verſuchen iſt die ſchwierige Aufgabe unſrer folgenden Arbeit. Um ſie zu erfüllen, müſſen wir aber zuerſt, wie geſagt, die Bildung ſelbſt in ihre drei Grundformen auflöſen. Erſt an ſie kann ſich in ver - ſtändlicher und zugleich praktiſcher Weiſe das anſchließen, was wir die Verwaltung des geiſtigen Lebens des Volkes zu nennen haben.

II. Die drei Grundformen der Bildung: Weſen der Elementar -, der Berufs - und der allgemeinen Bildung, und ihr organiſches Verhältniß zu einander.

Offenbar nämlich umfaßt das, was wir Bildung im weiteſten Sinne nennen, den ganzen einzelnen Menſchen und das ganze Volk. Der4 Proceß dieſer Bildung, ſei es nun, daß wir dabei von dem Ein - zelnen zum Ganzen oder vom Ganzen zum Einzelnen übergehen, wird daher in Form und Inhalt ein verſchiedener, nach den großen geiſtigen Momenten, welche das innere Weſen der Perſönlichkeit überhaupt beſtimmen.

Dieſe entſcheidenden Momente nun ſind die pſychologiſchen Geſetze der geiſtigen Bildung ſelbſt, dann der beſtimmte einzelne Lebenszweck, welcher der in der Bildung enthaltenen Güter des Geiſtes bedarf, und endlich das an ſich freie und unendliche Weſen der Perſönlichkeit, welches das geiſtige Gut an und für ſich, ohne Beziehung und Be - ſchränkung auf den beſtimmten Zweck fordert. Aus dem erſten Momente geht die Elementarbildung hervor, aus dem zweiten die Berufs - bildung, aus dem dritten die allgemeine Bildung.

Die Elementarbildung nämlich iſt ihrem Begriffe nach der Erwerb derjenigen geiſtigen Güter und Fähigkeiten, welche ſelbſt wieder nur die Vorausſetzung für die Berufs - und allgemeine Bildung ausmachen. Man hat daher mit gutem Recht geſagt, daß jede ſpezielle Bildung wieder ihre eigene Elementarbildung vorausſetzt und enthält; jede Berufs - und Fachbildung hat ihre Elemente, ohne welche ſie ſelbſt nicht gewonnen werden kann, aber mit denen ſie ſelbſt allerdings noch keineswegs gegeben iſt. Nun reden wir aber hier nicht in dieſem Sinne von dem Syſtem der Elementarbildung. Wir haben als ſolche vielmehr nur diejenige Bildung zu betrachten, welche die Elemente des Gebildet - werdens überhaupt enthält. Dieſe aber beſtimmen ſich wiſſenſchaftlich einfach durch den Begriff der Bildung ſelbſt. Indem nämlich jede Bil - dung das Ergebniß gegenſeitiger und gemeinſchaftlicher geiſtiger Arbeit iſt, iſt die Elementarbildung ſelbſt der Erwerb derjenigen Kenntniſſe und Fähigkeiten, welche die Vorausſetzung für die gegenſeitige geiſtige Mittheilung und damit für die Bildung eines jeden durch ſich ſelbſt und durch die geiſtige Arbeit anderer bilden. Das Weſen der Elementarbildung beſteht daher darin, an und für ſich keinen Werth in ſich ſelbſt, und keine abgeſchloſſene Beſtimmung zu haben, ſondern ihren Werth und ihre Beſtimmung erſt dadurch zu empfangen, daß durch ſie der Erwerb der Berufs - und allgemeinen Bildung möglich wird. Die Entwicklung der Elementarbildung für ſich iſt daher nicht denkbar ohne gleichmäßige Entwicklung der andern Bildungsgebiete; aber wenn ihr unmittelbarer Werth dadurch geringer wird, wird natürlich ihr mittelbarer, der dann auf jenem Verhältniß zu den übrigen Bildungs - gebieten beruht, ein um ſo größerer, und der Maßſtab dieſes Werthes iſt dann eben die Größe des Bedürfniſſes nach dem Inhalt und der Allgemeinheit derſelben.

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Die Berufsbildung iſt zweitens ihrem formalen Begriffe nach der Erwerb und Beſitz derjenigen geiſtigen Güter und Fähigkeiten, welche die geiſtigen Bedingungen der Verwirklichung eines beſtimmten einzelnen Lebenszweckes enthalten. Wir haben den Begriff des Berufes, aus dem ſich langſam aber ſicher das große und eigenthümliche Syſtem des Bildungsweſens entwickelt, ſpäter darzulegen. Klar iſt aber ſchon hier, daß jede Berufsbildung ſtets eine beſondere und weſentlich begränzte iſt, daß ſie daher nicht wie die Elementarbildung eine für alle Lebens - verhältniſſe gleichartige, und nicht eine von allen gleichmäßig geforderte ſein kann. Klar ſcheint es ferner, daß die Entwicklung der Berufs - bildung nicht von einer abſtrakten Wiſſenſchaft, ſondern von der der Berufe ſelbſt und damit vor allem von der geſellſchaftlichen Entwicklung der Gemeinſchaft abhängt. Klar iſt es endlich, daß dieſe Berufsbildung an Tiefe mit der allgemeinen Weltanſchauung einer Zeit und eines Volkes, an praktiſchem Werthe und techniſcher Breite dagegen mit der wirthſchaftlichen Entwicklung zuſammenhängt. Die Berufsbildung, ihrem Begriff nach ein allgemeines Bildungsſyſtem, iſt daher dasjenige Gebiet der Bildung oder des geiſtigen Lebens überhaupt, welches am meiſten zu einſeitiger und höchſt verſchiedener Entwicklung ſeiner einzelnen Theile Raum gibt. Nirgends ſind die Unterſchiede der Bildung ſogar in den einzelnen Epochen der Geſchichte größer und ſchlagender als hier; nirgends iſt es ſchwieriger ein allgemeines Bild zu gewinnen; aber nirgends iſt auch die eigentliche Arbeit größer, denn ſie geſchieht hier für einen beſtimmten Zweck und mit meßbarem Erfolge. Und deßhalb iſt die Darſtellung der Berufsbildung ſtets der ſchwierigſte Theil der Darſtellung geweſen und wird es bleiben.

Während ſomit der Beruf ſtets für einen ſpeziellen Zweck beſtimmt iſt, und die Berufsbildung daher auch nur die für dieſen ſpeziellen Zweck nothwendigen geiſtigen Güter umfaßt und gibt, bleibt die höhere Beſtimmung des Menſchen dennoch eine allgemeine, die ganze Fülle des geiſtigen Daſeins umfaſſende. Erſt darin, daß ihm dieſes nicht verſchloſſen bleibe, erfüllt ſich das Weſen der Perſönlichkeit. Ewig ſtrebt daher der Menſch darnach, mit ſeinen Gedanken und Anſchauungen über den engen Kreis ſeiner Einzelaufgabe hinauszutreten. Wie das Daſein der geſammten Welt, der geiſtigen wie der räumlichen, ſich in ihm wieder ſpiegelt, ſo ſucht und arbeitet er ewig darnach, dieſe Unend - lichkeit des Daſeins in beſtimmte Form zu faſſen, und ſich damit über ſeine begränzte Beſtimmung zu erheben. Er thut das in dem Gebiete wo das erkennende Wiſſen und die Wahrheit durch die Begründung aufhört, im Gebiete der reinen Weltanſchauung durch den Glauben in der Form der Religion; er thut es aber auch in dem Gebiete deſſen,6 was durch Sein oder Begriff, durch Bild oder Kenntniß ſich als be - ſtimmtes geiſtiges Gut formuliren läßt als Streben nach der allge - meinen Bildung. Die allgemeine Bildung hat keinen beſtimmten Inhalt; ſie umfaßt ihrer formalen Definition nach alles, was menſch - liche That in Wiſſenſchaft und Kunſt hervorgebracht; ſie erſcheint aber praktiſch in der Kenntniß deſſen, was jeden einzelnen Lebensberuf mit allen andern innerlich und organiſch verbindet, und enthält daher das Geſammtbild des geiſtigen Lebens der Menſchheit, im Einzel - bewußtſein ausgedrückt und geſtaltet. Nach einer ſolchen allgemeinen Bildung ſtrebt jede Zeit und jedes Volk; aber die Höhe aller Geſittung bleibt immer dadurch ausgedrückt und gemeſſen, daß die Erzeugung dieſer allgemeinen Bildung ſelbſt wieder als eine organiſche Aufgabe der Gemeinſchaft gegenüber dem Einzelnen, als eine Pflicht und ge - ordnete Thätigkeit derſelben erſcheint. Und dieſe geordnete Thätigkeit für dieſen Zweck nennen wir das allgemeine Bildungsweſen.

So erſcheinen dieſe drei Grundbegriffe aller Bildung: Elementar -, Berufs - und allgemeine Bildung, als die drei großen Functionen, in denen der Proceß der Bildung überhaupt beſteht. Allein ſowohl ihrer innern Natur nach, als auch für das richtige Verſtändniß des Zuſtandes und der Aufgabe der Verwaltung iſt es nothwendig, ſie nicht bloß als neben einander ſtehende und geſonderte Thätigkeiten, ſondern zugleich in ihrem innern Verhalten zu einander aufzufaſſen.

Ihr innerer Unterſchied und ihre äußern Gränzen liegen nämlich nicht in ihrem Weſen, ſondern in dem Bedürfniß und der Natur der Perſönlichkeit. Sie ſind innerlich Eins. Sie laſſen ſich daher auch äußerlich nie ganz trennen. Jeder Theil vermag von dem andern etwas in ſich aufzunehmen, und in dem Sinne des andern zu wirken, ſowohl der Form als dem Inhalt nach. Sie ſtehen daher, mögen ſie ſonſt äußerlich geſchieden und benannt ſein wie ſie wollen, ſtets im lebendigen Wechſelverkehr unter einander, und dieſer Wechſelverkehr iſt theils durch ihre Natur ſelbſt gegeben, theils tritt er in der bildenden Arbeit der Gemeinſchaft mehr oder weniger klar hervor, und wird zuletzt in derſelben für ihren höchſten und letzten Erfolg auch im Ein - zelnen entſcheidend.

Das Weſen der Elementarbildung fordert nämlich, daß ſie zunächſt der Form nach die gleiche für alle ſei; aber ſelbſt in dieſer Form hat ſie die Fähigkeit, gewiſſe Elemente des Berufs und der allgemeinen Bildung in ſich aufzunehmen und mitzutheilen. Das iſt es, was ihr ihre höhere Bedeutung gibt, und die Art und das Maß in welcher dieß in der Elementarbildung wirklich geſchieht, iſt das erſte charakteri - ſtiſche Kennzeichen für die Höhe des Bildungsweſens überhaupt. Die7 Berufsbildung muß nun allerdings zunächſt eine beſondere ſein; allein ihr gegenüber, oder in ihr, iſt es die allgemeine Bildung, welche wieder die Einzelnen über die in der Berufsbildung geſetzten Verſchie - denheiten erhebt. Ihre große Function iſt es, die geiſtige Begränzung des innern Lebens, die in der letztern unabweisbar ſich zu erzeugen ſtrebt, wieder aufzuheben, und durch ſich die Idee der Perſönlichkeit, oder mit gleicher geiſtiger Beſtimmung begabter Weſen, zu erfüllen. Sie verleiht daher, indem ſie über jeden Beruf hinausgeht, und jedem jedes geiſtig zugänglich macht, dem geiſtigen Leben ſeinen Umfang im Ganzen, während die Berufsbildung, indem ſie den individuellen Lebenszweck auf die geiſtigen Elemente, Begriffe und Geſetze zurückführt, welche denſelben beherrſchen, der Bildung ihre Tiefe im Einzelnen gibt. Die allgemeine Bildung iſt daher der Proceß, der den Einzelnen ihre freie Entwicklung ſichert, die Berufsbildung diejenige, die ihnen die Bedingungen einer tüchtigen, individuell befriedigten Erfüllung ihrer Lebensaufgabe gibt. Die letztere ohne die erſtere iſt beſchränkt und erzeugt beſchränkte Menſchen; aber die erſtere ohne die letztere macht ſie flach, und nimmt ihnen den wahren Kern der Individualität, das geiſtige Bewußtſein, im Einzelnen ein Vollendetes zu erreichen. Die Elementarbildung aber, als Vorausſetzung für beide, gilt für alle in gleicher Weiſe.

In dieſer Weiſe zuſammenwirkend, ſtellt der Begriff der Bildung die höhere, im Geiſte ſelbſt liegende Einheit der geiſtigen Faktoren und Thatſachen wieder her, welche durch die drei Stadien oder Theile des erſteren äußerlich, räumlich und zeitlich geſchieden auftreten. Und daraus ergibt ſich, daß der wahre und höhere Charakter der Bildung ſein zweites Kriterium durch das Streben empfängt, ſchon innerhalb der einzelnen und beſchränkten Berufsbildung den Geiſt über die Gränze derſelben zu erheben, und die allgemeine Bildung nicht etwa objectiv neben ſie zu ſtellen, ſondern ſie zu einem inwohnenden Theile derſelben zu erheben. Denn in dieſer Verſchmelzung drückt ſich zuletzt doch das Bewußtſein nicht bloß von der höchſten gemeinſamen Beſtimmung aller Perſönlichkeit, ſondern auch die Erkenntniß des großen Lebens - geſetzes alles Geiſtes aus, daß der ewig lebendige Keim der Freiheit und der Vollendung für jedes Einzelne in dem liegt, was ſelbſt über das Einzelne hinausgehend, das Ganze bedeutet und iſt.

Dieß nun ſind die drei Stadien oder Gebiete, in denen die Bildung ſich vollzieht, und ihr inneres Verhältniß zu einander. Niemals ganz in der Wirklichkeit getrennt oder innerlich geſchieden, und dennoch ſelbſtändig, ſollte auch jede Darſtellung des Bildungsweſens ſie ſtets alle gleichmäßig umfaſſen.

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III. Das Bildungsweſen und ſein Syſtem.

Neben dieſem Begriff der Bildung und ſeinem Inhalt iſt jedoch der des Bildungsweſens ein ſpecifiſcher, von jenem nothwendig zu trennen - der, wenn man überhaupt zu einem Begriffe und Bilde der Verwaltung der geiſtigen Welt gelangen will.

Das Bildungsweſen beruht nämlich zunächſt darauf, daß jede Bildung eines Einzelnen ſtets das Ergebniß der bildenden Arbeit aller andern iſt. Daß niemand ganz die Quelle und der Urheber ſeiner Bildung iſt und ſein kann, ſteht feſt. Allein der Proceß, durch welchen die Gemeinſchaft dieſe Bildung des Einzelnen erzeugt, iſt nun eben da - durch kein einfacher und gleichartiger, daß die Bildung ſelbſt in den oben bezeichneten drei Grundformen auftritt. Jede dieſer Grundformen hat ihre Bedingungen, ihre Geſetze, ihren Inhalt und ihren Zweck. Jede derſelben fordert daher auch ihre ſpecifiſche Arbeit. Wie der Be - griff der Bildung, ſo theilt ſich mithin auch der Proceß, durch den ſie erworben wird, in ſeine ſelbſtändigen Gebiete; jedes dieſer Gebiete ſucht und findet die Kräfte, welche die in ihm liegenden Aufgaben zu löſen im Stande und bereit iſt; und die damit gegebene Geſtalt der bildenden Thätigkeit, in der auf dieſe Weiſe das große Geſetz der Theilung der Arbeit auch hier zur Geltung gelangt, nennen wir das Bildungsweſen.

Im Anfange aller Geſchichte werden nun allerdings ſtets jene Ge - biete ſo eng zuſammenfallen, daß man ſie äußerlich gar nicht zu trennen vermag. Mit der fortſchreitenden Geſittung jedoch ſcheiden ſie ſich. In - dem ſie ſich ſcheiden, wird jede einzelne ihrer Aufgaben ſo bedeutſam, daß ſie allmählig eigene Organe erzeugt und fordert, welche den Bildungs - proceß ihres eigenthümlichen Gebietes zu ihrer beſondern Aufgabe machen. So entſteht das, was wir das Syſtem des Bildungsweſens nennen. Dieß Syſtem des Bildungsweſens iſt ſeinerſeits der Ausdruck und das Ziel der Geſittung. Daſſelbe wird nicht etwa erſt vom Staate geſetzt und gebildet, ſondern es erzeugt ſich vielmehr durch die inwohnende Kraft des geiſtigen Lebens und ſeiner Bedürfniſſe wie die obigen elementaren Grundbegriffe, durch das Weſen der Bildung ſelbſt. Es iſt nicht ſo ſehr das Erzeugniß, ſondern vielmehr das ſich ſelbſt erzeugende Object der Ver - waltung der geiſtigen Welt. Erſt an ihm wird das, was der Staat ſeiner - ſeits für die Bildung leiſtet, gleichſam ſein Maß erhalten. Denn alle Höhe des wirklichen Bildungsweſens wird ſich ſtets beſtimmen nach dem Grade, in welchem die wirkliche Bildungsthätigkeit einer Zeit und eines Volkes alle dieſe verſchiedenen Formen zur Entwicklung gebracht hat.

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Man kann nun dieſen Proceß der Entwicklung eines ſelbſtändigen Syſtemes des Bildungsweſens in obigem Sinne in drei Momente theilen.

Die erſte Grundlage derſelben iſt das Auftreten eines außerhalb der Familie beſtehenden ſelbſtändigen Bildungsweſens. In allen Formen und Stadien des letzteren bedeutet dieſe Scheidung des Bildungs - weſens von der Familie die Erkenntniß des Volkes, daß die Bildung auch für die Gemeinſchaft des letzteren einen zu hohen Werth hat, um dem Zufall und der freien Willkür, die nothwendig in der Familie herrſcht, überlaſſen zu bleiben. Alle wahre Geſchichte des Bildungs - weſens beginnt mit dieſer äußern Selbſtändigkeit des Bildungsweſens; ſie iſt die formelle Bedingung einer wirklichen Entwicklung deſſelben, aber ebenſo die einer ſtaatlichen Thätigkeit. Dieſe Selbſtändigkeit er - ſcheint wie natürlich in einzelnen Anſtalten für die Bildung, die keines - wegs vom Staate begründet ſein müſſen, ſondern ihm im Gegentheil zum Theil ſtets fremd bleiben. Aber ſie ſind es, an welche das äußere Bild der großen Arbeit des Bildungsweſens eines jeden Volkes ſich anſchließt.

Die zweite Grundlage iſt nun die, durch dieſe äußere Scheidung ſchon begründete Theilung der bildenden Arbeit in dieſen Bildungs - anſtalten, die wieder die Einheit des Ganzen als inneres Syſtem zu - ſammenfaßt. Mit der höheren geiſtigen Entwicklung empfängt jeder Theil der Bildung ſein eigenes Gebiet an den durch daſſelbe geforder - ten Kenntniſſen und Fähigkeiten und zugleich, wenn auch langſam und unter vielfachen Kämpfen und Verſuchen, für jedes einzelne Gebiet ſeine eigene Methodologie. So entſteht die innere Selbſtändigkeit der Gebiete des Bildungsweſens. Je höher die Geſittung ſteht, um ſo beſtimmter treten dieſe einzelnen Gebiete hervor, empfangen eigene Namen, eigenen Umfang, eigene Bildungsordnung. Und da nun alle Bildung weſentlich auf der Verwerthung der gewonnenen Kenntniſſe im wirklichen Leben beruht, ſo ergiebt ſich allmählig das wichtige Reſultat, daß die Ordnung der großen Lebensverhältniſſe eines Volkes und einer Zeit ſich in dem Syſtem der Bildung und mithin ihrer ſelb - ſtändigen Anſtalten abſpiegelt. Das Syſtem des Bildungs - weſens jeder Epoche ganz gleichgültig zunächſt ob es vom Volke oder vom Staate ausgeht bedeutet daher die Antwort auf die große Frage, ob und wie weit eine Zeit die geiſtigen Elemente als Grundlage und Erhaltung ſeiner eigenſten Lebensverhältniſſe anſieht. Es iſt daſſelbe in der That der formale Ausdruck ſeiner Geſit - tung. Zugleich aber erſcheint in ihm das Verſtändniß jenes Ge - ſetzes, das wir bereits erwähnt, und nach welchem alle Theile der Bildung dennoch nur Ein Ganzes ſind. Das Bewußtſein und Be - dürfniß dieſer höheren Einheit alles geiſtigen Lebens erſcheint formell10 ſtets darin, daß die Uebergänge von einem Bildungsgebiete zum andern ſelbſt wieder als ſelbſtändige Bildungsgebiete und Anſtalten auf - treten, während das Bewußtſein von dem praktiſchen Werthe der Wiſſen - ſchaft die Specialbildungsanſtalten erzeugt. Auf dieſe Weiſe entwickelt ſich das vollſtändige Syſtem des Bildungsweſens, deſſen Grundformen ſich bei aller Verſchiedenheit dennoch auf die obigen drei zurückführen laſſen. Und es gewinnt jetzt einen großen Werth, ſich dieſes Ganze in einem, auf der Natur der Sache beruhenden Schema darzuſtellen. Doch muß dazu das letzte Moment hinzugefügt werden.

Während die Selbſtändigkeit der Bildungsanſtalten den Werth be - zeichnet, den eine Epoche auf die Bildung überhaupt legt, das Syſtem derſelben die Tiefe und den Umfang des Bedürfniſſes nach Bildung für die einzelnen Lebensverhältniſſe, wird nun die Dauer und Gleich - mäßigkeit des Bildungsgenuſſes dadurch bedingt, daß ſich für den letzteren in der Gemeinſchaft ein eigener Stand bildet, der die Bildung zu ſeinem Lebensberufe macht. Dieſer Stand ſchließt ſich dann natur - gemäß an das Syſtem der Anſtalten, verbindet ſeine geſammte Thätig - keit mit denſelben, erhebt die Bildung an ſich zu einer ſyſtematiſchen Wiſſenſchaft, und erfüllt das Bildungsweſen einer Nation mit dem perſönlichen Elemente, dem Geiſte und der Thätigkeit der Berufsge - noſſen. Erſt durch ihn wird daſſelbe zu einem fertigen, nunmehr mit eignem Bewußtſein handelnden und vorwärtsarbeitenden Ganzen; und der Ausgangspunkt für die höchſte Stufe des Bildungsweſens beſteht dann darin, daß dieſer Stand des Bildungsberufes ſelbſt wieder eine eigene berufsmäßige Bildung für ſeine bildende Thätigkeit erzeugt. Erſt wo das geſchieht, ſind die großen organiſchen Elemente des Bildungsweſens ein in ſich ruhendes und geſchloſſenes Ganzes, und in der That kann erſt hier das öffentliche Bildungsrecht, indem es an dieſem Syſtem ſein rechtes Objekt findet, zum reellen Verſtändniß gelangen.

Demgemäß ergibt ſich aus dem Weſen des Bildungsproceſſes ein Bild deſſen, was wir den ſelbſtändigen Bildungsorganismus nennen, der als Ausdruck und Maß des Bildungszuſtandes einer jeden Epoche gelten kann. Dieſer Bildungsorganismus iſt jedoch hier zunächſt nur im Weſen der Perſönlichkeit und im Begriffe der Bildung ſelbſt gegeben. Der wirkliche Bildungsorganismus aber, die concrete Ge - ſtalt der bildenden Arbeit Aller für jeden Einzelnen und jedes Einzelnen für Alle entſteht erſt da, wo der Bildungsproceß ſelbſt im Ganzen wie im Einzelnen Gegenſtand des öffentlichen Wollens, und damit ein Theil des Verwaltungsrechts wird. Damit ergibt ſich nun eine Reihe von Begriffen und Erſcheinungen, die nunmehr ſelbſtändig darzulegen ſind.

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Es iſt hier zwar nicht der Ort, auf die pädagogiſche Literatur ein - zugehen, allein es muß uns doch ſchon im Hinblick auf das Folgende eine Anmerkung geſtattet werden. Ganz abgeſehen nämlich von der Literatur des öffentlichen Bildungsrechtes, die wir unten im Allgemeinen und im Beſondern charakteriſiren, beſteht nämlich ein großer Unterſchied zwiſchen dieſer rein pädagogiſchen Literatur in unſerem und dem vergangenen Jahrhundert. Die frühere Zeit hat, allerdings namentlich auf Grund - lage der claſſiſchen Literatur, das Bildungsweſen ſtets als ein Ganzes aufgefaßt und dargeſtellt; Pädagogik bedeutet die Geſammtheit der lehrenden und erziehenden Thätigkeit. In dieſer Allgemeinheit war dieſe Literatur fähig, auch die allgemeine Bildung als integrirenden Theil mit aufzunehmen. Die Richtung der Zeit bewirkte dabei, daß als Hauptaufgabe und zugleich als Hauptinhalt der letzteren die politiſche, die Erziehung für das und zum Staatsbürgerthum, angeſehen wurde, wodurch dann die eigentliche pädagogiſche Frage von der politi - ſchen ſich trennte, der Aufnahme in die ſtaatsrechtliche Behandlung weſentlich auch aus den unten anzuführenden ſpeziellen Gründen ſich entfremdete, rein pädagogiſch ward, ſich namentlich dem Volksunter - richt zuwendete, und ſich dadurch mehr und mehr ſpecialiſirte, indem für jeden einzelnen Zweig eine eigene Literatur entſtand. Weſentlich an dieß Moment knüpfte ſich die Aufnahme des Erziehungsweſens in die ſtaatsrechtlichen Bearbeitungen. Sie iſt allerdings dadurch das ge - worden, was wir, im Gegenſatz zur rein claſſiſchen Behandlung, eine Fachwiſſenſchaft nennen, und hat die einzelnen Gebiete des Bildungs - weſens, namentlich den Elementarunterricht, bei weitem gründlicher be - handelt als früher, dafür inſofern aber die Geſammtauffaſſung verloren, als die über das Fachbildungsweſen hinausgehende allge - meine Bildung in der Pädagogik keine rechte Stelle mehr findet, was ſich namentlich in dem Mangel einer pädagogiſchen Berückſichtigung der Preſſe und ihrer ſteigenden Wichtigkeit zeigt; eben ſo derjenige Theil derſelben, der auf einem öffentlichen Recht und Leben beruht.

In gleicher Weiſe hat die Kunſt in der heutigen Pädagogik nur geringe Berückſichtigung gefunden. Es iſt das nun zwar hiſtoriſch ſehr gut zu erklären; allein gerade die Verwaltungslehre kann dieſen be - ſtimmten, wenn auch durch den Gang der Dinge recht wohl verſtänd - lichen Standpunkt nicht anerkennen, obwohl gerade ſie es ſein mag, die ihn durch den eigenen Mangel begründet hat, wie wir es unten andeuten werden. Sie muß ihrerſeits alle Gebiete der Bildung gleich - mäßig umfaſſen, und bedarf daher einer ſyſtematiſchen, ſich über alle Theile des Bildungsweſens ausdehnenden Auffaſſung; dieſe zu geben, war die Aufgabe des Vorhergehenden. Die höhere Pädagogik ſelbſt aber12 wird, wie wir hoffen, ſich dadurch in der Lage finden, auch ihrerſeits wieder eine ſolche Geſammtauffaſſung für ihre Beſtrebungen wieder zur Geltung zu bringen, um nicht bloß an Tiefe im Einzelnen, ſondern auch an Beherrſchung des Ganzen die frühere Literatur zu übertreffen. Vielleicht nun, daß dieſe Anſicht durch die ſtrenge Unterſcheidung des öffentlichen Rechts der Bildung von ſeinem Gegenſtande, der Bildung ſelbſt, die wir im Folgenden durchzuführen haben, ſeine nähere Be - gründung und Begränzung auf ihr richtiges Maß auch in den Augen pädagogiſcher Fachmänner finden dürfte.

II. Das öffentliche Bildungsweſen.

I. Begriff des Bildungsrechts.

Indem wir nun das öffentliche Bildungsweſen und ſein Recht dem Bildungsweſen an ſich gegenüberſtellen, oder das Verwaltungsrecht der Pädagogik und ihrem Syſtem, wird es nothwendig, dem erſteren ſein eigenthümliches Gebiet, ſeinen Inhalt und ſein Ziel in möglichſt klarer Weiſe zu überweiſen; denn nur durch dieſe Trennung iſt eine ſelbſtändige Verwaltungslehre des Bildungsweſens denkbar.

Zu dem Ende muß davon ausgegangen werden, daß wie geſagt das Bildungsweſen nicht erſt durch den Staat entſteht, ſondern daß es ſich auch ohne alles Zuthun deſſelben im Leben des Volkes von ſelber erzeugt. Denn das iſt ſeine Natur, als ein organiſches Element des Geſammtlebens, ſich durch ſeine eigene Kraft Daſein und Geltung zu ver - ſchaffen. Das was wir das öffentliche Bildungsweſen nennen, ent - ſteht deßhalb erſt dadurch, daß der Staat zu dem Bildungsweſen über - haupt hinzutritt, und die in ſeiner Natur liegenden Principien, Forderungen und Kräfte auf das Bildungsweſen anwendet. Während daher das Bildungsweſen an ſich durch die Natur der Bildung ſich er - klärt, wird das öffentliche Recht deſſelben nur durch das Weſen des Staats verſtändlich. Ohne den Begriff des letzteren kann man daher ſehr wohl die Pädagogik und das Bildungsweſen eines Volkes, wenn es ſich von ſelbſt erzeugt, nicht aber dasjenige kennen lernen, was wir die Verwaltung des geiſtigen Lebens nennen. Dieſe Ver - waltung des geiſtigen Lebens eines Volkes oder das öffentliche Bildungs - weſen iſt demnach die in aller Verwaltung thätige Staatsidee, in ſofern ſie in das ſelbſtthätige Bildungsweſen des Volkes13 eingreift. Und die öffentlich geltenden Beſtimmungen über die Form, den Inhalt und die Gränze dieſes Eingreifens der Staatsgewalt in das geiſtige Leben des Einzelnen und des Ganzen, wie dieſelben durch den Geſammtwillen in Geſetz und Verordnung beſtimmt werden, bilden das öffentliche Recht des Bildungsweſens, oder das Verwaltungs - recht des geiſtigen Lebens eines Volkes.

Auf der Grundlage dieſes Begriffes ergibt ſich nun die Darſtellung ſeines Inhalts von ſelbſt. Das Princip und Syſtem des öffentlichen Bildungsweſens folgt nämlich aus dem Weſen des Staats, das poſitive Recht dagegen beruht auf dem geſammten inneren Rechtsleben der ein - zelnen Staaten, und erſcheint zuerſt als hiſtoriſche Entwicklung im Allgemeinen, dann aber in ſeiner gegenwärtigen concreten Geſtalt als das Bildungsweſen der einzelnen großen Staaten Europas. Erſt wenn dieſe Grundlagen feſtſtehen, kann der beſondere Theil zu dem Bildungsweſen und der Kunſt der einzelnen Bildungsformen übergehen.

II. Princip und Syſtem des öffentlichen Bildungsrechts.

Der Begriff und Inhalt des öffentlichen Bildungsweſens entſteht, wie geſagt, indem die Geſammtheit deſſen, was für die Bildung des Volkes geſchieht, als ein nothwendiger organiſcher Theil, als Aufgabe der Gemeinſchaft gegen die Einzelnen, oder als ein organiſches Gebiet der Verwaltung anerkannt wird. Seinem formellen Begriffe nach um - faßt es die Geſammtheit der öffentlich rechtlichen Beſtim - mungen und Thätigkeiten, welche ſich auf den Bildungsproceß in ſeinem ganzen Umfange beziehen. Seinem Umfange nach beſteht es theils aus Geſetzen und Verordnungen, theils aus ſelbſtändigen An - ſtalten, theils aus ſpeziellen Funktionen der Verwaltung. Seinem In - halte nach ſchließt es ſich naturgemäß an das, im Weſen des Bildungs - proceſſes liegende Syſtem deſſelben, theils daſſelbe im Ganzen organiſch verbindend, theils es im Einzelnen ausfüllend, fördernd und erhebend. Seinem Weſen nach aber iſt und bezeichnet es das, als Geſetz und Verwaltung des Staats ausgedrückte Bewußtſein des Volkes als Ganzen von dem Werthe des geiſtigen Lebens und ſeiner Funktion im menſchlichen Geſammtleben, während derjenige Theil des Bildungs - proceſſes, der durch die Einzelnen ſich vollzieht, nur das individuelle Bewußtſein von dieſem Werthe ausdrückt.

Dieſe Aufgabe des Staats, welche auf dieſe Weiſe die Geſammt - heit des geiſtigen Lebens und ſeines Werdens umfaßt, fordert für ihre unendlich vielſeitige und an ſich faſt unbegränzte Erfüllung eine Ein - heit in Auffaſſung und Durchführung, welche die erſte und allgemeinſte14 Bedingung ihres Erfolges iſt. Dieſe innere Einheit aller auf das öffent - liche Bildungsweſen bezüglichen Maßregeln und Thätigkeiten nennen wir das Princip des öffentlichen Bildungsrechts.

Dieſes Princip, für den Staat geltend, wird daher auch durch das Weſen des Staats gegeben. Er ſelber iſt, der Verwaltung ange - hörend, im Grunde nur die Anwendung des höchſten und allgemeinſten Verwaltungsprincips auf das geiſtige Leben des Staats.

Das höhere Weſen aller menſchlichen Gemeinſchaft beruht darauf, daß das Maß der Entwicklung des Einzelnen die Grundlage und Be - dingung des Maßes der Entwicklung Aller wird. Der Staat nun, als dieſe zur individuellen Perſönlichkeit erhobene Gemeinſchaft, bringt dieſes gegenſeitige Bedingtſein Aller durch jeden und jedes durch Alle zum Be - wußtſein, und muß daher mit den ihm zu Gebote ſtehenden Mitteln allerdings für die Bildung ſorgen. Allein das Weſen der geiſtigen Güter fordert, daß ſie durch denjenigen ſelbſt erworben ſein müſſen, für den ſie gelten ſollen. Der Staat kann daher ſo wenig die Bildung als die wirth - ſchaftlichen Güter geben, ſondern das leitende Princip der Verwaltung iſt, daß der Staat auch für die Bildung nur diejenigen Bedingungen herzugeben hat, welche der Einzelne ſich nicht ſelbſt zu ſchaffen vermag; während die Benützung dieſer Bedingungen oder die wirkliche Bildung Sache des Einzelnen und ſeiner individuellen Thätigkeit iſt.

So einfach und faſt negativ nun dieß Princip an ſich erſcheint, ſo bleibt doch hier, wo ſich das Syſtem der Verwaltung zu entwickeln beginnt, der Inhalt deſſelben kein einfacher mehr. Das worauf es ankommt iſt nämlich die Frage, was denn als Bedingung der gegen - ſeitigen geiſtigen Entwicklung der Geſammtheit anzuſehen ſei. Und hier nun erſcheinen die drei großen Gebiete des Bildungsweſens in einem ſehr verſchiedenen Verhältniß.

Was zuerſt die Elementarbildung betrifft, ſo iſt ſie auf den erſten Blick nur die Bedingung für die Bildung des Einzelnen. Allein ſie iſt zugleich die abſolute Vorausſetzung des ganzen geiſtigen Verkehrs, der ganzen gegenſeitigen Bewegung des geiſtigen Fortſchrittes; denn die in ihr gegebene Möglichkeit der Weiterbildung des Einzelnen iſt die Be - dingung für die lebendige geiſtige Thätigkeit Aller. Die Elementar - bildung verliert dadurch ihren Charakter als freie Bildung; ſie wird allmälig zu einer Pflicht des Einzelnen gegen die Geſammtheit, und der Staat iſt es, der dieſe im Weſen der Sache liegende Pflicht zum objectiv geltenden Recht macht. So entſteht das Princip des Ele - mentarbildungsrechts, das wir als die Schulpflicht bezeichnen, und das aus den obigen Gründen erſt in den vorgeſchrittenen Staaten zur öffentlich rechtlichen Geltung kommt.

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Die Berufsbildung dagegen iſt an ſich freier. Allein der Beruf iſt in ſeiner Ausübung ein weſentlicher und organiſcher Theil des Ge - ſammtlebens, und ſeine tüchtige Erfüllung iſt daher ſelbſt wieder eine Bedingung für die Verwirklichung des geiſtigen und materiellen Fort - ſchrittes. Fehlt dem Berufe ſeine Vorausſetzung und das Maß von geiſtigen Elementen, die er ſelbſt zur öffentlichen Verwerthung bringt, ſo macht eben die in der perſönlichen Freiheit liegende Scheidung der Berufe eine tüchtige Berufserfüllung unmöglich. Der Staat, indem er daher Wahl und Bildung des Berufes für Alle frei macht, muß demnach im höchſten Geſammtintereſſe dafür ſorgen, daß ein gewiſſes Minimum der Berufsbildung vorhanden ſei, bevor derſelbe ausgeübt wird. Daraus folgen zwei leitende Grundſätze für das öffentliche Berufsbildungs - weſen. Zuerſt muß der Staat der Berufsbildung die ihren Forderungen ge - nügenden Anſtalten bieten, die daher ihrem Syſtem nach der ethiſchen und praktiſchen Entwicklung des Berufsſyſtemes entſprechen müſſen; zweitens muß er die Gewähr geben, daß bei ſolchen Berufen, gegenüber welchem es dem Einzelnen nicht mehr möglich iſt ein freies Urtheil zu haben oder es zur Geltung zu bringen (Beamte, Aerzte, Lehrer ꝛc. ) wenigſtens das Minimum der Berufsbildung wirklich vorhanden ſei. Dieſe Berufe nun nennen wir die öffentlichen Berufe; ihre Funk - tion bildet ſtets im weiteren Sinne einen Theil der Verwaltungsthätig - keit ſelbſt, und unterſcheidet ſich dadurch von dem freien Beruf, deſſen Erfüllung nur das Einzelleben umfaßt (wirthſchaftlicher Erwerb, Kunſt ꝛc.). Jene Garantie wird gegeben durch die öffentlich rechtliche Prüfung; und ſomit ergibt ſich als Inhalt des Princips dieſes Theiles des Verwaltungs - rechts, daß das öffentliche Recht des Berufsbildungsweſens auf der ſyſte - matiſchen Herſtellung von Berufsbildungsanſtalten, und auf dem Syſteme der Prüfungen für die öffentlichen Berufe beruhen muß.

In der allgemeinen Bildung endlich muß der Grundſatz der vollen Freiheit und Selbſtthätigkeit der Einzelnen gelten. Allein trotzdem kann der Staat nicht gleichgültig neben derſelben ſtehen. Er hat hier wie immer die Gefährdungen derſelben in der Culturpolizei zu be - kämpfen; er hat zweitens die großen Bedingungen der allgemeinen geiſtigen Entwicklung in öffentlichen Bildungsanſtalten herzuſtellen oder zu unterſtützen; und er hat endlich durch ſein öffentliches Recht dafür zu ſorgen, daß das große Element des bei weitem wichtigſten allgemeinen Bildungsmittels, der Preſſe, das in der Verbindung ihrer rechtlichen Verantwortlichkeit mit ihrer Freiheit der Bewegung beſteht, zur rechtlichen Geltung und Durchführung gelange.

In der Geſammtheit dieſer Momente iſt nun die Entwicklung des Princips des öffentlichen Bildungsrechts zu einem Syſteme gegeben;16 und mit dieſem Syſtem erſt iſt auch eine Wiſſenſchaft dieſes Gebietes der Verwaltung möglich. Die Wiſſenſchaft des öffentlichen Bildungs - weſens iſt demnach nicht etwa die Theorie der Bildung an ſich, ſondern die wiſſenſchaftliche Auffaſſung und Verarbeitung des öffentlichen Rechts derſelben. Sie ſchließt ſich daher an die Elemente dieſes Syſtemes an, die Harmonie der großen Idee der perſönlichen geiſtigen Freiheit mit der nicht minder mächtigen des perſönlichen Staates und ſeiner organi - ſchen und rechtlichen Thätigkeit ausſprechend und vertretend, eine nicht immer leichte oder dankbare Aufgabe. Wie aber die Wiſſenſchaft das rein geiſtige Band der höheren Einheit in dieſer Entwicklung des ein - fachen Princips zum organiſchen Syſtem ſucht und findet, ſo muß der Staat ſelbſt das materielle Element der Einheit in dem Organismus der für dieſe geiſtige Verwaltung beſtimmten Organe aufſtellen, das, wie die Idee des Staats alle Theile und Funktionen des Bildungs - weſens durchdringt und zum Theil geſtaltet, ſeinerſeits alle Gebiete der wirklichen Thätigkeit deſſelben äußerlich umfaßt, um in ihnen eben jenes Syſtem von Principien und Forderungen gleichmäßig und allgemein zur Geltung und Verwirklichung zu bringen. So entſteht als formaler Ausdruck und Träger jenes Syſtems der Verwaltungsorganismus der öffentlichen Bildung, den wir in ſeiner ſelbſtändigſten Form das Unterrichtsminiſterium nennen, und das in Recht und Organiſation wieder in jedem einzelnen Staate verſchieden iſt.

Faßt man nun das Ganze, was über Begriff, Princip und Syſtem des öffentlichen Bildungsweſens geſagt iſt, zuſammen, ſo wird man ſagen, das es ſich dabei nicht um die Bildung und den ſie erzeugenden Proceß an ſich, ſondern um das Verhalten des Staats zu dem - ſelben handelt, und daß das öffentliche Recht des geiſtigen Lebens hier wie immer aus dem Zuſammenwirken der Natur der Sache und des Weſens und der Idee des Staats beſteht. Und es iſt das Feſt - halten dieſes Momentes, welches uns die Geſchichte dieſes öffentlichen Bildungsweſens in ſeinem tieferen Inhalt klar macht.

III. Geſchichte der verwaltungsrechtlichen Auffaſſung im Ganzen.

Auch der Begriff des öffentlichen Bildungsrechts hat ſeine Ge - ſchichte, die durch ihren Zuſammenhang mit der ganzen Staatsauffaſſung von hohem Intereſſe iſt, und jedenfalls einen Theil der ſog. Geſchichte der Rechtsphiloſophie bilden ſollte. Man wird in derſelben drei ziemlich beſtimmte Entwicklungsſtadien unterſcheiden. Sie beginnt mit der Auf - nahme einzelner Sätze aus dem öffentlichen Bildungsweſen in die Polizeiwiſſenſchaft, die ſich weſentlich auf die bekannten Grundſätze der17 Sittenpolizei, und daneben auf fragmentariſche Aeußerungen über die Volksbildung beſchränken, während das Berufsbildungsrecht noch gar nicht in die Staatswiſſenſchaft aufgenommen wird, eben ſo wenig die Preſſe; die Hauptvertreter dieſes Stadiums ſind auch hier Juſti und Sonnenfels. Das zweite Stadium hat bereits einen viel beſtimmtern Charakter; daſſelbe entwickelt nämlich zwei Richtungen zu gleicher Zeit. Die erſte gehört der mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts entſtehen - den neuen Geſtalt des Staatsrechts an, welches allmählig, nachdem auch hier J. H. Berg in ſeinem Deutſchen Polizeirecht Bahn gebrochen (ſ. Bd. II. Recht der Unterrichtspolizei, als Theil des Rechts der Wohl - fahrtspolizei Hauptſtück VI, S. 299 365) ſich über die, noch von Pütter im Jus publicum ausſchließlich vertretene Anſicht erhebt, die nur da von dem öffentlichen Recht des Bildungsweſens ſpricht, wo es ſich darum handelt, wer das Recht habe Academias, Universitates, ac gymnasia, scholas et societates literarias zu gründen, von denen ſchon das alte Jus publicum anerkennt, daß status eos in suo cujus - que territorio instituere possunt. Pütter, Inst. Juris Publ. L. VIII, §. 359 (Auffaſſung des geſammten Bildungsweſens als Regalität). Hat doch Pütter nicht einmal in ſeiner Literatur des deutſchen Staats - rechts eine andere als die der Univerſitäten aufgenommen.

Erſt ſpäter wird daſſelbe in die Darſtellung des poſitiven Ver - waltungsrechts aufgenommen, freilich noch immer mit enger Beſchränkung auf die corporativen Ordnungen der Univerſitäten und ihres Rechts. Den Uebergang von dem Pütterſchen Standpunkt zur Berückſichtigung des geſammten Unterrichtsweſens im poſitiven deutſchen Staatsrecht bildet Gönner in ſeinem überhaupt ſehr beachtenswerthen Teutſchen Staatsrecht 1805, §. 370, der ſchon ein vollſtändiges Syſtem an - deutet. Ihm folgen, ohne über ihn hinaus zu gelangen, Mauren - brecher, Deutſches Staatsrecht, §. 197 (nur ganz beiläufig von der Bildungspolizei, ſonſt mehrfach von Univerſitäten), Zachariä, Deut - ſches Staats - und Bundesrecht II. §. 178 (Schulen und Univerſitäten unter Polizeihoheit ). Dieſe Richtung war allerdings weſentlich dadurch bedingt, daß es noch kein öffentliches Bildungsrecht für Deutſch - land gab, außer den Univerſitäten und der Preſſe, und daß der In - halt dieſes Rechts gar nichts anderes blieb, als eine Bildungspolizei. Die deutſchen Staatsrechtslehrer hatten daher materiell gar keinen andern Gegenſtand, als eben jenes höchſt beſchränkte Bundesrecht des deutſchen Bildungsweſens. Erſt mit der Reichsverfaſſung von 1849 gewann daſſelbe auch in den Territorialverfaſſungen einigen Raum, und was hier geſammelt werden konnte, hat Zöpfl in ſeiner fleißigen, aber ſyſtemloſen Weiſe geſammelt. (Deutſches Strafrecht, Bd. II. mehrfach.) Stein, die Verwaltungslehre. V. 218Das Bewußtſein von der hohen Bedeutung der Sache, gegenſtands - los im deutſchen Staatsrecht, bricht ſich dann Bahn in den Bearbei - tungen der Territorialverwaltungslehren, und wird zu ſehr vollſtän - digen Darſtellungen, wie bei Rönne, Stubenrauch, Pözl, natürlich aber auch ohne einen, dieſelben verbindenden Standpunkt. Der tiefe Mangel, der in dieſer Richtung lag, verbunden mit der wachſenden Erkenntniß von der entſcheidenden Wichtigkeit des Bildungsweſens, er - zeugte daneben die zweite Richtung, welche das letztere nunmehr grund - ſätzlich in die ſyſtematiſche Verwaltungslehre aufnahm, wobei freilich der traditionelle Name der Polizeiwiſſenſchaft den Autoren eben ſo ſehr in der freien Behandlung, als ihrem Wirken im Publikum ſchadete. Dieſe zweite Richtung wird eingeleitet durch eine Reihe ausgezeichneter Monographien über die Erziehung des Volkes, vorwiegend noch im ethiſchen und pädagogiſchen Sinne abgefaßt, von Zachariä, Weſſenberg, Niemeyer und Andern, die zwar keine Syſteme ſind oder ſein wollen, wohl aber das Bewußtſein feſthalten, daß die Staatswiſſenſchaft unter allen Formen das Bildungsweſen nicht mehr übergehen könne. Daſſelbe wird daher in die neue, organiſche und freie Geſtalt derſelben auf - genommen. Bei einigen wird daraus ein förmliches Polizeiſyſtem wie bei Lotz (Ueber den Begriff der Polizei, S. 379 ff. ), der den Gedanken vertritt, daß der Staat das Recht und die Pflicht habe, die Auf - klärung durch Zwangsmaßregeln durchzuſetzen, wobei er nur die Ele - mentarbildung von der allgemeinen Bildung nicht gehörig ſchied. Bei andern dagegen bleibt die Theorie meiſtens auf einem etwas allgemeinen und unklaren Standpunkt ſtehen, und berückſichtigt viel zu wenig das poſitive Recht neben den allgemeinen Grundſätzen, die ohnehin niemanden mehr zweifelhaft waren. So Jacob (Polizeiwiſſenſchaft I, §. 146); Pölitz (Staatswiſſenſchaft. Erziehungspolizei II, 19), der in ſeiner Staatswiſſenſchaft II, 339 den Satz durchführt, daß der Zwang falſch und der Staat nur verpflichtet ſein ſolle, die Hinderniſſe der Bildung aus dem Wege zu ſchaffen. Soden (Staats-Nationalbildung, Bd. 8 der Nationalökonomie) war der erſte, der eine ſyſtematiſche Dar - ſtellung verſucht; Aretin (Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie, II. Bd. 1. Abth., S. 35 ff. ), der zugleich an freien Grundſätzen und gelehrter Kenntniß ſo reich iſt, daß man ſeiner mit großem Unrecht vergißt; zuletzt Mohl (Polizeiwiſſenſchaft, Bd. I, Buch II, Kap. 2). Daneben lag es in der dialektiſchen Natur der rein philoſophiſch ge - wordenen Rechtsphiloſophie, mit der Verwaltung auch das Bildungs - weſen ſo gut als ganz zu übergehen. Während Kant, Fichte, Her - bart, Kraus ſich mit demſelben gar nicht beſchäftigen, ſo wenig wie in neuerer Zeit Rößler (Allgemeine Staatslehre) hat Hegel es nur19 als eine allgemeine unklare Kategorie des Staatsbegriffs angedeutet (Rechtspiloſophie §. 173), Fichte d. J. (Syſtem der Ethik II, 2. §. 166) es als eine ethiſche Forderung behandelt, Stahl in ſeiner Philoſophie des Rechts unter der nämlichen Abtheilung Verwaltung des Staats Bd. II, Abth. II. IV. Abſchn. geradezu vergeſſen. Was Bluntſchli und Helm ſagen, enthält an Gedanken nicht mehr, an Stoff und Syſtem aber weit weniger, als was bereits Pölitz und namentlich Zachariä und Aretin kürzer und energiſcher geſagt haben. Unter dieſen Um - ſtänden war es natürlich, daß die große und mit dem höchſten ſittlichen, der beſten öffentlichen Anerkennung werthen Eifer arbeitende päda - gogiſche Literatur dieſe ganze ſtaatsrechtlich-philoſophiſche durchaus nicht benützen konnte. Es iſt höchſt bezeichnend, daß die erſtere unſeres Wiſſens ſich auf die letztere auch an keinem einzigen Orte bezieht. Dadurch nun ward dieſe pädagogiſche Literatur bei aller Tiefe und Gründlichkeit im Einzelnen einſeitig. Das Bild des Ganzen, der innere organiſche Zuſammenhang der Theile und Gebiete, iſt ihr eigentlich niemals recht geworden. Sie beruht auf der Kategorie der Schulmänner , und es charakteriſirt ſie, daß ſie faſt nie die Univerſitäten, nur in Andeutungen die Kunſt und ihre Bildungsanſtalten, und gar nie die Preſſe in ſich aufnimmt und verarbeitet, ſo wichtig auch die letztere iſt. Eine Wiſſen - ſchaft des Bildungsweſens gibt es daher noch nicht; aber mit Aus - nahme vielleicht der Medicinalpolizei gibt es keinen Theil der Staats - wiſſenſchaft, der ſo ausgezeichnete Arbeiten im Einzelnen darböte. Aus dieſen Elementen hat ſich nun das gegenwärtige Stadium ge - bildet. Die Wiſſenſchaft hat die organiſche Geſammtauffaſſung, die ihr in der deutſchen Literatur fehlte, in dem fremden Bildungsweſen geſucht, und namentlich iſt es das Engliſche, das beſtimmt ſcheint einen neuen Anſtoß zu geben, während andererſeits in höchſt beachtenswerther Weiſe die Schulmänner auch das poſitive Recht der Bildungsanſtalten ernſt - haft zu berückſichtigen beginnen. Als die bedeutendſte Erſcheinung auf dieſem Gebiete muß man Schmids Encyclopädie begrüßen. Wenn es zwar nicht möglich iſt, bei dem, was in ihr geleiſtet iſt, ſtehen zu bleiben, ſo iſt es eben ſo wenig möglich, ohne ſie zu arbeiten. Sie ent - hält unſchätzbare Beiträge zur Lehre vom öffentlichen Bildungsrecht bei dem vielfach vollſtändigen Mangel anderer territorialen Bearbeitungen.

In hohem Grade charakteriſtiſch für dieſe geſammte Entwicklung iſt nun das abſolute Hinweglaſſen der Preſſe aus allen Auffaſſungen des öffentlichen Bildungsweſens. Die Urſachen dafür liegen zwar nahe; aber es iſt wohl an der Zeit, ein Leben und eine Gewalt, die in ſich ſelber ſchon ein großartiges Syſtem geworden ſind, nicht mehr von der ſyſtematiſchen Wiſſenſchaft aus - zuſchließen, und ſie nur als Gegenſtände der Polizei zu berückſichtigen.

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IV. Geſchichtliche Entwicklung.

1) Das geſellſchaftliche und das ſtaatliche Princip des Bildungsrechts.

Niemand wohl wird es für nöthig erachten, hier den Satz weiter auszuführen, daß das poſitive Recht auf allen Gebieten des Lebens, alſo auch der Verwaltung im Allgemeinen und das der Bildung im Beſonderen nicht etwa zufällig und willkürlich entſteht, ſondern ſich in ſeiner Bildung nach den großen Elementen richtet, welche das geſammte Leben beherrſchen. Und ſo ſteht es feſt, daß die Wiſſenſchaft alles und ſo auch dieſes Rechts nicht bloß in der Sammlung der betreffenden Beſtimmungen, ſondern in dem Verſtändniß der großen Faktoren und ihrer Geſetze beſteht, aus welchem das poſitive Recht hervorgeht.

Dieſe beiden Faktoren nun ſind hier wie immer die menſchliche Ge - ſellſchaft und die Staatsidee. Beide ſind in der Wirklichkeit untrennbar verſchmolzen; nur die Wiſſenſchaft vermag ſie zu ſcheiden. Wo ſie es aber thut, entſteht ein eigenthümliches Bild, das die bewegenden Kräfte der Weltgeſchichte ſelbſtändig darlegt, uns in die große Werkſtatt aller Rechtsbildung, und ſo auch die des Bildungsrechts aller Völker und Zeiten hineinführt, und uns das Werden desjenigen zeigt, was wir das poſitive Recht nennen.

Es mag uns daher wohl geſtattet werden, hier den Charakter der Geſellſchaft einerſeits und des Staats andererſeits zu bezeichnen, um anſchauen zu können, wie ſie in lebendiger Wechſelwirkung das Bildungs - weſen der Staaten erzeugt haben.

Es iſt an einem andern Orte gezeigt, daß die Geſammtordnung der geiſtigen und wirthſchaftlichen Güter in der Menſchheit, als Ord - nung des Lebens derſelben erſcheinend, die Geſellſchaft iſt, und daß dieſe Geſellſchaft drei große Grundformen bis jetzt entwickelt hat, die Ge - ſchlechter -, die ſtändiſche und die ſtaatsbürgerliche Ordnung. Es iſt ferner gezeigt, daß jede dieſer Ordnungen nicht bloß ihre Verfaſſung, ſondern auch ihre Verwaltung erzeugt. Der Verwaltung im weiteſten Sinne gehört auch das Bildungsweſen. Jede Geſellſchaftsordnung hat daher ihre Geſtalt und ihr Recht des Bildungsweſens. Dieſes Bildungs - weſen der Geſellſchaftsordnung im Gegenſatze zu dem des Staats hat nun einen zweifachen Inhalt, auf dem ſein Einfluß und ſeine Geſchichte beruhen.

Einerſeits nämlich ruft das Weſen der Geſellſchaftsordnung noth - wendig dasjenige hervor, wodurch ſie ſich von der Idee des Staates ſcheidet, das iſt der Unterſchied der Klaſſen, und damit ihren Gegenſatz. 21Jede Geſellſchaft hat ihre herrſchende und ihre beherrſchte Klaſſe, und ihre eigenthümlichen Gegenſätze und Bewegungen, welche den Inhalt des innern Lebens der Völker bilden. Der Charakter dieſes innern Lebens iſt ſtets das Streben der herrſchenden Klaſſe, ihre eigenen In - tereſſen zu erhalten und zu fördern. Dieſer Charakter gilt nun auch für die in ihr gegebene Geſtalt des Bildungsweſens. Jedes aus der Geſellſchaft hervorgehende Bildungsweſen geht dahin, dieſe Bildung in der Weiſe zu ordnen, zu erzeugen und vertheilen, daß die beſondere Stellung, die Herrſchaft und das Intereſſe der einzelnen Klaſſen mit all ihren Unterſchieden in der durch die Bildung gegebenen geiſtigen Welt einerſeits wiedergegeben werde, andererſeits ſich erhalte. Jedes rein geſellſchaftliche Bildungsweſen iſt daher ein Bild, aber auch ein Grund und eine mächtige Stütze der geſellſchaftlichen Unterſchiede zwiſchen den Menſchen. Jedes rein geſellſchaftliche Bildungsweſen enthält daher einerſeits eine möglichſt hohe, ſtark entwickelte, meiſt auf die tiefſten Grundlagen des geiſtigen Lebens zurückgeführte Bildung der herrſchenden Berufsarten; aber neben dieſer Bildung zugleich die Ausſchließung der niederen Klaſſe von der Berufsbildung der höheren. In dieſen beiden, für alle Stadien der Geſchichte gültigen Sätzen gipfelt der Charakter des eigentlich geſellſchaftlichen Bildungsweſens.

In dieſe durch die Geſellſchaftsordnungen geſetzte Geſtalt deſſelben tritt nun der Staat mit ſeinem ſpecifiſchen Weſen hinein. Seiner unabänderlichen Natur nach vertritt er ſtets das allgemeine Intereſſe gegenüber dem beſondern, und keine geſellſchaftliche Verfaſſung kann ihm dieſes ſein Lebensprincip ganz rauben. Das Gebiet aber, in welchem er dieß ſein eigenſtens Lebensprincip zur Verwirklichung bringt, iſt eben die Verwaltung überhaupt; denn die Verwaltung iſt ja der thätige Staat. In allen einzelnen Gebieten der Verwaltung aber erſcheint das ſpecifiſche Lebensprincip der Staatsidee gegenüber dem der geſell - ſchaftlichen Ordnungen wieder als die beſtändige Arbeit des Staats, die niedere und beherrſchte Klaſſe zu heben, und ihr die Lebens - bedingungen der Entwicklung zur möglichſten Gleichheit mit der herrſchenden zu geben. Dieß iſt der Kern aller Verwaltung des Staats gegenüber der Geſellſchaft, alſo auch ſeiner Verwaltung des geiſtigen Lebens.

Das große Princip der Staatsgewalt im Bildungsweſen erſcheint nun abgeſehen von jeder Bethätigung in den einzelnen Formen, Ein - richtungen und Geſetzen in doppelter Weiſe. Einerſeits tritt es negativ auf in dem Streben, die in den geſellſchaftlichen Kräften und Zuſtänden liegenden Unterſcheidungen im Volksbildungsweſen zu bekämpfen und zu beſeitigen, poſitiv aber in dem organiſirten Verſuch, allen Klaſſen der22 Geſellſchaft, und zwar ohne Rückſicht ſowohl auf Stand als auf Beſitz, jede Art und jeden Grad der Bildung zugänglich zu machen. Die Art und Weiſe wie er dabei zu verfahren hat, zeigt ihm die Er - ziehungslehre; die Gebiete und Formen zeigt ihm das Bildungsweſen; aber das öffentliche, aus dem obigen Weſen des Staats hervorgehende, und es zum Ausdruck bringende Recht des Bildungsweſens geht natür - lich hervor eben aus demjenigen Zuſtande der Geſellſchaftsordnung, mit welchem die Staatsgewalt es zu thun hat. Und ſo entſteht der eigent - liche Inhalt des Begriffs des poſitiven Bildungsrechts. Daſſelbe enthält demgemäß nicht eben bloß die wirklich geltenden Beſtimmungen für das Verwaltungsrecht der Bildung, ſondern es iſt vielmehr der Ausdruck für den Grad und die Art, in welcher das Princip des Staats mit ſeiner freien und allgemeinen Bildung gegenüber der Geſellſchaft und ihrem Klaſſenbildungsweſen zur Geltung gelangt iſt.

Denn dieſe Geltung wird keineswegs mit einemmale gewonnen. Wie jede große, die Menſchheit beherrſchende Idee erſt langſam und ſchrittweiſe zum Siege gelangt, ſo gewinnt auch der Staat mit ſeinen Forderungen nur langſam und nicht immer gleichmäßig den Sieg über die widerſtrebenden Elemente der Geſellſchaft. Und dieſe Bewegung, dieſer Kampf und Sieg der Staatsidee als Trägerin des Princips der freien und gleichen Beſtimmung aller Perſönlichkeit in der geiſtigen Welt, die Entwicklung der Geſetze, Maßregeln und Anſtalten, welche dieſen Gedanken verwirklichen, dieſe allmählige Erhebung des Bildungs - weſens aus dem geſellſchaftlichen zu einem rein menſchlichen, conſolidirt, gefeſtigt und zu einer öffentlich rechtlichen Thatſache gemacht, iſt die Ge - ſchichte des öffentlichen Bildungsweſens. Sie iſt daher ein Stück Welt - geſchichte, und auch der gegenwärtige Zuſtand muß, wie alle bisherigen, in dieſem Sinne als ein Zuſtand des Werdens und des Ueberganges betrachtet werden.

Die großen Grundformen dieſer Geſchichte aber ſind die folgenden.

2) Die Stadien des öffentlichen Bildungsweſens in der Geſchichte.

Es iſt natürlich unmöglich, dieſe hiſtoriſche Entwicklung nunmehr anders als im Großen und Ganzen zu charakteriſiren, indem wir dabei das Bild der Weltgeſchichte überhaupt in ſeinen Grundzügen als bekannt vorausſetzen. Wir können daher hier nicht mehr geben als den Rahmen, in welchem alle einzelnen Thatſachen und hiſtoriſchen Entwicklungen ihren Platz finden; das gegenwärtige Recht aber iſt ſeinerſeits in dieſem23 Sinne die Ausfüllung deſſelben mit dem, was die Gegenwart bietet. Aber dabei iſt es gewiß, daß jedes tiefere Eindringen in dieſen hiſto - riſchen Proceß erſt dann zu einem abgeſchloſſenen Reſultat führt und dadurch aus einer Zuſammenſtellung eine wahre Vergleichung möglich macht, wenn man alle einzelnen Angaben und Thatſachen des Bildungs - weſens auf die drei großen Kategorien der Elementar -, der Berufs - und der allgemeinen Bildung zurückführt. Denn die ethiſche Natur des Staats bringt es mit ſich, daß er der natürliche Vertreter nicht etwa Einer, ſondern aller dieſer drei Kategorien zugleich iſt, während jedes rein geſellſchaftliche Bildungsweſen ſtets nur Eines dieſer Ge - biete zur Entwicklung bringt. Das öffentliche Bildungsweſen erfüllt daher nicht die Aufgabe, die Wiſſenſchaft als ſolche zu heben und zu veredeln; das iſt und bleibt Sache des lebendigen und arbeitenden Geiſtes der Menſchen, ſondern vielmehr die, das von der Wiſſenſchaft je nach ihrem Standpunkt Errungene zum Gemeingut zu machen. Und es iſt gar kein Zweifel, daß gerade in dieſem Sinne unſere Zeit weit höher über der ganzen Vergangenheit ſteht, als in den Ergebniſſen irgend einer einzelnen Wiſſenſchaft und Kunſt.

Von dieſem Standpunkt erſcheinen nun folgende Hauptſtadien der Geſchichte des öffentlichen Bildungsweſens.

I. Im Orient iſt die ſtaatliche Gewalt ganz in den Händen der geſellſchaftlichen Gewalten. Das Princip der erſteren geht daher voll - ſtändig in dem des letzteren unter. Es gibt nicht bloß keine allgemeine Bildung, und daher auch nicht ihre Bedingung, die Elementar - bildung, ſondern es darf auch keine geben. Die Geſammtbildung iſt eine, aber grundſätzlich unfreie Berufsbildung und das Sonderintereſſe der herrſchenden Kaſten macht dieſe Sonderbildung jeder einzelnen heilig, ſo daß der Erwerb derſelben für andere Kaſten ſelbſt zu einem geſell - ſchaftlichen Verbrechen wird. Damit jeder in ſeiner Kaſte bleibe, darf er gar nicht lernen, was die Bildung der andern ausmacht. Die Staatsgewalt im Dienſte der geſellſchaftlichen Herrſchaft verliert dabei ihr höheres ethiſches Weſen und wird zu einer dienſtbaren Vollzieherin der geſellſchaftlichen Forderungen. Die Bildung ſelbſt wird dabei eine zwar große, aber einſeitige; die Bildung durch das freie Element der thätigen Individualität fehlt, und mit der geiſtigen Stagnation geht das Leben des Staats ſelbſt zu Grunde.

II. Die alte Welt und zwar Griechenland ſowohl als Rom, be - ruht faſt ausſchließlich auf der Geſchlechterordnung. Sie will daher die Erhaltung der herrſchenden Geſchlechter, mithin in ihrer Bildung die Entwicklung desjenigen Theiles der geiſtigen Güter, welche dieſe Herrſchaft enthalten. Dieſe ſind nun die möglichſte Entwicklung der24 freien und kräftigen Perſönlichkeit, ſo weit ſie den herrſchenden Klaſſen angehört. So entſteht das Bildungsweſen der Geſchlechter, ge - richtet auf Tapferkeit, Sitte und Dienſt der Geſchlechtergötter. Die Unterſcheidung der Elementar - und Berufsbildung fehlt dabei, weil die Geſchlechterordnung nur Einen Beruf kennt, den des Dienſtes in Waffen. Die Geſchlechter ſelbſt aber ſind gleichberechtigte Glieder der Gemeinſchaft, und fordern und erhalten alle gleiche Bildung, und dieſe Bildung iſt die Baſis des auf ihrer Herrſchaft ruhenden, oder vielmehr aus ihr ſelbſt beſtehenden Staats. Wo daher ein Geſchlechterſtaat theoretiſch zum Bewußtſein gelangt, wird er dieſe Bildung als all - gemeine Nothwendigkeit, als gleiche Pflicht jedes Einzelnen gegen das Ganze fordern, weil ſie ſeine Herrſchaft begründet. Dadurch erſcheint dann die Erziehung und Bildung als eine öffentliche Angelegenheit, aber nur innerhalb der individuellen Tüchtigkeit in Waffen und Staats - dienſt. Auf dieſe Weiſe beſteht der Charakter des öffentlichen Bildungs - weſens der Geſchlechterordnung darin, daß der Staat (als die Organi - ſation der Geſchlechterherrſchaft) die Bildung von den Einzelnen fordert, aber ſie ihnen weder gibt noch erleichtert. Die Geſchlechter ſelbſt ſind die Träger der Bildung; in ihnen die Familie. In dieſem Stadium der Geſchichte iſt es daher, wo die Familie als Grundlage der Bildung erkannt wird; allein damit iſt auch die beſtändige, bis auf unſere Zeit reichende Verſchmelzung von Erziehung und Bildung begründet, die das Verſtändniß des öffentlichen Rechts der letzteren ſo ſchwer macht. Die wirkliche Bildung der Geſchlechter erſcheint daher eben ſo ſehr als eine ſociale, denn als eine ſtaatliche Pflicht; in den einheitlichen Formen des Geſchlechterſtaats verſchmilzt beides. Die öffentliche Formen werden dann die Spiele, Waffen - und Turnſpiele; aber nur die Geſchlechter ſind zu ihnen berechtigt. So war es in der alten Welt, ſo iſt es in der germaniſchen geweſen, und ſo iſt es in den Reſten der alten Ge - ſchlechter noch jetzt, denn das Uebergehen der Söhne des Adels in den Waffenſtand iſt nur eine andere Form derſelben Thatſache.

III. Daneben aber geht in der alten Welt ein zweiter Bildungs - proceß her, der eine nicht minder hohe weltgeſchichtliche Bedeutung ge - habt hat. Jene Geſchlechterbildung enthält zuletzt in ihrem Ergebniß eine Berufsbildung; denn die Waffe iſt der Beruf des freien Mannes. Die Idee der Freiheit aber, einmal lebendig in dem Menſchen und ihn er - hebend und veredelnd, erzeugt dagegen eine Form der allgemeinen Bildung, in welcher zuerſt in der Weltgeſchichte die einzelne Perſönlichkeit, von Beſitz und Geſchlecht unabhängig, ſich durch geiſtige Güter eine Stellung gewinnt. Dieſe allgemeine Bildung iſt in der griechiſchen Welt die Poeſie im weiteſten Sinne, die Philoſophie und Redekunſt inbegriffen:25 in der römiſchen dagegen die Rechtswiſſenſchaft und die Stellung und Aufgabe der Anwälte. Beide vertreten die Preſſe unſerer Zeit. Beide erwecken die Ueberzeugung von dem hohen Werth der geiſtigen Bildung; damit das Streben nach ihr; damit das Inſtitut von Schulen, Privatlehrern, ſelbſt öffentlichen Vorträgen; damit ein Schriftſtellerthum, in Griechenland ein weſentlich dichteriſch-philoſophiſches, in Rom ein juriſtiſches; und damit endlich die Ueberzeugung, daß das Bildungs - weſen Gegenſtand einer eigenen Wiſſenſchaft ſein könne und müſſe. So entſteht die Παιδεια, die Pädagogik. Allein ſie bleibt eigentlich bei der ethiſchen Erziehung ſtehen, denn die geiſtige Erziehung bleibt in aller Geſchlechterordnung doch nur Sache des Einzelnen; ſie wird nie Sache des Staats; der Begriff des beſtimmten Berufes und ſeiner Bildung, die Unterſcheidung der Elementarlehre fehlt, und das iſt der Grund, weßhalb ſie in der germaniſchen Zeit anſtatt eine Pädagogik zu werden, vielmehr nur die ethiſchen Motive der letzteren abgibt. Darauf beruht die Stellung der griechiſchen Philoſophie zur germani - ſchen Pädagogik als Wiſſenſchaft; jene hat gewiß unendlich ſegensreich gewirkt, aber nicht da, wo man es nur zu oft annimmt. Sie hat uns keine Bildungslehre, ſondern ſie hat uns die Erziehungslehre gegeben. Wir verdanken ihr viel; aber nicht alles. Für das, was wir brauchen, gibt ſie nicht einmal eine Anleitung. Das dringendſte Bedürfniß unſerer Zeit war und iſt eben die Bildungslehre, und dieſe hat ſich aus eigener Kraft bilden müſſen. Ihre hiſtoriſche Grundlage aber iſt die folgende.

IV. Alles Weſen der germaniſchen Staatsbildung beruht auf der Selbſtändigkeit des Staats gegenüber der Geſellſchaft; dieſelbe aber er - ſcheint darin, daß in ihr die ſpecifiſche Funktion des erſteren der ge - ſellſchaftlichen Ordnung in ihren Intereſſen entgegentritt, in allen Dingen und ſo auch im Bildungsweſen. Die Geſchichte des öffentlichen Bildungs - weſens beſteht daher hier in dem Zuſammenwirken beider Faktoren, die man in Natur und Einfluß ſehr genau verfolgen kann. Der Charakter dieſer beiden Elemente aber läßt ſich durch die ganze Geſchichte hin - durch wohl am beſten in folgende Sätze zuſammenfaſſen. Die geſell - ſchaftlichen Elemente der germaniſchen Welt erzeugen, vertreten und ordnen weſentlich alles dasjenige, was der Berufsbildung angehört; auf die Elementarbildung hat dagegen der Staat den größten Einfluß, und die allgemeine Bildung entwickelt ſich von ſelbſt aus dem, der germaniſchen Welt eigenthümlichen regen Leben der Geiſter. Allein dieſe Momente ſtehen im Bildungsweſen ſo wenig bloß neben einander als im übrigen öffentlichen Leben; ſie greifen vielmehr auf allen Punkten nicht nur ethiſch, ſondern auch rechtsbildend in einander, und das iſt26 es weſentlich, was der inneren Lebensgeſchichte aller dieſer Völker ſo viel Kraft und Mannigfaltigkeit verleiht. Für die Elementarbildung nämlich wird zwar das öffentlich-rechtliche Princip der Bildungspflicht zum allgemeinen Geſetze erhoben, allein indirekt wird dieſelbe auch für alle öffentlichen Berufe gültig; andererſeits wird aus der Elementar - lehre wieder allmählig ein Beruf, und damit ein Stand, wie auch die Preſſe ihren Stand erzeugt. Die Verwaltung der Berufsbildung iſt zwar urſprünglich eine geſellſchaftliche, das iſt eine Form der Selbſt - verwaltung von geiſtigen Körperſchaften, allein derſelbe Grundſatz freier Selbſtbeſtimmung greift auch in die Elementarſchulen über; das Ver - einsweſen bricht ſich Bahn in allen drei Gebieten und ſchafft ſich ſelber Elementar -, Berufs - und allgemeine Bildungsanſtalten, und zu gleicher Zeit macht der ſteigende Werth der Bildung tauſende der verſchiedenſten Privatunternehmungen dafür möglich, ſo daß hier die freieſte Bewegung in der Produktion geiſtiger Güter vorwaltet; und dennoch vermag es die lebendige Staatsidee wieder, das Ganze als Einheit zu erfaſſen, das Bewußtſein dieſer Einheit, durch die Wiſſenſchaft unterſtützt, zur poſitiven Geltung zu bringen, trotz der faſt vollkommenen Freiheit einheit - liche Geſetzgebungen und ſogar eine einheitliche Verwaltung aufzuſtellen, und ſo das geiſtige Element des gemeinſamen Strebens auch praktiſch in der größten Verſchiedenheit aufrecht zu halten. Auf dieſe Weiſe ent - ſteht hier eine lebensvolle Geſchichte in dieſem, nur der germaniſchen Welt eigenthümlichen Zuſammenwirken, und mit derſelben ein großartiges Syſtem von Anſtalten, Thätigkeiten, Körperſchaften, Rechten und Or - ganen, welches die großen Träger des geiſtigen Lebens uns in ihren mächtigen Funktionen zeigt, deren jede wieder ihre eigene, und in jedem Lande wieder beſonders geſtaltete Geſchichte hat. Wohl wird es bei dieſer größeren faktiſchen Einheit immer ſchwerer, dieſelbe in wiſſenſchaft - licher Form einfach darzuſtellen, dafür aber hat das machtvolle Ganze die Kraft, jeden zu begeiſtern, der für die Arbeit deſſelben ſeine edelſten Kräfte hingibt.

V. Was nun die hiſtoriſchen Epochen dieſer Entwicklung betrifft, ſo ſehen wir hier den Staat ſich erſt allmälig aus der Herrſchaft der geſellſchaftlichen Elemente ſich erheben, und auch für das Bildungs - weſen ſeine Funktion übernehmen. Allein einerſeits hat er es nie ver - ſucht oder vermocht, daſſelbe ausſchließlich in ſeine Hand zu bekommen, anderſeits zeigt uns das Leben aller germaniſchen Reiche, daß dem Volke mitten in den beſchränkteſten Ordnungen der Geſchlechter und der Stände das Element der freien Beſtimmung und des Rechts auf gleiche Entwicklung Aller nie ganz verloren geht. Es iſt keine Frage, daß urſprünglich der ethiſche Träger dieſer Idee die Kirche geweſen,27 die überhaupt dazu beſtimmt war, die Freiheit da zu vertreten, wo die ganze übrige Geſellſchaft ſie aufgegeben, während ſie ſie ſtets da be - kämpfte, wo die letztere ſie forderte. Dieſe große hiſtoriſche Thatſache tritt uns nun nirgends deutlicher entgegen, als in der Geſchichte des Bildungsweſens.

Dieſe Geſchichte läßt ſich nun auf ihre einfachſten Grundlagen zurückführen.

VI. In der Epoche der Geſchlechterordnung, welche bis zum Mittel - alter herrſcht, finden wir das Weſen der alten Geſchlechterbildung ein - fach wieder, ſogar mit den Anklängen der allgemeinen Bildung in Dicht - kunſt und Wiſſenſchaft aus der griechiſchen Welt (Troubadours, Volks - dichter, Sängerkämpfe) und der römiſchen (Rechtspflege durch die Herren und Freien.) Selbſt die Waffen, die Waffenſpiele und die Waffen - pflicht ordnen ſich nach den Geſchlechterklaſſen. Allein das, was wir das öffentliche Bildungsweſen genannt haben, gibt es hier ſo wenig als in der Geſchlechterordnung Griechenlands und Roms. Der Staat iſt noch nicht ſelbſtändig gegenüber der Geſellſchaft; er hat zwar eine Verfaſſung, aber er hat noch keine Verwaltung. Er beſteht nur noch als Organiſation der Heeresmacht und als Würde des Königthums. Die Pflege und Bildung bleibt daher Sache der Geſchlechter und der Einzelnen; eine Verwaltung, ein öffentliches Recht derſelben gibt es nicht, und ihre öffentliche Geltung beſteht nur in der bevorrechteten Ausübung der Waffen nach den Geſchlechterbegriffen der Freien und Unfreien.

Eine ganz andere Geſtalt tritt ein in der ſtändiſchen Welt. Dieſe aber iſt bei den germaniſchen Völkern weſentlich von den orientaliſchen verſchieden; während bei den letzteren nur die geſellſchaftlichen Stände herrſchen, bildet ſich bei jenen die ſelbſtändige Staatsgewalt gleich an - fangs mit einem feſten, aber noch undefinirten Bewußtſein ihrer wahren Aufgabe heraus, und der tiefe Gegenſatz, der darin liegt, erſcheint nun im Bildungsweſen ſo gut als in allen andern Gebieten des Staats - lebens.

Darum muß man zwei große Geſtaltungen des letzteren neben - einander, und zum Theil einander gegenüberſtellen.

Die erſte iſt die des ſtändiſchen Bildungsweſens. Ihr erſtes Princip iſt, daß der ſpezielle Beruf Grundlage, Organ und Ziel der Bildung ſein ſoll. Dieſes Prinzip gewinnt ſeine Geſtalt durch die Kirche, welche zuerſt das geiſtige Leben von dem äußern ſcheidet, und ſeine Förderung zu einem ſittlichen Berufe macht. Einmal ſelbſtändig daſtehend und als Stand anerkannt und mächtig, entwickelt dieſe geiſtige Welt die Wiſſenſchaft. Zu dem Berufe des Glaubens tritt der des28 Wiſſens. Die Wiſſenſchaft iſt nun wohl an ſich frei und allgemein: aber in der herrſchenden ſtändiſchen Ordnung erſcheint ſie doch that - ſächlich nur als ſtändiſche Aufgabe und erzeugt einen Stand. Für dieſen Stand fordert ſie ihr eigenes Bildungsweſen. Das große Organ dieſer ſtändiſchen Wiſſenſchaft iſt die Univerſität. Die Univerſität er - ſcheint ſomit urſprünglich als etwas ganz verſchiedenes von dem was ſie ſpäter geworden. Sie iſt erſt in zweiter Linie eine Bildungsanſtalt; ſie iſt in erſter das Haupt eines neuen, ſocialen Standes. Sie nimmt daher das Recht eines jeden Standes in Anſpruch, ſich ſelbſt zu ver - walten. So entſteht der erſte große Selbſtverwaltungskörper des Bil - dungsweſens, zwar eine rein ſtändiſche, aber auch eine geiſtige Geſtalt. Mit dem erſten dieſer Elemente wirkt ſie allerdings excluſiv, indem ihr nur das als Wiſſenſchaft gilt, was ſie lehrt und anerkennt; mit dem zweiten aber zieht ſie das geiſtige Leben der Völker überhaupt an ſich, erzeugt ein eigenes Syſtem der Vorbildung in den gelehrten Schulen, eine eigene Ordnung für den Erwerb der Bildung in den Studien - ordnungen, ein eigenes Recht der Erklärung über die gewonnene in den Univerſitätswürden; ſie iſt eine Welt für ſich, aber ihre Bildung wird allmählig ein Faktor des praktiſchen öffentlichen Lebens, ja der Verwaltung, und die in dieſer Beziehung zum wirklichen Leben liegenden Keime einer allgemeineren Stellung überwuchern allmählig das ſtändiſch excluſive Element; der Staat kommt zum Bewußtſein, daß er ihrer und ihrer Funktion bedarf, und kaum ſcheidet er ſich klar von der Stände - ordnung, als er auch ſchon die ganze Univerſitätsordnung mit ihrer Vorbildung in dem Gymnaſium, mit ihrer Lehrordnung und ihren Prüfungen dem ſtaatlichen Recht unterwirft und ſo aus dieſem urſprüng - lich ſocialen Bildungsweſen ein ſtaatliches macht. Einen ganz ähnlichen Weg geht das zweite Element der ſtändiſchen Geſellſchaft der germani - ſchen Welt.

VII. Dieß zweite Element iſt das, was neben den Univerſitäten die germaniſche Welt des Geiſtes charakteriſirt, die Schule. Sie iſt zuerſt und zunächſt eine rein ſtändiſche Anſtalt. Sie geht hervor aus der Kirche, aber ſie iſt urſprünglich auch nur für die Kirche beſtimmt. Da ſie ſelbſt ihre Glieder aus dem Volke nahm, mußte ſie demſelben Volke wenigſtens die Elemente aller Bildung allmählig zugänglich machen. Allein das allgemeine Weſen der Schule, die elaſtiſche Fähigkeit derſelben, die Bildung ohne Rückſicht auf die geſellſchaftlichen Unterſchiede zu erzeugen, verläugnet ſich ſelbſt in ihrer anfänglichen Geſtalt nicht. Sie iſt ihrem Weſen nach gleich bei ihrem Urſprung eine allgemeine Bildungsanſtalt, deren Herſtellung und Verwaltung aber anfänglich noch eine rein ſtän - diſche Aufgabe der Kirche iſt. Weder der Orient noch das Alterthum29 kennt die germaniſche Schule. Das Weſen der Schule beſteht nicht etwa darin, daß in ihr die Elemente der Bildung gelehrt werden; ſchon die germaniſchen Sprachen unterſcheiden ganz beſtimmt, ohne eine durch - greifende Verſchmelzung zuzulaſſen, den Unterricht und auch die Er - ziehung von der Schule. Die Schule iſt vielmehr ein öffentliches Inſtitut für die Geſammtbildung; ſie kennt ihrem Weſen nach keinen Unterſchied der Geſellſchaft; ſie bietet, was ſie zu geben hat, für alle; ſie bedeutet die große Aufgabe der Menſchheit, allen die gleichen Be - dingungen der perſönlichen geiſtigen Entwicklung zu geben; ſie iſt nicht ein Privatinſtitut, nicht eine zufällige Unternehmung, die man haben kann und auch nicht haben kann, nicht eine Unterrichtsordnung, die je nach ſubjektivem Ermeſſen bald da iſt, bald nicht, bald dieß, bald jenes bietet; ſie iſt vielmehr, ſo wie ſie auftritt, ein organiſcher Theil des Geſammtlebens, eine durch ſich ſelbſt geltende öffentliche Anſtalt; ſie enthält eine allenthalben gleichartige, gleichſam ſich durch ſich ſelbſt voll - ziehende Funktion; ſie iſt die allenthalben geforderte, allenthalben thätige Vorbildung aller für die höchſt mögliche Bildung aller. Sie geht daher zwar aus der ſtändiſchen Geſellſchaft hervor, aber ihrem höheren Weſen nach gehört ſie ihr nicht. Sie iſt das erſte, zugleich bewußte Auftreten des großen Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft; ſie iſt das ewig wirkende Element der allgemeinen und geiſtigen Frei - heit. Allein, wie geſagt, bei ihrem Urſprung ſind dieſe Keime noch nicht entwickelt. Sie iſt ihrem innerſten Princip nach eine ſtaatsbürgerliche, ihrer Entſtehung nach eine ſtändiſche Anſtalt der Kirche. Daher iſt ſie noch keine Volksſchule, ſondern ſie tritt vielmehr zuerſt in inniger Ver - bindung mit der ſtändiſchen Bildung, als Vorbildungsanſtalt der ge - lehrten Schule auf. Jede schola iſt urſprünglich ein Gymnaſium. Erſt das Entſtehen des Bürgerthums greift entſcheidend in dieſe Orga - niſation hinein, ſcheidet die reine Elementarbildung von der Vorbildung vor dem Berufe, und begründet die Bildungsordnung der folgenden Epoche. Die urſprünglichen scholae ſind deßhalb als Keime anzuſehen, in denen eigentlich das geſammte Syſtem der Bildung noch ungeſchieden enthalten iſt, die Elementarſchule, die Vorbildungsſchule, und zugleich die einzige Form des allgemeinen Bildungsweſens. In dieſem Sinne iſt die Geſchichte der scholae noch zu ſchreiben. Erſt mit dem Auf - treten der folgenden Epoche ändert ſich dieß, jene Elemente treten ſelb - ſtändig hervor, und eine neue Ordnung beginnt.

VIII. Dieſe neue Epoche iſt nun die, in welcher das zweite Ele - ment der germaniſch-ſtändiſchen Epoche, die ſtaatliche Bildung, all - mählig ſich aus dem ſtändiſchen heraus ſcheidet und ſelbſtändig wird. Denn in ihr, etwa mit dem ſechzehnten Jahrhundert, ſcheidet ſich die30 Staatsgewalt von der Geſellſchaft, und tritt derſelben zum Theil feind - lich entgegen. Auch hier liegt dieſem ſtaatlichen Proceß allerdings ein ſocialer zum Grunde. Es iſt ein Geſetz der Entwicklung, daß die Macht der ſelbſtändigen Staatsgewalt, bis zur Höhe der Diktatur, ſtets in dem Grade wächst, in welchem die geſellſchaftlichen Elemente mit einander im Kampfe ſind. Wo immer die Staatsgewalt mächtig iſt, bedeutet ſie eine große ſociale Bewegung. Die polizeiliche Epoche nun ihrerſeits bedeutet demgemäß die Zeit, wo die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſich allgewaltig aus der ſtändiſchen und den Reſten der Geſchlechterordnung herausarbeitet, welche bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in Europa ausſchließlich herrſchen. Die polizeiliche Epoche, ethiſch getragen durch den Begriff der Obrigkeit, rechtlich vertreten in den großen Prin - cipien des Römiſchen Rechts, faßt jedoch zunächſt den Staat als etwas ſelbſtändiges auf, das eigene Intereſſen, eigene Aufgaben, eigene Or - gane habe, und daher, um zu ſein und zu wirken, Macht haben müſſe. Ein weſentlicher Theil dieſer Macht iſt der Reichthum, eine der großen Bedingungen des Reichthums iſt die Bildung; der Staat fängt an die Bildung zu brauchen, wie er Geld braucht, Militär braucht, Straßen braucht, Handel und Gewerbe braucht, und anderes. Was er braucht, will, muß, darf und kann er ſich ſchaffen Er erfaßt daher jetzt das Bildungsweſen, das bis dahin in den Händen der Selbſtver - waltung gelegen, als ein ſelbſtändiges Objekt ſeiner Thätigkeit, als einen Gegenſtand ſeiner Verwaltung. Und damit beginnt eine neue Epoche.

Man muß nun, um den Inhalt dieſer neuen Zeit klar zu machen, das formelle Element des neuen ſtaatlichen Bildungsweſens von dem geiſtigen ſcheiden, obwohl ſie in der Wirklichkeit enge zuſammengehen.

IX. Der formelle, öffentlich rechtliche Charakter dieſer Epoche liegt darin, daß nunmehr, etwa ſeit dem Anfange des ſechzehnten Jahr - hunderts, der Staat, allmählig fortſchreitend, alle drei Grundformen des Bildungsweſens, die Elementar -, Berufs - und allgemeine Bildung zuerſt einer eigenen Geſetzgebung unterwirft, dann ſie in ihren Funktionen der eigenen Oberaufſicht unterſtellt, dann eigene eigentliche Staats - anſtalten für einzelne Zweige der Bildung errichtet, zuerſt meiſt die - jenigen, welche einen geiſtigen Ausdruck des Glanzes und der Macht des Staates geben, wie Sammlungen, Muſeen, Gallerien, Akademien, dann aber auch diejenigen, welche er wirthſchaftlich für ſeine Cameralver - hältniſſe beruht, Bergwerks - und andere Fachſchulen: endlich indem er das ganze Bildungsweſen zuerſt als ein Ganzes auffaßt, und dafür die noch freilich ſehr unvollkommenen Grundlagen eines höchſten ſtaat - lichen Verwaltungsorganismus entwirft. So entſteht allmählig31 eine ſtaatliche Thätigkeit für das Bildungsweſen; jedoch iſt dieſelbe ſehr verſchieden und vielfach unfertig; denn theils will ſie die geiſtigen Selbſtverwaltungskörper in ihrer Funktion und ihren Rechten um ſo weniger beſchränken, als ſie am Ende erkennt, daß dieſelben im Weſent - lichen genügen und eine Aenderung ihrer Rechte keine Beſſerung ihrer Thätigkeit enthält; theils aber erhält ſich aus der ſtändiſchen Zeit noch das Princip der Grundherrlichkeit, nach welchem der Grundherr die örtlich vollziehende Gewalt iſt, und ſich daher mit ſeinem Recht noch immer zwiſchen das Geſetz des Staats und ſeine Ausführung ſtellt; namentlich im Gebiete des Volkſchulweſens.

Die neue Staatsgewalt hat daher, wie überhaupt, auch noch nicht recht die Form der Verwaltung für das Bildungsweſen gefunden, und ihre Geſetze ſind in den meiſten Fällen beſſer als ihre Vollziehung. Wohl aber hat dieſe Geſetzgebung Einen großen Erfolg. Sie ſcheidet nämlich zuerſt objektiv die drei Grundformen, indem ſie für die Elementarbildung ſpezielle Geſetze der Volksſchulen gibt, in den Univerſitäten mit Studienordnungen und Prüfungsreglements aufzu - treten beginnt, und für die allgemeine Bildung einerſeits eine Sitten - polizei aufſtellt, andererſeits die Preſſe, deren Funktion ſich zu ent - falten beginnt, unter die ſpezielle Thätigkeit der Polizei ſtellt, und endlich die Benützung der öffentlichen Sammlungen reglementirt. Das Bedeutſamſte aber unter dem, was ſie zu leiſten beginnt, iſt ohne Zweifel aber freilich nur noch in Deutſchland die geſetzliche Ord - nung des Volksſchulweſens, die ins achtzehnte Jahrhundert fällt. Hier iſt der Staat mit ſeiner Verwaltungsthätigkeit das zum großen Theil unbewußte Organ des erſten großen Faktors des ſich unwider - ſtehlich entwickelnden Bildungsweſens, der entſtehenden ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Dieſe geht in jener Entwicklung ihren ruhigen Gang fort, und ſie iſt es, ohne welche man das, was ſcheinbar nur durch den Staat geſchieht, weder überblicken, noch die Geſtalt der geiſtigen Arbeit unſeres Jahrhunderts richtig beurtheilen kann. Dieß aber gibt uns den Inhalt des neuen, mit der Staatsgewalt entſtehenden Bildungsweſens.

Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft nämlich beginnt mit dem ſech - zehnten Jahrhundert auf allen Punkten des öffentlichen Lebens und Rechts lebendig einzugreifen. Sie hat die große Epoche der polizeilichen Verwaltung erzeugt, und hat ſie auch gebraucht, um ihre eigenen Bedingungen durch Mitwirkung der jungen Staatsgewalt für ihre Herr - ſchaft im neunzehnten Jahrhundert zu erſchaffen. Man wird ſich dabei natürlich keine bewußte Abſicht denken, ſondern vielmehr einen elementaren Proceß der Geſchichte. Die Wiſſenſchaft hat dabei nur die Aufgabe, dieſem Proceß in ſeinen Elementen zu formuliren. Und das iſt für32 das Bildungsweſen nicht ſchwer; namentlich indem man jene Bewegung auf die drei Grundformen des Bildungsweſens zurückführt.

X. Was zunächſt den Elementarunterricht betrifft, ſo wird derſelbe in der alten Heimath der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, den Städten, allmählig ſeit dem ſiebzehnten Jahrhundert eine allgemeine Aufgabe, indem theils von den Gemeinden ſelbſt Volksſchulen begründet werden, theils Stiftungen aller Art dafür entſtehen, theils einzelne Lehrunter - nehmungen auftreten. Das alte ſtändiſche Element erhält ſich hier allerdings in der Unterordnung der Schule unter die Kirche, aber im Allgemeinen noch nicht zum Nachtheil der erſteren; denn einen Schul - lehrerſtand und ein Lehrbildungsweſen gibt es nicht. Die Diener der Kirche müſſen ihn erſetzen, wo er fehlt, und ihn leiten, wo er ohne Vorbildung auftritt. Nur auf dem Lande geht die Sache ſehr lang - ſam; hier iſt es die Regierung, welche am meiſten wirkt, während in den Städten die Bürgerſchaften die Schulen in die Hand nehmen, und ſchon ſehen wir die erſten Spuren der allgemeinen Bildung im Ele - mentarunterricht auftreten, und den Beſitz der Elementarkenntniſſe zu einer geſellſchaftlichen Forderung, zu einer erſten Bedingung der geſell - ſchaftlichen Achtung werden.

Beſtimmter jedoch erſcheint der Einfluß der ſtaatsbürgerlichen Ge - ſellſchaft in der Berufsbildung. Bisher erſcheint als Beruf nur das, was durch die gelehrte Bildung gegeben wird; nur auf den hohen Schulen und Univerſitäten gibt es eine ſolche; was nicht dort gelehrt wird, iſt noch keine Wiſſenſchaft. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft jedoch ſetzt als ihre weſentliche materielle Grundlage den Erwerb, und mit ihr den Beſitz des freien gewerblichen Kapitals. Der Erwerb ſelbſt wird dadurch ein ethiſches Element. Er entfaltet die ihm inwoh - nende, bisher unbekannte Fähigkeit, jedem Einzelnen die perſönliche Selbſtändigkeit, und damit die Freiheit zu geben, was bei der faſt aus - ſchließlichen Herrſchaft des Grundbeſitzes als Form des Kapitals der ſtändiſchen Geſellſchaft nicht möglich iſt. Das Streben nach Erwerb wird ein ſittlicher Faktor; aber es wird bald klar, daß die große Be - dingung des gewerblichen Erwerbs auch für die Nichtbeſitzenden die fachmäßige Bildung des Gewerbsſtandes iſt. Mit dem acht - zehnten Jahrhundert reißt ſich dieſelbe daher von der bisherigen, alleinigen Form der gelehrten Bildung los, und wird ſelbſtändig, wenn auch nur noch unklar, verſuchsweiſe, örtlich, natürlich wieder nur in den Städten ihre erſte Heimath ſuchend. Ihr Geſammtausdruck iſt die Realſchule. Sie iſt in ihrem Auftreten und in ihrer Wirkung eine überwiegend ſociale Erſcheinung; ſie iſt der Ausdruck des Satzes, daß das ge - werbliche Leben nicht mehr ein mechaniſches, ſondern zugleich ein geiſtiges33 iſt, daher vollberechtigt neben der übrigen geiſtigen Welt auftreten ſoll, und dadurch auf gleiche geſellſchaftliche Ehre und Geltung Anſpruch hat. An ſie ſchließt ſich dann die allgemeine Bewegung in dieſer Rich - tung, welche unſer Jahrhundert charakteriſirt.

Was endlich drittens die allgemeine Bildung betrifft, ſo entſteht, eigentlich freilich erſt mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts, das was wir die Preſſe nennen, anfangs noch in Buchform; jedoch auch als Buch ſich von der ſtrengen Berufspreſſe der gelehrten Schriften, namentlich in den mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts entſtehenden Encyclopädien ablöſend. Die Encyclopädie iſt das für die allge - meine Bildung beſtimmte Buch. Ihr folgen die Briefe, Flug - und Zeitſchriften, Leihbibliotheken, und mit dem Schluß dieſer Uebergangs - periode treten die Tagesblätter auf, anfangs unfertig, aber ſchon tüchtige Kräfte an ſich heranziehend. Dieſe Form der geiſtigen Arbeit iſt es, welche vor allem auf dem Bedürfniß der allgemein und gleichen Beſtimmung aller zur Theilnahme an den großen geiſtigen Aufgaben der Menſchheit baſirt iſt. Was die Volksſchule möglich macht, und was die Realſchule im Einzelnen vollbringt, das fängt jetzt die Preſſe an, für das Ganze zu leiſten. Der Charakter derſelben iſt aber, dem Geiſte der Zeit entſprechend, noch weſentlich negativ. Das Wort, welches ihre dermalige Funktion am beſten bezeichnet, und das ſomit einen jetzt ſchon halb vergeſſenen hiſtoriſchen Sinn hat, iſt die Auf - klärung. Die Aufklärung bedeutet nicht ſo ſehr die Verbreitung von Kenntniſſen, ſondern vielmehr die lebendige Erweckung der geiſtigen Selbſtthätigkeit, aus welcher die individuelle Selbſtändigkeit der Staats - bürger, dieſer Kern der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, hervorgehen ſoll. Sie iſt der Proceß des Losreißens vom blinden Autoritätsglauben, die Vernichtung der Abhängigkeit von dem Denken und von den hiſtori - ſchen Traditionen, auf denen die ſtaatlichen Einrichtungen beruhen, von dem Aberglauben, der ſie begleitet. Hier iſt es, wo die Philo - ſophie des vorigen Jahrhunderts in gewaltigſter Weiſe eingegriffen hat; ihre größte Funktion beſtand nicht in ihren Syſtemen, ſondern in der Grundlage derſelben, der freien Thätigkeit des Selbſtdenkens. Und dieß Selbſtdenken iſt das geiſtige Element des Staatsbürgerthums, wie der gewerbliche Erwerb das materielle iſt. Daher erſcheint die Auf - klärung als das allgemeine Princip der allgemeinen Bildung, vom Volke angeſtrebt, von der Philoſophie getragen, von der jungen Staats - wiſſenſchaft anerkannt und ſelbſt vom Staate gefördert. Ihre Bedeutung iſt mit den Verſuchen zu ihrer Definition gegeben, die ſelbſt als hiſto - riſche Thatſachen für die Geſchichte des Bildungsweſens erſcheinen. So nennt Mendelsſohn ſie die Entwicklung der vernünftigen ErkenntniſſeStein, die Verwaltungslehre. V. 334 das Fortſchreiten im Nachdenken über die wichtigſten Angelegenheiten der Menſchheit. Kant bezeichnet ſie als das Losreißen von der Unmündigkeit oder der bloßen Autorität fremder Urtheile; Jacob, dieſe Definitionen zuſammenfaſſend, ſagt, die Aufklärung iſt derjenige Zu - ſtand der Seele, in welchem ſie ſich von der Autorität anderer losreißt, um über die moraliſchen und religiöſen (!) Verhältniſſe ſelbſt zu denken, und ein eigenes, von aller Autorität fremdes Urtheil darüber zu fällen. (Polizeiwiſſenſch. I. 280.) Kaum hat aber wohl jemand das Weſen dieſes Bildungsproceſſes beſſer und gründlicher bezeichnet, als Aretin (Staats - recht der conſtitutionellen Monarchie II. Bd. 2. Abth. S. 36 43), der hier nicht bloß der Vertreter einer Definition oder eines Princips, ſondern des öffentlichen Rechts wird. Der Geſammterfolg aber iſt, daß das, was man unter Aufklärung verſtand, die Grundlage nicht etwa einer beſtimmten Wiſſenſchaft, ſondern der allgemeinen Bildung überhaupt ward; und es war klar, daß mit dem erſten Stoße, den die haltlos gewordenen öffentlichen Verhältniſſe bekamen, auch das Bildungsweſen eine andere Geſtalt gewinnen mußte.

XI. Dieß nun geſchieht mit dem definitiven Siege der ſtaatsbür - gerlichen Geſellſchaft in unſerm Jahrhundert. Die Welt des geiſtigen Lebens hält in demſelben gleichen Schritt mit der des gewerblichen, und beide ziehen das ſtaatliche im Allgemeinen, die Verwaltung im Beſondern nach ſich. Das Princip deſſen was hier zu thun iſt, wird immer klarer; dieß Princip erzeugt ſein Syſtem, und dieß Syſtem iſt es das bei aller Verſchiedenheit bei den einzelnen Nationen dennoch allenthalben den gleichen Charakter theils ſchon gewonnen hat, theils mehr und mehr gewinnt. Man kann nun jenes Princip leicht und beſtimmt formuliren; es iſt aber dieß nothwendig, weil an ihm der eigentliche Maßſtab der Vergleichung des Verſchiedenen gegeben iſt. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft entfaltet nämlich den Grundſatz, daß das Bildungsweſen ein freies, ein ſyſtematiſch entwickeltes, und ein organiſch einheitliches ſein ſoll. Und den Ausdruck dieſer Momente bildet nun in den verſchiedenen Grundformen der Bildung die folgenden Grundſätze, deren Ausführung im Einzelnen eben die nachfolgende Darſtellung des vergleichenden Verwaltungsrechts des Bildungsweſens ſein ſoll.

Die Freiheit der Elementarbildung beſteht formell in dem Rechte, den Elementarunterricht in jeder Weiſe zu ertheilen; innerlich aber in dem Streben, ſchon mit ihr die erſten Elemente der allgemeinen Bildung zu verbinden. Dieſe erſcheinen einerſeits als die Elemente der allge - meinen Kenntniſſe, etwas Geographie, Geſchichte, Naturlehre; andrer - ſeits als die elementaren Formen der Selbſtthätigkeit in der Aufgabe,35 ſelbſtändige Aufſätze in der Volksſchule zu verfaſſen. Das große leitende Princip des Volksſchulweſens dieſer Epoche iſt es, die Volksſchule nicht mehr wie früher als ein auch geſellſchaftlich geſchiedenes Element der Bildung, ſondern als die organiſche Geſtalt der Vorbildung für das ganze geiſtige Leben, als die Einführung in alle Bildung hinzu - ſtellen. Die Volksſchule wird daher jetzt auch innerlich ein Syſtem, und dieß Syſtem iſt ausgedrückt in den Klaſſen derſelben, eine Er - ſcheinung, die unſerm Jahrhundert eigenthümlich, in ihrer Verbindung mit den wichtigſten Elementen des Fortſchrittes gedacht werden muß.

Die Freiheit in der Berufsbildung liegt einerſeits in der Entwicklung der Realbildungsanſtalten zu einem allgemeinen Syſtem, in dem wieder neben dem rein gewerblichen Zwecke die allgemeine Bildung in Geographie, Geſchichte und den Elementen der Staatswiſſenſchaft ihren geſicherten Platz bekommt; andrerſeits in der freien Bildung von Unternehmungen für dieſelben, während auf den Univerſitäten die philoſophiſchen Facul - täten und die Verpflichtung der Studirenden wenigſtens die Elemente der ſelbſtthätigen philoſophiſchen Bildung in ſich aufzunehmen, die Träger dieſer Richtung ſind; endlich aber in dem großen Princip der Lern - und Lehrfreiheit, deren Form eine beſtrittene, deren Grundgedanke aber in allen Formen der iſt, daß der Einzelne nicht durch mechaniſche Aneignung des Gelehrten, ſondern nur durch Selbſtthätigkeit in Wahl des Stoffes und der eignen Arbeit die wahre Berufsbildung erreichen kann ein Geſichtspunkt, den die formalſte Behandlung der Frage nie hat vergeſſen können.

Die Freiheit der allgemeinen Bildung endlich iſt ausgedrückt in dem, allerdings nicht ganz vollzogenen Uebergange vom alten Preßweſen zum Rechte der gerichtlichen Verantwortlichkeit der Preſſe.

Die ſyſtematiſche Entwicklung des Bildungsweſens erſcheint bei der Volksſchule formell in dem Klaſſenſyſtem derſelben, ſowie in der Ausbreitung ihrer ſpecifiſchen Function über das Kindesalter hinaus in dem Sonntagsſchulweſen, in der Aufſtellung von eigenthüm - lichen Specialelementarſchulen, Taubſtummen - und Blindenſchulen, dann aber in der Aufnahme der Elementarbildung in die eigentliche Kinderzeit bei den Warteſchulen; alles als Ein Ganzes für die Vorbereitung zur höhern Bildung arbeitend.

Bei der Berufsbildung tritt dieſelbe zunächſt auf in der ſtrengen Scheidung der Vorbildungsanſtalten von der eigentlichen Fachbildung, der hohen Schulen von den Univerſitäten; dann in der Uebertragung dieſes organiſchen Unterſchiedes auf die ganze Realbildung; dann in dem ſtrengen Syſtem der Klaſſen mit ihren Aufnahms - und Uebergangs - prüfungen und den fachmäßigen Studienordnungen an den Univerſitäten;36 endlich in der Entwicklung von Fachbildungsanſtalten für alle Berufe, die bei aller Selbſtändigkeit doch wieder durch die höhere Wiſſenſchaft im Bewußtſein ihrer geiſtigen Einheit erhalten werden.

Bei der allgemeinen Bildung endlich liegt das ſyſtematiſche Element einerſeits in der allmählig wachſenden Ausdehnung aller Anſtalten für dieſelben, dann in dem Entſtehen einer ſyſtematiſch ſich entwickelnden Fachpreſſe, die wiederum in engem Zuſammenhang mit der allgemeinen Bildung ſteht.

Was endlich die Einheit des Bildungsweſens betrifft, ſo iſt ſie natürlich einerſeits eine geiſtige, andererſeits aber eine ſtaatliche. Die geiſtige bildet ſich von ſelber; ihr unerſchütterliches Fundament iſt die Erkenntniß, daß jedes Gebiet des Lebens der Wiſſenſchaft angehört, deren Aufgabe es iſt, den inneren Zuſammenhang des Verſchiedenen durch die Aufſtellung feſter allgemeiner Begriffe und Geſetze zu ſetzen. Der Verwaltungslehre aber gehört die äußere Geſtalt dieſer Einheit an; und dieſe iſt wieder theils eine innerlich begründete, theils eine formale.

XII. Dieſe äußere Einheit des Bildungsweſens iſt in ihrem Ver - hältniß zum Staat zunächſt begründet auf dem allgemein zur Geltung gelangenden Bewußtſein, daß es ſeinem Weſen nach ein Ganzes iſt, und daher auch als ein Ganzes in der Thätigkeit des Staates, ſowohl für ſeinen Willen in der Geſetzgebung, als für ſeine äußere Thätigkeit in der Verwaltung zu erſcheinen habe. Die Geſtaltung dieſer formalen Einheit erſcheint daher in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft als eine zweifache, an die zwei Elemente der jetzt klar hervortretenden Organiſation des Staatslebens anſchließend.

Das erſte beruht darauf, daß das geltende Recht des Bildungs - weſens jetzt ein geſetzliches, und damit Gegenſtand der organiſchen geſetzgebenden Gewalt wird. Allerdings wird kein das ganze Bildungs - weſen umfaſſendes Geſetz erſcheinen, wohl aber werden die großen ein - zelnen Geſetze von Einem Gedanken beſeelt, auch als ein Ganzes ver - ſtändlich, und von Einem Princip aus in ihren Einzelheiten geregelt.

Dann aber entſteht zweitens die ſyſtematiſche Einheit der Verwaltung, und zwar indem einerſeits der Staat das Bildungsweſen als einen Theil ſeines vollziehenden Organismus aufnimmt, andrerſeits die Thätigkeit der Selbſtverwaltungskörper, der Vereine und der Einzelnen ſeiner oberauf - ſehenden Gewalt gleichmäßig unterordnet. Dieſe Organiſation ſchließt ſich an den allgemeinen Organismus der Verwaltung in ſeinen drei Formen.

XIII. Zuerſt hat die Verwaltung das ganze Bildungsweſen des Staats im weiteſten Sinne zu umfaſſen. Allein die Functionen, welche daſſelbe erfordert, ſind ſo verſchieden, daß ſie einem und demſelben37 Organ gar nicht überwieſen werden können. Daſſelbe fällt daher unter drei Miniſterien.

Das erſte Miniſterium iſt das des Unterrichts, das allerdings die Verwaltung der geiſtigen Welt zu ſeiner eigentlichen Aufgabe hat. In ihm iſt die ſtaatliche Organiſation der geiſtigen Verwaltung ge - geben. Es hat daher ſein Miniſterialſyſtem, wie es die vollziehende Gewalt zeigt, in Miniſter, Miniſterium und Behörden, und umfaßt damit das ganze Volk. Nur erſcheint ſeine Function als eine doppelte.

So weit nämlich der Staat die Bildungsanſtalt ſelbſt hervorruft, ohne die Selbſtverwaltungskörper dabei heranzuziehen, ſind die Organe der Bildung im eigentlichen Sinne des Wortes Staatsdiener, und ihre Thätigkeit iſt eine amtliche, mit amtlicher Verantwortlichkeit. So weit jedoch die Bildung durch die Leiſtungen der Selbſtverwaltungs - körper, Vereine oder Einzelner verbreitet wird, ſind die Lehrenden keine Staatsdiener. Die Aufgabe des Staats, auch hier die Einheit des geiſtigen Lebens zu erhalten und ſeinem Weſen nach für das Vorhanden - ſein der Bedingungen der Bildung zu ſorgen, wird hier in der Ober - aufſicht gegeben. Es hat daher ein Syſtem der oberaufſehenden Behörden mit beſtimmter Competenz aufzuſtellen, deren Aufgabe es nicht iſt, für die Bildung ſelbſt, ſondern dafür zu ſorgen, daß die geſetzlichen Vorſchriften über das Bildungsweſen von jenen Körpern oder den Einzellehrern wirklich beobachtet werden. Dieſe Auf - ſichtsbehörden werden der Regel nach in den höhern Stellen die allge - meinen Verwaltungsbehörden ſein, welche demnach in dieſer Beziehung unter dem Miniſterium des Unterrichts ſtehen; in den niedern Stellen dagegen werden, wenigſtens für die Elementarbildung, meiſt eigene Aufſichtsorgane berufen, während die örtliche Function wieder der örtlichen Selbſtverwaltung überlaſſen iſt. Im Großen und Ganzen ſind daher die Berufslehrer der gelehrten Bildung meiſt Staatsdiener, die der wirthſchaftlichen ſowie der Elementarbildung im Dienſte der Gemeinden, während in ihrer Thätigkeit alle, aber in Anſtellung und Dienſtrecht nur die erſten unter dem Miniſterium ſtehen. Doch iſt hier keine feſte Gränze zu ziehen; auch das geltende Recht iſt ſehr verſchieden. Jedoch kann man allerdings als Regel aufſtellen, was auch durch die Natur der Sache bedingt und erklärt wird, daß nämlich der Antheil, den die Miniſterien und Unterrichtsbehörden an der Anſtellung und Ent - laſſung der Lehrer haben, ſich nach dem Maße beſtimmt, in welchem die Staatskaſſen zu den Unterrichtsausgaben beitragen, und zwar meiſtens in der Weiſe, daß ſich die Staatsverwaltung die Ernennung immer vor - behält, während die Selbſtverwaltungskörper entweder die Wahl, oder den Vorſchlag (Präſentationsrecht) und zuweilen gar kein Recht haben.

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In dieſem einfachen Schematismus hat nun das Weſen der gei - ſtigen freien Arbeit das hiſtoriſche Princip der Selbſtverwaltung für die Lehre als ſolche erhalten, und weiter ausgebildet. Dieſe Selbſt - verwaltung, deren Mutter die Univerſitäten ſind, erſcheint nämlich in der Form der Lehrkörper, die zunächſt für die Vorbildungs - und Berufsbildungsanſtalten (gelehrte Realſchulen und Univerſitäten) das Recht der Selbſtverwaltung für Lehre und Erziehung, ſoweit beide in der Anſtalt ſelbſt ſich erfüllen, behalten haben. Von dieſen iſt der - derſelbe Gedanke auch in das Volksbildungsweſen übergegangen, in - dem hier die Function des Lehrkörpers einem, aus der Vertretung der Gemeinde, der Geiſtlichkeit und den Volkslehrern ſelbſt gebildeten Verwaltungskörper der örtlichen Volksbildung über - tragen wird. Die vollſtändige Organiſation iſt daher erſt mit dieſen drei Elementen gegeben; aber nur Deutſchland hat dieß vollſtändig auszubilden vermocht.

So iſt ſchon der Organismus des geiſtigen Lebens auch von Seiten ſeiner Verwaltung kein einfacher; es gilt hier vielmehr dieſelbe Er - ſcheinung, welcher wir in den meiſten Gebieten der ſtaatsbürgerlichen Organiſation begegnen, daß nämlich die amtliche Function ſich mit der der Selbſtverwaltung und des Vereinsweſens verſchmilzt, und ſo ein zum Theil ſehr ausgearbeitetes und mannichfach verſchiedenes Syſtem der anerkannten Organe und ihrer Competenzen erzeugt. Jedoch kann man alle beſtehenden Formen leicht auf die obigen Elemente zurück - führen und in ſie auflöſen.

XIV. Während auf dieſe Weiſe das Unterrichtsminiſterium die eigentlich produktive Thätigkeit für die geiſtigen Güter zum Inhalt hat, greifen noch zwei andere Miniſterien mit in daſſelbe hinein. Das erſte iſt das Miniſterium des Innern, das in der Kulturpolizei die Sicher - heit des öffentlichen geiſtigen Lebens vertritt, und das Juſtiz - miniſterium, das über die Preſſe, als Element der allgemeinen Bildung, richterliche Urtheile fällt. Die Scheidung beider vom Unterrichtsmini - ſterium aber entwickelt ſich erſt langſam, und für jeden Theil in be - ſonderer Weiſe. Im Ganzen iſt das Unterrichtsminiſterium in organi - ſchem Zuſammenwirken mit der Selbſtverwaltung der Organismus der geiſtigen Verwaltung in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Dieß nun ſind die weſentlichen Grundzüge der Geſchichte des Bildungsweſens in den germaniſchen Staaten. Innerhalb derſelben treten aber auch hier die drei großen Kulturvölker mit ihrem eigenthümlichen Charakter und dem ihnen entſprechenden öffentlichen Bildungsrecht auf, als die Grundtypen, auf welche man Geſchichte und Geſtalt des letzteren ſtets zurückführen muß.

39

V. Der Charakter des Bildungsweſens in den Hauptſtaaten Europas.

Bei dem ungeheuren, das geſammte Volksleben umfaſſenden Um - fang, und bei der großen tiefgehenden Verſchiedenheit des Bildungs - weſens im Einzelnen in den Hauptſtaaten Europas wird es nun als eine der weſentlichen Bedingungen des Verſtändniſſes des letzteren an - geſehen werden müſſen, daß man den Charakter des Bildungsweſens in jedem dieſer Staaten vorerſt ſo beſtimmt als möglich feſtſtelle.

In der That nämlich erſcheint das Bildungsweſen eines jeden Staates bei aller Verſchiedenheit und ſcheinbaren Zufälligkeit im Ein - zelnen dennoch als ein Ganzes, deſſen innere Gleichartigkeit uns in überraſchender Weiſe entgegentritt, ſowie man daſſelbe einerſeits auf die elementaren Grundformen des Bildungsweſens, andrerſeits auf die Grundkräfte zurückführt, welche wir oben bezeichnet haben. Erſt in dieſer Einheit iſt eine Vergleichung des Ganzen möglich. Hält man feſt, daß die wirkliche Geſtalt des Bildungsweſens von dieſen Momenten beherrſcht wird, ſo leuchtet es ein, daß alle wahre Vergleichung erſt da beginnt, wo man wirkliches Leben aus der Wirkung jener Kräfte hervorgehen ſieht. Und darum mag es uns wohl verſtattet ſein, das, was wir unter dem Charakter zu denken haben, hier genauer zu beſtimmen.

Der Charakter des inneren Staatslebens überhaupt beſteht nämlich in dem Verhältniß, in welchem der Begriff und die thätige Idee des Staats zu den geſellſchaftlichen Ordnungen in demſelben ſtehen. Es iſt gezeigt worden, wie beide ein weſentlich verſchiedenes Princip haben; in dem Kampf dieſer beiden Principien beſteht das innere Staatsleben überhaupt, und aus ihr geht beſtändig die ganze Geſtalt der Verwal - tung hervor. Das Bildungsweſen iſt aber ein Theil der Verwaltung. Und es ergibt ſich daraus, daß das Bildungsweſen eines Staates ſtets denſelben Charakter hat, wie ſeine ganze Verwaltung, und daß es mithin einen weſentlichen Theil der inneren Geſchichte deſſelben aus - macht und bedeutet.

Das nun macht die Darſtellung des Bildungsweſens zwar nicht leichter, wohl aber iſt es der einzige Weg, um die Auffaſſung deſſelben vor derjenigen Einſeitigkeit zu bewahren, welche da glaubt, die Sache ſelbſt erfaßt zu haben, wenn ſie die äußern Formen und die einzelnen geſetzlichen Beſtimmungen kennt. Hier iſt daher der Punkt, auf wel - chem der höhere Standpunkt der Verwaltungslehre allein der Darſtellung des Bildungsweſens ihre innere Einheit und ihre wahre Bedeutung gibt, und die Stelle, auf welcher die Geſellſchaftswiſſenſchaft in dieſen40 Theil der Staatslehre eingreift. Wenn es uns gegeben wäre, die Noth - wendigkeit und den Werth dieſer Forderungen für diejenigen nachzu - weiſen, welche ſich mit den gegebenen Verhältniſſen des Bildungsweſens in Europa beſchäftigen, ſo würden wir glauben, viel gewonnen zu haben.

Breitet man nun von dieſem Standpunkt aus die Karte von Europa vor ſich aus mit ihren verſchiedenen Völkern und Staaten, feſt im Auge haltend das Verhältniß von Geſellſchaft und Staat als Grundlage der geſammten öffentlichen Rechtsbildung, ſo erſcheinen wie für die Verwal - tung überhaupt, ſo namentlich auch für das Bildungsweſen die drei großen ſtaatlichen Bildungen, die wir überhaupt für die Verwaltungslehre als die drei Grundformen der öffentlichen Rechtsbildung anerkennen müſſen, England, Frankreich und Deutſchland. An ſie ſchließen ſich alle andern mit mehr oder weniger Klarheit, mit mehr oder weniger Bewußt - ſein ihres wahren Verhältniſſes an. Man kann unbedenklich ſagen, daß wer dieſe Staaten verſteht, das Leben von Europa mit Einem Blick zu umfaſſen vermag; ſo in allen andern Dingen, ſo auch im Bildungsweſen.

Allen dieſen Staaten iſt nun die eine große hiſtoriſche, alle übrigen überragende Thatſache gemeinſam, daß ſie im Uebergange von der ſtändiſchen zur ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung begriffen ſind. Der Charakter ihres öffentlichen Rechts überhaupt und ihres Bildungs - weſens im beſondern beruht demnach auf den Elementen, durch welche dieſer Uebergang vollzogen wird, und auf dem Punkte, auf welchem ſich derſelbe befindet.

Um dieß als Grundlage der Vergleichung auch des poſitiven öffentlichen Rechts feſthalten zu können, dürfen wir hier einen ſehr wichtigen allgemeinen Satz wiederholen. Eine jede große Geſetz - gebung in einem jeden Staate entſteht immer erſt da, wo eine neue Geſtalt der Geſellſchaftsordnung ſich Bahn bricht. Das gilt für die ganze Verwaltung; das gilt auch für das Bildungsweſen. Das Auf - treten großer Geſetzgebungen für dieſe Verwaltung des geiſtigen Lebens begleitet daher ſtets die geſellſchaftliche Entwicklung, und bedeutet immer einen nachhaltigen Sieg der Staatsidee über die geſellſchaftlichen Sonder - intereſſen. In der That darf man daher nicht eigentlich bei der Ver - gleichung von dem Inhalt der poſitiven Geſetze ausgehen, ſondern muß vielmehr von der Anſchauung der geſellſchaftlichen Bewegung aus zu ihnen als nothwendiger und praktiſcher Conſequenz hingelangen. Und dafür den Verſuch zu liefern, iſt die nächſte Aufgabe des folgenden. Zunächſt aber erklärt es ſich eben daraus, weßhalb gerade unſer Jahr - hundert die Epoche der großen organiſchen Bildungsgeſetzgebungen iſt; denn daß dem ſo iſt, iſt ebenfalls eins der greifbarſten Ergebniſſe der hiſtoriſchen Bewegung, in der wir uns befinden.

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Innerhalb derſelben nun hat jeder der großen Staaten ſeine eigen - thümliche Stellung.

Der Charakter des engliſchen Lebens zunächſt beſteht darin, daß die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung hier vielleicht am ſtrengſten in ganz Europa erhalten iſt und in der geſelligen Welt gilt, daß aber die höhere geſellſchaftliche Klaſſe keine ſtaatlichen Verwaltungsrechte beſitzt. Die freie ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung iſt hier nur bis zur Aufhebung der öffentlichen Vorrechte der Grundherren gelangt; ſie ſteht noch auf dem rein negativen Standpunkt des freien einzelnen Individuums. Zu einem poſitiven Walten, und damit zu einem ſelbſtändigen Eingreifen in die Lebensſphäre des Einzelnen im Namen der Geſammtentwicklung iſt England noch nicht gelangt. Daher fehlt ihm einerſeits die orga - niſche Entwicklung der Staatsidee zu einem ſelbſtthätigen Verwaltungs - körper, andrerſeits die organiſche Geſetzgebung. In England iſt alles und jedes auf ſich ſelbſt angewieſen, und Englands Freiheit beſteht weſentlich in der rechtlichen Befreiung jeder individuellen Rechtsſphäre von dem Einfluſſe jedes andern. Das iſt Englands Charakter auf allen Punkten, und ſo auch der ſeines öffentlichen Bildungsweſens.

In Frankreich hat dagegen die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zwar geſiegt, aber ihr Sieg in der franzöſiſchen Revolution war der der Gewalt. Und Gewalt erzeugt Gewalt; denn daß jedes Ding das ihm Gleichartige mit all ſeinen Folgen wieder erzeuge, das iſt die wahre und furchtbare Gerechtigkeit aller Geſchichte. Der gewaltſame Sieg jener Geſellſchaft bedingte, daß die Regierung als organiſche Ver - treterin derſelben ſelbſt der Gewalt bedurfte, und die Alleinherrſchaft unter den Formen der Freiheit an ſich riß. Frankreich iſt daher das Land der Macht der Verwaltung, und damit auch das Land, in welchem die Staatsgewalt für ſich alle Aufgaben der Verwaltung in Anſpruch nimmt. Während England das Land iſt, wo die Staats - verwaltung dem Einzelnen zu viel überläßt, iſt Frankreich dasjenige, wo ihm zu wenig überlaſſen wird; während England zeigt, wie viel der kräftige Einzelne für und durch ſich ſelbſt vermag ohne öffentliche Hülfe, hat Frankreich zu lehren, was die Regierung durch ihre Gewalt zu Stande bringt, indem ſie die Einzelnen in der Selbſtverwaltung und dem Vereinsweſen faſt ganz ausſchließt. Während in England daher eine ſtaatliche Organiſation der Verwaltung faſt gänzlich fehlt, iſt in Frankreich jede öffentliche Gewalt ein ſtaatliches Organ. Während England daher der eigentlichen Geſetzgebung ermangelt, und das öffent - liche Recht der Verwaltung weſentlich nur die Gränzen vorſchreibt, innerhalb deren ſich die Selbſtbeſtimmung der Einzelnen zu bewegen hat, iſt in Frankreich vielmehr alles durch die Geſetzgebung und42 Verordnung des Staats geregelt, und der eigene Wille des Volkes in den Angelegenheiten der Verwaltung auf das äußerſte Maß und unter beſtändiger Oberaufſicht des Staats beſchränkt. Einen größern Gegenſatz als dieſe beiden Länder hat die Geſchichte niemals ſo nahe zuſammen - gerückt, und das Betrachten dieſer Völker wird ſo zur Grundlage des Verſtändniſſes für das übrige Europa. Das gilt für die Verwaltung im Ganzen, und das gilt auch für das Bildungsrecht, ſowohl für den Geiſt als ſelbſt für die einzelnen Rechtsſätze deſſelben.

Denn viel ſchwieriger iſt das dritte große Kulturvolk Europas, das gleichſam zum Verſtändniß und zum Bewußtſein der andern beſtimmt iſt, das deutſche Volk. Deutſchland unterſcheidet ſich von England und Frankreich dadurch, daß die ſtändiſche Geſellſchaft nicht bloß beſteht wie in England, ſondern auch noch beſondere öffentliche Rechte hat, während die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft wie in Frankreich allerdings beſteht und herrſcht, aber auf allen Punkten von dem Rechte der ſtän - diſchen Geſellſchaft beſchränkt iſt. Es hat ſich daraus die eigenthümliche Folge ergeben, daß die Selbſtverwaltung in Deutſchland den Charakter der ſtändiſchen Welt annimmt, das iſt, in lauter ſelbſtſtändigen Körper - ſchaften auftritt, während die Staatsverwaltung ſich dieſelben in der Form der Oberaufſicht unterordnet, ohne ſie doch wie in Frankreich ganz in ſich aufzunehmen. Aber gerade dieſer ſtändiſche Charakter der deutſchen Selbſtverwaltung iſt von hohem Werthe, weil er es iſt, der der letzteren gegenüber der mächtigen Staatsgewalt ihre Selb - ſtändigkeit erhielt, eine Selbſtändigkeit, welche ſie in Frankreich ver - loren hat, die in England dagegen zur beinahe völligen Zerſplitterung der Verwaltung führt. Denſelben doppelten Charakter hat auch die Geſetzgebung; ſie zeigt auf allen Punkten eine innige Verſchmelzung des ſtaatlichen Willens und der örtlichen Selbſtbeſtimmung; und in dem Kampfe dieſer beiden Faktoren entwickelt ſich dasjenige Element, das Deutſchland ſo hoch ſtellt, und ihm ganz eigenthümlich iſt. Das iſt die deutſche Wiſſenſchaft, welche in der ihr entſprechenden Weiſe, durch beſtändiges ehrliches und gründliches Streben nach dem Wahren, zuletzt die Entſcheidung in dem Streite jener beiden Elemente abgibt, und ſo in ſtiller aber mächtiger Wirkſamkeit zu einer rechts - bildenden Potenz wird, wie ſie in keinem andern Staate der Welt vorkommt. Daher hat Deutſchland mehr einheitliche Wiſſenſchaft als Geſetzgebung; jene iſt es, welche dieſe erſetzt wo ſie fehlt, und ſie leitet, wo ſie ſich formuliren will; ſie iſt die höhere Inſtanz, an welche dieſe am letzten Orte appellirt, und nirgends iſt daher Achtung und Macht der Wiſſenſchaft höher als hier. Dieß gilt von der Verwaltung und ihrem Recht im Allgemeinen, vor allen Dingen aber von der Verwaltung43 des Bildungsweſens und ſeinem Recht. Während England zeigt, was der auf ſich ſelbſt angewieſene Einzelne, und Frankreich, was die faſt ſelbſtherrliche Regierungsgewalt vermag, zeigt uns Deutſchlands Bildungs - weſen die bildende und erhebende Macht der Wiſſenſchaft, und nirgends mehr, als gerade im Bildungsweſen. Unſere wahre Geſetzgebung iſt unſere pädagogiſche Literatur. Und daran wollen wir feſthalten.

Was nun die übrigen Länder betrifft, ſo wird man folgendes ſagen müſſen. Die Gränzländer zwiſchen Frankreich und Deutſchland, Belgien, Holland und Italien, haben die franzöſiſchen Formen ange - nommen, zum Theil auch die franzöſiſchen Namen, aber den deutſchen Geiſt und vielfach auch das deutſche Princip der geiſtigen Selbſtver - waltungskörper in Schule und Univerſität ſich erhalten. Der Charakter derſelben iſt daher im Einzelnen oft ſchwierig zu beſtimmen, im Ganzen aber leicht verſtändlich. In Holland und Belgien lebt und herrſcht weſentlich die deutſche, in Italien jedoch ſo weit ſchon jetzt von einem Bildungsweſen deſſelben die Rede ſein kann, der franzöſiſche Gedanke. Die Schweiz iſt nach ihren einzelnen Kantonen ſehr verſchieden. Die Länder Skandinaviens dagegen ſtehen durchaus auf dem deutſchen Standpunkt, während im Oſten das junge Serbien ſich nach deutſchem Muſter zu organiſiren beginnt, Rußland aber noch im Anfang einer eigentlich feſten Geſtaltung ſteht, in der jedoch die deutſche Auffaſſung von Tage zu Tage, wenn auch unter anderem Namen, mehr Raum gewinnt.

So liegen im Großen und Ganzen dieſe Verhältniſſe, und ehe wir nun zum beſondern Theile übergehen, dürfen wir die hier bezeich - neten Allgemeinheiten wohl etwas näher für die einzelnen Staaten mit ſpezieller Rückſicht auf ihre poſitive Geſetzgebung charakteriſiren.

England. Daß England, und warum es keine organiſche Ver - waltung und keine Geſetzgebung des Unterrichtsweſens hat, welche alle Gebiete des letzteren gemeinſam umfaßte, iſt bereits erwähnt. Die Betrachtung Englands hat deßhalb von jeher dahin geführt, ſtatt einer Vergleichung des poſitiven Rechts vielmehr den geſammten Geiſt des engliſchen Lebens in den Vordergrund zu ſtellen; und das wird noch lange ſo bleiben müſſen. Denn England hat bisher nur für die Elementarbildung eine ſelbſt noch einſeitige Geſetzgebung; das Fach - bildungsweſen beſteht nur in den ſtändiſchen Körpern der Univerſitäten und Collegien, neben welchen die freien Unterrichtsanſtalten ganz44 unbeſchränkt beſtehen, und ein Unterrichtsminiſterium exiſtirt überhaupt nicht. England kann daher nur durch den Geiſt ſeiner geſammten Ent - wicklung auch in ſeinem Bildungsweſen verſtanden werden.

Das ganze engliſche Bildungsweſen geht einſeitig aus dem Ele - ment der individuellen Selbſtändigkeit in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft hervor, die geiſtigen Güter erſcheinen hier als das eigenſte Gebiet des Individuums, aber die völlig freie Bewegung des Verkehrs erzeugt die Erkenntniß des Werthes derſelben für jedermann; darum ſoll jeder für ſich und in ſeiner Weiſe ſich ſeinen eigenen Bildungsgang ſchaffen, und darum thut er auch, ſo weit ſein eigenes Intereſſe, ſein eigenes Verſtändniß es für ihn fordert. Das iſt ſomit keine Sache des Staats, und ſoll es auch nicht ſein; noch würde ein Eingreifen des - ſelben als eine Gefährdung der individuellen Freiheit gelten. Die Verwaltung leiſtet daher grundſätzlich nichts für das Bildungsweſen; das was geleiſtet wird, iſt nur die Sache der Selbſtverwaltung der Vereine, oder des Einzelnen. Es gibt daher keine organiſche Geſetz - gebung, keine Prüfungsſyſteme, keine Schulpflicht, keine Oberaufſicht, keine Unterſtützung, keinen Lehrkörper, keine Statiſtik für das Ganze; für die einzelnen Theile nichts als die Achtung vor der Bildung und die allgemeine Erkenntniß des hohen Werthes derſelben. Das letztere indeß verleiht wiederum der individuellen Bildung ihre Energie und zweckmäßige Klarheit, während das erſtere ſie zufällig und ungleichmäßig erſcheinen läßt. Die tüchtige Individualität gelangt weiter als irgendwo; aber die untüchtige geht dafür auch geiſtig zu Grunde. Die Bildung ſelbſt, weſentlich in ihrem wirthſchaftlichen Werthe verſtanden, wird ihrerſeits eine vorzugsweiſe materielle; die Kenntniſſe ſind unendlich viel wichtiger als die Erkenntniß; ſie ſind jedoch nur Mittel zum Erwerb, und als ſolche für das Volk im Ganzen nie ein Zweck für ſich. Die Entwicklung der Wiſſenſchaft beruht deßhalb ausſchließlich auf dem per - ſönlichen Intereſſe des Einzelnen; ſie iſt keine Forderung einer Anſtalt, ſondern die Befriedigung einer Individualität. Der Unterſchied der Klaſſen, den die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft an die Stelle des Standes - unterſchiedes ſetzt, erſcheint daher auch in der Bildungswelt; die Bil - dung wird dem Beſitz parallel, und die Verwaltung füllt die Kluft nicht aus, weil ſie dafür keine Verpflichtung kennt. So iſt das eng - liſche Bildungsweſen vor allem ein verwaltungsloſes, und dadurch ſyſtemloſes, ungleichartiges und zufälliges, neben größter Energie des Individuums. Es iſt dem Continent kaum verſtändlich in ſeiner Ein - ſeitigkeit, und doch nur die höchſte Form der Herrſchaft des einen Ele - mentes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, der individuellen Selbſtändig - keit. Indeß beginnt auch hier eine andere Zeit. England fängt jetzt da45 an, wo Deutſchland vor hundert Jahren ſtand. Die Organiſirung ſeines Bildungsweſens beginnt mit der ſelbſtändigen Entwicklung des Volks - ſchulweſens als Aufgabe der Verwaltung; wenn dieſe feſtſteht, wird die verwaltungsloſe und mittelalterliche Körperſchaft ſeiner Univerſitäten allmählig ſich im Sinne des übrigen Europa’s ändern, und der ent - ſcheidende Grundſatz einer fertigen Vorbildung für die höhere Berufs - bildung eintreten; die allgemeine Bildung wird ſich dann von den beſchränkten religiöſen Vorurtheilen frei machen, und England kann das Land werden, welches das Princip der freien individuellen Perſön - lichkeit in großartigſter Form im öffentlichen Bildungsweſen durchführt.

