Mein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen Theil des erſten Stockwerkes eines mäßig großen Hauſes in der Stadt, in welchem er zur Miethe war. In demſelben Hauſe hatte er auch das Verkaufsge¬ wölbe die Schreibſtube nebſt den Waarenbehältern und anderen Dingen, die er zu dem Betriebe ſeines Geſchäftes bedurfte. In dem erſten Stockwerke wohnte außer uns nur noch eine Familie, die aus zwei alten Leuten beſtand, einem Manne und ſeiner Frau, welche alle Jahre ein oder zwei Male bei uns ſpeiſten, und zu denen wir und die zu uns kamen, wenn ein Feſt oder ein Tag einfiel, an dem man ſich Beſuche zu machen, oder Glück zu wünſchen pflegte. Mein Vater hatte zwei Kinder, mich den erſtgeborenen Sohn undStifter, Nachſommer. I. 12eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als ich. Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen, in welchem wir uns unſeren Geſchäften, die uns ſchon in der Kindheit regelmäßig aufgelegt wurden, widmen mußten, und in welchem wir ſchliefen. Die Mutter ſah da nach, und erlaubte uns zuweilen, daß wir in ihrem Wohnzimmer ſein und uns mit Spielen er¬ gözen durften.
Der Vater war die meiſte Zeit in dem Verkaufs¬ gewölbe und in der Schreibſtube. Um zwölf Uhr kam er herauf, und es wurde in dem Speiſezimmer geſpeiſet. Die Diener des Vaters ſpeiſten an unſerem Tiſche mit Vater und Mutter, die zwei Mägde und der Magazinsknecht hatten in dem Geſindezimmer einen Tiſch für ſich. Wir Kinder bekamen einfache Speiſen, der Vater und die Mutter hatten zuweilen einen Braten und jedes Mal ein Glas guten Weines. Die Handelsdiener bekamen auch von dem Braten und ein Glas desſelben Weines. Anfangs hatte der Vater nur einen Buchführer und zwei Diener, ſpäter hatte er viere.
In der Wohnung war ein Zimmer, welches ziem¬ lich groß war. In demſelben ſtanden breite flache Käſten von feinem Glanze und eingelegter Arbeit. 3Sie hatten vorne Glastafeln, hinter den Glastafeln grünen Seidenſtoff, und waren mit Büchern angefüllt. Der Vater hatte darum die grünen Seidenvorhänge, weil er es nicht leiden konnte, daß die Aufſchriften der Bücher, die gewöhnlich mit goldenen Buchſtaben auf dem Rücken derſelben ſtanden, hinter dem Glaſe von allen Leuten geleſen werden konnten, gleichſam als wolle er mit den Büchern prahlen, die er habe. Vor dieſen Käſten ſtand er gerne und öfter, wenn er ſich nach Tiſche oder zu einer andern Zeit einen Augen¬ blick abkargen konnte, machte die Flügel eines Kaſtens auf, ſah die Bücher an, nahm eines oder das andere heraus, blickte hinein, und ſtellte es wieder an ſeinen Plaz. An Abenden, von denen er ſelten einen außer Hauſe zubrachte, außer wenn er in Stadtgeſchäften abweſend war, oder mit der Mutter ein Schauſpiel beſuchte, was er zuweilen und gerne that, ſaß er häu¬ fig eine Stunde öfter aber auch zwei oder gar darüber an einem kunſtreich geſchnizten alten Tiſche, der im Bücherzimmer auf einem ebenfalls alterthümlichen Teppiche ſtand, und las. Da durfte man ihn nicht ſtören, und niemand durfte durch das Bücherzimmer gehen. Dann kam er heraus, und ſagte, jezt könne man zum Abendeſſen gehen, bei dem die Handels¬1 *4diener nicht zugegen waren, und das nur in der Mut¬ ter und in unſerer Gegenwart eingenommen wurde. Bei dieſem Abendeſſen ſprach er ſehr gerne zu uns Kindern, und erzählte uns allerlei Dinge, mitunter auch ſcherzhafte Geſchichten und Märchen. Das Buch, in dem er geleſen hatte, ſtellte er genau immer wieder in den Schrein, aus dem er es genommen hatte, und wenn man gleich nach ſeinem Heraustritte in das Bücherzimmer ging, konnte man nicht im Geringſten wahrnehmen, daß eben jemand hier geweſen ſei, und geleſen habe. Überhaupt durfte bei dem Vater kein Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches zeigen, ſondern mußte immer aufgeräumt ſein, als wäre es ein Prunkzimmer. Es ſollte dafür aber aus¬ ſprechen, zu was es beſonders beſtimmt ſei. Die ge¬ miſchten Zimmer, wie er ſich ausdrückte, die mehreres zugleich ſein können, Schlafzimmer Spielzimmer und dergleichen, konnte er nicht leiden. Jedes Ding und jeder Menſch, pflegte er zu ſagen, könne nur eines ſein, dieſes aber muß er ganz ſein. Dieſer Zug ſtren¬ ger Genauigkeit prägte ſich uns ein, und ließ uns auf die Befehle der Eltern achten, wenn wir ſie auch nicht verſtanden. So zum Beiſpiele durften nicht einmal wir Kinder das Schlafzimmer der Eltern betreten. 5Eine alte Magd war mit Ordnung und Aufräumung deſſelben betraut.
In den Zimmern hingen hie und da Bilder, und es ſtanden in manchen Geräthe, die aus alten Zeiten ſtammten, und an denen wunderliche Geſtalten ausge¬ ſchnitten waren, oder in welchen ſich aus verſchiedenen Hölzern eingelegte Laubwerke und Kreiſe und Linien befanden.
Der Vater hatte auch einen Kaſten, in welchem Münzen waren, von denen er uns zuweilen einige zeigte. Da befanden ſich vorzüglich ſchöne Thaler, auf welchen geharniſchte Männer ſtanden, oder die Angeſichter mit unendlich vielen Locken zeigten, dann waren einige aus ſehr alten Zeiten mit wunderſchönen Köpfen von Jünglingen oder Frauen, und eine mit einem Manne, der Flügel an den Füßen hatte. Er beſaß auch Steine, in welche Dinge geſchnitten wa¬ ren. Er hielt dieſe Steine ſehr hoch, und ſagte, ſie ſtammen aus dem kunſtgeübteſten Volke alter Zeiten, nehmlich aus dem alten Griechenlande her. Manchmal zeigte er ſie Freunden, dieſe ſtanden lange an dem Käſtchen derſelben, hielten den einen oder den andern in ihren Händen, und ſprachen darüber.
Zuweilen kamen Menſchen zu uns, aber nicht oft. 6Manches Mal wurden Kinder zu uns eingeladen, mit denen wir ſpielen durften, und öfter gingen wir auch mit den Eltern zu Leuten, welche Kinder hatten, und uns Spiele veranſtalteten. Den Unterricht erhielten wir in dem Hauſe von Lehrern, und dieſer Unterricht und die ſogenannten Arbeitsſtunden, in denen von uns Kindern das verrichtet werden mußte, was uns als Geſchäft aufgetragen war, bildeten den regelmäßi¬ gen Verlauf der Zeit, von welchem nicht abgewichen werden durfte.
Die Mutter war eine freundliche Frau, die uns Kinder ungemein liebte, und die weit eher ein Ab¬ weichen von dem angegebenen Zeitenlaufe zu Gunſten einer Luſt geſtatte hätte, wenn ſie nicht von der Furcht vor dem Vater davon abgehalten worden wäre. Sie ging in dem Hauſe emſig herum, beſorgte alles, ord¬ nete alles, ließ aus der obgenannten Furcht keine Aus¬ nahme zu, und war uns ein eben ſo ehrwürdiges Bildniß des Guten wie der Vater, von welchem Bild¬ niſſe gar nichts abgeändert werden konnte. Zu Hauſe hatte ſie gewöhnlich ſehr einfache Kleider an. Nur zu¬ weilen, wenn ſie mit dem Vater irgend wohin gehen mußte, that ſie ihre ſtattlichen ſeidenen Kleider an und nahm ihren Schmuck, daß wir meinten, ſie ſei wie7 eine Fee, welche in unſern Bilderbüchern abgebildet war. Dabei fiel uns auf, daß ſie immer ganz ein¬ fache obwohl ſehr glänzende Steine hatte, und daß ihr der Vater nie die geſchnittenen umhing, von denen er doch ſagte, daß ſie ſo ſchöne Geſtalten in ſich hätten.
Da wir Kinder noch ſehr jung waren, brachte die Mutter den Sommer immer mit uns auf dem Lande zu. Der Vater konnte uns nicht Geſellſchaft leiſten, weil ihn ſeine Geſchäfte in der Stadt feſthielten; aber an jedem Sonntage und an jedem Feſttage kam er, blieb den ganzen Tag bei uns, und ließ ſich von uns beherbergen. Im Laufe der Woche beſuchten wir ihn einmal bisweilen auch zweimal in der Stadt, in wel¬ chem Falle er uns dann bewirthete und beherbergte.
Dies hörte endlich auf, anfänglich weil der Vater älter wurde, und die Mutter, die er ſehr verehrte, nicht mehr leicht entbehren konnte; ſpäter aber aus dem Grunde, weil es ihm gelungen war, in der Vor¬ ſtadt ein Haus mit einem Garten zu erwerben, wo wir freie Luft genießen, uns bewegen, und gleichſam das ganze Jahr hindurch auf dem Lande wohnen konnten.
Die Erwerbung des Vorſtadthauſes war eine große Freude. Es wurde nun von dem alten finſtern Stadt¬8 hauſe in das freundliche und geräumige der Vorſtadt gezogen. Der Vater hatte es vorher im Allgemeinen zuſammen richten laſſen, und ſelbſt, da wir ſchon da¬ rin wohnten, waren noch immer in verſchiedenen Räu¬ men desſelben Handwerksleute beſchäftigt. Das Haus war nur für unſere Familie beſtimmt. Es wohnten nur noch unſere Handlungsdiener in demſelben, und gleichſam als Pförtner und Gärtner ein ältlicher Mann mit ſeiner Frau und ſeiner Tochter.
In dieſem Hauſe richtete ſich der Vater ein viel größeres Zimmer zum Bücherzimmer ein, als er in der Stadtwohnung gehabt hatte, auch beſtimmte er ein eigenes Zimmer zum Bilderzimmer; denn in der Stadt mußten die Bilder wegen Mangel an Raum in ver¬ ſchiedenen Zimmern zerſtreut ſein. Die Wände dieſes neuen Bilderzimmers wurden mit dunkelrothbraunen Tapeten überzogen, von denen ſich die Goldrahmen ſehr ſchön abhoben. Der Fußboden war mit einem mattfarbigen Teppiche belegt, damit er die Farben der Bilder nicht beirre. Der Vater hatte ſich eine Staffe¬ lei aus braunem Holze machen laſſen, und dieſe ſtand in dem Zimmer, damit man bald das eine bald das andere Bild darauf ſtellen und es genau in dem rech¬ ten Lichte betrachten konnte.
9Für die alten geſchnizten und eingelegten Geräthe wurde auch ein eigenes Zimmer hergerichtet. Der Vater hatte einmal aus dem Gebirge eine Zimmerdecke mitgebracht, welche aus Lindenholz und aus dem Holze der Zirbelkiefer geſchnizt war. Dieſe Decke ließ er zuſammen legen, und ließ ſie mit einigen Zuthaten verſehen, die man nicht merkte, ſo daß ſie als Decke in dieſes Zimmer paßte. Das freute uns Kinder ſehr, und wir ſaßen nun doppelt gerne in dem alten Zim¬ mer, wenn uns an Abenden der Vater und die Mut¬ ter dahin führten, und arbeiteten dort etwas, und ließen uns von den Zeiten erzählen, in denen ſolche Sachen gemacht worden ſind.
Am Ende eines hölzernen Ganges, der in dem erſten Geſchoſſe des Hauſes gegen den Garten hinaus lief, ließ er ein gläſernes Stübchen machen, das heißt, ein Stübchen, deſſen zwei Wände, die gegen den Gar¬ ten ſchauten, aus lauter Glastafeln beſtanden; denn die Hinterwände waren Holz. In dieſes Stübchen that er alte Waffen aus verſchiedenen Zeiten und mit verſchiedenen Geſtalten. Er ließ an den Stäben, in die das Glas gefügt war, viel Epheu aus dem Gar¬ ten herauf wachſen, auch im Innern ließ er Epheu an dem Gerippe ranken, daß derſelbe um die alten Waffen10 rauſchte, wenn einzelne Glastafeln geöffnet wurden, und der Wind durch dieſelben herein zog. Eine große hölzerne Keule, welche in dem Stübchen war, und welche mit gräulichen Nägeln prangte, nannte er Mor¬ genſtern, was uns Kindern gar nicht einleuchten wollte, da der Morgenſtern viel ſchöner war.
Noch war ein Zimmerchen, das er mit kunſtreich abgenähten rothſeidenen Stoffen, die er gekauft hatte, überziehen ließ. Sonſt aber wußte man noch nicht, was in das Zimmer kommen würde.
In dem Garten war Zwergobſt, es waren Ge¬ müſe - und Blumenbeete, und an dem Ende desſelben, von dem man auf die Berge ſehen konnte, welche die Stadt in einer Entfernung von einer halben Meile in einem großen Bogen umgeben, befanden ſich hohe Bäume und Grasplätze. Das alte Gewächshaus hatte der Vater theils ausbeſſern theils durch einen Zubau vergrößern laſſen.
Sonſt hatte das Haus auch noch einen großen Hof, der gegen den Garten zu offen war, in dem wir, wenn das Gartengras naß war, ſpielen durften, und gegen welchen die Fenſter der Küche, in der die Mut¬ ter ſich viel befand, und der Vorrathskammern herab ſahen.
11Der Vater ging täglich Morgens in die Stadt in ſein Verkaufsgewölbe und in ſeine Schreibſtube. Die Handelsdiener mußten der Ordnung halber mit ihm gehen. Um zwölf Uhr kam er zum Speiſen ſo wie auch jene Diener, welche nicht eben die Reihe traf, während der Speiſeſtunde in dem Verkaufsgewölbe zu wachen. Nachmittag ging er größtentheils auch wieder in die Stadt. Die Sonntage und die Feſttage brachte er mit uns zu.
Von der Stadt wurden nun viel öfter Leute mit ihren Kindern zu uns geladen, da wir mehr Raum hatten, und wir durften im Hofe oder in dem Garten uns ergözen. Die Lehrer kamen zu uns jezt in die Vorſtadt, wie ſie ſonſt in der Stadt zu uns gekommen waren.
Der Vater, welcher durch das viele Sizen an dem Schreibtiſche ſich eine Krankheit zuzuziehen drohte, gönnte ſich nur auf das Andringen der Mutter täglich eine freie Zeit, welche er dazu verwendete, Bewegung zu machen. In dieſer Zeit ging er zuweilen in eine Gemäldegallerie, oder zu einem Freunde, bei welchem er ein Bild ſehen konnte, oder er ließ ſich bei einem Fremden einführen, bei dem Merkwürdigkeiten zu treffen waren. An ſchönen Sommerfeſttagen fuhren wir auch12 zuweilen ins Freie, und brachten den Tag in einem Dorfe oder auf einem Berge zu.
Die Mutter, welche über die Erwerbung des Vor¬ ſtadthauſes außerordentlich erfreut war, widmete ſich mit geſteigerter Thätigkeit dem Hausweſen. Alle Samſtage prangte das Linnen „ weiß wie Kirſchen¬ blüthe “auf dem Aufhängeplaze im Garten, und Zim¬ mer für Zimmer mußte unter ihrer Aufſicht gereiniget werden, außer denen, in welchen die Koſtbarkeiten des Vaters waren, deren Abſtäubung und Reinigung im¬ mer unter ſeinen Augen vor ſich gehen mußte. Das Obſt die Blumen und die Gemüſe des Gartens beſorgte ſie mit dem Vater gemeinſchaftlich. Sie bekam einen Ruf in der Umgebung, daß Nachbarinnen kamen, und von ihr Dienſtboten verlangten, die in unſerem Hauſe ge¬ lernt hätten.
Als wir nach und nach heran wuchſen, wurden wir immer mehr in den Umgang der Eltern gezogen, der Vater zeigte uns ſeine Bilder, und erklärte uns manches in denſelben. Er ſagte, daß er nur alte habe, die einen gewiſſen Werth beſizen, den man immer haben könne, wenn man einmal genöthigt ſein ſollte, die Bilder zu verkaufen. Er zeigte uns, wenn wir ſpazieren gingen, die Wirkungen von Licht und Schat¬13 ten, er nannte uns die Farben, welche ſich an den Gegenſtänden befanden, und erklärte uns die Linien, welche Bewegung verurſachten, in welcher Bewegung doch wieder eine Ruhe herrſche, und Ruhe in Bewe¬ gung ſei die Bedingung eines jeden Kunſtwerkes. Er ſprach mit uns auch von ſeinen Büchern. Er erzählte uns, daß manche da ſeien, in welchen das enthalten wäre, was ſich mit dem menſchlichen Geſchlechte ſeit ſeinem Beginne bis auf unſere Zeiten zugetragen habe, daß da die Geſchichten von Männern und Frauen er¬ zählt werden, die einmal ſehr berühmt geweſen ſeien, und vor langer Zeit, oft vor mehr als tauſend Jah¬ ren, gelebt haben. Er ſagte, daß in anderen das ent¬ halten ſei, was die Menſchen in vielen Jahren von der Welt und anderen Dingen von ihrer Einrichtung und Beſchaffenheit in Erfahrung gebracht hätten. In manchen ſei zwar nicht enthalten, was geſchehen ſei, oder wie ſich Manches befinde, ſondern was die Men¬ ſchen ſich gedacht haben, was ſich hätte zutragen kön¬ nen, oder was ſie für Meinungen über irdiſche und überirdiſche Dinge hegen.
In dieſer Zeit ſtarb ein Großoheim von der Seite der Mutter. Die Mutter erbte den Schmuck ſeiner vor ihm geſtorbenen Frau, wir Kinder aber ſein übriges14 Vermögen. Der Vater legte es als unſer natürlicher Vormund unter mündelgemäßer Sicherheit an, und that alle Jahre die Zinſen dazu.
Endlich waren wir ſo weit herangewachſen, daß der gewöhnliche Unterricht, den wir bisher genoſſen hatten, nach und nach aufhören mußte. Zuerſt traten diejenigen Lehrer ab, die uns in den Anfangsgründen der Kenntniſſe unterwieſen hatten, die man heut zu Tage für alle Menſchen für nothwendig hält, dann verminderten ſich auch die, welche uns in den Gegen¬ ſtänden Unterricht gegeben hatten, die man Kindern beibringen läßt, welche zu den gebildeteren oder aus¬ gezeichneteren Ständen gehören ſollen. Die Schweſter mußte nebſt einigen Fächern, in denen ſie ſich noch weiter ausbilden ſollte, nach und nach in die Häus¬ lichkeit eingeführt werden, und die wichtigſten Dinge derſelben erlernen, daß ſie einmal würdig in die Fu߬ ſtapfen der Mutter treten könnte. Ich trieb noch, nach¬ dem ich die Fächer erlernt hatte, die man in unſeren Schulen als Vorkenntniſſe und Vorbereitungen zu den ſogenannten Brodkenntniſſen betrachtet, einzelne Zweige fort, die ſchwieriger waren, und in denen eine Nach¬ hilfe nicht entbehrt werden konnte. Endlich trat in Bezug auf mich die Frage heran, was denn in der15 Zukunft mit mir zu geſchehen habe, und da that der Vater etwas, was ihm von vielen Leuten ſehr übel ge¬ nommen wurde. Er beſtimmte mich nehmlich zu einem Wiſſenſchafter im Allgemeinen. Ich hatte bisher ſehr fleißig gelernt, und jeden neuen Gegenſtand, der von den Lehrern vorgenommen wurde, mit großem Eifer ergriffen, ſo daß, wenn die Frage war, wie ich in einem Unterrichtszweige genügt habe, das Urtheil der Lehrer immer auf großes Lob lautete. Ich hatte den angedeuteten Lebensberuf von dem Vater ſelber ver¬ langt, und er dem Verlangten zugeſtimmt. Ich hatte ihn verlangt, weil mich ein gewiſſer Drang mei¬ nes Herzens dazu trieb. Das ſah ich wohl troz mei¬ ner Jugend ſchon ein, daß ich nicht alle Wiſſenſchaften würde erlernen können; aber was und wie viel ich ler¬ nen würde, das war mir eben ſo unbeſtimmt, als mein Gefühl unbeſtimmt war, welches mich zu dieſen Din¬ gen trieb. Mir ſchwebte auch nicht ein beſonderer Nuzen vor, den ich durch mein Beſtreben erreichen wollte, ſondern es war mir nur, als müßte ich ſo thun, als liege etwas innerlich Gültiges und Wichti¬ ges in der Zukunft. Was ich aber im Einzelnen be¬ ginnen, und an welchem Ende ich die Sache anfaſſen ſollte, das wußte weder ich, noch wußten es die Mei¬16 nigen. Ich hatte nicht die geringſte Vorliebe für das eine oder das andere Fach, ſondern es ſchienen alle anſtrebenswerth ‚ und ich hatte keinen Anhaltspunkt, aus dem ich hätte ſchließen können, daß ich zu irgend einem Gegenſtande eine hervorragende Fähigkeit be¬ ſäße, ſondern es erſchienen mir alle nicht unüberwind¬ lich. Auch meine Angehörigen konnten kein Merkmal finden, aus dem ſie einen ausſchließlichen Beruf für eine Sache in mir hätten wahrnehmen können.
Nicht die Ungeheuerlichkeit, welche in dieſem Be¬ ginnen lag, war es, was die Leute meinem Vater übel nahmen, ſondern ſie ſagten, er hätte mir einen Stand, der der bürgerlichen Geſellſchaft nüzlich iſt, befehlen ſollen, damit ich demſelben meine Zeit und mein Leben widme, und einmal mit dem Bewußtſein ſcheiden könne, meine Schuldigkeit gethan zu haben.
Gegen dieſen Einwurf ſagte mein Vater, der Menſch ſei nicht zuerſt der menſchlichen Geſellſchaft wegen da ſondern ſeiner ſelbſt willen. Und wenn jeder ſeiner ſelbſt willen auf die beſte Art da ſei, ſo ſei er es auch für die menſchliche Geſellſchaft. Wen Gott zum beſten Maler auf dieſer Welt geſchaffen hätte, der würde der Menſchheit einen ſchlechten Dienſt thun, wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte: wenn17 er der größte Maler wird, ſo thut er auch der Welt den größten Dienſt, wozu ihn Gott erſchaffen hat. Dies zeige ſich immer durch einen innern Drang an, der einen zu einem Dinge führt, und dem man folgen ſoll. Wie könnte man denn ſonſt auch wiſſen, wozu man auf der Erde beſtimmt iſt, ob zum Künſtler zum Feldherrn zum Richter, wenn nicht ein Geiſt da wäre, der es ſagt, und der zu den Dingen führt, in denen man ſein Glück und ſeine Befriedigung findet. Gott lenkt es ſchon ſo, daß die Gaben gehörig vertheilt ſind, ſo daß jede Arbeit gethan wird, die auf der Erde zu thun iſt, und daß nicht eine Zeit eintritt, in der alle Menſchen Baumeiſter ſind. In dieſen Gaben liegen dann auch ſchon die geſellſchaftlichen, und bei großen Künſtlern Rechtsgelehrten Staatsmännern ſei auch immer die Billigkeit Milde Gerechtigkeit und Vater¬ landsliebe. Und aus ſolchen Männern, welche ihren innern Zug am weiteſten ausgebildet, ſeien auch in Zeiten der Gefahr am öfteſten die Helfer und Retter ihres Vaterlandes hervorgegangen.
Es gibt ſolche, die ſagen, ſie ſeien zum Wohle der Menſchheit Kaufleute Ärzte Staatsdiener gewor¬ den; aber in den meiſten Fällen iſt es nicht wahr. Wenn nicht der innere Beruf ſie dahin gezogen hat,Stifter, Nachſommer. I. 218ſo verbergen ſie durch ihre Ausſage nur einen ſchlech¬ teren Grund, nehmlich daß ſie den Stand als ein Mittel betrachteten, ſich Geld und Gut und Lebensunterhalt zu erwerben. Oft ſind ſie auch ohne weiter über eine Wahl mit ſich zu Rathe zu gehen in den Stand ge¬ rathen oder durch Umſtände in ihn geſtoßen worden, und nehmen das Wohl der Menſchheit in den Mund, das ſie bezweckt hätten, um nicht ihre Schwäche zu geſtehen. Dann iſt noch eine eigene Gattung, welche immer von dem öffentlichen Wohle ſpricht. Das ſind die, welche mit ihren eigenen Angelegenheiten in Un¬ ordnung ſind. Sie gerathen ſtets in Nöthen, haben ſtets Ärger und Unannehmlichkeiten, und zwar aus ihrem eigenen Leichtſinne; und da liegt es ihnen als Ausweg neben der Hand, den öffentlichen Zuſtänden ihre Lage ſchuld zu geben, und zu ſagen, ſie wären eigentlich recht auf das Vaterland bedacht, und ſie würden alles am beſten in demſelben einrichten. Aber wenn wirk¬ lich die Lage kömmt, daß das Vaterland ſie beruft, ſo geht es dem Vaterlande, wie es früher ihren eige¬ nen Angelegenheiten gegangen iſt. In Zeiten der Ver¬ irrung ſind dieſe Menſchen die ſelbſtſüchtigſten und oft auch grauſamſten. Es iſt aber auch kein Zweifel, daß es ſolche gibt, denen Gott den Geſellſchaftstrieb und19 die Geſellſchaftsgaben in beſonderem Maße verliehen hat. Dieſe widmen ſich aus innerem Antriebe den Angelegenheiten der Menſchen, erkennen ſie auch am ſicherſten, finden Freude in den Anordnungen, und opfern oft ihr Leben für ihren Beruf. Aber in der Zeit, in der ſie ihr Leben opfern, ſei ſie lange oder ſei ſie ein Augenblick, empfinden ſie Freude, und dieſe kömmt, weil ſie ihrem innern Andrange nachgegeben haben.
Gott hat uns auch nicht bei unſeren Handlungen den Nuzen als Zweck vorgezeichnet, weder den Nuzen für uns noch für andere, ſondern er hat der Ausübung der Tugend einen eigenen Reiz und eine eigene Schön¬ heit gegeben, welchen Dingen die edlen Gemüther nachſtreben. Wer Gutes thut, weil das Gegentheil dem menſchlichen Geſchlechte ſchädlich iſt, der ſteht auf der Leiter der ſittlichen Weſen ſchon ziemlich tief. Die¬ ſer müßte zur Sünde greifen, ſobald ſie dem menſch¬ lichen Geſchlechte oder ihm Nuzen bringt. Solche Menſchen ſind es auch, denen alle Mittel gelten, und die für das Vaterland für ihre Familie und für ſich ſelber das Schlechte thun. Solche hat man zu Zeiten, wo ſie im Großen wirkten, Staatsmänner geheißen, ſie ſind aber nur Afterſtaatsmänner, und der augen¬2 *20blickliche Nuzen, den ſie erzielten, iſt ein Afternuzen geweſen, und hat ſich in den Tagen des Gerichtes als böſes Verhängniß erwieſen.
Daß bei dem Vater kein Eigennuz herrſchte, be¬ weiſt der Umſtand, daß er im Rathe der Stadt ein öffentliches Amt unentgeltlich verwaltete, daß er öfter die ganze Nacht in dieſem Amte arbeitete, und daß er bei öffentlichen Dingen immer mit bedeutenden Summen an der Spize ſtand.
Er ſagte, man ſolle mich nur gehen laſſen, es werde ſich aus dem Unbeſtimmten ſchon entwickeln, wozu ich taugen werde, und welche Rolle ich auf der Welt ein¬ zunehmen hätte.
Ich mußte meine körperlichen Übungen fortſezen. Schon als ſehr kleine Kinder mußten wir ſo viele kör¬ perliche Bewegungen machen, als nur möglich war. Das war einer der Hauptgründe, weßhalb wir im Sommer auf dem Lande wohnten, und der Garten, welcher bei dem Vorſtadthauſe war, war einer der Hauptbeweggründe, weßhalb der Vater das Haus kaufte. Man ließ uns als kleine Kinder gewöhnlich ſo viel gehen und laufen, als wir ſelber wollten, und machte nur ein Ende, wenn wir ſelber aus Müdigkeit ruhten. Es hatte in der Stadt ſich eine Anſtalt ent¬21 wickelt, in welcher nach einer gewiſſen Ordnung Leibes¬ bewegungen vorgenommen werden ſollten, um alle Theile des Körpers nach Bedürfniß zu üben, und ihrer naturgemäßen Entfaltung entgegen zu führen. Dieſe Anſtalt durfte ich beſuchen, nachdem der Vater den Rath erfahrener Männer eingeholt, und ſich ſelber durch den Augenſchein von den Dingen überzeugt hatte, die da vorgenommen wurden. Für Mädchen beſtand damals eine ſolche Anſtalt nicht, daher ließ der Vater für die Schweſter in einem Zimmer unſerer Wohnung ſo viele Vorrichtungen machen, als er und unſer Hausarzt, der ein Begünſtiger dieſer Dinge war, für nothwendig erachteten, und die Schweſter mußte ſich den Übungen unterziehen, die durch die Vorrich¬ tungen möglich waren. Durch die Erwerbung des Vorſtadthauſes wurde die Sache noch mehr erleichtert. Nicht nur hatten wir mehr Raum im Innern des Hauſes, um alle Vorrichtungen zu Körperübungen in beſſerem und ausgedehnterem Maße anlegen zu können, ſondern es war auch der Hofraum und der Garten da, in denen an ſich körperliche Übungen vorgenommen werden konnten, und die auch weitere Anlagen möglich machten. Daß wir dieſe Sachen ſehr gerne thaten, begreift ſich aus der Feurigkeit und Beweglichkeit der22 Jugend von ſelber. Wir hatten ſchon in der Kindheit ſchwimmen gelernt, und gingen im Sommer faſt täg¬ lich, ſelbſt da wir in der Vorſtadt wohnten, von wo aus der Weg weiter war, in die Anſtalt, in welcher man ſchwimmen konnte. Selbſt für Mädchen waren damals ſchon eigene Schwimmanſtalten errichtet. Auch außerdem machten wir gerne weite Wege, beſon¬ ders im Sommer. Wenn wir im Freien außer der Stadt waren, erlaubten die Eltern, daß ich mit der Schweſter einen beſonderen Umgang halten durfte. Wir übten uns da im Zurücklegen bedeutender Wege oder in Beſteigung eines Berges. Dann kamen wir wieder an den Ort zurück, an welchem uns die Eltern erwarteten. Anfangs ging meiſtens ein Diener mit uns, ſpäter aber, da wir erwachſen waren, ließ man uns allein gehen. Um beſſer und mit mehr Bequem¬ lichkeit für die Eltern an jede beliebige Stelle des Lan¬ des außerhalb der Stadt gelangen zu können, ſchaffte der Vater in der Folge zwei Pferde an, und der Knecht, der bisher Gärtner und gelegentlich unſer Aufſeher geweſen war, wurde jezt auch Kutſcher. In einer Reit¬ ſchule, in welcher zu verſchiedenen Zeiten Knaben und Mädchen lernen konnten, hatten wir reiten gelernt, und hatten ſpäter unſere beſtimmten Wochentage, an23 denen wir uns zu gewiſſen Stunden im Reiten üben konnten. Im Garten hatte ich Gelegenheit, nach einem Ziele zu ſpringen, auf ſchmalen Planken zu gehen, auf Vorrichtungen zu klettern, und mit ſteiner¬ nen Scheiben nach einem Ziele oder nach größtmög¬ lichſter Entfernung zu werfen. Die Schweſter, ſo ſehr ſie von der Umgebung als Fräulein behandelt wurde, liebte es doch ſehr, bei ſogenannten gröberen häuslichen Arbeiten zuzugreifen, um zu zeigen, daß ſie dieſe Dinge nicht nur verſtehe, ſondern an Kraft auch die noch übertreffe, welche von Kindheit an bei dieſen Arbeiten geweſen ſind. Die Eltern legten ihr bei dieſem Beginnen nicht nur keine Hinderniſſe in den Weg, ſondern billigten es ſogar. Außerdem trieb ſie noch das Leſen ihrer Bücher, machte Muſik, beſonders auf dem Klaviere und auf der Harfe, zu der ſie auch ſang, und mahlte mit Waſſerfarben.
Als ich den lezten Lehrer verlor, der mich in Sprachen unterrichtet hatte, als ich in denjenigen wiſſenſchaftlichen Zweigen, in welchen man einen längeren Unterricht für nöthig gehalten hatte, weil ſie ſchwieriger oder wichtiger waren, ſolche Fortſchritte gemacht hatte, daß man einen Lehrer nicht mehr für nothwendig erachtete, entſtand die Frage, wie es in24 Bezug auf meine erwählte wiſſenſchaftliche Laufbahn zu halten ſei, ob man da einen gewiſſen Plan entwer¬ fen, und zu deſſen Ausführung Lehrer annehmen ſollte. Ich bath, man möchte mir gar keinen Lehrer mehr nehmen, ich würde die Sachen ſchon ſelber zu betreiben ſuchen. Der Vater ging auf meinen Wunſch ein, und ich war nun ſehr freudig, keinen Lehrer mehr zu haben, und auf mich allein angewieſen zu ſein.
Ich fragte Männer um Rath, welche einen großen wiſſenſchaftlichen Namen hatten, und gewöhnlich an der einen oder der andern Anſtalt der Stadt beſchäf¬ tigt waren. Ich näherte mich ihnen nur, wenn es ohne Verlezung der Beſcheidenheit geſchehen konnte. Da es meiſtens nur eine Anfrage war, die ich in Be¬ zug auf mein Lernen an ſolche Männer ſtellte, und da ich mich nicht in ihren Umgang drängte, ſo nahmen ſie meine Annäherung nicht übel, und die Antwort war immer ſehr freundlich und liebevoll. Auch waren unter den Männern, die gelegentlich in unſer Haus kamen, manche, die in gelehrten Dingen bewandert waren. Auch an dieſe wandte ich mich. Meiſtens be¬ trafen die Anfragen Bücher, und die Folge, in welcher ſie vorgenommen werden ſollten. Ich trieb Anfangs jene Zweige fort, in denen ich ſchon Unterricht erhal¬25 ten hatte, weil man ſie zu jener Zeit eben als Grund¬ lage einer allgemeinen menſchlichen Bildung betrach¬ tete, nur ſuchte ich zum Theile mehr Ordnung in die¬ ſelben zu bringen, als bisher befolgt worden war, zum Theile ſuchte ich mich auch in jenem Fache auszudehnen, das mir mehr zuzuſagen begann. Auf dieſe Weiſe geſchah es, daß in dem Ganzen doch noch eine ziem¬ liche Ordnung herrſchte, da bei der Unbeſtimmtheit des ganzen Unternehmens die Gefahr ſehr nahe war, in die verſchiedenſten Dinge zerſplittert, und in die kleinſten Kleinlichkeiten verſchlagen zu werden. In Bezug auf die Fächer, die ich eben angefangen hatte, beſuchte ich auch Anſtalten in unſerer Stadt, die ihnen förderlich werden konnten: Bücherſammlungen, Sammlungen von Werkzeugen und namentlich Orte, wo Verſuche gemacht wurden, die ich wegen meiner Unreifheit und wegen Mangel an Gelegenheit und Werkzeugen nie hätte ausführen können. Was ich an Büchern und überhaupt an Lehrmitteln brauchte, ſchaffte der Vater bereitwillig an.
Ich war ſehr eifrig und gab mich manchem einmal ergriffenen Gegenſtande mit all der entzündeten Luſt hin, die der Jugend bei Lieblingsdingen eigen zu ſein pflegt. Obwohl ich bei meinen Beſuchen der öffent¬26 lichen Anſtalten zu körperlicher oder geiſtiger Ent¬ wickelung, ferner bei den Beſuchen, welche Leute bei uns oder welche wir bei ihnen machten, ſehr viele junge Leute kennen gelernt hatte, ſo war ich doch nie dahin gekommen, ſo ausſchließlich auf bloße Vergnü¬ gungen und noch dazu oft unbedeutende erpicht zu ſein, wie ich es bei der größten Zahl der jungen Leute ge¬ ſehen hatte. Die Vergnügungen, die in unſerem Hauſe vorkamen, wenn wir Leute zum Beſuche bei uns hatten, waren auch immer ernſterer Art. Ich lernte auch viele ältere Menſchen kennen; aber ich achtete damals weni¬ ger darauf, weil es bei der Jugend Sitte iſt, ſich mit lebhafter Betheiligung mehr an die anzuſchließen, die ihnen an Jahren näher ſtehen, und das, was an äl¬ teren Leuten befindlich iſt, zu überſehen.
Als ich achtzehn Jahre alt war, gab mir der Vater einen Theil meines Eigenthumes aus der Erbſchaft vom Großoheime zur Verwaltung. Ich hatte bis dahin kein Geld zu regelmäßiger Gebarung gehabt, ſondern, wenn ich irgend etwas brauchte, kaufte es der Vater, und zu Dingen von minderem Belange gab mir der Vater das Geld, damit ich ſie ſelber kaufe. Auch zu Vergnügungen bekam ich gelegentlich kleine Beträge. Von nun an aber, ſagte der Vater, werde27 er mir am erſten Tage eines jeden Monats eine be¬ ſtimmte Summe auszahlen, ich ſolle darüber ein Buch führen, er werde dieſe Auszahlungen bei der Verwal¬ tung meines Geſammtvermögens, welche Verwaltung ihm noch immer zuſtehe, in Abrechnung bringen, und ſein Buch und das meinige müßten ſtimmen. Er gab mir einen Zettel, auf welchem der Kreis deſſen auf¬ gezeichnet war, was ich von nun an mit meinen mo¬ natlichen Einkünften zu beſtreiten hätte. Er werde mir nie mehr von ſeinem Gelde einen Gegenſtand kaufen, der in den verzeichneten Kreis gehöre. Ich müſſe pünktlich verfahren und haushälteriſch ſein; denn er werde mir auch nie und nicht einmal unter den dringendſten Bedingungen einen Vorſchuß geben. Wenn ich zu ſeiner Zufriedenheit eine Zeit hindurch gewirthſchaftet hätte, dann werde er meinen Kreis wieder erweitern, und er werde nach billigſtem Er¬ meſſen ſehen, in welcher Zeit er mir auch vor der er¬ reichten geſezlichen Mündigkeit meine Angelegenheiten ganz in die Hände werde geben können.
Ich verfuhr mit der Rente, welche mir der Vater ausgeſezt hatte, gut. Daher wurde nach einiger Zeit mein Kreis erweitert, wie es der Vater verſprochen hatte. Ich ſollte von nun an nicht blos nur einen Theil meiner Bedürfniſſe von dem zugewieſenen Ein¬ kommen decken, ſondern alle. Deßhalb wurde meine Rente vergrößert. Der Vater zahlte ſie mir von nun an auch nicht mehr monatlich ſondern vierteljährig aus, um mich an größere Zeitabſchnitte zu gewöhnen. Sie mir halbjährig oder gar nach ganzen Jahren ein¬ zuhändigen wollte er nicht wagen, damit ich doch nicht etwa in Unordnungen geriethe. Er gab mir nicht die ganzen Zinſen von der Erbſchaft des Gro߬ oheims ſondern nur einen Theil, den andern Theil legte er zu der Hauptſumme, ſo daß mein Eigenthum29 wuchs, wenn ich auch von meiner Rente nichts er¬ übrigte. Als Beſchränkung blieb die Einrichtung, daß ich in dem Hauſe meiner Eltern wohnen, und an ihrem Tiſche ſpeiſen mußte. Es ward dafür ein Preis feſtgeſezt, den ich alle Vierteljahre zu entrichten hatte. Jedes andere Bedürfniß, Kleider Bücher Geräthe oder was es immer war, durfte ich nach meinem Er¬ meſſen und nach meiner Einſicht befriedigen.
Die Schweſter erhielt auch Befugniſſe in Hinſicht ihres Theiles der Erbſchaft des Großoheims, in ſo weit ſie ſich für ein Mädchen ſchickten.
Wir waren über dieſe Einrichtung ſehr erfreut, und beſchloſſen, nach dem Wunſche und dem Willen der Eltern zu verfahren, um ihnen Freude zu machen.
Ich ging, nachdem ich in den verſchiedenen Zwei¬ gen der Kenntniſſe, die ich zulezt mit meinen Lehrern betrieben hatte, und welche als allgemein nothwendige Kenntniſſe für einen gebildeten Menſchen gelten, nach mehreren Richtungen gearbeitet hatte, auf die Mathe¬ matik über. Man hatte mir immer geſagt, ſie ſei die ſchwerſte und herrlichſte Wiſſenſchaft, ſie ſei die Grund¬ lage zu allen übrigen, in ihr ſei alles wahr, und was man aus ihr habe, ſei ein bleibendes Beſizthum für das ganze Leben. Ich kaufte mir die Bücher, die man30 mir rieth, um von den Vorkenntniſſen, die ich bereits hatte, ausgehen, und zu dem Höheren immer weiter ſtreben zu können. Ich kaufte mir eine ſehr große Schiefertafel, um auf ihr meine Arbeiten ausführen zu können. So ſaß ich nun in manchen Stunden, die zum Erlernen von Kenntniſſen beſtimmt waren, an meinem Tiſche, und rechnete. Ich ging den Gängen der Männer nach, welche die Geſtaltungen dieſer Wiſſenſchaft nach und nach erfunden hatten, und von dieſen Geſtaltungen zu immer weiteren geführt wor¬ den waren. Ich ſezte mir beſtimmte Zeiträume feſt, in welchen ich vom Weitergehen abließ, um das bis dahin Errungene wiederholen, und meinem Gedächt¬ niſſe einprägen zu können, ehe ich zu ferneren Theilen vorwärts ſchritt. Die Bücher, welche ich nach und nach durchnehmen wollte, hatte ich in der Ordnung auf einem Bücherbrett aufgeſtellt. Ich war nach einer ver¬ hältnißmäßigen Zeit in ziemlich ſchwierige Abtheilungen des höheren Gebiethes dieſer Wiſſenſchaft vorgerückt.
Der Vater erlaubte mir endlich, zuweilen im Sommer eine Zeit hindurch entfernt von den Eltern auf irgend einem Punkte des Landes zu wohnen. Zum erſten Aufenthalte dieſer Art wurde das Landhaus eines Freundes meines Vaters nicht gar ferne von der31 Stadt erwählt. Ich erhielt ein Zimmerchen in dem oberſten Theile des Hauſes, deſſen Fenſter auf die nahen Weinberge und zwiſchen ihren Senkungen durch auf die entfernten Gebirge gingen. Die Frau des Hauſes gab mir in ſehr kurzen Zwiſchenzeiten immer erneuerte ſchneeweiße Fenſtervorhänge. Sehr oft ka¬ men die Eltern heraus, beſuchten mich und brachten den Tag auf dem Lande zu. Sehr oft ging ich auch zu ihnen in die Stadt, und blieb manchmal ſogar über Nacht in ihrem Hauſe.
Der zweite Aufenthalt im nächſt darauf folgenden Sommer war viel weiter von der Stadt entfernt in dem Hauſe eines Landmanns. Man hat häufig in den Häuſern unſerer Landleute, in welchen alle Wohn¬ ſtuben und andere Räumlichkeiten ebenerdig ſind, doch noch ein Geſchoß über dieſen Räumlichkeiten, in welchem ſich ein oder mehrere Gemächer befinden. Unter dieſen Gemächern iſt auch die ſogenannte obere Stube. Häufig iſt ſie blos das einzige Ge¬ mach des erſten Geſchoſſes. Die obere Stube iſt gewiſſermaßen das Prunkzimmer. In ihr ſtehen die ſchöneren Betten des Hauſes, gewöhnlich zwei, in ihr ſtehen die Schreine mit den ſchönen Kleidern, in ihr hängen die Scheiben - und Jagdgewehre des Mannes,32 wenn er dergleichen hat, ſo wie die Preiſe, die er im Schießen etwa ſchon gewonnen, in ihr ſind die ſchöne¬ ren Geſchirre der Frau, beſonders wenn ſie Krüge aus Zinn oder etwas aus Porzellan hat, und in ihr ſind auch die beſſeren Bilder des Hauſes und ſonſtige Zier¬ den, zum Beiſpiel ein ſchönes Jeſukindlein aus Wachs, welches in weißem feinem Flaume liegt. In einer ſolchen oberen Stube des Hauſes eines Landmanns wohnte ich. Das Haus war ſo weit von der Stadt entfernt, daß ich die Eltern nur ein einziges Mal mit Benuzung des Poſtwagens beſuchen konnte, ſie aber gar nie zu mir kamen.
Dieſer Aufenthalt brachte Veränderungen in mir hervor.
Weil ich mit den Meinigen nicht zuſammen kom¬ men konnte, ſo lebte die Sehnſucht nach Mittheilung viel ſtärker in mir, als wenn ich zu Hauſe geweſen wäre, und ſie jeden Augenblick hätte befriedigen können. Ich ſchritt alſo zu ausführlichen Briefen und Berichten. Ich hatte bisher immer aus Büchern gelernt, deren ich mir bereits eine ziemliche Menge in meine Bücher¬ käſten von meinem Gelde gekauft hatte; aber ich hatte mich nie geübt, etwas ſelber in größerem Zuſammen¬ hange zuſammen zu ſtellen. Jezt mußte ich es thun,33 ich that es gerne, und freute mich, nach und nach die Gabe der Darſtellung und Erzählung in mir wachſen zu fühlen. Ich ſchritt zu immer zuſammengeſezteren und geordneteren Schilderungen.
Auch eine andere Veränderung trat ein.
Ich war ſchon als Knabe ein großer Freund der Wirklichkeit der Dinge geweſen, wie ſie ſich ſo in der Schöpfung oder in dem geregelten Gange des menſch¬ lichen Lebens darſtellte. Dies war oft eine große Un¬ annehmlichkeit für meine Umgebung geweſen. Ich fragte unaufhörlich um die Namen der Dinge um ihr Herkommen und ihren Gebrauch, und konnte mich nicht beruhigen, wenn die Antwort eine hinausſchie¬ bende war. Auch konnte ich es nicht leiden, wenn man einen Gegenſtand zu etwas Anderem machte, als er war. Beſonders kränkte es mich, wenn er, wie ich meinte, durch ſeine Veränderung ſchlechter wurde. Es machte mir Kummer, als man einmal einen alten Baum des Gartens fällte, und ihn in lauter Klöze zerlegte. Die Klöze waren nun kein Baum mehr, und da ſie morſch waren, konnte man keinen Schemel keinen Tiſch kein Kreuz kein Pferd daraus ſchnizen. Als ich einmal das offene Land kennen gelernt, und Fichten und Tannen auf den Bergen ſtehen geſehenStifter, Nachſommer. I. 334hatte, thaten mir jederzeit die Bretter leid, aus denen etwas in unſerem Hauſe verfertigt wurde, weil ſie einmal ſolche Fichten und Tannen geweſen waren. Ich fragte den Vater, wenn wir durch die Stadt gingen, wer die große Kirche des heiligen Stephan gebaut habe, warum ſie nur einen Thurm habe, warum die¬ ſer ſo ſpizig ſei, warum die Kirche ſo ſchwarz ſei, wem dieſes oder jenes Haus gehöre, warum es ſo groß ſei, weßhalb ſich an einem andern Hauſe immer zwei Fenſter neben einander befänden, und in einem weiteren Hauſe zwei ſteinerne Männer das Sims des Hausthores tragen. Der Vater beantwortete ſolche Fragen je nach ſeinem Wiſſen. Bei einigen äußerte er nur Muthmaßungen, bei anderen ſagte er, er wiſſe es nicht. Wenn wir auf das Land kamen, wollte ich alle Gewächſe und Steine kennen, und fragte um die Namen der Landleute und der Hunde. Der Vater pflegte zu ſagen, ich müßte einmal ein Beſchreiber der Dinge werden, oder ein Künſtler, welcher aus Stoffen Gegenſtände fertigt, an denen er ſo Antheil nimmt, oder wenigſtens ein Gelehrter, der die Merkmale und Beſchaffenheiten der Sachen erforſcht.
Dieſe Eigenſchaft nun führte mich, da ich auf dem Lande wohnte, in eine beſondere Richtung. Ich legte35 die Mathematik weg, und widmete mich der Betrach¬ tung meiner Umgebungen. Ich fing an, bei allen Vorkommniſſen des Hauſes, in dem ich wohnte, zu¬ zuſehen. Ich lernte nach und nach alle Werkzeuge und ihre Beſtimmungen kennen. Ich ging mit den Arbeitern auf die Felder auf die Wieſen und in die Wälder, und arbeitete gelegentlich ſelber mit. Ich lernte in kurzer Zeit auf dieſe Weiſe die Behandlung und Gewinnung aller Bodenerzeugniſſe des Land¬ ſtriches, auf dem ich wohnte, kennen. Auch ihre erſte ländliche Verarbeitung zu Kunſterzeugniſſen ſuchte ich in Erfahrung zu bringen. Ich lernte die Bereitung des Weines aus Trauben kennen, des Garnes und der Leinwand aus Flachs des Butters und des Käſes aus der Milch des Mehles und Brotes aus dem Ge¬ treide. Ich merkte mir die Namen, womit die Land¬ leute ihre Dinge benannten, und lernte bald die Merk¬ male kennen, aus denen man die Güte oder den ge¬ ringeren Werth der Bodenerzeugniſſe oder ihre näch¬ ſten Umwandlungen beurtheilen konnte. Selbſt in Geſpräche, wie man dieſes oder jenes auf eine viel¬ leicht zweckmäßigere Weiſe hervorbringen könnte, ließ ich mich ein, fand aber da einen hartnäckigen Wider¬ ſtand.
3 *36Als ich dieſe Hervorbringung der erſten Erzeug¬ niſſe in jenem Striche des Landes, in welchem ich mich aufhielt, kennen gelernt hatte, ging ich zu den Gegen¬ ſtänden des Gewerbfleißes über. Nicht weit von mei¬ ner Wohnung war ein weites flaches Thal, das von einem Waſſer durchſtrömt war, welches ſich durch ſeine gleichbleibende Reichhaltigkeit und dadurch, daß es im Winter nicht leicht zufror, beſonders zum Treiben von Werken eignete. In dem Thale waren daher mehrere Fabriken zerſtreut. Sie gehörten meiſtens zu anſehnlichen Handelshäuſern. Die Eigenthümer lebten in der Stadt, und beſuchten zuweilen ihre Werke, die von einem Verwalter oder Geſchäftsleiter verſehen wurden. Ich beſuchte nach und nach alle dieſe Fabriken, und unterrichtete mich über die Erzeug¬ niſſe, welche da hervorgebracht wurden. Ich ſuchte den Hergang kennen zu lernen, durch welchen der Stoff in die Fabrik geliefert wurde, durch welchen er in die erſte Umwandlung, von dieſer in die zweite, und ſo durch alle Stufen geführt wurde, bis er als leztes Erzeugniß der Fabrik hervorging. Ich lernte hier die Güte der einlangenden Rohſtoffe kennen, und wurde auf die Merkmale aufmerkſam gemacht, aus denen auf eine vorzügliche Beſchaffenheit der endlich37 in der Fabrik fertig gewordenen Erzeugniſſe geſchloſſen werden konnte. Ich lernte auch die Mittel und Wege kennen, durch welche die Umwandlungen, die die Stoffe nach und nach zu erleiden hatten, bewirkt wur¬ den. Die Maſchinen, welche hiezu größtentheils ver¬ wendet wurden, waren mir durch meine bereits er¬ worbenen Vorkenntniſſe in ihren allgemeinen Einrich¬ tungen ſchon bekannt. Es war mir daher nicht ſchwer, ihre beſonderen Wirkungen zu den einzelnen Zwecken, die hier erreicht werden ſollten, einſehen zu lernen. Ich ging durch die Gefälligkeit der dabei Angeſtellten alle Theile durch, bis ich das Ganze ſo vor mir hatte, und zuſammen begreifen konnte, als hätte ich es als Zeichnung auf dem Papier liegen, wie ich ja bisher alle Einrichtungen ſolcher Art nur aus Zeichnungen kennen zu lernen Gelegenheit hatte.
In ſpäterer Zeit begann ich, die Naturgeſchichte zu betreiben. Ich fing bei der Pflanzenkunde an. Ich ſuchte zuerſt zu ergründen, welche Pflanzen ſich in der Gegend befänden, in welcher ich mich aufhielt. Zu dieſem Zwecke ging ich nach allen Richtungen aus, und beſtrebte mich, die Standorte und die Lebensweiſe der verſchiedenen Gewächſe kennen zu lernen, und alle Gattungen zu ſammeln. Welche ich mit mir tragen38 konnte, und welche nur einiger Maßen aufzube¬ wahren waren, nahm ich mit in meine Wohnung. Von ſolchen, die ich nicht von dem Orte bringen konnte, wozu beſonders die Bäume gehörten, machte ich mir Beſchreibungen, welche ich zu der Sammlung einlegte. Bei dieſen Beſchreibungen, die ich immer nach allen ſich mir darbiethenden Eigenſchaften der Pflan¬ zen machte, zeigte ſich mir die Erfahrung, daß nach meiner Beſchreibung andere Pflanzen in eine Gruppe zuſammen gehörten, als welche von den Pflanzenkun¬ digen als zuſammengehörig aufgeführt wurden. Ich bemerkte, daß von den Pflanzenlehrern die Einthei¬ lungen der Pflanzen nur nach einem oder einigen Merkmalen, zum Beiſpiele nach den Samenblättern oder nach den Blüthentheilen gemacht wurden, und daß da Pflanzen in einer Gruppe beiſammen ſtehen, welche in ihrer ganzen Geſtalt und in ihren meiſten Eigenſchaften ſehr verſchieden ſind. Ich behielt die herkömmlichen Eintheilungen bei, und hatte aber auch meine Beſchreibungen daneben. In dieſen Beſchrei¬ bungen ſtanden die Pflanzen nach ſinnfälligen Linien, und, wenn ich mich ſo ausdrücken dürfte, nach ihrer Bauführung beiſammen.
Bei den Mineralien, welche ich mir ſammelte,39 gerieth ich beinahe in dieſelbe Lage. Ich hatte mir ſchon ſeit meiner Kinderzeit manche Stücke zu erwerben geſucht. Faſt immer waren dieſelben aus anderen Sammlungen gekauft oder geſchenkt worden. Sie waren ſchon Sammlungsſtücke, hatten meiſtens das Papierſtückchen mit ihrem Namen auf ſich aufgeklebt. Auch waren ſie wo möglich immer im Kriſtallzuſtande. Das Siſtem von Mohs hatte einmal großes Aufſehen gemacht, ich war durch meine mathematiſchen Arbeiten darauf geführt worden, hatte es kennen und lieben gelernt. Allein da ich jezt meine Mineralien in der Gegend meines Aufenthaltes ſuchte, und zuſammen trug, fand ich ſie weit öfter in unkriſtalliſirtem Zu¬ ſtande als in kriſtalliſirtem, und ſie zeigten da allerlei Eigenſchaften für die Sinne, die ſie dort nicht haben. Das Kriſtalliſiren der Stoffe, welches das Siſtem von Mohs vorausſetzt, kam mir wieder wie ein Blühen vor, und die Stoffe ſtanden nach dieſen Blüthen bei¬ ſammen. Ich konnte nicht laſſen, auch hier neben den Eintheilungen, die gebräuchlich waren, mir eben¬ falls meine Beſchreibungen zu machen.
Ungefähr eine Meile von unſerer Stadt liegt gegen Sonnenuntergang hin eine Reihe von ſchönen Hügeln. Dieſe Hügel ſezen ſich in Stufenfolgen und40 nur hie und da von etwas größeren Ebenen unter¬ brochen immer weiter nach Sonnenuntergang fort, bis ſie endlich in höher gelegenes noch hügligeres Land das ſogenannte Oberland übergehen. In der Nähe der Stadt ſind die Hügel mehrfach von Land¬ häuſern beſezt und mit Gärten und Anlagen ge¬ ſchmückt, in weiterer Entfernung werden ſie ländlicher. Sie tragen Weinreben oder Felder auf ihren Seiten, auch Wieſen ſind zu treffen, und die Gipfel oder auch manche Rückenſtrecken ſind mit laubigen mehr buſch - als baumartigen Wäldern beſezt. Die Bäche und ſonſtigen Gewäſſer ſind nicht gar häufig, und oft traf ich im Sommer zwiſchen den Hügeln, wenn mich Durſt oder Zufall hinab führte, das ausgetrocknete mit weißen Steinen gefüllte Bett eines Baches. In dieſem Hügellande war mein Aufenthalt, und in dem¬ ſelben rückte ich immer weiter gegen Sonnenuntergang vor. Ich ſtreifte weit und breit herum, und war oft mehrere Tage von meiner Wohnung abweſend. Ich ging die einſamen Pfade, welche zwiſchen den Feldern oder Weingeländen hinliefen, und ſich von Dorf zu Dorf von Ort zu Ort zogen, und manche Meilen ja Tage¬ reiſen in ſich begriffen. Ich ging auf den abgelegenen Waldpfaden, die in Stammholz oder Gebüſchen ver¬41 borgen waren, und nicht ſelten im Laubwerk Gras oder Geſtrippe ſpurlos endeten. Ich durchwanderte oft auch ohne Pfad Wieſen Wald und ſonſtige Land¬ flächen, um die Gegenſtände zu finden, welche ich ſuchte. Daß wenige von unſeren Stadtbewohnern auf ſolche Wege kommen, iſt begreiflich, da ſie nur kurze Zeit zu dem Genuſſe des Landlebens ſich gönnen können, und in derſelben auf den breiten herkömm¬ lichen Straßen des Landvergnügens bleiben, und von anderen Pfaden nichts wiſſen. An der Mittagſeite war das ganze Hügelland viele Meilen lang von Hochgebirge geſäumt. Auf einer Stelle der Baſteien unſerer Stadt kann man zwiſchen Häuſern und Bäu¬ men ein Fleckchen Blau von dieſem Gebirge ſehen. Ich ging oft auf jener Baſtei, ſah oft dieſes kleine blaue Fleckchen, und dachte nichts weiter, als: das iſt das Gebirge. Selbſt da ich von dem Hauſe meines erſten Sommeraufenthaltes einen Theil des Hochge¬ birges erblickte, achtete ich nicht weiter darauf. Jezt ſah ich zuweilen mit Vergnügen von einer Anhöhe oder von dem Gipfel eines Hügels ganze Strecken der blauen Kette, welche in immer undeutlicheren Gliedern ferner und ferner dahin lief. Oft, wenn ich durch wildes Geſtrippe plözlich auf einen freien Abriß42 kam, und mir die Abendröthe entgegen ſchlug, weithin das Land in Duft und rothen Rauch legend, ſo ſezte ich mich nieder, ließ das Feuerwerk vor mir verglim¬ men, und es kamen allerlei Gefühle in mein Herz.
Wenn ich wieder in das Haus der Meinigen zu¬ rückkehrte, wurde ich recht freudig empfangen, und die Mutter gewöhnte ſich an meine Abweſenheiten „ da ich ſtets gereifter von ihnen zurück kam. Sie und die Schweſter halfen mir nicht ſelten, die Sachen, die ich mitbrachte, aus ihren Behältniſſen auspacken, damit ich ſie in den Räumen, die hiezu beſtimmt waren, ordnen konnte.
So war endlich die Zeit gekommen, in welcher es der Vater für gerathen fand, mir die ganze Rente der Erbſchaft des Großoheims zu freier Verfügung zu übertragen. Er ſagte, ich könne mit dieſem Einkom¬ men verfahren, wie es mir beliebe, nur müßte ich da¬ mit ausreichen. Er werde mir auf keine Weiſe aus dem Seinigen etwas beitragen, noch mir je Vorſchüſſe machen, da meine Jahreseinnahme ſo reichlich ſei, daß ſie meine jezigen Bedürfniſſe, ſelbſt wenn ſie noch um Vieles größer würden, nicht nur hinlänglich decke, ſondern daß ſie ſelbſt auch manche Vergnügungen be¬ ſtreiten könne, und daß doch noch etwas übrig bleiben43 dürfte. Es liege ſomit in meiner Hand, für die Zu¬ kunft, die etwa größere Ausgaben bringen könnte, mir auch eine größere Einnahme zu ſichern. Meine Wohnung und meinen Tiſch dürfe ich nicht mehr, wenn ich nicht wolle, in dem Hauſe der Eltern neh¬ men, ſondern wo ich immer wollte. Das Stammver¬ mögen ſelber werde er an dem Orte, an welchem es ſich bisher befand, liegen laſſen. Er fügte bei, er werde mir dasſelbe, ſobald ich das vier und zwanzigſte Jahr erreicht habe, einhändigen. Dann könne ich es nach meinem eigenen Ermeſſen verwalten. „ Ich rathe dir aber, “fuhr er fort, „ dann nicht nach einer größeren Rente zu geizen, weil eine ſolche meiſtens nur mit einer größeren Unſicherheit des Stammvermögens zu erzielen iſt. Sei immer deines Grundvermögens ſicher, und mache die dadurch entſtehende kleinere Rente durch Mäßigkeit größer. Sollteſt du den Rath deines Vaters einholen wollen, ſo wird dir derſelbe nie entzogen werden. Wenn ich ſterbe, oder freiwillig aus den Geſchäften zurück trete, ſo werdet ihr beide auch noch von mir eine Vermehrung eures Eigenthums erhalten. Wie groß dieſelbe ſein wird, kann ich noch nicht ſagen, ich bemühe mich, durch Vorſicht und durch gut gegründete Geſchäftsführung ſie ſo groß als mög¬44 lich und auch ſo ſicher als möglich zu machen; aber alle ſtehen wir in der Hand des Herrn, und er kann durch Ereigniſſe, welche kein Menſchenauge vorher ſehen kann, meine Vermögensumſtände bedeutend ver¬ ändern. Darum ſei weiſe, und gebahre mit dem Dei¬ nigen, wie du bisher zu meiner und zur Befriedigung deiner Mutter gethan haſt. “
Ich war gerührt über die Handlungsweiſe meines Vaters, und dankte ihm von ganzem Herzen. Ich ſagte, daß ich mich ſtets beſtreben werde, ſeinem Ver¬ trauen zu entſprechen, daß ich ihn inſtändig um ſeinen Rath bitte, und daß ich in Vermögensangelegenheiten wie in anderen nie gegen ihn handeln, und daß ich auch nicht den kleinſten Schritt thun wolle, ohne nach dieſem Rath zu verlangen. Eine Wohnung außer dem Hauſe zu beziehen, ſolange ich in unſerer Stadt lebe, wäre mir ſehr ſchmerzlich, und ich bitte in dem Hauſe meiner Eltern und an ihrem Tiſche bleiben zu dürfen, ſolange Gott nicht ſelber durch irgend eine Schickung eine Änderung herbei führe.
Der Vater und die Mutter waren über dieſe Worte erfreut. Die Mutter ſagte, daß ſie mir zu meiner bis¬ herigen Wohnung, die mir doch als einem nunmehr ſelbſtſtändigen Manne beſonders bei meinen jezigen45 Verhältniſſen zu klein werden dürfte, noch einige Räumlichkeiten zugeben wolle, ohne daß darum der Preis unverhältnißmäßig wachſe. Ich war natürlicher Weiſe mit Allem einverſtanden. Ich mußte gleich mit der Mutter gehen, und die mir zugedachte Vergröße¬ rung der Wohnung beſehen. Ich dankte ihr für ihre Sorgfalt. Schon in den nächſten Tagen richtete ich mich in der neuen Wohnung ein.
Den Winter benuzte ich zum Theile mit Vorbe¬ reitungen, um im nächſten Sommer wieder große Wanderungen machen zu können. Ich hatte mir vor¬ genommen, nun endlich einmal das Hochgebirge zu beſuchen, und in ihm ſo weit herum zu gehen, als es mir zuſagen würde.
Als der Sommer gekommen war, fuhr ich von der Stadt auf dem kürzeſten Wege in das Gebirge. Von dem Orte meiner Ankunft aus wollte ich dann in ihm längs ſeiner Richtung von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang zu Fuße fort wandern. Ich begab mich ſofort auf meinen Weg. Ich ging den Thälern entlang, ſelbſt wenn ſie von meiner Richtung abwichen, und allerlei Windungen verfolgten. Ich ſuchte nach ſolchen Abſchweifungen immer meinen Hauptweg wie¬ der zu gewinnen. Ich ſtieg auch auf Bergjoche, und46 ging auf der entgegengeſezten Seite wieder in das Thal hinab. Ich erklomm manchen Gipfel, und ſuchte von ihm die Gegend zu ſehen, und auch ſchon die Richtung zu erſpähen, in welcher ich in nächſter Zeit vordringen würde. Im Ganzen hielt ich mich ſtets, ſo¬ weit es anging, nach dem Hauptzuge des Gebirges, und wich von der Waſſerſcheide ſo wenig als möglich ab.
In einem Thale an einem ſehr klaren Waſſer ſah ich einmal einen todten Hirſch. Er war gejagt wor¬ den, eine Kugel hatte ſeine Seite getroffen, und er mochte das friſche Waſſer geſucht haben, um ſeinen Schmerz zu kühlen. Er war aber an dem Waſſer ge¬ ſtorben. Jezt lag er an demſelben ſo, daß ſein Haupt in den Sand gebettet war, und ſeine Vorderfüße in die reine Fluth ragten. Ringsum war kein leben¬ diges Weſen zu ſehen. Das Thier gefiel mir ſo, daß ich ſeine Schönheit bewunderte, und mit ihm großes Mitleid empfand. Sein Auge war noch kaum ge¬ brochen, es glänzte noch in einem ſchmerzlichen Glanze, und daſſelbe, ſo wie das Antliz, das mir faſt ſpre¬ chend erſchien, war gleichſam ein Vorwurf gegen ſeine Mörder. Ich grif den Hirſch an, er war noch nicht kalt. Als ich eine Weile bei dem todten Thiere ge¬ ſtanden war, hörte ich Laute in den Wäldern des47 Gebirges, die wie Jauchzen und wie Heulen von Hunden klangen. Dieſe Laute kamen näher, waren deutlich zu erkennen, und bald ſprang ein Paar ſchöner Hunde über den Bach, denen noch einige folgten. Sie näherten ſich mir. Als ſie aber den fremden Mann bei dem Wilde ſahen, blieben einige in der Entfernung ſtehen, und bellten heftig gegen mich, während andere heulend weite Kreiſe um mich zogen, in ihnen dahin flogen, und in Eilfertigkeit ſich an Steinen überſchlu¬ gen, und überſtürzten. Nach geraumer Zeit kamen auch Männer mit Schießgewehren. Als ſich dieſe dem Hirſche genähert hatten, und neben mir ſtanden, kamen auch die Hunde herzu, hatten vor mir keine Scheu mehr, beſchnupperten mich, und bewegten ſich, und zitterten um das Wild herum. Ich entfernte mich, nachdem die Jäger auf dem Schauplaze erſchienen wa¬ ren, ſehr bald von ihm.
Bisher hatte ich keine Thiere zu meinen Beſtre¬ bungen in der Naturgeſchichte aufgeſucht, obwohl ich die Beſchreibungen derſelben eifrig geleſen und gelernt hatte. Dieſe Vernachläſſigung der leiblichen wirklichen Geſtalt war bei mir ſo weit gegangen, daß ich, ſelbſt da ich einen Theil des Sommers ſchon auf dem Lande zubrachte, noch immer die Merkmale von Ziegen Scha¬48 fen Kühen aus meinen Abbildungen nicht nach den Geſtalten ſuchte, die vor mir wandelten.
Ich ſchlug jezt einen andern Weg ein. Der Hirſch, den ich geſehen hatte, ſchwebte mir immer vor den Augen. Er war ein edler gefallner Held, und war ein reines Weſen. Auch die Hunde ſeine Feinde erſchie¬ nen mir berechtigt wie in ihrem Berufe. Die ſchlan¬ ken ſpringenden und gleichſam geſchnellten Geſtalten blieben mir ebenfalls vor den Augen. Nur die Men¬ ſchen, welche das Thier geſchoſſen hatten, waren mir widerwärtig, da ſie daraus gleichſam ein Feſt gemacht hatten. Ich fing von der Stunde an, Thiere ſo auf¬ zuſuchen und zu betrachten, wie ich bisher Steine und Pflanzen aufgeſucht und betrachtet hatte. Sowohl jezt, da ich noch in dem Gebirge war, als auch ſpäter zu Hauſe und bei meinen weiteren Wanderungen be¬ trachtete ich Thiere, und ſuchte ihre weſentlichen Merk¬ male ſowohl an ihrem Leibe als auch an ihrer Lebens¬ art und Beſtimmung zu ergründen. Ich ſchrieb das, was ich geſehen hatte, auf, und verglich es mit den Beſchreibungen und Eintheilungen, die ich in meinen Büchern fand. Da geſchah es wieder, das, ich mit dieſen Büchern in Zwieſpalt gerieth, weil es meinen Augen widerſtrebte, Thiere nach Zehen oder anderen49 Dingen in einer Abtheilung beiſammen zu ſehen, die in ihrem Baue nach meiner Meinung ganz verſchieden waren. Ich ſtellte daher nicht wiſſenſchaftlich aber zu meinem Gebrauche eine andere Eintheilung zu¬ ſammen.
Einen beſondern Zweck, den ich bei dem Beſuche des Gebirges befolgen wollte, hatte ich dieſes erſte Mal nicht, außer was ſich zufällig fand. Ich war nur im Allgemeinen in das Gebirge gegangen, um es zu ſehen. Als daher dieſer erſte Drang etwas geſättigt war, begab ich mich auf dem nächſten Wege in das flache Land hinaus, und fuhr auf dieſem wieder nach Hauſe.
Allein der kommende Sommer lockte mich abermals in das Gebirge. Hatte ich das erſte Mal nur im Allgemeinen geſchaut, und waren die Eindrücke wir¬ kend auf mich heran gekommen, ſo ging ich jezt ſchon mehr in das Einzelne, ich war meiner ſchon mehr Herr, und richtete die Betrachtung auf beſondere Dinge. Viele von ihnen drängten ſich an meine Seele. Ich ſaß auf einem Steine, und ſah die breiten Schatten¬ flächen und die ſcharfen oft gleichſam mit einem Meſſer in ſie geſchnittenen Lichter. Ich dachte nach, weßhalb die Schatten hier ſo blau ſeien und die Lichter ſo kräf¬Stifter, Nachſommer. I. 450tig und das Grün ſo feurig und die Wäſſer ſo blizend. Mir fielen die Bilder meines Vaters ein, auf denen Berge gemalt waren, und mir wurde es, als hätte ich ſie mitnehmen ſollen, um vergleichen zu können. Ich blieb in kleinen Ortſchaften zuweilen länger, und be¬ trachtete die Menſchen, ihr tägliches Gewerbe ihr Fühlen ihr Reden Denken und Singen. Ich lernte die Zither kennen, betrachtete ſie, unterſuchte ſie, und hörte auf ihr ſpielen, und zu ihr ſingen. Sie erſchien mir als ein Gegenſtand, der nur allein in die Berge gehört, und mit den Bergen Eins iſt. Die Wolken, ihre Bildung ihr Anhängen an die Bergwände ihr Suchen der Bergſpitzen ſo wie die Verhältniſſe des Nebels und ſeine Neigung zu den Bergen waren mir wunderbare Erſcheinungen.
Ich beſtieg in dieſem Sommer auch einige hohe Stellen, ich ließ mich von den Führern nicht blos auf das Eis der Gletſcher geleiten, welches mich ſehr an¬ regte, und zur Betrachtung aufforderte, ſondern be¬ ſtieg auch mit ihrer Hilfe die höchſten Zinnen der Berge.
Ich ſah die Überreſte einer alten untergegangenen Welt in den Marmoren, die in dem Gebirge vorkom¬ men, und die man in manchen Thälern zu ſchleifen51 verſteht. Ich ſuchte beſondere Arten aufzufinden, und ſendete ſie nach Hauſe. Den ſchönen Enzian hatte ich im früheren Sommer ſchon der Schweſter in meinen Pflanzenbüchern gebracht, jezt brachte ich ihr auch Alpenroſen und Edelweis. Von der Zirbelkiefer und dem Knieholze nahm ich die zierlichen Früchte. So verging die Zeit, und ſo kam ich bereichert nach Hauſe.
Ich ging von nun an jeden Sommer in das Ge¬ birge.
Wenn ich von den Zimmern meiner Wohnung in dem Hauſe meiner Eltern nach einem dort verbrachten Winter gegen den Himmel blickte, und nicht mehr ſo oft an demſelben die grauen Wolken und den Nebel ſah, ſondern öfter ſchon die blauen und heiteren Lüfte, wenn dieſe durch ihre Farbe ſchon gleichſam ihre grö¬ ßere Weichheit ankündigten, wenn auf den Mauern und Schornſteinen und Ziegeldächern, die ich nach vielen Richtungen überſehen konnte, ſchon immer kräftigere Tafeln von Sonnenſchein lagen, kein Schnee ſich mehr blicken ließ, und an den Bäumen unſeres Gartens die Knospen ſchwollen: ſo mahnte es mich bereits in das Freie. Um dieſem Drange nur vor¬ läufig zu genügen, ging ich gerne aus der Stadt, und erquickte mich an der offenen Weite der Wieſen der4 *52Felder der Weinberge. Wenn aber die Bäume blüh¬ ten und das erſte Laub ſich entwickelte, ging ich ſchon dem Blau der Berge zu, wenngleich ihre Wände noch von manigfaltigem Schnee erglänzten. Ich erwählte mir nach und nach verſchiedene Gegenden, an denen ich mich aufhielt, um ſie genau kennen zu lernen, und zu genießen.
Mein Vater hatte gegen dieſe Reiſen nichts, auch war er mit der Art, wie ich mit meinem Einkommen gebahrte, ſehr zufrieden. Es blieb nehmlich in jedem Jahre ein Erkleckliches über, was zu dem Grundvermögen gethan werden konnte. Ich ſpürte deßohngeachtet in meiner Lebensweiſe keinen Abgang. Ich ſtrebte nach Dingen, die meine Freude waren, und wenig koſteten, weit weniger als die Vergnügungen, denen meine Bekannten ſich hingaben. Ich hatte in Kleidern Speiſe und Trank die größte Einfachheit, weil es meiner Natur ſo zuſagte, weil wir zur Mäßig¬ keit erzogen waren, und weil dieſe Gegenſtände, wenn ich ihnen große Aufmerkſamkeit hätte ſchenken ſollen, mich von meinen Lieblingsbeſtrebungen abgelenkt hät¬ ten. So ging alles gut, Vater und Mutter freuten ſich über meine Ordnung, und ich freute mich über ihre Freude.
53Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich könnte mir ja meine Naturgegenſtände, dachte ich, eben ſo gut zeichnen als beſchreiben, und die Zeichnung ſei am Ende noch ſogar beſſer als die Beſchreibung. Ich erſtaunte, weßhalb ich denn nicht ſogleich auf den Ge¬ danken gerathen ſei. Ich hatte wohl früher immer gezeichnet, aber mit mathematiſchen Linien, welche nach Rechnungsgeſezen entſtanden, Flächen und Körper in der Meßkunſt darſtellten, und mit Zirkel und Richt¬ ſcheit gemacht worden waren. Ich wußte wohl recht gut, daß man mit Linien alle möglichen Körper dar¬ ſtellen könne, und hatte es an den Bildern meines Vaters vollführt geſehen: aber ich hatte nicht weiter darüber gedacht, da ich in einer andern Richtung be¬ ſchäftigt war. Es mußte dieſe Vernachläſſigung von einer Eigenſchaft in mir herrühren, die ich in einem hohen Grade beſaß, und die man mir zum Vorwurfe machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenſtande eifrig beſchäftigt war, ſo vergaß ich darüber manchen andern, der vielleicht größere Bedeutung hatte. Sie ſagten, das ſei einſeitig, ja es ſei ſogar Mangel an Gefühl.
Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit Blättern mit Stielen mit Zweigen. Es war Anfangs54 die Ähnlichkeit nicht ſehr groß, und die Vollkommen¬ heit der Zeichnung ließ viel zu wünſchen übrig, wie ich ſpäter erkannte. Aber es wurde immer beſſer, da ich eifrig war, und vom Verſuchen nicht abließ. Die früher in meine Pflanzenbücher eingelegten Pflanzen, wie ſorgſam ſie auch vorbereitet waren, verloren nach und nach nicht blos die Farbe ſondern auch die Ge¬ ſtalt, und erinnerten nicht mehr entfernt an ihre ur¬ ſprüngliche Beſchaffenheit. Die gezeichneten Pflanzen dagegen bewahrten wenigſtens die Geſtalt, nicht zu gedenken, daß es Pflanzen gibt, die wegen ihrer Be¬ ſchaffenheit und ſelbſt ſolche, die wegen ihrer Größe in ein Pflanzenbuch nicht gelegt werden können, wie zum Beiſpiele Pilze oder Bäume. Dieſe konnten in einer Zeichnung ſehr wohl aufbewahrt werden. Die bloßen Zeichnungen aber genügten mir nach und nach auch nicht mehr, weil die Farbe fehlte, die bei den Pflan¬ zen beſonders bei den Blüthen eine Hauptſache iſt. Ich begann daher, meine Abbildungen mit Farben zu verſehen, und nicht eher zu ruhen, als bis die Ähnlichkeit mit den Urbildern erſchien, und immer größer zu werden verſprach.
Nach den Pflanzen nahm ich auch andere Gegen¬ ſtände vor, deren Farbe etwas Auffallendes und Fa߬55 liches hatte. Ich gerieth auf die Falterne, und ſuchte mehrere nachzubilden. Die Farben von minder hervor¬ ragenden Gegenſtänden, die zwar unſcheinbar aber doch bedeutſam ſind, wie die der Geſteine im unkriſtalli¬ ſchen Zuſtande, kamen ſpäter an die Reihe, und ich lernte ihre Reize nach und nach würdigen.
Da ich nun einmal zeichnete, und die Dinge de߬ halb doch viel genauer betrachte mußten, und da das Zeichnen und meine jezigen Beſtrebungen mich doch nicht ganz ausfüllten, kam ich auch noch auf eine an¬ dere viel weiter gehende Richtung.
Ich habe ſchon geſagt, daß ich gerne auf hohe Berge ſtieg, und von ihnen aus die Gegenden betrach¬ tete. Da ſtellten ſich nun dem geübteren Auge die bildſamen Geſtalten der Erde in viel eindringlicheren Merkmalen dar, und faßten ſich überſichtlicher in großen Theilen zuſammen. Da öffnete ſich dem Ge¬ müthe und der Seele der Reiz des Entſtehens dieſer Gebilde, ihrer Falten und ihrer Erhebungen, ihres Dahinſtreichens und Abweichens von einer Richtung, ihres Zuſammenſtrebens gegen einen Hauptpunkt und ihrer Zerſtreuungen in die Fläche. Es kam ein altes Bild, das ich einmal in einem Buche geleſen und wie¬ der vergeſſen hatte, in meine Erinnerung. Wenn das56 Waſſer in unendlich kleinen Tröpfchen, die kaum durch ein Vergrößerungsglas erſichtlich ſind, aus dem Dunſte der Luft ſich auf die Tafeln unſerer Fenſter abſezt, und die Kälte dazu kömmt, die nöthig iſt, ſo entſteht die Decke von Fäden Sternen Wedeln Palmen und Blumen, die wir gefrorene Fenſter heißen. Alle dieſe Dinge ſtellen ſich zu einem Ganzen zuſammen, und die Strahlen die Thäler die Rücken die Knoten des Eiſes ſind durch ein Vergrößerungsglas angeſehen bewunderungswürdig. Eben ſo ſtellt ſich von ſehr hohen Bergen aus geſehen die niedriger liegende Ge¬ ſtaltung der Erde dar. Sie muß aus einem erſtarren¬ den Stoffe entſtanden ſein, und ſtreckt ihre Fächer und Palmen in großartigem Maßſtabe aus. Der Berg ſel¬ ber, auf dem ich ſtehe, iſt der weiße helle und ſehr glänzende Punkt, den wir in der Mitte der zarten Gewebe unſerer gefrorenen Fenſter ſehen. Die Pal¬ menränder der gefrorenen Fenſtertafeln werden durch Abbröklung wegen des Luftzuges oder durch Schmel¬ zung wegen der Wärme lückenhaft und unterbrochen. An den Gebirgszügen geſchehen Zerſtörungen durch Verwitterung in Folge des Einfluſſes des Waſſers der Luft der Wärme und der Kälte. Nur braucht die Zer¬ ſtörung der Eisnadeln an den Fenſtern kürzere Zeit57 als der Nadeln der Gebirge. Die Betrachtung der unter mir liegenden Erde, der ich oft mehrere Stun¬ den widmete, erhob mein Herz zu höherer Bewegung, und es erſchien mir als ein würdiges Beſtreben, ja als ein Beſtreben, zu dem alle meine bisherigen Bemüh¬ ungen nur Vorarbeiten geweſen waren, dem Ent¬ ſtehen dieſer Erdoberfläche nachzuſpüren, und durch Sammlung vieler kleiner Thatſachen an den verſchie¬ denſten Stellen ſich in das große und erhabene Ganze auszubreiten, das ſich unſern Blicken darſtellt, wenn wir von Hochpunkt zu Hochpunkt auf unſerer Erde reiſen, und ſie endlich alle erfüllt haben, und keine Bildung dem Auge mehr zu unterſuchen bleibt als die Weite und die Wölbung des Meeres.
Ich begann, durch dieſe Gefühle und Betrach¬ tungen angeregt, gleichſam als Schlußſtein oder Zu¬ ſammenfaſſung aller meiner bisherigen Arbeiten die Wiſſenſchaft der Bildung der Erdoberfläche und da¬ durch vielleicht der Bildung der Erde ſelber zu betrei¬ ben. Nebſtdem, daß ich gelegentlich von hohen Stellen aus die Geſtaltung der Erdoberfläche genau zeichnete, gleichſam als wäre ſie durch einen Spiegel geſehen worden, ſchaffte ich mir die vorzüglichſten Werke an, welche über dieſe Wiſſenſchaft handeln, machte mich58 mit den Vorrichtungen, die man braucht, bekannt ſo wie mit der Art ihrer Benüzung.
Ich betrieb nun dieſen Gegenſtand mit fortgeſeztem Eifer und mit einer ſtrengen Ordnung.
Dabei lernte ich auch nach und nach den Himmel kennen, die Geſtaltung ſeiner Erſcheinungen und die Verhältniſſe ſeines Wetters.
Meine Beſuche der Berge hatten nun faſt aus¬ ſchließlich dieſen Zweck zu ihrem Inhalte.
Eines Tages ging ich von dem Hochgebirge gegen das Hügelland hinaus. Ich wollte nehmlich von einem Gebirgszuge in einen andern überſiedeln, und meinen Weg dahin durch einen Theil des offenen Landes neh¬ men. Jedermann kennt die Vorberge, mit welchen das Hochgebirge gleichſam wie mit einem Übergange gegen das flachere Land ausläuft. Mit Laub - oder Nadelwald bedeckt ziehen ſie in angenehmer Färbung dahin, laſſen hie und da das blaue Haupt eines Hochberges über ſich ſehen, ſind hie und da von einer leuchtenden Wieſe unterbrochen, führen alle Wäſſer, die das Gebirge liefert, und die gegen das Land hinaus gehen, zwiſchen ſich, zeigen manches Gebäude und manches Kirchlein, und ſtrecken ſich nach allen Richtungen, in denen das60 Gebirge ſich abniedert, gegen die bebauteren und be¬ wohnteren Theile hinaus.
Als ich von dem Hange dieſer Berge herab ging, und eine freiere Umſicht gewann, erblickte ich gegen Untergang hin die ſanften Wolken eines Gewitters, das ſich ſachte zu bilden begann, und den Himmel umſchleierte. Ich ſchritt rüſtig fort, und beobachtete das Zunehmen und Wachſen der Bewölkung. Als ich ziemlich weit hinaus gekommen war, und mich in einem Theile des Landes befand, wo ſanfte Hügel mit mäßigen Flächen wechſeln, Meierhöfe zerſtreut ſind, der Obſtbau gleichſam in Wäldern ſich durch das Land zieht, zwiſchen dem dunkeln Laube die Kirch¬ thürme ſchimmern, in den Thalfurchen die Bäche rau¬ ſchen, und überall wegen der größeren Weitung, die das Land gibt, das blaue gezackte Band der Hoch¬ gebirge zu erblicken iſt, mußte ich auf eine Einkehr denken; denn das Dorf, in welchem ich Raſt halten wollte, war kaum mehr zu erreichen. Das Gewitter war ſo weit gediehen, daß es in einer Stunde und bei begünſtigenden Umſtänden wohl noch früher aus¬ brechen konnte.
Vor mir hatte ich das Dorf Rohrberg, deſſen Kirchthurm von der Sonne ſcharf beſchienen über61 Kirſchen - und Weidenbäumen hervor ſah. Es lag nur ganz wenig abſeits von der Straße. Näher waren zwei Meierhöfe, deren jeder in einer mäßigen Entfer¬ nung von der Straße in Wieſen und Feldern prangte. Auch war ein Haus auf einem Hügel, das weder ein Bauerhaus noch irgend ein Wirthſchaftsgebäude eines Bürgers zu ſein ſchien, ſondern eher dem Landhauſe eines Städters glich. Ich hatte ſchon früher wieder¬ holt, wenn ich durch die Gegend kam, das Haus be¬ trachtet, aber ich hatte mich nie näher um dasſelbe bekümmert. Jezt fiel es mir um ſo mehr auf, weil es der nächſte Unterkunftsplaz von meinem Standorte aus war, und weil es mehr Bequemlichkeit als die Meierhöfe zu geben verſprach. Dazu geſellte ſich ein eigenthümlicher Reiz. Es war, da ſchon ein großer Theil des Landes mit Ausnahme des Rohrberger Kirchthurmes im Schatten lag, noch hell beleuchtet, und ſah mit einladendem ſchimmerndem Weiß in das Grau und Blau der Landſchaft hinaus.
Ich beſchloß alſo, in dieſem Hauſe eine Unter¬ kunft zu ſuchen.
Ich forſchte dem zu Folge nach einem Wege, der von der Straße auf den Hügel des Hauſes hinauf¬ führen ſollte. Nach meiner Kenntniß des Landesge¬62 brauches war es mir nicht ſchwer, den mit einem Zaune und mit Gebüſch beſäumten Weg, der von der Landſtraße ab hinauf ging, zu finden. Ich ſchritt auf demſelben empor und kam, wie ich richtig vermuthet hatte, vor das Haus. Es war noch immer von der Sonne hell beſchienen. Allein, da ich näher vor das¬ ſelbe trat, hatte ich einen bewunderungswürdigen An¬ blick. Das Haus war über und über mit Roſen be¬ deckt, und wie es in jenem fruchtbaren hügligen Lande iſt, daß, wenn einmal etwas blüht, gleich alles mit einander blüht, ſo war es auch hier: die Roſen ſchie¬ nen ſich das Wort gegeben zu haben, alle zur ſelben Zeit aufzubrechen, um das Haus in einen Überwurf der reizendſten Farbe und in eine Wolke der ſüßeſten Gerüche zu hüllen.
