PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Gemæhlde von St. Petersburg
Zweiter Theil
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Riga,1794. beiJohann Friedrich Hartknoch.
[I]

Inhalt des zweyten Theils.

Neunter Abſchnitt. Induſtrie.

  • Allgemeine Bemerkungen über die Entwickelung und den Gang der Kultur; insbeſondere in Rußland. Handel. Anzahl der jährlich ankommenden Schiffe nach den Nationen. Anzahl der ruſſiſchen Schiffe. (Ueber den ruſſiſchen Aktivhandel.) Ge - genſtände und Mengen der Ausfuhr. Umſatz und Transport der Waaren aus dem Innern des Landes nach St. Petersburg. Fahrzeuge und Pro - dukte die durch den ladogaiſchen Kanal hierher gebracht werden. Gegenſtände und Mengen der Einfuhr. Gültigkeit der Zollregiſter. Geldwerth der Aus - und Einfuhr. Bilanz. Zunahme des Handels. Handelsrang von St. Petersburg. Gang und Geſchäfte des Petersburgiſchen Handels. Kaufleute. Handelsgeiſt der Ruſſen. Manu - facturen und Fabriken. KaiſerlicheTape - ten-Porzellain-Fayence-Bronzefabriken, Stein - ſchleiferey. Privatmanufakturen. Gegenſtände und Verarbeitungen derſelben. Handwerke und Gewerbe, nur von Ruſſen und Deutſchen be - trieben. Große Anzahl und fortwährendes Ein - ſtrömen der Deutſchen. Ruſſiſche Gewerbe. Deut - ſche Handwerker. Künſte und Gewerbe des Luxus. *IIGold - und Silberarbeiter und Sticker. Putzma - cherinnen. Wagenmacher. Tiſchler und Ebeniſten; Röntgen’s anßerordentliche Kunſtarbeiten. Kunſt - gärtner. Seite 1

Zehnter Abſchnitt. Wiſſenſchaften und Kuͤnſte.

  • Verhältniß der Reſidenz in wiſſenſchaftlicher Kultur zu der Hauptſtadt. Gelehrte Geſellſchaf - ten. Akademie der Wiſſenſchaften. Idee Peters des Großen bey der Stiftung derſelben. Jetziger Zuſtand. Mitglieder. Thätigkeit. Bürgerliche Lage der Akademiker. Ruſſiſche Akademie. Zweck und Verfaſſung. Anekdote von der Sprachkennt - niß der Kaiſerinn. Parallele in dieſer Hinſicht mit Friedrich dem Zweiten. Oekonomiſche Geſell - ſchaft. Einrichtung und Zweck. Thätigkeit. Ihr Verdienſt um die Verbreitung ökonomiſcher Kennt - niſſe. Litterariſcher Werth ihrer Arbeiten. Gemein - nützige Preisaufgaben. Bibliotheken. Bibl. der Akad. der Wiſſenſch. Kurze Geſchichte derſel - ben. Itzige Verfaſſung. Mängel und Reichthü - mer. Originalmannſkripte Peters des Großen und Katharina der Zweiten. Ruſſiſche Bibliothek. Slavoniſche und ruſſiſche Handſchriften. Tangu - tiſche und mongoliſche Manuſkripte. Chineſiſche Bücher. Koſtbare Originalgemälde aus der Natur - geſchichte. Lokale und Einrichtung. Bibl. des Alexander-Newski-Kloſters und des Landkadet - tenkorps. Kaiſerliche Bibl. in der Eremi - tage Großfürſtliche Bibliotheken. Privatbi - bliotheken. Sammlungen von Natur -III und Kunſtſeltenheiten. Muſeum der Akad. der Wiſſenſch. Geſchichte dieſes Inſtituts. Schätze aus den drey Naturreichen. Ruyſh’s anatomiſche Präparate. Alterthümer und Koſtbarkeiten. Denk - mäler aus den ſibiriſchen Gräbern. Modelle. Me - chaniſche Kunſtwerke. Gallerie orientaliſcher Na - tionen. Kabinett Peters des Großen. Erd - und Himmelskugeln. Phyſikaliſcher und aſtronomiſcher Apparat. Münz - und Medaillenkabinett. Aeußere Einrichtung. Lieberkühniſche Sammlung im Kabinett des mediziniſchen Kollegiums. Mine - ralienſammlung und künſtliches Gebirge im Berg - kadettenkorps. Großes Modellkabinett. Kai[ſ]erliches Muſeum in der Eremitage. Pri - vatſammlungen. Botaniſche Gärten. Ge - lehrte Hülfsmittel. Buchdruckereyen. Cen - ſur. Buchhandel, Leſegeſellſchaften. Ueber - ſicht der petersburgiſchen Litteratur während der Regierung Katharinens der Zweiten Frühere Kultur der Ruſſen. Theologie. Rechtsgelehrſamkeit. Medizin. Philoſophie, Politik, Staats - und Land - wirthſchaft. Phyſik und Naturgeſchichte. Mathematiſche Wiſſenſchaften. Geſchichte. Herausgegebene Manuſkripte älterer und neuerer Annaliſten. Geographie. Katharinens Ver - dienſt um dieſelbe. Karten. Der kalugiſche Atlas, ein außerordentliches Unternehmen. Pädago - gik. Geſchichte und Verfaſſung des ruſſiſchen Schulweſens. Schulbücher. Sprachkultur. Alte Litteratur. Ueberſetzungen griechiſcher und römiſcher Schriftſteller. Dichtkunſt. Sumaro - kow. Knjäſhnin. Derſchawin. Cheraskow. Pe -* 2IVtrow. Proſaiſche Schriftſteller. Romane. Zeitſchriften. Deutſche Litteratur. Künſte. Akademie der Künſte. Künſtler. Maler. Kup - ferſtecher. Bildhauer Architekten. Muſiker, u. ſ. w. Mechaniſche Künſte. Inſtrumentenmacher von aller Art. Kulibin, ein großes mechaniſches Ge - nie. Schnoor’s typographiſche Bemühungen. Seite 67

Eilfter Abſchnitt. Lebensgenuß.

  • Volksbeluſtigungen. Frohſinn des gemeinen Ruſſen. Nationalgeſänge und Tänze. Kabacken. Bade - häuſer. Spiele. Volksfeſte. Schaukeln um Oſtern. Eisberge in der Butterwoche. Vergnügungen der höhern Klaſſen. Allgemeine Karakteriſtik der - ſelben. Klubbs. Der muſikaliſche, der engliſche, der adliche, der bürgerliche, der amerikaniſche, die beyden Tanzklubbs. Das ältere und neue Liebhabertheater. Geiſt und Ton dieſer Geſellſchaf - ten. Oeffentliche Spazierplätze. Der Som - mergarten. Die Kays der Newa. Die Fontanka. Der italieniſche Garten. Der Park des tauriſchen Pallaſt. Der Garten des Landkadettenkorps. Die Arkaden von Goſtinnoi Dwor. Ländliche Prome - naden außerhalb der Reſidenz. Liberalität des ruſſiſchen Adels. Oeffentliche Spazierfahrten. Schlittenfahrten. Schlittenrennen. Waſſerfahrten. Kaffehäuſer. Gaſthäuſer. Spiethäuſer. Wet - ſchurinki, Mädchenbälle. Freudenmädchen. Heroiſcher Edelmuth eines ermordeten Mädchens gegen ihre Mörder. Theater. Ruſſiſche Schan -V ſpiele, Operetten und Opern, Oteg, eine große heroiſche Oper mit ſeltnen Prachtſcenen. Franzö - ſiſches Schauſpiel. Muſikaliſche Belnſtigungen. Tanzgeſellſchaften und Maskaraden. Hof - feſte. Maskarade und Erleuchtung in Peterhof, ein durchaus einziges Schanſpiel. Ablaufen eines Kriegs - ſchiffs vom Stapel der Admiralität. Großes Feſt des Fürſten Potemkin. Seite 266

Zwoͤlfter Abſchnitt. Lebensart und Sitten.

  • Klaſſifikation der Einwohner, nach den Beſtimmun - gen der Kultur und des Wohlſtandes. Erſte Klaſſe, das Volk. Veſtandtheile dieſer Maſſe. Die Leibeigenſchaft, eine Quelle der Bevölkerung in den Städten. Nationalkleidung. Wohnung und häuslicher Zuſtand. Nahrungsmittel. Lebensart der Finnen. Schickſal und Verfaſſung der untern Volksklaſſen. Geringer Druck der Leibeigenſchaft. Leidliche phyſiſche Exiſtenz. Schutz der Geſetze. Zweyte Klaſſe, der ausländiſche Handwerker. Vor - theile ſeiner Lage. Luxuriöſe Lebensart. Erziehung und Beſtimmung der Kinder. Anmaßender Ton. Kultur. Eigenthümliches Gepräge. Täglicher Le - bensgang. Dritte Klaſſe, der höhere Mittel - ſtand. Wohnung. Hausgeräth. Tafel. Bedienung. Equipage. Kleidung. Bedürfniſſe und Koſten einer Haushaltung. Allgemeiner Karakter der Lebensart. Große Geſelligkeit und Gaſtfreyheit. Ton der Ge - ſellſchaften und Zirkel. Unterhaltungen. Tafelfreu - den. Kartenſpiel. Konverſation. Mehrheit gangba -* 3VIrer Sprachen. Petersburgiſches Deutſch. Taufna - men, die gewöhnliche Anrede. Begrüßungen. Haus - feſte. Annehmlichkeiten welche die gute Geſell - ſchaft giebt und Forderungen welche ſie macht. Geld und Rang, nothwendige Bedingungen. - ſes Schickſal der Fußgänger. Bilanz. Auch ſonder - bare Karaktere gefallen ſich hier. Häusliches Le - ben. Familienglück. Wirthſchaftlichkeit mit der Sorge für äußern Anſtand. Kindererziehung. Frü - hes Auftreten junger Leute in der Welt. Stim - mung des weiblichen Geſchlechts. Freundſchaft und Egoismus. Vierte Klaſſe, die Großen. Reich - thum und Benutzung der Leibeigenen. Lebensart. Liberalität und Popularität. Hofton. Seite 354

Dreyzehnter Abſchnitt. Karakterzuͤge.

  • Große Miſchung von Nationen, Sitten und Spra - chen. Auffallende Wirkung hievon: Mangel einer ſtarkhervorſpringenden allgemeinen Denkungsart. Petersburgiſche Deutſche. Großes Veyſpiel deutſcher Ehrlichkeit, von einer deutſchen Frau ge - geben. Franzoſen. Engländer. Uebrige Nationen. Orientalen. Aſiaten. Allgemeine Karakterzüge. Religiöſe, politiſche und geſellſchaftliche Toleranz. Achtung für Stand und Rang. Gutmüthigkeit und Jovialität. Geld - und Rangſucht. Freygebigkeit. Leichtſinn. Unbeſtändigkeit. Seite 479
[1]

Gemaͤhlde von St. Petersburg. Zweiter Theil.

A[2][3]

Neunter Abſchnitt. Induſtrie.

Allgemeine Bemerkungen über die Entwickelung und den Gang der Kultur; insbeſondere in Rußland. Handel. Anzahl der jährlich ankommenden Schiffe nach den Nationen. Anzahl der ruſſiſchen Schiffe. (Ueber den ruſſiſchen Aktivhandel.) Gegenſtände und Mengen der Ausfuhr. Umſatz und Transport der Waaren aus dem Innern des Landes nach St. Pe - tersburg. Fahrzeuge und Produkte die durch den la - dogaiſchen Kanal hierher gebracht werden. Gegen - ſtände und Mengen der Einfuhr Gültigkeit der Zoll - regiſter. Geldwerth der Aus - und Einfuhr. Bilanz. Zunahme des Handels. Handelsrang von St. Peters - burg. Gang und Geſchäfte des Petersburgiſchen Handels. Kaufleute. Handelsgeiſt der Ruſſen. Manufacturen und Fabriken. Kaiſerliche Tapeten-Porzellain-Fayence-Bronzefabriken, Stein - ſchleiferey Privatmanufacturen. Gegenſtände und Verarbeitungen derſelben. Handwerke und Gewerbe, nur von Deutſchen und Ruſſen betrie - ben. Große Anzahl und fortwährendes Einſtrömen der Deutſchen. Ruſſiſche Gewerbe. Deutſche Hand -A 24werker. Künſte und Gewerbe des Luxus. Gold - und Silberarbeiter und Sticker. Putzmacherinnen. Wa - genmacher. Tiſchler und Ebeniſten; Nöntgeo’s auſ - ſerordentliche Kunſtarbeiten. Kunſtgärtner.

Der Handel, die Schiffahrt und die Ge - werbe von St. Petersburg ſind ſo hervorſte - chende Zuͤge in der Karakteriſtik dieſer Reſi - denz, daß es dem Gemaͤhlde derſelben an Wahrheit, Vollſtaͤndigkeit und Intereſſe feh - len wuͤrde, wenn man eine kurze Schilderung dieſer Gegenſtaͤnde vermißte. So wenig ſie alſo in einem Buche uͤbergangen werden duͤr - fen, welches gerade nur durch jene Eigenſchaf - ten einen Werth erhalten kann: ſo ſchwierig iſt doch die Behandlung derſelben fuͤr einen ſo eigenthuͤmlich modifizirten Zweck als der unſri - ge. Anders ſtellt der Statiſtiker ſeine geſam - melten Data auf; ihm iſt Vollſtaͤndigkeit das hoͤchſte Geſetz, und oft macht eben das gering - fuͤgigſte und trockenſte Detail den Werth ſeiner Arbeit. Hier, wo Intereſſe der letzte Zweck iſt, genuͤgt es dem Schriftſteller, fruchtbare Reſultate an einander zu reihen, aus denen5 der wirkliche Zuſtand der Dinge ſich dem Leſer von ſelbſt darbietet, und die ihn zu Betrach - tungen und Folgerungen fortreiſſen, uͤber wel - chen er der eigenthuͤmlichen Trockenheit des Ge - genſtandes vergißt.

Der Anblick menſchlicher Thaͤtigkeit hat etwas Befriedigendes fuͤr den Beobachter; die Muſterung der Werke des Fleißes, der Er - findung, der Induſtrie, gewaͤhrt eine Art ed - len und feinen Genuſſes, der oft die Quelle nuͤtzlicher und großer Beſtrebungen geworden iſt. Der muͤhſame Fleiß welcher der Erde ihre Schaͤtze abgewinnt; die kunſt - und erfindungsreiche Emſigkeit die dieſe rohen Erzeugniſſe auf un - endlich mannichfaltige Art veredelt und zu den tauſendfachen Benutzungen der Nothdurft, der Bequemlichkeit und des Luxus bereitet; der kuͤhne Handelsgeiſt, der die Produkte der ent - fernteſten Weltgegenden gegen einander ver - tauſcht und die ganze Erde zum Vaterlande jedes Einzelnen macht; ſelbſt der Wucher, der die Beduͤrfniſſe des Lebens in Magazinen an - haͤuft und Nationen in ſeine Abhaͤngigkeit bringt dieſes Leben, dieſes Gewuͤhl, dieſe ungeheuren Kombinationen bilden ein Gemaͤhlde,A 36welches auch die Blicke der leidenſchaftloſeſten Zuſchauer feſſelt und ihr Gefuͤhl zu einer theil - nehmenden Stimmung erhoͤht.

Die erwerbende Klaſſe iſt der weſentlichſte und unentbehrlichſte Stand des Menſchenge - ſchlechts; alles uͤbrige ſind die Verzierungen, die mit der Zeit aus dem Schooß derſelben hervorgegangen ſind. Staatsverfaſſungen, Ge - ſetze und Armeen ſind das Werk der Noth - durft; Kuͤnſte und Wiſſenſchaften das Werk der Kultur und des Luxus; aber beides ſetzt Exiſtenz voraus, und dieſe giebt der erwerben - de Stand. Wir arbeiten um zu leben, und leben um zu genießen: in dieſen Worten liegt das Syſtem aller menſchlichen Verhaͤltniſſe und das Ziel alles menſchlichen Beſtrebens. Die Befriedigung des bloßen Beduͤrfniſſes iſt die erſte Stufe der Ausbildung des Menſchen: ſobald er dieſe errungen hat, entwickelt ſich ſein Sinn fuͤr Genuß. Ein mehr oder minder veredeltes Beduͤrfniß wird zur Bequemlichkeit, und bey dem nimmer zu erſaͤttigenden Triebe zur Verbeſſerung ſeines Zuſtandes, vertauſcht er auch die Bequemlichkeit bald gegen den Lu - xus. Dieſe drey Perioden ſind es durch welche7 alle Nationen ihren einfoͤrmigen Gang zur Ausbildung gewandelt ſind; bey der letzten ſcheint die Natur der Profektibilitaͤt des Men - ſchen die Grenze geſteckt zu haben, denn von hieraus gehen ſie alle den naͤmlichen Kreislauf zu ihrer urſpruͤnglichen Barbarey zuruͤck, und die Geſchichte ſtellt kein einziges Beyſpiel auf, welches als Ausnahme von dieſer Regel gelten koͤnnte.

Der Uebergang vom erſten rohen Beduͤrf - niß zur kleinſten, unbedeutendſten Bequemlich - keit iſt der entſcheidende Moment fuͤr den Fort - ſchritt einer Nation. Sobald ſie ſich einmal uͤber das bloße Beduͤrfniß erhebt, iſt auch die Bahn zur hoͤhern Kultur gebrochen. Aber oft ſteht ein Volk Jahrhunderte lang an der Grenzlinie, ohne das Mittel zum Uebergange zu finden; dieſes Mittel, das einzige welches die Erfahrung uns kennen lehrt, iſt Ver - theilung der Arbeit. So lange der unkultivir - te Menſch ſein eigner Schneider, Schuſter, Koch und Zimmermann iſt, ſo lange arbeitet er nur fuͤrs Beduͤrfniß und oft auch fuͤr dieſes nicht zureichend; die Mannichfaltigkeit ſeiner Beſchaͤftigungen hindert ihre Vollkommenheit;A 48ſeine von der Noth des Augenblicks erzwunge - ne Arbeit traͤgt das Gepraͤge dieſes Zwanges.

Sobald aber die Beſchaͤftigungen vertheilt ſind, erhebt ſich die rohe Arbeit zur Kunſt; die unaufhoͤrliche Uebung lehrt Handgriffe und Vortheile kennen, bahnt den Weg zu neuen Er - findungen und bringt ſchon vorhandene zur Vollkommenheit und Reife. Wenn man wiſſen will, ſagt ein beruͤhmter Schriftſteller, ob ein Volk kultivirt ſey, ſo frage man, ob es Muͤnzen habe; ich wuͤrde fragen: giebt es Schuſter, Schneider, Zimmerleute unter dem - ſelben?

Wenn ein Volk einmal dieſe Schwierigkeit uͤberwunden hat, ſo iſt kein Zweifel mehr, daß es betraͤchtliche Fortſchritte in ſeiner Kultur thun kann; aber eben dieſe Fortſchritte werden ihm um deſto eher fuͤhlbar machen, daß es eine zweyte Grenze zu durchbrechen hat, um unge - hindert ſeinen großen Gang zur endlichen Ver - vollkommung zu gehen. Mit der Vertheilung der Arbeit waͤchſt die Menge ihrer Produkte. Jedes abgetheilte Geſchaͤft begreift mehrere ein - zelne; auch dieſe werden immer weiter vertheilt, bis endlich das hoͤchſte Raffinement des Kunſt -9 fleißes, um ein Beyſpiel zu geben, ſiebzehn Menſchen in ſiebzehnerley verſchiedenen auf ein - ander folgenden Beſchaͤftigungen zur Verferti - gung einer Stecknadel gebraucht. Durch dieſe Vereinzelung der Arbeit wird der Mechanismus derſelben zur hoͤchſten Vollkommenheit gebracht, und alſo die Produktion in einem nicht zu be - rechnenden Verhaͤltniß vergroͤßert. Der kleine Markt, den die Nachbarſchaft dem Kuͤnſtler darbietet, wird bald mit ſeinen Produkten uͤber - laden; der Preis derſelben faͤllt, und er ſieht ſich gezwungen, entweder zu hungern, oder einen neuen und groͤßern Markt zu ſuchen. So entſteht der Handel, ohne welchen keine Ver - theilung der Arbeit, folglich keine Vervollkomm - nung derſelben, folglich keine Bequemlichkeit, kein Luxus ſtatt finden kann.

Dieſe und aͤhnliche Betrachtungen, in wel - che ſich der Beobachter beym Anblick menſchlicher Thaͤtigkeit verliert, ſind der fruchtbarſte Kom - mentar uͤber die Schilderungen, die wir von dem wirklichen Zuſtande einzelner Voͤlker in die - ſem oder jenem Zeitpunkte ihrer Kultur erhalten. Bald reißt die Groͤße des Gegenſtandes und die Kuͤhnheit des menſchlichen Unternehmungsgei -A 510ſtes uns zum Erſtaunen hin; bald feſſelt die Schwierigkeit des Zwecks und die Beharrlichkeit der Ausfuͤhrung unſere Bewunderung; wir ſe - tzen aus einzelnen Thatſachen das Gemaͤhlde des Ganzen zuſammen, und berechnen mit Zuverlaͤ - ßigkeit die Grade der Bildung und den ſchnellern oder langſamern, fortſtrebenden oder zuruͤckwei - chenden Gang der Nationen.

Die Groͤße des ruſſiſchen Reichs, welches einen Flaͤchenraum von mehr als 300,000 Qua - dratmeilen und eine Ausdehnung von 32 Gra - den der Breite und 165 Graden der Laͤnge be - greift; die außerordentliche Verſchiedenheit der Klimate, des Bodens, der Menſchen, und folg - lich der Beduͤrfniſſe, der Produkte, des Karak - ters waͤren hinreichend geweſen, den Keim der Kultur aus der Mitte dieſer großen Men - ſchengeſellſchaft allein zu entwickeln und ohne Verbindung mit irgend einem andern Lande zu einem gewiſſen Grade von Reife zu bringen. Allein die unzulaͤngliche Bevoͤlkerung der noͤrd - lichſten Gegenden und des ganzen aſiatiſchen Theiles, die weite Entfernung der Wohnplaͤtze und die, trotz dem vortrefflichen Flußſyſtem, nicht hinreichende Waſſerkommunikation wuͤrden11 den Gang der einheimiſchen Ausbildung erſchwert und verzoͤgert haben, und die Selbſtſtaͤndigkeit der Nation wuͤrde auf Koſten ihres ſchnellern Fortſchritts erkauft ſeyn. Als daher Peter der Große ſeinem Reiche Kuͤſten am balti - ſchen Meere verſchaffte und die innere Waſſer - verbindung durch Kanaͤle vervollkommte, war ſein Zweck kein andrer als dieſer, den Markt fuͤr die ruſſiſchen Produkte zu vergroͤßern, oder, welches einerley iſt, den Gang der Kultur und Induſtrie zu befoͤrdern. Dieſe hatte zwar ſchon im Innern des Reichs hie und da Wurzel gefaßt und ſich in fruͤhern Zeiten durch die Hanſa und ſpaͤterhin durch die Englaͤnder einen Abſatz fuͤr ihre Erzeugniſſe verſchafft; aber der traͤge Gang dieſes Handels, die Schwierigkeiten der Schif - fahrt auf dem weißen Meer und der Mangel der innern Kommunikation legten der Ausbreitung der Kultur Feſſeln an, die Peter zu zerbrechen das Verdienſt hatte. In dem letzten Dezenni - um des vorigen Jahrhunderts betrug die Aus - fuhr aus Archangel gegen 900,000 Rubel jetziger Waͤhrung; itzt betraͤgt ſie uͤber zwey Millionen. Damals war dieſer Hafen beynah der einzige Stapelplatz ruſſiſcher Waaren; itzt ſteht er un -12 ter der Rivalitaͤt aller Haͤfen des baltiſchen und kaspiſchen Meeres. Ich weiß kein auffallenderes Factum, die Vergroͤßerung der Produktion und die Zunahme der Kultur des ruſſiſchen Reichs zu beweiſen.

Den Plan, den Peter der Große mit ſo gutem Erfolge begann, hat Katharina die Zweyte vollendet. Die neuen Kuͤſten die Rußland gewonnen hat, die Wiederherſtellung eingegangener Handlungskanaͤle, die Erweite - rung des Buchhandels haben den Markt fuͤr die ruſſiſchen Produkte ſo außerordentlich vergroͤ - ßert, daß auch der ſtaͤrkſte Ertrag derſelben die Forderungen der Kaͤufer nicht uͤbertreffen kann, und ſo bleibt der menſchlichen Thaͤtigkeit ein Spielraum der ihre Kraͤfte erhoͤht. Wuͤrden unſere Zeitgenoſſen es wol glauben, wenn es nicht eine notoriſche, von Zolliſten und unver - daͤchtigen In - und Auslaͤndern beglaubigte That - ſache waͤre, daß jetzt der Handel von Peters - burg und Riga allein ſo viel betraͤgt, als im Jahr 1762 der geſammte Handel des Reichs? daß dieſer jetzt mehr als noch einmal ſo viel aus - macht wie in jener Epoke? und daß der Antheil von St. Petersburg ſich uͤber die Haͤlfte des13 Ganzen belaͤuft? Welch ein ungeheurer Abſtand in den Summen der Produktionen und folg - lich in den Graden des Fleißes, der Induſtrie!

Nirgend wird dieſe Vergleichung auffal - lender, als bey der Unterſuchung des ehema - ligen und jetzigen Handelszuſtandes von St. Petersburg. Im Jahr 1703 ward dieſe Reſidenz durch die Ankunft des erſten hol - laͤndiſchen Schiffes zu ihrer neuen Beſtimmung eingeweiht. Die langſamen Fortſchritte, die der Handel in den erſten Jahren machte, laſ - ſen ſich hinlaͤnglich aus der nicht genug ver - breiteten Kultur und aus dem Mangel der noͤthigen Kommunikation erklaͤren. Sobald aber dieſes letzte Hinderniß gehoben, der Markt geoͤffnet, und der Erwerbfleiß durch die Kou - kurrenz der Kaͤufer aufgemuntert und in Gang gebracht war, erſchien ein Reichthum von Produkten, der bisher noch in keiner ruſſiſchen Stapelſtadt geſehen war. Schon im Jahr 1742 betrug die Ausfuhr gegen drittehalb Millionen Rubel. Von dieſem Zeitpunkt bis zum Jahr 1763 ſtieg ſie bis auf fuͤnf Millionen. Fuͤr den außerordentlichen Zuwachs, den der Han - del von St. Petersburg unter der weiſen und14 aufgeklaͤrten Regierung Katharinens der Zweyten gewonnen hat, wird folgende Dar - ſtellung ſeines jetzigen Zuſtandes der ſicherſte und deutlichſte Maaßſtab ſeyn.

Nach einem Durchſchnitt von vierzehn Jahren (von 1775 bis 1790) wird Petersburg jaͤhrlich von 770 Schiffen beſucht. Dieſe An - gabe, die wie alle hier folgende, aus der Ver - gleichung mehrerer Jahre herausgehoben iſt, um den Leſern nicht mit ganzen Seiten voll Zahlen beſchwerlich zu fallen, iſt fuͤr die letz - tern Jahre zu gering, in welchen gegen und uͤber tauſend Schiffe in den hieſigen und kron - ſtaͤdtiſchen Hafen eingelaufen ſind. Der An - theil den die handelnden Nationen an dieſem Beſuch haben, erhellt aus folgendem ſtufen - maͤßigen Anſchlage, der ebenfalls das Reſul - tat des angegebenen vierzehnjaͤhrigen Zeitraums iſt. Es erſchienen waͤhrend deſſelben jaͤhrlich im Durchſchnitt

  • 350 engliſche
  • 73 hollaͤndiſche
  • 63 preußiſche
  • 486 Schiffe.
15
  • Latus 486 Schiffe.
  • 50 daͤniſche
  • 46 luͤbeckiſche
  • 42 ſchwediſche
  • 41 franzoͤſiſche
  • 31 roſtockiſche
  • 16 ſpaniſche
  • 15 italieniſche
  • 13 portugieſiſche
  • 8 hamburgiſche
  • 7 oſtendiſche
  • 6 amerikaniſche
  • 5 danziger und
  • 2 bremiſche; in allem
  • 768 Schiffe.

Die Mittelzahl der in dieſem Zeitraum angekommenen und abgegangenen ruſſiſchen Schiffe war 33. Der ruſſiſche Aktivhandel von St. Petersburg betraͤgt alſo nur ein Vier - undzwanzigtheil, oder unter 24 Schiffen die hier ankommen, iſt nur Ein ruſſiſches. Die - ſes Verhaͤltniß ſcheint beym erſten Anblick ſo nachtheilig zu ſeyn, als es gering iſt; folgen - de Betrachtung, deren excentriſcher Inhalt16 eine kleine Entſchuldigung nothwendig macht, wird dieſes Vorurtheil widerlegen.

Nicht nur der Handel von St. Peters - burg, ſondern Rußlands geſammter auswaͤr - tiger Handel, iſt faſt gaͤnzlich ein Paſſivhan - del; das heißt, es verſendet ſeine Produkte und erhaͤlt ſeine Beduͤrfniſſe groͤßtentheils durch fremde Schiffe. Dieſer Umſtand hat ununter - richtete Patrioten ſo oft zu lauten Klagen ver - leitet, daß es wol der Muͤhe lohnt, die Vor - theile die Rußland aus dieſem Umſtande zieht, zu beleuchten. Einmal iſt nicht jeder Paſſiv - handel ein Verluſthandel, ſo wie nicht jeder Aktivhandel ein Gewinnhandel iſt. Die Groß - brittanniſche Handlung mit Rußland liefert hievon den beſten Beweis. Bey aller Wichtig - keit derſelben, bey allen Vortheilen die Eng - land durch Handelstraktate genoß, und trotz des großen Abſatzes ſeiner Manufacturwaaren, iſt dieſer Handel, der von Seiten Englands gaͤnzlich ein Aktivhandel war, beſtaͤndig nach - theilig fuͤr dieſes Land geweſen, und in dem Verhaͤltniß ſeiner Zunahme immer nachtheiliger geworden, wie folgende aus einem engliſchenSchrift -17Schriftſteller entlehnte Ueberſicht zeigt*)Chalmer’s Schätzung von Großbrittannien. Seite 112.. Eng - land fuͤhrte jaͤhrlich im Durchſchnitt

Wichtiger noch als dieſes Beyſpiel iſt die Betrachtung, daß der Verluſt des Aktivhan - dels in dem Weſen deſſelben liegt. Ein jeder einzelner Kaufmann, ſagt Buͤſch**)Schriften über Staatswirthſchaft und Handlung. Th. 3. S. 58., in deſ - ſen Haͤnden er iſt, findet fuͤr ſich keinen Vor - theil in der uͤberwiegenden Bilanz deſſelben, weil ſie ihn noͤthigt, ſeine Beſtellungen nicht in Waaren, ſondern in baarem Gelde zu ziehen. Er wird ſich daher bemuͤhen, eine Retour - handlung in Gang zu ſetzen, auf welcher er einen zweyten Gewinn machen kann; die Ruͤck - fracht ungerechnet, die bey Waaren viel mehrZweiter Theil. B18als bey baarem Gelde einbringt. Der Kauf - mann, der ſeine Waaren in der Ferne verſen - det, ſieht ſich zuweilen gezwungen, dieſe mit Verluſt loszuſchlagen; bey baarer Bezahlung in Wechſeln waͤre ſein Verluſt entſchieden; er nimmt alſo lieber Waaren zuruͤck, in der Hoff - nung ſeinen Verluſt zu erſetzen. Der Kredit den er in ſo vielen Faͤllen geben muß, noͤthigt ihn, nach einem Kunſtausdruck, auf ſeine Be - deckung zu denken; er verſchreibt alſo Waa - ren, die er ohne dies nie wuͤrde gezogen ha - ben. Oft iſt er auch gezwungen, Waaren ſtatt der Bezahlung zu nehmen, die er ſonſt nie in ſein Vaterland gebracht haben wuͤrde. Ueberhaupt aber lehrt die Erfahrung, daß ein Volk, welches in einem lebhaften Aktivhandel viel von dem Seinigen verkauft, auch wieder viel, und oft die entbehrlichſten Dinge von der Welt einkauft. So geht es England, um ein Beyſpiel zu geben, mit portugieſiſchen Di - amanten. Endlich hat der Aktivhandel den Nachtheil, daß er dem Kaufmann der paſſiv - handelnden Nation ſeine Waaren in Verkaufs - kommiſſion zuſenden, oder ihm fuͤr die Re - tourwaaren die Einkaufskommiſſion uͤbertra -19 gen, und auf dieſe Weiſe bey jedem Ausſchlage ſeiner Unternehmungen einen ſo großen und ſichern Gewinn vorausgeben muß. Dieſe und andere Gruͤnde beweiſen, daß der Paſſiv - handel nicht ſo nachtheilig iſt, als er von fal - ſchen Theoretikern verſchrien wird. Ihnen kommen noch zwey wichtige Erfahrungen zu Huͤlfe; einmal, daß der Aktivhandel weit mehr natuͤrliche und politiſche Vortheile vorausſetzt, als der Paſſivhandel; und dann, daß es in dem Produktenhandel weit mehr Beyſpiele ei - ner vortheilhaften Paſſiv - als Aktivhandlung giebt. Rußland liefert hier, ſo wie Norwegen, Polen, Spanien, die Levante, China, Oſtin - dien und andere Laͤnder den Beweis fuͤr die letztere Behauptung, daher ſie keiner weitern Ausfuͤhrung bedarf; und alles, was ſich fuͤr die erſtere, mit Ruͤckſicht auf Rußland ſagen laͤßt, kann ſich nur auf folgende allgemein an - erkannte Thatſachen gruͤnden.

Die politiſchen Vortheile, die Rußland zum Aktivhandel aufmuntern, moͤgen ſo groß ſeyn, als ſie nur immer von einer aufgeklaͤr - ten und maͤchtigen Regierung zu erwarten ſind, ſo werden ſie doch nie den natuͤrlichen Hinder -B 220niſſen voͤllig das Gegengewicht halten koͤnnen. Die Lage dieſes Reichs, welches fuͤr ſeine Groͤße und zu dieſem Zweck noch immer zu wenig Kuͤſten hat; das Klima der nordlichen Gegenden, durch welches die Schiffahrt in denſelben nur auf wenige Monate moͤglich ge - macht wird; das politiſche Verhaͤltniß in wel - chem Rußland, wegen der Durchfahrten in groͤßere Meere, mit ſeinen Nachbarn ſteht; endlich der natuͤrliche Gang der Induſtrie, der bey den individuellen Umſtaͤnden dieſer Nation ſich auf eine vortheilhaftere Weiſe zu einhei - miſchen Beſchaͤftigungen zu lenken ſcheint alle dieſe Urſachen und ihre Wirkungen zuſam - mengenommen, ſind, meiner Meynung nach, fuͤr das Schickſal des ruſſiſchen Aktivhandels entſcheidend.

Ich lenke von dieſer kleinen Digreſſion wieder zu meinem Hauptgegenſtande, dem pe - tersburgiſchen Handel, ein. Das ganze, gro - ße und verwickelte Geſchaͤfte, welches dieſe Benennung begreift, zerfaͤllt ſeinem Weſen nach natuͤrlich in folgende Zweige: Ausfuhre, Einfuhre und Umſatz. Mit jedem derſelben wollen wir uns itzt einzeln beſchaͤftigen.

21

Es iſt nicht gut moͤglich, ſich von dem Werth, dem Umfange und der Beſchaffenheit der Ausfuhre eine richtige Vorſtellung zu machen, ohne ſich der trocknen Durchſicht der Zollregiſter zu unterziehen. Die Publizitaͤt, die hier uͤber Gegenſtaͤnde dieſer Art ſtatt fin - det, hat den Sammlern ſtatiſtiſcher Nachrich - ten die Muͤhe erleichtert, Licht uͤber dieſen Zweig der Nationalbeſchaͤftigung zu verbreiten; folgende Angaben ſind die Reſultate eines zehn - jaͤhrigen Zeitraums (von 1780 bis 1790). Es wurden waͤhrend deſſelben jaͤhrlich ausgeſchifft

  • 2,655,038 Pud Eiſen
  • 19,528 Salpeter
  • 2,498,950 Hanf
  • 792,932 Flachs
  • 2,907,876 Arſch. Servietten und Leinewand
  • 214,704 Stuͤck Segeltuch und Zwillich
  • 106,763 Pud Tauwerk
  • 167,432 Hanf - und Leinoͤl
  • 192,328 Leinſaamen
  • 52,645 Toback
  • 129 Rhabarber
  • 105,136 Weizen
  • 271,976 Roggen
  • 22
  • 35,864 Pud Gerſte
  • 200,000 Hafer
  • 1,456 Stuͤck Maſten
  • 1,193,125 Planken
  • 85,647 Bretter
  • 7,487 Pud Harz
  • 9,720 Pech
  • 37,336 Theer
  • 81,386 Thran
  • 10,467 Wachs
  • 943,618 Talg und Talglichte
  • 31,712 Pottaſche
  • 5,516 Hauſenblaſe
  • 8,958 Kaviar
  • 5,635 Pferdehaare
  • 69,792 Stuͤck Pferdeſchwaͤnze
  • 29,110 Pud Schweineborſten
  • 106,045 Stuͤck Baſtmatten
  • 621,327 Pelzwerk
  • 292,016 Bockfelle
  • 144,876 Pud Juchten und Sohlleder
  • 9,982 Stuͤck Ochſenzungen
  • 73,350 Ochſenknochen.

Dieſes Verzeichniß, welches bis auf einige minder betraͤchtliche Rubriken vollſtaͤndig iſt,23 enthaͤlt außer den Artikeln: Servietten, Lin - nen, Segeltuch, Tauwerk, Talglichte, Pott - aſche, Hauſenblaſe, Kaviar, Pelzwerk und Le - der, keine verarbeitete Waaren, und ſelbſt ei - nige von dieſen haben bloß eine fuͤr den Trans - port und die Aufbehaltung der Produkte noth - wendige Zubereitung erhalten. Die Beſchaͤfti - gung der Nation, ſo betraͤchtlich ſie auch ſeit Peter dem Großen zugenommen hat, iſt alſo noch immer mehr auf Erzeugung als Ver - edlung gerichtet. Dies iſt der natuͤrliche Gang jeder ſich zur Kultur hinaufarbeitenden Men - ſchengeſellſchaft; und Rußland wird ſich ſo lange auf die bloße Erzeugung und den Pro - duktenhandel begrenzen, bis das Maaß ſeiner Bevoͤlkerung und Beſchaͤftigung fuͤr die Ver - edlung ſeiner Erzeugniſſe hinreichen wird.

Der Einkauf der in vorſtehender Liſte angegebenen Waaren und ihre Herbeyſchaf - fung aus den mittlern und zum Theil aus den entlegenſten Gegenden des Reichs, macht einen wichtigen Zweig des innern Handlungs - gewerbes. Die mehreſten dieſer Produkte wer - den an den gluͤcklichen Ufern der Wolga er - zeugt; dieſer unſchaͤtzbare Fluß, der in ſeinemB 424Lauf die entfernteſten Provinzen verbindet, iſt zugleich der Kanal der Beſchaͤftigung und der Induſtrie. Ueberall wo ſein Waſſer die fetten und fruchtbaren Ufer beſpuͤlt, iſt Fleiß und Ar - beitſamkeit einheimiſch geworden; ſein Lauf bezeichnet den Gang der innern Kultur. Aber auch aus einer Entfernung von fuͤnf bis ſechs - tauſend Werſten, aus dem Schooß des metall - reichen kalten Sibiriens empfaͤngt St. Peters - burg die Vorraͤthe ſeiner ungeheuren Waaren - lager. Der groͤßte Theil derſelben, wenigſtens die ſchweren Waaren, werden aus den oͤſtlich - ſten Gegenden Sibiriens faſt gaͤnzlich zu Waſ - ſer hierher gebracht. Die Selenga empfaͤngt und uͤbergiebt ſie dem Baikal, aus welchem ſie durch die Angara in den Jeniſey, und aus dieſem durch den Ob in den Tobol gehen; von hier werden ſie eine Strecke von ungefaͤhr vier - hundert Werſten zu Lande bis in die Tſchuſſo - waja, aus dieſer in die Kamma und dann in die Wolga gebracht, von welcher ſie durch die Schleuſen bey Wiſchnei-Wolotſchok in den Wolchow und aus dieſem in den ladogaiſchen Kanal gehen, aus welchem ſie endlich, nach einer durch zwey Welttheile vollbrachten Reiſe,25 in der Newa an ihrem Beſtimmungsort an - langen. Dieſer erſtaunenswuͤrdige Transport wird noch intereſſanter durch den Gedanken, daß dieſe aus der Nachbarſchaft des nordoͤſtli - chen Weltmeers herbeygeſchafften Produkte hier nur wenige Wochen verweilen, um als - dann eine zweyte, vielleicht groͤßere, Reiſe an - zutreten, oder nach ihrer Verſchiffung in ent - fernte Laͤnder unter veraͤnderter Form wieder hierher und durch einen langſamern und ſchwie - rigern Ruͤckweg in ihr Mutterland zuruͤckzu - kehren. Wie manche Senſe des ſibiriſchen Bauers mag dieſes Schickſal gehabt haben.

Die Anzahl der Fahrzeuge, welche nach einem zehnjaͤhrigen Durchſchnitt (von 1774 bis 1784) durch den ladogaiſchen Kanal nach St. Petersburg kamen, war

  • 2861 Barken
  • 797 Halbbarken
  • 508 einmaſtige Schiffe
  • 1113 Schaluppen.
  • 5339. Dazu
  • 6739 Floͤſſe von Balken.
  • 12,078.
B 526

Der ungeheure Geldwerth dieſer Produkte wird durch das Beduͤrfniß, welches Rußland an verarbeiteten Waaren hat, und durch den immer weiter um ſich greifenden Luxus ſo ſehr herunter geſetzt, daß der Vortheil in der Bi - lanz verhaͤltnißmaͤßig nur ſehr gering iſt. Ein Verzeichniß der Gegenſtaͤnde des Handels, mit welchen St. Petersburg jaͤhrlich einen Theil des Reiches verſorgt, liefert Stoff zu dem intereſſanteſten ſtaatswirthſchaftlichen Kommen - tar; es zeigt, welche Kanaͤle der Induſtrie und des Nationalfleißes noch zu eroͤffnen ſind, es beweiſt, wie unabhaͤngig Rußland in ſeiner aͤußern und innern Oekonomie ſeyn koͤnnte, wenn es ſeine Produktionen ſelbſt veredeln und wenn der alles verzehrende Luxus erſtickt oder geſchwaͤcht wuͤrde; es giebt endlich Licht uͤber den Zuſtand des Numerarreichthums der Na - tion, und hellt Dunkelheiten auf, deren Auf - ſchluß man ſonſt uͤberall vergeblich ſuchen wuͤrde.

Es wurden in dem zehnjaͤhrigen Zeitraum von 1780 bis 1790 jaͤhrlich in St. Petersburg eingefuͤhrt:

27
  • Seidne Zeuge fuͤr 2,500,000 Rubel.
  • Wollne Zeuge fuͤr 2,000,000 R.
  • Tuch fuͤr 2,000,000 R.
  • Baumwollne Zeuge fuͤr 534,000 R.
  • Seidne und baumwollne Struͤmpfe 10,000 Dutzend Paare.
  • Galanteriewaaren fuͤr 700,000 R.
  • Taſchenuhren 2,000 Stuͤck.
  • Kurze Waaren fuͤr 50,000 R.
  • Spiegel fuͤr 50,000 R.
  • Engliſches Steinzeug fuͤr 43,850 R.
  • Engliſche Pferde 250 Stuͤck.
  • Kaffee 26,350 Pud.
  • Zucker 372,000 Pud.
  • Toback 5,000 Pud.
  • Zitronen fuͤr 101,500 R.
  • Friſches Obſt fuͤr 65,000 R.
  • Heeringe 14,250 Tonnen.
  • Baumoͤl fuͤr 20,000 R.
  • Porter und engliſch Bier fuͤr 262,000 R.
  • Franzbranntewein 50,000 Maaß.
  • Champagner u. Burgunder 4,000 Faͤſſer.
  • Andere Weine 250,000 Oxhoft.
  • Mineraliſche Waſſer fuͤr 12,000 R.
  • Papierarten fuͤr 42,750 R.
28
  • Buͤcher fuͤr 50,150 R.
  • Kupferſtiche fuͤr 60,200 R.
  • Alaun 25,500 Pud.
  • Indigo 3,830 Pud.
  • Kochenille 1,335 Pud.
  • Glas und Glaswaaren fuͤr 64,000 R.
  • Senſen 325,000 Stuͤck, u. ſ. w.

Ein ſehr großer Theil dieſer koſtbaren und entbehrlichen oder entbehrlich zu machenden Waaren bleibt in St. Petersburg und wird hier konſumirt. Der Reſt wird durch Fuhr - leute zu Lande in das Reich verfuͤhrt, weil die Flußſchiffahrt gegen den Strom langwieri - ger und theurer iſt. Die Wagen oder Schlit - ten, mit welchen dieſer Transport geſchieht, ſind meiſtens nur mit Einem Pferde beſpannt; die Fuhrleute fahren in Karavanen von 25 bis 100 Wagen, wobey gewoͤhnlich nur auf das dritte Fuhrwerk ein Fuͤhrer gerechnet wird.

Die Angaben der Aus - und Einfuhr, die ich meinen Leſern vorgelegt habe, ſind auf Zollregiſter gegruͤndet. Um den Werth und die Guͤltigkeit derſelben beurtheilen zu koͤn - nen, iſt es noͤthig, folgendes zu bemerken. 29Alle ankommende Schiffe werden hier und in Kronſtadt ſcharf unterſucht und muͤſſen am Packhofe loͤſchen. Der Zoll unterſucht die Waaren nach der Angabe der Kaufleute, die nicht nur die Gattung derſelben, ſondern (wenn der Zoll vom Werth bezahlt wird) auch dieſen Werth beſtimmen muß; wenn nun die Unterſuchung ausweiſt oder vermuthlich macht, daß die Waaren unter ihrem eigenthuͤm - lichen Werth angegeben ſind, ſo iſt der Zoll berechtigt, ſie fuͤr dieſen Angabepreis und eine Verguͤtung von Zwanzig vom Hundert zu be - halten. Dieſe Einrichtung, die man das Un - terſchreiben nennt, zwingt die Kaufleute, ſolche Einfuhrartikel eher zu hoch als zu niedrig an - zugeben, und in ſo fern haben alſo die Zoll - regiſter eine große Authenticitaͤt fuͤr ſich. Ob aber uͤberall kein Unterſchleif in Anſchlag zu bringen ſey, iſt eine Frage, deren Entſchei - dung nur von daher zu erwarten iſt, wo man das groͤßte Intereſſe hat, ſie zu verneinen. Faſt allgemein iſt uͤbrigens die Meynung, daß die Vorſichtsanſtalten nirgend im Reiche ſo gut ſind und folglich der Zollbetrug nirgend ſo ſchwierig iſt als hier. Daß dies nicht von allen30 Zollaͤmtern geſagt werden kann, iſt aus der Erfahrung der letztern Jahre erweislich, waͤh - rend welchen die polniſchen Grenzzollaͤmter auf - gehoben waren. Doch dieſe Gegenſtaͤnde qua - lificiren ſich erſt nach mehrern Jahren fuͤr die Staatiſtik, da der Zeitpunkt zu nah iſt, um ſichre Data und Reſultate zu liefern. Ich be - merke nur noch, daß die Einfuhr der Diaman - ten, der Buͤcher und der Inſtrumente u. dgl. zollfrey iſt, und daß alſo dieſe betraͤchtlichen Rubriken in den Zollregiſtern entweder keinen Platz haben, oder nach Gutbefinden angege - ben werden.

Nach dieſen Vorausſetzungen ſind wir nun im Stande, den Geldwerth der Ein - und Ausfuhr und die Bilanz des petersburgiſchen Handels zu beſtimmen. Nach der wahrſchein - lichſten Schaͤtzung betrug im Durchſchnitt von zehn Jahren (von 1780 bis 1790)

  • die Ausfuhr 13,261,942 Rubel.
  • die Einfuhr 12,238,319
  • der Gewinn 1,023,623 Rubel.
31
  • An gemuͤnztem und unge - muͤnztem Gold und Silber wurden in den drey letzten Jahren jaͤhrlich eingefuͤhrt 337,064 Rubel.
  • Dieſe mitgerechnet, macht 1,360,687 Rubel.

Der Betrag des ganzen Handels war alſo in dem angegebenen Zeitraum von 1780 bis 1790 jaͤhrlich 25,837,325 Rubel.

Die Zunahme des Handels erſcheint in folgenden Angaben in der auffallendſten Pro - greſſion.

Der Handelsrang von St. Petersburg iſt das Reſultat obiger Angaben. Wenn man nach der wahrſcheinlichſten Berechnung an - nimmt, daß der geſammte Handel des Reichs ungefaͤhr 50 Millionen Rubel betraͤgt, ſo folgt, daß St. Petersburg an ſeinem Antheil uͤber die Haͤlfte deſſelben hat. Den naͤchſten Rang nach der Reſidenz behauptet Riga; ſein ge -32 ſammter Handel laͤßt ſich gegen 6 Millionen ſchaͤtzen. Aus dieſem abſtechenden Verhaͤltniß ergiebt ſich der Werth des erſten, und der Rang der auf Riga folgenden Handlungsplaͤtze.

Dieſe angefuͤhrten Thatſachen uͤber den pe - tersburgiſchen Handel geben ein allgemeines aber wichtiges Bild von dem itzigen Zuſtande deſſel - ben; jetzt wollen wir ſehen, auf welche Weiſe er den kaufmaͤnniſchen Theil der Einwohner die - ſer Reſidenz beſchaͤftigt.

Der Handel von St. Petersburg iſt, wie wir ſchon wiſſen, bis auf eine unbetraͤchtliche Ausnahme, gaͤnzlich ein Paſſivhandel; ſeiner Natur nach muß er alſo durch Kommiſſio - nairs gefuͤhrt werden. Dieſe Klaſſe von Kauf - leuten, welche beynahe nur aus Auslaͤndern be - ſteht, macht den angeſehenſten und betraͤchtlich - ſten Theil der hieſigen Boͤrſe aus. Im Jahr 1790 befanden ſich unter den auslaͤndiſchen Handlungshaͤuſern, die nicht zu den Gilden ge - hoͤrten, acht und zwanzig engliſche, ſieben deut - ſche, zwey ſchweizeriſche, vier daͤniſche, mehrere preußiſche, ſechs hollaͤndiſche, vier franzoͤſiſche, zwey portugieſiſche, ein ſpaniſches und ein italie - niſches. Außer dieſen waren zwoͤlf namhafteBuͤr -33Buͤrger, und von der erſten Gilde 106, nebſt 46 auslaͤndiſchen und 17 zu andern Staͤdten gehoͤrigen Kaufleuten, wiewol ſich mehrere in dieſe Gilde einſchreiben laſſen, die nicht eigent - lich Kaufleute ſind.

Um ſich von dem Umſatz und dem Gan - ge des Handels einen Begriff zu machen, wird folgende kurze Darſtellung hinreichend ſeyn. Die ruſſiſchen Kaufleute aus dem In - nern des Reichs finden ſich zu beſtimmten Zei - ten in St. Petersburg ein, und ſchließen mit den hieſigen Kommiſſionnairs uͤber den Ver - kauf ihrer Waaren, nach beſtimmten Sorten, Kontrakte, wobey ſie gewoͤhnlich den halben oder ganzen Verkaufspreis auf der Stelle be - zahlt erhalten, ihre Waaren aber nicht eher, als im folgenden Fruͤhlinge oder Sommer, mit den durch den ladogaiſchen Kanal hierher kom - menden Barken oder auf andere Art, liefern. Ueber die Guͤte der Waaren entſcheiden als - dann beeidigte Braker nach den im Kontrakt beſtimmten Sorten. Die Artikel der Ein - fuhr ſind entweder von ruſſiſchen Kaufleuten durch die hieſigen Kommiſſionnairs beſtellt, oder dieſen von auswaͤrtigen Handelsplaͤtzen zumZweiter Theil. C34Verkauf uͤbertragen; in beyden Faͤllen erhaͤlt der ruſſiſche Beſteller dieſe Waaren gewoͤhnlich mit der Bedingung, ſie in Terminen von ſechs, zwoͤlf und mehreren Monaten zu bezah - len. Der ruſſiſche Kaufmann verkauft alſo gegen Vorausbezahlung und kauft auf Kredit; er wagt keinen Seeſchaden, und iſt von den verdruͤßlichen Geſchaͤften des Zolls, der Ver - ladung und des Ausladens befreyt.

Das Loͤſchen der Schiffe, der Transport der Waaren in die Packhofsgewoͤlbe, das Um - packen, Verladen und Verſenden derſelben, mit einem Wort, das ganze große Gewuͤhl, welches mit der Handlung einer Seeſtadt ver - knuͤpft iſt, hat ſeinen Sitz zunaͤchſt und eigent - lich in Kronſtadt, und dann auf Waſſili - Oſtrow. Hier ſind die Boͤrſe, der Zoll, und in der Nachbarſchaft dieſer Inſel die Packhaͤu - ſer und Magazine befindlich, in welchen der Reichthum ſo vieler Laͤnder und Welttheile vertauſcht und aufbewahrt wird. In allen uͤbrigen Theilen der Stadt iſt dieſes Gewuͤhl ſo ſelten und unmerklich, daß ein Fremder, der, ohne es zu wiſſen, in dieſelbe verſetzt wuͤrde, gewiß nie auf die Vermuthung gera -35 then ſollte, ſich in der erſten Handelsſtadt des ruſſiſchen Reichs zu befinden. Die reichen Kaufleute haben ihre Wohnungen und Kom - toirs in den ſchoͤnſten und praͤchtigſten Stadt - theilen; ihre Haͤuſer, Thorwege und Boͤden, ſind nicht, wie in Hamburg und Riga, mit Balken von Waaren barrikadirt und beladen; hier ſieht man, außer dem Komtoir, keine Spur von kaufmaͤnniſcher Beſchaͤftigung. Die Geſchaͤfte des Zolls werden durch eigne von den Handelshaͤuſern angeſtellte und beſoldete Leute beſorgt, die man Expeditoren nennt, und die Handarbeit wird durch die Artelſcht - ſchiki verrichtet, deren zunftaͤhnliche Verfaſſung man aus einem der vorigen Abſchnitte kennt.

Der Kommiſſionnair uͤbergiebt die einge - fuͤhrten Waaren dem ruſſiſchen Kaufmann, und dieſer verſendet ſie entweder auf die oben an - gegebene Art in das Reich, oder verkauft ſie im Einzelnen hier zur Stelle. Dieſer Verkauf, der durch die Beduͤrfniſſe und den Luxus einer ſo großen und uͤppigen Stadt einen ſehr wich - tigen und betraͤchtlichen Theil des hieſigen Ge - werbes macht, geſchieht auf den Maͤrkten, in den Magazinen und Kramlaͤden, und durchC 236die Umtraͤger, deren Schilderung meinen Le - ſern noch im Gedaͤchtniß ſeyn wird.

Es iſt nicht zuviel geſagt, wenn man be - hauptet, daß nicht leicht ein Volk mehr Han - delsgeiſt und kaufmaͤnniſche Induſtrie beſitzt, als die Ruſſen. Der Handel iſt ihr liebſtes Gewerbe; jeder gemeine Ruſſe, wenn es ihm nur irgend gelingt, einen kleinen Geldvorrath zuſammenzuſparen, wie dies bey ſeiner fruga - len und aͤrmlichen Lebensart leicht moͤglich iſt, verſucht es, Kaufmann zu werden. Den An - fang dieſer Karriere macht er gewoͤhnlich als Rosnoſchtſchik oder Umtraͤger; der Gewinn dieſes Gewerbes und ſeine Sparſamkeit ſetzen ihn bald in den Stand eine Lawka zu miethen; hier kann ihn der Wucher, der Vortheil im Geldwechſeln, und die Benutzung kleiner Hand - griffe des Metiers bald zu einem reichen Mann machen. Alsdann kauft und baut er Haͤuſer und Kramlaͤden, die er wieder an andere ver - pachtet oder ſelbſt mit Waaren verſieht und durch Bediente verwalten laͤßt, faͤngt einen Großhandel an, uͤbernimmt Podrjaͤde, Kon - trakte mit der Krone, Lieferungen, u. ſ. w. Die haͤufigen Beyſpiele, die man von dem37 ſchnellen Gluͤck ſolcher Leute ſieht, uͤberſteigen faſt alle Vorſtellungen. Auf dieſem Wege ward ein ruſſiſcher Kaufmann, der unlaͤngſt ſtarb, aus einem Fiſchhaͤndler ein Kapitaliſt von meh - rern Millionen. Viele dieſer Guͤnſtlinge des Gluͤcks ſind anfangs leibeigene Bauern, die von ihren Gutsherrn Paͤſſe erhalten, und mit dieſen in den Staͤdten des Reichs umherwan - dern, um als Arbeiter, Maurer, Zimmer - leute, ein beſſeres Fortkommen zu ſuchen, als ſie auf dem Lande hinter ihrem Pfluge zu fin - den hoffen konnten. Einige derſelben bleiben, wenn das Schickſal ſie gehoben hat, auch bey großen Reichthuͤmern noch Sklaven, die ihren Herren nach dem Maaßſtabe ihres Vermoͤgens einen Obrock oder eine jaͤhrliche Abgabe zahlen muͤſſen. Unter den Leuten dieſer Klaſſe hier in Petersburg ſind viele, die dem Grafen Scheremetjew, dem reichſten Privatmann in Rußland, gehoͤren, und ihm fuͤr ihre Paͤſſe jaͤhrlich tauſend und mehrere Rubel ent - richten. Zuweilen behalten dieſe Kaufleute, auch in den glaͤnzendſten Gluͤcksumſtaͤnden, ihre Nationaltracht und ihren langen Bart bey, und es iſt nichts ſeltenes, ſie in dieſemC 338Aufzuge in den eleganteſten Equipagen durch die Straßen der Reſidenz fahren zu ſehn. Bey allem dem iſt es ſehr auffallend, daß es noch aͤußerſt wenigen ruſſiſchen Haͤuſern ge - gluͤckt hat, ſich des auswaͤrtigen Kommiſſions - handels zu bemaͤchtigen; ein Beweis, daß außer der Induſtrie und der Sparſamkeit noch Etwas zum kaufmaͤnniſchen Kredit gehoͤre, was den Ruſſen bis itzt gefehlt haben muß.

Alle Nahrungszweige der erwerbenden Klaſſe ſtehen in genauer Verbindung. Die Er - zeugung der Produkte, ihre Veredlung und ihre Vertauſchung ſind eins wie das andere das Kapital der Nation und die Quelle ihres Wohlſtands und Reichthums. Doch der erſte dieſer Gegenſtaͤnde liegt außer den Grenzen unſers Zwecks, und die Schilderung der bey - den letztern kann nur aus den hingeworfenen Zuͤgen eines iſolirten Theils des Ganzen beſte - hen. Was vorhin von dem Handel der Reſi - denz galt, das gilt nicht in eben der Ausdeh - nung von ſeinen uͤbrigen buͤrgerlichen Gewer - ben; St. Petersburg iſt die erſte Handels - ſtadt des ruſſiſchen Reichs, aber es iſt nicht der vorzuͤglichſte Sitz des verarbeitenden Fleißes. 39Dieſer wurzelt ſeiner Natur nach lieber in dem Innern des Landes, wo der niedrigere Preis der Lebensmittel, eine groͤßere, weniger be - ſchaͤftigte Volksmenge, und die Vortheile der Lage fuͤr die Herbeyſchaffung der erſten Mate - rien ſeinem ſchnellern Wachsthum foͤrderlich ſind. Gegenſeitig aber iſt die Reſidenz der em - pfaͤnglichſte Boden fuͤr alle Verarbeitungen, de - nen der Luxus zu Huͤlfe kommen muß, die des Beyſtandes der bildenden Kuͤnſte beduͤrfen, oder deren Exiſtenz nicht ohne den Schutz und die Unterſtuͤtzung des Staats beſtehen kann. Durch dieſe Bemerkung vorbereitet, werden wir hier weder große Anſtalten fuͤr die Vered - lung ruſſiſcher Produkte erwarten, noch uͤber das Mißverhaͤltniß erſtaunen, in welchem ſich die Gattungen des nuͤtzlichen Kunſtfleißes mit den eiteln Fabrikaten der Pracht und des Luxus befinden.

Unter den Manufakturen die dem Dienſt dieſer Gottheiten gewidmet ſind, zeich - nen ſich die kaiſerlichen Etabliſſements durch Groͤße der Anlage und Reichthum und Voll - kommenheit der Produktionen ſo vortheilhaft aus, daß ſie ohne Nachtheil die VergleichungC 440mit den beruͤhmteſten Anſtalten ihrer Gattung in andern Laͤndern wagen duͤrfen. Die Tape - tenmanufaktur, welche Hauteliſſe und Baſ - ſeliſſe webt, liefert ſo vortreffliche Arbeit, daß ich mich nicht erinnere, im Garde-Meuble zu Paris beſſere geſehn zu haben. Der Umſtand, daß hier jetzt nur geborne Ruſſen arbeiten, erhoͤht den Werth und die Merkwuͤrdigkeit die - ſer Anſtalt. Nirgend vielleicht iſt dem Frem - den der Fortſchritt der Nation in der Kultur auffallender als in den weitlaͤuftigen Werkſtaͤt - ten dieſer Manufaktur. Bey meinem erſten Beſuch in derſelben ward ich von einem ange - nehmen Erſtaunen uͤberraſcht, in einer Kunſt, die als ein Reſultat der feinſten Raffinements des menſchlichen Erfindungsgeiſtes gelten kann, Meiſterſtuͤcke aus den Haͤnden ruſſiſcher Juͤng - linge hervorgehen zu ſehen. Die vorzuͤglichſten Produkte, welche dieſe Anſtalt geliefert hat, befriedigen, nach dem unparteyiſchen Zeugniß einſichtsvoller Kenner, alle Forderungen, die die Kunſt an den Kuͤnſtler thun kann. Auch die Porzellaͤnfabrik hat, außer den Mo - dellirern und dem Arkaniſten, nur ruſſiſche Ar - beiter, deren in allem vierhundert ſind, und41 liefert Produkte, die an Geſchmack und Fein - heit der Ausfuͤhrung ihren beſten Muſtern nahe kommen. Den Thon erhielt dieſe Fabrik ehe - dem aus dem Ural, itzt aber aus der Ukraine, und den Quarz aus den oloneziſchen Gebirgen. Sie arbeitet nur fuͤr Rechnung der Krone, der ſie jaͤhrlich 15,000 Rubel an Beſoldungen koſtet, und nimmt Beſtellungen an. Aber ihre Arbeit iſt theuer und die Dauerhaftigkeit derſelben hat nicht das allgemeine Vorurtheil fuͤr ſich. Die Fayencefabrik hat bisher nur vergeb - liche Verſuche gemacht, das engliſche Steinzeug zu verdraͤngen; aber die ſchoͤnen und geſchmack - vollen Stubenoͤfen die ſie verfertigt, erheben ſie zu einer ſehr nuͤtzlichen Anſtalt. Faſt alle neuer - bauten Haͤuſer werden mit den trefflichen Arbei - ten dieſer Werkſtatt verſehen und auch in die Provinz gehen große Beſtellungen. Eine Bronzefabrik, die zum Behuf des Baues an der Iſaakskirche angelegt wurde, nun aber auch fuͤr den Hof und fuͤr Privatleute arbeitet, verdient wegen ihrer ſaubern und geſchmackvol - len Produkte eine ehrenvolle Erwaͤhnung. Merkwuͤrdiger durch die Mechanik ihrer Arbeit iſt die Steinſchleiferey in Peterhof. AlleC 542Inſtrumente derſelben, Saͤgen, Drehwerke, Schleif - und Poliermaſchienen, werden unter dem Fußboden des Fabrikgebaͤudes durch Waſſer in Bewegung geſetzt, ſobald man ſie in das Triebwerk haͤngt. Funfzig Arbeiter ſind hier mit der Veredlung fremder und vorzuͤglich ruſſi - ſcher Steinarten beſchaͤftigt, die zu Tafeln, Va - ſen, Urnen, Doſen, Saͤulen und andern groͤ - ßern oder kleinern Verzierungen umgeformt wer - den. Unter den vielen kaiſerlichen Fabrik - anſtalten fuͤr die Beduͤrfniſſe der Armee, fuͤr die Muͤnze, u. ſ. w. zeichnen ſich mehrere durch ihre Groͤße und die Guͤte ihrer Produktionen aus, aber eine naͤhere Schilderung derſelben liegt außer den Grenzen dieſes Buchs.

Die Anzahl der Privatmanufakturen, die jetzt in St. Petersburg beſtehen, belaͤuft ſich gegen hundert. Ein Verzeichniß, welches einer meiner Freunde, ein aufmerkſamer Beob - achter dieſer Gegenſtaͤnde der Kunſt und des Flei - ßes, geſammelt hatte, machte deren 89 nam - haft, und doch waren unter denſelben mehrere vergeſſen, von deren Exiſtenz ich Kenntniß hat - te. Die Gegenſtaͤnde der Verarbeitung dieſer theils ſehr großen, theils auch ſehr eingeſchraͤnk -43 ten Anſtalten ſind, nach ihrer Wichtigkeit, vor - zuͤglich folgende: Leder, Papier, Gold und Silber, Zucker, Seide, Toback, gebrannte Waſſer, Wolle, Glas, Thon, Wachs, Kattun und Zitz. Das Leder iſt bekannt - lich unter den ruſſiſchen Fabrikaten, welche aus - geſchifft werden, eins der wichtigſten; auch die ſechzehn Lederfabriken welche hier im Gange ſind, liefern Waare fuͤr die Ausfuhr. Eben ſo viele Manufakturen ſind mit der Verfertigung und Veredlung des Papiers beſchaͤftigt. Zu der letztern Rubrik gehoͤren die Papiertapeten, deren Gebrauch hier ſo allgemein iſt, daß die Verfertigung derſelben ein ſehr nuͤtzlicher Zweig der einheimiſchen Induſtrie genannt werden kann. Zwoͤlf Gold - und Silberfabriken liefern Faden, Borten, Treſſen, Platten, Lahn, und außer dieſen ſind mehrere einzelne Werkſtaͤtte fuͤr die Verarbeitung dieſer Metalle zu Hausgeraͤthen und Schmuck vorhan - den. Acht Zuckerſiedereyen bereiten den rohen Zucker. Fuͤr ſeidne Waaren, als Flor, Tuͤcher, Struͤmpfe und Zeuge, ſind ſieben Manufakturen vorhanden; fuͤr die Be - reitung des Schnupf - und Rauchtobacks44 mehrere kleine, u. ſ. w. Zu den merkwuͤrdig - ſten Anſtalten aber gehoͤren die großen Glas - huͤtten, die der Fuͤrſt Potemkin anlegte, und in welchen Kryſtall, Hohl-Tafel - und Spiegelglas verfertigt wird. Mit die - ſen Fabriken iſt eine fuͤr die Verfertigung der Spiegel verbunden, welche Produkte von ſo außerordentlicher Groͤße und Schoͤnheit liefert, daß man etwas aͤhnliches ſelbſt in den beruͤhmten Werkſtaͤtten zu Murano und Paris vergeblich ſuchen wird. Außer dieſen genannten und meh - rern, theils unbedeutenden, theils nicht zu meiner Kenntniß gekommenen Manufakturen, ſind hier fuͤnf Schriftgießereyen, eine Uhrenfabrik, u. ſ. w. befindlich.

Daß in einer ſo großen und reichen Stadt, in der Reſidenz eines der glaͤnzendſten Hoͤfe, die nothwendigſten und nuͤtzlichſten Gewerbe im Gange ſeyn muͤſſen, wird Jeder von ſelbſt ver - muthen; vielleicht aber iſt es nicht jedem meiner Leſer bekannt, daß in dieſer jungen Stadt fuͤr das unentbehrlichſte ſowol als frivolſte Beduͤrf - niß, fuͤr die einfachſten ſowohl als erkuͤnſtelten Bequemlichkeiten, fuͤr den gemeinſten und ſel - tenſten Luxus Kuͤnſtler und Werkſtaͤtten aller45 Gattungen vorhanden ſind. Durch das Be - duͤrfniß einer großen Stadt und den Aufwand des Hofes herbeygelockt, haben viele tauſend ar - beitſame und talentvolle Fremdlinge ſich hier nie - dergelaßen, und durch ihr fortwaͤhrendes Ein - ſtroͤmen und die Mittheilung ihrer Kunſtfertig - keiten dieſe Reſidenz nicht nur zu dem Hauptſitz aller verfeinerten Gewerbe, ſondern auch zu einer Quelle der Induſtrie gemacht, welche ſich von hier in wohlthaͤtigen Ausſtroͤmungen uͤber die benach - barten Theile des Landes verbreitet. Keine un - ter allen fremden Nationen hat ſo großen Antheil an dieſer heilſamen Veraͤnderung, als die Deut - ſche; alle nuͤtzliche Gewerbe und ein großer Theil der Kuͤnſte des Luxus werden nur von Deutſchen und Ruſſen betrieben. Auf die Deut - ſchen folgen in dieſer Ruͤckſicht die Schweden; nur einzelne wenige Franzoſen leben hier als Garkoͤche, Friſeurs, Uhrmacher und in eini - gen andern Gewerben; ob außer einigen Bier - brauereyen auch andre Handthierungen von Englaͤndern betrieben werden, iſt mir unbewußt.

Dieſes Verhaͤltniß findet nach glaubwuͤrdi - gen Berichten und den Erfahrungen die ich ſelbſt zu machen Gelegenheit hatte, auch in London46 und Paris ſtatt. Auch in dieſen großen Staͤd - ten ſind die Deutſchen unter allen Fremdlingen die nuͤtzlichſten; und wenn andere Laͤnder ſich durch Auswanderungen des uͤberfluͤßigſten Theils ihrer Bevoͤlkerung entledigen, ſo verliert Deutſch - land gerade ſeine brauchbarſten Buͤrger. Dieſe unmerkliche Emigration macht zwar nicht ſo viel Aufſehn in der Zeitgeſchichte, als die beruͤhmte Vertreibung der franzoͤſiſchen Proteſtanten un - ter Ludwig dem Vierzehnten; aber ſie iſt gewiß nicht minder wichtig fuͤr die Laͤnder, welche ihre vortheilhaften und nachtheiligen Wir - kungen treffen. Dem bloßen Anſchein nach, denn Berechnungen finden hier gar nicht ſtatt, muͤſ - ſen bey der ehemaligen Bevoͤlkerung von Paris wenigſtens 50,000 Deutſche daſelbſt in buͤrgerli - chen Gewerben gelebt haben; London hat deren vielleicht noch mehrere, und auch in Holland, Italien, Polen vertheilt ſich dieſe arbeitſame Nation, und leiht ihre Induſtrie und ihre Ar - me fremden Nachbarn, zum Schaden ihres Vaterlandes. Doch den anſehnlichſten und nuͤtz - lichſten Theil dieſer Emigranten hat Rußland ſeit Peter dem Großen aufgenommen. Ueberall im Reiche ſind Deutſche vertheilt; uͤber47 20,000 Familien leben jetzt in der Krimm und an den Ufern der Wolga; in Moskau, Archangel und einigen innern Provinzen ſind viele und zum Theil anſehnliche Geſchlechter ſeit und vor dem Anfange dieſes Jahrhunderts einheimiſch, und taͤglich nimmt dieſe Einwanderung zu. In die - ſem Jahr fanden ſich bey meiner Erkundigung nur auf einem einzigen hier angekommenen luͤbek - kiſchen Schiff 86 Deutſche Handwerker und Kuͤnſtler, von denen nach aller Wahrſcheinlich - keit nicht ſechs wieder in ihr Vaterland zuruͤck - kehren. So leitet das Schickſal die Kultur des Menſchengeſchlechts von einem Volk zum an - dern: Franzoſen waren es, die durch ihre Aus - wanderungen die ſchoͤne und wohlthaͤtige Flam - me der Induſtrie nach Deutſchland heruͤber brachten, und Deutſche ſind es, die ſie jetzt auf dem Altar des Nordens niederlegen, von wo aus ſie ihre Waͤrme und ihren Glanz bis in die oͤſtlichen Laͤnder des benachbarten Aſiens ver - theilt.

Die mehreſten Handwerker fuͤr die gemei - nern Beduͤrfniſſe des Lebens ſind unter den Ruſ - ſen und Deutſchen vertheilt; einige derſelben aber werden bloß von dieſen oder jenen betrieben. 48Zu den Gewerben mit welchen ſich die Ruſſen bis itzt faſt ausſchließlich beſchaͤftigen, gehoͤrt vorzuͤglich das Maurer - und Zimmerhand - werk. Außer den hier anſaͤßigen Maurern und Steinmetzen kommen jaͤhrlich uͤber 6,000 derſel - ben aus den Provinzen, um waͤhrend des kur - zen Sommers hier zu arbeiten. Große und ſchoͤne Gebaͤude werden gewoͤhnlich nach der An - gabe eines Architekten, unter denen der Hof mehrere Kuͤnſtler vom erſten Range in ſeinem Dienſte hat, und unter der Aufſicht eines Bau - meiſters errichtet; alle uͤbrige Arbeit aber wird durch die ruſſiſchen Maurer zu Stande gebracht. Dieſe und die Steinmetzen ſind großentheils Bauern, die ihre Freypaͤſſe zum Verdienſt in der Reſidenz benutzen. Man muß uͤber das Talent der Nachahmung erſtaunen, welches die hervorſtechende Eigenſchaft dieſer Nation iſt, wenn man ſieht, wie ſchnell dieſe rohen, von allen Begriffen der Kunſt entbloͤßten Menſchen ſich die hoͤchſte Fertigkeit und den richtigſten Takt in dieſen Handthierungen erwerben; und ſicher - lich gewinnt der polirte Marmor, der an un - ſern Tempeln und Pallaͤſten prangt, einiges Intereſſe mehr fuͤr den Beobachter, wenn manden49den Gedanken damit verknuͤpft, daß dieſe Denkmaͤler der Pracht und der Kunſt ihre Entſtehung zum Theil den nachbildenden Haͤn - den ruſſiſcher Bauern verdanken. Die Zim - merleute (Plotniki) ſind durch ihre eigenthuͤm - liche Kunſtfertigkeit und die einfache Benutzung ihrer Axt, die ihnen ſtatt aller Werkzeuge dient, auch in Deutſchland bekannt. Mit die - ſem Inbegriff aller Inſtrumente bauen ſie Haͤuſer, verfertigen ſie Tiſche, Stuͤhle, Fuhr - werke, kurz alle Beduͤrfniſſe des gemeinen Mannes, deren Material Holz iſt. Sie wer - den ihrer Geſchicklichkeit und der Wohlfeilheit ihrer Arbeit wegen, auch bey dem Bauen ſteinerner Haͤuſer gebraucht, wo ſie die groͤ - bere Zimmerarbeit verrichten.

Auch das Toͤpfer - und Lichtzieher - handwerk wird faſt nur von Ruſſen betrie - ben. In beyden haben ſie es ſehr weit ge - bracht, wovon die zierlichen, fuͤr unſer Kli - ma ſo zweckmaͤßigen Oefen und die uͤberall hin verfuͤhrten ruſſiſchen Lichte den Beweis geben. Die Struktur der hieſigen Oefen iſt ſo vor - trefflich, daß man ſie auch in Deutſchland einzufuͤhren verſucht hat. Ein luͤbeckiſcherZweiter Theil. D50Kaufmann ließ ſich vor einiger Zeit zu dieſem Endzweck einen hieſigen Ofen, und einige Ar - beiter ſchicken, die denſelben in ſeinem Hauſe aufſtellen ſollten. Da die Handwerker der Stadt gegen eine ſolche Neuerung proteſtirten, ſchlug er ihnen vor, daß die Arbeit in ihrem Beyſeyn verrichtet, der Ofen ſogleich wieder niedergeriſſen, und alsdann von ihnen ſelbſt, nach Anleitung der Ruſſen, aufgeſetzt werden ſollte. Da ſie ſich aber auch dieſen Vorſchlag nicht gefallen laſſen wollten, ſah der Unter - nehmer ſich genoͤthigt, ſeine Abſicht aufzuge - ben, und die Vortheile, welche das noͤrdliche Deutſchland aus derſelben haͤtte ziehen koͤnnen, unterblieben durch den Handwerksneid und Ei - genduͤnkel einiger Zunftgenoſſen.

Außer dieſen Gewerben beſchaͤftigen ſich die Ruſſen ebenfalls ausſchließlich mit dem Gaͤrtner - und Fleiſcherhandwerk. In dem erſtern leiſten ſie alles, was in Ruͤckſicht auf Klima und Boden nur immer gefordert werden kann. Da der groͤßte Vortheil dieſes Gewerbes hauptſaͤchlich darin beſteht, die Pro - dukte zu außerordentlichen Jahreszeiten zu lie - fern, ſo iſt das groͤßte Beſtreben dieſer Leute51 auch hierauf gerichtet, und man kann vielleicht nirgend unter gleichem Himmelsſtrich alle Er - zeugniſſe der Kuͤchengaͤrtnerey ſo fruͤh und ſo ſpaͤt in ſo großer Vollkommenheit genießen, als hier. Dieſes Gewerbe wird groͤßtentheils von Bauern aus Roſtow und der umliegenden Ge - gend betrieben, die nach einem kuͤrzern oder laͤngern Aufenthalt mit einem durch ihre In - duſtrie erworbenen Kapitale zuruͤck in ihre Pro - vinz ziehn. Wie eintraͤglich dieſer Nahrungs - zweig bey dem herrſchenden Tafelluxus ſeyn muß, laͤßt ſich leicht denken. Als der Fuͤrſt Potemkin, waͤhrend ſeines letzten Au - fenthalts in der Reſidenz, eines Tages bey dem Grafen Tſcherniſchew ſpeiſte, meldete ſich ein raffinirender Selenſchtſchik (Gruͤnhaͤndler) mit fuͤnf außerordentlich ſchoͤnen Gurken, die gerade und um dieſe Jahrszeit ſehr ſelten wa - ren und die der Fuͤrſt uͤberaus gerne . Der Haushofmeiſter nimmt ſie in Empfang und uͤberreicht ſie ſeinem Herrn, der eben mit dem Fuͤrſten zur Tafel ſaß. Die Gurken werden ſogleich verzehrt, und der Graf laͤßt dem Gruͤn - haͤndler, als ein Geſchenk fuͤr die angenehme Ueberraſchung, hundert Rubel einhaͤndigen,D 252Dieſer aber, der ſchon erfahren hatte, daß ſeine Waare nicht mehr vorhanden ſey, lehnt das Geſchenk ab, und fordert eine Bezah - lung von 500 Rubeln, bis man ihn endlich mit Muͤhe uͤberredete, ſich eine kleinere Sum - me gefallen zu laſſen.

Dieſe und einige andere minder betraͤchtli - che Gewerbe ſind es, welche die Ruſſen faſt ausſchließlich betreiben. In allen uͤbrigen Hand - thierungen ſind die Deutſchen eben ſo zahl - reich und oft zahlreicher als die Ruſſen. Dies iſt vorzuͤglich bey allen Handthierungen der Fall, in denen ſich die Form nach der Mode aͤndert, weil hier das Vorurtheil die Auslaͤn - der beſonders beguͤnſtigt. So ſind z. B. weit mehr deutſche Schneider als Schuſter, im Verhaͤltniß zu den Ruſſen, vorhanden. Unter den erſtern giebt es hier viele wohlhabende und ſogar reiche Leute, die ihre eigne Haͤuſer und Landſitze haben, Equipage halten, und deren Frauen Brillianten tragen. Ich kenne mehrere derſelben, die woͤchentlich Konzerte und Geſell - ſchaften geben, und denen die Tafel an ihren Familienfeſten hundert bis hundert und funfzig Rubel zu ſtehen kommt. Leute dieſer Art er -53 heben ſich uͤber ihr Handwerk; ſie ſind Kuͤnſt - ler; es iſt nicht ſowol die Arbeit als die Form, wofuͤr ſie ſich bezahlen laſſen. Einer dieſer Kleiderkuͤnſtler, den das gute Gluͤck und ſein Ruf zu einem betraͤchtlichen Reichthum verhol - fen haben, laͤßt ſich oft nur darauf ein, die Kleider zuzuſchneiden, worauf ſie denn von andern Schneidern zuſammengeſetzt werden; eine Bemuͤhung, die ihm, unter der Rubrik: pour la façon, mit 25 Rubeln bezahlt wird. Ueberdem ſind Leute dieſer Art nicht bloße Schneider, ſondern gehoͤren zu der Klaſſe, die man in Frankreich marchands-tailleurs nennt. Ihr groͤßter Vortheil beſteht im Einkauf; ſie machen Vorſchuͤſſe und geben den Großen Kre - dit, bey welchen ſie oft mehrere Tauſende zu fordern haben. Außer dieſem iſt das Schmiedehandwerk eins der eintraͤglichſten, weil die Meiſter zu den groͤbern Arbeiten auch Bauern brauchen koͤnnen, die eben erſt vom Lan - de kommen, daher ſie wohlfeil ſind. Die mei - ſten deutſchen Schmiede ſtehen ſich gut, bauen große Haͤuſer, und laſſen ihre Kinder zu etwas beſſerm erziehen. Ueberhaupt aber lebt der deutſche Handwerker, im Ganzen genommen,D 354wol nirgend ſo gut als hier, weil[l]er nirgend ſo leicht und ſo viel verdient. Das Geſchaͤfte des Meiſters beſteht den Tag uͤber in der Aufſicht uͤber ſeine Arbeiter, in der Anordnung des Ta - gewerks und in der Annahme der Beſtellungen und dem Einkaſſiren der Schulden. Mittags ſetzt er ſich an ſeine wohlbeſetzte Tafel und den Abend bringt er in einem der vielen hier befindli - chen Klubbs zu. Doch das Gemaͤhlde ſeiner Lebensart gehoͤrt in das Kapitel der Sitten. Weit ſchlechter behilft ſich der ruſſiſche Hand - werker. Seine Arbeit iſt in einigen Faͤllen aber gewiß nicht in allen, denn der deutſche Meiſter hat ja oft auch nur ruſſiſche Geſellen und Lehrlinge freylich etwas ſchlechter; aber der Preis ſeiner Waare iſt immer um vieles gerin - ger als der Werth ſeiner Arbeit. In ſehr vie - len Handwerken leiſten die Ruſſen ſchon alles was man fodern kann, und hiedurch und durch die Inſolenz der deutſchen Meiſter wird das Pu - blikum ihrer Konſumenten jaͤhrlich groͤßer und groͤßer.