Bis dahin läßt ſich das Bildungsweſen Englands formell kurz damit charakteriſiren, daß ſein Volksſchulweſen, noch vor wenig Jahren nur in den Armenſchulen beſtehend, eben beginnt, unſicher und verſuchsweiſe Gegenſtand der Verwaltung zu werden; daß ſeine Berufsbildung ohne organiſirte Vorbildung nur noch als eine gelehrte, und ſelbſt vollkommen in ſtändiſcher, unorganiſirter Selbſtverwaltung daſteht, und daß die allgemeine Bildung, der Verwaltung gänzlich fremd, nur noch Sache des Einzelnen iſt, und daher höchſtens vom Vereinsweſen gefördert, mehr als irgendwo auf der Preſſe und ihrer Thätigkeit beruht. Es kann daher ſehr viel von einem engliſchen Princip, aber ſehr wenig von einem engliſchen Syſtem die Rede ſein. Die großen Theile des Bildungsweſens liegen zuſammenhangslos neben einander, und ſtatt der Verwaltung oder der poſitiven Geſetzgebung muß der wiſſenſchaftliche Gedanke ſie als Einheit zuſammenfaſſen.

Frankreich. Den direkten Gegenſatz dazu bildet Frankreich in ſeinem geſammten Bildungsweſen. Als in der franzöſiſchen Revolution die Principien der Freiheit und Gleichheit den plötzlichen Sieg über die ſtändiſchen Ordnungen gewannen, war die Anerkennung der gleichen Bildung für alle eine nur naturgemäße Conſequenz dieſer Grundſätze. Natürlich konnte eine ſolche Conſequenz nur durch die, von der Ge - ſellſchaft vollſtändig beherrſchte Verwaltung verwirklicht werden. Die Bedingung dafür war eine möglichſt einheitliche Geſetzgebung. So kam es naturgemäß, daß die Regierung verſuchte das geſammte Bil - dungsweſen durch ihre Geſetzgebung zu regeln und durch eine eben ſo einheitliche Verwaltung praktiſch zu beherrſchen. Das auf dieſe Weiſe, man kann ſagen, einſeitig von der Staatsgewalt begründete öffentliche Bildungsweſen Frankreichs unterſcheidet ſich daher von dem Englands dadurch, daß der freien geiſtigen Thätigkeit ſo wenig als möglich Spiel - raum gelaſſen und dieſelbe ganz von der Verwaltung übernommen iſt, von dem Deutſchlands dadurch, daß die einzelnen Theile des Syſtems keine ſelbſtändige und ungleichmäßige Form und Entwicklung beſitzen,46 und nicht von hiſtoriſch entſtandenen Körperſchaften oder von dem immer verſchiedenen und ſehr oft zufälligen Verhältniß der Selbſtverwaltungs - körper und Selbſtverwaltungsrechte örtlich verſchieden beſtimmt werden. Es iſt der Sache wie der Form nach Eine große, für das ganze Reich gleichmäßig durchgeführte, faſt ohne alle Theilnahme der Selbſtver - waltung wirkende Verwaltungsanſtalt, in der kein Theil von dem andern getrennt iſt, kein Theil eine eigene, geſonderte Entwicklung hat, und die daher auch unter einem Namen von einer Geſetzgebung be - herrſcht wird. Dieſe Anſtalt, das geſammte Bildungsweſen des Reiches umfaſſend, heißt die Université, welche daher im weſentlichen Unter - ſchiede von dem hiſtoriſchen Begriffe der Univerſität, neben allen Formen und Anſtalten der Berufsbildung, auch das geſammte Volks - bildungsweſen zugleich umfaßt, und unter einem das Ganze gleich - mäßig verwaltenden Organismus ſteht. Die franzöſiſche Université hat daher mit der deutſchen Univerſität gar nichts gemein. Sie iſt vielmehr der Organismus des geſammten Bildungsweſens der Regierung, von der Elementarſchule bis zu den Fakultäten; und in dieſem Sinne iſt die Geſchichte des franzöſiſchen Bildungsweſens die Geſchichte der Université.

Allerdings iſt dieß der gegenwärtige Charakter des franzöſiſchen Bildungsweſens, und es wird unſere Aufgabe ſein, daſſelbe unten in ſeinen einzelnen Theilen und Gebieten genauer zu verfolgen. Allein daſſelbe iſt ſo wenig plötzlich entſtanden wie irgend ein anderer Theil der öffentlichen Macht in dieſem merkwürdigen Staate; und kaum bietet irgend ein anderes Land ſo viel Intereſſe durch ſeine hiſtoriſche Entwicklung auch auf dieſem Punkte dar, als Frankreich. Wir glauben daher die letztere hier in ihren Hauptzügen charakteriſiren zu ſollen. Und zwar um ſo mehr, als gerade dieſe immer höchſt beachtenswerthe Entwicklung des franzöſiſchen Bildungsweſens verkannt wird, weil aller - dings die Grundform deſſelben, eben jene Université, in ihrer alles überragenden Bedeutung die Auffaſſung der Deutſchen, die ſich mit ihr beſchäftigt haben, zu ſehr abſorbirt hat, wenn auch nur wenige in ſo grobe Irrthümer und in ſo gänzliches Mißverſtändniß der Sache verfallen, wie neulich C. Richter in ſeinem ſogenannten Staats - und Geſellſchaftsrecht der franzöſiſchen Revolution (II. S. 610 615), der gar nicht ahnt, was die Université iſt, die Napoleon nun wieder als kaiſerliche Univerſität errichtet haben ſoll. Die wirklichen Haupt - ſtadien der Entwicklung des franzöſiſchen Bildungsweſens aber, zurück - geführt auf die von uns aufgeſtellten Elemente des geſammten Bildungs - weſens ſind folgende.

Die erſte Epoche iſt diejenige, welche mit der franzöſiſchen Revolution47 beginnt, und bis zur Alleinherrſchaft Napoleons führt. Die zweite findet ihre Baſis in der Aufſtellung der Université und ihrer, das ganze Bildungsweſen Frankreichs bureaukratiſch beherrſchenden Organi - ſation, die wieder ihre eigene Geſchichte hat. Die dritte beginnt unter Napoleon III., nicht durch ihn, und beſteht in der Entwicklung eines freien Bildungsweſens neben der Université, das freilich weſentlich noch auf gewerbliche Bildung beſchränkt iſt, aber in dieſem gewerblichen Bildungsweſen den großen Principien des deutſchen Bildungsweſens die Bahn bricht, und die Geltung der freieren, auf Selbſtverwaltung des geiſtigen Lebens gerichteten Elemente allmählig auch auf die übrigen Gebiete der geiſtigen Verwaltung Frankreichs übertragen wird. Jede dieſer Epochen iſt zugleich ein Ausdruck des Ganges der geſellſchaftlichen Zuſtände, die nirgends härter in ihren Gegenſätzen, aber auch nirgends ſchärfer in ihren Principien hervortreten als hier.

Die erſte Epoche, die der Revolution, beginnt mit dem richtigen Gefühl, daß die Bildung die erſte poſitive Bedingung des Fort - ſchrittes iſt, wie die perſönliche Freiheit die erſte negative Bedingung deſſelben. Der Ausdruck dieſes Gefühls iſt das principielle Losreißen des geſammten Bildungsweſens von jedem ſtändiſchen Element, und die formelle und abſolute Anerkennung der Staatspflicht, den Staatsbürgern ohne allen Unterſchied des Standes und des Vermögens die Bedingung der Bildung darzubieten. Frankreich iſt, indem es auf dieſe Weiſe das ganze Bildungsweſen auf die Thätigkeit der eigent - lichen Staatsverwaltung ſtellte, der erſte Staat, der die Pflicht des Staats zur Bildung ſeiner Angehörigen zu einem Inhalt der Ver - faſſung machte. So wie die junge ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft die ſtändiſche darnieder wirft, hält ſie es für eine ihrer erſten Aufgaben, die neue Staatsordnung durch das formelle Ausſprechen zur Staatspflicht gleichſam für die neue geiſtige Welt, die ſie bereiten will, einzuweihen. Die déclaration des droits de l’homme et de citoyen vom 26. Auguſt 1789 ſteht allerdings nur noch auf dem negativen Standpunkt der Gleichheit und Freiheit, wie wir ihn in der Geſchichte des Polizeirechts ausgeführt haben. Allein ſchon die erſte Verfaſſung vom 3. September 1791 nahm in ihrem Titre premier neben den Menſchenrechten den bedeutſamen Satz auf: Il sera crée et organisé une Instruction pub - lique, commune à tous les citoyens, gratuite à l’égard des parties d’enseignement indispensables pour tous les hommes, et dont les établissements seront distribués graduellement dans un rapport com - biné avec la division du royaume. Dieſer Satz enthielt einerſeits nichts anderes, als was bereits vor manchem Jahrzehent deutſche Staaten, in erſter Reihe Preußen, durch ſein General-Schulreglement, ſchon zur48 Geltung gebracht und eingeführt hatten die Staatspflicht, den Volks - unterricht herzuſtellen; allein ein eigenthümlicher Gedanke, der die ganze folgende Zeit beherrſcht, und der eben den Charakter des franzöſiſchen Bildungsweſens von dem engliſchen und deutſchen ſo tief unterſcheidet, war ſchon hier begründet; das war der, das geſammte Syſtem des Bildungsweſens rein unter die Staatsverwaltung zu ſtellen, und ſie zum Herrn deſſelben zu machen. Es war nicht ſchwer, ſich für dieſe Idee zu begeiſtern, ſo lange Frankreich ſelbſt frei war, und Mirabeau mit ſeinem wunderbaren Takt und mit ſeiner gewaltigen Stimme, der dieſen Artikel der Conſtitution motivirte (Discours sur l’Organisation de l’in - struction publique, 1791), riß, nicht bloß Frankreich mit ſich fort, ſondern ließ wieder einmal auch die Deutſchen glauben, daß hier etwas geleiſtet werde, das ihnen als Muſter zu gelten habe. Die Aſſemblée beauftragte Talleyrand mit dem Bericht, und deſſen Rapport fait au nom du Comité de Constitution sur l’Instruction publique muß als die theoretiſche Grundlage des ganzen franzöſiſchen Unterrichtsweſens bis zur heutigen Zeit angeſehen werden. Die Legislative von 1791 blieb auf demſelben Standpunkt, nur forderte ſie vom Staat vielmehr die neue Declaration des droits de l’homme et du citoyen, die als Einleitung zur Verfaſſung vom 24. Juni 1793 erſchien, und formulirte den Gedanken der Conſtitution von 1791 ſchon weſentlich anders. Der Artikel 22 ſagt: L’instruction est le besoin de tous. La société doit favoriser de tout son pouvoir le progrès de la raison publique, et mettre l’instruction à la portée de tous les citoyens. Der Bericht - erſtatter war diesmal Condorcet (Rapport sur l’Organisation géné - rale de l’Instruction publique fait à l’Assemblée legislative). Das was in dieſem Berichte Neues und der damaligen Zeit Eigenthüm - liches war, war die Aufnahme der Verpflichtung zur ſtaatlichen Bildung in das Bildungsweſen; und von dieſem Bericht ſtammen die Anordnungen in einigen Staaten, nach welchen die elementaren Grund - ſätze der Verfaſſung geſetzlich in das Volksſchulweſen aufgenommen worden ſind. (Richter a. a. O. ahnt von alledem nicht das Entfernteſte.) Gemeinſam war beiden Geſetzgebungen, daß ſie in jener Epoche auf dem Papier blieben. Die Verfaſſung von 1793 läßt den ganzen Paſſus in ſeinen allgemeinen Principien weg, wohl aber tritt hier die erſte wirkliche Organiſation der Instruction publique in Titre X auf, in welchem die écoles primaires (a. 296) von den écoles supérieures (a. 297) und von beiden wieder ein Institut national geſchieden werden, die aber nach a. 299 unter einander wieder im Verhältniß der subor - dination nach der correspondance administrative ſtehen. Dagegen wird, was früher unzuläſſig war, hier zuerſt den Bürgern das Recht49 auf freie Unterrichtsanſtalten gewährleiſtet. Mit dieſen Beſtimmungen tritt das Bildungsweſen aus den Verfaſſungen heraus, denn der Art. 88 der Conſtitution von 1799 iſt nur ein unvollſtändiger Nachklang des Ganzen, und geht in die eigentliche Verwaltung über. Denn trotz aller Reden und Verfaſſungen war in Wirklichkeit nichts für das Unterrichtsweſen geſchehen. Der Gedanke aber, daß das Ganze eine organiſche Staatsangelegenheit und damit eine große Einheit mit der obigen Dreitheilung ſein müſſe, ſtand feſt, und es war ſchon damals klar, daß es nur des Eintretens einer tüchtigen Verwaltung bedürfe, um jene abſtrakten Principien der Revolution praktiſch ins Leben zu rufen.

Der Mann, dem auch dieß gelang, war Napoleon. Mit ihm be - ginnt die zweite Epoche der Geſchichte des Bildungsweſens in Frank - reich. Wir haben ſchon oft und immer mit Nachdruck darauf hin - gewieſen, daß man in Napoleon neben dem Feldherrn vor allen auch den Gründer der neuen Verwaltung in Frankreich erkennen muß. Das gilt in hohem Grade auch vom franzöſiſchen Bildungsweſen. Napoleon hat allerdings keinen einzigen neuen, ihm eigenthümlichen Gedanken für daſſelbe gefunden, wohl aber einen neuen Namen, und der Orga - niſation, die er ins Leben rief, ſo ſehr den Stempel ſeines autokratiſchen Geiſtes aufgedrückt, daß auch jetzt noch Frankreich darunter leidet. Ausgeſprochen war nämlich, wie geſagt, das große Princip der Volks - bildung als Pflicht der Verwaltung ſchon ſeit 1791; ausgeſprochen war die noch heute geltende Dreitheilung in instruction primaire, secon - daire und supérieure ſeit 1791; es kam jetzt nur darauf an, die Sache adminiſtrativ zu organiſiren. Und hier mußte Napoleon wählen. Er konnte der Selbſtverwaltung, wie ſie in Deutſchland beſtand, ihr Recht namentlich in den Gemeinden für den Elementarunterricht, und der geiſtigen Selbſtverwaltung, wie die höheren Lehranſtalten ſie be - ſitzen, ihre Stellung geben. Er that es nicht. Ihm war das Bildungs - weſen nichts als eine große adminiſtrative Aufgabe, und die bildende Kraft eine große gouvernementale Maſchine. Vortrefflich bezeichnet dieſe Auffaſſung Morin (Block, Dict. de Polit. v. Instr.). Napoléon adorant la discipline, fut frappé de celle du clergé, et sa première idée fut de constituer sous le nom de l’Université une sorte de clergé semi-laïque et semi-religieux; und dieſe Geſammtheit von halbweltlichen und halbgeiſtlichen Organen ſollte nun als eine große Einheit das ganze Unterrichtsweſen Frankreichs übernehmen. Jener große Lehrkörper ward auf dieſe Weiſe der corps enseignant, und das Lehrweſen Frankreichs ſelbſt nannte Napoleon die Université. Die Université beſteht daher aus der in eine ſtaatliche VerwaltungStein, die Verwaltungslehre. V. 450gebrachten Geſammtheit aller öffentlichen Lehranſtalten, von den Ele - mentarſchulen bis zu den Facultés (ſ. unten) und der Geſammtheit des ganzen Lehrerperſonals von dem Profeſſor bis zum Triviallehrer. Dieſen Gedanken führte das Geſetz vom 17. März 1808 aus, das bisher nie - mals geändert ward und noch gegenwärtig die Baſis der ganzen Or - ganiſation des Bildungsweſens abgibt. Die Université bietet demgemäß ein höchſt eigenthümliches Bild, in welchem die ſtreng militäriſch-kleri - kale Subordination ſich mit der bureaukratiſchen Form in merkwürdiger Verbindung zu einem Ganzen verſchmolzen hat, wie es in Europa nicht wieder vorkommt. Die Grundzüge dieſer Organiſation des ſtaatlichen Bildungsweſens Frankreichs, d. i. ſeiner Université, ſind folgende. Ganz Frankreich wird in große Unterrichtsprovinzen getheilt, welche Académies heißen; 1808 in 27, jetzt ſeit Geſetz vom 14. Juni 1854 nur noch 16; ſo daß jede Akademie wieder eine gewiſſe Anzahl von Departements umfaßt. Daraus nun gehen zwei große Verwaltungs - ſyſteme hervor. Das eine iſt das der öffentlichen Bildung als ſolcher, der Instruction publique, beruhend auf der Akademie; das andere iſt das der eigentlichen Adminiſtration, beruhend auf dem Präfekten und dem einzelnen Departement. Der leitende Gedanke in dieſer Scheidung iſt der, daß die Angelegenheiten des Unterrichts oder der eigentlichen Lehre der Akademie, die Angelegenheiten der Perſonen und der wirth - ſchaftlichen Verwaltung dem Präfekten untergeordnet ſind. Der Organis - mus der Akademien iſt ziemlich einfach. An der Spitze jeder Akademie ſteht ein Recteur, der die Oberaufſicht über das geſammte Lehrweſen ſeiner Akademie hat. Die Ausübung dieſer Oberaufſicht ruht in den Händen eines Syſtemes von Inspecteurs. Der Oberinſpektor (Inspec - teur général) hat die ganze Akademie zu beaufſichtigen; die Unter - inſpektoren, die Inspecteurs, die örtliche Oberaufſicht. Die Inspecteurs aber ſtehen zugleich unter dem zweiten Organismus, dem der Präfektur. Jeder Präfekt hat nämlich die Anſtellung aller öffentlichen Lehrer in ſeinem Departement, und die Inspecteurs ſind daher die Referenten ſowohl für den Rektor und ſeine Competenz als für den Präfekten. Mit Recht ſind daher die franzöſiſchen Juriſten darüber einig, daß der Inspecteur die eigentlich regierende Gewalt über die Thätigkeit der geſammten Université in der Hand hat l’inspecteur exerce le véritable gouvernement (Jourdain bei Block). Dieß Syſtem von bu - reaukratiſchen Organen ſollte nun allerdings in ſeiner Machtvollkommen - heit durch eine Theilnahme der Selbſtverwaltung gemildert werden. Nun haben wir ſchon in der Vollziehenden Gewalt (S. 341 ff. ) den Charakter der ſpecifiſch franzöſiſchen Selbſtverwaltung bezeichnet; es iſt das Syſtem der recht - und machtloſen Conſeils, das die Stelle51 derſelben vertritt. Daſſelbe ward nun auch auf den obigen Organismus angewendet, und ein Syſtem von Conſeils allen jenen Organen an die Seite geſtellt. Der Rektor hat ein Conceil académique, der Präfekt ein Conceil départemental, die örtliche Organiſation hat die délégués cantonnaux zur Seite (mit Reglement von 1850 und 29. Juli 1854, jedoch ohne rapport hierarchique zum Inspecteur); die Verordnung vom 29. Februar 1816 hat eine Art von Gemeinderath eingeſetzt, an deſſen Spitze der Maire ſtand; doch iſt an deſſen Stelle ſeit 1835 der eigentliche Inspecteur getreten, der nur den oberen Behörden berichtet. An der Spitze des Ganzen ſteht dann das Ministère de l’Instruction publique, das wieder einen Conseil général de l’instruction publique zur Seite hat (Dekret vom 9. März 1852). Das ſind die allgemeinen Grundlagen des franzöſiſchen ſtaatlichen Bildungsweſens. Der Charakter deſſelben iſt demnach klar. Er beſteht in der ſtrengſten Durchführung der formellen Einheit; die Université iſt une hierarchie d’écoles primaires et secondaires rattachées à un corps central d’établisse - ments d’instruction supérieure qui exerce une véritable jurisdiction scolaire (Jourdain a. a. O.). Der Unterſchied von dem deutſchen Unter - richtsweſen beruht auf dem grundſätzlichen Mangel aller Selbſtändig - keit jedes einzelnen Theiles dieſes Lehrorganismus, und zwar in der Weiſe, daß im Volksunterricht die Ausſchließung der freien Gemeinde - verwaltung vom Volksſchulweſen, im Berufsbildungsweſen die Beſeiti - gung jeder ſelbſtändigen Funktion der Lehrkörper durchgeführt iſt. Und in der That iſt dieſe völlige Aufhebung aller Selbſtändigkeit der Lehrer, ihre grundſätzliche Abhängigkeit von den Behörden der Grund des Zu - rückbleibens Frankreichs in allem was Volksbildung heißt. Denn die Lehrer ſind weder ſelbſtändig in ihrer Stellung noch in ihrer geiſtigen Thätigkeit. Die Lehrkörper aller Art beſitzen nicht das Recht noch die Macht, die Lehre zu ordnen und dieſelbe mit der freien Entwicklung der Wiſſenſchaft aus eigener That vorwärts zu bringen. Die individuelle Freiheit der geiſtigen Bewegung iſt der formellen Einheit des Bildungs - weſens zum Opfer gebracht, wie umgekehrt in England die letztere gegen - über der erſteren nicht zur gebührenden Geltung gelangt iſt. Dennoch iſt gerade dieſe individuelle Freiheit das wahrhaft Belebende in allem geiſtigen Leben, nicht etwa bloß, wie Frankreich es annimmt, gegen - über den großen Problemen der Wiſſenſchaft. Wo ſie verloren geht, geht die Höhe und Tüchtigkeit der individuellen Bildung verloren, wie da, wo die Einheit fehlt, die Gleichmäßigkeit derſelben unerreichbar bleibt. Im erſten Falle gibt es hochgebildete Einzelne, im zweiten ſehr gebildete Klaſſen der Beſitzenden, in beiden keine wahre Volks - bildung.

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Selbſt für die gelehrte Bildung iſt neben demſelben faſt gleichzeitig ein ganz freies Bildungsweſen entſtanden, für die wirthſchaftliche Bil - dung aber, welche in das obige Syſtem überhaupt nicht aufgenommen war, hat ein ſolches entſtehen müſſen, um überhaupt auf dieſem Ge - biete etwas zu leiſten. So zeigt ſich denn in Frankreich die eigenthüm - liche Erſcheinung, daß neben und ohne die Regierung ſich ein großes, mit dem Syſtem der Université parallel laufendes Bildungsweſen ent - ſtanden iſt, das alle drei Gebiete umfaßt, in manchen Beziehungen mehr leiſtet als jene, und den Erſatz für die Mängel bietet, unter denen dieſelbe leidet. Und das Verhältniß dieſer beiden Syſteme zu ein - ander iſt es nun eigentlich, welches dem Bildungsweſen Frankreichs ſeinen Geſammtcharakter gibt. Dieß Verhältniß aber iſt das eines faſt gänz - lich unvermittelten Nebeneinanderſtehens. Während die Regierung die Université deſpotiſch beherrſcht, hat ſie über die freien Bildungsan - ſtalten ſelbſt die Oberaufſicht faſt vollſtändig aufgegeben; in jenen thut ſie entſchieden zu viel, in dieſen entſchieden zu wenig. Und dieſem Verhält - niß werden wir in der folgenden Darſtellung auf jedem Schritte begegnen.

Dieß nun iſt das Napoleoniſche Bildungsſyſtem auch des gegen - wärtigen Frankreichs, das in der Form vielfach dem deutſchen ſehr ähnlich, aber in der Sache von ihm tief verſchieden iſt. Eben deßhalb hat daſſelbe ſchon von Anfang an dem franzöſiſchen Volke, das denn doch immer von germaniſchen Elementen geſättigt iſt, nicht genügen können, und da an jenem Syſteme nichts zu ändern war, ſo hat ſich das Bedürfniß nach einer freien geiſtigen Bildung ſelbſtändig neben demſelben als jene Éducation libre Bahn gebrochen. Schon die Con - ſtitution von 1793 erkennt das Princip derſelben an (a. 299). Selbſt Napoleon hat es nicht beſeitigen können.

Deutſchland. Das deutſche Bildungsweſen, in ſeinen einzelnen Beſtimmungen unendlich genau ausgearbeitet und mit reichſter Geſetz - gebung verſehen, iſt eben deßhalb im Einzelnen ſehr ſchwer darzuſtellen. Es iſt die Aufgabe der folgenden Abſchnitte, dieß zu verſuchen. Wohl aber läßt ſich im Vergleiche zu England und Frankreich jetzt der ſpe - cifiſche Charakter deſſelben leicht beſtimmen. Deutſchland hat von Frankreich den Plan der adminiſtrativen Einheit des geſammten Bil - dungsweſens angenommen; aber es hat innerhalb derſelben die Selbſtändigkeit der geiſtigen Arbeit zu wahren verſtanden. Es iſt von Werth, beide Elemente auf dasjenige zurückzuführen, worin ſie in allen deutſchen Staaten, trotz mancher Verſchiedenheit im Einzelnen, ihren beſtimmten Ausdruck finden. Die Einheit iſt vertreten durch die Miniſterien des Unterrichts und die in ihnen gegebene centrale Verwaltung. Die Selbſtändigkeit dagegen beim Elementarunterricht53 durch die Rechte der Gemeinden, bei dem Berufsbildungsweſen durch die Rechte der Lehrkörper. Dieſe drei Elemente finden ſich in allen Organiſationen des Unterrichtsweſens wieder, und in ihrer Wechſel - wirkung beruht die organiſche Entwicklung unſeres geiſtigen Lebens, welches nur eines ſtaatlichen Hintergrundes bedarf, um ſeine ganze Bedeutung für die Geſittung der Welt zu entfalten. Eben deßhalb kann keine Darſtellung des Bildungsweſens ausreichen, die nicht Deutſch - lands Ordnungen und Principien zum Grunde legt. Wir glauben aber eben deßhalb hier zu genügen, wenn wir den Charakter deſſelben auf die angeführten drei Elemente zurückführen.

Wir glauben nun, daß es nicht ohne Intereſſe ſein wird, an dieſe drei großen Grundformen noch eine kurze Charakteriſtick des Bil - dungsweſens der Staaten anzuſchließen, welche mehr oder weniger die oben aufgeſtellten Elemente in eigenthümlicher Weiſe bei ſich verarbeitet haben. Sie ſind es eigentlich, an denen man, wir möchten ſagen das Verſtändniß der elementaren Verhältniſſe und Rechte des Bildungs - weſens am beſten erprobt, weil bei ihnen die Formen oft die Sache verdecken, oft die Namen etwas Verſchiedenes bedeuten, und doch am Ende bei genauerer Betrachtung die großen Grundformen wieder als das beherrſchende Element hervortreten. Ein genaues Eingehen auf dieſelben würde freilich alles Maß unſerer Arbeit überſchreiten; eine Ueberſicht aber würde werthlos ſein, wenn ſie nicht eben ſtets alle einzelnen Verſchiedenheiten mit den allgemeinen Grundlagen in Har - monie ſetzte. Wir rechnen dahin namentlich Belgien, Holland, Italien und Rußland. So weit es thunlich iſt, werden wir im beſondern Theil auf die beſondern Beſtimmungen derſelben zurückkommen.

Belgiens Bildungsweſen. Das Bildungsweſen Belgiens iſt ſeiner Form nach dem franzöſiſchen nachgebildet; es bedarf aber einer beſondern Berückſichtigung, weil ſein Inhalt durch den, weder in Deutſchland noch in England in analoger Weiſe beſtehenden Begriff des Enseignement libre bedingt wird. Das Enseignement libre bedeutet nicht eben die Frage nach der Freiheit von der Schulpflicht und eben ſo wenig unmittelbar die Freiheit der Lehrordnung, ſondern weſentlich die Frage nach dem Recht der Geiſtlichkeit in Beziehung auf die Errichtung und die Leitung der Schulen. Wie in ganz Belgien, ſo treten auch in Beziehung auf das Bildungsweſen die weltliche und die geiſtliche Partei beſtändig und aufs ſchärfſte einander entgegen und der Zuſtand des Reiches iſt in dieſer Beziehung als ein beſtändiges Com - promiß zwiſchen beiden Faktoren anzuſehen. Die Geſchichte der betr. Geſetz - gebung iſt der Ausdruck des Kampfes dieſer Elemente. Man ſieht in Belgien daher zwei Syſteme des Bildungsweſens neben einander54 laufen wie in Frankreich; aber während hier das eine Syſtem das der ſtaatlichen, das zweite das der privaten Bildung iſt, ſteht in Belgien das Syſtem des geiſtlichen Bildungsweſens ausgeprägt und beſtimmt neben dem ſtaatlichen, und der Hauptpunkt des öffentlichen Rechts des letztern iſt hier die Frage nach dem Verhältniß der Staatsgewalt und ihrer Oberaufſicht zu dem kirchlichen Bildungsweſen. Bis 1830 war natürlich das belgiſche Recht dem holländiſchen untergeordnet; ſeit dieſer Zeit aber entwickelt ſich jener ſpecifiſche Charakter des erſtern und findet ſeinen Ausdruck in der Geſchichte der Geſetzgebung.

Schon am 12. October 1830 hob die belgiſche proviſoriſche Regie - rung alle Beſchränkungen des Unterrichts auf; die Regierung behält nur das Recht, bei Bewilligungen von Subſidien aus der Staatscaſſe Bedingungen vorzuſchreiben. Das war das Enseignement libre, deren Folge nach den einſtimmigen Urtheilen aller Fachmänner eine vollſtän - dige Desorganiſation des Unterrichtsweſens war. Die erſten Verſuche, in einer feſten Geſetzgebung die Staatsgewalt ihre natürliche Stellung wiederzugeben, mißlangen. Der Entwurf vom 31. Juli 1834, der das geſammte Bildungsweſen, alſo auch die Berufsbildung nach franzöſiſchen Kategorien umfaßt hatte, kam nicht zur Geltung; ſtatt deſſen ward der Elementarunterricht erſt durch das Geſetz vom 23. September 1842, und das Vorbildungsweſen für die Fachbildung durch das Geſetz von 1830 geordnet, dem in neueſter Zeit die Verordnung vom 1. September 1866 gefolgt iſt, welche als die Grundlage des wirthſchaftlichen Vor - bildungsweſens angeſehen werden muß. Die Grundzüge des auf dieſe Weiſe entſtandenen Bildungsſyſtems beruhen auf einem eigenthümlichen, ſeit 1842 mehrfach im Einzelnen genauer beſtimmten Zuſammen - wirken der weltlichen und geiſtlichen Behörden in der Inſpektion der Volksſchule, während dieſe Gemeinſchaft für die gelehrten Bil - dungsanſtalten zwar nicht gilt, dafür aber die volle Freiheit der geiſt - lichen Körperſchaften beſteht, neben den ſtaatlichen Vorbildungs - und Fachbildungsanſtalten ſelbſtändig zu errichten. Darin beſteht der Cha - rakter des belgiſchen Bildungsweſens; im Uebrigen iſt es der Form nach franzöſiſch, dem Inhalte nach wendet es ſich mehr und mehr dem deutſchen Syſteme zu.

Vergl. le Roy bei Schmid Encykl. I. S. 491 ff. mit der Literatur und einer kurzen Geſchichte. Was Batbie (Droit de public l’adm. VI. p. 158) ſagt, iſt ſehr unbedeutend. Dagegen iſt de Fooz (Droit admini - stratif Belge T. IV. T. II. ) ſehr genau im Einzelnen, jedoch unter ſorgfältiger Vermeidung jeder eingehenden Betrachtung der obigen Punkte, die wir unten ſpeciell hervorheben werden.

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Holland. Vielleicht in keinem Theile des öffentlichen Rechts iſt der tiefe Unterſchied zwiſchen Belgien und Holland ſo greifbar und zugleich hiſtoriſch einſchneidend, als im Bildungsweſen. Holland iſt auch in dieſer Beziehung viel zu wenig bekannt. Nur die Franzoſen haben die Bedeutung deſſelben zu würdigen verſtanden und Couſins Werk: De l’Instruction publique en Hollaude (1836 37, 2 Bde. ) muß noch immer als die beſte publiciſtiſche Arbeit über das frühere Recht außerhalb Hollands angeſehen werden. Die Holländer ſelbſt haben eine ſehr tüchtige und reiche Literatur über ihr Bildungsweſen (ſ. le Roy bei Schmid Encykl. voc. Holland Bd. III. S. 558). Die Deutſchen beſitzen merkwürdiger Weiſe gar keine Arbeit darüber, mit Ausnahme des erwähnten kleinen Aufſatzes von le Roy, der übrigens die ganze Frage ſehr einſeitig auffaßt. Brachelli hat jedoch in ſeinen Staaten Europas S. 557 und 565 eine ſehr werthvolle Statiſtik der Zuſtände auch des holländiſchen Bildungsweſens gegeben. De Boſch-Kemper (Nederl. Staatsregt 1866) iſt leider ſehr karg (§. 32). Die Grundverhältniſſe des holländiſchen Bildungsweſens, das namentlich im Gebiete der wirthſchaft - lichen Berufsbildung von ſehr großem Intereſſe iſt, ſind folgende.

Das holländiſche Bildungsweſen war bis zum Anfang unſeres Jahrhunderts dem deutſchen in allen formellen und unweſentlichen Punkten gleichartig; es zeichnete ſich aber namentlich durch eine bei - nahe vollſtändige Unabhängigkeit der örtlichen Schulverwaltung von der Staatsverwaltung aus. Die franzöſiſche Eroberung brachte in dieſe Zerfahrenheit dieſelbe gewaltſame Einheit hinein, welche Frankreich aus - zeichnet; jedoch beſchränkte ſich die Epoche der franzöſiſch-holländiſchen Geſetzgebung weſentlich auf das Volksſchulweſen. Ihr Hauptwerk war das Geſetz vom 3. April 1816, das jedoch von der franzöſiſchen Geſetz - gebung über die Instruction primaire ſich durch die in Holland unverwüſtliche Selbſtändigkeit der Gemeinden und ihres Antheils am Volksſchulweſen weſentlich unterſcheidet, und doch durch ſeine formelle Verwandtſchaft mit der franzöſiſchen Geſetzgebung einen ſehr großen, wenn auch wenig beachteten Einfluß auf das franzöſiſche Geſetz von 1833 hatte (ſ. unten). Die lateiniſchen Schulen und Univerſitäten blieben unberührt. Aus dieſer Epoche nun blieb der holländiſchen Re - gierung das Streben, ihre Gewalt über das Unterrichtsweſen möglichſt beizubehalten. Dagegen kämpften die Gemeinden und Lehrkörper. In der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts ſiegte die erſtere. Den Aus - druck dieſes Sieges gab der Artikel 224 der Verfaſſung von 1817. Der öffentliche Unterricht iſt eine beſtändige Angelegenheit (voorwerp) der Regierungsthätigkeit (van de zorg der Regering). Der König gibt jährlich über die Verwaltung und den Zuſtand (van den staat)56 des niedern, mittlern und höhern Unterrichts den General-Staaten einen ausführlichen Vorſchlag. Die Macht, welche die Regierung da - durch gewann, ward nur nach langem Streit gebrochen durch die neue Verfaſſung. Die obigen Sätze blieben in der neuen Geſtalt, aber es ward der Grundſatz dazwiſchen eingeſchoben, daß der öffentliche Unter - richt durch ein Geſetz geregelt werden und daß derſelbe frei ſein ſoll für jedermann, jedoch unter den geſetzlichen Bedingungen der Fähig - keit und Sittlichkeit der öffentlichen Lehrer. In Folge dieſes Grund - ſatzes werden nun neben dem beſtehenden Recht der gelehrten Berufs - bildung (hooges onderwiis), Geſetz vom 2. Auguſt 1815, ein ausführ - liches Geſetz über den Volksunterricht (lager onderwiis) vom 13. Auguſt 1857 und ein zweites über den ſog. mittlern Unterricht (meddelbore onderwiis) vom 2. Februar 1864 gegeben. Das erſtere Geſetz iſt die Ausführung des Artikels 194 in der neuen Verfaſſung: Es wird überall im Reiche durch öffentliche Anſtalten (im Text van overheidswege) genügender öffentlicher Schulunterricht (lager onderwiis) gegeben. Das letztere iſt in der That das einzige uns in Europa bekannte ſyſtematiſche Geſetz über die wirthſchaftliche Berufsbildung in ihrer Scheidung von der gelehrten Bildung, und in hohem Grade beachtenswerth. Das leitende Princip für alle Zweige des Unterrichts iſt jetzt wieder das deutſche Organiſirung der Oberaufſicht der Regierung durch ein Syſtem von Inſpektoren nach franzöſiſchem Muſter, aber beinahe völlige Selbſtändigkeit der Gemeinden und Lehrkörper in allen drei Fächern. Holland darf ſomit von ſich rühmen, daß es vielleicht am beſten von allen europäiſchen Staaten den Werth der franzöſiſchen Formen mit dem höheren des deutſchen Geiſtes zu verbinden gewußt hat.

Italiens Bildungsweſen. Was Italiens Bildungsweſen betrifft, ſo hat daſſelbe einen doppelten, weſentlich verſchiedenen Inhalt, den thatſächlichen und den geſetzlichen. Was den erſtern betrifft, ſo fehlen zwar im Einzelnen zuverläſſige Angaben; im Allgemeinen jedoch iſt wohl kein Zweifel an der in allen Gebieten erſcheinenden Ungleich - mäßigkeit und Ungleichartigkeit deſſelben. Es iſt vollſtändig unthun - lich, vor der Hand von einem faktiſch geordneten italieniſchen Bil - dungsweſen zu reden als von einem für das neue Königreich irgendwie zur Geltung gebrachten Ganzen. Daſſelbe iſt vielmehr ſo ſehr im Werden begriffen, daß jede ſtatiſtiſche Darſtellung faſt unmöglich, und da wo ſie noch möglich iſt, Gefahr läuft, binnen Kurzem nicht mehr zuzutreffen. Dagegen muß man geſtehen, daß die Regierung in der kurzen Zeit ihres Beſtehens, wenigſtens auf dem Gebiete der Geſetz - gebung, wirklich Außerordentliches geleiſtet und ein ſyſtematiſch durch - geführtes öffentliches Bildungsrecht geſchaffen hat, wie es an Klarheit57 und Vollſtändigkeit kaum ein zweites gibt. Da nun dieſes ganze Ge - biet noch viel zu ſehr im Werden iſt, ſo weit es ſich um die wirkliche Durchführung dieſer Geſetze handelt, ſo möge es genügen, dieſelben hier im allgemeinen Theile zu charakteriſiren, ohne daß wir bei den Darſtellungen des Syſtems im Einzelnen darauf zurückzukommen brau - chen. Dieſe Charakteriſtik iſt um ſo nothwendiger, als ſelbſt Schmid in ſeiner Encyklopädie nicht in der Lage war, eine Darſtellung des italieniſchen geſetzlichen Bildungsweſens zu finden; wir haben die gelten - den Geſetze bereits in der Auſtria (Jahrgang 1865 und 1866) voll - ſtändig mitgetheilt, und auf dieſer Grundlage wird es nicht ſchwer ſein, die Grundzüge des Geſammtbildes zu geben.

Die Geſetzgebung Italiens über ſein neues Bildungsweſen iſt auf allen Punkten von zwei Elementen zugleich beherrſcht. Das franzöſiſche Element hat dieſer Geſetzgebung den Sinn für die vollſtändige Codification und für formelle Klarheit und Vollſtändigkeit gegeben, und leider auch gewiſſe ſpezifiſche Ausdrücke in die Geſetze hineingebracht, welche nur geeignet ſind, den Inhalt und ſeine wahre Bedeutung zu verwirren. Dieſer Inhalt nämlich und der ganze Geiſt, der durch dieſe geſammte Geſetzgebung hindurch geht, iſt dagegen ein vollſtändig deutſcher, obwohl ſich Italien wenigſtens bisher wohl gehütet hat, das anzuer - kennen. Es iſt gar kein Zweifel, daß dieſer ſpecifiſch deutſche Geiſt und ſelbſt die einzelnen deutſchen Grundgedanken von der öſterreichiſchen Organiſation und Geſetzgebung hergenommen ſind, die Italien mit dem Erwerb der Lombardei und Venedigs eigentlich erſt kennen gelernt hat. Die italieniſche Geſetzgebung hat mit vollkommen richtigem Tact die drei ſyſtematiſchen Gebiete, die Elementar -, die Berufs -, und die künſtleriſche Bildung geſchieden, und in der zweiten eine ſtrenge Schei - dung der gelehrten von der wiſſenſchaftlichen Bildung conſequent durch - geführt. Es iſt das wiſſenſchaftliche Syſtem, in einem großen geſetz - geberiſchen Syſtem verkörpert und mit Vermeidung aller der Unfrei - heiten und Beſchränktheiten, welche das Bildungsweſen Frankreichs auf einer ſo niedern Stufe halten. Dieß Syſtem iſt folgendes.

Was zunächſt die Elementarbildung betrifft, ſo iſt daſſelbe durch das allgemeine Unterrichtsgeſetz vom 13. November 1859 mit dem techniſchen zugleich geordnet (ſ. unten), jedoch haben eine Menge leicht verſtändliche Gründe dahin gewirkt, hier die Ausführung am ſchwierigſten zu machen. Von ihr wiſſen wir daher am wenigſten, da dieſelbe nach deutſchem Muſter den Gemeinden zum großen Theil überlaſſen iſt. Es iſt keine Frage, daß die definitive Organiſation und ſpeziell das Lehrerbildungsweſen erſt dann kommen kann, wenn die große Frage der Kirchengüter und die Stellung der Geiſtlichkeit erledigt58 iſt. Denn Italien hat keinen Lehrerſtand. Es wird auch kein tüch - tiges Elementarbildungsweſen bekommen, bis es ſich einen ſolchen ge - bildet hat, der von der Geiſtlichkeit unabhängig iſt. Hier vermag die Regierung allein eben ſo wenig als in Frankreich; man fühlt das und hat daher die Grundlage einer beſſern Geſtaltung durch das Princip der Selbſtverwaltung gelegt, das ſeiner Zeit ſeine Früchte tragen wird.

Dagegen iſt innerhalb des Syſtems der Berufsbildung einerſeits das gelehrte Berufsbildungsweſen, anderſeits das wirthſchaftliche ſowohl in Vor - als Fachbildung durchgreifend geordnet.

Die hohen Schulen zunächſt haben ihre neue Organiſation durch Reglement vom 1. September 1865 bekommen, mit Aufnahms - und Ab - gangsprüfung, Schulgeld und Disciplin durch den Lehrkörper. Die Gynnaſien mit 5 Klaſſen ſind von den Lyceen mit 3 Klaſſen unter - ſchieden; das letztere hat vorwiegend reale Vorbildung zum Inhalt. Die Oberaufſicht hat der Provinzialſchulrath. Die Univerſitäten haben allerdings ihren alten Charakter erhalten; allein einerſeits hat das Univerſitäts-Reglement vom 14. September 1862 die Disciplin dem Senate theils beſtätigt, theils übertragen; andrerſeits iſt nach dem Muſter der öſterreichiſchen Univerſitäten durch Verordnung vom 8. Oktober 1865 die ſtaatswiſſenſchaftliche Bildung mit der juriſtiſchen verbunden, was ein höchſt weſentlicher Fortſchritt gegen früher iſt. Daneben gibt es nach franzöſiſchem Muſter durch Verordnung vom 3. September 1865 ein Baccalaureat für Naturwiſſenſchaften, was unverſtändlich iſt.

Das wirthſchaftliche Bildungsweſen iſt nun nach deutſchem Vor - gange von dem gelehrten geſchieden, unter gänzlicher Beſeitigung des franzöſiſchen Bifurcationsſyſtems. Zunächſt iſt das Syſtem der Schulen für Erwachſene (neben den Sonntags - und Fortbildungsſchulen) allgemein anerkannt und unter ſtaatliche Anerkennung und Unter - ſtützung geſtellt; die Regierung gibt jährlich 300,000 L. an Ge - meinden, Geſellſchaften und Körperſchaften, welche ſolche Schulen er - richten. Das Gewerbeſchulweſen iſt dann ſpeziell organiſirt durch das Reglement für den induſtriellen und gewerblichen Unterricht vom 28. Oktober 1865 (Auſtria 1866 S. 114 f.) An der Spitze ſteht (fran - zöſiſcher Name, deutſche Sache) die Normalſchule, welche die Lehrer bildet. Die Schüler haben Aufnahmsprüfung; Programm iſt der Unterricht in gewerblichen Fächern aller Art, einer oder mehreren Abtheilungen; die Lehrer bilden einen Lehrkörper und ſtehen unter dem Aufſichtsrathe, der wieder unter dem Unterrichtsrathe ſteht. Freie Schulen können daneben das Recht als öffentliche haben (pareggiati). Die wirth - ſchaftliche Fachbildung iſt vertreten theils durch die techniſche Schule (Ingenieurſchule, Geſetz vom 13. November 1859), theils durch die59 verſchiedenen Landwirthſchulen (Auſtria 1864 Nr. 47, nebſt Programm). Das vollſtändigſte Bild aller dieſer Spezialſchulen aber, das in hohem Grade lehrreich im Einzelnen iſt, gibt der Bericht des Miniſters Pepoli über die techniſchen Inſtitute, die Kunſt - und Gewerbeſchulen, die Schifffahrtsſchulen, die Bergbauſchulen und die Landwirthſchaftsſchulen an die Deputirten-Kammer vom 4. Juli 1862 (992 Seiten in Quart), der den großen Vorzug hat, alle auf dieſe Inſtitute bezüglichen Ge - ſetze und Verordnungen vollſtändig mitzutheilen, ſo daß hier bis zum Jahre 1862 nichts zu wünſchen bleibt. Wir dürfen dieſe amtliche Publikation den Fachmännern dringend empfehlen. Die amtliche Organiſation des ganzen Bildungsweſens beſteht in dem Unterrichts - rath für das Reich (auf Grundlage des Geſetzes vom 13. November 1859, Verordnung vom 17. Oktober 1860 und 16. Februar 1861 er - richtet, nebſt Geſchäftsreglement vom 21. November 1865), mit drei Sektionen (Elementar -, Mittel - und höhere Unterrichtsanſtalten), den Provinzialſchulräthen (Verordnung vom 1. September 1865) und den Schulräthen und Aufſichts-Commiſſion (Verordnung vom 9. November 1862, 14. Auguſt 1864 und 18. October 1865, Auſtria 1866 S. 114). So weit die Statiſtik möglich, hat ſie Brachelli in ſeinen Staaten Europas S. 533 ff. für alle Theile aufgenommen.

Das Bildungsweſen der Schweiz. Der Charakter des Bil - dungsweſens der Schweiz iſt im Vergleich zu den übrigen europäiſchen Staaten ein eben ſo eigenthümlicher als der ihres übrigen Verwal - tungsrechts, und wir müſſen denſelben hier genauer bezeichnen, da es nicht gut thunlich iſt, darauf ſpäter zurückzukommen. Bekanntlich beruht das öffentliche Recht der Schweiz wie das Nordamerikas auf dem lei - tenden Grundſatz, den wir im Hinblick auf unſere ganze Darſtellung der Verwaltungslehre hier ganz beſtimmt bezeichnen können. Die Ver - faſſung iſt Sache des Bundesſtaates, die Verwaltung iſt Sache der einzelnen Kantone, und die Verfaſſung der Kantone erſcheint daher ihrerſeits weſentlich nur als die verfaſſungsmäßige Formulirung der Selbſtverwaltung. Von dieſer örtlichen Geſtalt der Verwaltung ſind nur einzelne Theile ausgenommen, wie Poſt - und Telegraphenweſen, allein nicht ausgenommen iſt das Bildungsweſen. Die Grundlage des öffentlichen Rechts deſſelben iſt daher die Ordnung nach den Kantonen. Jeder Kanton hat ſein Bildungsweſen, und für jeden dieſer Kantone beſteht ſeine Geſetzgebung. Es iſt uns nicht möglich geweſen, alle dieſe Geſetze zur Einſicht zu bekommen. Der Bundesrath ſelbſt hat keine maß - gebende Gewalt; er hat weſentlich nur die Aufgabe, das ſtatiſtiſche Mate - rial für das ganze Unterrichtsweſen zu ſammeln, was er durch ſein ſehr gut geleitetes eidgenöſſiſches ſtatiſtiſches Bureau thut. Eine Zuſammen -60 ſtellung des geltenden Rechts der Schweiz über alle die Verwaltung betreffenden Punkte gibt es unſeres Wiſſens nicht; hier hat die Verwal - tungslehre noch alles zu thun, und die Statiſtik iſt ihr weit voraus. Die Hauptergebniſſe der letztern nun ſind für das Bildungsweſen folgende.

Man muß die Schweiz in Beziehung auf das letztere in zwei große Gruppen theilen, die deutſche und die franzöſiſch-italieniſche. Die erſte hat im Großen und Ganzen die deutſchen Grundſätze, die letztere die franzöſiſchen angenommen, jedoch mit dem allerdings weſentlichen Unter - ſchiede, daß zwar das franzöſiſche Inſpektionsweſen beſteht, daß aber wohl allenthalben die Theilnahme der Gemeinde an der Schulüber - wachung bei dem Volksunterricht grundſätzlich anerkannt iſt. Im Ganzen iſt das Bildungsweſen ein ſehr vorgeſchrittenes und ſo viel wir ſehen, iſt das Syſtem der Bildungsanſtalten von der unterſten Elemen - tarſchule bis zum Univerſitätsweſen vortrefflich ausgebildet. Die ge - lehrte Bildung iſt von der wirthſchaftlichen faſt in allen Kantonen ge - ſchieden, und jede derſelben mit eigenen Inſtituten verſehen. Beinahe in allen, ſelbſt in den franzöſiſch-italieniſchen, iſt die höhere Bürger - ſchule von der Elementarſchule getrennt, in eigenen Anſtalten vertreten und nimmt einen ſehr ehrenwerthen Platz ein. Das Vorbildungsweſen wird in mehreren Kantonen unter der Bezeichnung Kantonsſchule im Gegenſatz zu den Gemeinſchulen (Volks - und Bürgerſchule) zuſammen - gefaßt und enthält alsdann die gelehrte Bildung in Gymnaſien (nach den Grundſätzen des deutſchen Gymnaſialweſens) und Realſchulen. Knaben - und Mädchenſchulen ſind allenthalben getrennt. Für die Lehrer - bildung ſind Seminarien in vielen Kantonen errichtet; ebenſo ſchließt ſich an das Volksbildungsweſen in mehreren Kantonen ſogar ein ſehr genau ausgearbeitetes Syſtem von Wiederholungs - und Sonntagsſchulen. Im wirthſchaftlichen Bildungsweſen ſind die Gewerbeſchulen von den Realſchulen geſchieden, in einigen Kantonen ſogar, wie in Baſel und Zürich, noch beſondere Realgymnaſien nach deutſchem Vorbilde errichtet. Dagegen ſcheint die einzelnen Geſetze fehlen uns das Princip der Schulpflicht auf dem Standpunkt von Frankreich, Holland, Belgien und Italien zu ſtehen, als bloße Verpflichtung der Eltern, die Kinder zur Schule zu ſenden. Faſt in allen Kantonen beſtehen Privatanſtalten. Die Univerſitäten ſind ganz auf deutſcher Grundlage; ebenſo das neue Polytechnikum. Das Eigenthümliche des Bildungsweſens der Schweiz wird demnach eben nicht in dem Organismus der Anſtalten, ſondern vielmehr in der Selbſtändigkeit der Verwaltung und Geſetzgebung je nach den Kantonen liegen, und hier geſtehen wir, daß unſere Quellen nicht ausreichen, und daß wir auf künftige Arbeiten hinweiſen müſſen. Jedenfalls wird auch das nicht weſentlich von den Grundſätzen der61 deutſchen Bildungsordnungen abweichen. Es muß jedoch hinzu gefügt werden, daß gerade in neueſter Zeit erſt die Kantonsgeſetzgebung für das Schulweſen, und ſpeziell für die Elementarbildung ſehr thätig geweſen iſt. Charakteriſtiſch iſt übrigens ein durchſtechender Mangel an jeder Art künſtleriſcher Bildungsanſtalten, die kaum durch einige Mu - ſeen und gewerbliche Zeichnungsanſtalten, wie in Baſel, Bern und Zürich, dürftig erſetzt werden; das iſt der eigentliche Mangel des ſchweizeriſchen Bildungsweſens. Die leitenden Geſetze dürften folgende ſein. Baſel: Hauptgeſetz für Volks - und Vorbildungsanſtalten von 1852. Neue Ordnung der Univerſität von 1856. Genaue Statiſtik aller einzelnen Inſtitute und Anſtalten in der Zeitſchrift für ſchweizeriſche Statiſtik (Bern 1865, Nr. 1) die in drei Sprachen Aufſätze enthält. Teſſin (italieniſch): Die Schulgeſetzgebung datirt eigentlich erſt von 1830 (Hauptgeſetz vom 10. Juni 1831, und allge - meines Schulreglement vom 28. Mai 1832); jedoch die öffentliche Unter - ſtützung der Gemeindeſchulen erſt durch Reglement vom 1. Juni 1835 bewilligt, wenn die Gemeinden ſelbſt das Ihrige thun. Neben den Volksſchulen fünf Gymnaſien und ein Lyceum (Reglement vom 5. No - vember 1855, als Stellvertreter der Univerſität). Zeitſchrift Nr. 3. Genf: Grundgeſetz das Geſetz sur l’instruction publique von 1848. Hier herrſcht das franzöſiſche Muſter, jedoch mit dem weſentlichen, dem deutſchen Bildungsweſen entnommenen Unterſchiede, daß das Bifurcations - ſyſtem nicht in den Gymnaſien gilt (ſ. unter Frankreich, volkswirthſchaft - liche Vorbildung), ſondern die Instruction classique im Collège (Unter - gymnaſium) und Gymnase von der Ecole industrielle getrennt iſt; da - gegen iſt es in der Académie (Stellvertreterin der Univerſität) mit dem ganzen verwirrten Apparat der bacheliers ès sciences physiques, bacheliers ès sc. mathématiques und bacheliers ès lettres wieder auf - genommen (Zeitſchrift Nr. 3). In Zürich iſt das Hauptgeſetz das neue Unterrichtsgeſetz vom 23. December 1859, mit Schulpflicht der Kinder vom ſechsten Jahre für die Volksſchule, Errichtung von Ergänzungsſchulen, Unterordnung der Schulen unter die Gemeindeverwaltung, jedoch unter Oberaufſicht des Regierungsrathes. Thurgau: Geſetz über das Unter - richtsweſen vom 5. April 1853, mit ausgeſprochener Schulpflicht bis zum 15. Jahre. Die Statiſtik der übrigen Kantone jedoch leider ohne Angabe der Geſetzgebung (in Zeitſchrift Nr. 10 12). Der reiche Stoff, der hier zuſammengeſtellt iſt, wird übrigens dann leicht zu bewältigen ſein, wenn man die Einzelheiten auf die unten aufgeſtellten Kategorien reducirt. Im Allgemeinen übrigens dürfte kein Zweifel ſein, daß der Charakter des ganzen ſchweizeriſchen Bildungsweſens weſentlich deutſch iſt, und daß derſelbe mit wenigen Ausnahmen ſelbſt unter den franzöſiſchen Formen62 immer mehr durchgreift. Statiſtiſche Nachrichten übrigens auch in Stein, Handbuch der Geographie und die Schweiz von Brachelli.

Schwedens Bildungsweſen. Auch das Bildungsweſen in Schweden liefert wie das der Schweiz einen Beweis dafür, daß während das gelehrte Bildungsweſen auf den hiſtoriſchen Grundlagen des Rechts der Univerſitäten und Gymnaſien nach dem europäiſchen Rechte der erſteren und nach den deutſchen Vorbildern für die letzteren ziemlich feſt geordnet iſt, das Volksſchulweſen und die wiſſenſchaftliche Bildung den eigentlichen Gegenſtand der Geſetzgebung in unſerer Zeit bilden, jenes, indem es eine Organiſation empfängt, dieſes, indem es neu eingeführt wird. Die zwei Univerſitäten in Upſala und Lund haben jedoch auch eine neue Organiſation vom 2. April 1852 erhalten. Die Volksbildung zunächſt beruht auf dem Unterſchied der niederen und der höheren Elementarſchulen. Das Hauptgeſetz iſt das Unterrichtsgeſetz vom 29. Januar 1859, das ſich über den niederen und den höheren Unterricht zugleich verbreitet. Die Oberaufſicht hat, nach den ſtrengen Anſichten, die in Schweden gelten, der Biſchof (als Ephorus), der ſeine Aufgabe durch einen von ihm eingeſetzten Inſpektor vollziehen laſſen kann. Seit der Verordnung vom 15. Juni 1861 ſind jedoch königliche Inſpektoren angeſtellt (Inſtruktion vom 30. December 1863) mit der Verpflichtung, perſönlich die Schulen, ihre Intereſſen und Bildungs - thätigkeit zu überwachen, und Berichte an das Ekkleſiaſtik-Departement abzuſtatten. Die Verwaltung der Lehrangelegenheiten hat der Rektor, in Verbindung mit dem Lehrercollegium; die Profeſſoren heißen Lektoren. Der niedere Elementarunterricht war bereits im Weſentlichen geordnet durch einen Schulrath, beſtehend aus dem Ortspfarrer und mehreren Gemeindemitgliedern. Die Schulpflicht der Kinder iſt ausdrücklich anerkannt. Die Gemeinde gibt das Schulhaus und die Lehrmittel, die Regierung gibt den Gehalt; doch können die niederſten Elementarſchulen (Sma Skolar) frei von Theilnehmern errichtet werden. (Verordnung vom 23. April 1858.) Für die Errichtung von höheren Elementar - ſchulen werden Staatsunterſtützungen bewilligt. Die Schullehrerſemi - narien, bereits 1842 geordnet, haben weitere Entwicklung gefunden durch Verordnung vom 29. September 1853, welche das Princip der Seminariſtenprüfungen einführt und die letzteren fordert. Eben ſo iſt für Lehrerinnen ein eigenes Seminar in Stockholm errichtet, ſo wie ein gymnaſtiſches Centralinſtitut. Die höheren Elementarſchulen ſind im Grunde Realſchulen, neben denen die Gymnaſien (zuerſt unter Guſtav Adolf errichtet) als Vorbildung für die Univerſitäten beſtehen. Die - ſelben haben 7 Klaſſen; nebenbei wird in Muſik, Technik und Gymnaſtik Unterricht ertheilt. An Akademien und wiſſenſchaftlichen Geſellſchaften63 iſt Schweden reich genug; auch iſt die Kunſtbildung bei ihm gut ver - treten. Die Fachliteratur iſt, ſo weit wir ſehen, nicht ſehr ausgiebig. Die Darſtellung von E. Fahräus, Administratif och Statistisk Hand - bock (1864), gibt eine gute Ueberſicht über die ſtatiſtiſchen Verhältniſſe.

Rußlands Bildungsweſen. Ueber das, bisher ſo gut als unbekannte Bildungsweſen Rußlands liegen jetzt zwei Arbeiten vor, welche in hohem Grade bedeutend genannt werden müſſen. Die eine: Zur Geſchichte und Statiſtik der Gelehrten - und Schulanſtalten des k. ruſſ. Miniſteriums der Volksaufklärung, die zweite: Beiträge zur Geſchichte und Statiſtik der Gelehrten - und Schulanſtalten des k. ruſſ. Miniſteriums der Volksaufklärung. Nach officiellen Quellen bearbeitet von C. Woldemar, beide von 1865. Es iſt das Verhältniß dieſer beiden gleichzeitigen Publikationen zu einander nicht ganz klar; im Allgemeinen mag bemerkt werden, daß die erſtere mehr einen ſtatiſtiſchen, die zweite mehr einen hiſtoriſchen Charakter hat. Es iſt wohl ſehr ſchwer, ſich ein durchgreifendes Geſammtbild von den hier trefflich geordneten und ſehr reichlich mit Material ausgeſtatteten Mittheilungen zu entwerfen. Im Großen und Ganzen iſt der Elementarunterricht noch weit zurück, wie Woldemar ſelbſt geſteht (1 Schule auf 1500, 1 Schüler auf 70 Ein - wohner). Das Elementarſchulweſen ſelbſt beſteht theils aus Parochial - ſchulen mit 1 und 2 Klaſſen, im Ganzen 1846 Schulen des Miniſteriums oder Kronſchulen, theils aus geiſtlichen Schulen. Für das ganze Volks - ſchulweſen iſt jedoch unter dem 14. Juli 1864 ein neues Statut erlaſſen, nach welchem die Verwaltung und Leitung dieſer Schulen den Kreis - und Gouvernementsſchulen untergeordnet werden ſoll (Woldemar S. 51). Die Gymnaſialbildung iſt bedeutend vorgeſchritten; Privatlehranſtalten auf gleicher Stufe ſcheinen nur in Petersburg und Moskau zu beſtehen. Unklar iſt das Verhältniß der Kreisſchulen; übrigens ſollen dieſelben demnächſt entweder zu Gymnaſien oder zu höheren Volksſchulen werden (Woldemar S. 50). Für die Fachbildung iſt überhaupt das charakteriſtiſche Merkmal der Mangel jeder eigenen wirthſchaftlichen Bildungsanſtalt; das Syſtem der Realſchulen einerſeits, und das Syſtem der wirthſchaft - lichen Fachbildungsanſtalten ſcheint nach dieſen Angaben gänzlich zu fehlen. Eben ſo ſind die Specialbildungsanſtalten bei den Univerſitäten nicht vorhanden oder mehr nur angedeutet. Der Geiſt übrigens, der in neuerer Zeit dieſe Bewegung im Unterrichtsweſen belebt, ſcheint wenigſtens nach der Intention der Regierung ein ſehr verſtändiger und freiſinniger zu ſein. Mit welchem Ernſt die Sache, ſpeciell in Beziehung auf das Volks - bildungsweſen, betrachtet wird, davon gibt die Darſtellung Wolde - mars wohl ein ſchlagendes Zeugniß. Speciell bedeutſam iſt, was er über das neue Princip des Volksſchulgeſetzes von 1863 ſagt: Die neue64 Schulordnung beſeitigt die Centraliſation der Volksſchulen. In ökono - miſcher Beziehung werden dieſelben von den Stadt - und Landgemeinden, von Privatperſonen und denjenigen Reſſorts verwaltet, auf deren Koſten ſie gegründet ſind; in pädagogiſcher Beziehung ſind ſie den Schulräthen untergeordnet, die durchaus nicht den Charakter bureau - kratiſcher Inſtitutionen haben. In hohem Grade intereſſant iſt, was über die Univerſitäten geſagt wird. Charakteriſtiſch iſt der Mangel der theologiſchen Fakultät (mit Ausnahme von Dorpat) und die Scheidung der philoſophiſchen Fakultät in die hiſtoriſch-philologiſche und phyſiſch-mathe - matiſche. Die Staatswiſſenſchaften erſcheinen in der juriſtiſchen. Für die Technologie beſteht ein (ſtändiſches) Inſtitut in Riga ſeit 1864, nebſt einigen Feldmeſſerinſtituten (Brachelli, Staaten Europas, S. 570). Warum hat Woldemar dieſe Inſtitute weggelaſſen? Eine kurze Mit - theilung über Woldemars Publikation mit guten Bemerkungen von Beer und Hochegger in der Zeitſchrift für die öſterreichiſchen Gymnaſien, Jahrgang 1866, 2. Heft. (Fortſchritte des Schulweſens in Europa).

Serbiens Bildungsweſen. Es möge uns hier geſtattet ſein, zum Schluß dieſer kurzen Charakteriſtiken einen Blick auf das Bildungs - weſen eines jungen Staats zu werfen, der mit großer Energie und anerkennungswerthem Verſtändniß in einer, wir ſagen geradezu bewun - derungswerth kurzen Zeit, bei ſich ein Bildungsweſen entwickelt hat, das, allerdings unter dem Drucke der Verhältniſſe ſchwer arbeitend, dennoch in bedeutſamer Weiſe den Nachbarländern vorangeht. Das Syſtem des ſerbiſchen Bildungsweſens zeichnet ſich nämlich dadurch aus, daß es alle Elemente ſpeciell des deutſchen Bildungsweſens in ſich auf - genommen hat, ſo weit ſeine Verhältniſſe es erlauben. Es beſitzt näm - lich ein ziemlich über das ganze Land ausgebreitetes Syſtem der Volks - (oder Normal) - ſchulen für die männlichen und weiblichen Schüler, das Syſtem der Gymnaſien mit der Unterſcheidung zwiſchen Ober - und Untergymnaſien, die Realſchulen, und ſelbſt Realgymnaſien, dann eine Fachſchule für Theologie, und endlich eine Akademie, welche den Athe - näen entſpricht. Wir glauben dabei nicht auf Einzelnes eingehen zu ſollen, bemerken aber, daß die Regierung in allem Weſentlichen das ſehr gute öſterreichiſche Syſtem für das Recht der Schulen und für den Lehrplan zum Grunde gelegt, und die einzelnen Beſtimmungen deſſelben faſt in allen Hauptſachen durchgeführt hat. Dabei bleiben jedoch einige Punkte theils unklar, theils unfertig, theils noch verſchieden. Die Realgymnaſien (bis jetzt 4) ſind in der That nur dem Namen nach von den Realſchulen verſchieden, und haben die lateiniſche Sprache nicht aufgenommen. Eigentliche Gewerbeſchulen fehlen natürlich in dem noch gewerbloſen Lande. Die Gymnaſien ihrerſeits haben vielmehr den65 Charakter der eigentlichen Realgymnaſien, indem auf ihnen zwar Latei - niſch, aber kein Griechiſch gelehrt wird. Die Hochſchule oder Akademie in Belgrad iſt eine eigenthümliche, durch die Verhältniſſe bedingte Verſchmelzung der höchſten wiſſenſchaftlichen mit der wirthſchaftlichen Bildung, die jedoch noch nicht Umfang und Recht einer Univerſität hat. Sie enthält bis jetzt drei Fakultäten, die philoſophiſche (ohne Vor - leſungen über Philoſophie, dagegen mit allen Fächern der Staats - wiſſenſchaft, und wieder ohne Griechiſch); die techniſche, die Gegenſtände der allgemeinen Technologie ohne Zeichnen enthaltend, jedoch mit der ganz verſtändigen Verpflichtung der Techniker, die Staatswiſſen - ſchaften zu hören, und die juridiſche. Für die Medicin ſind die Serben noch auf fremde Univerſitäten angewieſen. Höchſt merkwürdig iſt unmittel - bar an der türkiſchen Gränze die Errichtung einer höheren Mädchenſchule, namentlich für Erzieherinnen, die ganz rationell organiſirt iſt. Für alle dieſe Fächer gilt der Grundſatz, daß die Regierung dieſelben noch erweitern kann. Die ſtudirende Jugend arbeitet mit großem und patrio - tiſchem Eifer. Im Jahre 1866 hatte die philoſophiſche Fakultät 21, die techniſche 15, die juridiſche 162 Studirende; die Theologie hatte 188 Studirende. In allen Gymnaſien waren 1828 Schüler, in den männlichen Normalſchulen 17,407, in den weiblichen 2400, in der weib - lichen höheren Schule 134 Schüler und Schülerinnen. Die Lehrkörper haben die innere Selbſtverwaltung, doch ſind die Lehrer ſelbſt noch reine Staatsbeamte. Dieſe Andeutungen werden genügen, um den erſten poſitiven Schritt, den Deutſchland in der Organiſation des ſerbiſchen Bildungsweſens nach dem Orient gethan hat, zu charakteriſiren. (Vergl. die zwar kurze, aber gute Zuſammen - ſtellung der Beſtimmungen über das Unterrichtsweſen in Serbien bei Tkalac, Staatsrecht des Fürſtenthums Serbien, 1838, S. 183 ff.)

Rumänien. Der junge Staat hat mit richtigem Verſtändniß die Herſtellung des öffentlichen Bildungsweſens für eine ſeiner erſten und wichtigſten Aufgaben gehalten, und das betreffende Geſetz vom 25. Nov. 1864 (in 418 Artikeln) erlaſſen. Daſſelbe iſt in der That ſehr weit - läuftig, und beweist vor allem, daß hier für das Bildungsweſen noch alles zu ordnen iſt. Es darf uns nicht wundern, daß allerlei Dinge darin vorkommen, die unverſtändlich bleiben, wie z. B. die Beſtimmung, daß in den unterſten Volksſchulen bereits das Verwaltungsrecht auf - genommen iſt (Art. 32), und daß eine Univerſität entſtehen ſoll, wenn mehrere Fakultäten in einem Gebäude zuſammen lehren. Im Uebrigen iſt es eine an ſich nicht unintereſſante Zuſammenſtellung der Grundſätze über das Bildungsweſen theils auf deutſcher, theils auf franzöſiſcher Grundlage. Ein einheitlicher und beherrſchender Gedanke fehlt, wie esStein, die Verwaltungslehre. V. 566wahrlich bis jetzt auch noch an einer ſelbſtändig wirkenden und mehr als formell daſeienden Behörde fehlt. Die Grundzüge des ganzen Syſtems iſt die Unterſcheidung in den Volks -, den mittelbaren und den höheren Unterricht, die entweder öffentlich oder privatim abgehalten werden können. Der Volksunterricht beruht auf den Elementar - ſchulen in Stadt und Land, mit (beabſichtigten) beſonderen Mädchen - ſchulen; Schulpflicht unter Verantwortlichkeit der Eltern und Vormünder von 8 12 Jahren; Lehrmittel gibt der Staat, Schulhaus und Heizung die Gemeinde; jede Gemeinde hat die Pflicht, wenigſtens eine Schule zu haben; Prüfungen öffentlich und halbjährlich. Der mittlere Unterricht iſt in das Syſtem der Gymnaſien und Lyceen einerſeits und das der Realſchulweſen andererſeits geſchieden. Die Gymnaſien haben 4, die Lyceen 7 Klaſſen, mit Inſpection nach franzöſiſchem Muſter, und Abgangszeugniſſen ( Diplomen ), Semeſtralprüfungen, und ſehr vielen Lehrgegenſtänden; neben den alten Sprachen auch deutſch, italieniſch, franzöſiſch und ſogar Nationalökonomie, ſo daß ſie den Charakter von Vorbildungsanſtalten nur noch in geringem Maße haben und vielfach als Berufsbildungsanſtalten gelten dürfen. Das Realſchulſyſtem iſt daneben nicht recht klar geworden; die Realſchulen erſcheinen vorzugsweiſe als Privatunternehmungen mit ſtaat - licher Unterſtützung. Sie gehen mindeſtens direkt in wirthſchaftliche Be - rufsbildungsanſtalten über als Agrikultur -, Induſtrie - und Handels - ſchulen, ohne beſtimmte Gränze. Für die Lehrerbildung ſind eigene Seminarien errichtet, werden vom Staate unterhalten und haben für die Volksſchullehrer 4, für die Mittelſchulen 7 Klaſſen, mit Abgangs - prüfungen. Die wiſſenſchaftliche Berufsbildung beruht auf den vier Fakultäten, die aber ſelbſtändig ſtehen und Diplome verleihen; neben ihnen iſt die wirthſchaftliche Berufsbildung in den Ingenieur - und Forſtſchulen vertreten. Das Geſetz ordnet dann im II. Abſchnitt die Ver - waltung, an deren Spitze der Unterrichtsminiſter ſteht, dem ein Unter - richtsrath in doppelter Form beigegeben iſt, ein dauernder, und der jährlich nur einmal zuſammentretende General-Unterrichtsrath. Jeder Theil des Unterrichtsweſens hat dann wieder ſeine Specialverwaltung; Grundſatz für die Volksſchule iſt die Verwaltung durch die Gemeinde, unter Aufſicht des Staats, für die Mittelſchule und die Fakultäten die Verwaltung durch den Lehrkörper. Bei allen Mängeln iſt dieß Geſetz im Ganzen als ein höchſt bedeutſamer Fortſchritt zu betrachten, und wenn es nur unter den gegebenen Beſtimmungen auch wirklich ins Leben treten kann, ſo wird es gewiß höchſt heilſam wirken. Aber frei - lich wird eben die Ausführung die wahre Schwierigkeit enthalten.

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Beſonderer Theil. Syſtem.

Die Aufgabe des nunmehr folgenden beſonderen Theiles iſt es nun, den großen Bildungsproceß ſelbſt, der durch das Leben jedes ein - zelnen Volkes hindurch geht, und ſeine im öffentlichen Rechte des Bildungsweſens der einzelnen Staaten gegebene concrete, zur objektiv geltenden Ordnung durch das Geſetz erhobene Geſtalt in ſeine einzelnen Gebiete und Theile aufzulöſen, und das für jeden dieſer Theile Geltende ſelbſtändig darzuſtellen.

Dabei haben wir und jeder, der das Gleiche unternimmt, eine zweifache Aufgabe; und bei dem geradezu unerſchöpflichen Reichthum an Einzelheiten in dieſen Gebieten iſt es unerläßlich, ſich darüber Rechenſchaft abzulegen.

Einerſeits kommt es natürlich zuerſt darauf an, das Beſtehende zu ſammeln. Das iſt bei dem gegenwärtigen Zuſtande der Wiſſenſchaft nur noch bis zu einem gewiſſen, keineswegs hohen Grade möglich. Es iſt außerdem unmöglich, alles Geſammelte mitzutheilen, da eine ſolche Arbeit jeden der Verwaltungslehre entſprechenden Umfang weit über - ſchreiten würde. Für dieſen Theil der Aufgabe muß daher die Ver - waltungslehre theils auf reine Geſetzſammlungen, theils auf Mono - graphien verweiſen. Und es iſt daher in der Natur der Sache begründet, daß die allgemeine Verwaltungslehre hier formell unvollſtändig iſt und bleiben wird.

Andererſeits aber iſt es von nicht geringerer Wichtigkeit, das ganze öffentliche Bildungsrecht als ein organiſches und einheitliches Syſtem zu erkennen und den Inhalt dieſes Syſtems als den äußeren Maß - ſtab an die Ausbildung der geiſtigen Verwaltung in jedem Lande anzulegen. Die Aufſtellung eines ſolchen Syſtems enthält eine große Zumuthung an jeden, der ſich mit dieſer Frage beſchäftigt. Es enthält die Forderung, daſſelbe entweder als die feſte, organiſche Grund - lage, den Knochenbau des Bildungsweſens anzuerkennen, oder ein68 anderes aufzuſtellen. Denn es iſt ganz unmöglich, ohne ein an - erkanntes Syſtem zu einer Vergleichung zu gelangen; das Syſtem ſelbſt iſt eben dasjenige, worin das Verſchiedene ſeinen gemeinſamen und gleichartigen Ausdruck findet, und das Aufſtellen des letzteren iſt ja eben die Vergleichung. Dagegen beſteht auch der Werth eines Syſtems nicht eben bloß in der in ihm liegenden formellen Möglichkeit, den ſonſt unüberſehbaren Stoff zu bewältigen, ſondern es enthält zugleich die Grundlage des objektiven Urtheils über die Dinge, die man mit ihm meſſen muß. Und ſo ſtehen wir nicht an, hier das Syſtem an ſich der ſyſtematiſchen Darſtellung vorauszuſenden.

Die allgemeine Grundlage dieſes Syſtems iſt nun zunächſt aller - dings der Unterſchied zwiſchen der Elementar -, der Berufs - und der allgemeinen Bildung, wie wir denſelben bereits bezeichnet haben. Allein dieſe Grundlage entwickelt ſich nun zu einem viel verzweigten Organis - mus, und zwar vermöge des in dem Weſen aller Bildung liegenden Satzes, daß am Ende jeder Theil der Bildung wieder Vorausſetzung und zugleich Conſequenz aller andern Theile iſt. Es iſt nun für die formale Auffaſſung von entſchiedener Wichtigkeit, ſich hier über die - jenigen Ausdrücke zu einigen, welche eben dieß Verhältniß theils im gewöhnlichen Leben, theils in der Wiſſenſchaft bezeichnen. Dieſe Aus - drücke ſind nun je nach dem Hauptgebiete des Bildungsweſens ver - ſchieden. Wir nennen nämlich denjenigen Theil der Bildung, der äußerlich für ſich ein abgeſchloſſenes Ganze bildet, aber ſich ſelbſt als ein innerlich abgeſchloſſenes nicht anerkennt, die niedere, und den Theil, der dieſen Abſchluß bringt, die höhere Bildung. Wo dagegen eine Bildung ihren Werth ſelbſt nur in der Vorbereitung für eine andere Stufe ſucht, ſprechen wir von einer Vorbildung, während die Stufe der fertigen Bildung die Fachbildung iſt. Daher ſprechen wir von einer niederen und höheren Elementarbildung, oder von einer Vorbildung und Fachbildung im Berufsbildungsweſen, während bei der allgemeinen Bildung, die an ſich naturgemäß und ungemeſſen dem Ein - zelnen überlaſſen bleibt, von dieſer Unterſcheidung keine Rede iſt. Dem - gemäß zerfällt zunächſt die Hauptabtheilung der Elementar - und Be - rufsbildung je in zwei Abtheilungen.

Dazu kommt nun als zweites ſyſtematiſches Element die große, unſerem Jahrhundert eigene Thatſache, daß ſich die Berufsbildung ſelbſt wieder in drei Haupttheile getheilt hat, die wir unten näher zu bezeichnen haben, die gelehrte, die wirthſchaftliche und die künſt - leriſche Berufsbildung. Jedes dieſer Gebiete hat ſeine eigene Ge - ſchichte, ſeine eigenen Anſtalten, ſein eigenes Recht, ſeine eigene Ent - wicklung in jedem Lande, und hier iſt zugleich die Verſchiedenheit bei69 weitem am größten. Für jeden dieſer drei Theile gilt aber ferner der Satz, daß derſelbe ſich in ein Syſtem der Vorbildung und der Fach - bildung ſcheidet; nur ſind beide allerdings in jedem Theile nicht bloß dem Namen, ſondern auch dem Inhalte nach weſentlich anders. Das Auftreten dieſer Elemente erzeugt daher eine weitere, zweite Entwick - lung des formalen Syſtems, und in dieſem Theile iſt es unabweisbar, für beſtimmte Richtungen und Anſtalten beſtimmte Namen zu acceptiren, weil es ſonſt durchaus unmöglich bleibt, zu einem klaren, das Ganze umfaſſenden Ueberblick zu gelangen, da hier die Gränzen ſchon an ſich oft nur ſehr unſicher in der Wirklichkeit gezeichnet ſind.

Das dritte und ſchwierigſte Element der ſyſtematiſchen Auffaſſung liegt nun aber wieder in dem höchſten Weſen aller Bildung, nach welchem alle Formen und Stadien derſelben wieder eins ſind. Dieſe innere geiſtige Einheit empfängt ihren Ausdruck in dem, was wir die Uebergänge von einem beſtimmten Zweige der Bildung zu einem andern nennen. Dieſe Uebergänge nämlich erſcheinen in doppelter Weiſe. Entweder liegen ſie ſchon in der bildenden Thätigkeit einer beſtimmten Anſtalt ſelbſt, oder ſie ſind in ſelbſtändigen, eigends die Funktion des Ueberganges enthaltenden Anſtalten gegeben. Sie ſind von der höchſten Wichtigkeit, weil ſie die Träger der lebendigen und freien Be - wegung bedeuten und ſind; aber wie alle Uebergänge bedrohen ſie die formale Auffaſſung mit Verwirrung; jedoch nur ſo lange, als man ihre Natur nicht kennt. Wir dürfen ſie daher jetzt unbedenklich zulaſſen.

Auf dieſer Grundlage nun wird es leicht ſein, das formale Schema des beſonderen Theiles den einzelnen poſitiven Ausführungen vorauf - zuſenden. Die Ausfüllung der betreffenden Kategorien mit den ge - gebenen Syſtemen der öffentlichen Bildungsanſtalten eines einzelnen Landes würden dann die ſtatiſtiſche Geſtalt, die Ausfüllung mit den bezüglichen Geſetzen das öffentliche Recht des Bildungsweſens geben. Eine ſolche tabellariſche Schematiſirung hat das Recht, entweder als Beginn oder als letzte Formulirung des Studiums zu gelten. Es kann dieſelbe nie genügen, aber es ſollte auch niemals fehlen. Wir ſtellen es daher dem poſitiven Recht und ſeiner Darſtellung unbedenklich vor - auf nicht als Wiſſenſchaft, ſondern als reine Form derſelben, die nicht mehr ſein will als ſie ſein darf.

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Bildungsweſen.

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Erſter Theil. Das Volksſchulweſen.

Allgemeiner Theil.

I. Der Elementarunterricht an ſich.

Obwohl allerdings die Verwaltungslehre Begriff und Weſen des Elementarunterrichts als bekannt vorauszuſetzen hat, ſo muß derſelbe hier dennoch in ſo weit feſtgeſtellt werden, als er ſeinerſeits dem öffent - lichen Rechte zum Grunde liegt.

Der Elementarunterricht enthält nämlich ſeinem formellen Begriffe nach diejenigen Kenntniſſe, welche zwar an und für ſich ohne In - halt und Werth, dennoch die Bedingungen für die Erwer - bung aller Bildung, ihres Werthes und ihres Inhalts ſind.

Allerdings kann man nun auf Grundlage dieſes Begriffes den - ſelben für ſich betrachten. Allein ſeinem Weſen nach iſt er doch kein abgeſchiedenes, äußerlich im geſammten Bildungsweſen getrenntes Ganze. Er iſt vielmehr in Wahrheit ein Theil des großen organiſchen Pro - ceſſes, den wir das Bildungsweſen des Volkes nennen. Seine wahre höhere Bedeutung liegt nicht in dem was er iſt, ſondern in dem was er mög - lich macht. Sein volles und richtiges Verſtändniß wird daher eben nur in dieſem ſeinem Verhältniß zum Ganzen der geiſtigen Entwicklung gefunden. Und das muß hervorgehoben werden, weil es in ganz ent - ſchiedener Weiſe auf das öffentliche Recht derſelben einwirkt.

Jenes organiſche Verhältniß des Elementarunterrichts zum ge - ſammten Bildungsweſen erzeugt nämlich die beiden Momente, welche ihrerſeits einer höhern Auffaſſung deſſelben ihren Inhalt geben: die Frage nach ſeiner formellen Begränzung und die nach ſeinem ſocialen Inhalt. Zuerſt nämlich folgt aus demſelben, daß es nicht möglich iſt, für den Elementarunterricht an ſich eine feſte äußerliche Gränze zu ſetzen. 72Es iſt daher nicht möglich, theoretiſch dasjenige auszuſcheiden, was man als ſpecifiſchen Elementarunterricht zu betrachten hat. Es er - gibt ſich vielmehr, daß dieſe Gränze mit dem Stande des geſammten Bildungsweſens nothwendig wechſeln muß, und zwar ſo, daß, je ſtrenger die Unterſchiede in den ſocialen Bildungsverhältniſſen ſind, deſto ſchärfer auch die Gränze des Elementarunterrichts gezogen wird, während umgekehrt, je freier das geiſtige Leben eines Volkes iſt, um ſo mehr Gegenſtände und Aufgaben auch in den Elementarunterricht hineingezogen werden. Man muß daher ſagen, daß zwar die Unter - richtslehre (Pädagogik) ſtets von der geiſtigen Natur der Kinder ab - hängt, daß aber die Unterrichtsgegenſtände vielmehr von den Fak - toren bedingt werden, welche überhaupt den Gang des Bildungsweſens beherrſchen. Erſt in dieſem Sinne ſprechen wir von einer Geſchichte des Elementarunterrichts. Dieſelbe beſteht in der Entwicklung ſeines Umfanges und Inhaltes als Grundlage der allgemeinen Bildung, welche ihrerſeits gefordert und geſetzt werden durch die Entwicklung der geſell - ſchaftlichen Ordnungen, und von welcher die Geſchichte der Lehrmethode ganz unabhängig iſt.

Es folgt daraus von ſelbſt, daß der Elementaruntericht nicht bloß ein geiſtiger, ſondern zugleich ein gewaltiger ſocialer Faktor iſt.

Da nämlich die elementaren Kenntniſſe an und für ſich keinen Werth haben, ſondern dieſen erſt in ihrer Verwendung für den Erwerb der geiſtigen und wirthſchaftlichen Güter überhaupt empfangen, dieſe aber ihrerſeits die Erfüllung und höchſte Verwirklichung der Idee der Perſönlichkeit bilden, ſo empfängt damit der Erwerb dieſer elementaren Bildung den Sinn und die praktiſche Bedeutung, daß der, der ſie er - wirbt, vermöge derſelben alle geiſtigen und wirthſchaftlichen Güter nach ſeiner Individualität zu gewinnen berufen und berechtigt wird. In der That findet bei der reinen elementaren Bildung aller Zeiten und Völker dieſelbe auch nie einfach um ihrer ſelbſt willen, ſondern naturgemäß ſtets als Mittel und unabweisbare Bedingung für den Erwerb der höhern Güter ſtatt. Es iſt unmöglich, bei ihnen ein - fach ſtehen zu bleiben.

Indem nun aber dieſe geiſtigen Güter ihrem Weſen nach für alle gemeinſam und gleich ſind, ſo iſt der Elementarunterricht zugleich das, in Geſtalt des Erwerbes dieſer Güter ausgedrückte Princip der gleichen Beſtimmung aller Perſönlichkeit, und damit des Rechts derſelben. Inhalt, Umfang, Allgemeinheit und Freiheit des Elementarunterrichts bedeuten daher in ihrem Kreiſe die Kraft und die Richtung der ganzen ſocialen Bewegung einer Epoche, und zwar in der Weiſe, daß die Ent - ſtehung und Ausdehnung deſſelben ſo wie ſeine organiſche Verbindung73 mit dem allgemeinen Bildungsweſen den großen Proceß der Hebung der niedern Klaſſen überhaupt, ſpeziell aber den der Erhebung derſelben zu dem geiſtigen Leben der höhern bedeuten. Es iſt daher ohne eine wohl organiſirte Elementarbildung gar kein wahrer ſocialer Fortſchritt möglich; wo derſelbe dagegen fehlt, fehlt das große ver - mittelnde geiſtige Glied für den Uebergang von einer Klaſſe zur andern, mit ihm das Element der Ausgleichung der Klaſſengegenſätze, und der ſociale Kampf wird daher ein roher und gewaltſamer, der die Vernich - tung der Wohlfahrt zum Inhalt und die Deſpotie zur Folge hat. Nur der tüchtige und allgemeine Elementarunterricht kann das ändern, faſt mehr noch durch ſein Princip als durch ſeinen Inhalt. Wo eine gute und fortſchreitende Elementarbildung vorhanden iſt, da iſt einerſeits zwar der ſociale Fortſchritt der niedern Klaſſe ein unaufhaltſamer, aber da wird mit der ſteigenden Bildung auch die gewaltſame Revo - lution mehr und mehr unmöglich. Der innere und lebendige Zuſammen - hang des geiſtigen und wirthſchaftlichen Lebens mit dem geſellſchaftlichen iſt ein ſo unzweifelhafter, daß dieſe Sätze keines Beweiſes bedürfen, ja daß die gegenſeitige Einwirkung und der ſociale Proceß nicht einmal eines Bewußtſeins von Seiten des Unterrichts bedarf; er vollzieht ſich von ſelbſt. Aber die Verwaltungslehre muß ihn kennen, weil auf ihm das öffentliche Recht des Elementarunterrichts überhaupt beruht.

II. Das Volksſchulweſen. Die Principien ſeines Rechts und ſeiner Ver - waltung.

Aus dem Elementarunterricht, welcher der Pädagogik gehört, ent - ſteht nun das Volksſchulweſen, indem der Elementarunterricht Gegenſtand der Verwaltung und des öffentlichen Rechts wird. Das Volksſchulweſen iſt daher der durch die Verwaltung principiell als nothwendig anerkannte und durch die Anſtalten der Verwaltung (im weiteſten Sinn) öffentlich dargebotene Elementarunterricht.

Die Lehre vom Volksſchulweſen iſt daher eine ganz andere als die Lehre vom Elementarunterricht, ſowohl in ihrem Inhalt als in ihrer Geſchichte, obwohl die erſtere natürlich die letztere zu Vorausſetzung hat. Während die letztere mit dem Weſen der Bildung an ſich zu thun hat, hat die erſtere es mit dem Staate zu thun; während die letztere ihre Grundlagen aus der Pſychologie und Pädagogik nimmt, muß die erſtere ſie aus der Verwaltung nehmen. Alles richtige Verſtändniß wird daher gefährdet, ſo wie man beide Standpunkte, Begriffe und Aufgaben vermengt.

Die Elemente des Volksſchulweſens in dieſer Scheidung vom Elemen - tarunterricht ſind nun folgende:

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I. Allerdings findet aller Elementarunterricht urſprünglich und immer zunächſt in der Familie ſtatt. Allein hier erſcheint er ſtets als als das untergeordnete und zufällige Moment neben demjenigen, was die Familie als ſolche vorzugsweiſe zu leiſten fähig und berufen iſt. Dieß iſt die Bildung des Charakters und die Einfügung deſſelben in die allgemeine Sitte, die geiſtige und geſellſchaftliche Ordnung. Dieſe Bildung nennen wir die Erziehung. Sie hat ihre Grundſätze und Regeln für ſich und bildet kein Gebiet der unmittelbaren Thätigkeit der Verwaltung. Allein in der Erziehung bleibt der Unterricht zufällig in Vorhandenſein und Umfang, willkürlich in ſeiner Geſtalt, abhängig von allen Verhältniſſen der Familie, namentlich aber von den Beſitzesverhält - niſſen derſelben. Der Elementarunterricht wird daher, ſo lange er auf die Familie angewieſen iſt, durchſchnittlich ein ſehr ungleichartiger, und bei der ganzen Klaſſe der Nichtbeſitzenden meiſt ganz hinfälliger. Mit ihm wird die allgemeine Bildung und der in ihr enthaltene Fortſchritt ſelbſt zufällig, unorganiſch und für die ganze Klaſſe der Nichtbeſitzenden faſt geradezu unmöglich. Von dieſer Thatſache hat das Volksſchulweſen zunächſt im Allgemeinen auszugehen.

Wenn es nämlich trotzdem feſtſteht, daß die Elementarbildung die erſte Bedingung, und ihre formelle Allgemeinheit und Gleichheit die formelle Vorausſetzung aller gleichen und gemeinſamen Entwicklung des Geſammtlebens bleibt, ſo tritt die entſcheidende Frage auf, wie ſich die Verwaltung des Staats als Vertreter der höchſten Geſammtintereſſen zu dieſer abſoluten Vorausſetzung alles höheren geiſtigen Lebens ihrer - ſeits erhalten ſoll.

Die Antwort darauf liegt principiell im höchſten Begriffe der Ver - waltung ſelbſt.

Iſt es nämlich wahr, daß die Verwaltung ihrem Princip nach über - haupt dieſe abſoluten Bedingungen des allgemeinen Fortſchrittes her - ſtellen muß, ſo muß ſie auch dieſe Elementarbildung als eine ihrer Aufgaben anſehen. Sie kann dieſelben daher weder von der zufälligen Auffaſſung in der einzelnen Familie, noch von den Beſitzverhältniſſen derſelben ganz abhängig laſſen; der Elementarunterricht iſt vielmehr, da er die Bildung des Kindes enthält, eine dem Einzelnen nicht mehr ganz zu überlaſſende Bedingung ſeiner Entwicklung, und die Ver - waltung muß demnach hier wie immer dieſe Bedingung herſtellen, ſo weit ſie vom Einzelnen nicht ertheilt werden kann. Daraus ergibt ſich das allgemeine leitende Princip alles Volksſchulweſens, das iſt alſo die Elementarbildung als Gegenſtand der Verwaltung. Die Verwaltung muß dieſelbe von den Zufälligkeiten des Familienlebens unabhängig machen und ſie ſelbſtändig neben die Erziehung hinſtellen; zweitens75 muß ſie für dieſelbe mit Anſtalten ſorgen, welche für jeden die Möglich - keit bieten, ſie auch unabhängig von den Familienverhältniſſen zu ge - nießen. Dieſe Anſtalten der Verwaltung für den von der Erziehung getrennten Elementarunterricht ſind die Volksſchulen, und die Ge - ſammtheit der auf dieſelben bezüglichen Vorſchriften und Thätigkeiten bilden das Volksſchulweſen.

Das Volksſchulweſen iſt demnach, als das öffentliche Recht des Elementarunterrichts, ein organiſcher ſelbſtändiger Theil der Verwaltung. Sie iſt keine Pädagogik, ſondern enthält nur die An - wendung der Grundſätze der letztern, ſo weit die Verwaltung den Elementarunterricht ſelbſt herſtellt. Die Gränzen und Formen nun, innerhalb deren dieß letztere geſchieht, bilden ihrerſeits dem Inhalt dieſes öffentlichen Rechts oder der Verwaltung des Volksſchulweſens.

II. Der Elemente dieſes öffentlichen Rechts aber liegen allerdings in dem Weſen des Elementarunterrichts.

Der Elementarunterricht erſcheint zunächſt als die Grundlage des geſammten geiſtigen Lebensproceſſes des Volkes. Die Nothwendigkeit des letztern erzeugt ſomit den Grundſatz für die Verwaltung, den Elemen - tarunterricht ſelbſt zu einer Pflicht für den Einzelnen zu machen. So entſteht der Begriff und das Recht der Schulpflicht im allgemeinen Sinne des Wortes, welche neben der Pflicht der Einzelnen die Schule für den Elementarunterricht zu beſuchen, zugleich die Pflicht für die Verwaltung enthält, dieſe Schule mit ihren Bedingungen auch herzuſtellen.

Dieſelbe Wichtigkeit des Elementarunterrichts aber erzeugt nun mit der allgemeinen Geſittung zugleich das Bedürfniß nach demſelben bei dem Ein - zelnen, und damit ein von Einzelnen ſowie von den Selbſtverwaltungs - körpern ausgehendes privates Elementarunterrichtsweſen. So weit ein ſolches auf eigenen Mitteln beruht, tritt für daſſelbe der allgemeine Grund - ſatz aller Funktionen der Einzelnen ein, welche eine öffentlich rechtliche Aufgabe erfüllen. Das Recht der Verwaltung erſcheint hier als Ober - aufſicht über jede private Elementarunterrichtsanſtalt und fällt damit unter die Thätigkeit des öffentlichen Volksſchulweſens. Wo aber die Ver - waltung aus was immer für Gründen ſolche Anſtalten zum Theil aus öffentlichen Mitteln unterſtützen muß, da erweitert ſich dieß Recht der Ober - aufſicht zur Theilnahme an der Verwaltung einer ſolchen Anſtalt, natur - gemäß in dem Maße, in welchem die Unterſtützung ſelbſt eine größere iſt.

Auf dieſe Weiſe erſcheint das öffentliche Recht der Elementarbildung in den drei Grundformen der Schulpflicht mit der ganzen dazu gehörigen Verwaltung für die eigentlich öffentliche Volksſchule, der Oberaufſicht für die Privat-Elementarſchule und der Theilnahme an dem Schulweſen der Selbſtverwaltungskörper und Vereine.

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III. Der Inhalt dieſes öffentlichen Rechts bezeichnet nun das - jenige, was die Verwaltung in Beziehung auf den Elementarunterricht in jenen drei Formen zu thun hat. Dieß nun beſtimmt ſich aus dem Verhältniß der Elementarbildung zu der eigentlichen allgemeinſten Auf - gabe der Verwaltung, der Entwicklung des Geſammtlebens der geiſtigen Welt.

In der That wird der Elementarunterricht erſt dann ſeiner Idee entſprechen, wenn er ſeinen pädagogiſchen Grundgedanken nach nicht als etwas für ſich beſtehendes, ſondern als ein organiſcher Theil des großen Bildungsproceſſes erſcheint, der durch den Erwerb der geiſtigen Güter die Geſammtheit erheben und veredeln, namentlich aber die niedere Klaſſe zur höhern Bildung fähig machen ſoll. Wir haben dieß Ver - hältniß als das ſociale Element des Elementarunterrichts bezeichnet. Die Aufgabe des öffentlichen Rechts liegt für den Staat demnach darin, jenes ethiſch-ſociale Princip der Elementarbildung recht - lich zum Ausdruck zu bringen, das iſt, dem Elementarunterricht einen ſolchen Inhalt zu geben, daß er formell und materiell den orga - ganiſchen Zuſammenhang mit der höhern Bildung, als Vorberei - tung für dieſelbe, enthalte. In dieſem Sinn wird es das leitende Rechtsprincip für die Verwaltung des Volksſchulweſens ſein, durch ihre Beſtimmungen und Thätigkeiten im Unterrichte ſelbſt die Gewähr dafür hinzuſtellen, daß der Elementarunterricht im Geiſte der ſocialen Ent - wicklung kein abgeſchloſſenes Ganze, ſondern ein Syſtem ſei, deſſen Schlußpunkt als Uebergang zu den höheren Bildungsſtufen erſcheine. Das formelle Mittel dafür iſt, daß derſelbe in verſchiedenen Klaſſen vor ſich gehe. Die Klaſſe iſt nicht bloß eine formelle Abtheilung des Unterrichts, ſondern ſie iſt vielmehr der objektive Ausdruck des orga - niſchen Zuſammenhangs der Elementarbildung mit der höheren Bil - dung überhaupt, die Erklärung, daß der Elementarunterricht an und für ſich die Aufgabe habe, nur als Stufe, Vorbereitung und Einlei - tung zu jeder Bildung zu erſcheinen. Das Klaſſenſyſtem der Elementarbildung erſcheint daher als die allgemeine Bedingung der richtigen höheren Funktion der letzteren, und ſeine Aufſtellung in höher gebildeten Völkern als ein Princip des Volksſchulweſens; es iſt in der That das eigentlich ſociale Princip des Elementarunterrichts und die Anerkennung deſſelben erſcheint damit als der Punkt des öffent - lichen Rechts des letztern oder als dasjenige Princip des Volksſchul - weſens, in welchem die höhere Idee der geſellſchaftlichen Entwicklung in der geiſtigen Verwaltung ihren erſten und vielleicht wichtigſten Aus - druck findet.

Der zweite große Grundſatz des Elementarſchulweſens iſt nun77 der, nicht bloß mehr im Allgemeinen das weibliche Geſchlecht neben männlichen an demſelben Theil nehmen zu laſſen, ſondern ſo viel als möglich dieſelben nach der Eigenthümlichkeit und der künftigen Beſtim - mung derſelben in ſelbſtändigen Anſtalten neben der männlichen Schule hinzuſtellen. Es iſt das ein großer Fortſchritt; aber wir müſſen ge - ſtehen, daß dieß alles nur noch im Anfange iſt, und daß das eigent - liche weibliche Element der Erziehung und Bildung noch ſtark unter dem Gedanken leidet, daß die möglichſte Gleichartigkeit das wahre Ziel dieſer Beſtrebungen ſein müſſe. Wir glauben, daß die hier einſchlagenden Fragen den Fachmännern überwieſen werden ſollen; ſo viel ſcheint un - zweifelhaft, daß wir die folgenden Sätze ohne weitere Bezeichnung zu - gleich als für die weibliche Erziehung und Bildung annehmen dürfen, bis es der nächſten Zukunft klar werden wird, daß es eine Lehre und damit auch eine Bildung der Hausfrauen gibt, die dereinſt ihre eigen - thümlichen Forderungen auch an die Verwaltung zu ſtellen wiſſen wird.

Das Mittel nun, vermöge deren die Verwaltung dieſe Aufgaben vollzieht, ſind einerſeits die Organiſirung der Lehrerbildung, anderer - ſeits die Beſtimmung der Lehrordnung. Das ſind die beiden großen Gebiete, in denen der wahre Kern des Verhältniſſes der Verwaltung zum Unterrichtsweſen liegt. Ob mit oder ohne Bewußtſein über ihre ſociale Bedeutung öffentlich rechtlich geordnet, immer ſind es, an denen man den eigentlichen Geiſt des öffentlichen Unterrichtsweſens verſtehen lernt. Hier iſt die Form untergeordnet, denn der Gedanke ſchafft ſich dieſelbe von ſelbſt; aber es iſt gänzlich einſeitig, in beiden nur päda - gogiſche oder gar nur didaktiſche Elemente zu ſehen. Erſt in ihrer organiſchen Beziehung zum geſammten Bildungsleben empfangen ſie ihre wahre Bedeutung.

IV. An dieſem Standpunkt nun ſchließt ſich in einfacher Weiſe das letzte große Element des Volksſchulweſens, die formelle Aufnahme deſſelben in das Syſtem der Verwaltung und ihrer Organiſation. So wie aus der Elementarbildung das Volksſchulweſen wird, ſo muß daſſelbe das ganze Volk umfaſſen; es muß auf allen Punkten für alle Klaſſen und Orte weſentlich gleich ſein; es muß allenthalben, ſei es als Staats - oder Privatſchule, dieſelben Grundſätze für Lehrer und Lehre zum Inhalt haben; die Verwaltung muß daher ihre große Funktion als Ganzes in Ausübung bringen; ſie muß das Volksſchulweſen als dauernden und gleichmäßigen Theil ihre Aufgabe aufnehmen und zu - gleich mit dem geſammten übrigen Bildungsweſen in innigſte organiſche Verbindung bringen. Dieſe Einheit deſſelben mit der geſammten geiſtigen Welt erſcheint nun in der Verwaltung durch die Aufnahme in das Unterrichtsminiſterium, und es iſt klar, daß das letztere78 daher nicht bloß ein formaler Verwaltungsorganismus iſt, ſondern als ein großes adminiſtratives und ſociales Princip erſcheint, entſtanden aus der Gewalt der oben dargelegten Grundſätze, und ſie wiederum mit der ganzen Macht des Staats verwirklichend. Die innere Organi - ſation dieſes Miniſteriums iſt dabei im Großen und Ganzen ſtets durch gleichartige Natur ſeines Objects gleich, wenn auch im Einzelnen ſehr verſchieden; das Weſentliche aber iſt, daß derſelbe das Volksſchulweſen als einen ſelbſtändigen Theil ſeiner großen, das ganze geiſtige Leben des Volkes umfaſſenden Aufgabe erfaſſe und durchführe.

Das nun ſind die leitenden Gedanken für das Volksſchulweſen.

Die Lehre von der Verwaltung deſſelben iſt daher eine, neben der Pädagogik gänzlich ſelbſtändige. Sie gehört der Verwaltungslehre, wie ihre Organiſation der Organiſation der Verwaltung, und ihr In - halt iſt öffentliches Recht der Elementarbildung.

Die Darſtellung dieſes öffentlichen Rechts hat nun aber allerdings die große Schwierigkeit, daß es bei den einzelnen Völkern ein ſehr ver - ſchiedenes iſt. Es wird daher nothwendig, diejenigen Punkte feſtzu - ſtellen, auf welche dieſe Verſchiedenheiten gleichmäßig zurückgeführt wer - den können, indem ſie eben für alle gleiche Gültigkeit haben. Ohne eine ſolche Feſtſtellung des Maßſtabes, der in keinem Volke erſchöpft, erſt demſelben ihren wahren Charakter zuweist, gibt es keine Ver - gleichung.

Dieſe Punkte aber beſtehen einerſeits in dem was wir den Cha - rakter des Volksſchulweſens, anderſeits in dem, was wir ſein Syſtem nennen. Wir werden beides bei der großen Wichtigkeit der Sache be - ſonders behandeln und auf daſſelbe die Rechtszuſtände der großen Kul - turvölker zurückführen.

III. Das Volksſchulweſen der großen Kulturvölker.
1) Was man als Charakter des Volksſchulweſens zu bezeichnen hat.

Dem Obigen gemäß wird nun der Charakter deſſen, was wir im ſpecifiſchen Sinn das Volksſchulweſen nennen, nicht in den päda - gogiſchen Elementen des Elementarunterrichts liegen. Die Begriffs - beſtimmung dieſes Charakters, der für die ganze Wiſſenſchaft von ent - ſcheidender Bedeutung iſt, bildet ſich vielmehr in einer andern Weiſe, und kann nur in dieſer zum vergleichenden Verſtändniß des elementaren Bildungsweſens führen.

Das Volksſchulweſen als Aufgabe der Verwaltung greift nämlich zuerſt theils in die Rechtsſphäre derjenigen hinein, welche den Ele - mentarunterricht empfangen, theils derjenigen, welche ihn geben. Zu79 dem Ende muß ſie ſich des hohen ethiſchen und ſocialen Princips be - wußt ſein, welche ſie dazu berechtigt, und einen dazu beweglichen Organismus haben; ſie muß endlich den letzteren mit denjenigen Rechten ausſtatten, welche ſie im Namen des erſteren fordern kann. Sie iſt daher im Volksſchulweſen ſtets eine Beſchränkung der perſönlichen Freiheit im Namen der geiſtigen Geſammtintereſſen. Dieſe im Volksſchulweſen liegende Beſchränkung der perſönlichen Freiheit geht nur von der Verwaltung aus. Allein die Verwaltung ſelbſt iſt kein einfacher Begriff. Die vollziehende Gewalt hat vielmehr gezeigt, daß dieſelbe drei ſehr verſchiedene Grundformen hat, die ſtaatliche Verwal - tung, die Selbſtverwaltung und das Vereinsweſen. Jeder dieſer drei Organismen hat ſeinen eigenen Charakter. In der Hand eines jeden derſelben geſtaltet ſich daher auch das Volksſchulweſen anders. Der Einfluß der Gewalten, welche das öffentliche Recht deſſelben beſtimmen und leiten, iſt von entſcheidender Bedeutung für die Ordnung und ſelbſt für die Leiſtungen des Volksſchulweſens. Und nun nennen wir die Auffaſſung der Aufgabe des Staats für den Volksunterricht, und das organiſche und rechtliche Verhältniß jener drei Grundformen der Verwaltung zu der Erfüllung dieſer Aufgaben oder zur Herſtellung und Leitung des wirklichen Volksſchulweſens den Charakter deſſelben.

Dieſer allgemeine Begriff des Charakters des Volksſchulweſens be - deutet daher wieder etwas anderes, als das Syſtem des Elementar - unterrichts; er wird auch weſentlich durch etwas anderes gebildet; ihm liegt nicht mehr die Pädagogik mit ihren Regeln und Principien, ſon - dern vielmehr die Staatsidee ſelbſt zum Grunde, in dem Grade und der Art, wie ſie in der Verwaltung jedes Volkes erſcheint. Daher denn iſt dieſer Charakter zugleich in der Wirklichkeit etwas individuelles. Jeder Staat hat ſeinen Charakter des Volksſchulweſens, und es kann ganz wohl möglich ſein, daß die Pädagogik in verſchiedenen Ländern dieſelbe, das Volksſchulweſen dagegen ein ſehr verſchiedenes iſt. Hier iſt eben der Punkt, wo das vergleichende Verwaltungsrecht beginnt, für welches das Folgende den Umriß geben ſoll.

Die drei Hauptgebiete, auf welche das den Charakter eines gelten - den Volksſchulweſens bildende poſitive Volksſchulrecht ſeine Anwendung findet, ſind nun folgende.

Jede Regierung muß zuerſt für das Volksſchulweſen ein allgemeines Princip aufſtellen, aus welchem das Recht deſſelben hervorgeht. Dieß Rechtsprincip beſtimmt die Schulpflicht, die Gränze der Oberaufſicht und die wirkliche Theilnahme der Verwaltung an der Elementarbildung des Volkes. Aus ihr geht das eigentliche Verwaltungsrecht des Volks - ſchulweſens hervor.

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Jede Regierung muß zweitens für die Vollziehung dieſer Beſtim - mungen ihres Schulrechts einen Organismus ſchaffen, der ein dop - pelter iſt. Einerſeits muß derſelbe das Recht vollziehen, alſo nur ein eigentlicher Verwaltungsorganismus ſein. Andererſeits muß er in der Organiſation der Lehranſtalten beſtehen, namentlich das Lehrer - weſen als einen Theil der Verwaltung enthalten. In beiden liegt der Ausdruck des pädagogiſchen Princips des Volksſchulweſens.

Endlich muß jede Regierung das letztere in ſeiner ſocialen Bedeutung auffaſſen, und in dieſem Sinn einerſeits principiell die Lehrordnung, ander - ſeits, als formellen Ausdruck derſelben, das Klaſſenſyſtem ordnen. Beides zuſammen bildet das ſociale Element im Charakter des Volksſchulweſens.

In dieſen Momenten iſt nun der Maßſtab gegeben, nach welchem die Höhe und der Werth jedes Volksſchulweſens gemeſſen werden kann. Jedes Volksſchulweſen eines Landes beſtimmt ſich nach Schulrecht, Schulorganismus und Umfang und Ordnung des Unterrichts. Auf dieſe Grundverhältniſſe führt am Ende jede über die bloße Darſtellung der gegebenen Zuſtände hinausgehende Betrachtung zurück. Und in ihnen liegt auch das, was wir die Vergleichung, ja endlich das, was wir die Geſchichte des Volksſchulweſens nennen.

Denn in der That iſt nicht bloß das Volksſchulweſen jedes Landes von dem aller andern oft weſentlich verſchieden, ſondern man kann jetzt im wiſſenſchaftlichen Sinn ſagen, daß jedes Volk ſeinen Charakter des Volksſchulweſens hat. Es iſt eine der wichtigſten, aber auch der ſchwierigſten Aufgaben, dieſen Charakter zu beſtimmen. Dennoch kann ſie nicht erlaſſen werden.

Ueberblickt man nun die Staaten von Europa und ſeine großen Verwaltungszuſtände, ſo zeigt es ſich auch hier, daß das Verwaltungs - recht des Volksſchulweſens ſo gut wie das ganze übrige Verwaltungs - recht die drei europäiſchen Grundformen hat, denen wir allenthalben begegnen, die deutſche, die franzöſiſche und die engliſche. Das Weſen des deutſchen beſteht darin, daß es von der Wiſſenſchaft erzeugt iſt, welche in den Geſetzgebungen der einzelnen deutſchen Staaten ihren Ausdruck gefunden hat. Das Weſen des franzöſiſchen beruht auf der rein adminiſtrativen Organiſation, neben der ſich vermöge ihrer großen Unvollkommenheit ein freies Elementarunterrichtsweſen ſelbſtändig und faſt unbeaufſichtigt gebildet hat. Das Weſen der engliſchen geht aus der völligen Abweſenheit jeder allgemeinen Verwaltungsthätigkeit und dem Ueberlaſſenſein der Elementarbildung an die Einzelnen hervor. Deutſchland zeigt uns daher, was die Wiſſenſchaft, Frankreich was die Staatsverwaltung, England was die individuelle Kraft vermag. Der Sieg, den Deutſchland auf dieſem Gebiete täglich erringt,81 beweist uns aber, daß es doch zuletzt keine andere wahre Leiterin auch in den geiſtigen Fragen der Verwaltung gibt, als die freie, von ihrem Volke und von ihren Regierungen verſtandene Wiſſenſchaft. Alle übrigen Staaten Europa’s haben nun neben dieſen drei Hauptkultur - völkern keinen beſonderen Charakter. Ihr Volksſchulweſen im Ganzen iſt allenthalben nur eine Modifikation oder Verſchmelzung deſſen, was wir in jenen drei Ländern finden. Die Charakteriſirung derſelben muß uns daher genügen, und kann es vollſtändig. Die Beſonderheiten im Einzelnen ſollen dann im beſondern Theile von jeder Stelle auf - geführt werden.

Es wird uns wohl geſtattet ſein, hier von jeder Kritik der bis - herigen Literatur, welche ſtatt der Vergleichung nur allerdings höchſt reichhaltige Zuſammenſtellungen geliefert hat, abzuſehen. Wenn wir eine Hoffnung ausſprechen dürfen, ſo wäre es die, daß die künftige vergleichende Literatur die beſte Kritik der bisherigen zuſammen - ſtellenden durch ſich ſelbſt bilden möge. Wir bemerken nur zum Schluß, daß das belgiſche Volksſchulweſen mit ſeinen Hauptgeſetzen vom 23. September 1842 und vom 15. Auguſt 1846 weſentlich franzöſiſche Formen, das holländiſche dagegen mit (dem Hauptgeſetz vom 13. Aug. 1857) und eben ſo das däniſche deutſche Grundſätze hat, während das engliſche Volksſchulweſen ohne formelle Nachfolge geblieben iſt. (S. unten das Spezielle.)

2) Deutſchlands Volksſchulweſen und die Elemente ſeiner Geſchichte.

Es iſt kein Zweifel, daß das Volksſchulweſen Deutſchlands das beſte unter den beſtehenden, der Stolz des deutſchen Volkes iſt. Es kommt aber für die Wiſſenſchaft darauf an, den Werth deſſelben auf jene organiſchen Begriffe zurückzuführen, welche den Charakter des Volksſchulweſens auch in Deutſchland bilden.

Das Rechtsprincip des deutſchen Volksſchulweſens iſt die Schul - pflicht mit allen ihren Conſequenzen. Die Organiſation deſſelben aber als Mittel der Verwirklichung dieſer Pflicht beruht auf der Selbſt - thätigkeit des Volkes für ſeine eigene Elementarbildung, theils durch das Schulweſen der Selbſtverwaltungskörper, theils durch den Privat - unterricht, und beſteht daher weſentlich in der oberaufſehenden Thätigkeit und ihren Organen. Das ſociale Element, die organiſche Verbindung des Elementarunterrichts mit der höheren Bildung, iſt durch ein ſyſtematiſch durchgeführtes Klaſſenſyſtem, an das ſich ſogarStein, die Verwaltungslehre. V. 682ein Prüfungsſyſtem anſchließt, in einer Weiſe anerkannt, wie es nie - mals in der Geſchichte da war. Daher gibt es keine Volksbildung, die mit der deutſchen in ihren Grundzügen und ihrem Beſtande ver - glichen werden könnte. Alle Mängel, die ſie hat, liegen nicht in ihr, ſondern in den andern Elementen des deutſchen Volksgeiſtes.

Wir ſtellen ſie daher mit den Elementen ihrer Geſchichte an die Spitze aller Darſtellung des poſitiven Volksſchulweſens.

Die Geſchichte des Volksſchulrechts in Deutſchland iſt neben der der Berufsbildungsanſtalten nur ſehr wenig bearbeitet; vielleicht eben weil ſie noch ſo jung iſt. Die großen Grundzüge derſelben aber ſind trotzdem leicht zu beſtimmen. Sie zeigen uns, wie die Volksſchule als Bürgerſchule neben den ſtändiſchen Berufsſchulen zuerſt ſelbſtändig ent - ſteht, wie ſie dann im achtzehnten Jahrhundert zu einer Aufgabe der Verwaltung als kulturpolizeiliches Inſtitut wird, wie ſich aber die Selbſtverwaltung der Gemeinde in ihr erhält, wie ſie aus den ſtän - diſchen Körperſchaften der Berufsſchulen die Selbſtthätigkeit und das Recht der Lehrkörper aufnimmt, wie ſie die Gemeinſchaft mit dem Privatunterricht durch die gemeinſchaftliche Lehrerbildung aufrecht hält und endlich den höchſten Standpunkt erreicht, indem ſie in den Ver - faſſungen als organiſche Aufgabe der höchſten Staatsverwaltungen grund - geſetzlich anerkannt wird; in allen dieſen Zeiten immer ihre große har - moniſche ſociale Miſſion mit gleicher ethiſcher Hingebung erfüllend, zur Ehre und zum Segen des deutſchen Volkes.

I. Das Volksſchulweſen beginnt, wie es ſeine Natur fordert, in der Wiege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, der Stadtgemeinde. Die Landgemeinde, die Heimath der ſtändiſchen Herrſchaft, kennt daſſelbe noch nicht. Aber auch in der Stadtgemeinde iſt ſie noch im ſiebzehnten und zum Theil achtzehnten Jahrhundert Glied des geſammten Bildungs - weſens der niederen Klaſſe. Ein Uebergang zu dem Gebiet der ſtän - diſchen Berufsbildung in den gelehrten Schulen findet noch nicht ſtatt. Dagegen ſteht die geſammte Volksbildung unter der kirchlichen Ver - waltung, und dieſe wird noch im Weſtphäliſchen Frieden als dafür naturgemäß berechtigt und berufen anerkannt. (Juſtizpolizeiordnung, Art. V. 31. XIII. 4. 25. VII. 1. auf Grundlage des C. 1. 3. 5. de magistris.)

Erſt mit dem achtzehnten Jahrhundert wird anerkannt, daß die elementare Bildung eine Bedingung der geſammten Wohlfahrt des Staats ſei, und daher einen Gegenſtand der neu entſtehenden Polizei und Polizeiwiſſenſchaft bilde. Die ſtaatliche Verwaltung, ihren Gegen - ſatz zu der ſtändiſchen immer beſtimmter entwickelnd, wendet ſich daher auch dem Volksſchulweſen zu, und die junge Verwaltungslehre ſowohl83 im Jus naturae als in der Politia vindicirt daſſelbe dem Staate. Den Ausdruck dieſer Bewegung bilden die Schulordnungen des achtzehnten Jahrhunderts, die freilich anfänglich auch die Berufsſchulen (gelehrten Schulen) mit umfaſſen, gegen Mitte des Jahrhunderts jedoch ſchon die eigentliche Volks - oder Elementarſchule ſelbſtändig behandeln, und den großen Grundſatz der öffentlichen Schulpflicht geſetzlich ausſprechen. Das iſt der Beginn eines ſelbſtändigen Volksſchulweſens; denn in ihm lag die Anerkennung der Pflicht des Einzelnen, ſich die elementaren Kennt - niſſe zu erwerben, die Pflicht der Gemeinſchaft, die Elementarſchulen herzuſtellen, mit der Pflicht des Staats, über Beides zu wachen. Allein während die Schulordnungen dieß vorſchrieben, überließen ſie die Voll - ziehung ihrer Vorſchriften den örtlichen Organen und beſchränkten die Thätigkeit der ſtaatlichen Verwaltung auf die Oberaufſicht. Die Ge - meinden aber trugen noch ganz den ſtändiſchen Charakter, vor allen die Landgemeinde, ſo daß noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Frage entſtehen konnte, ob überhaupt Landſtädte das Recht hätten, niedere Schulen zu errichten. Schule, Lehrer und Lehre der Volksſchule blieben daher unter der Herrſchaft der ſtändiſchen Principien, wenig geachtet, meiſt elend ausgerüſtet, aber getragen durch das lebendige Be - wußtſein ihrer großen, wenn auch unſcheinbaren Aufgabe, während neben ihnen die Berufsbildungsanſtalten, reichlich ausgeſtattet und geehrt, bereits von der freieren Bewegung getragen werden. Jene gehören noch der Grundherrlichkeit. Die Schule iſt wie die Wege, das Armen - weſen, die Sicherheitspolizei, eine Anſtalt des Grundherrn; der Schul - lehrer iſt ein herrſchaftlicher Diener; die Lehre muß bei den Elementen ſtehen bleiben, die für den halb Leibeigenen als ausreichend gelten. Das einzige Band, welches ſie mit dem höhern geiſtigen Leben ver - bindet, iſt und bleibt die Geiſtlichkeit, die ihr Recht an der Schule wahrt, ohne dem Grundherrn unterthan zu ſein. Dieß Recht war noch im vorigen Jahrhundert eine ſehr weſentliche Bedingung für die An - erkennung der geiſtigen und ſocialen Bedeutung, ja ſogar für die Exi - ſtenz der Volksſchule in vielen Theilen Europa’s. Man ſoll das in dem unſirgen nicht vergeſſen.

Von dieſer Grundlage vermag ſich daher das entſtehende öffent - liche Volksbildungsrecht der Elementarſchulen nicht loszulöſen, da eben die Grundherrlichkeit beſtehen bleibt. Die Verwaltung der Volksſchule beſteht daher in dieſer Zeit aus den drei Elementen der ſtaatlichen Oberaufſicht, des Gutsherrn als örtliche (Gerichts -) Obrigkeit, und des Ortspfarrers. Der Unterſchied zwiſchen der evangeliſchen und der katho - liſchen Schulverwaltung beſteht nicht in einer Verſchiedenheit jener Grundlagen, ſondern nur in dem höheren Maß der Berechtigung des84 kirchlichen Organismus; am deutlichſten zeigen dieß die öſterreichiſchen Schulordnungen und die preußiſchen aus der Mitte des vorigen Jahr - hunderts.

Der geiſtige Aufſchwung des Volksſchulweſens mußte daher in dieſer Epoche von einer andern als der rechtlichen Seite kommen.

II. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gelangt die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zum Bewußtſein ihres Princips, und damit zur Erkenntniß der geiſtigen Bedingungen aller Entwicklung. Die Idee der gleichen geiſtigen Berechtigung und Beſtimmung tritt auch in das Bildungsweſen über. Hier erſcheint ſie negativ allerdings zuerſt in dem Haß und Kampf gegen die auf ſtändiſchen Grundlagen ruhende gelehrte Bildung; viel wichtiger aber iſt ihre poſitive Richtung. Die letztere fordert zuerſt und zumeiſt, daß mit und durch den Erwerb der Kenntniſſe zugleich der Charakter, die perſönliche geiſtige Selbſtändig - keit und Selbſtthätigkeit ausgebildet werde. Dieſe Charakterbildung erhebt ſich zur eigenen Wiſſenſchaft, und dieſe Wiſſenſchaft iſt die - dagogik. Für ſie iſt die Kenntniß nur ein Mittel zum Zweck, die Bildung nur ein Moment der Erziehung. Die Aufgabe des Lehrers, aber auch jedes Lehrers, alſo weſentlich auch des Volksſchullehrers, iſt das Heranbilden des Individuums zu einem tüchtigen Manne. Er ſelbſt muß daher zuerſt ein tüchtiger Mann ſein, und in ihm ſchätze und ehre ich dann die lebendige Grundkraft der wahren Volkserzie - hung, die alle Staatsbürger durch gleiche Bildung zu gleicher Stellung erhebt. Das iſt das Element, welches die Pädagogik des vorigen Jahr - hunderts in das Volksſchulweſen hinein bringt, und mit dem es daſſelbe erhebt, veredelt, in ſeiner kläglichen Stellung zu muthiger Arbeit be - geiſtert. In ihm lag der Keim der Befreiung von ſtändiſcher Beſchränkt - heit; es konnte zwar das öffentliche Recht der Volksſchule noch nicht ändern, aber es bereitete den Aufſchwung der nächſten Zeit vor, und die Namen von Männern wie Peſtalozzi, Baſedow, Dinter und andern werden in der Geſchichte des menſchlichen Geiſtes ewig ihren Platz behalten.

Das, was dieſe Richtung vorbereitet, fand nun einen feſten Boden in der mit dem neunzehnten Jahrhundert ſich umgeſtaltenden öffent - lichen Rechtsordnung. Dieſe forderte eine Vertretung des Volkes. Was aber nützt die Vertretung, wenn der Vertretene und der Vertretende kein gemeinſames ſtaatliches Bewußtſein haben? Wird ein Volk frei durch die Formen der Freiheit? Will der Staat wirklich frei ſein, ſo mache er zunächſt freie Männer aus ſeinen Staatsangehörigen. Und welches iſt das Mittel dafür? Es iſt kein Zweifel Bildung und Er - ziehung müſſen den Bürger für den Staat erziehen; nicht bloß die85 Berufsbildung, ſchon die Volksſchule iſt ihrer höheren Funktion nach eine Staatserziehungsanſtalt. Dieſer Gedanke, ſchon im vorigen Jahrhundert ausgeſprochen, kommt nun in den erſten Decennien unſers Jahrhunderts zum Ausdruck. Jetzt erſt beginnt die praktiſche Bedeutung der Volksſchule klar zu werden. Der alte Standpunkt der Polizei - wiſſenſchaft und der bloßen ſtaatlichen Oberaufſicht wird überwunden; das ganze Gebiet der Volksbildung geht jetzt in die Lehre vom Staate über; es wird, wie einſt bei den griechiſchen Philoſophen, ein Theil der Politik; das Volksſchulweſen iſt, wenn auch zunächſt nur im Princip, zu einem Theile der Staatswiſſenſchaft geworden.

III. An dieſe abſtrakte Bewegung ſchlie t ſich nun eine concrete in demſelben Geiſte an. Iſt die Volksſchule das, was jene fordert, ſo muß ſie auch eine neue, freie Organiſation haben. Die Grundlage dieſer Organiſation muß zunächſt die öffentliche Achtung des Lehrer - ſtandes werden. Eine ſolche Achtung beruht allerdings zunächſt auf der Selbſtachtung, die aus dem Bewußtſein von dem hohen ſittlichen und ſtaatlichen Berufe hervorgeht, und die aus den einzelnen Lehrern einen Lehrer ſtand erzeugt. Allein dieſer Lehrerſtand will, einmal durch die Pädagogik zum Bewußtſein gebracht, nun auch die äußere An - erkennung. Mit dieſer Forderung beginnt nun ein eigenthümlicher Kampf, der nur indirekt der Volksſchule, direkt aber dem Lehrer - ſtande angehört. Die Berufsgenoſſenſchaft, einmal entſtanden, fordert für die Volksſchule das, wodurch die Berufsbildungsanſtalten ſo glän - zend daſtehen, wodurch ſie am meiſten wirken. Sie will zuerſt die Unabhängigkeit des einzelnen Lehrers von der bisherigen Gewalt der Grundherrlichkeit, alſo Aufnahme in die Gemeindeverwaltung und Be - ſoldung durch die Gemeinde, kurz den Charakter eines öffentlichen Amtes; ſie will zweitens eine berufsmäßige Vorbildung, alſo die Ein - richtung von Lehrerſeminarien; ſie will drittens eine den höheren Bildungsanſtalten nachgebildete Selbſtverwaltung des Schulweſens, namentlich durch Lehrkörper für die einzelnen Schulen, und Lehrer - verſammlungen für das geſammte Schulweſen. Dieſen Forderungen entgegen tritt nun aber die noch hiſtoriſch berechtigte Grundherrlichkeit und die Geiſtlichkeit; die Unſelbſtändigkeit und Gleichgültigkeit der Ge - meinden kommt dem Lehrerberufe nur wenig zu Hülfe, namentlich in dem in Deutſchland noch immer in den Händen des Gutsherren befind - lichen Schulweſen des Landes, während die Städte allerdings vielfach die Volksſchule freier auffaſſen; ſelbſt die Volksvertretungen haben eine Zeitlang noch nicht die geiſtige Kraft, jenes hohe ethiſche Element im Volksſchullehrerweſen zu verſtehen. Und ſo bewegen ſich dieſe Elemente hin und her, allein ſchon in den dreißiger Jahren iſt der86 Sieg der freieren Auffaſſung unzweifelhaft. Denn aus der Schule der großen Pädagogen des vorigen Jahrhunderts iſt, namentlich auch durch die ſtaatsrechtliche Entwicklung getragen und gefördert, eine Richtung hervorgegangen, welche Deutſchland allein in der Welt zu verſtehen und zu vertreten fähig war, die Conſolidirung der Regeln der Pädagogik zu einer wiſſenſchaftlichen Behandlung des Volksunterrichts, und die Feſtſtellung der Ueberzeugung aller Gebildeten, daß vor allem die Volks - ſchule gefördert werden müſſe, wenn man das Wohl des Volkes will. Damit ein freies, kräftiges Entgegenkommen von allen Seiten; die Achtung vor dem Stande der Lehrer ſteigt; mit ihm das Streben, ihm ſeine Unabhängigkeit und das Recht zur Theilnahme an der Leitung der Lehre zu geben; die grundherrlichen Rechte werden entweder direkt aufgehoben oder ſinken zu bloßen Ehrenrechten herab; die Gemeinden ſind eifrig, die Schullaſten und mit ihnen die Rechte der Selbſtverwal - tung zu übernehmen; das Syſtem der Schulklaſſen wird immer allge - meiner, und die Scheidewand zwiſchen Volks - und Berufsſchule damit grundſätzlich vernichtet; bis endlich ſeit 1848 die Aufnahme des Volks - ſchulweſens in die Grundrechte der Verfaſſungen das höchſte rechtliche und ſociale Princip deſſelben zur öffentlichen verfaſſungsmäßigen An - erkennung bringt.

So geſtaltet ſich der Inhalt des gegenwärtigen Volksſchulweſens in Deutſchland. Es iſt nicht mehr eine bloße Bürgerſchule oder poli - zeiliche Unterrichtsanſtalt wie in der erſten Epoche, nicht bloß eine pädagogiſche Idee wie in der zweiten, ſondern in Verbindung mit dem freien Privatſchulweſen iſt ſie aus einer ſelbſtändigen Bildungsanſtalt der niederen Klaſſe zu der Ehre, dem Recht und der Aufgabe einer organiſch gegliederten Vorbereitungsanſtalt für die Bil - dung aller Klaſſen der bürgerlichen Geſellſchaft geworden.

Das iſt im Großen und Ganzen der Gang der Entwicklung des Volksſchulweſens ſeit dreihundert Jahren. Jede dieſer großen Stadien hat wieder ihre Literatur, ihre Geſetze, ihre Gegenſätze und Kämpfe, die nur durch die beſondere zeitliche Geſtaltung der Bewegung verſtänd - lich werden. Durch dieſe organiſche Entwicklung des Ganzen hat ſich nun aber auch jeder Theil deſſelben ſelbſtändig entwickelt, und wir können jetzt von einem Syſtem des Volksſchulweſens reden, für welches das deutſche Volksſchulweſen eben deßhalb die natürliche Grundlage abgibt.

I. Die Literatur über das urſprüngliche Volksſchulrecht iſt keines - weges unbedeutend, aber von der deutſchen Rechtsgeſchichte gänzlich87 vernachläſſigt, wie ſo manches andere. Ueber den Weſtphäliſchen Frieden und ſein Schulrecht ſ. Fiſcher, Cameral - und Polizeirecht I. 147, §. 184. Unvollendet: Rauhkopf, Geſchichte des Schul - und Er - ziehungsweſens in Deutſchland (Bremen 1744. 1. Theil). Rochow, Geſchichte meiner Schulen (Schleswig 1745): Mellmann, Reliquiarum Juris Canonici in regimine scholastica discussio (Kiel 1784); Berg, Polizeirecht II. S. 308. 309. Entſtehen der Gemeindeſchulen und das Recht der Landſtände, dieſelben zu errichten: Zahn, Politia muni - cipalis. L. 2. 36. Fiſcher a. a. O. §. 147. Berg a. a. O. S. 307. Entſtehen der obrigkeitlichen Schulordnungen des achtzehnten Jahrhunderts: Kur-Braunſchweig, Verordnung vom 9. Okt. 1681 und 31. Aug. 1736 (ausgeſprochene Schulpflicht). Braunſchweig - Wolfenbüttel (Schulordnung von 1753); Kur-Sächſiſche (Ver - ordnung vom 24. Juli 1769); Fuldaiſche Schulordnung von 1775. Badiſche Schulordnung von 1769. Bremen und Werden (Land - ſchulordnung von 1752); Lauenburg (Landſchulordnung von 1757); Braunſchweig-Lüneburg 1738; Kurbayeriſches Mandat 1771. Verzeichniſſe von andern in Heumann (Jus Politiae §. 89). Es iſt ſehr bedauerlich, daß dieſe wichtigen Thatſachen noch immer keine Ge - ſchichte gefunden haben!

