Das Recht der Überſezung bleibt vorbehalten.
Wir waren in dem nehmlichen Zimmer zum Speiſen zuſammen gekommen, in dem wir die Zeit her, die ich im Schloſſe geweſen war, unſer Mahl am Morgen Mittag und Abend, wie es die Tageszeit brachte, eingenommen hatten, der Tiſch war mit dem klaren weißen feinen Linnen gedeckt, in das ſchönere und alterthümlichere Blumen, als jezt gebräuchlich ſind, gleichſam wie Silber in Silber eingewebt wa¬ ren, der Diener ſtand mit den weißen Handſchuhen hinter uns, der Hausverwalter ging in dem Zimmer hin und her, und es war an der Wand der Schrein mit den Fächerabtheilungen, in denen die mannigfal¬ tigen Dinge ſich befanden, die in einem Speiſezimmer ſtets nöthig ſind: aber heute war mir alles wie feen¬Stifter, Nachſommer. III. 12haft. Mathilde hatte ein veilchenblaues Seidenkleid mit dunkleren Streifen an und um die Schultern war ein Gewebe von ſchwarzen Spizen. Sie kleidete ſich jedes Mal, wenn ein Gaſt da war, zum Speiſen neu an, hatte es bisher meinetwillen auch gethan, und hatte es an dieſem Abende nicht unterlaſſen. Mit dem fei¬ nen lieben und freundlichen Angeſichte, das durch die dunkle Seide faſt noch feiner und ſchöner wurde, ließ ſie ſich in ihren Armſtuhl zwiſchen uns nieder. Natalie war rechts und ich links. Natalie hatte nicht Zeit gefunden, ihr Kleid zu wechſeln, ſie hatte das¬ ſelbe lichtgraue Seidenkleid an, das ſie am Nachmit¬ tage getragen hatte, und das mir ſo lieb geworden war. Ich getraute mir faſt nicht, ſie anzuſehen, und auch ſie hatte die großen ſchönen unbeſchreiblich edlen Augen größtentheils auf die Mutter gerichtet. So vergingen einige Augenblicke. Es wurde das Gebet geſprochen, das Mathilde immer in ihrem Armſtuhle ſizend ſtille mit gefalteten Händen verrichtete, und das daher die Anderen ebenfalls ſizend und ſtille vollbrach¬ ten. Als dieſes geſchehen war, wurden, wie es der Gebrauch in dieſem Hauſe eingeführt hatte, die Flügelthüren geöffnet, ein Diener trat mit einem Topfe herein, ſetzte ihn auf den Tiſch, der Hausver¬3 walter nahm den Deckel desſelben ab, und ſagte, wie er immer that: „ ich wünſche ſehr wohl zu ſpeiſen. “
Mathilde ſtreckte den Arm mit dem dunkeln Sei¬ denkleide aus, nahm den großen ſilbernen Löffel, und ſchöpfte, wie ſie es ſich nie nehmen ließ zu thun, Suppe für uns auf die Teller, welche der Diener dar¬ reichte. Der Hausverwalter hatte, da er alles in Ord¬ nung ſah, das Zimmer nach ſeiner Gepflogenheit ver¬ laſſen. Das Abendeſſen war nun wie alle Tage. Mathilde ſprach freundlich und heiter von verſchiede¬ nen Gegenſtänden, die ſich eben darboten, und vergaß nicht, der abweſenden Freunde zu erwähnen und des Vergnügens zu gedenken, das ihre Rückkunft veran¬ laſſen werde. Sie ſprach von der Erndte, von dem Segen, der heuer überall ſo reichlich verbreitet ſei, und wie ſich alles, was ſich auf der Erde befinde, doch zulezt immer wieder in das Rechte wende. Als die Zeit des Abendeſſens vorüber war, erhob ſie ſich, und es wurden die Anſtalten gemacht, daß ſich jedes in ſeine Wohnung begebe. Mit derſelben ſanften Güte, mit der ſie mich vor dem Abendeſſen begrüßt hatte, verabſchiedete ſie ſich nun, wir wünſchten uns wechſel¬ ſeitig eine glückliche Ruhe, und trennten uns.
Als ich in meinem Zimmer angekommen war,1 *4trat ich in der Nacht dieſes Tages, der für mich in meinem bisherigen Leben am merkwürdigſten gewor¬ den war, an das Fenſter, und blickte gegen den Him¬ mel. Es ſtand kein Mond an demſelben und keine Wolke, aber in der milden Nacht brannten ſo viele Sterne, als wäre der Himmel mit ihnen angefüllt, und als berührten ſie ſich gleichſam mit ihren Spizen. Die Feierlichkeit traf mich erhebender, und die Pracht des Himmels war mir eindringender als ſonſt, wenn ich ſie auch mit großer Aufmerkſamkeit betrachtet hatte. Ich mußte mich in der neuen Welt erſt zurecht finden. Ich ſah lange mit einem ſehr tiefen Gefühle zu dem ſternbedeckten Gewölbe hinauf. Mein Ge¬ müth war ſo ernſt, wie es nie in meinem ganzen Leben geweſen war. Es lag ein fernes unbekanntes Land vor mir. Ich ging zu dem Lichte, das auf meinem Tiſche brannte, und ſtellte meinen undurch¬ ſichtigen Schirm vor dasſelbe, daß ſeine Helle nur in die hinteren Theile des Zimmers falle, und mir den Schein des Sternenhimmels nicht beirre. Dann ging ich wieder zu dem Fenſter, und blieb vor demſelben. Die Zeit verfloß, und die Nachtfeier ging indeſſen fort. Wie es ſonderbar iſt, dachte ich, daß in der Zeit, in der die kleinen wenn auch vieltauſendfältigen5 Schönheiten der Erde verſchwinden, und ſich erſt die unermeßliche Schönheit des Weltraums in der fernen ſtillen Lichtpracht aufthut, der Menſch und die größte Zahl der andern Geſchöpfe zum Schlummer beſtimmt iſt! Rührt es daher, daß wir nur auf kurze Augen¬ blicke und nur in der räthſelhaften Zeit der Traum¬ welt zu jenen Größen hinan ſehen dürfen, von denen wir eine Ahnung haben, und die wir vielleicht ein¬ mal immer näher und näher werden ſchauen dürfen? Sollen wir hienieden nie mehr als eine Ahnung ha¬ ben? Oder iſt es der großen Zahl der Menſchen nur darum blos in kurzen ſchlummerloſen Augenblicken geſtattet, zu dem Sternenhimmel zu ſchauen, damit die Herrlichkeit deſſelben uns nicht gewöhnlich werde und die Größe ſich nicht dadurch verliere? Aber ich bin ja wiederholt in ganzen Nächten allein gefahren, die Sternbilder haben ſich an dem Himmel ſachte bewegt, ich habe meine Augen auf ſie gerichtet gehalten, ſie ſind dunkelſchwarzen geſtaltloſen Wäldern oder Erd¬ rändern zugeſunken, andere ſind im Oſten aufgeſtie¬ gen, ſo hat es fortgedauert, die Stellungen haben ſich ſanft geändert, und das Leuchten hat fortgelächelt, bis der Himmel von der nahenden Sonne lichter wurde, das Morgenroth im Oſten erſchien und die6 Sterne wie ein ausgebranntes Feuerwerksgerüſte er¬ loſchen waren. Haben da meine vom Nachtwachen brennenden Augen die verſchwundene ſtille Größe nicht für höher erkannt als den klaren Tag, der alles deutlich macht? Wer kann wiſſen, wie dies iſt. Wie wird es jenen Geſchöpfen ſein, denen nur die Nacht zugewieſen iſt, die den Tag nicht kennen? Jenen gro¬ ßen wunderbaren Blumen ferner Länder, die ihr Auge öffnen, wenn die Sonne untergegangen iſt, und die ihr meiſtens weißes Kleid ſchlaff und verblüht herab¬ hängen laſſen, wenn die Sonne wieder aufgeht? Oder den Thieren, denen die Nacht ihr Tag iſt? Es war eine Weihe und eine Verehrung des Unendlichen in mir.
Träumend, ehe ich entſchlief, begab ich mich auf mein Lager, nachdem ich vorher das Licht ausgelöſcht, und die Vorhänge der Fenſter abſichtlich nicht zugezo¬ gen hatte, damit ich die Sterne hereinſcheinen ſähe.
Des anderen Morgens ſammelte ich mich, um mir bewußt zu werden, was geſchehen iſt, und welche tiefe Pflichten ich eingegangen war. Ich kleidete mich an, um in das Freie zu gehen, und mein Angeſicht und meinen Körper der kühlen Morgenluft zu geben.
Als ich mein Zimmer verlaſſen hatte, ſuchte ich7 einen Gang zu gewinnen, der im ſüdlichen Theile des Schloſſes in der Länge deſſelben dahin läuft. Seine Fenſter münden in den Hof, und von ihm gehen Thüren in die gegen Mittag liegenden Zim¬ mer Mathildens und Nataliens. Dieſe Thüren, einſt vielleicht zum Gebrauche für Gäſte beſtimmt, waren jezt meiſtens geſchloſſen, weil die Verbindung im Innern der Zimmer hergeſtellt war. Ich hatte den Gang darum aufgeſucht, weil er an der Weſtſeite des Schloſſes zu einer kleinen Treppe führt, die abwärts geht, und in ein Pförtchen endet, das gewöhnlich des Morgens geöffnet wurde, und durch das man unmittelbar in die Felder auf breite trockene Wege ge¬ langen konnte, die den Wanderer unbemerkter ins Weite führen, als es durch den Hauptausgang des Schloſſes möglich geweſen wäre. Die Bewohnerin¬ nen der Zimmer, die an den Gang ſtießen, glaubte ich darum nicht ſtören zu können, weil das Stein¬ pflaſter des Ganges ſeiner ganzen Länge nach mit einem weichen Teppiche belegt war, der keine Tritte hören ließ. Außerdem hatte die Sonne auch bereits einen ſo hohen Morgenbogen zurückgelegt, daß zu vermuthen war, daß alle im Schloſſe ſchon längſt aufgeſtanden ſein würden.
8Da ich gegen das Ende des Ganges und in die Nähe der Treppe gekommen war, ſah ich eine Thür offen ſtehen, von der ich vermuthete, daß ſie zu den Zimmern der Frauen führen müſſe. War die Thür offen, weil man fortgehen wollte, oder weil man eben gekommen war? Oder hatte eine Dienerin in der Eile offen gelaſſen, oder war irgend ein anderer Grund? Ich zauderte, ob ich vorbeigehen ſollte; allein da ich wußte, daß die Thür doch nur in einen Vor¬ ſaal ging, und da die Treppe ſchon ſo nahe war, die mich ins Freie führen ſollte, ſo beſchloß ich, vorbei zu gehen, und meine Schritte zu beſchleunigen. Ich ſchritt auf dem weichen Teppiche fort, und trat nur behutſamer auf. Da ich an der Thür angekommen war, ſah ich hinein. Was ich vermuthet hatte, be¬ ſtätigte ſich, die Thür ging in einen Vorſaal. Derſelbe war nur klein und mit gewöhnlichen Geräthen ver¬ ſehen. Aber nicht blos in den Vorſaal konnte ich blicken, ſondern auch in ein weiteres Zimmer, das mit einer großen Glasthür an den Vorſaal ſtieß, welche Glasthür noch überdies halb geöffnet war. In dieſem Zimmer aber ſtand Natalie. An den Wänden hinter ihr erhoben ſich edle mittelalterliche Schreine. Sie ſtand faſt mitten in dem Gemache vor einem9 Tiſche, auf welchem zwei Zithern lagen, und von welchem ein ſehr reicher alterthümlicher Teppich nieder hing. Sie war vollſtändig gleichſam wie zum Aus¬ gehen gekleidet, nur hatte ſie keinen Hut auf dem Haupte. Ihre ſchönen Locken waren auf dem Hinter¬ haupte geordnet und wurden von einem Bande oder etwas Ähnlichem getragen. Das Kleid reichte wie gewöhnlich bis zu dem Halſe und ſchloß dort ohne irgend einer fremden Zuthat. Es war wieder von lichtem grauem Seidenſtoffe, hatte aber ſehr feine ſtark rothe Streifen. Es ſchloß die Hüften ſehr genau, und ging dann in reichen Falten bis auf den Fußboden nieder. Die Ärmel waren enge, reichten bis zum Handgelenke, und hatten an dieſem wie am Oberarme dunkle Querſtreifen, die wie ein Armband ſchloſſen. Natalie ſtand ganz aufrecht, ja der Ober¬ körper war ſogar ein wenig zurückgebogen. Der linke Arm war ausgeſtreckt, und ſtüzte ſich mittelſt eines aufrecht ſtehenden Buches, auf das ſie die Hand legte, auf das Tiſchchen. Die rechte Hand lag leicht auf dem linken Unterarm. Das unbeſchreiblich ſchöne An¬ geſicht war in Ruhe, als hätten die Augen, die jezt von den Lidern bedeckt waren, ſich geſenkt und ſie dächte nach. Eine ſolche reine feine Geiſtigkeit war in10 ihren Zügen, wie ich ſie an ihr, die immer die tiefſte Seele ausſprach, doch nie geſehen hatte. Ich ver¬ ſtand auch, was die Geſtalt ſprach, ich hörte gleichſam ihre inneren Worte: „ Es iſt nun eingetreten! “ Sie hatte mich nicht kommen gehört, weil der Teppich den Fußboden des Ganges bedeckte, und ſie konnte mich nicht ſehen, weil ihr Angeſicht gegen Süden gerichtet war. Ich beobachtete nur zwei Augenblicke ihre ſin¬ nende Stellung, und ging dann leiſe vorüber und die Treppe hinunter. Es erfüllte mich gleichſam mit einem Meere von Wonne, Natalien von der nehmlichen Empfindung beſeelt zu ſehen, die ich hatte, von der Empfindung, ſich das errungene kaum gehoffte und ſo hoch gehaltene Gut geiſtig zu ſichern, ſich klar zu machen, was man erhalten hat, und in welche neue unermeßlich wichtige Wendung des Lebens man ein¬ getreten ſei. Ich konnte es kaum faſſen, daß ich es ſei, um den eine Geſtalt, die das Schönſte ausdrückt, was mir bis jezt bekannt geworden iſt, eine Geſtalt, die man wohl auch ſtolz geheißen, die ſich bisher von jeder Neigung abgewendet hatte, in dieſe tiefe ſinnende Empfindungen geſunken ſei. Ich dachte mir, daß ich, ſo lange ich lebe, und ſollte mein Leben bis an die äußerſte Grenze des menſchlichen Alters oder darüber11 hinaus gehen, mit jedem Tropfen meines Blutes mit jeder Faſer meines Herzens ſie lieben werde, ſie möge leben oder todt ſein, und daß ich ſie fort und fort durch alle Zeiten in der tiefſten Seele meiner Seele tragen werde. Es erſchien mir als das ſüßeſte Gefühl, ſie nicht nur in dieſem Leben ſondern in tauſend Leben, die nach tauſend Toden folgen mögen, immer lieben zu können. Wie viel hatte ich in der Welt geſehen, wie viel hatte mich erfreut, an wie Vielem hatte ich Wohlgefallen gehabt: und wie iſt jezt Alles nichts, und wie iſt es das höchſte Glück, eine reine tiefe ſchöne menſchliche Seele ganz ſein eigen nennen zu können, ganz ſein eigen.
Ich ging durch das Pförtchen hinaus, das ich nur angelehnt fand, und ging auf dem Wege fort, der an dieſer Seite vor dem Schloſſe vorbei führt, und dann in die Felder hinaus geht. Er iſt breit, mit feinem Sande belegt, und eignet ſich daher ſeiner Trockenheit willen ganz beſonders zu Morgenſpazier¬ gängen. Er iſt von dem vorigen Beſizer des Schloſſes angelegt und von Mathilden verbeſſert worden. Er geht von dem Pförtchen nach beiden Richtungen nach Norden und nach Süden ziemlich weit fort, und bildet auf dieſe Weiſe zu dem Schloſſe eine Berüh¬12 rungslinie. Roland hatte ihn ſcherzweiſe auch immer den Berührweg genannt. Die Obſtbäume, die ihn jezt häufig ſäumen, hat Mathilde meiſtens ſchon erwachſen an ihn verſezt. Früher war der ganze Weg eine Allee von Pappeln geweſen; allein da er ganz gerade durch die Gegend geht, und mit den geraden Bäumen bepflanzt war, ſo erſchien er ſehr unſchön, und für einen Luſtweg, was er ſein ſollte, wenig geeignet. Nach Berathungen mit ihren Freunden hatte Mathilde die Pappeln, welche außerdem auch den Feldern ſehr ſchädlich waren, nach und nach be¬ ſeitigt. Sie waren gefällt, und ihre Wurzeln aus¬ gegraben worden. Da man die Obſtbäume an ihre Stelle ſezte, vermied man es abſichtlich, an allen Pläzen, an welchen Pappeln geſtanden waren, Obſt¬ bäume zu pflanzen, damit nicht wieder ſtatt der Pappelallee eine Obſtbaumallee würde, was zwar minder unſchön als früher geweſen wäre, aber doch immer noch nicht ſchön. Durch dieſe Unterbrechung der Baumpflanzung erhielt der Weg, deſſen gerade Richtung ſchwer zu beſeitigen geweſen wäre, und die doch ſonſt zu eigenthümlich war, als daß man ſie hätte abändern ſollen, wenn man nicht Alles nach ganz neuen Gedanken einrichten wollte, die nöthige Ab¬13 wechslung. Mitternachtwärts von dem Schloſſe führt er durch Wieſen und Felder an Gebüſchen hin, ſteigt dann zu einem Walde hinan, in welchen er eine Strecke eindringt. Südwärts geht er durch Felder, hat dort beſonders ſchöne Apfelbäume an ſeinen Sei¬ ten, wölbt ſich ſanft über einen Ackerrücken und ge¬ währt von ihm eine ſchöne Ausſicht in die Gebirge.
Ich ſchlug die Richtung nach Süden ein, wie ich überhaupt ſehr gerne bei dem Beginne eines Spazier¬ ganges ſo gehe, daß ich leicht nach Mittag ſehe, das Licht vor mir habe, und in den ſchöneren Glanz und die lieblichere Färbung der Wolken blicken kann. Der Himmel war wie geſtern ganz heiter, die Sonne ſtand in ſeinem öſtlichen Theile, und begann die Tropfen, welche an allen Gräſern und an dem Laube der Bäume hingen, aufzuſaugen. Die Morgenkühle war noch nicht vergangen, obwohl der Einfluß der Sonne immer mehr und mehr bemerkbar wurde. Ich ſah mit neuen Augen auf alle Dinge um mich, es ſchien, als hätten ſie ſich verjüngt, und als müßte ich mich wieder allmählich an ihren Anblick gewöhnen. Ich kam auf die Anhöhe, und ſah aus den langen Zug der Gebirge. Die blauen Spizen blickten auf mich herüber, und die vie¬ len Schneefelder zeigten mir ihren feinen Glanz. Ich14 ſah auch die Berghäupter an dem Kargrat, wo ich zulezt gearbeitet hatte. Mir war, als wäre es ſchon viele Jahre, ſeit ich in jenen Eisfeldern und Schnee¬ gründen geweſen war. Ich ließ, während ich ſo da¬ ſtand, die milde Luft den Glanz der Sonne und das Prangen der Dinge auf mich wirken. Sonſt hatte ich immer irgend ein Buch in meine Taſche geſteckt, wenn ich in der Gegend herum gehen wollte; heute hatte ich es nicht gethan. Mir war jezt nicht, als ſollte ich irgend ein Buch leſen. Ich ging nach einer Weile wieder an den Bäumen dahin, an denen ſchon die mannigfaltigen Äpfel hingen, die jeder nach ſeiner Art brachte, und die ſchon hie und da ihre eigenthümliche Farbe zu erhalten begannen. Ich ging ſo lange auf der Anhöhe des Felderrückens fort, bis ſie ſich leicht zu ſenken anfing, über welche Senkung der Weg noch hinabgeht, um in dem Thale an der Grenze eines fremden Gutes zu enden, oder vielmehr in einen anderen Weg überzugehen, der die Eigenſchaften aller jener Fußwege hat, die in un¬ zähligen Richtungen unſer Land durchziehen, und auf deren taugliche Beſchaffenheit, Verbeſſerung oder Verſchönerung niemand denkt. Ich ging auf der Sen¬15 kung des Weges nicht mehr hinunter, weil ich nicht thalwärts kommen wollte, wo die Blicke beengt ſind.
Ich wendete mich um, und hatte den Anblick des Schloſſes vor mir, welches jezt von ſolcher Bedeu¬ tung für mich geworden war. Die Fenſter ſchimmer¬ ten in dem Glanze der Sonne, das Grau der von der Tünche befreiten ſüdlichen Mauer ſchaute ſanft zu mir herüber, das dunkle Dach hob ſich von der Bläue der nördlichen Luft ab, und ein leichter Rauch ſtieg von einigen ſeiner Schornſteine auf.
Ich ging langſam auf dem Rücken des Feldes an den Obſtbäumen vorüber meines Weges zurück, bis er ſachte gegen das Schloß abwärts zu gehen begann.
An dieſer Stelle ſah ich jezt, daß mir eine Geſtalt, welche mir früher durch Baumkronen verdeckt geweſen ſein mochte, entgegen kam, welche die Geſtalt Nata¬ liens war. Wir gingen beide ſchneller, als wir uns erblickten, um uns früher zu erreichen. Da wir nun zuſammen trafen, blickte mich Natalie mit ihren gro¬ ßen dunkeln Augen freundlich an, und reichte mir die Hand. Ich empfing ſie, drückte ſie herzlich, und ſagte einen innigen Gruß.
„ Es iſt recht ſchön, “ſprach ſie, „ daß wir gleich¬16 zeitig einen Weg gehen, den ich heute ſchon einmal gehen wollte, und den ich jezt wirklich gehe. “
„ Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie? “fragte ich.
„ Ich habe ſehr lange den Schlummer nicht ge¬ funden, “antwortete ſie, „ dann kam er doch in ſehr leichter flüchtiger Geſtalt. Ich erwachte bald, und ſtand auf. Am Morgen wollte ich auf dieſen Weg heraus gehen, und ihn bis über die Felderanhöhe fortſezen; aber ich hatte ein Kleid angezogen, wel¬ ches zu einem Gange außer dem Hauſe nicht taug¬ lich war. Ich mußte mich daher ſpäter umkleiden, und ging jezt heraus, um die Morgenluft zu ge¬ nießen. “
Ich ſah wirklich, daß ſie das lichte graue Kleid mit den feinen tiefrothen Streifen nicht mehr an habe, ſondern ein einfacheres kürzeres mattbrau¬ nes trage. Jenes Kleid wäre freilich zu einem Morgenſpaziergange nicht tauglich geweſen, weil es in reichen Falten faſt bis auf den Fußboden nieder ging. Sie hatte jezt einen leichten Strohhut auf dem Haupte, welchen ſie immer bei ihren Wande¬ rungen durch die Felder trug. Ich fragte ſie, ob ſie glaube, daß noch ſo viel Zeit vor dem Frühmahle ſei,17 daß ſie über die Felderanhöhe hinaus und wieder in das Schloß zurückkommen könne.
„ Wohl iſt noch ſo viel Zeit, “erwiederte ſie, „ ich wäre ja ſonſt nicht fortgegangen, weil ich eine Stö¬ rung in der Hausordnung nicht verurſachen möchte. “
„ Dann erlaubt ihr wohl, daß ich euch begleite, “ſagte ich.
„ Es wird mir ſehr lieb ſein, “antwortete ſie.
Ich begab mich an ihre Seite, und wir wandelten den Weg, den ich gekommen war, zurück.
Ich hätte ihr ſehr gerne meinen Arm angebothen; aber ich hatte nicht den Muth dazu.
Wir gingen langſam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumſtamme nach dem andern vor¬ über, und die Schatten, welche die Bäume auf den Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne da¬ zwiſchen legte, wichen hinter uns zurück. Anfangs ſprachen wir gar nicht, dann aber ſagte Natalie: „ Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlſein zu¬ gebracht? “
„ Ich habe ſehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht unangenehm empfunden, “entgegnete ich, die Fenſter meiner Wohnung, welche mir eure Mutter ſo freundlich hatte einrichten laſſen, gehen inStifter. Nachſommer. III. 218das Freie, ein großer Theil des Sternenhimmels ſah zu mir herein. Ich habe ſehr lange die Sterne be¬ trachtet. Am Morgen ſtand ich frühe auf, und da ich glaubte, daß ich niemand in dem Schloſſe mehr ſtören würde, ging ich in das Freie, um die milde Luft zu genießen. “
„ Es iſt ein eigenes erquickendes Labſal, die reine Luft des heiteren Sommers zu athmen, “erwiederte ſie.
„ Es iſt die erhebendſte Nahrung, die uns der Him¬ mel gegeben hat, “antwortete ich. „ Das weiß ich, wenn ich auf einem hohen Berge ſtehe, und die Luft in ihrer Weite wie ein unausmeßbares Meer um mich herum iſt. Aber nicht blos die Luft des Sommers iſt erquickend, auch die des Winters iſt es, jede iſt es, welche rein iſt, und in welcher ſich nicht Theile finden, die unſerm Weſen widerſtreben. “
„ Ich gehe oft mit der Mutter an ſtillen Winter¬ tagen gerade dieſen Weg, auf dem wir jezt wandeln. Er iſt wohl und breit ausgefahren, weil die Bewoh¬ ner von Erlthal und die der umliegenden Häuſer im Winter von ihrem tief gelegenen Fahrwege eine kleine Abbeugung über die Felder machen, und dann unſeren Spazierweg ſeiner ganzen Länge nach befahren. Da iſt es oft recht ſchön, wenn die Zweige der Bäume19 voll von Kriſtallen hängen, oder wenn ſie bereift ſind, und ein feines Gitterwerk über ihren Stämmen und Äſten tragen. Oft iſt es ſogar, als wenn ſich auch der Reif in der Luft befände, und ſie mit ihm erfüllt wäre. Ein feiner Duft ſchwebt in ihr, daß man die nächſten Dinge nur wie in einen Rauch gehüllt ſehen kann. Ein anderes Mal iſt der Himmel wieder ſo klar, daß man alles deutlich erblickt. Er ſpannt ſich dunkelblau über die Gefilde, die in der Sonne glänzen, und wenn wir auf die Höhe der Felder kom¬ men, können wir von ihr den ganzen Zug der Gebirge ſehen. Im Winter iſt die Landſchaft ſehr ſtill, weil die Menſchen ſich in ihren Häuſern halten, ſo viel ſie können, weil die Singvögel Abſchied genom¬ men haben, weil das Wild in die tieferen Wälder zurück gegangen iſt, und weil ſelbſt ein Geſpann nicht den tönenden Hufſchlag und das Rollen der Räder hören läßt, ſondern nur der einfache Klang der Pferdeglocke, die man hier hat, anzeigt, daß irgend Wo jemand durch die Stille des Winters fährt. Wir gehen auf der klaren Bahn dahin, die Mutter leitet die Geſpräche auf verſchiedene Dinge, und das Ziel unſerer Wanderung iſt gewöhnlich die Stelle, wo der Weg in das Thal hinabzugehen anfängt. In2 *20der Stadt habt ihr die ſchönen Winterſpaziergänge nicht, welche uns das Land gewährt. “
„ Nein Natalie, die haben wir nicht. Wir haben von der dem Winter als Winter eigenthümlichen Weſenheit nichts als die Kälte; denn der Schnee wird auch aus der Stadt fortgeſchafft, “erwiederte ich, „ und nicht blos im Winter auch im Sommer hat die Stadt nichts, was ſich nur entfernt mit der Frei¬ heit und Weite des offenen Landes vergleichen ließe. Eine erweiterte Pflege der Kunſt und der Wiſſen¬ ſchaft eine erhöhte Geſelligkeit und die Regierung des menſchlichen Geſchlechts ſind in der Stadt, und dieſe Dinge begreifen auch das, was man in der Stadt ſucht. Einen Theil von Wiſſenſchaft und Kunſt aber kann man wohl auch auf dem Lande hegen, und ob größere Zweige der allgemeinen Leitung der Menſchen auch auf das Land gelegt werden könnten, als jezt geſchieht, weiß ich nicht, da ich hierin zu wenig Kenntniſſe habe. Ich trage ſchon lange den Gedanken in mir, einmal auch im Winter in das Hochgebirge zu gehen, und dort eine Zeit zuzubrin¬ gen, um Erfahrungen zu ſammeln. Es iſt ſeltſam, und reizt zur Nachahmung, was uns die Bücher mel¬ den, die von Leuten verfaßt wurden, welche im Win¬21 ter hochgelegene Gegenden beſucht oder gar die Spizen bedeutender Berge erſtiegen haben. “
„ Wenn es für Leben und Geſundheit keine Ge¬ fahr hat, ſolltet ihr es thun, “antwortete ſie. „ Es iſt wohl ein Vorrecht der Männer, das Größere wa¬ gen und erfahren zu können. Wenn wir zuweilen im Winter in großen Städten geweſen ſind, und dort das Leben der verſchiedenen Menſchen geſehen haben, dann ſind wir gerne in den Sternenhof zurückgegan¬ gen. Wir haben hier in manchen größeren Zeiträu¬ men alle Jahreszeiten genoſſen, und haben jeden Wechſel derſelben im Freien kennen gelernt. Wir ſind mit Freunden verbunden, deren Umgang uns veredelt, erhebt, und zu denen wir kleine Reiſen machen. Wir haben einige Ergebniſſe der Kunſt und in einem ge¬ wiſſen Maße auch der Wiſſenſchaft, ſo weit es ſich für Frauen ziemt, in unſere Einſamkeit gezogen. “
„ Der Sternenhof iſt ein edler und ein würdevoller Siz, “entgegnete ich, „ er hat ſich ein ſchönes Theil des Menſchlichen geſammelt, und muß nicht das Widerwärtige desſelben hinnehmen. Aber es mußten auch viele Umſtände zuſammentreffen, damit es ſo werden konnte, wie es ward. “
„ Das ſagt die Mutter auch, “erwiederte ſie, „ und22 ſie ſagt, ſie müſſe der Vorſehung ſehr danken, daß ſie ihre Beſtrebungen ſo unterſtüzt und geleitet habe, weil wohl ſonſt das Wenigſte zu Stande gekommen wäre. “
Wir hatten in der Zeit dieſes Geſpräches nach und nach die höchſte Stelle des Weges erreicht. Vor uns ging es wieder abwärts. Wir blieben eine Weile ſtehen.
„ Sagt mir doch, “begann Natalie wieder, „ wo liegt denn das Kargrat, in welchem ihr euch in die¬ ſem Theile des Sommers aufgehalten habt? Man muß es ja von hier aus ſehen können. “
„ Freilich kann man es ſehen, “antwortete ich, „ es liegt faſt im äußerſten Weſten des Theiles der Kette, der von hier aus ſichtbar iſt. Wenn ihr von jenen Schneefeldern, die rechts von der ſanftblauen Kuppe, welche gerade über der Grenzeiche eures Weizenfeldes ſichtbar iſt, liegen, und die faſt wie zwei gleiche mit der Spize nach aufwärts gerichtete Dreiecke ausſehen, wieder nach rechts geht, ſo werdet ihr lichte faſt wag¬ recht gehende Stellen in dem graulichen Dämmer des Gebirges ſehen, das ſind die Eisfelder des Kargrats. “
„ Ich ſehe ſie ſehr deutlich, “erwiederte ſie, „ ich ſehe auch die Spizen, die über das Eis empor ragen. Und auf dieſem Eiſe ſeid ihr geweſen? “
23„ An ſeinen Grenzen, die es in allen Richtungen umgeben, “antwortete ich, „ und auf ihm ſelber. “
„ Da müßt ihr ja auch deutlich hieher geſehen ha¬ ben, “ſagte ſie.
„ Die Berggeſtaltungen des Kargrates, die wir hier ſehen, “erwiederte ich, „ ſind ſo groß, daß wir ſeine Theile wohl von hier aus unterſcheiden können; aber die Abtheilungen der hieſigen Gegend ſind ſo klein, daß ihre Gliederungen von dort aus nicht erblickt werden können. Das Land liegt wie eine mit Duft überſchwebte einfache Fläche unten. Mit dem Fern¬ rohre konnte ich mir einzelne bekannte Stellen ſuchen, und ich habe mir die Bildungen der Hügel und Wäl¬ der des Sternenhofes geſucht. “
„ Ach nennt mir doch einige von den Spizen, die wir von hier aus ſehen können, “ſagte ſie.
„ Das iſt die Kargratſpize, die ihr über dem Eiſe als höchſte ſeht, “erwiederte ich, „ und rechts iſt die Glommſpize und dann der Ethern und das Krumm¬ horn. Links ſind nur zwei, der Aſchkogel und die Sente. “
„ Ich ſehe ſie, “ſagte ſie, „ ich ſehe ſie. “
„ Und dann ſind noch geringere Erhöhungen, “fuhr ich fort, „ die ſich gegen die weiteren Berghänge ſen¬24 ken, die keinen Namen haben, und die man hier nicht ſieht. “
Da wir noch eine Weile geſtanden waren, die Berge betrachtet und geſprochen hatten, wendeten wir uns um, und wandelten dem Schloſſe zu.
„ Es iſt doch ſonderbar, “ſagte Natalie, „ daß dieſe Berge keinen weißen Marmor hervorbringen, da ſie doch ſo viel verſchiedenfarbigen haben. “
„ Da thut ihr unſeren Bergen ein kleines Un¬ recht, “antwortete ich, „ ſie haben ſchon Lager von weißem Marmor, aus denen man bereits Stücke zu manigfaltigen Zwecken bricht, und gewiß werden ſie in ihren Verzweigungen noch Stellen bergen, wo vielleicht der feinſte und ungetrübteſte weiße Marmor iſt.
„ Ich würde es lieben, mir Dinge aus ſolchem Marmor machen zu laſſen, “ſagte ſie.
„ Das könnt ihr ja thun, “erwiederte ich, „ kein Stoff iſt geeigneter dazu. “
„ Ich könnte aber nach meinen Kräften nur kleine Gegenſtände anfertigen laſſen, Verzierungen und der¬ gleichen, “ſagte ſie, „ wenn ich die rechten Stücke be¬ kommen könnte, und wenn meine Freunde mir mit ihrem Rathe beiſtänden. “
25„ Ihr könnt ſie bekommen, “antwortete ich, „ und ich ſelber könnte euch hierin helfen, wenn ihr es wünſcht. “
„ Es wird mir ſehr lieb ſein, “erwiederte ſie, „ unſer Freund hat edle Werke aus farbigem Marmor in ſei¬ nem Hauſe ausführen laſſen, und ihr habt ja auch ſchöne Dinge aus ſolchem für eure Eltern veranlaßt. “
„ Ja, und ich ſuche noch immer ſchöne Stücke Marmor zu erwerben, um ſie gelegentlich zu künfti¬ gen Werken zu verwenden, “antwortete ich.
„ Meine Vorliebe für den weißen Marmor habe ich wohl aus den reichen ſchönen und großartigen Dingen gezogen, “entgegnete ſie, „ die ich in Italien aus ihm ausgeführt geſehen habe. Beſonders wird mir Florenz und Rom unvergeßlich ſein. Das ſind Dinge, die unſere höchſte Bewunderung erregen, und doch, habe ich immer gedacht, iſt es menſchlicher Sinn und menſchlicher Geiſt, der ſie entworfen und ausgeführt hat. Euch werden auch Gegenſtände bei eurem Aufent¬ halte im Freien erſchienen ſein, die das Gemüth mächtig in Anſpruch nehmen. “
„ Die Kunſtgebilde leiten die Augen auf ſich, und mit Recht, “antwortete ich, „ ſie erfüllen mit Bewun¬ derung und Liebe. Die natürlichen Dinge ſind das Werk einer anderen Hand, und wenn ſie auf dem26 rechten Wege betrachtet werden, regen ſie auch das höchſte Erſtaunen an. “
„ So habe ich wohl immer gefühlt, “ſagte ſie.
„ Ich habe auf meinem Lebenswege durch viele Jahre Werke der Schöpfung betrachtet, “erwiederte ich, „ und dann auch, ſo weit es mir möglich war, Werke der Kunſt kennen gelernt, und beide entzückten meine Seele. “
Mit dieſen Geſprächen waren wir allmählich dem Schloſſe näher gekommen, und waren jezt bei dem Pförtchen.
An demſelben blieb Natalie ſtehen, und ſagte die Worte: „ Ich habe geſtern ſehr lange mit der Mutter geſprochen, ſie hat von ihrer Seite eine Einwendung gegen unſeren Bund nicht zu machen. “
Ihre feinen Züge überzog ein ſanftes Roth, als ſie dieſe Worte zu mir ſprach. Sie wollte nun ſogleich durch das Pförtchen hinein gehen, ich hielt ſie aber zurück, und ſagte: „ Fräulein, ich hielte es nicht für Recht, wenn ich euch etwas verhehlte. Ich habe euch heute ſchon einmal geſehen, ehe wir zuſammentrafen. Als ich am Morgen über den Gang hinter euren Zim¬ mern ins Freie gehen wollte, ſtanden die Thüren in einen Vorſaal und in ein Zimmer offen, und ich ſah27 euch in dieſem leztern an einem mit einem alterthüm¬ lichen Teppiche behängten Tiſchchen die Hand auf ein Buch geſtüzt ſtehen. “
„ Ich dachte an mein neues Schickſal, “ſagte ſie.
„ Ich wußte es, ich wußte es, “antwortete ich, „ und mögen die himmliſchen Mächte es ſo günſtig geſtal¬ ten, als es der Wille derer iſt, die euch wohlwollen. “
Ich reichte ihr beide Hände, ſie faßte ſie, und wir drückten uns dieſelben.
Darauf ging ſie in das Pförtchen ein, und über die Treppe empor.
Ich wartete noch ein wenig.
Da ſie oben war, und die Thür hinter ſich ge¬ ſchloſſen hatte, ſtieg ich auch die Treppe empor.
Das ganze Weſen Nataliens ſchien mir an dieſem Morgen glänzender, als es die ganze Zeit her gewe¬ ſen war, und ich ging mit einem tief tief geſchwellten Herzen in mein Zimmer.
Dort kleidete ich mich in ſo weit um, als es nöthig war, die Spuren des Morgenſpazierganges zu beſeitigen, und anſtändig zu erſcheinen, dann ging ich, da die Stunde des Frühmahles ſchon heran nahte, in das Speiſezimmer.
Ich war in demſelben allein. Der Tiſch war ſchon28 gedeckt, und alles zum Morgenmahle in Bereitſchaft geſezt. Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, kam Mathilde mit Natalie zugleich in das Zimmer. Na¬ talie hatte ſich umgekleidet, ſie hatte jezt ein feſtlicheres Kleid an, als ſie beim Morgenſpaziergange getragen hatte, weil ſie gleich Mathilden bei Tiſche einen Gaſt durch ein beſſeres Kleid ehrte. Mit der gewöhnlichen Ruhe und Heiterkeit, aber mit einer faſt noch größe¬ ren Freundlichkeit als ſonſt, begrüßte mich Mathilde, und wies mir meinen Plaz an. Wir ſezten uns. Wir waren nun bei dem Frühmahle, wie wir es die meh¬ reren Tage her gewohnt waren. Dieſelben Gegen¬ ſtände befanden ſich auf dem Tiſche, und derſelbe Vor¬ gang wurde befolgt wie immer. Obgleich nur ein Dienſtmädchen ab und zu ging, und wir in den Zwiſchenzeiten allein waren, indem Mathilde nach ihrer Gepflogenheit manche Handlungen, die bei einem ſolchen Frühmahle nöthig ſind, an dem Tiſche ſelbſt verrichtete, ſo wurde doch über unſere beſonderen An¬ gelegenheiten auch jezt nicht geſprochen. Gewöhnliche Dinge, wie ſie ſich an gewöhnlichen Tagen darbiethen, bildeten den Inhalt der Geſpräche. Theils Kunſt theils die ſchönen Tage der Jahreszeit, die eben war, und theils ein Abſchnitt des Aufenthaltes während29 der Roſenzeit im Asperhofe wurden abgehandelt. Dann ſtanden wir auf, und trennten uns.
Und ſo wurde auch am ganzen Tage von dem Verhältniſſe, in welches ich zu Natalien getreten war, nichts geſprochen.
Wir fanden uns noch im Laufe des Vormittages im Garten zuſammen. Mathilde zeigte mir einige Veränderungen, welche ſie vorgenommen hatte. Meh¬ rere zu ſehr in geraden Linien gezogene geſchorne Hecken, die ſich noch in einem abgelegenen Theile des Gartens befunden hatten, waren beſeitigt worden und hatten einer leichteren und gefälligeren Anlage Plaz gemacht. Blumenbeete waren gezogen wor¬ den, und mehrere Pflanzen, welche man erſt kennen gelernt hatte, welche mein Gaſtfreund ſehr liebte, und unter denen ſich außerordentlich ſchöne befanden, waren in eine Gruppe geſtellt worden. Mathilde nannte ihre Namen, Natalie hörte aufmerkſam zu. Am Nachmittage wurde ein Spaziergang gemacht. Zuerſt beſuchten wir die Arbeiter, welche mit der Hinwegſchaffung der Tünche von der Steinbekleidung des Hauſes beſchäftigt waren, und ſahen eine Zeit hindurch zu. Mathilde that mehrere Fragen, und ließ ſich in Erörterungen über Dinge ein, die dieſe30 Angelegenheit betrafen. Dann gingen wir in einem großen Bogen längs des Rückens der Anhöhen herum, die zu einem Theile das Thal beherrſchen, in dem das Schloß liegt. Wir kamen an dem Saume eines Wäldchens vorüber, von dem man das Schloß den Garten und die Wirthſchaftsgebäude ſehen konnte, und gingen endlich durch den nördlichen Arm desſelben Spazierweges in das Schloß zurück, in deſſen ſüdlichem Theile ich heute Morgens mit Nata¬ lien gewandelt war.
Gegen Abend kam der Wagen mit den Wande¬ rern an.
Mein Gaſtfreund ſtieg zuerſt heraus, dann folgten faſt gleichzeitig die übrigen jüngeren Männer. Ich wurde von allen gegrüßt, und von allen getadelt, daß ich ſo ſpät gekommen ſei. Man begab ſich in das ge¬ meinſchaftliche Geſellſchaftszimmer, und beſprach ſich dort eine Weile, ehe man ſich in die Gemächer ver¬ fügen wollte, die für einen jeden beſtimmt waren.
Mein Gaſtfreund fragte mich, wo ich mich heuer aufgehalten, und welche Theile des Gebirges ich durchſtreift habe. Ich antwortete ihm, daß ich ihm ſchon im Allgemeinen geſagt habe, daß ich an den Simmigletſcher gehen werde, daß ich aber meinen31 beſonderen Wohnort im Kargrat aufgeſchlagen habe, in dem mit dem Gebirgsſtocke gleichnamigen kleinen Dörflein. Von da aus habe ich meine Streifereien ge¬ macht. Ich nannte ihm die einzelnen Richtungen, weil er beſonders in der Gegend der Simmen ſehr bekannt war. Euſtach ſprach über die ſchönen Natur¬ bilder, die in jenen Geſtaltungen vorkommen. Roland ſagte, ich möchte doch auch einmal die Klamkirche, in der ſie geweſen ſeien, beſuchen; die Zeichnungen werde mir Euſtach ſchon zeigen, damit ich einen vorläufi¬ gen Überblick davon zu erlangen vermöge. Guſtav grüßte mich einfach mit ſeiner Liebe und Freundſchaft, wie er es immer gethan hatte. Auf die gelegentliche Frage meines Gaſtfreundes, ob ich nun lange in der Geſellſchaft meiner Freunde zu bleiben geſonnen ſei, antwortete ich, daß mich eine wichtige Angelegen¬ heit vielleicht ſchon in ſehr kurzer Zeit fortführen könnte.
Nach dieſen allgemeinen Geſprächen begaben ſich die Reiſenden in ihre Zimmer, um die Spuren der Reiſe zu beſeitigen, ſtaubige Kleider abzulegen, ſich ſonſt zu erfriſchen, oder Mitgebrachtes in eine Ord¬ nung richten.
Wir ſahen uns erſt bei dem Abendeſſen wieder.
32Dasſelbe war ſo heiter und freundlich, wie es im¬ mer geweſen war.
Am anderen Morgen nach dem Frühmahle ging mein Gaſtfreund eine Zeit mit Mathilden im Garten ſpazieren, dann kam er in mein Zimmer, und ſagte zu mir: „ Ihr habt Recht, und es iſt ſehr gut von euch, daß ihr das, was euren hieſigen Freunden lieb und angenehm iſt, euren Eltern und euren Angehö¬ rigen ſagen wollt. “
Ich erwiederte nichts, erröthete, und verneigte mich ſehr ehrerbiethig.
Ich erklärte im Laufe des Vormittages, daß ich, ſobald es nur immer möglich wäre, abreiſen müßte. Man ſtellte mir Pferde bis zur nächſten Poſt zur Verfügung, und nachdem ich mein kleines Gepäck geordnet hatte, beſchloß ich, noch vor dem Mit¬ tage die Reiſe anzutreten. Man ließ es zu. Ich nahm Abſchied. Die klaren heiteren Augen meines Gaſtfreundes begleiteten mich, als ich von ihm hin¬ wegging. Mathilde war ſanft und gütig, Natalie ſtand in der Vertiefung eines Fenſters, ich ging zu ihr hin, und ſagte leiſe: „ Liebe liebe Natalie, lebet wohl. “
„ Mein lieber theurer Freund, lebet wohl, “antwor¬33 tete ſie ebenfalls leiſe, und wir reichten uns die Hände.
Nach einem Augenblicke verabſchiedete ich mich auch von den anderen, die, da ſie wußten, daß ich abreiſen werde, in das Geſellſchaftszimmer gekommen waren. Ich ſchüttelte Euſtach und Roland die Hände, und empfing Guſtavs Kuß, welche innigere Art des Bewillkommens und Scheidens ſchon ſeit längerer Zeit zwiſchen uns üblich geworden war, und welche mir heute ſo beſonders wichtig wurde.
Hierauf ging ich die Treppe hinab, und beſtieg den Wagen.
Mathildens Pferde brachten mich auf die nächſte Poſt. Dort ſendete ich ſie zurück, und nahm andere in der Richtung nach dem Kargrat. Ich gönnte mir wenig Ruhe. Als ich dort angekommen war, erklärte ich meinen Leuten, daß Umſtände eingetreten wären, welche die Fortſezung der heurigen Arbeiten nicht er¬ laubten. Ich entließ ſie alſo, händigte ihnen aber den Lohn ein, den ſie bekommen hätten, wenn ſie mir in der ganzen vertragsmäſſigen Zeit gedient hätten. Sie waren hierüber zufrieden. Der Jäger und Zitherſpieler war früher, ehe ich gekommen war, fortgegangen. Wohin er ſich begeben habe, wußten die Leute ſelberStifter, Nachſommer. III. 334nicht. Das Verhältniß mit meinen Arbeitern zu ord¬ nen, war mir das Wichtigſte auf meinem Arbeitsplaze geweſen; deßhalb war ich hingereiſt. Ich hatte ihnen vor meinem Beſuche im Asperhofe geſagt, daß ich bald wieder kommen werde, hatte ihnen während meiner Abweſenheit Arbeit aufgetragen, und hatte ihnen Arbeit nach meiner Wiederkunft in Ausſicht ge¬ ſtellt. Dieſes mußte nun umgeändert werden. Da es geſchehen war, gab ich meine Sachen im Kargrat ſo in Verwahrung, daß ſie geſichert waren, und reiſte ſogleich wieder ab. Ich hatte die Pferde, die ich von dem lezten größeren Orte in das Kargrat mitgenom¬ men hatte, bei mir behalten, und fuhr jezt mit ihnen wieder fort. Auf dem erſten Poſtamte verlangte ich eigene Poſtpferde, und ſchlug die Richtung zu meinen Eltern ein.
Als ich dort angekommen war, machte mein un¬ vermuthetes Erſcheinen beinahe den Eindruck des Er¬ ſtaunens. Alle Ereigniſſe waren ſo ſchnell gekommen, daß, da einmal meine Abreiſe zu meinen Eltern feſt¬ geſezt war, ein Brief, der ſie von meiner Ankunft be¬ nachrichtigt hätte, wahrſcheinlich nicht früher zu ihnen gekommen wäre als ich ſelbſt. Sie konnten ſich daher nicht erklären, warum ich ohne vorhergegangene Be¬35 nachrichtigung nun im Sommer ſtatt im Herbſte komme. Ich ſagte ihnen auf ihre Frage, daß aller¬ dings ein Grund zu meiner jezigen Heimreiſe vor¬ handen ſei, aber keineswegs ein unangenehmer, daß ich in Ungeduld ſo ſchnell abgereiſt ſei, und daß ich ihnen eine frühere Nachricht von meiner Ankunft nicht habe zugehen laſſen können. Hierauf waren ſie be¬ ruhigt, und, wie es ihre Art war, fragten ſie mich nun nicht nach meinem Grunde.
Am anderen Morgen, ehe der Vater in die Stadt ging, begab ich mich zu ihm in das Bücher¬ zimmer, und ſagte ihm, daß ich zu Natalien der Tochter der Freundin meines Gaſtfreundes ſchon ſeit langer Zeit her eine Zuneigung gefaßt habe, daß dieſe Neigung in mir verborgen geblieben, und daß es mein Vorſaz geweſen ſei, ſie, wenn ſie ohne Aus¬ ſicht wäre, zu unterdrücken, ohne daß ich je zu irgend jemanden ein Wort darüber ſagte. Nun habe aber Natalie auch mich ihres Antheils nicht für unwerth gehalten, ich habe davon nichts gewußt, bis ein Zu¬ fall, da wir von anderen weit entlegenen Dingen ſprachen, die gegenſeitig unbekannte Stimmung zu Tage brachte. Da haben wir nun einen Bund ge¬ ſchloſſen, daß wir uns unſere Neigung bewahren3 *36wollen, ſo lange wir leben, und daß wir ſie in dieſer Art nie einem anderen Weſen ſchenken würden. Natalie habe verlangt, und mein Sinn ſtimmte dieſem Ver¬ langen vollkommen bei, daß wir unſeren Angehörigen dieſe Thatſache mittheilen ſollten, damit wir uns un¬ ſeres Gutes durch ihre Zuſtimmung erfreuen, oder, wenn von einem Theile die Billigung verſagt würde, die Neigung zwar unverändert erhalten aber den per¬ ſönlichen Umgang aufheben. Da nun Nataliens An¬ gehörige nichts eingewendet haben, ſo ſei ich hier, um die Sache meinen Eltern zu ſagen, und ihm ſage ich ſie zuerſt, der Mutter würde ich ſie ſpäter mittheilen.
„ Mein Sohn, “antwortete er, „ du biſt mündig, du haſt das Recht Verträge abzuſchließen, und haſt einen ſehr wichtigen abgeſchloſſen. Da ich dich genau kenne, da ich dich ſeit einiger Zeit noch viel genauer kennen zu lernen Gelegenheit hatte, als ich dich frü¬ her kannte, ſo weiß ich, daß deine Wahl einen Gegen¬ ſtand getroffen hat, der, wenn ihm auch gewiß wie allen Menſchen Fehler eigen ſind, an Werth und Güte entſprechen wird. Wahrſcheinlich hat er beide Dinge in einem höheren Maße als die Menſchen, wie ſie in größerer Menge jezt überall ſind. In dieſer Meinung beſtärken mich noch mehrere Umſtände. Eure37 Neigung iſt nicht ſchnell entſtanden, ſondern hat ſich vorbereitet, du haſt ſie überwinden wollen, du haſt nichts geſagt, du haſt uns von Natalien wenig erzählt, alſo iſt es kein haſtiges fortreißendes Verlangen, wel¬ ches dich erfaßt hat, ſondern eine auf dem Grunde der Hochachtung beruhende Zuneigung. Bei Natalien iſt es wahrſcheinlich auch ſo, weil, wie du geſagt haſt, ihre Gegenneigung vorhanden war, ehe du ſie erkennen konnteſt. Ferner hat bei deinem Gaſtfreunde die Ge¬ ſammtheit deines Weſens eine ſo entſchiedene Förderung erhalten, du haſt nach manchem Beſuche bei ihm auch ſo hervorragende Einzelheiten zurückgebracht, daß ihm eine große Güte und Bildung eigen ſein muß, die auf ſeine Umgebung übergeht. Ich habe nichts ein¬ zuwenden. “
Obgleich ich mir vorgeſtellt hatte, daß mein Vater dem geſchloſſenen Bunde kein Hinderniß entgegen¬ ſtellen werde, ſo war ich doch bei dieſer Unterredung beklommen und ernſt geweſen, ſo wie in der Haltung meines Vaters eine tiefe Ergriffenheit nicht zu ver¬ kennen geweſen war. Jezt, da er geredet hatte, kam in mein Herz eine Freudigkeit, die ſich auch in meinen Augen und in meinen Mienen ausgedrückt haben mußte. Mein Vater blickte mich gütig und freundlich38 an, und ſagte: „ Du wirſt mit der Mutter von dieſem Gegenſtande nicht ſo leicht ſprechen, ich werde deine Stelle vertreten, und ihr von dem geſchloſſenen Bunde erzählen, daß du ſchneller über die Mittheilung hin¬ wegkömmſt. Laſſe den Vormittag vergehen, nach dem Mittageſſen werde ich die Mutter in dieſes Zimmer bitten. Klotilde wird dann gelegentlich auch Kenntniß von deinem Schritte erhalten. “
Wir verließen nun das Bücherzimmer. Mein Va¬ ter rüſtete ſich, in ſeine Geſchäftsſtube in die Stadt zu gehen, wie er ſich jeden Morgen gerüſtet hatte. Als er fertig war, nahm er von der Mutter Abſchied, und ging fort. Der Vormittag verfloß, wie gewöhnlich die Zeit nach meiner Ankunft verfloſſen war. Die Mutter und Klotilde fragten nicht nach dem Grunde meines ungewöhnlichen Zurückkommens, und gingen ihren Geſchäften nach. Als das Mittagmahl vorüber war, nahm der Vater die Mutter in das Bücherzimmer, und blieb eine Weile mit ihr dort. Als ſie wieder zu mir und Klotilden herauskamen, blickte ſie mich freund¬ lich an, ſagte aber nichts.
Sie ſezten ſich wieder zu uns, und wir blieben noch eine Zeit an dem Tiſche ſizen.
Als wir aufgeſtanden waren, gingen wir in den39 Garten, welchen ich jezt durch eine Reihe von Jahren nicht im Sommer geſehen hatte. Die Roſen, welche hie und da zerſtreut waren, glichen nicht denen meines Gaſtfreundes, waren aber auch nicht ſchlechter, als die, welche ſich in dem Sternenhofe befanden. Der Garten, welcher mir in meiner Kindheit immer ſo lieb und traulich geweſen war, erſchien mir jezt klein und unbedeutend, obwohl ſeine Blumen, die gerade in dieſer Sommerzeit noch blühten, ſeine Obſtbäume ſeine Gemüſe Weinreben und Pfirſichgitter nicht zu den geringſten der Stadt gehörten. Es zeigte ſich nur eben der Unterſchied eines Stadtgartens und des Gartens eines reichen Landbeſizers. Man wies mir alles, was man für wichtig erachtete, und machte mich auf alle Veränderungen aufmerkſam. Man ſchien ſich gleichſam zu freuen, daß man mich doch einmal zu Anfang der heißeren Jahreszeit hier habe, während ich ſonſt nur immer am Beginne der kälteren gekom¬ men war, wenn die Blätter abfielen, und der Garten ſich ſeines Schmuckes entäußerte. Gegen den Abend ging der Vater wieder in die Stadt. Wir blieben in dem Garten. Da ſich in einem Augenblicke die Schwe¬ ſter mit dem Aufbinden eines Rebenzweiges beſchäf¬ tigte, und ich mit der Mutter allein an dem Marmor¬40 brunnen der Einbeere ſtand, in welchen das köſtliche helle Waſſer nieder rieſelte, ſagte ſie zu mir: „ Ich wünſche, daß jedes Glück und jeder Segen vom Him¬ mel dich auf dem ſehr wichtigen Schritte begleiten möge, den du gethan haſt, mein Sohn. Wenn du auch ſorg¬ ſam gewählt haſt, und wenn auch alle Bedingungen zum Gedeihen vorhanden ſind, ſo bleibt der Schritt doch ein ſchwerer und wichtiger; noch ſteht das Zuſam¬ menfinden und das Einleben in einander bevor. “
„ Möge es uns Gott ſo gewähren, wie wir glau¬ ben es erwarten zu dürfen, “antwortete ich, „ ich wollte auch kein Glück gründen, ohne daß ich meine Eltern darum fragte, und ohne daß ihr Wille mit dem meinigen übereinſtimmte. Zuerſt mußte wohl Gewißheit geſucht werden, ob ſich die Neigungen zu¬ ſammen gefunden hätten. Als dieſes erkannt war, mußte der Sinn und die Zuſtimmung der Angehörigen erforſcht werden, und deßhalb bin ich hier. “
„ Der Vater ſagt, “erwiederte ſie, „ daß alles recht iſt, daß der Weg ſich ebnen wird, und daß jene Dinge, die in jeder Verbindung und alſo auch in dieſer im Anfange ungefügig ſind, hier eher ihre Gleichung fin¬ den werden als irgendwo. Wenn er es aber auch nicht geſagt hätte, ſo wüßte ich es doch. Du biſt unter41 ſo vortrefflichen Leuten geweſen, du würdeſt auch ohne dem nicht unwürdig gewählt haben, und haſt du ge¬ wählt, ſo iſt dein Geiſt gut, und wird ſich in Kürze in ein Frauenherz finden, wie auch ſie ihr Leben in dem deinigen finden wird. Es ſind nicht alle es ſind nicht viele Verbindungen dieſer Art glücklich; ich kenne einen großen Theil der Stadt, und habe auch einen nicht zu kleinen Theil des Lebens beobachtet. Du haſt im Grunde nur unſere Ehe geſehen: möge die deinige ſo glücklich ſein, als es die meine mit deinem ehrwürdigen Vater iſt. “
Ich antwortete nicht, es wurden mir die Au¬ gen naß.
„ Klotilde wird jezt einſam ſein, “fuhr die Mutter fort, „ ſie hat keine andere Neigung als unſer Haus als Vater und Mutter und als dich. “
„ Mutter, “antwortete ich, „ wenn du Natalien ſehen wirſt, wenn du erfahren wirſt, wie ſie einfach und gerecht iſt, wie ihr Sinn nach dem Gültigen und Hohen ſtrebt, wie ſie ſchlicht vor uns allen wandelt, und wie ſie viel viel beſſer iſt als ich, ſo wirſt du nicht mehr von einer Vereinſamung ſprechen ſondern von einer Verbindung, Klotilde wird um eines mehr haben als jezt, und du und der Vater werdet um eines mehr42 haben. Aber auch Mathilde mein Gaſtfreund und der Kreis jener trefflichen Menſchen wird in eure Verbindung gezogen werden, ihr werdet zu ihnen hingezogen werden, und was bis jezt getrennt war, wird Einigung ſein. “
„ Ich habe mir es ſo gedacht, mein Sohn, “ant¬ wortete die Mutter, „ und ich glaube wohl, daß es ſo kommen wird; aber Klotilde wird die Art ihrer Nei¬ gung zu dir umwandeln müſſen, und möge das alles mit gelindem Kelche vorübergehen. “
Zu dem Ende dieſer Worte war auch Klotilde herzu gekommen. Sie brachte mir eine Roſe, und ſagte mit heiteren Mienen, daß ſie mir dieſelbe blos darum gebe, um mir einen kleinen Erſaz für alle die Roſen zu biethen, welche ich heuer im Asperhofe durch meine Hieherreiſe verſäumt habe.
Mir fiel es bei dieſen Worten erſt auf, daß im väterlichen Garten die Roſen blühten, während ſie doch in dem höher gelegenen und einer rauheren Luft ausgeſezten Asperhofe ſchon verblüht waren. Ich ſprach davon. Man fand den Grund bald heraus. Die Asperhofroſen waren den ganzen Tag der Sonne ausgeſezt, mochten auch beſſer gepflegt werden und einen beſſeren Boden haben, während hier theils durch43 Bäume, die man des kleineren Raumes wegen enger ſezen mußte, theils durch die Mauern näherer und entfernterer Häuſer vielfältig Schatten entſtand.
Ich nahm die Roſe, und ſagte, Klotilde würde meinem Gaſtfreunde einen ſchlechten Dienſt thun, wenn ſie in ſeinem Garten eine Roſe pflückte.
„ Dort würde ich nicht den Muth dazu haben, “antwortete ſie.
Wir blieben nun eine Weile bei dem Marmor¬ waſſerwerke ſtehen. Klotilde zeigte mir, was der Vater im Frühlinge habe machen laſſen, zum Theile, um den Waſſerzug noch mehr zu ſichern, zum Theile, um Verſchönerungen anzubringen. Ich ſah, wie treff¬ lich und zweckmäßig er die Dinge hatte zubereiten laſſen, und wie ſehr ich von ihm lernen könne. Ich freute mich ſchon auf die Zeit, die nicht mehr ferne ſein konnte, in welcher der Vater mit meinem Gaſt¬ freunde zuſammen kommen würde.
Als wir von dem Waſſerwerke weg gingen, führte mich Klotilde nun zu dem Plaze, von welchem eine Ausſicht in die Gegend geboten iſt, und den man mit einer Bruſtwehr zu verſehen beſchloſſen hatte. Die Bruſtwehr war ſchon zum Theile fertig. Sie war auf¬ gemauert, war mit den von mir gebrachten Marmor¬44 platten belegt, und war ſeitwärts mit Marmor be¬ kleidet, den ſich der Vater verſchafft hatte. Auch meine Simſe und Tragſteine waren verwendet. Ich ſah aber, daß noch vieles an Marmor fehlte, und verſprach, daß ich ſuchen werde, zu Stande zu bringen, daß die ganze Bruſtwehr aus gleichartigen Stücken und in gleicher Weiſe könne hergeſtellt werden.
„ Du ſiehſt, daß wir auch in der Ferne deiner den¬ ken, und dir etwas Angenehmes zu bereiten ſtreben, “ſagte Klotilde.
„ Ich habe ja nie daran gezweifelt, “antwortete ich, „ und denke auch eurer, wie meine Briefe beweiſen. “
„ Du ſollteſt doch wieder einmal einen ganzen Sommer hier bleiben, “ſagte ſie.
„ Wer weiß, was geſchieht, “erwiederte ich.
Als die Dunkelheit bereits mit ihrer vollen Macht hereinzubrechen anfing, kam der Vater wieder aus der Stadt, und wir nahmen unſer Abendeſſen in dem Waffenhäuschen. Da ſehr lange Tage waren, und da es nach dem Eintreten der völligen Finſterniß ſchon ziemlich ſpät war, ſo konnten wir nach dem Speiſen nicht mehr ſo lange in dem Häuschen mit den gläſer¬ nen Wänden beim Brennen der traulichen Lichter ſizen bleiben, wie in dem Herbſte, wenn ich nach einer45 langen Sommerarbeit wieder zu den Meinigen zurück¬ gekehrt war. Auch hatte man heute in dem lauen Abende mehrere der Glasabtheilungen geöffnet, der Eppich flüſterte in einem gelegentlichen Luftzuge, und die Flamme im Innern der Lampe wankte unerfreulich. Wir trennten uns, und ſuchten unſere Ruhe.
Am anderen Tage am früheſten Morgen kam Klotilde zu mir. Als ich auf ihr Pochen geöffnet hatte, und ſie eingetreten war, verkündigte ihr An¬ geſicht, daß die Mutter über meine Angelegenheit mit ihr geſprochen habe. Sie ſah mich an, ging näher, fiel mir um den Hals, und brach in einen Strom von Thränen aus. Ich ließ ihr ein Weilchen freien Lauf, und ſagte dann ſanft: „ Klotilde, wie iſt dir denn? “
„ Wohl und wehe, “antwortete ſie, indem ſie ſich von mir zu einem Size führen ließ, auf den ich mich neben ihr niederließ.
„ Du weißt nun alſo alles? “
„ Ich weiß alles. Warum haſt dun mir es den nicht früher geſagt? “
„ Ich mußte doch vorher mit den Eltern ſprechen, und dann, Klotilde, hatte ich gegen dich gerade den wenigſten Muth. “
46„ Und warum haſt du nicht in früheren Sommern etwas geſagt? “
„ Weil nichts zu ſagen war. Es iſt erſt jezt zu gegen¬ ſeitiger Kenntniß gekommen, und da bin ich hergeeilt, mich den Meinigen zu offenbaren. Als das Gefühl nur das meine war, und die Zukunft ſich noch ver¬ hüllte, dürfte ich nicht reden, weil es mir nicht männ¬ lich ſchien, und weil die Empfindung, die vielleicht in Kurzem gänzlich weggethan werden mußte, durch Worte nicht geſteigert werden durfte. “
„ Ich habe es immer geahnt, “ſagte Klotilde, „ und habe dir immer das höchſte und größte Glück ge¬ wünſcht. Sie muß ſehr gut ſehr lieb ſehr treu ſein. Ich habe nur das Verlangen, daß ſie dich ſo liebt wie ich. “
„ Klotilde, “antwortete ich, „ du wirſt ſie ſehen, du wirſt ſie kennen lernen, du wirſt ſie lieben; und wenn ſie mich dann auch nicht mit der in der Geburt ge¬ gründeten ſchweſterlichen Liebe liebt, ſo liebt ſie mich mit einer anderen, die auch mein Glück dein Glück das Glück der Eltern vermehren wird. “
„ Ich habe oft gedacht, wenn du von ihr erzählteſt, wie wenig du auch ſagteſt, und gerade, weil du wenig ſagteſt, “fuhr ſie fort, „ daß ſich etwa da ein Band ent¬47 wickeln könnte, daß es ſehr zu wünſchen wäre, daß du ihre Neigung gewänneſt, und daß daraus eine beſſere Einigung entſtehen könnte als durch die Ver¬ bindung mit einem Mädchen unſerer Stadt oder mit einem anderen. “
„ Und nun iſt es ſo, “erwiederte ich.
„ Warum haſt du denn nie ein Bild von ihr ge¬ malt? “fragte ſie.
„ Weil ich ſie eben ſo wenig oder noch weniger darum bitten konnte als dich oder die Mutter oder den Vater. Ich hatte nicht das Herz dazu, “ant¬ wortete ich.
„ Nun ſei recht glücklich, ſei zufrieden bis in dein höchſtes Alter, und bereue nie, auch nicht im geringſten, den Schritt, den du gethan haſt, “ſagte ſie.
„ Ich glaube, daß, ich ihn nie bereuen werde, und ich danke dir innig für deine Wünſche, meine theure meine geliebte Klotilde, “erwiederte ich.
Sie trocknete ihre Thränen mit dem Tuche, ord¬ nete gleichſam ihr ganzes Weſen, und ſah mich freundlich an.
„ Wer wird jezt mit mir zeichnen ſpaniſche Bücher leſen Zither ſpielen, wem werde ich alles ſagen, was mir in das Herz kömmt? “ſprach ſie nach einer Weile.
48„ Mir, Klotilde, “erwiederte ich, „ alles, was ich früher war, werde ich dir bleiben. Leſen zeichnen Zitherſpielen wirſt du mit Natalien; auch mittheilen wirſt du dich ihr, und mit ihr wirſt du das alles vollführen, was du bisher mit mir vollführt haſt. Lerne ſie nur erſt kennen, und du wirſt begreifen, daß es wahr iſt, was ich ſage. “
„ Ich möchte ſie gerne ſehr bald ſehen, “ſagte ſie.
„ Du wirſt ſie bald ſehen, “antwortete ich, „ es muß ſich jezt eine Verbindung unſerer Familie mit jenen Menſchen, bei denen ich bisher ſo häufig gewe¬ ſen bin, anknüpfen; ich wünſche ſelber, daß du ſie bald ſehr bald ſeheſt. “
„ Bis dahin aber mußt du mir ſehr viel von ihr erzählen, und wenn es möglich iſt, mußt du mir ein Bild von ihr bringen, “ſagte ſie.
„ Ich werde dir erzählen, “antwortete ich, „ jezt, da wir einmal von der Sache geſprochen haben, werde ich dir ſehr gerne erzählen, ich werde mit dir leichter von dem Bunde reden als mit ihr ſelber. Ob ich dir ein Bild werde bringen oder ſchicken können, weiß ich nicht; wenn es möglich iſt, werde ich es thun. Aber es wird nur in dem Falle ſein können, wenn ein Bild von ihr da iſt, und man es mir oder eine Abbildung49 davon überläßt. Behalte es dann, bis du mit ihr ſelber zuſammen kömmſt, und wir in freundlicher Verbindung mit einander leben. Endlich aber, Klo¬ tilde ... “
„ Endlich? “
„ Endlich wird doch auch die Zeit kommen, in welcher du von uns ausſcheiden wirſt, zwar nicht mit deinem Geiſte, wohl aber mit einem Theile deiner Beziehungen, wenn nehmlich auch du eine tiefere Verbindung eingehſt. “
„ Nie, nie werde ich das thun, “rief ſie beinahe heftig, „ nein, ich könnte ihm zürnen, ihm, der mein Herz hier wegführen würde. Ich liebe nur den Vater die Mutter und dich. Ich liebe dieſes ſtille Haus und alle, die berechtigt in demſelben aus und ein gehen, ich liebe das, was es enthält, und die Dinge, die ſich in ihm allmählich geſtalten, ich werde Natalien und ihre Angehörigen lieben, aber nie einen Fremden, der mich von euch ziehen wollte. “
„ Er wird dich aber von uns ziehen, Klotilde, “ſagte ich, „ und du wirſt doch da bleiben, er wird be¬ rechtigt ſein, hier aus und ein zu gehen, er wird ein Ding ſein, das ſich in dem Hauſe allmählich geſtaltet, und du wirſt vielleicht nicht von Vater und MutterStifter, Nachſommer. III. 450gehen dürfen, gewiß aber wird kein Zwang ſein, daß du ſie oder mich weniger lieben müſſeſt. “
„ Nein, nein, rede mir nicht von dieſen Dingen, “erwiderte ſie, „ es peinigt mich, und zerſtört mir das Herz, das ich dir mit großer Theilnahme in der Morgenſtunde habe bringen wollen. “
„ Nun, ſo reden wir nicht mehr davon, Klotilde, “ſagte ich, „ ſei nur beruhigt, und bleibe bei mir. “
„ Ich bleibe ja bei dir, “antwortete ſie, „ und ſprich freundlich zu mir. “
Sie hatte die lezte Spur der Thränen von ihrem Angeſichte vertilgt, ſie ſezte ſich auf dem Size neben mir noch mehr zurecht, und ich mußte mit ihr ſprechen. Sie fragte mich von neuem um Natalien, wie ſie ausſehe, was ſie thue, wie ſie ſich zu ihrer Mutter ihrem Bruder und zu meinen Gaſtfreunde verhalte. Ich mußte ihr erzählen, wann ich ſie zum erſten Male geſehen habe, wann ich in dem Sternenhofe geweſen ſei, wann ſie den Asperhof beſucht habe, wann ein Ahnungsgefühl in mein Herz gekommen, wie es dort gewachſen ſei, wie ich mit mir gekämpft habe, was dann gekommen ſei, und wie es ſich gefügt habe, daß wir endlich die Worte zu einander gefunden haben.
Ich erzählte ihr gerne, ich erzählte ihr immer51 leichter, und je mehr ſich die Worte von dem Herzen löſeten, deſto ſüßer wurde mein Gefühl. Ich hatte nicht geglaubt, daß ich von dieſem meinen innerſten Weſen zu irgend jemanden ſprechen könnte; aber Klotildens Seele war der einzige liebe Schrein, in welchem ich das Theure niederlegen konnte.
Wir blieben ſehr lange ſizen, immer fragte mich Klotilde wieder um Neues und wieder um Altes. Da kam die Mutter in meine Stube. Da ſie uns in ver¬ traulichem Geſpräche ſizen fand, ſezte ſie ſich auch zu dem Tiſche, der vor mir und Klotilden ſtand, und ſagte nach einer kurzen Weile, daß ſie gekommen ſei, uns zum Frühmahle zu holen. Sie hätte Klotilden nirgends geſehen, und hätte gemeint, daß ſie an die¬ ſem Morgen bei mir ſein müſſe.
„ Meine geliebten Kinder, “fuhr ſie fort, „ bewahrt euch eure Liebe, entfremdet euch nie eure Herzen, und bleibt euch in allen Lagen zugewandt, wie ihr euch jezt und wie ihr den Eltern zugewandt ſeid; dann werdet ihr einen Schaz haben, der einer der ſchönſten im Leben iſt, und der ſo oft verkannt wird. Ihr wer¬ det in eurer Vereinigung ſittlich ſtark ſein, ihr werdet die Freude eures Vaters bilden und mir werdet ihr das Glück meines Alters ſein. “
4 *52Wir antworteten nichts auf dieſe Rede, weil uns ihr Inhalt ſo natürlich war, und folgten der Mutter aus dem Zimmer.
Der Vater harrte ſchon unſer in dem Speiſege¬ mache, und da jezt die Urſache meiner unvermutheten Nachhauſekunft allen bekannt war, und keines ſich dagegen erklärte, ſo ſprachen wir nun unverholen gemeinſchaftlich von der Angelegenheit. Die Eltern hegten die beſten Erwartungen von dem neuen Bunde, und freuten ſich der Übereinſtimmung zwiſchen mir und der Schweſter. Ich mußte ihnen nun, wie ich es ſchon gegen Klotilde gethan hatte, noch mehreres von Natalien erzählen, wie ſie ſei, was ſie thue, wohin ſich ihre Bildung neige, und wie ſie ihre Jugend könne zugebracht haben. Auch von Mathilden und dem Sternenhofe ſo wie von dem Asperhofe und meinem Gaſtfreunde mußte ich noch Manches nachholen, was das Bild ergänzen ſollte, welches ſich die Meinigen von den dortigen Verhältniſſen machten. Ich ſagte ihnen auch, daß ein günſtiges Geſchick hier walte, da gerade Natalie jenes Mädchen geweſen ſei, welches einmal bei der Aufführung des „ König Lear “in einer Loge neben mir ſo ergriffen geweſen ſei, welches mir großen Antheil eingeflößt, und mich, der ich den53 Schmerz im Trauerſpiele getheilt hätte, im Heraus¬ gehen gleichſam zum Danke freundlich angeblickt habe. Erſt in lezter Zeit ſei das aufgeklärt worden.
Der Vater ſagte, daß die Familien, die durch längere Zeit gleichſam durch ein unſichtbares Band verbunden geweſen waren, durch das Band der gei¬ ſtigen Entwicklung ſeines Sohnes und des Verkehrs desſelben mit beiden Theilen, auch in der Wirklichkeit ſich nähern, ſich kennen lernen, und in eine Verbin¬ dung treten werden.
Die Mutter entgegnete, das ſei jezt die dringendſte Veranlaſſung, ja es ſei nicht nur eine geſellſchaftliche ſondern ſogar eine Familienpflicht, daß der Vater, welcher, je älter er werde, mit einer deſto wärmeren Ausdauer, welche unbegreiflich iſt, ſich an ſeine Arbeitsſtube kette, nun endlich einmal ſich den Ge¬ ſchäften entreiße, eine Reiſe mache, und ſich in derſelben nur mit heiteren und ſchönen Dingen beſchäftige.
„ Nicht nur ich werde eine Reiſe machen, “antwor¬ tete er, „ ſondern auch du und Klotilde. Wir werden die Menſchen dort, welche meinen Sohn ſo freundlich aufgenommen haben, beſuchen. Aber auch ſie werden eine Reiſe machen; denn auch ſie werden zu uns in54 die Stadt kommen, und in dieſen Zimmern verweilen. Wann aber dieſe Reiſen ſtattfinden werden, läßt ſich jezt noch gar nicht beurtheilen. Jedenfalls muß unſer Sohn zuerſt allein wieder hinreiſen, und muß die Einwilligung ſeiner Familie überbringen. Seinem Ermeſſen und hauptſächlich den Rathſchlägen ſeines älteren Freundes wird es dann anheimgegeben ſein, wie die Sachen im weiteren Verlaufe ſich entwickeln ſollen. Die Reiſe unſeres Sohnes muß aber ſogleich geſchehen; denn ſo fordert es die neue Pflicht, die er eingegangen iſt. Wir werden abwarten, welche Nach¬ richten er uns von ſeiner Ankunft im Sternenhofe zuſenden, oder welche Meinung er uns ſelber über¬ bringen wird. “
„ Die Reiſe, mein Vater, “entgegnete ich, „ wünſche ich, ſo bald es nur möglich iſt, anzutreten, am liebſten ſogleich morgen oder wenn ein Aufſchub ſein muß, doch übermorgen. “
„ Es wird nicht verſpätet ſein, wenn du übermor¬ gen reiſeſt, da ſich doch noch Einiges zum Beſprechen ergeben kann, “antwortete er.
Klotilde äußerte ihre Freude daß einmal alle eine Reiſe antreten würden.
„ Und für den guten Vater könnte nun öfter der55 Anlaß gegeben ſein, “ſagte die Mutter, „ daß er in das Freiere und Weitere komme, daß er reine Luft athme, und Berg und Wald und Feld betrachte. “
„ Ich werde doch, einmal, meine liebe Thereſe, mein Buch abſchließen, “erwiederte der Vater, „ und es wird für mich der Stillſtand der Geſchäfte eintreten. Sie mögen in andere Hände übergehen, oder ſich ganz auflöſen. Dann wird es Zeit ſein, im Anblicke von Berg Wald und Feld ein Haus zu miethen oder zu bauen, daß wir im Sommer dort und im Winter hier wohnen, wenn wir nicht gar lieber auch manchen Winter draußen bleiben wollen. “
„ So haſt du oft geſagt, “antwortete die Mutter, „ aber es iſt nicht geſchehen. “
„ Wenn Zeit und Ort darnach angethan ſind, wird es geſchehen, “erwiederte er.
„ Wenn dann noch deine Geſundheit und dein geiſtiges Weſen davon den gewünſchten Nuzen ziehen, “ſagte die Mutter, „ werde ich jeden Winter preiſen, welchen wir mitten in irgend einem Lande zubringen. “
„ Es wird ſich vieles ereignen, woran wir jezt nicht denken, “antwortete der Vater.
Wir ſtanden von dem Frühmahle auf, und jedes ging an ſeine Geſchäfte.
56Im Laufe des Vormittages ließ mich die Mutter wieder zu ſich bitten, und fragte mich, wie ich es denn zu halten gedenke, wo ich mit Natalien wohnen wolle. Es ſei in dem Hauſe Plaz genug, nur müßte alles gerichtet werden. Auch ſeien viele andere Dinge zu ordnen, beſonders meine Kleider, in denen ich doch nun anders ſein müſſe. Sie wünſche meine Meinung zu hören, damit man zu rechter Zeit beginnen könne, um noch fertig zu werden.
Ich ſagte, daß ich in der That auf dieſe Angele¬ genheit nicht gedacht habe, daß ihre Erwägung wohl noch Zeit habe, und daß wir vor Allem den Vater um Rath fragen ſollten.
Sie war damit einverſtanden.
Als wir nach dem Mittagseſſen den Vater frag¬ ten, war er meiner Meinung, daß es noch zu frühe ſei, an dieſe Dinge zu denken. Es würde ſchon zu rechter Zeit geſchehen, daß alles, was noth thue, in Ordnung geſezt werden könne. Jezt ſeien andere Dinge zu beſprechen und zu bedenken. Wenn es an der Zeit ſei, werde es die Mutter erfahren, daß ſie alle ihre Maßregeln ausreichend treffen könne.
Sie war damit zufrieden.
Nachmittags fragte ich in der Stadt im Hauſe57 der Fürſtin an, und erfuhr, daß dieſelbe zufällig auf mehrere Tage anweſend ſei. Sie habe die Abſicht nach Riva zu gehen, um dort einige Wochen an den Ufern des blauen Gardaſees zu verleben. Sie ſei jezt eben damit beſchäftigt, die Vorbereitungen zu dieſer Reiſe zu machen. Ich ließ anfragen, wann ich ſie ſprechen könnte, und wurde auf den nächſten Tag um zwölf Uhr beſtellt.