Die mehreſten Gewerbe des Luxus werden hier in einer ſolchen Ausdehnung und Vollkommenheit betrieben, daß ſie, wenigſtens55 fuͤr die Reſidenz, einen großen Theil auslaͤndi, ſcher Prachtartikel entbehrlich machen. Den vorzuͤglichſten Platz unter dieſen Gewerben be - haupten die verſchiedenen Beſchaͤftigungen, die es mit der Verarbeitung edler Metalle zu thun haben. Es leben hier 44 ruſſiſche und 139 aus - laͤndiſche, in allem alſo 183 Gold-Silber - und Galanteriearbeiter, als Meiſter, und außer dieſen noch mehrere Vergolder und Verſilberer. Ein ungeheures Verhaͤltniß, wenn man es mit den Beſchaͤftigungen der nuͤtz - lichſten und unentbehrlichſten Gewerbe vergleicht! Die Pracht des Hofes und der Luxus der Gro - ßen und Reichen hat den Geſchmack in Arbeiten dieſer Art ſo allgemein gemacht und die Kunſt ſelbſt zu einer ſolchen Hoͤhe getrieben, daß man hier die außerordentlichſten Gegenſtande derſelben antreffen kann. Mehrere dieſer Anſtalten haben eine fabrikaͤhnliche Ein ichtung; man findet in Einem Hauſe alle die verſchiedenen Arbeiter und Werkſtaͤtten, die zur hoͤchſten Veredlung der Form eines rohen Goldklumpens gehoͤren. Auch die Gold - und Silberſticker machen wenn gleich keine eigne Zunft, doch ein merkwuͤr - diges Gewerbe des Luxus aus. Die ſchoͤne undD 456geſchmackvolle Arbeit die ſie liefern, wird haͤufig in den Magazinen fuͤr engliſche oder franzoͤſiſche Waare verkauft, und ſie ſteht ſicherlich in keinem Betrachte nach. Dieſe Beſchaͤftigung, welche eine anſtaͤndige Quelle des Erwerbs fuͤr viele Wittwen und unverſorgte Frauenzimmer wird, mindert durch dieſen Umſtand die Schaͤdlichkeit ihres Zwecks. Vielleicht iſt die Bemerkung nicht uͤberfluͤßig, daß hier nirgend, ſelbſt auf den Theatern nicht, die unaͤchte Stickerey ge - braͤuchlich iſt. Auch gehoͤrt in dieſe Rubrik das Heer der Putzmacherinnen, die groͤß - tentheils franzoͤſiſchen Gebluͤts, und hier, wie in Paris, neben ihrer Induſtrie, gemeiniglich mit mancherley angenehmen und eintraͤglichen Talenten verſehen ſind. Ihre Menge nimmt taͤglich zu, und wunderbar! je groͤßer ihre An - zahl wird, deſto beſſer ſcheinen ſie hier zu gedei - hen. So niedlich, elegant und geſchmackvoll ih - re Arbeiten ſind, ſo ungeheuer iſt der Preis der - ſelben; eine Modenhaͤndlerinn, die ihr Hand - werk verſteht, kann den Weg zum Reichthum nie verfehlen. Die mehreſten unter ihnen ſteu - ern nur auf dieſes Ziel los, welches ſie denn auch, ſpaͤter oder fruͤher, gewiß erreichen und57 alsdann in ihr Vaterland zuruͤckkehren. Eine hier ehemals beruͤhmte Dame von dieſem Metier, die jetzt in Paris lebt, hat der Freygebigkeit des ruſſiſchen Adels und ihrer Dankbarkeit uͤber den Portal ihres Hotels ein oͤffentliches Denkmal in ruſſiſcher Sprache geſetzt.

Eins der wichtigſten Gewerbe fuͤr hieſiges Beduͤrfniß und Luxus zugleich, iſt die Verfer - tigung der Wagen. Die großen Werk - ſtaͤtte in denen dieſe Arbeit in ihrem Zuſammen - hange von der einfachen Schraube bis zum kuͤnſt - lichen Lack verfertigt wird; die Guͤte und Dau - erhaftigkeit, die Schoͤnheit und der Geſchmack der Produkte dieſer Werkſtaͤtten; die Menge der Menſchen welche in denſelben beſchaͤftigt ſind; endlich die großen Summen, welche in dieſen Verarbeitungen liegen, und die außerdem fuͤr dieſen Artikel nach andern Laͤndern gehen wuͤrden, machen das Gewerbe der Wagenma - cher zu einem der wichtigſten der Reſidenz. Nach dem Urtheil der Kenner und dem Gefuͤhl eines Jeden leiſten die hieſigen Kuͤnſtler in dieſer Gat - tung alles; in der Bereitung des Lacks uͤbertref - fen ſie jetzt ſelbſt die Englaͤnder; nur in der Dauerhaftigkeit ſollen ihre Produkte hinterD 558denen dieſer beruͤhmten Nation zuruͤckſtehen, und als eine Urſache hievon wird der Mangel des guten, trocknen Holzes angegeben. Bey allen dieſen Vorzuͤgen, und trotz des großen Unterſchiedes im Preiſe, der bey den auswaͤrts hereinkommenden Wagen durch den ſtarken Zoll erhoͤht wird, werden deren jaͤhrlich noch fuͤr eine betraͤchtliche Summe eingefuͤhrt, woran groͤßtentheils das Vorurtheil der hieſigen Eng - laͤnder ſchuld iſt. Die Ruſſen haben ſich dieſen Zweig der Induſtrie zur groͤßern Haͤlfte zuzu - eignen gewußt; die Form ihrer Wagen iſt ſehr modig, der Lack vortrefflich und das Aeuſ - ſere uͤberhaupt geſchmackvoll und ſchoͤn; aber ſie ſtehen wegen ihrer Dauer in noch ſchlech - term Ruf als die hieſigen deutſchen Produkte. Dieſer Vorwurf trifft alle ruſſiſche Manufak - turen; ihr Aeußeres iſt oft ohne Tadel, aber es fehlt ihnen an der Soliditaͤt, durch welche ſich die auswaͤrtigen Waaren empfehlen. Zur Entſchuldigung der Ruſſen darf ich nicht ver - geſſen zu bemerken, daß ſie ein Hinderniß wi - der ſich haben, welches ihnen unmoͤglich macht, ſo viel Zeit, Fleiß und Auslagen auf ihre Ver - arbeitungen zu wenden, als zur groͤßten in -59 nern Vollkommenheit derſelben erforderlich waͤ - ren, und welches, ſo lange es dauert, die Fortſchritte der Nationalinduſtrie hemmt und erſchwert. Dieſes Hinderniß iſt das allgemeine Vorurtheil fuͤr engliſche Waaren, welches zwar mehr oder weniger in allen Laͤndern ſtatt fin - det, aber nirgend in ſo hohem Grade und mit ſo ausſchweifenden Wirkungen, als hier. Der ruſſiſche Manufakturiſt ſucht daher natuͤrlich ſeine Produkte den fremden unterzuſchieben und ſie unter fremdem Namen den Kaͤufern in die Haͤnde zu ſpielen; wo dies nicht moͤg - lich iſt, (wie bey den Wagen in der Jaͤmskoi, von denen Jedermann weiß daß es ruſſiſche ſind) da ſieht er ſich gezwungen, die Solidi - taͤt dem aͤußern Anſehn aufzuopfern, weil er nur fuͤr dieſes bezahlt zu werden erwarten darf. Ein von hieſigen deutſchen Meiſtern verfertigter zweyſitziger Wagen iſt nicht unter ſechs bis ſie - benhundert Rubel zu haben; einen ruſſiſchen erhaͤlt man beynah fuͤr die Haͤlfte, wobey es ſich zuweilen trifft, daß dieſe ſogar dauerhaf - ter gearbeitet ſind, als jene.

Das eigentliche Tiſchlerhandwerk wird von den Ruſſen ſowol als von den Deut -60 ſchen betrieben; aber jene feinere Verarbeitung des Holzes, bey welcher der Preis der Erfin - dung und der Kunſt den Werth des Materials uͤbertrifft, iſt bis itzt nur das Eigenthum ei - niger Auslaͤnder, unter denen ſich die Deut - ſchen zu ihrer Ehre auszeichnen. Die Kuͤnſt - ler dieſer Nation liefern von Zeit zu Zeit Mei - ſterſtuͤcke, die ſie in ruhigen Zwiſchenzeiten un - ter dem Einfluß des Genies und des Kunſtflei - ßes verfertigen, und deren Verkauf ihnen, in der Reſidenz eines großen und geſchmackvollen Hofes, gewiß iſt. So ſtellte vor einiger Zeit ein hieſiger Tiſchler einen Schrank aus, der an Erfindung, Geſchmack und Vollkommen - heit der Arbeit alles uͤbertraf was ich je in dieſer Gattung geſehen hatte. Der Preis die - ſes Kunſtwerks war ſiebentauſend Rubel, und dennoch verſicherte der Kuͤnſtler, daß er mit dieſer Summe nicht fuͤr die jahrelange An - ſtrengung bezahlt werden koͤnne, die ihm die Verfertigung deſſelben gekoſtet habe. Ein an - deres Denkmal des deutſchen Kunſtfleißes be - wahrt die Akademie der Wiſſenſchaften in dem Modell einer Bruͤcke, nach der Angabe des Etatsrath von Gerhard. Dieſe Bruͤcke die61 das praͤchtigſte Werk ſeiner Art in unſerm Welttheil werden muͤßte, wenn die Moͤglich - keit der Ausfuhrung gewiß bewieſen waͤre, hat eilf Bogen, eine Zugbruͤcke zum Durchlaſſen der Schiffe, abgeſonderte erhobene Trottoirs und Landungsplaͤtze, u. ſ. w. Die Schoͤnheit des Modells und die Vollkommenheit der Aus - fuͤhrung laͤßt alles hinter ſich. Die Kaiſerinn belohnte den Kuͤnſtler mit einem Geſchenk von viertauſend Rubeln, und er arbeitet ſeitdem fuͤr den Hof. Unter den groͤßern Unter - nehmern in dieſer Gattung giebt es Leute, die ſchon verarbeitete Produkte in ihren Magazi - nen zum Verkauf fertig liegen haben. So kenne ich einen Tiſchler, der fuͤr viele tauſend Rubel eingelegte oder parquettirte Fußboͤden von allen Holzgattungen und Farben im Vor - rath hat, die nur zuſammengeſetzt werden duͤr - fen, welches in einigen Tagen geſchehen kann. Ein anderer giebt ſich bloß mit der Verferti - gung von Saͤrgen ab, deren er eine Menge von jeder Form und Groͤße, und zu jedem Preiſe bereit hat. Mehrere dieſer ihr Hand - werk im Großen treibenden Tiſchler haben we - der Werkſtatt, noch Handwerksgeraͤth, noch62 Geſellen; dieſe laſſen ſich nur auf Podyaͤde ein, z. B. alle Boiſerie in einem neuerbauten Hauſe zu verfertigen, und ſchaffen alsdann die noͤthi - gen Arbeiter herbey, uͤber welche ſie die Auf - ſicht fuͤhren. Ehe ich dieſen Gegenſtand verlaſſe, muß ich hier eines Mannes und ſei - ner Arbeiten erwaͤhnen, der ſeinem deutſchen Vaterlande zur Ehre gereicht, und in ſeiner Gattung alles uͤbertroffen hat, was die raffi - nirteſte Induſtrie der Englaͤnder und Franzo - ſen in derſelben leiſtet. Dieſer Mann heißt Roͤntgen, iſt in Neuwied zu Hauſe, und bekennt ſich zur Sekte der Herrnhuter. Er hat ſich mehrere Jahre zu verſchiedenen Zeiten hier aufgehalten, und die Pallaͤſte der Kaiſe - rinn und der Großen des Hofes mit den er - ſtaunenswuͤrdigen Produkten ſeiner Kunſt ver - ſchoͤnert und bereichert. In der kaiſerlichen Eremitage ſtehen eine Menge Moͤbels, Schraͤn - ke, Uhren und andere Sachen von ſeiner Er - findung und Ausfuͤhrung. Sie ſind von den verſchiedenſten Holzarten, denen der Kuͤnſtler durch gewiſſe Vorbereitungen eine beſondere Haͤrte und Dauerhaftigkeit zu geben weiß, und die durch die muͤhſamſte und außerordentlichſte63 Politur einen Glanz erhalten haben, der zu ſei - ner Erhaltung keines Fro[t]tirens bedarf. Die Arbeit an dieſen Stuͤcken iſt eben ſo bewunderns - wuͤrdig als ihre Erfindung; keine Fuge iſt ſicht - bar, alles paßt ſo genau an einander, als ob es aus einem Guß gegoſſen waͤre; einige ſind mit Bronzearbeit von der ſchoͤnſten und man - nigfaltigſten Vergoldung, andere mit Basre - liefs, Gemmen und Antiken eingelegt. Das unuͤbertrefflichſte Produkt dieſes Kuͤnſtlers aber iſt ein Buͤreau oder Schreibepult, welches die Kaiſerinn dem Kunſtkabinett der Akademie der Wiſſenſchaften vor einigen Jahren ſchenkte. Hier hat das Genie des Erfinders ſeinen Reich - thum und ſeine Fruchtbarkeit an die mannigfal - tigſten Kompoſitionen verſchwendet: alles ſcheint Zauberey zu ſeyn. Wenn man dieſes wunder - bare Pult oͤfnet, ſo erblickt man in der Mitte eine ſchoͤne Gruppe von Basreliefs in Bronze, die bey dem leiſeſten Druck einer Feder ver - ſchwindet und einer koſtbaren Tafel mit einge - legten Gemmen Platz macht. Der Raum, den dieſe Tafel verdeckt, iſt der Aufbewahrung wich - tiger Papiere oder Gelder gewidmet; die kuͤhne Hand, die ſich an dieſem Fleck vergreifen wollte,64 wuͤrde ihr eigner Verraͤther ſeyn; denn bey der mindeſten Beruͤhrung der Tafel laͤßt ſich ſo - gleich eine ſanfte liebliche Muſik hoͤren, deren Organe man an der Ruͤckſeite in dem Unterge - ſtell des Pults ſehen kann. Mehrere kleine, zum Behuf der Schreibmaterialien u. ſ. w. ein - gerichteter Schublaͤden, ſpringen ebenfalls bey dem Druck ihrer Federn auf, und ſchließen ſich eben ſo ſchnell, ohne daß eine Spur ihres Da - ſeyns uͤbrig bleibt. Wenn man den Schreibe - tiſch in ein Leſepult verwandeln will, ſo draͤngt ſich aus dem Obertheil eine Tafel hervor, aus welcher ſich mit unglaublicher Geſchwindigkeit alle Theile eines bequemen und wohleingerichte - ten Leſepults entwickeln. Doch der Mechanis - mus dieſes Kunſtprodukts, ſo wie ſeine aͤußern Verzierungen, muͤſſen geſehen, nicht beſchrieben werden. Der Erfinder bot dieſes ſeltne und merkwuͤrdige Stuͤck der Kaiſerinn fuͤr zwanzig - tauſend Rubel an; aber dieſe großmuͤthige Ken - nerinn und Schaͤtzerinn aller Verdienſte glaubte mit einer ſolchen Summe nur die Arbeit be - zahlen zu koͤnnen: ſie beſtimmte dem Talent noch ein außerordentliches Geſchenk von fuͤnf - tauſend Rubeln.

Unter65

Unter den Gewerben des Luxus darf ich endlich auch die Kunſtgaͤrtnerey nicht ver - geſſen, welche hier von einigen Fremden, vor - zuͤglich Hollaͤndern, betrieben wird. Die koͤſt - lichen Fruͤchte und lieblichen Blumen die ſie fuͤr den Genuß der Reichen erziehen, werden mit ungeheuern Preiſen bezahlt, daher dieſes Gewerbe, nach Verhaͤltniß, eines der eintraͤg - lichſten iſt. Ein Beſuch in den Treibhaͤuſern dieſer Gaͤrtner, den Werkſtaͤtten einer ſanften, ruhigen und arbeitſamen Menſchenklaſſe iſt ein lehrreicher, intereſſanter Unterricht fuͤr den Beobachter. Welch ein Abſtand in den Ge - ſchaͤften des buͤrgerlichen Lebens, von dem nuͤtz - lichen und unentbehrlichen Fleiſcher, der, fuͤr unſer Bedrfniß, in den Eingeweiden der Thiere wuͤhlt, die ſeine Fauſt mordete bis zu dem uͤppigen und entbehrlichen Gaͤrtner, der, fuͤr unſere Schwelgerey, der Natur ihre Mecha - nik ſtiehlt, um Leben zu erzeugen und um ſich her zu verbreiten! So wie jener, durch ſei - nen ewigen Krieg gegen die Natur allmaͤlig zu einer Fuͤhlloſigkeit herabſinkt, in welcher er ſich als den natuͤrlichen Feind aller lebenden Ge - ſchoͤpfe anſieht, ſo erhoͤht die BeſchaͤftigungZweiter Theil. E66des Andern ſeine Empfindung unmerklich zu dem ſanften theilnehmenden Wohlwollen, wel - ches ihm mit leiſer Stimme zufluͤſtert, daß er der Freund und der Erhalter ſeiner organiſir - ten Geſchoͤpfe ſey. Ich habe ihn nicht geſe - hen, den Mann aus dieſem Gewerbe, deſſen Sitten rauh geweſen waͤren, oder der die Zoͤg - linge ſeines Fleißes nicht mit einer Art von vaͤterlicher Waͤrme geliebt haͤtte. Ich kenne ihn aber, den Mann, der einen Roſenſtock nicht weggeben wollte, weil er ihn fuͤr das liebenswuͤrdigſte Kind ſeiner Familie und das gelungenſte Produkt ſeiner Erziehung anſah, und eine große Summe ausſchlug, um ſich nicht von dem Lieblinge ſeines Herzens zu trennen.

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Zehnter Abſchnitt. Wiſſenſchaften und Kuͤnſte.

Verhältniß der Reſidenz in wiſſenſchaftlicher Kultur zu der Hauptſtadt. Gelehrte Geſellſchaften. Akademie der Wiſſenſchaften. Idee Peters des Groſ - ſen bey der Stiftung derſelben. Jetziger Zuſtand. Mitglieder. Thätigkeit. Bürgerliche Lage der Akade - miker. Ruſſiſche Akademie. Zweck und Verfaſ - ſung. Anekdote von der Sprachkenntniß der Kai - ſerinn. Parallele in dieſer Hinſicht mit Friedrich dem Zweiten. Oekonomiſche Geſellſchaft. Einrichtung und Zweck. Thätigkeit. Ihr Verdienſt um die Ver - breitung ökonomiſcher Kenntniſſe. Litterariſcher Werth ihrer Arbeiten. Gemeinnützige Preisaufgaben. Bibliotheken. Bibl. der Akad. der Wiſſenſch. Kurze Geſchichte derſelben. Itzige Verfaſſung. Män - gel und Reichthümer. Originalmanuſkripte Peters des Großen und Katharina der Zweiten. Ruſſiſche Bibliothek. Slavoniſche und ruſſiſche Handſchriften. Tangutiſche und mongoliſche Manuſkripte. Chineſiſche Bücher. Koſtbare Originalgemälde aus der Naturge - ſchichte. Lokale und Einrichtung. Bibl. des Alexander-Newski-Kloſters und des Landkadetten -E 268korps. Kaiſerliche Bibl. in der Eremitage Großfürſtliche Bibliotheken. Privatbibliotheken. Sammlungen von Natur - und Kunſtſel - tenheiten. Muſeum der Akad. der Wiſſenſch. Ge - ſchichte dieſes Inſtituts. Schätze aus den drey Na - turreichen. Ruyſh’s anatomiſche Präparate. Alter - thümer und Koſtbarkeiten. Denkmäler aus den ſibiri - ſchen Gräbern. Modelle. Mechaniſche Kunſtwerke. Gallerie orientaliſcher Nationen. Kabinett Peters des Großen. Erd - und Himmelskugeln. Phyſikaliſcher und aſtronomiſcher Apparat. Münz - und Medaillen - kabinett. Aeußere Einrichtung. Lieberkühniſche Sammlung im Kabinett des mediziniſchen Kollegiums. Mineralienſammlung und künſtliches Gebirge im Bergkadettenkorps. Großes Modellkabinett. Kaiſerliches Muſeum in der Eremitage. Privat - ſammlungen. Botaniſche Gärten. Gelehrte Hülfsmittel. Buchdruckereyen. Cenſur. Buch - handel. Leſegeſellſchaften. Ueberſicht der petersburgiſchen Litteratur während der Regierung Katharinens der Zweiten. Frühere Kultur der Ruſſen. Theologie. Rechts - gelehrſamkeit. Medizin. Philoſophie, Po - litik, Staats - und Landwirthſchaft. Phyſik und Naturgeſchichte. Mathematiſche Wiſſenſchaften. Geſchichte. Herausgegebene Manuſkripte älterer und neuerer Annaliſten Geographie. Kathari - nens Verdienſt um dieſelbe. Karten. Der kalugiſche Atlas, ein außerordentliches Unternehmen. - dagogik. Geſchichte und Verfaſſung des ruſſiſchen Schulweſens. Schulbücher. Sprachkultur Alte Li[e]teratur. Ueberſetzungen griechiſcher und römi -69 ſcher Schriftſteller. Dichtkunſt. Sumarokow. Knjäſhnie. Derſchawin. Cheraskow. Petrow. Proſaiſche Schriftſteller. Romano. Zeitſchriften. Deutſche Litteratur. Künſte. Akademie der Künſte. Künſtler. Maler. Kupferſtecher. Bildhauer Architekten. Muſiker, u. ſ. w. Me - chaniſche Künſte. Inſtrumentenmacher von aller Art. Kulibin, ein großes mechaniſches Genie. Schnoor’s typographiſche Vemühungen.

In allen monarchiſchen Staaten iſt die Reſi - denz der eigentliche Heerd gelehrter und wiſ - ſenſchaftlicher Kultur. Durch die Aufmunte - rungen der Fuͤrſten, den Beyfall eines großen gebildeten Publikums und die wahrſcheinlichere Ausſicht auf Gewinn und Ruhm gelockt, ver - ſammeln ſich die beſten Koͤpfe der Nation in Einen Mittelpunkt, den der Wetteifer des Ge - nies und des Fleißes, von oͤffentlichen Anſtal - ten unterſtuͤtzt, bald zur Wuͤrde eines Natio - naldepots der Aufklaͤrung und des Geſchmacks erhebt. Dies iſt der Fall in Frankreich, Eng - land, Daͤnemark, Schweden, und mehr noch, als in allen dieſen Laͤndern, in Rußland. Hier, wo keine Univerſitaͤten und gelehrte Geſell -E 370ſchaften im Innern des Reiches bluͤhen, wo der Buchhandel und die Circulation litterari - ſcher Kenntniſſe noch in ihrer Kindheit ſind, kann die Reſidenz mit Recht als der Maaßſtab fuͤr den extenſiven Zuſtand der Nationalkultur gelten; ein Vorzug, den ſie jedoch mit der alten Hauptſtadt des Reichs in gleichen Ver - haͤltniſſen theilt. Dieſer letztere Umſtand mag meine Leſer warnen, das Gemaͤlde welches wir itzt von dem Zuſtande der Wiſſenſchaften und Kuͤnſte in St. Petersburg entwerfen werden, nicht fuͤr einen vollendeten Abriß des geſamm - ten wiſſenſchaftlichen Zuſtandes der Nation anzunehmen. Nirgend im Reiche leben ſo viele Fremde in Staatsbedienungen und ge - lehrten Aemtern, als hier; nirgend werden daher die verſchiedenen Zweige der auslaͤndi - ſchen Litteratur mehr kultivirt, als hier. Aber ſo viele achtungswuͤrdige und zum Theil aus - gezeichnete ruſſiſche Schriftſteller die Reſidenz hervorgebracht hat, ſo hat Moskau deren doch noch mehr aufzuweiſen, und die meiſten und beſten Werke in der Nationalſprache ha - ben dort ihr Daſeyn erhalten. Der feinere und gebildete Theil des ruſſiſchen Adels lebt71 dort in einer ſorgenfreyen Muſſe, die den Mu - ſen guͤnſtiger iſt, als die geraͤuſchvolle Zer - ſtreuung und die anziehende Laufbahn des Ho - fes. Staats - und Geſchaͤftmaͤnner, die die groͤßere Haͤlfte ihres Lebens in gemeinnuͤtziger Thaͤtigkeit zugebracht haben, ſuchen gewoͤhn - lich auf ihren praͤchtigen Villa’s im Umkreiſe der Hauptſtadt eine Ruhe, die nicht ſelten fruchtbar fuͤr die Litteratur und die Wiſſen - ſchaften wird. Selbſt die Sprache, die nir - gend ſo fein und in ſo großer Reinigkeit ge - ſprochen werden ſoll, als in Moskau, gewaͤhrt dem Schriftſteller dort einen Vortheil, deſſen er hier zuweilen entbehrt. Aber auch den uͤbrigen Theil des Landes denke man ſich nicht durchaus als ein oͤdes Feld fuͤr die Wiſſen - ſchaften. In mehreren Statthalterſchaften herrſcht ein edler Wetteifer fuͤr die Aufnahme und Bearbeitung der vaterlaͤndiſchen Littera - tur, deſſen Wirkungen hauptſaͤchlich in der Geſchichte und Statiſtik des Reichs ſichtbar zu werden anfangen. Ueberall erwacht unter Katharinens weiſer und milder Regierung die Liebe zu Wiſſenſchaften und Kuͤnſten, der Geſchmack an einem feinern und geiſtigernE 472Genuß des Lebens. Man ſieht Buͤcher unter Druckoͤrtern, deren Namen der Welt bisher unbekannt waren; kuͤrzlich erhielt die Biblio - thek der Akademie der Wiſſenſchaften die er - ſten Stuͤcke einer Monatsſchrift aus Irkuzk: naͤchſtens wird ſie vielleicht eine aus Kamt - ſchatka erhalten.

In keiner Stadt des Reichs giebt es ſo viele gelehrte Aſſociationen als in der Reſidenz, und dieſen Vorzug, wenn es einer iſt, hat ſie ſelbſt vor Moskau voraus. Be - kanntlich beweiſen oͤffentliche Anſtalten dieſer Art aͤußerſt wenig fuͤr den wiſſenſchaftlichen Zuſtand einer Nation uͤberhaupt. Dieſe Er - fahrung, deren Guͤltigkeit hier noch durch den Umſtand verſtaͤrkt wird, daß der groͤßere Theil der Mitglieder ſolcher Geſellſchaften aus her - beygerufenen Auslaͤndern beſteht, darf uns nicht hindern, ihnen hier einen Platz anzuwei - ſen, da ſie durch ihre Wirkſamkeit einen mehr oder weniger merklichen Einfluß auf die Kultur der Nation erlangen. Urd dies iſt zugleich der Geſichtspunkt, aus welchem wir die hier folgenden Gegenſtaͤnde einer unpartheyiſchen Muſterung unterwerfen.

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Unter allen in der Reſidenz befindlichen ge - lehrten Anſtalten hat keine einen ſo unbeſtimm - ten und zugleich ausgebreiteten Wirkungskreis, als die Akademie der Wiſſenſchaften. Der eigentliche Zweck aller Stiftungen von dieſer Gattung: Erweiterung der Grenzen des gelehrten Wiſſens, ſollte hier zugleich mit der populaͤren Beſtimmung verbunden ſeyn, ge - meinnuͤtzige Kenntniſſe unter das Volk zu ver - breiten. Man hat es Petern dem Groſ - ſen haͤufig zu einem Vorwurf gemacht, daß er bey ſeinem Plan fuͤr die Volksbildung eher an eine Akademie als an Schulen gedacht ha - be; aber dieſer Vorwurf iſt ungegruͤndet. Die Grundlage die dieſer große Fuͤrſt fuͤr die Kul - tur ſeiner Nation entwarf, war viel tiefer be - rechnet und viel zweckmaͤßiger angeordnet, als ſeine unbeſonnenen Tadler nur geahndet ha - ben. Man ſieht aus dem Reglement, welches der unſterbliche Kaiſer fuͤr die, nach ſeinem Tode geſtiftete, Akademie beſtimmte, daß ſie eigentlich nach ſeiner Idee die Mutter aller kuͤnftig in Rußland zu gruͤndenden Unterrichts - anſtalten werden ſollte. Aus ihrer Mitte ſoll - ten Volkslehrer hervorgehn, die WiſſenſchaftenE 574und nuͤtzliche Kenntniſſe in der Landesſprache vortragen und ihnen auf dieſe Weiſe den leich - teſten und ſicherſten Eingang bey der Nation verſchaffen konnten. Zu dieſem Endzweck ward mit der Akademie zugleich ein Gymnaſium und eine Univerſitaͤt verbunden, und die Verord - nung gemacht, daß nur einheimiſche Zoͤglinge in dieſen Anſtalten aufgenommen, ausgebildet und zu Adjunkten der Akademie befoͤrdert wer - den ſollten. Waͤre man dieſem Plan getreu geblieben, ſo wuͤrden die Akademie und die von ihr abhaͤngigen Inſtitute bald nur mit Ruſſen beſetzt worden ſeyn; es wuͤrde vielleicht mancher glaͤnzende Name auf ihren Liſten feh - len, aber ſie wuͤrde dieſen Schimmer durch eine ausgebreitete, nuͤtzliche und ſichere Wirk - ſamkeit erſetzen. Nach der itzigen Verfaſſung iſt von allen dieſen Einrichtungen nur das Gymnaſium uͤbrig, in welchem Juͤnglinge ruſ - ſiſcher und anderer Nationen zu gelehrten Be - ſtimmungen gebildet und zuweilen nach aus - waͤrtigen Univerſitaͤten verſendet werden.

Unter dieſen Umſtaͤnden ſchraͤnkt ſich die Akademie jetzt vorzuͤglich auf die allgemeine Beſtimmung aller ihrer Mitſchweſtern ein. 75Sie iſt ein Inſtitut fuͤr die Vervollkommnung und Erweiterung der ihr anvertrauten Wiſ - ſenſchaften. Wie viel ſie in dieſem Kreiſe ih - rer Wirkſamkeit geleiſtet hat, iſt ſo bekannt, daß ich dieſen Gegenſtand mit Stillſchweigen uͤbergehe, um ſogleich eine kurze Schilderung ihrer jetzigen Verfaſſung zu geben.

Die Akademie theilt ſich nach ihren Be - ſchaͤftigungen in vier Klaſſen: die mathemati - ſche, phyſiſchmathematiſche, aſtronomiſche und phyſikaliſche, welche auch die Naturgeſchichte, Chemie und Anatomie begreift. In jeder der - ſelben hat ſie Maͤnner von Werth und zum Theil auch von ausgebreitetem Ruf aufzuwei - ſen. Die Anzahl ihrer Mitglieder belaͤuft ſich jetzt auf achtzehn, unter welchen acht geborne Ruſſen ſind. Zur erſten Klaſſe gehoͤren die Herren Aepinus, Kotel’nikow, Fuß, und Schubert, welchem letztern auch das Fach der Geographie uͤbertragen iſt. Zur zwey - ten, die Herren Euler und Krafft; zur drit - ten, die Herren Rumowski und Ino - chodzow, und zur vierten, nach ihren abge - ſonderten Wiſſenſchaften, folgende Herren: Anatomie: Protaſſow und Wolff. Zoo -76 logie: Pallas. Botanik: Lepechin. Mi - neralogie: Herrmann. Naturgeſchichte uͤber - haupt: Oſerezkowski und Sujew. Che - mie: Georgi und Sokolow. Fuͤr das Fach der Geſchichte: Herrn Stritter, in Moskau. Außer dieſen, welche wirkliche Mit - glieder ſind und gewoͤhnlich Profeſſoren ge - nannt werden, zaͤhlt die Akademie noch drey Adjunkten, zwoͤlf Korreſpondenten und meh - rere einheimiſche und auswaͤrtige Ehrenmit - glieder, unter welchen ſich der Thronfolger des Reichs und einige regierende Fuͤrſten befinden.

Die Geſchaͤfte, zu welchen ein wirkliches Mitglied verpflichtet iſt, beſtehen das eigne Forſchen und Fortſchreiten ausgenommen, wel - ches weder gefordert noch bezahlt wird in dem Beſuch der akademiſchen Konferenz und in der Ausarbeitung der Abhandlungen, welche in die acta Academiae kommen, und von wel - cher jedes Mitglied halbjaͤhrlich Eine zu liefern gehalten iſt. Mit beyden Forderungen wird es eben nicht aufs ſtrengſte genommen; ſo ein - geſchraͤnkt die Sphaͤre dieſer litterariſchen Thaͤ - tigkeit iſt, ſo fehlt es doch nicht an Beyſpie - len, daß einzelne Mitglieder ſich derſelben meh -77 rere Zeit hindurch zum Theil oder gaͤnzlich entzogen haben, wie die Regiſter der Konfe - renz und die acta beweiſen. Der allgemeine Vorwurf, der alle gelehrte Geſellſchaften trifft, daß ſie im Ganzen weniger leiſten, als die iſolirten Bemuͤhungen ſo vieler einzelnen Ge - lehrten leiſten koͤnnten, iſt mit dem groͤßten Recht auch auf dieſe beruͤhmte Anſtalt anwend - bar. Ueberall ſind es nur einzelne Maͤnner, die den Ruhm der Akademie und die Erwei - terung des menſchlichen Geſichtskreiſes durch muͤhſame Anſtrengungen zu erhalten ſuchen: der groͤßere Theil entledigt ſich ſeiner erhabnen Beſtimmung mit dem lauen Eifer, den ein alltaͤgliches Brodgeſchaͤft einfloͤßt.

Bey alle dem iſt die Akademie dem Staat und der Nation auf mancherley Weiſe nuͤtzlich geworden. Ihre gelehrten Abhandlungen frey - lich fallen hier auf einen unfruchtbaren Bo - den, denn ſie finden vielleicht nicht zehn Leſer im ganzen Reiche; aber deſto gemeinnuͤtziger wird ſie durch ihre Aufklaͤrungen uͤber die Ge - ſchichte und die natuͤrliche Beſchaffenheit dieſes unermeßlichen, noch bey weitem nicht genug unterſuchten Landes. Die Reiſen der Akade -78 miker ſind ein eben ſo ruͤhmliches Denkmal fuͤr die Akademie, als ſie einen unverwerflichen Beweis von dem ſcharfen Blick und der rich - tigen Einſicht der Monarchin geben, auf de - ren Geheiß ſie anbefohlen und zu Stande ge - bracht wurden. Auch durch die Beſorgung des Kalenderweſens und der Zeitungen, durch die Veranſtaltung ruſſiſcher zweckmaͤßiger Zeit - ſchriften, und durch den oͤffentlichen Vortrag nuͤtzlicher Wiſſenſchaften in der Landesſprache*)Seit einigen Jahren werden, auf Veranſtaltung der Fürſtinn Daſchkaw, jährlich den Sommer hin - durch unenrgeldliche Vorleſungen über die gemein - nützigſten Grundſätze der Mathematik, Chemie und Naturgeſchichte in ruſſiſcher Sprache von einigen Pro - feſſoren der Akademie gehalten, die für dieſe Bemü - hung eine beſondre Gratifikation bekommen., erwirbt ſich die Akademie ein Verdienſt um die Nation, das von jedem aufgeklaͤrten Patrio - ten anerkannt zu werden verdient.

Die Akademie bildet, ſelbſt in politiſcher Ruͤckſicht, ein ſehr anſehnliches Korps. Außer dem Protektor, wozu ſich der jedesmalige Mo - narch erklaͤrt, hat ſie einen Praͤſidenten und79 in gewiſſen Faͤllen auch einen Direktor, welche Stelle jetzt die gelehrte und im Auslande be - kannte Fuͤrſtinn Daſchkaw bekleidet. Die Wuͤrde eines Praͤſidenten iſt ſeit 1767 da der Graf Wolodimir Orlow Direktor ward, ein bloßer Titel, den der Graf Raſumowsky fuͤhrt. Die oͤkonomiſchen Geſchaͤfte werden durch eine Kanzelley beſorgt. Wenige gelehrte Geſellſchaften in Europa ſind ſo gut dotirt, als die petersburgiſche; ihre beſtimmten Ein - kuͤnfte betragen 53,000 Rubel, und dieſe wer - den durch den Gewinn ihrer Druckerey, ihres Buchhandels und durch den Debit der Kalen - der und Zeitungen bis gegen 70, oder 80,000 Rubel gehoben. Der Gehalt eines wirklichen Akademikers iſt zwiſchen 800 und 1500 Rubel. Die Adjunkten erhalten 360 Rubel. Außerdem beſoldet die Akademie unter ihren auswaͤrtigen Mitgliedern und Korreſpondenten einige mit 100 bis 200 Rubeln.

Der buͤrgerliche Zuſtand der Akademiker, unter denen es, wie wohl keinem meiner Leſer unbekannt ſeyn wird, Maͤnner von den glaͤn - zendſten Talenten und der groͤßten Erudition gegeben hat und noch giebt, iſt uͤberaus ver -80 ſchieden. Einige derſelben haben, außer ihren akademiſchen Stellen, wichtige und eintraͤgliche Bedienungen bey Hofe oder im Staate, und dieſe ſind ſowohl in Ruͤckſicht ihres Ranges als ihrer Einkuͤnfte ſehr gut verſorgt. Alle diejenigen aber, die bloß von ihren akademi - ſchen Aemtern leben und dies gilt von den meiſten koͤnnen ſich nur einer mittelmaͤßigen Exiſtenz erfreuen, da die Preiſe aller Dinge ſo ſehr geſtiegen ſind, daß die ehemals ziem - lich vortheilhaft berechneten Beſoldungen jetzt kaum zur Unterhaltung einer Familie hinrei - chen. Die mehreſten dieſer Herren ſehen ſich daher gezwungen, Lehrſtellen in den oͤffentli - chen Erziehungsanſtalten zu uͤbernehmen, wo - durch der ohnehin nur geringe Grad von Ach - tung, den der große Haufe gelehrten Aemtern zufließen laͤßt, noch vermindert wird.

Eine zweyte gelehrte Geſellſchaft, die ruſ - ſiſche Akademie, iſt dem Anbau, der Ver - vollkommnung und Ausbildung der Landes - ſprache gewidmet. Sie entſtand im Jahr 1783 auf den Vorſchlag der Fuͤrſtinn Daſch - kaw und durch die großmuͤthige Befoͤrderung der Kaiſerinn, die das werdende Inſtitut unterihren81ihren Schutz nahm, es zu dem Rang einer kaiſerlichen Akademie erhob, und demſelben dreyzehntauſend Rubel zum Ankauf eines Hau - ſes und fuͤnftauſend Rubel jaͤhrlicher Einkuͤnfte ſchenkte. Dieſe Geſellſchaft hat ſechszig Mit - glieder, deren Wahl, aus den feinſten und ge - bildetſten Staͤnden, fuͤr den Zweck ihrer Be - muͤhungen vortheilhafte Ausſichten giebt. Ue - berall ſind es die hoͤhern Klaſſen, unter denen eine Sprache Feinheit, Geſchmeidigkeit und Eleganz erhaͤlt; wo dieſe die Landesſprache vernachlaͤßigen, da kann ſie wohl durch die Bemuͤhungen der Gelehrten eine gebildete Buͤ - cherſprache, aber nie eine geſprochene, wer - den. Aus dieſer Urſache entbehrt die ſonſt ſo ſehr kultivirte deutſche Sprache jene Leichtig - keit, jene feinen Saillien, jene Empfaͤnglichkeit fuͤr den edlern Konverſationston, die wir an der franzoͤſiſchen ſo ſehr bewundern und ſo oft vergebens nachzubilden geſtrebt haben. Die ruſ - ſiſche Sprache war der Gefahr ſehr nahe, durch einen aͤhnlichen Hang zur Gallomanie aus den Zirkeln der großen Welt verwieſen zu werden; aber das patriotiſche Beyſpiel der Kaiſerinn hat ſie von dieſem Uebel gerettet. Zweiter Band. F82Gleich vertraut mit den Sprachen der kulti - virteſten Nationen, von Geburt eine Deutſche, und Franzoͤſinn wenn ſie an Voltaire ſchreibt, giebt dieſe außerordentliche Frau in ihren Schriften und Unterhaltungen der ruſſiſchen Sprache den Vorzug, weil ſie wohl weiß, daß ihr Beyſpiel allein der einreißenden Ver - nachlaͤßigung derſelben unter den Großen zu ſteuern vermag. Daß ſie das Idiom ihres Volks in ſeinem ganzen Reichthum und mit der Leichtigkeit eines geuͤbten Kuͤnſtlers zu be - nutzen verſteht, davon zeugen ihre unſterbli - chen Schriften; aber daß ſie dem Umfang deſ - ſelben bis in ſeine verborgenſten Quellen nach - geſpuͤrt und die Kenntniß dieſer Sprache zu ihrem Studium gemacht hat, das iſt vielleicht nicht ſo allgemein bekannt, und verdient durch folgende Anekdote, die ich einem glaubwuͤrdi - gen Zeugen nacherzaͤhle, naͤher bewieſen zu werden.

Die ruſſiſche Akademie hatte, als ſie ihr großes Woͤrterbuch anfieng, die Einrichtung getroffen, daß jeder Buchſtabe auf ſehr brei - tem Papier abgedruckt wurde, damit die Mit - glieder und andere Kenner der Sprache ihre83 Zuſaͤtze oder Bemerkungen beyfuͤgen konnten, ehe der eigentliche Abdruck fuͤrs Publikum ge - ſchah. Ein Exemplar dieſer Probebogen ward auch der Kaiſerinn uͤberreicht, nachdem alle Beytraͤge eingeſchaltet waren und der Buch - ſtabe als vollendet angeſehen werden konnte. Als das Exemplar wieder bey der Akademie einlief, fand man drey Worte am Rande be - merkt, die im Verzeichniß gefehlt hatten. Von zweyen derſelben erkannte man die Bedeutung ſogleich, aber das dritte ſchien allen Anweſen - den exotiſch. Die gelehrteſten Mitglieder ga - ben ſich alle erſinnliche Muͤhe dies raͤthſelhafte Wort zu entziffern, und als es keinem unter ihnen gelang, ſah man ſich genoͤthigt, bey der Quelle ſelbſt um die Erklaͤrung anzuſuchen. Statt der Antwort erfolgte eine Nachweiſung auf einen alten Chroniker, mit genauer Be - zeichnung der Stelle, wo dieſes Wort, das der Beybehaltung ſehr werth iſt, geſtanden hatte.

Es ſey mir bey dieſer Gelegenheit erlaubt, eine Parallele zwiſchen den beyden groͤßten Sou - verains unſers Jahrhunderts zu ziehen, die in ſo mancher andern Ruͤckſicht Stoff zu einerF 284intereſſanten Zuſammenſtellung geben. Frie - drich der Zweyte liebte die Wiſſenſchaften wie Katharina, ſeine erhabene Freundinn; wie ſie, beſchuͤtzte und pflegte er die Muſen, denen er, wie ſie, in ſeinen ſorgenfreyen Stun - den manches Opfer brachte. Gleich ihr, ſuchte er unter ſeinem Volk Kenntniſſe und Geſchmack zu verbreiten, die Morgenroͤthe der Philoſophie uͤber der Daͤmmerung der Vorur - theile und des Pedantismus herbeyzufuͤhren und den Kuͤnſten Tempel zu weihen. Aber Friedrich, ein deutſcher Fuͤrſt, kannte die Sprache ſeines deutſchen Volkes nicht, hatte den Eigenſinn, ſie nicht kennen zu wollen, ſelbſt da ſie ſeiner Schaͤtzung werth geworden war, ſelbſt da ſeine Vertrauten ihn auf die Fort - ſchritte ſeiner Nation aufmerkſam machten. Ueberall ein großer Mann, ließ er ſich hier von einem laͤngſt gefaßten und oft widerlegten Vorurtheil beſiegen; ein Vorurtheil, welches der deutſchen Nation ſeinen aufmunternden Beyfall entzog und ihr die unerſetzliche Ehre raubte, den groͤßten aller gekroͤnten Schrift - ſteller den ihrigen nennen zu koͤnnen. Ka - tharina die Zweyte, durch Geburt und85 Erziehung mit zwey Sprachen vertraut, lernt die dritte, die ſchwierigſte unter allen, mitten im berauſchenden Gewuͤhl eines glaͤnzenden Ho - fes, unter den Sorgen einer unermeßlichen Herrſchaft, unter dem Jubelgetoͤn errungener Siege aus dem Gefuͤhl ihrer Pflicht, und aus patriotiſchem Intereſſe fuͤr die Kultur ih - res Volks! Deutſcher Leſer! fuͤr dich iſt kein Anſtoß in dieſer Vergleichung. Auch Sie iſt ja dein, wie Er es war.

So ruͤhmlich die Bemuͤhungen der ruſſi - ſchen Akademie fuͤr die Aufnahme der vater - laͤndiſchen Litteratur ſind, ſo zweckmaͤßig und dem groͤßten Nationalbeduͤrfniß entſprechend iſt die Thaͤtigkeit der freyen oͤkonomiſchen Geſellſchaft, eines Inſtituts, welches ſeine Entſtehung und Fortdauer lediglich der patrio - tiſchen Theilnahme aufgeklaͤrter Privatperſo - nen verdankt. Sie ward im Jahr 1765, auf Veranlaſſung des Fuͤrſten Orlow und durch den Beytritt einiger Staatsmaͤnner und Ge - lehrten geſtiftet, und in eben dieſem Jahr er - folgte die Beſtaͤtigung der Kaiſerinn, begleitet von einem Geſchenk von ſechstauſend Rubeln und der Erklaͤrung, daß das kaiſerliche Ka -F 386binett die Druckkoſten der herauszugebenden Werke auf immer uͤbernehmen werde. Zugleich erhielt die Geſellſchaft die Erlaubniß, ſich des Privatſiegels der Kaiſerinn zu bedienen, in welchem ein Bienenkorb mit der ruſſiſchen Ue - berſchrift: nuͤtzlich, befindlich iſt. Durch das kaiſerliche Geſchenk und freywillige Beytraͤge ward ſie in den Stand geſetzt, ſich ein Haus zu bauen, deſſen Miethertrag nebſt dem Vor - theil, den ſie aus dem Verkauf ihrer Werke zieht, die beſtimmten Einkuͤnfte derſelben aus - machen. Woͤchentlich verſammelt ſie ſich einmal, und jaͤhrlich, an ihrem Stiftungstage, ſetzt ſie einen Preis von 25 bis 30 Dukaten auf die beſte Beantwortung einer Frage, oder als Be - lohnung der beſten Ausfuͤhrung irgend einer oͤkonomiſchen Aufgabe aus; mehrentheils aber erbieten ſich vornehme oder beguͤterte Glieder zu Preiſen fuͤr Aufgaben, die ſie ſelbſt machen oder der Geſellſchaft uͤberlaſſen. Die Anzahl ihrer Mitglieder belaͤuft ſich jetzt auf mehr als zweyhundert, unter welchen etwa die Haͤlfte Ruſſen, und viele auswaͤrtige in andern Laͤn - dern lebende Ehrenmitglieder ſind. Seit kur - zem hat ſie auch eine Klaſſe fuͤr Korreſponden -87 ten errichtet. Die Direktion des Inſtituts iſt einem Praͤſidenten anvertraut, der jaͤhrlich am Stiftungstage erwaͤhlt wird; eine Wahl, die nun ſchon mehrere Jahre hindurch den Gra - ſen zu Anhalt getroffen hat, der ſich durch ſeinen lobenswuͤrdigen Eifer fuͤr die Aufnahme der Geſellſchaft ein unverkennbares Verdienſt um dieſelbe erwirbt. Sie hat ferner zwey be - ſtaͤndige Sekretaire, einen fuͤr die ruſſiſchen und den andern fuͤr die deutſchen Geſchaͤfte; jene Stelle bekleidet der wirkliche Staatsrath Nartow, dieſe der Hofrath und Akademikus Euler. Die Aufſicht uͤber das Archiv und die Bibliothek uͤbernimmt der Brigadier Ruͤ - dinger, und uͤber die Modellſammlung der Staatsrath Gerhardt. Bey den Sitzun - gen, Wahlen und allen Verhandlungen der Geſellſchaft herrſcht eine voͤllige Gleichheit, wie es der Zweck und Geiſt einer freyen litte - rariſchen Stiftung erheiſcht.

Seit ſeiner Entſtehung hat dieſes nuͤtzliche Inſtitut eine zwar zuweilen erſchlaffte, doch nie ganz unterbrochene Thaͤtigkeit gezeigt; nie und in keinem Zeitpunkt ſeiner Dauer aber iſt es ſo ſehr und mit ſo gluͤcklichem Erfolge wirk -F 488ſam geweſen, als itzt. Ohne gerade durch praktiſche Anlagen im Großen der vaterlaͤndi - ſchen Landwirthſchaft Vorſchub zu thun ein Ziel, welches von keiner gelehrten Geſell - ſchaft erreicht werden kann hat ſie ſich den - noch nicht bloß auf die Sphaͤre der Spekula - tion begrenzt. Die Frage, was ſie geleiſtet hat, ſchließt zugleich die Beſtimmung ihres relativen Nutzens in ſich: eine kurze Beant - wortung des erſtern Punkts wird alſo auch fuͤr den zweyten hinreichend ſeyn.

Die Abhandlungen und Preisſchriften, welche die Geſellſchaft in ruſſiſcher Sprache herausgegeben hat, ſind itzt zu einer Samm - lung von beynahe funfzig Baͤnden angewach - ſen. So viele gute Aufſaͤtze, neue Entdeckun - gen und Bereicherungen ſie auch enthaͤlt, ſo iſt dieſer Vorzug doch nicht die verdienſtvollſte Seite derſelben. Ungleich wichtiger iſt der Umſtand, daß jetzt die Nation in dieſer Samm - lung einen reichhaltigen Schatz praktiſcher und groͤßtentheils auf das Lokalbeduͤrfniß angepaßter Grundſaͤtze uͤber den weſentlichſten Zweig der Induſtrie in der Landesſprache beſitzt. Es kommt hier nicht ſo ſehr auf die Neuheit89 der vorgetragenen Sachen an, da uͤberall dem Unwiſſenden alles neu iſt; es gilt hier nur das Verdienſt, nuͤtzliche Aufklaͤrungen unter einer Volksklaſſe zu verbreiten, die deren bedarf und bisher entbehrte. Dieſer große und ſchoͤne Zweck iſt von der oͤkonomiſchen Geſellſchaft, wenn auch nicht in ſeinem ganzen Umfange, ſo doch hin und wieder auf mannigfaltige Art erreicht worden. Landedelleute im Innern des Reichs ſind durch die Leſung der oͤkonomiſchen Schriften aufmerkſam auf die Quellen ihres Wohlſtands geworden; reiche Guͤterbeſitzer, denen die Geſellſchaft die Ehre der Mitglied - ſchaft ſchenkte, haben ſich der praktiſchen Be - waͤhrung theoretiſcher Vorſchlaͤge, der Aus - breitung landwirthſchaftlicher Kenntniſſe, un - terzogen, und ſelbſt die unterſte Klaſſe des Volks, der Bauer, hat den Einfluß dieſer pa - triotiſchen Thaͤtigkeit gefuͤhlt. Als der Gene - rallieutenant Konownizin, Gouverneur von St. Petersburg, im Jahr 1790 bey allen Volksſchulen der St. Petersburgiſchen Statt - halterſchaft Leſebibliotheken zum Gebrauch des Publikums anlegte, ſchenkte er jeder derſelben ein Exemplar von den Werken der Geſellſchaft. F 590Es iſt mir aus dem Zeugniß glaubwuͤrdiger Maͤnner bekannt, daß mehrere Landedelleute einzelne Theile oder Abhandlungen unter ihre Bauern zum Leſen herumgehen laſſen.

Aber dieſe Gemeinnuͤtzigkeit iſt auch nicht ohne litterariſches Verdienſt. Die Werke der oͤkonomiſchen Geſellſchaft enthalten eine Menge ſehr durchdachter, zum Theil auch neuer Vor - ſchlaͤge und Entwuͤrfe, die das Gebiet der Wiſſenſchaft, als ſolcher, erweitern und ver - vollkommnen helfen. Ich darf hier nur auf die deutſche Ueberſetzung derſelben, und auf die Auswahl verweiſen, die zum Beſten des deutſchen Publikums beſorgt wird und von welcher bis itzt drey Baͤnde erſchienen ſind. Die gute Aufnahme, die dieſes Werk bey Ken - nern und Kunſtrichtern geſunden hat, die Ach - tung mit welcher die oͤkonomiſchen Societaͤten, ſelbſt ſehr entfernter Laͤnder, ſich um eine Ver - bindung mit der hieſigen bewerben, ſind ent - ſcheidende Beweiſe fuͤr den Werth ihrer Be - muͤhungen.

Unter den Preisaufgaben zeichnen ſich die mehreſten durch ihre ſorgfaͤltig berechnete Zweck - maͤßigkeit und durch die anſehnlichen Summen91 aus, mit welchen der Patriotismus einzelner Glieder das Talent und den Fleiß zur Beant - wortung derſelben anzufeuern ſuchte. Als ei - nen Beweis hievon wollen wir nur einige der merkwuͤrdigſten und auffallendſten aus dem großen Regiſter derſelben herausheben. Ein Ungenannter ſchenkte der Geſellſchaft tauſend Dukaten, mit dem Beding, eine verhaͤltniß - maͤßige Summe auf die Beantwortung der Frage zu ſetzen: Iſt es dem gemeinen We - ſen nuͤtzlicher, daß der Bauer Land, oder daß er bloß bewegliches Eigenthum habe? Und wie weit kann ſich ſein Recht auf das eine oder andere erſtrecken? Eine Aufgabe von ſo ein - leuchtender Wichtigkeit fuͤr das ruſſiſche Volk und die geſammte Menſchheit mußte natuͤrlich ſehr viele Konkurrenten erwecken; unter hun - dert vier und ſechszig eingelaufenen Beantwor - tungen erhielt Herr Bearde de Labry in Aachen den ausgeſetzten Preis von hundert Dukaten. Fuͤnf und dreyßig Dukaten fuͤr die beſte kleine Schrift, die unter der Auf - ſchrift Bauernſpiegel den Landleuten gruͤnd - lich und faßlich zeigt, wie ſie ihre Kinder zu geſunden, guten Menſchen und Landwirthen92 erziehen koͤnnen, mit einer kurzen Anweiſung zum Ackerbau und zur Viehzucht. Ein Feyerkleid, 25 bis 30 Rubel an Werth, fuͤr die ingermannlaͤndiſche Baͤurin, welche in ei - nem beſtimmten Zeitraum die meiſte Hauslein - wand verfertigt haben wird. Dreyhundert Dukaten fuͤr den beſten Entwurf zu den Aus - gaben und der Haushaltung eines Mannes, der in St. Petersburg oder Moskau drey bis zwoͤlftauſend, oder dreyzehn bis dreyßigtauſend Rubel Einkommen hat, wobey auf eine an - ſtaͤndige Befriedigung ſeiner verhaͤltnißmaͤßigen Beduͤrfniſſe Ruͤckſicht genommen wird. Fuͤnf und zwanzig Dukaten dem Manne, der in ei - nem Jahr im kymmenegorodiſchen Kreiſe (in Finnland) den meiſten Moraſt zu Ackerland austrocknen wird. Wie koͤnnen Rußlands Einwohner mittlern Standes alle ihre Beduͤrf - niſſe nach der jetzigen Lebensart, nicht nur zur Nothdurft, ſondern auch mit Ruͤckſicht auf Wohlſtand, Bequemlichkeit, Vergnuͤgen und Erhaltung der Geſundheit bloß mit ruſſiſchen, rohen oder verarbeiteten Produkten befriedi - gen? Die Praͤmie von fuͤnf und dreyßig Du - katen ward dem Akademikus Georgi zuer -93 kannt. Angabe zweckmaͤßiger Nebenbeſchaͤf - tigungen fuͤr den ruſſiſchen Landmann, eben - falls von Herrn Georgi beantwortet. Iſt das fruͤhe Bewohnen unſerer neuen Stein - haͤuſer der Geſundheit unſchaͤdlicher als in neuen Haͤuſern des Auſſenlandes? oder ſind wir nur weniger aufmerkſam auf die Folgen? Und welches ſind die ſicherſten Mittel der Schaͤd - lichkeit dieſer Gewohnheit zu begegnen? Der Doktor und Profeſſor Born in Kronſtadt er - hielt den Preis von fuͤnf und zwanzig Duka - ten. Hundert Dukaten von einem Unge - nannten fuͤr die beſte Anweiſung, wo und wie die Kultur des Weinſtocks und Oelbaums im ruſſiſchen Reiche zu befoͤrdern ſey. Im Jahr 1792 machte die Geſellſchaft eine ſte - hende Preisaufgabe bekannt, deren Praͤmie an jedem Stiftungstage demjenigen zuerkannt werden ſoll, der eine von ihm ſelbſt gewaͤhlte Statthalterſchaft, in oͤkonomiſcher Hinſicht, am genaueſten und zweckmaͤßigſten beſchrieben haben wird. Zu dieſem Endzweck hat die So - cietaͤt einen Entwurf drucken laſſen, nach wel - chem ſie die Beobachtungen geordnet zu ſehen wuͤnſcht; eine Idee, die fuͤr die Kenntniß des94 innern Zuſtandes von Rußland ſehr wichtige Aufklaͤrungen erwarten laͤßt. Ich uͤbergehe eine Menge intereſſanter Aufgaben fuͤr die Theorie der Landwirthſchaft, Ausfuhrpraͤmien und Belohnungen fuͤr Kuͤnſtler, Handwerker und Landleute, weil aus den gegebenen Pro - ben der Geiſt und die Verfahrungsart der Ge - ſellſchaft ſich hinlaͤnglich erſehen laͤßt. Viel - leicht habe ich mich ſchon zu lange bey einem Gegenſtande verweilt, der gerade nicht das groͤßte Intereſſe fuͤr alle Leſer haben kann; aber es ſchien mir Pflicht, ein Inſtitut naͤher zu karakteriſiren, das ſich ſo ſehr von dem großen Haufen aͤhnlicher Anſtalten unterſchei - det; das in ſeiner ſtillen Wirkſamkeit, ohne oͤffentliche Unterſtuͤtzung, durch die freywillige Theilnahme unbeſoldeter Mitglieder, mehr wahrhaft Nuͤtzliches ſtiftet und der Nation und der Menſchheit wohlthaͤtiger wird, als alle die großen und koſtbaren gelehrten Innun - gen, die mit ihren tiefſinnigen Produkten al - lenfalls den geiſtigen Luxus vergnuͤgen, deren Daſeyn aber das menſchliche Wohl oder Elend um kein Haar erhoͤht oder mindert.

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Wir gehen jetzt zur Schilderung der lit - terariſchen Huͤlfsmittel uͤber, deren die Reſidenz ſo viele und zum Theil ſeltne und ausgezeichnete enthaͤlt, daß wir uns von der Muſterung derſelben eine angenehme Befriedi - gung verſprechen duͤrfen. Zu den weſentlichſten Gegenſtaͤnden dieſer Rubrik gehoͤren die oͤf - fentlichen Bibliotheken. St. Peters - burg hat aus dieſer Gattung nur Eine aufzu - weiſen, aber die Anzahl großer Privatbiblio - theken, deren leicht zu erhaltender Zutritt je - nen Mangel einigermaßen erſetzt, belaͤuft ſich uͤber zwanzig. Wir fangen, der Ordnung nach, mit jener an: dies iſt die Bibliothek der Akademie der Wiſſenſchaften.

Ein ſo merkwuͤrdiges Inſtitut in einer ſo jungen Stadt, von deſſen Entſtehung ſelbſt noch Zeitgenoſſen unter den Lebenden vorhan - den ſind, verdient eine kurze Ueberſicht ſeiner Geſchichte. Der Krieg, dieſer Zerſtoͤrer und Feind aller Kuͤnſte des Friedens, ward die Ver - anlaſſung zur Grundlage deſſelben. Eine Buͤcher - ſammlung von ungefaͤhr 2500 Baͤnden, die Pe - ter der Große in Kurland erbeutet hatte, und nach ſeiner neuen Reſidenz bringen ließ, gab96 den erſten Vorrath her, welcher durch man - cherley Beytraͤge, hauptſaͤchlich durch die Ein - verleibung der Bibliothek des verſtorbenen Ar - chiaters Areskin, betraͤchtlich vermehrt wurde. Bis dahin war die Bibliothek fuͤr den Ge - brauch des Kaiſers beſtimmt; als dieſer aber ſtarb, und im Jahr 1725 die Akademie eroͤf - net wurde, ſchenkte ſeine Nachfolgerinn die ganze Sammlung an das neue Inſtitut, und mit dieſem Zeitpunkt beginnt ſie als oͤffentliche Bibliothek, da der Eintritt in dieſelbe zwey - mal in der Woche Jedermann frey gelaſſen wurde. Die erſte Bereicherung, die ſie in die - ſem neuen Zuſtande erhielt, waren die Buͤ - cher, Plane und Karten, deren ſich ihr großer Stifter ſelbſt bedient hatte; ein Geſchenk, welches mehr zu einer ehrwuͤrdigen Reliquie, als zu einer wirklichen Vergroͤßerung dienen konnte. Der Zuwachs, den die Bibliothek nach dieſer Zeit, theils durch den Ankauf wich - tiger Werke in Holland, theils durch zufaͤllige Acquiſitionen erhielt, machte ein Verzeichniß derſelben nothwendig, welches auch im Jahr 1742 in drey Oktavbaͤnden erſchien, aber ſo unzweckmaͤßig abgefaßt war, daß es fuͤr denLitte -97Litterator wenig oder keinen Werth haben konnte. Die Bibliothek des Staatsrath San - chez und andere Vermehrungen fiengen eben an dem werdenden Inſtitut einigen Glanz zu geben, als ein ploͤtzlicher Ungluͤcksfall dieſe ſchoͤnen Ausſichten auf eine Zeitlang unter - brach. Das Feuer, dieſes gefaͤhrliche Element, welches faſt alle beruͤhmte Sammlungen be - droht oder zerſtoͤrt hat, ward auch hier die Urſache einer Verwuͤſtung, deren Folgen weniger durch den erlittenen Verluſt, als durch die Unordnung nachtheilig waren, in welche die Bibliothek durch dieſen Unfall ge - rieth, und die nicht eher gehoben werden konnte, als bis das neue Gebaͤude wieder her - geſtellt war, in welchem ſie noch jetzt aufbe - wahrt wird. Unter Katharinens Regie - rung ward der Krieg zum zweytenmal ein Wohlthaͤter dieſer Sammlung; ſie erhielt im Jahr 1772 die beruͤhmte Radzivil’ſche Bi - bliothek, die bisher zu Nesviz, in Litthauen, geſtanden hatte. Dies war der letzte große Zufluß, den ſie bekam; ihre ſpaͤtern Bereiche - rungen verdankt ſie der Großmuth der Kai - ſerinn und dem Wohlwollen einzelner FreundeZweiter Theil. G98der Wiſſenſchaften, denn der Fonds, der fuͤr ihre Vermehrung ausgeſetzt iſt und jaͤhrlich fuͤnftauſend Rubel betraͤgt, wird oft auch zu andern Beſtimmungen angewendet. Ihr Reich - thum beſteht nach der juͤngſten Zaͤhlung in 30,200 Werken, die wahrſcheinlich uͤber 60,000 Baͤnde enthalten.

Schon dieſe Angabe beweiſt, daß ſie ſich nicht mit ihren groͤßten und vorzuͤglichſten Schweſtern in Europa meſſen darf, und ihr innerer Zuſtand vermehrt ihre Anſpruͤche nicht. Da ihre weſentlichſten Beſtandtheile ohne Wahl, ohne Ruͤckſicht auf einen beſtimmten Plan, und groͤßtentheils durch den Zufall zuſammen - getragen ſind, da man nie außerordentliche Summen zu ihrer Vervollkommnung aufge - wendet hat; ſo laͤßt ſich, bey dem Wetteifer aller gebildeten Nationen fuͤr die Ehre ihrer Sammlungen und bey dem hohen Alter der mehreſten unter dieſen, der Platz leicht beſtim - men, den ſie auf der Rangtafel der großen Bibliotheken behaupten kann. Dieſe ſtrenge Wuͤrdigung, die den einheimiſchen Bibliogra - phen außer den Verdacht einer Partheylichkeit ſetzen wird, thut dem wahren Werth einer in99 vieler Ruͤckſicht koſtbaren und reichhaltigen Sammlung deswegen keinen Abbruch. Die große Menge ſeltner und wichtiger Buͤcher in mehreren Faͤchern des menſchlichen Wiſſens, die in der bekannten Schrift des ehemaligen Bibliothekars Bacmeiſter uͤber die Biblio - thek und das Muſeum der Akademie aufge - fuͤhrt werden,[giebt] hinreichende Beweiſe fuͤr ihre Wichtigkeit. Da nicht leicht einem deut - ſchen Litterator dieſes Buch unbekannt ſeyn wird, und da die uͤbrigen Leſer, die keine Lit - teratoren ſind, wahrſcheinlich wenig Intereſſe an fremden Buͤchertiteln finden, ſo uͤbergehe ich hier die genauere Angabe der groͤßten Merk - wuͤrdigkeiten der Bibliothek, um eine allge - meine Schilderung ihres gegenwaͤrtigen Zu - ſtandes zu entwerfen.

Unter den wichtigen und nothwendigen Theilen einer oͤffentlichen Bibliothek iſt das Fach der ſchoͤnen Wiſſenſchaften verhaͤltniß - maͤßig am ſchlechteſten beſetzt, und auch die nordiſche Geſchichte iſt bey weitem nicht ſo vollſtaͤndig, ols es zu wuͤnſchen waͤre; eine Erfahrung, die jeder Litteraturfreund mit ſo groͤßerer Befremdung macht, je groͤßer die Er -G 2100wartung, von der letzten Klaſſe hauptſaͤchlich, in der Hauptſtadt eines nordiſchen Reiches ſeyn muß. Einen angenehmen Kontraſt mit dieſen Maͤngeln machen folgende Rubriken, die ſich durch den Reichthum, den Werth und die Seltenheit ihres litterariſchen Vorraths vortheilhaft auszeichnen: Geſchichte, Alter - thuͤmer, Numismatik, Naturgeſchichte, ma - thematiſche Wiſſenſchaften und Litterargeſchichte. Die Faͤcher welche uͤberall zum Luxus der Bibliotheken gehoͤren, Manuſcripte und alte oder ſeltne Editionen, ſind hier auch nicht die glaͤnzendſte Seite. An alten Handſchriften fehlt es beynahe gaͤnzlich; die neuern ſind großentheils von geringer Bedeutung, drey ausgenommen, die durch ihren erhabenen Ur - ſprung und individuellen Karakter als Heilig - thuͤmer der Nation angeſehen werden und eine allzu merkwuͤrdige Seltenheit ausmachen, um hier nicht eine kurze Erwaͤhnung zu verdienen. Das erſte iſt ein Dankgebet Peters des Großen nach der Schlacht bey Poltawa, das zweyte, ein Seewoͤrterbuch ganz von der eignen Hand dieſes Fuͤrſten. Das dritte und durch ſeinen Inhalt das merkwuͤrdigſte 101 iſt das Manuſcript der beruͤhmten Inſtruk - tion, die den Namen Katharinens allein verewigen muͤßte, wenn er auch nicht ſo viele andere gerechte Anſpruͤche an die Unſterblich - keit haͤtte. Dieſe Schrift, das Denkmal des aufgeklaͤrteſten Kopfs und des edelſten Her - zens, der Stolz zweyer Nationen und unſers Jahrhunderts, iſt, bis auf zwey oder drey einzelne Stellen, durchaus von der Hand der Kaiſerinn, groͤßtentheils franzoͤſiſch, hin und wieder auch ruſſiſch, in ſehr fluͤchtigen Zuͤgen geſchrieben und an einzelnen Stellen durchſtri - chen und geaͤndert. Sie wird in einem emble - matiſch verzierten und vergoldeten Kaͤſtchen be - wahrt. Jeder denkende und gefuͤhlvolle Menſch naht ſich dieſer Merkwuͤrdigkeit mit der Ehr - furcht, mit welcher man ſich einem Heiligthum naͤhert, und verlaͤßt ſie nicht, ohne ſeine Ach - tung und Verehrung gegen die erhabene Urhe - berinn derſelben erhoͤht zu fuͤhlen.

Die ruſſiſchen Buͤcher ſind beſonders aufgeſtellt; ihre Anzahl betraͤgt etwa dreytau - ſend. Da der Akademie von jedem in Ruß - land gedruckten Buche ein Exemplar zugeſtellt werden muß, und da ſie ohnehin die beſtenG 3102Mittel hat, ſich die Produkte der einheimi - ſchen Litteratur zu verſchaffen, ſo iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß die Summe aller in ruſſi - ſcher Sprache vorhandenen gedruckten Werke nicht viel uͤber jene Anzahl hinausgeht. In - tereſſanter als dieſe faſt durchaus ſehr junge Sammlung, ſind die ruſſiſchen Hand - ſchriften, von denen die Bibliothek einen großen und fruchtbaren Reichthum beſitzt. Un - ter den ſlavoniſchen Manuſcripten ſind die aͤlteſten aus dem dreyzehnten Jahrhundert. Man findet eine zahlreiche Folge ruſſiſcher Annaliſten, und von dem wichtigſten derſel - ben, dem Neſtor, ein Exemplar, das fuͤr das aͤlteſte aller vorhandenen gilt. Zu den lit - terariſchen Kurioſitaͤten gehoͤrt auch das aͤlteſte in ſlavoniſcher Sprache gedruckte Buch, ein Pentatevchus von 1519.

Ein anderer, noch unbenutzter, Schatz, den dieſe Bibliothek vor allen ihren Schweſtern ausſchließlich beſitzt, beſteht in einer betraͤcht - lichen Sammlung tangutiſcher und mon - goliſcher Manuſcripte. Sie wurden im Jahr 1720 in Sibirien aufgefunden und nach St. Petersburg uͤberſandt. Peter der Große103 ſchickte einige Hefte davon nach Paris an die Akademie der Wiſſenſchaften, um zu erfah - ren was ſie enthielten, und die Herren Aka - demiker entledigten ſich dieſes Auftrags als wahre Franzoſen. Ein gewiſſer Abbe Bignon lieferte dem Kaiſer die Ueberſetzung in lateini - ſcher Sprache, wobey er jedoch ſelbſt einige Zweifel uͤber die Treue ſeiner Dollmetſchung aͤußerte. Spaͤterhin fand ſichs, daß kein Wort davon im Originale ſtand. Die Akademie unterhaͤlt jetzt einen Mann unter dieſen Voͤl - kerſchaften, um die Sprache zu erlernen. Er iſt ein Deutſcher und heißt Jaͤhrig; ich habe ihn, bey ſeinem letzten Aufenthalt in der Re - ſidenz, perſoͤnlich kennen gelernt. Er hatte da - mals ſechszehn Jahre unter den Mongolen ge - lebt, war mit ihren Sitten ſo vertraut ge - worden, und hatte dieſe ſo lieb gewonnen, daß ihm unſere europaͤiſche Bequemlichkeiten ſehr zuwider waren. Auch von ihrer Weisheit hatte er ſo vortheilhafte Begriffe, daß er glaubte, wir Europaͤer koͤnnten in vielen Din - gen aus jenen Gegenden Aufklaͤrung holen. So gewiß dieſer Mann die mongoliſche Sprache voͤllig beſaß, ſo unmoͤglich war es doch, inG 4104ſeinen Dollmetſchungen den Zuſammenhang zu finden, den er mit der groͤßten Anſtrengung hineinzulegen ſtrebte. Um den Nachdruck und die Eigenthuͤmlichkeiten des Originals zu errei - chen, hatte er eine Menge neuer Worte ge - ſchaffen, die bey aller Sonderbarkeit ihres Gepraͤges zuweilen uͤberaus karakteriſtiſch, wie - wohl nicht ſelten auch voͤllig unverſtaͤndlich wa - ren. Einer meiner gelehrten Freunde hier in St. Petersburg hat itzt ein Manuſcript von ihm in Haͤnden, welches die Ueberſetzung einer mongoliſchen Schrift enthaͤlt, die vielleicht der - einſt im Publikum erſcheinen wird, wenn der Verſuch, den oft ſehr raͤthſelhaften Sinn zu entziffern, gelingen ſollte. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Reſidenz, waͤhrend welchem Jaͤhrig ſich verheyrathet hatte, zog er wie - der zu ſeinen geliebten Mongolen zuruͤck, um den Reſt ſeines Lebens unter ihnen zu verle - ben. Bey ſeiner Abreiſe faßte er einen Ent - ſchluß, der fuͤr die Kultur dieſes Volks ſehr merkwuͤrdig werden kann. Er nahm eine Sammlung von guten Buͤchern aus verſchie - denen Faͤchern der Wiſſenſchaften mit ſich, um ſie dort zu uͤberſetzen und unter den Mongolen105 bekannt zu machen. Unter dieſen Werken be - fanden ſich verſchiedene naturhiſtoriſche, geo - graphiſche und andere Lehrbuͤcher, aber kein philoſophiſches, weil er in dieſem Zweige menſchlicher Erkenntniß ſeinen Mongolen mehr als den Europaͤern zutraute.

Nicht ſo ſelten als die mongoliſchen Ma - nuſcripte, aber immer merkwuͤrdig genug, um die Zierde einer Bibliothek zu machen, ſind die chineſiſchen Buͤcher, von welchen die Akademie eine Sammlung von zweytauſend achthundert Baͤnden oder Buͤndeln beſitzt. Die erſte Acquiſition dieſer litterariſchen Seltenheit ward im Jahr 1730 durch einen ruſſiſchen Reſidenten am khaniſchen Hofe gemacht, der ſie von jeſuitiſchen Miſſionarien in Peking er - halten hatte. Die Baͤnde ſind ſehr duͤnn, etwa wie unſere Journale, brochirt und auf Sei - denpapier oder geglaͤtteter Bambusrinde ge - druckt. Ihr Inhalt iſt nicht voͤllig ſo unbe - kannt, als der der mongoliſchen Handſchriften, da Rußland beſtaͤndig Kommiſſarien oder Reſiden - ten in China oder an der Grenze unterhaͤlt. Man hat nicht nur ein Regiſter von den Buͤ - chertiteln, ſondern ſogar ruſſiſche Ueberſetzun -G 5106gen von einzelnen Werken. Die hier vorhan - dene Sammlung enthaͤlt philoſophiſche, ſtaats - wiſſenſchaftliche, hiſtoriſche und geographiſche, mathematiſche, mediziniſche und philologiſche Aufſaͤtze und Schriften.

Die letzte Merkwuͤrdigkeit deren wir hier erwaͤhnen wollen, gehoͤrt zu der Gattung der nuͤtzlichen und ſeltnen zugleich. Sie beſteht in zwey auserleſenen Sammlungen von Gemaͤl - den aus der Naturgeſchichte. Die aͤl - tere enthaͤlt Schmetterlinge, Pflanzen und an - dere Gegenſtaͤnde des Naturreichs, und hat ihr Daſeyn der beruͤhmten Frau Merian zu danken, die zwey Jahre in Surinam zubrachte, um daſige Inſekten nach allen ihren Verwand - lungen, zugleich mit den Blumen, Fruͤchten und Pflanzen, auf denen ſie ſich am liebſten aufhalten, zu malen. Die zweyte, deren Ac - quiſition die Akademie erſt im Jahr 1782 machte, iſt die bekannte vortreffliche Samm - lung des D. Fothergill in England; eine Reihe von Abbildungen aus dem Gebiet der Thier - und Pflanzenwelt von den groͤßten brittiſchen Kuͤnſtlern. Die Kaiſerinn kaufte ſie fuͤr fuͤnftauſend Pfund Sterling und ſchenkte107 ſie der Akademie, wo ſie jetzt fuͤr das Vergnuͤ - gen und den Unterricht des Publikums aufbe - wahrt wird.

Alle dieſe litterariſchen Schaͤtze und Sel - tenheiten ſind in zwey großen Saͤlen aufge - ſtellt, deren jeder ungefaͤhr 77 Fuß lang und 49 breit iſt. Einer derſelben hat eine Gallerie, welche die ruſſiſche, tangutiſche und chineſiſche Buͤcherſammlung enthaͤlt. Die Schraͤnke ſind von Eichenholz und die Thuͤren mit Gegitter von Eiſendrath verſehen. In der Eintheilung der Klaſſen iſt man der gewoͤhnlichen Ordnung gefolgt; uͤber jedem Schrank iſt ein Schild be - findlich, welches die Klaſſe der darinn enthal - tenen Werke anzeigt. Die Bibliothek hat ei - nen Ober - und Unterbibliothekar; jene Stelle bekleidet der Akademikus Kotel’nikow, dieſe der Herr Buſſe, ein Deutſcher, der ſich durch ſeine Gefaͤlligkeit, auf einem Poſten wo dieſe etwas ſeltnes iſt, allgemein beliebt gemacht hat. Obgleich keine eigentliche Zeit fuͤr den Zutritt des Publikums beſtimmt iſt, ſo fehlt es doch nicht an Gelegenheiten, die Bibliothek zu be - nutzen. Fremden kommt dieſe Erlaubniß nur dann zu ſtatten, wenn ſie die Akademie ſelbſt108 beſuchen; aber alle Mitglieder dieſes gelehrten Korps ſind befugt, die Buͤcher deren ſie be - duͤrfen, gegen einen Empfangſchein abzuholen und einen Monat lang zu behalten.

Unter den Bibliotheken die mit oͤffentlichen Anſtalten verbunden, und daher auf gewiſſe Weiſe fuͤr den Gebrauch des Publikums be - ſtimmt ſind, verdient die Buͤcherſammlung des Alexander-Newski-Kloſters den erſten Platz. Sie zeichnet ſich, nach Bacmeiſters Urtheil, durch Wahl und Anzahl ihrer Werke vor andern ruſſiſchen Bibliotheken vortheilhaft aus. Ihr Reichthum erſtreckt ſich nicht nur auf ſlavoniſche Manuſcripte und theologiſche Schriften griechiſcher Kirchenlehrer, ſondern er verbreitet ſich auch mit muſterhafter Tole - ranz uͤber die Hauptwerke anderer Konfeſſio - nen, vorzuͤglich der proteſtantiſchen. Auſſer dem theologiſchen Fach iſt das philoſophiſche und hiſtoriſche am beſten beſetzt.

Die Bibliothek des adlichen Land - kadettenkorps erhielt ihre Grundlage durch die vortreffliche Sammlung des Generals von Eggers, der als Kommandant in Danzig ſtarb, worauf die Kaiſerinn ſie kaufte und109 dieſem Inſtitut ſchenkte. Sie enthaͤlt eine reiche Auswahl der beſten militairiſchen Schriftſteller in 7,000 Baͤnden, die von Zeit zu Zeit mit aͤltern und neuerſcheinenden Werken aus der Geſchichte, Philoſophie, Laͤnderkenntniß und ſchoͤnen Litteratur, in franzoͤſiſcher, deutſcher und ruſſiſcher Sprache bereichert wird. Der Graf zu Anhalt, der den ruͤhmlichen Eifer beſitzt, alle Anſtalten die unter ſeiner Direk - tion ſtehen, ſo gemeinnuͤtzig als moͤglich zu machen, hat den oͤffentlichen Gebrauch dieſer Bibliothek aufs moͤglichſte erleichtert. Die An - zahl ihrer Baͤnde reicht itzt an zehntauſend.

Auch die uͤbrigen oͤffentlichen Unterrichts - anſtalten haben Buͤcherſammlungen, deren Be - ſchaffenheit nach den verſchiedenen Zwecken der Inſtitute modifizirt iſt. Obgleich die mehreſten derſelben noch im Entſtehen ſind, ſo koͤnnen ſie hier doch nicht mit Stillſchweigen uͤber - gangen werden, weil Freunde der Wiſſenſchaf - ten mehr oder weniger Befriedigung und leich - ten Zutritt bey denſelben erhalten.

Die Bibliothek fuͤr den Privatge - brauch der Kaiſerin iſt in der Eremitage aufgeſtellt und enthaͤlt drey verſchiedene Samm -110 lungen, von denen ich hier nur die Urheber, ohne naͤhere Beſtimmung des Reichthums und Werths, angeben kann. Die erſte iſt die des Herrn von Voltaire, welche die Kaiſerin, nebſt deſſen litterariſchen Nachlaß, von ſeinen Erben erſtand. Die zweyte, der Buͤcherſchatz des Philoſophen Diderot, ward ſchon bey Lebzeiten ihres Sammlers gekauft und bezahlt. Die dritte gehoͤrte dem beruͤhmten Abbe Gag - liani. Hiezu kommt der eigne Ankauf der Kaiſerinn, der, nach einigen Umſtaͤnden zu ur - theilen, die mir bekannt ſind, ſehr betraͤchtlich ſeyn muß. Eine Fuͤrſtinn, die mit leidenſchaft - licher Liebe fuͤr die Wiſſenſchaften und der ſeltenſten Freygebigkeit ſammelt, und ſo gut bedient wird, als die Kaiſerinn von den groͤßten Buchhaͤndlern in Europa iſt laͤßt etwas außerordentliches von einer Sammlung ihres Geſchmacks erwarten.

Merkwuͤrdig durch ihren Reichthum und ihre Auswahl iſt auch die großfuͤrſtliche Bibliothek, deren Stifter der gelehrte und verdienſtvolle Praͤſident der Akademie, von Korff, war. Sie verbreitet ſich uͤber die mehreſten wiſſenſchaftlichen Faͤcher und iſt be -111 ſonders in der Geſchichte vortreflich verſehen. Die Zahl der Baͤnde belaͤuft ſich auf 28,000. Die Handbibliothek des Großfuͤrſten verdankt ihr Daſeyn der Wahl und dem Ge - ſchmack ihres Beſitzers, und enthaͤlt, vorzuͤg - lich im Fach der neuern auslaͤndiſchen auch deutſchen Litteratur, einen ſchaͤtzbaren Vor - rath, der mit jedem Jahre gewinnt.

Unter den Privatbibliotheken der Großen und der Liebhaber ſind viele von ſolchem Umfange und Werth, daß ſie die Auf - merkſamkeit des Litteratoren in hohem Grade verdienen. Es waͤre ſehr zu wuͤnſchen, daß die Beſitzer dieſer koſtbaren Sammlungen, der edlen Liberalitaͤt mit welcher ſie ſolche gemein - nuͤtzig zu machen ſuchen, dadurch ein Verdienſt mehr gaͤben, daß ſie wohl geordnete Verzeich - niſſe derſelben drucken ließen. Wie manches ſeltne und wichtige Buch, das der Kenner vergebens ſucht, enthalten dieſe Depots, un - gekannt und ungenuͤtzt. Zu den nennens - wuͤrdigſten Schaͤtzen dieſer Art gehoͤren die Bibliotheken der Grafen Tſcherniſchew, Stroganow, Schuwalow, der Fuͤrſtinn Daſchkaw, des Geheimenraths Bezkoi,112 der Fuͤrſten Juſupow, Kurakin u. m. a. Auch bey Privatleuten verſchiedener Staͤnde findet man zuweilen ſehr gute Buͤcherſamm - lungen, da der Geſchmack und die Liebhaberey fuͤr Lektuͤre haͤufig durch Wohlhabenheit unter - ſtuͤtzt wird. Unter dieſen verdient wenigſtens Eine angefuͤhrt zu werden, weil ſie in ihrer Art vielleicht einzig iſt. Sie enthaͤlt eine ziem - lich vollſtaͤndige Sammlung der vortreflichſten deutſchen, engliſchen, franzoͤſiſchen und italieni - ſchen Werke, im Fach der Geſchichte, Philo - ſophie und ſchoͤnen Litteratur, ſaͤmmtlich in den beſten Originalausgaben, und die griechi - ſchen und roͤmiſchen Klaſſiker, nach den vor - zuͤglichſten Editionen. Wodurch ſie ſich aber ganz beſonders auszeichnet, iſt der merkwuͤr - dige Umſtand, daß ſie nicht ein einziges ſchlechtes oder auch nur mittelmaͤßiges Buch enthaͤlt. Hieraus ergiebt ſich von ſelbſt, daß die Anzahl ihrer Baͤnde nicht ſehr groß ſeyn kann. Der Sammler und Beſitzer dieſer ſeltnen Bibliothek iſt der Obriſtlieutenant Klinger, der ſich durch ſeine dramatiſchen Werke und philoſophiſchen Romane beruͤhmt gemacht hat.

Wir113

Wir beſchließen dieſe Muſterung, um uns jetzt mit den merkwuͤrdigſten Sammlungen der Natur - und Kunſtſeltenheiten be - kannt zu machen, deren Schaͤtze unſere Auf - merkſamkeit in noch hoͤherem Grade verdienen, weil die Reſidenz in dieſer Ruͤckſicht mit den vorzuͤglichſten wiſſenſchaftlichen Depots in Eu - ropa wetteifern kann.