Wenn ich ſage, das Haus ſei über und über mit Roſen bedekt geweſen, ſo iſt das nicht ſo wortgetreu zu nehmen. Das Haus hatte zwei ziemlich hohe Ge¬ ſchoſſe. Die Wand des Erdgeſchoſſes war bis zu den Fenſtern des oberen Geſchoſſes mit den Roſen bedeckt. Der übrige Theil bis zu dem Dache war frei, und er war das leuchtende weiße Band, welches in die Land¬ ſchaft hinaus geſchaut, und mich gewiſſermaßen her¬ auf gelockt hatte. Die Roſen waren an einem Gitter¬63 werke, das ſich vor der Wand des Hauſes befand, befeſtigt. Sie beſtanden aus lauter Bäumchen. Es waren winzige darunter, deren Blätter gleich über der Erde begannen, dann höhere, deren Stämmchen über die erſten empor ragten, und ſo fort, bis die lezten mit ihren Zweigen in die Fenſter des oberen Geſchoſ¬ ſes hinein ſahen. Die Pflanzen waren ſo vertheilt, und gehegt, daß nirgends eine Lücke entſtand, und daß die Wand des Hauſes, ſoweit ſie reichten, vollkommen von ihnen bedeckt war.
Ich hatte eine Vorrichtung dieſer Art in einem ſo großen Maßſtabe noch nie geſehen.
Es waren zudem faſt alle Roſengattungen da, die ich kannte, und einige, die ich noch nicht kannte. Die Farben gingen von dem reinen Weiß der weißen Roſen durch das gebliche und röthliche Weiß der Übergangsroſen in das zarte Roth und in den Pur¬ pur und in das bläuliche und ſchwärzliche Roth der rothen Roſen über. Die Geſtalten und der Bau wechſelten in eben demſelben Maße. Die Pflanzen waren nicht etwa nach Farben eingetheilt, ſondern die Rückſicht der Anpflanzung ſchien nur die zu ſein, daß in der Roſenwand keine Unterbrechung ſtatt fin¬64 den möge. Die Farben blühten daher in einem Ge¬ miſche durch einander.
Auch das Grün der Blätter fiel mir auf. Es war ſehr rein gehalten, und kein bei Roſen öfter als bei andern Pflanzen vorkommender Übelſtand der grünen Blätter und keine der häufigen Krankheiten kam mir zu Geſichte. Kein verdorrtes oder durch Raupen zer¬ freſſenes oder durch ihr Spinnen verkrümmtes Blatt war zu erblicken. Selbſt das bei Roſen ſo gerne ſich einniſtende Ungeziefer fehlte. Ganz entwickelt und in ihren verſchiedenen Abſtufungen des Grüns prangend ſtanden die Blätter hervor. Sie gaben mit den Farben der Blumen gemiſcht einen wunderlichen Überzug des Hauſes. Die Sonne, die noch immer gleichſam ein¬ zig auf dieſes Haus ſchien, gab den Roſen und den grünen Blättern derſelben gleichſam goldene und feu¬ rige Farben.
Nachdem ich eine Weile mein Vorhaben vergeſſend vor dieſen Blumen geſtanden war, ermahnte ich mich, und dachte an das Weitere. Ich ſah mich nach einem Eingange des Hauſes um. Allein ich erblickte keinen. Die ganze ziemlich lange Wand desſelben hatte keine Thür und kein Thor. Auch durch keinen Weg war der Eingang zu dem Hauſe bemerkbar gemacht; denn65 der ganze Plaz vor demſelben war ein reiner durch den Rechen wohlgeordneter Sandplaz. Derſelbe ſchnitt ſich durch ein Raſenband und eine Hecke von den an¬ grenzenden hinter meinem Rücken liegenden Feldern ab. Zu beiden Seiten des Hauſes in der Richtung ſeiner Länge ſezten ſich Gärten fort, die durch ein hohes eiſernes grün angeſtrichenes Gitter von dem Sandplaze getrennt waren. In dieſen Gittern mußte alſo der Eingang ſein.
Und ſo war es auch.
In dem Gitter, welches dem den Hügel heranfüh¬ renden Wege zunächſt lag, entdeckte ich die Thür oder eigentlich zwei Flügel einer Thür, die dem Gitter ſo eingefügt waren, daß ſie von demſelben bei dem erſten Anblicke nicht unterſchieden werden konnten. In den Thüren waren die zwei meſſingenen Schloßgriffe, und an der Seite des einen Flügels ein Glockengrif.
Ich ſah zuerſt ein wenig durch das Gitter in den Garten. Der Sandplaz ſezte ſich hinter dem Gitter fort, nur war er beſäumt mit blühenden Gebüſchen und unterbrochen mit hohen Obſtbäumen, welche Schatten gaben. In dem Schatten ſtanden Tiſche und Stühle; es war aber kein Menſch bei ihnen gegen¬ wärtig. Der Garten erſtreckte ſich rückwärts um dasStifter, Nachſommer. I. 566Haus herum, und ſchien mir bedeutend weit in die Tiefe zu gehen.
Ich verſuchte zuerſt die Thürgriffe, aber ſie öffneten nicht. Dann nahm ich meine Zuflucht zu dem Glocken¬ griffe, und läutete.
Auf den Klang der Gloke kam ein Mann hinter den Gebüſchen des Gartens gegen mich hervor. Als er an der innern Seite des Gitters vor mir ſtand, ſah ich, daß es ein Mann mit ſchneeweißen Haaren war, die er nicht bedeckt hatte. Sonſt war er unſcheinbar, und hatte eine Art Hausjacke an, oder wie man das Ding nennen ſoll, das ihm überall enge anlag, und faſt bis auf die Knie herab reichte. Er ſah mich einen Augenblick an, da er zu mir herangekommen war, und ſagte dann: „ Was wollt ihr, lieber Herr? “
„ Es iſt ein Gewitter im Anzuge, “antwortete ich, „ und es wird in Kurzem über dieſe Gegend kommen. Ich bin ein Wandersmann, wie ihr an meinem Ränz¬ chen ſeht, und bitte daher, daß mir in dieſem Hauſe ſo lange ein Obdach gegeben werde, bis der Regen oder wenigſtens der ſchwerere vorüber iſt. “
„ Das Gewitter wird nicht zum Ausbruche kom¬ men, “ſagte der Mann.
„ Es wird keine Stunde dauern, daß es kommt,67 entgegnete ich, „ ich bin mit dieſen Gebirgen ſehr wohl bekannt, und verſtehe mich auch auf die Wolken und Gewitter derſelben ein wenig. “
„ Ich bin aber mit dem Plaze, auf welchem wir ſtehen, aller Wahrſcheinlichkeit nach weit länger be¬ kannt als ihr mit dem Gebirge, da ich viel älter bin als ihr, “antwortete er, „ ich kenne auch ſeine Wolken und Gewitter, und weiß, daß heute auf dieſes Haus dieſen Garten und dieſe Gegend kein Regen nieder¬ fallen wird. “
„ Wir wollen nicht lange darüber Meinungen hegen, ob ein Gewitter dieſes Haus nezen wird oder nicht, “ſagte ich; „ wenn ihr Anſtand nehmet, mir dieſes Gitterthor zu öffnen, ſo habet die Güte, und ruft den Herrn des Hauſes herbei. “
„ Ich bin der Herr des Hauſes. “
Auf dieſes Wort ſah ich mir den Mann etwas näher an. Sein Angeſicht zeigte zwar auch auf ein vorgerücktes Alter; aber es ſchien mir jünger als die Haare, und gehörte überhaupt zu jenen freundlichen wohlgefärbten nicht durch das Fett der vorgerückteren Jahre entſtellten Angeſichtern, von denen man nie weiß, wie alt ſie ſind. Hierauf ſagte ich: „ Nun muß ich wohl um Verzeihung bitten, daß ich ſo zudringlich5 *68geweſen bin, ohne Weiteres auf die Sitte des Landes zu bauen. Wenn eure Behauptung, daß kein Gewitter kommen werde, einer Ablehnung gleich ſein ſoll, werde ich mich augenblicklich entfernen. Denkt nicht, daß ich als junger Mann den Regen ſo ſcheue; es iſt mir zwar nicht ſo angenehm, durchnäßt zu werden, als trocken zu bleiben, es iſt mir aber auch nicht ſo unan¬ genehm, daß ich deßhalb jemanden zur Laſt fallen ſollte. Ich bin oft von dem Regen getroffen worden, und es liegt nichts daran, wenn ich auch heute ge¬ troffen werde. “
„ Das ſind eigentlich zwei Fragen, “antwortete der Mann, “und ich muß auf beide etwas entgegnen. Das Erſte iſt, daß ihr in Naturdingen eine Unrichtigkeit geſagt habt, was vielleicht daher kommt, daß ihr die Verhältniſſe dieſer Gegend zu wenig kennt, oder auf die Vorkommniſſe der Natur nicht genug achtet. Die¬ ſen Irrthum mußte ich berichtigen; denn in Sachen der Natur muß auf Wahrheit geſehen werden. Das Zweite iſt, daß, wenn ihr mit oder ohne Gewitter in dieſes Haus kommen wollt, und wenn ihr geſonnen ſeid, ſeine Gaſtfreundſchaft anzunehmen, ich ſehr gerne willfahren werde. Dieſes Haus hat ſchon manchen Gaſt gehabt, und manchen gerne beherbergt; und wie69 ich an euch ſehe, wird es auch euch gerne beherbergen, und ſo lange verpflegen, als ihr es für nöthig erach¬ ten werdet. Darum bitte ich euch, tretet ein. “
Mit dieſen Worten that er einen Druck am Schloſſe des Thorflügels, der Flügel öffnete ſich, drehte ſich mit einer Rolle auf einer halbkreisartigen Eiſenſchiene, und gab mir Raum zum Eintreten.
Ich blieb nun einen Augenblick unentſchloſſen.
„ Wenn das Gewitter nicht kömmt, “ſagte ich, „ ſo habe ich im Grunde keine Urſache, hier einzutreten; denn ich bin nur des anziehenden Gewitters willen von der Landſtraße abgewichen, und zu dieſem Hauſe heraufgeſtiegen. Aber verzeiht mir, wenn ich noch einmal die Frage anrege. Ich bin beinahe eine Art Naturforſcher, und habe mich mehrere Jahre mit Na¬ turdingen mit Beobachtungen und namentlich mit die¬ ſem Gebirge beſchäftigt, und meine Erfahrungen ſagen mir, daß heute über dieſe Gegend und dieſes Haus ein Gewitter kommen wird. “
„ Nun müßt ihr eigentlich vollends herein gehen, “ſagte er, „ jezt handelt es ſich darum, daß wir gemein¬ ſchaftlich abwarten, wer von uns beiden recht hat. Ich bin zwar kein Naturforſcher, und kann von mir nicht ſagen, daß ich mich mit Naturwiſſenſchaften be¬70 ſchäftigt habe; aber ich habe manches über dieſe Gegen¬ ſtände geleſen, habe während meines Lebens mich be¬ müht, die Dinge zu beobachten, und über das Geleſene und Geſehene nachzudenken. In Folge dieſer Beſtre¬ bungen habe ich heute die unzweideutigen Zeichen ge¬ ſehen, daß die Wolken, welche jezt noch gegen Sonnen¬ untergang ſtehen, welche ſchon einmal gedonnert haben, und von denen ihr veranlaßt worden ſeid, zu mir her¬ auf zu ſteigen, nicht über dieſes Haus und überhaupt über keine Gegend einen Regen bringen werden. Sie werden ſich vielleicht, wenn die Sonne tiefer kömmt, vertheilen, und werden zerſtreut am Himmel herum ſtehen. Abends werden wir etwa einen Wind ſpü¬ ren, und morgen wird gewiß wieder ein ſchöner Tag ſein. Es könnte ſich zwar ereignen, daß einige ſchwere Tropfen fallen, oder ein kleiner Sprühregen nieder geht; aber gewiß nicht auf dieſen Hügel. “
„ Da die Sache ſo iſt, “erwiederte ich, „ trete ich gerne ein, und harre mit euch gerne der Entſcheidung, auf die ich begierig bin. “
Nach dieſen Worten trat ich ein, er ſchloß das Gitter, und ſagte, er wolle mein Führer ſein.
Er führte mich um das Haus herum; denn in der den Roſen entgegengeſezten Seite war die Thür. Er71 führte mich durch dieſelbe ein, nachdem er ſie mit einem Schlüſſel geöffnet hatte. Hinter der Thür erblickte ich einen Gang, welcher mit Amonitenmarmor gepflaſtert war.
„ Dieſer Eingang, “ſagte er, „ iſt eigentlich der Haupt¬ eingang; aber da ich mir nicht gerne das Pflaſter des Ganges verderben laſſe, halte ich ihn immer geſperrt, und die Leute gehen durch eine Thür in die Zimmer, welche wir finden würden, wenn wir noch einmal um die Ecke des Hauſes gingen. Des Pflaſters willen muß ich euch auch bitten, dieſe Filzſchuhe anzuziehen. “
Es ſtanden einige Paare gelblicher Filzſchuhe gleich innerhalb der Thür. Niemand konnte mehr als ich von der Nothwendigkeit überzeugt ſein, dieſen ſo edlen und ſchönen Marmor zu ſchonen, der an ſich ſo vor¬ trefflich iſt, und hier ganz meiſterhaft geglättet war. Ich fuhr daher mit meinen Stiefeln in ein Paar ſol¬ cher Schuhe, er that desgleichen, und ſo gingen wir über den glatten Boden. Der Gang, welcher von oben beleuchtet war, führte zu einer braunen getäfel¬ ten Thür. Vor derſelben legte er die Filzſchuhe ab, verlangte von mir, daß ich dasſelbe thue, und, nach¬ dem wir uns auf dem hölzernen Antritte der Thür der Filzſchuhe entledigt hatten, öffnete er dieſelbe, und72 führte mich in ein Zimmer. Dem Anſehen nach war es ein Speiſezimmer; denn in der Mitte deſſelben ſtand ein Tiſch, an deſſen Bauart man ſah, daß er vergrößert oder verkleinert werden könne, je nachdem eine größere oder kleinere Anzahl von Perſonen um ihn ſizen ſollte. Außer dem Tiſche befanden ſich nur Stühle in dem Zimmer und ein Schrein, in welchem die Speiſe¬ geräthſchaften enthalten ſein konnten.
„ Legt in dieſem Zimmer, “ſagte der Mann, „ euern Hut euerm Stock und euer Ränzlein ab, ich werde euch dann in ein anderes Gemach führen, in welchem ihr ausruhen könnt. “
Als er dies geſagt, und ich ihm Folge geleiſtet hatte, trat er zu einer breiten Strohmatte und zu Fu߬ bürſten, die ſich am Ausgange des Zimmers befanden, reinigte ſich an beiden ſehr ſorgſam ſeine Fußbekleidung, und lud mich ein, dasſelbe zu thun. Ich that es, und da ich fertig war, öffnete er die Ausgangsthür, die ebenfalls braun und getäfelt war, und führte mich durch ein Vorgemach in ein Ausruhezimmer, welches an der Seite des Vorgemaches lag.
„ Dieſes Vorgemach, “ſagte er, „ iſt der eigentliche Eingang in das Speiſezimmer, und man kommt von der andern Thür in dasſelbe. “ 73Das Ausruhezimmer war ein freundliches Ge¬ mach, und ſchien recht eigens zum Sizen und Ruhe¬ halten beſtimmt. Es befaßte nichts als lauter Tiſche und Size. Auf den Tiſchen lagen aber nicht, wie es häufig in unſern Beſuchzimmern vorkömmt, Bücher oder Zeichnungen und dergleichen Dinge, ſondern die Tafeln derſelben waren unbedeckt, und waren ausneh¬ mend gut geglättet und gereinigt. Sie waren von dunklem Mahagoniholze, das in der Zeit noch mehr nachgedunkelt war. Ein einziges Geräthe war da, welches kein Tiſch und kein Siz war, ein Geſtelle mit mehreren Fächern, welches Bücher enthielt. An den Wänden hingen Kupferſtiche.
„ Hier könnt ihr ausruhen, wenn ihr vom Gehen müde ſeid, oder überhaupt ruhen wollt, „ ſagte der „ Mann, ich werde gehen, und ſorgen, daß man euch etwas zu eſſen bereitet. Ihr müßt wohl eine Weile allein bleiben. Auf dem Geſtelle liegen Bücher, wenn ihr etwa ein wenig in dieſelben blicken wollet. “
Nach dieſen Worten entfernte er ſich.
Ich war in der That müde und ſezte mich nieder.
Als ich ſaß, konnte ich den Grund einſehen, we߬ halb der Mann vor dem Eintritte in dieſes Zimmer ſo ſehr ſeine Fußbekleidung gereinigt, und mir den74 Wunſch zu gleicher Reinigung ausgedrükt hatte. Das Zimmer enthielt nehmlich einen ſchön getäfelten Fu߬ boden, wie ich nie einen gleichen geſehen hatte. Es war beinahe ein Teppich aus Holz. Ich konnte das Ding nicht genug bewundern. Man hatte lauter Holzgattungen in ihren natürlichen Farben zuſammen¬ geſezt, und ſie in ein Ganzes von Zeichnungen gebracht. Da ich von den Geräthen meines Vaters her an ſolche Dinge gewohnt war, und ſie etwas zu beurtheilen verſtand, ſah ich ein, daß man alles nach einem in Farben ausgeführten Plane gemacht haben mußte, welcher Plan mir ſelber wie ein Meiſterſtück erſchien. Ich dachte, da dürfe ich ja gar nicht aufſtehen, und auf der Sache herum gehen, beſonders wenn ich die Nägel in Anſchlag brachte, mit denen meine Gebirgs¬ ſtiefel beſchlagen waren. Auch hatte ich keine Veran¬ laſſung zum Aufſtehen, da mir die Ruhe nach einem ziemlich langen Gange ſehr angenehm war.
Da ſaß ich nun in dem weißen Hauſe, zu welchem ich hinauf geſtiegen war, um in ihm das Gewitter ab¬ zuwarten.
Es ſchien noch immer die Sonne auf das Haus, blickte durch die Fenſter dieſes Zimmers ſchief herein,75 und legte lichte Tafeln auf den ſchönen Fußboden des¬ ſelben.
Als ich eine Weile geſeſſen war, bemächtigte ſich meiner eine ſeltſame Empfindung, welche ich mir An¬ fangs nicht zu erklären vermochte. Es war mir nehm¬ lich, als ſize ich nicht in einem Zimmer, ſondern im Freien und zwar in einem ſtillen Walde. Ich blickte gegen die Fenſter, um mir das Ding zu erklären; aber die Fenſter ertheilten die Erklärung nicht: ich ſah durch ſie ein Stück Himmel, theils rein theils etwas bewölkt, und unter dem Himmel ſah ich ein Stück Gartengrün von emporragenden Bäumen, ein Anblick, den ich wohl ſchon ſehr oft gehabt hatte. Ich ſpürte eine reine freie Luft mich umgeben. Die Urſache davon war, daß die Fenſter des Zimmers in ihren oberen Theilen offen waren. Dieſe oberen Theile konnten nicht nach Innen geöffnet werden, wie das gewöhnlich der Fall iſt, ſondern waren nur zu verſchieben, und zwar ſo, daß einmal Glas in dem Rahmen vorge¬ ſchoben werden konnte, ein anderes Mal ein zarter Flor von weißgrauer Seide. Da ich in dem Zimmer ſaß, war das Leztere der Fall. Die Luft konnte frei herein ſtrömen, Fliegen und Staub waren aber aus¬ geſchloſſen.
76Wenn nun gleich die reine Luft eine Mahnung des Freien gab, ſah ich doch hierin nicht die völlige Erklärung allein. Ich bemerkte noch etwas anderes. In dem Zimmer, in welchem ich mich befand, hörte man nicht den geringſten Laut eines bewohnten Hau¬ ſes, den man doch ſonſt, es mag im Hauſe noch ſo ruhig ſein, mehr oder weniger in Zwiſchenräumen vernimmt. Dieſe Art Abweſenheit häuslichen Ge¬ räuſches verbarg allerdings die Nachbarſchaft bewohn¬ ter Räume, konnte aber eben ſo wenig als die freie Luft die Waldempfindung geben.
Endlich glaubte ich auf den Grund gekommen zu ſein. Ich hörte nehmlich faſt ununterbrochen bald näher bald ferner bald leiſer bald lauter vermiſchten Vogelgeſang. Ich richtete meine Aufmerkſamkeit auf dieſe Wahrnehmung, und erkannte bald, daß der Geſang nicht blos von Vögeln herrühre, die in der Nähe menſchlicher Wohnungen hauſen, ſondern auch von ſolchen, deren Stimme und Zwitſchern mir nur aus den Wäldern und abgelegenen Bebuſchungen be¬ kannt war. Dieſes wenig auffallende mir aus meinem Gebirgsaufenthalte bekannte und von mir in der That nicht gleich beachtete Getön mochte wohl die Haupt¬ urſache meiner Täuſchung geweſen ſein, obwohl die77 Stille des Raumes und die reine Luft auch mitgewirkt haben konnten. Da ich nun genauer auf dieſes ge¬ legentliche Vogelzwitſchern achtete, fand ich wirklich, daß Töne ſehr einſamer und immer in tiefen Wäldern wohnender Vögel vorkamen. Es nahm ſich dies wun¬ derlich in einem bewohnten und wohleingerichteten Zimmer aus.
Da ich aber nun den Grund meiner Empfindung aufgefunden hatte, oder aufgefunden zu haben glaubte, war auch ein großer Theil ihrer Dunkelheit und mit¬ hin Annehmlichkeit verſchwunden.
Wie ich nun ſo fortwährend auf den Vogelgeſang merkte, fiel mir ſogleich auch etwas anderes ein. Wenn ein Gewitter im Anzuge iſt, und ſchwüle Lüfte in dem Himmelsraume ſtocken, ſchweigen gewöhnlich die Wald¬ vögel. Ich erinnerte mich, daß ich in ſolchen Augenbli¬ ken oft in den ſchönſten dichteſten entlegenſten Wäldern nicht den geringſten Laut gehört habe, etwa ein ein¬ maliges oder zweimaliges Hämmern des Spechtes ausgenommen oder den kurzen Schrei jenes Geiers, den die Landleute Gießvogel nennen. Aber ſelbſt er ſchweigt, wenn das Gewitter in unmittelbarer An¬ näherung iſt. Nur bei den Menſchen wohnende Vögel, die das Gewitter fürchten wie er, oder ſolche, die im78 weiten Freien hauſen, und vielleicht deſſen majeſtätiſche Annäherung bewundern, zeigen ſein Bevorſtehen an. So habe ich Schwalben vor den dicken Wolken eines heraufſteigenden Gewitters mit ihrem weißen Bauch¬ gefieder kreuzen geſehen, und ſelbſt ſchreien gehört, und ſo habe ich Lerchen ſingend gegen die dunkeln Ge¬ witterwolken aufſteigen geſehen. Das Singen der Waldvögel erſchien mir nun als ein ſchlimmes Zeichen für meine Vorausſagung eines Gewitters. Auch fiel mir auf, daß ſich noch immer keine Merkmale des Ausbruches zeigten, welchen ich nicht für ſo ferne ge¬ halten hatte, als ich die Landſtraße verließ. Die Sonne ſchien noch immer auf das Haus, und ihre glänzenden Lichttafeln lagen noch immer auf dem ſchönen Fu߬ boden des Zimmers.
Mein Beherberger ſchien es darauf angelegt zu haben, mich lange allein zu laſſen, wahrſcheinlich, um mir Raum zur Ruhe und Bequemlichkeit zu geben; denn er kam nicht ſo bald zurück, als ich nach ſeiner Äußerung erwartet hatte.
Als ich eine geraume Weile geſeſſen war, und das Sizen anfing, mir nicht mehr jene Annehmlichkeit zu gewähren wie Anfangs, ſtand ich auf, und ging auf den Fußſpitzen, um den Boden zu ſchonen, zu dem79 Büchergeſtelle, um die Bücher anzuſehen. Es waren aber blos beinahe lauter Dichter. Ich fand Bände von Herder Leſſing Göthe Schiller, Überſetzungen Shakspeares von Schlegel und Tieck, einen griechiſchen Odyſſeus, dann aber auch etwas aus Ritters Erd¬ beſchreibung aus Johannes Müllers Geſchichte der Menſchheit, und aus Alexander und Wilhelm Hum¬ boldt. Ich that die Dichter bei Seite, und nahm Alexander Humboldts Reiſe in die Äquinoctialländer, die ich zwar ſchon kannte, in der ich aber immer gerne las. Ich begab mich mit meinem Buche wieder zu meinem Size zurück.
Als ich nicht gar kurze Zeit geleſen hatte, trat mein Beherberger herein.
Ich hatte, weil er ſo lange abweſend war, gedacht, er werde ſich etwa auch umgekleidet haben, weil er doch nun einmal einen Gaſt habe, und weil ſein An¬ zug ſo gar unbedeutend war. Aber er kam in den nehmlichen Kleidern zurük, in welchen er vor mir an dem Gitterthore geſtanden war.
Er entſchuldigte ſein Außenbleiben nicht, ſondern ſagte, ich möchte, wenn ich ausgeruht hätte, und es mir genehm wäre, zu ſpeiſen, ihm in das Speiſezimmer folgen, es würde dort für mich aufgetragen werden.
80Ich ſagte, ausgeruht hätte ich ſchon; aber ich ſei nur gekommen, um um Unterſtand zu bitten, nicht aber auch in anderer Weiſe beſonders in Hinſicht von Speiſe und Trank läſtig zu fallen.
„ Ihr fallt nicht läſtig, “antwortete der Mann, „ ihr müßt etwas zu eſſen bekommen, beſonders da ihr ſo lange da bleiben müßt, bis ſich die Sache wegen des Gewitters entſchieden hat. Da ſchon Mittag vorüber iſt, wir aber genau mit der Mittagſtunde des Tages zu Mittag eſſen, und von da bis zu dem Abendeſſen nichts mehr aufgetragen wird, ſo muß für euch, wenn ihr nicht bis Abends warten ſollet, beſonders aufge¬ tragen werden. Solltet ihr aber ſchon zu Mittag ge¬ geſſen haben, und bis Abends warten wollen, ſo fo¬ dert es doch die Ehre des Hauſes, daß euch etwas gebothen werde, ihr möget es dann annehmen oder nicht. Folgt mir daher in das Speiſezimmer. “
Ich legte das Buch neben mich auf den Siz, und ſchickte mich an, zu gehen.
Er aber nahm das Buch, und legte es auf ſeinen Plaz in dem Büchergeſtelle.
„ Verzeiht, “ſagte er, „ es iſt bei uns Sitte, daß die Bücher, die auf dem Geſtelle ſind, damit jemand, der in dem Zimmer wartet, oder ſich ſonſt aufhält, bei81 Gelegenheit und nach Wohlgefallen etwas leſen kann, nach dem Gebrauche wieder auf das Geſtelle gelegt werden, damit das Zimmer die ihm zugehörige Ge¬ ſtalt behalte. “
Hierauf öffnete er die Thür, und lud mich ein, in das mir bekannte Speiſezimmer voraus zu gehen.
Als wir in demſelben angelangt waren, ſah ich, daß in ausgezeichnet ſchönen weißen Linnen gedeckt ſei, und zwar nur ein Gedecke, daß ſich eingemachte Früchte Wein Waſſer und Brod auf dem Tiſche be¬ fanden, und in einem Gefäße verkleinertes Eis war, es in den Wein zu thun. Mein Ränzlein und meinen Schwarzdornſtock ſah ich nicht mehr, mein Hut aber lag noch auf ſeinem Plaze.
Mein Begleiter that aus einer der Taſchen ſeines Kleides ein, wie ich vermuthete, ſilbernes Glöcklein hervor, und läutete. Sofort erſchien eine Magd, und brachte ein gebratenes Huhn und ſchönen rothgeſpren¬ kelten Kopfſallat.
Mein Gaſtherr lud mich ein, mich zu ſezen, und zu eſſen.
Da es ſo freundlich gebothen war, nahm ich es an. Obwohl ich wirklich ſchon einmal gegeſſen hatte, ſo war das vor dem Mittag geweſen, und ich warStifter, Nachſommer. 682durch das Wandern wieder hungrig geworden. Ich genoß daher von dem Aufgeſezten.
Mein Beherberger ſezte ſich zu mir, leiſtete mir Geſellſchaft, aß und trank aber nichts.
Da ich fertig war, und die Eßgeräthe hingelegt hatte, both er mir an, wenn ich nicht zu müde ſei, mich in den Garten zu führen.
Ich nahm es an.
Er läutete wieder mit dem Glöcklein, um den Be¬ fehl zu geben, daß man abräume, und führte mich nun nicht durch den Gang, durch welchen wir herein gekommen waren, ſondern durch einen mit gewöhn¬ lichen Steinen gepflaſterten in den Garten. Er hatte jezt ein kleines Häubchen von durchbrochener Arbeit auf ſeinen weißen Haaren, wie man ſie gerne Kindern aufſezt, um ihre Locken gleichſam wie in einem Neze einzufangen.
Als wir in das Freie kamen, ſah ich, daß, wäh¬ rend ich aß, die Sonne auf das Haus zu ſcheinen aufgehört hatte, ſie war von der Gewitterwand über¬ holt worden. Auf dem Garten ſo wie auf der Gegend lag der warme trockene Schatten, wie er bei ſolchen Gelegenheiten immer erſcheint. Aber die Gewitter¬ wand hatte ſich während meines Aufenthaltes in dem83 Hauſe wenig verändert, und gab nicht die Ausſicht auf baldigen Ausbruch des Regens.
Ein Umblick überzeugte mich ſogleich, daß der Garten hinter dem Hauſe ſehr groß ſei. Er war aber kein Garten, wie man ſie gerne hinter und neben den Landhäuſern der Städter anlegt, nehmlich, daß man unfruchtbare oder höchſtens Zierfrüchte tragende Ge¬ büſche und Bäume pflegt, und zwiſchen ihnen Raſen und Sandwege oder einige Blumenhügel oder Blu¬ menkreiſe herrichtet, ſondern es war ein Garten, der mich an den meiner Eltern bei dem Vorſtadthauſe er¬ innerte. Es war da eine weitläufige Anlage von Obſt¬ bäumen, die aber hinlänglich Raum ließen, daß frucht¬ bare oder auch nur zum Blühen beſtimmte Geſträuche dazwiſchen ſtehen konnten, und daß Gemüſe und Blu¬ men vollſtändig zu gedeihen vermochten. Die Blumen ſtanden theils in eigenen Beeten, theils liefen ſie als Einfriedigung hin, theils befanden ſie ſich auf eigenen Pläzen, wo ſie ſich ſchön darſtellten. Mich empfingen von je her ſolche Gärten mit dem Gefühle der Häus¬ lichkeit und Nüzlichkeit, während die anderen einerſeits mit keiner Frucht auf das Haus denken, und anderer¬ ſeits Wahrhaftig auch kein Wald ſind. Was zur Ro¬ ſenzeit blühen konnte, blühte und duftete, und weil6 *84eben die ſchweren Wolken am Himmel ſtanden, ſo war aller Duft viel eindringender und ſtärker. Dies deutete doch wieder auf ein Gewitter hin.
Nahe bei dem Hauſe befand ſich ein Gewächs¬ haus. Es zeigte uns aber gegen den Weg, auf dem wir gingen, nicht ſeine Länge ſondern ſeine Breite hin. Auch dieſe Breite, welche theilweiſe Gebüſche deckten, war mit Roſen bekleidet, und ſah aus wie ein Roſenhäuschen im Kleinen.
Wir gingen einen geräumigen Gang, der mitten durch den Garten lief, entlang. Er war Anfangs eben, zog ſich aber dann ſachte aufwärts.
Auch im Garten waren die Roſen beinahe herr¬ ſchend. Entweder ſtand hie und da auf einem geeigne¬ ten Plaze ein einzelnes Bäumchen, oder es waren Hecken nach gewiſſen Richtungen angelegt, oder es zeigten ſich Abtheilungen, wo ſie gute Verhältniſſe zum Gedeihen fanden, und ſich dem Auge angenehm darſtellen konn¬ ten. Eine Gruppe von ſehr dunkeln faſt violetten Ro¬ ſen war mit einem eigenen zierlichen Gitter umgeben, um ſie auszuzeichnen, oder zu ſchüzen. Alle Blumen waren wie die vor dem Hauſe beſonders rein und klar entwickelt, ſogar die verblühenden erſchienen in ihren Blättern noch kraftvoll und geſund.
85Ich machte in Hinſicht des lezten Umſtandes eine Bemerkung.
„ Habt ihr denn nie eine jener alten Frauen ge¬ ſehen, “ſagte mein Begleiter, „ die in ihrer Jugend ſehr ſchön geweſen waren, und ſich lange kräftig erhalten haben. Sie gleichen dieſen Roſen. Wenn ſie ſelbſt ſchon unzählige kleine Falten in ihrem Angeſichte haben, ſo iſt doch noch zwiſchen den Falten die Anmuth herr¬ ſchend und eine ſehr ſchöne liebe Farbe. “
Ich antwortete, daß ich das noch nie beobachtet hätte, und wir gingen weiter.
Es waren außer den Roſen noch andere Blumen im Garten. Ganze Beete von Aurikeln ſtanden an ſchattigen Orten. Sie waren wohl längſt verblüht, aber ihre ſtarken grünen Blätter zeigten, daß ſie in guter Pflege waren. Hie und da ſtand eine Lilie an einer einſamen Stelle, und wohl entwickelte Nelken prangten in Töpfen auf einem eigenen Schragen, an dem Vorrichtungen angebracht waren, die Blumen vor Sonne zu bewahren. Sie waren noch nicht auf¬ geblüht, aber die Knospen waren weit vorgerückt, und ließen treffliche Blumen ahnen. Es mochten nur die auserwählten auf dem Schragen ſtehen; denn ich ſah die Schule dieſer Pflanzen, als wir etwas weiter86 kamen, in langen weithingehenden Beeten angelegt. Sonſt waren die gewöhnlichen Gartenblumen da, theils in Beeten theils auf kleinen abgeſonderten Pläzen theils als Einfaſſungen. Beſonders ſchien ſich auch die Levkoje einer Vorliebe zu erfreuen, denn ſie ſtand in großer Anzahl und Schönheit ſo wie in vielen Arten da. Ihr Duft ging wohlthuend durch die Lüfte. Selbſt in Töpfen ſah ich dieſe Blume gepflegt, und an zuträgliche Orte geſtellt. Was an Zwiebelgewäch¬ ſen Hiazinthen Tulpen und dergleichen vorhanden ge¬ weſen ſein mochte, konnte ich nicht ermeſſen, da die Zeit dieſer Blumen längſt vorüber war.
Auch die Zeit der Blüthengeſträuche war vorüber, und ſie ſtanden nur mit ihren grünen Blättern am Wege oder an ihren Stellen.
Die Gemüſe nahmen die weiten und größeren Räume ein. Zwiſchen ihnen und an ihren Seiten liefen Anpflanzungen von Erdbeeren. Sie ſchienen beſonders gehegt, waren häufig aufgebunden, und hatten Blech¬ täfelchen zwiſchen ſich, auf denen die Namen ſtanden.
Die Obſtbäume waren durch den ganzen Garten vertheilt, wir gingen an vielen vorüber. Auch an ihnen beſonders aber an den zahlreichen Zwergbäu¬ men ſah ich weiße Täfelchen mit Namen.
87An manchen Bäumen erblickte ich kleine Käſtchen von Holz, bald an dem Stamme bald in den Zweigen. In unſerem Oberlande gibt man den Staaren gerne ſolche Behälter, damit ſie ihr Neſt in dieſelben bauen. Die hier befindlichen Behältniſſe waren aber anderer Art. Ich wollte fragen, aber in der Folge des Ge¬ ſpräches vergaß ich wieder darauf.
Da wir in dem Garten ſo fortgingen, hörte ich beſonders aus ſeinem bebuſchten Theile wieder die Vogelſtimmen, die ich in dem Wartezimmer gehört hatte, nur hier deutlicher und heller.
Auch ein anderer Umſtand fiel mir auf, da wir ſchon einen großen Theil des Gartens durchwandert hatten; ich bemerkte nehmlich gar keinen Raupenfraß. Während meines Ganges durch das Land hatte ich ihn aber doch geſehen, obwohl er mir, da er nicht außerordentlich war, und keinen Obſtmißwachs be¬ fürchten ließ, nicht beſonders aufgefallen war. Bei der Friſche der Belaubung dieſes Gartens fiel er mir wieder ein. Ich ſah das Laub deßhalb näher an, und glaubte zu bemerken, daß es auch vollkommener ſei als anderwärts, das grüne Blatt war größer und dunkler, es war immer ganz, und die grünen Kirſchen und die kleinen Äpfelchen und Birnchen ſahen recht88 geſund daraus hervor. Ich betrachtete durch dieſe That¬ ſache aufmerkſam gemacht nun auch den Kohl genauer, der nicht weit von unſerm Wege ſtand. An ihm zeigte keine kahle Rippe, daß die Raupe des Weißlings ge¬ nagt habe. Die Blätter waren ganz und ſchön. Ich nahm mir vor, dieſe Beobachtung gegen meinen Be¬ gleiter gelegentlich zur Sprache zu bringen.
Wir waren mittlerweile bis an das Ende der Pflanzungen gelangt, und es begann Raſengrund, der ſteiler anſtieg, Anfangs mit Bäumen beſezt war, weiter oben aber kahl fortlief.
Wir ſtiegen auf ihm empor.
Da wir auf eine ziemliche Höhe gelangt waren, und Bäume die Ausſicht nicht mehr hinderten, blieb ich ein wenig ſtehen, um den Himmel zu betrachten. Mein Begleiter hielt ebenfalls an. Das Gewitter ſtand nicht mehr gegen Sonnenuntergang allein, ſon¬ dern jezt überall. Wir hörten auch entfernten Donner, der ſich öfter wiederholte. Wir hörten ihn bald gegen Sonnenuntergang, bald gegen Mittag, bald an Orten, die wir nicht angeben konnten. Mein Mann mußte ſeiner Sache ſehr ſicher ſein; denn ich ſah, daß in dem Garten Arbeiter ſehr eifrig an den mehreren Ziehbrunnen zogen, um das Waſſer in die durch den89 Garten laufenden Rinnen zu leiten, und aus dieſen in die Waſſerbehälter. Ich ſah auch bereits Arbeiter gehen, ihre Gießkannen in den Waſſerbehältern füllen, und ihren Inhalt auf die Pflanzenbeete ausſtreuen. Ich war ſehr begierig auf den Verlauf der Dinge, ſagte aber gar nichts, und mein Begleiter ſchwieg auch.
Wir gingen nach kurzem Stillſtande auf dem Raſengrunde wieder weiter aufwärts, und zulezt ziemlich ſteil.
Endlich hatten wir die höchſte Stelle erreicht, und mit ihr auch das Ende des Gartens. Jenſeits ſenkte ſich der Boden wieder ſanft abwärts. Auf dieſem Plaze ſtand ein ſehr großer Kirſchbaum, der größte Baum des Gartens vielleicht der größte Obſtbaum der Gegend. Um den Stamm des Baumes lief eine Holzbank, die vier Tiſchchen nach den vier Weltgegen¬ den vor ſich hatte, daß man hier ausruhen, die Gegend beſehen, oder leſen und ſchreiben konnte. Man ſah an dieſer Stelle faſt nach allen Richtungen des Him¬ mels. Ich erinnerte mich nun ganz genau, daß ich dieſen Baum wohl früher bei meinen Wanderungen von der Straße oder von anderen Stellen aus geſehen hatte. Er war wie ein dunkler ausgezeichneter Punkt erſchienen, der die höchſte Stelle der Gegend krönte.
90Man mußte an heiteren Tagen von hier aus die ganze Gebirgskette im Süden ſehen, jezt aber war nichts davon zu erblicken; denn alles floß in eine einzige Gewittermaſſe zuſammen. Gegen Mitternacht erſchien ein freundlicher Höhenzug, hinter welchem nach mei¬ ner Schäzung das Städtchen Landegg liegen mußte.
Wir ſezten uns ein wenig auf das Bänklein. Es ſchien, daß man an dieſem Pläzchen niemals vorüber gehen konnte, ohne ſich zu ſezen, und eine kleine Um¬ ſchau zu halten; denn das Gras war um den Baum herum abgetreten, daß der kahle Boden hervorſah, wie wenn ein Weg um den Baum ginge. Man mußte ſich daher gerne an dieſem Plaze verſammeln.
Als wir kaum ein Weilchen ausgeruht hatten, ſah ich eine Geſtalt aus den nicht ſehr entfernten Büſchen und Bäumen hervortreten, und gegen uns empor gehen. Da ſie etwas näher gekommen war, erkannte ich, daß es ein Gemiſche von Knabe und Jüngling war. Zuweilen hätte man meinen können, der Ankommende ſei ganz ein Jüngling, und zuweilen, er ſei noch ganz ein Knabe. Er trug ein blau - und weißgeſtreiftes Leinenzeug als Bekleidung, um den Hals hatte er nichts und auf dem Haupte auch nichts als eine dichte Menge brauner Locken.
91Da er herzugekommen war, ſagte er: „ Ich ſehe, daß du mit einem fremden Manne beſchäftigt biſt, ich werde dich alſo nicht ſtören, und wieder in den Garten hinab gehen. “
„ Thue das, “ſagte mein Begleiter.
Der Knabe machte eine ſchnelle und leichte Verbeu¬ gung gegen mich, wendete ſich um, und ging in derſel¬ ben Richtung wieder zurück, in der er gekommen war.
Wir blieben noch ſizen.
Am Himmel änderte ſich indeſſen wenig. Dieſelbe Wolkendecke ſtand da, und wir hörten denſelben Don¬ ner. Nur da die Decke dunkler geworden zu ſein ſchien, ſo wurde jezt zuweilen auch ein Bliz ſichtbar.
Nach einer Zeit ſagte mein Begleiter: „ Eure Reiſe hat wohl nicht einen Zweck, der durch den Aufenthalt von einigen Stunden oder von einem Tage oder von einigen Tagen geſtört würde. “
„ Es iſt ſo, wie ihr geſagt habt, “antwortete ich, „ mein Zweck iſt, ſoweit meine Kräfte reichen, wiſſen¬ ſchaftliche Beſtrebungen zu verfolgen, und nebenbei, was ich auch nicht für unwichtig halte, das Leben in der freien Natur zu genießen. “
„ Dieſes Lezte iſt in der That auch nicht unwichtig, “verſezte mein Nachbar, „ und da ihr euren Reiſezweck92 bezeichnet habt, ſo werdet ihr gewiß einwilligen, wenn ich euch einlade, heute nicht mehr weiter zu reiſen, ſondern die Nacht in meinem Hauſe zuzubringen. Wünſchet ihr dann am morgigen Tage und an meh¬ reren darauf folgenden noch bei mir zu verweilen, ſo ſteht es nur bei euch, ſo zu thun. “
„ Ich wollte, wenn das Gewitter auch lange ange¬ dauert hätte, doch heute noch nach Rohrberg gehen, “ſagte ich. „ Da ihr aber auf eine ſo freundliche Weiſe gegen einen unbekannten Reiſenden verfahrt, ſo ſage ich gerne zu, die heutige Nacht in eurem Hauſe zuzu¬ bringen, und bin euch dafür dankbar. Was morgen ſein wird, darüber kann ich noch nicht entſcheiden, weil das Morgen noch nicht da iſt. “
„ So haben wir alſo für die kommende Nacht ab¬ geſchloſſen, wie ich gleich gedacht habe, “ſagte mein Begleiter, „ ihr werdet wohl bemerkt haben, daß euer Ränzlein und euer Wanderſtock nicht mehr in dem Speiſezimmer waren, als ihr zum Eſſen dahin kamet. “
„ Ich habe es wirklich bemerkt, “antwortete ich.
„ Ich habe beides in euer Zimmer bringen laſſen, “ſagte er, „ weil ich ſchon vermuthete, daß ihr dieſe Nacht in unſerm Hauſe zubringen würdet. “
Nach einer Weile ſagte mein Gaſtfreund: „ Da ihr nun meine Nachtherberge angenommen habt, ſo könn¬ ten wir von dieſem Baume auch ein wenig in das Freie gehen, daß ihr die Gegend beſſer kennen lernet. Wenn das Gewitter zum Ausbruche kommen ſollte, ſo kennen wir wohl beide die Anzeichen genug, daß wir rechtzeitig umkehren, um ungefährdet das Haus zu erreichen. “
„ So kann es geſchehen, “ſagte ich, und wir ſtan¬ den von dem Bänkchen auf.
Einige Schritte hinter dem Kirſchbaume war der Garten durch eine ſtarke Planke von der Umgebung getrennt. Als wir zu dieſer Planke gekommen waren, zog mein Begleiter einen Schlüſſel aus der Taſche,94 öffnete ein Pförtchen, wir traten hinaus, und er ſchloß hinter uns das Pförtchen wieder zu.
Hinter dem Garten fingen Felder an, auf denen die verſchiedenſten Getreide ſtanden. Die Getreide, welche ſonst wohl bei dem geringſten Luftzuge zu wan¬ ken beginnen mochten, ſtanden ganz ſtille und pfeilrecht empor, das feine Haar der Ähren, über welches un¬ ſere Augen ſtreiften, war gleichſam in einem unbe¬ weglichen goldgrünen Schimmer.
Zwiſchen dem Getreide lief ein Fußpfad durch. Derſelbe war breit und ziemlich ausgetreten. Er ging den Hügel entlang, nicht ſteigend und nicht ſinkend, ſo daß er immer auf dem höchſten Theile der Anhöhe blieb. Auf dieſem Pfade gingen wir dahin.
Zu beiden Seiten des Weges ſtand glührother Mohn in dem Getreide, und auch er regte die leichten Blätter nicht.
Es war überall ein Zirpen der Grillen; aber die¬ ſes war gleichſam eine andere Stille, und erhöhte die Erwartung, die aller Orten war. Durch die über den ganzen Himmel liegende Wolkendecke ging zuweilen ein tiefes Donnern, und ein blaſſer Bliz lüftete zeit¬ weilig ihr Dunkel.
Mein Begleiter ging ruhig neben mir, und ſtrich95 manchmal ſachte mit der Hand an den grünen Ähren des Getreides hin. Er hatte ſein Nez von den weißen Haaren abgenommen, hatte es in die Taſche geſteckt, und trug ſein Haupt unbedeckt in der milden Luft.
Unſer Weg führte uns zu einer Stelle, auf wel¬ cher kein Getreide ſtand. Es war ein ziemlich großer Plaz, der nur mit ſehr kurzem Graſe bedeckt war. Auf dieſem Plaze befand ſich wieder eine hölzerne Bank, und eine mittelgroße Eſche.
„ Ich habe dieſen Fleck freigelaſſen, wie ich ihn von meinen Vorfahren überkommen hatte, “ſagte mein Begleiter, „ obwohl er, wenn man ihn urbar machte, und den Baum ausgrübe, in einer Reihe von Jahren eine nicht unbedeutende Menge von Getreide gäbe. Die Arbeiter halten hier ihre Mittagsruhe, und ver¬ zehren hier ihr Mittagsmahl, wenn es ihnen auf das Feld nachgebracht wird. Ich habe die Bank machen laſſen, weil ich auch gerne da ſize, wäre es auch nur, um den Schnittern zuzuſchauen, und die Feierlichkeit der Feldarbeiten zu betrachten. Alte Gewohnheiten haben etwas Beruhigendes, ſei es auch nur das des Beſtehenden und immer Geſehenen. Hier dürfte es aber mehr ſein, weßhalb die Stelle unbebaut blieb, und der Baum auf derſelben ſteht. Der Schatten96 dieſer Eſche iſt wohl ein ſparſamer, aber da er der einzige dieſer Gegend iſt, wird er geſucht, und die Leute, obwohl ſie roh ſind, achten gewiß auch auf die Ausſicht, die man hier genießt. Sezt euch nur zu mir nieder, und betrachtet das Wenige, was uns heute der verſchleierte Himmel gönnt. “
Wir ſezten uns auf die Bank unter der Eſche, ſo daß wir gegen Mittag ſchauten. Ich ſah den Garten wie einen grünen Schooß ſchräg unter mir liegen.
An ſeinem Ende ſah ich die weiße mitternächtliche Mauer des Hauſes, und über der weißen Mauer das freundliche rothe Dach. Von dem Gewächshauſe war nur das Dach und der Schornſtein erſichtlich.
Weiter hin gegen Mittag war das Land und das Gebirge kaum zu erkennen wegen des blauen Wolken¬ ſchattens und des blauen Wolkenduftes. Gegen Mor¬ gen ſtand der weiße Thurm von Rohrberg, und gegen Abend war Getreide an Getreide, zuerſt auf unſerm Hügel, dann jenſeits desſelben auf dem nächſten Hügel, und ſo fort, ſoweit die Hügel ſichtbar waren. Dazwiſchen zeigten ſich weiße Meierhöfe und andere einzelne Häuſer oder Gruppen von Häuſern. Nach der Sitte des Landes gingen Zeilen von Obſtbäumen zwiſchen den Getreidefeldern dahin, und in der Nähe97 von Häuſern oder Dörfern ſtanden dieſe Bäume dich¬ ter, gleichſam wie in Wäldchen beiſammen. Ich fragte meinen Nachbar theils nach den Häuſern theils nach den Beſizern der Felder.
„ Die Felder von dem Kirſchbaume gegen Sonnen¬ untergang hin bis zu der erſten Zeile von Obſtbäu¬ men ſind unſer, “ſagte mein Begleiter. „ Die wir von dem Kirſchbaum bis hieher durchwandert haben, ge¬ hören auch uns. Sie gehen noch bis zu jenen langen Gebäuden, die ihr da unten ſeht, welche unſere Wirth¬ ſchaftsgebäude ſind. Gegen Mitternacht erſtrecken ſie ſich, wenn ihr umſehen wollt, bis zu jenen Wieſen mit den Erlenbüſchen. Die Wieſen gehören auch uns, und machen dort die Grenze unſerer Beſizungen. Im Mittag gehören die Felder uns bis zur Einfriedigung von Weißdorn, wo ihr die Straße verlaſſen habt. Ihr könnt alſo ſehen, daß ein nicht ganz geringer Theil dieſes Hügels von unſerm Eigenthume bedeckt iſt. Wir ſind von dieſem Eigenthume umringt, wie von einem Freunde, der nie wankt und nicht die Treue bricht. “
Mir fiel bei dieſen Worten auf, daß er vom Eigen¬ thume immer die Ausdrücke uns und unſer gebrauchte. Ich dachte, er werde etwa eine Gattin oder auch Kin¬Stifter, Nachſommer. 798der einbeziehen. Mir fiel der Knabe ein, den ich im Heraufgehen geſehen hatte, vielleicht iſt dieſer ein Sohn von ihm.
„ Der Reſt des Hügels iſt an drei Meierhöfe ver¬ theilt, “ſchloß er ſeine Rede, „ welche unſere nächſten Nachbarn ſind. Von den Niederungen an, die um den Hügel liegen, und jenſeits welcher das Land wieder aufſteigt, beginnen unſere entfernteren Nachbarn. “
„ Es iſt ein geſegnetes ein von Gott beglücktes Land, “ſagte ich.
„ Ihr habt recht geſprochen, “erwiederte er, „ Land und Halm iſt eine Wohlthat Gottes. Es iſt unglaublich, und der Menſch bedenkt es kaum, welch ein unerme߬ licher Werth in dieſen Gräſern iſt. Laßt ſie einmal von unſerem Erdtheile verſchwinden, und wir verſchmach¬ ten bei allem unſerem ſonſtigen Reichthume vor Hun¬ ger. Wer weiß, ob die heißen Länder nicht ſo dünn bevölkert ſind, und das Wiſſen und die Kunſt nicht ſo tragen, wie die kälteren, weil ſie kein Getreide haben. Wie viel ſelbſt dieſer kleine Hügel gibt, würdet ihr kaum glauben. Ich habe mir einmal die Mühe ge¬ nommen, die Fläche dieſes Hügel, ſoweit ſie Getreide¬ land iſt, zu meſſen, um auf der Grundlage der Er¬ trägniſſe unſerer Felder und der Erträgnißfähigkeit der99 Felder der Nachbarn, die ich unterſuchte, eine Wahr¬ ſcheinlichkeitsrechnung zu machen, welche Getreide¬ menge im Durchſchnitte jedes Jahr auf dieſem Hügel wächſt. Ihr würdet die Zahlen nicht glauben, und auch ich habe ſie mir vorher nicht ſo groß vorgeſtellt. Wenn es euch genehm iſt, werde ich euch die Arbeit in unſerem Hauſe zeigen. Ich dachte mir damals, das Getreide gehöre auch zu jenen unſcheinbaren nach¬ haltigen Dingen dieſes Lebens wie die Luft. Wir reden von dem Getreide und von der Luft nicht weiter, weil von beiden ſo viel vorhanden iſt, und uns beide überall umgeben. Die ruhige Verbrauchung und Erzeugung zieht eine unermeßliche Kette durch die Menſchheit in den Jahrhunderten und Jahrtauſenden. Überall, wo Völker mit beſtimmten geſchichtlichen Zeichnungen auftreten, und vernünftige Staatseinrich¬ tungen haben, finden wir ſie ſchon zugleich mit dem Getreide, und wo der Hirte in lockreren Geſellſchafts¬ banden aber vereint mit ſeiner Heerde lebt, da ſind es zwar nicht die Getreide, die ihn nähren, aber doch ihre geringeren Verwandten, die Gräſer, die ſein ebenfalls geringeres Daſein erhalten. — Aber ver¬ zeiht, daß ich da ſo von Gräſern und Getreiden rede, es iſt natürlich, da ich da mitten unter ihnen wohne,7 *100und auf ihren Segen erſt in meinem Alter mehr achten lernte. “
„ Ich habe nichts zu verzeihen, “erwiederte ich; „ denn ich theile eure Anſicht über das Getreide voll¬ kommen, wenn ich auch ein Kind der großen Stadt bin. Ich habe dieſe Gewächſe viel beachtet, habe darüber geleſen, freilich mehr von dem Standpunkte der Pflanzenkunde, und habe, ſeit ich einen großen Theil des Jahres in der freien Natur zubringe, ihre Wichtigkeit immer mehr und mehr einſehen gelernt. “
„ Ihr würdet es erſt recht, “ſagte er, „ wenn ihr Beſizthümer hättet, oder auf euren Beſizthümern euch mit der Pflege dieſer Pflanzen beſonders abgäbet. “
„ Meine Eltern ſind in der Stadt, “antwortete ich, „ mein Vater treibt die Kaufmannſchaft, und außer einem Garten beſizt weder er noch ich einen liegenden Grund. “
„ Das iſt von großer Bedeutung, “erwiederte er, „ den Werth dieſer Pflanzen kann keiner vollſtändig er¬ meſſen, als der ſie pflegt. “
Wir ſchwiegen nun eine Weile.
Ich ſah an ſeinen Wirthſchaftsgebäuden Leute be¬ ſchäftigt. Einige gingen an den Thoren ab und zu, in häuslichen Arbeiten begriffen, andere mähten in101 einer nahen Wieſe Gras, und ein Theil war bedacht, das im Laufe des Tages getrocknete Heu in hochbela¬ denen Wägen durch die Thore einzuführen. Ich konnte wegen der großen Entfernung das Einzelne der Arbeiten nicht unterſcheiden, ſo wie ich die eigentliche Bauart und die nähere Einrichtung der Gebäude nicht wahr¬ nehmen konnte.
„ Was ihr von den Häuſern und den Beſizern der Felder geſagt habt, daß ich ſie euch nennen ſoll, “fuhr er nach einer Weile fort, „ ſo hat dies ſeine Schwierig¬ keit, beſonders heute. Man kann zwar von dieſem Plaze aus die größte Zahl der Nachbarn erblicken; aber heute, wo der Himmel umſchleiert iſt, ſehen wir nicht nur das Gebirge nicht, ſondern es entgeht uns auch mancher weiße Punkt des untern Landes, der Wohnungen bezeichnet, von denen ich ſprechen möchte. Anderen Theils ſind euch die Leute unbekannt. Ihr ſolltet eigentlich in der Gegend herumgewandert ſein, in ihr gelebt haben, daß ſie zu eurem Geiſte ſpräche, und ihr die Bewohner verſtündet. Vielleicht kommt ihr wieder, und bleibt länger bei uns, vielleicht ver¬ längert ihr euren jezigen Aufenthalt. Indeſſen will ich euch im Allgemeinen etwas ſagen, und von Beſon¬ derem hinzufügen, was euch anſprechen dürfte. Ich102 beſuche auch meiner Nachbarn willen gerne dieſen Plaz; denn außerdem daß hier auf der Höhe ſelbſt an den ſchönſten Tagen immer ein kühler Luftzug geht, außerdem daß ich hier unter meinen Arbeitern bin, ſehe ich von hier aus alle, die mich umgeben, es fällt mir manches von ihnen ein, und ich ermeſſe, wie ich ihnen nüzen kann, oder wie überhaupt das Allgemeine gefördert werden möge. Sie ſind im Ganzen unge¬ bildete aber nicht ungelehrige Leute, wenn man ſie nach ihrer Art nimmt, und nicht vorſchnell in eine andere zwingen will. Sie ſind dann meiſt auch gut¬ artig. Ich habe von ihnen manches für mein Inneres gewonnen, und ihnen manchen äußeren Vortheil ver¬ ſchafft. Sie ahmen nach, wenn ſie etwas durch längere Erfahrung billigen. Man muß nur nicht ermüden. Oft haben ſie mich zuerſt verlacht, und endlich dann doch nachgeahmt. In Vielem verlachen ſie mich noch, und ich ertrage es. Der Weg da durch meine Felder iſt ein kürzerer, und da geht Mancher vorbei, wenn ich auf der Bank ſize, er bleibt ſtehen, er redet mit mir, ich ertheile ihm Rath, und ich lerne aus ſei¬ nen Worten. Meine Felder ſind bereits ertragfähiger gemacht worden als die ihrigen, das ſehen ſie, und das iſt bei ihnen der haltbarſte Grund zu mancher103 Betrachtung. Nur die Wieſe, welche ſich hinter un¬ ſerem Rücken befindet, tiefer als die Felder liegt, und von einem kleinen Bache bewäſſert wird, habe ich nicht ſo verbeſſern können, wie ich wollte; ſie iſt noch durch die Erlengeſträuche und durch die Erlenſtöcke verun¬ ſtaltet, die ſich am Saume des Bächleins befinden, und ſelbſt hie und da Sumpfſtellen veranlaſſen; aber ich kann die Sache im Weſentlichen nicht abändern, weil ich die Erlengeſträuche und Erlenſtöcke zu anderen Dingen nothwendig brauche. “
Um meine Frage nach dem Einzelnen ſeiner Nach¬ barn zu unterbrechen, die er, wie ich jezt einſah, nicht beantworten konnte, wenigſtens nicht, wie ſie geſtellt war, fragte ich ihn, ob denn zu ſeinem Anweſen nicht auch Waldgrund gehöre.
„ Allerdings, “antwortete er, „ aber derſelbe liegt nicht ſo nahe, als es der Bequemlichkeit wegen wün¬ ſchenswerth wäre; aber er liegt auch entfernt genug, daß die Schönheit und Anmuth dieſes Getreidehügels nicht geſtört wird. Wenn ihr auf dem Wege nach Rohrberg fortgegangen wäret, ſtatt zu unſerem Hauſe herauf zu ſteigen, ſo würdet ihr nach einer halben Stunde Wanderns zu eurer Rechten dicht an der Straße die Ecke eines Buchenwaldes gefunden haben,104 um welche die Straße herum geht. Dieſe Ecke erhebt ſich raſch, erweitert ſich nach rückwärts, wohin man von der Straße nicht ſehen kann, und gehört einem Walde an, der weit in das Land hinein geht. Man kann von hier aus ein großes Stück ſehen. Dort links von dem Felde, auf welchem die junge Gerſte ſteht. “
„ Ich kenne den Wald recht gut, “ſagte ich, „ er ſchlingt ſich um eine Höhe, und berührt die Straße nur mit einem Stücke; aber wenn man ihn betritt, lernt man ſeine Größe kennen. Es iſt der Alizwald. Er hat mächtige Buchen und Ahorne, die ſich unter die Tannen miſchen. Die Aliz geht von ihm in die Agger. An der Aliz ſtehen beiderſeits hohe Felſen mit ſeltenen Kräutern, und von ihnen geht gegen Mittag ein Streifen Landes mit den allerſtärkſten Buchen thalwärts. “
„ Ihr kennt den Wald, “ſagte er.
„ Ja, “erwiederte ich, „ ich bin ſchon in ihm ge¬ weſen. Ich habe dort die größte Doppelbuche gezeich¬ net, die ich je geſehen, ich habe Pflanzen und Steine geſammelt, und die Felſenlagen betrachtet. “
„ Jener Waldſtreifen, der mit den ſtarken Buchen beſtanden iſt, und noch mehreres Land jenes Waldes105 gehört zu dieſem Anweſen, “ſagte mein Beherberger. „ Es iſt weiter von da gegen Mittag auch ein Bergbühel unſer, auf dem ſtellenweiſe die Birke ſehr verkrüppelt vorkommt, welche zum Brennen wenig taugt; aber Holz zu feinen Arbeiten gibt. “
„ Ich kenne den Bühel auch, “ſagte ich, „ dort geht der Granit zu Ende, aus dem der ganze mitternächt¬ liche Theil unſeres Landes beſteht, und es beginnt gegen Mittag zu nach und nach der Kalk, der endlich in den höchſten Gebirgen die Landesgrenze an der Mittagſeite macht. “
„ Ja der Bühel iſt der ſüdlichſte Granitblock, “ſagte mein Begleiter, „ er überſezt ſogar die Wäſſer. Wir können hier troz des Duftes der Wolken hie und da die Grenze ſehen, in der ſich der Granit abſchneidet. “
„ Dort iſt die Klamſpize, “ſagte er, „ die noch Gra¬ nit hat, rechts der Gaisbühl, dann die Aſſer, der Loſen, und zulezt die Grumhaut, die noch zu ſehen iſt. “
Ich ſtimmte in Allem bei.
Der Abend kam indeſſen immer näher und näher, und der Nachmittag war bedeutend vorgerückt.
Das Gewitter an dem Himmel war mir aber endlich beſonders merkwürdig geworden.
106Ich hatte den Ausbruch desſelben, als ich den Hügel zu dem weißen Hauſe empor ſtieg, um eine Unterkunft zu ſuchen, in kurzer Zeit erwartet; und nun waren Stunden vergangen, und es war noch immer nicht ausgebrochen. Über den ganzen Himmel ſtand es unbeweglich. Die Wolkendecke war an man¬ chen Stellen faſt finſter geworden und Blize zuckten aus dieſen Stellen bald höher bald tiefer hervor. Der Donner folgte in ruhigem ſchwerem Rollen auf dieſe Blize; aber in der Wolkendecke zeigte ſich kein Zuſam¬ menſammeln zu einem einzigen Gewitterballen, und es war kein Anſchicken zu einem Regen.
Ich ſagte endlich zu meinem Nachbar, indem ich auf die Männer zeigte, welche weiter unten in der Niederung, in welcher die Wirthſchaftsgebäude lagen, Gras machten: „ Dieſe ſcheinen auch auf kein Gewitter und auf kein gewöhnliches Nachregnen für den morgi¬ gen Tag zu rechnen, weil ſie jezt Gras mähen, das ihnen in der Nacht ein tüchtiger Regen durchnäſſen, oder morgen eine kräftige Sonne zu Heu trocknen kann. “
„ Dieſe wiſſen gar nichts von dem Wetter, “ſagte mein Begleiter, „ und ſie mähen das Gras nur, weil ich es ſo angeordnet habe. “ 107Das waren die einzigen Worte, die er über das Wetter geſprochen hatte. Ich veranlaßte ihn auch nicht zu mehreren.
Wir gingen von dieſem Felderſize, auf dem wir nun ſchon eine Weile geſeſſen waren, nicht mehr wei¬ ter von dem Hauſe weg, ſondern, nachdem wir uns erhoben hatten, ſchlug mein Begleiter wieder den Rückweg ein.
Wir gingen auf demſelben Wege zurück, auf dem wir gekommen waren.
Die Donner erſchallten nun ſogar lauter, und ver¬ kündeten ſich bald an dieſer Stelle des Himmels bald an jener.
Als wir wieder in den Garten eingetreten waren, als mein Begleiter das Pförtchen hinter ſich geſchloſſen hatte, und als wir von dem großen Kirſchbaume bereits abwärts gingen, ſagte er zu mir: „ Erlaubt, daß ich nach dem Knaben rufe, und ihm etwas be¬ fehle. “
Ich ſtimmte ſogleich zu, und er rief gegen eine Stelle des Gebüſches: „ Guſtav! “
Der Knabe, den ich im Heraufgehen geſehen hatte, kam faſt an der nehmlichen Stelle des Gartens zum Vorſcheine, an welcher er früher herausgetreten war. 108Da er jezt länger vor uns ſtehen blieb, konnte ich ihn genauer betrachten. Sein Angeſicht erſchien mir ſehr roſig und ſchön, und beſonders einnehmend zeigten ſich die großen ſchwarzen Augen unter den braunen Locken, die ich ſchon früher beobachtet hatte.
„ Guſtav, “ſagte mein Begleiter, „ wenn du noch an deinem Tiſche oder ſonſt irgendwo in dem Garten blei¬ ben willſt, ſo erinnere dich an das, was ich dir über Gewitter geſagt habe. Da die Wolken über den gan¬ zen Himmel ſtehen, ſo weiß man nicht, wann über¬ haupt ein Bliz auf die Erde niederfährt, und an wel¬ cher Stelle er ſie treffen wird. Darum verweile unter keinem höheren Baume. Sonſt kannſt du hier bleiben, wie du willſt. Dieſer Herr bleibt heute bei uns, und du wirſt zur Abendſpeiſeſtunde in dem Speiſezimmer eintreffen. “
„ Ja, “ſagte der Knabe, verneigte ſich, und ging wieder auf einem Sandwege in die Geſträuche des Gartens zurück.
„ Dieſer Knabe iſt mein Pflegeſohn, “ſagte mein Begleiter, „ er iſt gewohnt, zu dieſer Tageszeit einen Spaziergang mit mir zu machen, darum kam er da wir bei dem Kirſchbaume ſaßen von ſeinem Arbeitstiſche, den er im Garten hat, zu uns empor, um mich zu ſuchen;109 allein da er ſah, daß ein Fremder da ſei, ging er wie¬ der an ſeine Stelle zurück. “
Mir, der ich mich an den einfachen folgerichtigen Ausdruck gewöhnt hatte, fiel es jezt abermals auf, daß mein Begleiter, der, wenn er von ſeinen Fel¬ dern redete, faſt immer den Ausdruck unſer gebraucht hatte, nun, da er von ſeinem Pflegeſohne ſprach, den Ausdruck mein wählte, da er doch, wenn er etwa ſeine Gattin einbezog, jezt auch das Wort unſer gebrau¬ chen ſollte.
Als wir von dem Raſengrunde hinab gekommen waren, und den bepflanzten Garten betreten hatten, gingen wir in ihm auf einem anderen Wege zurück, als auf dem wir herauf gegangen waren.
Auf dieſem Wege ſah ich nun, daß der Beſizer des Gartens auch Weinreben in demſelben zog, ob¬ wohl das Land der Pflege dieſes Gewächſes nicht ganz günſtig iſt. Es waren eigene dunkle Mauern aufge¬ führt, an denen die Reben mittelſt Holzgittern empor geleitet wurden. Durch andere Mauern wurden die Winde abgehalten. Gegen Mittag allein waren die Stellen offen. So ſammelte er die Hize, und gewährte Schuz. Auch Pfirſiche zog er auf dieſelbe Weiſe, und110 aus den Blättern derſelben ſchloß ich auf ſehr edle Gattungen.
Wir gingen hier an großen Linden vorüber, und in ihrer Nähe erblickte ich ein Bienenhaus.
Von dem Gewächshauſe ſah ich auf dem Rück¬ wege wohl die Längenſeite, konnte aber nichts Näheres erkennen, weil mein Begleiter den Weg zu ihm nicht einſchlug. Ich wollte ihn auch nicht eigens darum erſuchen: ich vermuthete, daß er mich zu ſeiner Fa¬ milie führen würde.
Da wir an dem Hauſe angekommen waren, geleitete er mich bei dem gemeinſchaftlichen Eingange desſelben hinein, führte mich über eine gewöhnliche Sandſtein¬ treppe in das erſte Stockwerk, und ging dort mit mir einen Gang entlang, in dem viele Thüren waren. Eine derſelben öffnete er mit einem Schlüſſel, den er ſchon in ſeiner Taſche in Bereitſchaft hatte, und ſagte: „ Das iſt euer Zimmer, ſolange ihr in dieſem Hauſe bleibt. Ihr könnt jezt in dasſelbe eintreten, oder es verlaſſen, wie es euch gefällt. Nur müſſet ihr um acht Uhr wieder da ſein, zu welcher Stunde ihr zum Abendeſſen werdet geholt werden. Ich muß euch nun allein laſſen. In dem Wartezimmer habt ihr heute in Humboldt's Reiſen geleſen, ich habe das Buch in die¬111 ſes Zimmer legen laſſen. Wünſchet ihr für jezt oder für den Abend noch irgend ein Buch, ſo nennt es, daß ich ſehe, ob es in meiner Bücherſammlung enthal¬ ten iſt. “
Ich lehnte das Anerbieten ab, und ſagte, daß ich mit dem Vorhandenen ſchon zufrieden ſei, und wenn ich mich außer Humboldt mit noch andern Buchſtaben beſchäftigen wolle, ſo habe ich in meinem Ränzchen ſchon Vorrath, um theils etwas mit Bleifeder zu ſchreiben, theils früher Geſchriebenes durchzuleſen, und zu verbeſſern, welche Beſchäftigung ich auf meinen Wanderungen häufig Abends vornehme.
Er verabſchiedete ſich nach dieſen Worten, und ich ging zur Thür hinein.
Ich überſah mit einem Blicke das Zimmer. Es war ein gewöhnliches Fremdenzimmer, wie man es in jedem größeren Hauſe auf dem Lande hat, wo man zuweilen in die Lage kömmt, Herberge ertheilen zu müſſen. Die Geräthe waren weder neu noch nach der damals herrſchenden Art gemacht, ſondern aus ver¬ ſchiedenen Zeiten, aber nicht unangenehm ins Auge fallend. Die Überzüge der Seſſel und des Ruhe¬ bettes waren gepreßtes Leder, was man damals ſchon ſelten mehr fand. Eine geſellige Zugabe, die man112 nicht häufig in ſolchen Zimmern findet, war eine alterthümliche Pendeluhr in vollem Gange. Mein Ränzlein und mein Stock lagen, wie der Mann geſagt hatte, ſchon in dieſem Zimmer.
Ich ſezte mich nieder, nahm nach einer Weile mein Ränzlein, öffnete es, und blätterte in den Papieren, die ich daraus hervor genommen hatte, und ſchrieb gelegentlich in denſelben.
Da endlich die Dämmerung gekommen war, ſtand ich auf, ging gegen eines der beiden offenſtehenden Fenſter, lehnte mich hinaus, und ſah herum. Es war wieder Getreide, das ich vor mir auf dem ſachte hinab¬ gehenden Hügel erblickte. Am Morgen dieſes Tages, da ich von meiner Nachtherberge aufgebrochen war, hatte ich auch Getreide rings um mich geſehen; aber daſſelbe war in einem luſtigen Wogen begriffen ge¬ weſen; während dieſes reglos und unbewegt war wie ein Heer von lockeren Lanzen. Vor dem Hauſe war der Sandplaz, den ich bei meiner Ankunft ſchon geſehen und betreten hatte. Meine Fenſter gingen alſo auf der Seite der Roſenwand heraus. Von dem Garten tönte noch ſchwaches Vogelgezwitſcher herüber, und der Duft von den tauſenden der Roſen ſtieg wie eine Opfergabe zu mir empor.
113An dem Himmel, deſſen Dämmerung heute viel früher gekommen war, hatte ſich eine Veränderung eingefunden. Die Wolkendecke war getheilt, die Wolken ſtanden in einzelnen Stücken gleichſam wie Berge an dem Gewölbe herum, und einzelne reine Theile blickten zwiſchen ihnen heraus. Die Blize aber waren ſtärker und häufiger, die Donner klangen heller und kürzer.
Als ich eine Weile bei dem Fenſter hinaus geſehen hatte, hörte ich ein Pochen an meiner Thür, eine Magd trat herein, und meldete, daß man mich zum Abendeſſen erwarte. Ich legte meine Papiere auf das Tiſchchen, das neben meinem Bette ſtand, legte den Humboldt darauf, und folgte der Magd, nachdem ich die Thür hinter mir geſperrt hatte. Sie führte mich in das Speiſezimmer.
Bei dem Eintritte ſah ich drei Perſonen; den alten Mann, der mit mir den Spaziergang gemacht hatte, einen andern ebenfalls ältlichen Mann, der durch nichts beſonders auffiel als durch ſeine Kleidung, welche einen Prieſter verrieth, und den Pflegeſohn des Haus¬ beſitzers in ſeinem blaugeſtreiften Linnengewande.
Der Herr des Hauſes ſtellte mich dem Prieſter vor, indem er ſagte: „ Das iſt der hochwürdige Pfarrer von Rohrberg, der ein Gewitter fürchtet, und deßhalbStifter, Nachſommer. I. 8114dieſe Nacht in unſerm Hauſe zubringen wird, “und dann auf mich weiſend fügte er bei: „ das iſt ein frem¬ der Reiſender, der auch heute unſer Dach mit uns theilen will. “
Nach dieſen Worten und nach einem kurzen ſtum¬ men Gebethe ſezten wir uns zu dem Tiſche an unſere an¬ gewieſenen Pläze. Das Abendeſſen war ſehr einfach. Es beſtand aus Suppe Braten und Wein, zu welchem wie zu dem an meinem Mittagsmahle verkleinertes Eis geſtellt wurde. Dieſelbe Magd, welche mir mein Mittageſſen gebracht hatte, bediente uns. Ein männ¬ licher Diener kam nicht in das Zimmer. Der Pfarrer und mein Gaſtfreund ſprachen öfter Dinge, die die Gegend betrafen, und ich ward gelegentlich einbezogen, wenn es ſich um Allgemeineres handelte. Der Knabe ſprach gar nicht.
Die Dunkelheit des Abends wurde endlich ſo ſtark, daß die Kerzen, welche früher mit der Dämmerung gekämpft hatten, nun vollkommen die Herrſchaft be¬ haupteten, und die ſchwarzen Fenſter nur zeitweiſe durch die hereinleuchtenden Blize erhellt wurden.
Da das Eſſen beendet war, und wir uns zur Trennung anſchickten, ſagte der Hauswirth, daß er den Pfarrer und mich über die nähere Treppe in unſer115 Zimmer führen würde. Wir nahmen jeder eine Wachs¬ kerze, die uns angezündet von der Magd gereicht wurde, während deſſen ſich der Knabe Guſtav empfahl, und durch die gewöhnliche Thür entfernte. Der Haus¬ eigenthümer führte uns bei der Thür hinaus, bei der ich zuerſt herein gekommen war. Wir befanden uns draußen in dem ſchönen Marmorgange, von dem eine gleiche Marmortreppe emporführte. Wir durften die Filzſchuhe nicht anziehen, weil jezt über den Gang und die Treppe ein Tuchſtreifen lag, auf dem wir gingen. In der Mitte der Treppe, wo ſie einen Ab¬ ſaz machte, gleichſam einen erweiterten Plaz oder eine Stiegenhalle, ſtand eine Geſtalt aus weißem Marmor auf einem Geſtelle. Durch ein paar Blize, die eben jezt fielen, und das Haupt und die Schultern der Marmorgeſtalt noch röther beſchienen, als es unſere Kerzen konnten, erſah ich, daß der Plaz und die Treppe von oben herab durch eine Glasbedeckung ihre Beleuchtung empfangen mußten.
Als wir an das Ende der Treppe gelangt waren, wendete ſich der Hauswirth mit uns durch eine Thür links, und wir befanden uns in jenem Gange, in welchem mein Zimmer lag. Es war der Gang der Gaſtzimmer, wie ich nun zu erkennen vermeinte. 8 *116Unſer Gaſtfreund bezeichnete eines als das des Pfar¬ rers, und führte mich zu dem meinigen.
Als wir in dasſelbe getreten waren, fragte er mich, ob ich zu meiner Bequemlichkeit noch etwas wünſche, beſonders ob mir Bücher aus ſeinem Bücherzimmer genehm wären.
Als ich ſagte, daß ich keinen Wunſch habe, und bis zum Schlafen ſchon Beſchäftigung finden würde, antwortete er: „ Ihr ſeid in eurem Gemache und in eurem Rechte. Schlummert denn recht wohl. “
„ Ich wünſche euch auch eine gute Nacht, “erwie¬ derte ich, „ und ſage euch Dank für die Mühe, die ihr heute mit mir gehabt habet. “
„ Es war keine Mühe, “antwortete er, „ denn ſonſt hätte ich ſie mir ja erſparen können, wenn ich euch gar nicht zu Nacht geladen hätte. “
„ So iſt es, “antwortete ich.
„ Erlaubt, “ſagte er, indem er ein kleines Wachſ¬ kerzchen hervorzog, und an meinem Lichte anzündete.
Nachdem er dieſes Geſchäft vollbracht hatte, ver¬ beugte er ſich, was ich erwiederte, und ging auf den Gang hinaus.
Ich ſchloß hinter ihm die Thür, legte meinen Rock ab, und lüftete mein Halstuch, weil, obgleich es ſchon117 ſpät war, die ruhige Nacht noch immer eine große Hize und Schwüle in ſich hegte. Ich ging einige Male in dem Zimmer hin und her, trat dann an ein Fenſter, lehnte mich hinaus, und betrachtete den Himmel. So viel die Dunkelheit und die noch immer hell leuchtenden Blize erkennen ließen, war die Ge¬ ſtalt der Dinge dieſelbe, wie ſie am Abend vor dem Speiſen geweſen war. Wolkentrümmer ſtanden an dem Himmel und, wie die Sterne zeigten, waren zwiſchen ihnen reine Stellen. Zu Zeiten fuhr ein Bliz aus ihnen über den Getreidehügel und die Wipfel der unbewegten Bäume, und der Donner rollte ihm nach.
Als ich eine Weile die freie Luft genoſſen hatte, ſchloß ich mein Fenſter, ſchloß auch das andere, und begab mich zur Ruhe.
Nachdem ich noch eine Zeit lang, wie es meine Gewohnheit war, in dem Bette geleſen, und mitunter ſogar mit Bleifeder etwas in meine Schriften ge¬ ſchrieben hatte, löſchte ich das Licht aus, und richtete mich zum Schlafen.
Ehe der Schlummer völlig meine Sinne umfing, hörte ich noch wie ſich draußen ein Wind erhob, und die Wipfel der Bäume zu ſtarkem Rauſchen bewegte. 118Ich hatte aber nicht mehr genug Kraft, mich zu er¬ mannen, ſondern entſchlief gleich darauf völlig.
Ich ſchlief recht ruhig und feſt.
Als ich erwachte, war mein Erſtes, zu ſehen, ob es geregnet habe. Ich ſprang aus dem Bette, und riß die Fenſter auf. Die Sonne war bereits aufge¬ gangen, der ganze Himmel war heiter, kein Lüftchen rührte ſich, aus dem Garten tönte das Schmettern der Vögel, die Roſen dufteten, und die Erde zu mei¬ nen Füßen war vollkommen trocken. Nur der Sand war ein wenig gegen das Grün des begrenzenden Raſens gefegt worden, und ein Mann war beſchäftigt, ihn wieder zu ebnen, und in ein gehöriges Gleich¬ gewicht zu bringen.
Alſo hatte mein Gegner Recht gehabt, und ich war begierig, zu erfahren, aus welchen Gründen er ſeine Gewißheit, die er ſo ſicher gegen mich behauptet hatte, geſchöpft, und wie er dieſe Gründe entdeckt und erforſcht habe.
Um das recht bald zu erfahren, und meine Abreiſe nicht ſo lange zu verzögern, beſchloß ich, mich anzu¬ kleiden, und meinen Gaſtherrn ungeſäumt aufzu¬ ſuchen.
Als ich mit meinem Anzuge fertig war, und mich119 in das Speiſezimmer hinab begeben hatte, fand ich dort eine Magd mit den Vorbereitungen zu dem Frühmale beſchäftigt, und fragte nach dem Herrn.
„ Er iſt in dem Garten auf der Fütterungstenne, “ſagte ſie.
„ Und wo iſt die Fütterungstenne, wie du es nennſt? “fragte ich.
„ Gleich hinter dem Hauſe und nicht weit von den Glashäuſern, “erwiederte ſie.
Ich ging hinaus, und ſchlug die Richtung gegen das Gewächshaus ein.
Vor demſelben fand ich meinen Gaſtfreund auf einem Sandplaze. Es war derſelbe Plaz, von dem aus ich ſchon geſtern das Gewächshaus mit ſeiner ſchmalen Seite und dem kleinen Schornſteine geſehen hatte. Dieſe Seite war mit Roſen bekleidet, daß das Haus wie ein zweites kleines Roſenhäuschen hervor ſah. Mein Gaſtfreund war in einer ſeltſamen Be¬ ſchäftigung begriffen. Eine Unzahl Vögel befand ſich vor ihm auf dem Sande. Er hatte eine Art von länglichem geflochtenem Korbdeckel in der Hand, und ſtreuete aus demſelben Futter unter die Vögel. Er ſchien ſich daran zu ergözen, wie ſie pickten, ſich über¬ kletterten, überſtürzten und kollerten, wie die geſättig¬120 ten davon flogen, und wieder neue herbei ſchwirrten. Ich erkannte es nun deutlich, daß außer den gewöhn¬ lichen Gartenvögeln auch ſolche da waren, die mir ſonſt nur von tiefen und weit abgelegenen Wäldern bekannt waren. Sie erſchienen gar nicht ſo ſcheu, als ich mit allem Rechte vermuthen mußte. Sie trauten ihm vollkommen. Er ſtand wieder barhäuptig da, ſo daß es mir ſchien, daß er dieſe Sitte liebe, da er auch geſtern auf dem Spaziergange ſeine ſo leichte Kopfbedeckung eingeſteckt hatte. Seine Geſtalt war vorgebeugt, und die ſchlichten aber vollen weißen Haare hingen an ſeinen Schläfen herab. Sein An¬ zug war auch heute wieder ſonderbar. Er hatte wie geſtern eine Art Jacke an, die faſt bis auf die Knie hinab reichte. Sie war weißlich, hatte jedoch über die Bruſt und den Rücken hinab einen röthlichbraunen Streifen, der faſt einen halben Fuß breit war, als wäre die Jacke aus zwei Stoffen verfertigt worden, einem weißen und einem rothen. Beide Stoffe aber zeigten ein hohes Alter; denn das Weiß war gelblich braun, und das Roth zu Purpurbraun geworden. Unter der Jacke ſah eine unſcheinbare Fußbekleidung hervor, die mit Schnallenſchuhen endete.
Ich blieb hinter ſeinem Rücken in ziemlicher Ent¬121 fernung ſtehen, um ihn nicht zu ſtören, und die Vögel nicht zu verſcheuchen.
Als er aber ſeinen Korb geleert hatte, und ſeine Gäſte fortgeflogen waren, trat ich näher. Er hatte ſich eben umgewendet, um zurückzugehen, und da er mich erblickte, ſagte er: „ Seid ihr ſchon ausgegangen? ich hoffe, daß ihr gut geſchlafen habt. “
„ Ja, ich habe ſehr gut geſchlafen, “erwiederte ich, „ ich habe noch den Wind gehört, der ſich geſtern Abends erhoben hat, was weiter geſchehen iſt, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß heute die Erde trocken iſt, und daß ihr Recht gehabt habet. “
„ Ich glaube, daß nicht ein Tropfen auf dieſe Gegend vom Himmel gefallen iſt, “antwortete er.
„ Wie das Ausſehen der Erde zeigt, glaube ich es auch, “erwiederte ich; „ aber nun müßt ihr mir auch wenigſtens zum Theile ſagen: woher ihr dies ſo gewiß wiſſen konntet, und wie ihr euch dieſe Kenntniß er¬ worben habt; denn das müßt ihr zugeſtehen, daß ſehr viele Zeichen gegen euch waren. “
„ Ich will euch etwas ſagen, “antwortete er, „ die Darlegung der Sache, die ihr da verlangt, dürfte etwas lang werden, da ich ſie euch, der ſich mit Wiſſen¬ ſchaften beſchäftigt, doch nicht oberflächlich geben kann;122 verſprecht mir, den heutigen Tag und die Nacht noch bei uns zuzubringen, da kann ich euch nicht nur die¬ ſes ſagen, ſondern noch Vieles Andere, ihr könnt Ver¬ ſchiedenes anſchauen, und ihr könnt mir von eurer Wiſſenſchaft erzählen. “
Dieſes offen und freundlich gemachte Anerbiethen konnte ich nicht ausſchlagen, auch erlaubte mir meine Zeit recht gut, nicht nur einen ſondern mehrere Tage zu einer Nebenbeſchäftigung zu verwenden. Ich ge¬ brauchte daher die gewöhnliche Redeweiſe von Nicht¬ läſtigfallenwollen, und ſagte unter dieſer Bedin¬ gung zu.
„ Nun ſo geht mit mir zuerſt zu einem Frühmale, das ich mit euch theilen will, “ſagte er, „ der Herr Pfarrer von Rohrberg hat uns ſchon vor Tagesan¬ bruch verlaſſen, um zu rechter Zeit in ſeiner Kirche zu ſein, und Guſtav iſt bereits zu ſeiner Arbeit ge¬ gangen. “
Mit dieſen Worten wendeten wir uns auf den Rückweg zu dem Hauſe. Als wir dort angekommen waren, gab er das, was ich Anfangs für einen Korb¬ deckel gehalten hatte, was aber ein eigens geflochte¬ nes ſehr flaches und längliches Fütterungskörbchen123 war, einer Magd, daß ſie es auf ſeinen Plaz lege, und wir gingen in das Speiſezimmer.
Während des Frühmales ſagte ich: „ Ihr habt ſelbſt davon geſprochen, daß ich hier Verſchiedenes anſchauen könne, wäre es denn zu unbeſcheiden, wenn ich bäte, von dem Hauſe und deſſen Umgebung Man¬ ches näher beſehen zu dürfen. Es iſt eine der lieblich¬ ſten Lagen, in der dieſes Anweſen liegt, und ich habe bereits ſo Vieles davon geſehen, was meine Aufmerk¬ ſamkeit aufregte, daß der Wunſch natürlich iſt, noch Mehreres beſehen zu dürfen. “
„ Wenn es euch Vergnügen macht, unſer Haus und einiges Zubehör zu beſehen, “antwortete er, „ ſo kann das gleich nach dem Frühmale geſchehen, es wird nicht viele Zeit in Anſpruch nehmen, da das Gebäude nicht ſo groß iſt. Es wird ſich dann auch das, was wir noch zu reden haben, natürlicher und verſtändlicher ergeben. “
„ Ja freilich, “ſagte ich, „ macht es mir Vergnü¬ gen. “
Wir ſchritten alſo nach dem Frühmale zu dieſem Geſchäfte.