Ich nahm zu dieſer Zeit eine Mappe mit einigen meiner Arbeiten zu mir, und verfügte mich in ihre Wohnung. Nach den freundlichen Empfangsworten drückte ſie ihre Verwunderung aus, mich jezt hier zu finden. Ich gab die Verwunderung für ihre Perſon zurück. Sie führte mir als Grund ihre beabſichtigte Reiſe an, und ich ſagte, daß plözlich gekommene An¬ gelegenheiten meinen Sommeraufenthalt unterbro¬ chen, und mich in die Stadt geleitet hätten.
Sie fragte mich um meine Arbeiten während der Zeit meiner Abweſenheit.
Ich erklärte ihr dieſelben. Als ich von dem Simmigletſcher ſprach, nahm ſie beſonderen Antheil, weil ihr dieſes Gebirge aus früherer Zeit her bekannt war. Ich mußte ihr genau beſchreiben, und zeigen, wo wir geweſen, und was wir gethan haben. Ich zog58 die Zeichnungen, die ich in Farben von den Eisfeldern ihren Einränderungen ihrer Einbuchtung ihrer Ab¬ gleitung und ihres oberen Urſprunges gemacht hatte, und in meiner Mappe mit mir trug, hervor, und breitete ſie vor ihr aus. Sie ließ ſich jedes auch das kleinſte an dieſen Zeichnungen beſchreiben und erklären. Ich mußte ihr auch verſprechen, bei nächſter günſtiger Gelegenheit meine Zeichnung von dem Grunde des Lauterſees ihr vorzulegen und auf das Genaueſte zu erörtern. Es ſei ihr dies doppelt wünſchenswerth, weil ſie jezt ſelber zu einem See reiſe, der einer der merkwürdigſten des ſüdlichen Alpenabhanges ſei. Hier¬ auf befragte ſie mich um meine anderen Beſtrebungen auf dem Gebiete der bildenden Kunſt, worauf ich er¬ wiederte, daß ich heuer außer den Gletſcherzeichnungen, die doch wieder faſt nur wiſſenſchaftlicher Natur ſeien, nichts hatte machen können, weder in Landſchaften noch in Abbildung menſchlicher Köpfe.
„ Wenn ihr ein ſehr ſchönes jugendliches Angeſicht abbilden wollt, “ſagte ſie, „ ſo müſſet ihr ſuchen, das Angeſicht der jungen Tarona abbilden zu dürfen. Ich bin alt, habe viel erfahren, habe ſehr viele Menſchen geſehen und betrachtet, aber es iſt mir wenig vorgekommen, das edler, einnehmender und59 liebenswürdiger geweſen wäre, als die Züge der Tarona. “
Ich erröthete ſehr tief bei dieſen Worten.
Sie richtete die klaren lieben Augen auf mich, lächelte ſehr fein, und ſagte: „ Haltet ihr etwa ſchon jemanden für das Schönſte? “
Ich antwortete nicht, und ſie ſchien auch eine Antwort nicht zu erwarten. Von Natalien konnte ich ihr nichts ſagen, da die Sache nicht ſo weit gediehen war, um ſie andern verkündigen zu können.
Wir brachen ab, ich verabſchiedete mich bald, ſie reichte mir gütig die Hand, welche ich küßte, und lud mich ein, ja im künftigen Winter ſehr bald von dem Gebirge zurück zu kommen, da auch ſie ſehr bald in der Stadt einzutreffen gedenke.
Ich antwortete, daß ich über jenen Zeitpunkt jezt durchaus nicht zu verfügen im Stande ſei.
Am zweiten Tage Morgens ſtand ich reiſefertig in meinem Zimmer. Der Wagen war vor das Haus beſtellt worden. Ich hatte mir es nicht verſagen kön¬ nen, in einem beſonderen Wagen ſo ſchnell als mög¬ lich in den Sternenhof zu fahren. Vater Mutter und Schweſter waren in dem Speiſezimmer, um von mir Abſchied zu nehmen. Ich begab mich auch in dasſelbe,60 und wir nahmen ein kleines Frühmahl ein. Nach dem¬ ſelben ſagte ich Lebewohl.
„ Gott ſegne dich, mein Sohn, “ſprach die Mutter, „ Gott ſegne dich auf deinem Wege, er iſt der ent¬ ſcheidende, du biſt nie einen ſo wichtigen gegangen. Wenn mein Gebet und meine Wünſche etwas vermö¬ gen, wirſt du ihn nicht bereuen. “
Sie küßte mich auf den Mund, und machte mir das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn.
Der Vater ſagte: „ Du haſt von deiner frühen Jugend an erfahren, daß ich mich nicht in deine An¬ gelegenheiten menge; handle ſelbſtſtändig, und trage die Folgen. Wenn du mich frägſt, wie du jezt gethan haſt, ſo werde ich dir immer beiſtehen, in ſo weit es meine größere Erfahrung vermag. Aber einen Rath möchte ich dir doch in dieſer wichtigen Angelegenheit geben, oder vielmehr nicht einen Rath geben, ſon¬ dern deine Aufmerkſamkeit möchte ich auf einen Um¬ ſtand leiten, auf den du vielleicht in der Befangenheit dieſer Tage nicht gedacht haſt. Ehe du das ernſte Band ſchließeſt, iſt noch Manches für dich nothwen¬ dig, deinen Geiſt und dein Gemüth zu ſtärken und zu feſtigen. Eine Reiſe in die wichtigſten Städte Eu¬ ropas und zu den bedeutendſten Völkern iſt ein ſehr61 gutes Mittel dazu. Du kannſt es, deine Vermö¬ genslage hat ſich ſehr gebeſſert, und ich lege wohl auch etwas dazu, wie ich überhaupt mit dir Abrech¬ nung halten muß. “
Ich war ſehr bewegt, und konnte nicht ſprechen. Ich nahm den Vater nur bei der Hand, und dankte ihm ſtumm.
Klotilde nahm mit Thränen Abſchied, und ſagte leiſe, als ich ſie an mich drückte: „ Gehe mit Gott, es wird Alles recht ſein, was du thuſt, weil du gut biſt, und weil du auch klug biſt. “
Ich ſprach die Hoffnung aus, daß ich bald wieder kommen werde, und ging die Treppe hinab.
Meine Reiſe war ſehr ſchnell, weil überall die Pferde ſchon beſtellt waren, weil ich nirgends ſchlief, und zum Eſſen nur die kürzeſte Zeit verwendete.
Als ich im Sternenhofe in das Zimmer Mathil¬ dens trat, kam ſie mir entgegen, und ſagte: „ Seid willkommen, es iſt Alles, wie ich gedacht habe; denn ſonſt wäret ihr nicht zu mir ſondern zu unſerm Freunde gekommen. “
„ Meine Angehörigen ehren euch, ehren unſeren Freund, und glauben an unſer Glück und an unſere Zukunft, “erwiederte ich.
62„ Seid willkommen, Natalie, “ſagte ich, als dieſe gerufen worden und in das Zimmer getreten war, „ ich bringe freundliche Grüße von den Meinigen. “
„ Seid willkommen, “antwortete ſie, „ ich habe immer gehofft, daß es ſo geſchehen, und daß eure Abweſenheit ſo kurz ſein wird. “
„ Meine Hoffnung war wohl auch dieſelbe, “erwie¬ derte ich, „ aber jezt iſt alles klar, und jezt iſt völlige Beruhigung vorhanden. “
Wir blieben bei Mathilden, und ſprachen einige Zeit mit einander.
Am zweiten Tage nach meiner Ankunft reiſte ich zu meinem Gaſtfreunde. Mathilde hatte mir einen Wagen und Pferde mit gegeben.
Als ich in das Schreinerhaus gekommen war, in welchem ſich mein Gaſtfreund bei meiner Ankunft be¬ fand, reichte er mir die Hand, und ſagte: „ Ich bin von eurer Rückkunft bereits benachrichtigt; man hat mir von dem Sternenhofe gleich nach eurem Eintreffen in demſelben geſchrieben. “
Euſtach ſah mich ſeltſam an, ſo daß ich vermu¬ thete, er wiſſe auch bereits von der Sache.
Wir gingen nun in das Haus und man öffnete mir meine gewöhnliche Wohnung. Guſtav kam nach63 einer Weile zu mir herauf, und konnte ſeiner Freude beinahe kein Ende machen, daß alles ſei, wie es iſt. Mein Gaſtfreund hatte ihm die Thatſache erſt heute eröffnet. Er ſprach ohne Rückhalt aus, daß ihm die Sache ſo weit weit lieber ſei, als wenn Tillburg ſeine Schweſter aus dem Hauſe geführt hätte, deſſen Wille wohl immer dahin gerichtet geweſen wäre.
Ich blieb einige Zeit bei meinem Gaſtfreunde, theils weil er es ſelber verlangte, theils, um jene Ruhe zu gewinnen, die ich ſonſt immer hatte, und die ich brauchte, um in meinen Beſtrebungen klar zu ſehen, und ſie nach gemachter Einſicht zu ordnen.
Die Leute blickten mich fragend oder verwundert an. Vermuthlich hatte es ſich ausgebreitet, in welche Beziehung ich zu Perſonen getreten bin, welche Freunde des Hauſes ſind, und welche oft in dasſelbe als Beſuchende kommen. Nirgends aber trat mir der Anſchein entgegen, als ob man mir das Verhältniß mißgönnte, oder es mit ungünſtigen Augen anſähe. Im Gegentheile, die Leute waren faſt freundlicher und dienſtwilliger als vorher. Ich kam in das65 Gartenhaus. Der Gärtner Simon trat mir mit einer Art Ehrerbiethung entgegen und rief ſeine Gattin Clara herbei, um ihr zu ſagen, daß ich da ſei, und um ſie zu veranlaſſen, daß ſie mir ihre Verbeugung mache. Er hatte dies ſonſt nie gethan. Als dieſe Art von Vorſtellung vorüber war, führte er mich erſt in den Garten, wie er mit kurzem Ausdrucke blos ſeine Gewächshäuſer nannte. Er zeigte mir wieder ſeine Pflanzen, erklärte mir, was neu erworben worden war, was ſich beſonders ſchön entwickelt habe, und was in gutem Stande geblieben ſei; er erzählte mir auch, welche Verluſte man erlitten habe, wie die Pflanzen im ſchönſten Gedeihen geweſen ſeien, die man verloren habe, und welchen beſonderen Urſachen man ihren Verluſt zuſchreiben müſſe. Er bedachte hiebei nicht, daß etwa meine Gedanken anderswo ſein könnten, wie er bei einer früheren Gelegenheit auch nicht geahnt hatte, daß mein Gemüth abweſend ſei, da er mir ebenfalls mit vieler Luſt und großer Umſicht ſeine Gewächſe erklärt hatte. Beſonders eifrig war er in der Darlegung der Vorzüge und Schön¬ heiten der Roſe, welche die Frau des Sternenhofes für den Herrn des Hauſes aus England verſchrieben habe. Er führte mich zu ihr, und zeigte mir alle Vortrefflich¬Stifter. Nachſommer. III. 566keiten derſelben. Dann mußte ich auch mit ihm in das Cactushaus gehen, wo er mir ſogleich den Cereus Peruvianus wies, der durch meine Güte, wie er ſich ausdrückte, in den Asperhof gekommen ſei. Er wachſe bereits ſteilrecht in ſeinem Glasfache empor, was durch viele Mühe und Kunſt bewirkt worden ſei. Die gelbliche Farbe vom Inghofe ſei in die dunkelblau¬ grüne gleichſam mit einem Dufte überflogene über¬ gegangen, welche die völlige Geſundheit der Pflanze beweiſe. Wenn es ſo fortgehe, ſo könne auch noch die Freude der fabelhaften weißen Blumen der lebendigen Säule in dieſes Haus kommen. Er führte mich dann zu einigen Cactusgeſtalten, die eben im Blühen be¬ griffen waren. Es lag eine ziemlich große Sammel¬ linſe in der Nähe, um die Blumen und nebſtbei auch die Waffen und die Geſtaltungen der Pflanzenkörper unter dem Einfluſſe des vollen Sonnenlichtes betrach¬ ten zu können. Er bath mich, die Linſe zu gebrauchen. Es war eine farblos zeigende und zugleich eine, bei welcher die Abweichung wegen der Kugelgeſtalt auf ein Kleinſtes gebracht war. Überhaupt wies ſie ſich als vortrefflich aus. Er erzählte mir, daß der Herr das Vergrößerungsglas eigens zum Betrachten der Cacteen habe machen, es in das ſchöne Elfenbein67 faſſen, und in das reine Sammetfach habe legen laſſen. Heute erſt ſei er noch indem Cactushauſe geweſen und habe mit dem Glaſe die Blüthen und viele Stacheln angeſchaut. Ich bediente mich des Glaſes, und ſah in den von den ſeidenartigen Blumenblättern umſtandenen gelben weißen oder roſenfarbigen Kelch hinein, wie ſie eben vorhanden waren. Daß der Glanz dieſer Blu¬ menfarben beſonders ſchön weit ſchöner als die feinſte Seide und als der der meiſten Blumen ſei, wußte ich ohnehin, mußte es mir aber doch von dem Gärtner Simon zeigen laſſen, ſo wie er auch der ſchönen grün oder roſig oder dunkelrothbraun dämmernden Tiefe des Kelches erwähnte, aus der die Wucht der ſchlan¬ ken Staubfäden aufſteige, die keine Blüthe ſo zierlich habe. Überhaupt ſeien die Cactusblumen die ſchön¬ ſten auf der Welt, wenn man etwa einige Schmarozer¬ gewächſe und ganz wenige andere vereinzelte Blumen ausnehme. Er machte mich auch auf einen Umſtand aufmerkſam, den ich nicht wußte, oder den ich nicht beobachtet hatte, daß nehmlich bei einigen Kugel¬ cactus ſich die Blumen ſtets aus neuen Stachelaugen meiſtens mit ganz kurzem Stengel entwickeln, wäh¬ rend ſie bei andern auf einem mehr oder minder hohen Stiele aus vorjährigen oder noch älteren Stachel¬5 *68augen ſich erheben. Er ſagte, das werde gewiß ein¬ mal einen Grund zu einer neuen Eintheilung dieſer Cactusgeſtalt geben. Er zeigte mir an vorhandenen Gewächſen den Unterſchied, und ich mußte ihn erken¬ nen. Er ſagte, daß dies nicht zufällig ſei, und daß er die Thatſache ſchon dreißig Jahre beobachte. Da¬ mals, als er jung geweſen, ſeien kaum einige dieſer Geſtaltungen bekannt geweſen, jezt vermehre ſich die Kenntniß derſelben bedeutend, ſeit die Menſchen zur Einſicht ihrer Schönheit gekommen ſind, und Reiſende Pflanzen aus Amerika ſenden, wie jener Reiſende, der von deutſchen Landen aus faſt in der ganzen Welt geweſen ſei. Es könne nur Unverſtand oder Oberfläch¬ lichkeit oder Kurzſichtigkeit dieſe Pflanzengattung un¬ geſtaltig nennen, da doch nichts regelmäßiger und manigfaltiger und dabei reizender ſei als eben ſie. Nur eine erſte genaue Betrachtung und Vergleichung derſelben ſei nöthig, und nur ein ſehr kurzes Fortſezen dieſer Betrachtung, damit die Gegner dieſer Pflanzen in warme Verehrer derſelben übergehen — es müßte nur ein Menſch überhaupt kein Freund der Pflanzen ſein, welche Gattung es vielleicht in der Welt nicht gibt. Als ich das Pflanzenhaus verließ, begleitete er mich bis an die Grenze der Gewächshäuſer, und auch69 ſeine Gattin trat aus der Thür ihrer Wohnung, um ſich von mir zu verabſchieden.
In dem Blumengarten und in der Abtheilung der Gemüſe blieben die Arbeitsleute vor mir ſtehen, nahmen den Hut ab, und grüßten mich artig.
Euſtach war mild und freundlich wie gewöhnlich; aber er war noch weit inniger, als er es in früheren Zeiten geweſen war. Mich freute die Billigung gerade von dieſem Menſchen ungemein. Er zeigte mir alles, was in der Arbeit war, und was ſich an wirklichen Dingen was an Zeichnungen was an Nachrichten in der jüngſten Zeit zu dem bereits Vorhandenen hinzu¬ gefunden hatte. Er ſagte, daß mein Gaſtfreund in Kurzem eine ziemlich weit entfernte Kirche beſuchen werde, in welcher man auf ſeine Koſten Wiederher¬ ſtellungen mache, und daß er mich zu dieſer Reiſe ein¬ laden wolle. Ich ſah unter allen vorhandenen Dingen und Stoffen den ſehr ſchönen Marmor nicht, den ich meinem Gaſtfreunde zum Geſchenke gemacht hatte, und war auch nie in Kenntniß gekommen, daß daraus etwas verfertigt worden ſei. Es ſprach niemand da¬ von, und ich fragte auch nicht. In mancher Stunde ſah ich den Arbeiten zu, welche in dem Schreinerhauſe ausgeführt wurden.
70Roland war wie gewöhnlich im Sommer nicht in dem Asperhofe anweſend.
Mit Euſtach beſuchte ich auch die Bilder meines Gaſtfreundes ſeine Kupferſtiche ſeine Schnizereien und ſeine Geräthe. Wir ſprachen über die Dinge, und ich ſuchte mir ihren Werth und ihre Bedeutung immer mehr eigen zu machen. Auch in das Bücherzimmer den Marmorſaal und das Treppenhaus meines Gaſtfreun¬ des ging ich. Wie war die Geſtalt auf der Treppe erhaben edel und rein gegen die Nimphe in der Grotte des Gartens im Sternenhofe, die mir in der lezten Zeit ſo lieb geworden war. Durch meine Bitte ließ ſich mein Freund bewegen, mir die Zimmer aufzu¬ ſchließen, in denen Mathilde und Natalie während ihres Aufenthaltes in dem Asperhofe wohnen. Ich blieb länger als in den anderen in dem lezten kleinen Gemache mit der Tapettenthür, welches ich die Roſe genannt hatte. Mich umwehte die Ruhe und Klar¬ heit, die in dem ganzen Weſen Mathildens aus¬ geprägt iſt, die in den Farben und Geſtalten des Zim¬ mers ſich zeigte, und die in den unvergleichlichen Bil¬ dern lag, die hier aufgehängt waren.
Wir gingen auch in den Meierhof. Die Leute be¬ gegneten mir achtungsvoll, ſie zeigten mir alle Räume,71 und wieſen, was ſich in ihnen befinde, was dort gear¬ beitet werde, wozu ſie dienen, und was ſich in neuerer Zeit geändert habe. Der Meier hatte ſeine beſondere Freude an der neuen von ihm ſelbſt verbeſſerten Zucht der Füllen und an dem Volke aller von meinem Gaſt¬ freunde eingeführten Gattungen von Hühnern. Als wir uns von dem Meierhofe entfernten, und uns der vielſtimmige Geſang der Vögel aus dem Garten des Hauſes entgegen ſchallte, ſah ich im Rückblicke, daß ſich unter dem Thorwege eine Gruppe von Mägden mit ihren blauen Schürzen und weißen Hemdärmeln geſammelt habe, und uns nachſchaue.
Wenn ich auch erkannte, daß ich der Gegenſtand der Aufmerkſamkeit geworden war, ſo entſchlüpfte doch niemandem ein Wort, welches einen Grund dieſer Auf¬ merkſamkeit angedeutet hätte.
Guſtav, welcher wohl Anfangs ſeine Freude ge¬ gen mich ausgeſprochen hatte, daß es ſei, wie es iſt, und daß keiner von denen, die es gewollt hatten, ſeine Schweſter fortgeführt, ſprach nun von dem Gegen¬ ſtande nicht mehr, und ſchloß ſich nur noch herzlicher, wenn dieſes möglich war, an mich an.
Mein Gaſtfreund ſagte mir endlich auch von der Reiſe nach der Kirche, von welcher Euſtach geſprochen72 hatte, und lud mich zu derſelben ein. Ich nahm die Einladung an.
Wir fuhren eines Morgens von dem Asperhofe fort, mein Gaſtfreund Euſtach Guſtav und ich. Guſtav wird, wie mir mein Gaſtfreund ſagte, auf jede kleinere Reiſe von ihm mitgenommen. Wenn dies bei ausgedehnteren Reiſen nicht der Fall ſein kann, ſo wird er zu ſeiner Mutter in den Sternenhof gebracht. Wir kamen erſt am zweiten Tage bei der Kirche an. Roland, welcher von unſerer Ankunft unter¬ richtet geweſen war, erwartete uns dort. Die Kirche war ein Gebäude im altdeutſchen Sinn. Sie ſtammte, wie meine Freunde verſicherten, aus dem vierzehnten Jahrhunderte her. Die Gemeinde war nicht groß und nicht beſonders wohlhabend. Die leztvergange¬ nen Jahrhunderte hatten an dieſer Kirche viel ver¬ ſchuldet. Man hatte Fenſter zumauern laſſen, ent¬ weder ganz oder zum Theile, man hatte aus den Niſchen der Säulen die Steinbilder entfernt, und hatte hölzerne, die vergoldet und gemalt waren, an ihre Stelle gebracht. Weil aber dieſe größer waren als ihre Vorgänger, ſo hat man die Stellen, an die ſie kommen ſollten, häufig ausgebrochen, und die frü¬ heren Überdächer mit ihren Verzierungen weggeſchla¬73 gen. Auch iſt das Innere der ganzen Kirche mit bun¬ ten Farben bemalt worden. Als dieſes in dem Laufe der Jahre auch wieder ſchadhaft wurde, und ſich Aus¬ beſſerungsarbeiten an der Kirche als dringlich noth¬ wendig erwieſen, gab ſich auch kund, daß die Mittel dazu ſchwer aufzubringen ſein würden. Die Gemeinde gerieth beinahe über den Umfang der Arbeiten, die vorzunehmen wären, in großen Hader. Offenbar waren in früheren Zeiten reiche und mächtige Wohl¬ thäter geweſen, welche die Kirche hervorgerufen und erhalten hatten. In der Nähe ſtehen noch die Trüm¬ mer der Schlöſſer, in denen jene wohlhabenden Ge¬ ſchlechter gehauſt hatten. Jezt ſteht die Kirche allein als erhaltenes Denkmal jener Zeit auf dem Hügel, einige in neuerer Zeit erbaute Häuſer ſtehen um ſie herum, und rings liegt die Gemeinde in den in dem Hügellande zerſtreuten Gehöften. Die Beſizer der Schloßruinen wohnen in weit entfernten Gegenden, und haben, da ſie ganz anderen Geſchlechtern angehö¬ ren, entweder nie eine Liebe zu der einſamen Kirche gehabt, oder haben ſie verloren. Der Pfarrer, ein ſchlichter frommer Mann, der zwar keine tiefen Kennt¬ niſſe der Kunſt hatte, aber ſeit Jahren an den Anblick ſeiner Kirche gewöhnt war, und ſie, da ſie zu verfallen74 begann, wieder gerne in einem ſo guten Zuſtande ge¬ ſehen hätte, als nur möglich iſt, ſchlug alle Wege ein, zu ſeinem Ziele zu gelangen, die ihm nur immer in den Sinn kamen. Er ſammelte auch Gaben. Auf leztem Wege kam er zu meinem Gaſtfreunde. Dieſer nahm Antheil an der Kirche, die er unter ſeinen Zeich¬ nungen hatte, reiſte ſelber hin, und beſah ſie. Er ver¬ ſprach, daß er, wenn man ſeinen Plan zur Wieder¬ herſtellung der Kirche billige, und annehme, alle Koſten der Arbeit, die über den bereits vorhandenen Vorrath hinausreichen, tragen, und die Arbeit in einer gewiſſen Zahl von Jahren beendigen werde. Der Plan wurde ausgearbeitet, und von allen, welche in der Angele¬ genheit etwas zu ſprechen hatten, genehmigt, nachdem der Pfarrer ſchon vorher, ohne ihn geſehen zu haben, ſehr für ihn gedankt, und ſich überall eifrig für ſeine Annahme verwendet hatte. Es wurde dann zur Aus¬ führung geſchritten, und in dieſer Ausführung war mein Gaſtfreund begriffen. Die Füllmauern in den Fenſtern wurden vorſichtig weggebrochen, daß man keine der Verzierungen, welche in Mörtel und Ziegeln begraben waren, beſchädige, und dann wurden Glas¬ ſcheiben in der Art der noch erhaltenen in die aus¬ gebrochenen Fenſter eingeſezt. Die hölzernen Bilder75 von Heiligen wurden aus der Kirche entfernt, die Niſchen wurden in ihrer urſprünglichen Geſtalt wieder hergeſtellt. Wo man unter dem Dache der Kirche oder in anderen Räumen die alten ſchlanken Geſtalten der Heiligenbilder wieder finden konnte, wurden ſie, wenn ſie beſchädigt waren, ergänzt, und an ihre muthma߬ lichen Stellen geſezt. Für welche Niſchen man keine Standbilder auffinden konnte, die wurden leer ge¬ laſſen. Man hielt es für beſſer, daß ſie in dieſem Zu¬ ſtande verharren, als daß man eins der hölzernen Bilder, welche zu der Bauart der Kirche nicht paßten, in ihnen zurückgelaſſen hätte. Freilich wäre die Ver¬ fertigung von neuen Standbildern das Zweckmäßigſte geweſen; allein das war nicht in den Plan der Wie¬ derherſtellung aufgenommen worden, weil es über die zu dieſem Werke verfügbaren Kräfte meines Gaſt¬ freundes ging. Alle Niſchen aber, auch die leeren, wurden, wenn Beſchädigungen an ihnen vorkamen, in guten Stand geſezt. Die Überdächer über ihnen wurden mit ihren Verzierungen wieder hergeſtellt. Zu der Übertünchung des Innern der Kirche war ein Plan entworfen worden, nach welchem die Farbe jener Theile, die nicht Stein waren, ſo unbeſtimmt gehalten werden ſollte, daß ihr Anblick dem eines76 bloſſen Stoffes am ähnlichſten wäre. Die Gewölb¬ rippen, deren Stein nicht mit Farbe beſtrichen war, ſo wie alles Andere von Stein wurde unberührt ge¬ laſſen, und ſollte mit ſeiner bloß ſtofflichen Oberfläche wirken. Die Gerüſte zu der Übertünchung waren bereits dort geſchlagen, wo man mit Leitern nicht aus¬ langen konnte. Freilich wäre in der Kirche noch vie¬ les Andere zu verbeſſern geweſen. Man hatte den alten Chor verkleidet und ganz neue Mauern zu einer Emporkirche aufgeführt, man hatte ein Seitenkapell¬ chen im neueſten Sinne hinzugefügt, und es war ein Theil der Wand des Nebenſchiffes ausgenommen worden, um eine Vertiefung zu mauern, in welche ein neuer Seitenaltar zu ſtehen kam. Alle dieſe Fehler konnten wegen Unzulänglichkeit der Mittel nicht verbeſſert werden. Der Hauptaltar in alt¬ deutſcher Art war geblieben. Roland ſagte, es ſei ein Glück geweſen, daß man im vorigen Jahrhun¬ derte nicht mehr ſo viel Geld gehabt habe als zur Zeit der Erbauung der Kirche, denn ſonſt hätte man gewiß den urſprünglichen Altar weggenommen, und hätte einen in dem abſcheulichen Sinne des vergange¬ nen Jahrhunderts an ſeine Stelle geſezt. Mein Gaſt¬ freund beſah alles, was da gearbeitet wurde, und es77 ward ein Rath mit Euſtach und Roland gehalten, dem auch ich beigezogen wurde, um zu erörtern, ob alles dem gefaßten Plane getreu gehalten werde, und ob man nicht Manches mit Aufwendung einer mäßi¬ gen Summe noch zu dem urſprünglich Beabſichtigten hinzu thun könnte, was der Kirche noth thäte, und was ihr zur Zierde gereichte. Die Anſichten vereinig¬ ten ſich ſehr bald, da die Männer nach der nehmlichen Richtung hin ſtrebten, und da ihre Bildungen in die¬ ſer Hinſicht ſich wechſelweiſe zu dem gleichen Ergeb¬ niſſe durchdrungen hatten. Ich konnte ſehr wenig mit reden, obgleich ich gefragt wurde, weil ich einerſeits zu wenig mit den vorhandenen Grundlagen vertraut war, und weil andererſeits meine Kenntniſſe in dem Einzelnen der Kunſt, um welche es ſich hier handelte, mit denen meiner Freunde nicht Schritt halten konnten. Der Pfarrer hatte uns ſehr freundlich aufgenommen, und wollte uns ſämmtlich in ſeinem kleinen Hauſe beherbergen. Mein Gaſtfreund lehnte es ab, und wir richteten uns, ſo gut es ging, in dem Gaſthofe ein. Der Ehrerbiethung und des Dankes aber konnte der beſcheidene Pfarrer gegen meinen Gaſtfreund kein Ende finden. Auch kam eine Abordnung mehrerer Ge¬ meindeglieder, um, wie ſie ſagten, ihre Aufwartung78 zu machen, und ihren Dank darzubringen. Wirklich, wenn man die ſchlanken edlen Geſtaltungen der Kirche anſah, welche da einſam auf ihrem Hügel in einem abgelegenen Theile des Landes ſtand, in dem man ſie gar nicht geſucht hätte, und die ſchon geſchehenen Ver¬ beſſerungen betrachtete, welche ihre feinen Glieder wie¬ der zu Anſehn und Geltung brachten, ſo konnte man nicht umhin, ſich zu freuen, daß die reinen blauen Lüfte wieder den reinen einfachen Bau umfächelten, wie ſie ihn umfächelt hatten, als er nach dem Haupte des längſt verſtorbenen Meiſters aus den Händen der Arbeitsleute hervor gegangen war. Und wirklich mußte man ſich auch zum Danke verpflichtet fühlen, daß es einen Mann gab, wie mein Gaſtfreund war, der aus Liebe zu ſchönen Dingen, und ich muß wohl auch hinzufügen, aus Liebe zur Menſchheit, einen Theil ſeines Einkommens ſeiner Zeit und ſeiner Einſicht opfert, um manch Edles dem Verfalle zu entreißen, und vor die Augen der Menſchen wohlgebildete und hohe Geſtaltungen zu bringen, daß ſie ſich daran, wenn ſie deſſen fähig ſind und den Willen haben, erheben und erbauen können.
Das alles wußten aber die Gemeindeglieder nicht, ſie dankten nur, weil ſie meinten, daß es ihre Schul¬ digkeit ſei.
79Nachdem mein Gaſtfreund den Bau gut befunden, und mit Euſtach dem eigentlichen Werkmeiſter das Nähere angeordnet hatte, und nachdem auch Roland die Zuſicherung gegeben hatte, daß er dem Wunſche meines Gaſtfreundes gemäß öfter nachſehen und Be¬ richt erſtatten werde, rüſteten wir uns, unſere ver¬ ſchiedenen Wege zu gehen. Roland wollte wieder in das nahe liegende Gebirge zurückkehren, von dem er zu der Kirche heraus gekommen war, und wir wollten den Weg nach dem Asperhofe antreten. Roland ent¬ fernte ſich zuerſt. Wir beſuchten noch den Inhaber eines Glaswerkes in der Nähe, der von großem Ein¬ fluſſe war, und begaben uns dann auf den Weg nach dem Hauſe meines Freundes.
Auf dem Rückwege kamen wir über die Bildung des Schönen zu ſprechen, wie es gut ſei, daß Menſchen aufſtehen, die es darſtellen, daß über ihre Mitbrüder auch dieſes ſanfte Licht ſich verbreite, und ſie immer zu hellerer Klarheit fort führe; daß es aber auch gut ſei, daß Menſchen beſtehen, welche geeignet ſind, das Schöne in ſich aufzunehmen, und es durch Umgang auf Andere zu übertragen, beſonders, wenn ſie noch wie mein Gaſtfreund das Schöne überall aufſuchen, es erhalten, und es durch Mühe und Kraft wieder80 herzuſtellen ſuchen, wo es Schaden gelitten hatte. Es ſei ein ganz eigenes Ding um die Befähigung und den Drang hiezu.
„ Wir haben ſchon einmal über Ähnliches geſpro¬ chen, “ſagte mein Gaſtfreund, „ meine Erfahrungen in der Zeit meines Lebens haben mich gelehrt, daß es ganz beſtimmte Anlagen zu ganz beſtimmten Dingen gibt, mit denen die Menſchen geboren werden. Nur in der Größe unterſcheiden ſich dieſe Anlagen, in der Möglichkeit, ſich auszuſprechen, und in der Gelegen¬ heit, kräftig zur Wirkſamkeit kommen zu können. Da¬ durch ſcheint Gott die Manigfaltigkeit der Thaten mit ihrem nachdrücklichſten Erfolge, wie es auf der Erde nothwendig iſt, vermitteln zu wollen. Es er¬ ſchien mir immer merkwürdig, wo ich Gelegenheit hatte, es zu beobachten, wie bei Menſchen, die be¬ ſtimmt ſind, ganz Ungewöhnliches in einer Richtung zu leiſten, ſich ihre Anlage bis in die feinſten Fäden ihres Gegenſtandes ausſpricht, und zu ihm hindrängt, während ſie in Anderm bis zum Kindlichen unwiſſend bleiben können. Einer, der über Kunſtdinge troz aller Belehrung troz alles Umganges troz langjähriger täg¬ licher Berührung mit auserleſenen Kunſtwerken nie Anderes als Ungereimtes ſagen konnte, war ein81 Staatsmann, der die feinſten Abſchattungen ſeines Gegenſtandes durchdrang, der die Gedanken der Völ¬ ker und die Abſichten der Menſchen und Regierungen, mit denen er verkehrte, errieth, und es verſtand, alle Dinge ſeinen Zwecken dienſtbar machen zu können, ſo daß das anderen wie ein Zauberwerk eines Geiſtes erſchien, was gleichſam ein Naturgeſez war. In meiner Jugend kannte ich einen Mann, der mit einem Verſtande, über den wir uns vor Bewunderung kaum zu faſſen wußten, in die Tiefen eines Kunſt¬ weſens, das er beſprechen wollte, einging, und Ge¬ danken zu Tage brachte, von denen wir nicht begrie¬ fen, wie ſie in das Herz eines Menſchen haben kom¬ men können; während er die Meinungen und Abſich¬ ten ganz gewöhnlicher Menſchen und gerade ſolcher, die tief unter ihm ſtanden, nicht durchſchaute, und den nothwendigen Gang der Staaten nicht ſah, weil ihm das Auge dafür verſagt war, oder weil er im Drange ſeiner Gegenſtände darauf nicht achtete. Ich könnte noch mehrere Beiſpiele anführen: den zum Feldherrn Geborenen im Richterſaale um mein und dein, oder den, der wiſſenſchaftliche Stoffe fördert, in der Bildung eines Heeres. So hat Gott es auch manchen gegeben, daß ſie dem Schönen nachgehenStifter, Nachſommer. III. 682müſſen, und ſich zu ihm wie zu einer Sonne wenden, von der ſie nicht laſſen können. Es iſt aber immer nur eine beſtimmte Zahl von ſolchen, deren einzelne Anlage zu einer beſonderen großen Wirkſamkeit aus¬ geprägt iſt. Ihrer können nicht viele ſein, und neben ihnen werden die geboren, bei denen ſich eine gewiſſe Richtung nicht ausſpricht, die das Alltägliche thun, und deren eigenthümliche Anlage darin beſteht, daß ſie gerade keine hervorragende Anlage zu einem her¬ vorragenden Gegenſtande haben. Sie müſſen in gro¬ ßer Menge ſein, daß die Welt in ihren Angeln bleibt, daß das Stoffliche gefördert werde, und alle Wege im Betriebe ſind. Sehr häufig aber kömmt es nun leider auf den Umſtand an, daß der rechten Anlage der rechte Gegenſtand zugeführt wird, was ſo oft nicht der Fall iſt. “
„ Könnte denn nicht die Anlage den Gegenſtand ſuchen, und ſucht ſie ihn nicht auch oft? “fragte Euſtach.
„ Wenn ſie in großer Macht und Fülle vorhanden iſt, ſucht ſie ihn, “entgegnete mein Gaſtfreund, „ zu¬ weilen aber geht ſie in dem Suchen zu Grunde. “
„ Das iſt ja traurig, und dann wird ihr Zweck verfehlt, “antwortete Euſtach.
83„ Ich glaube nicht, daß ihr Zweck ganz verfehlt wird. “ſagte mein Gaſtfreund, „ das Suchen und das, was ſie in dieſem Suchen fördert, und in ſich und anderen erzeugt, war ihr Zweck. Es müſſen eben verſchiedene und zwar verſchieden hohe und verſchie¬ den geartete Stufen erſtiegen werden. Wenn jede Anlage mit völliger Blindheit ihrem Gegenſtande zugeführt würde, und ihn ergreifen und erſchöpfen müßte, ſo wäre eine viel ſchönere und reichere Blume dahin, die Freiheit der Seele, die ihre Anlage einem Gegenſtande zuwenden kann oder ſich von ihm fern halten, die ihr Paradies ſehen, ſich von ihm abwen¬ den und dann trauern kann, daß ſie ſich von ihm abgewendet hat, oder die endlich in das Paradies eingeht, und ſich glücklich fühlt, daß ſie eingegan¬ gen iſt. “
„ Oft habe ich ſchon gedacht, “ſagte ich, „ da die Kunſt ſo ſehr aus die Menſchen wirkt, wie ich an mir ſelber wenn auch nur erſt kurze Zeit zu beobachten Gelegenheit hatte, ob denn der Künſtler bei der An¬ lage ſeines Werkes ſeine Mitmenſchen vor Augen habe, und dahin rechne, wie er es einrichten müſſe, daß auf ſie die Wirkung gemacht werde, die er beabſichtiget. “
6 *84„ Ich hege keinen Zweifel, daß es nicht ſo iſt, “erwiederte mein Gaſtfreund, „ wenn der Menſch über¬ haupt ſeine ihm angeborne Anlage nicht kennt, ſelbſt wenn ſie eine ſehr bedeutende ſein ſollte, und wenn er manigfaltige Handlungen vornehmen muß, ehe ſeine Umgebung ihn oder er ſich ſelber inne wird, ja wenn er zulezt ſich ſeiner Freiheit gemäß ſeiner Anlage hin¬ geben oder ſich von ihr abwenden kann: ſo wird er wohl im Wirken dieſer Anlage nicht ſo zu rechnen im Stande ſein, daß ſie an einem gewiſſen Punkte an¬ landen müſſe; ſondern je größer die Kraft iſt, um ſo mehr glaube ich, wirkt ſie nach den ihr eigenthümlichen Geſezen, und das dem Menſchen inwohnende Große ſtrebt unbewußt der Äußerlichkeiten ſeinem Ziele zu, und erreicht deſto Wirkungsvolleres, je tiefer und un¬ beirrter es ſtrebt. Das Göttliche ſcheint immer nur von dem Himmel zu fallen. Es hat wohl Menſchen ge¬ geben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugniß auf die Mitmenſchen wirken ſoll, die Wirkung iſt auch gekommen, ſie iſt oft eine große geweſen, aber keine künſtleriſche und keine tiefe; ſie haben etwas anderes erreicht, das ein Zufälliges und Äußeres war, das die, welche nach ihnen kamen, nicht theilten, und von dem ſie nicht begriefen, wie es auf die Vorgänger85 hatte wirken können. Dieſe Menſchen bauten vergäng¬ liche Werke und waren nicht Künſtler, während das durch die wirkliche Macht der Kunſt Geſchaffene, weil es die reine Blüthe der Menſchheit iſt, nach allen Zei¬ ten wirkt und entzückt, ſo lange die Menſchen nicht ihr Köſtlichſtes, die Menſchheit, weggeworfen haben. “
„ Es iſt einmal in der Stadt die Frage geſtellt worden, “ſagte ich, „ ob ein Künſtler, wenn er wüßte, daß ſein Werk, das er beabſichtigt, zwar ein unüber¬ troffenes Meiſterwerk ſein wird, daß es aber die Mit¬ welt nicht verſteht, und daß es auch keine Nachwelt verſtehen wird, es doch ſchaffen müſſe oder nicht. Einige meinten, es ſei groß, wenn er es thäte, er thue es für ſich, er ſei ſeine Mit - und Nachwelt. An¬ dere ſagten, wenn er etwas ſchaffe, von dem er wiſſe, daß es die Mitwelt nicht verſtehe, ſo ſei er ſchon thöricht, und vollends, wenn er es ſchaffe und weiß, daß auch keine Nachwelt es begreifen wird. “
„ Dieſer Fall wird wohl kaum ſein, “antwortete mein Gaſtfreund, „ der Künſtler macht ſein Werk, wie die Blume blüht, ſie blüht, wenn ſie auch in der Wüſte iſt, und nie ein Auge auf ſie fällt. Der wahre Künſtler ſtellt ſich die Frage gar nicht, ob ſein Werk verſtanden werden wird oder nicht. Ihm iſt klar und86 ſchön vor Augen, was er bildet, wie ſollte er meinen, daß reine unbeſchädigte Augen es nicht ſehen? Was roth iſt, iſt es nicht allen roth? Was ſelbſt der ge¬ meine Mann für ſchön hält, glaubt er das nicht für alle ſchön? Und ſollte der Künſtler das wirklich Schöne nicht für die Geweihten ſchön halten? Woher käme denn ſonſt die Erſcheinung, daß einer ein herr¬ liches Werk macht, das ſeine Mitwelt nicht ergreift? Er wundert ſich, weil er eines andern Glaubens war. Es ſind dies die Größten, welche ihrem Volke voran gehen, und auf einer Höhe der Gefühle und Gedanken ſtehen, zu der ſie ihre Welt erſt durch ihre Werke führen müſſen. Nach Jahrzehenden denkt und fühlt man wie jene Künſtler, und man begreift nicht, wie ſie konnten mißverſtanden werden. Aber man hat durch dieſe Künſtler erſt ſo denken und fühlen gelernt. Daher die Erſcheinung, daß gerade die größten Men¬ ſchen die naivſten ſind. Wenn nun der früher angege¬ bene Fall möglich wäre, wenn es einen wahren Künſt¬ ler gäbe, der zugleich wüßte, daß ſein beabſichtigtes Werk nie verſtanden werden würde, ſo würde er es doch machen, und wenn er es unterläßt, ſo iſt er ſchon gar kein Künſtler mehr, ſondern ein Menſch, der an Dingen hängt, die außer der Kunſt liegen. Hieher87 gehört auch jene rührende Erſcheinung, die von man¬ chen Menſchen ſo bitter getadelt wird, daß einer, dem recht leicht gangbare Wege zur Verfügung ſtänden, ſich reichlich und angenehm zu nähren, ja zu Wohlſtand zu gelangen, lieber in Armuth Noth Entbehrung Hunger und Elend lebt, und immer Kunſtbeſtrebungen macht, die ihm keinen äußeren Erfolg bringen, und oft auch wirklich kein Erzeugniß von nur einigem Kunſtwerthe ſind. Er ſtirbt dann im Armenhauſe oder als Bettler oder in einem Hauſe, wo er aus Gnaden gehalten wurde. “
Wir waren unſeres Freundes Meinung. Euſtach ohnehin ſchon, weil er die Kunſtdinge als das Höchſte des irdiſchen Lebens anſah, und ein Kunſtſtreben als bloſſes Beſtreben ſchon für hoch hielt, wie er auch zu ſagen pflegte, das Gute ſei gut, weil es gut ſei. Ich ſtimmte bei, weil mich das, was mein Gaſtfreund ſagte, überzeugte, und Guſtav mochte es geglaubt haben — Erfahrungen hatte er nicht — weil ihm alles Wahrheit war, was ſein Pflegevater ſagte.
Von einem Streben, das gewiſſermaßen ſein eige¬ ner Zweck ſei, vom Vertiefen der Menſchen in einen Gegenſtand, dem ſcheinbar kein äußerer Erfolg ent¬ ſpricht, und dem der damit Behaftete doch alles An¬88 dere opfert, kamen wir überhaupt auf Verſchiedenes, an das der Menſch ſein Herz hängt, das ihn erfüllt, und das ſein Daſein oder Theile ſeines Daſeins um¬ ſchreibt. Nachdem wir wirklich eine größere Zahl von Dingen durchſprochen hatten, die zu dem Menſchen in das von uns angeführte Verhältniß treten können, als ich je vermuthet hätte, machte mein Gaſtfreund folgenden Ausſpruch: „ Wenn wir hier alle die Dinge ausſchließen, die nur den Körper oder das Thieriſche des Menſchen betreffen und befriedigen, und deren andauerndes Begehren mit Hinwegſezung alles An¬ dern wir mit dem Namen Leidenſchaft bezeichnen, weßhalb es denn nichts Falſcheres geben kann, als wenn man von edlen Leidenſchaften ſpricht, und wenn wir als Gegenſtände höchſten Strebens nur das Edelſte des Menſchen nennen: ſo dürfte alles Drängen nach ſolchen Gegenſtänden vielleicht nicht mit Unrecht nur mit einem Namen zu benennen ſein, mit Liebe. Lieben als unbedingte Werthhaltung mit unbedingter Hinneigung kann man nur das Göttliche oder eigent¬ lich nur Gott; aber da uns Gott für irdiſches Füh¬ len zu unerreichbar iſt, kann Liebe zu ihm nur An¬ betung ſein, und er gab uns für die Liebe auf Er¬ den Theile des Göttlichen in verſchiedenen Geſtalten89 denen wir uns zuneigen können: ſo iſt die Liebe der Eltern zu den Kindern, die Liebe des Vaters zur Mutter der Mutter zum Vater, die Liebe der Geſchwi¬ ſter, die Liebe des Bräutigams zur Braut der Braut zum Bräutigam, die Liebe des Freundes zum Freunde, die Liebe zum Vaterlande, zur Kunſt zur Wiſſenſchaft zur Natur, und endlich gleichſam kleine Rinnſale, die ſich von dem großen Strome abzweigen, Beſchäftigun¬ gen mit einzelnen gleichſam kleinlichen Gegenſtänden, denen ſich oft der Menſch am Abende ſeines Lebens wie kindlichen Nothbehelfen hingibt, Blumenpflege Zucht einer einzigen Gewächsart einer Thierart und ſo weiter, was wir mit dem Namen Liebhaberei be¬ legen. Wen die größeren Gegenſtände der Liebe ver¬ laſſen haben, oder wer ſie nie gehabt hat, und wer endlich auch gar keine Liebhaberei beſizt, der lebt kaum und betet auch kaum Gott an, er iſt nur da. So faßt es ſich, glaube ich, zuſammen, was wir mit der Richtung großer Kräfte nach großen Zielen bezeichnen, und ſo findet es ſeine Berechtigung. “
„ Jene Zeit, “ſagte er nach einer Weile, „ in wel¬ cher die Kirchen gebaut worden ſind, wie wir eben eine beſucht haben, war in dieſer Hinſicht weit größer als die unſrige, ihr Streben war ein höheres, es war90 die Verherrlichung Gottes in ſeinen Tempeln, wäh¬ rend wir jezt hauptſächlich auf den ſtofflichen Verkehr ſehen, auf die Hervorbringung des Stoffes und auf die Verwendung des Stoffes, was nicht einmal ein an ſich gültiges Streben iſt, ſondern nur beziehungs¬ weiſe, in ſo fern ihm ein höherer Gedanke zu Grunde gelegt werden kann. Das Streben unſerer älteren Vorgänger war auch insbeſondere darum ein höheres, weil ihm immer Erfolge zur Seite ſtanden, die Her¬ vorbringung eines wahrhaft Schönen. Jene Tempel waren die Bewunderung ihrer Zeit, Jahrhunderte bauten daran, ſie liebten ſie alſo, und jene Tempel ſind auch jezt in ihrer Unvollendung oder in ihren Trümmern die Bewunderung einer wieder erwachen¬ den Zeit, die ihre Verdüſterung abgeſchüttelt hat, aber zum allſeitigen Handeln noch nicht durchgedrungen iſt. Sogar das Streben unſerer unmittelbaren Vor¬ gänger, welche ſehr viele Kirchen nach ihrer Schön¬ heitsvorſtellung gebaut, noch mehr Kirchen aber durch zahlloſe Zubauten durch Aufſtellung von Altä¬ ren durch Umänderungen entſtellt, und uns eine ſehr große Zahl ſolcher Denkmale hinterlaſſen haben, iſt in ſo ferne noch höher als das unſere, indem es auch auf Erbauung von Gotteshäuſern ausging auf Dar¬91 ſtellung eines Schönen und Kirchlichen, wenn es ſich auch in dem Weſen des Schönen von den Vorbildern der früheren Jahrhunderte entfernt hat. Wenn unſere Zeit von dem Stofflichen wieder in das Höhere über¬ geht, wie es den Anſchein hat, werden wir in Bau¬ gegenſtänden nicht auch gleich das Schöne verwirk¬ lichen können. Wir werden Anfangs in der bloßen Nachahmung des als ſchön Erkannten aus älteren Zeiten befangen ſein, dann wird durch den Eigenwillen der unmittelbar Betrauten manches Ungereimte ent¬ ſtehen, bis nach und nach die Zahl der heller Blicken¬ den größer wird, bis man nach einer allgemeineren und begründeteren Einſicht vorgeht, und aus den alten Bauarten neue der Zeit eigenthümlich zuge¬ hörige entſprießen. “
„ In der Kirche, welche wir eben geſehen haben, “ſagte ich, „ liegt nach meiner Meinung eine eigenthüm¬ liche Schönheit, daß es nicht begreiflich iſt, wie eine Zeit gekommen iſt, in welcher man es verkennen, und ſo manches hinzufügen konnte, was vielleicht ſchon an ſich unſchön iſt, gewiß aber nicht paßt. “
„ Es waren rauhe Zeiten über unſer Vaterland ge¬ kommen, “erwiederte er, „ welche nur in Streit und Verwüſtung die Kräfte übten, und die tieferen Rich¬92 tungen der menſchlichen Seele ausrotteten. Als dieſe Zeiten vorüber waren, hatte man die Vorſtellung des Schönen verloren, an ſeine Stelle trat die bloße Zeit¬ richtung, die nichts als ſchön erkannte als ſich ſelber, und daher auch ſich ſelber überall hinſtellte, es mochte paſſen oder nicht. So kam es, daß römiſche oder korinthiſche Simſe zwiſchen altdeutſche Säulen gefügt wurden. “
„ Aber auch unter den altdeutſchen Kirchen iſt dieſe, welche wir verlaſſen haben, wenn ich nach den Kir¬ chen, die ich geſehen habe, urtheilen darf, eine der ſchönſten und edelſten, “ſagte ich.
„ Sie iſt klein, “erwiederte mein Gaſtfreund, „ aber ſie übertrift manche große. Sie ſtrebt ſchlank empor wie Halme, die ſich wiegen, und gleicht auch den Hal¬ men darin, daß ihre Bögen ſo natürlich und leicht aufſpringen wie Halme, die da nicken. Die Roſen in den Fenſterbögen die Verzierungen an den Säulen¬ knäufen an den Bogenrippen ſo wie die Roſe der Thurmſpize ſind ſo leicht wie die verſchiedenen Ge¬ wächſe, die in dem Halmenfelde ſich entwickeln. “
„ Darum überkam mich auch wieder ein Gedanke, “antwortete ich, „ den ich ſchon öfter hatte, daß man nehmlich die Faſſung von Edelſteinen im Sinne alt¬93 deutſcher Baudenkmale einrichten ſollte, und daß man dadurch zu ſchöneren Geſtaltungen käme. “
„ Wenn ihr den Gedanken ſo nehmet, “erwiederte er, „ daß ſich die, welche Edelſteine faſſen, im Sinne der alten Baumeiſter bilden ſollen, welche Würdiges und Schönes auf einfache und erhebende Art darſtell¬ ten, ſo dürftet ihr, glaube ich, recht haben. Wenn ihr aber meint, daß Geſtaltungen, welche an mittel¬ alterlichen Gebäuden vorkommen, im verkleinerten Maßſtabe ſofort als Schmuckdinge zu gebrauchen ſeien, ſo dürftet ihr euch irren. “
„ So habe ich es gemeint, “ſagte ich.
„ Wir haben ſchon einmal über dieſen Gegenſtand geſprochen, “erwiederte er, „ und ich habe damals ſel¬ ber auf die alterthümliche Kunſt als die Grundlage von Schmuck hingewieſen; aber ich habe damit nicht blos die Baukunſt gemeint, ſondern jede Kunſt auch die der Geräthe der Kirchenſtoffe der weltlichen Stoffe die Malerkunſt die Bildhauerkunſt die Holzſchneide¬ kunſt und Ähnliches. Auch habe ich nicht die unmittel¬ bare Nachahmung der Geſtaltungen gemeint, ſondern die Erkennung des Geiſtes, der in dieſen Geſtaltun¬ gen wohnt, das Erfüllen des Gemüthes mit dieſem Geiſte, und dann das Schaffen in dieſer Erkenntniß94 und in dieſem Erfülltſein. Es ſteht der Übertragung der baulichen Geſtaltungen auf Schmuck auch ein ſtoff¬ liches Hinderniß entgegen. Die Gebäude, an denen der Schönheitsſinn beſonders zur Ausprägung kam, waren immer mehr oder weniger ernſte Gegenſtände: Kirchen Palläſte Brücken und im Alterthume Säulen und Bögen. Im Mittelalter ſind die Kirchen weit das Überwiegende; bleiben wir alſo bei ihnen. Um den Ernſt und die Würde der Kirche darzuſtellen, iſt der Stoff nicht gleichgültig, aus dem man ſie verfer¬ tiget. Man wählte den Stein als den Stoff, aus dem das Großartigſte und Gewaltigſte von dem, was ſich erhebt, beſteht, die Gebirge. Er leiht ihnen dort, wo er nicht von Wald oder Raſen überkleidet iſt, ſon¬ dern nackt zu Tage ſteht, das erhabenſte Anſehen. Daher gibt er auch der Kirche die Gewalt ihres Ein¬ druckes. Er muß dabei mit ſeiner einfachen Oberfläche wirken, und darf nicht bemalt oder getüncht ſein. Das Nächſte unter dem Emporſtrebenden, was ſich an das Gebirge anſchließt, iſt der Wald. Ein Baum übt nach dem Felſen die größte Macht. Daher iſt eine Kirche in Würde und künſtleriſchem Anſehen auch noch von Holz denkbar, ſobald es nicht bemalt und nicht beſtri¬ chen iſt. Eine eiſerne Kirche oder gar eine von Silber95 könnte nicht anders als widrig wirken, ſie würde nur wie roher Prunk ausſehen, und von einer Kirche aus Papier, geſezt man könnte den Wänden auf die Dauer Widerſtand gegen Wetter und den Verzierungen durch Preſſen oder dergleichen die ſchönſten Geſtalten geben, wendet ſich das Herz mit Widerwillen und Verach¬ tung ab. Mit dem Stoffe hängt die Geſtaltung zu¬ ſammen. Der Stein iſt ernſt, er ſtrebt auf und läßt ſich nicht in die weichſten feinſten und gewundenſten Erſcheinungen biegen. Ich rede von dem Bauſteine nicht von dem Marmor. Daher hat man die Geſtalten der Kirche aus ihm emporſtrebend einfach und ſtark gemacht, und wo Biegungen vorkommen, ſind ſie mit Maß und mit einem gewiſſen Adel ausgeführt, und überladen nicht die Wände und die andern Bildun¬ gen. In der Zeit, als ſie das Übergewicht zu bekom¬ men anfingen, hörte auch die ſtrenge Schönheit der Kirchen auf, und die Niedlichkeit begann. Zu den Faſſungen unſeres Schmuckes nehmen wir Metall und zwar meiſtens Gold. Das Metall aber hat we¬ ſentlich andere Merkmale als der Stein. Es iſt ſchwe¬ rer; darf alſo, ohne uns zu drücken, nicht in größeren Stücken angewendet werden, ſondern muß in zarte Geſtaltungen auseinander laufen. Dabei hat es96 unter allen Stoffen die größte Biegſamkeit und Dehn¬ barkeit, wir glauben ihm daher die kühnſten Windun¬ gen und Verſchlingungen, und fordern ſie von ihm. Die Bildungen beſonders Zierrathen aus Gold kön¬ nen daher nicht genau dieſelben ſein wie die aus Stein, wenn beide ſchön ſein ſollen. Aber aus dem inneren Geiſte des einen, glaube ich, kann man recht gut und ſoll man den innern Geiſt des andern kennen, und es dürfte Treffliches heraus kommen. “
Ich vermochte gegen dieſe Anſicht nichts Weſent¬ liches einzuwenden. Euſtach führte ſie noch genauer durch Beiſpiele aus, die er von bekannten Steingeſtal¬ tungen an Kirchen hernahm. Er zeigte, wie eine ge¬ läufige leichte kirchliche Steinbildung, wenn man ſie etwa aus Gold machen laſſe, ſogleich ſchwer träg und un¬ beholfen werde, und er zeigte auch, wie man nach und nach die Steingeſtaltung umwandeln müſſe, daß ſie zu einer für Gold tauge, und da lebendig und eigen¬ thümlich werde. Er verſprach mir, daß er mir über dieſe Angelegenheit, wenn wir nach Hauſe gekommen ſein würden, Zeichnungen zeigen würde. Ich ſah hieraus, wie ſehr meine Freunde über dieſen Gegenſtand nach¬ gedacht haben, und wie ſie thatſächlich in ihn einge¬ gangen ſeien.
97„ Es ſind aber nicht blos die Äußerlichkeiten an unſerer Kirche ſehr ſchön, “fuhr mein Gaſtfreund fort, „ ſondern die Geſtalten der Heiligen auf dem Altare und in den Niſchen ſind ſchöner, als man ſie ſonſt meiſtens aus dem Zeitalter, aus welchem die Kirche ſtammt, zu ſehen gewohnt iſt. Wenn ich ſagte, daß die griechiſchen Bildergeſtalten eine größere ſinnliche Schönheit haben als die aus dem Mittelalter, ſo iſt dieſes nicht ausnahmlos ſo. Es gibt auch höchſt lieb¬ liche Geſtalten aus dem Mittelalter, und wo keine Verzeichnung iſt, und wo ſich Sinnlichkeit zeigt, ſind ſie meiſtens wärmer als die griechiſchen. In der klei¬ nen Kirche iſt Ähnliches vorhanden, deßhalb habe ich ſo gerne ihre Wiederherſtellung übernommen, deßhalb bedaure ich, daß meine Mittel nicht ſo groß ſind, die gänzliche Vollendung herbeiführen zu können, und de߬ halb habe ich ſo ſehr nach den Geſtalten, die in den Niſchen fehlen, ſuchen laſſen, um ſo viel als möglich die Kirche zu bevölkern, wenn auch der Gedanke Raum hatte, daß vielleicht nicht einmal alle Geſtalten fertig ge¬ worden und alle Pläze beſezt geweſen ſeien. Vielleicht ſteht einmal eine höhere und allgemeinere Kraft auf, die dieſe und noch wichtigere Kirchen wieder in ihrer Reinheit darſtellt. “
Stifter, Nachſommer. III. 798Wir kamen am zweiten Tage in dem Asperhofe an, und ich ſagte, daß ich nun nicht mehr lange da verweilen könne. Mein Gaſtfreund erwiederte, daß er in einigen Tagen in den Sternenhof fahren werde, daß er mich einlade, ihn zu begleiten, und daß ich bis dahin noch bei ihm bleiben möge.
Ich erklärte, daß bei mir wohl einige Tage keinen weſentlichen Unterſchied machten, daß ich aber doch wünſche, bald zu meinen Eltern zurückkehren zu können.
So war der Abend vor der Abreiſe in den Sternen¬ hof gekommen, und mein Gaſtfreund ſagte an dem¬ ſelben in einem gelegenen Augenblicke zu mir: „ Ihr tretet nun zu jemandem, der mir nahe iſt, in ein inniges Verhältniß; es iſt billig, daß ihr alles wiſſet, wie es in dem Sternenhofe iſt, und in welchen Be¬ ziehungen ich zu demſelben ſtehe. Ich werde euch alles darlegen. Damit ihr aber in noch viel größerer Ruhe ſeid, und mit Klarheit das Mitgetheilte auf¬ nehmen könnet, ſo werde ich es euch erzählen, wenn ihr wieder in den Asperhof kommt. Ihr werdet jezt zu euren Eltern gehen, wie ihr ſagt, um ihnen zu berichten, wie ihr aufgenommen worden ſeid, und wie die Angelegenheit ſteht. Wenn ihr dann nach eurem beliebigen Willen wieder zu mir kommt, ſei es zu99 was immer für einer Zeit, ſo werdet ihr willkommen ſein und bereitwilligen Empfang finden. “
Am anderen Morgen ſaß ich nebſt Guſtav mit ihm in dem Wagen, und wir fuhren dem Sternen¬ hofe zu.
Wir wurden dort ſo freundlich und heiter aufge¬ nommen wie immer, ja noch freundlicher und heiterer als ſonſt. Die Zimmer, welche wir immer bewohnt hatten, ſtanden für uns wie für Perſonen, welche zu der Familie gehörten, in Bereitſchaft. Natalie ſtand mit lieblichen Mienen neben ihrer Mutter, und ſah ihren älteren Freund und mich an. Ich grüßte mit Ehrerbietung die Mutter und faſt mit gleicher Ehr¬ erbietung die Tochter. Guſtav war etwas ſchüchterner als ſonſt, und blickte bald mich bald Natalien an. Wir ſprachen die gewöhnlichen Bewillkommungsworte und andere unbedeutende Dinge. Dann verfügten wir uns in unſere Zimmer.
Noch an demſelben Tage und am nächſten beſah mein Gaſtfreund verſchiedene Dinge, welche zur Be¬ wirthſchaftung des Gutes gehörten, beſprach ſich mit Mathilden darüber, beſuchte ſelbſt ziemlich entfernte Stellen, und ordnete im Namen Mathildens an. Auch die Arbeiten in der Hinwegſchaffung der Tünche von7 *100der Außenſeite des Schloſſes beſah er. Er ſtieg ſelber auf die Gerüſte, unterſuchte die Genauigkeit der Hin¬ wegſchaffung der aufgetragenen Kruſte und die Rein¬ heit der Steine. Er prüfte die Größe der in einer gewöhnlichen Zeit vollbrachten Arbeit, und gab Auf¬ träge für die Zukunft. Wir waren bei den meiſten dieſer Beſchäftigungen gemeinſchaftlich zugegen. Man behandelte mich auf eine ausgezeichnete Art. Ma¬ thilde war ſo ſanft, ſo gelaſſen und milde wie immer. Wer nicht genauer geblickt hätte, würde keinen Unter¬ ſchied zwiſchen ſonſt und jezt gewahr geworden ſein. Sie war immer gütig, und konnte daher nicht gütiger ſein. Ich empfand aber doch einen Unterſchied. Sie richtete das Wort ſo offen an mich wie früher; aber es war doch jezt anders. Sie fragte mich oft, wenn es ſich um Dinge des Schloſſes des Gartens der Fel¬ der der Wirthſchaft handelte, um meine Meinung wie einen, der ein Recht habe, und der faſt wie ein Eigen¬ thümer ſei. Sie fragte gewiß nicht, um meine Mei¬ nung ſo gründlich zu wiſſen; denn mein Gaſtfreund gab die beſten Urtheile über alle dieſe Gegenſtände ab, ſondern ſie fragte ſo, weil ich einer der ihrigen war. Sie hob aber dieſe Fragen nicht hervor und be¬ tonte ſie nicht, wie jemand gethan hätte, bei dem ſie101 Abſicht geweſen wären, ſondern ſie empfand das Zu¬ ſammengehörige unſeres Weſens, und gab es ſo. Mir ging dieſe Behandlung ungemein lieb in die Seele. Mein Gaſtfreund war wohl beinahe gar nicht anders; denn ſein Weſen war immer ein ganzes und geſchloße¬ nes; aber auch er ſchien herzlicher als ſonſt. Guſtav verlor ſein anfängliches ſchüchternes Weſen. Obwohl er auch jezt noch kein Wort ſagte, welches auf unſer Verhältniß anſpielte, — das thaten auch die anderen nicht, und er hatte eine zu gute Erziehung erhalten, um, obgleich er noch ſo jung war, hierin eine Aus¬ nahme zu machen — ſo ging er doch zuweilen plözlich an meine Seite, nahm mich bei meinem Arme, drückte ihn, oder nahm mich bei der Hand, und drückte ſie mit der ſeinen. Nur mit Natalie war es ganz anders. Wir waren beinahe ſcheuer und fremder, als wir es vor jenem Hervorleuchten des Gefühles in der Grotte der Brunnennimphe geweſen waren. Ich durfte ſie am Arme führen, wir durften mit einander ſprechen; aber wenn dies geſchah, ſo redeten wir von gleichgültigen Dingen, welche weit entfernt von unſeren jezigen Be¬ ziehungen lagen. Und dennoch fühlte ich ein Glück, wenn ich an ihrer Seite ging, daß ich es kaum mit Worten hätte ſagen können. Alles, die Wolken die102 Sterne die Bäume die Felder ſchwebten in einem Glanze, und ſelbſt die Perſonen ihrer Mutter und ihres alten Freundes waren verklärter. Daß in Nata¬ lien Ähnliches war, wußte ich, ohne daß ſie es ſagte.
Wenn wir an dem Scheunenthore des Maierhofes vorbeigingen, oder an einer anderen Thür oder an einem Felde oder ſonſt an einem Plaze, auf welchem gearbeitet wurde, ſo traten die Menſchen zuſammen, blickten uns nach, und ſahen uns mit denſelben be¬ deutungsvollen Augen an, mit denen man mich in dem, Asperhofe angeſchaut hatte. Es war mir alſo klar, daß man auch hier wußte, in welchen Beziehun¬ gen ich zu der Tochter des Hauſes ſtehe. Ich hätte es auch aus der größeren Ehrerbiethung der Diener her¬ aus leſen können, wenn es mir nicht ſchon ſonſt deut¬ lich geweſen wäre. Aber auch hier wie in dem Asper¬ hofe bemerkte ich, daß es etwas Freundliches war, etwas, das wie Freude ausſah, was ſich in den Mie¬ nen der Leute ſpiegelte. Sie mußten alſo auch hier mit dem, was ſich vorbereitete, zufrieden ſein. Ich war darüber tief vergnügt; denn auf welchem Stande der Entwickelung die Leute immer ſtehen mögen, ſo iſt es doch gewiß, wie ich aus dem Umgange mit vielen Menſchen reichlich erfahren habe, daß Gerin¬103 gere die Höheren oft ſehr richtig beurtheilen, und namentlich, wenn Verbindungen geſchloſſen werden, ſeien es Freundſchaften, ſeien es Ehen, mit richtiger Kraft erkennen, was zuſammen gehört, und was nicht. Daß ſie mich alſo zu Natalien gehörig anſahen, erfüllte mich mit nachhaltender inniger Freude. Wie Natalie über dieſe Kundgebungen der Leute dachte, konnte ich nicht erkennen.
Nachdem ſo drei Tage vergangen waren, nachdem wir die verſchiedenſten Stellen des Schloſſes des Gartens der Felder und der Wälder gemeinſchaftlich beſucht hatten, nachdem wir auch manchen Augen¬ blick in den Gemäldezimmern und in denen mit den alterthümlichen Geräthen zugebracht und an Verſchiedenem uns erfreut hatten, nachdem endlich auch alles, was in Angelegenheiten des Gutes zu be¬ ſprechen und zu ordnen war, zwiſchen Mathilden und meinem Gaſtfreunde beſprochen und geordnet worden war, wurde auf den nächſten Tag die Abreiſe be¬ ſchloſſen. Wir verabſchiedeten uns auf eine ähnliche Weiſe, wie wir uns bewillkommt hatten, der Wagen war vorgefahren, und wir ſchlugen die Richtung zurück ein, in der wir vor vier Tagen gekommen waren.
104Ich fuhr mit meinem Gaſtfreunde nur bis an die Poſtſtraße und auf derſelben bis zur erſten Poſt. Dort trennten wir uns. Er fuhr auf Nebenwegen dem Asperhofe zu, weil er mir zu lieb einen Umweg ge¬ macht hatte, ich aber ſchlug mit Poſtpferden die Rich¬ tung gegen das Kargrat ein. Ich war entſchloſſen, im Kargrat für jetzt ganz abzubrechen, und alſo die Gegenſtände, die ich noch dort hatte, fortſchaffen zu laſſen. Als ich in dem kleinen Orte eingetroffen war, richtete ich meine Verhältniſſe zurecht, ließ alle meine Dinge einpacken, und ſchickte ſie fort. Ich nahm von dem Pfarrer, welchen ich kennen gelernt hatte, Ab¬ ſchied, verabſchiedete mich auch von meinen Wirths¬ leuten und von den anderen Menſchen, die mir be¬ kannt geworden waren, ſagte, daß ich nicht weiß wann ich in das Kargrat zurückkehren werde, um meine Arbeiten, welche ich wegen eines ſchnell einge¬ tretenen Umſtandes hatte abbrechen müſſen, fortzu¬ ſezen, und reiſte wieder ab.
Ich ging jezt in das Lauterthal, um es zu beſuchen. Es war in der Richtung nach meiner Heimath ein ge¬ ringer Umweg, und ich wollte das Thal, das mir lieb geworden war, wieder ſehen. Beſonders aber führte mich ein Zweck dahin. Obwohl ich wenig Hoffnung105 hatte, daß mein Auftrag, den ich in dem Thale gegeben hatte, zu forſchen, ob ſich nicht doch noch die Ergän¬ zungen zu den Vertäflungen meines Vaters fänden, einen Erfolg haben werde, ſo wollte ich doch nicht nach Hauſe reiſen, ohne in dieſer Hinſicht Nachfrage ge¬ halten zu haben. Die gewünſchten Ergänzungen hatten ſich zwar nicht gefunden, auch keine Spur zu denſelben war entdeckt worden; aber manche Leute hatte ich geſehen, denen ich in früheren Tagen geneigt worden war, Gegenſtände hatte ich erblickt, von denen ich in vergangenen Jahren zu meinem Vergnügen umringt geweſen war, und manches kleine Zwiege¬ ſpräch hatte ich gepflogen, welches mir und den Leu¬ ten, mit denen es gepflogen worden war, zu einiger Erquickung gereichte.
Ich ging auch in das Rothmoor. Dort fand ich die Arbeiten noch in einem höheren Maße entwickelt und im Gange, als ſie es bei meiner lezten Anweſen¬ heit geweſen waren. Von mehreren Orten hatte man Beſtellungen eingeſendet, ſelbſt von unſerer Stadt, wo das Becken der Einbeere bekannt geworden war, und manchen Beifall gefunden hatte, waren Briefe geſchickt worden. Fremde kamen zu Zeiten in dieſe abgelegene Gegend, machten Käufe, und hinterließen106 Aufträge. Ich ſah alſo, daß ſich manches hier gebeſſert habe, betrachtete die Arbeiten, und beſtellte auch wie¬ der einige neue, weil ich theils noch Stücke ſchönen Marmors hatte, aus denen irgend etwas gemacht werden konnte, und weil anderen Theils in dem Garten des Vaters zur Brüſtung oder zu anderen Stellen noch Gegenſtände fehlten. Die Leute hatten mich recht freundlich und zuvorkommend empfangen, ſie zeigten mir, was im Gange war, welche Ver¬ beſſerungen ſie eingeführt hatten, und welche ſie noch beabſichtigen. Sie ließen hiebei nicht unerwähnt, daß ich der kleinen Anſtalt immer zugethan geweſen ſei, und daß ich zu den Verbeſſerungen manchen Anlaß und manchen Fingerzeig gegeben habe. Ich drückte meine Freude über alles das aus, und verſprach, daß ich, wenn ich in die Nähe käme, jederzeit recht gerne einen kurzen Beſuch in dem Rothmoor machen würde.
Nach dieſem unbedeutenden Aufenthalte im Lauter¬ thale und im Rothmoor ſezte ich meine Reiſe zu mei¬ nen Eltern ohne weitere Verzögerung fort.
Zu Hauſe hatten ſie mich noch nicht erwartet, weil ich ihnen durch meinen Brief angezeigt hatte, daß ich mit meinem Gaſtfreunde eine kleine Reiſe zu einer alterthümlichen Kirche machen würde. Auch hatten ſie ſich vorgeſtellt, daß ich noch einmal in mei¬ nen Aufenthaltsort in das Hochgebirge gehen und mich auf der Rückreiſe eine Zeit in dem Sternenhofe aufhalten werde. Sie irrten aber; denn obwohl ich in beiden Orten war, war ich doch nicht lange dort, und es drängte mein Herz, den Meinigen zu eröffnen, wie meine Angelegenheiten ſtehen. Als ich dieſes ge¬ than hatte, waren ſie bei Weitem, weniger ergriffen, als ich erwartet hatte. Sie freuten ſich, aber ſie ſag¬ ten, ſie hätten gewußt, daß es ſo ſein würde, ja ſie108 hätten ſeit Jahren die jezige Entwicklung ſchon ge¬ ahnt. Im Roſenhauſe und im Sternenhofe, meinten ſie, würde man mich nicht ſo freundſchaftlich und gütig behandelt haben, wenn man mich nicht lieb gehabt, und wenn man nicht ſelbſt das, was ſich jezt ereignet hat, als etwas Angenehmes betrachtet hätte, deſſen Spuren man ja doch habe entſtehen ſehen müſſen. So lieb mir dieſe Anſicht war, weil ſie die Geſinnungen meiner Angehörigen gegen mich aus¬ drückte, ſo konnte ich doch nicht umhin, zu denken, daß nur die Meinigen die Sache ſo betrachten, weil ſie eben die Meinigen ſind, und daß ſie mich auch darum des Empfangenen für würdig erachteten. Ich aber wußte es anders, weil ich Natalien und ihre Umgebung kannte, und ihren Werth zu ahnen ver¬ mochte. Ich konnte das, was mir begegnete, nur als ein Glück anſehen, welches mir ein günſtiges Schickſal entgegen geführt hatte, und deſſen immer würdiger zu werden ich mich beſtreben müſſe.
Mein Vater ſagte, es ſei alles gut, die Mutter ließ in wehmüthiger und freudiger Stimmung immer wieder die Worte fallen, daß denn ſo gar nichts für ein ſo wichtiges Verhältniß vorbereitet ſei; die Schwe¬ ſter ſah mich öfter ſinnend und betrachtend an.
109Ich ſprach die Bitte aus, daß die Eltern mir nun beiſtehen müßten, das, was in den gegenwärtigen Verhältniſſen zu thun ſei, auf das Schicklichſte zu thun, und ich legte auch den Wunſch dar, daß ich nach des Vaters Anſicht eine größere Reiſe unter¬ nehmen möchte.
„ Es ſind mehrere Dinge nöthig, “ſagte der Vater. „ Zuerſt, glaube ich, erwartet man von deinen Eltern eine Annäherung an ſie; denn die Angehörigen der Braut können ſich nicht ſchicklich zuerſt den Angehörigen des Bräutigams vorſtellen. Außerdem hat mir dein Gaſtfreund Liebes erwieſen, was ich ihm noch nicht habe vergelten können. Ferner hat dir dein Gaſtfreund Mittheilungen zu machen, die er für nothwendig hält; und endlich ſollteſt du wirklich, wie du auch ſelber wünſcheſt, eine größere Reiſe machen, um wenigſtens im Allgemeinen Menſchen und Welt näher kennen zu lernen. Was deine Gegenleute thun werden, iſt ihre Sache, und wir müſſen es erwarten. Unſere Angele¬ genheit iſt jezt, das, was uns obliegt, auf ſolche Weiſe zu thun, daß wir uns weder vordrängen, noch daß etwas geſchehe, was wie geringere Achtung deſſen ausſähe, was uns durch dieſe Verbindung gebothen wird. Ich glaube, die natürlichſte Ordnung wäre fol¬110 gende. Du mußt zuerſt die Mittheilungen deines Freundes anhören, weil ſie dir zuerſt ohne Bedingung angetragen worden ſind. Dann werde ich mit deiner Mutter eine Reiſe zur Mutter deiner Braut machen und bei dieſer Gelegenheit deinen Gaſtfreund beſuchen. Endlich magſt du den Vorſchlag thun, daß du eine Reiſe zu höherer Ausbildung zu unternehmen wün¬ ſcheſt. Weil aber dein Gaſtfreund ſelber geſagt hat, daß du, ehe er dir ſeine Mittheilungen macht, zu größerer Ruhe kommen ſollſt, und weil es anderer¬ ſeits unziemend wäre, zu ſehr zu drängen, ſo kannſt du nicht jezt ſogleich zu ihm gehen, und ihn um ſeine Eröffnungen bitten, ſondern du mußt eine Zeit ver¬ fließen laſſen, und ihn ſpäter, vielleicht im Winter, beſuchen. Dadurch ſieht er auch, daß du einerſeits nicht zudringlich biſt, und daß du andererſeits, da du in ungewohnter Jahreszeit zu ihm kömmſt, doch die Sehnſucht zu erkennen gibſt, deine Sache zu fördern. Und damit du gewiſſer zu der erforderlichen Ruhe ge¬ langeſt, ſchlage ich dir vor, mich aus einer kleinen Reiſe in meine Geburtsgegend zu begleiten, die wir in Kürze antreten können. Wenn du dann im Win¬ ter zu deinem Gaſtfreunde kömmſt, ſo kannſt du ihm unſere Grüße bringen, und ihm ſagen, daß wir mit111 Beginn der ſchöneren Jahreszeit kommen und für dich um die Hand der Tochter ſeiner Freundin werben werden. “
Alle waren mit dieſem Vorſchlage vollkommen ein¬ verſtanden. Beſonders freute ſich die Mutter, als ſie hörte, daß der Vater von freien Stücken auf einen Reiſeplan gekommen ſei, deſſen Richtung ſie gar nicht errathen hätte.
„ Ich muß mich ja üben, “erwiederte er, „ wenn ich im Frühlinge eine Reiſe in das Oberland bis in die Nähe der Gebirge antreten ſoll, die uns auch in den Roſenhof bringt, und weiß Gott, wie weit noch führen kann; denn wenn Leute, die immer zu Hauſe ſind, einmal von der Wanderungsluſt er¬ griffen werden, dann können ſie auch ihres Reiſens kein Ende finden, und beſuchen Gegend um Gegend. “
Ich aber ſagte hierauf: „ Weil Klotilde nie die Gebirge geſehen hat, weil ſie in dieſer ganzen Ange¬ legenheit am weiteſten zurückgeſezt iſt, weil ich ihr immer verſprochen habe, ſie in die Berge zu führen, und weil die Erfüllung dieſes Verſprechens durch meine größere Reiſe wieder hinaus geſchoben werden könnte: ſo mache ich ihr den Vorſchlag, mit mir, wenn ich mit dem Vater von unſerer kleinen Reiſe zurückgekom¬112 men bin, einen Theil des Herbſtes in dem Hochgebirge zuzubringen. Die Tage des Herbſtes, ſelbſt die des Spätherbſtes, ſind in den Gebirgen meiſtens ſehr ſchön, und wir können in den klaren Lüften weiter her¬ um ſehen, als es oft in dem ſchwülen und gewitter¬ reichen Dunſtkreiſe der Monate Juni oder Juli mög¬ lich iſt. “
Klotilde nahm dieſen Vorſchlag mit Freude an, und ich verſprach ihr, in den Tagen, die noch bis zu meiner Abreiſe mit dem Vater verfließen werden, alles anzugeben, was ſie an Kleidern und ſonſtigen Din¬ gen zu der Gebirgsreiſe bedürfe, welche Gegenſtände ſie dann während meiner Abreiſe vorrichten laſſen könne.
„ Wenn ich zu den Mittheilungen meines Freun¬ des an Ruhe gewinnen muß, “ſezte ich hinzu, „ ſo könn¬ ten dieſe Reiſen das beſte Mittel dazu abgeben. “
Der Vater und die Mutter waren mit meinem Vorſchlage ſehr zufrieden. Die Mutter ſagte nur, ſie werde an den Vorbereitungen Klotildens mitarbeiten, und beſonders darauf ſehen, daß alles vorhanden ſei, was zu dem Schuze der Geſundheit gehöre.
Ich erwiederte, daß das ſehr gut ſei, und daß ich auch bei der Reiſe ſelber alle Maßregeln ergreifen113 werde, daß Klotildens Geſundheit keinen Schaden leide.
Wir fingen wirklich am andern Tage an, die Dinge zu bereden, welche Klotilde zur Reiſe brauche. Sie ging rüſtig an die Anſchaffung. Ich entwarf ein Verzeichniß der Nothwendigkeiten, welches ich nach und nach ergänzte. Als einige Zeit verfloſſen war, glaubte ich es ſo vervollſtändigt zu haben, daß nun nicht leicht mehr etwas Weſentliches vergeſſen wer¬ den konnte.