Das Muſeum der Akademie der Wiſſenſchaften, die Krone aller Inſtitute dieſer Gattung, datirt ſeinen Urſprung, wie die mit demſelben verbundene Bibliothek, aus der Regierungsepoke des unſterblichen Kaiſers, von deſſen Liebe fuͤr die Wiſſenſchaften ſo viele andre Anſtalten zeugen. Waͤhrend ſeiner erſten Reiſe kaufte Peter der Große einige Na - turalien in Holland auf, die zuerſt nach Mos - kau, und hernach, mit den dort vorhandenen Praͤparaten der Oberapotheke bereichert, nach St. Petersburg gebracht wurden. Gleich die erſten Vermehrungen, welche dieſe junge Samm - lung erhielt, legten den Grund zu ihrer nach - maligen Vollkommenheit; das Kabinet, wel - ches der Kaiſer von dem Apotheker Seba in Amſterdam fuͤr 15,000 hollaͤndiſche Gulden er -Zweiter Theil. H114ſtand, verſchaffte dem neuen nordiſchen Mu - ſeum den vortheilhafteſten Ruf in auswaͤrtigen Laͤndern. Kurze Zeit nachher machte es eine noch wichtigere Acquiſition an der vortreflichen und in vieler Ruͤckſicht einzigen Sammlung des beruͤhmten Ruyſch, welche fuͤr 30,000 Gulden gekauft wurde und zwey beſondere Kol - lektionen enthielt. In der erſten befanden ſich uͤber tauſend Stuͤcke an vierfuͤßigen Thieren, Voͤgeln und Amphibien, außer einer unzaͤhligen Menge Inſekten, und ein Herbarium von einigen tauſend getrockneten Kraͤutern; die zweyte beſtand aus den beruͤhmten anatomi - ſchen Praͤparationen, die Ruyſch’s Namen und ſeinen bewundernswuͤrdigen Fleiß auf die Nachwelt gebracht haben. Zu dieſen und an - dern, minder betraͤchtlichen, Vermehrungen, geſellten ſich die Acquiſitionen, die man im Lande ſelbſt machte, wo das Beyſpiel des Kai - ſers und ſeine Befehle eine allgemeine Auf - merkſamkeit auf die inlaͤndiſchen Merkwuͤrdig - keiten der Natur und Kunſt erregten. Die letzten Bereicherungen, die das Kabinet unter ſeinem Stifter erhielt, beſtanden vorzuͤglich in Muͤnzen und in der Sammlung mathemati -115 ſcher und phyſikaliſcher Inſtrumente, die Mu - ſchenbroek beſeſſen hatte. Selbſt der Tod des großen Mannes, ſo nachtheilig er auch in einer andern Beziehung fuͤr das werdende In - ſtitut ſeyn mußte, hatte die wohlthaͤtige Folge, daß der Nachlaß des Kaiſers an Modellen und Inſtrumenten dem Muſeum zufiel. Zu den merkwuͤrdigſten Erwerbungen in dieſen und den folgenden Jahren gehoͤrt die Sammlung von Mineralien, Muſcheln und aſiatiſchen Selten - heiten des Archiaters Areskin; eine große Menge goldner Gefaͤße, die man in den Graͤ - bern der Tatarn in Sibirten gefunden hatte, und deren Gewicht uͤber 74 Pfund betrug; endlich eine ſehr reiche Sammlung von Sel - tenheiten aller Art, die der Doktor Meſſer - ſchmidt waͤhrend ſeiner achtjaͤhrigen Reiſe in Sibirien zuſammengebracht hatte. Mit dem Jahr 1728 begann eine neue Epoke fuͤr das Muſeum. Die Vollendung des akademiſchen Gebaͤudes und die Aufſtellung in demſelben erhob es zu dem Rang einer oͤffentlichen An - ſtalt. Eben dieſes Jahr zeichnete ſich durch mehrere wichtige Acquiſitionen aus, unter wel - chen eine Sammlung von tauſend Stuͤck tata -H 2116riſcher Muͤnzen, eine andere von 276 Stuͤck Medaillen in Bronze uͤber die Begebenheiten der Regierung Ludwigs des Vierzehn - ten, und eine dritte von ſchwediſchen Muͤnzen von Karlſtein und Hedlinger bemerkens - werth ſind. Bis zum Jahr 1742 hin erhielt das Kabinet die Wachsfigur und die Kleidungs - ſtuͤcke Peters des Großen, die Sammlung von Natur - und Kunſtſeltenheiten des Feld - marſchalls, Grafen Bruͤce, aſiatiſche Merk - wuͤrdigkeiten von den Akademikern Muͤller und Gmelin waͤhrend der kamtſchadkiſchen Expedition eingeſchickt u. ſ. w. Ein ſolcher Reichthum der ſeltenſten Schaͤtze aller Art ſchien ein wohlgeordnetes Verzeichniß derſelben nothwendig zu machen; die Akademie entwarf hiezu einen Plan, der in zwey Abtheilungen alle Natur - und Kunſtmerkwuͤrdigkeiten be - greifen ſollte. Duͤ Vernoy und Wilde ordneten die anatomiſchen Praͤparate; Gme - lin, Amman und Steller das Thier - und Pflanzenreich. Die Beſchreibung der Minera - lien wurde von Gmelin angefangen, und von Lomonoſſow vollendet. Krafft ordnete die phyſikaliſchen und mathematiſchen Inſtru -117 mente, und Cruſius die Medaillen und an - tiken Seltenheiten. In dem letztgenannten Jahr erſchien endlich ein Katalog in zwey Theilen, unter dem Titel: Muſeum Petropo - litanum. Nach dieſem Verzeichniß enthielt das Thierreich 2144 Stuͤck anatomiſche Praͤ - parate, 212 vierfuͤßige Thiere, 755 Voͤgel, 900 Amphibien, 470 Fiſche, 218 Cruſtaceen und Seethiere, ohne Inſekten und Muſcheln, deren Anzahl ſich auf viele Tauſende belief. Die uͤbrigen Theile des Katalogs erſchienen im Jahr 1745. Man war im Begriff, dieſes Verzeichniß ins Rußiſche zu uͤberſetzen und die merkwuͤrdigſten Stuͤcke der Sammlung malen und in Kupfer ſtechen zu laſſen, als die Feuers - brunſt ausbrach, deren wir ſchon bey der Ge - ſchichte der Bibliothek erwaͤhnt haben, und wodurch das Muſeum einen Verluſt erlitt, der zum Theil unerſetzlich war. Die Vermeh - rungen, die es ſeitdem erhielt, konnten keine Entſchaͤdigung fuͤr einen ſo nachtheiligen Unfall ſeyn. Eine Sammlung chineſiſcher und tata - riſcher Merkwuͤrdigkeiten und den Reſt der ſebaͤiſchen Kollektion ausgenommen, waren die uͤbrigen Acquiſitionen nur unbetraͤchtlich. Un -H 3118ter der Regierung Katharina der Zwey - ten hat das Muſeum ſeinen Verluſt auf eine glaͤnzende Weiſe verbeſſert. Zu den wichtigſten Erwerbungen dieſes Zeitraums gehoͤren: eine Sammlung amerikaniſcher Seltenheiten, die ein ſchwediſcher Obriſter Dahlberg aus Su - rinam mitgebracht hatte, und welche die Kai - ſerinn fuͤr das akademiſche Kabinett kaufte; ſie enthielt, unter mehrern, uͤber 700 in Wein - geiſt aufbewahrte Thiere. Ferner: Denkmaͤ - ler der Vorzeit aus den Graͤbern an den weſt - lichen Ufern des Dnjeprs; die Mineralien - ſammlung des beruͤhmten Bergraths Henkel, welche uͤber 2,000 Stuͤcke enthielt; ruſſiſche Merkwuͤrdigkeiten aller Art, die durch Sen - dungen der reiſenden Akademiker zuſammenge - bracht wurden; Naturprodukte, Waffen, Klei - der und Geraͤthſchaften von den kuriliſchen Inſeln; das Mineralienkabinett des Staats - raths Nartow, welches fuͤr 8,000 Rubel er - kauft wurde, und eine Menge einzelner Sel - tenheiten, deren Aufzeichnung dieſes Regiſter allzuſehr verlaͤngern wuͤrde.

Dieſe Hauptmomente aus der Geſchichte eines ſo merkwuͤrdigen Inſtituts geben zum119 Voraus einen Begriff von dem Werth und dem Reichthum deſſelben. So viele einzelne Sammlungen, an denen der bewundernswuͤr - digſte Fleiß, die groͤßte Wohlhabenheit und die leidenſchaftlichſte Liebhaberey ſich erſchoͤpft hat - ten, floſſen hier in Eine Schatzkammer zuſam - men, wo ſie zum Erſtaunen und fuͤr den Un - terricht der Mitwelt und Nachwelt in großen Gruppen aufgeſchichtet liegen. So intereſſant und lehrreich es iſt, mitten unter dieſen Wun - dern der Schoͤpfung zu ſtehen, und die ſchoͤn - ſten ſo wie die abentheuerlichſten organiſirten Formen, die Produktionen des heiſſeſten ſo wie des kaͤlteſten Klima um ſich her verſammelt zu ſehen: ſo trocken und langweilig wuͤrde doch die Herzaͤhlung, ſelbſt der merkwuͤrdigſten Ge - genſtaͤnde, ſeyn. Ein Buch wie dieſes, das nicht fuͤr bloße Naturforſcher geſchrieben iſt, beruͤhrt daher nur das allgemein Intereſſante, und ſucht durch ſummariſche Ueberſichten die relative Vollkommenheit des Inſtituts begreif - lich zu machen.

Der Reichthum des Kabinetts erſtreckt ſich uͤber Gegenſtaͤnde der Natur und der Kunſt; unſere Schilderung beginnt mit jenen, um,H 4120nach einer leichten Folge, von dem Einfachſten zu dem Kuͤnſtlichſten uͤberzugehen.

Die Mineralienſammlung enthaͤlt nach den neueſten Verzeichniſſen, uͤber 10,000 Stuffen, unter welchen, nach Bacmeiſter, 210 Gold - 935 Silberminern, u. ſ. w. befind - lich waren, deren Anzahl aber jetzt betraͤchtli - cher ſeyn muß, da die von den reiſenden Aka - demikern eingeſchickten Stuͤcke in dieſer Angabe nicht mit begriffen ſind. Die ganze Samm - lung iſt nach dem Wallerius geordnet und in zwey Zimmern aufgeſtellt, deren eines die ruſſiſchen, und das andere die auslaͤndiſchen Mineralien in ſich ſchließt. Unter jenen wer - den fuͤr die merkwuͤrdigſten Stuͤcke gehalten: zwey Stufen von reinem gediegenen Golde, etwa 69 Dukaten ſchwer; eine große und ſchwere Silberminer aus der Baͤreninſel; ein Stuͤck gewachſenes Kupfer von außerordentli - cher Groͤße, aus der oͤſtlich von Kamtſchadka gelegenen Kupferinſel, und ein, 40 Pud ſchwe - rer, Eiſenklumpen, der fuͤr die Naturgeſchichte wichtig iſt, weil er den Zweifel, ob es uͤberall gediegenes Eiſen gebe, wo nicht widerlegt, doch ſehr unwahrſcheinlich macht. Zu den121 merkwuͤrdigen Nationalprodukten gehoͤren fer - ner mehrere große und ſtarke Magneten, große und ſchoͤne Malachiten, ſibiriſcher Lapis Lazuli, eine Sammlung edler Kieſel, u. ſ. w. Eine aus einheimiſchen Edelſteinen zuſammengeſetzte Pyramide zeigt den Reichthum und die Man - nigfaltigkeit dieſer Steingattungen, wie auf einer Muſterkarte. Auch an auffallenden ruſ - ſiſchen Verſteinerungen fehlt es nicht. Man ſieht z. B. ein großes wurmſtichiges Baum - ſtuͤck in weißen Sandſtein verwandelt, zwey voͤllig mineraliſirte Eichenſtaͤmme von acht bis neun Fuß im Umfange, u. ſ. w. Unter den auslaͤndiſchen Mineralien findet ſich eine Maſſe von gediegen gewachſenem Golde aus China, deren Gewicht uͤber hundert Dukaten betraͤgt; etwas uͤber ein Pfund buchariſchen Goldſand, in kleinen, runden, gediegenen Koͤr - nern; eine ſieben Pfund ſchwere, in Form eines Horns gewachſene, Maſſe reines Silber; ein Stuͤck gediegenes Silber von ſolcher Rein - heit, daß man aus demſelben, ohne es durchs Feuer zu laͤutern, Muͤnzen geſchlagen hat, von welchen eine bey dieſem ſeltenen Produkt auf - bewahrt wird; ein verſteinerter Meduſenkopf,H 5122das Skelet eines in Schiefer eingedruͤckten Fi - ſches von drittehalb Fuß, u. m. a.

Die großen Schaͤtze, die das Muſeum aus dem Pflanzenreich aufbewahrt, ſind aus den Sammlungen mehrerer beruͤhmten Bota - niker, eines Buxbaum, Ruyſch, Sloane, Gmelin, Steller, Meſſerſchmidt, Heinzelmann, und durch die Einſendungen der reiſenden Akademiker aus dem ganzen Ge - biete des ruſſiſchen Reichs entſtanden. Trotz des verwuͤſtenden Brandes, der dieſen Theil des Muſeums vorzuͤglich traf, belief ſich die Zahl der Pflanzen ſchon zu Baemeiſters Zeiten (1775) auf 16,000. Die Menge ſelt - ner einheimiſcher Produkte aus dieſem Na - turreich, welche mit der groͤßten Schwie - rigkeit aus Steppen und auf Gebirgen, an den Ufern des Eismeers und auf den Grenz - alpen Sibiriens zuſammengeſucht ſind, giebt dieſer Sammlung einen Vorzug, den ſie mit keiner andern theilt, und deſſen Werth ihr nur von den vorzuͤglichſten und auserleſenſten Ka - binetten in Europa ſtreitig gemacht werden kann. Je groͤßer indeſſen dieſer Vorzug iſt, um deſto dringender wird das Beduͤrfniß einer beſſern123 Anordnung und eines neuen Verzeichniſſes, welchen das Publikum ſchon lange entgegen ſieht.

Die Sammlungen aus dem Thierreich enthalten faſt alles, was in Kabinetten fuͤr ſelten und merkwuͤrdig gilt, und vieles, was nirgend als hier geſucht werden darf. Unter dieſe letztere Bezeichnung gehoͤrt ſogleich die in ihrer Art einzige Sammlung der Ruyſchi - ſchen anatomiſchen Praͤparate, die in achtzehn Glasſchraͤnken, nach der eignen An - ordnung ihres Urhebers, aufbewahrt wird. So wenig Gegenſtaͤnde dieſer Art zu den all - gemein unterhaltenden gehoͤren, ſo unverzeih - lich waͤre es doch, uͤber einen wiſſenſchaftlichen Schatz von ſo hohem Werth gaͤnzlich zu ſchwei - gen. Einen Theil dieſer außerordentlichen Kol - lektion bilden die zur Erlaͤuterung der Gene - ration des Menſchen dienenden Stuͤcke. Sie beſtehen aus einer Folge von hundert und zehn Embrionen, von der Groͤße eines Aniskerns an bis zum voͤllig ausgebildeten Kinde. Eben ſo merkwuͤrdig fuͤr den Kenner und eben ſo einzig in ihrer Gattung ſind die Praͤparate des Auges, der Pia Mater, der kortikaliſchen124 und der markigten Subſtanz, in denen Ruyſch die Kunſt der Injektion zu der erſtaunenswuͤr - digſten Vollkommenheit gebracht hat*)Um ſeine anatomiſchen, wirklichen oder vermeyn - ten, Entdeckungen zu bewähren, ſah ſich Ruyſch genö - thigt, die höchſte Kunſt bei ſeinen Präparationen anzu - wenden. Dieſe Bemühung führte ihn immer weiter und brachte ihn auch auf die Erfindung einer neuen und voll - kommnern Art, todte Körper einzubalſamiren. Die Auf - opferungen, die ihm dieſe unbeſchreiblich mühſamen und gefährlichen Arbeiten gekoſtet haben, ſchildert er ſelbſt in einem Briefe, den er in Betreff des Verkaufs ſeiner Sammlung nach Rußland ſchrieb. Glauben Sie nicht, ſagt er darinn, daß ich das alles ſo leicht entdeckt habe. Ich bin alle Morgen um vier Uhr aufgeſtanden, ich habe alle meine Einkünfte darauf verwendet, und oft verzwei - felte ich, damit zu Stande zu kommen. Ich habe einige tauſend Kadaver bearbeitet, und nicht nur friſche, ſon - dern auch ſolche die ſchon von Würmern gefreſſen wur - den, wodurch ich mir gefährliche Krankheiten zugezogen habe. Faſt mein ganzes Leben iſt dieſen Unterſuchungen aufgeopfert geweſen, an den Freuden der Welt habe ich keinen Theil genommen, und noch jetzt arbeite ich Tag und Nacht. Bacmeister, essai sur la bibliotheque &c. p. 151. Das Beiſpiel dieſes Mannes beweißt, zu wel - chen Aufopferungen die Liebe zu den Wiſſenſchaften ver - mögen kann; ein Veweis, der unter den Zeitgenoſſen von Tage zu Tage ſeltner zu werden anfängt.. Die125 Sammlung von widernatuͤrlichen, im menſch - lichen Koͤrper entſtehenden Dingen, als Wuͤr - mer, Polypen, Haare, u. ſ. w. belaͤuft ſich auf 200 Stuͤcke. Eben ſo reichhaltig iſt die Folge von menſchlichen Monſtren, mit deren Be - ſchreibung und Erlaͤuterung der Akademikus Wolf, ein Gelehrter von anerkanntem Ver - dienſt im Fach der Anatomie, ſchon ſeit meh - rern Jahren her beſchaͤftigt iſt.

Die Anzahl der im Muſeum vorhandenen vierfuͤßigen Thiere, die theils ausge - ſtopft ſind und theils in Weingeiſt aufbewahrt werden, geht uͤber 500 hinaus. Unter den auslaͤndiſchen Thiergattungen finden ſich die ſeltenſten Arten des Affen - und Meerkatzenge - ſchlechts, die Lanzenfledermaus, die fliegende Katze von Ternate, die Beutelratte, Panzer - thiere mit einem, mit ſieben und neun Schil - den, der Ameiſenfreſſer, die mehreſten großen Raubthiere, ein 28½ Fuß langer und 16½ Fuß hoher Elephant, ein Foetus dieſes Thiers in Weingeiſt, etwa einen Fuß groß, unter einer Menge anderer, eben ſo merkwuͤrdiger Thiere, die hier nicht genannt werden koͤnnen, ohne dieſe Skizze einer ſyſtematiſchen Nomenklatur126 aͤhnlich zu machen. Vorzuͤglich intereſſant aber ſind die Thiere des aſiatiſchen Rußlands und der angraͤnzenden Laͤnder, weil ſie zum groͤßern Theil, außer dieſem Kabinett, nirgend ange - troffen werden. Zu dieſer Rubrik gehoͤren der Dſchigittei, ein wildes, ſchnelles, dem Maul - eſel aͤhnliches Thier; der thibetiſche Buͤffelochs mit Pferdehaaren, aus welchen die Tuͤrken ihre Roßſchweife bereiten; der ſibiriſche Stein - bock; der weiſſe Baͤr des Eismeers, und viele andere. Von den vorhandenen Meerthie - ren wollen wir nur den weiſſen Seehund des Eismeers und zwey Foͤtus der Seekuh bemer - ken, die in Weingeiſt aufbewahrt werden, und von welchen eins die Laͤnge eines Fingers hat und das andere etwa einen Fuß groß iſt. Zu den Merkwuͤrdigkeiten dieſer Abtheilung koͤnnen auch die Knochen und Skelette ſeltner oder unbekannter Thiere gerechnet werden. Den wichtigſten Theil dieſer Sammlung ma - chen die ſogenannten Mammontsknochen, oder die Ueberbleibſel großer Thiere, die man in Sibirien und andern Gegenden von Rußland unter der Erde findet, und deren Daſeyn Pallas mit eben ſo viel Scharfſinn als Ge -127 lehrſamkeit aus einer allgemeinen Ueberſchwem - mung erklaͤrt. Das Muſeum beſitzt den Hirn - ſchaͤdel eines Rhinoceros, 33 Zoll lang, und 11 Zoll 9 Linien breit; den Hirnſchaͤdel eines itzt in allen Welttheilen unbekannten ungeheu - ren Buͤffelochſen, von 21 Zoll Laͤnge und 13 Zoll 11 Linien Breite.

An ausgeſtopften Voͤgeln ſind uͤber 1,200 vorhanden. Man ſieht hier den Strauß, den Kaſoar, Paradiesvoͤgel, Colibris, die ſurina - miſche Goldſchneppe und viele andere, die durch Groͤße, Schoͤnheit oder Seltenheit merk - wuͤrdig ſind. Der Reichtum einheimiſcher Voͤgel iſt noch groͤßer. Unter den Raubvoͤgeln findet ſich auch der mongoliſche Jelloo oder baͤrtige ſibiriſche Geyer, deſſen ausgebreitete Fluͤgel neun Fuß betragen. Die Sammlung von Waſſervoͤgeln, unter welchen ſich viele nordiſche und kamtſchadkiſche, mehrere Alba - tros des Oceans, der weiſſe ſibiriſche Kranich, u. a. befinden, gehoͤrt zu den eigenthuͤmlichen Vorzuͤgen des Kabinetts.

Die Sammlung von Amphibien wird in 886 Flaſchen in Weingeiſt aufbewahrt; wozu noch ein Reichthum von 437 Schlangen128 gehoͤrt. Aus der Menge ſeltner und koſtbarer Gegenſtaͤnde wollen wir hier nur folgende an - fuͤhren: die knorplige oder haͤutige Schildkroͤte; die Pipa, durch ihre von der gewoͤhnlichen ab - weichende Erzeugungsart ſo bekannt als merk - wuͤrdig; ein Krokodill welches noch halb im Ey ſteckt; die Sauvegarde, aus dem Geſchlecht der Eidechſen, die in dem Ruf ſteht, daß ſie den Menſchen durch ihr Geſchrey von der An - naͤherung des Krokodills benachrichtigt; das Kameleon, dem die Sage das Vermoͤgen zu - ſchreibt, ſeine Farbe zu aͤndern. Unter den Schlangen findet ſich die Boa, Naja, die Klapperſchlange u. a.

Von den vorhandenen Fiſchen, deren Anzahl uͤber 400 betraͤgt, nennen wir nur den Krampffiſch, der durch ſeine elektriſche Kraft die ihn beruͤhrenden Koͤrper betaͤubt; den Meerwolf; die Mola, deren ganzer Koͤrper Kopf zu ſeyn ſcheint; verſchiedene Gattungen fliegender Fiſche.

Unter den Inſekten, welche 332 Flaſchen fuͤllen, iſt eine Folge von 37 Skorpionen, eine andere von 40 Skorpionſpinnen und Spinnen und eine Anzahl von Taranteln merkwuͤrdig. Die129Die Wuͤrmer und Zoophyten ſind weder ſehr zahlreich noch gut geordnet.

Die zweyte Abtheilung des Muſeums ent - haͤlt Kunſtſachen, Alterthuͤmer, In - ſtrumente und Modelle, unter denen ſich viele ſeltne und koſtbare Stuͤcke befinden, de - ren genauere Beſchreibung, wenn ſie uͤberall hieher gehoͤrte, fuͤr die mehreſten Leſer nicht ohne Intereſſe ſeyn wuͤrde. Um dieſe Schil - derung nicht zu einer unverhaͤltnißmaͤßigen Weit - taͤuftigkeit zu bringen, koͤnnen wir nur einige der merkwuͤrdigſten Gegenſtaͤnde einem fluͤchti - gen Ueberblick unterwerfen.

Unter den Verzierungen, mit welchen die Saͤle ausgeſchmuͤckt ſind, in denen ſich die Kunſtſachen befinden, verdienen die Origi - nalgemaͤlde von Rembrand, Huchten - boug, Lingelbach, und die Miniaturmale - reyen der beruͤhmten Merian bemerkt zu werden. Man ſieht hier mehrere koſtbare Becher und Trinkgeſchirre. Eins derſel - ben, welches der Koͤnig von Daͤnemark der Kaiſerinn Katharina der Erſten uͤberreichen ließ, iſt ganz von Gold und vor - zuͤglich ſchoͤn gearbeitet. Der Deckel deſſelbenZweiter Theil. J130ruht auf drey blau emaillirten Delphinen, und rund herum ſind viele antike und moderne, von den geſchickteſten Kuͤnſtlern geſchnittenen Steine angebracht*)Dieſe Seltenheit iſt jetzt gegen das ſchon beſchrie - bene Schreibepult von Röntgen ausgetauſcht, und wird in der Eremitage aufbewahrt.. Merkwuͤrdig iſt auch das Modell eines Springbrunnens auf einem der oͤffentlichen Plaͤtze in Rom. Es iſt von Silber und wiegt ſieben Pfund. Die Dekoration dieſes Brunnens gilt fuͤr eins der groͤßten Meiſterſtuͤcke in der Art. Sie wird durch einen großen, an vier Stellen durchgra - benen Felſen gebildet, auf welchem die Sta - tuͤen der vier groͤßten Fluͤſſe des Erdbodens an - gebracht ſind. Auf der Spitze des Felſens er - hebt ſich ein Obelisk von rothem Granit mit Hieroglyphen bedeckt, welchen der Kaiſer Ka - rakalla nach Rom bringen, und der Papſt Innozenz der Zehnte auf den Spring - brunnen ſtellen ließ. Unter vielen vorhan - denen Dolchen wird einer, wegen ſeiner ſchoͤnen antiken Skulptur, als ein Denkmal des alten Griechenlands betrachtet. Das Ge -131 faͤß iſt von orientaliſchem Agath, der Knopf zeigt das Urtheil des Paris, die Scheide ſtrei - tende Reiter und das Ende derſelben Amors Spiele.

Merkwuͤrdiger durch ihren hiſtoriſchen Ka - rakter als alle dieſe Koſtbarkeiten, ſind die al - ten Denkmaͤler aus den ſibiriſchen Graͤbern, die man das ruſſiſche Her - kulanum nennen koͤnnte. Dieſe Ueberbleibſel eines der maͤchtigſten Voͤlker ſind groͤßtentheils von gediegenem Golde und beſtehen in Be - chern, Gefaͤßen, Diademen, militairiſchen Eh - renzeichen, Panzern, Schilden, Geſchmeide, Goͤtzenbildern und Abbildungen verſchiedener Thiere. Der Geſchmack und die Schoͤnheit, die in einigen dieſer Stuͤcke herrſchen, fuͤhren auf die Muthmaßung, daß ſie von auswaͤrti - gen Kuͤnſtlern in Gengiskhans und ſeiner Nachfolger Dienſten verfertigt worden ſind.

Unter den vielen Modellen, welche das Muſeum bewahrt, ſind vorzuͤglich die aus dem Kabinett Peters des Großen merkwuͤrdig. Man ſieht hier das Modell eines Kriegsſchiffs von 120 Kanonen, ein anderes von einer Ga - leere mit 25 Ruderbaͤnken. Von den uͤbri -J 2132gen, uͤberall zerſtreuten Kunſtſachen nenne ich nur noch das vortrefflich gearbeitete Schrei - bepult, deſſen Beſchreibung der vorhergehende Abſchnitt enthaͤlt, und das mechaniſche Kunſt - werk eines ruſſiſchen Kuͤnſtlers. Dieſes letztere beſteht in einer Repetiruhr, von der Geſtalt und Groͤße eines Eyes. Das Innere derſel - ben ſtellt das Grab Chriſti vor, welches durch einen Stein geſchloſſen und von zwey Waͤch - tern bewacht iſt. Wenn die Uhre aufgezogen wird, erſcheinen die Engel, die Waͤchter fallen nieder, der Stein verſchwindet, die heiligen Frauen treten hervor und man hoͤrt die Me - lodie eines bekannten ruſſiſchen Kirchenliedes, welches in der erſten Oſternacht geſungen wird. Dieſes Meiſterſtuͤck mechaniſcher Kunſt iſt von ſeinem Erſinder, ohne alle Anleitung, und ohne den Gebrauch der erforderlichen Inſtru - mente, in einem Zeitraum von vier Jahren zu Stande gebracht.

Eine lange Gallerie, welche um einen der Saͤle herumgeht, enthaͤlt eine Menge orien - taliſcher Kleidungsſtuͤcke, Putzwerk und Geraͤthſchaften. Man ſieht hier Chineſen, Perſer, Morduanen, Samojeden, Oſtiaken,133 Kirgiſen, Burjaͤten, Tunguſen, Jakuten, Ta - taren, Mongolen, Tſchuktſchen, Kurilen, Aleu - ten, ſibiriſche Zauberer, in Lebensgroͤße, mit ihren Nationalphyſiognomieen, und in ihrem eigenthuͤmlichen Koſtume. Das Auge, ſagt Bacmeiſter, vergnuͤgt ſich an dem verſchie - denen Geſchmack aller dieſer Voͤlkerſchaften, der theils durch Beduͤrfniß, theils durch bloße Fan - taſie beſtimmt zu ſeyn ſcheint. Die Chineſen und Perſer kleiden ſich in Atlas und Goldſtoff, die Samojeden huͤllen ſich in die Felle wilder Thiere, die Tataren ſchmuͤcken ſich mit Perlen und Nippes, die Kamtſchadalen tragen Pelze von Waſſervoͤgeln, die Schamanen oder Zau - berer ſind mit Eiſen behangen, die chineſiſchen Frauenzimmer tragen Schuhe die nur ſechs Zoll lang ſind, und die Kirgiſinnen Stiefel mit Hufeiſen und Naͤgeln beſchlagen. Nichts iſt ſchoͤner, als die Seidenarbeiten und Naͤthe - reyen der Chineſen; man kann aber auch der Induſtrie ſolcher Voͤlker ſeine Bewunderung nicht verſagen, die ſich ſtatt der Seide und der Nadeln, mit Thierſehnen und Fiſchgraͤten behelfen, und damit Arbeiten verfertigen, die keiner Broderie etwas nachgeben. UndJ 3134nun noch die Muſterkarte von Phyſiognomien! Von der letzten Grenze der ſchoͤnen Bildung nach unſern Begriffen, durch alle Stufen des Abentheuerlichen, Verzerrten, Stupiden, Thie - riſchen, bis zum Gipfel des Haͤßlichen hinan, findet man hier das Menſchenantlitz modifizirt. Lange und runde Koͤpfe, platte und aufgeſtutzte Naſen, Schweins - und Kalbsaugen, baͤrtige und unbaͤrtige Kinnbacken wechſeln in grotesker Mannigfaltigkeit ab.

In einem der Gewoͤlbe findet man Klei - der, Zeuge und Geraͤthſchaften aus Otaheite und den Suͤdſeeinſeln; einen kamtſchadaliſchen Schlitten mit allem was zum Anſpann der Hunde gehoͤrt, und aͤhnliche Merkwuͤrdigkeiten aus entfernten oder bisher unbekannten Laͤn - dern.

Eine der intereſſanteſten Parthieen des Mu - ſeums fuͤr jede Gattung von Zuſchauern iſt un - ſtreitig das Kabinett Peters des Groſ - ſen. Das vollkommen aͤhnliche, vom Grafen Raſtrelli in Wachs pouſſirte Bild des Kai - ſers iſt hier in ſitzender Stellung unter einem Thronhimmel befindlich. Alle Gegenſtaͤnde, die es umgeben, haben eine Art hiſtoriſcher135 Merkwuͤrdigkeit. Die Peruͤke iſt aus den Haaren des Kaiſers verfertigt; das Kleid von blauem Gros de Tours iſt das naͤmliche, welches er am Kroͤnungstage ſeiner Gemahlinn getra - gen hat, und die Stickerey an demſelben iſt die eigenhaͤndige Arbeit dieſer Fuͤrſtinn. Der Seſſel iſt eben der, deſſen ſich Peter bey feyerlichen Gelegenheiten zu bedienen pflegte. In eben dieſem Zimmer findet man auch ſeine voͤllige Uniform des preobraſchenskiſchen Gar - deregiments, ſeinen Ringkragen, ſeine Schaͤrpe, ſeinen Degen, den mit einer Kugel durchſchoſ - ſenen Hut, den er in der pultawiſchen Schlacht getragen hat, und verſchiedene andere Klei - dungsſtuͤcke, die durch ihren Geſchmack und ihre Simplicitaͤt die Denkungsart des Kaiſers bezeichnen. Noch karakteriſtiſcher ſind die Denkmaͤler dieſes großen Mannes, die in dem daran ſtoßenden Gemach aufbewahrt werden. Hier ſieht man eine Drehbank und verſchie - dene Inſtrumente und mechaniſche Werkzeuge, deren ſich der Kaiſer in ſeinen Erholungsſtun - den bedient hat. Unter einer Menge von ihm ſelbſt verfertigter Kunſtſachen zeichnet ſich ein groſ - ſer Kronleuchter von Elfenbein aus. Eine Eiſen -J 4136barre, von ihm ſelbſt geſchmiedet, als er die - ſes Gewerbe in Gang zu bringen ſuchte, be - duͤrfte der darauf befindlichen Inſchrift nicht, um den Zuſchauer zum Nachdenken uͤber die ungeheure Thaͤtigkeit und den allumfaſſenden Geiſt des unſterblichen Fuͤrſten zu leiten.

Unter dem reichen Vorrath von Inſtru - menten und wiſſenſchaftlichen Huͤlfsmitteln verdient zuerſt der beruͤhmte gottorpiſche Globus eine Erwaͤhnung. Dieſes merkwuͤr - dige Werk, von welchem jetzt beynahe nur der Name exiſtirt, ward im Jahr 1654 auf Befehl des Herzogs von Hollſtein unter der Aufſicht des Olearius und durch Johann Buſch angefangen und nach zehn Jahren vollendet. Im Anfange dieſes Jahrhunderts erhielt ihn Peter der Große zum Geſchenk, und ſpaͤ - terhin ward er der Akademie uͤbergeben. Bey dem großen Brande litt er ſo ſehr, daß faſt nichts als das eiſerne Gerippe uͤbrig blieb. Die Akademie ließ ihn von neuem bekleiden und alle ſpaͤtern Entdeckungen darauf verzeich - nen. Jetzt hat er 14 Fuß im Durchmeſſer. Seine Auſſenſeite ſtellt eine Erdkugel, und ſeine innere ein Planetarium vor. Man ſteigt137 auf einer Treppe hinein und findet daſelbſt Sitze und einen Tiſch. Unter dieſem iſt eine Schraube ohne Ende angebracht, vermittelſt welcher man den Globus drehen und dadurch das Aufgehen der Sterne, ihren Durchgang durch den Meridian und ihren Untergang be - merken kann. Er ſteht in einem eignen dazu erbauten Hauſe auf dem Platz hinter den aka - demiſchen Gebaͤuden.

Um den Verluſt des gottorpiſchen Globus zu erſetzen, erhielt die Akademie, kurz nach dem ungluͤcklichen Brande, eine kupferne Erdkugel von 7 Fuß im Durchmeſſer aus Moskau, den die Erben des bekannten Geo - graphen Bleau verfertigt, und die General - ſtaaten dem Zaren Alexei Michailowitſch geſchenkt hatten. Er wird in dem Gewoͤlbe unter der Sternwarte bewahrt. Zu den vorzuͤglichſten Stuͤcken dieſer Art gehoͤrt noch ein vortreffliches Planetenſyſtem, deſſen Me - chanismus ſo vollkommen als moͤglich iſt; eine Himmelskugel von vergoldetem Kupfer mit ei - ner inwendig angebrachten Repetiruhr; eine Erdkugel von Silber, und eine andere, die alsJ 5138das aͤlteſte ruſſiſche Produkt dieſer Gattung aufbewahrt wird.

Der phyſikaliſche Apparat enthaͤlt, außer den gewoͤhnlichen und unentbehrlichen Sachen, ein Tſchirnhauſiſches Brennglas, deſ - ſen Hitze im Brennpunkt die Hitze der Son - nenſtralen in freyer Luft um 1384mal uͤber - trifft. Bey den Verſuchen, die man in Gegenwart der Kaiſerinn Anna anſtellte, ſchmolzen große Stuͤcke Zinn und Bley in dem Augenblick, da ſie den Brennpunkt be - ruͤhrten, kleine Silbermuͤnzen kamen in Zeit von einer Minute in Fluß, Schieferſtuͤcke wur - den in zwey bis drey Minuten in Glas ver - wandelt, u. ſ. w. Man findet hier ferner ei - nen wegen ſeiner Groͤße und Wirkung merk - wuͤrdigen metallenen Brennſpiegel; eine ſehr große, zu den mannigfaltigſten Verſuchen ein - gerichtete Elektriſirmaſchine; ein ovales Elektro - phor nach Volta’s Angabe, deſſen untere Scheibe 9 Fuß lang und Fuß breit iſt, und welches alſo an Groͤße vielleicht alle vor - handene uͤbertrifft. Unter den Geraͤth - ſchaften des Obſervatoriums befindet ſich ein Dollondiſcher Tubus von 15 Fuß Laͤnge,139 ein vorzuͤglicher Mauerquadrant, und mehrere koſtbare Inſtrumente.

Die letzte Abtheilung des Muſeums be - greift das Muͤnz - und Medaillenkabi - nett. Die Anzahl der conſulariſchen oder al - ten roͤmiſchen Medaillen belaͤuft ſich, die Dou - bletten mitgerechnet, auf 900 Stuͤck. Es giebt nicht uͤber 178 edle roͤmiſche Familien, mit de - ren Namen Muͤnzen bezeichnet ſind, und das Muſeum beſitzt deren 124. Der griechiſchen Medaillen ſind gegen 300. Die Sammlung der Imperatoren oder Kaiſermedaillen betraͤgt mit den Doubletten uͤber 6,000 Stuͤck. Unter dieſen findet ſich eine große Medaille in Bronze von Otho, deren Daſeyn haͤnfig beſtritten worden, und die nach dem Urtheil der Ken - ner uͤber allen Preis iſt; ein Pertinax und ein Pescenius Niger, in Silber und Kupfer, beyde ſehr ſelten, u. a. m. Die neuern Medaillen, welche nur mit dem funf - zehnten Jahrhundert anfangen, betragen 1934 Stuͤck.

Einen ganz abgeſonderten Theil dieſer Sammlung bilden die ruſſiſchen Muͤnzen und Medaillen. Sie ſind in neun Klaſſen ge -140 theilt; acht derſelben machen die Muͤnzen ohne alle Legende, mit bloß tatariſcher, mit tatari - ſcher und ruſſiſcher, und mit bloß ruſſiſcher Inſchrift, bis auf Peter den Großen; ihre Anzahl betraͤgt gegen 9,000 Stuͤck. Die nennte Klaſſe begreift die Muͤnzen und Me - daillen von jener Epoche bis jetzt, und enthaͤlt gegen 200 goldene und ſilberne Medaillen*)Wenige Tage nachdem dieſes niedergeſchrieben war, ſah ich in dem Muſeum der Akad. 94 Medaillen in Pronze, den Anfang einer Sammlung, welche die Kaiſerinn zum Behuf der ruſſiſchen Geſchichte ſchlagen läßt. Dieſe 94 Stück begreifen nur den Zeitraum von Rjurik bis Ja - ropolk den Zweiten und es läßt ſich alſo ſchließen, wie zahlreich die ganze Folge werden muß, da die merk - würdigen Begebenheiten ſich immer mehren, je näher die Geſchichte unſerm Zeitalter kömmt. Auf dem Avers ſieht man jadesmal das Bruſtbild eines Fürſten, und auf dem Revers einen wichtigen Vorfall aus ſeiner Regierung. Der Stempel iſt von Gaß, und die Ausführung eines ſo großen Künſtlers werth.. Auf die ruſſiſchen Muͤnzen folgen die puni - ſchen, gothiſchen, chineſiſchen, japaniſchen und indiſchen, unter welchen ſich viele uͤberaus ſel - tene finden. Ein eigenthuͤmlicher Vorzug die - ſes Kabinetts aber ſind die arabiſchen und ta -141 tariſchen Muͤnzen der Kalifen von Samarkand, Anderabe, Schaſch; der bolgariſchen, krimmi - ſchen und aſowiſchen Khane, der goldnen Hor - de, u. ſ. w. Alle dieſe Muͤnzen zuſammen betragen uͤber 8,000 Stuͤck.

Ein ſo trocknes Regiſter von Merkwuͤrdig - keiten der verſchiedenſten Art wird den groͤßern Theil meiner Leſer wahrſcheinlich mehr ermuͤ - det als unterhalten haben; aber ich war dem kleinern derſelben eine kurze Notiz des wichtig - ſten wiſſenſchaftlichen Depots in Rußland, ſelbſt auf Koſten des allgemeinern Intereſſe, ſchuldig. Einige Bemerkungen uͤber die aͤußere Einrichtung des Muſeums moͤgen dieſe Rubrik beſchließen.

Das Lokale iſt geraͤumig und gut erhellt; eine Reihe praͤchtiger Saͤle in dem mittlern akademiſchen Gebaͤude iſt der Aufbewahrung dieſes koſtbaren Schatzes gewidmet. In der Anordnung hat man mehr dem Beduͤrfniß des Raums und dem gefaͤlligen Anblick, als einer ſyſtematiſchen Eintheilung nachgegeben. Fuͤr die ſorgfaͤltige Erhaltung der vorhandenen Sa - chen buͤrgt der Bibliothekar der Akademie, wel - cher zugleich die Aufſicht uͤber das Muſeum142 fuͤhrt. Bey der Eroͤfnung deſſelben mußte das Publikum durch Bewirthungen herbeygelockt werden; itzt iſt der Zufluß der Neugierigen ſo groß, daß man fuͤr noͤthig gefunden hat, die jedesmalige Erlaubniß des Direktors zur Be - dingung des Eintritts zu machen. Da dieſe indeſſen ohne große Schwierigkeit erhalten wer - den kann, ſo wird es nicht leicht irgend einen Fremden oder Einheimiſchen geben, der ſich mit Recht uͤber dieſe Einrichtung beklagen duͤrfte.

Nach der Muſterung einer ſo großen und vorzuͤglichen Anſtalt kann die Ueberſicht uͤber die oͤffentlichen Sammlungen der zweyten Gat - tung kein lebhaftes Intereſſe erwecken; und doch finden ſich auch unter dieſen Schaͤtze und Seltenheiten, die man oft in den praͤchtigſten Kollektionen vergebens ſucht. Unter dieſe Ka - tegorie gehoͤrt ſogleich die inſtruktive Samm - lung des beruͤhmten Arztes Lieberkuͤhn, welche jetzt in dem anatomiſchen Kabi - nette des med ziniſchen Kollegiums aufbewahrt wird. Sie enthaͤlt eine Folge von vortrefflich gearbeiteten anatomiſchen Praͤpara - ten und in Weingeiſt aufbewahrten Sachen,143 ferner den ganzen Apparat chirurgiſcher und mikroskopiſcher Inſtrumente, den der Samm - ler beſaß. Nicht minder merkwuͤrdig in ſeiner Art iſt das Mineralienkabinett des Bergkadettenkorps, welches von Kennern fuͤr das erſte und vollſtaͤndigſte im ruſſiſchen Reiche gehalten wird. Es enthaͤlt uͤber 36,000 Stufen, die, außer den im Lande geſammelten Mineralien, durch den Ankauf ſehr vorzuͤgli - cher auslaͤndiſcher Kabinette zuſammengebracht ſind. Eben dieſe Anſtalt beſitzt auch eine nennenswuͤrdige Sammlung phyſikaliſcher und mathematiſcher Inſtrumente zu unterirrdiſchen Meſſungen, Modelle von Maſchienen, eine Probierkammer, ein kleines Obſervatorium, und, was die neugierigen Fremden mehr als alles dieſes herbeyzieht, ein kuͤnſtliches Ge - birge, mit Schachten, Geſenken, Strecken Stollen, deſſen Anlage groß genug iſt, um je - dem Layen der Bergbaukunde einen anſchauli - chen und befriedigenden Begriff von dem Prak - tiſchen dieſer Wiſſenſchaft zu verſchaffen.

Ich uͤbergehe mehrere kleinere Sammlun - gen oͤffentlicher Inſtitute, um nur noch des großen Modellkabinetts zu erwaͤhnen,144 welches ſich in einem beſonders dazu erbauten Hauſe neben der noch unvollendeten marmor - nen Iſaakskirche befindet. Man ſieht hier nicht nur die ſauber gearbeiteten Modelle der praͤchtigſten ſchon vorhandenen oder projektir - ten Monumente der Reſidenz, ſondern auch ei - ne Sammlung der koſtbarſten ruſſiſchen Stein - arten in polirten Probetafeln. Auch das Modellkabinett der oͤkonomiſchen Geſellſchaft iſt bemerkenswerth, weil es viele neue, auswaͤrtige und einheimiſche Erfindungen zum Behuf der Landwirthſchaft und Haushaltung enthaͤlt.

Eine der reichſten und auserleſenſten Samm - lungen, das kaiſerliche Muſeum, in der Eremitage, habe ich bis itzt nicht genannt, weil ſie weder zu den oͤffentlichen noch Privatan - ſtalten gerechnet werden kann. Von den Merk - wuͤrdigkeiten dieſes, wie ſich ohnehin voraus - ſetzen laͤßt, aͤußerſt vortreflichen Kabinetts ſind wenig Data im Publikum vorhanden. Die fluͤchtige Durchſicht, zu welcher man in den Sommermonaten ſehr leicht gelangen kann, gewaͤhrt, bey der Menge von ſeltnen Gegen - ſtaͤnden aller Art, nur eine ſehr allgemeine und unvollkommene Kenntniß, ſelbſt wenn man dieſeBeſu -145Beſuche oft wiederholt. Die Naturallenſamm - lung erhielt ihre vorzuͤglichſte Grundlage durch das in allen drey Naturreichen gut beſetzte Kabinett des beruͤhmten Pallas, welches die Kaiſerinn fuͤr 20,000 Rubel kaufte. Die Sammlung von Antiken, Kunſtſachen und Koſtbarkeiten fuͤllt einen großen mit Schraͤnken beſetzten Saal; ihre Anſicht wird nur durch die Glasthuͤren geſtattet. Von der Idee des unermeßlichen Werths und dem Glanz dieſer Gold - und Edelſteinmaſſen geblendet, kehrt man gewoͤhnlich ohne Gewinn fuͤr den Zweck ſeines Beſuches zuruͤck. Die Kupferſtichſamm - lung enthaͤlt uͤber 30,000 Blaͤtter von den groͤßten und vorzuͤglichſten Meiſtern. Zu den Sammlungen der Kaiſerinn gehoͤrt auch ein Muͤnz - und Medaillen -, und ein Gemmen - und Paſtenkabinett, deren Bereicherung Ka - tharina ſich mit der Sorgfalt einer Kunſt - liebhaberinn und mit kaiſerlichem Aufwande angelegen ſeyn laͤßt. Wenn der Genius des ruſſiſchen Hauſes dieſe edle Liebe fuͤr Kunſt und Wiſſenſchaft auf dem Throne erblich macht, ſo werden die Kenner des Alten und Schoͤnen, ſtatt nach Rom und Griechenland zu wandern,Zweiter Theil. K146bald nach dem nordiſchen Palmyra eilen, um ſich den Beweis zu holen, daß das Feuer zu welchem die goͤttlichen Muſen begeiſtern, auch unter Schnee und Eis nicht erliſcht.

Wenn etwas dieſen Beweis verſtaͤrken kann, ſo iſt es das Beyſpiel der ruſſiſchen Großen. In keinem Lande vielleicht giebt es ſo leiden - ſchaftliche Sammler als hier. Aber eben die - ſer allzugroße Eifer, ſtatt die Anzahl und Voll - kommenheit ſolcher Privatſammlungen zu vermehren, wird ihrer Dauer nicht ſelten nach - theilig, wenn das, bey aller Groͤße des Reich - thums ihrer Beſitzer, oft ſteigende Mißver - haͤltniß der Koſtbarkeit die Aufopferung derſel - ben erheiſcht. Man findet daher wenige Fa - miliendepots, wie in andern Laͤndern, wo koſt - bare Privatſammlungen von einer Generation auf die andere forterben, und ſelbſt, wenn ſie durch Zufall oder Erloͤſchung des Stammes in fremde Haͤnde uͤbergehen, noch den Namen ihrer urſpruͤnglichen Sammler und Beſitzer verewigen helfen. Zu den merkwuͤrdigſten jetzt in der Reſidenz beſtehenden Kabinetten dieſer Art moͤchten etwa folgende gehoͤren. Das Muſeum des Grafen Iwan Tſcherni -147 ſchew, Vicepraͤſidenten der Admiralitaͤt, eines Herrn deſſen Reiſen, deſſen Liberalitaͤt und Kunſtliebhaberey ſeinen Namen in den kulti - virten Laͤndern von Europa allgemein bekannt gemacht haben. Der Plan ſeines Kabinetts iſt faſt eben ſo ausgedehnt, als der Inhalt deſſelben reichhaltig iſt. Gemaͤlde, Kupferſtiche, Werke der Skulptur; Antiken, geſchnittene Steine, Kunſtſachen und Erfindungen; In - ſtrumente, Seekarten, Modelle der zum See - weſen gehoͤrigen Dinge von allem dieſem findet man einen ausgeſuchten und zum Theil ſehr koſtbaren Vorrath. Die Gefaͤlligkeit des Beſitzers, jedem geſitteten Menſchen die Durch - ſicht ſeines Muſeums zu geſtatten, iſt dem Aufwande gleich, mit welchem er dieſe Schaͤtze groͤßtentheils ſelbſt zuſammengebracht hat. Eben ſo bekannt durch ſeine Liberalitaͤt iſt der Graf Stroganow, deſſen Sammlungen in einer andern Ruͤckſicht eben ſo merkwuͤrdig ſind. Sie erſtrecken ſich hauptſaͤchlich uͤber Produkte der Natur; auſſer einem reichen Mineralien - kabinett iſt vorzuͤglich eine Kollektion von ana - tomiſchen Praͤparaten der Erwaͤhnung werth; Kunſtſachen, Gemaͤlde, Kupferſtiche, als dieK 2148allgemeinſten Gegenſtaͤnde der Liebhaberey, ſind auch hier nicht vergeſſen. In den Kabi - netten des Grafen Alexei Raſumowski und des Fuͤrſten Galizuͤn finden ſich beſon - ders Mineralien; letzterer hat ſeine ohnehin ſchon reiche Sammlung vor nicht langer Zeit durch die Kollektion des Generals von Soi - monow um den Preis von 20,000 Rubeln vermehrt. Die Olſufjew’ſche Sammlung von Kupferſtichen wird, naͤchſt der kaiſerlichen, fuͤr die zahlreichſte und auserleſenſte gehalten. Ein laͤngeres Regiſter wuͤrde hoͤchſtens nur Reiſenden zu Statten kommen; die Leſer die - ſes Buchs finden in den angefuͤhrten Beyſpielen Beweiſe genug fuͤr die Behauptung, daß die Kuͤſte des finniſchen Meerbuſens kein ſo un - fruchtbarer Boden fuͤr Kunſt und Wiſſenſchaft iſt, als ein verjaͤhrtes Vorurtheil in Deutſch - land den großen Haufen glauben macht.

Zu den Huͤlfsmitteln der Gelehrſamkeit ge - hoͤren endlich noch die botaniſchen Gaͤr - ten. St. Petersburg zaͤhlt ihrer zwey von der oͤffentlichen Gattung, die der Akademie der Wiſſenſchaften und dem mediziniſchen Kol - legium anvertraut ſind. Die oͤkonomiſche Ge -149 ſellſchaft geht mit dem Plane um, ebenfalls einen anzulegen. Unter mehreren Privatan - ſtalten der Art zeichnete ſich beſonders der Garten des Kollegienrath und Akademikus Pal - las durch ſeinen Reichthum an fremden und ſeltnen einheimiſchen Pflanzen aus, der aber nun wol, ſeit ſeiner Abreiſe von der Reſidenz, andern Beſitzern zufallen duͤrfte.

Um uns voͤllig dem Ziele zu naͤhern, wel - ches uns die Ueberſchrift des gegenwaͤrtigen Abſchnitts vorſteckt, bleibt uns noch die Schil - derung des Zuſtandes der eigentlichſten und letzten Huͤlfsmittel alles gelehrten Wiſſens, der Druckereyen und des Buchhandels, uͤbrig. Wenn jene mit Recht die Hebammen der Gedanken genannt werden, ſo iſt dieſer nicht minder ein Wohlthaͤter derſelben, weil er ihren Umlauf befoͤrdert. Beyde ſind, nach dem jetzigen Zuſtande der Dinge, ſo nothwen - dig, daß ein Volk, ohne ſie, keinen Anſpruch auf Litteratur, und eine Litteratur, ohne ſie, keinen Anſpruch auf Vollkommenheit machen kann.

Die Reſidenz hat jetzt vierzehn Druk - kereyen, die wir, zum Behuf einer leichternK 3150Ueberſicht, in drey Klaſſen theilen wollen. Zur erſten gehoͤren die mit großen Staatsdeparte - ments verbundenen und nur fuͤr das Beduͤrf - niß derſelben thaͤtigen Druckereyen. Es ſind deren drey, naͤmlich die des heiligen Synods, des Senats und des Kriegskollegiums. Die erſte druckt nur theologiſche, meiſtens ſlawoni - ſche Werke. Zur zweyten Klaſſe rechnen wir die Druckereyen, die zu oͤffentlichen gelehr - ten Anſtalten gehoͤren und auch fuͤr das Pu - blikum arbeiten. Die groͤßte unter dieſen iſt die der Akademie der Wiſſenſchaften, bey wel - cher 18 Preſſen und eine Schriftgießerey im Gange ſind. Die Druckereyen des Land - und Seekadettenkorps und des griechiſchen Korps haben zum Theil ſehr ſaubere Lettern und wer - den immer thaͤtiger. Von den Privat - druckereyen koͤnnen ſich die Weitbrechtiſche und Schnooriſche mit den vorzuͤglichſten im Auslande meſſen. Letztere hat eine tatariſche Druckerey, welche außer Ukaſen und Schulbuͤ - chern, auch einen mit vieler Eleganz gedruck - ten Koran geliefert hat. Faſt alle dieſe An - ſtalten haben ihre eigenen Schriftgießereyen; die Breitkopfiſche Privatdruckerey druckt auch151 Noten. Durch die Bemuͤhungen und die In - duſtrie der genannten Deutſchen iſt es ſo weit gekommen, daß die ruſſiſche Druckſchrift jetzt ihr eckiges, hoͤlzernes Anſehen faſt ganz verlo - ren hat, und ſich in Ruͤckſicht auf gefaͤlligen Anblick und geſchmackvolle Verhaͤltniſſe mit der lateiniſchen oder wenigſtens uͤber die deutſche rangiren kann. Unter den neueſten Produkten dieſer Preſſen giebt es mehrere, die in Ruͤck - ſicht auf typographiſche Vollkommenheit mit den gelungenſten Verſuchen anderer Nationen in dieſem Fache wetteifern, wovon ich nur die lateiniſche und ruſſiſche Ausgabe von Pallas Flora Roſſica, als ein in Deutſchland bekann - tes Beyſpiel, anfuͤhren will. Geſtochene Titel, Kupferſtiche und Vignetten ſind zwar bey ruſ - ſiſchen Buͤchern nicht ſehr gebraͤuchlich; aber dagegen kennt man hier auch das armſelige Loͤſchpapier nicht, auf welchem in Deutſchland noch immer die beſten Werke der Nation der Unſterblichkeit uͤberliefert werden. Die hohen Preiſe aller Beduͤrfniſſe in der Reſidenz und der damit in Verhaͤltniß ſtehende Arbeitslohn, verurſachen natuͤrlicher Weiſe, daß die Druck - koſten eines Buchs hier nicht ſo wohlfeil zuK 4152ſtehen kommen, als in kleinern Staͤdten; aber im Ganzen ſind dieſe nicht ſo uͤbermaͤßig hoch, als die Theurung aller ruſſiſchen Buͤcher ver - muthen laͤßt. Fuͤnfhundert Exemplare eines Bogens in Medianoktav, mit Inbegriff des Papiers, koſten in einer hieſigen Druckerey et - wa funfzehn Rubel, alſo der Bogen drey Ko - peken, welches der Mittelpreis zu ſeyn ſcheint. Wir koͤnnen dieſen Gegenſtand nicht ver - laſſen, ohne ein paar Worte uͤber einen ſehr nahe verwandten, die Cenſur, zur Kritik und Beherzigung in das Archiv unſerer Nach - richten niederzulegen.

Die großen Wirkungen, welche die Ver - breitung ſchaͤdlicher oder fuͤr ſchaͤdlich gehalte - ner Grundſaͤtze durch die Buchdruckerkunſt ver - urſachen koͤnnen, haben faſt in allen Staaten eine Wachſamkeit uͤber dieſen Zweig menſchli - cher Thaͤtigkeit erzeugt, die ſehr oft in eine der buͤrgerlichen Freyheit und dem Geiſt unſers Zeitalters widerſprechende Strenge ausgeartet iſt. Auf der andern Seite hat das Intereſſe, welches die Menſchheit an dieſem Gegenſtande nimmt und nehmen muß, eine Menge der beſten Koͤpfe aller Nationen aufgefordert, ſich153 mit der Unterſuchung deſſelben zu beſchaͤftigen und die Gruͤnde dafuͤr und dawider durch eine moraliſche Feuerprobe zu laͤutern. Izt ſcheint die große Frage beantwortet, und der Werth oder Unwerth der Preßfreyheit und der Cen - ſuranſtalten entſchieden zu ſeyn. Der Antheil, welchen Rußland unter der jetzigen weiſen und milden Regierung an den Fortſchritten der Aufklaͤrung und Kultur des uͤbrigen Europa genommen hat, konnte ſeinen wohlthaͤtigen Einfluß auch in dieſem wichtigen Theil der oͤf - fentlichen Staatsverwaltung nicht verleugnen; eine Fuͤrſtinn, aus deren Feder die Inſtruktion zur Geſetzgebung gefloſſen war und die mit den groͤßten Philoſophen ihres Zeitalters in har - moniſchem Buͤndniſſe ſtand, konnte den Gang des menſchlichen Geiſtes auf dem Wege zu ſeiner Veredlung mit keinen Feſſeln belaſten. Sie ſchenkte der Nation voͤllige Preßfreyheit*)Obgleich dieſes Faktum vielleicht weder durch Uka - ſen noch durch die Verichte der Zeitgenoſſen ins Ausland gekommen ſeyn mag, ſo iſt es doch nicht minder gewiß. Die Sache wurde bey Gelegenheit der Eröfnung der er -;K 5154aber das edle Vertrauen auf die Menſchheit, mit welcher ſie dies bewilligte, ward, wie uͤber - all, gemißbraucht, und der Erfolg bewies, daß der verſchiedene Gang der Voͤlker zur Ausbil - dung auch unterſchiedene Maaßregeln zu ſeiner Leitung beduͤrfe. Eine Nation, bey welcher das Gefuͤhl ihrer Kraͤfte erwacht, und die in den erſten Beſtrebungen, dieſe zu brauchen, leicht irre gefuͤhrt werden kann, mag einer vor - bildlichen Richtung nicht entbehren, mit deren Huͤlfe ſie leiſen feſten Tritts und ohne gewalt - ſame Konvulſionen zum Ziele gelangt.

Jetzt ſind alle Schriften die in freyen oder Privatdruckereyen gedruckt werden, der Cen - ſur unterworfen, welche das Polizeyamt be - ſorgt. Die Vorſchrift, nach welcher man ſich, ſo viel bekannt iſt, richtet, ſchraͤnkt ſich auf*)ſten Privatdruckerey in St. Petersburg zur[Sprache] ge - bracht (denn die mit Staatsdepartements oder wiſſen - ſchaftlichen Inſtituten verbundenen Druckereyen haben Cenſoren aus ihrem eigenen Mittel und damals dahin entſchieden, daß es keiner Cenſur bedürfe, daß aber Ver - faſſer und Drucker, wie ſich’s gehört, für etwannige Ue - bertretungen der Landesgeſetze verantwortlich ſeyn ſoll - ten.155 den allgemeinen Grundſatz ein, daß nichts ge - gen die Religion, den Staat und die guten Sitten erſcheine. Dieſe Unbeſtimmtheit kann, wenn ihre Auslegung einem aufgeklaͤrten Mann anheim faͤllt, der guten Sache eben ſo foͤrder - lich ſeyn, als ſie, im entgegengeſetzten Falle, durch mißverſtandenen Pflichteifer oder uͤber - triebene Aengſtlichkeit, der Litteratur ſchaͤdlich werden muß.

Die Wachſamkeit der Polizeycenſur ver - breitet ſich nur uͤber die in der Reſidenz, oder vielmehr in den Privatdruckereyen herauskom - menden Buͤcher; alle fremde litterariſche Pro - dukte, die uͤber die Grenze hereingebracht wer - den, ſind im eigentlichen und bildlichen Sinne zollfrey. Die Aufſicht welche den Zollbeamten hieruͤber anempfohlen iſt, kann, der Natur der Sache gemaͤß, nur ſehr unvollkommen ſeyn, da die wenigſten unter ihnen Zeit und Luſt, Sprach - und Sachkenntniſſe genug beſitzen, um einer ſo ſchwierigen Pflicht, wenn ſie in ihrem ganzen Umfange gefordert wuͤrde, Ge - gnuͤge zu leiſten. Man findet alſo in den hie - ſigen Buchlaͤden und Leſegeſellſchaften littera - riſche Produkte von der mannigfaltigſten Gat -156 tung, und ſelbſt ſolche, welche in manchen namhaften und aufgeklaͤrten Staaten zu den proſkribirten gehoͤren, hier aber im Bewuſtſeyn der guten Sache, unter der Aegiede einer wachſamen Polizey, und mit Ruͤckſicht auf das leſende Publikum, gar wohl geduldet werden koͤnnen. Zu eben der Zeit, da man in den meiſten Laͤndern gewaltſamen Exploſionen mit Zittern entgegen ſah und Vorſichtsmaßregeln verdoppelte, da in Stockholm und ſelbſt in Amſterdam die Einfuhre franzoͤſiſcher Zeitun - gen und Journale verboten wurde, zu eben die - ſer Zeit erſchien in einem angeſehenen hieſigen Buchladen ein vollſtaͤndiges Verzeichniß fran - zoͤſiſcher uͤber die Revolution erſchienenen Schrif - ten. Dieſe Verguͤnſtigung, deren jeder aufge - klaͤrte Patriot mit dankbarer Maͤßigung ge - nießt, hat nur erſt ſeit dem Anfange dieſes Jahres (1793) durch das allgemeine Verbot franzoͤſiſcher Waaren eine Einſchraͤnkung erlit - ten, da in dieſem Befehl auch die Einfuhr franzoͤſiſcher Zeitſchriften und Tagblaͤtter un - terſagt worden iſt. Doch wozu ſo viele Be - weiſe, wo Einer hinreichend waͤre! Die wahr - haft philoſophiſche Toleranz der Regierung157 achtet ſogar der Schandſchriften nicht, mit welchen namenloſe, durch den Partheygeiſt er - hitzte Schriftſteller eine Adminiſtration herab - zuwuͤrdigen ſuchen, von deren Triebwerk ſie keinen Begriff haben*)Es iſt zu bedauren, daß ſelbſt achtungswürdige Schriftſteller ſich zuweiten durch den Kitzel, etwas Auf - fallendes zu ſagen, verführen, oder durch falſche Autori - täten blenden laſſen, Nachrichten ins große Publikum zu bringen, deren Ungrund und Seichtigkeit den redlichen Wahrheitsfreund empören und bey Suchkundigen Mit - leid erregen. Unter mehrern Beyſpielen, welche die neue - ſten deutſchen Meßprodukte für dieſe Behauptung liefern, ſey es an zweyen genug. In einem der vorigjährigen Hefte der Minerva findet ſich ein Auſſatz von einem gewiſſen Herrn von Ruthieres, der an Seichtigkeit, Abgeſchmacktheit und Verläumdungsſucht ſchwerlich von irgend einem noch ſo armſeligen Pasquill aus der Fabrik ihrer ſach - und ſprachkenntnißloſen voyageurs übertroffen werden kann; und doch giebt Herr von Archenholz dieſes Bruchſtück als eine Probe von dem größern Werke deſſelben Verfaſſers, auf welches er das Publikum durch dieſes in ſeinen Augen, wie es ſcheint, wohlgerathene Fragment aufmerkſam machen will. Es iſt hier; ſtill und groß ſchwebt Katharinens Geiſt uͤber dem Urtheil ihres Zeitalters und blickt nach der Unſterblichkeit auf, die ihr Selbſtgefuͤhl und die Nachwelt ihr ſichern.

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Der Buchhandel von St. Petersburg, der noch vor wenigen Jahren aͤußerſt unbe - deutend war, und ſich in Ruͤckſicht der aus - waͤrtigen Litteratur auf die Thaͤtigkeit des ein - zigen akademiſchen Buchladens koncentrirte, hat jetzt ſo ſehr an Ausdehnung gewonnen, daß man etwa zehn auslaͤndiſche und vielleicht noch einmal ſo viele ruſſiſche Buchhaͤndler zaͤh - len kann. Dieſe ſchnelle Vermehrung, die als*)nicht der Ort zu beweiſen, daß von dem ganzen Ge - ſchmiere faſt keine Zeile, ſo wie ſie da ſteht, wahr iſt; ich begnüge mich daher nur mit der Bemerkung, daß dieſes ſaubere Produkt, anſtatt die mindeſte Senſation zu erregen, von der Regierung ſelbſt dem Hohn und der Verachtung des Publikums preisgegeben wurde, die es auch in reichlichem Maße erhielt.Mit ähnlicher Unbeſonnenheit, wiewol auf eine edlere Autorität geſtützt, hat Herr Forſter, ein eben ſo lie - benswürdiger als talentvoller Schriftſteller, in ſeine Er - innerungen vom Jahr 1790 ein Faktum aufge - nommen, welches ihm, trotz alles guten Vorurtheils für den erſten Verbreiter, doch bey der mindeſten Ueberlegung hätte verdächtig ſcheinen müſſen. Wie hat ein ſo ſcharf - ſinniger Kopf die Unwahrſcheinlichkeit überſehen können, daß in einer Stadt, die in den Perioden ihrer höchſten Bevölkerung nur etwa 26 bis 30,000 Menſchen zählt, Krankenanſtalten vorhanden ſeyn ſollten, in welchen159 das ſicherſte Kennzeichen der ſteigenden Kultur angeſehen werden darf, verbreitet ihre Wir - kungen nicht nur uͤber die Reſidenz, ſondern auch uͤber die entfernteren Theile des Landes, die ihren ganzen Buͤchervorrath groͤßtentheils von hier und von Moskau erhalten. Jetzt er - ſcheinen eine ehemals unerhoͤrte Sache auch Buͤcherkraͤmer auf den Maͤrkten und Meſſen der Provinzialſtaͤdte, die ſich bey ih -*)70,000 Mann ſterben konnten, die alſo, wenn wir auch die allerſchlechteſte Behandlung und ein unerhört nachtheili - ges Vethältniß annehmen, wenigſtens noch einmal ſo viele Kranke aufgenommen haben mußten? Welches Hos - pital in Europa rechtfertigt durch ſeinen Beſtand dieſe Muthmaßung auch nur auf die entfernteſte Weiſe? Ich habe mir Mühe gegeben auf den Grund einer Nach - richt zu kommen, die in der That ſo wichtig iſt, daß ſie ſelbſt den Feuereifer entſchuldigt, in den Herr Forſter durch ſeine Folgerungen geräth, und nach den glanbwür - digſten Zeugniſſen die ich hierüber have einholen können, ergiebt ſich, daß die Quelle des Irrthums ein Druck - fehler iſt, der durch die Wegnahme einer überzähligen Null verbeſſert werden muß. Doch, die Sache iſt von allzugroßer Bedeutung für die Geſchichte, als daß eine be - friedigende Erklärung hier ihren Platz finden könnte. Sie ſoll aber zu einer andern Zeit, mit intereſſanten Belegen verſehen, im Publikum erſcheinen.160 rem neuen Gewerbe ſehr wohl befinden ſollen. Auf den großen Marktplaͤtzen der Reſidenz, unter den Arkaden von Goſtinnoi Dwor, wo ſonſt zwar Beduͤrfniſſe aller Art, aber ſchlech - terdings keine geiſtigen feil geboten wurden, ſieht man jetzt große Waarenlager von Buͤchern, in denen es ſelten ganz leer an Kaͤufern und Neugierigen iſt. In allen ruſſiſchen Laͤden werden die Buͤcher gebunden oder wenigſtens broſchirt verkauft; aber dieſe Bequemlichkeit, deren Werth ich ſehr hoch anzuſchlagen ge - neigt bin, ſteht dennoch in keinem Verhaͤltniß mit der außerordentlichen Theurung aller ge - druckten Nationalprodukte.

Unter den fremden Buchhandlungen iſt die Weitbrechtiſche, wenn man ihrem Kata - log Glauben beymeſſen darf, die reichſte in Hinſicht der klaſſiſchen Litteratur der Auslaͤn - der, beſonders der Franzoſen. Aber dieſer ſo - wol, als die uͤbrigen deutſchen und franzoͤſi - ſchen Buchlaͤden, befriedigen ſelten oder nie - mals das Beduͤrfniß des Augenblicks, wenn nicht von laͤngſt erſchienenen, bekannten Wer - ken, ſondern von Neuigkeiten des Tages die Rede iſt. Die Schwierigkeit des Transports,der161der den langen Winter hindurch gehemmte Seehandel, die Ungewißheit des Abſatzes und die Gleichguͤltigkeit unſerer Buchhaͤndler, die auch bey einer ſehr eingeſchraͤnkten Betriebſam - keit reich zu werden verſtehen, legen dem Litte - raturfreunde Hinderniſſe in den Weg, die er nur durch große Zeit - und Geldaufopferungen ſchwaͤchen oder uͤberwinden kann. Es iſt daher nichts ungewoͤhnliches, daß Liebhaber oder Sammler zuſammentreten und ſich ihr Buͤcher - beduͤrfniß aus Riga oder geradezu aus Deutſch - land verſchreiben, wobey ſie, den Zeitgewinn abgerechnet, noch immer beſſer wegkommen, als wenn ſie ſich den hieſigen unbarmherzigen Monopoliſten auf Gnade und Ungnade erge - ben. Wie aber kein Uebel in der Welt iſt, dem nicht Eine gute Folge zuzuſchreiben waͤre, ſo ſind es eben dieſe Schwierigkeiten, welche den Leſegeſellſchaften hier das Daſeyn gegeben haben. Dieſe nuͤtzlichen Inſtitute, die, ohne ihnen ein groͤßeres Verdienſt unter - ſchieben zu wollen, wenigſtens den Sinn fuͤr geiſtigen Genuß und einſame, geraͤuſchloſe Un - terhaltung erwecken und naͤhren, haben in kur - zer Zeit ſo allgemeinen Beyfall gefunden, daßZweiter Theil. L162es, eben des allzugroßen Euthuſiasmus wegen, um die Dauer dieſes Modegeſchmacks ein we - nig mißlich ausſieht. Die meiſten derſelben zeichnen ſich durch gute Einrichtung und ſolide Wahl der Buͤcher aus, die unbedeutenden Aus - nahmen abgerechnet, welche der Beytritt der Damen und der unbeſchaͤftigten jungen Stuz - zerwelt nothwendig macht. Reiſebeſchreibun - gen, Zeitgeſchichte und ſchoͤne Litteratur gehoͤ - ren hier ſo gut wie in Deutſchland zur Lieb - lingslektuͤre; nur mit dem Unterſchiede, daß der Geſchmack hier nicht ſo ſchnellwechſelnden Lau - nen unterworfen iſt, als dort, wo jeder Meß - katalog die Probekarte der Moden des Augen - blicks liefert. Die mannigfaltigen Deklinatio - nen der deutſchen Leſewelt zum Sentimentalen, zur Empfindeley, zur Myſtifikation, zur reinen Vernunft, zum Kryptokatholicismus, zum Tra - giſchen, Heroiſchen, Graͤßlichen, zu Volksmaͤr - chen und Rittergeſchichten alle dieſe Mode - revolutionen, die innerhalb eines Zeitraums von zehn bis funfzehn Jahren auf dem Schauplatz der deutſchen Litteratur abgewechſelt haben, ſind nicht vermoͤgend geweſen, etwas uͤber un - ſern feſten Geſchmack oder uͤber unſere Un -163 empfaͤnglichkeit zu gewinnen. Zu weit entfernt von dem Tummelplatz der Meynungen und Partheyen, um durch das Intereſſe der Neu - heit zur Theilnahme aufgereizt zu werden, und allzubeſchaͤftigt mit unſerer Sinnlichkeit, um in einem Streite, wo fuͤr dieſe nichts zu gewin - nen iſt, uns im Ernſte unter eine oder die an - dere Fahne zu ſtellen; ſehen wir dem Kampfe und der Reibung ſo lange zu, bis die errun - genen und aus der gaͤhrenden Maſſe geſchiede - nen Reſultate uns kuͤrzlich des Beſſern beleh - ren; eine Methode, bey der wir um ſo gluͤck - licher ſind, weil unſere Augen, durch keinen Partheygeiſt geblendet, ſich der ſiegenden Wahr - heit nur deſto williger oͤffnen.

Eine vollſtaͤndige Ueberſicht aller neuen und merkwuͤrdigen Produkte der ruſſiſchen Lit - teratur zu liefern, waͤre ſo ſehr gegen den Zweck dieſes Buchs, als die Ausfuͤhrung eines ſolchen Vorſatzes unmoͤglich ſeyn wuͤrde. Kri - tiſche Journale, litterariſche Anzeigen, ſelbſt große Buͤcherverzeichniſſe ſind hier noch uͤber - aus ſelten; der Liebhaber muß ſich in den Buchlaͤden mit den neueſten Erſcheinungen be - kannt zu machen ſuchen, und oft gelangenL 2164wichtige und intereſſante Werke nur erſt ſehr ſpaͤt zur Kenntniß des Publikums. Dieſe Schwierigkeiten, die bey dem Mangel einer hinlaͤnglichen Sprachkenntniß doppelt hinderlich werden, laſſen von einem erſten Verſuch nur etwas ſehr unvollſtaͤndiges erwarten. Unter - ſtuͤtzt von einſichtsvollen Kennern wage ich es dennoch, hier eine Ueberſicht der merkwuͤrdigſten Produkte ruſſiſcher Schriftſteller einzuſchalten, wobey ich mich in Anſehung des Umfangs nur auf die Littera - tur der Reſidenz, und in Anſehung der Zeit nur auf die Regierung Katharina der Zweyten begrenze. So mangelhaft und trok - ken eine ſolche Muſterung werden muß, wenn weder die Unbekanntſchaft des Verfaſſers mit ſeinem Gegenſtande, noch auch die Grenzen ſeines Plans eine kritiſche und raiſonnirte Ver - arbeitung der Materialien geſtatten: ſo wird ſie doch immer nicht ganz arm an Reſultaten ſeyn, die hin und wieder zur Beurtheilung des Zuſtandes der Nationallitteratur leiten koͤn - nen.

Durch die Dunkelheit getaͤuſcht, die uͤber der Geſchichte des Mittelalters ſchwebt, ſehen165 wir in den Ruſſen jener Zeit nur ein kriegeri - ſches aber rohes Volk, dem Wiſſenſchaften und Kuͤnſte fremd waren. Die Spuren einer hoͤ - heren Kultur, die ſich in den Annaliſten vor - finden und welche der Fleiß neuerer Geſchichts - forſcher zu Tage gefoͤrdert hat, widerlegen die - ſes alte Vorurtheil, und begruͤnden die Wahr - ſcheinlichkeit, daß es ſchon vor der bekannten Unterjochung von den Tataren einen Zeitpunkt gegeben hat, da die ruſſiſche Nation ein civi - liſirtes Volk genannt zu werden verdiente. Die Kenntniß und der Gebrauch der cyrilliſchen Schrift und die ſlawoniſche Ueberſetzung der Bibel im neunten Jahrhunderte; die Schu - len, welche ſpaͤterhin der Großfuͤrſt Wolodi - mer ſtiftete; die Liebe dieſes Fuͤrſten zu den ſchoͤnen Kuͤnſten; die poetiſche Nachahmung der Pſalmen, welche ſchon um dieſe Zeit in den Kirchen geſungen ward; das buͤrgerliche Geſetzbuch, welches Jaroslaw Wladimi - rowitſch um 1019 den Nowogradern gab; der Glanz ſeines Hofes, deſſen ſelbſt auslaͤndi - ſche Geſchichtſchreiber unter den Zeitgenoſſen mit Erſtaunen erwaͤhnen; endlich die Denkmaͤ - ler der Malerey, einer Kunſt, die in RußlandL 3166ein Jahrhundert fruͤher als in Italien wieder auflebte alle dieſe und unzaͤhlige andere Zeugniſſe einer weitfortgeruͤckten Kultur laſſen keinen Zweifel uͤbrig, daß die Ruſſen des da - maligen Zeitalters ſchon eine Stuffe der Ver - edlung erklimmt hatten, zu welcher die uͤbrigen Voͤlker Europens erſt ſpaͤter gelangten. Unter der Herrſchaft der Tataren gieng dieſe ſchoͤne Morgenroͤthe eines ſchoͤnern Tages verloren, und waͤhrend jener traurigen Epoke gewannen die nachgebliebenen Nationen unſers Welttheils einen Vorſprung, den die Ruſſen bis auf die - ſen Augenblick, trotz der groͤßten Anſtrengung noch nicht voͤllig haben einholen koͤnnen. Von dem Gefuͤhl ihres Drucks zu einem unaufhoͤr - lichen Widerſtande angefeuert, verſchmolz der ſanfte Hang zu den Kuͤnſten des Friedens, der ſie bisher ſo ruͤhmlich ausgezeichnet hatte, in jene kriegeriſche Wildheit, die ihren Namen in den letztvergangenen Jahrhunderten ſo furcht - bar machte; bis es endlich den vereinigten Be - muͤhungen zweyer der groͤßten Fuͤrſten gelang, die eingeſchlafene Liebe zu den Wiſſenſchaften und Kuͤnſten wieder zu erwecken, und den Ruhm eines tapfern und muthigen Volks mit167 dem ſchoͤnern eines menſchlichen und aufgeklaͤr - ten zu verbinden. Mit der Regierung Peters des Großen beginnt eine neue Epoke fuͤr die Kultur Rußlands. Ein neues unermeßliches Gebiet iſt den Wiſſenſchaften erobert, nuͤtzliche Kenntniſſe werden, gleich fremden Pflanzen, in dieſen Boden verſetzt und gedeihen; das Nationalgenie entwickelt ſich wieder durch den belebenden Hauch eines mil - dern und gluͤcklichern Zeitalters; die Sprache wird gereinigt, bereichert und ausgebildet; Schriftſteller von Talent treten auf und lie - fern Geiſtesprodukte, die ſich den Enthuſias - mus der Nation und die Achtung der Aus - laͤnder erwerben. Eine kurze Erſchlaffung, die dieſer glaͤnzenden Periode folgt, ſcheint weniger die Wirkung eines allzuploͤtzlichen Auf - ſchwungs als der Vernachlaͤßigung zu ſeyn, un - ter welcher das einheimiſche Talent ſchmach - tet. Katharina die Zweyte erſcheint, und uͤberall verbreitet ſich ein neues verdoppel - tes Leben. Durch das Beyſpiel dieſer großen Fuͤrſtinn aufgemuntert, die es nicht unter ih - rer Wuͤrde haͤlt, ſelbſt dem Genius der Na - tion vorzuleuchten, wagt ſich dieſe noch einmalL 4168und mit noch kuͤhnerer Anſtrengung in die Schranken, um den edlen Wettkampf fuͤr das hoͤchſte Ziel der Sterblichen, fuͤr Aufklaͤrung und ſittliche Veredlung zu beginnen. Die Fortſchritte die ſie auf dieſer ſchoͤnen Bahn macht, ſind der Aufmerkſamkeit des uͤbrigen Europa werth. Es iſt ein herzerhebendes be - wundernswuͤrdiges Schauſpiel, dem raſchen Gange der Ausbildung einer großen Nation zu folgen, die, mit einer hohen Empfaͤnglich - keit und Perfektibilitaͤt begabt, die Scheide - wand niederreißt, welche ſie von ihren kulti - virten Nachbarinnen trennte, und ſich nun mit einemmal von Lichtſtroͤmen umgeben ſieht. Ein philoſophiſches Gemaͤlde der ruſſiſchen Littera - tur, wie ſie vor Peter dem Großen war, was ſie durch ihn wurde und was ſie jetzt iſt, muͤßte eins der intereſſanteſten Bruchſtuͤcke zur Geſchichte der Menſchheit ſeyn. Alles was ich hier liefern kann, ſind einzelne Zuͤge, wel - che auch bey der groͤßten innern Vollſtaͤndig - keit, ohne Verbindung mit dem Ganzen, im - mer nur einſeitige Reſultate geben und zu kei - nem ſichern Urtheil fuͤhren koͤnnen.

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Die Theologie, oder was man zuwei - len ſo nannte, war uͤberall in den barbariſchen Zeiten des Mittelalters nicht ganz vernachlaͤ - ßigt, und bey der Wiederauflebung der Wiſ - ſenſchaften war dies eins der erſten Faͤcher in welchem ſich gute Koͤpfe hervorzuthun ſuchten. Auch in Rußland blieb dieſes Feld nie ganz unbearbeitet, wie der Reichthum der Kloſter - bibliotheken beweiſ’t; aber dem Zeitalter Ka - tharinens war es vorbehalten, einem gelaͤu - terten Syſtem und einer populairen chriſtlichen Sittenlehre das Daſeyn zu geben*)Theophan Prokopowitſch war der erſte ruſſiſche Gottesgelehrte, der das Dogma und die Unter - ſcheidungslehren ſeiner Kirche in ein zuſammenhängendes Lehrgebäude brachte. Sein Hauptwerk iſt in lateiniſcher Sprache geſchrieben und führt den Titel Chriſtiana ortho - doxa Theologia. Seine geiſtlichen Reden, die für klaſſiſche Produkte gelten, werden häufig in den Kirchen beym Got - tesdienſte vorgeleſen. Er ſtarb, als Erzbiſchof von Now - gorod, i. J. 1736.. Wer kennt nicht den Namen und die Verdienſte des ehrwuͤrdigen Platons? Sein kurzer In - begriff der chriſtlichen Theologie, derL 5170auch in mehrere Sprachen uͤberſetzt iſt, hat ihm ſelbſt unter fremden Glaubensverwandten den Ruhm eines aufgeklaͤrten Theologen und gemeinnuͤtzigen Schriftſtellers erworben. Bey dem griechiſchen Gottesdienſt waren be - kanntlich Kanzelvortraͤge ſehr ſelten; die jetzige Kaiſerinn, die den Nutzen derſelben einſieht und die Wirkung eines zweckmaͤßigen, von den Gruͤnden einer hoͤhern Moral unterſtuͤtzten oͤf - fentlichen Vortrages auf das Herz der Men - ſchen kennt, hat die geiſtliche Beredſamkeit mit dem groͤßten Nachdruck und dem gluͤcklichſten Erfolge ermuntert. Unter den Praͤlaten, die ſich durch ihr homiletiſches Talent und als Schriftſteller ausgezeichnet haben, ſind vorzuͤg - lich der Mitropolit von Nowgorod und Pe - tersburg Gabriel, der Erzbiſchof von Ples - kow und Riga Innocentius, und der Bi - ſchof von Kaſchin und Twer Irineus zu bemerken*)Wenn ich hier und in der Folge nicht bedingungs - weiſe ſpreche, ſondern ſelbſt zu urtheilen ſcheine, ſo ge - ſchieht dies nur, um die Weitläuftigkeit zu vermeiden, zu. Die Erbauungsreden die - ſer wuͤrdigen Gottesgelehrten nuͤtzen nicht al -171 lein der leſenden Klaſſe des Volks, da ſie auf hoͤherm Befehl auch in den Kirchen vorgele - ſen werden. Von den neuern Veranſtal - tungen, den erſten Unterricht in der Religion zu befoͤrdern, und ſtatt der bloßen Anhaͤnglich - keit an aͤußere Gebraͤuche eine vernuͤnftige Ue - berzeugung bey dem Volk allgemeiner zu ma - chen, wird weiter unten die Rede ſeyn.

Die Rechtsgelehrſamkeit iſt bis itzt das aͤrmſte Fach der ruſſiſchen Litteratur. Die Vorleſungen ausgenommen, welche auf der moskowiſchen Univerſitaͤt gehalten werden, giebt es keinen oͤffentlichen Unterricht in dieſer Wiſſenſchaft; eine genaue Kenntniß der vater - laͤndiſchen Geſetze und etwas natuͤrliche oder erworbene Logik ſind hinreichend einen taugli - chen Rechtsgelehrten zu bilden. Der ganze Ertrag dieſes Feldes der Litteratur ſchraͤnkt ſich daher auf mehrere Sammlungen ein, die man von den aͤltern Geſetzbuͤchern und*)welcher ich gezwungen ſeyn würde, wenn ich immer im Namen meiner Freunde oder des Publikums ſprechen wollte. Dieſe Anmerkung gilt für die ganze Schilderung der Litteratur.172 von den Ukaſen Peters des Großen und ſeiner Nachfolger veranſtaltet hat. Die Epoke, die Katharinens Geſetzgebung in der Geſchichte der ruſſiſchen Reichsverfaſ - ſung macht, wird wahrſcheinlich auch der Be - foͤrderung dieſes Studiums guͤnſtig ſeyn, da in der neuen Einrichtung der Juſtizpflege und in allen dahin abzweckenden Verordnungen Ein zuſammenhaͤngender Plan herrſcht, der die wiſ - ſenſchaftliche Verarbeitung dieſes Syſtems und die Zuruͤckfuͤhrung deſſelben auf allgemeine Grundſaͤtze nicht nur moͤglich, ſondern gewiſ - ſermaßen nothwendig macht*)Eben da ich dieſes niederſchreibe, erfahre ich, daß kürzlich in Moskan ein Syſtem der ruſſiſchen Ge - ſetzgebung erſchienen iſt.. Eine einzelne merkwuͤrdige Erſcheinung in dieſem Fach darf ich nicht unangezeigt laſſen: die ruſſiſche Ue - berſetzung von Blacſtone’s Kommentar uͤber die engliſchen Geſetze, welche vor einigen Jahren auf hoͤhere Veranlaſſung zu Stande gebracht ward.