Er führte mich über die Treppe, auf welcher die weiße Marmorgeſtalt ſtand, hinauf. Heute fiel ſtatt124 des rothen zerſtreuten Lichtes der Kerzen und der Blize von der vergangenen Nacht das ſtille weiße Tageslicht auf ſie herab, und machte die Schultern und das Haupt in ſanftem Glanze ſich erhellen. Nicht nur die Treppe war in dieſem Stiegenhauſe von Marmor, ſondern auch die Bekleidung der Seitenwände. Oben ſchloß gewölbtes Glas, das mit feinem Drahte überſpannt war, die Räume. Als wir die Treppe erſtiegen hat¬ ten, öffnete mein Gaſtfreund eine Thür, die der ge¬ genüber war, die zu dem Gange der Gaſtzimmer führte. Die Thür ging in einen großen Saal. Auf der Schwelle, an der der Tuchſtreifen, welcher über die Treppe empor lag, endete, ſtanden wieder Filz¬ ſchuhe. Da wir jeder ein Paar derſelben angezogen hatten, gingen wir in den Saal. Er war eine Samm¬ lung von Marmor. Der Fußboden war aus dem farbigſten Marmor zuſammengeſtellt, der in unſeren Gebirgen zu finden iſt. Die Tafeln griffen ſo inein¬ ander, daß eine Fuge kaum zu erblicken war, der Mar¬ mor war ſehr fein geſchliffen und geglättet, und die Farben waren ſo zuſammengeſtellt, daß der Fußboden wie ein liebliches Bild zu betrachten war. Überdies glänzte und ſchimmerte er noch in dem Lichte, das bei den Fenſtern hereinſtrömte. Die Seitenwände waren125 von einfachen ſanften Farben. Ihr Sockel war matt¬ grün, die Haupttafeln hatten den lichteſten faſt weißen Marmor, den unſere Gebirge liefern, die Flachſäulen waren ſchwach roth, und die Simſe, womit die Wände an die Decke ſtießen, waren wieder aus ſchwach Grünlich und Weiß zuſammengeſtellt, durch welche ein Gelb wie ſchöne Goldleiſten lief. Die Decke war blaßgrau, und nicht von Marmor, nur in der Mitte derſelben zeigte ſich eine Zuſammenſtellung von rothen Amoniten, und aus derſelben ging die Metallſtange nieder, welche in vier Armen die vier dunkeln faſt ſchwarzen Marmorlampen trug, die beſtimmt waren, in der Nacht dieſen Raum beleuchten zu können. In dem Saale war kein Bild kein Stuhl kein Geräthe, nur in den drei Wänden war jedesmal eine Thür aus ſchönem dunklem Holze eingelegt, und in der vierten Wand befanden ſich die drei Fenſter, durch welche der Saal bei Tag beleuchtet wurde. Zwei davon ſtanden offen, und zu dem Glanze des Marmors war der Saal auch mit Roſenduft erfüllt.
Ich drückte mein Wohlgefallen über die Einrich¬ tung eines ſolchen Zimmers aus, den alten Mann, der mich begleitete, ſchien dieſes Vergnügen zu er¬ freuen, er ſprach aber nicht weiter darüber.
126Aus dieſem Saale führte er mich durch eine der Thüren in eine Stube, deren Fenſter in den Garten gingen.
„ Das iſt gewiſſermaßen mein Arbeitszimmer, “ſagte er, „ es hat außer am frühen Morgen nicht viel Sonne, iſt daher im Sommer angenehm, ich leſe gerne hier, oder ſchreibe, oder beſchäftige mich ſonſt mit Dingen, die mir Antheil einflößen. “
Ich dachte mit Lebhaftigkeit, ich könnte ſagen, mit einer Art Sehnſucht auf meinen Vater, da ich dieſe Stube betreten hatte. In ihr war nichts mehr von Marmor, ſie war wie unſere gewöhnlichen Stuben; aber ſie war mit alterthümlichen Geräthen eingerich¬ tet, wie ſie mein Vater hatte, und liebte. Allein die Geräthe erſchienen mir ſo ſchön, daß ich glaubte, nie etwas ihnen Ähnliches geſehen zu haben. Ich unter¬ richtete meinen Gaſtfreund von der Eigenſchaft meines Vaters, und erzählte ihm in Kurzem von den Din¬ gen, welche derſelbe beſaß. Auch bat ich, die Sachen näher betrachten zu dürfen, um meinem Vater nach meiner Zurückkunft von ihnen erzählen, und ſie ihm wenn auch nur nothdürftig beſchreiben zu können. Mein Begleiter willigte ſehr gerne in mein Begehren. Es war vor allem ein Schreibſchrein, welcher meine127 Aufmerkſamkeit erregte, weil er nicht nur das größte ſondern wahrſcheinlich auch das ſchönſte Stück des Zimmers war. Vier Delphine, welche ſich mit dem Untertheil ihrer Häupter auf die Erde ſtüzten, und die Leiber in gewundener Stellung emporſtreckten, trugen den Körper des Schreines auf dieſen gewun¬ denen Leibern. Ich glaubte Anfangs, die Delphine ſeien aus Metall gearbeitet, mein Begleiter ſagte mir aber, daß ſie aus Lindenholz geſchnitten, und nach mittelalterlicher Art zu dem gelblich grünlichen Me¬ talle hergerichtet waren, deſſen Verfertigung man jezt nicht mehr zuwege bringt. Der Körper des Schreines hatte eine allſeitig gerundete Arbeit mit ſechs Fächern. Über ihm befand ſich das Mittelſtück, das in einer guten Schwingung flach zurückging, und die Klappe enthielt, die geöffnet zum Schreiben diente. Von dem Mittelſtücke erhob ſich der Aufſaz mit zwölf geſchwun¬ genen Fächern und einer Mittelthür. An den Kanten des Aufſazes und zu beiden Seiten der Mittelthür befanden ſich als Säulen vergoldete Geſtalten. Die beiden größten zu den Seiten der Thür waren ſtarke Männer, die die Hauptſimſe trugen. Ein Schildchen, das ſich auf ihrer Bruſt öffnete, legte die Schlüſſel¬ öffnungen dar. Die zwei Geſtalten an den vorderen128 Seitenkanten waren Meerfräulein, die in Überein¬ ſtimmung mit den Tragfiſchen jedes in zwei Fiſchen¬ den ausliefen. Die zwei lezten Geſtalten an den hin¬ tern Seitenkanten waren Mädchen in faltigen Ge¬ wändern. Alle Leiber der Fiſche ſowohl als der Säu¬ len erſchienen mir ſehr natürlich gemacht. Die Fächer hatten vergoldete Knöpfe, an denen ſie herausgezogen werden konnten. Auf der achteckigen Fläche dieſer Knöpfe waren Bruſtbilder geharniſchter Männer oder gepuzter Frauenzimmer eingegraben. Die Holzbele¬ gung auf dem ganzen Schrein war durchaus einge¬ legte Arbeit. Ahornlaubwerk in dunkeln Nußholzfel¬ dern umgeben von geſchlungenen Bändern und ge¬ flammtem Erlenholze. Die Bänder waren wie geknit¬ terte Seide, was daher kam, daß ſie aus kleinem fein¬ geſtreiftem vielfarbigem Roſenholze ſenkrecht auf die Axe eingelegt waren. Die eingelegte Arbeit befand ſich nicht blos, wie es häufig bei derlei Geräthen der Fall iſt, auf der ſondern auch auf den Sei¬ tentheilen und den Frieſen der Säulen.
Mein Begleiter ſtand neben mir, als ich dieſem Geräthe meine Aufmerkſamkeit widmete, und zeigte mir Manches, und erklärte mir auf meine Bitte Dinge, die ich nicht verſtand.
129Auch eine andere Beobachtung machte ich, da ich mich in dieſem Zimmer befand, die meine Geiſtes¬ thätigkeit in Anſpruch nahm. Es kam mir nehmlich vor, daß der Anzug meines Begleiters nicht mehr ſo ſeltſam ſei, als er mir geſtern und als er mir heute erſchienen war, da ich ihn auf dem Fütterungsplaze geſehen hatte. Bei dieſen Geräthen erſchien er mir eher als zuſtimmend und hieher gehörig, und ich be¬ gann die Vermuthung zu hegen, daß ich vielleicht noch dieſen Anzug billigen werde, und daß der alte Mann in dieſer Hinſicht verſtändiger ſein dürfte als ich.
Außer dem Schreibſchreine erregten noch zwei Tiſche meine Aufmerkſamkeit, die an Größe gleich waren, und auch ſonſt gleiche Geſtalt hatten, ſich aber nur darin unterſchieden, daß jeder auf ſeiner Platte eine andere Geſtaltung trug. Sie hatten nehmlich jeder ein Schild auf der Platte, wie es Ritter und adeliche Geſchlechter führten, nur waren die Schilde nicht gleich. Aber auf beiden Tiſchen waren ſie um¬ geben und verſchlungen mit Laubwerk Blumen - und Pflanzenwelt, und nie habe ich die feinen Fäden der Halme der Pflanzenbärte und der Getreideähren zar¬ ter geſehen als hier, und doch waren ſie von Holz inStifter, Nachſommer. I. 9130Holz eingelegt. Die übrige Geräthſchaft waren hoch¬ lehnige Seſſel mit Schnizwerk Flechtwerk und ein¬ gelegter Arbeit, zwei geſchnizte Sizbänke, die man im Mittelalter Geſiedel geheißen hatte, geſchnizte Fahnen mit Bildern und endlich zwei Schirme von geſpann¬ tem und gepreßtem Leder, auf welchem Blumen Früchte Thiere Knaben und Engel aus gemaltem Silber angebracht waren, das wie farbiges Gold ausſah. Der Fußboden des Zimmers war gleich den Geräthen aus Flächen alter eingelegter Arbeit zuſam¬ mengeſtellt. Wir hatten wahrſcheinlich wegen der Schönheit dieſes Bodens bei dem Eintritte in dieſe Stube die Filzſchuhe an unſern Füßen behalten.
Obwohl der alte Mann geſagt hatte, daß dieſes Zimmer ſein Arbeitszimmer ſei, ſo waren doch keine unmittelbaren Spuren von Arbeit ſichtbar. Alles ſchien in den Laden verſchloſſen oder auf ſeinen Plaz geſtellt zu ſein.
Auch hier war mein Begleiter, als ich meine Freude über dieſes Zimmer ausſprach, nicht ſehr wortreich, genau ſo, wie in dem Marmorſaale; aber gleichwohl glaubte ich das Vergnügen ihm von ſei¬ nem Angeſichte herableſen zu können.
Das nächſte Zimmer war wieder ein alterthüm¬131 liches. Es ging gleichfalls auf den Garten. Sein Fußboden war wie in dem vorigen eingelegte Arbeit, aber auf ihm ſtanden drei Kleiderſchreine und das Zimmer war ein Kleiderzimmer. Die Schreine waren groß alterthümlich eingelegt und jeder hatte zwei Flü¬ gelthüren. Sie erſchienen mir zwar minder ſchön als das Schreibgerüſte im vorigen Zimmer, aber doch auch von großer Schönheit, beſonders der mittlere größte, der eine vergoldete Bekrönung trug, und auf ſeinen Hohlthüren ein ſehr ſchönes Schild - Laub - und Bänderwerk zeigte. Außer den Schreinen waren nur noch Stühle da und ein Geſtelle, welches dazu beſtimmt ſchien, gelegentlich Kleider darauf zu hän¬ gen. Die inneren Seiten der Zimmerthüren waren ebenfalls zu den Geräthen ſtimmend, und beſtanden aus Simswerk und eingelegter Arbeit.
Als wir dieſes Zimmer verließen, legten wir die Filzſchuhe ab.
Das nächſte Zimmer gleichfalls auf den Garten gehend war das Schlafgemach. Es enthielt Geräthe neuer Art aber doch nicht ganz in der Geſtaltung, wie ich ſie in der Stadt zu ſehen gewohnt war. Man ſchien hier vor Allem aus Zweckmäßigkeit geſehen zu haben. Das Bett ſtand mitten im Zimmer, und war9 *132mit dichten Vorhängen umgeben. Es war ſehr nieder, und hatte mir ein Tiſchchen neben ſich, auf dem Bücher lagen, ein Leuchter und eine Glocke ſtanden, und ſich Geräthe befanden, Licht zu machen. Sonſt waren die Geräthe eines Schlafzimmers da, beſon¬ ders ſolche, die zum Aus - und Ankleiden und zum Waſchen behilflich waren. Die Innenſeiten der Thü¬ ren waren hier wieder zu den Geräthen ſtimmend.
An das Schlafgemach ſtieß ein Zimmer mit wiſ¬ ſenſchaftlichen Vorrichtungen namentlich zu Natur¬ wiſſenſchaften. Ich ſah Werkzeuge der Naturlehre aus der neueſten Zeit, deren Verfertiger ich entweder perſönlich aus der Stadt kannte, oder deren Namen, wenn die Geräthe aus andern Ländern ſtammten, mir dennoch bekannt waren. Es befanden ſich Werkzeuge zu den vorzüglichſten Theilen der Naturlehre hier. Auch waren Sammlungen von Naturkörpern vorhan¬ den vorzüglich aus dem Mineralreiche. Zwiſchen den Geräthen und an den Wänden war Raum, mit den vorhandenen Vorrichtungen Verſuche anſtellen zu können. Das Zimmer war gleichfalls noch immer ein Gartenzimmer.
Endlich gelangten wir in das Eckzimmer des Hauſes, deſſen Fenſter theils auf den Hauptkörper133 des Gartens gingen theils nach Nordweſten ſahen. Ich konnte aber die Beſtimmung dieſes Zimmers nicht errathen, ſo ſeltſam kam es mir vor. An den Wän¬ den ſtanden Schreine aus geglättetem Eichenholze mit ſehr vielen kleinen Fächern. An dieſen Fächern waren Aufſchriften, wie man ſie in Spezereiverkaufsbuden oder Apotheken findet. Einige dieſer Aufſchriften ver¬ ſtand ich, ſie waren Namen von Sämereien oder Pflanzennamen. Die meiſten aber verſtand ich nicht. Sonſt war weder ein Stuhl noch ein anderes Ge¬ räthe in dem Zimmer. Vor den Fenſtern waren wag¬ rechte Brettchen befeſtigt, wie man ſie hat, um Blu¬ mentöpfe darauf zu ſtellen; aber ich ſah keine Blumen¬ töpfe auf ihnen, und bei näherer Betrachtung zeigte ſich auch, daß ſie zu ſchwach ſeien, um Blumentöpfe tragen zu können. Auch wären gewiß ſolche auf ihnen geſtanden, wenn ſie dazu beſtimmt geweſen wären, da ich in allen Zimmern mit Ausnahme des Mar¬ morſaales an jedem nur einiger Maßen geeigneten Plaze Blumen aufgeſtellt geſehen hatte.
Ich fragte meinen Begleiter nicht um den Zweck des Zimmers, und er äußerte ſich auch nicht dar¬ über.
Wir gelangten nun wieder in die Gemächer, die134 an der Mittagſeite des Hauſes lagen, und über den Sandplaz auf die Felder hinaus ſahen.
Das erſte nach dem Eckzimmer war ein Bücher¬ zimmer. Es war groß und geräumig, und ſtand voll von Büchern. Die Schreine derſelben waren nicht ſo hoch, wie man ſie gewöhnlich in Bücherzimmern ſieht, ſondern nur ſo, daß man noch mit Leichtigkeit um die höchſten Bücher langen konnte. Sie waren auch ſo flach, daß nur eine Reihe Bücher ſtehen konnte, keine die andere deckte, und alle vorhandenen Bücher ihre Rücken zeigten. Von Geräthen befand ſich in dem Zimmer gar nichts als in der Mitte desſelben ein langer Tiſch, um Bücher darauf legen zu können. In ſeiner Lade waren die Verzeichniſſe der Samm¬ lung. Wir gingen bei dieſer allgemeinen Beſchauung des Hauſes nicht näher auf den Inhalt der vorhande¬ nen Bücher ein.
Neben dem Bücherzimmer war ein Leſegemach. Es war klein und hatte nur ein Fenſter, das zum Un¬ terſchiede aller anderen Fenſter des Hauſes mit grün¬ ſeidenen Vorhängen verſehen war, während die an¬ deren grauſeidne Rollzüge beſaßen. An den Wänden ſtanden mehrere Arten von Sizen Tiſchen und Pul¬ ten, ſo daß für die größte Bequemlichkeit der Leſer ge¬135 ſorgt war. In der Mitte ſtand wie im Bücherzimmer ein großer Tiſch oder Schrein — denn er hatte meh¬ rere Laden — der dazu diente, daß man Tafeln Map¬ pen Landkarten und dergleichen auf ihm ausbreiten konnte. In den Laden lagen Kupferſtiche. Was mir in dieſem Zimmer auffiel, war, daß man nirgends Bücher oder etwas, das an den Zweck des Leſens er¬ innerte, herumliegen ſah.
Nach dem Leſegemache kam wieder ein größeres Zimmer, deſſen Wände mit Bildern bedeckt waren. Die Bilder hatten lauter Goldrahmen, waren aus¬ ſchließlich Öhlgemälde, und reichten nicht höher, als daß man ſie noch mit Bequemlichkeit betrachten konnte. Sonſt hingen ſie aber ſo dicht, daß man zwiſchen ih¬ nen kein Stückchen Wand zu erblicken vermochte. Von Geräthen waren nur mehrere Stühle und eine Staf¬ felei da, um Bilder nach Gelegenheit aufſtellen, und beſſer betrachten zu können. Dieſe Einrichtung erin¬ nerte mich an das Bilderzimmer meines Vaters.
Das Bilderzimmer führte durch die dritte Thür des Marmorſaales wieder in denſelben zurück, und ſo hatten wir die Runde in dieſen Gemächern voll¬ endet.
„ Das iſt nun meine Wohnung, “ſagte mein Be¬136 gleiter, „ ſie iſt nicht groß und von außerordentlicher Bedeutung, aber ſie iſt ſehr angenehm. In dem ande¬ ren Flügel des Hauſes ſind die Gaſtzimmer, welche beinahe alle dem gleichen, in welchem ihr heute Nacht geſchlafen habt. Auch iſt Guſtavs Wohnung dort, die wir aber nicht beſuchen können, weil wir ihn ſonſt in ſeinem Lernen ſtören würden. Durch den Saal und über die Treppe können wir nun wieder in das Freie gelangen. “
Als wir den Saal durchſchritten hatten, als wir über die Treppe hinabgegangen, und zu dem Aus¬ gange des Hauſes gekommen waren, legten wir die Filzſchuhe ab, und mein Begleiter ſagte: „ Ihr werdet euch wundern, daß in meinem Hauſe Theile ſind, in welchen man ſich die Unbequemlichkeit auflegen muß, ſolche Schuhe anzuziehen; aber es kann mit Fug nicht anders ſein, denn die Fußböden ſind zu empfindlich, als daß man mit gewöhnlichen Schuhen auf ihnen gehen könnte, und die Abtheilungen, welche ſolche Fußböden haben, ſind ja auch eigentlich nicht zum Bewohnen ſondern nur zum Beſehen beſtimmt, und endlich gewinnt ſogar das Beſehen an Werth, wenn man es mit Beſchwerlichkeiten erkaufen muß. Ich habe in dieſen Zimmern gewöhnlich weiche Schuhe137 mit Wollſohlen an. In mein Arbeitszimmer kann ich auch ohne allen Umweg gelangen, da ich in dasſelbe nicht durch den Saal gehen muß, wie wir jetzt gethan haben, ſondern da von dem Erdgeſchoſſe ein Gang in das Zimmer hinaufführt, den ihr nicht geſehen haben werdet, weil ſeine beiden Enden mit guten Tapetten¬ thüren geſchloſſen ſind. Der Pfarrer von Rohrberg leidet an der Gicht, und verträgt heiße Füſſe nicht, daher belege ich für ihn, wenn er anweſend iſt, die Treppe oder die Zimmer mit einem Streifen von Wollſtoff, wie ihr es geſtern geſehen habt. “
Ich antwortete, daß die Vorrichtung ſehr zweck¬ mäßig ſei, und daß ſie überall angewendet werden muß, wo kunſtreiche oder ſonſt werthvolle Fußböden zu ſchonen ſind.
Da wir nun im Garten waren, ſagte ich, indem ich mich umwendete, und das Haus betrachtete: „ Eure Wohnung iſt nicht, wie ihr ſagt, von geringer Bedeutung. Sie wird, ſo viel ich aus der kurzen Be¬ ſichtigung entnehmen konnte, wenige ihres Gleichen haben. Auch hatte ich nicht gedacht, daß das Haus, wenn ich es ſo von der Straße aus ſah, eine ſo große Räumlichkeit in ſich hätte. “
„ So muß ich euch nun auch noch etwas anderes138 zeigen, “erwiederte er, „ folgt mir ein wenig durch jenes Gebüſch. “
Er ging nach dieſen Worten voran, ich folgte ihm. Er ſchlug einen Weg gegen dichtes Gebüſch ein. Als wir dort angekommen waren, ging er auf einem ſchma¬ len Pfade durch deſſen Verſchlingung fort. Endlich kamen ſogar hohe Bäume, unter denen der Weg da¬ hin lief. Nach einer Weile that ſich ein anmuthiger Raſenplaz vor uns auf, der wieder ein langes aus einem Erdgeſchoſſe beſtehendes Gebäude trug. Es hatte viele Fenſter, die gegen uns herſahen. Ich hatte es früher weder von der Straße aus erblickt, noch von den Stellen des Gartens, auf denen ich geweſen war. Vermuthlich waren die Bäume daran Schuld, die es umſtanden. Da wir uns näherten, ging ein feiner Rauch aus ſeinem Schornſteine empor, obwohl, da es Sommer war, keine Einheizzeit, und da es noch ſo früh am Vormittage war, keine Kochzeit die Ur¬ ſache davon ſein konnte. Als wir näher kamen, hörte ich in dem Hauſe ein Schnarren und Schleifen, als ob in ihm geſägt und gehobelt würde. Da wir einge¬ treten waren, ſah ich in der That eine Schreinerwerk¬ ſtätte vor mir, in welcher thätig gearbeitet wurde. An den Fenſtern, durch welche reichliches Licht her¬139 einfiel, ſtanden die Schreinertiſche, und an den übri¬ gen Wänden, welche fenſterlos waren, lehnten Theile der in Arbeit begriffenen Gegenſtände. Hier fand ich wieder eine Ähnlichkeit mit meinem Vater. So wie er ſich einen jungen Mann abgerichtet hatte, der ihm ſeine alterthümlichen Geräthe nach ſeiner Angabe wieder herſtellte, ſo ſah ich hier gleich eine ganze Werkſtätte dieſer Art; denn ich erkannte aus den Thei¬ len, die herumſtanden, daß hier vorzüglich an der Wiederherſtellung alterthümlicher Geräthſchaften ge¬ arbeitet werde. Ob auch Neues in dem Hauſe verfer¬ tigt werde, konnte ich bei dem erſten Anblicke nicht er¬ kennen.
Von den Arbeitern hatte jeder einen Raum an den Fenſtern für ſich, der von dem Raume ſeines Nachbars durch gezogene Schranken abgeſondert war. Er hatte ſeine Geräthe und ſeine eben nothwendigen Arbeitsſtücke in dieſem Raume bei ſich, das Andere, was er gerade nicht brauchte, hatte er an der Hinter¬ wand des Hauſes hinter ſich, ſo daß eine überſichtliche Ordnung und Einheit beſtand. Es waren vier Arbei¬ ter. In einem großen Schreine, der einen Theil der einen Seitenwand einnahm, befanden ſich vorräthige Werkzeuge, welche für den Fall dienten, daß irgend140 eines unverſehens untauglich würde, und zu ſeiner Herſtellung zu viele Zeit in Anſpruch nähme. In ei¬ nem andern Schreine an der entgegengeſezten Sei¬ tenwand waren Fläſchchen und Büchschen, in denen ſich die Flüſſigkeiten und andere Gegenſtände befan¬ den, die zur Erzeugung von Firniſſen Polituren oder dazu dienten, dem Holze eine beſtimmte Farbe oder das Anſehen von Alter zu geben. Abgeſondert von der Werkſtube war ein Herd, auf welchem das zu Schreinerarbeiten unentbehrliche Feuer brannte. Seine Stätte war feuerfeſt, um die Werkſtube und ihren In¬ halt nicht zu gefährden.
„ Hier werden Dinge, “ſagte mein Begleiter, „ welche lange vor uns ja oft mehrere Jahrhunderte vor unſerer Zeit verfertigt worden, und in Verfall ge¬ rathen ſind, wieder hergeſtellt, wenigſtens ſo weit es die Zeit und die Umſtände nur immer erlauben. Es wohnt in den alten Geräthen beinahe wie in den alten Bildern ein Reiz des Vergangenen und Abgeblühten, der bei dem Menſchen, wenn er in die höheren Jahre kömmt, immer ſtärker wird. Darum ſucht er das zu erhalten, was der Vergangenheit angehört, wie er ja auch eine Vergangenheit hat, die nicht mehr recht zu der friſchen Gegenwart der rings um ihn Aufwach¬141 ſenden paßt. Darum haben wir hier eine Anſtalt für Geräthe des Alterthums gegründet, die wir dem Un¬ tergange entreißen zuſammenſtellen reinigen glätten und wieder in die Wohnlichkeit einzuführen ſuchen. “
Es wurde, da ich mich in dem Schreinerhauſe be¬ fand, eben an der Platte eines Tiſches gearbeitet, die, wie mein Begleiter ſagte, aus dem ſechzehnten Jahr¬ hunderte ſtammte. Sie war in Hölzern von verſchie¬ dener aber natürlicher Farbe eingelegt. Blos wo grü¬ nes Laub vorkam, war es von grüngebeiztem Holze. Von außen war eine Verbrämung von in einander ge¬ ſchlungenen und ſchneckenartig gewundenen Rollen Laubzweigen und Obſt. Die innere Fläche, welche von der Verbrämung durch ein Bänderwerk von ro¬ them Roſenholze abgeſchnitten war, trug auf einem Grunde von braunlich weißem Ahorne eine Samm¬ lung von Muſikgeräthen. Sie waren freilich nicht in dem Verhältniſſe ihrer Größen eingelegt. Die Geige war viel kleiner als die Mandoline, die Trommel und der Dudelſack waren gleich groß, und unter beiden zog ſich die Flöte wie ein Weberbaum dahin. Aber im Einzelnen erſchienen mir die Sachen als ſehr ſchön, und die Mandoline war ſo rein und lieblich, wie ich ſolche Dinge nicht ſchöner auf den alten Gemälden142 meines Vaters geſehen hatte. Einer der Arbeiter ſchnitt Stücke aus Ahorn Bux Sandelholz Ebenholz tür¬ kiſch Haſel und Roſenholz zurecht, damit ſie in ihrer kleineren Geſtalt gehörig austrocknen konnten. Ein anderer löſte ſchadhafte Theile aus der Platte, und ebnete die Grundſtellen, um die neuen Beſtandtheile zweckmäßig einſezen zu können. Der dritte ſchnitt und hobelte die Füſſe aus einem Ahornbalken, und der vierte war beſchäftigt, nach einer in Farben ausge¬ führten Abbildung der Tiſchplatte, die er vor ſich hatte, und aus einer Menge von Hölzern, die neben ihm lagen, diejenigen zu beſtimmen, die den auf der Zeichnung befindlichen Farben am meiſten entſprächen. Mein Begleiter ſagte mir, daß das Gerüſte und die Füſſe des Tiſches verloren gegangen ſeien, und neu gemacht werden müßten.
Ich fragte, wie man das einrichte, daß das Neue zu dem Vorhandenen paſſe.
Er antwortete: „ Wir haben eine Zeichnung ge¬ macht, die ungefähr darſtellte, wie die Füſſe und das Gerüſte ausgeſehen haben mögen. “
Auf meine neue Frage, wie man denn das wiſſen könne, antwortete er: „ Dieſe Dinge haben ſo gut wie bedeutendere Gegenſtände ihre Geſchichte, und aus143 dieſer Geſchichte kann man das Ausſehen und den Bau derſelben zuſammen ſezen. Im Verlaufe der Jahre haben ſich die Geſtaltungen der Geräthe immer neu abgelöſet, und wenn man auf dieſe Abfolge ſein Augenmerk richtet, ſo kann man aus einem vorhan¬ denen Ganzen auf verloren gegangene Theile ſchlie¬ ßen, und aus aufgefundenen Theilen auf das Ganze gelangen. Wir haben mehrere Zeichnungen entwor¬ fen, in deren jede immer die Tiſchplatte einbezogen war, und haben uns auf dieſe Weiſe immer mehr der muthmaßlichen Beſchaffenheit der Sache genähert. Endlich ſind wir bei einer Zeichnung geblieben, die uns nicht zu widerſprechend ſchien. “
Auf meine Frage, ob er denn immer Arbeit für ſeine Anſtalt habe, antwortete er: „ Sie iſt nicht gleich ſo entſtanden, wie ihr ſie hier ſehet. Anfangs zeigte ſich die Luſt an alten und vorelterlichen Dingen, und wie die Luſt wuchs, ſammelten ſich nach und nach ſchon die Gegenſtände an, die ihrer Wiederherſtellung entgegen ſahen. Zuerſt wurde die Ausbeſſerung bald auf dieſem bald auf jenem Wege verſucht, und einge¬ leitet. Viele Irrwege ſind betreten worden. Indeſſen wuchs die Zahl der geſammelten Gegenſtände immer mehr, und deutete ſchon auf die künftige Anſtalt hin. 144Als man in Erfahrung brachte, daß ich alterthüm¬ liche Gegenſtände kaufe, brachte man mir ſolche, oder zeigte mir die Orte an, wo ſie zu finden wären. Auch vereinigten ſich mit uns hie und da Männer, welche auf die Dinge des Alterthums ihr Augenmerk richte¬ ten, uns darüber ſchrieben, und wohl auch Zeichnun¬ gen einſandten. So erweiterte ſich unſer Kreis immer mehr. Ungehörige Ausbeſſerungen aus früheren Zei¬ ten gaben ebenfalls Stoff zu erneuerter Arbeit, und da wir Anfangs auch an verſchiedenen Orten arbeiten ließen, und häufig genöthigt waren, die Orte zu wechſeln, ehe wir uns hier niederließen, ſo verſchleppte ſich manche Zeit, und die Arbeitsgegenſtände mehr¬ ten ſich. Endlich geriethen wir auch auf den Gedan¬ ken, neue Gegenſtände zu verfertigen. Wir geriethen auf ihn durch die alten Dinge, die wir immer in den Händen hatten. Dieſe neuen Gegenſtände wurden aber nicht in der Geſtalt gemacht, wie ſie jezt ge¬ bräuchlich ſind, ſondern wie wir ſie für ſchön hielten. Wir lernten an dem Alten; aber wir ahmten es nicht nach, wie es noch zuweilen in der Baukunſt geſchieht, in der man in einem Stile, zum Beiſpiele in dem ſogenannten gothiſchen, ganze Bauwerke nachbildet. Wir ſuchten ſelbſtſtändige Gegenſtände für die jezige145 Zeit zu verfertigen mit Spuren des Lernens an ver¬ gangnen Zeiten. Haben ja ſelbſt unſere Vorfahrer aus ihren Vorfahrern geſchöpft, dieſe wieder aus den ihrigen, und ſo fort, bis man auf unbedeutende und kindiſche Anfänge ſtößt. Überall aber ſind die eigent¬ lichen Lehrmeiſter die Werke der Natur geweſen.
„ Sind ſolche neugemachte Gegenſtände in eurem Hauſe vorhanden? “fragte ich.
„ Nichts von Bedeutung, “antwortete er, „ einige ſind an verſchiedenen Punkten der Gegend zerſtreut, einige ſind in einem anderen Orte als in dieſem Hauſe geſammelt. Wenn ihr Luſt zu ſolchen Dingen habt, oder ſie in Zukunft faſſen ſolltet, und euer Weg euch wieder einmal hieher führt, ſo wird es nicht ſchwer ſein, euch an den Ort zu geleiten, wo ihr mehrere un¬ ſerer beſten Gegenſtände ſehen könnt. “
„ Es ſind der Wege ſehr verſchiedene, “erwiederte ich, „ die die Menſchen gehen, und wer weiß es, ob der Weg, der mich wegen eines Gewitters zu euch herauf geführt hat, nicht ein ſehr guter Weg geweſen iſt, und ob ich ihn nicht noch einmal gehe. “
„ Ihr habt da ein ſehr wahres Wort geſprochen, “antwortete er, „ die Wege der Menſchen ſind ſehr ver¬Stifter, Nachſommer. I. 10146ſchiedene. Ihr werdet dieſes Wort erſt recht einſehen, wenn ihr älter ſeid. “
„ Und habt ihr dieſes Haus eigens zu dem Zwecke der Schreinerei erbaut? “fragte ich weiter.
„ Ja, “antwortete er, „ wir haben es eigens zu die¬ ſem Zwecke erbaut. Es iſt aber viel ſpäter entſtanden als das Wohnhaus. Da wir einmal ſo weit waren, die Sachen zu Hauſe machen zu laſſen, ſo war der Schritt ein ganz leichter, uns eine eigene Werkſtätte hiefür einzurichten. Der Bau dieſes Hauſes war aber bei weitem nicht das Schwerſte, viel ſchwerer war es die Menſchen zu finden. Ich hatte mehrere Schreiner, und mußte ſie entlaſſen. Ich lernte nach und nach ſel¬ ber, und da trat mir der Starrſinn der Eigenwille und das Herkommen entgegen. Ich nahm endlich ſolche Leute, die nicht Schreiner waren, und ſich erſt hier unterrichten ſollten. Aber auch dieſe hatten wie die Frühern eine Sünde, welche in arbeitenden Ständen und auch wohl in andern ſehr häufig iſt, die Sünde der Erfolggenügſamkeit oder der Fahrläſſigkeit, die ſtets ſagt: „ „ es iſt ſo auch recht, ““und die jede weitere Vorſicht für unnöthig erachtet. Es iſt dieſe Sünde in den unbedeutendſten und wichtigſten Dingen des Lebens vorhanden, und ſie iſt mir in meinen früheren147 Jahren oft vorgekommen. Ich glaube, daß ſie die größten Übel geſtiftet hat. Manche Leben ſind durch ſie verloren gegangen, ſehr viele andere, wenn ſie auch nicht verloren waren, ſind durch ſie unglücklich oder unfruchtbar geworden, Werke, die ſonſt entſtanden wären, hat ſie vereitelt, und die Kunſt und was mit derſelben zuſammenhängt, wäre mit ihr gar nicht möglich. Nur ganz gute Menſchen in einem Fache haben ſie gar nicht, und aus denen werden die Künſt¬ ler Dichter Gelehrten Staatsmänner und die großen Feldherren. Aber ich komme von meiner Sache ab. In unſerer Schreinerei machte ſie blos, daß wir zu nichts Weſentlichem gelangten. Endlich fand ich einen Mann, der nicht gleich aus der Arbeit ging, wenn ich ihn be¬ kämpfte; aber innerlich mochte er recht oft erzürnt ge¬ weſen ſein, und über Eigenſinn geklagt haben. Nach Bemühungen von beiden Seiten gelang es. Die Werke gewannen Einfluß, in denen das Genaue und Zweckmäßige angeſtrebt war, und ſie wurden zur Richtſchnur genommen. Die Einſicht in die Schön¬ heit der Geſtalten wuchs, und das Leichte und Feine wurde dem Schweren und Groben vorgezogen. Er las Gehilfen aus, und erzog ſie in ſeinem Sinne. Die Begabten fügten ſich bald. Es wurde die Chemie10 *148und andere Naturwiſſenſchaften hergenommen, und im Leſen ſchöner Bücher wurde das Innere des Gemüthes zu bilden verſucht. “
Er ging nach dieſen Worten gegen den Mann, der mit dem Ausſuchen der Hölzer nach dem vor ihm liegenden Plane der Tiſchplatte beſchäftigt war, und ſagte: „ Wollt ihr nicht die Güte haben, uns einige Zeichnungen zu zeigen, Euſtach? “
Der junge Mann, an den dieſe Worte gerichtet waren, erhob ſich von ſeiner Arbeit, und zeigte uns ein ruhiges gefälliges Weſen. Er legte die grüne Tuchſchürze ab, welche er vorgebunden hatte, und ging aus ſeiner Arbeitsſtelle zu uns herüber. Es be¬ fand ſich neben dieſer Stelle in der Wand eine Glas¬ thür, hinter welcher grüne Seide in Falten geſpannt war. Dieſe Thür öffnete er, und führte uns in ein freundliches Zimmer. Das Zimmer hatte einen künſt¬ lich eingelegten Fußboden, und enthielt mehrere breite glatte Tiſche. Aus der Lade eines dieſer Tiſche nahm der Mann eine große Mappe mit Zeichnungen, öff¬ nete ſie, und that ſie auf der Tiſchplatte auseinander. Ich ſah, daß dieſe Zeichnungen für mich zum Anſehen heraus genommen worden waren, und legte daher die Blätter langſam um. Es waren lauter Zeichnungen149 von Bauwerken und zwar theils im Ganzen theils von Beſtandtheilen derſelben. Sie waren ſowohl, wie man ſich ausdrückt, im Perſpective ausgeführt als auch in Aufriſſen in Längen - und Querſchnitten. Da ich mich ſelber geraume Zeit mit Zeichnen beſchäftiget hatte, wenn auch mit Zeichnen anderer Gegenſtände, ſo war ich bei dieſen Blättern ſchon mehr an meiner Stelle als bei den alten Geräthen. Ich hatte immer bei dem Zeichnen von Pflanzen und Steinen nach großer Genauigkeit geſtrebt, und hatte mich bemüht, durch den Schwarzſtift die Weſenheit derſelben ſo auszudrücken, daß man ſie nach Art und Gattung er¬ kennen ſollte. Freilich waren die vor mir liegenden Zeichnungen die von Bauwerken. Ich hatte Bauwerke nie gezeichnet, ich hatte ſie eigentlich nie recht betrach¬ tet. Aber andererſeits waren die Linien, die hier vor¬ kamen, die von großen Körpern von geſchichteten Stoffen und von ausgedehnten Flächen, wie ſie bei mir auch an den Felſen und Bergen erſchienen; oder ſie waren die leichten Wendungen von Zierrathen, wie ſie bei mir die Pflanzen bothen. Endlich waren ja alle Bauwerke aus Naturdingen entſtanden, welche die Vorbilder gaben, etwa aus Felſenkuppen oder Felſen¬ zacken oder ſelbſt aus Tannen Fichten oder anderen150 Bäumen. Ich betrachtete daher die Zeichnungen recht genau, und ſah ſie um ihre Treue und Sachgemä߬ heit an. Als ich ſie ſchon alle durchgeblättert hatte, legte ich ſie wieder um, und ſchaute noch einmal jedes einzelne Blatt an.
Die Zeichnungen waren ſämmtlich mit dem Schwarzſtifte ausgeführt. Es war Licht und Schatten angegeben, und die Linienführung war verſtärkt oder gemäßigt, um nicht blos die Körperlichkeit der Dinge ſondern auch das ſogenannte Luftperſpective darzu¬ ſtellen. In einigen Blättern waren Waſſerfarben an¬ gewendet, entweder, um blos einzelne Stellen zu bezeichnen, die eine beſonders ſtarke oder eigenthüm¬ liche Farbe hatten, wie etwa, wo das Grün der Pflanzen ſich auffallend von dem Gemäuer, aus dem es ſproßte, abhob, oder wo der Stoff durch Einfluß von Sonne oder Waſſer eine ungewöhnliche Farbe erhalten hatte, wie zum Beiſpiele an gewiſſen Stei¬ nen, die durch Waſſer bräunlich ja beinahe roth werden; oder es waren Farben angewendet, um dem Ganzen einen Ton der Wirklichkeit und Zuſammen¬ ſtimmung zu geben; oder endlich es waren einzelne ſehr kleine Stellen mit Farben gleichſam mit Farb¬ druckern, wie man ſich ausdrückt, bezeichnet, um151 Flächen oder Körper oder ganze Abtheilungen im Raume zurück zu drängen. Immer aber waren die Farben ſo untergeordnet gehalten, daß die Zeichnun¬ gen nicht in Gemälde übergingen, ſondern Zeichnun¬ gen blieben, die durch die Farbe nur noch mehr ge¬ hoben wurden. Ich kannte dieſe Verfahrungsweiſe ſehr gut, und hatte ſie ſelber oft angewendet.
Was den Werth der Zeichnungen anbelangt, ſo erſchien mir derſelbe ein ziemlich bedeutender. Die Hand, von der ſie verfertigt worden waren, hielt ich für eine geübte, was ich daraus ſchloß, daß in den vielen Zeichnungen kein Fortſchritt zu bemerken war, ſondern daß dieſer ſchon in der Zeit vor den Zeich¬ nungen lag, und hier angewendet wurde. Die Linien waren rein und ſicher gezogen, das ſogenannte Linear¬ perſpective war, ſo weit meine Augen urtheilen konnten, — denn eine mathematiſche Prüfung konnte ich nicht anlegen — richtig, der Stoff des Schwarzſtiftes war gut beherrſcht, und mit ſeinen geringen Mitteln war Haushaltung getroffen, darum ſtanden die Körper klar da, und löſten ſich von der Umgebung. Wo die Farbe eine Art Wirklichkeit angenommen hatte, war ſie mit Gegenſtändlichkeit und Maß hingeſezt, was, wie ich aus Erfahrung wußte, ſo ſchwer zu finden iſt,152 daß die Dinge als Dinge nicht als Färbungen gel¬ ten. Dies iſt beſonders bei Gegenſtänden der Fall, die minder entſchiedene Farben haben, wie Steine Gemäuer und dergleichen, während Dinge von deut¬ lichen Farben leichter zu behandeln ſind, wie Blumen Schmetterlinge ſelbſt manche Vögel.
Eine beſondere Thatſache aber fiel mir bei Be¬ trachtung dieſer Zeichnungen auf. Bei den Bauver¬ zierungen, welche von Gegenſtänden der Natur ge¬ nommen waren, von Pflanzen oder ſelbſt von Thie¬ ren, kamen bedeutende Fehler vor, ja es kamen ſogar Unmöglichkeiten vor, die kaum ein Anfänger macht, ſobald er nur die Pflanze gut betrachtet. Bei den ganz gleichen Verzierungen an andern Bauwerken in an¬ dern Zeichnungen waren dieſe Fehler nicht da, ſon¬ dern die Verzierungen waren in Hinſicht ihrer Urbil¬ der in der Natur mit Richtigkeit angegeben. Ich hatte, da ich einmal zeichnete, öfter die Bilder meines Va¬ ters betrachtet, und in ihnen, ſelbſt in ſolchen, die er für ſehr gut hielt, ähnliche Fehler gefunden. Da die Bilder meines Vaters aus alter Zeit waren, dieſe Zeichnungen aber auch alte Bauwerke darſtellten, ſo ſchloß ich, daß ſie vielleicht Abriſſe von wirklichen Bauten ſeien, und daß die Fehler in den Zierrathen153 der Zeichnungen Fehler in den wirklichen Zierrathen der Bauarten ſeien, und daß die Zierrathen, deren Zeichnungen fehlerlos waren, auch an den Bauwer¬ ken keinen Fehler gehabt haben. Es gewannen durch dieſen Umſtand die Zeichnungen in meinen Augen noch mehr, da er gerade ihre große Treue bewies.
Auch ein eigenthümlicher Gedanke kam mir bei der Betrachtung dieſer Zeichnungen in das Haupt. Ich hatte nie ſo viele Zeichnungen von Bauwerken bei¬ ſammen geſehen, ſo wie ich Bauwerke ſelber nicht zum Gegenſtande meiner Aufmerkſamkeit gemacht hatte. Da ich nun alle dieſe Laubwerke dieſe Ran¬ ken dieſe Zacken dieſe Schwingungen dieſe Schnecken in großer Abfolge ſah, erſchienen ſie mir gewiſſermaſ¬ ſen wie Naturdinge etwa wie eine Pflanzenwelt mit ihren zugehörigen Thieren. Ich dachte, man könnte ſie eben ſo zu einem Gegenſtande der Betrachtung und der Forſchung machen wie die wirklichen Pflan¬ zen und andere Hervorbringungen der Erde, wenn ſie hier auch mir eine ſteinerne Welt ſind. Ich hatte das nie recht beachtet, wenn ich auch hin und wieder an einer Kirche oder an einem anderen Gebäude einen ſteinernen Stengel oder eine Roſe oder eine Diſtelſpize oder einen Säulenſchaft oder die Vergitte¬154 rung einer Thür anſah. Ich nahm mir vor, dieſe Gegenſtände nun genauer zu beobachten.
„ Dieſe Zeichnungen ſind lauter Abbildungen von wirklichen Bauwerken, die in unſerem Lande vorhan¬ den ſind, “ſagte mein Begleiter. „ Wir haben ſie nach und nach zuſammen gebracht. Kein einziges Bauwerk unſeres Landes, welches entweder im Ganzen ſchön iſt, oder an dem Theile ſchön ſind, fehlt. Es iſt nehmlich auch hier im Lande wie überall vorgekommen, daß man zu den Theilen alter Kirchen oder anderer Werke, die nicht fertig geworden ſind, neue Zubaue in ganz an¬ derer Art gemacht hat, ſo daß Bauwerke entſtanden, die in verſchiedenen Stilen ausgeführt, und theils ſchön und theils häßlich ſind. Die Landkirchen, die aus verſchiedenen Stellen in unſerer Zeit entſtanden ſind, haben wir nicht aufgenommen. “
„ Wer hat denn dieſe Zeichnungen verfertigt? “fragte ich.
„ Der Zeichner ſteht vor euch, “antwortete mein Begleiter, indem er auf den jungen Mann wies.
Ich ſah den Mann an, und es zeigte ſich ein leich¬ tes Erröthen in ſeinem Angeſichte.
„ Der Meiſter hat nach und nach die Theile des Landes beſucht, “fuhr mein Gaſtfreund fort, „ und hat155 die Baugegenſtände gezeichnet, die ihm gefielen. Dieſe Zeichnungen hat er in ſeinem Buche nach Hauſe ge¬ bracht, und ſie dann auf einzelnen Blättern im Rei¬ nen ausgeführt. Außer den Zeichnungen von Bau¬ werken haben wir auch die von inneren Ausſtattun¬ gen derſelben. Seid ſo gefällig und zeigt auch dieſe Mappe, Euſtach. “
Der junge Mann legte die Mappe, die wir eben betrachtet hatten, zuſammen, und that ſie in ihre Lade. Dann nahm er aus einer anderen Lade eine andere Mappe, und legte ſie mir mit den Worten vor: „ Hier ſind die kirchlichen Gegenſtände. “
Ich ſah die Zeichnungen in der Mappe, die er mir geöffnet hatte, an, wie ich früher die der Bauwerke angeſehen hatte. Es waren Zeichnungen von Altären Chorſtühlen Kanzeln Sakramentshäuschen Taufſtei¬ nen Chorbrüſtungen Seſſeln einzelnen Geſtalten ge¬ malten Fenſtern und anderen Gegenſtänden, die in Kirchen vorkommen. Sie waren wie die Zeichnungen der Baugegenſtände entweder ganz in Schwarzſtift ausgeführt oder theils in Schwarzſtift theils in Far¬ ben. Hatte ich mich ſchon früher in dieſe Gegenſtände vertieft, ſo geſchah es jezt noch mehr. Sie waren noch mannigfaltiger, und für die Augen anlockender als die156 Bauwerke. Ich betrachtete jedes Blatt einzeln, und manches nahm ich noch einmal vor, nachdem ich es ſchon hingelegt hatte. Als ich mit dieſer Mappe fertig war, legte mir der Meiſter eine neue vor, und ſagte: „ Hier ſind die weltlichen Gegenſtände. “
Die Mappe enthielt Zeichnungen von ſehr ver¬ ſchiedenen Geräthen, die in Wohnungen Burgen Klöſtern und dergleichen vorkommen, ſie enthielt Abbildungen von Vertäflungen, von ganzen Zimmer¬ decken, Fenſter - und Thüreinfaſſungen ja von einge¬ legten Fußböden. Bei den weltlichen Geräthen war viel mehr mit Farben gearbeitet als bei den kirchlichen und bei den Bauten; denn die Wohngeräthe haben ſehr oft die Farbe als einen weſentlichen Gegenſtand ihrer Erſcheinung, beſonders wenn ſie in verſchieden¬ farbigen Hölzern eingelegt ſind. Ich fand in dieſer Sammlung von Zeichnungen Abbildungen von Ge¬ genſtänden, die ich in der Wohnung meines Gaſt¬ freundes geſehen hatte. So war der Schreibſchrein und der große Kleiderſchrein vorhanden. Auch der Tiſch, an dem noch in der Schreinerſtube gearbeitet wurde, ſtand hier ſchon fertig vor uns auf dem Pa¬ piere. Ich bemerkte hiebei, daß nur die Platte klar und kräftig ausgeführt war, das Gerüſte und die Füſſe157 minder, gleichſam ſchattenhaft behandelt wurden. Ich erkannte, daß man ſo das Neue, was zu Geräthen hinzukommen mußte, bezeichnen wollte. Mir gefiel dieſe Art ſehr gut.
„ Die Kirchengeräthe unſers Landes dürften in die¬ ſer Sammlung ziemlich vollſtändig ſein, “ſagte mein Gaſtfreund, „ wenigſtens wird nichts Weſentliches feh¬ len. Bei den weltlichen kann man das weniger ſagen, da man nicht wiſſen kann, was noch hie und da in dem Lande zerſtreut iſt. “
Als ich dieſe Mappe auch angeſehen hatte, ſagte mein Begleiter: „ Dieſe Zeichnungen ſind Nachbildun¬ gen von lauter wirklichen aus älterer Zeit auf uns gekommenen Gegenſtänden, wir haben aber auch Zeichnungen ſelbſtſtändig entworfen, die Geräthe oder andere kleinere Gegenſtände darſtellen. Zeigt uns auch dieſe, Meiſter. “
Der junge Mann legte die Mappe auf den Tiſch.
Sie war viel umfaſſender als jede der früheren, und enthielt nicht blos die vollſtändige Darſtellung der ganzen Gegenſtände, ſondern auch ihre Quer - und Längenſchnitte und ihre Grundriſſe. Es waren Abbil¬ dungen von verſchiedenen Geräthen dann von Ver¬ kleidungen Fußböden Zimmerdecken Niſchen und end¬158 lich ſogar von Baugegenſtänden Treppenhäuſern und Seitenkapellen. Man war mit großer Zweifelſucht und Gewiſſenhaftigkeit zu Werke gegangen; manche Zeich¬ nung war vier - ja fünfmal vorhanden, und jedes Mal verändert und verbeſſert. Die lezten waren ſtets mit Farben angegeben, und dies beſonders deutlich, wenn die Gegenſtände in Holz oder Marmor auszu¬ führen waren. Ich fragte, ob einige dieſer Dinge aus¬ geführt worden ſind.
„ Freilich, “antwortete mein Begleiter, „ wozu wä¬ ren denn ſo viele Zeichnungen angefertigt worden? Alle Gegenſtände, die ihr öfter gezeichnet ſahet, und deren lezte Zeichnung in Farben angegeben iſt, ſind in Wirklichkeit ausgearbeitet worden. Dieſe Zeichnun¬ gen ſind die Pläne und Vorlagen zu den neuen Ge¬ räthen, auf deren Verfertigung, wie ich früher ſagte, wir gerathen ſind. Wenn ihr einmal in den Ort, von dem ich euch geſagt habe, daß er mehrere enthält, kommen ſolltet, ſo würdet ihr dort nicht nur viele von denen, die hier gezeichnet ſind, ſehen, ſondern auch ſolche, die zuſammen gehören, und ein Ganzes bil¬ den. “
„ Wenn man dieſe Zeichnungen betrachtet, “ſagte ich, „ und wenn man die anderen betrachtet, welche ich159 früher geſehen habe, ſo kömmt man auf den Gedan¬ ken, daß die Bauwerke einer Zeit und die Geräthe, welche in dieſen Bauwerken ſein ſollten, eine Einheit bilden, die nicht zerriſſen werden kann. “
„ Allerdings bilden ſie eine, “erwiederte er, „ die Ge¬ räthe ſind ja die Verwandten der Baukunſt etwa ihre Enkel oder Urenkel, und ſind aus ihr hervorgegangen. Dieſes iſt ſo wahr, daß ja auch unſere heutigen Ge¬ räthe zu unſerer heutigen Baukunſt gehören. Unſere Zimmer ſind faſt wie hohle Würfel oder wie Kiſten, und in ſolchen ſtehen die geradlinigen und geradflä¬ chigen Geräthe gut. Es iſt daher nicht ohne Begrün¬ dung, wenn die viel ſchöneren alterthümlichen Ge¬ räthe in unſeren Wohnungen manchen Leuten einen unheimlichen Eindruck machen, ſie widerſprechen der Wohnung; aber hierin haben die Leute Unrecht, wenn ſie die Geräthe nicht ſchön finden, die Wohnung iſt es, und dieſe ſollte geändert werden. Darum ſtehen in Schlöſſern und alterthümlichen Bauten derlei Ge¬ räthe noch am ſchönſten, weil ſie da eine ihnen ähn¬ liche Umgebung finden. Wir haben aus dieſem Ver¬ hältniſſe Nuzen gezogen, und aus unſeren Zeichnun¬ gen der Bauwerke viel für die Zuſammenſtellung un¬160 ſerer Geräthe gelernt, die wir eben nach ihnen einge¬ richtet haben. “
„ Wenn man ſo viele dieſer Dinge in ſo vielen Abbildungen vor ſich ſieht, wie wir jezt gethan haben, “ſagte ich, „ ſo kann man nicht umhin, einen großen Eindruck zu empfinden, den ſie machen. “
„ Es haben ſehr tiefſinnige Menſchen vor uns ge¬ lebt, “erwiederte er, „ man hat es nicht immer erkannt, und fängt erſt jezt an, es wieder ein wenig einzu¬ ſehen. Ich weiß nicht, ob ich es Rührung oder Schwer¬ muth nennen ſoll, was ich empfinde, wenn ich daran denke, daß unſere Voreltern ihre größten und umfaſ¬ ſendſten Werke nicht vollendet haben. Sie mußten auf eine ſolche Ewigkeit des Schönheitsgefühles gerechnet haben, daß ſie überzeugt waren, die Nachwelt werde an dem weiter bauen, was ſie angefangen haben. Ihre unfertigen Kirchen ſtehen wie Fremdlinge in un¬ ſerer Zeit. Wir haben ſie nicht mehr empfunden, oder haben ſie durch häßliche Aftergebilde verunſtaltet. Ich möchte jung ſein, wenn eine Zeit kömmt, in welcher in unſerem Vaterlande das Gefühl für dieſe Anfänge ſo groß wird, daß es die Mittel zuſammenbringt, dieſe Anfänge weiter zu führen. Die Mittel ſind vor¬ handen, nur werden ſie auf etwas anderes angewendet,161 ſo wie man dieſe Bauwerke nicht aus Mangel der Mittel unvollendet ließ, ſondern aus anderen Grün¬ den. “
Ich ſagte nach dieſen Worten, daß ich in dem be¬ rührten Punkte weniger unterrichtet ſei; aber in einem anderen Punkte könnte ich vielleicht etwas ſagen, nehmlich in Hinſicht der Zeichnungen. „ Ich habe durch längere Zeit her Pflanzen Steine Thiere und andere Dinge gezeichnet, habe mich ſehr geübt, und dürfte daher etwa ein Urtheil wagen können. Dieſe Zeich¬ nungen erſcheinen mir in Reinheit der Linien in Rich¬ tigkeit des Perſpectives in kluger Hinſtellung jedes Körpertheiles und in paſſender Anwendung der Far¬ ben als ganz vortrefflich, und ich fühle mich gedrun¬ gen, dieſes zu ſagen. “
Der Meiſter ſagte zu dieſem Lobe nichts, ſondern er ſenkte den Blick zu Boden, meinen Gaſtfreund aber ſchien mein Urtheil zu freuen.
Er bedeutete den Meiſter, die Mappe zuſammen zu binden, und in die Lade zu legen, was auch ge¬ ſchah.
Wir gingen von dieſem Zimmer in die weiteren Räume des Schreinerhauſes. Als wir über die Schwelle ſchritten, dachte ich, daß ich von alterthüm¬Stifter, Nachſommer. I. 11162lichen Gegenſtänden troz der Sammlungen meines Vaters, von denen ich doch lebenslänglich umgeben geweſen war, eigentlich bisher nicht viel verſtanden habe, und erſt lernen müſſe.
Von dem Zimmer der Zeichnungen gingen wir in das Wohnzimmer des Meiſters, welches neben den gewöhnlichen Geräthſtücken ebenfalls Zeichnungstiſche und Staffeleien enthielt. Es war eben ſo freundlich eingerichtet wie das Zimmer der Zeichnungen.
Auch die Zimmer der Gehilfen beſuchten wir, und betraten dann die Nebenräume. Es waren dies Räume, die zu verſchiedenen Gegenſtänden, die eine ſolche Anſtalt fordert, nothwendig ſind. Der vorzüg¬ lichſte war das Trockenhaus, welches hinter der Schreinerei angebracht war, aus der man in die un¬ tere und obere Abtheilung desſelben gelangen konnte. Es hatte den Zweck, daß in ihm alle Gattungen von Holz, die man hier verarbeitete, jenen Zuſtand der Trockenheit erreichen konnten, der in Geräthen noth¬ wendig iſt, daß nicht ſpäter wieder Beſchädigungen eintreten. In dem unteren Raume wurden die größe¬ ren Holzkörper aufbewahrt in dem oberen die kleine¬ ren und feineren. Ich konnte ſehen, wie ſehr es Ernſt mit der Anlegung dieſes Werkhauſes war; denn ich163 fand in dem Trockenhauſe nicht nur einen ſehr großen Vorrath von Holz ſondern auch faſt alle Gattungen der inländiſchen und ausländiſchen Hölzer. Ich hatte hier¬ in von der Zeit meiner naturwiſſenſchaftlichen Beſtre¬ bungen her einige Kenntniß. Außerdem war das Holz beinahe durchgängig ſchon in die vorläufigen Geſtal¬ ten geſchnitten, in die es verarbeitet werden ſollte, da¬ mit es auf dieſe Weiſe zu hinreichender Beruhigung austrocknen konnte. Mein Begleiter zeigte mir die ver¬ ſchiedenen Behältniſſe, und erklärte mir im Allgemei¬ nen ihren Inhalt.
In dem unteren Raume ſah ich Lärchenholz zu ſehr großen ſeltſamen Geſtalten verbunden gleichſam zu ſchlanken Gerüſten Rahmen und dergleichen, und fragte, da ich mir die Sache nicht erklären konnte, um ihre Bedeutung.
„ In unſerem Lande, “antwortete mein Begleiter, „ ſind mehrere geſchnizte Altäre. Sie ſind alle aus Lindenholz verfertigt, und einige von bedeutender Schönheit. Sie ſtammen aus ſehr früher Zeit, etwa zwiſchen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahrhun¬ derte, und ſind Flügelaltäre, welche mit geöffneten Flügeln die Geſtalt einer Monſtranze haben. Sie ſind zum Theile ſchon ſehr beſchädigt, und drohen, in kür¬11 *164zerer oder längerer Zeit zu Grunde zu gehen. Da ha¬ ben wir nun einen auf meine Koſten wiederhergeſtellt, und arbeiten jezt an einem zweiten. Die Holzgerüſte, um die ihr fragtet, ſind Grundlagen, auf denen Ver¬ zierungen befeſtigt werden müſſen. Die Verzierungen ſind noch ziemlich erhalten, ihre Grundlagen aber ſind ſehr morſch geworden, weßhalb wir neue anfertigen müſſen, wozu ihr hier die Entwürfe ſehet. “
„ Hat man euch denn erlaubt, in einer Kirche einen Altar umzugeſtalten? “fragte ich.
„ Man hat es uns erſt nach vielen Schwierigkeiten erlaubt, “antwortete er, „ wir haben aber die Schwie¬ rigkeiten beſiegt. Beſonders kam uns das Mißtrauen in unſere Kenntniſſe und Fähigkeiten entgegen, und hierin hatte man Recht. Wohin käme man denn, wenn man an vorhandenen Werken vorſchnell Verän¬ derungen anbringen ließe. Es könnten ja da Dinge von der größten Wichtigkeit verunſtaltet oder zerſtört werden. Wir mußten angeben, was wir verändern oder hinzufügen wollten, und wie die Sache nach der Umarbeitung ausſehen würde. Erſt da wir dargelegt hatten, daß wir an den beſtehenden Zuſammenſtellun¬ gen nichts ändern würden, daß keine Verzierung an einen andern Plaz komme, daß kein Standbild an165 ſeinem Angeſichte ſeinen Händen oder den Faltungen ſeines Gewandes umgeſtaltet werde, ſondern daß wir nur das Vorhandene in ſeiner jezigen Geſtalt erhal¬ ten wollen, damit es nicht weiter zerfallen könne, daß wir den Stoff, wo er gelitten hat, mit Stoff erfüllen wollen, damit die Ganzheit desſelben vorhanden ſei, daß wir an Zuthaten nur die kleinſten Dinge anbrin¬ gen würden, deren Geſtalt vollkommen durch die gleichartigen Stücke bekannt wäre, und in gleichmä¬ ßiger Vollkommenheit wie die alten verfertigt werden könnte, ferner als wir eine Zeichnung in Farben an¬ gefertigt hatten, die darſtellte, wie der gereinigte und wieder hergeſtellte Altar ausſehen würde, und endlich als wir Schnizereien von geringem Umfange einzelne Standbilder und dergleichen in unſerem Sinne wie¬ der hergeſtellt und zur Anſchauung gebracht hatten: ließ man uns gewähren. Von Hinderniſſen, die nicht von der Obrigkeit ausgingen von Verdächtigungen und ähnlichen Vorkommniſſen rede ich nicht, ſie ſind auch wenig zu meiner Kenntniß gekommen. “
„ Da habt ihr ein langwieriges und, wie ich glaube, wichtiges Werk unternommen, “ſagte ich.
„ Die Arbeit hat mehrere Jahre gedauert, “erwie¬ derte er, „ und was die Wichtigkeit anbelangt, ſo hat166 ſich wohl niemand mehr den Zweifeln hingegeben, ob wir die nöthige Sachkenntniß beſäßen, als wir ſelber. Darum haben wir auch gar keine Veränderung in der Weſenheit der Sache vorgenommen. Selbſt dort, wo es deutlich erwieſen war, daß Theile des Altars in der Zeit in eine andere Gruppe geſtellt worden waren, als ſie urſprünglich geweſen ſein konnten, ließen wir das Vorgefundene beſtehen. Wir befreiten nur die Gebilde von Schmuz und Übertünchung, befeſtigten das Zerblätterte und Lediggewordene, ergänzten das Mangelnde, wo, wie ich geſagt habe, deſſen Geſtalt vollkommen bekannt war, füllten alles, was durch Holzwürmer zerſtört war, mit Holz aus, beugten durch ein erprobtes Mittel den künftigen Zerſtörungen die¬ ſer Thiere vor, und überzogen endlich den ganzen Al¬ tar, da er fertig war, mit einem ſehr matten Firniſſe. Es wird einmal eine Zeit kommen, in welcher vom Staate aus vollkommen ſachverſtändige Männer in ein Amt werden vereinigt werden, das die Wiederher¬ ſtellung alter Kunſtwerke einleiten, ihre Aufſtellung in dem urſprünglichen Sinne bewirken, und ihre Ver¬ unſtaltung für kommende Zeiten verhindern wird; denn ſo gut man uns gewähren ließ, die ja auch eine Ver¬ unſtaltung hätten hervorbringen können, ſo gut wird167 man in Zukunft auch andere gewähren laſſen, die minder zweifelſüchtig ſind, oder im Eifer für das Schöne nach ihrer Art verfahren, und das Weſen des Überkommenen zerſtören. “
„ Und glaubt ihr, daß ein Geſez, welches verbie¬ thet, an dem Weſen eines vorgefundenen Kunſtwerkes etwas zu ändern, dem Verfalle und der Zerſtö¬ rung desſelben für alle Zeiten vorbeugen würde? “fragte ich.
„ Das glaube ich nicht, “erwiederte er; „ denn es können Zeiten ſo geringen Kunſtſinnes kommen, daß ſie das Geſez ſelber aufheben; aber auf eine längere Dauer und auf eine beſſere Weiſe wäre doch durch ein ſolches Geſez geſorgt, als wenn gar keines wäre. Den beſten Schuz für Kunſtwerke der Vorzeit würde freilich eine fortſchreitende und nicht mehr erlahmende Kunſtempfindung gewähren. Aber alle Mittel auch in ihrer größten Vollkommenheit angewendet würden den endlichen Untergang eines Kunſtwerkes nicht aufhalten können; dies liegt in der immerwährenden Thätigkeit und in dem Umwandlungstriebe der Menſchen und in der Vergänglichkeit des Stoffes. Alles, was iſt, wie groß und gut es ſei, beſteht eine Zeit, erfüllt einen Zweck, und geht vorüber. Und ſo wird auch einmal168 über alle Kunſtwerke, die jezt noch ſind, ein ewiger Schleier der Vergeſſenheit liegen, wie er jezt über de¬ nen liegt, die vor ihnen waren. “
„ Ihr arbeitet an der Herſtellung eines zweiten Altares, “ſagte ich, „ da ihr einen ſchon vollendet habt: würdet ihr auch noch andere herſtellen, da ihr ſagt, daß es mehrere in dem Lande gibt? “
„ Wenn ich die Mittel dazu hätte, würde ich es thun, “erwiederte er, „ ich würde ſogar, wenn ich reich genug wäre, angefangene mittelalterliche Bauwerke vollenden laſſen. Da ſteht in Grünau hart an der Grenze unſeres Landes an der Stadtpfarrkirche ein Thurm, welcher der ſchönſte unſeres Landes iſt, und der höchſte wäre, wenn er vollendet wäre; aber er iſt nur ungefähr bis zu zwei Drittheilen ſeiner Höhe fer¬ tig geworden. Dieſer altdeutſche Thurm wäre das Erſte, welches ich vollenden ließe. Wenn ihr wieder kommt, ſo führe ich euch in eine Kirche, in welcher auf Landeskoſten ein geſchnizter Flügelaltar wieder hergeſtellt worden iſt, der zu den bedeutendſten Kunſt¬ werken gehört, welche in dieſer Art vorhanden ſind. “
Wir traten bei dieſen Worten den Rückweg aus dem Trockenhauſe in die Arbeitſtube an. Mein Be¬ gleiter ſagte auf dieſem Wege: „ Da Euſtach jezt vor¬169 zugsweiſe damit beſchäftigt iſt, die im Laufe befindli¬ chen Werke auszufertigen, ſo hat er ſeinen Bruder, der herangewachſen iſt, unterrichtet, und dieſer ver¬ ſieht jezt hauptſächlich das Geſchäft des Zeichnens. Er iſt eben daran, die Verzierungen, die in unſerem Lande an Bauwerken Holzarbeiten oder ſonſtwo vor¬ kommen, und die wir in unſeren Blättern von größe¬ ren Werken noch nicht haben, zu zeichnen. Wir erwar¬ ten ihn in kurzer Zeit auf einige Tage zurück. An die¬ ſen Dingen könnte auch die Gegenwart lernen, falls ſie lernen will. Nicht blos aus dem Großen, wenn wir das Große betrachteten, was unſere Voreltern ge¬ macht haben, und was die kunſtſinnigſten vorchriſtli¬ chen Völker gemacht haben, könnten wir lernen, wie¬ der in edlen Gebäuden wohnen, oder von edlen Ge¬ räthen umringt ſein, wenigſtens wie die Griechen in ſchönen Tempeln bethen; ſondern wir könnten uns auch im Kleinen vervollkommnen, die Überzüge unſe¬ rer Zimmer könnten ſchöner ſein, die gewöhnlichen Geräthe Krüge Schalen Lampen Leuchter Äxte würden ſchöner werden, ſelbſt die Zeichnungen auf den Stof¬ fen zu Kleidern und endlich auch der Schmuck der Frauen in ſchönen Steinen; er würde die leichten Bil¬ dungen der Vergangenheit annehmen, ſtatt daß jezt170 oft eine Barbarei von Steinen in einer Barbarei von Gold liegt. Ihr werdet mir recht geben, wenn ihr an die vielen Zeichnungen von Kreuzen Roſen Sternen denkt, die ihr in unſern Blättern mittelalterlicher Bauwerke geſehen habt. “
Ich bewunderte den Mann, der, da er ſo redete, in einem ſonderbaren ja abgeſchmackten Kleide neben mir ging.
„ Wenigſtens Achtung vor Leuten, die vor uns ge¬ lebt haben, könnte man aus ſolchen Beſtrebungen lernen, “fuhr er fort, „ ſtatt daß wir jezt gewohnt ſind, immer von unſeren Fortſchritten gegenüber der Un¬ wiſſenheit unſerer Voreltern reden zu hören. Das große Preiſen von Dingen erinnert zu oft an Armuth von Erfahrungen. “
Wir waren bei dieſen Worten wieder in die Werk¬ ſtube gekommen, und verabſchiedeten uns von dem Meiſter. Ich reichte ihm die Hand, die er annahm, und ſchüttelte die ſeinige herzlich. Da wir aus dem Hauſe getreten waren und ich umſchaute, ſah ich durch das Fenſter, wie er eben ſeine grüne Schürze herab nahm, und wieder umband. Auch hörten wir das Hobeln und Sägen wieder, das bei unſerem Beſuche des Werkhauſes ein wenig verſtummt war.
171Wir betraten den Gebüſchpfad, und kamen wieder in die Nähe des Wohnhauſes.
„ Ihr habt nun meine ganze Behauſung geſehen, “ſagte mein Gaſtfreund.
„ Ich habe ja Küche und Keller und Geſindeſtuben nicht geſehen, “erwiederte ich.
„ Ihr ſollt ſie ſehen, wenn ihr wollt, “ſagte er.
Ich nahm mein mehr im Scherze geſprochenes Wort nicht zurück, und wir gingen wieder in das Haus.
Ich ſah hier eine große gewölbte Küche eine große Speiſekammer drei Stuben für Dienſtleute eine für eine Art Hausaufſeher dann die Waſchſtube den Back¬ ofen den Keller und die Obſtkammer. Wie ich vermu¬ thet hatte, war dies alles reinlich und zweckmäßig ein¬ gerichtet. Ich ſah Mägde beſchäftigt, und wir trafen auch den Hausaufſeher in ſeinem Tagewerke begriffen. Das flache feine Körbchen, aus welchem mein Be¬ herberger die Vögel gefüttert hatte, lehnte in einer eigenen Mauerniſche neben der Thür, welche ſein be¬ ſtimmter Plaz zu ſein ſchien.
Wir gingen von dieſen Räumen in das Gewächs¬ haus. Es enthielt ſehr viele Pflanzen, meiſtens ſolche, welche zur Zeit gebräuchlich waren. Auf den Geſtel¬172 len ſtanden Camellien mit gut gepflegten grünen Blät¬ tern, Rhododendern, darunter, wie mir die Aufſchrift ſagte, gelbe, die ich nie geſehen hatte, Azaleen in ſehr manigfaltigen Arten, und beſonders viele neuhollän¬ diſche Gewächſe. Von Roſen war die Theeroſe in hervorragender Anzahl da, und ihre Blumen blühten eben. An das Gewächshaus ſtieß ein kleines Glas¬ haus mit Ananas. Auf dem Sandwege vor beiden Häuſern ſtanden Citronen - und Orangenbäume in Kübeln. Der alte Gärtner hatte noch weißere Haare als ſein Herr. Er war ebenfalls ungewöhnlich geklei¬ det, nur konnte ich bei ihm das Ungewöhnliche nicht finden. Das fiel mir auf, daß er viel reines Weiß an ſich hatte, welches im Vereine mit ſeiner weißen Schürze mich eher an einen Koch als an einen Gärt¬ ner erinnerte.
Daß die ſchmale Seite des Gewächshauſes von Außen mit Roſen bekleidet ſei, wie die Südſeite des Wohnhauſes, fiel mir wieder auf, aber es berührte mich nicht unangenehm.
Die alte Gattin des Gärtners, die wir in der Wohnung desſelben fanden, war eben ſo weißgekleidet wie ihr Mann. An die Gärtnerswohnung ſtießen die Kammern der Gehilfen.
173„ Jezt habt ihr alles geſehen, “ſagte mein Gaſt¬ freund, da wir aus dieſen Kammern traten, „ außer den Gaſtzimmern, die ich euch zeigen werde, wenn ihr es verlangt, und der Wohnung meines Ziehſohnes, die wir aber jezt nicht betreten können, weil wir ihn in ſeinem Lernen ſtören würden. “
„ Wir wollen das auf eine ſpätere Stunde laſſen, in der ich euch daran erinnern werde, “ſagte ich, „ jezt habe ich aber ein anderes Anliegen an eure Güte, das mir näher am Herzen iſt. “
„ Und dieſes nähere Anliegen? “fragte er.
„ Daß ihr mir endlich ſagt, “antwortete ich, „ wie ihr zu einer ſo entſchiedenen Gewißheit in Hinſicht des Wetters gekommen ſeid. “
„ Der Wunſch iſt ein ſehr gerechter, “entgegnete er, „ und um ſo gerechter, als eure Meinung über das Gewitter der Grund geweſen iſt, weßhalb ihr zu un¬ ſerem Hauſe herauf gegangen ſeid, und als unſer Streit über das Gewitter der Grund geweſen iſt, daß ihr länger da geblieben ſeid. Gehen wir aber gegen das Bienenhaus, und ſezen wir uns auf eine Bank unter eine Linde. Ich werde euch aus dem Wege und auf der Bank meine Sache erzählen. “
Wir ſchlugen einen breiten Sandpfad ein, der174 Anfangs von größeren Obſtbäumen und ſpäter von hohen ſchattenden Linden begrenzt war. Zwiſchen den Stämmen ſtanden Ruhebänke, auf dem Sande liefen pickende Vögel, und in den Zweigen wurde heute wie¬ der das Singen vollbracht, welches ich geſtern ſchon wahrgenommen hatte.
„ Ihr habt die Sammlung von Werkzeugen der Naturlehre in meiner Wohnung geſehen, “fing mein Begleiter an, als wir auf dem Sandwege dahin gin¬ gen, „ ſie erklären ſchon einen Theil unſerer Sache. “
„ Ich habe ſie geſehen, “antwortete ich, „ beſonders habe ich das Barometer Thermometer ſo wie einen Luftblau - und Feuchtigkeitsmeſſer bemerkt; aber dieſe Dinge habe ich auch, und ſie haben eher, da ich ſie vor meiner Wanderung beobachtete, auf einen Nieder¬ ſchlag als auf ſein Gegentheil gedeutet. “
„ Das Barometer iſt gefallen, “erwiederte er, „ und wies auf geringeren Luftdruck hin, mit welchem ſehr oft der Eintritt von Regen verbunden iſt. “ „ Wohl, “ſagte ich.
„ Der Zeiger des Feuchtigkeitsmeſſers, “fuhr er fort, „ rückte mehr gegen den Punkt der größten Feuch¬ tigkeit. “
„ Ja ſo iſt es geweſen, “antwortete ich.
175„ Aber der Electricitätsmeſſer, “ſagte er, „ verkün¬ digte wenig Luftelectricität, daß alſo eine Entladung derſelben, womit in unſeren Gegenden gerne Regen verbunden iſt, nicht erwartet werden konnte. “
„ Ich habe wohl auch die nehmliche Beobachtung gemacht, “entgegnete ich, „ aber die electriſche Span¬ nung ſteht nicht ſo ſehr im Zuſammenhange mit Wet¬ terveränderungen, und iſt meiſtens nur ihre Folge. Zudem hat ſich geſtern gegen Abend Electricität ge¬ nug entwickelt, und alle Anzeichen, von denen ihr re¬ det, verkündeten einen Niederſchlag. “
„ Ja, ſie verkündeten ihn, und er iſt erfolgt, “ſagte mein Begleiter; „ denn es bildeten ſich aus den un¬ ſichtbaren Waſſerdünſten ſichtbare Wolken, die ja wohl ſehr fein zertheiltes Waſſer ſind. Da iſt der Nie¬ derſchlag. Auf die geringe electriſche Spannung legte ich kein Gewicht; ich wußte, daß wenn einmal Wol¬ ken entſtünden, ſich auch hinlängliche Electricität ein¬ ſtellen würde. Die Anzeichen, von denen wir geredet haben, beziehen ſich aber nur auf den kleinen Raum, in dem man ſich eben befindet, man muß auch einen weiteren betrachten, die Bläue der Luft und die Ge¬ ſtaltung der Wolken. “
„ Die Luft hatte ſchon geſtern Vormittags die tiefe176 und finſtere Bläue, “erwiederte ich, „ welche dem Re¬ gen vorangeht, und die Wolkenbildung begann be¬ reits am Mittage, und ſchritt ſehr raſch vorwärts. “
„ Bis hieher habt ihr Recht, “ſagte mein Beglei¬ ter, „ und die Natur hat euch auch Recht gegeben, in¬ dem ſie eine ungewöhnliche Menge von Wolken er¬ zeugte. Aber es gibt auch noch andere Merkmale, als die wir bisher beſprochen haben, welche euch entgan¬ gen ſind. Ihr werdet wiſſen, daß Anzeichen beſtehen, welche nur einer gewiſſen Gegend eigen ſind, und von den Eingebornen verſtanden werden, denen ſie von Ge¬ ſchlecht zu Geſchlecht überliefert worden ſind. Oft ver¬ mag die Wiſſenſchaft recht wohl den Grund der lan¬ gen Erfahrung anzugeben. Ihr wißt, daß in Gegen¬ den ein kleines Wölklein an einer beſtimmten Stelle des Himmels, der ſonſt rein iſt, erſcheinend und dort ſchweben bleibend ein ſicherer Gewitteranzeiger für dieſe Gegend iſt, daß ein trüberer Ton an einer ge¬ wiſſen Stelle des Himmels ein Windſtoß aus einer gewiſſen Gegend her Vorboten eines Landregens ſind, und daß der Regen immer kömmt. Solche Anzeichen hat auch dieſe Gegend, und es ſind geſtern keine ein¬ getreten, die auf Regen wieſen. “
„ Merkmale, die nur dieſer Gegend angehören, “177erwiederte ich, „ konnte ich nicht beobachten; aber ich glaube, daß dieſe Merkmale allein euch doch nicht be¬ ſtimmen konnten, einen ſo entſcheidenden Ausſpruch zu thun, wie ihr gethan habt. “
„ Sie beſtimmten mich auch nicht, “antwortete er, „ ich hatte auch noch andere Gründe. “
„ Nun. “
„ Alle die Vorzeichen, von denen wir bisher gere¬ det haben, ſind ſehr grobe, “ſagte er, „ und werden meiſtens von uns nur mittelſt räumlicher Verände¬ rungen erkannt, die, wenn ſie nicht eine gewiſſe Größe erreichen, von uns gar nicht mehr beobachtet werden können. Der Schauplaz, auf welchem ſich die Witte¬ rungsverhältniſſe geſtalten, iſt ſehr groß; dort, wohin wir nicht ſehen, und woher die Wirkungen auf unſere wiſſenſchaftlichen Werkzeuge nicht reichen können, mö¬ gen vielleicht Urſachen und Gegenanzeigen ſein, die, wenn ſie uns bekannt wären, unſere Vorherſage in ihr Gegentheil umſtimmen würden. Die Anzeichen können daher auch täuſchen. Es ſind aber noch viel feinere Vorrichtungen vorhanden, deren Beſchaffen¬ heit uns ein Geheimniß iſt, die von Urſachen, die wir ſonſt gar nicht mehr meſſen können, noch betroffen werden, und deren Wirkung eine ganz gewiſſe iſt. “Stifter, Nachſommer. I. 12178„ Und dieſe Werkzeuge? “
„ Sind die Nerven. “
„ Alſo empfindet ihr durch eure Nerven, wenn Re¬ gen kommen wird? “
„ Durch meine Nerven empfinde ich das nicht, “antwortete er. „ Der Menſch ſtört leider durch zu ſtarke Einwirkungen, die er auf die Nerven macht, das feine Leben derſelben, und ſie ſprechen zu ihm nicht mehr ſo deutlich, als ſie ſonſt wohl könnten. Auch hat ihm die Natur etwas viel Höheres zum Erſaze gegeben, den Verſtand und die Vernunft, wodurch er ſich zu helfen und ſich ſeine Stellung zu geben vermag. Ich meine die Nerven der Thiere. “
„ Es wird wohl wahr ſein, was ihr ſagt, “ant¬ wortete ich. „ Die Thiere hängen mit der tiefer ſtehen¬ den Natur noch viel unmittelbarer zuſammen als wir. Es wird nur darauf ankommen, daß dieſe Beziehun¬ gen ergründet werden, und dafür ein Ausdruck gefun¬ den wird, beſonders, was das kommende Wetter be¬ trifft. “
„ Ich habe dieſen Zuſammenhang nicht ergründet, “entgegnete er, „ noch weniger den Ausdruck dafür ge¬ funden; beides dürfte in dieſer Allgemeinheit wohl ſehr ſchwer ſein; aber ich habe zufällig einige Beob¬179 achtungen gemacht, habe ſie dann abſichtlich wieder¬ holt, und daraus Erfahrungen geſammelt, und Er¬ gebniſſe zuſammen geſtellt, die eine Vorausſage mit faſt völliger Gewißheit möglich machen. Viele Thiere ſind von Regen und Sonnenſchein ſo abhängig, ja bei einigen handelt es ſich geradezu um das Leben ſelber, je nachdem Sonne oder Regen iſt, daß ihnen Gott nothwendig hat Werkzeuge geben müſſen, dieſe Dinge vorhinein empfinden zu können. Dieſe Empfin¬ dung als Empfindung kann aber der Menſch nicht er¬ kennen, er kann ſie nicht betrachten, weil ſie ſich den Sinnen entzieht; allein die Thiere machen in Folge dieſer Vorempfindung Anſtalten für ihre Zukunft, und dieſe Anſtalten kann der Menſch betrachten, und dar¬ aus Schlüſſe ziehen. Es gibt einige, die ihre Nah¬ rung finden, wenn es feucht iſt, andere verlieren ſie in dieſem Falle. Manche müſſen ihren Leib vor Regen bergen, manche ihre Brut in Sicherheit bringen. Viele müſſen ihre für den Augenblick aufgeſchlagene Wohnung verlaſſen, oder eine andere Arbeit ſuchen. Da nun die Vorempfindung gewiß ſein muß, wenn die daraus folgende Handlung zur Sicherung führen ſoll, da die Nerven ſchon berührt werden, wenn noch alle menſchlichen wiſſenſchaftlichen Werkzeuge ſchwei¬12 *180gen, ſo kann eine Vorausſage über das Wetter, die auf eine genaue Betrachtung der Handlungen der Thiere gegründet iſt, mehr Anhalt gewähren, als die aus allen wiſſenſchaftlichen Werkzeugen zuſammen genommen. “
„ Ihr eröffnet da eine neue Richtung. “
„ Die Menſchen haben darin ſchon vieles erfahren. Die beſten Wetterkenner ſind die Inſekten und über¬ haupt die kleinen Thiere. Sie ſind aber viel ſchwerer zu beobachten, da ſie, wenn man dies thun will, nicht leicht zu finden ſind, und da man ihre Handlungen auch nicht immer leicht verſteht. Aber von kleineren Thieren hängen oft größere ab, deren Speiſe jene ſind, und die Handlungen kleinerer Thiere haben Handlun¬ gen größerer zur Folge, welche der Menſch leichter überblickt. Freilich ſteht da ein Schluß in der Mitte, der die Gefahr zu irren größer macht, als ſie bei der unmittelbaren Betrachtung und der gleichſam reden¬ den Thatſache iſt. Warum, damit ich ein Beiſpiel an¬ führe, ſteigt der Laubfroſch tiefer, wenn Regen folgen ſoll, warum fliegt die Schwalbe niedriger und ſpringt der Fiſch aus dem Waſſer? Die Gefahr zu irren wird wohl bei oftmaliger Wiederholung der Beobachtung und bei ſorglicher Vergleichung geringer; aber das181 Sicherſte bleiben immer die Heerden der kleinen Thiere. Das habt ihr gewiß ſchon gehört, daß die Spinnen Wetterverkündiger ſind, und daß die Ameiſen den Re¬ gen vorher ſagen. Man muß das Leben dieſer kleinen Dinge betrachten, ihre häuslichen Einrichtungen an¬ ſchauen, oft zu ihnen kommen, ſehen, wie ſie ihre Zeit hinbringen, erforſchen, welche Grenzen ihre Gebiethe haben, welche die Bedingungen ihres Glückes ſind, und wie ſie denſelben nachkommen. Darum wiſſen Jäger Holzhauer und Menſchen, welche einſam ſind, und zur Betrachtung dieſes abgeſonderten Lebens auf¬ gefordert werden, das Meiſte von dieſen Dingen, und wie aus dem Benehmen von Thieren das Wetter vor¬ herzuſagen iſt. Es gehört aber wie zu allem auch Liebe dazu. “
„ Hier iſt der Siz, “unterbrach er ſich, „ von wel¬ chem ich früher geſprochen habe. Hier iſt die ſchönſte Linde meines Gartens, ich habe einen beſſern Ruhe¬ plaz unter ihr anbringen laſſen, und gehe ſelten vor¬ über, ohne mich eine Weile nieder zu ſezen, um mich an dem Summen in ihren Äſten zu ergözen. Wollen wir uns ſezen? “
Ich willigte ein, wir ſezten uns, das Summen war wirklich über unſern Häuptern zu hören, und ich182 fragte: „ Habt ihr nun dieſe Beobachtungen an den Thieren, wie ihr ſagtet, gemacht? “
„ Auf Beobachtungen bin ich eigentlich nicht aus¬ gegangen, “antwortete er; „ aber da ich lange in die¬ ſem Hauſe und in dieſem Garten gelebt habe, hat ſich Manches zuſammengefunden; aus dem Zuſammenge¬ fundenen haben ſich Schlüſſe gebaut, und ich bin durch dieſe Schlüſſe umgekehrt wieder zu Betrachtungen ver¬ anlaßt worden. Viele Menſchen, welche gewohnt ſind, ſich und ihre Beſtrebungen als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten, halten dieſe Dinge für klein; aber bei Gott iſt es nicht ſo; das iſt nicht groß, an dem wir vielmal unſern Maßſtab umlegen können, und das iſt nicht klein, wofür wir keinen Maßſtab mehr haben. Das ſehen wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandelt. Oft habe ich gedacht, daß die Erforſchung des Menſchen und ſeines Trei¬ bens ja ſogar ſeiner Geſchichte nur ein anderer Zweig der Naturwiſſenſchaft ſei, wenn er auch für uns Men¬ ſchen wichtiger iſt, als er für Thiere wäre. Ich habe zu einer Zeit Gelegenheit gehabt, in dieſem Zweige manches zu erfahren und mir einiges zu merken. Doch ich will zu meinem Gegenſtande zurückkehren. Von dem, was die kleinen Thiere thun, wenn Regen oder183 Sonnenſchein kommen ſoll, oder wie ich überhaupt aus ihren Handlungen Schlüſſe ziehe, kann ich jezt nicht reden, weil es zu umſtändlich ſein würde, ob¬ wohl es merkwürdig iſt; aber das kann ich ſagen, daß nach meinen bisherigen Erfahrungen geſtern keines der Thierchen in meinem Garten ein Zeichen von Re¬ gen gegeben hat, wir mögen von den Bienen anfan¬ gen, welche in dieſen Zweigen ſummen, und bis zu den Ameiſen gelangen, die ihre Puppen an der Planke meines Gartens in die Sonne legen, oder zu dem Springkäfer, der ſich ſeine Speiſe trocknet. Weil mich nun dieſe Thiere, wenn ich zu ihnen kam, nie ge¬ täuſcht haben, ſo folgerte ich, daß die Waſſerbildung, welche unſere gröberen wiſſenſchaftlichen Werkzeuge vorausſagten, nicht über die Entſtehung von Wolken hinausgehen würde, da es ſonſt die Thiere gewußt hätten. Was aber mit den Wolken geſchehen würde, erkannte ich nicht genau, ich ſchloß nur, daß durch die Abkühlung, die ihr Schatten erzeugen müßte, und durch die Luftſtrömungen, denen ſie ſelber ihr Daſein verdankten, ein Wind entſtehen könnte, der in der Nacht den Himmel wieder rein fegen würde. “
„ Und ſo geſchah es auch, “ſagte ich.