Indeſſen rückte auch der Tag heran, an welchem ich mit dem Vater abreiſen ſollte.
Am frühen Morgen desſelben ſezten wir uns in den leichten Reiſewagen, deſſen ſich der Vater immer bedient hatte, wenn er größere Entfernungen zurück¬ legen mußte. Jezt war er lange nicht mehr aus dem Wagenbehältniß gekommen. Auf Anordnung der Mutter wurde er einige Tage vorher von Sachkundi¬ gen genau unterſucht, ob er nicht heimliche Gebrechen habe, welche uns in Schaden bringen könnten. Als dies einſtimmig verneint worden war, gab ſie ſich zu¬ frieden. Wir hatten Poſtpferde, wechſelten dieſelben an gehörigen Orten, und hielten uns in ihnen ſo lange auf, als es uns beliebte. Gegen jeden AbendStifter, Nachſommer. III. 8114ließ der Vater noch bei Tageslicht halten, es wurde das Nachtlager beſtellt, und wir machten vor dem Abendeſſen einen Spaziergang. In dieſen Tagen, an denen ich mehr Stunden hintereinander ununterbro¬ chen mit dem Vater zubrachte, als dies je vorher der Fall geweſen war, ſprach ich auch mehr mit ihm als je zu einer anderen Zeit. Wir ſprachen von Kunſtdingen: er erzählte mir von ſeinen Bildern, ſagte mir manches über ihre Erwerbung, was ich noch nicht wußte, und verbreitete ſich in guter Rede über ihren Kunſtwerth, er kam auf ſeine Steine, und erklärte mir manches; wir ergingen uns in Büchern, die uns beiden geläufig waren, ſezten ihren Werth, wenn er dichteriſch oder wiſſenſchaftlich war, auseinander, und erinnerten uns gegenſeitig an Theile des Inhaltes; wir ſprachen auch von Zeitereigniſſen und von der Lage unſers Staates. Er erzählte mir endlich von ſeinem kaufmänniſchen Geſchäfte, und machte mich mit deſſen Grundlagen und Stellungen bekannt. Er zeigte mir Theile der Gegend, durch die wir fuhren, und unterrichtete mich von dem Schickſale mancher Familie, die in dieſem oder jenem Abſchnitte der Landſchaft wohnten. Unter dieſen Verhältniſſen kamen wir am vierten Tage an dem Orte unſerer Beſtimmung an. Die Gegend war115 mir völlig unbekannt, weil mich meine Wanderungen nie hieher getragen hatten.
Am Saume des Waldes, der den Norden unſeres Landes begrenzt, ging ein Thal hin, das einſt Wald geweſen war, und das jezt zerſtreute Häuſer, einzelne Felder, Wieſen, Felſen, Schluchten und rinnende Waſſer in ſeinem Bereiche hegte. Eines der Häuſer, halb aus Holz gezimmert und halb gemauert, war das Geburthaus meines Vaters. Es ſtand am Rande eines Wäldchens, das von dem großen Walde her¬ ſtammte, der einſt dieſe ganzen Gegenden bedeckt hatte. Es war gegen Weſt durch eine Gruppe ſehr großer und dicht ſtehender Buchen gedeckt, daß ihm die Winde von dorther wenig anhaben konnten, hatte gegen Oſt den Schuz eines Felſens, im Norden den des gro¬ ßen Waldbandes, und ſchaute gegen Süden auf ſeine nicht unbeträchtlichen Wieſen und Felder, deren Ergiebigkeit in Getreide gering in Futterkräutern außerordentlich war, weßhalb der größere Reichthum auch in Heerden beſtand. Wir fuhren in das Gaſt¬ haus des Thales, ließen unſere Reiſedinge abpacken, beſtellten uns auf einige Tage Wohnung, und beſuch¬ ten dann die ſehr entfernten Verwandten, welche jezt des Vaters Stammhaus bewohnten. Es war gegen8 *116Mittag. Sie nahmen uns, da wir uns entdeckt hat¬ ten, ſehr freundlich auf, und verlangten, daß wir unſer Gepäcke holen laſſen und bei ihnen wohnen ſollten. Nur auf die dringenden Vorſtellungen des Vaters, daß wir ihnen die Bequemlichkeit nähmen und ſelber keine gewännen, gaben ſie nach, und ver¬ langten nur noch, daß wir zum bevorſtehenden Mit¬ tageſſen bei ihnen bleiben ſollten, was wir annahmen.
Da wir nun in der großen Wohnſtube ſaßen, zeigte mir der Vater den geräumigen Ahorntiſch, bei dem er und ſeine Geſchwiſter ihre Nahrung einge¬ nommen hatten. Der Tiſch war alt geworden, aber der Vater ſagte, daß er noch in derſelben Ecke ſtehe, von den zwei Fenſtern beglänzt, und von der herein¬ ſcheinenden Sonne beleuchtet wie einſt. Er zeigte mir ſeine geweſene neben der Stube befindliche Schlaf¬ kammer. Dann gingen wir hinaus, er wies mir die Treppe, die auf den hölzernen Gang führte, welcher rings um den Hof lief, und den Quell, der ſich noch immer mit hellem Waſſer in den Granittrog ergoß, welchen ſchon ſein Urgroßvater hatte hauen laſſen, er wies mir den Stall die Scheune und hinter ihr den Waldweg, auf dem er noch ein halbes Kind mit einem Stabe in der Hand die Heimath verlaſſen habe,117 um in der Fremde ſein Glück zu ſuchen. Wir gingen ſogar in das Freie und dort herum. Der Vater blieb häufig ſtehen, und erinnerte ſich noch der Fruchtgat¬ tungen, welche auf verſchiedenen Stellen geſtanden waren, als er mit einem Täfelchen, darauf ſich rothe und ſchwarze Buchſtaben befanden, in das eine Vier¬ telſtunde entlegene hölzerne Haus ging, das an der Straße ſtand, von Buchen umgeben war, und die Schule für alle Kinder des Thales vorſtellte. Er ſagte, es ſei alles noch wie zur Zeit ſeiner Kindheit, die nehmlichen Begrenzungen die nehmlichen kleinen Feldwege und dieſelben Waſſergräben und Quellrinn¬ ſale. Er ſagte, es ſei ihm, als ſtänden ſogar dieſelben Arnicablumen auf der Wieſe, die er als Knabe ange¬ ſchaut habe, und da er mich zu dem Steinbühl ge¬ führt hatte, der am Rande der Felder lag, ſo rag¬ ten die Himbeerzweige empor, rankten ſich die dor¬ nenreichen Brombeerreben um die Steine, und wu¬ cherten die Erdbeerblätter, gerade wie die, von denen er als Knabe gepflückt hatte. Vom Steinbühl gingen wir zu dem einfachen Eſſen, das wir mit unſern Ver¬ wandten verzehrten. Nach demſelben beſuchten wir mit dem jezigen Eigenthümer alle Beſizungen. Der Vater ſagte, dort habe ſein Vater gepflügt geegt ge¬118 graben, hier habe ſeine Mutter mit der Schweſter der Magd und den Tagelöhnern Heu gemacht, dort ſeien die Kühe und Ziegen gegen den Wald hinan gegan¬ gen, wie ſie jezt gehen, und die Seinigen haben aus¬ geſehen, wie die Leute jezt ausſehen.
Als wir zurückgekehrt waren, verabſchiedeten wir uns, der Vater dankte für die Bewirthung, und ſagte, daß er gegen den Abend noch einmal in das Haus kommen werde.
Da wir uns in dem Zimmer unſeres Gaſthofes befanden, öffnete der Vater ſeinen Koffer, und nahm allerlei Dinge aus demſelben hervor, welche zu Ge¬ ſchenken für die Bewohner des Hauſes beſtimmt waren, in dem wir geſpeiſt hatten. Ich war von ihm nie in die Kenntniß geſezt worden, welche Be¬ wohner wir in ſeinem Vaterhauſe treffen würden, er mußte ſie wohl auch ſelber nicht genau gekannt haben. Ich war alſo nicht mit Geſchenken ver¬ ſehen. Der Vater hatte aber auch für dieſen Fall geſorgt, er gab mir mehrere Dinge beſonders Stoffe kleine Schmuckſachen und Ähnliches, um es bei unſe¬ rem Abendbeſuche in dem Hauſe auszutheilen. Er hatte nicht gleich bei ſeiner Ankunft die Geſchenke mit¬ nehmen wollen, weil er es, obwohl die Leute nur die119 gewöhnlichen Thalbewohner dieſer Gegend waren, für unſchicklich hielt, mit Gaben belaſtet das Haus zu betreten, und ihnen gleichſam ſagen zu wollen: „ Ich glaube, daß ihr das für das Wichtigſte haltet. “ Jezt aber war er ihnen etwas ſchuldig geworden, und konnte den Dank für die gute Aufnahme abſtatten.
Als wir die Geſchenke in dem Hauſe vertheilt, und dafür die Freude und den Dank der Empfänger geerntet hatten, die in zwei Eheleuten mittlerer Jahre in deren zwei Söhnen einer Tochter und in einer alten Großmutter beſtanden, — den Knecht und die zwei Mägde nicht gerechnet — war es mittlerweile Nacht geworden, und wir kehrten wieder in unſere Herberge zurück.
Wir blieben noch vier Tage in der Gegend. Der Vater beſuchte in meiner Begleitung viele Stellen, die ihm einſt lieb geweſen waren, einen kleinen See, einen Felsblock, von dem eine ſchöne Ausſicht war, eine Gartenanlage in einem nicht ſehr entfern¬ ten ſchloßähnlichen Gebäude, die hölzerne Schule, und vor allen die eine und eine halbe Wegeſtunde entfernte Kirche, welche das Gotteshaus des Thales war, und um welche der Kirchhof bog, in welchem ſein Vater und ſeine Mutter ruhten. Eine weiße120 Marmortafel, die er und ſein Bruder hatten ſezen laſſen, ehrte ihr Angedenken. Sonſt ging der Vater auch faſt in allen Zeiten des Tages auf den Wegen der Felder und des Waldes herum.
Am fünften Tage traten wir die Rückreiſe zu den Unſrigen an.
Wir waren am frühen Morgen noch zu unſern Verwandten gegangen. Sie waren, wie es bei Land¬ leuten in ſolchen Fällen gebräuchlich iſt, ſchöner an¬ gekleidet als ſonſt und erwarteten uns. Wir nahmen in herzlicher Weiſe Abſchied. Ich verſprach, da ich ohnehin das Wandern gewohnt ſei, und viele Gegen¬ den beſuche, auch hieher wieder zu kommen, und noch öfter in dem kleinen Hauſe vorzuſprechen. Der Vater ſagte, es könne ſein, daß er wieder komme, oder auch nicht, wie es ſich eben beim Alter füge. Man müſſe erwarten, was Gott gewähre. Die Leute begleiteten uns in das Gaſthaus, und blieben da, bis wir den Wagen beſtiegen hatten. Aus den Wor¬ ten ihres Abſchiedes und ihrer Dankſagungen erkannte ich, daß der Vater ihnen auch eine Summe Geldes gegeben haben müſſe. Sie ſahen uns ſehr lange nach.
Im Fortfahren war der Vater anfangs ernſt und wortkarg, es mochte ihm das Herz ſchwer geweſen121 ſein. Später entwickelte ſich bei uns wieder ein Ver¬ kehr der Rede, wie er auf der Herreiſe geweſen war.
Am Abende des dritten Tages nach unſerer Abfahrt waren wir wieder in dem Hauſe in der Vaterſtadt.
Die Mutter war ſehr erfreut, daß der Aufenthalt von eilf Tagen in der freien Luft für den Vater von ſo wohlthätigen Folgen geweſen ſei. Seine Wangen haben ſich nicht nur ſchön roth gefärbt, ſie ſeien auch voller geworden, und das Auge ſei weit klarer, als wenn es immer auf das Papier ſeiner Schreibſtube geblickt hätte.
„ Das iſt nur die Wirkung des Anfangs und eine Folge des Reizes des Wechſels auf die körperlichen Gebilde, “ſagte der Vater, „ im Verlaufe der Zeit ge¬ wöhnt ſich Blut Muskel und Nerv an die freie Luft und Bewegung, und das erſte röthet ſich nicht mehr ſo, und die lezten ſchwellen. Allerdings aber wirkt viel Aufenthalt in freier Luft und gehörige Bewegung, in welche ſich keine Sorgen miſchen, weit günſtiger auf die Geſundheit, als ein ſtetiges Sizen in Stuben und ein Hingeben an Gedanken für die Zukunft. Wir werden ſchon einmal, und wer weiß wie nahe die Zeit iſt, auch dieſes Glück genießen und uns recht darüber freuen. “
122„ Wir werden uns freuen, wenn du es genießeſt, “erwiederte die Mutter, „ du entbehrſt es am meiſten und dir iſt es am nöthigſten. Wir andern können in unſern Garten und in die Umgebung der Stadt gehen, du ſuchſt immer die düſtere Stube. Weil du es aber ſchon ſo oft geſagt haſt, ſo wird es doch einmal wahr werden. “
„ Es wird wahr werden, Mutter, “antwortete der Vater, „ es wird wahr werden.”
Sie wendete ſich an uns, wir ſollen beſtättigen, daß der Vater nie ſo geſund und ſo heiter ausgeſehen habe als nach dieſer kurzen Reiſe.
Wir gaben es zu.
Nun mußte aber auch noch auf eine andere Reiſe gedacht werden, weil heuer einmal der Sommer der Reiſen war, und wir mußten dieſelbe ins Werk ſezen, meine und Klotildens Fahrt ins Gebirge. Der Herbſt war ſchon da, wie ich an den Buchenblättern um das Geburthaus meines Vaters hatte wahrnehmen kön¬ nen, die bereits im Begriffe waren, die rothe Farbe vor ihrem Abfallen zu gewinnen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren.
Für Klotilden waren die Vorbereitungen fertig, ich brauchte keine, weil ich immer in Bereitſchaft war,123 und ſo konnten wir ungeſäumt unſere verabredete Fahrt beginnen.
Die Mutter legte mir das Wohl der Schweſter ſehr an das Herz, der Vater ſagte, wir ſollen die Muße nach unſerer beſten Einſicht genießen, und ſo fuhren wir bei dem Aufgange einer klaren Herbſtſonne aus dem Thore unſeres Hauſes.
Ich wollte die Schweſter, welche ihre erſte größere Reiſe machte, nicht der Berührung mit andern Men¬ ſchen in einem gemeinſchaftlichen Wagen ausſezen, da man deren Weſen und Benehmen nicht voraus wiſſen konnte; deßhalb zog ich es vor, mit Poſtpferden ſo lange zu fahren, als es mir gut erſcheinen würde, und dann die Art unſers Weiterkommens im Gebirge je nach der Sachlage zu beſtimmen. Es hatte dieſe Art zu reiſen noch den Vortheil, daß ich anhalten konnte, wo ich wollte, und daß ich der Schweſter manches erklären durfte ohne dabei auf jemand Rück¬ ſicht nehmen zu müſſen, der als Zeuge gegenwärtig wäre. Auch konnten wir uns in unſeren geſchwiſter¬ lichen Geſprächen über unſere Angehörigen unſer Haus und andere Dinge nach der freien Stimmung unſerer Seele bewegen. Auf dieſe Art fuhren wir zwei Tage. Ich gönnte ihr öfter Ruhe, da ſie ein124 fortwährendes Fahren nicht gewohnt war, und endete immer noch lange vor Abend unſere Tagreiſe. Wir ſahen die Berge ſchon immer in der Nähe von eini¬ gen Meilen mit unſerem Wege gleich laufen; aber ihre Theile waren hier weniger wichtig. Es war mir äußerſt lieblich, die Geſtalt der Schweſter neben mir in dem Wagen zu wiſſen, ihr ſchönes Angeſicht zu ſehen, und ihren Athem zu empfinden. Ihre ſchwe¬ ſterliche Rede und die friſche Weiſe, alles, was ihr neu war, in die vollkommen klare Seele aufzuneh¬ men, war mir unausſprechlich wohlthätig.
Am Vormittage des dritten Tages ließ ich ſie ruhen. Für den Nachmittag miethete ich einen Wagen, und wir fuhren von der Poſtſtraße weg gerade dem Gebirge zu. Unſere Fahrt war von angenehmer und heiterer Stimmung begleitet, und wir ergingen uns in manigfaltigen Geſprächen. Als die blauen Berge in der klaren Luft, die einen milchig grünlichen Schim¬ mer hatte, uns entgegen traten, leuchtete ihr Auge immer freundlicher, und ihre Mienen waren theil¬ nehmend der Gegend, in die wir fuhren, zugekehrt. Gleich wie bei dem Vater rötheten ſich nach dieſer dreitägigen Reiſe auch ihre zarten Wangen, und ihre Augen wurden glänzender. So kamen wir endlich an125 dem Orte an, den ich für unſere Nachtruhe beſtimmt hatte. An demſelben rauſchte die grüne Afel mit ihren Gebirgswäſſern vorüber, welches Rauſchen durch ein ſchief über das Flußbett gezogenes Wehr noch ver¬ mehrt wurde. Waldhänge in langen Rücken began¬ nen ſchon ſich zu erheben, und oberhalb des dunkeln Randes eines bedeutend hohen Buchenwaldes blickte bereits das rothe Haupt eines im Abende glühenden Berges herein, auf welchem ſchon einzelne Strecken von Schnee lagen.
Des andern Tages miethete ich ein Gebirgswägel¬ chen, wie ſie zum Fortkommen auf Wegen, die nicht Poſtſtraßen ſind, in den Gebirgen am beſten dienen, und deren Pferde an die Gegenſtände des Gebirges und an die Beſchaffenheit ſeiner Wege gewöhnt und daher am zuverläſſigſten ſind. Wir brachten unſere Sachen in demſelben, ſo gut es ging, unter, und fuhren der glänzenden Afel entgegen, immer tiefer in die Berge hinein. Ich nannte jeden Namen eines vorzüglichen Berges, machte auf die Bildungen auf¬ merkſam, und ſuchte die Farben die Lichter und die Schatten zu erörtern. Überall begannen ſchon die Laubwälder die röthliche und gelbliche Färbung anzu¬126 nehmen, was den Hauch über all den Geſtaltungen noch lieblicher machte.
Da ich in eine gewiſſe Tiefe des Gebirges gekom¬ men war, änderte ich die Richtung und fuhr nun nach der Länge desſelben hin. Als zwei Tage vergangen waren, und der dritte auch ſchon dem Nachmittag zu¬ neigte, blickte uns aus der Tiefe des Thales das Ge¬ wäſſer des Lauterſees entgegen. Wir kamen um den Rücken eines breiten Waldberges herum, und die Glanzſtellen entwickelten ſich immer mehr. Endlich lag der größte Theil des Spiegels unter dem Ge¬ zweige der Tannen der Buchen und der Ahorne zu unſern Füſſen. Wir ſanken mit unſerem Wäglein auf dem ſchmalen Wege immer tiefer und tiefer, bis wir nach etwa zwei Stunden an dem Ufer des Sees anlangten, und die Steinchen in ſeinen ſeichten Buchten hätten zählen können. Wir fuhren an dem Ufer dahin, umfuhren eine kleine Strecke des Sees, und kamen in dem Seewirthshauſe an. Dort lohnte ich unſern Fuhrmann ab, und mie¬ thete uns für mehrere Tage ein. Klotilde mußte das¬ ſelbe Zimmer bekommen, welches ich während der Zeiten meiner Vermeſſungen des Lauterſees innege¬ habt hatte. Ich begnügte mich mit einem kleineren127 Stübchen in ihrer Nähe. Man ſtaunte das ſchöne, und wie man ſich ausdrückte, vornehme Mädchen an, und ich gewann ſichtbar an Anſehen, da ich eine ſolche Schweſter hatte. Alle, die ein Ruder führen konnten, oder die geübt waren, Steigeiſen anzulegen und einen Alpenſtock zu gebrauchen, kamen herzu, und bothen ihre Dienſte an. Ich ſagte, daß ich ſie rufen werde, wenn wir ſie bedürfen, und daß wir uns dann ihrer Geſellſchaft ſehr erfreuen würden.
Zuerſt machte ich Klotilden ein wenig in ihrem Zimmerchen wohnhaft. Ich zeigte ihr bedeutſame Stellen, die ſie aus ihren Fenſtern ſehen konnte, und nannte ihr dieſelben. Ich zeigte ihr, wie ich in ver¬ ſchiedenen Richtungen auf dem See gefahren war, um ſeine Tiefe zu meſſen, und wie wir uns bald auf dieſer bald auf jener Stelle des Waſſers feſtſezen mu߬ ten. Sie richtete ſich Farben und Zeichnungsgeräthe zurechte, um zu verſuchen, ob ſie nicht auch nach der unmittelbaren Anſchauung von den Räumen ihres Zimmerchens aus etwas von den Geſtaltungen, die ſie hier ſehen konnte, auf das Papier zu übertragen vermöchte.
Die folgenden Tage brachten wir damit zu, in den Umgebungen des Seehauſes Spaziergänge zu128 machen, damit Klotilde ſich ein wenig in dieſe Bil¬ dungen einlebe. Das vorausgeſagte ſchöne Wetter war eingetroffen, es dauerte fort, und ſo konnten wir uns der Freude und dem Vergnügen, welche dieſe Gänge uns gewährten, um ſo ungeſtörter hingeben, als auch der Stand unſerer Geſundheit ein vortreff¬ licher war und die Befürchtungen, welche die Mutter und zum Theile auch ich in Hinſicht Klotildens ge¬ hegt hatten, nicht in Erfüllung gingen. Wir ſchickten von hier aus Briefe nach Hauſe.
In der Folge der Tage führte ich ſie auf den See hinaus. Ich führte ſie auf die verſchiedenen Theile, die entweder an ſich ſchön und bedeutend waren, oder von denen man ſchöne und merkwürdige Anblicke gewinnen konnte. Ich unterſtüzte ſie mit allen meinen Erfahrun¬ gen, die ich mir durch meine mehrfältigen Aufenthalte in dem Gebirge geſammelt hatte. Sie nahm alles mit einer tiefen Seele auf, und durch meine Hilfe waren ihr manche Umwege erſpart, welche diejenigen, die zum erſten Male die Berge beſuchen, machen müſſen, ehe es ihnen gelingt, ſich die Größe und Erhabenheit der Gebirge aufſchließen zu können. Auf den Seefahrten unterſtüzten uns zwei junge Schiffer, die meine ſteten Begleiter bei meinen Meſſungen geweſen waren. Wir129 gingen auch bergan. Ich hatte Klotilden Fußbeklei¬ dungen machen laſſen, welche nach Innen weich, nach Außen aber hart und dem rauhen Gerölle Widerſtand leiſtend waren. Auf dem Haupte trug ſie einen be¬ quemen Schirmhut, und in der Hand einen eigens für ſie gemachten Alpenſtock. Wenn wir auf die Höhen kamen, wurde mit Freude die Ausſicht genoſſen. Klotilde verſuchte auch nach der Anſchauung etwas zu zeichnen und zu malen; aber die Ergebniſſe waren noch weit mangelhafter als bei mir, da ſie einen geringeren Vorrath von Erfahrung zu dem Verſuche brachte.
Nachdem über eine Woche vergangen war, führte ich Klotilden mittelſt eines gleichen Fuhrwerkes, wie wir ſie bisher im Gebirge gehabt hatten, in das Lauterthal und in das Ahornhaus. Dort fanden wir ein beſſeres Unterkommen als in dem Seehauſe, und wir erhielten zwei nebeneinander befindliche geräumige und freundliche Zimmer, deren Fenſter auf die Ahorne vor dem Hauſe hinausgingen, und durch die gelben Blätter derſelben auf die blauduftigen Höhen ſahen, die vom Hauſe gegen den Süden ſtanden. Ich zeigte meine Schweſter der Wirthin, ich zeigte ſie dem alten Kaspar, der auf die Kunde meiner Ankunft ſogleich herbei gekommen war, und ich zeigte ſie den andern,Stifter, Nachſommer. III. 9130welche ſich gleichfalls reichlich eingefunden hatten. Es war hier ein noch größerer Jubel als in dem See¬ hauſe, es freute ſie, daß eine ſolche Jungfrau in die Berge gekommen, und daß ſie meine Schweſter ſei. Sie bothen ihr Dienſte an, und näherten ſich mit eini¬ ger Scheu. Klotilde betrachtete alle dieſe Menſchen, die ich ihr als meine Begleiter und Gehilfen bei mei¬ nen Arbeiten vorſtellte, mit Vergnügen, ſie ſprach mit ihnen, und ließ ſich wieder erzählen. Sie lernte ſich immer mehr in die Art dieſer Leute ein. Ich fragte um meinen Zitherſpiellehrer, weil ich Klotilden dieſen Mann zeigen wollte, und weil ich auch wünſchte, daß ſie ſein außerordentliches Spiel mit eigenen Ohren hören möchte. Wir hatten zu dieſem Zwecke unſere beiden Zithern in unſerm Gepäcke mitgenommen. Man ſagte mir aber, daß ſeit der Zeit, als ich ihnen erzählt habe, daß er von meinen Arbeiten fortgegangen ſei, kein Menſch weder in den nähern noch in den fernern Thälern etwas von ihm gehört habe. Ich ſagte alſo Klotilden, daß ſie keinen andern als die gewöhn¬ lichen einheimiſchen Zitherſpieler werde hören können, wie ſie dieſelben auch bereits gehört habe, und wie ſie ihr anziehender erſchienen ſeien als die Kunſtſpieler in der Stadt und als ich, der ich wahrſcheinlich ein131 Zwitter zwiſchen einem Kunſtſpieler und einem Spie¬ ler des Gebirges ſei. Wir richteten uns in unſerem Zimmer ein, und begannen ungefähr ſo zu leben, wie wir in der Umgebung des Seehauſes gelebt hatten. Ich führte Klotilden in das Echerthal zu dem Meiſter, welcher unſere Zithern verfertiget hatte. Er beſaß noch immer die dritte Zither, welche mit meiner und Klo¬ tildens ganz gleich war. Er ſagte, es ſeien zwar Käufer von Zithern gekommen, die dieſe geprieſen hätten; aber das ſeien Gebirgsleute geweſen, die nicht ſo viel Geld haben, ſich eine ſolche Zither kaufen zu können. Die Andern, welche die Mittel beſäſſen, vorzüglich Reiſende, ziehen Zithern vor, welche eine ſchöne Aus¬ ſchmückung haben, wenn ſie auch theurer ſind, und laſſen die ſtehen, deren Tugenden ſie nicht zu ſchäzen wiſſen. Er ſpielte ein wenig auf ihr, er ſpielte mit einer großen Fertigkeit; aber in jener wilden und weichen Weiſe, mit welcher mein ſchweifender Jägers¬ mann ſpielte, und welche gerade dieſem Muſikgeräthe ſo zuſagte, vermochte weder er zu ſpielen, noch hatte ich jemanden ſo ſpielen gehört. Ich ſagte dem alten Manne, daß das Mädchen meine Schweſter ſei, und daß ſie auch eine von den drei Zithern beſize, von denen er ſage, daß ſie die beſten ſeien, die er in9 *132ſeinem Leben gemacht habe. Er hatte ſeine Freude darüber, gab Klotilden ein Bündel Saiten und ſagte: „ Es ſind meine beſten Zithern, und werden wohl auch meine beſten bleiben. “
Wir beſuchten die Thäler und einige Berge um das Ahornhaus, und Kaspar oder ein anderer waren zuweilen unſere Begleiter und Träger.
Ich führte Klotilden auch in das Häuschen, in welchem ich die Pfeilerverkleidungen für den Vater gekauft hatte, ich führte ſie in das ſteinerne Schloß, in welchem ſie urſprünglich geweſen ſein mochten, und ich führte ſie auch in das Rothmoor, wo ſie das Ar¬ beiten in Marmor betrachten konnte.
Wir blieben länger in dem Ahornhauſe, als wir im Seehauſe geweſen waren, und alle Menſchen waren hier noch freundlicher zutraulicher und hilfreicher als dort. Die Wirthin war unermüdet in Dienſtanerbie¬ thungen gegen meine Schweſter. Zu Ende unſeres Aufenthaltes traten hier kühle und regneriſche Tage ein. Wir verbrachten ſie ſtill in der heitern Wohn¬ lichkeit des Hauſes. Aber aus der Beſchaffenheit des Laubes an den Bäumen und dem Ausſehen der Herbſt¬ pflanzen auf den Matten, aus dem Verhalten der Thiere und aus der Beſchaffenheit des Pelzes derſelben er¬133 kannte ich, daß die dauernde kalte und unfreundliche Zeit noch nicht gekommen ſei, und daß noch warme und klare Tage eintreten müſſen. Als daher das Wetter ſich wieder aufheiterte, verließ ich mit Klotilden das Ahornhaus, und ſchlug den Weg in das Kargrat ein.
Ich hatte mich in meinen Vorausſezungen nicht getäuſcht. Nachdem zwei halb heitere und kühle Tage geweſen waren, die wir mit Fahren zugebracht hatten, zog wieder ein ganz heiterer zwar am Morgen kalter, in ſeinem Verlaufe aber ſich ſchnell erwärmender Tag über die beſchneiten Gipfel herauf, dem eine Reihe ſchöner und warmer Tage folgte, die den Schnee auf den Höhen und den, welcher das Eis der Gletſcher bedeckt hatte, wieder weg nahmen, und das leztere ſo weit ſichtbar machten, als es in dieſem Sommer überhaupt ſichtbar geweſen war. Wir hatten am zweiten dieſer ſchönen Tage das Kargrat erreicht. Die Reiſe war darum von ſo langer Dauer geweſen, weil wir kleine Tagefahrten gemacht hatten, und weil wir die Berge hinan und hinab recht langſam gefahren waren. Wir zogen in die Ärmlichkeit unſerer Wohnung, die durch die Größe und Öde der Gegend, von welcher ſie umgeben war, noch mehr herabgedrückt wurde, ein. Am zweiten Tage nach unſerer Ankunft, da alles vor¬134 bereitet worden war, folgte mir Klotilde auf das Simmieis. Es waren Führer Träger von Lebens¬ mitteln und von Allem, was auf einer ſolchen Wan¬ derung nothwendig oder nüzlich ſein konnte, und endlich auch ſolche, die eine Sänfte hatten, mitge¬ gangen. Wir waren am erſten Tage bis zur Kar¬ zuflucht gekommen. Dort waren wir in dem aus Holzblöcken für die Beſteiger der Karſpize gezimmerten Häuschen über Nacht geblieben, hatten aus mitge¬ brachtem Holze Feuer gemacht, und uns unſer Abend¬ eſſen bereitet. Mit Anbruch des nächſten Tages gingen wir weiter, und kamen im Glanze des Vor¬ mittages auf die Wölbung des Gletſchers. Daß an eine Beſteigung der Karſpize nicht gedacht werden konnte, war natürlich. Wir betrachteten hier nun, was zu betrachten war, und als ſich Kälte in den Gliedern einſtellen wollte, traten wir den Rückweg an. In der Zuflucht wurden wieder Speiſen bereitet, und dann gingen wir vollends hinab. Als wir zurückgekehrt waren, ſank mir Klotilde faſt erſchöpft an das Herz.
Ich legte am andern Tage Klotilden mehrere Zeich¬ nungen, die ich von Gletſchern ihren Einfaſſungen Wölbungen Spaltungen Zuſammenſchiebungen und135 dergleichen gemacht hatte, vor, damit ſie in der friſchen Erinnerung das Geſehene mit dem Abgebil¬ deten vergleichen konnte. Ich machte auf vieles aufmerkſam, führte manches in ihr Gedächtniß zu¬ rück und erwähnte hier auch als an der geeignetſten Stelle, wie ſehr die Abbildung hinter der Wirklichkeit zurück bleibe. In den nächſten zwei Tagen beſuchten wir noch verſchiedene Stellen, von denen wir das Eis und die Schneegeſtaltungen dieſer Berge betrachten konnten. Auch einen Waſſerſturz von einer ſteilrechten Wand zeigte ich Klotilden. Hierauf aber begann ich, auf unſere Rückreiſe zu den Eltern zu denken. Die Zeit war nach und nach ſo vorgerückt, daß ein Auf¬ enthalt in dieſen hochgelegenen Räumen beſonders für ein der Stadt gewohntes Mädchen nicht mehr er¬ ſprießlich war. Ich ſchlug daher Klotilden vor, nun auf dem nächſten Wege durch das ebenere Land unſere Heimath zu gewinnen zu ſuchen. Sie war damit ein¬ verſtanden. Von dem nächſten größeren Orte her wurde ein Fuhrwerk beſtellt, welches uns auf die erſte Poſt bringen ſollte. Wir nahmen von unſerer Wirthin und ihrem Manne ſo wie von unſern Trägern und Führern, die noch zum Empfange eines kleinen Ge¬ ſchenkes herbei gekommen waren, Abſchied, wir ver¬136 abſchiedeten uns von dem Pfarrer, der uns zuweilen beſucht, und uns auf Schönheiten, von ſeinem kleinen Geſichtskreiſe aus, aufmerkſam gemacht hatte, und fuhren auf unſerem Karren, der nur mit einem Pferde beſpannt war, auf dem ſchmalen Wege von dem Kar¬ grat hinab. Das Lezte, was wir von dem kleinen Örtchen ſahen, war die mit Schindeln bedeckte Wand des Pfarrhofes und die gleichfalls mit Schindeln be¬ deckte Wand der ſchmalen Seite der Kirche. Ich ſagte Klotilden, daß dieſe Bedeckungen nothwendig ſeien, um die in dieſen Höhen ſtark wirkende Gewalt des Regens und des Schnees von dem Mauerwerke ab¬ zuhalten. Wir konnten nur noch einen Blick auf die zwei Gebäude thun, dann trat eine Höhe zwiſchen unſere Augen und ſie. Wir glitten mit unſerem Fuhr¬ werke ſehr ſchnell abwärts, wilde Gründe umgaben uns, und endlich empfing uns der Wald, der die Niederungen ſuchte, in ihnen dahin zog, und ſchon wohnlicher und wärmer war. Wir kamen unter Wie¬ gen und Ächzen unſeres Wägleins immer tiefer und tiefer, Fahrgeleiſe von Holzwegen, die den Wald durchſtrichen, mündeten in unſere Straſſe, dieſe wurde feſter und breiter, und wir fuhren zuweilen ſchon eben und behaglich dahin.
137Als wir den Ort erreicht hatten, an welchem ſich die nächſte Poſt befand, lohnte ich den Führer meines Wägleins ab, ſendete ihn zurück, und nahm Poſt¬ pferde. Wir fuhren in gerader Richtung auf dem kürzeſten Wege aus dem Gebirge gegen das flachere Land, um die Heerſtraße zu gewinnen, die nach un¬ ſerer Heimath führte. Immer mehr und mehr ſanken die Berge hinter uns zurück, die milde Herbſtſonne, die ſie beſchien, färbte ſie immer blauer und blauer, die Höhen, die uns jezt begegneten, wurden ſtets kleiner und kleiner, bis wir in das Land hinaus kamen, deſſen Gefilde mit lauter dem Menſchen nuzbarem Grunde bedeckt waren. Dort trafen wir auf die große Straße. Bisher waren wir gegen Norden gefahren, jezt änderten wir die Richtung, und fuhren dem Oſten zu. Wir hatten auch beſſere Wägen.
Da wir einen Tag auf dieſer Straſſe gefahren waren, ließ ich an einem Orte halten, und beſchloß, einen Tag an demſelben zu bleiben; den Abend und die Nacht brachten wir in Ruhe zu. Am andern Tage gegen Mittag führte ich die Schweſter auf einen mäßig hohen Hügel. Der Tag war ein ſehr ſchöner Herbſt¬ tag, der Schleier, welcher im Vormittage ſo Hügel als Gründe zart umwebt hatte, war einer völligen138 Klarheit gewichen. Ich befeſtigte mittelſt Schrauben mein Fernrohr an dem Stamme einer Eiche, und richtete es. Dann hieß ich Klotilden durchſehen, und fragte ſie, was ſie ſähe.
„ Ein hohes dunkles Dach, “ſagte ſie, „ aus wel¬ chem mehrere breite und mächtige Rauchfänge empor ragen. Unter dem Dache iſt ein Gemäuer von eben¬ falls dunkler Farbe, in welchem große Fenſter in ge¬ mäßen Entfernungen ſtehen. Das Gebäude ſcheint ein Viereck zu ſein. “
„ Und was ſiehſt du weiter, Klotilde, wenn du das Rohr in die Umgebungen des Gebäudes richteſt? “fragte ich.
„ Bäume, die hinter dem Hauſe ſtehen, gleichſam wie ein Garten, “antwortete ſie. „ Die Mauern des Gebäudes ſind dort licht wie die unſerer Häuſer. Dann ſehe ich Felder, in ihnen wieder Bäume, hie und da ein Haus, und endlich wolkenartige Spizen, die wie das Hochgebirge ſind, das wir verlaſſen haben. “
„ Es iſt das Hochgebirge, “antwortete ich.
„ Iſt das etwa — —? “fragte ſie, den Kopf von dem Fernrohre wegwendend und mich anſehend.
„ Ja, Klotilde, das Gebäude iſt der Sternenhof, “antwortete ich.
139„ Wo Natalie wohnt? “fragte ſie.
„ Wo Natalie wohnt, wo die edle Mathilde ver¬ weilt, wo ſo treffliche Menſchen ein und aus gehen, wohin meine Gedanken ſich mit Empfindung wenden, wo ſanfte Gegenſtände der Kunſt thronen, und wo ein liebes Land um all die Mauern herum liegt, “antwortete ich.
„ Das iſt der Sternenhof! “ſagte Klotilde, blickte wieder in das Fernrohr, und ſah lange durch dasſelbe.
„ Ich habe dich mit Freude auf dieſen Hügel ge¬ führt, Klotilde, “ſagte ich, „ um dir dieſen Ort zu zeigen, in dem mein warmes Herz ſchlägt, und ein tiefer Theil von meinem Weſen wohnt. “
„ Ach lieber theurer Bruder, “antwortete ſie, „ wie oft gehen meine Gedanken an den Ort, und wie oft weilt mein Gemüth in ſeinen mir noch unbekannten Mauern! “
„ Du begreifſt aber, “ſagte ich, „ daß wir jezt nicht hingehen können, und daß die Angelegenheit ihre naturgemäße Entwickelung haben muß. “
„ Ich begreife es, “antwortete ſie.
„ Du wirſt ſie ſehen, an deinem Herzen halten, und ſie lieben, “ſagte ich.
Klotilde ſah wieder in das Rohr, ſie ſah ſehr140 lange in dasſelbe, und betrachtete alles genau. Ich lenkte ihren Blick auf die Theile, die mir wichtig ſchienen, erklärte ihr alles, und erzählte von dem Schloſſe und von denen, die in demſelben ſind.
Es war indeſſen der Mittag gekommen, wir löſten das Fernrohr ab, und gingen langſam unſerer Wohnung zu.
„ Kann man hier nicht auch das Roſenhaus deines Freundes ſehen? “fragte ſie im Heimgehen.
„ Hier nicht, “erwiederte ich, „ hier iſt nicht einmal der höchſte Theil der Roſenhausgegend zu erblicken, weil der Kronwald, den du gegen Norden ſiehſt, ſie deckt. Im Weiterfahren werden wir auf einen Hügel kommen, von dem aus ich dir die Anhöhe zeigen kann, auf welcher das Haus liegt, und von dem aus du mit dem Fernrohre das Haus ſehen kannſt. “
Wir gingen in unſere Wohnung, und am nächſten Tage fuhren wir weiter. Als wir an die Stelle ge¬ kommen waren, von welcher man die Höhe des Asper¬ hofes ſehen konnte, ließ ich halten, wir ſtiegen aus, ich zeigte Klotilden den Hügel, auf welchem das Haus meines Gaſtfreundes liegt, richtete das Fernrohr, und ließ ſie durch dasſelbe das Haus erblicken. Wir waren aber hier ſo weit von dem Asperhofe entfernt, daß man141 ſelbſt durch das Fernrohr das Haus nur als ein weißes Sternchen ſehen konnte. Nach deſſen Betrachtung fuhren wir wieder weiter.
Als nach dieſem Tage der dritte vergangen war, fuhren wir gegen Abend durch den Thorweg des Vor¬ ſtadthauſes unſerer Eltern ein.
„ Mutter, “rief ich, da uns dieſe und der Vater, der unſere Ankunft gewußt hatte, und daher zu Hauſe geblieben war, entgegen kamen, „ ich bringe ſie dir geſund und blühend zurück. “
Wirklich war Klotilde, wie es dem Vater auf ſei¬ ner kleinen Reiſe ergangen war, durch die Luft und die Bewegung kräftiger heiterer und in ihrem Ange¬ ſichte reicher an Farbe geworden, als ſie es je in der Stadt geweſen war.
Sie ſprang von dem Wagen in die Arme der Mutter und begrüßte dieſe und dann auch den Vater freudenvoll; denn es war das erſte Mal geweſen, daß ſie die Eltern verlaſſen hatte, und auf längere Zeit in ziemlicher Entfernung von ihnen geweſen war. Man führte ſie die Treppe hinan, und dann in ihr Zimmer. Dort mußte ſie erzählen, erzählte gerne, und unter¬ brach ſich öfter, indem ſie das inzwiſchen heraufge¬ brachte Gepäck aufſchloß, und die manigfaltigen Dinge142 heraus nahm, die ſie in den verſchiedenen Ortſchaften zu Geſchenken und Erinnerungen gekauft oder an man¬ cherlei Wanderſtellen geſammelt hatte. Ich war eben¬ falls mit in ihr Zimmer gegangen, und als wir ge¬ raume Weile bei ihr geweſen waren, entfernten wir uns, und überließen ſie einer nothwendigen Ruhe.
Nun folgte für Klotilden faſt eine Zeit der Be¬ täubung, ſie beſchrieb, ſie erzählte wieder, ſie ſezte ſich vor Zeichnungen hin, blätterte in ihnen, oder zeich¬ nete ſelber, und ſuchte in der Erinnerung Geſehenes nachzubilden.
Aber auch für mich war dieſe Reiſe nicht ohne Erfolg geweſen. Was ich halb im Scherze halb im Ernſte geſagt hatte, daß ich durch dieſe Reiſe zu einer größeren Ruhe kommen werde, iſt in Wirklichkeit ein¬ getroffen. Klotilde, welche alle die Gegenſtände, die mir längſt bekannt waren, mit neuen Augen ange¬ ſchaut, welche alles ſo friſch, ſo klar und ſo tief in ihr Gemüth aufgenommen hatte, hatte meine Gedanken auf ſich gelenkt, hatte mir ſelber etwas Friſches und Urſprüngliches gegeben, und mir Freude über ihre Freude mitgetheilt, ſo daß ich gleichſam geſtärkter und befeſtigter über meine Beziehungen nachdenken, und ſie mir gewiſſermaſſen vor mir ſelber zurecht legen konnte.
143Ich hatte mit Natalien keinen Briefwechſel verab¬ redet, ich hatte nicht daran gedacht, ſie wahrſchein¬ lich auch nicht. Unſer Verhältniß erſchien mir ſo hoch, daß es mir kleiner vorgekommen wäre, wenn wir uns gegenſeitig Briefe geſchickt hätten. Wir mußten in der Feſtigkeit der Überzeugung der Liebe des Andern ruhen, durften uns nicht durch Ungeduld vermindern, und mußten warten, wie ſich alles entwickeln werde. So konnte ich mit dem Gefühle von Seligkeit von Natalien fern ſein, konnte mich freuen, daß alles ſo iſt, wie es iſt, und konnte deſſen harren, was meine Eltern und Nataliens Angehörige beginnen werden.
Klotilden, welche ihren Bergen Lüften Seen und Wäldern die Farbe geben wollte, die ſie geſehen hatte, ſuchte ich beizuſtehen, und zeigte ihr, worin ſie fehle, und wie ſie es immer beſſer machen könne. Wir wußten es jezt, daß man die zarte Kraft, wie ſie uns in der Weſenheit der Hochgebirge entgegen tritt, nicht darſtellen könne, und die Kunſt des großen Meiſters mir in der beſten Annäherung beſtehe. Auch in ihrem Beſtreben, die Art, wie ſie im Gebirge die Zither ſpielen gehört hatte, und die eigenthümlichen Töne, die ihr dort vorgekommen waren, nachzuahmen, ſuchte ich ihr zu helfen. Wir konnten wohl beide144 unſere Vorbilder nicht völlig erreichen, freuten uns aber doch unſerer Verſuche. Bei einigen Freunden machte ich gelegentlich zwei oder drei Beſuche.
So war der Winter gekommen. Ich faßte, weil ich ſchon nach dem Rathe des Vaters beſchloſſen hatte, im Winter meinen Gaſtfreund zu beſuchen, zugleich auch den Entſchluß, einmal im Winter in das Hoch¬ gebirge zu gehen, und, wenn dies möglich ſein ſollte, einen hohen Berg zu beſteigen, und auf dem Eiſe eines Gletſchers zu verweilen. Ich beſtimmte hierzu den Januar als den beſtändigſten und meiſtens auch klarſten Monat des Winters. Gleich nach ſeinem Be¬ ginne fuhr ich von dem Hauſe meiner Eltern ab, und fuhr in dem flimmernden Schnee und in der blendenden Hülle, die alle Fluren deckte, im Schlitten der Gegend zu, in welcher meine Freunde lebten. Das Wetter war ſchon durch zehn Tage beſtändig und mäßig kalt geweſen, der Schnee war reichlich, und auf der Bahn glitten die Fahrzeuge wie in den Lüften dahin. Wie ich ſonſt nie anders als im offenen Wagen fuhr, ſo fuhr ich auch jezt mit guten Pelzen verſehen im offenen Schlitten, und freute mich der weichen Hülle, die um meinen Körper war, und auch der, die überall und allüberall lag, freute mich der145 ſchweigenden bereiften Wälder, der ruhenden Obſt¬ bäume, die ihre weißen Gitter ausſtreckten, der Häu¬ ſer, von denen der wohnliche Rauch aufſtieg, und der Unzahl der Sterne, die Nachts in dem kalten und finſteren Himmel feuriger funkelten als je ſonſt im Sommer. Ich hatte vor, zuerſt die Gebirge und dann meinen Gaſtfreund zu beſuchen.
Ich fuhr bis in die Nähe des Lauterthales, Da ich die Straße verlaſſen ſollte, miethete ich einen ein¬ ſpännigen Schlitten, weil in den Seitenwegen, auf denen man immer im Winter nur mit einem Pferde fährt, die Bahn zu enge iſt, als daß zwei Pferde ſicher neben einander gehen könnten, und fuhr in das Thal und in das Ahornwirthshaus. Die Ahorne ſtreckten ungeheure abenteuerlich geſtaltete entblätterte und mit feinen Zweigen wie mit Bärten verſehene Arme der winterlichen Luft entgegen, das fenſterreiche Wirthshaus war in ſeiner braunen Farbe gegen die Schneedecke auf ſeinem Dache und gegen den Schnee, der überall ringsum lag, noch brauner als ſonſt, und die Fichtentiſche vor dem Hauſe waren abgebrochen und in Aufbewahrung gethan worden. Die Wirthin empfing mich mit Erſtaunen und mit Freude, daß ich in einer ſolchen Jahreszeit komme,Stifter, Nachſommer. III. 10146und gab mir das beſte Verſprechen, daß meine Stube ſo warm und heimlich ſein ſolle, als wehe kein einziges Lüftchen hinein, und ſo licht, als ſchiene die Sonne, wenn ſie überhaupt ſcheint, ſonſt nirgends hin als auf meine Fenſter. Ich ließ meine Geräth¬ ſchaften in die Stube bringen, und bald loderte auch ein luſtiges Feuer in dem Ofen derſelben, der aus¬ nahmsweiſe, wie es ſonſt in den Gebirgen faſt gar nicht vorkömmt, von Innen zu heizen war. Die Wirthin hatte es ſo einrichten laſſen, weil von Außen der Zugang zu dem Ofen ſo ſchwer geweſen war. Als ich mich ein wenig erwärmt, und meine Haupt¬ ſachen in Ordnung gebracht hatte, ging ich in die allgemeine Gaſtſtube hinunter. In ihr waren ver¬ ſchiedene Leute anweſend, die der Weg vorbei führte, oder die eine kleine Erquickung und ein Geſpräch ſuch¬ ten. Bei den vielen und ſehr nahe ſtehenden Fenſtern drang ein reichliches Licht herein, ſo daß die Sonnen¬ ſtrahlen des Wintertages um die Tiſche ſpielten, was um ſo wohlthätiger war, da auch eine behagliche Wärme von den in dem großen Ofen brennenden Klözen das Zimmer erfüllte. Ich fragte wieder um meinen Zitherſpiellehrer, es hatte niemand etwas von ihm gehört. Ich fragte um den alten Kaspar, er war147 geſund, und es wurde auf meine Bitte um ihn geſen¬ det. Ich ſagte, daß ich im Sinne hätte, von dem Lauterſee in die Eisfelder der Echern hinaufzuſteigen. Ich hätte Anfangs Luſt gehabt, das Simmieis an der Karſpize zu beſuchen; aber der Zugang ins Kar¬ grat ſei mir im Winter ſehr unangenehm, und wenn die Echern auch etwas tiefer liegen als die Simmen, ſo ſeien ſie doch ſchöner, und von unvergleichlich wohlgebildeten Felſen eingefaßt. Alle riethen mir von meinem Unternehmen ab, es ſei im Winter nicht durchzudringen, und die Kälte ſei auf den Bergen ſo groß, daß ſie kein Menſch zu ertragen vermöge. Ich widerlegte die Einwürfe vorerſt dadurch, daß ich ſagte, es ſei eben im Winter niemand auf den Echern ge¬ weſen, wie ſie ſelber berichten, und daß man daher nichts Sicheres wiſſen könne.
„ Aber man kann es ſich denken, “erwiederten viele.
„ Erfahrung iſt noch beſſer, “ſagte ich.
Indeſſen kam der alte Kaspar. Die Sache wurde ihm gleich von den Anweſenden erzählt, und er rieth auch entſchieden von dem Unternehmen ab. Ich ſagte, daß viele Forſcher in Naturdingen im Winter ſchon auf hohen Bergen geweſen ſeien, auf höheren als den Echern, daß ſie dort Nächte und zuweilen auch10 *148eine Reihe von Tagen und Nächten zugebracht haben. Man wendete immer ein, das ſeien andere Berge ge¬ weſen, und in den hieſigen gehe es durchaus nicht. Der alte Kaspar verſtand ſich endlich ganz allein dazu, mich, wenn ich durchaus wolle, zu begleiten. Aber das Wetter, meinte er, müßten wir uns ſorg¬ ſam dazu ausleſen. Ich erwiederte ihm, daß ich Geräthe bei mir hätte, die mir anzeigen, wenn eine ſchöne Zeit bevorſtehe, daß ich mich auch ein wenig auf die Zeichen an dem Himmel verſtehe, und daß ich ſelber auf den Höhen nicht gar gerne in einen Schneeſturm oder in einen langedauernden Nebel ge¬ rathen möchte. Alle andern Leute, welche mir ſonſt gerne bei meinen Bergarbeiten geholfen hatten, und welche ich ebenfalls ins Wirthshaus hatte rufen laſſen, lehnten es durchaus ab, mich im Winter in die Echern zu begleiten. Dem Kaspar ſagte ich, er müſſe ſich vorbereiten. Ich hätte ſelber verſchiedene Dinge bei mir, von denen er ſich die ausſuchen könne, von welchen er glaube, daß er ſie auf unſerer Wanderung mitnehmen möge. Den Tag, an welchem wir zum See hinunter gehen werden, würde ich ihm dann ſchon ſagen. Ich ging unter den lebhafteſten Geſprä¬ chen der Anweſenden über dieſen Gegenſtand in meine149 Stube zurück, und brachte den Abend in derſelben zu. Ich wußte, daß ſie nun tief in die Nacht hinein über die Sache ſprechen würden, und daß in den nächſten Tagen für das ganze Thal dieſe Unternehmung den Stoff der Unterredungen bilden würde.
Es meldete ſich nun auch wirklich keiner mehr, um mich und Kaspar zu begleiten.
Die Zeit bis zum Beginne unſers Unternehmens brachte ich damit zu, daß ich Wanderungen in der Umgegend machte. Ich betrachtete die Wälder, die in Ruhe und Pracht daſtanden, ich betrachtete die Höhen, auf welchen die unermeßlichen Schneemengen lagen, ich betrachtete die Echernwand, von der eine Laſt von Eiszapfen niederhing, deren manche die Dicke von Bäumen hatten, zuweilen losbrachen, und mit Krachen und Klingen in den Schnee niederſtürzten, ich ging auf Berge, und ſchaute in die ſtille gleichſam verdich¬ tete Winterluft, und auf alle die weißen Gebilde, die durch dunkle Wälder durch Felſen und durch das ſanfte Blau der fernen Bergzüge geſchnitten waren.
Gegen die Mitte des Januars, zu welcher Zeit gewöhnlich das Wetter am ausdauerndſten zu ſein pflegt, ſtellten ſich die Zeichen ein, daß längere Zeit ſchöne Tage ſein werden. Ein etwas weicher Luftzug150 der vorigen Tage hatte ſich verloren, die graue Decke am Himmel war verſchwunden, und den verwaſchenen Federwolken war eine tiefe Bläue gefolgt. Die Luft zog aus Oſten, die Kälte mehrte ſich, der Schnee flimmerte, und Abends zeigte ſich der feine blauliche Duft in den Gründen, der heitere Morgen und immer größere Kälte verſprach. Meine Werkzeuge gaben ſtarken Luftdruck und große Trockenheit an.
Ich ſagte dem alten Kaspar, daß wir nunmehr aufbrechen würden. Wir nahmen an Alpenſtöcken Steigeiſen Stricken Schneereifen Decken Kleidern, was wir nöthig erachteten, eine Schaufel eine Axt Kochgeſchirr und Lebensmittel auf mehrere Tage. So bepackt gingen wir zu dem See. Dort theilten wir unſere Dinge in zwei bequeme Laſten, daß jeder mit der ſeinigen ſo leicht als möglich gehen könne, und erwarteten den nächſten Morgen.
Beim Grauen des Lichtes machten wir uns auf den Weg, und ſtiegen mit unſeren ſehr hohen Stie¬ feln, die ich eigens zu dieſem Zwecke hatte machen laſſen, in den tiefen Schnee der Wege, die zu den Höhen, auf die wir wollten, führten, die aber nur im Sommer betreten wurden, die jezt keine Spur zeigten, und die wir nur fanden, weil wir der Gegend151 ſehr kundig waren. Wir gingen mehrere Stunden in dieſem tiefen Schnee, dann kamen Wälder, in denen er niederer lag, und durch welche das Fortkommen leichter war. Viele Gerölle und ſchiefliegende Wände, die nun folgten, zeigten ebenfalls weniger Schnee als die Tiefe, und es war über ſie im Winter leichter zu gehen, als ich es im Sommer gefunden hatte, da die Unebenheiten und die kleinen ſcharfen Riffe und Steine mit einer Schneedecke überhüllt waren. Als wir die erſten Vorberge überwunden hatten, und auf die Hochebene der Echern gekommen waren, von der man wieder den blauen See recht tief und dunkel in der weißen Umgebung unten liegen ſah, machten wir ein wenig Halt. Die Oberfläche der Echern oder die Hochebene, wie man ſie auch gerne nennt, iſt aber nichts weniger als eine Ebene, ſie iſt es nur im Ver¬ gleiche mit den ſteilen Abhängen, welche ihre Seiten¬ wände gegen den See bilden. Sie beſteht aus einer großen Anzahl von Gipfeln, die hinter und neben einander ſtehen, verſchieden an Größe und Geſtalt ſind, tiefe Rinnen zwiſchen ſich haben, und bald in einer Spize ſich erheben, bald breitgedehnte Flächen darſtellen. Dieſe ſind mit kurzem Graſe und hie und da mit Knieföhren bedeckt, und unzählige Felsblöcke152 ragen aus ihnen empor. Es iſt hier am ſchwerſten durchzukommen. Selbſt im Sommer iſt es ſchwie¬ rig, die rechte Richtung zu behalten, weil die Geſtal¬ tungen einander ſo ähnlich ſind, und ein ausgetretener Pfad begreiflicher Weiſe nicht da iſt: wie viel mehr im Winter, in welchem die Geſtalten durch Schnee¬ verhüllungen überdeckt und entſtellt ſind, und ſelbſt da, wo ſie hervorragen, ein ungewohntes und fremd¬ artiges Anſehen haben. Es ſind mehrere Alpenhütten in dieſem Gebiethe zerſtreut, und es befinden ſich im Sommer Heerden hier oben, die aber, wie zahlreich ſie auch ſind, in der großen Ausdehnung verſchwin¬ den, und ſich gegenſeitig oft Monate lang nicht ſehen. Wir wünſchten noch beim Lichte des Tages über dieſe Erdbildungen hinüber zu kommen, und hatten vor, zur Einhaltung der Richtung uns gegen¬ ſeitig in unſerer Kenntniß der Riffe und der Hügelge¬ ſtaltungen zu unterſtüzen, und uns die entſcheidenden Bildungen wechſelſeitig zu nennen und zu beſchreiben. Am oberen Ende der Hochebene, wo wieder die größe¬ ren Felſenbildungen beginnen, und das Verirren weit weniger möglich iſt, ſteht im Bereiche großer Kalkſteinblöcke eine Sennhütte, die Ziegenalpe ge¬ nannt, welche das Ziel unſerer heutigen Wanderung153 war. Am Rande der Berganſteigung und dem An¬ fange der Hochebene, wo wir jezt waren, ſezten wir uns nieder. Es liegt da ein großer Stein der beinahe ganz ſchwarz iſt. Er iſt nicht nur dieſer Farbe willen an ſich merkwürdig, ſondern beſonders darum, weil er durch eben dieſe Farbe dann durch ſeine Größe und ſeine ſeltſame Geſtalt von Weitem geſehen wer¬ den kann, und denen, die von der Ziegenalpe durch die Hochebene abwärts kommen, zum Zeichen, und wenn ſie bei ihm angelangt ſind, zur Beruhigung des richtig zurückgelegten Weges dient. Weil vielen, die auf der Hochebene ſind, Sennen Alpenwanderern Jägern, der Stein ein Verſammlungsort iſt, ſo fin¬ det ſich von ihm ab ſchon ein merkbar ausgetretener Pfad und man kann die Richtung zu dem See hinab nicht mehr leicht verfehlen. Auch iſt die gegen Son¬ nenaufgang überhängende Geſtalt des Felſens geeig¬ net, vor Regen und heftigen Weſtwinden zu ſchüzen. Als wir bei ihm angelangt waren, ſahen wir freilich keine Spur eines Menſchen rings um ihn; denn unberührter Schnee lag bis zu ſeinen Wänden hinzu, und er ſtand noch einmal ſo ſchwarz aus dieſer Umgebung hervor. Wir fanden aber auf klei¬ neren Steinen, die unter ſeinem Überdache lagen,154 und auf die der Schnee nicht hereingefallen war, Raum zum Sizen, und folgten dieſer Einladung willig, da ſich ſchon Ermüdung eingeſtellt hatte. Kaspar ſchnallte die Umhüllungen der Decken aus¬ einander, und holte zwei leichte aber wärmende Pelze und andere Pelzſachen hervor, die ich dazu beſtimmt hatte, unſere Körper und Füſſe, die im Wandern ſich ſehr erwärmt hatten, in der Ruhe vor Verkühlung zu ſchüzen. Als wir dieſe Pelzdinge umgethan hatten, ſchritten wir dazu, uns durch Speiſe und Trank zu erquicken. Etwas Wein und Brod reichte zu dem Zwecke hin. Ich betrachtete, nachdem unſer Mahl vollendet war, den Wärmemeſſer, welchen ich gleich nach unſerer Ankunft an einer freien Stelle auf mei¬ nen Alpenſtock aufgehängt hatte, und zeigte meinem Begleiter Kaspar, daß die Wärme hier oben größer ſei, als wir ſie geſtern zu gleicher Tageszeit unten in der Ebene des Sees gehabt hatten. Die Sonne ſchien ſehr kräftig auf den Schnee, es wehte kein Lüftchen, an dem grünlich blaulichen Himmel lagerten nur ein paar ſehr dünne weißliche Streifen. Auch konnte man von dem Steinvorſprunge, von dem aus der See zu erblicken war, faſt deutlich wahrnehmen, daß unten nicht nur die dichtere, ſondern auch kältere155 Luft liege. Denn ſo deutlich und klar der See zu er¬ blicken war, ſo zog ſich doch an den weißen oder wei߬ geſprenkelten Wänden desſelben ein feiner blaulich ſchillernder Dunſt hin, zum Zeichen, daß dort unſere obere wärmere Luft mit der unteren ſchon ſeit längerer Zeit über dem See ſtehenden kälteren zuſammengrenze, und ſich da ein ſanfter Beſchlag bilde. Ich ſchaute nur noch auf den Feuchtigkeitsmeſſer und den des Luft¬ druckes, dann packte Kaspar unſere Decken und Pelze, ich meine Geräthe ein, und wir gingen unſers Weges weiter.
Mit großer Vorſicht ſuchten wir die Richtung, die uns noththat, zu beſtimmen. Auf jeder Stelle, die eine größere Umſicht gewährte, hielten wir etwas an, und ſuchten uns die Geſtalt der Umgebung zu ver¬ gegenwärtigen, und uns des Raumes, auf dem wir ſtanden zu vergewiſſern. Ich zog zum Überfluſſe auch noch die Magnetnadel zu Rathe. In den Niederun¬ gen und Mulden zwiſchen einzelnen Höhen mußten wir uns der Schneereife bedienen. Gegen den ſpätern Nachmittag ſtiegen uns die höheren und dunkleren Zacken der Echern aus dem Schnee entgegen. Als die Sonne faſt nur mehr um ihre eigene Breite von dem Rande des Geſichtskreiſes entfernt war, kamen wir in156 der Ziegenalpe an. Hier hatten wir einen eigenthüm¬ lichen Anblick. Es iſt da eine Stelle, von welcher aus man nicht mehr zu dem See oder zu ſeiner Umgebung zurückſehen kann, dafür öffnet ſich gegen Sonnenuntergang ein weiter Blick in die Lich¬ tung des Lauterthales beſonders aber in das Echer¬ thal, in welchem der Mann wohnt, welcher meine und Klotildens Zither gemacht hatte. In dieſe Ferne wollte ich noch einen Blick thun, ehe wir in die Hütte gingen. Aber ich konnte die Thäler nicht ſehen. Die Wirkung, welche ſich aus dem Aneinandergrenzen der oberen wärmeren Luft und der unteren kälteren, wie ich ſchon am ſchwarzen Steine bemerkt hatte, ergab, war noch ſtärker geworden, und ein einfaches wag¬ rechtes weißlichgraues Nebelmeer war zu meinen Füſſen ausgeſpannt. Es ſchien rieſig groß zu ſein, und ich über ihm in der Luft zu ſchweben. Einzelne ſchwarze Knollen von Felſen ragten über dasſelbe em¬ por, dann dehnte es ſich weithin, ein trübblauer Strich entfernter Gebirge zog an ſeinem Rande, und dann war der geſättigte goldgelbe ganz reine Himmel, an dem eine grelle faſt ſtrahlenloſe Sonne ſtand, zu ihrem Untergange bereitet. Das Bild war von unbeſchreiblicher Größe. Kaspar, welcher neben mir157 ſtand, ſagte: „ Verehrter Herr, der Winter iſt doch auch recht ſchön. “
„ Ja Kaspar, “ſagte ich, „ er iſt ſchön, er iſt ſehr ſchön. “
Wir blieben ſtehen, bis die Sonne untergegangen war. Die Farbe des Himmels wurde für einen Au¬ genblick noch höher und flammender, dann begann alles nach und nach zu erbleichen, und ſchmolz zulezt in ein farbloſes Ganzes zuſammen. Nur die gewal¬ tigen Erhebungen, die gegen Süden ſtanden, und die das Eis, das wir beſuchen wollten, enthielten, glommen noch von einem unſichern Lichte, während mancher Stern über ihnen erſchien. Wir gingen nun in dem beinahe finſter gewordenen und ziemlich unwegſamen Raume zur Hütte, um in derſelben unſere Vorbereitungen zum Übernachten zu treffen. Die Hütte war, wie es im Winter immer iſt, wo ſie leer ſteht, nicht geſperrt. Ein Holzriegel, der ſehr leicht zu beſeitigen war, ſchloß die Thür. Wir traten ein, ſteckten eine Kerze in unſern Hand¬ leuchter, und machten Licht. Wir ſuchten das Gemach der Sennerinnen, und ließen uns dort nieder. In den Schlafſtellen war etwas Heu, ein grober Bretter¬ tiſch ſtand in der Mitte des Gemaches, eine Bank lief158 an der Wand hin, und eine bewegliche ſtand an dem Tiſche. Wir hatten vor, hier erſt unſer eigent¬ liches warmes Tagesmahl zu bereiten. Aber, worauf wir kaum gefaßt waren, es zeigte ſich nirgends auch nicht der geringſte Vorrath von Holz. Ich hatte für den Fall Weingeiſt bei mir, um einige Schnitten Braten in einer flachen Pfanne röſten zu können; aber wir zogen es vorzüglich wegen der Erwärmung des Körpers vor, ein Stück Bank zu verbrennen, und dem Eigenthümer Erſaz zu leiſten. Kaspar machte ſich mit der Axt an die Arbeit, und bald loderte ein luſtiges Feuer auf dem Heerde. Ein Abendeſſen wurde bereitet, wie wir es oft bei unſern Gebirgsarbeiten bereitet hatten, aus dem Heu der Schlafſtellen den Decken und den Pelzen wurden Betten zurecht gemacht, und nachdem ich noch meine Meßwerkzeuge, die im Freien vor der Hütte aufgehängt waren, betrachtet hatte, begaben wir uns zur Ruhe. Auch jezt am ſpäten Abende war bei ganz heiterem ſternenvollen Himmel eine viel mindere Kälte in dieſer Höhe, als ich ver¬ muthet hatte.
Ehe der Tag graute, ſtanden wir auf, machten Licht, kleideten uns vollſtändig an, richteten all unſere Dinge zurecht, bereiteten ein Frühmahl, verzehrten es,159 und traten unſern Weg an. Die Echernſpize ſtand faſt ſchwarz im Süden, wir konnten ſie deutlich in die blaſſe Luft über dem Hauſtein, der uns noch un¬ ſere Eisfelder deckte, empor ragen ſehen. Der Tag war wieder ganz heiter. Obgleich es noch nicht licht war, durften wir eine Verirrung nicht fürchten, denn wir mußten geraume Zeit zwiſchen Felſen empor gehen, die unſere Richtung von beiden Seiten begrenzten, und uns nicht abweichen ließen. Wir legten, weil der Schnee in dieſen Rinnen ſich angehäuft hatte, unſere Schneereifen an, und gingen in der ungewiſſen Dämmerung vorwärts. Nach etwas mehr als einer Stunde Wanderung kamen wir auf die Höhe hinaus wo die Gegend ſich wieder öffnet, und gegen Oſten weite Felder hinziehen. Dieſe biegen, nachdem ſie ſich ziemlich hoch erhoben, gegen Süden um einen Fels herum, und laſſen dann den Eisſtock erblicken, zu dem wir wollten. Dieſer drückt mit großer Macht von Süden gegen Norden herab, und hat zu ſeiner ſüd¬ lichen Begrenzung die Echernſpize. Auf den erklom¬ menen Feldern war es ſchon ganz licht; allein die Berge, welche wir am öſtlichen Rande derſelben unter uns und weit draußen erblicken ſollten, waren nicht zu ſehen, ſondern am Rande der mit Schnee bedeckten160 Felder ſezte ſich eine Farbe die nur ein klein wenig von der Schneefarbe verſchieden war, faſt ins Uner¬ meßliche fort, die des Nebels. Er hatte ſeit geſtern noch mehr überhand genommen, und begrenzte unſere Höhe als Inſel. Kaspar wollte erſchrecken. Ich aber machte ihn aufmerkſam, daß der Himmel über uns ganz heiter ſei, daß dieſer Nebel von jenem ſehr ver¬ ſchieden ſei, der bei dem Beginne des Regen - oder Schneewetters zuerſt die Spizen der Berge in Geſtalt von Wolken einhüllt, ſich dann immer tiefer oft bis zur Hälfte der Berge hinabzieht, und den Wanderern ſo fürchterlich iſt; unſer Nebel ſei kein Hochnebel ſon¬ dern ein Tiefnebel, der die Bergſpizen, auf denen das Verirren ſo ſchrecklich ſei, freilaſſe, und der beim Höherſteigen der Sonne verſchwinden werde. Im ſchlimmſten Falle, wenn er auch bliebe, ſei er nur eine wagrechte Schichte, die nicht höher ſtehe, als wo der ſchwarze Stein liegt. Von dort hinab aber iſt uns der Weg ſehr bekannt, wir müſſen unſere eigenen Fu߬ ſtapfen finden, und können an ihnen abwärts gehen. Kaspar, welcher mit dem Gebirgsleben ſehr vertraut war, ſah meine Gründe ein, und war beruhigt.
Während wir ſtanden und ſprachen, fing ſich an einer Stelle der Nebel im Oſten zu lichten an, die161 Schneefelder verfärbten ſich zu einer ſchöneren und anmuthigeren Farbe, als das Bleigrau war, mit dem ſie bisher bedeckt geweſen waren, und in der lichten Stelle des Nebels begann ein Punkt zu glühen, der immer größer wurde, und endlich in der Größe eines Tellers ſchweben blieb, zwar trübroth aber ſo innig glimmend wie der feurigſte Rubin. Die Sonne war es, die die niederen Berge überwunden hatte, und den Nebel durchbrannte. Immer röthlicher wurde der Schnee, immer deutlicher faſt grünlich ſeine Schatten, die hohen Felſen zu unſerer Rechten, die im Weſten ſtanden, ſpürten auch die ſich nähernde Leuchte, und rötheten ſich. Sonſt war nichts zu ſehen, als der un¬ geheure dunkle ganz heitere Himmel über uns, und in der einfachen großen Fläche, die die Natur hieher gelegt hatte, ſtanden nur die zwei Menſchen, die da winzig genug ſein mußten. Der Nebel fing endlich an ſeiner äußerſten Grenze zu leuchten an wie ge¬ ſchmolzenes Metall, der Himmel lichtete ſich, und die Sonne quoll wie blizendes Erz aus ihrer Umhül¬ lung empor. Die Lichter ſchoſſen plözlich über den Schnee zu unſern Füſſen, und fingen ſich an den Fel¬ ſen. Der freudige Tag war da.
Wir banden uns die Stricke um den Leib, undStifter, Nachſommer. III. 11162ließen ein ziemlich langes Stück von der Leibbinde des einen zu der des andern gehen, damit, wenn einer, da wir jezt über eine ſehr ſchiefe Fläche zu gehen hat¬ ten, gleiten ſollte, er durch den andern gehalten würde. Im Sommer war dieſe Fläche mit vielen kleinen und ſcharfen Steinen bedeckt, daher der Übergang über ſie viel leichter. Im Winter kannte man den Boden nicht, und der Schnee konnte ins Gleiten gerathen. Ohne Hilfe der Schneereife, die hier, weil ſie unbehilflich machten, nur gefährlich werden konnten, gelangten wir mit angewandter Vorſicht glücklich hinüber, lös¬ ten die Stricke, bogen nach einer darauf erfolgten mehrſtündigen Wanderung um die Felſen, und ſtan¬ den an dem Gletſcher und auf dem ewigen Schnee.
Auf dem Eiſe, da wir nach uns ſehr bekannten Richtungen auf demſelben vorſchritten, zeigte ſich bei¬ nahe mit Rückſicht auf den Sommer gar keine Ver¬ änderung. Da auch im Sommer faſt jeder Regen des Thales die Höhen entweder gar nicht trift, oder auf ihnen Schnee iſt, ſo war es jezt auf dem Gletſcher wie im Sommer, und wir ſchritten auf bekannten Ge¬ biethen vorwärts. Wo die Eismengen geborſten und zertrümmert waren, hatte ſie an ihren Oberflächen der163 Schnee bedeckt, mit den Seitenflächen ſahen ſie grün¬ lich oder blaulich ſchillernd aus dem allgemeinen Weiß hervor, weiter aufwärts, wo die Gletſcherwölbung rein dalag, war ſie mit Schnee bedeckt. Der einzige Unterſchied beſtand, daß jezt keine einzige breite oder lange Eisſtelle blosgelegt in ihrer grünlichen Farbe da ſtand, was doch zuweilen im Sommer geſchieht. Wir verweilten einige Zeit auf dem Eiſe, und nah¬ men auf demſelben auch unſer Mittagsmahl in Wein und Brod beſtehend ein. Unter uns hatte ſich aber indeſſen eine Veränderung vorbereitet. Der Nebel war nach und nach geſchwunden, ein Theil der fernen oder der näheren Berge war nach dem andern ſichtbar geworden, verſchwunden, wieder ſichtbar geworden, und endlich ſtand alles im Sonnenglanze ohne ein Flöckchen Nebel, der wie ausgetilgt war, in ſanfter Bläue oder wie in goldigem Schimmer oder wie im fernen matten Silberglanze in tiefem Schweigen und unbeweglich da. Die Sonne ſtrahlte einſam ohne einer geſelligen Wolke an dem Himmel. Die Kälte war auch hier nicht groß, geringer als ich ſie im Thale beobachtet hatte, und nicht viel größer, als ſie auch zu Sommerszeiten auf dieſen Höhen iſt.
Nachdem wir uns eine geraume Weile auf dem11 *164Eiſe aufgehalten hatten, traten wir den Rückweg an. Wir gelangten leicht an den gewöhnlichen Ausgang des Gletſchers, von wo aus man das Hinabgehen über die Berge einleitet. Wir fanden unſere Fußſtapfen, die in der ungetrübten Oberfläche des Schnees, da hierauf ſelten auch Thiere kommen, ſehr deutlich er¬ kennbar waren, und gingen nach ihnen fort. Wir kamen glücklich über die ſchiefe Fläche, und langten gegen Abend in der Ziegenalpe an. Es war hier ſchon zu dunkel, um noch etwas von der Umgebung ſehen zu können. Wir hielten in der Hütte wieder unſer warm zubereitetes Abendmahl, wärmten uns am Reſte der Bank, und erquickten uns durch Schlaf. Der nächſte Morgen war abermals klar, in den Thälern lag wieder der Nebel. Da auch die Nacht vollkommen windſtill geweſen war, ſo hatten wir uns jezt in Hin¬ ſicht unſers Rückweges über die Hochebene nicht zu ſorgen. Unſere Fußſtapfen ſtanden vollkommen unver¬ wiſcht da, und ihnen konnten wir uns anvertrauen. Selbſt da, wo wir rathend geſtanden waren, und etwa den Alpenſtock ſeitwärts unſeres Standortes in den Schnee geſtoßen hatten, war die Spur noch völlig ſichtbar. Wir kamen früher, als wir gedacht hatten, an dem ſchwarzen Steine an. Dort hielten wir wieder165 unſer Mittagmahl, und gingen dann unter dem ſich immer mehr und mehr lichtenden Nebel, der uns aber hier kein weſentliches Hinderniß mehr machte, die ſteile Senkung der Berge hinunter. Der an ihrem Fuße beobachtete Wärmemeſſer zeigte wirklich eine größere Kälte, als wir auf den Bergen gehabt hatten.
Am Nachmittage waren wir wieder in dem See¬ wirthshauſe.
Am andern Tage gingen wir in das Ahornhaus im Lauterthale. Alles umringte uns, und wollte un¬ ſere Erlebniſſe wiſſen. Sie wunderten ſich, daß die Unternehmung ſo einfach geweſen ſei, beſonders aber, daß die Kälte, die ſchon im Sommer gegen die Wärme der Thäler ſo abſtehe, im Winter nicht ganz fürchter¬ lich ſoll geweſen ſein. Kaspar war ein wichtiger Mann geworden.
Ich aber war von dem, was ich oben geſehen und gefunden hatte, vollkommen erfüllt. Die tiefe Em¬ pfindung, welche jezt immer in meinem Herzen war, und welche mich angetrieben hatte, im Winter die Höhen der Berge zu ſuchen, hatte mich nicht getäuſcht. Ein erhabenes Gefühl war in meine Seele gekommen, faſt ſo erhaben wie meine Liebe zu Natalien. Ja dieſe Liebe wurde durch das Gefühl noch gehoben und ver¬166 edelt, und mit Andacht gegen Gott den Herrn, der ſo viel Schönes geſchaffen und uns ſo glücklich gemacht hat, entſchlief ich, als ich wieder zum erſten Male in meinem Bette in der wohnlichen Stube des Ahorn¬ hauſes ruhte.
Es hat mich nicht gereut, daß ich noch die Weihe dieſer Unternehmung aus mich genommen hatte, ehe ich zu meinem Gaſtfreunde ging, um ihm meinen Winterbeſuch zu machen.
Ich hielt mich nur noch ſo lange in dem Lauter¬ thale auf, um noch die bedeutendſten Stellen desſel¬ ben im Winterſchmucke zu ſehen, und um die Einlei¬ tung zu treffen, daß dem Eigenthümer der Ziegenalpe die Bank, die wir verbrannt hatten, erſezt würde. Dann fuhr ich in einem Schlitten in der Richtung nach dem Asperhofe hinaus. Kaspar hatte recht herz¬ lich von mir Abſchied genommen, er war mir durch dieſe Unternehmung noch mehr befreundet geworden, als er es früher geweſen war.
Die größere Wärme in den oberen Theilen der Luft, welche nur ein Vorbote des beginnenden Süd¬ windes geweſen war, hatte ſich nun völlig geltend gemacht, der Südwind war in den Höhen eingetreten, obwohl es in der Tiefe noch kalt war, Wolken hatten167 die Berge umhüllt, zogen über die Länder hinaus, und ſchüttelten Regen herab, der in Geſtalt von Eis¬ körnern unten ankam, und mir um das Haupt und die Wangen praſſelte, als ich in dem Asperhofe eintraf.
Die Pferde und der Schlitten wurden in den Meierhof gebracht, ich ging zu meinem Gaſtfreunde. Er ſaß in ſeinem Arbeitszimmer, und ordnete Perga¬ mentblätter, von denen er einen großen Stoß vor ſich hatte. Ich begrüßte ihn, und er empfing mich wie immer gleich freundlich.
Ich ſagte ihm, daß ich ſeit meiner lezten Anweſen¬ heit im Asperhofe faſt immer gereiſt ſei. Erſt hätte ich noch das Kargrat beſucht, weil ich dort zu ordnen gehabt hätte, dann ſei ich zu meinen Eltern gegangen, hierauf habe ich mit meinem Vater einen Beſuch in ſeiner Heimath gemacht, dann ſei ich mit meiner Schweſter auf eine Zeit, um ihr ein Vergnügen zu bereiten, in das Hochgebirge gefahren, als hierauf der Winter gekommen ſei, habe ich die Echerngletſcher beſucht, und nun ſei ich hier.
„ Ihr ſeid wie immer herzlich willkommen, “ſagte er, „ bleibt bei uns, ſo lange es euch gefällt, und ſeht unſer Haus wie das eurer Eltern an. “
168„ Ich danke euch, ich danke euch ſehr, “erwie¬ derte ich.
Er zog an der Klingel zu ſeinen Füſſen, und die alte Katharina kam herauf. Er befahl ihr, meine Zim¬ mer zu heizen, daß ich ſie ſehr bald benüzen könne.
„ Es iſt ſchon geſchehen, “antwortete ſie. „ Als wir den jungen Herrn hereinfahren ſahen, ließ ich durch Ludmilla gleich heizen, es brennt ſchon; aber ein wenig gelüftet muß noch werden, neue Überzüge müſſen kom¬ men, der Staub muß abgewiſcht werden, ihr müßt euch ſchon ein wenig gedulden. “
„ Es iſt gut und recht, “ſagte mein Gaſtfreund, „ ſorge nur, daß alles wohnlich ſei. “
„ Es wird ſchon werden, “antwortete Katharina, und verließ das Zimmer.