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Auch die Arzneygelahrtheit war noch vor kurzer Zeit ein ſo unbearbeitetes Feld, daß es im Jahr 1770 vielleicht nicht drey Buͤcher uͤber mediziniſche Gegenſtaͤnde gab. Der Gewinn der ruſſiſchen Litteratur in die - ſem Felde iſt um ſo bemerkenswerther, da ein großer Theil der hieher gehoͤrigen Abhandlun - gen und Werke in lateiniſcher Sprache ver - faßt iſt, und hier alſo nicht angefuͤhrt werden kann. Unter den petersburgiſchen Aerzten, die ſich auf dieſe Art um ihre Nation verdient ge - macht haben, ſind mir folgende bekannt. Der Hofrath und Prof. der Entbindungskunſt, Ambodik, ein Mann der ſich die Bereiche - rung der ruſſiſchen mediziniſchen Litteratur vor - zuͤglich angelegen ſeyn laͤßt. Er iſt der Ver - faſſer eines allgemeinverſtaͤndlichen Lehrbuchs der Entbindungskunſt, einer Phyſio - logie, einer Materia medica und eines anatomiſch-phyſiologiſchen Woͤrter - buchs in ruſſiſcher, lateiniſcher und franzoͤſi - ſcher Sprache. Eine vermehrte und umgear - beitete Ueberſetzung von Saucerotte’s be - kanntem Examen, unter dem Titel: Kurze Pruͤfung eingewurzelter Vorurtheile174 und Meynungen, betreffend ſchwan - gere Weiber, Kindbetterinnen und neugeborne Kinder, ein Buch das ſchon mehrere Auflagen erlebt hat, iſt ebenfalls ſeine Arbeit; auch iſt er der Ueberſetzer von Schrei - bers Anweiſung zur Kenntniß und Kur der aͤußern und innern Krank - heiten und von Home’s Principia Mcdi - cinae. Tiſſot’s Schriften: Avis au peuple und von der Geſundheit der Gelehr - ten ſind ebenfalls ins Ruſſiſche uͤberſetzt; jenes von dem Hofrath und Akademikus Oſerez - kowski, dieſes vom Dr. Schumljanski, der auch der Verfaſſer einer Abhandlung uͤber die Vervollkommnung der nuͤtzlichſten Wiſſenſchaft (der Medizin) iſt. Verſchie - dene kleine mediziniſche Schriften des Kolle - gienraths Tichorski kann ich nur im Allge - meinen anfuͤhren, da ich keine naͤhere Kennt - niß von denſelben habe. Die Verheerungen, welche die Peſt vor mehreren Jahren in eini - gen Gegenden des ruſſiſchen Reichs anrichtete, haben eine Menge Schriften uͤber dieſe fuͤrch - terliche Geiſſel des menſchlichen Geſchlechts erzeugt, von welchen verſchiedene im Auslande175 ruͤhmlich bekannt geworden ſind*)z. B. des Dr. Samoilowitſch Abhandl. über die Peſt, von der es eine deutſche Ueberſetzung giebt.; bey dieſer Veranlaſſung ward auch Richard Mead’s Abhandlung von der Peſt ins Ruſſiſche uͤberſetzt. Von Swieten’s Beſchrei - bung der Krankheiten in Feldlaͤgern hat an dem Dr. Terechowski, und des Baron Dimsdale Methode die Blat - tern einzuimpfen an einem Ungenannten einen Ueberſetzer gefunden. Mit eben ſo ruͤhmlichem Eifer als die genannten ruſſiſchen Aerzte, haben mehrere Deutſche, die der Sprache hinlaͤnglich kundig waren, fuͤr die Bereicherung dieſes Fachs gearbeitet. Von dem Kollegienrath und aͤlteſten Admiralitaͤts - medikus Bacheracht iſt ein Volksbuch uͤber mehrere Krankheiten, ein anderes uͤber die Unmaͤßigkeit im Liebesge - nuſſe, ein Vorſchlag zur Erhaltung der Geſundheit der Seeleute, eine Abhandlung uͤb[er]den Skorbut, u. a. m. vorhanden. Der Staabschirurgus (jetziger ge -176 lehrter Sekretair des mediziniſchen Kollegiums) Vien hat eine ſehr vollſtaͤndige Loimologie geſchrieben. Der Hofrath Paͤken, deſſen Vater ſich ſchon um die ruſſiſche mediziniſche Litteratur verdient gemacht hatte, iſt der Ver - ſaſſer einer Phyſiologie und Pyretho - logie zum Gebrauch bey Vorleſungen, und der Ueberſetzer von Richters Anfangs - gruͤnden der Wundarzneykunſt. Spe - dikati ſchrieb eine Streitſchrift uͤber den Skorbut gegen Bacheracht. Kuͤrzlich iſt eine Ueberſetzung von Gaubii Institutiones Patho - logiae medicin. vom Hofrath und Prof. Hoff - mann herausgekommen. Eine ganz neue Er - ſcheinung, die erſte in ihrer Art, iſt ein me - diziniſches Wochenblatt in ruſſiſcher Sprache, welches von zwey hieſigen Aerz - ten, dem Dr. Uhden und dem Dr. Elli - ſen beſorgt wird.

So viel Vergnuͤgen[d]er Ueberblick uͤber dieſen ſchnellen Anwachs der mediziniſchen Lit - teratur gewaͤhrt, ſo unangenehm iſt der Ue - bergang zu der philoſophiſchen, die außer einem Lehrbuch des Naturrechts von Solotnizki kein Originalwerk, und außerden177den Ueberſetzungen einzelner Artikel aus der franzoͤſiſchen Encyklopaͤdie, keine Dollmetſchung aufzuweiſen hat, wenn man die kleinen Broſchuͤren ausſchließt, die ins Ge - biet der Moral gerechnet werden koͤnnen*)Man vergeſſe ja nicht, daß überall nur von pe - tersburgiſchen Erſcheinungen in der Litteratur die Rede iſt. Moskau hat in dieſem, wie in manchen an - dern Fächern, gute Originalprodukte und Ueberſetzungen geliefert. Eine unlängſt angefangene Zeitſchrift, das moskowiſche Journal, beſtrebt ſich, dieſe Lücke auf eine ſehr auffallende Art zu ergänzen. Außer mehre - ten merkwürdigen Zwecken ſcheint dieſe Zeitſchrift die Abſicht zu haben, das ruſſiſche gelehrte Publikum auf die große Revolution aufmerkſam zu machen, die Kant in der Philoſophie bewirkt hat.. Nicht ganz ſo arm iſt das Feld der Politik und Staatswirthſchaft, obgleich der ganze Reichthum auch hier nur aus Ueberſetzungen beſteht. Die wichtigſte unter dieſen iſt unſtrei - tig Kramarenkow’s Esprit des Loix von Montesquieu. Die Abhandlung eben die - ſes Verfaſſers sur les causes de la grandeur er de la décadence de l’empire romain, St. Pierre’s philoſophiſcher Traum vonZweiter Theil. M178einem ewigen Frieden, Callieres Werk de la manière de négocier avec les Souve - rains, u. m. a. haben ebenfalls Ueberſetzer ge - funden. Juſti’s Grundfeſte der Macht der Staaten iſt von dem Aſſeſſor Boga - jewski, und das bekannte Buch, les inté - rêts des nations de l’Europe rélativement au commerce von Baſchilow in die ruſſiſche Sprache uͤbergetragen. Ich erwaͤhne nur noch der Ueberſetzung von Neckers Werk de l’ad - ministration des finances de la France und der Umarbeitung von Beckmann’s Forſt - kalender fuͤr das Beduͤrfniß des ruſſiſchen Reichs, weil dieſe Erſcheinungen unter mehre - ren ihrer Gattung die bedeutendſten ſind. Ueber die Landwirthſchaft ſind eine große Menge einzelner Abhandlungen vorhanden, die ihre Exiſtenz großentheils der oͤkonomiſchen Ge - ſellſchaft zu verdanken haben. Die Sammlung derſelben, wie ſie die Geſellſchaft veranſtaltet hat, bildet eine anſehnliche landwirthſchaftliche Bibliothek, und betraͤgt jetzt uͤber vierzig Baͤnde.

In der Phyſik und Naturgeſchichte, in welchen vor zehn bis funfzehn Jahren faſt179 noch kein einziges Buch vorhanden war und fuͤr welche erſt eine neue Sprache geſchaffen werden mußte, iſt ſeit kurzem ſehr viel gelei - ſtet worden. Die eignen Nachforſchungen, mit denen die Akademiker Lepechin, Oſerez - kowski, Sokolow, Sujew, u. a. dieſe Wiſſenſchaften bereichert haben, ſind auswaͤr - tigen Gelehrten durch die Werke der Akademie bekannt. Die franzoͤſiſche Schrift des Grafen Gregor Raſumowski, von den Ueber - gaͤngen im Mineralreich, und verſchie - dene Abhandlungen von eben dieſem Verfaſſer, die in die Akten der helvetiſchen Geſellſchaft eingeruͤckt ſind, geben einen Beweis, wie ſehr die Naturkunde ſelbſt unter den Großen ge - ſchaͤtzt und bearbeitet wird. Doch noch eine groͤßere Aufmerkſamkeit verdienen die Bemuͤ - hungen, die Kultur der Phyſik und Naturge - ſchichte in der Landesſprache zu verbreiten. Zu den groͤßten und glaͤnzendſten Unterneh - mungen dieſer Art gehoͤrt die Herausgabe ei - ner moͤglichſt vollſtaͤndigen Flora Rossica, oder botaniſchen und oͤkonomiſchen Be - ſchreibungaller in Rußland wildwach - ſenden Pflanzen, mit vollkommen nach derM 2180Natur gezeichneten und illuminirten Kupfer - platten, die der Akademikus Pallas auf kai - ſerlichen Befehl uͤbernommen hat. Von dem Erfolg dieſer Unternehmung etwas zu ſagen, waͤre uͤberfluͤſſig, da das Publikum die Pro - ben derſelben ſchon in Haͤnden hat, und da ſich von dem Entwurf einer Fuͤrſtinn wie Ka - tharina die Zweyte, von den Huͤlfsmit - teln eines Landes wie dieſes, und von der Aus - fuͤhrung eines Mannes wie Pallas ohnehin etwas Außerordentliches erwarten laͤßt. Fuͤr den ungelehrten Theil meiner Leſer merke ich nur noch an, daß von dieſem ſo vielumfaſſen - den als nuͤtzlichen Werke außer der lateiniſchen auch eine ruſſiſche Ausgabe veranſtaltet wird und daß die Anzahl der zu demſelben gehoͤri - gen Kupfertafeln auf ſechshundert berechnet iſt. Die Zeichnungen der Pflanzen uͤbernimmt der petersburgiſche Kuͤnſtler, Aſſeſſor Knappe, Mitglied der hieſigen Akademie der Kuͤnſte; in Kupfer geſtochen und illuminirt werden ſie theils hier, theils in Wien und Nuͤrnberg, unter der Aufſicht der Herren von Jacquin und Schreber. Die ruſſiſche Ausgabe, in wel - cher die Beſchreibungen bey weitem umſtaͤnd -181 licher, als in der fuͤr Gelehrte beſtimmten la - teiniſchen ſind, wird von dem Akademikus Sujew beſorgt. Die Pracht, mit welcher dieſes koſtbare Werk erſcheint, iſt eines ſolchen Unternehmens wuͤrdig; es wird auf kaiſer - liche Koſten gedruckt und iſt in allem Betracht ein Geſchenk fuͤr die Wiſſenſchaften und das Vaterland, weil die Exemplare beyder Ausga - ben nur unentgeldlich vertheilt werden. Un - ter den Originalſchriften, welche in das Fach der Naturgeſchichte gehoͤren, verdienen Su - jew’s Lehrbuch dieſer Wiſſenſchaft zum Ge - brauch der hoͤhern Volksſchulen und Lepe - chins Abhandlung uͤber die Nothwen - digkeit, die Heilkraͤfte innlaͤndi - ſcher Pflanzen zu erforſchen, wegen ihres gemeinnuͤtzigen Zwecks eine Erwaͤhnung. Die Ueberſetzungen, durch welche man der Nation das Studium der Naturwiſſenſchaften zu erleichtern geſucht hat, ſind nach einer ge - wiſſen Ordnung folgende. Locke’s Grund - ſaͤtze der Phyſik, von einem Ungenannten. Euler’s Briefe an eine deutſche Prinzeſſinn vom Akademikus Rumowski. Krafft’s Entwurf einer Experimen -M 3182talphyſik, nach der franzoͤſiſchen Hand - ſchrift von Schirokoi. Macquer’s Ele - mens de Chemie théorique et pratique von Florinski. Erxlebens Chemie von Sokolow. Leske’s Naturgeſchichte von Oſerezkowski. Cronſtedts Mi - neralogie nach Bruͤnnichs Ausgabe von Kurduͤman. Walch’s Steinreich und Lehmanns Mineralogie von dem wirk - lichen Staatsrath und Ritter des Dannebrog - ordens Nartow. Kirwans Minera - logie und Renovanz mineralogiſche Beſchreibung des altaiſchen Erzge - birges von dem Akademikus Sewergin. Cancrin’s Anfangsgruͤnde der Berg - und Salzwerkskunde von einem Unge - nannten, u. a.

Die Bemuͤhungen der Nation in den ma - thematiſchen Wiſſenſchaften ſchraͤnken ſich nicht bloß auf die Abhandlungen ein, welche die ruſſiſchen Akademiker, ein Kotel’nikow, Rumowski, Inochodzow, u. a. in den Werken der Akademie bekannt gemacht haben. Eine Schrift von dem Erſtgenannten, uͤber die Lehre von dem Gleichgewicht und183 der Bewegung der Koͤrper, Swje - tuſchkin’s Vorſchlaͤge zur Verbeſſe - rung der Landmeſſungskunſt, die Lehrbuͤcher der Mathematik von Ko - ſelski, Anitſchkow und Rumowski, ein kleines Handbuch fuͤr Seefahrer von einem Ungenannten, u. ſ. w. gehoͤren zu den neuern Originalwerken. Unter den Ueber - ſetzungen zeichnen ſich die eines Ungenannten von Wolffs Compend. Elem. Matheseos, von Euler’s Théorie de la construction &c. des vaisseaux durch Golowin, und von Weidlers Anweiſung zur unterirrdi - ſchen Meß - und Markſcheidekunſt durch Martow aus. Eine Ueberſetzung von des Akademikus Fuß Lehrbuch der Algebra wird jetzt beym Landkadettenkorps veranſtaltet und iſt unter der Preſſe.

Ich uͤbergehe das Fach der Kriegswiſ - ſenſchaft, welches neuerdings durch mehrere Originalwerke und Ueberſetzungen bereichert iſt, um meine Leſer ſogleich mit den merkwuͤr - digſten Produkten in der Geſchichte bekannt zu machen, welche die Reſidenz ſeit den letztern Jahren hervorgebracht hat. In keinem FeldeM 4184der Litteratur iſt ſo fleißig gearbeitet worden und keins hat ſo vorzuͤgliche Fruͤchte aufzuwei - ſen als dieſes. Durch das erhabene Beyſpiel der Kaiſerinn ſelbſt aufgemuntert und von ih - ren großmuͤthigen Veranſtaltungen zur Befoͤr - derung dieſes Studiums unterſtuͤtzt, haben ſich die guten Koͤpfe der Nation wetteifernd verei - nigt, die Dunkelheit aufzuhellen, welche die vaterlaͤndiſche Geſchichte in fruͤhern Zeiten be - deckt. Im Jahr 1779 gab Katharina in einer, das Kollegium der auswaͤrtigen Angele - genheiten betreffenden Verordnung den Befehl, daß man ſich zum Beſten der ruſſiſchen Ge - ſchichte bemuͤhen ſolle, eine Sammlung von alten und neuen oͤffentlichen Traktaten, nach dem Beyſpiel des Corps diplomatique von Duͤmont zu Stande zu bringen, und dieſes Geſchaͤfte dem uͤber das Archiv des gedachten Kollegiums geſetzten Staatsrath Muͤller in Moskau aufzutragen. Spaͤterhin ergieng ein Befehl an den Synod, daß von den alten ruſſiſchen Handſchriften der beyden Bibliothe - ken des Synods, unter der Aufſicht zuverlaͤßi - ger Perſonen, zuerſt die aͤlteſten und am ſchwerſten zu verſtehenden, nachher aber die185 uͤbrigen abgeſchrieben und gedruckt, zu die - ſem Ende auch die in den uͤbrigen Kloſterbi - bliotheken etwa befindlichen Chroniken aufge - ſucht werden ſollten. Dieſe Befehle, die Un - terſtuͤtzungen welcher ſich jeder Herausgeber ſolcher Manuſcripte zu erfreuen hatte, und die Belohnungen durch welche mehrere unter ihnen aufgemuntert wurden, hatten die er - wuͤnſchte und fuͤr die Aufhellung der ruſſiſchen Geſchichte ſo wichtige Folge, daß eine Menge merkwuͤrdiger, zum Theil bisher ganz unbe - kannter, zum Theil ſehr ſeltner Handſchriften ins Publikum kamen. Ich kann hier unter denen, die in St. Petersburg ans Licht getre - ten ſind, folgende nennen:

  • Zarenbuch, oder Annaliſt uͤber die Re - gierung des Zaren Joann Waſſil’je - witſch, vom Sept. 1533. bis zum Maͤrz 1553. Nach einer, aus lauter einzelnen Bogen beſtehenden Handſchrift in der mos - kowiſchen Patriarchalbibliothek von dem Fuͤrſten Schtſcherbatowo herausge - geben.
  • Tagebuch Peters des Großen, vom Jahr 1698 bis zum Nyſtaͤdtiſchen Frie -M 5186densſchluſſe. (Oktob. 1721.) Abgedruckt nach der im Kabinetsarchiv befindlichen, von des Kaiſers eigner Hand berichtigten Handſchrift. Der Herausgeber iſt der Fuͤrſt Schtſcherbatowo, der von der Kaiſerinn den Auftrag hatte, das Kabi - netsarchiv Peters des Großen durch - zuſehen und in Ordnung zu bringen. (Un - ter mehreren Ueberſetzungen fuͤhre ich nur die deutſche vom Hofrath Bacmeiſter an.)
  • Der Reichsannaliſt, geht von 1414 bis 1472. Der Herausgeber iſt der Fuͤrſt Schtſcherbatowo. Das Manuſcr. be - fand ſich in der Bibliothek des Fuͤrſten Galizuͤn.
  • Jahrbuch von den innern Unruhen und Zerruͤttungen des moskowi - ſchen Reichs. Von 1584 bis 1655. Hat dem Staatsrath Muͤller bey ſei - nem Verſuch einer neuern Ge - ſchichte von Rußland zum Leitfaden gedient. Der Herausg. iſt unbekannt.
  • Fidlers Lobrede auf den Zar Boris Godunow. A. d. lat. Handſchr. von Woronow.
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  • Feldzug des Bojarins und Feld - herrn Schein (1696) nach einer Hand - ſchrift von Ruban.
  • Der alte Annaliſt, von 1254 bis 1379. Auf Befehl der Kaiſerinn nach einer in der Akademie der Wiſſenſchaften befindli - chen Handſchrift von zwey Ungenannten beſorgt.
  • Briefe und Ukaſen Peters des Großen an den Viceadmiral Sinjaͤ - win. Die Originale ſind in den Haͤn - den ſeines Sohnes, des Admirals und Ritters Sinjaͤwin, der auch der Her - ausgeber iſt.
  • Leben des Patriarchen Nikon. Von einem Unbekannten, nach mehreren Hand - ſchriften.
  • Ein hiſtoriſches Journal, unter dem Titel: Alte ruſſiſche Bibliothek, von No - wikow, enthaͤlt Geſandſchaftsnachrichten, ſeltne Briefe, Beſchreibungen alter Ge - braͤuche, hiſtoriſche und geographiſche Merk - wuͤrdigkeiten, Werke alter ruſſiſcher Dich - ter, u. ſ. w. groͤßtentheils aus handſchrift - lichen Nachrichten geſchoͤpft.
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Ein ſolcher Schatz von neuentdeckten oder bekanntgewordenen Quellen und Huͤlfsmitteln mußte natuͤrlich die ruſſiſchen Geſchichtſchrei - ber zur Benutzung derſelben auffordern; noch mehr aber bewirkte das Beyſpiel der außeror - dentlichſten Fuͤrſtinn die je auf einem Throne geſeſſen hat. Nicht zufrieden, durch weiſe Veranſtaltungen die Zugaͤnge zur hiſtoriſchen Wahrheit eroͤffnet zu haben, gab Katharina die Zweyte durch ihre in ganz Europa be - kannten Aufſaͤtze betreffend die ruſſi - ſche Geſchichte ein Muſter, wie die Ge - ſchichte des Vaterlandes erforſcht und behan - delt werden ſollte. Eine ſo große Aufforde - rung konnte nicht ohne Erfolg bleiben; Maͤn - ner von Talent und Scharfſinn weihten ſich der kuͤhnen Beſtimmung, eine Bahn zu betre - ten, auf welcher der glaͤnzendſte Geiſt unſers Zeitalters gewandelt hatte. Ohne hier in die Zeiten Sumarokow’s, Tatiſchtſchew’s, Lomonoſſow’s, der erſten ruſſiſchen Ge - ſchichtſchreiber zuruͤckzugehen, die hiſtoriſche Kritik und Darſtellung mit einander zu ver - binden wußten, ſchraͤnke ich mich auf eine bloße Anzeige der merkwuͤrdigſten Originalpro -189 dukte ein, welche die Reſidenz waͤhrend der letztern zwey Decennien geliefert hat. Den eh - renvollſten Platz in dieſem Gefolge behauptet die ruſſiſche Geſchichte des Fuͤrſten Schtſcherbatowo, eines Mannes, der den groͤßten Theil ſeiner unermuͤdeten Thaͤtig - keit und ſeines ruhmvollen Lebens auf den edlen Endzweck verwendete, der Geſchichtſchrei - ber ſeines Vaterlandes zu werden. Von dem Erfolge dieſer Bemuͤhung brauche ich hier um ſo weniger zu ſagen, da das Buch ſelbſt durch eine deutſche Ueberſetzung dem auswaͤrtigen Publikum bekannt iſt. Die Kritik der le Clerc’ſchen Geſchichte des alten und neuen Rußlands von dem kuͤrzlich ver - ſtorbenen Generalmajor Boltin wird von al - len Kennern der ruſſiſchen Litteratur als ein ganz vorzuͤgliches Werk geſchaͤtzt, in welchem zweifelhafte Thatſachen und ſcheinbare ver - jaͤhrte Irrthuͤmer mit Scharfſinn und Ge - nauigkeit berichtigt ſind. Tſchulkow’s Ge - ſchichte des ruſſiſchen Handels iſt ein Werk wie es nur wenige Nationen aufzuwei - ſen haben. Unterſtuͤtzt von der Großmuth der Kaiſerinn und verſehen mit allen Quellen,190 welche Handſchriften und archivaliſche Nach - richten dem Verfaſſer hergeben konnten, hat er ein vollſtaͤndiges Syſtem des ehemaligen und jetzigen ruſſiſchen Handels geliefert, wel - ches ſowohl wegen ſeines Umfangs, als des Reichthums an Thatſachen in der ruſſiſchen Litteratur einzig iſt. Die Geſchichte Peters des Großen iſt vorzuͤglich ein Gegenſtand der Bearbeitung mehrerer Verfaſſer geworden. Unter den beſſern Verſuchen zeichnen ſich Go - likow’s Geſchichte des Lebens Pe - ters des Großen und die Sammlung verſchiedener Schriften zur Kennt - niß des Lebens und der Thaten P. d. G. vom Hofrath Tumanski vortheilhaft aus. Der Oberhofmeiſter, Senateur und Ritter Jelagin, ein Schriftſteller der ſich ſchon durch einige ſehr gelungene Produkte in andern Gattungen bekannt gemacht hat, iſt itzt mit der Ausarbeitung einer ruſſiſchen Ge - ſchichte beſchaͤftigt, die nach dem Urtheil aller Kenner etwas Vortreffliches erwarten laͤßt. Die hiſtoriſche Schilderung Rußlands von dem Aſſeſſor Bogdanowitſch; Ru - bans Chronik von Kleinrußland;191 Kreſtinin’s Erſtlinge vom Dwiniſchen Volk; Tumanski’s Entwurf einer Lebensbeſchreibung des Großfuͤrſten Alexander Newski, u. a. gehoͤren zu den bekannten Werken im hiſtoriſchen Fach. Eine Geſchichte des armeniſchen Reichs von Waganow verdient ſchon um deswegen hier eine Stelle, weil ſie aus Schriftſtellern dieſer Nation gezogen iſt, und daher als eine Quelle angeſehen werden kann. Von den Ueberſetzungen welche theils durch die Wahl der Urſchriften, theils durch ihren anerkannten Werth hervorſtechen, moͤgen folgende als Bey - ſpiele gelten. Histoire de Jean Sobieski von Bogajewski. St. Real’s Verſchwoͤ - rung der Spanier wider Venedig. Vertot’s Révolutions de la république Romaine. Mably’s griechiſche Ge - ſchichte. Stritters Nachrichten der byzantiniſchen Geſchichtſchreiber. D’Alembert’s Mémoires et réflexions sur Christine, reine de Suede. Fiſchers ſibi - riſche Geſchichte. Muͤllers Abhand - lung uͤber die alten Bewohner Ruß - lands. Robertſon’s Geſchichte Karls192 des Fuͤnften. Histoire généalogique des Tatares par Abulgasi-Bajadur-Chan. Hi - stoire de Dannemarc von Mallet. Puf - fendorfs Einleitung in die Geſchichte der vornehmſten europaͤiſchen Staa - ten u. ſ. w.

Auch die mit der Geſchichte ſo innig ver - bundene Geographie hat unter der jetzigen Regierung ſo erſtaunliche Fortſchritte gemacht, daß das ruſſiſche Reich, welches noch vor dreyßig Jahren groͤßtentheils zur terra incog - nita gehoͤrte, jetzt eine richtigere und beſtimm - tere Rubrik in der Kenntniß unſerer Erdkugel macht, als viele andere europaͤiſche Laͤnder. Auch hier iſt das erſte Wort, welches ich nie - derſchreiben muß, Katharinens Name. Ueberall, in jedem Theile der Staatsverwal - tung, in jeder Sphaͤre menſchlicher Thaͤtigkeit hat dieſer ſchoͤpferiſche Geiſt eine neue Bahn gebrochen. Aehnlich der Gottheit die in allem lebt und wirkt, verbreitet er ſich in dem gan - zen unermeßlichen Umfange ſeiner Beſtimmung, und treibt uͤberall die ſtockenden Saͤfte zu ſchnellerm verdoppeltem Kreislauf. Welchem Geſchichtſchreiber, deſſen Gegenſtaͤnd ein ſolcherHeld193Held iſt, kann es die Kritik verargen, wenn ſeine Bewunderung zuweilen in Enthuſiasmus uͤbergeht?

Schon im Jahr 1765 ordnete die Kaiſerinn eine Grenz - und Landmeſſungsexpedition an, die ihre Arbeiten im folgenden Jahre und zwar im moskowiſchen Gouvernement anfieng, und ſeither mit ſolcher Thaͤtigkeit fortgeſetzt hat, daß jetzt weit uͤber die Haͤlfte des bewohnten Rußlands ſo genau ausgemeſſen iſt, als es die Privatbeſitzung eines guten Hausvaters nur immer ſeyn kann. Dieſe weiſe und wohlthaͤ - tige Veranſtaltung hat, außer dem unendlich groͤßern Vortheil, den ſie fuͤr die Sicherheit des Eigenthums und die erleichterte Staats - verwaltung hervorbringt, auch fuͤr die Sta - tiſtik ſehr reichliche Fruͤchte getragen, unter welchen die zahlreiche und in Hinſicht auf die Bereicherung geographiſcher Kenntniſſe un - ſchaͤtzbare Sammlung von Karten uͤber das ruſſiſche Reich zu den merkwuͤrdigſten gehoͤrt. Um eben dieſe Zeit befahl die Kaiſerinn die Reiſen der petersburgiſchen Akademiker, durch welche die phyſiſche, ſtatiſtiſche, oͤkonomiſche und ſittliche Beſchaffenheit dieſes großen undZweiter Theil. N194bisher ſo unbekannten Landes auf eine zweck - maͤßige Art unterſucht und erlaͤutert ward. Die Entdeckungsreiſen, welche Katharina zum Beſten der geographiſchen Kenntniß des oͤſtlichen und noͤrdlichen Weltmeers anordnete; die Befehle und Inſtruktionen, welche ſie ih - ren Gouverneuren zur Erforſchung des ſtatiſti - ſchen Zuſtandes der Provinzen gab; die oft wiederholten Volkszaͤhlungen welche ſie veran - ſtaltete; die Tabellen welche ſie uͤber das Ver - haͤltniß der Gebornen und Geſtorbenen, uͤber die Preiſe der Lebensmittel, uͤber Zoͤlle, Aus - fuhr und Einfuhr anzufertigen und bey der Akademie der Wiſſenſchaften einzuſchicken ge - bot; die Publizitaͤt, mit welcher ſie die Re - ſultate ihrer ſtaatswirthſchaftlichen Einrichtun - gen bekannt machte alle dieſe und viele an - dere Veranſtaltungen ſind eben ſo viele und große Verdienſte um die Geographie und Sta - tiſtik, und haben den Eifer fuͤr dieſe Wiſſen - ſchaften in Rußland allgemein gemacht. Un - ter den litterariſchen Produkten, welche dieſen Bemuͤhungen ihr Daſeyn verdanken, gebuͤhrt den Tagebuͤchern der akademiſchen Reiſen mit Recht die erſte Stelle. Da die195 Sammlung derſelben uͤberall in Europa be - kannt iſt, ſo bedarf es nur der Anzeige daß die deutſch geſchriebenen Reiſen ſaͤmtlich ins Ruſſiſche uͤberſetzt ſind, und dadurch auch je - dem Eingebornen, der ſich um die Kenntniß ſeines Vaterlandes bewirbt, nuͤtzlich werden koͤnnen. Originalwerke, welche die ruſſiſche Statiſtik zum Gegenſtande haben, vervielfaͤlti - gen ſich ſeit einiger Zeit ſo ſehr, daß ich hier nur die Titel einiger aͤltern Schriften dieſer Art anmerken kann. Dahin gehoͤrt z. B. des Generalmajor Pleſchtſchejew ſtatiſtiſche Ueberſicht des ruſſiſchen Reichs, ein Werk, welches auf wenigen Bogen eine ſolche Menge von wichtigen, theils ganz neuen, theils berichtigten Angaben und Thatſachen enthaͤlt, daß die Rubrik des ruſſiſchen Reichs in allen Erdbeſchreibungen dadurch eine ganz veraͤn - derte Geſtalt gewinnt. Die deutſche Ueber - ſetzung dieſes Buchs iſt nach der erſten Aus - gabe gemacht und ſteht ſehr weit hinter der vierten Auflage des Originals zuruͤck, die kuͤrz - lich erſchienen iſt. Einen neuen Zuwachs ge - winnt die Geographie durch des Akademikus Sujew’s Reiſe von St. PetersburgN 2196nach Cherſon, Taurien und Konſtan - tinopel, welche der deutſche Fleiß wahrſchein - lich auch fuͤr Auslaͤnder brauchbar machen wird, wenn es nicht ſchon geſchehen ſeyn ſollte. Des Admirals Tſchitſchagow Reiſe nach dem Eismeer iſt durch eine deutſche Ueber - ſetzung bekannt. Ruban’s geographiſche, politiſche und hiſtoriſche Nachrichten von Kleinrußland (deutſch, von Haſe); eines Ungenannten topographiſche Be - merkungen uͤber die weißruſſiſchen Statthalterſchaften; des Prieſters Iro - dionow hiſtoriſch-geographiſche Nach - richten von der Stadt Toropez und ihrem Diſtrikt; die vortreffliche topogra - phiſche Beſchreibung der kalugiſchen Statthalterſchaft, u. a. gehoͤren zu den aͤltern Erſcheinungen in dieſem Fach. Eine hiſtoriſch-geographiſche Beſchrei - bung von St. Petersburg von Bog - danow, welche Ruban vermehrt, bis zum Jahr 1779 fortgeſetzt und herausgegeben hat, wird itzt von der ruſſiſchen Ueberſetzung oder vielmehr Umarbeitung der Georgi’ſchen Beſchreibung verdraͤngt werden, die ſchon197 unter der Preſſe iſt, und deren Ausgabe zwey Deutſche, der Lehrer am Landkadettenkorps Wuͤrſt, und der Lieutenant bey eben dieſem Korps Beſack, beſorgen. Nach dem Fleiß und der Genauigkeit zu ſchließen, mit welcher dieſe Herausgeber verfahren, muß die ruſſiſche Ausgabe ein ſehr vollkommenes Werk werden. Sie haben nicht nur die ſchon geſammelten Zuſaͤtze und Berichtigungen des Verfaſſers an ſich gekauft, ſondern auch alle Angaben von neuem, zum Theil nach beſſern Quellen ge - pruͤft und ſogar einzelne Bogen umdrucken laſſen, wenn eingeſchlichene Irrthuͤmer zu ſpaͤt entdeckt wurden. Ein großer Vorzug den die - ſes Werk vor allen vorhandenen Nachrichten uͤber Petersburg erhalten wird, beſteht in ei - ner vollſtaͤndigen Beſchreibung aller Merkwuͤr - digkeiten der kaiſerlichen Eremitage, zu wel - chem Behuf Georgi die ausdruͤckliche Erlaub - niß von der Kaiſerinn erhalten hat, ſo oft es ihm gefaͤllt in dieſen Pallaſt zu gehen und von jeder Sache genaue Erkundigung einzuziehen. Eine große Anzahl einzelner Abhand - lungen uͤber geographiſche und ſtatiſtiſche Ge - genſtaͤnde des ruſſiſchen Reichs finden ſich inN 3198Kalendern, Zeitſchriften, u. dergl. zer - ſtreut. Beſonders reichhaltig iſt in dieſer Ruͤck - ſicht der hiſtoriſch-geographiſche Ka - lender der Akademie der Wiſſenſchaf - ten, zu welchem Pallas, Guͤldenſtaͤdt, Oſerezkowski, u. a. wichtige und intereſ - ſante Beytraͤge geliefert haben und noch lie - fern. Auch uͤber fremde Laͤnder erſcheinen zuweilen, wiewohl ſeltner, Nachrichten und Reiſen, wie z. B. Pleſchtſchejews Reiſe von Paros nach Syrien (auch deutſch), die Beſchreibung des Archipels und der barbariſchen Kuͤſte vom Brigadier Kokowzow, welche Tumanski herausge - geben hat, u. a. Des Aſſeſſors Hackmann zwey Lehrbuͤcher uͤber die allgemeine und ruſſiſche Geographie zum Gebrauch der hoͤhern Volksſchulen, ſind ein ſehr brauchbarer Leitfaden, und um ſo mehr zu ſchaͤtzen, da es in der ruſſiſchen Sprache noch an ſyſtemati - ſchen Darſtellungen dieſer Wiſſenſchaft fehlt. Unter einer Menge von Ueberſetzungen geogra - phiſcher Werke nenne ich nur die von Buͤ - ſchings großer Erdbeſchreibung, als die wichtigſte

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Die zahlreichen Sammlungen von geo - graphiſchen Karten welche Rußland in neuern Zeiten geliefert hat, ſind ſowol wegen ihres innern Werths, der ſich großentheils auf neue Entdeckungen gruͤndet, als auch wegen ihrer Schoͤnheit und Sauberkeit im Auslande beruͤhmt. Die ruſſiſche Bibliothek des Hof - raths Bacmeiſter macht mehr als 60 ſolcher Sammlungen namhaft, die in einem Zeitraum von 16 Jahren erſchienen ſind, und von de - nen ſehr viele aus mehreren und einige aus 20 bis 40 Blaͤttern beſtehen. Da ich mich uͤberall nur auf das Merkwuͤrdigſte einſchraͤn - ken muß, um dieſen Abſchnitt nicht zu der Groͤße eines Buchs anwachſen zu laſſen, ſo werde ich aus einer ſo großen Anzahl nur eini - ge der wichtigſten, gleichſam als Beyſpiele, nennen. In dieſe Rubrik gehoͤren die zwey Specialkarten des moskowiſchen Kreiſes im moskowiſchen Gouvernement, welche von der Landmeſſungsexpedition beſorgt worden ſind. Eine derſelben, die nur gezeich - net nie geſtochen iſt, haͤlt 50

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Arſchinen. Die andere iſt auf zwey Blaͤttern Imperial - fol. bey der Akademie der Wiſſenſchaften er -N 4200ſchienen. Ferner, die Generalkarte des ruſſiſchen Reichs, nach der neuen Ein - theilung in Statthalterſchaften und Kreiſe, verfertigt unter der Anordnung des (nunmehr verſtorbenen) wirkl. Geheimen Raths, Gene - ralprokureurs und Ritters, Fuͤrſten Wjaͤſems - koi, bey dem in ſeinem Hauſe arbeitenden geographiſchen Departement durch den Land - meſſer Petin. 1785. 8 Blaͤtter. Arſch. lang und A. hoch. Atlas der Akade - mie der Wiſſenſchaften vom ruſſiſchen Reiche. Seit dem Jahr 1767 fieng die Aka - demie an, einen neuen Atlas des ganzen ruſ - ſiſchen Reichs zu liefern. Die Form war die gewoͤhnliche Homanniſche und es wurden zwey Ausgaben, eine ruſſiſche und eine lateini - ſche beſorgt. Jede Karte enthielt eine Pro - vinz mit den angrenzenden Landſtrichen; einige Karten beſtehen aus zwey Blaͤttern. Waͤhrend der Herausgabe dieſes Atlaſſes gewann das Reich durch die Verwandlung der alten Pro - vinzen in Statthalterſchaften eine neue Ge - ſtalt, und ſeit der Zeit faͤhrt die Akademie fort, Karten nach dieſer neuen Eintheilung zu liefern. Der große Atlas der kalugi -201 ſchen Statthalterſchaft iſt das vorzuͤg - lichſte Unternehmen in dieſer Art, ein Unter - nehmen welches außer Frankreich vielleicht in keinem Lande ſeines Gleichen hat. Auch die - ſer Atlas iſt eine Frucht der Bemuͤhungen der Landmeſſungsexpedition, und beſteht aus drey Theilen. 1) Die Generalkarte der kalugiſchen Statthalterſchaft. 2) 12 Plane von den zwoͤlf Kreisſtaͤdten; illuminirte Grundriſſe jeder Stadt, mit ihren Sloboden, Gaͤrten, und dergl. 3) 28 Plane der 12 Kreiſe. Auf dieſen Planen ſind Ackerland und Waldung, Wege und Bruͤcken angezeigt. Jede Beſitzung, die einer Stadt oder Privatperſon angehoͤrt, iſt eingeſchloſſen und mit Buchſtaben oder Zahlen bezeichnet, die auf die zum Atlas gehoͤrende Beſchreibung verweiſen. Wo die Grenze noch ſtreitig iſt, zeigt eine ausgezackte Linie an. Wenn die Be - ſitzungen ſo klein ſind, daß keine Zahl Platz findet, ſo ſind ſie auf einer Kartouche neben - bey groͤßer abgebildet. Auf einen engliſchen Zoll in der Generalkarte gehen 8 Werſt, in den mehreſten Planen der Staͤdte 50, in den uͤbrigen 100 Klafter, in den Planen der Kreiſe 2 Werſt, in den vergroͤßerten Stuͤcken 200N 5202Klafter. Die Pracht, mit welcher dieſes außer - ordentliche Unternehmen ausgefuͤhrt iſt, ent - ſpricht ſeinem Nutzen. Die zum Atlas ge - hoͤrige Beſchreibung enthaͤlt unter eilf Kolum - nen, die ſich mit ihren Zeichen auf den Atlas beziehen: a) Die Nummer auf dem Plan des Diſtrikts. b) den Namen des Eigenthums und den ſeines Beſitzers. c) die Anzahl der Wohn - plaͤtze. d) die Anzahl der Menſchen nach bey - den Geſchlechtern. e) die Arealgroͤße der Wohnplaͤtze. f) des Ackerlandes. g) des Wie - ſenlandes. h) des Gehoͤlzes. i) des untaug - lichen Landes. k) die Summe der einzelnen Angaben von e bis i. l) Kurze oͤkonomiſche Bemerkungen. Sobald die Grenzſtreitig - keiten abgemacht und die zur Appellation ver - goͤnnten Friſten abgelaufen ſeyn werden, ſoll ein beſonderer Anhang anzeigen, wem der Be - ſitz des ſtreitigen Grenzſtuͤcks zugeſprochen iſt. Die Fortſetzung dieſer Arbeit, die zu den heiligſten und ehrwuͤrdigſten Denkmaͤlern von Katharinens Regierung gehoͤrt, wird mit dem groͤßten Eifer betrieben.

Wir brechen hier ab, um einen Blick auf die paͤdagogiſche Litteratur zu werfen. Daß203 auch dieſes Feld vor wenigen Jahren noch wuͤſt und unbearbeitet war, und nur durch die Vorſorge der jetzigen Kaiſerinn bluͤhend ge - worden iſt, bedarf wol keiner Anzeige. Ihre Stiftungen und Verordnungen be - treffend die Erziehung und den Un - terricht der Jugend in Rußland*)Herausgegeben von dem wirkl. Geh. Rath und Kurator der kaiſerl. Erziehungsanſtalten, Bezkoi. Franz. von le Clerc. Deutſch im Neuveränderten Rußland. ſind im Auslande zu ſehr bekannt und haben in der ſittlichen Geſchichte der ruſſiſchen Na - tion eine allzumerkwuͤrdige Epoke gemacht, als daß ſie irgend einem Leſer von einiger Kultur fremd ſeyn ſollten. Die großen Erziehungs - und Unterrichtsanſtalten, welche der Gegen - ſtand und die Folge dieſer weiſen Anordnun - gen waren, habe ich in dem achten Abſchnitte dieſes Buchs zu ſchildern verſucht; hier iſt der Ort, etwas uͤber die ſpaͤtere, eben ſo wohl - thaͤtige und in Ruͤckſicht ihres Umfanges noch wichtigere Revolution zu ſagen, welche Ka - tharina die Zweyte in der allgemeinen Volksbildung bewirkt hat. Bekanntlich errich -204 tete die Kaiſerinn im Jahr 1782 eine Schul - kommiſſion, die aus mehreren einſichtsvol - len Staatsmaͤnnern beſtand, und den Auftrag hatte, ein Schulweſen fuͤr das ruſſiſche Reich zu erſchaffen. Der wirkliche Staatsrath Ae - pinus entwarf einen Plan, in welchem er den Vorſchlag that, von dem roͤmiſchen Kaiſer ſo viele Lehrer zu verlangen, als zu den erſten drey oder vier zu errichtenden Normalſchulen erforderlich ſeyn moͤchten. Kurz darauf trat der jetzige Kollegienrath und Ritter Janko - witſch de Miriewo, ein Serbier griechi - ſcher Religion aus dem Temeswarer Bannat, als nachheriges Mitglied der Schulkommiſſion und Direktor der Volksſchulen in ruſſiſche Dienſte. Es ward in der Reſidenz ein Inſti - tut zur Bildung der Lehrer errichtet, und als dieſes ſeine Zoͤglinge zu ihrer Beſtimmung vorbereitet hatte (wozu, wenn ich nicht irre, ein Zeitraum von drey Jahren hinreichend gewe - ſen war) vertheilten ſich die neuen Lehrer in verſchiedene Provinzen und die Schulen wur - den eroͤffnet. Die Ordnung (Uſtaw) fuͤr die Volksſchulen im ruſſiſchen Reiche, welche 1786, von den Gliedern der Kommiſſion205 unterſchrieben, und durch die kaiſerliche Unter - zeichnung ſanktionirt, im Publikum erſchien, enthaͤlt ſo viele Data zur naͤhern Kenntniß dieſer wichtigen Einrichtung, daß ein kurzer Auszug aus derſelben um ſo weniger uͤberfluͤ - ßig ſeyn wird, da, außer der Anzeige in der ruſſiſchen Bibliothek*)Bd. 10. S. 353 folg. keine deutſche Nach - richt daruͤber vorhanden iſt.

In einer jeden Gouvernementsſtadt ſoll eine Hauptvolksſchule ſeyn, die aus vier Klaſſen beſteht. Es wird gelehrt in der erſten Klaſſe: Leſen, Schreiben, Anfangsgruͤnde des Chriſtenthums, Sittenlehre, bibliſche Geſchichte, Zahlen ſchreiben und ausſprechen und Anfangs - gruͤnde der Grammatik. In der zweyten: die Fortſetzung dieſer Gegenſtaͤnde und uͤberdem Rechnen, nach dem erſten Theil der Arithme - tik, und Zeichnen. In der dritten: Zeichnen, Chriſtenthum, Rechnen nach dem zweyten Theil der Arithmetik, Univerſalgeſchichte, Geographie von Europa uͤberhaupt und von Rußland be - ſonders, und ruſſiſche Grammatik. In der vierten: Ruſſiſche Geographie, Zeichnen, Uni -206 verſalgeſchichte, ruſſiſche Grammatik, praktiſche Anleitung Briefe, Rechnungen u. dergl. abzu - faſſen, ruſſiſche Geſchichte, allgemeine und ma - thematiſche Geographie, Geometrie, Mechanik, Phyſik, Naturgeſchichte und Baukunſt. Ueberdem werden in jeder Hauptſchule kuͤnfti - ge Lehrer der kleinen Schulen vorbereitet; fer - ner, Schuͤler, die das Studiren auf hoͤhern Schulen fortſetzen wollen, in allen vier Klaſſen in der lateiniſchen Sprache; alle Schuͤler aber in allen Klaſſen in einer auslaͤndiſchen Sprache, die in der Nachbarſchaft geredet wird, unterrichtet. Eine jede Hauptſchule hat eine Sammlung von Buͤchern, Naturalien, mathematiſchen und phyſikaliſchen Geraͤthen, Zeichnungen, Model - len, u. ſ. w. und ſechs Lehrer: viere zu den oben verzeichneten Kenntniſſen, einen Zei - chenmeiſter und einen Lehrer einer auslaͤndi - ſchen Sprache.

Eine kleine Volksſchule iſt von der erſten und zweyten Klaſſe einer Hauptſchule nur darinn unterſchieden, daß in ſelbiger keine auslaͤndiſche Sprache gelehrt, und in der zwey - ten Klaſſe, außer dem erſten, auch der zweyte Theil der Rechenkunſt durchgegangen wird. 207Kleine Schulen ſollen in ſolchen Gouverne - mentsſtaͤdten, die an der Hauptſchule nicht ge - nug haben, wie auch in den Kreisſtaͤdten und wo es ſonſt noͤthig ſeyn moͤchte, angelegt werden.

Alle Lehrer uͤberhaupt ſollen von den Schuͤ - lern nicht die geringſte Belohnung fuͤr den Un - terricht fordern. Die Beſoldung der zwey Leh - rer der beyden hoͤhern Klaſſen iſt fuͤr jeden 400 Rubel. Die vier erſten Lehrer einer Haupt - ſchule haben in dem Schulhauſe freye Woh - nung, Holz und Licht. Die ganze Unterhaltung einer Hauptſchule koſtet jaͤhrlich 2500 Rubel.

Lehrer und Lernende muͤſſen ſich nach den vorgeſchriebenen Regeln richten. Die Gegen - ſtaͤnde des Unterrichts der drey erſten Klaſſen ſollen in Einem Jahre und die Wiſſenſchaften der vierten Klaſſe in zwey Jahren durchgegan - gen werden.

Der Gouverneur hat, als Kurator aller Schulen ſeines Gouvernements, naͤchſt dem Statthalter, die oberſte Fuͤrſorge fuͤr dieſelben auf ſich. Der Direktor der Volksſchu - len wird vom Statthalter gewaͤhlt und einge - ſetzt. Er hat in Schulſachen Sitz und Stim -208 me in dem Kollegium der allgemeinen Fuͤr - ſorge. Er muß Acht haben, daß die antreten - den Lehrer, vornaͤmlich in der erſten und zwey - ten Klaſſe, die Lehrmethode wiſſen. Er hat die unmittelbare Aufſicht auf die Lehrer. Er muß die Volksſchulen in der Gouvernements - ſtadt woͤchentlich und die in den Kreiſen jaͤhr - lich wenigſtens einmal beſuchen. Er hat auch auf die ſogenannten Penſionen oder Hausſchu - len zu ſehen. In jeder Kreisſtadt wird von dem Kurator einer von ihren Einwohnern zum Inſpektor der Schulen beſtellt, die er woͤchentlich zweymal beſuchen muß.

Die Volksſchulen eines jeden Gouverne - ments ſtehen unter dem Kollegium der allgemeinen Fuͤrſorge. Dieſes muß nicht allein Acht haben, daß die Schulordnung in ihrem ganzen Umfange befolgt wird, ſon - dern auch ſelbſt die Unterhaltung der Schulen beſorgen. Insbeſondere ſoll es darauf ſehen, daß immer Schulbuͤcher genug ſowol zum Verkauf, als zur unentgeldlichen Austheilung vorraͤthig ſeyn moͤgen. Es muß zu gewiſſen Zeiten vollſtaͤndige Berichte uͤber den Zuſtand der Schulen an die Oberſchuldirektion ſchicken.

Alle209

Alle jetzige und kuͤnftige Volks - und Hausſchulen ſind von der Oberdirektion der Schulen im ruſſiſchen Reiche abhaͤngig. Dieſe ſteht unmittelbar unter Ihro Kaiſer - lichen Majeſtaͤt und traͤgt Ihrer Maje - ſtaͤt ſelbſt die Schulangelegenheiten vor. (Solche Oberdirektion iſt von Ihrer Maje - ſtaͤt der fuͤr die Schulen im Reich errichteten Kommiſſion anvertraut worden.) Sie ver - ſammelt ſich an geſetzten Tagen, um uͤber al - les, was zum Nutzen und zum beſſern Fort - gange des Unterrichts in den Schulen dienen kann, zu rathſchlagen und zu entſcheiden; muß aber auch fuͤr die Befolgung der Schulord - nung in ihrem ganzen Umfange wachen.

Dieſer kurze Auszug wird hinreichend ſeyn, einen Begriff von der Einrichtung und Ver - faſſung des Schulweſens zu geben. Jetzt wollen wir uns mit dem zweyten Hauptgegen - ſtande deſſelben, mit den Lehrbuͤchern, be - kannt zu machen ſuchen. Ein genaues Detail, ſo intereſſant es auch fuͤr jeden Leſer ſeyn moͤchte, der Sinn fuͤr dieſe unbeſchreiblich wichtige Staats - und Menſchenangelegenheit hat, iſt auch hier unmoͤglich, wenn wir nichtZweiter Theil. O210die Grenzen unſers Zwecks gaͤnzlich aus dem Geſichte verlieren wollen. Eine bloße Anzeige, hin und wieder durch ein kleines Beyſpiel er - laͤutert, iſt alles, was uns dieſer erlaubt.

Folgende in den Jahren 1782 bis 87 herausgekommene Lehrbuͤcher umfaſſen den ganzen vorhin angegebenen Unterricht. Sie ſind unter der Aufſicht der Schulkommiſſion, mit beſtaͤndiger Hinſicht auf das Beduͤrfniß der Nation und auf den einmal angenommenen Plan, von verdienſtvollen Gelehrten und Schulmaͤnnern verfaßt, und fuͤhren ſaͤmmtlich auf dem Titel die Worte: zum Gebrauch der Volksſchulen herausgegeben auf den hoͤchſten Befehl der regierenden Kaiſerinn Katharina der Zweyten. Der Preis iſt jedesmal auf dem Titelblatte bemerkt. Von den mehreſten ſind ſchon deutſche Ueberſetzungen, ebenfalls auf kaiſerliche Koſten, veranſtalte, und es iſt zu vermuthen, daß alle Schulbuͤcher in dieſe Sprache uͤbergetragen werden.

  • 1. Anweiſung fuͤr die Lehrer der er - ſtenund zweyten Klaſſe der Volks - ſchulen des ruſſiſchen Reichs. (20 Kop.) In vier Theilen. Lehrart. Ge -211 genſtaͤnde des Unterrichts. Amt, Eigen - ſchaften und Auffuͤhrung eines Lehrers. Schulordnung.
  • 2. Regeln fuͤr die Lernenden. (4 Kop.)
  • 3. Ruſſiſches A B C Buch. (6 Kop.) Enthaͤlt ſlawoniſche (in Kirchenbuͤchern ge - braͤuchliche) und neuruſſiſche Schrift, Ge - bete, Moral, Erzaͤhlungen, Zahlen und das Einmaleins.
  • 4. Anweiſung zum Zierlichſchreiben. (5 Kop.) Mit einer Kupfertafel.
  • 5. Kurzgefaßter Katechismus. Mit Fragen unter dem Text. (10 Kop.) I. Vom Daſeyn Gottes, von ſeinem Weſen, und von der Verehrung die wir ihm ſchuldig ſind. II. Vom evangeliſchen Glauben. Der Glaube iſt eine aufrichtige Anneh - mung des Evangeliums. Die Lehre von dem Glauben iſt in der h. Schrift ent - halten abgekuͤrzt aber in dem Glau - bensſymbolum der erſten Nicaͤiſchen Kirchenverſammlung. Dieſes Symbolum iſt ganz eingeruͤckt. Dann[folgen] Erklaͤ - rungen uͤber jeden der zwoͤlf Artikel, wo -O 2212rinn es eingetheilt iſt. Vom goͤttlichen Geſetz. Enthaͤlt die zehn Gebote, mit ei - ner Erklaͤrung. Das Gebet des Herrn, mit Erlaͤuterungen. Dieſes, die zehn Ge - bote und das Symbolum ſind ſlawoniſch, das ganze Buch aber neuruſſiſch, obgleich mit ſlawoniſchen Lettern gedruckt. Am Schluß ſteht: Durchgeſehen von dem heil. Synod.
  • 6. Daſſelbe Buch, ohne Fragen. (6 Kop.)
  • 7. Ausfuͤhrlicher Katechismus. (20 Kop.) Iſt von dem vorhergehenden nur dadurch unterſchieden, daß unter dem Text ſehr viele Beweisſtellen aus der Bibel woͤrtlich abgedruckt ſind, und daß ausfuͤhr - lich von den Sakramenten gehandelt wird.
  • 8. Erklaͤrungen der Sonntags - und Feſttagsevangelien. (30 Kop.) Es ſind 59 Abhandlungen uͤber eben ſo viele Evangelien. Z. B. der Text; der Inhalt, tabellariſch auseinandergeſetzt; Erklaͤrung; chriſtliche Lehre; Sittenlehre.
  • 9. Kurze Religionsgeſchichte der Kirche des Alten und Neuen Teſta - ments. (15 Kop.) Die Geſchichte des213 letztern bezieht ſich beſonders auf die mor - genlaͤndiſche und hernach auf die griechiſch - ruſſiſche Kirche. Den Geiſt dieſes Buchs mag folgende Stelle bezeichnen: Zum Ungluͤck des menſchlichen Geſchlechts dauerten dieſe Spaltungen (im 9. und 16 Jahrhunderte) eine geraume Zeit fort; als aber die aufgeklaͤrten Zeiten kamen, in welchen die regierenden Fuͤrſten ſich der Erhaltung der allgemeinen Wohlfart des Volks annahmen, und die Kirchenlehrer anfiengen, aus der h. Schrift, anſtatt ſie, wie vorher geſchehen war, zur Bedraͤn - gung anderer Religionspartheyen zu ge - brauchen, die wahre Lehre Chriſti zu pre - digen, naͤmlich die aͤchte chriſtliche Liebe, Einigkeit und Sanfmuth gegen Jeder - mann, nebſt denjenigen edlen Pflichten, durch welche ſich tugendhafte Chriſten und gutgeſittete Buͤrger auszeichnen: ſo er - lebte die chriſtliche Kirche in dieſem Jahr - hunderte ihr ruhiges und gluͤckliches Zeit - alter, in welchem man vornaͤmlich auf die Unterthanen der weiſen Katharina ſe - hen, und mit Vergnuͤgen bemerken muß,O 3214wie ſie ſo einig, als wenn ſie alle nicht nur der einzigen chriſtlichen Religion, ſon - dern auch einer einzigen Parthey derſel - ben zugethan waͤren, unter einander leben und den einigen Gott in verſchiedenen Sprachen preiſen.
  • 10. Von den Pflichten des Menſchen und des Buͤrgers. Ein Leſebuch. (45 Kop.) Es war eine große und ſchoͤne Idee, Kinder ſchon bey ihrem erſten Un - terricht mit den Verhaͤltniſſen und Pflich - ten bekannt zu machen, in welche ſie einſt treten ſollen. Von ihrer Ausfuͤhrung moͤ - gen folgende Proben zeugen. Das ganze Werk zerfaͤllt in vier Theile. I Von der Bildung der Seele. Tugenden; Pflichten gegen Gott, gegen den Naͤchſten, gegen uns ſelbſt; was ein Tugendhafter vermei - den ſoll. II. Sorge fuͤr den Leib. Ge - ſundheit; Wohlſtand. III. Geſellſchaftli - che Pflichten. Geſellſchaftsbande uͤber - haupt; Ehe; Eltern und Kinder; Herr und Diener; Staat und Buͤrger (letzteres mit vielen Unterabtheilungen). IV. Haushaltungskunſt. In einem be -215 ſondern Artikel des dritten Theils wird von der Liebe zum Vaterlande gehandelt. Im eigentlichen Verſtande heißt das Va - terland diejenige große Geſellſchaft, zu welcher Jemand als ein Mitglied gehoͤrt, das iſt, derjenige Staat, deſſen Unterthan Jemand iſt, weil er entweder daſelbſt ge - boren wurde oder ſich dahin zu wohnen begeben hat. Eine ſolche große Geſell - ſchaft, die zuweilen uͤber viele Laͤnder aus - gebreitet iſt, wird deswegen das Vater - land genannt, weil darinn das Wohl aller Einwohner oder Mitglieder durch eine Macht und durch Geſetze eben ſo erhal - ten und befoͤrdert wird, als in einem Hauſe das Wohl der Kinder durch die Fuͤrſorge des Vaters beſorgt wird. Und daher ſind alle diejenigen, welche unter Einer Regierung oder unter Einer Ober - herrſchaft ſtehen, Soͤhne Eines Vaterlan - des.
  • 11. Daſſelbe Buch, mit Fragen unter dem Text. (25 Kop.)
  • 12. Anweiſung zur Rechenkunſt. Er - ſter Theil. (15 Kop.) Erklaͤrung der er -O 4216ſten Begriffe. Ruſſiſche Muͤnz-Maaß - und Gewichtſorten. Die vier gewoͤhnli - chen Rechnungsarten in genannten Zah - len.
  • 13. Deſſ. Buchs zweyter Theil. (20 Kop.) Von den Bruͤchen, Quadrat - und Kubik - zahlen, Proportionen, Regel de Tri, Re - gula falſi.
  • 14. Anleitung zur Phyſik. (25 Kop.) Mit drey Kupfertafeln.
  • 15. Anleitung zur Mechanik. (30 Kop.) Mit ſechs Kupfertafeln.
  • 16. Abriß der Naturgeſchichte. Zwey Theile. (70 Kop.)
  • 17. Anleitung zur Geometrie. (35 Kop.) Mit ſechs Kupf.
  • 18. Geographie des ruſſiſchen Reichs.
  • 19. Allgemeine Geographie.
  • 20. Ruſſiſche Geſchichte.
  • 21. Univerſalgeſchichte. Von dieſen letzten acht Lehrbuͤchern koͤnnen hier nur die Titel angezeigt werden, da jeder Aus - zug, wenn er den Zweck haben ſollte, den Leſern einen Begriff von dem Inhalt und217 der Behandlung zu geben, ſchlechterdings zu weitlaͤuftig fuͤr den Plan dieſes Auf - ſatzes werden muͤßte.

Eine ſolche Anzahl zweckmaͤßig abgefaßter Lehrbuͤcher uͤber die nothwendigſten und nuͤtz - lichſten Kenntniſſe des geſellſchaftlichen und buͤrgerlichen Lebens koͤnnte auf eine Zeitlang fuͤr das Beduͤrfniß der Nation hinreichend ſeyn. Dem ungeachtet machen Ueberſetzungen auslaͤndiſcher paͤdagogiſcher Schriften noch im - mer ihr Gluͤck. Man lieſt jetzt in ruſſiſcher Sprache, außer mehreren theils ſchon angefuͤhr - ten Kompendien, den vortrefflichen Effai d’édu - cation nationale von Chalotais, Rollin’s Manière d’enseigner les belles-lettres, Campens Kinderbibliothek, Wolke’s Buch fuͤr Anfaͤnger im Leſen und Denken, den Lehrmeiſter, das Magazin des enfans, und viele andere Werke dieſer Art.

Die Kultur der Nationalſprache hat ſeit Lomonoſſow’s Zeiten einen Gang genommen, der fuͤr die Vervollkommung der - ſelben ſehr viel erwarten laͤßt. Sie iſt nicht nur auf Grundſaͤtze und Regeln zuruͤckgefuͤhrt,O 5218die ihren eigenthuͤmlichen Bau fuͤr Zerſtoͤrung bewahren, ſondern ſie hat durch das Beyſpiel guter Schriftſteller an ihrer Urquelle, der ſla - woniſchen Sprache, einen ſo reichhaltigen Stoff zur Veredlung und Bereicherung erhal - ten, daß ſie keines erborgten Vorſchuſſes be - darf, um Bezeichnungen fuͤr jeden nur erdenk - lichen Begriff zu finden. Daß dennoch ſo manche fremde Worte, beſonders im Geſpraͤch des Umgangs, in der ruſſiſchen Sprache cir - kuliren, ruͤhrt von der Heteromanie her, die jedem Volke anklebt, welches einen Theil ſeiner Kultur von fremden Nationen empfaͤngt. Die Deutſchen ausgenommen, giebt es ſicherlich kein Volk, welches ſich ſo ſehr mit der Litte - ratur und den Sprachen fremder Voͤlker beſchaͤftigt. Die Beweiſe hievon ſind in die - ſem Buche ſo haͤufig, daß es unnoͤthig waͤre, dies mit Beyſpielen zu belegen. Aber einer kurzen Anzeige iſt es werth, daß die Ruſſen auch Sprachen kultiviren, die in dem uͤbrigen Europa unbekannt ſind. Ich habe oben des Translateurs Jaͤhrig erwaͤhnt, den die Akademie der Wiſſenſchaften fuͤr die Kenntniß der mongoliſchen Sprache unterhaͤlt; ein ſchon219 verſtorbener Schriftſteller, der Kanzelleyrath Leontjew bey dem Kollegium der auswaͤrti - gen Geſchaͤfte, iſt der Ueberſetzer einer Menge philoſophiſcher, politiſcher und hiſtoriſcher Schriften der Chineſen. Als eine Probe, wie wichtig die Kultur dieſer Sprache fuͤr die Be - reicherung der Kenntniſſe werden kann, die wir von den Chineſen haben, fuͤhre ich nur ein Paar dieſer Ueberſetzungen an. S’uͤſchu ghjei, d. i. vier Buͤcher mit Ausle - gungen. Erſtes Buch des Philoſophen Kon - fuzius. Nachricht von dem Kriege der Chineſen mit den Sengoren von 1677 bis 1698. Mit einer Vorrede vom Kai - ſer Kanſi. Beſchreibung der Staͤd - te, Einkuͤnfte, u. ſ. w. des chineſiſchen Reichs, aus der unter dem jetzigen Khan Kjan-Lun zu Pecking gedruckten Reichsgeo - graphie. Eine aͤchte chineſiſche Statiſtik! u. m. a. Auch die in dem Umfange des ruſ - ſiſchen Reichs bisher nur geſprochenen Dialek - te und Sprachen ſucht man allmaͤlig unter ge - wiſſe Regeln zu bringen, wie die Verſuche be - weiſen, die man mit der Grammatik der wotjakiſchen und tſcheremiſſiſchen220 Sprache gemacht hat. Von den mehreſten europaͤiſchen Sprachen hat man itzt ſchon Sprachlehren im Ruſſiſchen, vorzuͤglich von ſolchen, die in der Nachbarſchaft geredet wer - den. Die Woͤrterbuͤcher vervielfaͤltigen ſich ebenfalls und werden mit immer groͤßerer Ge - nauigkeit verfertigt; unter den neueſten Unter - nehmungen dieſer Art verdient das große franzoͤſiſch-ruſſiſche Lexikon, welches Weitbrecht herausgiebt, als das beſte unter den itzt vorhandenen angefuͤhrt zu werden.

Die alte Litteratur findet zwar, im Ganzen genommen, keine ſo gute Aufnahme in Rußland als in manchen andern Laͤndern; aber ſie wird doch nicht vernachlaͤßigt. Es kommen jaͤhrlich mehrere Schriften nicht nur in lateiniſcher, ſondern ſogar in griechiſcher Sprache heraus; der Unterricht in denſelben wird fuͤr nuͤtzlich und nothwendig gehalten, und ſehr vornehme und angeſehene Leute laſ - ſen ihre Kinder wenigſtens Eine von beyden erlernen. Von den vorzuͤglichſten Schriftſtel - lern des Alterthums ſind jetzt Ueberſetzungen vorhanden, und auch dieſe nuͤtzliche Veranſtal - tung hat man der jetzigen Kaiſerinn zu dan -221 ken. Sie ſetzte im Jahr 1768 jaͤhrlich 5,000 Rubel fuͤr ruſſiſche Ueberſetzungen guter Buͤ - cher aus, und uͤbertrug den Grafen Schu - walow und Orlow und dem Staatsrath Koſizki die zweckmaͤßige Verwendung dieſer Summe. Man erklaͤrte gleich anfangs, daß man vorzuͤglich auf Dollmetſchungen griechi - ſcher und roͤmiſcher Schriftſteller ſehen wuͤrde, und dies hatte den guten Erfolg, daß die ruſſiſche Litteratur in dieſem Zweige eine Be - reicherung gewann, die ſie außerdem wohl noch lange haͤtte entbehren muͤſſen. Eine kurze Ue - berſicht einiger in Bacmeiſters Bibliothek angezeigten Ueberſetzungen wird dies am beſten beweiſen.

Griechen. Plato’s Werke, von Si - dorowski und Pachomow. Heſiod’s Werke, von Frjaſinowski. Homer’s Batrachomyomachie, von Ruban. In Proſe, mit einigen erlaͤuternden mythologi - ſchen Anmerkungen. (Schon zu Peters des Großen Zeit ward die B. von einem gewiſ - ſen Kopiewski uͤberſetzt, der ſie, nebſt Ae - ſops Fabeln in Amſterdam herausgab. ) Homer’s Iliade, von Jekimow in222 Proſe die ſich dem ſlawoniſchen naͤhert. Lucians Todtengeſpraͤche, von Sido - rowski und Pachomow. Diodors von Sizilien hiſtoriſche Bibliothek, von Alexejew. Wird fuͤr gut gehalten. Theophraſts Sittenſchilderungen, nach der lat. Caſauboniſchen und franz. Bruye - riſchen Ueberſetzung u. ſ. w. Roͤmer. Ta - citus, vom alten Germanien, von Swjetow. Ovids Verwandlungen, zwey Buͤcher, vom verſtorbenen Staatsrath Koſizki, Mitglied der Akademie der Wiſſen - ſchaften. In Proſe. Wird fuͤr ſehr gut ge - halten. Terenz von Chwoſtow, Golo - win, Richmann, Florinski, Moj - ſjeenkow und Sinski. Nach le Mon - nier’s Ausgabe, weil ſie ſich, bey andern Vorzuͤgen, durch eine ſehr wahrſcheinlich rich - tige Eintheilung der Auftritte empfiehlt. Ho〈…〉〈…〉 - razens Oden von Popowski. Cicero de finibus, von Posnikow; consolatio; de natura Deorum, von Komow. Die poeti - ſchen Stellen ſind in ruſſiſche Verſe uͤberge - tragen. Julius Caͤſar. Vellejus Pat. Valerius Max. Suetonius. Virgils223 Georgikon. Virgils Aeneis, von Je - kimow, und von dem Kollegienrath Petrow (einem beruͤhmten Dichter, wie man weiter unten ſehen wird) in Alexandrinern. Letztere wird fuͤr ſehr vorzuͤglich gehalten; man machte ihr aber den Vorwurf, daß ſie durch allzu - haͤufig eingemiſchte ſlawoniſche Wendungen und Redensarten bisweilen unverſtaͤndlich wuͤrde. Der Verfaſſer hat ſich daher einer zweyten neuen Ueberſetzung unterzogen, die ſo eben die Preſſe verlaͤßt u. ſ. w.

Katharinens Zeitalter, das den Muſen uͤberall ſo guͤnſtig iſt, hat auch fuͤr die Dicht - kunſt eine glaͤnzende Epoke hervorgebracht. Nach dem Tode Lomonoſſows und Su - marokows ſchien die ruſſiſche Litteratur ver - waiſet zu ſeyn; dieſe beyden gluͤcklichen Ge - nies, die die Morgenroͤthe des guten Geſchmacks verkuͤndigten, ſchienen ſie auch zugleich mit ih - rem Ruhm wieder in das Grab zu nehmen. Die Bahn auf welcher ſie gewandelt hatten, blieb eine Zeitlang unbetreten, aber dieſer dunkle Zwiſchenraum war von keiner langen Dauer. Nie, in keinem Zeitpunkte der ruſſi - ſchen Litteratur hatte dieſe eine ſo große An -224 zahl gluͤcklicher und zum Theil ausgezeichneter Dichter aufzuweiſen, als jetzt.

Die ſchoͤnſte Epoke von Sumarokows dichteriſcher Laufbahn fiel in die Regierung Katharinens der Zweyten*)Er ſtarb im Jahr 1777 in Moskau als wirkl. Staatsrath und Ritter des St. Annenordens. Die jetzige Kaiſerinn hatte ihm, außer vielen andern Gnadenbezeu - gungen, eine jährliche Penſion von 2,000 Rubeln gegeben.. Aus dieſer Urſache und weil mit ihm das erſte Zeit - alter der ruſſiſchen Dichtkunſt ſchließt, koͤnnen wir nicht umhin, ſeiner hier zu erwaͤhnen. Gluͤcklich in jedem Felde, in welches ſich ſein kuͤhner Genius wagte, aber gluͤcklicher nir - gend, als in der dramatiſchen Sphaͤre, ſchien Sumarokow beſtimmt, ſeiner vaterlaͤndi - ſchen Litteratur in jeder Gattung Muſter zu hinterlaſſen. Eine lebhafte, aber in Zuͤgel ge - haltene Phantaſie, ein gereinigter, durch das Studium der Alten und Neuern ausgebildeter Geſchmack, und eine klaſſiſche Sprache ſind die karakteriſtiſchen Eigenſchaften ſeiner Pro - dukte. Beweiſender als dieſes allgemeine Ur -theil225theil wuͤrden freylich Beyſpiele ſeyn; aber wenn es auch moͤglich waͤre, die eigenthuͤmlichen Schoͤnheiten des Originals in eine ihrem gan - zen Weſen nach ſo verſchiedene Sprache uͤber - zutragen: ſo erlaubt es doch der Plan und die Abſicht dieſer Blaͤtter nicht, gerade von den groͤßten Meiſterſtuͤcken dieſes Dichters, von ſeinen dramatiſchen Werken, Proben zu liefern. Um indeſſen den Leſer einigermaßen von der Wahrheit des gefaͤllten Urtheils zu uͤberzeugen, ſchalte ich hier ein paar kleinere Gedichte, nach einer woͤrtlichen Ueberſetzung des H. Bacmeiſter ein*)Da die Ueberſetzung wörtlich iſt, ſo brauche ich wol nicht zu erinnern, daß manche Ausdrücke, die hier alltäg - lich oder gemein ſcheinen, in dem Original eine ganz an - dere Wirkung thun..

Enona, eine Ekloge.
Alpheſiboͤus liebte die ſchoͤne Enona.
Die Schaͤferinn, durch dieſe Liebe geruͤhrt,
liebt ihn nicht minder, als er ſie,
ſo viel nur moͤglich und uͤber alles.
Sie blickte mit Zaͤrtlichkeit nach dem Schaͤfer,
Zweiter Theil. P226
und ſcherzte und ſpielte mit ihm alle Tage.
Sorgfaͤltig erhoͤhet ſie ſeinetwegen ihre Schoͤn -
heit,
ſchmuͤckt mit Blumen Buſen und Kopf,
und Myrthenblaͤtterchen und Lorbeerblaͤtter
pfluͤckt ſie zum Putze woͤchentlich bey hunderten.
Alpheſiboͤus kuͤßte ſie nicht ſelten,
und hoffte noch mehr als das zu erhalten;
denn wenn er ſie auch einmal umarmet,
ſo ſchmaͤhlt ſie doch deswegen nicht auf ihn.
Aber wenn Alpheſiboͤus einmal verwegener iſt,
wird ſie auch wol verdruͤßlich daruͤber.
Das Maͤdchen ſtoͤßt die Hand des Liebhabers
zuruͤck,
und macht ihm mitten unter dem Vergnuͤgen
Qual.
So wird an ſchoͤnen Tagen, durch einen
Schwarm dicker Wolken,
der vom Himmel herableuchtende Stral den
Augen verborgen,
wenn eine ſtarke Hitze die Thaͤler erwaͤrmt
und die Finſterniß aus den Wolken Stroͤme
uͤber ſie gießt.
Aber eine ſolche Gegenwehr geſchah nicht immer;
zuweilen iſt ſie weniger widerſpenſtig.
Doch auch in den Minuten, da ſie nachgiebt,
227
iſt der ſcheugewordene Schaͤfer noch immer
muthlos,
und vermindert die Glut der Schaͤferinn
in dem Augenblicke, wenn die Liebe ihr alles
zu thun befiehlt.
Vor ſeiner Furchtſamkeit entflieht das Ver -
gnuͤgen,
und er ſchmachtet alsdann nur noch mehr.
Der Schoͤnheit mit Herz und Sinnen ganz er -
geben,
liebt er die Fußſteige wo ſie nur gegangen iſt;
Wege zum Olymp ſcheinen ihm dieſe Fußſteige
zu ſeyn,
und Quellen des Paradieſes da wo ſie ihre
Fuͤße waͤſcht;
ſuͤßer die Beeren die ſie pfluͤckt
und reiner das Waſſer das er mit ihr trinkt.
Nicht der Hund hat den Vorzug, der ſich zur
Heerde ſchickt,
ſondern der den Enona ſtreichelt.
Er denkt: nirgend ſind ſo ſchoͤne Geſichter,
und ſeine Liebe uͤberſchritt alle Grenzen.
Nicht jeden verwundet Amors Pfeil ſo genau
und treffend;
er ſchießt immer, aber ſtark verwundet er
ſelten.
Einsmals ſpielten in den Sommertagen
P 2228
die Schaͤfer und verſteckten ſich; es ſpielten
auch ſie.
Der Schaͤfer trifft auf die ſchoͤne Enona:
bey ſeinem Anblick ohne Zeugen gluͤhet die
Schaͤferinn.
Er fand ſie zwiſchen breitzweigigen Linden;
er fand ſie und hieng ſich an ſie, wie eine
Klette.
Enona ſagte ihm zwar kein zaͤrtliches Wort,
aber ſie verbot ihm auch nichts.
Alſo ward er kuͤhn, ergluͤhete
eine Nachtigall auf dem Baume beſang ſeinen
Sieg.
Aber der Schaͤfer hoͤrte dieſe Stimme nicht;
der Schaͤfer ergoͤtzte ſich damals nicht an Ge -
ſaͤngen.

Folgende Ode uͤber die Groͤße Gottes hat eine auffallende Aehnlichkeit mit einzelnen Ge - danken eines der beſten deutſchen Dichter.

Der Himmel oͤffnet ſich; mein Gedanke fliegt
hinauf,
dringt in die Ferne, verliert ſich,
ohne deren Ende zu finden,
und, von Finſterniß zuruͤckgetrieben,
229
ſchwingt er ſich verwirrt von da herab,
und preiſet den weiſen Schoͤpfer.
Dort iſt eine Menge von brennenden Lichtern,
die ihren Weltkugeln leuchten,
und Myriaden von großen Koͤrpermaſſen.
Du walteſt, Herr, ewiglich,
und die ganze unendliche Weite
iſt die Grenze deines Reichs.
Wie wenn der erzuͤrnte Wirbelwind kommt
und die Luft in Unordnung bringt,
den Sand aufruͤhrt, den Staub empoͤrt;
ſo unordentlich ſind jetzt meine Gedanken;
die vor mir aufgedeckte Schoͤpfung
zeuget, daß ſie kein Ende hat.
Ich haͤufe Welt auf Welt
und ſtelle Millionen
derſelben vor meinem verwirrten Sinne auf.
Eben ſo viele derſelben ſetze ich auf jene,
und wieder, wieder Millionen:
ein Sandkorn iſt das gegen die ganze Schoͤp -
fung.

Das letzte Beyſpiel mag eine Stelle aus dem Lehrgedichte uͤber die Dichtkunſt ſeyn, in welcher die Schilderung der Ode ſo lautet:

P 3230
Der donnernde Schall der Ode dringt, wie der
Sturmwind, ins Gehoͤr,
erhebt ſich zu des Kaukas und der Alpen Gipfel.
In ihr zertheilt der Blitz den Horizont,
und die brauſende See verbirgt im Abgrunde
Schiffe.
Vor Herkuls Rieſenſtaͤrke erliegt die ungeheure
Hydra,
und der kuͤhne Phaeton eilt den Himmel hinan.
Die Skamanderufer fordern die Goͤtter zum
Kampf auf;
der große Alexander verpflichtet die Perſer zum
Zins;
der große Peter wirft von den baltiſchen Ufern
herab ſeinen Donner;
Katharinens Schwerdt blitzt am Helleſpont.

So ehrenvoll der Platz iſt, den Sumaro - kows Muſe in dem Ehrentempel der ruſſiſchen Litteratur behauptet, ſo groß iſt auch die An - zahl derer, die um die naͤchſte Stelle neben ſeinem Denkmal buhlen. Unter die Dichter dieſer Klaſſe, uͤber welche die Nachwelt ſchon ihr Urtheil ſprechen kann, gehoͤrt der unlaͤngſt verſtorbene Hofrath Knjaͤſhnin, der ſich in mehreren Dichtungsarten als ein gluͤcklicher Nachfolger ſeines Vorgaͤngers gezeigt hat. Die dramatiſchen Werke mit welchen er das Thea -231 ter bereichert hat, vereinigen große Schoͤnhei - ten der Kompoſition mit einem leichten harmo - niſchen Versbau und einer tiefen Kenntniß des Reichthums und der Staͤrke der Sprache. Zu den beruͤhmteſten Produkten dieſer Gattung rechnet man ſein Tranerſpiel Dido und ſein Luſtſpiel der Großpraler. Eine große An - zahl vermiſchter Gedichte, unter welchen ſich einige ſehr gelungene Epiſteln und Satiren be - finden, die Ueberſetzung der Henriade in reim - loſe Verſe und verſchiedene proſaiſche Aufſaͤtze ſichern ihm den Ruhm eines der beſten Schrift - ſteller ſeiner Nation. Unter den jetztleben - den Dichtern ſcheint keiner gerechtere Anſpruͤche an eine kuͤnftige Unſterblichkeit zu machen, als der wirkliche Staatsrath und Ritter, Herr von Derſchawin, ein eben ſo verehrungs - wuͤrdiger Staatsmann, Patriot und Menſchen - freund, als er ein liebenswuͤrdiger Schriftſtel - ler iſt. Die unermuͤdlichſte Thaͤtigkeit in ſei - nem großen und wichtigen Wirkungskreiſe laͤßt dieſem vortrefflichen Manne noch immer Zeit genug uͤbrig, um den Muſen, ſeinen Vertrau - ten, einzelne Augenblicke zu ſchenken, und die Litteratur ſeines Vaterlandes mit den Pro -P 4232dukten ſeines originellen, durch die hoͤchſte Kul - tur veredelten Talents zu bereichern. Eigen - thuͤmlichkeit, Feinheit und Eleganz ſind der Ka - rakter dieſes Schriftſtellers; unnachahmlich iſt die Harmonie ſeiner Diktion und der Wohllaut ſeines leichten Versbaues; er hat das Mittel gefunden, die uͤppigſte Einbildungskraft und den gereinigteſten Geſchmack zu verſchwiſtern. So lautet das Urtheil der Kenner.

Gerne verſchaffte ich meinen Leſern den Genuß, einzelne Proben dieſes Dichters mit ihrer Kritik zu vergleichen. Ueberſetzungen ſind faſt von allen ſeinen Werken vorhanden; aber wie grob und koͤrperlich iſt hier uͤberall die Huͤlle, durch welche der feine Geiſt des Origi - nals durchſchimmern ſoll. Keine Sprache, die ich kenne, legt dem Ueberſetzer ſo unuͤberwind - liche Schwierigkeiten in den Weg, als die ruſ - ſiſche. Der ganz eigenthuͤmliche Karakter der - ſelben macht freye Nachahmungen faſt unmoͤg - lich; und bey einer treuen, woͤrtlichen Dollmet - ſchung iſt es nicht ſelten der Fall, daß die edel - ſte Wendung oder der erhabenſte Ausdruck matt und alltaͤglich wird, den großen Verluſt der Verſifikation nicht einmal zu rechnen. In233 dem folgenden Verſuche des Herrn von Kotze - bue ſind dieſe Schwierigkeiten zwar nicht ſo gluͤcklich beſiegt als es zu wuͤnſchen waͤre, aber ich gebe ihn dennoch wie er iſt, um meine Le - ſer nicht in einer gaͤnzlichen Unbekanntſchaft mit einem der vortrefflichſten Dichter dieſer Nation zu laſſen.