„ Ich konnte es um ſo ſicherer vorausſehen, “er¬184 wiederte er, „ weil es an unſerem Himmel und in un¬ ſerem Garten oft ſchon ſo geweſen iſt wie geſtern, und ſtets ſo geworden iſt, wie heute in der Nacht. “
„ Das iſt ein weites Feld, von dem ihr da redet, “ſagte ich, „ und da ſteht der menſchlichen Erkenntniß ein nicht unwichtiger Gegenſtand gegenüber. Er be¬ weiſt wieder, daß jedes Wiſſen Ausläufe hat, die man oft nicht ahnt, und wie man die kleinſten Dinge nicht vernachläſſigen ſoll, wenn man auch noch nicht weiß, wie ſie mit den größeren zuſammenhängen. So kamen wohl auch die größten Männer zu den Werken, die wir bewundern, und ſo kann mit Hereinbeziehung deſſen, von dem ihr redet, die Witterungskunde einer großen Erweiterung fähig ſein. “
„ Dieſen Glauben hege ich auch, “erwiederte er. „ Euch Jüngeren wird es in den Naturwiſſenſchaften über¬ haupt leichter, als es den Älteren geworden iſt. Man ſchlägt jezt mehr die Wege des Beobachtens und der Verſuche ein, ſtatt daß man früher mehr den Vermu¬ thungen Lehrmeinungen ja Einbildungen hingegeben war. Dieſe Wege wurden lange nicht klar, obgleich ſie Einzelne wohl zu allen Zeiten gegangen ſind. Je mehr Boden man auf die neue Weiſe gewinnt, deſto mehr Stoff hat man als Hilfe zu fernern Erringun¬185 gen. Man wendet ſich jezt auch mit Ernſt der Pflege der einzelnen Zweige zu, ſtatt wie früher immer auf das Allgemeine zu gehen; und es wird daher auch eine Zeit kommen, in der man dem Gegenſtände eine Auf¬ merkſamkeit ſchenken wird, von dem wir jezt geſprochen haben. Wenn die Fruchtbarkeit, wie ſie durch Jahr¬ zehende in der Naturwiſſenſchaft geweſen iſt, durch Jahrhunderte anhält, ſo können wir gar nicht ahnen, wie weit es kommen wird. Nur das eine wiſſen wir jezt, daß das noch unbebaute Feld unendlich größer iſt als das bebaute. “
„ Ich habe geſtern einige Arbeiter bemerkt, “ſagte ich, „ welche, obwohl der Himmel voll Wolken war, doch Waſſer pumpten, ihre Gießkannen füllten, und die Gewächſe begoſſen. Haben dieſe vielleicht auch gewußt, daß kein Regen kommen werde, oder haben ſie blos eure Befehle vollzogen, wie die Mäher, die an dem Meierhofe Gras abmähten. “
„ Das Leztere iſt der Fall, “erwiederte er. „ Dieſe Arbeiter glauben jedes Mal, daß ich mich irre, wenn der äußere Anſchein gegen mich iſt, wie oft ſie auch durch den Erfolg belehrt worden ſein mögen. Und ſo werden ſie gewiß auch geſtern geglaubt haben, daß Regen komme. Sie begoſſen die Gewächſe, weil ich186 es angeordnet habe, und weil es bei uns eingeführt iſt, daß der, welcher wiederholt den Anordnungen nicht nachkömmt, des Dienſtes entlaſſen wird. Es ſind aber endlich auch noch andere Dinge außer den Thie¬ ren, welche das Wetter vorherſagen, nehmlich die Pflanzen. “
„ Von den Pflanzen wußte ich es ſchon, und zwar beſſer, als von den Thieren, “erwiederte ich.
„ In meinem Garten und in meinem Gewächs¬ hauſe ſind Pflanzen, “ſagte er, „ welche einen auffal¬ lenden Zuſammenhang mit dem Luftkreiſe zeigen, be¬ ſonders gegen das Nahen der Sonne, wenn ſie lange in Wolken geweſen war. Aus dem Geruche der Blu¬ men kann man dem kommenden Regen entgegen ſehen, ja ſogar aus dem Graſe riecht man ihn bei¬ nahe. Mir kommen dieſe Dinge ſo zufällig in den Garten und in das Haus; ihr aber werdet ſie weit beſſer und weit gründlicher kennen lernen, wenn ihr die Wege der neuen Wiſſenſchaftlichkeit wandelt, und die Hilfsmittel benüzt, die es jezt gibt, beſonders die Rechnung. Wenn ihr namentlich eine einzelne Rich¬ tung einſchlagt, ſo werdet ihr in derſelben ungewöhn¬ lich große Fortſchritte machen. “
„ Woher ſchließt ihr denn das? “fragte ich.
187„ Aus eurem Ausſehen, “erwiederte er, „ und ſchon aus der ſehr beſtimmten Ausſage, die ihr geſtern in Hinſicht des Wetters gemacht habt. “
„ Dieſe Ausſage war aber falſch, “antwortete ich, „ und aus ihr hättet ihr gerade das Gegentheil ſchlie¬ ßen können. “
„ Nein, das nicht, “ſagte er, „ eure Äußerung zeigte, weil ſie ſo beſtimmt war, daß ihr den Gegenſtand ge¬ nau beobachtet habt, und weil ſie ſo warm war, daß ihr ihn mit Liebe und mit Eifer umfaßt; daß eure Meinung deßohngeachtet irrig war, kam nur daher, weil ihr einen Umſtand, der auf ſie Einfluß hatte, nicht kanntet, und ihn auch nicht leicht kennen konntet; ſonſt würdet ihr anders geurtheilt haben. “
„ Ja ihr redet wahr, ich würde anders geurtheilt haben, “antwortete ich, „ und ich werde nicht wieder ſo voreilig urtheilen. “
„ Ihr habt geſtern geſagt, daß ihr euch mit Natur¬ dingen beſchäftiget, “fuhr er fort, „ darf ich wohl fra¬ gen, ob ihr eine beſtimmte Richtung gewählt habt, und welche. “
Ich war durch die Frage ein wenig in Verwirrung gebracht, und antwortete: „ Ich bin doch im Grunde nur ein gewöhnlicher Fußreiſender. Ich beſize gerade188 ſo viel Vermögen, um unabhängig leben zu können, und gehe in der Welt herum, um ſie anzuſehen. Ich habe wohl vor Kurzem alle Wiſſenſchaften angefan¬ gen; aber davon bin ich zurückgekommen, und habe mir nur hauptſächlich die einzelne Wiſſenſchaft der Erdbildung zur Aufgabe gemacht. Um die Werke, welche ich hierin leſe, zu ergänzen, ſuche ich auf den Reiſen, die ich in verſchiedene Landestheile mache, zu beobachten, ſchreibe meine Erfahrungen auf, und verfertige Zeichnungen. Da die Werke vor¬ züglich von Gebirgen handeln, ſo ſuche ich auch vor¬ züglich die Gebirge auf. Sie enthalten ſonſt auch vie¬ les, das mir lieb iſt. “
„ Dieſe Wiſſenſchaft iſt eine ſehr weite, “entgeg¬ nete mein Gaſtfreund, „ wenn ſie in der Bedeutung der Erdgeſchichte genommen wird. Sie ſchließt manche Wiſſenſchaften ein, und ſezt manche voraus. Die Berge ſind wohl jezt, wo dieſe Wiſſenſchaft noch jung iſt, und wo man ihre erſten und greifbarſten Züge ſammelt, von der größten Bedeutung; aber es wird auch die Ebene an die Reihe kommen, und ihre ein¬ fache und ſchwerer zu entziffernde Frage wird gewiß nicht von geringerer Wichtigkeit ſein. “
„ Sie wird gewiß wichtig ſein, “antwortete ich. 189Ich habe die Ebene und ihre Sprache, die ſie damals zu mir ſprach, ſchon geliebt, ehe ich meine jezige Auf¬ gabe betrieb, und ehe ich die Gebirge kannte. “
„ Ich glaube, “entgegnete mein Begleiter, „ daß in der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wiſſen¬ ſchaft, von welcher wir ſprechen, der des Sammelns iſt. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wiſſenſchaft immer voraus; das iſt nicht merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der Wiſſenſchaft ſein; aber das iſt merkwürdig, daß der Drang des Sammelns in die Geiſter kömmt, wenn eine Wiſſenſchaft erſcheinen ſoll, wenn ſie auch noch nicht wiſſen, was dieſe Wiſſenſchaft enthalten wird. Es geht gleichſam der Reiz der Ahnung in die Her¬ zen, wozu etwas da ſein könne, und wozu es Gott be¬ ſtellt haben möge. Aber ſelbſt ohne dieſen Reiz hat das Sammeln etwas ſehr Einnehmendes. Ich habe meine Marmore alle ſelber in den Gebirgen geſam¬ melt, und habe ihren Bruch aus den Felſen ihr Abſä¬ gen ihr Schleifen und ihre Einfügungen geleitet. Die Arbeit hat mir manche Freude gebracht, und ich glaube, daß mir nur darum dieſe Steine ſo lieb ſind, weil ich ſie ſelber geſucht habe. “ 190„ Habt ihr alle Arten unſers Gebirges? “fragte ich.
„ Ich habe nicht alle, “antwortete er, „ ich hätte ſie vielleicht nach und nach erhalten können, wenn ich meine Beſuche ſtettig hätte fortſezen können. Aber ſeit ich alt werde, wird es mir immer ſchwieriger. Wenn ich jezt zu ſeltnen Zeiten einmal an den Rand des Simmeiſes hinaufkomme, empfinde ich, daß es nicht mehr iſt, wie in der Jugend, wo man keine Grenze kennt als das Ende des Tages oder die bare Unmög¬ lichkeit. Weil ich nun nicht mehr ſo große Strecken durchreiſen kann, um etwa Marmor, der mir noch fehlt, in Blöcken aufzuſuchen, ſo wird die Ausbeute immer geringer; ſie wird auch aus dem Grunde ge¬ ringer, weil ich bereits ſo viel habe, und die Stellen alſo ſeltener ſind, wo ich ein noch Fehlendes finde. Da ich allen Marmor ſelber geſammelt habe, ſo kann ich wohl auch kein Stück an meinem Hauſe anbringen, das mir von fremder Hand käme. “
„ Ihr habt alſo wahrſcheinlich das Haus ſelber ge¬ baut, oder es ſehr umgeſtaltet? “fragte ich.
„ Ich habe es ſelber gebaut, “antwortete er. „ Das Wohnhaus, welches zu den umliegenden Gründen gehört, war früher der Meierhof, an dem ihr geſtern, da wir auf dem Bänkchen der Felderraſt ſaßen, Leute191 Gras mähen geſehen habt. Ich habe ihn von dem früheren Beſizer ſammt allen Ländereien, die dazu ge¬ hören, gekauft, habe das Haus auf dem Hügel ge¬ baut, und habe den Meierhof zum Wirthſchaftsge¬ bäude beſtimmt. “
„ Aber den Garten könnt ihr doch unmöglich neu angelegt haben? “
„ Das iſt eine eigene Entſtehungsgeſchichte, “er¬ wiederte er. „ Ich muß ſagen: ich habe ihn neu ange¬ legt, und ich muß ſagen: ich habe ihn nicht neu angelegt. Ich habe mir mein Wohnhaus für den Reſt meiner Tage auf einen Plaz gebaut, der mir entſpre¬ chend ſchien. Der Meierhof ſtand in dem Thale, wie meiſtens die Gebäude dieſer Art, damit ſie das fette Gras, das man häufig in den Wirthſchaften braucht, um das Gehöfte herum haben; ich wollte aber mit meiner Wohnung auf die Anhöhe. Da ſie nun fertig war, ſollte der Garten, der an dem Meierhofe ſtand, und nur mit vereinzelten Bäumen oder mit Gruppen von ihnen zu mir langte, heraufgezogen werden. Die Linde, unter welcher wir jezt ſizen, ſo wie ihre Kame¬ raden, die um ſie herum ſtehen, oder einen Garten¬ weg bilden, ſtehen da, wo ſie geſtanden ſind. Der große alte Kirſchbaum auf der Anhöhe ſtand mitten192 im Getreide. Ich zog die Anhöhe zu meinem Garten, legte einen Weg zu dem Kirſchbaume hinauf an, und baute um ihn ein Bänklein herum. Und ſo ging es mit vielen andern Bäumen. Manche, und darunter ſehr bedeutende, daß man es nicht glauben ſollte, ha¬ ben wir überſezt. Wir haben ſie im Winter mit einem großen Erdballen ausgegraben, ſie mit Anwendung von Seilen umgelegt, hieher geführt, und mit Hilfe von Hebeln und Balken in die vorgerichteten gut zu¬ bereiteten Gruben geſenkt. Waren die Zweige und Äſte gehörig gekürzt, ſo ſchlugen ſie im Frühlinge deſto kräftiger an, gleichſam als wären die Bäume zu neuem Leben erwacht. Die Geſträuche und das Zwerg¬ obſt iſt alles neu geſezt worden. In kürzerer Zeit, als man glauben ſollte, hatten wir die Freude, zu ſehen, daß der Garten ſo zuſammengewachſen erſchien, als wäre er nie an einem andern Plaze geweſen. In der Nähe des Meierhofes habe ich manchen Reſt von Bäumen fällen laſſen, wenn er dem Getrei¬ debau hinderlich war; denn ich legte dort Felder an, wo ich die Bäume genommen hatte, um an Boden auf jener Seite zu gewinnen, was ich auf dieſer durch Anlegung des Gartens verloren hatte. “
„ Ihr habt da einen reizenden Siz, “bemerkte ich.
193„ Nicht der Siz allein, das ganze Land iſt reizend, erwiederte er, „ und es iſt gut da wohnen, wenn man von den Menſchen kömmt, wo ſie ein wenig zu dicht an einander ſind, und wenn man für die Kräfte ſei¬ nes Weſens Thätigkeit mitbringt. Zuweilen muß man auch einen Blick in ſich ſelbſt thun. Doch ſoll man nicht ſtettig mit ſich allein auch in dem ſchönſten Lande ſein; man muß zu Zeiten wieder zu ſeiner Geſellſchaft zurückkehren, wäre es auch nur, um ſich an mancher glänzenden Menſchentrümmer, die aus unſrer Jugend noch übrig iſt, zu erquicken, oder an manchem feſten Thurm von einem Menſchen empor zu ſchauen, der ſich gerettet hat. Nach ſolchen Zeiten geht das Land¬ leben wieder wie lindes Öhl in das geöffnete Ge¬ müth. Man muß aber weit von der Stadt weg und von ihr unberührt ſein. In der Stadt kommen die Ver¬ änderungen, welche die Künſte und die Gewerbe be¬ wirkt haben, zur Erſcheinung: auf dem Lande die, welche naheliegendes Bedürfniß oder Einwirken der Naturgegenſtände auf einander hervorgebracht haben. Beide vertragen ſich nicht, und hat man das Erſte hinter ſich, ſo erſcheint das Zweite faſt wie ein Blei¬ bendes, und dann ruht vor dem Sinne ein ſchönes Beſtehendes, und zeigt ſich dem Nachdenken ein ſchö¬Stifter, Nachſommer. I. 13194nes Vergangenes, das ſich in menſchlichen Wandlun¬ gen und in Wandlungen von Naturdingen in eine Unendlichkeit zurückzieht. “
Ich antwortete nichts auf dieſe Rede, und wir ſchwiegen eine Weile.
Endlich ſagte er wieder: „ Ihr bleibt noch heute nachmittag und in der Nacht bei uns? “
„ Nach dem, wie ich hier aufgenommen worden bin, “antwortete ich, „ iſt es ein angenehmes Gefühl, noch den Tag und die Nacht hier zubringen zu dürfen. “
„ So iſt es gut, “erwiederte er, „ ihr müßt aber auch erlauben, daß ich euch einen Theil des Vormit¬ tags allein laſſe, weil die Stunde naht, in der ich zu Guſtav gehen, und ihm in ſeinem Lernen beiſtehen muß. “
„ Thut euch nur keinen Zwang an, “entgeg¬ nete ich.
„ So werde ich euch verlaſſen, “antwortete er, „ geht indeſſen ein wenig in dem Garten herum, oder ſeht das Feld an, oder beſucht das Haus. “
„ Ich wünſche für den Augenblick noch eine Weile unter dieſem Baume ſizen bleiben zu dürfen, “erwie¬ derte ich.
„ Thut, wie es euch gefällt, “antwortete er, „ nur195 erinnert euch, daß ich geſtern geſagt habe, daß in die¬ ſem Hauſe um zwölf Uhr zu Mittag gegeſſen wird. “
„ Ich erinnere mich, “ſagte ich, „ und werde keine Unordnung machen. “
Eine kleine Weile nach dieſen Worten ſtand er auf, ſtrich ſich mit ſeiner Hand die Thierchen und ſon¬ ſtigen Körperchen, die von dem Baume auf ihn her¬ abgefallen waren, aus den Haaren, empfahl ſich, und ging in der Richtung gegen das Haus zu.
13 *Ich ſaß noch eine geraume Zeit unter dem Baume, und legte mir zurecht, was ich geſehen und vernom¬ men. Die Bienen ſummten in dem Baume, und die Vögel ſangen in dem Garten. Das Haus, in wel¬ ches der alte Mann gegangen war, blickte mit einzel¬ nen Theilen, ſei es von der weißen Wand, ſei es von dem Ziegeldache durch das Grün der Bäume her¬ über, und zu meiner Rechten ging jenſeits der Gebüſche in der Gegend, in welcher ich das Schreinerhaus vermuthete, ein dünner Rauch in die Luft empor. Das Singen der Vögel und das Summen der Bienen war mir beinahe eine Stille, da ich durch meine Gebirgswanderungen an ſolche andauernde Laute gewohnt war. Die Stille wurde unterbrochen durch einzelne Laute, welche von den Arbeitern im Garten herrührten, entweder daß man197 das Quiken einer Pumpe hörte, mit der man Waſſer pumpte, und mittelſt Rinnen in eine Tonne leitete, um es Abends zum Begießen zu verwenden, oder daß eine menſchliche Rede ferner oder näher erſcholl, die einen Befehl oder eine Auskunft enthielt. Die ver¬ ſchiedenen Flecke des Himmels, welche durch das Grün der Bäume hereinſahen, waren ganz blau, und zeigten, wie ſehr mein Gaſtfreund mit ſeiner Voraus¬ ſage des ſchönen Wetters Recht gehabt hatte.
Ich riß mich endlich aus meinen Gedanken, und ging in dem Garten empor.
Ich ging zu dem großen Kirſchbaume. Ich ſuchte das Freie, weil ich in dem Garten wegen der be¬ ſchränkten Ausſicht doch nicht einen genauen Überblick in Hinſicht der Witterungsverhältniſſe machen konnte. Hier oben ſtand der Himmel als eine große ausge¬ dehnte Glocke über mir, und in der ganzen Glocke war kein einziges Wölklein. Das Hochgebirge, welches wir geſtern nicht hatten ſehen können, ſtand heute in ſeiner ganzen Klarheit an der Länge des ſüdlichen Himmels dahin. Vor ihm waren die Vorlande mit manchen weißen Punkten von Kirchen und Dörfern, näher zu mir zeigte ſich mancher Thurm von einer Ortſchaft, die ich kannte, und unter meinen Füſſen198 ruhte der Garten und das Haus, in welchem ich geſtern ſo freundlich aufgenommen worden war. Die Getreide, welche nicht weit von mir hinter der Planke des Gartens ſtanden, und die geſtern ganz ruhig ge¬ weſen waren, befanden ſich heute in einem zwar ſchwachen aber fröhlichen Wogen. Ich mußte denken, daß das Wetter nicht nur jezt ſo ſchön ſei, ſondern daß es noch lange ſo ſchön bleiben werde.
Von dem großen Kirſchbaume ging ich wieder in den Garten zurück, und betrachtete verſchiedene Ge¬ genſtände.
Ich ging auch noch einmal in das Gewächshaus. Ich konnte nun manches genauer anſehen, als es mir früher möglich geweſen war, da ich mit meinem Be¬ gleiter das Haus gleichſam nur durchſchritten hatte. Der weiße Gärtner geſellte ſich zu mir, erläuterte mir manches, gab mir über verſchiedenes Auskunft, und beantwortete bereitwillig alle meine Fragen, wie weit ſeine Kenntniſſe und ſeine Überſicht es zuließen. Als ich das Gebäude verlaſſen wollte, ſagte er mir, er wolle mir noch etwas zeigen, was der Herr mir zu zeigen vergeſſen habe. Er führte mich auf einen Plaz, der mit Sand bedeckt war, der von allen Seiten der Sonne zugänglich, und doch durch Bäume und Ge¬199 büſche, die in einer gewiſſen Entfernung umga¬ ben, vor heftigen Winden geſchüzt war. Mitten auf dem Plaze ſtand ein kleines gläſernes Haus, welches zum Theile in der Erde ſteckte. Dieſer Umſtand und dann der, daß es von Bäumen umringt war, mach¬ ten, daß ich es früher nicht wahrgenommen hatte. Als wir näher kamen, ſah ich, daß es ganz von Glas ſei, und nur ſo viel Gerippe habe, als ſich zur Feſtig¬ keit der Tafeln nothwendig zeige. Es war auch mit einem ſtarken eiſernen Gitter wahrſcheinlich des Ha¬ gels wegen umſpannt. Als wir die einigen Stufen von der Fläche des Gartens in das Innere hinabge¬ ſtiegen waren, ſah ich, daß ſich Pflanzen in dem Hauſe befanden, und zwar nur eine einzige Gattung, nehmlich lauter Cactus. Mehr als hundert Arten ſtanden in Tauſenden von kleinen Töpfen da. Die niederen und runden ſtanden frei, die langen, welche Luftwurzeln treiben, hatten Wände von Baumrinden neben ſich, die mit Erde eingerieben waren, damit die Pflanzen die Luftwurzeln in ſie ſchlagen konnten. Alle Glastafeln über unſeren Häuptern waren geöffnet, daß die freie Luft den ganzen Raum durchdringen konnte, und doch die Wirkung der Sonnenſtrahlen nicht beirrt war. Die Töpfe ſtanden in Reihen auf200 hölzernen Geſtellen, die Geſtelle aber waren wieder unterbrochen, ſo daß man in allen Richtungen herum gehen, und alles betrachten konnte. Der Gärtner führte mich herum, und zeigte mir die Abtheilungen und Unterabtheilungen, in welchen die Gewächſe beiſam¬ menſtanden.
Ich ſagte, daß ich mich freue, daß mein Gaſt¬ freund auf die Familie dieſer Pflanzen eine ſolche Sorgfalt wende, da ſie gewiß beſonders und merk¬ würdig wären.
„ Wenn man ſie länger betrachtet und länger mit ihnen umgeht, werden ſie immer merkwürdiger, “ant¬ wortete mein Nachbar. „ Die Stellung ihrer Bildun¬ gen iſt ſo mannigfaltig, die Stacheln können zu einer wahren Zierde und zu einer Bewaffnung dienen, und die Blüthen ſind verwunderlich wie Märchen. In ei¬ nem Monate würdet ihr ſehr ſchöne ſehen, jezt ſind ſie noch zu wenig entwickelt. “
Ich ſagte ihm, daß ich ſchon Blüthen geſehen habe, nicht blos ſolche, die, wie ſchön ſie ſeien, doch überall wachſen, ſondern auch andere, die ſelten ſind, und ſolche, die mit der Schönheit den lieblichen Duft vereinen. Ich ſagte ihm, daß ich in früheren Zeiten Pflanzenkunde getrieben habe, zwar nicht in Bezug201 auf Gartenpflege ſondern zu meiner Belehrung und Erheiterung, und daß die Cactus nicht das Lezte ge¬ weſen wären, dem ich eine Aufmerkſamkeit geſchenkt habe.
„ Wenn der Herr alte Sachen ſammelt, “ſagte er, „ ſo wäre es wohl auch recht, wenn er dies auch mit alten Pflanzen thäte. Im Inghofe iſt in dem Ge¬ wächshauſe ein Cereus, der ſtärker als ein Mannes¬ arm ſamt ſeiner Bekleidung iſt. Er geht an der Wand empor, biegt ſich um, und wächſt an der Decke des Hauſes hin, an welcher er mit Bändern befeſtigt iſt. Der untere Theil iſt ſchon Holz geworden, daß man Namen eingeſchnitten hat. Ich glaube, es iſt ein Ce¬ reus peruvianus. Sie ſchäzen ihn nicht ſo hoch, und der Herr ſollte den Cereus kaufen, wenn man auch wegen ſeiner Länge drei Wägen aneinander binden müßte, um ihn herüber bringen zu können. Er iſt ge¬ wiß ſchon zweihundert Jahre alt. “
Ich antwortete auf dieſe Rede nicht, um ihm ſeine Zeitrechnung in Hinſicht der Cactuspflege in Europa nicht zu ſtören.
Ich dankte ihm, da ich endlich alles geſehen hatte, für ſeine Mühe, und verließ das kleine Haus. Er202 verabſchiedete ſich ſehr freundlich und mit vielen Ver¬ beugungen.
Ich ging nun zu dem Eingangsgitter, durch wel¬ ches mein Gaſtfreund mich geſtern hereingelaſſen hatte, weil ich auch außerhalb des Gartens ein wenig her¬ umſehen wollte. Ein Arbeiter, welcher in der Nähe beſchäftigt war, öffnete mir die Thür, weil ich die Einrichtung des Schloſſes nicht kannte, und ich trat in das Freie. Ich ging auf der Seite des Hügels, auf welcher ich geſtern heraufgekommen war, in meh¬ reren Richtungen herum. Wenn ich auch die Gegend des Landes, in der ich mich befand, im Allgemeinen ſehr wohl kannte, ſo hatte ich mich doch nie ſo lange in ihr aufgehalten, um in das Einzelne eindringen zu können. Ich ſah jezt, daß es ein ſehr fruchtbarer ſchö¬ ner Theil ſei, der mich aufgenommen hatte, daß ſich anmuthige Stellen zwiſchen die Krümmungen der Hügel hineinziehen, und daß ein dichtes Bewohnt¬ ſein der Gegend etwas ſehr Heiteres ertheile. Der Tag wurde nach und nach immer wärmer, ohne heiß zu ſein, und es war jene Stille, die zur Zeit der Ro¬ ſenblüthe weit mehr als zu einer anderen auf den Fel¬ dern iſt. In dieſer Zeit ſind alle Feldgewächſe grün, ſie ſind im Wachſen begriffen, und wenn nicht viele203 Wieſen in der Gegend ſind, auf welchen zu jener Zeit die Heuernte vorkömmt, ſo haben die Leute keine Arbeit auf den Feldern, und laſſen ſie allein unter der befruch¬ tenden Sonne. Die Stille war wie in dem Hochge¬ birge; aber ſie war nicht ſo einſam, weil man über¬ all von der Geſelligkeit der Nährpflanzen umge¬ ben war.
Der Klang einer fernen Dorfglocke und meine Uhr, die ich herauszog, erinnerte mich daran, daß es Mittag ſei.
Ich ging dem Hauſe zu, das Gitter wurde mir auf einen Zug an der Glockenſtange geöffnet, und ich ging in das Speiſezimmer. Dort fand ich meinen Gaſtfreund und Guſtav, und wir ſezten uns zu Tiſche. Wir drei waren allein bei dem Mahle.
Während des Eſſens ſagte mein Gaſtfreund: „ Ihr werdet euch wundern, daß wir ſo allein unſere Speiſen verzehren. Es iſt in der That ſehr zu bedauern, daß die alte Sitte abgekommen iſt, daß der Herr des Hauſes zugleich mit den Seinigen und ſeinem Ge¬ ſinde beim Mahle ſizt. Die Dienſtleute gehören auf dieſe Weiſe zu der Familie, ſie dienen oft lebenslang in demſelben Hauſe, der Herr lebt mit ihnen ein an¬ genehmes gemeinſchaftliches Leben, und weil alles,204 was im Staate und in der Menſchlichkeit gut iſt, von der Familie kömmt, ſo werden ſie nicht blos gute Dienſtleute, die den Dienſt lieben, ſondern leicht auch gute Menſchen, die in einfacher Frömmigkeit an dem Hauſe wie an einer unverrückbaren Kirche hängen, und denen der Herr ein zuverläſſiger Freund iſt. Seit ſie aber von ihm getrennt ſind, für die Ar¬ beit bezahlt werden, und abgeſondert ihre Nahrung erhalten, gehören ſie nicht zu ihm nicht zu ſeinem Kinde, haben andere Zwecke, widerſtreben ihm, ver¬ laſſen ihn leicht, und fallen, da ſie familienlos und ohne Bildung ſind, leicht dem Laſter anheim. Die Kluft zwiſchen den ſogenannten Gebildeten und Un¬ gebildeten wird immer größer; wenn noch erſt auch der Landmann ſeine Speiſen in ſeinem abgeſonderten Stübchen verzehrt, wird dort eine unnatürliche Unter¬ ſcheidung, wo eine natürliche nicht vorhanden gewe¬ ſen wäre. “
„ Ich habe, “fuhr er nach einer Weile fort, „ dieſe Sitte in unſerem hieſigen Hauſe einführen wollen; allein die Leute waren auf eine andere Weiſe heran¬ gewachſen, waren in ſich ſelber hineingewachſen, konnten ſich an ein Fremdes nicht anſchließen, und hätten nur die Freiheit ihres Weſens verloren. Es205 iſt kein Zweifel, daß ſie ſich nach und nach in das Verhältniß würden eingelebt haben, beſonders die Jüngeren, bei denen die Erziehung noch wirkt; allein ich bin ſo alt, daß das Unternehmen weit über den Reſt meiner Jahre hinausgeht. Ich befreite daher meine Dienſtleute von dem Zwange, und jüngere Nachfolger mögen den Verſuch wieder erneuern, wenn ſie meine Meinung theilen. “
Mir fiel bei dieſer Rede mein Elternhaus ein, in welchem es wohlthuend iſt, daß wenigſtens die Handlungsdiener meines Vaters mit uns an dem Mittagstiſche eſſen.
Die Zeit nach dem Mittagseſſen ward dazu be¬ ſtimmt, den Meierhof zu beſuchen, und Guſtav durfte uns begleiten.
Wir gingen nicht den Weg, der an dem großen Kirſchbaume vorüber und auf der Höhe der Felder dahin führt. Dieſer Weg, ſagte mein Gaſtfreund, ſei mir ſchon bekannt; ſondern wir gingen in der Nähe der Bienenhütte durch ein Pförtchen in das Freie, und gingen auf einem Pfade über den ſanf¬ ten Abhang hinab, der noch mit hohen Obſtbäumen, die die beſſeren Arten des Landes trugen, und von dem Meierhofgarten übrig geblieben waren, bedeckt206 war. Die Wieſen, über die wir wandelten, waren ſo gut, wie ich ſie ſelten angetroffen habe.
Da wir zu dem Gebäude gekommen waren, ſah ich, daß es ein weitläufiges Viereck war wie die grö¬ ßeren Landhöfe der Gegend, daß man aber hie und da daran gebeſſert, und daß man es durch Zubauten erweitert hatte. Der Hofraum war an den Gebäuden herum mit breiten Steinen gepflaſtert, der übrige Theil desſelben war mit grobem Quarzſande bedeckt, der öfter umgearbeitet wurde. Die Gebäude, welche dieſen Raum umgaben, enthielten die Ställe Scheunen Wagengewölbe und Wohnungen. Das Vorraths¬ haus ſtand weiter entfernt in dem Garten. Wir be¬ ſahen die Thiere, welche eben zu Hauſe waren, von den Pferden und Rindern angefangen bis zu den Schweinen und dem Federvieh hinunter. Für die Rinder war hinter dem Hauſe ein ſchöner Plaz ein¬ gefangen, auf welchem ſie in freie Luft gelaſſen wer¬ den konnten. Es ſtrömte friſches Waſſer in einer tie¬ fen Steinrinne durch den Plaz, von welchem ſie trin¬ ken konnten. Ich hatte dieſe Einrichtung nie geſehen, und ſie gefiel mir ſehr. Ein ähnlicher Plaz war für das Federvieh eingefangen, und nicht weit da¬ von war ein Anger, auf welchem ſich die Fülle[n]207tummeln konnten. Wir beſuchten auch die Wohnun¬ gen der Leute. Hier fielen mir die großen ſchönen Steinrahmen auf, die an den Fenſtern geſezt wa¬ ren, auch konnte man leicht die bedeutende Vergrö¬ ßerung der Fenſter ſehen. In der Wagenhalle waren nicht blos die Wägen und anderen Fahrzeuge ſondern auch die übrigen Landwirthſchaftsgeräthe in Vorrathe vorhanden. Die Düngerſtätte, welche auch hier wie in den meiſten Wirthſchaftshäuſern unſeres Landes in dem Hofe geweſen war, iſt auf einen Plaz hinter dem Hauſe verwieſen worden, den ringsum hohe Gebüſche umfingen.
„ Es iſt hier noch vieles im Entſtehen und Wer¬ den begriffen, “ſagte mein Gaſtfreund, „ aber es geht langſam vorwärts. Man muß die Vorurtheile der Leute ſchonen, die unter anderen Umgebungen heran¬ gewachſen und ſie gewohnt ſind, damit ſie nicht durch das Neue beirrt werden, und ihre Liebe zur Arbeit verlieren. Wir müſſen uns beruhigen, daß ſchon ſo vieles geſchehen iſt, und auf das Weitere hoffen. “
Die Leute, welche dieſes Haus bewohnten, waren damit beſchäftigt, das Heu, welches geſtern gemäht worden war, einzubringen, oder, wo es noth that, vollkommen zu trocknen. Mein Gaſtfreund redete mit208 manchem, und fragte um Verſchiedenes, das ſich auf die täglichen Geſchäfte bezog.
Als wir von der entgegengeſehen Seite des Hau¬ ſes fortgingen, ſahen wir auch den Garten, in wel¬ chem die Gemüſe und andere Dinge für den Gebrauch des Hofes gezogen wurden.
Auf dem Rückwege ſchlugen wir eine andere Rich¬ tung ein, als auf der wir gekommen waren. Hatten wir auf unſerem Herwege den großen Kirſchbaum nördlich gelaſſen, ſo ließen wir ihn jezt ſüdlich, ſo daß es ſchien, daß wir den ganzen Garten des Hau¬ ſes umgehen würden. Wir ſtiegen gegen jene Wieſe hinan, von der mir mein Gaſtfreund geſtern geſagt hatte, daß ſie die nördliche Grenze ſeines Beſizthums ſei, und daß er ſie nicht nach ſeinem Willen habe ver¬ beſſern können. Der Weg führte ſachte aufwärts, und in der Tiefe der Wieſe kam uns in vielen Windungen ein Bächlein, das mit Schilf und Geſtrippe eingefaßt war, entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren, ſagte mein Begleiter: „ Das iſt die Wieſe, die ich euch geſtern von dem Hügel herab gezeigt habe, und von der ich geſagt habe, daß bis dahin unſer Eigenthum gehe, und daß ich ſie nicht habe einrichten können, wie ich gewollt hätte. Ihr ſeht, daß die Stellen an dem209 Bache verſumpft ſind, und ſaures Gras tragen. Dem wäre leicht abzuhelfen, und das mildeſte Gras zu er¬ zielen, wenn man dem Bache einen geraden Lauf gäbe, daß er ſchneller abflöſſe, die Wände hie und da mit Steinen ausmauerte und die Niederungen mit trockener Erde anfüllte. Ich kann euch jezt den Grund zeigen, weßhalb dieſes nicht geſchieht. Ihr ſeht an beiden Seiten des Baches Erlenſchößlinge wachſen. Wenn ihr näher herzutretet, ſo werdet ihr ſehen, daß dieſe Schößlinge aus dicken Blöcken gleich¬ ſam aus Knollen und Höckern von Holz hervorwach¬ ſen, welches Holz theils über der Erde iſt, theils in dem feuchten Boden derſelben ſteckt. “
Wir waren bei dieſen Worten zu dem Bache hin¬ zugegangen, und ich ſah, daß es ſo war.
„ Dieſe ungeſtalteten Anhäufungen von Holz, “fuhr er fort, „ aus denen die dünnen Ruthen oder krüppelhafte Äſte hervorragen, bilden ſich hier in ſumpfigem Boden, ſie entſtehen aber auch im Sande oder in Steinen, und ſind ein Aftererzeugniß des ſonſt recht ſchön emporwach¬ ſenden Erlenbaumes. In dem vieltheiligen Streben des Holzes, eine Menge Ruthen oder zwieträchtige Äſte an¬ zuſezen und ſich ſelber dabei zu vergrößern entſteht ein ſolches Verwinden und Drehen der Faſern und Rinden,Stifter, Nachſommer. I. 14210daß, wenn man einen ſolchen Block auseinanderſägt, und die Sägefläche glättet, ſich die ſchönſte Geſtaltung von Farbe und Zeichnung in Ringen Flammen und allerlei Schlangenzügen darſtellt, ſo daß dieſe Gat¬ tung Erlenholz ſehr geſucht für Schreinerarbeiten und ſehr koſtbar iſt. Als ich das Anweſen hier ge¬ kauft, die Wieſe beſehen, und die Erlenblöcke entdeckt hatte, ließ ich einen ausgraben, auseinanderſägen, und unterſuchte ihn dann. Da fand ich, der ich da¬ mals im Erkennen des Holzes ſchon mehrere Übung hatte, daß dieſe Blöcke zu den ſchönſten gehören, die beſtehen, und daß die feurige Farbe und der weiche ſeidenartige Glanz des Holzes, auf welche Dinge man beſonders das Augenmerk richtet, kaum ihres Gleichen haben dürften. Ich ließ mehrere Blöcke ausgraben, und Blätter aus ihnen ſchneiden. Ihr werdet die Verwendung derſelben in unſerer Nachbarſchaft ſehen, wenn ihr uns wieder beſuchen wollt, und uns Zeit gebt, euch dorthin zu führen, wo ſie ſind. Die übrigen Blöcke ließ ich in dem Boden als einen Schaz, der da bleiben, und ſich vermehren ſollte. Nur wenn einer derſelben nicht mehr zu treiben, ſondern vielmehr abzuſterben beginnt, wird er herausgenom¬ men, und wird zu Blättern geſchnitten, welche ich211 dann zu künftigen Arbeiten aufbewahre, oder ver¬ kaufe. An ſeiner Stelle bildet ſich dann leicht ein an¬ derer. Zu dem Entſchluſſe, dieſen Anwuchs zu pfle¬ gen, kam ich, nachdem ich einerſeits vorher nach und nach die Gegend um unſer Haus immer näher kennen gelernt, alle Thalmulden und Bachrinnen erforſcht und nirgends auch nur annähernd ſo brauchbares Erlenholz gefunden hatte, und nachdem anderſeits auch das, was mir aus mein Verlangen aus mehrern Orten eingeſendet worden war, ſich dem unſeren als nicht gleichkommend gezeigt hatte. Ich ließ oberhalb des Erlenwuchſes einen Waſſerbau aufführen, um die Pflanzung vor Überſchwemmung und Überkieſung zu ſichern, und das zu ſehr anſchwellende Waſſer in ein anderes Rinnſal zu leiten. Meine Nachbarn ſahen das Zweckdienliche der Sache ein, und zwei derſelben legten ſogar in öden Gründen, die nicht zu entwäſſern waren, ſolche Erlenpflanzungen an. Mit welchem Er¬ folge dies geſchah, läßt ſich noch nicht ermitteln, da die Pflanzen noch zu jung ſind. “
Wir betrachteten die Reihen dieſer Gewächſe, und gingen dann weiter.
Wir gingen die Wieſe entlang, ſtreiften an einem Gehölze hin, überſchritten den Waſſerbau, von dem14 *212mein Gaſtfreund geſprochen hatte, und begannen nicht nur den Garten ſondern den ganzen Getreidehügel, auf dem das Haus ſteht, zu umgehen.
Da die Sonne immer wärmer wenn auch nicht gar heiß ſchien wunderte ich mich, daß keiner von meinen zwei Begleitern eine Bedeckung auf dem Haupte trug. Sie waren ohne einer ſolchen von dem Hauſe fortgegangen. Der alte Mann breitete dem Glanze vor Sonne die Fülle ſeiner weißen Haare unter, und der Zögling trug auf ſeinem Scheitel die dichten glänzenden braunen Locken. Ich wußte nicht, kamen mir die beiden ohne Kopfbedeckung ſonderbar vor, oder ich neben ihnen mit meinem Reiſehute auf dem Haupte. Der Jüngling hatte wenigſtens den Vortheil, daß ihm die Sonne die Wangen noch mehr röthete, und noch ſchöner färbte, als ſie ſonſt waren.
Ich betrachtete ihn überhaupt gerne. Sein leichter Gang war ein heiterer Frühlingstag gegen den zwar auch noch kräftigen aber beſtimmten und abgemeſſe¬ nen Schritt ſeines Begleiters, ſeine ſchlanke Geſtalt war der fröhliche Anfang, die ſeines Erziehers das Hinneigen zum Ende. Was ſein Benehmen anbe¬ langt, ſo war er zurückgezogen und beſcheiden, und miſchte ſich nicht in die Geſpräche, außer wenn er ge¬213 fragt wurde. Ich wendete mich häufig an ihn, und fragte ihn um verſchiedene Dinge, beſonders um ſolche, die die Gegend umher betrafen, und deren Kenntniß ich bei ihm vorausſezen mußte. Er antwor¬ tete ſicher, und mit einer gewiſſen Ehrerbiethung ge¬ gen mich, obwohl ich ihm an Jahren nicht ſo ferne ſtand als ſein Erzieher. Er ging meiſtens, auch wenn der Weg breit genug geweſen wäre, hinter uns.
Als wir den Hügel vollends umgangen hatten, und an mehreren ländlichen Wohnungen vorbeigekom¬ men waren, ſtiegen wir auf der nehmlichen Seite und auf dem nehmlichen Wege gegen das Haus empor, auf welchem ich geſtern gegen dasſelbe hinangekommen war. Da wir es erreicht hatten, traten uns die Roſen entgegen, wie ſie mir geſtern entgegengetreten waren. Ich nahm von dieſem Anblicke Gelegenheit, meinen Gaſtfreund der Roſen wegen zu fragen, da ich über¬ haupt geſonnen war, dieſer Blumen willen einmal eine Frage zu thun. Ich bath ihn, ob wir denn zu beſſerer Betrachtung nicht näher auf den großen Sandplaz treten wollten. Wir thaten es, und ſtan¬ den vor der ganzen Wand von Blumen, die den un¬ teren Theil des weißen Hauſes deckte.
Ich ſagte, er müſſe ein beſonderer Freund dieſer214 Blumen ſein, da er ſo viele Arten hege, und da die Pflanzen hier in einer Vollkommenheit zu ſehen ſeien wie ſonſt nirgends.
„ Ich liebe dieſe Blume allerdings ſehr, “antwor¬ tete er, „ halte ſie auch für die ſchönſte, und weiß wirk¬ lich nicht mehr, welche von dieſen beiden Empfindun¬ gen aus der andern hervorgegangen iſt. “
„ Ich wäre auch geneigt, “ſagte ich, „ die Roſe für die ſchönſte Blume zu halten. Die Camellia ſteht ihr nahe, dieſelbe iſt zart klar und rein, oft iſt ſie voll von Pracht; aber ſie hat immer für uns etwas Fremdes, ſie ſteht immer mit einem gewiſſen vornehmen An¬ ſtande da: das Weiche, ich möchte den Ausdruck ge¬ brauchen, das Süße der Roſe hat ſie nicht. Wir wol¬ len von dem Geruche gar nicht einmal reden; denn der gehört nicht hieher. “
„ Nein, “ſagte er, „ der gehört nicht hieher, wenn wir von der Schönheit ſprechen; aber gehen wir über die Schönheit hinaus, und ſprechen wir von dem Geruche, ſo dürfte keiner ſein, der dem Roſengeruche an Lieblichkeit gleichkömmt. “
„ Darüber könnte nach einzelner Vorliebe geſtrit¬ ten werden, “antwortete ich, „ aber gewiß wird die Roſe weit mehr Freunde als Gegner haben. Sie wird215 ſowohl jezt geehrt, als ſie in der Vergangenheit ge¬ ehrt wurde. Ihr Bild iſt zu Vergleichen das ge¬ bräuchlichſte, mit ihrer Farbe wird die Jugend und Schönheit geſchmückt, man umringt Wohnungen mit ihr, ihr Geruch wird für ein Kleinod gehalten, und als etwas Köſtliches verſendet, und es hat Völker gegeben, die die Roſenpflege beſonders ſchüzten, wie ja die waffenkundigen Römer ſich mit Roſen kränzten. Beſonders liebenswerth iſt ſie, wenn ſie ſo zur An¬ ſchauung gebracht wird wie hier, wenn ſie durch eigen¬ thümliche Mannigfaltigkeit und Zuſammenſtellung er¬ höht, und ihr gleichſam geſchmeichelt wird. Erſtens iſt hier eine wahre Gewalt von Roſen, dann ſind ſie an der großen weißen Fläche des Hauſes vertheilt, von der ſie ſich abheben; vor ihnen iſt die weiße Fläche des Sandes, und dieſe wird wieder durch das grüne Raſenband und die Hecke wie durch ein grünes Samt¬ band und eine grüne Verzierung von dem Getreide¬ felde getrennt. “
„ Ich habe aus dieſen Umſtand nicht eigens ge¬ dacht, “ſagte er, „ als ich ſie pflanzte, obwohl ich dar¬ auf ſah, daß ſie ſich auch ſo ſchön als möglich dar¬ ſtellten. “
„ Aber ich begreife nicht, wie ſie hier ſo gut ge¬216 deihen können, “entgegnete ich. „ Sie haben hier ei¬ gentlich die ungünſtigſten Bedingungen. Da iſt das hölzerne Gitter, an das ſie mit Zwang gebunden ſind, die weiße Wand, an der ſich die brennenden Sonnen¬ ſtrahlen fangen, das Überdach, welches dem Regen Thaue und dem Einwirken des Himmelsgewölbes hinderlich iſt, und endlich hält das Haus ja ſelber den freien Luftzug ab. “
„ Wir haben dieſes Gedeihen nur nach und nach hervorrufen können, “antwortete er, „ und es ſind viele Fehlgriffe gethan worden. Wir lernten aber, und griffen die Sache dann der Ordnung nach an. Es wurde die Erde, welche die Roſen vorzüglich lieben, theils von anderen Orten verſchrieben, theils nach Angabe von Büchern, die ich hiezu anſchaffte, im Garten bereitet. Ich bin wohl nicht ganz unerfahren hieher gekommen, ich hatte auch vorher ſchon Roſen gezogen, und habe hier meine Erfahrungen angewen¬ det. Als die Erde bereit war, wurde ein tiefer breiter Graben vor dem Hauſe gemacht, und mit der Erde gefüllt. Hierauf wurde das hölzerne Gitter, welches reichlich mit Öhlfarbe beſtrichen war, daß es von Waſſer nicht in Fäulniß geſezt werden konnte, aufge¬ richtet, und eines Frühlings wurden die Roſenpflan¬217 zen, die ich entweder ſelbſt gezogen oder von Blumen¬ züchtern eingeſendet erhalten hatte, in die lockere Erde geſezt. Da ſie wuchſen, wurden ſie angebunden, im Laufe der Jahre verſezt, verwechſelt, beſchnitten und dergleichen, bis ſich die Wand allgemach erfüllte. In dem Garten ſind die Vorrathsbeete angelegt worden, gleichſam die Schule, in welcher die gezogen werden, die einmal hieher kommen ſollen. Wir haben gegen die Sonne eine Rolle Leinwand unter dem Dache an¬ bringen laſſen, die durch einige leichte Züge mit Schnüren in ein Dach über die Roſen verwandelt werden kann, das nur gedämpfte Strahlen durchläßt. So werden die Pflanzen vor der zu heißen Sommer¬ ſonne und die Blumen vor derjenigen Sonne ge¬ ſchüzt, die ihnen ſchaden könnte. Die heutige iſt ih¬ nen nicht zu heiß, ihr ſeht, daß ſie ſie fröhlich aus¬ halten. Was ihr von Thau und Regen ſagt, ſo ſteht das Gitter nicht ſo nahe an dem Hauſe, daß die Ein¬ flüſſe des freien Himmels ganz abgehalten werden. Thau ſammelt ſich auf den Roſen und ſelbſt Regen träufelt auf ſie herunter. Damit wir aber doch nach¬ helfen, und zu jener Zeit Waſſer geben können, wo es der Himmel verſagt, haben wir eine hohle Walze unter der Dachrinne, die mit äußerſt feinen Löchern218 verſehen iſt, und aus Tonnen, die unter dem Dache ſtehen, mit Waſſer gefüllt werden kann. Durch einen leichten Druck werden die Löcher geöffnet, und das Waſſer fällt wie Thau auf die Roſen nieder. Es iſt wirklich ein angenehmer Anblick, zu ſehen, wie in Zeiten hoher Noth das Waſſer von Blättern und Zweigen rieſelt, und dieſelben ſich daran erfriſchen. Und damit es endlich nicht an Luft gebricht, wie ihr fürchtet, gibt es ein leichtes Mittel. Zuerſt iſt auf die¬ ſem Hügel ein ſchwacher Luftzug ohnehin immer vor¬ handen, und ſtreicht an der Wand des Hauſes. Soll¬ ten aber die Blumen an ganz ſtillen Tagen doch einer Luft bedürfen, ſo werden alle Fenſter des Erdgeſchoſ¬ ſes geöffnet, und zwar ſowohl an dieſer Wand als auch an der entgegengeſezten. Da nun die entgegen¬ geſezte Seite die nördliche iſt, und dort die Luft durch den Schatten abgekühlt wird, ſo ſtrömt ſie bei jenen Fenſtern herein und bei denen der Roſen heraus. Ihr könnt da an den windſtillſten Tagen ein ſanftes Fä¬ cheln der Blätter ſehen. “
„ Das ſind bedeutende Anſtalten, “erwiederte ich, „ und beweiſen eure Liebe zu dieſen Blumen; aber aus ihnen allein erklärt ſich doch noch nicht die beſondere Vollkommenheit dieſer Gewächſe, die ich nirgends219 geſehen habe, ſo daß keine unvollkommene Blume kein dürrer Zweig kein unregelmäßiges Blatt vor¬ kömmt. “
„ Zum Theile erklärt ſich die Thatſache doch wohl aus dieſen Anſtalten, “ſagte er. „ Luft Sonne und Re¬ gen ſind durch die ſüdliche Lage des Standortes und die Vorrichtungen ſo weit verbeſſert, als ſie hier ver¬ beſſert werden können. Noch mehr iſt an der Erde ge¬ than worden. Da wir nicht wiſſen, welches denn der lezte Grund des Gedeihens lebendiger Weſen über¬ haupt iſt, ſo ſchloß ich, daß den Roſen am meiſten gut thun müſſe, was von Roſen kömmt. Wir ließen daher ſeit jeher alle Roſenabfälle ſammeln, beſonders die Blätter und ſelbſt die Zweige der wilden Roſen, welche ſich in der ganzen Gegend befinden. Dieſe Ab¬ fälle werden zu Hügeln in einem abgelegenen Theile unſeres Gartens zuſammengethan, den Einflüſſen von Luft und Regen ausgeſezt, und ſo bereitet ſich die Roſenerde. Wenn in einem Hügel ſich keine Spur mehr von Pflanzenthum zeigt, und nichts als milde Erde vor die Augen tritt, ſo wird dieſe den Roſen ge¬ geben. Die Pflanzen, welche neu geſezt werden, er¬ halten in ihrem Graben gleich ſo viel Erde, daß ſie auf mehrere Jahre verſorgt ſind. Ältere Roſen,220 welche von ihrem Standboden längere Zeit gezehrt haben, werden mit einer Erneuerung betheilt. Ent¬ weder wird die Erde oberhalb ihrer Wurzeln wegge¬ than, und ihnen neue gegeben, oder ſie werden ganz ausgehoben, und ihr Standpunkt durchaus mit fri¬ ſcher Erde erfüllt. Es iſt auffällig ſichtbar, wie ſich Blatt und Blume an dieſer Gabe erfreuen. Aber troz der Erde und der Luft und der Sonne und der Feuch¬ tigkeit würdet ihr die Roſen hier nicht ſo ſchön ſehen, als ihr ſie ſeht, wenn nicht noch andre Sorgfalt an¬ gewendet würde; denn immer entſtehen manche Übel aus Urſachen, die wir nicht ergründen können, oder die, wenn ſie auch ergründet ſind, wir nicht zu verei¬ teln vermögen. Endlich trift ja die Gewächſe wie alles Lebende der natürliche Tod. Kranke Pflanzen werden nun bei uns ſogleich ausgehoben, in den Garten, gleichſam in das Roſenhospital gethan, und durch andere aus der Schule erſezt. Abgeſtorbene Bäum¬ chen kommen hier nicht leicht vor, weil ſie ſchon in der Zeit des Abſterbens weggethan werden. Tödtet aber eine Urſache eines ſchnell, ſo wird es ohne Ver¬ zug entfernt. Eben ſo werden Theile, die erkranken oder zu Grunde gehen, von dem Gitter getrennt. Die beſte Zeit iſt der Frühling, wo die Zweige blos liegen. 221Da werden Winkelleitern, die uns den Zugang zu allen Theilen geſtatten, angelegt, und es wird das ganze Gitter unterſucht. Man reinigt die Rinde, pflegt ſie, verbindet ihre Wunden, knüpft die Zweige an, und ſchneidet das Untaugliche weg. Aber auch im Sommer entfernen wir gleich jedes fehlerhafte Blatt und jede unvollſtändige Blume. Es haben nach und nach alle im Hauſe eine Neigung zu den Roſen bekommen, ſehen gerne nach, und zeigen es ſogleich an, wenn ſich etwas Unrechtes bemerken läßt. Auch in der Umgegend hat man Wohlgefallen an dieſen Blumen gefunden, man ſezt ſie in Gärten und pflegt ſie, ich ſchenke den Leuten die Pflanzen aus meinen Vermehrungsbeeten, und unterrichte ſie in der Behand¬ lung. Zwei Wegeſtunden von hier iſt ein Bauer, der wie ich eine ganze Wand ſeines Hauſes mit Roſen bepflanzt hat. “
„ Je mehr es mir wichtig erſcheint, wie ihr mit euren Roſen umgeht, “antwortete ich, „ und für je wichtiger ihr ſie ſelbſt betrachtet, deſto mehr muß ich doch die Frage thun, warum ihr denn gerade vorzugs¬ weiſe an dieſer Wand eures Hauſes die Roſen zieht, wo ihr Standort doch nicht ſo erſprießlich iſt, und wo man ſolche Anſtalten machen muß, um ihr völli¬222 ges Gedeihen zu ſichern. Es iſt zwar ſehr ſchön, wie ſie ſich hier ausbreiten und darſtellen; aber ſollte man ſie denn im Garten nicht auch in Stellungen und Gruppen bringen können, die eben ſo ſchön oder ſchö¬ ner wären als dieſe hier, und noch den Vortheil hät¬ ten, daß ihre Pflege viel leichter wäre. “
„ Ich habe die Roſen an die Wand des Hauſes geſezt, “erwiederte er, „ weil ſich eine Jugenderinne¬ rung an dieſe Blume knüpft, und mir die Art, ſie ſo zu ziehen, lieb macht. Ich glaube, daß mir einzig da¬ rum die Roſe ſo ſchön erſcheint, und daß ich darum die große Mühe für dieſe Art ihrer Pflege verwende. “
„ Ihr habt nichts von Ungeziefer geſagt, “entgeg¬ nete ich. „ Nun weiß ich aber aus Erfahrung, daß kaum eine Pflanzengattung etwa die Pappel ausge¬ nommen ſo gerne von Ungeziefer heimgeſucht wird als die Roſe, die in verſchiedenen Arten und Geſchlech¬ tern von demſelben bewohnt und entſtellt wird. Hier ſehe ich von dieſer Plage gar nichts, als wäre ſie nicht vorhanden, oder als würde die Roſe von ihr durch irgend ein künſtliches Mittel befreit. Ihr werdet doch nicht ſo wie jedes kranke Blatt, auch jeden Blatt¬ wickler jede Spinne jede Blattlaus abnehmen laſſen? Aber dieſes bringt mich ſogar noch auf einen weiteren223 Umſtand, über den ich mir eine Frage an euch zu thun vorgenommen habe, welche ich gewiß noch vor meiner Abreiſe bei einer ſchicklichen Gelegenheit gethan hätte, welche ich mir aber jezt erlaube, da ihr mit ſolcher Güte und Bereitwilligkeit mir die Einſicht in die Dinge dieſes Landſizes geſtattet habt. Bei meiner Wande¬ rung durch das flache Land hatte ich mehrfach Gele¬ genheit zu bemerken, daß Obſtbäume häufig kahle Äſte haben, oder daß überhaupt das Laub zerſtört oder verunſtaltet war, was von Raupenfraß her¬ rührte. Mir fiel die Sache nicht weiter auf, da ich ſie von Jugend an zu ſehen gewohnt war, und da ſie ſich nicht in einem ungewöhnlichen Grade zeigte; aber das fiel mir auf, daß ſo wie an dieſen Roſen auch in eurem ganzen Garten nichts von dem Übel zu ſehen iſt, kein dürres Reis kein kahles Zweiglein kein Sten¬ gel eines abgefreſſenen Blattes ja nicht einmal ein verleztes Blatt des Kohles, dem doch ſonſt der Wei߬ ling ſo gerne Schaden thut. Im Angeſichte dieſes Wohlbefindens kamen mir die Zerſtörungen wieder zu Sinne, die ich in dem Lande geſehen hatte, und ich beſchloß, in dieſer Hinſicht eine Frage an euch zu thun, ob ihr denn da eigenthümliche Vorkehrungen224 habt; denn das Ableſen der Raupen und Inſekten hat ſich ja überall als unzulänglich gezeigt. “
„ Wir würden allerdings durch Ableſen des Unge¬ ziefers weder unſere Roſen noch die Bäume und Ge¬ ſträuche im Garten vor Verunglimpfung frei halten können, “antwortete er. „ Wir haben nun in der That andere Einrichtungen dagegen. Ich muß euch ſagen daß es mich freut, daß ihr in meinem Garten die Ab¬ weſenheit des Raupenfraßes bemerkt habt, und ich werde euch recht gerne darüber Aufklärung geben, und beſonders darum, daß es ſich auch ausbreiten könne. Die Beantwortung eurer Frage kann aber am beſten in dem Garten geſchehen, weil ich euch zur Bekräfti¬ gung gleich manche Vorrichtungen zeigen und die Be¬ weiſe darthun kann. Wenn es euch genehm iſt, ſo gehen wir in den Garten, in welchem auch eine kleine Ruhe auf irgend einem Bänkchen nach dem Gange von dem Meierhofe herauf nicht unangenehm ſein wird. “
„ Einen Augenblick laßt mich noch dieſe Roſen be¬ trachten, “ſagte ich.
„ Thut nach eurem Gefallen, “antwortete er.
Ich trat zuerſt näher an das Gitter, um Einzel¬ nes zu betrachten. Ich ſah nun wirklich die reinliche225 Erde, in welcher die Stämmchen ſtanden, und die nicht von einem einzigen Gräschen bewachſen war. Ich ſah das gutbeſtrichene Holzgitter, an welchem die Bäumchen angebunden, und an welchem ihre Zweige ausgebreitet waren, daß ſich keine leere Stelle an der Wand des Hauſes zeigte. An jedem Stämmchen hing der Name der Blume auf Papier geſchrieben und in einer gläſernen Hülſe hernieder. Dieſe gläſernen Hül¬ ſen waren gegen den Regen geſchüzt, indem ſie oben geſchloſſen, unten umgeſtülpt, und mit einer kleinen Abflußrinne verſehen waren. Nach dieſer Betrachtung in der Nähe trat ich wieder zurück, und beſah noch einmal die ganze Wand der Blumen durch mehrere Augenblicke. Nachdem ich dieſes gethan hatte, ſagte ich, daß wir jezt in den Garten gehen könnten.
Wir näherten uns dem Thorgitter, der alte Mann that einen Druck wie geſtern, da er mich eingelaſſen hatte, das Thor öffnete ſich, und wir gingen in den Garten. Dort näherten wir uns einer Bank, die in angenehmem nachmittägigem Schatten ſtand. Als wir uns auf ihr niedergeſezt hatten, ſagte mein Gaſt¬ freund: „ Unſere Mittel, die Bäume Geſträuche und kleineren Pflanzen vor Kahlheit zu bewahren, ſind ſo einfach, und in der Natur gegründet, daß es eineStifter, Nachſommer. I. 15226Schande wäre ſie aufzuzählen, wenn es andererſeits nicht auch wahr wäre, daß ſie nicht überall angewen¬ det werden, beſonders das lezte. Was nun das Kahl¬ werden von Bäumen und Äſten anlangt, ſo entſteht es nicht immer durch Raupen, ſondern oft auch auf andern Wegen nach und nach. Gegen ein endliches Sterben und alſo Entlaubtwerden des ganzen Bau¬ mes gibt es ſo wenig ein Mittel als gegen den Tod des Menſchen; aber ſo weit darf man es bei einem Baume im Garten nicht kommen laſſen, daß er todt in demſelben daſteht; ſondern wenn man ihm durch Zurückſchneiden ſeiner Äſte öfter Verjüngungskräfte gegeben hat, wenn aber nach und nach dieſes Mittel anfängt, ſeine Wirkung nicht mehr zu bewähren, ſo thut man dem Baume und dem Garten eine Wohl¬ that, wenn man beide trennt. Ein ſolcher Baum ſteht alſo in einem nur einiger Maßen gut beſorgten Gar¬ ten oder auf anderem Grunde gar nicht. Damit aber auch nicht Theile eines Baumes kahl daſtehen, haben wir mehrere Mittel. Sie beſtehen aber darin, dem Baume zu geben, was ihm noththut, und ihm zu neh¬ men, was ihm ſchadet. Darum gilt als Oberſtes, daß man nie einen Baum an eine Stelle ſeze, auf der er nicht leben kann. Auf Stellen, die Bäumen über¬227 haupt das Leben verſagen, ſezt wohl kein vernünftiger Menſch einen. Aber es gibt auch Stellen, die nur darum nicht taugen, weil ſie nicht bearbeitet ſind, oder weil ihnen etwas mangelt, was einem beſtimmten Gewächſe nothwendig iſt. Um nun die Stelle gut zu bearbeiten, haben wir, ehe wir einen Baum ſezten, eine ſo tiefe Grube gegraben, und mit gelockerter Erde gefüllt, daß der Baum bedeutend alt werden konnte, ehe er genöthigt war, ſeine Wurzeln in un¬ bearbeiteten Boden zu treiben. Selbſt alte Stämme, die ich hier gefunden hatte, und deren Zuſtand mir nicht gefiel, habe ich durch Herausnehmen Lockern ihres Standortes und Wiedereinſezen zu vortreffli¬ chem Gedeihen gebracht. Aber ehe wir die Grube gegraben haben, ehe wir den Baum in dieſelbe geſezt haben, haben wir auch durch Erfahrung oder Bücher herauszubringen geſucht, was ihm auch nebſt der Erde noch noth thue, und welchen Plaz er haben müſſe. Für welchen Baum ein geeigneter Plaz im Garten nicht iſt, der ſoll auch im Garten gar nicht ſein. Welche Bäume viele Luft brauchen, ſezten wir in die Luft, die das Licht lieben, in das Licht, die den Schatten, in den Schatten. In den Schuz der größe¬ ren oder windwiderſtandsfähigeren ſezten wir diejeni¬15 *228gen, welche des Schuzes bedurften. Die Froſt und Reif ſcheuen, ſtehen an Wänden oder warmen Orten. Und auf dieſe Weiſe gedeihen nun alle durch ihre Le¬ benskraft und natürliche Nahrung. Im Frühlinge wird jeder Stamm und ſeine ſtärkeren Äſte durch eine Bürſte und gutes Seifenwaſſer gewaſchen und gerei¬ nigt. Durch die Bürſte werden die fremden Stoffe, die dem Baume ſchaden könnten, entfernt, und das Waſchen iſt ein nüzliches Bad für die Rinde, die wie die Haut der Thiere von dem höchſten Belange für das Leben iſt, und endlich werden die Stämme da¬ durch auch ſchön. Unſere Bäume haben kein Moos, die Rinde iſt klar und bei den Kirſchbäumen faſt ſo fein wie graue Seide. “
Ich hatte wohl geſehen, daß alle Bäume eine ſehr geſunde Rinde haben; aber ich hatte dieſes mit ihren ſchönen Blättern und mit ihrem guten Gedeihen über¬ haupt als eine nothwendige Folge in Zuſammenhang gebracht.
„ Wenn nun troz aller Vorſichten doch einzelne Theile der Bäume durch Winde Kälte oder der¬ gleichen kahl werden, “fuhr mein Gaſtfreund fort, „ ſo werden dieſelben bei dem Beſchneiden der Bäume im Frühlinge entfernt. Der Schnitt wird mit gutem229 Kitte verſtrichen, daß keine Näſſe in das Holz drin¬ gen, und in dem noch geſunden Theile eine Krank¬ heit erzeugen kann. Und ſo würde in einem Garten nie eine Kahlheit zu erblicken ſein, wenn nicht äußere Feinde kämen, die eine ſolche zu bewirken trachteten. Derlei Feinde ſind Hagel Wolkenbrüche und ähnliche Naturerſcheinungen, gegen die es keine Mittel gibt. Sie ſchaden aber auch nicht ſo ſehr. In unſeren Ge¬ genden ſind ſie ſelten, und ihre Wirkungen können auch leicht durch ſchnelles Beſeitigen des Zerſtörten durch Nachwuchs und Nachpflanzungen unbemerkbar gemacht werden. Aber gefährlichere Gegner ſind die Inſekten, dieſe können die Güte eines Gartens zerſtö¬ ren, können ſeine Schönheit entſtellen, und ihm in manchen Jahren einen wahrhaft traurigen Anblick geben. Dies iſt der Umſtand, von dem ich ſagte, daß ich ſeiner zulezt Erwähnung thun werde. Ihr ſeht, daß unſer Garten von der Inſektenplage, die ihr, wie ihr ſagt, auf eurer Wanderung an anderen Bäumen bemerkt habt, in dieſem Jahre frei iſt. “
„ Ich habe Äpfelbäume an warmen und ſtillen Orten faſt ganz entlaubt geſehen, “antwortete ich. „ Es ſind mir mehrere Fälle dieſer Art vorgekommen. Aber daß einzelne Äſte entlaubt waren, daß das Laub230 von ganzen Bäumen entſtellt war, habe ich oft ge¬ ſehen. Allein ich habe es für kein großes Übel gehal¬ ten, und habe auf kein ſchlechtes Jahr geſchloſſen, weil ich wußte, daß dieſe Zerſtörungen immer vorkommen, und daß ihr Schaden, wenn ſie nicht im Übermaße auftreten, nicht erheblich iſt. Ich betrachtete die Er¬ ſcheinung als ein Ding, das ſo ſein muß. “
„ Daran möchtet ihr Unrecht gethan haben, “ſagte mein Gaſtfreund, „ einen Schaden bringt dieſe Erſchei¬ nung immer, und wenn man ihn nach ganzen Länder¬ ſtrichen berechnete, ſo könnte er ein ſehr beträchtlicher ſein, zu dem noch der andere kömmt, daß man den ent¬ laubten Baum anſchauen muß. Auch iſt das Ding keine Erſcheinung, die ſo ſein muß. Es gibt ein Mittel dagegen, und zwar ein Mittel, das außer ſeiner Wirkſamkeit auch noch ſehr ſchön iſt, und alſo zum Nuzen einen Genuß beſchert, durch den uns die Na¬ tur gleichſam zu ſeiner Anwendung leiten will. Aber dennoch, wie ich früher ſagte, wird dieſes Mittel unter allen am wenigſten gebraucht, ja man beei¬ fert ſich ſogar an vielen Orten es zu zerſtören. Ihr ſolltet das Mittel ſchon wahrgenommen haben. “
Ich ſah ihn fragend an.
231„ Habt ihr nicht etwas in unſerem Garten gehört, das euch beſonders auffallend war? “fragte er.
„ Den Vogelgeſang, “ſagte ich plözlich.
„ Ihr habt richtig bemerkt, “erwiederte er. „ Die Vögel ſind in dieſem Garten unſer Mittel gegen Rau¬ pen und ſchädliches Ungeziefer. Dieſe ſind es, welche die Bäume Geſträuche die kleinen Pflanzen und na¬ türlich auch die Roſen weit beſſer reinigen, als es Menſchenhände oder was immer für Mittel zu be¬ werkſtelligen im Stande wären. Seit dieſe angeneh¬ men Arbeiter uns Hilfe leiſten, hat ſich in unſerm Garten ſo wie im heurigen Jahre auch ſonſt nie mehr ein Raupenfraß eingefunden, der nur im Geringſten bemerkbar geweſen wäre. “
„ Aber Vögel ſind ja an allen Orten, “entgegnete ich. „ Sollten ſie in eurem Garten mehr ſein, um ihn mehr ſchüzen zu können? “
„ Sie ſind auch mehr in unſerem Garten, “erwie¬ derte er, „ weit mehr als an jeder Stelle dieſes Landes und vielleicht auch anderer Länder. “
„ Und wie iſt denn dieſe Mehrheit hieher gebracht worden? “fragte ich.
„ Es iſt ſo, wie ich früher von den Bäumen geſagt habe, man muß ihnen die Bedingungen ihres Ge¬232 deihens geben, wenn man ſie an einem Orte haben will; nur daß man die Thiere nicht erſt an den Ort ſezen muß wie die Bäume, ſie kommen ſelber, beſon¬ ders die Vögel, denen das Überſiedeln ſo leicht iſt. “
„ Und welche ſind denn die Bedingungen ihres Gedeihens? “fragte ich.
„ Hauptſächlich Schuz und Nahrung, “erwie¬ derte er.
„ Wie kann man denn einen Vogel ſchüzen? “fragte ich.
„ Ihn kann man nicht ſchüzen, “ſagte mein Gaſt¬ freund, „ er ſchüzt ſich ſelber; aber die Gelegenheit zum Schuze kann man ihm geben. Die Singvögel, welche ſich nicht mit Waffen vertheidigen können, ſuchen gegen Feinde und Wetter Höhlungen in Bäu¬ men Felſen Mauern oder dergleichen auf, die ſo enge ſind, daß ihnen ihr meiſtens größerer Feind in dieſel¬ ben nicht folgen kann, und ſo tief, daß er auch nicht mit einem Schnabel oder einer Taze bis auf den Grund zu langen vermag — einige, wie die Spechte, machen ſich ſelber die Höhlungen in die Bäume — oder ſie gehen in ſolche Dickichte, daß Raubvögel Wieſel und ähnliche Verfolger nicht durchzudringen233 vermögen. Hiebei iſt es ihnen noch mehr um den Schuz ihrer Jungen, die ſie in ſolchen Orten haben, als um ihren eigenen zu thun. Erſt, wenn ſo geſicherte Stellen nicht zu finden ſind, und die Zeit drängt, be¬ gnügt ſich der Singvogel zum Wohnen und Brüten mit ſchlechteren Pläzen. Hat eine Gegend häufige ſolche Zufluchtsorte, ſo darf man ſicher ſchließen, daß ſie auch, wenn die andern Bedingungen nicht fehlen, viele Vögel hat. Denkt nur an ein altes löcheriges Thurmdach, wie iſt es von Dohlen und Mauerſchwal¬ ben umſchwärmt. Will man Vögel in eine Gegend ziehen, ſo muß man ſolche Zufluchtsorte ſchaffen, und zwar ſo gut als möglich. Wir können, wie ihr ſeht, nicht Felſen und Baumſtämme aushöhlen, aber aus Holz gemachte Höhlungen können wir überall auf die Bäume aufhängen. Und dies thun wir auch. Wir machen dieſe Höhlungen tief genug, richten das Schlupfloch von der Wetterſeite weg meiſtens gegen Mittag, und machen es gerade ſo weit, daß der Vo¬ gel, für den es beſtimmt iſt, ein und aus kann. Ihr müßt ja derlei in den Bäumen unſeres Gartens ge¬ ſehen haben? “
„ Ich habe ſie geſehen, “erwiederte ich, „ habe dun¬ kel vermuthet, wozu ſie dienen könnten, habe aber die234 Vorſtellung in Folge anderer Eindrücke wieder aus dem Haupte verloren. “
„ Wenn wir etwa noch einmal ein wenig in dem Garten herumgehn, “ſagte mein Gaſtfreund, „ ſo wer¬ den wir mehrere ſolche Vogelbehälter ſehen. Den Heckenniſtern bauen wir ein ſo dichtes Geflechte von Dornzweigen und Dornäſten in unſere Büſche, daß man meinen ſollte, es könne kaum eine Hummel ein - und ausſchlüpfen; aber der Vogel findet doch einen Eingang, und baut ſich ſein Neſt. Solcher Neſter könnt ihr mehrere ſehen, wenn ihr wollt. Sie haben das Angenehme, daß man dieſe Federfamilien in ihrem Haushalte ſieht, was bei den Höhlenniſtern nicht an¬ geht. Auf dieſe Weiſe ſchüzen wir die kleineren Vögel, die wir in unſerem Garten brauchen. Die großen, welche ſich mit Schnabel Krallen und Flügeln verthei¬ digen können, ſind bei uns eher Feinde als Freunde, und werden nicht geduldet. “
„ Außer dem Schuze, “fuhr er nach einer Weile fort, „ brauchen die Vögel auch Nahrung. Sie meiden die nahrungsarmen Orte, und unterſcheiden ſich hier¬ durch von den Menſchen, welche zuweilen große Strecken weit gerade dahin wandern, wo ſie ihren Unterhalt nicht finden. Die Vögel, die für unſeren235 Garten paſſen, ernähren ſich meiſtens von Gewür¬ men und Inſekten; aber wenn an einem Plaze, der zum Niſten geeignet iſt, die Zahl der Vögel ſo groß wird, daß ſie ihre Nahrung nicht mehr finden, ſo wandert ein Theil aus, und ſucht den Unterhalt des Lebens anderswo. Will man daher an einem Orte eine ſo große Zahl von Vögeln zurückhalten, daß man vollkommen ſicher iſt, daß ſie auch in den ungeziefer¬ reichſten Jahren hinlänglich ſind, um Schaden zu ver¬ hüthen, ſo muß man ihnen außer ihrer von der Natur gegebenen Nahrung auch künſtliche mit den eigenen Händen ſpenden. Thut man das, ſo kann man ſo viele Vögel an einem Plaze erziehen, als man will. Es kömmt nur darauf an, daß man, um ſeinen Zweck nicht aus den Augen zu verlieren, nur ſo viel Almo¬ ſen gibt, als nothwendig iſt, einen Nahrungsman¬ gel zu verhindern. Es iſt wohl in dieſer Hinſicht im Allgemeinen nicht zu befürchten, daß in der künſtli¬ chen Nahrung ein Uebermaß eintrete, da den Thieren ohnehin die Inſekten am liebſten ſind. Nur wenn dieſe Nahrung gar zu reizend für ſie gemacht würde, könnte ein ſolches Uebermaß erfolgen, was leicht an der Ver¬ mehrung des Ungeziefers erkannt werden würde. Ei¬ nige Erfahrung läßt einen ſchon den rechten Weg ein¬236 halten. Im Winter, in welchem einige Arten dablei¬ ben, und in Zeiten, wo ihre natürliche Koſt ganz mangelt, muß man ſie vollſtändig ernähren, um ſie an den Plaz zu feßeln. Durch unſere Anſtalten ſind Vögel, die im Frühlinge nach Pläzen ſuchten, wo ſie ſich anbauen könnten, in unſerem Garten geblieben, ſie ſind, da ſie die Bequemlichkeit ſahen, und Nahrung wußten, im nächſten Jahre wieder gekommen oder, wenn ſie Wintervögel waren, gar nicht fortgegangen. Weil aber auch die Jungen ein Heimathsgefühl ha¬ ben, und gerne an Stellen bleiben, wo ſie zuerſt die Welt erblickten, ſo erkoren ſich auch dieſe den Garten zu ihrem künftigen Aufenthaltsorte. Zu den vorhan¬ denen kamen von Zeit zu Zeit auch neue Einwande¬ rer, und ſo vermehrt ſich die Zahl der Vögel in dem Garten und ſogar in der nächſten Umgebung von Jahr zu Jahr. Selbſt ſolche Vögel, die ſonſt nicht gewöhnlich in Gärten ſind, ſondern mehr in Wäldern und abgelegenen Gebüſchen, ſind gelegentlich gekom¬ men, und da es ihnen gefiel, da geblieben, wenn ih¬ nen auch manche Dinge, die ſonſt der Wald und die Einſamkeit gewährt, hier abgehen mochten. Zur Nah¬ rung rechnen wir auch Licht Luft und Wärme. Dieſe Dinge geben wir nach Bedarf dadurch, daß wir die237 Baupläze zu den Neſtern an den verſchiedenſten Stel¬ len des Gartens anbringen, damit ſich die Paare die wärmeren oder kühleren, luftigeren oder ſonnigeren ausſuchen können. Für welche keine taugliche Stelle möglich iſt, die ſind nicht hier. Es ſind das nur ſolche Vögel, für welche die hieſigen Landſtriche überhaupt nicht paſſen, und dieſe Vögel ſind dann auch für un¬ ſere Landſtriche nicht nöthig. Zu den geeigneten Zeiten beſuchen uns auch Wanderer und Durchzügler, die auf der Jahresreiſe begriffen ſind. Sie hätten eigent¬ lich keinen Anſpruch auf eine Gabe, allein da ſie ſich unter die Einwohner miſchen, ſo eſſen ſie auch an ihrer Schüſſel, und gehen dann weiter. “
„ Auf welche Weiſe gebt ihr denn den Thieren die nöthige Nahrung? “fragte ich.
„ Dazu haben wir verſchiedene Einrichtungen, “ſagte er. „ Manche von den Vögeln haben bei ihrem Speiſen feſten Boden unter den Füſſen, wie die Spechte, die an den Bäumen hacken, und ſolche, die ihre Nahrung auf der platten Erde ſuchen: andere be¬ ſonders die Waldvögel lieben das Schwanken der Zweige, wenn ſie eſſen, da ſie ihr Mahl in eben die¬ ſen Zweigen ſuchen. Für die erſten ſtreut man das Futter auf was immer für Pläze, ſie wiſſen dieſelben238 ſchon zu finden. Den anderen gibt man Gitter, die an Schnüren hängen, und in denen in kleine Tröge ge¬ füllt oder auf Stifte geſteckt die Speiſe iſt. Sie flie¬ gen herzu und wiegen ſich eſſend in dem Gitter. Die Vögel werden auch nach und nach zutraulich, nehmen es endlich nicht mehr ſo genau mit dem Tiſche, und es tummeln ſich Feſtfüßler und Schaukler auf der Fütterungstenne, die neben dem Gewächshauſe iſt, wo ihr mich heute Morgens geſehen habt. “
„ Ich habe das von heute Morgens mehr für zu¬ fällig als abſichtlich gehalten, “ſagte ich.
„ Ich thue es gerne, wenn ich anweſend bin, “er¬ wiederte er, „ obwohl es auch andere thun können. Für die ganz ſchüchternen, wie meiſtens die neuen Ankömmlinge und die ganz und gar eingefleiſchten Waldvögel ſind, haben wir abgelegene Pläze, an die wir ihnen die Nahrung thun. Für die vertraulicheren und umgänglicheren bin ich ſogar auf eine ſehr be¬ queme und annehmliche Verfahrungsweiſe gekom¬ men. Ich habe in dem Hauſe ein Zimmer, vor deſſen Fenſtern Brettchen befeſtigt ſind, auf welche ich das Futter gebe. Die Federgäſte kommen ſchon herzu und ſpeiſen vor meinen Augen. Ich habe dann auch das Zimmer gleich zur Speiſekammer eingerichtet, und239 bewahre dort in Käſten, deren kleine Fächer mit Auf¬ ſchriften verſehen ſind, dasjenige Futter, das entwe¬ der in Sämereien beſteht, oder dem ſchnellen Verder¬ ben nicht ausgeſezt iſt. “
„ Das iſt das Eckzimmer, “ſagte ich, „ das ich nicht begrif, und deſſen Brettchen ich für Blumenbrettchen anſah, und doch für ſolche nicht zweckmäßig fand. “
„ Warum habt ihr denn nicht gefragt? “erwie¬ derte er.
„ Ich nahm es mir vor, und habe wieder darauf vergeſſen, “antwortete ich.
„ Da die meiſten Sänger von lebendigen Thier¬ chen leben, “ſezte er ſeine Erzählung fort, „ ſo iſt es nicht ganz leicht, die Nahrung für alle zu bereiten. Da aber doch ein großer Theil nebſt dem Ungeziefer auch Sämereien nicht verſchmäht, ſo ſind in der Spei¬ ſekammer alle Sämereien, welche auf unſeren Fluren und in unſeren Wäldern reifen, und werden, wenn ſie ausgehen oder veralten, durch friſche erſezt. Für ſolche, welche die Körner nicht lieben, wird der Ab¬ gang durch Theile unſeres Mahles zartes Fleiſch Obſt Eierſtückchen Gemüſe und dergleichen erſezt, was unter die Körner gemiſcht wird. Die Kohlmeiſe er¬ hält ſehr gerne, wenn ſie thätig iſt, und beſonders,240 wenn ſie um ihre Jungen ſich gut annimmt, ein Stück¬ chen Speck zur Belohnung, den ſie außerordentlich liebt. Auch Zucker wird zuweilen geſtreut. Für den Trank iſt im Garten reichlich geſorgt. In jede Waſ¬ ſertonne geht ſchief ein befeſtigter Holzſteg, an wel¬ chem ſie zu dem Waſſer hinabklettern können. In den Gebüſchen ſind Steinnäpfe, in die Waſſer gegoſſen wird, und in dem Dickichte an der Abendſeite des Gartens iſt ein kleines Quellchen, das wir mit ſtei¬ nernen Rändern eingefaßt haben. “
„ Da habt ihr ja Arbeit und Sorge in Fülle mit dieſen Gartenbewohnern, “ſagte ich.