„ Ihr könnt, wenn ihr wollt, “ſagte er dann zu mir, „ indeſſen, bis eure Wohnung in Ordnung iſt, mit mir zu Euſtach hinüber gehen, und ſehen, was eben gearbeitet wird. Wir können hiebei auch bei Guſtav anklopfen, und ihm ſagen, daß ihr gekom¬ men ſeid. “
Ich nahm den Vorſchlag an. Er zog eine Art Überrock über ſeine Kleider, die beinahe wie im Som¬ mer waren, an, und wir gingen aus dem Zimmer. 169Wir begaben uns zuerſt zu Guſtav, und ich begrüßte ihn. Er flog an mein Herz, und ſein Ziehvater ſagte ihm, er dürfe uns in das Schreinerhaus begleiten. Er nahm gar kein Überkleid, ſondern verwechſelte nur ſeinen Zimmerrock mit einem etwas wärmeren, und war bereit, uns zu folgen. Wir gingen über die ge¬ meinſchaftliche Treppe hinab, und als wir unten an¬ gekommen waren, ſah ich, daß mein Gaſtfreund auch heute an dem unfreundlichen Wintertage barhäuptig ging. Guſtav hatte eine ganz leichte Kappe auf dem Haupte. Wir gingen über den Sandplaz dem Ge¬ büſche zu. Die Eiskörner, welche eine bereifte weiße und rauhe Geſtalt hatten, miſchten ſich mit den weißen Haaren meines Freundes, und ſprangen auf ſeinem zwar nicht leichten aber doch nicht für eine ſtrenge Winterkälte eingerichteten Überrocke. Die Bäume des Gartens die uns nahe ſtanden, ſeufzten in dem Winde, der von den Höhen immer mehr gegen die Niederungen herab kam, und an Heftigkeit mit jeder Stunde wuchs. So gelangten wir gegen das Schrei¬ nerhaus. Wie bei meiner erſten Annäherung ſtieg auch heute ein leichter Rauch aus demſelben empor, aber er ging nicht wie damals in einer geraden lufti¬ gen Säule in die Höhe, ſondern wie er die Mauern170 des Schornſteins verließ, wurde er von dem Winde genommen, in Flatterzeug verwandelt, und nach ver¬ ſchiedenen Richtungen geriſſen. Auch waren nicht die grünen Wipfel da, an denen er damals empor geſtie¬ gen war, ſondern die nakten Äſte mit den feinen Ru¬ then der Zweige ſtanden empor, und neigten ſich im Winde über das Haus herüber. Auf dem Dache des¬ ſelben lag der Schnee. Von Tönen konnten wir bei dieſer Annäherung aus dem Innern nichts hören, weil außen das Sauſen des Windes um uns war.
Da wir eingetreten waren, kam uns Euſtach ent¬ gegen, und er grüßte mich noch freundlicher und herz¬ licher, als er es ſonſt immer gethan hatte. Ich be¬ merkte, daß um zwei Arbeiter mehr als gewöhnlich in dem Hauſe beſchäftigt waren. Es mußte alſo viele oder dringende Arbeit geben. Die Wärme gegen den Wind draußen empfing uns angenehm und wohnlich im Hauſe. Euſtach geleitete uns durch die Werkſtube in ſein Gemach. Ich ſagte ihm, daß ich gekommen ſei, um auch einen kleinen Theil des Winters in dem Asperhofe zu bleiben, den ich in demſelben nie geſehen, und den ich mir meiſtens in der Stadt verlebt habe, wo ſeine Weſenheit durch die vielen Häuſer und durch die vielen Anſtalten gegen ihn gebrochen werde.
171„ Bei uns könnt ihr ihn in ſeiner völligen Geſtalt ſehen, “ſagte Euſtach, „ und er iſt immer ſchön, ſelbſt dann noch, wenn er ſeine Art ſo weit verläugnet, daß er mit warmen Winden blaugeballten Wolken und Regengüſſen über die ſchneeloſe Gegend daher fährt. So weit vergißt er ſich bei uns nie, daß er in ein Afterbild des Sommers wie zuweilen in ſüdlichen Ländern verfällt, und warme Sommertage und aller¬ lei Grün zum Vorſchein bringt. Dann wäre er frei¬ lich nicht auszuhalten. “
Ich erzählte ihm von meinem Beſuche auf dem Echerngletſcher, und ſagte, daß ich doch auch ſchon manchen ſchönen und ſtürmiſchen Wintertag im Freien und ferne von der großen Stadt zugebracht habe.
Hierauf zeigte er mir Zeichnungen, welche zu den früheren neu hinzu gekommen waren, und zeigte mir Grund - und Aufriſſe und andere Pläne zu den Wer¬ ken, an denen eben gearbeitet werde. Unter den Zeich¬ nungen befanden ſich ſchon einige, die nach Gegen¬ ſtänden in der Kirche von Klam genommen worden waren, und unter den Plänen befanden ſich viele, die zu den Ausbeſſerungen gehörten, die mein Gaſt¬ freund in der Kirche vornehmen ließ, welche ich mit ihm beſucht hatte.
172Nach einer Weile gingen wir auch in die Arbeits¬ ſtube, und beſahen die Dinge, die da gemacht wur¬ den. Meiſtens betrafen ſie Gegenſtände, welche für die Kirche, für die eben gearbeitet wurde, gehörten. Dann ſah ich ein Zimmerungswerk aus feinen Eichen - und Lärchenbohlen, welches wie der Hintergrund zu Schnizwerken von Vertäflungen ausſah, auch erblickte ich Simſe wie zu Vertäflungen gehörend. Von Ge¬ räthen war ein Schrein in Arbeit, der aus den ver¬ ſchiedenſten Hölzern ja mitunter aus ſeltſamen, die man ſonſt gar nicht zu Schreinerarbeiten nimmt, be¬ ſtehen ſollte. Er ſchien mir ſehr groß werden zu wol¬ len; aber ſeinen Zweck und ſeine Geſtalt konnte ich aus den Anfängen, die zu erblicken waren, nicht er¬ rathen. Ich fragte auch nicht darnach, und man be¬ richtete mir nichts darüber.
Als wir uns eine Zeit in dem Schreinerhauſe aufgehalten und auch über andere Gegenſtände ge¬ ſprochen hatten, als ſich in demſelben befanden oder mit demſelben in Beziehung ſtanden, entfernten wir uns wieder, und mein Freund und Guſtav geleiteten mich in das Wohnhaus zurück und dort in meine Zimmer. In ihnen war es bereits warm, ein lebhaf¬ tes Feuer mußte den Tönen nach, die zu hören waren,173 in dem Ofen brennen, alles war gefegt und gereinigt, weiße Fenſtervorhänge und weiße Überzüge glänzten an dem Bette und an jenen Geräthen für die ſie ge¬ hörten, und alle meine Reiſeſachen, welche ich in dem Schlitten geführt hatte, waren bereits in meiner Wohnung vorhanden. Mein Gaſtfreund ſagte, ich möge mich hier nun zurecht finden, und einrichten, und er verließ mich dann mit Guſtav.
Ich packte nun die Gegenſtände, welche ich in meinen Reiſebehältniſſen hatte, aus, und vertheilte ſie ſo, daß die beiden Gemächer, welche mir zur Ver¬ fügung ſtanden, recht winterlich behaglich, wozu die Wärme, die in den Zimmern herrſchte, einlud, aus¬ geſtattet waren. Ich wollte es ſo thun, ich mochte mich nun lange oder kurz in dieſen Räumen aufzu¬ halten haben, was von den Umſtänden abhing, die nicht in meiner Berechnung lagen. Beſonders richtete ich mir meine Bücher meine Schreibdinge und auch Vorbereitungen zu gelegentlichem Zeichnen ſo her, daß alles dies meinen Wünſchen, ſo weit ich das jezt ein¬ ſah, auf das Beſte entſprach. Nachdem ich mit allem fertig war, kleidete ich mich auch um, damit die Reiſe¬ kleider mit bequemeren und häuslicheren vertauſcht wären.
174Hierauf machte ich einen Spaziergang. Ich ging in dem Garten meinen gewöhnlichen Weg zu dem großen Kirſchbaume hinauf. Aus dem in dem Schnee wohl ausgetretenen Pfade ſah ich, daß hier häufig gegangen werde, und daß der Garten im Winter nicht verwaiſt iſt, wie es bei ſo vielen Gärten ge¬ ſchieht, und wie es aber auch bei meinen Eltern nicht geduldet wird, denen der Garten auch im Winter ein Freund iſt. Selbſt die Nebenpfade waren gut ausge¬ treten, und an manchen Stellen ſah ich, daß man nach dauerndem Schneefalle auch die Schaufel ange¬ wendet habe. Die zarteren Bäumchen und Gewächſe waren mit Stroh verwahrt, alles, was hinter Glas ſtehen ſollte, war wohl geſchloſſen und durch Ver¬ dämmungen geſchüzt, und alle Beete und alle Räume, die in ihrer Schneehülle dalagen, waren durch die um ſie geführten Wege gleichſam eingerahmt und geord¬ net. Die Zweige der Bäume waren von ihrem Reife befreit, der Schnee, der in kleinen Kügelchen daher jagte, konnte auf ihnen nicht haften, und ſie ſtanden deſto dunkler und beinahe ſchwarz von dem umgeben¬ den Schnee ab. Sie beugten ſich im Winde, und ſauſten dort, wo ſie in mächtigen Abtheilungen einem großen Baume angehörten, und in ihrer Dichtheit175 gleichſam eine Menge darſtellten. In den entlaubten Äſten konnte ich deſto deutlicher und häufiger die Neſtbehälter ſehen, welche auf den Bäumen ange¬ bracht waren. Von den gefiederten Bewohnern des Gartens war aber nichts zu ſehen und zu hören. Waren wenige oder keine da, konnte man ſie in dem Sturme nicht bemerken, oder haben ſie ſich in Schlupf¬ winkel namentlich in ihre Häuschen zurückgezogen? In den Zweigen des großen Kirſchbaumes herrſchte der Wind ganz beſonders. Ich ſtellte mich unter den Baum neben die an ſeinem Stamme befindliche Bank, und ſah gegen Süden. Das dunkle Baumgitter lag unter mir, wie ſchwarze regelloſe Gewebe auf den Schnee gezeichnet, weiter war das Haus mit ſeinem weißen Dache, und weiter war nichts; denn die fer¬ nere Gegend war kaum zu erblicken. Bleiche Stellen oder dunklere Ballen ſchimmerten durch, je nachdem das Auge ſich auf Schneeflächen oder Wälder richtete, aber nichts war deutlich zu erkennen, und in langen Streifen gleichſam in nebligen Fäden, aus denen ein Gewebe zu verfertigen iſt, hing der fallende Schnee von dem Himmel herunter. Von dem Kirſchbaume konnte ich nicht in das Freie hinausgehen; denn das Pförtchen war geſchloſſen. Ich wendete mich daher176 um, und ging auf einem anderen Wege wieder in das Haus zurück.
An demſelben Tage erfuhr ich auch, daß Roland anweſend ſei. Mein Gaſtfreund holte mich ab, mich zu ihm zu begleiten. Man hatte ihm in dem Wohn¬ hauſe ein großes Zimmer zurecht gerichtet. In dem¬ ſelben malte er eben eine Landſchaft in Öhlfarben. Als wir eintraten, ſahen wir ihn vor ſeiner Staffelei ſtehen, die zwar nicht mitten in dem Zimmer, doch weiter von dem Fenſter entfernt war, als dies ſonſt gewöhnlich der Fall zu ſein pflegt. Das zweite der Fenſter war mit einem Vorhange bedeckt. Er hatte ein leinenes Überkleid an ſeinem Oberkörper an, und hielt gerade das Malerbrett und den Stab in der Hand. Er legte beides auf den naheſtehenden Tiſch, da er uns kommen ſah, und ging uns entgegen. Mein Gaſtfreund ſagte, daß er mich zu dem Beſuche bei ihm aufgefordert habe, und daß Roland wohl nichts da¬ gegen haben werde.
„ Der Beſuch iſt mir ſehr erfreulich, “ſagte er, „ aber gegen mein Bild wird wohl viel einzuwen¬ den ſein. “
„ Wer weiß das? “ſagte mein Gaſtfreund.
„ Ich wende viel ein, “antwortete Roland, „ und177 andere, die ſich des Gegenſtandes bemächtigen, wer¬ den auch wohl viel einzuwenden haben. “
Wir waren während dieſer Worte vor das Bild getreten.
Ich hatte nie etwas Ähnliches geſehen. Nicht, daß ich gemeint hätte, daß das Bild ſo vortrefflich ſei, das konnte man noch nicht beurtheilen, da ſich Vieles in den erſten Anfängen befand, auch glaubte ich zu bemerken, daß manches wohl kaum würde bemeiſtert werden können. Aber in der Anlage und in dem Ge¬ danken erſchien mir das Bild merkwürdig. Es war ſehr groß, es war größer als man gewöhnlich land¬ ſchaftliche Gegenſtände behandelt ſieht, und wenn es nicht gerollt wird, ſo kann es aus dem Zimmer, in welchem es entſteht, gar nicht gebracht werden. Auf dieſem wüſten Raume waren nicht Berge oder Waſſer¬ fluthen oder Ebenen oder Wälder oder die glatte See mit ſchönen Schiffen dargeſtellt, ſondern es waren ſtarre Felſen da, die nicht als geordnete Gebilde empor ſtanden, ſondern wie zufällig als Blöcke und ſelbſt hie und da ſchief in der Erde ſtaken, gleichſam als Fremdlinge, die wie jene Normannen auf dem Boden der Inſel, die ihnen nicht gehörte, ſich ſeßhaft gemacht hatten. Aber der Boden war nicht wie derStifter, Nachſommer. III. 12178jener Inſel, oder vielmehr, er war ſo, wo er nicht von den im Alterthume berühmten Kornfeldern be¬ kleidet oder von den dunkeln fruchtbringenden Bäu¬ men bedeckt iſt, ſondern wo er zerriſſen und vielge¬ ſtaltig ohne Baum und Strauch mit den dürren Grä¬ ſern den weiß leuchtenden Furchen, in denen ein aus unzähligen Steinen beſtehender Quarz angehäuft iſt, und mit dem Gerölle und mit dem Trümmerwerke, das überall ausgeſät iſt, der dörrenden Sonne ent¬ gegenſchaut. So war Rolands Boden, ſo bedeckte er die ungeheure Fläche, und ſo war er in ſehr großen und einfachen Abtheilungen gehalten, und über ihm waren Wolken, welche einzeln und vielzählig ſchim¬ mernd und Schatten werfend in einem Himmel ſtan¬ den, welcher tief und heiß und ſüdlich war.
Wir ſtanden eine Weile vor dem Bilde und be¬ trachteten es. Roland ſtand hinter uns, und da ich mich einmal wendete, ſah ich, daß er die Leinwand mit glänzenden Augen betrachte. Wir ſprachen wenig oder beinahe nichts.
„ Er hat ſich die Aufgabe eines Gegenſtandes ge¬ ſtellt, den er noch nicht geſehen hat, “ſagte mein Gaſtfreund, „ er hält ſich ihn nur in ſeiner Ein¬ bildungskraft vor Augen. Wir werden ſehen, wie179 weit er gelingt. Ich habe wohl ſolche Dinge oder vielmehr ihnen Ähnliches weit unten im Süden ge¬ ſehen. “
„ Ich bin nicht auf irgend etwas beſonderes aus¬ gegangen, “antwortete Roland, „ ſondern habe nur ſo Geſtaltungen, wie ſie ſich in dem Gemüthe finden, entfaltet. Ich will auch Verſuche in Öhlfarben machen, welche mich immer mehr gereizt haben als meine Waſſerfarben, und in denen ſich Gewaltiges und Feuriges darſtellen laſſen muß. “
Ich bemerkte, als ich ſeine Geräthe näher betrach¬ tete, daß er Pinſel mit ungewöhnlich langen Stielen habe, daß er alſo ſehr aus der Ferne arbeiten müſſe, was bei einer ſo großen Leinwandfläche wohl auch nicht anders ſein kann, und was ich auch aus der Behandlung erſah. Seine Pinſel waren ziemlich groß, und ich ſah auch lange feine Stäbe, an deren Spizen Zeichnungskohlen angebunden waren, mit welchen er entworfen haben mußte. Die Farben waren in ſtarken Mengen auf der Pallette vorhanden.
„ Der Herr dieſes Hauſes iſt ſo gütig, “ſagte Ro¬ land, „ und läßt mich hier wirthſchaften, während ich verbunden wäre, Zeichnungen zu machen, welche wir eben brauchen, und während ich an Entwürfen arbei¬12 *180ten ſollte, die zu den Dingen nothwendig ſind, die eben ausgeführt werden. “
„ Das wird ſich alles finden, “antwortete mein Gaſtfreund, „ ihr habt mir ſchon Entwürfe gemacht, die mir gefallen. Arbeitet und wählt nach eurem Gut¬ dünken, euer Geiſt wird euch ſchon leiten. “
Um Roland, der hier vor ſeinem Werke ſtand, und deſſen ganze Umgebung, wie ſie in dem Zimmer ausgebreitet war, auf Ausführung dieſes Werkes hin¬ zielte, nicht länger zu ſtören, da die Wintertage ohne¬ hin ſo kurz waren, entfernten wir uns.
Da wir den Gang entlang gingen, ſagte mein Gaſtfreund: „ Er ſollte reiſen. “
Als es dunkel geworden war, verſammelten wir uns in dem Arbeitszimmer meines Gaſtfreundes bei dem wohlgeheizten Ofen. Es war Euſtach Roland Guſtav und ich zugegen. Es wurde von den verſchie¬ denſten Dingen geſprochen, am meiſten aber von der Kunſt, und von den Gegenſtänden, welche eben in der Ausführung begriffen waren. Es mochte wohl vieles vorkommen, was Guſtav nicht verſtand, er ſprach auch ſehr wenig mit; aber es mochte doch das Geſpräch ihn manigfaltig fördern, und ſelbſt das Unverſtandene mochte Ahnungen erregen, die weiter181 führen, oder die aufbewahrt werden, und in Zukunft geeignet ſind, feſte Geſtaltungen, die ſich fügen wol¬ len, einleiten zu helfen. Ich wußte das ſehr wohl aus meiner eigenen Jugend und ſelbſt auch aus der jezigen Zeit.
Da ich in mein Schlafgemach zurückgekehrt war, fühlte ich es recht angenehm, daß die Scheite aus dem Buchenwalde meines Gaſtfreundes, der ein Theil des Alizwaldes war, in dem Ofen brennen. Ich beſchäf¬ tigte mich noch eine Zeit mit Leſen und theilweiſe auch mit Schreiben.
Am anderen Morgen war Regen. Er fiel in Strö¬ men aus blaulich gefärbten gleichartigen über den Himmel dahin jagenden Wolken herab. Der Wind hatte zu ſolcher Heftigkeit zugenommen, daß er um das ganze Haus heulte. Da er aus Südweſten kam, ſchlug der Regen an meine Fenſter, und rann an dem Glaſe in wäſſerigen Flächen nieder. Aber da das Haus ſehr gut gebaut war, ſo hatte Regen und Wind keine anderen Folgen, als daß man ſich recht geborgen in dem ſchüzenden Zimmer fand. Auch iſt es nicht zu leugnen, daß der Sturm, wenn er eine gewiſſe Größe erreicht, etwas Erhabenes hat, und das Gemüth zu ſtärken im Stande iſt. Ich hatte die erſten Morgen¬182 ſtunden bei Licht in Wärme damit hingebracht, dem Vater und der Mutter einen Brief zu ſchreiben, worin ich ihnen anzeigte, daß ich auf dem Echerneiſe geweſen ſei, daß ich alle Vorſicht beim Hinaufſteigen und Herun¬ tergehen angewendet habe, daß uns nicht der geringſte Unfall zugeſtoßen ſei, und daß ich mich ſeit geſtern bei meinem Freunde im Roſenhauſe befinde. An Klotilden legte ich ein beſonderes Blatt bei, worin ich auf ihre theilweiſe Kenntniß des Gebirges, die ſie ſich auf der mit mir gemachten Reiſe erworben hatte, bauend eine kleine Beſchreibung des winterlichen Hochgebirgbe¬ ſuches gab. Als es dann heller geworden, und die Stunde zum Frühmahle gekommen war, ging ich in das Speiſezimmer hinunter. Ich erfuhr nun hier, daß es im Winter der Gebrauch ſei, daß Euſtach und Roland, deren geſtrige Anweſenheit bei dem Abend¬ eſſen ich für zufällig gehalten hatte, mit meinem Gaſt¬ freunde und Guſtav an einem Tiſche ſpeiſen. Es ſollte auch im Sommer ſo ſein; allein da oft in dieſer Jah¬ reszeit in dem Schreinerhauſe lange vor Sonnenauf¬ gang aufgeſtanden, und zu einer Arbeit geſchritten wird, ſo verändern ſich die Stunden, an denen eine Erquickung des Körpers nothwendig wird, und Eu¬ ſtach hat ſelber gebethen, daß ihm dann die Zeit und183 Art ſeines Eſſens zu eigener Wahl überlaſſen werde. Roland iſt ohnehin zu jener Jahreszeit meiſtens von dem Hauſe abweſend. Ich war nie ſo ſpät im Winter in dem Roſenhauſe geweſen, daß ich dieſe Einrichtung hätte kennen lernen können. Mein Gaſtfreund Euſtach Roland Guſtav und ich ſaſſen alſo bei dem Frühmahl¬ tiſche. Das Geſpräch drehte ſich hauptſächlich um das Wetter, welches ſo ſtürmiſch herein gebrochen war, und es wurde erläutert, wie es hatte kommen müſſen, wie es ſich erklären laſſe, wie es ganz natürlich ſei, wie jedes Hausweſen ſich auf ſolche Wintertage in der Verfaſſung halten müſſe, und wie, wenn das der Fall ſei, man dann derlei Ereigniſſe mit Geduld er¬ tragen, ja darin eine nicht unangenehme Abwechslung finden könne. Nach dem Frühmahle begab ſich jedes an ſeine Arbeit. Mein Gaſtfreund ging in ſein Zim¬ mer, um dort im Ordnen der Pergamente, das er angefangen hatte, fortzufahren, Euſtach ging in die Schreinerei, Roland, für den die Zeit troz des trüben Tages doch endlich auch hell genug zum Malen ge¬ worden war, begab ſich zu ſeinem Bilde, Guſtav ſezte ſein Lernen fort, und ich ging wieder in meine Zimmer.
Da ich dort eine Zeit mit Leſen und Schreiben184 zugebracht hatte, und da der Sturm ſtatt ſich zu mil¬ dern in den Vormittagſtunden nur noch heftiger ge¬ worden war, beſchloß ich doch, wie es meine Gewohn¬ heit war, auf eine Zeit in das Freie zu gehen. Ich wählte eine zweckmäſſige Fußbekleidung, nahm mei¬ nen Wachsmantel, der eine Wachshaube hatte, die man über den Kopf ziehen konnte, und ging über die gemeinſchaftliche Treppe hinab. Ich ſchlug den Weg durch das Gitterthor auf den Sandplaz vor dem Hauſe ein. Dort konnte der Südweſtwind recht an meine Perſon fallen, und er trieb mir die Tropfen, welche für einen Winterregen bedeutend groß waren, mit Praſſeln auf meinen Überwurf in das Angeſicht in die Augen und auf die Hände. Ich blieb auf dem Plaze ein wenig ſtehen, und betrachtete die Roſen, welche an der Wand des Hauſes gezogen wurden. Manche Stämmchen waren durch Stroh geſchüzt, bei manchen war ſtellenweiſe die Erde über den Wurzeln mit einer ſchüzenden Decke bekleidet, andere waren blos feſt gebunden, bei allen aber ſah ich, daß man außerordentliche Schuzmittel nicht angewendet habe, und daß alle nur gegen Verlezungen von äußerlicher Gewalt geſichert waren. Der Schnee konnte ſie über¬ hüllen, wie ich noch die Spuren ſah, der Regen konnte185 ſie begießen, wie ich heute erfuhr, aber nirgends konnte der Wind ein Stämmchen oder einen Zweig loſtren¬ nen, und mit ihm ſpielen, oder ihn zerren. Die ganze Wand des Hauſes war auch im Übrigen unverſehrt, und der Regen, der gegen dieſelbe anſchlug, konnte ihr nichts anhaben. Ich ging von dem Sandplaze über den Hügel hinunter. Der Schnee hatte ſchon die Gewalt des Regens verſpürt, welcher ziemlich warm war. Die weiche ſanfte und flaumige Geſtalt war verloren gegangen, etwas Glattes und Eiſiges hatte ſich eingeſtellt, und hie und da ſtanden gezackte Eis¬ trümmer gleichſam wie zerfreſſen da. Das Waſſer rann in Schneefurchen, die es gewühlt hatte, nieder, und an offenen Stellen, wo es durch die löcherichte Beſchaffenheit des Schnees nicht verſchluckt wurde, rieſelte es über die Gräſer hinab. Ich ging ohne auf einen Weg zu achten, durch den wäſſerigen Schnee fort. In der Tiefe des Thales lenkte ich gegen Oſten. Ich ging eine Strecke fort, ging dort über die Wieſen, und ließ das Schauſpiel auf mich wirken. Es war faſt herrlich wie der Wind, welcher den Schnee nicht mehr heben konnte, den Regen auf ihn nieder jagte, wie ſchon Stellen blos lagen, wie die grauen Schleier gleichſam bänderweiſe nieder rollten, und wie die trüben186 Wolken über dem bleichen Gefilde unbekümmert um Menſchenthun und Menſchenwerke dahin zogen.
Ich richtete endlich in der Tiefe der Wieſen mei¬ nen Weg nordwärts gegen den Meierhof hinauf. Als ich dort angelangt war, erfuhr ich, daß der Herr, wie man hier meinen Gaſtfreund kurzweg nannte, heute auch ſchon da geweſen aber bereits wieder fortgegan¬ gen ſei. Er hatte Mehreres beſichtigt, und Mehreres angeordnet. Ich fragte, ob er heute auch barhäuptig geweſen ſei, und es wurde bejaht. Da ich den Meier¬ hof beſehen hatte, und in verſchiedenen Räumen des¬ ſelben herum gegangen war, ſah ich erſt recht, was ein wohleingerichtetes Haus ſei. Der Regen fiel auf dasſelbe nieder wie auf einen Stein, in den er nicht eindringen, und von dem er äußerlich nur in Jahr¬ hunderten etwas herab waſchen könne. Keine Rize zeigte ſich für das Einlaſſen des Waſſers bereit, und kein Theilchen der Bekleidung ſchickte ſich zur Los¬ löſung an. Im Innern wurden die Arbeiten gethan wie an jedem Tage. Die Knechte reinigten Getreide mit der ſogenannten Getreidepuzmühle, ſchaufelten es ſeitwärts, und maſſen es in Säcke, damit es auf den Schüttboden gebracht werde. Der Meier war dabei beſchäftigt, ordnete an, und prüfte die Reinheit. Ein187 Theil der Mägde war in den Ställen beſchäftigt, ein Theil richtete auf der Futtertenne das Futter zurecht, ein Theil ſpann, und die Frau des Meiers ordnete in der Milchkammer. Ich ſprach mit allen, und ſie zeigten Freude, daß ich ſogar in dieſer Jahreszeit ein¬ mal gekommen ſei.
Von dem Meierhofe ging ich über den mit Obſt¬ bäumen bepflanzten Raum gegen den Garten hinüber. Das Pförtchen an dieſer Seite war unter Tags ſelbſt im Winter nicht geſperrt. Ich ging durch dasſelbe ein, und begab mich in die Wohnung des Gärtners. Dort legte ich meinen Wachsmantel, durch deſſen Fal¬ ten das Waſſer rann, ab, und ſezte mich auf die reine weiße Bank vor dem Ofen. Der alte Mann und ſeine Frau empfingen mich recht freundlich. In ihrem gan¬ zen Weſen war etwas ſehr Aufrichtiges. Seit gerau¬ mer Zeit war bei dieſen alten Leuten beinahe etwas Elternhaftes gegen mich geweſen. Die Gärtnersfrau Clara ſah mich immer wieder gleichſam verſtohlen von der Seite an. Wahrſcheinlich dachte ſie an Natalien. Der alte Simon fragte mich, ob ich denn nicht in die Gewächshäuſer gehen, und die Pflanzen auch im Winter beſehen wolle.
Das ſei außer dem Beſuche, den ich ihm und ſeiner188 Gattin machen wollte, meine Nebenabſicht geweſen, erwiederte ich.
Er nahm einen anderen Rock um, und geleitete mich in die Gewächshäuſer, welche an ſeine Woh¬ nung ſtießen. Ich nahm wirklich großen Antheil an den Pflanzen ſelber, da ich mich ja in früherer Zeit viel mit Pflanzen beſchäftigt hatte, und nahm Antheil an dem Zuſtande derſelben. Wir gingen in alle Räu¬ me des nicht unbeträchtlich großen Kalthauſes, und begaben uns dann in das Warmhaus. Nicht blos, daß ich die Pflanzen nach meiner Abſicht betrachtete, nahm ich mir auch die Zeit, freundlich anzuhören, was mein Begleiter über die einzelnen ſagte, und hörte zu, wie er ſich über Lieblinge ziemlich weit ver¬ breitete. Dieſe Hingabe an ſeine Rede und die Theil¬ nahme an ſeinen Pfleglingen, die ich ihm ſtets bewie¬ ſen hatte, mochten nebſt dem Antheile, den er mir an der Erwerbung des Cereus peruvianus zuſchrieb, Ur¬ ſache ſein, daß er eine gewiſſe Anhänglichkeit gegen mich hegte. Als wir an dem Ausgange der Gewächs¬ häuſer waren, welcher ſeiner Wohnung entgegenge¬ ſezt lag, fragte er mich, ob ich auch in das Cactus¬ haus gehen wolle, er werde zu dieſem Behufe, da wir einen freien Raum zu überſchreiten hätten, meinen189 Wachsmantel holen. Ich ſagte ihm aber, daß dies nicht nöthig ſei, da er ja auch ohne Schuz herüber gehe, daß mein Gaſtfreund heute ſchon barhäuptig in dem Meierhofe geweſen ſei, und daß es mir nicht ſchaden werde, wenn ich auch einmal eine kurze Strecke im Regen ohne Kopfbedeckung gehe.
„ Ja der Herr, der iſt alles gewohnt, “antwor¬ tete er.
„ Ich bin zwar nicht alles aber vieles gewohnt, “erwiederte ich, „ und wir gehen ſchon ſo hinüber. “
Er ließ ſich von ſeinem Vorhaben endlich abbrin¬ gen, und wir gingen in das Cactushaus. Er zeigte mir alle Gewächſe dieſer Art beſonders den peruvia¬ nus, welcher wirklich eine prachtvolle Pflanze gewor¬ den war, er verbreitete ſich über die Behandlung dieſer Gewächſe während des Winters, ſagte, daß mancher ſchon im Hornung blüht, daß nicht alle eine gewiſſe Kälte vertragen ſondern in der wärmeren Abtheilung des Hauſes ſtehen müſſen, beſonders verlangen dieſes viele Cereusarten, und er ging dann auf die Einrich¬ tung des Hauſes ſelber über, und hob es als eine Vorzüglichkeit heraus, daß der Herr für jene Stellen, an denen die Gläſer über einander liegen, ein ſo treff¬ liches Bindemittel gefunden habe, durch welches das190 Hereinziehen des Waſſers an den übereinandergeleg¬ ten Stellen des Glaſes unmöglich ſei, und das die¬ ſen Pflanzen ſo nachtheilige Herabfallen von Waſſer¬ tropfen vermieden werde. Dadurch kann es auch allein geſchehen, daß an Regentagen und an Tagen, an welchen Schnee ſchmilzt, das Haus nicht mit Brettern gedeckt werden müſſe, was finſter macht, und den Pflanzen ſchädlich iſt. Ich könne das ja heute ſehen, wie bei einem Regen ſo heftiger Art nicht ein Tröpf¬ lein herein dringen kann, oder vom Winde hereinge¬ ſchlagen wird. Bretter würden überhaupt über dieſes Haus nicht gelegt. Gegen den Hagel ſei es durch dickes Glas und den Panzer geſchüzt, und wenn kalte Nächte zu erwarten ſind, werde eine Strohdecke ange¬ wendet, und der Schnee werde durch Beſen entfernt. Mir war wirklich der Umſtand merkwürdig und wich¬ tig, daß hier kein Herabtropfen von dem Glasdache ſtatt finde, was meinem Vater ſo unangenehm iſt. Ich nahm mir vor, meinen Gaſtfreund um Eröffnung des Verfahrens zu erſuchen, um dasſelbe dem Vater mitzutheilen. Als wir auf dem Rückwege durch die anderen Gewächshäuſer gingen, ſah ich, daß auch hier kein Herabtropfen vorhanden ſei und mein Be¬ gleiter beſtätigte es.
191Da ich noch ein Weilchen in der Wohnung der Gärtnerleute geblieben war und mit der Gärtnerfrau geſprochen hatte, machte ich Anſtalt zum Heimwege. Die Gärtnerfrau hatte meinen Wachsmantel in der Zeit, in der ich mit ihrem Manne in den Gewächs¬ häuſern geweſen war, an ſeiner Außenfläche von allem Waſſer befreit, und ihn überhaupt handlich und an¬ genehm hergerichtet. Ich dankte ihr, ſagte, daß er wohl bald wieder verknittert ſein würde, empfahl mich freundlich, nahm die anderſeitigen freundlichen Empfehlungen in Empfang, und ging dann in meine Zimmer.
Dort kleidete ich mich ſorgfältig um, und ging dann zu meinem Gaſtfreunde. Er war eben mit Guſtav beſchäftigt, der ihm Rechenſchaft von ſeinen Morgen¬ arbeiten ablegte. Ich fragte, ob es mir erlaubt wäre, in das Bildergemach oder in ähnliche zu gehen.
„ Das Leſezimmer und das Bilderzimmer ſo wie das mit den Kupferſtichen ſind ordnungsgemäß ge¬ heizt, “antwortete mein Gaſtfreund, „ der Bücherſaal der Marmorſaal und die Marmortreppe werden leid¬ lich warm ſein. Verſchloſſen iſt keiner der Räume. Bedient euch derſelben, wie ihr es zu Hauſe thun würdet. “
192Ich dankte, und entfernte mich. Nach meiner Kennt¬ niß der Tageintheilung wußte ich, daß er ſeine Be¬ ſchäftigung mit Guſtav fortſezte.
Ich ging zuerſt auf die Marmortreppe. Ich ſuchte ſie von oben zu gewinnen. Als ich von dem gemein¬ ſchaftlichen Gange in den oberen Theil des Marmor¬ ganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorge¬ ſchrieben war, Filzſchuhe, welche immer in Bereit¬ ſchaft ſtanden, an, und ging die glatte ſchöne Treppe hinunter. Als ich in die Mitte derſelben gekommen war, wo ſich der breite Abſaz befindet, hielt ich an; denn das war das Ziel meiner Wanderung geweſen. Ich wollte die alterthümliche Marmorgeſtalt betrach¬ ten. Selbſt heute in dem bleiernen Lichte, das durch die Glaswölbung, welche noch dazu durch das auf ihr rinnende Waſſer getrübt war, gleichſam träge nieder fiel, war die Erſcheinung eine gewaltige und erhebende. Die hehre Jungfrau, ſonſt immer ſanft und hoch, ſtand heute in den flüſſigen Schleiern des dumpferen Lichtes zwar trüb aber mild da, und der Ernſt des Tages legte ſich auch als Ernſt auf ihre unausſprechlich anmuthigen Glieder. Ich ſah die Ge¬ ſtalt lange an, ſie war mir wie bei jedem erneuerten Anblicke wieder neu. Wie ſehr mir auch die blendend193 weiße Geſtalt der Brunnennimphe im Sternenhofe nach der jüngſten Vergangenheit als liebes Bild in die Seele geprägt worden war, ſo war ſie doch ein Bild aus unſerer Zeit, und war mit unſeren Kräften zu faſſen: hier ſtand das Alterthum in ſeiner Größe und Herrlichkeit. Was iſt der Menſch, und wie hoch wird er, wenn er in ſolcher Umgebung und zwar in ſolcher Umgebung von größerer Fülle weilen darf.
Ich ging langſam die Treppe wieder hinan, und ging in den Marmorſaal. Seine Größe ſeine Leer¬ heit, der, wenn ein ſolches Wort erlaubt iſt, dunkle Glanz, der von dem dunkeln und mit ungewiſſen und zweideutigen Lichtern wechſelnden Tage auf ſeinen Wänden lag, und wechſelte, ließ ſich nach dem An¬ blicke der Geſtalt des Alterthums tragen und ertragen. Ja der Saal erſchien mir in dem finſtern Tage noch größer und ernſter als ſonſt, und ich weilte gerne in ihm, faſt ſo gerne wie an jenem Abende, an welchem ich mit meinem Gaſtfreunde unter dem ſanften Blizen eines Gewitterhimmels in ihm auf und ab gegan¬ gen war. Ich ging auch jezt wieder in demſelben hin und wider, und ließ den Sturm draußen mit ſeinen trüben Lichtern die Wände herinnen mit ihrem mattenStifter, Nachſommer. III. 13194Glanze und die Erinnerung der eben geſehenen Ge¬ ſtalt in mir wirken.
Nach einer Zeit trat ich durch die Thür, welche in das Bilderzimmer führt. Die Bilder hingen in dem düſteren Glanze des Tages da, und konnten ſelbſt dort, wo der Künſtler die kraftvollſten Mittel des Lichtes und Schattens angewendet hatte, nicht zur vollen Wirkſamkeit gelangen, weil das, was die Bil¬ der erſt recht malen hilft, fehlte, die Macht eines ſon¬ nigen und heiteren Tages. Selbſt als ich zu einigen, die ich beſonders liebte, näher getreten war, ſelbſt als ich vor einem Guido, der auf der Staffelei ſtand, die nahe an das Fenſter und in das beſte Licht gerückt worden war, niederſaß, um ihn zu betrachten, konnte die Empfindung, die ſonſt dieſe Werke in mir erreg¬ ten, nicht emporkeimen. Ich erkannte bald die Ur¬ ſache, welche darin beſtand, daß ohnehin eine viel höhere in meinem Gemüthe waltete, welche durch die Geſtalt des Alterthums in mir hervorgerufen worden war. Die Gemälde erſchienen mir beinahe klein. Ich ging in das Bücherzimmer, nahm mir Odyſſeus aus ſeinem Schreine, begab mich in das Leſezimmer, in welchem die geſellige Flamme die Freundin des Men¬ ſchen, die ihm in der Finſterniß Licht und im Winter195 des Nordens Wärme gibt, hinter dem feinen Gitter eines Kamines freundlich loderte, und in welchem alles auf das Reinlichſte geordnet war, ſezte mich in einiger Entfernung von dem Fenſter in einen weichen Siz, und begann unter dem Praſſeln des Regens an den Fenſtern von der erſten Zeile an zu leſen. Die fremden Worte, die als lebendig geſprochen einer fernen Zeit angehörten, die Geſtalten, welche durch dieſe Worte in unſere Zeit mit all ihrer ihnen einſtens angehörigen Eigenthümlichkeit heraufgeführt wurden, ſchloſſen ſich an die Jungfrau an, welche ich auf der Treppe hatte ſtehen geſehen. Als Nauſikae kam, war es mir wieder, wie es mir bei der erſten richtigen Be¬ trachtung der Marmorgeſtalt geweſen war, die Ge¬ wänder des harten Stoffes löſeten ſich zu leichter Milde, die[Glieder] bewegten ſich, das Angeſicht er¬ hielt wandelbares Leben, und die Geſtalt trat als Nauſikae zu mir. Es war auch die Erinnerung jenes Abends geweſen, die heute meine Hand, als ich von der Treppe in den Marmorſaal und in das Bilderzim¬ mer herauf gekommen war, und in dieſen keine Befrie¬ digung gefunden hatte, zu den Worten Homers im Odyſſeus greifen ließ. Als die Helden das Mahl in dem Saale genoſſen hatten, als der Sänger gerufen13 *196worden war, als die Worte jenes Liedes vernommen worden waren, deſſen Ruhm damals bis zu dem Himmel reichte, als Odyſſeus das Haupt verhüllt hatte, damit man die Thränen nicht ſähe, welche ihm aus den Augen floßen, als endlich Nauſikae ſchlicht und mit tiefem Gefühle an den Säulen der Pforte des Saales ſtand: da geſellte ſich auch lächelnd das ſchöne Bild Nataliens zu mir; ſie war die Nauſikae von jezt, ſo wahr ſo einfach nicht prunkend mit ihrem Gefühle und es nicht verhehlend. Beide Geſtalten verſchmolzen in einander, und ich las und dachte zu¬ gleich, und bald las ich, und bald dachte ich, und als ich endlich ſehr lange blos allein gedacht hatte, nahm ich das Buch, das vor mir auf dem Tiſche lag, wie¬ der auf, trug es in das Bücherzimmer auf ſeinen Plaz, und ging durch den Marmorſaal und den Gang der Gaſtzimmer in meine Wohnung zurück.
Das Werk des Vormittages war abgethan.
Am Mittagtiſche fanden ſich wieder dieſelben Per¬ ſonen ein, welche bei dem Frühmahle verſammelt ge¬ weſen waren. Nach dem Genuſſe eines einfachen aber für Gedeihen und Geſundheit ſehr wohl zubereiteten Mahles, wie es immer in dem Roſenhauſe ſein mußte, nach manchem freundlichen und erheiternden Geſpräche197 ſtand man auf, um wieder zu ſeinen Geſchäften zu gehen, die jedem ernſt und wichtig genug waren, mochten ſie nun im Erwerben von Kenntniſſen be¬ ſtehen, wie faſt ausſchließlich bei Guſtav, oder moch¬ ten ſie im Vorwärtsdringen in der Kunſt oder auf wiſſenſchaftlichem Felde oder in einer richtigeren Ge¬ ſtaltung der eigenen Lebenslage enthalten ſein.
Für den heutigen Nachmittag war ein beſonderes Geſchäft vorbehalten worden, zu welchem auch Ro¬ land kommen, und deßhalb ſeine heutige Arbeit an ſeinem Bilde abbrechen mußte. Es war eine Samm¬ lung von Kupferſtichen eingelangt, welche zum Kaufe angebothen waren, und deren Beſichtigung man auf den heutigen Nachmittag anberaumt hatte. Mein Gaſtfreund lud mich zu der Sache ein. Die Kupfer¬ ſtiche lagen in zwei Mappen in dem Zimmer meines Gaſtfreundes. Wir gingen über die Treppe, die für die Dienerſchaft beſtimmt war, in ſein Zimmer empor, und rückten den Tiſch, auf welchem die Mappen lagen, näher an ein Fenſter, damit wir die Blätter beſſer betrachten konnten. Die Mappen wurden geöffnet, und bald ſah man, daß der Sammler der in denſelben enthaltenen Stücke kein Mann geweſen ſei, der von der Tiefe der Kunſt von ihrem Ernſte und von ihrer198 Bedeutung für das menſchliche Leben eine Vorſtellung gehabt habe. Er war eben ein Sammler gewöhnlicher Art geweſen, der die Menge und die Manigfaltigkeit der Stücke vor Augen gehabt hatte. Jezt lag er im Grabe, und ſeine Erben mußten weder für die Ver¬ hältniſſe der Kunſt zum menſchlichen Leben noch für Sammeln von was immer für einer Art einen Sinn gehabt haben, daher ſie alle Hefte meinem Gaſt¬ freunde, von dem ſie gehört hatten, daß er ſolche Merkwürdigkeiten ſuche, zum Verkaufe anbothen. Neben ganz werthloſen Erzeugniſſen des Grabſtichels nach heutiger unbedeutender Weiſe, wie ſie in Büchern und Bilderwerken zum Behufe des Gelderwerbes vor¬ kommen, neben Steinzeichnungen mit der Feder und der Kreide befanden ſich auch beſſere Werke von jezt und beſonders einige Stücke aus älterer Zeit von großem Werthe. Mein Gaſtfreund und ſeine zwei Gehilfen ſprachen bei dieſer Gelegenheit Manches über Kupferſtiche, was mir neu war, und woran ich die Bedeutung dieſes Kunſtzweiges mehr kennen lernte, als ich ſie früher kannte. Da er die Überſezung der Werke der großen Meiſter aller Zeiten vermitteln kann, da er ein Bild, das nur einmal da iſt, das für viele Menſchen an fernen und ihnen nie erreichbaren Orten199 ſich befindet, oder das als Eigenthum eines einzelnen Mannes nicht einmal allen denen, die denſelben Ort mit ihm bewohnen, zugänglich iſt, vervielfältiget, und zur Anſchauung in viele Orte und in ferne Zeiten bringen kann, ſo ſollte man ihm wohl die größte Auf¬ merkſamkeit ſchenken. Wenn er nicht einer gewiſſen zu beſtimmten Zeiten in Schwung kommenden Art huldigt, ſondern ſtrebt, die Seele des Meiſters, wie ſie ſich in dem Bilde darſtellt, wieder zu geben, wenn er nicht blos die Stoffe, wie ſie ſich in dem Bilde befinden, von der Zartheit des menſchlichen Ange¬ ſichtes und der menſchlichen Hände angefangen durch den Glanz der Seide und die Glätte des Metalles bis zu der Rauhigkeit der Felſen und Teppiche herab ſondern auch ſogar die Farben, die der Maler ange¬ wendet hat, durch verſchiedene aber immer klare leicht geführte und ſchöngeſchwungene Linien, die niemals unbedeutend niemals durch Abſonderlichkeit auffallend ſein niemals einen bloßen Fleck bilden dürfen, und die er zur Bemeiſterung jedes neuen Gegenſtandes neu erfinden kann, darſtellt: dann kann er zwar nicht der Malerei in ihren Wirkungen an die Seite geſezt wer¬ den, die ſie auf ihre Beſchauer geradehin ausübt, aber er kann ihr an Kunſtwirkung überhaupt als eben¬200 bürtig erkannt werden, weil er auf eine größere Zahl von Menſchen wirkt, und bei denen, welche die nach¬ geahmten Gemälde nicht ſehen können, eine deſto tiefere und vollere Kunſtwirkung hervorbringt, je tiefer und edler er ſelber iſt. Dies habe ich bei mei¬ nem Gaſtfreunde in der Zeit, als ich mit ihm in Ver¬ bindung war, immer mehr kennen gelernt, und dies iſt mir wieder beſonders klar geworden, als die Kupferſtiche durchgeſehen wurden, und als man über ihren Werth und über Mittel Wege und Wirkung der Kupferſtecherkunſt überhaupt ſprach. Es wurde, da man die Einzelheiten der guten Blätter genau unter¬ ſucht, und ihre Vorzüge und ihre Mängel ſorglich be¬ ſprochen hatte, feſtgeſezt, daß man der guten Stücke willen die ganze Sammlung kaufen wolle, wenn ihr Preis einen gewiſſen Betrag, den man anboth, und den man gerechter und billiger Weiſe geben konnte, nicht überſtiege. Die ſchlechten Blätter wollte man dann vernichten, weil ſie durch ihr Daſein eine gute Wirkung nicht nur nicht hervorbringen, ſondern das Gefühl deſſen, der nichts Beſſeres ſieht, ſtatt es zu heben, in eine rohere und verbildetere Richtung len¬ ken, als es nähme, wenn ihm nichts als die Gegen¬ ſtände der Natur gebothen würden. Den Geiſt des201 Menſchen, ſagten die Männer, verunreinige falſche Kunſt mehr als die Unberührtheit von jeder Kunſt. Da es dämmerte, wurden die Kupferſtiche in ihre Behältniſſe gethan, der Tiſch wurde wieder an ſeine Stelle gerückt, und wir trennten uns.
Der Sturm hatte eher zu als ab genommen, und der Regen ſchlug in Strömen an die Fenſter.
Abends waren wir wieder in dem Arbeitszimmer meines Gaſtfreundes vereinigt, nur Guſtav fehlte, weil er ſich in ſeinem Zimmer noch mit ſeiner Tages¬ aufgabe beſchäftigte. Ehe wir zu dem Abendeſſen gingen, zeichnete mein Gaſtfreund noch den Stand der naturwiſſenſchaftlichen Geräthe, welche ſich auf Luftdruck Feuchtigkeit Wärme Electricität und der¬ gleichen bezogen, in ſeine Bücher, und dann ging er durch das ganze Haus, und beſah den Verhalt der Dinge in demſelben die geförderten Arbeiten der Hausleute ihr jeziges Thun und den allfälligen Ein¬ fluß des heutigen ſtürmiſchen Wetters.
Bei dem Abendeſſen wurde, nachdem man die Nahrungsbedürfniſſe in kurzer Zeit geſtillt und heitere Geſpräche geführt hatte, noch aus einem Buche vor¬ geleſen, das damal neu war. Es betraf größtentheils die Geſchichte des Seidenbaues und der Seiden¬202 weberei, und beſonders wurde der Abſchnitt behan¬ delt, wie dieſes Gewerbe aus dem fernſten Morgen¬ lande nach Sirien nach Arabien Egipten Bizanz dem Pellopones nach Sicilien Spanien Italien und Frank¬ reich gekommen ſei. Mein Gaſtfreund behauptete, daß in der Anfertigung von jenen Prachtſtoffen, die aus Seide und Gold oder Silber beſtanden, was die Fein¬ heit und Zartheit des Gewebes, was deſſen Weich¬ heit verbunden mit mildem Glanze, gegen den die heutigen Stoffe dieſer Art in ihrer Steifheit und in ihrem harten Schimmer ſtark abſtehen, und was end¬ lich den Schwung die feine Zierlichkeit und die reiche Einbildungskraft in den Zeichnungen betrift, die Zeit des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts den ſpäteren Zeiten und beſonders der unſrigen weit vor¬ zuziehen ſei. Er habe zu ſpät angefangen, dieſem Zweige des Alterthumes, der beinahe ein Zweig der Kunſt ſei, ſeine Aufmerkſamkeit zu widmen. Eine Sammlung ſolcher Stoffe müßte merkwürdig ſein, er könne aber keine mehr anlegen, da ſie Reiſen durch ganz Europa ja durch nicht unbedeutende Theile von Aſien und Afrika vorausſeze, und wahrſcheinlich die Kräfte eines einzelnen Mannes überſchreite. Geſell¬ ſchaften oder der Staat könnten ſolche Sammlungen203 zur Vergleichung zur Belehrung ja zur Bereicherung der Geſchichte ſelber zu Stande bringen. In reichen Abteien in den Kleiderſchreinen alter berühmter Kir¬ chen in Schazkammern und andern Behältniſſen könig¬ licher Burgen und größerer Schlöſſer dürfte ſich vieles finden, was dort zu entbehren wäre, und in einer Sammlung Sprache und Bedeutung gewänne. Wie viel müßte nach den Kreuzzügen aus dem Morgen¬ lande nach Europa gekommen ſein, da ſelbſt einfache Ritter mit dort gewonnener Beute an Gold und koſt¬ baren Stoffen in die Heimath zurückgekehrt ſeien, und ſich Prunk außer bei kirchlichen Feierlichkeiten Krö¬ nungen Aufzügen Kampfſpielen auch im gewöhnlichen Verkehre mehr eingefunden hatte, als er früher ge¬ weſen war. Wie müßte dieſer Zweig auch ein Licht auf die mit ſeinem Blühen ganz gleich laufende Zeit werfen, in welcher jene merkwürdigen Kirchen gebaut wurden, deren erhabene Überbleibſel noch heute unſere Bewunderung erregen, wie müßte er auch eine Be¬ ziehung eröffnen zur Verzierungskunſt jener Zeit in Steinmezarbeit in Elfenbein - und Holzſchnizerei ja zum Beginne der ſpäter blühenden großen Malerſchulen in dem Norden und Süden Europas, und wie müßte er ſogar auf Gedanken über Anſchauungsweiſe der204 Völker ihre Verbindungen und ihre Handelswege leiten. Thun das ja auch Münzen thun es Siegel und andere dieſen untergeordnete Dinge. Roland ſagte, er wolle nun ſolche Stoffe zu ſammeln ſuchen.
Wir gingen an jenem Abende ſpäter auseinander als gewöhnlich.
Am anderen Morgen, als ich aufgeſtanden war, und das beginnende Licht einen Ausblick durch die Fenſter geſtattete, ſah ich friſchen Schnee über alle Gefilde ausgebreitet, und in dichten Flocken, die um das Glas der Fenſter ſpielten, fiel er noch immer von dem Himmel herunter. Der Wind hatte etwas nach¬ gelaſſen, die Kälte mußte geſtiegen ſein.
Wir machten an dieſem Tage alle zuſammen einen ziemlich großen Spaziergang. Im Garten wurde her¬ umgegangen, ob etwas zu richten ſei, die Gewächs¬ häuſer wurden beſucht, in dem Meierhofe wurde nach¬ geſehen, und Abends wurde in dem Buche, welches von der Seidenweberei handelte, weiter geleſen. Der Schneefall hatte bis in die Dämmerung gedauert, dann kamen heitere Stellen an dem Himmel zum Vorſcheine.
Wie dieſe zwei Tage vergangen waren, ſo ver¬ gingen nun mehrere und mein Gaſtfreund begann205 nicht, ſeine Mittheilungen, welche er verſprochen hatte, zu machen. Wir hatten außer der Zeit, die jeder in ſeiner Wohnung bei ſeinen Arbeiten zubrachte, manche Gänge durch die Gegend gemacht, was um ſo ange¬ nehmer war, als nach den ſtürmiſchen Tagen bei mei¬ ner Ankunft ſich heiteres ſtilles und kaltes Wetter eingeſtellt hatte. Ich war zu mancher Zeit in der Ge¬ ſellſchaft meines Gaſtfreundes, ich ſah ihm zu, wenn er ſeine Vögel vor dem Fenſter fütterte, oder wenn er für Ernährung der Haſen außerhalb der Grenze ſei¬ nes Gartens ſorgte, was des tiefen Schnees willen, der gefallen war, doppelt nothwendig wurde, wir hatten weitere Fahrten in dem Schlitten gemacht, um Nachbarn zu beſuchen, manches zu beſprechen, oder die freie Luft und die Bewegung zu genießen, einmal war ich mit meinem Gaſtfreunde zu einer Brücke ge¬ fahren, die er mit mehreren Männern beſchauen ſollte, weil man vorhatte, ſie im Frühlinge neu zu bauen — man hatte meinen Gaſtfreund nicht verſchont, und ihn mit Gemeindeämtern betraut — mehrere Male waren wir in verſchiedenen Theilen der Wälder geweſen, um bei dem Fällen der Hölzer nachzuſehen, welche zum Bauen und zur Verarbeitung in dem Schreiner¬ hauſe verwendet werden ſollten, welche Fällung in206 dieſer Jahreszeit vor ſich gehen mußte; wir waren auch einmal im Inghofe geweſen, und hatten die dortigen Gewächshäuſer beſehen. Der Hausverwalter und der Gärtner hatten uns bereitwillig und freund¬ lich herum geführt. Der Herr des Beſizthums war mit ſeiner Familie in der Stadt.
Eines Tages kam mein Gaſtfreund in meine Woh¬ nung, was er öfter that, theils um mich zu beſuchen, theils um nach zu ſehen, ob es mir nicht an etwas Nothwendigem gebreche. Nachdem das Geſpräch über verſchiedene Dinge eine Weile gedauert hatte, ſagte er: „ Ihr werdet wohl wiſſen, daß ich der Freiherr von Riſach bin. “
„ Lange wußte ich es nicht, “antwortete ich, „ jezt weiß ich es ſchon eine geraume Zeit. “
„ Habt ihr nie gefragt? “
„ Ich habe nach der erſten Nacht, die ich in eurem Hauſe zugebracht habe, einen Bauersmann gefragt, welcher mir die Antwort gab, ihr ſeied der Asper¬ meier. An demſelben Tage forſchte ich auch in weite¬ rer Entfernung, ohne etwas Genaues zu erfahren. Später habe ich nie mehr gefragt. “
„ Und warum habt ihr denn nie gefragt? “
„ Ihr habt euch mir nicht genannt; daraus ſchloß207 ich, daß ihr nicht für nöthig hieltet, mir euren Namen zu ſagen, und daraus zog ich für mich die Maßregel, daß ich euch nicht fragen dürfe, und wenn ich euch nicht fragen durfte, durfte ich es auch einen andern nicht. “
„ Man nennt mich hier in der ganzen Gegend den Asperherrn, “antwortete er, „ weil es bei uns gebräuch¬ lich iſt, den Beſizer eines Gutes nach dem Gute, nicht nach ſeiner Familie zu benennen. Jener Name erbt in Hinſicht aller Beſizer bei dem Volke fort, die¬ ſer ändert ſich bei einer Änderung des Beſizſtan¬ des, und da müßte das Volk ſtets wieder einen neuen Namen erlernen, wozu es viel zu beharrend iſt. Einige Landleute nennen mich auch den Aspermeier, wie mein Vorgänger geheißen hat. “
„ Ich habe einmal zufällig euren richtigen Namen nennen gehört, “ſagte ich.
„ Ihr werdet dann auch wiſſen, daß ich in Staats¬ dienſten geſtanden bin, “erwiederte er.
„ Ich weiß es, “ſagte ich.
„ Ich war für dieſelben nicht geeignet, “antwor¬ tete er.
„ Dann ſagt ihr etwas, dem alle Leute, die ich bisher über euch gehört habe, widerſprechen. Sie208 loben eure Staatslaufbahn insgeſammt, “erwie¬ derte ich.
„ Sie ſehen vielleicht auf einige einzelne Ergeb¬ niſſe, “antwortete er, „ aber ſie wiſſen nicht, mit wel¬ chem Ungemache des Entſtehens dieſe aus meinem Herzen gekommen ſind. Sie können auch nicht wiſſen, wie die Ergebniſſe geworden wären, wenn ein an¬ derer von gleicher Begabung aber von größerer Gemüthseignung für den Staatsdienſt, oder wenn gar einer von auch noch größerer Begabung ſie ge¬ fördert hätte. “
„ Das kann man von jedem Dinge ſagen, “erwie¬ derte ich.
„ Man kann es, “antwortete er, „ dann ſoll man aber das, was nicht gerade mißlungen iſt, auch nicht ſogleich loben. Hört mich an. Der Staatsdienſt oder der Dienſt des allgemeinen Weſens überhaupt, wie er ſich bis heute entwickelt hat, umfaßt eine große Zahl von Perſonen. Zu dieſem Dienſte wird auch von den Geſezen eine gewiſſe Ausbildung und ein ge¬ wiſſer Stufengang in Erlangung dieſer Ausbildung gefordert, und muß gefordert werden. Je nachdem nun die Hoffnung vorhanden iſt, daß einer nach Voll¬ endung der geforderten Ausbildung und ihres Stufen¬209 ganges ſogleich im Staatsdienſte Beſchäftigung finden, und daß er in einer entſprechenden Zeit in jene höhe¬ ren Stellen empor rücken werde, welche einer Familie einen anſtändigen Unterhalt gewähren, widmen ſich mehr oder wenigere Jünglinge der Staatslaufbahn. Aus der Zahl derer, welche mit gutem Erfolge den vorgeſchriebenen Bildungsweg zurückgelegt haben, wählt der Staat ſeine Diener, und muß ſie im Gan¬ zen daraus wählen. Es iſt wohl kein Zweifel, daß auch außerhalb dieſes Kreiſes Männer von Begabung für den Staatsdienſt ſind, von großer Begabung ja von außerordentlicher Begabung; aber der Staat kann ſie, jene ungewöhnlichen Fälle abgerechnet, wo ihre Begabung durch beſondere Zufälle zur Erſcheinung gelangt, und mit dem Staate in Wechſelwirkung ge¬ räth, nicht wählen, weil er ſie nicht kennt, und weil das Wählen ohne nähere Kenntniß und ohne die vor¬ liegende Gewähr der erlangten vorgeſchriebenen Aus¬ bildung Gefahr drohte und Verwirrung und Mißlei¬ tung in die Geſchäfte bringen könnte. Wie nun die¬ jenigen, welche die Vorbereitungsjahre zurückgelegt haben, beſchaffen ſind, ſo muß ſie der Staat nehmen. Oft ſind ſelbſt große Begabungen in größerer Zahl darunter, oft ſind ſie in geringerer, oft iſt im Durch¬Stifter, Nachſommer, III. 14210ſchnitte nur Gewöhnlichkeit vorhanden. Auf dieſe Beſchaffenheit ſeines Perſonenſtoffes mußte nun der Staat die Einrichtung ſeines Dienſtes gründen. Der Sachſtoff dieſes Dienſtes mußte eine Faſſung bekom¬ men, die es möglich macht, daß die zur Erreichung des Staatszweckes nöthigen Geſchäfte fortgehen und keinen Abbruch und keine weſentliche Schwächung er¬ leiden, wenn beſſere oder geringere einzelne Kräfte abwechſelnd auf die einzelnen Stellen gelangen, in denen ſie thätig ſind. Ich könnte ein Beiſpiel gebrau¬ chen, und ſagen, jene Uhr wäre die vortrefflichſte, welche ſo gebaut wäre, daß ſie richtig ginge, wenn auch ihre Theile verändert würden, ſchlechtere an die Stelle beſſerer, beſſere an die Stelle ſchlechterer kämen. Aber eine ſolche Uhr dürfte kaum möglich ſein. Der Staatsdienſt mußte ſich aber ſo möglich machen, oder ſich nach der Entwicklung, die er heute erlangt hat, aufgeben. Es iſt nun einleuchtend, daß die Faſſung des Dienſtes eine ſtrenge ſein muß, daß es nicht er¬ laubt ſein könne, daß ein Einzelner den Dienſtesin¬ halt in einer andern Faſſung als in der vorgeſchriebe¬ nen anſtrebe, ja daß ſogar mit Rückſicht auf die Zu¬ ſammenhaltung des Ganzen ein Einzelnes minder gut verrichtet werden muß, als man es von ſeinem Stand¬211 punkte allein betrachtet thun könnte. Die Eignung zum Staatsdienſte von Seite des Gemüthes abgeſe¬ hen von den andern Fähigkeiten beſteht nun auch in weſentlichen Theilen dann, daß man entweder das Einzelne mit Eifer zu thun im Stande iſt, ohne deſſen Zuſammenhang mit dem großen Ganzen zu kennen, oder daß man Scharfſinn genug hat, den Zuſammen¬ hang des Einzelnen mit dem Ganzen zum Wohle und Zwecke des Allgemeinen einzuſehen, und daß man dann dieſes Einzelne mit Luſt und Begeiſterung voll¬ führt. Das leztere thut der eigentliche Staatsmann, das erſte der ſogenannte gute Staatsdiener. Ich war keins von beiden. Ich hatte von Kindheit an, freilich ohne es damals oder in den Jugendjahren zu wiſſen, zwei Eigenſchaften, die dem Geſagten geradezu entge¬ gen ſtanden. Ich war erſtens gerne der Herr meiner Handlungen. Ich entwarf gerne das Bild deſſen, was ich thun ſollte, ſelbſt, und vollführte es auch gerne mit meiner alleinigen Kraft. Daraus folgte, daß ich ſchon als Kind, wie meine Mutter erzählte, eine Speiſe ein Spielzeug und dergleichen lieber nahm, als mir geben ließ, daß ich gegen Hilfe widerſpänſtig war, daß man mich als Knaben und Jüngling un¬ gehorſam und eigenſinnig nannte, und daß man in14 *212meinen Männerjahren mir Starrſinn vorwarf. Das hinderte aber nicht, daß ich dort, wo mir ein Fremdes durch Gründe und hohe Triebfedern unterſtüzt gege¬ ben wurde, dasſelbe als mein Eigenes aufnahm, und mit der tiefſten Begeiſterung durchführte. Das habe ich einmal in meinem Leben gegen meine ſtärkſte Nei¬ gung, die ich hatte, gethan, um der Ehre und der Pflicht zu genügen. Ich werde es euch ſpäter erzäh¬ len. Daraus folgt, daß ich eigenſinnig der Bedeu¬ tung des Wortes, wie man es gewöhnlich nimmt, nicht geweſen bin, und es auch im Alter, in dem man überhaupt immer milder wird, gewiß nicht bin. Eine zweite Eigenſchaft von mir war, daß ich ſehr gerne die Erfolge meiner Handlungen abgeſondert von jedem Fremdartigen vor mir haben wollte, um klar den Zuſammenhang des Gewollten und Gewirk¬ ten überſchauen und mein Thun für die Zukunft regeln zu können. Eine Handlung, die nur geſezt wird, um einer Vorſchrift zu genügen oder eine Faſſung zu voll¬ enden, konnte mir Pein erregen. Daraus folgte, daß ich Thaten, deren lezter Zweck ferne lag oder mir nicht deutlich war, nur läſſig zu vollführen geneigt war, während ich Handlungen, wenn ihr Ziel auch ſehr ſchwer und nur durch viele Mittelglieder zu erreichen213 war, mit Eifer und Luſt zu Ende führte, ſobald ich mir nur den Hauptzweck und die Mittelzwecke deutlich machen und mir aneignen konnte. Im erſten Falle vermochte ich es mir nur durch die Vorſtellung, daß der Zweck wenn auch dunkel doch ein hoher ſei, abzu¬ ringen, daß ich mit aller Kraft an das Werk ging, wobei ich aber immer zum Eilen geneigt war, we߬ halb man mich auch ungeduldig ſchalt: im zweiten Falle gingen die Kräfte von ſelber an das Werk, und es wurde mit der größten Ausdauer und mit Verwen¬ dung aller gegebenen Zeit zu Stande gebracht, we߬ halb man mich auch wieder hartnäckig nannte. Ihr werdet in dieſem Hauſe Dinge geſehen haben, aus denen euch klar geworden iſt, daß ich Zwecke auch mit großer Geduld verfolgen kann. Sonderbar iſt es über¬ haupt, und dürfte von größerer Bedeutung ſein, als man ahnt, daß mit dem zunehmenden Alter die Weit¬ ausſichtigkeit der Pläne wächſt, man denkt an Dinge, die unabſehliche Strecken jenſeits alles Lebenszieles liegen, was man in der Jugend nicht thut, und das Alter ſezt mehr Bäume und baut mehr Häuſer als die Jugend. Ihr ſeht, daß mir zwei Hauptdinge zum Staatsdiener fehlen, das Geſchick zum Gehorchen, was eine Grundbedingung jeder Gliederung von Per¬214 ſonen und Sachen iſt, und das Geſchick zu einer thäti¬ gen Einreihung in ein Ganzes und kräftiger Arbeit für Zwecke, die außer dem Geſichtskreiſe liegen, was nicht minder eine Grundbedingung für jede Gliederung iſt. Ich wollte immer am Grundſäzlichen ändern und die Pfeiler verbeſſern, ſtatt in einem Gegebenen nach Kräften vorzugehen, ich wollte die Zwecke allein ent¬ werfen, und wollte jede Sache ſo thun, wie ſie für ſich am beſten iſt, ohne auf das Ganze zu ſehen, und ohne zu beachten, ob nicht durch mein Vorgehen anderswo eine Lücke geriſſen werde, die mehr ſchadet, als mein Erfolg nüzt. Ich wurde, da ich noch kaum mehr als ein Knabe war, in meine Laufbahn geführt, ohne daß ich ſie und mich kannte, und ich ging in derſelben fort, ſo weit ich konnte, weil ich einmal in ihr war, und mich ſchämte, meine Pflicht nicht zu thun. Wenn ei¬ niges Gute durch mich zu Stande kam, ſo rührt es daher, daß ich einerſeits in Betrachtung meines Am¬ tes und ſeiner Gebote meinen Kräften eine mögliche Thätigkeit abrang, und daß andererſeits die Zeiter¬ eigniſſe ſolche Aufgaben herbei führten, bei denen ich die Pläne des Handelns entwerfen und ſelber durch¬ führen konnte. Wie tief aber mein Weſen litt, wenn ich in Arten des Handelns, die ſeiner Natur entge¬215 gengeſezt ſind, begriffen war, das kann ich euch jezt kaum ausdrücken, noch wäre ich damals im Stande geweſen, es auszudrücken. Mir fiel in jener Zeit im¬ mer und unabweislich die Vergleichung ein, wenn etwas, das Floſſen hat, fliegen, und etwas, das Flü¬ gel hat, ſchwimmen muß. Ich legte deßhalb in einem gewiſſen Lebensalter meine Ämter nieder. Wenn ihr fragt, ob es denn nothwendig ſei, daß ſich in der Gliederung des Staatsdienſtes eine ſo große Anzahl von Perſonen befinde, und ob man nicht einen Theil der allgemeinen Geſchäfte, wie ſie jezt ſind, zu beſon¬ dern Geſchäften machen, und ſie beſondern Körper¬ ſchaften oder Perſonen, die ſie hauptſächlich angehen, überlaſſen könnte, wodurch eine größere Überſichtlich¬ keit in den Staatsdienſt käme, und wodurch es möglich würde, daß ſich hervorragende Begabungen mehr im Entwerfen und Vollführen von Plänen zu allgemei¬ nem Beſten geltend machen könnten: ſo antworte ich: dieſe Frage iſt allerdings eine wichtige und ihre richtige Beantwortung von der größten Bedeutung; aber eben die richtige Beantwortung in allen ihren Einzelnheiten dürfte eine der ſchwerſten Aufgaben ſein, und ich ge¬ traue mir nicht, von mir zu behaupten, daß ich dieſe richtige Beantwortung zu geben im Stande wäre.
216Auch liegt dieſer Gegenſtand unſerem heutigen Ge¬ ſpräche zu ferne, und wir können ein anderes Mal von ihm reden, ſo weit wir im Urtheile über ihn zu kommen vermögen. Das iſt gewiß: wenn auch im ge¬ genwärtigen Staatsdienſte Veränderungen nothwen¬ dig ſein ſollten, und wenn die Veränderungen in dem früher angeführten Sinne vor ſich gehen werden, ſo hat der gegenwärtige Zuſtand doch in den allgemeinen Umwandlungen, denen der Staat ſo wie jedes menſch¬ liche Ding und die Erde ſelbſt unterworfen iſt, ſein Recht, er iſt ein Glied der Kette, und wird ſeinem Nachfolger ſo weichen, wie er ſelber aus ſeinem Vor¬ läufer hervor gegangen iſt. Wir haben ſchon vielmal über Lebensberuf geſprochen, und daß es ſo ſchwer iſt, ſeine Kräfte zu einer Zeit zu kennen, in welcher man ihnen ihre Richtung vorzeichnen, das heißt, einen Lebensweg wählen muß. Wir hatten bei unſern Ge¬ ſprächen hauptſächlich die Kunſt im Auge, aber auch von jeder andern Lebensbeſchäftigung gilt daſſelbe. Selten ſind die Kräfte ſo groß, daß ſie ſich der Be¬ trachtung aufdrängen, und die Angehörigen eines jungen Menſchen zur Ergreifung des rechten Gegen¬ ſtandes für ihn führen, oder daß ſie ſelber mit großer Gewalt ihren Gegenſtand ergreifen. Ich hatte außer217 den Eigenſchaften meines Geiſtes, die ich euch eben darlegte, noch eine beſondere, deren Weſenheit ich erſt ſehr ſpät erkannte. Von Kindheit an hatte ich einen Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die ſinnlich wahrnehmbar ſind. Bloße Beziehungen und Verhält¬ niſſe ſowie die Abziehung von Begriffen hatten für mich wenig Werth, ich konnte ſie in die Verſammlung der Weſen meines Hauptes nicht einreihen. Da ich noch klein war, legte ich allerlei Dinge an einan¬ der, und gab dem ſo Entſtandenen den Namen einer Ortſchaft, den ich etwa zufällig öfter gehört hatte, oder ich bog eine Gerte einen Blumenſtengel und der¬ gleichen zu einer Geſtalt und gab ihr einen Namen, oder ich machte aus einem Fleckchen Tuch den Vetter die Muhme; ja ſogar jenen abgezogenen Begriffen und Verhältniſſen, von denen ich ſprach, gab ich Ge¬ ſtalten, und konnte ſie mir merken. So erinnere ich mich noch jezt, daß ich als Kind öfter das Wort Kriegswerbung hörte. Wir bekamen damals einen neuen Ahorntiſch, deſſen Plattentheile durch dunkel¬ farbige Holzkeile an einander gehalten wurden. Der Querſchnitt dieſer Keile kam als eine dunkle Geſtalt an der Dicke der Platte quer über die Fuge zum Vor¬ ſcheine, und dieſe Geſtalt hieß ich die Kriegswerbung. 218Dieſe ſinnliche Regung, die wohl alle Kinder haben, wurde bei mir, da ich heran wuchs, immer deutlicher und ſtärker. Ich hatte Freude an allem, was als Wahrnehmbares hervorgebracht wurde, an dem Kei¬ men des erſten Gräsleins an dem Knospen der Ge¬ ſträuche an dem Blühen der Gewächſe an dem erſten Reife der erſten Schneeflocke an dem Sauſen des Windes dem Rauſchen des Regens ja an dem Blize und Donner, obwohl ich beide fürchtete. Ich ging zuſehen, wenn die Zimmerleute Holz aushauten, wenn eine Hütte gezimmert ein Brett angenagelt wurde. Ja die Worte, die einen Gegenſtand ſinnlich vorſtellbar bezeichneten, waren mir weit lieber als die, welche ihn nur allgemein angaben. So zum Beiſpiele traf es mich viel mächtiger, wenn jemand ſagte: der Graf reitet auf dem Schecken, als: er reitet auf einem Pferde. Ich zeichnete mit einem Rothſtifte Hirſche Reiter Hunde Blumen, mit Vorliebe aber Städte, von denen ich ganz wunderbare Geſtalten zuſammen¬ ſezte. Ich machte aus feuchtem Lehm Palläſte aus Holzrinde Altäre und Kirchen. Ich nenne dieſen Trieb Schaffungsluſt. Er iſt bei vielen Menſchen mehr oder minder vorhanden. Eine noch größere Zahl aber hat die Bewahrungsluſt, von der der Geiz eine häßliche219 Abart iſt. Selbſt in ſpäteren Jahren trat dieſe Luſt nicht zurück. Da ich einmal an unſerem ſchönen Strome zu wohnen kam, und im erſten Winter zum erſten Male das Treibeis ſah, konnte ich mich nicht ſatt ſehen an dem Entſtehen deſſelben und an dem gegenſeitigen Anſtoßen und Abreiben der mehr oder minder runden Kuchen. Selbſt in den nächſtfolgenden Wintern ſtand ich oft ſtundenlange an dem Ufer, und ſah den Eisbildungen zu, beſonders der Entſtehung des Standeiſes. Das, was vielen ſo unangenehm iſt, das Verlaſſen einer Wohnung und das Beziehen einer andern, machte mir Luſt. Mich freute das Ein¬ packen das Auspacken und die Inſtandeſezung der neuen Räume. In den Jünglingsjahren trat eine weitere Seite dieſes Triebes hervor. Ich liebte nicht blos Geſtalten, ſondern ich liebte ſchöne Geſtalten. Dies war wohl auch ſchon in dem Kindertriebe vorhanden. Rothe Farben ſternartige oder vielverſchlungene Dinge ſprachen mich mehr an als andere. Es kam aber dieſe Eigenſchaft damals weniger zum Bewußt¬ ſein. Als Jüngling begehrte ich die Geſtalten, wie ſie als Körper aus der Bildhauerei und Baukunſt hervor gehen, als Flächen Linien und Farben aus der Malerei, als Folge der Gefühle in der Muſik,220 der menſchlich ſittlichen und der irdiſch merkwürdigen Zuſtände in der Dichtkunſt. Ich gab mich dieſen Ge¬ ſtalten mit Wärme hin, und verlangte Gebilde, die ihnen ähnlich ſind, im Leben. Felſen Berge Wolken Bäume, die ihnen glichen, liebte ich, die entgegenge¬ ſezten verachtete ich. Menſchen menſchliche Handlun¬ gen und Verhältniſſe, die ihnen entſprachen, zogen mich an, die andern ſtießen mich ab. Es war, ich er¬ kannte es ſpät, im Grunde die Weſenheit eines Künſtlers, die ſich in mir offenbarte und ihre Erfül¬ lung heiſchte. Ob ich ein guter oder ein mittelmäßiger Künſtler geworden wäre, weiß ich nicht. Ein großer aber wahrſcheinlich nicht, weil dann nach allem Ver¬ muthen doch die Begabung durchgebrochen wäre, und ihren Gegenſtand ergriffen hätte. Vielleicht irre ich mich auch darin, und es war mehr blos die Anlage des Kunſtverſtändniſſes, was ſich offenbarte, als die der Kunſtgeſtaltung. Wie das aber auch iſt: in jedem Falle waren die Kräfte, die ſich in mir regten, dem Wirken eines Staatsdieners eher hinderlich als för¬ derlich. Sie verlangten Geſtalten und bewegten ſich um Geſtalten. So wie aber der Staat ſelber die Ordnung der geſellſchaftlichen Beziehungen der Men¬ ſchen iſt, alſo nicht eine Geſtalt ſondern eine Faſſung:221 ſo beziehen ſich die Ergebniſſe der Arbeiten der Staats¬ männer meiſt auf Beziehungen und Verhältniſſe der Staatsglieder oder der Staaten, ſie liefern daher Faſſun¬ gen nicht Geſtalten. So wie ich in der Kindheit oft den abgezogenen Begriffen eine Geſtalt leihen mußte um ſie halten zu können, ſo habe ich oft in gereiften Jah¬ ren im Staatsdienſte, wenn es ſich um Staatsbezie¬ hungen um Forderungen anderer Staaten an uns oder unſeres Staates an andere handelte, mir die Staaten als einen Körper und eine Geſtalt gedacht, und ihre Beziehungen dann an ihre Geſtalten ange¬ knüpft. Auch habe ich nie vermocht, die bloßen eige¬ nen Beziehungen oder den Nuzen unſeres Staates allein als das höchſte Geſez und die Richtſchnur mei¬ ner Handlungen zu betrachten. Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie ſie an ſich ſind, war bei mir ſo groß, daß ich bei Verwicklungen ſtreitigen Anſprüchen und bei der Nothwendigkeit, manche Sachen zu ordnen, nicht auf unſern Nuzen ſah, ſondern auf das, was die Dinge nur für ſich forderten, und was ihrer Weſen¬ heit gemäß war, damit ſie das wieder werden, was ſie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten, ohne welchem ſie nicht ſein können, was ſie ſind. Dieſe meine Eigenſchaft hat mir manchen Kum¬222 mer bereitet, ſie hat mir hohen Tadel zugezogen; aber ſie hat mir auch Achtung und Anerkennung einge¬ bracht. Wenn meine Meinung angenommen und ins Werk geſezt worden war, ſo hatte die neue Ordnung der Dinge, weil ſie auf das Weſentliche ihrer Natur gegründet war, Beſtand, ſie brachte in ſo ferne, weil wir vor erneuerten Unordnungen alſo vor wiederhol¬ ter Kraftanſtrengung geſchüzt waren, unſerem Staate einen größeren Nuzen, als wenn wir früher den ein¬ ſeitigen angeſtrebt hätten, und ich erhielt Ehrenzeichen Lob und Beförderung. Wenn ich in jenen Tagen der ſchweren Arbeit eine Ruhezeit hatte, und auf einer kleinen Reiſe die erhabene Geſtalt eines Berges ſah oder eine Hügelreihe ſich thürmender Wolken oder die blauen Augen eines freundlichen Landmädchens oder den ſchlanken Körper eines Jünglings auf einem ſchö¬ nen Pferde — oder wenn ich auch nur in meinem Zimmer vor meinen Gemälden ſtand, deren ich da¬ mals ſchon manche ſammelte, oder vor einer kleinen Bildſäule: ſo verbreitete ſich eine Ruhe und ein Wohlbehagen über mein Inneres, als wäre es in ſeine Ordnung gerückt worden. Wenn ein künſtleri¬ ſches Geſtaltungsvermögen in mir war, ſo war es das eines Baumeiſters oder eines Bildhauers oder auch noch223 das eines Malers, gewiß aber nicht das eines Dich¬ ters oder gar eines Tonſezers. Die erſteren Gegen¬ ſtände zogen mich immer mehr an, die lezteren ſtan¬ den mir ferner. Wenn es aber mehr eine Kunſtliebe war, was ſich in mir äußerte, nicht eine Schöpfungs¬ kraft, ſo war es immerhin auch ein Vermögen der Geſtalten, aber nur eines, die Geſtalten aufzuneh¬ men. Wenn dieſe Art von Eigenthümlichkeit den Be¬ ſizer zunächſt beglückt, wie ja jede Kraft ſelbſt die Schaffungskraft zuerſt ihres Beſizers willen da iſt, ſo bezieht ſie ſich doch auch auf andere Menſchen, wie in zweiter Hinſicht jede Kraft, ſelbſt die eigenſte eines Menſchen, nicht in ihm verſchloſſen bleiben kann, ſondern auf andere übergeht. Es iſt eine ſehr falſche Behauptung, die man aber oft hört, daß jedes große Kunſtwerk auf ſeine Zeit eine große Wirkung hervor¬ bringen müſſe, daß ferner das Werk, welches eine große Wirkung hervor bringt, auch ein großes Kunſt¬ werk ſei, und daß dort, wo bei einem Werke die Wir¬ kung ausbleibt, von einer Kunſt nicht geredet werden kann. Wenn irgend ein Theil der Menſchheit ein Volk rein und geſund am Leibe und an der Seele iſt, wenn ſeine Kräfte gleichmäßig entwickelt nicht aber nach einer Seite unverhältnißmäßig angeſpannt und224 thätig ſind, ſo nimmt dieſes Volk ein reines und wahres Kunſtwerk treu und warm in ſein Herz auf, wozu es keiner Gelehrſamkeit, ſondern nur ſeiner ſchlichten Kräfte bedarf, die das Werk als ein ihnen Gleichartiges aufnehmen, und hegen. Wenn aber die Begabungen eines Volkes, und ſeien ſie noch ſo hoch, nach einer Richtung hin in weiten Räumen voraus eilen, wenn ſie gar auf bloße Sinnesluſt oder auf Laſter gerichtet ſind, ſo müſſen die Werke, welche eine große Wirkung hervor bringen ſollen, auf jene Rich¬ tung, in der die Kräfte vorzugsweiſe thätig ſind, hin¬ zielen, oder ſie müſſen Sinnesluſt und Laſter darſtellen. Reine Werke ſind einem ſolchen Volke ein Fremdes, es wendet ſich von ihnen. Daher rührt die Erſchei¬ nung, daß edle Werke der Kunſt ein Zeitalter rühren und begeiſtern können, und daß dann ein Volk kömmt, dem ſie nicht mehr ſprechen. Sie verhüllen ihr Haupt, und harren, bis andere Geſchlechter an ihnen vorüber wandeln, die wieder reines Sinnes ſind, und zu ih¬ nen empor blicken. Dieſen lächeln ſie, und von dieſen werden ſie wieder wie herübergerettete Heiligthümer in Tempel gebracht. In entarteten Völkern blüht zu¬ weilen aber ſehr ſelten ein reines Werk wie ein ver¬ einſamter Strahl hervor, es wird nicht beachtet, und225 wird ſpäter von einem Menſchenforſcher entdeckt, wie jener Gerechte in Sodoma. Damit aber der Dienſt der Kunſt leichter erhalten werde, ſind in jedem Zeit¬ alter ſolche, denen ein tieferer Sinn für Kunſtwerke gegeben ward, ſie ſehen mit klarerem Auge in ihre Theile, nehmen ſie mit Wärme und Freude in ihr Herz, und übergeben ſie ſo ihren Mitmenſchen. Wenn man die Erſchaffenden Götter nennt, ſo ſind jene die Prieſter dieſer Götter. Sie verzögern den Schritt des Unheiles, wenn der Kunſtdienſt zu verfallen beginnt, und ſie tragen, wenn es nach der Finſterniß wieder hell werden ſoll, die Leuchte voran. Wenn ich nun ein ſolcher war, wenn ich beſtimmt war, durch An¬ ſchauung hoher Geſtalten der Kunſt und der Schöpfung, die mir ja immer mit freundlichen Augen zugewinkt haben, Freude in mein Herz zu ſammeln, und Freude Erkenntniß und Verehrung der Geſtalten auf meine Mitmenſchen zu übertragen, ſo war mir meine Staats¬ laufbahn in dieſem Berufe wieder ſehr hinderlich, und dürftige Spätblüthen können den Sommer, deſſen kräftige Lüfte und warme Sonne unbenüzt vorüber gingen, nicht erſezen. Es iſt traurig, daß man ſich nicht ſo leicht den Weg, der der vorzüglichſte in jedem Leben ſein ſoll, wählen kann. Ich wiederhole, wasStifter, Nachſommer. III. 15226wir oft geſagt haben, und womit euer ehrwürdiger Pater auch übereinſtimmt, daß der Menſch ſeinen Lebensweg ſeiner ſelbſt willen zur vollſtändigen Er¬ füllung ſeiner Kräfte wählen ſoll. Dadurch dient er auch dem Ganzen am Beſten, wie er nur immer die¬ nen kann. Es wäre die ſchwerſte Sünde, ſeinen Weg nur ausſchließlich dazu zu wählen, wie man ſich ſo oft ausdrückt, der Menſchheit nüzlich zu werden. Man gäbe ſich ſelber auf, und müßte in den meiſten Fällen im eigentlichen Sinne ſein Pfund vergraben. Aber was iſt es mit der Wahl? Unſere geſellſchaft¬ lichen Verhältniſſe ſind ſo geworden, daß zur Befrie¬ digung unſerer ſtofflichen Bedürfniſſe ein ſehr großer Aufwand gehört. Daher werden junge Leute, ehe ſie ſich ſelber bewußt werden, in Laufbahnen gebracht, die ihnen den Erwerb deſſen, was ſie zur Befriedigung der angefühlten Bedürfniſſe brauchen, ſichern. Von einem Berufe iſt da nicht die Rede. Das iſt ſchlimm, ſehr ſchlimm, und die Menſchheit wird dadurch immer mehr eine Heerde. Wo noch eine Wahl möglich iſt, weil man nicht nach ſogenanntem Broderwerbe aus¬ zugehen braucht, dort ſollte man ſich ſeiner Kräfte ſehr klar bewußt werden, ehe man ihnen den Wir¬ kungskreis zutheilt. Aber muß man nicht in der Ju¬227 gend wählen, weil es ſonſt zu ſpät iſt? Und kann man ſich in der Jugend immer ſeiner Kraft bewußt werden? Es iſt ſchwierig, und mögen, die betheiligt ſind, darüber wachen, daß weniger leichtſinnig ver¬ fahren werde. Laſſet uns über dieſen Gegenſtand ab¬ brechen. Ich wollte euch das, was ich geſagt habe, ſagen, ehe ich euch erzähle, wie ich mit den Ange¬ hörigen eurer künftigen Braut zuſammen hänge. Ich ſagte es euch, damit ihr ungefähr den Stand beur¬ theilen könnt, auf dem ich nun ſtehe. Wir wollen zur Fortſezung eine andere Zeit beſtimmen. “
Nach dieſen Worten ging das Geſpräch auf an¬ dere Gegenſtände über, wir machten dann auch einen Spaziergang, dem ſich auch Guſtav zugeſellte.