Der Traum des Murſa.
Es ſchwamm die goldne Luna
im dunkelblauen Aether;
Gewand von Silberpurpur
umfloß die Glaͤnzende.
Sie warf blaßgelbe Stralen
herab durch meine Fenſter,
und zeichnete die Scheiben
auf der lackirten Diele.
Die muͤde Hand des Schlummers,
Traumbilder um ſich ſtreuend,
ſpruͤtzt mit dem Thau des Himmels
Vergeſſenheit hernieder,
einſchlaͤfernd meine Diener
und alles um mich her.
Entſchlummert war ſchon lange
die Stadt mit ihren Thuͤrmen,
P 5234
kaum hoͤrte man die Newa
aus ihrer Urne fließen,
kaum ſchimmerte der Belt
in ſeinen ſtillen Ufern;
es hatte tiefe Ruhe
ſich ringsumher gelagert,
und in der Hoͤh und Tiefe,
dem Auge wie dem Ohre,
ſchien die Natur erſtorben;
nur Zephyr gaukelte,
den Sinnen Kuͤhlung wehend.
Ich wachte, und vereinte
mit meiner Leyer Toͤnen
der Stimme leiſes Lispeln:
O ſelig! wer auf Erden,
mit ſeinem Loos zufrieden,
frey, ruhig, reich, geſund,
ſich durch ſich ſelbſt begluͤcket;
ein unbefleckt Gewiſſen
und reines Herz bewahret,
nur nach dem Ruhme ſtrebet,
ein Biedermann zu ſeyn;
wer weder Zwerg noch Rieſe,
noch Wunderthier geboren,
Bildſaͤulen weder gleichet,
noch ſie verehren muß;
235
wer alle ſeine Freuden
in ſeinem Hauſe findet,
wo ſeine holde Gattinn
und wenig treue Freunde
einſame Stunden theilen,
die Langeweile wuͤrzen,
die Arbeit ihm verſuͤßen.
O ſelig! wem zuweilen
die Koͤniginn der Horden
aus bernſteinen Pallaͤſten,
aus ſilber-roſen Zimmern,
als kaͤm es aus der Ferne,
den Hoͤflingen verborgen,
fuͤr Maͤhrchen und fuͤr Verſe,
fuͤr allerley Geſchwaͤtze
die koͤſtlichen Geſchenke
und ſchimmernde Dukaten
in Doſen heimlich ſendet.
O ſelig doch urploͤtzlich
verſtummte mein Geſang.
Es wankte das Gebaͤude,
die Waͤnde wichen bebend,
und ſchneller als die Blitze
ergoß ſich hundertfaͤltig
um mich ein himmliſch Licht,
den Mond umzog ein Schleyer.
Ich ſah ich ſah, und ſtaunte
236
es ſchwebt auf lichten Wolken
ein holdes Weib hernieder,
als Opferprieſterinn,
als Goͤttinn mir erſcheinend.
Ein weiß Gewand umfloß
ſie ſanft in Silberwellen;
die majeſtaͤt’ſche Stirne
ziert eine Buͤrgerkrone,
es glaͤnzt um ihren Buſen
der Guͤrtel golden ſchimmernd,
und gleich dem Regenbogen,
hieng ſchwarz und feuerfarben
in Streifen eine Zierde
ihr von der rechten Schulter
zur Linken ſanft herab.
Nach dem Altare ſtreckte
ſie opfernd ihre Hand,
und zuͤndete die Koͤrner,
von Wohlgeruͤchen duͤftend,
der hoͤchſten Gottheit an.
Der große nord’ſche Adler,
der ewige Gefaͤhrte
des Blitzes und Triumphes,
des Ruhms der Helden Herold,
auf Buͤchern vor ihr ſitzend,
bewahrte die Geſetze,
in ſeiner Klaue ſchlummernd
237
den finſtern Donner haltend,
den Lorbeer und den Oelzweig.
Mit himmelblauen Augen
als wie von Zorn entflammet
ſah mich die Goͤttinn an.
Dies Bild wird nimmermehr
in meiner Bruſt verloͤſchen.
O Murſa! ſprach ſie zuͤrnend,
du Eitler duͤnkſt dich gluͤcklich,
wenn du bey Tag und Nacht
auf deiner Leyer ſpieleſt,
den Zaren Lieder ſingeſt.
Doch zittre und vernimm
die furchtbar große Wahrheit,
oft unerkannt, unglaublich
der Leidenſchaft des Dichters;
mich zwingt, ſie zu entdecken,
Wohlwollen nur fuͤr dich.
Iſt Dichtkunſt mehr als Wahnſinn,
der Goͤtter hoͤh’re Gabe,
ſo ſinge nur der Dichter
die Herrlichkeit der Goͤtter,
den Unterricht der Tugend;
ſein Lied ſey nie entweihet
durch bloße Schmeicheleyen,
vergaͤnglich Lob der Menſchen.
238
Die Herren dieſer Welt
ſind auch nur Sterbliche;
ſie naͤhren Leidenſchaften
trotz ihrer Diademe;
auch ihre Herzen werden
durch Schmeicheley vergiftet.
Doch welcher Dichter waͤre
nicht immer auch ein Schmeichler?
O ſinge nicht der Tugend
ſo laut Syrenenlieder;
bedarf doch keines Lobes
der aͤchte Biedermann.
Der Edle der mit Eifer
ſtets ſeine Pflicht erfuͤllet,
bringt mehr dem Koͤnig Ehre,
als aller Dichter Lob.
Wirf weg die Nektarſchale,
denn ſie verbirgt nur Gift!
Wer ſchlaͤget mich ſo kuͤhn
durch ſtarke Worte nieder?
Wer? Goͤttinn? Prieſterinn?
So fragt ich die Geſtalt
wie Schatten vor mir ſchwebend.
Sie ſprach: ich bin Felize.
Sie ſprachs und eine Wolke
verhuͤllte meinen Augen,
239
des Glanzes ungewohnt,
die goͤttlichſchoͤnen Zuͤge.
Koſtbare Wohlgeruͤche
umdufteten das Haus,
und Fruͤhlingsblumen ſproſſen
hervor aus jener Staͤtte
wo ich ſie ſchweben ſah,
mir Goͤttinn, Engelgleiche!
Es ſchwang ſich meine Seele
ihr nach; allein vergebens;
ich konnte ihr nicht folgen,
ſtand wie betaͤubt vom Donner,
empfindungslos und ſtumm.
Doch bald erleichterte
mein Herz ein Thraͤnenguß.
Iſts moͤglich, ſprach ich, Zarinn!
Sanftmuͤthige, auch du
kannſt gegen deinen Murſa
ſo ſtreng und zornig ſeyn?
Und du, und du, du ſollteſt
den Pfeil ins Herz mir werfen?
Die reine Flamme tadeln,
die nur fuͤr dich allein
in meinem Buſen lodert?
Es giebt genug der Menſchen,
die ſchon den armen Dichter
fuͤr jeden ſeiner Verſe
240
zur ſtrengen Rechnung ziehen,
ihn zwingen, ſich zu ſchuͤtzen
vor ſtachlichten Satiren.
Es giebt der guͤldnen Goͤtzen
genug, die meine Lieder
unnuͤtz und ſinnlos ſchelten;
es giebt genug Fakire
und Kadi’s welche waͤhnten
daß ich dir heuchelte,
weil ſie zu heucheln pflegen.
Ich habe ohnehin
ſchon eine Menge Feinde.
Fuͤr Schande hielt es mancher,
daß man ihn nicht in Gnaden
an ſeinem Schnurrbart zupfte.
Dem andern that es wehe,
als Glucke nicht zu ſitzen
*)Spielt auf eine Stelle in der Ode an Felize an.
*).
Dem dritten ſchien es frech,
daß es dein Murſa waget,
ſo dreiſt mit dir zu ſprechen.
Ein vierter haͤlt mich ſtraͤflich,
daß ich in der Begeiſtrung
dich Himmelsbothinn nannte,
froh -241
frohlockend Thraͤnen weinte.
Kurz, dieſer wollt Arbuſen,
geſalzne Gurken jener.
Doch, zeigen moͤge hier
die Muſe, daß ich nie
die Zahl der Schmeichler mehrte,
und nie fuͤr Geld verkaufte
die Waare meines Herzens;
daß ich dir nicht aus fremden
Ambaren Schmuck und Kleider
verſtohlen zugeſchnitten.
Nur die gekroͤnte Tugend,
nur das was du gethan,
hab ich allein geſungen.
Die ganze Welt war Zeuge.
Denn groß ſind deine Thaten.
Ich habe ſie geſungen;
und werde ſtets ſie ſingen,
die Wahrheit ſcherzend plaudern,
die Lieder der Tataren
dem Strom der Zeit entreißen,
gleich einem Stral des Lichtes
ſie auf die Nachwelt bringen,
dein Bild in den Geſtirnen
dem ſpaͤten Enkel zeigen;
ich will dich ruͤhmen, preiſen,
Zweiter Theil. Q242
auf daß mit deinem Namen
ich ſelbſt unſterblich werde
*).Um nur Ein Beyſpiel zu geben, wie viel das Original in dieſer Ueberſetzung verloren hat, wähle ich die zwey letzten Zeilen. In dem ganzen Gedichte herrſcht eine ſanfte Stimmung, die ſo wenig ekſtatiſch iſt, daß ſie zuweilen ſogar in horaziſchen Muthwillen übergeht; nur mit dem Schluß erhebt ſich der Flug des Dichters ſtufenweiſe immer höher, bis er endlich mit einem erha - benen Gedanken endigt. Dieſe Gradation und folglich auch die ganze Wirkung iſt in der Ueberſetzung verwiſcht. Man leſe noch einmal von der Stelle: Ich habe ſie ge - ſungen und man wird in jeder folgenden Zeile einen höhern Schwung bemerken. Dies läßt ſich auch in der Verdeutſchung fühlen. Aber den letzten kühnſten und er - habenſten Gedanken hat der Ueberſetzer ſo kraftlos und proſaiſch gegeben, daß man die Stufenleiter verliert und ſich mit einemmal wieder auf der Erde ſieht, da man ſich ſchon in den Wolken glaubte. Wörtlich lautet die Stelle ſo:
Ja, rühmen will ich dich und preiſen,
unſterblich will ich mit dir ſeyn!
Im Ruſſiſchen iſt es das Futurum: budu, ich will, ich werde.

Unter den Dichtern die ſich einen großen und bleibenden Ruhm erworben haben, darf ich den wirklichen Staatsrath und Ritter243 Cheraskow nicht vergeſſen, ob er gleich ſeit langer Zeit nicht mehr unter die Schrift - ſteller von St. Petersburg gezaͤhlt werden kann. Seine Heldengedichte: die Roſſiade und die Schlacht bey Tſchesme ſind die erſten gelungenen Produkte der Nation in der epiſchen Gattung; aber nicht minder gluͤcklich iſt dieſer Dichter in andern Faͤchern der Litte - ratur geweſen. Er hat Trauerſpiele und Luſt - ſpiele geſchrieben, die ſich noch jetzt, lange nach ihrer erſten Erſcheinung, auf den Buͤh - nen erhalten, und immer mit Vergnuͤgen ge - ſehen werden. In fruͤheren Zeiten gab er auch Oden, Fabeln und Idyllen heraus. Seine neuern Produkte ſind der Numa Pompi - lius, ein hiſtoriſcher Roman, in der Manier des Telemachs; Kadmus und Harmonia, ein erzaͤhlendes Gedicht, u. ſ. w. Alle dieſe Werke ſtehen in großer Achtung bey der Na - tion. Seine Gemahlinn, Eliſabeth Che - raskowa hat ſich ebenfalls als Dichterinn ei - nen Namen gemacht. Man hat von ihr Ele - gieen und anakreontiſche Oden.

W. Petrow, Kollegienrath und Biblio - thekar der Kaiſerinn, trat etwa um dasQ 2244Jahr 1775 als Gelegenheitsdichter auf; aber ſchon ſeine erſten Verſuche erhielten einen Bey - fall, den ſeit Lomonoſſow keiner in dem Maaße genoſſen hatte. Eine kuͤhne, ſchwelge - riſche Phantaſie, eine bilderreiche Sprache und eine Kompoſition die Kultur und Geſchmack verraͤth, zeichnen ſeine Muſe auf eine ſehr vorzuͤgliche Weiſe aus. Mit den großen Mu - ſtern des Alterthums vertraut, hat er ſich dieſe nicht nur zum Studium, ſondern ſogar zum Ziel ſeiner litterariſchen Thaͤtigkeit gemacht. Seine poetiſche Ueberſetzung der Aeneis, die vorhin ſchon angefuͤhrt iſt, wird von Kennern fuͤr ein Meiſterſtuͤck gehalten; aber der unbe - friedigte Verfaſſer hat ſie einer gaͤnzlichen Um - arbeitung unterworfen. Ein langer Aufenthalt in England floͤßte ihm eine Vorliebe fuͤr die brittiſche Litteratur ein, die ihn zu dem ſchwe - ren Unternehmen begeiſterte, Milton’s ver - lornes Paradies in ſeine Mutterſprache uͤberzutragen. Auch dieſe Ueberſetzung, die in Proſe verfaßt iſt, hat ſeinen Ruhm auf eine gerechte Weiſe vergroͤßert. Von ſeinen lyri - ſchen Gedichten, die vor einigen Jahren ge - ſammelt und verbeſſert herausgekommen ſind,245 mag folgende Verdeutſchung des H. Bac - meiſter als eine Probe gelten.

Ode
auf die Geburt Sr. Kaiſerl. Hoheit
des
Großfuͤrſten Konſtantin Pawlowitſch.
April 1779.
Welch ein Anblick! mitten am Tage glaͤnzet im
Aether
ein von Geſtirnen gebildetes Kreuz,
und der erzitternde Tuͤrke verſchließt die Augen.
Muſe! die du das Sternenbuch lieſeſt,
ſage mir die Urſache der Erſcheinung!
Er, der den Namen des Helden fuͤhrt,
der den Maxentius beſiegte,
des Glaubens Beſchuͤtzer, der Ruſſen Ruhm,
der Turbantraͤger drohendes Schrecken,
der große Konſtantin iſt geboren.
Zum erſtenmal blickt er auf, und erhebet
ſeine Augen gen Himmel,
und des Herrn Geiſt laͤßt ſich auf ihn herab,
wie der Thau auf die hervorſproſſende Lilie.
Q 3246
Sanftmuͤthig, von oben her beſeelt, wunderſchoͤn,
mit ſeinem Namen harmoniſch,
bewegt er die zarten Lippen
zum Preiſe Gottes,
zur Verkuͤndigung der großen Kraft
des ſiegwirkenden Kreuzes.
So viele Lilien ihm zu Ehren
der reizende Fruͤhling bringt,
ſo viele Trophaͤen wird er erwerben.
Ganz Aſien iſt ihm zu enge,
gleich dem Blitz zieht er ſeinen Saͤbel aus,
wie der Sturm von Norden nach Suͤden blaͤſet.
Welt! erwarte neue Wunder!
Nicht in den Styx zauberiſch eingetaucht,
mit einem himmliſchen Panzer angethan,
ward der neue Achilles geboren;
beſtimmt, nicht Troja zu zerſtoͤren,
ſondern ſtolze Barbaren zu beſiegen,
und die den Griechen entriſſene Stadt
aus ſchmaͤhlicher Sklaverey zu erloͤſen;
ungluͤckliche Geſchlechter wieder zu erheben,
das Joch der Knechtſchaft zu zerbrechen,
und neue Seelen in ihnen zu ſchaffen,
das Heiligthum von Graͤueln zu reinigen,
das Boͤſe in Arabiens Wuͤſten zu verbannen,
Laͤnder und Meere zu beherrſchen.
247
Der Himmel oͤffnet ſich! Im Purpur
ſteht dort, herabſchauend, Konſtantin,
ſeine Stimme ſchallt im Aether:
Peters Geſchlecht, Pauls Sohn,
du von des Schickſals Hand der Welt Gegebener,
der du meinen Namen empfiengſt,
wachſe, ſey tapfer, zieh hin in den Streit!
Die ehedem von mir erbauete Stadt
iſt dir zur Herrſchaft beſtimmt:
ſo hat es das Schickſal beſchloſſen.
Nicht umſonſt empfaͤngt dich Katharina
als ein Pfand des Himmels.
Sie und das Schickſal ſind ſich gleich:
Alles regiert Gott hienieden durch Sie.
Unter nie verſtummenden Lobpreiſungen
ſendet Sie dich, ihren furchtbaren Enkel,
von den Newaufern zum Hellespont.
Mit deinem ſiegreichen Arm
beſchleunige Ihres Wunſches Erfuͤllung,
vor Ihren Augen ſchlage die Feinde zu Boden!
Auf den durch große Macht gezeugten Frevel
ſchleudere Ihren Blitz und Donner!
Stuͤrze den Greuel der Verwuͤſtung
der ſich in Gottes Haus gewaltſam eindrang,
tief in den Abgrund ſtuͤrze die Entweihung!
Q 4248
Durch dich werde des Herrn Grab wieder verehrt,
durch dich ſtrale mein Thron in ſeinem vorigen
Glanze!
Beherrſche und regiere in jener Weltgegend
nach Katharinens Geſetz
das dir dienende Volk!
So ſprach er. Und das Kreuz, das im hoͤchſten
Luftkreiſe
nach Suͤden hin ſchwebte, glaͤnzte ſtaͤrker,
und uͤber Sophiens Heiligthum
blieb dieſer Gnadenbothe ſtehen.
Die Hoͤrner des blaſſen Mondes fielen herab,
die Stimme des Siegesliedes erſcholl:
Er iſt eingezogen, der Koͤnig der Ehren! Er iſt
in dem Tempel!
Da ſieht man ihn wieder, wie den Himmel,
und raͤuchert darinn ſuͤßduftenden
Weihrauch dem lebendigen Gotte.

Die ruſſiſche Buͤhne hat kuͤrzlich einen ſehr großen Verluſt an dem verſtorbenen Staats - rath van Wiſin*)Der Name iſt holländiſch, aber die Familie ſeit langer Zeit ruſſiſch. erlitten. Dieſer Dichter,249 der der Moliere des ruſſiſchen Theaters zu werden verſprach, vereinigte alle Eigenſchaften, die eine ſolche Beſtimmung erfordert. In ſei - nen beſten Stuͤcken, dem Brigadier und dem Njedorosl*)Die deutſche Ueberſetzung dieſes Stücks giebt dieſes Wort ſehr paſſend durch Mutterſöhnchen. Eigent - lich bedeutet es einen Unmündigen, noch nicht Erwach - ſenen., herrſcht ein gutgehalte - nes Intereſſe, ein lebhafter Dialog und eine Regelmaͤßigkeit, die man ſelten in aͤhnlichen Produkten ſo beyſammen findet. Seine Gei - ßel greift herrſchende Vorurtheile und glaͤnzen - de Laſter mit einer bewundernswuͤrdigen Kuͤhn - heit an; ſeine Suͤjets ſind national, und ma - chen um deswegen eine ſo groͤßere Wirkung. Er iſt auch der gluͤckliche Ueberſetzer des Mark Aurels von Thomas und des Jo - ſephs von Bitaubé. Des Oberhofmei - ſters und Senateurs H. von Jelagin iſt ſchon bey Gelegenheit der ruſſiſchen Geſchichte ge - dacht, an welcher er jetzt arbeitet. Auch als Dichter hat er ſeinen Namen auf eine ruͤhm -Q 5250liche Weiſe bekannt gemacht. Außer mehreren lyriſchen Gedichten und Satiren iſt er vorzuͤg - lich als der Ueberſetzer vieler Schauſpiele des de la Touche bemerkenswerth. Der Kollegienrath Koſadawlew, ein liebenswuͤr - diger Schriftſteller, deſſen Produkte ſich durch einen hohen Grad von Feinheit und Eleganz auszeichnen, hat Thuͤmmels Wilhelmine mit ſo außerordentlichem Gluͤck auf den ruſſi - ſchen Boden verpflanzt, daß es ſehr zu wuͤn - ſchen waͤre, er moͤchte ſeiner Nation auch mit den Reiſen duch die mittaͤglichen Provinzen von Frankreich ein aͤhnliches Geſchenk machen. Der Staatsrath Chrapowizki, der Geheimerath und Senateur Alexei Na - riſchkin, der Generallieutenant Potemkin der Kammerjunker Murawjew, der Gehei - merath und Senateur Rſhewski, der Gen. Lieut. Swiſtunow, der Staatsrath Lukin, und mehrere Herren von hohem Range haben ſich als Dichter in verſchiedenen Faͤchern um die Litteratur ihres Vaterlandes verdient gemacht. Unter den Ueberſetzern poetiſcher Werke zeichnen ſich der Aſſeſſor Bogdanowitſch durch ſeine Pſyche von Lafontaine; Ka -251 rabanow durch ſeine Alzire von Voltai - re; Dmitriew durch ſeine Fabeln nach la Fontaine, Sacharow durch ſeinen Tele - mach und Tod Abels, Popow durch ſein befreytes Jeruſalem, u. m. a. ſehr vor - theilhaft aus. Kapniſt und Krilow haben ſich im Fach der Satire Ruhm erworben. Oſſipow hat einen traveſtirten Aeneas, in der Manier des Blumaueri’ſchen gelie - fert, und alle fremde Anſpielungen nationali - ſirt. Ich breche hier ab, weil dieſe Liſte, die ſich um das vierfache vergroͤßern ließe, oh - ne eine genauere Karakteriſtik der Dichterwerke ſelbſt, kein Intereſſe fuͤr auswaͤrtige Leſer ha - ben kann.

Gute proſaiſche Schriftſteller in mehreren Gattungen ſind ſchon ſo haͤufig in dieſer Schilderung aufgefuͤhrt, daß es unnoͤ - thig waͤre, ihre Namen hier wieder zu - ſammenzuſtellen. Kein Fach der ruſſiſchen Lit - teratur iſt ſo zahlreich meublirt, als das der Romane. Der groͤßte Theil derſelben beſteht aus Ueberſetzungen, die denn nicht allemal, weder von Seiten der Auswahl noch der Sprache, Muſter genannt werden koͤnnen. 252Die matteſten Produkte der vergangenen De - zennien, die in Deutſchland ſchon lange ver - geſſen ſind, erhalten hier oft zum zweytenmal eine Exiſtenz und helfen den Geſchmack der Nation verderben. Daß es auch ſehr vorzuͤg - liche Ausnahmen giebt, verſteht ſich natuͤrlich von ſelbſt. Zu dieſer Klaſſe gehoͤren die Ue - berſetzungen des Humphry Klinker von Sacharow, des Gilblas vom Geheimen - rath Tjeplow, des Joſeph Andrews, des Tom Jones, die neuere Ueberſetzung von Werthers Leiden, die von Flori - an’s Numa Pompilius, le Sage diable boiteux, und der Nouvelles nouvelles von Florian durch Beſack, u. a. m.

Zeitſchriften haben bisher kein ſonder - liches Gluͤck im Publikum gemacht. So viele ihrer auch aufgetreten ſind, ſo hat ihre Exiſtenz doch ſelten uͤber drey oder vier Jahre gedau - ert. Die St. Petersburgiſche gelehrte Zeitung, die im Jahr 1778 herauskam, war das erſte Unternehmen dieſer Art, gieng aber wegen des nachtheiligen Verlags bald wieder ein. Ein aͤhnliches Schickſal hatte die Mo - natsſchrift: Akademiſche Nachrichten,253 welche von 1779 bey der Akademie der Wiſ - ſenſchaften ausgegeben wurde, und den Geiſt der vorzuͤglichſten neuen Werke, Erfindungen, u. ſ. w. enthalten ſollte. Sie dauerte nur bis 1781. Der Gehuͤlfe der Liebhaber der ruſſiſchen Sprache, ein Journal welches ſehr beruͤhmte Mitarbeiter hatte, gieng mit dem Schluß des erſten Jahrgangs ein. Unter den jetzt fortdauernden Zeitſchriften, ſind die monatlichen Abhandlungen, welche ſeit 1786 bey der Akad. der Wiſſ. herauskommen, und der ruſſiſche Merkur von Kluſchin und Krilow die bekannteſten.

Hier ſchließt ſich unſere Ueberſicht der pe - tersburgiſchen Litteratur waͤhrend eines Zeit - raums von etwa zwanzig Jahren. So un - vollſtaͤndig die Materialien waren, nach denen ſie entworfen werden ſollte, ſo bin ich dennoch gezwungen geweſen, viele derſelben abſichtlich unbenutzt zu laſſen, um nicht in ein ermuͤden - des Detail zu verfallen, das, bey der groͤßten Ausfuͤhrlichkeit, doch nicht unterrichtender fuͤr den Leſer haͤtte werden koͤnnen. Die Reſul - tate, welche ſich ſelbſt aus dieſer leicht gezeich - neten Schilderung ergeben, ſind allzuauffallend,254 als daß ſie hier einer weitlaͤuftigen Auseinan - derſetzung beduͤrften.

Auch die Auslaͤnder, vorzuͤglich die Deut - ſchen, bilden hier ein gelehrtes Publikum, unter welchem ſich Schriftſteller von großem Ruf und großen Verdienſten[befinden]. Wie thaͤtig dieſe zum Theil fuͤr die Aufnahme der ruſſiſchen Litteratur mitwirken, davon findet man haͤufige Beyſpiele unter den eben geleſenen Rubriken. Die Akademiker Aepinus, Pal - las, Georgi, Fuß, Herrmann, u. a. haben ſich außer ihrer akademiſchen Sphaͤre durch nuͤtzliche Werke, Entdeckungen, u. dergl. im Auslande ſo bekannt gemacht, daß ich hier nur ihre Namen anzufuͤhren brauche. Unter den deutſchen Schriftſtellern, die ſich bemuͤht haben, die Kenntniß des ruſſiſchen Reichs im Auslande zu verbreiten, wird ſich jeder meiner Leſer an die Namen Arndt, J. und H. L. C. Bacmeiſter, Grot und an die eben ge - nannten, Pallas, Georgi, Herrmann, u. a. erinnern. Der, durch mehrere aſtrono - miſche und oͤkonomiſche Preisſchriften bekannte Schroͤter, der Chemiſt Lowiz, der Minera - log Renovanz, die Aerzte Mohrenheim,255 Uhden, u. a. ſind gewiß keinem Leſer vom Metier unbekannt, ſo wenig als die Namen Nikolai, Klinger, Soltau (der Ueber - ſetzer des Hudibras) und der Frau von Krook es den Liebhabern der ſchoͤnen Litteratur ſeyn werden.

Ueber den Zuſtand der Kuͤnſte in St. Petersburg laͤßt ſich in einem Buche dieſer Art keine ausfuͤhrliche Nachricht erwarten. Der ungeheure Reichthum an Gegenſtaͤnden den eine vollſtaͤndige Schilderung umfaſſen muͤßte, wuͤrde ein eigenes Werk und einen ei - genen Schriftſteller erfordern. Einzelne Par - thieen, die auf dieſe Weiſe bearbeitet ſind, ge - ben eine Idee von dem Umfange und Inte - reſſe, welche ein ſolches Werk haben koͤnnte.

Die Akademie der Kuͤnſte, als Erzie - hungsanſtalt, iſt ſchon in einem andern Ab - ſchnitte*)Im achten Abſchnitte, Th. 1. S. 304. geſchildert; hier iſt der Ort, die Nachricht von dieſem Inſtitut zu ergaͤnzen. Sie ward im Jahr 1758 von der Kaiſerinn Eliſabeth, als eine Klaſſe der Akademie der Wiſſenſchaften geſtiftet und hatte in dieſem256 Zuſtande 40 Zoͤglinge. Katharina die Zweyte ſonderte dieſe beyden Anſtalten ab, gab im J. 1764 der Akademie der Kuͤnſte eine eigne fuͤr ſich beſtehende Exiſtenz, ließ einen praͤchtigen Pallaſt fuͤr ſie bauen, und ſetzte ihr jaͤhrlich 60,000 Rubel Einkuͤnfte aus. Nach dem Etat hat ſie einen Praͤſidenten, den wirkl. Geheimenrath Bezkoi; einen Direk - tor, den Staatsrath Veldten; drey Rek - toren, zwey Adjunktprofeſſoren der Anatomie, Optik, u. ſ. w. ; Maler in allen Theilen dieſer Kunſt, Graveurs, Steinſchneider, Juſtrumen - tenmacher, u. ſ. w. in allem 28 beſoldete Aka - demiſten. Unter ihre Chrenmitglieder zaͤhlt ſie den Großfuͤrſten Pawel Petrowitſch und einige benachbarte europaͤiſche Fuͤrſten.

Die Gallerie der Akademie der Kuͤnſte, welche jaͤhrlich im Sommer vierzehn Tage hindurch fuͤr Jedermann geoͤffnet wird, hat ei - nen betraͤchtlichen Reichthum an alten und neuern Kunſtſachen und Gemaͤlden großer und beruͤhmter Meiſter. Um eben dieſe Zeit findet auch die oͤffentliche Ausſtellung der akademi - ſchen Arbeiten ſtatt, bey welcher die Zoͤglinge um den Preis wetteifern. Von den vor -zuͤg -257zuͤglichſten Sammlungen und Kabinetten iſt hin und wieder, beſonders aber in dieſem Ab - ſchnitte, ſchon die Rede geweſen.

Es wird nicht leicht eine ſchoͤne Kunſt ge - ben, in welcher St. Petersburg nicht Einen oder mehrere Meiſter vom erſten Range auf - zuweiſen haͤtte. Die mehreſten derſelben ſind Auslaͤnder, welche theils hieher berufen worden und in kaiſerlichen Dienſten ſtehen, theils auch freywillig ihren Aufenthalt hier waͤhlen und von dem Erwerbe ihres Talents leben. Schon ein vollſtaͤndiges Namenregiſter aller Kuͤnſtler aufzufuͤhren, iſt eine unmoͤgliche Sache, da viele unter ihnen keinen beſtimmten Wohnort haben, andere nur eine kurze Zeit hier leben und jaͤhrlich mehrere Fremdlinge ſich auf die - ſem Platze einfinden. Das unvollſtaͤndige Ver - zeichniß welches hier folgt, mag alſo nur als ein Beyſpiel gelten, daß es in der Reſidenz große und ausgezeichnete Kuͤnſtler in jeder Gat - tung giebt.

Maler. Groth; ein Deutſcher. Akade - mierath. Einer der groͤßten jetztlebenden Thier - maler. Huͤne, ein Deutſcher. Adjunkt - profeſſor der Akademie. Hiſtorienmaler. Schuͤ -Zweiter Theil. R258ler von Tiſchbein, Torelli, Mengs. (Die Beſitznehmung Tauriens, ein großes alle - goriſches Gemaͤlde. ) Knappe, ein Deut - ſcher. Thier - und Pflanzenmaler. Von die - ſem Kuͤnſtler, deſſen Arbeiten ſehr geſchaͤtzt werden, ſind die Zeichnungen zur Flora Roſſica, von welchen oben die Rede war. Meys, aus dem Hennegau. Hiſtorienmaler. (Die Reiſe der Kaiſerinn nach Taurien; iſt auch in Kupfer geſtochen.) Tiſchbein, ein Deutſcher. Hofarchitekt, Theatermaler und Erfinder der Dekorationen. Er hat den Vorhang im Opernhauſe gemalt. Mayr, ein Deut - ſcher, im Dienſt der Akademie der Wiſſenſchaf - ten. Zeichner und Maler. Stahn, ein Deutſcher, Arkaniſt der kaiſ. Porzellanfabrik und vorzuͤglicher Porzellanmaler. Metten - leither, ein Schweizer, bekannter Land - ſchaftsmaler. Gonzago, einer der groͤß - ten Dekorationsmaler. Lewizki, ein Ruſſe. Prof. der Akad. Ein beruͤhmter Portraitma - ler. Voilta, de la Pierre, Gutſch, ebenfalls Portraitmaler. Unter den juͤngſt verſtorbenen iſt der Kollegienrath Koslow, ein Ruſſe, Adjunktdirektor bey der Akademie,259 Direktor der Hauteliſſefabrik, ein Hiſtorienma - ler, vorzuͤglich merkwuͤrdig.

Kupferſtecher. Skorodumow, ein Ruſſe, und ehemaliger Zoͤgling der Akademie. Seine Arbeiten ſind ſo bekannt als ſein Name. Walker, ein Englaͤnder, im Dienſt des Hofes. Unter ſeine Meiſterarbeiten gehoͤren die Kaiſerinn in Reiſekleidern, Fuͤrſt Potem - kin, General Lanskoi, Admiral Greigh u. a. Schlepper, ein Petersburger. Pellerini, ein Italiener. Mayr, Nabholz, Muͤller, Deutſche.

Bildhauer. Rachette, ein Franzoſe, Profeſſor der Akademie, Modellirer der kaiſ. Porzellanfabrik. (Die Cybele im Graͤfl. Bes - borodko’ſchen Garten; Buͤſte von Leon - hard Euler, u. a.) Schubin, ein Ruſſe, bey der Akad. (Buͤſten der kaiſerlichen Familie. ) Moſchalow, ein Ruſſe, Kuͤnſt - ler im Metallguß, ein Zoͤgling der Akad. (Der farneſiſche Herkules und die Flora in Zars - koje Selo. ) Iwanow, ein Ruſſe und Zoͤgl. der Akad. Jetzt Aſſeſſor im Kolleg. der auswaͤrtigen Geſchaͤfte. (Die Taufe der Olga. ) Gardejew, ein Ruſſe. Prof. in der Akad. R 2260 Frediani, ein Italiener. Chailow, ein Ruſſe. (Hat Antheil an dem Guß der Statuͤe Peters des Großen.)

Architekten. Koſelow, ein Ruſſe. (Pella. ) Guarenghi, ein Italiener, und einer der beruͤhmteſten Kuͤnſtler in ſeinem Fach. (Die neue Boͤrſe, das Hoftheater und eine Menge anderer Pallaͤſte. ) Veldten, aus Petersburg, Staatsrath, Direktor der Akade - mie. (Die Katharinen-Annen - und armeniſche Kirche, der Lombard, und viele andere Ge - baͤude. ) Starow, ein Ruſſe. Hofrath und Hofarchitekt. (Das Pantheon, die neue Kirche im Newskiſchen Kloſter. ) Trom - bara, ein Italiener. (Das neue Jaͤgerkorps, der neue Stallhof. ) Cameron, ein Eng - laͤnder, Hofarchitekt in Zarskoje Selo. (Daſelbſt das neue Bad, die haͤngenden Gaͤrten und vie - les andere.)

Muſiker. Die Kapellmeiſter, Aſtarita, Cimaroſa, Martini. Violinen. Der Virtuoſe Tiez, ein Petersburger. Cannobi, Maſener, Chandoſchkin. Klavier. Palſchow, Virtuoſe, ein Daͤne. Haͤßler und Bauerſchmidt, zwey beliebte Kuͤnſt -261 ler, jener hauptſaͤchlich auf der Orgel. Behr, Virtuoſe auf dem Klarinett. Ma - reſch, ein Boͤhme, Miterfinder der beruͤhm - ten Jagdmuſik. Pratſche, hat den groͤß - ten Theil der ruſſiſchen Volkslieder auf Noten geſetzt. Baron von Wanſchura, bey der Theaterdirektion; ein Kuͤnſtlergenie in meh - reren Faͤchern, hauptſaͤchlich in der Muſik.

Die vorzuͤglichſten Suͤjets in der Tanz - und Schauſpielkunſt werden im folgenden Abſchnitte vorkommen. In der Garten - kunſt iſt der Englaͤnder Buſch, Hofgaͤrtner in Zarskoje Selo, als ein eigentlicher Kuͤnſtler beruͤhmt. Als Steinſchneider, Pa - ſtenmacher, Medailleurs ſind Gaß, Zoͤllner, Koͤnig, Lamoni, Radi, Ju - din u. a. bekannt.

Man ſieht aus dieſem kurzen Verzeichniß, in welchem gewiß kaum die Haͤlfte aller hier befindlichen Kuͤnſtler genannt, und vielleicht auch einige beruͤhmte Namen vergeſſen ſind, daß St. Petersburg deren ſo viele und große aufzuweiſen hat, als die mehreſten europaͤiſchen Reſidenzen. Die Rubrik der mechaniſchen Kuͤnſte wuͤrde nicht weniger zahlreich werden,R 3262wenn es moͤglich waͤre, ihr einige Vollſtaͤndig - keit zu geben. Folgende Beyſpiele koͤnnen dies hinlaͤnglich beweiſen.

Man verfertigt hier muſikaliſche In - ſtrumente aller Art in der groͤßten Vollkom - menheit. Die beruͤhmteſten Kuͤnſtler in die - ſem Fach ſind Kirſchnek, Gabram, Waͤchter (fuͤr Geigen), Jakſon, u. a. Mathematiſche und phyſikaliſche In - ſtrumente werden zwar haͤufig aus dem Auslande verſchrieben, aber auch Keſſarew, ein Ruſſe, bey der Akademie der Wiſſenſchaf - ten, Morgan, ein Englaͤnder, u. a. liefern deren ebenfalls eine große Menge fuͤr das innlaͤndiſche Beduͤrfniß. Als Verfertiger chirurgiſcher Inſtrumente iſt Koſchen - kow, ein Ruſſe, im Dienſt des mediziniſchen Kollegiums, bekannt. Als Mechaniker nenne ich nur den Ruſſen Kulibin, das groͤßte Genie in dieſem Fach, welches die Na - tion hervorgebracht hat. Von ihm iſt das Oſterey mit dem kuͤnſtlichen Uhrwerk, deſſen in der Beſchreibung des Muſeums der Akademie der Wiſſenſchaften gedacht worden iſt. Als Bauer geboren und Mehlhaͤndler ſeiner ehe -263 maligen Beſchaͤftigung nach, ohne Anleitung, ohne wiſſenſchaftliche Kenntniß, entwickelte ſich ſein Talent voͤllig aus ſich ſelbſt, und das er - ſte Produkt ſeiner Erfindung mit welchem er ſich bekannt zu machen ſuchte, war jenes oben beſchriebene Kunſtwerk. Katharina die Zweyte entriß ihn ſeinem armſeligen Zuſtan - de, ſchenkte ihn der Beſtimmung zu welcher die Natur ihn auf eine ſo vorzuͤgliche Weiſe aus - gezeichnet hatte, und beehrte ihn mit einer goldnen Medaille, die er an einem blauen Bande um den Hals traͤgt. Jetzt iſt er Me - chanikus der Akademie der Wiſſenſchaften. In dieſer Lage entwarf er den kuͤhnen Plan, eine hoͤlzerne Bruͤcke von einem einzigen Bogen uͤber die Newa zu bauen, und verfertigte hie - zu ein Modell, deſſen Laͤnge den funfzehnten Theil von der Breite der Newa hat. Es beſteht aus liegenden Balken, von denen die obern immer etwas uͤber die untern vorſprin - gen, bis ſie in der Mitte der Bruͤcke zuſam - mentreffen und ſo nur Einen großen Bogen bilden. Das Modell hielt zwar in Ruͤckſicht ſeiner Staͤrke alle Proben aus; aber in der Ausfuͤhrung wuͤrde die Bruͤcke die Hoͤhe einesR 4264Thurms erhalten und der Ausbeſſerung große Schwierigkeiten verurſacht haben. Als Buchdrucker iſt Schnoor, unter vielen andern, ein merkwuͤrdiger Mann. Durch Fleiß und Talent hat dieſer Kuͤnſtler es unter man - cherley Hinderniſſen ſo weit gebracht, daß ſeine ruſſiſchen Lettern nun ſchon in vielen andern Druckereyen gebraucht und nachgeahmt wer - den. Er iſt es, dem die Anlegung einer tata - riſchen Druckerey uͤbertragen wurde und der dieſen Auftrag ſo gluͤcklich ausgefuͤhrt hat, daß ſelbſt Gelehrte jener Nation ſeine Lettern al - len in England, Holland, Venedig, Rom und Wien befindlichen den Vorzug geben, weil ſie die hoͤchſte Aehnlichkeit mit den gewoͤhnlichen ſchriftlichen Zuͤgen haben. Schnoor naͤmlich hatte ſich dieſe von einem Mullah, oder tata - riſchen Geiſtlichen, vorzeichnen laſſen, und zwey geſchickte Stempelſchneider mußten nach dieſem Muſter ihre Stempel ſo lange bearbei - ten, bis ſie von dem Mullah als vollkommen richtig anerkannt wurden. So entſtanden die Ponzonen zu drey Sorten von Schriften, zu der krimmiſch-tatariſchen, der kaſaniſch-tatari - ſchen, und der arabiſchen. Im Jahr 1785265 beſtand dieſe Druckerey aus vier Preſſen, und ihre erſten Produkte waren die Ueberſetzungen der Verordnungen zur Verwaltung der Gou - vernements und ein Alkoran.

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Eilfter Abſchnitt. Lebensgenuß.

Volksbeluſtigungen. Frohſinn des gemeinen Ruſſen. Na - tionalgeſänge und Tänze. Kabacken. Badehäuſer. Spiele. Volksfeſte. Schaukeln um Oſtern. Eisberge in der Butterwoche. Vergnügungen der höhern Klaſſen. Allgemeine Karakteriſtik derſelben. Klubbs. Der muſikaliſche, der engliſche, der adliche, der bür - gerliche, der amerikaniſche, die beyden Tanzklubbs. Das ältere und neue Liebhabertheater. Geiſt und Ton dieſer Geſellſchaften. Oeffentliche Spazier - plätze. Der Sommergarten. Die Kays der Newa. Die Fontanka. Der italieniſche Garten. Der Park des tauriſchen Pallaſt. Der Garten des Landkadet - tenkorps. Die Arkaden von Goſtinnoi Dwor. Länd - liche Promenaden außerhalb der Reſidenz. Liberalität des ruſſiſchen Adels. Oeffentliche Spazierfahrten. Schlittenfahrten. Schlittenrenner. Waſſerfahrten. Kaffehäuſer. Gaſthäuſer. Spielhäuſer. Wetſchurinki, Mädchenbälle. Freudenmädchen. Heroiſcher Edel - muth eines ermordeten Mädchens gegen ihre Mörder. Theater. Ruſſiſche Schauſpiele, Operetten und Opern. Oleg, eine große heroiſche Oper mit ſeltnen267 Prachtſcenen. Franzöſiſches Schauſpiel. Muſika - liſche Beluſtigungen Tanzgeſellſchaften und Mas - karaden. Hoffeſte. Maskarade und Erleuchtung in Peterhof, ein durchaus einziges Schauſpiel. Ablaufen eines Kriegsſchiffs vom Stapel der Admiralität. Gro - ßes Feſt des Fürſten Potemkin.

Die Vergnuͤgungen und Luſtbarkeiten der fei - nern Menſchenklaſſen in allen Laͤndern ſind durch die Verbreitung der Kultur und die naͤ - here Bekanntſchaft der Nationen unter einan - der ſo gleichfoͤrmig geworden, daß die Ge - ſchichte derſelben von einer Hauptſtadt ſo gut als von der andern gilt, unterdeſſen die Volks - vergnuͤgungen noch faſt uͤberall den Stempel einer gewiſſen Individualitaͤt zu tragen pfle - gen und nicht ſelten als merkwuͤrdige Beytraͤ - ge zur Sittengeſchichte angeſehen werden koͤn - nen. Wenn es ferner wahr iſt, daß die fein - ſten Zuͤge und Eigenheiten des Nationalkarak - ters ſich vorzuͤglich in der Art aͤußern, wie ein Volk ſeines Daſeyns froh zu werden ſucht, ſo iſt es wol der Muͤhe werth, ſich auf einige Augenblicke den eleganten Zirkeln zu entreiſſen,268 in welchen die Freude nur, wie eine Muͤnze, unter dem Gepraͤge des konventionellen Wohl - ſtands ausgeſpendet wird, um ſich unter den großen Haufen zu miſchen, wo ſich Jedermann freuen darf, wie er will.

Der Ruſſe iſt, im Ganzen genommen, ein froͤhlicher Menſch. Ein gluͤcklicher Leichtſinn und eine ihm vorzuͤglich eigene Sorgloſigkeit begleiten ihn durch ſein ganzes Leben. Das elendeſte Schickſal und die muͤhſeligſte Arbeit laſſen ihm noch immer einiges Gefuͤhl fuͤr den Genuß ſeines Daſeyns. Jenes bekuͤmmert ihn nicht, da ſein Ideenkreis ſich ſelten bis zu der Vorſtellung einer edlern und verfeintern Exi - ſtenz erweitert; dieſe verſuͤßt er ſich durch ſei - nen Geſang und ſein Schaͤlchen. Die Grenz - linie, auf welcher dieſe ſchoͤne Grundfarbe im Volkskarakter allmaͤlig verſchwindet, iſt die Scheidewand zwiſchen Poͤbel und Buͤrger. Je hoͤher die Klaſſen der Menſchen, um deſto we - niger natuͤrlicher Frohſinn. In unſern Logen und glaͤnzenden Zirkeln ſind die Geſichter ſo finſter, als in irgend einer Hauptſtadt von Europa. Ein ſtarker Beweis, daß Zufriedenheit269 und Gluͤckſeligkeit nicht an den Boden der Kultur und des Reichthums gefeſſelt ſind!

Der frohe Sinn des gemeinen Ruſſen aͤu - ßert ſich hauptſaͤchlich durch den Geſang, der die allgemeinſte Beluſtigung deſſelben ge - nannt zu werden verdient. Jedes Geſchaͤft, auch das muͤhſamſte, verſuͤßt ſich der Ruſſe durch Singen, und jede Freude, jedes Gelag wird dadurch belebt und erheitert. Es giebt ſicherlich keine Nation in Europa, bey welcher der Hang zu dieſer Ergoͤtzung ſo herrſchend waͤre, als hier. In Frankreich ſingt das Volk auch; aber nur Opernarien und Vaude - villes, die den Beyfall des großen Publikums haben; in Rußland hoͤrt man wahre Volksge - ſaͤnge, deren Dichter und Komponiſten[eben - falls] aus den unterſten Volksklaſſen ſind, und die von Petersburg bis Irkuzk auf eben die - ſelbe Weiſe geſungen werden. Das National - intereſſe welches in dieſen Geſaͤngen liegt, ihre hoͤchſt einfache aber melodiſche Manier, die muſikaliſchen Anlagen und die groͤßtentheils gluͤcklichen Organe der Ruſſen, machen eine ſehr angenehme und uͤberraſchende Wirkung auch auf unmuſikaliſche Fremde und Auslaͤn -270 der. Es iſt daher ein ſehr gebraͤuchliches Ver - gnuͤgen der hoͤhern Staͤnde in St. Peters - burg, ſich auf den Schaluppen bey Waſſer - fahrten und ſelbſt bey Tafel von einem Chor geuͤbter Saͤnger ruſſiſche Volkslieder vorſingen zu laſſen. Im Sommer iſt die Newa mit Fahrzeugen bedeckt, von denen dieſer Geſang ertoͤnt, der, beſonders in ſchoͤnen Naͤchten, durch ſeine ſanfte melankoliſche Weiſe den ein - ſamen Spaziergaͤnger in ſuͤſſe Empfindungen wiegt.

Wenn der ruſſiſche Poͤbel in Geſellſchaft froh ſeyn ſoll, ſo darf auch der Tanz nicht fehlen. Ohne dieſen und ohne Geſang laͤßt ſich kein Volksgelag denken. Ausdrucksvoller und ſchoͤner, als der Nationaltanz, den man gewoͤhnlich den Taubentanz (Golubez) nennt, iſt gewiß kein Volkstanz irgend eines Landes, und ſchoͤn getanzt wird er nicht nur in den feinern Zirkeln der gebildeten Staͤnde, ſondern ſelbſt unter dem Poͤbel. Er beſchaͤftigt ge - woͤhnlich zwey Perſonen verſchiedenen Ge - ſchlechts, die ſich in einiger Entfernung einander gegenuͤber ſtellen. Sein Inhalt iſt eine Lie - beserklaͤrung, die durch ſehr ſprechende Panto -271 mimen angetragen, ausgeſchlagen, nachgeſucht und bewilligt wird, und wobey das perſoͤnliche Talent der Taͤnzer die beſcheidene Zudringlich - keit des Liebhabers und die kaͤmpfende Schaam der Geliebten mehr oder weniger nuͤanciren hilft. Die Taͤnzer naͤhern und entfernen ſich hiebey mit gewiſſen abgemeſſenen Schritten, die jedoch nicht ſehr genau an die Muſik ge - bunden ſind. Da dieſer Tanz durchaus natuͤr - liche redende Pantomime iſt, ſo kann die Kunſt wenig oder nichts zu ſeiner Veredlung thun; ich habe ihn oͤfter unter dem Volk als in hoͤ - hern Zirkeln gut, aber nur einmal von geuͤb - ten Volkstaͤnzern bis zum Entzuͤcken ſchoͤn tan - zen ſehen. Die Muſik von welcher er be - gleitet wird, iſt ſehr einfach; oft bedarf es nicht einmal eines Inſtruments, ſondern die Zuſchauer ſingen im Chor irgend ein Volks - lied dazu.

Die Vergnuͤgungshaͤuſer des Poͤbels ſind die Kabacken (Schenken). Hier verſammelt er ſich in muͤßigen Stunden zur froͤhlichen Geſellſchaft, zum Trinken und Singen. Der Mißbrauch, den hier der rohe Menſch von ſeinem ſauer erworbenen Gelde und von ſeinem272 Hange zum ſinnlichen Genuß zuweilen macht, empoͤrt nicht ſelten das Gefuͤhl, wenn man zu - faͤlliger Weiſe Augenzeuge davon wird; aber er hat mich nie bewegen koͤnnen, dieſe Zu - fluchtsoͤrter der gedruͤckteſten und geplagteſten Volksklaſſe zu verdammen. Wer hat das Herz, dieſen armen Menſchen, die zur Ent - ſchaͤdigung fuͤr alle die unzaͤhligen Muͤhſelig - keiten ihres Daſeyns nur den Branntewein, als das einzige Mittel, kennen, ihrer auf einen Augenblick zu vergeſſen wer hat das Herz, ihnen dieſe Taͤuſchung zu rauben, ohne ihnen eine beſſere unterzuſchieben? Ich uͤbergehe hier die Gruͤnde, die man aus dem Klima, der harten Lebensart, der aͤrmlichen Koſt und den ſtrengen Faſten des ruſſiſchen Volks herneh - men koͤnnte, um den Gebrauch dieſes Nepen - the zu vertheidigen, und appellire nur an die Menſchlichkeit meiner Leſer, um ein ſchonendes Urtheil uͤber die grellen Tinten dieſer Karakte - riſtik zu erhalten. Weit entfernt die allge - meine Schaͤdlichkeit und die oft ſehr ſchreckli - chen Folgen des Hanges zur Trunkenheit mil - dern oder beſchoͤnigen zu wollen, iſt es viel - mehr der innigſte Wunſch meines Herzens,daß273daß das ruſſiſche Volk bald durch eine Vered - lung ſeiner noch ſehr rohen Menſchheit eines ſo traurigen Behelfs entbehren lerne: aber ihn verdammen kann ich, nach den vorhande - nen Umſtaͤnden, nicht.

Zu den Vergnuͤgungshaͤuſern der untern Volksklaſſen laſſen ſich auch die oͤffentlichen Badehaͤuſer rechnen, die hier, wie in Rom und Griechenland, nicht nur zum Beduͤrfniß, ſondern auch zur Ergoͤtzung dienen, nachdem ſie ſelbſt ihre erſte Beſtimmung in den meiſten Laͤndern Europens verloren haben. Der ge - meine Ruſſe beſucht ſie woͤchentlich wenigſtens einmal; der Tag, an welchem ihm dieſer Be - ſuch vergoͤnnt wird, iſt ein Feſttag fuͤr ihn. Die Reſidenz hat eine Menge ſolcher oͤffentli - chen Badehaͤuſer, die gewoͤhnlich an Fluͤſſen und Kanaͤlen angelegt werden, und deren in - nere Einrichtung hier mit einigen Worten er - waͤhnt zu werden verdient. Alle ruſſiſche Baͤ - der ſind Dampfbaͤder; das Badezimmer hat einen großen gewoͤlbten Ofen, der ſo ſtark ge - heizt wird, daß die Feldſteine, die den obern Theil deſſelben ausmachen, gluͤhend werden. Um die Hitze zu vermehren, ſprengt man Waſ -Zweiter Theil. S274ſer auf dieſe Feldſteine, wodurch das Badezim - mer zugleich mit feuchten Duͤnſten angefuͤllt wird. Rings umher an den Waͤnden ſind Baͤnke oder Stufen befindlich, die Jedem die Wahl laſſen, eine mehr oder minder heiſſe Atmosphaͤre zu ſuchen, je nachdem man hoͤher ſteigt oder dem Fußboden nahe bleibt. Die Badenden ſitzen oder liegen in dieſer feuchten Hitze, die zuweilen bis auf 45 Grade R. ſteigt, und eine Ausduͤnſtung bewirkt, von der man ſich nur durch eigne Erfahrung einen Begriff machen kann. Um dieſe noch mehr zu befoͤr - dern, laſſen ſich die Badenden gewoͤhnlich mit trocknen belaubten Birkenreiſern ſanft ſchlagen und mit wollenen Lappen reiben. Von Zeit zu Zeit ſteigen ſie auf den Fußboden herab, um ſich warmes oder kaltes Waſſer uͤber den Kopf und den ganzen Leib zu gieſſen. Viele unter ihnen ſpringen im Sommer aus dieſem Dampfbade in den vorbeyfließenden Fluß, oder waͤlzen ſich, wenn es Winter iſt, im Schnee. Die oͤffentlichen Baͤder der Reſidenz haben ge - raͤumige Hoͤfe mit vielen Baͤnken verſehen, wo ſich die Badenden im Sommer aus und an - kleiden. Faſt mit allen Hospitaͤlern und oͤffent -275 lichen Anſtalten ſind ſolche Baͤder verbunden, und ſelbſt unter den beſſern Klaſſen der hieſi - gen Einwohner iſt das Baden Beduͤrfniß und Vergnuͤgen.

Die Spiele, die dem ruſſiſchen gemeinen Mann zur Erholung und Ergoͤtzung dienen, ſind ſaͤmtlich ſehr einfach und erfordern gemei - niglich koͤrperliche Anſtrengung und Gewand - heit. Ihr Urſprung iſt durchaus national, und der Poͤbel der Reſidenz hat durch ſeine lange Bekanntſchaft mit Auslaͤndern keine fremde Sitte in ſeinen Zeitvertreib miſchen gelernt. Je mannigfaltiger dieſer iſt, um deſto weniger gehoͤrt er in den Plan dieſes Buchs, deſſen Zweck nicht die Schilderung der Nation ſeyn kann. Ich erwaͤhne daher nur einiger der uͤblichſten Spiele, die jedem Fremden bey ſei - nem Aufenthalt in der Reſidenz auffallen moͤchten.

Ueberall, auf allen Gaſſen, vorzuͤglich im Winter, ſieht man Kerle oder Jungen mit ein - ander ringen oder boxen. Dieſe Beluſti - gung, die ſelten oder niemals durch Zank und Erbitterung, gewoͤhnlich durch eine gutmuͤthige Herausforderung, vielleicht auch im WinterS 2276durch die Abſicht ſich zu erwaͤrmen, veranlaßt wird, iſt jedoch ſehr von dem engliſchen Wett - kampf verſchieden. Die Streitenden ſtellen ſich neben einander; jeder ſchlaͤgt mit geballter Fauſt auf ſeinen Gegner los und ſucht ihn durch das Unterſchlagen der Fuͤße zu Boden zu werfen. Sobald dies gelingt, iſt der Sieg entſchieden, und des Turnier, unter dem muthwilligen Gelaͤchter das umherſtehenden Volks, geendigt.

Eben ſo allgemein iſt das Ballſpiel, welches beſonders die Iswoſchtſchiks beſchaͤf - tigt, die im Winter auf den Gaſſen halten. Sie werfen einen großen ausgeſtopften Ball mit den Fuͤßen in bogenfoͤrmiger Richtung in die Luft. Der Sieger erhaͤlt gewoͤhnlich einen Preis an Nuͤſſen oder Gelde. Auch das Schach - und Damenſpiel iſt uͤberaus ge - braͤuchlich unter dem ruſſiſchen Volk. Auf den großen Plaͤtzen, unter den Arkaden von Go - ſtinnoi Dwor, ſieht man taͤglich Leute aus den niedrigſten Staͤnden mit dieſen Spielen be - ſchaͤftigt und nicht ſelten giebt es große Mei - ſter unter ihnen. Seltner iſt das Ring - werfen, welches in der Kunſt beſteht, einen ſchweren ſpitzigen eiſernen Nagel, den man an

[figure]

277 der Spitze faßt, durch einen Umſchwung ſo zu werfen, daß er innerhalb eines kleinen Rin - ges ſtecken bleibt.

Ich uͤbergehe die uͤbrigen Gattungen der minder gebraͤuchlichen Spiele, um meinen Le - ſern noch eine kurze Schilderung der großen oͤffentlichen Volksbeluſtigungen zu geben, die man hier zuweilen in ihrer glaͤnzendſten Son - derbarkeit zu ſehen bekommt. Zu den allge - meinſten und beliebteſten derſelben gehoͤrt das Schaukeln, welches uͤberall und zu jeder Zeit eine Ergoͤtzung aller Staͤnde iſt, um Oſtern aber Gelegenheit zu einem großen Volksfeſt giebt. Um ſich einen Begriff von dieſer Be - luſtigung zu machen, muß man mit der Me - chanik der hieſigen Schaukeln bekannt ſeyn. Es giebt drey Arten derſelben; einige haben eine ſchwingende Bewegung, und dies ſind die allgemeinſten, auch in Deutſchland bekannten; andere werden in ſenkrechter und noch andere in waſſergleicher Richtung umgerrieben. Die erſtern dieſer beyden Gattungen beſtehen aus zwey hohen Saͤulen, auf welchen eine Achſe ruht, an der zwey paar Stangen in ihrer Mitte befeſtigt ſind. Jede dieſer Stangen hatS 3278an ihren beyden Enden einen Seſſel, der an einer beweglichen Achſe haͤngt. Die Schaukler drehen die Achſe die auf den beyden Saͤulen ruht, und folglich machen alle acht Seſſel ei - nen ſenkrechten Kreis, wobey ſie bald dicht an den Boden und bald hoch in die Luft getrie - ben werden. Die letzte Gattung von Schau - keln beſteht aus Seſſeln, Wagen, Schlitten, u. ſ. w. die an langen Stangen befeſtigt ſind und von dem Mittelpunkt aus in waſſergleicher Richtung im Kreiſe fortbewegt werden. Alle dieſe Arten von Schaukeln werden um Oſtern auf den oͤffentlichen Plaͤtzen der Reſidenz er - richtet, und da das Volk dieſe Beluſtigung ſehr liebt, ſo iſt dies eine der froͤhlichſten Zeiten des Poͤbels, der ſich alsdann ſeinem National - hange zur Luſtigkeit ganz uͤberlaͤßt. Auch die feinern Klaſſen verſammeln ſich hier als Zu - ſchauer, wodurch ein zweytes ſehr intereſſantes Schauſpiel gebildet wird. Der zahlreiche Zu - ſammenfluß von Leuten aus allen Staͤnden, die ſich und ihre geſchmackvollen und glaͤnzen - den Equipagen im Kreiſe zur Schau fuͤhren, die gutmuͤthige Froͤhlichkeit des Volks, das außerordentliche Intereſſe, mit welchem es dieſe279 Beluſtigung genießt, das Auffallende und Son - derbare der Spiele ſelbſt, geben dieſem Volks - feſt einen ſo eigenthuͤmlichen Karakter, daß der Beobachter, der ſich die Muͤhe nehmen will, die Nation auch auf dieſem Tummelplatz ih - res Vergnuͤgens zu ſtudiren, ſehr kraͤftige Pinſelſtriche zu ihrer Schilderung auffinden kann. Er wird die allgemeine Froͤhlichkeit nicht verkennen, mit welcher Alte und Junge, Kin - der und Greiſe beſeelt ſind, und die hier nicht auf einen voruͤbergehenden Augenblick erweckt, ſondern durch eine angenehme Veranlaſſung gehoben und in ihr gefaͤlligſtes Licht geſtellt iſt. Er wird den Geiſt der Hoͤflichkeit und Galan - terie bemerken, der ſich in tauſend kleinen Zuͤ - gen, als eine nicht gleichguͤltige Schattirung im Nationalkarakter, malt. Hier gruͤßen ſich ein paar mit Lumpen behangene Bettler auf die ehrerbietigſte und anſtaͤndigſte Weiſe; eine lange Reihe von Fragen uͤber das wechſelſei - tige Wohlſeyn eroͤfnet ihren Dialog, der ſich ebenfalls mit einer hoͤflichen Umarmung ſchließt. Dort bietet ein junger Kerl ſeiner von Schminke und Branntwein gluͤhenden Dirne die Hand, um ſie in den Seſſel zu geleiten,S 4280mit welchem beyde bald in die Luͤfte gehoben werden. Auch in jenen hoͤhern Regionen ver - laͤßt ihn ſeine Zaͤrtlichkeit nicht. Bey jeder aͤngſtlichen Bewegung ſeiner Dame ſchlingt er einen Arm um ſie, um mit dem andern ſeine Behaglichkeit durch eine ſehr ausdrucksvolle Pantomime zu ſchildern. Nur einen Schritt weiter, und das Auge ruht auf neuen veraͤnderten Scenen. Eben die Leute, welche ſich vorhin ſo freundſchaftlich gruͤßten, ſind in einem Wortwechſel begriffen, der den ganzen ungeheuren Reichthum ruſſiſcher Schimpfworte erſchoͤpft. Alles was die Menſchheit Ernie - drigendes und Empoͤrendes hat, findet in die - ſer Kraftſprache ſeine Bezeichnung; dennoch verlaͤßt die Streitenden ihre Kaltbluͤtigkeit nicht. Mit den wuͤthendſten Geberden, mit der groͤßten Anſtrengung ihrer Kehlen, mit dem freygebigſten Aufwande von Schmaͤhun - gen naͤhern ſie ſich aber ohne jemals ins Handgemenge zu kommen. Die Polizey, die wol weiß, daß es bey dieſem Laͤrm kein Leben gilt, kuͤhlt die erhitzten Partheyen durch einen Regenguß ab, der ſo gute Dienſte leiſtet, daß zu dieſem Behuf bey allen Volksverſammlun -281 gen einige Spruͤtzen in Bereitſchaft gehalten werden. Nun iſt aller Streit geendigt; die gefluͤchteten Partheyen eilen Arm in Arm in die naͤchſte Schenke, um ihre erneuerte Freund - ſchaft mit einem Glaſe Branntwein zu be - ſiegeln.

In der Nachbarſchaft der Schaukeln ſind gewoͤhnlich Bretterhuͤtten aufgeſchlagen, in de - nen Volkskomedien gegeben werden. Jede Vorſtellung dauert etwa eine halbe Stunde und der Einlaß wird mit fuͤnf Kopeken be - zahlt. Da der Zulauf des Volks außerordent - lich groß iſt, und den ganzen Tag hindurch ge - ſpielt wird, ſo iſt der Gewinn der Unterneh - mer und Schauſpieler, den ſie unter ſich thei - len, immer betraͤchtlich genug. Dieſe letztern ſind, wie man leicht vermuthen wird, keine Kuͤnſtler vom Metier, ſondern bloße Dilettan - ten aus den unterſten Volksklaſſen, denen aber dennoch, unter der Maske des Duraks*)Durak, eigentlich: Narr; auch Hartekin, Hauns - wurſt. mancher kraͤftige und naive Einfall entwiſcht.

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Ein zweytes oͤffentliches Volksfeſt ſind die Eisberge, welche in der Butterwoche, der ruſſiſchen Karnavalszeit, gewoͤhnlich auf der Newa errichtet werden. Jeder Eisberg be - ſteht aus einem ungefaͤhr ſechs Klafter hohen Balkengeruͤſte, welches an der einen Seite Treppen zum Hinaufſteigen, und an der ge - genuͤberſtehenden eine ſteile abhaͤngige Flaͤche hat, die mit geſaͤgten und genau verbundenen Eisquadern belegt iſt. Mannsperſonen ſowol als Frauenzimmer (letztere jedoch nur aus den untern Klaſſen) fahren mit kleinen, niedrigen Schlitten von dieſem Brettergeruͤſt auf ein von Schnee gereinigtes Eisfeld herunter. Die Gefahr welche mit dieſem Vergnuͤgen verknuͤpft iſt und die uͤbrigen Umſtaͤnde die es begleiten, ſchlieſſen freylich das beſſere Publikum von der Theilnahme an demſelben aus; aber der bloße Genuß des Anblicks einer ſolchen Menge froͤh - licher Menſchen, das Nationalintereſſe welches mit dem ganzen Schauſpiel verknuͤpft iſt, die Geſchicklichkeit vieler jungen Leute, welche oft ſtehend, auf Schlittſchuhen, die gefaͤhrliche Fahrt wagen, ziehen immer eine große Anzahl Zuſchauer herbey. Die Newa iſt an dieſen283 Tagen mit Wagen, Schlitten und Fußgaͤn - gern bedeckt, es werden Haͤuſer und Buden auf derſelben errichtet, die zu Volkstheatern und Schenken dienen. Alle dieſe Menſchen, Pferde, Wagen, Schlitten und Geruͤſte ſtehen auf der Winterdecke eines großen Fluſſes, und an einer Stelle, wo, wenige Wochen nachher, Schiffe die Wellen durchſchneiden. Indeſſen wenn ein gelinder Winter einfaͤllt und zu be - fuͤrchten iſt, daß das Eis nicht Staͤrke genug gewonnen haben moͤchte, wird der Schauplatz dieſer Volksluſtbarkeit an das Ufer der Newa verlegt.

Die oͤffentlichen Vergnuͤgungen des hoͤhern Publikums in St. Peters - burg geben keinen ſo reichhaltigen Stoff zur Schilderung, als man nach dem allgemein herrſchenden Hange zum Genuß und dem Wohlſtande der Einwohner vorausſetzen ſollte. Die Anſtalten fuͤr die oͤffentliche Beluſtigung ſind hier weder ſo zahlreich noch ſo glaͤnzend, als ich ſie zum oͤftern in Staͤdten von weit geringeren Anſpruͤchen gefunden habe. Die Urſache dieſer ſonderbaren Erſcheinung liegt weder in der Unbereitwilligkeit des Publikums,284 noch in dem Mangel an Unternehmern: ſon - dern in dem herrſchenden Ton, der ſich gegen eine oͤffentliche und uneingeſchraͤnkte Theilnah - me ſtraͤubt. In allen großen Staͤdten die ich kenne, iſt dies ſo ſehr der entgegengeſetzte Fall, daß ſie gerade hierinn ſich auf eine karakteri - ſtiſche Weiſe von kleinern Oertern unterſchie - den. In Paris, London, Berlin und Wien liebt man vorzuͤglich ſolche Beluſtigungen an denen Jedermann, ohne Einſchraͤnkung, Theil nehmen kann. Faſt alle Arten von Ergoͤtzun - gen ſind oͤffentlich, das heißt, ſtehen unter ge - wiſſen Bedingungen Jedermann frey. Der Genuß derſelben iſt mit verhaͤltnißmaͤßig ſehr geringen Koſten verknuͤpft, und wird eben durch die Theilnahme einer großen Menge Menſchen um vieles erhoͤht. Das weibliche Geſchlecht iſt bey allen Vergnuͤgungen unent - behrlich, und mildert durch ſeine Gegenwart den allzuſtrengen oder rauhen Ton, in der auch die beſtgewaͤhlteſte Geſellſchaft von Maͤnnern leicht verfaͤllt. In St. Petersburg trifft faſt von allem dieſem das[Gegentheil] zu. Die ſo - genannte gute Geſellſchaft zieht ſich in Fami - lienkreiſe, Cercles, Klubbs, u. ſ. w. zuſammen,285 zu welchen ein Fremder, ohne Adreſſen, ſchwer - lich zudringen kann, und deren Ton, durch den Mangel einer hinlaͤnglichen Miſchung der Ka - raktere und Staͤnde, ein etwas einfoͤrmiges Gepraͤge erhaͤlt. Man findet es unanſtaͤndig oͤffentliche Haͤuſer zu beſuchen; Leute von einem gewiſſen Anſehn, Familienvaͤter, Staatsbe - diente, reiche Kaufleute gehen nie in ein Kaffee - haus. Frauenzimmer vollends duͤrfen oͤffent - liche Oerter nur unter ſehr großen Einſchraͤn - kungen beſuchen; aus den meiſten derſelben ſind ſie durch die Geſetze und Einrichtungen foͤrmlich verbannt. Daher kommt es, daß Haͤuſer die dem oͤffentlichen Vergnuͤgen ge - widmet ſind, hier nicht gedeihen, ſelbſt wenn ſie mit Aufwand und Geſchmack, oder unter dem Schutz eines Großen angelegt werden.

Um ſich fuͤr den Mangel derſelben ſchadlos zu halten, haben die Petersburger eine Menge Klubbs errichtet, die nach der Zahl und dem Rang ihrer Mitglieder in groͤßerm oder ge - ringerem Anſehen ſtehen. Auch dies ſind nicht nur geſchloſſene ſondern ſogar ausgeſuchte Zir - kel, in denen jedes Mitglied Leute ſeines Stan des, ſeiner Denkungsart und ſeiner Bekannt -286 ſchaft vorfindet; oder Tiſchgeſellſchaften, wo man fuͤr ein maͤßiges Geld ziemlich gut ge - ſpeißt und getraͤnkt wird. Die Unterhaltung ſchraͤnkt ſich gemeiniglich auf den Kartentiſch und das Billiard ein. Dieſe großen Anſtal - ten, trotz der Koſten die ihre Unterhaltung verurſacht, frommen dem feinern Theil des Publikums wenig. Der Mann von Geſchmack entbehrt ihrer gerne; der groͤßere Haufe frey - lich laͤuft ihnen nach: aber vermag dieſer den Ton einer Geſellſchaft zu ſtimmen? Eine vortheilhafte Ausnahme von dieſer Beſchrei - bung macht der muſikaliſche Klubb, der zwar nach ſeiner ehemaligen Einrichtung auf - gehoͤrt hat, aber in dieſem Jahr unter noch guͤnſtigern Vorbedeutungen eine neue und glaͤnzendere Exiſtenz erhielt. Schon ſeine Be - nennung kuͤndigt einen zuſammengeſetztern, veredeltern Endzweck an. Eine große Anzahl Mitglieder aus den feinern und gebildeten Klaſſen (in den letztern Zeiten des alten Klubbs waren ihrer gegen achthundert) ver - ſammelt ſich hier im Herbſt, Winter und Fruͤhling einmal in der Woche, um einem der geſchmackvollſten Konzerte beyzuwohnen. Kuͤnſt -287 ler vom erſten Range treten hier auf, und werden mit anſtaͤndiger Freygebigkeit belohnt. Die Saͤngerinn Pozzi, der große Violin - ſpieler Giornovichi, und mehrere beruͤhm - te einheimiſche und fremde Virtuoſen waren eine Zeitlang die Zierde dieſer glaͤnzenden mu - ſikaliſchen Unterhaltung; die beyden genann - ten Kuͤnſtler erhielten fuͤr jeden Abend, an wel - chem ſie das Publikum durch ihre Talente entzuͤckten, hundert und mehr Rubel. In eben dieſem Zeitraum giebt der Klubb monat - lich einen Ball oder eine Maskarade, bey wel - chen ſich nur Mitglieder deſſelben einfinden duͤrfen, die aber durch die große Anzahl derſel - ben, durch den ungezwungenen Ton und die anſtaͤndige Freyheit die in dieſen Verſammlun - gen herrſcht, und durch den geſchmackvollen Aufwand der hier uͤberall ſichtbar iſt, zu den angenehmſten Winterluſtbarkeiten der Reſidenz gezaͤhlt werden koͤnnen. Außer dieſen Jahrs - zeiten und den zu Konzerten und Baͤllen be - ſtimmten Tagen wird der Klubb weniger be - ſucht, ob er gleich eben die Unterhaltungen darbietet, die man in den uͤbrigen Klubbs fin - det. Man kann hier die beſten Zeitungen in288 ruſſiſcher, franzoͤſiſcher, deutſcher und engliſcher Sprache leſen; Kartenſpiel und Billiard, die gewoͤhnlichſten Quellen des Zeitvertreibs, ſind ebenfalls uͤblich; und auch fuͤr den Tiſch ſind ſolche Einrichtungen getroffen, daß Mitglieder fuͤr einen billigen Preis ſehr gut zu Mittage und Abend ſpeiſen koͤnnen. Die Einnahmen des alten muſikaliſchen Klubbs waren ſehr be - traͤchtlich; das Eintrittsgeld von 30 Rubeln machte eine Summe von 24,000 R. und der jaͤhrliche Beytrag, der ſich auf 25 R. belief, ungefaͤhr 20,000 R. Ungeachtet dieſer großen Huͤlfsquellen kam die Geſellſchaft in ihren Ausgaben zu kurz, welches auch die Urſache ihrer Aufloͤſung wurde. Der Beytrag des neu - errichteten Klubbs iſt auf 50 R. feſtgeſetzt; die Zeit wird lehren, ob dieſer etwas hohe Preis ihn fuͤr das Schickſal ſeines Vorgaͤngers ſchuͤz - zen[kann].

Der engliſche Klubb zeichnet ſich durch die gute Auswahl ſeiner Mitglieder aus, und behauptet, in Ruͤckſicht ſeines Zwecks, den naͤchſten Platz nach dem muſikaliſchen. So ſehr auch hier das Spiel die Hauptquelle aller Unterhaltung iſt, ſo ſchließt es doch eine ernſt -hafte289hafte und vernuͤnftige Konverſation nicht ſo gaͤnzlich aus, wie dies bey andern Klubbs der Fall iſt. Seinen Namen fuͤhrt er mit Un - recht, denn er iſt weder bloß von Englaͤndern geſtiftet, noch bloß von ihnen beſucht. Es be - finden ſich Leute von den mehreſten hier ange - ſeſſenen Nationen in dieſer Geſellſchaft, deren Anzahl uͤbrigens nur auf dreyhundert beſchraͤnkt iſt, welche 40 R. Eintrittsgeld und einen jaͤhr - lichen Beytrag von 20 R. zahlen. Es werden hier die beſten Zeitungen und einige Journale gehalten; auch iſt der Anfang zu einer kleinen aber gewaͤhlten Buͤcherſammlung gemacht.

Der unlaͤngſt errichtete Klubb fuͤr den Adel kommt im Weſentlichen mit den ebenge - nannten uͤberein. Man wuͤrde ſich aber ſehr irren, wenn man glaubte, daß dieſe Geſellſchaft allen Buͤrgerlichen den Zutritt verſagte. Das Kaſtenſyſtem, welches in Deutſchland und an - dern Laͤndern die Menſchen nach ihrem Ge - burtsrang ſondert, iſt in Rußland und vor - zuͤglich in der Reſidenz voͤllig unbekannt. Jeder rechtliche Mann, der entweder den Dienſtadel beſitzt, oder ſich zu den nahmhaften Buͤrgern rechnen kann, hat Anſpruͤche an die Aufnahme. Zweiter Theil. T290Kartenſpiel, Billiard, Tanz und Unterhaltung ſind auch hier die Zwecke des Inſtituts.

Eine der merkwuͤrdigſten Anſtalten dieſer Gattung iſt der Buͤrgerklubb, weil ſich in demſelben eine große Anzahl unſerer rechtlichen und wohlhabenden Buͤrger verſammelt, und weil er durch ſeinen Einfluß auf die Denkungs - art, die Sitten und den Beutel dieſer Klaſſe von Menſchen ſehr wichtig wird. Der groͤßere Theil der Mitglieder, deren ungefaͤhr ſechs - hundert ſind, beſteht aus Handwerkern und Kuͤnſtlern, vorzuͤglich deutſchen. Es iſt nicht zu viel geſagt, wenn man behauptet, daß dieſer Klubb dem Ton und der Lebensart des hieſi - gen geringern Mittelſtandes eine eigenthuͤm - liche, entſcheidende Richtung gegeben hat. Das jedem Menſchen ſo natuͤrliche Beduͤrfniß der Erholung und Zerſtreuung nach der Arbeit iſt durch die anziehenden Vergnuͤgungen dieſes Inſtituts bey den Mehreſten ſo erhoͤht worden, daß ſie ſich eher dem weſentlichſten Mangel unterwerfen, als auf den Genuß derſelben Verzicht thun wuͤrden. So ſehr jedem ar - beitſamen Manne ſeine Erholungsſtunde zu goͤnnen iſt, ſo ſchaͤdlich iſt es doch fuͤr das Beſte291 des Ganzen, wenn gerade die nuͤtzlichſte und unentbehrlichſte Klaſſe von Menſchen einen gro - ßen Theil des Tages in geſchaͤftloſer Zerſtreu - ung verlebt. Der Luxus, der ſich uͤberall ein - ſchleicht, hat auch hier durch die unvermeidliche Nacheiferung ſo vieler, zum Theil wohlhaben - den, Menſchen Wurzel gefaßt und iſt zu einer ſolchen Hoͤhe gediehen, daß fremde unbefan - gene Beobachter die Wirkungen deſſelben nicht ohne Erſtaunen bemerken. Es iſt nichts ſeltnes hier den Rober Whiſt zu zehn Rubel ſpielen, oder einen Handwerker zu ſeiner Abendmahl - zeit eine Flaſche Rheinwein trinken zu ſehn. Der Aufwand, mit welchem die Frauen und Toͤchter dieſer Leute an Balltagen erſcheinen, iſt ſo außer allem Verhaͤltniß, daß gewiß kein Fremder errathen wuͤrde, in welcher Geſell - ſchaft er ſich befaͤnde. Doch unter allen Fol - gen welche die Manie der Klubbs unter dieſer Klaſſe hervorbringt, iſt keine unſchaͤdlicher und laͤcherlicher, als der ſeltſame Stolz, der hier durch die Vermiſchung mit hoͤhern Staͤnden, durch die prachtvolle und ſchoͤne Einrichtung des Ganzen, durch die aufmerkſame und puͤnktliche Bedienung, und durch den AufwandT 2292zu welchem man ſich unvermerkt hingezogen fuͤhlt, erzeugt und genaͤhrt wird. Nichts iſt natuͤrlicher, als daß der Meiſter Schuhmacher, der hier in Geſellſchaft von Staatsbedienten, Offizieren, Gelehrten und Kaufleuten Karten ſpielt und Tobak raucht, und von wohlgekleide - ten Livreebedienten ehrerbietig bedient wird daß er ſich nun erniedrigt fuͤhlt, wenn er zu ſeinem Klubbgenoſſen, dem Hofrath, gerufen wird, um das Maaß zu Schuhen zu nehmen. Daher die Inſolenz dieſer Art Leute, die ſo weit geht, daß man ſie nur mit der groͤßten Hoͤflichkeit und Nachgiebigkeit gegen ihre Laune bewegen kann, fuͤr gute Bezahlung ihre Ar - beit zu liefern. So gegruͤndet dieſe Vor - wuͤrfe aber ſind, ſo wenig koͤnnen ſie doch, wie ſich leicht von ſelbſt verſteht, von Allen gelten. Der Klubb an ſich iſt ein Inſtilut, welches ſogar ſeinen Nutzen haben kann, und nur durch Mißbrauch entſtehen jene Folgen. Er erhaͤlt, zum Beyſpiel, den Gemeinſinn des Buͤrgers, verfeinert ſeine Sitten, bildet ſeinen Geſchmack, und macht ihn wol gar, wenn das Gluͤck wohl will, zum politiſchen Seher.

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Eine zweyte faſt aus eben den Klaſſen zu - ſammengeſetzte Geſellſchaft, die ſich durch eine Spaltung vom Buͤrgerklubb bildete und daher gewoͤhnlich der amerikaniſche Klubb ge - nannt wird, beruht auf eben den Einrichtun - gen, und hat den naͤmlichen Zweck und die naͤmliche Wirkung.

Fuͤr den Tanz beſtehen ebenfalls zwey Klubbs. In beyden verſammeln ſich die Mitglieder Sonntags und Montags zum Tan - zen, wobey zugleich ſoupirt werden kann. Der aͤltere Tanzklubb iſt ſehr gemiſcht; der juͤngere hingegen beſteht bloß aus Handwerkern, die das vernuͤnftige Geſetz eingefuͤhrt haben, daß das Frauenzimmer in ſeiner Hauskleidung er - ſcheinen darf.

Auch die Liebhaberey fuͤr Schauſpielkunſt hat aͤhnliche Aſſociationen erzeugt. Seit eini - gen Jahren beſteht ein deutſches Liebha - bertheater, welches das hieſige Publikum fuͤr den Verluſt der deutſchen Schaubuͤhne ſchadlos zu halten ſucht. Alle Koſten werden von den Mitgliedern beſtritten und die Ein - laßbillette unentgeldlich vertheilt. So vielen Dank dieſe Unternehmung auch von Seiten desT 3294Publikums verdient, ſo iſt dennoch nicht zu leugnen, daß die ganze Anſtalt nur in der Sphaͤre der Mittelmaͤßigkeit vegetirt, aus wel - cher ſie vielleicht durch einen hoͤhern Grad von oͤffentlicher Theilnehmung und Gefuͤhl fuͤr deutſche Art und Kunſt geriſſen werden koͤnn - te. Ein zweytes Liebhabertheater wird jetzt, wie es ſcheint, unter gluͤcklichern Auſpicien gegruͤndet.

Dieſe kurze Muſterung der petersburgi - ſchen Klubbs iſt zugleich ſehr karakteriſtiſch fuͤr den Geſchmack und die Kultur des Publi - kums. Unter neun hier beſtehenden Geſell - ſchaften dieſer Art, keine einzige die einen ge - meinnuͤtzigen litterariſchen oder artiſtiſchen Zweck, oder bloße Unterhaltung zur Abſicht haͤtte. In allen, die beyden Liebhabertheater ausgenommen, iſt das Kartenſpiel die Haupt - ſache, wenigſtens fuͤr den bey weitem groͤßern Theil der Mitglieder. Alle Verſuche, die man mit der Errichtung literariſcher oder Konver - ſationsklubbs gemacht hat, ſind durch den Mangel an Theilnahme des Publikums ge - ſcheitert. Vor etwa zehn Jahren gelang es einem gelehrten und einem Militair -295 klubb ſich eine Art von Exiſtenz zu verſchaf - fen; aber das Intereſſe ihres Zwecks war zu ſchwach, um ihnen eine lange Dauer zu ſichern. Sie giengen beyde ein, und ſeit der Zeit iſt kein zweyter Verſuch gemacht worden, dieſe Idee zu erneuern, obgleich die ſichtbar zuneh - mende Verfeinerung des Geſchmacks einer aͤhn - lichen Unternehmung jetzt einen beſſern Fort - gang zu verſprechen ſcheint.

Es giebt vielleicht kein ſicherers Kennzei - chen, den Ton und den Geiſt eines Publikums zu beurtheilen, als die Einrichtung und Ab - ſicht ſolcher freyen Aſſociationen. Je groͤßer das Beduͤrfniß der Konverſation, oder das Be - duͤrfniß, Ideen auszutauſchen und mitzutheilen iſt, um deſto ſicherer kann man auf Kultur und Ausbildung ſchließen. Dieſe Bemerkung wird durch die Erfahrung bey allen geiſtrei - chen und verfeinerten Nationen beſtaͤtigt. In England, wo man weder gegen die Unterhal - tung des Kartenſpiels noch gegen Tafelgenuß gleichguͤltig iſt, haben ſich dennoch debating ſocietys gebildet, in denen weder geſpielt noch gegeſſen wird, und wo bloß eine lebhafte und noch dazu gewiſſen Regeln unterworfene Un -T 4296terhaltung viele Hunderte von Menſchen zu - ſammenbringt, unter denen ſich ſogar Frauen - zimmer befinden. In dem ehemaligen Paris exiſtirte kein oͤffentlicher Vergnuͤgungsort, in welchem nicht Lektuͤre und Konverſation die erſte und allgemeinſte Unterhaltung hergegeben haͤtten. Sogar der Circus im Palais Royal, der Mittelpunkt alles Genuſſes in dieſer wol - luͤſtigen Hauptſtadt, konnte ſeinen Zweck nicht erfuͤllen, ohne den Pariſern die Befriedigung geiſtiger Beduͤrfniſſe anzubieten. Mitten unter dem berauſchenden Gewuͤhl der raffinirteſten ſinnlichen Freuden hatte die Weisheit eine hoͤr - bare Stimme und aufmerkſame Zuhoͤrer; ſtatt von jenen verdraͤngt zu werden, erhielt ſie hier den Platz der oberſten Gottheit.