„ Es übt ſich leicht ein, “antwortete er, „ und der Lohn dafür iſt ſehr groß. Es iſt kaum glaublich zu welchen Erfahrungen man gelangt, wenn man durch mehrere Jahre dieſe gefiederten Thiere hegt, und ge¬ legentlich die Augen auf ihre Geſchäftigkeit richtet. Alle Mittel, welche die Menſchen erſonnen haben, um die Gewächſe vor Ungeziefer zu bewahren, ſo trefflich ſie auch ſein mögen, ſo fleißig ſie auch ange¬ wendet werden, reichen nicht aus, wie es ja in der Lage der Sache gegründet iſt. Wie viele Hände von Menſchen müßten thätig ſein, um die unzählbaren Stellen, an denen ſich Ungeziefer erzeugt, zu entdecken241 und die Mittel auf ſie anzuwenden. Ja die ganz ge¬ reinigten Stellen geben auf die Dauer keine Sicherheit und müſſen ſtets von neuem unterſucht werden. In den verſchiedenſten Zeiten und unbeachtet entwickeln ſich die Inſekten auf Stengeln Blättern Blüthen unter der Rinde, und breiten ſich unverſehens und ſchnell aus. Wie könnte man da die Keime entdecken, und vor ih¬ rer Entwicklung vernichten? Oft ſind die ſchädlichen Thierchen ſo klein, daß wir ſie mit unſeren Augen kaum zu entdecken vermögen, oft ſind ſie an Orten, die uns ſchwer zugänglich ſind, zum Beiſpiele in den äußerſten Spizen der feinſten Zweige der Bäume. Oft iſt der Schaden in größter Schnelligkeit entſtanden, wenn man auch glaubt, daß man ſeine Augen an allen Stellen des Gartens gehabt, daß man keine unbeachtet gelaſſen, und daß man ſeine Leute zur genaueſten Un¬ terſuchung angeeifert hat. Zu dieſer Arbeit iſt von Gott das Vogelgeſchlecht beſtimmt worden und ins¬ beſondere das der kleinen und ſingenden, und zu die¬ ſer Arbeit reicht auch nur das Vogelgeſchlecht voll¬ kommen aus. Alle Eigenſchaften der Inſekten, von denen ich geſprochen habe, ihre Menge ihre Kleinheit ihre Verborgenheit und endlich ihre ſchnelle und plöz¬ liche Entwicklung ſchüzen ſie gegen die Vögel nicht. Stifter, Nachſommer. I. 16242Sprechen wir von der Menge. Alle Singvögel, wenn ſie auch ſpäter Sämereien freſſen, nähren doch ihre Jungen von Raupen Inſekten Würmern, und da dieſe Jungen ſo ſchnell wachſen, und ſo zu ſagen unauf¬ hörlich eſſen, ſo bringt ein einziges Paar in einem einzigen Tage eine erkleckliche Menge von ſolchen Thierchen in das Neſt, was erſt hundert Paare in zehn vierzehn zwanzig Tagen. So lange brauchen un¬ gefähr die Jungen zum Flüggewerden. Und alle Stel¬ len, wie zahlreich ſie auch ſein können, werden von den geſchäftigen Eltern durchſucht. Sprechen wir von der Kleinheit der Thierchen. Sie oder ihre Lar¬ ven und Eier mögen noch ſo klein ſein, von den ſcharfen ſpähenden Augen eines Vogels werden ſie entdeckt. Ja manche Vögel, wie das Goldhähnchen der Zaunkönig, dürfen ihren Jungen nur die kleinſten Nahrungsſtückchen bringen, weil dieſelben, wenn ſie dem Ei entſchlüpft ſind, ſelber kaum ſo groß wie eine Fliege oder eine kleine Spinne ſind. Gehen wir end¬ lich auf die Abgelegenheit und Unerreichbarkeit der Aufenthaltsorte der Inſekten über, ſo ſind ſie dadurch nicht vor dem Schnabel der Vögel geſchüzt, wenn ſie für ihre Jungen oder ſich Nahrung brauchen. Was wäre einem Vogel leicht unzugänglich? In die höchſten243 Zweige ſchwingt er ſich empor, an der Rinde hält er ſich, und bohrt in ſie, durch die dichteſten Hecken dringt er, auf der Erde läuft er, und ſelbſt unter Blöcke und Steingerölle dringt er. Ja einmal ſah ich einen Bunt¬ ſpecht im Winter, da die Äſte zu Stein gefroren ſchie¬ nen, auf einen ſolchen mit Gewalt loshämmern, und ſich aus deſſen Innern die Nahrung holen. Die Spechte zeigen auf dieſe Weiſe — ich ſage es hier nebenbei — auch die Äſte an, die morſch und vom Gewürme er¬ griffen ſind, und daher weggeſchafft werden müſſen. Was zulezt den unvorhergeſehenen und plözlichen Raupenfraß anlangt, den der Menſch zu ſpät entdeckt, ſo kann er ſich nicht einſtellen, da die Vögel überall nachſehen, und bei Zeiten abhelfen. “
„ Wie ſehr dieſe Thiere für das Ungeziefer geſchaf¬ fen ſind, “ſagte er nach einer Weile, „ zeigt ſich aus der Beobachtung, daß ſie die Arbeit unter ſich theilen. Die Blaumeiſe und die Tannenmeiſe entdeckt die Brut der Ringelraupe und anderer Raupengattungen an den äußerſten Spizen der Zweige, wo ſie unter der Rinde verborgen iſt, indem ſie ſich an die Zweige hängend dieſelben abſucht, die Kohlmeiſe durchſucht fleißig das Innere der Baumkrone, die Spechtmeiſe klettert Stamm auf Stamm ab, und holt die verſteckten16 *244Eier hervor, der Finke, der gerne in den Nadelbäumen niſtet, weßhalb auch ſolche Bäume in dem Garten ſind, geht gleichwohl gerne von ihnen herab, und läuft den Gängen der Käfer und dergleichen nach, und ihn unterſtüzen oder übertreffen vielmehr die Am¬ merlinge die Grasmücken die Rothkehlchen, die auf der Erde unter Kohlpflanzen und in Hecken ihre Nah¬ rung ſuchen und finden. Sie beirren ſich wechſelſeitig nicht, und laſſen in ihrer unglaublichen Thätigkeit nicht nach, ja ſie ſcheinen ſich eher darin einander anzueifern. Ich habe nicht eigens Beobachtungen an¬ geſtellt; aber wenn man mehrere Jahre unter den Thieren lebt, ſo gibt ſich die Betrachtung von ſelber. “
„ Auch einen eigenthümlichen Gedanken, “fuhr er fort, „ hat das Walten dieſer Thiere in mir erweckt, oder vielmehr beſtärkt; denn ich hatte ihn ſchon längſt. Allen Thatſachen, die wichtig ſind, hat Gott außer unſerem Bewußtſein ihres Werthes auch noch einen Reiz für uns beigeſellt, der ſie annehmlich in unſer Weſen gehen läßt. Dieſen Thierchen nun, die ſo nüz¬ lich ſind, hat er, ich möchte ſagen, die goldene Stimme mitgegeben, gegen die der verhärtetſte Menſch nicht verhärtet genug iſt. Ich habe in unſerem Garten mehr Vergnügen gehabt als manchmal in Sälen, in245 denen die kunſtreichſte Muſik aufgeführt wurde, die ſelten zu hören iſt. Zwar ſingt ein Vogel in einem Käfiche auch; denn der Vogel iſt leichtſinnig, er er¬ ſchrickt zwar heftig, er fürchtet ſich; aber bald iſt der Schrecken und die Furcht vergeſſen, er hüpft auf einen Halt für ſeine Füſſe, und trällert dort das Lied, das er gelernt hat, und das er immer wiederholt. Wenn er jung und ſogar auch alt gefangen wird, vergißt er ſich und ſein Leid, wird ein Hin - und Widerhüpfer in kleinem Raume, da er ſonſt einen großen brauchte, und ſingt ſeine Weiſe; aber dieſer Geſang iſt ein Ge¬ ſang der Gewohnheit, nicht der Luſt. Wir haben an unſerm Garten einen ungeheueren Käfich ohne Draht Stangen und Vogelthürchen, in welchem der Vogel vor außerordentlicher Freude, der er ſich ſo leicht hin¬ gibt, ſingt, in welchem wir das Zuſammentönen vieler Stimmen hören können, das in einem Zimmer bei¬ ſammen nur ein Geſchrei wäre, und in welchem wir endlich die häusliche Wirthſchaft der Vögel und ihre Geberden ſehen können, die ſo verſchieden ſind und oft dem tiefſten Ernſte ein Lächeln abgewinnen kön¬ nen. Man hat uns in dieſem Hegen von Vögeln in einem Garten nicht nachgeahmt. Die Leute ſind nicht verhärtet gegen die Schönheit des Vogels und gegen246 ſeinen Geſang, ja dieſe beiden Eigenſchaften ſind das Unglück des Vogels. Sie wollen dieſelben genießen, ſie wollen ſie recht nahe genießen, und da ſie keinen Käfich mit unſichtbaren Drähten und Stangen ma¬ chen können, wie wir, in dem ſie das eigentliche We¬ ſen des Vogels wahrnehmen könnten, ſo machen ſie einen mit ſichtbaren, in welchem der Vogel eingeſperrt iſt, und ſeinem zu frühen Tode entgegen ſingt. Sie ſind auf dieſe Weiſe nicht unfühlſam für die Stimme des Vogels, aber ſie ſind unfühlſam für ſein Leiden. Dazu kommt noch, daß es der Schwäche und Eitelkeit des Menſchen beſonders der Kinder angenehm iſt, eines Vogels, der durch ſeine Schwingen und ſeine Schnelligkeit gleichſam aus dem Bereiche menſchlicher Kraft gezogen iſt, Herr zu werden und ihn durch Wiz und Geſchicklichkeit in ſeine Gewalt zu bringen. Darum iſt ſeit alten Zeiten der Vogelfang ein Vergnügen ge¬ weſen, beſonders für junge Leute; aber wir müſſen ſagen, daß es ein ſehr rohes Vergnügen iſt, das man eigentlich verachten ſollte. Freilich iſt es noch ſchlech¬ ter, und muß ohne Weiteres verabſcheut werden, wenn man Singvögel nicht des Geſanges wegen fängt, ſondern ſie fängt, und tödtet, um ſie zu eſſen. Die un¬ ſchuldigſten und mitunter ſchönſten Thiere, die durch247 ihren einſchmeichelnden Geſang und ihr liebliches Be¬ nehmen ohnehin unſer Vergnügen ſind, die uns nichts anders thun als lauter Wohlthaten, werden wie Ver¬ brecher verfolgt, werden meiſtens, wenn ſie ihrem Triebe der Geſelligkeit folgen, erſchoſſen, oder, wenn ſie ihren nagenden Hunger ſtillen wollen, erhängt. Und dies geſchieht nicht, um ein unabweisliches Be¬ dürfniß zu erfüllen, ſondern einer Luſt und Laune willen. Es wäre unglaublich, wenn man nicht wüßte, daß es aus Mangel an Nachdenken oder aus Gewohn¬ heit ſo geſchieht. Aber das zeigt eben, wie weit wir noch von wahrer Geſittung entfernt ſind. Darum haben weiſe Menſchen bei wilden Völkern und bei ſol¬ chen, die ihre Gierde nicht zu zähmen wußten, oder einen höhern Gebrauch von ihren Kräften noch nicht machen konnten, den Aberglauben aufgeregt, um einen Vogel ſeiner Schönheit oder Nüzlichkeit willen zu ret¬ ten. So iſt die Schwalbe ein heiliger Vogel gewor¬ den, der dem Hauſe Segen bringt, das er beſucht, und den zu tödten Sünde iſt. Und ſelten dürfte es ein Vogel mehr verdienen als die Schwalbe, die ſo wun¬ derſchön iſt, und ſo unberechenbaren Nuzen bringt. So iſt der Storch unter göttlichen Schuz geſtellt, und den Staaren hängen wir hölzerne Häuſer in unſere248 Bäume. Ich hoffe, daß, wenn unſeren Nachbarn die Augen über den Erfolg und den Nuzen des Hegens von Singvögeln aufgehen, ſie vielleicht auch dazu ſchreiten werden, uns nachzuahmen; denn für Erfolg und Nuzen ſind ſie am empfänglichſten. Ich glaube aber auch, daß unſere Obrigkeiten das Ding nicht ge¬ ring achten ſollten, daß ein ſtrenges Geſez gegen das Fangen und Tödten der Singvögel zu geben wäre, und daß das Geſez auch mit Umſicht und Strenge aufrecht erhalten werden ſollte. Dann würde dem menſchlichen Geſchlechte ein heiligendes Vergnügen aufbewahrt bleiben, wir würden durch die Länder wie durch ſchöne Gärten gehen, und die wirklichen Gär¬ ten würden erquickend da ſtehen, in keinem Jahre lei¬ den, und in beſonders unglücklichen nicht den Anblick der gänzlichen Kahlheit und der traurigen Verödung zeigen. Wollt ihr nicht auch ein wenig unſere ge¬ fiederten Freunde anſehen? “
„ Sehr gerne, “ſagte ich.
Wir ſtanden von dem Size auf, und gingen mehr in die Tiefe des Gartens zurück.
Das vielſtimmige Vogelgezwitſcher durch den Gar¬ ten und das helle Singen in unſerer Nähe, welches mir geſtern nachmittag, da ich es in das Zimmer249 hinein gehört hatte, ſeltſam geweſen war, erſchien mir nun ſehr lieblich ja ehrwürdig, und wenn ich einen Vogel durch einen Baum huſchen ſah oder über einen Sandweg laufen, ſo erfüllte es mich mit einer Gat¬ tung Freude. Mein Begleiter führte mich zu einer Hecke, wies mit dem Finger hinein und ſagte: „ Seht. “
Ich antwortete, daß ich nichts ſähe.
„ Schaut nur genauer, “ſagte er, indem er mit dem Finger neuerdings die Richtung wies.
Ich ſah nun unter einem äußerſt dichten Dornen¬ geflechte, welches in die Hecke gemacht worden war, ein Neſt. In dem Neſte ſaß ein Rothkehlchen, we¬ nigſtens dem Rücken nach zu urtheilen. Es flog nicht auf, ſondern wendete nur ein wenig den Kopf gegen uns, und ſah mit den ſchwarzen glänzenden Augen unerſchrocken und vertraulich zu uns herauf.
„ Dieſes Rothkehlchen ſizt auf ſeinen Eiern, “ſagte mein Begleiter, „ es iſt eine Spätehe, wie ſie öfter vorkommen. Ich beſuche es ſchon mehrere Tage, und lege ihm die Larve des Mehlkäfers in die Nähe. Das weiß der Schelm, darum frägt er mich ſchon darnach, und fürchtet den Fremden nicht, der bei mir iſt. “
In der That, das Thierchen blieb ruhig in ſeinem250 Neſte, und ließ ſich durch unſer Reden und durch un¬ ſere Augen nicht beirren.
„ Man muß eigentlich ehrlich gegen ſie ſein, “ſagte mein Gaſtfreund; „ aber ich habe keine Larve in der Hand, darum bitte ich dich, Guſtav, gehe in das Haus, und hole mir eine. “
Der Jüngling wendete ſich ſchnell um, und eilte in das Haus.
Indeſſen führte mich mein Begleiter eine Strecke vorwärts, und zeigte mir neuerdings in einer Hecke unter Dornen ein Neſt, in welchem eine Ammer ſaß.
„ Dieſe ſizt auf ihren Jungen, die noch kaum die erſten Härchen haben, und erwärmt ſie, “ſagte mein Begleiter. „ Sie kann nicht viel von ihnen weg, darum bringt den meiſten Theil der Nahrung der Vater her¬ bei. Nach einigen Tagen aber werden ſie ſchon ſo ſtark, daß ſie der Mutter überall hervor ſehen, wenn ſie ſich auch zeitweilig auf ſie ſezt. “
Auch die Ammer flog bei unſerer Annäherung nicht auf, ſondern ſah uns ruhig an.
So zeigte mir mein Begleiter noch ein paar Neſter, in denen Junge waren, die, wenn ſie ſich al¬ lein befanden, auf das Geräuſch unſerer Annäherung die gelben Schnäbel aufſperrten, und Nahrung er¬251 warteten. In zwei anderen waren Mütter, die bei un¬ ſerem Herannahen nicht aufflogen. Da wir im Vor¬ beigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern äzten, ließen ſich dieſe nicht von ihrem Geſchäfte abhalten, flo¬ gen herzu, und nährten in unſerer Gegenwart die Kinder.
„ Ich habe euch jezt Neſter gezeigt, die noch bevöl¬ kert ſind, “ſagte mein Gaſtfreund, „ die meiſten ſind ſchon leer, die Jugend flattert bereits in dem Garten herum, und übt ſich zur Herbſtreiſe. Die Neſter ſind zahlreicher, als man vermuthet, wir beſuchen nur die, die uns bei der Hand ſind. “
Indeſſen war Guſtav mit der verlangten Larve gekommen, und gab ſie dem alten Manne in die Hand. Dieſer ging zu der Hecke, in welcher das Neſt des Rothkehlchens war, und legte die Larve auf den Weg daneben. Kaum hatte er ſich entfernt, und war zu uns getreten, die wir in der Nähe ſtanden, ſo ſchlüpfte das Rothkehlchen unter den unterſten Äſten der Hecke heraus, rannte zu der Larve, nahm ſie, und lief wieder in die Hecke zurück.
Ich weiß nicht, welche tiefe Rührung mich bei die¬ ſem Vorfalle überkam. Mein Gaſtfreund erſchien mir wie ein weiſer Mann, der ſich zu einem niedreren Ge¬ ſchöpfe herabläßt.
252Auch der Jüngling Guſtav war ſehr heiter, und zeigte Freude, wenn er in die Büſche blickte, in denen eine Wohnung war. Es war mir dies ein Beweis, daß das Zerſtören der Vogelneſter durch Wegnahme der Eier oder der Jungen und das Fangen der Vögel überhaupt den Kindern nicht angeboren iſt, ſondern, daß dieſer Zerſtörungstrieb, wenn er da iſt, von Eltern oder Erziehern hervorgerufen und in dieſe Bahn ge¬ leitet wurde, und daß er durch eine beſſere Erziehung ſein Gegentheil wird.
Wir ſchritten weiter. In einer kleinen Fichte, die am Rande des Gartens ſtand, zeigten ſie mir noch eine Finkenwohnung, die an dem Stamme in das Geflechte theils hervorgewachſener theils künſtlich eingefugter Äſte und Zweige gebaut war. An ande¬ ren Bäumen ſahen wir auch in die aufgehängten Behälter Vögel aus - und einſchlüpfen. Mein Be¬ gleiter ſagte, daß, wenn ich nur länger hier wäre, mir ſelbſt die Sitten der Vögel verſtändlicher werden würden.
Ich erwiederte, daß ich ſchon mehreres aus mei¬ nen Reiſen im Gebirge und aus meinen früheren Be¬ ſchäftigungen in den Naturwiſſenſchaften kenne.
„ Das iſt doch immer weniger, “ſagte mein Gaſt¬253 freund, „ als was man durch das lebendige Beiſam¬ menleben inne wird. “
Es wurden einige Behälter, die mit aus Ruthen geflochtenen Seilen an Bäumen befeſtigt waren, und von denen man wußte, daß ſie nicht mehr bewohnt ſeien, herabgenommen, und auseinander gelegt, da¬ mit ich ihre Einrichtung ſähe. Es war nur eine ein¬ fache Höhlung, die aus zwei halbhohlen Stücken be¬ ſtand, die man mittelſt Ringen, die enger zu ſchrauben waren, aneinanderpreſſen konnte.
„ Kein Singvogel, “ſagte mein Begleiter, „ geht in ein fertiges Neſt, es mag nun daſſelbe in einer frü¬ heren Zeit von ihm ſelber oder einem anderen Vogel gebaut worden ſein, ſondern er verfertigt ſich ſein Neſt in jedem Frühlinge neu. Deßhalb haben wir die Behälter aus zwei Theilen machen laſſen, daß wir ſie leicht auseinander nehmen, und die veralteten Ne¬ ſter heraus thun können. Auch zum Reinigen der Be¬ hälter iſt dieſe Einrichtung ſehr tauglich; denn wenn ſie unbewohnt ſind, nimmt allerlei Ungeziefer ſeine Zuflucht zu dieſen Höhlungen, und der Vogel ſcheut Unrath und verdorbene Luft, und würde eine unreine Höhlung nicht beſuchen. Im lezten Theile des Win¬ ters, wenn der Frühling ſchon in Ausſicht ſteht, wer¬254 den alle dieſe Behälter herabgenommen, auf das Sorg¬ fältigſte geſcheuert und in Stand geſezt. Im Winter ſind ſie darum auf den Bäumen, weil doch mancher Vogel, der nicht abreiſt, Schuz in ihnen ſucht. Die alten Neſter werden zerfaſert und gegen den Frühling ihre Beſtandtheile mit neuen vermehrt in dem Garten ausgeſtreut, damit die Familien Stoff für ihre Häuſer finden. “
Ich ſah im Vorübergehen auch die Kletterſtäbchen in den Waſſertonnen, und im Gebüſche fanden wir das kleine rieſelnde Wäſſerlein.
Als wir uns auf dem Rückwege zum Hauſe be¬ fanden, ſagte mein Begleiter: „ Ich habe noch eine Art Gäſte, die ich füttere, nicht daß ſie mir nüzen, ſondern daß ſie mir nicht ſchaden. Gleich in der erſten Zeit meines Hierſeins, da ich eine ſogenannte Baum¬ ſchule anlegte, nehmlich ein Gärtchen, in welchem die zur Veredlung tauglichen Stämmchen gezogen wur¬ den, habe ich die Bemerkung gemacht, daß mir im Winter die Rinde an Stämmchen abgefreſſen wurde, und gerade die beſte und zarteſte Rinde an den beſten Stämmchen. Die Übelthäter wieſen ſich theils durch ihre Spuren im Schnee, theils, weil ſie auch auf fri¬ ſcher That ertappt wurden, als Haſen aus. Das255 Verjagen half nicht, weil ſie wieder kamen, und doch nicht Tag und Nacht jemand in der Baumſchule Wache ſtehen konnte. Da dachte ich: die armen Diebe freſ¬ ſen die Rinde nur, weil ſie nichts Beſſeres haben, hätten ſie es, ſo ließen ſie die Rinde ſtehen. Ich ſam¬ melte nun alle Abfälle von Kohl und ähnlichen Pflan¬ zen, die im Garten und auf den Feldern übrig blieben, bewahrte ſie im Keller auf, und legte ſie bei Froſt und hohem Schnee theilweiſe auf die Felder außerhalb des Gartens. Meine Abſicht wurde belohnt: die Haſen fraßen von den Dingen, und ließen unſere Baum¬ ſchule in Ruhe. Endlich wurde die Zahl der Gäſte immer mehr, da ſie die wohleingerichtete Tafel ent¬ deckten; aber weil ſie mit dem Schlechteſten ſelbſt mit den dicken Strünken des Kohles zufrieden waren, und ich mir ſolche von unſeren Feldern und von Nachbarn leicht erwerben konnte, ſo fragte ich nichts darnach, und fütterte. Ich ſah ihnen oft aus dem Dachfenſter mit dem Fernrohre zu. Es iſt poſſirlich, wenn ſie von der Ferne herzulaufen, dem bequem daliegenden Fraße mißtrauen, Männchen machen, hüpfen, dann aber ſich doch nicht helfen können, herzuſtürzen, und von dem Zeuge haſtig freſſen, das ſie im Sommer nicht an¬ ſchauen würden. Manche Leute legten Schlingen, da256 ſie wußten, daß hier Haſen zuſammenkamen. Aber da wir ſehr ſorgfältig nachſpürten, und die Schlingen wegnehmen ließen, da ich auch verboth, über unſere Felder zu gehen, und die Betroffenen zur Verantwor¬ tung zog, verlor ſich die Sache wieder. Auch den Vögeln legten Buben in unſerer Nähe Schlingen; aber das half ſehr wenig, da die Vögel in unſerem Garten ſehr gute Koſt hatten, und nach der fremden Lockſpeiſe nicht ausgingen. Die Beute an Vögeln war daher nie groß, und mit einiger Aufſicht und Wachſamkeit, die wir in den erſten Jahren einleiteten, geſchah es, daß dieſer Unfug auch bald wieder auf¬ hörte. “
Der alte Mann lud mich ein, in das Haus zu gehen, und die Fütterungskammer anzuſehen.
Auf dem Wege dahin ſagte er: „ Unter die Feinde der Sänger gehören auch die Kazen Hunde Iltiſſe Wie¬ ſel Raubvögel. Gegen lezte ſchüzen die Dornen und die Neſtbehälter, und Hunde und Kazen werden in un¬ ſerm Hauſe ſo erzogen, daß ſie nicht in den Garten gehen, oder ſie werden ganz von dem Hauſe entfernt. “
Wir waren indeſſen in das Haus gekommen, und gingen in das Eckzimmer, in welchem ich die vielen Fächer geſehen hatte. Mein Begleiter zeigte mir die257 Vorräthe, indem er die Fächer herauszog, und mir die Sämereien wies. Die Speiſen, welche eben nicht in Sämereien beſtehen, wie Eier Brod Speck, werden beim Bedarfe aus der Speiſekammer des Hauſes ge¬ nommen.
„ Meine Nachbaren äußerten ſchon, “ſagte mein Begleiter, „ daß außer der Mühe, die das Erhalten der Singvögel macht, auch die Koſten zu ihrer Ernäh¬ rung in keinem Verhältniſſe zu ihrem Nuzen ſtehen. Aber das iſt unrichtig. Die Mühe iſt ein Vergnügen, das wird der, welcher einmal anfängt, bald inne wer¬ den, ſo wie der Blumenfreund keine Mühe ſondern nur Pflege kennt, welche zudem bei den Blumen viel mehr Thätigkeit in Anſpruch nimmt als das Ziehen der Geſangvögel im Freien; die Koſten aber ſind in der That nicht ganz unbedeutend; allein wenn ich die edlen Früchte eines einzigen Pflaumenbaumes, welchen mir die Raupen der Vögel wegen nicht abgefreſſen haben, verkaufe, ſo deckt der Kaufſchilling die Nah¬ rungskoſten der Sänger ganz und gar. Freilich iſt der Nuzen deſto größer, je edler das Obſt iſt, welches in dem Garten gezogen wird, und dazu, daß ſie edles Obſt in dieſer Gegend ziehen, ſind ſie ſchwer zu be¬ wegen, weil ſie meinen, es gehe nicht. Wir müſſenStifter, Nachſommer. I. 17258ihnen aber zeigen, daß es geht, indem wir ihnen die Früchte weiſen und zu koſten geben, und wir müſſen ihnen zeigen, daß es nüzt, indem wir ihnen Briefe unſerer Handelsfreunde weiſen, die uns das Obſt abgekauft haben. Von den Stämmchen, die in unſe¬ rer Obſtſchule wachſen, geben wir ihnen ab, und un¬ terrichten ſie, wie und auf welchen Plaz ſie geſezt wer¬ den ſollen. “
„ Wenn wieder einmal ein Jahr kommen ſollte wie das, welches wir vor fünf Jahren hatten, “fuhr er fort, „ es war ein ſchlimmes Jahr, heiß mit wenig Regen und ungeheurem Raupenfraß. Die Bäume in Rohrberg in Regau in Landegg und Pludern ſtanden wie Fegebeſen in die Höhe, und die grauen Fahnen der Raupenneſter hingen von den entwürdigten Äſten herab. Unſer Garten war unverlezt und dunkelgrün, ſogar jedes Blatt hatte ſeine natürliche Ränderung und Ausſpizung. Wenn noch einmal ein ſolches Jahr käme, was Gott verhüte, ſo würden ſie wieder ein Stückchen Erfahrung machen, das ſie das erſte Mal nicht gemacht haben. “
Ich ſah unterdeſſen die Sämereien und die An¬ ſtalten an, fragte manches, und ließ mir manches er¬ klären. Wir verließen hierauf das Zimmer, und da259 wir auf dem Gange waren, und gegen Guſtavs Zim¬ mer gingen, ſagte er: „ daß auch unnüze Glieder her¬ beikommen, Müſſiggänger Störefriede, das begreift ſich. Ein großer Händelmacher iſt der Sperling. Er geht in fremde Wohnungen, balgt ſich mit Freund und Feind, iſt zudringlich zu unſern Sämereien und Kir¬ ſchen. Wenn die Geſellſchaft nicht groß iſt, laſſe ich ſie gelten, und ſtreue ihnen ſogar Getreide. Sollten ſie hier aber doch zu viel werden, ſo hilft die Wind¬ büchſe, und ſie werden in den Meierhof hinabge¬ ſcheucht. Als einen böſen Feind zeigte ſich der Roth¬ ſchwanz. Er flog zu dem Bienenhauſe, und ſchnappte die Thierchen weg. Da half nichts als ihn ohne Gnade mit der Windbüchſe zu tödten. Wir ließen bei¬ nahe in Ordnung Wache halten, und die Verfolgung fortſezen, bis dieſes Geſchlecht ausblieb. Sie waren ſo klug, zu wiſſen, wo Gefahr iſt, und gingen in die Scheunen in die Holzhütte des Meierhofes und die Ziegelhütte, wo die großen Weſpenneſter unter dem Dache ſind. Wir laſſen auch darum im Meierhofe und anderen entfernteren Orten die grauen Kugeln ſolcher Neſter, die ſich unter den Latten und Sparren der Dächer oder Dachvorſprünge anſiedeln, nicht zerſtö¬ ren, damit ſie dieſe Vögel hinziehen. “17 *260Während dieſes Geſpräches waren wir in dem Gange der Gaſtzimmer zu der Thür gekommen, die in Guſtavs Wohnung führte. Mein Gaſtfreund fragte, ob ich dieſe Wohnung nicht jezt beſehen wollte, und wir traten ein.
Die Wohnung beſtand aus zwei Zimmern, einem Arbeitszimmer und einem Schlafzimmer. Beide wa¬ ren, wie es bei ſolchen Zimmern ſelten der Fall iſt, ſehr in Ordnung. Sonſt war ihr Geräthe ſehr ein¬ fach. Bücherkäſten Schreib - und Zeichnungsgeräthe ein Tiſch Schreine für die Kleider Stühle und das Bett. Der Jüngling ſtand faſt erröthend da, da ein Fremder in ſeiner Wohnung war. Wir entfernten uns bald, und der Bewohner machte uns die leichte feine Verbeugung, die ich geſtern ſchon an ihm bemerkt hatte, weil er uns nicht mehr begleiten ſondern in den Zimmern zurückbleiben wollte, in welchen er noch Ar¬ beit zu verrichten hatte.
„ Ihr könnet nun auch die Gaſtzimmer beſuchen, “ſagte mein Begleiter, „ dann habt ihr alle Räume un¬ ſeres Hauſes geſehen. “
Ich willigte ein. Er nahm ein kleines ſilbernes Glöcklein aus ſeiner Taſche, und läutete.
Es erſchien in Kurzem eine Magd, von welcher er261 die Schlüſſel der Zimmer verlangte. Sie holte dieſel¬ ben, und brachte ſie an einem Ringe, von welchem einzelne los zu löſen waren. Jeder trug die Zahl ſei¬ nes Zimmers auf ſich eingegraben. Nachdem mein Beherberger die Magd verabſchiedet hatte, ſchloß er mir die einzelnen Zimmer auf. Sie waren einander vollkommen gleich. Sie waren gleich groß, jedes hatte zwei Fenſter, und jedes hatte ähnliche Geräthe wie das meine.
„ Ihr ſeht, “ſagte er, „ daß wir in unſerem Hauſe nicht ſo ungeſellig ſind, und bei deſſen Anlegung ſchon auf Gäſte gerechnet haben. Es können im äußerſten Nothfalle noch mehr untergebracht werden, als die Zimmer anzeigen, wenn wir zwei in ein Gemach thun, und noch andere Zimmer namentlich die im Erdge¬ ſchoſſe in Anſpruch nehmen. Es iſt aber in der Zeit, ſeit welcher dieſes Haus beſteht, der Nothfall noch nicht eingetreten. “
Als wir an die öſtliche Seite des Hauſes gekom¬ men waren, an die Seite, die ſeiner Wohnung gerade entgegenſezt lag, öffnete er eine Thür, und wir traten nicht in ein Zimmer wie bisher ſondern in drei, welche ſehr ſchön eingerichtet waren, und zu lieblichem Woh¬ nen einluden. Das erſte war ein Zimmer für einen262 Diener oder eigentlich eine Dienerin; denn es ſah ganz aus wie das Zimmer, in welchem die Mädchen meiner Mutter wohnten. Es ſtanden große Kleider¬ käſten da, mit grünem Ziz verhängte Betten, und es lagen Dinge herum, wie in dem Mädchenzimmer meiner Mutter. Die zwei anderen Gemächer zeigten zwar nicht ſolche Dinge, im Gegentheile ſie waren in der muſterhafteſten Ordnung; aber ſie wieſen doch eine ſolche Geſtalt, daß man ſchließen mußte, daß ſie zu Wohnungen für Frauen beſtimmt ſind. Die Ge¬ räthe des erſten waren von Mahagoniholz die des zweiten von Cedern. Überall ſtanden weichgepolſterte Size und ſchöne Tiſche herum. Auf dem Fußboden la¬ gen weiche Teppiche, die Pfeiler hatten hohe Spiegel, außerdem ſtand in jedem Zimmer noch ein beweglicher Ankleideſpiegel, an den Fenſtern waren Arbeitstiſch¬ chen, und in der Ecke jedes Zimmers ſtand von wei¬ ßen Vorhängen dicht und undurchdringlich umgeben ein Bett. Jedes Gemach hatte ein Blumentiſchchen, und an den Wänden hingen einige Gemälde.
Als ich dieſe Zimmer eine Weile betrachtet hatte, öffnete mein Begleiter im dritten Zimmer mittelſt eines Drückers eine Tapetenthür, die ſich den Blicken nicht gezeigt hatte, und führte mich noch in ein vier¬263 tes kleines Zimmer mit einem einzigen Fenſter. Das Zimmerchen war ſehr ſchön. Es war ganz in ſanft roſenfarbener Seide ausgeſchlagen, welche Zeichnungen in derſelben nur etwas dunkleren Farbe hatte. An die¬ ſer ſchwach roſenrothen Seide lief eine Polſterbank von lichtgrauer Seide hin, die mit mattgrünen Bän¬ dern gerändert war. Seſſel von gleicher Art ſtanden herum. Die Seide grau in Grau gezeichnet hob ſich licht und lieblich von dem Roth der Wände ab, es machte faſt einen Eindruck, wie wenn weiße Roſen neben rothen ſind. Die grünen Streifen erinnerten an das grüne Laubblatt der Roſen. In einer der hin¬ teren Ecken des Zimmers war ein Kamin von eben¬ falls grauer nur dunklerer Farbe mit grünen Streifen in den Simſen und ſehr ſchmalen Goldleiſten. Vor der Polſterbank und den Seſſeln ſtand ein Tiſch, deſ¬ ſen Platte grauer Marmor von derſelben Farbe wie der Kamin war. Die Füſſe des Tiſches und der Seſ¬ ſel ſo wie die Faſſungen an der Polſterbank und den anderen Dingen waren von dem ſchönen veilchen¬ blauen Amarantholze; aber ſo leicht gearbeitet, daß dieſes Holz nirgends herrſchte. An dem mit grauen Seidenvorhängen geſäumten Fenſter, welches zwiſchen grünen Baumwölbungen auf die Landſchaft und das264 Gebirge hinausſah, ſtand ein Tiſchchen von demſel¬ ben Holze und ein reichgepolſterter Seſſel und Schem¬ mel, wie wenn hier der Plaz für eine Frau zum Ruhen wäre. An den Wänden hingen nur vier kleine an Größe und Rahmen vollkommen gleiche Öhlgemälde. Der Fußboden war mit einem feinen grünen Teppiche überſpannt, deſſen einfache Farbe ſich nur ein wenig von dem Grün der Bänder abhob. Es war gleichſam der Raſenteppich, über dem die Farben der Roſen ſchwebten. Die Schürzange und die anderen Geräthe an dem Kamine hatten vergoldete Griffe, auf dem Tiſche ſtand ein goldenes Glöcklein.
Kein Merkmal in dem Gemache zeigte an, daß es bewohnt ſei. Kein Geräthe war verrückt, an dem Teppiche zeigte ſich keine Falte, und an den Fenſter¬ vorhängen keine Verknitterung.
Als ich eine Zeit dieſe Dinge mit Staunen be¬ trachtet hatte, öffnete mein Begleiter wieder die Tape¬ tenthür, die man auch im Innern dieſes Zimmers nicht ſehen konnte, und führte mich hinaus. Er hatte in dem Roſenzimmerchen nicht ein Wort geſprochen, und ich auch nicht. Als wir durch die anderen Zimmer gegangen waren, und er ſie hinter uns zugeſchloſſen hatte, ſagte er mir ebenfalls über den Zweck dieſer265 Wohnung nichts, und ich konnte natürlich nicht darum fragen.
Als wir auf den Gang hinausgekommen waren, ſagte er: „ Nun habt ihr mein ganzes Haus geſehen; wenn ihr wieder einmal in der Zukunft vorüberkommt, oder euch gar in der Ferne desſelben erinnert, ſo könnt ihr euch gleich vorſtellen, wie es im Inneren aus¬ ſieht. “
Bei dieſen Worten neſtelte er den Ring mit den Schlüſſeln in irgend eine Taſche ſeines ſeltſamen Obergewandes.
„ Es iſt ein Bild, “erwiederte ich auf ſeine Rede, „ das ſich mir tief eingeprägt hat, und das ich nicht ſo bald vergeſſen werde. “
„ Ich habe mir das beinahe gedacht, “antwor¬ tete er.
Da wir in die Nähe meines Zimmers gekommen waren, verabſchiedete er ſich, indem er ſagte, daß er nun einen großen Theil meiner Zeit in Anſpruch ge¬ nommen habe, und daß er, um mich nicht noch mehr einzuengen, mir nichts weiter davon entziehen wolle.
Ich dankte ihm für ſeine Gefälligkeit und Freund¬ lichkeit, mit welcher er mir einen Theil des Tages ge¬ widmet, und mir ſeine Häuslichkeit gezeigt habe, und266 wir trennten uns. Ich nahm den Schlüſſel aus mei¬ ner Taſche und öffnete mein Zimmer, um einzutreten; ihn aber hörte ich die Treppe hinabgehen.
Ich blieb nun bis gegen Abend in meinem Gaſt¬ gemache theils, weil ich ermüdet war, und wirklich einige Ruhe nöthig hatte, theils, weil ich meinem Gaſtfreunde nicht weiter läſtig ſein wollte.
Am Abende ging ich wieder ein wenig auf die Fel¬ der außerhalb des Gartens hinaus, und kam erſt zur Speiſeſtunde zurück. Ich hatte bei dieſer Gelegenheit gelernt, mir ſelber das Gitter zu öffnen und zu ſchließen.
Es war kein Gaſt da, und beim Abendeſſen wie beim Mittageſſen waren nur mein Gaſtfreund Guſtav und ich. Die Geſpräche waren über verſchiedene gleich¬ gültige Dinge, wir trennten uns bald, ich verfügte mich auf mein Zimmer, las noch, ſchrieb, entkleidete mich endlich, löſchte das Licht, und begab mich zur Ruhe.
Der nächſte Morgen war wieder herrlich und hei¬ ter. Ich öffnete die Fenſter, ließ Duft und Luft her¬ einſtrömen, kleidete mich an, erfriſchte mich mit reich¬ lichem Waſſer zum Waſchen, und ehe die Sonne nur einen einzigen Thautropfen hatte aufſaugen können,267 ſtand ich ſchon mit meinem Ränzlein auf dem Rücken und mit meinem Hute und dem Schwarzdornſtocke in der Hand im Speiſezimmer. Der alte Mann und Guſtav warteten meiner bereits.
Nachdem das Frühmahl verzehrt worden war, wobei ich troz der Forderung mein Ränzlein nicht ab¬ gelegt hatte, dankte ich noch einmal für die große Freundlichkeit und Offenheit, mit welcher ich hier auf¬ genommen worden war, verabſchiedete mich, und be¬ gab mich auf meinen Weg.
Der alte Mann und Guſtav begleiteten mich bis zum Gitterthore des Gartens. Der Alte öffnete, um mich hinauszulaſſen, ſo wie er vorgeſtern geöffnet hatte, um mir den Eingang zu geſtatten. Beide gin¬ gen mit mir durch das geöffnete Thor hinaus. Als wir auf dem Sandplaze vor dem Hauſe angeweht von dem Dufte der Roſen ſtanden, ſagte mein Beherber¬ ger: „ Nun lebt wohl, und geht glücklich eures We¬ ges. Wir kehren durch unſer Gitter wieder in unſe¬ ren Landaufenthalt und zu unſeren Beſchäftigungen zurück. Wenn ihr in einer anderen Zeit wieder in die Nähe kommt, und es euch gefällt, uns zu beſuchen, ſo werdet ihr mit Freundlichkeit aufgenommen werden. Wenn ihr aber gar, ohne daß euch euer Weg hier vor¬268 überführt, freiwillig zu uns kommt, um uns zu beſu¬ chen, ſo wird es uns beſonders freuen. Es iſt keine Re¬ densart, wenn ich ſage, daß es uns freuen würde, ich gebrauche dieſe Redensarten nicht, ſondern es iſt wirk¬ lich ſo. Wenn ihr das einmal wollt, ſo lebt in dieſem Hauſe, ſo lange es euch zuſagt, und lebt ſo unge¬ bunden, als ihr wollt, ſo wie auch wir ſo ungebun¬ den leben werden, als wir wollen. Wenn ihr uns die Zeit vorher etwa durch einen Bothen wiſſen machen könntet, wäre es gut, weil wir, wenn auch nicht oft, doch manchmal abweſend ſind. “
„ Ich glaube, daß ihr mich freundlich aufnehmen werdet, wenn ich wieder komme, “antwortete ich, „ weil ihr es ſagt, und euer Weſen mir ſo erſcheint, daß ihr nicht eine unwahre Höflichkeit ausſprechen würdet. Ich begreife zwar den Grund nicht, weßhalb ihr mich einladet, aber da ihr es thut, nehme ich es mit vieler Freude an, und ſage euch, daß ich im nächſten Som¬ mer, wenn mich auch mein gewöhnlicher Weg nicht hieher führt, freiwillig in dieſe Gegend und in die¬ ſes Haus kommen werde, um eine kleine Zeit da zu bleiben. “
„ Thut es, und ihr werdet ſehen, daß ihr nicht un¬269 willkommen ſeid, “ſagte er, „ wenn ihr auch die Zeit ausdehnt. “
„ Ich werde vielleicht das Leztere thun, “antwor¬ tete ich, „ und ſo lebet wohl. “
„ Lebt wohl. “
Bei dieſen Worten reichte er mir die Hand, und drückte ſie.
Ich reichte meine Hand, da er ſie losgelaſſen hatte, auch an den Knaben Guſtav, welcher ſie an¬ nahm, aber nichts ſprach, ſondern mich blos mit ſeinen Augen freundlich anſah.
Hierauf ſchieden wir, indem ſie durch das Gitter zurückgingen, ich aber den Hut auf dem Haupte den Weg hinabwandelte, den ich vor zwei Tagen herauf¬ gegangen war.
Ich fragte mich nun, bei wem ich denn dieſen Tag und die zwei Nächte zugebracht habe. Er hat um mei¬ nen Namen nicht gefragt, und hat mir den ſeinigen nicht genannt. Ich konnte mir auf meine Frage keine Antwort geben.
Und ſo ging ich denn nun weiter. Die grünen Ähren gaben jezt in der Morgenſonne feurige Strahlen, während ſie bei meinem Heraufgehen im270 Schatten des herandrohenden Gewitters geſtanden waren.
Ich ſah mich noch einmal um, da ich zwiſchen den Feldern hinabging, und ſah das weiße Haus im Sonnenſcheine ſtehen, wie ich es ſchon öfter hatte ſtehen geſehen, ich konnte noch den Roſenſchimmer unterſcheiden, und glaubte, noch das Singen der zahlreichen Vögel im Garten vernehmen zu können.
Hierauf wendete ich mich wieder um, und ging abwärts, bis ich zu der Hecke und der Einfriedigung der Felder kam, bei der ich vorgeſtern von der Straße abgebogen hatte. Ich konnte mich nicht enthalten, noch einmal umzuſehen. Das Haus ſtand jezt nur mehr weiß da, wie ich es öfter bei meinen Wanderun¬ gen geſehen hatte.
Ich ging nun auf der Landſtraße in meiner Rich¬ tung vorwärts.
Den erſten Mann, welcher mir begegnete, fragte ich, wem das weiße Haus auf dem Hügel gehöre, und wie es hieße.
„ Es iſt der Aspermeier, dem es gehört, “antwortete der Mann, „ ihr ſeid ja geſtern ſelber in dem Asperhofe geweſen und ſeid mit dem Aspermeier herumgegangen. “
„ Aber der Beſizer jenes Hauſes iſt doch unmöglich271 ein Meier? "fragte ich; denn mir war wohlbekannt, daß man in der Gegend jeden größeren Bauern einen Meier nannte.
„ Er iſt Anfangs nicht der Aspermeier geweſen, "antwortete der Mann, „ aber er hat von dem alten As¬ permeier den Asperhof gekauft, und das Haus hat er gebaut, welches in dem Garten ſteht, und zu dem Asperhof gehört, und jezt iſt er der Aspermeier; denn der alte iſt längſt geſtorben."
„ Hat er denn nicht auch einen andern Namen? "fragte ich.
„ Nein, wir heißen ihn den Aspermeier, "antwor¬ tete er.
Ich ſah, daß der Mann nichts Weiteres von mei¬ nem Gaſtfreunde wiſſe, und ſich nicht um denſelben gekümmert habe, ich gab daher bei ihm jedes weitere Forſchen auf.
Es begegneten mir noch mehrere Menſchen, von denen ich dieſelbe Antwort erhielt. Alle kehrten das Verhältniß um, und ſagten, das Haus im Garten gehöre zu dem Asperhofe. Ich beſchloß daher, vor¬ läufig jedes Forſchen zu unterlaſſen, bis ich zu einem Menſchen gekommen ſein würde, von dem ich berech¬ tigt war, eine beſſere Auskunft zu erwarten.
272Da mir aber der Name Aspermeier und Asperhof nicht gefiel, nannte ich das Haus, in welchem ein ſol¬ cher Roſendienſt getrieben wurde, in meinem Haupte vorläufig das Roſenhaus.
Es begegnete mir aber niemand, den ich noch ein¬ mal hätte fragen können.
Ich ließ, da ich ſo meines Weges weiter wan¬ delte, die Dinge des lezten Tages in mir vorüber¬ gehen. Mich freute es, daß ich in dem Hauſe eine ſo große Reinlichkeit und Ordnung getroffen hatte, wie ich ſie bisher nur in dem Hauſe meiner Eltern geſehen hatte. Ich wiederholte, was der alte Mann mir ge¬ zeigt, und geſagt hatte, und es fiel mir ein, wie ich mich viel beſſer hätte benehmen können, wie ich auf manche Reden beſſere Antworten geben, und über¬ haupt viel beſſere Dinge hätte ſagen können.
In dieſen Betrachtungen wurde ich unterbrochen. Als ich ungefähr eine Stunde auf dem Wege gewan¬ dert war, kam ich an die Ecke des Buchenwaldes, von dem wir vorgeſtern Abends geſprochen hatten, der zu den Beſizungen meines Gaſtfreundes gehört, und in welchem ich einmal eine Gabelbuche gezeichnet hatte. Der Weg geht an dem Walde etwas ſteiler hinan, und biegt um die Ecke deſſelben herum. Da ich bis273 zu der Biegung gelangt war, kam mir ein Wagen entgegen, welcher mit eingelegtem Radſchuhe langſam die Straße herabfuhr. Er mochte darum langſamer als gewöhnlich fahren, weil ſich diejenigen, welche in ihm ſaßen, Vorſicht zum Geſeze gemacht haben konn¬ ten. Es ſaßen nehmlich in dem offenen und des ſchö¬ nen Wetters willen ganz zurückgelegten Wagen zwei Frauengeſtalten, eine ältere und eine jüngere. Beide hatten Schleier, welche von den Hüten über die Schultern niedergingen. Die ältere hatte den Schleier über das Angeſicht gezogen, welches aber doch, da der Schleier weiß war, ein wenig geſehen werden konnte. Die jüngere hatte den Schleier zu beiden Seiten des Angeſichts zurückgethan, und zeigte dieſes Angeſicht der Luft. Ich ſah ſie beide an, und zog endlich zu einer höflichen Begrüßung meinen Hut. Sie dankten freundlich, und der Wagen fuhr vorüber. Ich dachte mir, da der Wagen immer tiefer über den Berg hin¬ abging, ob denn nicht eigentlich das menſchliche An¬ geſicht der ſchönſte Gegenſtand zum Zeichnen wäre.
Ich ſah dem Wagen noch nach, bis er durch die Biegung des Weges unſichtbar geworden war. Dann ging ich an dem Waldrande vorwärts und auf¬ wärts.
Stifter, Nachſommer. I. 18274Nach drei Stunden kam ich auf einen Hügel, von welchem ich in die Gegend zurückſehen konnte, aus der ich gekommen war. Ich ſah mit meinem Fern¬ rohre, das ich aus dem Ränzlein genommen hatte, deutlich den weißen Punkt des Hauſes, in welchem ich die lezten zwei Nächte zugebracht hatte, und hinter dem Hauſe ſah ich die duftigen Berge. Wie war nun der Punkt ſo klein in der großen Welt.
Ich kam bald in den Ort, in welchem ich, da ich bisher nirgends angehalten hatte, mein Mittagsmahl einzunehmen geſonnen war, obwohl die Sonne bis zum Scheitel noch einen kleinen Bogen zurückzulegen hatte.
Ich fragte in dem Orte wieder um den Beſizer des weißen Hauſes, und beſchrieb dasſelbe und ſeine Lage, ſo gut ich konnte. Man nannte mir einen Mann, der einmal in hohen Staatsämtern geſtanden war; man nannte mir aber zwei Namen, den Freiherrn von Ri¬ ſach und einen Herrn Morgan. Ich war nun wieder ungewiß wie vorher.
Am andern Tage Morgens kam ich in den Ge¬ birgszug, welcher das Ziel meiner Wanderung war, und in welchen ich von dem anderen Gebirgszuge durch einen Theil des flachen Landes überzuſiedeln275 beſchloſſen hatte. Am Mittage kam ich in dem Gaſt¬ hofe an, den ich mir zur Wohnung ausgewählt hatte. Mein Koffer war bereits da, und man ſagte mir, daß man mich früher erwartet habe. Ich erzählte die Ur¬ ſache meiner verſpäteten Ankunft, richtete mich in dem Zimmer, das ich mir beſtellt hatte, ein, und begab mich an die Geſchäfte, welche in dieſem Gebirgstheile zu betreiben ich mir vorgeſezt hatte.
18 *Ich blieb ziemlich lange in meinem neuen Aufent¬ haltsorte. Es entwickelte ſich aus den Arbeiten ein Weiteres und Neues, und hielt mich feſt. Ich drang ſpäter noch tiefer in das Gebirgsthal ein, und begann Dinge, die ich mir für dieſen Sommer gar nicht ein¬ mal vorgenommen hatte.
Im ſpäten Herbſte kehrte ich zu den Meinigen zu¬ rück. Es erging mir auf dieſer Reiſe, wie es mir auf jeder Heimreiſe ergangen war. Als ich das Gebirge verließ, waren die Bergahornblätter und die der Bir¬ ken und Eſchen nicht nur ſchon längſt abgefallen, ſon¬ dern ſie hatten auch bereits ihre ſchöne gelbe Farbe verloren, und waren ſchmuzig ſchwarz geworden, was nicht mehr auf die Kinder der Zweige erinnerte, die ſie im Sommer geweſen waren, ſondern auf die be¬277 fruchtende Erde, die ſie im Winter für den neuen Nachwuchs werden ſollten, die Bewohner der Berg¬ thäler und der Halden, die wohl gelegentlich in jeder Jahreszeit Feuer machen, unterhielten es ſchon den ganzen Tag in ihrem Ofen, um ſich zu wärmen, und an heiteren Morgen glänzte der Reif auf den Berg¬ wieſen, und hatte bereits das Grün der Farenkräuter in ein dürres Roſtbraun verwandelt: da ich aber in die Ebene gelangt war, und die Berge mir am Rande derſelben nur mehr wie ein blauer Saum erſchienen, und da ich endlich gar auf dem breiten Strome zu un¬ ſerer Hauptſtadt hinabfuhr, umfächelten mich ſo weiche und warme Lüfte, daß ich meinte, ich hätte die Berge zu früh verlaſſen. Es war aber nur der Unterſchied der Himmelsbeſchaffenheit in dem Gebirge und in den entfernten Niederungen. Als ich das Schif verlaſſen hatte, und an den Thoren meiner Heimathſtadt an¬ gekommen war, trugen die Akazien noch ihr Laub, warmer Sonnenſchein legte ſich auf die Umfaſſungs¬ mauern und auf die Häuſer, und ſchöngekleidete Menſchen luſtwandelten in den Stunden des Nach¬ mittages. Die liebliche röthliche und dunkelblaue Farbe der Weintrauben, die man an dem Thore und auf dem Plaze innerhalb deſſelben feil both, brachte278 mir manchen freundlichen und fröhlichen Herbſttag meiner Kindheit in Erinnerung.
Ich ging die gerade Gaſſe entlang, ich beugte in ein paar Nebenſtraßen, und ſtand endlich vor dem wohlbekannten Vorſtadthauſe mit dem Garten.
Da ich die Treppe hinangegangen war, da ich die Mutter und die Schweſter gefunden hatte, war die erſte Frage nach Geſundheit und Wohlbefinden aller Angehörigen. Es war alles im beſten Stande, die Mutter hatte auch meine Zimmer ordnen laſſen, alles war abgeſtaubt, gereinigt, und an ſeinem Plaze, als hätte man mich gerade an dieſem Tage erwartet.
Nach einem kurzen Geſpräche mit der Mutter und der Schweſter kleidete ich mich, ohne meinen Koffer zu erwarten, von meinen zurückgelaſſenen Kleidern auf ſtädtiſche Weiſe an, um in die Stadt zu gehen, und den Vater zu begrüßen, der noch auf ſeiner Han¬ delsſtube war. Das Gewimmel der Leute in den Gaſſen, das Herumgehen gepuzter Menſchen in den Baumgängen des grünen Plazes zwiſchen der Stadt und den Vorſtädten, das Fahren der Wägen und ihr Rollen auf den mit Steinwürfeln gepflaſterten Straßen, und endlich, als ich in die Stadt kam, die ſchönen Waarenauslagen und das Anſehnliche der Gebäude279 befremdeten und beengten mich beinahe als ein Ge¬ genſaz zu meinem Landaufenthalte; aber ich fand mich nach und nach wieder hinein, und es ſtellte ſich als das Langgewohnte und Allbekannte wieder dar. Ich ging nicht zu meinen Freunden, an deren Wohnung ich vorüberkam, ich ging nicht in die Buchhandlung, in der ich manche Stunde des Abends zuzubringen gewohnt war, und die an meinem Wege lag, ſondern ich eilte zu meinem Vater. Ich fand ihn an dem Schreibtiſche, und grüßte ihn ehrerbiethig, und wurde auch von ihm auf das Herzlichſte empfangen. Nach kurzer Unterredung über Wohlbefinden und an¬ dere allgemeine Dinge ſagte er, daß ich nach Hauſe gehen möchte, er habe noch Einiges zu thun, werde aber bald nachkommen, um mit der Mutter, der Schweſter und mir den Abend zuzubringen.
Ich ging wieder gerades Weges nach Hauſe. Dort machte ich einen Gang durch den Garten, ſprach einige liebkoſende Worte zu dem Hofhunde, der mich mit Heulen und Freudenſprüngen begrüßte, und brachte dann noch eine Weile bei der Mutter und der Schwe¬ ſter zu. Hierauf ging ich in alle Zimmer unſerer Wohnung, beſonders in die mit den alten Geräthen280 den Büchern und Bildern. Sie kamen mir beinahe unſcheinbar vor.
Nach einiger Zeit kam auch der Vater. Es war heute in dem Stübchen, in welchem die alten Waffen hingen, und um welches der Epheu rankte, zum Abendeſſen aufgedeckt worden. Man hatte ſogar bis gegen Abend die Fenſter offen laſſen können. Da wäh¬ rend meines Ganges in die Stadt mein Koffer und meine Kiſten von dem Schiffe gekommen waren, konnte ich die Geſchenke, welche ich von der Reiſe mitgebracht hatte, in das Stübchen ſchaffen laſſen: für die Mut¬ ter einige ſeltſame Töpfe und Geſchirre, für den Va¬ ter ein Amonshorn von beſonderer Größe und Schön¬ heit andere Marmorſtücke und eine Uhr aus dem ſie¬ benzehnten Jahrhunderte, und für die Schweſter das gewöhnliche Edelweis getrockneten Enzian ein ſeidenes Bauertüchlein und ſilberne Bruſtkettlein, wie man ſie in einigen Theilen des Gebirges trägt. Auch was man mir als Geſchenke vorbereitet hatte, kam in das Stüblein: von der Mutter und Schweſter verfertigte Arbeiten, darunter eine Reiſetaſche von beſonderer Schönheit, dann ſämmtliche Arten guter Bleifedern nach den Abſtufungen der Härte in einem Fache ge¬ ordnet, beſonders treffliche Federkiele, glattes Papier,281 und von dem Vater ein Gebirgsatlas, deſſen ich ſchon einige Male Erwähnung gethan, und den er für mich gekauft hatte. Nachdem alles mit Freuden gegeben und empfangen worden war, ſezte man ſich zu dem Tiſche, an dem wir heute Abend nur allein waren, wie es nach und nach bei jeder meiner Zurückkünfte nach einer längeren Abweſenheit der Gebrauch gewor¬ den war. Es wurden die Speiſen aufgetragen, von denen die Mutter vermuthete, daß ſie mir die lieb¬ ſten ſein könnten. Die Vertraulichkeit und die Liebe ohne Falſch, wie man ſie in jeder wohlgeordneten Familie findet, that mir nach der längeren Vereinſa¬ mung außerordentlich wohl.
Als die erſten Beſprechungen über alles, was zu¬ nächſt die Angehörigen betraf, und was man in der jüngſten Zeit erlebt hatte, vorüber waren, als man mir den ganzen Gang des Hausweſens während meiner Abweſenheit auseinandergeſezt hatte, mußte ich auch von meiner Reiſe erzählen. Ich erklärte ihren Zweck, und ſagte, wo ich geweſen ſei, und was ich gethan habe, ihn zu erreichen. Ich erwähnte auch des alten Mannes, und erzählte, wie ich zu ihm gekom¬ men ſei, wie gut ich von ihm aufgenommen worden ſei, und was ich dort geſehen habe. Ich ſprach die282 Vermuthung aus, daß er ſeiner Sprache nach zu ur¬ theilen aus unſerer Stadt ſein könnte. Mein Vater ging ſeine Erinnerungen durch, konnte aber auf kei¬ nen Mann kommen, der dem von mir beſchriebenen ähnlich wäre. Die Stadt iſt groß, meinte er, es könn¬ ten da viele Leute gelebt haben, ohne daß er ſie hätte kennen lernen können. Die Schweſter meinte, vielleicht hätte ich ihn auch der Umgebung zu Folge, in welcher ich ihn gefunden habe, ſchon in einem anderen und beſonderen Lichte geſehen, und in ſolchem dargeſtellt, woraus er ſchwerer zu erkennen ſei. Ich entgegnete, daß ich gar nichts geſagt habe, als was ich geſehen hätte, und was ſo deutlich ſei, daß ich es, wenn ich mit Farben beſſer umzugehen wüßte, ſogar malen könnte. Man meinte, die Zeit werde die Sache wohl aufklären, da er mich auf einen zweiten Beſuch einge¬ laden habe, und ich gewiß nicht anſtehen werde, den¬ ſelben abzuſtatten. Daß ich ihn nicht geradezu um ſeinen Namen gefragt habe, billigten alle meine An¬ gehörigen, da er weit mehr gethan, nehmlich mich aufgenommen und beherbergt habe, ohne um meinen Namen oder um meine Herkunft zu forſchen.
Der Vater erkundigte ſich im Laufe des Geſpräches genauer nach manchen Gegenſtänden in dem Hauſe283 des alten Mannes, deren ich Erwähnung gethan hatte, beſonders fragte er nach den Marmoren nach den alten Geräthen nach den Schnizarbeiten nach den Bildſäulen nach den Gemälden und den Büchern. Die Marmore konnte ich ihm faſt ganz genau beſchrei¬ ben, die alten Geräthe beinahe auch. Der Vater ge¬ rieth über die Beſchreibung in Bewunderung und ſagte, es würde für ihn eine große Freude ſein, ein¬ mal ſolche Dinge mit eigenen Augen ſehen zu können. Über Schnizarbeiten konnte ich ſchon weniger ſagen, über die Bücher auch nicht viel, und das Wenigſte, beinahe gar nichts, über Bildſäulen und Gemälde. Der Vater drang auch nicht darauf, und verweilte nicht lange bei dieſen lezteren Gegenſtänden — die Mutter meinte, es wäre recht ſchön, wenn er ſich ein¬ mal aufmachte, eine Reiſe in das Oberland unter¬ nähme, und die Sachen bei dem alten Manne ſelber anſähe. Er ſize jezt immer wieder zu viel in ſeiner Schreibſtube, er gehe in lezter Zeit auch alle Nach¬ mittage dahin, und bleibe oft bis in die Nacht dort. Eine Reiſe würde ſein Leben recht erfriſchen, und der alte Mann, der den Sohn ſo freundlich aufgenom¬ men habe, würde ihn gewiß herzlich empfangen, und ihm als einem Kenner ſeine Sammlungen noch viel284 lieber zeigen als einem andern. Wer weiß, ob er nicht gar auf dieſer Reiſe das eine oder andere Stück für ſeine Alterthumszimmer erwerben könnte. Wenn er immer warte, bis die dringendſten Geſchäfte vor¬ über wären, und bis er ſich mehr auf die jüngeren Leute in ſeiner Arbeitsſtube verlaſſen könne, ſo werde er gar nie reiſen; denn die Geſchäfte ſeien immer dringend, und ſein Mißtrauen in die Kräfte der jün¬ geren Leute wachſe immer mehr, je älter er werde, und je mehr er ſelber alle Sachen allein verrichten wolle.
Der Vater antwortete, er werde nicht nur ſchon einmal reiſen, ſondern ſogar eines Tages ſich in den Ruheſtand ſezen, und keine Handelsgeſchäfte weiter vornehmen.
Die Mutter erwiederte, daß dies ſehr gut ſein, und daß ihr dieſer Tag wie ein zweiter Brauttag er¬ ſcheinen werde.
Ich mußte dem Vater nun auch die einzelnen Holzgattungen angeben, aus denen die verſchiedenen Geräthe in dem Roſenhauſe eingelegt ſeien, aus de¬ nen die Fußböden beſtänden, und endlich aus wel¬ chen geſchnizt würde. Ich that es ſo ziemlich gut, denn ich hatte bei der Betrachtung dieſer Dinge an285 meinen Vater gedacht, und hatte mir mehr gemerkt, als ſonſt der Fall geweſen ſein würde. Ich mußte ihm auch beſchreiben, in welcher Ordnung dieſe Hölzer zuſammengeſtellt ſeien, welche Geſtalten ſie bildeten, und ob in der Zuſammenſtellung der Linien und Far¬ ben ein ſchöner Reiz liege. Ebenſo mußte ich ihm auch noch mehr von den Marmorarten erzählen, die in dem Gange und in dem Saale wären, und mußte darſtellen, wie ſie verbunden wären, welche Gattun¬ gen an einander gränzten, und wie ſie ſich dadurch abhöben. Ich nahm häufig ein Stück Papier und die Bleifeder zur Hand, um zu verſinnlichen, was ich ge¬ ſehen hätte. Er that auch weitere Fragen, und durch ihre zweckmäßige Aufeinanderfolge konnte ich mehr beantworten, als ich mir gemerkt zu haben glaubte.
Als es ſchon ſpät geworden war, mahnte die Mutter zur Ruhe, wir trennten uns von dem Waf¬ fenhäuschen, und begaben uns zu Bette.
Am anderen Tage begann ich meine Wohnung für den Winter einzurichten. Ich packte nach und nach die Sachen, welche ich von meiner Reiſe mitgebracht hatte, aus, ſtellte ſie nach gewohnter Art und Weiſe auf, und ſuchte ſie in die vorhandenen einzureihen. Dieſe Beſchäftigung nahm mehrere Tage in Anſpruch.
286Am erſten Sonntage nach meiner Ankunft war ein Bewillkommungsmahl. Alle Leute von dem Handelsgeſchäfte meines Vaters waren beſonders eingeladen worden, und es wurden beſſere Speiſen und beſſerer Wein auf den Tiſch geſezt. Auch die zwei alten Leute, die in dem dunkeln Stadthauſe unſere Wohnungsnachbaren geweſen waren, ſind zu dieſem Mahle geladen worden, weil ſie mich ſehr lieb hatten, und weil die Frau geſagt hatte, daß aus mir einmal große Dinge werden würden. Dieſe Mahle waren ſchon ſeit ein paar Jahren Sitte, und die alten Leute waren jedesmal Gäſte dabei.
Als ich mit dem Hauptſächlichſten in der Anord¬ nung meiner Zimmer fertig war, beſuchte ich auch meine Freunde in der Stadt, und brachte wieder manche Abenddämmerung in der Buchhandlung zu, welche mir ein lieber Aufenthalt geworden war. Wenn ich durch die Gaſſen der Stadt ging, war es mir, als hätte ich das, was ich von dem alten Manne wußte, in einem Märchenbuche geleſen; wenn ich aber wieder nach Hauſe kam, und in die Zimmer mit den alterthümlichen Gegenſtänden und mit den Bildern ging, ſo war er wieder wirklich, und paßte hieher als Vergleichsgegenſtand.
287Die Spuren, welche mit einer Ankunft nach einer längeren Reiſe in einer Wohnung immer unzertrenn¬ lich verbunden ſind, namentlich, wenn man von die¬ ſer Reiſe viele Gegenſtände mitgebracht hat, welche geordnet werden müſſen, waren endlich aus meinem Zimmer gewichen, meine Bücher ſtanden und lagen zum Gebrauche bereit, und meine Werkzeuge und Zeichnungsgeräthſchaften waren in der Ordnung, wie ich ſie für den Winter bedurfte. Dieſer Winter war aber auch ſchon ziemlich nahe. Die lezten ſchö¬ nen Spätherbſttage, die unſerer Stadt ſo gerne zu Theil werden, waren vorüber, und die neblige naſſe und kalte Zeit hatte ſich eingeſtellt.
In unſerem Hauſe war während meiner Abwe¬ ſenheit eine Veränderung eingetreten. Meine Schwe¬ ſter Klotilde, welche bisher immer ein Kind geweſen war, war in dieſem Sommer plözlich ein erwachſenes Mädchen geworden. Ich ſelber hatte mich bei meiner Rückkehr ſehr darüber verwundert, und ſie kam mir beinahe ein wenig fremd vor.
Dieſe Veränderung brachte für den kommenden Winter auch eine Veränderung in unſer Haus. Unſer Leben war für die Hauptſtadt eines großen Reiches bisher ein ſehr einfaches und beinah ländliches ge¬288 weſen. Der Kreis der Familien, mit denen wir ver¬ kehrten, hatte keine große Ausdehnung gehabt, und auch da hatten ſich die Zuſammenkünfte mehr auf ge¬ legentliche Beſuche oder auf Spiele der Kinder im Garten beſchränkt. Jezt wurde es anders. Zu Klotil¬ den kamen Freundinen, mit deren Eltern wir in Ver¬ bindung geweſen waren, dieſe hatten wieder Ver¬ wandte und Bekannte, mit denen wir nach und nach in Beziehungen geriethen. Es kamen Leute zu uns, es wurde Muſik gemacht, vorgeleſen, wir kamen auch zu anderen Leuten, wo man ſich ebenfalls mit Muſik und ähnlichen Dingen unterhielt. Dieſe Verhältniſſe üb¬ ten aber auf unſer Haus keinen ſo weſentlichen Ein¬ fluß aus, daß ſie daſſelbe umgeſtaltet hätten. Ich lernte außer den Freunden, die ich ſchon hatte, und an deren Art und Weiſe ich gewöhnt war, noch neue kennen. Sie hatten meiſtens ganz andere Beſtrebun¬ gen als ich, und ſchienen mir in den meiſten Dingen überlegen zu ſein. Sie hielten mich auch für beſon¬ ders, und zwar zuerſt darum, weil die Art der Er¬ ziehung in unſerem Hauſe eine andere geweſen war als in anderen Häuſern, und dann, weil ich mich mit anderen Dingen beſchäftigte, als auf die ſie ihre Wünſche und Begierden richteten. Ich vermuthete,289 daß ſie mich wegen meiner Sonderlichkeit geringer achteten als ſich unter einander ſelbſt.
Sie erwieſen meiner Schweſter große Aufmerk¬ ſamkeiten, und ſuchten ihr zu gefallen. Die jungen Leute, welche in unſer Haus kommen durften, waren nur lauter ſolche, deren Eltern zu uns eingeladen wa¬ ren, die wir auch beſuchten, und an deren Sitten ſich kein Bedenken erhob. Meine Schweſter wußte nicht, daß ihr die Männer gefallen wollten, und ſie achtete nicht darauf. Ich aber kam in jenen Tagen, wenn mir ein¬ fiel, daß meine Schweſter einmal einen Gatten haben werde, immer auf den nehmlichen Gedanken, daß dies kein anderer Mann ſein könne, als der ſo wäre wie der Vater.
Auch mich zogen dieſe jungen Männer und andere, die nicht eben der Schweſter willen in das Haus ka¬ men, öfter in ihre Geſpräche, ſie erzählten mir von ihren Anſichten Beſtrebungen Unterhaltungen, und manche vertrauten mir Dinge, welche ſie in ihrem ge¬ heimen Inneren dachten. So ſagte mir einmal einer Namens Preborn, welcher der Sohn eines alten Mannes war, der ein hohes Amt am Hofe bekleidete, und öfter in unſer Haus kam, die junge Tarona ſei die größte Schönheit der Stadt, ſie habe einenStifter, Nachſommer. I. 19290Wuchs, wie ihn niemand von der halben Million der Einwohner der Stadt habe, wie ihn nie irgend je¬ mand gehabt habe, und wie ihn keine Künſtler alter und neuer Zeit darſtellen könnten. Augen habe ſie, welche Kieſel in Wachs verwandeln und Diamanten ſchmelzen könnten. Er liebe ſie mit ſolcher Heftigkeit, daß er manche Nacht ohne Schlaf auf ſeinem Lager liege, oder in ſeiner Stube herum wandle. Sie lebe nicht hier, komme aber öfter in die Stadt, er werde ſie mir zeigen, und ich müſſe ihm als Freund in ſeiner Lage beiſtehen.
Ich dachte, daß vieles in dieſen Worten nicht Ernſt ſein könne. Wenn er das Mädchen ſo ſehr liebe, ſo hätte er es mir oder einem andern gar nicht ſagen ſollen, auch wenn wir Freunde geweſen wären. Freunde waren wir aber nicht, wenn man das Wort in der eigentlichen Bedeutung nimmt, wir waren es nur, wie man es in der Stadt mit einer Redeweiſe von Leuten nennt, die einander ſehr bekannt ſind, und mit einander öfter umgehen. Und endlich konnte er ja keinen Beiſtand von mir erwarten, der ich in der Art mit Menſchen umzugehen nicht ſehr bewandert war, und in dieſer Hinſicht weit unter ihm ſelber ſtand.
291Ich beſuchte zuweilen auch den einen oder den an¬ deren dieſer jungen Leute außer der Zeit, in der wir in Begleitung unſerer Eltern zuſammenkamen, und da war ebenfalls öfter von Mädchen die Rede. Sie ſagten, wie ſie dieſe oder jene lieben, ſich vergeblich nach ihr ſeh¬ nen, oder von ihr Zeichen der Gegenneigung erhalten hätten. Ich dachte, das ſollten ſie nicht ſagen; und wenn ſie eine muthwillige Bemerkung über die Ge¬ ſtalt oder das Benehmen eines Mädchens ausdrück¬ ten, ſo erröthete ich, und es war mir, als wäre meine Schweſter beleidigt worden.
Ich ging nun öfter in die Stadt, und betrach¬ tete aufmerkſamer den alten Bau unſeres Erzdomes. Seit ich die Zeichnungen von Bauwerken in dem Ro¬ ſenhauſe ſo genau und in ſolcher Menge angeſehen hatte, waren mir die Bauwerke nicht mehr ſo fremd wie früher. Ich ſah ſie gerne an, ob ſie irgend etwas Ähnliches mit den Gegenſtänden hätten, die ich in den Zeichnungen geſehen hatte. Auf meiner Reiſe von dem Roſenhauſe in das Gebirgsthal, in welchem ich mich ſpäter aufgehalten hatte, und von dieſem Ge¬ birgsthale bis zu dem Schiffe, das mich zur Heimreiſe aufnehmen ſollte, war mir nichts beſonders Betrach¬ tenswerthes vorgekommen. Nur einige Wegſäulen ſehr19 *292alter Art erinnerten an die reinen und anſpruchloſen Geſtalten, wie ich ſie bei dem Meiſter auf dem reinen Papier mit reinen Linien geſehen hatte. Aber in der Niſche der einen Wegſäule war ſtatt des Standbil¬ des, das einſt darinnen geweſen war, und auf wel¬ ches der Sockel noch hinwies, ein neues Gemälde mit bunten Farben gethan worden, in der anderen fehlte jede Geſtalt. Auf meiner Stromesfahrt kam ich wohl an Kirchen und Burgen vorüber, die der Beachtung werth ſein mochten, aber mein Zweck führte mich in dem Schiffe weiter. An dem Erzdome ſah ich beinahe alle Geſtalten von Verzierungen Simſen Bögen Säu¬ len und größeren Theilwerken, wie ich ſie auf dem Papier im Roſenhauſe geſehen hatte. Es ergözte mich, in meiner Erinnerung dieſe Geſtalten mit den geſehenen zu vergleichen, und ſie gegenſeitig abzu¬ ſchäzen.
Auch in Beziehung der Edelſteine fiel mir das ein, was der alte Mann in dem Roſenhauſe über die Faſ¬ ſung derſelben geſagt hatte. Es gab Gelegenheit ge¬ nug, gefaßte Edelſteine zu ſehen. In unzähligen Schaufenſtern der Stadt liegen Schmuckwerke zur An¬ ſicht und zur Verlockung zum Kaufe aus. Ich betrach¬ tete ſie überall, wo ſie mir auf meinem Wege aufſtie¬293 ßen, und ich mußte denken, daß der alte Mann Recht habe. Wenn ich mir die Zeichnungen von Kreuzen Roſen Sternen Niſchen und dergleichen Dingen an mittelalterlichen Baugegenſtänden, wie ich ſie im Ro¬ ſenhauſe geſehen hatte, vergegenwärtigte, ſo waren ſie viel leichter zarter, und ich möchte den Ausdruck gebrauchen, inniger als dieſe Sachen hier, und waren doch nur Theile von Bauwerken, während dieſe Schmuck ſein ſollten. Mir kam wirklich vor, daß ſie, wie er geſagt hatte, unbeholfen in Gold und un¬ beholfen in den Edelſteinen ſeien. Nur bei einigen Verkaufsorten, die als die vorzüglichſten galten, fand ich eine Ausnahme. Ich ſah, daß dort die Faſſungen ſehr einfach waren, ja daß man, wenn die Edelſteine einmal eine größere Geſtalt und einen höheren Werth annahmen, ſchier gar keine Faſſung mehr machte, ſondern nur ſo viel von Gold oder kleinen Diaman¬ ten anwendete, als unumgänglich nöthig ſchien, die Dinge nehmen und an dem menſchlichen Körper be¬ feſtigen zu können. Mir ſchien dieſes ſchon beſſer, weil hier die Edelſteine allein den Werth und die Schönheit darſtellen ſollten. Ich dachte aber in mei¬ nem Herzen, daß die Edelſteine, wie ſchön ſie auch ſeien, doch nur Stoffe wären, und daß es viel vor¬294 züglicher ſein müßte, wenn man ſie, ohne daß ihre Schönheit einen Eintrag erhielte, doch auch mit einer Geſtalt umgäbe, welche außer der Lieblichkeit des Stoffes auch den Geiſt des Menſchen ſehen ließe, der hier thätig war, und an dem man Freude haben könnte. Ich nahm mir vor, wenn ich wieder zu mei¬ nem alten Gaſtfreunde käme, mit ihm über die Sache zu reden. Ich ſah, daß ich in dem Roſenhauſe etwas Erſprießliches gelernt hatte.
Ich wurde bei jener Gelegenheit zufällig mit dem Sohne eines Schmuckhändlers bekannt, welcher als der vorzüglichſte in der Stadt galt. Er zeigte mir öf¬ ter die werthvolleren Gegenſtände, die ſie in dem Ver¬ kaufsgewölbe hatten, die aber nie in einem Schaufen¬ ſter lagen, er erklärte mir dieſelben, und machte mich auf die Merkmale aufmerkſam, an denen man die Schönheit der Edelſteine erkennen könne. Ich getraute mir nie, meine Anſichten über die Faſſung derſelben darzulegen. Er verſprach mir, mich näher in die Kenntniß der Edelſteine einzuführen, und ich nahm es recht gerne an.
Weil ich durch meine Gebirgswanderungen an viele Bewegung gewöhnt war, ſo ging ich alle Tage entweder durch Theile der Stadt herum, oder ich295 machte einen Weg in den Umgebungen derſelben. Das Zuträgliche der ſtarken Gebirgsluft erſezte mir hier die Herbſtluft, die immer rauher wurde, und ich ging ihr ſehr gerne entgegen, wenn ſie mit Nebeln gefüllt oder hart von den Bergen her wehte, die ge¬ gen Weſten die Umgebungen unſerer Stadt ſäumten.
Ich fing auch in jener Zeit an, das Theater zu¬ weilen zu beſuchen. Der Vater hatte, ſo lange wir Kinder waren, nie erlaubt, daß wir ein Schauſpiel zu ſehen bekämen. Er ſagte, es würde dadurch die Einbildungskraft der Kinder überreizt und überſtürzt, ſie behingen ſich mit allerlei willkührlichen Gefüh¬ len, und geriethen dann in Begierden oder gar Lei¬ denſchaften. Da wir mehr herangewachſen waren, was bei mir ſchon ſeit längerer Zeit bei der Schweſter aber kaum ſeit einem Jahre der Fall war, durften wir zu ſeltenen Zeiten das Hoftheater beſuchen. Der Va¬ ter wählte zu dieſen Beſuchen jene Stücke aus, von denen er glaubte, daß ſie uns angemeſſen wären, und unſer Weſen förderten. In die Oper oder gar in das Ballet durften wir nie gehen, eben ſo wenig durften wir ein Vorſtadttheater beſuchen. Wir ſahen auch die Aufführung eines Schauſpiels nie anders als in Ge¬ ſellſchaft unſerer Eltern. Seit ich ſelbſtſtändig geſtellt296 war, hatte ich auch die Freiheit, nach eigener Wahl die Schauſpielhäuſer zu beſuchen. Da ich mich aber mit wiſſenſchaftlichen Arbeiten beſchäftigte, hatte ich nach dieſer Richtung hin keinen mächtigen Zug. Aus Gewohnheit ging ich manchmal in eines von den nehmlichen Stücken, die ich ſchon mit den Eltern ge¬ ſehen hatte. In dieſem Herbſte wurde es anders. Ich wählte zuweilen ſelber ein Stück aus, deſſen Auffüh¬ rung im Hoftheater ich ſehen wollte.
Es lebte damals an der Hofbühne ein Künſtler, von dem der Ruf ſagte, daß er in der Darſtellung des Königs Lear von Shakeſpeare das Höchſte leiſte, was ein Menſch in dieſem Kunſtzweige zu leiſten im Stande ſei. Die Hofbühne ſtand auch in dem Rufe der Muſteranſtalt für ganz Deutſchland. Es wurde daher behauptet, daß es in deutſcher Sprache auf keiner deutſchen Bühne etwas gäbe, was jener Dar¬ ſtellung gleich käme, und ein großer Kenner von Schauſpieldarſtellungen ſagte in ſeinem Buche über dieſe Dinge von dem Darſteller des Königs Lear auf unſerer Hofbühne, daß es unmöglich wäre, daß er dieſe Handlung ſo darſtellen könnte, wie er ſie dar¬ ſtellte, wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren Lichtes in ihm lebte, wodurch dieſes Meiſterwerk er¬297 ſchaffen, und mit unübertrefflicher Weisheit ausge¬ ſtattet worden iſt.
Ich beſchloß daher, da ich dieſe Umſtände erfah¬ ren hatte, der nächſten Vorſtellung des Königs Lear auf unſerer Hofbühne beizuwohnen.
Eines Tages war in den Zeitungen, die täglich zu dem Frühmahle des Vaters kamen, für die Hof¬ bühne die Aufführung des König Lear angekündigt, und als Darſteller des Lear der Mann genannt, von dem ich geſprochen habe, und der jezt ſchon dem Grei¬ ſenalter entgegen geht. Die Jahreszeit war bereits in den Winter hinein vorgerückt. Ich richtete meine Ge¬ ſchäfte ſo ein, daß ich in der Abendzeit den Weg zu dem Hoftheater einſchlagen konnte. Da ich gerne das Treiben der Stadt anſehen wollte, wie ich auf mei¬ nen Reiſen die Dinge im Gebirge unterſuchte, ging ich früher fort, um langſam den Weg zwiſchen der Vorſtadt und der Stadt zurück zu legen. Ich hatte einen einfachen Anzug angelegt, wie ich ihn gerne auf Spaziergängen hatte, und eine Kappe genommen, die ich bei meinen Reiſen trug. Es fiel ein feiner Regen nieder, obwohl es in der unteren Luft ziemlich kalt war. Der Regen war mir nicht unangenehm, ſondern eher willkommen, wenn er mir auch auf meinen An¬298 zug fiel, an dem nicht viel zu verderben war. Ich ſchritt ſeinem Rieſeln mit Gemeſſenheit entgegen. Der Weg zwiſchen den Bäumen auf dem freien Raume vor der Stadt war durch das Eis, welches ſich bildete, gleichſam mit Glas überzogen, und die Leute, welche vor und neben mir gingen, glitten häufig aus. Ich war an ſchwierige Wege gewöhnt, und ging auf der Mitte der Eisbahn ohne Beſchwerde fort. Die Zweige der Bäume glänzten in der Nachbarſchaft der brennen¬ den Laternen, ſonſt war es überall finſtere Nacht, und der ganze Raum und die Mauern der Stadt waren in ihrer Dunkelheit verborgen. Als ich von dem Geh¬ wege in die Fahrſtraße einbog, raſſelten viele Wägen an mir vorüber, und die Pferde zerſtampften und die Räder zerſchnitten die ſich bildende Eisdecke. Die mei¬ ſten von ihnen, wenn auch nicht alle, fuhren in das Theater. Mir kam es beinahe ſonderbar vor, daß ſie und ich ſelber in dieſem unfreundlichen Wetter einem Raume zuſtrebten, in welchem eine erlogene Geſchichte vorgeſpiegelt wird. So kam ich in die erleuchtete Über¬ wölbung, in der die Wägen hielten, ich wendete mich von ihr in den Eingang, kaufte meine Karte, ſteckte meine Kappe in die Taſche meines Überrockes, gab299 dieſen in das Kleiderzimmer, und trat in den hellen ebenerdigen Raum des Darſtellungsſaales.
Ich hatte von meinem Vater die Gewohnheit an¬ genommen, nie von oben herab oder von großer Ent¬ fernung die Darſtellung eines Schauſpieles zu ſehen, weil man die Menſchen, welche die Handlung dar¬ ſtellen, in ihrer gewöhnlichen Stellung nicht auf die obere Fläche ihres Kopfes oder ihrer Schultern ſehen ſoll, und weil man ihre Mienen und Geberden ſoll betrachten können. Ich blieb daher ungefähr am Ende des erſten Drittheiles der Länge des Raumes ſtehen, und wartete, bis ſich der Saal füllen würde, und die Glocke zum Beginne des Stückes tönte.
Sowohl die gewöhnlichen Size als auch die Lo¬ gen füllten ſich ſehr ſtark mit gepuzten Leuten, wie es Sitte war, und wahrſcheinlich von dem Rufe des Stückes und des Schauſpielers angezogen, ſtrömte heute eine weit größere und gemiſchtere Menge, wie man bei dem erſten Blicke erkennen konnte, in dieſe Räume. Männer, die neben mir ſtanden, ſprachen dieſes aus, und in der That war in der Verſamm¬ lung manche Geſtalt zu ſehen, die von den entfernte¬ ſten Theilen der Vorſtädte gekommen ſein mußte. Die meiſten, da endlich gleichſam Haupt an Haupt war,300 blickten neugierig nach dem Vorhange der Bühne. Es war damals nicht meine Gewohnheit, und iſt es jezt auch noch nicht, in überfüllten Räumen die Menge der Menſchen die Kleider den Puz die Lichter die Angeſichter und dergleichen zu betrachten. Ich ſtand alſo ruhig, bis die Muſik begann und endete, bis ſich der Vorhang hob, und das Stück den Anfang nahm.
Der König trat ein, und war, wie er ſpäter von ſich ſagte, jeder Zoll ein König. Aber er war auch ein übereilender und bedaurungswürdiger Thor. Re¬ gan Goneril und Cordelia redeten, wie ſie nach ih¬ rem Gemüthe reden mußten, auch Kent redete ſo, wie er nicht anders konnte. Der König empfing die Re¬ den, wie er nach ſeinem heftigen leichtſinnigen und doch liebenswürdigen Gemüthe ebenfalls mußte. Er verbannte die einfache Cordelia, die ihre Antwort nicht ſchmücken konnte, der er deſto heftiger zürnte, da ſie früher ſein Liebling geweſen war, und gab ſein Reich den beiden anderen Töchtern, Regan und Gone¬ ril, die ihm auf ſeine Frage, wer ihn am meiſten liebe, mit übertriebenen Ausdrücken ſchmeichelten, und ihm dadurch, wenn er der Betrachtung fähig geweſen wäre, ſchon die Unächtheit ihrer Liebe darthaten, was301 auch die edle Cordelia mit ſolchem Abſcheu erfüllte, daß ſie auf die Frage, wie ſie den Vater liebe, weni¬ ger zu antworten wußte, als ſie vielleicht zu einer anderen Zeit, wo das Herz ſich freiwillig öffnete, ge¬ ſagt hätte. Gegen Kent, der Cordelia vertheidigen wollte, wüthete er, und verbannte ihn ebenfalls, und ſo ſieht man bei dieſer heftigen und kindiſchen Ge¬ müthsart des Königs üblen Dingen entgegen.
Ich kannte dieſes Schauſpiel nicht, und war bald von dem Gange der Handlung eingenommen.
Der König wohnt nun mit ſeinen hundert Rit¬ tern im erſten Monate bei der einen Tochter, um im zweiten dann bei der anderen zu ſein, und ſo abwech¬ ſelnd fortzufahren, wie es bedungen war. Die Folgen dieſer ſchwachen Maßregel zeigten ſich auch im Lande. In dem hohen Hauſe Gloſters empört ſich ein unehe¬ licher Sohn gegen den Vater und den rechtmäßigen Bruder, und ruft unnatürliche Dinge in die Welt, da auch in des Königs Hauſe unnatürliche und un¬ zweckmäßige Dinge geſchahen. In dem Hofhalte der Tochter und in der in dieſen Hofhalt eingepflanzten zweiten Hofhaltung des Königs und ſeiner hundert Ritter entſtehen Anſtände und Widrigkeiten, und die Entgegnungen der Tochter gegen das Thun des Kö¬302 nigs und ſeines Gefolges ſind ſehr begreiflich aber faſt unheimlich. Beinahe herzzerreißend iſt nun die treuherzige faſt blöde Zuverſicht des Königs, womit er die eine Tochter, die mit ſchnöden Worten ſeinen Handlungen entgegen getreten war, verläßt, um zu der anderen ſanfteren zu gehen, die ihn mit noch här¬ terem Urtheile abweist. Sein Diener iſt hier in den Stock geſchlagen, er ſelber findet keine Aufnahme, weil man nicht vorbereitet iſt, weil man die andere Schweſter erwartet, die man aufnehmen muß, man räth dem König, zu der verlaſſenen Tochter zurückzu¬ kehren, und ſich ihren Maßregeln zu fügen. Bei dem Könige war vorher blindes Vertrauen in die Töchter, Übereilung im Urtheile gegen Cordelia Leichtſinn in Vergebung der Würden: jezt entſteht Reue Scham Wuth und Raſerei. Er will nicht zu der Tochter zu¬ rückkehren, eher geht er in den Sturm und in das Ungewitter auf die Haide hinaus, die gegen ihn wü¬ then dürfen, denen er ja nichts geſchenkt hat. Er tritt in die Wüſte bei Nacht Sturm und Ungewitter, der Greis gibt die weißen Haare den Winden preis, da er auf der Haide vorſchreitet, von niemanden begleitet als von dem Narren, er wirft den Mantel in die Luft, und da er ſich in Ausdrücken erſchöpft hat, weiß er303 nichts mehr als die Worte: Lear! Lear! Lear! aber in dieſem einzigen Worte liegt ſeine ganze vergangene Geſchichte und liegen ſeine ganzen gegenwärtigen Ge¬ fühle. Er wirft ſich ſpäter dem Narren an die Bruſt, und ruft mit Angſt: Narr, Narr! ich werde raſend — ich möchte nicht raſend werden — nur nicht toll! Da er die drei lezten Worte milder ſagte, gleichſam bit¬ tend, ſo floſſen mir die Thränen über die Wangen herab, ich vergaß die Menſchen herum, und glaubte die Handlung als eben geſchehend. Ich ſtand, und ſah unverwandt auf die Bühne. Der König wird nun wirklich toll, er kränzt ſich in den Tagen nach jener Sturmnacht mit Blumen, ſchwärmt auf den Hügeln und Haiden, und hält mit Bettlern einen hohen Gerichtshof. Es iſt indeſſen ſchon Botſchaft an ſeine Tochter Cordelia gethan worden, daß Regan und Goneril den Vater ſchnöd behandeln. Dieſe war mit Heeresmacht gekommen, um ihn zu retten. Man hatte ihn auf der Haide gefunden, und er liegt nun im Zelte Cordelias, und ſchläft. Während der lezten Zeit iſt er in ſich zuſammengeſunken, er iſt, während wir ihn ſo vor uns ſahen, immer älter, ja gleichſam kleiner geworden. Er hatte lange geſchlafen, der Arzt glaubt, daß der Zuſtand der Geiſteszerrüttung nur in304 der übermannenden Heftigkeit der Gefühle gelegen war, und daß ſich ſein Geiſt durch die lange Ruhe und den erquickenden Schlaf wieder ſtimmen werde. Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat nicht den Muth, die vor ihm ſtehende Cordelia als ſolche zu erkennen, und ſagt im Mißtrauen auf ſeinen Geiſt mit Verſchämtheit, er halte dieſe fremde Frau für ſein Kind Cordelia. Da man ihn ſanft von der Wahrheit ſeiner Vorſtellung überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem Bette herab, und bittet knieend und händefaltend ſein eigenes Kind ſtumm um Verge¬ bung. Mein Herz war in dem Augenblicke gleichſam zermalmt, ich wußte mich vor Schmerz kaum mehr zu faſſen. Das hatte ich nicht geahnt, von einem Schau¬ ſpiele war ſchon längſt keine Rede mehr, das war die wirklichſte Wirklichkeit vor mir. Der günſtige Aus¬ gang, welchen man den Aufführungen dieſes Stückes in jener Zeit gab, um die fürchterlichen Gefühle, die dieſe Begebenheit erregt, zu mildern, that auf mich keine Wirkung mehr, mein Herz ſagte, daß das nicht möglich ſei, und ich wußte beinahe nicht mehr, was vor mir und um mich vorging. Als ich mich ein we¬ nig erholt hatte, that ich faſt ſcheu einen Blick auf meine Umgebung, gleichſam, um mich zu überzeugen,305 ob man mich beobachtet habe. Ich ſah, daß alle An¬ geſichter auf die Bühne blickten, und daß ſie in ſtarker Erregung gleichſam auf den Schauplaz hingeheftet ſeien. Nur in einer ebenerdigen Loge ſehr nahe bei mir ſaß ein Mädchen, welches nicht auf die Darſtellung merkte, ſie war ſchneebleich, und die Ihrigen waren um ſie beſchäftigt. Sie kam mir unbeſchreiblich ſchön vor. Das Angeſicht war von Thränen übergoſſen, und ich richtete meinen Blick unverwandt auf ſie. Da die bei ihr Anweſenden ſich um und vor ſie ſtellten, gleichſam um ſie vor der Betrachtung zu decken, empfand ich mein Unrecht, und wendete die Au¬ gen weg.