15 *Ohne daß ich eine nähere oder entferntere Auf¬ forderung oder Bitte gemacht hätte, fuhr mein Gaſt¬ freund nach Verlauf eines Tages in ſeinen Mitthei¬ lungen fort. Er hatte gefragt, ob er eine Zeit in meinem Zimmer zubringen dürfe, und ich hatte es begreiflicher Weiſe bejaht. Wir ſaſſen an einem ange¬ nehmen und ſtillen Feuer, das von ſehr großen und dichten Buchenklözen unterhalten wurde, er lehnte ſich in ſeinem Polſterſtuhle zurück, und ſagte: „ Ich möchte, wenn es euch genehm iſt, heute meine Mit¬ theilungen an euch vollenden. Ich habe Sorge ge¬ tragen, daß wir nicht geſtört werden, ihr dürft nur ſagen, ob ihr mich hören wollt. “
„ Ihr wißt, daß es mir nicht nur angenehm, ſon¬ dern auch meine Pflicht iſt, “antwortete ich.
229„ Zuerſt muß ich von mir erzählen, “begann er, „ es dürfte ſo nothwendig ſein. Ich bin im Dorfe Dallkreuz in dem ſogenannten Hinterwalde geboren worden. Ihr wißt, daß der Name Hinterwald nicht mehr ſo viel zu bedeuten hat, als er ſagt. Einmal war er wie über die ganze Gegend, welche von unſe¬ rem Strome als ein Gebilde von Hügeln nordwärts geht, auch über die Gründe von Dallkreuz verbreitet. Dallkreuz war damals nicht, und ſein Entſtehen mochte mit dem Aufſchlagen von einigen Holzarbeiterhütten begonnen haben. Jezt ſind Felder Wieſen und Wei¬ den über das ganze Hügelland gebreitet, und einige Reſte der alten Waldungen ſchauen ernſt auf dieſe Gründe herab. Das Haus meines Vaters ſtand außerhalb des Ortes in der Nähe einiger anderer, war aber doch frei genug, um auf Wieſen Felder Gärten und im Süden auf ein ſehr ſchönes blaues Waldband zu ſehen. Als ich ein Knabe von zehn Jahren war, kannte ich alle Bäume und Geſträuche der Gegend, und konnte ſie nennen, ich kannte die vorzüglichſten Pflanzen und Geſteine, ich kannte alle Wege, wußte, wohin ſie führten, und war in allen benachbarten Orten ſchon geweſen, die ſie berühren. Ich kannte alle Hunde von Dallkreuz, wußte welche230 Farben ſie hatten, wie ſie hießen, und wem ſie gehör¬ ten. Ich liebte die Wieſen die Felder die Geſträuche unſer Haus außerordentlich, und unſere Kirchen¬ glocken däuchten mir das Lieblichſte und Anmuthigſte, was es nur auf Erden geben kann. Meine Eltern lebten in Frieden und Eintracht, ich hatte noch eine Schweſter, welche meine Knabenfahrten mit mir machen mußte. Zu unſerem Hauſe, das nur ein Erd¬ geſchoß hatte, welches aber ſchneeweiß war, und weithin in dem Grün leuchtete, gehörten Wieſen Fel¬ der und Wäldchen. Der Vater ließ aber das durch Knechte verwalten, er ſelber trieb einen Handel mit Flachs und Linnen, der ihn auf vielfache Reiſen führte. Ich wurde, da ich noch ein Kind war, zu dem Erben dieſer Dinge beſtimmt, ſollte aber vorher auf einer Lehranſtalt die nothwendige Ausbildung bekommen. Der Vater hatte, als deſſen Eltern, die ich nur wenig gekannt hatte, geſtorben waren, keine Verwandten mehr. Meine Mutter, die der Vater von ferne her geholt hatte, hatte noch einen Bruder, der aber mit ihr, weil ſie als von einem wohlhabenden Hauſe ſtammend eine Verbindung unter ihrem Stande, wie er ſich ausdrückte, geſchloſſen hatte, zerfallen war, und durch nichts verſöhnt werden konnte. Wir wu߬231 ten nichts von ihm, man vermied es, ſeiner Erwäh¬ nung zu thun, und oft in einem ganzen Jahre wurde ſein Name nicht genannt. Die Zuſtände meines Va¬ ters aber blühten empor, und er war faſt der Ange¬ ſehenſte in der Gegend. In dem Jahre, nach deſſen Ende ich in die Lehranſtalt abgehen ſollte, trafen mehrere Unglücksfälle ein. Hagelſchaden verwüſtete die Felder, ein Theil des Gebäudes brannte ab, und als das alles wieder hergeſtellt und in das Geleiſe gebracht worden war, ſtarb der Vater eines plözlichen unvorhergeſehenen Todes. Ein läſſiger Vormund hin¬ terliſtige Handelsfreunde, welche zweifelhafte For¬ derungen ſtellten, und ein unglücklicher Prozeß, der daraus entſprang, brachten für die Mutter eine Lage herbei, in welcher ſie mit Sorgen für unſere Zukunft zu kämpfen hatte. Sie war, da man endlich alles zur Ruhe gebracht hatte, auf das Nothdürftigſte beſchränkt. Ich mußte im Herbſte das geliebte Haus das geliebte Thal und die geliebten Angehörigen verlaſſen. Mit ärmlicher Ausſtattung ging ich an der Hand eines größeren Schülers zu Fuß den ziemlich weiten Weg in die Lehranſtalt. Dort gehörte ich zu den Dürftig¬ ſten. Aber die Mutter ſandte das, was ſie ſenden konnte, ſo genau und zu rechter Zeit, daß ich nie viel232 aber doch das zum Beſtehen Nöthige hatte. Es war an der Anſtalt Sitte, daß die Knaben in den höheren Abtheilungen denen in den niedreren außerordentlichen Unterricht ertheilten, und dafür ein Entgelt bekamen. Da ich einer der beſten Schüler war, ſo wurden mir in meinem vierten Lehrjahre ſchon einige Knaben zum Unterrichten zugetheilt, und ich konnte der Mutter die Auslagen für mich erleichtern. Nach zwei Jahren erwarb ich mir bereits ſo viel, daß ich meinen ganzen Unterhalt ſelbſt beſtreiten konnte. Jede Jahresferien brachte ich bei der Mutter und Schweſter in dem weißen Hauſe zu. Von dem Antreten des Hauſes als Erbſchaft war nun keine Rede mehr. Ich dachte, ich werde mir durch meine Kenntniſſe eine Stellung verſchaffen, und das Haus und den Grundbeſiz einmal als Nothpfennig der Schweſter überlaſſen. So war die Zeit heran gekommen, in welcher ich mich für einen Lebensberuf entſcheiden mußte. Die damals übliche Vorbereitungsſchule, die ich eben zu¬ rückgelegt hatte, führte nur zu einigen Lebensſtellun¬ gen, und machte zu andern eher untauglich als taug¬ lich. Ich entſchloß mich für den Staatsdienſt, weil mir die andern Stufen, zu denen ich von meinen jezi¬ gen Kenntniſſen emporſteigen konnte, noch weniger233 zuſagten. Meine Mutter konnte mir mit keinem Rathe beiſtehen. Ich hatte mir ein kleines Sümmchen durch außerordentliche Sparſamkeit zuſammengelegt. Mit dieſem und tauſend Segenswünſchen der Mutter ver¬ ſehen und mit den Abſchiedsthränen der geliebten Schweſter benezt begab ich mich auf die Reiſe in die Stadt. Zu Fuſſe wanderte ich durch unſer Thal hin¬ aus, und ſuchte durch allerlei Betrachtungen die Thrä¬ nen zu erſticken, welche mir immer in die Augen ſtei¬ gen wollten. Als unſere Wäldergeſtalten hinter mir lagen, als die Herbſtſonne ſchon auf ganz andere Felder ſchien, als ich durch meine Jugend hindurch geſehen hatte, wurde mein Gemüth nach und nach leichter, und ich durfte nicht mehr fürchten, daß mir jeder, der mir begegnete, anſehen könne, daß mir das Weinen ſo nahe ſei. Die Entſchloſſenheit, welche mir eingegeben hatte, in die große Stadt zu gehen, und dort mein Heil in dem Berufe eines Staats¬ dieners zu ſuchen, ließ mich immer feſter und raſcher meinen Weg verfolgen, und tauſend glänzende Schlöſ¬ ſer in die Luft bauen. Als ich an jenem Rande ange¬ kommen war, wo unſer höheres Land in großen Ab¬ ſäzen gegen den Strom hinabgeht, und ganz andere Geſtaltungen anfangen, ſah ich noch einmal um,234 ſegnete das Mutterherz, das nun beinahe ſchon eine Tagereiſe weit hinter mir lag, ſtreichelte gleichſam mit den Fingern die ſchönen langwimperigen Augen¬ lider der Schweſter, die immer etwas blaß ausſah, ſegnete unſer weißes Haus mit dem rothen Dache, ſegnete all die Felder und Wäldchen, die hinter mir lagen, und die ich durchwandelt hatte, und ſtieg nun wirklich ſchwere Thränen in den Augen tragend in den tiefen Weg hinunter, welcher damals unter hohem Laubdache hingehend einen der Päſſe ausmachte, die das rauhere Oberland mit dem tiefen Stromlande verbinden. Ich konnte nun, nachdem ich drei Schritte gemacht hatte, die Geſtaltungen meines Geburtslan¬ des nicht mehr ſehen, nur ſein Rand war alles, was meine Augen erreichen konnten, und was mich noch lange begleiten würde. Ganz andere Bildungen lagen vor mir. Es war mir, ich müſſe umkehren, um nur noch einmal zurück ſchauen zu können. Ich that es aber nicht, weil ich mich vor mir ſelber ſchämte, und ich ging beeiligten Schrittes den Weg hinunter und immer tiefer hinunter. Ich durfte auch nichts ver¬ zögern, wenn ich vor Einbruch der Nacht noch zu dem Strome hinunter gelangen wollte, auf dem mich am andern Morgen ein Schif weiter tragen ſollte. Die235 herbſtliche Abendſonne ſpielte durch die Zweige, man¬ che Kohlmeiſe ließ einen Ruf erſchallen, wie ihn die hatten erſchallen laſſen, welche jezt noch in meinen heimatlichen Bergwäldchen verweilten, mancher Fuhr¬ mann mancher Wanderer begegnete mir, ich ging mit ernſtem Herzen weiter, und als die Sonne unterge¬ gangen war, hörte ich das Rauſchen des Stromes, der mir nun ſo wichtig geworden war, und ſah ſein goldenes abendliches Glänzen. “
„ Ich vergeſſe mich, “unterbrach ſich hier mein Gaſtfreund, „ und erzähle euch Dinge, die nicht wich¬ tig ſind; aber es gibt Erinnerungen, die, wie unbe¬ deutende Gegenſtände ſie auch für andere betreffen, doch für den Eigenthümer im höchſten Alter ſo kräftig daſtehen, als ob ſie die größte Schönheit der Ver¬ gangenheit enthielten. “
„ Ich bitte euch, “entgegnete ich, „ fahret ſo fort, und entzieht mir nicht die Bilder, die euch aus frühe¬ ren Zeiten übrig ſind, ſie gehen ſchöner in das Ge¬ müth, und verbinden leichter, was verbunden werden ſoll, als wenn von dem lebendigen Leben ein flacher Schatten gegeben werden ſollte. Auch iſt meine Zeit, wenn anders die eurige nicht ſtrenger zugemeſſen iſt,236 kein Hinderniß, daß ihr mir irgend etwas vorent¬ halten ſolltet. “
„ Meine Zeit, “antwortete er, „ iſt entweder ſo gemeſſen, daß ich nichts anderes thun ſollte, als auf mein Ende ſehen, oder daß ich über ſie verfügen kann, wie ich will; denn was ſollte ein ſo alter Mann noch Ausſchließliches zu thun haben? Er mag für die paar Stunden, die ihm übrig ſind, noch Blumen zurecht legen, wie er will. Ich thue ja eigentlich hier auf dieſer Beſizung nichts anders. Auch dürfte das, was ich euch ſagen will, für euch nicht ganz unwichtig ſein, wie ſich wohl in der Folge zeigen wird. Ich fahre daher fort, wie ſich eben unter den Worten die Er¬ zählung gibt. “
„ Die Nacht verbrachte ich in gutem Schlummer, und der erſte Morgen ſah mich auf einem jener rohen kleinen Schiffe, wie ſie damals mit verſchiedenen Gütern beladen unſern Strom abwärts befuhren, und auch Menſchen mit ſich nahmen. Mehrere junge Leute, die entweder ganz gleichen oder ähnlichen Be¬ ruf mit mir verfolgten, ſtanden auf dem Verdecke, und legten ſogar manches Mal Hand an die Ruder, da unſer Schif auf dem breiten rauchenden Strome ſich abwärts bewegte, und die kleine Stadt, die uns237 Nachtherberge gegeben hatte, ſich aus den Morgen¬ nebeln ringend unſern Augen immer weiter und wei¬ ter zurück trat. Manches Lied mancher Spruch, der aus der Schaar meiner Begleiter hervortrat, machte ſeine Wirkung auf mich, und ich wurde ſtärker und entſchloſſener. “
„ Als am Abende des zweiten Tages unſerer Waſ¬ ſerfahrt der hohe ſchlanke Thurm der Stadt, deren Miteinwohner ich nun werden ſollte, gleichſam luftig blau unter den Gebüſchen der Ufer ſichtbar wurde, als man ſich rief, und das Zeichen ſich zeigte, das man nun nach Verlauf von etwas mehr als einer Stunde erreichen werde, wollte mir das Herz im Bu¬ ſen wieder unruhiger pochen. Dieſes Merkmal ver¬ gangener Menſchenalter, dachte ich, welches ſo viele große und gewaltige Schickſale geſehen hatte, wird nun auch auf dein kleines Geſchick herabſehen, es mag ſich nun gut oder übel abſpinnen, und wird, wenn es längſtens abgelaufen iſt, wieder auf andere ſchauen. Wir fuhren raſcher zu, weil alles hoffnungs¬ voll die Ruder führte, die Entſchloſſneren ſangen ein Lied, und ehe noch die Stunde um war, legte unſer Schif an der ſteinernen Einfaſſung des Fluſſes im Angeſichte ſehr großer Häuſer an. Ein älterer Schü¬238 ler, der ſchon zwei Jahre in der Stadt zugebracht hatte, und jezt von den bei ſeinen Eltern verlebten Ferien zurückkehrte, erboth ſich, mir einen Gaſthof zur Unterkunft zu zeigen, und mir morgen zur Auf¬ findung eines Wohnzimmerchens für mich behilflich zu ſein. Ich nahm es dankbar an. Unter dem Thor¬ wege des Gaſthofes, in den er mich geführt hatte, nahm er Abſchied von mir, und verſprach, mich mor¬ gen mit Tagesanbruch zu beſuchen. Er hielt Wort, ehe ich angekleidet war, ſtand er ſchon in meinem Zimmer, und ehe die Sonne den Mittag erreichte, waren meine Sachen ſchon in einem Miethzimmer¬ chen, das wir für mich gefunden hatten, untergebracht. Er verabſchiedete ſich, und ſuchte ſeine wohlbekannten Kreiſe auf. Ich habe ihn ſpäter ſelten mehr geſehen, da uns nur die Schiffahrt zuſammengebracht hatte, und da ſeine Laufbahn eine ganz andere war als die meine. Als ich von meinem Stübchen ausging, die Stadt zu betrachten, befiel mich wieder eine ſehr große Bangigkeit. Dieſe ungeheure Wildniß von Mauern und Dächern dieſes unermeßliche Gewimmel von Menſchen, die ſich alle fremd ſind, und an einander vorübereilen, die Unmöglichkeit, wenn ich einige Gaſ¬ ſen weit gegangen war, mich zurecht zu finden, und239 die Nothwendigkeit, wenn ich nach Hauſe wollte, mich Schritt für Schritt durchfragen zu müſſen, wirkte ſehr niederdrückend auf mich, der ich bisher immer in einer Familie gelebt hatte, und ſtets an Orten ge¬ weſen war, in denen ich alle Häuſer und Menſchen kannte. Ich ging zu dem Vorſtande der Rechtsſchule, um mich für die Vorbereitungsjahre zum Staatsdienſte einſchreiben zu laſſen. Er nahm mich meiner treff¬ lichen Zeugniſſe willen ſehr gut auf, und ermahnte mich, durch die große Stadt mich von meinem Fleiße nicht abbringen zu laſſen. Ach Gott, die große Stadt war für mich bei meinen ſo kargen Mitteln nichts als ein Wald, deſſen Bäume auf mich keine Beziehung haben, und ſie trieb mich durch ihre Fremdartigkeit eher zum Fleiße an, als daß ſie mich abgehalten hätte. Am Tage der Eröffnung des Unterrichtes ging ich, der ich nun doch ſchon einige auf mich bezügliche Wege wußte, in die hohe Schule. Dort wogte ein großes Gewimmel durch einander. Alle Fächer wurden hier gelehrt, und für alle Fächer fanden ſich Schüler. Die meiſten ſahen ſehr begabt gebildet und behende aus, ſo daß ich wieder im Glauben an meine nur geringen Kräfte zu zagen anfing, hier gleichen Schritt halten zu können. Ich begab mich in den Lehrſaal, in den240 ich gehörte, und ſezte mich auf einen der mittleren Pläze. Die Lehrſtunde begann, und ging vorüber, ſo wie nun viele nach und nach begannen, und vor¬ über gingen. Sie und die ganze Stadt hatten noch immer etwas Ungewöhnliches für mich. Das Liebſte war mir, in meinem Stübchen zu ſizen, an meine Ver¬ gangenheit zu denken, und ſehr lange Briefe an meine Mutter zu ſchreiben. “
„ Als einige Zeit verfloſſen war, wuchs mir Muth und Kraft im Herzen. Unſer Lehrer ein würdiger Rath in der Rechtsverſammlung der Schule lehrte fragend. Ich ſchrieb getreulich ſeine Lehren in meine Hefte. Als ſchon eine große Zahl meiner Mitſchüler gefragt worden war, als endlich die Reihe auch mich getroffen hatte, erkannte ich, daß ich vielen, die mich an Kleidern und äußerem Benehmen übertrafen, in unſerem Lehrfache nicht nachſtehe, ſondern einer gro¬ ßen Zahl vor ſei. Dies lehrte mich nach und nach die mir bisher fremd gebliebenen Verhältniſſe der Stadt würdigen, und ſie wurden mir immer mehr und mehr vertraut. Einige Schüler hatte ich ſchon früher gekannt, da ſie vor mir von der nehmlichen Lehranſtalt, in der ich bisher geweſen war, hieher übergetreten waren; andere lernte ich noch kennen. 241Als meine Barſchaft, mit der ich ſehr ſtrenge Haus hielt, ſich ſchon ſichtlich zu verringern begann, wurde ich von einem meiner Mitſchüler, der mein Nachbar auf der Schulbank war, und aus meinem Munde ge¬ hört hatte, daß ich früher Unterricht gegeben habe, aufgefordert, ſeine zwei kleinen Schweſtern zu unter¬ richten. Wir hatten durch die tägliche Berührung eine Art Freundſchaft geſchloſſen, und waren einan¬ der geneigt. Als er daher zu Hauſe gehört hatte, daß man für die zwei kleinen Mädchen einen Lehrer ſuche, ſchlug er mich vor, und erzählte mir auch von der Sache. Die Eltern wollten mich ſehen, er führte mich zu ihnen, und ich wurde angenommen. Auch hatten die Schritte, welche ich ſelber nach meiner Berechnung der Dinge gethan hatte, um durch Ertheilung von Unterricht einen Erwerb zu bekommen, Erfolg. Sie hatten zwar keinen bedeutenden, auf einen ſolchen hatte ich nicht gerechnet, aber ſie hatten doch einen. So war das in Erfüllung gegangen, was ich durch meine Umſiedlung in die große Stadt angeſtrebt hatte. Ich lebte jezt ſorgenfrei, hatte in dem Hauſe meines Freundes, in welches ich öfter geladen wurde, eine Gattung Familienumgang, und konnte mit allem Ei¬ fer der Erlernung meines Faches mich widmen. “
Stifter, Nachſommer. III. 16242„ In den erſten Ferien beſuchte ich die Mutter und Schweſter. Ich hatte die beſten Zeugniſſe in meinem Koffer, und konnte ihnen von meinen ſehr guten an¬ derweitigen Erfolgen erzählen; denn gegen das Ende des Schuljahres hatten ſich dieſe ſehr gebeſſert. Mit ganz anderem Herzen als vor einem Jahre konnte ich nach dem Ende der Ferien das mütterliche Haus ver¬ laſſen, und die Reiſe in die Stadt antreten. “
„ Nach dem zweiten Jahre konnte ich die Meinigen nicht mehr beſuchen. Ich war in der Stadt bekannt geworden, die Art, wie ich Kinder unterrichtete, ſagte vielen Familien zu, man ſuchte mich, und gab mir auch einen größeren Lohn. Ich konnte mir dadurch mehr erwerben, legte mir ſtets etwas als Sparpfennig zurück, und hatte bei der Freudigkeit meines Gemüthes über dieſen Fortgang Kraft genug, neben meinem Fache auch noch meine Lieblingswiſſenſchaften Mathe¬ matik und Naturlehre zu betreiben. Nur das Einzige war ſtörend, daß die Familien, bei denen ich Unter¬ richt gab, nicht gerne ſahen, daß ich durch eine Reiſe den Unterricht unterbreche. Es war dieſe Forderung eine begreifliche, ich blieb mit den Meinigen in einem lebhafteren Briefwechſel als früher, und verabredete mit ihnen, daß ich nicht eher als nach Beendigung243 meines Lehrganges ſie wieder beſuchen, dann aber einige Monate bei ihnen bleiben wolle. Hiemit waren auch die, in deren Dienſte ich ſtand, zufrieden. “
„ Die Stadt, welche mir Anfangs ſo unheimlich geweſen war, wurde mir immer lieber. Ich gewöhnte mich daran, immer fremde Menſchen in den Gaſſen und auf den Pläzen zu ſehen und darunter nur ſelten einem Bekannten zu begegnen; es erſchien mir dieſes ſo weltbürgerlich, und wie es früher mein Gemüth niedergedrückt hatte, ſo ſtählte es jezt daſſelbe. Einen ſchönen Einfluß übten auf mich die großen wiſſen¬ ſchaftlichen und Kunſthilfsmittel, welche die Stadt, beſizt. Ich beſuchte die Bücherſammlungen die der Gemälde, ich ging gerne in das Schauſpiel, und hörte gute Muſik. Es lebte von jeher ein großer Eifer für wiſſenſchaftliche Beſtrebungen in mir, und ich konnte demſelben jezt bei der Heiterkeit meiner Lage Nahrung geben. Was ich bedurfte, und was ich durch meine Mittel mir nicht hätte anſchaffen können, fand ich in den Sammlungen. Da ich den ſogenannten Vergnü¬ gungen nicht nachging, ſondern in meinen Beſtrebun¬ gen mein Vergnügen fand, ſo hatte ich Zeit genug, und weil ich geſund und ſtark war, reichte auch meine Kraft aus. In hohem Maße befriedigten mich einige16 *244ſchöne Gebäude, beſonders Kirchen, dann Bildſäulen und Gemälde. Ich brachte manchen Tag damit zu, mich in die Betrachtung der kleinſten Theile dieſer Dinge zu vertiefen. Auch hatte ich manche Familien kennen gelernt, wurde bei ihnen aufgenommen, und bildete nach und nach meinen Umgang mit Menſchen etwas mehr heraus. “
„ Da ich in dem zweiten Jahre meiner Lernzeit war, vermählte ſich meine Schweſter. Ich hatte ihren jezigen Gatten ſchon früher gekannt. Er war ein ſehr guter Mann, hatte keine Leidenſchaften keine übeln Gewohn¬ heiten, war häuslich ſogar auch thätig, hatte eine an¬ genehme Körpererſcheinung, war aber ſonſt nichts mehr. Dieſe Vermählung hatte mir keine Freude und kein Leid gemacht. Da ich meine Schweſter ſo liebte, ſo war mir ſtets, daß ſie nie einen andern Mann als den allerherrlichſten bekommen ſolle. Dies war nun wohl nicht der Fall. Die Mutter ſchrieb mir, daß mein Schwager ſeine Gattin ſehr verehre, daß er lange und treu um ſie geworben und endlich ihr Herz ge¬ wonnen habe. Sie wohnen in unſerem Hauſe, und von da aus treibe er ſtill und emſig ſein kleines Han¬ delsgeſchäft, das ſie nähre. Ich ſchrieb einen Brief entgegen, worin ich den Vermählten Glück und Segen245 wünſchte, und den Schwager bath, ſeine Gattin ſehr zu lieben zu ſchonen und zu ehren; denn ich glaube, daß ſie es verdiene. Die Antworten verſprachen alles, ſo wie die folgenden Briefe immer den Stempel eines ſtillen häuslichen Friedens trugen. “
„ In dieſen Verhältniſſen kam die Zeit heran, da ich mit den lezten Prüfungen meine Vorbereitungs¬ jahre beendigt hatte. Ich richtete eben mein Reiſe¬ gepäcke zuſammen, um der Verabredung gemäß nach langer Trennung die Meinigen wieder zu ſehen, als ein Brief von der Hand der Schweſter kam, deſſen Inneres häufige Thränenſpuren zeigte, und der mir ſagte, daß unſere Mutter geſtorben ſei. Sie war vor einiger Zeit krank geworden, man hielt das Übel nicht für gefährlich, und da man mich in der Vorbereitung zu meinen lezten Prüfungen wußte, ſo wollte man mir, um mich nicht zu ſtören, keine Meldung von der Krankheit zukommen laſſen. So zog es ſich durch zehn Tage hin, von wo es ſich raſch verſchlimmerte, und ehe man es ſich verſah, mit dem Tode endigte. Man konnte mir nur mehr dieſen melden. Ich raffte ſofort alles zuſammen, was zu einer Reiſe nöthig ſchien, ſchrieb zwei Zeilen an einen Freund, worin ich ihn bath, die Sache meinen Bekannten, die ich ihm bezeich¬246 nete, zu melden und mich zu entſchuldigen, daß ich ohne Abſchied abreiſe. Hierauf ging ich auf die Poſt, und ließ mich einſchreiben. Zwei Stunden darnach ſaß ich ſchon in dem Wagen, und obwohl wir in der Nacht wie am Tage fuhren, obwohl ich von der lezten Poſt aus, an der der Weg nach meiner Heimath ab¬ lenkte, eigene Pferde nahm, und mittelſt Wechſels derſelben unaufhörlich fortfuhr, ſo kam ich doch zu ſpät, um die irdiſche Hülle meiner Mutter noch ein¬ mal ſehen zu können. Sie ruhte bereits im Grabe. Nur in ihren Kleidern in Geräthen im Arbeitszeuge, das auf ihrem Tiſchchen lag, ſah ich die Spuren ihres Daſeins. Ich warf mich in eine Lehnbank, und wollte in Thränen vergehen. Es war der erſte große Verluſt, den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des Vaters war ich zu jung geweſen, um ihn recht empfinden zu können. Obwohl der erſte Schmerz unſäglich heiß geweſen war, und ich geglaubt hatte, ihn nicht über¬ leben zu können, ſo verminderte er ſich wider meinen Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem Schatten wurde, und ich mir nach Verlauf von eini¬ gen Jahren keine Vorſtellung mehr von dem Vater machen konnte. Jezt war es anders. Ich hatte mich daran gewöhnt, die Mutter als das Bild der größten247 häuslichen Reinheit zu betrachten als das Bild des Duldens der Sanftmuth des Ordnens und des Be¬ ſtehens. So war ſie ein Mittelpunkt für unſer Den¬ ken geworden, und mir kam faſt nicht zu Sinne, daß das je einmal anders werden könne. Jezt wußte ich erſt, wie ſehr wir ſie liebten. Sie, die nie gefordert hatte, die nie auf ſich irgend eine Beziehung gemacht hatte, die geräuſchlos immer gegeben hatte, die jedes Schickſal als eine Fügung des Himmels empfangen hatte, und die in ruhigem Glauben ihre Kinder der Zukunft anvertraut hatte, war nicht mehr. Unter der Decke der Schollen ſchlummerte ihr Herz, das dort vielleicht ſo ergebungsvoll ſchlummerte, wie es ſonſt in der Kammer unter der Hülle ſeiner weißen Decke geſchlummert hatte. Die Schweſter war wie ein Schatten, ſie wollte mich tröſten, und ich wußte nicht, ob ſie des Troſtes nicht noch bedürftiger wäre als ich. Der Gatte meiner Schweſter war in einer gewiſſen Ergebung, er war ſtille, und ging an die Beſchäfti¬ gungen ſeines Berufes. Ich ließ mir nach einer Zeit das friſche Grab der Mutter zeigen, weinte dort meine Seele aus, und betete für ſie zu dem Herrn des Him¬ mels. Da ich in das Haus zurückgekehrt war, beſuchte ich alle Räume, in denen ſie zulezt geweilt hatte, be¬248 ſonders ihr eigenes Stübchen, in welchem man alles gelaſſen hatte, wie es bei ihrer Erkrankung geweſen war. Der Schwager und die Schweſter bothen mir an, und bathen mich, eine Zeit bei ihnen zu verwei¬ len. Ich nahm es an. In dem hinteren Theile des Hauſes, den ich immer am meiſten geliebt hatte, war ſchon vor der Erkrankung der Mutter ein Zimmer für mich größtentheils durch ihre Hände hergerichtet wor¬ den. Dieſes Zimmer bezog ich, und packte darin mei¬ nen Koffer aus. Seine zwei Fenſter gingen in den Garten, die weißen Fenſtervorhänge hatte noch die Mutter geordnet, und das Linnen des Bettes war durch ihre vorſorglichen Finger gleichgeſtrichen wor¬ den. Ich getraute mir kaum etwas zu berühren, um es nicht zu zerſtören. Ich blieb ſehr lange unbeweg¬ lich in dem Zimmer ſizen. Dann ging ich wieder durch das ganze Haus. Es ſchien mir gar nicht, als ob es das wäre, in welchem ich die Tage meiner Kindheit verlebt hatte. Es erſchien mir ſo groß und fremd. Die Wohnung, welche ſich meine Schweſter und ihr Gatte darin eingerichtet hatten, war früher nicht da geweſen, dafür war das Gemach für Vater und Mut¬ ter, das immer auch nach ſeinem Tode noch beſtanden war, verſchwunden, ebenſo fand ich das Zimmer für249 uns Kinder nicht mehr, welches ich in allen Ferien, die ich zu Hauſe zugebracht hatte, noch in dem Zu¬ ſtande aus unſerer früheren Zeit her geſehen hatte. Es war eben eine neue Haushaltung in dem Gebäude eingerichtet worden. Unter dem Dache angekommen ſah ich, daß man ſchadhafte Stellen des Daches aus¬ gebeſſert hatte, daß man neue Ziegel genommen hatte, und daß an den Kanten, wo ſich früher die Rundzie¬ gel befunden hatten, die neue Art der Verklebung durch Mörtel angewendet worden war. Dies alles that mir wehe, obwohl es natürlich war, und obwohl ich es zu einer andern Zeit kaum beachtet haben würde. Jezt aber war mein Gemüth durch den Schmerz er¬ legt, und jezt ſchien es mir, als ob man alles Alte auch die Mutter aus dem Hauſe hinaus gedrängt hätte. “
„ Ich lebte von jezt an ſtill in dem Zimmer, las, ſchrieb, ging täglich auf das Grab der Mutter, be¬ ſuchte die Felder und manches Wäldchen, hielt mich aber von den Menſchen ferne, weil ſie immer von meinem Verluſte redeten, und mit den Worten in ihm ſtets wühlten. Das Haus war auch ſehr ſtille. Die Vermählten hatten noch keine Kinder, mein Schwa¬ ger, deſſen Weſen friedlich und einfach war, befand250 ſich größtentheils außer Hauſe, die Schweſter beſorgte mit der einzigen Magd, die ſie hatte, die häuslichen Geſchäfte, und wenn die Abenddämmerung kam, wurde die Thür, die gegen die Straße ging, mit den eiſernen Stangen von Innen verriegelt, und nur die in den Garten führende blieb offen, bis die Stunde zum Schlafen kam, wo ſie dann auch die Schweſter mit eigenen Händen ſchloß. Das häusliche Glück der zwei Ehegatten ſchien feſt gegründet zu ſein, das war eine Linderung für meine Wunde, und ich verzieh dem Schwager, daß er nicht ein Mann war, der durch hohe Begabung und den Schwung ſeiner Seele die Schweſter zu einem himmliſchen Glücke emporgeführt hatte. “
„ So vergingen mehrere Wochen. Vor meiner Abreiſe ging ich noch in unſer Gerichtsamt, verzich¬ tete dort für meine Schweſter auf jeden Erbanſpruch des von unſern Eltern hinterlaſſenen Beſizthumes, und ließ meine Rechte auf die Schweſter überſchrei¬ ben. So war den beiden Gatten das Daſein, ſo lange es ihnen der Himmel verlieh, geſichert; ich hatte als Erbtheil den Unterricht bekommen, und hoffte durch das, was er mir an Kenntniſſen eingebracht hatte, und was ich mir noch erwerben wollte, den Unterhalt251 meines Lebens ſchon zu decken. Hierauf reiſte ich von dem Danke und von den wärmſten Wünſchen für mein Wohl von der Schweſter und dem Schwager begleitet wieder in die Stadt ab. “
„ In derſelben begann ich jezt ein ſehr zurückgezo¬ genes Leben zu führen. Ich hatte mir ſo viel erſpart, daß ich nur einen kleinen Theil meiner Zeit zum Un¬ terrichtgeben verwenden mußte. Die übrige wendete ich für mich an, und verlegte mich auf Naturwiſſen¬ ſchaften auf Geſchichte und Staatswiſſenſchaften. Mei¬ nen eigentlichen Beruf ließ ich etwas außer Acht. Die Wiſſenſchaften und die Kunſt, deren Vergnügen ich nie entſagte, füllten mein Herz aus. Ich ſuchte jezt weniger als je die Geſellſchaft von Menſchen auf. Die Nothwendigkeit, die Zeit der Vorbereitung zu meinem Berufe recht zu benuzen, und mir außerdem noch meinen Lebensunterhalt zu erwerben, hatte mich ſchon in früheren Jahren faſt nur auf mich allein zu¬ rückgewieſen, und ich ſezte jezt dies Leben fort. “
„ Allein es dauerte nicht lange in dieſer Art. Schon nach einem halben Jahre, als ich das Grab der Mut¬ ter verlaſſen hatte, kam mir von meinem Schwager die Nachricht zu, daß zu den zwei Gräbern des Vaters und der Mutter auf unſerer Familienbegräbnißſtätte252 ein drittes Grab gekommen ſei, das meiner Schwe¬ ſter. Sie hatte ſich ſeit dem Tode der Mutter nicht recht erholt, und eine unverſehene Verkühlung raffte ſie dahin. Der Schwager ſchrieb mir, und wie ich ſah, in aufrichtigem Kummer, daß er nun ganz ver¬ laſſen ſei, daß er keine Freude mehr habe, daß er ein¬ ſam ſein Leben zubringen wolle, daß er wohl von der Verewigten zum Erben eingeſezt worden ſei, daß er aber gerne mit mir theilen wolle, er habe kein Kind, ſeine einzige Freude liege im Grabe, er achte nicht mehr viel auf Beſizungen, ſein Stückchen Brod, wel¬ ches für ſein einfaches Leben recht klein ſein dürfe, werde er für die Zeit ſchon finden, die er noch zubrin¬ gen müſſe, ehe er zu Kornelien gehen könne. Da der Mann meine Schweſter ſehr geliebt hatte, da ihre Briefe an mich immer von ihrem Glücke erzählten, gönnte ich ihm das kleine Beſizthum, und ſchrieb ihm zurück, daß ich keine Anſprüche erhebe, und daß er das Hinterlaſſene ungetheilt genießen möge. Er dankte mir, ich ſah aber aus ſeinem Briefe, daß er über das Geſchenk eben keine ſonderliche Freude habe. “
„ Ich zog mich nun noch mehr zurück, und mein Leben war ſehr trübe. Ich zeichnete viel, ich bildete zuweilen auch etwas in Thon, und ſuchte ſogar man¬253 ches in Farben darzuſtellen. Nach einiger Zeit kam mir von befreundeter Hand der Antrag, daß ich bei einer gebildeten und wohlhabenden Familie wohnen möchte, daß ich einen Theil des Unterrichtes eines Knaben, der in der Familie ſei, gegen vortheilhafte Bedingungen übernehmen möchte, worunter auch die war, daß ich nicht gebunden ſei, daß ich öfter abwe¬ ſend ſein, und zum Theile ſogar kleine Reiſen machen könne. In der Verödung, in der ich mich befand, hatte die Ausſicht auf ein Familienleben eine Art An¬ ziehung für mich, und ich nahm den Antrag unter der Bedingung an, daß ich die Freiheit haben müſſe, in jedem Augenblicke das Verhältniß wieder auflöſen zu können. Die Bedingung wurde zugeſtanden, ich packte meine Sachen, und nach drei Tagen fuhr ich in der Richtung nach dem Landſize der Familie ab. Dieſer Siz war ein angenehmes Haus in der Nähe großer Meiereien, die einem Grafen gehörten. Das Haus war beinahe zwei Tagereiſen von der Stadt entfernt. Es war ſehr geräumig, hatte eine ſonnige Lage, lieb¬ liche Raſenpläze um ſich, und hing mit einem großen Garten zuſammen, in dem theils Gemüſe theils Obſt theils Blumen gezogen wurden. Der Beſizer des Hauſes war ein Mann, der von reichlichen Renten254 lebte, ſonſt aber kein Amt noch irgend eine andere Beſchäftigung zum Gelderwerb hatte. So war er mir geſchildert worden, mit dem Beifügen, daß er ein ſehr guter Mann ſei, mit dem ſich jedermann vertrage, daß er eine treffliche ſorgſame Frau habe, und daß außer dem Knaben nur noch ein halberwachſenes Mädchen da ſei. Dieſe Dinge waren es auch vorzüglich, welche mich zur Annahme beſtimmt hatten. Mein Name ſei der Familie in einem Hauſe genannt worden, mit dem ſie in ſehr inniger Beziehung ſtand, und ich ſei ſehr empfohlen worden. Man hatte mir auf die lezte Poſt einen Wagen entgegen geſandt. Es war ein ſchöner Nachmittag, als ich in Heinbach, das war der Name des Hauſes, einfuhr. Wir hielten unter einem hohen Thorwege, zwei Diener kamen die Treppe herab, um meine Sachen in Empfang zu nehmen, und mir mein Zimmer zu zeigen. Als ich noch im Wagen mit Her¬ ausnehmen von ein paar Büchern und andern Kleinig¬ keiten beſchäftigt war, kam auch der Herr des Hauſes herunter, begrüßte mich artig, und führte mich ſelber in meine Wohnung, die aus zwei freundlichen Zim¬ mern beſtand. Er ſagte, ich möge mich hier zurecht richten, möge hiebei nur meine Bequemlichkeit vor Augen haben, ein Diener ſei angewieſen, meine Be¬255 fehle zu vollziehen, und wenn ich fertig ſei, und etwa heute noch wünſche, mit ſeiner Gattin zu ſprechen, ſo möge ich klingeln, der Diener werde mich zu ihr füh¬ ren. Hierauf verließ er mich unter höflichem Abſchiede. Der Mann gefiel mir ſehr wohl. Ich entledigte mich meiner ſtaubigen Kleider, reinigte mich, legte nur das Nothwendigſte in meinem Zimmer in Ordnung, klei¬ dete mich dann beſuchsgemäß an, und ließ die Frau des Hauſes fragen, ob ich bei ihr erſcheinen dürfe. Sie ſendete eine bejahende Antwort. Ich wurde über einen Gang geführt, in welchem allerlei Bilder hin¬ gen, wir traten in einen Vorſaal und von dem in das Zimmer der Frau. Es war ein großes Zimmer mit drei Fenſtern, an welches ein niedliches Gemach ſtieß. In dieſem Zimmer waren heitere Geräthe einige Bilder, und die Nachmittagsſonne war durch ſanfte Vorhänge gedämpft. Die Frau ſaß an einem großen Tiſche, zu ihren Füßen ſpielte ein Knabe, und ſeit¬ wärts an einem kleinen Tiſchchen ſaß ein Mädchen und hatte ein Buch vor ſich. Es ſchien, es habe vor¬ geleſen. Die Frau ſtand auf, und ging mir entgegen. Sie war ſehr ſchön, noch ziemlich jung, und was mir am meiſten auffiel, war, daß ſie ſehr ſchöne braune Haare aber tief dunkle große ſchwarze Augen hatte. 256Ich erſchrak ein wenig, wußte aber nicht warum. Mit einer Freundlichkeit, die mein Zutrauen gewann, hieß ſie mich einen Plaz nehmen, und als ich dies gethan hatte, nannte ſie meinen Vor - und Familiennamen, hieß mich beinahe herzlich willkommen, und ſagte, daß ſie ſich ſchon ſehr geſehnt habe, mich unter ihrem Dache zu ſehen. “
„ „ Alfred, ““rief ſie, „ „ komm, und küſſe dieſem Herrn die Hand. ““
„ Der Knabe, welcher bisher neben ihr geſpielt hatte, ſtand auf, trat vor mich, küßte mir die Hand und ſagte: „ „ Sei willkommen! ““
„ „ Sei auch du willkommen, ““erwiederte ich, und drückte ein wenig das Händchen des Knaben. Er hatte ein ſehr roſiges Angeſicht, ebenfalls braune Haare wie die Mutter aber dunkelblaue Augen, wie ich ſie an dem Vater geſehen zu haben glaubte. “
„ „ Das iſt das Kind, deſſentwillen ich euch ſo ſehr in unſer Haus gewünſcht habe, ““ſagte ſie. „ „ Ihr ſollt daſſelbe weniger unterrichten, dazu ſind Lehrer da, welche das Haus beſuchen, ſondern wir bitten euch, daß ihr bei uns lebet, daß ihr dem Knaben öfter eure Geſellſchaft gönnt, daß er außer dem Umgange mit ſeinem Vater auch den eines jungen Mannes hat,257 was auf ihn Einfluß nehmen möge. Erziehung iſt wohl nichts als Umgang, ein Knabe, ſelbſt wenn er ſo klein iſt, muß nicht immer mit ſeiner Mutter oder wieder nur mit Knaben umgehen. Der Unterricht iſt viel leichter als die Erziehung. Zu ihm darf man nur etwas wiſſen, und es mittheilen können, zur Erziehung muß man etwas ſein. Wenn aber einmal jemand et¬ was iſt, dann, glaube ich, erzieht er auch leicht. Meine Freundin Adele, die Gattin des Kaufherrn, deſſen Waarengewölbe dem großen Thore des Erzdomes gegenüber iſt, hat mir von euch erzählt. Wenn ihr es für gut findet, den Knaben auch in irgend etwas zu unterrichten, ſo iſt es eurem Ermeſſen überlaſſen, wie und wie weit ihr es thut. ““
„ Ich konnte auf dieſe Worte nichts antworten; ich war ſehr erröthet. “
„ „ Mathilde, ““ſagte die Frau, „ „ begrüße auch die¬ ſen Herrn, er wird jezt bei uns wohnen. ““
„ Das Mädchen, welches immer bei ſeinem aufge¬ ſchlagenen Buche ſizen geblieben war, ſtand jezt auf, und näherte ſich mir. Ich erſtaunte, daß das Mäd¬ chen ſchon ſo groß ſei, ich hatte es mir kleiner gedacht. Es war auf einem etwas niederen Stuhle geſeſſen. Da es in meine Nähe gekommen war, ſtand ich auf,Stifter, Nachſommer. III. 17258wir verneigten uns gegen einander, Mathilde ging wieder zu ihrem Size, und ich nahm auch den meini¬ gen wieder ein. Die Frau hatte wohl dieſe Begrü¬ ßung eingeleitet, um mein Erröthen vorüber gehen zu machen. Es war auch zum großen Theile vorüber gegangen. Sie hatte eine Antwort auf ihre an mich gerichtete Rede auch wahrſcheinlich nicht erwartet. Sie fragte mich jezt um mehrere gleichgültige Dinge, die ich beantwortete. In meine näheren Verhältniſſe oder etwa gar in die meiner Familie ging ſie nicht ein. Nachdem die Unterredung eine Weile gedauert hatte, verabſchiedete ſie mich, ſagte, ich möchte von der Reiſe etwas ausruhen, bei dem Abendeſſen würden wir uns wieder ſehen. Der Knabe hatte während der ganzen Zeit meine Hand gehalten, war neben mir ſtehen ge¬ blieben, und hatte öfter zu meinem Angeſichte herauf¬ geſchaut. Ich löſte jezt meine Hand aus der ſeinen, grüßte ihn noch, verneigte mich vor der Mutter, und verließ das Zimmer. “
„ Als ich in meiner Wohnung angekommen war, ſezte ich mich auf einen der ſchönen Stühle nieder. Jezt wußte ich, weßhalb man mir ſo gute Bedingun¬ gen geſtellt hatte, und wie ſchwer meine Aufgabe war. Ich zagte. Das Benehmen der Frau hatte mir ſehr259 gefallen, darum zagte ich noch mehr. Als ich eine Zeit auf meinem Stuhle geſeſſen war, erhob ich mich wieder, und es fiel mir ein, daß ich ja dem Herrn des Hauſes auch einen Beſuch zu machen habe. Ich klin¬ gelte, und verlangte von dem eintretenden Diener, daß er mich zu dem Herrn führe. Der Diener ant¬ wortete, der Herr ſei in den Wald gegangen, und werde erſt Abends zurückkehren. Er hatte den Befehl hinterlaſſen, daß man mir ſage, ich möge nur meine Reiſeſachen auspacken, möge ausruhen, und möge mir ſeinethalben keine Pflichten auflegen, morgen könne das Weitere beſprochen werden. Ich legte daher die Kleider, welche ich zu dem Beſuche bei der Frau genommen hatte, wieder ab, zog mich anders an, und brachte meine Sachen nun in meiner Woh¬ nung in Ordnung. Bei dieſer Beſchäftigung ging mir nach und nach der ganze Reſt des noch übrigen Tages dahin. Als ich fertig war, dämmerte es bereits. Nach¬ dem ich mich gereinigt und zum Abendeſſen angekleidet hatte, ſagte mir mein Diener, daß ſich der Herr, der ſchon nach Hauſe zurückgekehrt ſei, zum Be¬ ſuche bei mir melde. Ich ſagte zu, der Herr kam, und fragte, ob man in meiner Wohnung alles nach Gebühr vorbereitet habe, und ob ich nichts17 *260vermiſſe. Ich antwortete, daß alles meine Erwar¬ tung übertreffe, und daher ein weiteres Begehren die größte Unbeſcheidenheit wäre. Er ſagte, daß er nun wünſche, daß mein Eintritt in ſein Haus geſegnet ſei, daß mein Aufenthalt darin erfreulich ſein möge, und daß ich es einſt nicht mit Reue und Schmerz ver¬ laſſe. Hierauf lud er mich zum Abendeſſen ein. Wir gingen in ein ſehr heiteres Speiſezimmer, in wel¬ chem ein einfaches Abendmahl unter einfachen Geſprä¬ chen eingenommen wurde. Bei demſelben war der Herr die Frau die zwei Kinder und ich gegenwärtig. “
„ Am nächſten Vormittage ließ ich anfragen, ob ich den Herrn beſuchen dürfe. Ich wurde dazu eingeladen, und mein Diener führte mich zu ihm. Ich war in denſelben Beſuchkleidern wie geſtern bei der Frau. Der Herr ſaß bei Papieren und Schriften, er erhob ſich bei meinem Eintritte, ging mir entgegen, grüßte mich auf das Ausgezeichnetſte, und führte mich zu einem Tiſche. Er war ſchon völlig und ſehr fein angekleidet. Als wir uns niedergelaſſen hatten, ſagte er: „ „ Seid mir noch einmal in meinem Hauſe willkommen. Ihr ſeid uns ſo empfohlen worden, daß wir uns glücklich ſchäzen, daß ihr zu uns gekommen ſeid, daß ihr eine Zeit bei uns wohnen wollt, und daß ihr erlaubt, daß261 mein lieber Knabe, dem ich eine glückſelige Zukunft wünſche, eure Geſellſchaft genieße. Ich glaube, ihr werdet vielleicht in einiger Zeit ſehen, daß wir eure Freunde ſind, und ihr werdet uns etwa auch eure Freundſchaft ſchenken. Richtet eure Beſchäftigungen ein, wie ihr wollt, verlegt euch auf das, was euer künftiger Beruf fordert, und betrachtet euch in allen Stücken wie in eurem eigenen Hauſe. Ihr werdet euch wohl hier an Einfachheit gewöhnen müſſen. Wir haben hier und in der Stadt wenig Beſuch, und ma¬ chen auch wenig. Mathilde wird von der Frau ſelber erzogen. Mit Erzieherinnen hatten wir kein Glück. Wir gaben es daher auf, für Mathilden eine Geſell¬ ſchafterin zu ſuchen. Sie iſt bei der Mutter, zuweilen ſieht ſie Mädchen ihres Alters, und manches Mal wohnt ſie Geſprächen und Spaziergängen mit zwei älteren guten und lieben Mädchen bei. Sonſt iſt ſie in ihrer Ausbildung begriffen, und bringt ihre Zeit mit Lernen zu. Wie es mit dem Knaben iſt, werdet ihr wohl ſehen. Man hat uns geſagt, daß ihr in der Stadt ſehr zurückgezogen gelebt habt, deßhalb glaub¬ ten wir, daß ihr bei uns nicht gar ſehr die menſchliche Geſellſchaft vermiſſen werdet. Ich beſchäftige mich mit einigen wiſſenſchaftlichen Dingen, und wenn euch ein262 Geſpräch hierin, falls wir in den Gegenſtänden zu¬ ſammentreffen, nicht unangenehm iſt, ſo betrachtet mich als euren älteren Bruder, und zwar nicht blos hierin ſondern auch in allen anderen Dingen. ““
„ „ Ich bin durch eure Güte ſehr beſchämt, ““ant¬ wortete ich, „ „ und ſehe jezt erſt, wie groß die Aufgabe iſt, die ich in eurem Hauſe habe. Ich weiß nicht, ob ich ihr auch nur in einem geringen Maße werde ge¬ nügen können. ““
„ „ Es wird vielleicht nicht ſchwer ſein, zu genü¬ gen, ““erwiederte er. “
„ „ Wenn es aber doch nicht geſchähe? ““fragte ich. “
„ „ Dann wären wir ſo offen, und ſagten es euch, damit man darnach handeln könnte, ““antwortete er. “
„ „ Das erleichtert mir mein Herz ſehr, ““erwiederte ich; „ „ denn auf dieſe Weiſe wird nie Mißtrauen auf¬ kommen können. Ich habe bisher nur in zwei Fami¬ lien gelebt, in der meiner Mutter — denn mein Vater iſt in meiner frühen Jugend geſtorben — und in der eines würdigen alten Amtmannes, in deſſen Hauſe ich während meiner lateiniſchen Schulen in Koſt und Wohnung war. Die erſte Familie iſt mir wie jedem Menſchen unvergeßlich, und die zweite iſt es mir auch. ““
263„ „ Vielleicht wird es auch die unſere, ““ſagte er, „ „ jezt laßt euch das Haus und ſein Zugehör zeigen, daß ihr den Schauplaz kennt, auf dem ihr ein Weil¬ chen leben ſollt. Oder wollt ihr etwas anders thun, ſo thut es. Zu mir ſteht euch der Zutritt ſtets offen, laßt euch nicht anſagen, und klopft nicht an meine Thür. ““
„ Mit dieſen Worten war unſer Geſpräch zu Ende, wir erhoben uns, verabſchiedeten uns, er reichte mir freundlich die Hand, und ich verließ das Zimmer. “
„ Ich kleidete mich nun in meine gewöhnlichen Klei¬ der, und ließ fragen, ob Alfred Zeit habe, mich zu begleiten, und mir etwas von dem Hauſe und dem Garten zu zeigen. Man antwortete, daß Alfred gleich kommen werde, und daß er hinlänglich Zeit habe. Die Mutter führte den Knaben ſelbſt zu mir, und ſie brachte auch einen Diener mit, welcher einen Bund Schlüſſel trug, und den Auftrag hatte, mir die Räume des Hauſes zu zeigen. Der Diener war ein alter Mann, und ſchien die Aufſicht über die andern Dienſt¬ leute zu haben. Die Mutter entfernte ſich ſogleich wie¬ der. Ich ſprach einige freundliche Worte mit dem Knaben, welcher über ſieben Jahre alt ſchien, er erwiederte dieſe Worte unbefangen, und, wie ich264 glaubte, zutraulich. Dann gingen wir, die Räume des Hauſes zu betrachten. Das Haus war nicht alt, es war kein Schloß und mochte in dem ſiebenzehnten Jahrhunderte gebaut worden ſein. Es beſtand aus zwei Flügeln, die einen rechten Winkel bildeten, und einen Sandplaz einſchloßen. Die Zufahrt war aber von entgegengeſezter Seite, daher der Sandplaz, wel¬ cher Blumenbeete hatte, mehr einem Garten und einem Spielplaze für die Kinder als einer Anfahrt glich. Es waren auf demſelben und zwar an den Mauern des Hauſes auch Linnendächer zum Aufſpannen gegen die Sonne angebracht. Das Haus hatte ein Erdgeſchoß und ein Stockwerk. Durch beide lief der Länge nach ein breiter Gang, von dem aus man in die Zimmer gelangen konnte. Die Mauern des Ganges waren ſchneeweiß, hatten Stuckarbeit, ſchön vergitterte Fen¬ ſter, und zeigten braune wohlgebohnte Gemächer¬ thüren. An vielen Stellen der Gänge hingen Ge¬ mälde. Sie waren durchaus nicht vorzüglich aber auch bei Weitem nicht ſo ſchlecht, als ſolche Gang - und Treppengemälde gewöhnlich zu ſein pflegen. Die Gegenſtände, welche auf ihnen abgebildet waren, drehten ſich in einem kleinen Kreiſe: Landſchaften mit Anſichten der Umgegend oder merkwürdiger Gebäude,265 Thiere — vorzüglich Hunde mit Jagdgeräthſchaften — Küchengeſchirr, oder Inneres von Zimmern und anderen Gelaſſen. Der alte Diener ſchloß manche Gemächer auf, die im Gebrauche waren; denn das Haus hatte mehr, als die jezigen Bewohner benüzten. Es war ein großer mit ſehr ſchönen Geräthen verſehe¬ ner Saal da, in welchem, wenn es nothwendig war, Geſellſchaften aufgenommen wurden, dann waren andere Zimmer zu verſchiedenem Gebrauche, darunter ein ſehr großes Bücherzimmer und die Zimmer für Gäſte. Alles war ſehr ſchön eingerichtet und rein und ordentlich gehalten. Als wir das Haus geſehen hatten, ſagte Alfred, Raimund, der alte Diener, ſei nun nicht mehr vonnöthen, den Garten werde er mir ſchon allein zeigen. Ich war damit einverſtanden, ver¬ abſchiedete den alten Diener, und ging mit Alfred ins Freie. Das Erdgeſchoß, worin ſich die Küche die Geſindezimmer und dergleichen befanden, hatten wir nicht beſucht. Die Ställe und Wagenbehälter waren abſeits des Hauſes in eigenen Gebäuden. Als wir in das Freie gekommen waren, zeigte ſich ein ſehr ſchöner Raſenplaz, der von manigfaltigen künſtlich angelegten Wegen durchkreuzt war. Auf dieſem Ra¬ ſenplaze ſtanden in ziemlichen Entfernungen ſehr große266 Bäume. Zu jedem führte ein Weg, und faſt unter jedem ſtand ein Bänkchen oder ein Siz. Alfred führte mich zu den meiſten, und nannte mir ſie. Mich erfreute dieſes Zeichen des Gedächtniſſes und der Auf¬ merkſamkeit. Er erzählte mir auch, was ſie bald unter dieſem bald unter jenem Baume gethan, und wie ſie geſpielt hätten. Die Bäume waren Eichen Linden Ulmen und eine Anzahl ſehr großer Birnbäume. Dieſe Art von Wald hatte etwas ſehr Anmuthiges. “
„ „ Ich darf allein nicht zu dem Teiche gehen, ““ſagte Alfred, „ „ weil ich leicht hinein fallen könnte, und ich gehe auch nicht hin; aber weil du heute bei mir biſt, ſo dürfen wir ihn beſuchen. Komme mit, ich habe Brot bei mir, um es den Enten und den Fiſchen zu geben. ““
„ Er faßte mich bei der Hand, und ich ließ mich von ihm führen. Er geleitete mich durch ein kleines Gebüſch zu einem mäßig großen Teiche, der das Merk¬ würdige hatte, daß auf ihm hölzerne Hüttchen in ge¬ ringen Entfernungen angebracht waren, die die Be¬ ſtimmung hatten, daß darin Wildenten niſteten. Das geſchah auch reichlich. Es war noch nicht ſo weit im Sommer, und wir ſahen noch manche Mutter mit ihren faſt erwachſenen, aber noch nicht flugfähigen Jun¬267 gen auf dem Waſſer herumſchwimmen. An den Ufern waren an verſchiedenen Stellen Futterbrettchen ange¬ bracht. Im Waſſer ſelber bewegte ſich eine große Zahl ſchwerfälliger Karpfen. Alfred zog ein Weißbrot aus ſeiner Taſche, zerbrach es in kleine Stückchen, warf dieſe einzeln in das Waſſer, und hatte ſeine Freude daran, wenn die Enten und auch manch ungeſchickter Mund eines Karpfen darnach haſchten. Es ſchien, daß er mich dieſes Zweckes halber zu dem Teiche ge¬ führt hatte. Als er mit ſeinem Brote fertig war, gingen wir weiter. Er ſagte: „ „ Wenn du auch den Garten ſehen willſt, ſo werde ich dich ſchon hin¬ führen. ““
„ „ Ja wohl will ich ihn ſehen, ““antwortete ich. “
„ Er führte mich nun aus dem Gebüſche, wir be¬ gaben uns auf die entgegengeſezte Seite des Hauſes, dort war ein mit einem Gitter umgebener großer Gar¬ ten, und wir gingen durch das Thor deſſelben hinein. Blumen Gemüſe Zwerg - und Lattenobſt empfingen uns. In der Ferne ſah ich die größeren und wahr¬ ſcheinlich ſehr edlen Obſtbäume ſtehen. Daß mir der Garten um viel mehr gefiel als der Teich, ſagte ich Alfred nicht, er mochte es auch nicht wiſſen. In ſehr ſchöner Art waren hier die Blumen gepflegt, die man268 gewöhnlich in Gärten findet. Sie hatten nicht blos ihre ihnen zuſagenden Pläze, ſondern ſie waren auch zu einem ſehr ſchönen Ganzen zuſammengeſtellt. An Gemüſen glaubte ich die beſten Arten zu ſehen, wie man ſie nur immer in den Handlungen der Stadt finden konnte. Zwiſchen ihnen ſtand das Zwergobſt. Die Gewächshäuſer enthielten Blumen aber auch Früchte. Ein ſehr langer Gang, welcher mit Wein überwölbt war, führte uns in den Obſtgarten. Die Bäume ſtanden in guten Entfernungen, waren gut gehalten, hatten Grasboden unter ſich, und es führ¬ ten auch hier wieder Wege von einem zum andern. An ſeiner rechten Seite war dieſer Gartentheil von dichtem Haſelnußgebüſche begrenzt. Ein Pfad führte uns durch dasſelbe hindurch. Wir trafen jenſeits einen freien Plaz, auf welchem ein ziemlich großes Garten¬ haus ſtand. Es war gemauert hatte hohe Fenſter ein Ziegeldach und ſeine Geſtalt war ein Sechseck. Die Außenſeite dieſes Hauſes war ganz mit Roſen über¬ deckt. Es waren Latten an dem Mauerwerke ange¬ bracht, und an dieſe Latten waren die Roſenzweige gebunden. Sie ſtanden in Erde vor dem Hauſe, hat¬ ten verſchiedene Größe, und waren ſo gebunden, daß die ganzen Mauern überdeckt waren. Da eben die269 Zeit der Roſenblüthe war, und dieſe Roſen auch außerordentlich reich blühten, ſo war es nicht anders, als ſtände ein Tempel von Roſen da, und es wären Fenſter in dieſelben eingeſezt. Alle Farben, von dem dunkelſten Roth, gleichſam veilchenblau, durch das Roſenroth und Gelb bis zu dem Weiß waren vor¬ handen. Bis in eine große Entfernung verbreitete ſich der Duft. Ich ſtand lange vor dieſem Hauſe, und Alfred ſtand neben mir. Außer den Roſen an dem Gartenhauſe waren auf dem ganzen Plaze Roſen¬ geſträuche und Roſenbäumchen in Beeten zerſtreut. Sie waren nach einem ſinnvollen Plane geordnet, das zeigte ſich gleich bei dem erſten Blicke. Alle Stämmchen trugen Täfelchen mit ihrem Namen. “
„ „ Das iſt der Roſengarten, ““ſagte Alfred, „ „ da ſind viele Roſen, es darf aber keine abgepflückt werden. ““
„ „ Wer pflanzt denn dieſe Roſen, und wer pflegt ſie? ““fragte ich. “
„ „ Der Vater und die Mutter, ““antwortete Alfred, „ „ und der Gärtner muß ihnen helfen. ““
„ Ich ging zu allen Roſenbeeten, und ging dann um das ganze Haus herum. Als ich alles betrachtet hatte, gingen wir auch in das Haus hinein. Es war270 mit Marmor gepflaſtert, auf dem feine Rohrmatten lagen. In der Mitte ſtand ein Tiſch und an den Wänden Bänkchen, deren Size von Rohr geflochten waren. Eine angenehme Kühle wehte in dem Hauſe; denn die Fenſter, durch welche die Sonne herein ſchei¬ nen konnte, waren durch gegliederte Balken zu ſchüzen. Da wir wieder aus dem Innern dieſes Gartenhauſes getreten waren, beſuchten wir noch einmal den Obſt¬ garten, und gingen bis an ſein Ende. Da wir an das Gartengitter gekommen waren, ſagte Alfred: „ „ Hier iſt der Garten zu Ende, und wir müſſen wieder um¬ kehren. ““
„ Das thaten wir auch, wir gingen wieder zu dem Eingangsthore zurück, durchſchritten es, begaben uns in das Haus, und ich führte Alfred zu ſeiner Mutter. “
„ Das war das Haus und der Garten in Hein¬ bach, der Beſizung des Herrn und der Frau Mak¬ loden. “
„ Der erſte Tag verging ſehr gut, ſo auch ein zwei¬ ter ein dritter und mehrere. Ich wohnte mich in meine zwei Zimmer ein, und die Stille des Landes that mir in meiner jezigen Gemüthsverfaſſung ſehr wohl. Für den Unterricht Alfreds war in der Art geſorgt, daß der Graf, deſſen Meiereien in der Nähe von Heinbach271 lagen und ein Herr von Heinbach, wie man Maklo¬ den jezt auch nannte, eine Summe ſtifteten, und dem Lehrer der Gemeinde Heinbach zulegten, unter der Bedingung, daß ein in gewiſſen Fächern gebildeter Mann ſtets dieſe Stelle bekleide, welchen ſie in Vor¬ ſchlag zu bringen das Recht hatten, und der die Ver¬ bindlichkeit übernahm, die Kinder des Hauſes Hein¬ bach und die des Verwalters der Meiereien in ihren Wohnungen zu unterrichten, wofür er aber beſonders bezahlt wurde. Die Schule und die Kirche Heinbach waren eine kleine halbe Wegſtunde von dem Herren¬ hauſe entfernt. Der Lehrer kam jeden Nachmittag her¬ über, und blieb eine Zeit bei Alfred. Mathilde wurde nur mehr in ſeltenen Stunden noch von ihm unterrich¬ tet. Für Alfred ſollte ich die Art der Lehrſtunden ein¬ richten, was ich auch im Übereinkommen mit dem Lehrer, der ein ſehr beſcheidener und nicht ungebildeter junger Mann war, that. Den Unterricht in gewiſſen Dingen, jezt vor allem den Sprachunterricht, behielt ich mir vor. So kam die Sache in den Gang, und ſo ging ſie fort. “
„ Das Leben in Heinbach war wirklich ſehr ein¬ fach. Man ſtand mit der Morgenſonne auf, verſam¬ melte ſich in dem Speiſezimmer zum Frühmahle, dem272 einiges Geſpräch folgte, und ging dann an ſeine Ge¬ ſchäfte. Die Kinder mußten ihre Aufgaben machen, von denen Mathilde beſonders von der Mutter manche in einigen Zweigen bekam. Der Vater ging in ſeine Stube, las, ſchrieb, oder er ſah in dem Garten oder in dem kleinen Grundbeſize nach, der zu dem Hauſe gehörte. Ich war theils in meiner Wohnung mit meinen Arbeiten, die ich in der Stadt begonnen hatte, und hier fortſezte, beſchäftigt, theils war ich in Alfreds Zimmer, und überwachte und leitete, was er zu thun hatte. Die Mutter ſtand mir hierin bei, und ſie hielt es für ihre Pflicht, noch mehr um Alfred zu ſein als ich. Der Mittag verſammelte uns wieder in dem Speiſezimmer, am Nachmittage waren Lehrſtun¬ den, und der Reſt des Tages wurde zu Geſprächen zu Spaziergängen zum Aufenthalte im Garten, oder, beſonders wenn Regenwetter war, zum gemeinſchaft¬ lichen Leſen eines Buches benüzt. Was man im Freien thun konnte, wurde lieber im Freien als in Zimmern abgemacht. Beſonders war hiezu der Auf¬ enthalt unter den Linnendächern am Hauſe geeignet, den die Mutter ſehr liebte. Stundenlang war ſie mit irgend einer weiblichen Arbeit und die Kinder mit ihrem Schreibzeuge oder mit Büchern auf dieſem Plaze273 beſchäftigt. Dies war beſonders der Fall, wenn die Vormittagsſonne die Luft durchwürzte, und doch noch nicht ſo viel Kraft hatte, die Mauern zu erhizen und den Aufenthalt an ihnen zu verleiden. Auch wurden die manigfaltigen Bänkchen auf dem Raſenplaze, vor welche man Tiſchchen ſtellte, und das Innere des Ro¬ ſenhauſes benüzt. Zuweilen wurden größere Spazier¬ gänge verabredet. An ſolchen Tagen waren keine Lehr¬ ſtunden, man beſtimmte die Zeit, in welcher fortge¬ gangen werden ſollte, alle mußten gerüſtet ſein, und mit dem betreffenden Glockenſchlage wurde aufgebro¬ chen. Wir beſuchten zuweilen einen Berg einen Wald, oder gingen durch ſchöne anſprechende Gründe. Man¬ ches Mal war es auch eine Ortſchaft, in welche wir uns begaben. Um das Haus lagen in geringen Ent¬ fernungen Beſizthümer von Familien, mit denen die Bewohner von Heinbach Umgang pflegten. Öfter fuhr ein Wagen vor unſerem Hauſe vor, öfter fuhr der unſere in die Nachbarſchaft. Die Kinder miſchten ſich zur Geſelligkeit, und ältere traten zuſammen. Die Mutter Alfreds ſah es gerne, wie ſie mir ſagte, wenn eine Freundin Mathildens bei ihr durch längere Zeit verweilte, ſie aber konnte ſich nie entſchließen, ihre Tochter zu anderen Leuten auf Beſuch zu geben. SieStifter, Nachſommer. III. 18274wollte nicht getrennt ſein. Auch, meinte ſie, würde ſich Mathilde fern von ihr nicht wohl fühlen. Von Künſten wurde bei wechſelſeitigen Beſuchen vorzüg¬ lich die Muſik geübt. Es war der Geſang, der ge¬ pflegt wurde, das Clavier, und zu vierſtimmigen Dar¬ ſtellungen die Geigen. Der Vater Alfreds ſchien mir ein Meiſter auf der Geige zu ſein. Wir hörten ſolchen Vorſtellungen zu. Wir Unbeſchäftigten ſahen aber auch ſehr gerne zu, wenn die Kinder auf dem Raſenplaze hüpften, und ſich in ihren Spielen ergözten. Bei alle dem beſorgte die Mutter Alfreds aber auch ihr aus¬ gedehntes Hausweſen. Sie gab den Dienern und Mägden hervor, was das Haus brauchte, ſorgte für die richtige und zweckmäßige Verwendung, leitete die Einkäufe, und ordnete die Arbeiten an. Die Beklei¬ dung des Herrn der Frau und der Kinder war ſehr ausgezeichnet aber auch ſehr einfach und wohlbildend. Nach dem Abendeſſen ſaß man oft noch eine geraume Weile in Geſprächen bei dem Tiſche, und dann ſuchte jedes ſein Zimmer. “