In allen großen Staͤdten ſind oͤffentliche Promenaden vorhanden, die als allgemeine Vergnuͤgungsoͤrter betrachtet werden koͤnnen. Auch St. Petersburg hat deren mehrere, zum Theil ſehr anziehende; aber ſie werden, in Vergleichung mit den Spazierplaͤtzen anderer großen Staͤdte, nur ſehr wenig beſucht. Der kurze Sommer, die kothigen oder ſtaubigen Gaſſen, die Weitlaͤuftigkeit der Reſidenz machen297 die Equipage zum Genuß dieſes Vergnuͤgens beynah unentbehrlich; und der wohlhabende Theil der Einwohner bringt die angenehmere Jahrszeit gewoͤhnlich auf ſeinen Landhaͤuſern zu. Der vorzuͤglichſte Spazierplatz innerhalb der Stadt iſt der kaiſerliche Sommergar - ten, deſſen Lokale meine Leſer aus dem erſten Abſchnitte kennen. Seine Groͤße iſt zwar nur mittelmaͤßig*)Er iſt etwa 250 Klafter lang und 100 breit., auch wendet man wenig Sorgfalt auf ſeine Unterhaltung; aber den - noch verdiente er, wenn die eben angefuͤhrten Urſachen dies nicht hinderten, eine dankbarere Benutzung. Bey aller Einfoͤrmigkeit des hol - laͤndiſchen Geſchmacks, in welchem er angelegt iſt, fehlt es nicht an intereſſanten Parthieen. Seine ſchoͤnen, durch alte ehrwuͤrdige Linden beſchatteten Alleen, gewaͤhren einen angeneh - men Zufluchtsort gegen die druͤckende Hitze unſerer langen Sommertage, und die herrliche Ausſicht nach der Newa einen Anblick, den man vielleicht in den praͤchtigſten StaͤdtenT 5298Europens vergebens ſucht. Auch das Auge des Kenners iſt nicht ohne Befriedigung. Einige der vorzuͤglichſten Gaͤnge ſind mit Marmor - und Alabaſterſtatuͤen beſetzt, die unter den vorigen Regierungen aus Italien hierher ge - bracht wurden. Die ſchoͤnſten Kunſtſachen aber enthaͤlt eine Grotte, die ihre ehemalige Pracht nur noch durch Ruinen verkuͤndigt. Hier fin - det man zwey Statuͤen von Conradini: Religion und Glaube, denen die Kenner einen ehrenvollen Platz unter den Merkwuͤrdigkeiten der Reſidenz zugeſtehen. Es ſind weibliche ver - ſchleyerte Figuren, deren edle idealiſche Bil - dung durch die Steinhuͤlle durchſchimmert, und den Zuſchauer in ein deſto zauberiſchers Er - ſtaunen verſetzt, weil ſeine Einbildungskraft die Formen, die in der Darſtellung gleichſam nur angekuͤndigt werden, nach einem in der Wirk - lichkeit nicht erreichbaren Maßſtabe, vollendet. Dieſe vortrefflichen Kunſtwerke und mehrere kleine aber ausgeſuchte Produkte des italieni - ſchen Meißels ſcheinen hier, mit der Grotte die ſie einſchließt, der Vergeſſenheit und dem dank - baren Entzuͤcken einzelner Kenner, ſo wie den Beleidigungen der Witterung und des unge -299 ſchlachten Poͤbels uͤberlaſſen zu ſeyn. Nicht nur der Beſchuͤtzer dieſes Gartens, ſelbſt die Natur hat demſelben ihre muͤtterliche Hand entzogen. Noch izt ſieht man die Spuren ei - ner großen Ueberſchwemmung, durch welche er den groͤßten Theil ſeiner natuͤrlichen Reize verloren haben ſoll.

Trotz dieſes widrigen Verhaͤngniſſes ver - dient der Sommergarten dennoch beſucht zu werden, wenn er auch nicht der einzige oͤffent - liche und fuͤr das Publikum beſtimmte Spa - zierplatz waͤre. Er iſt es wirklich an ſchoͤnen Sommertagen von einzelnen Menſchen, die ihre Neigung oder ihr Beruf in der Stadt zu le - ben herbeyfuͤhrt. Aber auch ſeine glaͤnzenden Tage hat der Sommergarten. Am erſten und zweyten Pfingſttage verſammelt ſich das ganze tongebende und geſchmackvolle Publikum in demſelben. Wie viel oder wie wenig die liebe Natur von dieſer Ehre auf ihre Rechnung ſchreiben duͤrfte, mag ich nicht unterſuchen; aber wahr iſt es, daß unſere Damen aus der großen Welt ihre ſchoͤnen Landſitze verlaſſen, um ſich an dieſen Tagen unter dem Gedraͤnge der geputzten Staͤdter herumzuſtoßen, und daß300 man, außer der großen Allee, wo alles ſieht und geſehen wird, nur auf einzelne unmodiſche Spaziergaͤnger trifft.

Nicht ſo laͤndlich als der Sommergarten, aber reicher an den ſchoͤnſten und mannigfal - tigſten Ausſichten iſt die Promenade auf dem Kay des linken Newaufers, deſſen prachtvolle und in ihrer Art einzige Konſtruk - tion noch aus der Beſchreibung des erſten Ab - ſchnitts erinnerlich ſeyn wird. Ich verweiſe meine Leſer dahin, um unnoͤthige Wiederholun - gen zu vermeiden, und ergaͤnze hier nur, was zur vollſtaͤndigen. Karakteriſtik dieſer intereſſan - ten Parthie gehoͤrt. Da die Granitein - faſſung des linken Newaufers durch die Schiffs - werſte der Admiralitaͤt unterbrochen wird, ſo bildet ſie eigentlich zwey abgeſonderte Prome - naden, von welchen einer der Kay des Galee - renhofes und der andere der Kay der Million genannt wird. Beyde ſind ſich in ihrer Ein - richtung gleich, aber durch die Mannigfaltigkeit der Standpunkte, die ſie gewaͤhren, von ſehr verſchiednem Intereſſe. Von dem Kay des Galeerenhoſes hat man die Ausſicht auf eine lange Reihe ſchoͤner und praͤchtiger Gebaͤude,301 die das Ufer von Waſſili Oſtrow bekraͤnzen. Der Anblick der Newa, die dieſe Inſel von unſerm Standpunkt trennt, iſt keiner der ge - ringſten Vorzuͤge derſelben. Die hin und wie - der ſchwimmenden, oder mit vollen Segeln herbeyeilenden Schiffe, das Gewuͤhl der See - leute und Schaluppenfahrer, erregen einen an - genehmen Kontraſt mit der ſtaͤdtiſchen Lebhaf - tigkeit die am Ufer herrſcht. Ueberall wo das Auge hintrifft, ſtoͤßt es auf ſeltne Denkmaͤler der menſchlichen Kunſt und des menſchlichen Fleißes. Eine ſchoͤnere Gaſſe, als die Haͤuſer - reihen zu beyden Seiten der Newa hier bil - den, giebt es vielleicht nirgend. Aber ſchoͤner noch iſt der Standpunkt am Ende des Kays, wo er durch die Admiralitaͤt unterbrochen wird. Hier umfaßt der Blick mit einemmal das Ufer von Waſſili Oſtrow, die Schiffbruͤcke, den Petersplatz, die Admiralitaͤt: eine Gruppe, die durch ſo viele außerordentliche Monumente der Kunſt und durch das große Gewuͤhl des Luxus und der Betriebſamkeit ausgefuͤllt wird. Doch ich fuͤhle, wie unzulaͤnglich jede Beſchrei - bung werden muß, die ſich an Gegenſtaͤnde dieſer Art wagt, da ſelbſt die ſchoͤnen Abbil -302 dungen, die wir geſchickten Malern von dieſem Standpunkt verdanken, nur den Zweck eines leichten Umriſſes erfuͤllen, zu welchem die Ein - bildungskraft, durch die Erinnerung des Geſe - henen, die kraͤftigſten Pinſelſtriche hinzufuͤgen muß.

Nicht minder ſchoͤn und vielleicht noch mannigfaltiger iſt die Promenade auf dem Kay der Million. Daß wir hier laͤngs dem kaiſerlichen Schloß, der Eremitage, dem Mar - morpallaſt und einer unabſehbaren Reihe praͤch - tiger und eleganter Gebaͤude fortgehen, will ich nur bemerken, um meine Leſer ſogleich mit den abwechſelnden Ausſichten der gegenuͤberſte - henden Ufer bekannt zu machen. Dadurch, daß dieſe ſich in Inſeln theilen und weil die Newa hier die groͤßte Breite hat, erhaͤlt man durchgehends einen viel freyern und ausge - dehntern Geſichtskreis, als auf dem Kay des Galeerenhofes. Wenn man ſeinen Stand - punkt am Schloſſe waͤhlt, hat man die oͤſtliche Spitze von Waſſili Oſtrow, und auf derſelben die Gebaͤude der Akademie der Wiſſenſchaften und die neue Boͤrſe, im Geſicht. In dieſer Gegend liegen, den Sommer hindurch, beſtaͤn -303 dig eine Menge Schiffe vor Anker. Dem Marmorpallaſt gegenuͤber ſteht die Feſtung, deren Granitwaͤlle unmittelbar von den Wel - len beſpuͤlt werden, und die mit dem vergol - deten Thurm ihrer Kirche einen der ſchoͤnſten Geſichtspunkte giebt. Weiter hinauf wird die Ausſicht laͤndlich; dem Stuͤckhofe gegenuͤber liegt ein großes Dorfaͤhnliches Quartier. Alle dieſe Gegenſtaͤnde ſind ſo weit von einander entfernt und durch lebendige Zwiſchenraͤume ausgefuͤllt, daß man, waͤhrend dem Gehen, unaufhoͤrlich abwechſelnde Geſichtspunkte hat.

Dieſe ſchoͤnen Spaziergaͤnge, die ſelbſt nach der ſchwachen Schilderung die ich gegeben habe, keine gemeine oder alltaͤgliche Idee er - wecken koͤnnen, werden vorzuͤglich in Som - mernaͤchten intereſſant, wenn das Gewuͤhl der Arbeitſamkeit ſich in das ſanfte Leben genießen - der froͤhlicher Menſchen verliert. Ungequaͤlt von dem erſtickenden Staube und dem unauf - hoͤrlichen Geraſſel, welche ſich des Tages uͤber zu der ſtechenden Sonne geſellen, um die Lun - gen und das Gehoͤr der Fußgaͤnger auf die ſchmerzlichſte Art zu beleidigen, ſucht ſich als - dann der zuruͤckgebliebene Staͤdter fuͤr die ent -304 behrten Freuden des Landlebens zu entſchaͤdi - gen. So ſchoͤn die Gegenſtaͤnde umher im Glanz der Mittagsſonne erſcheinen, ſo lieblich gruppiren ſie ſich bey der Daͤmmerung unſerer Sommernaͤchte in abwechſelnde, halb verwor - rene Geſtalten. Das taktmaͤßige Plaͤtſchern der herumirrenden Schaluppen, der uͤberall er - toͤnende Volksgeſang, die hoͤrbaren Schritte der Spaziergaͤnger, zuweilen auch die majeſtaͤ - tiſchen Toͤne der Jagdmuſik, ſind die einzigen Unterbrechungen der Stille in welche die ganze Natur verſenkt zu ſeyn ſcheint. Außer die - ſer Jahrszeit, die leider eben ſo kurz als ange - nehm iſt, wird der Kay vorzuͤglich an ſchoͤnen Winter - und Fruͤhlingstagen beſucht, wenn der reiche und uͤppige Theil der Einwohner durch - aus in det Reſidenz verſammelt iſt. Zum be - quemern Genuß dieſes Vergnuͤgens reinigt man, den Winter hindurch, die Trottoirs mit der muͤhſamſten Sorgfalt vom Schnee und be - ſtreut ſie mit grobem Sande. Unter der Huͤlle des Winters erhaͤlt freylich die Ausſicht eine ſehr veraͤnderte Geſtalt; aber die eigenthuͤmli - chen Schoͤnheiten abgerechnet, die auch dann nicht ganz verloren gehen, werden die zufaͤlli -gen305gen durch andere, dem Auge des Fremden viel - leicht noch ſonderbarere, erſetzt. Die Eisdecke der Newa iſt in dieſer Jahrszeit mit unzaͤhli - gen ſich durchkreuzenden Fahrwegen und Fuß - ſteigen bezeichnet, von denen die erſtern ge - woͤhnlich zu beyden Seiten mit Tannenbaͤumen abgeſteckt werden. Der kontraſtirende Anblick des blendenden Schneefeldes und dieſer gruͤ - nen Alleen; das beſtaͤndige Gewuͤhl von Schlit - ten und Fuhren, welche ſich auf dieſen ſeltſa - men Heerſtraßen draͤngen, iſt keine ſo unange - nehme Veraͤnderung, daß man ſie ohne Be - denken gegen die rauſchende Thaͤtigkeit der Sommerſcene vertauſchen moͤchte. Intereſſan - ter noch wird dieſe Winterpromenade, wenn die Eisberge und Rennbahnen das Volk belu - ſtigen. Alsdann wimmelt es auf dem Kay von Herren und Damen aus der großen und feinen Welt, und die Blicke des Beobachters irren von einem Schauplatz zum andern, un - gewiß auf welchem die reichſte Ausbeute zum Stoff fuͤr ein philoſophiſches Selbſtgeſpraͤch zu erhalten waͤre.

Einen weit weniger intereſſanten, aber doch durch ſchoͤne Gebaͤude und abwechſelnde Ge -Zweiter Theil. U306genſtaͤnde unterhaltenden Spaziergang bieten die Trottoirs des Fontankakanals an, die in einer Laͤnge von beynahe ſechs Werſten ununterbrochen fortlaufen. Beſonders ange - nehm wird mir dieſe Promenade durch den Anblick der taͤglichen Verſchoͤnerungen und der Wirkungen des außerordentlichen Baugeiſtes, der nirgend ſo ſehr als hier in ſeinem Glanze erſcheint. Jeder neue Beſuch, den ich dieſer Gegend nach einem kurzen Zeitraum abſtatte, gewaͤhrt neue Ueberraſchung und erzwingt groͤßeres Erſtaunen. Pallaͤſte ketten ſich an Pallaͤſte, ganze Felder werden in einigen Som - mermonaten mit Haͤuſern bedeckt, und alle dieſe Entſtehungen verbinden den edelſten Ge - ſchmack in der Baukunſt mit dem hoͤchſten Raffinement fuͤr Bequemlichkeit und Noth - durft. Welche Stadt in unſerm Welttheil darf ſich mit St. Petersburg meſſen, wenn dieſe Gaſſe vollendet ſeyn wird!

Zu den weniger beſuchten Promenaden in - nerhalb der Reſidenz gehoͤrt der kaiſerliche italieniſche Garten auf dem Stuͤckhofe. Beſchraͤnkt in ſeinem Umfange, einfoͤrmig in ſeiner Anlage und vernachlaͤſſigt wie er iſt,307 kann er allerdings keinen Anſpruch auf Merk - wuͤrdigkeit machen, in einer Stadt, wo der außerordentlichen Merkwuͤrdigkeiten ſo viele ſind.

Der Garten des Pantheons oder des tauriſchen Pallaſts in eben dem Stadt - theile iſt um deſto eher eines Beſuchs werth. Seine Groͤße und die liebliche Einfalt ſeines Plans, der ganz im engliſchen Geſchmacke iſt, ſind ſeine Vorzuͤge. Huͤgel und Seen, Ge - buͤſche, kleine Waſſerfaͤlle, machen ihn aͤußerſt romantiſch. Seine weite Entfernung vom Mittelpunkte der Stadt iſt die Urſache, wes - wegen er nicht ſo haͤufig beſucht wird, als er es verdiente.

Unter mehreren Gaͤrten im Bezirke der Stadt, die zu den Pallaͤſten der Großen ge - hoͤren, und daher nicht zu den oͤffentlichen ge - zaͤhlt werden koͤnnen, verdient noch der Gar - ten des Landkadettenkorps eine Er - waͤhnung, weil er, unter der Direktion des Grafen zu Anhalt, Sonntags zur Benuz - zung des Publikums offen ſteht. Seine Merk - wuͤrdigkeit iſt nicht groß, aber er wird, durchU 2308das bunte Gewuͤhl eines zahlreichen und an - ſtaͤndigen Publikums intereſſant.

Endlich kann auch der große Handelshof, Goſtinnoi Dwor, hierher gerechnet wer - den, weil ſeine bedeckten Arkaden einen ange - nehmen Spaziergang anbieten, der durch das beſtaͤndige Gewuͤhl beſchaͤftigter Leute ganz un - terhaltend wird.

Außer dieſen innerhalb der Reſidenz befind - lichen Promenaden, giebt es in den entfern - tern Stadttheilen und auf den Inſeln der Newa ſehr anmuthige und reizende Gaͤrten, die von ihren Beſitzern gewoͤhnlich mit nach - ahmungswuͤrdiger Liberalitaͤt fuͤr das Vergnuͤ - gen des Publikums geoͤfnet werden. Die großfuͤrſtliche Inſel, Kammennoi Oſtrow, hat nicht nur ſehr viele und ſchoͤne Privatgaͤr - ten, ſondern der erlauchte Beſitzer vergoͤnnt Jedermann die Freyheit, ſich hier auf eine anſtaͤndige Weiſe zu vergnuͤgen. Die roman - tiſche Wildniß dieſer Inſel, ihre Lage zwiſchen andern laͤndlichen Vergnuͤgungsoͤrtern, der Fiſchfang und ein wohleingerichteter Gaſthof ziehen an ſchoͤnen Sommertagen ein großes Publikum herbey. Eine andere Inſel,309 Kreſtowski Oſtrow, die dem Grafen Ra - ſumowski gehoͤrt, iſt durchaus mit Wald bedeckt, der hin und wieder zu großen, herr - lichen Alleen ausgehauen iſt. Auch hier iſt es Jedermann erlaubt, die natuͤrlichen Schoͤnhei - ten zu genießen; ein kleines Dorf auf dieſer Inſel iſt den Sommer hindurch faſt bloß von Stadtleuten bewohnt. An Sonn - und Feſt - tagen iſt hier ein großer Zuſammenfluß von Staͤdtern aus den niedern Klaſſen, die ſich auf ihre Weiſe ungeſtoͤrt vergnuͤgen duͤrfen. Auch Jelagins Inſel, die ſchoͤnſte unter allen, ſteht dem Publikum zur Benutzung frey, ſo wie im wiburgiſchen Stadttheil die Gaͤrten der Grafen Stroganow und Besborodks. Die beyden erſteren haben ſeit einigen Jahren ein Vauxhall eroͤfnet, welches ſehr haͤufig von dem hoͤhern und niedern Publikum beſucht wird. Die Geſellſchaft vergnuͤgt ſich mit Spazierengehen und Tanzen, wozu die Eigen - thuͤmer eine gutbeſetzte tuͤrkiſche Muſik unter - halten, mit dem Fiſchfange, mit Schaukeln und Kegeln, und Abends wird zuweilen ein Feuerwerk abgebrannt. Der Herr von Jela - gin nimmt gewoͤhnlich ſelbſt Theil an demU 3310Vergnuͤgen, welches er um ſich her verbreitet, und ſeine Toͤchter fangen zuweilen ſelbſt den Tanz mit irgend einer anweſenden Mannsper - ſon an. Daß der Genuß aller dieſer Ergoͤz - zungen unentgeldlich iſt, brauche ich wol nicht zu erinnern.

Unter den reizendſten Spaziergaͤngen außer - halb der Stadt wuͤrde der peterhofſche Weg unſtreitig den erſten Platz verdienen, wenn ſeine Vorzuͤge nicht durch den erſticken - den Staub, den die unaufhoͤrlich vorbeyrollen - den Equipagen verurſachen, vermindert wuͤr - den. So groß dieſe Unbequemlichkeit iſt, ſo haͤlt ſie doch den vornehmſten und glaͤnzendſten Theil der Einwohner nicht ab, dieſe Gegend zu dem vorzuͤglichſten Sammelplatz ihres Ver - gnuͤgens zu machen. Meine Leſer wiſſen aus der Beſchreibung dieſer praͤchtigen Heerſtraße, daß ſie zu beyden Seiten mit den geſchmack - vollſten und ſchoͤnſten Landhaͤuſern bekraͤnzt iſt. Die mehreſten derſelben gehoͤren Privatleuten, die ſie zu ihrem und ihrer Freunde Vergnuͤ - gen auf eine ſehr gaſtfreye Art benutzen. Aber mit noch groͤßerer Liberalitaͤt machen einige Herren von Stande ihre Gaͤrten zu oͤffentli -311 chen Vergnuͤgungsoͤrtern, die dem ganzen an - ſtaͤndigen Publikum offen ſtehn. Vorzuͤglich gehoͤren die Landhaͤuſer der beyden Herren von Nariſchkin hierher, die des Sonntags von einer großen Anzahl Perſonen aus den hoͤch - ſten Klaſſen beſucht werden. Eine freundliche Einladung an alle rechtliche Menſchen, die uͤber dem Eingange des Gartens auf einer Tafel angebracht iſt, berechtigt Jedermann, der in dieſe Rubrik gehoͤrt, ſich ungeſtoͤrt nach ſeinem Geſchmack zu vergnuͤgen. In verſchiedenen Pavillons findet man Muſik zum Tanzen; in andern ſtehen Seſſel bereit, eine Geſellſchaft zu empfangen, die ſich aus dem großen Ge - wuͤhl zu einer Unterredung verſammeln will; mehrere Parthieen haben Schaukeln, Kegel - bahnen, und andere Spiele; auf den Kanaͤlen ſchwimmen Gondeln, zum Selbſtrudern einge - richtet, oder Faͤhren; und wem dies alles nicht genug iſt, fuͤr den ſind auch Erfriſchungen be - reit. Dieſe edle Gaſtfreyheit bleibt nicht un - genutzt; der Zuſammenfluß von Leuten aller Staͤnde, vom Ordensbande bis zum ſimpeln wohlgekleideten Buͤrger, bildet eine ſo bunte Maſſe und zuweilen auch ſo grell abſtechendeU 4312Gruppen, daß es ſchon aus dieſer Urſache der Muͤhe lohnt, einmal Theil an dieſem Vergnuͤ - gen zu nehmen.

So groß die Anzahl der hier genannten Spazierplaͤtze iſt, ſo wenig iſt das Regiſter aller in und um der Reſidenz vorhandenen be - endigt. Um mir und meinen Leſern Wieder - holungen zu erſparen, wollen wir dieſen Zweig der oͤffentlichen Beluſtigungen verlaſſen, um uns mit einer andern ſehr nahe verwandten Gattung derſelben zu unterhalten.

Das Spazierengehen hat Freunde in St. Petersburg, aber das Fahren noch ungleich mehrere. Eine Bequemlichkeit, die in dieſer großen, kothigen Stadt ſo ſehr Beduͤrfniß iſt, mußte bald in Luxus ausarten. Die Noth - wendigkeit, Pferde fuͤr den Gebrauch zu hal - ten, iſt in die ausſchweifendſte Verſchwendung uͤbergegangen: nirgend iſt das Fahren ſo ſehr Beluſtigung, als hier.

Der gute Ton hat gewiſſe Tage feſtgeſetzt, die zu allgemeinen oͤffentlichen Promena - den beſtimmt ſind. Am erſten May verſam - melt ſich die feine Welt in den glaͤnzendſten Equipagen in dem Waͤldchen von Katharinen -313 hof, wie es ſcheint, um die Ankunft des jungen Fruͤhlings zu feyern. Alles was der Geſchmack und Aufwand des reichen Publikums in dieſem Zweige des Luxus aufzuweiſen hat, kann man hier beyſammen finden, weil eine Menge neuer Equipagen bis zu dieſem Tage in den Remi - ſen verſchloſſen gehalten werden. Wirklich be - ſtimmt dieſer Aufzug die Mode in der Form und Farbe der Wagen bis zur naͤchſten großen Muſterung. So praͤchtig der Zug mehrerer tauſend zum Theil uͤberaus eleganter und rei - cher Equipagen auch iſt, ſo und noch ſonderba - rer iſt doch der Zweck und die Abſicht dieſes geſuchten Vergnuͤgens. Die Wagen fahren in zwey bis vier Reihen dicht neben und hinter einander; man ſieht und wird geſehen, und nach einigen Stunden eilt Jeder vergnuͤgt und befriedigt nach Hauſe. Der Poͤbel, der ſich in zahlreicher Menge verſammelt, hat auch hier, wie gewoͤhnlich, das beſſere Loos gezo - gen; luſtig und froh bey ſeinem Glaſe Brant - wein, ſieht er unter Zelten dem bunten Ge - wimmel der Eitelkeit zu: fuͤr ihn iſt das Schauſpiel. Der Philoſoph ergoͤtzt ſich an dem ſonderbaren Kontraſt dieſer großen aus ſo un -U 5314gleichartigen Theilen zuſammengeſchmolzenen Menſchenmaſſe, und Jeder glaubt fuͤr ſeinen Gang bezahlt zu ſeyn. Aehnliche Wagen - promenaden werden um Oſtern bey den Schau - keln gehalten.

Eigenthuͤmlicher und allgemeiner, als dieſe Vergnuͤgungen, ſind die Schlittenfahrten, eine Beluſtigung, von welcher man ſich, ſelbſt in Deutſchland, nur einen ſehr ſchwachen Be - griff machen kann. Zwar haͤlt man hier keine ſolenne Zuͤge in Schlitten, wie dort gewoͤhn - lich iſt; aber die Beſchaffenheit unſers Win - ters und die Schnelligkeit unſerer Pferde ge - ben dieſem Vergnuͤgen in Rußland einen ganz eigenen Reiz. Die hier gebraͤuchlichen Schlit - ten ſind ſehr einfach, da man die Formen von Muſcheln, Gondeln, u. ſ. w. fuͤr abentheuer - liche und geſchmackloſe Verzierungen haͤlt. Wenn ſie zweyſitzig ſind, werden ſie mit zwey Pferden beſpannt, von welchen eins in Stan - gen, und das andere nebenbey an einem aus - gehaͤngten Baume zieht*)Das ruſſiſche Geſchirr hat viel Eigenthümliches und iſt ſchwer zu beſchreiben; es ſoll aber ſehr gut auf. In der Regel315 muß jenes traben und dieſes galloppiren. Das groͤßte Intereſſe dieſer Winterluſtbarkeit beſteht in der außerordentlichen Schnelligkeit mit wel - cher man faͤhrt; wie weit es unſere Iswoſcht - ſchiki und Pferde hierinn gebracht haben, mag ich meinen Leſern nicht erzaͤhlen, um nicht alle Glaubwuͤrdigkeit bey ihnen zu verlieren. Die einſitzigen Schlitten, deren ſich unſere Ele - gants zu ihren Morgenpromenaden bedienen, ſind gewoͤhnlich ſehr ſchoͤn und ihre Pferde vorzuͤgliche Laͤufer; der Fahrende regiert ſelbſt, und neben dem Pferde reitet ein ſchoͤn geklei - deter Huſar, um den Zuͤgel zu halten. An angenehmen Wintertagen werden oͤffentliche Schlittenrennen auf der Newa gehalten. Die Bahn iſt ungefaͤhr dreyhundert Klafter lang und mit Schranken umgeben. Liebhaber und Iswoſchtſchiki wetten hier mit einander auf die Geſchwindigkeit ihrer Pferde, oder be - nutzen die Rennbahn bloß zu ihrem Vergnuͤ -*)den Vortheil des Pferdes berechnet ſeyn. Vielleicht iſt die Bemerkung nicht unnütz, daß die Ruſſen ſich durch - gehend vortrefflich auf die Behandlung der Pferde ver - ſtehen.316 gen. Das zahlreich verſammelte Publikum der Zuſchauer, fuͤr welches auch einige Geruͤſte erbaut werden, giebt dieſem unterhaltenden Schauſpiel noch ein Intereſſe mehr. Das Spazierenreiten iſt hier nicht bloß ein Vergnuͤgen des maͤnnlichen Geſchlechts; auch die Damen ſind durch den Ton zum Genuß deſſelben auf eine anſtaͤndige Weiſe berechtigt. Der vorzuͤglichſte Sammelplatz fuͤr dieſe Be - luſtigung iſt der peterhofſche Weg.

Die Newa und die Kanaͤle von denen St. Petersburg durchſchnitten iſt, gewaͤhren den Einwohnern die Bequemlichkeit und das Ver - gnuͤgen der Waſſerfahrten in ſolcher Voll - kommenheit, als man ſie nur in ſehr wenigen Staͤdten von Europa genießen kann. Nicht nur weite Wege außerhalb der Stadt und nach den Inſeln, ſondern ſelbſt kurze Fahrten in den bebauteſten Theilen derſelben kann man auf dieſe angenehme Art zuruͤcklegen. An den Ufern der Newa liegen beſtaͤndig eine Menge Schaluppen bereit, die theils von einigen Buͤreaux, theils von einzelnen Privatperſonen unterhalten werden. In Anſehung ihrer Groͤße ſind ſie ſehr verſchieden, denn es giebt317 zwey, vier, ſechs, acht, und zwoͤlfrudrige Schaluppen; aber ihre Einrichtung iſt im All - gemeinen dieſelbe. Der hintere Theil vor dem Steuerruder iſt gewoͤhnlich mit einem Him - mel bedeckt und mit Vorhaͤngen verſehen, die beym Regen zugezogen werden. Hier ſind Sitze fuͤr die Fahrenden befindlich, die mehr oder weniger bequem, aber doch allezeit mit Kiſſen bedeckt ſind. Das Aeußere iſt immer ſehr elegant, und bey herrſchaftlichen Schalup - pen oft praͤchtig. Die Ruderer ſind als Ma - troſen und auf einerley Art gekleidet; auf dem Kopf tragen ſie Muͤtzen mit hohen Federbuͤ - ſchen. Ihre Geſchicklichkeit im Rudern iſt ſo groß, daß ſelbſt die engliſchen Matroſen ihnen hierinn den Vorzug zugeſtehen. Alle Bewe - gungen richten ſich mit der ſtrengſten Puͤnkt - lichkeit nach dem Kommando des Steuer - manns. Bey ſeinem erſten Zuruf ſchweben alle Ruder in der Luft, beym zweyten fallen ſie mit einemmal ins Waſſer, und beym drit - ten beginnt das Rudern, ſo taktmaͤßig und mit ſolcher gleichbleibenden Anſtrengung, als ob die Bewegung durch das Triebwerk einer Maſchiene hervorgebracht wuͤrde. Sobald die318 Fahrt flußab geht und wenn die Fahrenden es verlangen, ſtimmen die Matroſen ihren Volks - geſang an, den der Steuermann mit einer aus Birkenrinden gedreheten Schalmey (Roſhok) dirigirt und begleitet. Alles zuſammenge - nommen, gehoͤren dieſe Waſſerfahrten zu den anziehendſten Vergnuͤgungen der Reſidenz.

Es iſt ſchon einmal in dieſem Abſchnitt ge - ſagt worden, daß der Geſchmack des Publi - kums oͤffentliche Verſammlungsoͤrter wenig be - guͤnſtigt. So reichhaltig dieſe Rubrik in der Karakteriſtik anderer großen Staͤdte iſt, ſo wenig laͤßt ſich hier daruͤber ſagen. Die Ka - backen fuͤr den Poͤbel abgerechnet, giebt es keine Weinhaͤuſer; und die Kaffeehaͤuſer, die in allen Hauptſtaͤdten von Europa der Vereinigungspunkt der Fremden und des muͤſ - ſigen Publikums ſind, ſpielen hier nur eine ſehr untergeordnete Rolle. Sie ſind nicht zahlreich, ihre Einrichtung iſt durchgaͤngig ohne Geſchmack und Aufwand, und das Publikum, welches ſich in denſelben verſammelt, aͤußerſt gemiſcht. Einzelne wenige Kaffeehaͤuſer machen zum Theil Ausnahmen von dieſer Beſchrei - bung; dieſe beſſern werden, obgleich auch nur319 ſparſam, von iſolirten Fremden oder Auslaͤn - dern beſucht. Selten wird die Unterhaltung lebhaft und allgemein; wenn das gewoͤhnliche Beduͤrfniß der Zeitungslektuͤre befriedigt iſt, ſetzt man ſich zum Schach - oder Damenſpiel nieder. Karten habe ich niemals in dieſen Haͤuſern ſpielen ſehen; ich vermuthe daher, daß ſie verboten ſind. Die Preiſe der gewoͤhn - lichen Erfriſchungen und Getraͤnke werden uͤberall auf eine uͤbermaͤßige Weiſe geſteigert. Es iſt ſchwerlich zu erwarten, daß dieſe Gat - tung der oͤffentlichen Vergnuͤgungsoͤrter eine beſſere und geſchmackvollere Einrichtung er - halten duͤrfte, ſo lange die Manie der Klubbs in St. Petersburg waͤhrt.

Eines deſto reichlichern Zuſpruchs erfreuen ſich die Gaſthaͤuſer, vorzuͤglich außerhalb der Stadt, weil dieſe gewoͤhnlich das Ziel der Promenaden und Spazierfahrten des Publi - kums ſind, und weil ſie den Petersburgern die beliebteſten Arten des geſellſchaftlichen Genuſ - ſes Kartenſpiel und Speiſetiſche, gewaͤhren. Ueberall wo dieſe edlen Zweige der Unterhal - tung bluͤhen, kann man gewiß ſeyn, zahlreiche Verſammlungen von Menſchen aus allen320 Staͤnden zu finden. Ein Gaſtwirth, der auch nur Eine Art von Speiſen auf eine vorzuͤg - liche Weiſe zu bereiten verſteht oder ſich mit beſonders guten Getraͤnken verſorgt, kann ſich den ausgebreiteſten Ruf und die glaͤnzendſte Kundſchaft verſchaffen. Ein Gaſthof auf dem peterhofſchen Wege, in welchem vorzuͤglich gute Waffeln gebacken werden, ſteht dieſes ausneh - menden Vorzugs wegen ſchon ſeit vielen Jah - ren in dem groͤßten Kredit und wird uͤberaus haͤufig von der feinen Welt beſucht. Ein Franzoſe, der ſich vor kurzem auf eben dieſem Luſtwege, etwas naͤher bey der Stadt, nieder - ließ, erwarb ſich durch die Guͤte ſeiner Tafel einen ſo außerordentlichen Zuſpruch, daß man mehrere Tage vorher bey ihm beſtellen mußte, weil man ſonſt in Gefahr ſtand, abgewieſen zu werden.

Eigentliche Spielhaͤuſer, die bloß zu dieſer Beſtimmung eingerichtet waͤren, moͤgen im Verborgenen wol vorhanden ſeyn, ob ſie gleich keiner oͤffentlichen, geduldeten oder auto - riſirten Exiſtenz genießen. In den mehreſten Gaſthaͤuſern in und außer der Reſidenz findet man Billards und Gelegenheit zum Karten -ſpiel,321ſpiel, wovon jedoch die Hazardſpiele eine Aus - nahme machen. In einigen derſelben wer - den haͤufig Baͤlle gegeben, die ihres niedrigen Einlaſſes wegen, von einem ſehr gemiſchten Publikum beſucht ſind, und bey welchen die feinere Klaſſe der hieſigen Luſtmaͤdchen die große Rolle ſpielt. Man nennt dieſe Baͤlle Wetſchurinki. Es iſt fuͤr den Beobachter der Muͤhe werth, einmal einen Abend aufzu - opfern, um den Ton dieſer Klaſſe von Men - ſchen kennen zu lernen. Statt der franzoͤſi - ſchen Galanterie oder der deutſchen Fadeur, mit welchen in Paris oder Berlin die jungen und alten Wolluͤſtlinge um die Maͤd - chen der Freude herumzuhuͤpfen pflegen, ſind dieſe armen Geſchoͤpfe hier den plumpen An - faͤllen oder den brutalen Launen roher Men - ſchen uͤberlaſſen. Kein ſuͤſſes Geſchwaͤtz, keine feine Liebkoſung taͤuſcht uͤber die Abſicht der Verſammlung und den Stand dieſer Maͤd - chen; nicht einmal die allgemeine Schonung die man uͤberall dem ſchwaͤchern Geſchlechte zugeſteht, wird hier beobachtet. Ein Maͤdchen, welches ſo ungluͤcklich iſt, eine Mannsperſon an dieſen Orten zu beleidigen, hat die ſchreck -Zweiter Theil. X322lichſte Beſchimpfung zu erwarten, ohne auf den Beyſtand auch nur Eines Mannes rech - nen zu duͤrfen. Selten wagen ſie es daher anders als mit der Begleitung und unter dem Schutz eines handfeſten Kerls zu erſcheinen, der die Rechte ihres Geſchlechts in Nothfaͤllen geltend zu machen verſteht. Uebrigens faͤllt nichts in dieſen Verſammlungen vor, was den guten Sitten zuwider waͤre; man ſieht ſich nur, wie auf einem Marktplatz, um zu waͤh - len und den Preis zu beſtimmen.

Ueberall, in allen großen Staͤdten, ſind die Freudenmaͤdchen ein vorzuͤglich intereſſan - ter Gegenſtand der Karakteriſtik; hier nicht. Der oͤffentliche Anſtrich von Ehrbarkeit, den unſere Sitten haben, ſchließt zwar keineswe - ges den mannigfaltigſten und ausſchweifendſten Genuß der Liebe aus; aber er verſchleyert ihn ſo gut, daß ein ſehr ſcharfes Auge und eine lange Bekanntſchaft mit unſerer Lebens - art dazu gehoͤrt, um das wahre Maaß und die Modifikationen deſſelben zu entdecken. Kein Fremder, der nur acht Tage in London, Paris oder Berlin verweilt und die oͤffentli - chen Oerter beſucht hat, wird umhin koͤnnen,323 zu geſtehen, daß in dieſen Staͤdten Ausſchwei - fung und Zuͤgelloſigkeit herrſchend ſind. In St. Petersburg kann man lange Zeit leben, ohne auffallende Zuͤge zu dieſem Theil der Sittengeſchichte ſammeln zu koͤnnen. Die oͤf - fentlichen Vergnuͤgungsoͤrter, die Spazierplaͤtze, das Theater, die Baͤlle, die Konzerte, die Klubbs, werden von Freudenmaͤdchen wenig oder gar nicht beſucht; aus den letztern ſind ſie durch die Geſetze des Wohlſtandes ohne - hin verbannt. Sie erſcheinen nirgend im Pu - blikum, als in den Wetſchurinki, wo ſie ge - wiſſermaßen ein Recht zum Eintritt haben. Ungeachtet dieſer mißlichen Exiſtenz iſt es doch ſehr wahrſcheinlich, daß die Anzahl dieſer un - gluͤcklichen Geſchoͤpfe im Verhaͤltniß hier ſo groß als irgendwo ſey. Bey weitem der groͤßte Theil derſelben lebt iſolirt von dem Ge - winn ſeiner traurigen Induſtrie, denn, ein paar unbetraͤchtliche Ausnahmen abgerechnet, giebt es hier keine oͤffentliche Tempel der paphi - ſchen Goͤttinn. Die Kourtiſannen von der hoͤ - hern Klaſſe werden unterhalten, und machen zuweilen ein glaͤnzendes Gluͤck, aber niemals gelangen ſie zu dem Ruf und dem Einfluß,X 2324wodurch dieſe Toͤchter der Freude in andern Hauptſtaͤdten oft ſo intereſſant und ſo merk - wuͤrdig werden. Der groͤßte Theil der Entre - tenues iſt aus der niedrigſten Klaſſe; bey ſehr eingeſchraͤnkten Talenten ſind ihre Anſpruͤche dennoch ſehr groß. Ohne Grazie, ohne die Kunſt zu gefallen, von jedem hoͤhern Reiz ent - bloͤßt, machen ſie ungeheure Forderungen, die ihnen auch wegen des Mangels beſſerer Mit - bewerberinnen gerne zugeſtanden werden. Ein Maͤdchen, welches ihrem Liebhaber hier tau - ſend und mehr Rubel koſtet, wuͤrde in Paris kaum den Geſchmack eines Kohlentraͤgers be - friedigen. Nicht ſelten bringen daher unſere junge Herren aus der großen Welt ihre Ge - faͤhrtinnen aus fremden Laͤndern mit; aber ſeltner gelingt es ihnen, ſie zu feſſeln. Bey einiger Kenntniß ihres Werths auf dem Platz wo ſie ſich befinden, wird es ihnen nicht ſchwer ſich in eine hoͤhere Sphaͤre zu ſchwingen. Die Beyſpiele, daß Maͤdchen dieſer Art ſich weit uͤber ihr Schickſal erheben und vortheilhafte Heyrathen machen, ſind eben ſo gewoͤhnlich, als die Erfahrung, daß ſie ſich in dieſem Fall durch ihr ſittliches Betragen die Achtung zu325 verdienen wiſſen, die ihnen der Zufall ver - ſchafft.

Die Luſtmaͤdchen von der gemeinſten Gat - tung, die ſich dem Dienſt des ganzen Publi - kums widmen, leben in einer Crapuͤle, von der man ſich ſchwerlich einen Begriff machen wird, und die auch den luͤſternſten Menſchen, wenn er nur einiges Gefuͤhl beſitzt, von ihrer Hul - digung zuruͤckſchrecken kann. Ohne den min - deſten Anſpruch auf natuͤrliches oder erworb - nes Talent zu gefallen, und herabgewuͤrdigt durch die Brutalitaͤt der Mannsperſonen, trei - ben ſie ihr Gewerbe mit dem Eigennutz eines Wucherers und mit der gefuͤhlloſen Gleichguͤl - tigkeit eines Pferdevermiethers. So allgemein dieſe Karakteriſtik gelten kann, ſo giebt es doch, zur Ehre der Menſchheit, Beyſpiele, daß ſelbſt unter dieſer verwahrloſeten und verderbten Klaſſe die menſchliche Natur ihren angeſtamm - ten Adel nicht ganz verleugnet. Ich eile, mei - nen Leſern eins derſelben zu erzaͤhlen, um den Eindruck der widrigen Zuͤge zu verloͤſchen, die ich ihnen, nach dem Geſetz der hiſtoriſchen Treue, vorzulegen gezwungen war. Ein Maͤdchen dieſer Gattung, das bey einem aufX 3326ihrem Zimmer entſtandenen Streit ihrer Gaͤſte ſich zum Vermittler hatte aufwerfen wollen, ward dafuͤr von ihnen zum Fenſter hinausge - worfen, und fiel ſo ungluͤcklich, daß ſie wenige Stunden hernach ihren Geiſt aufgeben mußte. Kurz vor ihrem Tode tritt ein Polizeybeamter vor ihr Bette und verlangt ihre Ausſage uͤber die Umſtaͤnde dieſes abſcheulichen Vorfalls. Aus den Fragen ergab ſich, daß die Urheber deſſelben gefluͤchtet waren und daß man keine Nachricht von ihnen hatte. Kaum war die Sterbende hievon uͤberzeugt, als ſie ſich ſtand - haft weigerte, die Namen der Thaͤter zu nen - nen, oder irgend etwas auszuſagen, was dieſe haͤtte verrathen koͤnnen: und trotz der eindrin - gendſten Vorſtellungen eines Prieſters und dem Verſprechen fuͤr ihre nachbleibende alte Mutter zu ſorgen, beharrte ſie bis zu ihrem letzten Athemzuge heldenmuͤthig auf dem ſchoͤnen Ent - ſchluß, ihren Moͤrdern zu verzeihen und ſie nicht ungluͤcklich zu machen.

Wir gehen jezt zu einer der glaͤnzendſten und vorzuͤglichſten oͤffentlichen Beluſtigungen, dem Theater, uͤber. Schon nach der allge - meinen Vorſtellung, die man uͤberall von der327 Pracht des ruſſiſchen Hofes hat, wird man unter dieſer Rubrik etwas außerordentliches erwarten, und wirklich iſt man noch jezt zu dieſer Erwartung berechtigt, obgleich die Schau - ſpiele der Reſidenz nicht mehr ſo zahlreich ſind, als ſie ehedem waren. Noch vor kurzem be - ſtanden in St. Petersburg vier oͤffentliche Theater: das ruſſiſche, das franzoͤſiſche, das deutſche und die italieniſche Oper. Die beyden letztern ſind nicht mehr, aber dagegen hat man den erſtern eine deſto groͤßere Vollkommenheit zu geben geſucht. Auch zu dieſem, wie zu je - dem andern geiſtigen Genuß, mußte das Pu - blikum ehedem aufgemuntert werden; der Hof beſtritt alle Koſten und der Eintritt in das Schauſpiel war unentgeldlich. Izt iſt dieſe Gattung der oͤffentlichen Vergnuͤgungen einer kaiſerlichen Theaterdirektion unterworfen; die Vorſtellungen fuͤr das Publikum werden theils im großen Opernhauſe, theils im hoͤlzernen Theater gegeben, und der Eintritt wird bezahlt. So betraͤchtlich aber auch die Einnahmen ſind, ſo wenig reichen ſie zur Unterhaltung hin, da - her der Hof einen jaͤhrlichen Zuſchuß von mehr als 174,000 Rbl. macht.

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Das ruſſiſche Theater giebt Trauer - ſpiele, Luſtſpiele, komiſche und ernſthafte Opern. Der erſte tragiſche Schauſpieler dieſer Buͤhne, Dmitrewski, ein Kuͤnſtler der mit dem hervorſtechendſten Talent einen ſeltnen Grad von Ausbildung verbindet und ſich unter den Augen der groͤßten Meiſter ſeiner Kunſt in Paris und London zu dem Roſcius ſeines Va - terlandes gehoben hat, erſcheint, ſeines Alters wegen, nur ſelten vor dem dankbaren Publi - kum. Unter vielen bemerkenswerthen Suͤjets der komiſchen und tragiſchen Buͤhne nenne ich nur dieſen Einen, weil ſein Ruhm fuͤr klaſſiſch gehalten wird, und weil es, bey einer in vieler Ruͤckſicht unzulaͤnglichen Kenntniß des Natio - nalgeſchmacks und der Sprache, ſchwer iſt, ein raͤſonnirtes und richtiges Urtheil uͤber den Werth der Andern zu faͤllen. Im Ganzen iſt es gewiß, daß nicht leicht eine Nation mehr natuͤrliche Anlagen zur koͤrperlichen Darſtellung beſitzt, als die Ruſſen. Wer ſich hiervon uͤber - zeugen will, darf nur irgend einem lebhaften Geſpraͤch unter dem Poͤbel zuſehen; ohne ein Wort von der Sprache zu verſtehen, wird er den Gegenſtand deſſelben aus der leidenſchaft -329 lichen und ausdrucksvollen Mimik errathen. Die ſichtbare Verfeinerung des Geſchmacks, das Beyſpiel anderer Nationen, der Unterricht den angehende Kuͤnſtler in den dazu beſtimm - ten Schulen erhalten, die Kultur die ſie ſich auf Reiſen in fremden Laͤndern erwerben: alle dieſe Huͤlfsmittel treffen hier zuſammen, um die gluͤcklichen Dispoſitionen der Natur zu ent - wickeln und zur Reife zu bringen. Unter ſol - chen Beguͤnſtigungen iſt es zu erwarten, daß das ruſſiſche Theater ſich uͤber das Mittelmaͤ - ßige erheben und ſeines Zwecks nicht verfeh - len kann, ein anziehender und befriedigender Genuß fuͤr die feinſten und gebildetſten Klaſ - ſen der Nation zu ſeyn

Das ruſſiſche Trauerſpiel hat, ſowol der Form als dem Inhalt nach, einen franzoͤſi - ſchen Zuſchnitt erhalten. Der gegruͤndete Ruhm dieſes Theaters und das Zeitalter in welchem die ruſſiſche Buͤhne ihre Muſter ſuch - te und fand, rechtfertigen eine Nachahmung, die in Deutſchland, gewiß immer nicht ohne Grund, aber doch vielleicht etwas zu voreilig verworfen wurde. Die Manier des Dichters und des Schauſpielers iſt franzoͤſiſch; jene feſ -X 5330ſelt ſich gewiſſenhaft an die Einheiten und Re - geln der dramatiſchen Kunſt und zwaͤngt ihren Dialog in den Rythmus der Verſe; dieſe for - dert eben das Pathos, eben die abgemeſſenen Bewegungen und Schritte, die den franzoͤſi - ſchen Kothurn ſo ſonderbar karakteriſiren. Das Luſtſpiel hat hier wie dort einen ausge - dehntern Geſichtskreis. Proſe und Verſe ſind ein ſchickliches Gewand, und die Manier iſt nicht ſo entſchieden franzoͤſiſch, daß ſie nicht auch Nachahmungen anderer Nationen duldete. In dieſer Gattung zeichnet ſich der National - geſchmack ſtaͤrker; ruſſiſche Sitten werden auf die Buͤhne gebracht und gefallen nach dem Maaß ihrer Originalitaͤt. Der Schauſpieler, der hier ein freyes Feld hat, ſein natuͤrliches Talent geltend zu machen, erhebt ſich leichter uͤber die Sphaͤre des Mittelmaͤßigen, und wird ein gutes Original wo er eine ſchlechte Kopie geworden waͤre.

Noch intereſſanter und karakteriſtiſcher ſind die komiſchen Opern oder pieces en vau - devilles, die hier, wie ehemals in Paris, den Lieblingsgeſchmack des großen Publikums ver - gnuͤgen. In dieſer Gattung, wo das Genie331 des Dichters und Kuͤnſtlers am wenigſten be - ſchraͤnkt iſt, zeigt es ſich auch in ſeiner groͤßten Eigenthuͤmlichkeit und Staͤrke. Die niedlichen Produkte dieſer Dichtungsart haben, nach dem Urtheil der Kenner, eine verhaͤltnißmaͤßige Voll - kommenheit, die in andern Gattungen nur einzeln gefunden wird. Unter den Stuͤcken, welche den meiſten Beyfall erhalten, und noch jetzt, lange nach ihrer erſten Erſcheinung, von Eingebornen und Auslaͤndern mit immer neuem Vergnuͤgen geſehen werden, nenne ich nur den Muͤller und den Sbiten’ſchtſchik*)Umträger und Verkäufer des Sbiten, eines Ge - tränks, welches man aus den erſten Abſchnitten dieſes Bu - ches kennt. weil ſie die Quarantaine ihres Ruhms uͤber - ſtanden haben, und zu den klaſſiſchen Werken dieſer Gattung zu zaͤhlen ſind. Die treueſte Darſtellung der Nationalſitten, ein gewiſſer humoriſtiſcher Anſtrich, und der Reiz der Muſik geben dieſen kleinen dramatiſchen Misgeburten ein Intereſſe, das durch ein lebhaftes hinreiſ - ſendes Spiel noch um vieles erhoͤht wird, und dem erwaͤrmten Zuſchauer keine Zeit laͤßt, an332 die Regeln der kritiſchen Dichtkunſt zu den - ken. Die komiſche Oper iſt ſehr gut beſetzt, und nirgend ſcheinen die Schauſpieler mehr con amore zu ſpielen. Das Talent, das an - genehme Organ und die anziehende Figur der Madame Sandunow machen ſie zur Koͤni - ginn dieſer Buͤhne. Der Italiener Martini, der ſeinen Namen durch die Opern coſa rara und arbore di Diana hinlaͤnglich bekannt gemacht hat, iſt der Komponiſt fuͤr dieſes Theater. Er hat das ſchwere Problem, die ruſſiſche Natio - nalmuſik zu veredeln, zur Befriedigung der Kenner geloͤſt. Seine Manier iſt ſo geſchmei - dig, daß ſie ſich den Volksgeſaͤngen anpaßt, ohne daß dieſe ihre Eigenthuͤmlichkeit und jene ihren Adel und ihre Feinheit verlieren.

Das praͤchtigſte Schauſpiel der Reſidenz iſt jetzt die ruſſiſche Oper. Von der Kon - kurrenz des freygebigſten Aufwands und der groͤßten Talente laͤßt ſich ohnehin nichts gemei - nes erwarten; aber wo die Theilnahme des Souverains ſo unmittelbar auf die Kunſt wirkt, als hier, da hoͤrt der gewoͤhnliche Maaßſtab auf. Ein oͤffentliches, uͤberall verbreitetes Ge - ruͤcht nennt Katharina die Zweyte als333 Verfaſſerinn einiger Dichtungen dieſer Art, in denen ſich die Wuͤrde des Suͤjets und der Werth der Behandlung, mit allem Reiz der Kunſt und mit aller Pracht der Ausfuͤhrung verbinden, um den außerordentlichſten Eindruck zu erregen. Unter den neueſten Erſcheinungen die man dieſer erhabenen Quelle zuſchreibt, nenne ich nur den Oleg, eine große ernſthaf - te Oper, deren Gegenſtand der Nachfolger Rjurik’s iſt, der ſich Kiew unterwarf und Konſtantinopel zittern machte. Die Groͤße des Helden und die Dunkelheit ſeines Zeitalters haben hier dem Genie und der Dichtungskraft die Hand geboten, um ein fuͤr jeden Patrioten ſehr herzerhebendes Gemaͤlde zu bilden, welches durch mancherley Beziehungen auf ſpaͤtere Begebenheiten noch ein ſtaͤrkeres Intereſſe er - haͤlt. Die Pracht der Ausfuͤhrung laͤßt alles hinter ſich, was ich in dieſer Gattung in Pa - ris und andern großen Staͤdten geſehen habe. Die Koſtbarkeit der Kleidungen, die ſaͤmtlich im alten ruſſiſchen Koſtume, und an denen alle Stickerey aͤcht iſt, der blendende Glanz der Perlen, des Waffenſchmucks und der Geraͤth - ſchaften, die Kunſt in den haͤufig wechſelnden334 Dekorationen, uͤbertrifft ſelbſt die kuͤhnſte Er - wartung. Man ſieht hier romantiſche Gegen - den, Lager und Gezelte, ſchwimmende Flotten, Staͤdte und alte koſtbar verzierte Pallaͤſte. Man wohnt den Berathſchlagungen der Feld - herrn und den haͤuslichen Feſten der Fuͤrſten bey, in welchen die Sitten und der Geſchmack der alten Zeit auf eine uͤberraſchende und un - terhaltende Art hervorſtechen. Choͤre von Saͤngern ſingen Loblieder auf die Thaten der Helden. Am Hofe des griechiſchen Kaiſers wird Oleg mit großen Feyerlichkeiten empfan - gen; beym Anfange des letzten Akts, wenn der Vorhang aufgezogen wird, ſieht man einen weiten Circus, und rund herum auf den Tri - buͤnen den griechiſchen Hof und eine große Menge Zuſchauer aus dem Volk. Hier wer - den Wettkaͤmpfe aller Art gehalten; Gladia - toren ringen mit einander; andere laufen nach dem Ziel, und endlich verſchwindet ein zwey - ter Vorhang, wo auf einer Buͤhne eine thea - traliſche Vorſtellung gegeben wird.

Die Ballette entſprechen dem Glanz der Oper. Ohne hier eine Beſchreibung der gro - ßen pantomimiſchen Vorſtellungen zu liefern,335 die ſich immer beſſer ſehen als leſen laſſen, wird es genug ſeyn, die Namen der Kuͤnſtler zu nennen, um eine Idee von dieſem Theile unſers Theaters zu geben. Fuͤr die muſikali - ſche Kompoſition der Opern und Ballette ſor - gen die Italiener Cimaroſa und Sarti, Namen, welche keinem Dilettanten der Kunſt unbekannt ſeyn koͤnnen. Canziani und le Picq uͤbernehmen die Kompoſition der Bal - lette und Taͤnze; jener hat fuͤnftauſend Rubel Gehalt, und dieſer, der zugleich der erſte So - lotaͤnzer iſt, ſechstauſend. Unter den weiblichen Suͤjets gehoͤren die erſte Solotaͤnzerinn, Mad. de Roſſi, und Mdlle Grekow, eine Ruſ - ſinn, zu den vorzuͤglichſten; erſtere iſt Kuͤnſtle - rinn im eigentlichſten Sinne des Worts. Die Anzahl der Sauteurs, Figuranten, u. ſ. w. reicht zu den groͤßten Vorſtellungen hin. Der Dekorationsmaler Gonzago gehoͤrt zu den groͤßten Kuͤnſtlern ſeines Fachs.

Wenn die eigenthuͤmlichen Vorzuͤge der franzoͤſiſchen dramatiſchen Dichterwerke die Vorſtellung derſelben auch nicht zu einem ſo reichhaltigen Genuß fuͤr jedes kultivirte und empfaͤngliche Publikum machten, ſo wuͤrde St.336 Petersburg doch ſehr viel entbehren, wenn es ein franzoͤſiſches Theater entbehren muͤßte. Fuͤr die große Anzahl ſeiner fremden Einwohner, wohin auch das corps diplomati - que gehoͤrt, denen die Unbekanntſchaft mit der Landesſprache den Genuß der ruſſiſchen Buͤhne ſo außerordentlich verringert, iſt das franzoͤſi - ſche Schauſpiel eine ſehr angenehme und wuͤn - ſchenswerthe Reſſource. Vielleicht iſt dieſes mitunter eine der Urſachen, weswegen die Direktion dem ebengenannten Theater eine ſo vorzuͤgliche Sorgfalt und Aufmerkſamkeit wid - met, daß man ſelbſt in den groͤßten Provinzial - ſtaͤdten von Frankreich oft nach einer ſo guten und gleichbeſetzten Geſellſchaft vergebens ſuchen wuͤrde. Zu den ausgezeichneteſten Gliedern derſelben gehoͤren Aufresne und Floridor, erſterer fuͤr die erſten tragiſchen und Vaͤter - letzterer fuͤr die Liebhaberrollen. Unter meh - reren zum Theil vortrefflichen Schauſpielerin - nen, ragt die Kuͤnſtlerinn Huis durch uͤber - wiegendes Talent und hinreiſſende Darſtellung hervor. Ihr Fach ſind die erſten tragiſchen Rollen und Liebhaberinnen. Das deutſche Publikum ſcheint den Geſchmack an dramatur -giſchen337giſchen Skizzen und Raͤſonnements verloren zu haben, ſonſt waͤre hier der Stoff zu einer langen Digreſſion uͤber den Werth dieſer Kuͤnſtler.

Die Dauer des jetzt erloſchenen deutſchen Theaters war bey dem Zuſtande von Schwaͤche und Unbedeutenheit in welchem es ſich erhielt, auch von den Freunden der deut - ſchen Buͤhne nicht zu wuͤnſchen. Der weit allgemeinere Geſchmack am franzoͤſiſchen Thea - ter verhinderte ſie, jemals empor zu kommen, und die unbegreifliche, aber freylich durch die Erfahrung uͤberall beſtaͤtigte Gleichguͤltigkeit des deutſchen Publikums gegen vaterlaͤndiſche Art und Kunſt trug nicht wenig zu dieſer Er - niedrigung bey. Es muͤßte allerdings mit ei - nem Wunder zugehen, wenn andere Nationen Achtung fuͤr eine Litteratur bekommen ſollten, die unter ihren Sprachverwandten ſelbſt Ver - aͤchter hat.

Alle vorgenannte Schauſpielergeſellſchaften geben woͤchentlich mehrere Vorſtellungen fuͤr das Publikum. Der Hof beſucht dieſe nur ſehr ſelten, gewoͤhnlich aber ſpielt eine Ge - ſellſchaft um die andere abwechſelnd im TheaterZweiter Theil. Y338der Eremitage, wo die Zuſchauer aus den er - ſten Klaſſen namentlich ernannt werden.

Die muſikaliſchen Beluſtigungen der Reſidenz ſind weniger zur Gattung der oͤf - fentlichen als der Privatvergnuͤgungen zu rech - nen. In einer Stadt, wo der ſinnliche Ge - nuß ſo viele Verehrer und Befoͤrderer hat und wo faſt jeder Kunſt ein praͤchtiger Tempel ge - widmet iſt, ſcheint es befremdend, nicht einmal eine kleine Kapelle fuͤr die ſuͤßeſte und bezau - berndſte aller Kuͤnſte zu finden. Die Kon - zerte, die im muſikaliſchen Klubb gegeben wer - den, ſind nur den Gliedern dieſer Geſellſchaft zugaͤnglich, und wenn ſich zuweilen reiſende Virtuoſen hoͤren laſſen, ſo iſt dies nur ein Privatunternehmen. Wer indeſſen aus dieſem Umſtande die Folge ziehen wollte, daß hier keine Liebhaberey fuͤr Muſik herrſchen muͤſſe, der wuͤrde ſehr irren. Es giebt in den hoͤch - ſten wie in den mittlern Staͤnden Dilettanten aller Art, ſelbſt ſolche, die hin und wieder fuͤr Virtuoſen gelten koͤnnen, und dieſen fehlt es auch nicht an Gelegenheit, ihren Geſchmack zu befriedigen. In mehreren großen Haͤuſern werden woͤchentlich Konzerte gegeben, zu wel -339 chen der Zutritt wahren Liebhabern ſehr leicht iſt. Kuͤnſtler, die einigen Ruf haben, unter - nehmen haͤufig Konzerte in oͤffentlichen Haͤu - ſern, von welchen das Publikum durch die Zeitungen benachrichtigt wird, und wo der Einlaß gewoͤhnlich einen bis drey Rubel ko - ſtet. Oft verbinden ſich mehrere Virtuoſen zu dieſer Abſicht, und werden von Freunden und Liebhabern unterſtuͤtzt.

Der Tanz iſt die allgemeine Liebhaberey aller Staͤnde; nirgend vielleicht wird ſo viel und ſo ſchoͤn getanzt, als hier. Das erſtere beweiſen die vielen Tanzgeſellſchaften, deren wir ſchon in dieſem Abſchnitt einige namhaft gemacht haben. Alle Klubbs, der einzige eng - liſche ausgenommen, geben den Winter hin - durch Baͤlle oder Maskaraden, und zwey der - ſelben, die nur von den untern Klaſſen be - ſucht werden, ſind ausſchließlich dieſem Ver - gnuͤgen gewidmet. Hier verſammelt ſich eine und dieſelbe Geſellſchaft an zwey auf einander folgenden Tagen der Woche; ein Beyſpiel, daß die Liebhaberey fuͤr das Tanzen bey vie - len wirklich Leidenſchaft iſt. In einem dieſer Klubbs machte ſich noch vor kurzem ein alterY 2340Mann durch ſeine Manie fuͤr dieſes Vergnuͤ - gen merkwuͤrdig, die an ihm um ſo auffallen - der war, weil ſie mit ſeinem Gewerbe auf eine ſonderbare Art kontraſtirte, denn er war ein Sargmacher. Da er ſein Handwerk im Gro - ßen trieb, ſo verdiente er viel Geld, welches er nicht nur dazu anwandte, alle Tanzgeſellſchaf - ten zu beſuchen, wo ihm der Eintritt geſtattet wurde, ſondern auch neue Taͤnze mit ihrer Muſik aus fremden Laͤndern zu verſchreiben, die er ſich auf der Poſt ſchicken ließ, um ſie fruͤher als Andere zu bekommen. Auch außer den Klubbs fehlt es nicht an Gelegen - heiten zum Tanzen. Die oͤffentlichen Baͤlle und Maskaraden im Opernhauſe, in der Gal - lerie des anitſchkowiſchen Pallaſts und außer - halb der Stadt, in den Gaſthaͤuſern, ſind zum Theil ſehr geſchmackvoll und werden von ei - nem zahlreichen und glaͤnzenden Publikum be - ſucht. Keine dieſer Privatunternehmungen aber iſt einer großen praͤchtigen Reſidenz wuͤr - diger, als die Tanzgeſellſchaften und Maskara - den im gallizinſchen Pallaſt, deren Unterneh - mer ein Franzoſe, Namens Lion, iſt. Die außerordentliche Groͤße des Hauptſaals, die341 verſchwenderiſche Erleuchtung, die mannigfalti - gen Unterhaltungen die man in den verſchie - denen Zimmern dieſes weitlaͤuftigen Gebaͤudes findet, der Zuſammenfluß mehrerer Tauſende von praͤchtig gekleideten oder in Karrikaturen verhuͤllten Menſchen ein ſolches Enſemble findet ſich nur in den groͤßten Staͤdten von Europa, und darf in dieſen nicht uͤberall ge - ſucht werden. Alle hier aufgefuͤhrte Gele - genheiten zum Tanzen befriedigen den Hang des Publikums noch nicht genug; gewoͤhnlich ent - ſteht jeden Winter durch Unterzeichnung eine engliſche, und eine ſogenannte deutſche Ballge - ſellſchaft, welche letztere jedoch auch Mitglieder aus andern Nationen aufnimmt.

Zu den oͤffentlichen Vergnuͤgungen der Re - ſidenz gehoͤren endlich auch diejenigen, welche bey beſondern Veranlaſſungen vom Hofe, von den Großen und reichen Privatleuten gegeben werden. Den Glanz des ruſſiſchen Hofes ha - ben ſo viele Reiſebeſchreiber zum Gegenſtande ihrer Schilderung gemacht, daß ich mich hier auf eine kleine, aber wie ich hoffe, nicht ganz unfruchtbare Nachleſe einſchraͤnken kann.

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In den erſten Zeiten der jetzigen Regierung war kein Hof glaͤnzender und geraͤuſchvoller als der petersburgiſche. Die unendlich koſtba - ren und geſchmackvollen Feſte, die bey der Vermaͤhlung des Thronfolgers, bey der Ge - burt des Großfuͤrſten Alexander, bey der Anweſenheit des Prinzen Heinrich, des jetzi - gen Koͤnigs von Preußen, des Kaiſers Jo - ſeph, und des Koͤnigs von Schweden gege - ben worden ſind; die Luſtbarkeiten in Peter - hof, das große Karouſſel, und eine Menge aus beſondern Veranlaſſungen entſtandener Feyerlichkeiten, haben nach dem Ausſpruch aller Einheimiſchen und Fremden nicht leicht ihres Gleichen gehabt. Jetzt iſt freylich dieſe ge - raͤuſchvolle Pracht vermindert; doch verdient der petersburgiſche Hof noch immer in Ruͤck - ſicht auf geſchmackvollen Aufwand die erſte Stelle unter den Fuͤrſtenſitzen unſers Welt - theils. Wer ſich hievon uͤberzeugen will, der darf ihn nur an feſtlichen Kourtagen beſuchen, wenn die Kaiſerinn oͤffentlich ſpeiſt und von ihren Hofaͤmtern bedient wird. Der Zutritt iſt an dieſen Tagen, wie gewoͤhnlich, allen wohlgekleideten Leuten erlaubt, und fuͤr die343 Zuſchauer iſt im Speiſeſaal eine Gallerie, wo ſie ungeſtoͤhrt zuſehen und des Anblicks der Pracht, ſo wie des Vergnuͤgens der trefflichen Muſik genießen koͤnnen. Auch bey oͤffentlichen Hofmaskaraden iſt das Publikum von der Theilnahme nicht ausgeſchloſſen. Gewoͤhnlich werden mehrere tauſend Billets ausgetheilt und das Gewuͤhl von Menſchen iſt unbe - ſchreiblich. Nicht ſelten geben auch einige un - ter den Großen oͤffentliche Feſte, die zuweilen zwey bis drey Tage dauern, und zu welchen erſt der Adel, dann die Kaufmannſchaft, u. ſ. w. eingeladen wird.

Intereſſanter und merkwuͤrdiger ſind die Maskaraden in Peterhof, die jetzt ſelt - ner als ehemals ſtatt haben. Der Zeitpunkt dieſer Feſte faͤllt in die ſchoͤnſte Jahrszeit, denn ſie werden gegen das Ende des Juny, am Namenstage des Thronfolgers, gefeyert. Alles was empfaͤnglich fuͤr Genuß iſt, verlaͤßt alsdann die Stadt, um Theil an einem Ver - gnuͤgen zu nehmen, das wirklich einzig genannt zu werden verdient. Die Heerſtraße iſt mit Equipagen, Reitern und Fußgaͤngern ſo bedeckt, daß dieſe einer großen Karavane gleichen. Y 4344Schon in einiger Entfernung von dem Luſt - ſchloſſe reihen ſich die Wagen ſo dicht an ein - ander, daß ſie nur langſam und mit Unter - brechungen fortruͤcken koͤnnen. Die ganze Ge - gend ſieht einer Wagenburg aͤhnlich; uͤberall im Park und im Garten ſind einzelne Grup - pen vertheilt; zahlreiche Geſellſchaften halten ihr Mittagsmahl unter freyem Himmel, und jede Hecke, jeder Gang wimmelt von Men - ſchen. Gegen Abend, ſobald die Daͤmmerung einbricht, bereitet ſich dem Auge das entzuͤk - kendſte und außerordentlichſte Schauſpiel: in wenigen Minuten iſt der ganze Garten er - leuchtet; das Laub an den Baͤumen, das Waſ - ſer in den Springbrunnen ſcheint in Feuer verwandelt zu ſeyn. Die vortreffliche Lage von Peterhof und ſein Reichthum an Waſſer - kuͤnſten bieten hier den Wirkungen der Pyro - technik die Hand, um ein großes magiſches Gemaͤlde hinzuzaubern, das man einmal ſieht, um es nie zu vergeſſen. Meine Leſer kennen aus dem zweyten Abſchnitte das Lokale der Scene; moͤgen ſie ſich nun den Anblick den - ken von der Terraſſe hinunter uͤber eine in gluͤhendem Schmelz ſtehende Landſchaft, wo345 die widerſprechendſten Elemente ſich unaufhoͤr - lich mit einander gatten; den Kanal mit Fahrzeugen bedeckt, die bis an den Wimpel er - leuchtet ſind; am Geſtade eine rieſenmaͤßige Feuerpyramide, und hinter derſelben das ſchwarze Meer, an deſſen Horizont eine Flotte von Kriegsſchiffen ſchwebt. Die Waſſerſtroͤme der Kaskaden waͤlzen ſich uͤber buntfarbige Lampen, die Blaͤtter der Baͤume zittern im Schimmer von Millionen gebrochener Licht - ſtralen, und ſelbſt der Sand ſcheint die flam - mende Bewegung des Elements nachzuahmen, mit welchem er uͤberall, ich moͤchte ſagen, durchwirkt iſt.

Mitten unter dieſen Wundern der Feerey wandeln Tauſende von Menſchen, deren Fuß - tritte kaum hoͤrbar ſind, und die in ihren ſchwarzen ſeidenen Gewaͤndern den Schatten der Unterwelt gleichen. Hie und da ſchallt aus dem Gehoͤlze die unausſprechlich ſanfte und majeſtaͤtiſche Harmonie der ruſſiſchen Jagd - muſik, deren Toͤne in der reinen Abendluſt verhallen. Mit dem maͤßigſten Antheil von Einbildungskraft verſetzt man ſich hier an die Ufer der elyſiſchen Geſilde, vorzuͤglich, wennY 5346man das ſchoͤne Baſſin vor ſich hat, in deſſen Mitte ein erleuchteter Pavillon ſteht.

In den Zimmern des Pallaſtes draͤngt ſich unterdeſſen das bunte Maskengewuͤhl an wohl - beſetzte Tafeln oder zum Tanz. Pracht und Ueberfluß, die gewoͤhnlichen Begleiter koͤnigli - cher Feſte, geſellen ſich hier zu der ungezwun - genen Froͤhlichkeit, die ſonſt aus den Regionen der Erdengoͤtter verbannt zu ſeyn pflegt. Ue - berall zum Genuß aufgefordert, uͤberlaͤßt man ſich willig dem magiſchen Rauſche, bis die em - porſteigende Sonne die ſchoͤne Taͤuſchung zer - ſtoͤrt, und das Feuermeer der vergangenen Nacht in armſeligen Lampenſchein verwandelt.

Ein nicht minder großes und außerordent - liches Schauſpiel, wiewol von anderer Art, giebt das Ablaufen eines Kriegsſchiffs vom Stapel der Admiralitaͤt. Dieſe Begeben - heit, die durch die perſoͤnliche Gegenwart der Kaiſerinn eine große Feyerlichkeit erhaͤlt, kann als ein oͤffentliches Feſt angeſehen werden, und wird auch wirklich von der Polizey in allen Haͤuſern angekuͤndigt. Der furchtbare Koloß, der den Gegenſtand deſſelben ausmacht, ſteht zwiſchen dicken Balken wie eingemauert; zu347 beyden Seiten ſeiner Bahn, hart am Ufer, ſind Pavillons fuͤr den Hof angebracht; auf dem Platze paradiren Admiralitaͤtsſoldaten; die Ufer ſind mit Zuſchauern bedeckt; auf dem Fluſſe ſchwimmen geputzte Gondeln, Schiffe und kaiſerliche Jagden, und die Bruͤcke iſt auseinander genommen, um durch die bevor - ſtehende Revolution des Waſſers nicht erſchuͤt - tert und beſchaͤdigt zu werden. Die Feyer - lichkeit beginnt mit der prieſterlichen Weihe, wobey das neue Kriegsſchiff ſeinen Namen er - haͤlt. Die Kaiſerinn erſcheint, von den Gro - ßen ihres Hofes umgeben; ein Signal be - ſtimmt den Moment, in welchem ſich der kuͤnſt - liche Widerſtand loͤſet, und unter Kanonendon - ner, Kriegsmuſik und Jubelgeſchrey ſenkt ſich die Rieſenmaſſe langſam und feyerlich in den Fluß. Die Bahn raucht, die Newa ſchaͤumt und ſchlaͤgt Wellen, das truͤbe Waſſer verkuͤn - digt ſeinen Aufruhr und ſpielt mit den tanzen - den Gondeln. Alle Schiffe und Jagden feyern dieſen Augenblick durch wehende Wimpel und Flaggen. Die neue Waſſerveſte folgt eine Zeit - lang der Richtung des Stroms, und legt im Angeſicht der Bruͤcke vor Anker.

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Den Beſchluß dieſes Abſchnitts mag eine kurze Erzaͤhlung des merkwuͤrdigen Feſtes ma - chen, welches Fuͤrſt Potemkin der Taurier bey ſeiner letzten Anweſenheit in der Reſidenz zu Ehren der Beherrſcherinn des ruſſiſchen Reiches in ſeinem Pantheon*)Die Beſchreibung dieſes Pallaſts, ohne welche die folgende Schilderung mangelhaft ſeyn wuͤrde, findet ſich im erſten Theil, S. 59 folg. gab. Mit Lorbeeren bekraͤnzt und von Siegen ermuͤdet eilte der Feldherr nach der Reſidenz zuruͤck, um ſeines Triumphs unter dem Sonnenblick der Majeſtaͤt zu genießen, und in den Zirkeln der Freude die ihn erwarteten, das blutige Schlachtfeld auf einen Augenblick zu vergeſ - ſen. Eine dunkle Ahndung ſchien ihm zu ſa - gen, daß dies die letzten Augenblicke ſeyn wuͤr - den, die er auf dem glaͤnzenden Schauplatz ſeiner Groͤße zubringen duͤrfte, und dieſe zu genießen war ſein Zweck. Er entwarf den Plan zu einem Feſte, welches ihm die Gele - genheit verſchaffen ſollte, der erhabenen Schoͤp - ferinn ſeines Gluͤcks in ſeinem eignen Hauſe, vor den Augen des ganzen verſammelten Hofes349 ſeine Dankbarkeit zu Fuͤßen zu legen. Groß und außerordentlich, wie alle ſeine Entwuͤrfe, war auch dieſer. Ein ganzer Monat verfloß unter Zuruͤſtungen; Kuͤnſtler aller Art waren beſchaͤftigt; ganze Magazine wurden ausge - leert, um die Nothwendigkeiten herbeyzuſchaf - fen; taͤglich verſammelten ſich mehrere hundert Menſchen, um die Ausfuͤhrung vorzubereiten, und jeder dieſer Tage war ein glaͤnzendes Feſt. Endlich erſchien der Augenblick, welchem das ganze Publikum der Reſidenz, durch ſo große Veranſtaltungen aufs hoͤchſte zur Erwartung geſpannt, mit Sehnſucht entgegen geſehen hatte. Die Zuſage der Kaiſerinn und des kai - ſerlichen Hauſes, dieſen Tag durch ihre Ge - genwart zu verherrlichen, war gegeben; der Hof, die fremden Miniſter, der Adel und ein großer Theil des anſtaͤndigen Publikums waren geladen. Man verſammelte ſich Abends um ſechs Uhr in Maskaradenkleidung. Als der Wagen der Kaiſerinn gefahren kam, ward auf ein gegebnes Zeichen die Kokagne fuͤr das Volk eroͤffnet, welches ſich in Menge vor dem Pal - laſt eingefunden hatte. Große Haufen von Kleidungsſtuͤcken, aufgethuͤrmte Pyramiden von350 Eßwaaren und ein hinlaͤnglicher Vorrath an Getraͤnken wurden hier der Willkuͤhr des Poͤ - bels preis gegeben.

Die Kaiſerinn trat in das Veſtibuͤle, und ploͤtzlich begann eine rauſchende Muſik, die ſich von der Hoͤhe der Gallerie in den weiten Saal ergoß. Das Orcheſter war mit dreyhundert Perſonen beſetzt, und Inſtrumente wechſelten mit Menſchenſtimmen. Einige Augenblicke nachher begab ſich die Kaiſerinn in den Haupt - ſaal und die anweſende Menge folgte ihr nach. Sie nahm ihren Sitz auf einem etwas erhoͤh - ten Platz, der mit transparenten Vorſtellun - gen verziert war; das Publikum vertheilte ſich unter den Kolonnaden und in den Logen, und nun begann die zweyte Scene dieſes außeror - dentlichen Schauſpiels. Vierundzwanzig Paare der reizendſten Maͤdchen und Juͤnglinge aus edlen Geſchlechtern, unter welchen ſich auch die Großfuͤrſten Alexander und Konſtan - tin befanden, eroͤffneten eine Quadrille. Alle waren weiß gekleidet, und nur durch die Far - ben ihrer Guͤrtel und Scherpen unterſchieden. Der Werth ihres Schmucks ward auf zehn Millionen geſchaͤtzt. Die Muſik nach welcher351 ſich der Tanz richtete, war mit Geſang beglei - tet, und der große Kuͤnſtler Picq ſchloß dieſe Scene mit einem Solo.

Nun trat man in ein anderes, mit koſtba - ren Teppichen behangenes Zimmer. Hier ſtand ein kuͤnſtlicher Elephant, mit Smaragden und Rubinen behangen. Der Perſer der ihn re - gierte ſchlug an eine Glocke, und dies war das Signal einer neuen Veraͤnderung.

Ein Vorhang flog auf und man ſah eine praͤchtig dekorirte Buͤhne. Zwey Ballette und eine theatraliſche Vorſtellung unterhielten hier die Zuſchauer auf eine gewiß außerordentliche Weiſe. Die vollſtaͤndigſte und ſchoͤnſte Muſik, von Saͤngerchoͤren unterbrochen, der reizendſte Tanz, eine ungeheure Pracht und der Anblick der mannigfaltigſten Nationaltrachten in ihrem gefaͤlligſten Koſtume, ergoͤtzten hier alle Sinne zugleich. Als das Schauſpiel geſchloſſen war, vertheilte ſich die Geſellſchaft in alle Zimmer des Pallaſts. Eine praͤchtige Erleuchtung uͤber - raſchte jetzt uͤberall wo man hinſah. Waͤnde und Saͤulen ſchienen in Feuer zu ſtehen; große Spiegel, die hin und wieder verſteckt ange - bracht oder als Pyramiden und Grotten auf -352 geſtellt waren, verdoppelten die Wirkung die - ſes ſeltnen Anblicks, und ſelbſt der ganze Park ſchien mit funkelnden Steinen uͤberzogen zu ſeyn.

Eine Tafel, die dem Glanz des Feſtes entſprach, erwartete jetzt die Geſellſchaft[.]Sechshundert Perſonen ſaßen zu Tiſch und die uͤbrigen wurden im Herumgehen bewirthet. Man ſah kein anderes Tiſchgeraͤth als Gold und Silber; ſtatt der gewoͤhnlichen Kerzen ward die Tafel durch farbige Vaſen erleuch - tet, in welchen Lampen angebracht waren. Eine ungeheure Anzahl praͤchtiggekleideter Be - dienten und Hausoffizianten war mit der Auf - wartung beſchaͤfftigt, und uͤberall bedurfte es nur eines Winkes, um zu haben was man verlangte. Aus dem ganzen Gebiete der Schwelgerey konnte man fordern, ohne verge - bens gefordert zu haben.

Die Kaiſerinn machte an dieſem Tage gewiß zum erſtenmal ſeit vielen Jahren eine Ausnahme von ihrer gewoͤhnlichen regel - maͤßigen Lebensart; ſie blieb bis Mitternacht, um dem Wirth und der Geſellſchaft die Freude nicht zu verderben. Als ſie wieder in dasVeſti -353Veſtibuͤle trat, begann ein Chor von Men - ſchenſtimmen einen Hymnus, deſſen Gegenſtand Katharinens Ruhm war. Die Kaiſerinn, uͤberraſcht und geruͤhrt, wollte ſich zu dem Fuͤr - ſten wenden, als dieſer, hingeriſſen von ſeinem Gefuͤhl, auf die Knie fiel, ihre Hand ergriff und ſie mit ſeinen Thraͤnen benetzte. Eine dun - kle Ahndung ſchien ihn zu erſchuͤttern. Es war das letztemal, daß er ſeiner großmuͤthigen Beſchuͤtzerinn auf dieſer Stelle ſeinen Dank ſtammeln konnte.

Zweiter Theil. Z354

Zwoͤlfter Abſchnitt. Lebensart und Sitten.

Klaͤſſiſikation der Einwohner, nach den Beſtimmungen der Kultur und des Wohlſtandes. Erſte Klaſſe, das Volk. Veſtandtheile dieſer Maſſe Die Leibeigen - ſchaft, eine Quelle der Bevoͤlkerung in den Staͤdten. Nationalkleidung. Wohnung und haͤuslicher Zuſtand. Nahrungsmittel. Lebensart der Finnen. Schickſal und Verfaſſung der untern Volksklaſſen. Geringer Druck der Leibeigenſchaft. Leidliche phyſiſche Exiſtenz. Schutz der Geſetze. Zweyte Klaſſe, der auslaͤndi - ſche Handwerker. Vortheile ſeiner Lage. Luxurioͤſe Lebensart. Erziehung und Beſtimmung der Kinder. Anmaßender Ton. Kultur. Eigenthuͤmliches Gepraͤge. Taͤglicher Lebensgang. Dritte Klaſſe, der hoͤhere Mittelſtand. Wohnung. Hausgeraͤth. Tafel. Bedie - nung. Equipage. Kleidung. Beduͤrfniſſe und Koſten einer Haushaltung. Allgemeiner Karakter der Lebens - art. Große Geſelligkeit und Gaſtfreyheit. Ton der Geſellſchaften und Zirkel. Unterhaltungen. Tafelfreuden. Kartenſpiel. Konverſation. Mehrheit gangbarer Spra - chen. Petersburgiſches Deutſch. Taufnamen, die gewoͤhn - liche Anrede. Begruͤßungen. Hausfeſte. Annehmlich -355 keiten welche die gute Geſellſchaft giebt und Forde - rungen welche ſie macht. Geld und Rang, nothwen - dige Bedingungen. Böſes Schickſal der Fußgaͤnger. Bilanz. Auch ſonderbare Karaktere gefallen ſich hier. Haͤusliches Leben. Familiengluͤck. Wirthſchaftlichkeit mit der Sorge fuͤr aͤußern Anſtand. Kindererziehung. Fruͤhes Auftreten junger Leute in der Welt. Stim - mung des weiblichen Geſchlechts Freundſchaft und Egoismus. Vierte Klaſſe, die Großen. Reich - thum und Benutzung der Leibeigenen. Lebensart. Liberalitaͤt und Popularitaͤt. Hofton.

Um das Gemaͤlde zu vollenden, zu welchem wir bisher die einzelnen Zuͤge aufgeſtellt haben, bleibt uns nur noch die Schilderung der herr - ſchenden Lebensweiſe uͤbrig; eines Gegenſtan - des der ſo viele Schattirungen hat, daß wir, um nicht mißverſtanden zu werden, eine kurze Einleitung uͤber den Plan dieſer Skizze vor - anſchicken muͤſſen.

Keinem meiner Leſer wird die Bemerkung entgehen, daß eine ſo große und zahlreiche Menſchenmaſſe, als die Bewohner von St. Petersburg bilden, die ihrem Urſprunge und ihrer Verfaſſung nach aus ſo verſchiedenarti -Z 2356gen Theilen zuſammengeſetzt iſt, bey mehreren allgemeinen Zuͤgen, doch in ihrem Aeußern und Innern, in ihrer Lebensart und in ihrem Ka - rakter, eine außerordentliche Mannigfaltigkeit haben muͤſſe. So beſtimmt dieſe Vorſtellung iſt, ſo viele Schwierigkeiten hat ihre Anwen - dung auf den Gegenſtand, deſſen Schilderung wir entwerfen. Die Modifikationen deſſelben, die durch die verſchiedenen Grade der Kultur und des Wohlſtandes veranlaßt werden, kuͤndi - gen ſich nur in ſehr leiſen Umriſſen an; durch unzaͤhlige Abſtuffungen verliert ſich unbemerk - bar das Beduͤrfniß Einer Menſchenklaſſe in den Luxus der andern, und wir ſind in Gefahr uͤberall mit dieſen Worten keinen, oder nur einen ſehr undeutlichen Begriff zu verbinden. Um dieſem Uebel auszuweichen, wollen wir die geſammte Maſſe von Menſchen, mit deren naͤherer Kenntniß wir es zu thun haben, nach den vorhin angegebenen Beſtimmungen in fol - gende Klaſſen theilen, deren Unterſcheidungen um ſo auffallender ſeyn muͤſſen, weil in keinem Lande die Abweichungen der aͤußern Exiſtenz bey den verſchiedenen Staͤnden groͤßer ſind, als in Rußland.