Das Stück war indeſſen aus geworden, und um mich entſtand die Unruhe, die immer mit dem Fort¬ gehen aus einem Schauſpielhauſe verbunden iſt. Ich nahm mein Taſchentuch heraus, wiſchte mir die Stirne und die Augen ab, und richtete mich zum Fortgehen. Ich ging in das Kleiderzimmer, holte mir meinen Überrock, und zog ihn an. Als ich in den Vorſaal kam, war dort ein ſehr ſtarkes Gedränge, und da er mehrere Ausgänge hatte, wogten die Menſchen viel¬ fach hin und her. Ich gab mich einem größeren Zuge hin, der langſam bei dem Hauptausgange ausmün¬Stifter, Nachſommer. I. 20306dete. Plözlich war es mir, als ob ſich meinen Blicken, die auf den Ausgang gerichtet waren, ganz nahe et¬ was zur Betrachtung aufdrängte. Ich zog ſie zurück, und in der That hatte ich zwei große ſchöne Augen den meinigen gegenüber, und das Angeſicht des Mäd¬ chens aus der ebenerdigen Loge war ganz nahe an dem meinigen. Ich blickte ſie feſt an, und es war mir, als ob ſie mich freundlich anſähe, und mir lieblich zulächelte. Aber in dem Augenblicke war ſie vorüber. Sie war mit einem Menſchenſtrome aus dem Logen¬ gange gekommen, dieſer Strom hatte unſeren Zug ge¬ kreuzt, und ſtrebte bei einem Seitengange hinaus. Ich ſah ſie nur noch von rückwärts, und ſah, daß ſie in einen ſchwarzſeidenen Mantel gehüllt war. Ich war endlich auch bei dem Hauptausgange hinausgekom¬ men. Dort zog ich erſt meine Kappe aus der Taſche des Überrockes, ſezte ſie auf, und blieb noch einen Augenblick ſtehen, und ſah den abfahrenden Wägen nach, die ihre rothen Laternenlichter in die trübe Nacht hinaustrugen. Es regnete noch viel dichter als bei meinem Hereingehen. Ich ſchlug den Weg nach Hauſe ein. Ich gelangte aus den fahrenden Wägen, ich gelangte aus dem größeren Strome der Menſchen, und bog in den vereinſamteren Weg ein, der im Freien307 durch die Reihen der Bäume der Vorſtadt zuführte. Ich ſchritt neben den düſteren Laternen vorbei, kam wieder in die Gaſſen der Vorſtadt, durchging ſie, und war endlich in dem Hauſe meiner Eltern.
Es war beinahe Mitternacht geworden. Die Mutter, welche es ſich bei ſolchen Gelegenheiten nicht nehmen läßt, beſonders auf die Geſundheit der Ihri¬ gen bedacht zu ſein, war noch angekleidet, und war¬ tete meiner im Speiſezimmer. Die Magd, welche mir die Wohnung geöffnet hatte, ſagte mir dieſes, und wies mich dahin. Die Mutter hatte noch ein Abend¬ eſſen für mich in Bereitſchaft, und wollte, daß ich es einnehme. Ich ſagte ihr aber, daß ich noch zu ſehr mit dem Schauſpiele beſchäftigt ſei, und nichts eſſen könne. Sie wurde beſorgt, und ſprach von Arznei. Ich erwiederte ihr, daß ich ſehr wohl ſei, und daß mir gar nichts als Ruhe noth thue.
„ Nun, wenn dir Ruhe noth thut, ſo ruhe, “ſagte ſie, „ ich will dich nicht zwingen, ich habe es gut ge¬ meint. “
„ Gut gemeint wie immer, theure Mutter, “ant¬ wortete ich, „ darum danke ich auch. “
Ich ergrif ihre Hand, und küßte ſie. Wir wünſch¬20 *308ten uns gegenſeitig eine gute Nacht, nahmen Lichter, und begaben uns auf unſere Zimmer.
Ich entkleidete mich, legte mich auf mein Bett, löſchte die Lichter aus, und ließ mein heftiges Herz nach und nach in Ruhe kommen. Es war ſchon bei¬ nahe gegen Morgen, als ich einſchlief.
Das erſte, was ich am andern Tage that, war, daß ich den Vater um die Werke Shakeſpeare's aus ſeiner Bücherſammlung bath, und ſie, da ich ſie hatte, in meinem Zimmer zur Leſung für dieſen Winter zu¬ recht legte. Ich übte mich wieder im Engliſchen, da¬ mit ich ſie nicht in einer Überſezung leſen müſſe.
Als ich im vergangenen Sommer von meinem alten Gaſtfreunde Abſchied genommen hatte, und an dem Saume ſeines Waldes auf der Landſtraße dahin ging, waren mir zwei in einem Wagen fahrende Frauen begegnet. Damals hatte ich gedacht, daß das menſchliche Angeſicht der beſte Gegenſtand für das Zeichnen ſein dürfte. Dieſer Gedanke fiel mir wieder ein, und ich ſuchte mir Kenntniſſe über das menſch¬ liche Antliz zu verſchaffen. Ich ging in die kaiſerliche Bilderſammlung, und betrachtete dort alle ſchönen Mädchenköpfe, welche ich abgemalt fand. Ich ging öfter hin, und betrachtete die Köpfe. Aber auch von309 lebenden Mädchen, mit denen ich zuſammentraf, ſah ich die Angeſichter an, ja ich ging an trockenen Win¬ tertagen auf öffentliche Spaziergänge, und ſah die Angeſichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter allen Köpfen ſowohl den gemalten als auch den wirk¬ lichen war kein einziger, der ein Angeſicht gehabt hätte, welches ſich an Schönheit nur entfernt mit dem hätte vergleichen können, welches ich an dem Mäd¬ chen in der Loge geſehen hatte. Dieſes Eine wußte ich, obwohl ich mir das Angeſicht eigentlich gar nicht mehr vorſtellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich es wieder geſehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte es in einer Ausnahmsſtellung geſehen, und im ruhi¬ gen Leben mußte es gewiß ganz anders ſein.
Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein le¬ ſendes Kind gemalt war. Es hatte eine ſo ein¬ fache Miene, nichts war in derſelben als die Aufmerk¬ ſamkeit des Leſens, man ſah auch nur die eine Seite des Angeſichtes, und doch war alles ſo hold. Ich ver¬ ſuchte das Angeſicht zu zeichnen; allein ich vermochte durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch dazu das Auge nicht zu ſehen war, ſondern durch das Lid beſchattet wurde, auch nur entfernt mit Linien wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabneh¬310 men, ich durfte ihm eine Stellung geben, wie ich wollte, um die Nachahmung zu verſuchen; ſie gelang nicht, wenn ich auch alle meine Fertigkeit, die ich im Zeichnen anderer Gegenſtände bereits hatte, darauf anwendete. Der Vater ſagte mir endlich, daß die Wirkung dieſes Bildes vorzüglich in der Zartheit der Farbe liege, und daß es daher nicht möglich ſei, die¬ ſelbe in ſchwarzen Linien nachzuahmen. Er machte mich überhaupt, da er meine Beſtrebungen ſah, mehr mit den Eigenſchaften der Farben bekannt, und ich ſuchte mich auch in dieſen Dingen zu unterrichten und zu üben.
Sonderbar war es, daß ich nie auf den Gedanken kam, meine Schweſter zu betrachten, ob ihre Züge zum Nachzeichnen geeignet wären, oder den Wunſch hegte, ihr Angeſicht zu zeichnen, obgleich es in mei¬ nen Augen nach dem des Mädchens in der Loge das ſchönſte auf der Welt war. Ich hatte nie den Muth dazu. Oft kam mir auch jezt noch der Gedanke, ſo ſchön und rein wie Klotilde könne doch nichts mehr auf der Erde ſein; aber da fielen mir die Züge des weinenden Mädchens ein, das die Ihrigen zu beruhi¬ gen geſtrebt hatten, und von dem ich mir einbildete, daß es mich im Vorſaale des Theaters freundlich an¬311 geblickt habe, und ich mußte ſie vorziehen. Ich konnte ſie mir zwar nicht vorſtellen; aber es ſchwebte mir ein unbeſtimmtes dunkles Bild von Schönheit vor der Seele. Die Freundinnen meiner Schweſter oder an¬ dere Mädchen, mit denen ich gelegentlich zuſammen kam, hatten manche liebe angenehme Eigenſchaften in ihrem Angeſichte, ich betrachtete ſie, und dachte mir, wie dieſes oder jenes zu zeichnen wäre; aber ich mochte ſie ebenfalls nie erſuchen, und ſo kam ich nicht dazu, ein lebendes vor mir befindliches Ange¬ ſicht zu zeichnen. Ich wiederholte alſo die Züge in der Erinnerung oder zeichnete nach Gemälden. Man machte mich endlich auch darauf aufmerkſam, daß ich immer Mädchenköpfe entwerfe. Ich war beſchämt, und begann ſpäter Männer Greiſe Frauen ja auch andere Theile des Körpers zu zeichnen, ſo weit ich ſie in Vorlagen oder Gipsabgüſſen bekommen konnte.
Troz dieſer Beſtrebungen, welchen nach dem Grundſaze unſers Hauſes kein Hinderniß in den Weg gelegt wurde, vernachläßigte ich meine Hauptbeſchäf¬ tigung doch nicht. Es that mir ſehr wohl, zu Hauſe unter meinen Sammlungen herum zu gehen, ich dachte oft an die Worte des alten Mannes in dem Roſenhauſe, und im Gegenſaze zu den Feſten, zu de¬312 nen ich geladen war, oder ſelbſt zu Spaziergängen und Geſchäftsbeſuchen war mir meine Wohnung wie eine holde bedeutungsvolle Einſamkeit, die mir noch lieber wurde, weil ihre Fenſter auf Gärten und wenig geräuſchvolle Gegenden hinausgingen.
Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer grö¬ ßer, je näher der Winter ſeinem Ende zuging, und ich hatte in dieſer Hinſicht und oft auch in anderer mehr Urſache und Pflicht zu dieſer oder jener Familie einen Gang zu thun.
Bei einer ſolchen Gelegenheit ereignete ſich mit mir ein Vorfall, der mich nach dem Beiwohnen bei der Aufführung des Lear in jenem Winter am meiſten beſchäftigte.
Wir waren ſeit Jahren mit einer Familie ſehr befreundet, welche in der Hofburg wohnte. Es war die Wittwe und Tochter eines berühmten Mannes, der einmal in großem Anſehen geſtanden war. Da der Vater ein bedeutendes Hofamt bekleidet hatte, wurde die Tochter nach ſeinem Tode auch ein Hof¬ fräulein, weßhalb ſie mit der Mutter in der Burg wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee, der andere bei einer Geſandtſchaft. Wenn das Fräu¬ lein nicht eben im Dienſte war, wurde zuweilen313 Abends ein kleiner Kreis zur Mutter geladen, in wel¬ chem etwas vorgeleſen, geſprochen, oder Muſik ge¬ macht wurde. Da die Mutter etwas älter wurde, ſpielte man ſogar zuweilen Karten. Wir waren öfter an ſolchen Abenden bei dieſer Familie. In jenem Winter hatte ich ein Buch, welches mir von der Mutter des Hoffräuleins war geliehen worden, län¬ ger behalten, als es eigentlich die Höflichkeit erlaubte. Deßhalb ging ich eines Mittags hin, um das Buch perſönlich zu überbringen, und mich zu entſchuldigen. Als ich von dem äußeren Burgplaze durch das hohe Gewölbe des Gehweges in den inneren gekommen war, fuhren eben aus dem Hofe zu meiner Rechten mehrere Wägen heraus, die meinen Weg kreuzten, und mich zwangen, eine Weile ſtehen zu bleiben. Es ſtanden noch mehrere Menſchen neben mir, und ich fragte, was dieſe Wägen bedeuteten.
„ Es ſind Glückwünſche, welche dem Kaiſer nach ſeiner Wiedergeneſung von großen Herren abgeſtattet worden ſind, und welche er eben angenommen hatte, “ſagte ein Mann neben mir.
Der lezte der Wägen war mit zwei Rappen be¬ ſpannt, und in ihm ſaß ein einzelner Mann. Er hatte den Hut neben ſich liegen, und trug die weißen Haare314 frei in der winterlichen Luft. Der Überrock war ein wenig offen, und unter ihm waren Ordensſterne ſichtbar. Als der Wagen bei mir vorüberfuhr, ſah ich deutlich, daß mein alter Gaſtfreund, der mich in dem Roſenhauſe ſo wohlwollend aufgenommen hatte, in demſelben ſize. Er fuhr ſchnell vorbei, wie es bei Wägen dieſer Art Sitte iſt, und ſchlug die Richtung nach der Stadt ein. Er fuhr bei dem Thore aus der Burg, an welchem die zwei Rieſen als Simsträger angebracht ſind. Ich wollte jemand von meinen Nach¬ baren fragen, wer der Mann ſei; aber da von den Wägen, welche die Fußgänger aufgehalten hatten, der ſeinige der lezte geweſen, und der Weg ſodann frei war, ſo waren alle Nachbaren bereits ihrer Wege ge¬ gangen, und diejenigen, welche jezt neben mir waren, hatten die Wägen nicht in der Nähe geſehen.
Ich ging daher über den Hof, und ſtieg über die ſogenannte Reichskanzleitreppe empor.
Ich traf die alte Frau allein, übergab ihr das Buch, und ſagte meine Entſchuldigungen.
Im Verlaufe des Geſpräches erwähnte ich des Mannes, den ich in dem Wagen geſehen hatte, und fragte, ob ſie nicht wiſſe, wer er ſei. Sie wußte von gar nichts.
315„ Ich habe nicht bei den Fenſtern hinabgeſchaut, “ſagte ſie, „ es geht vieles auf dem großen Hofe vor, ich achte nicht darauf. Ich habe gar nicht gewußt, daß bei dem Kaiſer eine Vorfahrt geweſen iſt, er war vor¬ geſtern noch nicht ganz geſund. Da mein Mann noch lebte, haben wir immer die Ausſicht auf den großen Plaz der Hofburg gehabt, und wie bedeutende Dinge da auch vorgehen, ſo wiederholen ſich doch immer die nehmlichen, wenn man viele Jahre zuſchaut; und endlich ſchaut man gar nicht mehr zu, und hat herin¬ nen ein Buch oder ſein Strickzeug, wenn draußen in das Gewehr gerufen wird, oder Reiter zu hören ſind, oder Wagen rollen. “
„ Wer iſt denn von denen, die in der Aufwartung bei dem Kaiſer wegfuhren, in dem lezten Wagen ge¬ ſeſſen, Henriette? “fragte ſie ihre eben eintretende Tochter, das Hoffräulein.
„ Das iſt der alte Riſach geweſen, “antwortete dieſe, „ er iſt eigens hereingekommen, um ſich Seiner Majeſtät vorzuſtellen, und ſeine Freude über deſſen Wiedergeneſung auszudrücken. “
Ich hatte in meiner Jugend öfter den Namen Ri¬ ſach nennen gehört, allein ich hatte damals ſo wenig darauf geachtet, was ein Mann, deſſen Namen ich316 hörte, thue, daß ich jezt gar nicht wußte, wer dieſer Riſach ſei. Ich fragte daher mit jener Rückſicht, die man bei ſolchen Fragen immer beobachtet, und erfuhr, daß der Freiherr von Riſach zwar nicht die höchſten Staatswürden bekleidet habe, daß er aber in der wich¬ tigen und ſchmerzlichen Zeit des nunmehr auch altern¬ den Kaiſers in den belangreichſten Dingen thätig ge¬ weſen ſei, daß er mit den Männern, welche die Ange¬ legenheiten Europa's leiteten, an der Schlichtung dieſer Angelegenheiten gearbeitet habe, daß er von fremden Herrſchern geſchäzt worden ſei, daß man ge¬ meint habe, er werde einmal an die Spize gelangen, daß er aber dann ausgetreten ſei. Er lebe meiſtens auf dem Lande, komme aber öfter herein, und beſuche dieſen oder jenen ſeiner Freunde. Der Kaiſer achte ihn ſehr, und es dürfte noch jezt vorkommen, daß hie und da nach ſeinem Rathe gefragt werde. Er ſoll reich geheirathet, aber ſeine Frau wieder verloren haben. Überhaupt wiſſe man dieſe Verhältniſſe nicht genau.
Alles dieſes hatte mir das Hoffräulein geſagt.
„ Siehſt du, meine liebe Henriette, “ſprach die alte Frau, „ wie ſich die Dinge in der Welt verändern. Du weißt es noch nicht, weil du noch jung biſt, und weil du nichts erfahren haſt. Das Niedrige wird hoch, das317 Hohe wird niedrig, Eines wird ſo, das Andere wird anders, und ein Drittes bleibt beſtehen. Dieſer Riſach iſt ſehr oft in unſer Haus gekommen. Da uns der Vater noch zuweilen in dem alten Doktorwagen, den er hatte, und der dunkelgrün und ſchwarz angeſtrichen war, ſpazieren fahren ließ, iſt er nicht einmal ſondern oft auf dem Kutſchbocke geſeſſen, oder er iſt gar, wenn wir im Freien fuhren, und uns die Leute nicht ſehen konnten, hinten aufgeſtanden wie ein Leibdiener, denn der Wagen des Vaters hat ein Dienerbret gehabt. Wir waren kaum anders als Kinder, er war ein jun¬ ger Student, der wenig Bekanntſchaft hatte, deſſen Herkunft man nicht wußte, und um den man auch nicht fragte. Wenn wir in dem Garten auf dem Land¬ hauſe waren, ſprang er mit den Brüdern auf den höl¬ zernen Eſel, oder ſie jagten die Hunde in das Waſſer, oder ſezten unſere Schaukel in Bewegung. Er brachte deinen Vater zu meinen Brüdern als Kameraden in das Haus. Man wußte damals kaum, wer ſchöner geweſen ſei, Riſach oder dein Vater. Aber nach einer Zeit wurde Riſach weniger geſehen, ich weiß nicht warum, es vergingen manche Jahre, und ich trat mit deinem Vater in den heiligen Stand der Ehe. Die Brüder waren als Staatsdiener zerſtreut, die Eltern318 waren endlich todt, von Riſach wurde oft geſprochen, aber wir kamen wenig zuſammen. Der Vater begann ſeine Thätigkeit hauptſächlich erſt dann, als Riſach ſchon ausgetreten war. Da ſize ich jezt nun wieder, aber in einem anderen Theile der Burg, dein Vater hat die Erde verlaſſen müſſen, du biſt nicht einmal mehr ein Kind, dienſt deiner hohen gütigen Herrin, und da von Riſach die Rede war, meinte ich, es ſeien kaum einige Jahre vergangen, ſeit er die Schaukel in unſerem Garten bewegt hat. “
Ich fragte, ob nicht Riſach eine Beſizung im Oberlande habe.
Man ſagte mir, daß er dort eine habe.
Ich wollte nicht weiter fragen, um nicht die ganze Darlegung meiner Einkehr in dieſem Sommer machen zu müſſen.
Als ich aber nach Hauſe gekommen war, erzählte ich die heutige Begegnung meinen Angehörigen bei dem Mittagseſſen. Der Vater kannte den Freiherrn von Riſach ſehr gut. Er war in früherer Zeit mehrere Male mit ihm zuſammengekommen, hatte ihn aber jezt ſchon lange nicht geſehen. Als Anhaltspunkte, daß mein Beherberger in dem Roſenhauſe der Freiherr von Riſach geweſen ſei, dienten, daß ich ihn, wenn mich319 nicht in der Schnelligkeit des Fahrens eine Ähnlich¬ keit getäuſcht hat, ſelber geſehen habe, daß er im Oberlande eine Beſizung hat, daß er wohlhabend ſei, was mein Beherberger ſein müſſe, und daß er hohe Geiſtesgaben beſize, die mein Beherberger auch zu haben ſcheine. Man beſchloß, in dieſer Sache nicht weiter zu forſchen, da mein Beherberger mir ſeinen Namen nicht freiwillig genannt habe, und die Dinge ſo zu belaſſen, wie ſie ſeien.
Außer dieſen zwei Begebenheiten, die wenigſtens für mich von Bedeutung waren, ereignete ſich nichts in jenem Winter, was meine Aufmerkſamkeit beſon¬ ders in Anſpruch genommen hätte. Ich war viel be¬ ſchäftigt, mußte oft Stunden der Nacht zu Hilfe neh¬ men, und ſo ging mir der Winter weit ſchneller vor¬ über, als es in früheren Jahren der Fall geweſen war. Im Allgemeinen aber befriedigten mich beſon¬ ders die Hilfsmittel, die eine große Stadt zur Aus¬ bildung gibt, und die man ſonſt nicht leicht findet.
Als die Täge ſchon länger wurden, als die eigent¬ liche Stadtluſt ſchon aufgehört hatte, und die ſtil¬ len Wochen der Faſtenzeit liefen, fragte ich eines Ta¬ ges Preborn, weßhalb er mir denn die Gräfin Tarona nicht gezeigt habe, die er ſo liebe, die ſo ſchön ſein320 ſoll, und zu deren Gewinnung er meinen Beiſtand angerufen habe.
„ Erſtens iſt ſie keine Gräfin, “antwortete er mir, „ ich weiß nicht genau ihren Stand, ihr Vater iſt todt, und ſie lebt in der Geſellſchaft einer reichen Mutter; aber das weiß ich, daß ſie nicht von Adel iſt, was mir ſehr zuſagt, da ich es auch nicht bin — und zwei¬ tens iſt ſie und ihre Mutter in dieſem Winter nicht in die Stadt gekommen. Das iſt die Urſache, daß ich ſie dir nicht zeigen konnte, und daß du Gelegenheit fandeſt, einen Spott gegen mich zu richten. Du mußt ſie aber vorerſt ſehen. Alle, denen heuer Schönheiten geſagt worden ſind, alle, die man gerühmt hat, alle, die geblendet haben, ſind nichts, ja ſie ſind noch we¬ niger als nichts gegen ſie. “
Ich antwortete ihm, daß ich nicht ſpotten, ſondern die Sache einfach habe ſagen wollen.
Wie ſich der Frühling immer mehr näherte, rüſtete ich mich zu meiner Reiſe. Ich wollte heuer früher reiſen, weil ich mir vorgenommen hatte, ehe ich in die Berge ginge, einen Beſuch in dem Roſenhauſe zu ma¬ chen. Mit jedem Jahre wurden meine Zurüſtungen weitläufiger, weil ich in jedem Jahre mehr Erfahrun¬ gen hatte, und meine Entwürfe weiter hinaus gingen. 321Heuer hatte ich auch beſchloſſen, umfaſſendere Zeich¬ nungswerkzeuge und ſogar Farben mitzunehmen. Wie es mit jeder Gewohnheit iſt, war es auch bei mir. Wenn ich mich in jedem Herbſte nach der Häuslichkeit zurück ſehnte, war es mir in jedem Frühlinge wie einem Zugvogel, der in jene Gegenden zurückkehren muß, die er in dem Herbſte verlaſſen hatte.
Als ſich im März in der Stadt ſchon recht liebliche Täge einſtellten, welche die Menſchen in das Freie und auf die Wälle lockten, war ich mit meinen Vor¬ bereitungen fertig, und nachdem ich von den Meini¬ gen den gewöhnlichen herzlichen Abſchied genommen hatte, reiſete ich eines Morgens ab.
Mir war damals ſowie jezt noch jedes Fortfahren von den Angehörigen in der Nacht ſowie das Antre¬ ten irgend einer Reiſe in der Nacht ſehr zuwider. Die Poſt ging aber damals in das Oberland erſt Abends ab, darum fuhr ich lieber in einem Miethwagen. Die Landhäuſer außer der Stadt, welche reichen Bewoh¬ nern derſelben gehörten, waren noch im Winterſchlafe. Sie waren theilweiſe in ihren Umhüllungen mit Stroh oder mit Brettern befangen, was einen großen Gegenſaz zu dem heiteren Himmel und zu den Lerchen machte, welche ſchon überall ſangen. Ich fuhr nurStifter, Nachſommer, I. 21322durch die Ebene. Da ich in den Bereich der Hügel gelangte, verließ ich den Wagen, und ſezte meinen Weg nach meiner gewöhnlichen Art in kurzen Fu߬ reiſen fort.
Ich betrachtete wieder überall die Bauwerke, wo ſie mir als betrachtenswerth aufſtießen. Ich habe ein¬ mal irgendwo geleſen, daß der Menſch leichter und klarer zur Kenntniß und zur Liebe der Gegenſtände gelangt, wenn er Zeichnungen und Gemälde von ihnen ſieht, als wenn er ſie ſelber betrachtet, weil ihm die Beſchränktheit der Zeichnung alles kleiner und vereinzelter zuſammen faßt, was er in der Wirklichkeit groß und mit Genoſſen vereint erblickt. Bei mir ſchien ſich dieſer Ausſpruch zu beſtätigen. Seit ich die Bauzeichnungen in dem Roſenhauſe geſehen hatte, faßte ich Bauwerke leichter auf, beurtheilte ſie leich¬ ter, und ich begrif nicht, warum ich früher auf ſie nicht ſo aufmerkſam geweſen war.
Im Oberlande war es noch viel rauher, als ich es in der Stadt verlaſſen hatte. Als ich eines Mor¬ gens an der Ecke des Buchenwaldes meines Gaſt¬ freundes ankam, in welchem der Alizbach in die Agger fällt, war noch manches Wäſſerchen mit einer Eis¬ rinde bedeckt. Da ich das Roſenhaus erblickte, machte323 es einen ganz anderen Eindruck als damals, da ich es als weiße Stelle in dem geſättigten und dunkeln Grün der Felder und Bäume unter einem ſchwülen und heißen Himmel geſehen hatte. Die Felder hat¬ ten noch mit Ausnahme der grünen Streifen der Winterſaat die braunen Schollen der nackten Erde, die Bäume hatten noch kein Knöspchen, und das Weiß des Hauſes ſah zu mir herüber, als ſähe ich es auf einem ſchwach veilchenblauen Grunde.
Ich ging auf der Straße in der Nähe von Rohr¬ berg vorüber, und kam endlich zu der Stelle, wo der Feldweg von ihr über den Hügel zu dem Roſenhauſe hinaufführt. Ich ging zwiſchen den Zäunen und nack¬ ten Hecken dahin, ich ging auf der Höhe zwiſchen den Feldern, und ſtand dann vor dem Gitter des Hauſes. Wie anders war es jezt. Die Bäume ragten mit dem ſchwarzen oder braunlichen Gezweige nackt in die dun¬ kelblaue Luft. Das einzige Grün waren die Garten¬ gitter. Über die Roſenbäumchen an dem Hauſe war eine ſchöngearbeitete Decke von Stroh herabgelaſſen. Ich zog den Glockengriff, ein Mann erſchien, der mich kannte und einließ, und ich wurde zu dem Herrn ge¬ führt, der ſich eben in dem Garten befand.
Ich traf ihn in einer Kleidung wie im Sommer,21 *324nur daß ſie von wärmerem Stoffe gemacht war. Die weißen Haare hatte er wieder wie gewöhnlich un¬ bedeckt.
Er ſchien mir wieder ſo ſehr ein Ganzes mit ſei¬ ner Umgebung, wie er es mir im vorigen Sommer geſchienen hatte.
Man war damit beſchäftigt, die Stämme der Obſtbäume mit Waſſer und Seife zu reinigen. Auch ſah ich, wie hie und da Arbeiter auf Leitern neben den Bäumen waren, um die abgeſtorbenen und über¬ flüſſigen Äſte abzuſchneiden. Als ich im vorigen Sommer fort gegangen war, hatte mein Gaſtfreund geſagt, daß ich meine Wiederkunft vorher durch eine Botſchaft anzeigen möge, damit ich ihn zu Hauſe treffe. Er hatte aber wahrſcheinlich nicht bedacht, daß dieſes Schwierigkeiten habe, indem ich in der Regel ſelber nicht wiſſen kann, wie ſich durch Witterungs¬ verhältniſſe oder andere Umſtände meine Vorhaben zu ändern gezwungen ſein dürften. Ich habe ihm alſo eine Botſchaft nicht geſchickt, und ihn auf meine Gefahr hin überraſcht. Er aber nahm mich ſo freund¬ lich auf, da er mich auf ſich zuſchreiten ſah, wie er mich bei dem vorigjährigen Aufenthalte in ſeinem Hauſe freundlich behandelt hat.
325Ich ſagte, er möge es ſich ſelber zuſchreiben, daß ich ihn ſchon ſo früh im Jahre in ſeinem Hauſe über¬ falle; er habe mich ſo wohlwollend eingeladen, und ich habe mir es nicht verſagen können, hieher zu kom¬ men, ehe die Thäler und die Fußwege in dem Gebirge ſo frei wären, daß ich meine Beſchäftigungen in ihnen anfangen könnte.
„ Wir haben eine ganze Reihe von Gaſtzimmern, wie ihr wißt, “ſagte er, „ wir ſehen Gäſte ſehr gerne, und ihr ſeid gewiß kein unlieber unter ihnen, wie ich euch ſchon im vergangenen Sommer geſagt habe. “
Er wollte mich in das Haus geleiten, ich ſagte aber, daß ich heute erſt drei Stunden gegangen ſei, daß meine Kräfte ſich noch in ſehr gutem Zuſtande befänden, und daß er erlauben möge, daß ich hier bei ihm in dem Garten bleibe. Ich bitte ihn nur um das Einzige, daß er mein Ränzlein und meinen Stock in mein Zimmer tragen laſſe.
Er nahm das ſilberne Glöcklein, das er bei ſich trug, aus der Taſche und läutete. Der Klang war ſelbſt im Freien ſehr durchdringend, und es erſchien auf ihn eine Magd aus dem Hauſe, welcher er auf¬ trug, mein Ränzlein, das ich mittlerweile abgenom¬ men hatte, und meinen Stock, den ich ihr darreichte,326 in mein Zimmer zu tragen. Er gab ihr noch ferner einige Weiſungen, was in dem Zimmer zu geſchehen habe.
Ich fragte nach Guſtav, ich fragte nach dem Zeich¬ ner in dem Schreinerhauſe, und ich fragte ſogar nach dem weißen alten Gärtner und ſeiner Frau. Guſtav ſei geſund, erhielt ich zur Antwort, er vervollkommne ſich an Geiſt und Körper. Er ſei eben in ſeiner Ar¬ beitsſtube beſchäftigt, er werde ſich gewiß ſehr freuen, mich zu ſehen. Der Zeichner lebe fort wie früher und ſei ſehr eifrig, und was die Gärtnerleute anbelange, ſo verändern ſich dieſe ſchon ſeit mehreren Jahren gar nicht mehr und ſeien heuer, wie ich ſie im vorigen Sommer geſehen habe. Ich fragte endlich auch noch nach dem Geſinde den Gartenarbeitern und den Meierhofleuten. Sie ſeien alle ganz wohl, wurde ge¬ antwortet, es ſei ſeit meinem vorjährigen Beſuche kein Krankheitsfall vorgekommen, und es habe auch kei¬ nes der Leute eine gründliche Urſache zur Unzufrie¬ denheit gegeben.
Nach mehreren gleichgültigen Geſprächen nament¬ lich über die Beſchaffenheit der Wege, auf denen ich hieher gekommen war, und über das Vorrücken der Winterſaaten auf den Feldern wendete er ſich wieder327 mehr der Arbeit, die vor ihm geſchah, zu, und auch ich richtete meine Aufmerkſamkeit auf dieſelbe. Ich hatte mir einmal, da er mir erzählte, daß er die Baum¬ ſtämme waſchen laſſe, die Sache ſehr umſtändlich ge¬ dacht. Ich ſah aber jezt, daß ſie mittelſt Doppellei¬ tern und Brettern ſehr einfach vor ſich gehe. Mit den langſtieligen Bürſten konnte man in die höchſten Zweige emporfahren, und da die Leute von der Zweck¬ mäßigkeit der Maßregel feſt überzeugt waren und em¬ ſig arbeiteten, ſo ſchritt das Werk mit einer von mir nicht geahnten Schnelligkeit vor. In der That, wenn man einen gewaſchenen und gebürſteten Stamm an¬ ſah, wie er rein und glatt in der Luft ſtand, während ſein Nachbar noch rauh und ſchmuzig war, ſo meinte man, daß dem einen ſehr wohl ſein müſſe, und daß der andere verdroſſen ausſehe. Mir fiel die ſtolze Äußerung ein, die mein Gaſtfreund im vergangenen Sommer zu mir gethan hatte, daß ich nur den Stamm jenes Kirſchbaumes anſehen ſolle, ob ſeine Rinde nicht ausſähe wie feine graue Seide. Sie war wirk¬ lich wie Seide, und mußte es gerade immer mehr werden, da ſie in jedem Jahre aufs Neue gepflegt wurde.
Als wir nach einer Weile weiter in den Garten328 zurückgingen, ſah ich auch noch andere Arbeiten. Die Hecken wurden gebunden und geordnet, das Dornen¬ reiſig zu den Neſtern der Vögel unter ihnen hergerich¬ tet, die Wege von den Schäden des Winters ausge¬ beſſert, unter den Zwergbäumen, die ſchon beſchnitten waren, die Erde gelockert, und bei den ſchwächeren, welche Stäbe hatten, nachgeſehen, ob dieſe feſthielten und nicht etwa in der Erde abgefault wären. Es wur¬ den losgegangene Bänder wieder geknüpft, im Ge¬ müſegarten umgegraben, Fenſter an Winterbeeten gelüftet oder zugedeckt, die Pumpen ausgebeſſert, mancher Nagel eingeſchlagen, und endlich hie und da ein Behältniß für die Vögel gereinigt und befeſtigt.
Ich verabſchiedete mich von meinem Gaſtfreunde, da er ſehr mit der Leitung der Arbeiten beſchäftigt war, und ging allein in dem Garten herum, in Thei¬ len, in die ich wollte. Die Vögel waren ſchon zahl¬ reich da, ſie ſchlüpften durch die laubloſen Zweige der Bäume, und es begann ſchon hie und da ein Laut oder ein Zwitſchern. Beſonders lieblich und hell ſchallte der Geſang der aufſteigenden Lerchen von den den Garten umgebenden Feldern herein. Die Vor¬ richtungen zur Ernährung und Tränkung der Vögel waren wegen der Blattloſigkeit der Bäume und Ge¬329 ſträuche mehr ſichtbar, auch ſchaute ich mehr nach ihnen aus als bei meiner erſten Ankunft, da ich jezt bereits von ihnen wußte. Ich ſah mehrere zum Auf¬ ſtecken von Kernen dienende Gitter, von denen mir mein Gaſtfreund erzählt hatte.
Ich betrachtete auch die Zweige. Die Knospen der Blätter und der Blüthen waren ſchon ſehr ge¬ ſchwollen, und harrten der Zeit, in welcher ſie auf¬ brechen würden.
Ich ſtieg bis zu dem großen Kirſchbaume empor, und ſah über den Garten über das Haus und auf die Berge. Eine ganz heitere dunkelblaue Luft war über alles ausgegoſſen. Dieſer ſchöne Tag, deren es in der frühen Jahreszeit noch ziemlich wenige gibt, war es auch, der meinen Gaſtfreund bewog, ſo viele Ar¬ beiten in dem Garten zu veranlaſſen. Unter der hei¬ teren Luft lag die Erde noch in bedeutender Öde. Ich wollte auch zu der Felderraſt hinüber gehen; al¬ lein der Weg, der am Morgen gefroren geweſen ſein mochte, war jezt weich und tief durchfeuchtet, daß das Gehen auf ihm ſehr unangenehm und verunreinigend geweſen wäre. Ich ſah die dunkeln Winterſaaten und die nackten Schollen der neben ihnen liegenden Felder eine Weile an, und ging dann wieder hinab.
330Ich ging zu den Gärtnerleuten. Mir kam es nicht vor, wie mein Gaſtfreund geſagt hatte, daß ſie ſich nicht verändert hätten. Der Mann ſchien mir noch weißer geworden zu ſein. Seine Haare unterſchieden ſich nicht mehr von der Leinwand. Die Frau aber war unverändert. Sie mußte von einer ſehr reinlich¬ keitliebenden Familie ſtammen, weil ſie das Häuschen ſo nett hielt, und den alten Mann ſo fleckenlos und knapp heraus kleidete. Er machte mir ganz genau wieder den nehmlichen Eindruck wie im vergangenen Jahre, als ob er einer ganz anderen Beſchäftigung angehörte.
Da ich von dem Gewächshauſe gegen die Füt¬ terungstenne ging, begegnete mir Guſtav. Er lief mit einem Rufe auf mich zu, und grüßte mich.
Der Knabe hatte ſich in kurzer Zeit ſehr geändert. Er ſtand ſehr ſchön neben mir da, und gegen die rauhe Art der Natur, die noch kein Laub kein Gras keinen Stengel keine Blume getrieben hatte, ſondern der Jahreszeit gemäß nur die braunen Schollen die braunen Stämme und die nackten Zweige zeigte, war er noch ſchöner, wie ich oft beim Zeichnen bemerkt hatte, daß zum Beiſpiele Augen der Thiere in ſtrup¬ pigen Köpfen noch glänzender erſchienen, und daß331 feine Kinderangeſichtchen, wenn ſie von Pelzwerk um¬ geben ſind, noch feiner ausſehen. Ein ſanftes Roth war auf ſeinen Wangen braune Haarfülle um die Stirne, und die großen ſchwarzen Augen waren wie bei einem Mädchen. Es war, obwohl er ſehr heiter war, faſt etwas Trauerndes in ihnen.
Wir gingen dem Plaze zu, auf welchem ſein Zieh¬ vater beſchäftigt war. Ich erzählte ihm auf dem Wege von meinen Angehörigen; von meiner Mutter von meinem Vater und von meiner lieblichen Schweſter. Auch erzählte ich ihm von der Stadt, wie man dort lebe, was ſie für Vergnügungen biethe, was ſie für Unannehmlichkeiten habe, und wie ich in ihr meine Zeit hinbringe. Er ſagte mir, daß er jezt ſchon in die Naturlehre eingerückt ſei, daß ihm der Vater Verſuche zeige, und daß ihn die Sache ſehr freue.
Wir blieben eine Weile bei dem Ziehvater. Gu¬ ſtav zeigte mir allerlei, und machte mich bald auf dieſe bald auf jene Veränderung aufmerkſam, welche ſich ſeit meiner früheren Anweſenheit ergeben habe.
Der Mittag vereinigte uns in dem Hauſe.
Da ich ſo, da die Speiſen erſchienen, meinem alten Gaſtfreunde gegenüber ſaß, fiel mir plözlich auf, was der Mann für ſchöne Zähne habe. Sehr332 dicht weiß klein und mit einem feinen Schmelze über¬ zogen ſaßen ſie in dem Munde, und kein einziger fehlte. Seine Wangen hatten durch den vielen Auf¬ enthalt in der freien Luft ein gutes und geſundes Roth, nur ſeine Haare ſchienen mir wie bei dem Gärtner noch weißer geworden zu ſein.
Nach dem Eſſen begab ich mich ein wenig in mein Zimmer. Es war ſehr freundlich hergerichtet worden, und in dem Ofen brannte ein erwärmendes Feuer.
Nachmittags gingen wir in das Schreinerhaus Euſtach begrüßte mich aus ſeiner Stelle tretend ſehr heiter, und ich erwiederte ſeinen Gruß auf das Herz¬ lichſte. Auch die andern Arbeiter gaben zu erkennen, daß ſie mich noch kannten. Ich beſah zuerſt die Dinge nur flüchtig und im Allgemeinen. Der ſchöne Tiſch war ſehr weit vorgerückt; aber er war noch lange nicht fertig. Es waren wieder ein paar neue Erwerbungen gemacht worden. Man zeigte ſie mir, und machte mich darauf aufmerkſam, was aus ihnen werden könne. Auch Plane zu ſelbſtſtändigen Arbeiten waren wieder gemacht worden, und man legte mir in Kur¬ zem die Grundanſichten auseinander. Ich bat Euſtach, daß er erlaube, daß ich ihn während meiner An¬333 weſenheit ein paar Male beſuche. Er geſtand es ſehr gerne zu.
Nach dieſem Beſuche machten wir troz der ſehr ſchlechten Wege einen weiten Spaziergang. Da ich davon ſprach, daß ich ſchon die Vögel in dem Garten bemerkt habe, ſagte mein Gaſtfreund: „ Wenn ihr länger bei uns wäret, ſo würdet ihr jezt eine ganze Lebensgeſchichte dieſer Thiere erfahren. Die Zurück¬ gebliebenen fangen ſchon an, ſich zu erheitern, die fortgezogen ſind, treffen bereits allmählich ein, und werden mit Geſchrei empfangen. Sie drängen ſich ſehr an die Tafel, und ſputen ſich, bis die in der Fremde erfahrnen Nahrungsſorgen verwunden ſind; denn dort werden ſie ſchwerlich einen Brodvater fin¬ den, der ihnen gibt. Von da an werden ſie immer inniger, und ſingen täglich ſchöner. Dann wird ein Gekoſe in den Zweigen, und ſie jagen ſich. Hieran ſchließt ſich die Häuslichkeit. Sie ſorgen für die Zu¬ kunft, und ſchleppen ſich mit närriſchen Lappen zu dem Neſterbau. Ich laſſe ihnen dann allerlei Fäden zupfen, ſie nehmen ſie aber nicht immer, ſondern ich ſehe manchmal einen, wie er an einem kothigen Halme zerrt. Nun kömmt die Zeit der Arbeit wie bei uns in den Männerjahren. Da werden die leichtſinnigen334 Vögel ernſthaft, ſie ſind raſtlos beſchäftigt, ihre Nach¬ kommen zu füttern, ſie zu erziehen und zu unterrichten, daß ſie zu etwas Tüchtigem tauglich werden, nament¬ lich zu der großen bevorſtehenden Reiſe. Gegen den Herbſt kömmt wieder eine freiere Zeit. Da haben ſie gleichſam einen Nachſommer, und ſpielen eine Weile, ehe ſie fort gehen. “
Als wir von dem Spaziergange zurückgekehrt wa¬ ren, und es Abend wurde, verſammelten wir uns an dem Kamine des Speiſezimmers, in welchem ein luſtiges Feuer brannte. Auch Euſtach wurde herüber geholt, und der weiße Gärtner mußte kommen und ſagen, welche Fortſchritte die Pflanzen in den Win¬ terbeeten und in den Gewächshäuſern gemacht hat¬ ten. Die Haushälterin Katharina ſezte hie und da ein warmes Getränke auf ein Tiſchchen.
Am andern Tage Morgens ging ich zu meinem Gaſtfreunde in das Fütterungszimmer, um zuzuſehen. Er ſuchte ſich alle Gattungen Nahrung aus den Fä¬ chern zurecht, öffnete dann die Fenſter, und that das Futter auf die Brettchen. Er blieb an dem Fenſter ſtehen, und ich bei ihm. Trozdem kamen die Vögel in Bögen oder geraden Linien herbei geflogen. Ihn fürchteten ſie nicht, weil ſie ihn als den Nährvater335 kannten, und mich nicht, weil ich bei ihm ſtand. Sie drängten ſich, pickten, zwitſcherten, und balgten ſich ſogar mitunter.
„ Ich gebe im ſpäteren Frühlinge und Sommer den Weibchen ſehr gerne noch eine leckere Draufgabe, “ſagte er, „ weil manches Mal eine bedrängte Mutter unter ihnen ſein kann. Die ſo haſtig und zugleich ſo erſchreckt freſſen, ſind Fremde. Sie würden um kei¬ nen Preis zu einem Menſchen herzu gehen, wenn ſie nicht der bitterſte Hunger nöthigte. Ich habe in har¬ ten Wintern ſchon die ſeltenſten Vögel auf dieſen Brettern geſehen. “
Als alles vorüber war und ſich keine Gäſte mehr einfanden, ſchloß er die Fenſter.
Ich ſtieg von da auf den Dachboden des Hauſes empor, weil er geſagt hatte, daß jezt auch den Haſen außerhalb des Gartens Futter geſtreut würde, und daß man ſie von da ſehen könnte. Sie haben noch nichts als die karge Winterſaat und Nadelreiſer, we߬ halb man noch nachhelfen müſſe. Da die Magd die Blätter ausgeſtreut und ſich entfernt hatte, kamen ſchon Haſen herzu. Ich ſchraubte ein Fernrohr an einen Balken, und es war lächerlich anzuſehen, worauf mich Guſtav aufmerkſam machte, wenn ein336 rieſiger Haſe in dem Fernrohre ſaß, mit ſchreckhaften Augen auf das verdächtige Mahl ſah, und ſchnell die Lippen bewegte, als fräße er ſchon. Da ich auch dies geſehen hatte, ſtieg ich wieder herunter, und ging mit Guſtav in das Zimmer, in welchem die Geräthe zur Naturlehre ſtanden.
Es ſollte nun erſt das Frühmahl eingenommen werden. Dasſelbe wurde zur Winterszeit immer in dem Zimmer der naturwiſſenſchaftlichen Geräthſchaf¬ ten genommen, weil man, da man einen Theil des Vormittages in ſeinen Zimmern zubrachte, nicht eigens dazu in das Speiſezimmer hinabſteigen wollte, und weil in derſelben Zeit in den andern Wohngemächern des alten Mannes im Arbeitszimmer und Schlaf¬ zimmer eben aufgeräumt und gelüftet wurde.
Mein Gaſtfreund erwartete mich und Guſtav ſchon; denn er war nicht mit uns auf den Dachboden hinauf geſtiegen. Das Gemach war ſanft erwärmt, und in der Nähe des Ofens ſtand ein Tiſch, der ge¬ deckt und mit allen Geräthen verſehen war, ein ange¬ nehmes Frühmahl zu bereiten. Er ſtand auf einem freien Raume, um den herum ſich die Werkzeuge der Wiſſenſchaft befanden.
Da wir nach dem Frühmahle nun ſo ſaßen, da337 eine anmuthige Wärme das Zimmer erfüllte, da von dem Wiederſcheine der ganz ſchief die Fenſter treffen¬ den Morgenſonne das Meſſing das Glas und das Holz der verſchiedenartigen Werkzeuge erglänzte, ſagte ich zu meinem alten Gaſtfreunde: „ Es iſt ſeltſam, da ich von eurer Beſizung in die Stadt und ihre Beſtre¬ bungen kam, lag mir euer Weſen hier wie ein Mär¬ chen in der Erinnerung, und nun, da ich hier bin und das Ruhige vor mir ſehe, iſt mir dieſes Weſen wieder wirklich und das Stadtleben ein Märchen. Großes iſt mir klein, Kleines iſt mir groß. “
„ Es gehört wohl beides und alles zu dem Gan¬ zen, daß ſich das Leben erfülle und beglücke, “antwor¬ tete er. „ Weil die Menſchen nur ein Einziges wollen und preiſen, weil ſie, um ſich zu ſättigen, ſich in das Einſeitige ſtürzen, machen ſie ſich unglücklich. Wenn wir nur in uns ſelber in Ordnung wären, dann wür¬ den wir viel mehr Freude an den Dingen dieſer Erde haben. Aber wenn ein Übermaß von Wünſchen und Begehrungen in uns iſt, ſo hören wir nur dieſe im¬ mer an, und vermögen nicht die Unſchuld der Dinge außer uns zu faſſen. Leider heißen wir ſie wichtig, wenn ſie Gegenſtände unſerer Leidenſchaften ſind, undStifter, Nachſommer. I. 22338unwichtig, wenn ſie zu dieſen in keinen Beziehungen ſtehen, während es doch oft umgekehrt ſein kann. “
Ich verſtand dieſes Wort damals noch nicht ſo ganz genau, ich war noch zu jung, und hörte ſelber oft nur mein eigenes Innere reden, nicht die Dinge um mich.
Gegen Mittag kam derjenige meiner Koffer, den ich in das Roſenhaus beſtellt hatte. Ich packte ihn aus, und zeigte Guſtav, der mich beſuchte, manche Bücher Zeichnungen und andere Dinge, die er ent¬ hielt, und richtete mich in meinem Zimmer häuslich ein.
So gingen nun mehrere Tage dahin.
In dieſem Hauſe war jeder unabhängig, und konnte ſeinem Ziele zuſtreben. Nur durch die gemein¬ ſame Hausordnung war man gewiſſermaßen zu einem Bande verbunden. Selbſt Guſtav erſchien völlig frei. Das Geſez, welches ſeine Arbeiten regelte, war nur einmal gegeben, es war ſehr einfach, der Jüngling hatte es zu dem ſeinigen gemacht, er hatte es dazu machen müſſen, weil er verſtändig war, und ſo lebte er darnach.
Guſtav bath mich ſehr, ich möchte einmal ſeinem Unterrichte in der Naturlehre beiwohnen. Ich ſagte339 es meinem Gaſtfreunde, und[dieſer] hatte nichts da¬ wider. So war ich dann nicht einmal ſondern meh¬ rere Male bei dieſem Unterrichte zugegen. Mein alter Gaſtfreund ſaß in einem Lehnſeſſel und erzählte. Er beſchrieb eine Erſcheinung, er machte die Erſcheinung recht deutlich, zeigte ſie, wenn es möglich war, mit den Vorrichtungen ſeiner Sammlung, oder wo dies nicht möglich war, ſuchte er ſie durch Zeichnung oder Verſinnbildlichung darzuſtellen. Dann erzählte er, auf welchem Wege die Menſchen zur Kenntniß dieſer Erſcheinung gekommen waren. Wenn er dieſes voll¬ endet hatte, that er das Gleiche mit einer zweiten ver¬ wandten Erſcheinung. Und wenn er nun einen Kreis von zuſammengehörigen Erſcheinungen, der ihm hin¬ länglich ſchien, ausgeführt hatte, dann hob er das¬ jenige, was allen Erſcheinungen gleichartig iſt, her¬ vor, und ſtellte die Grunderſcheinung oder das Geſez dar. Bei dieſem Unterrichte wurde nicht ein gewiſſes Buch zu Grunde gelegt, ſondern Guſtav ſchrieb ſpäter das, was ihm erzählt worden war, aus dem Gedächt¬ niſſe auf, der alte Mann beſſerte es dann in ſeiner Gegenwart aus, und ſo erhielt der Knabe nicht nur ein Handbuch der Naturwiſſenſchaft, ſondern lernte den Stoff ſelber ſchon durch das Aufſchreiben und Ausbeſ¬22 *340ſern. Was ſich Guſtav angeeignet hatte, wurde zu Zei¬ ten gleichſam in freundlichen Geſprächen durchgenom¬ men. Die Sprache des Unterrichtes war ſtets ſo ein¬ fach und klar, daß ich meinte, ein Kind müſſe dieſe Dinge verſtehen können. Mir fiel es jezt erſt recht auf, wie ungehörig manche Lehrer in der Stadt in dieſer Wiſſenſchaft verfahren, welche ſie gewiſſerma¬ ßen in eine wiſſenſchaftliche Neckſprache kleiden, die ein Schüler nicht verſteht, und mit welcher ſie die Ma¬ thematik ſo in Eins verflechten, daß beide beides nicht ſind, und ein Ganzes auch nicht darſtellen. Ich ſah, daß Guſtav auch die Rechnung auf die Naturlehre anwandte, aber wo er es that, erkannte ich, daß er es ſtets mit Sachkenntniß und Klarheit that, und daß er immer die Rechnung nicht als Hauptſache ſondern hier als Dienerin der Natur betrachtete. Ich urtheilte aus meinen eigenen früheren Arbeiten, daß er auch in dieſem Fache einen gründlichen Unterricht erhalten haben mußte. Ich fragte ihn einmal darnach, und erfuhr, daß auch hierin ſein Ziehvater ſein Lehrer ge¬ weſen ſei.
Ich beſuchte ſpäter auch den Unterricht in der Län¬ derkunde. Hier fiel mir auf, daß gezeichnete Karten gebraucht wurden, welche alle den nehmlichen Ma߬341 ſtab hatten, ſo daß Rußland in einer außerordentlich großen, die Schweiz in einer ſehr kleinen Karte dar¬ geſtellt war. Mir leuchtete der Zweck dieſer Maßregel ein, damit nehmlich bei der lebhaften jugendlichen Einbildungskraft ein Bild der Größenverhältniſſe dauernd eingeprägt werde. Ich erinnerte mich bei die¬ ſer Gelegenheit einer Wette, die wir Kinder um eine Kleinigkeit über die Frage abgeſchloſſen hatten, ob Philadelphia nicht beinahe ſo ſüdlich wie Rom liege, was die meiſten mit Lachen verneinten. Eine herbei¬ gebrachte Karte zeigte, daß es ſüdlicher als Neapel liege. Allgemein ſagten damals auch die großen Leute, die zugegen waren, daß bei Kindern dieſer Irrthum durch die Raumverhältniſſe, in denen unſere gewöhn¬ lichen Karten gezeichnet ſeien, veranlaßt werden mußte. Die Karten, welche Guſtav gebrauchte, wa¬ ren von dem Zeichner im Schreinerhauſe nach Karten unſerer ſogenannten Atlaſſe verfertiget worden.
Ich fragte meinen Gaſtfreund, ob Guſtav auch Geſchichte lerne, worauf er erwiederte: „ Man nimmt ſehr häufig mit jungen Schülern gleich zur Erdbe¬ ſchreibung auch Geſchichte vor; ich glaube aber, daß man hierin Unrecht thut. Wenn man in der Erdbe¬ ſchreibung nicht blos die geſchichtliche Eintheilung342 der Erde und Länder vor Augen hat, was ich auch für einen Fehler halte, ſondern wenn man auf die bleibenden Geſtaltungen der Erde ſieht, auf denen ſich eben durch ihren Einfluß verſchiedenartige Völker gebildet haben, ſo iſt die Erde ein Naturgegenſtand, und Erdbeſchreibung zum großen Theile ein Beſtand¬ theil der Naturwiſſenſchaft. Die Naturwiſſenſchaften ſind uns aber viel greifbarer als die Wiſſenſchaften der Menſchen, wenn ich ja Natur und Menſchen ge¬ genüber ſtellen ſoll, weil man die Gegenſtände der Natur außer ſich hinſtellen und betrachten kann, die Gegenſtände der Menſchheit aber uns durch uns ſel¬ ber verhüllt ſind. Man ſollte meinen, daß das Ge¬ gentheil ſtatthaben ſolle, daß man ſich ſelber beſſer als Fremdes kennen ſolle, viele glauben es auch; aber es iſt nicht ſo. Thatſachen der Menſchheit ja That¬ ſachen unſeres eigenen Innern werden uns, wie ich ſchon einmal geſagt habe, durch Leidenſchaft und Eigenſucht verborgen gehalten oder mindeſtens ge¬ trübt. Glaubt nicht der größte Theil, daß der Menſch die Krone der Schöpfung, daß er beſſer als alles, ſelbſt das Unerforſchte ſei? Und meinen die, welche aus ihrem Ich nicht heraus zu ſchreiten vermögen, nicht, daß das All nur der Schauplaz dieſes Ichs ſei,343 ſelbſt die unzähligen Welten des ewigen Raumes dazu gerechnet? Und dennoch dürfte es ganz anders ſein. Ich glaube daher, daß Guſtav erſt nach Erler¬ nung der Naturwiſſenſchaften zu den Wiſſenſchaften des Menſchen übergehen ſoll, und daß er da unge¬ fähr die Reihe beobachten ſoll: Körperlehre Seelen¬ lehre Denklehre Sittenlehre Rechtslehre Geſchichte. Hierauf mag er etwas von den Büchern der ſoge¬ nannten Weltweisheit leſen, dann aber muß er in das Leben ſelber hinaus kommen. “
Zum Unterrichte für Guſtav waren gewiſſe Stun¬ den feſtgeſezt, welche der alte Mann nie verſäumte, andere Stunden waren für die Selbſtarbeit beſtimmt, welche Guſtav wieder gewiſſenhaft hielt. Die übrige Zeit war zu freier Beſchäftigung überlaſſen.
In ſolchen Zeiten waren wir manches Mal in dem Leſezimmer. Mein Gaſtfreund kam auch öfter und gelegentlich auch Euſtach oder der eine und der an¬ dere Arbeiter. Für Guſtav waren nach der Wahl ſei¬ nes Lehrers die Bücher, die er leſen durfte, beſtimmt. Er benuzte ſie fleißig, ich ſah aber nie, daß er nach einem anderen langte. Euſtach und die anderen Leute hatten freie Auswahl und natürlich ich auch. Da ich das erſte Mal in dieſem Hauſe war, hatte ich es ge¬344 tadelt, daß das Bücherzimmer von dem Leſezimmer abgeſondert ſei, es erſchien mir dieſes als ein Umweg und eine Weitſchweifigkeit. Da ich aber jezt länger bei meinem Gaſtfreunde war, erkannte ich meine Meinung als einen Irrthum. Dadurch, daß in dem Bücherzimmer nichts geſchah, als daß dort nur die Bücher waren, wurde es gewiſſermaßen eingeweiht, die Bücher bekamen eine Wichtigkeit und Würde, das Zimmer iſt ihr Tempel, und in einem Tempel wird nicht gearbeitet. Dieſe Einrichtung iſt auch eine Huldigung für den Geiſt, der ſo manigfaltig in die¬ ſen gedruckten und beſchriebenen Papieren und Per¬ gamentblättern enthalten iſt. In dem Leſezimmer aber wird dann der wirkliche und der freundliche Ge¬ brauch dieſes Geiſtes vermittelt, und ſeine Erhaben¬ heit wird in unſer unmittelbares und irdiſches Be¬ dürfniß gezogen. Das Zimmer iſt auch recht lieblich zum Leſen. Da ſcheint die freundliche Sonne herein, da ſind die grünen Vorhänge, da ſind die einladenden Size und Vorrichtungen zum Leſen und Schreiben. Selbſt daß man jedes Buch nach dem zeitlichen Ge¬ brauche wieder in das Bücherzimmer an ſeinen Plaz tragen muß, erſchien mir jezt gut; es vermittelt den Geiſt der Ordnung und Reinheit, und iſt gerade bei345 Büchern wie der Körper der Wiſſenſchaft, das Syſtem. Wenn ich mich jezt an Bücherzimmer erinnerte, die ich ſchon ſah, in welchen Leitern Tiſche Seſſel Bänke waren, auf denen allen etwas lag, ſeien es Bücher Papiere Schreibzeuge oder gar Geräthe zum Abfegen; ſo erſchienen mir ſolche Bücherſäle wie Kirchen, in denen man mit Trödel wirthſchaftet.
Ich ging auch öfter zu Euſtach in das Schreiner¬ haus. An einem der erſten ſehr heiteren Tage nahm ich alle Zeichnungen mit ſeiner Erlaubniß heraus, und ſah ſie noch einmal mit großer Muße und Ge¬ nauigkeit an. Ich konnte es faſt kaum glauben, wie ſehr mich meine Zeichnungsübungen während des vergangenen Winters gefördert hatten. Ich verſtand jezt vieles, was ich da vorfand, beſſer als im Som¬ mer, und es gefielen mir die meiſten Dinge auch mehr. Ich theilte ihm manches von meinen Zeichnun¬ gen mit, namentlich von Zeichnungen von Pflanzen, deren ich dieſes Mal eine größere Anzahl in meinem Koffer mitgebracht hatte. Bei meiner erſten Anwe¬ ſenheit hatte ich in dem Ränzchen nur einige Schriften ein Fernrohr und andere Sachen getragen, die in ein ſo kleines Behältniß gehen, Zeichnungen aber nicht. Er hatte eine Freude an dieſen Dingen; aber346 ſonderbar war es anzuſehen, wie er die Pflanzenzeich¬ nungen nicht als Pflanzenfreund und Kenner an¬ blickte, ſondern als Baumeiſter, der ihre Geſtalt ver¬ wenden kann. Er verſuchte ſpäter ſelber auch Zeich¬ nungen nach lebenden Pflanzen; aber hier trat der Unterſchied von einem Pflanzenfreunde noch mehr hervor: die Bilder wurden ihm allgemach durch un¬ merkliche Zuſäze aus Gewächſen ſchöne Verzierungen. Er ſuchte ſich auch in der Regel ſolche Vorbilder aus, die zu ſeinem Berufe in näherer Beziehung ſtanden, oder in eine ſolche gebracht werden konnten. In Be¬ zug auf die anderen Dinge, die in dem Schreiner¬ hauſe gearbeitet wurden, zeigte er mir alles, und er¬ klärte mir manches, wenn ich nach Erklärung ver¬ langte. Auch hierin glaubte ich ſeit dem vorigen Sommer Fortſchritte gemacht zu haben, namentlich, da ich die Gegenſtände, die mein Vater beſaß, wohl genau betrachtet und mir eingeprägt hatte, um ihre Bilder hieher übertragen und mit dem, was ſich hier befand, vergleichen zu können. Die Geſtalten gingen jezt leichter in mein Weſen ein, mir gefiel vieles mehr als im vorigen Sommer, und ich wurde auf manches aufmerkſam, was ich damals nicht beachtet hatte. Wir ſaßen zuweilen in dem freundlichen Zimmer347 Guſtachs, wenn die Vormittagsſonne durch die ge¬ ſchloſſenen Vorhänge ſanft herein blickte, und redeten von allerlei Dingen.
An Nachmittagen, beſonders wenn trübes Wet¬ ter war, und die Geſchäfte im Freien nicht eine große Ausdehnung hatten, verſammelte man ſich in dem Arbeitszimmer meines Gaſtfreundes. Dieſes Zimmer war an Nachmittagen, wo es ſehr zuſammengeräumt, und wo mehr Muße war, der Vereinigungspunkt der kleinen Geſellſchaft, wenn ſie ſich überhaupt verei¬ nigte. Mein alter Gaſtfreund hatte ſich dieſes Ge¬ mach ſehr wohnlich, wenn auch für Einſamkeit geeig¬ net, herrichten laſſen, wie er überhaupt, wenn er nicht eigens Menſchen um ſich verſammelte, die Ein¬ ſamkeit liebte. Er hatte neben ſeinem Seſſel einen Glockenzug, der durch den Fußboden in die Geſinde¬ zimmer hinab ging, um ſchnell einen Diener rufen zu können. In dem Schlafzimmer war etwas Ähnliches. Dort befanden ſich außer dem gewöhnlichen Glocken¬ zuge an den Seitenbrettern des Bettes zwei Platten, die durch das leiſeſte Auflegen einer Hand eine laut und lange tönende Glocke in Bewegung ſetzten, da¬ mit man, wenn dem alten Manne etwas zuſtieße, ſchnell zu Hilfe eilen könnte. Zwei Diener hatten im¬348 mer die Schlüſſel zu ſeinen Gemächern, um auch in der Nacht von Außen aufſperren zu können. Dieſe Vorrichtungen waren eine Erfindung Euſtachs, weil der alte Mann jede Einſchränkung durch Dienerſchaft ja die Nähe derſelben nicht wollte, um nicht geſtört zu werden. Er ließ auch nicht zu, daß Guſtav in einem Zimmer neben ihm ſchlafe, um ſich nicht an ihn zu gewöhnen, und ihn dann zu vermiſſen, da der Jüng¬ ling doch einmal fort müſſe. Wenn man in dem Ar¬ beitszimmer meines Gaſtfreundes verſammelt war, beſprach man gewöhnlich Angelegenheiten des Beſiz¬ thums, Veränderungen, die nothwendig ſind, Arbei¬ ten, die man vornehmen müſſe, und Gegenſtände der Kunſt. Hieher wurden die Pläne und Entwürfe von Dingen gebracht, die man entweder in Holz ausfüh¬ ren wollte, oder die Anlagen in dem Garten oder Umänderungen an Gebäuden betrafen. Es war gut, dieſe Entwürfe gerade in dieſes Zimmer zu bringen, weil ſie da eine ſehr ſchöne und ausgezeichnete Um¬ gebung antrafen, und ſich daher jeder Fehler und jede Unzulänglichkeit, wenn derlei in dem Entwurfe wa¬ ren, ſogleich aufzeigte, und verbeſſert werden konnte. An dem Tage, wo mehrere Menſchen in das Arbeits¬ zimmer des alten Mannes kamen, war immer ein349 Teppich über den auserleſenen Fußboden desſelben gebreitet, damit er keine Beſchädigung erleide.
Wenn trockene Wege waren, gingen wir öfter in den Meierhof. Dort wurden die Arbeiten, welche der erſte Frühling bringt, rüſtig betrieben. Das Ganze war ſeit meiner vorjährigen Anweſenheit in Ordnung und Fülle ſehr vorgeſchritten. Man mußte bis ſpät in den Herbſt hinein und ſelbſt im Winter, ſoweit es thunlich war, fleißig gearbeitet haben. Im Innern des Hofes war nicht mehr blos die ſchöne Pflaſterung an den Gebäuden herum und der reinliche Sand über den ganzen Hofraum, ſondern es war in der Mitte desſelben ein kleiner Springquell, der mit drei Strah¬ len in ein Becken fiel, und eine Blumenanlage um ſich hatte. Auf das alles ſahen die hellen Fenſter des Hofes ringsum heraus. So ſah dieſer Theil des Ge¬ bäudes, obwohl zwei Seiten des Hofes Ställe und Scheunen waren, wie ein Edelſiz aus. Ich fragte meinen Gaſtfreund, ob er neues Mauerwerk habe aufführen laſſen, da ich den Meierhof viel vollkom¬ mener ſehe als im vergangenen Jahre, und da er auch ſchöner ſei, als ſie hier im Lande gebaut würden.
„ Ich habe keine Mauern aufführen laſſen, “ant¬ wortete er, „ nur die lezten äußeren Verſchönerungen350 habe ich angebracht, und die Fenſter habe ich vergrö¬ ßert, der Grund war ſchon da. Die Meierhöfe und die größeren Bauerhöfe unſerer Gegend ſind nicht ſo häßlich gebaut, als ihr meint. Nur ſind ſie ſtets bis auf ein gewiſſes Maß fertig, weiter nicht; die lezte Vollendung gleichſam die Feile fehlt, weil ſie in dem Herzen der Bewohner fehlt. Ich habe blos dieſes Lezte gegeben. Wenn man mehrere Beiſpiele auf¬ ſtellte, ſo würden ſich im Lande die Anſichten über das nothwendige Auſſehen und die Wohnbarkeit der Häuſer ändern. Dieſes Haus ſoll ſo ein Beiſpiel ſein. “
Die Wege um den Hof und deſſen Wieſen und Felder waren auch nicht mehr ſo, wie ſie größtentheils in dem vorigen Sommer geweſen waren. Sie waren feſt, mit weißem Quarze belegt, und ſcharf und wohl abgegrenzt.
An ſchönen Mittagen, die bereits auch immer wärmer wurden, ſaß ich gerne auf dem Bänkchen, das um den großen Kirſchbaum lief, und ſah auf die unbelaubten Bäume auf die friſch geegten Felder auf die grünen Tafeln der Winterſaat die ſchon ſproſſen¬ den Wieſen und durch den Duft, der in dem erſten Frühlinge gerne aus Gründen quillt, auf die Hoch¬351 gebirge, die mit dem Glanze des noch in ungeheurer Menge auf ihnen liegenden Schnees ſpielten. Gu¬ ſtav ſchloß ſich an mich viel an, wahrſcheinlich weil ich unter allen Bewohnern des Hauſes ihm an Alter am nächſten war. Er ſaß deßhalb gerne bei mir auf dem Bänkchen. Wir gingen manches Mal auf die Felderraſt hinüber, und er zeigte mir einen Strauch, auf dem bald Blüthen hervor kommen würden, oder eine ſonnige Stelle, auf der das erſte Grün erſchien, oder Steine, um die ſchon verfrühte Thierchen ſpielten.
Eines Tages entdeckte ich in den Schreinen der Naturſammlung eine Zuſammenſtellung aller inlän¬ diſchen Hölzer. Sie waren in lauter Würfeln aufge¬ ſtellt, von denen zwei Flächen quer gegen die Faſern, die übrigen vier nach den Faſern geſchnitten waren. Von dieſen vier Flächen war eine rauh die zweite glatt die dritte polirt und die vierte hatte die Rinde. Im Innern der Würfel, welche hohl waren und geöffnet werden konnten, befanden ſich die getrockneten Blü¬ then die Fruchttheile die Blätter und andere merk¬ würdige Zugehöre der Pflanze, zum Beiſpiel gar die Mooſe, die auf gewiſſen Orten gewöhnlich wachſen. Euſtach ſagte mir, der alte Herr — ſo nannten alle Bewohner des Hauſes meinen Gaſtfreund, nur Gu¬352 ſtav nannte ihn Ziehvater — habe dieſe Sammlung angelegt, und die Anordnung ſo ausgedacht. Sie ſoll nach dem Willen des alten Herrn noch einmal ge¬ macht, und der Gewerbſchule zum Geſchenke gegeben werden.
Seine ſeltſame Kleidung und ſeine Gewohnheit immer barhäuptig zu gehen, welch beides mir An¬ fangs ſehr aufgefallen war, beirrte mich endlich gar nicht mehr, ja es ſtimmte eigentlich zu der Umgebung ſowohl ſeiner Zimmer als der um ihn herum woh¬ nenden Bevölkerung, von der er ſich nicht als etwas Vornehmes abhob, der er vielmehr gleich war, und von der er ſich doch wieder als etwas Selbſtſtändiges unterſchied. Mir fiel im Gegentheile ein, daß man¬ ches nicht geſchmackvoll ſei, was wir ſo heißen, am wenigſten der Stadtrock und der Stadthut der Männer.
In die Zimmer, welche nach Frauenart eingerich¬ tet waren, wurde ich einmal auf meine Bitte geführt. Sie gefielen mir wieder ſehr, beſonders das lezte kleine, welchem ich jezt den Namen „ die Roſe “gab. Man konnte in ihm ſizen ſinnen und durch das lieb¬ liche Fenſter auf die Landſchaft blicken. Daß ich nicht um den Gebrauch dieſer Zimmer fragte, begreift ſich.
Ich erzählte meinem Gaſtfreunde oft von meinem353 Vater von der Mutter und von der Schweſter. Ich erzählte ihm von allen unſern häuslichen Verhältniſ¬ ſen, und beſchrieb ihm mehrfach, ſo genau ich es konnte, die Dinge, die mein Vater in ſeinen Zimmern hatte, und auf welche er einen Werth legte. Meinen Namen nannte ich hiebei nicht, und er fragte auch nicht darnach.
Ebenſo wußte ich, obwohl ich nun länger in ſei¬ nem Hauſe geweſen war, noch immer ſeinen Namen nicht. Zufällig iſt er nicht genannt worden, und da er ihn nicht ſelber ſagte, ſo wollte ich aus Grundſaz niemanden darum fragen. Von Guſtav oder Euſtach wäre er am leichteſten zu erfahren geweſen; aber dieſe zwei mochte ich am wenigſten fragen, am allerwenig¬ ſten Guſtav, wenn er unzählige Male unbefangen den Namen Ziehvater ausſprach. Der Mann war ſehr gut ſehr lieb und ſehr freundlich gegen mich, er nannte ſeinen Namen nicht, ich konnte auch nicht mit Gewißheit vorausſezen, daß er meine, ich kenne den¬ ſelben; daher beſchloß ich, gar nicht, ſelbſt nicht in der größten Entfernung von dieſem Orte, um den Namen des Beſizers des Roſenhauſes zu fragen.
Nach und nach änderte ſich die Zeit immer mehr und immer gewaltiger. Die Tage waren viel längerStifter, Nachſommer. I. 23354geworden, die Sonne ſchien ſchon ſehr warm, die Friſten, in denen der Himmel ſich klar und wolkenlos zeigte, wurden bereits länger als die, in denen er umwölkt oder neblich war, die Erde ſproßte, die Bäume knoſpten, an den Roſenbäumchen vor dem Hauſe wurde ſehr fleißig gearbeitet, alles war heiter, und der Frühling war in ſeiner ganzen Fülle einge¬ treten. Dieſe Zeit war ſchon lange als diejenige be¬ ſtimmt geweſen, in welcher ich abreiſen würde. Ich ſagte dieſes noch einmal meinem Gaſtfreunde, und da ich Anſtalten getroffen hatte, meinen Koffer fort zu ſenden, wurde der Tag der Abreiſe feſtgeſezt.
Wir hatten früher noch die Verabredung getrof¬ fen, daß ich meine Arbeiten ſo einrichten wolle, daß ich zur Zeit der Roſenblüthe wiederkommen und wie¬ der längere Zeit in dem Hauſe verbleiben könne. Da ich ſah, daß ich gerne aufgenommen werde, und daß ich in Hinſicht der äußeren Mittel keine Laſt in dem Hauſe ſei, und da mein Gemüth ſich auch dieſem Orte zugeneigt fühlte, ſo war mir dieſe Verabredung ganz nach meinem Sinne. Nur, meinte mein Gaſt¬ freund, müßte ich dann in den Gebirgsthälern ſchon zur Herreiſe aufbrechen, wenn dort kaum die Roſen völlige Knoſpen hätten, weil ſie hier der beſſern Erde355 und der beſſern Pflege willen früher blühen als an allen Theilen des Landes. Ich ſagte es zu, und ſo war alles in Ordnung.
Am Tage vor meiner Abreiſe kam Euſtachs Bru¬ der zurück. Er mochte zwanzig und einige Jahre alt ſein, war ſchön gewachſen, hatte braune Wangen und dunkle Locken und ein klein wenig aufgeworfene Lip¬ pen. Mir war, als wäre ich dem Manne ſchon einige Male auf meinen Reiſen begegnet. Er brachte in ſei¬ nem Buche viele und darunter ſchöne Zeichnungen mit, welche mit Antheil betrachtet wurden. Sie ſoll¬ ten nun auf größerem Papiere und in künſtleriſcher Richtung ausgeführt werden.
Als ich am Abende vor der Abreiſe noch im Meier¬ hofe geweſen war, als ich am Morgen derſelben zu Euſtach und den Gärtnersleuten gegangen war, als ich den Hausbewohnern Lebewohl geſagt und von meinem Gaſtfreunde und von Guſtav vor dem Hauſe Abſchied genommen hatte: ging ich den Hügel hinun¬ ter, und ich hörte ſchon von dem Garten und von den Hecken und aus den Saaten den kräftigen Frühlings¬ geſang der Vögel.
23 *Auf der Reiſe nach dem Orte meiner Beſtimmung zeichnete ich ein ſchönes Standbild, welches ich in der Niſche einer Mauertrümmer fand. Ich hatte dazu mein Zeichnungsbuch aus dem Ränzlein genommen, in welchem ich es jezt immer trug. Dies war die ein¬ zige Unterbrechung und der einzige Aufenthalt auf dieſer Reiſe geweſen.
Als ich an meinem Beſtimmungsorte angelangt war, war das erſte, was ich that, daß ich meine Zeit beſſer zu Rathe hielt als früher. Ich mußte mir be¬ kennen, daß die Art, wie in dem Roſenhauſe das Ta¬ gewerk betrieben wurde, auf mich von großem Ein¬ fluſſe ſein ſolle. Da dort der Werth der Zeit ſehr hoch angeſchlagen, und dieſes Gut ſehr ſorgfältig ange¬ wendet wurde, ſo fing ich, wenn ich mir auch bisher einen großen Vorwurf nicht hatte machen können, dennoch an, mit viel mehr Ordnung als bisher nach357 einem einzigen Ziele während einer beſtimmten Zeit hinzuarbeiten, während ich früher durch augenblick¬ liche Eindrücke beſtimmt mit den Zielen öfter wech¬ ſelte, und, obwohl ich eifrig ſtrebte, doch eine dem Streben entſprechende Wirkung nicht jederzeit er¬ reichte. Ich machte mir nun zur Aufgabe, eine be¬ ſtimmte Strecke zu durchforſchen, und im Verlaufe überhaupt nichts liegen zu laſſen, was von Weſen¬ heit wäre, aber auch nichts auf eine gelegenere Zu¬ kunft zu verſchieben, ſo daß, ſollte ich bis zur Roſen¬ zeit mit der vorgeſezten Strecke nicht fertig werden, wenigſtens der Theil, den ich vollendete, wirklich fertig wäre, und ich auf genau umſchriebene Ergeb¬ niſſe zu deuten im Stande wäre. Das ſah ich nach dem Beginne der Arbeiten ſehr bald, daß ich mir den Raum zu groß ausgeſteckt hatte; aber auch das ſah ich ſehr bald, daß der kleinere Raum, den ich über¬ winden würde, mir mehr an Erfolg ſicherte, als wenn ich wie in meiner Vergangenheit durch geraume Zeit den Blick ſo ziemlich auf alles geſpannt hätte. Hiezu kam auch eine gewiſſe Zufriedenheit, die ich fühlte, wenn ich ſah, daß ſich Glied an Glied zu einer Ord¬ nung an einander reihte, während früher mehr ein anſprechender Stoff durcheinander lag, als daß eine358 aus dem Stoffe hervorgehende Geſtaltung ſich ent¬ wickelt hätte.
Meine Kiſten füllten ſich, und ſtellten ſich an ein¬ ander. Meine Führer und meine Träger gewannen auch einen Halt in der neuen Ordnung, und es wuchs ihnen ein Zutrauen zu mir. Ich bekam eine Neigung zu ihnen, die ſie erwiederten, ſo daß ſich ein fröhliches Zuſammenleben immer mehr geſtaltete, und die Ar¬ beit heiter und darum auch zweckmäßig wurde. Oft, wenn wir Abends in der Wirthsſtube um den großen viereckigen Ahorntiſch, oder da die Tage endlich hei¬ ßer wurden, ſtatt an den todten Brettern des Tiſches draußen unter den lebenden und rauſchenden Ahornen ſaßen, um welche ein fichtener Tiſch zuſammen gezim¬ mert war, und auf welche das vielfenſtrige Gaſthaus heraus ſah, rechneten ſie ſich vor, was heute, was ſeit vierzehn Tagen geſchehen ſei, wie viel wir, wie ſie ſich ausdrückten, abgethan haben, und wie viel Gebirge zuſammen geſtellt worden ſei. Sie fingen auch bald an, die Sache nach ihrer Art zu begreifen, über Vorkommniſſe in den Gebirgszügen zu reden und zu ſtreiten und mir zuzumuthen, daß, wenn ich mir merken könnte, woher alle die geſammelten Stücke ſeien, und wenn ich die Höhe und die Mächtigkeit359 der Gebirge zu meſſen im Stande wäre, ich das Ge¬ birge im Kleinen auf einer Wieſe oder auf einem Felde aufſtellen könnte. Ich ſagte ihnen, daß das ein Theil meines Zweckes ſei, und wenn gleich das Ge¬ birge nicht auf einer Wieſe oder auf einem Felde zu¬ ſammengeſtellt werde, ſo werde es doch auf dem Pa¬ piere gezeichnet, und werde mit ſolchen Farben bemalt, daß jeder, der ſich auf dieſe Dinge verſtände, das Gebirge mit allem, woraus es beſtehe, vor Augen habe. Deßhalb merke ich mir nicht nur, woher die Stücke ſeien, und unter welchen Verhältniſſen ſie in den Bergen beſtehen, ſondern ſchreibe es auch auf, damit es nicht vergeſſen werde, und beklebe auch die Stücke mit Zetteln, auf denen alles Nothwendige ſtehe. Dieſe Stücke in ihrer Ordnung aufgeſtellt ſeien dann der Beweis deſſen, was auf dem Papiere oder der Karte, wie man das Ding nenne, aufgemalt ſei. Sie meinten, daß dieſes ſehr klug gethan ſei, um, wenn einer einen Stein oder ſonſt etwas zu einem Baue oder dergleichen bedürfe, gleich aus der Karte heraus leſen zu können, wo er zu finden ſei. Ich ſagte ihnen, daß ein anderer Zweck auch darin beſtehe, aus dem, was man in den Gebirgen finde, ſchließen zu können, wie ſie entſtanden ſeien.
360Die Gebirge ſeien gar nicht entſtanden, meinte einer, ſondern ſeien ſeit Erſchaffung der Welt ſchon dageweſen.
„ Sie wachſen auch, “ſagte ein anderer, „ jeder Stein wächſt, jeder Berg wächſt wie die anderen Geſchöpfe. Nur, “ſezte er hinzu, weil er gerne ein wenig ſchalkhaft war, „ wachſen ſie nicht ſo ſchnell wie die Schwämme. “
So ſtritten ſie länger und öfter über dieſen Ge¬ genſtand, und ſo beſprachen wir uns über unſere Ar¬ beiten. Sie lernten durch den bloßen Umgang mit den Dingen des Gebirges und durch das öftere An¬ ſchauen derſelben nach und nach ein Weiteres und Richtigeres, und lächelten oft über eine irrige Anſicht und Meinung, die ſie früher gehabt hatten.
Mein Tagebuch der Aufzeichnungen zur Feſthal¬ tung der Ordnung dehnte ſich aus, die Blätter mehr¬ ten ſich, und gaben Ausſicht zu einer umfaſſenden und regelmäßigen Zuſammenſtellung des Stoffes, wenn die Wintertage oder ſonſt Tage der Muße gekommen ſein würden.
An Sonntagen oder zu anderen Zeiten, wo die Arbeit minder drängte, gab es noch Gelegenheit zu361 manchen angenehmen Freuden und zu ſtärkender Er¬ holung.
Eines Tages fanden wir ein Stück Marmor, von dem ich dachte, daß ihn mein Gaſtfreund in ſeinem Roſenhauſe noch gar nicht habe. Er war von dem reinſten Weiß Roſenroth und Strohgelb in kleiner und lieblicher Miſchung. Seine Art iſt eine der ſelten¬ ſten, und hier war ſie in einem ſo großen Stücke vor¬ handen, wie ich ſie noch nie geſehen hatte. Ich be¬ ſchloß, dieſen Marmor meinem Gaſtfreunde zum Geſchenke zu machen. Ich verſuchte, mir ein Eigen¬ thumsrecht darüber zu erwerben, und als mir dieſes gelungen war, ging ich daran, das Stück, ſoweit ſeine Feſtigkeit ununterbrochen war, heraus nehmen, und in eine Geſtalt ſchneiden zu laſſen, deren es fähig war. Es zeigte ſich, daß eine ſchöne Tiſchplatte aus dieſem Stoffe zu verfertigen wäre. Von den loſen Schuttſtücken nahm ich mehrere der beſſeren mit, um allerlei Dinge der Erinnerung daraus machen zu laſſen. Eines ließ ich zu einer Tafel ſchleifen und dieſelbe glätten, daß mein Gaſtfreund die Zeichnung und die Farbe des Marmors auf das Beſte ſehen könne.
So war eine Strecke abgethan, als in den Thä¬362 lern ſich die kleinen Knospen der Roſen zu zeigen an¬ fingen, und ſelbſt an dem Hagedorn, der in Feldge¬ hegen oder an Gebirgsſteinen wuchs, die Bällchen zu der ſchönen aber einfachen Blume ſich entwickelten, die die Ahnfrau unſerer Roſen iſt. Ich beſchloß da¬ her, meine Reiſe in das Roſenhaus anzutreten. Ich habe mich kaum mit größerem Vergnügen nach einem langen Sommer zur Heimreiſe vorbereitet, als ich mich jezt nach einer wohlgeordneten Arbeit zu dem Beſuche im Roſenhauſe anſchickte, um dort eine Weile einen angenehmen Landaufenthalt zu genießen.
Eines Nachmittages ſtieg ich zu dem Hauſe em¬ por, und fand die Roſen zwar nicht blühend aber ſo überfüllt mit Knospen, daß in nicht mehr fernen Ta¬ gen eine reiche Blüthe zu erwarten war.