Die Aufnahme der Schulfrage in die Polizeiwiſſenſchaft (als damalige Form der Staatswiſſenſchaft): Juſti 10. Buch, 38. Haupſt. §. 123. 124; deſſen moraliſche und philoſophiſche Schriften I. 106. ( die Schullehrer ſollen hochgeehrte und reichbeſoldete Männer ſein ); Sonnenfels I. 80 ff. Filangieri (Scienza della legis - lazione, L. IV.); Herzberg, Gedanken über zweckmäßige Bildung der Landſchullehrer in Seminarien, 1789; J. H. Berg, Teutſchlands Ver - faſſung (S. 209. 352 ); Benſen, Staatslehre (II. 181); Aretin, Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie (II. Bd. 2. Abth. S. 60. 61). Ueber das Schulrecht, jedoch im allgemeinen Sinn des öffent - lichen Rechts der Schulen: Moſer, Verordnung der Landeshoheit in Polizeiſachen, §. 50. 54. Pütter, Inst. jur. publ. §. 236. 259. Stryk, De jure praeceptorum, C. 2. Hohenthal, De Politia (ſ. beſ. S. 56 ff.). Mehrere Schriftſteller bei Fiſcher, Cameral - und Polizeirecht a. a. O. Jacobi, Polizeiwiſſenſchaft II. bildet den Ueber - gang zur folgenden Epoche. Preußens älteres Recht: Geſchichte deſſelben, ſowohl im Allgemeinen als in den einzelnen Territorien. Rönne, Unterrichtsweſen des preußiſchen Staates, Bd. I. S. 51 ff. Erſte Hauptverordnung vom 24. Oktober 1763; Grundgeſetz: General - Landſchul-Reglement vom 12. Auguſt 1763. (Vergl. auch Rönne’s Staatsrecht I. §. 198.) Oeſterreich: höchſt gründliche und ausführliche88 Geſchichte: Helfert, Die öſterreichiſche Volksſchule. Geſchichte, Syſtem, Statiſtik. Allgemeine Schulordnung für die deutſchen Normal -, Haupt - und Trivialſchulen von 1774. Neues, noch jetzt unter manchen aller - dings weſentlichen Modificationen geltendes Volksſchulrecht: Verfaſſung der deutſchen Volksſchulen (mit Ausnahme von Ungarn, Italien und Dalmatien) vom 11. Auguſt 1805. Viele betr. Artikel auch in Schlözers Briefwechſel und andern Zeitſchriften des vorigen Jahr - hunderts. Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde Bd. II. S. 366 ff. Neuere Ordnungen ſ. unten. Die beſte und nach allen Seiten hin er - ſchöpfende Arbeit über das öſterreichiſche Volksſchulweſen iſt ohne Zweifel die von Ficker bei Schmid Bd. IV. Art. Oeſterreich S. 242 355, der kaum etwas hinzuzuſetzen ſein dürfte.

II. Ueber die Geſchichte der Pädagogik der Literatur und der Hauptträger derſelben dürfen wir hier auf die Werke von Raumer, Schmid und Körner verweiſen. Für die ſpecifiſche Literatur der ſtaatsbürgerlichen Pädagogik beſonders Niemeyer, Grundſätze der Er - ziehung, Bd. II. S. 453. Die ſtaatswiſſenſchaftliche Richtung, Verbindung der neuen Idee des Staats mit ſeiner Aufgabe in Päda - gogik und Unterricht, beginnt mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts, zunächſt allerdings bei der allgemeinen Principienfrage ſtehen bleibend, und erhält ſich in der Form des ſog. Allgemeinen Staatsrechts bis auf unſere Zeit. Die leitenden Schriften der erſten Richtung ſind: für die pädagogiſche Literatur wohl am bedeutendſten Niemeyer, Grundſätze der Erziehung, 1825 (8. Aufl. ), Erziehung zum ſtaatsbürgerlichen Be - wußtſein); Voß, Erziehung für den Staat, Bd. I.; K. J. Zachariä, Ueber die Erziehung des Menſchengeſchlechts durch den Staat, 1802; Stephani, Grundriß der Staatserziehungswiſſenſchaft, 1802, und deſſen Syſtem der öffentlichen Erziehung, 21. Aufl., 1813; Krug, Der Staat und die Schule, 1810; Pölitz, Die Erziehungswiſſenſchaft aus dem Zwecke der Menſchheit und des Staats, II. Bd. Ganz allgemein gehalten dann in Pölitz, Staatsrechtswiſſenſchaft, Bd. II. (Erziehungs - polizei!); Aretin, Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie, II. 39; Staatslexikon (Volksſchule); Bluntſchli, Allgemeines Staatsrecht, II. Bd. 9 Cap. S. 9 12; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft, Bd. I. Bd. II. Cap. 2. Eine kurze, aber ſehr gute ſtatiſtiſche Ueberſicht des neueſten Standes des Volksſchulweſens in Brachelli, Staaten Europas, S. 533 ff.

III. Die Gegenwart beginnt mit der Literatur und Geſetzgebung, welche ſich mit der Organiſation des Volksbildungsweſens ſpezieller beſchäftigt. Man kann ſagen, daß hier Dinter der Hauptträger der praktiſchen Richtung, der eigentliche Vater der Schulmänner iſt. Niemeyer (Organiſation öffentlicher Schulen, 1801) hat weſentlich89 für das Klaſſenſyſtem gewirkt. Weſſenberg, Die Elementarbildung, 21. Aufl. 1835; Ohlert, Die Schule. Elementarſchule, Bürger - ſchule und Gymnaſium in ihrer früheren Einheit und nothwendigen Trennung, 1826; Schwarz, Die Schule, 1822; Mohl, Polizeiwiſſen - ſchaft I. §. 76. Die ſtändiſche Auffaſſung der Elementarſchule als Schule der niedern Klaſſe nimmt Abſchied von der Geſchichte in Göthe (dem Haller des Volksſchulweſens), Ideen über Erziehung und Unter - richt im Geiſte der Monarchie , 1837. Eine ſehr große Zahl von einzelnen Arbeiten und Schriften ſtammen aus dieſen Jahrzehnten von 1820 bis 1840, welche die folgende Epoche vorbereiten. Sie ſind die Begründer des neuen öffentlichen Schulrechts und der Schulordnungen unſeres Jahrhunderts, die noch nirgends gehörig verarbeitet ſind. Aus dem General-Landſchulreglement in Preußen bilden ſich zunächſt die Grundſätze des Allgemeinen Landrechts II. 12 heraus, nach wel - chem alle Schulen für Staatsanſtalten erklärt und unter öffentliche Oberaufſicht der Behörden geſtellt werden (Rönne I. §. 203), wobei jedoch die Stellung der Volksſchullehrer noch in einem ſehr unklaren Verhältniß zum Staatsdienſt bleibt (Rönne, Staatsrecht II. §. 198), während die Wöllnerſche Epoche 1794 den letzten Rückſchlag der prieſterlichen Reaction zeigt, nachdem die Inſtruction von 1787 (Rönne, Unterrichtsweſen I. 76) die Scheidung der Schule von der Kirche ſchon durchgeſetzt hatte. Daneben entſteht das Princip der Landesver - waltungen der Volksſchulen und der Landesſchulordnungen in Preußen (Rönne, Staatsrecht II. Nr. 1), was ſehr trefflich wäre, wenn es nur ein zeitgemäßes Staatsſchulrecht gäbe, das zwar ver - ſprochen, aber nicht gegeben iſt. Kurze Ueberſicht über die Volksſchul - geſetzgebung bei Rönne, Staatsrecht II. 441. Das öſterreichiſche Volksſchulweſen bleibt dagegen bei der Verfaſſung von 1805 im Weſent - lichen ſtehen, nach welcher die Schule dem Geiſtlichen untergeordnet iſt. Im Allgemeinen zeigen die Geſetzgebungen der einzelnen deutſchen Staa - ten in dieſer Epoche eine nicht unbedeutende Thätigkeit, jedoch bei den noch immer beſtehenden ſtändiſchen Unterſchieden eine größere für die Berufsſchulen als für die Volksſchulen. Das Privatſchulweſen wird eigentlich nirgends ſyſtematiſch geordnet, nur der Grundſatz der Ober - aufſicht wird feſtgehalten (ſ. unten).

IV. Das poſitive deutſche Statsrecht unſeres Jahrhunderts hat mit der Volksſchule offenbar ſich nicht zurecht zu finden gewußt, während es die Berufsbildung (Univerſitäten) unbedenklich mit aufnahm. Gönner, Klüber, Maurenbrecher erwähnen deſſelben gar nicht; ſo gut wie gar nicht ſelbſt die Conſtitutionellen, wie Häberlin, Aretin (als Garantie der Verfaſſung) II. §. 265, Zachariä, Deutſches Staats - und Bundesrecht II. §. 178.

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Die Stellung der neuen Verfaſſungen zum Volksſchulweſen iſt daher auch eine ſehr abſtrakte, ein unmittelbarer Einfluß derſelben auf das letztere kommt nicht zur Erſcheinung. Man ſieht ihnen an, daß ſie die Vollziehung ihrer Principien doch zuletzt allein von den Gemeinden und ihrer Verwaltung erwarten; ein Verſtändniß der entſcheidenden Bedeutung der Lehrkörper findet ſich auch nicht in den Verhand - lungen über die deutſchen Grundrechte. Das Bezeichnendſte der prak - tiſchen Unklarheit neben vollkommen richtigem Gefühl für die Haupt - ſache iſt es wohl, daß man die Freiheit des Lernens und Lehrens als die grundgeſetzliche Hauptſache anſah und proclamirte, die gerade bei der Volksſchule leicht mehr Uebel begründen als verhindern kann, wenn man ſich darüber jede Aufhebung der Oberaufſicht denkt. Uebrigens dachte man wohl überhaupt bei der Lehr - und Lernfreiheit nur an die Wiſſenſchaft und wenig an den Elementarunterricht. Die Auffaſſung des preußiſchen Rechts gut bei Rönne, Staatsrecht I. 199 und 200.

In Preußen nahm die Sache die beſtimmteſte Geſtalt an, kam jedoch weder im Entwurf vom 20. Mai 1848 (§. 13), noch in der Verfaſſung vom 5. December 1848, noch in der Verfaſſung vom 31. Ja - nuar 1850 (Art. 20 26) über die allgemeine Anerkennung der Lehr - und Lernfreiheit hinaus, während das dort verſprochene Unterrichts - Geſetz nicht erſchienen iſt. Doch hat Rönne (Staatsrecht §. 198) vollkommen Recht, wenn er ſagt: daß es als oberſter Grundſatz für das Recht des Staates angeſehen wird, von jedem ſeiner Mitglieder diejenige Geiſtes - und ſittliche (?) Bildung zu fordern, durch welche deſſen Ausübung der ſtaatsbürgerlichen Rechte bedingt wird, was ſchon das Allgemeine Landrecht II. 12 für den Elementarunterricht ausſprach. Nur iſt das nichts Neues für das Bildungsrecht. In der obigen Hauptfrage wird nichts berührt und geändert. Zöpfl hat in ſeiner zerfahrenen Weiſe dennoch das Meiſte für die Geſchichte des Volksſchul - rechts innerhalb des Verfaſſungsrechts gethan. Schon vor 1848 war das Volksſchulweſen in das Verfaſſungsrecht aufgenommen, und wenn auch nicht allgemein und nicht ganz gleichartig (württemberg. Ver - faſſung von 1819 §. 84) als Verpflichtung des Staats ausgeſprochen, während andere nur die Oberaufſicht deſſelben forderten (braun - ſchweig. Landesordnung 1832 §. 230; Kurheſſen 1831 §. 137, Sachſen-Altenburg 1831 §. 25. 29). Nach 1848 wird die Auf - nahme in die Verfaſſungen allgemein, jedoch unklar, indem einige die Schulen für Gemeindeanſtalten erklären, wie Oldenburg 1832 §. 83 89; Coburg 1852 §. 29; Reuß (Geſetz vom 10. Juni 1856); Luxemburg 1856 §. 23; andere für Staats anſtalten (Sachſen-Altenburg §. 25. 29 ); Zöpfl §. 480. Dabei wird die Volksſchule ausdrücklich unter91 die Oberaufſicht des Staats geſtellt, und (wenigſtens von der Reichs - verfaſſung §. 153) der Grundſatz ausgeſprochen, daß ſie der Beaufſichti - gung der Geiſtlichkeit entzogen werden ſoll (die Verfaſſungsurkunde); doch hat weit verſtändiger Oldenburg (Verfaſſung von 1852 Art. 82) für das Verhältniß zwiſchen Schule und Kirche ein eigenes (nicht er - ſchienenes) Geſetz in Ausſicht geſtellt und Preußen die Frage in unent - ſchiedener Weiſe beantwortet §. 24. Die Reichsverfaſſung gibt dann zugleich die allgemeinſten Grundzüge der Elementarbildung und ihrer Verwaltung. Von ihr iſt das Syſtem der geltenden Grundzüge in viele deutſche Verfaſſungen übergegangen. (Reichsverfaſſung §. 153 ff.) Die Grundſätze ſind, wenn ſie gleich nicht formell in allen Verfaſſungen der fünfziger Jahre aufgenommen ſind, ſo bezeichnend, daß wir ſie hier angeben müſſen; ſie bilden den klarſten Ausdruck des Charakters des deutſchen Volksſchulweſens. Darnach ſoll a) die Gründung von Unter - richtsanſtalten und Erziehungsanſtalten jedem Deutſchen freiſtehen, jedoch gegen Nachweis der Befähigung an die Staatsgewalt (Oberaufſicht), Reichsverfaſſung §. 154; b) der häusliche Unterricht iſt frei, ebendſ. ; c) für die Bildung der deutſchen Jugend ſoll durch öffentliche Schulen überall geſorgt werden (ebendaſ. §. 155) und dürfen Eltern und deren Stellvertreter die Kinder nicht ohne Elementarunterricht laſſen, ebendaſ. ; d) die öffentlichen Lehrer haben die Rechte der Staatsdiener, ebendaſ. 156; der Staat ſtellt ſie an unter Betheiligung der Gemeinden, §. 156; e) für die Volksſchulen kein Schulgeld §. 157. Dieſe Sätze gehen mit Modificationen in die meiſten nord deutſchen Verfaſſungen über, wohl deßhalb, weil ſie ohnehin praktiſch galten. Preußiſche Verfaſ - ſung, Art. 20 26. Anhalt-Bernburg, 1850, 24. Schwarzburg - Sondershauſen, 1849, 25. Oldenburg §. 82. Reuß §. 20. Waldeck §. 44. Sachſen-Coburg §. 38. Man muß nur bei dieſen kleinen Staaten nie vergeſſen, daß ſie im Grunde ſouveraine Gemeinden ſind, und daher die großen organiſchen Begriffe der Verwaltung, nament - lich der Unterſchied zwiſchen Staats - und Gemeinde anſtalten und Recht auf ſie keine rechte Anwendung finden. Je größer der Staat, um ſo noth - wendiger werden natürlich eigene Schulgeſetze (ſ. unten). Die Literatur hat in Deutſchland ſich wenig mit dieſer ganzen Frage nach dem öffentlich rechtlichen Charakter des Ganzen beſchäftigt. Sie iſt ſehr reich in Betreff der pädagogiſchen Grundſätze; einige Staaten haben auch ihre ſelbſtändige Literatur über das öffentliche Recht ihrer Volksſchulen, jedoch meiſtens nur in den Verwaltungsgeſetzkunden. In Schmids Encyclopädie des Erziehungs - und Unterrichtsweſens (ſeit 1859) ſind jedoch vortreffliche einzelne Nachweiſungen ſpeciell über die kleinen deutſchen Staaten, deren Verhältniſſe ohne die betreffenden Aufſätze gar nicht zu erfahren wäre.

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3) Die Nachbildungen des deutſchen Volksſchulweſens in Holland und Dänemark.

Das entſcheidende Princip dieſes oben charakteriſirten Syſtems des deutſchen Volksſchulweſens, das alle einzelnen Theile und Rechtsbeſtim - mungen deſſelben beherrſcht und das dieſelben von dem folgenden fran - zöſiſchen auf das beſtimmteſte ſcheidet, iſt nun offenbar nicht der Grund - ſatz, daß der Volksunterricht als eine allgemeine Aufgabe der Staats - verwaltung angeſehen und als ſolche von den Gemeinden durchgeführt wird, ſondern der, daß dieſe Gemeinden, welche die Laſt des Volks - unterrichts tragen, dafür auch das Recht der Selbſtverwaltung ihrer Volksſchulen beſitzen, natürlich unter der Oberaufſicht und zum Theil unter Mitwirkung des Staats, welche ſich in zwei Dingen äußert: zuerſt in einem oberaufſehenden, aber nicht direkt verwaltenden Orga - nismus von Schulräthen oder Inſpectoren, und zweitens in der Her - ſtellung von neuen Lehrſeminarien und mithin einer öffentlichen Verufs - bildung für das Lehrfach mit förmlicher Prüfung. Alle diejenigen Staaten, welche dieſe localen Grundſätze ſyſtematiſch durchgeführt haben, rechnen wir zur deutſchen Gruppe des europäiſchen Volksſchulweſens, und dahin gehören Holland, Dänemark, Schweden und die deutſchen Kantone der Schweiz.

Da wir nun im beſondern Theile die einzelnen Punkte des öffent - lichen Volksſchulrechts genauer auszuführen haben, ſo darf hier die kurze Nachweiſung der Hauptgeſetze genügen, auf welchen das Volksſchul - weſen der erſten beiden Länder beruht.

Was zuerſt Holland betrifft, ſo iſt das Grundgeſetz des Volks - ſchulweſens das neue Geſetz vom 13. Aug. 1857. Die Grundlage iſt der Unterſchied zwiſchen den öffentlichen Volksſchulen, in welchen alle Kinder ohne allen Unterſchied der Confeſſion aufgenommen werden müſſen und die nach dem Geſetz eingerichtet werden müſſen (Art. 16) und den beſonderen Schulen, die entweder von Confeſſionen oder von Privatunternehmern unterrichtet werden (Art. 37), denen aber von der Gemeinde oder auch von den Provinzen eine Unterſtützung gegeben werden kann (Art. 3). Jede Gemeinde hat ihre Schule herzu - ſtellen und die Laſt zu tragen; Schulgeld kann erhoben werden; Schul - pflicht exiſtirt nicht, ſondern die Gemeindeverwaltung befördert ſo viel als möglich den Schulbeſuch (Art. 33). Die Anſtellung und Entlaſſung der Lehrer iſt Sache des Gemeinderathes (Gemeindeordnung vom 24. Juni 1851. Art. 232 ff. Geſetz von 1857 Art. 34). Das Lehrer - weſen iſt ſpeciell geordnet in Tit. IV. Art. 40 ff. mit Prüfungen und Strafen für neugeprüfte Lehrer; die Oberaufſicht wird ausgeübt durch93 die örtliche Schulcommiſſion, die Diſtriktsſchulaufſeher und die Pro - vinzial-Inſpectoren. Die erſtere beſteht aus Bürgermeiſter und Rath (Art. 54); die andern ſind angeſtellte Beamte. Auch der freie (Haus -) Unterricht iſt ſtrengen Vorſchriften in Beziehung auf die Fähigkeit der Lehrer unterworfen. Das Nähere über einzelne Punkte unten.

In weſentlich gleicher Weiſe ſind die däniſchen Volksſchulen geordnet. Schon die Verordnung vom 17. April 1759 führte die Grundlagen der allgemeinen Schulpflicht ein, und die Verordnung vom 11. Mai 1775 verpflichtete die Gemeinden, die Schulen hinzuſtellen. Das Hauptgeſetz iſt die Verordnung vom 7. Mai 1809, dem ſich das Reſcript vom 6. Mai 1850 anſchließt. Die Schule iſt Gemeindeanſtalt, jedoch beſtehen noch in ein - zelnen Fällen Präſentationsrechte, und in einzelnen Schulen hat die Regierung das Recht der Ernennung, während in andern wieder die Gemeinde ganz frei die Lehrer wählt. Die Schullehrerſeminare ſind durch das Geſetz vom 15. Juli 1857 nach deutſchem Vorgange geordnet und ſehr rationell eingerichtet. Das Schulweſen iſt gut geleitet; die Geiſtlichkeit hat keinen Antheil am Unterricht, wohl aber hat ſie einen Antheil an der Inſpektion der Schulen. Eine ſo ſyſtematiſche Geſetz - gebung wie in Holland beſteht nicht.

4) Englands Volksſchulweſen und das Syſtem der Staats - unterſtützung.

Dem deutſchen Volksſchulweſen ſteht nun weſentlich verſchieden das engliſche Syſtem gegenüber, das wie kaum ein anderer Theil des öffentlichen Rechts, aus den Principien der engliſchen Geſellſchaft hervorgeht.

In England iſt die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft die anerkannte Grundlage aller Rechtspflege, allein ihre Principien ſind in die Verwaltung nicht eingedrungen. Die rechtlich unantaſtbare Selb - ſtändigkeit und Gleichheit aller Einzelnen hat vielmehr den Grundſatz erzeugt, daß alle Entwicklung jeder einzelnen Perſon beſtimmt ihre individuelle Aufgabe ſei. Die Folge davon iſt, daß ſtatt der großen leitenden Ideen der Verwaltung, wie wir ſie in Deutſchland thätig ſehen, das ganze Volksſchulweſen dem Volke ſelbſt überlaſſen und da - mit die großen Unterſchiede des Beſitzes, in dem die materiellen Bedingungen der Bildung liegen, für die Vertheilung der Bildung maßgebend geworden ſind. Dadurch iſt nicht bloß die beſitzende Klaſſe der engliſchen Bevölkerung die allein gebildete, ſondern ſie hat auch die Herſtellung der Bildung der Nichtbeſitzenden nie als ihre orga - niſche Aufgabe erkennen wollen, was von dem zweiten großen Theile der engliſchen Bevölkerung, dem noch ganz ſtändiſch abgeſchloſſenen94 Element der alten Geſchlechter, natürlich lebhaft unterſtützt ward. Der Erwerb der Bildung iſt daher auch für den Volksunterricht grund - ſätzlich Sache der Einzelnen, welche die Verwaltung nicht kümmert, ſo wenig als der Erwerb ſeines Vermögens; und da nun bei dem gänzlichen Mangel einer organiſchen Volksſchule die nichtbeſitzende Klaſſe zu keiner Bildung gelangen kann, ſo iſt der Unterſchied zwiſchen Beſitzenden und Nichtbeſitzenden für identiſch mit dem Unterſchied zwiſchen Gebildeten und Nichtgebildeten geworden. Das iſt die Baſis des Verſtändniſſes alles engliſchen Unterrichtsweſens.

Dennoch giebt es bereits ein ſehr bedeutendes öffentliches Unter - richtsweſen, und zwar theils im Volksſchulweſen der Vereine, theils der (Armen -) Gemeinden, mit anerkannter Unterſtützung der Regierung. Die Erklärung dieſer großen Thatſache gegenüber dem obigen Princip liegt darin, daß das öffentliche Volksſchulweſen Englands noch immer nicht, wie auf dem Continent, der Idee des Bildungsweſens gehört, ſondern nur noch einen Theil des Hülfsweſens bildet. Für die Beſitzenden gibt es kein Volksſchulweſen, ſondern nur für die Nichtbeſitzenden. Und das iſt es, was uns Deutſchen das engliſche Volksſchulweſen ſo unverſtändlich macht.

Ueber dieß Princip hat ſich das letztere bisher nicht zu erheben vermocht; ſelbſt die letzte große Geſetzgebung, der Revised Code iſt nicht eben ein Volksſchulgeſetz, ſondern nur in ſeinem neueſten Weſen ein Armenſchulgeſetz. Die Idee eines Volksſchulgeſetzes auf Grundlage der allgemeinen und gleichen Schulpflicht des ganzen Volkes wird nur noch von Einzelnen, nicht aber vom Volke ſelbſt verſtanden.

Jedoch ſind es gerade dieſe einzelnen Bewegungen, welche die Bahn für eine höhere Auffaſſung des Volksbildungsweſens brechen, und den Kampf mit dem ſtändiſchen Widerwillen der Kirche und der Ge - ſchlechter eröffnen. Ihnen zu Hülfe kommt namentlich in neuerer Zeit die höhere, ſociale Richtung der Nationalökonomie, wie ſie von J. St. Mill und von Senior vertreten wird, die den unendlichen volkswirth - ſchaftlichen Werth der Volksbildung ſchätzen und den Mangel deſſelben ſtatiſtiſch nachweiſen oder, wie Kay, den Zuſtand mit dem des übrigen Europas vergleichen lehrt. Englands Volksſchulweſen wird damit zwar nicht zu einer Urſache und Aufgabe, wohl aber zu einer Folge der großen Reformbewegung werden, die die ſocialen Verhältniſſe umzu - geſtalten im Begriff iſt.

Demnach muß das Elementarunterrichtsweſen Englands in zwei großen Grundformen aufgefaßt werden. Die erſte iſt die des freien Privatunterrichts, die zweite iſt die des öffentlichen Armenun - terrichts. Beide ſtehen in gar keiner Verbindung unter einander,95 noch auch in irgend einer Verbindung mit der Berufsbildung. Senior: The labourer, whose children frequent the public schools, and the ratepayer, whose children do not frequent them p. 9 (Ra - tepayer iſt der Beſitzende, rate iſt die Gemeindeſteuer.) Mit Recht bemerkt Wagner, daß umgekehrt die Privatſchulen zwar oft ſehr gut, aber immer zu theuer, und daher von den Arbeitern nicht beſucht wer - den. Es gibt alſo gar keine wie immer gearteten behördlichen Ein - flüſſe auf die erſteren, während die zweiten ſich weſentlich zu einem förmlich rechtlichen Syſtem ausgebildet haben. Man kann daher auch von einem Recht der erſteren weder in Beziehung auf Schule, noch auf Lehre, noch auf Lehrer reden; ſie ſind freie gewerbliche Unternehmungen. Das Princip der deutſchen Schulpflicht exiſtirt weder für die Gemein - den als Verpflichtung zur Herſtellung der Schulen, noch als Verpflich - tung für die Einzelnen, den Kindern Elementarbildung zu geben. Da - gegen iſt das zweite ein Syſtem, hat ſeine Geſchichte und ſeine Grund - ſätze, und fordert eine eigene Darſtellung; nur muß man eben feſthalten, daß man in dieſem Syſtem nicht etwa ein Volks -, ſondern nur ein Armenbildungsweſen vor Augen hat, dem noch jeder andere ethiſche rechtliche Inhalt fehlt. Die hiſtoriſche Entwicklung des letztern iſt im Weſentlichen in drei Epochen zu ſcheiden.

Die erſte Epoche umfaßt die Beſtrebungen des vorigen Jahrhun - derts; ſie beſteht in den Anfängen von Sonntagsſchulen und von Freiſchulen für arme Kinder, welche vorzüglich ſtreng kirchliche Bil - dung und nur daneben in zweiter Reihe etwas Leſen und Schreiben lehren. Dieſe Schulen beſtehen auch jetzt noch ſelbſtändig, ohne alle Aufſicht und Unterſtützung fort. Sie ſind begründet etwa ſeit 1781 durch die Society for promoting christian knowledge. Die Lehrer ſind freiwillig, entweder aus dem Verein oder aus der Gemeinde, natürlich unentgeltlich und ohne Gehalt. Wagner meint, daß die Sonntags - ſchulen von Rakes 1785 eingeführt ſeien; Buckle dagegen (I. 1. 371) ſagt, Rakes habe dieſelben 1785 verbeſſert, nachdem ſie ſchon 1761 eingeführt und am Ende des 18. Jahrhunderts allgemein geworden. Aber natürlich waren ſie ein kümmerliches, zum Theil zelotiſch benütztes Aushülfsmittel.

Erſt mit dem Beginn unſeres Jahrhunderts fängt die zweite Epoche an, welche den eigentlichen Volksunterricht zur Aufgabe der Volksſchulen macht. Das konnte nur durch Beſeitigung des ſtreng orthodoxen Charakters geſchehen, und das war wiederum für England nur möglich durch das Vereinsweſen. So entſtand die British and Foreign school Society (1805), welche in die von ihr errichteten und unterhaltenen Schulen auch die Dissenters aufnahm und großen Erfolg96 hatte. Sofort trat ihr die ſtreng kirchliche Partei der National Society (1811) entgegen, welche die kirchliche Bildung als Hauptſache aufſtellte, und den eigentlichen Unterricht, die secular education, beinahe direkt verdammte. Will man ſehen, bis zu welchem pädagogiſchen und metho - diſchen Unverſtand die letztere geht, ſo vergl. man Seniors Angaben S. 21 ff. (z. B. eine Frage an einen Schüler: Welche Ereigniſſe knüpfen ſich an Hobah, Berlabai, Roi, Mizbeh, Peniel, Skolem, Ske - chem, Luz ? u. ſ. w.). Dieſe mit Recht ſo genannte Misdirected In - struction machte aus jenen Vereinsſchulen reine Parteiſchulen, und be - ſchränkte und ſtörte alle ihre Wirkung, trotzdem daß (nach Wagner) Lancaſter die Methode der erſtern, Bell die der zweiten weſentlich refor - mirte. An eine Volksſchulbildung war bei den erſten durch den Mangel an Kräften, bei den zweiten durch den Mangel an Freiheit nicht zu denken. Aber Armenſchulen blieben beide. Ihr gemeinſamer Haupt - erfolg war, daß man allmählig eine gewiſſe Bildung auch der niederſten Klaſſe für nothwendig erkannte. Daraus geht die folgende Epoche hervor.

Dieſe dritte Epoche beginnt mit dem Grundſatz, daß die Kin - derarbeit in den Fabriken mit einem Elementarunterricht verbunden ſein ſoll; ſie geht über zu dem Satz, daß die Armenkinder überhaupt nicht ohne Unterricht bleiben ſollen, und langt endlich bei dem Grundſatz an, daß die Polizei das Recht haben ſolle, herumtreibende Kinder in die Schule zu ſchicken. So entſteht das ſpecifiſch engliſche Syſtem des Armen - oder Hülfsſchulweſens, das mithin in den Orten, der Factory schools, der Pauper schools und der Vagrant (ragged) schools be - ſteht, ſich gerade dadurch nur noch ſtrenger von dem deutſchen Schul - weſen der beſitzenden Klaſſe ſcheidet, aber andrerſeits der Verwaltung Anlaß, Recht und Pflicht gibt, ſich wenigſtens für das Volksſchulweſen anzunehmen, eine Behörde dafür aufzuſtellen (1833) und eine möglichſt ſyſtematiſche Armenſchulgeſetzgebung (den Revised Code) zu erlaſſen. Der Ganz der Entwicklung iſt folgender.

Den Beginn bildet die, von dem edlen Robert Peel (dem Stammherrn des Hauſes) durchgeführte Kinderarbeitsbill (42 Georg. III. 73), nach welcher die Kinder nicht nur nicht länger als 12 Stunden täglich arbeiten, ſondern die Fabrikherrn verpflichtet ſein ſollen, täg - lich ihren arbeitenden Kindern wenigſtens vier Jahre hindurch in einer in der Fabrik angelegten Schule, von einem von ihnen ſelbſt gezahlten Lehrer, Unterricht im Leſen, Schreiben und Rechnen geben zu laſſen. Dieß blieb ungeändert mehr als zwanzig Jahre hindurch Rechtens, aber ohne Aufſicht, und mithin ohne Erfolg. Erſt in Folge der Entwicklung des übrigen Armenſchulweſens wurden auch dieſe Fabrikſchulen ausge - bildet und zwar durch 3. 4 Will. IV. 103 (1833), 7 Vict. 13 (1844)97 und 10 Vict. 29 (1847), welche überhaupt das Kinderarbeitsrecht der arbeitenden Klaſſe (working men) organiſiren. Die Punkte, welche den Elementarunterricht darin betreffen, ſind: jedes täglich arbeitende Kind muß täglich drei Stunden zur Schule gehen; der Lehrer wird von den Eltern der Kinder, ſonſt von dem Inſpektor der Fabrik gewählt: vernachläſſigen dieß die Eltern, ſo büßen ſie von 5 20 Schill. Jeder Fabrikinhaber büßt, wenn er Kinder ohne ausreichendes Schulzeugniß aufnimmt. Die Eltern zahlen höchſtens 2 d. wöchentlich. Die Schul - inſpektoren haben die Lehrer zu überwachen, ſie eventuell abzuſetzen, und auf die Errichtung neuer Schulen anzutragen. Dieſe Grundſätze wurden urſprünglich nur für die Hauptfabriken angenommen, einzelne Fabriken und die eigentlichen Handwerke waren davon ganz ausge - ſchloſſen (unregulated bussinesses). Seit 1840 verſuchte man, auch für ſie eine Arbeiterſchulpflicht einzuführen, was dann auf Seniors Bericht und Antrag S. 119 138 geſchehen iſt, nachdem die bis - herigen Anträge faſt in Verzweiflung das Ungenügende des bisherigen Rechts und den elenden Zuſtand der Arbeiterſchulen dargelegt haben.

Das iſt nun jedoch nur der erſte Theil des öffentlichen Armen - ſchulweſens. Der zweite betrifft die Kinder der Armenarbeits - häuſer, der Workhouses. Allerdings haben die Workhouses, in Analogie der Fabriken, ſchon bei ihrer Errichtung den Grundſatz auf - genommen, daß die Kinder derſelben jeden Tag wenigſtens drei Stun - den Elementarunterricht genießen ſollen. Natürlich war das innerhalb der Arbeitshäuſer eine klägliche Einrichtung. Die Ausſchüſſe des Par - laments von 1838 und 1841 erkannten das in ihrem Bericht und demgemäß ward das Geſetz 7. 8. Vict. 101 (1845) erlaſſen, nach wel - chem die Armenbehörde (Poor Law Commissioners) das Recht haben ſollen, Diſtrikts-Armenſchulen (District Pauper Schools) durch Zuſammenlegung von Armengemeinden (Parishes) oder gar Armenver - bänden (Unions) zu errichten, was durch 11. 12. Vict. 82 modificirt, aber doch praktiſch, wie natürlich, ſich als ergebnißlos erwies. 1859 gab es nur ſechs ſolcher Schulen in England, trotzdem daß 1846 und 1850 den Lehrern eigene Gehalte beſtimmt wurden. Die Gründe des Nichtgelingens liegen natürlich nicht in formellen Gründen, wie Senior meint, ſondern eben in der Trennung der Armenſchule vom Volks - unterricht. In dieſem Sinne iſt es faſt ein Fortſchritt, daß man jene Armenſchulpflicht nunmehr auch auf die dritte große Gruppe von Kin - dern ausdehnte, die weder in den Fabriken, noch im Arbeitshaus ſind. Dieſe Bewegung begann im vorigen Jahrzehnt als dritter Theil des Armenſchulweſens durch die ſog. Adderley’s Act.

Die Adderley’s Act (20. 21. Vict. 48) erſcheint nämlich als einStein, die Verwaltungslehre. V. 798Sicherheitspolizeigeſetz, zunächſt gegen das Vagabundenthum (vagrancy) überhaupt (ſ. oben); das Wichtigſte in ihm iſt jedoch die Beſtimmung, daß die Kinder ſolcher Vagabunden (vagrant children) unter be - ſtimmten Vorſchriften in öffentliche Erziehungsanſtalten gegeben werden ſollen. Dieſe Anſtalten ſind die Industrial schools, die auf öffent - liche Koſten errichtet und unterhalten werden, und in welche jede Be - hörde die Kinder von Vagabunden hineinzuſenden das Recht hat. Dieſe Schulen, unter öffentlicher Oberaufſicht ſtehend und genehmigt (daher certified schools), ſollen dieſe Kinder nähren und unterrichten ( in which children are fed as well as tought ), doch dürfen die Kinder auch in Familien zum Unterhalt untergebracht werden. Die Schule dauert bis zum 15. Jahre; die Eltern dürfen nur die Schule für ihr Kind wählen. Die öffentliche Unterſtützung iſt genau bezeichnet (Senior S. 91, 92). Das neueſte Geſetz darüber iſt die Industrial Schools Act 24. 25. Vict. 113 (6. Aug. 1861). Die weſentlichſte Beſtimmung dieſes Geſetzes iſt, daß die Justices das Recht daben, die unbeſchäftigten Kinder in dieſe Schulen zu ſchicken, und daß jeder, der ein aufge - nommenes Kind der Schule entzieht, bis 5 Pfd. gebüßt werden kann. Daſſelbe Geſetz iſt unter gleichem Datum für Schottland erlaſſen. Beide Geſetze ſollen nur bis 1867 Gültigkeit haben. Das St. 25. 26. Vict. 43 dehnt das Recht, die Armenkinder der Kirchſpielsarmen in dieſe Schulen zu ſchicken, auf die Overseers of the Poors aus. An dieſe Schulen haben ſich die Ragged schools (Lumpen-Schulen) ange - ſchloſſen, die von Einzelnen unterhalten und mit Recht als provisional institutions betrachtet werden, die beſtändig zu Industrial schools über - zugehen ſtreben, da ſie doch im Grunde eben ſo nothwendig ſind und eben ſo tüchtig ſein müſſen, als die letztern (Senior 161).

Dieß ſind die Grundverhältniſſe des Armenſchulweſens Englands. Die Nothwendigkeit deſſelben, einmal anerkannt, erzeugte die zweite einer regelmäßigen Unterſtützung, und dieſe wieder die dritte eines eigenen Organes theils für die Austheilung der Unterſtützung ſelbſt, theils für die Oberaufſicht über die unterſtützten Schulen. Denn wie ſchon früher bemerkt, bildet und wächst die behördliche Thätigkeit mit der Pflicht des Staats, an der materiellen Hülfe Theil zu nehmen. So entſtand das Committee of the Privy Council, wie es gewöhnlich genannt wird, oder genauer das Committee for Education des Privy Council, als oberſte Armenſchulbehörde. Schon 1833 waren für jene drei Klaſſen der Armenſchulen 20,000 Pfd. St. bewilligt. Natürlich entſtand ein vielfacher Streit, theils von Seiten der obenerwähnten Geſellſchaften, theils von Seiten der Gemeinden und einzelnen Vereine, um an jenem Gelde Theil zu nehmen. Die Geſetzgebung ihrerſeits99 mußte daher ein Organ für die Vertheilung einſetzen und beſtimmte Bedingungen für die einzelnen Schulen vorſchreiben. Das erſtere war das obenerwähnte Committee mit ſeinen Schulinſpektoren; das zweite iſt dann durch die Beſtimmungen durchgeführt, welche im Syſtem ge - nauer anzugeben ſind. Es iſt nur feſtzuhalten, daß das Committee for Education nicht etwa als eine Art Unterrichtsminiſterium angeſehen werden darf; es hat weder mit dem Privatunterricht, noch mit dem Berufsbildungsweſen irgend etwas zu thun. England bildet daher ſchon mit ſeinem Volksunterricht einen weſentlichen Gegenſatz zu Deutſchland. Eine Vergleichung im eigentlichen Sinne des Wortes iſt hier faſt nur denkbar von dem höchſten ſocialen Standpunkt. Es iſt indeß nicht zu verkennen, daß die internationalen Begriffe und For - derungen hier wie überhaupt in der Verwaltung allmählig zur Geltung kommen. Den Ausdruck hiefür bietet für das Volksſchulweſen das Auftreten des Princips der allgemeinen Schulpflicht unter dem Namen des compulsory system, das freilich nur noch eine kleine, aber energiſche Partei für ſich hat, jedoch täglich mehr Boden gewinnt; namentlich auf Grundlage des ſich immer mehr entwickelnden öffent - lichen Lehrerbildungsweſens (pupil-teachers), die freilich vor der Hand nur noch für die Armen - und Hülfsſchulen beſtimmt ſind. Englands Volksſchulweſen muß daher nicht wie das deutſche und franzöſiſche, als ein im Weſentlichen feſtgeſchloſſenes Syſtem, ſondern als ein mitten in der Bildung auch ſeiner Grundprincipien begriffener Proceß be - trachtet werden, in welchem nicht ſo ſehr die Zuſtände, als eben dieſe ſich bildenden Principien das wahre Objekt einerſeits der Beobachtung, anderſeits der Vergleichung abgeben.

Die Literatur über das engliſche Volksſchulweſen und ſeine frühere Geſchichte bei Buckle, Geſchichte der Civiliſation I. S. 202. (Warum hat Ruge in ſeiner Ueberſetzung die deutſche nicht nachgetragen?) Ueber die Commiſſion für Education ſ. Gneiſt I. S. 326. Ueber die District schools (Armenhäuſer) daſ. II. S. 107. Spezielle Literatur: Wieſe, Briefe über engliſche Erziehung 1852, ſpeziell gut für die Bezeichnung des Charakters derſelben; J. A. Vogt, Mittheilungen über das Unterrichtsweſen Englands und Schottlands 1857, namentlich für das ſchottiſche Volksſchulweſen wichtig; A. Tylor, Induſtrie und Schule 1865, von B. v. Gugler. Der Anhang des letztern iſt viel mehr werth als das Buch ſelbſt und gibt namentlich über die Volks - ſchule eine ſehr gute Darſtellung S. 228 240; E. Wagner, das Volksſchulweſen Englands und ſeine neueſte Entwicklung 1865; beſonders100 werthvoll durch die Beziehung auf den Revised Code von 1859 und 1863; dabei gute hiſtoriſche Darſtellung. Kurz und brauchbar ein Artikel in Schmids Encyclopädie (Art. Großbritannien):

5) Frankreichs Volksſchulweſen und die Instruction primaire.

Neben Deutſchland und England iſt nun der Charakter des Volks - ſchulweſens in Frankreich ein nicht minder beſtimmter als in jenen Ländern. In Frankreich iſt die Volksſchule principiell und praktiſch eine amtliche Anſtalt, mit ſtrengſter amtlicher Leitung, während der freie Elementarunterricht ſich daneben faſt ohne Aufſicht wie in England bewegt. Das Volksſchulweſen gibt daher hier ein ganz anderes Bild als in jenen Ländern.

Der Grund dieſer Erſcheinung iſt nun unzweifelhaft mit dem ſo - cialen Inhalt der franzöſiſchen Revolution verbunden.

Die Revolution hat, wie wir an einer andern Stelle gezeigt, alle ſtändiſchen Unterſchiede rechtlich vernichtet, und das Volk als Ein ſocial homogenes Ganze anerkannt. Die naturgemäße Folge davon war, daß dem entſprechend auch das Bildungsweſen des Volkes gleich - falls als ein Ganzes betrachtet wurde. Frankreichs Geſetzgebung hat daher zuerſt in Europa den Volksunterricht ſyſtematiſch als einen Theil des Bildungsweſens eingereiht, durch die Université daſſelbe in die - ſelben Ordnungen der Verwaltung hineingebracht wie die höchſten Bil - dungsanſtalten, und die Pflicht des Staats grundgeſetzlich anerkannt, für die Volksbildung alter Klaſſen zu ſorgen. Den Ausdruck dieſer Verhältniſſe bilden ſchon die formalen Abſtufungen der instruction pri - maire, secondaire und supérieure, die Akademien als Bildungs - oder Unterrichtsprovinzen, die ganz gleichmäßig die Volksſchule, die gelehrten Anſtalten wie die Facultäten verwalten und die Aufſtellung des erſten eigentlichen Miniſteriums des Unterrichts. So entſprach die Ordnung des Volksſchulweſens formell der Ordnung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft.

Allein indem auch die Revolution Frankreichs es natürlich nicht vermochte, innerhalb jener Geſellſchaftsordnung den Klaſſenunterſchied der Beſitzenden und Nichtbeſitzenden zu beſeitigen, vermochte ſie es auch nicht, die Conſequenzen dieſes Unterſchiedes für Art und Umfang des Elementarunterrichts zu überwinden. Dieſe Conſequenzen beſtanden hier wie immer darin, daß die Beſitzenden ſich ſelbſt den Elementarunter - richt für ihre Kinder verſchafften, während derſelbe für die Kinder der Nichtbeſitzenden durch den Staat geſchaffen werden mußte. So erzeugten ſich gleich anfangs mit der organiſchen Einheit des geſammten Bil - dungsweſens in der Université zwei Grundformen des Elementar -101 unterrichts, den beiden Klaſſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, den Beſitzenden und Nichtbeſitzenden entſprechend. Dieſe beiden Grundformen ſind die Écoles publiques und die Écoles libres mit ihren Pensionnats. Jene bilden das Elementarſchulſyſtem der Verwaltung des Staats, dieſe dasjenige der freien Unterrichtsthätigkeit. Und dieß iſt zunächſt das Grundverhältniß in dem Elementarunterrichtsweſen Frank - reichs; dem Inhalte nach ähnlich wie in England, wo auch die be - ſitzende ihren von der nichtbeſitzenden geſchiedenen Elementarunterricht hat. Nur in Einem Punkte unterſcheidet ſich das franzöſiſche Syſtem weſentlich von dem engliſchen. Während in dem letztern die Public schools den Charakter und das Recht von Armenſchulen haben, ſowohl im Lehr - weſen als in der Schulpflicht, haben die Écoles publiques in Frank - reich dieſen Charakter eben ſo wenig als in Deutſchland. Sie ſind hier wie dort Verwaltungsanſtalten, im Princip für alle Kinder einge - richtet, während der Elementarunterricht außerhalb der Volksſchule grundſätzlich als Ausnahme gilt, faktiſch aber die Hauptſache bildet. In England iſt gerade das Umgekehrte der Fall; die Benutzung der Public schools iſt rechtlich Ausnahme, und die Privats teaching iſt Regel. Und daraus ergeben ſich dann die weiteren Unterſchiede im öffentlichen Schulrecht, ganz abgeſehen von der Lehrordnung ſelbſt, auf die wir hier keine Rückſicht zu nehmen haben.

Jene Stellung der Écoles publiques als der eigentlichen Staats - ſchulen für den Elementarunterricht des ganzen Volkes fordert näm - lich zunächſt, daß die Unterrichtsgeſetzgebung nicht, wie England, bloß für die Armenſchulinſtitute, ſondern für das ganze Reich gleichmäßig gelte und daß daher das Syſtem der Volksſchule gleichförmig für alle Theile des Ganzen durchgeführt werde. Es folgt aber zweitens daraus, daß auch das Syſtem der freien Elementarbildungsanſtalten der ein - heitlichen Geſetzgebung und der einheitlichen Oberaufſicht unterworfen werde. Und ſo enthält nun das Volksſchulweſen, oder vielmehr das, was man in Frankreich als die Instruction primaire innerhalb der Université zuſammenfaßt, drei Momente, welche ſeinen Charakter und Inhalt bilden; das öffentliche Recht der Écoles publiques, das öffent - liche Recht der Écoles libres, und endlich das Verhältniß zwiſchen jenen beiden Grundformen des franzöſiſchen Elementarunterrichts. Ohne Schei - dung und ſelbſtändige Behandlung dieſer drei Elemente läßt ſich kein klares Bild vom franzöſiſchen Volksſchulweſen geben.

A) Das Syſtem des Verwaltungsrechts der öffentlichen Elemen - tarſchulen der Instruction primaire beruht, nach dem deutſchen Muſter, das der franzöſiſchen Geſetzgebung vorgeſchwebt hat, auf dem oberſten Princip, daß die Elementarſchulen öffentliche und Staatsanſtalten102 ſein ſollen, und auf dem Zuſammenwirken der Staatsbehörden, der Gemeinden und der Geiſtlichkeit. Nur in ſeiner Verwaltung iſt es von dem deutſchen Volksſchulweſen grundſätzlich darin verſchieden, daß die Schulpflicht nicht geſetzlich eingeführt iſt, und daß das Verhältniß der Gemeinde weſentlich anders aufgefaßt wird, ſowie daß das Lehrer - weſen ohne alle Selbſtändigkeit iſt. Die Aehnlichkeit iſt daher vielmehr eine formale, als eine weſentliche. Die Grundverhältniſſe dieſes öffent - lichen Rechts ſind folgende.

1) Das oberſte Princip der Volksſchulverwaltung iſt hier wie in allen Theilen der Administration publique die unbedingte Unterordnung der Volksſchule unter die Behörde, welche durch eine ſtrenge Organiſation der Oberleitung bis ins Einzelne verwirklicht wird. Daß das Ganze unter dem Ministre de l’Instruction publique ſteht, iſt ſelbſtverſtänd - lich. Das Behördenſyſtem (Begriff der Behörde ſ. in der vollziehenden Gewalt) dagegen enthält eine ſcharfe und ſtreng durchgeführte Tren - nung der Vollziehung in zwei Organen, den Recteurs de l’Académie (ſ. oben) und den Préfets. Die Recteurs haben nämlich die aus - ſchließliche Leitung der Lehre und der Erziehung (tout ce qui con - cerne le gouvernement intellectuel et moral de l’enseignement). Die Préfets dagegen haben die ebenſo ausſchließliche Verwaltung aller perſönlichen, wirthſchaftlichen und rechtlichen Angelegenheiten der Schule, namentlich die Errichtung von Schulen und die Anſtellung der Lehrer; die Perſonalverhältniſſe der Lehrer ſind ihnen namentlich unter völliger Ausſchließung des Recteur durch die Verordnung vom 22. Auguſt 1854 ſpeciell übertragen. Der Lehrer iſt daher geiſtig vom Recteur und materiell vom Préfet vollſtändig abhängig, und die Bildung eines Lehrerſtandes, dieſes wahren Kernes aller Volksbildung, grundſätzlich unmöglich gemacht. Recteur und Préfet üben ihre Rechte vorzugsweiſe aus durch das Inſtitut der Inſpektoren. Dieſes Inſtitut, eingeführt und or - ganiſirt durch das Geſetz von 1850 auch für die Volksſchule, hat alle Keime der Selbſtändigkeit der letztern durch Anſchluß an die Selbſtverwaltung gründlich vernichtet. So lange daſſelbe in ſeiner jetzigen Form beſteht, iſt keine Hebung des Volksſchulweſens in Frankreich mög - lich, weil keine Selbſtändigkeit des Lehrerſtandes möglich iſt (ſ. unten). Die Inſpektoren nämlich ſind theils Inspecteurs d’académie, Oberin - ſpektoren für die ganze Unterrichtsprovinz, die alſo auch die höheren Bildungsanſtalten überwachen, theils die Inspecteurs d’arrondissement (pour l’instruction primaire), die eigentlichen Schulräthe für die Volks - ſchule. Die letzteren haben Bericht und Referat an den erſteren, der erſtere an den Recteur und den Préfet, je nach ihrer Competenz. Die praktiſche Folge iſt die ſouveraine Herrſchaft des Inspecteur d’arron -103 dissement über das ganze Volksſchulweſen. Le véritable gouverne - ment de l’instruction primaire, c’est l’inspection (Eug. Rendu). Die einzelne Ortsſchule wird vom Maire als Vertreter der Präfektal - gewalt mit dem Recht der Suſpenſion des Lehrers, und vom Geiſtlichen als Vertreter der Rektoralgewalt ausgeübt. Es iſt der vollſtändigſte Organismus der Beherrſchung der Volksſchule.

2) Daneben hat nun allerdings das franzöſiſche Syſtem der Selbſt - verwaltung Platz gegriffen. Es iſt in der vollziehenden Gewalt gezeigt, daß das Weſen derſelben in Frankreich in den Conseils, unter Ausſchließung wirklicher Selbſtthätigkeit der Selbſtverwaltungskörper, beſteht. So iſt es auch im geſammten Bildungsweſen, und ſpeziell im Volksſchulweſen.

Es iſt jedoch von nicht geringem Intereſſe, den Gang der Selbſt - verwaltung in Beziehung auf das Schulweſen, wenn auch nur in den Hauptzügen zu verfolgen.

Die erſten Geſetzgebungen von 1789 und 1793 hatten das Volks - ſchulweſen ganz in die Hand der Gemeinden gegeben. Der damit ent - ſtehende völlige Mangel an Einheit und Gleichmäßigkeit machte die ſtrenge Geſetzgebung Napoleons I. erklärlich. Sein Syſtem war ein einfaches und auch hier allenthalben gleiches. Die Gemeindeſchulen wurden wie alle andern Gemeindeangelegenheiten dem Conseil municipal als berathende, dem Maire als vollziehende Gewalt unterworfen. Doch wurde dieſes Syſtem in der Wirklichkeit nur ſehr theilweiſe ausgeführt, da die Regierung nur wenige wirkliche Schulen herſtellte. Die Reſtau - ration nahm dann das Napoleoniſche Princip auf, nur mit leichter Mo - dification in Beziehung auf die Conseils. Das Geſetz vom 22. Febr. 1816 ſetzte in jeden Kanton ein Comité de surveillance pour encourager et surveiller l’instruction primaire (Art. 1); doch ſtand die Gemeinde - ſchule noch ausſchließlich unter dem Maire und dem Geiſtlichen (Art. 8). Das Geſetz vom 28. Juni 1833 ging einen weſentlichen Schritt weiter, indem es in jeder Gemeinde ein Comité local de surveillance aus dem Maire, dem Geiſtlichen und einigen angeſehenen Bürgern, vom Comité d’arrondissement ernannt, bildete. Dieß, in Verbindung mit dem Princip der Wahl des Schulausſchuſſes im Gemeinderathe, und der freien Wahl des Lehrers durch die Gemeinde bei öffentlicher Be - werbung (ſ. unten) war ein großer Fortſchritt. Das Volksſchulweſen begann ſelbſtändig zu werden. Da fing die centrale Bureaukratie an zu reagiren. Seit 1835 wurden zunächſt Inſpektoren der Akade - mieen eingeſetzt, die freilich anfänglich mit den Volksſchulen wenig zu thun hatten. Die letzteren blieben dabei unter der Herrſchaft des Préfet; da aber derſelbe ſich um das Detail nicht kümmern konnte, ſo erhielt ſich, trotz des Inſpektorats während der ganzen Juliregierung,104 das Princip des Guizot’ſchen Geſetzes von 1833. Erſt die Februar - Revolution vernichtete vollſtändig, zum tiefen Bedauern der intelligenten Klaſſe, die freiſinnige Ordnung des Guizot’ſchen Geſetzes. Um nämlich dem entgegen die einzelne Ortsſchule der centralen Herrſchaft zu unter - werfen, ward durch die Verordnung von 1850 das ganze Syſtem der Comité locaux aufgehoben, und das Syſtem der Inspecteurs d’arron - dissements für die Volksſchule mit faſt unbegränztem Recht als chef de service eingeführt (Art. 20) mit genauem Reglement von 1850 über die Ernennung jedes Inſpecteurs. Nur das Comité d’arrondisse - ment blieb in der neuen, gleichfalls durch die Verordnung von 1850 eingeführten Form der délégués cantonaux beſtehen, von dem Robert (Dict. de la Politique) mit Recht ſagt: ils sont restés dans un état d’inertie complète. So iſt die ganze Volksſchule nunmehr der Ge - meindethätigkeit entzogen, die Selbſtverwaltung in derſelben zu einem bloßen Schein gemacht und durch die völlige Herrſchaft des behördlichen Elements der Reſt der Selbſtändigkeit des Volksſchulweſens zu Grunde gegangen. Dans les écoles communales tout émane et relève des pouvoirs publics: composition du personel, méthode, enseignement. (Rendu, bei Block l. c.)

3) Dem entſprechend iſt mit dem letzten Geſetze die Bildung eines ſelbſtändigen Lehrerſtandes in Frankreich unmöglich geworden. Der Gang der franzöſiſchen Geſetzgebung zeigt, daß die Verwaltung mit richtigem Gefühl die Grundlage des letztern in der Anſtellung des Lehrers erkannt hat. Daher iſt auch gerade auf dieſem Punkt ein lang - ſamer Uebergang von der durch die Revolution hergeſtellten Freiheit zu der gegenwärtigen vollſtändigen Abhängigkeit des einzelnen Lehrers leicht erkennbar. Die Geſetze der Revolution (D. 27 Brum. a. III) laſſen den Lehrer noch durch eine Jury aus der Gemeinde wählen; das Geſetz vom 1. Mai 1802 ſchon durch den Maire in Gemeinſchaft mit dem Conseil municipal, die Verordnung vom 29. Februar 1816 durch den Recteur, jedoch mit Vorſchlag von Seiten des Kantons; die Verord - nung vom 21. April 1828 durch den Biſchof, das Geſetz von 1833 Wahl durch das Comité d’arrondissement auf Vorſchlag des Conseil municipal; Ernennung durch den Miniſter. Von da an beginnt, unter Vorbereitung durch das Syſtem der Inſpektion, der Rückſchritt. Das Geſetz vom 15. März 1830 läßt noch die Präſentation durch den Gemeinderath zu, mit Ernennung durch den Miniſter; die Verordnung vom 9. März 1852 dagegen läßt nur eine Präſentationsliſte (liste d’ad - missibilité) des Conseil départemental, als leere Form, der Ernennung durch den Recteur voraufgehen, bis endlich, nach völliger Organiſirung der Inspection de l’instruction primaire, das Geſetz vom 14. Juni 1854105 (Art. 8) die Ernennung einſeitig dem Préfet überträgt. Damit iſt die völlige Abhängigkeit des Lehrers und die Aufhebung der Gemeinderechte endlich vollzogen; wenig hat daneben das Recht der Gemeinde zu be - deuten, einen Wunſch darüber zu äußern, ob der vom Préfet ernannte Lehrer weltlich oder geiſtlich ſein ſoll (Decret vom 31. Oktober 1854). Ein Lehrerſtand iſt auf dieſer Grundlage in Frankreich unmöglich; mit ihm eine tüchtige Volksbildung.

4) Indeſſen iſt für die Lehrerbildung Einiges geſchehen, wäh - rend die Bedingungen eines ſelbſtändigen Charakters dem Lehrer durch die obigen Rechtsordnungen gänzlich entzogen ſind. Freilich ſind die Schulbücher (livres classiques) unter die ſtrengſte Controle ge - ſtellt und natürlich die Lehre auch; allein man hat denn doch in den Écoles normales primaires den Anfang von Schullehrerſeminarien ge - macht (Reglement vom 21. März 1851), ohne daß jedoch die Seminar - bildung nothwendig erklärt wäre für die Befähigung zur Lehre; dazu genügt einfach ein brévet de capacité, welches von einer Com - miſſion des Conseil départemental, dem Reſte der alten Jury, nach einer höchſt unbedeutenden Prüfung ausgeſtellt werden (Rechnen, Schreiben, Leſen, die Elemente der franzöſiſchen Sprachlehre und das Maß - und Gewichtsſyſtem! Geſetz von 1850, Art. 13). Doch können die Candidaten ſich auch über andere Gegenſtände prüfen laſſen (Art. 46). Uebrigens iſt ſelbſt dieſe Prüfung und das Zeugniß nicht einmal noth - wendig; es genügt ſchon dreijähriger Dienſt als Hülfslehrer ( stage Art. 43. 25). Das geiſtige Element der Lehrerbildung iſt damit na - türlich ſo gut als überflüſſig erklärt. Von einem Lehrkörper oder gar von Lehrerverſammlungen iſt natürlich dabei gar keine Rede.

Dieß ſind die Grundlagen des Rechts der öffentlichen Volksſchulen der Instruction primaire in Frankreich. Die natürliche Folge davon iſt die, daß die beſitzende Klaſſe ſich ſo weit als möglich denſelben entzieht und ein eigenes Syſtem des Elementarunterrichts bildet. Daſſelbe be - ſteht aus den Écoles libres und den Pensionnats.

B) Die Écoles libres ſind ihrem Princip nach eben ſo wie die Pen - sionnats, was ſie in England ſind, gewerbliche Unternehmungen für den Unterricht, während ſie ihrem Rechte nach dennoch im Geiſte aller fran - zöſiſchen Verwaltung der Oberaufſicht der Behörden unterworfen bleiben. Im erſten Sinne ſind ſie frei, und mußten es um ſo mehr ſein, als die geiſtlichen Körperſchaften, um ſich der ſtaatlichen Gewalt der Écoles publiques zu entziehen, eigene Elementarſchulen und Erziehungsanſtalten gründeten. Das Verhältniß der Behörden zu denſelben hat aber dem ganzen Gange des Volksſchulweſens analog drei Hauptepochen durch - gemacht. Die erſte Epoche geht bis 1833 und erlaubt gegen Autoriſation106 die Errichtung von Schulen und Penſionaten aller Art, die einmal errichtet, dann wie jedes Gewerbe, ohne alle weitere Oberaufſicht bleiben. Die zweite ward durch das Geſetz von 1833 begründet, nach welchem jeder 18jährige Franzoſe, der ſein brevet de capacité be - ſitzt und ein certificat de moralité von ſeinem Maire hat, eine ſolche errichten kann (Art. 4 8). Allein das Weſentliche war damals die Ueberwachung dieſer Anſtalten durch das Comité d’arrondissement (Art. 19) mit regelmäßigen Inſpektionen aller Écoles primaires, alſo auch der geiſtlichen und dem Rechte der Suſpenſion, nebſt jährlichem Bericht an den Préfet; alſo eine wirkliche und ernſthaft gemeinte Betheiligung der Selbſtverwaltung auch an dem Gange der École libre. Das Geſetz von 1850 hat dagegen die letztere wieder gänzlich aufgehoben, und an deren Stelle zwei Grundſätze geſtellt, welche in hohem Grade ernſte Folgen haben. Zuerſt hat der Inſpecteur die Genehmigung zu geben; dagegen hat der Inſpecteur gar keine Berechtigung in Be - ziehung auf den Unterricht, ſondern nur in Beziehung auf die Geſund - heit und Sittlichkeit (Art. 21). Es iſt klar, daß, da hiemit auch jeder Bericht ausgeſchloſſen iſt, der Elementarunterricht der beſitzenden Klaſſen in Frankreich ein rein zufälliger, unorganiſcher, gegen keine Art von Einſeitigkeit und Verkehrtheit geſchützter, und im Ganzen der Literatur und dem Volke ſelbſt gänzlich unbekannter werden mußte. Nirgends iſt die Aufhebung des Geſetzes von 1833 verderblicher geweſen, als gerade für dieſe freien Schulen. Sie ſind außerhalb der Selbſtverwaltung und ſelbſt der ſtaatlichen Verwaltung.

C) Es ergiebt ſich aus der obigen Darſtellung, daß der ganze Charakter des franzöſiſchen Elementarunterrichtsweſens auf dem tiefen Unterſchiede der Écoles publics mit ihrer vollſtändigen Abhängigkeit von der Regierung und den Écoles libres mit ihrer völligen Freiheit von derſelben beruht. Beide ſind gleichmäßig von der Selbſtverwaltung der Gemeinde ausgeſchloſſen; beide haben keinen Lehrerſtand; beide haben durch den Mangel an jeder gemeinſamen Vorbereitung auch keine pädagogiſche Literatur; jedes Gebiet ſteht für ſich ſelbſt da, und in dieſer Scheidung drücken ſie die tiefe Scheidung zwiſchen den beiden Klaſſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, der beſitzenden und der nichtbeſitzenden aus.

Das Gefühl dieſer großen Thatſache ſcheint nun auch der Regierung ſchon ſeit Jahrzehnten klar geworden zu ſein. Guizots Geſetz von 1833 war, durch die Betheiligung der Gemeinde an der Volksſchule, nicht bloß eine abſtrakte Einführung der Selbſtverwaltung in das Volksſchul - weſen nach dem Muſter der deutſchen Volksſchule, ſondern vielmehr der erſte große Verſuch, den Klaſſengegenſatz der Geſellſchaft eben durch107 dieſe Theilnahme der Selbſtverwaltung an dem Schulweſen ohne Un - terſchied der öffentlichen und freien Schulen zu bekämpfen und zu be - ſeitigen. Es iſt daher die Aufhebung der Principien dieſes Geſetzes und die Einführung des rein bureaukratiſchen, gegen die niederen Klaſſen unbeſchränkten, gegen die beſitzenden und religiöſen Körperſchaften da - gegen geſetzlich machtloſen Syſtems der Inſpektorate zugleich eine Maß - regel großer rein ſocialer Bedenken und Gefahren, die Niemand überſehen ſollte, der über dieſe Dinge redet. Es wäre hohe Zeit, den eingeſchlagenen Weg zu verlaſſen und durch die Herſtellung eines dem deutſchen Schulweſen entſprechenden Syſtems jenen Gefahren vorzubeugen.

Wir bemerken dieß ausdrücklich, da durch die Erweiterung des Syſtems der Volksſchule, namentlich durch die Verſuche der Einführung des Klaſſenſyſtems nicht allein geholfen werden kann. Schon das Ge - ſetz von 1833 hatte nämlich die Unterſcheidung der Instruction primaire élementaire und supérieure gemacht; die letztere ſollte die Elemente der Naturgeſchichte, der Geſchichte, der Geographie und der Geometrie ent - halten, und je nach Bedürfniß (als höhere Volksſchule) eingeführt wer - den (Art. 1). Es iſt eine ſehr ernſte Thatſache, daß dieſe höheren Klaſſen der Volksſchule durch das Geſetz von 1850 direkt unterdrückt ſind; nur daß dagegen den Gemeinden die Erlaubniß gegeben wird, an ihrer Stelle Specialſchulen (Écoles speciales, intermédiaires, professionelles) und etwa noch Sonntagsſchulen als Écoles d’apprentis zu errichten. Der weſentliche Unterſchied dieſer Beſtimmung von dem Guizot’ſchen Geſetz beſteht darin, daß das letztere die höhere Volksſchule zu einem organiſchen Theile der Volksbildung machte, und damit die Vermittlung zwiſchen den geſellſchaftlichen Klaſſen, den Uebergang von der niedern zur höhern, in das Syſtem des Volksunterrichts auf - nahm, während die Gegenſtände der höheren Schulklaſſen den Charakter allgemeiner geiſtiger Bildung behalten; der Hauch des freieren geiſtigen Lebens, der die höheren Geſellſchaftsklaſſen hebt und trägt, ward durch Geſchichte und Geographie, durch Naturgeſchichte und Geometrie in die Volksſchule übertragen und für die Geſammtbildung des Volkes ſo ein edlerer Boden gewonnen. Das Napoleoniſche Geſetz von 1850 dagegen beſchränkt dieſe höheren Klaſſen zuerſt auf diejenigen Kinder, que leur vocation (!) commerciale, industrielle, entraine au déla de l’enseigne - ment primaire die formelle geſetzliche Anerkennung des Klaſſen - unterſchiedes in der Geſellſchaft. Dann aber erſcheinen dieſe höheren Volksſchulklaſſen in der That auch als einfache Gewerbeſchulen, alſo nicht als ein Theil der Volks -, ſondern vielmehr ſchon der gewerblichen Berufsbildung, als Uebergang zu den Écoles industrielles (ſ. unten), die von den höheren geiſtigen Elementen der Bildung ferne gehalten108 werden. Man muß daher auch auf dieſem Punkte den geſchehenen Rückſchritt nicht bloß in dieſem Sinne, ſondern eben ſo ſehr in dem der ſocialen Gegenſätze beklagen.

Dieß ſind die allgemeinen Grundzüge des franzöſiſchen Volksſchul - weſens. Einzelnes zur Vergleichung im Folgenden.

Geſetzgebung. Im Allgemeinen wird man hier drei Abſchnitte unterſcheiden. Der erſte umfaßt alle Geſetze bis 1833. In dieſer Zeit kümmert ſich die Geſetzgebung noch wenig um die Volksſchule, und über - läßt die Sache faſt ganz den Ortsſchulbehörden. Der zweite geht von 1830 bis 1850; er enthält die Aufſtellung und Durchführung des großen Princips der (deutſchen) Selbſtverwaltung des (Gemeinde -) Schulweſens, und bildet die Epoche des Aufſchwunges der ganzen Volksbildung. Der dritte beginnt mit dem organiſchen Geſetze vom 15. März 1850 und der Inſpektoralorganiſation, nebſt dem Reglement vom 29. Juli und 7. Oktober; das Décret organique vom 9. März 1852 organiſirte die Aufgabe und Competenz der Präfektur und mit ihm der Behörden; auch im Schulweſen das Geſetz vom 14. Juni 1854 beſtimmte namentlich das Verhältniß des Recteur zu den Préfets und organiſirte die Scheidung des öffentlichen Rechts der Lehre von dem der Lehrer, was durch das hochwichtige Dekret vom 31. Oktober 1854 dann genauer durchgeführt ward. Eine ſehr gute Sammlung dieſer Geſetze der neueſten Epoche in: Lois, décrets et réglements rélatifs à l’in - struction publique (vom 2. December 1851 bis 1855). Andere Samm - lungen bei Block (Dictionnaire de l’Administration v. Instruction publique). Spezielle Bearbeitungen bei Laferrière, Cours de droit administratif III. Tom. IV. Ch. 2 und 3; Batbie, Traité du droit public et administratif III. Ch. §. 165 179; beide mit großer Be - rückſichtigung des Lehrer - und Schulrechts. Die franzöſiſche Volks - ſchulliteratur iſt in hohem Grade unbedeutend und beſteht meiſtens nur in Interpretation der Geſetze; es mangelt mit dem ethiſchen Ele - ment des Berufes und Standes das höhere Element der Pädagogik. Zwei gute Schriften von Eugène Rendu: De la loi de l’enseigne - ment, und de l’Education populaire dans l’Allemagne du Nord. Durch dieſen Mangel jedes Standesbewußtſeins und ſelbſt jeder tüchtigen Statiſtik hat auch die deutſche Literatur ſich kein rechtes Urtheil bilden können, um ſo weniger, da den Pädagogen, den einzigen, die ſich bei dem völligen Mangel der Verwaltungslehre mit dem Gegenſtand ernſtlich beſchäftigten, die Hauptſache, das öffentliche Recht und die organiſche Bedeutung der Selbſtverwaltung denn doch nicht ſo geläufig ſein konnte.

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Erſt in der neueſten Zeit iſt nun die Hauptfrage des franzöſiſchen Unterrichtsweſens, die Frage nach der Schulpflicht wieder aufge - nommen, und die Diskuſſion hat weſentlich die Formen und den Cha - rakter der Gegenſätze zwiſchen dem voluntary und obligatory system angenommen. Der Ausgangspunkt war ſchon ſeit der Conſtitution vom 3. September 1791 (Art. 17) die Frage, ob der Elementarſchulbeſuch unentgeltlich ſein ſolle. Cette égalité, profitable aux riches, aurait pour objet d’effacer toute distinction entre les enfants et de leur apprendre l’égalité dès l’age le plus tendre. Batbie, Traité de droit publique et administratif, Tom. III. p. 227. Daher hatte die Conſtitution vom 19. Juni 1793 die Eltern unter ſtrenger Buße verpflichtet, ihre Kinder ohne Unterſchied drei Jahre lang in die öffentliche Schule zu ſenden (Art. 6. 8. 9). Von einer Durchführung dieſes Geſetzes konnte um ſo weniger die Rede ſein, als dieſe Schulen eben nicht allenthalben beſtanden. Man ließ daher das Princip auf ſich beruhen. Guizot ſah den richtigen Weg, indem er damit begann, die Selbſtverwaltung an die Spitze der Schule zu ſtellen durch das treffliche Geſetz von 1833. Das Geſetz vom 15. März 1850 ſagt aus - weichend (Art. 24): L’enseignement primaire est donné gratuite - ment à tous les enfants, dont les familles sont hors d’état de le payer. Zur Entſcheidung kann die Sache nicht gelangen, ſo lange die Elementarſchulen ſelbſt ſo unfrei bleiben, wie ſie das gegenwärtige Regime gemacht hat (ſ. unten Schulrecht).

6) Die franzöſiſchen Nachbildungen im Volksſchulweſen von Belgien, Italien und der Schweiz.

Wir ſchließen unmittelbar an die Darſtellung Frankreichs die Darſtellung der franzöſiſchen Nachbildungen an, die im Grunde nichts weiter ſind, als die einfache Uebertragung der franzöſiſchen Grundformen auf das Schulweſen dieſer Länder, jedoch mit kleinen Modifikationen, welche aus den Eigenthümlichkeiten der betreffenden Länder hervorgehen. Dahin rechnen wir Belgien, Italien und die franzöſiſchen Kantone der Schweiz.

Was zunächſt Belgien betrifft, ſo haben wir ſchon oben auf das Grundgeſetz ſeines Volksſchulweſens von 1842 hingewieſen; die Grund - züge ſind formell und materiell die franzöſiſchen. Die Écoles primaires ſind von der Instruction secondaire geſchieden. Jede Gemeinde ſoll eine Volksſchule haben; jedoch zeigt ſich hier der eigentliche Charakter des Unterſchiedes darin, daß die Gemeindeſchule nicht als ein ſtaat - liches Inſtitut, ſondern als eine ſubſidiäre Anſtalt aufgefaßt wird. 110 L’enseignement officiel n’a d’autre but, ici que de venir en aide à l’enseignement libre; aussi lorsque dans une localité il est suffisam - ment pourvu aux lections de l’enseignement primaire par les écoles privées, la commune peut être dispensée l’obligation d’établir elle même une école. Geſetz von 1842 (Art. 1. 2. 3 ); de Fooz, Administration Belge IV. Tom. II. §. IV. Darüber entſcheidet die Deputation; jedoch ſtellt die Gemeinde die Lehrer in den öffentlichen Volksſchulen an, was ſchon das Gemeindegeſetz (Art. 84) ihr zugeſprochen hatte. Auch hat die Gemeinde ſowohl die Oberaufſicht über die Lehrord - nung als über die Verwaltung; jedoch haben die Geiſtlichen zu aller Zeit das Recht, die Schulen zu beſuchen. Auf dieſe Weiſe unterſcheidet ſich das belgiſche Volksſchulweſen wie das geſammte belgiſche Bildungs - weſen von dem franzöſiſchen dadurch, daß wir hier beide Syſteme auch formell als gleichberechtigt neben einander auftreten ſehen; das Syſtem der freien Schulen mit dem Recht die öffentlichen Schulen zu vertreten, und das der Gemeindeſchulen; und die belgiſchen Verhältniſſe bringen es mit ſich, daß die erſteren meiſt von den geiſt - lichen Körperſchaften ausgehen. Beide Syſteme bekämpfen ſich ſeit 1830 aufs hartnäckigſte, und einer der großen Unterſchiede des ganzen belgiſchen Lebens und Rechts von dem holländiſchen beſteht eben in dieſer Anerkennung der Macht der Geiſtlichkeit, von der ſich Holland in der neueſten Zeit ganz freigemacht hat. Gleichfalls dem franzöſiſchen Vorbilde entſprechend ſind die Écoles primaires supérieures, Bürger - ſchulen mit der Unklarheit ihrer Stellung; ebenſo die Écoles normales, welche die Lehrerſeminarien vertreten (ſ. unten). Die Geſetze und Ver - ordnungen, welche dem Geſetze von 1832 folgen, haben an dieſem Charakter nichts Weſentliches geändert. Belgien iſt, und wohl auf lange Zeit, dasjenige Land, in welchem die Frage nach der Stellung der Geiſtlichkeit zur Volksſchule einfach durch die Scheidung der geiſtlichen von der weltlichen Volksſchule erledigt iſt, ohne daß jedoch die letztere damit ganz von der geiſtlichen Oberaufſicht und Ein - wirkung befreit wäre.

II. Eine formell noch klarere und ausgebildetere Nachahmung des franzöſiſchen Syſtems tritt uns in dem allerdings noch ſehr jungen, und für den größten Theil des neuen Reiches noch ganz auf dem Papier ſtehenden Volksſchulweſen Italiens entgegen. Wir haben den Cha - rakter des italieniſchen Bildungsweſens ſchon oben bezeichnet. Vergleicht man damit ſpeziell das Volksſchulweſen, ſo muß man ſagen, daß während die gelehrte Bildung weſentlich auf dem Syſtem der alten Univerſitäten, die wirthſchaftliche auf dem der deutſchen Vorbilder be - ruht, der Gang des Volksſchulweſens ſich allerdings der Form nach dem111 franzöſiſchen anſchließt. Allein während ſie die Herſtellung der Schulen und die Schullaſt wie in Frankreich zum Gegenſtand einer centralen Reichsgeſetzgebung gemacht, und das ganze Schulweſen einer centralen Inſpektion untergeordnet hat, iſt die einzelne Schule dennoch Gegen - ſtand einer beinahe ganz freien Selbſtverwaltung. Bei aller formellen Ueberſtimmung mit dem den Italienern verſtändlichen franzöſiſchen Recht iſt der Geiſt des neuen Schulweſens ein deutſcher, und man erkennt deutlich, daß nur die noch ſehr große Unfertigkeit des communalen Lebens, namentlich auf dem Lande, die Regierung zwingt, ihrerſeits mehr einzu - greifen, als ſie ſelbſt möchte. In der That hat die neue Geſetzgebung ſich offenbar von dem vielleicht ganz richtigen Gefühle leiten laſſen, daß es ſich hier, um überhaupt zu einem Reſultate zu gelangen, noch nicht ſo ſehr um freie Selbſtverwaltung der Gemeinden, als vielmehr über - haupt nur um ein durch die centrale Gewalt herzuſtellendes Volksſchul - weſen handelt. Das iſt das Princip der neuen Geſetzgebung, welche mit dem Grundgeſetz für die Volksſchule vom 13. November 1859 beginnt. Die leitenden Gedanken dieſes Geſetzes ſind: Scheidung der istruzione inferiore (Elementarſchule) von der istruzione superiore (Bürgerſchule), jede mit zweijährigem Curſus. Aller Volksunterricht ſoll unentgeltlich ſein, und die Gemeinden ſind verpflichtet, den Unterricht darzubieten. Derſelbe iſt geſchieden in Knaben - und Mädchenſchulen. Die Schul - pflicht iſt nach franzöſiſchem Muſter nicht eingeführt, jedoch ſollen die Eltern der ſchulfähigen Kinder vom Sindaco aufgefordert werden, die Kinder zur Schule zu ſchicken, eventuell können ſie mit Bußen dazu angehalten werden; eine Beſtimmung des Geſetzes von 1859, welche ſpeziell in Neapel durch Verordnung vom 7. Januar 1861 eingeſchärft worden iſt. Daneben haben die Gemeinden ihrerſeits ihre Schulen her - zuſtellen und zu erhalten; doch können zwei Gemeinden zuſammengelegt werden. Können ſie dennoch die Laſt nicht tragen, ſo werden ihnen nach dem Geſetze von 1859 (Art. 345) vom Staate Unterſtützungen bewilligt. Das Lehrerweſen beruht wie in Frankreich auf den scuole normale, die theils vom Staate unmittelbar hergeſtellt, theils von den Gemeinden errichtet und den Staatsnormalſchulen gleichgeſtellt ſind. Jeder Schul - lehrer muß eine Prüfung beſtehen und bekommt alsdann die patente di capacita (brevet de capacité). Die Zeugniſſe ſind wieder definitive und proviſoriſche. Die Schulbildung iſt durch das Reglement vom 23. Juni 1860 genauer geregelt. Jede Provinz hat das Recht, ſolche Lehrerſeminarien (scuole magistrale) zu gründen; die Profeſſoren der Lehrerſeminarien haben ſelbſtändige Conferenzen über die Lehrordnung; der Curs dauert drei Jahre; die Prüfungen werden öffentlich, theils ſchriftlich, theils mündlich abgehalten; das patente wird jedoch erſt112 bewilligt, wenn die Seminariſten ein Jahr an einer öffentlichen Schule als Gehülfen gedient haben (Geſetz von 1859, Art. 170. 171). An dieß Syſtem der Volksſchule hat ſich ein Syſtem von Fortbildungs - ſchulen (scuole per gli adulti), ſowohl Abendſchulen als Feiertags - ſchulen angeſchloſſen, ſowie ein Verein für Worteſchulen. (asili rurali per la infanzia Decr. reale vom 1. Oktober 1866). Dieß Syſtem ward nun ſeit 1859 beſtändig weiter ausgebildet. Die Beſtimmungen über die Bewilligung der Staatsunterſtützung ſind in einem Decr. reale vom 7. Juli 1863 genauer ausgeführt; dieſelbe ſoll in Nothfällen, in Fällen der Verarmung, und endlich da bewilligt werden, wo die Gemeinden ſich durch Wiederholungsſchulen auszeichnen. Das Geſetz vom 22. April 1866 hat die Summe von 300,000 Lire für die Herſtellung von Wieder - holungsſchulen bewilligt, welche übrigens nicht bloß für Gemeinden, ſondern auch für Geſellſchaften und ſelbſt für Privatunternehmungen beſtimmt werden. Für die Lehrer ſind Prämien und Medaillen aus - geſetzt (Decr. reale vom 3. Januar 1865 und 10. Juli 1866). Die Inſpektion der Volksſchulen wurde durch Decr. reale vom 12. Dec. 1865 geordnet; das Geſetz vom 6. December 1866 hat endlich endgültig die ganze Organiſation der Verwaltung beſtimmt, welche wir hier in ihren Grundzügen aufführen, als Anhang zu den früheren Bemerkungen; die Grundzüge ſelbſt ſind ganz nach franzöſiſchem Muſter. Das Consiglio superiore iſt in die drei franzöſiſchen Sektionen getheilt, die Comitati per l’istruzione universitara, die Istruzione secondaria und die Istru - zione primaria. Jedes dieſer Comitati beſteht aus ordentlichen und außerordentlichen Unterrichtsräthen. Hauptaufgabe iſt die Oberaufſicht und die Abfaſſung von Berichten über den Zuſtand des Bildungs - weſens, jedes in ſeinem Gebiete. Unter dieſen Comitati beſteht ein Syſtem von Ispettori (20), jedoch hier beginnt der weſentliche Unter - ſchied von dem franzöſiſchen Syſteme. Schon dieſe Ispettori haben nicht das Recht, ſich in die eigentliche Verwaltung zu miſchen, ſondern ſollen nur die Zuſtände des Unterrichtsweſens conſtatiren, mit gutem Rath zur Hand gehen und berichten. Unter ihnen wieder ſtehen die Kreis - inſpektoren (ispettori di circondario), die zunächſt dem Provinzial - Collegium untergeordnet ſind, welche aus drei gewählten Mitgliedern der Deputatione provinciale, und den Lehrern der erſten Schulen beſtehen. Von der Gewalt der franzöſiſchen Préfets iſt hier keine Rede und die Inſpektoren ſind in der That unter franzöſiſchem Namen deutſche Schul - räthe. Die unterſte Stufe der Oberaufſicht führt der delegato sco - lastico, den der Miniſter für jedes Mandamento (Bezirk) ernennt, der aber kein Beamteter iſt, ſondern eine untergeordnete Stellung hat, und deſſen wichtigſte Funktion der Bericht an das Miniſterium über die113 örtlichen Bedürfniſſe der Schule iſt. Auf dieſen Grundlagen baut Italien an ſeinem Volksſchulweſen, das offenbar, wenn die angegebenen Ge - danken durchgeführt werden, ein ſehr wohlgeordnetes und ſegensreiches werden kann, da es die franzöſiſche Bureaukratie nur ſo weit mit ihren Formen in ſich aufgenommen hat, als ſie der Lehrfreiheit nicht hinder - lich iſt. Von der Herrſchaft der Geiſtlichkeit iſt gar keine Rede mehr. Die neueſten eben ſo reichhaltigen, als wie es ſcheint ehrlichen Nach - richten in der Statistica del Regno d’Italia Istruzione publica e pri - vata 1866. 4. Frühere Angaben bei Brachelli, Staaten Europas, S. 537. Die erwähnte Statistica geſteht ſelbſt, daß hier noch viel zu wünſchen übrig bleiben wird.

III. Die Schweiz endlich hat in ihren franzöſiſchen Kantonen das franzöſiſche Syſtem aufgenommen. Doch müſſen wir uns bei mangeln - den genaueren Angaben über das Recht des Schulweſens auf die von Brachelli angegebenen ſtatiſtiſchen Daten beſchränken.

Beſonderer Theil. Das Syſtem des Volksſchulrechts.

Das Syſtem des Volksſchulweſens zeigt nun die Anwendung der im Charakter des letztern liegenden Grundſätze in den einzelnen orga - niſchen Verhältniſſen der Volksſchule. Da dieſe ihrem Weſen nach gleich und daher, wenn auch mit dem verſchiedenſten Rechte, bei allen Volks - ſchulen vorhanden ſind, ſo ſind ſie die Grundlagen der Vergleichung für alle einzelnen Beſtimmungen des Volksſchulrechts, während der Cha - rakter daſſelbe als ein Ganzes auffaßt.

Die Grundlagen dieſes Syſtems ſind die Organiſation (der Verwaltung), das eigentliche Schulrecht (als die Geſammtheit der Beſtimmungen, durch welche das Princip der Schulpflicht für Verwal - tung und Individuum zum Ausdruck gelangt), das Lehrerweſen (als Grundlage der beſondern Funktion) und die Lehrordnung (als Aus - druck der ſocialen Auffaſſung des Elementarunterrichts).

Jede einzelne Beſtimmung dieſes Syſtems muß nun ihrerſeits als Ausdruck des Charakters des Schulweſens aufgefaßt und von dem Standpunkt deſſelben zur Vergleichung gebracht werden. Man wird dabei die öffentliche Schule von der Privatſchule ſtets deßhalb ſcheiden müſſen, weil nur in der erſteren Princip und Thätigkeit der Verwal - tung vollſtändig zu Tage tritt, während der Regel nach die letztere,Stein, die Verwaltungslehre. V. 8114auf die höheren Klaſſen der Geſellſchaft berechnet, in ihrer Lehrordnung den Uebergang zu den Berufsſchulen in ſich trägt.

Es iſt dabei feſtzuhalten, daß, je höher die Geſittung eines Volkes ſteht, um ſo mehr der Unterſchied zwiſchen Volks - und Be - rufsſchulen ſich auch im Rechtsſyſtem derſelben verwiſcht, und der letzteren daher ſo weit möglich die Aufgabe geſtellt wird, daſſelbe zu leiſten, was die Privatſchulen leiſten. Je mehr dieß erreicht wird und das Kriterium dafür ſind Klaſſenſyſtem und Lehrordnung um ſo höher ſteht das Volksſchulweſen.

Erſte Gruppe. Oeffentliche Volksſchule.
A. Organismus der Verwaltung.

Der Organismus der Schulverwaltung enthält die Organe der vollziehenden Gewalt und ihre Competenz, welche für die Ausführung der den Elementarunterricht durch die öffentliche Volksſchule betreffenden öffentlich rechtlichen Beſtimmungen zu ſorgen haben.

Die Einheit dieſes Organismus wird ſtets von dem Vorhandenſein des Miniſterialſyſtems, die Klarheit der Gliederung von der allgemeinen hierarchiſchen Eintheilung, das Princip ihres Rechts von der Aner - kennung und dem Rechte der Selbſtverwaltung, ſpeziell der Gemeinde, Umfang und Inhalt der einzelnen Competenzen dagegen vorzugsweiſe von dem Maße abhangen, nach welchem der Staat oder die Gemeinde zu den Schullaſten beitragen.

Das Syſtem des Organismus wird ſtets auf die drei großen Ka - tegorien: Miniſterium, Behörden und Selbſtverwaltung zurückgeführt werden. Die hiſtoriſche Entwicklung dieſes Syſtems beruht in allen Ländern zunächſt formell darauf, daß der Antheil, den jedes jener drei Elemente an die Verwaltung hat, immer genauer beſtimmt oder die Competenz derſelben immer mehr mit der naturgemäßen Funktion jener Elemente in Harmonie gebracht wird. Dem Inhalte nach geht dann dieſe Entwicklung dahin, die Schulverwaltung mit der Schullaſt mehr und mehr in die Hände der Gemeinden zu legen, den Behörden aller Art die Oberaufſicht über die Harmonie dieſer Gemeindeverwaltung mit den beſtehenden rechtlichen Vorſchriften zu geben, durch die Miniſterien aber die Geſetze zu entwerfen und für die Gleichartigkeit ihrer Befolgung für alle einzelnen Grundverhält - niſſe des Volksſchulweſens zu ſorgen. Dieſen drei Competenzen ent - ſprechen die Bezeichnungen: Ortsſchulweſen, Landesſchulweſen und Volksſchulweſen.

115

Während in dieſem Syſtem die Stellung und Competenz des Miniſteriums kaum irgendwo zweifelhaft iſt, iſt dagegen das Be - hördenſyſtem weſentlich verſchieden, und zwar, indem es einerſeits ſtets aus zwei Elementen beſteht, dem weltlichen und dem kirchlichen, andererſeits aber die Competenz beider gegenüber der Gemeinde den eigentlichen Kern der hiſtoriſchen Entwicklung enthält.

Die urſprünglich einzige Behörde für die Volksſchule iſt unzweifel - haft die Geiſtlichkeit. Erſt im vorigen Jahrhundert, wo der Staat die Volksſchule für eine Anſtalt der Verwaltung erklärt, beginnt er für die Verwaltungsbehörde bei dem Elementarunterricht Rechte zu fordern. Dieſe Rechte entwickeln ſich langſam, und in jedem Staat wohl in verſchiedener Weiſe dahin, daß ſie ſich urſprünglich nur auf die Her - ſtellung und wirthſchaftliche Verwaltung der Schule beziehen, dann aber, namentlich durch die Errichtung der Lehrerſeminarien aus Staats - mitteln, einen Antheil, und an manchen Orten das ausſchließliche Anſtellungsrecht der Lehrer erzeugen, und endlich auch die Lehre ſelbſt, den Unterricht, umfaſſen. Hier nun gelten meiſt zwei Syſteme: entweder die Verbindung der geiſtlichen Behörde mit der weltlichen in der Oberaufſicht, oder die Scheidung derſelben, in welcher wieder die weltliche Behörde die äußeren Angelegenheiten der Schulverwaltung, die kirchliche Behörde dagegen bald den ganzen Unterricht oder nur den religiöſen Unterricht leitet, Verhältniſſe deren rechtlichen Ausdruck dann die Unterordnung des Schullehrers unter den Geiſtlichen oder weltliche Behörde bildet, die oft nicht einmal genau definirt iſt.

Nachdem auf dieſe Weiſe beide Elemente der Organiſation ſich verbunden, entſteht nun mit der höheren Entwicklung der hierarchiſchen Gliederung auch das Syſtem der Behörden in den Schulcollegien, die wieder zum Theil zugleich für die Berufsſchulen competent ſind, und ihre Funktion theils als entſcheidendes Organ, theils als Aufſichts - organ mit verſchiedenen Formen und Namen vollziehen. Die Noth - wendigkeit und Einheit aller Verwaltung und die immer wachſende Gleichheit der Bildungs - und Lebensverhältniſſe erzeugt dann das Inſtitut der allgemeinen, wir möchten ſagen, der miniſteriellen Auf - ſicht, unter der die Landesbehörde mit der ihrigen und endlich die Ortsbehörde in Verbindung mit der Geiſtlichkeit und Selbſtverwal - tung ſteht.

Auf dieſe Weiſe ergeben ſich folgende elementare Kategorien der Organiſation der Volksſchulverwaltung in ihrer Vergleichung, bei denen natürlich nur feſtzuhalten iſt, daß die höheren Organe ſtets auch mit der Berufsbildung zu thun haben.

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Einer wirklichen Vergleichung, die nur durch Reduktion auf die obigen Kategorien möglich iſt, entbehren wir. Es iſt klar, von welcher entſcheiden - den Wichtigkeit ſie wäre. Die Anhaltspunkte dafür dürften folgende ſein.

England, Frankreich und Deutſchland zeigen den verſchiedenen Charakter ihrer Geſammtauffaſſung am deutlichſten gerade in dem Ver - hältniß jener Organiſationen.

England hat keine Miniſterial-Organiſation und kann keine haben (ſ. oben). Die Unklarheit in der geltenden Organiſation iſt jedoch natur - gemäß eben ſo groß als in dem Princip des Schulweſens überhaupt. Man muß hier drei Syſteme des Organismus unterſcheiden. Zuerſt das des Committee , das unter ſich 50 Schulinſpektoren hat, welche jährlich genauen Bericht erſtatten. Die Autorität dieſer Behörde iſt aber nur eine moraliſche, keine legale, d. i. vollziehende. (Schöll in Schmids Encyklo - pädie, Art. Großbritannien S. 87); jedoch kann ſie Regulations aufſtellen, wenn die Schule Unterſtützung annimmt. Zweitens iſt durch Ordre in Council vom 25. Februar 1856 ein Education Departement mit zwei Sektionen, dem Elementar - und dem Vorbildungsunterricht der Armen (Dep. of Science and Art) errichtet, das unter dem Lord President ſteht (ſ. unten und Gugler S. 198); offenbar eine proviſoriſche Einrichtung. Drittens beſtehen neben beiden ganz ſelbſtändig die Syſteme der großen Schulvereine, namentlich das der National school und der High Church mit ihrer an das biſchöfliche Syſtem angeſchloſſenen Organiſation: Primas von England, Biſchöfe mit zehn Pairs; die Diöceſanbehörde unter den Biſchöfen und örtlich die Dekanate (Schöll a. a. O. 89. 90). Es iſt klar, daß das Inſpektionsſyſtem aus Frankreich ſtammt, während das National school System ächt engliſch-kirchlich iſt. Hier iſt aber noch alles im Werden.

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Frankreichs Schulverwaltung iſt ein Theil ſeines Beamten - organismus und ſeines Syſtems der Conseils, nur daß hier der Unterſchied des weltlichen und geiſtlichen Elements ſchon in dem von uns ſog. Landes - (Departemental -) Schulweſen auftritt. Das Schema iſt folgendes (ſ. die Quellen oben):

  • I. Ministre Conseil impérial
  • II. Préfet et Recteur Conseil départemental et Conseil académique Inspecteur général
  • III. Maire et Curé Délégués cantonaux Conseil municipal Inspecteur de l’in - struction primaire.

Princip: Die Lehre gehört dem geiſtlichen, die Anſtellung und Verwaltung dem weltlichen Element, die Gemeinde hat nur über die Schullaſten zu berathen (ſeit 1850), der wahre herrſchende Beamte iſt der Inspecteur de l’instruction primaire.

Deutſchland. Bei aller Verſchiedenheit hat dennoch die Ver - waltungsorganiſation Deutſchlands im Weſentlichen denſelben Charakter. Der Schwerpunkt liegt hier, ſtatt wie in Frankreich im Landesſchul - weſen, vielmehr im Ortsſchulweſen, und das Princip des Ortsſchul - weſens iſt das Recht der Selbſtverwaltung, das eigentlich die Ortsbe - hörde nur erſetzt, wo es fehlt, und durch die Inſpektion auf die geſetzlichen Vorſchriften zurückgeführt wird, wo dieſe von der Gemeinde nicht befolgt werden. Das geiſtliche Element ſteht verſchieden; theils hat es den ganzen Unterricht zu leiten, theils nur den Religions - unterricht, theils iſt es die oberaufſehende, überhaupt nicht mehr unter - richtende Ortsbehörde ſelbſt. Hier fehlt uns leider viel Kenntniß im Einzelnen.

Oeſterreich. Geſetzgebung auf Grundlage der Thereſianiſchen Geſetze, die noch bei dem Ortsſchulweſen ſtehen bleiben. Die Ver - faſſung der deutſchen Volksſchule vom 11. Auguſt 1805, revidirt 1838, welche das Landesſchulweſen durch die Conſiſtorien begründen. Errich - tung des Unterrichts-Miniſteriums am 23. März 1848, Errichtung der Landesſchulbehörden 1850, mit Inſtruktion vom 15. April 1850. Daneben Lehrerverſammlungen unter dem Schuldiſtrikts - Aufſeher (Verordnung vom 26. Mai 1851); Errichtung des Unter - richts-Miniſteriums (Entſchließung vom 12. April 1852); Gemeinde-Ordnungen von 1849 und 1862); Einrichtung der Schulräthe (28. Auguſt 1854); der Ortsſchulaufſeher (Erlaß vom 15. Januar 1853); des Unterrichtsraths mit der Sektion für Volksſchulen (ſ. Helfert an mehreren Orten. Stubenrauch II. 367 392. Vorzüglich Ficker bei Schmid V. 274 ff. Spezielle An - gaben der Organiſation S. 299 ff). Darnach iſt das Schema:

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  • I. Miniſter. Unterrichtsrath.
  • II. Statthalter mit Referenten (Verordnung vom 19. Sept. 1853). Landesſchulbehörde (Conſiſtorium). Schulrath und Dechant.
  • III. Ortsbehörde. Gemeinde. (Präſentationsrecht). Geiſtlicher und Orts - ſchulaufſeher.

In dieſer an ſich ſehr guten Organiſation fehlt nur eins, um ihren ganzen Erfolg zu ſichern, und das iſt eine allgemeine und freie Lehrer - bildung (ſ. unten).

Preußen. Princip des Allgemeinen Landrechts II. 12. 9. : alle Volksſchulen unter Aufſicht des Staats zu ſtellen, ohne das Verhältniß der Grundformen zu regeln. Organiſirung daher von unten hinauf, im Anſchluß an die Regierungen (Landesſchulweſen). Inſtruktion für die Regierung vom 23. Oktober 1817 und Beſchränkung der Geiſtlichen auf den Religionsunterricht unter den Conſiſtorien (Inſtruktion ebend. und Verfaſſung von 1850, Art. 24). Errichtung des Miniſteriums (Verordnung vom 3. November 1817); der religiöſe Unterricht dem evang. Oberkirchenrathe zugewieſen (Reglement vom 29. Juni 1850). Un - klarheit des Allgemeinen Landrechts über die Ortsſchule; Einführung der Schulvorſtände auf dem Lande. Circ. vom 28. Oktober 1812 (Prediger, Gemeinde und Patron) und der ſtädtiſchen Schuldepu - tationen. Städteordnung vom 19. November 1818, was in allen folgenden Städteordnungen beibehalten iſt. Ueber die nichterfüllte Ab - ſicht, eine neue Organiſation auf Grundlage der Verfaſſung von 1850 (Art. 24 26) zu erlaſſen, ſowie über die noch beſtehenden Landesſchul - verwaltungen und die einzelnen Geſetze: Rönne, Unterrichtsweſen I. und deſſen Staatsrecht I. 203 und II. 441. 442.

Die Grundverhältniſſe ſind demnach:

  • I. Miniſter. Evangeliſcher Ober - Kirchenrath (für Real - Unterricht).
  • II. (Oberpräſidium) Regierungen. Provinzial-Schulcol - legien. Landräthe und Seminar - Direktoren (evangeliſch). Dechant (katholiſch).
  • III. (vacat) Gemeindevertretung. Patron. Geiſtliche. (vacat).

Es iſt klar, was hier fehlt: die Beſtimmung der Competenzen in Beziehung auf die Aufgaben der Ortsſchule, da hier im Grunde dieſelben Organe vorwalten, beaufſichtigen und an die entſcheidende119 Stelle (Regierung) verichten, da die Landesaufſicht (Landrath ꝛc. ) gleich - falls ohne feſte Competenz iſt. Die Tüchtigkeit des Lehrerſtandes gleicht aber alles aus.

Bayern. Die Grundlage der Organiſation bildet die Beil. VI. zur Verfaſſungsurkunde; dann als Ausführung die Formations - Verordnung vom 17. December 1825. Einzelne Beſtimmungen ſ. unten. Die Rechtsverhältniſſe beruhen auf dem Gegenſatz der zwei unfertigen Gedanken, daß erſtlich alle Schullehrer unter der Oberauf - ſicht des Staats ſtehen und daher auch von der Behörde angeſtellt werden, zweitens daß ſie trotzdem keine pragmatiſche Stellung (amt - liche) haben. (Pözl, Verwaltungsrecht §. 186.) Das Syſtem iſt folgendes:

  • I. Miniſterium.
  • II. Kreisregierung. (vacat). Diſtriktsſchulinſpektor, eventuell Viſitationen durch Regierungs - Commiſſäre.
  • III. Ortsſchulorgane als Lokalſchulinſpektion mit Viſitation. Zuſam - mengeſetzt aus Ortsvorſteher, Geiſtlichen und Gemeinderäthen ohne Scheidung ihrer Funktionen. Verwaltung der Stiftungen bloß unter der Gemeinde.

Hier mangelt vor allem Klarheit in den Funktionen, nament - lich bei der Ortsſchule; wodurch die Organe der letztern in der Un - möglichkeit ſind, Mängel der Ortsverwaltung ſelbſtändig zur Sprache zu bringen, ohne ſich ſelbſt anzuklagen. Die Scheidung der Aufſicht und der Ortsſchulverwaltung erſcheint als durchaus nothwendig. Die Organiſirung der Lokalinſpektion noch jetzt nach der Inſtruktion vom 3. September 1808. Qualifikationsliſten des Diſtriktsinſpektors über die ganze Localſchulinſpektion (Miniſterial-Erlaß vom 9. März und 31. Auguſt 1833); Organiſirung der Viſitationen (Verordnung vom 1. April 1832). Pözl, Verwaltungsrecht §. 188. Approbation der Schulbücher von den Biſchöfen (Reſcript vom 8. April 1852. Vgl. Klemm bei Schmid, Encyklopädie I. S. 430 32).

Baden. Vor 1830 ſehr große Ungleichartigkeit. Entſcheidend dann die Verordnung über das Volksſchulweſen vom 15. Mai 1834, welche auch jetzt noch die Grundlage des beſtehenden, mit vielen einzelnen Verordnungen erweiterten Rechts iſt. Sammlungen von Offenburg und Schmid nebſt der Literatur bei Holtzmann in Schmid, Ency - clopädie I. S. 387. Weitläuftiges und verwickeltes Syſtem der Schul - behörden. Oberſchulbehörde (Oberrath für Juden) mit Religions - und Schulconferenzen; dann die Bezirksbehörden mit Bezirksviſitationen; örtlich der Pfarrer als Schulinſpektor mit dem Schulvorſtand aus der Gemeinde gebildet. Ueber oder neben der Oberſchulbehörde wieder120 eine Oberſchulconferenz; für die mit den Volksſchulen verbundenen Induſtrieſchulen wieder die vier Regierungen als Oberſchulbehörde; und dieß alles in unklar geordneten Competenzverhältniſſen unter dem Miniſterium des Innern.

Hannover. Die Grundlagen der geſchichtlichen Rechtsentwicklung kurz und klar von Pabſt bei Schmid, Encyklopädie IV. S. 319. Hier auch die für Hannover keineswegs unbedeutende Volksſchul-Literatur deſſelben S. 326. Die Grundlage der gegenwärtigen Ordnung iſt das Geſetz vom 26. Mai 1845, nebſt der Inſtruktion vom 31. December, welche zuerſt ein gemeinſames und gleichartiges Volksſchulweſen her - ſtellte. Die Organiſation iſt durch eine Reihe von Verordnungen ſeit 1850 geregelt und zwar in Ausführung des Geſetzes über Kirchen - und Schulvorſtände vom 14. Oktober 1848 und Zuſatzgeſetz vom 5. No - vember 1850. Cultus-Miniſterium mit einem Schulreferenten, mit Ge - neralinſpektion; in jedem evangeliſchen Conſiſtorium ein Oberſchulinſpektor; örtlich Schulvorſtände in jedem Schulbezirk (Geiſtliche, Schullehrer und Gemeindevorſtände), die Verordnung vom 19. Mai 1859 hat dann das Oberaufſichtsrecht geregelt, indem auch alle Privatſchulen unter die (kirchlichen) Oberſchulinſpektoren geſtellt ſind, wie denn überhaupt Han - nover ſich durch ſtrenge Unterordnung der Schule unter die Kirche aus - zeichnet. Pabſt a. a. O. S. 326.

Kurheſſen. Ein ziemlich eingehender Artikel von Bezzenberger bei Schmid III. S. 475 ff. Geſchichte deſſelben (Heppe, Geſchichte des deutſchen Volksſchulweſens. Bd. I. und II. 1858, und deſſen Bei - träge zur Geſchichte des heſſiſchen Schulweſens 1850). Organiſation: Schulvorſtand; auf dem Lande Landrath und Pfarrer ohne, in den Städten mit Gemeindemitgliedern; Inſpektion durch die Pfarrer. Oberſchulinſpektor ohne beſtimmte Competenz; dritte Inſtanz die Provinzialregierung, jedoch mit Beſchwerderecht an das Miniſterium des Innern.

Heſſen-Darmſtadt. (Strack in Schmid Encyklopädie III. S. 511 ff.) Kurze Geſchichte des früheren Zuſtandes bis zum Geſetze vom 6. Juni 1832, welches die einheitliche Grundlage des ganzen Schulweſens iſt, insbeſondere der Organiſation derſelben, nebſt In - ſtruktion vom 10. Juni 1832. Princip iſt hier im Gegenſatz zu Hannover die ſtrenge Trennung der Schule von der Kirche und Aufſtellung von eigenen Schulbehörden, des Oberſchulraths, der ſeit 1849 mit dem Oberſtudienrathe verbunden iſt, unter dem Namen der Oberſtudien-Direktion. Von da an raſche und gedeihliche Entwicklung des ganzen Volksſchulweſens. Die Bezirks-Schulcom - miſſionen haben die Aufſicht in den Kreiſen; örtlich verwaltet der121 Ortsſchulvorſtand: Geiſtliche, Bürgermeiſter und zwei Gemeinde - vertreter (Strack a. a. O. S. 513).

Schwarzburg-Rudolſtadt. Volksſchulgeſetz vom 23. März 1861. Dazu einige Abänderungen, Verbeſſerung der Lage des Lehrers. Geſetz vom 18. März 1864.

Belgien. Grundgeſetz für das Volksſchulweſen (instruction pri - maire) vom 23. September 1842. Syſtem der Organiſation: 1) bür - gerliche Civilinſpektion, für je einen der 108 Kantone einen Inspecteur cantonal; dieſe Inspecteurs ſtehen nach franzöſiſchem Muſter unter dem Inspecteur général der Provinz; 2) geiſtliche Inſpektion: Recht auf Beaufſichtigung durch die Geiſtlichkeit und Bericht an die Miniſter; 3) die Inspecteurs généraux verſammeln ſich jährlich zu einem ober - ſten Schulrath (Commission centrale, Verordnung vom 5. Dec. 1843), wobei die Geiſtlichkeit berathende Stimme hat. (Le Roy bei Schmid I. 497. 498. De Fooz, Droit administrativ Belge IV. T. II.)

Holland. Grundgeſetz vom 13. Auguſt 1857. Oberaufſicht durch die Gemeinden, die in Belgien abgeſchafft iſt; im Uebrigen derſelben gleich, mit Bezirks - und Provinzialinſpektoren und jährlicher Conferenz derſelben, unter Ausſchließung der Geiſtlichkeit, und ohne einen Generalinſpektor. (Le Roy bei Schmid III. 566. Geſetz von 1857. Tit. V. 52 ff.)

B. Das Schulrecht. Schulpflicht und Schullaſt.

Es würde von nicht geringem Werthe ſein, ſich über den Begriff des Schulrechts zu einigen, da wohl nur von ihm aus die Grund - lage einer Geſammtauffaſſung der betreffenden Verhältniſſe und Rechte, namentlich aber eine Vergleichung der verſchiedenen Länder möglich wird.

Ein Schulrecht kann nur da entſtehen, wo die Schule als eine Anſtalt der Verwaltung erſcheint. Sowie nämlich dieſelbe den Ele - mentarunterricht als in ihrer Aufgabe liegend erkennt, ſo muß ſie ſich zwei Fragen vorlegen. Die erſte iſt die, ob die Einzelnen die Ver - pflichtung haben, den in der Volksſchule gebotenen Elementarunter - richt zu benutzen; die zweite iſt die, wie die materiellen Bedingungen dieſes obligat gewordenen Elementarunterrichts zu beſchaffen ſind. Die Antwort auf die erſte Frage erzeugt den Begriff der Schulpflicht; das iſt die geſetzlich ausgeſprochene Pflicht zur Benutzung der Elementar - ſchulen; die zweite Frage den Begriff der Schullaſt, das iſt die Ver - theilung und Herſtellung der öffentlichen Leiſtungen für die beiden122 Hauptbedingungen der Schule, die Schulhäuſer und das Einkom - men der Lehrer. Die Geſammtheit aller über dieſe drei Punkte beſtehenden öffentlich rechtlichen Vorſchriften bilden dann das Schul - recht (im engeren Sinn).

Es leuchtet nun ein, daß das rechtliche Princip der Schulpflicht die beiden letztern Punkte nicht bloß erzeugt, ſondern auch ihrer Ord - nung zu Grunde liegt, während das Umgekehrte nicht der Fall iſt. Und hier nun unterſcheidet ſich zunächſt die deutſche Bildung von der fran - zöſiſchen und engliſchen. Während das deutſche Schulrecht aus dem geſetzlichen Princip der Schulpflicht hervorgegangen iſt und der Ge - meinde die Schullaſt überläßt, enthält das franzöſiſche den Widerſpruch, die Schullaſt zur geſetzlichen Pflicht der Gemeinde zu machen, während die individuelle Schulpflicht nicht exiſtirt, endlich der Schulbeſuch zu - letzt ſelbſt zu Grunde geht; England endlich hat auch keine ſelbſtändige Schullaſt, ſondern nur das Syſtem von freien Unterſtützungen durch die Regierung.

Urſprünglich erſcheint jede Schule als Stiftung und die Verwaltung ihres Vermögens iſt eine rein corporative, ſo weit der Elementarun - terricht nicht unmittelbare Aufgabe einer kirchlichen Corporation iſt. Mit der geſetzlichen Schulpflicht dagegen wird die Herſtellung der Schule eine Gemeindelaſt. Da nun aber die Gemeinden theils grundherrliche, theils bürgerliche ſind, ſo entſteht der Grundſatz, daß dieſe Laſt ent - weder dem Grundherrn oder der Stadt zufalle; der Staat erkennt im vorigen Jahrhundert noch keine Unterſtützungspflicht an, wohl aber fängt man an, die Gemeinden zu nöthigen, die mit der Schulpflicht entſtehende Schullaſt zu übernehmen. Die unbedingte und allgemeine Ausführung dieſer Pflicht erzeugt nun aber einerſeits die Nothwendig - keit, der wirthſchaftlich unfähigen Gemeinde eine öffentliche Hülfe zu gewähren, andererſeits die Forderung nach einem feſten Syſtem für die Vertheilung der Schullaſt. Dieß Syſtem der Schullaſt empfängt nun in jedem Staate ſeine Geſtalt je nach dem Verhältniß, in welchem die Schule zur Gemeinde ſteht. Da wo die Gemeinde als ſolche mit der Volksſchule gar nichts zu thun hat, wie in England, iſt die Schullaſt keine Gemeinde -, ſondern eine Armenlaſt, wenn ſie nicht durch Vereine hergeſtellt wird. Da wo die Gemeinde als reine Ver - waltungsaufgabe daſteht, wie in Frankreich, iſt die Schullaſt grundſätz - lich zum Theil Staats -, zum Theil Gemeindelaſt. Da wo die Ge - meinde die Schule verwaltet, wird ſie weſentlich Gemeindelaſt. Und hier wird dann wieder die Vertheilung dieſer Laſt durch das Princip des Gemeinderechts beſtimmt. Die Reſte der ſtändiſchen Grundherrlich - keit erhalten lange zu lange den Grundſatz, daß der Grundherr123 vorzugsweiſe das Schulhaus zu bauen habe, der Gehalt der Lehrer aber nach den Formen der grundherrlichen Abgaben (Naturalleiſtun - gen und Zehenten) von den Anſäßigen zuſammen zu bringen ſei. Erſt mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Gemeinde auch auf dem Lande tritt an die Stelle dieſer Naturalleiſtungen eine dem ſtaatlichen Steuer - ſyſtem ſich anſchließende Steuer für das Schulweſen; das Einkommen des Lehrers wird ein feſter Gehalt, und jetzt ſcheiden ſich die beiden Syſteme, nachdem die Verwaltung der Schule in materieller Beziehung entweder durchgreifend amtliche oder Selbſtverwaltung iſt. Da wo im Sinne der erſteren Princip und Ausführung des Schulweſens Sache der amtlichen Verwaltung wird (Frankreich), wird die erforder - liche Summe amtlich feſtgeſtellt, durch den Staat erforderlichen Falles ergänzt und durch die Gemeinde höchſtens repartirt, während der Gehalt der Lehrer ein feſter und von einem Schulgeld keine Rede iſt. Da wo im Sinne der zweiten die Volksſchule zwar im Princip Staatsſache, in der Ausführung aber Gemeindeſache iſt, verwaltet die Gemeinde ſelbſt das Schuleinkommen, und erſcheint in den höchſten Formen (Preußen) als ſelbſtändige Corporation mit dem Rechte der Selbſtbeſteuerung, der Erhöhung der Gehalte und einem Schulgelde, das jedoch meiſtens von den Behörden feſtgeſtellt wird. Die hiſtoriſchen Verhältniſſe bei der Entſtehung des Schulweſens haben dabei vielfache Einzelheiten in den örtlichen Rechtsverhältniſſen hervorgerufen, namentlich in Beziehung auf die Verpflichtung der früheren Gutsherren, welche jedoch mehr und mehr in den Hintergrund traten vor der Frage, ob und wie weit die Gemeinde ein Selbſtbeſteuerungsrecht für die Schule ausüben, die Einnahmen ſelbſtändig verwalten und endlich das Schulgeld aufrecht halten ſolle. Das erſtere erſcheint nothwendig, das zweite, jedoch unter Genehmigung der Landesverwaltung, richtig, und das letztere trotz aller Gegengründe, als die materielle Baſis für das individuelle Vorwärtsſtreben der einzelnen Lehrer, vorbehaltlich der Modifika - tionen, die in Beſtimmung der Höhe und der Erhebung deſſelben im Intereſſe des Lehrerſtandes erforderlich ſcheinen.

Es bleibt die Aufgabe ſpezieller Arbeiten, in dieſem Gebiete die Richtigkeit des Satzes nachzuweiſen, daß die Competenzen der Ver - waltungsorgane ſich ſtets nach dem Verhältniß der Theil - nahme von Staat, Gemeinde und Einzelnen (Schulgeld) an der Schul - laſt richten. Die hervorragenden Syſteme des geltenden Rechts ſind folgende.

Das engliſche Syſtem iſt ſehr intereſſant, weil es dieſes Verhältniß124 vielleicht von allen am deutlichſten zeigt. Was zuerſt das Princip der Schulpflicht betrifft, ſo iſt es erſt in der neueſten Zeit überhaupt zur Sprache gekommen, und die zwei Parteien oder Anſichten des Voluntary system und des Compulsory system (ſpeziell vielfach als das preußiſche bezeichnet) ſtehen einander ſcharf gegenüber. (Gut bei Schöll a. a. O. S. 85. Gugler bei Tyler S. 228 ff. und 278.) Rechtlich iſt die Schulpflicht nur noch als ein Stück Sicherheitspolizei betrachtet, indem nur die herumſchweifenden Kinder, vagrant children, polizeilich in die Industrial schools geſchickt werden können, und dieß iſt erſt durch die Adderley’s Act. 20. 21. Vict. 48 beſtimmt worden (ſ. oben). Hier iſt noch alles im Bilden definitiver Anſichten begriffen. Die Unter - ſtützung durch das Committee for Education hat ein förmliches Syſtem von Verpflichtungen der unterſtützten Schulen hervorgerufen, und dieſes Syſtem iſt es, welches den Inhalt des Revised Code (1863) bildet. (ſ. Schöll S. 87. Gugler S. 230; beſonders Wagners Volksſchul - weſen Englands und ſeine neueſte Entwicklung 1865, ausführlich und gut, mit hiſtoriſcher Darſtellung.) Die dafür geltenden Grundſätze ſind nach dem Revised Code: 1) jede Schule (alſo auch alle Vereins - ſchulen; Statiſtik derſelben ſehr gut bei Schöll S. 91 ff. ) hat das Recht auf Annahme und Ablehnung der Unterſtützung; 2) die gewährte Unterſtützung wird ſpeziell zur Erbauung der Schulen, zur Herſtellung der Lehrmittel und zur Verbeſſerung der Gehalte der öffentlich ge - prüften Lehrer berechnet; 3) die Rechte der Verwaltung dafür beſtehen in der Ausübung der Inſtruktion (ſ. oben), namentlich in den von ihnen vorgenommenen öffentlichen Prüfungen, der Anſtellung der Lehrer und der Aufſicht über die ſanitäre Einrichtung der Schul - häuſer. Eine vielbeſtrittene Frage iſt die nach dem Schulgeld (Ca - pitation). Dieſe kann nach engliſchem Princip nur bei Armenſchulen als Pflicht aufgeſtellt werden, und iſt in dieſem Sinne auch geſetzlich geregelt. Die Verpflichtung zur Tragung der Schullaſten liegt grund - ſätzlich auf der Armengemeinde, ſo weit die Schule nicht Vereinsſchule iſt. Speziell ſind namentlich die Beſtimmungen von 7. 8. Vict. 161. 1845 (Art. 40), wornach die Poor Law Commissioners, Armen - gemeinden (parishes) zu Schulgemeinden zuſammen zu legen, und Schulhäuſer zu bauen oder zu miethen, bis zu ein Fünftel der ganzen Armenſteuer. Die Unterſtützungen (Privy Council grants) haben wie geſagt das Syſtem der Inſpektion erzeugt, und damit die Frage, ob es nicht beſſer wäre, auch dieſe Summe durch Armenſteuer (rates) einzu - bringen. Wohlbegründete Oppoſition dagegen: Senior a. a. O. S. 2 11. und 33 47. Rückſichtsloſe Belaſtung der Geiſtlichkeit ebend. S. 12 14. Schulgeld anerkannt für die Arbeiterklaſſe, ſo weit ſie nicht Unter -125 ſtützung findet. Dabei beſtändige freiwillige Beiträge im Wachs - thum. Bezeichnende Antwort in der Schul-Enquête. Auf die Frage: ob die Theilnahme der Beſitzenden an der Bildung der Nichtbeſitzenden wachſe? antwortet ein Hr. Watkinds: Taking the voluntary contri - bution as representing the interest, which the richer classes takes in the education of the poor there can be no doubt about it, because those voluntary contribution have increased. (Senior S. 18.) Die Schrift von Tyler iſt für die ganze engliſche Auffaſſung ſehr inſtruktiv, beſonders S. 85 ff. Die Ueberzeugung davon, daß die Schulverwaltung eine Staatsangelegenheit werden müſſe, drückt ſich in dem Satze aus, daß das Privy Council System für das ganze Reich eingeführt werden ſolle. (S. 39.) Senior gibt übrigens für die be - rufsmäßig (ſ. unten) gebildeten Lehrer den Gehalt von 20 bis 60 L. nebſt Wohnung an, partly supplied by the Government, partly from the school p. 21.

Frankreich. Die Gemeinde gibt nothwendig Schulhaus und Wohnung (Geſetz von 1850 Art. 37). Gehalt der Lehrer: feſter Gehalt: 200 Fr., als Minimum, durch die Gemeinde repartirt; die rétribution scolaire iſt das Schulgeld; wenn beides nicht zuſammen 600 Fr. ausmacht, gibt der Staat den Zuſchuß; dieſer Gehalt ſteigt mit 5 Jahren auf 700, mit 10 Jahren auf 800 Fr., aber wird jähr - lich vom Préfet bewilligt! Das Schulgeld wird jährlich von dem Conseil municipal beſtimmt; Arme ſind vom Schulgeld frei. Sehr genaue Vorſchriften über die Rechnungslegung beim Gemeinderath durch den Maire, namentlich durch das Geſetz von 1850 regulirt (ſ. oben).

Deutſchland. Bei großer örtlicher Verſchiedenheit gelten folgende ziemlich allgemein angenommene Grundſätze: das Schulhaus baut die Gemeinde; die Ausgaben werden als Steuerzuſchläge umgelegt; für die Wohnung des Lehrers exiſtiren nur wenige Verpflichtungen, doch iſt ſie wohl in den meiſten neuen Schulhäuſern inbegriffen. Der Ge - halt der Lehrer hat nur noch in einzelnen Staaten ein geſetzliches Mi - nimum gefunden; zum Theil beſtehen leider! noch Naturalleiſtungen, Grundbeſitzungen, die der Lehrer ſelbſt verwalten muß. Das Schulgeld iſt ziemlich allgemein; jedoch muß oft leider! der Lehrer ſelbſt es ein - treiben. Meiſtens wird daſſelbe unter Genehmigung der Behörde feſtgeſtellt; die Armen ſind wohl allenthalben frei. Die tiefe Kluft zwiſchen Beſitz und Nichtbeſitz iſt durch die Vermeidung eigener Aufſtellung von Armen - ſchulen wohl ziemlich allgemein beſeitigt. Das ſchulpflichtige Alter iſt kein ganz gleiches. Meiſtens zwiſchen dem 6. und 12. oder 14. Jahr. Vgl. Brachelli, Staaten Europas S. 534. Die Verwaltung der Schullaſt iſt meiſt Gemeindeſache, unter Oberaufſicht der Behörde,126 nicht wie in Frankreich, Sache der Behörde unter Vorlage an die Ge - meinde. Uebrigens ſind dieſe Verhältniſſe nirgends gehörig zuſam - mengeſtellt. In den einzelnen Staaten gilt folgendes.

Preußens Schulrecht (im obigen Sinn) leidet in ſeiner Klarheit darunter, daß die Verpflichtung des Staats, für genügende Schulan - anſtalten zu ſorgen, allerdings durch die Verfaſſung von 1850 aner - kannt, aber in ihrer Ausführung noch immer nicht durch ein allgemeines Schulgeſetz geordnet iſt. Princip iſt jedoch nach Art. 25, daß zu - nächſt die Gemeinde, der Staat erſt in zweiter Linie zu Herſtellung der Schulen verpflichtet iſt. In Gemäßheit dieſer leitenden Grundſätze iſt die Schulgemeinde eine ſelbſtändige Corporation, welche für jede einzelne Schule eine ſelbſtändige Societät bildet (alſo eigentlich eine Verwaltungsgemeinde für die Elementarſchule). Die Schullaſt iſt ſchon ſeit dem Allgemeinen Landrecht II. S. 12, 29 38 eine Laſt dieſer So - cietät, ertheilt nach Verhältniß der Beſitzungen und Nahrungen §. 31. Das Verhältniß der alten Grundherren erſt 1855 nach dem Einkommen beſtimmt. Minimalſätze ſind noch nicht allgemein beſtimmt; ebenſo iſt die Pflicht des Staats zur Unterſtützung nicht organiſirt, jedoch werden dieſelben erforderlichen Falles regelmäßig bewilligt. Rönne hat dieſe Verhältniſſe ſehr gut zuſammengefaßt in ſeinem Staatsrecht I. §. 201. Das Schulgeld iſt Gegenſtand heftiger Controverſen. Früher faſt allgemein, iſt es zwar durch die Verfaſſung von 1850 (Art. 25) auf - gehoben, beſteht aber nicht nur fort, ſondern ward ausdrücklich als das naturgemäßeſte Emolument der Lehrerbeſoldung anerkannt. (Circ. vom 6. März 1852.) Regulirung deſſelben durch die Regierungen, Erhebung durch die Gemeinden. Schulhaus und Lehrerwohnung durch die Societät herzuſtellen, ſchon nach dem Allgemeinen Landrecht a. a. O. §. 31. Die Verwaltung geſchieht durch die Schuldeputationen, die wieder theils unter den Patronen der ſtändiſchen, theils unter den Landräthen der polizeilichen Epoche ſtehen. Auch hier ſehr genaue Vorſchriften. Im Ganzen hat jedoch bei aller principiellen Gleichheit noch immer jede Provinz ihr Schulrecht (ſ. Ebmeyer, Rechtsver - hältniſſe der preußiſchen Elementarſchule 1861; Rönne, Unterrichts - weſen Bd. I. Deſſelben Staatsrecht I. §. 201 und II. §. 445).

Oeſterreich. Schulhäuſer früher gemeinſchaftlich durch die Patrone und Gemeinden, jetzt durch Grundſteuerzuſchläge (Erlaß vom 3. September 1849.) Genaue Vorſchriften über die Errichtung und Erhaltung der Schulen ſchon ſeit der Verfügung von 1805. Die ſog. Schul-Concurrenz ſ. bei Ficker a. a. O. S. 244 ff. ; die Geſetze ſeit 1848; Darſtellung S. 294 ff. In jeder Gemeinde ſoll mindeſtens eine Gemeindeſchule bei 100 ſchulpflichtigen Kindern ſein. Gehalt127 der Lehrer ſchon 1785 mit dem Minimum von 130 fl., eines Gehülfen mit 70 fl. beſtimmt. Leider beruht ein großer Theil davon auf den mit den Lehrerſtellen nur zu gewöhnlich verbundenen Meßnerdienſten. Doch ſind die Lehrer, ſelbſt die Gehilfen penſionsfähig. Schulgeld allgemein eingeführt, nach den Ortsverhältniſſen beſtimmt; Arme ſind frei. Die Gemeinde hebt leider noch nicht allenthalben ſelbſt ein, und noch beſtehen Naturaleinkünfte. Unterſtützungen werden vom Un - terrichts-Miniſterium bewilligt. Landesſchulfonds und ſein Ein - treten bei bedürftigen Gemeinden. (Ficker a. a. O. S. 290 f. Die hiſtoriſche Entwicklung bei Helfert a. a. O. mehrfach; das geltende Recht kurz bei Stubenrauch II. 76. 379.)

Bayern. Schulhäuſer und Lehrerwohnung theils noch grundherrlich unter Mitwirkung der Gemeinde, theils durch die letztere allein. Schulgeld anerkannt; beſtimmt durch die Kreisregierung. Arme frei; die Gemeinde zahlt für ſie. Leider gilt auch hier noch der niedere Kirchendienſt als zweite Haupteinnahmsquelle; die Gemeinde zahlt erſt dann Schulſteuer, wenn das Minimum von 250 fl. nicht dadurch erreicht wird. Eventuell Zuſchuß aus Kreismitteln. Leider denkt man ſich das Amt des Lehrers nach dem Gemeinde-Edikt noch mit allerlei Gemeindeſchreibereien wohl vereinbarlich (Gemeinde-Edikt §. 94). Die beſtehenden Rechte ſchon in der Beilage zur Verfaſſungsurkunde VI. §. 21 und der Formativverordnung von 1825 aufgeſtellt. Das Verhältniß, in welchem die Gemeinden, der Kreisfonds und die Centralkaſſe beitragen, hängt wohl vom Ermeſſen des Unterrichts - Miniſters ab (ſ. Pözl, Verfaſſungsrecht Abſchnitt II). Verwaltungs - recht §. 184. Penſionsfähig ſind die Lehrer nicht; doch ſucht man da - für durch Vereine zu ſorgen (Pözl §. 185, 186).

Baden. Syſtemiſirung der Schullaſten, Herſtellung der Schul - häuſer, Beſteuerung der Gemeinden durch Umlagen, Schulgeld durch das (ausführliche) Geſetz vom 28. Auguſt 1835, als Folge der Volks - ſchulordnung von 1834. Vergleiche Holtzmann bei Schmid I. 388 (ſ. unten über Lehrerrecht).

Hannover. Pflicht der Schulgemeinden zur Tragung der Schullaſt; Staatshülfe nur ſubſidiär; wenn das Fehlende nicht durch Umlagen aufgebracht werden kann. Leider beſtehen auch theilweiſe Naturallieferungen und Küſterſtellen. Schulgeld allgemein; mit Be - freiungen (Papſt a. a. O. 328).

Kurheſſen. Die Rechte und Pflichten ſcheinen hier örtlich be - ſtimmt und hiſtoriſch feſtgeſtellt zu ſein, da ein Schulgeſetz mangelt. Leider auch hier noch Kirchendienſt als Einkommensquelle der Lehrer, nebſt Naturalien. Verbindung der Staatsſubvention mit der Gemeinde -128 beiſteuer, und vielfach Schulgeld. Landſchulkaſſe: Bezzenberger a. a. O. S. 488, 89.

Heſſen-Darmſtadt. Der Staat hat namentlich ſeit 1832 ſehr viel gethan, und die Schullaſten unter öffentlicher Unterſtützung ge - regelt, neue Schulen, vorzüglich Winterſchulen, eingeführt; die Grund - lage jedoch iſt der Gemeindebeitrag; zu dem Ende Eintheilung in 26 Schulbezirke (Strack a. a. O. 514).

Belgien. Das Geſetz von 1842 hat drei Klaſſen von Elemen - tarſchulen eingeführt: 1) Gemeindeſchulen, ganz auf Koſten und unter Verwaltung der Gemeinde; 2) Privatſchulen mit Unterſtützung. Jede Gemeinde kann auch eine öffentliche Unterſtützung (par la province ou par l’Etat) erhalten, wird jedoch alsdann (engliſches Vorbild) unter die leitende Oberaufſicht der Staatsbehörden geſtellt; 3) ganz freie Elementarſchulen ohne Schulgeld. Jede Gemeinde ſoll wenigſtens Eine Gemeindeſchule haben. (Le Roy a. a. O. I. S. 496. De Fooz a. a. O. S. 339.)

Holland. Eine Schulpflicht exiſtirt nicht; nur geſetzliche Auf - forderung an die Eltern (Geſetz von 1837 Art. 31): jede Gemeinde hat ihre Elementarſchule herzuſtellen, doch haben die Provinzialſtände das Recht, die Zahl der Schulen zu vermehren. Schulgeld gilt. Arme unentgeldlich. (Le Roy a. a. O. III. 567 ff.) Beinahe komiſch klingt, was de Boſch-Kemper a. a. O. §. 32 ſagt: Die Vertreter der Schul - pflicht, meiſt Franzoſen (?) und Deutſche, ſind in dieſer Frage nicht frei von ſocialiſtiſchen und (zugleich!) einſeitig monarchiſchen Grund - ſätzen, die in dem Weſen der Sache eben ſo ſehr mit einander verbunden ſind, als die protektioniſtiſchen (der Großinduſtriellen!) und ſocialiſtiſchen Theorien in der Volkswirthſchaftspflege. Warum hat er nicht hinzu - gefügt, daß am Ende im Weſen der Sache Republik, Königthum, Deſpotie, Verfaſſung und Verwaltungsrecht überhaupt mit einander verbunden ſind!

C. Das Lehrerrecht.

Das Lehrerrecht umfaßt alle geltenden Rechtsbeſtimmungen, welche ſich auf die berufsmäßige perſönliche Stellung des Lehrers beziehen.

Dieß Lehrerrecht iſt es nun, in deſſen innerer und äußerer Ent - wicklung ſich die Auffaſſung von dem Weſen und der Bedeutung des Volksunterrichtes, und mittelbar von dem geiſtigen Verhältniß der beſitzenden zur nichtbeſitzenden Klaſſe ſpiegelt. Es iſt in dieſem Sinne ein hochwichtiger Theil der innern Geſchichte eines jeden Landes.

129

Der Lehrerſtand entſteht nicht mit der Volksſchule; das Entſtehen eines ſelbſtändigen Standes und Berufes der Volksſchullehrer iſt viel - mehr erſt mit unſerer Zeit und ihrer höheren Auffaſſung gewonnen.