„ So war eine Zeit vergangen, und ſo kam nach und nach der Herbſt. Ich lebte mich immer mehr in das Haus ein, und fühlte mich mit jedem Tage woh¬ ler. Man behandelte mich ſehr gütig. Was ich be¬275 durfte, war immer da, ehe das Bedürfniß ſich noch klar dargeſtellt hatte. Aber auch nicht blos das wurde hergeſtellt, was ich bedurfte, ſondern auch das, was zum Schmucke des Lebens geeignet iſt. Blumen, die ich liebte, wurden in Töpfen in meine Zimmer geſtellt, ein Buch ein neues Zeichnungsgeräthe fand ſich von Zeit zu Zeit ein, und da ich einmal auf mehrere Tage abweſend war, ſah ich bei meiner Rückkehr meine Wohnung mit Farben bekleidet, die ich einmal bei einem Beſuche in einem Nachbarſchloſſe ſehr gelobt hatte. Bei Spaziergängen geſellte ſich der Vater Al¬ freds gerne zu mir, wir gingen abgeſondert von den andern, und führten Geſpräche, die mir in dem, was er ſagte, ſehr inhaltreich ſchienen. Ebenſo war die Mutter Alfreds nicht ungeneigt, ſich mit mir zu be¬ ſprechen. Wenn ich in Alfreds Zimmer war, das an das ihrige grenzte, kam ſie gerne herein, und ſprach mit mir, oder ſie ließ mich in ihr Zimmer treten, wies mir einen Siz an, und redete mit mir. Ich hatte ihr nach und nach alle meine Familienverhältniſſe erzählt, ſie hatte theilnehmend zugehört, und hatte manches Wort geſprochen, das höchſt wohlthätig in meine Seele ging. Alfred war mir gleich in den erſten Ta¬ gen zugethan, und dieſe Neigung wuchs. Sein Weſen18 *276war nicht verbildet. Er war körperlich ſehr geſund, und dies wirkte auch auf ſeinen Geiſt, der nebſtdem überall von den Seinigen mit Maß und Ruhe um¬ geben war. Er lernte ſehr genau, und lernte leicht und gut, er war folgſam und wahrhaftig. Ich wurde ihm bald zugeneigt. Noch ehe der Winter kam, ver¬ langte er, daß er nicht mehr neben der Mutter ſondern neben mir wohnen ſolle, er ſei ja kein ſo kleiner Knabe mehr, daß er die Mutter immer brauche, und er müſſe nun bald neben den Männern ſein. Man willfahrte ihm auf meine Bitte, er bekam ein Zimmer neben mir, und der Diener, der bis jezt nebſt andern meine Auf¬ träge zu beſorgen gehabt hatte, wurde uns gemein¬ ſchaftlich beigegeben. Sein Körper entwickelte ſich auch ziemlich regſam, er war in dem Sommer gewach¬ ſen, ſein Haupt war regelmäßiger und ſein Blick war ſtärker geworden. “
„ So endete der Herbſt, und als bereits die Reife an jedem Morgen auf den Wieſen lagen, zogen wir in die Stadt. Hier änderte ſich manches. Alfred und ich wohnten wohl wieder neben einander; aber ſtatt des Himmels und der Berge und der grünen Bäume ſahen Häuſer und Mauern in unſere Fenſter herein. Ich war es von früherem Stadtleben gewohnt, und277 Alfred achtete wenig darauf. Es wurden mehr Lehrer in mehr Fächern genommen, und die Lehrſtunden wa¬ ren gedrängter als auf dem Lande. Auch kamen wir mit viel mehr Menſchen in Berührung und die Ein¬ wirkungen vervielfältigten ſich. Aber auch hier wurde ich nicht minder gut behandelt als auf dem Lande. Ich wurde nach und nach zur Familie gerechnet, und alles, was überhaupt der Familie gemeinſchaftlich zukam, wurde auch mir zugetheilt. Die Mutter Alfreds ſorgte für meine häuslichen Angelegenheiten, und nur die Anſchaffung von Kleidern Büchern und dergleichen war meine Sache. “
„ Als kaum die erſten Frühlingslüfte kamen, gin¬ gen wir wieder nach Heinbach. Mathilde Alfred und ich ſaſſen in einem Wagen, der Vater und die Mutter in einem anderen. Alfred wollte nicht von mir ge¬ trennt ſein, er wollte neben mir ſizen. Man mußte es daher ſo einrichten, daß Mathilde uns gegenüber ſaß. Sie war, als ich das Haus betreten hatte, noch nicht völlig vierzehn Jahre alt. Jezt ging ſie gegen fünfzehn. Sie war in dem vergangenen Jahre bedeu¬ tend gewachſen, ſo daß ſie wohl ſo groß war, wie ein vollendetes Mädchen. Ihr Körper war äußerſt ſchlank, aber ſehr gefällig gebildet. Man kleidete ſie gerne in278 dunkle Stoffe, die ihr wohl ſtanden. Wenn ſie in dem tiefen Blau oder in dem Nelkenbraun oder in der Farbe des Veilchens ging, und das ſchöne Weiß das Kleid oben ſäumte, ſo wurde eine Anmuth ſichtbar, die gleichſam ſagte, daß alles ſei, wie es ſein muß. Ihre Wangen waren ſehr friſch, ſanft roth, und wur¬ den jezt ein wenig länglich, ihr Mund war faſt roſen¬ roth, die großen Augen waren ſehr glänzend ſchwarz, und die reinen braunen Haare gingen von der ſanften Stirne zurück. Die Mutter liebte ſie ſehr, ſie ließ ſie faſt gar nicht von ſich, ſprach mit ihr, ging mit ihr ſpazieren, unterrichtete ſie auf dem Lande ſelber, und wohnte in der Stadt jeder Unterrichtsſtunde bei, die ein fremder Lehrer ertheilte. Nur mit mir und Alfred ließ ſie ſie im vergangenen Sommer oft im Garten auf dem Raſenplaze ja ſogar in der Gegend herum gehen. Da ging ich mit beiden Kindern, fragte ſie, erzählte ihnen, ließ mich ſelber fragen, und ließ mir erzählen. Alfred hielt mich größtentheils an der Hand, oder ſuchte ſich überhaupt irgendwie an mich anzu¬ hängen, ſei es ſelbſt mit einem Hakenſtäbchen, das er ſich von irgend einem Buſche geſchnitten hatte. Mathilde wandelte neben uns. Ich hatte nur den Auftrag, zu ſorgen, daß ſie keine heftigen Bewegun¬279 gen mache, welche an ſich für ein Mädchen nicht an¬ ſtändig ſind, und ihrer Geſundheit ſchaden könnten, und daß ſie nicht in ſumpfige oder unreine Gegenden komme, und ſich ihre Schuhe oder ihre Kleider be¬ ſchmuze; denn man hielt ſie ſehr rein. Ihre Kleider mußten immer ohne Makel ſein, ihre Zähne ihre Hände mußten ſehr rein ſein, und ihr Haupt und ihre Haare wurden täglich ſo vortrefflich geordnet, daß kein Tadel entſtehen konnte. Ich zeigte den Kin¬ dern die Berge, die zu ſehen waren, und nannte ſie, ich lehrte ſie die Bäume die Geſträuche und ſelbſt manche Wieſenpflanzen kennen, ich las ihnen Stein¬ chen Schneckenhäuschen Muſcheln auf, und erzählte ihnen von dem Haushalte der Thiere, ſelbſt ſolcher, die groß und mächtig ſind, und in entfernten Wäl¬ dern oder gar in Wüſten wohnen. Alfred liebte das Walten und das Thun der Vögel ſehr, beſonders ihren Geſang. Er freute ſich, aus dem Fluge einen Vogel zu errathen, und wenn die Stimmen in dem Gebüſche oder im Walde ertönten, konnte er alle die Sänger herzählen, von denen ſie ſtrömten. Er lehrte dies ein wenig auch Mathilden, und fragte ſie bei manchem Laute, woher er rühre. Ich hatte die Vor¬ ſchriften der Mutter nie überſchritten, und Mathilde280 gewann an Schönheit des Ausſehens und an Geſund¬ heit durch dieſe Spaziergänge. So wie die Mutter im Sommer und Herbſte ſie mit uns hatte herum gehen laſſen, ſo ließ ſie ſie jezt mit uns fahren. Sie ſaß zwei Tage uns gegenüber. Es war am Morgen und Abende noch ziemlich kühl. Ich hatte einen Man¬ tel, und Alfred war in einen warmen Überrock ge¬ knöpft. Mathilde hatte über ihr dunkles Wollkleid, aus dem nicht einmal die Spizen ihrer Schuhe her¬ vorſahen, ein Mäntelchen, das ihren ganzen Ober¬ körper bis an das Kinn verhüllte, auf dem Haupte hatte ſie einen warmen wohlgefütterten Hut, deſſen weite Flügel ſich wohl anſchmiegten, ſo daß nichts, als beinahe nur die Wangen, welche in der Märzluft noch röther geworden waren, und die glänzenden Au¬ gen hervorſahen. Wir beredeten, was wir in dem nächſten Sommer vornehmen wollten. Der Haupt¬ inhalt unſerer Geſpräche aber war, daß alles, was uns auf unſerem Wege oder in deſſen Nähe begegnete, bemerkt wurde, daß wir es nannten, und darüber ſprachen. So kamen wir endlich bei heiterem und kla¬ rem Märzwetter in Heinbach an. Die Bäume vor den Fenſtern hatten noch kein Laub, der Garten war281 öde, und die Felder waren noch nicht grün, außer dort, wo ſie die Winterſaaten trugen. “
„ Obwohl es draußen ſehr unwirthlich war, wenn man den äußerſt freundlichen blauen Himmel abrech¬ net, ſo war es in dem Hauſe ſehr heimiſch. Alles war auf das Reinlichſte gepuzt und zu dem Empfange der Bewohner hergerichtet. Die Zimmer glänzten, die Fenſter ſpiegelten, durch die Vorhänge ſchien eine helle Märzſonne herein, und in den Kaminen brannte ein behagliches Feuer. Meine zwei Gemächer waren um ein ſehr liebliches Eckzimmerchen vermehrt wor¬ den, und man hatte mir ſchönere und bequemere Ge¬ räthe in meine Wohnung geſtellt. Ich traf jezt die Veranſtaltung, daß die Thür von meiner Wohnung in Alfreds Zimmer immer offen war, daß beide Woh¬ nungen eine bildeten, und daß ich gleichſam neben einem jüngeren Bruder lebte. Hatte ich eine Arbeit vor, bei der eine Störung hindernd geweſen wäre, ſo ging ich in mein Eckzimmer. “
„ Das Leben in dem Landhauſe begann jezt wieder wie in dem vorigen Sommer. Wenn auch noch kein Laub auf den Bäumen war, wenn ſich das Grün der Wieſen noch dürftig zeigte, und auf den Feldern für die Sommerfrucht noch die nackte Scholle lag, ſo gin¬282 gen wir doch ſchon vielfach ſpazieren. Alfred und ich gingen täglich, ſelbſt wenn trübes Wetter war, nur nicht, wenn heftiger Regen von dem Himmel ſtrömte. Wenn nach einem klaren Morgen, an dem wir noch die Erde und die Dächer weiß geſehen hatten, ein hei¬ terer Tag kam, und die Wege trocken waren, ging Mathilde mit uns, und wir führten ſie auf Anhöhen oder Felder, wo wir kurz vorher die ſchönſten Triller der Lerchen gehört hatten. Dieſe Sänger waren die einzigen, die mit uns ſchon die Gegend bevölkerten. “
„ Nach und nach wurde das Weiß auf Feld und Wieſen ſeltener, die Sonne ſchien kräftiger, das Feuer in den Kaminen war nicht mehr nöthig, die Wieſen gewannen Grün die Bäume Knospen, und an den Zweigen der Lattenpfirſiche im Garten erſchienen ein¬ zelne Blüthen. Die Sänger der Luft erſchienen in verſchiedenen Geſtalten und Farben. Wenn ich irgend¬ wo Veilchen oder andere Frühlingsblumen fand, welche Mathilde nicht mit uns hatte pflücken können, ſo brachte ich ſie ihr in einem Strauße für das Blu¬ menglas ihres Tiſchchens nach Hauſe. Als Dank für ſolche Aufmerkſamkeiten erhielt ich zu meinem Ge¬ burtsfeſte, welches in die erſten Tage des Frühlings fiel, von ihrer Hand geſtickt ein rundes Deckchen, wor¬283 auf ein ſilberner Handleuchter, den mir Mathildens Mutter gab, zu ſtehen beſtimmt war. “
„ Der Frühling war endlich mit voller Pracht ge¬ kommen. Im vergangenen Jahre hatte ich ihn in dieſer Gegend nicht geſehen, weil ich erſt ſpäter ange¬ langt war. Überhaupt hatte ich meines längern Stadt¬ lebens willen ſchon lange nicht einen vollkommenen Frühling in der Tiefe des Landes erblickt. Nur an der Grenze des Landes, das heißt, wo es an die Stadt reicht, hatte ich den einen oder andern Früh¬ lingstag zugebracht, oder irgend einen Sonnenblick erlauſcht. Das theilt man aber mit vielen, die aus der Stadt hinaus kommen, und muß es im Gedränge und Staube genießen. In Heinbach war Einſamkeit und Stille, die blaue Luft ſchien unermeßlich, und die Blüthenfülle wollte die Bäume erdrücken. Jeden Morgen ſtrömte neue Würze durch die geöffneten Fen¬ ſter. Man fühlte in Heinbach, wie ſehr mich Unge¬ wohnten dieſer Reichthum überraſche und freue, und man ſuchte mir dieſe Freude auf jede Weiſe noch fühl¬ barer zu machen und ſie zu erhöhen. Jeden Tag wurden die Blumen in meiner Wohnung durch neu aufgeblühte aus den Gewächshäuſern erſezt. Wenn in dem freien Grunde ſich etwas zeigte, ſei es ein Ge¬284 ſträuch, ſei es eine Blume, ſo machte man mich darauf aufmerkſam, man brachte den größten Theil der Zeit im Freien zu, und machte weit öfter und weit längere Spaziergänge als ſonſt. Mathilde erzählte mir es, wenn ſie den Geſang eines Vogels gehört hatte, wenn Faltern vorüber geflogen waren, wenn ſich ein Becher in einem Gebüſche geöffnet hatte, ja ſie gab mir zu¬ weilen Blumen, um ſie in meiner Wohnung aufzu¬ bewahren. “
„ So verging der Frühling, und der Sommer rückte vor. War mir das Leben im vergangenen Jahre in dieſer Familie angenehm geweſen, ſo war es mir in dieſem noch angenehmer. Wir gewöhnten uns im¬ mer mehr an einander, und mir war zuweilen, als hätte ich wieder eine unzerſtörbare Heimath. Der Herr des Hauſes zeichnete mich aus, er beſuchte mich oft in meiner Wohnung, und ſprach lange mit mir, er lud mich zu ſich, zeigte mir ſeine Sammlungen, ſeine Arbeiten, und ſprach über Gegenſtände, die be¬ wieſen, daß er mich auch achte. Mathildens Mutter war ſehr liebreich freundlich und gütig. Sie ſorgte wie früher für mich; aber ſie that es einfacher, und faſt wie ein Ding, das ſich von ſelber verſtehe. Wir waren oft alle in ihrem Zimmer, und ſpielten ein kin¬285 diſches Spiel, oder trieben Muſik. Alfred hatte gleich Anfangs ſchon viel Zutrauen zu mir gezeigt, dieſes Zutrauen war immer gewachſen, und war dann un¬ bedingt geworden. Er war ein vortrefflicher Knabe, offen klar einfach gutmüthig lebendig, ohne doch einem heftigen Zorne anheimzufallen, heiter unſchul¬ dig und folgſam. Er war jezt gegen neun Jahre alt, entwickelte ſich ſtets fröhlicher, und gewann am Geiſte ſowie am Körper. Mathilde wurde immer herr¬ licher, ſie war zulezt feiner als die Roſen an dem Gar¬ tenhauſe, zu denen wir ſehr gerne gingen. Ich liebte beide Kinder unſäglich. Wenn Alfred Unterrichts¬ ſtunde hatte, war ich dabei, und leitete, und über¬ wachte ſie, ich überwachte ſein Lernen, und fragte ihn immer um das Gelernte, damit er ſich bei dem Lehrer keine Blöße gebe. Die Gegenſtände, die ich mit ihm vornahm, vermehrte ich anſehnlich, ich ſuchte ſie ihm recht gut beizubringen, und er lernte ſie auch beſſer als früher bei andern Lehrern. Vater und Mut¬ ter waren oft bei dem Unterrichte zugegen, und über¬ zeugten ſich von den Fortſchritten. Mathilde nahm ich nicht nur ſehr gerne, ſondern viel lieber als früher zu unſern Spaziergängen mit. Ich ſprach mit ihr, ich erzählte ihr, ich zeigte ihr Gegenſtände, die an unſerm286 Wege waren, hörte ihre Fragen ihre Erzählungen, und beantwortete ſie. Bei rauhen Wegen oder wo Näſſe zu befürchten war, zeigte ich ihr die beſſeren Stel¬ len oder die Richtungen, auf denen man trockenen Fußes gehen konnte. Zu Hauſe nahm ich an ihren Beſtrebungen Antheil. Ich ſah öfter ihre Zeichnun¬ gen an, und gab ihr einen Rath, den ſie ſehr gerne verlangte, und befolgte. Sie freute ſich ſehr, wenn das Veränderte dann viel beſſer ausſah. Ich war dabei, wenn ſie auf dem Claviere ſpielte, und hörte zu, ſo lange ihre Finger aus den Saiten die Töne hervor zu locken ſuchten. Ich ſchrieb ihr in Hefte ſehr zierlich ab, wenn ſie irgendwo einen Geſang hörte, und ſich denſelben aus dem Gedächtniſſe in Muſik¬ noten aufſchrieb. Dies war beſonders in Hinſicht der Zither der Fall, die ſie ſpielen zu lernen angefan¬ gen hatte, die ſie ſehr liebte, und auf der ſie bedeu¬ tende Fortſchritte machte. Oft hörte die Mutter Ma¬ thildens mit Aufmerkſamkeit zu, wenn ſie anmuthige Weiſen aus den Metallſaiten hervorbrachte, und ich und Alfred regten uns nicht, und lauſchten. Ich las ihr und der Mutter aus ihren Büchern vor, und bezeichnete ſchöne Stellen durch eingelegte Zeichen. Auch Blumen Waldfrüchte und dergleichen brachte287 ich ihr, wenn ich dachte, daß ſie ihr Freude machen könnten. “
„ Der Sommer war beinahe vergangen, und der Herbſt ſtand bevor. Wir hatten ſo viel gethan, daß uns die Zeit ſehr kurz ſchien. Wir waren uns auch genug, um unſere Stunden zu erfüllen. Wenn fremde Kinder zugegen waren, wenn Spiele veranſtaltet wa¬ ren, und alle auf dem heiteren Raſen hüpften, und ſprangen, ſtand Mathilde ſeitwärts, und ſah theil¬ nahmlos zu. Wir fuhren auch nicht ſo oft in die Nachbarſchaft wie im vergangenen Jahre, und ver¬ langten es auch nicht. “
„ Eines Tages nachmittags ſtanden wir drei an dem Ausgange des langen Laubenweges, der mit Re¬ ben bekleidet iſt, und zu dem Obſtgarten führt. Ma¬ thilde und ich ſtanden ganz allein an der Mündung des Laubganges, Alfred war unter den Bäumen damit beſchäftigt geweſen, einige Täfelchen, die an den Stämmen hingen, und ſchmuzig geworden waren, zu reinigen, dann las er abgefallenes halbreifes Obſt zuſammen, legte es in Häufchen, und ſonderte das beſſere von dem ſchlechteren ab. Ich ſagte zu Mathil¬ den, daß der Sommer nun bald zu Ende ſei, daß die Tage mit immer größerer Schnelligkeit kürzer werden,288 daß bald die Abende kühl ſein würden, daß dann dieſes Laub ſich gelb färben, daß man die Trau¬ ben ableſen, und endlich in die Stadt zurückkehren würde. “
„ Sie fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die Stadt gehe. “
„ Ich ſagte, daß ich nicht gerne gehe, daß es hier gar ſo ſchön ſei, und daß es mir vorkomme, in der Stadt werde alles anders werden. “
„ „ Es iſt wirklich ſehr ſchön, ““antwortete ſie, „ „ hier ſind wir alle viel mehr beiſammen, in der Stadt kom¬ men Fremde dazwiſchen, man wird getrennt, und es iſt, als wäre man in eine andere Ortſchaft gereiſt. Es iſt doch das größte Glück, jemanden recht zu lieben. ““
„ „ Ich habe keinen Vater keine Mutter und keine Geſchwiſter mehr, ““erwiederte ich, „ „ und ich weiß da¬ her nicht wie es iſt. ““
„ „ Man liebt den Vater die Mutter die Geſchwi¬ ſter, ““ſagte ſie, „ „ und andere Leute. ““
„ „ Mathilde, liebſt du denn auch mich? ““erwie¬ derte ich. “
„ Ich hatte ſie nie du genannt, ich wußte auch nicht, wie mir die Worte in den Mund kamen, es war, als wären ſie mir durch eine fremde Macht hineingelegt289 worden. Kaum hatte ich ſie geſagt, ſo rief ſie: „ „ Gu¬ ſtav, Guſtav, ſo außerordentlich, wie es gar nicht auszuſprechen iſt. ““
„ Mir brachen die heftigſten Thränen hervor. “
„ Da flog ſie auf mich zu, drückte die ſanften Lip¬ pen auf meinen Mund, und ſchlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfaßte ſie auch, und drückte die ſchlanke Geſtalt ſo heftig an mich, daß ich meinte, ſie nicht loslaſſen zu können. Sie zitterte in meinen Armen, und ſeufzte. “
„ Von jezt an war mir in der ganzen Welt nichts theurer, als dieſes ſüſſe Kind. “
„ Als wir uns losgelaſſen hatten, als ſie vor mir ſtand erglühend in unſäglicher Scham, geſtreift von den Lichtern und Schatten des Weinlaubes, und als ſich, da ſie den ſüſſen Athem zog, ihr Buſen hob und ſenkte: war ich wie bezaubert, kein Kind ſtand mehr vor mir ſondern eine vollendete Jungfrau, der ich Ehr¬ furcht ſchuldig war. Ich fühlte mich beklommen. “
„ Nach einer Weile ſagte ich: „ „ Theure, theure Mathilde. ““
„ „ Mein theurer, theurer Guſtav, ““antwortete ſie. “
„ Ich reichte ihr die Hand, und ſagte: „ „ Auf im¬ mer Mathilde. ““
Stifter, Nachſommer. III. 19290„ „ Auf ewig, ““antwortete ſie, indem ſie meine Hand faßte. “
„ In dieſem Augenblicke kam Alfred auf uns herzu. Er bemerkte nichts. Wir gingen ſchweigend neben ihm in dem Gange dahin. Er erzählte uns, daß die Namen der Bäume, die auf weiße Blechtäfelchen ge¬ ſchrieben ſind, welche Täfelchen an Draht von dem unterſten Aſte jedes Baumes hernieder hängen, von den Leuten oft ſehr verunreinigt würden, daß man ſie alle puzen ſolle, und daß der Vater den Befehl erlaſſen ſollte, daß ein jeder, der einen Baum wäſcht, puzt oder dergleichen, oder der ſonſt eine Arbeit bei ihm verrichtet, ſich ſehr in Acht zu nehmen habe, daß er das Täfelchen nicht beſprizt oder ſonſt eine Unreinig¬ keit darauf bringt. Dann erzählte er uns, daß er ſchöne Borsdorfer Äpfel gefunden habe, welche durch einen Inſektenſtich zu einer früheren beinahe vollkom¬ menen Reife gediehen ſeien. Er habe ſie am Stamme des Baumes zuſammengelegt, und werde den Vater bitten, ſie zu unterſuchen, ob man ſie nicht doch brau¬ chen könne. Dann ſeien viele andere, welche vor der Zeit abfielen, weil die Bäume heuer mit zu viel Obſt beladen wären, und ihre Kraft nicht genug iſt, alle zur Reife zu bringen. Dieſe habe er auch zuſammen¬291 gelegt, ſo viele er in der erſten Baumreihe habe fin¬ den können. Sie werden wohl zu gar nichts tauglich ſein. Er freue ſich ſchon ſehr auf den Herbſt, wo man alles das herabnehmen werde, und wo auch die ſchö¬ nen rothen blauen und goldgrünen Trauben von die¬ ſem Ganggeländer heruntergeleſen werden würden. Es ſei gar nicht mehr lange bis dahin. “
„ Wir ſprachen nicht, und gingen einige Male in dem Gange mit ihm hin und wider. “
„ Die große Erregung hatte ſich ein wenig gelegt, und wir gingen in das Haus. Ich ging aber nicht mit Mathilden zu ihrer Mutter, wie ich ſonſt immer gethan hatte, ſondern nachdem ich Alfred in ſein Zim¬ mer geſchickt hatte, ſchweifte ich durch die Büſche her¬ um, und ging immer wieder auf den Plaz, von wel¬ chem ich die Fenſter ſehen konnte, innerhalb welcher die theuerſte aller Geſtalten verweilte. Ich meinte, ich müſſe ſie durch mein Sehnen zu mir herausziehen können. Es war erſt ein Augenblick, ſeit wir uns getrennt hatten, und mir erſchien es ſo lange. Ich glaubte, ohne ſie nicht beſtehen zu können, ich glaubte, jede Zeit ſei ein verlornes Gut, in welcher ich das holde ſchlanke Mädchen nicht an mein Herz drückte. Ich hatte früher nie irgend ein Mädchen bei der Hand19 *292gefaßt als meine Schweſter, ich hatte nie mit einem ein liebes Wort geredet oder einen freundlichen Blick gewechſelt. Dieſes Gefühl war jezt wie ein Sturm¬ wind über mich gekommen. Ich glaubte ſie durch die Mauern in ihrem Zimmer gehen ſehen zu müſſen mit dem langen kornblumenblauen Kleide mit den glanz¬ vollen Augen und dem roſenherrlichen Munde. Es bewegte ſich der Fenſtervorhang; aber ſie war nicht an demſelben, es ſchimmerte an dem Glaſe wie von einem roſigen Angeſichte; aber es war nur ein ſchiefes Hereinleuchten der beginnenden Abendröthe geweſen. Ich ging wieder durch die Büſche, ich ging durch den Weinlaubengang in den Obſtgarten, der Weinlauben¬ gang war mir jezt ein fremdwichtiges Ding, wie ein Pallaſt aus dem fernſten Morgenlande. Ich ging durch das Haſelnußgebüſch zu dem Roſenhauſe, es war als blühten und glühten alle Roſen um das Haus, ob¬ wohl nur die grünen Blätter und die Ranken um daſſelbe waren. Ich ging wieder zu unſerem Wohn¬ hauſe zurück, und ging auf den Plaz, von dem ich Ma¬ thildens Fenſter ſehen mußte. Sie beugte ſich aus einem heraus, und ſuchte mit den Augen. Als ſie mich erblickt hatte, fuhr ſie zurück. Auch mir war es geweſen, da ich die holde Geſtalt ſah, als hätte mich293 ein Wetterſtrahl getroffen. Ich ging wieder in die Büſche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine Strecke Raſen ſäumten, und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im Schatten ruhen zu können. Zu dieſer Bank ging ich immer wieder zurück. Dann ging ich wieder auf ein Fleckchen Raſen, und ſah gegen die Fenſter. Sie beugte ſich wieder heraus. Dies thaten wir ungezählte Male, bis der Flieder in dem Roth der Abendröthe ſchwamm, und die Fenſter wie Rubi¬ nen glänzten. Es war zauberhaft, ein ſüſſes Geheim¬ niß mit einander zu haben, ſich ſeiner bewußt zu ſein, und es als Glut im Herzen zu hegen. Ich trug es entzückt in meine Wohnung. “
„ Als wir zum Abendeſſen zuſammen kamen, fragte mich Mathildens Mutter: „ „ Warum ſeid ihr denn heute, da ihr mit den Kindern aus dem Garten zurück¬ gekehrt waret, nicht mehr zu mir gegangen? ““
„ Ich vermochte auf dieſe Frage nicht ein Wort zu antworten; es wurde aber nicht beachtet. “
„ Ich ſchlief in der ganzen Nacht kaum einige Au¬ genblicke. Ich freute mich ſchon auf den Morgen, an dem ich ſie wieder ſehen würde. Wir trafen alle in dem Speiſeſaale zu dem Frühmahle zuſammen. Ein Blick ein leichtes Erröthen ſagte alles, ſie ſagten, daß294 wir uns beſaßen, und daß wir es wußten. Den gan¬ zen Morgen brachte ich mit Alfred im eifrigen Lernen zu. Gegen Mittag, als Gräſer und Laubblätter ge¬ trocknet waren, gingen wir in den Garten. Mathilde flog mit einem Buche, in dem ſie eben geleſen hatte, aus dem Hauſe, ſie eilte auf uns zu, und wir tauſchten den Blick der Einigung. Sie ſah mich innig an, und ich fühlte, wie meine Empfindung aus meinen Augen ſtrömte. Wir gingen durch den Blu¬ mengarten und durch den Gemüſegarten auf den Wein¬ laubengang zu. Es war, als hätten wir uns verab¬ redet, dorthin zu gehn. Mathilde und ich ſprachen gewöhnliche Dinge, und in den gewöhnlichen Dingen lag ein Sinn, den wir verſtanden. Sie gab mir ein Weinblatt, und ich verbarg das Weinblatt an meinem Herzen. Ich reichte ihr ein Blümchen, und ſie ſteckte das Blümchen in ihren Buſen. Ich nahm ihr das Papierſtreifchen, welches als Merkmal in ihrem Buche ſteckte, und behielt es bei mir. Sie wollte es wieder haben, ich gab es nicht, und ſie lächelte, und ließ es mir. Wir kamen in das Haſelgebüſch, durchſtreiften es, und traten vor die Roſen des Gartenhauſes. Sie nahm einige welke Blätter ab, und reinigte dadurch den Zweig. Ich that das nehmliche mit dem Nachbar¬295 zweige. Sie gab mir ein grünes Roſenblatt, ich knickte einen zarten Zweig, was eigentlich nicht erlaubt war, und gab ihr den Zweig. Sie wendete ſich einen Au¬ genblick ab, und da ſie ſich wieder uns zugewandt, hatte ſie den Roſenzweig bei ſich verborgen. Wir gin¬ gen in das Gartenhaus, ſie ſtand an dem Tiſche, und ſtüzte ſich mit ihrer Hand auf die Platte desſelben. Ich legte meine Hand auch auf die Platte, und nach einigen Augenblicken hatten ſich unſere Finger berührt. Sie ſtand wie eine feurige Flamme da, und mein gan¬ zes Weſen zitterte. Im vorigen Sommer hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr über eine ſchwierige Stelle zu helfen, um ſie auf einem ſchwanken Stege zu ſtüzen, oder ſie auf ſchmalem Pfade zu geleiten. Jezt fürchteten wir, uns die Hände zu geben, und die Berührung war von der größten Wirkung. Es iſt nicht zu ſagen, woher es kommt, daß vor einem Herzen die Erde der Himmel die Sterne die Sonne das ganze Weltall verſchwindet, und vor dem Herzen eines Weſens, das nur ein Mädchen iſt, und das andere noch ein Kind heißen. Aber ſie war wie der Stengel einer himmliſchen Lilie zaubervoll anmuths¬ voll unbegreiflich. “
„ Wir gingen wieder in das Haus, und wir gin¬296 gen, ehe wir zu dem Mittageſſen gerufen wurden, zu der Mutter. Bei der Mutter waren wir ſtiller und wortarmer als gewöhnlich. Mathilde ſuchte ſich ein Papierſtreifchen, und legte es wieder an jener Stelle in das Buch, wo ich ihr das Merkzeichen herausge¬ nommen hatte. Dann ſezte ſie ſich zu dem Claviere, und rief einzelne Töne aus den Saiten. Alfred er¬ zählte, was wir in dem Garten gethan hatten, und berichtete der Mutter, daß wir verdorrte und un¬ brauchbare Blätter von den Roſenzweigen, die an den Latten des Gartenhauſes angebunden ſind, herabge¬ nommen hätten. Hierauf wurden wir zu dem Mit¬ tageſſen gerufen. Nachmittag war kein Spaziergang. Die Eltern gingen nicht, und ich ſchlug Alfred und Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines Lieblingsdichters, las ſehr lange, und feurige Thränen wie heiße Tropfen kamen öfter in meine Augen. Spä¬ ter ſaß ich auf der Bank in dem Fliedergebüſche, und ſchaute zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung Mathildens. Dort ſtand manches Mal das Mäd¬ chen, das ſo ſchön wie ein Engel war, an dem Fenſter. Gegen den Abend ſpielte Mathilde in dem Zimmer der Mutter auf dem Claviere ſehr ernſt ſehr ſchön und ſehr ergreifend. Dann nahm ſie noch die Zither, und297 ſpielte auf derſelben ebenfalls. Die Saiten mußten ſie ſo ergriffen haben, daß ſie nicht aufhören konnte. Sie ſpielte immer fort, und die Töne wurden immer rührender, und ihre Verbindung immer natürlicher. Die Mutter lobte ſie ſehr. Der Vater, welcher in einem Geſchäfte in der nächſten kleinen Stadt geweſen war, kam endlich auch zur Mutter, und wir blieben in dem Zimmer derſelben, bis wir zu dem Abendeſſen gerufen wurden. Der Vater nahm Mathilden an den Arm, und führte ſie zärtlich in den Speiſeſaal. “
„ Es begann nun eine merkwürdige Zeit. In mei¬ nem und Mathildens Leben war ein Wendepunkt ein¬ getreten. Wir hatten uns nicht verabredet, daß wir unſere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hiel¬ ten wir ſie geheim, wir hielten ſie geheim vor dem Vater vor der Mutter vor Alfred und vor allen Men¬ ſchen. Nur in Zeichen, die ſich von ſelber gaben, und in Worten, die nur uns verſtändlich waren, und die wie von ſelber auf die Lippen kamen, machten ſie wir uns gegenſeitig kund. Tauſend Fäden fanden ſich, an denen unſere Seelen zu einander hin und her gehen konnten, und wenn wir in dem Beſize von die¬ ſen tauſend Fäden waren, ſo fanden ſich wieder tau¬ ſend, und mehrten ſich immer. Die Lüfte die Gräſer298 die ſpäten Blumen der Herbſtwieſe die Früchte der Ruf der Vögel die Worte eines Buches der Klang der Saiten ſelbſt das Schweigen waren unſere Boten. Und je tiefer ſich das Gefühl verbergen mußte, deſto gewaltiger war es, deſto drängender loderte es in dem Innern. Auf Spaziergänge gingen wir drei Mathilde Alfred und ich jezt weniger als ſonſt, es war, als ſcheuten wir uns vor der Anregung. Die Mutter reichte oft den Sommerhut, und munterte auf. Das war dann ein großes ein namenloſes Glück. Die ganze Welt ſchwamm vor den Blicken, wir gin¬ gen Seite an Seite, unſere Seelen waren verbun¬ den, der Himmel die Wolken die Berge lächelten uns an, unſere Worte konnten wir hören, und wenn wir nicht ſprachen, ſo konnten wir unſere Tritte ver¬ nehmen, und wenn auch das nicht war, oder wenn wir ſtille ſtanden, ſo wußten wir, daß wir uns be¬ ſaßen, der Beſiz war ein unermeßlicher, und wenn wir nach Hauſe kamen, war es, als ſei er noch um ein Unſägliches vermehrt worden. Wenn wir in dem Hauſe waren, ſo wurde ein Buch gereicht, in dem unſere Gefühle ſtanden, und das Andere erkannte die Gefühle, oder es wurden ſprechende Muſiktöne hervorgeſucht, oder es wurden Blumen in den Fen¬299 ſtern zuſammengeſtellt, welche von unſerer Vergan¬ genheit redeten, die ſo kurz und doch ſo lang war. Wenn wir durch den Garten gingen, wenn Alfred um einen Buſch bog, wenn er in dem Gange des Weinlaubes vor uns lief, wenn er früher aus dem Haſelgebüſche war als wir, wenn er uns in dem In¬ nern des Gartenhauſes allein ließ, konnten wir uns mit den Fingern berühren, konnten uns die Hand reichen, oder konnten gar Herz an Herz fliegen, uns einen Augenblick halten, die heißen Lippen an einan¬ der drücken, und die Worte ſtammeln: „ „ Mathilde, dein auf immer und auf ewig, nur dein allein, und nur dein nur dein allein! ““
„ „ O ewig dein, ewig, ewig, Guſtav, dein, nur dein, und nur dein allein. ““
„ Dieſe Augenblicke waren die allerglückſeligſten. “
„ So war der tiefe Herbſt gekommen. Wir hatten in dem Reſte des Sommers ein Äußeres nicht ver¬ mißt. Mathilde und Alfred hatten immer weniger verlangt, in die Nachbarſchaft zu fahren, und ſo war es gekommen, daß auch die Eltern weniger fuhren, und daß auch Fremde weniger zu uns kamen. Wenn ſie aber da waren, wenn auch Alfred an den Spielen und Ergözungen der Kinder Theil nahm, ſo war300 Mathilde doch theilnahmloſer als je. Sie hielt ſich ferne, wie eine, die nicht hieher gehört. Auch in ihrem körperlichen Weſen war in dieſer kurzen Zeit eine große Veränderung vorgegangen. Sie war ſtärker gewor¬ den, ihre Wangen waren purpurner ihre Augen glän¬ zender geworden. Alfred liebte mich ſehr. Neben ſeinen Eltern und ſeiner Schweſter liebte er vielleicht nichts ſo ſehr als mich, und ich vergalt es ihm mit ganzer Seele. “
„ Der ſpäte Herbſt war endlich dem Beginne des Winters gewichen. Wie wir ſehr früh von der Stadt auf das Land gingen, ſo blieben wir auch ſehr tief in die ſinkende Jahreszeit hinein auf demſelben. Alfreds Erwartung war in Erfüllung gegangen. Das Obſt und die Trauben waren abgenommen worden. Auf den Zweigen der Bäume war kein Blatt mehr, und der Nebel und der Froſt zogen ſich durch die Gründe des Thales. Da gingen wir in die Stadt. Dort war Mathilde enger umgrenzt. Lehrer Erziehungsſtunden Unterricht Arbeiten drängten ſich an ſie heran. Ihr ganzes Weſen aber war begeiſterter und getragener, und ich erſchien mir reich, um vieles reicher als die Beſizer all der Häuſer der Palläſte und des Glanzes der ungeheuren Stadt. Wir konnten uns nur ſeltener301 ſprechen; aber wenn ſie mir auf dem Gange begeg¬ nete, wenn ſie mir in dem Zimmer der Mutter einige Worte ſagen konnte, wenn in der Menge das Geſchick uns an einander vorüberführte, oder wenn uns ein anderer günſtiger Augenblick gegeben war: dann ſag¬ ten mir ihre ſchönen Augen, dann ſagten einige Worte, wie ſehr wir uns liebten, wie unveränderlich dieſe Liebe ſei, und wie unbegrenzt unſere Seelen einander beherrſchten. Sie wurde jezt auch von andern Leuten bemerkt, und junge Männer richteten ihre Augen auf ſie; aber wenn man ihr entgegen kam, wenn ihr ge¬ huldigt wurde, wenn man ſie in einer Familie feierte: ſo war ſie ganz ruhig gegen dieſe Dinge, ſezte ihnen gar keine Äußerung entgegen, und ihr engelſchönes Weſen ſagte mir, es ſagte es nur von mir verſtanden, daß ſie mit ihrer wundervollen Geſtalt mit der Wärme ihrer Seele und dem Glanz ihres Aufblühens nur mich beglücke, und daß es ihr Wonne mache, mich beglücken zu können. Oft, wenn ich von weiten Gän¬ gen in der Stadt zurückkehrte, und zu dem Hauſe kam, in welche wir wohnten, blieb ich ſtehen, und betrachtete das Haus. Es war merkwürdiger es war gefeit worden vor den Häuſern der Stadt, und mit Rührung ſah ich auf die Mauern, innerhalb302 welcher das Weſen wohnte, das von überirdiſchen Räumen gekommen war, meine Seele zu erfüllen. Mathilde ſah die Vergötterung, welche ich ihr weihte, ſie ſah dieſelbe genau auf den geheimen Wegen, auf denen ich ihre Liebe erkannte, und Freude leuchtete darüber von ihrer Stirne, welche gleichfalls nur von mir geſehen wurde. Die Eltern Mathildens fingen auch an, ſie in vorzüglichere Stoffe zu kleiden, als ſie bisher gethan hatten, und wenn ſie mit edlen Gewän¬ dern angethan vor mir ſtand, kam ſie mir ferner und näher fremder und angehöriger vor als ſonſt. “
„ Eines Tages, als ich über die Treppe unſers Hauſes, welches nur von unſerer Familie allein be¬ wohnt wurde, herabging, um einen Freund zu beſu¬ chen, begegnete mir Mathilde. Sie war mit der Mut¬ ter an das Haus gefahren, die Mutter war in dem Wagen ſizen geblieben, ſie aber ſollte hinaufgehen, um irgend etwas zu holen. Sie war in ſchwarze Seide gekleidet, ein ſeidenes Mäntelchen war um ihre Schultern, und aus dem Hute mit dem grünen Flore ſah das blühende durch die Kälte erfriſchte An¬ geſicht hervor. Da wir uns hinter einer Biegung der Treppe begegneten, wurde ſie dunkelglühend. Ich er¬ ſchrak, und ſagte aber: „ „ O Mathilde, Mathilde, du303 himmelvolles Weſen, alle ſtreben ſie nach dir, wie wird das werden, o wie wird das werden?! ““
„ „ Guſtav, Guſtav, ““antwortete ſie, „ „ du biſt der trefflichſte von allen, du biſt ihr König, du biſt der Einzige, alles iſt gut und herrlich, und Millionen Kräfte ſollen es nicht zerreißen können. ““
„ Ich ergrif ihre Hand, ein glühender Kuß nur einen Augenblick gegeben aber mit feſt aneinanderge¬ drückten Lippen bekräftigte die Worte. Ich hörte ihre Seide die Treppe emporrauſchen, ich aber ging die Stufen hinunter. Da ich unten die gläſerne Doppel¬ thür der Treppe geöffnet hatte, ſah ich den Wagen ſtehen. Hinter den Fenſtern desſelben ſaß freundlich die Mutter Mathildens, und ſah mich an. Ich grüßte ſie ehrerbiethig, und ging vorüber. Ich ging nun nicht mehr zu dem Freunde, den ich hatte beſuchen wollen. “
„ Mit Alfred betrieb ich das, was er zu lernen hatte, immer eifriger, ich war immer ſorgſamer, daß er es gut inne habe, und legte, wo ich konnte, wie früher und in noch größerem Maße ſelber Hand an. Auch auf den Gang ſeiner Entwickelung im Allge¬ meinen ſuchte ich ſo einzuwirken, wie es mir nur möglich war. Ich ſprach ſehr viel mit ihm, und ging ſehr viel mit ihm um. Er ſchloß ſich, da er es wohl304 wußte, daß ich ihn liebe, immer inniger an mich an, ja er ſchloß ſich auf das Innigſte und faſt ausſchlie߬ lich an mich. Er wohnte wie auf dem Lande ſo auch in der Stadt neben mir. “
„ Im erſten Frühlinge fuhren wir wieder wie im vorigen Jahre nach Heinbach. Es war wieder die Veranſtaltung getroffen, daß Mathilde Alfred und ich in einem Wagen fuhren. Alfred ſaß wieder neben mir, und ſchmiegte ſich an mich. Mathilde ſaß gegen¬ über. Und ſo konnten wir uns zwei Tage mit den Augen der Liebe ungehindert anſehen, und konnten mit einander ſprechen. Und wenn wir auch von gleich¬ gültigen Dingen redeten, ſo hörten wir doch unſere Stimme, und in gewöhnlichen Dingen zitterte das tiefe Herz durch. Jene zwei Tage waren die glückſe¬ ligſten meines Lebens. “
„ Auf dem Lande begann nun wieder ein Leben, wie es im vergangenen Jahre geweſen war. Wir waren ungebunden, und konnten leichter unſere See¬ len tauſchen. Wir waren freier in dem Zimmer der Mutter oder in dem des Vaters, wir konnten den Garten beſuchen, wir konnten unter den Bäumen des Raſenplazes wandeln, und wir konnten ſpazieren gehen. Am liebſten wurde uns der Weinlaubengang. 305Er war ein Heiligthum geworden, ſeine Zweige ſahen uns vertraut an, ſeine Blätter wurden unſere Zeugen, und durch ſeine Verſchlingungen bebte manches tiefe Wort und wehte mancher Hauch der unergründlichſten Glückſeligkeit. Faſt eben ſo lieb war uns das Garten¬ haus. Manchen Flug der Wonne deckte es mit ſeinen ſchüzenden Mauern, und es umgab uns wie ein ſtil¬ ler Tempel, wenn wir alle drei eintraten und zwei Gemüther wallten. Wir gingen oft an dieſe beiden Orte. Die Verbindungsfäden wuchſen tauſendfach, Mathilde wurde ſtets noch herrlicher, ſie wurde von andern immer heißer begehrt, aber ihre Seele ſchloß ſich nur feſter an die meinige. “
„ Ich machte jezt oft ſehr große Wege allein. Wenn ich ſo weit war, daß ich das Haus nicht mehr ſehen konnte, und wenn ich ſo daſtand, und die wei¬ ßen Wolken betrachtete, die über dem Hauſe ſtehen mußten, und wenn ich auf den Wald ſah, jenſeits deſſen das Haus ſich befand, ſo kam eine tiefe Bewe¬ gung in mich. Und wenn ich dann nach Hauſe eilte, ins Innere der Mauern ging, ſie da ſah, und an ihr die Freude des Wiederſehens erkannte, ſo frohlockte gleichſam ſpringend mir das Herz in dem Buſen über meinen unendlichen Beſiz. “
Stifter, Nachſommer. III. 20306„ Dennoch war allgemach etwas da, das wie ein Übel in mein Glück bohrte. Es nagte der Gedanke an mir, daß wir die Eltern Mathildens täuſchen. Sie ahnten nicht, was beſtand, und wir ſagten es ihnen nicht. Immer drückender wurde mir das Gefühl, und immer ängſtender laſtete es auf meiner Seele. Es war wie das Unheil der Alten, welches immer größer wird, wenn man es berührt. “
„ Eines Tages, da eben die Roſenblüthe war, ſagte ich zu Mathilden, ich wolle zur Mutter gehen, ihr alles entdecken, und ſie um ihr gütiges Vorwort bei dem Vater bitten. Mathilde antwortete, das werde gut ſein, ſie wünſche es, und unſer Glück müſſe da¬ durch ſich erſt recht klären und befeſtigen. “
„ Ich ging nun zur Mutter Mathildens, und ſagte ihr alles mit ſchlichten Worten aber mit zagender Stimme. “
„ „ Ich habe das von euch nicht erwartet, und nicht geahnt, ““erwiederte ſie, „ „ ich kann euch auch einen Beſcheid nicht geben. Ich muß erſt mit meinem Gat¬ ten ſprechen. Kommt in einer Stunde in mein Zim¬ mer, und ich werde euch antworten. ““
„ Ich verbeugte mich, verließ ihr Gemach, und begab mich in mein Eckzimmer. “
307„ Als die Stunde vorüber war, ging ich in das Beſuchzimmer der Mutter Mathildens. Sie erwar¬ tete mich ſchon. Sie ſaß an ihrem Tiſche, um den wir uns ſo oft verſammelt hatten. Sie both mir auch einen Stuhl an. Nachdem ich mich geſezt hatte, ſagte ſie: „ „ Mein Gatte iſt mit mir gleicher Anſicht. Wir haben euch ein Vertrauen geſchenkt, das ſo groß war, daß wir es nicht verantworten können. Ihr gabet uns Grund zu dieſem Vertrauen. Wir wollen nicht wei¬ ter darüber rechten. Aber eins muß geſprochen wer¬ den. Die Verbindung, welche ihr beide geſchloſſen habt, iſt ohne Ziel, wenigſtens iſt jezt ein Ziel nicht abzuſehen. Ihr mögt wohl beide einen gleichen An¬ theil an der Schließung dieſes Bundes haben. Aber beide dürftet ihr vielleicht an ſeine Folgen nicht gedacht haben, ſonſt könnten wir euch ſchwerer entſchuldigen. Ihr habt euch nur eurem Gefühle hingegeben. Ich begreife das. Ich kann mir nur nicht erklären, daß ich es nicht ſchon früher begriffen habe. Ich habe euch ſo — ſo ſehr vertraut. Hört mich aber jezt an. Ma¬ thilde iſt noch ein Kind, es muß eine Reihe von Jah¬ ren vergehen, in denen ſie noch lernen muß, was ihr für ihren einſtigen Beruf noth thut, es muß noch eine Reihe von Jahren vergehen, ehe ſie nur begreift, was20 *308der Bund iſt, den ſie eben geſchloßen hat. Sie iſt leb¬ haft, ſie hat ein Gefühl von ihrer Seele Beſiz nehmen laſſen, welches ihr angenehm iſt, und welches wahr¬ ſcheinlich dieſe ihre ganze Seele erfüllt. Sollen wir ſie in dieſem Gefühle befangen ſein laſſen in der gan¬ zen Zeit, in der ſie erſt die wichtigſten Vorbereitun¬ gen zu ihrem künftigen Leben treffen muß, oder ſoll ſie ruhiger ſein, um dieſe Vorbereitungen in dem rech¬ ten Maße treffen zu können? Soll das Gefühl nun fortdauern, immer fort, bis wir ſagen können, daß ſie Braut ſei? Wenn es fortdauert, wird es nicht peini¬ gende Stunden bringen, da es nicht ſo bald in ſeinen natürlichen Abſchluß gelangen kann, und Zweifel Ungeduld Vorwärtstreiben Unmuth und Schmerz in ſeinem Gefolge führen? Wird es da nicht jene ſchönen edlen heitern ruhigen Tage wegfreſſen, die der aufblühenden Jungfrau beſtimmt ſind, ehe ſie den Brautkranz in ihre Haare flicht? Sind nicht oft früh¬ zeitige auf weite Ziele gerichtete Neigungen die Zerſtö¬ rerinnen des Lebensglückes geworden? Wenn ihr Ma¬ thilden liebt, wenn ihr ſie mit wahrhafter Liebe eures Herzens liebt, könnt ihr ſie einer ſolchen Gefahr aus¬ ſezen wollen? Gräbt nicht tiefes Sehnen und heftiges Fühlen durch Jahre fortgeſezt alle Kräfte des Men¬309 ſchen an? Und wie, wenn die Neigung des einen ſchwindet, und das andere troſtlos iſt? oder wenn ſie in beiden ermattet, und eine Leere hinter ſich läßt? Ihr werdet beide ſagen, das ſei bei euch nicht möglich. Ich weiß, daß ihr jezt ſo fühlt, ich weiß, daß es bei euch vielleicht auch nicht möglich iſt; allein ich habe oft geſehen, daß Neigungen aufhörten und ſich än¬ derten, ja daß die ſtärkſten Gefühle, welche allen Gewalten trozten, dann, da ſie keinen andern Wider¬ ſtand mehr hatten als die zähe immer dauernde auf¬ reibende Zeit, dieſer ſtillen und unſcheinbaren Ge¬ walt unterlegen ſind. Soll Mathilde — ich will ſagen eure Mathilde — dieſer Möglichkeit anheim gegeben werden? Iſt ihr das Leben, in das ſie jezt mit friſcher Seele hinein ſieht, nicht zu gönnen? Es iſt größere Liebe, auf die eigene Seligkeit nicht achten, ja die gegenwärtige Seligkeit des geliebten Gegenſtandes auch nicht achten, aber dafür das ruhige feſte und dauernde Glück desſelben begründen. Das, glaube ich, iſt eure und iſt Mathildens Pflicht. Ihr könnt mir nicht einwenden, daß dieſes Glück durch eine Ver¬ bindung, die ſogleich geſchloſſen wird, zu begründen ſei. Wenn auch Mathildens Vermögen ſo groß wäre, daß daraus ein Familienbeſizſtand gegründet werden310 könnte, wenn ihr es auch über euch vermöchtet, von dem Vermögen eurer Gattin wenigſtens eine Zeit hin¬ durch zu leben, was ich bezweifle, ſo wäre damit doch noch nichts gewonnen, da Mathilde, wie ich ſagte, die bei weitem größere Zahl von Eigenſchaften noch nicht beſizt, welche eine Gattin und Mutter beſi¬ zen muß, da ſie ferner nach den Anſichten, die wir über das körperliche Wohl unſerer Kinder für unſere Pflicht halten, wenigſtens vor ſechs oder ſieben Jah¬ ren ſich nicht vermählen kann, und da alſo die Unſi¬ cherheit und Gefahr, wie ich früher ſprach, auch bei dieſer eurer Behauptung für ſie und euch vorhanden wären. Da die Kinder in dem Alter Mathildens ihren Eltern ohne Bedingung zu folgen haben, und da gute Kinder, wozu ich Mathilden zähle, auch wenn es ihrem Herzen Schmerz macht, gerne folgen, weil ſie der Liebe und der beſſern Einſicht der Eltern ver¬ trauen: ſo hätte ich nur ſagen dürfen, mein Gatte und ich erkennen, daß zum Wohle Mathildens das Band, das ſie geſchlungen hat, nicht fortdauern dürfe, und daß ſie daher dasſelbe abbrechen möge; allein ich habe euch die Gründe unſerer Anſicht entwickelt, weil ich euch hochachte, und weil ich auch geſehen habe, daß ihr mir zugethan ſeid, wie ja auch euer Geſtänd¬311 niß beweist, welches freilich etwas früher hätte gemacht werden ſollen. Erlaubt, daß ich nun auch von euch etwas ſpreche. Ihr ſeid wenn auch älter als Mathilde doch als Mann noch ſo jung, daß ihr die Lage, in der ihr ſeid, kaum zu beurtheilen fähig ſein dürftet. Mein Gatte und ich ſind der Anſicht, daß ihr, ſo weit wir euch kennen, durch euer Gefühl, das immer edel und warm iſt, in die Neigung zu Mathil¬ den, der wir auch als Eltern immerhin einigen Lieb¬ reiz zuſprechen müſſen, geſtürzt worden ſeid, daß ſich euch das Gefühl als etwas Hohes und Erhabenes angekündigt hat, das euch noch dazu ſo beſeligte, und daß ihr daher an keinen Widerſtand gedacht habt, der euch ja auch als Untreue an Mathilden erſcheinen mußte. Allein eure Lage in dieſer Art genommen darf nicht als die geſezmäßige bezeichnet werden. Ihr ſeid ſo jung, ihr habt euch in den Anfang einer Laufbahn begeben. Ihr müßt nun in derſelben fortfahren, oder, wenn ihr ſie mißbilligt, eine andere einſchlagen. In ganz und gar keiner kann ein Mann von eurer Bega¬ bung und eurem inneren Weſen nicht bleiben. Welche lange Zeit liegt nun vor euch, die ihr benüzen müßt, euch in jene feſte Lebensthätigkeit zu bringen, die euch noth thut, und euch jene äußere Unabhängigkeit zu312 erwerben, die ihr braucht, damit ihr beides zur Er¬ richtung eines dauernden Familienverhältniſſes anwenden könnt. Welche Unſicherheit in euren Be¬ ſtrebungen, wenn ihr eine verfrühte Neigung in die¬ ſelben hinein nehmt, und welche Gefahren in dieſer euch beherrſchenden Neigung für euer Weſen und euer Herz! Es wird euch beiden jezt Schmerz machen, das geknüpfte Band zu löſen oder wenigſtens aufzuſchie¬ ben, wir wiſſen es, wir fühlen den Schmerz, ihr beide dauert uns, und wir machen uns Vorwürfe, daß wir die entſtandene Sachlage nicht zu verhindern gewußt haben; aber ihr werdet beide ruhiger werden, Ma¬ thilde wird ihre Bildung vollenden können, ihr wer¬ det in eurem zukünftigen Stande euch befeſtiget haben, und dann kann wieder geſprochen werden. Ihr hättet auch ohne dieſe Neigung nicht lange mehr in eurer gegenwärtigen Stellung bleiben können. Wir verdan¬ ken euch ſehr viel. Unſer Alfred und auch Mathilde reiften an euch ſehr ſchön empor. Aber eben deßhalb hätten wir es nicht über unſer Gewiſſen bringen kön¬ nen, euch länger zu unſerem Vortheile von eurer Zu¬ kunft abzuhalten, und mein Gatte hatte ſich vorge¬ nommen, mit euch über dieſe Sache zu ſprechen. Überdenkt, was ich euch ſagte. Ich verlange heute313 keine Antwort; aber gebt ſie mir in dieſen Tagen. Ich habe noch einen Wunſch, ich kenne euch, und ich will ihn euch deßhalb anvertrauen. Ihr habt eine ſehr große Gewalt über Mathilden, wie wir wohl immer geſehen haben, wie ſie uns in ihrer Größe aber nicht erſchienen iſt, wendet, wenn meine Worte bei euch einen Eindruck machten, dieſe Gewalt auf ſie an, um ſie von dem zu überzeugen, was ich euch geſagt habe, und um das arme Kind zu beruhigen. Wenn es euch gelingt, glaubt mir, ſo erweiſet ihr Mathil¬ den dadurch eine große Liebe, ihr erweiſet ſie euch und auch uns. Geht dann mit dem Eifer der Bega¬ bung und der Ausdauer, wie ihr ſie in unſerem Hauſe bewieſen habt, an euren Beruf. Wir waren euch alle ſehr zugethan, ihr werdet wieder Neigung und An¬ hänglichkeit finden, ihr werdet ruhiger werden, und alles wird ſich zum Guten wenden. ““
„ Sie hatte ausgeſprochen, legte ihre ſchöne freund¬ liche Hand auf den Tiſch, und ſah mich an. “
„ „ Ihr ſeid ja ſo blaß wie eine getünchte Wand, ““ſagte ſie nach einem Weilchen. “
„ In meine Augen drangen einzelne Thränen, und ich antwortete: „ „ Jezt bin ich ganz allein. Mein Va¬ ter meine Mutter meine Schweſter ſind geſtorben. ““ 314Mehr konnte ich nicht ſagen, meine Lippen bebten vor unſäglichem Schmerz. “
„ Sie ſtand auf, legte ihre Hand auf meinen Schei¬ tel, und ſagte unter Thränen mit ihrer lieblichen Stimme: „ „ Guſtav, mein Sohn! du biſt es ja immer geweſen, und ich kann einen beſſeren nicht wünſchen. Geht jezt beide den Weg eurer Ausbildung, und wenn dann einſt euer gereiftes Weſen daſſelbe ſagt, was jezt das wallende Herz ſagt, dann kommt beide, wir werden euch ſegnen. Stört aber durch Fortſpinnen Steigern und vielleicht Abarten eurer jezigen heftigen Gefühle nicht die euch ſo nöthige lezte Entwicklung. ““
„ Es war das erſte Mal geweſen, daß ſie mich du genannt hatte. “
„ Sie verließ mich, und ging einige Schritte im Zimmer hin und wieder. “
„ „ Verehrte Frau, ““ſagte ich nach einer Weile, „ „ es iſt nicht nöthig, daß ich euch morgen oder in die¬ ſen Tagen antworte; ich kann es jezt ſogleich. Was ihr mir an Gründen geſagt habt, wird ſehr richtig ſein, ich glaube, daß es wirklich ſo iſt, wie ihr ſagt; allein mein ganzes Innere kämpft dagegen, und wenn das Geſagte noch ſo wahr iſt, ſo vermag ich es nicht zu faſſen. Erlaubt, daß eine Zeit hierüber vergehe,315 und daß ich dann noch einmal durchdenke, was ich jezt nicht denken kann. Aber eins iſt es, was ich faſſe. Ein Kind darf ſeinen Eltern nicht ungehorſam ſein, wenn es nicht auf ewig mit ihnen brechen, wenn es nicht die Eltern oder ſich ſelbſt verwerfen ſoll. Mathilde kann ihre guten Eltern nicht verwerfen, und ſie iſt ſelber ſo gut, daß ſie auch ſich nicht verwerfen kann. Ihre Eltern verlangen, daß ſie jezt das geſchloſ¬ ſene Band auflöſen möge, und ſie wird folgen. Ich will es nicht verſuchen, durch Bitten das Gebot der Eltern wenden zu wollen. Die Gründe, welche ihr mir geſagt habt, und welche in mein Weſen nicht ein¬ dringen wollen, werden in dem eurigen feſt haften, ſonſt hättet ihr mir ſie nicht ſo nachdrücklich geſagt, hättet ſie mir nicht mit ſolcher Güte und zulezt nicht mit Thränen geſagt. Ihr werdet davon nicht laſſen können. Wir haben uns nicht vorzuſtellen vermocht, daß das, was für uns ein ſo hohes Glück war, für die Eltern ein Unheil ſein wird. Ihr habt es mir mit eurer tiefſten Überzeugung geſagt. Selbſt wenn ihr irrtet, ſelbſt wenn unſere Bitten euch zu erweichen vermöchten, ſo würde euer freudiger Wille euer Herz und euer Segen mit dem Bunde nicht ſein, und ein Bund ohne der Freude der Eltern ein Bund mit der316 Trauer von Vater und Mutter müßte auch ein Bund der Trauer ſein, er wäre ein ewiger Stachel, und euer ernſtes oder bekümmertes Antliz würde ein unvertilgbarer Vorwurf ſein. Darum iſt der Bund, und wäre er der berechtigteſte, aus, er iſt aus auf ſo lange, als die Eltern ihm nicht beiſtimmen können. Eure ungehorſame Tochter würde ich nicht ſo unaus¬ ſprechlich lieben können, wie ich ſie jezt liebe, eure gehorſame werde ich ehren und mit tiefſter Seele, wie fern ich auch ſein mag, lieben, ſo lange ich lebe. Wir werden daher das Band löſen, wie ſchmerzhaft die Löſung auch ſein mag. — O Mutter, Mutter! — laßt euch dieſen Namen zum erſten und vielleicht auch zum lezten Male geben — der Schmerz iſt ſo groß, daß ihn keine Zunge ausſprechen kann, und daß ich mir ſeine Größe nie vorzuſtellen vermocht habe. ““
„ „ Ich erkenne es, ““antwortete ſie, „ „ und darum iſt ja der Kummer, den ich und mein Gatte empfin¬ den, ſo groß, daß wir unſerem theuren Kinde und euch, den wir auch lieben, die Seelenkränkung nicht erſparen können. ““
„ „ Ich werde morgen Mathilden ſagen, ““erwie¬ derte ich, „ „ daß ſie ihrem Vater und ihrer Mutter gehorchen müſſe. Heute erlaubt mir, verehrte Frau,317 daß ich meine Gedanken etwas ordne — und daß ich auch noch andere Dinge ordne, die noth thun. ““
„ Die Thränen waren mir wieder in die Augen getreten. “
„ „ Sammelt euch, lieber Guſtav, ““ſagte ſie, „ „ und thut, was ihr für gut haltet, ſprecht mit Mathilden oder ſprecht auch nicht, ich ſchreibe euch nichts vor. Es wird eine Zeit kommen, in der ihr einſehen wer¬ det, daß ich euch nicht ſo unrecht thue, als ihr jezt vielleicht glauben mögt. ““
„ Ich küßte ihr die Hand, die ſie mir gütig gab, und verließ das Zimmer. “
„ Am andern Tage bath ich Mathilden, mit mir einen Gang in den Garten zu machen. Wir gingen durch den erſten Theil deſſelben, und wir gingen durch den Weinlaubengang bis zu dem Gartenhauſe, an dem die Roſen blühten. Während wir ſo wandel¬ ten, ſprachen wir faſt kein Wort, außer daß wir ſag¬ ten, wie uns hie und da eine Blume gefalle, wie das Weinlaub ſchön ſei, und wie der Tag ſich ſo ausge¬ heitert habe. Wir waren zu geſpannt auf das, was da kommen werde, Mathilde auf das, was ich ihr mitzutheilen habe, und ich auf das, wie ſie die Mit¬ theilung aufnehmen werde. In der Nähe des Gar¬318 tenhauſes war eine Bank, auf welche von einem Ro¬ ſengebüſche Schatten fiel. Ich lud ſie ein, mit mir auf der Bank Plaz zu nehmen. Sie that es. Es war das erſte Mal, daß wir ganz allein in den Garten gingen, und daß wir allein bei einander auf einer Bank ſaſſen. Es war das Vorzeichen, daß uns dies in Zukunft entweder ungeſtört werde geſtattet ſein, oder daß es das lezte Mal ſei, und daß man darum ein unbedingtes Vertrauen in uns ſeze. Ich ſah, daß Mathilde das empfinde; denn in ihrem ganzen Weſen war die höchſte Erwartung ausgeprägt. De߬ ohngeachtet rief ſie mit keinem Worte den Anfang der Mittheilungen hervor. Mein Weſen mochte ſie in Angſt geſezt haben; denn obwohl ich mir unzählige Male in der Nacht die Worte zuſammengeſtellt hatte, mit denen ich ſie anreden wollte, ſo konnte ich doch jezt nicht ſprechen, und obwohl ich ſuchte, meine Em¬ pfindungen zu bemeiſtern, ſo mochte doch der Schmerz in meinem Äußern zu leſen geweſen ſein. Da wir ſchon eine Weile geſeſſen waren, auf unſere Fußſpizen geſehen, und, was zu verwundern war, uns nicht an der Hand gefaßt hatten, fing ich an, mit zitternder Stimme und mit ſtockendem Athem zu ſagen, was ihre Eltern meinen, und daß ſie den Wunſch hegen,319 daß wir wenigſtens für die jezige Zeit unſer Band auflöſen mögen. Ich ging auf die Gründe, welche die Mutter angegeben hatte, nicht ein, und legte Ma¬ thilden nur dar, daß ſie zu gehorchen habe, und daß unter Ungehorſam unſer Bund nicht beſtehen könne. “
„ Als ich geendet hatte, war ſie im höchſten Maße erſtaunt. “
„ „ Ich bitte dich, wiederhole mir nur in Kurzem, was du geſprochen haſt, und was wir thun ſollen, ““ſagte ſie. “
„ „ Du mußt den Willen deiner Eltern thun, und das Band mit mir löſen, ““antwortete ich. “
„ „ Und das ſchlägſt du vor, und das haſt du der Mutter verſprochen, bei mir auszuwirken? ““fragte ſie.