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Zur erſten Klaſſe rechnen wir die Großen des Hofes und die reichen Landeigenthuͤmer; ihre Lebensart iſt die allgemeine europaͤiſche, mit mehr oder weniger Nationalſitte verſetzt. In die zweyte gehoͤrt der feinere Mittelſtand, der die wohlhabenden und beguͤterten Einwoh - ner, die hoͤhern Civil - und Militairbeamten, den Kaufmann, den Gelehrten, den Kuͤnſtler, und uͤberhaupt alle Auslaͤnder dieſer Gattung begreift. Ich zaͤhle alle dieſe Staͤnde zu Einer Klaſſe, weil ihre Lebensart, die Schattirungen abgerechnet, welche der groͤßere oder geringere Wohlſtand veranlaßt, ungefaͤhr dieſelbe iſt, weil ſie ein eignes Publikum ausmachen, ſich unter einander kennen, mit einander umgehen und in Familienverbindungen treten. Der auslaͤn - diſche, vorzuͤglich deutſche Handwerker bildet die dritte Klaſſe. Seine Lebensart ſchließt ſich an die der vorigen, nuͤancirt ſich aber durch viele Eigenthuͤmlichkeiten. Die vierte und letzte Klaſſe faͤngt mit dem geringern ruſſiſchen Kaufmann an, und begreift die Handwerker dieſer Nation und die ganze Volksklaſſe, die man gemeinhin den Poͤbel nennt. Da ſie die zahlreichſte, unentbehrlichſte und hungrigſte iſt,Z 3358ſo wollen wir mit ihrer Schilderung den An - fang machen.

Unter einer weit uͤberwiegenden Anzahl von Ruſſen und Finnen, die dieſe Klaſſe eigentlich bilden, finden ſich doch auch Ehſten, Letten, Tataren, Kalmuͤcken, ja ſogar Deutſche, Schwe - den, und andere Nationen, deren Loos in die - ſem Fall gewoͤhnlich haͤrter, als bey den Ein - gebornen zu ſeyn pflegt. Dieſe letztern ſind groͤßtentheils Leibeigene, die entweder zum Dienſt ihrer Eigenthuͤmer herbeygerufen wer - den, oder Paͤſſe erhalten, um ſich durch eine ſelbſtgewaͤhlte Art von Induſtrie in den Staͤd - ten fortzuhelfen. Es iſt naͤmlich bey den ruſſi - ſchen Landbeſitzern die Sitte, wenn ſie ihre Guͤter nicht ſelbſt bewirthſchaften, von ihren Bauern nur eine Perſonenſteuer zu erheben, die im Allgemeinen ziemlich gering iſt, und oft weniger, ſelten aber mehr als fuͤnf Rubel fuͤr jeden maͤnnlichen Kopf betraͤgt. Um die Quelle dieſer Einahme ergiebiger zu machen, ertheilt man den Bauern Paͤſſe, die ihnen die Erlaub - niß geben, ihren Boden zu verlaſſen und in den Staͤdten reichlichere Erwerbmittel aufzu - ſuchen. Hiedurch erklaͤrt ſich, was ſonſt fuͤr359 jeden Auslaͤnder ein Raͤthſel ſeyn muͤßte, wie der Poͤbel und die untern Staͤnde in den Staͤdten ſo zahlreich werden konnten, ehe Rußland einen dritten Stand und freye Volks - klaſſen hatte. Durch den Reichthum ihrer zu - ruͤckkehrenden Mitbruͤder gereizt, ſtroͤmen die Landleute jaͤhrlich in betraͤchtlicher Menge nach der Reſidenz, wo manche unter ihnen ein Gluͤck machen, das ſie unendlich uͤber ihre ei - gentliche Sphaͤre erhebt. Die Lebhaftigkeit der Nation, ihre Bildſamkeit und Empfaͤnglichkeit erleichtert dieſen rohen Menſchen den Ueber - gang zu jedem edlern und kuͤnſtlichern Ge - ſchaͤfte; eine Uebung von wenigen Wochen macht aus dem einfaͤltigſten Bauer einen ge - wandten Bedienten, einen geſchickten Stein - metz, einen induſtrioͤſen Rasnoſchtſchik, der bald von ſeinem Gewerbe zu einem noch ein - traͤglichern uͤbergeht, wenn ihm irgend das Gluͤck laͤchelt. Mit jeder Verbeſſerung ſeines Zuſtandes erhoͤhen ſich die Einkuͤnfte ſeines Herrn*)Die oft auf hundert bis zweyhundert Rubel jaͤhr - lich ſteigen. Z. B. der monatliche Lohn eines Bedienten, und auch der Landbau gewinnt inZ 4360gewiſſer Ruͤckſicht, weil die mehreſten dieſer Leute, wenn ſie ſich eine namhafte Summe er - worben haben, nach ihrem ehemaligen Stand - orte zuruͤckkehren, wohin ſie denn aber frey - lich nebſt ihrem Gelde, ihren Kunſtfertigkeiten und ihren verfeinerten Begriffen, auch den Luxus und die Laſter großer Staͤdte mitneh - men.

Wir haben die Klaſſe dieſer Leute in zwey Abtheilungen geſondert, und dieſer Unterſchied iſt wichtig. Alle leibeigene Domeſtiken, die im Dienſt ihrer Herrſchaften ſtehen, ſind in Beziehung auf ihren phyſiſchen Zuſtand durch - aus von dieſen abhaͤngig, und haben alſo ein beſſeres oder ſchlechteres Schickſal, je nachdem es ihren Eigenthuͤmern gefaͤllt. Zur Ehre der Menſchheit und des ruſſiſchen Adels werden die Beyſpiele von Haͤrte und Strenge immer ſeltner, die man aus der Sage vergangener Zeiten kennt. Eine menſchenfreundliche Geſetz -*)iſt jetzt acht, oder, wenn er friſiren kann, zehn bis zwoͤlf Rubel. Zwey bis vier Rubel behaͤlt er zu ſeinem Unter - halt, das Uebrige entrichtet er ſeinem Erbherrn, Kraͤmer und Kaufleute gewinnen und bezahlen weit mehr.361 gebung zuͤgelt die tyranniſche Willkuͤhr, und der Geiſt einer liberalen und milden Erziehung bereitet in den hoͤhern Staͤnden eine wohlthaͤ - tige Revolution in Sitten und Grundſaͤtzen vor. Im Ganzen iſt das Schickſal der Be - dienten in herrſchaftlichen Haͤuſern ſo gut, daß ſie dadurch nicht ſelten zu einer Inſolenz ver - fuͤhrt werden, die den ſtaͤrkſten Beweis von ihrem Wohlleben und von der nachſichtigen Behandlung giebt, unter welcher ſie ſtehen.

Der geringe ruſſiſche Kaufmann, der Hand - werker, der beſſere Poͤbel, kurz alle freye oder mit Paͤſſen verſehene Leute dieſer Klaſſe ſind ſich in ihrer Lebensweiſe und in ihren Sitten ſo gleich, daß wir die Schilderung derſelben hier fuͤglich in Eins zuſammenfaſſen koͤnnen.

Die Kleidung des gemeinen Ruſſen iſt noch voͤllig die alte Nationaltracht, deren Beybe - haltung uͤberall ſehr vernuͤnftig waͤre, weil ſie den Beduͤrfniſſen des Klima angemeſſen, be - quem, und dem Koͤrperbau vortheilhaft iſt. Sie beſteht in einem langen, bis an die Fer - ſen reichenden Rock, der eng an den Leib ſchließt, und deſſen Schoͤße uͤberaus viele Fal - ten haben. Vorne wird er, wie unſere Ueber -Z 5362roͤcke, mit denen er einige Aehnlichkeit hat, uͤbereinander geſchlagen und zugeknoͤpft. Um den Leib windet der Ruſſe einen Guͤrtel, in welchen er ſeine Handſchuhe, ſeine Peitſche oder ſeine Axt zu ſtecken pflegt. Statt des Hemdes traͤgt er ein Wammes, gewoͤhnlich von buntgeſtreifter Leinewand. Sein Hals iſt voͤl - lig entbloͤßt, und die Stelle der Hoſen vertritt eine weite leinene Bekleidung*)Die Ruſſen ſind alſo ſchon ſo weit, als Herr Dok - tor Fauſt die uͤbrige Menſchheit zu bringen gedenkt. Wie ſich doch alles aͤndert! Vor hundert Jahren mußten die Ruſſen den Vorwurf dulden, daß ſie erſt von den Deut - ſchen das Hoſentragen gelernt haͤtten; jetzt lernen deut - ſche Philantropen von ruſſiſchen Bauern ohne Hoſen gehn.. Den Ge - brauch der Struͤmpfe kennt er nicht; er um - windet ſeine Fuͤße mit Tuchlappen, und zieht weite Stiefel daruͤber, die er zuweilen mit Schuhen von Baſt oder Leder, ohne Schnal - len, vertauſcht. Seine Kopfbedeckung iſt ein heruntergeſchlagener ſehr tiefer Hut, gerade von der Form, wie ihn jetzt die Stutzer in England tragen. Im Winter verwechſelt er dieſen mit einer Muͤtze, und ſeinen Rock mit363 einem Pelz, den er ebenfalls mit einem Ku - ſchak umguͤrtet.

Dieſe Beſchreibung paßt nur auf die ein - fachſte und aͤrmlichſte Kleidung. Wohlhabende Leute, die die Nationaltracht beybehalten, tra - gen Hemden, Hoſen, Stiefel und Struͤmpfe; ihre Roͤcke ſind von feinem Tuch und werden im Winter mit koſtbarem Pelzwerk gefuttert; alle aber, ſie moͤgen reich oder arm ſeyn, tra - gen ſchlichtes, heruntergekaͤmmtes, ungepuder - tes Haar, und laſſen ihren Bart wachſen. Der Anblick eines wohlgemachten Mannes in dieſer Tracht hat etwas Edles und Gefaͤlliges, wogegen die Schnoͤrkeleyen unſerer Modeklei - dung ſtark kontraſtiren. Was aber dieſe an ſich ſehr vortheilhafte Kleidung noch mehr er - hebt, iſt der leichte Anſtand und die Gewand - heit der Ruſſen. Kein Volk hat in dieſer Ruͤckſicht mehr Aehnliches mit den Franzoſen. Die Art, wie der Ruſſe ſeinen Hut oder ſeine Muͤtze ſetzt, ſein leichter feſter Schritt, die Be - hendigkeit ſeiner Bewegungen, alles hat, ſogar bey dem Landvolk, eine gewiſſe ungekuͤnſtelte Grazie, zwar nicht von der Art, wie man ſie364 auf Opernbuͤhnen ſieht, die aber doch beym er - ſten Anblick einnimmt und gefaͤllt.

Die Weiber ſind durch ihre Kleidung nicht ſo ſehr gegen die Unfreundlichkeit des Klima geſchuͤtzt; aber ihre ſitzende, haͤusliche Lebens - art macht ihnen dieſen Vortheil entbehrlich. Sie tragen einen gewoͤhnlichen Weiberrock und ein Mieder ohne Aermel, an deren Stelle ein reinliches aufgekrauſtes Hemde zu ſehen iſt. Wohlhabendere Weiber bekleiden ſich mit einem langen, an den Leib paſſenden Anzuge, der den ganzen Koͤrper bedeckt. Ihr Kopfputz beſteht in einem großen ſeidenen Tuche, welches ſie auf eine eigene Art um den Kopf winden, oder in einer kleinen Haube, von koſtbarem Zeuge, mit Spitzen und Perlen beſetzt. Die Totlette einer nur maͤßig wohlhabenden Frau erfordert uͤberaus viele Nippes, goldne Ketten, Ohrge - henke, Perlenſchnuͤre, Ringe, und dergleichen. An ihre Hauben pflegen ſie, beym Ausgehen, noch ein ſehr großes ſeidnes Tuch zu ſtecken, welches uͤber die Schultern und den Ruͤcken hinunter haͤngt.

Dieſe Kleidung, die theuer zu ſtehen kommt, wenn ſie nur einigermaßen gut ſeyn ſoll, er -365 hebt zwar die natuͤrlichen Reize eines ſchoͤnen Weibes, daher ſie auch von Damen aus den hoͤhern Staͤnden, die ſich ihrer Vorzuͤge be - wußt ſind, gerne zur Maskenverkleidung ge - waͤhlt wird; aber ein haͤßliches Geſicht oder ein mißgeformter Koͤrper ſtechen unter dieſer Huͤlle deſto greller hervor. Daß die Schminke bey allen ruſſiſchen Weibern den weſentlichſten Theil der Toilette ausmacht, iſt ſchon anders - wo in dieſem Buche geſagt. Ihre ſitzende Le - bensart, ihr leidenſchaftliches Temperament und die Pflege die ſie bey einiger Wohlhaben - heit auf ihren Koͤrper wenden, giebt ihnen ge - woͤhnlich ſchon in ihrem bluͤhendſten Alter ein Embonpoint, wodurch ſie das Anſehn von Ma - tronen erhalten.

Ein großer Theil der unterſten Volksklaſſe iſt kaum unter die Bewohner der Reſidenz zu rechnen, weil in derſelben ein unaufhoͤrlicher Ab - und Zufluß herrſcht. Den Sommer hin - durch beſchaͤftigen ſich viele tauſend Menſchen als Zimmerleute, Maurer, Steinmetzen, Pfla - ſterer, die beym Anfange des Winters in ihre Heymath zuruͤckkehren, und deren Bevoͤlkerung durch andere Tauſende erſetzt wird, die ſich366 wieder als Iswoſchtſchiki, Eisgraͤber, u. ſ. w. naͤhren. Die mehreſten unter ihnen haben alſo auch keine bleibende Staͤtte und kein Eigen - thum, als das Werkzeug ihrer Induͤſtrie. Sie wohnen theils in den entlegenſten Stadtthei - len, theils in den Doͤrfern um der Reſidenz, wo ſie in groͤßerer oder klemerer Anzahl in Artels zuſammentreten und ihre Beduͤrfniſſe aus einer gemeinſchaftlichen Kaſſe beſtreiten. Viele unter ihnen, die als Maurer, Zimmer - leute oder dergleichen einen Bau oder eine Ar - beit uͤbernommen haben, verlaſſen nicht ein - mal den Platz ihrer Beſchaͤftigung, ſondern ſchlafen unter freyem Himmel, zwiſchen Schutt - haufen oder unter Thorwegen, um am folgen - den Morgen deſto fruͤher bey der Arbeit zu ſeyn. Eine zahlreiche Volksmenge lebt und webt den Sommer hindurch auf den Barken und Floͤſſen, die unter ihrer Begleitung nach St. Petersburg kommen.

Der ruſſiſche Handwerker, den ſein Ge - werbe zu einer ſitzenden Lebensart zwingt, wohnt gewoͤhnlich in den Kellergeſchoſſen ſtei - nerner Haͤuſer, oder miethet ſich eine armſe - lige hoͤlzerne Huͤtte: denn Sparſamkeit iſt ein367 hervorſtechender Zug der untern Volksklaſſen. Da faſt alle Haͤuſer der Reſidenz nach italie - niſcher Sitte ein bewohnbares Kellergeſchoß haben, ſo finden dieſe Leute auch in den beſten Gegenden Wohnungen, die uͤbrigens ſo ſehr geſucht werden, daß oft die Keller ſchon mit Menſchen angefuͤllt ſind, wenn noch im zwey - ten oder dritten Stockwerk gebaut wird. Hier leben zahlreiche Familien in Eine Stube zu - ſammengedraͤngt; nicht ſelten iſt die Bevoͤlke - rung des ganzen Hauſes geringer, als die des Kellergeſchoſſes. Die niedrige Lage, der kleine Raum, die unbetraͤchtliche Hoͤhe der Zimmer und die Ausduͤnſtungen der feuchten Mauern, muͤſſen unter der ganzen in Souterrains woh - nenden Menſchenmenge Verheerungen anrich - ten, fuͤr die unſere Sterbeliſten wahrſcheinlich keine Rubrik haben. Eine gleiche Bewand - niß hat es mit den Lawken oder Kellerbuden, deren feuchte kalte Luft ſelbſt von Voruͤberge - henden bemerkt werden kann. Zuweilen hat der Kraͤmer nicht einmal ein Zimmer zu ſeiner Wohnung, ſondern ißt und trinkt und ſchlaͤft in ſeinem Laden, den er nicht heitzen darf. Nicht viel beſſer wohnt der geringe ruſſiſche368 Kaufmann, und wenn das Gegentheil auch hin und wieder der Fall iſt, ſo fehlt es doch an der Reinlichkeit, ohne welche die praͤchtig - ſten Zimmer ungeſund ſind.

Die Berichte der Reiſebeſchreiber von der Reinlichkeit der ruſſiſchen Nation widerſprechen ſich oft. Einige nennen die Ruſſen ein reinli - ches, andere ein unreinliches Volk, und beyde Theile koͤnnen Recht haben. Das haͤufige Ba - den, zum Beyſpiel, beweißt fuͤr die gute Seite; aber ihre Rauchſtuben, der uͤble Geruch, den man in den meiſten Wohnungen gemeiner Leute findet, beweiſen eben ſo viel fuͤr das entgegen - geſetzte Extrem. Die Wahrheit iſt, daß der Ruſſe noch keinen Sinn fuͤr Reinlichkeit hat, daß aber gluͤcklicher Weiſe einige alte Natio - nalſitten, von denen er ſich aus Gewohnheit nicht losſagen mag, ihn in einer ertraͤglichen Mittelbahn halten. So wird man, zum Bey - ſpiel, in allen Bauerhuͤtten, ſehr weißge - ſcheuerte Tiſche finden; aber des Ungeziefers achtet er nicht, oder ſchont deſſen aus einer Art von herkoͤmmlichem Reſpekt. Seinen Koͤr - per waͤſcht er zwar zwey bis dreymal in der Woche; aber ſeine Kleidungsſtuͤcke, ſie moͤgenauch369auch ſo unſauber ſeyn als moͤglich, legt er nicht eher als in der Badſtube ab, wo ſie zu - gleich mit ausgewaſchen werden. Ein groͤſ - ſerer Wohlſtand und hoͤhere Kultur giebt dem Ruſſen nicht allemal dieſen fehlenden Sinn, deſſen Mangel oft mit dem Luxus der beſſern Lebensart auf eine ſonderbare Weiſe kon - traſtirt.

Die Nahrungsmittel des gemeinen Man - nes ſind im zweyten Abſchnitte geſchildert. Die Speiſen die man dort angefuͤhrt findet, ma - chen die taͤgliche Tafel aller der Menſchen, die zu unſerer vierten Klaſſe gehoͤren, wobey die Abſtuffungen des Wohlſtandes nur ſehr ge - ringen Einfluß haben. Der reichſte Kaufmann oder Podrjaͤdſchik, wenn er nach alter ruſſi - ſcher Sitte lebt, ſetzt kein auslaͤndiſches Ge - richt auf ſeinen Tiſch, und bereitet oft ſeine Faſtenſpeiſen um nichts appetitlicher, als der armſeligſte Bauer. Nur in den Getraͤnken unterſcheidet ſich die Tafel des wohlhabenderen Theils dieſer Klaſſe; denn ſo wenig der ge - meine Ruſſe die Gourmandiſe kennt, ſo gern er ſich mit der ſchlechteſten vaterlaͤndiſchen Koſt behilft, ſo groß iſt auch ſeine Liebhaberey fuͤrZweiter Theil. A a370ſtarke Getraͤnke, und er erwirbt ſich oft hie - rinn einen Takt, der dem feinſten Dilettanten aus den hoͤhern Staͤnden Ehre machen wuͤrde. Das arme Volk kann dieſe guten Anlagen freylich nur durch den Branntwein kultiviren: aber wer Etwas mehr zu verzehren hat, legt ſich auch auf die Kenntniß auslaͤndiſcher Biere und Weine. Die Konſumtion dieſer Getraͤnke iſt in den Gaſthaͤuſern, die von den niedrig - ſten Volksklaſſen beſucht werden, ſehr groß, und ich habe ſelbſt einmal bey einer oͤffentli - chen Gelegenheit, wo das Publikum zahlreich verſammelt war, einen Haufen Iswoſchſchtiki einige Dutzend Bouteillen Porter unter ſich ausleeren ſehn.

Obgleich das gemeine Volk ſich gerne und fruͤh verheyrathet, ſo haben doch nur die We - nigſten ihre Weiber bey ſich, wenn ſie in der Reſidenz leben. Da ein großer Theil derſelben auch keine eigentliche Wohnung hat, und Viele, ihres Gewerbes wegen, den ganzen Tag auf der Gaſſe oder weit von ihrer Hey - math zubringen muͤſſen, ſo hat die Induſtrie ihrer Mitbruͤder dafuͤr geſorgt, daß ſie uͤberall, an allen Gaſſenecken, auf allen Plaͤtzen, ihren371 Hunger befriedigen koͤnnen. Faſt alle die Spei - ſen und Getraͤnke, die in dem vorhin ange - fuͤhrten Abſchnitte namhaft gemacht ſind, wer - den von Umtraͤgern feil geboten, die ihre klei - nen Feldtiſche da wo ſie Kaͤufer vermuthen, aufſchlagen. Dieſe Einrichtung gewaͤhrt nicht nur dem Poͤbel, ſondern auch allen Leuten welche Domeſtiken halten, eine ſehr große Be - quemlichkeit. Man kann ſeine Bediente zu je - der Stunde brauchen, weil der gemeine Ruſſe ſich mit ſeiner Mahlzeit an keine beſtimmte Zeit bindet, und einige wenige Kopeken taͤglich reichen hin, um ihn auf dieſe Art ſatt zu ma - chen, dagegen er ſelten zufrieden iſt, wenn er aus der Kuͤche ſeines Herrn geſpeiſt wird.

Ich habe bis izt der Finnen, die naͤchſt den Ruſſen den groͤßten Theil der unterſten Volksklaſſe bilden, in dieſer Schilderung nicht erwaͤhnt. Ihre Lebensart iſt beynah dieſelbe, und unterſcheidet ſich nur durch die Folgen ihrer moraliſchen Individualitaͤt. Dahin gehoͤrt vor - zuͤglich die Unreinlichkeit, die nebſt dem außer - ordentlichſten Phlegma karakteriſtiſche Kenn - zeichen dieſer Nation ſind. Die maͤnnliche Kleidung der Finnen iſt ganz nach ruſſiſcherA a 2372Sitte; aber kein fremder Beobachter, der nur einige Tage hier gelebt hat, wird durch dieſe Aehnlichkeit verfuͤhrt werden, ſie mit Ruſſen zu verwechſeln. Der zerriſſene Rock und die uͤberall hervorſtechende Unſauberkeit ſtempeln ſie auf eine ſo unterſcheidende Weiſe, daß man nicht einmal den traͤgen Gang und die Natio - nalphyſiognomie zu bemerken braucht, um in ihrer Erkennung gewiß zu ſeyn. Die Weiber und Maͤdchen kleiden ſich mehr nach deutſchem Geſchmack, und behaupten, ſelbſt unter dieſem verwahrloſeten Menſchenſtamm, den feinern Sinn fuͤr Reinlichkeit und Ordnung, der dem ſchoͤnern und ſanftern Geſchlechte vorzugsweiſe eigen zu ſeyn ſcheint. In der Zubereitung ih - rer Speiſen weichen die Finnen zwar von den Ruſſen ab; aber wo ſie mit dieſen gemein - ſchaftlich leben, da ſind ſie auch mit ruſſiſcher Koſt zufrieden. Die Liebhaberey fuͤr ſtarke Getraͤnke iſt bey ihnen eben ſo allgemein, doch ohne den Luxus, deſſen vorhin erwaͤhnt wurde, weil ihre Armuth ſie nur auf die einfachſte Befriedigung ihrer Beduͤrfniſſe einſchraͤnkt.

Wir haben in dieſem und mehreren vor - hergehenden Abſchnitten die Beduͤrfniſſe, die373 Gewerbe, die Vergnuͤgungen und die Lebensart der untern Volksklaſſen in der Reſidenz ge - ſchildert; ihr phyſiſcher Zuſtand und ihr Schick - ſal ſind das Reſultat dieſer Darſtellung, die auf anerkannte, notoriſche Thatſachen gegruͤn - det und durch keinen verſchoͤnernden Pinſel ausgemalt iſt.

In allen großen Staͤdten von Europa giebt es Eine Klaſſe von Einwohnern die viel, und Eine die wenig oder nichts hat. Dieſer Un - terſchied, der ſeinen erſten Grund in der Kul - tur ſucht, iſt an ſich ſo wenig dem Zweck der menſchlichen Geſellſchaft entgegen, daß er viel - mehr die Erreichung deſſelben beſchleunigen hilft; eine Wahrheit, die nur von unſinnigen Volksverfuͤhrern und Demagogen, oder von fanatiſchen ſouverainen Ohnehoſen geleugnet werden kann. Das wahre oder eingebil - dete Beduͤrfniß auf der einen, und das Vermoͤgen zu bezahlen, auf der andern Seite, ſind die Hebel der menſchlichen Induſtrie, und gewiſſermaßen auch ſeiner Vervollkommung, die, zu eben der Zeit, da ſie die Kultur der buͤrgerlichen Geſellſchaft befoͤrdern helfen, auch den allzugroßen Abſtand der armen arbeitendenA a 3374und der reichen genießenden Klaſſe auszuglei - chen bemuͤht ſind. In eben dem Maaß, in welchem die Kultur ſich uͤber Europa verbrei - tet, gehen die Laͤndereyen der Grundbeſitzer in die coffres-forts des Handelsſtandes und der Gewerbleute uͤber. Den geringſten Antheil an dieſer Cirkulation hat freylich das Volk, das immer die groͤßte Maſſe jeder Nation aus - macht; aber Geld wuͤrde aufhoͤren Geld zu ſeyn, ſobald Jedermann deſſen genug haͤtte. Wo alle reich waͤren, da wuͤrden alle arm ſeyn; eine voͤllige Gleichheit des reellen und repraͤſentirenden Reichthums, ſo unmoͤglich ſie auch nur fuͤr eine Dauer von vierundzwanzig Stunden iſt, muͤßte, wenn ſie ſtatt finden koͤnnte, die menſchliche Geſellſchaft in den Zu - ſtand der roheſten Unkultur zuruͤckſtoßen.

So unleugbar dieſe Praͤmiſſen ſind, ſo we - nig folgt hieraus, daß eine allzugroße Un - gleichheit des Vermoͤgens vortheilhaft oder auch nur unſchaͤdlich waͤre. Ohne den Kalkul ſtaats - wirthſchaftlicher Kenner zu Rathe zu ziehen, empoͤrt ſich unſer menſchliches Gefuͤhl gegen ei - nen Grundſatz, den nur die habſuͤchtigſte Ty - rannei der entarteten und geblendeten Vernunft375 aufdringen kann. Das Verhaͤltniß des Wohl - ſtandes der verſchiedenen Volksklaſſen laͤßt ſich allerdings nach keinem ſyſtematiſchen Typus modeln; aber wenn einmal von Idealen die Rede iſt, ſo duͤrfte vielleicht der Zuſtand die groͤßte Zuſtimmung in dem unſichtbaren Areo - pagus der Weiſen und Guten erhalten, in wel - chem das Volk, bey einem menſchlich zugewo - genen Antheil von Lebensgenuß, noch Sporn genug zu fortſchreitender Thaͤtigkeit behielte. Dieſen Sporn, deſſen Nothwendigkeit alle Kenner der menſchlichen Natur gerne eingeſte - hen werden, giebt Beduͤrfniß und Eigenthum her.

Ich habe da ein großes Wort geſagt, das mich auf meinen Gegenſtand zuruͤckfuͤhrt. Fuͤr das Beduͤrfniß, hoͤre ich meine Leſer rufen, ſorgt ſichs wol, wo das Eigenthum fehlt! Es iſt wahr, daß die unterſte Volksklaſſe der ruſſiſchen Nation kein Eigenthum beſitzt, wel - ches durch Staatsverfaſſung oder Geſetze ge - gen Eingriffe der willkuͤhrlichen Gewalt ſicher geſtellt waͤre; aber ich getraue mir zu behaup - ten, daß ſie deswegen um nichts ungluͤcklicher genannt werden kann, als die große Maſſe desA a 4376Volks in den meiſten europaͤiſchen Laͤndern. Ich wuͤrde hier den Zuſtand der Odnodworzi und der Kronbauern anfuͤhren, die bekanntlich eine ſehr betraͤchtliche Ausnahme von dieſer Schilderung machen; oder mich auf die man - nigfaltigen Verordnungen berufen, die in neu - ern Zeiten der Willkuͤhr des Adels Schranken geſetzt haben, wenn ich nicht einen weit kraͤfti - gern Beweis meiner Behauptung aus der Er - fahrung hernehmen koͤnnte, von der jeder un - befangene Beobachter, der zur Stelle iſt, ſich ſelbſt uͤberzeugen kann. Kein Volk, unter allen von welchen ich eine unmittelbare oder hiſtori - ſche Kenntniß beſitze, iſt im Ganzen ſo zufrie - den mit ſeinem Zuſtande, als die Ruſſen; bey keinem Volke findet ſich ein groͤßerer Antheil von Nationalfroͤhlichkeit und Reſignation, eine groͤßere Theilnahme an oͤffentlichen Feſten; wenige Nationen unter aͤhnlichen Umſtaͤnden werden eine ſolche Menge wohlhabender und reicher, und in ſolchem Grade reicher Bauern aufzuweiſen haben*)Es iſt hier nicht bloß von den Bauern die Rede, welche ſich durch ſtaͤdtiſche Gewerbe zu Reichthuͤmern. Selbſt die Entſagung,377 die Induſtrie und die Anſtrengung, mit wel - cher der beurlaubte Bauer ſich etwas zu er - werben ſtrebt, iſt ein Beweis, daß er den Glauben an die Sicherheit ſeines Eigenthums hat. Waͤre dies nicht, ſo wuͤrde er die Hoff - nung reich zu werden, dem augenblicklichen Ge - nuß aufopfern; aber die Erfahrung beweiſ’t das Gegentheil auf die unwiderſprechlichſte Art. Kein gemeiner Ruſſe verzehrt was er erwirbt; oft ſetzt er ſeine aͤußerſt frugale Le - bensart auch dann noch fort, wenn ſeine Be - triebſamkeit ihn ſchon fuͤr die Beſorgniß eines kuͤnftigen Mangels geſichert hat. Aus die - ſen Thatſachen ſoll und kann zwar die Folge - rung nicht gezogen werden, als ob der ZuſtandA a 5*)emporſchwingen; auch unter denen die auf dem Lande le - ben, giebt es ſehr wohlhabende Leute. Mir iſt ein Fall bekannt, da ein einziges Dorf freywillig 30,000 R. auf - brachte, um den Beſitzer deſſelben, der ein gnter Herr ge - gen ſeine Leute war, aus einer großen Geldverlegenheit zu retten. Unter den Bauern des Grafen Schereme - tjew ſoll es mehrere geben, die 50 bis 100,000 R. beſitzen, und, nach der Erzählung eines neuern Schriftſtellers, zu - weilen auf Silber und ſächſiſchem Porzellain ſpeiſen.378des ruſſiſchen Bauern keiner Verbeſſerung faͤ - hig waͤre ein Sophism, welches dem men - ſchenfreundlichen, mutterliebenden Herzen Ka - tharinens und den aufgeklaͤrten Geſinnun - gen des Adels eben ſo veraͤchtlich ſcheinen wird, als es dem Intereſſe der Menſchheit ſchaͤdlich iſt ; aber ſie ſollen und koͤnnen beweiſen, daß die untern Volksklaſſen in Rußland die bedauernswuͤrdigen Sklaven nicht ſind, fuͤr die das auswaͤrtige Publikum, durch einige gallfuͤchtige Beobachter und oberflaͤchliche Phi - lantropen bethoͤrt, noch immer ſein unnuͤtzes Mitleid verſchwendet.

Was hier von der guten, oder wenn man will, ertraͤglichen, Seite des Volkszuſtandes geſagt iſt, gilt uͤberall in der Reſidenz in noch hoͤherem Grade. Der milde Geiſt der Regie - rung, der hier an ſeiner Quelle die Wirkun - gen verdoppelt; die groͤßere Kultur des Adels; der Umſtand, daß der uͤberwiegende Theil des Volks aus freygelaſſenen oder mit Paͤſſen ver - ſehenen Bauern beſteht; endlich auch die Stimmung dieſer Volksklaſſe ſelbſt ver - ſchleyern das Daſeyn des Menſcheneigenthums hier ſo ſehr, daß der fremde Zuſchauer, dem379 die Tradition es nicht verrathen haͤtte, uͤber dieſen Gegenſtand lange getaͤuſcht werden koͤnnte.

Alle Kanaͤle des buͤrgerlichen Erwerbs ſte - hen dem Volke frey. Wie vortheilhaft es dieſe benutzt, davon ſind unter mehreren Ru - briken dieſes Buchs ſo vielfaͤltige Beyſpiele an - gefuͤhrt, daß hier fuͤglich daruͤber geſchwiegen werden kann. Der Gewinn des geringſten Tageloͤhners iſt groͤßer als wir ſein taͤgliches Beduͤrfniß annehmen duͤrfen, ohne dieſes mit dem Gefuͤhl eines Gefangenwaͤrters zu berech - nen. So wenig anlockend ſeine Tafel ver - woͤhntern Gaumen ſeyn mag, ſo gewiß iſt es doch, daß der gemeine Ruſſe, wenn er nicht in den Hotels der Reſidenz erzogen iſt, die fein - ſten Schuͤſſeln verſchmaͤhen wird, um ſich an ſeinem Schtſchi und ſeiner Kaſcha zu ſaͤttigen. Seinen leidenſchaftlichſten Sinn, den Durſt nach ſtarken Getraͤnken, zu befriedigen, bedarf er nur wenige Kopeken; er muͤßte ſehr arm, oder welches einerley iſt, ſehr faul ſeyn, um ſich dieſen Genuß nicht wenigſtens woͤchentlich Einmal gewaͤhren zu koͤnnen. Seine Beklei - dung iſt immer zulaͤnglich, und niemals, außer380 etwa bey einem Bettelbuben, auf die man aͤu - ßerſt ſelten ſtoͤßt, fehlt etwas Weſentliches an dieſem Theil ſeiner Nothwendigkeiten. Jeder Ruſſe ohne Ausnahme hat ſeinen Schaafpeltz; nie ſieht man, wie in andern Laͤndern, die aͤrmſte Klaſſe bey ſtarker Kaͤlte ohne dieſe Be - deckung Die Stubenwaͤrme iſt ein großes Beduͤrfniß des gemeinen Volks; auch dieſe entbehrt es nirgend. Die ſogenannten Schwarz - ſtuben in allen Haͤuſern werden auf eine uͤber - maͤßige Weiſe geheizt, und verurſachen oft ei - nen groͤßern Aufwand an Holz als ſelbſt die herrſchaftlichen Zimmer.

Alle Volksklaſſen ſtehen hier unter dem Schutz der Geſetze. Wenn dieſer Vortheil dem leibeigenen Bedienten weniger zu ſtatten kommt, weil das Recht der ſtrengern Haus - zucht nur durch die Grenzen der peinlichen Gerichtsbarkeit eingeſchraͤnkt wird; ſo macht der uͤbrige Theil des Volks ſich der Befug - niſſe ſeiner durch Katharinens philoſophi - ſche Geſetzgebung anerkannten buͤrgerlichen Exiſtenz auf eine deſto vollguͤltigere Art zu Nutze. Alle eigenmaͤchtige koͤrperliche Beſtra - fung iſt ſtreng unterſagt; Niemand, ſelbſt der381 gemeinſte Bauer nicht, darf anders als vor Gericht mit Schlaͤgen behandelt werden. Wenn einzelne Menſchen ein ſolches widerrecht - liches Verfahren an ſich erdulden, ſo iſt Klein - muth, gewohnter Sklavenſinn, oder Unbekannt - ſchaft ihrer Rechte Schuld daran; aber der bey weitem zahlreichere Theil des Poͤbels der Reſidenz kennt ſeinen Schutz und weiß ihn geltend zu machen. In einem ſolchen Fall wird es dem Beklagten nicht ſelten ſchwer, ſich zu rechtfertigen, oder Genugthuung zu er - halten, wenn er ſich berechtigt glaubt, dieſe zu fordern. Die Polizey, das gewoͤhnliche Tribunal ſolcher Vorfaͤlle, iſt nach der Lage der Dinge natuͤrlich geneigt, immer eher auf die Seite der bisher unterdruͤckten Parthey zu treten; einzelne unangenehme Erfahrungen die - ſer Art haben die hoͤhern Staͤnde behutſam gemacht, und manchem Uſurpatoren unter den - ſelben Achtung fuͤr Menſchenwerth durch die Schaͤrfe des Geſetzes gepredigt.

In keinem Lande iſt der Abſtand in der Lebensart der unterſten Volksklaſſe und des geringern Mittelſtandes ſo groß als in Ruß - land. Wenn jene noch ganz nach alter Natio -382 nalſitte, zum Theil ſehr aͤrmlich, und mehr oder weniger unter einer Art von phyſiſcher und moraliſcher Bedruͤckung lebt; ſo findet man bey dieſem ſchon auslaͤndiſche Sitten, ei - nen hohen Grad von Luxus, und eine buͤrger - liche Achtung und Freyheit, deren er in dem Maaße vielleicht nirgend genießt. Die Klaſſe von der wir hier reden, begreift den gerin - gern Mittelſtand und vorzuͤglich den aus - laͤndiſchen Handwerker und Kuͤnſtler. Eingedenk des Vorzugs ſeiner freyen Geburt, ſtolz auf das Uebergewicht ſeiner groͤßern Kul - tur und ſeiner Kunſtfertigkeiten, und uͤbermuͤ - thig gemacht durch die Vergleichung ſeines beſſern Zuſtandes und ſeines leichten und ſtar - ken Gewinns betrachtet er ſich nur als freyen Auslaͤnder, als Lehrmeiſter ſeiner ruſſi - ſchen Mitbuͤrger, als ein Weſen hoͤherer Art. Dieſer Wahn, der ſich allerdings auf einige Realitaͤt gruͤndet und durch die Nachgiebigkeit der hoͤhern, ſo wie durch die Unterwerfung der geringern Staͤnde genaͤhrt wird, hat einen ent - ſcheidenden Einfluß auf die Sitten und Den - kungsart dieſer Menſchen.

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Der Zuſtand des auslaͤndiſchen Handwer - kers und Kuͤnſtlers iſt im Ganzen ſo vortheil - haft, ſeine Erwerbmittel ſind ſo ergiebig und die Anreizungen zum Genuß und Aufwande ſo verfuͤhreriſch, daß man ohne Uebertreibung behaupten kann, ſeine Lebensart ſey, England ausgenommen, nirgend beſſer als hier. In den eintraͤglichſten Gewerben, zu welchen hier vorzuͤglich das Schneider-Baͤcker-Tiſchler - Schmiede - und Sattlerhandwerk und die Be - arbeitung der edlen Metalle gehoͤren, giebt es viele Meiſter, die eigne Haͤuſer beſitzen, und ſelbſt diejenigen, deren Gewerbe nicht ſo ſchnell zum Wohlſtande fuͤhren, oder die nur kurze Zeit anſaͤßig ſind, wohnen groͤßtentheils ge - maͤchlich, bequem, und ihrer Nahrung wegen auch in den beſten Stadttheilen. Selten fin - det man eine Familie in den Werkſtaͤtten bey - ſammen; gewoͤhnlich ſind dieſe in einem abge - legenen Theile des Hauſes oder der Woh - nung, und in den Prunk - oder Wohnzimmern iſt keine Spur der Handwerksbeſchaͤftigung ſichtbar. Das Hausgeraͤth iſt im Allgemeinen nur einfach und ſolid; in dieſem Theil des Lu - xus hat die Verſchwendung weniger uͤberhand384 genommen. Ein deſto groͤßerer Aufwand herrſcht in der Kuͤche. Mehrere gut und oft lecker zubereitete Speiſen Mittags, eine ver - haͤltnißmaͤßige Abendtafel, Schaͤlchen, Fruͤh - ſtuͤck, zweymal taͤglich Kaffee und einmal Thee, nicht ſelten Nachmittags ein Glaͤschen Punſch, gehoͤren zur gewoͤhnlichen Lebensart der Hand - werker, wozu bey ſehr Vielen noch Wein und Porter, als eine weſentliche Rubrik hinzuge - fuͤgt werden muß. Daß eine ſolche Wirth - ſchaft, beſonders in zahlreichen Familien und wo viele Arbeiter vorhanden ſind, eine große Anzahl Domeſtiken erfordert, laͤßt ſich erwar - ten; aber maͤnnliche Bediente, die zur Auf - wartung im Hauſe gebraucht wuͤrden, ſind doch nicht allgemein. Viele Handwerker hal - ten Wagen und Pferde, und um dazu berech - tigt zu ſeyn, laſſen ſie ſich als Buͤrger in eine der Gilden einſchreiben, denen dieſer Vorzug zugeſtanden iſt. Wer dieſen Aufwand nicht er - ſchwingen kann, unterhaͤlt wenigſtens ein Ka - briolet oder eine Droſchke mit Einem Pferde, denn das zu Fuße gehn verlernt ſich hier bey einigem Wohlſtande ſehr leicht. Auch der Kleiderluxus iſt hin und wieder ſehr groß, be -ſonders385ſonders unter dem Frauenzimmer, welches an oͤffentlichen Orten zuweilen weder durch Form noch Guͤte und Koſtbarkeit ſeines Anzugs von Damen aus den hoͤhern Staͤnden unterſchie - den werden kann.

Bey dieſer Lebensart (deren Schilderung natuͤrlich nur auf die wohlhabenden, aber un - ter dieſen auf die groͤßte Anzahl paßt; denn wenn es Einige giebt, die ſchlechter leben, ſo giebt es auch Mehrere, die in Ton und Auf - wand mit den beſten Haͤuſern des Mittelſtan - des wetteifern) eruͤbrigt der Handwerker und Kuͤnſtler nicht ſelten ſo viel, daß er ſeinen Kindern eine gute oder modiſche Erziehung verſchaffen und ihnen ein anſtaͤndiges Erbtheil hinterlaſſen kann; ein Fall der gewiß noch weit haͤufiger ſeyn wuͤrde, als er iſt, wenn die Mehreſten nicht ihren ganzen Gewinn dem augenblicklichen Genuß aufopferten. Selten oder niemals beſtimmt der wohlhabende Hand - werker ſeinen Sohn zu dem nuͤtzlichen Ge - werbe, welchem er ſeinen Wohlſtand verdankt; ein mißverſtandner Ehrgeiz ſpornt ihn an, ſich wenigſtens in ſeinen Kindern zu einer dem An - ſchein nach geachtetern Klaſſe der buͤrgerlichenZweiter Theil. B b386Geſellſchaft aufzuſchwingen, und der junge Menſch, der ein reicher Schneider oder Tiſchler geworden waͤre und ſein Gewerbe im Großen haͤtte fortſetzen koͤnnen, zehrt als Offizier oder Kanzelleybediente von der Arbeitſamkeit und Induſtrie ſeines Vaters. Dieſes Emporſtre - ben iſt auch die Leidenſchaft der Weiber, und wird von der Denkungsart des Publikums beguͤnſtigt, welches auf die Rangordnung des Herkommens uͤberall keinen großen Werth ſetzt. Die Tochter eines Handwerkers, bey welcher auf eine gute Mitgift zu rechnen iſt, findet immer eine Verſorgung in den hoͤhern Staͤn - den; die Soͤhne ruͤcken durch Talent oder Pro - tektion in anſehnliche Militair - und Civilſtel - len; ſelbſt der Vater, wenn er ſeiner Scheere oder ſeines Hobels uͤberdruͤßig wird, ſtempelt ſich zum Kaufmann um.

Die Erziehung in wohlhabenden Haͤuſern dieſer Art iſt der Abſicht angemeſſen, zu wel - cher die Kinder gewoͤhnlich beſtimmt ſind. Die Soͤhne lernen mehrere Sprachen plaudern, die Toͤchter widmen ſich der Muſik und allen hol - den und gefallenden Kuͤnſten. Zuweilen wird jenen ein Reitpferd und dieſen eine Gouver -387 nante gehalten. Schon fruͤhzeitig erſcheinen junge Leute aus dieſer Klaſſe in den Klubbs und an allen oͤffentlichen Orten wo ihnen der Zutritt geſtattet iſt, um ſich zum Ton der großen Welt auszubilden.

Haͤuslichkeit, Sparſamkeit und einfache wirthſchaftliche Erziehung ſind ſeltner in dieſen als in manchen Haͤuſern der hoͤhern Staͤnde, wo eine verhaͤltnißmaͤßig geringe Einnahme dieſe Tugenden nothwendig macht, um die Auſſenſeite zu retten. Wie mancher Staats - bediente geht zu Fuß zu ſeinem Handwerker, wenn dieſer ſich in ſeinen Wagen oder Phae - ton wirft, um ſeinen vornehmen Schuldnern die Morgenviſite zu machen. Ueberall hoͤflich empfangen, weil er uͤberall zu fordern hat, verwechſelt er nur gar zu leicht ſeine perſoͤn - liche Wichtigkeit mit der Bilanz ſeines Konto - buchs, und ſchreibt jener Wirkungen zu, welche nur von dieſer ihren Urſprung empfangen.

Daher die Inſolenz dieſer Art Leute gegen Jeden, den ſie nach ihren Begriffen nicht fuͤr vollwichtig halten. Dieſer Karakter, dem der Mangel einer gehoͤrigen Kultur zur Folie dient, auf welcher er deſto heller hervorglaͤnzt,B b 2388hat den Ruſſen die, beylaͤufig geſagt, einen ſehr feinen Takt fuͤr Menſchen beſitzen Gelegenheit zu einer eigenthuͤmlichen Bezeich - nung gegeben. Sie nennen den Auslaͤnder, vorzuͤglich den Deutſchen, der große Anmaa - ßungen mit Dummheit oder koͤrperlicher Unge - ſchicktheit verbindet, Schmerz; eine Benen - nung, uͤber deren Urſprung vielerley Muth - maßungen vorhanden ſind, die aber durch den Gebrauch uͤberaus karakteriſtiſch geworden iſt.

So ſehr der beſſere Theil der Handwer - ker alles kennt, was zur guten Lebensart ge - hoͤrt, ſo ſchwer wird es ihm doch, die Rinde abzuſchleifen, die ihm noch aus den Lehrjahren anklebt. Die Weiber, obgleich groͤßtentheils in der Reſidenz zu Hauſe, ſind ihrer altmodi - ſchen Erziehung wegen auch nicht gaͤnzlich frey von der eigenthuͤmlichen Auſſenſeite ihres Standes; aber dieſe verwiſcht ſich doch bey ihnen allmaͤlig, wenn ſie fleißig nach guten Muſtern an ſich bilden. Die Maͤnner hinge - gen behalten gewoͤhnlich das karakteriſtiſche Gepraͤge, an welchem ein feiner Beobachter ſie in der glaͤnzendſten Geſellſchaft, unter der eleganteſten Verkappung erkennt.

389

Die taͤglichen Beſchaͤftigungen des groͤßern Theils der Handwerker ſind ſchon unter einer andern Rubrik geſchildert. Der Vormittag, hoͤchſtens einige Stunden nach Tiſche werden der Arbeit gewidmet; der Abend verfließt in Kraͤnzchen und Klubbs, am Kartentiſch oder beym Billard. Kirchen-Staats - und Hausfeſte werden mit Schmaͤuſen oder durch Parthieen außer der Stadt gefeyert; einige der reichſten Handwerker haben an beſtimmten Tagen Ge - ſellſchaft zu Mittage oder zu Abend, geben Konzerte und Baͤlle, und leben den Sommer hindurch auf ihren Landhaͤuſern.

Unmerklich fließt dieſe Lebensart in die des hoͤhern Mittelſtandes uͤber. Keine Klaſſe von Einwohnern, den Poͤbel ausgenommen, iſt zahlreicher, und in keiner finden ſich ſo große Verſchiedenheiten des Wohlſtands als in die - ſer. Die Schilderung ihrer Lebensart kann alſo uͤberall nur von dem groͤßern Theile gelten.

Im Ganzen genommen, lebt der Mittel - ſtand in St. Petersburg mit mehr Aufwand, Gemaͤchlichkeit und Prunk als in den meiſten großen Staͤdten von Europa. Dieſer Luxus,B b 3390der jedem Fremden in den erſten Tagen ſei - nes Hierſeyns auffallend wird, aͤußert ſich nicht bloß in dieſem oder jenem Theile der Lebens - art, ſondern geht durch alle Zweige derſelben. Wohnung, Tiſch, Kleidung, Bedienung, Equi - page, alles traͤgt hier eine hoͤhere Farbe.

Unter der Klaſſe von Menſchen, von wel - cher itzt die Rede iſt, wird es in den großen Staͤdten anderer Laͤnder nur einzelne Fami - lien geben, die außer ihren Wohnzimmern noch eine beſondere Anzahl Gemaͤcher dem bloßen Prunk widmen; in St. Petersburg iſt dieſer Unterſchied allgemein. Eine Familie aus dem Mittelſtande bedarf, außer der eigentlichen Wohngelegenheit, einen Geſellſchaftsſaal (ſalle de compagnie), ein Beſuchzimmer, ein Spei - ſezimmer und eine Vorſtube fuͤr den Aufent - halt fremder Bedienten. Wer nicht auf die - ſem Fuße wohnt, lebt ſehr eingeſchraͤnkt und darf ſich ſchwerlich zu den Leuten von Ton zaͤhlen. Aber ſelbſt der nothwendige Raum wird hier nach einem groͤßern Maaßſtabe be - rechnet. Selten entbehrt der Herr vom Hauſe ſein Arbeitszimmer und die Frau vom Hauſe ihr Putzgemach. Ein eignes Kinderzimmer391 wird als etwas unentbehrliches betrachtet. Fuͤr die Bediente ſind in allen Haͤuſern ſogenannte Schwarzſtuben vorhanden, aber den weibli - lichen Domeſtiken werden außerdem beſondere Zimmer angewieſen. Alle dieſe Nothwendig - keiten, mit dem zur Equipage gehoͤrigen Raum, den Kellern*)Man hat durchgaͤngig zwey Gattungen von Kel - lern; warme (nicht geheizte, wie man wol glauben moͤch - te) fuͤr den Winter, und kalte, mit Eis gefuͤllte fuͤr den Sommer., Boͤden, Holzplaͤtzen, u. ſ. w. machen ein ſo weitlaͤuftiges Ganze, daß in ei - nem mittelmaͤßig großen Hauſe nur Eine bis zwo Familien hinlaͤnglich Platz finden. Dies iſt auch die Urſache, weswegen die Haͤuſer, die man nicht fuͤr ſich, ſondern zum Vermiethen baut, gewoͤhnlich von ſo außerordentlicher Groͤße ſind. Die mehreſten derſelben bilden ein Viereck, in welchem die Vorderſeite die beſten Wohnungen enthaͤlt; in den Fluͤgelge - baͤuden ſind gemeiniglich Wagenremiſen, Staͤlle und Wirthſchaftszimmer angebracht; uͤber den - ſelben finden ſich zuweilen wohlfeilere Wohn - gelegenheiten.

B b 4392

Ich kenne wenige große Staͤdte, in wel - chen die Haͤuſer durchgaͤngig mit ſo ſorgfaͤlti - ger Ruͤckſicht auf guten Geſchmack und Be - quemlichkeit erbaut werden, als hier. Schoͤne, breite, ſteinerne Treppen; hohe, geraͤumige Zimmer; Balkons in den Saͤlen; gut ange - brachte Fenſter mit großen hellen Glasſchei - ben; geſchmackvolle Oefen und Kamine; par - kettirte Fußboͤden, u. dergl. gehoͤren zu den ſehr gewoͤhnlichen Erforderniſſen einer Woh - nung. Der Luxus, mit welchem die Haͤu - ſer des Mittelſtandes moͤblirt ſind, grenzt an den engliſchen, ſo wie der Geſchmack dieſer Nation vorzuͤglich herrſchend iſt. Ueberall ſieht man Moͤbeln von Mahagonyholze, deſſen Verbrauch ſeit einiger Zeit ſo allgemein ge - worden iſt, daß ſelbſt auf dem Markt fuͤr Holzwaaren in Newski, wo nur geringe Leute ihre Beduͤrfniſſe ſuchen, Tiſche und Schraͤnke von dieſer Holzgattung feil geboten werden. Lackirte Seſſel, Polſter mit Saffian oder Zitz uͤberzogen, große Spiegel, marmorne Wandti - ſche, kryſtallne Lampen und Kronleuchter, Tiſchuhren, Fußteppiche, bemalte oder mit Ta - peten bekleidete Waͤnde, u. ſ. w. alle dieſe393 Dinge ſind hier ſo alltaͤglich, daß ihr Daſeyn gar keine Aufmerkſamkeit erregt. Dieſe Schil - derung paßt nicht etwa nur auf die Lebensart der hoͤhern und reichern Staͤnde, ſondern die mehreſten Haͤuſer der Kaufleute und Staats - bedienten, zum Theil auch der Kuͤnſtler und Gelehrten, ja ſogar einzelner Handwerker ſind auf keine ſchlechtere Weiſe eingerichtet. Der Sinn fuͤr die Gemaͤchlichkeiten des Lebens und fuͤr eine gewiſſe aͤußere Eleganz iſt ſo allge - mein und der Wohlſtand der mehreſten Klaſſen ſo groß, daß man fuͤr ſehr geſchmacklos oder arm gehalten wird, wenn man in dieſer Gat - tung des Luxus zuruͤckbleibt. Es iſt nicht zu leugnen, daß der Anblick ſo niedlich aufgeputz - ter Zimmer, als man ſie hier faſt in allen Haͤuſern ſieht, eine angenehme Befriedigung gewaͤhrt; aber noch gefaͤlliger iſt die große Reinlichkeit, die ſich faſt uͤberall, vorzuͤglich bey den Auslaͤndern, zu dieſer Eleganz geſellt. Die glaͤnzende Politur aller Moͤbeln, die weiß - geſcheuerten Fußboͤden und Treppen, die Farbe der Neuheit und Friſche welche ſo ſorgfaͤltig an allen Gegenſtaͤnden erhalten wird, er - quicken das Auge hier um ſo mehr, da esB b 5394nicht ſelten in den niedern Klaſſen durch Sce - nen des Ekels beleidigt wird.

Groͤßer noch als der Aufwand, den die Petersburger in ihrer Wohnung und haͤusli - chen Einrichtung machen, iſt der Tafelluxus, der nach dem Urtheil aller Reiſenden hier wei - ter getrieben wird, als in Wien und Ham - burg. Eigentliche Gaſtmaͤhler ſind hier ſelt - ner, und ſelbſt an ſolchen Tagen wo gebetne Gaͤſte erſcheinen, laͤßt ſich der Reichthum un - ſerer Tafeln nicht mit dem Ueberfluß verglei - chen, der bey aͤhnlichen Gelegenheiten in Ham - burg, mehr zum Prunk als fuͤr den Genuß aufgetragen wird; aber der Petersburger hat taͤglich eine wohlbeſetzte Tafel und iſt taͤglich darauf eingerichtet, Gaͤſte zu empfangen und zu bewirthen, da der Hamburger, außer ſei - nen lange vorher angekuͤndigten Schmauſe - reyen, ſich mit der ſogenannten Hausmanns - koſt behilft und ohne foͤrmliche Einladung ſel - ten oder niemals Beſuch zu Tiſche erwartet. Der Luxus in dieſem Theil der Lebensart iſt alſo nicht ſo auffallend, aber gewiß um deſto groͤßer.

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In der Zubereitung der Speiſen herrſcht im Ganzen ein ſonderbares Gemiſch von deut - ſcher, franzoͤſiſcher, engliſcher und ruſſiſcher Kochart. Man ſieht auf einer und derſelben Tafel halbrohen Roaſtbeaf, pikante Saucen, zerkochtes Fleiſch und in Teig gebackene Fiſche. Bey aller Zuſammenſetzung ſind dieſe Artikel dennoch auf den feinſten Wohlgeſchmack be - rechnet, und der Takt der Petersburger iſt hierinn im Allgemeinen ſo ſicher, daß man ſelbſt mit der eigenſinnigſten Gourmandiſe keine Gefahr laͤuft, bey einer ſo buntbeſetzten Tafel hungrig zu bleiben.

In den meiſten Haͤuſern beginnt die Mahl - zeit mit einer kalten Schuͤſſel, auf welche die Suppe, groͤßtentheils in franzoͤſiſchem Ge - ſchmacke, folgt. An dieſe reihen ſich eine Menge von Zwiſchenſpeiſen, bald auf dieſe, bald auf jene Art zugerichtet; uͤberall ſehr viel Fleiſch, welches man hier in jeder Gattung von vorzuͤglicher Guͤte findet; Gemuͤſe nach der Jahrszeit, das heißt, faſt immer einige Wochen fruͤher, als es unter freyem Himmel zur Reife gelangt, denn ſobald dies der Fall iſt, erſcheint es in vielen Haͤuſern gar nicht396 mehr auf der Tafel; Fiſche von der leckerſten Art und in der groͤßten Mannigfaltigkeit, ſo wie ſie uns der Reichthum unſerer nahen und entfernten Gewaͤſſer liefert Stoffs genug zu den ſchmackhafteſten Kompoſitionen! Die Liebhaberey fuͤr feſte nahrhafte Speiſen mag ihren Grund wol in dem Klima, und bey den Ruſſen auch in den Faſten haben, die ihnen den Genuß des Fleiſches anziehender machen. Auslaͤndiſche Leckereyen ſind ſelbſt in mittelmaͤ - ßigen Haͤuſern nichts ſeltnes, da Petersburg zu Waſſer damit verſorgt werden kann, und der Markt oft ſo ſehr mit denſelben uͤberfuͤllt wird, daß ſie unter ihren einheimiſchen Preis fallen. Die Kultur der Gartengewaͤchſe iſt ſeit einigen Jahren ſo weit gediehen, daß man jetzt zu jeder Jahrszeit ſeinen Tiſch mit den wohlſchmeckendſten Fruͤchten beſetzen kann, wenn man im Stande iſt, den, freylich unge - heuern, Preis zu bezahlen; wohlhabende Leute verſorgen ſich mit dieſen Artikeln aus ihren eigenen Treibhaͤuſern etwas wohlfeiler. Die Zahl der Schuͤſſeln richtet ſich uͤberall nach dem Geſchmack eines Jeden, ohne von irgend einem Etikettegeſetz beſtimmt zu werden. 397In ruſſiſchen Haͤuſern wird ſehr auf die Menge der Speiſen geſehen; an den Tafeln der Aus - laͤnder findet man deren wenigere, aber die Auswahl iſt deſto ſorgfaͤltiger. Der Gebrauch, zu jeder Zeit ungebetne Gaͤſte aufzunehmen, zwingt jede Wirthinn ſich auf einige Kouverts mehr gefaßt zu machen. Kurz vor Tiſche wird allezeit das ſogenannte Schaͤlchen*)Ein Gläschen Branntewein, Liqueur oder Biſchoff. Hier franzöſiſch la challe. herumgereicht; in vielen, beſonders ruſſiſchen Haͤuſern findet man eine beſondere Vorkoſt dabey, die in kalten, ſalzigen und ſauren Spei - ſen beſteht, und wovon Jeder im Herumge - hen etwas genießt, um den Appetit zu reizen und die Zwiſchenzeit auszufuͤllen. Das ge - woͤhnliche Getraͤnk bey Tiſche iſt Wein; ohne dieſen kann man ſchlechterdings Niemanden bey ſich aufnehmen, und ſein Verbrauch iſt hier ſo allgemein, als in den Weinlaͤndern ſelbſt. In vielen guten Haͤuſern wird nur Eine Sorte aufgetragen; hin und wieder, wo man den Ton der Vornehmern nachahmt, fol - gen gegen das Ende der Mahlzeit feinere398 Weine. Porter und engliſches Bier findet man ebenfalls beynah uͤberall; Meth und Fruchtweine hingegen ſeltner und nur an ruſſi - ſchen Tafeln.

Eins der koſtbarſten Beduͤrfniſſe fuͤr alle Leute welche keine Guͤterbeſitzer ſind, iſt die Bedienung. Nothwendigkeit und Sitte haben den Gebrauch, viele Domeſtiken zu halten, all - gemein gemacht. In den herrſchaftlichen Haͤu - ſern, wo alle Bediente Leibeigene ſind, uͤber - ſteigt ihre Anzahl oft allen Glauben; dieſes Beyſpiel hat auf der einen Seite den Mittel - ſtand zur Nachahmung gereizt, und auf der andern unter dem Volk die Faulheit beguͤn - ſtigt. Eben die haͤuslichen Beſchaͤftigungen, zu welchen in Deutſchland Eine Magd hinrei - chend iſt, erfordern hier wenigſtens drey Men - ſchen. Weibliche Bediente werden zu keiner Verrichtung gebraucht, bey welcher ſie in den Prunkzimmern erſcheinen oder uͤber die Gaſſe gehen muͤßten; ihre Beſtimmung iſt die Kuͤche, die Waͤſche und die Wartung der Kinder. Alle uͤbrige Dienſte werden durch maͤnnliche Domeſtiken beſorgt. Faſt fuͤr jede Beſchaͤfti - gung ſieht man ſich gezwungen einen eignen399 Menſchen zu halten, und dennoch ſind die For - derungen dieſer Leute ſehr groß. Ein Bedien - ter, der das Friſiren und Raſiren verſteht, er - haͤlt zwoͤlf bis funfzehn Rubel monatlich; eine Koͤchinn fuͤnf bis ſechs und mehr, nebſt freyer Koſt. Alle Dienſtkontrakte werden auf den Termin eines Monats geſchloſſen; dieſer Um - ſtand, die große Leichtigkeit wieder in Dienſt zu kommen, und die Entbehrlichkeit eines Zeug - niſſes uͤber das Wohlverhalten ſind die Haupt - urſachen der ſchlechten Beſchaffenheit des hie - ſigen Geſindes, uͤber welches Jedermann klagt. Alle dieſe Unbequemlichkeiten treffen dieje - nigen weniger, welche Erbleute beſitzen oder kaufen duͤrfen; letzteres iſt ein Vorrecht, wel - ches nur dem Adel und den Militair - und Civilbedienten vom Oberoffiziersrange zuſteht. Der Mittelpreis eines jungen Kerls iſt 300, der eines Maͤdchens 100 Rubel.

Die mannigfaltigen Maͤngel des hieſigen Lehnfuhrwerks, vorzuͤglich der Dreſchken, ver - urſachen, daß es nur ein Behelf fuͤr die nie - drigern und aͤrmern Volksklaſſen iſt, da man es fuͤr unanſtaͤndig haͤlt, ſich derſelben zu jeder Zeit zu bedienen. Natuͤrlich wird hiedurch das400 Beduͤrfniß, eigne Equipage zu halten, ſehr groß, und gewiß giebt es in keiner Stadt von Europa nach Verhaͤltniß deren ſo viele als hier. Selbſt unverheyrathete Leute vom bon Ton halten Pferde und Wagen, und bey der Einrichtung eines Hausſtandes iſt dies einer der weſentlichſten Artikel. Fuͤr jeden, der durch Geſchaͤfte genoͤthigt wird, oft außer dem Hauſe zu ſeyn, iſt nichts unentbehrlicher.

Um eigne Equipage zu unterhalten, hat man nicht noͤthig, Pferde zu kaufen, und ſich den Verdruͤßlichkeiten auszuſetzen, die mit der Beſorgung derſelben verknuͤpft ſind. Faſt alle unverheyrathete Leute und ſehr viele herrſchaft - liche Haͤuſer und Familien miethen ſolche mo - natlich von den Iswoſchtſchicks; eine Einrich - tung, die außer vielen andern Vortheilen auch dieſen hat, daß man die Pferde weniger ſcho - nen darf. Der Miethpreis fuͤr ein paar Pferde iſt itzt auf 40 bis 45 Rubel geſtiegen; wer keinen eignen Wagen beſitzt, muß fuͤr bey - des 70 bis 80 Rubel bezahlen.

Da es faſt gewoͤhnlicher iſt, mit Mieth - pferden zu fahren, als ſelbſt welche zu halten, ſo ſieht man, einzelne Gallatage ausgenommen,wenige401wenige durchaus ſchoͤne Equipagen. Selbſt die Großen und Reichen fahren haͤufig mit Mieth - pferden, um bey weiten Wegen, bey ſchlechtem Wetter und bey der außerordentlichen Schnel - ligkeit mit welcher man hier faͤhrt, ihrer beſ - ſern und theuern Pferde zu ſchonen. Daher iſt es auch ein gewoͤhnlicher Anblick, einen praͤchtigen oder eleganten Wagen mit vier bis ſechs elenden Maͤhren beſpannt zu ſehen, die oft von ungleicher Farbe, und ſtatt des Ge - ſchirrs mit Stricken an den Wagen gebunden ſind. Unter dem Kutſcherbock ragt ein Buͤn - del Heu hervor, weil die Miethpferde ſelten abgelaſſen werden, ſondern den ganzen Tag und oft die halbe Nacht auf der Gaſſe und an den Haͤuſern halten muͤſſen. Nicht ſelten kontraſtirt der zerriſſene ſchmutzige Kittel des Iswoſchtſchiks mit der praͤchtigen Livree hin - ter dem Wagen. An feſtlichen Tagen hinge - gen wird die Menge geſchmackvoller ſchoͤner Equipagen ſichtbar. Die Großen fahren als - dann haͤufig mir deutſchen Zuͤgen; aber auch der ruſſiſche Anſpann faͤllt ſehr vortheilhaft ins Auge, wenn er gut und ſauber iſt.

Zweiter Theil. C c402

Da die Anzahl der Pferde, welche man in der Stadt vorſpannen darf, ſich nach dem Range beſtimmt, den Jeder bekleidet, ſo hat der Luxus den Gebrauch, mit mehr als zweyen zu fahren, bey den hoͤhern Staͤnden allgemein gemacht. Nirgend ſieht man haͤufiger ſechs - ſpaͤnnige Equipagen als hier. Jedes Paar Pferde hat einen Vorreiter; dies ſind durchge - hends kleine Jungen von acht bis zwoͤlf Jah - ren, die gegen die auslaͤndiſche Sitte gewoͤhn - lich auf dem Pferde rechter Hand ſitzen, und durch ein unaufhoͤrliches Geſchrey aus voller Kehle die Voruͤbergehenden und Fahrenden auf ihren Weg aufmerkſam machen. Das Loos dieſer kleinen Geſchoͤpfe iſt ſehr hart; ſie kommen oft den ganzen Tag nicht vom Pferde und muͤſſen dem Ungeſtuͤm der herbſten Witte - rung trotzen. Der Kutſcher traͤgt, nach ruſſi - ſcher Sitte, einen langen Bart; anfangs ſtoͤßt ſich das Auge hieran, aber die Gewohnheit macht dieſen Anblick bald ertraͤglich. Wahr - ſcheinlich faͤhrt man in keiner Stadt ſo ſchnell als hier; es iſt nichts ungewoͤhnliches, einen Wagen mit Sechſen im geſtreckten Gallop durch die Straßen jagen zu ſehn.

403

Nach ſo vielen Zeugniſſen uͤber den Luxus der in allen Theilen der petersburgiſchen Le - bensart herrſcht, wird man zum Voraus er - warten, daß die Bewohner der Reſidenz auch im Kleideraufwande nicht zuruͤckgeblieben ſind. In der maͤnnlichen Kleidung iſt ſeit einigen Jahren der engliſche Geſchmack herrſchend. In allen Geſellſchaften kann man im Frak und Gillet erſcheinen, einzelne Faͤlle ausgenommen, wo die Achtung gegen Hoͤhere eine etikettemaͤ - ßige Kleidung erfordert. So bequem dieſe Sitte ſcheint, ſo koſtſpielig iſt ſie doch, wegen des ſchnellen Wechſels der Moden, wenn man den kindiſchen Ehrgeiz hat, dieſen uͤberall fol - gen zu wollen. Nirgend jedoch iſt dieſe Thor - heit weniger verfuͤhreriſch als hier, da Jeder - mann ſich nach ſeiner Laune kleiden kann, ohne laͤcherlich zu werden. Neue Trachten die an Uebertreibung graͤnzen, werden nicht leicht all - gemein, und uͤberhaupt beobachtet das weibli - che ſowol als das maͤnnliche Publikum im Ganzen hierinn ein gewiſſes Dekorum, das ihm in den Augen aller vernuͤnftigen Beobach - ter ſehr zur Ehre gereicht. Die groteske Pracht, in welcher ſich die Stutzer einigerC c 2404deutſchen Reſidenzen noch immer ſo wohl ge - fallen, iſt hier ſchon laͤngſt aus allen Zirkeln des Mittelſtandes verbannt, und wird nur von den Großen des Hofes, und auch von die - ſen nur als eine laͤſtige aber konventionelle Sitte beybehalten, die man durch einen beſſern Geſchmack zu veredeln ſucht.

Die gewoͤhnliche Kleidung in welcher Un - tergebene vor ihren Chefs erſcheinen, oder Niedere Hoͤheren die Cour machen, iſt die pe - tersburgiſche Statthalterſchaftsuniform: ein hellblauer Rock mit ſchwarzen Aufſchlaͤgen, gelben Knoͤpfen und weißen Unterkleidern. Ehemals ſah man ſie auch haͤufig in Geſell - ſchaften; aber jetzt gehen Offiziere ſowol als Civilbeamte lieber im Frak, weil ſie auf dieſe Weiſe weniger ausgezeichnet und weniger ge - nirt ſind.

In der Kleidung und dem Putz der Frau - enzimmer herrſcht wie billig ein groͤßerer Auf - wand. Die engliſche Simplicitaͤt hat zwar den Gebrauch der theuren ſeidnen Stoffe ver - draͤngt, aber ohne Gewinn fuͤr den Beutel der Vaͤter und Maͤnner, weil die weiſſen engli - ſchen und oſtindiſchen Zeuge ihrer Farbe und405 geringen Haltbarkeit wegen um ſo ſchneller verſchleißen. Der groͤßte Luxus der Damen ſcheint in ihrem Kopfputz zu herrſchen. Die große Anzahl der Putzmacherinnen, vor deren Laͤden man oft zehn und mehrere Wagen ſieht, der ungeheure Preis mit welchem ſie ſich ihre leichten Fabrikate bezahlen laſſen, der ſchnell - errungene Reichthum Einiger und die Banke - rotte Anderer berechtigen zu der Vermuthung, daß durch dieſen Zweig der weiblichen Beduͤrf - niſſe ungeheure Summen in Cirkulation ge - ſetzt werden muͤſſen.

Da alles ſich der Simplicitaͤt naͤhert, ſo nimmt auch die Mode, ſich mit glaͤnzenden Steinchen zu ſchmuͤcken, im Mittelſtande all - maͤhlig ab. Der gute Geſchmack der peters - burgiſchen Damen und ihr feiner Sinn fuͤr Eleganz und Grazie geben ihnen hinreichende Mittel an die Hand, dieſen koſtbaren Schmuck durch kunſtloſere und gefaͤlligere Nippes zu erſetzen.

Eine ſo kurze und gedraͤngte Schilderung der Lebensart des Mittelſtandes kann natuͤrlich nur ſehr unvollſtaͤndig ſeyn: aber ſelbſt in die - ſen leicht hingeworfenen Zuͤgen erkennt manC c 3406den Luxus und das Wohlleben, die den Haupt - karakter derſelben beſtimmen. Es gehoͤrt, um mich eines vulgaren Ausdrucks zu bedienen, hier ſehr viel zum Leben; die Lokalbeſchaffen - heit und das Klima der Reſidenz erzeugen eine Menge Beduͤrfniſſe, die man an andern Orten wenig kennt; aber unſer Hang zur Gemaͤchlichkeit, der durch einen ziemlich allge - meinen Wohlſtand beguͤnſtigt und durch das Beyſpiel der Großen und Reichen aufgereizt wird, vervielfaͤltigt die Nothwendigkeiten des Lebens ſo ſehr, daß ſelbſt Auslaͤnder den Maaß - ſtab leicht verlieren, nach welchem ſie zu Hauſe die Grenze des Noͤthigen und Entbehrlichen abzumeſſen gewohnt waren. Der Luxus der hier in allen Zweigen der Lebensart herrſcht, weit entfernt von dem Vorfall den man ihm ſchon ſeit mehreren Jahrzehenden prophezeyht, wird durch viele zuſammentreffende Urſachen noch immer im Steigen erhalten, und es iſt nicht zu leugnen, daß er bey manchen Staͤn - den im Ganzen die Kraͤfte der Individuen uͤberſteigt. Nur noch einige Schritte weiter, und der beſſere Theil des minder wohlhaben - den Publikums wird ſich zu einer oͤffentlichen407 Entſagung bequemen, die ſich ſchon izt im Stillen vorbereitet, zu der man ſich aber, ohne die aͤußerſte Noth, ſchwerlich entſchließt. Bis dahin zwingt die Lage der Dinge einen gro - ßen vielleicht den groͤßten Theil des Mit - telſtandes zu der Gattung von Lebensart, die man in Frankreich ſauver les apparences nennt: ſtrenge Sparſamkeit im Innern, und anſtaͤndiger Aufwand bey allem was ins Auge faͤllt.

Es wird vielleicht manchem Leſer intereſſant ſeyn, zu wiſſen, wie viel zur anſtaͤndigen Un - terhaltung einer Familie in dieſer Reſidenz ge - hoͤrt. Aehnliche Berechnungen uͤber London, Paris und Wien, die in den Haͤnden des Pu - blikums ſind, koͤnnen zu einer Vergleichung des verhaͤltnißmaͤßigen Koſtenaufwandes die - nen, den eine gleich weit von Ueberfluß und Mangel entfernte Haushaltung an dieſen Or - ten erfordert. Eine Familie von vier bis fuͤnf Perſonen, die zwar nicht in den beſten, aber doch auch in keinem der aͤußerſten Stadt - theile und hier ſehr anſtaͤndig wohnt einen haͤuslichen, gutverſehenen und allen Hausfreun - den offenen Tiſch fuͤhrt ſich einfach, aberC c 4408doch nach allgemeiner Sitte kleidet und et - wa fuͤnf Domeſtiken nebſt einem Wagen und zwey Pferden unterhaͤlt: bedarf, nach einem ſorgfaͤltigen und genauen Ueberſchlage und un - ter Vorausſetzung der ſtrengſten Sparſamkeit, etwa folgende Summen zu ihren großen Be - duͤrfniſſen.

  • Tafel und Getraͤnke1000 R.
  • Miethe400
  • Holz und Licht150
  • Bedienung300
  • Equipage400
  • Kleidung300
  • Erziehung zweyer Kinder400
  • 2950 R.

Man ſieht leicht, wie viel fuͤr unberechnete zufaͤllige Ausgaben und Vergnuͤgungen dieſer Summe noch hinzugefuͤgt werden muß, und daß es ſehr ſchwer haͤlt, mit einer Familie an - ſtaͤndig und ohne Sorgen zu leben, wenn man nicht wenigſtens auf eine Einnahme von vier - tehalbtauſend Rubeln Rechnung machen kann. Dieſer Kalkul wird vielleicht manchen meiner409 Leſer befremden, der ſich aus ſeiner Statiſtik an die Gehalte des ruſſiſchen Civil - und Mi - litairetats, und aus ſeinen Reiſebeſchreibern und ſelbſt aus dieſem Buch an die Lebensart eines großen Theils deſſelben erinnert. Um dieſes Raͤthſel zu loͤſen, muß man wiſſen, daß in keinem Lande die Nebeneinkuͤnfte und Reſ - ſourcen buͤrgerlicher Aemter und hoͤherer mili - tairiſcher Stellen ſo groß ſind, als in Ruß - land. Es gehoͤrt freylich Talent dazu, dieſe Vortheile zu kennen und mit Geſchicklichkeit zu benutzen; aber wem ſeine Unempfaͤnglichkeit dieſen Weg zum Gluͤck verſchließt, der ſucht ſich auf andern, mehr oder minder betretnen Pfaden fortzuhelfen. Ueberall ſind große Staͤdte ſeltſamen Unternehmungen und kuͤhnen Abentheuern guͤnſtig, und nirgend vielleicht ge - deiht ein lebhafter erfinderiſcher Geiſt ſo gut als hier. Schnelle, außerordentliche Gluͤcks - wechſel ſind etwas alltaͤgliches, und Peters - burg wimmelt von Parvenuͤ’s, denen bey ihrer Geburt keine Muhme das Horoskop ihres Schickſals geſtellt haben mag. Noch giebt es eine Klaſſe von Leuten, welche, entbloͤßt von Gluͤcksguͤtern und bey eingeſchraͤnkten Be -C c 5410ſoldungen, ohne auf der breiten Heerſtraße Nebeneinkuͤnfte zu ſuchen, den aͤußern Anſtand und ſelbſt zum Theil den Modeton in ihrer Lebensart halten. Bey dieſen erſetzt eine große Sparſamkeit und jene Kunſt, die Außenſeite zu retten, den Ueberfluß, der in einer unklugen Wirthſchaft ohne Genuß und ohne bemerkt zu werden verfliegt. Der große Vortheil, deſſen ſich viele unter ihnen erfreuen, indem ſie Woh - nung, Licht und Holz von der Krone erhalten, vermindert ihre Ausgaben um eine ſehr ſtarke Rubrik; mit einigen Stellen iſt auch der Vor - theil der freyen Bedienung verknuͤpft. Der Erziehung ihrer Kinder koͤnnen ſie ſich, wenn ſie ihnen laͤſtig wird, ſehr leicht entledigen, denn die Kinder aller im Range eines Ober - offiziers ſtehenden Beamten haben Anſpruch an die Aufnahme in die kaiſerlichen Inſtitute. Dieſe und andere Bequemlichkeiten ſetzen die Familien der Staatsbedienten in den Stand, mehr auf das Aeußere zu wenden; der groͤßte Theil derſelben erſcheint daher unter einem vortheilhaftern Geſichtspunkt, als eine naͤhere Kenntniß der wahren Lage erwarten laͤßt.

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Die Ausnahmen, welche die aͤrmere Klaſſe des Mittelſtandes von der angefuͤhrten Berech - nung macht, ſind kaum ſo zahlreich als die der reichern. Man werfe nur in Geſellſchaften die Frage auf: wie viel zur Beſtreitung einer eingeſchraͤnkten aber anſtaͤndigen Wirthſchaft gehoͤre? und man wird einſtimmig eine viel groͤßere Summe nennen hoͤren, als ich in An - ſchlag gebracht habe. Ein Beweis, daß die Beduͤrfniſſe und Ausgaben der Mehreſten ſich uͤber jene Berechnung hinaus erſtrecken. Unter dem geringen Adel, unter beguͤterten Kronbe - dienten und Kaufleuten giebt es wenige Haͤu - ſer, die nicht fuͤnf bis ſechstauſend Rubel ver - zehren; einigen giebt das Geruͤcht eine Haus - haltung von mehr als zwanzigtauſend Ru - beln.

Sehr intereſſant iſt es, ſich von alten Leu - ten eine Ueberſicht der ſchnellen Veraͤnderung des hieſigen Tons und der Lebensart des Mit - telſtandes geben zu laſſen. Wo biſt du hin - geflohen, gute goldne Zeit, da der erſte Mini - ſter des ruſſiſchen Reichs in dem hoͤlzernen Haͤuschen wohnte, welches jetzt einem Kauf - mann zur laͤndlichen Behauſung dient! da ein412 Beamter ſich gluͤcklich duͤnkte, wenn ſein Ge - halt fuͤnfhundert Rubel betrug, und da dieſe zur Ernaͤhrung einer Familie hinreichend wa - ren! da der reichſte Bankier in ſeiner einſpaͤn - nigen Kariole an die Boͤrſe fuhr und unſere Damen ihre Viſiten zu Fuß ablegten! Nirgend vielleicht hat der Luxus mit der Ver - feinerung der Sitten ſo gleichen Schritt ge - halten; nie hat ein Publikum den Kreislauf von der hoͤchſten Simplicitaͤt bis zum hoͤchſten Raffinement des Lebensgenuſſes ſo ſchnell durchlaufen.

Genuß iſt die große Loſung, das Ziel aller Thaͤtigkeit, der Sporn alles Wetteifers, die Axe um welche ſich unſer taͤglicher Lebensgang dreht. Ein Theil des Publikums freylich ar - beitet, um zu genießen; aber auch ein ſehr großer Theil genießt, ohne zu arbeiten. Selbſt der beſchaͤftigte Petersburger wuͤrde erſchrecken, wenn er ſein Tagewerk mit der Laſt verglei - chen koͤnnte, die in andern Laͤndern den Ruͤcken der arbeitenden Klaſſe von Staatsbuͤrgern kruͤmmt.

Der Tag beginnt fuͤr die feinere Welt zu ſehr verſchiedenen Zeiten. Es iſt noch fruͤh,413 ſagt der Kaufmann, wenn er ſich um neun oder zehn Uhr Vormittags in ſeinem weichen Lager dehnt, unterdeſſen der Bedienſtete und der Sollicitant ſchon ſeit ſechs Uhr im Vorzim - mer ihrer Chefs und Patrone warten. Das Leben in den Straßen, die Thaͤtigkeit des ge - meinen Volks, richtet ſich im Winter nach dem Anbruch des Tages; im Sommer lockt der ſchoͤne Morgen und die kaum untergehende Sonne manchen traͤgen Staͤdter fruͤher aus dem Bette, und der Rauch draͤngt ſich ſchon aus den Schornſteinen, wenn im Winter um die naͤmliche Zeit noch Alles in tiefem Schlum - mer begraben liegt. Sobald das Fruͤhſtuͤck und die Toilette beendigt ſind, faͤngt der Vormit - tag an, die Zeit der eigentlichen Geſchaͤfte. Alles was geſucht und betrieben werden ſoll, muß in dieſem Zeitraum, bis zur Mittagsta - fel, geſchehen: das Gewuͤhl in den Gaſſen und die Stille in den Haͤuſern iſt niemals groͤßer als in dieſen Stunden. Unterdeſſen die maͤnn - liche Haͤlfte der Einwohner ſich den Geſchaͤften weiht und buͤrgerliche Frauen der Wirthſchaft und ihrem Hausweſen obliegen, laͤßt ſich der hoͤhere Theil des weiblichen Publikums durch414 die Gaſſen rollen, um neue Putzhaͤndlerinnen aufzufinden und Morgenbeſuche zu machen. Der Stutzer, dies zweydeutige Geſchoͤpf, das von keinem Geſchlecht ausgeſchloſſen werden darf und zu keinem gehoͤrt, promenirt unter - deſſen durch Buchlaͤden und Magaſins, um fuͤr die Geſellſchaft des Tages neumodiſche Nippes und Gedanken zu ſammeln. Im Fruͤhling und Herbſt werden die Kays und der Sommergarten das Rendezvous der muͤſſigen Welt aus den hoͤheren Staͤnden.

Unter dieſen mannigfaltigen Beſchaͤftigun - gen ruͤckt die Mittagsſtunde heran, und jeder Zweck, jedes Intereſſe verſchmilzt in dem kos - mopolitiſchen Gedanken: zu ſchmauſen und ſchmauſen zu laſſen. Jetzt ſetzt ſich das zahl - reiche Heer der dineurs en ville in Bewe - gung und die Geſellſchaftsſaͤle fuͤllen ſich an. In den meiſten Haͤuſern ſetzt man ſich um zwey Uhr zur Tafel; einzelne Kaufleute ſpei - ſen vor, die mehreſten aber nach der Boͤrſe, das heißt, zwiſchen drey und vier Uhr Nach - mittags. Englaͤnder und die fuͤr ſolche gelten wollen, halten ihre Mittagstafel auch wol Abends um fuͤnf; ſo daß man gar fuͤglich an415 Einem Tage in drey Haͤuſern zu Mittage ſpel - ſen kann. Die Dauer der Mahlzeiten rich - tet ſich natuͤrlich nach der Menge der Schuͤſ - ſeln, der Ergiebigkeit des Geſpraͤchs und dem hie und da eingefuͤhrten Gebrauch; aber ſel - ten ſind ſie unter drey bis vier Stunden been - digt, weil nach Tiſche die Unterhaltung beym Kaffee noch eine Zeitlang fortgeſetzt wird. Der Nachmittag, oder welches hier einerley iſt, der Abend iſt nur in dringenden Faͤllen Geſchaͤften gewidmet. Wo die Geſellſchaft beyſammen bleibt, werden ſogleich die Karten ausgeboten, mit welchen man ſich bis zum ſpaͤten Souper unterhaͤlt. Gewoͤhnlich aber entfernen ſich die Mittagsgaͤſte bald nach Ti - ſche, und ſpaͤterhin verſammelt ſich ein neuer Zirkel zum Thee und zur Abendtafel. In die - ſen Stunden ſind wenigſtens neun Zehntheile des geſelligen Publikums an Kartentiſchen be - ſchaͤftigt. Um Mitternacht, oder in Haͤuſern wo eine regelmaͤßige Lebensart herrſcht, um zehn Uhr, beginnt das Souper, bey welchem der Luxus einen Ueberfluß eingefuͤhrt hat, der fuͤr eine entbehrte Mittagsmahlzeit hinlaͤnglich entſchaͤdigen koͤnnte. Der Augenblick in wel -416 chen das Souper geſchloſſen wird, iſt das Sig - nal des Aufbruchs fuͤr die Geſellſchaft. Um dieſe Zeit rollen die Wagen in allen Gaſſen, und brechen die oͤde Stille, in welche die Stadt, beſonders im Winter, waͤhrend der dunkeln Abende, einige Stunden hindurch be - graben liegt.