Urſprünglich iſt der Elementarunterricht eine Sache der Ortsgeiſt - lichkeit, oder der bürgerlichen Gemeinde. Es gibt daher anfangs zwar einzelne Elementarlehrer, aber keinen Stand und Beruf derſelben. Die Einführung der Schulpflicht, die weder England noch Frankreich kennen, verpflichtet dann allerdings auch die Landgemeinde zur Aufſtellung von Elementarlehrern, die aber die Verachtung der hörigen Klaſſe mittragen, für die ſie beſtimmt ſind. Die Elementarlehrer ſind daher Diener des Herrn, ohne Ehre, ohne Geltung, ohne ſocialen und ethiſchen Werth. Erſt das Auftreten der großen Principien der ſtaatsbürgerlichen Geſell - ſchaft, ausgedrückt in der Pädagogik, erhebt zunächſt ihre Funktion zur Anerkennung. Dieſe Anerkennung ſpricht ſich zuerſt in der Forderung einer materiell ſelbſtändigen Stellung (Gehalt, Schulgeld, Wohnung), dann in dem Grundſatz aus, daß ihre Funktion eine öffentliche, mit dem Volkswohl organiſch verbundene, alſo eine amtliche ſei, womit ſie ſich von der abſoluten Abhängigkeit von den ſtändiſchen Herren ab - zulöſen beginnen. Damit ſind in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr - hunderts die wirthſchaftlichen und rechtlichen Elemente des Lehrerſtandes gegeben; dann tritt mit unſerm Jahrhundert das geiſtige hinzu, die fachmäßige Lehrerbildung. Die Epoche des eigentlichen Volks - lehrerſtandes beginnt allenthalben mit dem Grundſatz, daß eine fachgemäße Bildung die Bedingung zur Anſtellung, alſo die Voraus - ſetzung der Erfüllung des Berufes ſei. Das iſt die wichtigſte Er - rungenſchaft der großen pädagogiſchen Literatur des vorigen Jahr - hunderts. Aus dieſem Grundſatz entſteht zuerſt das Syſtem der Schullehrerſeminarien, welche das Bewußtſein der ſittlichen Ge - meinſchaft des ſchweren Berufes erzeugen und veredeln, und mit ihren Prüfungen die Gewähr für den Volksunterricht ſelbſt geben. An dieſe Seminarien ſchließt ſich naturgemäß die genauere Ordnung des öffent - lichen Rechts der Anſtellung und Entlaſſung der Schullehrer, ſo wie der Organismus ihrer Inſpektion, theils durch das ſtaatliche Element der Regierung, theils durch das ſtändiſche der Geiſtlichkeit und Patrone, theils durch das freie der Gemeindeorgane. Alles dieß, zuſammen - wirkend, beſeitigt nun nach vielen Kämpfen die tiefe und verderbliche Scheidewand zwiſchen dem Lehrerſtande der Volks - und dem der Berufsſchulen, in der ſich im Grunde die Scheidung der höhern und niederen Claſſe ausdrückt, und bewirkt die allmählige Anerkennung der großen Idee, daß alle Glieder des Lehrberufs ein großes, das ganze geiſtige Leben der Völker umfaſſendes Ganze, mit dem gleichenStein, die Verwaltungslehre. V. 9130Recht und der gleichen Aufgabe ſein ſollen. Erſt mit dieſer Aufnahme des Volkslehrerſtandes in den Lehrerſtand, mit der Beſeitigung ſeiner niedrigen Stellung in Gemeinde und Geſellſchaft beginnt die beſſere Zukunft deſſelben, und man kann erſt jetzt ſagen, daß das Maß der Stellung, des öffentlichen Rechts und der Achtung der Volkslehrer den Maßſtab für die Volksbildung ſelber abgeben.

Einen ſolchen, über jeden örtlichen Dienſt und jede Mißachtung in geſellſchaftlicher Beziehung erhobenen Lehrerſtand, der ſich mit den Be - rufslehrern als Eins fühlt, hat nur Deutſchland. Daher hat auch nur das deutſche Volksſchulweſen ein Syſtem des Lehrerrechts. Dieß beruht auf folgenden Punkten.

I. Die Lehrerbildung enthält die Grundſätze, nach welchen die fachgemäße Bildung für den Volksunterricht hergeſtellt wird. Dieſe Herſtellung wieder hat drei Elemente, jedes mit eigenem Recht und eigener Ordnung.

Das erſte iſt das Lehrerbildungsinſtitut ſelbſt, das Lehrerſemi - nar, und deſſen Stellvertretungen.

Das zweite beſteht in dem Umfang und Inhalt der auf dem Seminar gebotenen Lehrerbildung.

Das dritte iſt die Seminariſtenprüfung und ihr Recht bei Anſtellungen.

Die Vergleichung der verſchiedenen Rechte beruht für dieſen Theil darauf, ob und in wieweit die regelmäßige, öffentliche Seminariſten - bildung und Prüfung als Vorzug oder als rechtliche Bedingung der Anſtellung angeſehen wird.

II. Die Anſtellung. Dieſelbe hat ein berufsmäßiges und ein formell rechtliches Element. Das erſte liegt in dem oben bezeichneten Verhältniß zur berufsmäßigen Bildung. Der Charakter des öffentlichen Rechts der Anſtellung beruht auf dem Antheil, den das Amt, die Geiſtlichkeit und die Gemeinde an Anſtellung und Entlaſſung beſitzen. Dieſes öffentliche Recht aber wird ſeinerſeits naturgemäß in ſeiner Geſtaltung eben von dem Grade der Bildung abhängen, den man für den Lehrerberuf fordert; und das iſt es anderſeits wieder, was die Verſchiedenheit jenes Rechts und zuletzt auch die Bewegungen in demſelben erklärt.

III. Das Recht des Lehrweſens endlich beſtimmt den Antheil, den entweder die einzelnen Elementarlehrer oder der ganze Lehrkörper auf Berathung und Beſchluß über die didaktiſchen und disciplinaren Verhältniſſe der Lehrer ſelbſt haben. Es iſt klar, daß dieß Recht des Lehrweſens ſtets weſentlich der Ausdruck und die Conſequenz der orga - niſchen, zu einer öffentlich rechtlichen Aufgabe gewordenen Lehrerbildung131 ſein, mit ihr entſtehen, durch ſie gelten und in ihr ihr richtiges Maß finden wird.

Auf der Grundlage dieſer Elemente des Lehrerrechts, die aller - dings, wie geſagt, nur in Deutſchland vollſtändig ausgebildet ſind, wird ſich nun eine Darſtellung und Vergleichung des Lehrerweſens in den verſchiedenen Ländern Europas, vor allen Dingen aber, vermöge des innern geiſtigen Zuſammenhanges derſelben, eine wahre Geſchichte dieſes Lehrerweſens im Ganzen wie im Einzelnen geben laſſen. Das Folgende kann daher nur die wichtigſten leitenden Thatſachen enthalten.

England. Die Geſchichte der Lehrerbildung, ſpeziell der Semi - narien, iſt höchſt bezeichnend. So lange nur die Vereine die Volks - ſchulen unterhalten, iſt natürlich von denſelben keine Rede. Der Ver - ein ſtellt die Lehrer (teachers) an, wobei die National Society vorzugsweiſe auf religiöſe (bibliſche), die British Society dagegen auf allgemeine Bildung ſah. Wieſe (S. 158 ff. ) hat die folgenden Ver - hältniſſe nicht gut verſtanden. (Siehe dagegen über den Unterſchied der Secular Education von der kirchlichen ſehr gut Schöll a. a. O. Senior, Heads of Report. Wagner a. a. O. mehrfach.) Das Ent - ſtehen der öffentlichen Unterſtützung erzeugte nun die Erkenntniß, daß die Lehrerbildung die Vorausſetzung der Volksbildung ſei. Daher erſter Verſuch des Privy Committee, Seminarien zu errichten (normal school, nach franzöſiſchem Muſter). Dagegen ſofort heftige Oppoſition des Klerus. Eine eigene Deputation der Biſchöfe bewirkte das Auf - geben des Planes. Jetzt nahmen aber Private ſich der Sache an, namentlich Sir Shuttleworth in Tufnell. Sie errichteten die Training Colleges , und dieſe empfingen nun vom Committee Unterſtützung, wie die Schulen ſelbſt, und unter den gleichen Bedingungen. Daraus ergab ſich das gegenwärtige Syſtem, nach welchem allerdings nur ge - prüfte Lehrer und Lehrerinnen bei den Schulen zugelaſſen werden, ſo weit eine Volksſchule Unterſtützung fordert. In jenen Training Colleges als Privatſeminarien gibt es zwei Klaſſen von Seminariſten, private (auf eigene Koſten) und öffentliche (eine jährliche Unterſtützung von 10 20 Pfd.) Dieſe Seminariſten werden mit dem achtzehnten Jahre zur Bewerbung um eine Stelle in den Seminarien zugelaſſen, und wenn ſie arm ſind, als Queens scholars auf Staatskoſten aufge - nommen und unterhalten. Jährliche Prüfungen finden ſtatt. Dieſe Prüfungen ſind ſo unvernünftig, daß an eine wahre Lehrerbildung nicht gedacht werden kann. Siehe Seniors Klagen S. 21 ff. (mis - directed instruction). Nach dreijährigem Kurs Entlaſſungs-Prüfungen132 mit elf (!) verſchiedenen Zeugnißgraden. Die Anſtellung iſt dann Sache der Schulverwaltung. Die Lehrer haben ihrerſeits auf die Lehre ſelbſt keinen ſelbſtändigen Einfluß; das iſt nur bei den Privatſchülern der Fall. Von einer amtlichen Stellung iſt keine Rede, und die angeſtellten pupil-teachers können wie aus jedem bürgerlichen Dienſt jeden Augenblick entlaſſen werden. So lange dieſe Verhältniſſe nicht geändert werden, iſt an einen Aufſchwung der engliſchen Volksbildung nicht zu denken.

Schöll hat auf die Prüfungen der Seminariſten zu wenig Rück - ſicht genommen. Sehr gute Bemerkungen bei Gugler S. 242. Uebrigens ſind die Angaben Schölls (S. 105 113) das beſte was über das Seminariſtenweſen Englands exiſtirt. Anſtellung der Lehrer iſt Sache des Local Government; Penſion nach 15 Jahren. Gehalte der Lehrer und Lehrerinnen Schöll S. 112.

Frankreich. Hier ward allerdings das Lehrerbildungsweſen gleich anfangs in das Syſtem der Université aufgenommen, aber nur für die Berufsbildung (ſiehe unten die École normale). Die Folge war, daß die Bildung eines Lehrerſtandes für das Volk unmöglich war, und man zu dem kläglichen Auskunftsmittel des brevet de capacité greifen mußte. Dieß wird jährlich auf Grund einer Prüfung ertheilt, welche eine vom Conseil départemental aufgeſtellte Commiſſion abhält. Die Prüfung iſt ſelbſt durchaus elementar und kurz, mündlich und ſchriftlich. Die Lehrerinnen müſſen eine Probehandarbeit machen. Dieſes höchſt untergeordnete Syſtem ward etwas erweitert durch die Einführung der zweiten, höhern Klaſſen in den Elementarſchulen ſeit 1833 (ſiehe unten), ſo daß die Lehrer auch für dieſe partie facultative de l’enseigne - ment primaire ein zweites Examen machen können. Allein da die höchſt unfreie Stellung der Lehrer nur wenig Concurrenz erzeugte, ſo mußte man jenes brevet de capacité erſetzen durch ein einfaches Zeug - niß über einen dreijährigen Dienſt als Schulgehülfe (certificat de stage); ja durch eine autorisation provisoire ſelbſt ohne das Certificat ein Zuſtand, von dem das Brevet vom 24. December 1850 ſelbſt ſagt, daß nur l’intérêt public seul pourra légitimer une telle mesure. Bei ſo unfertiger Bildung iſt die völlige Unfreiheit des Lehrerſtandes und die Abhängigkeit des Lehrers in der Anſtellung ganz natürlich (ſiehe oben); eben ſo die völlige Unterordnung unter die Geiſtlichen in der Lehre ſelbſt. Frankreichs Volksbildungsweſen bewegt ſich in dem falſchen Cirkel, daß die Abhängigkeit der Lehrer keine ſelbſtändige Bil - dung derſelben, die letztere wieder keine Unabhängigkeit der Lehrer zu - läßt. Der Verſuch, eigentlich Volkslehrerſeminarien Ecoles normales primaires zu errichten (Geſetz von 1850 und Reglement vom 24. März133 1851, nebſt Arrêté vom 31. October 1854) hat eben deßhalb noch kaum weſentliche Erfolge gehabt. Das Geſetz von 1850 beſtimmt indeß, daß jedes Departement ein Seminar (école normale primaire) haben ſoll; die Ordnung derſelben iſt jedoch eine äußerſt ſtrenge und ganz bureau - kratiſch (mit Conduitenliſten ꝛc. ) eingerichtete. Daneben beſtehen eine große Anzahl von Privatſeminarien, worunter mehrere für Mäd - chenlehrerinnen; ein großer Theil wieder gehört kirchlichen Körperſchaften. Das Decret vom 28. März 1866 hat Écoles normales für die Aus - bildung der Reallehrer angeordnet, womit der Uebergang zur wirth - ſchaftlichen Berufsbildung auch hier gegeben iſt. Obgleich auf dieſe Weiſe die instituteurs den Charakter von Beamteten haben, ſind ſie doch keine wahren Lehrer, und in Folge deſſen liegt der höhere Elemen - tarunterricht außerhalb der Volksſchule.

Deutſchland. In Deutſchland entſteht der Gedanke einer ſelb - ſtändigen berufsmäßigen Volkslehrerbildung zugleich mit dem öffentlichen Volksſchulweſen. Seminarien finden ſich daher ſchon im vorigen Jahr - hundert. (Vergl. Berg a. a. O.) Zu einem ſelbſtändigen Syſtem entwickelt ſich das Lehrerbildungsweſen jedoch erſt in unſerm Jahr - hundert, und iſt bei allgemeiner gleichartiger Grundlage wieder im Ein - zelnen verſchieden. Dieſe allgemeine Grundlage beſteht darin, daß die Schullehrer die Rechte der Beamteten haben, alſo namentlich penſionsfähig ſind. Die Anſtellungsverhältniſſe beruhen durch - gehends darauf, daß das Princip der unmittelbaren Anſtellung von Seiten der Regierung neben dem der Beſtätigung derſelben von Ge - meindewahlen aufrecht geblieben iſt, obwohl das Letztere bei tüchtiger Bildung das einzig richtige ſein ſollte. Die Lehrerbildung oder das Seminarweſen beruht ſeinerſeits durchgehend auf den leitenden Grundſätzen der nothwendigen praktiſchen Vorbildung als Schul - gehülfe, Aufnahmsprüfung im Seminar, Seminariſtenbildung, Abgangsprüfung, und auf dem Abgangszeugniß baſirter Anſtellung. Bei dem ſo gebildeten Lehrer iſt ein entſcheidender Einfluß auf die Lehre ſelbſtverſtändlich. Bei größern Schulen bilden die Lehrer einen Lehrkörper; außerdem ſind in einigen Ländern noch beſondere Lehrer - verſammlungen geſetzlich angeordnet. (Oeſterreich).

Preußen. Lehrerbildung. Vorbildung zum Seminar (Regulativ vom 2. October 1854 über die Berechtigung, Präparanden-Kurſe zu halten). Die Seminarien ſelbſt haben noch keine ganz gleichartige Ein - richtung; Specialinſtruktionen für die einzelnen Provinzen (Rönne, Unterrichtsweſen Bd. I. S. 391). Prüfung vor der Anſtellung ſchon im Allgemeinen Landrecht II. 12 aus dem General-Schulreglement von 1763; ſeit 1826 eine Abgangsprüfung (theoretiſch) und die praktiſche134 Prüfung für definitive Anſtellung; durch Reſcript vom 22. März, 19. Oktober 1832 genauer geregelt. Prüfung und Zulaſſung ohne regelmäßige Seminarbildung zuläſſig (Reſcript vom 1. Juni 1826). Anſtellung theils direkt von der Regierung, theils auf Präſentation der Patrone und Gemeinden (Rönne, Staatsrecht Bd. VI. S. 443).

Oeſterreich. Lehrerbildung: Erſcheint hier theils als Aufgabe des geiſtlichen Standes in den biſchöflichen Seminarien, daher Ver - pflichtung jedes Weltprieſters, dem Unterricht in der Hauptſchule bei - zuwohnen, theils als ſelbſtändige Inſtitute. Grundlage ſchon die Ver - faſſung der deutſchen Volksſchule von 1808. Siehe Elementarlehrer - und Präparanden-Kurs; weſentlich verbeſſert durch Erlaß vom 17. September 1848 und 13. Juli 1849 (zwei Jahre), theoretiſch und praktiſch. Darauf Prüfung und Zeugniß. Eigene Prüfung für die Katechetenſtellen; daneben eine Reihe ſpezieller Vorſchriften (Stuben - rauch I. §. 54. II. §. 374; vorzüglich Ficker a. a. O. S. 305 ff.) Lehrerbildungsweſen ebend. S. 333 ff.

Anſtellung. Weſentliche Bedeutung des Patronats eventuell das der Gemeinde als präſentationsberechtigt. Prüfung vom Dechanten; Genehmigung der Präſentation durch das Conſiſtorium; dann Probe - zeit, und dann auf Antrag des Schuldiſtriktsaufſehers das Beſtätigungs - decret der Landesſchulbehörde. Schulverfaſſung §. 143 152. (Stu - benrauch II. 375. Ficker S. 308.)

Bayern. Grundlage des gegenwärtigen Rechts das Regulativ über die Bildung der Schullehrer vom 31. Januar 1836 und Verord - nung vom 15. Mai 1857. Vorbildung: dreijähriger Präparanden - kurs mit Prüfung. Seminarien: öffentliche Einrichtung, unter der Kreisregierung, nebſt Mitwirkung des Lehrkörpers im Lehrerrath . Anſtellung: Anſtellungsprüfung durch die Commiſſion nach vier Jahren durch die Kreisregierung theils unmittelbar, theils durch Beſtätigung der Präſentation (Immediat - und Mediatſchulen). Pözl, Verwaltungsrecht §. 185. 186. Anſtellungstage und Gehalte bei Schiller in Schmids Encykl. von Bayern S. 439 f. Ueber die Seminarien S. 438. Uebrigens ſteht noch ein Viertel aller Stellen unter Patronat, theils der Gemeinden, theils der Gutsherren. Errichtung von 35 Präparanden - ſchulen als Vorbereitungsanſtalten für die Schullehrerſeminarien (Ver - ordnung vom 29. September 1866 (vgl. Brachelli, Staaten Europas S. 538).

Baden. Grundlage iſt das Geſetz vom 28. Auguſt 1835 über die Rechtsverhältniſſe der Schullehrer und den Aufwand für das Volks - ſchulweſen. Vorbildung der Lehrer, zwei Jahre Dienſt bei einem Lehrer, mit gelegentlicher Prüfung. Dann Eintritt in die (3) Seminarien (mit135 Stipendien), die mit Seminarſchulen verbunden ſind. Abgangs - prüfung als erſte Dienſtprüfung; dann Dienſt als Unterlehrer drei Jahre, dann zweite Dienſtprüfung mit Recht zur Anſtellung als Haupt - ſchullehrer, jedoch mit Unterſchied von Stadt und Land. Die Fort - bildung der Lehrer iſt hier organiſirt; Pflicht zur Lieferung von Auf - ſätzen (vierteljährig); Leſeverein obligat in jedem Viſitationsbezirk; dann Lehrerconferenzen unter dem Viſitator. Anſtellung durch die Oberſchulbehörde; Vorſchlag eventuell durch Patrone; Erlaubniß zu Nebenämtern; Penſionsfähigkeit (Holtzmann a. a. O. S. 396 ff). Das neueſte Recht bildet die Verordnung vom 15. Januar 1867 die Beſſerſtellung der Volksſchullehrer betreffend, freilich nur für 1867 eine Gehaltsaufbeſſerung enthaltend.

Hannover. Das Seminar - und Lehrerbildungsweſen ſeit der Mitte des vorigen Jahrhunderts bei Pabſt a. a. O. S. 321 f. Die neue Organiſation des Schullehrerſeminarweſens ſeit der dafür beſchloſ - ſenen Bewilligung der allgemeinen Stände von 1850, ebend. S. 324; Ge - ſetz vom 2. Auguſt 1856, die Verbeſſerung der Volksſchulſtellen be - treffend nebſt Verordnung vom 25. Febr. 1859 (Pabſt ebend. S. 326). Anſtellung im Weſentlichen erſt nach Prüfungszeit (Präparandenlehre). Abgangsprüfung unter einer Prüfungscommiſſion. Lehrerconferenzen zur Weiterbildung ſchon ſeit 1736. Anſtellung ſelbſt durch die Con - ſiſtorialbehörde. Penſion und ſonſtige Emolumente (Pabſt S. 334).

Kurheſſen. Seminarien als reine Staatsanſtalten; dreijähriger Kurſus; Abgangsprüfung; darauf zweijährige Dienſtzeit; dann prak - tiſche Prüfung nebſt Zeugniß. Conferenzen zur Weiterbildung auch hier eingerichtet. Anſtellung durch die Provinzialregierung; Patro - natsrechte und Wahlrecht der Gemeinden kommen einzeln vor (Bezzen - berger a. a. S. 386 488).

Heſſen-Darmſtadt. Seminarien auch hier Staatsanſtalt (Lite - ratur über dieſelbe bei Strack a. a. O. S. 516.) Doch iſt die auto - didaktiſche Bildung noch zugelaſſen, und das Seminar dauert nur zwei Jahre. Abgangsprüfung; ſpäter die praktiſche Prüfung. Conferenzen zur Weiterbildung. Anſtellung durch das Miniſterium des Innern; daneben Patronatsrechte zur Präſentation; oder Ausſchluß der Kirche. Geſetzliche Beſtimmungen über Gehalt, Penſion u. ſ. w. fehlen. An - deutungen bei Strack a. a. S. 517.

Belgien. Écoles normales nach franzöſiſchem Muſter, bereits durch das Geſetz von 1842 geordnet; das Reglement vom 1. Februar 1861 hat die Lehrordnung der Écoles normales definitiv feſtgeſtellt; Geſetz vom 30. Auguſt 1854 für die Lehrerinnen; jedoch auch hier Unterſchied zwiſchen Staats - und biſchöflichen Normalſchulen (Seminarien),136 letztere unter geiſtlicher Verwaltung. Die Gemeinde ſtellt die Lehrer an, aber die Regierung kann ſie ſuſpendiren und abſetzen. Die Gemeinde trägt die Koſten auch des Lehrers; ſtatt der Penſion ſind caisses de prévoyance für die Lehrer errichtet (Geſetz von 1847; de Fooz a. a. O. S. 332). Bei den Écoles supérieures und normales hat jedoch die Regierung das Anſtellungsrecht (de Fooz a. a. O. S. 345).

Holland. Lehrerbildung durch das K. Seminar ſeit 1816. Das Volksſchulgeſetz von 1857 hat ein Syſtem von Seminariſtenprüfungen (jährlich zweimal) angeordnet, in welchen jedoch, wie es ſcheint (Art. 44) nicht eben zu viel gefordert wird. Darauf wird ein Fähigkeitszeugniß aus - geſtellt (acte van bequaamheid) ohne welches niemand Elementarunterricht geben darf. Das Minimum des Gehalts Art. 19 ff. Die Gemeinde ernennt die Hülfslehrer; der Hauptlehrer auf Vorſchlag von drei, vom Bürger - meiſter vorgeſchlagenen Kandidaten. Neuerdings Herſtellung von mehreren Seminarien und Uebungsſchulen. Daneben Lehrerconferenzen und zahl - reiche Lehrervereine im Anſchluß an die Inſpektorate; letzteres eine treff - liche Einrichtung (S. darüber Le Roy bei Schmid Bd. III. S. 366 ff.)

D. Die Lehrordnung. Das Schulenſyſtem, das Klaſſenſyſtem und die Bürgerſchule.

I. Die Lehrordnung begreift nun ihrer formellen Definition nach die Geſammtheit der Vorſchriften über dasjenige, was als Ele - mentarkenntniß angeſehen worden, und in welcher Ordnung daſſelbe gelehrt worden iſt.

So einfach und ſo rein pädagogiſch dieſe Sache nun auch auf den erſten Blick erſcheint, ſo ergibt ſich ihr hochbedeutſamer und auch ſyſte - matiſch ſelbſtändiger Inhalt, ſo wie man auf das höhere Weſen der Elementarbildung zurückgeht, und dieſelbe mit der ſtaatsbürgerlichen und ſocialen Aufgabe der Verwaltung in Verbindung bringt.

Alle Elementarbildung iſt nämlich die abſolute Bedingung der Bildung für alle Angehörigen des Staats und zugleich die Voraus - ſetzung, und daher die Einleitung für alle Weiterbildung in allen Zweigen des Lebens.

Man kann daher mit voller Beſtimmtheit ſagen, daß alle Klaſſen der Geſellſchaft, welche ihre Kinder für irgend einen Beruf beſtimmen, die Elementarübung für die letzteren ſelbſt beſorgen werden, ohne daß die Verpflichtung zur Benützung der Volksſchule für ſie adminiſtrativ erzwungen werden müßte. Für alle beſitzenden Klaſſen der Geſell - ſchaft im weiteſten Sinne des Wortes wird daher mit Recht ange - nommen, daß hier die Elementarbildung mit der häuslichen137 Erziehung zuſammenfällt, ſo daß man das Princip der Schulpflicht für dieſe in einer anderen Weiſe als durch den Schulbeſuch verwirk - lichen muß. Dieſe letztere beſteht nun darin, daß der Beſitz der Ele - mentarkenntniſſe zur Bedingung für die Aufnahme in die unterſte Klaſſe der Berufsbildung macht, und daß auf dieſe Weiſe die unterſte Klaſſe der Berufsbildungsanſtalten als Schulen den Charakter der Elementarbildungsanſtalten annehmen, ohne doch Volksſchulen zu ſein. Dieß Verhältniß iſt ſo naturgemäß, daß es in allen Ländern Europas zur Geltung kommt; und man muß mithin davon ausgehen, daß einer der Hauptunterſchiede der beſitzenden und nicht beſitzenden Klaſſe in dem Kriterium beſteht, ob die Familien in der Lage ſind, für ihre Kinder den Elementarunterricht mit der häuslichen Erziehung zu verbinden oder nicht; indem für die erſte Klaſſe ſomit die Elementar - berufsbildung in der That als reine Elementarbildung erſcheint, was für die zweite nicht der Fall iſt. Dieß Verhältniß macht das reine Volksſchulweſen und ſelbſt den Begriff und Umfang der Elementar - bildung leicht unklar und iſt der Grund, weßhalb ſich die Literatur über den Begriff der Volksſchule ſo wenig einig iſt. Jedoch ſtellt ſich der letztere ſofort her, wenn man einen Schritt weiter geht.

Soll nämlich, mit Zurückgehen auf den reinen Begriff der Ele - mentarbildung, dieſelbe einerſeits für alle Staatsangehörigen gelten und die Einleitung für alle Bildung bieten, ſo muß die Verwaltung dieſelbe ſo einrichten, daß ſie ſo weit möglich die erſte Erziehung mit der Elementarbildung verbindet, und daß ſie zweitens die Elementar - bildung ſelbſt zur Vorbildung für den Lebensberuf erhebt. Erſt da - durch kann und wird das höchſte Ziel erreicht werden, das das Volks - bildungsweſen unſrer Epoche charakteriſirt die Unabhängigkeit des Erwerbes geiſtiger Güter vom Beſitze, und die Möglichkeit, dieſen Erwerb für alle Klaſſen gleich zu machen. Und auf dieſem Punkte nun wird die eigentliche Bedeutung der beiden Kategorien des Schulen - ſyſtems und des Klaſſenſyſtems klar; denn hier erſt gewinnt das öffent - liche Volksbildungsweſen ſeine wahre ſociale Bedeutung.

II. Wenn nämlich die Verwaltung jene Aufgaben in ihrem ganzen Umfange erfüllen ſoll, ſo darf ſie nicht mehr bei der einfachen Volks - ſchule, wie ſie eben im vorigen Jahrhundert beſtand, ſtehen bleiben. Sie muß alsdann vielmehr mit den für die Elementarbildung beſtimm - ten Anſtalten zugleich die Erziehungsverhältniſſe der niederen Klaſſen umfaſſen und ſelbſt ganz ſpecielle Verhältniſſe Einzelner mit in ihre Thätigkeit aufnehmen. Sie muß daher ſtatt der einfachen Ele - mentarvolksſchule ein Syſtem von Schulen, ſelbſt im weiteſten Sinne des Wortes genommen, aufſtellen. Dieſe müſſen ſelbſt bei der erſten138 Kindheit beginnen, hier die häusliche Erziehung erſetzen und wo mög - lich die Elemente aller Bildung mit der letzteren verbinden. Sie muß ferner die Erhaltung der in der Volksſchule gewonnenen, durch die praktiſche Beſchäftigung der Erwachſenden vielfach gefährdeten Kennt - niſſe durch eigene Anſtalten ſichern; und ſie muß endlich den Elementar - unterricht ſelbſt auf diejenigen ausdehnen, welche durch natürliche Gebrechen von jeder Bildung ausgeſchloſſen ſind. Es kann das durch die einſeitige Thätigkeit der Regierung geſchehen; allein offenbar be - ginnt hier das Gebiet des Vereinsweſens einzugreifen, da die Ver - hältniſſe, welche ſolche Anſtalten nothwendig machen, zu ſehr an ört - liche Dinge ſich anſchließen, und nur durch freie Thätigkeit Einzelner bewältigt werden können. Aber daß es geſchehe, iſt eine der großen Bedingungen alles wahren Fortſchrittes, und das Bild der Leiſtungen eines Volkes auf dieſem Gebiete iſt für die Höhe ſeines geſammten geiſtigen Lebens ein entſcheidendes Merkmal. In dieſem Sinne reden wir zunächſt von dem Schulenſyſtem, und daſſelbe ſtellt ſich in drei Hauptgruppen dar, von denen die erſte der Volksſchule vorausgeht, die zweite aus der eigentlichen Volksſchule beſteht, und die dritte ihr folgt. Die allgemeinſte Grundlage dieſes Syſtems, in welcher das Princip der Erziehung der formellen Eintheilung der Schulen zur Geltung gelangt, iſt die Unterſcheidung zwiſchen Knaben - und Mädchenſchule, die in der Volksſchule durchgeführt wird. Die Schularten aber ſind demnach die Krippen, die Warte - oder Kleinkinderſchule, welche eben die Erziehung mit der Elementarbildung vereinigt und der nicht - beſetzenden Klaſſe die Familie erſetzt die eigentliche Elementar - oder Volksſchule und die Wiederholungsſchulen, die meiſtens aus naheliegenden Gründen als Sonn - oder Feiertagsſchulen erſcheinen. An dieſe ſchließen ſich dann die Special-Elementarſchulen der Blinden und Taubſtummen. Das Schema des Schulenſyſtems, auf welches die Vergleichung zu reduciren iſt, iſt demnach folgendes:

Es muß dabei feſtgehalten werden, daß das öffentliche Recht dieſer Anſtalten noch im Werden begriffen iſt. Doch iſt das Recht der Volks - ſchule als die Grundlage anzuſehen, und es iſt kein Zweifel, daß dieß Recht, wie es ſich allmählig über die Wiederholungs - und Blindenſchulen ausgebreitet hat, mit der Zeit auch die Krippen und Warteſchulen aus zufälligen und örtlichen Anſtalten zu öffentlichen139 Anſtalten, zu Organen des Schulrechts erheben wird, für welche die Gemeinſchaft die Pflicht der Herſtellung übernimmt, wo die Vereine nicht ausreichen. Die Erziehung und Bildung in denſelben iſt dann Sache der Pädagogik.

III. Während nun das Schulenſyſtem die Anſtalten als ſolche um - faßt, bezieht ſich das Klaſſenſyſtem auf die zweite der obigen For - derungen.

Wir haben ſchon früher geſagt, daß die Klaſſe nicht ſo ſehr eine pädagogiſche, als vielmehr ein ſocialer Begriff iſt, ſobald ſie in der Volksſchule auftritt. Das Weſen der Klaſſe beſteht nämlich nicht in dem Abſchnitt einer größeren oder geringeren Fertigkeit in den Ele - mentarleiſtungen, ſondern daſſelbe muß darin geſucht werden, daß jede Klaſſe an und für ſich als Vorbereitung für eine höhere Stufe der Bildung aufgefaßt wird. Die Klaſſen ſind daher in der Berufs - bildung natürlich und nothwendig; ſo wie ſie aber in der Volksſchule auftreten, bedeuten ſie den principiellen Zuſammenhang der Elementarbildung mit der höheren Bildung. Durch das Klaſſenſyſtem in der Volksſchule iſt ſie ſelbſt ein Glied des ganzen Bildungsſyſtems außer derſelben; ſie bedeutet die Möglichkeit und mit ihr das Recht auf Weiterbildung; ſie iſt an ſich undenkbar, ohne daß in den höheren Klaſſen ſchon die Elemente der allgemeinen Bildung ſelbſt als Elementarbildung anerkannt werden. Der Fortſchritt von der einfachen Volksſchule zur Klaſſenſchule iſt daher ein tiefgehender, faſt ganz gleichgültig gegen das, was den Gegenſtand der höheren Klaſſen bildet, und die Vergleichung des Elementarbildungsweſens muß ſich daher an dieſen zweiten Punkt eben ſo nothwendig anſchließen, als an den erſten.

Allerdings wird nun durch das Klaſſenſyſtem die formelle Beſtim - mung der Gränze zwiſchen der Volksſchule und dem Berufsunterricht ſchwierig. In der That ſtellt die Klaſſe eben den organiſchen Zuſam - menhang aller geiſtigen Entwicklung von den erſten Elementen bis zur höchſten Ausbildung auch für den unterſten Unterricht her und es bleibt vergeblich, jene für das öffentliche Recht dennoch nothwendige Gränze in der Sache ſelbſt zu finden. Man muß ihn daher in der Form ſuchen und ſetzen. Dieß nun iſt um ſo nothwendiger, als ſich an den Begriff der Klaſſe in der Volksſchule mehr und mehr ein zweiter anſchließt, über deſſen Stellung und Bedeutung ſich das Bildungsweſen klar ſein muß. Das iſt der Begriff der Bürgerſchule. Dieſelbe iſt weder eine Volksſchule, noch eine Berufsſchule. Sie iſt ein Bildungs - inſtitut, das in ſich abgeſchloſſen da ſteht und, die Klaſſenordnung in ſich aufnehmend, ſelbſt wieder den Charakter einer Vorbildungsanſtalt140 haben kann, während ſie zugleich mit ihrem Bildungsgrade abſchließt. Die Bürgerſchule erſcheint in dieſer Scheidung mehr oder weniger klar getrennt von der Elementarſchule bei allen Völkern; ihre Grund - lage iſt der Gedanke einer Elementarbildungsanſtalt für die niederſte Klaſſe der Beſitzenden, denen die Volksſchule nicht genügt und die zur Berufsſchule nicht nothwendig übergehen wollen. Sie wird ſich daher ſtets an das kleinere Gewerbe anſchließen und zugleich die Vermitt - lung zwiſchen Elementar - und Berufsſchule bilden. Darnach wird ſich natürlich ihr Unterricht und ihr Klaſſenſyſtem richten; es iſt nicht Sache der Verwaltungslehre, darauf ſpeciell einzugehen. Allein eine Gränze muß geſetzt werden und dieſe liegt offenbar in dem Grund - ſatz, daß die Bürgerſchule diejenige Anſtalt iſt, bei welcher die drei Elemente bereits als erworbene Fähigkeiten vorausgeſetzt werden und welche daher in allen ihren Klaſſen nicht mehr den Erwerb, wie die Volksſchule, ſondern die Verwendung derſelben zu zeigen und zugleich die Elemente der allgemeinen Bildung, Geographie, Natur - lehre und Geſchichte nebſt Mathematik und Wirthſchaftsrechnung zu lehren hat. Eine Begränzung durch das Alter ſollte nicht ſtattfinden; ſie wird ſich von ſelbſt machen.

Es iſt nun ſehr ſchwer, die ſehr verſchiedenen Zuſtände, Anſtalten, Namen und Eintheilungen auf die obigen einfachen Kategorien zurück - zuführen. Natürlich wird jedes Volksſchulweſen viel verſtändlicher, wenn man es ohne Rückſicht auf dieſelben einfach ſtatiſtiſch darſtellt. Allein eine wahre Vergleichung, ein gemeinſchaftliches Bild dieſes Theiles des geiſtigen Lebens von Europa dürfte ohne dieſelben kaum zu er - reichen ſein.

Wir dürfen wohl darauf aufmerkſam machen, daß in der Literatur bei großer und eingehender Beſchäftigung mit dem Einzelnen der Zu - ſammenhang aller Elementarbildungsanſtalten nicht immer gehörig beachtet wird. Wir legen um ſo mehr Nachdruck hierauf, als nament - lich das Verhältniß der Krippen und Warteſchulen zum Elementarunter - richt dadurch nicht gehörig gewürdigt wird, während in der That gut eingerichtete Warteſchulen faſt die Aufgabe der unterſten Klaſſe der Volksſchulen erfüllen konnten und ſollten. Ferner ſteht bei der Un - fertigkeit der Terminologie die Bedeutung der Bürgerſchule nicht feſt; das kann freilich erſt dann ganz erreicht werden, wenn man über das einig wird, was wir als Syſtem der volkswirthſchaftlichen Bildungs - und Vorbildungsanſtalten bezeichnen. Jedenfalls ſind die concreten Ver - hältniſſe des Unterrichtsweſens noch nicht dazu angethan, durch die141 Thatſachen eine Klarheit hineinzubringen, welche die Theorie noch nicht beſitzt.

Was zuerſt England betrifft, ſo ſind hier allerdings alle Ele - mente des obigen Syſtems vorhanden, aber allerdings noch ohne innere Verbindung und ohne äußeres Syſtem. Da nämlich weder Begriff noch Recht der eigentlichen Volksſchule feſtſtehen, ſo ſehen wir eine ziemlich ungeordnete Reihe von Erſcheinungen und Verſuchen auftreten, welche zuſammengenommen ungefähr das erfüllen, was das obige Syſtem fordert. Die Krippen und Warteſchulen ſind zum Theil ſehr gut, und berufsfreudige Lehrerinnen bringen die Kinder ſo weit, daß viele mit 7 Jahren leſen, erträglich ſchreiben, ſelbſt etwas rechnen können. (Gugler S. 215.) Daneben beſtehen die ſog. Industrial schools (die Schulen der Union houses, Zwangsſchulen für die vagrant children), die ragged schools, Vereinsſchulen für verwahrloste Kinder, die Eve - ning schools (Gugler S. 255). Sonn - und Feiertagsſchulen ſind aus dem vorigen Jahrhundert (ſ. oben) und gewiß noch eine Menge anderer örtlicher Unternehmungen. Die Upper schools ſind offenbar beſſere Volksſchulen, ohne beſtimmtes Syſtem, für zahlende Kinder (Gugler S. 249). Vergl. über die verſchiedenen Verhältniſſe zum Vereinsweſen Schöll a. a. O., der die Vorſchulen ſpeciell S. 112 ff. behandelt. Die half-time schools ſind eine Modification der Fabrikſchulen (Tyler bei Gugler S. 111, Gugler S. 201.) Man muß feſthalten, daß bei dem Mangel eines adminiſtrativen Volksſchulweſens an eine Syſtemiſirung wie in Deutſchland nicht zu denken iſt. Ebenſo iſt es nicht thunlich, etwas allgemein Gültiges für das Klaſſenſyſtem anzugeben. Das Beſte ſteht bei Schöll S. 103. Wie weit daſſelbe praktiſch durchgeführt iſt, läßt ſich kaum ſagen. Selbſt Senior (Heads of Report 91. 95) kommt zu keiner feſten Angabe. Doch iſt das Bedürfniß nach einer ſyſtemati - ſchen Ordnung und namentlich die Aufnahme wirklicher Bildungsgegen - ſtände an der Stelle des geiſttödtenden Auswendiglernens von Bibel - ſtellen ſehr groß (ſ. Senior an mehreren Orten).

Frankreich hat keine Schulpflicht. Die Vorſchulen be - ſchränken ſich noch bloß auf die Krippen (Kinder in der Wiege) und dieſe wieder faſt nur in Paris. Sie ſind von Vereinen geſtiftet und die Eltern zahlen eine tägliche kleine Rate (20 und 30 Cent.). Warte - ſchulen gibt es nicht. Die Volksſchule beſtand bis 1833 aus Einer Klaſſe, der einfachen instruction primaire. Das Geſetz vom 28. Juni 1833 führte dann mit dem Unterſchied der instr. prim. élémentaire und supérieure die Grundlage des Klaſſenſyſtems ein, wobei die Lehrordnung der erſtern außer den Elementen auch noch die Lehre von Maaß und Gewicht empfing, die zweite dagegen die Elemente der Geometrie, Natur -142 geſchichte, Geographie und Geſchichte, mit der Erlaubniß einer Er - weiterung dieſer Fächer. Wie alle andern freieren Elemente der Volksbildung hat das Geſetz von 1850 dieſe instr. pr. supérieure ge - radezu aufgehoben und nur die Erlaubniß übrig gelaſſen, die höheren Klaſſen als écoles intermédiaires professionelles etc. herzuſtellen. Der Rückſchritt, der darin liegt, bedarf keiner Erörterung. Die organiſche Verbindung der geſellſchaftlichen Klaſſen iſt aus der Geſetzgebung der Volksbildung damit ausgeſtrichen.

Deutſchland. Es muß für die deutſchen Staaten feſtgehalten werden, daß die ausgezeichnete Bildung und die rechtliche Selbſtändig - keit des Lehrerſtandes, die wieder eine höchſt einflußreiche Literatur er - zeugt hat, die zum Theil ſehr mangelhafte Geſetzgebung erſetzt. Eigen - thümlich iſt es, daß in Preußen die Geſetzgebung des Lehrſyſtems viel weiter zurück iſt als in Oeſterreich, während das Verhältniß der Land - ſchullehrer das umgekehrte ſein dürfte. Allgemein iſt die Schul - pflicht und zwar bereits ſeit dem vorigen Jahrhundert, faſt durch - gehend geſetzlich anerkannt, nicht allein im preußiſchen Allgemeinen Landrecht II. 12. 43, ſondern auch in Sachſen (1769), Fulda 1775, Lauenburg, Baden u. a. m. (Berg, Polizeirecht Bd. II. S. 314). Ebenſo gab es bereits 1786 Töchterſchulen in Deſſau, Hanau, Hannover (Berg a. a. O. S. 302). Doch mangelten bis zu unſerem Jahr - hundert nicht bloß die Vorſchulen gänzlich, ſondern faſt auch alle Special - ſchulen, und das Klaſſenſyſtem war eine große Ausnahme. Erſt in unſerem Jahrhundert iſt dieß Lehrſyſtem organiſch ausgebildet und dann von der Wiſſenſchaft, wenn auch nur noch in den territorialen Ver - waltungsgeſetzkunden ausgebildet.

Preußen. Warteſchulen bereits organiſirt durch Reſcript vom 24. Juni 1827. Sie fallen noch unter die Kategorie des Privat - ſchulweſens, können jedoch als Corporationen behandelt werden (königl. Ordre vom 28. Februar und 3. Juli 1842. Rönne, Unterrichts - weſen I. 865, deſſen Staatsrecht II. §. 446 und 361. Ebendaſ. über die Vereine zur Beſſerung verwahrloster Kinder; namentlich Reſcript vom 11. Juni 1828). Die Elementarlehre ſteht geſetzlich ganz auf dem niederſten, franzöſiſchen Standpunkt; für den höheren Ele - mentarunterricht iſt keine Stunde angewieſen, ſondern derſelbe nur geſtattet ganz wie vor hundert Jahren im General-Schulregelement von 1763 (Regulativ vom 3. Oktober 1834 und Kampf dagegen; ſ. Rönne, Staatsrecht II. 444). Doch ſind beſondere Anordnungen über Hand - arbeiten, Obſtbaulehre, Turnunterricht (verboten 1819, dann ſeit 1834 wieder eingeführt bei dem Gymnaſium, von da aus ſeit 1842 allgemein). Rönne, Unterrichtsweſen I. 706 712; durch Reſcript vom 28. Febr.143 1862 als integrirender Theil des Volksunterrichts anerkannt (Rönne, Staatsrecht II. 444). Die Entlaſſungsprüfung iſt jedoch, was entſcheidend wird, ſtrenge durchgeführt und zur Bedingung der Confirmation und damit zum Eintritt in das ganze bürgerliche Leben gemacht (Rönne, Unterrichtsweſen I. 335).

Oeſterreich hat das Vorſchulweſen, Krippen und Warteſchulen, gleichfalls noch ganz im freien Vereinsweſen und zwar als Theil des Hülfsweſens aufgenommen. Krippenkalender erſcheinen jährlich in Wien mit ſehr guten und ausführlichen ſtatiſtiſchen Nachweiſungen. Sein Lehrſyſtem iſt geſetzlich viel beſſer und freier als das preußiſche. Unterſchied von Knaben - und Mädchenſchulen ſchon in der Verfaſſung der deutſchen Volksſchule. Das Schulſyſtem beruht auf dem Unterſchied der Trivialſchule von den Hauptſchulen mit vier Klaſſen und den Normalſchulen in den Hauptſtädten, mit Uebergang von der Trivial - ſchule in die vierte Klaſſe der Hauptſchule. In dieſer wird auch Natur - und Landeskunde aufgenommen. Die großen Verſchiedenheiten der Kron - länder bringen natürlich auch große Unterſchiede in der Praxis zu Wege. Schulpflicht iſt geſetzlich ſtreng organiſirt (vom ſechsten Jahre an ſechs Jahre). Schulbeſchreibung als Mittel für ihre Erfüllung durch die Ortsinſpektion (Stubenrauch II. §. 380). Das geſammte Klaſſenſyſtem mit den Prüfungen bei Ficker S. 315 ff. Die geſetzlichen Vorſchriften bei demſ. S. 275. Die Wiederholungs - und Sonntagsſchulen ſchon eingeführt durch Decret vom 27. September 1828 und zwar mit Schulpflicht und möglichſt durchgeführter Klaſſeneintheilung (Stuben - rauch II. 381. Ficker a. a. O. 327 ff.). Prüfungen halbjährlich und öffentlich, nach der Verfaſſung von 1808 (Stubenrauch II. 373). Die Bürgerſchule in Oeſterreich iſt die Erweiterung der Hauptſchule um zwei bis drei Klaſſen und führt auch den Namen der (unſelbſtändigen) Unterrealſchule (Darſtellung bei Ficker 329 ff.).

Bayern. Eine ausführliche und mit der betreffenden Literatur verſehene Darſtellung von Klemm bei Schmid Encyklopädie I. 429 ff. Sammlung der das deutſche Schulweſen betreffenden Geſetze, Ver - ordnungen ꝛc. 3 Bände. Einführung der Schulpflicht bereits durch Verordnung vom 23. December 1802. Syſtem der Klaſſen: drei Klaſſen, nebſt Vorbereitungsklaſſe; Normallehrpläne von 1804 und 1811; ausführliche Darſtellung bei Schiller, Schmid Encyklopädie I. 435 ff. Sonn - und Feiertagsſchulen, errichtet im Jahr 1811; doch noch unbe - deutend (vergl. Pözl, Verwaltungsrecht §. 184).

Baden. Schulpflicht allgemein. Das Syſtem der Schulen ſcheint nicht objektiv feſtgeſtellt, ſondern von der Größe der Schülerzahl abhängig. Die Grundlage iſt die Eintheilung in drei Klaſſen. Die144 Entwicklung zu einem Syſteme iſt fakultativ: für größere Städte iſt es erlaubt, Schulen mit erweitertem Lehrplan einzurichten (Holtzmann a. a. O. 392). Die höhere Bürgerſchule jedoch erſcheint ſchon als Real - ſchule. Ueber Waiſenhäuſer, Rettungsanſtalten u. ſ. w. (Holtzmann S. 416). Das Ganze iſt noch rein dem Vereinsweſen überlaſſen und wenig ausgebildet. Taubſtummenlehranſtalt ſeit 1783. Ein Kinder - hoſpital in Heidelberg iſt eine Art Kinderſchule.

Hannover. Schulpflicht ſchon ſeit der Mitte des vorigen Jahr - hunderts. Landſchulen einklaſſig, Stadtſchulen mehrklaſſig. Rettungs - anſtalten, Taubſtummen - und Bildungsanſtalten bei Pabſt a. a. O. 335. Der Mangel des hannover’ſchen Volksſchulweſens liegt in dem des mangelnden Syſtems, das die individuelle Tüchtigkeit der Lehrer er - ſetzen muß.

Kurheſſen. Ein eigentliches Syſtem mangelt offenbar; es iſt den örtlichen Verhältniſſen überlaſſen. Grund iſt der Mangel an einem Schulgeſetz. Meiſt beſtehen drei Abtheilungen. Normallehrplan fehlt. Neben den Volksſchulen beſtehen einzelne Fabrikſchulen (Hanau). Die Handwerksſchulen ſind unorganiſche Reſte der Zunftepoche und vertreten die Sonn - und Feiertagsſchulen, ohne öffentlichen Lehrplan (Bezzenberger a. a. O. 483. 484). Ueber die Waiſenhäuſer und Ret - tungsanſtalten, zum Theil ſchon ſeit dem 17ten Jahrhundert als ein - zelne Stiftungen beſtehend (Bezzenberger daſ. 507 ff.); Taubſtummen - anſtalt ſeit 1838. Kleinkinderſchulen ſind auch hier nur ſtädtiſche Ver - einsanſtalten.

Heſſen-Darmſtadt. Schulpflicht ſeit dem 17ten Jahrhundert ausgeſprochen. 1634 Ordnung von fleißiger Uebung Katechismi. Das Klaſſenſyſtem ſcheint auch hier in ſeiner Ausführung von localen Ver - hältniſſen abhängig. In allen Provinzen Rettungsanſtalten; daneben Waiſenhäuſer, Taubſtummen - und Blindenanſtalt. Kleinkinderſchulen werden 24 angegeben; Fortbildungsanſtalten finden ſich nicht (Strack a. a. O. 530 ff.).

Waldeck. Frühere Schulordnung Geſetz vom 30. Januar 1846; neuere Organiſation im Weſentlichen nach preußiſchem Muſter und ſehr rationell durchgeführt (Geſetz vom 9. Juli 1855).

Belgien. Schulpflicht exiſtirt nicht; vergeblicher Verſuch im Jahre 1859, dieſelbe einzuführen (Batbie, Dr. publ. et adm. III. S. 259). Das Klaſſenſyſtem iſt dem franzöſiſchen der inst. primaire élémentaire und supérieure nachgebildet. Nach de Fooz (Droit administrativ. Belge IV. 343) hat man die écoles primaires supérieures parmi les établissements d’instruction moyenne gereiht und damit unter das Geſetz von 1850 geſtellt. Das Verhältniß wird nicht recht klar (vergl. 145Le Noy a. a. O. S. 502). Dafür aber iſt in neueſter Zeit durch die Verordnung vom 1. September 1866 das Syſtem der Écoles d’adultes eingeführt, unſern Fortbildungsſchulen entſprechend, zugleich für Mädchen. Dieſelben ſollen wieder in eine division élémentaire und eine supérieure eingetheilt werden. Das Lehrſyſtem iſt nach dem Geſetz von 1842 ge - regelt und umfaßt die Grundbegriffe des verfaſſungsmäßigen Rechts neben der Elementarlehre (Art. 6). Der Staat kann dafür Unterſtützung gewähren (Art. 29). In jeder dieſer Schulen ſollen wo möglich öffentliche Vorträge, wöchentlich einmal, abgehalten werden.

Holland. Sehr entwickeltes Syſtem von Warteſchulen, daneben Wiederholungsſchulen, Sonntagsſchulen in großer Zahl. Die Schulen ſelbſt zerfallen in zwei Hauptklaſſen, von denen die erſte den Elementar -, die zweite den höheren Bürgerſchulen entſpricht. Die eigentliche Schei - dung trat wohl erſt in neueſter Zeit ein durch das Geſetz von 1857 über das Volksſchulweſen (laager Onderwiis) und das Geſetz vom 2. Februar 1861, welches den mittleren Unterricht (middelbaar Onder - wiis) davon trennte. Das Syſtem des letzteren umfaßt die wirthſchaftliche Vorbildung in den Bürgerſchulen, höheren Bürgerſchulen und den Land - bauſchulen. Offenbar ſind die Bürgerſchulen (mit nur zweijährigem Curs) ungefähr wie die Écoles primaires supérieures in Belgien doch nur die höheren Klaſſen der Volksſchule, wie auch ihr Programm (Geſetz von 1861, Art. 13) und die Beſtimmung zeigt, daß ſie aus Tag - und Abendſchulen beſtehen und daß in jeder Gemeinde von 10,000 Seelen (ſehr hoch gegriffen!) eine ſolche Tag - und Abend-Bürgerſchule errichtet werden ſoll (Geſetz von 1861, Art. 14). Bemerkenswerth iſt die Ein - führung des Turnunterrichts. Jedoch fehlt eben wegen des Princips der faſt gänzlich freien Gemeindeverwaltung die Einheit und Gleichheit in dieſen Anſtalten. Le Roy bei Schmid III. 566 hat nur Andeutungen.

Zweite Gruppe. Privatſchulen. Weſen und Recht derſelben.

Bei der auch im beſten Falle beſchränkten Thätigkeit der öffent - lichen Volksſchule bilden die Privatſchulen ein weſentliches Element der Elementarbildung. Allein ihr Einfluß ſowie ihr Umfang hängt vorzugsweiſe in allen Ländern davon ab, ob und in wie weit die Be - rufsſchulen in den Vorbildungsanſtalten auf die unterſte Stufe der Bildung zurückgreifen. Wo dieß wie in Deutſchland der Fall iſt, da werden die elementaren Privatſchulen niemals eine große Bedeutung empfangen, während ſie da, wo die Berufsbildung ſchlecht organiſirt iſtStein, die Verwaltungslehre. V. 10146wie in England, ſtets zugleich einen nicht unbedeutenden Grad von Vorbildung des Berufes in ſich aufnehmen. Es muß daher als leiten - der Grundſatz gelten, daß ſie in Umfang und Wirkung von dem Syſtem der öffentlichen Berufsbildung abhängen.

Urſprünglich vollkommen frei in jeder Beziehung entſteht mit dem Auftreten des Princips der Schulpflicht der Gedanke, daß auch ſie eine öffentliche Funktion vollziehe und daher wie jede ähnliche Thätig - keit unter der öffentlichen Oberaufſicht ſtehe. Und die Aufgabe und Gränze dieſer Oberaufſicht iſt es, welche ihrerſeits das öffentliche Recht der Privatſchulen bildet.

Daſſelbe zerfällt in zwei Theile. Das Recht der Genehmigung zu Errichtung einer ſolchen und das Recht der Aufſicht auf das Lehrweſen.

Das Recht der Genehmigung hat ſich faſt allenthalben an den Ge - danken angeſchloſſen, daß eine Privatſchule ein Gewerbe ſei; jedoch iſt ebenſo allgemeines Princip, daß der Unternehmer die Fähigkeit zum Elementarunterricht in einer dem öffentlichen Lehrer entſprechenden Weiſe nachweiſen müſſe.

Die Aufſicht auf das Lehrweſen geht davon aus, daß ſie nur eine polizeiliche zu ſein, alſo die Kinder nur vor Mißbräuchen zu ſchützen, um den Lehrgang ſelbſt ſich aber nicht zu kümmern habe.

Dieſe an ſich einfachen Sätze empfangen nur da praktiſch eine größere Bedeutung, wo ſolche Privatſchulen von Körperſchaften er - richtet werden und dadurch einen beſtimmten und mächtigen Einfluß auf den Geiſt der niederen Klaſſen ausüben. Gegen die damit verbun - denen Gefahren gibt es nur zwei Mittel; zuerſt die Unterſtellung der - ſelben unter die Oberaufſicht der Gemeinde und dann die vollſte Oeffentlichkeit der Lehre ſelbſt. Die amtliche Oberaufſicht wird hier ſchwerlich je genügen.

Aus den angeführten Gründen ſteht das Privatſchulweſen ſtets in engſter Verbindung mit den kirchlichen Verhältniſſen des Landes und erſcheint daher in jedem Lande ſehr verſchieden. Die Literatur hat ſich mit demſelben viel zu wenig beſchäftigt und nirgends fühlt man mehr den Mangel der Statiſtik. Was England betrifft, ſo ſind eben die früher erwähnten Vereinsſchulen, die National Schools und die British and Foreign Schools, Privatſchulen von Vereinen, welche die beiden großen kirchlichen Richtungen in England vertreten, und durch den Mangel eines öffentlichen Volksſchulweſens von größtem Einfluß; Ge - nehmigung iſt unbekannt und Aufſicht tritt nur ein, wenn die Unter - ſtützung erbeten wird. Die ſog. Dame Schools ſind eben ein höchſt147 unfertiges Mittelding zwiſchen Elementarſchulen und Warteſchulen; ge - wiß berechtigte harte Urtheile darüber bei Schöll und Gugler a. a. O. In Frankreich ſind die Privatſchulen oder Écoles libres in das Syſtem der Université mit aufgenommen. Die großen Mängel der öffentlichen Schulen hatten ſie ſchon von 1833 zu einem wichtigen Ele - mente der Volksbildung gemacht; ſie bedurften aber der autorisation préalable, die von den kirchlichen Behörden weſentlich abhängig war. Das Geſetz vom 28. Juni 1833 machte ſie als écoles primaires pri - vées (T. II) davon frei und ſchrieb nur vor ein brévet de capacité und ein certificat de moralité vom Maire und drei Mitgliedern des Gemeinderathes; die Aufſicht ſollte gleichmäßig über die Privat - und öffentlichen Schulen vom Schulcomité des Gemeinderathes ausgehen (art. 21). Das Geſetz von 1850 hat dieß alles dahin geändert, daß außer dem brevet de capacité auch ein certificat de stage genügt, daß der Maire kein Recht des Widerſpruches hat, daß jedoch jetzt der In - specteur entſcheidet und mit völliger Ausſchließung des Gemeinderathes eine Aufſicht übt, die ſtrenge die Aufſicht über das Lehrweſen aus - ſchließt und nur Moralität und Geſundheit betreffen ſoll. Bei geiſt - lichen Körperſchaften genügt ſogar die einfache lettre d’obédience ſtatt aller Genehmigung. Der Rückſchritt, der hierin liegt, iſt klar genug. In Deutſchland hat die Tüchtigkeit der Volksſchule die Privat - ſchulen zu ſehr untergeordneten Elementen gemacht. Das Princip der Genehmigung iſt wohl allgemein, nach den Grundſätzen des Gewerbe - rechts; die Aufſicht beſteht meiſtens wohl nur in dem Grundſatz, daß die Zulaſſung zu den Vorbildungsanſtalten von einer Prüfung, ent - weder in den Hauptſchulen wie in Oeſterreich (Verfaſſung der deutſchen Volksſchule §. 96) oder bei der Aufnahme, reſp. bei der Confir - mation (Preußen) abhängig iſt. Ueber Oeſterreichs Verhältniſſe ſiehe Ficker a. a. O. S. 325 ff. Das preußiſche Recht iſt in ſeinen Grundzügen bereits durch das Allgemeine Landrecht II. 12 feſtgeſtellt: Anzeige, Genehmigung, Oberaufſicht, Verbot der Winkelſchulen. Edikt vom 12. Juli 1810 entbindet die Privatlehrer der Prüfung; die Ge - werbeordnung vom 7. September 1811 gibt den Privatunterricht ganz frei; dann Geſetz vom 10. Juli 1834, welches wieder die Erlaubniß fordert, nebſt Zeugniß. Dieſe Beſtimmung macht dann eine genauere Competenzordnung nöthig und dieſe erſchien in der Inſtruktion vom 31. December 1839, welche auch hier neben dem Syſtem der Oberauf - ſicht und Zeugniſſe ein ſtrenges Prüfungsſyſtem durchführt (Rönne, Staatsrecht I. §. 200). Die verſchiedenen Artikel bei Schmid liefern für die Frage leider kein Material; Geſetze ſcheinen vielfach ganz zu fehlen.

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Zweiter Theil. Das Berufsbildungsweſen.

Es iſt nicht thunlich, das Berufsbildungsweſen Europas in ſeinem ungeheuren Umfang, ſeiner Vielgeſtaltigkeit und ſeiner Unklarheit dar - zuſtellen und durch ein feſtes Syſtem den einzig möglichen Ausgangs - punkt für eine vergleichende Auffaſſung zu gewinnen, wenn man ſich nicht über die Grundbegriffe und über die Bedeutung der Worte einigt, welche man für jede Darſtellung und Vergleichung auf dieſem zwar ſtatiſtiſch wohlbekannten, ſyſtematiſch aber ganz unbearbeiteten Felde gebraucht. Wir müſſen daher auch hier, um zu einem feſten Reſultat zu gelangen, einen allgemeinen Theil dem beſondern vorausſenden; denn bei aller Verſchiedenheit im Einzelnen iſt das Volksſchulweſen den - noch ſeiner Natur nach in allen Ländern gleichartig und leichtverſtänd - lich; das Berufsbildungsweſen dagegen iſt in Umfang, Geſtalt, Namen und Entwicklung ſo ſehr verſchieden, daß eine gemeinſchaftliche Auffaſſung aller jener Verhältniſſe ohne völlige Klarheit über ſeine Grundbegriffe und ohne jene Einigung über Sinn und Umfang der Wörter nicht erzielt werden kann.

Wir werden daher in dem folgenden allgemeinen Theil zunächſt den Begriff des Berufs und das Syſtem des Berufsbildungsweſens an ſich darlegen und dann das Berufsbildungsrecht als die ſelbſtändig zu betrachtende Thätigkeit der Verwaltung für das erſtere auf ſeine allge - meinen Principien zurückführen. Erſt dann wird es möglich ſein, auch hier von den Elementen der Geſchichte des letzteren zu reden, die uns bis zur Gegenwart führen. Die letztere bildet dann in ihrer Darſtellung den beſondern Theil. Und hier kann es keinem Zweifel unterliegen, daß das poſitive Recht des deutſchen Berufsbildungsweſens ſo hoch über allem ähnlichen ſteht, daß wir das deutſche Syſtem zugleich als das allgemeine Rechtsſyſtem der Berufsbildung aufſtellen und die franzöſiſchen und engliſchen Verhältniſſe als unvollſtändige Nachbildungen deſſelben daran anſchließen können.

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Möge es uns dabei erlaubt ſein, ausdrücklich zu bemerken, daß wir die von uns gebrauchten neuen Begriffe und Ausdrücke nur an - genommen haben, weil ohne ſie eine organiſche Auffaſſung unthunlich erſcheint. Wir dürfen endlich hinzufügen, daß eine vollſtändige Mit - theilung des Materials geradezu unmöglich iſt, wenn man ſich auf irgend eine Weiſe zu beſchränken hat. Das was wir dagegen ange - ſtrebt haben, iſt zweierlei Vollſtändigkeit der Grundbegriffe und ihres Syſtems und Klarheit des großen Bildes, das ſich vor uns aufrollt.

Allgemeiner Theil.

I. Der Beruf und die Berufsbildung an ſich.

Es iſt vielleicht ſchwierig, einen formell beſtimmten Begriff des Berufes anzuerkennen. Dennoch iſt ſchon im Allgemeinen das was wir den Beruf nennen, ein ſo entſcheidendes Element für jedes Einzel - leben und ein ſo gewaltiger Faktor für das Leben der Weltgeſchichte, daß wir deſſelben nicht entbehren können. Aber ſpeciell das Bildungs - weſen der verſchiedenen Völker und Zeiten bleibt ohne beſtimmte Auf - faſſung des Berufes immer unklar. Wir können uns daher der Auf - gabe nicht entziehen, den Begriff deſſelben hier zu entwickeln, um auf Grundlage deſſelben zu einem Syſtem des Berufsbildungsweſens zu ge - langen.

I. Begriff und Inhalt des Berufes. Der Beruf an ſich und der öffentliche Beruf. Der Beruf iſt ſeinem abſtrakten Begriffe nach die beſtimmte Lebensaufgabe des Einzelnen, und zwar inſofern die letztere demſelben als ſolche zum Bewußtſein kommt und dieß Bewußtſein allen Beſtrebungen und Thätigkeiten eine dieſer Lebens - aufgabe dienende Richtung gibt. In dieſem Sinne hat jeder Menſch mit ſeiner Lebensaufgabe auch ſeinen Beruf. Derſelbe aber iſt für ihn nicht bloß der Ausdruck eines Zweckes, ſondern er iſt zugleich ein hohes ethiſches Element ſeines Lebens. Denn in ihm iſt mit dem Bewußtſein von der beſondern Aufgabe jedes Einzelnen zugleich das der höheren geiſtigen Gemeinſchaft mit allen andern, das Gefühl der inneren Ein - heit des ganzen Menſchenlebens gegeben, welche das Bedingtwerden aller Lebensberufe durcheinander, die lebengebende Gegenſeitigkeit aller be - ſondern Thätigkeiten, die Erhebung des Einzelnen zum Ganzen zum Bewußtſein bringt und dadurch auch das Beſondere adelt und veredelt. Die Idee des Berufs, in jedem Einzelnen lebendig werdend, iſt deßhalb von jeher der Anfang aller Geſittung in der Menſchheit geweſen.

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Allein dieſe Idee des Berufes bleibt, ſo lange ſie nur noch dem ethiſchen Bewußtſein des Einzelnen gehört, unbeſtimmt, zufällig und willkürlich. Sie fordert daher, wie alle großen Elemente des Geſammt - lebens, eine feſte, äußerliche Geſtaltung. Dieſe nun liegt an ſich ſchon im Weſen des Berufes und zwar in der Gleichartigkeit der Lebens - aufgaben ſelbſt, die der Einzelne zwar verſchieden für ſich auffaſſen und vollziehen, aber ſelbſt nicht ändern kann. Dieſe Gleichartigkeit erzeugt dann äußerlich die Gleichförmigkeit der Berufsthätigkeit; die Gemein - ſchaft in den Bedingungen und Erfolgen der letzteren ruft die Gemein - ſchaft unter den Berufsgenoſſen hervor; in dieſer Gemeinſchaft tritt die Lebensaufgabe aller Einzelnen als eine große öffentliche Thatſache und alsbald als ein ſelbſtändiger, ſelbſtthätiger Faktor hervor, die Geſammt - heit der Menſchen erkennt ſie als ſolche an; die öffentliche Anerkennung tritt zu der individuellen hinzu, und ſo wird aus dem Begriffe des Berufs an ſich der wirkliche, öffentliche, im eigentlichen Sinne ſogenannte Beruf.

Man wird daher recht wohl ſagen können, daß jeder Menſch im ethiſchen Sinne des Wortes ſeinen Beruf habe. Allein ein öffentlicher Beruf entſteht erſt da, wo die Gemeinſchaft des Menſchen einen ſolchen anerkennt.

An dieſen Begriff des Berufes ſchließt ſich nun der der Berufs - bildung und zwar zunächſt im Allgemeinen, bis er ſich zu dem ihm eignenden Syſtem entwickelt.

II. Die Berufsbildung. Die Begriffe von Vorbildung und Fachbildung. Die Lebensaufgabe des Berufes iſt ein geiſtiges Ganze; aber ſie hat in dieſer ihrer Einheit zwei Elemente. Das erſte dieſer Elemente, das nächſte und verſtändlichſte, beſteht aus der Ge - ſammtheit derjenigen Kenntniſſe und Fähigkeiten, welche ſpeciell der beſtimmte Beruf fordert. Das zweite dagegen iſt anderer, höherer Natur. Wie der einzelne Beruf ſelbſt ein Theil des Geſammtlebens der Menſchen iſt, ſo muß derſelbe auch durchdrungen und belebt ſein von dieſem Be - wußtſein, daß er organiſch, ethiſch und praktiſch zu dieſer großen Ge - meinſchaft der menſchlichen Arbeit gehöre. Und wie daher einerſeits der einzelne Beruf von der Tiefe und Höhe der geſammten menſchlichen Arbeit abhängt, ſo wird auch der Einzelne in ſeinem Berufe von dem Bewußtſein der Größe und Gewalt dieſer Thätigkeit getragen und ge - hoben. Jeder Beruf fordert daher für ſeine höchſte Entwicklung neben ſeinen ſpeciellen Kenntniſſen und Fähigkeiten eine Weltanſchauung, deren Werth oft unmeßbar, aber immer unverkennbar bleibt. Sie muß ſich mit ſeiner ſpeciellen Aufgabe auf das Innigſte verſchmelzen und damit die unendliche Entwicklung derſelben möglich machen; ſie muß dem151 Einzelnen immer lebendig ſein, um ihn über die oft ſo harte und nieder - drückende Begränzung ſeines beſſeren Selbſt auf den engen Kreis ſeiner Lebensaufgabe zu tröſten und zu erheben; ſie iſt daher unbrauchbar, wie Left und Sonnenlicht, aber wie ſie unſchätzbar für alles, was in ihnen gedeihen ſoll. Und darum ſoll jede Berufsbildung neben ihrer ſpeciellen Aufgabe zugleich die allgemeine der höchſten, freieſten Bildung, wenn nicht geradezu enthalten, ſo doch als Keim in den Geiſt des Menſchen legen, damit er denſelben in ſich mit eigener Arbeit auf ſeinem Lebens - wege weiter ausbilde.

Den formellen Ausdruck dieſer beiden großen Elemente aller Be - rufsbildung bieten nun zwei Worte, welche aber vermöge jenes innern Zuſammenhanges mit der Idee des Berufes ſelbſt mehr ein Princip als ein Syſtem ausdrücken. Das ſind die Vorbildung und die Fach - bildung.

Die Vorbildung für den Beruf bedeutet zwei Dinge zugleich und ſteht demgemäß um ſo höher, je mehr beide neben einander zum Bewußt - ſein gebracht und zur Geltung gelangt ſind. Einerſeits enthält die Vor - bildung die formelle Vorübung in den Kenntniſſen und Fähigkeiten, welche die praktiſche Thätigkeit in der beſtimmten Lebensaufgabe voraus - ſetzt. Allein andererſeits hat die Vorbildung jene andere, zwar nicht unmittelbar praktiſche, aber dennoch höhere Funktion, auf die wir oben hingewieſen haben. Sie iſt es nämlich, welche der Bildung des Ein - zelnen jene allgemeine Grundlage geben ſoll, die der geiſtigen, organiſchen Einheit aller Berufe zum Grunde liegt. Sie ſoll den Blick über die Sphäre des Einzelnen hinausheben und die ganze Welt des geiſtigen Lebens zeigen, ehe der Menſch ſich der einzelnen begränzten Aufgabe hingibt. Sie ſoll das Band ſein, welches innerlich jeden Beruf mit allen andern verbindet, die große Linie, welche von jedem Punkte der menſchlichen Arbeit auf den Mittelpunkt aller lebendigen Anſchauung und That zurückführt. Sie kann das zwar nicht durch Vollendung deſſen, was eine ſolche Bildung fordert; allein ſie kann und ſoll es, indem ſie dem Einzelnen das Bewußtſein davon wach erhält und es ihm als Be - gleiter in ſeinem Leben mitgibt. Iſt durch ſie die Fähigkeit gewonnen, den Blick auf das Ganze zu richten und zu erhalten, hat ſie jenes Be - wußtſein zur Reife gebracht an beſtimmten einzelnen Gebieten des menſch - lichen Wiſſens, ſo kann nun die Fachbildung eintreten, das Syſtem, welches das große Princip der Theilung der Arbeit in der geiſtigen Welt verwirklicht und welche in dieſem Sinne die für die nunmehr ſcharf begränzte individuelle Lebensaufgabe geforderten Kenntniſſe und Fähigkeiten darbietet.

Auf dieſe Weiſe ergibt ſich der Grundſatz, der das ganze Bildungs -152 weſen für alle Berufe zu beherrſchen hat. Es iſt der der möglichſt gleichartigen Vorbildung und der möglichſt beſonderen Fachbildung. Da aber die Idee des Berufes auch in dem be - ſtimmteſten Einzelberuf fortlebt, ſo ſoll auch die nach dem obigen Grundſatze ſpecialiſirte Fachbildung trotz ihrer Beſonderheit ſich niemals auf ihre formale Gränze beſchränken. Sie ſoll vielmehr von einer Ar - beit der allgemeinen Bildung begleitet ſein, welche jene höhere Auf - faſſung in dem Einzelnen lebendig erhält; ſie iſt neben der Special - bildung ihrem höheren Weſen nach ſtets eine Fortſetzung der Vor - bildung; ſie bildet in jener für das Fach, in dieſer für das Leben der Menſchheit und verläßt ihn erſt da, wo mit der vollen Selbſtändig - keit des Einzelnen die Funktion des dritten Gebiets des Bildungsweſens, der allgemeinen Bildung, beginnt.

III. Das formale Syſtem der Berufe und der Berufs - bildung. Auf dieſen einfachen, für den Beruf überhaupt geltenden Grundlagen entſteht nun das, was wir das Syſtem der Berufsbildung nennen, indem die Berufe ſelbſt ſich in große, innerlich und äußerlich gleichartige Gruppen ſondern.

Es gibt nur Einen Weg, in der ungemeſſenen Mannichfaltigkeit der Lebensberufe zu einer Eintheilung derſelben zu gelangen, welche zu - gleich der Sache und der Form entſpräche. Denn es iſt allen Lebens - aufgaben ohne Unterſchied gemein, daß ſie eine geiſtige und zugleich äußerliche Arbeit enthalten; jede Lebensaufgabe wird in ihrer Erfüllung weſentlich durch das Individuum bedingt; jede Lebensaufgabe hat ihr nächſtes Ziel in dem Einzelnen, ihr ferneres in der Gemeinſchaft, die zuletzt alle Unterſchiede verſchwinden läßt. Daher kann nur Eins dieſe Unterſchiede für alle gleichmäßig feſthalten. Das iſt die Natur des Objekts oder des Stoffes, dem die Lebensthätigkeit des Einzelnen ſich unterwirft. Dieſes Objekt iſt nun entweder die Welt der geiſtigen, der äußeren Begränzung ſich entziehenden Thatſachen, oder die Welt der natürlichen Dinge, oder endlich die Welt der unmittelbar ſchöpferiſchen Kräfte des menſchlichen Geiſtes. Die Lebensaufgaben nun, welche die Thatſachen des geiſtigen Lebens durch Einzelarbeit dem menſchlichen Leben unterwerfen, bilden den geiſtigen Beruf; diejenigen, welche das natürliche Daſein den menſchlichen Zwecken dienſtbar machen, bilden den wirthſchaftlichen Beruf; diejenigen, welche die reine Anſchauung zur wirklichen Darſtellung bringen, bilden den künſtleriſchen Beruf. Eine äußere Gränze iſt dabei nicht zu ziehen, wenn man darunter eine materielle Trennung der verſchiedenen Funktionen verſteht. Es iſt nicht einmal eine ſcharfe innere Gränze denkbar, denn jeder Beruf nimmt in ſeiner Weiſe die Thätigkeit des anderen in ſich auf. Wohl aber ſind153 jene Berufe ihrem Weſen nach verſchieden, denn die Natur des Objekts erzeugt für jeden Beruf eine charakteriſtiſche Geſtaltung der geiſtigen und äußern Thätigkeiten, deren Grund in dem Streben liegt, alles was der Menſch geiſtig und äußerlich vermag, für die Erfüllung jenes Berufes zu eignen. Die Macht des Berufes wird dadurch über den Einzelnen ſo groß, daß er ſich mit ſeiner geiſtigen ja zum Theil mit ſeiner phyſiſchen Individualität identificirt; der Menſch wird erſt zum Träger, dann zum Bilde ſeines Berufes, bis ihm die Geſellſchaft oder der Staat gar die Symbole des letzteren geben. Doch iſt es nicht unſere Sache, hierauf einzugehen. Wohl aber haben wir es zu bezeichnen, wie ſich dazu nun der Begriff des öffentlichen Berufes verhält; denn daran knüpft ſich die ſpätere Geſtalt des Bildungsweſens.

Allerdings nun müſſen wir hier auf ein anderes Gebiet der Wiſſen - ſchaft verweiſen, die Wiſſenſchaft der Geſellſchaft. Es iſt eine ihrer Hauptaufgaben, eben die Entſtehung des öffentlichen Berufes, ſeine Anerkennung und ſeine Macht aus dem Berufe an ſich zu zeigen. Ein - fach nun iſt dieſer Proceß in dem geiſtigen Berufe und es darf uns vielleicht verſtattet werden, das hier näher zu bezeichnen, weil wir es unten zu gebrauchen haben. So wie ſich nämlich bei ſteigender Ge - ſittung die Nothwendigkeit und damit die Selbſtändigkeit derjenigen Funktionen zeigt, welche den Inhalt des geiſtigen Berufes bilden, ſo ſcheidet er ſich von dem Geſammtleben aus und fordert und erzeugt im Namen ſeiner geiſtigen Berechtigung einen ihm eigenen ſpeciell für ihn beſtimmten Beſitz, der die wirthſchaftliche Grundlage der ſelbſtän - digen Berufsfunktion bildet und der daher ein Eigenthum der Berufs - genoſſen iſt. Sowie das geſchieht, iſt der Beruf eine zugleich öffentlich rechtliche Thatſache mit beſtimmtem Recht, beſtimmter Macht, beſtimmter innerer Ordnung; und dieſen mit eigenem Beſitz, Macht und Ordnung verſehenen Beruf nennen wir den Stand. Jeder geiſtige Beruf wird daher ſtets zu einem Stande; der Stand iſt die Form der Anerkennung und des Daſeins des öffentlichen Berufes. Indem nun dieſer geiſtige Beruf ſich ſelbſt wieder in beſtimmte große Funktionen theilt, entſtehen die Berufsarten, welche im obigen Sinne die Stände ſind. Die Natur des Berufs enthält dafür drei Grundformen die Funktion, die Kraft der Gemeinſchaft als ſolche darzuſtellen, den Wehrſtand, den Krieger - ſtand; die Funktion der Entwicklung des rein geiſtigen Lebens, Geiſt - lichkeit und Lehre den Lehrſtand; und die Funktion der Thätigkeit des Staats im weiteſten Sinne den Stand des Amts. Wie nun dieſe Funktionen in vielfachſter Weiſe geordnet, oft in denſelben Perſonen vereinigt, oft getrennt, feindlich und freundlich neben einander ſtehen, hat die Geſchichte zu entwickeln; wie jeder Stand wieder in ſich die154 Klaſſen mit ihren Gegenſätzen in ſich entwickelt, zeigt die Geſellſchafts - lehre; wir haben zunächſt uns nur an die obigen Thatſachen zu halten.

Während nun auf dieſe Weiſe der geiſtige Beruf in allen Völkern die Tendenz hat, in der Geſtalt der Stände zu einem öffentlichen Be - rufe zu werden, iſt der künſtleriſche Beruf ſeinem Weſen nach unfähig, zu einem Stande zu werden. Seine Leiſtung iſt an ſich individuell, der Werth derſelben iſt von der individuellen Bildung abhängig. Es iſt daher ein zwar weſentliches, aber kein ſtändiſches Element der Ge - ſellſchaft; er iſt der ſtandesloſe und daher der freie Beruf. Das be - darf wohl keiner Darſtellung.

Die wahre Schwierigkeit für die organiſche Auffaſſung des Berufes iſt dagegen der wirthſchaftliche Beruf. Der wirthſchaftliche Beruf hat zu ſeinem Zwecke zunächſt eine für das Individuum berechnete Funktion, den Erwerb; zu ſeiner Grundlage den individuellen Beſitz, das Kapital; zu ſeiner bewegenden Kraft die individuelle Fähigkeit und Thätigkeit, die Arbeit. Der wirthſchaftliche Beruf erſcheint daher ſtets als ein individueller. Er entſteht daher ohne Zuthun des Ganzen; der Einzelne iſt ſeine Quelle, ſein Maß, ſein Ziel; das ſpecifiſche Ele - ment des öffentlichen Berufes ſcheint ihm ſeinem Weſen nach zu fehlen; und das iſt von entſcheidender Bedeutung, weil ohne dieß Moment von einer Berufsbildung nicht die Rede ſein kann.

Daher denn kommt es auch, daß Jahrtauſende hindurch der Be - griff des Berufes auf das wirthſchaftliche Leben keine Anwendung findet. Der Charakter des wirthſchaftlichen Lebens iſt der des Standes und damit der öffentlichen Rechtloſigkeit. Erſt die germaniſche Welt gelangt zum Begriffe des wirthſchaftlichen Berufes; aber weder ſchnell noch in einfacher Weiſe. Es iſt gut, ſich den Proceß zu vergegenwärtigen, durch den dieß geſchieht, denn wie es in der Natur der Sache liegt, iſt dieſer Proceß die Grundlage der Geſchichte der wirthſchaftlichen Berufsbildung.

Während nämlich bei dem geiſtigen Berufe aus dem Berufe ſelbſt der Stand geworden iſt, iſt umgekehrt in Beziehung auf das öffentliche Recht hin aus dem Stande der Beruf geworden. Wir haben daher zwei Epochen zu unterſcheiden. Die erſte umfaßt die ganze Geſchichte der Städtebildung und ihres Rechts; denn dieſelbe iſt nichts als die erſte Form, in welcher das wirthſchaftliche Leben ſeine Individualiſirung verläßt, ſich zur Gemeinſchaft aller ſeiner Mitglieder erhebt, und ſich auf Grundlage des eigenen Grundbeſitzes ſelbſt als öffentlich-rechtlich anerkannter Stand, der Bürgerſtand hinſtellt. Es iſt nicht unſere Sache, die Geſchichte deſſelben zu ſchreiben. Aber das Element, das er vertritt, gewinnt mit dem vorigen Jahrhundert eine andere Geſtalt und Stellung und die iſt es, welche den Inhalt der zweiten Epoche bildet.

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Sowie nämlich die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung mit ihrem großen Princip des gleichen Rechts aller auftritt, treten zugleich zwei mächtige geiſtige Thatſachen in den Vordergrund aller neueren Geſchichte Europas. Die erſte iſt die, daß der Beſitz die materielle Grundlage der bürgerlichen Freiheit des Einzelnen für ſich und ſeiner geſellſchaft - lichen Geltung für andere iſt. Die zweite iſt die, daß vermöge der Dampfkraft die Produktion und damit Handel und Verkehr das Ge - ſammtleben Europas zu umfaſſen beginnt. Damit gewinnt das wirth - ſchaftliche Leben als ſolches einen neuen Charakter. Er iſt nicht mehr auf das Individuum und ſeinen engen Lebenskreis beſchränkt. Das Vermögen und die Grundlage des Staatsbürgerthums, der Erwerb und die Grundlage der einheitlichen Arbeit der europäiſchen Völker, der Begriff und das Werden des Gutes ſind dadurch zu etwas anderem geworden. Sie ſind ſtatt der einfachen materiellen Baſis der Einzel - exiſtenz eine der großen Grundlagen der europäiſchen Geſittung. Der Fleiß, die wirthſchaftliche Tüchtigkeit, die Sparſamkeit erzeugen nicht bloß mehr Reichthum, ſondern vielmehr ein Staatsbürgerthum; das Unternehmen wird aus dem einfachen Mittel, ſich anſtändig durch die Welt zu bringen, zu einer ganze Völker und ihre Lebensverhältniſſe umfaſſenden Aufgabe des kühnen und umſichtigen Mannes. Sie ver - laſſen gleichſam die enge Heimath, in der ſie bisher gelebt, die Kund - ſchaft der einzelnen Straße, der nächſten Nachbarſchaft, der Beſchränkung auf das Gebiet des heimiſchen Marktes, ſie ziehen hinaus in die weite Welt; ſie rufen die ganze Kraft, die ganze Kühnheit, die ganze Energie des Mannes ins Feld; ſie zwingen ihn, den freien Blick weit über die Gränze des eigenen Landes zu erheben; ſie fordern von ihm Kenntniſſe, die früher kaum der Gelehrte gehabt, Fähigkeiten, die er für unerreich - bar gehalten, Leiſtungen, die die ganze Fülle perſönlicher Entwicklung vorausſetzen; ſie ſind nicht möglich, ohne das Bewußtſein geiſtiger Kraft, und indem ſie gelingen, erfüllen ſie ihn mit dem Stolze des ganzen Mannes. Da bleibt denn allerdings die geſammte frühere Auffaſſung des Gewerbes und des Bürgerſtandes unmöglich; das wirthſchaft - liche Leben wird zu einem ſittlichen Element; es fordert in der Wiſſenſchaft unabweisbar ſeine volle Berechtigung neben der Gelehrſamkeit und der abſtrakten Philoſophie, in der ſtaatlichen aber die öffentliche Aner - kennung als eine mit jeder andern gleichberechtigten Bedingung der Geſammtentwicklung; der Einzelne, der ſich ihnen widmet, widmet ſich nicht bloß mehr wie einſtens ſich ſelber und höchſtens der Zunft oder Innung, die unter dem Schutze des heimiſchen Reichthums gedeihen, ſondern dem Leben des Ganzen; und mit vollem Recht wird ſo aus dem wirthſchaftlichen Erwerbe ein ſelbſtändiger öffentlicher Beruf.

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Auf dieſe Weiſe iſt das, was das neunzehnte Jahrhundert aus - zeichnet, das Auftreten des wirthſchaftlichen Berufes an der Seite des rein geiſtigen, des gelehrten und des künſtleriſchen. Aber während derſelbe auf allen Punkten des Geſammtlebens ſich zur vollen Geltung bringt, kann er ſeiner Natur nach niemals ein Stand werden. Denn als Ganzes hat er keinen Beſitz; der Beſitz muß für jeden Einzelnen durch eigene Thätigkeit immer wieder aufs neue erzeugt, kann von jedem immer wieder aufs neue verloren werden. Sein Charakter beſteht darin, daß er zwar für den Einzelnen ein freier, aber in ſeiner geſammten Auf - gabe ein begränzter iſt. So iſt derſelbe die dritte Grundform des Berufes; und jetzt erſcheinen mithin die drei Formen des letzteren, der geiſtige, der wirthſchaftliche und der künſtleriſche Beruf als die drei Faktoren, durch welche und in welchen ſich die Geſittung der Geſammtheit verwirklicht.

Stehen nun dieſe Begriffe feſt, ſo iſt auch das Syſtem der Berufs - bildung einfach und leicht verſtändlich. Jeder Beruf hat ſeine Bildung, denn ſeine Erfüllung hat beſtimmte Kenntniſſe und Fähigkeiten zur Vorausſetzung, die keiner unmittelbaren Anwendung auf den andern fähig ſind. Jeder Beruf iſt zugleich durch den mächtigen Umfang der Aufgaben, welche ihm vorliegen, ſo groß, daß eine Verſchmelzung der - ſelben mit jedem Tage ſchwieriger erſcheint. Jeder Beruf fordert den ganzen Menſchen; jeder Beruf kann nur durch die Hingabe des Beſten, was die Perſönlichkeit vermag, erfüllt werden; jeder Beruf aber ver - mag jetzt auch durch ſeinen ethiſchen Inhalt dem Menſchen zu ge - nügen; und während die Scheidewand der ſtändiſchen Epoche zwiſchen den Berufen gefallen iſt, trennen ſich dafür die Gebiete der Berufs - bildung um ſo ſchärfer. Die Entwicklung der Berufe ſelbſt aber erzeugt für jeden Beruf wieder den allgemeinen Unterſchied zwiſchen der Vor - bildung und der Fachbildung, denn die letztere erſcheint jetzt unerreich - bar ohne beſtimmte Beziehung der erſteren auf das, was die letztere fordert. Und ſo erſcheint jetzt das der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft eignende formale Syſtem der Berufsbildung als gelehrte, wirthſchaft - liche und künſtleriſche Berufsbildung, jede derſelben mit ihrer, auf ſie berechneten Vor - und Fachbildung, jede derſelben in ihrer Weiſe das ganze Leben umfaſſend, den ganzen Menſchen erfüllend; an die höch - ſten Elemente der geiſtigen Welt anknüpfend, und damit jede für ſich ein ſelbſtändiger Organismus und eine ſelbſtändige Macht im Geſammt - leben. Es iſt kein Zweifel, daß es unſere Zeit, und in unſerer Zeit Deutſchland iſt, das dieſem Syſtem, wie es an ſich im Weſen des Berufes lebt, ſeinen Ausdruck gegeben hat.

Und was iſt es jetzt, was über dieſe Berufsbildung noch weiter geſagt werden kann?

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IV. Das gemeinſame Element der höhern Berufsbil - dung; Geſchichte, Philoſophie und die klaſſiſche Bildung. Offenbar, ſo groß auch das Bild iſt, das ſich uns in dieſem for - malen Syſtem der Berufsbildung entfaltet, ſo hat es doch Eine Gefahr. Indem jede Berufsbildung jetzt mächtig genug iſt, den ganzen Menſchen zu erfaſſen und in ſich aufzunehmen, und ihn geiſtig zu erfüllen, hat ſie auch die Gewalt, ihn zu beſchränken. Sie beſchränkt ihn aber nicht bloß äußerlich; ſie zieht nicht bloß äußerlich um die Thätigkeit und die Entwicklung ſeines Geiſtes die Gränzen deſſen, was etwa der be - ſtimmte einzelne Beruf fordert, und macht es ihm durch die Maſſe des Geforderten ſchwer darüber hinauszugehen, ſondern je höher ſie ſelber ſteht, um ſo mehr greift ſie auch in ſein inneres Leben hinein, und läßt in ihm neben der Tiefe der ſpeciellen Auffaſſung die Beſchränkung der allgemeinen Entwicklung entſtehen. Die Macht der ſpeciellen Be - rufsbildung iſt eine gewaltige für alles, was der Einzelne lernt oder zu verſtehen hat. Sie biegt gleichſam alles Wiſſen und Denken wie mit ſtarker Hand zuſammen, und wendet es auf einen und denſelben Punkt; ſie läßt durch die Mühe die ſie koſtet, durch die Höhe die ſie im Einzelnen erreicht, durch den praktiſchen Werth den ſie beſitzt, jede andere Bildungsart als minder bedeutend erſcheinen; ſie macht den Men - ſchen einſeitig, und gefährdet das Höchſte der geiſtigen Welt, indem ſie das beſchränkte Genügen im beſondern an die Stelle des Strebens nach der Geſammtanſchauung des menſchlichen Lebens ſetzt, und damit ſogar die Keime der Mißachtung der einen Bildungsform gegenüber der andern begründet. Das iſt die Gefahr der ſyſtematiſchen Entwicklung des eigentlichen Berufsbildungsweſens.

Aus dieſer Gefahr rettet nun die Wiſſenſchaft. Es iſt natürlich hier nicht der Ort, von dem Weſen der reinen Wiſſenſchaft zu reden. Das, warum es ſich für uns allein handeln darf, iſt die Funktion derſelben eben in Beziehung auf jene Auflöſung der höhern Berufs - bildung in geſchiedene, gegen einander gleichgültige, ja feindliche Fach - bildungen, die durch die objektive und zuletzt auch ſubjektive Beſchrän - kung am Ende zur Erſtarrung des geſammten geiſtigen Lebens führen muß. Das Weſen derſelben beſteht darin, nicht bloß den innern Zu - ſammenhang aller geiſtigen Güter und Arbeiten zu erkennen, ſondern auch die gewaltige Thatſache feſtzuhalten und nachzuweiſen, daß zuletzt doch nur eben in dieſem Zuſammenhange die wahre Erfüllung des Ein - zelnen, die Möglichkeit der höchſten Entwicklung jedes Theiles liege. Sie erreicht dieß Ziel auf zweifachem Wege. Sie hält zuerſt die hiſto - riſche Entwicklung des Menſchengeſchlechts im Ganzen und die der einzelnen Theile ſeiner Erkenntniſſe im Einzelnen feſt, und zweitens158 ſtellt ſie den innern Organismus des Ganzen als Syſtem dar. Wir nennen, in möglichſter Kürze, das erſte die Wiſſenſchaft der Geſchichte, das zweite die Philoſophie.

Die Geſchichte zeigt uns den Werth deſſen, was andere gedacht und gethan haben, und lehrt uns, daß das, was wir vermögen, nur durch dasjenige möglich ward, was Andere, wenn auch oft in unvoll - kommener Weiſe, geleiſtet. Sie zeigt uns den bildenden Zuſammenhang der geiſtigen und materiellen Thatſachen, die Unmöglichkeit des Beſon - dern, für ſich zu ſein und ſich zu entwickeln. Das geſchichtliche Be - wußtſein iſt daher die thatſächliche, wirkende Einheit aller Berufe und ihrer Leiſtungen; vor ihr gibt es keine Vollendung des Beſonderen und keinen ſelbſteigenen Werth des Einzelnen. Die Philoſophie dagegen zeigt uns den Werth deſſen, was wir noch nicht gedacht haben; ſie lehrt uns, daß die wahre Erfüllung des Verſtändniſſes aller Dinge, und ſo auch des einzelnen Berufes, erſt in der Anſchauung des Ganzen ge - funden werde, und daß das Streben nach dieſer Anſchauung die gleiche Aufgabe aller, die höchſte Gemeinſamkeit der geiſtigen Arbeit iſt. In Geſchichte und Philoſophie verſchwinden daher die Beſchränkungen der einzelnen Berufsbildung. Geſchichte und Philoſophie werden daher da, wo die Fachbildung die höhere Berufsbildung aufzulöſen droht, die eigentlichen Träger der Idee des Berufes und der höhern Berufsbil - dung; ſie ſind ihrem innerſten Weſen nach nicht für einen Zweck da; ſie ſind nicht benutzbar, und wollen nicht brauchbar ſein. Ihre große Funktion iſt es vielmehr nur, das hohe ethiſche Moment des Berufes an ſich aus der Fachbildung nicht verſchwinden zu laſſen, es lebendig zu erhalten, und in ihm die Einheit der geiſtigen Thatſachen und Ar - beiten wieder zu finden, die ohne ſie verloren wäre. Ein geiſtig leben - diges Volk wird daher allerdings aus dem einzelnen Berufe ſtets die höchſte einzelne Fachbildung entwickeln, es wird aber zugleich die ethiſche Idee des Berufes durch Geſchichte und Philoſophie lebendig er - halten. Die große Aufgabe aller höhern Berufsbildung beſteht deßhalb darin, die Geſchichte und die Philoſophie, das geſchichtliche und philo - ſophiſche Bewußtſein als das lebendige Element in der neuen Berufs - bildung und ihrer Theilung der Arbeit zu erhalten.

Das große Mittel dafür nun iſt die klaſſiſche Bildung. Wir dürfen alles, was über die klaſſiſche Bildung geſagt iſt, theils hier vor - ausſetzen, theils kommen wir auf daſſelbe zurück. Die Anſichten dar - über ſind nun verſchieden genug. Allein es wird wohl kaum bezweifelt werden, daß ſchon die klaſſiſche Grammatik undenkbar iſt ohne tauſend Anknüpfungen an die große hiſtoriſche und philoſophiſche Welt, die in den klaſſiſchen Sprachen bei uns fortlebt; und daß die Beſchäftigung159 mit den Klaſſikern ſelbſt die ewig junge Quelle ſolcher Auffaſſungen und Anſchauungen iſt, das wird von Niemanden beſtritten. Die klaſſiſche Bildung iſt daher unſchätzbar, vielleicht nicht ſo ſehr durch das was ſie enthält und bietet, ſondern vielmehr durch das was ſie anregt. Die Kenntniſſe, die man durch ſie gewinnt, ſind zum Theil unbedeutend; aber die Fähigkeit ſie zu behandeln, wird zur Fähigkeit des Einzelnen, auch die am fernſten liegenden Dinge in ſeinen Geſichtskreis zu ziehen und ſich anzueignen; und die Entwicklung jedes Berufs zu einem Theile des Weltlebens gibt eben dieſer Fähigkeit einen unſchätzbaren Werth. Durch die Klaſſiker haben wir die geiſtige Berufsbildung von der ſtän - diſchen Beſchränktheit frei gemacht; die klaſſiſche Bildung iſt es, welche uns vor der ſtaatsbürgerlichen Beſchränktheit zu bewahren berufen iſt.

Dieß nun iſt das Berufsbildungsweſen an ſich, ſeinem Begriff und ſeinem organiſchen Inhalt nach. In der Wirklichkeit aber empfängt daſſelbe erſt ſeine Geſtalt und Geltung durch ſein Verhältniß zum Staat und ſeiner Verwaltung, durch welche es zu einem Theile des öffent - lichen Rechts wird. Für dieß iſt das Obige nur noch die Vorausſetzung: aber freilich iſt das letztere ohne das erſtere in ſeiner feſten Ordnung wie in ſeiner Entwicklung nicht zu verſtehen.

II. Das öffentliche Berufsbildungsweſen, ſein Recht und ſein Syſtem.
1) Begriff und Princip.

Dem organiſchen Begriffe des Berufsbildungsweſens gegenüber ent - ſteht nun der formelle Begriff und Inhalt des öffentlichen Rechts deſſelben, indem die Geſammtheit der für dieſe Berufsbildungsanſtalten im weiteſten Sinne beſtimmten oder nothwendigen Thätigkeiten als Aufgaben der Verwaltung erſcheinen. Das öffentliche Berufsbildungs - weſen iſt demnach die Geſammtheit deſſen, was die Organe der Ver - waltung mit den ihnen zu Gebot ſtehenden Mitteln für wiſſenſchaftliche, volkswirthſchaftliche und künſtleriſche Berufsbildung in Vorbildung und Fachbildung wirklich leiſten. Das iſt der formale Begriff deſſelben.

Das Verſtändniß einerſeits, und das formale Syſtem andererſeits für das öffentliche Berufsbildungsweſen beruhen nun hier wie bei der Volksbildung auf dem Gegenſatz, der zwiſchen der individuellen Thätig - keit und der des perſönlichen Staats erſcheint, und deſſen Ausgang hier wie immer in allem dem, was als Bedingung der Geſammtent - wicklung daſteht, in der Unterordnung des Individuellen unter das Gemeinſame erſcheint.

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An ſich und urſprünglich hat nämlich alle Berufsbildung den Charakter der Berufswahl. Jede Berufswahl und jede Berufsbildung iſt nothwendig frei. Und zwar ſowohl in dem Beginn und dem Feſt - halten der individuellen Bildung für den Beruf, als in der Art und dem Maße deſſen, was als die für den Beruf nothwendige Bildung angeſehen wird.

Dieſe volle Freiheit iſt mithin das allgemeinſte Princip alles öffent - lichen Rechts der Berufsbildung. Es kann keine Berufsbildungspflicht für den Einzelnen geben, wie es eine Volksbildungs - oder Schulpflicht gibt; und das iſt das erſte unterſcheidende Merkmal dieſer beiden großen Gebiete des öffentlichen Bildungsweſens.

Allein dieſes Princip der Freiheit genügt nicht, um das Berufs - bildungsrecht zu erſchöpfen. Es iſt das Weſen des öffentlichen Berufes in ſeinem Unterſchiede von dem Berufe an ſich, der das letztere bei jenem rein negativen Grundſatze nicht ſtehen läßt.

So wie nämlich mit dem öffentlichen Berufe die geiſtige Arbeits - theilung eintritt, und ſich in der Beſonderung der Vorbildung und Fachbildung äußert, ſo wird offenbar die Erfüllung des Berufes von Seite des Einzelnen mehr oder weniger von der Bildung abhängig, die er für ſeinen Beruf mit ſich bringt. Dieſe Erfüllung ſelbſt iſt aber jetzt ein öffentliches Bedürfniß des Geſammtlebens, und es iſt einleuchtend, daß die Entwicklung, die Sicherheit und die geiſtige Höhe des letzteren weſentlich davon abhängig wird, ob und wie weit die Berufsgenoſſen im Stande ſind, auch wirklich ihren Beruf ganz auszufüllen. Andererſeits ſind die Einzelnen in der Gemein - ſchaft gerade durch jene Theilung der Arbeit, welche im Weſen des öffentlichen Berufes liegt, angewieſen auf diejenigen, welche ſich dem - ſelben gewidmet haben. Die Tüchtigkeit in der Erfüllung des Be - rufes gewinnt damit einen anderen Charakter. Aus einer Angelegen - heit der freien Wahl und Selbſtbeſtimmung wird ſie zu einer der großen Bedingungen des öffentlichen Lebens und ſeiner Entwicklung, zu einer Vorausſetzung für die Erhaltung der Intereſſen der Ein - zelnen, die ſich die letzteren nicht mehr durch eigene Kraft zu ver - ſchaffen im Stande ſind; die Berufserfüllung erſcheint ſogar in einigen ihrer Gebiete unmittelbar als ein Theil der Verwaltungsthätigkeit ſelber; der Staat kann ohne ſie nicht mehr ſeinen eigenen Aufgaben entſprechen. So wird dieſelbe zu einer öffentlichen Angelegenheit, und die öffentlichen Pflichten und Rechte, welche auf dieſe Weiſe aus dem öffentlichen Berufe und ſeiner Stellung im Geſammtleben hervorgehen, bilden nun das öffentliche Berufsbildungs - weſen.

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Allerdings nun entwickelt ſich dieß öffentliche Berufsbildungsweſen nicht mit einemmale. Wir werden unten die Stadien bezeichnen, welche es zu durchlaufen hatte, um ſeinen gegenwärtigen Standpunkt zu ge - winnen. Allein ſo wie es demſelben ſich nähert, kann die Verwaltung nicht mehr bei dem allgemeinen Verhalten zu demſelben ſtehen bleiben. Sie muß thätig eingreifen, alle Punkte deſſelben erfaſſen, für alle Fragen eine beſtimmte Auffaſſung beſitzen, und mithin aus den beiden obigen Principien der Freiheit des Berufes an ſich und dem öffent - lichen Recht deſſelben ein Rechtsſyſtem des öffentlichen Bildungsweſens entwickeln.

2) Das Rechtsſyſtem des öffentlichen Berufsbildungs - weſens an ſich.

Das Rechtsſyſtem des Berufsbildungsweſens iſt nun ſeinem Weſen nach die Verſchmelzung jener beiden Principien zu einem organiſchen Ganzen von Beſtimmungen, in welchem die Freiheit des Berufs neben und in dem Principe der Verwaltung der Berufsbildung gewahrt wird. Dieſes Rechtsſyſtem iſt nun ein ſehr einfaches, hiſtoriſch wie ſyſtematiſch, ſo lange es ſich nur noch um den geiſtigen Beruf handelt; denn die Funktionen deſſelben haben, wie wir ſehen werden, den Charakter von öffentlichen Funktionen. So wie aber der künſtleriſche Beruf öffentliche Geltung bekommt, und der wirthſchaftliche Erwerb überhaupt als eine beſtimmte Form des Berufes anerkannt wird, treten neue Geſichtspunkte hinzu, welche für das ganze Rechtsſyſtem maßgebend werden, indem ſie das Recht der Berufsbildung für jede einzelne Gruppe des Berufes als ein beſonderes erſcheinen laſſen. Dieſe tiefe Verſchiedenheit iſt es, welche der Geſammtauffaſſung des Berufsbildungsweſens am meiſten entgegen ſteht. Um ſo mehr iſt es nothwendig, jenes Syſtem zunächſt als ein Ganzes darzuſtellen.

Wir müſſen nun die Grundlagen deſſelben auf drei Punkte zurück - führen: auf die Grundſätze für die Berufsbildungsanſtalten, für die Be - rufsbildungsfreiheit und für das Recht der wirklichen erworbenen Berufsbildung.

I. Das öffentliche Recht der Berufsbildungsanſtalten ent - hält die Grundſätze für die Errichtung und für die Verwaltung derſelben.

So lange die Berufsbildung in ihrer organiſchen Bedeutung von der Gemeinſchaft nicht anerkannt iſt, wird natürlich die Errichtung der für ſie beſtimmten Anſtalten dem Zufall, dem Einzelbedürfniß oder den rein geſellſchaftlichen Verhältniſſen überlaſſen. Sobald dagegen jene Bildung ihrerſeits als eine Bedingung der allgemeinen WohlfahrtStein, die Verwaltungslehre. V. 11162erſcheint, tritt auch die Anerkennung als Pflicht des Staats auf, die Bedingungen der Berufsbildung in den dafür geeigneten Anſtalten herzuſtellen. Dieſe Herſtellung wird damit eine Aufgabe der Verwaltung des geiſtigen Lebens eines Volkes. Es iſt natürlich, daß ſich dieſelbe nach der Auffaſſung richtet, welche das Volk ſelbſt von dem Weſen und den Arten des Berufes hat. Es wird daher ſtets mit der Herſtellung ſolcher Bildungsanſtalten für den geiſtigen Beruf begonnen und erſt allmählig zu den wirthſchaftlichen und künſtleriſchen übergehen. Je höher nun ein Volk ſteht, um ſo mehr wird daſſelbe in dem Syſtem ſeiner wirklich vorhandenen Berufsbildungsanſtalten den oben ausge - ſprochenen Grundſatz zur Gültigkeit bringen, nach welchem die Vor - bildung gleichartig und die Fachbildung ſpecialiſirt ſein muß, um dem Weſen des Berufes ſelbſt zu entſprechen. Die Statiſtik der beſtehen - den Berufsbildungsanſtalten iſt daher, auf das obige Princip zurückge - führt, eines der wichtigſten Mittel, um das geiſtige Leben eines Volkes zu beurtheilen, und es muß daher ein entſcheidender Fortſchritt aner - kannt werden, wenn die reinere Statiſtik, wie namentlich in der ſchönen Arbeit von Brachelli (Staaten Europas) grundſätzlich dieß Syſtem und die allgemeinen Zuſtände dieſer Bildungsanſtalten nicht bloß an - führt, ſondern auf die großen Kategorien der Vorbildung und Fach - bildung in ihren Grundformen zurückführt. Hält man die obigen Dar - ſtellungen im Auge, ſo wird die Betrachtung ſolcher ſtatiſtiſchen Nach - weiſungen zu einer Quelle der reichſten Beobachtungen.

Die Verwaltung der errichteten Anſtalten enthält nun drei Punkte. Sie betrifft zuerſt die wirthſchaftlichen Mittel derſelben, die ökonomiſche Verwaltung; dann das Recht des beſondern Perſonals; end - lich das Recht der Lehrordnung. Der leitende Grundſatz für dieß Recht iſt, daß die Beſtimmungen über die erſten beiden Punkte von dem An - theil abhängen, den die Staatsverwaltung für den Unterhalt der Anſtalt hingibt. Dagegen hat der Staat das Recht, für diejenigen Zweige der Berufsbildung, welche zu öffentlichen Funktionen vorbereiten, nicht bloß über die Fähigkeit der Lehrer, ſondern auch über die Lehr - ordnung in entſcheidender Weiſe zu beſtimmen. Auch hier nun ergeben ſich leitende Geſichtspunkte, welche für den geſammten Zuſtand des Berufsbildungsweſens maßgebend ſind und ihrerſeits aus dem Weſen des Berufes folgen. Es iſt für die höhere Vergleichung von großer Be - deutung, dieſelben feſtzuſtellen.

Zuerſt nämlich wird jede Verwaltung die Lehre ſelbſt da, wo die Anſtalten nicht ihr gehören, nicht ſich ſelbſt überlaſſen. Sie wird ihr Oberaufſichtsrecht in der Weiſe zur Geltung bringen, daß ſie das Lehren hier wie beim Volksſchulweſen ſelbſt wieder als Beruf erkennt, daher163 für die Lehrerbildung eigene Anſtalten errichten und das Recht zur Lehre von dem öffentlichen Nachweis der erworbenen Berufsbildung ab - hängig machen.

In dem Lehrerbildungsweſen für die Berufsbildungsanſtalten aller Art liegt daher der erſte, den Charakter des Berufsbildungsweſens eines Staates beſtimmende Grundſatz.

Das zweite Moment iſt das Verhältniß, welches die Verwaltung zu den beiden Elementen der Bildung, der allgemeinen und der ſpeciellen Fachbildung für die Lehrordnung einnimmt. Der Grundſatz dafür iſt einfach. Je höher ein Volk ſteht, um ſo mehr wird die Verwaltung deſſelben die Erhaltung und Förderung der allgemeinen Bildung, alſo ſpeciell die Claſſicität, die Geſchichte und Philoſophie, zu einem organi - ſchen Theil der geſammten Vor - und Fachbildung machen, während ſie zugleich in der Herſtellung der ſpeciellen Fachbildungsanſtalten die Voraus - ſetzung für die höchſte Entwicklung der ſpeciellen Bildung finden wird. Das Syſtem der Lehrgegenſtände ergibt daher den zweiten Geſichts - punkt für die höhere Vergleichung.

Das dritte Moment iſt nun das Verhältniß des Lehrkörpers. Die Selbſtändigkeit des Lehrkörpers iſt die erſte und wichtigſte Conſe - quenz der fachgemäßen Bildung des Lehrerſtandes. Sie iſt die Gewähr der geiſtigen Freiheit innerhalb der öffentlich rechtlich beſtimmten Lehr - ordnung. Dieſe geiſtige Freiheit aber iſt die große Grundlage aller wahren Entwicklung, und man kann unbedenklich ſagen, daß das Maß der Selbſtverwaltung, das dem Lehrkörper der einzelnen Anſtalten ge - geben iſt, den Maßſtab für die Freiheit der geiſtigen Bewegung über - haupt abgibt, die ein Volk gewonnen hat.

Dieß ſind nun die drei Geſichtspunkte, welche für das Recht der Lehranſtalten maßgebend ſind. Das zweite Gebiet iſt nun das der Freiheit der Berufsbildung ſelbſt.

II. Das Weſen der Freiheit in der Berufsbildung beſteht, der höhern Natur des Berufes nach, nicht in der Willkür des Einzelnen, ſeinen Bildungsgang ganz nach eignem Ermeſſen einzurichten. Ein ſolches Recht würde im Grunde bedeuten, daß die Bildung ſelbſt keine feſten organiſchen Grundlagen und Stadien habe, ſondern je nach der Individualität eine andere ſein könne. Die Freiheit der Berufsbildung ſteht daher nicht mit der öffentlich rechtlichen Lehrordnung und ihrer geſetzlichen Feſtſtellung im Widerſpruch, ſondern ſie beſteht in der Frei - heit des Einzelnen, nach ganz freiem Entſchluß ſich dem einzelnen Be - rufe zu widmen, von ihm zurückzutreten oder zu einem andern über - zugehen alſo in der vollkommenen freien Bewegung des Individuums innerhalb der geſetzlich beſtimmten Bildungsordnung. Der formelle164 Ausdruck dieſer Freiheit erſcheint in zwei Dingen. Erſtlich in dem Recht des freien Eintritts und Austritts für jeden Einzelnen in jeder Anſtalt, und damit in jedem Zweig der Berufsbildung. Das iſt das negative Moment der freien Bewegung in der letzteren. Zweitens aber muß die Verwaltung dieſe Freiheit auch poſitiv fördern, und das geſchieht dadurch, daß die Uebergänge von einem Beruf zum andern in ſelbſtändigen Bildungsanſtalten aufgeſtellt werden, welche die Vor - und Fachbildung des einen Berufes mit der des andern in ſich verbinden. Es iſt dann Sache des Rechts der Lehrordnung, nament - lich die Vorbildung hier ſo zu ordnen, daß ſie in dieſer Beziehung ihrer Aufgaben entſpreche. Denn wo der Uebergang von einer Be - rufsbildung zur andern formell unmöglich iſt, wird dieſelbe unfrei; wo ſie bloß auf individueller Willkür beruht, wird ſie ungenügend. Im Ganzen aber ſteht feſt, daß die Organiſation des freien Ueberganges von einer Berufsbildung zur andern das zweite große Moment in dem Charakter eines jeden Berufsbildungsſyſtems abzugeben hat.

III. Das dritte Moment iſt nun das öffentliche Recht der er - worbenen Berufsbildung. Daſſelbe beſteht in dem öffentlichen Recht der Prüfungen und in dem der Geprüften, oder beſſer der Zeugniſſe. Es iſt von hoher Wichtigkeit, dieß Moment ins Auge zu faſſen; um ſo mehr, als unſeres Wiſſens bisher die Theorie trotz einer ſehr reichen Geſetzgebung ſich mit der Sache überhaupt noch nicht be - ſchäftigt hat.

Das Weſen alles Prüfungsrechts enthält nämlich zwei ſtreng zu unterſcheidende Fragen, die ihrerſeits nicht etwa didaktiſcher, ſondern in der That rein verwaltungsrechtlicher Natur ſind. Die erſte Frage iſt die, ob die Prüfung die Bedingung für die Theilnahme an der Be - rufsbildung ſein ſolle; die zweite iſt die, ob dieſelbe die rechtliche Voraus - ſetzung für die wirkliche Ausübung des Berufes zu enthalten habe. Die Entſcheidung über dieſe Fragen bildet das Recht des Prüfungsweſens. An ſich nun ſind die Grundlagen des letztern wohl einfacher Natur. Inſofern nämlich das Berufsbildungsweſen Gegenſtand der Staatsver - waltung iſt, hat dieſelbe unzweifelhaft das Recht, ein gewiſſes Maß von Bildung als Bedingung für die Theilnahme an den Berufsbildungs - anſtalten aufzuſtellen; und wo die Didaktik zeigt, daß dieſes Maß die Vorausſetzung für die beſondere Wirkſamkeit einer ſolchen Anſtalt über - haupt iſt, hat die Verwaltung ſogar die Pflicht, eine ſolche Prüfung vorzuſchreiben, deren Inhalt ihr dann von der höheren Methodologie geſetzt wird. Inſofern ferner ein Minimum der Berufsbildung die Vorausſetzung für die geſicherte Vollziehung einer, als öffentlich an - erkannten Berufsfunktion iſt, muß dieß Minimum im öffentlichen165 Intereſſe gefordert und ſein Vorhandenſein durch eine Prüfung con - ſtatirt werden. So erſcheinen zwei Grundformen aller Prüfungen und zwei leitende Principien ihres Rechts, diejenige, welche wir die Studien - prüfung, und diejenige, welche wir die Berufsprüfung nennen, und zwar mit dem Grundſatz, daß die Studienprüfung als Aufnahms - und Abgangsprüfung bei allen ſtaatlichen Bildungsanſtalten Rechtens ſind, und daß die Berufsprüfungen bei allen öffentlichen Berufen ge - fordert werden müſſen, in denen eine Verwaltungsfunktion von den Berufsgenoſſen vollzogen wird, während dieſelben für jeden anderen Zweig des Berufes frei bleiben. Allein es leuchtet ſchon hier ein, daß das ganze Prüfungsweſen ſo eng mit dem Charakter des geſammten Berufsbildungsweſens zuſammenhängt, daß wir es erſt bei der Dar - ſtellung des letzteren in ſeiner hiſtoriſchen und organiſchen Stellung genauer darlegen können.

Auf dieſen drei Punkten beruht nun das Rechtsſyſtem des öffent - lichen Berufsbildungsweſens an ſich. Und jetzt dürfen wir verſuchen, dasjenige zu entwickeln, was wir den poſitiven Charakter deſſelben in den einzelnen Staaten nennen können.

III. Charakter des öffentlichen Rechts der Berufsbildung bei den großen Kulturvölkern.
1) Charakter dieſes Bildungsweſens nach dem Standpunkte Eng - lands, Frankreichs und Deutſchlands.

Das was wir nun den poſitiv rechtlichen Charakter des Bildungs - weſens nennen, entſteht nun, indem die Staatsverwaltung nach den obigen Geſichtspunkten für jenes durch die Natur des Berufs gegebene Bildungsweſen ein poſitiv geltendes Recht aufſtellt. Jedes ſolches Recht enthält naturgemäß eine beſtimmte Beſchränkung der an ſich freien Bil - dung für den individuellen Lebensberuf. Der Charakter deſſelben be - zeichnet uns daher hier die Form und das Maß, in welchem die Staatsverwaltung der abſtrakten Freiheit der Berufsbildung ihre öffent - lich rechtliche Geſtalt gibt.

Es iſt kein Zweifel, daß das, was wir als den poſitiv rechtlichen Charakter des letztern bezeichnen, weſentlich von der Stellung und von dem ganzen Geiſte der Staatsverwaltung überhaupt abhängt. Das Berufsbildungsrecht begleitet daher die Geſchichte der letztern; es be - deutet formell den Antheil und das Anrecht, den die Staatsgewalt für die geiſtige Bildung der Staatsbürger in Anſpruch nimmt und zeigt ſeinem geiſtigen Inhalt nach den Ausdruck für die Höhe der Auffaſſung des Berufsweſens überhaupt, wie ſie in einem gegebenen Staate lebt,166 Das öffentliche Recht des Berufsbildungsweſens hat daher dieſelben Stadien zu durchlaufen, welche für die Entwicklung der Verwaltung überhaupt gelten. Es wird daſſelbe naturgemäß in der Epoche der Ge - ſchlechterordnung als ſtaatliches Recht ganz verſchwinden und das was wir die Berufsbildung nennen, der Familie oder den Geſchlechtern ſelbſt überlaſſen. Es wird in der ſtändiſchen Epoche, die eben auf dem Syſtem der Berufe ruht, die Berufsbildung den ſtändiſchen Körperſchaften über - laſſen und es wird erſt in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ein für alle Staatsbürger gültiges, aber auch für alle Staatsbürger gleiches Berufs - bildungsrecht aufſtellen.

Da nun die einzelnen Staaten jene drei großen geſellſchaftlichen Epochen weder gleichmäßig durchgemacht, noch auch die Elemente der - ſelben in gleicher Weiſe beibehalten oder beſeitigt haben, ſo ergibt ſich wie für das geſammte Verwaltungsrecht, ſo auch für das Berufsbil - dungsweſen, daß der Charakter des letzteren in jedem einzelnen Staate in dem Verhältniß beſteht, in welchem der Staat gegenüber ſeinen ge - ſellſchaftlichen Elementen das Princip des ſtaatsbürgerlichen Verwaltungs - rechts zur Geltung gebracht hat.

So allgemein nun auch, ſo hingeſtellt dieſer Satz lauten mag, ſo bildet er dennoch die Grundlage aller Vergleichung des ſo tief verſchie - denen Bildungsrechts in den einzelnen Staaten Europas. Und zwar wird man hier das eigentliche Syſtem des Bildungsweſens und ſeinen Charakter von dem des Prüfungsweſens ſcheiden müſſen.

Der öffentliche Charakter des Bildungsweſens im Allgemeinen be - ruht nämlich darauf, daß ſo wie die Verwaltung die öffentliche Bedeu - tung des Berufes anerkennt, ſie auch die Berufsbildungsanſtalten nicht mehr dem Zufall und der Einzelwillkür überlaſſen kann, ſondern ihnen die Natur und das Recht öffentlicher Anſtalten verleihen muß. Der Inhalt dieſes Rechts erſcheint dann durch die Entwicklung der Momente, welche in dem Begriff einer öffentlichen Bildungsanſtalt liegen.

Das erſte Moment iſt offenbar die Beſtimmung deſſen, was der Staat als öffentlichen Beruf betrachtet. Das Syſtem der öffent - lichen Berufe wird dann naturgemäß zum Syſtem der öffentlichen Bil - dungsanſtalten ſelber werden. Denn die Verwaltung muß die Pflicht anerkennen, diejenigen öffentlichen Bildungsanſtalten herzuſtellen und zweitens in ihrer Bildungsthätigkeit zu ordnen, die für den aner - kannten Beruf die geiſtigen Bedingungen liefern.

Hier nun gibt es drei Standpunkte, welche der Vergleichung zum Grunde liegen und welche wohl um ſo leichter verſtändlich ſein werden, als die drei großen Culturvölker, England, Frankreich und Deutſchland, die - ſelben ihrem ganzen öffentlichen Bildungsweſen zum Grunde gelegt haben.

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Der erſte und einfachſte Standpunkt iſt der, nach welchem der Beruf ganz als Sache der individuellen Thätigkeit erſcheint, für die der Einzelne durch ſich ſelbſt zu ſorgen habe. Dieſer Standpunkt iſt ſeinerſeits die natürliche Folge des Mangels einer Staatsverwaltung im engeren Sinne des Wortes, welche die Entwicklung des Einzelnen ganz ſich ſelber überläßt, und keine Verpflichtung des Ganzen für die - ſelbe anerkennt als die, ihn in dieſer freien Selbſtthätigkeit zu ſchützen. Da nun aber auch in einem ſolchen Zuſtand das Weſen der höheren Bildung ſich ſelbſt ſeine Organe und ſeinen Bildungsproceß erzeugt, ſo beſteht das öffentliche Recht des Bildungsweſens hier in dem Verhalten der Staatsgewalt zu dieſen, auf ſelbſtändigen Körperſchaften, Vereinen oder Einzelunternehmungen beruhenden Bildungsanſtalten. Und dieß Verhältniß wird dann durch den Grundſatz beherrſcht, daß die Thätig - keit aller dieſer Bildungsanſtalten eine außerſtaatliche, der Verwal - tung und ihrem Recht nicht unterworfene, von derſelben in keiner Weiſe zu fördernde oder zu hemmende, das iſt eine vollkommen freie, damit aber auch unberechtigte ſein ſolle. In dieſem Zuſtande iſt von einem Verwaltungsrecht der Berufsbildung keine Rede; aus der ſtaat - lichen Thätigkeit geht weder ein Syſtem der Berufsbildung, noch eine öffentliche Ordnung derſelben, noch eine Oberaufſicht hervor. Hier ſcheidet kein Unterrichtsgeſetz die gelehrte, wirthſchaftliche und künſtleriſche Bildung, kein Miniſterium übernimmt es, die Intereſſen derſelben zu vertreten, kein Theil des Budgets iſt ihnen gewidmet, aber auch kein Recht der Verwaltung vorhanden, in den freien Entwicklungsgang ein - zugreifen. Allerdings wird der letztere, wie es die höhere Natur der Sache fordert, ſich ſelbſt in jenen drei großen Gruppen ein Syſtem er - ringen und eine gewiſſe Gleichartigkeit im Großen und Ganzen hervor - rufen. Allein dieſes Syſtem iſt dann kein öffentliches Recht, ſondern eine ſtatiſtiſche Thatſache; es iſt durch kein Geſetz beherrſcht und ge - ordnet, ſondern durch die mehr oder weniger zur Erkenntniß gelangende Natur der Sache; es iſt nicht in ſeiner Gleichartigkeit objektiv gegeben, ſondern der individuellen Anſchauung überlaſſen. Hier entſcheiden daher nicht mehr Principien, ſondern meiſt der hiſtoriſche Gang der Dinge, oder individuelle Intereſſen; es iſt beinahe unmöglich, zu überſehen, was geleiſtet wird, und ein Lehrerſtand exiſtirt entweder gar nicht oder nur für einzelne hiſtoriſche Inſtitute. Dafür genügt die Verwaltungs - loſigkeit dieſes Gebietes dem Einzelnen, ſich nun auch ganz auf ſich ſelbſt zu verlaſſen und je weniger das Ganze für ihn thut, um ſo mehr muß er durch ſich ſelber leiſten. Dieſer Standpunkt iſt der des engliſchen Berufsbildungsweſens. Hier iſt nicht bloß die Conſtatirung der That - ſachen, Anſtalten und innern Ordnungen deſſelben ſchwer, ſondern auch168 die Vergleichung; denn dieſelbe liegt hier nicht mehr in poſitiven Rechts - beſtimmungen, ſondern in dem abſtrakten Weſen des Berufes und der Idee der individuellen Freiheit. Und vielleicht iſt daher in keinem Gebiete der Staatswiſſenſchaft das Verſtändniß und das Zuſammen - ſtellen des engliſchen Weſens mit dem continentalen ſo ſchwierig als hier und eben daraus erklärt es ſich, daß wir dieſes eigenthümliche engliſche Syſtem erſt in der allerneueſten Zeit in der continentalen Literatur bearbeitet finden.

Der zweite Standpunkt iſt dem direkt entgegengeſetzt und wieder tritt uns hier der tiefe Unterſchied des Charakters von Frankreich und England entgegen. Wo die Staatsgewalt dem Einzelnen ganz ſich ſelber überläßt, überläßt ſie ihm auch den Beruf; wo ſie dagegen alle öffent - liche Thätigkeit ausſchließlich als ihre Angelegenheit betrachtet, da gilt ihr nur das als Beruf, was eben der Verwaltung angehört und das, was auf dieſe Weiſe der Verwaltung angehört, unterordnet ſie dann auch unbedingt ihren Geſetzen. Hier wird daher der Staat allerdings die Pflicht, die Berufsbildung zu fördern und zu gründen, auch aner - kennen, aber er wird dieß nur da thun, wo es ſich um eine der Ver - waltung angehörende Funktion handelt. Alles was dem nicht an - gehört, wird er als Sache des Einzelnen, als eine die Thätigkeit des Staats nicht berührende Angelegenheit anſehen. Hier werden daher auch nicht bloß öffentliche, durch Staatsmittel hergeſtellte Berufsbildungsanſtalten entſtehen, ſondern ſie werden ſich auch zu einem Syſteme entwickeln; aber dieß Syſtem wird auf diejenigen Fächer beſchränken, in welchen die Verwaltung eine Berufsbildung fordern muß. Hier wird daher auch eine ſtaatliche Oberleitung, ja eine ebenſo ſtrenge Verwaltung der Berufsbildung ſtattfinden, wie die des Staatsdienſtes ſelber, da jene grundſätzlich nur für dieſen da iſt; aber dieſe Oberaufſicht und Verwaltung wird nicht weiter gehen, als bis zu der Gränze des öffent - lichen Berufes; das übrige wird der Staat ſich ſelber überlaſſen. Das Syſtem nun wird ſich naturgemäß dahin geſtalten, daß die ge - lehrte Berufsbildung und diejenigen Zweige des wirthſchaftlichen, welche der Staat braucht, das eigentliche Gebiet des öffentlichen Berufsbildungs - weſens ausmachen, während der rein wirthſchaftliche Beruf ohne Orga - niſirung bleibt und das künſtleriſche nur in Ausnahmsfällen ſelbſtändige Anſtalten empfängt. Die innere Ordnung der erſten Gruppe wird daher eine ſtreng geſetzliche, die der zweiten eine ganz willkürliche bleiben; es ſind gleichſam zwei Welten, zwei große Bildungsproceſſe neben einander, denen dann, wie wir ſehen werden, auch das Syſtem des Prüfungsweſens entſpricht. Und dieß iſt der Charakter des Berufs - bildungsweſens Frankreichs.

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Der dritte Standpunkt iſt nun unzweifelhaft der höhere. Derſelbe geht davon aus, daß jede Lebensaufgabe an ſich einen öffentlichen Beruf enthalte; daß die Bildung für jeden öffentlichen Beruf eine der großen Bedingungen der Geſammtentwicklung ſei und daß daher der Staat als Träger des Geſammtintereſſes die Verpflichtung habe, dieſe Berufsbildung für jeden herzuſtellen. Es folgt daraus, daß das Berufsbildungsweſen mit ſeinem Syſteme das geſammte menſch - liche Leben umfaſſe und in ſich ſelbſt nach den Geſetzen der höheren Pädagogik geordnet werde. Es ergibt ſich namentlich, daß ſich die wirthſchaftliche und künſtleriſche Berufsbildung neben der gelehrten in gleichem Maße vollſtändig zu einem organiſchen Syſteme von öffentlichen Anſtalten entwickle, welche in ihren entſcheidenden Punkten eine geſetzliche innere Ordnung und eine Oberaufſicht der Verwal - tung dahin fordert, daß die Freiheit der bildenden Thätigkeit dieſe Ordnung nicht übertrete. Es folgt weiter, daß der Staat nur für denjenigen Beruf eine wirklich erworbene Bildung fordere, welcher eine adminiſtrative Funktion enthält, während er für jeden andern Beruf die volle Freiheit der individuellen Thätigkeit anerkennt. Es folgt endlich, daß er im Namen des Berufes die Lehre der freien Selbſtverwaltung überlaſſe und daß er ſich in ſeiner verwaltenden Thätigkeit darauf beſchränke, nur die Einheit und Gleichheit in der Function der Bildungskörper herzuſtellen und zu erhalten. Hier wird daher ein viel großartigeres, freies und doch organiſches Bild entſtehen; es wird der Inhalt deſſelben in Princip und Form den natürlichen Maßſtab für die übrigen Ordnungen anderer Völker ab - geben und das Höchſte in ihm geleiſtet werden, was überhaupt von einem Volke für ſein geiſtiges Leben geleiſtet werden kann. Und das Land, das dieſen Charakter des Berufsbildungsweſens bei ſich entwickelt hat, iſt Deutſchland.

Von dieſen Geſichtspunkten aus muß nun das Berufsbildungsweſen Europas als ein Ganzes aufgefaßt werden. In dieſem Ganzen hat jeder Staat und jedes Land ſeine ihm eigenthümliche Stellung; in ihm iſt die Einheit in der vielgeſtaltigen Verſchiedenheit zu ſuchen, die uns hier entgegentritt; und es wird wieder als wohlberechtigt anerkannt werden müſſen, wenn wir Deutſchlands Berufsbildungsweſen an die Spitze ſtellen und auf ſeine drei Kategorien der gelehrten, wirthſchaft - lichen und künſtleriſchen Bildung die Vergleichung zurückführen.

Die Erfüllung dieſes Bildes kann jedoch erſt die Darſtellung des Prüfungsweſens geben, deſſen Recht in vieler Beziehung für den Cha - rakter der öffentlichen Berufsbildung noch bezeichnender iſt, als das der Bildungsanſtalten.

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2) Charakter und Recht des Prüfungsweſens in dieſen Ländern.
a) Princip, Syſtem und Recht an ſich.

Während auf dieſe Weiſe der Charakter des Bildungsweſens uns zeigt, nach welchem leitenden Princip die Verwaltung für die Bildung zum Berufe thätig iſt, zeigt uns das Prüfungsweſen, was der Staat von dieſem Bildungsproceß fordert. Es iſt das erſtere ohne das letztere nicht füglich ausführbar, das letztere ohne das erſtere im Grunde nicht denkbar. Jedes öffentliche Bildungsweſen hat ein Prü - fungsweſen zur Folge; jedes Prüfungsweſen hat ein öffentliches Bil - dungsweſen zur Vorausſetzung. Allein es folgt ferner, daß auch Gegen - ſtand und Umfang beider ſtets ſich gegenſeitig bedingen und beſtimmen, und daß in dem Prüfungsſyſtem ſomit der erſte ſelbſtändige Ausdruck des Berufsbildungsſyſtems gegeben iſt. Schon deßhalb iſt jede Dar - ſtellung des Bildungsſyſtems ohne das Prüfungsſyſtem einſeitig; allein das letztere enthält zu gleicher Zeit außer ſeinem ethiſchen Princip ein rechtliches. Das rechtliche Moment enthält das Verhältniß der beſtan - denen Prüfung zur Ausübung des Berufes, und die Forderung einer Prüfung für die letztere hat daher wiederum die Pflicht des Staats zur Vorausſetzung, einerſeits die Mittel der Bildung im Verhältniß zu der Prüfung darzubieten, andrerſeits den Inhalt der Prüfung mit den Leiſtungen der Bildungsanſtalten in Harmonie zu bringen. Man kann daher ſagen, daß das Prüfungsweſen den organiſirten Aus - druck des Bewußtſeins des Staats vom Weſen und Be - deutung des Berufes für die Verwaltung im Allgemeinen, und für jeden einzelnen Stand im Beſondern enthält. Und darum bedarf daſſelbe neben dem eigentlichen Bildungsweſen einer beſonderen Beachtung und Darſtellung, um ſo mehr als die Wiſſenſchaft bisher ſtillſchweigend über das ſo wichtige Gebiet hinweggegangen iſt. Das Prüfungsweſen hat aber gerade in Deutſchland keineswegs eine bloß formelle Bedeutung. Es durchdringt nicht etwa bloß das geſammte Berufsbildungsweſen auf allen ſeinen Punkten, begleitet den Knaben und Jüngling bis zum Mannesalter in allen Stadien ſeiner Entwicklung, und iſt zugleich für ſeine geſammte öffentliche Laufbahn von entſcheidender Bedeutung, ſon - dern es iſt zugleich ein nicht gering anzuſchlagender geſellſchaftlicher Faktor; denn es umfaßt jetzt in Deutſchland alle Schichten der Geſell - ſchaft, drängt ſich in jeden Lebenskreis hinein, bringt jedem derſelben ſeine guten und üblen Folgen mit, und ſollte daher eben mit dieſer über die ſpecielle Berufsausübung weit hinausgehenden Einwirkung Gegen - ſtand der vollen Aufmerkſamkeit ſowohl von Seite der Wiſſenſchaft ſein,171 welche nach Grund und Folgen ſucht, als von Seiten der Verwaltung, welche dieſelben organiſirt und feſthält. Denn das Prüfungsweſen ſcheidet die ganze Bevölkerung bis zum vollen Mannesalter in zwei große Klaſſen, von denen die eine beſtändig damit beſchäftigt iſt die andere zu prüfen. Es iſt ſomit kein vollſtändiges Verſtändniß des ganzen Berufsbildungs - weſens möglich, ohne ein klares Bild des Prüfungsweſens vor Augen zu haben.