„ „ Mathilde nicht auszuwirken, ““antwortete ich, „ „ wir müſſen gehorchen; denn der Wille der Eltern iſt das Geſez der Kinder. ““
„ „ Ich muß gehorchen, ““rief ſie, indem ſie von der Bank aufſprang, „ „ und ich werde auch gehorchen; aber du mußt nicht gehorchen, deine Eltern ſind ſie nicht. Du mußteſt nicht hieher kommen, und den Auf¬ trag übernehmen, mit mir das Band der Liebe, das wir geſchloſſen hatten, aufzulöſen. Du mußteſt ſagen: „ Frau, eure Tochter wird euch gehorſam ſein,320 ſagt ihr nur euren Willen; aber ich bin nicht verbun¬ den, eure Vorſchriften zu befolgen, ich werde euer Kind lieben, ſo lange ein Blutstropfen in mir iſt, ich werde mit aller Kraft ſtreben, einſt in ihren Beſiz zu gelangen. Und da ſie euch gehorſam iſt, ſo wird ſie mit mir nicht mehr ſprechen, ſie wird mich nicht mehr anſehen, ich werde weit von hier fortgehen; aber lie¬ ben werde ich ſie doch, ſo lange dieſes Leben währt und das künftige, ich werde nie einer andern ein Theil¬ chen von Neigung ſchenken, und werde nie von ihr laſſen. “ So hätteſt du ſprechen ſollen, und wenn du von unſerm Schloſſe fortgegangen wäreſt, ſo hätte ich gewußt, daß du ſo geſprochen haſt, und tauſend Millionen Ketten hätten mich nicht von dir geriſſen, und jubelnd hätte ich einſt in Erfüllung gebracht, was dir dieſes ſtürmiſche Herz gegeben. Du haſt den Bund aufgelöſet, ehe du mit mir hieher gegangen biſt, ehe du mich zu dieſer Bank geführt haſt, die ich dir gutwillig folgte, weil ich nicht wußte, was du gethan haſt. Wenn jezt auch der Vater und die Mut¬ ter kämen, und ſagten: „ Nehmet euch, beſizet euch in Ewigkeit, “ſo wäre doch alles aus. Du haſt die Treue gebrochen, die ich feſter gewähnt habe als die Säulen321 der Welt und die Sterne an dem Baue des Him¬ mels. ““
„ „ Mathilde, ““ſagte ich, „ „ was ich jezt thue, iſt unendlich ſchwerer, als was du verlangteſt. ““
„ „ Schwer oder nicht ſchwer, von dem iſt hier nicht die Rede, ““antwortete ſie, „ „ von dem, was ſein muß, iſt die Rede, von dem, deſſen Gegentheil ich für un¬ möglich hielt. Guſtav, Guſtav, Guſtav, wie konnteſt du das thun? ““
„ Sie ging einige Schritte von mir weg, kniete gegen die Roſen, die an dem Gartenhauſe blüh¬ ten, gewendet in das Gras nieder, ſchlug die beiden Hände zuſammen, und rief unter ſtrömenden Thrä¬ nen: „ „ Hört es, ihr tauſend Blumen, die herabſchau¬ ten, als er dieſe Lippen küßte, höre es du, Weinlaub, das den flüſternden Schwur der ewigen Treue ver¬ nommen hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge in keiner Sprache ausgeſprochen werden kann. Dieſes Herz iſt jung an Jahren, aber es iſt reich an Großmuth; alles, was in ihm lebte, habe ich dem Geliebten hingegeben, es war kein Gedanke in mir als er, das ganze künftige Leben, das noch viele Jahre umfaſſen konnte, hätte ich wie einen Hauch für ihn hingeopfert, jeden Tropfen Blut hätte ich langſamStifter, Nachſommer. III. 21322aus den Adern fließen und jede Faſer aus dem Leibe ziehen laſſen — und ich hätte gejauchzt dazu. Ich habe gemeint, daß er das weiß, weil ich gemeint habe, daß er es auch thun würde. Und nun führt er mich heraus, um mir zu ſagen, was er ſagte. Wären was immer für Schmerzen von Außen gekommen, was immer für Kämpfe Anſtrengungen und Erduldungen; ich hätte ſie ertragen, aber nun er — er —! Er macht es unmöglich für alle Zeiten, daß ich ihm noch ange¬ hören kann, weil er den Zauber zerſtört hat, der alles band, den Zauber, der ein unzerreißbares Aneinan¬ derhalten in die Jahre der Zukunft und in die Ewig¬ keit malte. ““
„ Ich ging zu ihr hinzu, um ſie empor zu heben. Ich ergrif ihre Hand. Ihre Hand war wie Glut. Sie ſtand auf, entzog mir die Hand, und ging gegen das Gartenhaus, an dem die Roſen blühten. “
„ „ Mathilde, ““ſagte ich, „ „ es handelt ſich nicht um den Bruch der Treue, die Treue iſt nicht gebrochen worden. Verwechſle die Dinge nicht. Wir haben gegen die Eltern unrecht gehandelt, daß wir ihnen verbargen, was wir gethan haben, und daß wir in dem Verbergen beharrend geblieben ſind. Sie fürch¬ ten Übles für uns. Nicht die Zerſtörung unſerer Ge¬323 fühle verlangen ſie, nur die Aufhebung des Äußer¬ lichen unſeres Bundes auf eine Zeit. ““
„ „ Kannst du eine Zeit nicht mehr du ſein? ““erwie¬ derte ſie, „ „ kannſt du eine Zeit dein Herz nicht ſchla¬ gen laſſen? Äußeres, Inneres, das iſt alles eins, und alles iſt die Liebe. Du haſt nie geliebt, weil du es nicht weißt. ““
„ „ Mathilde, ““antwortete ich, „ „ du warſt immer ſo gut, du warſt edel rein herrlich, daß ich dich mit allen Kräften in meine Seele ſchloß: heute biſt du zum erſten Male ungerecht. Meine Liebe iſt unendlich, iſt unzerſtörbar und der Schmerz, daß ich dich laſſen muß, iſt unſäglich, ich habe nicht gewußt, daß es einen ſo großen auf Erden gibt; nur der iſt größer, von dir verkannt zu ſein. Ich unterſcheide nicht, wer dir das Gebot der ältern hätte ſagen ſollen, es iſt das einerlei, ſie ſind die Eltern, das Gebot iſt das Gebot, und das Heiligſte in uns ſagt, daß die El¬ tern geehrt werden müſſen, daß das Band zwiſchen Eltern und Kind nicht zerſtört werden darf, wenn auch das Herz bricht. So fühlte ich, ſo handelte ich, und ich wollte dir das Nothwendige recht ſanft und weich ſagen, darum übernahm ich die Sendung; ich glaubte, es könne dir niemand das Bittere ſo ſanft21 *324und weich ſagen wie ich, darum kam ich. Aus Güte aus Mitleid kam ich. Die Pflicht leitete mich, in der Pflicht bricht mein Herz, und in dem brechenden Her¬ zen biſt du. ““
„ „ Ja, ja, das ſind die Worte, ““ſagte ſie, indem ihr Schluchzen immer heftiger und faſt krampfhaft wurde, „ „ das ſind die Worte, denen ich ſonſt ſo gerne lauſchte, die ſo ſüß in meine Seele gingen, die ſchon ſüß waren, als du es noch nicht wußteſt, denen ich glaubte, wie der ewigen Wahrheit. Du hätteſt es nicht unternehmen müſſen, mich zur Zerreiſſung unſe¬ rer Liebe bewegen zu wollen, es ſoll, wenn hundert¬ mal Pflicht, dir nicht möglich geweſen ſein. Darum kann ich dir jezt nicht mehr glauben, deine Liebe iſt nicht die, die ich dachte, und die die meinige iſt. Ich habe den Vergleichpunkt verloren, und weiß nicht, wie alles iſt. Wenn du einſt geſagt hätteſt, der Him¬ mel iſt nicht der Himmel, die Erde nicht die Erde, ich hätte es dir geglaubt. Jezt weiß ich es nicht, ob ich dir glauben ſoll, was du ſagſt. Ich kann nicht anders, ich weiß es nicht, und ich kann nicht machen, daß ich es weiß. O Gott! daß es geworden iſt wie es ward, und daß zerſtörbar iſt, was ich für ewig hielt! wie werde ich es ertragen können? ““
325„ Sie barg ihr Angeſicht in den Roſen vor ihr, und ihre glühende Wange war auch jezt noch ſchöner als die Roſen. Sie drückte das Angeſicht ganz in die Blumen, und weinte ſo, daß ich glaubte, ich fühle das Zittern ihres Körpers, oder es werde eine Ohn¬ macht ihren Schmerz erſchöpfen. Ich wollte ſprechen, ich verſuchte es mehrere Male; aber ich konnte nicht, die Bruſt war mir zerpreßt und die Werkzeuge des Sprechens ohne Macht. Ich faßte nach ihrem Körper, ſie zuckte aber weg, wenn ſie es empfand. Dann ſtand ich unbeweglich neben ihr. Ich grif mit der bloßen Hand in die Zweige der Roſen, drückte, daß mir leichter würde, die Dornen derſelben in die Hand, und ließ das Blut an ihr nieder rinnen. “
„ Als das eine Zeit gedauert hatte, als ſich ihr Weinen etwas gemildert hatte, hob ſie das Angeſicht empor, trocknete mit dem Tuche, das ſie aus der Ta¬ ſche genommen, die Thränen, und ſagte: „ „ Es iſt alles vorüber. Weßhalb wir noch länger hier bleiben ſollen, dazu iſt kein Grund, laſſe uns wieder in das Haus gehen, und das Weitere dieſer Handlung verfolgen. Wer uns begegnet, ſoll nicht ſehen, daß ich ſo ſehr geweint habe. ““
„ Sie trocknete neuerdings mit dem Tuche die Au¬326 gen, ließ neue Thränen nicht mehr hervorquellen, richtete ſich empor, ſtrich ſich die Haare ein wenig zurecht, und ſagte: „ „ Gehen wir in das Haus. ““
„ Sie richtete ſich mit dieſen Worten zum Gehen gegen den Weinlaubengang, und ich ging neben ihr. Das Blut an meiner Hand konnte ſie nicht ſehen. Ich unternahm es nicht mehr, ſie zu tröſten, ich ſah, daß ihre Verfaſſung dafür nicht empfänglich war. Auch erkannte ich, daß ſie im Zorne gegen mich ihren Schmerz leichter ertrage, als wenn dieſer Zorn nicht geweſen wäre. Wir gingen ſchweigend in das Haus. Dort gingen wir in das Zimmer der Mutter. Ma¬ thilde warf ſich ihrer Mutter an das Herz. Ich küßte der Frau die Hand, und entfernte mich. “
„ Den ganzen übrigen Theil des Tages verbrachte ich damit, meine Habe zu packen, um morgen dieſes Haus verlaſſen zu können. Mathildens Vater beſuchte mich einmal, und ſagte: „ „ Kränket euch nicht zu ſehr, es wird vielleicht noch alles gut. ““
„ Im Übrigen waren ſeine Gründe, die er freund¬ lich und ſanft ſagte, die nehmlichen wie die ſeiner Gattin. Auch Mathildens Mutter kam einmal zu mir herüber, lächelte trübſinnig bei meinem Treiben, und gab mir die Hand. Meine Hoffnungen waren düſte¬327 rer, als es die dieſer zwei Menſchen zu ſein ſchienen. Mathildens Glauben an mich war erſchüttert. Da ich meine Abſicht, morgen abreiſen zu wollen, erklärt hatte, und man nichts mehr dagegen einwendete, was man Anfangs that, rief ich Alfred, und ſagte ihm, daß ich nicht etwa eine größere Reiſe vor habe, wie er glauben mochte, ſondern daß ich auf lange vielleicht auf immer dieſes Haus verlaſſe. Es ſeien Umſtände eingetreten, die dies nothwendig machten. Er fiel mir mit Schluchzen um den Hals, ich konnte ihn gar nicht beſänftigen, ja ich weinte beinahe ſelber laut. Er wurde ſpäter zu beiden Eltern, die in der Schreibſtube des Vaters waren, geholt, damit ſie ihn beruhigten. Sein Schlafzimmer war heute unter der Aufſicht eines Dieners ein anderes. Als er in das¬ ſelbe gebracht worden war, ging ich zu den Eltern, und ſagte ihnen den Dank für alles Gute, das ich in ihrem Hauſe genoſſen habe. Sie dankten mir auch, und ließen mich Hoffnungen erblicken. Es ward ver¬ abredet, daß ich mit den Pferden des Hauſes auf die nächſte Poſt gebracht werden ſolle. Mathilde erſchien nicht zum Abendeſſen. “
„ Am nächſten Morgen wurde der Wagen bepackt. Ich machte mich reiſefertig. Es war mir erlaubt328 worden, von Mathilden Abſchied nehmen zu dürfen. Sie weigerte ſich aber, mich zu ſehen. Ich ging da¬ her in meine Wohnung, reichte dem alten Raimund die Hand, und ſagte: „ „ Lebe wohl Raimund. ““
„ „ Lebt recht wohl, junger Herr, ““antwortete er, „ „ und ſeid recht glücklich. ““
„ „ Du weißt nicht Raimund! ““
„ „ Ich weiß, ich weiß, junger Herr — es kann ja werden. ““
„ „ Lebe wohl. ““
„ Ich ging nun die Treppe hinab, er begleitete mich. Unten bei dem Wagen ſtand der Herr und die Frau des Hauſes und mehrere von den Dienſtleuten. Auch vom Meierhofe waren Leute herbei gekommen. Alfred, der ſpät entſchlummert war, ſchlief noch; die Beſizer des Hauſes nahmen auf eine auszeichnende Weiſe von mir Abſchied, die Umſtehenden beurlaubten ſich auch, wünſchten mir Glück und eine fröhliche Wiederkehr. Ich beſtieg den Wagen, und fuhr von Heinbach dahin. “
„ Der Beſizer dieſes Hauſes hatte mir einmal ge¬ ſagt: „ „ Vielleicht verlaſſet ihr einſt unſer Haus nicht mit Reue und Schmerz. ““
„ Ich verließ es nicht mit Reue, aber mit Schmerz. “
329„ Er hatte auch die Vermuthung ausgeſprochen, daß mir etwa auch ſeine Familie unvergeßlich bleiben dürfte. Sie blieb mir unvergeßlich. “
„ Ich verabſchiedete auf der Poſt den Wagen aus Heinbach, das lezte Merkmal aus dieſem Orte, und ließ mich nach der Stadt einſchreiben, wo ich ſo lange geweſen war, wo ich meine Lernzeit vollendet hatte, von wo ich nach Heinbach gegangen war, und wo ſich das Haus von Mathildens Eltern befand. Ich blieb aber nicht in der Stadt. “
„ In der Nähe meiner Heimath iſt im Walde eine Felskuppe, von welcher man ſehr weit ſieht. Sie geht mit ihrem nördlichen Rücken ſanft ab, und trägt auf ihm ſehr dunkle Tannen. Gegen Süden ſtürzt ſie ſteil ab, iſt hoch und geklüftet, und ſieht auf einen dünnbeſtandenen Wald, zwiſchen deſſen Stämmen Weidegrund iſt. Jenſeits des Waldes erblickt man Wieſen und Feld, weiter ein blauliches Moor, dann ein dunkelblaues Waldband und über dieſem die fer¬ nen Hochgebirge. Ich ging von der Stadt in meine Heimath und von der Heimath auf dieſe Felskuppe. Ich ſaß auf ihr, und weinte bitterlich. Jezt war ich verödet, wie ich früher nie verödet geweſen war. Ich ſah in das dunkle Innere der Schlünde, und fragte,330 ob ich mich hinabwerfen ſolle. Das Bild meiner ver¬ ſtorbenen Mutter miſchte ſich in dieſe unklare ſchauer¬ liche Vorſtellung, und wurde mir ein Liebes, an das ich denken mußte. Ich ging täglich auf dieſe Kuppe, und blieb oft mehrere Stunden auf ihr ſizen. Ich weiß nicht, warum ich ſie ſuchte. In meiner Jugend war ich oft auf ihr, und wir machten uns das Vergnügen, Steine ziemlicher Größe von ihr hinab zu werfen, um den Steinſtaub aufwirbeln zu ſehen, wenn der Ge¬ worfene auf Klippen ſtieß, und um ſein Gepolter in den Klippen und ſein Raſſeln in den am Fuße des Felſens befindlichen Gerölle zu hören. Von dieſer Kuppe war kein Einblick in jene Länder, in denen Mathildens Wohnung lag, man ſah nicht einmal Gebirgszüge, die an ſie grenzten. Ich ging auch nach und nach in anderen Theilen der Umgebung meines Heimathortes herum. Mein Schwager war ein ſanfter und ſtiller Mann, und wir ſprachen in meinem Ge¬ burtshauſe oft einen ganzen Tag hindurch nicht mehr als einige Worte. “
„ Als eine geraume Zeit vergangen war, dachte ich auf meine Abreiſe und auf meine Berufsarbeiten, die ich ſchon ſo lange vergeſſen hatte, und auf die ich331 in dem Hauſe in Heinbach befangen vielleicht noch länger nicht gedacht haben würde. “
„ Ich ging wieder in die Stadt, in der ich meine Habe gelaſſen hatte, und widmete mich ernſtlich der Laufbahn, zu welcher ich eigentlich die Vorbereitungs¬ ſchulen beſucht hatte. Ich meldete mich zum Staats¬ dienſte, wurde eingereiht, und arbeitete jezt ſehr fleißig in dem Bereiche der unteren Stellen, in welchen ich war. Ich lebte noch zurückgezogener als ſonſt. Mein kleiner Gehalt und das Erträgniß meines Erſparten reichten hin, meine Bedürfniſſe zu decken. Ich wohnte in einem Theile der Vorſtadt, welcher von dem Hauſe der Eltern Mathildens ſehr weit entfernt war. Im Winter ging ich faſt nirgends hin, als von meiner Wohnſtube in meine Amtsſtube, welcher Weg wohl ſehr lange war, und von der Amtsſtube in meine Wohnſtube. Meine Nahrung nahm ich in einem kleinen Gaſthauſe an meinem Wege ein. Freunde und Genoſſen beſuchte ich wenig, mir war alle Ver¬ bindung mit Menſchen verleidet. Als Erholung diente mir der Betrieb der Geſchichte der Staatswiſſen¬ ſchaften und der Wiſſenſchaften der Natur. Ein Gang auf dem Walle der äußeren Stadt oder eine Wan¬ derung in einen einſamen Theil der Umgebungen der332 Stadt gaben mir Luft und Bewegung. Mathilden ſah ich einmal. Sie fuhr mit ihrer Mutter in einem offenen Wagen in einer der breiten Straſſen der Vor¬ ſtädte in einer Gegend, in welcher ich ſie nicht ver¬ muthet hatte. Ich blickte hin, erkannte ſie, und meinte umſinken zu müſſen. Ob ſie mich geſehen hat, weiß ich nicht. Ich ging dann in meine Amtsſtube zu meinem Schreibtiſche. In der erſten Zeit wurde ich von meinen Vorgeſezten wenig beachtet. Ich arbeitete mit einem außerordentlichen Fleiße, er war mir Arznei für eine Wunde geworden, und ich flüchtete gern zu dieſer Arznei. So lange alle die Verhältniſſe, welche in meinen Amtsgeſchäften vorkamen, in meinem Haupte waren, war nichts anderes darin. Schmerzvoll waren nur die Zwiſchenräume. Auch die Wiſſenſchaften leiteten nicht ſo ſicher ab. Mein Fleiß lenkte endlich die Aufmerkſamkeit auf ſich, man beförderte mich. Anfangs ging es langſamer, dann ſchneller. Nach dem Verlaufe von mehreren Jahren war ich in einer der ehrenvolleren Stellungen des Staatsdienſtes, welche zu dem Verkehre mit dem gebildeteren Theile der Stadteinwohnerſchaft berechtigten, und ich hatte die gegründete Ausſicht, noch weiter zu ſteigen. In ſolchen Verhältniſſen werden gewöhnlich die Ehen mit333 Mädchen aus anſehnlicheren Häuſern geſchloſſen, welche dann zu glücklichem und ehrenvollem Familien¬ leben führen. Mathilde mußte jezt ein und zwanzig oder zwei und zwanzig Jahre alt ſein. Irgend eine Annäherung ihrer Eltern an mich hatte nicht ſtatt gefunden, auch konnte ich nicht die geringſten Merk¬ male auffinden, wie unermüdlich ich auch ſuchte, daß ſie ſich nach mir erkundigt hätten. Ich konnte alſo unmittelbare Schritte zur Annäherung an ſie nicht thun. Ich leitete alſo ſolche mittelbar ein, welche ſie auf die gewiſſeſte Art von der Unwandelbarkeit meiner Neigung überzeugten. Ich erhielt die unzweideutig¬ ſten Beweiſe zurück, daß mich Mathilde verachte. Zu einer Verehelichung, wozu ihres Reichthums und ihrer unbeſchreiblichen Schönheit willen ſich die glän¬ zendſten Anträge fanden, konnte ſie nicht gebracht werden. Mit tiefem ſchwerem Ernſte breitete ich nun das Bahrtuch der Beſtattung über die heiligſten Ge¬ fühle meines Lebens. “
„ Ich will euch nicht mit dem behelligen, wie es mir weiter in meiner Staatslaufbahn erging. Es ge¬ hört nicht hieher, und iſt euch wohl im Weſentlichen bekannt. Die Kriege brachen aus, ich wurde abwech¬ ſelnd zu verſchiedenen Stellen verſezt, große um¬334 faſſende Arbeiten Reiſen Berichte Vorſchläge wurden erfordert, ich wurde zu Sendungen verwendet, kam mit den verſchiedenſten Menſchen in Berührung, und der Kaiſer wurde, ich kann es wohl ſagen, beinahe mein Freund. Als ich in den Freiherrnrang erhoben wurde, kam mein alter Oheim Ferdinand aus der Entfernung zu mir, um, wie er ſagte, mir ſeine Auf¬ wartung zu machen. Obwohl er meine Mutter ver¬ nachläſſigt hatte, ja nach dem Tode meines Vaters durch ſeine Zurückhaltung beinahe hart gegen ſie ge¬ weſen war, ſo nahm ich ihn doch freundlich auf, weil er in meiner Verlaſſenheit zulezt der einzige Verwandte war, den ich noch hatte. Wir blieben ſeit jener Zeit mit einander in Briefwechſel. Es kamen wohl viele Menſchen mit mir in Verbindung und ich lernte manche Seiten der Geſellſchaft kennen; aber theils waren die Verbindungen Geſchäftsverbindungen, theils drängten ſich Menſchen an mich, die durch mich zu ſteigen hofften, theils waren die Begegnungen ganz gleichgültig. Wie ſchwer mir aber meine Ge¬ ſchäfte wurden, wie ſehr ich im Grunde zu ihnen nicht geeignet war, davon habe ich euch ſchon geſagt. Ich war nach und nach beinahe ein alter Mann ge¬ worden. Da ich viel in der Entfernung lebte, wußte335 ich manche Beziehungen der Hauptſtadt nicht. Ma¬ thilde hatte ſich in etwas vorgerückteren Jahren ver¬ mählt. Der Friede wurde dauernd hergeſtellt, ich blieb wieder beſtändig in der Hauptſtadt, und hier that ich etwas, das mir ein Vorwurf bis zu meinem Lebensende ſein wird, weil es nicht nach den reinen Geſezen der Natur iſt, obwohl es tauſend Mal und tauſend Mal in der Welt geſchieht. Ich heirathete ohne Liebe und Neigung. Es war zwar keine Ab¬ neigung vorhanden, aber auch keine Neigung. Die Hochachtung war gegenſeitig groß. Man hatte mir viel davon geſagt, daß es meine Pflicht ſei, mir einen Familienſtand zu gründen, daß ich im Alter von theuern Angehörigen umgeben ſein müſſe, die mich lieben pflegen und ſchüzen, und auf die meine Ehren und mein Name übergehen können. Es ſei auch Pflicht gegen die Menſchheit und den Staat. Auf meine Einwendung, daß ich eine Neigung gegen irgend ein weibliches Weſen nicht habe, ſagten ſie, Neigungen führen oft zu unglücklichen Verbindungen, Kenntniß der gegenſeitigen Beſchaffenheit und wech¬ ſelſeitige Hochachtung bauen dauerndes Glück. Troz meiner gereifteren Jahre hatte ich in dieſen Dingen noch immer ſehr wenige Kenntniſſe. Meine Jugend¬336 neigung, die ſo heftig und beinahe ausſchweifend ge¬ weſen war, hatte kein Glück gebracht. Ich heirathete alſo ein Mädchen, welches nicht mehr jung war, eine angenehme Bildung hatte, vom reinſten Wandel war, und gegen mich tiefe Verehrung empfand. Man ſagte, ich hätte reich geheirathet, weil mein Haus¬ weſen ein anſehnliches war; allein die Sache verhielt ſich nicht ſo. Meine Gattin hatte mir eine namhafte Mitgift gebracht, aber ich hätte eine größere Gabe hinzulegen können. Da ich in meinem mäßigen Leben beinahe nichts brauchte, ſo hatte ich, beſonders da ich einmal in höherer Stellung war, bedeutende Er¬ ſparungen gemacht. Dieſe legte ich in den damaligen Staatspapieren nieder, und da dieſelben nach Been¬ digung des Krieges anſehnlich ſtiegen, ſo war ich bei¬ nahe ein reicher Mann. Wir lebten zwei Jahre in dieſer Ehe, und in dieſer wußte ich, was ich vor der Schließung derſelben nicht gewußt hatte, daß nehmlich keine ohne Neigung eingegangen werden ſoll. Wir lebten in Eintracht, wir lebten in hoher Verehrung der gegenſeitigen guten Eigenſchaften, wir lebten in wechſelweiſem Vertrauen und in wechſelweiſer Auf¬ merkſamkeit, man nannte unſere Ehe muſterhaft; aber wir lebten blos ohne Unglück. Zu dem Glücke337 gehört mehr als Verneinendes, es iſt der Inbegrif der Holdſeligkeit des Weſens eines Andern, zu dem alle unſre Kräfte einzig und fröhlich hinziehn. Als Julie nach zwei Jahren geſtorben war, betrauerte ich ſie redlich; aber Mathildens Bild war unberührt in meinem Herzen ſtehen geblieben. Ich war jezt wie¬ der allein. Zur Schließung einer neuen Ehe war ich nicht mehr zu bewegen. Ich wußte jezt, was ich vor¬ her nicht gewußt hatte. Liebe und Neigung, dachte ich, iſt ein Ding, das ſeinen Zug an meinem Herzen vorüber genommen hatte. “
„ Ein Jahr nach dem Tode Juliens ſtarb mein Oheim, und ſezte mich zu dem Erben ſeines beträcht¬ lichen Vermögens ein. “
„ Meine Geſchäfte wurden mir indeſſen von Tag zu Tag ſchwerer. So wie ich in früheren Zeiten ſchon gedacht hatte, daß der Staatsdienſt meiner Eigenheit nicht entſpreche, und daß ich beſſer thäte, wenn ich ihn verließe: ſo wuchs dieſer Gedanke bei genauerem Nachdenken und ſchärferem Selbſtbeobachten zu immer größerer Gewißheit, und ich beſchloß, meine Äm¬ ter niederzulegen. Meine Freunde ſuchten mich dar¬ an zu verhindern, und Mancher, den ich als feſte Säule des Staates kennen zu lernen Gelegenheit ge¬Stifter, Nachſommer. III. 22338habt, und mit dem ich in ſchwierigen Zeiten manche harte Amtsſtunde durchgemacht hatte, ſagte eindring¬ lich, daß ich meine Thätigkeit nicht einſtellen ſollte. Aber ich blieb unerſchüttert. Ich zeigte meinen Aus¬ tritt an. Der Kaiſer nahm ihn wohlwollend und mit überſendeten Ehren an. Ich hatte die Abſicht, mir für die lezten Tage meines Lebens einen Landſiz zu grün¬ den, und dort einigen wiſſenſchaftlichen Arbeiten eini¬ gem Genuſſe der Kunſt, ſo weit ich dazu fähig wäre, der Bewirthſchaftung meiner Felder und Gärten, und hie und da einer gemeinnüzigen Maßregel für die Umgebung zu leben. Manches Mal könnte ich in die Stadt gehen, um meine alten Freunde zu beſuchen, und zuweilen könnte ich eine Reiſe in die entfernteren Länder unternehmen. Ich ging in meine Heimath. Dort fand ich meinen Schwager ſchon ſeit vier Jah¬ ren geſtorben, das Haus in fremden Händen und völlig umgebaut. Ich reiste bald wieder ab. Nach mehreren mißglückten Verſuchen fand ich dieſen Plaz, auf dem ich jezt lebe, und ſezte mich hier feſt. Ich kaufte den Asperhof, baute das Haus auf dem Hü¬ gel, und gab nach und nach der Beſizung die Geſtalt, in der ihr ſie jezt ſehet. Mir hatte das Land gefallen, mir hatte dieſe reizende Stelle gefallen, ich kaufte339 noch mehrere Wieſen Wälder und Felder hinzu, be¬ ſuchte alle Theile der Umgebung, gewann meine Be¬ ſchäftigung lieb, und machte mehrere Reiſen in die bedeutendſten Länder Europas. So bleichten ſich meine Haare, und Freude und Behagen ſchien ſich bei mir einſtellen zu wollen. “
„ Als ich ſchon ziemlich lange hier geweſen war, meldete man mir eines Tages, daß eine Frau den Hügel herangefahren ſei, und daß ſie jezt mit einem Knaben vor den Roſen, die ſich an den Wänden des Hauſes befinden, ſtehe. Ich ging hinaus, ſah den Wagen, und ſah auch die Frau mit dem Knaben vor den Roſen ſtehen. Ich ging auf ſie zu. Mathilde war es, die einen Knaben an der Hand haltend und von ſtrömenden Thränen überfluthet die Roſen anſah. Ihr Angeſicht war gealtert, und ihre Geſtalt war die einer Frau mit zunehmenden Jahren. “
„ „ Guſtav, Guſtav, ““rief ſie, da ſie mich ange¬ blickt hatte, „ „ ich kann dich nicht anders nennen als: du. Ich bin gekommen, dich des ſchweren Unrechtes willen, das ich dir zugefügt habe, um Vergebung zu bitten. Nimm mich einen Augenblick in dein Haus auf. ““
„ „ Mathilde, ““ſagte ich, „ „ ſei gegrüßt, ſei auf die¬22 *340ſem Boden, ſei tauſend Mal gegrüßt, und halte dieſes Haus für deines. ““
„ Ich war mit dieſen Worten zu ihr hinzugetreten, hatte ihre Hand gefaßt, und hatte ſie auf den Mund geküßt. “
„ Sie ließ meine Hand nicht los, drückte ſie ſtark, und ihr Schluchzen wurde ſo heftig, daß ich meinte, ihre mir noch immer ſo theuere Bruſt müſſe zer¬ ſpringen. “
„ „ Mathilde, ““ſagte ich ſanft, „ „ erhole dich. ““
„ „ Führe mich in das Haus, ““ſprach ſie leiſe. “
„ Ich rief erſt durch mein Glöckchen, welches ich immer bei mir trage, meinen Hausverwalter herzu, und befahl ihm, Wagen und Pferde unterzubringen. Dann faßte ich Mathildens Arm, und führte ſie in das Haus. Als wir in dem Speiſezimmer angelangt waren, ſagte ich zu dem Knaben: „ „ Seze dich hier nieder, und warte, bis ich mit deiner Mutter geſpro¬ chen, und die Thränen, die ihr jezt ſo weh thun, ge¬ mildert habe. ““
„ Der Knabe ſah mich traulich an, und gehorchte. Ich führte Mathilde in das Wartezimmer, und both ihr einen Siz an. Als ſie ſich in die weichen Kiſſen niedergelaſſen hatte, nahm ich ihr gegenüber auf341 einem Stuhle Plaz. Sie weinte fort; aber ihre Thränen wurden nach und nach linder. Ich ſprach nichts. Nachdem eine Zeit vergangen war, quollen ihre Tropfen ſparſamer und weniger aus den Augen, und endlich trocknete ſie die lezten mit ihrem Tuche ab. Wir ſaſſen nun ſchweigend da, und ſahen einan¬ der an. Sie mochte auf meine weißen Haare ſchauen, und ich blickte in ihr Angeſicht. Daſſelbe war ſchon verblüht; aber auf den Wangen und um den Mund lag der liebe Reiz und die ſanfte Schwermuth, die an abgeblühten Frauen ſo rührend ſind, wenn gleich¬ ſam ein Himmel vergangener Schönheit hinter ihnen liegt, der noch nachgeſpiegelt wird. Ich erkannte in den Zügen die einſtige prangende Jugend. “
„ „ Guſtav, ““ſagte ſie, „ „ ſo ſehen wir uns wieder. Ich konnte das Unrecht nicht mehr tragen, das ich dir angethan habe. ““
„ „ Es iſt kein Unrecht geſchehen, Mathilde, ““ſagte ich. “
„ „ Ja du biſt immer gut geweſen, ““antwortete ſie, „ „ das wußte ich, darum bin ich gekommen. Du biſt auch jezt gut, das ſagt dein liebes Auge, das noch ſo ſchön iſt wie einſt, da es meine Wonne war. O ich bitte dich, Guſtav, verzeihe mir. ““
342„ „ O theure Mathilde, ich habe dir nichts zu ver¬ zeihen, oder du haſt es mir auch, ““antwortete ich. „ „ Die Erklärung liegt darin, daß du nicht zu ſehen vermoch¬ teſt, was zu ſehen war, und daß ich dann nicht näher zu treten vermochte, als ich hätte näher treten ſollen. In der Liebe liegt alles. Dein ſchmerzhaftes Zürnen war die Liebe, und mein ſchmerzhaftes Zurückhalten war auch die Liebe. In ihr liegt unſer Fehler, und in ihr liegt unſer Lohn. ““
„ „ Ja in der Liebe, ““erwiederte ſie, „ „ die wir nicht ausrotten konnten. Guſtav, ich bin dir doch troz allem treu geblieben, und habe nur dich allein geliebt. Viele haben mich begehrt, ich wies ſie ab; man hat mir einen Gatten gegeben, der gut aber fremd neben mir lebte, ich kannte nur dich, die Blume meiner Jugend, die nie verblüht iſt. Und du liebſt mich auch, das ſagen die tauſend Roſen vor den Mauern deines Hauſes, und es iſt ein Strafgericht für mich, daß ich gerade zu der Zeit ihrer Blüthe gekommen bin. ““
„ „ Rede nicht von Strafgerichten, Mathilde, ““er¬ wiederte ich, „ „ und weil alles Andere ſo iſt, ſo laſſe die Vergangenheit, und ſage, welche deine Lage jezt iſt. Kann ich dir in irgend etwas helfen? ““
„ „ Nein, Guſtav, ““entgegnete ſie, „ „ die größte343 Hilfe iſt die, daß du du biſt. Meine Lage iſt ſehr einfach. Der Vater und die Mutter ſind ſchon längſt todt, der Gatte iſt ebenfalls vor Langem geſtorben, und Alfred — du haſt ihn ja recht geliebt — ““
„ „ Wie ich einen Sohn lieben würde, ““antwor¬ tete ich. “
„ „ Er iſt auch todt ““ſagte ſie, „ „ er hat kein Weib kein Kind hinterlaſſen, das Haus in Heinbach und das in der Stadt hat er noch bei ſeinen Lebzeiten ver¬ kauft. Ich bin im Beſize des Vermögens der Familie, und lebe mit meinen Kindern einſam. Lieber Guſtav, ich habe dir den Knaben gebracht — — wie wußteſt du denn, daß er mein Sohn ſei? ““
„ „ Ich habe deine ſchwarzen Augen und deine brau¬ nen Locken an ihm geſehen, ““antwortete ich. “
„ „ Ich habe dir den Knaben gebracht, ““ſagte ſie, „ „ daß du ſäheſt, daß er iſt, wie dein Alfred — faſt ſein Ebenbild — aber er hat niemanden, der ſo lieb mit ihm umgeht, wie du mit Alfred umgegangen biſt, der ihn ſo liebt, wie du Alfred geliebt haſt, und den er wieder ſo lieben könnte, wie Alfred dich geliebt hat. ““
„ „ Wie heißt der Knabe? ““fragte ich. “
„ „ Guſtav, wie du, ““antwortete ſie. “
„ Ich konnte meine Thränen nicht zurückhalten. “
344„ „ Mathilde, ““ſagte ich, „ „ ich habe nicht Weib nicht Kind nicht Anverwandte. Du warſt das Ein¬ zige, was ich in meinem ganzen Leben beſaß, und be¬ hielt. Laſſe mir den Knaben, laſſe ihn bei mir, ich will ihn lehren, ich will ihn erziehen. ““
„ „ O mein Guſtav, ““rief ſie mit den ſchmerzlich¬ ſten Tönen der Rührung, „ „ wie wahr iſt mein Ge¬ fühl, das mich an dich den beſten der Menſchen wies, als ich ein Kind war, und das mich nicht verlaſſen hatte, ſo lange ich lebte. ““
„ Sie war aufgeſtanden, hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt, und weinte auf das Innigſte. Ich konnte mich nicht mehr beherrſchen, meine Thränen floſſen unaufhaltſam, ich ſchlang meine Arme um ſie, und drückte ſie an mein Herz. Und ich weiß nicht, ob je der heiße Kuß der Jugendliebe tiefer in die Seele gedrungen, und zu größrer Höhe erhebend geweſen iſt als dieſes verſpätete Umfaſſen der alten Leute, in denen zwei Herzen zitterten, die von der tiefſten Liebe über¬ quollen. Was im Menſchen rein und herrlich iſt, bleibt unverwüſtlich, und iſt ein Kleinod in allen Zeiten. “
„ Als wir uns getrennt hatten, geleitete ich ſie zu ihrem Size, nahm den meinigen wieder ein, und fragte: „ ‚ Haſt du noch andere Kinder? ““
345„ „ Ein Mädchen, welches mehrere Jahre älter iſt als der Knabe, ““erwiederte ſie, „ „ ich werde dir das¬ ſelbe auch bringen, es hat ebenfalls die ſchwarzen Augen und die braunen Haare wie ich. Das Mäd¬ chen behalte ich, den Knaben laſſe, weil du ſo gütig biſt, um dich leben, ſo lange du willſt. Er möge wer¬ den wie du. O ich hatte kaum geahnt, wie hier alles werden wird. ““
„ „ Mathilde, beruhige dich jezt, ““ſagte ich, „ „ ich werde den Knaben holen, wir werden mit ihm freund¬ lich ſprechen. ““
„ Ich that es, trat mit dem Knaben an der Hand herein, und wir ſprachen mit dem Kinde und abwech¬ ſelnd unter uns noch eine geraume Weile. Ich zeigte Mathilden hierauf das Haus den Garten den Meier¬ hof und alles Andere. Gegen Abend fuhr ſie wieder fort, um in Rohrberg zu übernachten. Den Knaben ſollte ſie der Verabredung gemäß wieder mit ſich neh¬ men, ihn ausrüſten und vorbereiten, und ihn, wie ſie es für gelegen halte, bringen. Wir blieben von dem Augenblicke an in Briefwechſel, und als eine Zeit vergangen war, brachte ſie mir Guſtav, der noch bei mir iſt, ſie brachte mir auch Natalien, die damals im erſten Aufblühen begriffen war. Eine größere Gleich¬346 heit als zwiſchen dieſem Kinde und dem Kinde Ma¬ thilde kann nicht mehr gedacht werden. Ich erſchrak, als ich das Mädchen ſah. Ob in den Jahren, in denen jezt Natalie iſt, Mathilde auch ihr gleich ge¬ weſen iſt, kann ich nicht ſagen; denn da war ich von Mathilden ſchon getrennt. “
„ Es begann nun eine ſehr liebliche Zeit. Mathilde kam mit Natalien öfter, um uns zu beſuchen. Ich machte ihr in den erſten Tagen den Vorſchlag, daß ich die Roſen, wenn ſie ihr ſchmerzliche Erinnerungen weckten, von dem Hauſe entfernen wolle. Sie ließ es aber nicht zu, ſie ſagte, ſie ſeien ihr das Theuerſte ge¬ worden, und bilden den Schmuck dieſes Hauſes. Sie hatte ſich zu einer ſolchen Milde und Ruhe geſtimmt, wie ihr ſie jezt kennt, und dieſe Lage ihres Weſens befeſtigte ſich immer mehr, je mehr ſich ihre äußeren Verhältniſſe einer Gleichmäßigkeit zuneigten, und je mehr ihr Inneres, ich darf es wohl ſagen, ſich be¬ glückt fühlte. Ein freundlicher Verkehr hatte ſich ent¬ wickelt, Guſtav hatte ſich an mich gewöhnt, ich an ihn, und aus der Gewöhnung war Liebe entſtanden. Mathilde gab Rath in meinem Hausweſen, ich in der Verwaltung ihrer Angelegenheiten. Nataliens Er¬ ziehung wurde oft zwiſchen uns beſprochen, und347 Schritte gethan, die wir verabredet hatten. Und in der gegenſeitigen Hilfleiſtung ſtärkte ſich die Neigung, die wir gegen einander hatten, die nie verſchwunden war, die ſich zu einem edlen tiefen freundlichen Ge¬ fühle gebildet hatte, und die nun offen und rechtmäßig beſtehen konnte. Ich hatte wieder Jemanden, den ich zu lieben vermochte, und Mathilde konnte ihr Herz, das mir immer gehört hatte, unumwunden an mein Wohl und an mein Weſen wenden. Nach einer Zeit wurde der Sternenhof verkäuflich. Ich ſchlug Mathilden den Kauf vor. Sie beſah das Gut. Seiner Nachbarſchaft mit mir willen und ſchon ſeiner Linden willen, die ſie an die großen Bäume auf dem Raſen¬ plaze vor dem Hauſe in Heinbach erinnerten, war ſie zu dem Kaufe geneigt. Auch hatte der Sternenhof überhaupt große Ähnlichkeit mit dem Hauſe in Hein¬ bach, war an ſich eine ſehr angenehme Beſizung, und gab Mathilden für den Reſt ihres Lebens einen feſten Punkt und einige Abrundung ihrer Verhältniſſe. Alſo wurde er erworben. Um dieſelbe Zeit ließ ich in meinem Hauſe die Wohnung für Mathilden und Natalien herrichten. In dem Sternenhofe war viel Arbeit, bis alles zur gefälligen Wohnlichkeit geordnet war. Und auch nach dieſer Zeit wurde beſtändig348 geändert und umgewandelt, bis das Haus ſo war, wie es jezt iſt. Und ſelber jezt, wie ihr wißt, wird dort wie hier gebaut, befeſtigt, verſchönert, und es wird wohl immer ſo fortgehen. Die Roſen, dieſes Merk¬ mal unſerer Trennung und Vereinigung, ſollten vor¬ zugsweiſe auf dem Asperhofe bleiben, weil es Ma¬ thilden lieb war, daß ſie dieſelben dort gefunden hatte. Jede Roſenblüthezeit verlebte ſie bei mir, ſie liebte dieſe Blumen außerordentlich, pflegte ſie, und konnte ſich freuen, wenn ſie mir eine Art, die ich noch nicht hatte, zubringen konnte. Dafür ließ ich ihr in ihrem Schloſſe die Geräthe machen, die ihr ſo viel Ver¬ gnügen bereiten. Guſtav wurde von Tag zu Tage trefflicher, und verſprach, einmal ein Mann zu wer¬ den, woran ſeines Gleichen Freude haben ſollten. Natalie wurde nicht blos ſchön und herrlich, ſondern ſie wurde auch im Umgange mit ihrer Mutter ſo rein und edel, wie wenige ſind. Sie hatte das tiefe Ge¬ fühl ihrer Mutter erhalten; aber theils durch ihr Weſen theils durch eine ſehr ſorgfältige Erziehung iſt mehr Ruhe und Stettigkeit in ihr Daſein gekommen. Zwiſchen Mathilden und mir war ein eigenes Ver¬ hältniß. Es gibt eine eheliche Liebe, die nach den Tagen der feurigen gewitterartigen Liebe, die den349 Mann zu dem Weibe führt, als ſtille durchaus auf¬ richtige ſüſſe Freundſchaft auftritt, die über alles Lob und über allen Tadel erhaben iſt, und die vielleicht das Spiegelklarſte iſt, was menſchliche Verhältniſſe aufzuweiſen haben. Dieſe Liebe trat ein. Sie iſt innig ohne Selbſtſucht, freut ſich, mit dem Andern zu¬ ſammen zu ſein, ſucht ſeine Tage zu ſchmücken und zu verlängern, iſt zart, und hat gleichſam keinen irdiſchen Urſprung an ſich. Mathilde nimmt Antheil an jeder meiner Beſtrebungen. Sie geht mit mir in den Räumen meines Hauſes herum, iſt mit mir in dem Garten, betrachtet die Blumen oder Gemüſe, iſt in dem Meierhofe, und ſchaut ſeine Erträgniſſe an, geht in das Schreinerhaus, und betrachtet, was wir machen, und ſie betheiligt ſich an unſerer Kunſt und ſelbſt an unſern wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen. Ich ſehe in ihrem Hauſe nach, betrachte die Dinge im Schloſſe im Meierhofe auf den Feldern, nehme Theil an ihren Wünſchen und Meinungen, und ſchloß die Erziehung und die Zukunft ihrer Kinder in mein Herz. So leben wir in Glück und Stettigkeit gleichſam einen Nachſommer ohne vorhergegangenen Sommer, Meine Sammlungen vervollſtändigen ſich, die Bau¬ lichkeiten runden ſich immer mehr, ich habe Menſchen350 an mich gezogen, ich habe hier mehr gelernt als ſonſt in meinem ganzen Leben, die Spielereien gehen ihren Gang, und etwas Weniges nüze ich doch auch noch. “
Er ſchwieg nach dieſen Worten eine Weile, und ich auch. Dann fuhr er wieder fort: „ Ich habe das alles mittheilen müſſen, damit ihr wißt, wie ich mit der Familie in dem Sternenhofe zuſammenhänge, und damit in dem Kreiſe, in welchen ihr nun auch tretet, für euch Klarheit iſt. Die Kinder wiſſen die Verhält¬ niſſe im Allgemeinen, ein näheres Eingehen war für ſie nicht ſo nöthig wie für euch. Ich wünſche nicht, daß ihr gegen eure künftige Gattin Geheimniſſe habt, ihr könnt Natalien mittheilen, was ich euch ſagte, ich konnte es, wie ihr begreifet, nicht. Über Nataliens Zukunft ſprach ich oft mit Mathilden. Sie ſollte einen Gatten bekommen, den ſie aus tiefer Neigung nimmt. Es ſollte die gegenſeitige größte Hochachtung vor¬ handen ſein. Durch beides ſollte ſie das Glück finden, das ihre Mutter und ihren väterlichen Freund ge¬ mieden hat. Mathilde hat in Begleitung des alten Raimund, der ſeitdem geſtorben iſt, große Reiſen gemacht. Sie hat auf denſelben dauerndere Ruhe geſucht, und auch gefunden. Sie hat ſie in der Be¬ trachtung der edelſten Kunſtwerke des menſchlichen Ge¬351 ſchlechtes und in bei Anſchauung mancher Völker und ihres Treibens gefunden. Natalie iſt dadurch befe¬ ſtigt veredelt und geglättet worden. Manche junge Männer hat ſie kennen gelernt, aber ſie hat nie ein Zeichen einer Neigung gegeben. Sogenannte ſehr glänzende Verbindungen ſind auf dieſe Weiſe für ſie verloren gegangen. Ich hätte auch große Sorge gehabt, wenn ich unter unſeren jungen Männern hätte wählen müſſen. Als ihr zum erſten Male an dem Gitter meines Hauſes ſtandet, und ich euch ſah, dachte ich: „ das iſt vielleicht der Gatte für Natalien. “ Warum ich es dachte, weiß ich nicht. Später dachte ich es wieder, wußte aber warum. Natalie ſah euch, und liebte euch, ſo wie ihr ſie. Wir kannten das Keimen der gegenſeitigen Neigung. Bei Na¬ talien trat ſie Anfangs in einem höheren Schwunge ihres ganzen Weſens ſpäter in einer etwas ſchmerz¬ lichen Unruhe auf. In euch erſchloß ſie euer Herz zu einer früheren Blüthe der Kunſt und zu einem Ein¬ gehen in die tieferen Schäze der Wiſſenſchaft. Wir warteten auf die Entwicklung. Zu größerer Sicherheit und zur Erprüfung der Dauer ihrer Gefühle brachten wir abſichtlich Natalien zwei Winter nicht in die Stadt, daß ſie von euch getrennt ſei, ja ſie wurde352 von ihrer Mutter wieder auf größere Reiſen und in größere Geſellſchaften gebracht. Ihre Gefühle aber blieben beſtändig, und die Entwicklung trat ein. Wir geben euch mit Freuden das Mädchen in eure Liebe und in euren Schuz, ihr werdet ſie beglücken, und ſie euch; denn ihr werdet euch nicht ändern, und ſie wird ſich auch nicht ändern. Guſtav wird einmal den Sternenhof und was dazu gehört, erhalten; denn das Haus iſt Mathilden ſo lieb geworden, daß ſie wünſcht, daß es ein Eigenthum ihrer Familie bleibe, und daß die kommenden Geſchlechter das ehren, was die erſte Beſizerin darin niedergelegt hat. Guſtav wird es thun, das wiſſen wir ſchon, und ſeinen Nachfolgern die gleiche Geſinnung einzupflanzen, wird wohl auch ſein Beſtreben ſein. Natalie erhält von mir den Asperhof mit allem, was in ihm iſt, nebſt meinen Barſchaften. Ihr werdet mein Andenken hier nicht verunehren. “
Mir traten die Thränen in die Augen, da er ſo ſprach, und ich reichte ihn, meine Hand hinüber. Er nahm ſie, und drückte ſie herzlich.
„ Ihr könnt hier auf dem Asperhofe wohnen oder in dem Sternenhofe oder bei euren Eltern. Überall wird Plaz für euch zu machen ſein. Ihr könnt auch353 euern Aufenthalt abwechſelnd zwiſchen uns theilen, und das wird wohl wahrſcheinlich der Fall ſein, bis ſich alle unſere Verhältniſſe dem neuen Ereigniſſe gemäß gerichtet haben. Die Schriften bezüglich der Übertragung meines Vermögens an Natalien werden ihr nach der Vermählung eingehändigt werden. So lange ich lebe, erhält ſie einen Theil, den Reſt nach meinem Tode. Wie ihr mit dem, was ſie jezt em¬ pfängt, gebaren ſollt, darüber wird euer Vater die beſte Belehrung geben können. Er wird wohl mit mir auch darüber ſprechen. Natalie erhält auch nach ihrer Vermählung den Theil, der ihr aus dem Nachlaſſe ihres Vaters Tarona gebührt. “
„ Iſt Nataliens Name Tarona? “fragte ich.
„ Habt ihr das nicht gewußt? “fragte er ſeiner¬ ſeits.
„ Ich habe Mathilden immer die Frau von Ster¬ nenhof nennen gehört, “antwortete ich, „ bin mit Ma¬ thilden und Natalien nirgends zuſammen geweſen als im Sternenhofe Asperhofe und Inghofe, und da wurden beide ſtets bei ihrem Vornamen genannt. Weitere Forſchungen ſtellte ich gar nie an. “
„ Mathilde ließ geſchehen, daß ſie nach dem Ster¬ nenhofe geheißen wurde, der Name war ihr lieber. Stifter, Nachſommer. III. 23354So mag es wohl gekommen ſein, daß ihr keinen an¬ dern gehört habt. Für Guſtav wird die Erlaubniß zur Führung dieſes Namens nachgeſucht werden. “
„ Aber die Tarona, erzählte man mir, ſei gerade in jenem Winter, an welchem ich Natalien in der Loge geſehen habe, nicht in der Stadt geweſen, “ſagte ich, und dachte an Preporn, welcher mir dieſe That¬ ſache mitgetheilt hatte.
„ Ganz richtig, “erwiederte mein Gaſtfreund, „ wir ſind auch nur zur Aufführung des König Lear hin¬ gefahren. Ich war in der Loge hinter Natalien, habe euch aber nicht geſehen. “
„ Ich euch auch nicht, “antwortete ich.
„ Natalie hat uns von dem jungen Manne erzählt, der ihr im Schauſpielhauſe aufgefallen ſei, “erwie¬ derte er, „ aber erſt nach langer Zeit konnte ſie uns eröffnen, daß ihr es geweſen ſeid. “
„ Habe ich euch nicht einmal im Winter in der Stadt nach der Wiedergeneſung des Kaiſers mit euren Ehrenzeichen geſchmückt fahren geſehen? “fragte ich.
„ Das iſt möglich, “antwortete er, „ ich war in jener Zeit in der Stadt und an dem Hofe. “
„ Nun mein ſehr lieber junger Freund, “ſagte er nach einer Weile, „ ich habe euch von meinem Leben355 erzählt, da ihr einer der unſeren werden ſollt, ich habe zu euch von meinem tiefſten Herzen geredet, und jezt enden wir dieſes Geſpräch. “
„ Ich bin euch Dank ſchuldig, “antwortete ich, „ allein all das Gehörte iſt noch zu mächtig und neu in mir, als daß ich jezt die Worte des Dankes finden könnte. Nur eins berührt mich faſt wie ein Schmerz, daß ihr mit Mathilden nach eurer Wiedervereinigung nicht in einen nähern Bund getreten ſeid. “
Der Greis erröthete bei dieſen Worten, er errö¬ thete ſo tief und zugleich ſo ſchön, wie ich es nie an ihm geſehen hatte.
„ Die Zeit war vorüber, “antwortete er, „ das Ver¬ hältniß wäre nicht mehr ſo ſchön geweſen, und Ma¬ thilde hat es auch wohl nie gewünſcht. “
Er war ſchon früher aufgeſtanden, jezt reichte er mir die Hand, drückte die meine herzlich, und verließ das Zimmer.
Ich blieb eine geraume Weile ſtehen, und ſuchte meine Gedanken zur Sammlung zu bringen. Das wäre mir nie zu Sinne gekommen, als ich zum erſten Male zu dieſem Hauſe heraufſtieg, und des andern Tages ſeinen Inhalt ſah, daß alles ſo kommen würde, wie es kam, und daß das alles zu meinem Eigen¬23 *356thume beſtimmt ſei. Auch begriff ich jezt, weßhalb er meiſtens, wenn er von ſeinem Beſize ſprach, das Wort „ unſer “gebrauchte. Er bezog es ſchon auf Mathilden und ihre Kinder.
Nachdem ich noch eine Zeit in meiner Wohnung verweilt hatte, verließ ich ſie, um in friſcher Luft einen Spaziergang zu machen, und noch das Gehörte in mir ausklingen zu laſſen.
Am nächſten Tage ging ich im Laufe des Vor¬ mittages zu einer Stunde, an welcher ich meinen Gaſtfreund weniger beſchäftigt wußte, in gewähltem Anzuge in ſeine Stube, und dankte ihm innig für das Vertrauen, welches er mir geſchenkt habe, und für die Achtung, welche er mir dadurch erweiſe, daß er mich würdig erachte, Nataliens Gatte zu werden.
„ Was das Vertrauen anbelangt, “erwiederte er, „ ſo iſt es natürlich, daß man nicht jeden, der uns ferne ſteht, in unſere innerſten Angelegenheiten ein¬ weiht; aber eben ſo natürlich iſt es, daß derjenige, der für die Zukunft einen Theil, ich möchte ſagen, unſerer Familie ausmachen wird, auch alles wiſſe, was dieſe Familie betrifft. Ich habe euch das Weſent¬358 lichſte geſagt, einzelne kleine Umſtände, die der Vor¬ ſtellungskraft nicht immer gegenwärtig ſind, ändern wohl an der Sachlage nichts. Was die Hochachtung anbelangt, die darin liegt, daß ich euch zu Nata¬ liens Gatten geeignet erachte, ſo habt ihr vor allen Männern dieſer Erde den unermeßlichen Vorzug, daß euch Natalie liebt, und euch und keinen an¬ dern will; aber auch troz dieſes Vorzuges würden Mathilde und ich, dem man hierin ein Recht einge¬ räumt hat, nie eingewilligt haben, wenn uns euer Weſen nicht die Zuverſicht eingeflößt hätte, daß da ein dauernd glückliches Familienband geknüpft werden könne. Was die Hochachtung anbelangt, die ich euch abgeſehen von dieſer Angelegenheit ſchuldig bin, ſo habe ich meiner Meinung nach euch die Beweiſe der¬ ſelben gegeben. Wenn ich auch gedacht habe, ihr dürftet Nataliens künftiger Gatte ſein, ſo war der Eintritt dieſes Ereigniſſes ſo unbeſtimmt, da es ja auf die Entſtehung einer gegenſeitigen Neigung an¬ kam, daß der Gedanke daran auf mein Benehmen gegen euch keinen Einfluß haben konnte, ja im Ver¬ laufe der Zeiten war der Gedanke erſt der Sohn mei¬ ner Meinung von euch. “
„ Ihr habt mir wirklich ſo viele Beweiſe eures359 Wohlwollens und eurer Schonung gegeben, “antwor¬ tete ich, „ daß ich gar nicht weiß, wie ich ſie verdiene; denn Vorzüge von was immer für einer Art ſind gar nicht an mir. “
„ Das Urtheil über den Grund, woraus Achtung und Neigung oder Mißachtung und Abneigung ent¬ ſteht, muß immer andern überlaſſen werden; denn wenn man zulezt auch annähernd weiß, was man in einem Fache geleiſtet hat, wenn man ſich auch ſeines guten Willens im Wandel bewußt iſt, ſo kennt man doch alle Abſchattungen ſeines Weſens nicht, in wie ferne ſie gegen andere gerichtet ſind, man kennt ſie nur in der Richtung gegen ſich ſelbſt, und beide Rich¬ tungen ſind ſehr verſchieden. Übrigens, mein lieber Sohn, wenn es auch ganz in der Ordnung iſt, daß man in der Geſellſchaft der Menſchen einen gewiſſen Anſtand und Abſtand in Kleidern und ſonſtigem Be¬ nehmen zeigt, ſo wäre es in der eigenen Familie eine Laſt. Komme alſo in Zukunft in deinen Alltagsge¬ wändern zu mir. Und wenn ich auch kein Verwandter deiner Braut bin, ſo betrachte mich als einen ſolchen, wie etwa als ihren Pflegevater. Es wird ſchon alles recht werden, es wird ſchon alles gut werden. “
Er hatte bei dieſen Worten die Hand auf mein360 Haupt gelegt, ſah mich an, und in ſeinen Augen ſtan¬ den Thränen.
Ich hatte nie im Verkehre mit mir die Augen die¬ ſes Greiſes naß werden geſehen; ich war daher ſehr erſchüttert, und ſagte: „ So erlaubt mir, daß ich in dieſer ernſten Stunde auch meinen Dank für das aus¬ ſpreche, was ich in dieſem Hauſe geworden bin; denn wenn ich irgend etwas bin, ſo bin ich es hier gewor¬ den, und gewährt mir in dieſer Stunde auch eine Bitte, die mir ſehr am Herzen liegt: erlaubt, daß ich eure ehrwürdige Hand küſſe. “
„ Nun, nur dieſes eine Mal, “erwiederte er, „ oder höchſtens noch einmal, wenn du mit Natalien, die ein Kleinod meines Herzens iſt, von dem Altare gehſt. “
Ich faßte ſeine Hand und drückte ſie an meine Lippen; er legte aber die andere um meinen Nacken, und drückte mich an ſein Herz. Ich konnte vor Rüh¬ rung nicht ſprechen.
„ Bleibe noch eine Weile in dieſem Hauſe, “ſagte er ſpäter, „ dann gehe zu den Deinigen und leiſte ihnen Geſellſchaft. Dein Vater bedarf deiner Perſon auch. “
„ Darf ich den Meinigen eure Mittheilung erzäh¬ len? “fragte ich.
361„ Ihr müßt es ſogar thun, “antwortete er, „ denn eure Eltern haben ein Recht, zu wiſſen, in welche Ge¬ ſellſchaft ihr Sohn durch Schließung eines ſehr hei¬ ligen Bundes tritt, und ſie haben auch ein Recht zu wünſchen, daß ihr Sohn nicht Geheimniſſe vor ihnen habe. Ich werde übrigens wohl ſelber mit eurem Vater über dieſes und viele andere Dinge ſprechen. “
Wir beurlaubten uns hierauf, und ich verließ das Zimmer.
Den Reſt des Vormittages verbrachte ich mit Ab¬ faſſung eines Briefes an meine Eltern.
Am Nachmittage ſuchte ich Guſtav auf, und er erhielt die Erlaubniß, mit mir einen weiteren Weg in der Gegend zu machen. Wir kamen in der Däm¬ merung zurück, und er mußte die Zeit, welche er am Tage verloren hatte, bei der Lampe nachholen.
Unter Arbeiten in meinen Papieren, in welche ich einige Ordnung zu bringen ſuchte, im Um¬ gange mit meinem Gaſtfreunde, der mir leutſelig manche Zeit ſchenkte, unter manchem Beſuche im Schreinerhauſe, wo Euſtach ſehr beſchäftigt war, oder bei ſeinem Bruder Roland, der jeden lichten Augenblick des Tages zu ſeinem Bilde benüzte, und endlich unter manchem weiten Gange in der Umge¬362 bung, da dieſer Winter der erſte war, den ich ſo tief im Lande zubrachte, verging noch die Zeit bis gegen die Mitte des Hornung. Ich nahm nun Abſchied, ſendete meine Sachen auf die Poſt nach Rohrberg und ging zu Fuße nach, harrte dort der Ankunft des Wa¬ gens aus dem Weſten, erhielt, da er gekommen war, einen Plaz in ihm, und fuhr meiner Heimath zu.
Ich wurde wie immer ſehr freudig von den Mei¬ nigen gegrüßt, und mußte ihnen von der Winterreiſe im Hochgebirge erzählen. Ich that es, und erzählte ihnen in den erſten Tagen auch, was mir mein Gaſt¬ freund mitgetheilt hatte. Es war ihnen bisher unbe¬ kannt geweſen.
„ Ich habe Riſach oft nennen gehört, “ſagte mein Vater, „ und ſtets war der Ausdruck der Hochachtung mit der Nennung ſeines Namens verbunden. Von der Familie, welche Heinbach beſaß, habe ich nur Alfred flüchtig gekannt. Mit Tarona war ich einmal in einer entfernten Geſchäftsverbindung geſtanden. “
Die Jugendbeziehungen meines Gaſtfreundes zu Mathilden mußten ſehr geheim gehalten worden ſein, da weder je der Vater noch irgend jemand aus ſeiner Bekanntſchaft von dieſer Sache etwas gehört hatte, obwohl über ähnliche Gegenſtände die Sprechluſt363 am regeſten zu ſein pflegt. Daß meine Mitthei¬ lungen auf meine Angehörigen nach dem Bunde mit Natalien den größten Eindruck machten, iſt be¬ greiflich. Deßohngeachtet hatte ich doch auch dem Vater etwas gebracht, was ihn ſehr freute. Ich war in den lezten Tagen meines Aufenthaltes in dem Ro¬ ſenhauſe noch bei dem Gärtner geweſen, und hatte ihn erſucht, mir die Vorſchrift zur Bereitung des Bindemittels an den Gläſern des Gewächshauſes zu verſchaffen, wodurch das Hineinziehen des Waſ¬ ſers zwiſchen die Gläſer und das dadurch bewirkte Herabtropfen verhindert wird. Er hatte die Vorſchrift wohl nicht ſelber, ging aber zu meinem Gaſtfreunde, und durch dieſen erhielt ich ſie. Ich erzählte meinem Vater von der Sache, und übergab ihm die Anlei¬ tung zur Bereitung.
„ Das wird das für die Pflanzen ſo ſchädliche Herabtropfen des Winterwaſſers in unſerem hieſigen Gewächshauſe alſo für die Zukunft verhindern, “ſagte er, „ noch mehr freue ich mich aber, es gleich neu in den neuen Gewächshäuſern anwenden zu können, welche neben dem Landhauſe ſtehen werden, das ich bauen werde. “
364Die Mutter lächelte.
„ Bereitet euch einſtweilen auf die Reiſe in den Sternenhof und in das Roſenhaus vor, “ſagte der Vater, „ alles andere iſt geſchehen, der Schritt, der nun zu thun iſt, liegt uns ob. In den erſten Tagen des Frühlings werden wir hinreiſen und ich werde für meinen Sohn werben. Ihr Weiber bereitet euch gerne auf ſolche Dinge vor, thut es, und beeilt euch, ihr habt nicht lange Zeiten vor euch, zwei Monate und etwas darüber. Was mir bis dahin obliegt, wird nicht auf ſich warten laſſen. “
Daß dieſe Maßregel Beifall hatte, ging aus der Sachlage hervor; die Zeit zur Vorbereitung aber wollte man etwas kurz nennen. Der Vater ſagte, es dürfe nicht das Geringſte zugegeben werden, weil man es ſonſt der Wichtigkeit des Verhältniſſes nähme. Das war einleuchtend.
Es ging nun an ein Arbeiten und Beſtellen, und kein Tag war, dem nicht ſeine Laſt zugetheilt wurde. Die Mutter traf auch Vorbereitungen für den Fall, daß die neuen Ehegatten in ihrem Hauſe wohnen würden. Der Vater ſagte ihr zwar, daß meiner Ver¬ bindung noch meine große Reiſe vorangehen werde;365 allein ſie widerlegte ihn mit der Bemerkung, daß es keinen Schaden bringe, wenn manches früher fertig ſei, als man es eben brauche. Er ließ ſofort ihrem hausmütterlichen Sinne ſeinen Lauf.
Zu Ende des Märzes brachte der Vater einen ſehr ſchönen Wagen in das Haus. Es war ein Reiſewagen für vier Perſonen. Er hatte den Wagen nach ſeinen eigenen Angaben machen laſſen.
„ Wir müſſen unſere Freunde ehren, “ſagte er, „ wir müſſen uns ſelber ehren, und wer kann wiſ¬ ſen, ob wir den Wagen nicht noch öfter brauchen werden. “
Er verlangte, daß man ihn genau beſehe, und in Hinſicht ſeiner Bequemlichkeit beſonders für Reiſe¬ gegenſtände von Frauen prüfe. Es geſchah, und man mußte die Einrichtung des Wagens loben. Es war Feſtigkeit mit Leichtigkeit verbunden und bei einer gefälligen Geſtalt both er Räumlichkeit für alle nöthi¬ gen Dinge.
„ Ich bin nun fertig, “ſagte er, „ ſorgt, daß eure Vorbereitungen nicht zu lange dauern. “
Aber auch die Frauen waren zu der rechten Zeit in Bereitſchaft. Der Vater hatte den Beginn der366 Baumblüthe und des Blätterknoſpens als Reiſezeit beſtimmt, und zu dieſer Zeit fuhren wir auch fort.
Ich fuhr nun einen Weg, den ich ſo oft allein oder mit Fremden in einem Wagen zurückgelegt hatte, mit allen meinen Angehörigen. Wir fuhren mit Pferden, die wir uns auf jeder Poſt geben ließen; allein wir fuhren zur Bequemlichkeit der Mutter und Klotildens, weßhalb wir uns oft länger an einem Orte aufhielten, und kleine Tagereiſen machten. Ein ſehr ſchönes Wetter und eine Fülle von weißen und rothſchimmernden Blüthen begleitete uns.
Am vierten Tage vormittags fuhren wir in den, Sternenhofe ein. Mathilde war von unſerer Ankunft unterrichtet worden. Wir hatten das Wagendach zurückgelegt, und alle Blicke meiner Angehörigen hafteten ſchon von weiter Entfernung her auf dem Blüthenhügel, auf dem das Schloß ſtand, ſie richte¬ ten ſich jezt auf die Geſtalt des Bauwerkes, endlich auf das Sternenſchild über dem Thore, auf die Wöl¬ bung des Thorweges, und zulezt auf Mathilden und Natalien, die da ſtanden, um uns zu empfangen. Wir ſtiegen aus. Natalie wechſelte die Farben zwi¬ ſchen Blaß und Purpurroth. Man wartete nicht wei¬ ter mit dem Gruße. Klotilde und Natalie lagen ſich367 an dem Halſe, und weinten. Meine ehrwürdige Mut¬ ter war von Mathilden umfaßt und an das Herz ge¬ drückt. Dann wurde der Vater von ihr anmuthsvoll und herzlich gegrüßt, ſie reichte ihm beide Hände, und ſah ihn mit ihren Augen, die noch immer ſo ſchön waren, auf das Innigſte an. Natalie hatte indeſſen die Hand meiner Mutter gefaßt, und ſie geküßt. Dieſe gab den Kuß auf die Stirne des ſchö¬ nen Mädchens zurück. Der Vater wollte wahrſchein¬ lich etwas Heiteres oder gar Scherzhaftes zu Natalien ſagen; aber als er ſie näher anblickte, wurde er ſehr ernſt und beinahe ſcheu, er grüßte ſie anſtändig und ſehr fein. Wahrſcheinlich hatte ihn ihre Schönheit überraſcht, oder er erinnerte ſich, wie es auch mir ergangen war, an die Pracht ſeiner geſchnittenen Steine. Klotilde wurde von Mathilden auch an das Herz gedrückt. Auf mich dachte beinahe niemand. Ob dieſer Empfang der ſtrengen Umgangsſitte oder irgend einer Rangordnung gemäß war, darnach fragte niemand. Wir gingen unter einander gemiſcht die Treppe hinan, und wurden in Mathildens Geſell¬ ſchaftszimmer geführt. Dort lieh man den Grüßen erſt lebhaftere Worte und einen geregelten Ausdruck.
„ So lange haben wir uns gekannt, und erſt jezt368 ſehen wir uns, “ſagte Mathilde zu meinen Eltern, als ſie dieſelben zum Niederſizen auf ihre Pläze ver¬ anlaßt hatte.
„ Es war ein Wunſch von vielen Jahren, “entgeg¬ nete mein Vater, „ daß wir die Menſchen ſähen, die gegen meinen Sohn ſo wohlwollend waren, und die ſein Weſen ſo ſehr gehoben hatten. “
„ Das iſt nun Natalie, meine theure Klotilde, “ſagte ich, indem ich beide Mädchen einander vorſtellte, „ das iſt Natalie, die ich ſo ſehr liebe, ſo ſehr wie dich ſelbſt. “
„ Nein mehr als mich, und ſo iſt es auch recht, “erwiederte Klotilde.
„ Sei meine Schweſter, “ſagte Natalie, „ ich werde dich lieben wie eine Schweſter, ich werde dich lieben, ſo ſehr es nur mein Herz vermag. “
„ Ich nenne dich auch du, “erwiederte Klotilde, „ ich liebe meinen Bruder wie mein eigenes Herz, und werde dich auch ſo lieben. “
Die beiden Mädchen umarmten ſich wieder, und küßten ſich wieder.
Als wir uns um den Tiſch geſezt hatten, ſagte ich zu Natalien: „ Und mich grüßt ihr beinahe gar nicht. “
369„ Ihr wißt es ja doch, “erwiederte ſie, indem ſie mich freundlich anſah.
Das Geſpräch dauerte nun allgemeiner über den¬ ſelben Gegenſtand fort.
Die zwei Frauen konnten ſich kaum genug betrach¬ ten, und nahmen ſich immer wieder bei den Händen.
Als man endlich auf andere Gegenſtände über¬ gegangen war, und über die Reiſe und ihre Annehm¬ lichkeiten und Unannehmlichkeiten geſprochen hatte, ſagte mein Vater, daß wir noch ſämtlich in Reiſe¬ kleidern ſeien, daß wir uns verabſchieden müßten, und er fragte, wann er die Ehre haben könnte, ſich Mathilden wieder vorſtellen zu dürfen.
„ Nicht Vorſtellung, “erwiederte ſie, „ Beſuch, wann ihr immer wollt. “
„ Alſo in zwei Stunden, “entgegnete mein Vater.
Wir gingen in unſere Zimmer, und mein Vater wies uns an, uns in Feſtkleider zu kleiden. Nach zwei Stunden ging er allein mit der Mutter, beide wie an einem hohen Feſttage geſchmückt, zu Mathilden, welche ſie zu ſprechen verlangten. Mathilde empfing ſie in dem großen Geſellſchaftszimmer, und mein Va¬ ter warb um die Hand Nataliens für mich.
Nach wenigen Augenblicken wurden Natalie Klo¬Stifter, Nachſommer. III. 24370tilde und ich hineingerufen, und Mathilde ſagte: „ Der Herr und die Frau Drendorf haben für ihren Sohn Heinrich um deine Hand geworben, Natalie.”
Natalie, welche in einem ſo feſtlichen Kleide da ſtand, wie ich ſie nie geſehen hatte, weßhalb ſie mir beinahe fremd erſchien, blickte mich mit Thränen in den Augen an. Ich ging auf ſie zu, faßte ſie an der Hand, führte ſie vor ihre Mutter, und wir ſprachen einige Worte des Dankes. Sie entgegnete ſehr freund¬ lich. Dann gingen wir zu meinen Eltern, und dank¬ ten ihnen gleichfalls, die gleichfalls freundlich ant¬ worteten. Klotilde war in ihrem Feſtanzuge ſehr be¬ fangen, was auch faſt bei allen andern der Fall war. Mein Vater löſte die Stimmung, indem er zu einem Tiſche ſchritt, auf welchen er ein Käſtchen niederge¬ ſtellt hatte. Er nahm das Käſtchen, näherte ſich Na¬ talien, und ſagte: „ Liebe Braut und künftige Tochter, hier bringe ich ein kleines Geſchenk; aber es iſt eine Bedingung daran geknüpft. Ihr ſeht, daß ein Faden um das Schloß liegt, und daß der Faden ein Siegel trägt. Schneidet den Faden nicht eher ab als nach eurer Vermählung. Den Grund meiner Bitte werdet ihr dann auch ſehen. Wollt ihr ſie freundlich er¬ füllen?”
371„ Ich danke für eure Güte innig, “antwortete Na¬ talie, „ und ich werde die Bedingung erfüllen. “
Sie empfing das Käſtchen aus der Hand des Vaters. Auch die Mutter und Klotilde gaben ihr Geſchenke, ſo wie Mathilde und Natalie Gegenſtände aus den benachbarten Zimmern herbeiholten, um die Mutter Klotilden und den Vater zu beſchenken. Na¬ talie und ich gaben uns nichts. Dann ſezten wir uns um einen Tiſch nieder, und es begannen herzliche Ge¬ ſpräche. Am Schluſſe ſagte Mathilde: „ So wäre denn der Bund, den die Herzen unſerer Kinder ge¬ ſchloſſen haben, auch durch die Beiſtimmung der El¬ tern bekräftigt. Der Tag der ewigen Verbindung mag nach ihrem Wunſche und unſerer Meinung feſt¬ geſezt werden. Wir wollen darüber jezt nicht ſprechen, ſondern es der Berathung und Vereinbarung anheim¬ geben. “
Nach dieſen Worten trennten wir uns, und bega¬ ben uns in unſere Zimmer.
Die feſtlichen Kleider wurden nun abgelegt, und es begann das Beſuchsleben, wie es in ähnlichen Ver¬ hältniſſen, und namentlich, wenn man in ſo nahe Beziehungen getreten iſt, der Fall zu ſein pflegt. Mathilde führte nach und nach den Vater und die24 *372Mutter in alle Theile des Schloſſes des Gartens des Meierhofes der Felder der Wieſen und der Wälder. Sie zeigte ihnen alle Zimmer des Hauſes: ihre Wohnzimmer die Zimmer mit den alten Geräthen, ſie zeigte ihnen die Bilder und was ſich nur immer in dem Schloſſe befand. Sie ging mit ihnen in den Garten: zu den Linden zu allen Obſtbäumen zu den Blumenbeeten in die Grotte mit der Brunnennimphe auf die Eppichwand und in jede Anlage, die in dem Garten enthalten war. Ebenſo wurde alles, was ſich auf die Landwirtſchaft bezog, auf das Genaueſte durchgenommen. Gegen den Abend, wenn die Son¬ nenſtrahlen milde auf die blühende Erde leuchteten, wurde ein gemeinſchaftlicher Gang durch irgend einen Theil der Gegend gemacht. Wiederholt gingen wir die ganze Länge des Berührweges durch, und die El¬ tern fanden Gefallen an dieſer Bahn, die eine freie und rüſtige Bewegung in trüben Tagen ſo wie im Winter auf eine angenehme Weiſe geſtatte. Der Va¬ ter konnte über alles der Freude und des Lobes kein Ende finden. Mathilde und die Mutter ſprachen oft lange und immer ſehr freundlich mit einander, ſie tauſchten wahrſcheinlich ihre Anſichten über Häus¬ lichkeit und Verwaltung des Zugehörigen aus. Na¬373 talie und Klotilde waren faſt unzertrennlich, ſie ſchloſ¬ ſen ſich an einander an, bezeigten ſich jede Innigkeit, und oft, wenn wir alle in das Schloß zurückgekehrt waren, gingen ſie noch auf einem einſamen Wege des Gartens oder auf einem Pfade des nächſtgelegenen Feldes herum.
„ Siehſt du, Klotilde, “ſagte ich, „ ich konnte dir kein Bild von Natalien bringen, weil keins da war, jezt haſt du ſie ſelber. “
„ Um wie viel lieber als jedes Bild, “antwortete ſie, „ aber ein Bild muß doch ausgeführt werden, da¬ mit man ſpäter wiſſe, wie ſie in dieſen Jahren aus¬ geſehen habe. “
Acht Tage entließ uns Mathilde nicht von dem Sternenhofe, und jeder Tag fand ſeine freundliche Beſchäftigung. Am neunten wurden die Anſtalten gemacht, daß wir alle in das Roſenhaus abreiſen konnten. Mathilde und die Eltern fuhren in unſerem Reiſewagen. Natalie Klotilde und ich in dem Wagen Mathildens.
Als wir den Hügel hinanfuhren, konnte mein Vater ſeine Neugierde kaum mehr bemeiſtern. Ich ſah ihn öfter in dem Wagen aufſtehen, und herumblicken. Es war ein wolkig heiterer Tag, Strichregen gingen374 auf entferntere Wälder nieder, Sonnenblicke ſchnitten goldne Bilder auf den Hügeln und Ebenen aus, und das Haus meines Gaſtfreundes ſchaute ſanft von ſeiner Anhöhe hernieder. Obwohl, da wir von der Stadt abfuhren, dort bereits alles in Blüthe ſtand, war in der Umgebung des Roſenhauſes troz der Zeit, die wir auf der Reiſe und in dem Hauſe Ma¬ thildens zugebracht hatten, doch noch die Baumblüthe nicht vorüber, ſondern ſie war erſt in ihrer vollen Entfaltung. Denn das Land hier lag um ein Be¬ deutendes höher als die Stadt. Ein Theil des Win¬ tergetreides ſtand auf dem Hügel in üppigſtem Wuchſe, ein Theil ſchickte ſich dazu an, das Sommergetreide keimte hie und da, und hie und da war noch die braune Erde zu ſehen.
Mein Gaſtfreund hatte durch Mathilden Nach¬ richt von unſerer Ankunft erhalten. Als wir bei dem Gitter anfuhren, ſtand er mit Guſtav Euſtach Roland mit der Haushälterin Katharine mit dem Hausver¬ walter mit dem Gärtner und anderen Leuten auf dem Sandplaze vor dem Gitter, um uns zu empfangen. Wir ſtiegen aus, und da ſtanden ſich nun mein Vater und mein Gaſtfreund gegenüber. Der leztere hatte ſchneeweiße Haare mein Vater etwas minder weiße,375 aber liebe ehrwürdige Männer waren beide. Sie reichten ſich die Hand, ſahen ſich einen Augenblick an, und ſchüttelten ſich dann ihre Rechte herzlich.
„ Seid mir gegrüßt, ſeid mir tauſendmal gegrüßt an meiner Schwelle, “ſagte mein Gaſtfreund, „ ſelten iſt hier einer eingegangen, der ſo willkommen geweſen wäre wie ihr, und ſelten habe ich mich nach jemanden ſo geſehnt wie nach euch. Wir ſind nun ſo lange in Verbindung und ich habe euch ſchon ſo lange in der Liebe eures Sohnes geliebt. “
„ Ich euch in der Liebe eures jungen Freundes, “erwiederte mein Vater, „ es iſt einer meiner liebſten Tage, der mich unter dieſes Dach bringt. Ich komme in das Haus des Mannes, den ich durch meinen Sohn kenne, obgleich ich auch den Staatsmann hoch¬ achten muß. Ich komme mit der Schuld des Dankes belaſtet. Ihr habt mich ausgezeichnet, ehe ich es nur im geringſten Maße um euch verdient hatte. “
„ Laßt das jezt, es machte mir ja ſelber Freude, “entgegnete mein Gaſtfreund, „ aber ſeht, ſo begeht man Fehler, wenn man von einer Leidenſchaft befan¬ gen iſt, beſonders, wenn zwei alte Alterthumsfreunde zuſammentreffen. Ich habe verſäumt, eurer verehrten Gattin meinen erſten Gruß darzubringen, wie es376 Pflicht geweſen wär. Aber theure Frau, ihr werdet es, wenn auch nicht ganz entſchuldigen, doch als ein geringeres Vergehen anſehen, als eine andere Frau, da ihr euren Gatten und ſeine Beziehungen zu ſeinen Schäzen kennt. Seid mir gegrüßt, und wenn ich ſage, daß ich euch nicht minder als euren Gatten hie¬ her gewünſcht habe, ſo ſage ich die Wahrheit, und euer eigener Sohn iſt gegen euch Zeuge, wenn ihr meine Worte bezweifeln wolltet. Es freut mich, euch in mein Haus führen zu können, erlaubt, daß ich eure Hand faſſe. Mathilde Natalie Heinrich, ihr müſſet heute etwas Nebenſache ſein, und dieſes Fräu¬ lein, das ich wohl ſchon als Klotilde kenne, wird erlauben, daß ich ſie auch ein wenig liebe und um Gegenneigung bitte. Guſtav, führe das Fräulein. “
„ Gönnt mir die Gnade, euch führen zu dürfen, “ſagte Guſtav zu Klotilden.
Sie ſah den Jüngling ſanft an, und ſagte: „ Ich bitte um die Gefälligkeit. “
„ Ehe wir gehen, “ſagte mein Gaſtfreund noch, „ ſehet noch hier meine zwei ausgezeichneten Künſtler Euſtach und Roland, die mit mir in unſerem Beſize leben, den ich Sorgenfrei nennen würde, wenn er nicht voll von Sorgen ſteckte. Sie wollen euch vor dem377 Hauſe begrüßen. Seht da auch meine Katharine, die das Haus zuſammenhält, und dann meinen Haus¬ verwalter und Gärtner und andere, welche die Luſt des Empfanges nicht miſſen wollten. “
Mein Vater reichte jedem die Hand, und die Mut¬ ter und Klotilde verbeugten ſich auf das Artigſte.
Hierauf nahm mein Gaſtfreund den Arm meiner Mutter mein Vater den Mathildens ich Nataliens Guſtav Klotildens und ſo gingen wir bei dem Eiſen¬ gitter in den Garten und in das Haus. Die Wägen fuhren in den Meierhof. In dem Hauſe wurden wir gleich in unſere Zimmer geführt. Mathilde und Na¬ talie gingen in ihre gewöhnliche Wohnung. Für mei¬ nen Vater und für meine Mutter war ein Aufenthalt von drei Zimmern eigens gerichtet worden. Sie hat¬ ten ſehr ſchöne Wandbekleidungen und vorzügliche Geräthe. Für alle und jede Bequemlichkeit war ge¬ ſorgt. Klotilde hatte ein zierliches blaßblaues Zim¬ merchen daneben. Ich ging von der Wohnung meiner Eltern in meine Zimmer, welche die gewöhnlichen waren. Guſtav beſuchte mich hier in dem erſten Au¬ genblicke, und umſchlang mich mit der größten Freude und Liebe.
„ Nun iſt doch alles ſicher und gewiß, “ſagte er.
378„ Sicher und gewiß, “entgegnete ich, „ wenn Gott ſein Vollbringen gibt. Jezt biſt du mein theurer viel¬ geliebter Bruder in der That, wenn du es auch der Faſſung nach erſt in einiger Zeit wirſt. “
„ Darf ich auch du ſagen? “fragte er.
„ Von ganzem Herzen, “erwiederte ich.
„ Alſo du, mein geliebter mein theurer Bruder, “ſagte er.
„ Auf immer, ſo lange wir leben, was auch ſonſt für Zwiſchenfälle kommen mögen, “ſagte ich.
„ Auf immer, “antwortete er, „ aber jezt kleide dich ſchnell um, damit du nicht zu ſpät kommſt. Man wird in dem Beſuchſaale zu ebener Erde noch einmal zu einem Gruſſe zuſammenkommen, ehe man zum Mit¬ tageſſen geht. Ich muß mich ſelber zurecht richten. “
Es war ſo, wie Guſtav geſagt hatte, und es war an alle die Einladung ergangen. Er verließ mich, und ich kleidete mich um.
Wir verſammelten uns in dem Beſuchzimmer zu ebener Erde, in welchem ich, da ich das erſte Mal in dieſem Hauſe war, allein gewartet hatte, während mein Gaſtfreund gegangen war, ein Mittageſſen für mich zu beſtellen. Ich hatte damals den Geſang der Vögel hereingehört. Der eingelegte Fußboden war379 heute mit einem ſehr ſchönen Teppiche ganz über¬ ſpannt. Auch Euſtach und Roland waren zu der Ver¬ ſammlung eingeladen worden.
Als ſich alle eingefunden hatten, ſtand mein Gaſt¬ freund, welcher ſo feſtlich angezogen war wie wir, auf, und ſprach: „ Ich richte noch einmal an alle, welche gekommen ſind, den Empfangsgruß innerhalb der Wände dieſes Hauſes. Es iſt ein ſchöner Tag. Wenn gleich mancher liebe Freund und gewiſſermaſſen Schlachtkamerade, den ich noch beſize, nicht hier iſt, ſo kann eben nicht immer alles, was man liebt, ver¬ ſammelt ſein. Das Eigentliche iſt hier, iſt aus einem lieben Anlaſſe hier, aus welchem ein noch ſchönerer Tag für manche hervorgehen kann. Ihr ſehr hochge¬ ehrte Frau, die Mutter des jungen Mannes, welcher zu verſchiedenen Malen unter dem Dache dieſes Hau¬ ſes gewohnt hat, ſeid dem Hauſe willkommen. Es hat euren Namen oft gehört und die Namen eurer Tugenden, und wenn der Schall der Rede oft auch ganz Anderes zu verkünden ſchien, ſo gingen unbe¬ wußt eure Eigenſchaften daraus hervor, ſammelten ſich hier, und erzeugten Ehrerbiethung und, erlaubt einem alten Manne das Wort, Liebe. Ihr, mein edler Freund — gönnt mir den Namen auch, den ich380 euch ſo gerne gebe — ein graues Haupt wie ich, aber ehrwürdiger in der Verehrung ſeiner Kinder, und darum auch in der anderer Leute, ihr habt mit eurer Gattin un¬ ſichtbar dieſes Haus bewohnt, und ehrt es, da es eure Geſtalt nun ſelber in ſeinen Räumen ſieht. Ihr, Klo¬ tilde, wandeltet mit euren Eltern hier, und ſeid gleich¬ falls in eurem Eigenthume. Zu dir, Mathilde, ſpre¬ che ich erſt jezt, nachdem ich zu den andern geſprochen habe, die nicht ſo oft die Schwelle dieſes Hauſes be¬ treten haben wie du. Du bringſt uns heute etwas, das allen lieb ſein wird. Sei deßhalb nicht mehr ge¬ grüßt und willkommen, als du hier immer gegrüßt und willkommen geweſen biſt. Sei willkommen Na¬ talie, und ſeid gegrüßet Heinrich. Euſtach Roland Guſtav ſind als Zeugen hier von dem was da ge¬ ſchieht. “
Meine Mutter antwortete hierauf: „ Ich habe im¬ mer gedacht, daß wir in dieſem Hauſe werden herzlich empfangen werden, es iſt ſo, ich danke ſehr dafür. “
„ Ich danke auch, und möge die gute Meinung von uns ſich bewähren, “ſagte der Vater.
Klotilde verneigte ſich nur.
Mathilde ſprach: „ Sei bedankt für deinen Gruß, Guſtav; und wenn du ſagſt, daß ich etwas bringe,381 das allen lieb ſein wird, ſo berichte ich, daß Heinrich Drendorf und Natalie vor neun Tagen im Sternen¬ hofe verlobt worden ſind. Wir haben den Weg zu dir gemacht, um deine Billigung zu dieſer Vornahme zu erwirken. Du haſt immer wie ein Vater an Natalien gehandelt. Was ſie iſt, iſt ſie größtentheils durch dich. Daher könnte ein Band ſie nie beglücken, das deinen vollen Segen nicht hätte. “
„ Natalie iſt ein gutes treffliches Mädchen, “erwie¬ derte mein Gaſtfreund, „ ſie iſt durch ihr innerſtes We¬ ſen und durch ihre Erziehung das geworden, was ſie iſt. Ich mag ein Weniges beigetragen haben, wie alle nicht böſen Menſchen, mit denen wir umgehen, zu unſerem Weſen etwas Gutes beitragen. Du weißt, daß der geſchloſſene Bund meine Billigung hat, und daß ich ihm alles Glück wünſche. Weil du mich aber Vater Nataliens nennſt, ſo mußt du erlauben, daß ich auch als Vater handle. Natalie erhält als meine Erbin den Asperhof mit allem Zubehör und allem, was darin iſt, ſie erhält auch, da ich gar keine Ver¬ wandten beſize, meine ganze übrige Habe. Die Aus¬ folgung geſchieht in der Art, daß ſie einen Theil des geſammten Vermögens an ihrem Vermählungstage empfängt nebſt den Papieren, welche ihr das Anrecht382 auf den Reſt zuſprechen, der ihr an meinem Todes¬ tage anheim fällt. Einige Geſchenke an Freunde und Diener werden in den Papieren enthalten ſein, die ſie gerne verabfolgen wird. Weil ich Vater bin, ſo werde ich auch meine liebe Tochter ausſtatten, von ihrer Mutter kann ſie nur Geſchenke annehmen. Und einen Eigenſinn müßt ihr mir geſtatten, deſſen Bekämpfung von eurer Seite mich ſehr ſchmerzen würde. Die Ver¬ mählung ſoll auf dem Asperhofe gefeiert werden. Hieher iſt der Bräutigam vor mehreren Jahren zuerſt gekommen, hier habt ihr ihn kennen gelernt, hier iſt vielleicht die Neigung gekeimt, und hier endlich wohnt jader Vater, wie er eben genannt worden iſt. Vom Vermählungstage an wird im Asperhofe für die jun¬ gen Eheleute eine Wohnung in Bereitſchaft ſtehen, es wird aber an ſie nicht die Forderung geſtellt werden, daß ſie dieſelbe benüzen. Sie ſollen nach ihrer Wahl ihre Wohnung aufſchlagen: entweder im Asperhofe oder im Sternenhofe oder in der Stadt oder auch abwechslungsweiſe, wie es ihnen gefällt. “
Mathilde war während dieſer ganzen Rede mit Würde und Anſtand in ihrem Size geſeſſen, wie überhaupt in der ganzen Verſammlung ein tiefer Ernſt herrſchte. Mathilde ſuchte ihre Haltung zu bewahren;383 allein aus ihren Augen ſtürzten Thränen, und ihr Mund zitterte vor ſtarker Bewegung. Sie ſtand auf, und wollte reden; aber ſie konnte nicht, und reichte nur ihre Hand an Riſach. Dieſer ging um den Tiſch — denn eine Ecke desſelben trennte ſie — drückte Ma¬ thilden ſanft in ihren Siz nieder, küßte ſie ſachte auf die Stirne, und ſtrich einmal mit ſeiner Hand über ihre Haare, die ſie glatt geſcheitelt über der feinen Stirne hatte.
Mein Vater nahm hierauf, da Riſach wieder an ſeinem Plaze war, das Wort, und ſprach: „ Es iſt noch ein Vater da, welcher auch einige Worte reden und einige Bedingungen ſtellen möchte. Vor allem, Freiherr von Riſach, empfanget den innigſten Dank von mir im Namen meiner Familie, daß ihr ein Mit¬ glied derſelben zu einem Mitgliede der eurigen aufzu¬ nehmen für würdig erachtet habt. Unſerer Familie iſt dadurch eine Ehre erzeigt worden, und mein Sohn Heinrich wird ſich ſicherlich beſtreben, ſich alle jene Eigenſchaften zu erwerben, welche ihm zur Erfüllung ſeiner neuen Pflichten und zur Darſtellung jener Menſchenwürde überhaupt nöthig ſind, ohne welche man ein Theil der beſſeren menſchlichen Geſellſchaft nicht ſein kann. Ich hoffe, daß ich hierin für meinen384 Sohn bürgen kann, und ihr ſelber hofft es, da ihr ihn in die Stellung aufgenommen habt, in der er iſt. Mein Sohn wird in die neue Haushaltung bringen, was nicht für unbillig erachtet werden ſoll. In meinem Hauſe in der Stadt wird eine anſtändige Wohnung für die Neuvermählten immer in Bereitſchaft ſtehen, und wenn ich das Landleben einmal vorziehen ſollte, ſo werden ſie auch in meiner neuen Wohnung einen Plaz finden. Ihr eigenes ſtändiges Haus mögen ſie nach Belieben aufſchlagen. Daß die Vermählung in dem Asperhofe ſei, iſt nach meiner Meinung gerecht, und ich glaube, es wird niemand die Maßregel be¬ ſtreiten. Und nun habe ich noch eine Bitte an euch, Freiherr von Riſach, nehmt mich alten Mann und meine alte Gattin nebſt unſrer Tochter nicht ungerne in euren Familienkreis auf. Wir ſind bürgerliche Leute, und haben als ſolche einfach gelebt; aber in jedem Verhältniſſe unſere Ehre und unſern guten Namen aufrecht zu erhalten geſucht. “
„ Ich kenne euch ſchon lange, “antwortete Riſach, „ obwohl nicht perſönlich, und habe euch ſchon lange hoch geachtet. Noch höher achtete und liebte ich euch, als ich euren Sohn kennen gelernt hatte. Wie ſehr es mich freut, in eine nähere Umgangsverbindung385 mit euch zu kommen, kann euch euer Sohn ſagen, und wird euch die Zukunft zeigen. Was die Bürger¬ lichkeit anlangt, ſo gehörte ich zu dieſem Stande. Vergängliche Handlungen, die man Verdienſte nannte, haben mich auf eine Zeit aus ihm gerückt, ich kehre durch meine angenommene Tochter wieder zu ihm zurück, der mir allein gebührt. Ehrenvoller würdiger Mann einer ſtettigen Thätigkeit und eines wohlge¬ gründeten Familienlebens, wenn ihr mich, der ich beides nicht habe, für werth erachtet, ſo kommt an mein Herz, und laßt uns die lezten Lebenstage freund¬ lich mit einander gehen. “
Beide Männer verließen ihre Pläze, begegneten ſich auf halbem Wege zu einander, ſchloßen ſich in die Arme, und hielten ſich einen Augenblick feſt. Wie erſchütternd das auf alle wirkte, zeigte die Thatſache, daß es todtenſtill im Zimmer war, und daß manche Augen feucht wurden.
Meine Mutter war, da Riſach Mathilden ver¬ laſſen hatte, zu ihr gegangen, hatte ſich neben ſie geſezt, und hatte ihre beiden Hände gefaßt. Die Frauen küßten ſich, und hielten ſich noch immer bei¬ nahe umfangen.
Ich und Natalie traten jezt vor Riſach, und ſag¬Stifter, Nachſommer. III. 25386ten, daß wir ihm für alles Liebe und Gute gegen uns aufs Tiefſte danken, und daß unſer einziges Be¬ ſtreben ſein werde, ſeiner guten Meinung über uns immer würdiger zu werden.
„ Ihr ſeid lieb und freundlich und ehrlich, “ſagte er, „ und alles wird gut werden. “
Wir gingen wieder an unſere Pläze, und Euſtach Klotilde Roland Guſtav und ſelbſt die Eltern wünſch¬ ten uns nun alles Glück und allen Segen.
Hierauf nahm das Geſpräch eine Wendung auf einfachere und gewöhnlichere Dinge. Man ſtand auch öfter auf, und miſchte ſich durcheinander. Meine Mutter hatte heute einige der ſchönſten geſchnittenen Steine meines Vaters als Schmuck an ihrem Körper. Mein Gaſtfreund hatte öfter darauf hingeblickt; allein jezt konnten er und Euſtach dem Reize nicht mehr wider¬ ſtehen, ſie traten zu meiner Mutter, betrachteten ver¬ wundert die Steine, und ſprachen über dieſelben. Später kam auch Roland hinzu. Meinem Vater glänz¬ ten die Augen vor Freude.
Als das Geſpräch noch eine Weile gedauert hatte, trennte man ſich, und beſtellte ſich auf einen Spazier¬ gang, der noch vor dem Mittageſſen ſtatt finden ſollte. 387Auf dem Sandplaze vor dem Roſengitter an dem Hauſe wollte man ſich verſammeln.
Wir kleideten uns in andere Kleider, und kamen vor dem Hauſe zuſammen.
Mein Vater, der wahrſcheinlich ſehr neugierig war, alles in dieſem Hauſe zu ſehen, hatte ſich zu Riſach geſellt, ſie ſtanden vor den Roſengewächſen, und mein Gaſtfreund erklärte dem Vater alles. Ma¬ thilde war an der Seite meiner Mutter, Klotilde und Natalie hielten ſich an den Armen, und ich und Gu¬ ſtav ſo wie zu Zeiten auch Euſtach und Roland hiel¬ ten uns in der Nähe der alten Männer auf. Wir gingen von dem Sandplaze in den Garten, damit die Meinigen zuerſt dieſen ſähen. Mein Gaſtfreund machte für meinen Vater den Führer, und zeigte und erklärte ihm alles. Wo meine Mutter und Klo¬ tilde an dem Geſehenen Antheil nahmen, wurde es ihnen von ihren Begleiterinnen erläutert.
„ Da ſehe ich ja aber doch Faltern, “ſagte mein Vater, als wir eine geraume Strecke in dem Garten vorwärts gekommen waren.
„ Es wäre wohl kaum denkbar und möglich, daß meine Vögel alle Keime ausrotteten, “antwortete mein Gaſtfreund, „ ſie hindern nur die unmäßige Verbrei¬25 *388tung. Einiges bleibt aber immer übrig, was für das nächſte Jahr Nahrung liefert. Zudem kommen auch von der Ferne Faltern hergeflogen. Sie wären wohl auch die ſchönſte Zierde eines Gartens, wenn ihre Raupen nicht ſo oft für unſere menſchlichen Bedürf¬ niſſe ſo ſchädlich wären. “
„ Bringen denn nicht aber auch die Vögel manchen Baumfrüchten Schaden? “fragte mein Vater.