„ Wie hat ſich alles verändert, “ſagte ich zu dem Beſizer, nachdem ich ihn begrüßt hatte, „ da ich im Frühlinge von hier fortging, war noch alles öde, und nun blättert blüht und duftet alles hier beinahe in ſolcher Fülle wie im vorigen Jahre zu der Zeit, da ich zum erſten Male in dieſes Haus heraufkam. “
„ Ja, “erwiederte er, „ wir ſind wie der reiche Mann, der ſeine Schäze nicht zählen kann. Im Früh¬ linge kennt man jedes Gräschen perſönlich, das ſich363 unter den erſten aus dem Boden hervor wagt, und beachtet ſorgſam ſein Gedeihen, bis ihrer ſo viele ſind, daß man nicht mehr nach ihnen ſieht, daß man nicht mehr daran denkt, wie mühevoll ſie hervor ge¬ kommen ſind, ja daß man Heu aus ihnen macht, und gar nicht darauf achtet, daß ſie in dieſem Jahre erſt geworden ſind, ſondern thut, als ſtänden ſie von jeher auf dem Plaze. “
Man hatte mir eine eigene Wohnung machen laſſen, und führte mich in dieſelbe ein. Es waren zwei Zimmer am Anfange des Ganges der Gaſtzimmer, welche man durch eine neugebrochene Thür zu einer einzigen Wohnung gemacht hatte. Das eine war be¬ deutend groß, und hatte urſprünglich die Beſtimmung gehabt, mehrere Perſonen zugleich zu beherbergen. Es war jezt ausgeleert, an ſeinen Wänden ſtanden Tiſche und Geſtelle herum, ſo wie in ſeiner Mitte ein langer Tiſch angebracht war, damit ich meine Sa¬ chen, die ich etwa von dem Gebirge brächte, ausbrei¬ ten könnte. Das zweite Zimmer war kleiner, und war zu meinem Schlaf - und Wohngemache hergerichtet. Der alte Mann reichte mir die Schlüſſel zu dieſer Wohnung. Auch zeigte man mir in der leichten ge¬ mauerten Hütte, die nicht weit hinter der Schreinerei364 an der weſtlichen Grenze des Gartens lag, und in früheren Zeiten zu den Steinarbeiten benuzt worden war, einen Raum, den man ausgeleert hatte, und in welchen ich Gegenſtände, die ich geſammelt hätte, bis auf weitere Verfügung niederlegen könnte. Sollte ich mehr brauchen, ſo könne noch mehr geräumt wer¬ den, da jezt die Arbeiten mit den Steinen faſt been¬ digt ſeien, und ſelten etwas geſägt geſchliffen oder geglättet werde. Ich war über dieſe Aufmerkſamkeiten ſo gerührt, daß ich faſt keinen Dank dafür zu ſagen vermochte. Ich begrif nicht, was ich mir denn für Verdienſte um den Mann oder ſeine Umgebung er¬ worben habe, daß man ſolche Anſtalten mache. Das Eine gereichte zu meiner Beruhigung, daß ich aus dieſen Vorrichtungen ſah, daß ich in dem Hauſe nicht unwillkommen ſei; denn ſonſt wäre man nicht auf den Gedanken derſelben gerathen. Dieſes Bewußtſein ver¬ ſprach meinen Bewegungen in den hieſigen Verhält¬ niſſen viel mehr Freiheit zu geben. Ich ſtattete endlich doch meinen Dank ab, und man nahm ihn mit Ver¬ gnügen auf.
Da ich in meiner Wohnung meine Wanderſachen abgelegt hatte, und die erſten allgemeinen Geſpräche vorüber waren, wollte ich einen überſichtlichen Gang365 durch den Garten machen. Ich ging bei der Seitenthür des Hauſes hinaus, und da ich auf den kleinen Raum kam, der hier eingefaßt iſt, kam der große Hofhund auf mich zu, und wedelte. Als ich ſah, daß der alte Hilan mich erkenne und begrüße, war ich ſo kindiſch, mich darüber zu freuen, weil es mir war, als ſei ich kein Fremder, ſondern gehöre gewiſſermaßen zur Fa¬ milie.
Am nächſten Tage nach meiner Ankunft erſchien der Wagen mit meinem Gepäcke und mit der Mar¬ morplatte. Ich ließ abladen, und übergab die Platte meinem Gaſtfreunde mit dem Bedeuten, daß ich ihm in derſelben eine Erinnerung aus dem Gebirge bringe. Zugleich händigte ich ihm das kleinere geſchliffene Stück zur genaueren Einſicht in die Natur des Mar¬ mors ein. Er beſah das Stück und dann auch die Platte ſehr ſorgfältig. Hierauf ſagte er: „ Dieſer Marmor iſt außerordentlich ſchön, ich habe ihn noch gar nicht in meiner Sammlung, auch ſcheint die Platte dicht und ohne Unterbrechung zu ſein, ſo daß ein reiner Schlif auf ihr möglich ſein wird, ich bin ſehr erfreut, in dem Beſize dieſes Stückes zu ſein, und danke euch ſehr dafür. Allein in meinem Hauſe kann er als Beſtandtheil desſelben nicht verwendet werden,366 weil dort nur ſolche Stücke angebracht ſind, welche ich ſelber geſammelt habe, und weil ich an dieſer Art der Sammlung und an der Verbuchung darüber eine ſolche Freude habe, daß ich auch in der Zukunft nicht von dieſem Grundſaze abgehe. Es wird aber ganz gewiß aus dieſem Marmor etwas gemacht werden, das ſeiner nicht unwerth iſt, ich hege die Hoffnung, daß es auch euch gefallen wird, und ich wünſche daß die Gelegenheit ſeiner Verwendung euch und mir zur Freude gereiche. “
Ich hatte ohnehin ungefähr ſo etwas erwartet, und war beruhigt.
Der Marmor wurde in die Steinhütte gebracht, um dort zu liegen, bis man über ihn verfügen würde. Meine übrigen Dinge aber ließ ich in meine Woh¬ nung bringen.
Ich ging im Sommer immer ſehr leicht gekleidet entweder in ungebleichtem oder geſtreiftem Linnen. Den Kopf bedeckte meiſtens ein leichter Strohhut. Um nun hier nicht aufzufallen und um weniger von der einfachen Kleidung der Hausbewohner abzuſtechen, nahm ich ein paar ſolcher Anzüge ſammt einem Stroh¬ hute aus dem Koffer, kleidete mich in einen, und legte367 dafür meinen Reiſeanzug für eine künftige Wan¬ derung zurück.
Mein Gaſtfreund hatte auf ſeiner Beſizung eine etwas eigenthümliche Tracht theils eingeführt, theils nahmen ſie die Leute ſelber an. Die Dienerinnen des Hauſes waren in die Landeſtracht gekleidet, nur dort, wo dieſe, wie namentlich in unſerem Gebirge, unge¬ fällig war, oder in das Häßliche ging, wurde ſie durch den Einfluß des Hausbeſizers gemildert, und mit kleinen Zuthaten verſehen, die mir ſchön erſchie¬ nen. Dieſe Zuthaten fanden im Anfange Widerſtand, aber da ſie von dem alten Herrn geſchenkt wurden, und man ihn nicht kränken wollte, wurden ſie ange¬ nommen, und ſpäter von den Umwohnerinnen nicht nur beneidet ſondern auch nachgeahmt. Die Männer, welche in dem Hauſe dienten oder in dem Meierhofe arbeiteten oder in dem Garten beſchäftigt waren, tru¬ gen gefärbtes Linnen, nur war daſſelbe nicht ſo dun¬ kel, als es bei uns im Gebirge gebräuchlich iſt. Eine Jacke oder eine andere Art Überrock hatten ſie im Sommer nicht, ſondern ſie gingen in lediglichen Hemdärmeln, und um den Hals hatten ſie ein loſes Tuch geſchlungen. Auf den, Haupte trugen einige wie der Hausherr nichts, andere hatten den gewöhn¬368 lichen Strohhut. Euſtach ſchien in ſeiner Kleidung niemanden nachzuahmen, ſondern ſie ſelbſt zu wählen. Er ging auch in geſtreiftem Linnen, meiſtens roſtbraun mit grau oder weiß; aber die Streifen waren faſt handbreit, oder es hatte der ganze Stoff nur zwei Farben, die Hälfte des Längenblattes braun die Hälfte weiß. Oft hatte er einen Strohhut oft gar nichts auf dem Haupte. Seine Arbeiter hatten ähnliche Anzüge, auf denen ſelten ein Schmuzfleck zu ſehen war; denn bei der Arbeit hatten ſie große grüne Schürzen um. Unter allen dieſen Leuten hoben ſich der Gärtner und die Gärtnerin heraus, welche blos ſchneeweiß gingen.
Ich zeigte meinem Gaſtfreunde und Euſtach die Zeichnung, welche ich von dem Standbilde in der Mauerniſche gemacht hatte. Sie freuten ſich, daß ich auf derlei Dinge aufmerkſam ſei, und ſagten, daß ſie dasſelbe Bild auch unter ihren Zeichnungen hätten, nur daß es jezt mit mehreren anderen Blättern außer Hauſe ſei.
Ich betrachtete nun alles, was mir in dem Gar¬ ten und auf dem Felde im vorigen Jahre in derſelben Jahreszeit merkwürdig geweſen war. Die Blätter der Bäume die Blätter des Kohles und die von anderen Gewächſen waren vom Raupenfraße frei, und nicht369 nur die im Garten, ſondern auch die in der nächſten und in der in ziemliche Ferne reichenden Umgebung. Ich hatte bei meiner Herreiſe eigens auf dieſen Um¬ ſtand mein Augenmerk gerichtet. Dennoch entbehrte der Garten nicht des ſchönen Schmuckes der Faltern; denn einerſeits konnten die Vögel doch nicht alle und jede Raupen verzehren, und andererſeits wehte der Wind dieſe ſchönen lebendigen Blumen in unſern Garten, oder ſie kamen auf ihren Wanderungen, die ſie manchmal in große Entfernungen antreten, ſelber hieher. Der Geſang der Vögel war mir wieder wie im vorigen Jahre eigenthümlich, und er war mir wie¬ der ganz beſonders ſchmelzend. Dadurch, daß ſie in verſchiedenen Fernen ſind, die Laute alſo mit unglei¬ cher Stärke an das Ohr ſchlagen, dadurch, daß ſie ſich gelegenheitlich unterbrechen, da ſie inzwiſchen al¬ lerlei zu thun haben, eine Speiſe zu haſchen, auf ein Junges zu merken, wird ein reizender Schmelz veranlaßt wie in einem Walde, während die beſten Singvögel in vielen Käfichen nahe bei einander nur ein Geſchrei machen, und dadurch, daß ſie in dem Garten ſich doch wieder näher ſind als im Walde, wird der Schmelz kräftiger, während er im Walde zuweilen dünn und einſam iſt. Ich ſah die Neſter,Stifter, Nachſommer. I. 24370beſuchte ſie, und lernte die Gebräuche dieſer Thiere kennen.
In meinen Zimmern richtete ich mich ein, ich that die Bücher und Papiere, die ich mitgebracht hatte, heraus, um zu leſen, einzuzeichnen, und zu ordnen. Ich legte auch auf den großen Tiſch und auf die Ge¬ ſtelle an den Wänden kleinere Gegenſtände, die ich mitgebracht hatte beſonders Verſteinerungen oder an¬ dere deutlichere Überreſte, um ſie zu benuzen. Guſtav kam häufig zu mir herüber, er nahm Antheil an die¬ ſen Dingen, ich erklärte ihm manches, und mein Gaſtfreund ſah es nicht ungern, wenn ich mit ihm entweder ein Buch in der Hand unter den ſchattigen Linden des Gartens oder ohne Buch auf großen Spaziergängen — denn der alte Mann liebte die Be¬ wegung noch ſehr — von meiner Wiſſenſchaft ſprach. Er erzählte mir dagegen von der ſeinigen, und ich hörte ihm freundlich zu, wenn er auch Dinge brachte, die mir ſchon beſſer bekannt waren. Zeiten, in denen ich ohne Beſchäftigung und allein war, brachte ich auf Gängen in den Feldern, oder auf einem Beſuche in dem Schreinerhauſe oder in dem Gewächshauſe oder bei den Cactus zu.
Die wogenden Felder, die ich im vorigen Jahre371 um dieſes Anweſen getroffen hatte, waren auch heuer wogende, und wurden mit jedem Tage ſchöner dichter und ſegensreicher, der Garten hüllte ſich in die Menge ſeiner Blätter und der nach und nach ſchwellenden Früchte, der Geſang der Vögel wurde mir immer noch lieblicher, und ſchien die Zweige immer mehr zu erfüllen, die ſcheuen Thiere lernten mich kennen, nah¬ men von mir Futter, und fürchteten mich nicht mehr. Ich lernte nach und nach alle Dienſtleute kennen und nennen, ſie waren freundlich mit mir, und ich glaube, ſie wurden mir gut, weil ſie den Herrn mich mit Wohlwollen behandeln ſahen. Die Roſen gediehen ſehr, tauſende harrten des Augenblicks, in dem ſie aufbrechen würden. Ich half oft an den Beſchäftigun¬ gen, die dieſen Blumen gewidmet wurden, und war dabei, wenn die Roſenarbeiten beſichtiget wurden, und ausgemittelt ward, ob alles an ihnen in gutem Stande ſei. Ebenſo ging ich gerne zum Beſehen an¬ derer Dinge mit, wenn auf Wieſen oder im Walde gearbeitet wurde, in welch lezterem man jezt daran war, das im Winter geſchlagene Holz zu verkleinern, oder zum Baue oder zu Schreinerarbeiten herzurich¬ ten. Ich trug oft meinen Strohhut, wenn der alte Mann und Guſtav neben mir barhäuptig gingen, in24 *372der Hand, und ich mußte bekennen, daß die Luft viel angenehmer durch die Haare ſtrich, als wenn ſie durch einen Hut auf dem Haupte zurück gehalten wurde, und daß die Hize durch die Locken ſo gut wie durch einen Hut von dem bloßen Haupte abgehalten wurde.
Eines Tages, da ich in meinem Zimmer ſaß, hörte ich einen Wagen zu dem Hauſe herzufahren. Ich weiß nicht, weßhalb ich hinabging, den Wagen ankommen zu ſehen. Da ich an das Gitter gelangte, ſtand er ſchon außerhalb desſelben. Er war von zwei braunen Pferden herbeigezogen worden, der Kutſcher ſaß noch auf dem Bocke, und mußte eben angehalten haben. Vor der Wagenthür mit dem Rücken gegen mich gekehrt ſtand mein Gaſtfreund, neben ihm Gu¬ ſtav, und neben dieſem Katharina und zwei Mägde. Der Wagen war noch gar nicht geöffnet, er war ein geſchloſſener Gläſerwagen, und hatte an der innern Seite ſeiner Fenſter grüne zugezogene Seidenvor¬ hänge. Einen Augenblick nach meiner Ankunft öffnete mein Gaſtfreund die Wagenthür. Er geleitete an ſei¬ ner Hand eine Frauengeſtalt aus dem Wagen. Sie hatte einen Schleier auf dem Hute, hatte aber den Schleier zurückgeſchlagen, und zeigte uns ihr Ange¬ ſicht. Sie war eine alte Frau. Augenblicklich, da ich373 ſie ſah, fiel mir das Bild ein, welches mein Gaſt¬ freund einmal über manche alternde Frauen von ver¬ blühenden Roſen hergenommen hatte. „ Sie gleichen dieſen verwelkenden Roſen. Wenn ſie ſchon Falten in ihrem Angeſichte haben, ſo iſt doch noch zwiſchen den Falten eine ſehr ſchöne liebe Farbe, “hatte er ge¬ ſagt, und ſo war es bei dieſer Frau. Über die vielen feinen Fältchen war ein ſo ſanftes und zartes Roth, daß man ſie lieben mußte, und daß ſie eine Roſe die¬ ſes Hauſes war, die im Verblühen noch ſchöner ſind als andere Roſen in ihrer vollen Blüthe. Sie hatte unter der Stirne zwei ſehr große ſchwarze Augen, unter dem Hute ſahen zwei ſehr ſchmale Silberſtrei¬ fen des Haares hervor, und der Mund war ſehr lieb und ſchön. Sie ſtieg von dem Wagentritte herab, und ſagte die Worte: „ Gott grüße dich, Guſtav! “
Hiebei neigte ſich der alte Mann gegen ſie, ſie neigte ihr Angeſicht gegen ihn, und die beiderſeitigen Lippen küßten ſich zum Willkommensgruße.
Nach dieſer Frau kam eine zweite Frauengeſtalt aus dem Wagen. Sie hatte auch einen Schleier um den Hut, und hatte ihn auch zurückgeſchlagen. Unter dem Hute ſahen braune Locken hervor, das Antliz war glatt und fein, ſie war noch ein Mädchen. Unter374 der Stirne waren gleichfalls große ſchwarze Augen, der Mund war hold und unſäglich gütig, ſie ſchien mir unermeßlich ſchön. Mehr konnte ich nicht denken; denn mir fiel plözlich ein, daß es gegen die Sitte ſei, daß ich hinter dem Gitter ſtehe, und die Ausſteigen¬ den anſchaue, während die, die ſie empfangen, mir den Rücken zuwenden, und von meiner Anweſenheit nichts wiſſen. Ich ging um die Ecke des Hauſes zu¬ rück, und begab mich wieder in mein Wohnzimmer.
Dort hörte ich nach einiger Zeit an Tritten und Geſprächen, daß die ganze Geſellſchaft an meinem Zimmer vorbei den ganzen Gang entlang wahrſchein¬ lich in die ſchönen Gemächer an der öſtlichen Seite des Hauſes gehe.
Was weiter an dem Wagen geſchehen ſei, ob noch eine oder zwei Perſonen aus demſelben geſtiegen ſeien, konnte ich nicht wiſſen; denn auch nicht einmal beim Fenſter wollte ich nun hinabſehen. Daß aber Gegenſtände von demſelben abgepackt, und in das Haus gebracht wurden, konnte ich an dem Reden und Rufen der Leute erkennen. Auch den Wagen hörte ich endlich fortfahren, wahrſcheinlich wurde er in den Meierhof gebracht.
Ich blieb immer in der Tiefe des Zimmers ſizen. 375Ich ging weder zu dem Fenſter, noch ging ich in den Garten, noch verließ ich überhaupt das Zimmer, ob¬ wohl eine ziemlich lange Zeit ruhig und ſtill verfloß. Ich wollte leſen oder ſchreiben, und that es dann doch wieder nicht.
Endlich, da vielleicht ein paar Stunden vergan¬ gen waren, kam Katharina, und ſagte, der alte Herr laſſe mich recht ſchön bitten, daß ich in das Speiſe¬ zimmer kommen möge, man erwarte mich dort.
Ich ging hinab.
Als ich eingetreten war, ſah ich, daß mein Gaſt¬ freund in einem Lehnſeſſel an dem Tiſche ſaß, neben ihm ſaß Guſtav. An der entgegengeſezten Seite ſaß die Frau. Ihr Seſſel war aber ein wenig von dem Tiſche abgewendet, und der Thür, durch welche ich eintrat, zugekehrt. Hinter ihr und um eine Seſſel¬ hälfte ſeitwärts ſaß das Mädchen.
Sie waren nun ganz anders gekleidet, als da ich ſie aus dem Wagen ſteigen geſehen hatte. Statt des ſtädtiſchen Hutes, den ſie da getragen hatten, deckte jezt ein Strohhut mit nicht gar breiten Flügeln, ſo daß ſie eben genug Schatten gaben, das Haupt, die übrigen Kleider beſtanden aus einem einfachen lichten mattfärbigen Stoffe, und waren ohne alle beſonderen376 Verzierungen verfertigt, ſo wie der Schnitt nichts Auffälliges hatte, weder eine zur Schau getragene Ländlichkeit noch ein zu ſtrenge feſtgehaltenes ſtädti¬ ſches Weſen.
Es ſtanden mehrere Diener herum, ſo wie Ka¬ tharina, die mich geholt hatte, auch wieder hinter mir in das Zimmer gegangen war, und ſich zu den da¬ ſtehenden Mägden geſellt hatte. Selbſt der Gärtner Simon war zugegen.
Als ich in die Nähe des Tiſches gekommen war, ſtand mein Gaſtfreund auf, umging den Tiſch, führte mich vor die Frau, und ſagte: „ Erlaube, daß ich dir den jungen Mann vorſtelle, von dem ich dir erzählt habe. “
Hierauf wendete er ſich gegen mich, und ſagte: „ Dieſe Frau iſt Guſtavs Mutter, Mathildis. “
Die Frau ſagte in dem erſten Augenblicke nichts, ſondern richtete ein Weilchen die dunkeln Augen auf mich.
Dann wies er mit der Hand auf das Mädchen, und ſagte: „ Dieſe iſt Guſtavs Schweſter Natalie. “
Ich wußte nicht, waren die Wangen des Mäd¬ chens überhaupt ſo roth, oder war es erröthet. Ich war ſehr befangen, und konnte kein Wort hervor377 bringen. Es war mir äußerſt auffallend, daß er jezt, wo er den Namen beinahe mit Nothwendigkeit brauchte, weder um den meinigen gefragt, noch den der Frauen genannt hatte. Ehe ich recht mit mir zu Rathe gehen konnte, ob zu der Verbeugung, welche ich gemacht hatte, etwas geſagt werden ſolle oder nicht, fuhr er in ſeiner Rede fort, und ſagte: „ Er iſt ein freundlicher Hausgenoſſe von uns geworden, und ſchenkt uns einige Zeit in unſerer ländlichen Einſam¬ keit. Er ſtrebt die Berge und das Land zu erforſchen, und zur Kenntniß des Beſtehenden und zur Herſtel¬ lung der Geſchichte des Gewordenen etwas beizutra¬ gen. Wenn auch die Thaten und die Förderung der Welt mehr das Geſchäft des Mannes und des Greiſes ſind, ſo ziert ein ernſtes Wollen auch den Jüngling, ſelbſt wo es nicht ſo klar und ſo beſtimmt iſt wie hier. “
„ Mein Freund hat mir von euch erzählt, “ſagte die Frau zu mir, indem ſie mich wieder mit den dun¬ keln glänzenden Augen anſah, „ er hat mir geſagt, daß ihr im vergangenen Jahre bei ihm waret, daß ihr ihn im Frühlinge beſucht habt, und daß ihr verſprochen habt, zur Zeit der Roſenblüthe wieder eine Weile in dieſem Hauſe zuzubringen. Mein Sohn hat auch ſehr oft von euch geſprochen. “ 378„ Er ſcheint nicht ganz ungerne hier zu ſein, “ſagte mein Gaſtfreund; „ denn ſein Angeſicht wenigſtens hat noch nicht bei dem früheren ſo wie bei dem jezigen Beſuche die Heiterkeit verloren. “
Ich hatte mich während dieſer Reden geſammelt, und ſagte: „ Wenn ich auch aus der großen Stadt komme, ſo bin ich doch wenig mit fremden Menſchen in Verkehr getreten, und weiß daher nicht, wie mit ihnen umzugehen iſt. In dieſem Hauſe bin ich, da ich irrthümlich ein Gewitter fürchtete, und um einen Unterſtand herauf ging, ſehr freundlich aufgenommen worden, ich bin wohlwollend eingeladen worden wie¬ der zu kommen, und habe es gethan. Es iſt mir hier in Kurzem ſo lieb geworden wie bei meinen theuren Eltern, bei welchen auch eine Regelmäßigkeit und Ordnung herrſcht wie hier. Wenn ich nicht ungelegen bin, und die Umgebung mir nicht abgeneigt iſt, ſo ſage ich gerne, wenn ich auch nicht weiß, ob man es ſagen darf, daß ich immer mit Freuden kommen werde, wenn man mich einladet. “
„ Ihr ſeid eingeladen, “erwiederte mein Gaſtfreund, „ und ihr müßt aus unſern Handlungen erkennen, daß ihr uns ſehr willkommen ſeid. Nun werden auch Gu¬ ſtavs Mutter und Schweſter eine Weile in dieſem379 Hauſe zubringen, und wir werden erwarten, wie ſich unſer Leben entwickeln wird. Wollt ihr euch nicht ein wenig zu mir ſezen, und abwarten, bis der Willkom¬ mensgruß von allen, die da ſtehen, vorüber iſt? “
Er ging wieder um den Tiſch herum zurück, und ich folgte ihm. Guſtav machte mir Plaz neben ſeinem Ziehvater, und ſah mich mit der Freude an, welche ein Sohn empfindet, der in der Fremde den Beſuch der Mutter empfängt.
Natalie hatte kein Wort geſprochen.
Ich konnte jezt, da ich ein wenig gegen die Frauen hin zu blicken vermochte, recht deutlich ſehen, daß hier Guſtavs Mutter und Schweſter zugegen ſeien; denn beide hatten dieſelben großen ſchwarzen Augen wie Guſtav, beide dieſelben Züge des Angeſichtes, und Natalie hatte auch die braunen Locken Guſtavs, wäh¬ rend die der Mutter die Silberfarbe des Alters tru¬ gen. Sie gingen nun recht ſchön geordnet in einem viel breiteren Bande an beiden Seiten der Stirne herab, als ſie es unter dem Reiſeſtrohhute gethan hatten.
Vor Mathilde war, während wir unſere Size eingenommen hatten, die Haushälterin Katharina getreten.
Die Frau ſagte: „ Sei mir vielmal gegrüßt, Ka¬380 tharina, ich danke dir, du haſt deinen Herrn und meinen Sohn in deiner beſonderen Obhut, und übſt viele Sorgfalt an ihnen aus. Ich danke dir ſehr. Ich habe dir etwas gebracht, nur als eine kleine Erin¬ nerung, ich werde es dir ſchon geben. “
Als Katharina zurück getreten war, als ſich die anderen insgeſammt näherten, ſich verbeugten und mehrere Mädchen der Frau die Hand küßten, ſagte ſie: „ Seid mir alle von Herzen gegrüßt, ihr ſorgt alle für den Herrn und ſeinen Ziehſohn. Sei gegrüßt Simon, ſei gegrüßt Klara, ich danke euch allen, und habe allen etwas gebracht, damit ihr ſeht, daß ich kei¬ nes in meiner Zuneigung vergeſſen habe; denn ſonſt iſt es freilich nur eine Kleinigkeit. “
Die Leute wiederholten ihre Verbeugung, manche auch den Handkuß, und entfernten ſich. Sie hatten ſich auch vor Natalie geneigt, welche den Gruß recht freundlich erwiederte.
Als alle fort waren, ſagte die Frau zu Guſtav: „ Ich habe auch dir etwas gebracht, das dir Freude machen ſoll, ich ſage noch nicht was; allein ich habe es nur vorläufig gebracht, und wir müſſen erſt den Ziehvater fragen, ob du es ſchon ganz oder nur theil¬ weiſe oder noch gar nicht gebrauchen darfſt. “
381„ Ich danke dir, Mutter, “erwiederte der Sohn, „ du biſt recht gut, liebe Mutter, ich weiß jezt ſchon, was es iſt, und wie der Ziehvater ausſpricht, werde ich genau thun. “
„ So wird es gut ſein, “antwortete ſie.
Nach dieſer Rede waren alle aufgeſtanden.
„ Du biſt heuer zu ſehr guter Zeit gekommen, Mathilde, “ſagte mein Gaſtfreund, „ keine einzige der Roſen iſt noch aufgebrochen; aber alle ſind bereit dazu. “
Wir hatten uns während dieſer Rede der Thür genähert, und mein Gaſtfreund hatte mich gebethen, bei der Geſellſchaft zu bleiben.
Wir gingen bei dem grünen Gitter hinaus, und gingen auf den Sandplaz vor dem Hauſe. Die Leute mußten von dieſem Vorgange ſchon unterrichtet ſein; denn ihrer zwei brachten einen geräumigen Lehnſeſſel, und ſtellten ihn in einer gewiſſen Entfernung mit ſei¬ ner Vorderſeite gegen die Roſen.
Die Frau ſezte ſich in den Seſſel, legte die Hände in den Schoß, und betrachtete die Roſen.
Wir ſtanden um ſie. Natalie ſtand zu ihrer Lin¬ ken, neben dieſer Guſtav, mein Gaſtfreund ſtand hinter dem Stuhle, und ich ſtellte mich, um nicht zu382 nahe an Natalie zu ſein, an die rechte Seite und et¬ was weiter zurück.
Nachdem die Frau eine ziemliche Zeit geſeſſen war, ſtand ſie ſchweigend auf, und wir verließen den Plaz.
Wir gingen nun in das Schreinerhaus. Euſtach war nicht bei der allgemeinen Bewillkommnung im Speiſezimmer geweſen. Er mußte wohl als Künſtler betrachtet werden, dem man einen Beſuch zudenke. Ich erkannte aus dem ganzen Benehmen, daß das Verhältniß in der That ſo ſei, und als das richtigſte empfunden werde. Euſtach mußte das gewußt haben; denn er ſtand mit ſeinen Leuten ohne die grünen Schürzen vor der Thür, um die Angekommenen zu begrüßen. Die Frau dankte freundlich für den Gruß aller, redete Euſtach herzlich an, fragte ihn um ſein und ſeiner Leute Wohlbefinden, um ihre Arbeiten und Beſtrebungen, und ſprach von vergangenen Leiſtun¬ gen, was ich, da mir dieſe fremd waren, nicht ganz verſtand. Hierauf gingen wir in die Werkſtätte, wo die Frau jede der einzelnen Arbeiterſtellen beſah. In dem Zimmer Euſtachs ſprach ſie die Bitte aus, daß er ihr bei ihrem längeren Aufenthalte manches Ein¬ zelne zeigen, und näher erklären möge.
383Von dem Schreinerhauſe gingen wir in die Gärt¬ nerwohnung, wo die Frau ein Weilchen mit den alten Gärtnerleuten ſprach.
Hierauf begaben wir uns in das Gewächshaus, zu den Ananas, zu den Cacteen und in den Garten.
Die Frau ſchien alle Stellen genau zu kennen; ſie blickte mit Neugierde auf die Pläze, auf denen ſie gewiſſe Blumen zu finden hoffte, ſie ſuchte bekannte Vorrichtungen auf, und blickte ſogar in Büſche, in denen etwa noch das Neſt eines Vogels zu erwarten war. Wo ſich etwas ſeit früher verändert hatte, be¬ merkte ſie es, und fragte um die Urſache. So waren wir durch den ganzen Garten bis zu dem großen Kirſchbaume und zu der Felderraſt gekommen. Dort ſprach ſie noch etwas mit meinem Gaſtfreunde über die Ernte und über die Verhältniſſe der Nachbarn.
Natalie ſprach äußerſt wenig.
Als wir in das Haus zurück gekommen waren, begaben wir uns, da das Mittagsmahl nahe war, auf unſere Zimmer. Mein Gaſtfreund ſagte mir noch vorher, ich möge mich zum Mittageſſen nicht umklei¬ den; es ſei dieſes in ſeinem Hauſe ſelbſt bei Beſu¬ chen von Fremden nicht Sitte, und ich würde nur auffallen.
384Ich dankte ihm für die Erinnerung.
Als ich, da die Hausglocke zwölf Uhr geſchlagen hatte, in das Speiſezimmer hinunter gegangen war, fand ich in der That die Geſellſchaft nicht umgeklei¬ det. Mein Gaſtfreund war in den Kleidern, wie er ſie alle Tage hatte, und die Frauen trugen die nehm¬ lichen Gewänder, in denen ſie den Spaziergang ge¬ macht hatten. Guſtav und ich waren wie gewöhnlich.
Am oberen Ende des Tiſches ſtand ein etwas grö¬ ßerer Stuhl, und vor ihm auf dem Tiſche ein Stoß von Tellern. Mein Gaſtfreund führte, da ein ſtum¬ mes Gebeth verrichtet worden war, die Frau zu die¬ ſem Stuhle, den ſie ſofort einnahm. Links von ihr ſaß mein Gaſtfreund, rechts ich, neben meinem Gaſt¬ freunde Natalie, und neben ihr Guſtav. Mir fiel es auf, daß er die Frau als erſten Gaſt zu dem Plaze mit den Tellern geführt hatte, den in meiner Eltern Hauſe meine Mutter einnahm, und von dem aus ſie vorlegte. Es mußte aber hier ſo eingeführt ſein; denn wirklich begann die Frau ſofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu füllen, die ein junges Auf¬ wartemädchen an die Pläze trug.
Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das immer bisher gefehlt hätte. 385Es war nun etwas wie eine Familie in dieſes Haus gekommen, welcher Umſtand mir die Wohnung mei¬ ner Eltern immer ſo lieb und angenehm gemacht hatte.
Das Eſſen war ſo einfach, wie es in allen Tagen geweſen war, die ich in dem Roſenhauſe zugebracht hatte.
Die Geſpräche waren klar und ernſt, und mein Gaſtfreund führte ſie mit einer offenen Heiterkeit und Ruhe.
Nach dem Eſſen kam ein großer Korb, welchen Arabella, das Dienſtmädchen Mathildens, welches mit den Frauen gekommen war, welches ich aber nicht mehr hatte ausſteigen geſehen, herein gebracht hatte. Außer dem Korbe wurde auch ein Pack in grauem Papiere und mit ſchönen Schnüren zugeſchnürt ge¬ bracht, und auf zwei Seſſel gelegt, die an der Wand ſtanden. In dem Korbe befanden ſich die Geſchenke, welche Mathilde den Leuten mitgebracht hatte, und welche jezt ausgepackt waren. Ich ſah, daß dieſe Ge¬ ſchenkaustheilung gebräuchlich war, und öfter vor¬ kommen mußte. Das Geſinde kam herein, und jede der Perſonen erhielt etwas Geeignetes, ſei es ein ſchwarzes ſeidnes Tuch für ein Mädchen oder eine Schürze oder ein Stoff auf ein Kleid, oder ſei es fürStifter, Nachſommer. I. 25386einen Mann eine Reihe Silberknöpfe auf eine Weſte oder eine glänzende Schnalle auf das Hutband oder eine zierliche Geldtaſche. Der Gärtner empfing etwas, das in ſehr feine Metallblätter gewickelt war. Ich vermuthete, daß es eine beſondere Art von Schnupf¬ tabak ſein müſſe.
Als ſchon alles ausgetheilt war, als ſich ſchon alle auf das Beſte bedankt und aus dem Zimmer ent¬ fernt hatten, wies Mathilde auf den Pack, der noch immer auf den Seſſeln lag, und ſagte: „ Guſtav, komme her zu mir. “
Der Jüngling ſtand auf, und ging um den Tiſch herum zu ihr. Sie nahm ihn freundlich bei der Hand, und ſagte: „ Was noch da liegt, gehört dir. Du haſt mich ſchon lange darum gebethen, und ich habe es dir lange verſagen müſſen, weil es noch nicht für dich war. Es ſind Göthes Werke. Sie ſind dein Eigen¬ thum. Vieles iſt für das reifere Alter, ja für das reifſte. Du kannſt die Wahl nicht treffen, nach wel¬ cher du dieſe Bücher zur Hand nehmen, oder auf ſpä¬ tere Tage aufſparen ſollſt. Dein Ziehvater wird zu den vielen Wohlthaten, die er dir erwies, auch noch die fügen, daß er für dich wählt, und du wirſt ihm387 in dieſen Dingen eben ſo folgen, wie du ihm bisher gefolgt haſt. “
„ Gewiß, liebe Mutter, werde ich es thun, gewiß, “ſagte Guſtav.
„ Die Bücher ſind nicht neue und ſchön eingebun¬ dene, wie du vielleicht erwarteſt, “fuhr ſie fort. „ Es ſind dieſelben Bücher Göthes, in welchen ich in ſo mancher Nachtſtunde und in ſo mancher Tagesſtunde mit Freude und mit Schmerzen geleſen habe, und die mir oft Troſt und Ruhe zuzuführen geeignet wa¬ ren. Es ſind meine Bücher Göthes, die ich dir gebe. Ich dachte, ſie könnten dir lieber ſein, wenn du außer dem Inhalte die Hand deiner Mutter daran fändeſt, als etwa nur die des Buchbinders und Druckers. “
„ O lieber, viel lieber, theure Mutter, ſind ſie mir, “antwortete Guſtav, „ ich kenne ja die Bücher, die mit dem feinen braunen Leder gebunden ſind, die feine Goldverzierung auf dem Rücken haben, und in der Goldverzierung die niedlichen Buchſtaben tragen, die Bücher, in denen ich dich ſo oft habe leſen ge¬ ſehen, weßhalb es auch kam, daß ich dich ſchon wie¬ derholt um ſolche Bücher gebethen habe. “
„ Ich dachte es, daß ſie dir lieber ſind, “ſagte die Frau, „ und darum habe ich ſie dir gegeben. Da ich25 *388aber auch wohl noch gerne für den Überreſt meines Le¬ bens ein Wort von dieſem merkwürdigen Manne ver¬ nehmen möchte, werde ich mir die Bücher neu kaufen, für mich haben die neuen die Bedeutung wie die al¬ ten. Du aber nimm die deinigen in Empfang und bringe ſie an den Ort, der dir dafür eingeräumt iſt. “
Guſtav küßte ihr die Hand, und legte ſeinen Arm wie in unbeholfener Zärtlichkeit auf die Schulter ihres Gewandes. Er ſprach aber kein Wort, ſondern ging zu den Büchern, und begann, ihre Schnur zu löſen.
Als ihm dies gelungen war, als er die Bücher aus den Umſchlagpapieren gelöst, und in mehreren geblättert hatte, kam er plözlich mit einem in der Hand zu uns, und ſagte: „ Aber ſiehſt du Mutter, da ſind manche Zeilen mit einem feinen Bleiſtifte unter¬ ſtrichen, und mit demſelben feingeſpizten Stifte ſind Worte an den Rand geſchrieben, die von deiner Hand ſind. Dieſe Dinge ſind dein Eigenthum, ſie ſind in den neugekauften Büchern nicht enthalten, und ich darf dir dein Eigenthum nicht entziehen. “
„ Ich gebe es dir aber, “antwortete ſie, „ ich gebe es dir am liebſten, der du jezt ſchon von mir entfernt biſt, und in Zukunft wahrſcheinlich noch viel weiter von mir entfernt leben wirſt. Wenn du in den Bü¬389 chern lieſeſt, ſo lieſeſt du das Herz des Dichters und das Herz deiner Mutter, welches, wenn es auch an Werthe tief unter dem des Dichters ſteht, für dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein Mutterherz iſt. Wenn ich an Stellen leſen werde, die ich unterſtrichen habe, werde ich denken, hier erinnert er ſich an ſeine Mutter, und wenn meine Augen über Blätter gehen werden, auf welche ich Randbemer¬ kungen niedergeſchrieben habe, wird mir dein Auge vorſchweben, welches hier von dem Gedruckten zu dem Geſchriebenen ſehen, und die Schriftzüge von Einer vor ſich haben wird, die deine beſte Freundin auf der Erde iſt. So werden die Bücher immer ein Band zwiſchen uns ſein, wo wir uns auch befinden. Deine Schweſter Natalie iſt bei mir, ſie hört öfter als du meine Worte, und ich höre auch oft ihre liebe Stimme, und ſehe ihr freundliches Angeſicht. “
„ Nein, nein Mutter, “ſagte Guſtav, „ ich kann die Bücher nicht nehmen, ich beraube dich und Natalie. “
„ Natalie wird ſchon etwas anderes bekommen, “antwortete die Mutter. „ Daß du mich nicht beraubſt, habe ich dir ſchon erklärt, und es war ſeit längerer Zeit mein wohldurchdachter Wille, daß ich dir dieſe Bücher geben werde. “ 390Guſtav machte keine Einwendungen mehr. Er nahm ihre Rechte in ſeine beiden Hände, drückte ſie, küßte ſie, und ging dann wieder zu den Büchern.
Als er alle ausgepackt hatte, holte er einen Die¬ ner, und ließ ſie durch ihn in ſeine Wohnung tragen.
Nach dem Eſſen war es im Plane, daß wir uns zerſtreuen ſollten, und jeder ſich nach ſeinem Sinne beſchäftige.
Ich hatte es während des Vorganges mit den Büchern nicht vermocht, auf das Angeſicht Nataliens zu ſchauen, was etwa in ihr vorgehen möge, und was ſich in den Zügen ſpiegle. Ich mußte mir nur denken, ſie werde von dem höchſten Beifalle über die Handlung ihrer Mutter durchdrungen ſein. Als wir uns aber von dem Tiſche erhoben, als wir das ſtumme Gebeth geſprochen, und uns wechſelweiſe verneigt hatten, wobei ich meine Augen immer nur auf meinen alten Gaſtfreund und auf die Frau ge¬ richtet hatte, und als wir uns jezt anſchickten, das Zimmer zu verlaſſen, und Natalie den Arm Guſtavs nahm, und beide Geſchwiſter ſich umkehrten, um der Thür zuzugehen, wagte ich es, den Blick zu dem Spiegel zu erheben, in dem ich ſie ſehen mußte. Ich391 ſah aber faſt nichts mehr als die vier ganz gleichen ſchwarzen Augen ſich in dem Spiegel umwenden.
Wir traten alle in das Freie.
Mein Gaſtfreund und die Frau begaben ſich in eine Wirthſchaftſtube.
Natalie und Guſtav gingen in den Garten, er zeigte ihr Verſchiedenes, das ihm etwa an dem Her¬ zen lag, oder worüber er ſich freute, und ſie nahm gewiß den Antheil, den die Schweſter an den Beſtre¬ bungen des Bruders hat, den ſie liebt, auch wenn ſie die Beſtrebungen nicht ganz verſtehen ſollte, und ſie, wenn es auf ſie allein ankäme, nicht zu den ihrigen machen würde. So thut es ja auch Klotilde mit mir in meiner Eltern Hauſe.
Ich ſtand an dem Eingange des Hauſes, und ſah den beiden Geſchwiſtern nach, ſo lange ich ſie ſehen konnte. Einmal erblickte ich ſie, wie ſie vorſichtig in ein Gebüſch ſchauten. Ich dachte mir, er werde ihr ein Vogelneſt gezeigt haben, und ſie ſehe mit Theil¬ nahme auf die winzige befiederte Familie. Ein an¬ deres Mal ſtanden ſie bei Blumen, und ſchauten ſie an. Endlich ſah ich nichts mehr. Das lichte Ge¬ wand der Schweſter war unter den Bäumen und Geſträuchen verſchwunden, manche ſchimmernde Stel¬392 len wurden zuweilen noch ſichtbar, und dann nichts mehr. Ich ging hierauf in meine Zimmer.
Mir war, als müſſe ich dieſes Mädchen ſchon irgendwo geſehen haben; aber da ich mich bisher viel mehr mit lebloſen Gegenſtänden oder mit Pflanzen be¬ ſchäftigt hatte als mit Menſchen, ſo hatte ich keine Geſchicklichkeit, Menſchen zu beurtheilen, ich konnte mir die Geſichtszüge derſelben nicht zurecht legen, ſie mir nicht einprägen, und ſie nicht vergleichen; daher konnte ich auch nicht ergründen, wo ich Natalie ſchon einmal geſehen haben könnte.
Ich blieb den ganzen Nachmittag in meiner Woh¬ nung.
Als die Hize des Tages, welcher ganz heiter war, ſich ein wenig gemildert hatte, wurde ich aufgefor¬ dert, einen Spaziergang mit zu machen. An demſel¬ ben nahmen mein Gaſtfreund Mathilde Natalie Gu¬ ſtav und ich Theil. Wir gingen durch eine Strecke des Gartens. Mein Gaſtfreund Mathilde und ich bildeten eine Gruppe, da ſie mich in ihr Geſpräch gezogen hatten, und wir gingen, wo es die Breite des Sandweges zuließ, nebeneinander. Die andere Gruppe bildeten Natalie und Guſtav, und ſie gingen eine ziemliche Anzahl Schritte vor uns. Unſer Ge¬393 ſpräch betraf den Garten und ſeine verſchiedenen Be¬ ſtandtheile, die ſich zu einem angenehmen Aufenthalte wohlthuend ablöſten, es betraf das Haus und manche Verzierungen darin, es erweiterte ſich auf die Fluren, auf denen wieder der Segen ſtand, der den Menſchen abermals um ein Jahr weiter helfen ſollte, und es ging auf das Land über, auf manche gute Verhält¬ niſſe desſelben und auf anderes, was der Verbeſſerung bedürfte. Ich ſah den zwei hohen Geſtalten nach, die vor uns gingen. Guſtav iſt mir heute plözlich als völ¬ lig erwachſen erſchienen. Ich ſah ihn neben der Schwe¬ ſter gehen, und ſah, daß er größer ſei als ſie. Dieſer Gedanke drängte ſich mir mehrere Male auf. War er aber auch größer, ſo war ihre Geſtalt feiner und ihre Haltung anmuthiger. Guſtav hatte wie ſein Ziehva¬ ter nichts auf dem Haupte als die Fülle ſeiner dichten braunen Locken, und als Natalie den ſanft ſchattenden Strohhut, den ſie wie ihre Mutter auf hatte, abge¬ nommen, und an den Arm gehängt hatte, ſo zeigten ihre Locken genau die Farbe wie die Guſtavs, und wenn die Geſchwiſter, die ſich ſehr zu lieben ſchienen, ſehr nahe an einander gingen, ſo war es von ferne, als ſähe man eine einzige braune glänzende Haar¬ fülle, und als theilen ſich nur unten die Geſtalten.
394Wir gingen bei der Pforte hinaus, die gegen den Meierhof führt, gingen aber nicht in den Meierhof, ſondern machten einen großen Bogen durch die Fel¬ der, und kamen dann ſchief über den ſüdlichen Ab¬ hang des Hügels wieder zu dem Hauſe hinauf.
Da die Täge ſehr lang waren, ſo leuchtete noch die Abendröthe, wenn wir von unſerem Abendeſſen, das pünktlich immer zur gleichen Zeit ſein mußte, aufſtanden. Wir gingen daher heute auch noch nach dem Abendeſſen in den Garten. Wir gingen zu dem großen Kirſchbaume empor. Dort ſezten wir uns auf das Bänklein. Mein Gaſtfreund und Mathilde ſaßen in der Mitte, ſo daß ihre Angeſichter gegen den Gar¬ ten hinab gerichtet waren. Links von meinem Gaſt¬ freunde ſaß ich, rechts von der Mutter ſaß Natalie und Guſtav. Die Lüfte dunkelten immer mehr, ein blaſſer Schein war über die Wipfel des Gartens, der jezt ſchwieg, und über das Dach des Hauſes gebrei¬ tet. Das Geſpräch war heiter und ruhig, und die Kinder wendeten oft ihr Angeſicht herüber, um an dem Geſpräche Antheil zu nehmen, und gelegentlich ſelber ein Wort zu reden.
Da ſich der eine und der andere Stern an dem Himmel entzündete, und in den Tiefen der Garten¬395 geſträuche ſchon die völlige Dunkelheit herrſchte, gin¬ gen wir in das Haus und in unſere Zimmer.
Ich war ſehr traurig. Ich legte meinen Strohhut auf den Tiſch, legte meinen Rock ab, und ſah bei einem der offenen Fenſter hinaus. Es war heute nicht wie damals, da ich zum erſten Male in dieſem Hauſe über dem Roſengitter aus dem offenen Fenſter in die Nacht hinausgeſchaut hatte. Es ſtanden nicht die Wolken am Himmel, die ihn nach Richtungen durch¬ zogen, und ihm Geſtaltung gaben, ſondern es brannte bereits über dem ganzen Gewölbe der einfache und ruhige Sternenhimmel. Es ging kein Duft der Roſen zu meiner Nachtherberge herauf, da ſie noch in den Knoſpen waren, ſondern es zog die einſame Luft kaum fühlbar durch die Fenſter herein, ich war nicht von dem Verlangen belebt wie damals, das Weſen und die Art meines Gaſtfreundes zu erforſchen, dies lag entweder aufgelöſt vor mir, oder war nicht zu lö¬ ſen. Das Einzige war, daß wieder Getreide außer¬ halb des Sandplazes vor den Roſen ruhig und unbe¬ wegt ſtand; aber es war eine andere Gattung, und es war nicht zu erwarten, daß es in der Nacht im Winde ſich bewegen, und am Morgen, wenn ich die396 geklärten Augen über die Gegend wendete, vor mir wogen würde.
Als die Nacht ſchon ſehr weit vorgerückt war, ging ich von dem Fenſter, und obwohl ich jeden Abend gewohnt war, ehe ich mich zur Ruhe begab, zu meinem Schöpfer zu bethen, ſo kniete ich doch jezt vor dem einfachen Tiſchlein hin, und that ein heißes inbrünſtiges Gebeth zu Gott, dem ich alles und jedes beſonders mein Sein und mein Schickſal und das Schickſal der Meinigen anheim ſtellte.
Dann entkleidete ich mich, ſchloß die Schlöſſer meiner Zimmer ab, und begab mich zur Ruhe.
Als ich ſchon zum Entſchlummern war, kam mir der Gedanke, ich wolle nach Mathilden und ihren Verhältniſſen eben ſo wenig eine Frage thun, als ich ſie nach meinem Gaſtfreunde gethan habe.
Ich erwachte ſehr zeitig; aber nach der Natur je¬ ner Jahreszeit war es ſchon ganz licht, ein blauer wolkenloſer Himmel wölbte ſich über die Hügel, das Getreide unter meinen Füßen wogte wirklich nicht, ſondern es ſtand unbewegt mit ſtarkem Thaue wie mit feurigen Funken angethan in der aufgehenden Sonne da.
397Ich kleidete mich an, richtete meine Gedanken zu Gott, und ſezte mich zu meiner Arbeit.
Nach geraumer Zeit hörte ich durch meine Fen¬ ſter, welche ich bei weiter fortſchreitendem Morgen geöffnet hatte, daß auch am äußerſten Ende des Hau¬ ſes gegen Oſten Fenſter erklangen, welche geöffnet wurden. In jener Gegend wohnten die Frauen in den ſchönen nach weiblicher Art eingerichteten Gemächern. Ich ging zu meinem Fenſter, ſchaute hinaus, und ſah wirklich, daß alle Fenſterflügel an jenem Theile des Hauſes offen ſtanden. Nach einer Zeit, da es bereits zur Stunde des Frühmales ging, hörte ich weibliche Schritte an meiner Thür vorüber der Marmortreppe zugehen, welche mit einem weichen Teppiche belegt war. Ich hatte auch, obwohl ſie gedämpft war, wahrſcheinlich, um mich nicht zu ſtören, Guſtavs Stimme erkannt.
Ich ging nach einer kleinen Weile auch über die Marmortreppe an dem Marmorbilde der Muſe vor¬ über in das Speiſezimmer hinunter.
Der Tag verging ungefähr wie der vorige, und ſo verfloſſen nach und nach mehrere.
Die Ordnung des Hauſes war durch die Ankunft der Frauen faſt gar nicht geſtört worden, nur daß ſolche398 Vorrichtungen vorgenommen werden mußten, welche die Aufmerkſamkeit für die Frauen verlangte. Die Unterrichts - und Lernſtunden Guſtavs wurden ein¬ gehalten wie früher, und ebenſo ging die Beſchäf¬ tigung meines Gaſtfreundes ihren Gang. Mathilde betheiligte ſich nach Frauenart an dem Hausweſen. Sie ſah auf das, was ihren Sohn betraf, und auf alles, was das häusliche Wohl des alten Mannes anging. Sie wurde gar nicht ſelten in der Küche ge¬ ſehen, wie ſie mitten unter den Mägden ſtand, und an den Arbeiten Theil nahm, die da vorfielen. Sie begab ſich auch gerne in die Speiſekammer in den Keller oder an andere Orte, die wichtig waren. Sie ſorgte für die Dinge, welche den Dienſtleuten gehör¬ ten, in ſo ferne ſie ſich auf ihre Nahrung bezogen oder auf ihre Wohnung oder auf ihre Kleider und Schlafſtellen. Sie legte das Linnen die Kleider und anderes Eigenthum des alten Herrn und ihres Soh¬ nes zurecht, und bewirkte, daß, wo Verbeſſerungen nothwendig waren, dieſelben eintreten könnten. Unter dieſen Dingen ging ſie manches Mal des Tages auf den Sandplaz vor dem Hauſe, und betrachtete gleich¬ ſam wehmüthig die Roſen, die an der Wand des Hauſes empor wuchſen. Natalie brachte viele Zeit mit399 Guſtav zu. Die Geſchwiſter mußten ſich außerordent¬ lich lieben. Er zeigte ihr alle ſeine Bücher, nament¬ lich, die neu zu den alten hinzu gekommen waren, er erklärte ihr, was er jezt lerne, und ſuchte ſie in das¬ ſelbe einzuweihen, wenn ſie es auch ſchon wußte, und früher die nehmlichen Wege gegangen war. Wenn es die Umſtände mit ſich brachten, ſchweiften ſie in dem Garten herum, und freuten ſich all des Lebens, was in demſelben war, und freuten ſich des gegen¬ ſeitigen Lebens, das ſich an einander ſchmiegte, und deſſen ſie ſich kaum als eines geſonderten bewußt wur¬ den. Die Zeit, welche alle frei hatten, brachten wir häufig gemeinſchaftlich mit einander zu. Wir gingen in den Garten, oder ſaſſen unter einem ſchattigen Baume, oder machten einen Spaziergang, oder wa¬ ren in dem Meierhofe. Ich vermochte nicht, in die Geſpräche ſo einzugehen, wie ich es mit meinem Gaſt¬ freunde allein that, und wenn auch Mathilde recht freundlich mit mir ſprach, ſo wurde ich faſt immer noch ſtummer.
Die Roſen fingen an, ſich ſtets mehr zu ent¬ wickeln, ſehr viele waren bereits aufgeblüht und ſtündlich öffneten andere den ſanften Kelch. Wir gin¬ gen ſehr oft hinaus, und betrachteten die Zierde, und400 es mußte manchmal eine Leiter herbei, um irgend et¬ was Störendes oder Unvollkommenes zu entfernen.
Die Mittage waren lieb und angenehm. Auch das, daß Mathilde und Natalie ſo fein und paſſend wenn auch einfach angezogen waren, wie ich es von meiner Mutter und Schweſter gewohnt war, gab dem Mahle einen gewiſſen Glanz, den ich früher vermißt hatte. Die Vorhänge waren gegen die unmittelbare Sonne jederzeit zu, und es war eine gebrochene und ſanfte Helle in dem Zimmer.
Die Abende nach dem Abendeſſen brachten wir immer im Freien zu, da noch lauter ſchöne Täge ge¬ weſen waren. Meiſtens ſaßen wir bei dem großen Kirſchbaume oben, welches bei weitem der ſchönſte Plaz zu einem Abendſize war, obgleich er auch zu jeder andern Zeit, wenn die Hize nicht zu groß war, mit der größten Annehmlichkeit erfüllte. Mein Gaſtfreund führte die Geſpräche klar und warm, und Mathilde konnte ihm entſprechend antworten. Sie wurden mit einer Milde und Einſicht geführt, daß ſie immer an ſich zogen, daß ich gerne meine Aufmerk¬ ſamkeit hin richtete, und, wenn ſie auch Gewöhnliches betrafen, etwas Neues und Eindringendes zu hören glaubte. Der alte Mann führte dann die Frau im401 Sternenſcheine oder bei dem ſchwachen Lichte der ſchmalen Mondesſichel, die jezt immer deutlicher in dem Abendrothe ſchwamm, über den Hügel in das Haus hinab, und die ſchlanken Geſtalten der Kinder gingen an den dunkeln Büſchen dahin.
Das alles war ſo einfach klar und natürlich, daß es mir immer war, die zwei Leute ſeien Eheleute und Beſizer dieſes Anweſens, Guſtav und Natalie ſeien ihre Kinder, und ich ſei ein Freund, der ſie hier in dieſem abgeſchiedenen Winkel der Welt beſucht habe, wo ſie den ſtilleren Reſt ihres Daſeins in Unſchein¬ barkeit und Ruhe hinbringen wollten.
Eines Tages wurde eine feierliche Mahlzeit in dem Speiſezimmer gehalten. Es war Euſtach dann der Hausaufſeher der alte Gärtner mit ſeiner Frau der Verwalter des Meierhofes und die Haushälterin Katharina geladen worden. Statt Katharinen mußte ein anderes die Herrſchaft in der Küche führen. Es mußte, wie ich aus allem entnahm, jedes Mal bei der Anweſenheit Mathildens die Sitte ſein, ein ſolches Gaſtmahl abzuhalten; die Leute fanden ſich auf eine natürliche Art in die Sache, und die Ge¬ ſpräche gingen mit einer Gemäßheit vor ſich, welche auf Übung deutete. Mathilde konnte ſie veranlaſſen,Stifter, Nachſommer. I. 26402etwas zu ſagen, was paßte, und was daher dem Sprechenden ein Selbſtgefühl gab, das ihm den Aufenthalt in der Umgebung angenehm machte. Eu¬ ſtach allein erhielt die Auszeichnung, daß man das bei ihm nicht für nöthig erachtete, er ſprach daher auch weniger und nur in allgemeinen Ausdrücken über allgemeine Dinge. Er empfand, daß er der höheren Geſellſchaft zugezählt werde, wie ich es auch, da ich ihn näher kennen gelernt hatte, ganz natürlich fand, während die anderen nicht merkten, daß man ſie em¬ por hebe. Der Gärtner und ſeine Frau waren in ihrem weißen reinlichen Anzuge ein ſehr liebes greiſes Paar, welches auch die anderen mit einer gewiſſen Auszeichnung behandelten. An Speiſen war eine et¬ was reichlichere Auswahl als gewöhnlich, die Män¬ ner bekamen einen guten Gebirgswein zum Getränke, für die Frauen wurde ein ſüßer neben die Backwerke geſtellt.
Da die Roſen immer mehr der Entfaltung entgegen gingen, wurden einmal Seſſel und Stühle in einem Halbkreiſe auf dem Sandplaze vor dem Hauſe auf¬ geſtellt, ſo daß die Öffnung des Kreiſes gegen das Haus ſah, und ein langer Tiſch wurde in die Mitte geſtellt. Wir ſezten uns auf die Seſſel, der Gärt¬403 ner Simon war gerufen worden, Euſtach kam, und von den Leuten und Gartenarbeitern konnte kommen, wer da wollte. Sie machten auch Gebrauch davon. Die Roſen wurden einer ſehr genauen Beurtheilung unterzogen. Man fragte ſich, welche die ſchönſten ſeien, oder welche dem Einen oder dem Anderen mehr gefielen. Die Ausſprüche erfolgten verſchieden, und jedes ſuchte ſeine Meinung zu begründen. Es lagen Druckwerke und Abbildungen auf dem Tiſche, zu de¬ nen man dann ſeine Zuflucht nahm, ohne eben jedes Mal ihrem Ausſpruche beizupflichten. Man that die Frage, ob man nicht Bäumchen verſezen ſolle, um eine ſchönere Miſchung der Farben zu erzielen. Der allgemeine Ausſpruch ging dahin, daß man es nicht thun ſolle, es thäte den Bäumchen wehe, und wenn ſie groß wären, könnten ſie ſogar eingehen; eine zu ängſtliche Zuſammenſtellung der Farben verrathe die Abſicht und ſtöre die Wirkung; eine reizende Zufäl¬ ligkeit ſei doch das Angenehmſte. Es wurde alſo be¬ ſchloſſen, die Bäume ſtehen zu laſſen, wie ſie ſtanden. Man ſprach ſich nun über die Eigenſchaften der ver¬ ſchiedenen Bäumchen aus, man beurtheilte ihre Treff¬ lichkeit an ſich, ohne auf die Blumen Rückſicht zu nehmen, und oft wurde der Gärtner um Auskunft26 *404angerufen. Über die Geſundheit der Pflanzen und ihre Pflege konnte kein Tadel ausgeſprochen werden, ſie waren heuer ſo vortrefflich, wie ſie alle Jahre vor¬ trefflich geweſen waren. Auf den Tiſch wurden nun Erfriſchungen geſtellt, und alle jene Vorrichtungen ausgebreitet, die zu einem Vesperbrote nothwendig ſind. Aus den Reden Mathildens ſah ich, daß ſie mit allen hier befindlichen Roſenpflanzen ſehr ver¬ traut ſei, und daß ſie ſelbſt kleine Veränderungen be¬ merkte, welche ſeit einem Jahre vorgegangen ſind. Sie mußte wohl Lieblinge unter den Blumen haben, aber man erkannte, daß ſie allen ihre Neigung in einem hohen Maße zugewendet habe. Ich ſchloß aus dieſem Vorgange wieder, welche Wichtigkeit dieſe Blumen für dieſes Haus haben.
Gegen Abend desſelben Tages kam ein Beſuch in das Roſenhaus. Es war ein Mann, welcher in der Nähe eine bedeutende Beſizung hatte, die er ſel¬ ber bewirthſchaftete, obwohl er ſich im Winter eine geraume Zeit in der Stadt aufhielt. Er war von ſeiner Gattin und zwei Töchtern begleitet. Sie wa¬ ren auf der Rückfahrt von einem Beſuche begriffen, den ſie in einem entfernteren Theile der Gegend ge¬ macht hatten, und waren, wie ſie ſagten, zu dem Hauſe405 herauf gefahren, um zu ſehen, ob die Roſen ſchon blühten, und um die gewöhnliche Pracht zu bewun¬ dern. Sie hatten im Sinne, am Abende wieder fort zu fahren, allein da die Zeit ſchon ſo weit vorgerückt war, drang mein Gaſtfreund in ſie, die Nacht in ſei¬ nem Hauſe zuzubringen, in welches Begehren ſie auch einwilligten. Die Pferde und der Wagen wurden in den Meierhof gebracht, den Reiſenden wurden Zim¬ mer angewieſen.
Sie gingen aus denſelben aber wieder ſehr bald hervor, man begab ſich auf den Sandplaz vor dem Hauſe, und die Roſenſchau wurde aufs Neue vorge¬ nommen. Es waren zum Theile noch die Stühle vor¬ handen, die man heute herausgetragen hatte, obwohl der Tiſch ſchon weggeräumt war. Die Mutter ſezte ſich auf einen derſelben, und nöthigte Mathilden, ne¬ ben ihr Plaz zu nehmen. Die Mädchen gingen neben den Roſen hin, und man redete viel von den Blumen und bewunderte ſie.
Vor dem Abendeſſen wurde noch ein Gang durch den Garten und einen Theil der Felder gemacht, dann begab ſich alles auf ſeine Zimmer.
Da die Stunde zu dem Abendmahle geſchlagen hatte, verſammelte man ſich wieder in dem Speiſe¬406 ſaale. Der Fremde und ſeine Begleiterinnen hatten ſich umgekleidet, der Mann erſchien ſogar im ſchwar¬ zen Fracke, die Frauen hatten einen Anzug, wie man ihn in der Stadt bei nicht feſtlichen aber freund¬ ſchaftlichen Beſuchen hat. Wir waren in unſeren ge¬ wöhnlichen Kleidern. Aber gerade durch den Anzug der Fremden, an dem ſachgemäß nichts zu tadeln war, was ich recht gut beurtheilen konnte, weil ich ſolche Gewänder an meiner Mutter und Schweſter oft ſah, und auch oft Urtheile darüber hörte, wurden unſere Kleider nicht in den Schatten geſtellt, ſondern ſie thaten eher denen der Fremden wenigſtens in mei¬ nen Augen Abbruch. Der gepuzte Anzug erſchien mir auffallend und unnatürlich, während der andere ein¬ fach und zweckmäßig war. Es gewann den Anſchein, als ob Mathilde Natalie mein alter Gaſtfreund und ſelbſt Guſtav bedeutende Menſchen wären, indeß jene einige aus der großen Menge darſtellten, wie ſie ſich überall befinden.
Ich betrachtete während der Zeit des Eſſens und nachher, da wir uns noch eine Weile in dem Speiſe¬ zimmer aufhielten, ſogar auch die Schönheit der Mädchen. Die ältere von den beiden Töchtern der Fremden — wenigſtens mir erſchien ſie als die ältere407 — hieß Julie. Sie hatte braune Haare wie Natalie. Dieſelben waren reich und waren ſchön um die Stirne geordnet. Die Augen waren braun groß und blickten mild. Die Wangen waren fein und ebenmäßig, und der Mund war äußerſt ſanft und wohlwollend. Ihre Geſtalt hatte ſich neben den Roſen und auf dem Spa¬ ziergange als ſchlank und edel, und ihre Bewegungen hatten ſich als natürliche und würdevolle gezeigt. Es lag ein großer hinziehender Reiz in ihrem Weſen. Die jüngere, welche Appolonia hieß, hatte gleichfalls braune aber lichtere Haare als die Schweſter. Sie waren eben ſo reich und wo möglich noch ſchöner ge¬ ordnet. Die Stirne trat klar und deutlich von ihnen ab, und unter derſelben blickten zwei blaue Augen nicht ſo groß wie die braunen der Schweſter aber noch einfacher gütevoller und treuer hervor. Dieſe Augen ſchienen von dem Vater zu kommen, der ſie auch blau hatte, während die der Mutter braun waren. Die Wangen und der Mund erſchienen noch feiner als bei der Schweſter und die Geſtalt faſt unmerkbar kleiner. War ihr Benehmen minder anmuthig als das der Schweſter, ſo war es treuherziger und lieblicher. Meine Freunde in der Stadt würden geſagt haben, es ſeien zwei hinreißende Weſen, und ſie waren es408 auch. Natalie — ich weiß nicht, war ihre Schönheit unendlich größer, oder war es ein anderes Weſen in ihr, welches wirkte — ich hatte aber dieſes Weſen noch in einem geringen Maße zu ergründen ver¬ mocht, da ſie ſehr wenig zu mir geſprochen hatte, ich hatte ihren Gang und ihre Bewegungen nicht beur¬ theilen können, da ich mir nicht den Muth nahm, ſie zu beobachten, wie man eine Zeichnung beobachtet — aber ſie war neben dieſen zwei Mädchen weit höher, wahr klar und ſchön, daß jeder Vergleich aufhörte. Wenn es wahr iſt, daß Mädchen bezaubernd wirken können, ſo konnten die zwei Schweſtern bezaubern; aber um Natalie war etwas wie ein tiefes Glück ver¬ breitet.
Mathilde und mein Gaſtfreund ſchienen dieſe Fa¬ milie ſehr zu lieben und zu achten, das zeigte das Be¬ nehmen gegen ſie.
Die Mutter der zwei Mädchen ſchien ungefähr vierzig Jahre alt zu ſein. Sie hatte noch alle Friſche und Geſundheit einer ſchönen Frau, deren Geſtalt nur etwas zu voll war, als daß ſie zu einem Gegen¬ ſtande der Zeichnung hätte dienen können, wie man wenigſtens in Zeichnungen gerne ſchöne Frauen vor¬ ſtellt. Ihr Geſpräch und ihr Benehmen zeigte, daß409 ſie in der Welt zu dem ſogenannten vorzüglicheren Umgang gehöre. Der Vater ſchien ein kenntnißvoller Mann zu ſein, der mit dem Benehmen der feineren Stände der Stadt die Einfachheit der Erfahrung und die Güte eines Landwirthes verband, auf den die Natur einen ſanften Einfluß übte. Ich hörte ſeiner Rede gerne zu. Mathilde erſchien bedeutend älter als die Mutter der zwei Mädchen, ſie ſchien einſtens wie Natalie geweſen zu ſein, war aber jezt ein Bild der Ruhe und, ich möchte ſagen, der Vergebung. Ich weiß nicht, warum mir in den Tagen dieſer Ausdruck ſchon mehrere Male einfiel. Sie ſprach von den Ge¬ genſtänden, welche von den Beſuchenden vorgebracht wurden, brachte aber nie ihre eigenen Gegenſtände zum Geſpräche. Sie ſprach mit Einfachheit, ohne von den Gegenſtänden beherrſcht zu werden, und ohne die Gegenſtände ausſchließlich beherrſchen zu wollen. Mein Gaſtfreund ging in die Anſichten ſei¬ nes Gutsnachbars ein, und redete in der ihm eigen¬ thümlichen klaren Weiſe, wobei er aber auch die Höf¬ lichkeit beging, den Gaſt die Gegenſtände des Ge¬ ſpräches wählen zu laſſen.
So ſaßen dieſe zwei Abtheilungen von Menſchen410 an demſelben Tiſche, und bewegten ſich in demſelben Zimmer, wirklich zwei Abtheilungen von Menſchen.
Daraus, daß ſie gerade zur Roſenblüthe herauf gefahren waren, erkannte ich, daß die Nachbarn mei¬ nes Gaſtfreundes nicht blos um ſeine Vorliebe für dieſe Blumen wußten, ſondern daß ſie etwa auch An¬ theil daran nahmen.
Es wurde nach dem Eſſen nicht mehr ein Spa¬ ziergang gemacht, wie in dieſen Tagen, ſondern man blieb in Geſprächen bei einander, und ging ſpäter, als es ſonſt in dieſem Hauſe gebräuchlich war, zur Ruhe.
Am anderen Morgen wurde das Frühmahl in dem Garten eingenommen, und nachdem man ſich noch eine Weile in dem Gewächshauſe aufgehalten hatte, fuhren die Gäſte mit der wiederholt vorge¬ brachten Bitte fort, ſie doch auch recht bald auf ihrem Gute zu beſuchen, was zugeſagt wurde.
Nach dieſer Unterbrechung gingen die Tage auf dem Roſenhauſe dahin, wie ſie ſeit der Ankunft der Frauen dahin gegangen waren. Die Zeit, welche jedes frei hatte, brachten wir wieder öfter gemein¬ ſchaftlich zu. Ich wurde nicht ſelten in dieſen Zeiten ausdrücklich zur Geſellſchaft geladen. Natalie hatte411 auch ihre Lernſtunden, welche ſie gewiſſenhaft hielt. Guſtav ſagte mir, daß ſie jezt Spaniſch lerne, und ſpaniſche Bücher mit hieher gebracht habe. Ich hatte doch den Raum, welchen man mir in dem ſogenann¬ ten Steinhauſe eingeräumt hatte, benüzt, und hatte mehrere meiner Gegenſtände dort hingebracht. Gu¬ ſtav las bereits in den Büchern von Göthe. Sein Ziehvater hatte ihm Hermann und Dorothea ausge¬ wählt, und ihm geſagt, er ſolle das Werk ſo genau und ſorgfältig leſen, daß er jeden Vers völlig ver¬ ſtehe, und wo ihm etwas dunkel ſei, dort ſolle er fra¬ gen. Mir war es rührend, daß die Bücher alle in Guſtavs Zimmer aufgeſtellt waren, und daß man das Zutrauen hatte, daß er kein anderes leſen werde, als welches ihm von dem Ziehvater bezeichnet worden ſei. Ich kam oft zu ihm, und wenn ich nach der Kenntniß, die ich bereits von ſeinem Weſen gewon¬ nen hatte, nicht gewußt hätte, daß er ſein Verſprechen halten werde, ſo hätte ich mich durch meine Beſuche von dieſer Thatſache überzeugt. Mathilde und Na - talie ſtanden oft dabei, wenn mein Gaſtfreund für ſeine gefiederten Gäſte auf der Fütterungstenne Kör¬ ner ſtreute, und nicht ſelten, wenn ich des Morgens von einem Gange durch den Garten zurückkam, ſah412 ich, daß bei der Fütterung in dem Eckzimmer, an deſ¬ ſen Fenſtern die Fütterungsbrettchen angebracht wa¬ ren, eine ſchöne Hand thätig ſei, die ich für Nata¬ liens erkannte. Wir beſuchten manchmal die Neſter, in welchen noch gebrütet wurde oder ſich Junge be¬ fanden. Die meiſten aber waren ſchon leer, und die Nachkommenſchaft wohnte bereits in den Zweigen der Bäume. Oft befanden wir uns in dem Schreiner¬ hauſe, ſprachen mit den Leuten, betrachteten die Fortſchritte der Arbeit, und redeten darüber. Wir be¬ ſuchten ſogar auch Nachbaren, und ſahen uns in ihrer Wirthſchaftlichkeit um. Wenn wir in dem Hauſe wa¬ ren, befanden wir uns in dem Arbeitszimmer mei¬ nes Gaſtfreundes, es wurde etwas geleſen, oder es wurde ein geiſtanſprechender Verſuch in dem Zimmer der Naturlehre gemacht, oder wir waren in dem Bil¬ derzimmer oder in dem Marmorſaale. Mein Gaſt¬ freund mußte oft ſeine Kunſt ausüben, und das Wet¬ ter vorausſagen. Immer, wenn er eine beſtimmte Ausſage machte, traf ſie ein. Oft verweigerte er aber dieſe Ausſage, weil, wie er erklärte, die Anzeigen nicht deutlich und verſtändlich genug für ihn ſeien.
Zuweilen waren wir auch in den Zimmern der Frauen. Wir kamen dahin, wenn wir dazu geladen413 waren. Das kleine lezte Zimmerchen mit der Tapeten¬ thür gehörte insbeſondere Mathilden. Ich hatte es Roſenzimmer genannt, und es wurde ſcherzweiſe der Name beibehalten. Mir war es ein anmuthiger Ein¬ druck, daß ich ſah, wie liebend und wie hold dieſes Zimmer für die alte Frau eingerichtet worden war. Es herrſchte eine zuſammenſtimmende Ruhe in dieſem Zimmer mit den ſanften Farben blaßroth weißgrau grün mattveilchenblau und Gold. In all das ſah die Landſchaft mit den lieblichen Geſtalten der Hochge¬ birge herein. Mathilde ſaß gerne auf dem eigenthüm¬ lichen Seſſel am Fenſter, und ſah mit ihrem ſchönen Angeſichte hinaus, deſſen Art mein Gaſtfreund einmal mit einer welkenden Roſe verglichen hatte.
In den Zimmern las zuweilen Natalie etwas vor, wenn mein Gaſtfreund es verlangte. Sonſt wurde geſprochen. Ich ſah auf ihrem Tiſche Papiere in ſchö¬ ner Ordnung und neben ihnen Bücher liegen. Ich konnte es nie über mich bringen, auch nur auf die Aufſchrift dieſer Bücher zu ſehen, viel weniger gar eines zu nehmen und hinein zu ſchauen. Es thaten dies auch andere nie. An dem Fenſter ſtand ein ver¬ hüllter Rahmen, an dem ſie vielleicht etwas arbeitete; aber ſie zeigte nichts davon. Guſtav, wahrſcheinlich414 aus Neigung zu mir, um mich mit den ſchönen Din¬ gen zu erfreuen, die ſeine Schweſter verfertigte, ging ſie wiederholt darum an. Sie lehnte es aber jedes Mal auf eine einfache Art ab. Ich hatte einmal in einer Nacht, da meine Fenſter offen waren, Zithertöne vernommen. Ich kannte dieſes Muſikgeräth des Ge¬ birges ſehr gut, ich hatte es bei meinen Wanderungen ſehr oft und von den verſchiedenſten Händen ſpie¬ len gehört, und hatte mein Ohr für ſeine Klänge und Unterſchiede zu bilden geſucht. Ich ging an das Fen¬ ſter und hörte zu. Es waren zwei Zithern, die im öſtlichen Flügel des Hauſes abwechſelnd gegen einan¬ der und mit einander ſpielten. Wer Übung im Hö¬ ren dieſer Klänge hat, merkt es gleich, ob auf derſel¬ ben Zither oder auf verſchiedenen und von denſelben Händen oder verſchiedenen geſpielt wird. In den Ge¬ mächern der Frauen ſah ich ſpäter die zwei Zithern liegen. Es wurde aber in unſerer Gegenwart nie darauf geſpielt. Mein Gaſtfreund verlangte es nicht, ich ohnehin nicht, und in dieſer Angelegenheit beob¬ achtete auch Guſtav eine feſte Enthaltung.
Indeſſen war nach und nach die Zeit herange¬ rückt, in welcher die Roſen in der allerſchönſten Blüthe ſtanden. Das Wetter war ſehr günſtig gewe¬415 ſen. Einige leichte Regen, welche mein Gaſtfreund vorausgeſagt hatte, waren dem Gedeihen bei weitem förderlicher geweſen, als es fortdauernd ſchönes Wet¬ ter hätte thun können. Sie kühlten die Luft von zu großer Hize zu angenehmer Milde herab, und wu¬ ſchen Blatt Blume und Stengel viel reiner von dem Staube, der ſelbſt in weit von der Straße entfernten und mitten in Feldern gelegenen Orten doch nach lange andauerndem ſchönem Wetter ſich auf Dächern Mauern Zäunen Blättern und Halmen ſammelt, als es die Sprühregen, die mein Gaſtfreund ein paar Male durch ſeine Vorrichtung unter dem Dache auf die Roſen hatte ergehen laſſen, zu thun im Stande geweſen waren. Unter dem klarſten, ſchönſten und tiefſten Blau des Himmels ſtanden nun eines Tages Tauſende von den Blumen offen, es ſchien, daß keine einzige Knospe im Rückſtande geblieben und nicht aufgegangen iſt. In ihrer Farbe von dem reinſten Weiß in gelbliches Weiß in Gelb in blaſſes Roth in feuriges Roſenroth in Purpur in Veilchenroth in Schwarzroth zogen ſie an der Fläche dahin, daß man bei lebendiger Anſchauung verſucht wurde, jenen al¬ ten Völkern Recht zu geben, die die Roſen faſt gött¬ lich verehrten, und bei ihren Freuden und Feſten ſich416 mit dieſen Blumen bekränzten. Man war täglich theils einzeln theils zuſammen zu dem Roſengitter gekom¬ men, um die Fortſchritte zu betrachten, man hatte ge¬ legentlich auch andere Roſentheile und Roſenanlagen in dem Garten beſucht; allein an dieſem Tage er¬ klärte man einmüthig, jezt ſei die Blüthe am ſchön¬ ſten, ſchöner vermöge ſie nicht mehr zu werden, und von jezt an müſſe ſie abzunehmen beginnen. Dies hatte man zwar auch ſchon einige Tage früher geſagt; jezt aber glaubte man ſich nicht mehr zu irren, jezt glaubte man auf dem Gipfel angelangt zu ſein. So weit ich mich auf das vergangene Jahr zu erinnern vermochte, in welchem ich auch dieſe Blumen in ihrer Blüthe angetroffen hatte, waren ſie jezt ſchöner als damals.
Es kamen wiederholt Beſuche an, die Roſen zu ſehen. Die Liebe zu dieſen Blumen, welche in dem Roſenhauſe herrſchte, und die zweckmäßige Pflege, welche ſie da erhielten, war in der Nachbarſchaft be¬ kannt geworden, und da kamen manche, welche ſich wirklich an dem ungewöhnlichen Ergebniſſe dieſer Zucht ergözen wollten, und andere, die dem Beſizer etwas Angenehmes erzeigen wollten, und wieder an¬ dere, die nichts beſſeres zu thun wußten, als nachzu¬ ahmen, was ihre Umgebung that. Alle dieſe Arten417 waren nicht ſchwer von einander zu unterſcheiden. Die Behandlung derſelben war von Seite meines Gaſt¬ freundes ſo fein, daß ich es nicht von ihm vermuthet hatte, und daß ich dieſe Eigenſchaft an ihm erſt jezt, wo ich ihn unter Menſchen beobachten konnte, ent¬ deckte.
Auch Bauern kamen zu verſchiedenen Zeiten, und bathen, daß ſie die Roſen anſchauen dürfen. Nicht nur die Roſen wurden ihnen gezeigt, ſondern auch alles andere im Hauſe und Garten, was ſie zu ſehen wünſchten, beſonders aber der Meierhof, in ſo ferne ſie ihn nicht kannten, oder ihnen die lezten Verän¬ derungen in demſelben neu waren.
Eines Tages kam auch der Pfarrer von Rohr¬ berg, den ich bei meinem vorjährigen Beſuche in dem Roſenhauſe getroffen hatte. Er zeichnete ſich einige Roſen in ein Buch, das er mitgebracht hatte, und wendete ſogar Waſſerfarben an, um die Farben der Blumen ſo getreu als nur immer möglich iſt, nach¬ zuahmen. Die Zeichnung aber ſollte keine Kunſtab¬ bildung von Blumen ſein, ſondern er wollte ſich nur ſolche Blumen anmerken und von ihnen den Eindruck aufbewahren, deren Art er in ſeinen Garten zu verpflanzen wünſchte. Es beſtand nehmlich ſchon ſeitStifter, Nachſommer. I. 27418lange her zwiſchen meinem Gaſtfreunde und dem Pfarrer das Verhältniß, daß mein Gaſtfreund dem Pfarrer Pflanzen gab, womit dieſer ſeinen Garten zieren wollte, den er theils neu um das Pfarrhaus angelegt, theils erweitert hatte.
Unter allen aber ſchien Mathilde die Roſen am meiſten zu lieben. Sie mußte überhaupt die Blumen ſehr lieben; denn auf den Blumentiſchen in ihren Zimmern ſtanden ſtets die ſchönſten und friſcheſten des Gartens, auch wurde gerne auf dem Tiſche, an wel¬ chem wir ſpeiſten, eine Gruppe von Gartentöpfen mit ihren Blumen zuſammengeſtellt. Abgebrochen oder abgeſchnitten und in Gläſer mit Waſſer geſtellt durf¬ ten in dieſem Hauſe keine Blumen werden, außer ſie waren welk, ſo daß man ſie entfernen mußte. Den Roſen aber wendete ſie ihr meiſtes Augenmerk zu. Nicht nur ging ſie zu denen, welche im Garten in Sträuchen Bäumchen und Gruppen ſtanden, und be¬ kümmerte ſich um ihre Hegung und Pflege, ſondern ſie beſuchte auch ganz allein, wie ich ſchon früher be¬ merkt hatte, die, welche an der Wand des Hauſes blühten. Oft ſtand ſie lange davor, und betrachtete ſie. Zuweilen holte ſie ſich einen Schemel, ſtieg auf ihn, und ordnete in den Zweigen. Sie nahm entwe¬419 der ein welkes Laubblatt ab, das den Blicken der an¬ dern entgangen war, oder bog eine Blume heraus, die am vollkommenen Aufblühen gehindert war, oder las ein Käferchen ab, oder lüftete die Zweige, wo ſie ſich zu dicht und zu buſchig gedrängt hatten. Zuwei¬ len blieb ſie auf dem Schemel ſtehen, ließ die Hand ſinken, und betrachtete wie im Sinnen die vor ihr ausgebreiteten Gewächſe.
Wirklich war der Tag, den man als den ſchönſten der Roſenblüthe bezeichnet hatte, auch der ſchönſte ge¬ weſen. Von ihm an begann ſie abzunehmen, und die Blumen fingen an zu welken, ſo daß man öfter die Leiter und die Scheere zur Hand nehmen mußte, um Verunzierungen zu beſeitigen.
Auch zwei fremde Reiſende waren in das Roſen¬ haus gekommen, welche ſich eine Nacht und einen Theil des darauf folgenden Vormittages in demſelben aufgehalten hatten. Sie hatten den Garten die Fel¬ der und den Meierhof beſehen. In ſeine Zimmer und in die Schreinerei hatte ſie mein Gaſtfreund nicht ge¬ führt, woraus ich die mir angenehme Bemerkung zog, daß er mir bei meiner erſten Ankunft in ſeinem Hauſe eine Bevorzugung gab, die nicht jedem zu Theil wurde,27 *420daß ich alſo eine Art Zuneigung bei ihm gefunden haben mußte.
Gegen das Ende der Roſenblüthe kam Euſtachs Bruder Roland in das Haus. Da er ſich mehrere Tage in demſelben aufhielt, fand ich Gelegenheit, ihn genauer zu beobachten. Er hatte noch nicht die Bil¬ dung ſeines Bruders auch nicht deſſen Biegſamkeit; aber er ſchien mehr Kraft zu beſizen, die ſeinen Be¬ ſchäftigungen einen wirkſamen Erfolg verſprach. Was mir auffiel, war, daß er mehrere Male ſeine dunkeln Augen länger auf Natalien heftete, als mir ſchicklich erſcheinen wollte. Er hatte eine Reihe von Zeichnun¬ gen gebracht, und wollte noch einen entfernteren Theil des Landes beſuchen, ehe er wiederkehrte, um den Stoff vollkommen zu ordnen.
Ehe Mathilde und Natalie das Roſenhaus ver¬ ließen, mußte noch der verſprochene Beſuch auf dem Gute des Nachbars, welches Ingheim hieß, und von dem Volke nicht ſelten der Inghof genannt wurde, gemacht werden. Es wurde hingeſchickt, und ein Tag genannt, an dem man kommen wollte, welcher auch angenommen wurde. Am Morgen dieſes Tages wur¬ den die braunen Pferde, mit denen Mathilde gekom¬ men war, und die ſie die Zeit über in dem Meierhofe421 gelaſſen hatte, vor den Wagen geſpannt, der die Frauen gebracht hatte, und Mathilde und Natalie ſezten ſich hinein. Mein Gaſtfreund Guſtav und ich, der ich eigens in die Bitte des Gegenbeſuchs einge¬ ſchloſſen worden war, ſtiegen in einen anderen Wa¬ gen, der mit zwei ſehr ſchönen Grauſchimmeln mei¬ nes Gaſtfreundes beſpannt war. Eine raſche Fahrt von einer Stunde brachte uns an den Ort unſerer Beſtimmung. Ingheim iſt ein Schloß, oder eigent¬ lich ſind zwei Schlöſſer da, welche noch von mehreren anderen Gebäuden umgeben ſind. Das alte Schloß war einmal befeſtigt. Die grauen aus großen vier¬ eckigen Steinen erbauten runden Thürme ſtehen noch, ebenſo die graue aus gleichen Steinen erbaute Mauer zwiſchen den Thürmen. Beide Theile beginnen aber oben zu verfallen. Hinter den Thürmen und Mauern ſteht das alte unbewohnte ebenfalls graue Haus, ſcheinbar unverſehrt; aber von den mit Brettern ver¬ ſchlagenen Fenſtern ſchaut die Unbewohntheit und Ungaſtlichkeit herab. Vor dieſen Werken des Alter¬ thums ſteht das neue weiße Haus, welches mit ſei¬ nen grünen Fenſterläden und dem rothen Ziegeldache ſehr einladend ausſieht. Wenn man von der Ferne kömmt, meint man, es ſei unmittelbar an das alte422 Schloß angebaut, welches hinter ihm emporragt. Wenn man aber in dem Hauſe ſelber iſt, und hinter dasſelbe geht, ſo ſieht man, daß das alte Gemäuer noch ziemlich weit zurück iſt, daß es auf einem Felſen ſteht, und daß es durch einen breiten mit einem Obſt¬ baumwald bedeckten Graben von dem neuen Hauſe getrennt iſt. Auch kann man in der Ferne wegen der ungewöhnlichen Größe des alten Schloſſes die Ge¬ räumigkeit des neuen Hauſes nicht ermeſſen. Sobald man ſich aber in demſelben befindet, ſo erkennt man, daß es eine bedeutende Räumlichkeit habe, und nicht bloß für das Unterkommen der Familie geſorgt iſt, ſondern auch eine ziemliche Zahl von Gäſten noch keine Ungelegenheit bereitet. Ich hatte wohl den Na¬ men des Schloſſes öfter gehört, dasſelbe aber nie ge¬ ſehen. Es liegt ſo abſeits von den gewöhnlichen We¬ gen, und iſt durch einen großen Hügel ſo gedeckt, daß es von Reiſenden, welche durch dieſe Gegend ge¬ wöhnlich den Gebirgen zugehen, nicht geſehen wer¬ den kann. Als wir uns näherten, entwickelten ſich die mehreren Bauwerke. Zuerſt kamen wir zu den Wirth¬ ſchaftsgebäuden oder der ſogenannten Meierei. Die¬ ſelben ſtanden, wie es bei vielen Beſizungen in un¬ ſerem Lande der Brauch iſt, ziemlich weit entfernt von423 dem Wohnhauſe, und bildeten eine eigene Abtheilung. Von da führte der Weg durch eine Allee uralter gro¬ ßer Linden eine Strecke gegen das neue Haus. Die Allee iſt ein Bruchſtück von derjenigen, die einmal gegen die Zugbrücke des alten Schloſſes hinauf ge¬ führt hatte; ſie brach daher ab, und wir fuhren die übrige Strecke durch ſchönen grünen Raſen, der mit einzelnen Blumenhügeln geſchmückt war, dem Hauſe zu. Daſſelbe war von weißlich grauer Farbe, und hatte ſäulenartige Streifen und Frieſe. Alle Fen¬ ſter, ſoweit die geöffneten Läden eine Einſicht zu¬ ließen, zeigten von Innen ſchwere Vorhänge. Als der Wagen der Frauen unter dem Überdache der Vor¬ fahrt hielt, ſtand ſchon der Herr von Ingheim ſammt ſeiner Gattin und ſeinen Töchtern am Ende der Treppe zur Bewillkommung. Sie waren alle mit Geſchmack gekleidet, ſo wie die Dienerſchaft, die hinter ihnen ſtand, in Feſtkleidern war. Der Herr half den Frauen aus dem Wagen, und da wir mittlerweile auch aus¬ geſtiegen und herzugekommen waren, wurden wir von der ganzen Familie begrüßt und die Treppe hinauf geleitet. Man führte uns in ein großes Empfang¬ zimmer, und wies uns Pläze an. Mathilde und Na¬ talie hatten zwar feſtlichere Kleider an, als ſie im424 Roſenhauſe trugen, aber dieſelben, ſo edel der Stoff war, zeigten doch keine übermäßige Verzierung oder gar Überladung. Mein Gaſtfreund Guſtav und ich waren gekleidet, wie man es zu ländlichen Beſuchen zu ſein pflegt. So ließen wir uns in die prachtvollen Polſter, die hier überall ausgelegt waren, nieder. Auf einem Tiſche, über den ein ſchöner Teppich gebreitet war, ſtanden Erfriſchungen verſchiedener Art. Andere Tiſche, die noch in dem Zimmer ſtanden, waren un¬ bedeckt. Die Geräthe waren von Mahagoniholz und ſchienen aus der erſten Werkſtätte der Stadt zu ſtam¬ men. Eben ſo waren die Spiegel die Kronleuch¬ ter und andere Dinge des Zimmers. Eine Ecke an einem Fenſter nahm ein ſehr ſchönes Clavier ein. Die erſten Geſpräche betrafen die gewöhnlichen Dinge über Wohlbefinden über Wetter über Gedeihen der Feld - und Gartengewächſe. Die Männer nannten ſich wechſelweiſe Nachbar, die Frauen benannten ſich gar nicht.