Das Prüfungsweſen ſpeciell Deutſchlands, allein eben ſo ſehr das der übrigen Länder, hat ſich nun allerdings nicht mit einemmale ent - wickelt. Schon ſein doppelter Zuſammenhang, einerſeits mit dem Bil - dungsweſen, andrerſeits mit dem Recht und der Stellung der Staats - verwaltung, hat das gehindert. Es gibt daher nicht bloß eine Ge - ſchichte deſſelben, ſondern ſie hat ſogar eine große Bedeutung; der gegenwärtige Zuſtand dieſes wichtigen Theiles des Verwaltungsrechts iſt auf allen Punkten in der That eine durchſichtige Conſequenz derſelben. Um aber den alle verſchiedenen Geſtaltungen zuſammenfaſſenden Ge - ſichtspunkt feſtzuhalten, möge es uns ſchon hier geſtattet ſein, die wiſſen - ſchaftlichen Hauptkategorien, auf welche es ankommt, zu beſtimmen.

Dieſe ſind das Syſtem, die Organiſation und das Recht der Prüfungen. Das Syſtem zeigt uns drei Grundformen: die Studienprüfung als Aufnahms -, Uebergangs - (Klaſſen) und Abgangs - prüfung; die Fachprüfung als Prüfung der erworbenen theoretiſchen Berufsfähigkeit, und die Dienſtprüfung, die die ſtaatliche Fähigkeit conſtatirt. Die Prüfungs-Ordnungen zeigen einerſeits die öffentliche Organiſation des Verfahrens, andrerſeits die geſetzlichen Organe, die für die Studienprüfungen aus dem Lehrkörper der Vorbildungsanſtal - ten, für die Fachprüfung theils aus dem der Fachbildungsanſtalten (Doctorat ꝛc. ), theils aus einer Vorbildung derſelben mit ſtaatlichen Prüfungscommiſſarien, für die Dienſtprüfung nur aus den letzteren beſtehen. Das Prüfungsrecht endlich zeigt, wo und wie weit die be - ſtandene Prüfung nach öffentlichem Recht die Bedingung der wirklichen Ausübung des Berufes iſt. Nach dieſen Geſichtspunkten beſtimmen ſich dann die Fragen, deren Beantwortung die hiſtoriſche Entwicklung und das gegenwärtige geltende Rechtsſyſtem der Prüfung darbieten.

b) Elemente der Geſchichte des Prüfungsweſens.

Es gibt vielleicht wenig Theile in der neueren Geſchichte Europas, in welchen Charakter und Stellung der großen geſellſchaftlichen Ordnungen ſo klar hervortreten, als gerade im Prüfungsweſen; ja man kann faſt ſagen, daß das letztere geradezu ohne Beziehung auf jene unverſtändlich bleibt.

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Die Geſchlechterordnung hat zwar einen Beruf und ein Recht des öffentlichen Berufes, aber es hat kein Prüfungsweſen. Die Stelle deſſelben wird durch den natürlichen Proceß des Alters vertreten; die Waffenmündigkeit und die öffentliche Aufnahme in die Gemeinſchaft des Wahrhaften iſt das, was die Berufsprüfung unſerer Zeit erſetzt. Der Ritterſchlag der ſpäteren Zeit gehört bereits der Epoche an, wo die herrſchenden Geſchlechter durch die Entwicklung des Syſtems der Grund - herrlichkeit und des adlichen Beſitzes zu einem öffentlichen Stande ge - worden ſind. Die weitere Ausbildung dieſer Grundlage erſcheint dann durch die ſtehenden Heere in dem ſelbſtändigen Wehrſtand, dem Waffen - berufe, der ſein eigenes Bildungsſyſtem und dann auch ſein eigenes Prüfungsſyſtem hat, das wir hier nur berühren, um die Vollſtändig - keit des Bildes nicht zu beſchränken.

Ein eigenes und eigenthümliches Prüfungsſyſtem erſcheint erſt mit der ſtändiſchen Geſellſchaft und ihrer ſtrengen Ordnung des geſammten Berufsweſens. Der innige Zuſammenhang dieſer Epoche mit der gegen - wärtigen macht es unabweisbar, ſich bei der mannichfachen formalen Gleichheit dieſer Zeit mit der folgenden über die tiefe Verſchiedenheit des Princips der ſtändiſchen Prüfung von der folgenden der ſtaats - bürgerlichen, klar zu werden.

In der ſtändiſchen Epoche nämlich erſcheint der Beruf nicht bloß als eine geiſtige und ethiſche Funktion, ſondern er erhebt ſich ſofort durch Entwicklung des ihm eigenthümlichen Beſitzes und wirthſchaftlichen Lebens zu einem Stande. Dieſer Stand, auf Beſitz beruhend, erſcheint vermöge des letztern ſtets als eine ſelbſtändige Körperſchaft. Die Körper - ſchaft nun hat die in dem Weſen des Berufes liegende Funktion zu vollziehen. Sie hat mithin als ſolche die öffentliche Verantwortlichkeit dafür, daß der Beruf als Theil des Geſammtlebens richtig vollzogen werde. Es iſt daher natürlich, daß ſie es zugleich iſt, welche die Be - rufsbildung vorſchreibt und daß ſie den Einzelnen zur Erfüllung des Berufes erſt dann zuläßt, wenn er ihr bewieſen hat, daß er die noth - wendige Berufsbildung auch wirklich beſitze. Das Urtheil darüber ſteht alsdann nie einer andern als eben dieſer Körperſchaft ſelber zu. Sie gewinnt daſſelbe durch die Prüfung, die ſie ſelbſt vorſchreibt und voll - zieht. Das Ergebniß der Prüfung iſt daher aber auch nicht bloß die Anerkennung der Bildung für den Beruf und der öffentlichen Fähigkeit ſeiner Ausübung, ſondern zugleich die definitive Aufnahme in die Körperſchaft, das iſt der Erwerb des Rechts, an der Ausübung des Berufes vermöge dieſes Angehörens an die beſtimmte einzelne Körper - ſchaft Theil zu nehmen, ſich als Mitglied einer ſolchen Körperſchaft zu bezeichnen und ſogar Miteigenthümer und Mitdisponent über das173 Vermögen der Körperſchaft zu ſein. Und da nun dieſe Aufnahme in die letztere der eigentliche Erfolg der Prüfung iſt, ſo war es wohl ſehr natürlich, daß auch die Körperſchaft ſelbſt einſeitig und vollkommen ſelbſtherrlich die Formen und Bedingungen der Prüfung vorſchrieb und einſeitig über das Ergebniß entſchied. Und dieſes körperſchaftliche Recht der Prüfung iſt der eigentliche Charakter des ſtändiſchen Prüfungs - weſens.

Dieß ſtändiſche Prüfungsweſen hat nun, und zwar innerhalb ſeines Charakters, ſeine eigene hiſtoriſche Entwicklung gehabt, die zum Theil bis auf unſere Tage herabreicht. Die weſentlichſten Punkte deſſelben ſind folgende.

Das ſtändiſche Prüfungsweſen beginnt nicht gleich mit dem Auf - treten der Ständebildung in der Kirche, ſondern erſt da, wo die Wiſſen - ſchaft in den Univerſitäten zu einem ſtändiſchen Körper wird. Die ur - ſprüngliche Prüfung iſt ſtets die Berufsprüfung des Doktorats; ſein Beruf iſt Leſen, und jeder Doktor iſt anfänglich ein Doctor legens. Bei den Medicinern dagegen entſteht zuerſt der Gedanke des über den Lehrberuf hinausgehenden ärztlichen Berufes, ſelbſt für die Apotheker. Daran ſchließt ſich bei den Juriſten der Gedanke der Berufsbildung für die Rechtsanwälte; es tritt auch hier die Unterſcheidung des Doctor legens und non legens ein, und es wäre von Intereſſe, zu wiſſen, wann die habilitatio als Lehrberufsprüfung zuerſt rechtens geworden. Noch aber gibt es kein weiteres Prüfungsweſen; von einer Scheidung der Studien - und Dienſtprüfung iſt noch keine Rede. An die Stelle der erſteren ſteht noch immer die freie Aufnahme in die Körperſchaft der Univerſität. Eben ſo hat ſich anfänglich noch keine Prüfung der Zünfte und Innungen gebildet; auch hier vertritt die einfache Auf - nahme nach der Weiſe der Gilde die Berufsprüfung. Man kann dieß als die erſte Epoche bezeichen.

Die zweite Epoche beginnt nun da, wo ſich einerſeits das Vor - bildungs - von dem Fachbildungsweſen, und andererſeits das ſtrenge Zunftweſen von dem Reſte des Gildeweſens ſcheidet. Die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung entwickelt ſich. Den Grundzug deſſelben bildet jetzt der durchgreifende Unterſchied des geiſtigen Standes von dem wirth - ſchaftlichen, deſſen allgemeiner Name der des Bürgerſtandes iſt, in wel - chem aber der Beruf in der Form der körperſchaftlichen Zunft und Innung erſcheint. So wie dieß ſich entwickelt, muß auch das Prüfungs - weſen mit ihm gleichen Schritt halten, und ſich mit ihm entwickeln. Auf dieſe Weiſe entſteht nun ein ganzes, zum Theil höchſt eigenthüm - liches Syſtem der Berufsprüfungen, das mit wenig Abweichungen in ganz Europa ziemlich gleichartig iſt; nur England bildet auch hier eine174 durchgreifende Ausnahme. Dieß Syſtem beruht zunächſt auf dem Unter - ſchied der Vorprüfungen und der Fachprüfungen. Die Vor - prüfungen ſchließen ſich an die Vorbildungsanſtalten. Sie erſcheinen für die gelehrte Bildung als das Syſtem der Prüfungen in allen Formen der gelehrten Schulen (Gymnaſien, Lyceen, Athenäen ſ. unten); für die wirthſchaftlichen Bildungen in dem Princip der Geſellenprüfung. der Freiſprechung der Lehrburſchen. Die Fachprüfungen entfalten ſich dabei natürlich zu großer Mannigfaltigkeit. Jede Fakultät hat ihre Fachprüfung; ſie behält den alten Namen und das alte Recht für die vollendete Fachprüfung in dem Doktorat bei, während der Laureatus und Magiſter mehr den Charakter einer Vorprüfung haben. Wir wiſſen noch zu wenig von den Einzelheiten dieſes Syſtems der Prüfungen; im Großen und Ganzen aber iſt es ein Syſtem geworden, und dieß Syſtem iſt auf gleichmäßiger ſtändiſcher Grundlage ſelbſt gleichartig. Auf allen Punkten aber behält es ſeinen urſprünglichen Charakter; es iſt ein ſtändiſches Prüfungsweſen. Jede Körperſchaft beſtimmt, wor - über zu prüfen iſt; jede Körperſchaft iſt ſelbſt das ausſchließlich zur Prüfung berechtigte Organ, und das öffentliche Recht der Prüfungen iſt nach wie vor die Aufnahme in die betreffende Körperſchaft ſelbſt, und die Berufsausübung vermöge dieſer Aufnahme.

Dieß ſtändiſche Prüfungsweſen hat nun in der hiſtoriſchen Ent - wicklung in gewaltiger Weiſe gewirkt. Es hat namentlich im Anfange dem geiſtigen wie dem wirthſchaftlichen Leben unendlich genützt. Es hat nicht bloß eine gewiſſe Tüchtigkeit und Kraft in die Berufsbildung aller Klaſſen hineingebracht, ſondern es hat auch demſelben einen mäch - tigen ethiſchen Halt gegeben in dem Bewußtſein, daß jeder bereits für die Sache an ſich etwas geleiſtet haben müſſe, ehe er für das Ganze etwas leiſtet. Es hat dadurch der perſönlichen Bildung einen Werth und deren Tüchtigkeit eine Achtung verſchafft, welche als eine der großen Bedingungen der geiſtigen Arbeit jener Epoche angeſehen werden müſſen. Aber es hatte nicht minder ſeine großen Gefahren.

Gerade jene Körperſchaftlichkeit der Berufsprüfung nämlich und das Sonderintereſſe, das ſich an und aus der Souveränetät der ſtändi - ſchen Körper entwickelt, gibt allmählig den Organen der letzteren ver - möge der Berufsprüfung eine Gewalt, welche dem ewigen Element der wahren geiſtigen Jugend eines Volkes, der freien und muthigen Selbſt - thätigkeit des Einzelnen, feindlich entgegentritt. Der Kern dieſer Ge - walt beſteht darin, daß die Prüfenden unverantwortlich ſind für ihr Urtheil; der Kern der Gefahr darin, daß dieſelben, welche ein Intereſſe an der Zulaſſung oder Abweiſung der Geprüften zur Berufsausübung haben, auch die ſouveräne Entſcheidung über die letztere beſitzen. Das175 erſtere bedroht die geiſtige und wirthſchaftliche freie Bewegung des Ein - zelnen, das letztere die objektive Wahrheit des Urtheils der Prüfenden. Beides zuſammenwirkend macht die Erhaltung des rein ſtändiſchen Prüfungsweſens mit dem lebendigen Fortſchritte der Entwicklung des geiſtigen und wirthſchaftlichen Lebens unvereinbar. Aus einem urſprüng - lich trefflichen Elemente der Geſammtentwicklung wird das Prüfungs - weſen dieſer Epoche daher zu einem verderblichen Feind des geiſtigen und materiellen Aufſchwunges. Es wird klar, daß es die große und allein lebendige Quelle des letzteren, die freie geiſtige und wirthſchaft - liche Arbeit des Einzelnen vernichtet. Es iſt der formelle Ausdruck der Gefahr, welche das Alter der ſtändiſchen Epoche bezeichnet, des Er - ſtarrens alles geiſtigen Lebens in der Ueberlieferung für den Beruf und ſeine organiſche Funktion im Geſammtleben. Und mit dem Eintreten der neueren Zeit muß daher nebſt den alten Körperſchaften auch das Prüfungsweſen derſelben verſchwinden.

Wir haben nun dieſe neue Zeit bereits früher als die Epoche der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bezeichnet und das Recht ihres Bildungs - weſens charakteriſirt. Das weſentliche Complement des letzteren iſt nun auch hier das Prüfungsweſen, und das Princip des letzteren, wie es aus dem Geiſte der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft überhaupt hervorgeht, iſt nun nicht ſchwer zu beſtimmen. Daſſelbe beſteht in der Aufhebung des ſtändiſchen Rechts der Körperſchaftsprüfungen, und in der Aufſtellung von öffentlichen, nach allgemein gültigen Vorſchriften angeordneten Prüfungsorganen an der Stelle derſelben. Wie der Beruf nicht mehr bloß Sache der ſouveränen Körperſchaft, ſondern der Geſammtheit iſt, ſo ſoll es auch der geſammte Bildungsproceß für dieſen Beruf, alſo auch die Prüfung werden. So entſteht das, was wir das ſtaatsbürgerliche Prüfungsweſen nennen und das jetzt wohl in ganz Europa auf allen Punkten an die Stelle des ſtändiſchen ge - treten iſt.

Nur muß man ſich den Proceß, der dieſe Umgeſtaltung enthält, weder als einen ſehr raſchen, noch als einen für alle Gebiete der Be - rufsbildung oder für alle Länder Europas gleichmäßigen denken. Bei der im Gegentheil noch viel zu großen Mannichfaltigkeit deſſelben kommt es gerade hier weſentlich darauf an, denſelben auf ſeine gleichartigen Faktoren zurückzuführen und durch ihre Berückſichtigung das Verſtändniß der Verſchiedenheit und damit die höhere Vergleichung zu begründen.

Dieſe Faktoren ſind nämlich dieſelben, welche über den Gang und die Organiſation des Bildungsweſens entſchieden haben. Der erſte der - ſelben iſt der Grundſatz, daß der Beruf eine ethiſche Funktion und als ſolche eine der großen Bedingungen der Entwicklung der Gemeinſchaft176 enthalte; der zweite, daß die Berufsbildungsanſtalten Staats - anſtalten ſind und daher mit ihrem Recht und ihrer Ordnung auch in den Angelegenheiten der Berufsprüfung keine ſelbſtändigen ſtändiſchen Körperſchaften mehr bilden; der dritte, daß der Beruf frei iſt. Aus dem Zuſammenwirken dieſer Faktoren hat ſich das öffentliche Prüfungs - recht unſerer Gegenwart gebildet, indem es ſich formell in vielen Punkten an das ſtändiſche Prüfungsrecht anſchloß.

Aus dem erſten Punkte ergab ſich nämlich, daß die Prüfung jetzt für alle Zweige des Berufs, die wirthſchaftlichen ſowohl als die ge - lehrten, dem Einzelnen möglich gemacht werden müſſe. Aus dem zweiten ergab ſich, daß ſie eine für alle Punkte gleichmäßige und unter der Verwaltung des Staats ſtehende ſein ſolle. Aus dem dritten endlich, daß ſie nur da als öffentlich rechtliche Bedingung der Berufsausübung erſcheinen könne, wo der Einzelne ſich der letzteren nicht zu entziehen vermag, ſondern von derſelben in ſeinen Intereſſen abhängig gemacht wird. Das erſte erzeugte daher das Prüfungsſyſtem, das zweite die Prüfungsordnungen, das dritte das Prüfungsrecht des neuen Prüfungs - weſens. Dieſe Grundſätze empfangen nun in ihrer Anwendung auf das Syſtem der Bildungsanſtalten folgende Geſtalt, die freilich wieder nur in Deutſchland ausgebildet erſcheint.

c) Prüfungsweſen der Gegenwart.

1) Studienprüfungsſyſtem. Das Prüfungsweſen wird näm - lich zuerſt die Grundlage des geſammten Studienweſens und zwar ver - möge des Princips, daß erſtlich die Aufnahme in die beſtimmte Gruppe von Bildungsanſtalten und zweitens jeder Uebergang von einer Stufe zur andern (Klaſſe) auf einer dafür beſtimmten Prüfung beruhen ſoll, ſo daß das Syſtem der Studienprüfungen das ganze Syſtem des Stu - dienganges ſchrittweiſe begleitet, und jede Bildungsſtufe durch eine Prüfung erworben und bezeichnet wird. Die Prüfungsorgane ſind dabei zwar die Mitglieder der Lehrkörper, aber nicht als ſtändiſche, ſondern als Staatsbeamtete. Das Prüfungsverfahren iſt hier für einzelne An - ſtalten und ſelbſt wieder innerhalb der einzelnen Länder ein verſchie - denes, indem theils förmliche Prüfungen abgehalten, theils indirekte Prüfungen durch Erzielung von Durchſchnittszeugniſſen (wie namentlich bei den Klaſſenprüfungen vieler Gymnaſien) angeſtellt werden. Die Vorſchriften für dieſe Uebergangsprüfungen ſind in vielen Fällen ſehr unbeſtimmt und man kann als Regel annehmen, daß ſie durch die Uebung des Lehrkörpers erſetzt werden. Das Prüfungsrecht beſteht endlich für dieſe Studienprüfungen in der Anwendung des Grundſatzes,177 daß das Beſtehen der Prüfung die rechtliche Bedingung des Ueberganges von einer Klaſſe zur andern iſt, meiſtens mit dem Zuſatz, daß nach ein - oder zweimaligem Nichtbeſtehen der Betreffende von der ganzen Bildungsanſtalt ausgeſchloſſen wird. Dieſes Prüfungsſyſtem iſt im Weſentlichen das der Vorbildungsanſtalten und zwar weſentlich der gelehrten; zum Theil aber auch der wirthſchaftlichen wie der Realſchule und der Realgymnaſien; doch bemerken wir, daß wir außer Stande waren, darüber etwas Genaueres zu erfahren, indem hier in den ein - zelnen Ländern nicht unbedeutende Unterſchiede obwalten. Bei den Fach - bildungsanſtalten iſt das Verhältniß in Deutſchland weſentlich verſchie - den von dem in den romaniſchen Ländern. Deutſchland hat im All - gemeinen gar keine Studienprüfungen für dieſelben, da die Abgangs - prüfung der Vorbildungsanſtalt als Aufnahmsprüfung für die Fach - bildungsanſtalt gilt. Nur in Oeſterreich exiſtirt an den Univerſitäten bei Juriſten die rechtshiſtoriſche Staatsprüfung als Uebergangsprüfung vom zweiten Studienjahre zum dritten; daneben das eigenthümliche, ſehr beachtenswerthe Inſtitut der Colloquien, eine Einzelprüfung, die für gewiſſe Fälle vorgeſchrieben iſt, wo der Studienfleiß des Einzel - nen als Bedingung für gewiſſe Benefizien (Stipendien ꝛc. ) erſcheint. In Frankreich dagegen ſehen wir noch das alte Baccalaureat als eigent - liche Studienprüfung beſtehen, jedoch mit dem eigenthümlichen Charakter zugleich eine Art von Berufsprüfung zu gelten. Das Element der Bil - dungsfreiheit wird dadurch gewahrt, daß nicht bloß jeder in jedem Augen - blick aus dem Bildungsgange austreten kann, ſondern daß ſo weit es irgend thunlich iſt, die Prüfung der einen Studienanſtalt als Aufnahms - prüfung für die andere gilt, was namentlich das entſcheidende Moment für die ganze Stellung der Realgymnaſien geworden iſt. Zweitens aber erſcheint das Moment der Bildungsfreiheit in dem Studienprüfungs - ſyſtem darin, daß die nicht ſtaatlichen Bildungsanſtalten ihrerſeits an gar kein Prüfungsſyſtem gebunden ſind, ſondern ſich daſſelbe ſelbſt ordnen und über den Werth und die Formen deſſelben ſelbſt entſcheiden können. Die allerdings durchgreifende Gleichartigkeit des Prüfungs - ſyſtems der letzteren mit denen der ſtaatlichen Anſtalten hat nun eine, weſentlich auf dem Prüfungsrecht beruhende Kategorie im Recht der Bildungsanſtalten hervorgerufen. Das ſind nämlich die Privatbil - dungsanſtalten mit öffentlichem Recht. Dieſe letzteren ſind bekanntlich ſolche, deren Prüfungen das Recht der öffentlichen Studien - prüfungen haben, und daher namentlich als Uebergangsprüfungen zu den Fachbildungsanſtalten gelten. Die Vorausſetzung für den Erwerb dieſes Prüfungsrechts bildet die Gleichheit des Bildungsganges dieſer Anſtalten mit denen des Staats und die formelle Approbation desStein, die Verwaltungslehre. V. 12178letzteren, ſowie der Prüfungsordnung. In Deutſchland gibt es nur als ſolche Vorbildungsanſtalten; die Universités libres ſind ja doch ſchon Fachbildungsanſtalten in dieſem Sinne. So iſt das Studienprüfungs - ſyſtem ein Ganzes geworden, deſſen Darſtellung wohl einer ſpeciellen Arbeit würdig wäre.

2) Berufsprüfungsſyſtem. Während nun das Studien - prüfungsſyſtem naturgemäß noch in den meiſten Punkten genau mit den Formen der ſtändiſchen Vorbildung zuſammenhängt und ſich weſent - lich von der letzteren nur dadurch unterſcheidet, daß die Lehrkörper in den Staatsbildungsanſtalten als Staatsbeamtete fungiren, iſt das Be - rufsbildungsweſen ein von der ſtändiſchen Epoche weſentlich und auch formell ganz verſchiedenes geworden. Die mannichfach verſchiedenen Ver - hältniſſe deſſelben müſſen nun dieſer Epoche auf folgende einfache Kate - gorie reducirt und darauf die Vergleichung des geltenden Prüfungs - ſyſtems begründet werden.

Zuerſt gilt auch hier der Grundſatz, daß jede Fachbildungsanſtalt mit einer ſpeciell auf ihr Fach berechneten öffentlichen Prüfung ver - ſehen ſein ſoll und iſt und zwar ganz abgeſehen von dem öffent - lichen Recht dieſer Prüfung, das für die einzelnen Fächer ſehr verſchie - den iſt, weil das Beſtehen der Prüfung den großen Werth hat, die öffentliche Conſtatirung des Erwerbs eines gewiſſen Maßes der Fach - bildung für den Geprüften und damit eines gewiſſen Werthes ſeiner Fähigkeiten zu erhalten. Selbſt da, wo daher keine geſetzliche Prüfung vorgeſchrieben iſt, wie bei den freien Lehranſtalten, bildet ſich eine ſolche durch das Intereſſe der Betheiligten von ſelbſt heraus (Handelsaka - demien ꝛc. ) oder wird durch anderes ſo weit thunlich erſetzt (Kunſt - akademien mit Prämien); die Nothwendigkeit der Fachprüfung bei Staats - anſtalten iſt dabei ſelbſtverſtändlich. Dieß iſt der erſte leitende Grund - ſatz. Dennoch unterſcheiden ſich die Staatsanſtalten von den öffentlichen auf dieſem Punkte dadurch, daß die Fachprüfung für die erſteren als ein öffentliches Recht, für die letzteren als eine Maßregel der Zweck - mäßigkeit, für alle aber als ein allgemein gültiges Princip des Bil - dungsweſens anerkannt wird. Die weitere Entwicklung des Prüfungs - weſens liegt erſt in den folgenden Punkten.

Das zweite iſt nun die Beſtellung der Prüfungsorgane und der Prüfungsordnungen. Und hier ſcheiden ſich nun zwei Syſteme.

Nachdem nämlich bereits mit dem vorigen Jahrhundert die Fach - bildungsanſtalten dem Charakter, wenn auch nicht der Form nach aus ſtändiſchen Körperſchaften ſtaatliche Anſtalten mit ſtaatlichen Funktionen und Unterſtützungen geworden ſind, bei denen nunmehr das Princip der Selbſtverwaltung an die Stelle der ſtändiſchen mit Selbſtherrlichkeit179 getreten, mußte die Frage entſtehen, ob dieſe Körperſchaften in ihrer neuen Geſtalt geeignet ſeien, auch die neue ſtaatsbürgerliche Berufs - prüfung zu übernehmen, wie ſie die ſtändiſche in Händen gehabt. Aus der Beantwortung dieſer Frage ging nun das doppelte Syſtem von Prüfungsorganen hervor, das auch zum Theil dem folgenden Syſtem des Prüfungsrechts zum Grunde liegt.

Das erſte dieſer Syſteme beruht darauf, daß die Verwaltung zum Theil neben, zum Theil an der Stelle der alten Fachprüfungsorgane, welche aus dem Lehrkörper beſtanden, eigene Staatsorgane für die Prüfungen einſetzte, die in verſchiedenſter Weiſe componirt ſind. Zum Theil ſind es Gerichtskörper, zum Theil ſind es vom Staat ernannte Prüfungscommiſſäre, zum Theil ſogar (wie in Frankreich) Geſchworne. In den meiſten Fällen nahm man dabei Glieder des Lehrkörpers (Pro - feſſoren) als Mitglieder dieſer Prüfungscommiſſionen auf, theils facul - tativ, theils principiell. Es verſteht ſich dabei von ſelbſt, daß jenes für die freien Fachbildungsanſtalten nicht der Fall war.

Das zweite Syſtem dagegen enthält die Anerkennung der Lehr körper als Prüfungsorgane, ſo daß der Form nach das Recht derſelben jetzt daſſelbe iſt wie früher. Dieß war namentlich der Fall bei den Uni - verſitäten und ihrem ſtändiſchen Berufsprüfungsſyſtem dem Doctorat, während es bei den neuen wirthſchaftlichen Fachbildungsanſtalten (poly - techniſchen Schulen ꝛc. ) deßhalb nicht anders ſein konnte, weil die be - treffenden Fachkenntniſſe oder die nöthige Zeit eben nur bei dieſen vor - handen waren. Auf dieſe Weiſe entſtand der Unterſchied der Doctorats - prüfungen von den eigentlichen Staatsprüfungen, der unſerer Zeit eigenthümlich iſt. Regel iſt, daß natürlich da, wo es keine Staatsprüfung gibt (wie z. B. bei den Medicinern), die Doctoratsprüfung dieſelbe er - ſetzt (in den kleineren deutſchen Staaten iſt das auch bei den Juriſten der Fall); daß dagegen ſonſt beide einander gleichſtehen, wenn nicht (wie in Oeſterreich) das Doctorat die Vorausſetzung der Praxis als Advokat iſt. In jedem Falle iſt daraus die Verpflichtung der Verwaltung ent - ſtanden, das Prüfungsweſen zum Gegenſtand einer eigenen Geſetzgebung zu machen, ſo daß jetzt wohl in den meiſten Staaten ein förmliches Syſtem von Prüfungsordnungen beſteht, das die alten Doctoratsprüfungen in ſich aufgenommen und bei mancher Modification im Einzelnen doch im Großen und Ganzen erhalten hat. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß für die gelehrte Bildung theils Doctorats -, theils Staatsprüfungen (wohl zu unterſcheiden von den Dienſtprüfungen, ſ. unten) gelten, während für die wirthſchaftliche Bildung das Syſtem der Prüfungen durch den Lehrkörper gehandhabt wird, das wiederum bei den freien Bildungsan - ſtalten oft durch bloße Zeugniſſe ohne eigentliche Prüfung erſetzt iſt.

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3) An dieſe Prüfungen ſchließt ſich nun die dritte Kategorie, die Dienſtprüfung. Eine Dienſtprüfung gibt es in der ſtändiſchen Zeit überhaupt nicht, da jede Prüfung den Einzelnen unmittelbar in die Körperſchaft aufnimmt. Erſt da, wo ſich der Staat mit ſeiner Ver - waltung von der ſtändiſchen Ordnung trennt, kommt der Gedanke zur Geltung, daß die Berufserfüllung ſtatt einer ſtändiſchen eine ſtaats - bürgerliche Pflicht enthalte, und daß daher der Staat nunmehr nicht bloß die theoretiſche, ſondern auch die praktiſche Fähigkeit des Betreffen - den zu conſtatiren habe. Ganz nahe lag das in den Gebieten, wo der Beruf als Amt erſchien, oder wo der Staat für ſeine wirthſchaftlichen Aufgaben einer tüchtigen techniſchen Bildung bedurfte. Hier nun ge - nügte die auf rein wiſſenſchaftliche Gegenſtände bezogene Berufsprüfung nicht, ſondern die Verwaltung forderte außerdem eine praktiſche und zwar meiſtens nach einer gewiſſen Zeit des praktiſchen Dienſtes, deren Gegenſtand dann naturgemäß weſentlich die Kenntniß praktiſcher Ver - hältniſſe ſein mußte. Dieſe, den Berufsprüfungen folgenden Prüfungen nennen wir kurz die Dienſtprüfungen. Sie bilden das dritte Glied im Syſteme der Prüfungen; zwiſchen ihnen und der Berufsprüfung liegen meiſt mehrere Jahre und die Prüfungsorgane ſind dabei die höhern Behörden ſelbſt. Auch hier wird die Prüfungsordnung geſetzlich feſt - geſtellt und natürlich ſpeciell auf den einzelnen Beruf berechnet. Dieſe Dienſtprüfungen ſind nun zum Theil ſehr einfach, zum Theil (wie na - mentlich bei dem Gymnaſiallehrerſtand in Oeſterreich) höchſt verwickelt; ſie ſtehen zum Theil ganz ſelbſtändig, ohne eine Vorbildung da (wie bei einzelnen techniſchen Gebieten: Poſt, Eiſenbahnen ꝛc. ), zum Theil und zwar allenthalben bei der gelehrten Fachbildung haben ſie die Studien - und Berufsprüfungen zur Vorausſetzung, in den meiſten Fällen auch bei der höheren Technik. Bei der niederen Technik, wie bei einzelnen Gewerben, ſind ſie der Reſt der alten ſtändiſchen Zunftprüfung. Es liegt in der Natur aller dieſer Prüfungen, daß ſie mit dem Verwal - tungsſyſteme aufs Engſte zuſammenhängen und daher die verſchiedenſten Formen annehmen. Wir ſind nicht im Stande, nach dem uns vor - liegenden Material ſchon jetzt ein vollſtändiges Bild derſelben zu geben.

An dieſes weitverzweigte Syſtem der Prüfungen ſchließt ſich nun das, was wir das Recht der Prüfungen nennen.

Das Recht der Prüfungen beſteht nun in denjenigen Beſtim - mungen, nach denen die beſtandene Prüfung die rechtliche Bedingung für die Berufsthätigkeit des Einzelnen iſt. Dieß Recht iſt natür - lich weder ein einfaches, noch auch ein gleiches in den verſchiedenen Ländern Europas. Dennoch ſind ſeine Grundlagen im Weſentlichen dieſelben. Man kann ſie im Allgemeinen auf drei Beſtimmungen zurück -181 führen, von denen es allerdings Ausnahmen genug gibt. Nach dem Ver - ſchwinden des ſtändiſchen Prüfungsrechts iſt das Beſtehen der Staats -, beziehungsweiſe Dienſtprüfung für die Ausübung des gelehrten Berufs obligatoriſch, für den wirthſchaftlichen facultativ und für den künſtleriſchen überhaupt nicht vorhanden. So lange es ſich dabei nicht um öffentliche Ausübung des Berufes handelt, iſt auch für den gelehrten Beruf die Prüfung facultativ; wo dagegen die Ausübung des wirth - ſchaftlichen Berufes eine Funktion für die wirthſchaftliche Staatsver - waltung enthält, wie z. B. bei Poſt, Steuern ꝛc., da hat der Staat ſeinerſeits techniſche Fachprüfungen für ſich als obligatoriſch eingeführt; wo es ſich endlich um techniſche Leiſtungen handelt, deren Kenntniß als Bedingung der öffentlichen Sicherheit oder als Theil der Volkswirth - ſchaftspflege erſcheint (Maſchinenperſonal, Baumeiſter, Forſtmänner, Berg - männer), da ſind die Prüfungen überhaupt obligatoriſch. Aber auch die ganz facultativen Prüfungen werden faſt von allen Betheiligten durchgemacht und zwar wegen des Werthes, den das Prüfungszeugniß für den Einzelnen und ſeine Bewerbungen hat. Die geſetzlichen Be - ſtimmungen über dieß Recht der Prüfungen ſind gewöhnlich in den öffentlichen Prüfungsordnungen enthalten; jedoch iſt es beachtenswerth, daß ſie vielfach als ſelbſtverſtändlich fehlen.

Dieß ſind nun die leitenden Grundſätze und Begriffe für das Prüfungsweſen als zweiter großer Theil des öffentlichen Rechts des Berufsbildungsweſens. Bei dem Mangel an gehöriger Beachtung deſſel - ben iſt es uns nicht möglich geweſen, das geltende Recht derſelben mit Vollſtändigkeit zu ſammeln. Wohl aber glauben wir, daß es nunmehr thunlich iſt, den Charakter der drei großen Kulturvölker in Beziehung auf dieß Gebiet zu beſtimmen. Es hat das eine nicht unwichtige Be - deutung zu dem ganzen Verwaltungsrecht ihres geiſtigen Lebens.

d) Charakter und Recht des Prüfungsweſens in den Hauptſtaaten Europas.

Nachdem wir ſo die Elemente des Prüfungsweſens feſtgeſtellt haben, müſſen wir uns nun für dieſen Charakter deſſelben, wie er ſich in den Hauptſtaaten ausgebildet hat, und auch für das poſitive Recht mit einer kurzen Nachweiſung begnügen.

Der erſte Grundſatz iſt, daß die Prüfung für drei Arten des Berufes auf dem ganzen Continent gemeinſam iſt; für die Aerzte, die Rechtsverwaltung und den Lehrerſtand; für England iſt auch dieß nicht eingeführt. Dagegen gibt es für die Verwaltung nur in einigen Ländern ein Princip der Prüfung, und dieß iſt auch hier wieder ſehr verſchieden. Dieſe Verſchiedenheit reducirt ſich auf folgende Punkte.

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Für die ärztliche Berufsbildung gilt als durchgehende Regel, daß die Berufsprüfung zugleich Dienſtprüfung iſt, und zwar ſo, daß faſt allenthalben dieſe Prüfung als Doktoratsprüfung erſcheint. Dieß gilt nicht bloß für Deutſchland, ſondern auch für die übrigen romaniſch - germaniſchen Länder.

Die Lehrerprüfungen ſind dagegen höchſt verſchieden, und zwar für den Elementar - und Berufslehrerſtand. In Deutſchland und Holland iſt die Prüfung genau vorgeſchrieben, zum Theil mit übergroßer Ge - nauigkeit. In Frankreich wird ſie durch Nachweiſung eines praktiſchen Dienſtes vielfach erſetzt; in England gilt ſie überhaupt nur bei den vom Staate unterſtützten Schulen.

Die Prüfungen des Juriſtenſtandes ſind wieder principiell allgemein, ſelbſt in England; aber während ſie dort und in Frankreich nur für die Anwälte gelten, ſind in Deutſchland neben den Anwaltsprüfungen auch noch Richteramtsprüfungen. In Beziehung auf dieſelben haben die meiſten deutſchen Staaten die Berufsprüfung an den Univerſitäten als erſte, und dann noch eine ſpecielle Advokaturs - und Richteramtsprüfung als zweite Dienſtprüfung aufgeſtellt, was in den übrigen Ländern fehlt.

Die größte Verſchiedenheit herrſcht in Beziehung auf die Prüfungen für den Verwaltungsdienſt. Hier hat England noch gar kein Syſtem; Frankreich hat ein ſolches, ſo viel wir ſehen nur für gewiſſe techniſche Staatsdienſte, ſonſt keine; ebenſo ſtehen Belgien und Holland. Deutſchland dagegen hat ſich hier ein vollſtändiges, aber wohl in den meiſten Staaten in Form und Inhalt verſchiedenes Syſtem gebildet, das meiſt in lauter einzelnen, höchſt zerſtreuten und von Fall zu Fall erlaſſenen Beſtimmungen beſteht.

Ebenſo verſchieden ſind die Beſtimmungen über die Prüfungsorgane. Regel iſt, daß die Berufsprüfungen von den Profeſſoren ganz oder zum Theil, die Dienſtprüfungen dagegen von Beamten allein gepflogen werden. In England prüft die Corporation, in Frankreich die Jury, in Deutſch - land eine geſetzliche Commiſſion. Man darf dabei noch von keinem einheit - lichen Syſteme reden. Soll es kommen, ſo muß erſt die Wiſſenſchaft es ſuchen und verarbeiten. Die ſehr große Wichtigkeit der Sache würde eine ſolche Arbeit in höherem Grade wünſchenswerth machen.

Das einzige Werk, das ſich bisher mit dieſer Frage und ihrem poſitiven Recht im Allgemeinen beſchäftigt, iſt Ortloff, Methodologie der Rechts - und Staatswiſſenſchaft nebſt deutſchen Studien und Examens - ordnungen 1863, der in ſeiner erſten Abtheilung die Methodologie des Studiums gibt, ohne ſich mit derjenigen der Prüfungen zu beſchäftigen183 in der zweiten die wichtigen Prüfungsordnungen der kleineren Staaten (Oeſterreich und Preußen ſind bis zur Unbrauchbarkeit unvollſtändig) ohne die Studienordnungen mitzutheilen. Wir glauben aber in Folgen - dem, indem wir das Studienprüfungsweſen hier übergehen, das geltende Recht der Dienſtprüfungen ſoweit mittheilen zu ſollen, als uns daſſelbe zugänglich war, indem wir zugleich die Beſtimmungen über die Berufsprüfung der wirthſchaftlichen Fächer mit aufnehmen.

Oeſterreichs Staatsprüfungsſyſtem. Literatur und genauere An - gaben bei Stubenrauch (Verwaltungs-Geſetzkunde Bd. I. §. 24 ff.). Studienordnung von 1855 bei Ortloff S. 135 145. Organiſation der Univerſitäten und Recht derſelben. Stubenrauch Bd. II. §. 405 ff. ; der Rechtsakademien ebendaſ. Bd. II. §. 414. Theoretiſche Prüfungen: doppelte Geſtalt a. Doktoratsprüfungen: 1) für die Theologie: Zu - laſſung nach Decret vom 7. und 28. Januar 1809 und Reſcript vom 16. Sept. 1851; Prüfungscommiſſion zur Hälfte vom Biſchof ernannt (Entſchließung vom 23. April 1850). 2) Jurisprudenz: die drei Rigoroſen des Erlaſſes vom 2. Oktober 1855 ſind noch immer nicht ein - geführt: es beſtehen noch vier Rigoroſen nach altem Recht (Decret vom 19. März 1850. Stubenrauch Bd. II. §. 406). 3) Medicin (Studien - ordnung vom 1. Oktober 1830 mit fünf Jahren (zwei Jahre Klinik, welche den Probedienſt vertreten); Doctorsprüfung: unbedingt vorgeſchrieben (Decret vom 19. Juni 1819); Prüfungen der Wundärzte (Decret vom 10. Auguſt 1849); die Prüfungen der Patrone der Chirurgie und der Lehr - linge (Stubenrauch Bd. II. §. 280. 281). 4) Philoſophie: Doctors - prüfung nach Decret vom 7. und 28. Januar 1809); b. theoretiſche Staatsprüfung: gültig nur für die Rechts - und Staatswiſſenſchaft als eigentliche Staatsdienſtprüfung; drei Prüfungen: rechtshiſtoriſche (als Zwiſchenprüfung nach dem vierten Semeſter), judicielle und ſtaats - wiſſenſchaftliche, vor einer ſtaatlichen Prüfungscommiſſion (Erlaß vom 2. Oktober; Hauptgeſetz vom 16. April 1856. Stubenrauch Bd. II. §. 31).

II. Staatsdienſtprüfung. Dieſelbe iſt bei den Theologen nach dem Kirchenrecht, bei den Medicinern in der Doctoratsprüfung ent - halten. Bei der Beſtimmung zum Lehrerberuf an den Univerſitäten tritt die Habilitationsordnung für die Privatdocenten ein. Erſte Ordnung derſelben zugleich als Einführung des Privatdocententhums (Miniſterial-Erlaß vom 19. December 1848); nähere Beſtimmungen: Erlaß vom 27. April 1850 (Beſchränkung auf beſtimmte Fächer); Recht auf Zeugnißausſtellung (Erlaß vom 5. Januar 1849. Stubenrauch Bd. II. §. 407); Lehrerberuf an den Gymnaſien: 1) theoretiſche Prüfung nach Erlaß vom 24. Juli 1856; ausführlich bei Stuben - rauch Bd. I. §. 55. Dann ein Probejahr, jedoch nach demſelben keine184 Dienſtprüfung, ſondern Zeugniß des betreffenden Gymnaſialdirektors. Für den Verwaltungsdienſt dagegen beſteht ein vollſtändiges Syſtem von Staatsprüfungen, deſſen Charakter keinesweges allenthalben gleich iſt, und namentlich für die Finanzverwaltung bis zur bloßen techniſchen Manipulationsprüfung hinabſinkt, während die Finanzwiſſenſchaft im Grunde mit der ſtaatswirthſchaftlichen Prüfung abſchließt ein nicht geringer Mangel. Nach den Fächern getheilt erſcheint folgendes Syſtem.

1. Finanzverwaltung. a. ſtaatswiſſenſchaftliche oder juriſtiſche Docto - ratsprüfung; dann 6 12 Wochen Probezeit; dann Conceptsdienſt - prüfung (meiſt reine Verwaltungsgeſetzkunde) nach Decret vom 24. Juni 1829 und Decret vom 21. Auguſt 1839; wiſſenſchaftlicher iſt die Prokura - tursprüfung (Dienſtesinſtruktion vom 16. Februar 1855); warum gilt keine ähnliche für den Conceptsdienſt überhaupt? b. untergeordnete Dienſtprüfungen, bei denen keine wiſſenſchaftliche Fachbildung voraus - geſetzt wird, meiſt erſt nach 1850 auf Grundlage praktiſcher Forderungen eingeführt oder geordnet; für Anſtellung bei 1) Steuerämtern (Ver - ordnung vom 28. Juli 1858). 2) Zollämtern (Verordnung vom 25. Auguſt 1858); 3) Verzehrungsſteuer (Verordnung vom 18. Februar 1857); 4) Kaſſendienſt (Erlaß vom 28. Sept. 1853); 5) Staatsgüter (Verordnung vom 11. Januar 1822); 6) Staats - forſtdienſt (Verordnung vom 16. Januar 1850); 7) Finanzweſen (Dienſtvorſchriften von 1843); 8) Poſtdienſt (Verordnung vom 23. April 1850); 9) Telegraphendienſt (Verordnung vom 1. December 1854); 10) Buchhaltungsdienſt (Erlaß vom 11. November 1852).

2. Rechtspflege. 1) Richteramtsprüfung a. als Auscultant: Probezeit, ohne Prüfung; b. Richter: Ein Jahr Praxis, dann Prüfung (Verordnung vom 3. Mai 1853, vom 10. Oktober 1854); 2) Advo - katursprüfung (Verordnung vom 11. Oktober 1854); 3) Polizei - gerichte (Verordnung vom 10. Oktober 1854).

3. Innere Verwaltung. 1) Allgemeiner Dienſt in der Ver - waltung: Probepraxis von 6 12 Wochen; dann Beeidigung; ein Jahr Probezeit für die Prüfung; dieſe iſt ſchriftlich und mündlich (Verordnung vom 10. Oktober 1854); 2) Manipulationsdienſt: ſpecieller Grund - buchsbeamten - und Rechnungsdienſt: eine Art von Elementarprüfung (Patent vom 3. Mai 1853); 3) Baudienſt (Erlaß vom 13. März 1850).

Geſundheitsweſen. 1) Mediciniſches Doctorat; 2) Apotheker - prüfung, Lehrzeit drei Jahre (Verordnung vom 28. Februar 1854); Prüfung (Inſtruktion vom 3. November 1808); Magiſterium der Phar - macie (Erlaß vom 14. Juni 1859); 3) Hebammenprüfung (Decret vom 19. Mai 1827); 4) Hafen - und Seeſanitätsdienſt (Verord - nung vom 15. Mai 1851).

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Lehrfach. 1) Volksſchullehrer: Präparanden-Curs (Erlaß vom 17. Sept. 1848) nebſt Prüfung (ſ. oben); 2) Gymnaſiallehrer: Prüfungsordnung (Erlaß vom 24. Juli 1854); 3) Realſchullehrer: Errichtung von Bildungscurſen (Verordnung vom 2. Nov. 1854) nebſt Prüfung bei ſechsklaſſigen Realſchulen (Erlaß vom 24. April 1853); 4) Polytechniſche Anſtalt (Erlaß vom 11. und 19. Dec. 1848); 5) Habilitations - und Privatdocenten (Erlaß vom 19. Dec. 1848).

Auswärtiges. 1) Conſular-Prüfung (Erlaß vom 20. Okt. 1849); 2) Diplomaten-Prüfung (Erlaß vom 6. Juni 1856).

Preußen. Grundlage iſt für allen Staatsdienſt die wiſſenſchaft - liche Fachbildung und daher die Studienprüfung und Fachprüfung als Abgangsprüfung. Die praktiſche Berufsbildung ihrerſeits wird daneben durch ein vollſtändiges Syſtem von Dienſtprüfungen abgeſchloſſen, die zum Theil viel ſpecieller ſind als in Oeſterreich, aber ihrem Inhalte nach allerdings ſyſtematiſcher erſcheinen. Das öffentliche Recht der Dienſtprüfung iſt im Grundſatz ſchon vom Allgem. Landrecht als ganz allgemein anerkannt, und auf die einzelnen Prüfungsordnungen dabei verwieſen (Thl. II. 10. §. 70. 71). Das Princip des Unterſchiedes zwi - ſchen den höheren und niederen Prüfungen iſt dabei viel klarer durch - geführt, was ohne Zweifel als das Rationellere erkannt werden muß. Nur läßt ſich ein Uebermaß dabei durchaus nicht wegläugnen; es iſt als ob man alle Garantie nur von den Prüfungen zu hoffen habe. Das Syſtem der höheren Prüfungen iſt bei Rönne II. §. 293 auf - geſtellt, die Literatur S. 311. A. Höherer Juſtizdienſt mit drei Dienſtprüfungen: Auskultatur, Referendariat und Aſſeſſorat. Haupt - organiſation dieſer Prüfungsweſen die Verordnung vom 10. Dec. 1849. B. Höherer Verwaltungsdienſt: hat die zwei erſten Juſtizprüfungen zur Vorausſetzung und fordert dann eine Referendariatsprüfung (Re - gulativ vom 14. Febr. 1846); dazu noch eine Landrathsprüfung (Regulativ vom 10. Juli 1838; Rönne II. §. 264). Forſtverwal - tungsdienſt: Prüfung nach Regulativ vom 7. Febr. 1864; Bauver - waltungsprüfung (Verordnung vom 22. Dec. 1849); Feldmeſſer (Regulativ vom 8. Sept. 1831 und 8. Juli 1833); Bergbeamten (Regulativ vom 21. Dec. 1863); Poſtverwaltung: neueſte Inſpektion vom 3. Juni 1863; Intendantur-Beamten (Regulativ vom 23. Mai 1839); Eiſenbahndienſt, königl. (Reſcript vom 26. Juli 1863). Für den Subaltern - (Manipulations -) Dienſt finden keine eigentlichen Prüfungen ſtatt, ſondern es iſt ausdrücklich ausgeſprochen, daß die Abgangsprüfungen der Oberrealſchulen (erſter Ordnung) und Gymnaſium die Stelle derſelben bei Anſtellungen zu vertreten haben (Unterrichts - und Prüfungsordnung vom 6. Oct. 1859. Rönne II. 293 und 451).

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Geſundheitsweſen. Auch der Unterſchied des höheren und nie - deren Dienſtes im Prüfungsſyſtem; Claſſifikations - und Prüfungsord - nung vom 24. Auguſt 1825. Die Unterſchiede dieſer Ordnung werden für die verſchiedenen Klaſſen der Aerzte aufgehoben, und die einheit - liche Staatsprüfung für alle Aerzte, Wundärzte und Geburtshelfer hergeſtellt durch Regulativ vom 8. Oct. 1852. Daneben noch Prüfungen für Zahn - und Thierärzte und Hühneraugenoperateuren (Rönne II. 353 und 367); Hebammenprüfung (Regulativ vom 1. Dec. 1825); Apothekerprüfung mit Aufhebung des Unterſchiedes der zwei Klaſſen durch die Verordnung vom 1. Dec. 1825 nach k. Ordre vom 26. Nov. 1853. Das niedere Heilperſonal ohne Prüfung.

Lehrfach. a) Volksſchullehrer-Prüfung ſchon nach dem General - Landſchulreglement vom 12. Auguſt 1763 und Allgem. Landrecht II. 12. §. 24. 25; theoretiſche und nach Probezeit praktiſche (Rönne, Staatsrecht II. §. 293. 443); b) Gymnaſiallehrfach. Grundlage: Edikt vom 12. Juli 1810 und Reglement vom 20. April 1831 (Rönne, Unterrichtsweſen II. S. 338); c) Reallehrfach (Reſcript vom 20. Ja - nuar 1863); d) Habilitations-Ordnungen (Rönne II. 460).

Aeußeres. Diplomatenprüfung: K. Ordre vom 4. Febr. 1827.

Bayern. Grundlage für den Verwaltungsdienſt iſt die Ver - ordnung vom 6. Mai 1830 nebſt Zuſätzen vom 5. December 1850 und 24. Mai 1852; bei Ortloff S. 147 159 (die übrigen fehlen bei dem - ſelben). Für das Geſundheitsweſen mediciniſche Admiſſionsprüfung: drei Jahre theoretiſche, zwei Jahre praktiſche Bildung (Verordnung vom 30. Mai 1843); Apothekerprüfung (Apothekerordnung vom 27. Jan. 1842); Hebammenweſen (Verordnung vom 7. Januar 1816); Pözl, Verwaltungsrecht §. 117.

Lehrfach. Gymnaſiallehrer: Schulordnung vom 24. Februar 1854; Volksſchullehrer (Regulativ vom 31. Januar 1836); Pözl §. 185. Das wirthſchaftliche Prüfungsweſen iſt mit der neueſten Organiſation des wirthſchaftlichen Bildungsweſens durch die neue Ver - ordnung vom 14. Mai 1864 geordnet. Darnach finden bei der niederen Stufe der Gewerbeſchulen keine Abſolutorialprüfungen ſtatt, wohl aber am Schluſſe jedes Schuljahrs öffentliche Prüfungen, welche mit Preis - vertheilungen verbunden ſind (§. 21). In der zweiten Stufe, den Real - gymnaſien dagegen iſt eine vollſtändige Abſolutorialprüfung aufgeſtellt nebſt Preisvertheilung (§. 43 ff.). In der polytechniſchen Schule treten ſogar halbjährliche Studienprüfungen ein, außerdem jährliche Abſolu - orialprüfungen an den Fachabtheilungen (§. 73. 75 ff.); Prüfungs - gegenſtände ſind geſetzlich beſtimmt; Prüfungscommiſſion vom Staate eingeſetzt. Für den Staatsbaudienſt ſind außerdem durch Bekannt -187 machung vom 24. Auguſt 1864 eigene Prüfungen eingeführt. Ebenſo Prüfungen in der landwirthſchaftlichen Akademie von Weihen-Stephan. Ein gleichartiges, ſehr ausgebildetes Staatsdienſtprüfungsſyſtem neben dem Fachprüfungsſyſtem der Univerſitäten hat Württemberg. Mohl hat in ſeinem württembergiſchen Verwaltungsrecht S. 95 dieß Syſtem ausführlich dargeſtellt; der erſte, ſo viel wir ſehen, der den Gegenſtand in das Verwaltungsrecht aufgenommen hat; vergl. beſonders S. 99 Note 6. (die Hauptverordnung iſt vom 25. April 1839 und für den Juſtizdienſt vom 29. April 1839). Die Prüfungen ſind in höhere und niedere Dienſtprüfungen geſchieden, jedoch nicht nach den einzelnen Ver - waltungsfächern; daneben iſt ein Dienſtprobejahr eingeführt (Verordnung vom 27. Auguſt 1836 und Zuſatz vom 3. Januar 1850. Abgedruckt bei Ortloff a. a. O. S. 170 204). Die Lehrerprüfung für Ober - und Unterrealſchulen organiſirt durch Verordnung vom 20. Juli 1864.

Was die übrigen deutſchen Länder betrifft, ſo iſt im Allgemeinen das Fachprüfungsweſen an den Univerſitäten maßgebend geweſen, jedoch meiſtens in der Weiſe, daß das Doktorat nur für die Medicin als Dienſtprüfung zugleich gilt, oft auch für den Lehrberuf, während die Richteramtsprüfung ſelbſtändig daneben beſteht, und oft auch eine eigene Advokatenprüfung. Es iſt nicht zu verkennen, daß erſt ſeit 1848 die Prüfungsordnungen theils ganz neu eingeführt, theils neu organiſirt und theils in der Umgeſtaltung begriffen ſind. Wir ſind nicht im Stande geweſen, ein vollſtändiges Bild zuſammenzuſtellen; Ortloff iſt ſehr unvollſtändig. Meiſtens ſind die Lehramtsprüfungen ſehr genau beſtimmt; die Baumeiſterprüfungen in den kleinen norddeutſchen Staaten vielfach an Preußen verwieſen. Die Hauptdaten über das Fach - und Dienſtprüfungsweſen dürften folgende ſein: Königreich Sachſen: Dienſt - prüfungsordnung für die juriſtiſche und Richteramtsprüfung (Verord - nung vom 16. November 1859); Ortloff S. 173; Hannover (All - gemeines Reglement vom 30. Mai 1848); Prüfungsordnung für den Juſtizdienſt (Verordnung vom 8. Januar 1858); Ortloff S. 160 bis 168). Kurfürſtenthum Heſſen: zwei Staatsprüfungen ſeit Verordnung vom 18. April und 21. Mai 1861 (Ortloff S. 205). Baden: gleich - falls zwei Prüfungen (Verordnung von 1853); nebſt Probezeit (Ver - ordnung vom 7. April 1854 und 23. Juli 1857); Ortloff S. 206 bis 216. Die neueſte Prüfungsordnung für die Lehrer an den Ge - lehrten - oder höheren Bürgerſchulen vom 5. Januar 1867. Ebenſo Großherzogthum Heſſen (Verordnung vom 10. September 1851). Das Dienſtprüfungsweſen in Naſſau war bereits durch Verordnung vom 20. Januar 1845 in ſehr rationeller Weiſe geordnet; ähnlich in Sachſen - Altenburg (Verordnung von 1831), nebſt ausführlichem Reglement188 vom 9. Juni 1846, wozu eine Novelle vom 28. Februar 1861 gekom - men iſt (Auſtria 1864, S. 149). Das Dienſtprüfungsweſen von Sachſen-Coburg beruht auf der Verordnung vom 24. April 1860; die Prüfung der Baugewerbtreibenden iſt nach Aufhebung der Zunft - verfaſſung und Einführung des neuen Gewerbegeſetzes vom 26. Juni 1863 durch Bekanntmachung vom 3. Februar 1864 geordnet (Auſtria 1864, Nro. 18). In Oldenburg iſt die frühere Organiſation der Dienſtprüfungen vom 20. März 1830 durch die neue Organiſation vom 21. Auguſt 1856 aufgehoben, und ſpecielle Prüfungen für Steuer - ämter durch Geſetz vom 13. April 1864 als Complement des neuen Schifffahrtsgeſetzes von 1856, ſo wie Prüfungen für Forſtmänner durch Geſetz vom 14. April 1864 eingeführt (Auſtria ebend. S. 157 und 190). Sachſen-Weimar (Prüfungsordnung vom 11. Februar 1853); Anhalt-Deſſau (Verordnung vom 22. Juli 1852). Aehnlich Braun - ſchweig (Verordnung vom 5. März und Inſtruktion vom 27. November 1850). In Mecklenburg bildet die Verordnung von 1837 die Grund - lage; reorganiſirt wurde das ganze Prüfungsweſen durch Verordnung von 1859, welche ſpeciell Richteramtsprüfungen eingeführt hat. Die thierärztliche Prüfung iſt durch Reglement vom 14. Juni 1858 und genauere Ausführung im Nachtrag vom 24. Oktober 1864 geordnet. In einigen kleineren Ländern wie Waldeck iſt das örtliche Prüfungs - weſen dem preußiſchen Prüfungsrecht analog. Es iſt klar, daß das hier Angeführte nur als Andeutung für eine ſelbſtändige Bearbeitung Werth hat; wir müſſen die letztere für höchſt wünſchenswerth halten; manche weitere Beiträge ſiehe unten unter wirthſchaftlicher Fachbildung.

Was nun das Prüfungsweſen Frankreichs betrifft, ſo beſteht das, was wir darüber haben finden können, in Folgendem. Eine all - gemeine Geſetzgebung gibt es nicht. Grundſatz iſt, daß für die Medi - ciner das mediciniſche Doktorat Berufs - und Staatsprüfung zugleich iſt; für die Lehrer gilt die Berufsprüfung der Facultés als Dienſt - prüfung, eben ſo für die Juriſten. Es wird für die letzteren angenom - men, daß jeder Juriſt wenigſtens Licencié en droit ſein muß; die Be - dingungen dieſer akademiſchen Grade unten bei der Darſtellung der Facultés. Eine Richteramtsprüfung exiſtirt unſeres Wiſſens nicht; ein Geſetz über die Anſtellung der Richter auch nicht. Nur über die An - ſtellung der Notaires iſt bereits durch die Notariatsordnung vom Jahr XI vorgeſchrieben, daß jeder Licencié en droit erſt ſechsjährige stage und dann ein Zeugniß der Befähigung von der Corporation der Notaires haben muß; eben ſo ſoll jeder Advokat nach der Advokaten - ordnung von 1822 dreijährige Stage (Conceptsdienſt) und ein Zeug - niß der Befähigung von der Advokatenkammer beibringen. Für die189 Anſtellung der Verwaltungsbeamteten kennen wir gar kein Geſetz, nicht einmal die geſetzliche Nothwendigkeit, die Faculté de droit durchgemacht zu haben in der That gibt es dort ja auch keine rechte Theorie des droit administratif, viel weniger Polizeiwiſſenſchaft oder Nationalökonomie. Das belgiſche Prüfungsſyſtem iſt dem franzöſiſchen entſprechend, wie das holländiſche dem deutſchen. Die Vorſchriften des letzteren ſind ſpecialiſirt in den drei Geſetzen über den niederen, mittleren und höheren Unterricht (ſ. oben). Das belgiſche Recht der Berufsprüfungen bei Le Roy in Schmid, Encyclopädie, v. Belgien. Dazu bemerkt de Fooz (Droit adm. belge): Il y a deux grades pour chacune des branches de l’enseignement supérieur, celui de candidat, celui de docteur. Il y a de plus un grade de docteur en sciences politiques et administratives, un grade de candidat en pharmacie, de phar - macien et de candidat notaire. (Geſetz vom 1. Mai 1857.) Un diplome scientifique spécial est institué en faveur des personnes, qui après avoir obtenu le grade légal de docteur, se sont appliquées à certaines spécialités de la science, p. e. à celle de droit admini - stratif. Ce sont les Universités de l’État qui le confèrent. Aber Rechte geben dieſe Prüfungen nicht. C’est une simple attestation de capacité, qui ne confère aucun droit ni prérogative dans l’État. Fooz, T. IV. p. 314. 315. In England iſt das Prüfungsweſen nicht einmal für die Mediciner vorgeſchrieben (ſ. Geſundheitsweſen S. 106 ff. ), eben ſo wenig für die Lehrer, die in freien Schulen wirken, oder die Profeſſoren, die gewählt werden, ſondern nur für die Schul - lehrer der vom Staat unterſtützten Armenſchulen (ſ. daſ.). Für die Verwaltungsbeamteten gibt es trotz der in der vollziehenden Gewalt (S. 353. 354. ) erwähnten Verhältniſſe keine Prüfungen; das Syſtem derſelben hat jedoch ſeit 1853 für die indiſchen Beamteten Platz ge - griffen, und iſt von da auf einige andere Klaſſen übergegangen (vgl. die leider dürftige Notiz von Gugler im Anfang zu deſſen Ueberſetzung von Taylor, Induſtrie und Schule S. 175. 176). Geſetze gibt es keine. Nur die Rechtspflege hat das Prüfungsweſen in allerneueſter Zeit in ſich aufgenommen, indem nach 23. 24. Vict. 127. dem Lord Chief of Justice das Recht eingeräumt iſt: from time to time to make regulations for the examinations wenn die betreffende Perſon nicht die Univerſitätsprüfungen beſtanden habe; derſelbe ſetzt dann auch die Prüfungscommiſſion zuſammen; dieſe gelten nur für attorneys und sollicitors, aber da aus dieſen die judges genommen werden, ſo er - ſcheint dieſe erſte engliſche Advokatenprüfung zugleich als Richteramts - prüfung. (Chitly Archibald, Practice of the Court of Queens Bench, 11. Ed., by J. Prentice. p. 31. 32.)

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Beſonderer Theil. Die öffentlich rechtliche Organiſation der Berufsbildungsſyſteme bei den Hauptvölkern Europas.

Bei dem äußeren Reichthum an Beſtrebungen, Leiſtungen und An - ſtalten für das Berufsbildungsweſen in den organiſchen Kulturländern iſt es nicht möglich, hier auf das Einzelne einzugehen. In der That muß die Verwaltungslehre im Allgemeinen ſich darauf beſchränken, nach - dem der Charakter deſſelben dargeſtellt iſt, nur noch das Bild des ganzen Syſtems zu geben. Unter dem Berufsbildungsſyſtem verſtehen wir nun die öffentliche Ordnung, nach welcher die einzelnen Staaten die drei großen Hauptgebiete des geſammten Bildungsweſens, die ge - lehrte, die wirthſchaftliche und die künſtleriſche zum Gegenſtande ihrer Geſetzgebung und ihrer Thätigkeit gemacht haben, als die poſitiv rechtliche Geſtalt der geltenden öffentlichen Berufsbildung.

Hier nun ſcheiden ſich die Hauptvölker Europas weſentlich von ein - ander, während ſie in der Idee des Berufsbildungsweſens ſich natür - lich aufs Engſte verwandt ſind.

Bei aller Tiefe und Gründlichkeit der bisherigen Unterſuchungen iſt es nicht zu läugnen, daß eine organiſche Geſammtüberſicht, eine nebeneinanderſtellung der Syſteme noch fehlt. Es iſt für uns im Einzelnen ſo gut als gar nichts zu leiſten übrig. Der Werth und die Aufgabe des Folgenden kann nur darin beſtehen, in jedem Lande das wiſſenſchaftliche, wirthſchaftliche und künſtleriſche Berufsbildungsſyſtem als Ein Ganzes zuſammenzufaſſen, demſelben für die Staatswiſſenſchaft ſeine organiſche Stelle, für die Vergleichung mit andern Völkern ſeine hohe Berechtigung als Grundlage und für die Behandlung der Einzel - fragen ſeinen wichtigen, oft maßgebenden Einfluß zu ſichern. Dabei wird es auch nur auf dieſem Wege möglich ſein, auf gewiſſen Punkten durch beſtimmte und durchgreifende Begriffsbeſtimmungen einer zuweilen peinlichen Verwirrung in Bezeichnungen, Anſichten und Fragen zu be - gegnen. Wir halten auch hier die Hoffnung feſt, daß auf der gegebenen Grundlage jeder Fachmann das ſpecielle Recht ſeines eignen Landes ſich hinzuſetzen, und dadurch dem vorliegenden, vorwaltend theoretiſchen Verſuche ſeinen praktiſchen Werth geben möge.

Ohne allen Zweifel wird nun das Ziel auch hier am beſten erreicht, wenn wir das deutſche Bildungsſyſtem als maßgebend an die Spitze ſtellen, indem wir dabei ſtets feſthalten, daß zwar die pädagogiſchen Begriffe und Forderungen maßgebend ſind und bleiben werden, daß191 ſie aber nicht dem Verwaltungsrecht angehören, ſondern von demſelben als bekannt vorausgeſetzt werden müſſen. Es muß uns daher genügen, hier ein Bild darzubieten, welches die gewaltigen Verſchiedenheiten des Berufsbildungsweſens auf die oben aufgeſtellten einfacheren Kategorien reducirt und dadurch das europäiſche Leben und ſein öffentliches Recht hier als Ganzes erſcheinen läßt und verſtändlich macht.

Die Urſache des Mangels einer Geſammtdarſtellung des Berufs - bildungsweſens in Deutſchland beruht auf der bisher überwiegenden Bedeutung der wiſſenſchaftlichen Bildung, welche die größte Kraft ab - ſorbirt, und zweitens in der noch vielfach geltenden Vorſtellung von der Scheidung des wirthſchaftlichen vom wiſſenſchaftlichen Berufe. Daher gibt es über das Ganze gar keine Literatur. Im vorigen Jahr - hundert kommt natürlich die wirthſchaftliche und künſtleriſche den Syſte - matikern, wie Juſti, gar nicht zum Bewußtſein; die Rechtslehrer kennen nur die Univerſitäten als öffentlich rechtliche Körperſchaften, und die Beſchränkung auf dieſelben unter völliger Weglaſſung der wirthſchaft - lichen und künſtleriſchen Anſtalten hat ſich erhalten (ſ. Mauren - brecher, Zachariä und ſelbſt den unermüdlichen Zöpfl.) Die neuere Polizeiwiſſenſchaft, wie Jacob, Pölitz und Mohl bleiben bei allge - meinen Redensarten, ohne Beziehung auf Deutſchland; die neueſte encyclopädiſche Literatur, wie das Staatswörterbuch und nament - lich Schmids Encyclopädie des geſammten Erziehungs - und Unter - richtsweſens (ſeit 1859) geben bei den zum Theil für das Detail - ſtudium unſchätzbaren Mittheilungen der tüchtigſten Fachmänner, ohne die eine Geſammtdarſtellung für viele Theile Deutſchlands geradezu unmöglich bliebe, manche Mittheilungen, die von Werth ſind; doch, wie es ihre Natur mit ſich bringt, beſchränken ſich dieſe Arbeiten in ihrer Anordnung auf eine mehr äußerliche Eintheilung, welche auch hier wie beim Volksſchulweſen die Vergleichung dem Leſer ſelbſt überläßt. Für das Einzelne iſt daher wenig, für das Ganze noch alles zu thun.

Deutſchlands Berufsbildungsſyſtem. Charakter.

Während es eine außerordentliche ſchwierige Aufgabe iſt, das Be - rufsbildungsſyſtem Deutſchlands in ſeinen einzelnen Theilen und Be - ſtimmungen vollſtändig darzuſtellen, glauben wir dagegen, daß es nun - mehr leicht iſt, den Charakter deſſelben im Verhältniß zu den bisher192 dargelegten Grundbegriffen zu beſtimmen. Deutſchlands Berufsbildungs - ſyſtem beruht zunächſt darauf, jede allgemeine, der Geſammtheit dienende, öffentliche Thätigkeit als einen Beruf anzuerkennen, und daher für jeden Lebensberuf eine berufsmäßige Bildung zu fordern. An dieſe Forderung hat ſich das zweite Moment angeſchloſſen, wornach Deutſchland das wirthſchaftliche Berufsbildungsweſen neben dem gelehrten zu einer ſelbſtändigen, organiſch geordneten und vom Staate als öffentliche Aufgabe anerkannten, erhoben hat, ſo daß wir in Deutſchland die zwei großen Berufsbildungsſyſteme der gelehrten oder geiſtigen und der wirthſchaftlichen Berufe neben einander beſtehen und funktioniren ſehen, während ſie dennoch ſich nicht nach ſtändiſchen Principien ſcheiden, ſondern innerlich und zum Theil äußerlich ver - bunden ſind. Dabei hat das gelehrte Berufsbildungsweſen dem wirth - ſchaftlichen das Princip der geiſtigen Selbſtverwaltung, das wirth - ſchaftliche dem gelehrten ſeine praktiſche Richtung der Studienord - nung mitgetheilt, beide aber, in ihrer Nothwendigkeit vom Staate anerkannt, ſind eben deßhalb durchſtehend Staatsanſtalten, die beide mit gleichem Nachdrucke gefordert, mit gleicher Liebe gepflegt, mit gleicher Ehre betheilt werden. An ſie hat ſich in neueſter Zeit die künſtleriſche Bildung angeſchloſſen, die nunmehr gleichfalls, wenn auch nur noch theilweiſe in das Syſtem mit gleichen Bedingungen aufgenommen iſt. Und ſo kann man unbedenklich das deutſche Berufs - bildungsſyſtem als Muſter und Maßſtab für alle andern aufſtellen; es iſt der Standpunkt, von welchem aus das übrige Europa beur - theilt worden, und das in ſeiner klaren und ernſten Totalität und ſeiner machtvollen Wirkſamkeit eine der großartigſten Thatſachen der Weltgeſchichte darbietet.

Dennoch ſind jene beiden Arten des Berufsbildungsweſens weſent - lich von einander verſchieden, ſowohl im Princip als im Syſtem ihres öffentlichen Rechts. Sie haben eine ſelbſtändige Geſchichte und ſelbſtändige Stellung und es wird darauf ankommen, ſie in dieſem Sinne ſelbſtändig neben einander zu ſtellen. Es iſt dabei nicht unſere Sache, ſie zu erſchöpfen, ſondern nur in ihrem Charakter zu be - zeichnen. Gelingt das, ſo iſt es wohl nicht ſehr ſchwierig mehr, die poſitiven Rechtszuſtände der einzelnen Theile daran anzuſchließen und die Umriſſe des Bildes mit dem lebendigen Inhalt auch der poſitiven Thatſachen auszufüllen. Unſere Arbeit wird gerade hier auf Vollſtändigkeit nur ſehr geringe Anſprüche machen können; es muß uns genügen, das reiche Bild als ein organiſches Ganze auf - gefaßt zu haben.

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Erſtes Gebiet. Das gelehrte Berufsbildungsſyſtem.
A. Das gelehrte Vorbildungsſyſtem.

(Die gelehrten und hohen Schulen, Gymnaſien, Lyceen, Athenäen, Collegien.)

I. Begriff und Formen der gelehrten Schulen.

Das gelehrte Vorbildungsſyſtem umfaßt nun ſeinem formalen Be - griff nach die Geſammtheit der Anſtalten, welche für die von der Fachbildung getrennte gelehrte Vorbildung getrennt ſind und unter den oben angeführten Namen funktioniren.

Wir dürfen nun gewiß zunächſt darauf hinweiſen, daß es nicht unſere Aufgabe ſein ſoll, das ganze Gymnaſialweſen mit ſeiner Viel - geſtaltigkeit und ſeinen wichtigen Fragen hier zu erſchöpfen. Für die Verwaltungslehre iſt die gelehrte Schule oder das Gymnaſium zunächſt ein einzelnes ganz beſtimmtes Organ in dem großen Ganzen des Bildungsorganismus und hat eine ganz beſtimmte Funktion innerhalb deſſelben zu vollziehen. Dieſe Funktion liegt, wie alle organiſche Funktion, nicht in der Willkür des Einzelnen oder ſelbſt der Geſetzgeber, ſondern ſie iſt durch die höhere Natur der Sache ſelbſt gegeben. Nirgends aber iſt dieſe Idee in ſo beſtimmter Weiſe entwickelt und auch hiſtoriſch zu einem klaren Abſchluß gekommen als in Deutſchland; und wir dürfen daher die Darſtellung von Deutſchlands Gymnaſialweſen als die Grund - lage für das geſammte gelehrte Vorbildungsweſen von Europa anſehen. Nur muß man dabei gleich anfangs die beiden großen Seiten alles gelehrten Schulweſens wohl unterſcheiden und auf ſie die verſchiedenen Formen deſſelben zurückführen.

Die Stellung, welche das gelehrte Schulweſen im großen Bildungs - organismus einnimmt, iſt nämlich eine doppelte, und eben dieſer doppelte Inhalt derſelben hat es ſchwierig gemacht, daſſelbe zu verſtehen. Dennoch bleibt es die einzige Grundlage ſeiner Geſchichte und der Vergleichung ſeiner verſchiedenen Geſtaltungen.

Zuerſt und formell iſt nämlich die gelehrte Schule die reine Vor - bildungsanſtalt für das gelehrte Fachbildungsweſen. Sie hat daher zur Aufgabe, alles dasjenige zu lehren, was als Vorausſetzung und Bedingung des letzteren angeſehen werden muß. In ihrer ſyſtematiſchen Stellung wird daher die ganze innere und äußere Ordnung der ge - lehrten Schule durch dasjenige gegeben, was die gelehrte Fachbildung fordert, und zwar in der[Weiſe], daß jene für alle einzelnen Fächer die Vorbildung zu leiten hat. Oder, da das Fachbildungsweſen inStein, die Verwaltungslehre. V. 13194den Univerſitäten enthalten iſt, die gelehrten Schulen ſind die Vor - bildungsanſtalten für die Univerſität. Ordnung, Form, Inhalt und Werth ihrer Funktion findet demnach zunächſt und zuerſt ihren Maß - ſtab eben an dieſem Verhalten zur Univerſitätsbildung.

Allein die höhere wiſſenſchaftliche Bildung, welche die gelehrte Schule gibt, kann ſich auf die ſtrenge Funktion der Vorbildung für die Fächer nicht beſchränken. Sie hat auch an und für ſich einen Werth; und die gelehrte Schule iſt daher ihrem Weſen nach zugleich eine Bildungs - anſtalt für die allgemeine Bildung. Sie muß daher in ihrer Funktion an ſich nicht bloß ſtrenge an die Vorbildung gebunden ſein; ſie muß auch die Fähigkeit beſitzen, an und für ſich eine Bildungsſtufe darzubieten, welche auch ohne Anſchluß an die Univerſität ein ſelbſtändiges Maß der Bildung gibt. Sie muß daher den Abſchluß ihres Bildungsganges nicht bloß in den Fachbildungen der Univerſität, ſondern ſie muß ihn auch in ſich ſelber zu finden im Stande ſein. Das iſt die zweite Forderung, welche das Bildungsweſen an das gelehrte Schulweſen zu ſtellen hat.

So einfach nun an ſich dieſe beiden Geſichtspunkte ſind, ſo ſchwierig iſt es, ſie in der praktiſchen Ordnung und Thätigkeit der gelehrten Schulen zu verbinden. Denn dieſe Verbindung beruht nicht bloß auf den Gegenſtänden der Lehre, ſondern weſentlich auch auf dem Geiſte, in dem ſie gelehrt werden, und jeder Schulmann wird zugeſtehen, daß das, was wir den pädagogiſchen Charakter der einzelnen gelehrten Schule nennen, gerade auf dieſer Verbindung jener Elemente in derſelben beruht. Allein es iſt klar, daß dieſe Doppelfunktion zugleich die Stellung begründet, welche das öffentliche Recht der gelehrten Schulen gegenüber einnimmt. Die Verwaltung wird etwas anderes fordern, wo die letztere nur Vorbil - dungsanſtalten, und etwas anderes, wo ſie allgemeine Bildungsanſtalten ſind, wenn auch die Grundzüge des öffentlichen Rechts dieſelben bleiben. Der Regel nach wird im erſten Falle der Bildungsgang und die Studien - ordnung eine enger begränzte, im letzteren eine weiter angelegte ſein. So ergibt ſich ſchon hier, daß das, was wir die gelehrte Schule nennen, eine Reihe ſehr verſchiedener Geſtalten bezeichnet; und in der That hat dieſer Unterſchied, hiſtoriſch begründet, auch in den Namen Platz ergriffen. Es iſt deßhalb wohl nothwendig, ſich über die Bedeutung der Ausdrücke ſelbſt auch hier einig zu werden. Wir faſſen dieſelbe nun in folgender Weiſe.

Der Ausdruck hohe oder gelehrte Schule bedeutet alle Vor - bildungsanſtalten für jede wiſſenſchaftliche Entwicklung; er iſt der Gattungsname.

Das Wort Gymnaſium dagegen bezeichnet uns die gelehrte Schule in dem ſtrengen Sinne der Vorbildungsanſtalt für die Fachbildung, nament - lich alſo für die Univerſität. Mit dem Ausdruck Gymnaſium erſcheint195 gegenwärtig vielfach gleich bedeutend der Ausdruck Lyceum, namentlich in den Ländern, welche ganz oder theilweiſe das franzöſiſche Berufsbil - dungsweſen aufgenommen haben; der weſentliche Unterſchied zwiſchen dem Gymnaſial - und Lycealſyſtem iſt jedoch der, daß im erſteren nur, oder doch bei weitem vorwiegend, die gelehrte Bildung geboten wird, an die ſich die Elemente der wirthſchaftlichen anſchließen, während das Lycealſyſtem die gelehrte und wirthſchaftliche Vorbildung als ein Ganzes in zwei Theilen behandelt (das ſogenannte Bifurcationsſyſtem; ſ. Frank - reich). Es iſt kein Zweifel, daß Deutſchland der Träger des ſtrengen Gym - naſialſyſtems iſt. Wir haben daher ſeine Bedeutung unten darzuſtellen.

Das Athenäum und die Collèges dagegen bedeuten die hohen Schulen, inſofern ſie als ſelbſtändige allgemeine Bildungsanſtalten da - ſtehen, und mithin auf den Eintritt in das praktiſche Leben ohne be - ſtimmte Berufsbildung, alſo auf das Angehören an die geiſtig gebildete Welt berechnet ſind. Sie gehören weſentlich als hiſtoriſche Formationen noch einigen Ländern an, wie England, Belgien und einem Theile der Schweiz, und ſind nicht bloß an ſich von dem Gymnaſium verſchieden, ſondern bedeuten auch wo ſie vorkommen, eine weſentlich andere Auf - faſſung des geſammten Vorbildungsweſens, wie es ſich unten zeigen wird.

Deutſchlands gelehrtes Schulweſen zeichnet ſich nun dadurch aus, daß es beide großen Grundformen der gelehrten Vorbildung bei ſich mit voller Beſtimmtheit ausgebildet und jeder derſelben ihr eigenthüm - liches öffentliches Recht gegeben hat. Deutſchland beſitzt nämlich in ſeinem Gymnaſialſyſtem ein ſpeciell für das Vorbildungsweſen der Fachbildung (Univerſität) beſtimmtes Syſtem von gelehrten Schulan - ſtalten, während das durch die Athenäen oder Collèges ausgedrückte Element in bis jetzt nur einzeln daſtehenden Privatunter - nehmungen vertreten iſt. Das Verhältniß beider zu einander be - ruht dann wieder darauf, daß die letzteren zugleich meiſt die Fähigkeit haben, auch als Gymnaſien für die Univerſität vorzubereiten. Daß jedoch ihre Stellung von der der Gymnaſien im Grunde weſentlich ver - ſchieden und ſie die alten engliſchen Colleges auf dem Continent ſind, wird denſelben erſt dann recht klar werden, wenn das Weſen der eigent - lichen Gymnaſien beſtimmt feſtgeſtellt iſt. Dieß nun kann nur auf hiſtoriſchem Wege geſchehen. Allerdings gehört dieſe geſchichtliche Ent - wicklung im Grunde ganz Europa an; allein nirgends wird es ſo klar wie in Deutſchland, in welcher Weiſe ſich das eigentliche Gymnaſial - weſen aus der hiſtoriſchen Geſtalt der alten hohen Schule zu ſeiner ſpecifiſchen Stellung und Aufgabe entwickelt. Wir müſſen daher die Elemente dieſer Geſchichte hier vorausſenden.

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Auf den Unterſchied der obigen Formen der gelehrten Schulen hat namentlich Pfaff in einem leider ſehr kurzen Aufſatz im deutſchen Staatswörterbuch Bd. IV Rückſicht genommen. Er bezeichnet die Ver - hältniſſe annähernd richtig, aber es läßt ſich das Ganze eben gar nicht anders als auf hiſtoriſchem Wege verſtehen. Palmer und Pfaff waren offenbar berufen, in dieſem Sinne die ganze Frage zu einer end - gültigen Entſcheidung zu bringen. Rümelin, Thaulow und andere ſtehen dagegen ganz auf dem Standpunkte, den wir als die Gymnaſial - frage bezeichnen werden. Wir würden eine viel leichtere Aufgabe haben, wenn wir überhaupt eine Geſchichte der hohen Schulen von einem höheren Standpunkte beſäßen; denn Meiners hat bei allem Fleiße im Einzelnen dafür nicht einmal rechtes Material gegeben und Raumer ſie in dem Be - griff der allgemeinen Culturentwicklung verloren. Vielleicht daß die Ver - waltungslehre dafür den Anſtoß zu geben berufen iſt; gewiß iſt es, daß ſie ohne dieſelbe das Gymnaſialrecht nicht zu beherrſchen im Stande ſein wird.

II. Elemente der Entwicklung des hohen Schulweſens zum Gymnaſialweſen der Gegenwart. (Die Gymnaſialfragen.)

Die Geſchichte des hohen Schulweſens muß davon ausgehen, daß die concrete Geſtalt und das poſitive Recht deſſelben nicht eben bloß auf Zufälligkeiten und örtlichen Verhältniſſen und ebenſo wenig auf den Anſichten der Einzelnen oder der Willkür der Geſetzgeber beruht. Die hohe Schule als allgemeine germaniſche Inſtitution hat vielmehr ihre eigene, in ihrer organiſchen Beſtimmung liegende Natur und dieſe iſt es, welche das Recht derſelben, wenn auch langſam und in ſehr ver - ſchiedenen Formen, ausgebildet hat. Das Ziel dieſer Geſchichte iſt, wie ſchon bemerkt, die Ausbildung des ſpecifiſch deutſchen Gymnaſialweſens; den Inhalt derſelben bilden die verſchiedenen Geſtalten, welche dieſe Geſchichte hervorgebracht hat; aber die eigentlich bewegende, den Wechſel dieſer Geſtaltungen erzeugende Kraft iſt jener Unterſchied in der großen civiliſatoriſchen Funktion der gelehrten Schule, die wir oben bezeichnet haben und die ſich allmählig an dem Verhältniß zur Univerſität als ſpecifiſche öffentliche Fachbildungsanſtalt herausbildet.

In dieſem Sinne erſcheint die Geſchichte des hohen Schulweſens in drei großen Abſchnitten; unſere Gegenwart ſteht im Beginn des letzten; der Charakter jeder dieſer Abſchnitte iſt im Allgemeinen leicht zu bezeichnen, aber im Einzelnen bieten dieſelben ein reiches, leider noch viel zu wenig beachtetes Bild, deſſen Hauptmerkmale wiederum nicht ſo ſehr in dem didaktiſchen und pädagogiſchen Elemente zu ſuchen ſind. Es muß vielmehr feſtgehalten werden, daß eben dieſe didaktiſche197 Aufgabe der hohen Schulen, ganz gleichgültig dagegen, ob es mit oder ohne Bewußtſein geſchieht, beſtimmt wird durch die Stellung, welche die hohe Schule im geſammten Bildungsſyſtem einnimmt. Die Ge - ſchichte der Lehrpläne und ihres Rechts iſt der Ausdruck der geſchicht - lichen Entwicklung dieſer organiſchen Stellung jenes Bildungsſyſtems, während die Geſchichte ihrer Verwaltung durch ihr Verhältniß zur ſtaat - lichen (adminiſtrativen) Auffaſſung des gelehrten Berufsbildungsweſens überhaupt bedingt wird.

Die erſte Epoche dieſer Entwicklung des hohen Schulweſens zeigt uns die hohe Schule in der Geſtalt, in welcher ſie noch eigentlich gar keine Vorbildungsanſtalt, ſondern die allgemeine höhere Bildungsanſtalt überhaupt iſt. Man wird dieſe Epoche wieder in zwei Theile ſcheiden müſſen. Der erſte Zeitraum geht bis zur Erfindung der Buchdrucker - kunſt. In dieſem Zeitraum beſtehen die Lehrmittel nur noch in den Manuſcripten, welche ihrerſeits wieder faſt nur in den Klöſtern vor - handen ſind. An dieſe ſchließt ſich daher das erſte höhere Bildungs - weſen an; der Mönch iſt der einzige Gelehrte; ſeine Vorleſungen ſind noch an keine äußere Ordnung gebunden; er hält ſie meiſtens auf Grund - lage eines Manuſcripts und bringt dann in die Vorträge hinein, was ihm als nothwendig erſcheint. Das ſind die alten Scholae, die Kloſter - ſchulen. Die erſte Vorbildung, die claſſiſche Sprache, iſt dabei meiſt dem Einzelunterricht überlaſſen. Niemand denkt noch daran, eine ſolche Bildung als Bedingung einer öffentlichen Berufsthätigkeit anzuſehen; es iſt ein ganz freier Anfang der noch durch keine Tradition und noch weniger durch ein Geſetz geregelten höhern Bildung überhaupt. Bis zum dreizehnten Jahrhundert ſtehen dieſe Scholae noch ganz allein da. Mit dem Auftreten der Univerſitäten aber nehmen ſie allmählig einen andern Charakter an. Da es nur wenig Univerſitäten gibt, ſo bleiben ſie noch ein paar Jahrhunderte hindurch die eigentliche höhere Bildungs - anſtalt; allein für diejenigen, welche die Universitas beſuchen wollen, werden ſie ſchon jetzt Vorbildungsanſtalten. An ihnen lernt der künftige Studioſus ſein Latein, die Elemente der Rhetorik, Philoſophie und Claſſicität; aber er kann ſich auch noch eben ſo gut zu Hauſe für die Universitas vorbereiten und ebenſowohl kann er von ihnen aus un - mittelbar ins öffentliche Leben übertreten. Es iſt ein noch ſporadiſches, nur örtlich geſtaltetes Bildungsweſen. Erſt dann, als die Claſſiker durch die Buchdruckerei allgemein werden und als ſich an dieſelbe eine ſelb - ſtändige Literatur und in der letztern eine allgemein gültige, öffentlich rechtliche Scheidung ihrer Gebiete in Theologie, Medicin, Jurisprudenz und Philoſophie entwickelt und die Univerſitäten ſelbſt ſich vermehren, wird das Bedürfniß nach hohen Schulen allgemeiner. Der höhere198 Bürgerſtand namentlich fordert ſie; die öffentliche Meinung begrüßt ſie mit hoher Achtung und allmählig verbreiten ſie ſich, bald durch die Bürgerſchaften, bald durch Stiftungen gegründet, über alle bedeutenderen Städte. Aber noch immer haben ſie keinen öffentlich rechtlichen Cha - rakter als Theil und Glied eines allgemeinen Bildungsſyſtems; ſie ſind in der That Univerſitäten im Kleinen. Das aber iſt es, was ihnen zugleich die Grundlagen ihrer inneren Rechtsordnung gegeben hat, die ſie wenigſtens nach einer Seite hin bis auf den heutigen Tag behalten. Sie erſcheinen nämlich wie dieſe ihre Vorbilder, als wiſſenſchaftliche Selbſtverwaltungskörper, oft mit denſelben Namen ihrer Mitglieder (Rectores, Professores), oft mit andern (Gymnasiarcha etc.); doch ſtehen ſie nicht mit der ſtändiſchen Souveränetät der Universitas da, ſondern ſind meiſtens den Biſchöfen oder den Stadtorganen unter - geordnet. Eben deßhalb iſt auch ihr Name verſchieden; ſie heißen hohe und gelehrte Schulen, Lyceen, Athenäen; alle dieſe Bezeichnungen be - deuten, daß ſie die höhere Vorbildung nur noch und ausſchließlich in der claſſiſchen Bildung finden. Eine Gleichartigkeit des Lehrplanes gibt es dabei nur ſo weit, als ſie in der Natur der Claſſicität ſelber liegt; innere Abtheilungen ſind durch die Natur des Bildungsganges ange - deutet; ihre vorbereitende Stellung gegenüber den Univerſitäten liegt gleichfalls in der Natur der Sache; ſo ſind alle Elemente der öffentlichen Geſtaltung vorhanden, aber um die letztere ſelbſt hervorzurufen, muß ein äußeres Moment hinzukommen. Und dieß bringt die neue, mit dem ſiebzehnten Jahrhundert allmählig ſich entwickelnde Stellung der Univer - ſitäten, welche die zweite große Epoche des hohen Schulweſens begründet.

Sowie nämlich mit dem ſelbſtändigen Auftreten der jungen, eigent - lichen, an das Königthum ſich anſchließenden Staatsverwaltung die Forderung entſteht, daß jeder öffentliche Beruf zugleich eine beſtimmte Fachbildung zur Vorausſetzung haben müſſe, ſcheiden ſich die hohen Schulen mehr und mehr als ſelbſtändige Vorbildungsanſtalten für die Univerſität. Die ſtrenge Scheidung der Fachbildung an den letzteren (ſ. unten) macht es ihnen unmöglich, ſich mit der Vorbereitung weiter zu beſchäftigen; die Univerſität fordert jetzt, daß die Vorbildung eine fertige ſei, um den Lernenden bei ſich zuzulaſſen und da jetzt die Verwaltung ihrerſeits die Fachbildung der Univerſität für die öffent - liche Berufsthätigkeit vorausſetzt, ſo ergibt ſich, daß nunmehr auch das Vorbildungsweſen für die Univerſität, die hohe Schule, den Charakter einer öffentlichen, ſtaatlichen Bildungsanſtalt annehmen müſſe. Das nun wird für das hohe Schulweſen entſcheidend, und jetzt treten diejenigen Erſcheinungen auf, welche wir in unſerer Zeit als die Gym - naſialfragen zu bezeichnen pflegen.

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Die erſte und nächſtliegende Frage iſt natürlich die nach dem Ver - waltungsrecht dieſer Anſtalten. Und hier tritt nun zuerſt die ſtaat - liche Verwaltung neben der Selbſtverwaltung auf. Der Staat gibt entweder ganz oder zum Theil die Mittel; der Staat nimmt daher auch das Recht in Anſpruch, die wirthſchaftliche Verwaltung zu leiten. Er beſoldet die Lehrer; er gewinnt daher auch das Recht, ſie anzuſtellen und damit die Berechtigung und Verpflichtung, die Lehrbildung der Gymnaſiallehrer ſelbſt zu beſtimmen; die letzteren werden Staats - beamte. Dagegen bleibt die Lehre und neben ihr die innere Disciplin Sache der hohen Schule ſelbſt; das iſt ihr Erbtheil aus der frühern Zeit. Um beide zu ordnen, bilden die Lehrer einen ſelbſtändigen Lehr - körper mit dem Recht der Selbſtverwaltung in dieſen Gebieten. Auf dieſen formalen Grundſätzen entwickelt ſich die ernſtere und innere Ord - nung des neuen Lehrweſens.

Die zweite Frage iſt die nach dem Gegenſtand der Lehre. Hier entſcheidet zuerſt der hiſtoriſche Gang der allgemeinen Bildung. Europa dankt die letztere den Claſſikern. Es hat noch ſelbſt nicht die Fähigkeit, etwas Beſſeres zu liefern, als was die Alten darbieten. Seine Hoch - achtung vor der Claſſicität iſt eine unbedingte. Noch immer iſt die lateiniſche und griechiſche Bildung mit der allgemeinen Bildung identiſch. Es entſteht daher anfänglich die Frage gar nicht, worin eigentlich die Vorbildung für die Univerſität, der Gegenſtand der Lehre an der ge - lehrten Schule zu beſtehen habe. Sie muß weſentlich und auf allen Punkten im Griechiſchen und Lateiniſchen beſtehen; daneben gibt es keine weitere Berechtigung irgend einer Wiſſenſchaft; kaum daß hie und da die erſten Spuren einer Berückſichtigung der Mathematik ſich an den Euklid anſchließen; denn nicht daß er Mathematiker, ſondern daß er ein lateiniſcher Autor war, hat die Mathematik in den hohen Schulen eingebürgert. Mit dieſer Bildungsaufgabe iſt denn auch das Element der Klaſſen gegeben. Sie entſtehen von ſelbſt und zwar iſt das charakteriſtiſche Merkmal ihre Unterſcheidung ganz auf Grundlage der hiſtoriſchen Entwicklung nicht der Gegenſtand, ſondern der Autor, der behandelt wird. Endlich tritt allmählig der Grundſatz ein, daß nur die Abſolvirung der gelehrten Schule das Recht zum Beſuch der Uni - verſität gebe. Damit iſt denn die Stellung und die ſyſtematiſche Ord - nung der hohen Schulen feſt begründet. Der Begriff und das Recht der Gymnaſien ſcheidet ſich von dem der übrigen hohen Schulen; die Gymnaſien werden die ſyſtematiſche Vorbildungsanſtalt für die Uni - verſität und weil dieſe die geſetzliche Fachbildungsanſtalt für den Beruf iſt, die geſetzliche Vorbildungsanſtalt für den Beruf ſelbſt. Die ſyſtematiſche Stellung der hohen Schulen ſteht feſt; es folgen die200 geſetzlichen Statuten und allmählig die geſetzlichen Lehrpläne und mit dem achtzehnten Jahrhundert gibt es auf dieſe Weiſe ein öffentlich rechtliches Gymnaſialweſen.

Dieß iſt nun der Begriff, auf deſſen Grundlage es nicht mehr ſchwierig iſt, ſich über die Entſtehung und Bedeutung der Gymnaſial - frage einig zu werden.

Trotz jener Stellung nämlich als Vorbildungsanſtalt für die Uni - verſität bleibt die hohe Schule und ſpeciell auch das Gymnaſium eine allgemeine Bildungsanſtalt. Für jede Bildung, die über die Volks - bildung hinausgeht, gibt es noch keine andere Inſtitution. Die hohe Schule muß daher allein mit ihrer höchſt ſtrengen, ſcharf auf die gram - matiſche Claſſicität begränzten Lehrordnung allen Anforderungen der wachſenden Bildung genügen. Hier entſteht nun der erſte Zweifel, ob ſie das vermag. Und dieſer Zweifel iſt ein wohlbegründeter.

Während nämlich einerſeits die gelehrte Fachbildung ſich immer beſtimmter entwickelt, ſchreitet nicht bloß im Allgemeinen die Wiſſen - ſchaft vorwärts, ſondern die mächtigen Elemente der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beginnen faſt gleichzeitig ſich zu regen. Die freie Selbſt - thätigkeit des entſtehenden Bürgerthums fordert allmählig auch für das - jenige eine Bildung, was nicht gerade den wiſſenſchaftlichen Fächern angehört. Damit entſteht das Bedürfniß nach einer, nicht mehr an die ausſchließliche Claſſicität gebundenen Bildung und mit ihm das Ver - ſtändniß derſelben. Man will eine praktiſche Bildung; man beginnt die rein claſſiſche zu bekämpfen; man kann nicht mehr bei der claſſiſchen Vorbildung ſtehen bleiben; das geſammte alte, auf der ſtrengen Claſſi - cität ruhende und ſelbſt geſetzlich anerkannte Bildungsweſen wird er - ſchüttert und die Frage entſteht, wie ſich das in ſeiner Stellung abge - ſchloſſene, feſtgeordnete Gymnaſialweſen zu dieſen Anforderungen der allgemeinen bürgerlichen Bildung zu verhalten habe. Dieſe Frage iſt die Gymnaſialfrage.

Dieſe Frage hat in der ganzen folgenden Zeit zwar denſelben In - halt, aber nicht dieſelbe Form gehabt. Es iſt von großer Bedeutung, die verſchiedenen Epochen derſelben zu unterſcheiden.

Die erſte Geſtalt der ganzen Frage beſteht in der Aufſtellung neuer Methoden für die Vorbildung, aber noch innerhalb der beſtehenden gelehrten Schulen. Schon das ſechzehnte Jahrhundert bringt die noch ſehr unklaren Anfänge derſelben mit Ratich (1531 1635), Comenius (1592 1623) und andern, die, wie das ſtets in ſolchen Fällen ge - ſchieht, die richtige Gränze überſchreiten und die Funktionen des bloßen Verſtandes ganz an die Stelle der theoretiſchen Erarbeitung des wiſſen - ſchaftlichen Stoffes ſetzen. Allerdings wurden dieſe Beſtrebungen von201 mancher Seite mit großem Beifall begrüßt; allein hier trat nun die von dieſen Männern nicht verſtandene Forderung der Verwaltung viel beſtimmter entgegen, als die theoretiſche Anſicht über den Werth der Claſſicität gegenüber dem praktiſch-bürgerlichen Bedürfniß. Die Verwaltung mußte nach wie vor wiſſenſchaftlich auf den Univerſitäten gebildete Fachmänner für die geiſtigen Berufe fordern; die Univerſitäts - bildung als Fachbildung aber konnte der ſtrengen Claſſicität nicht ent - behren; es war daher naturgemäß, daß jene Beſtrebungen die claſſiſchen Bildungsordnungen der gelehrten Schulen auch nicht zu ändern ver - mochten. Sie kamen daher in den letzteren nicht nur nicht zur Geltung, ſondern ſie konnten vernünftiger Weiſe nicht zur Geltung kommen. Es war nach der ganzen Lage des Fach - und Berufsbildungsweſens nutzlos, den gelehrten Schulen daraus einen Vorwurf zu machen; in ihnen war kein Raum für jene Richtung; die gelehrten Schulen blieben, was ſie waren, die Studienordnungen beſtanden fort und es ergab ſich daher, daß die praktiſche Bildung aus den gelehrten Schulen aus - ſcheiden mußte, wenn ſie überhaupt zur Geltung kommen wollte.

Damit beginnt nun eine neue Geſtalt des gelehrten Vorbildungs - weſens, deren Inhalt der bewußte Gegenſatz derſelben gegen die in ihren erſten Andeutungen auftretende wirthſchaftliche Bildung iſt. Der Inhalt derſelben iſt einerſeits allerdings die auch öffentlich recht - liche Erhaltung der claſſiſchen Bildung als Gegenſtand der Gymnaſien, mit einer faſt vollſtändigen Ausſchließung der praktiſchen Vorbildung; er iſt andrerſeits die noch immer geltende Anſicht, daß die wahre höhere Bildung denn doch nur in den Gymnaſien und Univerſitäten gefunden werden kann; er behält drittens den öffentlich rechtlichen Grundſatz bei, daß die Staatsverwaltung demgemäß auch nur die Gymnaſien und keine andern Vorbildungsanſtalten aus öffentlichen Mitteln zu errichten verbunden ſei; allein endlich entſteht neben dem Syſtem der gelehrten Schulen denn doch langſam, aber ſicher das Syſtem des wirthſchaftlichen Vorbildungsweſens in den Realſchulen. Dieſe ſind noch keine öffent - lichen Anſtalten; ſie ſind noch nicht allgemein; aber ſie ſind es, welche in ihrer formellen und rechtlichen Selbſtändigkeit neben den gelehrten Schulen bereits das wirthſchaftliche Berufsbildungsweſen als zweites Gebiet des letztern hinſtellen. Eine neue Geſtalt des letztern beginnt mit ihnen; der Einfluß der praktiſchen Forderungen der großen Grund - lage der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, die Bildung für den Erwerb und die Anerkennung des Erwerbes als eines ethiſchen Elementes des Volkslebens, treten in ihnen zuerſt mit entſchiedener Berechtigung auf; die wiſſenſchaftliche Vorbildung iſt nicht mehr die einzige geiſtige Bil - dung; und dieſer allerdings in Umfang und Inhalt noch ſehr unſichere,202 im Princip dagegen ſchon ſehr beſtimmte Gegenſatz bildet den Charakter des achtzehnten Jahrhunderts. Es iſt die erſte Form der Gymnaſial - frage entſchieden als Ausweiſung der praktiſchen Vorbildung aus den Gymnaſien und Erhaltung ihrer claſſiſchen Aufgabe, durch welche dann die wirthſchaftliche Berufsbildung des neunzehnten Jahrhunderts ſelbſtändig ſich entwickelt. Die faſt ausſchließliche Beziehung dieſes ganzen Gegenſatzes auf die lateiniſche Sprache war nicht, wie der Inhalt des obigen glauben machen möchte, die Hauptſache, ſondern nur das Symptom der eigentlichen Gegenſätze; denn in der Erlernung dieſer Sprache culminirte nur die claſſiſche Bildung im Gegenſatz zur gewerb - lichen; das Princip der erſteren ging vielmehr weiter und das zeigte nun das neunzehnte Jahrhundert mit ſeiner gegenwärtigen Geſtalt der Gymnaſialfrage.

Während nämlich in der obigen Weiſe ſich die wirthſchaftliche Be - rufsbildung neben die claſſiſche ſtellt, bleibt doch die letztere noch immer die höhere. Unterdeß aber gewinnt das wirthſchaftliche Leben immer größere Bedeutung und zugleich fallen mit dem neunzehnten Jahr - hundert die alten ſtändiſchen Schranken zwiſchen den verſchiedenen Lebens - berufen. Der Maßſtab, den in Folge deſſen das öffentliche Bewußt - ſein an die Bildung überhaupt legt, wird ein für alle Zweige der - ſelben gemeinſamer; die wirthſchaftlichen Aufgaben treten in die Sphäre des Berufes mit ein und der Ausdruck dieſer hochwichtigen Thatſache iſt die Forderung, daß die Bildung auf allen Punkten die Fähigkeit enthalten und erzeugen müſſe, die jungen Männer für jeden Beruf fähig zu machen, oder, wie man zu ſagen pflegte, daß die Bildung überhaupt, alſo ſpeciell auch Vorbildung, eine Bildung für das Leben und ſeine Bedürfniſſe ſein müſſe. Nun erſchien in der That das bis - herige Syſtem der claſſiſchen Vorbildung dafür nicht geeignet. Obwohl es als die höchſte Vorbildung galt, bot es mit ſeiner faſt ausſchließlichen Beſchränkung auf das claſſiſche Alterthum, doch wie es ſchien jene Vorbildung für das Leben nicht, welche die Zeit forderte, während andererſeits die zu immer größerer Bedeutung herangewachſene Real - bildung wieder unfähig erſchien, das abſtracte höhere Element der ethiſchen Bildung zu verleihen. So entſtand einerſeits aufs neue der Kampf gegen das bisherige Gymnaſialweſen als claſſiſches Vorbildungs - weſen; dießmal aber nicht mehr wie im achtzehnten Jahrhundert, um die claſſiſche Vorbildung durch die reale wo möglich zu verdrängen und zu erſetzen, da man recht gut einſah, daß dieß unmöglich ſei, ſo lange es noch wiſſenſchaftliche Fachbildung gebe, die am Ende niemand läug - nete; ſondern vielmehr in dem Sinne, daß die reale Bildung ſo weit als möglich in die claſſiſche aufgenommen und die zu ſtrenge Scheide -203 wand zwiſchen den beiden großen Vorbildungsanſtalten damit aufgehoben werden ſolle. Und dieſe Verbindung der realen Bildung, der Bil - dung für das Leben mit der claſſiſchen Vorbildung innerhalb der Gymnaſien iſt nun die Gymnaſialfrage des gegenwärtigen Jahr - hunderts.

Natürlich konnte dieſer Streit, da die Gymnaſien Staatsanſtalten waren und bleiben ſollten, nicht bloß ein theoretiſcher ſein, ſondern er griff auf das Tiefſte auch in das öffentliche Recht der Gymnaſien ſelbſt hinein, und die Verwaltung mit ihr die Verwaltungslehre muß ihm gegenüber eine beſtimmte Stellung einnehmen. Es iſt aber um ſo nothwendiger, die letzte zu bezeichnen, als der Streit ſelbſt der Staats - wiſſenſchaft ganz aus den Händen entglitten und ein rein pädagogiſcher geworden iſt, wodurch er zwar an Tiefe und Gründlichkeit in allem Einzelnen gewonnen, an richtigem Ueberblick des Verhältniſſes zum Ganzen aber verloren hat.

Der Standpunkt der Verwaltungslehre als Lehre vom Bildungs - weſen iſt nun wie es ſcheint, ein einfacher und klarer.

Wenn die lateiniſche und griechiſche Sprache als Hauptgegenſtand der Gymnaſien wirklich nichts anderes wären als Vorbildung für die einzelnen Fächer auf der Univerſität, ſo würden ſie nicht berechtigt ſein, die bildungsfähigſte Lebenszeit des Menſchen unter dem Namen der claſſiſchen Bildung auszufüllen. Die Verwaltung müßte daher von dieſem Standpunkt die Claſſicität auf das äußerſte Maß der wirklich nothwendigen Spracherlernung zurückführen. Allein jenes erſtere iſt eben nicht der Fall. Seit namentlich F. A. Wolf in dem Studium der Claſſiker die Quelle der höheren geiſtigen Bildung und Entwicklung überhaupt wieder gefunden hat, ſeit damit der Begriff und das Ver - ſtändniß der humaniſtiſchen Bildung an die Stelle der gelehrten getreten iſt, ſind die alten Sprachen das geworden, was ſie ſein ſollen, das Medium, durch welches das claſſiſche Leben in dem Leben unſrer Zeit lebendig erhalten, und das Edelſte der großen Vergangenheit zu einem integrirenden Theil unſres gegenwärtigen Lebens erhoben wird. Der Unterſchied des Gymnaſiums des 19. von dem des 18. Jahr - hunderts beſteht demnach darin, daß die claſſiſchen Sprachen nicht mehr als ein ſelbſtändiger Zweck, nicht mehr als das Ziel und der Inhalt der höheren Bildung, ſondern nur als das allerdings einzige Mittel derſelben erkannt werden. Es iſt unmöglich, in dieſem Sinne ſie durch etwas vollſtändig zu erſetzen, das nichts als die Vor - übung für einen poſitiven, wirthſchaftlich nützlichen Zweck enthält. Wir müſſen das als im tieferen Weſen des geiſtigen Lebens liegend anerkennen. Wir müſſen das um ſo mehr, als die Erfahrung204 zeigt, daß mit der höheren Aufgabe die Fähigkeit der Löſung ſelbſt für rein praktiſche Zwecke wächst und die Befruchtung des jungen Geiſtes mit höheren Geſichtspunkten auch für das praktiſche Leben thatſächlich beſſere Erfolge mit ſich bringt, als die Erlernung von Poſitivem, die ſtets ohne große Mühe nachgeholt werden kann. Die Unterordnung der claſſiſchen unter die wirthſchaftliche Vorbildung würde daneben wieder einen Stand ausſchließlich claſſiſch Gebildeter erzeugen, was ein definitiver Rückſchritt wäre. Es iſt daher keine Frage, daß grundſätzlich die claſſiſche Vorbildung auf den Gymnaſien die Grundlage bilden muß, und daß die praktiſchen Vorbildungen auf demſelben nur ſo weit Platz greifen darf, als ſie die gründliche claſſiſche Vorbildung nicht beeinträchtigt. Die Gränze muß von den Pädagogen geſetzt und von den verwaltungsrechtlichen Studienordnungen zur öffentlichen Geltung erhoben werden. Auf dieſer Grundlage iſt die Studien - ordnung des wiſſenſchaftlichen Vorbildungsweſens feſtzu - ſtellen; in demſelben aber formell der Uebergang zu den Realſchulen ſtets dem Einzelnen offen zu halten.

Man kann nun wohl ſagen, daß im Großen und Ganzen mit dieſem Ergebniß die zweite Geſtalt der Gymnaſialfrage abgeſchloſſen hat. Allein ſie ſelbſt iſt damit nicht erledigt, und namentlich die Verwaltungs - lehre darf bei ihr nicht ſtehen bleiben, da ſie vor allem berufen iſt, die Gymnaſien nicht etwa bloß als eine Bildungsanſtalt für ſich, ſondern eben als Glied des Ganzen, als ein beſtimmtes Organ des ſich ſelber bildenden Geiſtes der Gemeinſchaft aufzufaſſen.

Indem nämlich durch die möglichſte Verbindung der allgemeinen Bildung mit der humaniſtiſchen das Gymnaſium ſeine innere Verwandt - ſchaft mit der Geſittung im ganzen Volksgeiſte bethätigt, tritt es zu - gleich aus ſeiner beſchränkten Stellung als rein claſſiſche Vorbildungs - anſtalt hinaus, und es wird nothwendig, in ſeinem Lehrplan das Princip des Ueberganges nach unten und oben zum Ausdruck zu bringen. Damit entſteht die Aufgabe, demſelben diejenige Erweiterung zu geben, mit der es ſich einerſeits der höheren Bürgerſchule nähert, andererſeits den beſchränkten Charakter als Vorbereitung ſpeciell für die Univerſität verliert und wieder eine Stellung als Bildungsanſtalt für die allgemeine höhere Bildung derjenigen einnimmt, welche nicht gerade in der Lage ſind, die Univerſität benutzen zu können. Die Gymnaſial - frage der neueſten Zeit beſteht demnach nicht mehr in der Frage nach dem Verhältniß der Humaniora zu den praktiſchen Fächern, ſondern ſpeciell in der Frage nach dem Verhältniß der Gymnaſialbildung zum allgemeinen Bildungsſyſtem. Und dieſe Frage iſt bis jetzt erſt nach einer Seite hin entſchieden.

205

Dieſe Seite beſteht nämlich in der ſyſtematiſchen Verbindung des Gymnaſialweſens mit dem Elementarſchulweſen. Das Princip dieſer Verbindung iſt die Idee der inneren Einheit des geſammten Bildungsganges; der Ausdruck deſſelben iſt die Errichtung der unterſten Gymnaſialclaſſen, die ſich unmittelbar an die Volksſchule anſchließen. Darüber iſt im Allgemeinen keine Ungewißheit mehr vorhanden. Wohl aber iſt die zweite Seite der Sache unentwickelt geblieben. Das iſt die Fähigkeit der Gymnaſien, eine Bildung zu geben, welche, obwohl auf dem claſſiſchen Unterricht und ſeinen großen Erfolgen beruhend, dennoch in ſich ſelbſt und nicht bloß als Vorbereitung für die Univerſität ihren Abſchluß finde. Das deutſche Gymnaſialweſen hat in ſeiner ſtrengen Stellung als gelehrte Vorbildungsanſtalt dieſe Fähigkeit verloren. Wir müſſen auf dieſelbe zurückkommen. Wir müſſen unſere Gymnaſien hinſtellen als Bildungsanſtalt für die allgemeine Bildung, die der Fachbildung an der Univerſität entbehren kann, wo der Schüler kein Fachmann werden will, die aber von jedem der gebildeten Klaſſe Ange - hörigen beſucht werden muß, und daher neben der Claſſicität die großen Gebiete der Geſchichte, der Philoſophie, der Staatswiſſenſchaft und der Naturkunde in ihren allgemeinen Grundzügen ſelbſtändig darbietet. Zu dem Ende muß an das Gymnaſium eine letzte Claſſe, eine philoſophiſche, eine Selecta, oder wie man ſie ſonſt nennen will, hinzugefügt werden, welche dieß für die allgemeine Bildung leiſtet, mit dem beſtimmten Zu - ſatz, daß ihr Beſuch für das Eintreten in die Univerſität nicht er - forderlich, wohl aber mit dem Recht der Abgangsprüfung verſehen iſt. Wir haben die Elemente für dieſe Forderung theils in der Geſchichte, theils in gewiſſen Privatanſtalten, welche gerade das leiſten. Wir haben dafür noch die letzten Reſte der alten, allgemeinen Geſchichte in den Athenäen und Lyceen, die nur in zeitgemäßer Form neu belebt werden brauchen. Wir haben endlich den Anlaß dazu in der Forderung der Zeit, welche die höchſte allgemeine Bildung will, und in der ſtrengen, immer fachgemäßeren Geſtalt der Univerſitäten, welche die Hauptkraft auf die Specialität wirft. Hier liegt daher, wie wir überzeugt ſind, die Aufgabe der Zukunft; Deutſchlands Gymnaſialweſen, das beſte der Welt als Vorbildungsanſtalt für das Fach muß es wieder werden als Vorbildungsanſtalt der allgemeinen Bildung. Wenn nicht alle Zeichen täuſchen, ſo gehen wir jetzt dieſer letzten Geſtalt der Gymnaſialfrage entgegen.

Wir können nicht ſchließen, ohne das Verhältniß der Gymnaſial - literatur zu der oben dargelegten Entwicklung zu charakteriſiren. Dieſe Literatur iſt in Deutſchland eine faſt unerſchöpfliche; aber ſie bezieht206 ſich weſentlich auf die didaktiſche Seite der Sache und ſpeciell auf die zweite Aufgabe der Gymnaſialfrage, das Verhältniß der humaniſtiſchen Bildung zur Stellung der Gymnaſien. Dieſe Literatur iſt in ziemlicher Vollſtändigkeit aufgeführt bei Palmer Gelehrtenſchulweſen, in Schmid, Encyclopädie, und bei Bauer Gymnaſien ebendaſ. Es läßt ſich dabei kaum verkennen, daß alle dieſe Arbeiten, und ſo auch die neueſten von Rümelin und Thaulow darum unzureichend ſind, weil ſie eben nur vom Gymnaſium ſprechen, ohne die Beurtheilung deſſelben ein organiſches Syſtem des geſammten Bildungsweſens zum Grunde zu legen. Es fehlt daher durchgehend die Betonung und Unterſuchung des Verhältniſſes zur allgemeinen Bildung, und die gerade für dieſe ausgezeichneten Fachmänner recht ſchwierige Erkenntniß, daß Deutſch - lands Gymnaſialweſen Gefahr läuft, ſich zu pedantiſch auf das reine Vorbildungsweſen zu beſchränken. Der Gedanke, daß der junge ſelb - ſtändige Mann ſich nicht für ein Fachſtudium an der Univerſität bilde, ſondern nur überhaupt die Elemente einer größeren Weltanſchauung im Gymnaſium ohne eigentliche berufsmäßige Lebensaufgabe gewinne und grundſätzlich mit dem Gymnaſium abſchließe, iſt der deutſchen Gymnaſialliteratur verloren gegangen. Ihr fehlt daher auch die Ver - gleichung ſowohl mit England und ſeinen Colleges, als mit Holland und der Schweiz und ihren Athenäen, ja ſogar vielfach mit den Lyceen Frankreichs; der größere Blick iſt nicht ausgebildet; die Gränze iſt das deutſche Leben und das iſt bei all ſeinem Reichthum denn doch nicht das Leben der Welt. Speciell aber die Verwaltungslehre darf bei dieſer Auffaſſung um ſo weniger ſtehen bleiben, als der hiſtoriſche Gang der großen Gymnaſialfrage die Nichtbeachtung einerſeits des poſitiven Rechts der Gymnaſien, und andrerſeits ihrer Geſchichte in dem oben ange - deuteten Sinne erzeugt hat. Wir müſſen es als einen direkten Mangel in der Gymnaſialliteratur bezeichnen, daß ſie mitten in ihrer großen Gründlichkeit die eigentliche Thatſache überſieht, daß die bisherige Ver - waltungslehre, und daß ſpeciell die Rechtsgeſchichte von dem Gymnaſial - weſen nichts wiſſen. In den ſogenannten Polizeiwiſſenſchaften findet ſich allerdings, wie wir auch unſererſeits conſtatiren müſſen, gar kein Verſtändniß für die Sache; in den meiſten wird ſie nicht einmal mit ihrem Namen erwähnt, und es iſt daher ganz natürlich, daß ſich ſelbſt die ſchönen neuen Arbeiten von Schmid einfach darauf be - ſchränken, das beſtehende Recht ohne weitere Entwicklung allgemeiner Geſichtspunkte ſtatiſtiſch anzuführen. Dennoch gibt es wenig Gebiete, in denen die wiſſenſchaftliche Auffaſſung mit der poſitiven des Verwal - tungsrechts ſo eng Hand in Hand gehen ſollten. Denn es darf nie verkannt werden, daß die pädagogiſchen und methodologiſchen207 Arbeiten der Schulmänner bei weitem einflußreicher für das Gymnaſial - weſen auch in rechtlicher Beziehung ſind, als die juriſtiſchen. Und zwar zum Ruhme Deutſchlands deßhalb, weil die deutſchen Regierungen faſt ausnahmslos das öffentliche Recht der Gymnaſialordnungen nach den Ergebniſſen der theoretiſchen Diskuſſionen gebildet haben. Es müßte daher nur gewünſcht werden, daß die Gymnaſialliteratur eben das, was aus ihrer Arbeit direkt oder indirekt hervorgegangen iſt, das Recht der Anſtalten mehr beachteten.

Freilich hat das wieder eine andere große Vorausſetzung. Wir ſagen, faſt merkwürdiger Weiſe fehlt eine Geſchichte der hohen Schulen und zwar in dem Sinne, daß das Verhältniß nicht eben bloß der Lehr - pläne, ſondern namentlich der hohen Schulen zu dem öffentlichen Recht und der Verwaltung ohne Berückſichtigung bleibt. Eine ſolche Geſchichte würde allerdings die Geſchichte des öffentlichen Bewußtſeins über Werth und Inhalt der höheren Bildung in ihrer juriſtiſchen, legislativen Form enthalten müſſen; ſie würde mit den tiefſten Beziehungen des geiſtigen Lebens zuſammenhängen, und könnte gar nicht, weder bloß für Deutſch - land, noch auch bloß für die Gymnaſien geſchrieben werden. Sie müßte grundſätzlich einen Theil des öffentlichen Rechts der Volksbildung und gewiß die rechtliche Stellung der Univerſitäten zur Berufsbildung, namentlich auch die Geſchichte des Prüfungsweſens umfaſſen. Die Ele - mente dieſer neuen Geſchichte ſind ſehr gut bei Palmer a. a. O. ge - geben, jedoch ohne Rückſicht auf das öffentliche Recht; Pfaff im Staats - wörterbuch iſt ſehr kurz, aber mit richtigem Verſtändniß. Das ältere Recht entbehrt gänzlich der Bearbeitung. Dennoch hat ſchon Secken - dorf in ſeinem deutſchen Fürſtenſtaat Th. II. §. 4 die dritte Art der Schulen, nämlich ein Gymnaſium oder Landesſchule in ihrer ganzen damaligen Stellung ſehr gut bezeichnet (1660). Wir dürfen hier den betreffenden Paſſus aufführen, da er den Zuſtand des 17. Jahr - hunderts gut kennzeichnet. Seckendorf unterſcheidet die gemeinen Stadtſchulen, in denen die lateiniſche Sprache nur ſo weit mit Nutz getrieben wird, daß die Schüler nach Erforderniß der Sprachkunſt oder Grammatik etwas füglich zuſammen ſetzen und leichte Lateiniſche Schrifften verſtehen und erklären lernen von dem Gymnaſium. In dieſem werden die erſten und leichteſten praecepta Rhetorica et Logica, auch wohl Physica und Mathematica, nichtsweniger auch ein kurzer Auszug der Welt - und Kirchengeſchichte getrieben. Eine General-Superintendenz aber, oder andere deß Landesherrn Geiſt - und Weltliche Räthe führen nächſt denſelben in ſolchen Gymnasiis die oberſte Inſpektion, fordern zu dem Ende gewiſſe Instructiones, und liegt Ihnen ob, die Praecep - tores Gymnasii öfters zu viſitiren und Erforſchung zu haben, wie ſie208 dem fürgeſchriebenen Methodo (!) nachgehen. Auch gibt es ſchon Examina für die Fortſetzung der Schuljugend von einer Claß zur andern und was dergleichen Punkten mehr ſind, welche bei wohlverfaßten Schulen pflegen in Acht genommen zu werden. Hier ſind alſo ſchon alle Ele - mente des eigentlichen öffentlichen Gymnaſialweſens angedeutet; es käme nur darauf an, dieſen Angaben nachzugehen. Was die Ent - ſtehung der Gymnaſien betrifft, ſo hatte das 17. Jahrhundert eine ſehr reiche Literatur darüber, die ſich ſpeciell an die Frage anſchloß, ob der Status Imperii das Recht hatten, ſolche Gymnasia zu errichten. Dieſe gänzlich unbenützte Literatur iſt wohl vollſtändig bei Vitriarius III. L. III. T. V. 55. aufgeführt. Hier ſind auch die erſten Gymnaſien angegeben; 1523 Gymn. Goldbergense in Schleſien, 1538 Gymn. Argentoratense (a senatu Oppidano), 1542 Elbigensis Schola, 1543 Meißen und Merſeburg, Pfordta, 1544 Gotha und Lauingen. Die übrigen Scholae des 16. Jahrhunderts mit der be - treffenden Literatur und den Quellen bei Vitriarius Ill. L. III. T. II. 55. (ſ. auch unten bei den Univerſitäten). Außerdem Heineccius Dis - sertatio de jure principis circa studia 1738. Dazu Moſer (Ver - ordnung der Landeshoheit in Polizeiſachen Bd. III. §. 10). Die aus - führlichſte, aber ſyſtemloſe Behandlung bei Meiners, Geſchichte der Entſtehung der hohen Schulen (Göttingen 1802, 4 Bd.), noch immer das bedeutendſte Werk. Die innere Staatsrechtslehre hat, man kann ſagen, mehr und mehr die Gymnaſialfrage fallen laſſen, da ſie als reine Verwaltungsmaßregel erſchien und der Begriff der Verwaltung und ihres Rechts nicht vorhanden war. Auch das was Berg in ſeinem Polizeirecht Th. VI. Bd. II. S. 383 627 darüber an einzelnen Geſetzen des vorigen Jahrhunderts ſammelt, iſt weder irgendwie voll - ſtändig, noch auch nach einem beſtimmten Princip zuſammengetragen, während ſeine eigene Darſtellung (der Benützung werth) Bd. II. S. 299 vielfache richtige Momente enthält, ohne doch zu einem ſyſtematiſchen Abſchluß zu gelangen. Ihm iſt wie ſeinen Vorgängern das Recht auf Errichtung meiſt wichtiger als der Lehrplan. Nachher verſchwindet das Gebiet ganz. Wie kurz und unbedeutend iſt was Klüber (Oeffent - liches Recht §. 499), Zachariä (Deutſches Staats - und Bundesrecht Bd. II. §. 178), ſelbſt der treffliche Aretin (Conſtitutionelles Staats - recht Bd. II. 1. Abth. §. 5) darüber ſagen? Andere wie Gönner, Leiſt, Maurenbrecher, ſelbſt der ſonſt ſo unermüdliche Zöpfl be - rühren die ganze Frage gar nicht, ſo daß wir bis jetzt nicht bloß das Urtheil, ſondern ſelbſt das Material aus den Händen der Pädagogen empfangen. Hier iſt alſo für die neuere Geſchichtsforſchung noch faſt alles zu leiſten.

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III. Die Elemente des Gymnaſialweſens der Gegenwart.

Das öffentliche Recht der Gymnaſien beſteht demnach in der Ge - ſammtheit derjenigen Beſtimmungen, durch welche die Verwaltung die in den Gymnaſien zu gebende wiſſenſchaftliche Vorbildung für die Fächer der Univerſität ordnet.

Die Gebiete des Syſtems dieſes Rechts ſind naturgemäß die - ſelben wie beim Volksſchulrecht. Die Beſtimmungen deſſelben ſind aber im Weſentlichen in allen deutſchen Ländern ſo gleichartig, daß faſt nur auf dem Gebiete der Methodologie noch bedeutſame Unterſchiede ob - walten. Dieſe ſpeciellen Beſtimmungen müſſen daher für jedes Land auf die feſten Kategorien des Syſtems zurückgeführt werden. Dieſe ſind folgende.

I. Die Gymnaſien oder gelehrte Schulen ſind der Regel nach Staatsanſtalten. Sie ſtehen daher unter der Staatsverwaltung. Allein ihr Organismus iſt ein von dem der Volksſchulen weſentlich verſchiedener. Die Verhältniſſe deſſelben theilen ſich in zwei Gebiete: dem zur allgemeinen Verwaltung des ſtaatlichen Bildungsweſens oder dem Unterrichtsminiſterium, und dem ihrer inneren Verwaltung.

Das Verhältniß zum Miniſterium iſt in dem allgemeinen Orga - nismus deſſelben gegeben. Die gelehrten Schulen ſtehen jedoch faſt nirgends direkt unter der höchſten Reichsſtelle, ſondern zunächſt unter der höchſten Landesſtelle. Das Referat iſt einem eigenen Departe - ment übergeben.

Die innere Verwaltung dagegen iſt nach der Grundlage ihrer Vorbilder, der Univerſitäten geordnet und beruht auf dem Princip der im Lehrkörper gegebenen Selbſtverwaltung für das Lehrweſen. Das Gymnaſium tritt dabei nach außen vermöge des Lehrkörpers als ein Ganzes auf und entſcheidet ſeine Lehrangelegenheiten gleichfalls durch denſelben. Die Spitze bildet meiſt der Rektor; doch wird der - ſelbe nicht gewählt, ſondern von der Regierung ernannt. Die Rechte deſſelben ſind zwar nicht allenthalben gleich, aber doch faſt durchgehend formeller Natur.

Da endlich die Gymnaſien Staatsanſtalten ſind, ſo trägt der Staat die Koſten derſelben und hat daher auch über die Ausgaben die allein entſcheidende Stimme. Der Lehrkörper hat nur Wünſche auszu - ſprechen. Die Frage, wie weit neben dem Staate die Landſchaften mit beizutragen haben, iſt verſchieden geordnet.

Auf Grundlage dieſer ſeiner Leiſtungen hat nun der Staat das Gymnaſialweſen einer eigenen Geſetzgebung unterworfen, welche dieStein, die Verwaltungslehre. V. 14210obigen, ſo wie die folgenden Punkte als öffentliches Recht derſelben beſtimmen. Es verſteht ſich, daß dieſelben wieder ihre Geſchichte haben; die neueſten Grundſätze ſind dagegen noch nicht allenthalben in dieſe Geſetzgebungen aufgenommen.

II. Die Lehrer ſind aus dem obigen Grunde Staatsbeamtete mit feſtem Gehalte und Penſion. Das Schulgeld iſt nach dem Muſter der Univerſitäten wohl allenthalben eingeführt, wird aber meiſtens nach der Zahl der Lehrer vertheilt. Von großer Wichtigkeit iſt die Lehrerbildung. Die Grundlage derſelben iſt meiſt die Fachbildung der Philologie an den Univerſitäten; mit richtigem Verſtändniß haben jedoch die meiſten Regierungen den Schwerpunkt in die Lehrer - prüfungen gelegt und dieſe durch oft ſehr genaue Beſtimmungen ge - ordnet. Ihre Grundlage iſt meiſtens die Aufſtellung eigener Lehrer - ſeminarien (philologiſche Seminarien) an den philoſophiſchen Facul - täten mit beſtimmter Organiſation. Mit großem Recht halten die Re - gierungen allgemein daran feſt, daß die wahre Grundlage der Bildung nicht in formalen Anordnungen, ſondern in der perſönlichen Thätigkeit, in dem intellectuellen und ſittlichen Einfluß der Lehrer liege.

III. Die Lehrordnung beruht zunächſt auf dem ſtreng durch - geführten, ſyſtematiſch geordneten Claſſenſyſtem; mit Aufnahms -, Uebergangs - und Abgangsprüfungen. Hier iſt natürlich das eigentliche Gebiet der Gymnaſialfragen, auf welchem die Pädagogik ſich faſt ausſchließlich bewegt. Der Streit der Anſichten, der wie oben dargelegt, weſentlich auf dem Werthe der claſſiſchen Bildung für das praktiſche Leben beruht, hat nun aus dem früher einfachen Gymnaſium mit ſeinen naturgemäßen Claſſenabſtufungen ein Schul - ſyſtem erzeugt, deſſen Weſen und Bedeutung darin beſteht, einer - ſeits mit der claſſiſchen Vorbildung ſogleich an die Elementarbildung anzuſchließen, anderſeits in einer formell noch unklaren Weiſe die Elemente der claſſiſchen Bildung in das wirthſchaftliche Vorbildungs - ſyſtem ſo weit aufzunehmen, als der Einzelne es wünſcht. Aus dieſen beiden Richtungen ſind nun die zwei Formen des Gymnaſiums hervorgegangen, welche wir die Untergymnaſien und die Real - gymnaſien nennen und welche für das Verhältniß der claſſiſchen Bildung und ihre Auffaſſung in unſerer Gegenwart von hoher Bedeu - tung ſind.

Die Untergymnaſien ſetzen die vollendete Elementarbildung voraus. Sie unterſcheiden ſich jedoch von den Bürgerſchulen dadurch, daß ſie mit ihrer Lehre nicht auf eine abgeſchloſſene Bildungsſtufe be - rechnet, ſondern in ihrem Lehr - und Claſſenſyſtem ſo eingerichtet ſind, daß ſie eine Weiterbildung grundſätzlich vorausſetzen. Sie ſind daher211 für die erſten Jahre des wirklichen Lernens beſtimmt und ihr Lehr - princip iſt es, den Elementarunterricht, namentlich der alten Sprachen zu geben, in dem Sinne und Umfang, daß das, was ſie hier bieten, werthlos bleibt, wenn nicht irgend eine andere Weiter - bildung ſtattfindet. Während daher der Eintritt in die Bürgerſchule die Abſicht vorausſetzt, mit derſelben abzuſchließen, hat der Eintritt in das Untergymnaſium nur dann einen Sinn, wenn der Uebergang in eine der beiden folgenden Stufen beabſichtigt wird. Dadurch ſind ſie ein ſelbſtändiges Bildungsorgan.