„ Ja ſie bringen Schaden, “entgegnete mein Gaſt¬ freund, „ er trift hauptſächlich die Kirſchenarten und andere weichere Obſtgattungen; aber im Verhältniſſe zu dem Nuzen, den mir die Vögel bringen, iſt der Schaden ſehr geringe, ſie ſollen von dem Überfluſſe, den ſie mir verſchaffen, auch einen Theil genießen, und endlich, da ſie neben ihrer natürlichen Nahrung von mir noch außerordentliche und mitunter Lecker¬ biſſen bekommen, ſo iſt dadurch der Anlaß zu An¬ griffen auf mein Obſt geringer. “
Wir gingen durch den ganzen Garten. Jedes Blumenbeet jede einzelne merkwürdigere Blume jeder Baum jedes Gemüſebeet der Lindengang die Bienen¬ hütte die Gewächshäuſer alles wurde genau betrach¬ tet. Der Tag hatte ſich beinahe ganz ausgeheitert, und eine Fülle von Blüthen laſtete und duftete über¬389 all. Wir gingen bis zu dem großen Kirſchbaume em¬ por, und ſahen von ihm über den Garten zurück. Der Vater fühlte ſich ganz glücklich, alles das ſehen und betrachten zu können. Die Mutter mochte wohl ihren Umgebungen nicht ſo viel Aufmerkſamkeit geſchenkt ha¬ ben wie der Vater, und ſie mochte mit Mathilden mehr über das Wohl und Wehe und über die Zukunft ihrer Kinder geſprochen haben. Auch dürfte der Inhalt der Geſpräche zwiſchen Klotilden und Natalien nicht vor¬ herrſchend der Garten geweſen ſein. Sie konnten manche Fäden über andere Dinge anzuknüpfen gehabt haben.
Von dem großen Kirſchbaume mußte wieder in das Haus zurückgegangen werden, weil die Zeit, wel¬ che noch bis zu dem Mittageſſen gegeben geweſen war, ihren Ablauf genommen hatte. Man verfügte ſich einen Augenblick in ſeine Zimmer, und verſam¬ melte ſich dann im Speiſeſaale.
Der Nachmittag war zur Beſichtigung des Mei¬ erhofes der Wieſen und Felder beſtimmt. Wir gingen von dem großen Kirſchbaume auf den Getraidehügel hinaus, und auf ihm fort bis zu der Felderraſt. Wir gingen genau den Weg, welchen ich an jenem Abende mit meinem Gaſtfreunde gegangen war, als ich mich390 zum erſten Male in dem Asperhofe befunden hatte. Wir ſahen von der Felderraſt ein wenig herum. Die Eſche hatte eben ihre erſten kleinen Blätter angeſezt, und ſuchte ſie auszubreiten. Wir konnten uns nicht niederſezen, weil das Bänkchen dazu viel zu klein war. Von der Felderraſt gingen wir in den Meierhof. Wir ſchlugen den Weg ein, welchen ich einmal mit Nata¬ lien allein gewandelt war. Nach der Beſichtigung des Meierhofes, in welchem mein Gaſtfreund meinem Vater das Kleinſte und Größte zeigte, und in wel¬ chem er ihm erklärte, wie alles früher ausgeſehen hatte, was daraus geworden war, und was noch werden ſollte, gingen wir durch die Meierhofwieſen, durch die Felder am Abhange des Hügels des Roſen¬ hauſes, dann den Hügel herum, endlich in das Ge¬ hölze des Teiches hinauf, und von ihm an dem Erlen¬ bache zurück, ſo daß wir wieder zu dem großen Kirſch¬ baume kamen, und von ihm in das Haus zurück¬ kehrten. Es war mittlerweile Abend geworden. Alles hatte die Bewunderung meines Vaters erregt.
Der nächſte Tag war dazu beſtimmt, das Innere des Hauſes ſeine Kunſtſchäze und alles, was es ſonſt enthielt, zu beſehen. Mein Gaſtfreund führte meinen Vater zuerſt in alle Zimmer des Erdgeſchoſſes, dann391 über den Marmorgang die Treppe hinan zur Mar¬ morgeſtalt. Wir waren alle mit, außer Euſtach und Roland. Bei der Marmorgeſtalt hielten wir uns ſehr lange auf. Von ihr gingen wir in den Marmorſaal, in welchem mein Gaſtfreund meinem Vater alle Mar¬ morarten nannte, und ihm die Orte ihres Vorkom¬ mens bezeichnete. Dann beſuchten wir nach und nach die Wohnzimmer meines Gaſtfreundes die Zimmer mit den Bildern Büchern Kupferſtichen das Leſezim¬ mer das Eckzimmer mit den Vogelbrettchen und end¬ lich die Gaſtzimmer und die Wohnung Mathildens. Auch Rolands Gemach wurde beſehen, in welchem auf einer Staffelei ſein beinahe fertiges Bild ſtand. Den Beſchluß machte der Beſuch des Schreinerhau¬ ſes und die Beſichtigung ſeiner Einrichtung und alles deſſen, was da eben gefördert wurde. War mein Va¬ ter ſchon geſtern voll Bewunderung geweſen, ſo war er heute beinahe außer ſich. Die Marmorgeſtalt hatte ſeinen Beifall ſo ſehr, daß er ſagte, er könne ſich von ſeinen Reiſen her nicht auf vieles erinnern, was von alterthümlichen Werken beſſer wäre als dieſe Geſtalt. Sie wurde von allen Seiten beſehen und wieder beſehen, dieſer Theil und jener Theil und das Ganze wurde beſprochen. So etwas, ſagte mein Va¬392 ter, könne er nicht entfernt aufweiſen, nur einige ſei¬ ner alten geſchnittenen Steine könnten neben dieſer Geſtalt noch beſehen werden. Der Marmorſaal gefiel ihm ſehr, und der Gedanke ein ſolches Gemach zu bauen, erſchien ihm als ein äußerſt glücklicher. Er pries die Geduld meines Gaſtfreundes im Suchen des Marmors, und lobte die, welche die Zuſammen¬ ſtellung entworfen hatten, daß etwas ſo Reines und Großartiges zu Stande gekommen ſei. Die alten Geräthe die Bilder die Bücher die Kupferſtiche be¬ ſchäftigten meinen Vater auf das Lebhafteſte, er ſah alles genau an, und ſprach als Liebhaber und auch als Kenner über vieles. Mein Gaſtfreund verſtän¬ digte ſich leicht mit ihm, ihre Anſichten trafen häufig zuſammen, und ergänzten ſich häufig, in ſo ferne man überhaupt Anſichten in einer Geſellſchaft, in welcher man ſich kurz faſſen mußte, ausſprechen konnte. Meine Mutter freute ſich innig über die Freude des Vaters. So war es denn alſo doch in Erfüllung gegangen, was ſie ſo oft gewünſcht hatte, daß mein Vater das Haus meines Gaſtfreundes beſuchte, und es war auf eine liebe Art in Erfüllung gegangen, die ſie ſich gewiß einſtens nicht gedacht hatte. Rolands Bild betrachtete der Vater ſehr aufmerkſam, er hielt es für393 höchſt bedeutend, er ſprach mit Riſach über Verſchie¬ denes in demſelben, und äußerte ſich, daß nach dieſem Werke zu urtheilen Roland eine hoffnungsvolle Zu¬ kunft vor ſich haben dürfte. Daß es meinen Gaſt¬ freund mit Vergnügen erfüllte, daß ſeine Schöpfun¬ gen mit ſolcher Anerkennung von einem Manne, aus deſſen Worten die Berechtigung zu einem Urtheile her¬ vorging, betrachtet werden, iſt begreiflich. Die zwei Männer ſchloſſen ſich immer mehr an einander, und vergaſſen zuweilen ein wenig die übrige Geſellſchaft. In dem Schreinerhauſe, in welchem Euſtach den Füh¬ rer machte, wurden nicht nur alle Zeichnungen und Pläne durchgeſehen, ſondern die ganze Einrichtung und die Art, wie hier verfahren werde, ſammt allen Werkzeugen wurde einer genauen Beobachtung unter¬ zogen. Der Vater war voll der Billigung darüber. Mit Beſichtigung dieſer Dinge war der ganze Tag verbraucht worden.
Am nächſten Tage fuhr man in den Alizwald, da¬ mit mein Gaſtfreund meinen Eltern den Forſt zeigen konnte, welcher zu dem Asperhofe gehörte.
Die folgenden Tage waren für die Geſellſchaft ſchon weniger vereinigend. Man zerſtreute ſich, und ging dem nach, was eben die meiſte Anziehungskraft394 ausübte. Zu mir und Natalien kamen nach und nach alle Bewohner des Roſenhauſes und des Meierhofes, um uns Glück und Segen zu unſerer bevorſtehenden Vereinigung zu wünſchen. Sie hatten jezt erſt nach geſchehener Verlobung die Gewißheit davon erhalten, hatten es aber in früherer Zeit aus den Vorgängen, die ſie ſahen, gemuthmaßt und geſchloſſen. Mein Va¬ ter holte Vieles wieder im Einzelnen nach, was er im Allgemeinen geſehen hatte, er war bald hier bald dort, und war viel mit dem Beſizer des Hauſes be¬ ſchäftigt. Die Frauen ließen ſich das angelegen ſein, was Sache des Hausweſens iſt, und verkehrten manche Weile mit Katharinen. Wir jüngeren Leute gingen viel in dem Garten herum, beſuchten manche Stelle, und machten Spaziergänge. Wir waren meh¬ rere Male bei den Gärtnerleuten, ſaßen einmal lange bei ihrem Tiſche, und beſahen einmal ausführ¬ lich für uns die Gewächshäuſer, und ließen uns das Vorhandene von dem Gärtner erklären. Eines Tages waren wir auch alle im Inghofe, und die Bewohner des Inghofes waren eines andern Tages im Asper¬ hofe. Der Pfarrer von Rohrberg und mehrere der an¬ geſeheneren Bewohner der Gegend waren von nahe oder von ferne herzugekommen, um zu dem ihnen be¬395 kannt gewordenen Ereigniſſe ihren Glückwunſch dar¬ zubringen. Selbſt Bauersleute der Nachbarſchaft und andere, die mich und Natalien kannten, kamen zu demſelben Zwecke.
Wir mußten zwölf Tage in dem Asperhofe zu¬ bringen, dann aber wurde unſer Reiſewagen bepackt, und wir traten die Rückreiſe in unſere Vaterſtadt an.
Da wir zu Hauſe angekommen waren, wurde ſo¬ gleich daran gegangen, Zimmer in Bereitſchaft zu ſezen, daß wir den Gegenbeſuch, wenn er eintreffen würde, anſtandsvoll empfangen könnten. Ich rüſtete mich indeſſen auch noch zu etwas anderem, was noch vor der Verbindung mit Natalien ſtatthaben mußte, zu meiner großen Reiſe. Ich ſuchte die Anſtalten ſo zu treffen, daß ich glaubte, nichts Weſentliches außer Acht gelaſſen zu haben. Die Nothwendigkeit, mir durch dieſe Reiſe noch Manches, was mir fehlte an¬ zueignen, und in dieſer Hinſicht nicht zu weit hinter Natalien zurückſtehen zu müſſen, war mir einleuchtend, und eben ſo einleuchtend war es mir, daß ich eine größere Reiſe allein machen müſſe, ehe ich in künftiger Zeit mit Natalien eine Reiſe antreten könnte. Ich hatte auch vor, mich gleich nach der Zeit, in der uns396 der Gegenbeſuch abgeſtattet ſein würde, auf die Reiſe zu begeben.
Der Gegenbeſuch kam drei Wochen nach dem Ta¬ ge, an welchem wir in der Stadt angelangt waren. Ein Brief hatte ihn vorher angekündigt. Mathilde Riſach Natalie und Guſtav trafen in einem ſchönen Reiſewagen ein. Sie wurden in die für ſie in Bereit¬ ſchaft gehaltenen Zimmer geführt. Nachdem ſie ſich umgekleidet hatten, kamen wir zum Gruße in unſerem Beſuchzimmer zuſammen. Der Empfang in unſerem Hauſe war ſo herzlich und innig, wie er nur immer in dem Sternenhofe und in dem Hauſe meines Gaſt¬ freundes geweſen war. In allen Mienen war Freude, und alle Worte ſezten die begonnene Bekanntſchaft und die ſich entwickelnde Freundſchaft fort. Selbſt bis auf die Dienerſchaft pflanzte ſich das angenehme Ge¬ fühl über. Aus einzelnen Worten und aus den hei¬ tern Angeſichtern entnahm man, wie ſehr ihnen die wunderſchöne Braut gefalle. Was unſer Haus und die Stadt für die Gäſte Angenehmes biethen konnte, wurde ihnen zur Verfügung geſtellt. Wie auf den beiden Landſizen wurde auch hier alles gezeigt, was das Haus enthält. Die Gäſte wurden in die Zimmer geführt, beſahen Bilder Bücher alte Schreine und397 geſchnittene Steine. Sie kamen in das gläſerne Eckhäuschen und in alle Theile des Gartens. In Hinſicht der Bilder meines Vaters ſprach ſich mein Gaſtfreund dahin aus, daß ſie als Ganzes durchaus werthvoller ſeien als ſeine Sammlung, obwohl er auch einzelne Stücke beſize, welche dem Beſten aus meines Vaters Sammlung an die Seite geſtellt wer¬ den könnten. Meinen Vater freute dieſes Urtheil, und er ſagte, er hätte ungefähr dasſelbe gefällt. Die geſchnittenen Steine, ſagte mein Gaſtfreund, ſeien auserleſen, und denen hätte er nichts Gleiches ent¬ gegen zu ſtellen, es müßte nur das Marmorſtandbild ſein.
„ Das iſt es auch, und das iſt das Höchſte, was in beiden Kunſtſammlungen beſteht, “erwiederte mein Vater.
Die Schnizarbeiten im Glashäuschen waren mei¬ nem Gaſtfreunde aus meinen Abbildungen bekannt. Er beſchäftigte ſich aber doch mit ihrer genauen Be¬ ſichtigung, und ertheilte ihnen mit Rückſicht auf die Zeit ihrer Entſtehung viel Lob. Mein Einbeerblatt aus Marmor im Garten wurde einer Anerkennung nicht für unwürdig erachtet. Meinen Vater erquickte die Würdigung ſeiner Schäze von einem Manne, wie398 Riſach war, ſehr, und ich glaube, er hatte keine an¬ genehmeren Stunden gehabt, ſeit er all dieſe Dinge zuſammen gebracht, als die Zeit, die Riſach bei ihm geweſen war. Selbſt jenen Augenblick dürfte er kaum vorgezogen haben, da ſich zum erſten Male meine Augen für den Werth deſſen geöffnet hatten, was er beſaß. Bei mir war es damals nur Gefühl geweſen, bei Riſach war jezt es Urtheil.
Zum Vergnügen außer dem Hauſe geſchahen zwei Theaterbeſuche drei gemeinſchaftliche Beſuche in Kunſt¬ ſammlungen und einige Fahrten in die Umgebung.
Bei dieſer Zuſammenkunft wurde auch die Ver¬ mählungszeit beſprochen. Ich ſollte meine angekün¬ digte Reiſe unternehmen, und nach der Zurückkunft ſollte kein Aufſchub mehr ſtattfinden. Der Tag werde dann feſtgeſtellt werden. Nach dieſer Verabredung wurde Abſchied genommen. Der Abſchied war dieſes Mal ſehr ſchwer, weil er auf länger genommen wurde, und weil unglückliche Zufälle in der Abweſenheit nicht unmöglich ſein konnten. Aber wir waren ſtand¬ haft, wir ſcheuten uns, vor Zeugen, ſelbſt vor ſo lie¬ ben, einen Schmerz zu äußern, ſondern trennten uns, und verſprachen, uns zu ſchreiben.
Als uns unſere Gäſte verlaſſen hatten, zeigten wir399 in Briefen an einige uns ſehr befreundete Familien meine Verlobung an. Zur Fürſtin ging ich ſelbſt, um ihr dieſes Verhältniß zu eröffnen. Sie lächelte herz¬ lich und ſagte, daß ſie ſehr wohl bemerkt habe, daß ich einmal, da ſie des Namens Tarona Erwähnung gethan hatte, äußerſt heftig erröthet ſei.
Ich erwiederte, daß ich damals nur erröthet ſei, weil ſie mich auf einer inneren Neigung betroffen habe, den Namen Tarona habe ich in jener Zeit an Natalien noch gar nicht gekannt. Ich ſprach auch von meiner Reiſe, ſie lobte dieſen Entſchluß ſehr, und erzählte mir von den Verhältniſſen verſchiedener Hauptſtädte, in denen ſie in früheren Jahren zeitwei¬ lig gewohnt hatte. Sie erwähnte kurz auch Manches über das äußere Anſehen der Länder, da ſie eine große Freundin landſchaftlicher Schönheiten war. Sie hatte eben in dem Augenblicke vor, wieder an den Gardaſee zu gehen, den ſie ſchon öfter beſucht hatte. Das war auch die Urſache, daß ſie noch ſo ſpät im Frühlinge in der Stadt war. Sie erſuchte mich, nach meiner Zurückkunft wieder bei ihr auf ein Weilchen zu erſcheinen. Ich verſprach es.
Meine Reiſe wurde nun keinen Augenblick mehr verzögert. Ich nahm von den Meinigen Abſchied,400 und fuhr eines Tages zu dem Thore unſerer Stadt hinaus.
Ich ging zuerſt über die Schweiz nach Italien; nach Venedig Florenz Rom Neapel Syrakus Palermo Malta. Von Malta ſchiffte ich mich nach Spanien ein, das ich von Süden nach Norden mit vielfachen Abweichungen durchzog. Ich war in Gibraltar Gra¬ nada Sevilla Cordoba Toledo Madrid und vielen anderen minderen Städten. Von Spanien ging ich nach Frankreich, von dort nach England Irland und Schottland und von dort über die Niederlande und Deutſchland in meine Heimath zurück. Ich war um einen und einen halben Monat weniger als zwei Jahre abweſend geweſen. Wieder war es Frühling, als ich zurückkehrte, die mächtige Welt der Alpen der Feuerberge Neapels und Siciliens der Schneeberge des ſüdlichen Spaniens der Pirenäen und der Nebel¬ berge Schottlands hatten auf mich gewirkt. Das Meer, vielleicht das Großartigſte, was die Erde be¬ ſizt, nahm ich in meine Seele auf. Unendlich viel Anmuthiges und Merkwürdiges umringte mich. Ich ſah Völker, und lernte ſie in ihrer Heimath begreifen, und oft lieben. Ich ſah verſchiedene Gattungen von Menſchen mit ihren Hoffnungen Wünſchen und Be¬401 dürfniſſen, ich ſah Manches von dem Getriebe des Ver¬ kehres, und in bedeutenden Städten blieb ich lange, und beſchäftigte mich mit ihren Kunſtanſtalten Bücher¬ ſchäzen ihrem Verkehre geſellſchaftlichem und wiſſen¬ ſchaftlichem Leben und mit lieben Briefen, die aus der Heimath kamen, und mit ſolchen, die dorthin abgingen.
Ich kam auf meiner Rückreiſe früher in die Ge¬ gend des Asperhofes und des Sternenhofes als in meine Heimath. Ich ſprach daher in beiden ein. Alles war ſehr wohl und geſund, und fand mich ſehr gebräunt. Hier erfuhr ich auch eine Veränderung, die mit meinem Vater vorgegangen war, und die ſie mir in den Briefen verſchwiegen hatten, damit ich überraſcht würde. Alle ſeine Anſpielungen, daß er plözlich einmal in den Ruheſtand treten werde, daß er ſich, ehe man ſich's verſehe, auf dem Lande befin¬ den werde, daß ſich vieles ereignen werde, woran man jezt nicht denke, daß man nicht wiſſe, ob man nicht den Reiſewagen öfter brauchen könne, waren in Erfüllung gegangen. Er hatte ſein Handelsgeſchäft abgetreten, und hatte den auf einer ſehr lieblichen Stelle zwiſchen dem Asperhofe und Sternenhofe gele¬ genen verkäuflich gewordenen Guſterhof gekauft, denStifter, Nachſommer. III. 26402er eben für ſich einrichten laſſe. Man freute ſich ſchon darauf, wie er ſich in dieſem neuen Beſizthume häuslich und wohnlich niederlaſſen werde. Ich nahm mir nicht Zeit, dieſen Hof, den ich von Außen kannte, zu beſuchen, weil ich Natalien, die mir wie ein Gut wieder gegeben worden war, nicht noch un¬ nöthig länger von meiner Seite entfernt wiſſen wollte. Nach innigem Empfange und Abſchiede reiſte ich zu meinen Eltern, und reiſte Tag und Nacht, um bald einzutreffen. Sie wußten von meiner Ankunft, und empfingen mich freudig. Ich richtete mich ſogleich in meiner Wohnung ein. Es war mir ſeltſam und wohl¬ thuend, den Vater jezt immer zu Hauſe und ihn ſtets mit Plänen Entwürfen Zeichnungen umringt zu ſehen. Er war während meiner Abweſenheit fünf Male in dem Guſterhofe und bei dieſen Gelegenheiten öfter bei Mathilde oder Riſach als Gaſt geweſen Die Mutter und Klotilde hatten ihn zweimal begleitet. Er war in dieſen zwei Jahren um ein gut Theil jünger geworden. Auch die Bewohner des Sternen - und Asperhofes hatten ſich einmal im Winter bei meinen Eltern als Gäſte eingefunden. Die Bande waren ſehr ſchön und lieb geflochten.
Gleich am erſten Tage meiner Anweſenheit im403 elterlichen Hauſe führte mich meine Mutter in die Zimmer, die für mich und Natalien als Wohnung hergerichtet worden waren, wenn wir uns in der Stadt aufhalten wollten. Ich hatte gar nicht gedacht, daß in dem Hauſe ſo viel Plaz ſei, ſo geräumig war die Wohnung. Sie war zugleich ſo ſchön und edel angeordnet, daß ich meine Freude daran hatte. Ich ſprach bei dieſer Gelegenheit von dem Vermählungs¬ tage, und die Mutter antwortete, daß der Vater glaube, es ſei nun keine Urſache einer Säumniß, und von uns als von der Seite des Bräutigams müſſe die Anregung ausgehen. Ich bath um Be¬ ſchleunigung, und am folgenden Tage gingen ſchon unſere Briefe in den Sternenhof und zu Riſach ab. In Kurzem kam die Antwort zurück, und der Tag war nach unſern Vorſchlägen feſtgeſezt. Der Sam¬ melplaz war der Asperhof.
Meinem Verſprechen getreu ſtellte ich mich nun auch bei der Fürſtin. Sie war ſchon auf ihren Land¬ ſiz abgereiſt. Ich ſchrieb ihr daher einige Zeilen, daß ich zurück ſei, und zeigte ihr meinen Vermählungstag an. In kurzer Zeit kam eine Antwort von ihr nebſt einem Päckchen, welches ein Erinnerungszeichen an meine Vermählungsfeier von ihr enthalte. Sie könne26 *404es mir nicht perſönlich übergeben, weil ſie ſeit einigen Wochen kränklich ſei, und ſich deßhalb ſo früh auf das Land habe begeben müſſen. Das Erinnerungs¬ zeichen liege ſchon ſeit länger in Bereitſchaft. Ich öffnete das Päckchen. Es enthielt eine einzige aber ſehr große und ſehr ſchöne Perle. Die Faſſung war faſt keine. Nur ein Stengel und ein Goldſcheibchen hafteten an der Perle, daß ſie eingeknöpft werden konnte. Ich freute mich außerordentlich über die Ge¬ ſinnung der edlen Fürſtin über die Trefflichkeit des Geſchmackes und über deſſen Sinnigkeit; denn eine Perle iſt es ja in meinen Augen, die ich mir als Ge¬ ſchenk an meine Bruſt zu heften im Begriffe war. Ich ſchrieb eine innige Dankantwort zurück.
Unſere Vorbereitungen waren bald gemacht, und wir reiſten ab.
„ Wir können ja unſere lezten Rüſtungen in mei¬ nem Landhauſe machen, “ſagte der Vater mit heiterem Lächeln.
Wir fuhren in den Guſterhof. Eine kleine aber freundlich beſtellte Wohnung, die der Vater vorläufig für ſolche Gelegenheiten hatte herrichten laſſen, em¬ pfing uns. Es war ein liebliches Gefühl, in unſerem eigenen uns zugehörigen Landſize zu ſein. Der Vater405 ſchien dieſes Gefühl am tiefſten zu hegen, und die Mutter freute ſich deſſen ungemein. Wir blieben hier ſo lange, und vervollſtändigten unſere Vorbereitun¬ gen, daß wir zwei Tage vor der Vermählung in dem Asperhofe eintreffen konnten. Mathilde und Natalie waren ſchon anweſend, da wir ankamen. Wir be¬ grüßten uns herzlich. Alles war in einer gewiſſen Spannung der Vorbereitungen. Ich konnte Natalien oft nur auf einige Augenblicke ſehen. Klotilde wurde auch ſofort hineingezogen. Botſchaften kamen und gingen ab, Gäſte und Trauzeugen trafen ein. Ich ſelber war in einer Art Beklemmung.
Am Nachmittage des erſten Tages fand ich ein¬ mal Mathilden meinen Gaſtfreund und Guſtav im Lindengange auf und ab wandeln. Ich geſellte mich zu ihnen. Guſtav verließ uns bald.
„ Wir ſprachen eben davon, daß mein Sohn ſich nun bald von hier entfernen, und in die Welt gehen müſſe, “ſagte Mathilde, „ habt ihr ihn nach eurer Reiſe nicht auch verändert gefunden? “
„ Er iſt ein vollkommner Jüngling geworden, “erwiederte ich, „ ich habe auf meinen Reiſen keinen geſehen, der ihm gleich wäre. Er war ein ſehr kraft¬ voller Knabe, und iſt auch ein ſolcher Jüngling ge¬406 worden, aber, wie ich glaube, gemilderter und ſanfter. Ja ſogar in ſeinen Augen, die noch glänzender gewor¬ den ſind, erſcheint mir etwas, das beinahe wie das Schmachten bei einem Mädchen iſt. “
„ Es freut mich, daß ihr das auch bemerkt habt, “ſagte mein Gaſtfreund, „ es iſt ſo, und es iſt ſehr gut, wenn auch gefährlich, daß es ſo iſt. Gerade bei ſehr kraftvollen Jünglingen, deren Herz von keinem böſen Hauche angeweht worden iſt, tritt in gewiſſen Jahren ein Schmachten ein, das noch holder wirkt als bei heranblühenden Mädchen. Es iſt dies nicht Schwäche ſondern gerade Überfülle von Kraft, die ſo reizend wirkt, wenn ſie aus den meiſtens dunkeln ſanftſchim¬ mernden Augen blickt, und gleichſam wie ein Juwel an den unſchuldigen Wimpern hängt. Solche Jüng¬ linge dulden aber auch, wenn böſe Schickſalstage kommen, mit einem Starkmuthe, der der Krone eines Märtirers werth wäre, und wenn das Vaterland Opfer heiſcht, legen ſie ihr junges Leben einfach und gut auf den Altar. Sie können aber auch zu falſcher Begeiſterung getrieben und mißbraucht werden, und wenn ein ſolches Jünglingsauge zu rechter Zeit in das rechte Mädchenauge ſchaut, ſo flammt die plöz¬ lichſte heißeſte aber oft auch unglücklichſte Liebe em¬407 por, weil der junge unverfälſchte Mann ſie faſt un¬ ausrottbar in ſein Herz nimmt. Wir werden, wenn die jezige Angelegenheit vorüber iſt, weiter von dem ſprechen, was etwa noth thut. “
„ Ich ſehe ja das Gute und die Gefahr, “ſagte Mathilde.
Wir gingen bald in das Haus zurück.
„ Er muß in die Härte der Welt, die wird ihn ſtählen, “ſagte mein Gaſtfreund auf dem Wege dahin.
Endlich war der Vermählungstag angebrochen. Die Trauung ſollte am Vormittage in der Kirche zu Rohrberg ſtattfinden, in welche der Asperhof einge¬ pfarrt war. Der Verſammlungsort war der Marmor¬ ſaal, deſſen Fußboden zu dieſem Zwecke mit feinem grünem Tuche überſpannt worden war. Gleiches Tuch lag auf allen Treppen. Ich kleidete mich in meinen Zimmern an, that ein Gebeth zu Gott, und wurde von einem meiner Trauzeugen in den Mar¬ morſaal geführt. Von unſern Angehörigen waren erſt die Männer dort. Die Zeugen und die meiſten Gäſte waren zugegen. Riſach war im Staatskleide und mit allen ſeinen Ehren geſchmückt. Da that ſich die Thür, die von dem Gange hereinführte, auf, und Natalie mit ihrer und meiner Mutter mit Klo¬408 tilden und mit noch andern Frauen und Mädchen trat herein. Sie war prachtvoll gekleidet und mit Edel¬ ſteinen gleichſam überſät; aber ſie war ſehr blaß. Die Edelſteine waren in mittelalterlicher Faſſung, das ſah ich wohl; aber ich hatte nicht die Stimmung, auch nur einen Augenblick darauf zu achten. Ich ging ihr entgegen, und reichte ihr ſanft die Hand zum Gruße. Sie zitterte ſehr.
Mein Gaſtfreund ſagte zu meinen Eltern: „ Das Lieblingsgeſpräch eures Sohnes waren bisher ſeine Eltern und ſeine Schweſter, wer ein ſo guter Sohn iſt, wird auch ein guter Gatte werden. “
„ Die ſchöneren Eigenſchaften, die eine Zukunft gewähren, “ſagte mein Vater, „ hat er von euch ge¬ bracht, wir haben es wohl geſehen, und haben ihn darum immer mehr geliebt, ihr habt ihn gebildet und veredelt. “
„ Ich muß antworten wie bei Natalien, “erwie¬ derte mein Gaſtfreund, „ ſein Selbſt hat ſich entwickelt, und aller Umgang, der ihm zu Theil geworden, vor¬ erſt der eurige, hat geholfen. “
Ich wollte etwas ſprechen, konnte aber vor Be¬ wegung nicht.
409Guſtav, der in der Nähe der Frauen ſtand, ſah mich an, ich ihn auch. Er war ebenfalls ſehr blaß.
Indeſſen hatten ſich alle nach und nach eingefun¬ den, die bei der Trauung gegenwärtig ſein ſollten, die Stunde der Abfahrt war da, und der Hausver¬ walter meldete, daß alles in Bereitſchaft ſei.
Mathilde machte Natalien das Zeichen des Kreu¬ zes auf die Stirne den Mund und die Bruſt, und dieſe beugte ſich mit ihren Lippen auf die Hand der Mutter nieder. Dann faßten die Mädchen den Schleier, der wie ein Silbernebel von dem Haupte Nataliens bis zu ihren Füſſen reichte, hüllten ſie in ihn, und Natalie ging von ihren Mädchen umringt und von den Frauen geleitet die Treppe hinunter, auf welcher die Marmorgeſtalt ſtand. Wir folgten. Mit mir waren meine Zeugen und Riſach und der Vater. Den erſten Theil der Wagenreihe nahmen die Frauen die Braut und die Mädchen ein, den lez¬ ten die Männer und ich. Wir ſtiegen ein, der Zug ſezte ſich in Bewegung. Es war viel Volk gekom¬ men, die Brautfahrt zu ſehen. Darunter erblickte ich meinen Zitherſpiellehrer, welcher mir mit einem grü¬ nen Hute, auf dem er Federn hatte, winkte. Die Bewohner des Meierhofes und die Diener des Hau¬410 ſes waren größtentheils vorausgegangen, und harr¬ ten unſer in der Kirche. Einige befanden ſich auch in den Wägen. Der Zug fuhr langſam den Hügel hinab.
In der Kirche erwartete uns der Pfarrer von Rohrberg, wir traten vor den Altar, und die Trauung ward vollbracht.
Zum Zurückfahren kamen Natalie und ich allein in einen Wagen. Sie ſprach nichts, der Schleier blieb zurückgeſchlagen, und Tropfen nach Tropfen floß aus ihren Augen.
Da wir wieder in dem Marmorſaale waren, wur¬ den auf den langen Tiſch, den man heute hier auf¬ gerichtet und mit vielen Stühlen umgeben hatte, von Riſach und von meinem Vater die Papiere nieder¬ gelegt, die ſich auf unſere Vermählung und unſer Ver¬ mögen bezogen. Ich aber nahm indeſſen Natalien an der Hand, und führte ſie durch das Bilder - und Leſe¬ zimmer in das Bücherzimmer, in welchem wir allein waren. Dort ſtellte ich mich ihr gegenüber, und brei¬ tete die Arme aus. Sie ſtürzte an meine Bruſt. Wir umſchlangen uns feſt, und weinten beide beinahe laut.
„ Meine theure, meine einzige Natalie! “ſagte ich.
„ O mein geliebter, mein theurer Gatte, “antwor¬411 tete ſie, „ dieſes Herz gehört nun ewig dir, habe Nach¬ ſicht mit ſeinen Gebrechen und ſeiner Schwäche. “
„ O mein theures Weib, “entgegnete ich, „ ich werde dich ohne Ende ehren und lieben, wie ich dich heute ehre und liebe. Habe auch du Geduld mit mir. “
„ O Heinrich, du biſt ja ſo gut, “antwortete ſie.
„ Natalie, ich werde ſuchen, jeden Fehler dir zu Liebe abzulegen, “erwiederte ich, „ und bis dahin werde ich jeden ſo verhüllen, daß er dich nicht verwunde. “
„ Und ich werde beſtrebt ſein, dich nie zu kränken, “antwortete ſie.
„ Alles wird gut werden, “ſagte ich.
„ Es wird alles gut werden, wie unſer zweiter Vater geſagt hat, “antwortete ſie.
Ich führte ſie näher an das Fenſter, und da ſtan¬ den wir, und hielten uns an den Händen. Die Früh¬ lingsſonne ſchien herein, und neben den Diamanten glänzten die Tropfen, die auf ihr ſchönes Kleid ge¬ fallen waren.
„ Natalie, biſt du glücklich? “ſagte ich nach einer Weile.
„ Ich bin es im hohen Maße, “antwortete ſie, „ mögeſt du es auch ſein. “
„ Du biſt mein Kleinod und mein höchſtes Gut412 auf dieſer Erde, “erwiederte ich, „ es iſt mir noch wie im Traume, daß ich es errungen habe, und ich will es erhalten, ſo lange ich lebe. “
Ich küßte ſie auf den Mund, den ſie freundlich both. In ihre feinen Wangen war das Roth zurück¬ gekehrt.
In dieſem Augenblicke hörten wir Tritte in dem Nebenzimmer, und Mathilde meine Mutter Riſach mein Vater und Klotilde, die uns geſucht hatten, traten ein.
„ Mutter, theure Mutter, “ſagte ich zu Mathil¬ den, indem ich allen entgegen ging, Mathildens Hand faßte, und ſie zu küſſen ſtrebte. Mathilde hatte ſich nie die Hand von irgend jemanden küſſen laſſen. Die¬ ſes Mal erlaubte ſie, daß ich es thue, indem ſie ſanft ſagte: „ Nur das eine Mal. “
Dann küßte ſie mich auf die Stirne, und ſagte: „ Sei ſo glücklich, mein Sohn, als du es verdienſt, und als es die wünſcht, die dir heute ihr halbes Leben gegeben hat. “
Riſach ſagte zu mir: „ Mein Sohn, ich werde dich jezt du nennen, und du mußt zu mir wie zu dei¬ nem erſten Vater auch dies Wörtchen ſagen — mein Sohn, nach dem, was heute vorgefallen, iſt deine413 erſte Pflicht, ein edles reines grundgeordnetes Fami¬ lienleben zu errichten. Du haſt das Vorbild an deinen Eltern vor dir, werde, wie ſie ſind. Die Familie iſt es, die unſern Zeiten noth thut, ſie thut mehr noth als Kunſt und Wiſſenſchaft als Verkehr Handel Auf¬ ſchwung Fortſchritt, oder wie alles heißt, was begeh¬ rungswerth erſcheint. Auf der Familie ruht die Kunſt die Wiſſenſchaft der menſchliche Fortſchritt der Staat. Wenn Ehen nicht beglücktes Familienleben werden, ſo bringſt du vergeblich das Höchſte in der Wiſſen¬ ſchaft und Kunſt hervor, du reichſt es einem Ge¬ ſchlechte, das ſittlich verkommt, dem deine Gabe end¬ lich nichts mehr nüzt, und das zulezt unterläßt, ſolche Güter hervor zu bringen. Wenn du auf dem Boden der Familie einmal ſtehend — viele ſchließen keine Ehe, und wirken doch Großes — wenn du aber auf dem Boden der Familie einmal ſtehſt, ſo biſt du nur Menſch, wenn du ganz und rein auf ihm ſtehſt. Wirke dann auch für die Kunſt oder für die Wiſſen¬ ſchaft, und wenn du Ungewöhnliches und Ausge¬ zeichnetes leiſteſt, ſo wirſt du mit Recht geprieſen, nüze dann auch deinen Nachbarn in gemeinſchaftlichen Angelegenheiten, und folge dem Rufe des Staates, wenn es noth thut. Dann haſt du dir gelebt und414 allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens wie bisher, und alles wird ſich wohl geſtalten. “
Ich reichte ihm die Hand, er zog mich an ſich, und küßte mich auf den Mund.
Natalie war indeſſen in den Armen meiner Mut¬ ter meines Vaters und Klotildens geweſen.
„ Er wird gewiß bleiben, wie er heute iſt, “ſagte ſie, wahrſcheinlich auf einen Wunſch für die Zukunft antwortend.
„ Nein, mein theures Kind, “ſagte meine Mutter, „ er wird nicht ſo bleiben, das weißt du jezt noch nicht: er wird mehr werden, und du wirſt mehr werden. Die Liebe wird eine andere, in vielen Jahren iſt ſie eine ganz andere; aber in jedem Jahre iſt ſie eine größere, und wenn du ſagſt, jezt lieben wir uns am meiſten, ſo iſt es in Kurzem nicht mehr wahr, und wenn du ſtatt des blühenden Jünglings einſt einen welken Greis vor dir haſt, ſo liebſt du ihn anders, als du den Jüngling geliebt haſt; aber du liebſt ihn unſäglich mehr, du liebſt ihn treuer, ernſter und unzerrei߬ barer. “
Mein Vater wandte ſich ab, und fuhr ſich mit der Hand über die Augen.
415Meine Mutter küßte Natalien noch einmal, und ſagte: „ Du liebe gute theure Tochter. “
Natalie gab den Kuß zurück, und ſchlang die Arme um den Hals meiner Mutter.
„ Kinder, jezt müſſen wir zu den andern gehen, “ſagte Riſach.
Wir gingen in den Saal. Dort gab Riſach Pa¬ piere in die Hände Nataliens. Sie legte ſie in die meinigen. Mein Vater gab mir auch Papiere. Alle Anweſenden wünſchten uns nun Glück, vor allen Guſtav, den ich die lezte Zeit her gar nicht ge¬ ſehen hatte. Er fiel der Schweſter um den Hals und auch mir. In ſeinen ſchönen Augen perlten Thränen. Dann beglückwünſchten uns Euſtach Roland die vom Inghofe der Pfarrer von Rohrberg, der mich auf unſer erſtes Zuſammentreffen in dieſem Hauſe an jenem Gewitterabende erinnerte, und alle andern.
Riſach ſagte, daß jezt jedem zwei Stunden zur Verfügung gegeben ſeien, dann müſſe ſich Alles in dem Marmorſaale zu einem kleinen Mahle ver¬ ſammeln.
Natalie wurde von ihren Trauungsjungfrauen in die Gemächer ihrer Mutter geführt, daß ſie dort die Trauungsgewänder ablege. Ich ging in meine Woh¬416 nung, kleidete mich um, und verſchloß die Papiere, ohne ſie anzuſehen. Nach einer geraumen Zeit ging ich in das Vorzimmer zu Mathildens Wohnung, und fragte, ob Natalie ſchon in Bereitſchaft ſei, ich ließe bitten, mit mir einen kurzen Gang durch den Garten zu machen. Sie erſchien in einem ſchönen aber ſehr einfachen Seidenkleide, und ging mit mir die Treppe hinab. Sie reichte mir den Arm und wir wandelten eine Zeit unter den großen Linden und auf anderen Gängen des Gartens herum.
Nachdem die zwei Stunden verfloßen waren, wurde mit der Glocke das Zeichen zum Mahle gegeben. Alles begab ſich in den Saal, und erhielt dort ſeine Size angewieſen. Das Mahl war wie gewöhnlich bei Riſach einfach aber vortrefflich. Für Kenner und Lieb¬ haber ſtanden ſehr edle Weine bereit. Es war nie in dem Saale ein Mahl abgehalten worden, und der Ernſt des Marmors, bemerkte mein geweſener Gaſt¬ freund, dürfe nur in den Ernſt des edelſtens Weines nieder blicken. Trinkſprüche wurden ausgebracht, und ſogar Reime auf ewiges Wohl hergeſagt.
„ Habe ich es gut gemacht, Natta, “ſagte mein einſtiger Gaſtfreund, „ daß ich dir den rechten Mann ausgeſucht habe? Du meinteſt immer, ich verſtände417 mich nicht auf dieſe Dinge, aber ich habe ihn auf den erſten Blick erkannt. Nicht blos die Liebe iſt ſo ſchnell wie die Electricität ſondern auch der Geſchäftsblick. “
„ Aber Vater, “ſagte Natalie erröthend, „ wir haben ja über dieſen Gegenſtand nie geſtritten, und ich konnte dir die Fähigkeit nicht abſprechen. “
„ So haſt du dir es gewiß gedacht, “erwiederte er, „ aber richtig habe ich doch geurtheilt: er war immer ſehr beſcheiden, hat nie vorlaut geforſcht und gedrängt, und wird gewiß ein ſanfter Mann werden. “
„ Und du, Heinrich, “ſagte er nach einer Weile, „ werde darum nicht ſtolz. Verdankſt du mir nicht end¬ lich ganz und gar Alles? Du haſt einmal, da du zum erſten Male in dieſem Hauſe warſt, in der Schreinerei geſagt, daß der Wege ſehr verſchiedene ſind, und daß man nicht wiſſen könne, ob der, der dich eines Ge¬ witters wegen zu mir herauf geführt hat, nicht ein ſehr guter Weg geweſen iſt, worauf ich antwortete, daß du ein wahres Wort geſprochen habeſt, und daß du es erſt recht einſehen werdeſt, wenn du älter biſt; denn in dem Alter, dachte ich mir damals, überſieht man erſt die Wege, wie ich die meinigen überſehen habe. Wer hätte aber damals geglaubt, daß mein Wort die Bedeutung bekommen werde, die es heuteStifter, Nachſommer. III. 27418hat? Und alles hing davon ab, daß du hartnäckig gemeint haſt, ein Gewitter werde kommen, und daß du meinen Gegenreden nicht geglaubt haſt. “
„ Darum, Vater, war es Fügung, und die Vor¬ ſicht ſelber hat mich zu meinem Glücke geführt, “ſagte ich.
„ Die alte Frau, die in dem dunkeln Stadthauſe unſere Wohnungsnachbarin und zuweilen unſer Gaſt war, “ſagte mein Vater, „ hat dir, Heinrich, die Weis¬ ſagung gemacht, es werde recht viel aus dir werden: und nun biſt du blos, wie du ſelber ſagſt, glücklich geworden. “
„ Das Andere wird kommen, “riefen mehrere Stimmen.
„ Eine gute Eigenſchaft habe ich an deiner Gattin zu ihren andern Tugenden entdeckt, “fuhr mein Vater fort, „ ſie iſt nicht neugierig; oder haſt du, liebe Toch¬ ter, das Käſtchen ſchon eröffnet, welches ich dir ge¬ geben habe? “
„ Nein, Vater, ich wartete auf deinen Wink, “ant¬ wortete Natalie.
„ So laſſe das Käſtchen bringen, “entgegnete mein Vater.
Es geſchah. Der Faden mit dem Siegel wurde419 entzwei geſchnitten, das Käſtchen geöffnet, und auf weißem Sammt lag ein außerordentlich ſchöner Schmuck von Smaragden. Ein allgemeiner Ruf der Verwunderung machte ſich hörbar. Nicht nur waren die Steine an ſich, obwohl nicht zu den größten ihrer Art gehörend, ſehr ſchön, ſondern die Faſſung, die Steine nicht drückend, war doch ſo leicht und ſo ſchön, daß das Ganze wie ein zuſammengehöriges in einan¬ der gewachſenes Werk wie ein wirkliches Kunſtwerk erſchien. Selbſt Euſtach und Roland ſprachen ihre Bewunderung aus, und vollends Riſach. Sie ver¬ ſicherten, daß ſie keine neue Arbeit geſehen hätten, die dieſer gliche.
„ Dein Freund, mein Heinrich, hat dieſen Schmuck fertigen laſſen, “ſagte mein Vater, „ wir haben Sma¬ ragde gewählt, weil er eben ſehr ſchöne und in erfor¬ derlicher Anzahl hatte, weil Smaragde unter allen farbigen Steinen den Ton des weiblichen Halſes und Angeſichtes am ſanfteſten heben, und weil du tief ge¬ färbte und reine Smaragde ſo liebſt. Und alle hier ſind tief und rein. Wir haben geſucht, nach deinen Grund¬ ſäzen die Steine faſſen zu laſſen. Es ſind viele Zeich¬ nungen gemacht gewählt verworfen und wieder ge¬ wählt worden. Es dürfte der beſte Zeichner unſerer27 *420Stadt ſein, der endlich das Vorliegende zuſammen geſtellt hat. Es wurde hierauf beinahe Tag und Nacht gearbeitet, um zu rechter Zeit fertig zu ſein. Geöffnet ſollte das Käſtchen darum nicht werden, da¬ mit meine Tochter nicht etwa blos mir zu Liebe dieſen Schmuck an ihrem Trauungstage nehmen, und einen ſchöneren und koſtbareren, den ſie beſize, zu ihrem Leidweſen ruhen laſſe. “
„ Sie beſizt keinen ſchöneren, “erwiederte Riſach, „ wir haben den, welchen ſie heute trug, nach Zeich¬ nungen, die wir aus mittelalterlichen Gegenſtänden frei zuſammen trugen, ebenfalls bei Heinrichs Freunde verfertigen laſſen. Mathilde, laß doch den Schmuck herbei bringen, daß wir beide vergleichen. “
Mathilde reichte an Natalien ein Schlüſſelchen, und dieſe holte ſelber das Fach, in welchem der Schmuck lag. Er war eine Zuſammenſezung von Diamanten und Rubinen. Er ſah ſo zart rein und edel aus, wie ein in Farben geſeztes mittelalterliches Kunſtwerk. Ein wahrer Zauber lag um dieſe Innig¬ keit von Waſſerglanz und Roſenröthe in die ſinnigen Geſtalten vertheilt, die nur aus den Gedanken unſerer Vorfahren ſo genommen werden können. Und den¬ noch ſtand nach einſtimmigem Urtheile der Smaragd¬421 ſchmuck nicht zurück. Der Künſtler der Gegenwart kam zu Ehren.
„ Es iſt aber auch keiner in unſerer Stadt und vielleicht in weiten Kreiſen, der ſo zeichnen kann, “ſagte mein Vater, „ er huldigt keinem Zeitgeſchmacke, ſondern nur der Weſenheit der Dinge, und hat ein ſo tiefes Gemüth, daß der höchſte Ernſt und die höch¬ ſte Schönheit daraus hervorblicken. Oft wehte es mich aus ſeinen Geſtalten ſo an wie aus den Nibe¬ lungen oder wie aus der Geſchichte der Ottone. Wenn dieſer Mann nicht ſo beſcheiden wäre, und ſtatt den Dingen, womit man ihn überhäuft, lieber große Gemälde machte, er würde ſeines Gleichen jezt nicht haben, und nur mit den größten Meiſtern der Vergangenheit zuſammengeſtellt werden können. “
„ Ein Schmuck in ſeinem Fache, “ſagte eine Stim¬ me, „ iſt doch wie ein Bild ohne Rahmen, oder noch mehr wie ein Rahmen ohne Bild. “
„ Freilich iſt es ſo, “entgegnete Riſach, „ man kann jedes Ding nur an ſeinem Plaze beurtheilen, und da mein Freund als mein Nebenbuhler aufgetreten iſt,
ſo wäre es nicht zu verwerfen — — Natta biſt du mein liebes Kind? “
„ Vater, wie gerne! “antwortete dieſe.
422Sie ſtand von ihrem Stuhle auf, entfernte ſich, und kam ſo gekleidet wieder, daß man ihr einen koſt¬ baren Schmuck umlegen konnte. Es geſchah zuerſt mit den Diamanten und Rubinen. Wie herrlich war Natalie, und es bewährte ſich, daß der Schmuck der Rahmen ſei. Am Vormittage in beklemmenden und tieferen Gefühlen befangen konnte ich dem Schmucke keine Aufmerkſamkeit ſchenken. Jezt ſah ich die ſchö¬ nen Geſtaltungen wie von einem ſanften Scheine umgeben. Im Mittelpunkte aller Blicke erröthete die junge Frau, und die Roſen ihrer Farbe gaben den Rubinen erſt die Seele, und empfingen ſie von ihnen. Der Ausdruck der Bewunderung war allgemein. Hier¬ auf wurde der Smaragdſchmuck umgelegt. Aber auch er war vollendet. Der dunkle tiefe Stein gab der Oberfläche von Nataliens Bildungen etwas Ernſtes Feierliches fremdartig Schönes. War der Diamant¬ ſchmuck wie fromm erſchienen, ſo erſchien der Sma¬ ragdſchmuck wie heldenartig. Keiner erhielt den Preis. Riſach und der Vater ſtimmten ſelber überein. Nata¬ lie nahm ihn wieder ab, beide Schmuckſtücke wurden in ihre Fächer gelegt, Natalie trug ſie fort, und er¬ ſchien nach einer Zeit wieder in ihrem früheren Anzuge.
423Bei dem Smaragdſchmucke hatte ſich etwas Auf¬ fälliges ereignet. Von ihm waren die Ohrgehänge im Fache zurückgeblieben. Der Diamantſchmuck ent¬ hielt keine Ohrgehänge. Mathilde und Natalie tru¬ gen Ohrgehänge nicht, weil nach ihrer Meinung der Schmuck dem Körper dienen ſoll. Wenn aber der Körper verwundet wird, um Schmuck in die Ver¬ lezung zu hängen, werde er Diener des Schmuckes.
Als noch immer von den Steinen geſprochen wurde, was ihre Beſtimmung ſei, und wie ſie ſich auf dem Körper ganz anders anſehen laſſen als in ihrem Fache, ſagte Euſtach etwas, das mir als ſehr wahr erſchien: „ Was die innere Beſtimmung der Edelſteine iſt, “ſprach er, „ kann nach meiner Meinung niemand wiſſen: für den Menſchen ſind ſie als Schmuck an ſeinem Körper am ſchönſten, und zwar zuerſt an den Theilen, die er entblößt trägt, dann aber an ſeinem Gewande, und an allem, was ſonſt mit ihm in Berührung kommt wie Königskronen Waffen. An bloßen Geräthen, wie wichtig ſie ſind, erſcheinen die Steine als todt, und an Thieren ſind ſie entwürdigt. “
Man ſprach noch länger über dieſen Gegenſtand, und erläuterte ihn durch Beiſpiele.
424„ Da heute unſer Wettkampf unentſchieden geblie¬ ben iſt, “ſagte Riſach zu meinem Vater, „ ſo wollen wir nun ſehen, wer mit geringerem Aufwande ſeinen Siz zu einem größeren Kunſtwerke machen kann, du deinen Drenhof, oder wenn du ihn lieber Guſterhof nennen willſt, oder ich meinen Asperhof. “
„ Du biſt ſchon im Vorſprunge, “entgegnete mein Vater, „ und haſt gute Zeichner bei dir: ich fange erſt an, und mein Zeichner liefert mir wahrſcheinlich keine Zeichnung mehr. “
„ Wenn es uns im Asperhofe an Arbeit fehlt, ſo werden wir in den Drenhof hinüber geliehen, “ſagte Euſtach.
„ Auch dann, wenn wir hier Arbeit haben, “erwie¬ derte Riſach, „ ich will dem Feinde Waffen liefern. “
Der Nachmittag war ziemlich vorgerückt, und es fehlte nicht mehr viel zum Abende. Das Mahl war ſchon längſt aus, und man ſaß nur mehr, wie es öfter geſchieht, im Geſpräche um den Tiſch.
Mir war ſchon länger her das Benehmen des Gärt¬ ners Simon aufgefallen; denn er, ſo wie die vorzüg¬ licheren Diener des Hauſes und Meierhofes war zu Tiſche geladen worden. Die andern hatten in dem Meierhofe ein Mahl. Ich hatte ihm am Morgen zur425 Erinnerung an den heutigen Tag eine ſilberne Doſe mit meinem Namen in dem Deckel gegeben. Dieſe Doſe hatte er bei ſich auf dem Tiſche, und ſprach ihr unruhig zu. Manches Mal flüſterte er mit ſeinem Wei¬ be, das an ſeiner Seite ſaß, und öfter ging er fort, und kam wieder. Eben trat er nach einer ſolchen Ent¬ fernung wieder in den Saal. Er ſezte ſich nicht, und ſchien mit ſich zu kämpfen. Endlich trat er zu mir, und ſprach: „ Alles Gute belohnt ſich, und euch er¬ wartet heute noch eine große Freude. “
Ich ſah ihn befremdet an.
„ Ihr habt den Cereus Peruvianus vom Unter¬ gange gerettet, “fuhr er fort, „ wenigſtens hätte er leicht untergehen können, und ihr ſeid Urſache gewe¬ ſen, daß er in dieſes Haus gekommen iſt, und heute noch wird er blühen. Ich habe ihn durch Kälte zu¬ rück zu halten geſucht, ſelbſt auf die Gefahr hin, daß er die Knospe abwerfe, damit er nicht eher blühe als heute. Es iſt alles gut gegangen. Eine Knospe ſteht zum Entfalten bereit. In mehreren Minuten kann ſie offen ſein. Wenn die Geſellſchaft dem Gewächshauſe die Ehre anthun wollte .... “
„ Ja Simon, ja wir gehen hin, “ſagte mein Gaſt¬ freund.
426Sofort erhob man ſich von dem Tiſche, und rüſtete ſich zu dem Gange in die Gewächshäuſer. Simon hatte alles andere um die Stelle des Peruvianus, der in ein eigenes Glashäuschen hinein ragte, ent¬ fernt, und Plaz zum Betrachten der Pflanze gemacht. Die Blume war, da wir hinkamen bereits offen. Eine große weiße prachtvolle fremdartige Blume. Alles war einſtimmig im Lobe derſelben.
„ So viele Menſchen den Peruvianus haben, “ſagte Simon, „ denn gar ſelten iſt er eben nicht, ſo mächtig groß ſie auch ſeinen Stamm ziehen, ſo ſelten bringen ſie ihn zur Blüthe. Wenige Menſchen in Eu¬ ropa haben dieſe weiße Blume geſehen. Jezt öffnet ſie ſich, morgen mit Tagesanbruch iſt ſie hin. Sie iſt koſtbar mit ihrer Gegenwart. Mir iſt es geglückt, ſie blühen zu machen — und gerade heute. — Es iſt ein Glück, das die wahrſte Freude hervorbringen muß. “
Wir blieben ziemlich lange, und erwarteten das völlige Entfalten.
„ Es kommen auch nicht viele Blumen wie bei gemeinen Gewächſen hervor, “ſagte Simon wieder, „ ſondern ſtets nur eine, ſpäter etwa wieder eine. “
Mein Gaſtfreund ſchien wirklich Freude an der Blume zu haben, ebenſo auch Mathilde. Natalie427 und ich dankten Simon beſonders für ſeine große Aufmerkſamkeit, und ſagten, daß wir ihm dieſe Über¬ raſchung nie vergeſſen werden. Dem alten Manne ſtanden die Thränen in den Augen. Er hatte Lampen um die Blume angebracht, die bei hereinbrechender Dämmerung angezündet werden ſollten, wenn etwa jemand die Blume in der Nacht betrachten wolle. Bei längerem Anſchauen gefiel uns die Blume immer mehr. Es dürften in unſern Gärten wenige ſein, die an Seltſamkeit Vornehmheit und Schönheit ihr gleichen. Von den Anweſenden hatte ſie nie einer geſehen. Wir gingen endlich fort, und der eine und der andere verſprach, im Laufe des Abends noch ein¬ mal zu kommen.
Da wir auf dem Rückwege waren, und an dem Gebüſche, das ſich in der Nähe des Lindenganges befindet, vorbeigingen, ertönte dicht am Wege in den Büſchen ein Zitherklang. Riſach, welcher meine Mut¬ ter führte, blieb ſtehen ‚ ebenſo mein Vater und Ma¬ thilde, und dann auch die andern, die ſich eben in unſerer Nähe befanden. Ich war mit Natalien mehr gegen den Buſch getreten; denn ich erkannte augen¬ blicklich den Klang meines Zitherſpiellehrers. Er trug eine ihm eigenthümliche Weiſe vor, dann hielt428 er inne, dann ſpielte er wieder, dann hielt er wieder inne, und ſo fort. Es waren lauter Weiſen, die er ſelber erſonnen hatte, oder die ihm vielleicht eben in dem Augenblicke in den Sinn gekommen waren. Er ſpielte mit aller Kraft und Kunſt, die ich an ihm ſo oft bewundert hatte, ja er ſchien heute noch beſſer als je zu ſpielen. Es war, als wenn er nichts auf Erden liebte als ſeine Zither. Alles, was ſich in der Nähe befand, lauſchte unbeweglich, und nicht einmal ein Zeichen eines Beifalles wurde laut. Nur Mathilde ſah einmal auf Natalien hin und zwar ſo bedeut¬ ſam, als wollte ſie ſagen: das haben wir nicht ge¬ hört, und das vermögen wir nicht hervorzubringen. Die Zither war ein lebendiges Weſen, das in einer Sprache ſprach, die allen fremd war, und die alle verſtanden. Als die Töne endlich nicht mehr wieder beginnen zu wollen ſchienen, trat ich mit Natalien ins Gebüſch, und da ſaß mein Zitherſpiellehrer an einem Tiſchchen, und hatte ſeine Zither vor ſich. Sein Anzug war graues Tuch und ſehr abgetragen, ſein grüner Hut lag neben der Zither auf dem Tiſche.
„ Joſeph, biſt du wieder in der Gegend? “fragte ich ihn.
429„ So recht nicht, “antwortete er, „ ich bin gekom¬ men, euch auf der Hochzeit einmal gut aufzuſpielen. “
„ Das haſt du gethan, und das kann keiner ſo, “ſagte ich, „ du ſollſt dafür eine Freude haben, und ich weiß dir eine zu verſchaffen, welche dir die größte iſt. Beſſere Hände können das, was ich dir geben will, nicht faſſen, als die deinen. Das Rechte muß zuſam¬ menkommen. Ich bin dir ohnehin auch noch einen Dank ſchuldig für dein eifriges Lehren und für deine Begleitung im Gebirge. “
„ Dafür habt ihr mich bezahlt, und das Heutige that ich freiwillig, “ſagte er.
„ Warte nur einige Tage hier, dann wirſt du empfangen, was ich meine, “ſprach ich.
„ Ich warte gerne, “erwiederte er.
„ Du ſollſt gut gehalten ſein, “ſagte ich.
Indeſſen waren alle andern auch herbeigekommen, und überſchütteten den Mann mit Lob. Riſach lud ihn ein, eine Weile in ſeinem Hauſe zu bleiben. Er ſpielte noch einige Weiſen, er vergaß beinahe, daß ihm jemand zuhöre, ſpielte ſich hinein, und hörte end¬ lich auf, ohne auf die Umſtehenden Rückſicht zu neh¬ men, genau ſo, wie er es immer that. Wir entfern¬ ten uns dann.
430Ich rief ſogleich den Hausverwalter herbei, ſagte ihm, er möge mir einen Boten beſorgen, welcher auf der Stelle in das Echerthal abzugehen bereit ſei. Der Hausverwalter verſprach es. Ich ſchrieb einige Zeilen an den Zithermacher, legte das nöthige Geld bei, verſprach noch mehr zu ſenden, wenn es nöthig ſein ſollte, und verlangte, daß er die dritte Zither, welche die gleiche von der meinigen und der meiner Schwe¬ ſter ſei, in eine Kiſte wohlverpackt dem Boten mitgebe, der den Brief bringt. Der Bote erſchien, ich gab ihm das Schreiben und die nöthigen Weiſungen, und er verſprach, die heutige Nacht zu Hilfe zu nehmen, und in kürzeſter Friſt zurück zu ſein. Ich hielt mich nun für ſicher, daß nicht etwa im lezten Augenblicke die Zither wegkomme, wenn ſie überhaupt noch da ſei.
Indeſſen war es tief Abend geworden. Ich ging mit Natalien und Klotilden noch einmal zu dem Ce¬ reus Peruvianus, der im Lampenlichte faſt noch ſchö¬ ner war. Simon ſchien bei ihm wachen zu wollen. Immer gingen Leute ab und zu. Joſeph hörten wir auch noch einmal ſpielen. Er ſpielte in der großen unteren Stube, wir traten ein, er hatte guten Wein vor ſich, den ihm Riſach geſendet hatte. Das ganze Hausvolk war um ihn verſammelt. Wir hörten lange431 zu, und Klotilde begrif jezt, warum ich im Gebirge ſo geſtrebt habe, daß ſie dieſen Mann höre.
Ein Theil der Gäſte hatte noch heute das Haus verlaſſen, ein anderer wollte es bei Anbruch des näch¬ ſten Tages thun, und einige wollten noch bleiben.
Im Laufe des folgenden Vormittages, da ſich die Zahl der Anweſenden ſchon ſehr gelichtet hatte, kamen noch einige Geſchenke zum Vorſcheine. Riſach führte uns in das Vorrathshaus, welches neben dem Schrei¬ nerhauſe war. Dort hatte man einen Plaz geſchafft, auf welchem mehrere mit Tüchern verhüllte Gegen¬ ſtände ſtanden. Riſach ließ den erſten enthüllen, es war ein kunſtreich geſchnittener Tiſch, und hatte den Mar¬ mor als Platte, welchen ich einſt meinem Gaſtfreunde gebracht hatte, und über deſſen Schickſal ich ſpäter in Ungewißheit war.
„ Die Platte iſt ſchöner als tauſende, “ſagte Ri¬ ſach, „ darum gebe ich das Geſchenk meines einſtigen Freundes in dieſer Geſtalt meinem jezigen Sohne. Keinen Dank, bis alles vorüber iſt. “
Nun wurde ein großer hoher Schrein enthüllt.
„ Ein Scherz von Euſtach an dich, mein Sohn, “ſagte Riſach.
Der Schrein war von allen Hölzern, welche unſer432 Land aufzuweiſen hat, in eingelegter Arbeit verfertigt. Euſtach hatte die Zuſammenſtellung entworfen. Die Sache ſah außerordentlich reizend aus. Ich hatte bei meinem Winterbeſuche im Asperhofe an dieſem Schrei¬ ne arbeiten geſehen. Ich hatte damals die Anſamm¬ lung von Hölzern ſeltſam gefunden, auch hatte ich den Zweck des Schreines nicht erkannt. Er war in mein Arbeitszimmer für meine Mappen beſtimmt.
Zulezt wurden mehrere Gegenſtände enthüllt. Es waren die Ergänzungen zu meines Vaters Vertäflun¬ gen. Das war gleich auf den erſten Blick zu erken¬ nen, und erregte Freude; aber ob ſie die rechten oder nachgebildete ſeien, war nicht zu entſcheiden. Riſach klärte alles auf. Es waren nachgebildete. Zu dieſem Behufe hatte man von mir die Abbildungen der Ver¬ täflungen des Vaters verlangt. Roland hatte vergeb¬ lich nach den echten geforſcht. Er hatte Meſſungen nach den vorhandenen Reſten vorgenommen, und nach Orten geſucht, auf welche die Meſſungen paßten. In einem abgelegenen Theile der Holzbauten des ſteiner¬ nen Hauſes hatte er endlich Bohlen gefunden, welche den Meſſungen genau entſprachen. Die Bohlen wa¬ ren theils vermorſcht, theils zerriſſen, und trugen die Verlezungen, wie man die Schnizereien von ihnen herab433 geriſſen hatte. Es war nun faſt gewiß, daß die Er¬ gänzungen verloren gegangen ſeien. Man machte da¬ her die Nachbildungen. In demſelben Winterbeſuche hatte ich auch das Bohlenwerk zu dieſen Schnizereien geſehen. Mein Vater erklärte die Arbeit für außer¬ ordentlich ſchön.
„ Sie hat auch lange gedauert, mein lieber Freund, “ſagte Riſach, „ aber wir haben ſie für dich zu Stande gebracht, und ſie wird genau in dein Glashäuschen paſſen, oder leicht einzupaſſen ſein; außer du zögeſt vor, die Schnizereien in den Drenhof bringen zu laſſen. “
„ So wird es auch geſchehen, mein Freund, “ſagte mein Vater.
Nun ging es erſt an ein Dankſagen und an ein Ausdrücken der Freude. Die Geber lehnten jeden Dank von ſich ab. Man beſchloß, die Gegenſtände in kurzer Zeit auf ihren Beſtimmungsort zu bringen.
An dieſem Tage und in den folgenden verließen uns nach und nach alle Fremden, und erſt jezt begann ein liebes Leben unter lauter Angehörigen. Riſach hatte für mich und Natalien eine ſehr ſchöne Woh¬ nung herrichten laſſen. Sie konnte nicht groß ſein, war aber ſehr zierlich. In den zwei Jahren meinerStifter, Nachſommer. III. 28434Abweſenheit waren ihre Wände bekleidet und waren neue ausgezeichnete Geräthe für ſie angeſchafft wor¬ den. Wir beſchloßen aber unſere regelmäßige Woh¬ nung ſo lange in dem Sternenhofe aufzuſchlagen, bis ihn Guſtav würde übernehmen können, damit Ma¬ thilde in der Zwiſchenzeit nicht zu vereinſamt wäre. Dabei würde ich oft in den Asperhof kommen, um mit Riſach zu berathſchlagen oder zu arbeiten, oft würden auch die andern kommen, und oft würden wir uns da, oder im Guſterhofe oder im Sternenhofe oder in der Stadt beſuchen, und zeitweilig dort woh¬ nen. Mit Natalien hatte ich eine größere Reiſe vor. Für den Fall, daß ich in was immer für Angelegen¬ heiten abweſend ſein ſollte, nahm jedes Haus das Recht in Anſpruch, Natalien beherbergen zu dürfen. Der Zitherſpieler ſpielte täglich und oft ziemlich lange vor uns. Am fünften Tage kam die Zither. Ich über¬ reichte ſie ihm, und er, da er ſie erkannte, wurde faſt blaß vor Freude. Dieſes Geſchenk durfte das Beſte für ihn genannt werden; von dieſem Geſchenke wird er ſich nicht trennen, während es von jedem andern zweifelhaft wäre, ob er es nicht verſchleudere. Als er die Zither geſtimmt, und auf ihr geſpielt hatte, ſahen wir erſt, wie trefflich ſie ſei. Er wollte faſt gar435 nicht aufhören zu ſpielen. Riſach ließ ihm noch über ihr Fach ein waſſerdichtes Lederbehältniß machen. Nach mehreren Tagen nahm er Abſchied, und verließ uns.
Wir machten alle eine kleine Reiſe in das Ahorn¬ wirthshaus, und ich ſtellte Kaspar und alle andern, die mit mir in Verbindung geweſen waren, Riſach Mathilden meinen Eltern und Natalien vor. Wir blieben ſechs Tage in dem Ahornhauſe. Von da gin¬ gen wir in den Sternenhof. Die Tünche war nun überall von ihm weggenommen worden, und er ſtand in ſeiner reinen urſprünglichen Geſtalt da. Auch hier wurden wir in die Wohnung eingeführt, die während meiner Abweſenheit für uns hergeſtellt worden war. Sie konnte in dem weitläufigen Gebäude viel größer ſein als die im Asperhofe. Sie war zu einer voll¬ ſtändigen Haushaltung hergerichtet.
Von dem Sternenhofe gingen wir in die Stadt. Dort machten wir alle Beſuche, welche in den Krei¬ ſen meiner Eltern und in denen Mathildens noth¬ wendig waren. Riſach ſtellte manchem Freunde ſeine angenommene und neuvermählte Tochter nebſt ihrem Gatten und ihrer Mutter vor. Ich erfuhr, daß meine Vermählung mit Natalie Tarona Aufſehen errege; ich erfuhr, daß insbeſonders einige meiner Freunde28 *436— ſie hatten ſich wenigſtens immer ſo genannt — geäußert haben, das ſei unbegreiflich. Nataliens Nei¬ gung zu mir war mir ſtets ein Geſchenk und daher unbegreiflich; da aber nun dieſe es ausſprachen, be¬ grif ich, daß es nicht unbegreiflich ſei. Ich beſuchte meinen Juwelenfreund, der wirklich ein Freund ge¬ blieben war. Er hatte die innigſte Freude über mein Glück. Ich führte ihn in unſere Familien ein. Be¬ kannt war er mit allen Theilen ſchon lange geweſen. Ich dankte ihm ſehr für die prachtvolle Faſſung der Diamanten und Rubinen und des Smaragdſchmuckes. Er fühlte ſich über Riſachs und meines Vaters Ur¬ theil ſehr beglückt.
„ Wenn wir ſolche Kunden in großer Zahl hätten, wie dieſe zwei Männer ſind, theurer Freund, “ſagte er, „ dann würde unſere Beſchäftigung bald an die Grenzen der Kunſt gelangen, ja ſich mit ihr vereini¬ gen. Wir würden freudig arbeiten, und die Käufer würden erkennen, daß die geiſtige Arbeit auch einen Preis habe wie die Steine und das Gold. “
Ich nahm bei ihm eine ſehr werthvolle und mit Kunſt verzierte Uhr als Gegenſcherz für Euſtachs Mappenſchrein. Klotilde hatte ſie ausgewählt. Für Roland ließ ich einen Rubin in einen Ring faſſen,437 daß er ihn zur Erinnerung an mich trage, und meine Dankbarkeit für ſeine Bemühungen zur Auffindung der Ergänzungen der Pfeilerverkleidungen anerkenne.
„ Er iſt ohnehin ein Nebenbuhler von mir, “ſagte ich, „ er hat Natalien oft lange und bedeutend ange¬ ſehen. “
„ Das hat einen ſehr unſchuldigen Grund, “ent¬ gegnete mein Gaſtfreund, „ Roland erwarb ſich ein Liebchen mit gleichen Augen und Haaren, wie ſie Natalie beſizt. Er hat uns das öfter geſagt. Das Mädchen iſt die Tochter eines Forſtmeiſters im Ge¬ birge, und ihm äußerſt zugethan. Da nun der Arme ihren Anblick oft lange entbehren muß, ſo ſah er zur Erquickung Natalien an. Es hat Schwierigkeiten mit dieſem jungen Manne, ich wünſche ſein Wohl. Er kann ein bedeutender Künſtler werden oder auch ein unglücklicher Menſch, wenn ſich nehmlich ſein Feuer, das der Kunſt entgegen wallt, von ſeinem Gegen¬ ſtande abwendet, und ſich gegen das Innere des jun¬ gen Mannes richtet. Ich hoffe aber, daß ich alles werde ins Gleiche bringen können. “
Da alle nothwendigen Dinge in der Stadt abge¬ than waren, wurde die Rückreiſe angetreten, und zwar in den Asperhof. Die Zeit der Roſenblüthe war438 herangerückt, und heuer ſollte ſie von den vereinigten Familien als ein Denkzeichen der Vergangenheit und aber auch als eins der Zukunft zum erſten Male in dieſer Vereinigung und mit beſonderer Feſtlichkeit begangen werden. Mein Vater ſollte ſehen, welche Gewalt die Menge und die Manigfaltigkeit auszu¬ üben im Stande iſt, wenn dieſe Menge und Manig¬ faltigkeit auch nur lauter Roſen ſind. Nach Verlauf der Roſenblüthe ſollte alles und jedes, das durch dieſe Vermählung unterbrochen worden war, in das alte Geleiſe zurückkehren.
Da wir in dem Asperhofe angekommen waren, gelangte ich erſt zu einiger Ruhe. Da ſah ich auch gele¬ gentlich die Papiere an, die uns Riſach und der Vater gegeben hatten, und erſtaunte ſehr. Beide enthiel¬ ten für uns viel mehr als wir nur entfernt vermuthet hatten. Riſach wollte bis zu ſeinem Tode das Haus in der Art wie bisher fort bewirthſchaften, damit, wie er ſagte, er ſeinen Nachſommer bis zum Ende ausgenie¬ ßen könne. Unſer Rath und unſere Hilfe in der Bewirth¬ ſchaftung wird ihm Freude machen. Einen namhaften Theil ſeiner Barſchaft hatte er uns übergeben. Und weil öfter zwei Familien in dem Asperhofe ſein kön¬ nen, ſo lagen den Papieren Plane bei, daß auf einem439 ſchönen Plaze zwiſchen dem Roſenhauſe und dem Meierhofe hart am Getreide ein neues Haus auf¬ geführt und ſogleich zum Baue geſchritten werden möge. Aber auch das von dem Vater uns Übergebene war der geſammten Habe Riſachs ebenbürtig, und übertraf weit meine Erwartungen. Als wir unſern Dank abſtatteten, und ich mein Befremden ausdrückte, ſagte der Vater: „ du kannſt darüber ganz ruhig ſein; ich thue mir und Klotilden keinen Abbruch. Ich habe auch meine heimlichen Freuden und meine Leiden¬ ſchaften gehabt. Das geben verachtete bürgerliche Gewerbe eben bürgerlich und ſchlicht betrieben. Was unſcheinbar iſt, hat auch ſeinen Stolz und ſeine Größe. Jezt aber will ich der Schreibſtubenleidenſchaft, die ſich nach und nach eingefunden, Lebewohl ſagen, und nur meinen kleineren Spielereien leben, daß ich auch einen Nachſommer habe wie dein Riſach. “
Als wir einige Zeit in dem Roſenhauſe verweilt hatten, traten eines Tages Natalie und ich zu unſerem neuen Vater, und bathen ihn, er möge ein Verſprechen von uns annehmen, deſſen Annahme uns ſehr freuen würde.
„ Und was iſt das? “fragte er.
„ Daß wir, wenn du uns dereinſt in dieſer Welt440 früher verlaſſen ſollteſt als wir dich, keine Verände¬ rung in allem, wie es ſich in dem Hauſe und in der Beſizung vorfindet, machen wollen, damit dein theu¬ res Andenken beſtehe und forterbe, “ſagten wir.
„ Da thut ihr zu viel, “antwortete er, „ ihr ver¬ ſprecht etwas, deſſen Größe ihr nicht kennt. Dieſe Bande darf ich nicht um euren Willen und eure Ver¬ hältniſſe legen, ſie könnten von den übelſten Folgen ſein. Wollt ihr mein Gedächtniß in manigfachem Beſtehenlaſſen ehren, thut es, und pflanzt auch euren Nachkommen dieſen Sinn ein, ſonſt ändert, wie ihr wünſcht, und wie es noth thut. Wir wollen, ſo lange ich lebe, ſelber noch mit einander ändern verſchönern bauen; ich will noch eine Freude haben, und mit euch zu ändern und zu wirken iſt mir lieber, als wenn ich es allein thue. “
„ Aber der Erlenbach muß als Denkmal der ſchö¬ nen Geräthe beſtehen bleiben. “
„ Sezt eine Urkunde auf, daß ihm nichts angethan werde von Geſchlecht zu Geſchlecht, bis ſeine Reſte vermodern, oder ein Wolkenguß ihn von ſeiner Stelle feget. “
Er küßte Natalien, wie er gerne that, auf die Stirne, mir reichte er die Hand.
441Als die Roſenzeit wirklich recht innig und zum Staunen meiner Angehörigen, welche ſo etwas nie geſehen hatten, vorüber gegangen war, nahmen wir Abſchied, die Vereinigung, welche nun ſo lange be¬ ſtanden hatte, löste ſich, und die Tage kehrten in ihren gewöhnlichen Abfluß zurück. Meine Eltern gin¬ gen mit Klotilden in den Guſterhof, wo ſie bis zum Winter bleiben wollten, und ich ſiedelte mit Natalien in unſere ſtändige Wohnung in den Sternenhof über. Wir ſollten nun die eigentliche Familie desſelben ſein, Mathilde werde bei uns wohnen und mit an unſerem Tiſche ſpeiſen. Die Bewirthſchaftung des Gutes ſollte ebenfalls ich leiten. Ich übernahm die Pflicht und bath um Mathildens Beihilfe, ſo ausgedehnt ſie die¬ ſelbe leiſten wolle. Sie ſagte es zu.
So rückte nun die Zeit in ihr altes Recht, und ein einfaches gleichmäßiges Leben ging Woche nach Woche dahin.
Nur im Herbſte fand eine Abwechslung ſtatt. Die Vettern aus dem Geburtshauſe des Vaters be¬ ſuchten meine Eltern in dem Guſterhofe. Wir fuhren zu ihnen hinüber. Der Vater ließ ſie reichlich beſchenkt in einem Wagen in ihre Heimath zurückführen.
Mit Beginn des Winters war Rolands Bild fer¬442 tig. Es war ſeiner Größe willen zu rollen, hatte einen großen Goldrahmen, der zu zerlegen war, und wurde in dem Marmorſaale auf einer Staffelei aufgeſtellt. Wir reiſten alle in den Asperhof. Das Bild wurde vielfach betrachtet und beſprochen. Ro¬ land war in einer gehobenen ſchwebenden Stimmung; denn was auch die Meinung ſeiner Umgebung war, wie ſehr ſie auch das Hervorgebrachte lobte, und wohl auch Hindeutungen gab, was noch zu verbeſſern wäre: ſo mochte ihm ſein Inneres verſprechen, daß er einmal vielleicht noch weit Höheres ja ein ganz Großes zu Stande zu bringen vermögen werde. Riſach ſagte ihm die Mittel zu, reiſen zu können, und ord¬ nete die Zubereitung zu einer baldigen Abreiſe nach Rom an. Guſtav mußte noch den Winter im As¬ perhofe zubringen. Im Frühlinge ſollte er endlich in die Welt gehen.
So waren nun manigfaltige Beziehungen geord¬ net und geknüpft.
Mathilde hatte einmal, da ich ſie im Sternenhofe beſuchte, zu mir geſagt, das Leben der Frauen ſei ein beſchränktes und abhängiges, ſie und Natalie hätten den Halt von Verwandten verloren, ſie müßten Man¬ ches aus ſich ſchöpfen wie ein Mann, und in dem443 Widerſcheine ihrer Freunde leben. Das ſei ihre Lage, ſie daure ihrer Natur nach fort, und gehe ihrer Ent¬ wicklung entgegen. Ich hatte mir die Worte gemerkt, und hatte ſie tief ins Herz genommen.
Ein Theil dieſer Entwicklung, glaubte ich nun, war gekommen, der zweite wird mit Guſtavs Anſiedlung eintreten. An mir hatten die Frauen wieder einen Halt gewonnen, daß ſich ein feſter Kern ihres Da¬ ſeins wieder darſtelle; ein neues Band war durch mich von ihnen zu den Meinigen geſchlungen, und ſelbſt das Verhältniß zu Riſach hatte an Rundung und Feſtigkeit gewonnen. Den Abſchluß der Familienzu¬ ſammengehörigkeit wird dann Guſtav bringen.
Was mich ſelber anbelangt, ſo hatte ich nach der gemeinſchaftlichen Reiſe in die höheren Lande die Frage an mich geſtellt, ob ein Umgang mit lieben Freunden ob die Kunſt die Dichtung die Wiſſenſchaft das Leben umſchreibe und vollende, oder ob es noch ein Ferneres gäbe, das es umſchließe, und es mit weit größerem Glück erfülle. Dieſes größere Glück, ein Glück, das unerſchöpflich ſcheint, iſt mir nun von einer ganz an¬ deren Seite gekommen als ich damals ahnte. Ob ich es nun in der Wiſſenſchaft, der ich nie abtrünnig werden wollte, weit werde bringen können, ob mir444 Gott die Gnade geben wird, unter den Großen der¬ ſelben zu ſein, das weiß ich nicht; aber eines iſt ge¬ wiß, das reine Familienleben, wie es Riſach ver¬ langt, iſt gegründet, es wird, wie unſre Neigung und unſre Herzen verbürgen, in ungeminderter Fülle dauern, ich werde meine Habe verwalten, werde ſonſt noch nüzen, und jedes ſelbſt das wiſſenſchaft¬ liche Beſtreben hat nun Einfachheit Halt und Be¬ deutung.
Ende.
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
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