Als man etwas Weniges von den daſtehenden Speiſen genommen hatte, erhob man ſich, und wir gingen durch die Zimmer. Es war eine Reihe, deren Fenſter größtentheils gegen Mittag auf die Landſchaft hinaus gingen. Alle waren ſehr ſchön nach neuer Art425 eingerichtet, beſonders reich waren die Paliſanderge¬ räthe im Empfangszimmer der Frau, in welchem ſo wie in dem Arbeitszimmer der Mädchen wieder Cla¬ viere ſtanden. Der Herr des Hauſes führte beſonders mich in den Räumen herum, dem ſie noch fremd wa¬ ren. Die übrige Geſellſchaft folgte uns gelegentlich in das eine oder andere Gemach.
Aus den Zimmern ging man in den Garten. Derſelbe war wie viele wohlgehaltene und ſchöne Gärten in der Nähe der Stadt. Schöne Sandgänge, grüne ausgeſchnittene Raſenpläze mit Blumenſtücken, Gruppen von Zier - und Waldgebüſchen, ein Ge¬ wächshaus mit Camellien Rhododendren Azaleen Eri¬ ken Calceolarien und vielen neuholländiſchen Pflan¬ zen, endlich Ruhebänke und Tiſche an geeigneten ſchattigen Stellen. Der Obſtgarten als Nüzlichkeits¬ ſtück war nicht bei dem Wohnhauſe ſondern hinter dem Meierhofe.
Von dem Garten gingen wir, wie es bei länd¬ lichen Beſuchen zu geſchehen pflegt, in die Meierei. Wir gingen durch die Reihen der glatten Rinder, die meiſtens weiß, geſtirnt waren, wir beſahen die Schafe die Pferde das Geflügel die Milchkammer die Käſebe¬ reitung die Brauerei und ähnliche Dinge. Hinter den426 Scheuern trafen wir den Gemüſegarten und den ſehr weitläufigen Obſtgarten an. Von dieſen gingen wir in die wohlbeſtellten Felder und in die Wieſen. Der Wald, welcher zu der Beſizung gehört, wurde mir in der Ferne gezeigt.
Nachdem wir unſern ziemlich bedeutenden Spa¬ ziergang beendigt hatten, wurden wir in eine eben¬ erdige große Speiſehalle geführt, in welcher der Mit¬ tagtiſch gedeckt war. Ein einfaches aber ausgeſuchtes Mahl wurde aufgetragen, wobei die Dienerſchaft hinter unſeren Stühlen ſtehend bediente. Hatte ſich die Familie Ingheim ſchon bei dem Beſuche auf dem Roſenhauſe als unter die gebildeten gehörig gezeigt, ſo war dies bei unſerem Empfange in ihrem eigenen Hauſe wieder der Fall. Sowohl bei Vater und Mut¬ ter als auch bei den Mädchen war Einfachheit Ruhe und Beſcheidenheit. Die Geſpräche bewegten ſich um mehrere Gegenſtände, ſie riſſen ſich nicht einſeitig nach einer gewiſſen Richtung hin, ſondern ſchmiegten ſich mit Maß der Geſellſchaft an. Einen Theil der Zeit nach dem Mittageſſen brachten wir in den Zimmern des erſten Stockwerkes zu. Es wurde Muſik gemacht, und zwar Clavier und Geſang. Zuerſt ſpielte die Mutter etwas, dann beide Mädchen allein, dann zu¬427 ſammen. Jedes der Mädchen ſang auch ein Lied. Natalie ſaß in den ſeidenen Polſtern und hörte auf¬ merkſam zu. Als man ſie aber aufforderte, auch zu ſpielen, verweigerte ſie es.
Gegen Abend fuhren wir wieder in das Roſen¬ haus zurück.
Als Guſtav aus unſerem Wagen geſprungen war, als mein Gaſtfreund und ich denſelben verlaſſen hat¬ ten, und ich die edle ſchlanke Geſtalt Nataliens gegen die Marmortreppe hinzu gehen ſah, blieb ich ein Weil¬ chen ſtehen, und begab mich dann auch in meine Zim¬ mer, wo ich bis zum Abendeſſen blieb.
Dieſes war wie gewöhnlich, man machte aber nach demſelben an dieſem Tage keinen Spaziergang mehr.
Ich ging in mein Schlafzimmer, öffnete die Fen¬ ſter, die man troz des warmen Tages, weil ich ab¬ weſend geweſen war, geſchloſſen gehalten hatte, und lehnte mich hinaus. Die Sterne begannen ſachte zu glänzen, die Luft war mild und ruhig, und die Ro¬ ſendüfte zogen zu mir herauf. Ich gerieth in tiefes Sinnen. Es war mir wie im Traume, die Stille der Nacht und die Düfte der Roſen mahnten an Ver¬ gangenes; aber es war doch heute ganz anders.
428Nach dieſem Beſuche auf dem Inghofe folgten mehrere Regentage, und als dieſe beendigt waren, und wieder dem Sonnenſcheine Plaz machten, war auch die Zeit heran genaht, in welcher Mathilde und Natalie das Roſenhaus verlaſſen ſollten. Es war ſchon mehreres gepackt worden, und darunter ſah ich auch die beiden Zithern, die man in ſammtene Fächer that, welche ihrerſeits wieder in lederne Behältniſſe geſteckt wurden.
Endlich war der Tag der Abreiſe feſtgeſezt worden.
Am Abende vorher war ſchon das Hauptſäch¬ lichſte, was mitgenommen werden ſollte, in den Wagen geſchafft, und die Frauen hatten am Nach¬ mittage an mehreren Stellen Abſchied genommen: bei den Gärtnerleuten in der Schreinerei und im Meierhofe.
Am andern Morgen erſchienen ſie bei dem Früh¬ mahle in Reiſekleidern, während noch Arabella das Dienſtmädchen Mathildens diejenigen Sachen, die bis zu dem lezten Augenblicke im Gebrauch geweſen waren, in den Wagen packte.
Nach dem Frühmahle, als die Frauen ſchon die Reiſehüte aufhatten, ſagte Mathilde zu meinem Gaſt¬429 freunde: „ Ich danke dir, Guſtav, lebe wohl, und komme bald in den Sternenhof. “
„ Lebe wohl, Mathilde, “ſagte mein Gaſtfreund.
Die zwei alten Leute küßten ſich wieder auf die Lippen, wie ſie es bei der Ankunft Mathildens gethan hatten.
„ Lebe wohl, Natalie, “ſagte er dann zu dem Mädchen.
Dasſelbe erwiederte nur leiſe die Worte: „ Dank für alle Güte. “
Mathilde ſagte zu dem Knaben: „ Sei folgſam, und nimm dir deinen Ziehvater zum Vorbilde. “
Der Knabe küßte ihr die Hand.
Dann zu mir gewendet ſprach ſie: „ Habet Dank für die freundlichen Stunden, die ihr uns in dieſem Hauſe gewidmet habt. Der Beſizer wird euch für euren Beſuch wohl ſchon danken. Bleibt meinem Knaben gut, wie ihr es bisher geweſen ſeid, und laßt euch ſeine Anhänglichkeit nicht leid thun. Wenn es eure ſchöne Wiſſenſchaft zuläßt, ſo ſeid unter denen, die von dieſem Hauſe aus den Sternenhof beſuchen werden. Eure Ankunft wird dort ſehr willkommen ſein. “
„ Den Dank muß wohl ich zurückgeben für alle die430 Güte, welche mir von euch und von dem Beſizer die¬ ſes Hauſes zu Theil geworden iſt, “erwiederte ich. „ Wenn Guſtav einige Zuneigung zu mir hat, ſo iſt wohl die Güte ſeines Herzens die Urſache, und wenn ihr mich von dem Sternenhofe nicht zurück wei¬ ſet, ſo werde ich gewiß unter den Beſuchenden ſein. “
Ich empfand, daß ich mich auch von Natalien verabſchieden ſollte; ich vermochte aber nicht, etwas zu ſagen, und verbeugte mich nur ſtumm. Sie er¬ wiederte dieſe Verbeugung ebenfalls ſtumm.
Hierauf verließ man das Haus, und ging auf den Sandplaz hinaus. Die braunen Pferde ſtanden mit dem Wagen ſchon vor dem Gitter. Die Haus¬ dienerſchaft war herbei gekommen, Euſtach mit ſeinen Arbeitern ſtand da, der Gärtner mit ſeinen Leuten und ſeiner Frau und der Meier mit dem Großknechte aus dem Meierhofe waren ebenfalls gekommen.
„ Ich danke euch recht ſchön, lieben Leute, “ſagte Mathilde, „ ich danke euch für eure Freundſchaft und Güte, ſeid für euren Herrn treu und gut. Du, Ka¬ tharina, ſehe auf ihn und Guſtav, daß keinem ein Ungemach zuſtößt. “
„ Ich weiß, ich weiß, “fuhr ſie fort, als ſie ſah, daß Katharina reden wollte, „ du thuſt alles, was in431 deinen Kräften iſt, und noch mehr, als in deinen Kräften iſt; aber es liegt ſchon ſo in dem Menſchen, daß er um Erfüllung ſeiner Herzenswünſche bittet, wenn er auch weiß, daß ſie ohnehin erfüllt werden, ja daß ſie ſchon erfüllt worden ſind. “
„ Kommt recht gut nach Hauſe, “ſagte Katharina, indem ſie Mathilden die Hand küßte, und ſich mit dem Zipfel ihrer Schürze die Augen trocknete.
Alle drängten ſich herzu, und nahmen Abſchied. Mathilde hatte für ein jedes liebe Worte. Auch von Natalien beurlaubte man ſich, die gleichfalls freund¬ lich dankte.
„ Euſtach, vergeßt den Sternenhof nicht ganz, “ſagte Mathilde zu dieſem gewendet, „ beſucht uns mit den anderen. Ich will nicht ſagen, daß euch auch die Dinge dort nothwendig haben könnten, ihr ſollt un¬ ſertwegen kommen. “
„ Ich werde kommen, hochverehrte Frau, “erwie¬ derte Euſtach.
Nun ſprach ſie noch einige Worte zu dem Gärtner und ſeiner Frau, und zu dem Meier, worauf die Leute ein wenig zurück traten.
„ Sei gut, mein Kind, “ſagte ſie zu Guſtav, indem ſie ihm ein Kreuz mit Daumen und Zeigefinger auf432 die Stirne machte, und ihn auf dieſelbe küßte. Der Knabe hielt ihre Hand feſt umſchlungen, und küßte ſie. Ich ſah in ſeinen großen ſchwarzen Augen, die in Thränen ſchwammen, daß er ſich gerne an ihren Hals würfe; aber die Scham, die einen Beſtandtheil ſeines Weſens machte, mochte ihn zurück halten.
„ Bleibe lieb, Natalie, “ſagte mein Gaſtfreund.
Das Mädchen hätte bald die dargereichte Hand geküßt, wenn er es zugelaſſen hätte.
„ Theurer Guſtav, habe noch einmal Dank, “ſagte Mathilde zu meinem Gaſtfreunde. Sie hatte noch mehr ſagen wollen; aber es brachen Thränen aus ihren Augen. Sie nahm ein weißes feines Tuch und drückte es feſt gegen dieſe Augen, aus denen ſie heftig weinte.
Mein Gaſtfreund ſtand da, und hielt die Augen ruhig; aber es fielen Thränen aus denſelben herab.
„ Reiſe recht glücklich, Mathilde, “ſagte er endlich, „ und wenn bei deinem Aufenthalte bei uns etwas ge¬ fehlt hat, ſo rechne es nicht unſerer Schuld an. “
Sie that das Tuch von den Augen, die noch fortweinten, deutete auf Guſtav, und ſagte: „ Meine größte Schuld ſteht da, eine Schuld, welche ich wohl nie werde tilgen können. “ 433„ Sie iſt nicht auf Tilgung entſtanden, “erwiederte mein Gaſtfreund. „ Rede nicht davon, Mathilde, wenn etwas Gutes geſchieht, ſo geſchieht es recht gerne. “
Sie hielten ſich noch einen Augenblick bei den Händen, während ein leichtes Morgenlüftchen einige Blätter der abgeblühten Roſen zu ihren Füßen wehte.
Dann führte er ſie zu dem Wagen, ſie ſtieg ein, und Natalie folgte ihr.
Es war nach den mehreren Regentagen ein ſehr klarer nicht zu warmer Tag gefolgt. Der Wagen war offen und zurück gelegt. Mathilde ließ den Schleier von dem nehmlichen Hute, den ſie bei ihrer Herfahrt gehabt hatte, über ihr Angeſicht herabfallen; Natalie aber legte den ihrigen zurück, und gab ihre Augen den Morgenlüften. Nachdem auch noch Arabella in den Wagen geſtiegen war, zogen die Pferde an, die Rä¬ der furchten den Sand und der Wagen ging auf dem Wege hinab der Hauptſtraße zu.
Wir begaben uns wieder in das Haus zurück.
Jeder ging in ſein Zimmer und zu ſeinen Ge¬ ſchäften.
Nachdem ich eine Weile in meiner Wohnung ge¬ weſen war, ſuchte ich den Garten auf. Ich ging zu mehreren Blumen, die in einer für Blumen ſchonStifter, Nachſommer. I. 28434ſo weit vorgerückten Jahreszeit noch blühten, ich ging zu den Gemüſen zu dem Zwergobſte und endlich zu dem großen Kirſchbaume hinauf. Von demſelben ging ich in das Gewächshaus. Ich traf dort den Gärtner, welcher an ſeinen Pflanzen arbeitete. Als er mich eintreten ſah, kam er mir entgegen, und ſagte: „ Es iſt gut, daß ich allein mit euch ſprechen kann, habt ihr ihn geſehen? “
„ Wen? “fragte ich.
„ Nun ihr waret ja auf dem Inghofe, “antwortete er, „ da werdet ihr wohl den Cereus peruvianus an¬ geſchaut haben. “
„ Nein, den habe ich nicht angeſchaut, “erwiederte ich, indem ich mich wohl des Geſpräches erinnerte, in welchem er mir erzählt hatte, daß ſich eine ſo große Pflanze dieſer Art in dem Inghofe befinde, „ ich habe auf ihn vergeſſen. “
„ Nun, wenn ihr ihn vergeſſen habt, ſo wird ihn wohl der Herr angeſchaut haben, “ſagte er.
„ Ich glaube, daß uns niemand auf dieſe Pflanze aufmerkſam gemacht hat, als wir in dem Gewächs¬ hauſe waren, “erwiederte ich; „ denn wenn jemand an¬ derer ſich eigens zu dieſer Pflanze geſtellt hätte, ſo hätte ich es gewiß bemerkt, und hätte ſie auch angeſehen. “ 435„ Das iſt ſehr ſonderbar und ſehr merkwürdig, “ſagte er; „ nun wenn ihr vergeſſen habt, den Cereus peruvianus anzuſehen, ſo müßt ihr einmal mit mir hinübergehen; wir brauchen nicht zwei Stunden, und es iſt ein angenehmer Weg. So etwas ſeht ihr nicht leicht anders wo. Sie bringen ihn nie zur Blüthe. Wenn ich ihn hier hätte, ſo würde er bald ſo weiß wie meine Haare blühen, natürlich viel weißer. Die unſeren ſind noch viel zu klein zum Blühen. “
Ich ſagte ihm zu, daß ich einmal mit ihm in den Inghof hinübergehen werde, ja ſogar, wenn es nicht eine Unſchicklichkeit ſei, und nicht zu große Hinder¬ niſſe im Wege ſtehen, daß ich auch verſuchen werde, dahin zu wirken, daß dieſe Pflanze zu ihm herüber¬ komme.
Er war ſehr erfreut darüber, und ſagte, die Hin¬ derniſſe ſeien gar nicht groß, ſie achten den Cereus nicht, ſonſt hätten ſie ja die Geſellſchaft zu ihm hin¬ geführt, und der Herr wolle ſich vielleicht keine Ver¬ bindlichkeit gegen den Nachbar auflegen. Wenn ich aber eine Fürſprache mache, ſo würde der Cereus ge¬ wiß herüber kommen.
Wie doch der Menſch überall ſeine eigenen Ange¬ legenheiten mit ſich herum führt, dachte ich, und wie28 *436er ſie in die ganze übrige Welt hineinträgt. Dieſer Mann beſchäftigt ſich mit ſeinen Pflanzen, und meint, alle Leute müßten ihnen ihre Aufmerkſamkeit ſchenken, während ich doch ganz andere Gedanken in dem Haupte habe, während mein Gaſtfreund ſeine eigenen Beſtrebungen hat, und Guſtav ſeiner Ausbildung ob¬ liegt. Das eine Gute hatte aber die Anſprache des Gärtners für mich, daß ſie mich von meinen weh¬ müthigen und ſchmerzlichen Gefühlen ein wenig ab¬ zog, und mir die Überzeugung brachte, wie wenig Berechtigung ſie haben, und wie wenig ſie ſich für das Einzige und Wichtigſte in der Welt halten dürfen. Ich blieb noch länger in dem Gewächshauſe, und ließ mir Mehreres von dem Gärtner zeigen und er¬ klären. Dann ging ich wieder in meine Wohnung, und ſezte mich zu meiner Arbeit.
Wir kamen bei dem Mittageſſen zuſammen, wir machten am Nachmittage einen Spaziergang, und die Geſpräche waren wie gewöhnlich.
Die Zeit auf dem Roſenhauſe floß nach dem Be¬ ſuche der Frauen wieder ſo hin, wie ſie vor demſelben hingefloſſen war.
Ich hatte die Muße, welche ich mir von meinen Arbeiten im Gebirge zu einem Aufenthalte bei meinem437 Gaſtfreunde abgedungen hatte, beinahe ſchon er¬ ſchöpft. Das, was ich mir in dem Roſenhauſe als Ergänzungsarbeit zu thun auferlegt hatte, rückte auch ſeiner Vollendung entgegen. Ich ließ mir aber de߬ ohngeachtet einen Aufſchub gefallen, weil man verab¬ redet hatte, einen Beſuch auf dem Sternenhofe zu machen, was, wie ich einſah, Mathildens Wohnſiz war, und weil ich bei dieſem Beſuche zugegen ſein wollte. Auch war es im Plane, daß wir eine Kirche beſuchen wollten, die in dem Hochlande lag, und in welcher ſich ein ſehr ſchöner Altar aus dem Mittelal¬ ter befand. Ich nahm mir vor, das, was mir an Zeit entginge, durch ein länger in den Herbſt hinein fort¬ geſeztes Verweilen im Gebirge wieder einzubringen.
Mein Gaſtfreund hatte in dem Meierhofe wieder Bauarbeiten beginnen laſſen, und beſchäftigte dort mehrere Leute. Er ging alle Tage hin, um bei den Arbeiten nachzuſehen. Wir begleiteten ihn ſehr oft. Es war eben die lezte Einfuhr des Heues aus den höheren in dem Alizwalde gelegenen Wieſen, deren Ertrag ſpäter als in der Ebene gemäht wurde, im Gange. Wir erfreuten uns an dieſer duftenden wür¬ zigen Nahrung der Thiere, welche aus den Waldwie¬ ſen viel beſſer war als aus den fetten Wieſen der438 Thäler; denn auf den Bergwieſen wachſen ſehr man¬ nigfaltige Kräuter, die aus den ſehr verſchiedenarti¬ gen Geſteingrundlagen die Stoffe ihres Gedeihens ziehen, während die gleichartigere Gartenerde der tie¬ fen Gründe wenigere wenngleich waſſerreichere Arten hervor bringt. Mein Gaſtfreund widmete dieſem Zweige eine ſehr große Aufmerkſamkeit, weil er die erſte Bedingung des Gedeihens der Hausthiere dieſer geſelligen Mitarbeiter der Menſchen iſt. Alles, was die Würze den Wohlgeruch und, wie er ſich ausdrückte, die Nahrungslieblichkeit beeinträchtigen konnte, mußte ſtrenge hintan gehalten werden, und wo durch Ver¬ ſehen oder Ungunſt der Zeitverhältniſſe doch derglei¬ chen eintrat, mußte das minder Taugliche ganz beſei¬ tigt oder zu andern Wirthſchaftszwecken verwendet werden. Darum konnte man aber auch keine ſchöne¬ ren glatteren glänzenderen und fröhlicheren Thiere ſehen als auf dem Asperhofe. Der Wirthſchaftsvor¬ theil lag außerdem noch als Zugabe bei; denn da das Schlechtere gar nicht verwendet werden durfte, wurde bei der Behandlung und Einbringung die größte Sorgfalt von den Leuten beobachtet, abgeſehen da¬ von, daß mein Gaſtfreund bei ſeiner Kenntniß der Witterungsverhältniſſe weniger Schaden durch Regen439 oder dergleichen erlitt als die meiſten Landwirthe, die ſich um dieſe Kenntniß gar nicht bekümmerten. Und der Nachtheil der Nichtanwendung des Schlechteren wurde weit durch den Vortheil des beſſeren Gedeihens der Thiere aufgewogen. In dem Asperhofe konnte man immer mit einer geringeren Anzahl Thiere grö¬ ßere Arbeiten ausführen, als in anderen Gehöften. Hiezu kam noch eine gewiſſe Fröhlichkeit und Heiter¬ keit der untergeordneten Leute, die bei jeder ſachgemä¬ ßen Führung eines Geſchäftes, bei dem ſie betheiligt ſind, und bei einer wenn auch ſtrengen doch ſtets freundlichen Behandlung nicht ausbleibt. Ich hörte bei meiner jezigen Anweſenheit öfter von benachbar¬ ten Leuten die Äußerung, das hätte man dem alten Aſperhofe nicht angeſehen, daß das noch heraus kom¬ men könnte.
Es wurde, da wieder mehrere Gewitter niederge¬ gangen waren, die Luft ſich gereinigt hatte, und einige ſchöne Tage erwartet werden konnten, die Reiſe zu der Kirche mit dem ſehenswürdigen Altare feſtgeſezt.
Im Norden unſeres herrlichen Stromes, welcher das Land in einen nördlichen und ſüdlichen Theil theilt, erhebt ſich ein Hochland, welches viele Meilen die nördlichen Ufer des Stromes begleitet. In ſeinem440 Süden iſt eine acht bis zehn Meilen breite verhältni߬ mäßig ebene Gegend von großer Fruchtbarkeit, die endlich von dem Zuge der Alpen begrenzt iſt. Ich war bisher nur vorzugsweiſe in die Alpen gegangen, die nördlichen Hochlande hatte ich blos ein einziges Mal betreten, und nur eine kleine Ecke derſelben durch¬ wandert. Jezt ſollte ich mit meinem Gaſtfreunde eine Fahrt in das Innere derſelben machen; denn die Kirche, welche das Ziel unſerer Reiſe war, ſteht weit näher an der nördlichen als an der ſüdlichen Grenze des Hochlandes. Wir fuhren in der Begleitung Eu¬ ſtachs von dem Stromesufer die ſtaffelartigen Erhe¬ bungen empor, und fuhren dann in dem hohen viel¬ gehügelten Lande dahin. Wir fuhren oft mit unſerm Geſpann langſam bis auf die höchſte Spize eines Berges empor, dann auf der Höhe fort, oder wir ſenkten uns wieder in ein Thal, umfuhren oft in Windungen abwärts die Dachung des Berges, legten eine enge Schlucht zurück, ſtiegen wieder empor, ver¬ änderten recht oft unſere Richtung, und ſahen die Hügel die Gehöfte und andere Bildungen von ver¬ ſchiedenen Seiten. Wir erblickten oft von einer Spize das ganze flache gegen Mittag gelegene Land mit ſei¬ ner erhabenen Hochgebirgskette, und waren dann441 Wieder in einem Thalkeſſel, in welchem wir keine Ge¬ genſtände neben unſerem Wagen hatten als eine dunkle weitäſtige Fichte und eine Mühle. Oft, wenn wir uns einem Gegenſtande gleichſam auf einer Ebene nähern zu können ſchienen, war plözlich eine tiefe Schlucht in die Ebene geſchnitten, und wir mußten dieſelbe in Schlangenwindungen umfahren.
Ich hatte bei meinem erſten Beſuche dieſes Hoch¬ landes die Bemerkung gemacht, daß es mir da ſtil¬ ler und ſchweigſamer vorkomme, als wenn ich durch andere ebenfalls ſtille und ſchweigende Landſchaften zog. Ich dachte nicht weiter darüber nach. Jezt kam mir dieſelbe Empfindung wieder. In dieſem Lande liegen die wenigen größeren Ortſchaften ſehr weit von einander entfernt, die Gehöfte der Bauern ſtehen ein¬ zeln auf Hügeln oder in einer tiefen Schlucht oder an einem nicht geahnten Abhange. Herum ſind Wie¬ ſen Felder Wäldchen und Geſtein. Die Bäche gehen ſtill in den Schluchten, und wo ſie rauſchen, hört man ihr Rauſchen nicht, weil die Wege ſehr oft auf den Höhen dahin führen. Einen großen Fluß hat das Land nicht, und wenn man die ausgedehnte ſüd¬ liche Ebene und das Hochgebirge ſieht, ſo iſt es nur ein ſehr großer aber ſtiller Geſichtseindruck. In den442 Alpen geht der Straßenzug meiſtens nur in den Thal¬ rinnen an den Flüſſen oder Wildbächen dahin, er kann ſich wenig verzweigen, der Verkehr iſt auf ihn zuſammengedrängt, und es regt ſich auf ihm, und es wehet und rauſcht an ihm.
In dieſem Lande ſind noch viele werthvolle Alter¬ thümer zerſtreut und aufbewahrt, es haben einmal reiche Geſchlechter in ihm gewohnt, und die Krieges - und Völkerſtürme ſind nicht durch das Land gegangen.
Wir kamen in den kleinen Ort Kerberg. Er liegt in einem ſehr abgeſchiedenen Winkel und iſt von kei¬ nerlei Bedeutung. Nicht einmal eine Straße von nur etwas lebhaftem Verkehre führt durch, ſondern nur einer jener Landwege, wie ſie zum Austauſche der Er¬ zeugniſſe der Bevölkerung dienen, und von dem guten Sand - und Steinſtoffe des Landes ſehr gut gebaut ſind. Nur die Lage iſt ſchön, da hier die Bildungen etwas größer ſind, und mit dämmerigem Walde theil¬ weiſe bekleidet anmuthig zuſammentreten. Und doch ſteht in dieſem Orte die Kirche, zu welcher wir auf der Reiſe waren. Hinter dem Orte ungefähr nach Mitternacht liegt ein weitläufiges Schloß auf einem Berge, welches große Garten - und Waldanlagen um ſich hat. Auf dieſem Schloſſe hat einmal ein reiches443 und mächtiges Geſchlecht gewohnt. Einer von ihnen hatte in dem kleinen Orte die Kirche bauen und aus¬ zieren laſſen. Er hat die Kirche im altdeutſchen Stile gebaut, Spizbogen ſchließen ſie, ſchlanke Säulen aus Stein theilen ſie in drei Schiffe, und hohe Fenſter mit Steinroſen in ihren Bögen und mit den kleinen vieleckigen Täfelchen geben ihr Licht. Der Hochaltar iſt aus Lindenholz geſchnizt, ſteht wie eine Monſtranze auf dem Prieſterplaze, und iſt von fünf Fenſtern umgeben. Viele Zeiten ſind vorübergegan¬ gen. Der Gründer iſt geſtorben, man zeigt ſein Bild aus rothem Marmor in Halbarbeit auf einer Platte in der Kirche. Andere Menſchen ſind gekommen, man machte Zuthaten in der Kirche, man bemalte und be¬ ſtrich die ſteinernen Säulen und die aus gehauenen Steinen gebauten Wände, man erſezte die zwei Sei¬ tenaltäre, von deren Geſtalt man jezt nichts mehr weiß, durch neue, und es geht die Sage, daß ſchöne Glasgemälde die Monſtranze umſtanden haben, daß ſie fortgekommen ſeien, und daß gemeine viereckige Tafeln in die fünf Fenſter geſezt wurden. Sie ver¬ unzieren in der That noch jezt die Kirche. Die neuen Beſizer des Schloſſes waren nicht mehr ſo reich und mächtig, andere Zeiten hatten andere Gedanken be¬444 kommen, und ſo war der geſchnizte Hochaltar von Vögeln Fliegen und Ungeziefer beſchmuzt worden, die Sonne, die ungehindert durch die viereckigen Tafeln hereinſchien, hatte ihn ausgedörrt, Theile fielen herab, und wurden willkührlich wieder hinauf gethan und durcheinander geſtellt und in Arme Angeſichter und Gewänder bohrte ſich der Wurm.
Darum haben die Behörden des Landes den Al¬ tar wieder hergeſtellt, und zu dieſem gingen wir.
Euſtach geleitete uns in die Kirche, es war ein ſonniger Vormittag, kein Menſch war zugegen, und wir traten vor das Schnizwerk. Euſtach konnte vieles aus den Regeln der alten Kunſt und aus der Ge¬ ſchichte derſelben erklären. Er ſprach über das Mit¬ telfeld, in welchem drei ganze überlebensgroße Ge¬ ſtalten auf reich verzierten Geſtellen unter reichen Überdächern ſtanden. Es waren die Geſtalten des heiligen Petrus des heiligen Wolfgang — beide in Biſchofsgewändern — und des heiligen Chriſtopho¬ rus, wie er das Jeſuskindlein auf der Schulter trägt, und wie dasſelbe nach der Legende dem rieſenhaft ſtarken Manne ſchwer wie ein Weltball wird, und ſeine Kräfte erſchöpft, welche Erſchöpfung in der Geſtalt ausgedrückt iſt. Sehr viele kleine Geſtalten waren445 noch nach der Sitte unſerer Vorältern in dem Raume zerſtreut. An dem Mittelfelde waren in gezierten Rahmen zwei Flügel, auf welchen Bilder in halberha¬ bener Arbeit ſich befanden: die Verkündigung des Engels, die Geburt des Heilandes, die Opferung der drei Könige, und der Tod Marias. Oberhalb des Mittelſtückes war ein Giebel mit der emporſtrebenden durchbrochenen Arbeit, die man, wie Euſtach meint, fälſchlich die gothiſche nennt, da ſie vielmehr mittel¬ alterlich deutſch ſei. In dieſe durchbrochene Arbeit waren mehrere Geſtalten eingeſtreut. Zu beiden Sei¬ ten hinter den Flügeln ſtanden die Geſtalten des hei¬ ligen Florian und des heiligen Georg in mittelalter¬ licher Ritterrüſtung empor. Der heilige Florian hatte das Sinnbild des brennenden Hauſes und der heilige Georg das des Drachen zu ſeinen Füßen. Euſtach be¬ hauptete, daß ſich nur aus der Anſicht eines Sinn¬ bildes die Kleinheit ſolcher Beigaben zu alterthümli¬ chen Geſtalten erkläre, da unſere kunſtſinnigen Alt¬ vordern gewiß nicht den großen Fehler der Unver¬ hältnißmäßigkeit der Körper der Gegenſtände gemacht haben würden. Mein Gaſtfreund ſagte, ohne die Meinung Euſtachs verwerfen zu wollen, daß man die Sache auch etwa ſo auslegen könne, daß man446 durch die über alles Maß hinausgehende Größe der Geſtalten, gegen welche ein Haus oder ein Drache klein ſei, ihre Übernatürlichkeit habe ausdrücken wollen.
Mein Gaſtfreund ſagte, es müßten einmal nicht nur viel kunſtſinnigere Zeiten geweſen ſein als heute, ſondern es müßte die Kunſt auch ein allgemeineres Verſtändniß bis in das unterſte Volk hinab gefunden haben; denn wie wären ſonſt Kunſtwerke in ſo abge¬ legene Orte wie Kerberg gekommen, oder wie befän¬ den ſich ſolche in noch kleineren Kirchen und Kapellen des Hochlandes, die oft einſam auf einem Hügel ſtehen, oder mit ihren Mauern aus einem Waldberge hervor ragen, oder wie wären kleine Kirchlein Feld¬ kapellen Wegſäulen Denkſteine alter Zeit mit ſolcher Kunſt gearbeitet: ſo wie heut zu Tage der Kunſtver¬ fall bis in die höheren Stände hinauf rage, weil man nicht nur in die Kirchen Gräber und heiligen Orte abſcheuliche Geſtalten, die eher die Andacht zer¬ ſtören als befördern, von dem Volke ſtellen läßt, ſondern auch bis zu ſich hinauf in das herrſchaftliche Schloß ſo oft die leeren und geiſtesarmen Arbeiten einer ohnmächtigen Zeit zieht. Meines Gaſtfreun¬ des und Euſtachs bemächtigte ſich bei dieſen Be¬447 trachtungen eine Traurigkeit, welche ich nicht ganz begrif.
Wir betrachteten nach dem Altare auch noch die Kirche, betrachteten das Steinbild des Mannes, der ſie hatte erbauen laſſen, und betrachteten noch andere alte Grabdenkmale und Inſchriften. Es zeigte ſich hier, daß die fünf Fenſter des Prieſterplazes nicht wie die Fenſter des Kirchenſchiffes in ihren Spizbogen Stein¬ roſen hatten, was als neuer Beweis galt, daß das Glas aus dieſen Fenſtern einmal heraus genommen worden war, und daß man zu beſſerer Gewinnung der Gemälde in den Spizbogen oder gar zu bequeme¬ rer Einſezung der viereckigen Tafeln die ſteinernen Faſſungen weggeräumt habe.
Ich ging mit manchem Gedanken bereichert neben meinen zwei Begleitern aus der Kirche.
Auf der Rückfahrt ſchlugen wir einen anderen Weg ein, damit ich auch noch andere Theile des Lan¬ des zu ſehen bekäme. Wir beſuchten noch ein paar Kirchen und kleinere Bauwerke, und Euſtach verſprach mir, daß er mir, wenn wir nach Hauſe gekommen wären, die Zeichnungen von den Dingen zeigen würde, welche wir geſehen hatten. Die Männer ſpra¬ chen auf der Rückreiſe auch von der muthmaßlichen448 Zeit, in welcher die Kirche, die das Ziel unſerer Reiſe geweſen war, entſtanden ſein könnte. Sie ſchloſſen auf dieſe Zeit aus der Art und Weiſe des Baues und aus manchen Verzierungen. Sie bedauerten nur, daß man Näheres darüber aus Urkunden nicht erfahren könne, da das Schriftgewölbe des alten Schloſſes un¬ zugänglich gehalten werde.
Wir fuhren am Mittage des nächſten Tages wie¬ der die ſtaffelartigen Erhebungen hinab, und gelang¬ ten in ſpäter Nacht in das Roſenhaus.
Ich mahnte in ein paar Tagen darauf den Gärt¬ ner an unſern verabredeten Gang nach Ingheim. Er freute ſich über meine Achtſamkeit, wie er es nannte, und an einem freundlichen Nachmittage gingen wir in das Schloß hinüber. Wir ſagten die Urſache unſe¬ res Beſuches, und wurden mit Zuvorkommenheit auf¬ genommen. Wir gingen ſogleich in das Gewächs¬ haus, und es war in Wirklichkeit eine ſehr ſchöne und zu anſehnlicher Größe ausgebildete Pflanze, zu der mich der Gärtner Simon geführt hatte. Ich kannte nicht genau, wie weit ſich dieſe Pflanzen überhaupt entwickeln, und welche Größe ſie zu erreichen vermö¬ gen; aber eine größere habe ich nirgends geſehen. Daß man ſie in Ingheim nicht viel achte, erkannte ich449 ebenfalls; denn der Winkel des Gewächshauſes, in welchem ſie in freiem Boden ſtand, war der vernach¬ läſſigteſte, es lagen Blumenſtäbe Baſtbänder welke Blätter und dergleichen dort, und man hatte ihn mit Geſtellen, auf welchen andere Pflanzen ſtanden, ver¬ ſtellt, daß ſein Anblick den Augen entzogen werde. Man konnte den grünen Arm dieſer Pflanze wohl an der Decke des Hauſes hingehen ſehen, ich hatte aber dort hinauf bei meiner erſten Anweſenheit nicht ge¬ ſchaut. Mein Begleiter erkannte jezt, daß es ein Ce¬ reus peruvianus ſei, und erklärte mir ſeine Merkmale. Sonſt aber konnten wir keine Cactus in Ingheim entdecken. Nach mancher Aufmerkſamkeit, die uns in dem Schloſſe noch zu Theil wurde, begaben wir uns gegen Abend wieder auf den Rückweg, und ich tröſtete meinen alten Begleiter mit den Worten, daß ich glaube, daß es nicht ſchwer ſein werde, dieſe Pflanze in das Roſenhaus zu bringen. Dort würde ſie die Sammlung ergänzen und zieren, während ſie in Ing¬ heim allein iſt. Auch wird man wohl einem Wunſche meines Gaſtfreundes willfährig ſein, und ich werde die Sache ſchon zu fördern trachten.
Nach kurzer Zeit traten wir unſern Weg zum Be¬ ſuche in dem Sternenhofe an. Dieſes Mal fuhr außerStifter, Nachſommer. I. 29450Euſtach auch Guſtav mit. Die Grauſchimmel wurden vor einen größeren Wagen geſpannt, als wir in den Hochlanden gehabt hatten, und wir fuhren mit ihnen über den Hügel hinab. Es war ſehr früh am Mor¬ gen noch lange vor Sonnenaufgang. Wir fuhren auf der Hauptſtraße gegen Rohrberg zu, und fuhren end¬ lich auf der Anhöhe an dem Alizwalde empor. Da die Pferde langſam den Weg hinan gingen, ſagte mein Gaſtfreund: „ Es iſt möglich, daß ihr im vori¬ gen Jahre an dieſer Stelle Mathilden und Natalien geſehen habt. Sie erzählten mir, als ſie zum Beſuche der Roſenblüthe zu mir kamen, und ich ihnen von euch von eurer Anweſenheit bei mir und von eurer an dem Morgen ihrer Ankunft erfolgten Abreiſe ſagte, daß ſie einem Fußreiſenden auf der Alizhöhe begegnet ſeien, der dem ungefähr gleich geſehen habe, den ich ihnen beſchrieben. “
Plözlich war es mir ganz klar, daß wirklich Ma¬ thilde und Natalie die zwei Frauen geweſen waren, welchen ich an jenem Morgen an dieſer Stelle begeg¬ net bin. Mir waren jezt deutlich dieſelben Reiſehüte vor Augen, die ſie auch dieſes Mal aufgehabt hatten, ich ſah die Züge Nataliens wieder, und auch der Wagen und die braunen Pferde kamen mir in die451 Erinnerung. Darum alſo war mir Natalie immer als ſchon einmal geſehen vorgeſchwebt. Ich hatte ja ſo¬ gar damals gedacht, daß das menſchliche Angeſicht etwa der edelſte Gegenſtand für die Zeichnungskunſt ſein dürfte, und hatte ſie als unbeholfner Menſch, der im Zurechtlegen aller Eindrücke geſchickter iſt als in dem der menſchlichen, doch wieder aus meiner Vorſtellungs¬ kraft verloren. Ich ſagte zu meinem Gaſtfreunde, daß er durch ſeine Bemerkung meinem Gedächtniſſe zu Hilfe gekommen ſei, daß ich jezt alles klar wiſſe, und daß mir auf dieſer Anhöhe Mathilde und Natalie be¬ gegnet ſeien, und daß ich ihnen, da der Wagen lang¬ ſam den Berg hinab fuhr, nachgeſehen habe.
„ Ich habe mir es gleich ſo gedacht, “erwiederte er.
Aber auch etwas anderes fiel mir ein, und machte, daß mein Angeſicht erröthete. Alſo hatte mein Gaſt¬ freund von mir mit den Frauen geſprochen, und mich ſogar beſchrieben. Er hatte alſo einen Antheil an mir genommen. Das freute mich von dieſem Manne ſehr.
Als wir auf der Höhe des Berges angekommen waren, ließ mein Gaſtfreund an einer Stelle, wo das Seitengebüſch des Weges eine Durchſicht erlaubte, halten, ſtand im Wagen auf, und bath mich, das Gleiche zu thun. Er ſagte, daß man an dieſer Stelle29 *452das Stück des Alizwaldes, das zu dem Asperhofe ge¬ höre, überſehen könne. Er wies mir mit dem Zeige¬ finger an den Farbunterſchieden des Waldes, die durch die Miſchung der Buchen und Tannen durch Licht und Schatten und durch andere Merkmale her¬ vorgebracht wurden, die Grenzen dieſes Beſizthumes nach. Als ich dies genugſam verſtanden, und ihm auch mit dem Finger ungefähr die Stellen des Waldes ge¬ zeigt hatte, an denen ich ſchon geweſen war, ſezten wir uns wieder nieder, und fuhren weiter.
Es war bei dieſer Gelegenheit das erſte Mal ge¬ weſen, daß ich aus ſeinem Munde den Namen Asper¬ hof gehört habe, mit dem er ſein Beſizthum bezeich¬ nete.
Nach kurzer Fahrt trennten wir uns von der nach Oſten gehenden Hauptſtraße, und ſchlugen einen ge¬ wöhnlichen Verbindungsweg nach Süden ein. Wir fuhren alſo dem Hochgebirge näher. Am Mittage blieben wir eine ziemlich lange Zeit zur Erquickung und zum Ausruhen der Pferde, auf deren Pflege mein Gaſtfreund ſehr ſah, in einem einzeln ſtehenden Gaſt¬ hofe, und es war ſchon am Abende in tiefer Däm¬ merung, als mir mein Gaſtfreund die Umriſſe des Sternenhofes zeigte. Ich war ſchon zweimal in der453 Gegend geweſen, erinnerte mich ſogar im Allgemeinen auf das Gebäude, und wußte genau, daß am Fuße des Hügels, auf welchem es ſtand, ſehr ſchöne Ahorne wuchſen. Ich hatte aber nie Urſache gehabt, mich weiter um dieſe Gegenſtände zu kümmern.
Wir kamen bei Sternenſcheine zu den mir bekann¬ ten Ahornen, fuhren einen Hügel empor, legten einen Thorweg zurück, und hielten in einem Hofe. In dem¬ ſelben ſtanden vier große Bäume, an deren eigen¬ thümlichen gegen den dunkeln Nachthimmel gehalte¬ nen Bildungen ich erkannte, daß es Ahorne ſeien. In ihrer Mitte plätſcherte ein Brunnen. Auf das Rollen des Wagens unter dem hallenden Thorwege kamen Diener mit Lichtern herbei, uns aus dem Wa¬ gen zu helfen. Gleich darauf erſchien auch Mathilde und Natalie in dem Hofe, um uns zu begrüßen. Sie geleiteten uns die Treppe hinan in einen Vorſaal, in welchem die Begrüßungen im Allgemeinen wiederholt wurden, und von wo aus man uns unſere Zimmer anwies.
Das meinige war ein großes freundliches Ge¬ mach, in welchem bereits auf dem Tiſche zwei Kerzen brannten. Ich legte, da der Diener die Thür hinter ſich geſchloſſen hatte, meinen Hut auf den Tiſch, und454 das Nächſte, was ich that, war, daß ich mehrere Male ſchnell in dem Zimmer auf und nieder ging, um die durch das Fahren erſteiften Glieder wieder ein wenig einzurichten. Als dieſes ziemlich gelungen war, trat ich an eines der offenen Fenſter, um herum zu ſchauen. Es war aber nicht viel zu ſehen. Die Nacht war ſchon zu weit vorgerückt, und die Lichter im Zimmer machten die Luft draußen noch finſterer. Ich ſah nur ſo viel, daß meine Fenſter ins Freie gin¬ gen. Nach und nach begränzten ſich vor meinen Augen die dunkeln Geſtalten der am Fuße des Hügels ſtehen¬ den Ahorne, dann kamen Flecken von dunkler und fahler Farbe, wahrſcheinlich Abwechslung von Feld und Wald, weiter war nichts zu unterſcheiden als der glänzende Himmel darüber, der von unzähligen Ster¬ nen aber nicht von dem geringſten Stückchen Mond beleuchtet war.
Nach einer Zeit kam Guſtav, und holte mich zu dem Abendeſſen ab. Er hatte eine große Freude, daß ich in dem Sternenhofe ſei. Ich ordnete aus meinem Reiſeſacke, der heraufgeſchafft worden war, ein wenig meine Kleider, und folgte dann Guſtav in das Spei¬ ſezimmer. Dasſelbe war faſt wie das in dem Roſen¬ hauſe. Mathilde ſaß wie dort in einem Ehrenſtuhle455 oben an, ihr zur Rechten mein Gaſtfreund und Na¬ talie ihr zur Linken ich Euſtach und Guſtav. Auch hier beſorgte eine Haushälterin und eine Magd den Tiſch. Der Hergang bei dem Speiſen war der nehm¬ liche wie an jenen Abenden bei meinem Gaſtfreunde, an denen wir alle beiſammen geweſen waren.
Um von der Reiſe ausruhen zu können, trennte man ſich bald, und ſuchte ſeine Zimmer.
Ich entſchlief unter Unruhe, ſank aber nach und nach in feſteren Schlummer, und erwachte, da die Sonne ſchon aufgegangen war.
Jezt war es Zeit herum zu ſchauen.
Ich kleidete mich ſo ſchnell und ſo ſorgfältig an, als ich konnte, ging an ein Fenſter, öffnete es, und ſah hinaus. Ein ganz gleicher ſehr ſchön grüner Ra¬ ſen, der durch keine Blumengebüſche oder dergleichen unterbrochen war, ſondern nur den weißen Sandweg enthielt, breitete ſich über die gedehnte Dachung des Hügels, auf der das Gebäude ſtand, hinab. Auf dem Sandwege aber gingen Natalie und Guſtav herauf. Ich ſah in die ſchönen jugendlichen Angeſichter, ſie aber konnten mich nicht ſehen, weil ſie ihre Augen nicht erhoben. Sie ſchienen in traulichem Geſpräche begriffen zu ſein, und bei ihrer Annäherung — an456 dem Gange an der Haltung an den großen dunklen Augen an den Zügen der Angeſichter — ſah ich wie¬ der recht deutlich, daß ſie Geſchwiſter ſeien. Ich ſah auf ſie, ſo lange ich ſie erblicken konnte, bis ſie end¬ lich der dunkle Thorweg aufgenommen hatte.
Jezt war die Gegend ſehr leer.
Ich blickte kaum auf ſie.
Allgemach entwickelten ſich aber wieder freund¬ lich Felder Wäldchen und Wieſen im Gemiſch, ich erblickte Meierhöfe rings herumgeſtreut, hie und da erglänzte ein weißer Kirchthurm in der Ferne, und die Straße zog einen lichten Streifen durch das Grün. Den Schluß machte das Hochgebirge ſo klar, daß man an dem untern Theile ſeiner Wand die Thalwin¬ dungen an dem obern die Geſtaltung der Kanten und Flächen und die Schneetafeln wahrnehmen konnte.
Sehr groß und ſchön waren die Ahorne, die un¬ ten am Hügel ſtanden, deßhalb mochten ſie ſchon früher bei meinen Reiſen durch dieſe Gegend meine Aufmerkſamkeit erregt haben. Von ihnen zogen ſich Erlenreihen fort, die den Lauf der Bäche anzeigten.
Das Haus mußte weitläufig ſein; denn die Wand, in der ſich meine Fenſter befanden, und die ich hin¬ ausgebeugt überſehen konnte, war ſehr groß. Sie457 war glatt mit vorſpringenden ſteinernen Fenſterſimſen, und hatte eine grauweißliche Farbe, mit der ſie offen¬ bar erſt in neuerer Zeit übertüncht worden war.
Hinter dem Hauſe mußte vielleicht ein Garten oder ein Wäldchen ſein, weil ich Vogelgeſang herüber hörte. Auch war es mir zuweilen, als vernähme ich das Rauſchen des Hofbrunnens.
Der Tag war heiter.
Ich harrte nun der Dinge, die kommen ſollten.
Ein Diener rief mich zu dem Frühmahle. Es war zu derſelben Zeit wie im Roſenhauſe. Als ich in das Speiſezimmer getreten war, ſagte mir Mathilde, daß es ſehr lieb von mir ſei, daß ich ihre Freunde und ihren Sohn in den Sternenhof begleitet habe, ſie werde ſich bemühen, daß es mir in demſelben gefalle, wozu ihr ihr Freund, der mir den Asperhof anziehend mache, beiſtehen müſſe.
Ich antwortete, daß ich mich auf die Reiſe in den Sternenhof ſehr gefreut habe, und daß ich mich freue in demſelben zu ſein. Von einer Bedeutung ſei es nicht, daß mir eine Rückſicht zu Theil werde, ich bitte nur, daß man, wenn ich etwas fehle, es nachſehe.
Nach mir trat Euſtach ein. Mathilde begrüßte auch ihn noch einmal.
458Guſtav, der ſchon zugegen war, geſellte ſich zu mir.
Die Frauen waren häuslich und ſchön aber min¬ der einfach als in dem Roſenhauſe gekleidet. Mei¬ nen Gaſtfreund ſah ich zum erſten Male in ganz an¬ deren Kleidern als auf ſeiner Beſizung und auf dem Beſuche zu Ingheim. Er war ſchwarz mit einem Fracke, der einen etwas weiteren und bequemeren Schnitt hatte als gewöhnlich, und ſogar einen leichten Biberhut trug er in der Hand.
Nach dem Frühmahle ſagte Mathilde, ſie wolle mir ihre Wohnung zeigen. Die andern gingen mit. Wir traten aus dem Speiſezimmer in einen Vorſaal. Am Ende desſelben wurden zwei Flügelthüren aufge¬ than, und ich ſah in eine Reihe von Zimmern, welche nach der ganzen Länge des Hauſes hinlaufen mußte. Als wir eingetreten waren, ſah ich, daß in den Zim¬ mern alles mit der größten Reinheit Schönheit und Zuſammenſtimmung geordnet war. Die Thüren ſtan¬ den offen, ſo daß man durch alle Zimmer ſehen konnte. Die Geräthe waren paſſend, die Wände wa¬ ren mit zahlreichen Gemälden geziert, es ſtanden Glaskäſten mit Büchern, es waren muſikaliſche Ge¬ räthe da, und auf Geſtellen, die an den rechten Orten459 angebracht waren, befanden ſich Blumen. Durch die Fenſter ſah die nähere Landſchaft und die ferneren Gebirge herein.
Es zeigte ſich, daß dieſe Zimmer ein ſchöner Spa¬ ziergang ſeien, der unter dem Dache und zwiſchen den Wänden hinführte. Man konnte ſie entlang ſchreiten, von angenehmen Gegenſtänden umgeben ſein, und die Kälte oder das Ungeſtüm des Wetters oder Win¬ ters nicht empfinden, während man doch Feld und Wald und Berg erblickte. Selbſt im Sommer konnte es Vergnügen gewähren, hier bei offenen Fenſtern gleichſam halb im Freien und halb in der Kunſt zu wandeln. Da ich meinen Blick mehr auf das Einzelne richtete, fielen mir die Geräthe beſonders auf. Sie waren neu und nach ſehr ſchönen Gedanken gebildet. Sie ſchickten ſich ſo in ihre Pläze, daß ſie gewiſſerma¬ ßen nicht von Außen gekommen, ſondern zugleich mit dieſen Räumen entſtanden zu ſein ſchienen. Es waren an ihnen ſehr viele Holzarten vermiſcht, das erkannte ich ſehr bald, es waren Holzarten, die man ſonſt nicht gerne zu Geräthen nimmt, aber ſie ſchienen mir ſo zu ſtimmen, wie in der Natur die ſehr ver¬ ſchiedenen Geſchöpfe ſtimmen.
Ich machte in dieſer Hinſicht eine Bemerkung ge¬460 gen meinen Gaſtfreund, und er antwortete: „ Ihr habt einmal gefragt, ob Gegenſtände, die wir in un¬ ſerem Schreinerhauſe neu gemacht haben, in meinem Hauſe vorhanden ſeien, worauf ich geantwortet habe, daß nichts von Bedeutung in demſelben ſei, daß ſich aber einige geſammelt in einem anderen Orte befin¬ den, in den ich euch, wenn ihr Luſt zu ſolchen Dingen hättet, geleiten würde. Dieſe Zimmer hier ſind der andere Ort, und ihr ſeht die neuen Geräthe, die in unſerem Schreinerhauſe verfertigt worden ſind. “
„ Es iſt aber zu bewundern, wie ſehr ſie in ihren Abwechslungen und Geſtalten hieher paſſen, “ſagte ich.
„ Als wir einmal den Plan gefaßt hatten, die Zim¬ mer Mathildens nach und nach mit neuen Geräthen zu beſtellen, “erwiederte er, „ ſo wurde die ganze Reihe dieſer Zimmer im Grund - und Aufriſſe aufgenom¬ men, die Farben beſtimmt, welche die Wände der ein¬ zelnen Zimmer haben ſollten, und dieſe Farben gleich in die Zeichnungen getragen. Hierauf wurde zur Beſtimmung der Größe der Geſtalt und der Farbe mithin der Hölzer der einzelnen Geräthe geſchritten. Die Farbezeichnungen derſelben wurden verfertigt, und mit den Zeichnungen der Zimmer verglichen. 461Die Geſtalten der Geräthe ſind nach der Art entwor¬ fen worden, die wir vom Alterthume lernten, wie ich euch einmal ſagte, aber ſo daß wir nicht das Alterthum geradezu nachahmten, ſondern ſelbſtſtän¬ dige Gegenſtände für die jetzige Zeit verfertigten mit Spuren des Lernens an vergangenen Zeiten. Wir ſind nach und nach zu dieſer Anſicht gekommen, da wir ſahen, daß die neuen Geräthe nicht ſchön ſind, und daß die alten in neue Räume zu wohnlicher Zu¬ ſammenſtimmung nicht paßten. Wir haben uns ſelber gewundert, als die Sachen nach vielerlei Verſuchen Zeichnungen und Entwürfen fertig waren, wie ſchön ſie ſeien. In der Kunſt, wenn man bei ſo kleinen Dingen von Kunſt reden kann, iſt eben ſo wenig ein Sprung möglich als in der Natur. Wer plözlich et¬ was ſo Neues erfinden wollte, daß weder den Theilen noch der Geſtaltung nach ein Ähnliches da geweſen iſt, der würde ſo thöricht ſein wie der, der fordern würde, daß aus den vorhandenen Thieren und Pflan¬ zen ſich plözlich neue nicht dageweſene entwickeln. Nur daß in der Schöpfung die Allmählichkeit immer rein und weiſe iſt; in der Kunſt aber, die der Freiheit des Menſchen anheim gegeben iſt, oft Zerriſſenheit oft Stillſtand oft Rückſchritt erſcheint. Was die Hölzer462 anbelangt, ſo ſind da faſt alle und die ſchönſten Blät¬ ter verwendet worden, die wir aus den Knollen der Erlen geſchnitten haben, die in unſerer Sumpfwieſe gewachſen ſind. Ihr könnt ſie dann betrachten. Wir haben uns aber auch bemüht, Hölzer aus unſerer ganzen Gegend zu ſammeln, die uns ſchön ſchienen, und haben nach und nach mehr zuſammengebracht, als wir anfänglich glaubten. Da iſt der ſchneeige glatte Bergahorn der Ringelahorn die Blätter der Knollen von dunkeln Ahorn — alles aus den Aliz¬ gründen — dann die Birke von den Wänden und Klip¬ pen der Aliz der Wachholder von der dürren ſchiefen Haidefläche die Eſche die Ebereſche die Eibe die Ulme ſelbſt Knorren von der Tanne der Haſelſtrauch der Kreuzdorn die Schlehe und viele andere Geſträuche, die an Feſtigkeit und Zartheit wetteifern, dann aus unſeren Gärten der Wallnußbaum die Pflaume der Pfirſich der Birnbaum die Roſe. Euſtach hat die Blätter der Hölzer alle gemalt und zur Vergleichung zuſammengeſtellt, er kann euch die Zeichnung einmal im Asperhofe zeigen, und die vielen Arten noch ange¬ ben, die ich hier nicht genannt habe. In der Holz¬ ſammlung müſſen ſie ja auch vorhanden ſein. “
Ich betrachtete die Sachen genauer. Die Erlen¬463 blätter, von denen mir mein Gaſtfreund im vorigen Jahre geſagt hatte, daß ſie an einem anderen Orte verwendet worden ſeien, waren in der That außeror¬ dentlich, ſo feurig und faſt erhaben auch ungemein groß, alles andere Holz, wie zart wie ſchön in der Zuſammenſtellung, daß man gar nicht ahnen ſollte, daß dies in unſeren Wäldern iſt. Und die Geſtalten der Geräthe, wie leicht wie fein wie anſchmiegend, ſie waren ganz anders als die jezt verfertigt werden, und waren doch neu und für unſere Zeit paſſend. Ich erkannte, welch ein Werth in den Zeichnungen liege, die Euſtach habe. Ich dachte an meinen Vater, der ſolche Dinge ſo liebt. Ach wenn er nur hier wäre, daß er ſie ſehen könnte. Mir war, als gingen mir neue Kenntniſſe auf. Ich wagte einen Blick auf Na¬ talie, ich wendete ihn aber ſchnell wieder weg; ſie ſtand ſo in Gedanken, daß ich glaube, daß ſie errö¬ thete, als ich ſie anblickte.
Mathilde ſagte zu Euſtach: „ Es iſt im Verlaufe der Zeit, ohne daß eine abſichtliche Störung vorge¬ kommen wäre, manches hier anders geworden und nicht mehr ſo ſchön als Anfangs. Wir werden es ein¬ mal, wenn ihr Zeit habt, und herüber kommen wollt,464 anſehen, ihr könnt die Fehler erkennen, und Mittel zur Abhilfe an die Hand geben.
Wir gingen nun weiter. Durch eine geöffnete Thür gelangten wir in Zimmer, welche in einer an¬ deren Richtung des Hauſes lagen. Die durchwander¬ ten hatten nach Süd geſehen, dieſe ſahen nach Weſt. Es war ein großer Saal und zwei Seitengemächer. Waren die früheren Zimmer lieb und wohnlich gewe¬ ſen, ſo waren dieſe wahrhaft prachtvoll. Der Saal war mit Marmor gepflaſtert, die Zimmer hatten alter¬ thümliche Wandbekleidung alterthümliche Fenſtervor¬ hänge und alterthümliche Geräthe, der Fußboden des Saales enthielt die ſchönſten ſeltenſten und zahlreich¬ ſten Gattungen unſers Marmors, nach einer Zeich¬ nung eingelegt, und ſo geglättet, daß er alle Dinge ſpiegelte. Es war der ernſteſte und feurigſte Teppich. Wir mußten hier auch Filzſchuhe anlegen. Auf dieſem Spiegelboden ſtanden die ſchönſten und wohlerhalten¬ ſten alten Schreine und andere Einrichtungsſtücke. Es waren hier die größten verſammelt. In den zwei anſtoßenden Gemächern ſtanden auf feurig farbigen Holzteppichen die kleineren zarteren und feineren. Waren gleich die alterthümlichen Geräthe nicht ſchö¬ ner als die bei meinem Gaſtfreunde — ich glaube,465 ſchönere wird es kaum geben — ſo zeigte ſich hier eine Zuſammenſtimmung, als müßten die, welche dieſe Dinge urſprünglich hatten herrichten laſſen, in ihren einſtigen Trachten bei den Thüren hereingehen. Es ergrif einen ein Gefühl eines Bedeutungsvollen.
„ Die Marmore, “ſagte mein Gaſtfreund, „ ſind aller Orten erworben, geſchliffen, geglättet, und nach einer alterthümlichen Zeichnung vieler Kirchenfenſter eingeſezt worden. “
„ Aber daß ihr die Geräthe ſo zuſammen gefunden habt, daß ſie wie ein Einziges ſtimmen, iſt zu ver¬ wundern, “ſagte ich.
„ Alſo empfindet ihr, daß ſie ſtimmen? “erwiederte er. „ Seht, das iſt mir lieb, daß ihr das ſagt. Ihr ſeid ein Beobachter, der nicht von der Sucht nach Altem befangen iſt, wie uns unſere Gegner vorwer¬ fen. Ihr empfangt alſo das Gefühl von den Gegen¬ ſtänden, und tragt es nicht in dieſelben hinein, wie auch unſere Gegner von uns ſagen. Die Sache aber iſt nur ſo: als man die Nichtigkeit und Leere der lezt¬ vergangenen Zeiten erkannte, und wieder auf das Alte zurück wies, und es nicht mehr als Plunder und Trödel anſah, ſondern Schönes darin ſuchte: da ge¬ ſchahen freilich thörichte Dinge. Man ſammelte wie¬Stifter, Nachſommer. I. 30466der Altes und nur Altes. Statt der neuen Mode mit neuen Gegenſtänden kam die neueſte mit alten Ge¬ genſtänden. Man raffte Schreine Bethſchemel Tiſche und dergleichen zuſammen, weil ſie alt waren, nicht weil ſie ſchön waren, und ſtellte ſie auf. Da ſtanden nun Dinge beiſammen, die in ihren Zeiten weit von einander ablagen, es konnte nicht fehlen, daß ein Wi¬ derwärtiges herauskam, und daß die Feinde des Al¬ ten, wenn ſie Gefühl hatten, ſich abwenden mußten. Nichts aber kann ſo wenig paſſen als alte Dinge von ſehr verſchiedenen Zeiten. Die Voreltern legten ſo ſehr einen eigenthümlichen Geiſt in ihre Dinge — es war der Geiſt ihres Gemüthes und ihres allgemeinen Gefühlslebens — daß ſie dieſem Geiſte ſogar den Zweck opferten. Man bringt Linnen Kleider und der¬ gleichen in neue Geräthe zweckmäßiger unter als in alte. Man kann daher alte Geräthe von ziemlich glei¬ cher Zeit aber verſchiedenem Zwecke ohne große Stö¬ rung des Geiſtes der Traulichkeit und Innigkeit, der in ihnen wohnt, zuſammenſtellen, während von un¬ ſeren Geräthen, die keinen Geiſt aber einen Zweck haben, ſogleich ein Widerſinniges ausgeht, wenn man Dinge verſchiedenen Gebrauches in dasſelbe Zimmer thut, wie etwa den Schreibtiſch den Waſch¬467 tiſch den Bücherſchrein und das Bett. Die größte Wirkung erzielt man freilich, wenn man alte Geräthe aus derſelben und guten Zeit, die alſo denſelben Geiſt haben, und auch Geräthe des nehmlichen Zweckes in ein Zimmer bringt. Da ſpricht nun in der Wirklichkeit etwas ganz anderes als bei unſeren neuen Dingen. “
„ Und das ſcheint mir hier der Fall zu ſein, “ſagte ich.
„ Es iſt nicht alles alt, “erwiederte er. „ Viele Dinge ſind ſo unwiederbringlich verloren gegangen, daß es faſt unmöglich iſt, eine ganze Wohnung mit Gegenſtänden aus derſelben Zeit einzurichten, daß kein nothwendiges Stück fehlt. Wir haben daher lie¬ ber ſolche Stücke im alten Sinne neu gemacht als alte Stücke von einer ganz anderen Zeit zugemiſcht. Damit aber niemand irre geführt werde, iſt an jedem ſolchen altneuen Stücke ein Silberplättchen eingefügt, auf welchem die Thatſache in Buchſtaben eingegra¬ ben iſt. “
Er zeigte mir nun jene Gegenſtände, welche in dem Schreinerhauſe als Ergänzung hinzugemacht worden ſind.
Trozdem war bei mir der Eindruck immer der¬ ſelbe, und ich hatte beſtändig und beſtändig den Ge¬30 *468danken an meinen Vater in dem Haupte. Man führte mich auch zu den alten ſchweren mit Gold und Sil¬ ber durchwirkten Fenſtervorhängen, und zeigte mir dieſelben als ächt, ſo auch die ledernen mit Farben und Metallverzierungen verſehenen Belege der Zim¬ merwände. Nur hat man da in dem Leder nachhelfen, und ihm Nahrung geben müſſen.
Als ich dieſe ernſten und feierlichen Gemächer ge¬ nugſam betrachtet hatte, öffnete Mathilde das ſchwere Schloß der Ausgangsthür, und wir kamen in meh¬ rere unbedeutende Räume, die nach Norden ſahen, worunter auch der allgemeine Eintrittsſaal und das Speiſezimmer waren. Von da gelangten wir in den Flügel, deſſen Fenſter die Morgenſonne hatten. Hier waren die Wohnzimmer Mathildens und Nataliens. Jede hatte ein größeres und ein kleineres Gemach. Sie waren einfach mit neuen Geräthen eingerichtet, und drückten durch Dinge unmittelbaren Gebrauches die Bewohntheit aus, ohne daß ich die vielen Spie¬ lereien ſah, mit denen gerne zwar nicht bei meinen Eltern aber an anderen Orten unſerer Stadt die Zimmer der Frauen angefüllt ſind. In jeder der zwei Wohnungen ſah ich eine der Zithern, die in dem Ro¬ ſenhauſe geweſen waren. Bei Natalien herrſchten be¬469 ſonders Blumen vor. Es ſtanden Geſtelle herum, auf welche ſie von dem Garten herauf gebracht wor¬ den waren, um hier zu verblühen. Auch ſtanden grö¬ ßere Pflanzen, namentlich ſolche, welche ſchöne Blät¬ ter oder einen ſchönen Bau hatten, in einem Halb¬ kreiſe und in Gruppen auf dem Fußboden.
In einem Vorſaale, der den Eintritt zu dieſen Wohnungen bildete, befand ſich ein Clavier.
Die Zimmer im zweiten Stockwerke des Hauſes waren geblieben, wie ſie früher geweſen waren. Sie ſahen ſo aus, wie ſie gerne in weitläufigen alten Schlöſſern auszuſehen pflegen. Sie waren mit Ge¬ räthen vieler Zeiten, die meiſtens ohne Geſchmack waren, mit Spielereien vergangener Geſchlechter, mit einigen Waffen, und mit Bildern namentlich Bild¬ niſſen, die nach der Laune des Tages gemacht waren, angefüllt. Namentlich waren an den Wänden der Gänge Abbildungen aufgehängt von großen Fiſchen, die man einmal gefangen, nebſt beigefügter Beſchrei¬ bung, von Hirſchen, die man geſchoſſen, von Feder¬ wild von Wildſchweinen und dergleichen. Auch Lieb¬ lingshunde fehlten nicht. In dieſem Stockwerke waren nach Süden die Gaſtzimmer, und der Flügel derſelben470 war geordnet worden. Hier befand ſich auch mein Zimmer nebſt dem Guſtavs.
Nach der Beſichtigung der Zimmer gingen wir in das Freie. Die breite Haupttreppe aus rothem Mar¬ mor führte in den Hof hinab. Derſelbe zeigte, wie groß das Gebäude ſei. Er war von vier ganz gleichen langen Flügeln umſchloſſen. In ſeiner Mitte war ein Becken von grauem Marmor, in welches ſich aus einer Verſchlingung von Waſſergöttinnen vier Strah¬ len ergoſſen. Um das Becken ſtanden vier Ahorne, welche gewiß nicht kleiner waren als die, welche den Schloßhügel ſäumten. Auf dem Sandplaze unter den Ahornen waren Ruhebänke ebenfalls aus grauem Marmor. Von dieſem Sandplaze liefen Sandwege wie Strahlen auseinander. Der übrige Raum war gleichförmiger Raſen, nur daß an den Mauern des Hauſes eine Pflaſterung von glatten Steinen herum führte.
Von dem Hofe gingen wir bei dem großen Thore hinaus. Ich wendete mich, da wir draußen waren, unwillkührlich um, um das Gebäude zu betrachten. Über dem Thore war ein ziemlich umfangreiches ſtei¬ nernes Schild mit ſieben Sternen. Sonſt ſah ich nichts, als was ich bei meinem Morgenausblicke aus471 dem Fenſter ſchon geſehen hatte. Wir gingen auf einem Sandwege des grünen Raſens, wir umgingen das Haus, und gelangten hinter demſelben in den Garten. Hier ſah ich, was ich mir ſchon früher ge¬ dacht hatte, daß das Gebäude, welches man wohl ein Schloß nennen mußte, nur aus den vier großen Flü¬ geln beſtehe, welche ein vollkommenes Viereck bilde¬ ten. Die Wirthſchaftsgebäude ſtanden ziemlich weit entfernt in dem Thale.
Der Garten begann mit Blumen Obſt und Ge¬ müſe, zeigte aber, daß er in der Entfernung mit et¬ was endigen müſſe, das wie ein Laubwald ausſah. Alles war rein und ſchön gehalten. Der Garten war auch hier mit gefiederten Bewohnern bevölkert, und man hatte ähnliche Vorrichtungen wie im Asperhofe. Die Bäume ſtanden daher auch vortrefflich und ge¬ ſund. Roſen zeigten ſich ebenfalls viele nur nicht in ſo beſonderen Gruppirungen wie bei meinem Gaſt¬ freunde. Die Gewächshäuſer des Gartens waren ausgedehnt und weit größer und ſorgfältiger gepflegt als auf dem Asperhofe. Der Gärtner ein junger und, wie es ſchien, unterrichteter Mann empfing uns mit Höflichkeit und Ehrfurcht am Eingänge derſelben. Er zeigte mir mit mehr Genauigkeit ſeine Schäze, als472 ich mit der Rückſicht auf meine Begleiter, denen nichts neu war, für vereinbarlich hielt. Es waren viele Pflanzen aus fremden Welttheilen da ſowohl im war¬ men als im kalten Hauſe. Beſonders erfreut war er über ſeine reiche Sammlung von Ananas, die einen eigenen Plaz in einem Gewächshauſe einnahmen.
Nicht weit hinter dem Gewächshauſe ſtand eine Gruppe von Linden, welche beinahe ſo ſchön und ſo groß waren wie die in dem Garten des Asperhofes. Auch war der Sand unter ihrem Schattendache ſo rein gefegt, und um die Ähnlichkeit zu vollenden, lie¬ fen auf demſelben Finken Ammern Schwarzkehlchen und andere Vögel ſo traulich hin wie auf dem Sande des Roſenhauſes. Daß Bänke unter den Linden ſtan¬ den, iſt natürlich. Die Linde iſt der Baum der Wohn¬ lichkeit. Wo wäre eine Linde in deutſchen Landen — und gewiß iſt es in andern auch ſo — unter der nicht eine Bank ſtände, oder auf der nicht ein Bild hinge, oder neben welcher ſich nicht eine Kapelle befände. Die Schönheit ihres Baues das Überdach ihres Schattens und das geſellige Summen des Lebens in ihren Zweigen ladet dazu ein. Wir gingen in den Schatten der Linden.
„ Das iſt eigentlich der ſchönſte Plaz in dem Ster¬473 nenhofe, “ſagte Mathilde, „ und jeder, der den Gar¬ ten beſucht, muß hier ein wenig ruhen, daher ſollt ihr auch ſo thun. “
Mit dieſen Worten wies ſie auf die Bänke, die faſt in einem Bogen unter den Stämmen der Linden ſtanden, und hinter denen ſich eine Wand grünen Gebüſches aufbaute. Wir ſezten uns nieder. Das Summen, wie es jedes Mal in dieſen Bäumen iſt, war gleichmäßig über unſerm Haupte, das ſtumme Laufen der Vögel über den reinen Sand war vor un¬ ſern Augen, und ihr gelegentlicher Aufflug in die Bäume tönte leicht in unſere Ohren.
Nach einiger Zeit bemerkte ich, daß auch mit Un¬ terbrechungen ein leiſes Rauſchen hörbar ſei, gleich¬ ſam als würde es jezt von einem leichten Lüftchen her¬ getragen, jezt nicht. Ich äußerte mich darüber.
„ Ihr habt recht gehört, “ſagte Mathilde, „ wir wer¬ den die Sache gleich ſehen. “
Wir erhoben uns, und gingen auf einem ſchma¬ len Sandpfade durch die Gebüſche, die ſich in gerin¬ ger Entfernung hinter den Linden befanden. Als wir etwa vierzig oder fünfzig Schritte gegangen waren, öffnete ſich das Dickicht, und ein freier Plaz empfing uns, der rückwärts mit dichtem Grün geſchloſſen war. 474Das Grün beſtand aus Epheu, welcher eine Mauer von großen Steinen bekleidete, die an ihren beiden Enden rieſenhafte Eichen hatte. In der Mitte der Mauer war eine große Öffnung, oben mit einem Bo¬ gen begrenzt, gleichſam wie eine große Niſche oder wie eine Tempelwölbung. Im Innern dieſer Wöl¬ bung, die gleichfalls mit Eppich überzogen war, ruhte eine Geſtalt von ſchneeweißem Marmor — ich habe nie ein ſo ſchimmerndes und faſt durchſichtiges Weiß des Marmors geſehen, das noch beſonders merkwür¬ dig wurde durch das umgebende Grün. Die Geſtalt war die eines Mädchens, aber weit über die gewöhn¬ liche Lebensgröße, was aber in der Epheuwand und neben den großen Eichen nicht auffiel. Sie ſtüzte das Haupt mit der einen Hand, den anderen Arm hatte ſie um ein Gefäß geſchlungen, aus welchem Waſſer in ein vor ihr befindliches Becken rann. Aus dem Becken fiel das Waſſer in eine in den Sand gemauerte Vertiefung, von welcher es als kleines Bächlein in das Gebüſch lief.
Wir ſtanden eine Weile, betrachteten die Geſtalt, und redeten über ſie. Euſtach und ich koſteten auch mittelſt einer alabaſternen Schale, die in einer Ver¬475 tiefung des Epheus ſtand, von dem friſchen Waſſer, welches ſich aus dem Gefäße ergoß.
Hierauf gingen wir hinter der Eppichwand über eine Steintreppe empor, und erſtiegen einen kleinen Hügel, auf welchem ſich wieder Size befanden, die von verſchiedenen Gebüſchen beſchattet waren. Gegen das Haus zu aber gewährten ſie die Ausſicht. Wir mußten uns hier wieder ein wenig ſezen. Zwiſchen den Eichen gleichſam wie in einem grünen knorrigen Rahmen erſchien das Haus. Mit ſeinem hohen ſtei¬ len Dache von alterthümlichen Ziegeln und mit ſeinen breiten und hochgeführten Rauchfängen glich es einer Burg, zwar nicht einer Burg aus den Ritterzeiten, aber doch aus den Jahren, in denen man noch den Harniſch trug, aber ſchon die weichen Locken der Pe¬ rücke auf ihn herabfallen ließ. Die Schwere einer ſolchen Erſcheinung ſprach ſich auch in dem ganzen Bauwerke aus. Zu beiden Seiten des Schloſſes ſah man die Landſchaft und hinten das liebliche Blau der Gebirge. Die dunkeln Geſtalten der Linden, unter denen wir geſeſſen waren, befanden ſich weiter links, und ſtörten die Ausſicht nicht.
„ Man hat ſehr mit Unrecht in neuerer Zeit die Mauern dieſes Schloſſes mit der weißgrauen Tünche476 überzogen, “ſagte mein Gaſtfreund, „ wahrſcheinlich um es freundlicher zu machen, welche Abſicht man ſehr gerne zu Ende des vorigen Jahrhunderts an den Tag legte. Wenn man die großen Steine, aus denen die Hauptmauern errichtet ſind, nicht beſtrichen hätte, ſo würde das natürliche Grau derſelben mit dem Roſt¬ braun des Daches und dem Grün der Bäume einen ſehr zuſammenſtimmenden Eindruck gemacht haben. Jezt aber ſteht das Schloß da wie eine alte Frau, die weiß gekleidet iſt. Ich würde den Verſuch machen, wenn das Schloß mein Eigenthum wäre, ob man nicht mit Waſſer und Bürſten und zulezt auf trocke¬ nem Wege mit einem feinen Meißel die Tünche beſei¬ tigen könnte. Alle Jahre eine mäßige Summe darauf verwendet, würde jährlich die Ausſicht, des widrigen Anblickes erledigt zu werden, angenehm vermehren. “
„ Wir können ja den Verſuch nahe an der Erde machen, und aus der Arbeit einen ungefähren Koſten¬ anſchlag verfertigen, “ſagte Mathilde; „ denn ich ge¬ ſtehe gerne zu, daß mich auch der Anblick dieſer Farbe nicht erfreut, beſonders, da die Außenſeite der Mauern ganz von Steinen iſt, die mit feinen Fugen an einan¬ der ſtoßen, und man alſo bei Erbauung des Hauſes auf keine andere Farbe als die der Steine gerechnet477 hat. Jezt iſt das Schloß von Innen viel natürlicher, und, wenn auch nicht an eine Kunſtzeit erinnernd, doch in ſeiner Art zuſammen ſtimmender als von Außen. “
„ Das Grau der Mauer mit den grauen Stein¬ ſimſen der Fenſter, die nicht ungeſchickt gegliedert ſind, mit der Höhe und Breite der Fenſter, deren Verhält¬ niß zu den feſten Zwiſchenräumen ein richtiges iſt, würde, glaube ich, dem Hauſe ein ſchöneres Anſehen geben, als man jezt ahnt, “ſagte Euſtach.
Mir fielen bei dieſer Äußerung die Worte ein, welche mein Gaſtfreund einmal zu mir geſagt hatte, daß alte Geräthe in neuen Häuſern nicht gut ſtehen. Ich erinnerte mich, daß in dem Saale und in den alt eingerichteten Gemächern dieſes Schloſſes die hohen Fenſter die breiten Räume zwiſchen ihnen und die eigenthümlich geſtalteten Zimmerdecken den Geräthen ſehr zum Vortheile gereichten, was in Zimmern der neuen Art gewiß nicht der Fall geweſen wäre.
Als wir ſo ſprachen, kamen Natalie und Guſtav, die bei der Nymphe des Brunnens zurückgeblieben waren, die Steintreppe zu uns empor. Die Angeſich¬ ter waren ſanft geröthet, die dunkeln Augen blickten heiter in das Freie, und die beiden jugendlichen Ge¬478 ſtalten ſtellten ſich mit einer anmuthigen Bewegung hinter uns.
Von dieſem Hügel der Eichenausſicht gingen wir weiter in den Garten zurück, und gelangten endlich in das Gemiſch von Ahornen Buchen Eichen Tannen und anderen Bäumen, welches wie ein Wäldchen den Garten ſchloß. Wir gingen in den Schatten ein, und die Freudenäußerungen und das Geſchmetter der Vögel war kaum irgendwo größer als hier. Wir be¬ ſuchten Stellen, wo man der Natur nachgeholfen hatte, um dieſe Abtheilung noch angenehmer zu ma¬ chen, und Guſtav zeigte mir Bänke Tiſchchen und an¬ dere Pläze, wo er mit Natalien geſeſſen war, wo ſie gelernt wo ſie als Kinder geſpielt hatten. Wir gin¬ gen an den wunderbar von Licht und Schatten ge¬ ſprenkelten Stämmen dahin, wir gingen über die dun¬ keln und die leuchtenden Stellen der Sandwege, wir gingen an reichen grünenden Büſchen an Ruhebänken und ſogar an einer Quelle vorbei, und kamen durch Wendungen, die ich nicht bemerkt hatte, an einer Stelle wieder in den freien Garten zurück, die an der entgegengeſezten Seite von der lag, bei welcher wir das Wäldchen betreten hatten.
Wir ließen jezt die zwei großen Eichen links,479 eben ſo die Linden, und gingen auf einem anderen Wege in das Schloß zurück.
Das Mittageſſen wurde an dem äußerſt ſchö¬ nen Grün des Hügels unmittelbar vor dem Hauſe unter einem Dache von Linnen eingenommen.
Am Nachmittage beſprachen ſich Mathilde und Euſtach vorläufig über das, was in Hinſicht der Be¬ ſchädigungen geſchehen könnte, welche die neuen Ge¬ räthe in den Südzimmern ſowie die Fußböden und zum Theile auch die alten Geräthe in den Weſtzim¬ mern in der Zeit erlitten hatten. Gegen Abend wur¬ den der Meierhof und die Wirthſchaftsgebäude be¬ ſucht.
So wie Mathilde in dem Roſenhauſe um den weiblichen Antheil des Hausweſens ſich bekümmert, alles, was dahin einſchlug, beſehen, und Anleitungen zu Verbeſſerungen gegeben hatte: ſo that es mein Gaſtfreund in dem Sternenhofe mit allem was auf die äußere Verwaltung des Beſizes Bezug hatte, wo¬ rin er mehr Erfahrung zu haben ſchien als Mathilde. Er ging in alle Räume, beſah die Thiere und ihre Verpflegung, und beſah die Anſtalten zur Bewahrung oder Umgeſtaltung der Wirthſchaftserzeugniſſe. War mir dieſes Verhältniß ſchon in dem Roſenhauſe er¬480 ſichtlich geweſen, ſo war es hier noch mehr der Fall. In den Handlungen meines Gaſtfreundes und in dem kleinen Theile, den ich von ſeinen Geſprächen mit Mathilde über häusliche Dinge hörte, zeigte er ſich als ein Mann, der mit der Bewirthſchaftung eines großen Beſizes vertraut iſt, und die Pflichten, die ihm in dieſer Hinſicht zufallen, mit Eifer mit Umſicht und mit einem Blicke über das Ganze erfüllt, ohne eben deßhalb die Grenzen zu berühren, innerhalb wel¬ cher die Geſchäfte einer Frau liegen. Das geſchah ſo natürlich, als müßte es ſo ſein, und als wäre es nicht anders möglich.
Von dem Meierhofe gingen wir in die Wieſen und auf die Felder, welche zu der Beſizung gehörten. Wir gingen endlich über die Grenzen des Beſizthu¬ mes hinaus, gingen über den Boden anderer Men¬ ſchen, die wir zum Theile arbeitend auf den Feldern trafen, und mit denen wir redeten. Wir gelangten endlich auf eine Anhöhe, die eine große Umſicht ge¬ währte. Wir blieben hier ſtehen. Das erſte, auf das wir blickten, war das Schloß mit ſeinem grünen Hü¬ gel und im Schoße ſeiner umgürtenden Ahorne und des begrenzenden Gartenwaldes. Dann gingen wir auf andere Punkte über. Man zeigte und nannte mir481 die einzelnen Häuſer, die zerſtreut in der Landſchaft lagen, und durch die Linien von Obſtbäumen, die hier überall durch das Land gingen, wie durch grüne Ketten zuſammenhingen. Dann kam man auf die ent¬ fernteren Ortſchaften, deren Thürme hier zu erblicken waren. In dieſem Stoffe konnte ich ſchon mehr mit¬ reden, da mir die meiſten Orte bekannt waren. Als wir aber mit unſern Augen in die Gebirge gelangten, war ich faſt der Bewandertſte. Ich gerieth nach und nach in das Reden, da man mich um verſchiedene Punkte fragte, und ſah, daß ich Antwort zu geben wußte. Ich nannte die Berge, deren Spizen erkenn¬ bar hervortraten, ich nannte auch Theile von ihnen, ich bezeichnete die Thäler, deren Windungen zu ver¬ folgen waren, zeigte die Schneefelder, bemerkte die Einſattlungen, durch welche Berge oder ganze Gebirgs¬ züge zuſammenhingen oder getrennt waren, und ſuchte die Richtungen zu verdeutlichen, in denen bekannte Gebirgsortſchaften lagen oder bekannte Menſchen¬ ſtämme wohnten. Natalie ſtand neben mir, hörte ſehr aufmerkſam zu, und fragte ſogar um Einiges.
Als die Sonne untergegangen war, und die ſanfte Glut von den Gipfeln der Hochgebirge ſich verlor, gingen wir in das Schloß zurück.
Stifter, Nachſommer. I. 31482Das Abendeſſen wurde in dem Speiſezimmer ein¬ genommen.
So brachten wir mehrere Tage in freundlichem Umgange und in heiteren mitunter belehrenden Ge¬ ſprächen hin.
Endlich rüſteten wir uns zur Abreiſe. Am frühe¬ ſten Morgen war der Wagen beſpannt. Mathilde und Natalie waren aufgeſtanden, um uns Lebewohl zu ſagen. Mein Gaſtfreund nahm Abſchied von Ma¬ thilde und Natalie, Euſtach und Guſtav verabſchie¬ deten ſich, und ich glaubte auch einige Worte des Dankes für die gütige Aufnahme an Mathilde richten zu müſſen. Sie gab eine freundliche Antwort, und lud mich ein, bald wieder zu kommen. Selbſt zu Na¬ talie ſagte ich ein Wort des Abſchiedes, das ſie leiſe erwiederte.
Wie ſie ſo vor mir ſtand, begrif ich wieder, wie ich bei ihrem erſten Anblicke auf den Gedanken ge¬ kommen war, daß der Menſch doch der höchſte Ge¬ genſtand für die Zeichnungskunſt ſei, ſo ſüß gehen ihre reinen Augen und ſo lieb und hold gehen ihre Züge in die Seele des Betrachters.
Wir ſtiegen in den Wagen, fuhren den grünen Raſenhügel hinab, wendeten unſern Weg gegen483 Norden und kamen ſpät in der Nacht im Roſen¬ hauſe an.
Mein Bleiben war nun in dieſem Hauſe nicht mehr lange; denn ich hatte keine Zeit mehr zu verlie¬ ren. Ich packte meine Sachen ein, bezeichnete die Ki¬ ſten und Koffer, welchen Weg ſie zu nehmen hät¬ ten, beſuchte alle, von denen ich glaubte, Abſchied nehmen zu müſſen, dankte meinem Gaſtfreunde für alle Güte und Freundlichkeit, leiſtete das Verſprechen, wieder zu kommen, und wanderte eines Tages über den Roſenhügel hinunter. Da es zu einer Zeit ge¬ ſchah, in welcher Guſtav frei war, begleitete er und Euſtach mich eine Stunde Weges.
Ende des erſten Bandes.
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
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Fraktur
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