Freilich iſt es dabei der Sache nach gleichgültig, ob dieſe Unter - gymnaſien auch formell und räumlich von den Obergymnaſien getrennt ſind oder nur als die unteren Claſſen des Gymnaſiums überhaupt erſcheinen, das in dieſem Falle für ſeine unterſte Claſſe mit dem neunten Jahre anfängt und mit ſeiner oberſten bei dem Abgang für die Univerſität aufhört; denn jene unterſten Claſſen haben hier in allen wohl eingerichteten Gymnaſien genau die Funktion der Untergymnaſien. Die Gränze liegt dabei im Objekt. Das Obergymnaſium oder die höhere Claſſengruppe beginnt da, wo der Schüler von der Gram - matik zum Leſen eines Claſſikers übergeht, womit dann wieder der griechiſche Elementarunterricht verbunden wird. So greifen dieſe Studien in einander und erſt jetzt iſt das Weſen der Realgymnaſien klar zu beſtimmen.

Von den Untergymnaſien kann nämlich die weitere Vorbildung entweder zur eigentlich claſſiſchen, oder zur wirthſchaftlichen über - gehen. Aus dem Bedürfniß nun, die letztere des höheren claſſiſchen Elementes nicht entbehren zu laſſen, iſt nun der Verſuch hervorge - gangen, Anſtalten zu errichten, in welchen die wirthſchaftliche Vorbildung allerdings die Hauptſache iſt, jedoch die claſſiſche auf Grundlage der in dem Untergymnaſium erworbenen lateiniſchen Elementarbildung ſpeciell für das Lateiniſche ſo weit zu führen, daß die römiſche Claſſi - cität gewonnen wird, während die griechiſche Elementarbildung des Obergymnaſiums wegfällt und an ihre Stelle die wiſſenſchaftlich-reale Vorbildung tritt. Eine ſolche Anſtalt, welche ſo in eigenthümlicher Weiſe die Realbildung mit der claſſiſchen verbindet und in der römiſchen Claſſicität den inneren Uebergang zur claſſiſchen Bildung überhaupt feſthält, iſt das ſogenannte Realgymnaſium. Obwohl nur noch in einzelnen Beiſpielen vorkommend, hat es dennoch eine große Zukunft.

Bei der Unfertigkeit des Bildungsproceſſes dieſer Organiſation hat es nun einen entſchiedenen Werth, ſich dieſe Verhältniſſe in ein feſtes Schema zu bringen. Daſſelbe iſt folgendes, mit ſyſtematiſcher Beziehung auf die Elementarbildung.

212

IV. Neben den Staatsanſtalten beſtehen nun Privatlehran - ſtalten. Das Princip für dieſelben iſt, daß ſie das Recht der Gym - naſien, ſpeciell alſo das Recht durch ihre Prüfungen die Reife zum Uebergange an die Univerſität zu conſtatiren, nur unter den geſetzlich vorgeſchriebenen Bedingungen in Beziehung namentlich auf das Lehrer - weſen und das Lehr - und Claſſenſyſtem erfüllen. Keinenfalls kann die Entwicklung ſolcher Privatgymnaſien als etwas wünſchenswerthes be - zeichnet werden, da ſie entweder einen Mangel im öffentlichen Syſtem der wiſſenſchaftlichen Vorbildung anzeigen, oder zu einem ebenſo be - denklichen Mangel an Strenge der Bildung hinneigen.

Im Allgemeinen iſt ein großer Unterſchied in der Entwicklung des öffentlichen Rechts und der Organiſation des Gymnaſialweſens zwiſchen Nord - und Süddeutſchland unverkennbar. Jenes hat den Charakter der Staatsanſtalten und der ſtaatlichen Leitung ſchon faſt mit Anfang dieſes Jahrhunderts ausgeprägt; dieſes hat das Gymnaſialweſen erſt zum Theil ſeit 1830 und entſchiedener ſeit 1848 aus ſeiner ſtändiſchen, unfreien und vielfach ganz äußerlichen Begränzung auf claſſiſche Grammatik zum humaniſtiſchen Geiſte erhoben. Es iſt höchſt merk - würdig, wie Oeſterreich, bis 1848 mit der unfreieſten ſeit 1848 ſich zur freieſten Gymnaſialordnung erhoben und in jener Geſetzgebung ſich neben die andern Staaten geſtellt hat. Leider fehlen uns ge - nügende Zuſammenſtellungen; die betreffenden Artikel in Schmid ſind in Beziehung auf das öffentliche Recht ſehr ungleichmäßig gearbeitet und dennoch für manches die bisher einzige Quelle.

Oeſterreich. Der Unterſchied von öffentlichen und Privatgym - naſien geſetzlich anerkannt, jedoch Grundſatz des Beſtehens einer Prüfung an einem öffentlichen Gymnaſium, um ſtaatsgültige Zeugniſſe zu er - werben (Organiſation vom 15. September 1849, §. 8). Organi -213 ſation: Landesſchulbehörde, Miniſterium. Das Patronat iſt gänzlich beſeitigt. Inneres: Direktor und Lehrerconferenz, ſämmtliche ordent - liche und Hülfslehrer. Hauptgeſetz: Organiſation der Gymnaſien (und Realſchulen) in Oeſterreich, publicirt 15. September 1849, nebſt einigen neueren Anordnungen (Stubenrauch II. §. 394). Lehrer ſind ordent - liche und Hülfslehrer. Das Lehrerbildungsweſen durch Miniſterial - Erlaß vom 24. Juli 1856 ſtreng geordnet: Maturitätsprüfung, drei - jähriger Curſus an der Univerſität; Lehramtsprüfung; darauf noch ein Probejahr als Hülfslehrer (ſpecielle Darſtellung bei Stubenrauch I. §. 55). Gymnaſien ſind vollſtändig in acht Klaſſen, je vier das Unter - und Obergymnaſium; erſteres kann mit einer Realſchule ver - bunden ſein (Verhältniß des Realgymnaſiums nicht klar). Lehrplan vorgeſchrieben. Aufnahms -, Verſetzungs - und Abgangsprüfungsſyſtem (Stubenrauch II. 395 398).

Die vollſtändigſte und gründlichſte Darſtellung des öſterreichiſchen Gymnaſialweſens iſt die von Ficker bei Schmid V. S. 355 476. Die Geſchichte hauptſächlich nach Hochegger, öſterreichiſche Gymnaſien, (Oeſterreichiſche Revue 1863. Bd. I.) Charakteriſtiſch iſt dabei die Stellung der philoſophiſchen Studien vor und nach 1848. (Alte Ordnung vom 12. Juli 1805; neuer Lehrplan vom 10. Juli 1819. Aeltere Verſuche und Beſtrebungen bis 1849.)

Preußen. Hier iſt noch keine Einheit und kein einheitliches Geſetz, weil viele Gymnaſien noch auf alten Stiftungen beruhen und die Rechtsverhältniſſe von Körperſchaften haben. Rönne, Unterrichts - weſen II. 73. 74. Deſſen Staatsrecht II. §. 449. Note 9). Das Gymnaſialrecht erſcheint daher bei aller Uebereinſtimmung in der Hauptſache doch als ein provinzielles; nur in einzelnen Punkten iſt auch die formelle Einheit hergeſtellt. Daher zwar Aufſicht der Provinzialſchulcollegien, allein daneben noch vielfach die Patrone der ſtändiſchen Epoche. Die Schulordnungen daher noch örtlich, nach dem noch geltenden Princip des Allgemeinen Landrechts II. 12. 55 (Rönne, Staatsrecht I. §. 203. II. 241). Rechte der Patrone jedoch weſentlich nur bei Beſetzung der Lehrerſtellen (Rönne II. 448 u. 449). Lehrerbildung an den Univerſitäten; der Schwerpunkt auch hier im Prüfungsweſen daſſelbe. Genau bei Rönne, Unterrichtsweſen II. 22 64. Grundlage das Edikt vom 12. Juli 1810; genauer ausge - führt im Reſcript vom 20. April 1831 und Reſcript vom 29. September 1838. Probejahr: Reſcript vom 27. November 1858. Charakteriſirt bei Lübker, Gelehrtenſchulweſen (Schmid, Encykl. II. 679). Rönne, Staatsrecht II. §. 293. Anerkennung als Commentator (Rönne ebend. I. §. 203). Die Lehrerverhältniſſe in Preußen ſind ſehr gut charakteriſirt214 von Palmer Gelehrtenſchulen bei Schmid a. a. O. S. 678 f. nebſt Literatur. Ueber das Klaſſenſyſtem Thilo ebend. I. 787.

Bayern. Kurze Geſchichte von Klemm bei Schmid I. 445. Erſter eigentlich ſtaatlicher, allgemeiner Schulplan im Allg. Normativ von 1808; vier Klaſſen. Darauf ſeit 1820 heftige Schwankungen; es iſt der Proceß des Losreißens des Gymnaſialweſens von den noch immer nicht überwundenen Elementen der alten Kloſterſchulen, unter denen es ſo lange gelitten; Schul - und Studienordnungen von 1824; Aufgabe der Gymnaſien: das geſteigerte grammatiſche und humaniſtiſche Stu - dium (Formationsverordnung vom 17. December 1825). Erſt 1829 der Standpunkt klar ausgeſprochen: die dem Studium ſich widmende Jugend für die Univerſität geiſtig zu ſtärken und gründlich vorzubereiten, dabei viel Unfertigkeit und experimentirendes Schwanken; ſ. die Re - daktionsbemerkung bei Klemms Aufſatz S. 457. 458 und Ingrelio, über den Zuſtand der gelehrten Schulen 1841. Die Schulordnung vom 13. März 1830 durch die revidirte Schulordnung vom 24. Febr. 1854 aufgehoben; die nothwendige Einheit jedoch nicht gewonnen. Das Schulſyſtem enthält den Unterſchied der lateiniſchen Schule, die den Untergymnaſien entſprechen, jedoch noch großentheils als ſog. iſolirte Schulen weder das, noch Realgymnaſien ſind, ſondern den Charakter von Bürgerſchulen haben; mit Abgangsprüfungen (Pözl, Verwaltungsrecht §. 191). Die Gymnaſien, vier Klaſſen, ſind die Obergymnaſien, Staatsanſtalten, mit humaniſtiſcher Aufgabe, miniſterielle Anſtellung der Lehrer, Lehrerconferenz der Gymnaſialprofeſſoren und dem Rector; doch ſollen die Gymnaſien weſentlich auch durch fortge - ſetzte Unterweiſung im Chriſtenthum durch Uebung und Zucht die chriſt - liche Bildung fördern (Pözl §. 192). Lehramtscandidaten werden geprüft; hier ſcheint die Vorbildung mangelhaft. Die Kreisregierungen haben nur die Oberaufſicht. Neben dieſen Gymnaſien beſtehen noch Alumnate aus der ſtändiſchen Zeit, prieſterliche Gymnaſien mit eigener Verwaltung, die mit der Schulordnung nur nicht in Widerſpruch ſtehen dürfen (Schulordnung §. 99. Concordat und Vollzugsverord - nungen vom 8. April 1852) und außerdem noch Lyceen mit zwei - jährigem Curſus für philoſophiſche Disciplinen als Vorbereitung für die Univerſität, die entweder nothwendig ſind und dann den Gymnaſien allgemein eingeordnet werden, oder überflüſſig und dann aufgehoben werden müßten; ganz unorganiſch iſt die Beſtimmung, daß ihre Vor - leſungen dann der Univerſitäten gleich geachtet werden müßten (vgl. Pözl, Verwaltungsrecht §. 194. 195). Thierſch wichtige Thätigkeit dabei. Seine Schrift: Ueber gelehrte Schulen, mit beſonderer Rückſicht auf Bayern. Privatſchulen: unter Genehmigung und Oberaufſicht;215 gleichfalls unbeſtimmt (Roth, das Gymnaſialſchulweſen in Bayern zwiſchen 1824 und 1843). So gehört das bayriſche wiſſenſchaftliche Vorbildungsweſen zu dem unfertigſten in Deutſchland.

Baden. Auch hier iſt die Klarheit über das Verhältniß zwiſchen der ſtaatlichen und ſtändiſchen Leitung der wiſſenſchaftlichen Vorbildung noch nicht ganz entſchieden. Das Jahr 1834 brachte einen weſentlichen Fort - ſchritt in der Verordnung über das Gelehrtenſchulweſen vom 31. Dec. 1836 und 18. Februar 1837. Grundlage iſt noch die confeſſionelle Be - ſtimmtheit, ein im übrigen Deutſchland lang überwundener Standpunkt. Organiſation: Oberſtudienrath, zum Theil Oberkirchenrath; Beſtimmung der Lehrbücher noch nach der Beſtätigung der letzteren. Die Lehrer ſind nur zum Theil Staatsdiener; philologiſche Seminare an den Univer - ſitäten, jedoch bisher noch ohne Prüfungsſyſtem; Anſtellung trotzdem vom Staate. Eine beſtimmte Organiſation in Unter - und Obergymnaſien findet nicht ſtatt; ſtatt deſſen allerlei Combinationen. Die Gymnaſien (Lyceen) haben acht Klaſſen (Dr. Holtzmann bei Schmid I. 400 412). Indeſſen iſt man auch hier im Fortſchritt begriffen, zunächſt in dem wichtigſten Punkte, der Lehrerbildung. Die Verordnung vom 5. Jan. 1867 hat ein vollſtändiges Bildungs - und Prüfungsſyſtem für alle Lehrer an den gelehrten und höheren Bürgerſchulen eingeführt, nebſt den philologiſchen und päda - gogiſchen Seminarien; die Prüfungen ſind in obligatoriſche und facultative getheilt; das Syſtem derſelben erſcheint als ein ſehr beachtenswerthes.

Hannover. Ein trefflicher Artikel von Geffert bei Schmid III. 263 319 mit ſchöner hiſtoriſcher Einleitung; die einzige uns bekannte geſchichtliche Behandlung des Gymnaſialweſens (vgl. dazu über die neueſte Entwicklung Kohlrauſch, das höhere Schulweſen des Königreichs Han - nover ſeit ihrer Organiſation im Jahr 1830. Hannover 1850). Grund - lage der neuen Geſtaltung (Verordnung vom 11. September 1829), wo - durch die Gymnaſien definitiv als Vorbildungsanſtalten für die Uni - verſitäten aufgeſtellt werden; Schwerpunkt die Maturitätsprüfungen. Errichtung des Oberſchulcollegiums (Patent vom 2. Juli 1830); Gründung des Seminars 1842, mit Statuten vom 27. Febr. 1846, nebſt zwei wichtigen Circulären über die Lehrerbildung vom 10. und 11. December 1840. Bemerkenswerth die Organiſation der Schul - collegien, in welchen die Organe der Gemeinde, der Kirche und des Staats Lehrerconferenzen bilden. Die gelehrten Schulen ſind ſelbſt theils königliche (10), theils ſtädtiſche (16), theils Stiftungsſchulen (2). Vor - ſtand der Rector (Director). Syſtem in Gymnaſien und Progymnaſien; doch iſt das Verhältniß zur wirthſchaftlichen Vorbildung noch nicht recht klar, da die letztere ihrem Weſen nach Realgymnaſien, ihrer Form nach Untergymnaſien ſind (vgl. Geffert S. 293).

216

Braunſchweig. Unbedeutende Angaben von J. H. C. Schmid in Schmids Encyklopädie I. S. 746.

Kurheſſen. Einzelne Monographien über die einzelnen gelehrten Schulen bei Bezzenberger in Schmid, Encyklopädie v. Kurheſſen S. 499. Die neue Organiſation iſt von 1833 1835; Dienſtanweiſung für die Lehrer der kurheſſiſchen Gymnaſien 1849 und Regulative für Abhaltung von Lehrerconferenzen 1849. Ein allgemeines Geſetz beſteht nicht. Doch ſind die Gymnaſien Staatsanſtalten, mit je ſechs Klaſſen; ſtehen unmittelbar unter dem Miniſter des Innern. Ein feſtes Prü - fungsſyſtem ſcheint zu fehlen. Ueber die Lehrordnung auch noch in neueſter Zeit viel Streit, mit ſpezieller Beziehung auf den Verſuch, ſtatt ſelbſtändige Realgymnaſien zu errichten, vielmehr Realfächer in die Gymnaſien hineinzubringen, was zur Ueberlaſtung der letzteren führte. Literatur dieſes Streits bei Bezzenberger a. a. O. S. 506 bis 507.

Heſſen-Darmſtadt. Die Gymnaſien ſind Staatsanſtalten. Ein - theilung in acht Klaſſen. Griechiſch erſt von VI. an. Akademiſche Bil - dung der Lehrer; ſpezielle Prüfung derſelben und ein Probejahr. Lehrer ſind Staatsdiener. Anſtellung vom Großherzog. Abgangszeugniſſe für die Univerſität (Strack bei Schmid Encykl. v. Heſſen-Darmſtadt. Nebſt Literatur des dortigen Gymnaſialweſens III. 518 526).

Sachſen. Verordnung vom 21. März 1835, die Verhältniſſe der Behörden für die ſtädtiſchen Gymnaſien betreffend. Grundſatz: daß alle wichtigeren Angelegenheiten der Gymnaſien der gemeinſamen Be - rathung und Beſchlußnahme der Lehrercollegii unterliegen. Monatliche Verſammlung. Zweite Inſtanz: Schulcommiſſion: aus dem Geiſtlichen, einem Stadtrath und einem Gemeindeglied, mit Oberauf - ſichtsrecht über Lehrer und Schüler und weſentlich auch der ökonomiſchen Verhältniſſe der Schule. Halbjährliche Prüfungen und Maturitäts - prüfung (claſſiſche Schriftſteller). Ueber die Gymnaſialprüfungen iſt das Mandat vom 4. Juli 1829 erlaſſen, nebſt Regulativ von 1831. Oberſte Behörde: Miniſterium des Cultus.

Wir glauben hieran einen Blick auf Holland anſchließen zu ſollen, da die Gymnaſialverhältniſſe dieſes Landes dadurch ſo intereſſant ſind, daß ſie uns den Kampf zwiſchen dem deutſchen und franzöſiſchen Syſtem und den definitiven Sieg des erſteren über das letztere zeigen, zugleich aber in hohem Grade wichtig ſind für die Beurtheilung der gegenwärtigen Gymnaſialfrage. In Holland ſtand das ganze gelehrte Berufsbildungsweſen bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts für die Vorbildung auf dem engliſchen, für die Fachbildung (Univerſitäten) auf dem deutſchen Standpunkt. Das hohe Schulweſen theilte ſich in Latei - niſche und Athenäen; die erſteren waren Vorbildungsanſtalten für die217 letzteren, die letzteren aber hatten neben ihrer Vorbildung für die Uni - verſität zugleich die allgemeine Bildung zur Aufgabe, jedoch wie noch jetzt in England mit weſentlicher Beſchränkung auf die claſſiſche Bil - dung. Mit der Eroberung Hollands durch die Franzoſen wurde nun das franzöſiſche Syſtem, wenn auch nicht für die Fachbildung, ſo doch für die Vorbildung eingeführt, trotz der Abneigung der Bevölkerung. Kaum war nun die franzöſiſche Herrſchaft geſtürzt, ſo griff das hollän - diſche Volk ſofort wieder auf die germaniſche Grundform ſeines Bil - dungsweſens zurück. Die geſetzlichen Beſtimmungen, unter denen die höhere Bildung in unſerem Vaterland litt, ſo lange der Kaiſer der Franzoſen das Land beherrſchte, konnten unter der Regierung unſeres Königs nicht lange geduldet werden. Ein neues Geſetz für den höheren Unterricht mit dem Geiſte unſerer niederländiſchen Volksthümlichkeit (land aard), deſſen Ueberlieferungen (gehedstheid) und alten Gewohn - heiten übereinſtimmend, ſchien nothwendig und wird in den nördlichen Provinzen am 2. Auguſt 1815 ins Werk geſetzt (Vorrede zur Samm - lung der Geſetze und Verordnungen über den höheren Unterricht, mehr - fach aufgelegt ſeit 1834). Die Auffaſſung iſt in dieſem Geſetz vom 2. Auguſt 1815, das gegenwärtig in voller Kraft beſteht, höchſt be - zeichnend. Art. 1 lautet: Unter dem Namen des höheren Unterrichts (hooger onderwijs) wird derjenige Unterricht verſtanden, der zum Zweck hat, den Schüler nach Ablauf des niederen und mittleren Unterrichts zu einem gelehrten Stand in der Geſellſchaft vorzubereiten. Die gelehrte Vorbildung ſelbſt zerfällt in zwei große Abtheilungen, die lateiniſchen Schulen und die Athenäen. Wir müſſen dieß hier beſonders hervorheben, weil unſres Wiſſens nirgends der Charakter der Athe - näen gegenüber den Gymnaſien ſo deutlich ausgeſprochen iſt als in Holland; denn die lateiniſchen Schulen ſind nicht Untergymnaſien, ſondern wahre Gymnaſien, indem der Abgang von ihnen zum unmittel - baren Eintritt in die Univerſität befähigt (Art. 148 u. 149). Der Lehr - plan der lateiniſchen Schulen iſt durch ein eigenes, übrigens viel zu engherziges Reglement vom 20. April 1816 feſtgeſtellt, welches ſogar die Lehr - und Leſebücher geſetzlich vorſchreibt. Die Athenäen dagegen (11 Hauptſt. ) werden in ſo klarer Weiſe in ihrer ganzen Stellung bezeichnet, daß wir uns zur näheren Erklärung unſerer oben ausge - ſprochenen Anſicht nicht verſagen können, die geſetzliche Beſtimmung hier wörtlich wiederzugeben. Die Aufgabe der Athenäen iſt nach Art. 36: 1) ſo viel als möglich die allgemeine Verbreitung von Geſchmack und geiſtiger Bildung (beschauing geleerdheid); 2) die wenigſtens theilweiſe Vertretung der hohen Schulen und des akademiſchen Unter - richts für diejenigen jungen Leute, welche durch die Umſtände218 verhindert werden, die Zeit, die für eine akademiſche Laufbahn noth - wendig iſt, an einer der Univerſitäten zuzubringen. Das Charakteriſtiſche dabei iſt, daß in dieſen Athenäen Vorleſungen über alle Fächer der Univerſität gehalten werden. Das ausführliche Lehrreglement iſt vom 18. Juli 1816 (Deventer). Die Städte ſelbſt tragen die Koſten der Athenäen und haben daher die Verwaltung derſelben; nur wo der Staat die Gehalte zahlt (Harderwijk and Franeker), ſetzt er die Pro - feſſoren ein. Der Uebergang von den Athenäen an die Univerſitäten iſt zugelaſſen (Art. 47). Der Mangel dieſer Einrichtung beſteht nun nicht in den Athenäen, ſondern offenbar darin, daß dieſelben hier noch wie in früherer Zeit in Deutſchland, bis zu einem gewiſſen Grade das Recht auf Ausübung der Berufsthätigkeit geben. Das iſt allerdings zu vermeiden und Deutſchland hat volles Recht, dafür nur ſeine Univerſitäten anzuerkennen. In Belgien iſt das Vorbildungsweſen durch das Geſetz vom 1. Juni 1850 geordnet, in welchem das obige holländiſche Syſtem nach franzöſiſchem Muſter umgeſtaltet iſt; hier exiſtiren die Athenées royaux als höheres Gymnaſium und die Écoles moyennes inférieures. Jene ſind halb Staats - und halb Gemeindeanſtalten und haben das franzöſiſche Bifurcationsſyſtem aufgenommen (de Fooz, Droit adm. belge. T. IV. T. 2. p. 331 sq.; ſ. aber beſonders Belgien von Le Roy in Schmids Encyklopädie). Die belgiſche Gränze iſt daher auch hier die Gränze zwiſchen dem germaniſchen und romaniſchen Princip.

B. Das gelehrte Fachbildungsſyſtem.

(Das Univerſitätsweſen.)

Das deutſche wiſſenſchaftliche Fachbildungsweſen für die ſpeziellen geiſtigen Lebensberufe beſteht in ſeinen Univerſitäten. Daſſelbe hat einen ſo klaren, ausgeprägten Charakter, daß ſelbſt die Einzelheiten nur in unbedeutendem Grade verſchieden ſind. Es iſt gar kein Zweifel, daß es in allen Punkten die höchſte Organiſation der Fachbildung dar - bietet. Es iſt die freieſte edelſte Verbindung des ſtändiſchen mit dem ſtaatsbürgerlichen Element, welche die Geſchichte kennt, und dadurch nicht bloß die Grundlage der wiſſenſchaftlichen Entwicklung, ſondern auch der tüchtigen Verwaltung. Es iſt, wenn man ins Einzelne ein - geht, ein unendlich reiches, wenn man bei dem Ganzen ſtehen bleibt, ein unendlich einfaches Gebiet. Wir dürfen das erſtere als bekannt vorausſetzen; es wird für die Verwaltungslehre hier kaum noch vieles fraglich ſein. Eine Darſtellung des Univerſitätsweſens in Deutſchland in ſeinen einzelnen Theilen, Beziehungen und Aufgaben könnte nur bei einer Bearbeitung Werth haben, welche einen Umfang hätte, der in219 keiner allgemeinen Verwaltungslehre überhaupt Raum finden würde. Dagegen glauben wir allerdings, daß das Univerſitätsweſen als Gan - zes nicht als eine abgeſchloſſene Frage zu betrachten, und daß es die Verwaltungslehre iſt, welche berufen erſcheint, dieſe Seite der Sache theils anzuregen, theils zum Abſchluß zu bringen.

In der That nämlich ſtehen die Univerſitäten in ihrer gegenwär - tigen Stellung namentlich in Deutſchland, eben ſo wie die hohen Schulen, in einem doppelten Verhältniß, deſſen beide Seiten auch hier wohl ge - ſchieden werden müſſen, um das Univerſitätsweſen und die ſich daran knüpfenden Fragen zu beantworten. Die Univerſitäten ſind nämlich einerſeits die Vertreter der höchſten Wiſſenſchaft und mithin der höchſten geiſtigen Bildung an ſich, ganz abgeſehen von der praktiſchen Brauch - barkeit derſelben; anderſeits ſind ſie derjenige Organismus, vermöge deſſen die Verwaltung die höchſte Ausbildung für die ſpeciellen geiſtigen Berufe darbietet. Die Forderungen, welche aus dem erſten dieſer Mo - mente hervorgehen, beziehen ſich daher auf die reine Wiſſenſchaft, und erzeugen die freien geiſtigen Funktionen derſelben. Die Forderungen dagegen, welche durch das zweite geſetzt werden, ſind durch die Ver - waltung bedingt, und ſchließen ſich an die Natur derjenigen Funk - tionen, welche die letztere im weiteſten Sinne zu vollziehen hat. Immer aber und ſo auch hier, gehen nun die geltenden rechtlichen Beſtimmun - gen aus ſolchen Forderungen hervor, die das Leben mit ſeinem geiſti - gen oder ſtaatlichen Inhalt an ſeine Organe ſtellt. Die Natur der Univerſitäten bringt es daher mit ſich, daß ſich vermöge jener Doppel - aufgabe beſtändig zwei große Rechtsſyſteme in demſelben kreuzen, be - gegnen und beſtimmen; die Geſtalt des öffentlichen Rechts derſelben drückt ſtets das Verhältniß dieſer beiden Elemente zu einander in irgend einem gegebenen Zeitpunkt aus; der poſitive Charakter des Univerſitäts - weſens hängt ſeinerſeits davon ab, und die Geſchichte des letzteren iſt daher im Großen und Ganzen als das Ergebniß der Stellung anzu - ſehen, welche die Verwaltung zu der berufbildenden Funktion der Univerſität in den verſchiedenen Zeiten eingenommen hat. In dieſem Sinne nun hat jede Epoche ihre Univerſitätsfrage ; die Ver - waltungslehre aber muß ihrerſeits gerade das, was wir als Univer - ſitätsfrage bezeichnen, als ihre ſpecifiſche Aufgabe betrachten.

Indem wir nun wie geſagt die allgemeine Bekanntſchaft mit der Organiſation und der Thätigkeit der Univerſitäten vorausſetzen, können wir jene Aufgabe der Verwaltungslehre, und damit den Standpunkt der Beurtheilung des poſitiven Univerſitätsweſens am klarſten formu - liren, indem wir dasjenige bezeichnen, was jenen beiden Elementen ihren faßbarſten Ausdruck gibt, und daher in ſeiner Wechſelwirkung220 auch die Grundlage des poſitiven Univerſitätsrechts gibt. Die an ſich freie wiſſenſchaftliche Funktion der Univerſitäten iſt nämlich gegeben in dem großen hiſtoriſchen Princip der Selbſtverwaltung des Lehrweſens. Das Verhältniß zum Staat und ſeinem Berufsbildungsweſen dagegen erſcheint in den geſetzlichen Studienordnungen. Die Oberaufſicht des Staats über die Univerſitäten iſt wiederum nicht ſpeciell durch das Weſen der letztern, ſondern durch den Begriff des Selbſtverwaltungs - körpers überhaupt geſetzt, eben ſo wie die Pflicht des Staats die Uni - verſitäten zu erhalten, nicht aus ihm allein, ſondern aus dem Begriff des Bildungsweſens überhaupt folgt. Der Kern der Univerſitätsfrage liegt daher für dieſelben ſpeciell in jenem, den Univerſitäten als orga - niſchem Gliede des ganzen Bildungsweſens eigenthümlichen Gegenſatz. Ihn zu finden iſt aber nicht Sache der Methodologie, welche durch das reine Weſen der Wiſſenſchaft, ſondern Sache der Verwaltungslehre, welche durch die Bedürfniſſe und den Entwicklungsgang des öffentlichen Lebens beſtimmt wird.

Von dieſem Standpunkt aus ſcheidet ſich nun die Geſchichte des Univerſitätsweſens in gewiſſe große Perioden, bei deren Darſtellung und Charakteriſirung wir natürlich die ganze bisherige Auffaſſung voraus - ſetzen dürfen. Vielleicht daß das beſte Kriterium des Werthes der letzteren gerade darin liegt, die ſonſt faſt endloſe Entwicklungsgeſchichte der deutſchen Univerſitäten auf ihren einfachſten Grund leichtverſtändlich zurückzuführen.

Die erſte große Epoche des öffentlich rechtlichen Univerſitätsweſens beruht darauf, daß die Univerſität noch gar nichts anders iſt, als ein durchaus ſelbſtändiger, ſtändiſcher Körper für die ſtändiſche Berufs - bildung. Sie macht in dieſer erſten Periode noch gar nicht den An - ſpruch darauf, daß ihre Bildung die rechtliche Bedingung für die öffent - liche Ausübung des Berufes ſein ſolle. Sie läßt den Geiſtlichen, den Richter, den Arzt, den Lehrer und Gelehrten ſich bilden wie er will; ſie nimmt jeden auf; ſie fragt nicht, ob das was ſie ihm in ihrer Lehre bietet, für ihn praktiſch zu gebrauchen iſt oder nicht; ſie ſchließt nieman - den aus von irgend einem Theile ihrer Lehre; ſie prüft niemanden als wer ſich ſelbſt prüfen laſſen will; ſie ſchreibt ſich ſelber vor worüber ſie zu prüfen hat; ihre Grade ſind nicht das Recht einen Beruf auszu - üben, ſondern nur das Recht zu ſagen, daß man eine Fachbildung durchgemacht hat. Sie iſt daher auch in ihrer Verwaltung ſouverain. Sie hat ihr eigenes Haupt, ihr eigenes Vermögen, ihre eigene Gerichts - barkeit; kurz ſie iſt im vollſten Sinne des Wortes ein ſtändiſcher Kör - per. Die Verwaltung des Staats hat mit ihr noch gar nichts zu thun; wollte ſie aber auch in ſie hineingreifen, ſie vermöchte es nicht, denn in221 dieſer erſten Epoche iſt ſie ſelbſt noch gar nicht genug entwickelt, um mehr als die abſtrakte Vorſtellung von dem Werthe und der Funktion der Univerſität zu haben. Beide große Faktoren der künftigen Staats - bildung ſtehen noch ganz getrennt. Das geſammte öffentliche Recht der Univerſität iſt das der ſtändiſchen Selbſtverwaltung.

Den Uebergang von dieſer erſten Periode zur zweiten bildet das Auftreten der ſelbſtändigen Entwicklung der eigentlichen Verwaltung, die ſich allenthalben an das Königthum anſchließt. Wir können dieſe Zeit ungefähr ins ſechzehnte Jahrhundert ſetzen. Die Buchdruckerkunſt hat bereits die Werke der alten Claſſiker und der jungen Gelehrten all - gemein gemacht; die Zahl der Univerſitäten iſt vermehrt; auch dem Minderbemittelten iſt es möglich ſie zu beſuchen; die Zahl der wiſſen - ſchaftlich Gebildeten ſteigt mit jedem Jahre; die neue Verwaltung, ihrer - ſeits vielfach in heftigem Gegenſatz zu der Unwirthſchaft der grundherr - lichen Verwaltung, ſieht ſich mehr und mehr um nach Männern, die eine ſelbſtändige Bildung haben; ſie fängt allmählig an, dieſelbe als Bedingung für gewiſſe Berufsthätigkeiten zu fordern; die Funktion der Univerſitäten wird als eine der großen Vorausſetzungen des Sieges der neuen Staatsgewalt über das ſtändiſche Weſen erkannt; in allen Theilen der Verwaltung ſitzen bereits Beamtete, die ihre Univerſitätslaufbahn durchgemacht; der Richter muß das römiſche Recht, der Arzt die wiſſen - ſchaftliche Medicin, der Lehrer die Philoſophie, ſelbſt der Geiſtliche muß die Theologie methodiſch kennen. So kann denn nun auch die Univer - ſität nicht länger in ihrer ſtarren Abgeſchiedenheit von dem Fortſchritte der übrigen Welt bleiben. Was ſie wiſſenſchaftlich leiſtet, iſt hier nicht die Frage; aber es iſt ihr Verhältniß zur Verwaltung, es iſt ihr öffent - liches Recht, das durch jene Bewegung erfaßt wird. Indem der Staat die wiſſenſchaftliche Bildung fordert, muß er die Mittel derſelben her - ſtellen; indem er die Mittel hergibt, gewinnt er ein Recht auf Theil - nahme an der Thätigkeit jener Organe; ſo zieht er allmählig aber un - widerſtehlich die altſtändiſche Univerſität in das junge Syſtem ſeines Bildungsweſens hinein; ſie wird faſt unwillkürlich ein Glied deſſelben; ſie muß, wollend oder nicht, allmählig ihre wiſſenſchaftlichen Funktionen nach den Forderungen richten, welche der Staat an den künftigen Be - amteten ſtellt; ſie muß daran denken, den Prüfungen zu genügen, um derentwillen der Student die Vorleſung beſucht; es bildet ſich ein tra - ditioneller Lehrplan aus; derſelbe erweitert ſich allmählig mit dem wach - ſenden Bedürfniß, und wird in ſich immer abgeſchloſſener und feſter mit der wachſenden Gleichartigkeit des Amtsweſens; und ſo entſteht einer - ſeits der Grundſatz, daß die Univerſitätsglieder Staatsbeamtete ſind, und anderſeits wird die unabweisbare Nothwendigkeit der Harmonie222 zwiſchen der Lehre und den Prüfungen in geſetzlichen Studien - ordnungen ausgeſprochen. So hat ſich jetzt die neue Stellung der Univerſitäten gebildet. In dieſer iſt das Princip der Selbſtverwaltung nicht aufgehoben, aber es iſt durch den geſetzlichen Studienplan be - ſchränkt, und zwar deßhalb, weil dieſe Studienordnung als die Be - ſtimmung desjenigen erſcheint, was das öffentliche Leben als Minimum der Bildung für einen öffentlichen Beruf fordert. Die Ver - waltungslehre muß ausdrücklich betonen, daß dieß der Sinn der ge - ſetzlichen Studienpläne iſt, und daß darauf ihr Recht beruht, die freie Bewegung der Wiſſenſchaft in feſte Geſtalt zu bringen. Sie ſind es, welche das Verhalten der ſpeciellen Univerſitätsbildung zum Bildungs - weſen überhaupt formuliren; ihr Inhalt geht nicht von der Wiſſenſchaft als ſolche, ſondern von den Forderungen der Verwaltung aus; ſie ſind die wichtigſten Verwaltungsmaßregeln für das höhere geiſtige Leben des Volkes geworden.

Das nun, was wir hier bezeichnet haben, bildet im Großen und Ganzen den Gang des öffentlichen Rechts der Univerſitäten während des ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Am Ende deſſelben und im neunzehnten iſt die große hiſtoriſche Univerſitätsfrage entſchieden. Die Univerſitäten ſind jetzt Staatsanſtalten des Berufsbildungs - weſens, empfangen ihre ſpezielle Lehraufgabe vom Staate, werden von ihm erhalten, ſtehen unter dem allgemein bürgerlichen Recht, und es bleibt ihnen aus der ſtändiſchen Epoche nichts als die Selbſtverwal - tung der Lehre innerhalb der geſetzlichen Gränze. Das iſt der Zu - ſtand in dem wir uns befinden.

Indem wir nun dabei ganz von dem fachwiſſenſchaftlichen Inhalt dieſer Stellung abſehen, müſſen wir es verſuchen, dieſelbe auf diejeni - gen Punkte zurückzuführen, in denen ſich dieſes Princip des öffentlichen Rechts der Univerſität als Charakter des deutſchen Univerſitätsweſens der Gegenwart zu einem Syſtem formulirt. Dieſes Syſtem des Uni - verſitätsrechts iſt einfach, ſo wie man es an die oben angelegten Punkte anſchließt.

In der That hat nämlich der Staat, indem er die Univerſitäten zu Staatsanſtalten machte, das Weſen derſelben bei ſeinem Eingreifen in ihre Selbſtverwaltung mit vollem Bewußtſein feſtgehalten und einer - ſeits das Verhältniß derſelben zur allgemeinen, anderſeits zur Fachbil - dung zum Ausdruck gebracht. Die beiden leitenden Grundſätze für das dadurch entſtandene Univerſitätsrecht, an welches ſich dann die Univer - ſitätsformen der Gegenwart anſchließen, ſind folgende.

Zuerſt hat die Staatsverwaltung das im Weſen der Univerſität liegende Princip geſetzlich durchgeführt, daß die allgemeine Bildung223 einen geſetzlich anerkannten Theil der Fachbildung ausmachen ſoll. Die Anerkennung dieſes Princips erſcheint in der Beſtimmung, daß für jedes Fach die Theilnahme an Vorleſungen über Geſchichte und Philo - ſophie vorgeſchrieben ſind. Die weitere Ausführung deſſelben iſt in der Zuſammenſtellung der obligaten Vorleſungen, beziehungsweiſe der Prü - fungsgegenſtände jedes einzelnen Faches enthalten. Das Streben, die allgemeine Bildung in der Univerſitätsbildung feſtzuhalten und dadurch außer dem Zweck der Fachwiſſenſchaft auch die Idee der Wiſſenſchaft an ſich zu verwirklichen, das Aufrechthalten des urſprünglichen Weſens der Universitas literarum gehört Deutſchland an, und bildet eine der großen Grundlagen der Stellung der Univerſitäten überhaupt. In dieſem Punkte muß der eigentliche, ſpecifiſche Charakter der deutſchen Uni - verſität geſucht werden; der Grundſatz, daß jede Univerſität aus der Verbindung aller Fakultäten beſtehen müſſe, iſt in der That nur eine äußerliche Form und Bedingung deſſelben Princips, welches die Ge - ſchichte und Philoſophie zu integrirenden Theilen der Fachwiſſenſchaft gemacht hat. Es wäre eine der wichtigſten culturhiſtoriſchen Aufgaben der Geſchichte der Univerſitäten, nachzuweiſen, wie ſich das Princip der Theilnahme der Fachbildung an der philoſophiſchen Fakultät und ihren Vorleſungen bei den einzelnen Univerſitäten geſtaltet hat, wie es im ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhundert damit gehalten wurde, und wie weit dieſer Grundſatz in die obligaten Studienplane aufgenommen iſt. Es iſt eine andere Frage, ob und in welcher Weiſe namentlich die Philoſophie Schuld trägt an ihrer Entfremdung von den praktiſchen Wiſſenſchaften; wir haben dieſe Frage hier nicht zu unterſuchen. Wohl aber dürfen wir die Thatſache conſtatiren, daß der Geiſt der deutſchen Univerſitäten ſich eben durch Philoſophie und Geſchichte als Gemeingut aller Fakultätsbildung die volle Empfänglichkeit für die höchſte allge - meine Bildung erhalten hat, und wir haben alles Recht, das an und für ſich nicht bloß als einen wahren Schatz unſeres höheren Lebens an - zuſehen, ſondern auch mit allen Mitteln dahin zu trachten, daß dieß Streben gefördert und damit der Verflachung der wiſſenſchaftlichen Auf - faſſung vorgebeugt werde!

Der zweite Moment des Univerſitätslebens, die ſpecielle Fachbil - dung, iſt nun daneben von den Verwaltungen gleichfalls, und im Grunde mit noch mehr Nachdruck gefördert worden. Den Ausdruck dafür bildet das das ganze Univerſitätsweſen durchziehende Princip der Speciali - ſirung der Fächer, und der Aufſtellung von Specialanſtalten für einzelne Berufszweige. Es wäre eine zweite Aufgabe der Geſchichte der Univerſitäten, das Entſtehen und die Entwicklung dieſer Specialfächer und Anſtalten genauer zu verfolgen und nachzuweiſen, wie ſie meiſtens224 im Anfange als freie Collegien auftraten, bis ſie allmählig zu feſten Beſtandtheilen der Lehre wurden; wie anderſeits ſich durch Sammlungen und Nebenanſtalten (Bibliotheken, botaniſche Gärten, Kliniken u. ſ. w.) ſelbſtändige Zweige herausbilden, und wie endlich die Verwaltung durch eigene Prüfungen dieſe ſpeciellen Richtungen ſanktionirt. Freilich be - ſteht hierin wohl der größte Unterſchied unter den deutſchen Univerſi - täten, und hier liegt auch die Entſcheidung über die Frage der Anlage von Univerſitäten in großen Städten. Die Grundlage und das Streben iſt jedoch allen gleich, und die Verſchmelzung gerade dieſer Specialbil - dungen mit den allgemeinen macht aus den deutſchen Univerſitäten das was ſie ſind und ſein ſollen.

Allein gerade dies letztere Element hat nun wieder eine, unſerer Epoche ſpecifiſch angehörige Frage hervorgerufen. Die formelle Auf - nahme der Univerſitäten in das geſammte Bildungsweſen des Staats hat die ſpecielle Berufsbildung für jedes einzelne Fach nicht länger als eine freie Aufgabe eines Einzelnen, ſondern als eine Angelegenheit des öffentlichen Rechts erſcheinen laſſen. Daraus hat die Verwaltung die Berechtigung abgeleitet, den Bildungsgang des Einzelnen geſetzlich vor - zuſchreiben. So iſt dasjenige entſtanden, was wir den geſetzlichen Studienplan, und die in ihm entſprechenden obligaten Collegien oder Pflichtvorleſungen nennen. Gegen dieß Princip der Pflichtvor - leſungen hat ſich nun ein heftiger Kampf erhoben. Ihnen gegenüber wird der Grundſatz aufgeſtellt, daß die Bildung, und vor allem die höhere Bildung frei ſein, das heißt in Umfang und Inhalt von der freien Selbſtbeſtimmung des Studirenden und nicht von formalen Vor - ſchriften abhängig ſein ſolle. Dieſen Grundſatz bezeichnete man als den der Lernfreiheit. Pflichtvorleſungen und Lernfreiheit gehören dem - nach nicht dem Begriff der Wiſſenſchaft, ſondern dem der Verwaltung an; die Ordnung derſelben iſt eine Sache des öffentlichen Rechts, und es iſt daher die Verwaltungslehre, welche über dieſe Frage zu ent - ſcheiden hat.

Für dieſe Entſcheidung nun muß man den hiſtoriſchen von dem adminiſtrativen Standpunkt unterſcheiden. Der geſetzliche Studienplan nämlich iſt zunächſt ein Ausfluß der polizeilichen Epoche überhaupt, welche die Wohlfahrt durch Regierungsmaßregeln, und nur durch ſie, erzwingen wollte. In ihrem Sinne war auch die Univerſität nichts als eine ſtaatliche Bildungsanſtalt, und der geſetzliche Studienplan ſetzte an die Stelle der freien individuellen Entwicklung des Geiſtes die obrigkeitliche Bevormundung ſelbſt auf dem Punkte, wo ſie dem Weſen der Sache nach am unmöglichſten erſchien, in dem höchſten geiſtigen Bildungsproceß der Univerſitätslehre. Es war natürlich, daß mit225 unſerem Jahrhundert das Princip der Freiheit des Staatsbürgerthums ſich auch dagegen empörte; die Lernfreiheit war der Ausdruck der allge - meinen Bewegung der Geiſter innerhalb des Gebietes des Univerſitäts - ſtudiums und ſchien daher mit ihr ſtehen und fallen zu müſſen. Das iſt ihre hiſtoriſche Stellung; ſie iſt ein Theil des großen Kampfes gegen die polizeiliche Bevormundung des Geiſtes, und in dieſem Sinne eine natürliche, vollberechtigte Erſcheinung unſeres Jahrhunderts.

Allein wie alle dieſe Bewegungen war ſie naturgemäß nur negativ. Sie überſah das zweite Element in jener geſetzlichen Ordnung. Sie vergaß, daß der geſetzliche Studienplan zugleich die Aufgabe hatte, durch ſeine Vorſchriften ein Minimum der organiſchen Fachbildung im öffentlichen Intereſſe zu ſichern. Sie ſah zwar ſehr deutlich, auf welchen Punkten dieſe geſetzliche Ordnung nichts nützten und geradezu ſchadeten; ſie ſah aber nicht, wo und wie ſie daneben zugleich heilſam wirkte. Sie begnügte ſich mit der an ſich richtigen Ueberzeugung, daß die Verwaltung die Bildung durch keine geſetzlichen Vorſchriften er - zwingen könne, und mit der abſtrakten Hoffnung, daß die Macht des Geiſtes an ſich ſtark genug ſein werde, um die jungen Männer zur Wiſſenſchaft auch ohne alle Vorſchrift zu ſich heran zu ziehen. Sie ließ aber die Frage unerörtert was zu geſchehen habe, wenn dieß nicht der Fall wäre. Sie entſprach daher dem Geiſte der Zeit und ſeinem leben - digen Aufſchwung; aber ſie entſprach nicht dem richtigen, durch keine glanzvolle Anſchauung geblendeten praktiſchen Bedürfniß der Fachmänner. Sie vermochte daher auch nicht, durch ihre viel zu allgemeine Tendenz das Gegebene zu ändern. Bis zu unſerer Zeit blieben trotz derſelben die geſetzlichen Studienpläne beſtehen, und neben ihnen ſtand unver - mittelt ihr Gegenſatz in der abſtrakten Forderung der Lernfreiheit. Dieß ſcheint die gegenwärtige Sachlage.

In unſerer Zeit nun iſt es wohl kein Zweifel, daß wir dieſe Lern - freiheit nicht mehr im Namen der allgemeinen ſtaatsbürgerlichen Frei - heit, wie zur Zeit Schleiermachers zu fordern haben. Die Verwaltungs - lehre erkennt das Princip der Lernfreiheit unbedingt an. Aber ſie muß im Namen des öffentlichen Intereſſes die Frage aufſtellen, ob dieſe unbedingte Lernfreiheit im Stande iſt, die Gewähr für dasjenige Maß der Berufsbildung zu bieten, ohne welches die Berufsfunktionen den Anforderungen unſerer Zeit nicht genügen. Iſt das nicht der Fall, ſo muß auch hier die Verwaltung fordern, daß die individuelle Freiheit ſich dem Geſammtintereſſe unterordne, und ſomit die Begränzung des - ſelben zu einem Theile des öffentlichen Bildungsrechts mache.

Offenbar nun wäre jene Gewähr bei unbedingter Lernfreiheit nur da denkbar, wo das Syſtem der Prüfungen ausreichte, jenes MinimumStein, die Verwaltungslehre. V. 15226der Berufsbildung in jedem Falle zu garantiren. Da nun dieß nicht der Fall iſt, ſo folgt, daß eine gewiſſe geſetzliche Studienordnung als ein nicht füglich zu entbehrendes Element des Fachbildungsrechts angeſehen werden muß. Allein dieſe Beſtimmung des individuellen Lehrganges muß auf dem Grundſatze beruhen, daß ſie nur dasjenige geſetzlich vorſchreibt, was die Natur des Bildungsganges als ſelbſtver - ſtändlich fordert, ſo daß die Nichtbeachtung deſſelben an und für ſich ſchon als eine Gefährdung einer tüchtigen Bildung angeſehen werden muß. Innerhalb dieſer Gränzen darf ſie nicht die freie Wahl erſetzen. Sie ſoll daher das geringſte Maaß der Pflichtcollegien fordern, die Ord - nung und Reihenfolge derſelben aber dem individuellen Ermeſſen über - laſſen. Ihr Werth kann vernünftiger Weiſe nicht dadurch beſtritten werden, daß man ſagt, die Uebung oder der geſunde Verſtand werde jenes Maß von Collegienbeſuch auch ohne Geſetz herſtellen, oder da - durch, daß die Ausführung der geſetzlichen Vorſchrift im einzelnen Falle doch nicht erzwungen werden kann. Denn der erſte Grund würde jede verwaltungsrechtliche Beſtimmung überflüſſig machen, da am Ende jede nur das fordern ſoll, was der Verſtändige auch ohne ſie thut oder unterläßt, und das zweite hat ſie mit gar vielen andern öffentlichen Vorſchriften gemein. Gewiß iſt nur das, daß zu ausgedehnte geſetz - liche Studienpläne, wie ſie namentlich bei den techniſchen Anſtalten in neuerer Zeit eingeführt ſind, den geiſtigen Bildungsgang zu einem mechaniſchen zu machen drohen, während das völlige Aufheben jeder Verpflichtung zum Beſuche von Vorleſungen gleichbedeutend mit der Aufhebung der Verpflichtung zum Beſuche der Univerſität überhaupt iſt, und zu einem Vorwande entweder für Trägheit oder für eine ganz unſyſtematiſche und willkürliche Berufsbildung wird. Die große Un - klarheit in der Vorſtellung von der Lernfreiheit beſteht nämlich darin, die Freiheit allgemeiner Bildung auf die Bildung für den Beruf anwenden zu wollen, und den zu Bildenden als einen fertigen Mann anzuſehen, während der zu ſtrenge Studienplan den angehenden Mann noch als einen reinen Schüler behandelt. So iſt hier die Hauptſache das richtige Maß in den Beſtimmungen über den Studienplan, und das muß für jeden Beruf beſonders beſtimmt werden. Eine gänzliche Beſeitigung iſt undenkbar; welches Vertrauen würde man zu einer ärzt - lichen Bildung haben, in der die Verwaltung geſetzlich den Beſuch der Klinik, oder zu einer Lehrerbildung, in der dieſelbe die Theilnahme an den Seminarien ganz in das Ermeſſen des Einzelnen ſtellt? Kommt doch ſelbſt England in neueſter Zeit zur Ueberzeugung, daß ſeine ab - ſolute Lernfreiheit ein nicht haltbarer Standpunkt iſt. Wohl aber muß es vollkommen freiſtehen, die Univerſität auch ohne formell abſolvirte227 Vorbildung zu beſuchen und ohne alle Beſchränkung Collegien zu hören oder nicht zu hören, wo der Betreffende nicht den Anſpruch macht ſpäter in einen öffentlichen Beruf einzutreten. Die Verwaltung hat nur da die Pflicht und damit auch das Recht zur Aufſtellung eines geſetzlichen Studienplanes und eines öffentlichen Prüfungsſyſtems, wo große öffent - liche Intereſſen der Thätigkeit des Einzelnen vom Publikum übergeben werden müſſen; das Recht zur geſetzlichen Anordnung eines Studien - planes aber beruht genau auf denſelben Gründen, wie das der Prü - fungen, und der Kampf gegen den erſtern, ſoweit er nicht gegen eine unverkennbare geiſtige Bevormundung in demſelben geht, iſt weſentlich als eine hiſtoriſche Thatſache zu erkennen.

Dagegen hat der eben bezeichnete Gang der Dinge, die ſtrenge Organiſirung der ſpeziellen Fachbildung an den Univerſitäten, in neue - ſter Zeit eine zweite Univerſitätsfrage nahe gelegt, die hier aber wegen ihrer innigen Beziehung zur Verwaltungslehre nicht übergangen werden kann. Dieſelbe beruht auf der ſcharfen Trennung der Univerſitätsbil - dung vom praktiſchen Berufe, aus der zum Theil eine Mißachtung der erſteren hervorgegangen iſt. Die innere Geſchichte der Univerſitäten zeigt uns ſchon im vorigen Jahrhundert das Entſtehen des Bewußt - ſeins, daß die tüchtige Ausübung des Berufes neben der theoretiſchen auch eine praktiſche Fachbildung fordere; die Entwicklung der Special - bildung an den Univerſitäten geht daher Hand in Hand mit dem Be - ſtreben, ſolche praktiſche Fachbildungseinrichtungen an die theoretiſchen anzuſchließen. Dieß nun iſt bisher nur in einzelnen Fakultäten gelun - gen. In der mediciniſchen iſt die Klinik ſogar ein integrirender Theil der theoretiſchen Bildung geworden; in der philologiſchen ſehen wir die philologiſchen, in der theologiſchen die theologiſchen Seminarien entſtehen; nur in der juriſtiſchen iſt die deutſche Univerſität bisher nicht fähig geweſen, etwas Aehnliches bei ſich auszubilden. Die praktiſche Vorbildung iſt hier von der Univerſität getrennt, und zwar ſowohl für die Rechtsverwaltung als für die übrigen Staatsbeamten. Das zeigt ſich namentlich in dem nicht bloß der Univerſität, ſondern meiſt auch der Wiſſenſchaft entfremdeten Dienſtprüfungsſyſtem, das dem Berufs - prüfungsſyſtem ſelbſtändig folgt und ſich meiſt auf reine Spezialia, ohne tiefere wiſſenſchaftliche Beziehungen, beſchränkt. Das iſt ein großer Mangel. Aber er liegt nicht in der Praxis, ſondern er liegt in der Theorie. Es fehlt geradezu an den Univerſitäten die praktiſche Rich - tung der Rechts - und noch mehr der Staatswiſſenſchaften; namentlich iſt eine ſolche bei den letzteren ohne eine ſyſtematiſche Special - bildung der Verwaltungslehre nicht zu denken. Die Univerſi - täten werden erſt dann für das öffentliche Leben ihre wahre Stellung228 wieder gewinnen, wenn die einzelnen Gebiete der Verwaltung als ſelbſtändige Doctrinen ſich an die allgemeine Bildung des öffentlichen Rechts an den Univerſitäten anſchließen und das Bewußtſein der Ein - heit in ihrer Form, der Beſonderheit und der praktiſchen Aufgabe in ihrem Inhalt enthalten. Das nun iſt ein Gebiet, welches eine beſon - dere Darſtellung bedarf; hier möge es genügen auf dieſen Punkt hin - gewieſen zu haben.

Das öffentliche Fachbildungsrecht der deutſchen Univerſität läßt ſich daher nunmehr wohl in folgenden Punkten zuſammenfaſſen.

Das Princip der höchſten allgemeinen Bildung in ihrer Verbindung mit der höchſten Fachbildung iſt durch zwei Rechtsſätze ausgedrückt. Zuerſt dadurch, daß die Univerſität die ſyſtematiſche Einheit aller Facul - täten unter Selbſtverwaltung und Freiheit ihrer geiſtigen Arbeit ſein ſoll. Zweitens dadurch, daß zu jeder vollendeten Fachbildung die Theilnahme an der geſchichtlichen und philoſophiſchen Specialbildung, durch Studienplan und Prüfung conſtatirt, gehören ſoll.

Das Princip der höchſten Fachbildung iſt ausgedrückt durch Spe - cialiſirung der Fächer, verwirklicht durch ſpecielle Fachprofeſſoren und anderſeits durch die Erhaltung des Bewußtſeins der inneren Einheit der Einzelfächer in der äußeren Einheit der Facultäten und ihrer ſpeciellen Selbſtverwaltung.

Das Princip der praktiſchen Fachbildung empfängt ſeinen Ausdruck durch das Syſtem von Kliniken, Seminarien und Specialcollegien der einzelnen Facultäten.

Auf dieſe Elemente iſt die Vergleichung der einzelnen Univerſitäten und ihrer inneren und äußeren Organiſation zurückzuführen eine Arbeit, deren die Literatur bisher entbehrt.

Trotz der hohen Wichtigkeit, welche das deutſche Univerſitätsweſen für das ganze Volk hat, und trotz des ſehr lebendigen Bewußtſeins von derſelben iſt die Literatur über das Univerſitätsweſen geradezu die dürftigſte im geſammten Gebiete des Bildungsweſens. Das liegt zum Theil daran, daß die Gemeinſchaft des geiſtigen Lebens und die Gleichartigkeit ihrer inneren und äußeren Organiſation nur auf dem Weſen der Sache ſelbſt beruht und niemals, ſelbſt nicht in dem ſtreng centraliſirten Preußen eine gemeinſame Geſetzgebung empfangen hat. Das deutſche Univerſitätsweſen iſt zwar innerlich Eins, aber äußerlich er - ſcheint es als eine Geſammtheit von lauter beinahe gänzlich ſelbſtän - digen Berufsbildungskörpern. Daß das Recht deſſelben ein hochwichtiger Theil des Verwaltungsrechts des Bildungsweſens ſei und als ſolches229 nur in ſeinem organiſchen Zuſammenhange mit dem aller übrigen Bildungsanſtalten und Stufen betrachtet werden müſſe, iſt zwar nie be - ſtritten, aber auch nie ausgeſprochen. Es gibt daher bis jetzt weder eine gründliche ſyſtematiſche Behandlung des Univerſitätsweſens in Beziehung auf ſein Recht, noch in Beziehung auf ſeine Geſchichte. Es wird daher geſtattet ſein, ohne auf Einzelnes einzugehen, im Allgemeinen den Gang der Literatur über das Univerſitätsweſen hier zu charakteriſiren.

Man wird in dieſer Beziehung zwei große Epochen zu unterſcheiden haben, von denen die erſte bis zum Anfang unſres Jahrhunderts reicht, während wir uns jetzt in der zweiten, noch nicht vollſtändig entwickelten befinden. Wenn die Frage gründlicher behandelt wäre, ſo würden wir dabei namentlich im Stande ſein, den Charakter und Inhalt des 18. Jahrhunderts als der Uebergangsepoche von der erſten zur zweiten mit Hinweiſung auf beſtimmte Verwaltungsmaßregeln viel beſtimmter zu formuliren, als uns das jetzt noch möglich iſt. In der erſten Epoche nun beſchäftigt ſich die Literatur des Univerſitätsweſens mit zwei Fragen. Zuerſt mit der nach dem Recht, Univerſitäten zu gründen. Darüber beſteht bereits im 16. Jahrhundert und mehr noch im 17. eine vollſtändige Literatur. Dieſe Frage nach dem Jus Academias erigendi umfaßte zugleich die Gymnasia und Scholas, und bildete einen der Punkte, auf welchen ſich die Anſprüche einerſeits der Kirche und andrerſeits des Kaiſerthums gegenüber der ſich raſch entwickelnden Territorialhoheit begegnen. Es iſt dabei höchſt bezeichnend, daß man ſich über den eigentlichen Unterſchied zwiſchen Universitas, Schola und Colle - gien keineswegs ganz einig war. Rechtlich faßte man ſie alle zuſammen unter dem Ausdruck Academia. Der Gang dieſes Streites war folgen - der. Urſprünglich war man ziemlich darüber einig, daß ohne Unter - ſchied nur der Kaiſer das Recht habe, Academias erigendi, indem die anfängliche juriſtiſche Literatur das Recht als ein kaiſerliches Regal be - trachtete; vergl. Boierus de Regalibus, Cap. 2 §. 121; Limnaeus Jus Publ. L. VIII; vergl. die vollſtändige Literatur bei Pfeffinger, Vitr. III. III. II. 55, obwohl Vitriarius ſelbſt noch der ſtrengeren Meinung iſt. Mit der Mitte des 16. Jahrhunderts ſcheint jedoch ſchon praktiſch der Unterſchied ſich feſtzuſtellen, daß die Territorialherrn das Recht auf Er - richtung von Scholis und Academiis beſitzen, ſo weit dieſelben keine aca - demiſchen Würden ertheilen, während die eigentlichen Univerſitäten mit der potestas omne genus honorum Academicorum per totum Imperium conferendi nur unter Beſtätigung des Kaiſers er - richtet werden dürfen. S. die Diſtinction von Pfeffinger a. a. O.; ebenſo bei Seckendorf Teutſcher Fürſtenſtaat (1660) Th. II. S. 227. (Stiftung und kaiſerliche Begnadigung); dieſer Grundſatz bleibt beſtehen230 bis zum Untergang des deutſchen Reiches; allein im 18. Jahrhundert nimmt er eine etwas andere Geſtalt an. Die Landesherren nahmen jetzt das Recht in Anſpruch, auch Universitates seu Academias zu gründen; jedoch honoris autem academici uti citra auctorita - tem caesariam impertiri omnino nequeunt. Pütter, Jus publ. L. VIII. §. 359 und L. VI. 236. (Vergl. die Literatur in Pütter, Literatur des deutſchen Staatsrechts I. 55. III. 589, zu dem aber Pfeffingers Angaben hinzugefügt werden müſſen. Auf dieſem deutſchen Standpunkt ſteht noch Gönner, deutſches Staatsrecht 1805 Th. I. §. 372. Erſt damit war im Grunde die formale Unterſcheidung der Univerſität und der höheren Formen der Akademie feſtgeſtellt und das Princip ausge - ſprochen, daß die akademiſchen Grade für das ganze Reich Gültigkeit haben, was noch heute gilt, und eine der Grundlagen des formellen deutſchen Univerſitätsrechts iſt. Daß mit der Bundesakte das Be - ſtätigungsrecht wegfällt, verſteht ſich zwar von ſelbſt; allein der Ge - danke, daß das Univerſitätsweſen dennoch keine territoriale, ſondern eine gemeinſame deutſche Angelegenheit ſei, lebt fort. Die Univerſi - täten, obwohl ganz unter der ſelbſtändigen Leitung der einzelnen Staaten, bleiben ebenſo Gegenſtand des deutſchen Staats - und Bundes - rechts; daß ſie zugleich im Territorial-Staatsrecht erſcheinen, iſt natür - lich (Maurenbrecher B. V. II. §. 184). Der Bund ſeinerſeits hat ſich übrigens um das öffentliche Univerſitätsleben nur polizeilich ge - kümmert; die beiden Bundesbeſchlüſſe vom 20. Sept. 1819 und vom 13. Nov. 1834 erſcheinen als Fortſetzung der Reichspolizei der Univer - ſitäten (Reichsgutachten vom 14. Juni 1793 vergl. Zöpfl, deutſches Staatsrecht Bd. II. §. 464). Neben dieſer Entwicklung des öffentlichen Rechts der Univerſitäten als ſtändiſcher Corporation geht nun eine zweite einher, welche ihre innere Verwaltung und ſpeciell ihre Lehr - ordnung betrifft. Hier iſt der gegenwärtige Charakter bereits im 17. Jahrhundert ſehr klar ausgebildet; der Uebergang von der Epoche der vollkommen ſelbſtherrlichen ſtändiſchen Körper zu der der Staatsan - ſtalt iſt nicht bloß angedeutet, ſondern zum Theil vollſtändig ausge - prägt. Seckendorf: In einer jede Facultät ſind etliche Doctores und Profeſſores geordnet, dieſelben haben gewiſſe Ordnung unter ſich auff - gerichtet, und von der landesfürſtlichen Herrſchaft beſtettigen laſſen, was ein jeder der ſtudirenden Jugend leſen und fürtragen ſoll. Der Rector wird ſchon damals von dem Landes-Fürſten beſtetigt. Das Princip der geſetzlichen Vorbildung durch die nidern Schulen und Gymnasii iſt ausgeſprochen wie denn an etzlichen Orten (?) mit Nutz verordnet, daß keiner mit Gunſt und Willen, oder Vertröſtung künfftiger Förderung auß den Schulen dahin gelaſſen wird, biß er,231 wie jetzt gemeldt, in Examinibus beſtanden. Teutſcher Fürſten - Staat Bd. II. Cap. 14. 7.) Damit nun war der Weg betreten, auf welchem die Univerſitäten Staatsanſtalten wurden und die volle amt - liche Härte der polizeilichen Grundſätze auf ſie angewendet ward. Natürlich begann aber eben dadurch zugleich der Kampf gegen die Bevor - mundung; bei den Studirenden durch eine immer wachſende Ver - wilderung des Studentenweſens, in der Wiſſenſchaft aber als das erſte Auftreten der Univerſitätsfrage. Schon Juſti konnte geradezu die Frage aufwerfen: Ob Univerſitäten nothwendig ſind ; ſeine Antwort lautet halb zweifelhaft bejahend, aber mit dem eigenthümlichen Zuſatz: Eine der hauptſächlichſten Urſachen iſt, um einen großen Geld-Aus - fluß aus dem Lande zu verhintern Bd. IX. 37. Hauptſt. §. 88 ff. Seine Kritik der deutſchen Univerſitäten (§. 90) iſt jedoch weſentlich gegen die Ungebundenheit, ja Roheit der damaligen Studenten ge - richtet; er hält das engliſche Univerſitätsleben, als deſſen Nachahmung er das Coll. Theresianum in Wien und das Coll. Carolinum in Braun - ſchwerg bezeichnet, für viel vorzüglicher. In ſeinem Schmerze über die Verwilderung der Studenten geht ihm die Idee der Univerſitäten ganz verloren. Auf einem ganz andern, aber eben ſo niedern Standpunkt ſteht ein Mann, von dem man eine ſolche Auffaſſung am wenigſten hätte erwarten ſollen. Das iſt Adam Smith. Trotz ſeiner geiſt - reichen Auffaſſung des geſammten Bildungsweſens iſt ihm doch das Verſtändniß deſſen, was eine deutſche Univerſität iſt und ſein kann, nicht geworden. Ihm ſind die Univerſitäten nur Unterrichtsanſtalten, deren Werth nach den allgemeinen Principien des gewerblichen Lebens gemeſſen werden muß. Auch vermag er nicht über die ſchlechte Univer - ſitätswirthſchaft Englands wegzuſehen. Das erſte Kapitel des fünften Buches gehört dem Bildungsweſen. Er ſagt: In England ſind die öffentlichen Schulen viel weniger verderbt, als die Univerſitäten. Allein in der Beurtheilung des Lehrweſens der Univerſitäten fällt er ganz in den Standpunkt der gewerblichen Freiheit. Er iſt der erſte, der ſich ausdrücklich gegen jedes Zwangscollegium ausſpricht. Eine gewiſſe Anzahl von Studirenden zwingen, irgend eine beſtimmte Univerſität oder Vorleſung zu hören, heißt die Profeſſoren von der Verpflichtung freiſprechen, Verdienſt oder Ruhm zu erwerben. Die akademiſchen Grade ſind ihm Privilegien. Es iſt unmöglich, daß die feſten Einkünfte der hohen Schulen nicht wenigſtens dem Eifer der Lehrer ſchmeicheln ſollten, ſich Mühe zu geben; und der größte Theil von demjenigen, was man in den Schulen und Univerſitäten lehrt, erſcheint nicht ſehr geeignet, diejenigen Leute für den Stand vorzubereiten, den ſie ergreifen werden. Ja Adam Smith erklärt ſich232 ſogar gegen die Reiſen der jungen Leute, auf denen ſie ihre guten Sitten verlieren. Eine unverkennbare Abneigung gegen die claſſiſche Bildung ſpricht aus ſeiner ganzen Darſtellung; Deutſchland kennt er übrigens nicht. Als ſein Werk nach Deutſchland kam, machte es einen großen Eindruck: Die meiſten dieſer Vorwürfe ſind gegründet, ſagt darüber Jacob (Polizeiwiſſenſchaft Th. II. §. 153). Allein den Ge - danken einer Aufhebung der Univerſitäten faßte denn doch niemand. Im Gegentheil trat mit den napoleoniſchen Kriegen eine Bewegung ein, in welcher der ächt deutſche Geiſt auch auf den Univerſitäten zum Siege gelangte. Die Studentſchaften wurden durch den Ernſt der Zeit auf das Tiefſte ergriffen; ſie begannen die große Arbeit, ſich durch eigene Kraft zu reformiren; ſie fingen an, jede geiſtige und phyſiſche Ver - wilderung offen zu brandmarken, und aus dem tief ſittlichen Bewußt - ſein, daß das Vaterland und die Freiheit in ihnen die wahre Stütze ihrer Zukunft zu ſuchen habe, entſtanden die Burſchenſchaften, dieſe hiſtoriſch eben ſo wichtige, als ehrenwerthe und ſegensreiche Erſcheinung. Zugleich erſchienen die erſten Geiſter Deutſchlands auf dem faſt ſchon mißachteten Katheder, und es geſchah, daß die Gründung der Univer - ſität Berlin als dem großen Wehrſyſtem von Scharnhorſt in Bedeutung und Kraft gleichſtehend anerkannt werden konnte. Da war es denn natürlich, daß dieſe Zeit der Verjüngung deutſcher Univerſitäten den alten polizeilichen Standpunkt nicht mehr ertragen konnte. Die Univer - ſitätsfrage war eine der Lebensfragen Deutſchlands, die Univerſitäts - freiheit eine Grundveſte der deutſchen Freiheit geworden. Hatte man noch am Ende des vorigen Jahrhunderts es für zeitgemäß gehalten, eine Beſchränkung des Univerſitätsbeſuches zu wünſchen (Böttiger, über die beſten Mittel, die Studierſucht zu hemmen 1787; Weiler, über die Nothwendigkeit den Eintritt in gelehrte Schulen zu erſchweren 1803), ſo ward jetzt das höhere geiſtige Weſen, die zugleich ethiſche und politiſche Seite der Univerſität von den erſten Männern laut ausge - ſprochen; formell bekämpft Villers (Blick auf die Univerſitäten Deutſch - lands 1808) die Auflöſung derſelben in Fachſchulen nach franzöſiſchem Muſter; Schleiermacher dagegen (gelegentliche Gedanken über Univer - ſitäten); Schelling, (Vorleſungen über die Methode des akademiſchen Studiums) und Savigny (Weſen und Werth der deutſchen Univer - ſitäten) haben das Verdienſt, dauernd im deutſchen Volke die Ueber - zeugung begründet zu haben, daß die wahre wiſſenſchaftliche Bildung nur in der Einheit aller Gebiete derſelben gefunden werden kann und daß eben darin die deutſche Univerſität die Heimath der Wiſſenſchaft ſei; als der ehrenwerthe Scheidler ſein Buch die Idee der Univer - ſität 1838 ſchrieb, war die Frage zum Heile Deutſchlands entſchieden233 und von jetzt an ſtehen die Univerſitäten als organiſches Glied des deutſchen Bildungsweſens da, wie ſie namentlich Thierſch im zweiten Bande ſeines ſchönen Werkes über Gelehrte Schulen ſo trefflich auf - faßt und darſtellt. Daß die Polizeiwiſſenſchaft und Staatsrechtslehre ſich nicht weiter um ſie kümmern, beruht dann einfach darauf, daß Beiden das[Verſtändniß] der Verwaltung fehlt; nur Mohl hat ſie in ſeiner Polizeiwiſſenſchaft Bd. I. §. 30 in würdiger und eingehender Weiſe behandelt. Es iſt aber nicht zu verkennen, daß ſie ſeit dem erſten Decennium unſeres Jahrhunderts gar keine Literatur gehabt haben, während das übrige Bildungsweſen an Bearbeitungen überreich iſt. Die Geſchichte der Univerſitäten iſt ſeit Meiners Geſchichte der Univer - ſitäten 1802 ganz vernachläſſigt, denn Werke über einzelne Univerſitäten, wie das von Kink über die Univerſität Wien, haben bei aller Treff - lichkeit doch nur den Werth hochſchätzbarer Beiträge, und Meiners hat im Grunde von dem wahren Weſen der Univerſität ein gar ge - ringes Verſtändniß. Nachdem aber das letztere für das deutſche Be - wußtſein dauernd gewonnen, wird der Fortſchritt nunmehr auf der Er - kenntniß ihres organiſchen Verhältniſſes zu dem ganzen, gewaltigen Lebens - proceß beruhen, der als das Bildungsweſen die Völker in Wiſſenſchaft, Wirthſchaft und Kunſt, in Anſtalten, Unternehmungen und Selbſt - bildung durch die Preſſe gleichmäßig und zur Ehre unſres Jahrhunderts unwiderſtehlich erfaßt.

Zweites Gebiet. Das wirthſchaftliche Berufsbildungsſyſtem.
Weſen deſſelben.

Deutſchland iſt unter allen Völkern dasjenige, welches das wirth - ſchaftliche Berufsbildungsweſen nicht bloß ſelbſtändig aufgefaßt, ſondern auch in ſeinem geſammten Bildungsweſen zu einem ſelbſtändigen Syſtem neben dem gelehrten ausgebildet hat. Es hat damit das Recht ge - wonnen, für andere Länder als Vorbild zu dienen; aber es hat zugleich die Pflicht, dieſe ſeine Stellung als Muſter in dieſem Gebiete durch die ernſteſte Behandlung der Sache auch würdig auszufüllen. Dieß nun wird in doppelter Weiſe zu geſchehen haben. Einerſeits dadurch, daß Deutſchland im Einzelnen, in einzelnen Anſtalten und ihren Ein - richtungen, das Höchſte leiſtet, was hier geleiſtet werden kann; anderer - ſeits aber dadurch, daß es ſich über das Ganze dieſes Syſtems und ſeinen hiſtoriſchen und organiſchen Inhalt vollſtändig klar wird. Offen - bar nun iſt das erſtere die Aufgabe der eigentlichen Fachmänner; aber das zweite iſt die Aufgabe der Verwaltungslehre. Denn in der That234 kann das, was der Staat hier zu thun und bereits gethan hat, nur von dieſem höheren Standpunkt richtig überſchaut werden, wie andrer - ſeits ohne denſelben eine Vergleichung mit den übrigen Völkern nicht möglich, oder wenigſtens nicht fruchtbar werden kann.

Das wirthſchaftliche Berufsbildungsſyſtem Deutſchlands iſt nun jung und ſein Verhältniß ſowohl zur Elementar - als zur gelehrten Bil - dung nicht auf allen Punkten klar. Es hat auch eine viel tiefer ein - greifende Geſchichte durchgemacht und eigentlich erſt in unſerem Jahr - hundert ſich ſeine rechte Stellung erworben. Auch dieſe iſt zwar praktiſch, aber wie wir geſtehen müſſen, noch nicht ethiſch formulirt. Bei aller Anerkennung, die es im wirklichen Leben gefunden, fehlt ihm doch noch immer jenes höhere Element in der öffentlichen Auffaſſung, welches ihm ſeine rechte Würde gibt. Und das iſt ein Mangel, weil es die innige Ver - bindung der geſammten wirthſchaftlichen Welt mit der geiſtigen hindert und das Gefühl des Gegenſatzes fortſetzt, aus dem die Scheidung der wirthſchaftlichen von der gelehrten Bildung und ein nicht heilſames, gegen - ſeitiges Meſſen und Schätzen des gegenſeitigen Werthes hervorgegangen iſt. Daher muß es die Aufgabe der Verwaltungslehre ſein, nicht bloß das formelle Verhältniß der letzteren zu der erſteren darzulegen, ſondern auch das ethiſche. Und wir verweiſen dieſe Darlegung am beſten gerade in den Theil, der von Deutſchland redet, weil hier jene Scheidung die bei weitem vollſtändigſte und weil hier zugleich die Empfänglichkeit für die tiefere Auffaſſung der Einheit des ſo Geſchiedenen bei weitem die größte iſt.

Die Grundlage des ethiſchen Verſtändniſſes der wirthſchaftlichen Berufsbildung iſt ohne Zweifel die Erkenntniß, daß das Kapital und der Erwerb nicht bloß volkswirthſchaftliche, ſondern zugleich geiſtige Faktoren unſeres Lebens ſind. Der Beſitz iſt die materielle Grund - lage der Freiheit. Keine Auffaſſung, keine Form der letzteren, weder die ſtaatliche, noch die geſellſchaftliche, kann ſich ohne den Beſitz ver - wirklichen. Das Streben nach dem Beſitz iſt daher ein Streben nach Unabhängigkeit; das Werden des Reichthums iſt für die edleren Völker das Werden der Freiheit des Einzelnen. Der Erwerb des Beſitzes iſt daher eine im höchſten ethiſchen Sinne ſtaatsbürgerliche Pflicht; die Trägheit und die Unwirthſchaftlichkeit ſind im höchſten ethiſchen Sinne Vergehen gegen die ſittliche Ordnung, da ſie die Freiheit des Indivi - duums und mit ihr die des Ganzen untergraben. Die Ehre des Be - ſitzes iſt nicht Achtung vor dem Reichthum, ſondern Achtung vor den materiellen Bedingungen der geiſtigen Entwicklung; die Macht deſſelben iſt eine unabweisbare, nicht weil ſie ein materielles Element enthält, ſondern weil ſie der elementare Faktor der geiſtigen Entwicklung dar - bietet. Der naive Zuſtand, in welchem die Armuth als der Boden235 der edleren Auffaſſung und die Verachtung der wirthſchaftlichen Güter als ein Beweis der Seelenſtärke gedacht ward, iſt überwunden; unſer Jahrhundert hat keine großartigere Thatſache aufzuweiſen als die, daß der Beſitz zu ſeiner ethiſchen Berechtigung und der Anerkennung ſeiner Bedeutung für die Verfaſſung und die geſellſchaftliche Entwicklung der Völker Europas gelangt iſt. Dieſe Thatſache wirkt in tauſend Formen, mit und ohne unſer Bewußtſein von ihrer Gewalt; ſie iſt das mächtigſte culturhiſtoriſche Element unſrer Zeit und wir verdanken das Verſtänd - niß ſeiner Macht, ſeiner Gefahren und ſeines Segens in der That der neuen Weltanſchauung, welche in der Wiſſenſchaft der Geſellſchaft und der Theorie des Fanatismus und Communismus gegeben iſt. Wir werden ein Jahrhundert brauchen, um daſſelbe ganz zu verarbeiten; aber ſeinen erſten Ausdruck findet es in dem wirthſchaftlichen Berufe und ſeinem Bildungsſyſtem in Deutſchland.

Dieß Bildungsſyſtem, obwohl formell eine rein pädagogiſche An - ſtalt und im Anfang auch nur als pädagogiſche Aufgabe aufgefaßt und begründet, iſt daher vielmehr der Ausdruck des großen Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, die in ihrem Siege über die ſtändiſche Weltordnung vor allen Dingen nach der feſten Baſis der individuellen Freiheit, nach Kapital und Erwerb, geſtützt auf individuelle Bildung, trachtet. Die wirthſchaftliche Bildung des Volkes tritt daher, wie alle ſolche ſocialen Bewegungen, zuerſt als Beſtreben Einzelner auf und hält ſich durch einen, oft ungerechten, immer aber ſcharfen Gegenſatz gegen die ſtändiſche Berufsbildung aufrecht. Als aber mit dem neunzehnten Jahrhundert die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſiegt, wird ſie zu einer organiſchen Aufgabe der Verwaltung. Und jetzt muß die letztere ſich für dieſe Aufgabe ein allgemeines und feſtes Princip ſchaffen, um von dieſem Princip aus das Einzelne zu beſtimmen und zu ordnen. Dieſes Princip iſt aber jetzt nicht mehr ein einfacher adminiſtrativer Grundſatz. Es enthält vielmehr den Ausdruck des Verhältniſſes der Staats - gewalt zu der geſellſchaftlichen Entwicklung, ſpeziell zu der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen und der ſtändiſchen Geſellſchaft. Und von dieſem Standpunkt aus muß das geltende wirthſchaftliche Berufs - bildungsſyſtem überhaupt, ſpeziell aber das deutſche, betrachtet und mit andern verglichen werden.

Während nun in Frankreich dieß Princip mit der franzöſiſchen Revolution plötzlich und unvermittelt entſtanden und in England über - haupt kein Objekt der Staatsverwaltung geworden iſt, hat es ſich in Deutſchland allmählig und hiſtoriſch zu jener gegenwärtigen Geſtalt ausgebildet. Seine Aufgabe war, die geſellſchaftliche und volkswirth - ſchaftliche Nothwendigkeit der wirthſchaftlichen Berufsbildung mit der236 individuellen Freiheit und Selbſtthätigkeit zu vereinigen. Aus dem erſten Element folgt die Verpflichtung der Verwaltung ein öffentliches Syſtem von wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten herzuſtellen; aus dem zweiten der Grundſatz, die Benutzung derſelben ganz dem individuellen Ermeſſen zu überlaſſen. Durch das erſtere iſt es dem gelehrten Berufsbildungs - weſen gleichartig geworden; auf dem zweiten beruht die tiefe Verſchie - denheit ſeines öffentlichen Rechts von demſelben. Wir verſtatten uns, die Elemente dieſer hiſtoriſchen Entwicklung hier anzuſchließen.

Die Elemente der hiſtoriſchen Entwicklung des gegenwärtigen Syſtems.

Wer den geſchichtlichen Gang des wirthſchaftlichen Bildungsweſens im Einzelnen mit der entſprechenden Gründlichkeit verfolgen will, der wird wegen des Mangels faſt aller Vorarbeit nicht bloß eine höchſt ſchwierige, ſondern auch höchſt umfaſſende, daher aber auch hochwichtige Aufgabe löſen, ohne welche eine Geſchichte des deutſchen Geiſtes nicht gegeben werden kann. Die Verwaltungslehre hat indeß ihren Stand - punkt und ihr Gebiet innerhalb derſelben zu ſuchen. Ihre Aufgabe iſt es, vor allem das Verhalten des Staats zu dieſem Theile der öffent - lichen Bildung und damit die Geſchichte des öffentlichen Rechts derſel - ben zu charakteriſiren, welche allerdings den geſammten Bildungsproceß ſelbſt in ſich wiederſpiegelt.

Erſte Epoche. Der Gedanke, daß in dem wirthſchaftlichen Kapital ein ethiſches Element und mithin in der wirthſchaftlichen Arbeit ein Beruf liege, iſt der alten Welt und dem feudalen Syſtem der Ge - ſchlechterordnung gänzlich unbekannt. Er beginnt erſt mit der rein ſtändiſchen Epoche und wie es in der Natur der Sache lag, erſcheint er hier zunächſt als ſtrenger, auch rechtlich ſcharf geſchiedener Gegenſatz zu dem übrigen ſtändiſchen Weſen. Dieſe Scheidung des wirthſchaft - lichen Berufes von dem der beiden andern Stände iſt es, welche den Bürgerſtand erzeugt. Nur im Bürgerſtande gilt die Arbeit und der Erwerb als Pflicht; nur in ihm lebt das Bewußtſein, daß die Ehre und Achtung der Arbeit die Baſis der Freiheit ſei; nur in ihm öffnet ſich das öffentliche Recht nach Arbeit und Kapital, wird in Zünften und Innungen zu einer feſten Organiſation, erhebt ſich durch ſie zu einem Faktor der ſtädtiſchen Verfaſſung, und erzeugt in ihm das Recht und die Ordnung der öffentlichen Unterſtützung, die Polizei der Arbeits - loſigkeit, die Unehrenhaftigkeit des Bettels und den Stolz des freien Bürgerthums. Der Bürgerſtand iſt daher in der germaniſchen Welt nicht bloß der Stand des Erwerbes, ſondern der Träger und der Aus - druck des großen ethiſchen Elements, das in Arbeit und Kapital liegt;237 ohne dieß Bewußtſein hätte er ſeine große hiſtoriſche Aufgabe nie voll - zogen; was er war, war er nicht durch den Reichthum an ſich, der bei dem Mittelſtande Roms in gewiſſen Zeiten viel größer war, ſon - dern durch das, wodurch der Reichthum entſteht und was er in einem edlen Volke zu erzeugen vermag. Daher hat dieſe gewerbliche Arbeit der germaniſchen Zeit auch einen weſentlich andern Charakter, als die der früheren hiſtoriſchen Völker. Der Bürger achtet ſich ſelbſt wegen ſeiner Arbeit; ſie iſt ihm keine bloß wirthſchaftliche, ſie iſt ihm eine Lebensaufgabe; ſie enthält ihm daher nicht bloß das Mittel zur gewerb - lichen Gütererzeugung, ſondern eine moraliſche Verpflichtung, ſich und damit ſeinem Stande mit ſeinen Produkten Ehre zu machen ein Gedanke, den die alte Welt nicht kennt; er iſt durchdrungen von dem Bewußtſein, daß nicht in der Größe ſeines Kapitals, ſondern in der Tüchtigkeit ſeiner Arbeit, in der Hingabe ſeiner ſelbſt an dieſelbe die wahre Grundlage ſeiner Stellung in der ſtändiſchen Welt liege. Mit ihr, mit der Achtung vor ihren Leiſtungen ſteht und fällt er ſelbſt; das weiß er und darnach handelt er. Und ſo entſteht von ſelbſt das Bedürfniß, dieſe Arbeit, welche ihm ſeinen eigentlichen Halt gegenüber der Macht und dem Glanze der beiden andern Stände gibt, vor dem Hinabſinken in Untüchtigkeit zu bewahren. Sie gewinnt damit einen neuen, der ganzen alten Welt unbekannten Charakter; ſie tritt auf nicht als Sache des Individuums, ſondern als eine Angelegenheit des ganzen Standes; ſie wird, obwohl ſie zunächſt nur von dem Einzelnen aus - geht und nur für den Einzelnen geſchieht, dennoch ein Gegenſtand des Geſammtintereſſes. Und mit dieſem Element, das die Arbeit in dieſer Epoche in ſich aufnimmt, entwickelt ſich nun auch zum erſtenmal in der Geſchichte Europas ein öffentliches Recht der Arbeit. Dieß öffentliche Recht iſt es nun, welches jetzt unſerem Gebiete mit einem weſentlichen Theil ſeines Inhalts angehört. Zuerſt wird es zum Vorrecht der Produktion für diejenigen, welche die einzelne gewerbliche Körperſchaft, die Zunft und Innung, in ſich aufgenommen hat; das iſt das Meiſter - recht, das der Geſchichte der Organiſation der Gewerbe angehört. Dann aber wird es zu einem großen, die ganze germaniſche Welt umfaſſen - den, in allen Ländern ſich wiederholenden und die geſammte geſell - ſchaftliche Entwicklung durchdringenden Bildungsrecht der gewerb - lichen Arbeit, an das ſich das Prüfungsrecht derſelben anſchließt. Das große Princip dieſes Bildungs - und Prüfungsrechts der gewerb - lichen Arbeit iſt das Recht der einzelnen gewerblichen Körperſchaft, der einzelnen Zunft und Innung, ſelbſt die Bedingungen für den gewerb - lichen Bildungsgang und das Beſtehen der Prüfung vorzuſchreiben und auszuführen. In der Feſtſtellung dieſer Punkte, in der Aufſtellung238 und Durchführung der Lehrordnungen, Geſellenordnungen, Freiſprechung, Meiſterprüfungen u. ſ. w. erſcheint ſomit die erſte ſtändiſche Geſtalt des öffentlich rechtlichen Bildungsweſens der gewerblichen Arbeit. Und das iſt für unſere Frage die erſte Epoche.

Auf dieſe Weiſe tritt nun zum erſtenmal in der Geſchichte ein voll - ſtändiges Syſtem der gewerblichen Bildung neben das der gelehrten. In der That läßt es ſich nicht läugnen das was die scholae aller Art für die ſtändiſch geſtaltete Wiſſenſchaft ſind, das ſind die zunft - mäßigen Vorſchriften über die gewerbliche Lehre für den Bürgerſtand. Die gegenwärtige Ordnung liegt daher ſchon hier in ihren Grundlagen vor. Die nachfolgende Zeit hatte nichts zu thun, als das weiter zu entwickeln, was hier bereits begründet war. Aber der innere Unter - ſchied iſt ſo groß, daß man dieſen Zuſammenhang ſich noch nie ver - gegenwärtigt hat. In der That beruht das gewerbliche Bildungsweſen auf derſelben Idee, auf der das Prüfungsweſen beruht. Es ſoll nicht etwa in erſter Reihe die Tüchtigkeit des Einzelnen ſichern, ſondern es ſoll ihn in die arbeitende Körperſchaft der Zunft aufnehmen. Das Bildungsweſen der letzteren iſt daher kein allgemeines, ſondern es iſt rein für die Arbeit der ſpeziellen Zunft beſtimmt. Wie dieſelbe allein über ſeinen Erfolg entſcheidet, ſo hat ſie auch allein zu ſetzen, was es enthalten ſoll. Je ſtrenger ſich das körperſchaftliche Weſen der Gewerbe geſtaltet, um ſo ſtrenger beſchränkt ſich auch die Bildung auf den be - ſtimmten gewerblichen Betrieb. Es iſt kein bürgerliches, es iſt ein rein zunftmäßiges wirthſchaftliches Bildungsweſen.

Zweite Epoche. Es war das achtzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der Auflöſung in allen Dingen, das auch hier eine neue Ordnung brachte. Schon hatte die gewerbliche Produktion auf allen Punkten den Kampf mit der Beſchränkung der Zunft begonnen; der entſtehende innere Handel, die Ausdehnung deſſelben über die Meere hinaus hatte den Blick erweitert; die gewerbliche Produktion begann ſich von der engen Kundſchaft von Stadt und Ort zu befreien; der Arbeiter fängt an zu fühlen, daß er etwas für die Welt zu bedeuten, zu ar - beiten habe. Die Produktion löst ſich von ihrer örtlichen Beſchränkung los; die erſte Geſtalt eines Güterlebens der Welt begann, ſich über die beſchränkte Ordnung der ſtändiſchen Körperſchaft zu erheben. Da tritt denn auch in die geiſtige Anſchauung dieſer Dinge ein neues Element hinein. Das bloße zunftmäßige Lernen genügt nicht mehr; es iſt zwar nothwendig wie früher, aber die Arbeit von Geſell und Meiſter wird durch eine andere überragt, welche die Produktionen der Länder und Welttheile unter einander in Verbindung bringt, ſie in ihrer gegen - ſeitigen Abhängigkeit von Produktion und Conſumtion erfaßt und die239 gewerbliche Erzeugung den großen Bedürfniſſen und Bewegungen des Geſammtlebens dienſtbar macht. Das iſt die Arbeit des Welthandels. Seine geiſtigen Vorausſetzungen ſind andere, ſo gut wie ſeine wirthſchaft - lichen; er iſt unfähig, in der alten Beſchränkung des Gewerbes zu exiſtiren; er ordnet ſich daſſelbe unter; und ſo entſteht das, was das vorige Jahrhundert auf dieſem Punkte charakteriſirt, den tief bedeut - ſamen Unterſchied zwiſchen dem Handwerk und dem Gewerbe. Das Handwerk iſt damit nicht mehr, was es einſt geweſen, der Kern und die Grundlage des ſtolzen und ſtarken Bürgerſtandes; es verliert ſeine Herrſchaft über die Städte und iſt nicht länger das Weſen des Bürger - thums. Neue Thatſachen, neue Forderungen entſtehen mit jedem Tage; der Anfang des Jahrhunderts hat einen, von der früheren Zeit tief verſchiedenen Charakter; als aber die Maſchine auftritt, als die alten zunftmäßigen Handelscompagnien verſchwinden, als der Kredit und der Gebrauch des Wechſels Raum gewinnt und die Börſen anfangen, über Handel und Produktion zu entſcheiden, da ſinkt das Handwerk tief herab; es iſt nicht mehr der Träger eines ſittlichen Elements, es iſt ein bloßes Ernährungsmittel für die Familie geworden; es hat noch einen goldenen Boden, aber es klebt an demſelben; über daſſelbe hin - aus geht der junge Bürgerſtand, fähig und willig aus dem alten Orts - bürgerthum zu einem Weltbürgerſtande zu werden; es iſt klar, daß die alte in ſich ruhende ſich ſelbſt genügende Ordnung der Dinge aufhört und daß eine neue beginnt.

In dieſer gewaltigen, wenn auch noch mannigfach unſicheren Be - wegung kann nun auch die alte Geſtalt des Bildungsweſens ſich nicht erhalten. Das Mitglied der Zunft und Innung hat gelernt zu arbeiten in ſeinem beſchränkten Sinne des Worts, aber er hat nicht gelernt, die höhere Arbeit des Verkehrs zu bewältigen. Dieſe will, wie der Verkehr ſelbſt eine allgemeine Bildung. Die allgemeine Bildung wie - derum beginnt alsbald mit der allem Geiſtigen ewig eigenen Kraft, die Kraft der höher ſtehenden Elemente an ſich zu ziehen. Die Kinder der höheren Klaſſen, in dem höheren Verkehr ihre Lebensaufgabe ſuchend, ſuchen auch nach einer demſelben entſprechenden Bildung. Sie wenden ſich an die alten Scholae und Gymnasia der ſtändiſchen Epoche. Allein dieſe ſind unfähig ihnen zu bieten, was ſie fordern. Für die Zeit, in welcher jene leben und wirken ſollen, handelt es ſich nicht mehr um Cicero und Herodot; es handelt ſich darum einen guten Brief zu ſchreiben, die großen Elemente der Weltgeographie vor Augen zu haben, von der Natur etwas zu wiſſen, mit ihren Stoffen bekannt zu ſein, Länder - und Völkerkunde zu beſitzen, und Vorſtellungen, Pläne, Ergebniſſe und Wahrſcheinlichkeiten in beſtimmten Ziffern nach den Regeln der höheren240 Mathematik zum Ausdruck zu bringen. Alles das hat die alte Schola nicht, und iſt in der That unfähig es zu haben. Denn gerade in der - ſelben Zeit wird ſie mehr und mehr was ſie eigentlich ſein ſoll; aus einem für ganze geſellſchaftliche Gruppen die allgemeine Bildung der Univerſität erſetzenden Organismus wird ſie zu einer ſtrengen Vor - bildungsanſtalt für die letztere und ihrer immer ſchärfer hervortretenden Fachbildung, während die frühere Zunftbildung immer tiefer in den Mechanismus des Lernens hinabſinkt, aus dem das alte ſchöne Princip des Wanderns des Handwerksgeſellen, der einzige Halt einer freieren Bewegung im Handwerkerſtande, wie eine kaum noch verſtandene Ruine hervorragt. Jene neue Welt von Anſchauungen und Bedürfniſſen muß ſich daher eine neue Organiſation der Bildung erſchaffen, die zwiſchen beiden ſteht. Und dieſe Organiſation hat nun ihren ganz be - ſtimmten Charakter. Sie will nicht claſſiſch ſein, aber auch nicht mechaniſch; ſie hat eigentlich noch gar kein beſtimmtes Objekt, das zu lernen nothwendig iſt, denn es wird ihr eigentlich kein beſtimmtes Objekt genügen; ſie will vielmehr nur diejenigen allgemeinen Be - dingungen der künftigen Thätigkeit geben, welche nicht ſelbſt ein Lernen enthalten, ſondern vielmehr nur das Lernen, das Verſtehen und die Bewältigung der künftigen Lebensaufgabe möglich machen ſollen. Es handelt ſich in dieſer neuen Ordnung der Dinge darum, die Kraft zu ſtärken, mit der der Einzelne ins Leben tritt; hat er die, hat er die Fähigkeit, den materiellen Thatſachen ins Auge zu ſehen, ſo wird er ſich in der lebendigen Welt wohl zurecht finden. Dem Thatſächlichen wendet ſich daher dieſe neue Geſtalt der Dinge zu; und ſo entſteht Namen und Inhalt eines neuen Bildungsweſens, die Realbildung. Sie iſt, und zwar eben in dieſer noch unbeſtimmten Geſtalt, das was die zweite Epoche charakteriſirt.

Dieſe Realbildung und ihre Realſchule iſt nun allerdings noch weſentlich verſchieden von dem heutigen gewerblichen Bildungsweſen, und eben ſo verſchieden von dem der ſtändiſchen Zunft und Innung. Sie iſt ihrer Natur und ihrer Beſtimmung nach frei von jeder Be - ſchränkung der letzteren. Sie hat kein einzelnes Gewerbe zu ihrem Gegenſtand. Sie befähigt, für ſich genommen, zu keinem Betriebe. Das Eintreten in dieſelbe gibt daher kein Recht, künftig ein Handwerk zu betreiben, und kein Recht, einen gelehrten Beruf und eine öffentliche Funktion zu übernehmen. Es bedeutet vielmehr, daß man beides eben nicht will. Aber eben dadurch iſt gerade dieſe Bildung der Ausdruck eines ganz neuen Princips in der geſellſchaftlichen Ordnung. Sie kann von jedem gewonnen werden; ſie iſt für jede größere wirthſchaftliche Thätigkeit geeignet; ſie greift nicht in den individuellen Lebensberuf241 ein; ſie iſt die Bildung der höheren, aber nicht mehr die einer beſtimm - ten ſtändiſchen Klaſſe. Sie trägt daher von Anfang an den Charakter der ſtaatsbürgerlichen, freien Geſellſchaft an ſich. Sie iſt mit dem be - ſchränkten Standpunkt der ſtändiſchen Ordnung unvereinbar; aber ſie iſt mehr, ſie iſt zugleich ein Feind derſelben. Denn ſie iſt es, welche zum erſtenmale erklärt, daß es eine höhere geiſtige Entwicklung auch neben der ſtändiſchen Gelehrſamkeit gibt, und daß die perſönliche Tüchtig - keit nicht bloß durch das handwerksmäßige Erlernen gegeben wird. Sie muß ſich daher von den beiden bisherigen Bildungsformen ſchei - den; ja ſie wird gezwungen, mit ihnen geradezu zu kämpfen. Es wundert uns nicht, wenn ſie in dieſem Kampfe gegen den Werth beider negativ, hart, einſeitig wird, wenn ſie das Handwerk unter ſich ſieht, und die gelehrte Bildung als unfähig für die geiſtige Entwicklung er - klärt. Wir verſtehen es, wenn aus ihr zuerſt jener, nur hiſtoriſch zu erklärende Begriff des Praktiſchen im ſcharfen Gegenſatze zu dem Theoretiſchen entſteht, der nunmehr mit aller ſeiner praktiſchen Tendenz ſofort ſich natürlich eine neue Theorie des Praktiſchen erſchafft, ohne es ſelbſt recht zu wiſſen. Aber es iſt uns auch klar, daß alle dieſe Beſtrebungen in dieſer zweiten Epoche noch vereinzelt daſtehen. Noch herrſcht formell und auf der Oberfläche die ſtändiſche Ordnung; noch iſt alles ſcharf eingetheilt, mit Zeichen und Symbolen, mit Rechten und Pflichten wohl verſehen; noch ſtehen ſtreng geſchieden die Körper - ſchaften aller Art neben einander, das geſammte öffentliche Leben um - faſſend; in dieſe Ordnung paßt jene Richtung nicht. Welcher Cor - poration hätte denn dieſe Realſchule und ihre Realſchüler angehören ſollen? Und ſo ergab ſich das, allen Verſuchen dieſer Epoche gemein - ſame Reſultat. Die Realſchule, die Realbildung iſt und bleibt ein Privatunternehmen. Die Verwaltung, welche bereits das ganze gelehrte Bildungsweſen ſich unterworfen und zu Staatsanſtalten ge - macht, kümmert ſich um dieſe Privatanſtalten nicht; ſie führen ein Leben für ſich; ſie bedeuten mehr als ſie ſind; aber ſchon am Ende des vorigen Jahrhunderts ſtehen ſie vor der Frage, wie ſich denn die Staatsverwaltung zu dieſem neuen, mit jedem Jahre wichtiger werdenden Gebiet des Bildungsorganismus verhalten werde? Und in dieſer Frage liegt der Uebergang zur dritten gegenwärtigen Epoche.

Das Bild, das uns auf dieſe Weiſe dieſe zweite Epoche darbietet, iſt nun in ſeinen Grundzügen auch für das rechte Verſtändniß der Gegenwart ſo wichtig, daß wir es noch einmal kurz zuſammen faſſen. Das vorige und allerdings auch ein Theil des gegenwärtigen Jahr - hunderts zeigt uns nämlich drei Grundformen der Bildung. Die ge - lehrte mit ihrem ganzen Apparat von Inſtituten, Vorſchriften, LehrenStein, die Verwaltungslehre. V. 16242und Rechten; die Handwerkerbildung mit ihren Lehr - und Prüfungs - ordnungen; und endlich die Realbildung mit ihren neuen, noch unbe - ſtimmten örtlich entſtehenden Realſchulen, im heftigen Kampfe mit beiden andern, aber doch, wenn auch in unſicherer Weiſe, von der gleichfalls neuen Polizeiwiſſenſchaft nicht mehr verkannt, und in einzelnen Fällen ſogar ſchon vom Staate unterſtützt. Es iſt klar, daß dieſer Zuſtand den Charakter einer Uebergangsepoche hat. Die dritte Zeit nun zeigt uns zu einem öffentlich rechtlichen Syſteme entwickelt, was hier durch die Natur der Sache und durch muthige Einzelbeſtrebungen begonnen iſt.

Dritte Epoche. Die dritte Epoche, in der wir uns noch gegen - wärtig befinden, hat nun einen ganz beſtimmten und deßhalb auch leicht zu bezeichnenden Charakter. In ihr wird nämlich jene, bis dahin ſporadiſche, für ſich beſtehende Realbildung im Allgemeinen zu einem öffentlichen Bildungsweſen, nimmt die Handwerkerbildung ihrem größten Theil nach in ſich auf, und ſtellt ſich gleichberechtigt und mit einer im Weſentlichen gleichartigen Organiſation neben das gelehrte Bildungs - weſen, ohne dabei jedoch im Großen und Ganzen ſeinen eigenthümlichen Charakter der Bildungsfreiheit zu verlieren. Auch dieß nun iſt erſt allmählig entwickelt, und bildet in dieſer ſeiner Entwicklung einen hoch - bedeutenden Theil der inneren Geſchichte Deutſchlands.

Je mehr nämlich die ſtändiſche Welt der ſtaatsbürgerlichen Platz macht, um ſo allgemeiner wird das Gefühl, daß Erwerb und Beſitz nicht bloß zwei wirthſchaftliche, ſondern zugleich zwei ſociale Faktoren der neuen Ordnung der Dinge ſind, und daß deßhalb die Realbildung als eine der allgemeinen Bedingungen der inneren Entwicklung des Volkes angeſehen werden müſſe. Dieß Gefühl äußert ſich nun in Deutſchland in der Weiſe, in welcher jede Ueberzeugung hier zur öffentlichen Geltung gelangt. Es wird Gegenſtand wiſſenſchaftlicher Unterſuchung, und die Wiſſenſchaft iſt es, welche ihm ſeine Aufgaben und die Organe ſeiner Erfüllung anweist. Und jetzt beginnt eine zweifache Bewegung, welche dem heutigen wirthſchaftlichen Berufsbildungsweſen ſeine allerdings noch keinesweges fertige Geſtalt und Ordnung gegeben hat.

Die erſte geht dahin, dieſe wirthſchaftliche Bildung zu dem Range und der Aufgabe einer wiſſenſchaftlichen zu erheben. Die Grund - lage dafür iſt hier wie immer die Aufſtellung eigener theoretiſcher Begriffe und eigener Studien für dieſelben. Die Form, in der dieß geſchieht, iſt die damals gewöhnliche, die Ausübung gewiſſer Berufe an dieſe Studien und die ihnen entſprechenden Prüfungen anzuſchließen. Wir bezeichnen dieſes Gebiet hier kurz als das der Cameralwiſſenſchaften. Durch ſie entſteht das, was wir die wirthſchaftliche Fachbildung nennen, und die wir unten genauer darzulegen haben. Ihre wichtige hiſtoriſche243 Stellung beruht darauf, daß in ihnen zuerſt die Verwaltung überhaupt die wirthſchaftliche Berufsbildung als eine ihrer Aufgaben anerkennt; durch ſie iſt die letztere formell in das Syſtem des öffentlichen Bildungs - weſens hinein gezogen; damit iſt der Keim gelegt, der ſich nunmehr namentlich in den folgenden Jahrzehnten unſeres Jahrhunderts weiter entwickelt, und eine ſelbſtändige Ordnung für ſich und für das Ganze hervorruft. Die zweite jener Bewegungen ſchließt ſich dagegen wie die erſte an die gelehrte Bildung, ſo ihrerſeits an die Volksbildung.

Mit der Neugeſtaltung des inneren Lebens der Völker Europas wird nämlich das alte ſtändiſche Recht der Zünfte und Innungen immer unhaltbarer; mit ihm die Meinung, als könne die bisherige rein zunft - mäßige Bildung der Handwerker in dem großen Produktionskampfe, den jetzt die Völker Europas unter einander beginnen, ferner noch aus - reichen. Der Erwerb iſt eines der großen, gewiß eines der allgemeinſten Elemente der Volksentwicklung; ſchon die unterſte Bildung kann daher nicht mehr bei der Volksſchule ſtehen bleiben. Sie nimmt vielmehr den Ge - danken einer wirthſchaftlichen Elementarbildung in ſich auf; ſie ſtellt dieſelbe auf allen Punkten neben die Volksbildung, ſie ſetzt die letzteren durch die erſtere fort; ſie wird eine allgemeine Verpflichtung des Volkes gegen ſich ſelbſt, und ſo entſteht das, was wir im weiteren Sinne das Realſchulweſen nennen. So wie dieſer Gedanke auftritt, bemächtigt ſich nun auch die Wiſſenſchaft deſſelben. Die Realbildung, und zwar eben die des Volkes, wird in die Pädagogik aufgenommen; ſie fängt an, einen integrirenden Theil derſelben zu bilden; ſie wird den Päda - gogen allmählig gleichberechtigt mit der wiſſenſchaftlichen und geſtaltet ſich unter ihren Händen allmählig zu einem Syſtem von Anſtalten, das wir das Realſchulſyſtem nennen können. Damit hat nun die wirth - ſchaftliche Bildung aber auch die beiden großen Formen der gelehrten gewonnen. Es gibt jetzt auf Grundlage der Cameralwiſſenſchaften ein wirthſchaftliches Fachbildungs -, auf Grundlage der Realſchulen ein wirth - ſchaftliches Vorbildungsweſen. Beide ſind von der Idee durchdrungen, daß Kapital und Erwerb mächtige ſociale Faktoren ſind, daß beide nicht bloß wirthſchaftliche Zwecke, ſondern die Erfüllung eines Lebensberufes enthalten, der ſich jetzt dem gelehrten als gleichberechtigt an die Seite ſtellt. Der weitere Ausbau dieſer beiden Elemente geht nun langſam, aber ſicher vor ſich; er iſt in der Form und in dem Maße ſeiner Ent - wicklung in den einzelnen Staaten verſchieden, aber er iſt allenthalben gleich in ſeinem Princip; und indem dieſes weite, einer größern Ent - faltung ſeiner einzelnen Momente entgegen gehende Bildungsgebiet ſomit eine allgemeine Aufgabe des Staatslebens wird, entſteht jetzt auch die Forderung, ein öffentliches Recht deſſelben aufzuſtellen und es vermöge244 dieſes Rechts auch formell in das Gebiet der öffentlichen Verwaltung des Bildungsweſens aufzunehmen.

In dieſer neuen Rechtsordnung des wirthſchaftlichen Berufsbildungs - weſens zeigt ſich nun ſein tiefer Unterſchied von dem gelehrten. Der wirthſchaftliche Beruf behält den Charakter des individuellen. Es gibt daher keine Pflicht zur wirthſchaftlichen Vor - oder Fachbildung; die wirthſchaftliche Bildung bleibt principiell frei. Von dieſer Freiheit gibt es ſchon im Anfange Ausnahmen, die ſich freilich nur noch auf die An - ſtellung der fachmäßig Gebildeten als Staatsbeamtete und auf große einzelne Erwerbsformen beziehen, bei denen die Sicherheitspolizei zur Sprache kommt. Allmählig aber entſteht die Frage, ob die Freiheit der Vorbildung, die mehr und mehr gleichen Rang mit der Handwerks - bildung in den einzelnen Handwerken einnimmt, namentlich nach Ein - führung der Gewerbefreiheit, auch jetzt noch eine allgemein geltende ſein ſolle; und das iſt der Inhalt der Gewerbeſchulfrage, die wir unten zu beleuchten haben. Im Großen und Ganzen aber erhält ſich der Gedanke dieſer Freiheit der wirthſchaftlichen Berufsbildung, und aus ihr geht nun auch die Geſtalt der öffentlichen Verwaltung derſelben hervor. Da ſie und ſo weit ſie eine freie iſt, kann der Staat ſie nicht als Staatsaufgabe anerkennen; da ſie aber zugleich eine organiſch noth - wendige iſt, muß ſie demnach eine allgemeine ſein. Die Vereinigung beider Grundſätze beſteht nun darin, daß die Anerkennung des letzteren als Forderung an die Selbſtverwaltungskörper erſcheint, durch Herſtellung von wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten denen, welche ſie be - nützen wollen, das Mittel der Bildung zu geben. Wiederum kann das offenbar nur für die Vorbildungsanſtalten gefordert werden, da die Fachbildungsanſtalten wenigſtens zum Theil für einen beſtimmten öffentlichen Beruf vorbereiten. Die letzteren werden daher zum Theil vom Staate übernommen oder hergeſtellt. So bilden ſich hier Staats - anſtalten neben Privat - und Körperſchaftsanſtalten zwar mit gleicher Beſtimmung, aber mit ſehr verſchiedenen Rechten und verſchiedener öffentlicher Stellung; und es wird mit langſamer, aber ſicher fort - ſchreitender Entwicklung aus dem Zuſammenwirken dieſer Elemente ein vollſtändiges wirthſchaftliches Berufsbildungsſyſtem, deſſen Vollendung jetzt noch ein letztes Glied fordert, um ſeine ganze organiſche Stellung zu erfüllen.

Dieß Glied nun beſteht in dem Verhältniß deſſelben zur gelehrten Bildung. Es iſt um ſo entſcheidender, darüber zu einer beſtimmten Anſchauung zu gelangen, als man gerade dieſe ſo hochwich - tige Seite meiſtens gar nicht beachtet.

Mit dem Auftreten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nämlich245 verſchwindet, wie ſchon in der Darſtellung des gelehrten Schulweſens erwähnt, der frühere ſcharfe Gegenſatz der gelehrten und wirthſchaftlichen Bildung. Beide, von der Wiſſenſchaft erfaßt, erſcheinen allmählig als zwei Seiten deſſelben Geſammtlebens, als zwei gleichberechtigte, gleich nothwendige Bildungsproceſſe im Leben der Völker. Je weiter die geiſtige Entwicklung fortſchreitet, um ſo klarer wird der Werth des einen Gebietes für das andere, um ſo unmöglicher alſo auch der Ge - danke einer principiellen äußeren Scheidung derſelben. Aber ſo wie das feſtſteht, kommt es nunmehr darauf an, dieſer inneren Verbindung auch in einer äußeren Form ihre objektive Anerkennung zu verſchaffen. Und daraus geht eine Reihe von Erſcheinungen hervor, die in hohem Grade eben durch dieſe ihre Beziehung zu der inneren Einheit des Bil - dungsweſens beachtenswerth ſind. Zuerſt findet die Verbindung der Vorbildungsanſtalten ihren ſelbſtändigen Ausdruck im Realgymna - ſium, das zugleich eine gelehrte und wirthſchaftliche Vorbildungsanſtalt iſt, und daher in beiden Gebieten ſeine Stellung findet. Dann aber kommt es darauf an, dieſelbe Verbindung auch für die Fachbildung herzuſtellen. Hier iſt die äußerliche Verſchmelzung unmöglich; ſie muß durch eine innere erſetzt werden, und dieſe erſcheint in der gegenſeitigen Aufnahme der Gegenſtände der Lehre in die ſpeciellen Fächer und ihren Lehrgang. Das Gebiet nun, in welchem die höchſte wirthſchaft - liche Bildung als Theil der gelehrten Fachbildung, und damit als eine der jetzt organiſch werdenden Aufgaben der Univerſitäten auftritt, iſt das der Staatswiſſenſchaften. Ihr charakteriſtiſches Element iſt nicht mehr die Philoſophie des Staats, welche der allgemeinen, und nicht mehr das Staatsrecht, welches der juriſtiſchen Bildung angehört, ſondern ſpeciell die Nationalökonomie, Finanzwiſſenſchaft und endlich die Verwaltungslehre. Das ſind die eigentlichen Staatswiſſenſchaften, und in ihnen iſt der Grundſatz ausgeſprochen, daß die höchſte gelehrte Bildung nicht mehr ohne die höchſte wirthſchaftliche ſein ſoll; die Stel - lung der Staatswiſſenſchaften an den Univerſitäten bildet in dieſem Sinne das Kriterium des Verhältniſſes derſelben zur Entwicklung unſerer Gegenwart und nächſten Zukunft. Andererſeits kann auch die wirth - ſchaftliche Fachbildung nicht mehr ohne dieſe höchſte wiſſenſchaftliche Auffaſſung des wirthſchaftlichen Lebens bleiben; und ſo ſehen wir wenig - ſtens die Nationalökonomie bei den beſten wirthſchaftlichen Fachbildungs - anſtalten, aber auch ſchon die Verwaltungslehre neben der Statiſtik in die Lehre derſelben aufgenommen. Das alles iſt nun noch vielfach un - fertig, zum Theil noch im Stadium des richtigen Gefühles, ſtatt in dem des klaren Verſtändniſſes, und vielfach, wie in ſolchen Bewegungen Regel iſt, in Einzelfragen verloren, anſtatt von Einem das Ganze246 umfaſſenden Gedanken beherrſcht zu ſein. Aber der Entwicklungsgang iſt im Großen und Ganzen nicht zweifelhaft; es iſt der Proceß der Her - ſtellung der organiſchen Harmonie zwiſchen den beiden großen Bildungs - gruppen, ein Proceß, der um ſo raſcher und beſſer ſeine definitive Ge - ſtalt annehmen wird, je klarer man die inneren und äußeren weſent - lichen Unterſchiede ſeiner beiden großen Elemente erkennt, um von da aus zum Verſtändniß des weſentlich Gemeinſchaftlichen zu gelangen.

Das nun iſt Inhalt und Bedeutung der dritten Epoche des wirth - ſchaftlichen Berufsbildungsſyſtems, der Epoche, der wir angehören. Es iſt kein Zweifel, daß die wirkliche Geſtalt des Einzelnen in derſelben, und der Organismus und das Recht der Anſtalten in den einzelnen Staaten ſehr verſchieden iſt. Man iſt ſich eigentlich über wenig Ein - zelnes, nicht einmal über die Bedeutung der Namen einig; das Ganze jedoch wird kaum zweifelhaft ſein. Die Verwaltungslehre hat nun da - bei die nicht leichte Aufgabe, auch hier ſo viel als irgend möglich feſte Kategorien, feſte Begriffe und feſte Namen aufzuſtellen, denn ſie ſoll die Grundlage deſſen ſein, was am Ende den definitiven Ausdruck des Ganzen zu geben hat, des geltenden öffentlichen Rechts dieſes Bil - dungsweſens. Es muß ihr daher verſtattet werden, dieß Gebiet zu formuliren, ſo weit ſie damit zu thun hat. Dieß geſchieht für das Einzelne im Folgenden. Das Bild des Ganzen aber, auf ſeine ein - fachſten Elemente zurückgeführt, ſtellt ſich wohl faßlich in dem folgenden Schema dar:

Literatur. Was den Gang und Geiſt der auf das wirthſchaft - liche Bildungsweſen im Allgemeinen bezüglichen Literatur betrifft, ſo iſt der Charakter derſelben ein ganz ſpecifiſcher, und hängt innig mit dem geſammten Bildungsgange des deutſchen Geiſtes zuſammen. Man muß dabei vor allem die ſtaatsrechtliche oder publiciſtiſche Literatur und die pädagogiſche unterſcheiden. Die erſte hat ſich mit dem Bildungsweſen überhaupt wenig, mit dem wirthſchaftlichen aber im Beſonderen bis auf247 die neueſte Zeit gar nicht befaßt. Man kann dabei füglich zwei Epochen unterſcheiden, die des früheren Staatsrechts und der Staatswiſſenſchaft, und die neue und noch ſehr unfertige des Verwaltungsrechts.

Die ſtaatswiſſenſchaftliche Literatur gehört während ihrer vollen Blüthe einer Zeit, wo die wirthſchaftliche Bildung noch keine Selb - ſtändigkeit hatte. Es iſt daher ſehr bezeichnend, daß nicht nur Juſti, Sonnenfels, Jacob u. A., ſondern ſogar die bedeutendſten politiſchen Schriftſteller unſeres Jahrhunderts bei allem Eifer, mit dem ſie ſich der wiſſenſchaftlichen Bildung annahmen, der realen Bildung mit keinem Worte erwähnen, wie Aretin Conſtit. Staatsrecht II, S. 35 ff. 1827. Selbſt Soden nicht in ſeiner Staatsnationalbildung, 1831, die doch den 8. Band ſeiner Nationalökonomie bildet. Ebenſo Pölitz, Zachariä u. a. Die ſtaatsrechtliche Literatur hat in gleicher Weiſe bisher das ganze wirthſchaftliche Bildungsweſen weggelaſſen; kümmerte ſie ſich doch kaum noch um das Univerſitätsweſen! Dagegen hat die bisherige Verwaltungslehre die Bedeutung der Sache zum Theil verſtanden, aber nicht recht zur Ausbildung gebracht. Schon Berg im Polizeirecht II. Band gibt einige ſporadiſche Notizen über die Realſchulen; natür - lich konnte er über die Fachbildung noch nichts ſagen, da ſie nicht be - ſtand. Entſcheidend war dagegen das Auftreten von Mohl in ſeinem Württembergiſchen Verwaltungsrecht, der dem Gewerbeſchul - weſen mit der geſammten Förderung der Gewerbe definitiv ſeine Stel - lung in dem Verwaltungsrecht anwies (II. Bd. §. 238 ff). Leider ließ er dabei die Cameralwiſſenſchaften und ihre Pflege weg, und das hat den üblen Einfluß gehabt, daß die hinter ihm entſtehenden Bearbeitungen des territorialen Verwaltungsrechts, wie Rönne, Stubenrauch, Pötzl, Roller, Funke gleichfalls den inneren Zuſammenhang der wirthſchaft - lichen Vor - und Fachbildungsanſtalten nicht recht zum Ausdruck brach - ten und daher bei der einfachen, unzuſammenhängenden Darſtellung des Rechts der einzelnen Inſtitute ſtehen blieben. Das konnte Mohl durch die ſyſtematiſche Aufnahme in ſeine Polizeiwiſſenſchaft (I. Bd., S. 78) nicht wieder gut machen. Es wird eine der unabweisbaren Aufgaben des künftigen Verwaltungsrechts bleiben, jene innere Einheit des gan - zen Syſtems auch äußerlich im öffentlichen Recht feſtzuſtellen. Die Statiſtik hat wiederum ihrerſeits ſehr viel, jedoch meiſt Oertliches und nicht immer Zuſammenhängendes geleiſtet; ſie hatte freilich das Recht, von der Verwaltungslehre ihre feſten Kategorien zu fordern, die dieſe ihr nicht bot. Ein ſehr gutes, wenn auch kurzgefaßtes Bild gibt Brachelli in ſeiner ſchönen Arbeit: die Staaten Europas, 1866, S. 530. Eine Geſchichte des wirthſchaftlichen Bildungsweſens als Ganzes gibt es nicht. Nicht einmal die ſpeciellen Facharbeiten, wie Maſcher, das248 deutſche Gewerbeweſen von der früheſten Zeit bis auf die Gegenwart 1866, hat an den Stellen, wo es doch ſo nahe lag, etwas über die Lehr - und Bildungsordnung der Zünfte geſagt (Abſchnitt III, Cap. VIII, und Abſchnitt IV, Cap. VII.). Die Geſchichten des Handels ſchweigen. Einen ganz andern Charakter hat die pädagogiſche Literatur. Da ſich die gelehrte Pädagogik wiederum ihrerſeits nie dieſe große Frage weder im Gebiet der Vorbildungs -, noch der Fachbildungsfragen kümmerte, ſo mußte ſie auf eigener Grundlage ſtehen. Dieſe wurde nun zwar beſchränkt, aber innerhalb ihrer Gränzen um ſo tüchtiger gefördert. Ihre Frage war die nach dem Verhältniß zwiſchen der gelehrten und wirthſchaftlichen Bildung und der Organiſation des letzteren; aber da - bei hat ſie die höhere Fachbildung der wirthſchaftlichen Welt wieder übergangen und ſich faſt ausnahmslos in der Vorbildung bewegt. Hier exiſtirt eine ſehr reiche und höchſt gehaltvolle Literatur; die Ency - klopädie Schmids hat vortreffliche Aufſätze, bei dem leider das geſetz - liche Material nicht immer gleichmäßig behandelt iſt. Wir heben außer den beiden Artikeln von Lange und Gugler namentlich den ſchönen Aufſatz von Geffers Humanismus und Realismus hervor, der den Proceß der Ablöſung der wirthſchaftlichen von der gelehrten Bildung freilich wieder nur für das Vorbildungsweſen der eigentlichen Real - ſchulen, ohne weitere Aufnahme der Fachbildungen ſehr gut dar - ſtellt. Fiel es denn dem ſo umſichtigen Baumſtark in ſeiner Ency - klopädie der Cameralwiſſenſchaften gar nicht ein, daß dieſelben denn doch auch ihrerſeits nur ein Theil eines größeren Ganzen ſeien?

A. Wirthſchaftliches Vorbildungsſyſtem.
I. Weſen deſſelben.

Ueberblickt man nun auf Grundlage der obigen allgemeinen hiſto - riſchen Entwicklung, was für das erſte Gebiet des wirthſchaftlichen Vor - bildungsſyſtems geſchehen iſt und für daſſelbe beſteht, ſo ergeben ſich ge - wiſſe Reſultate, ohne welche es faſt unmöglich iſt, einen Ueberblick über das Ganze zu erlangen.

Zuerſt muß man offenbar davon ausgehen, daß das Syſtem dieſer Vorbildungsanſtalten nicht eben in ſyſtematiſcher Weiſe, ſondern hiſto - riſch zu ſeiner gegenwärtigen Geſtalt gelangt iſt. Die Elemente der Bildung dieſer letzteren aber ſind zweifacher Natur, und es iſt ihr Zu - ſammenwirken, das man ſich auf jedem Punkte vergegenwärtigen muß. Einerſeits nämlich liegt denſelben der mit der ganzen geſellſchaftlichen Bewegung unſerer ſtaatsbürgerlichen Epoche gegebene Drang zum Grunde, die wirthſchaftliche Bildung zu einem Gemeingut des ganzen249 Volkes zu machen und ſie daher auf jedem Punkte zu beginnen, ohne viel zu fragen, ob man gerade dieſe oder jene theoretiſche Kategorie von Vorbildungsanſtalten errichten wolle. Andrerſeits überließ die Ver - waltung dieſe Errichtung den Selbſtverwaltungskörpern und that Recht daran, kein abſolut gültiges, formales Syſtem derſelben geſetzlich vor - zuſchreiben, ſondern nur von Fall zu Fall mit beſtimmten Vorſchriften einzuſchreiten. Die natürliche Folge davon war, daß nunmehr dieſe Vorbildungsanſtalten, obwohl von demſelben Gedanken ausgehend, in Form, Inhalt und Funktion im Einzelnen verſchieden ſind. Ihre Ge - ſtalt, ja ihr ganzer Bildungsproceß iſt vorwiegend ein örtlicher. Der Umfang ihrer Aufgaben richtet ſich mehr nach dem Bedürfniß, als nach einem ſyſtematiſchen Princip; oft haben ſie verſchiedene Funktionen zugleich; oft beſtehen ſie wieder neben einander; oft ſind ſie bei äußer - licher Verſchiedenheit innerlich weſentlich gleich. Es iſt das bei aller Unklarheit im Einzelnen dennoch im Großen und Ganzen ein ganz naturgemäßer Zuſtand, wie er in jedem noch nicht fertigen Entwicklungs - ſtadium vorkommt. Er beweist nur, daß dieß ganze Gebiet noch im Werden iſt und ſeine Zeit gebrauchen wird, ehe man zu einer feſten Geſtalt gelangt. Die wichtigſte Folge aber von dieſer Unbeſtimmtheit im Einzelnen iſt es nun unzweifelhaft, daß vermöge derſelben das öffentliche Recht dieſer verſchiedenen Anſtalten noch kein feſt abge - ſchloſſenes iſt; denn auch hier iſt das Recht die natürliche Folge, oder genauer der natürliche, feſte Ausdruck und die formale Anerkennung des organiſchen Weſens und der Stellung dieſer Anſtalten. Es wird uns daher nicht wundern, daß auch für die ganze äußere Geſtalt und Ordnung derſelben keine Einheit und Gleichartigkeit erzielt iſt, und zwar ebenſo wenig in der Theorie, als in der Praxis. Dieß nun zeigt ſich hier wie immer am deutlichſten in den Benennungen der ver - ſchiedenen dahin gehörigen Anſtalten. Dieſe Namen ſind: Sonn - tags -, Feiertags -, Handwerks -, Gewerbe -, Fortbildungs -, Real - und andere Schulen. Daß ſie alle etwas Gemeinſames haben, darüber exiſtirt kein Zweifel. Daß ſie aber zugleich nicht bloß verſchiedene Namen derſelben Sache, ſondern in der That als ſelbſtändige Organe im großen Syſtem des Bildungsweſens, verſehen mit ſelbſtändigen Auf - gaben und daher eine eigene innere Organiſation bedürfend, anerkannt werden müſſen, das iſt noch nicht recht zur Entſcheidung gelangt. Hier iſt daher bei voller Klarheit im Ganzen ſo viel Verwirrung im Ein - zelnen, daß zu einem Syſtem des Rechts nicht zu gelangen iſt, ohne daß wir verſuchen, feſte und dem Ganzen entſprechende Kategorien auf - zuſtellen. In der That wird es ſpeciell der Verwaltungslehre unmöglich bleiben, ohne eine ſolche formale Ordnung ihrer Aufgabe zu genügen.

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Wir müſſen daher verſuchen, dieſe Grundlage aufzuſtellen und dadurch zu einem Princip und Syſtem des öffentlichen Rechts der - ſelben zu gelangen. In der That iſt dieſelbe an ſich ſehr einfach, wenn man ſie nur in ihrer gehörigen, organiſchen Verbindung mit dem ge - ſammten Bildungsweſen auffaßt.

II. Das Syſtem der gewerblichen und wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten.

(Die Fortbildungs - und die Vorbildungsſchulen.)

Das, was wir das Syſtem dieſer Anſtalten nennen, beruht natür - lich nicht auf einer äußerlichen Schematiſirung. Es geht vielmehr aus dem Verhältniß jeder einzelnen Art derſelben zu demjenigen hervor, von welchem ſie ſelber erzeugt ſind und für welches ſie arbeiten. Nur das, was ſie zu leiſten haben, darf uns endgültig erklären, was ſie ſind und ſein ſollen. Und das iſt das praktiſche Leben und ſein Be - dürfniß nach einer, für die wirthſchaftlichen Zwecke deſſelben geordneten und begränzten gewerblichen Bildung. Das praktiſche Leben aber zeigt uns bei der zu bildenden Maſſe den angehenden Gliedern der wirth - ſchaftlichen Volksthätigkeit zwei große Gruppen, welche der Bildung be - dürfen. Die erſte dieſer Gruppen hat ſchon ihre künftige Beſtimmung gewählt und will für dieſe ſchon feſtſtehende Lebensaufgabe eine Weiter - bildung, welche daher die Aufgabe hat, für dieſelbe den Berufs - bildungsproceß abzuſchließen. Dieſe Gruppe wird gebildet durch die bereits in ein beſtimmtes Handwerk eingetretenen Handwerker, die nun wieder Lehrlinge oder Geſellen ſein können. Die zweite Gruppe da - gegen beſteht aus denen, welche ihre ſpecielle wirthſchaftliche Laufbahn überhaupt erſt wählen wollen. Für dieſe hat die wirthſchaftliche Bildung einen ganz anderen Charakter. Hier iſt ſie nicht mehr eine Weiter - bildung, ſondern vielmehr eine eigentliche Vorbildung. Dieſe Vor - bildung ſelbſt iſt eben deßhalb keine einfache mehr. Sie kann ihrer - ſeits die allgemeine Vorbildung für das eigentliche wirthſchaftliche Leben ſein (Realſchule); ſie kann aber auch noch die Möglichkeit des Ueber - ganges in die gelehrte Bildung vorausſetzen und muß daher gewiſſe Ele - mente derſelben aufnehmen (Realgymnaſium). Das ſind die natürlichen Grundlagen dieſes Syſtems, und mit ihr iſt es nun wohl nicht mehr ſchwierig, daſſelbe in feſte Kategorien zu ordnen und damit wo möglich! zu einer Uebereinſtimmung in Wort und Sinn der gebrauchten Ausdrücke zu gelangen, ohne welche, wie wir wiederholen dürfen, zu einer feſten Ordnung des öffentlichen Rechts nicht zu gelangen iſt.

I. Die erſte Gruppe bezeichnen wir demnach als die der Fort - bildungsſchulen für das wirthſchaftliche Leben. Dieſe nun ſcheiden251 ſich wieder in die Sonn - und Feiertagsſchulen und die eigentlichen Ge - werbeſchulen.

a) Die Sonn - und Feiertagsſchulen bilden in der That nichts anders als die Fortſetzung der Elementarbildung für die Lehrlinge. Sie ſind meiſtens aus der Unmöglichkeit entſtanden, einen genügenden Elementarunterricht für die Kinder der arbeitenden Klaſſe zu bieten und vertreten daher die Volksſchule. Darauf beruht nicht bloß ihre Lehrordnung, ſondern auch ihr öffentliches Recht. Die Frage der Sonntagsſchulen entſteht nun aber da, wo der Elementarunterricht ge - nügend vorhanden iſt und beſteht darin, ob auch nach dem fertigen Elementarunterricht ſolche Schulen vorhanden ſein und was ſie in ſolchem Falle enthalten ſollen? Offenbar ruht die Antwort auf dieſe Frage in der Beſtimmung deſſen, was man als Elementarunterricht bezeichnet. Wo die drei Elemente fehlen, ſind ſie unbedingt nothwendig; wo ſie ſind, ſind ſie unbedingt nützlich, müſſen aber einen höheren Inhalt haben und den Charakter der allgemeinen Gewerbeſchulen annehmen; ſie werden dann ſpeciell für die höhere Rechnung und das Zeichnen be - ſtimmt ſein müſſen. Das Mittel, beide Zwecke zu erreichen, beſteht in der Einrichtung des Klaſſenſyſtems; dem doppelten Zwecke müſſen zwei Klaſſen entſprechen, die Elementar - und die höhere Klaſſe, welche den Uebergang zur Gewerbeſchule bietet.

b) Das, was wir nun als die zweite Abtheilung der Fortbildungs - ſchule bezeichnen, nennen wir die Gewerbeſchulen. Die Gewerbe - ſchulen haben zwei Vorausſetzungen. Die erſte iſt ein vollendeter Elementarunterricht; die zweite iſt die bereits geſchehene Berufswahl des Lernenden; derſelbe muß ebenſo wie der Sonntagsſchüler bereits ſein Gewerbe gewählt haben. Innerhalb dieſer Gränzen aber ſcheiden ſich nun wieder zwei Formen.

Die erſte iſt die allgemeine Fortbildungsſchule. Die Auf - gabe derſelben iſt die Bildung für diejenigen Kenntniſſe und Fähig - keiten, welche allen Handwerken gemeinſam ſind. Ohne Zweifel beſtehen die Hauptgebiete derſelben in den Elementen der höheren Rech - nung, und dann im Zeichnen, der Sprache der Technik. An jenes hat ſich das anzuſchließen, was leider noch wenig ausgebildet iſt, näm - lich die einfache Buchführung über die Wirthſchaft der Handwerker. Nicht blos die Nationalökonomie, ſondern auch die Verwaltungslehre kann nicht genug betonen, daß dieſe Aufgabe eine unabweisbare, daß der Segen, den das Verſtändniß der Haushalts - und Handwerksrech - nung bringt, ein unmeßbarer iſt! Sie iſt das Maß des wirthſchaft - lichen Wohlergehens jedes Einzelnen, und ihr Reſultat das Bewußt - ſein deſſelben! Wie gerne verweilten wir hier einen Augenblick! Aber252 der Mann, der das zu einem ſyſtematiſchen Inhalt der Lehre macht, wird ſich ein unſterbliches Verdienſt um ſein Volk erwerben! An das zweite ſchließt ſich die Lehre von den Elementen der Mechanik und der Chemie. Es iſt nicht unſere Sache, über die Gränze dieſes Theiles ein Urtheil abzugeben; aber die Nothwendigkeit leuchtet von ſelber ein. An dieſe allgemeine Fortbildungsanſtalten kann ſich nun ſchon das Vereinsweſen der Handwerker anſchließen und durch allgemeine Bildungs - vereine die allgemeine Bildung in das gewerbliche Leben aufnehmen. Daß dabei namentlich öffentliche Leſezimmer und Bibliotheken von größter Bedeutung ſind, verſteht ſich von ſelbſt; mit ihnen tritt dann das Fortbildungsweſen in das Gebiet der allgemeinen Bildung über.

Die zweite Hauptform möchten wir nun die eigentlichen Ge - werbeſchulen nennen. Wir verſtehen darunter diejenigen, deren Zweck die Bildung für ein einzelnes, beſtimmtes Gewerbe oder Handwerk iſt. Die Natur ſolcher Schulen fordert, daß ſie mit ihrem ganz ſpeciellen Zweck auch ganz ſpecielle Aufgaben haben, die ſich nach den Bedürfniſſen und Vorausſetzungen jedes einzelnen Gewerbes richten. Dahin gehören z. B. Spinnſchulen, Webeſchulen, Schloſſerſchulen, Tiſchlerſchulen ꝛc. Sie können nur in größeren Städten vorkommen und nur für einzelne Gewerbe gelten. Bisher hat nur die Noth (Spinn - ſchulen, Strohflechten) oder die gewaltige Mitwerbung (Weberſchulen) ſie erzeugt; wenn wir durch die Natur der Sache die Kraft haben, zu erſetzen, was hier mangelt?

II. Die zweite große Gruppe umfaſſen wir nun mit der allge - meinen Bezeichnung des Realunterrichts und der Realbildung. Sie zerfällt wieder, wie ſchon erwähnt, in zwei Formen, die Realſchule und das Realgymnaſium.

Die Realſchule, welche als der eigentliche Träger der wirthſchaft - lichen Berufsbildung in Deutſchland anerkannt iſt, hat nun einen, wohl auch ganz unbezweifelt weſentlich von dem der Gewerbeſchule verſchiedenen Charakter. Wir halten daran feſt, daß die Verwaltungs - lehre den pädagogiſchen Inhalt auch hier vorauszuſetzen hat. Im orga - niſchen Syſtem des öffentlichen Bildungsweſens aber kommt nur ihnen der Charakter der eigentlichen Vorbildungsanſtalten zu, indem die in ihnen gegebene Bildung ihren Werth wenigſtens principiell erſt durch die ihnen folgende Fachbildung empfängt. Während daher die Gewerbeſchulen lehren, was der Gewerbsmann anwenden kann, lehren die Realſchulen nur die Vorausſetzungen der höheren gewerblichen Bildung. In ihnen wird die Wahl eines Berufes noch als ganz unbeſtimmt vorausgeſetzt, mit der einzigen Beſchränkung, daß der wiſſenſchaftliche Beruf ausge - ſchloſſen bleibt. Die Realſchulen ſchließen ſich daher unmittelbar an253 die höhere Elementarbildung an und erſcheinen in ihren unterſten Stufen geradezu als die höheren Bürgerſchulen, von denen aus jeder zu jedem Gewerbe übergehen kann, während die Gewerbeſchulen für das reifere Jugendalter beſtimmt ſind. Jene erſteren entſprechen daher dem Syſtem der gelehrten Schulen, während die letzteren vielmehr ſelbſtändig da - ſtehen. Realſchulen ſind demnach für alle Zweige des Erwerbes die geeignete Vorbildung, Gewerbeſchulen dagegen nur für das eigentliche Handwerk. Das Syſtem der Gewerbeſchulen iſt aus demſelben Grunde ſtets örtlich und ſeinen Fächern nach beſchränkt. Das Syſtem der Realſchulen dagegen iſt offenbar ein integrirender, ja ein organiſcher Theil des geſammten Bildungsweſens; und das iſt es auch, was das öffentliche Recht derſelben beſtimmt hat. Ihre hiſtoriſche Wichtigkeit beruht auf dieſer ihrer Stellung; ſie ſind es, in denen ſich die wirth - ſchaftliche Berufsbildung von der gelehrten losgelöſt und in denen die letzteren eigentlich erſt ihre ſyſtematiſche, öffentlich anerkannte Stellung empfangen hat. Es darf uns daher wohl nicht wundern, wenn man vielfach das ganze wirthſchaftliche Bildungsweſen oft als das Realſchul - weſen bezeichnet, oft aber auch das erſtere mit dem letzteren erſchöpft zu haben glaubt, wodurch wieder der Zuſammenhang mit dem Ganzen, der ſich das wirkliche Leben in trefflicher Weiſe zu bewahren verſtanden hat, theoretiſch nur zu leicht verwiſcht wird.

Das Realgymnaſium endlich bildet den Uebergang von der gelehrten Bildung zur wirthſchaftlichen und umgekehrt. Der Ausdruck dieſer innigen Verbindung beider iſt die Aufnahme der lateiniſchen Claſſicität, mit dem Anſchluß der griechiſchen. Wir glauben im Hin - blick auf das früher Geſagte damit den Charakter der Realgymnaſien hinreichend zu bezeichnen. Die große Frage der Zukunft, die auch die Verwaltungslehre nicht nebenſächlich betrachten ſollte, iſt die, ob und wie weit die abſolvirte Bildung in einem Realgymnaſium zu dem Eintritt in die Univerſität berechtigt. Und es iſt vorauszuſehen, daß ſie dieſe Berechtigung für gewiſſe Berufe dereinſt ganz beſtimmt ge - winnen wird.

An dieſes Syſtem der wirthſchaftlichen Vorbildungsanſtalten ſchließt ſich nun dasjenige, was wir als das öffentliche Recht derſelben be - zeichnen müſſen.

III. Das öffentliche Recht des wirthſchaftlichen Vorbildungsſyſtems.

Während nun Objekt und Syſtem dieſer Anſtalten in der ange - gebenen Weiſe aus der Natur der Sache folgen, entſteht das öffentliche Recht derſelben, indem dieſe Vorbildung zum Gegenſtand des öffent - lichen Willens und damit zum Objekt von Geſetzen und Verordnungen254 wird. Die hohe Bedeutung dieſes öffentlichen Rechts beſteht darin, daß in ihm das durch die Natur der Sache ſich Bildende und Werdende erſt ſeine feſte äußere Geſtalt gewinnt; formell aber bildet das öffent - liche Recht den Punkt, auf welchem das ganze Gebiet aus der reinen Pädagogik in die Verwaltungslehre übergeht und einen Theil derſelben bildet.

Der Inhalt dieſes Rechts iſt nun ein ganz beſtimmter. Er be - ruht auf dem Verhältniß, in welchem die Staatsverwaltung in Be - ziehung auf das Vorbildungsweſen zu der Selbſtverwaltung ſteht; er zeigt daher die Punkte, das Maß und die Form, in denen der Staat in die Thätigkeit der letzteren entſcheidend eingreift. Die Beſtimmung dieſer Momente iſt aber darum von ſo hoher Bedeutung, weil das Ein - greifen des Staats, ſei es durch geſetzliche Vorſchriften, ſei es durch Unterſtützung oder ſonſtige Theilnahme den formellen Ausdruck der Anerkennung eines großen, für das Geſammtleben des Volkes wich - tigen Geſammtintereſſes enthält und daher den Uebergang aus dem örtlichen und zufälligen in das allgemeine Verwaltungsſyſtem bedeutet.

Offenbar nun kann dieß Recht ebenſo wenig ein einfaches ſein, wie ſein Objekt. Es iſt ein Syſtem und zwar ein reiches Syſtem, weil die Grundverhältniſſe dieſes Rechts wiederum nicht die gleichen ſein können für die höchſt verſchiedenen Verhältniſſe der einzelnen Arten der Vorbildungsanſtalten, von denen wir hier zu reden haben.

Die Punkte, auf welche das Syſtem zurückgeführt werden muß, und die mithin das Gebiet der Vergleichung zu bilden haben, ſind die Herſtellung der Anſtalt, das Lehrerweſen, die Lehrordnung und das Prüfungsweſen.

1) Das Rechtsprincip für die Herſtellung dieſer Anſtalten beruht darauf, daß eine Gleichheit derſelben nicht erreichbar iſt, ſondern daß ſowohl die Bedingungen als die Wirkungen bei weitem vorwiegend örtlicher Natur ſind, und daher weſentlich der Gemeinde angehören, während ſie zugleich eine allgemeine Funktion im Bildungsproceſſe des Volkes ausüben. Aus dem erſten Elemente geht der Grundſatz hervor, daß die Anlage und Erhaltung derſelben Sache der Gemeinde iſt; aus dem zweiten der, daß der Staat die letztere, wo ſie nicht im Stande iſt die Laſt zu tragen, mit ſeinen Mitteln unterſtützt. Nur nimmt dieſer Grundſatz in ſeiner Anwendung auf die einzelnen Arten eine verſchiedene Geſtalt an.

Die Sonntagsſchulen bilden einen Theil des Elementarunter - richts, gehören daher dem Volksſchulrecht und ſtehen in Beziehung auf Anlage und Erhaltung unter den für die Volksſchule geltenden Regeln. Die allgemeine Fortbildungsſchule iſt offenbar Sache der Gemeinde;255 die ſpecielle Gewerbeſchule dagegen iſt Sache der Gewerbsgenoſſen - ſchaft und mit Recht derſelben wenigſtens zum Theil als eine ihrer wichtigſten Pflichten überwieſen, wobei ſie ihre Unterſtützung von der Gemeinde zu erwarten hat und daher unter der Oberaufſicht der Gemeinde ſtehen muß. Es liegt nahe, dabei dem freien Vereinsweſen einen ebenſo großen Antheil an dieſen Anſtalten zu laſſen, als der Gemeinde und den Genoſſenſchaften. Die Realſchulen dagegen ſind zwar zunächſt auch Gemeindeanſtalten, haben aber doch ihre allgemeinere Bedeutung und größeren Anſpruch auf den Charakter von Staatsan - ſtalten; es folgt, daß der Staat berechtigt, ja verpflichtet iſt, ihre An - lage zu fordern, auch wieder eben deßhalb gleichfalls verpflichtet iſt, die Gemeinde bei derſelben zu unterſtützen. Die Realgymnaſien dagegen müſſen wieder als Gemeindeanſtalten oder als freie Unter - nehmungen angeſehen werden.

II. Das Lehrerweſen dieſer Anſtalten empfängt auf gleiche Weiſe durch den doppelten Charakter derſelben ſeinen doppelten Inhalt. Princip muß ſein, daß der Staat die Lehrerbildung als Staats - aufgabe und Anſtalt anerkennt, daß dagegen die Anſtellung der Lehrer den Selbſtverwaltungskörpern überlaſſen bleibt. Aber auch in dieſer Beziehung iſt eine Verſchiedenheit klar. Die Lehrer der Sonntags - ſchulen ſind Volkslehrer; die der allgemeinen Fortbildungsſchule, die der Realſchulen und Gymnaſien ſind ſchon Fachlehrer und fordern daher eine öffentliche Lehrerbildungsanſtalt, während die Lehrer der ſpeciellen Gewerbeſchulen keine fachmäßig gebildete Lehrer zu ſein brauchen, ſondern vielfach geradezu durch freiwillige Thätigkeit tüchtiger Meiſter erſetzt werden können. Die Geſetzgebung hierüber iſt ziemlich einig und vollſtändig.

III. Die Lehrordnung iſt natürlich verſchieden nach den ver - ſchiedenen Anſtalten. Es iſt Sache der ſpeciellen Fachkunde, hier auf das Einzelne einzugehen. Doch beruht auch dieß Rechtsgebiet auf be - ſtimmten allgemeinen Principien. Grundſatz iſt, daß die Lehrordnung der Sonntagsſchulen unter denſelben Regeln ſtehen, wie die der Volksſchulen. Für die übrigen Anſtalten gilt dagegen der Satz, daß der Staat in allen den Fällen, wo er Unterſtützung gibt, auch das Recht haben ſoll, die Lehrordnung zu beſtätigen, welche die Ge - meinde unter Zuziehung der Fachlehrer vorzuſchlagen hat. Bei den ſpeciellen Fachſchulen bedarf es auch einer ſolchen Beſtätigung nicht. Die Oberaufſicht, durch den Organismus der Unterrichtsverwaltung ausgeübt, verſteht ſich von ſelbſt. Das Klaſſenſyſtem iſt allenthalben wichtig, mit Ausnahme der ſpeciellen Handwerkerſchulen; nur ſoll es in den Sonntagsſchulen von den Verhältniſſen abhängen, in den allge - meinen Fortbildungsſchulen ſich höchſtens auf zwei Klaſſen reduciren und256 nur in Realſchulen und Gymnaſien ein, den gelehrten Schulen ent - ſprechendes Klaſſenſyſtem ſein.

IV. Das Prüfungsweſen endlich hat die eine Seite der bloßen Zweckmäßigkeit, die zweite des öffentlichen Rechts. Es iſt zweckmäßig allenthalben, mit Ausnahme der ſpeciellen Gewerbeſchulen, wo es durch Ausſtellungen, eventuell durch Prämien erſetzt werden muß. Als eine Pflicht zur Prüfung kann es jedoch hier nirgends gefordert werden. Dagegen erſcheint das Recht der freiwillig beſtandenen Prüfung in zweifacher Form. Zuerſt iſt es wichtig, in denjenigen Anſtalten, in denen es Klaſſen gibt, die beſtandene Prüfung als Bedingung des Ueberganges von einer Klaſſe zur andern anzuerkennen. Zweitens iſt es zweckmäßig, die Abgangsprüfung mit einem öffentlichen Zeugniß einzuführen, welches kein weiteres Recht hat als das, dem Einzelnen als öffentliches Beweismittel ſeiner vorhergegangenen Bildung zu dienen.

Bei den beiden eigentlichen Vorbildungsanſtalten muß dagegen dieſes Zeugniß das Recht zum Eintritt in die betreffende Fachbildungs - anſtalt mit enthalten.

Dieß ſind die objektiven Verhältniſſe des öffentlichen Rechts dieſes ſo wichtigen Gebietes. Vielleicht daß es uns nunmehr geſtattet ſein wird, auch hier zur leichteren Vergleichung, beziehungsweiſe zur Bear - beitung des poſitiven Rechts nach den angegebenen Geſichtspunkten das formale Schema dieſes Theils des Bildungsweſens anzufügen.

Wir unterfangen uns hier nicht, eine Darſtellung der beſtehenden Anſtalten, ihrer Organiſation und ihres öffentlichen Rechts in den ein - zelnen Staaten und Ländern Deutſchlands und der mit ihm auf dieſem Gebiete verwandten Länder auch nur annähernd geben zu wollen. Wohl aber dürfen wir bemerken, daß die deutſche Literatur hier noch gar nichts, das Ganze umfaſſende beſitzt, weder im Gebiete der Pädagogik,257 noch im Gebiete des rechtlichen Unterrichtsweſens. Der Grund liegt offenbar in der völligen Unſicherheit der einzelnen Kategorien und Aus - drücke, die man anwendet, und die eine jede Zuſammenſtellung zu einem bloßen Materiale macht, in welchem zwar das Princip, nicht aber der das Einzelne beherrſchende Gedanke klar iſt. Dagegen muß in hohem Grade der Ernſt und die tiefgehende Tüchtigkeit anerkannt werden, mit der die pädagogiſche Literatur die Sache in ihren einzelnen, vorwiegend pädagogiſchen Seiten erfaßt und durchgearbeitet hat. Der tiefe, gründ - liche und ſinnige, für jeden höheren Anklang in edelſter Weiſe empfäng - liche Geiſt des deutſchen Lehrſtandes, dieſes Stolzes unſeres Volkes, hat ſich hier in glänzender Weiſe bewährt, und gerade die Verwaltungs - lehre iſt berufen und verpflichtet, dieß auszuſprechen. Daß die päda - gogiſche Literatur hier nicht zu einem Geſammtreſultat gekommen iſt, iſt nicht ihre, ſondern iſt Schuld der Verwaltungslehre. Auch hier müſſen wir der trefflichen Arbeiten in Schmids Encyclopädie rühmend erwähnen, die bei jedem Artikel über Schul - und Gymnaſialweſen das Beſtehende leider zuweilen unvollſtändig, noch öfter ungleichmäßig mit aufgenommen haben. Die territorialen Verwaltungsrechte haben ſich nur mit dem formellen Recht beſchäftigt. In der Statiſtik da - gegen hat Brachelli in ſeinen Staaten Europas das Verdienſt, die Statiſtik auch dieſer Anſtalten zu einem integrirenden Theile der Staatenkunde gemacht zu haben. Er gibt (Staaten Europas S. 535 ff. ) eine ſehr gute Grundlage, auf der weiter gebaut werden wird.

Was nun die einzelnen Staaten betrifft, ſo mögen hier folgende Daten genügen, die erſt dann rechte Geſtalt gewinnen werden, wenn man über die Grundbegriffe einig ſein wird.

Preußen hat das wirthſchaftliche Vorbildungsweſen zuerſt als ein öffentliches organiſirt, wenn gleich auch hier der Unterſchied zwiſchen der Gewerbe - und der Realſchule noch nicht ganz klar geworden iſt. Das Syſtem deſſelben iſt folgendes. Das Gewerbeſchulweſen da - tirt bereits ſeit 1817, wo die erſten Provinzialgewerbeſchulen errichtet wurden, noch unbeſtimmt und ohne ſcharfe Gränze, da das Realſchul - weſen noch nicht exiſtirt. Das letztere wird dann durch das Geſetz vom 8. März 1832 als ein ſelbſtändiger Organismus neben den ge - lehrten und Gewerbeſchulen hingeſtellt mit ſechs Klaſſen, zwei Ordnungen, (höhere und niedere) Prüfungen und eigenem Lehrerweſen. Von da an wird es nun nothwendig, das Gewerbeſchulweſen dem Realſchulweſen gegenüber klarer zu definiren und zu ordnen. Nachdem die vierziger Jahre dieß erſtere allgemein, und damit das Bedürfniß nach einer ſolchen geſetzlichen Ordnung dringend gemacht hat, tritt nun mit den fünfziger Jahren die betreffende Geſetzgebung ins Leben. Das (Provinzial -) Stein, die Verwaltungslehre. V. 17258Gewerbeſchulweſen empfängt ſeine Organiſation durch das Reſcript vom 5. Juni 1850; einjähriger Kurſus; Verbindung mit den der Hand - werker-Fortbildungsſchulen (zwei Klaſſen), Entlaſſungsprüfungen von ſehr zweifelhaftem Werth, Vorbereitung für das techniſche Gewerbe - inſtitut; mit der naturgemäßen geringen Berückſichtigung der allge - meinen Bildung. Die Organiſation der Realſchulen auf der neuen Grundlage durch Erlaß vom 6. Oktober 1859, mit der ſpeciellen Be - zeichnung, daß ſie die Vorbildung zu denjenigen Berufsarten geben ſolle, für welche Univerſitätsſtudien nicht erforderlich ſind. Das Syſtem der Prüfungen iſt auch hier ſtreng durchgeführt und denſelben für den unteren Staatsdienſt beſtimmte Rechte gegeben. Alles Material in Rönne, Unterrichtsweſen Bd. II. Literatur in Rönne, Staatsrecht Bd. II. §. 451. 452.

Oeſterreichs gewerbliches Vorbildungsweſen hat einen etwas an - deren Charakter. Erſte Entſtehung mit einzelnen Verſuchen ſeit 1751 (mecha - niſche Lehrſchule), 1776 (Realhandlungsakademie), Rottenhauers Be - richt 1795: die Realſchulen ſind die Lyceen des Bürgerſtandes. Dabei fehlen urſprünglich wie jetzt die Gewerbeſchulen; die beſte Arbeit über die hiſtoriſche Entwicklung dieſes Gebietes, nur etwas zu beſchränkt auf das techniſche Element, aber ſonſt ſehr reich an Mittheilungen und Studien, iſt die Arbeit von H. Biedermann (Die techniſche Bildung im Kaiſerthum Oeſterreich 1854). Das Gewerbeſchulweſen iſt noch immer den durch die Gewerbeordnung errichteten Genoſſenſchaften wohl zu ſehr überlaſſen und daher noch viel zu wenig ausgebildet, ein Be - weis für die viel zu enge Auffaſſung dieſes Genoſſenſchaftsweſens (Stubenrauch Bd. II. §. 411). Das Realſchulweſen iſt dagegen ge - ſetzlich geordnet durch Entwurf vom 6. September 1848 und Verord - nung vom 2. März 1851 (Stubenrauch Bd. II. S. 393). Grund - lage: Eintheilung in Unter - und Oberrealſchulweſen; die zwei erſten Jahrgänge der erſteren ſind in unmittelbarer Verbindung mit der Ele - mentarſchule und vertreten die Bürgerſchule, Prüfungsſyſtem §. 55. Die ſpecielle, nach den Ländern verſchiedene Geſtalt des Realſchulweſens erſchöpfend von Ficker a. a. O. S. 416 ff. nebſt der (einzigen) Ge - ſchichte des Realſchulweſens für Oeſterreich. Leider lag die genauere Darſtellung des Gewerbeſchulweſens außerhalb ſeines Planes (S. 511. 512). Sie mangelt uns, ſo wie eine ausreichende Statiſtik. Für die übrigen Organiſationen müſſen wir uns auf die betreffenden Artikel in Schmid berufen, die übrigens leider Biedermanns Arbeit nicht kennen.

Bayern. Sonn - und Feiertagsſchulen nach dem Lehrplan vom 24. April 1811; Errichtung der eigentlichen Gewerbeſchulen (Ver - ordnung vom 16. Februar 1833); weitere Entwicklung (Inſtruction vom259 4. April 1836); neueſte Organiſation ſeit 1858 (Pözl §. 153). Sie ſind zugleich die eigentlichen Realſchulen; eine ſyſtematiſche Ordnung und Scheidung waren nicht erzielt; doch gibt es beſondere Zeichenſchulen (Hopf bei Schmid Bd. I. S. 434 ff. Gugler ebend. II. S. 873). Die neue Organiſation des techniſchen Unterrichts iſt durch die Verordnung vom 14. Mai 1864 aufgeſtellt und in jeder Beziehung als Fortſchritt zu betrachten. Aufſtellung der künftigen drei Grund - kategorien: Gewerbeſchule, Realgymnaſium und polytechniſche Schule. Die erſten treten an die Stelle der bisherigen Landwirth - ſchafts - und Gewerbeſchulen und ſind Kreisanſtalten. Alter der Schüler 12 14 Jahre, nebſt Aufnahmsprüfung. Daran ſchließen ſich künftig noch auszubildende gewerbliche Fortbildungsſchulen. Die Realgymnaſien ſetzen die vollſtändige lateiniſche Bildung voraus und befähigen zugleich zum Uebertritt an die polytechniſche Schule und die Univerſität; Aufnahms - und Abgangsprüfung; vier Jahrescurſe. Sie ſind neue Staatsanſtalten: es exiſtiren vorderhand ſechs.

Baden. Hier iſt der Unterſchied zwiſchen den Gewerbeſchulen und den Realſchulen zwar gegeben, und die letzteren als höhere Bürger - ſchulen durch Verordnung vom 15. Mai 1834 eingeführt, aber nicht entſprechend organiſirt. (Holtzmann bei Schmid Bd. I. S. 412.) Warum iſt Dietz in ſeinem ſchönen Werke Die Gewerbe im Groß - herzogthum Baden 1863 nicht etwas genauer auf den Gegenſtand ein - gegangen? (S. 748. 749.) Uebrigens hat das Geſetz vom 4. Juni 1864 dem fünften Theile der Lehrer an den Gewerbeſchulen das Staatsdiener - recht eingeräumt (nach dem Geſetz vom 30. Juli 1840.) Es iſt ſehr zu bedauern, daß Dietz a. a. O. nur das einfache Budget für das gewerbliche Unterrichtsweſen ohne weitere Angaben mitgetheilt hat (S. 55 75).

Württembergs Geſchichte des wirthſchaftlichen Vorbildungs - weſens iſt durch den beinahe wunderlichen Gegenſatz zwiſchen dem Treff - lichen, was darüber ſeit 1836 geſagt, und dem wenig ſyſtematiſchen, was dafür geſchehen iſt, ſehr interreſſant (vergl. Mohl, württemb. Verwaltungsrecht §. 214. Gugler, gewerbliche Fortbildungsſchulen bei Schmid Bd. II. 875). Man hat nur noch ſehr unvollkommene Gewerbe - fortbildungsſchulen (Lange bei Schmid Bd. I. 804). Brachelli citirt dagegen 62 Real - und 9 Oberrealſchulen (a. a. O. S. 542), jene mit zweijährigem Curſus, dieſe in Verbindung mit einem Gymnaſium und Lyceum. Wie ſich jene Fortbildungsſchulen verhalten, iſt nicht recht abzuſehen.

Königreich Sachſen. Hier iſt die eigentliche Gewerbeſchule ſchon in die gewerbliche Fachſchule übergegangen; das Realſchulweſen iſt als260 ſelbſtändiges Bildungsſyſtem erſt im Jahre 1860 und 1861 geordnet worden (Gugler a. a. O. S. 877. Brachelli a. a. O. S. 541).

Hannover. Hier ſind die Gewerbeſchulen ſelbſtändig, vertreten zum Theil die Sonntagsſchulen; daneben eine ſelbſtändige Handwerker - ſchule in Hannover (Gugler, S. 877). Das Realſchulweſen in Hannover iſt dagegen nicht zur Selbſtändigkeit neben dem Gymnaſial - weſen gediehen; es erſcheint in der Form der Realklaſſen an den Gymnaſien und Progymnaſien (Geffers bei Schmid Bd. III. 310 ff).

Kurheſſen. Handwerkerſchulen ſeit der Zunftordnung von 1816 in den größeren Städten vorgeſchrieben, vertreten die Gewerbeſchulen; Realſchulen ſeit Verordnung vom 15. Oktober 1838 geſetzlich geordnet, waren ſchon örtlich vorhanden ſeit den dreißiger Jahren. (Bezzen - berger bei Schmid III. 491 ff.)

Heſſen-Darmſtadt. Realſchulen ſeit 1834 unter ſtaatlicher Hülfe; doch wie es ſcheint, ohne geſetzliche Ordnung; die Regierung gibt eine Inſtruction (Strack bei Schmid III. 526); die Handwerkerſchulen ſeit 1837 durch den Landgewerbeverein gegründet (Gugler ebend. S. 878).

Man erkennt aus den hier angedeuteten Thatſachen, daß im Großen und Ganzen die Elemente des Syſtems vorhanden, das Syſtem ſelbſt aber noch nicht ausgebildet iſt. Hier iſt daher noch ſehr viel zu thun; es fehlt Gleichförmigkeit der Ausführung bei entſchiedener Anerkennung des gemeinſamen Princips; doch mag uns auch wegen Mangels an Material ſehr viel entgangen ſein, was wir künftigen Arbeiten über - weiſen. Zum Theil liegt dieß auch an der Unklarheit der techniſchen Fachbildungsanſtalten, die ein noch verſchiedeneres Bild geben.

Holland. Von beſonderem Intereſſe iſt die neue holländiſche Organiſation des wirthſchaftlichen Vorbildungsweſens, das hier der mittlere Unterricht (middelbar Onderwiis) genannt wird. Das betreffende ausführliche Geſetz iſt vom 2. Mai 1863. Eine ausführ - liche, mit genauen Angaben aller betreffenden Beſtimmungen verſehene commentirende Ausgabe deſſelben von Dr. D. J. Stein 1863. Das ganze ſehr ausführliche Prüfungsweſen iſt für jedes ſpecielle Gebiet geordnet durch nicht weniger als ſechzehn verſchiedene Reglements vom 2. Februar 1864. Das Geſetz unterſcheidet öffentliche und beſondere Mittelſchulen; letztere ſind Privatlehranſtalten. Die erſteren werden entweder von den Gemeinden oder von den Provinzen hergeſtellt und erhalten; das Reich unterſtützt ſie eventuell. Die Lehrerbildung wird nach Geſetz vom 13. Auguſt 1857 geregelt. Das Syſtem dieſes wirthſchaft - lichen Bildungsweſens hat vier Abtheilungen, von denen allerdings nur die beiden erſten dem Vorbildungsweſen angehören: Bürgerſchulen, höhere Bürgerſchulen, Landwirthſchaftsſchulen, die polytechniſche Anſtalt. Eine261 Bürgerſchule ſoll in jeder Gemeinde mit wenigſtens 10,000 Einwohnern errichtet werden. Die höheren Bürgerſchulen haben entweder einen drei - jährigen oder einen fünfjährigen Curs und entſprechen ganz unſern Realſchulen; die Gymnaſtik iſt obligat! Das Lehrerweſen dafür iſt genau geordnet in §. 23 ff. Die Lehrer werden vorgeſchlagen durch die Ge - meinde; der König ernennt die Lehrer der höheren Schulen. Das Penſionsrecht der Lehrer iſt bereits durch Geſetz vom 9. Mai 1846 all - gemein feſtgeſtellt und ſpeciell durch Geſetz vom 3. Mai 1851 und 24. December 1863 geregelt; dazu die §§. 32 ff. des Geſetzes vom 2. Mai 1863. Schulgeld iſt anerkannt; Lehrordnung geſetzlich für jede Art der Schulen geregelt §. 16. 17. Ueber Gewerbeſchulen fehlen uns weitere Angaben; warum hat le Roy (Art. Holland) bei Schmid auf jenes Geſetz und auf die letzteren keine Rückſicht genommen? Realgymnaſien fehlen dagegen gänzlich.

B. Das wirthſchaftliche Fachbildungsſyſtem.
I. Allgemeiner Charakter.

Wenn wir gegenüber der klaren und in ſich einfachen Geſtalt und Stellung, welche das Univerſitätsweſen als gelehrte Fachbildungsanſtalt einnimmt, ein höchſt verſchiedenartiges, zum Theil ſogar unklares Bild der wirthſchaftlichen Fachbildung finden, ſo wird es wohl nothwendig, ſich über die in dem Weſen der Sache ſelbſt liegenden Grunde zu ver - ſtändigen, die dieſen Unterſchied hervorgerufen haben; denn in der That werden wir nur von ihnen aus einen klaren Ueberblick über ein Gebiet gewinnen, das bis jetzt noch auf allen ſeinen Punkten nach einer feſten Geſtaltung ringt, und erſt mit dieſer in Praxis und Theorie ſeine definitive Stellung gewinnen wird.

Die wirthſchaftliche Fachbildung unterſcheidet ſich nämlich weſentlich von der gelehrten dadurch, daß bei jener der praktiſche Werth des einen Gebietes derſelben für das andere als ein ſehr geringer erſcheint und daher die Verbindung der bildenden Thätigkeiten auf den erſten Blick mehr ein Beweis als eine Forderung wird. Während daher bei dem gelehrten Fachbildungsweſen ſich die Specialität der Fächer nur lang - ſam aus der wiſſenſchaftlichen Einheit des Ganzen, der Universitas literarum, entwickelt hat, hat die wirthſchaftliche Fachbildung vielmehr auf dem umgekehrten Wege bei der ſtrengen Specialität begonnen und jene Einheit überhaupt noch nicht erreicht. Während für jene eben deß - halb gleich von Anfang an die Gleichmäßigkeit und Gleichartigkeit des geſammten Bildungsganges in Fakultäten, Vorleſungen, Prüfungen und wiſſenſchaftlichen Würden feſtſteht, erſcheint für dieſe dagegen eine262 nicht bloß äußerliche, ſondern auch innerliche Scheidung mit vollſtän - diger Selbſtändigkeit jeder Fachbildungsanſtalt von der andern. Wäh - rend für jene das Verhältniß der Vorbildungsanſtalten in dem gelehrten Schulweſen ſich leicht und ſicher geordnet hat, iſt das Verhältniß von Anfang an für dieſe ſehr unſicher geweſen, und auch jetzt noch keines - wegs ein feſtgeordnetes oder gleichartiges. Während für jene daher das öffentliche Recht und die Aufgabe des Staats als ein geſchloſſenes Ganze auftritt und die Ordnung eine einheitliche iſt, iſt das erſtere für jede Anſtalt des letztern verſchieden, und die letztere beruht auf den ſpeciellen Verhältniſſen der einzelnen Inſtitute. Während endlich jene als Staatsanſtalten anerkannt ſind und als ſolche behandelt wer - den, treten hier theils Vereine, theils ſogar Privatunternehmungen in gleicher Weiſe auf; und ſo iſt es nicht möglich, den viel zerfahrenen Stoff der wirthſchaftlichen Fachbildung in gleicher Weiſe wie den der wiſſenſchaftlichen zu behandeln. Das iſt unzweifelhaft der Grund, weß - halb wir überhaupt noch keine umfaſſende Darſtellung, ja nicht einmal eine einheitliche Auffaſſung der erſteren beſitzen.

Die Verwaltungslehre wird daher gezwungen, hier die Elemente eines feſten Syſtems aufzuſtellen und kann erſt auf dieſer Grundlage zur Ueberſicht über das Recht und die Funktion des Ganzen und der einzelnen Theile dieſes Gebietes gelangen.

Dieß nun wird kaum beſſer geſchehen können, als indem wir den hiſtoriſchen Entwicklungsgang der Sache auf Grundlage ihres allgemeinen Begriffes kurz andeuten.

II. Begriff und Elemente der geſchichtlichen Geſtaltung der wirthſchaftlichen Fachbildung.

Das, was wir dem Begriffe nach als wirthſchaftliche Fachbildung bezeichnen müſſen, beſteht in dem Erwerb derjenigen Kenntniſſe und Fähigkeiten für wirthſchaftliche Produktionen, welche durch den wirk - lichen Betrieb von Unternehmungen aller Art nicht erſt erworben wer - den können, ſondern vielmehr die geiſtige Bedingung der Leitung und Entwicklung deſſelben bilden.

Es iſt daher an ſich kein Zweifel, daß jede Art der Unternehmungen eine eigene Fachbildung vorausſetzt und wünſchenswerth macht. Es iſt aber auch klar, daß dieſe Fachbildung zunächſt Sache des Einzelnen iſt, und durch den Einzelnen erworben werden muß, wie ſie für den Nutzen des Einzelnen dient. Allerdings liegt ſie daher in der Natur der volks - wirthſchaftlichen Entwicklung; allein eben darum erſcheint ſie nicht als Angelegenheit und Aufgabe des Staats, wenn nicht ein beſonderes Moment hinzutritt. Und in der That hat ſich die Verwaltung um263 dieſe Fachbildung bis auf die neueſte Zeit ſo gut als gar nicht geküm - mert. Erſt unſer Jahrhundert hat ſie als öffentliche Angelegenheit er - kannt, und es iſt daher nicht thunlich, ſie ohne Anſchluß an den allge - meinen Gang der Geſchichte zu überſehen.

In der That nämlich bleibt die Entwicklung des wirthſchaftlichen Bildungsproceſſes, die wir als Grundlage des Vorbildungsſyſtemes oben bezeichnet haben, bei dieſen Vorbildungsanſtalten faſt ein Jahrhundert lang ſtehen, ohne zu Fachbildungsanſtalten überzugehen. Die Real - ſchulen und höheren Bürgerſchulen ſind die höchſten Bildungsſchulen des Bürgerſtandes; alles Weitere muß derſelbe dann im wirklichen praktiſchen Leben ſelber lernen. Daß ein innerer Zuſammenhang zwiſchen den einzelnen Fächern ſei, wird zwar geahnt, aber bei der vorwiegend gelehrten Richtung der Wiſſenſchaft nicht verſtanden; an eine Bethei - ligung der Verwaltung über dasjenige hinaus, was die Univerſitäten höchſtens in der Cameralwiſſenſchaft darboten, ward noch nicht gedacht. Ein Syſtem von wirthſchaftlichen Fächern und von öffentlichen ihnen entſprechenden Anſtalten konnte ſich erſt auf Grundlage äußerer Veran - laſſung entwickeln. Daſſelbe iſt daher kein Kind der pädagogiſchen Re - flexion, ſondern ein Produkt der langſam fortſchreitenden Geſchichte.

Den erſten Anſtoß dazu gab die Anwendung der mit dem vorigen Jahrhundert entſtehenden Finanzwiſſenſchaft auf die Regalien. Wir haben hier nicht über den hiſtoriſchen Begriff derſelben zu ſtreiten. Als feſtſtehend wird man uns zugeben, daß ein Regal ein Hoheitsrecht war, das als Einnahmsquelle benutzt ward. Zu den Regalien als Ein - nahmsquellen kamen dann die Domänen aller Art hinzu, die bald als Grundbeſitz, bald als Nutzrechte, bald als Unternehmungen auf - traten. Regalien und Domänen forderten eine Verwaltung; dieſe Ver - waltung ſollte eine weſentlich nutzbringende ſein; um ſie dazu zu machen, wurden ſeit dem Entſtehen der Polizei - und Finanzwiſſenſchaft gewiſſe Kenntniſſe erfordert; den Erwerb dieſer wirthſchaftlichen Kenntniſſe mußte daher der Staat jetzt für die Beamteten ſeiner Regalien und Domänen fordern; um ſie fordern zu können, mußten ſie als ſelbſtändige Wiſſen - ſchaft da ſein und als ſolche gelehrt werden. So entſtand das Gebiet der Cameralwiſſenſchaften. Sie hängen allerdings auf das Engſte mit den Staatswiſſenſchaften zuſammen; aber dieſe Verbindung war und blieb eine äußerliche. Ihrem Weſen nach ſind ſie die erſte Form einer ſelbſtändigen wirthſchaftlichen Fachbildung neben der gelehrten. Mit ihnen tritt das Fachbildungsweſen zuerſt öffentlich neben dem ge - lehrten auf. Zwar ſind ſie noch ſehr einſeitig und beſchränkt; ſie ſind eigentlich nur die Fachbildung für die wirthſchaftlichen Erwerbsthätig - keiten der Verwaltung; aber ſie ſind dennoch der erſte ſelbſtändige264 Beginn einer weiteren Entwicklung, deren Schickſal auch für das übrige Bildungsweſen von nicht geringem Intereſſe iſt.

Als nämlich mit der Auflöſung der ſtändiſchen Ordnung der Staat aus ſeinem faſt privatrechtlich formulirten Gegenſatze zu der Geſellſchaft hinaustritt und zum Organismus der Gemeinſchaft wird, verſchwindet gleichſam von ſelbſt der Gedanke, daß er als Privatſubjekt einen wirth - ſchaftlichen Beruf, Erwerb und Beſitz haben und mithin Unterneh - mungen betreiben ſolle, wie ein Einzelner. Gerade das aber war die Grundlage der Cameralwiſſenſchaft und Bildung geweſen. Sie ver - ſchwanden daher in ihrer alten Form; und an ihre Stelle trat nun ein weſentlich anderer Standpunkt mit einer anderen Aufgabe.

Während nämlich einerſeits die Cameralien in die eigentliche Finanz - verwaltung übergehen, entwickelt ſich der Gedanke der Verwaltung der Volkswirthſchaft, die Idee der Volkswirthſchaftspflege. Dieſe Idee fordert von dem Staate in ſeinem Verhältniß zur Volkswirthſchaft ein Doppeltes. Einerſeits ſoll derſelbe die Einzelnen nun auch in der Volks - wirthſchaft gegen wirthſchaftliche und weiter gehende Gefahren ſchützen, die in gewiſſen Unternehmungen liegen, andererſeits ſoll er das Seinige thun, um die Produktion zu fördern, und zwar beides in Beziehung auf beſtimmte einzelne Arten von Unternehmungen. Die Verwaltung, noch im Anfange dieſes Jahrhunderts nur zu ſehr bereit, jeden Theil des öffentlichen Lebens unter ihre Vormundſchaft im Sinne der eu - dämoniſtiſchen Theorien aufzunehmen, gab ihrerſeits ſelbſt Anlaß zu jener Forderung. Bis dahin hatten die alten ſtändiſchen Körperſchaften eine gewiſſe Polizei, ſowie eine gewiſſe Unterſtützung der gewerblichen Pro - duktion übernommen. Jetzt hören ſie auf; zum Theil wie in Frankreich vollſtändig, zum Theil dem Weſen nach wie in Deutſchland. Dieſelbe Geſetzgebung, welche auf dieſe Weiſe den Zünften und Innungen ihre Funktion der Volkswirthſchaftspflege nahm, war damit auch berufen, ſich an ihre Stelle zu ſetzen. Das Mittel dafür lag nahe. Sie mußte nunmehr eine öffentliche Fachbildung an die Stelle der zünftigen ſetzen, theils als Schutz, theils als Bedingung der Förderung der höheren volkswirthſchaftlichen Intereſſen. So entſtand die zweite Geſtalt der Forderung nach einer öffentlichen wirthſchaftlichen Fachbildung und der der Anſtalten ſelbſt. Es bilden ſich allmählig, meiſt ganz unabhängig von einander, ſtaatliche Lehranſtalten, die eigens zum Zweck der wirthſchaftlichen Fachbildung aufgeſtellt werden. Dieſelben theilen ſich nach Zweck und Entſtehungsgrund in zwei Hauptarten. In der erſten Art zeugt das ſicherheitspolizeiliche und zum Theil wirthſchaftlich polizei - liche Element vor; in der zweiten dagegen die eigentliche Pflege der Volkswirthſchaft. Es iſt klar, daß erſt hiemit die wirthſchaftliche Fach -265 bildung beginnt, ſelbſtändig und allgemein zu werden. Hier iſt ein anderer Faktor lebendig als der der Cameralwiſſenſchaften und ihrer Lehrfächer. Es iſt nicht mehr das Intereſſe des dem Volke gegen - überſtehenden Staats, das ſie erzeugt und leitet, ſondern das Geſammt - intereſſe. Es iſt nicht mehr der Geſichtspunkt einer guten Verwaltung der Staatsaufgaben, von dem aus das Ganze entſteht, ſondern der der Beförderung des höchſten volkswirthſchaftlichen Fortſchrittes. Wäh - rend daher die Cameralien der polizeilichen Epoche angehören, gehören dieſe Anſtalten der ſtaatsbürgerlichen, und es wird uns daher auch nicht wundern, daß ſie, vorher kaum in Andeutungen vorhanden, erſt in unſerem Jahrhundert zur rechten Blüthe kommen, und in ihrer Ent - wicklung noch keineswegs fertig, ebenſo wenig in allen Staaten gleich - artig ſind. Es ſind weder alle einzelnen Arten dieſer Anſtalten aus - gebildet, noch haben ſie allenthalben die gleiche Aufgabe, noch auch das gleiche öffentliche Recht. Hier ſind wir auch in Deutſchland noch ſo ſehr im Werden, daß kaum noch einmal eine Geſchichte dieſer Bewegung mit rechtem Erfolg geſchrieben werden kann und daß ſich die Behandlung noch einige Zeit ziemlich ſtrenge auf der Baſis der allgemeinen Unter - ſcheidung von Realismus und Humanismus halten muß. Wohl aber iſt es ganz nothwendig, ſchon jetzt aus der Natur jener Entwicklung hin - aus ein feſtes Syſtem aufzuſtellen, das man als Grundlage für das öffentliche Recht für die Beſtimmung der nächſten Aufgabe des Staats, und endlich für die ſtatiſtiſche Vergleichung deſſen gebrauchen kann, was hier bisher geſchehen iſt.

Legt man nämlich die obige Unterſcheidung zum Grunde zwiſchen dem höheren polizeilichen und dem volkswirthſchaftlichen Geſichtspunkte, das die Verwaltung bei der Herſtellung dieſer Anſtalten bietet, ſo erſcheint folgendes Bild.

Diejenigen wirthſchaftlichen Fachbildungsanſtalten, welche das Maß der Fachbildung ſichern ſollen, ohne welches die allgemeinen Intereſſen bei Betrieb gewiſſer Unternehmungen gefährdet erſcheint, und bei denen die volkswirthſchaftliche Fortentwicklung erſt in zweiter Reihe ſteht, ſind: die Schifffahrtsſchulen, die Bauſchulen, die Forſtſchulen, die Bergbauſchulen.

Diejenigen dagegen, bei denen die allgemeine Entwicklung des wirth - ſchaftlichen Lebens Aufgabe und Ziel der Anſtalt iſt, ſind die poly - techniſchen Anſtalten, die Landwirthſchaftsſchulen und die ge - werblichen Kunſtſchulen.

Natürlich ſind dieſe Schulen oder Bildungsanſtalten nicht auf allen Punkten ſcharf zu ſcheiden; es iſt ferner klar, daß die eigentlichen Ge - werbeſchulen bis zu einem gewiſſen Grade auch dahin gehören; allein266 jene bilden dennoch ein Syſtem für ſich, weil ſie ſelbſt als Theil eines größeren Syſtems erſcheinen; und das findet nun, wie wir gleich ſehen werden, ſeinen Ausdruck in dem Verhältniß derſelben einerſeits zum Staate ſelbſt, andererſeits zu dem Syſtem der Vorbildungsanſtalten, das eben durch ſie erſt ſeinen Abſchluß empfangen könnte.

Neben dieſem Syſtem von Anſtalten trat nun allmählig das Be - dürfniß auf, auch für diejenigen volkswirthſchaftlichen Gebiete, die durch jene nicht umfaßt waren, eine ſyſtematiſche Fachbildung herzuſtellen. Hier aber konnte die Verwaltung nicht weiter eingreifen, weil hier die Gränze begann, an der das Einzelintereſſe für die Bildung das Entſcheidende wird. Sie mußte daher das übrige Gebiet der freien Selbſtthätigkeit des Volkes überlaſſen. Dieß Gebiet nun, deſſen Charakter darin be - ſteht, daß in ihm die individuelle Tüchtigkeit und Kraft zuerſt und zu - letzt das Maßgebende wird und das deßhalb die Fähigkeit beſitzt, die beſte Fachbildung durch ſich ſelbſt zu bieten, iſt der Verkehr. Das letztere iſt ſein eigenthümliches Weſen, ſeine hohe Bedeutung für die Entwicklung der Völker, aber auch ſeine Gefahr. Den Verkehr, die durch freien Vertrag vom Einzelnen zum Einzelnen übergehende Be - wegung der Güter, kann und ſoll kein Gegenſtand der unmittelbaren Thätigkeit des Staats ſein; die Errichtung von Produktions-Bil - dungsanſtalten fällt ihm zum Theil, die von Verkehrsſchulen gar nicht anheim. Wir nennen dieſe Verkehrsſchulen mit ihrem gewöhn - lichen Namen Handelsſchulen. Handelsſchulen ſind daher ihrem Weſen nach Sache des Vereinsweſens, oder der Privatunternehmung. Für ſie kann es, wegen ihres an ſich unbegränzten Gebietes, kein öffent - liches Recht geben, die Verwaltung muß ſie den Einzelnen überlaſſen. Dennoch ſind ſie unzweifelhaft ein ſelbſtändiges, drittes Organ des wirthſchaftlichen Fachbildungsweſens und das Bild des letzteren iſt ohne ſie kein vollſtändiges zu nennen.

Dieß nun ſind die Elemente des Syſtems der wirthſchaftlichen Fachbildungsanſtalten. Es iſt auf den erſten Blick klar, daß es den Charakter der Vereinzelung hat, und daß andererſeits eine für das Ganze entſcheidende Frage darin beſteht, in welchem Verhältniß die - ſelben zum allgemeinen Bildungsweſen und ſeiner öffentlichen Rechte ſtehen ſollte. Dieß zu unterſuchen und zu beſtimmen, iſt nicht Sache der wirthſchaftlichen Methodologie, ſondern der Verwaltungslehre über - haupt; der deutſchen aber im Beſondern, weil hier wieder Deutſchland das Muſter und der Lehrer aller andern Völker zu ſein berufen iſt.

267

Es iſt, wie ſchon oben erwähnt, noch ſehr ſchwer, eine Geſchichte des wirthſchaftlichen Fachbildungsweſens zu ſchreiben, da es faſt auf allen Punkten noch in der Entwicklung begriffen iſt. Bisher hat ſich eigentlich gar kein Zweig der Literatur um daſſelbe als Ganzes geküm - mert und zwar weder die Staats - oder Polizeiwiſſenſchaft, die doch auf das Staatsſchulweſen Rückſicht nahm, noch ſelbſt die pädagogiſche, ſonſt ſo reiche Literatur, die bisher in den Vorbildungsſchulen ſtecken geblieben iſt, wie ſelbſt die ſonſt ſo gründlichen Aufſätze in Schmids Encyklopädie. Feſt ſteht jedoch wohl das eine, daß man die obigen Epochen auch in der Literatur unterſcheiden kann. Man darf ſagen, daß die erſte Epoche die cameraliſtiſche, die zweite die polytech - niſche iſt. Wir meinen nun unter der erſtern nicht diejenige, welche überhaupt die Staatswiſſenſchaften in der Form der Cameralwiſſen - ſchaften verſtand und lehrte und die namentlich Baumſtark, Came - raliſtiſche Encyklopädie 1835. S. 31 38 für die letzte Hälfte des vorigen Jahrhunderts ziemlich vollſtändig anführt, ſondern diejenige, welche die cameraliſtiſche Bildung und die Herſtellung darauf gerichteter Anſtalten als Aufgabe der Verwaltung fordert. Den Anſtoß dazu gab allerdings die Aufnahme der cameraliſtiſchen Studien an den Univerſitäten; ſchon 1730 die erſte cameraliſtiſche Profeſſur in Rinteln, 1742 in Leipzig, 1741 in Upſala. Dann erſcheinen dieſe Profeſſuren an den hohen Schulen, welche die Univerſität vertreten, 1745 am Carolinum in Braun - ſchweig, 1752 am Thereſianum in Wien, 1774 eine Cameralſchule in Kaiſerslautern, 1782 eine ökonomiſche Sektion an der Stuttgarter Akademie, 1789 ein cameraliſtiſches Inſtitut in Marburg. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts aber treten dieſelben Beſtrebungen nun auch an den Univerſitäten auf, 1755 in Göttingen, 1742 in Leipzig, 1770 in Jena, 1784 in Mainz; von da an faſt auf allen Univerſitäten. Allein hier erfaßte die höhere Bewegung der Staatslehre dieſe Pro - feſſuren und machte aus ihnen Lehrſtühle der Staatswiſſenſchaften; nur Tübingen behielt ſeine cameraliſtiſche Richtung ſelbſtändig (Baumſtark §. 28). Das Element der wirthſchaftlichen Fachbildung verſchwindet damit und löst ſich in ganz allgemeine, rein theoretiſche Vorleſungen auf, die gleichmäßig für Juriſten und Fachmänner gelten ſollen. Das war ein Fortſchritt für die Univerſitäten, aber konnte freilich dem Fache nicht genügen. Daher begann jetzt die zweite Bewegung, welche dieſe Fachbildung zwar ſelbſtändig herſtellte, aber eben in lauter einzelnen, ohne inneren Zuſammenhang daſtehenden Schulen. Eine Ueberſicht dieſer Entwicklung fehlt uns noch gänzlich; auch hat ſie bisher wohl darum niemand geſucht, weil die Verbindung ihrer Funktion mit dem Ganzen nicht herausgefühlt ward. Erſt die polytechniſche Bildung und268 Literatur begründet hier eine neue, für den deutſchen Geiſt höchſt be - zeichnende Epoche. Die polytechniſche Schule in Paris ward zwar von Vielen damals wie jetzt für etwas ganz anderes gehalten, als was ſie wirklich iſt, ein ſehr untergeordnetes Glied im franzöſiſchen Bildungs - ſyſtem; aber die techniſche Bildung ſelbſt ward ſeit dem zweiten Jahrzehent in Deutſchland mit jedem Jahre nothwendiger, weil Deutſch - land begann, den großen induſtriellen Kampf mit England durch An - lage von Maſchinen und durch Schöpfung einer eigenen Induſtrie auf - zunehmen. Von jetzt an erſchien dieſe techniſche Bildung als eine Volks - angelegenheit, der die junge Induſtrie die Hand reichte. Sie ſchloß ſich dabei an das Entſtehen der Realſchule an und ſo entſtand das, was die gegenwärtige Auffaſſung noch mehr charakteriſirt als die damalige, die Vorſtellung, daß die techniſche Fachbildung die eigentliche Höhe der Fachbildung enthalte, neben der alle andern von ſehr geringer Bedeu - tung ſeien. Den literariſchen Anſtoß dafür gab Dingler in ſeiner Schrift: Nothwendigkeit der Gründung einer polytechniſchen Akademie. Augsburg 1821. Dann Hermann mit ſeiner Arbeit: Ueber poly - techniſche Inſtitute 1826 und ſpäter Nebenius: Ueber techniſche Lehr - anſtalten 1833, nebſt einer Reihe anderer folgten. Alle übrigen Fach - ſchulen wurden daneben vernachläſſigt; die Literatur ließ ſie ganz bei Seite, ſo daß ſelbſt Baumſtark trotz ſeines Fleißes keinen Anlaß findet, auf ſie einzugehen und ſelbſt die Territorialgeſetzkunde ſie kaum berühren, wovon wieder nur Mohl, Württembergiſches Verwaltungs - recht II. §. 214 eine rühmliche Ausnahme macht. Die Beſchäftigung mit den polytechniſchen Anſtalten hatte dagegen den wichtigen, wenn auch nur langſam eintretenden Erfolg, die wirthſchaftliche Fachbildung überhaupt in ihrer hohen und allgemeinen Bedeutung dem Volke zum Bewußtſein zu bringen. Sie iſt als der Keim anzuſehen, von dem das eigentlich ſyſtematiſche und einheitliche Element derſelben ausgeht. Es darf dabei nicht verkannt werden, daß die Statiſtik hier viel geleiſtet hat und auch ihrerſeits an der einheitlichen Auffaſſung redlich mit - gearbeitet hat. Die Staatswiſſenſchaft dagegen hat ſich weder im Ge - biete des Staatsrechts noch in dem der Polizeiwiſſenſchaft der Frage angenommen. Eine ſyſtematiſche Behandlung exiſtirt nicht.

III. Das öffentliche Recht und die Organiſation des wirthſchaftlichen Fach - bildungsſyſtems.

(Herſtellung der Anſtalten, Lehrſyſtem, Prüfungsweſen.)

Das öffentliche Recht dieſer Anſtalten entſteht nun, indem man ſich jene Anſtalten als naturgemäße Glieder des geſammten Bildungs -269 organismus, gefordert von der Natur der Sache und erzeugt durch das Bedürfniß der ſtaatsbürgerlichen Volkswirthſchaftsordnung denkt, und ſich nun die Frage ſtellt, ob und was die Verwaltung theils im Wege der materiellen Hülfe, theils im Wege der Geſetzgebung für die Herſtellung und Benützung zu thun habe. Die Geſammtheit der darauf bezüglichen Beſtimmungen iſt es, welche jenes öffentliche Recht derſelben bildet.

Indem wir nun vorausſenden, daß eine genauere Entwicklung des - ſelben Sache eigener und eingehender Arbeiten ſein muß, muß den - noch die Verwaltungslehre zu einem beſtimmten Reſultat über die we - ſentlichen Grundlagen dieſes Rechts gelangen. Wir betonen dieſelben aber um ſo mehr, als ſie bisher unſeres Wiſſens noch gar nicht Gegen - ſtand von allgemeinen Unterſuchungen geworden ſind, ſondern die Ver - waltungen vielmehr von Fall zu Fall nach Maßgabe der Verhältniſſe entſchieden haben, was für die ganze Ordnung dieſes Rechtsgebietes entſcheidend geworden iſt.

Die Punkte auf denen das letztere beruht, ſind die Pflicht zur materiellen Herſtellung ſolcher Anſtalten und ihrer Bedingungen, das Bildungs - oder Lehrſyſtem derſelben, und endlich das Recht der be - ſtandenen Prüfung.

1) Das Rechtsverhältniß der Herſtellung oder Unterſtützung iſt einfach. Alle Verkehrs - oder Handelsſchulen ſind principiell Vereins - oder Privatunternehmungen, und beruhen auf örtlichen Bedürfniſſen und Verhältniſſen. Sie ſind Sache des Einzelnen, und darum frei, wie der Gegenſtand, mit dem ſie zu thun haben. Sie können keine Staatsanſtalten ſein; in Folge deſſen hat auch die Verwaltung weder das Recht, ihre Organiſation vorzuſchreiben, noch an die von ihnen aufgeſtellten Lehrkurſe oder Lehrer andere beſtimmte Forderungen zu ſtellen, als die, welche in allgemeinen polizeilichen Vorſchriften liegen. Dagegen iſt natürlich eine Unterſtützung nicht ausgeſchloſſen, und es bleibt in ſolchem Falle der Verwaltung frei, diejenigen Bedingungen zu ſtellen, welche ſie für angemeſſen hält; daſſelbe gilt, wo ein Selbſt - verwaltungskörper eine Unterſtützung gewährt.

Dagegen müſſen die oben genannten Produktions-Fachbildungs - anſtalten als nothwendige Glieder des öffentlichen Bildungsweſens anerkannt, und daher auch vom Staate hergeſtellt werden. Sie ſind daher grundſätzlich Staatsanſtalten, ihre Organiſation iſt ein öffent - liches Recht, ihre Lehrer ſind Beamtete des Staats, und die Fragen, die ſich an ihre formale Organiſirung anknüpfen, erſcheinen als Fragen des Rechts des öffentlichen Bildungsweſens.

Zunächſt treten damit dieſe Fachanſtalten in dieſelbe Reihe mit270 den öffentlichen Vorbildungsanſtalten. Allein vermöge ihres Objekts haben ſie dennoch einen andern Charakter. Sie können nicht für jeden Ort hergeſtellt werden; die Verwaltung kann nicht fordern, daß wie bei den Staatsſchulen, jede größere Gemeinde ſolche Anſtalten errichte. Sie müſſen daher im engeren Sinne des Wortes Staats - oder Reichs - anſtalten ſein; der Staat muß ihre Koſten tragen, und muß daher auch ihre Verwaltung leiten. Allein anderſeits ſind ſie doch zugleich wiſſenſchaftliche Lehranſtalten. Sie ſollen daher an der großen Er - rungenſchaft Theil nehmen, welche die Univerſitäten aus der ſtändiſchen Epoche uns erhalten haben, der Selbſtverwaltung ihrer geiſtigen, wiſſenſchaftlichen Funktion durch die eigenen Lehrkörper. In der That treten ſie erſt damit in den Rang der höchſten Fachbildungs - anſtalten ein, und der Hauptbeweis des richtigen Verſtändniſſes ihrer Aufgabe von Seiten der Regierungen Deutſchlands beſteht eben in der Uebertragung dieſes großen Princips des Univerſitätslebens auf jene wirthſchaftlichen Fachbildungsanſtalten.

2) Die Fragen des Lehrſyſtems derſelben ſind nicht minder be - deutſam. Wir haben drei Hauptpunkte für dieſelben zu beweiſen.

Der erſte Punkt betrifft das Verhältniß vom Syſteme der Vor - bildungsanſtalten und zwar einmal welche Art, und dann welche Klaſſe derſelben als genügende Vorbereitung angeſehen werden ſoll. Die Antwort iſt nach der Natur der Sache einfach. Das ganze Sy - ſtem der Fortbildungsſchulen iſt nicht fähig, als Vorbildung für die Fachbildung zu gelten; nur die Realſchulen und die Realgymnaſien können das Recht zum Eintritt in die letztere geben. Dabei darf man als unzweifelhaft annehmen, daß die Abſolvirung der höchſten Klaſſen der letzteren für die drei letzteren Arten der Fachbildungsſchulen ge - fordert werden muß, während die erſten Arten ſich mit der Abſol - virung der untern Klaſſen (Unterrealſchule als höhere Bürgerſchule) begnügen können. Das Eintreten muß im einzelnen Falle beſtimmt werden. Auf dieſe Weiſe ſchließt ſich hier das Syſtem der Fachbildung äußerlich formell ab, und gerade in dieſem Sinne ſind die Realſchulen Vorbildungsanſtalten, während ſie für alle diejenigen, die nicht in ſolche Fachbildungsanſtalten eintraten, den Abſchluß der Bildung dar - bieten. Das bedarf keiner weitern Darlegung.

Der zweite Punkt betrifft den Lehrplan. Der Lehrplan iſt auch hier, wie bei der gelehrten Bildung, nicht mehr Angelegenheit des ſubjektiven Ermeſſens, denn das zu Lernende enthält die theore - tiſchen Bedingungen einer öffentlichen Funktion, und die Verwaltung hat daher mit der Pflicht zugleich das Recht, maßgebenden Einfluß auf die Gegenſtände und den Gang der Lehre zu nehmen ein Recht,271 das dieſelbe auch in vollem Maße auszuüben pflegt, denn die Lehr - kurſe ſind allenthalben ſtreng geſetzlich vorgeſchrieben. Für dieſen Plan nun müſſen zwei Geſichtspunkte maßgebend werden, und es iſt von entſcheidender Bedeutung, daß Pädagogik und Verwaltungsrecht gleich ſehr auf ſie Rückſicht nehmen.

Der erſte iſt einfach der Grundſatz, daß jede dieſer Fachſchulen vermöge ihrer ſpeciellen Aufgabe natürlich auch ihren ſpeciellen, unter Mitwirkung der Lehrer geordneten Studienplan aufſtelle. Der zweite dagegen enthält die Forderung, daß dieſe Fachbildungen zugleich die allgemeine Bildung enthalten und darbieten, und ſomit die Er - weiterung des geiſtigen Geſichtskreiſes mit den ſpeciellen Kenntniſſen zugleich gewinnen ſollen. Daß beide Aufgaben nothwendig ſind, iſt kein Zweifel. Die erſte bedeutet das Verhältniß dieſer Fachbildung zur Praxis, die zweite das zur Wiſſenſchaft. Das, worauf es an - kommt, iſt daher die Beſtimmung des Verhältniſſes, in welchem beide zu einander ſtehen ſollen. Dieſe Beſtimmung aber iſt Sache der Verwaltungslehre.

Dafür insbeſondre gibt es nun zwei Syſteme. Das erſte und allgemeinſte beſteht darin, in jeder einzelnen Fachbildungsanſtalt die allgemein wiſſenſchaftliche Bildung mit der Specialbildung, ſo weit die Verhältniſſe es zulaſſen, zu verbinden. Das zweite enthält die un - klare und gänzlich unausführbare Vorſtellung von einer höchſten wirth - ſchaftlichen Bildungsanſtalt, welche den andern einzelnen Anſtalten gegenüber gleichſam die Stellung der Univerſität zu vertreten habe, und neben der die übrigen Anſtalten daher als untergeordnete Glieder ſtehen ſollen. Das dieſer letztern Vorſtellung zum Grunde liegende, unverarbeitete Gefühl iſt das, daß das ganze wirthſchaftliche Bil - dungsweſen nur ſeinem Inhalt nach zwar von dem gelehrten weſent - lich verſchiedenes, aber dennoch ſeiner wiſſenſchaftlichen Bedeutung nach gleichberechtigtes Syſtem enthalte, und daher in denſelben Formen, aber äußerlich beſtimmt getrennt, als ein großer Bildungsorganismus ſich hinzuſtellen beſtimmt ſei. Seinen poſitiven Ausdruck hat dieſes Gefühl in dem Satze gefunden, daß die polytechniſchen Anſtalten dieſe volkswirthſchaftlichen oder techniſchen Univerſitäten ſeien, oder dazu ausgebildet werden müſſen, ohne daß man bisher zugleich im Stande geweſen wäre, ſich dabei über das Verhältniß der übrigen Fachbildungs - anſtalten zu einem ſolchen polytechniſchen Inſtitut Rechenſchaft ab - zulegen.

Es iſt auf den erſten Blick klar, daß dieß theoretiſch eine voll - kommen falſche und praktiſch unausführbare Vorſtellung iſt. Ihre formale Conſequenz wäre offenbar, daß nicht eben bloß Technik und272 Naturwiſſenſchaft, ſondern auch Landbau, Forſtweſen, Schifffahrt, und gewerbliche Kunſt gleichſam als Fakultäten in die polytechniſchen Schulen aufgenommen werden müßten, was ſchon an und für ſich, ſelbſt äußerlich, unthunlich iſt. Die polytechniſche Univerſität iſt ſchon deßhalb nicht darzuſtellen. Allein der Widerſpruch iſt ein viel tieferer, wirklicherer. Die Vorausſetzung jeder Univerſität, das, was ſie eigent - lich zur Univerſität macht, beſteht darin, daß das alle Fakultäten Umſchließende und Vereinende wieder eine ſelbſtändige Fakultät (die philoſophiſche) iſt, welche die geiſtige Einheit des Verſchiedenen zu einer ſelbſtändigen Aufgabe der Bildung macht. Nun aber iſt es klar, daß die Technik, die Lehre von den mechaniſch oder chemiſch wirkenden Kräften der Natur, dieſe Einheit nicht bietet, ſo wenig als die bloße Nationalökonomie oder die Statiſtik. Das was die techniſchen oder polytechniſchen Schulen lehren, iſt ſelbſt nichts als Theil des Ganzen; ſie ſind in der That nur die Fachbildungsanſtalten für Bau - und Maſchinenweſen, und ſtehen ſomit einfach neben den übrigen Fach - ſchulen. Der Verſuch, durch einfache äußerliche Hinzufügung aller höheren, auf die wirthſchaftliche Bildung bezüglichen Fächer zu der techniſchen Fachbildung dem Polytechnikum die Funktion der Univer - ſität beizulegen, muß daher ſtets mißlingen, ſchon phyſiſch deßhalb, weil die ſpecielle techniſche Bildung doch die Anſprüche, die ſie an die Zeit der Schüler macht, entweder die allgemeinen Fächer erdrückt, oder von dieſen erdrückt wird. Der entſchiedenſte Verſuch, jenen Gedanken zu verwirklichen, hat die Wiener polytechniſche Anſtalt in ihrer neuen Organiſation gemacht, und dieſer Verſuch muß nach dieſer Rich - tung als ein vollkommen mißlungener angeſehen werden, da die Theil - nahme an den rein techniſchen Gebieten die Betheiligung ſelbſt an der allgemeinen volkswirthſchaftlichen Bildung, namentlich Nationalöko - nomie und Statiſtik, zu einer bloßen Form machen muß. Man muß daher principiell davon ausgehen, daß jede jener Fachſchulen ihr ſpe - cielles Gebiet hat; und daß es nicht ihre Beſtimmung iſt, das All - gemeine dieſes Gebietes zu erſchöpfen, ſondern vielmehr nur die An - wendung derſelben auf das wirthſchaftliche Leben und ſeine großen Unternehmungen zu lehren. Die übrigen Fachbildungsanſtalten be - zeichnen ſchon durch ihren Namen, was in dieſem Sinne ihr Gegen - ſtand iſt. Die polytechniſche Schule, auf ihr organiſches Maß zurück - geführt, iſt die Lehre von der Anwendung der natürlichen Kräfte in zwei ganz beſtimmten Gebieten, der Baukunde und der Maſchinenkunde. Alles andere liegt außerhalb ihres Kreiſes, und muß in der unnatür - lichen Verbindung mit dieſen beſchränkten Specialfächern eben ſo zu Grunde gehen, als wenn man eine mediciniſche Fakultät mit einer273 philoſophiſchen verbinden, und Vorträge und Studien beider für alle Hörer obligatoriſch machen wollte. Der großartig, aber einſeitig an - gelegte Verſuch des Wiener Polytechnikums iſt daher von großem In - tereſſe, kann aber nur als ein Beweis für die Unmöglichkeit angeſehen werden, auf dieſem Wege das Ziel zu erreichen. Es iſt vielmehr auch theoretiſch der ohnehin praktiſch nicht abzuweiſende Satz als maßgebend anzuſehen, daß die allgemeine wirthſchaftliche Bildung in die ein - zelne Fachbildungsſchule aufgenommen, und hier ſo weit thunlich dar - geboten werden muß, und daß der Lehrplan dieſer Anſtalten ſpeciell für jede einzelne aufzuſtellen iſt, was auch in der That allent - halben mit gutem Rechte geſchieht.

Allerdings aber bleibt dabei die keineswegs unbedeutſame Frage übrig, ob denn nun das verhältnißmäßig wenige, was die letzteren für die allgemein wirthſchaftliche Bildung bieten können, für das geſammte wirthſchaftliche Bildungsweſen zu genügen habe? Es iſt das große Verdienſt der polytechniſchen Inſtitute, dieſe Frage ernſtlich angeregt zu haben. Offenbar wird ſie es ſein, welche, indem ſie alle jene Specialanſtalten wieder als ein Ganzes zuſammen faſſen lehrt, die Idee der höheren wiſſenſchaftlichen Einheit in derſelben lebendig erhält. In ihr beſteht die gegenwärtige wirthſchaftliche Berufsbildungsfrage; nur von ihr kann von dem künftigen wirthſchaftlichen höheren Berufs - bildungsſyſtem im Unterrichtsweſen die Rede ſein.

Um ſie nun zu beantworten, muß dasjenige Gebiet beſtimmt werden, das einerſeits jene Einheit aller dieſer Specialfächer unzweifel - haft umfaßt, und andrerſeits für alle gleich praktiſch verwendbar und wichtig iſt. Das nun iſt weder Philoſophie noch Geſchichte, weder Nationalökonomie noch Statiſtik, ſondern das iſt die Lehre vom öffent - lichen Recht in ihrer Anwendung auf den wirthſchaftlichen, öffentlichen Beruf, oder die Verwaltungslehre und das Verwaltungsrecht. Die erſtere zeigt jede wirthſchaftliche Berufsbildung in ihrer öffentlichen Bedeutung, in ihrem Eingreifen in das Geſammtleben, in ihrer orga - niſchen Stellung zur Geſammtheit; die zweite zeigt, wie ſie in dieſer Stellung durch den Willen dieſer Geſammtheit, durch Geſetz und Ver - ordnung, theils in Polizei -, theils in Volkswirthſchaftspflege vom Staate beſtimmt wird. Die Verwaltungslehre iſt daher in der That das wiſſenſchaftliche Bewußtſein des Staats von ſeiner Volkswirth - ſchaftspflege, das Verwaltungsrecht die Formulirung ſeiner Thätigkeit für die letztere. Beide ſind es, in denen alles das, was jene An - ſtalten lehren, als Theil und Moment eines größern Ganzen erſcheint, beide bieten diejenigen Beziehungen dar, in welchen jene Fachbildungen und Fächer mit dem öffentlichen Leben in Berührung ſtehen; beideStein, die Verwaltungslehre. V. 18274geben daher dasjenige, was jene gemeinſam umfaßt, und doch ſelbſt nur wieder als Theil eines größern Ganzen erſcheint. In ihnen liegt daher die Löſung des Problems, welches mit der wirthſchaftlichen Fachbildung gekommen iſt. Die Verwaltungslehre und das Verwal - tungsrecht bilden das für die letztere, was Philoſophie und Geſchichte für die Fakultäten ſind; der Uebergang zu der Gemeinſchaft mit den Studien der juriſtiſchen Fakultät wird dann in Nationalökonomie und Statiſtik gegeben, und erſt auf dieſer Baſis darf man von einem or - ganiſchen Syſtem der wirthſchaftlichen Fachbildung reden.

Zunächſt als formelle Frage erſcheint die, ob die Fachbildung für Verwaltungslehre und Recht ein Theil der Univerſität, oder ein Theil der wirthſchaftlichen, ſpeciell der techniſchen Anſtalten bilden ſoll. In der That aber kann die Sache kaum zweifelhaft erſcheinen. Die natür - liche Stellung iſt die Anlehnung an die Univerſität, und zwar als ein innerhalb der juriſtiſch-ſtaatswiſſenſchaftlichen Fakultät beſtehendes Glied der letzteren. Abgeſehen von allen wiſſenſchaftlichen und dog - matiſchen Gründen ſprechen dafür auch praktiſche Gründe in entſchei - dender Weiſe. Wir betreten damit das letzte Gebiet der öffentlichen Lehrordnungsfrage der wirthſchaftlichen Fachbildung.

Durch das Auftreten der letzteren nämlich iſt das weite und un - beſtimmte Gebiet der Cameralien eigentlich verſchwunden und ihre Fächer ſind gewiſſermaßen heimathslos geworden. Dennoch iſt es kein Zweifel, daß die Verwaltung, während ſie für gewiſſe Gebiete mit der allgemein ſtaatswiſſenſchaftlichen Bildung des Juriſten ſich genügen kann, für andere eine ſpecielle Fachbildung wünſchen muß, der die Breite einer wiſſenſchaftlichen Baſis fehlt, die aber dennoch innerhalb ihres Kreiſes ihre theoretiſche Grundlage fordert (z. B. Zoll -, Poſt -, Eiſenbahn -, Steuerverwaltung ꝛc.). Für dieſe Berufe iſt mit der neuen Ordnung die organiſche Fachbildung verſchwunden, und es iſt der Widerſpruch entſtanden, daß der Staat zwar ein Prüfungs -, nicht aber ein Bildungsſyſtem für dieſelben beſitzt. So lange nun die Verwaltung ſelbſt noch eine mechaniſche war, konnte das genügen. Allein das Auf - treten der Volksvertretungen und der Publiciſtik macht es ſchon jetzt unmöglich, eine wiſſenſchaftliche Bildung durch dieſe mechaniſche Routine zu erſetzen. Die Verwaltung muß daher über kurz oder lang dazu ſchrei - ten auch für dieſe, neben der ſtreng volkswirthſchaftlichen Fachbildung ſtehende ſtaatswirthſchaftliche Bildung Lehrorgane und einen Lehrplans aufzuſtellen, der wiederum auch hier in dem Zuſammenhange mit dem Ganzen ſein rechtes lebendiges Element empfangen ſoll. Da nun kann wiederum nur geſchehen, indem dieſe Lehrgegenſtände als das aufgefaßt und aufgeſtellt werden, was ſie ſind, als Theile der275 Verwaltungslehre und ihres Rechts. Die Cameralia haben den Ruhm, das wiſſenſchaftliche Element auch für dieſe Gebiete feſtgehalten zu haben; die Verwaltungslehre hat die Aufgabe, daſſelbe zu einem organi - ſchen Ganzen ſyſtematiſch zu entwickeln.

Auf dieſe Weiſe beruht nun das Syſtem des Lehrplanes für die (volks - und ſtaats -) wirthſchaftliche Fachbildung auf dem Princip, daß jede Fachbildungsanſtalt ihren eigenen Lehrplan habe, daß aber die höchſte wiſſenſchaftliche Einheit nicht etwa in einem Polytechnikum, ſondern in der Verwaltungslehre an den Univerſitäten liegen muß, die dann freilich wieder vermöge ihres vielartigen Stoffes einen eigenen Lehrplan fordert, deſſen Baſis übrigens einfach iſt. Derſelbe muß aus Einem Jahrgang, und kann aus zweien beſtehen. Er enthält Vorleſungen über den allgemeinen Theil, beſtehend aus Nationalökonomie, Statiſtik und den Inſtitutionen der Verwaltungslehre; es iſt gar nichts dagegen einzuwenden, daß die letzteren im zweiten Semeſter gehört werden. Der beſondere Theil enthält das poſitive Verwaltungsrecht der einzelnen Fächer (z. B. Bergrecht, Baurecht, Maſchinenpolizei, Waſſerrecht, Gewerberecht, Forſtrecht, geiſtiges Eigenthumsrecht, Land - wirthſchaftsrecht etwa mit Geſinderecht, daneben die Elemente des Wechſelrechts, des Grundbuchsrechts, des Wegerechts, des Poſtweſens, Zollweſens, Münzweſens u. ſ. w.) in der Weiſe, daß jeder wirthſchaft - liche Fachmann ſein Verwaltungsrecht höre. Die Specialität gerade dieſer Fächer iſt von hoher Wichtigkeit; ihren praktiſchen Werth wird niemand beſtreiten; da jeder nur Ein, höchſtens zwei von dieſen (kleinen) Collegien hören wird, ſo bleibt die Zeit durch Betheiligung an den all - gemeinen Univerſitätscollegien den Blick zu erweitern; der Werth dieſer inneren Verbindung mit den letztern iſt nicht zweifelhaft; und ſo wird gerade auf dieſe Weiſe dasjenige auch äußerlich hergeſtellt, was in der höheren Natur der Sache liegt, das Aufſtellen einer formalen Einheit des Bildungsweſens, welche die innere geiſtige Einheit zum geltenden Ausdruck bringt. Die Ausführung des Einzelnen gehört nicht hierher. Gewiß iſt aber, daß nur dadurch auch in das dritte Gebiet endgültige Klarheit gebracht werden kann, die Studienpflicht und das Prüfungsweſen.

Was nun dieſe beiden Punkte betrifft, ſo iſt es allerdings klar, daß von einer durchgreifenden Aufſtellung derſelben wie bei der gelehrten Fach - bildung keine Rede ſein kann; dem widerſpricht die Freiheit des wirthſchaft - lichen Berufes. Wo aber dieſer Beruf eine öffentliche, ſelbſtändige, wirth - ſchaftliche Funktion enthält (Schiffer, Forſtleute, Bergmänner, Bauleute, Maſchinenbauer), da hat die Verwaltung das Recht und die Aufgabe, ein Minimum der Berufsbildung zu fordern, als Sicherung des Geſammtinter - eſſes, das ſich der Benützung dieſer beſtimmten Perſonen nicht entziehen276 kann. Das Mittel dafür iſt zunächſt ein Prüfungsweſen. Aus demſelben erzeugt ſich von ſelbſt ein geſetzlicher Studienplan, mit der Pflicht der Schüler, ſich nach demſelben zu verhalten. Der Regel nach iſt derſelbe ſehr minutiös und ſtrenge gehalten und darauf berechnet, die Selbſt - thätigkeit der Lernenden durch Arbeiten in und für die Anſtalt faſt ganz zu erſetzen. Das iſt ein Mangel. Der Begriff der Lernfreiheit exiſtirt noch gar nicht für dieſe wirthſchaftliche Fachbildung; aber er wird auch kommen. Und für ſie wie für die gelehrte Bildung ſprechen wir den Satz aus, daß auch hier der Bildungsproceß in zwei Elementen beſteht, von denen keins das andere ganz abſorbiren darf, in dem Elemente des ob - jektiven Lernens und dem der ſubjektiven Selbſtthätigkeit. Völlige Lern - freiheit unter Aufhebung jeder Vorſchrift iſt eben ſo falſch als völlige Abſorbirung der geſammten Lernkraft durch zu große Zahl von obligaten Fächern. Die Neigung wendet ſich jetzt nach der letztern Richtung zu. Der Gegenſatz wird kommen. In dem richtigen Maße für beide liegt das Wahre, weil es der Natur der beiden Faktoren entſpricht. Die Fachmänner ſollen für jede Art der Fachbildung dieß Maß finden. Die Verwaltungslehre hat an dem obigen Princip feſtzuhalten.

Dem entſprechend kann die Verwaltung ein Prüfungsſyſtem als rechtliche Bedingung der Berufsausübung nur für diejenigen Fächer aufſtellen, in denen aus volkswirtſchaftlichen Rückſichten jenes Mini - mum gefordert werden muß; nicht bloß für die Staatsbeamteten (Zoll -, Steuer -, Grundbuch -, Poſt -, Forſt -, Bau - u. ſ. w.), ſondern auch für rein wirthſchaftliche Erwerbszweige (Civilbau, Maſchinenbau ꝛc.). Wo da - gegen dieß nicht der Fall iſt, muß ſie ſtatt eines Rechts der beſtan - denen Prüfung ein Recht auf Beſtehen der Prüfung und mithin auf Ertheilung eines Zeugniſſes anerkennen, und die Lehrer ver - pflichten, ein ſolches zu ertheilen, es dem Einzelnen und dem Publikum überlaſſend, dieſen Zeugniſſen den ihnen geeignet ſcheinenden Werth beizu - legen. Daß ſie einen ſolchen haben und behalten werden, wird wohl nicht in Frage ſtehen; nicht das letzte Element deſſelben beſteht in dem indirekten Einfluß, den ein ſolcher Werth auf die Anſtrengungen des Lehrkörpers ausübt; denn dieſer Werth iſt die öffentliche Ehre des letztern.

Demgemäß nun dürfen wir zur Verdeutlichung dieſer Sätze viel - leicht auch hier ein Schema aufſtellen.

Wirthſchaftliche Fachbildung.

  • A. Produktionsſchulen (etwa vierjähriger Curſus).
    • Erſter Theil: Curſus der Specialanſtalten. Vorbildung auf einer der beiden Vorbildungsanſtalten. Abgangszeugniß derſelben als Aufnahmszeugniß. Etwa dreijähriger Curſus. Jede hat eigenen Lehrplan. Abgangsprüfung.
    • 277
    • Zweiter Theil: Verwaltungsrechtlicher Curſus an der Univerſität. Aufnahme ohne Abgangsprüfung der Specialfachſchule, auch gegen bloße Abgangsprüfung der Vorbildungsanſtalten. Ein - bis zweijähriger Curſus. Ohne Pflicht, aber mit dem Recht auf Abgangsprüfung.
  • B. Handelsſchulen. Frei, mit freier Prüfung. Recht auf Theil - nahme an dem verwaltungsrechtlichen Curſus.

Die nächſte Aufgabe der auf alle dieſe Fragen bezüglichen Literatur wird wohl darin beſtehen, ſich von dem gegenwärtigen Zuſtande zu befreien, der, wie ſchon erwähnt, den ganz beſtimmten Charakter hat, alle Fragen durch die Unterſuchung der polytechniſchen zu beantworten und mit der Organiſation der letzteren dieß ganze Gebiet für definitiv erledigt zu halten. Es iſt ein großer Mangel, daß die geſammte Fachbil - dung der Landwirthſchaft, gewerblichen Kunſt, Forſt - und Bergwirthſchaft, und Schifffahrt ſo gut als gar nicht exiſtent betrachtet wird, wo es ſich um die höchſte reale Fachbildung handelt. Doch darf man den Technikern dieſe große Einſeitigkeit nicht verargen, die alle ihre Thätig - keit in der reinen Technik oder Polytechnik erſchöpfen. In der That ſoll man endlich die noch vielfach vorhandene Anſicht beſeitigen, als ob die höchſt untergeordnete franzöſiſche École polytechnique das Muſter der deutſchen polytechniſchen Anſtalten ſei. Die letzteren ſind vielmehr ein ächt deutſches Inſtitut, deſſen Weſen das Beſtreben iſt, die höchſte und allgemeinſte wirthſchaftliche Bildung ſpeciell mit der techniſchen zu verbinden, was ein entſchiedener Irrthum für die Ausführung, aber richtig für die Auffaſſung iſt. Selbſt die neueſte, an Mittheilungen reiche Schrift von Koriſtka über die polytechniſchen Inſtitute der verſchiedenen Länder Europas hat in dieſer Beziehung von dem alten Standpunkt ſich nicht losmachen können.

Was nun das gegebene Recht und die Geſetzgebung betrifft, ſo ergibt ſich aus dem Obigen der Grund, weßhalb es keine Gleichheit und Gemeinſchaft der letzteren gibt; nicht einmal in den einzelnen Staaten iſt dieſelbe in ein Ganzes zuſammengefaßt. Da, wo ſie noch am meiſten ſyſtematiſch auftritt, wie in Bayern, beſchäftigt ſie ſich doch wieder nur mit dem techniſchen Element der Bildung.

Sie hat vielleicht volles Recht, in dieſer Beziehung auf die Aus - bildung eines ſelbſtändigen Lehramtes zu warten; denn hier wie immer wird ſich Deutſchland für ſein Bildungsweſen dadurch auszeichnen, daß es ſeine Geſetze nach dem Vorgange der wiſſenſchaftlichen Behand - lung beſtimmt. Bei dieſer Verſchiedenheit iſt nun auch eine mittelbare278 Vergleichung der wirthſchaftlichen Fachbildungsſyſteme und Anſtalten noch nicht thunlich. Es muß genügen, diejenigen Punkte hervorzuheben, welche den Charakter derſelben bilden.

Dieſer Charakter beruht zuerſt auf dem Verhältniß zur wirth - ſchaftlichen Vorbildung, namentlich dem Realſchulſyſtem; maßgebend iſt die Entſcheidung über die Frage, ob ein Abgangszeugniß des letzteren für den Eintritt in die erſteren gefordert wird oder nicht.

Das Verhältniß des wirthſchaftlichen Fachbildungsſyſtemes zum ge - ſammten Bildungsweſen iſt in der ſyſtematiſchen Aufſtellung von Special - ſchulen einerſeits und für die höhere Bildung weſentlich in der Berück - ſichtigung der Staatswiſſenſchaften als Lehr - und Prüfungsgegen - ſtand gegeben.

Die Auffaſſung des Bildungsproceſſes und ſeines Umfanges iſt ausgedrückt in dem Klaſſenſyſtem, welches das Lehrſyſtem in ſich aufnimmt und damit den Umfang der ſpeciellen Fachbildung charakteriſirt.

Das Verhältniß derſelben zum öffentlichen Dienſt und damit die formelle und öffentliche Anerkennung des Berufes iſt gegeben durch das Prüfungsſyſtem und zwar weſentlich durch die Beſtimmung, ob und wie weit die beſtandene Prüfung das öffentliche Recht zur Ausübung des Berufes gibt.

Neben dem, in jenen Momenten gegebenen Syſtem der Staats - anſtalten der wirthſchaftlichen Fachbildung ſind nun die Privatanſtalten, die Verkehrs - oder Handelsſchulen, von nicht geringer Bedeutung. Sie ſind noch ſehr örtlich, aber im Weſentlichen gleichartig. Das Erſte wäre hier, eine tüchtige und nach ſpeciellen Geſichtspunkten zu Werke gehende Statiſtik derſelben aufzuſtellen, wie Brachelli ſie in ſeinen Staaten Europas begonnen hat. Erſt dann dürfte eine ſyſtematiſche Behand - lung des poſitiven Rechts mit Erfolg thunlich ſein. Die Hauptdaten ſind vor der Hand folgende.

Oeſterreich. Syſtem: 1) Polytechniſches Inſtitut (Organ. Statut vom 17. Okt. 1865. Allgemeine Abtheilung; vier Fachſchulen (Bau, Maſchinen, Chemie). Vorausſetzung: Realſchulprüfung oder Obergymnaſien. Jahreszeugniſſe; Abgangsprüfung mit Diplom; Lehrer - weſen dem Univerſitätsweſen nachgebildet. Staatswiſſenſchaften dabei nicht obligat und kein Gegenſtand der Prüfung (höhere Gewerbeſchulen fehlen dafür). (Techniſches) Johanneum in Graz. 2) Landwirth - ſchaftliche Lehranſtalt. Eine in Ungariſch-Altenburg (Organ. vom 31. Okt. 1850) mit zweijährigem Curs. 3) Forſtlehranſtalt: eine in Mariabrunn (Organ. vom 27. April 1852). 4) Bergweſen: Berg - Akademie zu Chemnitz (Organ. vom 25. März 1851). Bergſchulen in Vordernberg (Organ. vom 21. Sept. 1848), Leoben und Przibram279 (Organ. vom 6. Febr. 1849). 5) Schifffahrt: Nautiſche Schule in Trieſt (Organ. vom 23. Febr. 1851). 6) Handelsakademie in Wien 1863. Handelsſchule in Reichenberg.

Preußen. Syſtem: 1) Gewerbe-Inſtitut zu Berlin (Neue Organ. vom 23. Auguſt 1860). Allgemeine techniſche Abtheilung; drei Fächer (Mechanik, Chemie, Seeſchiffsbau), Realſchule oder Obergym - naſien. Ohne Lehrzwang; Abgangszeugniß ohne Prüfung. 2) Bau - akademie (Neue Organ. von 1849 und 18. März 1855); bloß für Bauweſen; zweijähriger Curſus; ohne Prüfung; nur mit Dienſtprüfung für den Staatsdienſt. Damit verbunden die Bau - und Gewerbe - ſchule in Berlin (Winterkurſe, 1854); 3) Landwirthſchaft: landw. Staatslehranſtalten: Greifswald (Organ ſeit 1850), Bonn, Oppeln (1847), Waldau (Rönne II. §. 229 u. 455). Daneben zahlreiche landwirthſchaftliche Lehranſtalten theils der Gemeinden, theils Privat - unternehmungen mit ſtaatlicher Unterſtützung, theils ohne dieſelben (Franz, preuß. Staat I. 123; Rönne II. 445). Gärtnerlehranſtalt zu Sansſouci und in Erfurt (Rönne, Unterrichtsweſen II. 361). 4) Forſtweſen: höhere Forſtlehranſtalt zu Neu-Eberswalde (Regulativ vom 7. Febr. 1864), Forſtſchulen in Königsberg und Düben; Jagd - Lehrinſtitut zu Berlin (Rönne, Unterrichtsweſen II. 362). 5) Berg - weſen: Berg-Akademie, Berlin 1866; daneben Bergſchulen in ſämmtlichen Bergrevieren für untere Beamtete. 6) Schifffahrt: Navigationsſchulen, ſechs (Organiſation vom 24. April 1863; Rönne, Staatsrecht II. §. 228). 7) Handelsakademie: Danzig (1835), Berlin (1843) mit Staatsunterſtützungen; ferner bei Franz, preuß. Staat I. 230). 8) Webeſchule in Elberfeld mit künſtleriſcher Vorbildung ſeit 1853. Außer den, mit allen dieſen Inſtituten ver - bundenen Prüfungen erſtreckt ſich das Prüfungsſyſtem auch über dieſe ganze Fachbildung hinaus und hat die Regierung faſt die Stellung und Aufgabe der alten Zunft übernommen. Syſtem der Handwerker - Prüfungen (Allgem. Gewerbeordnung von 1845; Verordnung vom 9. Febr. 1849 und Geſetz vom 15. Mai 1854); Bauhandwerker - Prüfung; ebend. Buchhändler - und Buchdrucker-Prüfung (Preßgeſetz vom 12. Mai 1851), ja ſogar neben dem ärztlichen Heil - perſonal die Abdecker und Caſtrirer nach Reglement vom 29. Sep - tember 1846.

Bayern. 1) Fabriks-Ingenieurſchule (Schulordnung von 1861 mit den Aufgaben und Abtheilungen der obigen polytechniſchen Schulen); 2) polytechniſche Schule als höhere Landmeſſerſchule, un - klar; 3) die polytechniſchen Schulen von München (1827), Nürn - berg (1833) und Augsburg waren eigentlich höhere Gewerbeſchulen. 280Die neue Organiſation der techniſchen Lehranſtalten vom 14. Mai 1864 hat jetzt eine eigentliche polytechniſche Schule mit Einer allge - meinen und vier Fachabtheilungen und Abgangsprüfungen als Staats - anſtalt hergeſtellt (ſ. Auſtria 1864. S. 253). Ein Jahrescurs gilt auch als Grundlage zur Zulaſſung zum Zollweſen (Bekanntmachung vom 25. Auguſt 1864). Die Stellung der Univerſitäten iſt durch Mi - niſterialerlaß vom 19. Auguſt 1839 und 23. November 1840 als die leitende für die höchſte gewerbliche Bildung erkannt (Pözl, Verwaltungs - recht §. 154); 4) Landwirthſchaft. Landw. Centralſchule Weihen - Stephan (organiſirt am 18. Sept. 1852); Prüfungsordnung vom April 1864 (Auſtria 1864. Nr. 26); Ackerbauſchule von Schleißheim (1847), Triesdorf (1856), Neudeck (1857); daneben Verſuch von Muſter - wirthſchaften, Kreis-Wieſenbauſchule u. a. (Pözl §. 146). 4) Forſt - weſen. Forſtſchule Aſchaffenburg (1844) für Staatsdienſt, mit einem Jahr Univerſitätsſtudium! 5) Bergweſen. Ein zweijähriger Curs an der ſtaatswirthſchaftlichen Fakultät in München. 6) Kunſtberuf, Civilbau (königl. Akademie der Künſte in München).

Hannover. 1) Polytechniſche Schule in Hannover ſeit 1831 (Karmarſch, die polytechniſche Schule in Hannover 1856). Maſchinen - bau und Chemie. Baugewerkeſchule zu Nienburg. Prüfungsordnung für die Baufächer ſeit 1847 verſchieden; Maſchinenbau vom 7. Oktober 1852; landwirthſchaftliche Akademie zu Weende (Geffken bei Schmid hat nichts weiter; auch Karmarſch nicht).

Sachſen. 1) Polytechniſche Schule in Dresden 1828 (neue Or - ganiſation vom 14. März 1855); Staatsprüfungsordnung für Techniker vom 24. April 1852; 2) k. Gewerbeſchule (Baugewerke und mecha - niſche Gewerke); Chemnitz; 3) Landwirths - und Forſtſchule Tharand; 4) Handelsſchulen in Leipzig, Dresden, Chemnitz u. a. m. ; 5) Prüfungs - ordnung der Techniker vom 24. December 1851 (dreijährige praktiſche Uebungen und vier Arten der Diplome).

Baden. 1) Polytechniſche Schule ſeit Verordnung vom 7. Okt. 1825; ſchon damals: Allgemeine Klaſſe, mathematiſche Klaſſe, Handels - und Gewerbeklaſſe; Fachſchule für die Baum - (ſeit 1852) mit Forſtſchule verbunden; Staatsprüfungsordnung der Ingenieur-Candidaten (unter Aufhebung der früheren vom 6. April 1837), vom 20. Sept. 1844. Daran ſchließt ſich die Organiſation des Bauweſens durch Ver - ordnung vom 15. Juni 1859 und die Prüfungsordnung für das Civilbaufach von demſelben Datum. 2) Forſtweſen: Vorbereitungs - curs der Forſteleven an der polytechniſchen Schule; dann Beſuch einer auswärtigen Forſtanſtalt oder einer Univerſität (Prüfungsordnung vom 15. Januar 1835).

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Württemberg. 1) Polytechniſche Schule ſeit 1829, neue Organiſation von 1847 und 1862 (ſ. Mohl, Württemb. Verwaltungs - recht §. 214). 2) Bauweſen: Prüfungsordnung vom 22. Auguſt 1843 (mit einer theoretiſchen und einer praktiſchen Prüfung). 3) Landwirth - ſchaft und Forſtwirthſchaft: Inſtitut zu Hohenheim ſeit 1818. 4 ) Prü - fungsordnung für das Berg -, Hütten - und Salinenfach (theoretiſche und praktiſche) vom 30. December 1852. 5 ) Prüfungsordnung für die Feldmeſſer vom 25. November 1849 (ohne nothwendige polytechniſche Vorbildung). 6) Kaufmänniſche Fortbildungsſchule in Stuttgart (mit unterem und oberem Curs).

In Braunſchweig iſt ſeit 1835 zu dem Carolinum eine techniſche und eine mercantile Abtheilung hinzugetreten. In Kurheſſen beſteht die höhere Gewerbeſchule ſeit 1832, reorganiſirt 1853; in Heſſen-Darm - ſtadt eine ähnliche ſeit 1835; welche ſo weit thunlich alle Aufgaben der obigen Fachbildungsanſtalten haben.

Die ſpeciellen ſtatiſtiſchen (kurzen) Angaben über alle einzelnen in den deutſchen kleineren Staaten beſtehenden wirthſchaftlichen Fachbil - dungsanſtalten enthält wohl allein Brachelli in ſeiner Staatenkunde Europas S. 566 ff.

Was Holland betrifft, ſo iſt ſeine wirthſchaftliche Fachbildung in das Geſetz vom 2. Mai 1863 über den mittleren Unterricht als integri - render Theil deſſelben aufgenommen und zwar im (einſeitigen) Gegen - ſatz zum gelehrten ( höheren ) Unterricht. Das Geſetz erkennt dabei die landwirthſchaftliche Schule und die polytechniſche Schule als Theile des erſteren an und gibt das genauere Programm Art. 19. Die polytechniſche Schule (Hauptſtück II. ) iſt ſelbſtändig behandelt und beſtimmt, namentlich für Ingenieure; die Bau - und Schiffsbaukunde ſind darin aufgenommen; ebenſo Volkswirthſchaftslehre und Verwaltungs - recht. Auch dieß Programm iſt offenbar zu weitumfaſſend und beruht auf denſelben Vorſtellungen, wie das des Wiener polytechniſchen Inſti - tuts, mit all ſeinen Vorzügen und üblen Folgen.

Vergleicht man die vorliegenden Angaben mit dem, was im Weſen der volkswirthſchaftlichen Fachbildung liegt und von derſelben gefordert werden muß, ſo iſt es kein Zweifel, daß die letztere in Deutſchland noch weit hinter der wiſſenſchaftlichen ſowohl in organiſcher innerer Klarheit und Einheit als in allgemeiner Ausdehnung zurückſteht. Die große Lebendigkeit, die in dieſem Gebiete herrſcht, läßt jedoch mit Beſtimmt - heit vorherſagen, daß daſſelbe an Gleichmäßigkeit und Durchbildung nicht lange auf einen entſcheidenden Fortſchritt zu warten haben wird, wenn nur erſt die Grundbegriffe über das Nothwendige und Erreichbare ſich auch hier geklärt haben werden.

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Die neueſte fachmänniſch aufgefaßte und ſehr beachtenswerthe Ar - beit in dieſem Gebiet, die das Verhältniß zur Elementarbildung zugleich theoretiſch und praktiſch zur vollen Geltung bringt, iſt Dr. H. W. Pabſt (über landwirthſchaftliche Fortbildungsſchulen und Wanderlehrer, ſowie über die Mittel zur Bildung und Belehrung des Bauernſtandes über - haupt. Wien 1867). Die Schrift iſt zunächſt an die landwirthſchaft - lichen Geſellſchaften und Vereine adreſſirt, die Rathſchläge des Verfaſſers aber umfaſſen folgende ſechs Abtheilungen: 1) Vervollkommnung des Volksſchulweſens; 2) allgemeiner Fortbildungsunterricht mit Begründung der landwirthſchaftlichen Berufsbildung, anlehnend an die Volksſchule; 3) landwirthſchaftliche Wanderlehrer; 4) Ortsvereine (winterliche Abend - verſammlungen) zur Beſprechung der Maßregeln zum landwirthſchaft - lichen Fortſchritte; 5) Verbreitung belehrender Schriften unter dem Bauernſtande; 6) Ackerbauſchulen für Bauernſöhne.

Drittes Gebiet. Das künſtleriſche Berufsbildungsweſen.

Die Kunſt iſt die freie äußere That, welche einen inneren Seelen - zuſtand in einer äußeren Erſcheinung darſtellt. Sie iſt daher in ihrer Bildung, wie in dem, was ſie leiſtet, Sache des Einzelnen. Sie iſt eine Lebensaufgabe; aber ſie iſt unfähig, eine öffentliche Pflicht zu werden; und nur langſam und unter beſonderen Verhältniſſen bildet ſich aus ihr das, was wir einen öffentlichen Beruf und einen Stand nennen. Erſt aber auf dieſem Punkte tritt die Kunſt aus ihrer ethiſchen Sphäre in das rechtliche Leben des Staats hinein und läßt die Ein - wirkung der Verwaltung auf ſich und ihre Leiſtungen zu. Und die Ge - ſammtheit dieſer Thätigkeiten der Verwaltung, mit welcher ſie die Bildung für den künſtleriſchen Beruf fördert und ordnet, nennen wir das künſt - leriſche Berufsbildungsweſen.

Man kann nun in dieſem künſtleriſchen Berufsbildungsweſen im Allgemeinen drei Stadien unterſcheiden, die wieder zu einander in dem - ſelben Verhältniß ſtehen, wie alle ſolche Entwicklungsepochen, daß näm - lich jedes derſelben die frühere nicht vernichtet, ſondern ſie vielmehr in ſich aufnimmt und in ihrer Weiſe verarbeitet.

Das erſte Stadium iſt dasjenige, wo die künſtleriſche Bildung den Charakter und die Geſtalt einer rein individuellen hat: ſie wird hier gegeben und empfangen durch das Anſchließen des Jüngers an den Meiſter. Es iſt rein der Name und die perſönliche Bedeutung des letzteren, welche einen größeren Kreis von jungen Kräften einem hervorragenden Namen zuführen; der perſönliche und künſtleriſche An - ſchluß an den Lehrer, das Arbeiten unter ſeiner Leitung und oft in283 ſeiner eigenen Werkſtatt erzeugen dann den (kunſtgeſchichtlichen) Begriff der Schule, der aber mit dem öffentlichen Recht und der Verwaltung noch nichts zu thun hat und ſich auch als kunſthiſtoriſcher Begriff dauernd in den folgenden Epochen erhält.

Das zweite Stadium dagegen beginnt mit der Zeit, wo mit dem Siege des Königthums die Fürſten den Glanz der Krone auch in der poſitiven Forderung der Kunſt nach allen Richtungen zu befördern ſuchen. Das Streben nach dieſem Ziel erzeugt zwei Erſcheinungen, die für die Geſchichte der Kunſtbildung wichtiger werden, als für die der Kunſt ſelbſt. Einerſeits gehen aus demſelben die großen Kunſtſammlungen und Kunſtanſtalten (Gallerien, Muſeum, Theater, Muſikconſer - vatorien ꝛc. ) hervor, welche gleich von Anfang an den ſeit jener Zeit immer mehr ausgebildeten Charakter von öffentlichen Anſtalten für die allgemeine Bildung haben; anderſeits aber ſchließen ſich an dieſe An - ſtalten die erſten noch unorganiſchen Verſuche einer formellen Kunſt - bildung an, welche dann in den großen Reichsakademien ihre feſte Organiſation und öffentliche Geſtalt empfangen. Das 18. Jahrhundert iſt die Zeit dieſer Entwicklung, die ſich in Deutſchland an das fran - zöſiſche Muſter anſchließt, jedoch faſt allgemein ohne die Vorzüge des letzteren.

Das dritte Stadium gehört unſerm Jahrhundert an. Sein Charakter beruht auf einer, wenigſtens für Deutſchland ganz neuen Auffaſſung. Die induſtrielle Epoche, die mit der franzöſiſchen Revolution den Rhein überſchreitet, erzeugt zuerſt die Vorſtellung von dem wirthſchaftlichen Werthe der Kunſt überhaupt, dann die Erkenntniß, daß die reine Kunſt am Ende die einzig dauernde Grundlage der gewerblichen Kunſt ſei. Die Kunſtbildung tritt damit in die Reihe der großen Aufgaben der Verwaltung hinein und wird zu einem öffentlich rechtlichen Theile des Bildungsweſens, obgleich die Theorie ſich noch immer nicht daran ge - wöhnen kann, es als ſolches ſyſtematiſch zu behandeln. Naturgemäß war es dabei, daß ſich dieſe neu organiſirte Kunſtbildung einerſeits an die großen Sammlungen anſchloß und anderſeits eine Organiſation empfing, deren Hauptpunkte denn doch am Ende ſich nach der wiſſen - ſchaftlichen Bildung richteten, während ſie zu gleicher Zeit, namentlich in den Zeichenſchulen, ſich dem rein gewerblichen Bildungsweſen anſchloß. Dabei blieb natürlich der Privatthätigkeit ſtets das meiſte überlaſſen; wo aber die Verwaltung auftrat, führte ſie auch hier ſo weit möglich den Unterſchied zwiſchen Vorbildung und Fachbildung durch, und ſo hat jeder Zweig der Kunſt ſeine eigene Berufsbildung empfangen, die zwar, wie es ihre Natur mit ſich bringt, nur eine örtliche iſt, die aber, und darin liegt die hohe Bedeutung für das geſammte Bildungsweſen,284 allmählig und ſicher das künſtleriſche Element ſowohl in die Volks - ſchule als in die für daſſelbe empfänglichen Gebiete der Berufsbildung belebend und veredelnd hinüberträgt. Dieſer Proceß beruht ſeinerſeits auf zwei großen Elementen, welche wiederum ebenſo ſehr der gewerblichen Fortbildung, als dem künſtleri - ſchen Berufe angehören. Das iſt einerſeits das Zeichnen, das neben ſeiner techniſchen Bedeutung eine nicht geringere künſtleriſche hat, und dann die Sammlung und Aufſtellung von Muſtern aller Art, an die ſich Vorträge, Lehre und Uebungen in mannigfachſter Weiſe anſchließen. Die Gewerbelehre iſt ſich über den hohen Werth dieſer Verbindung der Kunſt mit der Induſtrie klar, und ernſtliche Beſtrebungen ſind, wenn auch noch vereinzelt, hiefür eingeleitet.

Stellt man auf dieſe Weiſe die Grundzüge der Organiſation der Kunſtbildung auf, ſo ergibt ſich folgendes mehr oder weniger ausge - bildete Syſtem, auf welches im Grunde nicht bloß die Vergleichung deſſen, was bereits für die Kunſtbildung geſchehen iſt, als auch das, was dafür in ihrer Verſchmelzung mit dem praktiſchen Leben von Seiten der Verwaltung geſchehen kann und ſoll, zurückzuführen iſt.

Alle Kunſtbildung ſteht unter dem Unterrichtsminiſterium. Die großen ſelbſtändigen Kunſtbildungsanſtalten haben eine den wiſſen - ſchaftlichen Fachbildungsanſtalten entſprechende Organiſation und ſind zugleich das berathende Organ für das öffentliche Recht der Kunſt. Die Unterſcheidung von Vorbildung und Fachbildung iſt feſtzuhalten und durchzuführen. Endlich iſt die Elementarbildung der Kunſt als Singunterricht für die Muſik, als Zeichenunterricht für das Real - gewerbe und als künſtleriſche Architecturzeichnung in die Baulehre ſyſte - matiſch aufzunehmen.

Bei der künſtleriſchen Bildung begegnen wir einem vollſtändigen Mangel der öffentlich rechtlichen Literatur, der um ſo beachtenswerther iſt, als bedeutende Anregungen dafür doch ſchon in der ſtaatswiſſen - ſchaftlichen Literatur aus dem Anfange unſers Jahrhunderts vorhanden ſind. Allerdings gehen dieſelben zunächſt von der claſſiſchen Bildung aus; aber durch dieſelbe gewinnt der Satz ſeine Geltung, daß die äſthetiſche Bildung einen organiſchen Theil des geſammten Bildungs - weſens ſein müſſe. Schon Soden (Staats-Nationalbildung 1821) führt die Zeichenſchulen und die Zeichenakademien, die Muſik und Singſchulen, und ſelbſt die Theaterſchulen, letztere ſogar als einen dringenden Be - darf in ſeinem Syſtem auf §. 287. 288. 289. Dahlberg (Perikles über den Einfluß der ſchönen Künſte auf das öffentliche Glück 1806). 285Auch Jahn in ſeinem Volksthum vertritt den Werth der künſtleriſchen Bildung im Volke, und Aretin macht dieſelbe zu einem Theile der conſtitutionellen Verwaltung (Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie Bd. II. 1. Abtheilung §. 12). Freilich bleibt das alles, ebenſo wie ſpäter Pölitz, bloß bei dem ethiſch-pädagogiſchen Elemente ſtehen. Die eigentliche Verwaltungslehre in der damaligen Form der Polizeiwiſſen - ſchaft läßt die Sache ganz eng; ſo noch Mohl Bd. I. §. 76 82. Aber freilich hat ja auch Schmid die künſtleriſche Erziehung und Bildung nicht mit aufgenommen. Der einzige Punkt, wo ſie dann wieder eine Stelle fand, war die Verwaltungsgeſetzkunde und zwar ein - fach, weil ſie eine Reihe von Organiſationen und geltenden Beſtimmungen enthält, welche mitgetheilt werden wollten. Eine Statiſtik für Deutſch - land fehlt darüber gänzlich; was von Seiten freier Vereine geſchieht, iſt ſo gut als unbekannt; ſelbſt Männer wie Kugler und Schnaaſe haben ſich nur ganz gelegentlich mit dem Gegenſtande beſchäftigt. Hoffen wir, daß dieſes ja auch gewerblich ſo wichtige Gebiet nicht lange mehr brach liegen bleibe. Die bekannten geltenden Inſtitutionen und Be - ſtimmungen ſind folgende.

Oeſterreich. Die Akademie der bildenden Künſte in Wien. Die Unterſcheidung zwiſchen Vorbildung und Fachbildung, und damit die Aufſtellung der Vorbereitungs -, der Architektur - und Muſterſchule durch die Organiſation vom 8. Oktober 1850 aufgeſtellt. Neues Statut von 1865, welches den Gedanken durchführt, die Selbſtverwaltung der Lehre den Profeſſoren nach dem Muſter der Univerſität zu übergeben. Conſervatorium der Muſik in Wien. Zeichnen als Theil des Realunterrichts. (Stubenrauch Bd. II. S. 417).

Preußen. Akademie der Künſte in Berlin ſeit 1699 für alle Zweige der bildenden Kunſt; im Grunde ein Selbſtverwaltungs - körper für die Kunſtbildung, indem derſelben weſentlich die Leitung der folgenden Bildungsanſtalten übergeben iſt. Sie iſt, wie die Wiener, der franzöſiſchen nachgebildet. Die unter ihrer Leitung ſtehenden Kunſt - bildungsanſtalten ſind: 1) die akademiſche Zeichnenſchule als Vor - bildungsanſtalt, die zugleich für andere als berufsmäßige Künſtler be - ſtimmt iſt. 2) Die Kunſt und Gewerkſchule für die der freien Kunſtgewerbe; 3) Die künſtleriſche Fachſchule in der Akademie für Künſtler ſelbſt in Berlin mit Aufnahmsprüfung. Außerhalb Berlins ſind ihrer Leitung untergeordnet die Kunſt -, Bau - und Gewerkſchulen in Breslau, Danzig, Köln, Magdeburg und Königsberg (Rönne Bd. II. §. 231 und 463). Die Muſik iſt gleichfalls ſpeciell vertreten. Königl. Muſikinſtitut in Berlin, Fachbildungsanſtalt für Heranbildung von Organiſten, Cantoren ꝛc. (Organiſation vom 20. Juli 1833); ähnlich286 in Koblenz und Düſſeldorf, Trier und Breslau, zum Theil mit Staatszuſchuß. Daneben die ſchon 1791 geſtiftete Singakademie in Berlin, und Geſang - und Muſikvereine.

Bayern. Die Akademie der bildenden Künſte iſt zugleich eine Künſtlergeſellſchaft und ein Lehrinſtitut. Erſte Organiſation vom 13. Mai 1808; zweite Verordnung vom 1. Auguſt 1846 umfaßt alle Gebiete; zugleich theoretiſcher Unterricht. Erzgießerei in München. Höhere Zeichnenſchule in Nürnberg (Pözl, Verwaltungsrecht §. 198).

Württemberg. Die Kunſtſchule in Stuttgart iſt im Grunde eine Vorbildungsanſtalt und ſteht zugleich mit der Stuttgarter Gewerbe - ſchule in Verbindung (Mohl, Verwaltungsrecht §. 214).

Bemerkenswerth iſt die Angabe von L. Roy bei Schmid, Ency - clopädie Bd. III. S. 568, wornach in Holland allein 127 Schulen für den Volksgeſang exiſtiren ſollen.

Frankreichs Berufsbildungsſyſtem.
I. Charakter und hiſtoriſche Entwicklung bis zur Gegenwart.

Wir müſſen wohl daran feſthalten, daß erſt, wenn man Deutſch - lands großartiges Berufsbildungsſyſtem, wie wir es zu entrollen ver - ſucht haben, vor Augen hat, auch dasjenige Frankreichs recht verſtänd - lich wird. Und mit Beziehung auf die eben dargelegten Grundlagen iſt es deßhalb nunmehr auch möglich, für Frankreich nicht bloß kürzer zu ſein, ſondern auch den Charakter des Berufsbildungsweſens in Frankreich mit dem des deutſchen Volkes zu vergleichen.

Wie es die höhere Natur der Sache fordert, waren und ſind aller - dings die großen Gebiete und Grundlagen auch dieſes Theiles des Bildungsweſens in beiden Völkern gleich. Der tiefgehende Unterſchied, der dennoch die Verſchiedenheit ſo groß werden läßt, daß oft ſelbſt die formale Vergleichung ſchwer wird, liegt daher nicht in der Natur der Bildung ſelbſt, ſondern in den großen hiſtoriſchen Ereigniſſen, welche über den Bildungsproceß in jedem Volke entſcheiden. Wir haben nun zu zeigen verſucht, daß dieſe Ereigniſſe nicht eben unmittelbar in das öffentliche Recht der Bildung eingreifen, ſondern daß vielmehr dieß öffentliche Recht auch hier ſtets die natürliche und einfache Conſequenz der Umgeſtaltung der geſellſchaftlichen Ordnung war und ſein wird. Die Geſchichte des franzöſiſchen Bildungsweſens überhaupt, ſpeciell überhaupt die ſeines Berufsbildungsweſens iſt daher nur ein Theil ſeiner ſocialen, im Verwaltungsrecht zum formalen Abſchluß ge - deihenden Umgeſtaltungen.

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Im vorigen Jahrhundert waren die inneren Zuſtände Frankreichs denen des deutſchen Reiches faſt ganz gleichartig. Das Berufsbildungs - ſyſtem hat daher auch ſeinerſeits genau und in allem Weſentlichen dieſelben Formen und Rechte wie das deutſche, indem man dieß vor ſich vorüber - gehen läßt, ſchaut man jenes. Auch Frankreich hatte ſeine Univerſitäten, ſeine hohen Schulen aller Art, ſeine Zünfte und Innungen mit dem Zunft - recht, ſein Princip der ſtändiſchen Körperſchaftlichkeit, ſeine örtliche Geſtalt des öffentlichen Rechts überhaupt, ſeines Bildungsweſens im Beſondern.

Da kam die Revolution, die man jetzt endlich wohl nur als einen ſocialen Proceß anerkennen wird. Jeder ſocialen Umwälzung aber folgt, wo ſie eine gewaltſame und plötzliche iſt, um ſo gewaltſamer und plötz - licher die Diktatur. Das Weſen der Diktatur im Innern iſt die rück - ſichtsloſe Unterordnung alles Einzelnen und Beſondern unter die cen - trale Gewalt. Sie hat nicht bloß die Macht, ſie übernimmt auch die Aufgabe, die geſammte Verwaltung nach ihrem einheitlichen Willen zu ordnen; ihr Gefühl oder ihr Bewußtſein ſagt ihr, daß die neue Geſtalt der Geſellſchaft, welche ſie vertritt, erſt dann eine geſicherte iſt, wenn die ganze innere Verwaltung im Sinne und Intereſſe derſelben geordnet und mithin die ganze innere Verwaltung der frühern Zeit gründlich vernichtet iſt. Dieſer großen Erſcheinung begegnen wir immer in der Geſchichte der ſocialen Bewegungen und werden ihr immer begegnen: in allen andern Dingen, und ſo auch im Bildungsweſen im Allgemeinen und vorzüglich im Berufsbildungsweſen.

So wie daher die Revolution geſiegt hatte, war natürlich eine vollſtändige Umwälzung des Berufsbildungsweſens unvermeidlich. Dieſe Umwälzung hatte aber, wie immer, zwei große Stadien. Das erſte war das rein negative, deſſen Inhalt die einfache, aber gründliche Vernichtung des bisherigen geſammten Bildungsſyſtemes ſein mußte. Erſt das zweite Stadium iſt das des poſitiven Aufbaues der neuen Ordnung. Wir haben ſchon darauf hingewieſen, daß die erſte Epoche vom Beginn der Revolution ungefähr bis zum Jahre 1808 dauert, wo die Université errichtet wird, von da an beginnt die neue Organiſation, die keineswegs eine fertige iſt.

Dieſer allgemeine hiſtoriſche Proceß nun gilt allerdings für das geſammte franzöſiſche Bildungsweſen, aber nirgends iſt er ſo deutlich und äußerlich ſo ſcharf von der bisherigen Zeit geſchieden, als in der Berufsbildung. Die Umgeſtaltung der letztern, obwohl den Geſammt - charakter der Umgeſtaltung der neuern Rechtsordnung an ſich tragend, iſt demnach ein ganz ſpecifiſcher Beitrag zur neuern Entwicklung Frank - reichs, und es iſt ziemlich fruchtlos, jene erſtern ohne ihren organiſchen, ja dominirenden Zuſammenhang mit der letztern auffaſſen zu wollen.

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Dieß erſte der beiden obigen Stadien des öffentlichen Berufsbildungs - weſens iſt nun das der Bildungsloſigkeit. Die Zünfte und In - nungen ſind aufgehoben, die Univerſitäten ſind verſchwunden. Es gibt weder Meiſter noch Geſellen, weder Doktoren noch Baccalauren. Jeder hilft ſich ſo gut er kann. Der Staat ſelbſt macht durchaus keine An - ſprüche mehr auf eine Fachbildung für ſeine Beamteten. Die Republik wählt nach der Geſinnungstüchtigkeit und nicht nach der Fähigkeit. Nicht einmal für das Richteramt wird in dieſer Zeit nach einer Be - fähigung gefragt; wozu auch, wenn man in dem Geſchwornengericht den Bürger zum Richter über Leben und Tod ſetzt, für das Civilrecht gelehrte Richter? Und hätte man ſie gewollt, was denn hätten dieſe Männer eigentlich lernen ſollen? Das alte Recht ward gründlich ver - nichtet, das neue war noch nicht da. Das Princip der Verwaltung war unbedingter amtlicher Gehorſam gegen die oberen Organe; dem zur Seite ging, wie es die Lehre von der vollziehenden Gewalt zeigt, der Grundſatz, daß die Handlungen dieſer Beamteten vor keinen Richter - ſtuhl gezogen, ſondern nur von der höheren Behörde im droit admini - stratif unterſucht und abgeurtheilt werden. Das Objekt der Fachbildung fehlte; wie konnte es eine Organiſation derſelben geben? Und daſſelbe galt für die wirthſchaftliche Welt vermöge der völligen Gewerbefreiheit. Eine Beſchränkung der letztern war undenkbar woher hätte eine Fachbildung für ſie kommen ſollen? So war die Bildungsloſigkeit dieſer Zeit nicht bloß eine Thatſache, ſondern ſie war die natürliche, unabweisbare Conſequenz der ſocialen Zuſtände, welche auf allen Punkten das Alte vernichtet hatten und das Neue erſt geſtalten ſollten.

Der große Proceß nun, welcher auf der neuen Baſis die neue öffentlich rechtliche Ordnung in allen Gebieten herſtellt, geht von Napoleon aus. Die Macht dieſes Mannes beruhte nicht zum geringſten Theile darauf, daß er zuerſt unter allen Männern der Revolution einen Sinn für die Verwaltung hatte. Er iſt der Schöpfer des gegenwärtigen Syſtems der Adminiſtration in Frankreich; er iſt auch der Schöpfer des Bildungsweſens. Aber auch in dieſer ſeiner mächtigen Schöpfung ſtand er unter den Geſetzen, welche für die Rechtsbildung die ewig geltenden bleiben.

So wie man nämlich in einem Volke die geſellſchaftlichen Unter - ſchiede wegnimmt, ſo verſchwindet auch die einzige Begründung für Unterſchiede des geltenden Rechts. Die abſolute Gleichheit erſcheint im Staat als abſolute Einheit ſeiner Verwaltung. Das nun gelangte ſofort unter Napoleon zur Geltung und von dieſem Standpunkt muß die Geſchichte des franzöſiſchen Bildungsweſens ſeit 1808 beobachtet werden.

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Als Napoleon die Codifikation fertig und die Verwaltung des Staats ſtreng geordnet hatte, mußten ihm in Beziehung auf das Berufsbildungsweſen zwei Fragen entſtehen. Die erſte war die, für welche Gebiete die Verwaltung eine Berufsbildung zu fordern habe. Die zweite war die, wie ſie organiſirt werden ſolle. Die ſocialen Zuſtände beantworteten die erſte, der Geſammtcharakter der Adminiſtra - tion die zweite Frage. Das Princip der vollen ſtaatsbürgerlichen Freiheit ſchloß nämlich die wirthſchaftliche Vorbildung von der Aufgabe des Staates grundſätzlich aus, jedoch allerdings nicht ohne Ausnahmen zuzulaſſen, und überwies dem Staate als Object ſeiner Thätigkeit nur den eigentlichen, öffentlichen Beruf; das Princip der ſtrengen Centraliſation dagegen ergänzte den Grundſatz, auch die Berufs - bildung unter die centrale Gewalt des Staats zu ſtellen, und ihr auf jedem Punkte Charakter und Form eines adminiſtrativen Organismus zu geben. So entſtand die Napoleoniſche Université. Sie iſt dem - gemäß einerſeits Ein das ganze franzöſiſche Bildungsweſen umfaſſen - des Ganze; ſie hat daher neben der Elementarbildung der instruction primaire auch die gelehrte Vorbildung in der instruction secondaire und die gelehrte Fachbildung in der instruction supérieure in ſich auf - genommen. Jene umfaßte unſer hohes Schulweſen, dieſes vertritt das Univerſitätsweſen, wenn auch ohne eine deutſche Univerſität in den von einander geſchiedenen ſelbſtändigen und ganz örtlich vertheilten Facultés. Damit hat Frankreich zwei große Elemente der höhern und freieren geiſtigen Bildung verloren, einerſeits die Idee der Einheit der Wiſſenſchaften, andererſeits die Selbſtändigkeit des Lehrkörpers. Es war ein wirklicher Fortſchritt in dieſer Napoleoniſchen Université mit ſeinem, das ganze Reich gleichmäßig umfaſſenden Corps enseignant gegen die erſte Epoche; aber es war zugleich in derſelben eine ſehr ernſte Gefahr gegen die freiere geiſtige Bewegung. Das nächſte aber, was hier als eigentlicher auch formell erkennbarer Mangel des ganzen Syſtems erſchien, war offenbar die Thatſache, daß jene große Idee der Einheit der Wiſſenſchaft, deren Träger die deutſchen Univerſitäten ſind, keinen Ausdruck gefunden hatte. Napoleon ſtand zu hoch, um das nicht zu ſehen; nicht hoch genug, um die Löſung dieſer Frage in einem Syſtem eigentlicher Univerſitäten zu ſichern. Er ſchuf daher ein zweites Organ, das eben dieſe ſpecifiſche Funktion zu vertreten hatte; das war das Institut de France, das die Geſammtheit der höchſten ge - lehrten Bildung in Frankreich als eine mächtige, alle Gebiete menſch - licher Erkenntniß in ſeinem Körper umfaſſende geiſtige Potenz vertreten ſollte, die eigentliche Univerſität in Frankreich im deutſchen Sinne mit wiſſenſchaftlicher und ſelbſt adminiſtrativer Selbſtändigkeit und eigenemStein, die Verwaltungslehre. V. 19290Wahlrecht, aber ohne Lehrerberuf, eine Univerſität der Gelehrten Frankreichs, aber nicht der Studirenden. Und damit denn im fran - zöſiſchen Leben noch einem mächtigen germaniſchen Elemente auch in der Lehre ſein Ausdruck werde, ließ er das für ſeine franzöſiſche Uni - versité ganz anomale Collège de France beſtehen, die einzige Anſtalt, in der noch eine freie geiſtige, dem deutſchen Leben ähnliche Be - wegung ſtattfinden möge. Alles übrige war in Lycées und Facultés nach den geographiſchen Académies mit dem Recteur und dem Préfet an der Spitze ſtreng bureaukratiſch geordnet, wie wir es früher bereits dargeſtellt haben. Das war und iſt die Napoleoniſche Université.

Hier zuerſt entſtand die weitere große Frage, wie ſich dann die wirthſchaftliche Berufsbildung daneben geſtalten werde. Dabei nun darf man nicht vergeſſen, daß es damals auch noch keine ſelbſtändige deutſche wirthſchaftliche Berufsbildung gab. Napoleon hatte daher in den ſocialen Zuſtänden keinen Anlaß, ſich ihrer anzunehmen, und in Deutſchland kein Vorbild, dem er ſich hätte anſchließen können. Er ließ ſie daher einfach ganz aus ſeinem Syſteme weg. Es ſchien vollkommen zu genügen, wenn die ſtärkere Betonung der ſogenannten exakten Wiſſenſchaften in den Lycées die allgemeinſte wirthſchaftliche Vorbildung darbot. Von Sonntagsſchulen konnte bei dem Zuſtande des Elementarunterrichts ohnehin keine Rede ſein, und Gewerbeſchulen hätten nur durch Autonomie der Gemeindebehörden errichtet werden können; es blieb daher nur übrig für gewiſſe unabweisbare techniſche Bedürfniſſe des Staatsdienſtes eine Specialbildung herzuſtellen. Das geſchah namentlich in der École des ponts et chaussées, und dann in einem dem franzöſiſchen Leben eigenthümlichen Anſchluß an die mili - täriſche Fachbildung in der École polytechnique und den Écoles militaires. Alles übrige ward dem Individuum überlaſſen, und da es dem In - dividuum überlaſſen war, ſo geſchah eben gar nichts. Das geſammte franzöſiſche Berufsbildungsſyſtem Napoleons ward eine bureaukratiſch geordnete gelehrte Berufsbildung.

Dieſes Syſtem hat nun bis zum zweiten Napoleon ausſchließlich geherrſcht. Nur einmal iſt es in der Zwiſchenzeit unter dem Miniſte - rium Guizot erſchüttert worden, aber nur für die Elementarbildung. Die gelehrte Bildung blieb ſich gleich, und die wirthſchaftliche hatte keine andere Vertretung als die oben erwähnte der ſehr vereinzelten Fach - ſchulen. Von einer allgemein wirthſchaftlichen Berufsbildung war gar keine Rede.

Unterdeſſen arbeitete Deutſchland in ſeiner neuen Entwicklung ruhig und raſtlos vorwärts. Seine gelehrte Berufsbildung ſtand ohne - hin auf feſter Baſis; das was es zu thun hatte, war vor allen Dingen291 eben die Herſtellung eines, das ganze Volk umfaſſenden wirthſchaft - lichen Bildungsſyſtems. Wir haben es bezeichnet; ſein Kern iſt einer - ſeits die Gewerbeſchule, andererſeits die Realſchule. Es gelang. Der Fortſchritt Deutſchlands war ſelbſt für die Selbſtüberſchätzung der Fran - zoſen auf die Dauer nicht zu verkennen. Schon die vierziger Jahre brachten eine dunkle Vorſtellung von der Bedeutung der Sache mit nach Frankreich; man fühlte, daß Frankreich dem deutſchen Beiſpiel nachfolgen müſſe, wenn es nicht überflügelt werden wolle. Allein da - mit entſtand nun die eigentliche Schwierigkeit. Das deutſche Syſtem der wirthſchaftlichen Bildung beruht auf der Selbſtverwaltung, und Selbſtverwaltung wollte und konnte das franzöſiſche Recht nicht geben; eine Einrichtung der wirthſchaftlichen Bildung von Staatswegen wußte man aber nicht zu formuliren. Die Literatur über die Frage blieb daher auf halbem Wege ſtehen; ſie vermochte namentlich nicht zwiſchen den Gewerbe - und Realſchulen zu unterſcheiden, und es blieb daher nichts übrig, als das allgemeine Gefühl, daß hier etwas geſchehen müſſe, um die Bildung des Arbeiterſtandes zu heben. Das war nun der Punkt, an dem die ſocialiſtiſche Bewegung die Sache im Jahre 1848 ergriff, ohne jedoch ſie noch klar zu verſtehen. Die Verfaſſung von 1848 nahm die éducation professionelle im Art. 13 in die Aufgaben des Staats auf; aber damit war noch wenig mehr als ein Wort gewonnen. Ebenſo blieb das Geſetz vom 15. März 1850 bei demſelben ſtehen; jedoch ſchwebt ſchon hier die Tendenz deutlich vor, eben Gewerbeſchulen zu errichten, ohne daß man zu der Idee einer höhern wirthſchaftlichen Volksbildung gelangt wäre. Man wußte, daß die Instruction primaire ungenügend ſei; man erkannte abſtract die Nothwendigkeit, die Entwicklung der Arbeiter zu fördern; aber man blieb anfangs bei der Anwendung auf den Bürgerſtand ſtehen. In der That war ihm bisher nichts geboten als das Gymnase; daſſelbe war bei weitem vorwiegend auf formale klaſſiſche Bildung angewieſen; für das wirthſchaftliche Bedürfniß war gar nicht geſorgt. Dieß letztere aber war am verſtändlichſten; das Beiſpiel der deutſchen Realſchulen lag vor; man hätte ſie gerne eingeführt, aber ſie hätten das ganze Syſtem der Université gebrochen. Wollte man daher die Idee der Realſchulen mit dem alten napoleoniſchen Princip vereinigen, ſo mußte man dieſe wirthſchaftliche Bildung zu einem Theile des allgemeinen Syſtems machen. Das nun geſchah durch das Geſetz von 1852, welches die letztere in der eigenthümlichen Form des ſogenannten Bifurcations - ſyſtems aufnahm, nach welchem die höchſte Abtheilung der Lycées ſich in eine gelehrte und eine wirthſchaftliche Abtheilung ſpaltete, eine Spal - tung, welche nur in den Facultés fortgeſetzt ward. Den Ausdruck dieſes292 Unterſchiedes bilden die Ausdrücke lettres als gelehrte und scien - ces als wirthſchaftliche Bildung, ſo daß im Grunde dieſer Sinn des letztern Wortes erſt ſeit 1852 in dieſer Weiſe beſtimmt worden iſt. Damit war dann der deutſche Gedanke des Realſchulweſens bis zu einem gewiſſen Grade verwirklicht, wenn auch in einer weſentlich andern Form, ohne die breite Baſis, welche die letztere hat, und namentlich ohne die derſelben eigenthümliche Selbſtverwaltung. Scheinbar war jetzt Frankreich hier voraus, da es in der section des sciences der Lycées die Oberrealſchule, und in den facultés des sciences die all - gemeine wirthſchaftliche Fachbildungsanſtalt beſaß, nach der Deutſch - land noch jetzt vergeblich ſtrebt. In Wirklichkeit freilich war die Sache anders, da die faculté des sciences denn doch nicht mehr gibt als eine gute deutſche Oberrealſchule, während daneben die Specialfach - ſchulen hier wie dort beſtehen bleiben. Der entſcheidende Unterſchied freilich beſtand darin, daß dieſe sections des sciences, eben weil ſie nur Staatsanſtalten waren, auch nur in derſelben geringen Anzahl vorkamen, wie die Lycées ſelbſt, von denen ſie hier einen Theil aus - machten, und daß ſomit die wirthſchaftliche Bildung hier immer eine ausnahmsweiſe der beſitzenden Klaſſen blieb. Mit der immer energi - ſcher hervortretenden Bedeutung des Arbeiterſtandes mußte daher nun die wirthſchaftliche Bildungsfrage ſich auch dieſem zuwenden. Der alte Gedanke der éducation professionelle ward wieder aufgenommen und die Frage entſtand, wie man neben dem Unterricht der sciences nun auch einen Arbeiterunterricht herſtellen könne. Man kann im Allge - meinen ſagen, daß dieſe Frage ſeit dem Jahr 1860 beſtimmt formulirt iſt. Es wird uns nicht verwundern, daß man dabei einerſeits ſich über den Unterſchied von Sonntags - und Gewerbeſchulen nicht recht klar iſt, und eben ſo wenig, daß man mehr darüber redet, als dafür handelt, da die erſte Bedingung, das energiſche Auftreten der Selbſtverwaltung, noch fehlt. Man hat es daher auch noch hier zu keiner Geſetzgebung gebracht, wie die von 1852 über das franzöſiſche Syſtem des Real - ſchulweſens; auch wird man es noch lange bei Einzelunternehmungen und allgemeinen Phraſen bewenden laſſen, ſo lange die Gemeinden nicht freier ſind; aber die Bahn iſt gebrochen, und aus den gegebenen Elementen kann bei ernſterem Erfaſſen der Sache ſich doch mit der Zeit ein Reſultat ergeben, das dem deutſchen Leben ſich nähert.

Dieß iſt im Allgemeinen der Entwicklungsgang. Und jetzt dürfte es von Werth ſein, die Vergleichung mit Deutſchland auf ein mög - lichſt einfaches Schema zurückzuführen, das vielleicht beide am verſtänd - lichſten macht.

Nur muß man dabei feſthalten, daß während Deutſchland grundſätzlich293 die wirthſchaftliche Bildung gleich von Anfang an ſelbſtändig mit eigenen Inſtituten, eigenem Lehrerweſen und eigenem Recht neben die gelehrte ſtellt, mit dem beſtändigen Streben, dennoch in dem höch - ſten Punkte wieder ſich mit derſelben einheitlich zu verbinden, die franzöſiſche vielmehr aus demſelben Organ, dem Lycée, ſich heraus - bildet, und ſich dann von der gelehrten förmlich ſyſtematiſch ſcheidet. Es ergibt ſich daraus das eigenthümliche Reſultat, daß Frankreich gerade vermöge ſeines übertriebenen Strebens nach Einförmigkeit that - ſächlich ein viel verwickelteres Syſtem der Berufsbildungsanſtalten be - ſitzt, als Deutſchland, das im Gegentheil durch die ſelbſtwirkende Natur der Sache ſich den großartigſten Organismus gewonnen hat, den die Geſchichte kennt.

Das Bild des franzöſiſchen Syſtems iſt in ſeinen Hauptzügen fol - gendes. Das Einzelne werden wir unten ausfüllen:

Die franzöſiſche Literatur über das Berufsbildungsweſen kann mit der deutſchen allerdings auch nicht entfernt einen Vergleich aushalten; es iſt aber von Intereſſe, ihre Hauptbewegung zu beobachten, weil die - ſelbe ſich unmittelbar an die Geſchichte anſchließt. Ihr weſentlicher In - halt beſteht dabei nicht etwa in einem Kampf gegen die Université als ſolche, ſondern vielmehr in dem Streben der wirthſchaftlichen Fach - bildung ihre geeignete Stellung neben der gelehrten zu erobern und zu ſichern. Die erſte bedeutende Arbeit über das ganze Syſtem war294 Guizots Essai sur l’histoire et sur l’état actuel de l’instruction publique en France 1816. Schon in den zwanziger Jahren beginnt aber die Literatur ſich ernſthaft der wirthſchaftlichen Bildung zuzuwenden und ſie zu fordern. M. C. Renouard (Considérations sur les la - cunes de l’éducation secondaire en France 1824); M. Gasc (Con - sidérations sur la nécessité et les moyens de réformer le système uni - versitaire 1829). Guizots Geſetzgebung von 1833, welche der Ge - meinde ihre Selbſtändigkeit in Unterrichtsſachen geben ſollte und nur zum Theil gab, richtete dann den Blick nach Deutſchland, Holland und England; namentlich V. Couſin hat in ſeinem Werk über Hollands Unterrichtsweſen (ſ. oben) und dann in dem Buche das dieſem folgt (De l’instruction publique dans quelques parties de l’Allemagne et particulièrement en Prusse 1840) neben der Freiheit der Gemeinde auch das wirthſchaftliche Bildungsweſen nachdrücklich hervorgehoben, ein Gedanke, den St. Marc Girardin (De l’instruction intermédiaire et de son état dans le midi de l’Allemagne 1835) ſchon früher betont hatte. Die Beſtrebungen Salvandys hatten zwar eine ſpecielle Richtung auf die gelehrte Bildung; aber kurz vor der letzten Revolution tritt die Forderung nach größerer Berückſichtigung der wirthſchaftlichen Bildung aufs neue hervor, als Vorläufer der Ereigniſſe der Jahre 1848 und 1850; namentlich heben wir hervor M. C. Desprets (Des col - lèges, de l’instruction professionelle et des facultés 1847) und die zweite bedeutende Arbeit von St. Marc Girardin (De l’instruction intermédiaire et de ses rapports avec l’instruction secondaire 1847). Vielleicht wäre ſchon damals etwas geſchehen, wenn die Februar-Revo - lution nicht alles öffentliche Leben auf das politiſche Gebiet hinüberge - drängt hätte. Doch erhielt ſich der Gedanke, und während dieſe ge - waltige Revolution die Université gar nicht unmittelbar berührte, ver - ſprach ſie im Art. 13 der Verfaſſung von 1848 die éducation professio - nelle. Nur wußte niemand recht, was damit zu machen ſei und welches Verhältniß dieſes Gebiet des Bildungsweſens zur Université haben ſolle. Der Miniſter des Unterrichts, Parieu ſetzte daher durch Erlaß vom 4. Juni 1850 eine Commiſſion nieder mit dem Auftrage: de préparer un plan d’organisation de l’enseignement professionel approprié aux lycées et collèges communaux. Der Bericht dieſer Commiſſion blieb demgemäß im Weſentlichen bei der Aufnahme des, derſelben dunkel vorſchwebenden deutſchen Realſchulweſens ſtehen, ohne zum Gewerbe - ſchulweſen überhaupt hinzugelangen; der Unterſchied beider ward nicht klar; und ſo entſtand das Geſetz von 1852 mit ſeinem Bifurcations - ſyſtem, das um ſo weniger den eigentlichen Ideen der Sache entſprach, als ſich die Berückſichtigung der wirthſchaftlichen Bildung in der295 Beſeitigung des Lateiniſchen für die Section des sciences und in einer etwas größeren Ausdehnung der Mathematik erſchöpfte. Von einem Gewerbe - oder Fortbildungsſchulweſen war keine Rede. Auch Pompée, früherer Fourieriſt, fühlte das in ſeinem hübſch geſchriebenen Buche Études sur l’education professionelle en France richtig heraus; doch entſtand außer einigen gelegentlichen Revue-Artikeln keine weitere Literatur der Frage. Erſt mit dem Jahre 1860 entſteht eine neue Bewegung, welche dießmal ſich mit richtigem Inſtinkt des eigentlichen Gewerbeſchul - weſens, alſo der wirklichen éducation professionelle zuwendet. Es iſt hier nicht mehr der Sohn des wohlhabenden Bürgers, ſondern der eigentliche Arbeiter, deſſen Bildung man fordert. Die Hauptſchriften über dieſe Frage ſind: Louis Reybaud, de l’enseignement profes - sionel en France (Revue de deux Mondes 1. Mai 1864); M. le Ber - trand, Étude sur l’enseignement professionel; Menu de St. Mes - nier, l’enseignement professionel, étude historique et critique; einen Verſuch, das engliſche wirthſchaftliche Bildungsweſen darzuſtellen von Marguérin und Motherée (de l’enseignement des classes moyennes et des classes ouvrières en Angleterre, rapport à Mr. le Préfet de la Seine). Viel Gerede und wenig Inhalt bei Audiganne (Les ouvriers d’à présent 1865 p. 90 sq.). Von einer Unterſuchung des gelehrten Bildungsweſens mit Ausnahme des juriſtiſchen (mehrere Auf - ſätze in der Revue de législation et de jurisprudence von Labou - laye, Wolowsky, Warnkönig u. a. weſentlich in Vertretung der hiſtoriſchen Rechtswiſſenſchaft nach deutſchen Vorbildern) iſt keine Rede; in der That hatte nur die kleine, aber ausgezeichnete rechtshiſtoriſche Schule Frankreichs eine klare Vorſtellung von dem Weſen der deutſchen Univerſitäten, Laboulaye am meiſten für die Jurisprudenz, Wolowski für die Staatswirthſchaften. Merkwürdig, daß die Medicin ganz zurück blieb. Die neueren Bearbeitungen wie die von Batbie, Laferrière (Droit admin. III. P. IV. ) beſchränken ſich auf die Darſtellung des geltenden Rechts. In der deutſchen Literatur iſt wohl L. Hahn der erſte, der das Unterrichtsweſen in Frankreich 1848 richtig und um - faſſend darſtellte, natürlich ohne Beziehung auf die ihm folgende Ge - ſetzgebung. Holtzapfel, Mittheilungen über Erziehung und Unterricht in Frankreich 1853; weſentlich pädagogiſch. Trefflich in ſeiner Art iſt der Artikel Frankreich von Bücheler bei Schmid Bd. II. mit (nicht vollſtändiger) Literatur; doch bezieht ſich derſelbe nur auf das Vor - bildungsweſen. Block hat in ſeinen verſchiedenen Dictionnaires mehrere ſehr gute Artikel; das poſitive Recht nebſt den Ausgaben der Geſetze von Jourdain Dict. de l’Administration, v. Instruction publique. Es möge hier geſtattet ſein, an dieſes Syſtem des franzöſiſchen296 Berufsbildungsweſens, wie wir es im Einzelnen darlegen werden, einen Blick auf das belgiſche anzuſchließen. Die Grundlage des belgiſchen Syſtems iſt aber auch hier der Unterſchied zwiſchen den Staatsanſtalten, den ſoge - nannten Athenées und den Gemeindeanſtalten als Colleges. In beiden iſt das Bifurcationsſyſtem gleichfalls durchgeführt, aber wo möglich noch unvollkommener als in Frankreich, namentlich ſeitdem die Prüfungen aus dem Griechiſchen ſeit 1849 ſpeciell, und die ganze Abiturienten - prüfung ſeit 1855 weggefallen ſind. Die Darſtellung von Le Roy bei Schmid Bd. I. S. 505 ff. gibt ein im Grunde nicht erfreu - liches Bild; doch iſt glücklicher Weiſe noch die Fachprüfung durch die Prüfungsjury erhalten, die freilich in ihrer Organiſation und ihrem Rechte ſo vielfach geändert ſcheinen, daß ſie kaum ihrem Zwecke ent - ſprechen dürften. Von einer Vergleichung mit Deutſchland iſt wohl keine Rede. Die Statiſtik bei Le Roy a. a. O. und bei Brachelli (Staaten Europas S. 557). Die techniſchen Schulen ſind in Belgien mit den Univerſitäten von Gent und Lüttich verbunden; eine Civil-In - genieurſchule in Gent und eine Kunſt -, Manufaktur - und Bergwerk - ſchule in Lüttich; alles nach franzöſiſchem Muſter, meiſt mit möglichſter, und dadurch durchaus unvortheilhafter Verbindung der verſchiedenen Zweige (Brachelli a. a. O. 571).

II. Das Syſtem. Charakter deſſelben.

Wir glauben nun einen Ueberblick des Syſtems in ſeinen einzelnen Theilen der bisherigen Darſtellung anſchließen zu müſſen; wenn die - ſelbe auch nicht vollſtändig genug ſein kann, um alle einzelnen Fragen zu löſen, ſo wird ſie doch das bisher im Allgemeinen Geſagte im Ein - zelnen beſtätigen. Zugleich aber dürfen wir einige weſentliche Be - merkungen über den Geiſt dieſes Syſtems vorausſenden.

Das Eigenthümliche des geſammten franzöſiſchen geiſtigen Lebens beſteht in einem tiefen Widerſpruch, unter dem es leidet. Das Ein - zelne iſt frei, aber das Syſtem iſt unfrei. Jede freie Bewegung tritt daher ſofort in Oppoſition, während ſie in Deutſchland für das Ganze förderlich wirkt. Das liegt in der doppelten Nationalität Frank - reichs, die aus romaniſchen und germaniſchen Elementen wunderbar ge - miſcht iſt, und die ſich gerade im geiſtigen Leben am deutlichſten zeigt. Daher denn auch ein beſtändiges Streben nach einer freieren Geſtaltung des Syſtems, ein Greifen nach dem engliſchen oder dem deutſchen Princip, ohne daß es zu einer durchgreifenden Neubildung gelangen konnte. Denn die Hauptſache, der Mangel an Selbſtändigkeit des297 Lehrerweſens und der Gemeinde iſt noch nie ernſtlich in Frage ge - kommen. Dieß nun aber gilt weſentlich von der Université. In der wirthſchaftlichen Fachbildung dagegen regt ſich ein anderer Geiſt. Freilich iſt die dem Realſchulweſen entſprechende Vorbildung in den sciences der Lycées dem régime universitaire mit unterworfen und die Collèges communaux ſind nicht viel beſſer daran; allein das in den Écoles professionelles enthaltene Fortbildungsweſen iſt ohne freie Verfügung der Gemeinden einerſeits und der Stifter andererſeits nicht denkbar. Daneben beſteht der Unterricht durch Privatunternehmungen, natürlich in um ſo ſtärkerer Blüthe, je weniger die ſtreng amtlichen Staatsan - ſtalten an Geiſt und Zahl, namentlich der nördlichen, mit germaniſchem Blut ſtark gemiſchten Provinzen genügen. Es iſt durch das Zuſammen - wirken aller dieſer Elemente ſehr ſchwer, ſich ein klares Bild über das Syſtem im Einzelnen zu verſchaffen, namentlich da die Statiſtik des Privatunterrichts, der eine ſo mächtige Rolle ſpielt und der ſeit 1850 faſt vollkommen frei, gänzlich fehlt und der Mangel an Staatsdienſt - prüfungen niemanden zwingt, für die amtliche Laufbahn die Staats - bildung zu abſolviren. Indeſſen müſſen doch zwei Momente hier hervor - gehoben werden, von denen das erſte über den pädagogiſchen und zum Theil ſocialen Charakter der Vorbildung, das zweite über den wiſſen - ſchaftlichen der Fachbildung entſcheidet. Das erſte iſt das Penſionat - und Bourſenſyſtem, das den Charakter der Erziehung in den Collèges beſtimmt, das zweite die Berufung der Profeſſoren, das über den Charakter der wiſſenſchaftlichen Thätigkeit der Fachmänner entſcheidet.

Der Grundzug der ganzen franzöſiſchen Verwaltung, alle Funktionen des Geſammtlebens der Staatsgewalt zu übergeben, fand in der Re - volution das meiſt kirchliche Syſtem der Penſionate vor. Das Pen - ſionat iſt nicht bloß ein Verhältniß, in welchem der Schüler an einem fremden Orte in Pflege genommen wird, ſondern iſt die, durch die ſyſte - matiſche Aufnahme der Kinder und Zöglinge in die Bildungsanſtalten durchgeführte Verbindung der Erziehung mit der Bildung. Das Penſionat iſt nicht ein Auskunftsmittel für fremde Kinder, und nicht ein Unternehmen auf Koſt und Pflege, ſondern iſt ein öffentlich recht - liches Syſtem zunächſt für das geſammte Vorbildungsweſen. Jedes Lyceum iſt principiell zugleich ein Penſionat; die Externen ſind dem Grundſatze nach die Ausnahmen. Die Regierung hat dieß Syſtem theils vorgefunden, theils ſanctionirt und befeſtigt durch das daran anſchließende Syſtem der ſtaatlichen Freiplätze, bourses, deren es in jedem Lyceum gibt. Dieß Syſtem tödtet die Selbſtändigkeit des Individuums vollſtändig. Es hat nicht bloß die wiſſenſchaftliche Vor - bildung gänzlich verdorben, indem, wie Bücheler ſehr richtig bemerkt,298 die Klaſſenſtunden dadurch zu bloßen Abhörungsſtunden für das außer - halb der Klaſſe Gelernte werden, es hat nicht bloß das Formelweſen und die geiſtige Abhängigkeit von der fremden Führung erzeugt, ſondern es iſt die Conſolidirung des ſocialen Unterſchiedes zwiſchen beſitzender und nicht beſitzender Klaſſe, da namentlich die niederen Klaſſen nicht die Mittel beſitzen, ihre Kinder in das Penſionnat zu ſchicken. Die übrigen pädagogiſchen Folgen haben wir hier nicht zu erwägen. So viel aber iſt klar, daß es dieß Syſtem iſt, welches auch bei gleichen formellen Ergebniſſen nicht dieſelben ethiſchen ergeben kann, wie das deutſche, wo der Knabe ſchon auf dem Gymnaſium oft vom elterlichen Hauſe getrennt, eine ſelbſtändige Stellung ſich zu ſchaffen gelehrt wird. Dennoch kann dieß Syſtem erſt beſeitigt werden, wenn die Gemeinden und Genoſſenſchaften ernſtlich die Berufsbildung in die Hand nehmen.

Die Berufung und Stellung der Profeſſoren, von der das ganze Univerſitätsleben zuletzt abhängt, iſt zweitens in Frankreich niemals richtig verſtanden, ſeitdem es ſeine centrale Université beſitzt. Das hat der ganzen gelehrten Fachbildung ihren ſpecifiſchen Charakter gegeben. Es wird am einfachſten dadurch ausgedrückt, daß Frankreich keine Univerſitätsbildung beſitzt, ſondern nur einzelne Fakultäten für die einzelnen Berufe. Aber auch in dieſen Fakultäten iſt das höchſte Element der geiſtigen Bildung, der wiſſenſchaftliche Zuſammen - hang der einzelnen Gebiete unter einander, und die Erzeugung einer Weltanſchauung durch Philoſophie, Geſchichte und Staatswiſſenſchaft nicht vorhanden. Sie ſind Anſtalten für den Erwerb der Berufs - kenntniſſe und nicht mehr. Ihre ganze Organiſation iſt rein amt - lich; ihre Lehrkörper haben keine Selbſtthätigkeit; von Lehr - und Beruf - freiheit iſt keine Rede, weil es ſich eben nicht um die höhere wiſſen - ſchaftliche und geiſtige Entwicklung, ſondern um die Brauchbarkeit für den öffentlichen Dienſt handelt. Das Collegium iſt daher eine Pflicht, nicht eine Aufgabe. Die Vorleſungen ſind in ihrem Objekt ſtreng vor - geſchrieben, wie namentlich die juriſtiſchen; eine ſyſtematiſche Behand - lung gibt es nicht; Geſchichte und Philoſophie fehlen; ſo fehlt der Fakultät die Univerſität, und dieſelbe iſt daher auch, trotz des gleichen Namens, keine deutſche Fakultät, ſondern eine reine Abrichtungsan - ſtalt für den öffentlichen Dienſt, die tief unter den deutſchen wiſſen - ſchaftlichen Körpern ſtehen. Auch dafür indeß iſt das Gefühl in Frank - reich nicht ganz verſchwunden. Das lebendige Bewußtſein, daß die Wiſſenſchaft ein Ganzes iſt, daß ſie ohne claſſiſche Grundlage auch in ihren einzelnen Fächern nie zu ihrer vollen Höhe gedeihen kann, hat ſich erhalten und wird immer wieder durch den Contact mit der deutſchen Wiſſenſchaft lebendig gehalten. Dieß nun zeigt ſich am deutlichſten in299 der Beſetzung der Lehrkanzeln. Da die Lehrer ihre ganz eng begränzte Aufgabe haben, ſo iſt auch für dieſe Beſetzung nicht etwa die allgemeine wiſſenſchaftliche Bildung, ſondern nur die beſchränkte Befähigung für das einzelne Fach nöthig. Die Beſetzung iſt daher eine Bewerbung, die auf ein offentliches Ausſchreiben, eben wie bei einer Berufung folgt, und bei der die Candidaten einen Concurs zu beſtehen haben eine Einrichtung, gegen welche bisher umſonſt die tüchtigſten Männer, wie Laboulaye und andere, mit ſpecieller Hinweiſung auf Deutſchland, ge - kämpft haben. Aus demſelben Grunde gibt es das unſchätzbare Inſtitut des Privatdocenten überhaupt nicht, ſchon darum nicht, weil man das Weſen des Collegiengeldes, dieſes Trägers der freien Wahl des Studirenden ſyſtematiſch nicht verſtanden hat. Natürlich fehlen auch die Berufungen von Seiten der einen Faculté an die andere; kurz alle die Momente, welche für Deutſchland innerhalb der geſetzlichen Gränzen die individuelle Fortbildung des Gelehrten anſpornen, ſind beſeitigt. Und dennoch iſt Frankreich ſo eigenthümlich geartet, daß neben dieſem verderblichen Syſtem der Université ſich das freie Element im Collège de France wieder erhalten hat! Wir verſuchen deßhalb jetzt das Einzelne dieſes Syſtems als Corollar des deutſchen geiſtigen Bildungsproceſſes hinzuſtellen.

A. Gelehrte Berufsbildung in Verbindung mit der wirthſchaft - lichen (Bifurcationsſyſtem in lettres und sciences).
I. Vorbildungsweſen: gelehrt und wirthſchaftlich (Instruction secondaire).

Das Vorbildungsweſen ſo weit es als Aufgabe der Regierung erſcheint, und daher der Université angehört, heißt mit ſeinem offi - ciellen Namen die Instruction secondaire. Dieſelbe wird nach dem - ſelben Syſtem verwaltet, wie die Instruction primaire (Académies, Recteur, Inspecteur) jedoch mit weſentlich verſchiedenem Recht der - ſelben bei den einzelnen Anſtalten. Die letztern erſcheinen wieder in drei Gruppen. Die erſte dieſer Gruppen wird gebildet durch die Geſammtheit der Staatsanſtalten, welche theils direkt als Lyceen unſern Gymnaſien entſprechen, theils indirekt als Collèges commu - naux etwas Aehnliches wie unſere Realgymnaſien bedeuten; die zweite Gruppe bilden die Privaterziehungsanſtalten, welche zum Theil das öffentliche Recht der Prüfungen haben, und ſomit den Lyceen zur Seite ſtehen; die Aufnahme des Bifurcationsſyſtems in dieſelben hängt von dem Unternehmen ab; die dritte Gruppe beſteht aus den rein geiſt - lichen petits séminaires, die nur in ſehr entfernter Verbindung mit der Université ſtehen.

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I. Lycées. Daß in dieſem Syſtem die Lycées die Hauptſache bilden, iſt klar. Allein gerade ſie zeigen, wie höchſt unvollkommen das ganze Vorbildungsweſen Frankreichs iſt, und zwar ganz abgeſehen von dem Princip der Bifurcation. Denn in der That reichen ſie nicht ein - mal der Zahl nach aus. Ins Leben gerufen durch das Geſetz vom 11. Flor. an X. ſollte wenigſtens Ein Lyceum für jedes Depar - tement aufgeſtellt werden); aber das iſt noch nicht einmal gegen - wärtig erreicht! (1809 35 Lyceen, 1859 erſt 68, jetzt 75). Eben ſo wenig haben die Collèges communaux dieſen Mangel erſetzen können. Das Geſetz von 1852 wiederholte den Beſchluß, wenigſtens Eins in jedem Departement herzuſtellen; wie geſagt, blieb auch dieß ohne Er - folg. Der Gang der Bildung in den Lyceen iſt übrigens für das ganze geiſtige Leben Frankreichs von Intereſſe. Die Lehrordnung be - ginnt nach dem Geſetz von 1802 noch mit der ſtrengen alten ſemina - riſtiſchen Bildung (Cours des langues anciennes und rhétorique). Allmälig ward dann das Bedürfniß nach praktiſcher Bildung um ſo lebhafter, als die Facultés mit ihrer ganz beſchränkten Fachbildung der klaſſiſchen Vorbildung nur geringen Werth gaben. Dabei zugleich rief die Vergleichung mit dem deutſchen Realſchulweſen das Streben nach etwas Aehnlichem hervor. So entſtand das neue Geſetz von 1852 (Fortoul), welches das Bifurcationsſyſtem in der dritten Abtheilung durchführt, indem es die wirthſchaftliche Bildung unter dem Namen der sciences von der wiſſenſchaftlichen oder lettres im Unterricht ſchei - det, während es ſie in der Anſtalt ſelbſt formell und materiell bei - ſammen läßt. Da nun das Lyceum auf Pensionnats gegründet iſt, ſo iſt das Lyceum dadurch die Vorbildungsanſtalt der geſamm - ten beſitzenden Klaſſe für alle Berufszweige geworden. In dieſem Sinne nimmt es in der unterſten Klaſſe faſt ſchon den Elementarunterricht auf, die Instruction primaire das Peuple erſetzend; in der zweiten Klaſſe (division de grammaire) die allgemeine, zugleich klaſſiſche Vorbildung, und in der dritten (division supérieure) dann die beiden Richtungen. Der Mangel an Lyceen hat nun nicht bloß die Écoles des particuliers hervorgerufen, ſondern iſt auch die Urſache der Entſtehung der theilweiſe vorkommenden ſogenannten Écoles pri - maires supérieures, welche im Grunde nur die erſte Lyceumsklaſſe mit einem Theil der zweiten ſelbſtändig als die eigentliche höhere Bürger - ſchule bildet. Durch die natürliche Concurrenz mit den Lyceen haben ſie nicht gedeihen können; das Geſetz vom 15. März 1850 nimmt ihnen den Charakter der öffentlichen Schulen, und geſtattet ſie nur (Bücheler bei Schmid S. 487). Sie ſind nach Jourdain (bei Block: In - struction primaire art. 139) als Écoles spéciales, professionelles,301 intermédiaires etc. zu rein wirthſchaftlichen Vorbildungsanſtalten und damit in der Université zu einem Theile der Instruction pri - maire geworden, da ſie keine Vorbildungs - ſondern jetzt Volks - oder Gewerbebildungsanſtalten ohne öffentliche Organiſation ſind.

Das Recht der Lycées wird in den franzöſiſchen Darſtellungen ſtets ſehr genau in Beziehung auf den Lehrdienſt und die Comp - tabilité behandelt; die Methodeologie und Pädagogik hat Bücheler a. a. O. einer ſcharfen, aber gerechten Kritik unterzogen. Die Haupt - punkte des öffentlichen Rechts ſind:

1) Verwaltung. Unter dem Proviseur, der wieder unter dem Recteur ſteht; reiner Beamteter, und ſeit dem Statut vom 4. September 1821 faſt ſouveräner Herr des ganzen Lyceums. Er ſollte urſprüng - lich ſowohl eine klaſſiſche als höhere gewerbliche Bildung beſitzen (Dekr. vom 17. März 1808); 31 docteurs ès lettres und bachelier ès scien - ces ſein; nach der Verordnung vom 26. März 1829 genügt eines von beiden. Der Lehrkörper der Professeurs agrégés und maîtres répétiteurs hat gar keinen Einfluß auf die Verwaltung; er ſteht vielmehr unter der beſtändigen Oberaufſicht des Censeur, der zugleich das ganze Pensionnat bewacht, dem Proviseur rapportirt, und ihn vertritt (Statut von 1821 Art. 13 ff.). Dieſer ſteht wieder unter dem Inspecteur (ſiehe oben), der unter dem Recteur de l’Académie ſteht, und dieſer unter dem Miniſter. Von irgend einer ſelbſtändigen geiſtigen Thätigkeit iſt dabei natürlich keine Rede.

2) Schüler. Der urſprüngliche Gedanke war, daß jedes Lycée zugleich ein Penſionat, und als ſolches eine öffentliche Erziehungs - anſtalt ſein ſollte. Dieſer Gedanke iſt erhalten, nicht zum Vortheil des Vorbildungsweſens. Die Aufnahme geſchieht daher auch jetzt theils gegen Zahlung der Einzelnen, theils aber durch das ſtreng geordnete Syſtem der Freiplätze des Staats (bourses), welche den einzelnen Lyceen und analog auch andern Vorbildungsanſtalten verliehen wer - den, theils als individuelle Unterſtützung für die Zöglinge, theils um die Lyceen, reſp. die andern analogen Anſtalten auszuzeichnen. Der Gedanke, durch die bourses die Kluft zwiſchen der beſitzenden Klaſſe, welche die Penſion zahlen können (von 950 1500 Fr. je nach der Klaſſe in Paris, in den Provinzialſtädten geht der Preis bis auf 600 Fr. herab) und der nicht beſitzenden auszufüllen, iſt als ein gänz - lich mißlungener zu betrachten. Im Gegentheil ſind die bourses da - durch zu einem weiteren Mittel geworden, die Bildungsanſtalten ab - hängig zu machen. Daher ein tiefgreifender, zugleich ſocialer Unter - ſchied zwiſchen den Elèves payants und Elèves boursiers. Die Strenge der klöſterlichen Auffaſſung dann modificirt durch Halbpenſionate und302 Externes. Aufnahme ſeit Statut von 1821 mit dem achten Jahr; Bedingung nur Leſen und Schreiben (ſ. Jourdain a. a. O. 30 ff. Bücheler 475).

3) Lehrordnung. Die Geſchichte dieſer Lehrordnung beginnt mit dem Syſtem der klaſſiſchen Vorbildung für alle Zweige der Be - rufsbildung, und endet mit der vollkommenen Sonderung der klaſſiſchen und volkswirthſchaftlichen bereits in den Lyceen. Letzte, bis 1863 gültige Ordnung (Decret vom 10. April 1852). Darnach die erwähn - ten drei Abtheilungen: 1) division élémentaire: entſpricht den höhern Klaſſen der deutſchen Volksſchule; 2) division de grammaire: Elemente der franzöſiſchen, lateiniſchen und griechiſchen Sprache. Geſchichte, Geographie, Mathematik; dreijähriger Curs; 3) division supérieure: a. erſte Section: Fortſetzung der claſſiſchen Vorbildung für die Fa - cultés des lettres; b. zweite: Vorbereitung für die Faculté des scien - ces; die claſſiſche Bildung iſt nicht mehr obligatoriſch. Die Abſicht iſt dabei wohl klar genug; die Ausführung aber iſt im höchſten Grade unklar, da man über das Verhältniß der klaſſiſchen zur gewerblichen Bildung kein Princip hatte und hat, und doch die Freiheit der Wahl durch den Mangel einer andern gewerblichen Vorbildungsanſtalt ſo gut als aufgehoben erſcheint. Die großen Lücken in dieſem Syſtem werden ausgefüllt theils durch eine höchſte Classe de mathématiques, theils durch beſondere Enseignements accessoires, namentlich im Zeichnen und im Turnen. Durchſtehende Prüfung als Bedingung des Ueber - ganges von einer Klaſſe zur andern. Die genaue Vorſchrift in der Instruction générale vom 15. November 1854; vgl. Bücheler a. a. O. S. 470. Die neue Ordnung von Duruy unten.

4) Lehrer. 1. Lehrerbildung. Eben ſo unſicher wie das Syſtem der Lehre iſt das der Lehrerbildung. Es hat eine doppelte Grundlage. Einerſeits das der ſyſtematiſchen Lehrerbildung in der École normale supérieure, die bereits durch Decret vom 9. Brum. an III ins Leben gerufen, durch Decret vom 17. Mai 1808 neu organiſirt, durch Verordnung vom 6. September 1822 aufgehoben, durch Verordnung vom 6. Auguſt 1830 wieder hergeſtellt, durch Ver - ordnung vom 4. Auguſt 1848 ganz auf Koſten des Staats über - nommen, und durch die Decrete vom 10. April 1852 und 22. Auguſt 1854 wieder neu organiſirt wurden. Sie iſt beſtimmt, die Lehrer der Lyceen zu bilden; ihrem Inhalte nach iſt ſie eine Art von Com - bination der Faculté de lettres und des sciences, mit einer ſeit 1854 eingerichteten höchſten Abtheilung, welche das Doctorat für beide geben kann. Gewöhnlicher Curs: drei Jahre, mit Abgangsprüfung; dieſe gibt das Recht zum Profeſſorat in den Lyceen. Sie ſteht unter der303 ſtrengſten Staatsaufſicht, iſt wie das Lyceum ſelbſt ein Penſionat mit bourses, aber genügt auch der Zahl nach nicht. Es beſteht in der That nur Eine Anſtalt, und zwar in Paris. Ueber die höchſt mangelhafte Lehrerbildung, namentlich Bücheler S. 477 ff. Am entſcheidendſten iſt doch wohl, daß zwiſchen der Lehrerbildung für die claſſiſche (lettres) und realiſtiſche (sciences) Abtheilung gar kein Unter - ſchied beſteht. Erſt 1847 ward eine Profeſſur für die Pädagogik gegründet. Daher beſteht das zweite Syſtem in der Agrégation (Supplirung der ordentlichen Lehrer). Das urſprüngliche Princip der - ſelben war, daß die Suppleanten-Stellen (agrégés) durch öffentlichen Concurs erworben werden konnten, ſo daß die Vorbildung in der École normale nicht nothwendig war (Decret vom 17. März 1808). Durch Verordnung vom 10. April 1852 dagegen einfache Beſetzung durch die Behörde nach vorläufiger Prüfung, die ſich jetzt ſtreng an die Fächer hält, in welchen der Agrégé beſtellt wird. Die Agréga - tion hat dadurch ihren Charakter der wiſſenſchaftlichen Freiheit ver - loren, welche ſie bisher zu einem der wichtigſten Faktoren der Vorbil - dung machte, um ſo mehr, als die Verordnung vom 17. Auguſt 1853 das Inſtitut der maîtres corrépétiteurs eingeführt hat, den engliſchen tutors nachgebildet, nur mit dem Unterſchiede, daß die erſtern die perſönlichen Wächter der einzelnen Zöglinge ſind, in und außerhalb der Lehre, mit amtlicher Stellung, Gehalt und Ernennung durch den Unterrichtsminiſter. Da ſie zuletzt die Zurichtung der Zöglinge für die Prüfungen haben, und nebenbei vom Proviseur jeden Augenblick ſuspendirt werden können, ſo iſt damit das Syſtem der völligen Abhängigkeit der geiſtigen Bildung in den Lyceen recht vollſtändig. Die Stellung der Lehrer ſelbſt iſt mithin die eines ganz gewöhnlichen Beamteten, mit feſtem Gehalt und einer Tantième an den Penſionats - geldern; ſeit 1852 Verbot, Penſionäre bei ſich zu haben.

5) Prüfungsſyſtem. Vielfache Abänderungen eben durch die allmählige Einführung des Bifurcationsſyſtems. Grundlage iſt die Ueber - gangsprüfung für die Diviſions - und die doppelte Maturitätsprüfung, je mit einer Prüfungscommiſſion für die lettres und für die sciences. Doch iſt die Innehaltung des Curſes nicht obligatoriſch. Das Zeug - niß iſt ein baccalauréat ès lettres und ein baccalauréat ès sciences. Bücheler a. a. O. S. 470. Etwas anders bei Jourdain a. a. O. S. 37 47. Uebrigens iſt das maßgebende Geſetz die Instruction générale vom 15. November 1854.

II. Collèges communaux. Die Collèges communaux ſind im franzöſiſchen Bildungsſyſtem eine nicht unintereſſante Erſcheinung. Sie beruhen zunächſt darauf, daß der Staat ſich nicht für fähig erkannte,304 für das ganze Vorbildungsweſen durch ſeine Lycées zu genügen. Es wurde daher den Gemeinden das Recht gegeben, eigene höhere Schulen auf eigene Koſten zu errichten, wenn ſie die Exiſtenz derſelben aus eigenen Mitteln auf zehn Jahre ſichern wollten (Geſetz vom 11. Flor. an X.). Allein die Staatsverwaltung behielt ſich trotzdem die ge - ſammte Verwaltung dieſer Collèges communaux vor, und ſtellte ſie in jeder Beziehung unter die Université, ſo daß der Recteur und Préfet in der Académie ganz dieſelben Rechte in Beziehung auf An - ſtellung und Entlaſſung der Lehrer, Lehrordnung und Prüfung hat, wie bei den Lyceen (die deßhalb auch oft Collèges royaux oder im - périaux genannt werden). Das Geſetz vom 15. März 1850 hat dieſe Verhältniſſe geregelt, und dem Recteur das Recht gegeben, auch das Bureau d’administration einſeitig zu ernennen, ſo daß die letzte Spur der freien Selbſtthätigkeit der Gemeinde daraus verſchwunden iſt. Die Commune hat ſomit nur noch die Laſt zu tragen, ohne ein Recht zu beſitzen. Die Folge davon iſt, daß ihre Zahl ſich beſtändig vermindert; 1850 waren noch 306, jetzt ſind nur noch 255 vorhanden. Alle Ver - ſuche, die verſtändigen Grundſätze des Geſetzes für das Elementar - ſchulweſen von 1833 darauf zu übertragen, ſind geſcheitert. Dennoch enthielten ſie die Möglichkeit, durch die Theilnahme der Selbſtverwal - tung ein ſelbſtändiges Syſtem der wirthſchaftlichen Vorbildung im Realſchulweſen ins Leben zu rufen. Das iſt nun abgeſchloſſen. Sie ſind einfache und noch dazu unvollkommene Lyceen geworden; die cen - trale Bureaukratie hat auch hier über das Bürgerthum den Sieg da - von getragen. Die nächſte formelle Folge davon iſt nun eine große Ungleichmäßigkeit ihrer Organiſation. Einige ſind faſt vollſtändige Lyceen; einige haben, indem ſie auch etwas klaſſiſche Vorbildung ent - halten, den Charakter von Realgymnaſien angeſtrebt; noch andere ſind faſt ganz auf dem Standpunkt der Realſchulen. Prüfungen bei ihnen wie bei den Lyceen; allein da die Université die ganze Ver - waltung in ihre Hände genommen, ſo geht das an ſich ſehr gute In - ſtitut zu Grunde (ſ. oben). Specialſchulen ſind das Collège Chaptal (Paris); École Turgot (ebendaſ.). Die Darſtellung der Lehrordnung bei Bücheler a. a. O. S. 482 87.

III. Écoles secondaires libres. Die Privatſchulen für die Vorbil - dung waren unter Napoleon I. entweder Lehranſtalten oder Penſionate; das Recht der öffentlichen Schulen beſtand in der Berechtigung zur Maturitätsprüfung (baccalauréat) vorzubereiten (institution en plein exercice). Das Geſetz vom 15. März 1850 hat dagegen alle dieſe Schulen gleichgeſtellt, indem es für alle dieſelben Vorausſetzungen fordert. Dieſe ſind im Weſentlichen die Forderung einer den Lyceen305 gleichartigen Einrichtung mit professeurs und répétiteurs, aber es wird zur Errichtung ſolcher Schulen gar kein Fähigkeitszeugniß mehr gefordert. Der Staat wie die Gemeinden können dieſe Anſtalten unterſtützen; genauere Vorſchriften darüber bei Jourdain S. 82 ff. Statiſtik und andere genauere Nachrichten fehlen.

IV. Die geiſtliche Vorbildung wird nur in den pétits séminaires gegeben. Das Recht derſelben hat vielfach gewechſelt. Durch Decret vom 8. April 1809 und vom 15. November 1811 werden ſie der Université untergeordnet; 1814 davon zum größten Theil befreit; nach der Verordnung vom 16. Juni 1828 durften ſie nur 20,000 Schüler (!) haben. Das Geſetz von 1850 hat ſie nun ſo vollſtändig frei gemacht, daß weder ihre Zahl beſchränkt iſt, noch irgend eine Vorſchrift über die Bildung ihrer Lehrer beſteht; der Staat hat ſich zwar die Ober - aufſicht vorbehalten, aber dieſelbe bezieht ſich gar nicht mehr auf die Lehrordnung und die innere Verwaltung, ſondern comme celle de toutes les écoles libres en général, elle porte essentiellement sur la moralité, l’hygiène et la salubrité, und für dieſe Oberaufſicht iſt durch die Verordnung vom 10. Mai 1851 vorgeſchrieben, daß die Inspecteurs de l’Université ſich vorher mit dem Biſchof als Haupt der Schule über die vorzunehmende Inſpektion zu verſtändigen haben. Das iſt die allerdings vollkommene liberté de l’enseignement des Ge - ſetzes von 1850.

Im Allgemeinen iſt auch das Urtheil der Franzoſen ſelbſt über ihre Instruction sécondaire kein günſtiges. So ſagt Charles Read bei Block Dict. de la Politique, v. Instruction publ.: On peut donc affirmer qu’en ce qui concerne l’enseignement secondaire l’élan rapide qui avait suivi la révolution de 1830 ne s’est point main - tenu à partir de 1850 et de 1851; c’est surtout dans les hautes classes de nos lycées et de nos collèges que cette observation s’est fait sentir et même revêt un charactère absolu. Bücheler hat die didaktiſchen Gründe dafür gut dargelegt; die wahre Urſache liegt tiefer und kann ohne das unglückliche Syſtem der Facultés nicht ver - ſtanden werden. Statiſtiſch wird von Read angegeben, daß die Schüler - zahl der 75 Lycées impereaux 1864 24,000 Schüler, der Collèges communaux 25,000, und der Etablissements libres 64,000 Schüler geweſen ſind; bedeutſame Zahlen für den Charakter dieſer drei Grund - formen des wiſſenſchaftlichen Vorbildungsweſens.

Das hier bezeichnete Bifurcationsſyſtem Fortouls hat nun auch dem Namen nach das ganze franzöſiſche Vorbildungsweſen beherrſcht, und im Grunde weder die wiſſenſchaftliche, noch die wirthſchaftliche Vorbildung zu einem gedeihlichen Reſultat kommen laſſen. DasStein, die Verwaltungslehre. V. 20306Miniſterium Duruy, das dem Gründer des ſtrengen Bifurcationsſyſtems, Fortoul, folgte, fühlte das ſehr wohl, und hat ſich daher durch einen großen und energiſchen Verſuch ausgezeichnet, jenes Syſtem zu beſei - tigen. Schon das Decret vom 29. September 1863 änderte die Stel - lung der modernen Sprachen, indem das Engliſche und Deutſche (event. das Italieniſche und Spaniſche) in die wiſſenſchaftliche Abtheilung ver - legt, und für dieſe als obligatoriſch erklärt wurde. Das Circulär vom 2. October 1863 erklärte dann, daß man an die Stelle des künſt - lichen Bifurcationsſyſtemes eine natürliche Zweitheilung der construc - tion secondaire ſetzen wolle, und das Decret vom 4. Februar 1864 ſprach endlich formell aus, daß die Theilung in die section des lettres und die section des sciences, die das Decret 10. April 1852 eingeführt hatte, definitiv aufgehoben ſei. Allein gleichzeitig ward daneben ein Curs der ſogenannten Elementarmathematik für die Lyceen eingeführt, in dem die Zöglinge nach Vollendung der troisième übergehen können und welcher zu den mathématiques spéciales hinüberführen ſoll. Da - mit war dem Weſen der Sache nach das alte Bifurcationsſyſtem vollſtändig erhalten, denn an die beiden wahren Wurzeln deſſelben hat Duruy durchaus nicht gerührt. Die erſte dieſer auch jetzt unerſchütterten Grundlagen des alten Syſtems beſteht nach wie vor darin, daß das Lyceum ein Ganzes bleibt, in welchem das ganze Gebiet der wirth - ſchaftlichen wie der wiſſenſchaftlichen Vorbildung geboten wird, ſo daß durch die neuen Verordnungen nur die äußere Anordnung der Stoffe und der Uebergänge etwas anders geworden iſt. Von einer Selbſtän - digkeit eines Realſchulſyſtems neben dem Gymnaſialſyſtem in eignen Anſtalten mit eignen Lehrern, womit das Princip der Bifur - cation erſt beſeitigt werden würde, iſt nach wie vor keine Rede; die realiſtiſchen Fächer bleiben nach wie vor Fächer des Lyceums, wenn ſie auch nicht mehr wie früher gerade section des sciences heißen; und daher bleibt für deutſche Logik die Beſtimmung des Circulärs vom 21. März 1863 unverſtändlich, nach welchem zwar das Bifurcations - ſyſtem beſeitigt ſein, aber dennoch in demſelben Lyceum ein Examen für die lettres im früher angegebnen Sinne des baccalauréat ès lettres, ein andres für die sciences des baccalauréat ès sciences geben ſoll, neben denen noch das Examen für die mathématiques spéciales die Bedingung des Eintrittes in die École polytechnique und von dieſer in die École des ponts et chaussées möglich macht. An der zweiten Baſis des alten Syſtems, dem gemeinſamen Penſionat für die Zög - linge des ganzen Lyceums, das eine äußerliche Scheidung und Auf - ſtellung der Realſchulen gar nicht aufkommen läßt, hat dieſe neueſte Geſetzgebung nicht entfernt gerüttelt. Trotz aller Emphaſe, mit der307 hier daher von einem neuen Studienplan geredet worden iſt, ſehen wir im Weſentlichen das alte Syſtem in gar nichts geändert. Die franzöſiſche Vorbildung hat ihren Charakter, die formelle Einheit der wiſſenſchaftlichen und wirthſchaftlichen Vorbildung trotz Duruy und ſeinen Circularen zum Schaden des Bildungsweſens behalten, und wird ſie behalten, ſo lange nicht durch Aufhebung der verderblichen Pen - ſionate ein ſelbſtändiges Realſchulſyſtem neben dem Gymnaſialſyſtem aufgeſtellt wird.

II. Gelehrte und wirthſchaftliche Fachbildung (die Instruction supérieure oder das Syſtem der Facultés. Das Collège de France und die Special - inſtitute).

Unter dem Fachbildungsweſen begreifen wir nun hier die Geſammt - heit von Staatsanſtalten, welche, an das Vorbildungsweſen anſchließend, für den wirklichen öffentlichen Beruf vorbereiten. Auch hier iſt eine Trennung des gelehrten von dem wirthſchaftlichen Syſtem nicht thunlich, was die einheitliche Auffaſſung des Ganzen allerdings ſchwierig macht.

Man muß nämlich zuerſt für dieſe Fachbildung das Syſtem des Facultés von dem Collège de France und daneben die Specialinſtitute, die gleichfalls der Université nicht einverleibt ſind und ſelbſtändige Bil - dungsanſtalten für ganz einzelne Fächer ſind, ſcheiden. Formell näm - lich bilden die Facultés Fachbildungsſchulen, den deutſchen Fakultäten ähnlich, und die Geſammtheit dieſer Facultés wird zuſammengefaßt unter der öffentlich rechtlichen Bezeichnung der Instruction supérieure, die das dritte und höchſte Gebiet der Université als allgemeinen Bil - dungsorganismus bildet, während das Collège de France und die Specialinſtitute neben den Facultés ſelbſtändige, der Université an - gehörige Lehrkörper ſind, und ebenſo auch eine weſentlich verſchiedene Organiſation beſitzen. Es iſt dabei auf den erſten Blick in die geſetzliche Thätigkeit und Stellung derſelben klar, daß die Facultés das eigentlich franzöſiſche Syſtem der Fachbildung enthalten, während das Collège de France den Reſt der höheren freieren germaniſchen Univerſitäts - bildung freilich auf dem ſehr beſchränkten Gebiete der allgemeinen Bil - dung vertritt, und die Specialinſtitutionen wieder von den Facultés und dem Collège de France geſchieden, etwa den einzelnen Inſtituten entſprechen, die mit den deutſchen Univerſitäten verbunden ſind. Allein auch wenn man das Syſtem der Facultés und andererſeits des Collège de France und der Specialinſtitute für ſich betrachtet, iſt der Unter - ſchied mit der deutſchen Univerſitätsbildung ein durchgreifender. Wir ſtellen ſie daher hier neben einander, den Blick feſt auf das Bild ge - richtet, das uns die deutſchen Univerſitäten gegeben haben.

308
A. Das Syſtem der Facultés.

Das Frankreich eigenthümliche Syſtem der Facultés iſt formell die Aufſtellung ſelbſtändiger Fachbildungsanſtalten für die einzelnen wiſſen - ſchaftlichen Berufe, in der aber die im Bifurcationsſyſtem der Lyceen auftretende Scheidung der Sciences und der Lettres ſich fortſetzt. Es gibt daher fünf Arten der Facultés in Frankreich. In dieſer Bezie - hung iſt die äußere Aehnlichkeit mit dem deutſchen Univerſitätsweſen allerdings vorhanden. Allein der Unterſchied tritt ſogleich hervor, ſo wie man einen Schritt weiter geht. Jene fünf Facultés ſind nämlich nicht Fakultäten an einer Univerſität, alſo zuſammen einen ſelbſtän - digen, auch örtlich als Einheit auftretenden wiſſenſchaftlichen Selbſt - verwaltungskörper bildend, ſondern jede dieſer Facultés beſteht ganz für ſich; ſie ſind in verſchiedenen Orten hergeſtellt, und ſowohl ohne wiſſen - ſchaftliche als adminiſtrative Verbindung unter einander. Gemeinſam iſt ihnen nur die oberſte ſtaatliche Verwaltung, vermöge deren ſie unter der Université als Instruction supérieure ſtehen. Eben ſo wenig iſt ihnen der Lehrgang oder auch nur die Dauer deſſelben gleich; jede Faculté iſt von vorn herein als eine ganz ſelbſtändige, nur für ihren Zweck beſtimmte Fachbildungsanſtalt aufgefaßt. Es iſt der tiefe innere Unterſchied des Fakultätsweſens Frankreichs von dem deutſchen faſt auf den erſten Blick klar, ſo wie man die Organiſation derſelben betrachtet. Sie ſind allerdings Berufsbildungsanſtalten; allein der Beruf ſelbſt iſt dem franzöſiſchen Geiſte überhaupt nicht die ethiſche Einheit des ganzen geiſtigen Lebens, ausgedrückt in der Lebensaufgabe des Einzelnen, ſon - dern nur eine ſpecielle Ausübung einer beſtimmten öffentlichen Pflicht. Der Beruf fordert daher auch in Frankreich keine Geſammtbildung des Geiſtes, ſondern nur die ſpecielle Fachbildung. Der geiſtige Einfluß, den eine Wiſſenſchaft auf die andere hat, iſt hier nicht bekannt oder doch nicht anerkannt. Es gibt kein geiſtiges Band und daher auch kein äußeres Zuſammenwirken und Zuſammenſein der Fakultäten in der Univerſität. Daher fehlt der ganzen Fakultätsbildung Frankreichs dasjenige, was dieſelbe in Deutſchland ſo weſentlich charakteriſirt. Die Faculté hat keine allgemeinen Fächer, keine Philoſophie, keine Ge - ſchichte, keine Staatswiſſenſchaft, nicht einmal Lehrſtühle für dieſelben, viel weniger eine Prüfung dafür. Selbſt der Zuſammenhang mit der Vorbildung iſt ein anderer. Die Instruction secondaire der Lycées gilt nicht für jede Faculté, ſondern das Baccalauréat ès sciences gilt nur für die Faculté des sciences und nicht für die übrigen, während die Faculté des sciences ſelbſt wieder, mit Ausſchluß der klaſſiſchen Bildung, nur die theoretiſch wirthſchaftliche in Mathematik309 und Phyſik enthält. Von den das deutſche Univerſitätsweſen gleichſam erfüllenden Nebeninſtituten, namentlich den Seminarien, iſt keine Rede. Das Prüfungsſyſtem iſt daher ein eben ſo verfahrenes; es hat den Charakter der Fachbildung ſelbſt angenommen und beſteht aus lauter Einzelprüfungen, die in der letztern Zeit noch mehr zerſplittert worden ſind. Ueber das Verhältniß und den Werth der klaſſiſchen Bildung herrſcht daher eine durchgreifende Unklarheit; man hat weder vermocht, ſie ganz zu beſeitigen, ſelbſt nicht in den sciences, noch auch ihnen eine philoſophiſche Gründlichkeit zu geben, ſelbſt nicht in den lettres. Das Prüfungsſyſtem an allen dieſen Facultés hat zwei Stufen, das Licentiat und das Doktorat; das letztere hat von der germaniſchen Univer - ſität etwas längere Vorbereitung und die Verpflichtung zur Vertheidi - gung von Streitſätzen beibehalten. Die Prüfungen ſelbſt ſtehen unter den Prüfungskommiſſionen der Akademie; ſie ſind ſehr leicht, und ſtrenge auf das einzelne Fach der Abtheilungen beſchränkt, dem beſchränkten Bildungsgange derſelben entſprechend. Das Syſtem der Facultés, welche die Stelle der letzteren vertreten, beruht in ſeiner neueſten Organiſation auf dem Decret vom 10. April 1852 (Studienordnung), dem Geſetz vom 14. Juni 1854 und dem Decret vom 27. Auguſt 1854 über die neue Organiſation der Académies.

1) Die Facultés des lettres und die des sciences vertreten un - gefähr die Idee der deutſchen philoſophiſchen Fakultät. Aber beide bilden weder eine Einheit, noch ſtehen ſie in Beziehung zu den übrigen Facultés. Die Faculté des lettres iſt vielmehr das, was die Philo - logie vertritt, während die Faculté des sciences, ohne ſtaatswiſſen - ſchaftliche Lehre, die mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Bildung noth - dürftig enthält.

Die Facultés des lettres (16) ſind die philologiſch-philoſophiſche Bildungsanſtalt. Ordnung der Vorleſungen (Decret vom 7. März 1853). Die Aufnahmsprüfung wird durch das in dem Lyceum, troisième division, section des lettres, erworbene baccalauréat ès lettres erſetzt, zu welchem für den Candidaten nach dem Geſetz von 1853 (Art. 63) überhaupt nicht einmal ein Lyceum beſucht zu haben nöthig iſt. Die Abgangsprüfung iſt die Prüfung zum licencié ès lettres; ſie iſt ſchrift - lich und mündlich und ſehr einfach. Der Candidat zum licencié braucht nur Ein Jahr Baccalaureus geweſen und nur zwei Curſe nach ſeiner Wahl gehört zu haben. Die Promotion zum Docteur ès lettres er - folgt nach ſtattgehabter Vertheidigung von zwei Theſen; über dieſe Ver - theidigung wird dann erſt an den Miniſter berichtet, nach dem Arrêté vom 17. Juli 1850.

Die Facultés des sciences (auch 16) ſchließen die klaſſiſche310 Vorbildung aus, ſie ſind weſentlich naturwiſſenſchaftlich und mathematiſch. Das eigentlich wirthſchaftliche Element fehlt. Dennoch iſt für das baccalauréat ès sciences durch Decret vom 10. April 1852 auch eine lateiniſche Ueberſetzung gefordert, und eine mathematiſche composition. Die Abgangsprüfung ergibt auch ein Licentiat; aber daſſelbe iſt jetzt gar in drei Theile getheilt und jeder dieſer Theile beſteht ganz für ſich. Dieſe drei Arten von licences ſind die licence ès sc. mathema - tiques, ès sc. physiques und ès sciences naturelles, jede mit ihrem (kurzen) Examen. Das Doktorat fordert die Vertheidigung Einer Theſe. So iſt dieß ganze Gebiet hoffnungslos zerſplittert. Dazu kommt, daß die einzelnen Gemeinden noch Écoles préparatoires errichten können, deren Curſe den Fakultätskurſen gleich ſtehen.

Facultés de droit (ſeit Geſetz vom 22. Vent. an XII; gegenwärtig neun) Gegenſtand nur Jurisprudenz; gar keine weitere Berufsbildung, drei Jahre Curs; für das Doktorat vier Jahre. Das Baccalaureat (nach zwei Jahren) iſt eine Uebergangsprüfung; die licence en droit, die eigentliche Abgangsprüfung, wird nach dem dritten Jahre ertheilt und iſt mit der Vertheidigung einer Theſe verbunden; das Doktorat wird erſt nach zwei Prüfungen, wovon Eine römiſch-rechtlich, ertheilt. Jähr - lich werden Preiſe und mentions honorables ausgetheilt. Durch Decret vom 17. September 1864 iſt an der Faculté de Paris ein Lehrſtuhl für économie politique errichtet, der einzige bisher an einer Rechts - fakultät! (Vgl. Say, Traité II, 233, J. d’Écon. 1865.)

Facultés de médecine. Es gibt ihrer für ganz Frankreich ſeit Geſetz vom 11. Frim. an III nur drei (Paris, Montpellier, Straß - burg); vierjähriger Curs mit jährlichen Prüfungen, ohne baccalauréat und licence; das Doktorat iſt die eigentliche Abgangsprüfung und wird nach fünf Prüfungen verliehen. Daneben beſtehen drei Écoles supérieures de pharmacie ſeit Geſetz vom 21. Germ. an XI neben jenen Facultés (ſ. oben Apothekerweſen). Das völlige Ungenügen dieſer Einrichtungen rief dann die Errichtung von Écoles préparatoires de médecine hervor, ſeit Geſetz vom 11. Flor. an X durch Verordnung vom 18. Mai 1820 der Université eingereiht. Es ſind das reine Kliniken nebſt Vorträgen, ohne daß die Vorbildung der sciences gefordert würde; ſie beſtehen neben den örtlichen Hoſpitälern; der Lehr - körper hat ſeit Decret vom 22. Auguſt 1854 das Recht, den Grad des Officier de santé zu verleihen und die Hebammenprüfung vorzunehmen.

Facultés de théologie (ſechs) ſehr unvollſtändig, bachelier nur, wenn das baccalauréat ès lettres ſchon erworben; licence nach Ver - theidigung einer Theſe, Doktorat nach Vertheidigung einer zweiten. Die katholiſche Kirche erkennt die Grade gar nicht an.

311

Ueber das ganze Syſtem ſagt Frederic Morin bei Block Dict. de Politique, v. Instruction: Notre enseignement supérieur est très loin de valoir celui de l’Allemagne, et à quelques égards on peut dire qu’il n’existe que d’une façon nominale. Das formale Recht ſehr gut bei Laferrière (Droit admin. III. T. W. Ch. II.).

B. Das Collège de France.

Das Gefühl dieſes tiefen Mangels in der Instruction supérieur hat nun ein Inſtitut ins Leben gerufen und erhalten, das formell kein ähnliches in Europa neben ſich hat, das Collège de France. Das Collège de France ward ſchon am 24. März 1529 gegründet, ſchon damals im Gegenſatz zu der Université de Paris, die in Beſchränktheit und Scholaſtik den auch wiſſenſchaftlichen Aufſchwung der Renaiſſance unter Franz I. hemmte. Es ſollte die Univerſität der freien klaſſiſchen Lehre ſein. Es war daher für keinen Beruf eingerichtet, hatte keine Prüfungen, ertheilte keine Grade, nahm kein Collegiengeld, ſtand nicht unter der Behörde, welche die Univerſität verwaltete; aber es hat ſich von jeher auf die allgemeine klaſſiſche Bildung, Philoſophie und Naturwiſſenſchaften beſchränkt. Es iſt das für ganz Frankreich, was die philologiſchen Fakultäten für jede Univerſität Deutſchlands ſind; nur daß ihm in ſeiner Trennung von den Fakultäten die letzteren von jeher feindlich waren. Der Kampf mit der Pariſer Univerſität vor der Revolution, die es ſtets unterwerfen wollte, zieht ſich durch das ganze ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert; aber bei dem freien Geiſte, den dieſe Inſtitution von jeher durchwehte, war eine Vereini - gung geradezu unmöglich. Das Jahr VII erhielt daher auch von allen alten gelehrten Inſtitutionen das Collège de France (Decret vom 25. Messidor) und ſelbſt Napoleon ließ es 1808 außerhalb ſeiner Université beſtehen; er hätte es vernichten müſſen, um es einzuordnen. Auch Napoleon III. hat es nicht berührt; er hat nur die Ernennung der Profeſſoren, jedoch nach Präſentation des Lehrkörpers und des Institut de France vorbehalten (Decret vom 9. März 1853), während der Pro - feſſorenkörper des Collège de France der einzige öffentliche Lehr - körper in Frankreich iſt, der die Supplenten und Gehülfen ſelber ernennt (Reglement vom 25. Oktober 1828) und unter einem ſelbſt - gewählten Vorſtand ſelbſt die Disciplin ſeines Lehrkörpers ver - waltet. Es iſt die einzige Lehranſtalt, die gegenüber der höchſt be - ſchränkten Fachbildung in den Facultés der Instruction supérieure das hiſtoriſche Princip der germaniſchen Univerſitätsbildung und die Freiheit der Lehre und der Selbſtverwaltung im Syſtem der franzöſiſchen312 wiſſenſchaftlichen Bildung vertritt; aber eben darum iſt es ſelbſt ſchon keine Berufbildungsanſtalt, ſondern in der That eine von der Verwal - tung organiſirte Anſtalt für freie wiſſenſchaftliche Vorträge außerhalb der Instruction supérieure, entſprungen aus dem Bedürfniß einer höheren Einheit der wiſſenſchaftlichen Bildung, ohne jedoch dieß Bedürfniß organiſch befriedigen zu können, da es theils keine Verpflichtung der Studirenden gibt, es zu beſuchen, theils auch nur das Eine Collège in Paris be - ſteht. Die Unfähigkeit, dieß Collège ſeit Jahrhunderten weder auf - heben noch es der Université unterwerfen zu können, zeigt am deut - lichſten den tiefen Gegenſatz, der im ganzen wiſſenſchaftlichen Berufs - bildungsweſen Frankreichs herrſcht und ihm eigentlich ſeinen Charakter gibt. Vergl. über das Collège de France Franchart bei Block Dict. de l’Admin. Das Gefühl der Sache ſehr klar bei Charles Read (Block, Dict. de la Politique): le Collège de France est censé repré - senter d’une manière speciale l’esprit de hardie initiative et de liberté entière.

C. Specialinſtitute.

Aus demſelben Mangel aller allgemeinen Bildung in der Instruction supérieure hat ſich nun die Nothwendigkeit gebildet, bei gewiſſen Special - inſtituten zugleich ſyſtematiſche Lehrvorträge zu halten und ſie ſo als ſelbſtändige Glieder des Fachbildungsweſens neben die übrigen zu ſtellen, wobei jedoch nie überſehen werden muß, daß ſie nicht etwa wie in Deutſchland regelmäßig mit den Univerſitäten verbunden ſind, ſondern daß je Eine Anſtalt für ganz Frankreich genügen muß. Dieſe In - ſtitute der rein wiſſenſchaftlichen Specialbildung ſind:

  • a) Museum d’histoire naturelle ſeit Decret vom 10. Juni 1793, mit 15 Lehrſtühlen und Einem Beſuch.
  • b) École des langues orientales, ſchon ſeit 1669 errichtet als Lehr - und Erziehungsanſtalt zugleich auf öffentliche Koſten; Fachbildung für die orientaliſchen Conſulate unter der Verwaltung des Miniſters des Aeußern; die Zöglinge heißen Jeunes de langue (Verordnung vom 20. April 1833).
  • c) Bureau des longitudes, Errichtung vom 7. Messidor an III (1795). Neueſte Ordnung durch Decret vom 30. Januar 1854 mit völliger Trennung vom Observatoire, ſpeciell für Beobachtungen in der Aſtronomie, Entwicklung der aſtronomiſchen Inſtrumente, Publika - tionen über die Connaissance des temps u. ſ. w.
  • d) L’Observatoire: rein aſtronomiſches Beobachtungsinſtitut. Neue Ordnung durch Decret vom 30. Januar und 1. Februar 1854.
  • e) École des chartes. Fachſchule für Paläographie; die Schüler313 werden vom Miniſter ernannt; Prüfung nach dreijährigem Curs; darauf diplome d’archiviste paléographe, mit dem Recht auf An - ſtellung als öffentlicher Archivar. Organiſation durch Verordnung vom 31. December 1846, neuere Beſtimmungen Verordnung vom 16. Mai und 18. Oktober 1849 und 4. Februar 1850.
B. Die ſelbſtändige wirthſchaftliche Berufsbildung in Frankreich.

(Außerhalb der Université).

Wenn wir nunmehr neben dem obigen Syſtem der Université und ihrer verfehlten Bifurcation noch von einer ſelbſtändigen wirth - ſchaftlichen Berufsbildung reden, ſo liegt es auf der Hand, daß es ſich hier nicht um ein Syſtem derſelben handelt. Und zwar kann man wohl jetzt mit einfacher Hinweiſung auf das Bisherige ſagen, daß ſo weit es neben der Université und ihrer sciences noch wirthſchaftliche Bildungs - anſtalten gibt, dieſelben weder auf einem Vorbildungsſyſteme ruhen, noch durch irgend einen höheren Gedanken zuſammengehalten werden, ſondern einfach die Erzeugniſſe unabweisbarer praktiſcher Bedürfniſſe ſind. Man darf daher hier auch nicht die für Deutſchland geltende äußerliche Scheidung der Vorbildungsanſtalten, noch weniger ein rationelles Klaſſen - ſyſtem erwarten. Vorbildung und Fachbildung gehen, mit Ausnahme der Specialſchulen, ſo in einander über, daß man nicht zu einem Syſteme gelangt. Scheidet man jedoch das gewerbliche Vorbildungsweſen von dem in der Université gebotenen theoretiſchen, ſo iſt daſſelbe theils in einer Reihe von Etablissements particuliers vertreten, theils aber durch eine Anzahl von Zeichnenſchulen, den ſog. Cours de dessin appliqué à l’industrie, die in den meiſten größeren Städten eingerichtet ſind, aber ohne weitere gewerbliche Bildung ſich bloß auf das Zeichnen be - ſchränken. Das Muſter derſelben war die ſeit 1764 in Paris ein - gerichtete Zeichenſchule für die six métiers. Sie iſt jetzt ausgebildet zu der Pariſer École imp. de dessin et de mathématique appliqué à l’industrie. Hier iſt, ſo viel wir wiſſen, ausnahmsweiſe die Grundlage breiter angelegt und aus ihr eine allgemeine Gewerbeſchule für alle bildenden Handwerke mit Abendcurſen geworden. Daneben beſtehen noch niedere Schulen für bloßes Zeichnen. In dieſen Anſtalten er - ſcheinen allerdings die Fortbildungsſchulen für Handwerker vertreten. Charakteriſtik derſelben von Franz Kugler, Kleine Schriften 3. Thl. S. 431 433 (von 1846). Die Écoles imp. d’arts et métiers, deren erſte bereits durch Decret vom 6 Vent. an XI. in Compiègne errichtet ward und zu der 1815 die von Beaupreau, 1843 die von Aix hinzugekommen iſt, ſind im Grunde nur höhere Gewerbeſchulen, aber wieder mit ganz314 beſtimmter Beſchränkung auf einzelne Gewerbe, namentlich auf Feuer - arbeiter, Schloſſer, Schmiede ꝛc. ; ſie ſind als Penſionate eingerichtet, mit bourses, dreijährigem Curs, Prämien und Ehren, ſtehen unter der Staatsverwaltung und haben ihr eigenes Budget. Nur die letzteren hat Smith bei Block ausführlich beſprochen, die anderen nur ange - deutet; Bücheler hat das Ganze übergangen.

Das Syſtem der einzelnen Fachbildungsſchulen, aus denſelben Bedürfniſſen wie das deutſche hervorgegangen, hat allerdings formell dieſelbe Geſtalt wie das deutſche. Allein in ſeinem Lebensprincip und ſeinem eigentlichen Charakter iſt es ein weſentlich anderes. Der Gedanke nämlich, daß es auch innerlich ein Ganzes und daß ſeine Grund - lage eine organiſch wiſſenſchaftliche ſei und als ſolche ſo weit möglich auch als organiſche Einheit zum Ausdruck gelangen müſſe, hat niemals in Frankreich Platz gegriffen. Man kann das wohl am durchgreifendſten bezeichnen, wenn man im Hinblick auf die Geſchichte der deutſchen wirth - ſchaftlichen Fachbildung ſagt, daß Frankreichs Bildungsweſen niemals die Epoche der kameraliſtiſchen Bildung durchgemacht und daher aus der - ſelben niemals das Bedürfniß nach einem wiſſenſchaftlichen Inhalt der wirthſchaftlichen Bildung empfangen hat. Obwohl daher Frankreich durch ſeine École polytechnique den Namen der polytechniſchen Anſtalten ins Leben gerufen hat, ſo beſitzt es nirgends eine Anſtalt, ja nicht einmal eine Auffaſſung, welche der der deutſchen polytechniſchen Inſtitute irgendwie vergleichbar wäre. Die Idee einer höheren, allge - mein wiſſenſchaftlichen Entwicklung des gewerblichen Lebens hat in Frank - reich niemals Platz gegriffen, ſondern alle ſeine wirthſchaftlichen Fach - bildungsanſtalten ſind nicht bloß in der Wirklichkeit, ſondern ſogar dem Princip nach reine Specialſchulen. Von einem Anſchluß an die Univerſität und ihre höhere Bildung iſt gar keine Rede, wie ſie in Deutſchland ſo vielfach direkt ausgeſprochen und eingeführt iſt. Eine höhere wiſſenſchaftliche Bildung, ein Aufnehmen der Geſchichte oder gar der Elemente der Staatswiſſenſchaften mit Nationalökonomie, Verwal - tungsrecht und Statiſtik, iſt vollkommen ausgeſchloſſen; nicht einmal fremde Sprachen ſind irgendwie gefordert oder geboten! Es iſt daher nichts verkehrter, als das franzöſiſche wirthſchaftliche Fachbildungs - weſen ſich zum Muſter zu nehmen; die große, eigentliche Lebensfrage der deutſchen Anſtalten, das Verhältniß derſelben zur allgemeinen Bil - dung, hat die franzöſiſchen gar nicht berührt. Nur darin ſind ſie for - mell verwandt, daß jede dieſer Anſtalten ihre eigene Organiſation hat, und daher einer ſelbſtändigen Darſtellung bedürfte, die wir hier nicht geben können. Nur auf Einem Punkte bricht ſich auch hier, in ana - loger Weiſe wie bei der Instruction supérieure, im Collège de France315 die germaniſche Idee der höheren Einheit dieſes ganzen Gebietes Bahn und das iſt das Conservatoire des arts et métiers, das man in Deutſch - land neben der École polytechnique viel zu wenig beachtet hat und deſſen Idee eine ſehr fruchtbringende iſt. Wir ſtellen es daher an die Spitze und laſſen die übrigen Fachſchulen nachfolgen.

A. Conservatoire des arts et métiers.

Der Gedanke deſſelben iſt von Descartes ausgegangen; das Geſetz vom 19. Vend. an III hat ihn zu verwirklichen begonnen; die folgen - den Regierungen haben ihn ausgeführt. Urſprünglich ſollte das Con - servatoire weſentlich nur eine Sammlung von Maſchinen und Muſtern aller Art für alle Gewerbe ſein. Daran ſchloßen ſich Fortbildungs - unterricht für die niederen Handwerke, die Errichtung einer Bibliothek und die Beſtellung von trois démonstrateurs, welche die Benützung der Werkzeuge und Maſchinen lehren ſollten. Erſt die Verordnung vom 25. November 1819 organiſirte das ganze Inſtitut nach den Bedürf - niſſen der gewerblichen Fortſchritte unſeres Jahrhunderts. Schon früher hatte man eine niedere, elementare Gewerbeſchule am Conservatoire eingerichtet (1806). Jetzt wurde der Unterſchied der Instruction primaire und supérieure eingeführt und neben allen Gebieten der wirthſchaft - lichen Bildung ſogar die Elemente der Staatswiſſenſchaft mit aufge - nommen, namentlich aber auch die Verbindung der künſtleriſchen Bildung mit der gewerblichen angeſtrebt. Gegenwärtig werden vierzehn Gegenſtände vorgetragen; das Conservatoire hat ſeinen eigenen großen Lehrkörper und derſelbe iſt zugleich das begutachtende Organ für das Miniſterium in gewerblich techniſchen Fragen. Es ſteht unter dem Han - delsminiſterium, das die Lehrer anſtellt. Es hat verſchiedene Organiſa - tionen durchlebt; die gegenwärtig geltende iſt das Dekret vom 10. Dec. 1853 und das Reglement vom 19. Januar 1854. In der That iſt das Conservatoire des arts et métiers dasjenige, was man die ge - werbliche Univerſität der wirthſchaftlichen Bildung nennen könnte, na - mentlich wenn man den daneben beſtehenden Cours de Dessin et de Géometrie (mit einer höheren und niederen Abtheilung) hinzurechnet (Gugler, Gewerbl. Fortbildungsſchule bei Schmid II. 888). Das ſollte man in Deutſchland viel mehr zum Muſter nehmen als die höchſt untergeordnete École polytechnique. Wie konnte doch Koritska in ſeinem ſonſt ſo gründlichen Werke das überſehen? Leider gibt es für Frankreich nur Eins und das iſt wieder in Paris. Alle andern An - ſtalten ſind neben ihm reine Specialſchulen.

316
B. Specialſchulen.

I. Oeffentliches Bauweſen. Das öffentliche Bauweſen beruht weſentlich auf der École des ponts et chaussées, die bereits 1750 ge - gründet, unter der Revolution aufrecht erhalten, und durch das Decret vom 13. Oktober 1851 neu organiſirt ward. Bis zu dieſer Organiſation war dieſe Schule eine ſtreng franzöſiſche und ausſchließlich für die Zöglinge der École polytechnique beſtimmt. Erſt jetzt iſt ſie eine all - gemeine Fachbildungsanſtalt für Bauweſen; zugleich für Fremde zugäng - lich. Aufnahme nach ſtattgefundener Prüfung. Gegenſtand der Bil - dung das Hoch - und Straßenbauweſen, Waſſerbau und etwas Bau - recht in zehn Curſen; dreijähriger Curſus. Die Schüler der École po - lytechnique bedürfen keiner Aufnahmsprüfung; das iſt jetzt die einzige Verbindung zwiſchen beiden; Aufnahmsordnung (vom 14. Febr. 1852); Lehrordnung (Decret vom 13. Nov. 1851). Die École polytechnique iſt eine Militär-Ingenieurſchule und ſteht unter dem Kriegsminiſter; ſie iſt ein Penſionat (mit 1000 Fr. Penſion). Zulaſſung gegen Auf - nahmsprüfung, ohne formelle Vorbedingung. Curſus nur zwei Jahr. Lehrgegenſtände: Vorbildung für die Ponts et chaussées, die Mines, Telegraphenweſen, Tabakverwaltung (!) Waſſerbau, enfin pour les autres services publiques qui exigent des connaissances étendues dans les sciences mathématiques, physiques et chimiques (Decret vom 25. Nov. 1852). Das Ganze iſt ſo ſehr eine untergeordnete Militärſchule, daß die mit Abgangszeugniß verſehenen Schüler, wenn ſie keine Anſtellung finden oder in die höheren Specialſchulen übergehen, Unterlieutenants werden. Wie dieſelbe als Muſter für die deutſchen polytechniſchen Inſtitute hat gelten und in der deutſchen Literatur die École des Ponts et Chaussées, oder gar das ſo viel wichtigere Con - servatoire hat verdunkeln können, bleibt geradezu unbegreiflich!

II. Höhere Gewerbelehre. École centrale d’Arts et Manu - facture hauptſächlich neben Zeichnen und Chemie auch Metallurgie, Hüttenbau, Leitung von Werkſtätten und Fabriken. Zulaſſung mit dem ſechzehnten Jahr (!). Dreijähriger Curs. Die Anſtalt gehört haupt - ſächlich der Stadt Paris, jedoch mit bourses, demibourses und Staats - ſubvention. Das Programm ſcheint ſehr unbeſtimmt (Smith bei Block a. a. O. v. Enseignement industriel, Read, Instr. publique).

III. École supérieure de Commerce. Grundlage der Organiſation iſt die Scheidung in trois comptoirs; erſtes: allgemeine Bildungs - gegenſtände; zweites: Correſpondenz und Arithmetik, nebſt fremden Sprachen (nicht obligat); drittes: angewendete Chemie, Waarenkunde, allgemeine volkswirthſchaftliche Vorkenntniſſe. Nach dem dritten Jahr317 ein diplome de capacité; ſonſt Medaillen ꝛc. Zwölf Stipendien vom Staate zu 1200 Fr., durch Prüfung zu erwerben.

IV. Bergwerksſchule. Écoles des Mineurs in St. Etienne ſeit 1816 und Alais ſeit 1843. Aufnahmsprüfung: Leſen, Schreiben und die vier Species! Doch iſt die erſtere die höhere. Hier werden auch Fortbildungsvorträge für Zöglinge in Abendſtunden gehalten. Die École impériale des Mines de Paris ward ſchon 1783 errichtet und 1816 reorganiſirt mit drei Abtheilungen und Abgangsprüfungen (Ro - bert bei Block, v. Mines).

V. Navigationsſchulen. Dieſelben bilden in Frankreich ein ganzes Syſtem und ſind ſehr gut und ſyſtematiſch eingerichtet. Es gibt drei Écoles de maistrance für die verſchiedenen unteren Grade (ſeit 1819, neue Organiſation Decret vom 7. April 1851); École de pyro - technie (Toulon, ſeit 1840); École d’hydrographie (für Hafencapitäne und Schiffscapitäne, mit freien und öffentlichen Vorträgen, in vielen Häfen, organiſirt durch die Verordnung vom 7. Auguſt 1825 und 29. Februar 1836). École navale de Brest für die Kriegsmarine (Organiſationsdecret vom 5. Juni 1850 und 19. Januar 1856). École d’application au génie maritime, ſeit 1765 beſtehend, dann neu herge - ſtellt durch Decret vom 11. April 1854. Endlich iſt zu bemerken, daß die École polytechnique als Vorbildungsanſtalt für die École d’hydrographie und du génie maritime gilt.

VI. Forſtlehranſtalt Eine! in Nancy, errichtet durch Dekret vom 1. Dec. 1824. Vorbildung die sciences des lycées und baccalauréat; lateiniſch und deutſch; Zulaſſung gegen Prüfung durch eine Jury d’admission (Ordonnanz vom 12. Oct. 1840). Penſionat 1500 Fr.; zweijähriger Curs; jährlich können für ganz Frankreich nur 25 30 Zöglinge zugelaſſen werden.

VII. Landwirthſchaft. Seit 1818 ſind die erſten Schulen da - für errichtet. Letzte und allgemeine Organiſation durch Geſetz vom 3. October 1848 in drei Klaſſen: die fermes Écoles, mit elementarer praktiſcher Vorbildung, die Écoles régionales, welche die Theorie mit der Praxis verbinden und urſprünglich ein institut national, welches aufgehoben iſt. Gegenwärtige Organiſation Decret vom 17. Sept. 1852 (ſ. Eugen Marie bei Block, v. Enseignement agricole. Laferrière, Droit Adm. III. L. 1. T. 1. p. 199).

Zum Schluß muß bemerkt werden, daß ſich an dieſe Inſtitute mehr und mehr freie Vorträge in den größern Städten ſchließen, welche von den Gemeinden theils eingerichtet, theils ſubventionirt werden und die theils förmlich durch Decret vom 22. Auguſt 1854 organiſirt ſind; ſowohl dort wo Facultés de sciences ſind, als dort wo ſie fehlen. 318Eine neueſte Verordnung vom Jahr 1865 entſcheidet ſich bejahend über die Frage, ob die angeſtellten Profeſſoren ſolche Vorträge halten dürfen. Von großem Intereſſe iſt das Mémoire der Handelskammer in Lyon vom 27. September 1868, über das durch dieſelbe 1856 er - richtete Muſeum für Kunſt und Induſtrie, das zugleich als eine treff - liche Bildungsanſtalt functionirt und das nebſt einem ſehr guten Bericht von Harpke (2. Nov. 1859) von der nieder-öſterreichiſchen Handelskammer publicirt worden iſt. Dieſe Publication muß als der erſte kräftige Anſtoß zur Gründung des öſterreichiſchen Muſeums für Kunſt und Gewerbe in Wien angeſehen werden, deſſen Wirkſamkeit eine in jeder Beziehung höchſt anerkennenswerthe und heilſame, wenn auch eine wenig vorwiegend hiſtoriſche geworden iſt. Die franzöſiſche Literatur über dieß Gebiet iſt ſehr mangelhaft, ſelbſt Block bietet nichts Beſon - deres. M. F. le Play hat in ſeiner Réforme sociale en France (2me éd.) Bd. II. §. 47 einige allgemeine Sätze über das Enseigne - ment et les corporations, ohne genaue Kenntniß der Geſetze; ein dunkel geahntes Bild der von den Genoſſenſchaften namentlich in Oeſter - reich hergeſtellten Gewerbeſchulen! Audiganne (L’ouvrier d’à pré - sent) S. 113 ff. ſpricht von Écoles de manufactures, die in mehreren Departements errichtet ſein ſollen (etwa 60 mit 1200 1500 Lehrtagen), ohne etwas über den Lehrgang anzugeben. Es ſcheinen das einfache Sonntagsſchulen zu ſein. Er ſagt übrigens S. 148: Ce qu’il faut toujours regretter c’est l’insuffisance des écoles. Freilich, wenn nach ihm im Januar 1865 in Paris (!) nur 8 Schulen mit 1200 Lehr - lingen und 19 für Frauen (?) mit 500 thätig waren, trotz einer Com - miſſion unter dem Vorſitze von Dumas. Die allgemeinen[Redensarten], wie ſie Richter (Kunſt und Wiſſenſchaft, Gewerbe und Induſtrie 1866) darüber macht, wie S. 61 ff., muß man darnach wohl auf ihren poſi - tiven Werth zurückführen. Die betreffenden Schriftſteller ſind ihm un - bekannt geblieben.

C. Künſtleriſche Fachbildung.

Die künſtleriſche Fachbildung in Frankreich concentrirt ſich wieder in Paris. Was zunächſt die Malerei und Bildhauerei betrifft, ſo ſteht Frankreich auch hier hinter Deutſchland in ſeiner Verwaltung zurück, obwohl es auch einige Écoles des beaux arts in mehreren Provinzialſtädten geben ſoll, von denen jedoch wenig bekannt iſt. Iſt Paris doch der Hauptſitz der Malerei und ihrer Fachbildung mit ſeinen zwei Elementen, der École des beaux arts und der Académie des beaux arts. Nur jene iſt eine Kunſtſchule, dieſe eine Kunſtanſtalt,319 jene repräſentirt die Lehre, dieſe die Intelligenz und das Prüfungs - weſen, ſo weit es ein ſolches durch Preisverleihungen geben kann. Die alte Académie de peinture et sculpture von 1848 und die Académie d’architecture haben die Bahn für dieß öffentliche Kunſtbildungsweſen gebrochen; die gegenwärtige École des beaux arts empfing ihre Organi - ſation durch das Reglement vom 22. Juli und 4. Auguſt 1822 mit öffentlichem und freiem Unterricht; durch Decret vom 14. Februar 1853 dem Miniſter des Innern entzogen und dem Miniſter des K. Hauſes untergeordnet; zwei Sektionen (für Maler und Bildhauer in der Archi - tektur).

Das Conservatoire de musique et de déclamation iſt vielleicht das einzige Inſtitut für muſikaliſche Bildung in Frankreich und beſteht bereits ſeit 1784; der Unterricht in der Declamation ſeit 1786. Das Ganze hat acht Sektionen mit bedeutendem Lehrperſonal (neue Organiſation vom Jahre 1836).

Das Kunſtbildungsweſen Frankreichs iſt wenig bekannt. Ueber die École des beaux arts ſagt Kugler (Kleine Schriften Bd. III. S. 436): Es ſcheint mir, daß das ganze Unterrichtsweſen an der École des beaux arts, dem Namen zum Trotz, nicht gar viel mehr als eine For - malität ſei. Ueber die Errichtung des Conservatoire de musique ſind von Tranchant bei Block genauere Angaben; die Académie de France in Rom (ſ. Kugler a. a. O. S. 442; daſelbſt auch einſchlagende Bemerkungen über das ganze Bildungsweſen der Künſte in Frankreich, namentlich über die Ausſtellungen ebend. S. 443 449). Ueber Belgien gibt derſelbe einige Nachrichten ebend. S. 454 f.

Englands Berufsbildungsweſen.
I. Allgemeiner Charakter.

Während noch vor zwei Jahrzehnten das Bildungsweſen Englands im Allgemeinen und ſpeciell ſein Berufsbildungsweſen ſo gut als gänz - lich unbekannt war, haben die neueren höchſt gründlichen Arbeiten von Huber, Wieſe, Gugler und Schöll, indem ſie den Gegenſtand erſchöpfend darſtellten, zugleich die Thatſache feſtgeſtellt, daß es für das Berufsbildungsweſen Englands faſt unmöglich iſt, eine ſyſtematiſche Ueber - ſchau zu gewinnen. Für das gelehrte (und wir fügen hinzu, auch für das wirthſchaftliche) Schulweſen gibt es keine Regierungsinſpection. Jede Schule iſt unabhängig, ein Ganzes für ſich (Schöll). Je weiter320 wir in der Kenntniß dieſer Zuſtände kommen, um ſo mehr beſtätigt ſich dieſe Anſicht. Eine unmittelbare Vergleichung mit dem Continent iſt daher nicht möglich, ſo wenig als eine ſpecielle Darſtellung aller ein - zelnen Schulen und ihrer Zuſtände von wirklichem Intereſſe ſein könnte. Ein Ergebniß für jede vergleichende Darſtellung iſt daher nur in dem allgemeinen Geſichtspunkt zu finden, von welchem aus gerade dieß Schul - ſyſtem verſtanden und in ſein richtiges Verhältniß zu dem continentalen gebracht werden muß. Denn in der That iſt das engliſche Berufs - bildungsweſen, trotz ſeiner völligen Syſtem - und Verwaltungsloſigkeit und der Unthunlichkeit, die von uns aufgeſtellten Kategorien unmittel - bar auf daſſelbe in ſeinen einzelnen Erſcheinungen anzuwenden, dennoch nur eine andere, eigenthümliche Geſtaltung derſelben Elemente, welche das Bildungsweſen im Allgemeinen und das Berufsbildungsweſen im Beſondern beherrſchen. Nur muß man freilich hier mit jenen Be - griffen und Verhältniſſen rechnen, welche man auf die Organiſirung des Unterrichts anzuwenden nicht gewohnt iſt, dem Unterſchied zwiſchen Geſellſchaft und Staat und ihren Forderungen und Einflüſſen auf das Bildungsweſen.

England iſt nämlich bekanntlich dasjenige Land in Europa, wo das, was wir als die (perſönliche) Staatsverwaltung bezeichnet haben, am wenigſten zur Entwicklung gediehen iſt. Den Ausdruck dieſes allge - meinen Satzes bildet der zweite, daß der Amtsorganismus in England am wenigſten entwickelt iſt, und daß die Begriffe von Obrigkeit und öffent - lichem Beruf ſo gut als gänzlich fehlen. An der Stelle derſelben ſteht die Selbſtverwaltung, das selfgovernment, welche die Grundform der geſammten inneren Verwaltung bildet (vergl. die vollziehende Gewalt unter Selbſtverwaltung).

Alle Selbſtverwaltung aber beruht ihrerſeits auf dem Unterſchiede und der Geſtalt der geſellſchaftlichen Ordnung der Menſchen. Sie iſt im Grunde der Ausdruck der ſich innerhalb ihrer Ordnungen ſelbſt verwaltenden Geſellſchaft. Wir dürfen dieſen Satz hier als geltenden annehmen. Wenn nun daher die, ihrem Weſen nach die Gleichheit und Einheit der Staatsangehörigen vertretende amtliche Staatsorgani - ſation nicht zur Entwicklung gedeiht, dann wird die ganze Organi - ſation und Geſtaltung der öffentlichen Thätigkeiten auf der ſocialen Ordnung beruhen und ihre Beſonderheiten, ſo wie ihr Recht vom Stand - punkt der geſellſchaftlichen Ordnungen aus verſtanden werden müſſen. Das gilt von allen Zweigen der Verwaltung, und ſo natürlich auch vom Bildungsweſen.

England nun iſt dasjenige Land, wo dieß der Fall iſt. Seine geſellſchaftlichen Ordnungen und Entwicklungen ſind kaum andere, als321 die des Continents; aber ſeine Staatsgewalt iſt eine weſentlich ver - ſchiedene. Sie iſt im Allgemeinen und ſpeciell im Bildungsweſen den geſellſchaftlichen Gewalten und Intereſſen allenthalben untergeordnet. Im Volkssſchulweſen nun haben wir gezeigt, wie die erſtere neben der letzteren allmählig Raum gewinnt und ein Schulweſen der Verwaltung neben dem des Volkes aufſtellt. Aber in dem ganzen Gebiete des Berufsbildungsweſens iſt das nicht der Fall. Der Charakter des engliſchen Berufsbildungsweſens beſteht darin, daß es noch gar keine ſtaatliche Berufsbildung, weder in Vor -, noch in Fachbildung enthält, ſondern daß das ganze engliſche Berufsbildungsweſen ein rein geſellſchaftliches iſt.

England iſt daher dasjenige Land, für welches wir dieß Weſen eben der geſellſchaftlichen Bildung gegenüber der ſtaatlichen erkennen und pädagogiſch den Werth beider beurtheilen lernen müſſen. Dieß geſellſchaftliche Berufsbildungsweſen, der Form nach auf rein geſell - ſchaftlichen Anſtalten beruhend, geht nun in eine von der ſtaatlichen auf dem Continent herrſchenden verſchiedenen Grundrichtung nicht mehr auf den Erwerb gewiſſer, öffentlich als nothwendig für den Beruf erkannter Kenntniſſe und Fähigkeiten, ſondern vielmehr auf die Ent - wicklung des Elementes der geſellſchaftlichen Geltung der Individuen, deren Charakter. Die geſellſchaftliche Berufsbildung erzeugt ihre Bildungs - anſtalten nicht vermöge einer ſtaatlich feſtgeſetzten, auf dem rationellen, pädagogiſchen Entwicklungsgange der Lehre berechneten Organiſation, ſondern vielmehr auf der Grundlage und nach dem Bedürfniß ihrer großen geſellſchaftlichen Elemente und Bewegungen und richtet ihre Lehre nicht nach den Anforderungen einer beſtimmten Prüfung, ſondern nach denen des geſellſchaftlichen Lebens. Sie hat daher kein Syſtem der Vor - und Fachbildung nach den Gegenſtänden, keine geſetzliche Lehr - und Studienordnung, keine obligaten Bildungsfächer, wie es die ſtaat - liche Verwaltung vorſchreibt; denn da die letztere die Bildungsanſtalten nicht ſelbſt herſtellt, ſo hat ſie auch kein Recht zu befehlen, wie ſie ein - gerichtet ſein ſollen. Sie hat keine formell vorgeſchriebene Gleichartig - keit der Lehranſtalten, denn jede Lehranſtalt iſt entweder eine hiſtoriſch gebildete Corporation mit eigenem Recht oder ein ganz freies Unter - nehmen. Sie hat keine Abgangs - und Uebergangsprüfungen mit öffent - lichen Commiſſionen und Zeugniſſen, ſondern jede Bildungsanſtalt richtet es ein wie ſie will. Und das ganze Berufsbildungsweſen würde daher in lauter einzelne, zerfahrene, ganz willkürlich und zufällig geſtaltete Anſtalten zerfallen, wenn die geſellſchaftliche Ordnung nicht fähig wäre, bis zu einem gewiſſen Grade das formelle Syſtem und die innere Ord - nung für dieſes Bildungsgebiet ſich ſelbſt zu erzeugen. EnglandsStein, die Verwaltungslehre. V. 21322Berufsbildungsweſen hat daher gleichſam die Aufgabe und den Werth für Europa, zu zeigen, ob und in wie weit die geſellſchaftliche Ord - nung ohne Zuthun des Staats eine Berufsbildung hervor - rufen kann; oder anders ausgedrückt, wie weit die Fähigkeit der vollkommenen Freiheit in Lehre und Lernen es vermag, die geſetzliche Ordnung der letzteren zu erſetzen.

Das iſt wohl der Geſichtspunkt, von dem aus Englands Berufsbildungsweſen betrachtet werden muß; und es darf nicht vergeſſen werden, daß derſelbe gerade im obigen Sinn ein hochwichtiger und ſehr berechtigter iſt. Denn bei aller Vortrefflichkeit namentlich des deutſchen Bildungsweſens, ſeiner Form wie ſeinem Inhalt nach, läßt es ſich doch nicht läugnen, daß es vorzugsweiſe auf amtlichen An - ordnungen beruht, und daß die freie Selbſtbeſtimmung des Einzelnen nur noch höchſtens in der Wahl der Richtung ſeiner Bildung, nicht aber in der Wahl des Inhalts derſelben entſcheidend einwirkt. Es läßt ſich ferner nicht läugnen, daß Stoff und Ordnung des zu Lernenden in Deutſchland ſo vortrefflich und ſo reichhaltig geordnet und geboten werden, daß die Kenntniſſe, welche der junge Mann zu erwerben ge - zwungen wird, ihm die freie Selbſtthätigkeit des eigenen Denkens, das lebendige und ſtarke Gefühl der geiſtigen, eigenen Verantwortlichkeit faſt erſetzen können. Unſer Berufsbildungsweſen macht den Charakter durch die Kenntniſſe überflüſſig. Und die weitere Folge davon, das Gefühl, daß dem wirklich ſo iſt, äußert ſich naturgemäß darin, daß man beſtändig dahin trachtet, das Maß und die gute Ordnung dieſer Kenntniſſe noch zu vermehren, ſo daß in der That der Fortſchritt in der Bildung die ſtarke Entwicklung des Charakters immer mehr überflüſſig erſcheinen, die Kraft des ſelbſtthätigen Denkens neben der des wohlorganiſirten Gedächtniſſes und der prompten Faſſungsgabe für Fremdes immer mehr in den Hintergrund treten läßt. Zwar hat Deutſchland in neueſter Zeit das Gegengewicht gegen dieſe Richtung in der Idee der Lehr - und Lernfreiheit gefunden; aber ſie iſt weder zum vollen Durchbruche gekommen, noch iſt man ſich recht einig über das Weſen derſelben. Sie iſt in der That nur das Erſcheinen des engliſchen Princips in der deutſchen Berufsbildung, und die Frage der Zukunft wird die ſein, wie weit ſeine Geltung für Deutſchland gehen ſoll.

Zur Beantwortung dieſer ſo hochwichtigen Frage für die ganze Zukunft des geiſtigen Lebens in Deutſchland genügt es nun nicht, von der größeren wiſſenſchaftlichen Bildung in Deutſchland überhaupt zu reden; denn es iſt die Frage, ob ſie, wenn auch in gewiſſen Gebieten vorhanden, durchſchnittlich wirklich eine größere iſt. Man muß vielmehr dafür einen ganz anderen Standpunkt einnehmen.

323

In der That nämlich kann die völlige Freiheit in der Berufs - bildung, wie ſie England charakteriſirt, nur unter einer Bedingung als ein, ſeine eigene Correction in ſich ſelbſt tragendes Princip anerkannt werden. Das iſt die volle Oeffentlichkeit des geſammten geiſtigen Lebens, welches in ſeiner Preſſe und ſeinen Vereinen das Mittel hat, jeden ernſtlichen Mangel der Bildung aufzudecken und zu rügen, und welche durch den Einfluß der öffentlichen Meinung den Einzelnen zwingt, das zu leiſten, wozu ihn in Deutſchland das formale Bildungsſyſtem nöthigt. Es iſt ferner die volle Freiheit und Thätigkeit der Volksver - tretung und der Selbſtverwaltung, in welcher alle Gebildeten ſich und das, was ſie gelernt haben und wiſſen, zur öffentlichen Geltung bringen. Hier wird die Unfähigkeit und die Unkenntniß von ſelbſt be - ſtraft und die gewonnene Bildung findet ihren Lohn und ihre Aner - kennung ohne alles Zuthun einer Prüfung und eines Zeugniſſes. In dem gewaltigen Ringen der beſten geiſtigen Kräfte, welche uns dieſe großartigen Inſtitutionen darbieten, tritt jeder Gebildete dem anderen perſönlich gegenüber und findet das Maß ſeiner Bildung nicht mehr an einem geſetzlich vorgeſchriebenen Minimum, ſondern an dem Maße der ſelbſtverarbeiteten Bildung der Anderen, und für die Wahrheit und Zulänglichkeit deſſen, was er gelernt, muß er ſelbſt eintreten und nicht mehr das Urtheil einer Prüfungscommiſſion. Daher iſt trotz alles Mangels des öffentlichen Bildungsweſens Englands der Erfolg deſſelben ein ſo großer, daß die engliſche Literatur in allen Gebieten des Wiſſens der deutſchen vollkommen ebenbürtig iſt, während die Gelehrten Männer und nicht bloß Profeſſoren ſein müſſen. Daher kommt die geiſtige Kraft dieſes hochbegabten Volkes; und da liegt der Punkt, auf welchem die Beziehung auf Deutſchlands Bildungsweſen faſt von ſelbſt gegeben iſt. Die große formale Strenge unſerer Bildung für alle Berufe iſt weſentlich ein Ergebniß unſeres bisherigen Mangels an Oeffent - lichkeit, an Volksvertretung und Selbſtverwaltung. Unſer Syſtem hat uns die lebendige Einwirkung dieſer gewaltigen Faktoren erſetzen ſollen, aber natürlich nur halb erſetzt; und es iſt kein Zweifel, daß, wenn bei uns jene drei Potenzen zu vollſtändiger Entwicklung gediehen ſein werden, wir alsdann, die größere und gleichmäßigere Maſſe unſeres Stoffes durch ſie geiſtig und freiheitlich belebend, auch in dieſer Beziehung den erſten Rang in Europa behalten werden.

Denn andererſeits iſt es kein Zweifel, daß bei dem grundſätzlichen und allgemeinen Zurückwerfen des Berufsbildungsweſens auf das, was die geſellſchaftlichen Kräfte leiſten und bei der völligen Gleichgültig - keit des Staats gegen Inhalt, Form und Ergebniß deſſelben große Mängel und praktiſche Uebelſtände entſtehen. Die Freiheit kann viel,324 aber nicht alles. Sie leiſtet das Gewaltige; aber gerade im Berufs - weſen kommt ſie den Völkern ſehr theuer zu ſtehen. Nicht darin liegt der Mangel der deutſchen Bildung, daß ſie iſt wie ſie iſt, ſondern darin, daß Offentlichkeit, Selbſtverwaltung und Volksver - tretung neben derſelben noch nicht ſo weit fortgeſchritten ſind, als in England. Wenn dieß der Fall ſein wird, werden wir neben dem Guten das Beſte haben, neben dem unerſchöpflichen Stoffe und der Gleichheit in der Berufung aller zu ſeiner Benützung die geſunde Kraft, ihn zu verarbeiten und zu beleben. Nicht daß der Staat ſich ſo ernſtlich des Bildungsweſens annimmt, iſt das Bedenkliche, ſondern daß er ſich noch zu ſehr zum Vormund macht, und noch zu wenig Anlaß bietet, das öffentliche Leben über das entſcheiden zu laſſen, was zuletzt denn doch nicht für die Gelehrſamkeit, ſondern für das Volks - leben ſelbſt gelernt wird. Wir glauben daher, daß die Vergleichung mit England das deutſche Berufsbildungsweſen nicht reformiren, ſondern daß ſie nur auf das einzige Element hinweiſen ſoll, das demſelben noch fehlt und ohne welches das erſtere nun einmal ſchlechterdings nicht ver - ſtanden werden kann.

II. Grundzüge deſſelben.

In der That nämlich ergeben ſich nun, wenn man Geſtalt und Inhalt des engliſchen Berufsbildungsweſens auf die geſellſchaftlichen Elemente des engliſchen Volkes zurückführt, folgende Grundzüge deſſelben.

England iſt dasjenige Land, in welchem die beiden großen Grund - formen der geſellſchaftlichen Ordnung, die ſtändiſche und die ſtaats - bürgerliche, neben einander ſtehen, zwar nicht ohne Vermittlung, aber ihrem Kerne nach noch vollkommen ſelbſtändig. Die letztere iſt mit ihrem großen Princip der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit niemals untergegangen; aber es läßt ſich nicht verkennen, daß die Elemente der erſtern bis zu unſerm Jahrhundert die herrſchenden geweſen ſind, und daß erſt in unſerm Jahrhundert die letztere die Kraft gewonnen hat, über die Gränzen der Städte und des gewerblichen Lebens hinaus zu gehen, und das ganze Volk zu durchdringen. Und da nun jede geſellſchaftliche Ordnung ihr eigenthümliches Berufsbildungsweſen er - zeugt, ſo ſehen wir in England, wo die Staatsgewalt nicht wie auf dem Continent dieſe Unterſchiede mit einem großen, allgemein ſtaat - lichen Berufsbildungsweſen überdeckt, bis zum Ende des vorigen Jahr - hunderts nur Ein Berufsbildungsweſen, das der herrſchenden Klaſſe, in den Colleges und der University gelten, dem jede ſpecielle Fach - bildung, jedes öffentlich rechtliche Prüfungsweſen, jede Forderung eines325 beſtandenen Examens als Bedingung der Anſtellung oder der Aus - übung eines öffentlichen Berufes fremd iſt, während erſt mit unſerm Jahrhundert neben dieß ſtändiſche Berufsbildungsweſen ſich allmählig ein zweites hinſtellt, das ſtaatsbürgerliche, das ſeinerſeits ſich auf die Natur der Sache angewieſen fühlt, und nicht auf ſtändiſche Traditionen. Dieß Berufsbildungsweſen entwickelt daher die zwei großen Momente, welche daſſelbe von der alten ſtändiſchen Form ſcheiden. Zuerſt trennt es das Vorbildungsweſen von der Fachbildung, wenn gleich in höchſt unvollkommener Form; dann entwickelt es neben und in der Vorbil - dung den Unterſchied der wirthſchaftlichen Bildung von der wiſſen - ſchaftlichen, wenn auch ohne rechtes Syſtem. Das Auftreten der ſtaats - bürgerlichen Geſellſchaft hat daher zur Folge, daß die großen Grundzüge der deutſchen Berufsbildung durch die Bedürfniſſe und Kräfte der Ge - ſellſchaft ſich von ſelbſt erzeugen. Allein der Mangel des ſtaat - lichen Einfluſſes zeigt ſich hier in zwei Dingen. Zuerſt fehlt dieſer Bildung das Syſtem, die Einheit und die Gleichmäßigkeit in allen ſeinen Theilen, und die Bildungsanſtalten ſelbſt, jedem Einfluß und jeder Unterſtützung des Staats entzogen, erſcheinen mit allen Zu - fälligkeiten privater Unternehmungen. Dann ſind die Fachbildungs - anſtalten ſo gut als gar nicht vorhanden, und hier zeigt ſich die wichtige Thatſache, daß dieſelben entweder gar nicht, oder nur ſehr ſchwer auf der freien Thätigkeit der Geſellſchaft baſirt werden können. Endlich aber ergibt ſich, daß ſo lange die rein ſtändiſchen Fachbildungs - anſtalten neben den ſtaatsbürgerlichen beſtehen, beide nicht zum rechten Gedeihen gelangen können, da natürlich die erſteren ihre un - organiſche Methode und ihre Prüfungsloſigkeit auf die letzteren über - tragen. Hier liegt der eigentliche organiſche Mangel des engliſchen Berufsbildungsweſens, der jede unmittelbare Vergleichung mit dem deutſchen ſo ſchwer thunlich macht. England hat zwar Univerſitäten, aber keine Univerſitätsbildung, wie Frankreich zwar Facultäten aber keine Univerſität hat. Und die große und eigentliche Frage, welche man an das engliſche Berufsbildungsweſen zu ſtellen hat iſt die, ob daſſelbe überhaupt[ohne] die eigentliche Univerſitätsbildung auf die Dauer wird beſtehen können. Wir müſſen dieſe Frage verneinen. Wir ſind vielmehr der vollkommenen Ueberzeugung, daß England, einmal auf der Bahn der ſtaatsbürgerlichen Entwicklung ſeines Bildungsweſens begriffen, die Aufgabe hat, das ſyſtematiſche deutſche Element bei ſich zu verarbeiten, wie andererſeits Deutſchland das England eigenthüm - liche der Charakterentwicklung mit ſeinem zu ſtrengen Syſtem zu ver - ſchmelzen haben wird.

Nach dieſen Vorausſetzungen wird es nun wohl klar ſein, weß -326 halb es nicht möglich iſt, auf das engliſche Berufsbildungsweſen die oben aufgeſtellten allgemeinen Kategorien einfach anzuwenden. Denn nach der ganzen Grundlage des engliſchen Bildungsweſens und bei der völligen Abweſenheit jedes Regierungseinfluſſes muß davon ausgegangen werden, daß jede Bildungsanſtalt ihr eigenes Syſtem und Recht hat; daß ſelbſt die Statiſtik derſelben ſehr mangelhaft iſt, und daß endlich von einer geſetzlichen Ordnung gar keine Rede iſt. Es bleibt daher nichts übrig, als dieſes Berufsbildungsweſen auf ſeine beiden Grund - lagen, die ſtändiſche und die ſtaatsbürgerliche zurückzuführen. Es muß dann dem ſpeciellen Studium dieſes Gebietes der engliſchen Zuſtände überlaſſen bleiben, die Einzelheiten in dieſen mehr hiſtoriſchen als ſyſtematiſchen Rahmen hinein zu ſtellen; die Geſchichte Englands und ſeines Geiſtes aber muß endlich zeigen, wie allmählig das ſtaatsbürger - liche Princip auch hier ſich entwickelt und zum Siege gelangt. Die Elemente einer ſolchen Darſtellung aber ſind die folgenden.

Wir entbehren bisher einer, das geſammte engliche Berufsbildungs - weſen umfaſſenden Darſtellung. Huber hat nur die Geſchichte der Univerſitäten noch dazu ohne die ſogenannte Londoner University auf - zunehmen. Gneiſt hat nur die Organiſation der Lehrordnung an den Univerſitäten; Wieſe hat den Geiſt derſelben, aber dabei das ganze Gebiet der Grammar Schools weggelaſſen; Schöll hat wieder das ganze wiſſenſchaftliche Vorbildungsweſen, aber die gewerbliche Vorbil - dung weggelaſſen, während Gugler wieder das letztere am beſten dar - ſtellt, und Wagner ganz bei der Volksſchule ſtehen bleibt. Das Fol - gende hat daher die vorliegenden Reſultate weſentlich zuſammen zu faſſen, bis eine erſchöpfende Arbeit auf dem jetzt viel beſprochenen Ge - biete uns das Ganze in ſeiner höhern Einheit vollſtändig beherrſchen lehrt. Doch hat Schöll den großen Vorzug, vor allen andern die Unmöglichkeit einer einfachen, ſyſtematiſchen Darſtellung am deut - lichſten erkannt und ausgeſprochen zu haben, eben weil er das Ganze am beſten überblickt hat (bei Schmid II, S. 129).

III. Die Colleges und die Universities.

(Das ſtändiſche Vor - und Fachbildungsweſen der wiſſenſchaftlichen Bildung.)

Bei der Beurtheilung der wiſſenſchaftlichen Vor - und Fachbildung muß man vor allen Dingen davon ausgehen, daß die Universities ſelbſt niemals Fachſchulen im deutſchen Sinne des Wortes ſind. Sie haben weder Fakultäten, wie in Deutſchland, noch ſind ſie Fakultäten,327 wie in Frankreich. Da nämlich die Regierung kein Amt brauchte, wie auf dem Continent, noch auch Finanzregalien beſaß, ſo kam ſie nie in Gelegenheit, eine Fachprüfung ihrerſeits von den Staatsdienern fordern zu müſſen; und da andererſeits alle höhern Staatsämter durch hervorragende Leiſtungen im Parlamente gewonnen wurden, ſo for - derte auch der gebildete Stand eine ſolche Fachbildung und ihr Syſtem nicht. Das entſcheidende Gewicht, das die oratoriſchen Talente und die denſelben zum Grunde liegende allgemeine Bildung im öffentlichen Leben beſaßen, ließ vielmehr die allgemeine Forderung ſich auf das - jenige beſchränken, was den Parlamentsredner im Allgemeinen, den öffentlichen Redner im Beſondern ausmachte. Und nach dem ganzen Gang der mittelalterlichen Bildung war es kein Zweifel, daß dafür die claſſiſchen Studien die wahre Grundlage bilden. In der That kam es bei der Theologie weſentlich auf die Vertretung beſtimmter Con - feſſionen, bei der Jurisprudenz auf Gewandtheit in öffentlichen Ver - handlungen, bei der Medicin auf das Vertrauen des Publikums, bei der Philologie auf das Bedürfniß deſſelben an. Das große Princip der Patronage bei der Beſetzung von Staatsämtern und das nicht minder wichtige der freien Wahl bei den Aemtern der Selbſtverwaltung, verbunden mit der Stellung der herrſchenden grundbeſitzenden Klaſſe, der Gentry, ließen den Gedanken gar nicht aufkommen, daß eine Fachbildung eine ausgezeichnete Berechtigung auf irgend eine Anſtellung gebe; der Mangel einer thätigen Verwaltung des Innern erzeugte kein Bedürfniß der Regierung nach andern als parlamentariſchen Ca - pacitäten; und ſo kam es, daß England niemals eine wiſſenſchaft - liche Fachbildung, oder das derſelben entſprechende Syſtem der Facultäten und der öffentlichen oder Staatsdienſtprüfungen bei ſich ausgebildet hat. Seine ganze wiſſenſchaftliche Bildung beſchränkte ſich auf die claſſiſche als Grundlage der öffentlichen Laufbahn, und zwar auf eine ſolche, die ſelbſt nicht wieder als philologiſche Fachbildung, ſondern rein als allgemein humaniſtiſche den Mann des öffent - lichen Lebens, den public character, ausmachte. Und da nun end - lich nur Geburt und Vermögen bis zu unſerem Jahrhundert dem Ein - zelnen eine ſolche parlamentariſche Laufbahn möglich machten, ſo ent - ſtand der Englands wiſſenſchaftliche Bildung charakteriſirende Satz, daß dieſe humaniſtiſche Bildung ſpecifiſch der höhern, herrſchenden Klaſſe, der Gentry, angehöre, und daß daher die weſentliche Aufgabe derſelben ſei, den Studirenden zugleich zu einem Mitgliede derſelben zu erziehen. Das waren, und das ſind noch gegenwärtig die beiden herrſchenden Elemente der wiſſenſchaftlichen Bildung in England, welche in dem Syſtem der Colleges und der beiden Universities ihren Ausdruck finden.

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Beide nun, hervorgegangen aus der ſtändiſchen Epoche, haben nun gemeinſchaftlich wirkend die einzelnen Elemente dieſes Syſtems erzeugt und bis auf die neueſte Zeit erhalten. Sie ſind es auch, welche daſſelbe auf das beſtimmteſte von der zweiten großen Bildungsform in England ſcheiden.

Zuerſt haben dieſe beiden Elemente die Colleges wie die Universities als Alumnate erhalten, woran der geiſtliche Urſprung und Inhalt derſelben den größten Antheil hatte. Dieſe Alumnate unter - ſcheiden ſich aber von den franzöſiſchen Penſionats weſentlich dadurch, daß ſie nicht etwa wie die letzteren Staatsinſtitute mit amtlicher Leitung ſind, ſondern als Selbſtverwaltungskörper daſtehen, welche ſich ihre eigenen Häupter und Organe wählen. Dieſe innere Freiheit wiegt ſchon hier die äußere Beſchränkung derſelben auf. Zugleich aber tragen alle dieſe Körper, die Colleges wie die Universities, den Charakter von ſocialen Stiftungen durchgehends an ſich, indem eine Menge von Freiſtellen bei denſelben auch den Nichtbemittelten die wiſſenſchaft - liche Laufbahn möglich machen, und wiederum werden dieſe Freiſtellen nicht wie die franzöſiſchen bourses von der Regierung, ſondern nach den Vorſchriften der Stiftungsurkunden vergeben. Nicht einmal die ſtiftungsmäßigen Oberbehörden miſchen ſich in die innere Verwaltung der Schulen. So ſtanden dieſe Körperſchaften, den geiſtlichen ähnlich, in der ſtändiſchen Welt abgeſchloſſen da. Erſt allmählig ward der Grund - ſatz geltend, daß auch Externe (Oppidani) zum Unterricht zugelaſſen werden dürfen; und jetzt bilden dieſe wenigſtens in den Colleges den größten Theil der Schüler, ohne dennoch den ſtändiſchen und ſtiftungs - mäßigen Charakter der Körperſchaften ſelber zu ändern. Eine ſpeciellere Darſtellung dieſer Verhältniſſe jedoch kann nur durch die Statuten jeder Körperſchaft gegeben werden. Es iſt hier wenig anders gleich als das Princip. Und auch dieß wird erſt ganz verſtändlich in ſeiner Verbin - dung mit dem Folgenden.

Zweitens hat ſich auf derſelben Grundlage auch der Bildungs - gang und das Lehrweſen beſtimmt. Vor allem ſind dieſe Körperſchaften grundſätzlich von jeder wirthſchaftlichen Vorbildung entfernt und be - ſchränken ſich ſtrenge auf die claſſiſche Bildung. Den Lehrgang ſelbſt, ſpeciell in den Colleges, hat Schöll erſchöpfend mitgetheilt. Ferner ergibt ſich, da keine ſtaatliche Prüfung und keine Verwendung des Ge - lernten in einem Amte ſtattfindet, daß der Unterſchied zwiſchen Colleges und Universities zwar der Idee nach der einer Vorbildungs - und Fach - bildungsanſtalt iſt, daß aber dieſer Unterſchied gar nicht zur wirklichen Geltung kommt, ſondern die University, auf welche die Studenten be - reits mit dem vierzehnten Jahre aufgenommen werden können, ſelbſt329 Vor - und Fachbildung oder lieber Ausbildung in ſich vereinen. Nur die Colleges haben allerdings den Charakter von zum Theil ſehr tüchtigen Gymnaſien, bei denen jedoch mit Ausnahme der Mathe - matik gar nichts als claſſiſche Philologie getrieben wird. Dabei ſind die Prüfungen für dieſe Fächer ſehr ſtrenge; das Abgangszeugniß iſt das Baccalaureat. Natürlich geht, ganz im Charakter dieſes Bildungsweſens, nur ein ſehr kleiner Theil der Schüler der Colleges zur University über. Die letztere beſteht nun ſelber, wenn auch nicht formell, ſo doch der Sache nach aus zwei Theilen, den Vorbildungsſtadien und den eigentlichen Studenten. Jene aber fordern, da für ſie kein eigent - licher ſelbſtändiger Unterricht vorhanden iſt, daß die jungen Studenten ſtatt der Gymnaſiallehrer einen Hofmeiſter, tutor, haben, der ihnen die College-Bildung beibringt und ſie zum baccalaureus vorbereitet; er treibt vor allen Dingen ſeine Privatſtudien theils als Vorbereitung, theils als Repetition unter der wenigſtens präſumirten Leitung des Tutors (Huber II. 436). Das dauert, trotz der formell ſogleich vor - genommenen Immatriculation, drei oder vier Jahre. Mit dem Bacca - laureat waren nun für die große Mehrzahl die akademiſchen Studien geſchloſſen (Huber II. 440). Erſt ſpäter wird dann eine förmliche Uebergangsprüfung von dem College in die eigentliche University ein - geführt, die ſog. previous examination; daneben kommen jährliche Prü - fungen und Vertheilung von Preiſen u. ſ. w. vor (Huber II. 484 ff.). Auf der University werden dann allerdings eigentliche Fachvorleſungen gehalten, Theologie, Jurisprudenz, Medicin, Naturwiſſenſchaft; allein dieſe Vorleſungen haben nicht den Charakter und die Aufgabe von Fach - bildungen, ſondern ſind bloß allgemeine Einleitungen in dieſelbe. (Der Curſus für die drei Hauptfächer umfaßt höchſtens 50 Stunden jährlich.) Nach Erledigung dieſer Collegien wird eine Art Fachprüfung gehalten und der Student wird Baccalaureus Artium (etwa dem Licencié ent - ſprechend). Damit iſt die Fachbildung abgeſchloſſen; die höheren Grade ſind reine Univerſitätsgrade. Eine weitere Fachbildung findet überall nicht ſtatt. Die Inns of court könnte auch im Scherz niemand mehr als Rechtsſchulen in unſerem Sinne in Anſpruch nehmen. In einigen großen Hoſpitälern werden zwar Curſe für Praktikanten und Auskultanten gehalten. Was die Vorleſungen, welche als Privatſpeku - lationen von Aerzten, Apothekern, Chemikern und Wundärzten gehalten werden, in wiſſenſchaftlicher Hinſicht zu bedeuten haben, läßt ſich denken (Huber II. 471 472). Eine Verpflichtung zur Bildung für ein Fach, eine öffentliche Prüfung, exiſtirt nicht. Die Regierung fordert nichts, aber ſie thut auch nichts. Aus alledem geht zur Genüge hervor, daß Alles, was in Oxford und Cambridge in eigentlichen FachwiſſenſchaftenStein, die Verwaltungslehre. V. 22330geleiſtet wird, ſo gut wie nichts iſt gegen das, was bei uns auch nur bei einem leidlichen Fakultätsexamen gefordert wird (Huber II. 511). Und daher iſt es denn auch ſehr erklärlich, weßhalb ſo viele junge Leute der Gentry gar nicht auf die University gehen, ſondern es einfach bei einem Beſuch eines College (Eton, Rugby u. ſ. w.) bewenden laſſen, da ſie im Grunde mehr in dieſen Colleges als auf der University ſelber lernen.

Das ſind die Elemente der wiſſenſchaftlichen Bildungsanſtalten und ihrer Leiſtungen in England. Es iſt auf den erſten Blick klar, daß dieſe Anſtalten ganz unfähig ſind, durch die in ihnen gewonnenen Kennt - niſſe den Mangel eigener Thätigkeit und den eines tüchtigen Cha - rakters zu erſetzen, wie das bei den deutſchen Anſtalten nur zu ſehr der Fall iſt. Daher wird eben dieſe Unvollkommenheit gegenüber den Anforderungen eines großen, auf öffentlicher Thätigkeit beruhenden Lebens zur Nothwendigkeit eigenen Strebens und individueller Ausbildung. Ohne die engliſche Verfaſſung wären die engliſchen ſtändiſchen Colleges und die beiden Universities das geiſtige Verderben, die Treib - häuſer geiſtiger Beſchränktheit oder geiſtiger Verwilderung. Aber dieſe Verfaſſung iſt es, die alles wieder gut macht. Sie zwingt den Mann, der geachtet ſein will, ſich einen ſtarken Charakter zu gewinnen und in Lebensformen und öffentlichem Auftreten ein Gentleman zu ſein. Und aus dieſer Quelle entſpringt bei allem Mangel der wiſſenſchaft - lichen Anſtalten die hohe wiſſenſchaftliche Bildung Englands, die es unbedingt neben jedes Volk der Erde ſtellt.

Aber freilich hat auch eben dieſer Charakter das ſtändiſche Element an ſich. Jene Anſtalten ſind denn doch zuletzt ohne Beziehung auf das große praktiſche Bedürfniß der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft eingerichtet. Da es keine Regierungsgewalt gab, welche ſie ändern konnte, ſo mußte neben ihnen eine zweite Gruppe von Anſtalten entſtehen, eine Gruppe, in welcher das England der heutigen Tage ſich dem Continent und ſeinen Forderungen und Formen in bedeutendem Grade nähert.

Es iſt von großem Intereſſe, den tiefen Eindruck zu betrachten, den das Weſen der Univerſitäten und Collegien auf die bedeutenden deutſchen Männer gemacht hat, welche es genauer ſtudirten. Hubers Werk iſt, namentlich im II. Band ganz von dieſem Geiſte durchdrungen. Die engliſchen Univerſitäten beſcheiden ſich dem nationalen Leben ſeine höchſte und eigenthümlichſte Blüthe in dem gebildeten Gentleman zu geben (II. S. 457); und Wieſe hat daſſelbe, nur in freierer und lebendigerer Form wiederholt in ſeinen Briefen über engliſche Er - ziehung 1852. Selbſt der objektive Schöll (bei Schmid) wird davon331 ergriffen. Das iſt ein Beweis, daß die deutſche höhere Pädagogik ganz dazu angethan iſt, den Geiſt dieſer engliſchen Inſtitute ſich an - zueignen. Die Verfaſſung der Univerſitäten bei Gneiſt I. §. 142. Warum hat er die Colleges nicht aufgenommen? Das Stat. 25. 26 Vict. 26 hat der Univerſität Oxford das Recht gegeben, für neue Lehrkanzeln (Professorships) Regulations zu geben, die dann dem Staatsrath (King in Council) zur Genehmigung vorgelegt werden. Wich - tig, weil hier ſpeciell die Nationalökonomie, Geologie und Chemie auf - genommen ſind (Auſtria 1864, S. 373). Die Darſtellung der Colleges nebſt Studienplan bei Schöll a. a. O., S. 132 ff. Es gibt ihrer zehn: die beiden älteſten ſind Wincheſter (1387) und Eton (1441), die gegenwärtig fortgeſchrittenſte iſt wohl Rugby (ſeit 1567). Was Eton für den Adel und die höhere Mittelklaſſe, das iſt Christs Ho - spital (ſeit 1552) für die Mittelklaſſe überhaupt und zum Theil für die untere Klaſſe (ebendaſ. S. 145). Leider hat Schöll die Univerſitäten nicht berückſichtigt; die Beziehung auf die Verfaſſung fehlt auch ihm, wie den meiſten Pädagogen. Da hatten doch die Conſtitutionellen wie Aretin, Zachariä u. A. im Anfange unſeres Jahrhunderts, wenn auch nicht richtiger, ſo doch weiter geſehen; nur entging ihnen wieder der Einfluß der Selbſtverwaltung, deren Einwirkung auf das Bildungs - weſen wieder bei Gneiſt fehlt. Eine engliſche Literatur über das Univer - ſitätsweſen ſcheint nicht zu exiſtiren (Schöll S. 159).

IV. Das ſtaatsbürgerliche Bildungsweſen.

In der eben dargelegten Weiſe beſtanden nur die alten ſtändiſchen Grundformen der höheren Bildung fort, und beſtehen ſie noch gegen - wärtig; und da der Staat keine Prüfungen braucht und keine Unter - ſtützung gibt, ſo iſt auch kein Anlaß, jene Ordnung zu ändern. Allein daß dieſelbe in unſerer Zeit nicht genügt, iſt wohl klar. Während allerdings kein neues Syſtem von Seiten einer Schulbehörde kommen kann, gelangt das Bedürfniß der feineren Geſellſchaft namentlich auf zwei Punkten zum Ausdruck. Einerſeits nämlich zwang die Entwick - lung des höheren gewerblichen Lebens die mittlere und niedere Bürger - ſchaft, auch in England an eine Realbildung ſowohl der beſitzenden als der nichtbeſitzenden Gewerbsklaſſen zu denken, und andererſeits konnten jene wenigen hiſtoriſchen Schulen denn doch auch entfernt nicht dem Bedürfniß der wiſſenſchaftlichen Schulen entſprechen. Da nun das Volk von ſeiner Regierung nichts fordern wollte und nichts zu erwarten hatte, ſo ſchuf es ſich ſelbſt neben jenen ſtändiſchen Bildungsanſtalten ein eigenes, den Bedürfniſſen der Zeit entſprechendes Bildungsſyſtem,332 das wir ſomit das bürgerliche nennen. Die Grundlagen dieſes Syſtems ſind wie faſt allenthalben in England, die Vereine und die Privat - unternehmung. Die Unterſtützung des Staats, damit aber auch ſeine Oberaufſicht, ſind grundſätzlich ausgeſchloſſen. Forderungen mit Leiſtun - gen an jenes Bildungsſyſtem gehen daher rein aus den Anforderungen des geſellſchaftlichen Lebens hervor; und das, was auf dieſe Weiſe hier entſtanden iſt, iſt daher um ſo intereſſanter, als es uns zeigt, was auch ohne Zuthun einer rationellen amtlichen Schulverwaltung die freie Geſellſchaft zu ſchaffen vermag.

Die beiden charakteriſtiſchen Elemente dieſes Schulſyſtems ſind nun einerſeits die Verbindung der wirthſchaftlichen Vorbildung mit der wiſſenſchaftlichen und das Auftreten des Gewerbeſchulweſens, worin das freie engliſche Bildungsweſen ſich dem kontinentalen faſt gleichſtellt, und der gänzliche Mangel der wirthſchaftlichen Fachſchulen, ſo wie der eines öffentlichen Prüfungsſyſtems, wodurch es ſich von dem letzteren unterſcheidet. Eine genaue Kenntniß deſſen, was hier geſchieht, fehlt, weil die Regierung nichts mit dem Ganzen zu thun hat, und die Statiſtik eine ſehr unvollſtändige iſt. Daher iſt es auch ganz unthunlich, zu beſtimmen, wie weit die allgemeinen Sätze im Einzelnen zutreffen. Jede Schule iſt ein Unternehmen für ſich und beſtimmt ihren eigenen Lehrgang. Von einer öffentlichen Lehrerbildung iſt keine Rede, keine Rede von einer geſetzlichen Gymnaſialordnung, oder von irgend einer Verpflichtung der Gemeinden, oder von einer gemeinſchaftlichen Leitung. Wir ſtehen auf einem Gebiete, wo rein die Natur der Sache wirkt; und um ſo intereſſanter wäre es zu ſehen, was ſie für und durch ſich ſelber zu regieren vermag.

Wir können nun dieß Bildungsweſen in drei große Gruppen eintheilen.

Die erſte iſt die freie Form der ſtändiſchen Colleges, die durch Vereine gegründet und nach dem Muſter der letzteren eingerichtet ſind. Sie ſind daher eigentliche Gymnaſien und die großen Rivalen der alten Colleges; daß ſie mit ihnen den gleichen Namen führen, beruht auf dem gleichen Bildungsſyſtem. In der That werden Eintheilung und Thätigkeit beider Arten immer gleichförmiger, und es iſt kein Zweifel, daß ſich hier ein vollſtändiges Gymnaſialſyſtem ganz in der Weiſe herausbildet, wie es in Deutſchland beſteht. Dieſe neueren Colleges theilen ſich in zwei Gruppen, die Kings Colleges, die von der high church gegründet ſind, und die University Colleges, die von den Diſſenters ausgehen, indem ſie das kirchliche Element bei Seite laſſen.

Der Angabe nach ſollen mehrere dieſer Colleges auch in ähnlicher Weiſe wie unſere Realgymnaſien organiſirt ſein. Doch ſelbſt Schöll hat nichts Näheres darüber.

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Die zweite Gruppe beſteht aus den Privatſchulen unter den ver - ſchiedenſten Namen (Public day schools, Collegiate schools, Grammar schools, Academies), die ſie je nach Ermeſſen annehmen. Dieſe Schulen ſind äußerſt verſchieden, ſowohl von den Vereinsſchulen als unter ſich (Schöll), was natürlich iſt. In dieſe Schulen nun, welche durch das Bedürfniß des Publikums getragen und gänzlich frei in ihrer Lehrordnung ſind, wird zum großen Theil der Verſuch durchgeführt, neben der klaſſiſchen Bildung auch eine Realbildung zu geben. Natür - lich iſt das alles ſehr zufällig und verſchieden, wie es in der Natur der Sache liegt. Nähere Nachrichten liegen nicht vor. Nur das ſteht feſt, daß dieſe Privatſchulen keine Vorbereitung für die ſtändiſchen Col - leges und für die Universities geben.

Die dritte Gruppe endlich wird gebildet aus dem Syſtem der ge - werblichen Bildungsſchulen, die für die weitere Bildung der Hand - werker beſtimmt ſind, und denen theils die ſog. Upper schools, theils die Commercial schools vorhergehen, Privatunternehmungen, welche ungefähr unſern Bürgerſchulen entſprechen, und natürlich von ſehr verſchiedenem Werthe ſind. Im Allgemeinen ſind dieſe gewerblichen Fortbildungsſchulen auf ſehr niederer Stufe, und nicht viel mehr als unſere Sunday schools, indem die Hauptgegenſtände noch immer im Gebiete des Elementarunterrichts liegen. Einen weſentlichen Fortſchritt bildeten die Mechanic Institutions, die ſeit 1821 (in Glasgow) ent - ſtanden ſind, ſich von dort verbreitet und zum Theil weiter entwickelt haben, ſo daß in großen Städten auch von bedeutenden Männern ge - legentlich Vorträge darin gehalten werden. Es ſind weſentlich Ge - werbeſchulen, allein natürlich mit ſehr verſchiedenen Programmen; doch ſcheint das charakteriſtiſche Element des Schulgeldes allgemein zu ſein. Daneben ſind Zeichnungsſchulen (schools of design) als eine Art Fortbildungsſchulen, ſeit 1837 angeregt, erſt ſeit 1850 weiter verbreitet (1854 gegen 2000), ſie können Staatsunterſtützung genießen. Die Londoner polytechnic institution, ſeit 1828 auf Aktien gegründet, iſt eine ſyſtemloſe Anſtalt, die ein ſchlechtes Nachbild des Conservatoire des Arts et métiers in Paris iſt.

Es iſt nun hier auf den erſten Blick klar, daß bei aller Form - loſigkeit und Zufälligkeit dieſer Beſtrebungen dennoch in denſelben eine gewiſſe Gleichartigkeit der Entwicklung beſteht, welche die Realbildung ſyſtematiſch neben der klaſſiſchen zur Geltung bringen und ſie als an - erkanntes Glied in das öffentliche Bildungsweſen einführen will. Das aber bedeutet wieder den großen Kampf der ſtaatsbürgerlichen Geſell - ſchaft mit den Reſten der ſtändiſchen und die allmählige Vernichtung des Unterſchieds der Klaſſen, der in der bisherigen ausſchließlichenStein, die Verwaltungslehre. V. 23334Geltung der klaſſiſchen Bildung für die höheren Stände, gewiſſermaßen als Standesbildung, ſchon für die Jugend ſeinen Ausdruck fand. Sollte die Reformbildung durchgreifen, ſo iſt es kein Zweifel, daß ihr Sieg eine gründliche und allgemeine Reorganiſation des ganzen Berufsbildungsweſens nach ſich ziehen wird; denn auch in England liegt in ihm ein charakteri - ſtiſches Element der geſellſchaftlichen Zuſtände.

Ueber dieß ganze wenig bearbeitete und höchſt ſchwierige Gebiet ſiehe vorzüglich Schöll a. a. O. S. 224, mit beſonderer Berückſichti - gung des gelehrten Unterrichts und Gugler bei Tyler mit beſonderer Hervorhebung des gewerblichen. Dazu kurz des letztern Bemerkungen im Artikel gewerbliche Fortbildungsſchulen bei Schmid Bd. II. S. 886. Auch Audigonne a. a. O. hat einige, aber höchſt unbedeutende Mit - theilungen (S. 99 ff. ), die auf die eigentliche Sache gar nicht eingehen. Richter a. a. O. gibt S. 64 zwei Notizen.

V. Die künſtleriſche Vor - und Fachbildung iſt im Bildungs - ſyſtem Englands ſo gut als gar nicht vertreten. Uns iſt daher nur die Akademie zu London bekannt, die unter dem Namen der Royal Academie of Arts lediglich eine Privatgeſellſchaft iſt. Ihre Aufgabe iſt eine doppelte; theils hat ſie mit Ausſtellungen zu thun, was ihre wichtigſte Thätigkeit iſt, theils hat ſie auf Grund der durch dieſe Ausſtellungen erzielten Reinerträgniſſe eine Art von Kunſtſchule errichtet, welche ſich weſentlich mit Zeichnen und Malen beſchäftigt, daneben jedoch gewiſſe Vorträge (jährlich nur ſechs) über die Kunſt - zweige veranſtaltet, und die Schüler bei öffentlichen Ausſtellungen mit Medaillen betheiligt. Sonſtige Anſtalten exiſtiren nicht; der Staat thut für die Kunſtbildung gar nichts.

Eine kurze Nachricht darüber bei Fr. Kugler (Kleine Schriften und Studien zur Kunſtgeſchichte. Bd. III. S. 464).

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TextDie Verwaltungslehre
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDie Verwaltungslehre Fünfter Theil. Die Jnnere Verwaltung Lorenz von Stein. . XXII, 334 S. CottaStuttgart1868.

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