So iſt der taͤgliche Lebensgang des groͤßten Theils der Menſchen, die ſich zu den feinern und hoͤhern Staͤnden rechnen. Viele Haͤuſer ſtehen taͤglich zum Beſuch offen; in andern ſind gewiſſe Wochentage der Geſellſchaft be - ſtimmt. In dieſen verſammelt ſich ein ge - ſchloſſener Zirkel von Bekannten und Freun - den, in jenen iſt jeder Gaſt willkommen, der durch einen Bekannten eingefuͤhrt wird. Wer geſtern in ſeinem Hauſe Geſellſchaft hatte, geht heute zu ſeinem Freunde; ein Wirbel von Zerſtreuungen reißt Jeden mit ſich fort, der Theil nehmen will oder kann; das Leben gleicht einem fortwaͤhrenden Rauſche, aus wel - chem man nur zuweilen erwacht, um von neuem nach dem Becher zu greifen, und nur der Sonderling oder der Mann von Grund - ſaͤtzen ſteht außerhalb dem magiſchen Kreiſeund417und ſieht dem allgemeinen Taumel mit Mit - leiden oder Verwunderung zu.

Ueber den Umfang der hieſigen Gaſtfrey - heit iſt in dieſem Buche ſchon vieles geſagt; hier iſt der Ort, etwas uͤber die Art, wie ſie ausgeuͤbt wird und uͤber die Quelle derſelben hinzuzufuͤgen. Man kann dreiſt behaupten, daß dieſe edle Tugend der Vorzeit in keiner großen Stadt von Europa in ſo unbeſchraͤnk - tem Maaße ausgeuͤbt wird, als hier; ein Zeugniß, welches durch die dankbare Beyſtim - mung aller Fremden, die ſich hier eine kuͤrzere oder laͤngere Zeit aufgehalten haben, bewaͤhrt wird. Der Urſprung dieſer wohlthaͤtigen Sitte iſt ohne Zweifel national; aber die Pe - tersburger haben ſich von ſo vielen Gebraͤu - chen und Gewohnheiten ihres ruſſiſchen Va - terlandes losgeſagt, daß man mit Recht ein ſtaͤrkeres Motiv, als die Achtung fuͤr das Her - kommen, annehmen muß, um ſich die Beybe - haltung einer ſo koſtſpieligen Nationaltugend zu erklaͤren. Dieſes Motiv iſt der Hang zur Geſelligkeit, der die Petersburger, faſt ohne Ausnahme, beherrſcht; ein Karakterzug, der ihnen ebenfalls gar ſehr zur Ehre gereicht, daZweiter Theil. D d418er oft die Quelle edler und menſchlicher Ge - fuͤhle und Handlungen wird. Es hieße jedoch zu viel gefordert, wenn man uͤberall, beym großen Haufen ſowol, als bey dem feinern und gebildetern Theile des Publikums jenes Motiv in aller Lauterkeit aufſuchen wollte. Leerheit des Kopfs und des Herzens, Unbe - kanntſchaft mit ſtillen geiſtigen Erholungen, Durſt nach Unterhaltung, das Vergnuͤgen zu ſehen und geſehen zu werden, die Abſicht Ver - bindungen zu ſtiften, der Hang zum Spiel und hundert andre edlere und niedrigere Zwecke treiben hier ſo gut wie anderswo die Menſchen zu einander, weil ſie hier ſo gut wie anderswo Menſchen ſind. So ſtark und dringend aber auch der Ruf zur Geſelligkeit ſeyn moͤch - te, ohne die Mittel ihn zu befriedigen, wuͤrde der innere Zug und das aͤußere Verhaͤltniß vergebens zu ſeinem Vortheile wirken. Eine, wenigſtens bey den mehreſten Klaſſen, allge - mein verbreitete Wohlhabenheit erleichtert den Petersburgern den vorzuͤglichſten Zweck ihres Treibens und Seyns: geſellſchaftlichen Ge - nuß. Ohne dieſen gluͤcklichen Umſtand wuͤrde die Tugend der Geſelligkeit einer lebloſe419 Schoͤnheit gleichen, deren Reize Bewunderung einfloͤßen koͤnnten, ohne Empfindung und Theil - nahme zu erregen. Beguͤnſtigt wie wir ſind, erhebt ſie ſich zu einer Gottheit, auf deren Altar Jeder opfert, und die dafuͤr mit milder Hand jedem Sterblichen ſeinen Genuß zu - theilt. Der Reiche und der Arme gehen zu gleichen Theilen; jener giebt, dieſer empfaͤngt, und beyde genießen.

Die Geſelligkeit hat hier einen ganz an - dern Karakter, als in den meiſten Laͤndern von Europa, deren Sitten und Gebraͤuche wir kennen. Sie wurzelt nicht etwa bloß unter Freunden und genauen Bekannten, wie in Eng - land, wo die Geſelligkeit eigentlich gar nicht, die Freundſchaft hingegen deſto mehr zu Hauſe zu ſeyn ſcheint. Sie ſchraͤnkt ſich nicht bloß auf Unterhaltung ein, wie in Deutſchland, wo man mit geſaͤttigter Seele und hungri - gem Magen ſich gegen die Zeit der Abend - mahlzeit trennt, oder wo ſich ein ganzer Zir - kel zum Genuß einer Taſſe Kaffee verſammelt. Unſere Geſelligkeit beſteht im gemeinſchaftli - chen Genuß aller Freuden des Lebens. Nur Geſchaͤfte und Sorgen behaͤlt man fuͤr ſichD d 2420und ſeine Vertraute; alles uͤbrige iſt ein ge - meinſchaftliches Eigenthum, das dem Haupt - intereſſenten weniger als ſeinen Mittheilhabern zu gehoͤren ſcheint. Nicht etwa die leeren Stunden, die man ſonſt zwiſchen Wachen und Schlaf hinbringen muͤßte; nicht etwa einzelne feſtliche Tage, an denen die Kargheit ſich mit dem Mantel des anſtaͤndigen Aufwandes ſchmuͤckt; nicht die Ueberbleibſel eigennuͤtziger Schwelgerey opfert man dem geſelligen Ge - nuß: nein, alle von Arbeit und Sorgen be - freyte Augenblicke, jeder frohe Tag und jeder gute Biſſen ſind der Theilnahme gewidmet.

Die eigentliche Zeit, da der wohlhabende Petersburger am liebſten Beſuch erwartet, iſt gerade die, welche man in Deutſchland zum Beyſpiel am ſorgfaͤltigſten vermeidet: die Zeit der Mittags - und Abendtafel. Hier iſt Jeder - mann leichter an Sorgen und offner ums Herz, freyer von allen Geſchaͤften und aufge - legter zur Unterhaltung. Wer einmal in ei - nem Hauſe vorgeſtellt iſt, hat auf immer Zu - tritt, wenn er gefaͤllt. Gewoͤhnlich entſcheidet dies ſchon der erſte Beſuch; denn wenn beym Abſchiednehmen keine weitere Einladung er -421 folgt, ſo iſt es rathſam, eine ſolche Bekannt - ſchaft nicht zu kultiviren. Iſt der Gaſt dem Wirthe angenehm, ſo zeigt dieſer Jenem zu Ende des erſten Beſuchs ſeine Geſellſchafts - tage an, wenn er welche haͤlt, oder bittet ihn, ſein Haus recht oft zu beſuchen. Ein junger Mann der nur einiges Talent fuͤr die Geſell - ſchaft hat, ſieht ſich in Petersburg der Sorge fuͤr ſeine Wirthſchaft ganz uͤberhoben; wer in ſechs bis acht guten Haͤuſern bekannt iſt, kann taͤglich auf Koſten ſeiner Freunde und in ſehr angenehmen Zirkeln ſpeiſen. Dieſe Lebensart, die unter unverheyratheten Leuten aller Staͤnde uͤberaus allgemein iſt, fuͤhrt ſchlechterdings nichts Veraͤchtliches mit ſich. Der Aufwand in der Kleidung den ſie nothwendig macht und das Spiel zu welchem ſie verleitet, wie - gen den Vortheil auf, den das Paraſitenleben fuͤr den Beutel hervorbringen koͤnnte. Hiezu kommt das Beduͤrfniß der Geſellſchaft, wel - ches die mehreſten Petersburger ſo lebhaft empfinden. Wenn alle unverheyrathete Maͤn - ner ihre eigne Kuͤche halten oder in Gaſthoͤfen ſpeiſen wollten, ſo wuͤrde der groͤßte Theil der guten Haͤuſer oͤde und leer ſeyn. Kein fuͤrch -D d 3422terlicheres Geſchenk fuͤr unſere eleganten Zir - kel, als die Einſamkeit!

So groß die Geſelligkeit und Gaſtfreyheit in Ruͤckſicht auf die eben bezeichnete Klaſſe von Menſchen iſt, ſo viele Einſchraͤnkungen leidet ſie doch unter Familienbekanntſchaften und verheyratheten Leuten. Da jedes Haus ſeinen eigenen Zirkel verſammelt, ſo bleibt den wenigſten Familien Zeit und Beduͤrfniß genug uͤbrig, Geſellſchaften außer dem Hauſe zu ſu - chen. Der Unterſchied der Lebensart und des Aufwandes ſetzt ebenfalls eine Scheidewand und trennt oft Menſchen, die lange im ver - traulichſten Umgange lebten. Viele, die als garçons in großen und reichen Haͤuſern taͤg - liche Gaͤſte waren, ſehen ſich, wenn ſie heyrathen, gezwungen, dieſe Bekanntſchaften abzubrechen, weil ſie nicht gleichen Schritt im Aufwande halten koͤnnen. Dieſe kleinen Verhaͤltniſſe, de - ren Aufzaͤhlung manchem Leſer hier unbedeu - tend ſcheinen moͤchte, haben einen entſcheiden - den Einfluß auf den geſellſchaftlichen Ton, und geben ihm ein eignes karakteriſtiſches Ge - praͤge. Natuͤrlich beſteht der groͤßte Theil aller Zirkel aus Mannsperſonen, da unverheyrathete423 Frauenzimmer keine Beſuche geben, und die verheyratheten Geſellſchaft bey ſich erwarten; oft iſt die Frau vom Hauſe die einzige Dame an einem Tiſche von zehn bis zwanzig Perſo - nen. Dieſes Uebergewicht welches die Maͤn - ner bey weitem in den mehreſten Geſellſchaften haben, giebt der Unterhaltung eine ernſthaftere Richtung. Politik und Geſchaͤfte ſind der große Gegenſtand aller Tiſchgeſpraͤche, und die Damen ſehen ſich gezwungen, an dieſer Kon - verſation Theil zu nehmen, oder gaͤnzlich zu ſchweigen. Die kleinen Aufmerkſamkeiten, mit welchen das ſtaͤrkere Geſchlecht in andern Laͤn - dern dem ſchwaͤchern zu huldigen pflegt, wer - den hier oft gar ſehr vernachlaͤſſigt, und die natuͤrliche Folge iſt, daß die Damen ſich uͤber - all wo ſie nicht ganz iſolirt ſind, durch eine nachdruͤckliche Oppoſition an der Majoritaͤt zu raͤchen ſuchen. Bey Tiſche ſetzen ſie ſich neben einander, in den Zirkeln ſondern ſie ſich ab; werden ſie in ein Geſpraͤch oder Spiel ver - flochten, ſo ſind ſie die Trockenheit ſelbſt, und ſchrecken durch ihren kalten Ton und ihre weg - werfenden Manieren ſogar diejenigen ab, die ſie bey einiger Nachgiebigkeit fuͤr ihr IntereſſeD d 4424gewinnen koͤnnten. Niemand wird wol ſo einſeitig ſeyn, dieſe Schilderung ſo ſehr zu generaliſiren, als ob es gar keine Ausnahmen gaͤbe; aber ſolche Ausnahmen ſind ſelten und ſetzen ſich gewoͤhnlich in keinen ſonderlichen Kredit bey dem Geſchlechte zu welchem ſie ge - hoͤren.

Dieſe Maͤngel abgerechnet, hat der Ton der petersburgiſchen Geſellſchaften auch von der Kritik des ſchwierigſten Weltmanns wenig zu fuͤrchten. Jene liebenswuͤrdige Ungebun - denheit, welche ſich eben ſo ſehr von der ſteifen Etikette der Deutſchen, als von der allzuweit - getriebenen Lizenz der Franzoſen entfernt, iſt die Seele aller Zirkel vom guten Ton. Die kleinen Ceremonialgeſetze, uͤber welchen man anderwaͤrts noch immer ſo ſtrenge haͤlt, ſind hier voͤllig unbekannt. An ihre Stelle tritt eine ſtillſchweigende Uebereinkunft, ſo intereſ - ſant und ſo gefaͤllig zu ſcheinen, und der Ge - ſellſchaft ſo viel von ſeiner Eigenthuͤmlichkeit aufzuopfern, als man nur immer vermag. Dieſes zuvorkommende Beſtreben, dem Andern zu ſeyn, was er wuͤnſchen koͤnnte, daß man ihm ſeyn moͤchte, glaͤttet freylich die alltaͤgli -425 chen Karaktere eben ſo ſehr, als es die indivi - duellen hervorſtechend macht; aber man zeige uns das Mittel, in einem zahlreichen gemiſch - ten Zirkel den geſellſchaftlichen Ton mit den Launen jedes Einzelnen uͤbereinſtimmend zu machen. Das Opfer, das Jeder der Geſell - ſchaft bringt, iſt eben ſo freywillig, als der Entſchluß, durch welchen man die Dauer deſ - ſelben beſtimmt. Hier findet kein Bitten, kein Noͤthigen ſtatt; wer ſich in einem Hauſe ge - faͤllt, geht ſo oft dahin, als er es ſeiner Kon - venienz angemeſſen findet, ohne in dem einen Fall verdruͤßliche Minen uͤber allzuoft wieder - holte Beſuche, oder in dem andern kleinſtaͤdti - ſche Vorwuͤrfe wegen ſeines langen Auſſenblei - bens befuͤrchten zu duͤrfen, wenn er in beyden Faͤllen nicht das Maaß uͤberſchreitet, welches durch den herrſchenden Gebrauch oder durch leicht zu fuͤhlende Privatverhaͤltniſſe geſteckt iſt. Kein Etikettegeſetz beſtimmt die Dauer des Beſuchs oder die Art und Weiſe des Ab - ſchiednehmens. Man koͤmmt als ein ungebe - tener aber erwarteter Gaſt; man bleibt, ſo lange man ſich gefaͤllt, und man entfernt ſich gewoͤhnlich in der Stille, ohne durch ein ge -D d 5426raͤuſchvolles Ceremoniel die ganze Geſellſchaft in Aufruhr zu bringen.

Eine Frage, die jeder Leſer dieſer Schilde - rung ſehr natuͤrlich aufwerfen wird, iſt dieſe: womit ſich ein ſo geſellſchaftliebendes Publi - kum in ſeinen Zirkeln beſchaͤftigt? Allerdings wuͤrden hier die gewoͤhnlichen Huͤlfsmittel der Unterhaltung unzureichend ſeyn, wenn man ihnen nicht einen erhoͤheten Reiz zu geben wuͤßte, der ſie ſelbſt fuͤr kaͤltere Menſchen an - ziehend macht und den Ueberdruß des ewigen Einerleys verhuͤtet. Tafelfreuden, Kartenſpiel und Geſpraͤche geben hier wie uͤberall den Stoff her, aus welchem ſich Jeder, nach dem verſchiedenen Maaß der Empfaͤnglichkeit und der Mittheilungsgabe, ſeine Unterhaltung herausſpinnt; aber die Art, wie man dieſe Quellen des geſellſchaftlichen Vergnuͤgens be - nutzt, iſt ſo eigenthuͤmlich, daß ſie zur Karak - teriſtik der Petersburger einzelne auffallende Zuͤge hergiebt.

Man ſetzt ſich freylich uͤberall in der Welt zu Tiſche, um ein natuͤrliches Beduͤrfniß und mehr oder weniger auch die Sinnlichkeit zu be - friedigen; an wenigen Orten aber iſt das Letz -427 tere ſo ſehr Zweck aller Geſellſchaften, als hier. Die angenehmſten Zirkel und eine fru - gale Tafel werden immer weniger Liebhaber finden, als ein wohlbeſetzter ausgeſuchter Tiſch und eine trockne Unterhaltung. Das Kar - tenſpiel iſt in allen großen Staͤdten von Eu - ropa das gewoͤhnlichſte Mittel des Zeitver - treibs; aber hier ſpielt man weniger ſich die Zeit zu vertreiben, als ſeine Leidenſchaften durch ein großes Intereſſe in Bewegung zu ſetzen. Ein kleines Spiel, deſſen Ausſchlag im unguͤnſtigſten Falle keinen betraͤchtlichen Verluſt nach ſich ziehen koͤnnte, wuͤrde den Petersburgern ein Zeitverderb ſcheinen. Pfand - ſpiele, Raͤthſel, Charaden, Boutrime’s, und wie die geſellſchaftlichen Erholungen heißen moͤgen, bey denen man in den Familienkreiſen in Deutſchland ſo froh und witzig iſt, finden hier nirgend Eingang, weil ſie weder die Sinn - lichkeit reizen, noch den Verſtand befriedigen, noch auch den Leidenſchaften Spielraum ge - ben. Kartenſpiele in denen das Gluͤck oder der Zufall am freyſten wirken koͤnnen, ſind die beliebteſten; in Haͤuſern wo keine Hazardſpiele geduldet werden, haͤlt man ſich daher an ſolche428 die dieſen am naͤchſten kommen. Aus dieſer Urſache mußte das Whiſt dem Boſton weichen, weil in dem letztern der Zufall ein freyeres Spiel hat, und weil es den Petersburgern ge - lungen war, durch ein Raffinement des Luxus die Kombinationen dieſes Wageſpiels zu ver - mehren.

Die eigentliche Konverſation iſt uͤberall die letzte Reſſource, ein Mittel, die leeren Mo - mente auszufuͤllen, die das Spiel und die Ta - fel uͤbrig laſſen. Nichts deſtoweniger hat die - ſer Zweig der Unterhaltung ſo intereſſante und karakteriſche Seiten, daß es wol der Muͤhe lohnt, ihn naͤher kennen zu lernen. Ein eigenthuͤmlicher Vorzug unſerer Zirkel, den ſelbſt groͤßere Staͤdte in dem Maaße entbeh - ren, iſt die Miſchung von Menſchen aus allen Staͤnden und Laͤndern, von allen Religions - partheyen und aus den verſchiedenſten und ungleichartigſten Verhaͤltniſſen. Nirgend iſt dieſer Zuſammenfluß ſo groß, und nirgend geht die gegenſeitige Duldung und Vertraͤg - lichkeit ſo weit als hier. Es iſt nichts unge - woͤhnliches, Generale, hohe Staatsbeamte, de - korirte Perſonen, Kaufleute, Gelehrte und429 Kuͤnſtler in Einer Geſellſchaft, an Einer Tafel beyſammen zu ſehen, oder in einem Zirkel von zehn bis zwoͤlf Perſonen Ruſſen, Deut - ſche, Franzoſen, Englaͤnder, Spanier und Schweden zu finden. Der erſte Vortheil, den dieſe Amalgamation von Menſchen bewirkt, iſt Toleranz. Das wechſelſeitige Beduͤrfniß, zu dulden, um geduldet zu werden; das Ge - fuͤhl des Wohlſtands, durch welches die ſtaͤr - kere Parthey bewogen wird, ſich ihrer Ueber - macht zu entaͤußern, um der ſchwaͤchern ihr geſellſchaftliches Daſeyn nicht zu verleiden; endlich, die Gewohnheit, die ſelbſt den fremd - artigſten Gegenſtaͤnden, Sitten und Meynun - gen ihr Auffallendes nimmt; alle dieſe Urſa - chen zuſammen haben in den Ton der guten Geſellſchaft eine ſo harmoniſche Stimmung verwebt, daß man eine Zuſammenkunft von genauen Bekannten vorausſetzen ſollte, wo ſich in der That Menſchen unter den entfernteſten Verhaͤltniſſen und Standpunkten verſammeln. Die erſte Forderung an einen guten Geſell - ſchafter iſt natuͤrlich dieſe: keine Seite zu be - ruͤhren, die bey irgend einem Anweſenden auf eine unſchickliche Art das Gefuͤhl ſeiner Indi -430 vidualitaͤt oder ſeiner iſolirten Lage erregen koͤnnte; aber es gehoͤrt freylich eine große Be - hutſamkeit und ein gewiſſer Takt dazu, um in ſehr gemiſchten oder unbekannten Zirkeln nicht gegen dieſe Regel einer verfeinerten Kon - venienz zu verſtoßen. Große Anſpruͤche, ein entſcheidender Ton, abſprechende Urtheile, ſind daher eben ſo abgeſchmackt und laͤcherlich, als eine unuͤberlegte Wahl des Geſpraͤchs nach - theilig und gefaͤhrlich werden kann.

Nirgend vielleicht iſt es ſchwerer, durch ſeltſame Begebenheiten, außerordentliche Schick - ſale, weite Reiſen und große Bekanntſchaften Aufſehen zu erregen, als hier. Die mehreſten jungen Ruſſen von Stande und Erziehung ha - ben die große Tour gemacht; viele unter ihnen ſind mit den Gebraͤuchen und Merkwuͤrdigkei - ten von Paris, Rom und London eben ſo gut und beſſer bekannt, als mit denen ihres Va - terlandes; eine Menge Menſchen werden durch Geſandſchaften mit den[entfernteſten] Nationen vertraut; Abendtheurer, die in mehr als Einem Welttheil ihr Gluͤck verſucht haben, ſtroͤmen hier in betraͤchtlicher Anzahl zuſammen. Jeder bringt ſeinen Antheil von Erfahrungen in die431 Geſellſchaft mit; die Maſſe von Kenntniſſen, die dadurch in den feinern Zirkeln in Umlauf gebracht wird, macht dieſe um ſo intereſſan - ter. Der Horizont eines Jeden erweitert ſich; man verliert den alltaͤglichen und kleinlichen Geſichtspunkt aus den Augen, unter welchem man, bey einer eingeſchraͤnktern Welt - und Menſchenkenntniß die Dinge zu betrachten ge - wohnt war. Das große Spiel der Leiden - ſchaften und Intriguen, welches uͤberall auf einem ſo glaͤnzenden und ausgedehnten Thea - ter durch ſtaͤrkere Triebfedern gehoben wird, lehrt die Menſchen von einer ganz andern Seite kennen, als unſere Buͤcher und die Re - ſultate eines einfoͤrmigen Lebensganges ſie ſchil - dern. Die Quellen merkwuͤrdiger Begeben - heiten, die wahre Verkettung entfernt ſchei - nender Urſachen und Wirkungen offenbaren ſich hier leichter dem Blick des aufmerkſamen Forſchers. Wenn auf der Einen Seite Miß - trauen und Glaube an die Schlechtigkeit des menſchlichen Herzens der Gewinn dieſer Er - fahrungen iſt, ſo lehren ſie auf der andern Behutſamkeit und die Ausuͤbung des goldnen Spruͤchelchens: nil admirari.

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Nach dieſen Vorausſetzungen laͤßt ſich er - warten, daß es in feinern Zirkeln und unter gebildeten Leuten nicht leicht an Stoff zu in - tereſſanten Unterredungen fehlen wird. Die Geſchichte des Tages macht freylich hier wie uͤberall die Grundlage der Konverſation; aber ſelbſt dieſe iſt hier reichhaltiger, als ſie es in kleinern Staͤdten und auf einem eingeſchraͤnk - tern Schauplatz menſchlicher Thaͤtigkeit ſeyn kann. Auf der Ordnung des Tages ſtehen die politiſchen und Hofneuigkeiten oben an, die auch bey der groͤßten Unbedeutenheit alle - mal weniger ekelhaft ſind, als die faden Wet - terdiskurſe, die hie und da den Eingang zum Geſpraͤche bahnen. Das ungeheure Theater eines großen, maͤchtigen Hofes, der ſeine glaͤn - zende Rolle mit einem ſo entſcheidenden Ein - fluß auf das Staatenverhaͤltniß von Europa und Aſia ſpielt, liefert taͤglich mehr als hin - reichenden Stoff zur mannigfaltigſten Unter - haltung. Selbſt die kleinen Vorfaͤlle des Au - genblicks, die Chronique ſcandaleuſe und die Antichambreanekdoten haben hier zur Stelle ein gewiſſes Intereſſe, das auch den philoſo - phiſchen Sonderling fortreißt und zur Theil -nahme433nahme zwingt. Der Hof und die Reſidenz bilden ein großes lebendiges Gemaͤlde, in wel - chem ſich die kleinen Zuͤge und Schattirun - gen unaufhoͤrlich veraͤndern; eine Begebenheit draͤngt die andere; der Held des Tages iſt es morgen nicht mehr; kaum von unſerm Blick gefaßt, verſchwindet er unter der unbemerkten Menge, und wir ſelbſt fuͤhlen uns erſtaunt durch den Strom der Zeit und den Wechſel der Dinge in neue Sphaͤren und unbekannte Verhaͤltniſſe fortgewaͤlzt. Eine Abgeſchieden - heit von wenigen Tagen iſolirt den Weltmann, der au courant zu leben gewohnt iſt; er ſieht ſich fremd in einer Welt, in der er ſich zu Hauſe glaubte.

Wo die großen Gegenſtaͤnde der Konverſa - tion nicht zureichen, da nimmt man ſeine Zu - flucht zur Litteratur. Bey der Miſchung von Staͤnden die hier in allen Geſellſchaften ſtatt findet, iſt es natuͤrlich, daß die eigentlichen Ge - lehrten nirgend das Uebergewicht haben; aber Maͤnner von praktiſcher Weltkenntniß und Lek - tuͤre, unterrichtete und gebildete Leute aus al - len Klaſſen vertheilen ſich in den Haͤuſern vom beſſern Ton und geben hin und wieder derZweiter Theil. E e434Unterhaltung die Farbe. Der Vortheil, der hieraus entſpringt, iſt von großem Werthe; ſelten oder niemals erhebt ſich eine disputir - ſuͤchtige Stimme, die allein gehoͤrt zu werden verlangt; der Egoismus, der dem Gelehrten vom Metier uͤberall anklebt, verſchmilzt in eine kosmopolitiſche Nachgiebigkeit, und ſtatt der chrienmaͤßigen Auseinanderſetzung eines wiſ - ſenſchaftlichen Streitpunkts hoͤrt man freund - ſchaftliche, im Konverſationston vorgetragene Debatten, bey denen die gute Laune der Gruͤndlichkeit den Schleyer umzuwerfen ſucht. Zirkel dieſer Art, die freylich uͤberall zu den ſeltnern gehoͤren, ſind der befriedigendſte Ge - nuß fuͤr den Mann von Kopf und Herz, der von ſeinem ernſtern Tagewerk ermuͤdet, auch in ſeinen Erholungen Gewinn fuͤr beyde ſucht.

So viel uͤber den Stoff unſerer Konverſa - tion, und nun ein Wort uͤber die Form der - ſelben. So mannigfaltig jener durch die Mi - ſchung der Staͤnde und Karaktere wird, ein ſo buntes Anſehn erhaͤlt dieſe durch die Viel - heit der Sprachen die man in Geſellſchaften hoͤrt. In allen großen Staͤdten giebt es Aus -435 laͤnder, aber nirgend nach Verhaͤltniß ſo viele als hier; uͤberall ſind dieſe Auslaͤnder Fremde, Reiſende; hier ſind ſie groͤßtentheils angeſeſ - ſene Leute. Nirgend findet man es daher noth - wendig, ſich ihrentwegen einen Zwang aufzu - legen, den man hier duldet, weil ohnedies ein großer Theil des geſellſchaftlichen Vergnuͤgens verloren gehen wuͤrde. Hiezu kommt, daß die ruſſiſche Sprache im Auslande nur wenig be - kannt und ihre Erlernung mit vielen Schwie - rigkeiten verknuͤpft iſt, fremde Sprachen hin - gegen bey den gebildetern Klaſſen der Nation ſelbſt in der gewoͤhnlichen Unterhaltung ſehr gangbar ſind. Bey alledem iſt die ruſſiſche Sprache die gebraͤuchlichſte in den Zirkeln der Eingebornen, und nur aus Gefaͤlligkeit gegen Auslaͤnder vertauſcht man ſie mit der allge - meinbekannten franzoͤſiſchen, die das Vereini - gungsmittel der gemiſchteſten Geſellſchaften iſt.

Die Petersburger tragen den Vorwurf, daß ſie die Landesſprache durch fremde Wen - dungen und Konſtruktionen verfaͤlſchen und in der Feinheit der Ausſprache weit hinter den Moskowiten zuruͤckbleiben. Dieſer Vorwurf ſcheint im Allgemeinen, ſo weit ein NichtruſſeE e 2436hieruͤber urtheilen kann, gegruͤndet zu ſeyn. Die haͤufige Vermiſchung in welcher Ruſſen und Auslaͤnder leben und der Umſtand, daß Kinder gewoͤhnlich zwey bis drey Sprachen zugleich hoͤren und lernen, ſind die Urſache die - ſes Uebels, welches ſich ſo weit verbreitet hat, daß es in gewiſſen Zirkeln herrſchender Ton geworden iſt, die Konverſation halb in dieſer, halb in jener Sprache zu fuͤhren, oder zwi - ſchen drey bis vier ruſſiſchen Worten einige franzoͤſiſche einzuſchieben. So gerecht dieſer Tadel iſt, ſo wahr iſt auch das Zeugniß, wel - ches Jedermann den Petersburgern uͤber die Vollkommenheit giebt, mit welcher ſie das Franzoͤſiſche Sprechen. Es iſt ein allbekanntes Urtheil, von ſachkundigen Maͤnnern gefaͤllt, daß nicht uͤberall in, und nirgend außerhalb Frankreich dieſe Sprache mit ſolcher Fertig - keit, Eigenthuͤmlichkeit, Feinheit und Eleganz geſprochen wird, als hier unter den hoͤhern Staͤnden. Die deutſche Sprache ſteht dagegen ein wenig im Schatten; die Schwierigkeiten die mit ihrer Erlernung verknuͤpft ſind, das Uebergewicht welches die franzoͤſiſche Sprache bey Hofe, in oͤffentlichen Geſchaͤften und in437 den Zirkeln der feinen Welt erlangt hat, ſetzen ihrer allgemeinern Einfuͤhrung große Hinder - niſſe entgegen. Demungeachtet ſteht ſie doch bey der Nation in groͤßerer Achtung als irgend eine andere Sprache, die franzoͤſiſche ausge - nommen; Leute vom hoͤchſten Range widmen ſich ihrer Erlernung, und wenn ſie nicht haͤu - figer geſprochen wird, ſo ruͤhrt dies groͤßten - theils von den Schwierigkeiten ihrer Ausſprache her, die den Ruſſen vorzuͤglich viele Muͤhe macht. Selten wird man einen kultivirten Petersburger finden, der nicht dieſe drey Spra - chen in groͤßerer oder geringerer Vollkommen - heit inne haͤtte; das Engliſche hingegen iſt mehr eine Liebhaberey einzelner Menſchen.

Dieſes Verhaͤltniß, welches die Franzoſen ſo vorzuͤglich beguͤnſtigt, macht ihnen natuͤrlich den Beſitz der Landesſprache eben ſo entbehr - lich, als er den Deutſchen nothwendig wird, wenn ſie das Franzoͤſiſche nicht mit einiger Ge - laͤufigkeit ſprechen. Viele unter dieſen bringen es hier in der letztern ſo weit, als ob ſie eine Zeitlang in Frankreich gelebt haͤtten; andere und die Mehreſten legen ſich mit der dem Deutſchen ſo eigenthuͤmlichen Gedult und Aus -E e 3438dauer auf die Erlernung der Nationalſprache, in welcher ſie oft zu einer Vollkommenheit ge - langen die das Erſtaunen ſelbſt der Eingebor - nen erregt. Beyſpiele dieſer Art werden dem Leſer aus der Geſchichte der deutſchen Littera - tur und noch mehr aus dem zehnten Abſchnitte dieſes Buchs erinnerlich ſeyn. Zu wuͤnſchen waͤre es, daß dieſe lobenswuͤrdige Anſtrengung nicht zu der Affektation verfuͤhrte, die hin und wieder in deutſchen Haͤuſern herrſchend iſt, uͤberall und ohne Veranlaſſung ruſſiſche Brocken in die Unterredung zu miſchen. Ein Theil die - ſes Vorwurfs freylich verliert dadurch ſeine Staͤrke, daß es oft unmoͤglich iſt, gewiſſe Na - tionalbenennungen mit eben der Beſtimmtheit in einer fremden Sprache auszudruͤcken, ohne mißverſtanden zu werden oder in eine laͤcher - liche Pedanterie zu verfallen. Beyſpiele von ſolchen Faͤllen kommen ſelbſt in dieſem Buche haͤufig genug vor. Wer wuͤrde ſich z. B. ge - trauen, die Worte: Iswoſchtſchik, Podrjaͤd - ſchik, Droſchka, Artel, u. a. zu verdeutſchen? Eine Menge taͤglich vorkommender Beduͤrfniſſe und eigenthuͤmlicher Bezeichnungen ſind eben ſo unuͤberſetzbar; aber es iſt dennoch nicht zu439 leugnen, daß die deutſche Sprache dadurch in dem Munde unſerer Herren und Damen ein ſehr buntſcheckiges Anſehen gewinnt. Jeden Augenblick hoͤrt man die Redensarten: Iſt die Leſchanka*)Ein Ofen mit einer Ruhebank, auf welcher die Ruſſen zu ſchlafen pflegen. geheizt? Die Kalitka**)Eine kleinere Thuͤre fuͤr Fußgaͤnger, die in dem Wagenthor angebracht iſt. ſteht offen. Der Plotnik***)Zimmermann. Da aber der deutſche und ruſſi - ſche Zimmermann auf eine ſehr verſchiedene Art ihr Ge - werbe treiben, ſo muß dieſe Benennung fuͤr den letztern beyhehalten werden. iſt gekommen. Hat man den Pogrebſchtſchik†)Weinkelierkerl. Klingt im deutſchen pedantiſch und iſt nirgend in die Sprache des Umgangs aufgenommen. beſtellt? und un - zaͤhlige andere die geduldet werden muͤſſen, weil ſie ohne Affektation nicht verdeutſcht wer - den koͤnnen. Je unausweichlicher dieſer Ue - belſtand iſt, um ſo weniger iſt es zu verzeihen, wenn man ohne Noth ruſſiſche Worte ge - braucht, die ſich gar fuͤglich durch allgemeinE e 4440gebraͤuchliche deutſche erſetzen laſſen. Aber ſo hoͤrt man faſt uͤberall: Tſchulan ſtatt Vor - rathskammer, Kriſchka ſtatt Ofendeckel, Luzkoi ſtatt Volksſtube, Agarodnik ſtatt Kuͤchengaͤrt - ner, Liteina ſtatt Stuͤckhof, oder wohl gar: Befehlen Sie Kaffe mit oder ohne Slifki (Sahne, Schmand)? Es fehlt ein Pribor (Gedeck) u. ſ. w. Daß die hier gebornen Deutſchen eine Menge Ruthenismen in ihre Sprache verwebt haben, laͤßt ſich ohnehin er - warten. Die Redensarten: ich liebe nicht das zu eſſen; er hat es an mich geſagt und dergleichen mehr ſind zuweilen ſogar unter ge - bildeten Leuten uͤblich. Deutſche Provinzialis - men hoͤrt man ſeltner, und der Accent wird durch das Zuſammenſchmelzen ſo vieler Dia - lekte eigenthuͤmlich ſanft und wohlklingend.

Hier iſt der Ort, einer liebenswuͤrdigen Nationalſitte zu erwaͤhnen, die ſich auch unter den Deutſchen verbreitet hat, und welche vor - zuͤglich viel dazu beytraͤgt, den Ton des Ge - ſpraͤchs freundſchaftlich und zwanglos zu ma - chen, und Menſchen von entfernten Staͤnden und Altern, wenigſtens dem Anſchein nach, naͤher zu bringen. Es iſt unter den Ruſſen441 ſelten gebraͤuchlich, ſich bey den Familienna - men zu nennen, oder Jemanden in der Anrede das Praͤdikat ſeines Ranges zu geben. Ge - woͤhnlich bedient man ſich des Taufnamens*)Die Ruſſen fuͤhren gewoͤhnlich nur Einen Tauf - namen. Weiber werden nicht nach der Mutter, ſondern nach dem Vater genannt. In der Ausſprache faͤllt die dritte oder vierte Silbe weg. Man ſagt alſo nicht Iwan Waſſiliewitſch, wie dieſer Fuͤrſt auf allen Kathedern in Deutſchland heißt, ſondern Iwan Waſſillitſch. mit welchem man den des Vaters verbindet. Wenn z. B. der Anzuredende Feodor (Theo - dor) und deſſen Vater Iwan (Johann) heiſ - ſen, ſo wird der erſtere Feodor Iwannowitſch (Johannsſohn) genannt. Ein Frauenzimmer welches Maria und deren Vater Johann heißt, wird Marja Iwannowna genannt, u. ſ. w. Nur bey voͤllig Unbekannten oder ſehr vorneh - men Perſonen leidet dieſer Gebrauch Ausnah - men, in allen uͤbrigen Faͤllen iſt er ſelbſt in den feinſten Zirkeln geltend. Auch in ſehr vie - len deutſchen Haͤuſern hat dieſe Sitte Eingang gefunden; wenigſtens fuͤgt ſich jeder Deutſche nach derſelben, um dem gemeinen Ruſſen, derE e 5442an auslaͤndiſche Familiennamen nicht gewoͤhnt iſt, die Anrede zu erleichtern. Wer einen Taufnamen hat, der im Ruſſiſchen nicht ſtatt findet, verwechſelt ihn mit einem Aehnlichklin - genden, z. B. Heinrich mit Andrej, oder be - haͤlt ihn bey, wie dies zuweilen mit den Na - men Karl, Chriſtoph, u. a. geſchieht.

Aehnlicher Nationalſitten, die eine gewiſſe Vertraulichkeit in die Geſellſchaft bringen, giebt es mehrere; aber ſie verlieren ſich in dem Maaße in welchem auslaͤndiſcher Ton und fremde Gebraͤuche uͤberhand nehmen. So war es zum Beyſpiel ehemals in allen Staͤn - den und iſt noch itzt unter den geringeren uͤb - lich, ſich beym Empfange und Abſchiednehmen oder wenn man einander begegnet, zu kuͤſſen. Dieſer Gebrauch, der in den hoͤhern Klaſſen nur unter denen ſtatt findet, oder dieſen vom maͤnnlichen Geſchlecht als eine Art von Hul - digung dargebracht wird, verwechſelt ſich itzt allmaͤhlig gegen die allgemeine europaͤiſche Sitte. Ruſſiſche Frauenzimmer und auch viele Aus - laͤnderinnen gruͤßen auf keine andere Weiſe als die Mannsperſonen, naͤmlich mit einer bloßen Sonkung des Kopfs, ohne die Kniee zu beugen.

443

Unter einem ſo geſellſchaftlichen und ge - nußliebenden Publikum als das petersburgiſche, geht nicht leicht eine Veranlaſſung zu Schmaͤu - ſen und Feſten ungenutzt voruͤber. Namens - und Geburtstage werden vorzuͤglich in ruſſi - ſchen Haͤuſern mit großen Gaſtmaͤlern oder Baͤllen gefeyert, bey welchen ſich Freunde und Bekannte gewoͤhnlich ohne foͤrmliche Einladung verſammeln. Die Geburt eines Kindes, die Erlangung eines Amts, der Ankauf eines Hau - ſes, kurz jedes gluͤckliche Ereigniß giebt Gele - genheit zu einem haͤuslichen Feſte. Auch hier vermißt man jene Ungebundenheit nicht, die den Karakter der hieſigen Lebensart ſo ange - nehm nuͤanzirt. Kein Gebrauch iſt ſo allge - mein, daß man nicht ohne Unbequemlichkeit eine Ausnahme machen koͤnnte; nirgend giebt es weniger Foͤrmlichkeiten, und nirgend zieht die Vernachlaͤßigung derſelben weniger Tadel und Nachrede zu. Hochzeiten, Kindtaufen und Beerdigungen werden auf die mannigfaltigſte Art begangen; kein Etikettegeſetz ſchreibt den Aufwand vor, und kein Ceremoniel wacht uͤber die Beobachtung kleinſtaͤdtiſcher Formen.

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Aus dieſen leicht hingeworfenen Zuͤgen laͤßt ſich ſchließen, wie viele Annehmlichkeiten der Aufenthalt in der Reſidenz gewaͤhren kann. In der That kenne ich keine unter den groͤßern Staͤdten Europens die ich beſucht habe, in welcher ſo viel ſinnlicher Genuß um ſo wohl - feilen Preis einzutauſchen waͤre, als hier. Dieſe außerordentliche Gaſtfreyheit, dieſer gut - muͤthige Ton, dieſe Leidenſchaft fuͤr das ge - ſellige Leben, dieſe Entfernung von Zwang und Etikette finden ſich uͤberall nur einzeln und nirgend in ſo hohem Grade beyſammen. Aber auch fuͤr den Liebhaber des geiſtigen Genuſſes iſt Petersburg keine Wuͤſte. In den hoͤheren Staͤnden trift man oft genug auf Menſchen von der ſeltenſten Ausbildung des Kopfs und Herzens, die mit dem gruͤndlichſten Studium oder mit dem glaͤnzendſten Talent eine reife Erfahrung und eine unter Menſchen geſam - melte Welt - und Menſchenkenntniß verbinden. Zirkel dieſer Art, wenn ſie gleich nicht ſo haͤufig gefunden werden als in manchen an - dern Staͤdten vom erſten Range, halten deſto feſter an einander, und werden durch das Ge - fuͤhl des Beduͤrfniſſes zur wechſelſeitigen Scho -445 nung und Duldung veranlaßt. Die Tempel des Geſchmacks, die wiſſenſchaftlichen Vorraͤthe mit welchen die Reſidenz geſchmuͤckt und an - gefuͤllt iſt, bieten dem Sinn fuͤr Schoͤnheit und Kunſt eben ſo reichliche Nahrung, als dem Wiſſensdurſt emſiger Forſcher. Mit dem maͤßigſten Antheil von Genuͤgſamkeit kann man ſich auf einem ſolchen Standpunkt gefal - len; und der Beyſpiele ſind nicht wenige, daß ſelbſt Leute mit den unbeſchraͤnkteſten Praͤten - ſionen und einem ſchwer zu befriedigenden Ge - nußhunger ſich nach einem mehrmaligen Wech - ſel ihres Aufenthalts nirgend beſſer gefielen als hier.

Man wird nach allem dieſem begierig ſeyn, zu wiſſen, welches die Anſpruͤche ſind, die Je - mand in die Geſellſchaft bringen muß, um ſeinen Antheil an der Maſſe des gemeinſchaft - lichen Genuſſes behaupten zu koͤnnen. Die all - gemeinen Erforderniſſe eines kultivirten Men - ſchen abgerechnet, die man uͤberall ſo ziemlich nach einerley Maaßſtabe vorausſetzt, hat jedes Land noch eine beſondere Forderung an den der ſich der Geſellſchaft widmet, und in der - ſelben gut aufgenommen zu werden verlangt. 446In dem ehemaligen Frankreich mußte man liebenswuͤrdig ſeyn; in England heißt dieſe Forderung: Reichthum. In Holland em[-]pfiehlt ein Adreßbrief von einem anſehnlichen Handlungshauſe, und in Deutſchland ein be - ruͤhmter Name oder ein Adelsdiplom. In Rußland iſt Geld und Rang der Schluͤſſel zur guten Geſellſchaft. Ohne dieſe Bedingun - gen ſieht man ſich, mit allen uͤbrigen, in jene zahlreich bevoͤlkerte und dunkle Sphaͤre ver - ſetzt, die in allen großen Staͤdten ſo ſehr ne - ben den glaͤnzenden Zirkeln vom bon Ton ab - ſticht.

Geld alſo iſt die erſte Forderung an den Weltmann. Nicht jener Reichthum, der in England den Mann zum Manne macht, ſon - dern ein verhaͤltnißmaͤßiges Einkommen, um den nothwendigen und anſtaͤndigen Aufwand in Kleidung und Equipage beſtreiten und in Klubbs und Zirkeln das gewoͤhnliche Spiel mitmachen zu koͤnnen. Der Reichthum fuͤr ſich iſt hier keine Empfehlung; um die Quel - len des Erwerbs bekuͤmmert ſich Niemand; genug, wenn der Mann in ſeinem Aeußern einen gewiſſen Wohlſtand durchblicken laͤßt und447 die Konvenienz nicht beleidigt. Um billig zu ſeyn, muß man eingeſtehen, daß die Peters - burger nicht zu ſtrenge ſind, wenn ſie dieſe Forderung machen. Das Spiel iſt einmal ihre große Reſſource; wer kann es ihnen ver - argen, daß ſie den Geſchmack einzelner Men - ſchen der herrſchenden Neigung Aller unter - werfen? In Staͤdten und Laͤndern wo das Spiel nicht ſo allgemein iſt, faͤllt auch dieſe Bedingung weg; aber es treten andere dafuͤr an die Stelle. Nicht weniger verzeihlich iſt es, wenn man eine anſtaͤndige und reinliche Kleidung zur conditio sine qua non des Ein - tritts in gute Geſellſchaften macht. Wirklich iſt man in dieſer Forderung noch ſehr billig. Werth und Form der Kleidungsſtuͤcke ſind gleichguͤltiger als man glauben ſollte, und was den Punkt der Dezenz betrift, ſo bedarf der wol keiner Entſchuldigung. In Frankreich ver - zieh man es großen Geiſtern, witzigen Koͤpfen und ſingulaͤren Menſchen, wenn ſie die Regel der Schicklichkeit in ihrem Anzuge verletzten; bey uns ſind weder die erſten noch die letzten ſo gangbare Muͤnze, daß man ihrentwegen noͤthig haͤtte eine Ausnahme zu machen. In448 andern Laͤndern iſt der Sinn fuͤr Reinlichkeit und Eleganz nicht ſo allgemein, ein nachlaͤßi - ger Anzug erregt daher weniger Aufmerkſam - keit as hier. Die Equipage endlich iſt we - niger eine Bedingung der Konvenienz, als ein Beduͤrfniß, welches aus den Unbequemlichkei - ten des Lokale entſpringt, und deſſen Noth - wendigkeit jeder ſelbſt empfindet, der ſich zur guten Geſellſchaft rechnet und die Freuden nicht entbehren will, die ihn in den Zirkeln der feinen Welt erwarten. In dieſen als Fuß - gaͤnger zu erſcheinen, iſt zu gewiſſen Jahrs - zeiten voͤllig unmoͤglich. Ueberall in der Welt iſt es kein glaͤnzendes Loos zu Fuße zu gehn, aber nirgend geht ſichs ſchlechter als hier.

Der Winter iſt die goldne Zeit des Fuß - gaͤngers; auch ſegnet er den fallenden Schnee, der ihm die muͤhſelige Bahn ſeiner Wallfahr - ten erleichtert und ebnet. Alsdann ſucht er ſeine beſſere Kleidung hervor, erſcheint ſeit lan - ger Zeit zum erſtenmal wieder in Schuhen, und eilt halbvergeſſene Bekanntſchaften wieder anzuknuͤpfen, die ihn die boͤſe Jahrszeit zu un - terbrechen zwang. Hat er weite Wege zu machen, ſo bringt ein Iwannuſchka ihn, zwarnicht449nicht ſehr ſchnell, aber doch zu billigem Preiſe, an den Ort ſeiner Beſtimmung. Ueberall wird er mit der verwunderungsvollen Frage: wo ſind Sie ſo lange geweſen? empfangen, und oft raubt ihm noch obenein die falſche Schaam den Troſt, die wahre Urſache ſeines Außenbleibens zu nennen, und ſeinem Herzen Luft zu machen, das ſtets von Galle gegen den Herbſt kocht. Deſto dankbarer gegen die wohlthaͤtige Kaͤlte iſt er der große Lobredner des Winters. Wettet man um den Zeitpunkt des Eisbruchs der Newa, ſo haͤlt er es ſicher - lich mit dem ſpaͤteſten. Aber ach! der Gang der Natur laͤßt ſich durch keine Wetten beſtimmen. Der Fruͤhling kommt, und mit ihm erneuen ſich die Plagen des vergangenen Herbſts. Je heitrer die Sonne laͤchelt, deſto finſtrer wird die Stirne des Fußgaͤngers. Der ſchmelzende Schnee uͤberſchwemmt die Stra - ßen und bildet ſtehende Seen und Baͤche. Jetzt iſt es unmoͤglich, zu Fuße zu gehn; aber auch in den kleinen niedrigen Schlitten, die ſich zwiſchen den vorbeyrollenden Wagen durch - winden, ſetzt ſich der arme Fußgaͤnger der Ge - fahr aus, umgeworfen oder doch mit KothZweiter Theil. F f450beſpruͤtzt zu werden. Indeſſen trocknet die waͤrmere Sonne die Gaſſen, der Sommer naͤhert ſich wird ſich das Schickſal des Fußgaͤngers beſſern? Leider nein! Jetzt be - reitet ſich ein anderes Element ihn zu quaͤlen. Die Fruͤhlingsſtuͤrme jagen den getrockneten Gaſſenkoth in dicken Staubwolken empor, und wenn dieſe ermuͤden, ſo ſengt die brennende Sonne ſeinen Scheitel. Ein Theil ſeiner Be - kanntſchaften verlaͤßt die Stadt, und mit die - ſen muß er ſich waͤhrend der ſchoͤnen Jahrs - zeit allen Umgang verſagen; ſelbſt bey ſeinen Stadtbeſuchen langt er, nach einer Fußreiſe von einer oder mehreren Werſten, mit Staub und Schweiß bedeckt, von Durſt und Muͤdig - keit erſchoͤpft, an. Trifft ihn auf dieſen Wan - derungen ungluͤcklicherweiſe ein ploͤtzlicher Re - gen, ſo muß er ſeinen Schutz unter dem naͤch - ſten Thorwege ſuchen, und oft, nach ſtunde - langem Warten, dennoch ſeinen Ruͤckweg nach Hauſe antreten, wo er durchnaͤßt und ver - druͤßlich uͤber ſeinen vereitelten Vorſatz an - langt. So traurig dieſe Schickſale ſind, lie - ber Leſer, ſo ſpare dein Mitleid doch fuͤr den kommenden Herbſt auf, denn gegen dieſen ſind451 die Muͤhſeligkeiten des Sommers nur ein leichtes Joch und eine angenehme Buͤrde. Bey ſeinem Eintritt bedeckt ſich der Horizont mit dicken grauen Wolken, durch die kein Son - nenſtral dringt; feuchte Nebel verfinſtern Mor - gens und Abends die Luft; ein ſelten unter - brochener Regen uͤberſchwemmt die Gaſſen und verurſacht einen Koth, gegen den die groͤßte Gedult des Fußgaͤngers und das beſte engliſche Sohlleder es nicht aushalten. Nur gezwungen verlaͤßt er ſeine Stube; unter ſich einen Moraſt und uͤber ſich den ſchwarzen Himmel tritt er ſeine Wanderſchaft an; Kaͤlte und Regen durchdringen bald ſeine Bedeckung, die ein breiter Saum von Gaſſenkoth ziert. Von uͤbermuͤthigen Equipagen verfolgt, ſieht er ſich aus ſeinem ſorgfaͤltig gewaͤhlten Fuß - ſteige vertrieben und in die haͤßlichſten Pfuͤtzen gejagt; oft lernt er auf ſchmalen Brettern und ſchluͤpfrigen Balken die Geſetze des Gleich - gewichts kennen, und nicht ſelten bezahlt er das Lehrgeld dieſer Kunſt mit einem Fall, bey welchem er gelegentlich das Verdienſt hat, dem umherſtehenden Poͤbel auf einen AugenblickF f 2452den Stoff zu einer kleinen Gemuͤthsergoͤtzung zu liefern.

Dieſes drollige, aber nach der Natur ge - zeichnete Bild der Leiden und Schickſale eines petersburgiſchen Fußgaͤngers rechtfertigt den allgemeinen Gebrauch der Equipage, der nir - gend groͤßer, aber auch nirgend dringender iſt, als hier. Ein milderer Himmel und groͤßere Bequemlichkeiten machen in andern Reſidenzen die Equipage zum Luxus reicher und verwoͤhn - ter Menſchen; hier iſt ſie das Beduͤrfniß eines Jeden, und wer ihrer entbehren muß, opfert der Nothwendigkeit einen großen Theil ſeines Lebensgenuſſes.

So viel ſich aber zur Entſchuldigung die - ſer und der vorhin angefuͤhrten Forderungen der guten Geſellſchaft ſagen laͤßt, ſo wenig mag ich der Lobredner des großen Maaßſtabes ſeyn, nach welchem man, faſt durchgaͤngig, den Werth und die Verhaͤltniſſe der Menſchen berechnet. Hier iſt die erſte Frage: welchen Rang hat der Mann? In England: wie viel gilt er? Es giebt keine treffendere Pa - rallele als dieſe.

453

Ein Mann ohne Rang gehoͤrt, wenn er nicht reich iſt, zu den unbedeutendſten Geſchoͤp - fen nach den Begriffen des großen Haufens. Der Urſprung dieſer ſonderbaren Klaſſifikation liegt in einer, nach andern Ruͤckſichten ſehr lobenswuͤrdigen und zweckmaͤßigen Staatsein - richtung. Es giebt naͤmlich fuͤr den Civiletat eine Stufenleiter des Ranges, die mit der militairiſchen in dem abgemeſſenſten Verhaͤlt - niß ſteht. Der Kapitain z. B. entſpricht dem Titulairrath; der Kollegienaſſeſſor dem Major; der Hofrath dem Obriſtlieutenant; der Staats - rath dem Obriſten, u. ſ. w. Dieſe Rangſtufen unterſcheiden ſich weſentlich von den Aemtern, denn zuweilen ſind beyde mit einander ver - bunden, zuweilen nicht. Es kann Jemand viele Jahre in einem und dem naͤmlichen Amte bleiben, und waͤhrend dieſer Zeit eine oder mehrere Stufen im Range ſteigen. Daher kommt es, daß man ſich gewoͤhnlich nicht nach der Stelle die Jemand bekleidet, ſondern im - mer zuerſt nach ſeinem Range erkundigt, um auf eine beſtimmte Art ſein Verhaͤltniß zu kennen. Der Einfluß, den dieſe Einrichtung auf die Denkungsart der Menſchen hat, iſtF f 3454ſehr groß, aber er verurſacht dennoch keine merklich grelle Schattirungen in dem geſell - ſchaftlichen Ton, der unter Leuten von Kultur und Erziehung herrſcht. Auffallend iſt es, daß eben hier, wo man ohne Rang nichts iſt, die Vorzuͤge der Geburt ſo aͤußerſt wenig gelten.

Ich habe es verſucht, den Genuß welchen die gute Geſellſchaft dem Weltmanne darbie - tet, und die Forderungen welche ſie an ihn macht, neben einander zu ſtellen. Beydes ge - nau abgewogen, wird die Schaale noch immer zum Vortheil des Kaͤufers ſinken. Wer ſich auf dieſem Marktplatz nur mit der kleinſten Baarſchaft verſieht, dem kann es nie an Waare fehlen. Und wer ſo gar arm iſt, daß er weder Geld noch Geldeswerth zum Tauſche anbieten kann nun, fuͤr den iſt nirgend in der Welt etwas kaͤuflich. So Mancher frey - lich ſteht mit ſeinem gefuͤllten Seckel da, und ſucht nach Dingen die er hier nicht ſuchen muͤßte; Mancher andere tadelt alles ohne et - was zu kaufen, und Viele finden den Markt - preis zu hoch. Der Meynung bin ich nun nicht. Wer zu genießen verſteht, der wird auf dieſem Standpunkt ſelten uͤber Hunger klagen.

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Es giebt eine Gattung von Leuten, die ihre ſtaͤrkere Individualitaͤt in den flachen Karak - teren der Alltagsmenſchen wie in einem Hohl - ſpiegel vergroͤßert erblicken. Dieſe ſind nicht fuͤr Petersburg, und Petersburg iſt nicht fuͤr ſie. Dennoch ſtehen ſie unter dem Schutz der allgemeinen Toleranz, die Jedem ſeine Eigen - heiten verzeiht, ſo lange ſie der Geſellſchaft nicht laͤſtig werden. Leben ſie iſolirt, ſo ver - gißt man ihrer; erſcheinen ſie wieder auf dem Schauplatz, ſo wird ihnen Niemand die Frage entgegen tragen: was haben Sie ſo lange ge - macht?

Menſchen, denen der taͤgliche Lebensgang des großen Haufens anekelt, die in den ge - woͤhnlichen Zerſtreuungen und Unterhaltungen keine Reſſource fuͤr ihre edlere Genußfaͤhigkeit finden, ſehen ſich hier auf einem Platz wo jeder Augenblick die Scene veraͤndert, wo jeder Tag neue Erſcheinungen auf die Buͤhne bringt, wo die moraliſchen Karrikaturen ſich ſo ſchnell verdraͤngen, daß der Blick des Beobachters ihnen kaum von ferne nachfolgen kann. Das große Buch der Erfahrung liegt offen da; es bedarf nur der Muͤhe, die Blaͤtter umzuwen -F f 4456den und ſich von dem Geleſenen Rechenſchaft zu geben. Welch eine Quelle der lehrreichſten Selbſtbeſchaͤftigung, fuͤr den, der ſie zu be - nutzen verſteht!

Selbſt jene unbeſtimmten Karaktere, die ſich an Alles anſchließen und durch nichts ge - feſſelt werden, die heute verabſcheuen was ſie morgen entzuͤckt, die ſich uͤberall und nirgend gefallen ſelbſt dieſe finden hier ihren Stand - punkt. Mit eben der Leichtigkeit, mit welcher man Bekanntſchaften macht, trennt man ſie wieder. Nichts iſt gewoͤhnlicher, als Leute die - ſer Art ploͤtzlich aus allen Zirkeln verſchwin - den zu ſehn, in denen ſie vorher lebten. Sie ſuchen und finden dann neue, in welchen ſie ſich uͤber kurz oder lang eben ſo wenig gefal - len. Niemand wird ſie mit Vorwuͤrfen ver - folgen, oder ihnen ihren Wankelmuth fuͤhlbar machen, wenn ſie wieder unter ihren alten Bekannten erſcheinen.

So findet hier jeder ſeinen Antheil am Le - bensgenuß, von welchem Standpunkte er auch ausgehen und welche Forderungen er auch thun mag. Der Weltmann und der Sonder - ling, der Stutzer und der Philoſoph, der Ge -457 ſellige und der Egoiſt, der Sykophant und der Stoiker jeder trifft Weſen ſeiner Art, an die er ſich ſchließen, ein Plaͤtzchen auf welchem er wurzeln und unter dem Schatten der ge - ſelligen Duldung Fruͤchte treiben kann. Nur der Unzufriedene gefaͤllt ſich nirgend.

Wir haben die hervorſtechenden Seiten des geſelligen Lebens gemuſtert; ein Blick in das haͤusliche mag dieſes Sittengemaͤlde be - ſchließen. So gleichfoͤrmig der Karakter des erſtern iſt, ſo mannigfaltig ſind die Schatti - rungen die ſich in den des letztern verweben. Nachahmungsſucht und Konvenienz ſtimmen vor den Augen der Welt alles auf einen glei - chen Ton; aber im Innern der Familien ver - liert ſich dieſer ſcheinbare Einklang, und die wahre Denkungsart der Menſchen ſpringt aus dem dunkeln Hintergrunde deſto ſtaͤrker hervor.

Die Maſſe der haͤuslichen Gluͤckſeligkeit und ihre Vertheilung zu berechnen, waͤre wol ein eben ſo gewagtes als unnuͤtzes Unterneh - men; aber moͤglich und intereſſant iſt es, bey einem langen und ausgebreiteten Umgange die Privatverhaͤltniſſe der Menſchen ins Auge zuF f 5458faſſen, und die Modifikationen derſelben mit ſeiner Erfahrung und ſeinem Gefuͤhl zu ver - gleichen. Dieſes Geſchaͤft, welchem ich mich ſeit mehreren Jahren unterzogen habe, hat mich zu der individuellen Ueberzeugung ge - fuͤhrt, daß haͤusliches Gluͤck hier, wo nicht ſeltner als in andern großen Staͤdten, doch immer nur ſelten vorhanden iſt. Dieſes Ur - theil, welches, ich wiederhole es, nur das Reſultat meiner Ueberzeugung iſt, kann viel - leicht durch eine groͤßere Erfahrung und einen tiefern Blick in die feinen Kombinationen des Familiengluͤcks widerlegt werden; aber um deſto nothwendiger finde ich es, die Gruͤnde meiner Ueberzeugung hier einer Entſcheidung beyzufuͤgen, welche ohnedies das Anſehn eines laͤcherlichen Machtſpruchs haben wuͤrde.

Große, uͤppige und luxurioͤſe Staͤdte ſind uͤberall nicht der Boden, auf welchem die zarte Pflanze der ſtillen haͤuslichen Gluͤckſeligkeit ge - deiht. Die haͤufigen und anreizenden Gelegen - heiten zu oͤffentlichen Vergnuͤgungen und rau - ſchenden Ergoͤtzlichkeiten machen den Geſchmack an denſelben herrſchend, und ſchwaͤchen den ſanften Eindruck, den die einfachen Freuden im459 Familienkreiſe gewaͤhren. Zu dieſen Nach - theilen geſellt ſich in St. Petersburg der Hang zur Geſellſchaft, das entgegengeſetzte Extrem jeder haͤuslichen Neigung. In einen unauf - hoͤrlichen Wirbel von Geſchaͤften, Ergoͤtzlichkei - ten und Geſellſchaften verwickelt, giebt es nur wenige Monate, in denen der Gatte ſeiner Gattinn, der Vater ſeinen Kindern angehoͤrt. Selbſt in Ehen, wo wechſelſeitige Liebe das Band knuͤpfte, werden Mann und Frau ein - ander nicht ſelten um ſo fremder, je laͤnger ſie mit einander leben; wieviel mehr in ſol - chen, wo Konvenienz oder Zwang zwey un - harmoniſch geſtimmte Weſen in das engſte Verhaͤltniß brachte. Wenn der Zwang hier weniger Ehen ſtiftet, ſo iſt die Konvenienz eine deſto gluͤcklichere Kupplerinn. Unſere Maͤd - chen, ſchon in der Kindheit an erkuͤnſtelte Be - duͤrfniſſe, an Wohlleben und Luxus gewoͤhnt, und unbekannt mit den ſtillen Tugenden und dem ſtillen Gluͤck eines einfachen haͤuslichen Lebens, ſehnen ſich natuͤrlich nach einer Ver - ſorgung die ihnen die Befriedigung ihrer Wuͤnſche verſpricht. Der reiche Mann iſt daher in ihren Augen gewoͤhnlich der lie -460 benswuͤrdige, und nicht wer das Gluͤck wie das alte Sprichwort ſagt ſondern wer das Geld hat, fuͤhrt die Braut nach Hauſe.

Sollte es wol noͤthig ſeyn, fuͤr irgend ei - nen kurzſichtigen oder haͤmiſchen Leſer anzu - merken, daß hier nur von der Mehrheit die Rede iſt, und daß es gluͤckliche Familien, zaͤrt - liche Ehegatten, unintereſſirte Verbindungen giebt, die eine beneidenswerthe Ausnahme von dieſer Schilderung machen? Aber ſo zahlreich dieſe Ausnahme ſeyn mag in Staͤdten von eben dem Range, wo weniger Luxus und eine einfachere Erziehung ſtatt finden, iſt ſie groͤßer.

Bey allem Mangel an Haͤuslichkeit fehlt es den Frauen aus dem Mittelſtande nicht an jener Wirthſchaftlichkeit, die im Innern und im Detail des Hausweſens zu ſparen ſucht, um im Aeußern und bey oͤffentlichen Vorfaͤl - len einen deſto groͤßern Aufwand behaupten zu koͤnnen. Wer ſich von dem Ameublement, der Kleidung und dem Tafelluxus an Geſellſchafts - tagen verfuͤhren ließe, auf die taͤgliche Lebens - art und den Wohlſtand der Familien zu ſchlie - ßen, wuͤrde ſich in ſehr vielen Faͤllen zu ſei - nem Erſtaunen getaͤuſcht ſehen. Der Wunſch,461 nach dem herrſchenden Ton zu leben, zwingt die Hausfrauen in den minder wohlhabenden Klaſſen des Mittelſtandes zu einer kuͤnſtlichen und erfinderiſchen Sparſamkeit, und nirgend vielleicht iſt der weibliche Geiſt in dieſem Raf - finement gluͤcklicher geweſen als hier. Nicht ſelten ſcheitern aber auch allzukuͤnſtlich berech - nete Plane, und dann zwingt die Noth zu ei - ner herben oͤffentlichen Entſagung. Erhoͤheter Luxus und ſteigende Preiſe gehen hier Hand in Hand; viele Familien bequemen ſich daher freywillig zu einer eingeſchraͤnktern Lebensweiſe, deren Ausfuͤhrung ihnen durch den Zuſammen - fluß mehrerer Umſtaͤnde erleichtert wird. Jeder kann hier ſo iſolirt leben, als er es fuͤr gut findet; die Veraͤnderung des Wohnorts aus einem Stadttheile in einen andern entfernten beguͤnſtigt das Zuruͤckziehen aus dem Zirkel ehemaliger Bekanntſchaften; die zerſtreute Le - bensart in den Sommermonaten giebt leicht Veranlaſſung und Vorwand, den Gang des geſellſchaftlichen Lebens zu aͤndern und ſich von den Zirkeln loszuſagen, die man ehemals bey ſich verſammelte. Solche Kataſtrophen gehen zwar nicht ganz ohne alles Aufſehen ab; aber462 das Geſchwaͤtz daruͤber verhallt außerhalb dem Kreiſe engerer Bekanntſchaften, und das fort - reiſſende Intereſſe der Begebenheiten des Ta - ges macht ſie morgen vergeſſen.

Nach den Zuͤgen der petersburgiſchen Le - bensart, die in dieſem Abſchnitte zuſammenge - ſtellt ſind, wird jeder Leſer erwarten, daß eine ſorgfaͤltige und haͤusliche Kindererziehung nur in den wenigen Familien ſtatt finden kann, die mehr ſich als der Welt, mehr dem Zweck ihres ſtillen Daſeyns als den Geſchaͤften und Ver - gnuͤgungen einer glaͤnzenden Kaiſerſtadt leben. So zaͤrtlich man hier auch fuͤr das Wohl ſei - ner Kinder beſorgt iſt, ſo viel man an ihre Ausbildung wendet, ſo ſelten iſt doch der Fall, daß Eltern ſelbſt die naͤhere Aufſicht, oder Muͤtter die erſte phyſiſche Erziehung uͤberneh - men. Der Ton der Lebensart iſt einer ſol - chen Sorgfalt ganz zuwider. Um ihren Saͤuglingen ſelbſt die erſte Nahrung zu rei - chen, muͤßten die Muͤtter ſich ihren Zirkeln entziehen, und die natuͤrlichen Unbequemlichkei - ten der Wartung vertragen ſich nicht mit der Reinlichkeit und Eleganz in den Prunkzim - mern. Sobald die erſte muͤhſelige Lebens -463 periode uͤberſtanden iſt, giebt man die Kinder in den Penſionen ab, wo man große Sum - men fuͤr ſie bezahlt und damit alles gethan zu haben glaubt. Die Zwiſchenzeiten in welchen ſie das vaͤterliche Haus beſuchen, werden ih - nen durch Zerſtreuungen, Geſchenke, Ergoͤtzlich - keiten und durch die Aeußerungen einer miß - verſtandenen Zaͤrtlichkeit ſo werth gemacht, daß ſie nur mit Widerwillen zu ihren Erzie - hern zuruͤckkehren. Man wirft den hieſigen Penſionen vor, daß ſie aus den jungen Maͤd - chen weniger gute Hauswirthinnen als Damen nach dem Ton zu bilden ſuchen. In der That iſt dieſer Vorwurf gerecht, aber wer kann es den Unternehmern ſolcher Anſtalten verdenken, daß ſie ſich nicht mit einer Waare verſehen, die nirgend Kaͤufer finden wuͤrde? Jenen Zweck, den Verſtand und das Aeußere zu kul - tiviren, erreicht dieſe Art von Erziehung ge - woͤhnlich ſehr gut, da Beyſpiel und Nacheife - rung hier vorzuͤglich mitwirken.

Sobald die Toͤchter aus den Penſionen und die Soͤhne aus den Schulen und oͤffentli - chen Erziehungsanſtalten heraustreten, finden ſie ſich ploͤtzlich auf dem Schauplatz der gro -464 ßen Welt. Dieſer ſchnelle Uebergang und die - ſes fruͤhe Erſcheinen auf einem Standpunkt wo Grundſaͤtze und Erfahrung oft nicht vor Fehlern und Thorheiten ſichern koͤnnen, ſchadet auf der Einen Seite der Moralitaͤt eben ſo ſehr, als es auf der andern die Reife des Verſtandes beſchleunigt und zur praktiſchen Welt - und Menſchenkenntniß fuͤhrt. Man ſieht daher ſehr junge Leute mit allen Talen - ten des Umgangs, mit allen Manieren der feinen Zirkel und mit jenem Takt fuͤr die Menſchen ausgeruͤſtet, der ſonſt nur der An - theil eines hoͤhern Alters zu ſeyn pflegt. Fruͤh - zeitig ſchon werden Knaben in Geſchaͤfte ge - bracht, bey welchen ſie natuͤrlich mehr Rou - tine fuͤr ihre kuͤnftige Laufbahn einſammeln, als ſie Grundſaͤtze und Kenntniſſe zu derſelben mitbringen koͤnnen. Der Wunſch, Gluͤck zu machen und ein ausgezeichnetes Ziel zu errei - chen, der in andern Laͤndern durch unzaͤhlige Schwierigkeiten ſo beſchraͤnkt, hier aber durch eine große Moͤglichkeit und taͤgliche Beyſpiele des Gelingens ſo ſehr genaͤhrt wird, befeuert Eltern, ihren Kindern ſchon vor ihrem Eintritt in die große Welt eine anſtaͤndige Laufbahnzu465zu eroͤffnen, und Jeder ſieht ſich gezwungen, dieſem Gebrauch zu folgen, um wenigſtens kei - nen Vortheil wider ſich zu haben.

Maͤdchen, welche aus der Penſion in das vaͤterliche Haus zuruͤckkehren, vertauſchen ihr ſchlicht herunterhaͤngendes Haar mit einem ele - gantern Kopfputz, ihre einfache Kleidung mit den Nippes des Luxus und der herrſchenden Mode, ihre bisherige Einſamkeit mit den Zir - keln, und die trockne Beſchaͤftigung Buͤcher zu leſen mit der angenehmern ſich zu putzen und den Thee fuͤr die Geſellſchaft zu beſorgen. Sogleich ſammelt ſich ein Kreis von Anbetern um ſie her, wenn ſie ſchoͤn oder reich ſind. Alle Kuͤnſte der Verfuͤhrung und der Stutzer - welt werden aufgeboten, ein junges unerfahre - nes Herz zu belagern; aber gewoͤhnlich ſchei - tert der Eroberungsplan, wenn Rang oder Geld nicht die wirkſamſten Geſchuͤtze ſind. Kein Vorwurf den man der jungen Maͤdchen - welt machen koͤnnte, waͤre ungerechter, als wenn man ſie der Neigung zu verliebten Abentheuern beſchuldigen wollte. Keine Spur jener Empfindſamkeit und Treuherzigkeit, mit welcher ſich die deutſchen Emilien und Maria -Zweiter Theil. G g466nen ſchon vor ihrem zehnten Jahr an einen lieben Jungen haͤngen; keine ſuͤßen Unterre - dungen mit dem holden Vertrauten der Nacht, und dem Himmel ſey’s gedankt! auch keine Siegwarte giebt es hier. Alle Liebesge - ſchichten eines Jahres zuſammengenommen wuͤrden kaum Stoff zu dem magerſten Roman hergeben, aber deſto mehr liefern die Eh - ſtandsgeſchichten.

Bey aller Geſelligkeit ſind wahre dauer - hafte Freundſchaften ſelten genug. Man be - ſucht viele Jahre hindurch Haͤuſer in denen man gut aufgenommen wird, ohne jemals zur Kenntniß der Familienverhaͤltniſſe zu gelangen. Die Verſchloſſenheit auf der einen, und die Gleichguͤltigkeit auf der andern Seite gehen oft ſo weit, daß man ein alter Bekannter des Hauſes ſeyn kann, ohne gerade die Anzahl der Kinder zu wiſſen, oder von der Exiſtenz eines abweſenden nahen Verwandten unterrichtet zu ſeyn. In den gewoͤhnlichen Zirkeln iſt nur von allgemeinen Dingen die Rede; hier er - ſchoͤpft man ſeine Theilnahme fuͤr alltaͤgliche, oft unintereſſante Begebenheiten, unterdeſſen man Freuden und Leiden in ſeinem Buſen467 verſchließt. Eben die Zuruͤckhaltung der man ſich ſelbſt unterwirft, wird auch gegen Andere beobachtet. Die mindeſte Neugier, das Ver - haͤltniß und die Lage ſeiner Bekannten von ihnen ſelbſt zu erforſchen, wuͤrde indiskret ſeyn und hieße gegen die Geſetze des guten Tons fehlen. Hieraus erklaͤrt ſich die große Unem - pfindlichkeit, die man ſo durchgaͤngig bey den Abwechſelungen des Schickſals ſeiner Freunde und Bekannten aͤußert. Ununterrichtet von dem Gewebe widriger Vorfaͤlle, durch welches man ſie ploͤtzlich vor ſeinen Augen verſtrickt ſieht, kann ihr Schickſal nur jene Theilnahme erregen, welche aus dem allgemeinen Wohl - wollen oder aus dem Intereſſe entſpringt, das der Ungluͤckliche als Menſch, als Geſellſchafter einzufloͤßen wußte. Zuweilen giebt ſelbſt die Blutsverwandtſchaft keine hinlaͤnglichen An - ſpruͤche auf eine hoͤhere und thaͤtige Theilnah - me; ein Fall der jedoch unter den Ruſſen bey weitem ſeltner als unter den Auslaͤndern vor - zukommen pflegt. Wie ſich aber uͤberall Extreme in der moraliſchen Welt begegnen, ſo auch hier. Wo die Freundſchaft einmal Wur - zel gefaßt hat, da aͤußert ſie ſich oft in un -G g 2468gewoͤhnlicher Spannung und ſeltſamen auffal - lenden Wirkungen. Ueberhaupt iſt die Mit - telbahn nicht das Gleis der Menſchen unter dieſem Himmelsſtrich; Waͤrme und Kaͤlte ſte - chen hier nicht greller ab, als die uneinge - ſchraͤnkteſte Dahingebung und der zuruͤckſchrek - kendſte Egoismus.

Wir laſſen den Vorhang vor dieſem in - tereſſanten Schauplatz fallen, und eilen dem letzten Gegenſtande zu, der unſere Aufmerk - ſamkeit in der Region der Sitten beſchaͤftigen wird.

Um ſich von der Lebensart der Großen einen deutlichen Begriff zu machen, iſt es noͤ - thig ſich an das Verhaͤltniß zu erinnern, in welchem dieſe Klaſſe hier zu den uͤbrigen ſteht. Wer den Zuſtand eines reichen deutſchen Edel - mannes mit der Lage eines ruſſiſchen Großen vergleichen wollte, der wuͤrde in zwey ſehr un - gleichartigen Gegenſtaͤnden eine Aehnlichkeit finden. Nicht der außerordentliche Reichthum allein, der in dieſer Klaſſe vertheilt iſt, ſon - dern auch die Abhaͤngigkeit einer groͤßern oder geringern Anzahl von Menſchen, deren koͤr - perliche und geiſtige Kraͤfte dem Eigenthuͤmer469 voͤllig zu Gebote ſtehen, muß in Anſchlag ge - bracht werden, um einen richtigen Maaßſtab fuͤr den Spielraum des Unternehmungsgeiſtes und die Groͤße der Huͤlfsmittel zu erhalten.

Reich heißt unter dieſer Klaſſe nur derje - nige, der das Ziel ſeines Aufwandes uͤber die hier gewoͤhnliche Grenze hinausſtecken kann. Wir ſind aus dem Vorhergehenden mit den Beduͤrfniſſen des Mittelſtandes bekannt; es wird nicht ſchwer ſeyn, ſich nach dieſer Vor - ausſetzung eine Vorſtellung von der Lebensart der hoͤhern Staͤnde zu verſchaffen. Ein Land - eigenthuͤmer der jaͤhrlich 20 bis 25,000 Rubel von ſeinen Bauern erhebt, kann ſich in der Groͤße ſeines Aufwandes nicht ſehr uͤber den reichen Theil der gewerbtreibenden Klaſſe er - heben. Ein doppelt ſo großes Einkommen macht ſeinen Beſitzer nur wohlhabend, wenn er in der Reſidenz und am Hofe lebt; aber eine drey - oder vierfach groͤßere Revenuͤe ſetzt ihn erſt in die Klaſſe der Reichen, und hier beginnt eine neue Stufenleiter, die nur eine Vergleichung mit den landesherrlichen Ein - kuͤnften kleiner europaͤiſchen Souveraine zu - laͤßt.

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Doch dieſer Reichthum iſt nur Eine Reſ - ſource fuͤr den Aufwand der Großen. Eine andere ſehr betraͤchtliche Huͤlfsquelle liegt in der willkuͤhrlichen Benutzung der Bauern. Die Livree, dieſer auffallende Zweig des hieſi - gen Luxus, wird durchgaͤngig aus den Erbleu - ten gehoben, und der geringſte Vortheil der hieraus fließt, iſt die Erſparung des Dienſt - lohns. Dieſe Heere von Bedienten (einige Haͤuſer halten deren uͤber 200)*)In dem Hauſe des Grafen Stroganow ſind ih - rer 600. Der alte Graf Raſumowski unterhielt in der Reſidenz beſtändig 927 Menſchen zu ſeiner Bedienung. wuͤrden wirk - lich durch ihren Muͤßiggang allzuſehr zur Laſt fallen, wenn man ſie nicht auf eine andere Art nuͤtzlich zu machen wuͤßte. Man laͤßt ſie da - her, nach Maaßgabe ihrer phyſiſchen und mo - raliſchen Beſchaffenheit, in allen Gewerben und Handthierungen unterrichten, die fuͤr das Beduͤrfniß eines großen Hauſes paſſend ſind. Schneider, Schuſter, Tiſchler, Tapezierer, Koͤche, Gaͤrtner, Friſeurs werden auf dieſe Weiſe gezogen, und wenn es einer unter ih - nen zu einer gewiſſen Vollkommenheit gebracht471 hat, wird er der Lehrmeiſter ſeiner rohen Mit - bruͤder. Ein gewandter Kerl, der zu mehr als Einem Fache taugt, hat nicht ſelten meh - rere ſehr abſtechende Beſtimmungen. Weibliche Bediente erhalten Anweiſung in den feinern Arbeiten der Nadel, oder werden zu Putzma - cherinnen in die Lehre gegeben, um hernach Andern ihre Kunſtfertigkeit mittheilen zu koͤn - nen. Große, die Liebhaberey von der Muſik machen, bilden ſich aus ihren Leuten eine Ka - pelle, bey welcher nur der Direktor ein eigent - licher Kuͤnſtler zu ſeyn braucht. Zuweilen ſen - den Landbeſitzer die faͤhigſten Koͤpfe unter ih - ren Leibeigenen in fremde Laͤnder, um ſie fuͤr einen beſtimmten Zweck ausbilden zu laſſen; mir iſt ein Beyſpiel bekannt, da ein ruſſiſcher Bauer auf eine deutſche Univerſitaͤt geſchickt wurde, um dort die Phyſik und Aſtronomie zu ſtudieren, und nach ſeiner Zuruͤckkunft ein Buch ſchrieb, welches er ſeinem Erbherrn zueignete. Auch auf ſeinen Guͤtern etablirt der Adel Hand - werker und Manufakturiſten, unter deren An - fuͤhrung die Bauern oft Produkte liefern, die den beſten Arbeiten der Auslaͤnder wenig nach - geben. Die große Empfaͤnglichkeit der ruſſi -G g 4472ſchen Nation erleichtert dieſe Maaßregel gar ſehr; es giebt keine mechaniſche Fertigkeit, zu welcher der roheſte Bauer nicht einige Anlage haͤtte, und der Stock, das große Zaubermit - tel, kultivirt dieſes Talent ſo vortrefflich, daß man in unglaublich kurzer Zeit aus dem ein - faͤltigſten Kerl machen kann was man will. Rechnet man zu allen dieſen Vortheilen noch den Gewinn an den Landesprodukten, welche der Adel fuͤr ſein Beduͤrfniß nach der Reſidenz ſchaffen laͤßt, ſo wird man ſich einen Begriff von den Huͤlfsquellen machen koͤnnen, die den ruſſiſchen Großen bey ihrer mit aſiatiſchem Luxus verwebten Lebensart offen ſtehn.

Familien aus dieſer Klaſſe, die ſich gaͤnzlich in der Reſidenz niedergelaſſen haben, beſitzen hier gewoͤhnlich eigne Haͤuſer und Pallaͤſte, in denen oft der ausgeſuchteſte Geſchmack und eine fuͤrſtliche Pracht herrſchen, wenn ſie auch einen Theil ihrer Lebenszeit in Moskau oder auf ihren Guͤtern zubringen, wo ſie nicht ſel - ten eben ſo gut und beſſer eingerichtet ſind. Der Zuſammenfluß großer Kuͤnſtler und ge - ſchickter Arbeiter in der Reſidenz erleichtert dem reichen Adel die Ausfuͤhrung ſeiner oft rieſen -473 maͤßigen Entwuͤrfe. Trotz den engliſchen Lords vertheilen ſich die ruſſiſchen Großen in den kul - tivirten Laͤndern von Europa und ſuchen uͤberall Kunſtwerke und Koſtbarkeiten zuſammen, um ihre Familienſitze zu verſchoͤnern. Beweiſe hievon finden ſich in mehreren vorhergehenden Abſchnitten. Zuweilen aber kontraſtirt auch der edelſte Geſchmack in der Bauart mit ein - zelnen bizarren Ideen, oder die groͤßte Pracht in der innern Einrichtung mit einer auffallen - den Vernachlaͤßigung in kleinen alltaͤglichen Ge - genſtaͤnden. Dieſe Ungleichheit wird faſt in al - len Zweigen der Lebensart ſichtbar, wie man aus mehreren vorhin angefuͤhrten Beyſpielen weiß. Große, welche Liebhaberey von Pfer - den machen und einen fuͤrſtlichen Stall unter - halten, laſſen nicht ſelten haͤßliche Miethgaͤule vor ihre praͤchtige Wagen ſpannen; reichge - kleidete Huſaren ſtechen zuweilen neben alten, ſchmutzigen Livreen ab. Nur an Gallatagen oder bey feſtlichen Gelegenheiten ſieht man jene Uebereinſtimmung und Ordnung, die oft mehr gefaͤllt als die Pracht ſelbſt, hier aber nach einer allgemeinen Konvenienz ſo leicht vernachlaͤßigt wird.

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Ueber den herrſchenden Geſchmack in Equi - page, Bedienung und Kleidung iſt hin und wieder ſchon das Noͤthige geſagt. Die Tafeln der Großen werden gewoͤhnlich von franzoͤſi - ſchen Koͤchen beſorgt; zuweilen erſcheint ein Nationalgericht, welches ſich durch ſeine gute Zubereitung empfiehlt, und in manchen Haͤu - ſern ſind franzoͤſiſche, deutſche und ruſſiſche Koͤche vorhanden, um jeden Geſchmack befrie - digen zu koͤnnen. An die Faſten bindet man ſich nicht uͤberall auf das ſtrengſte; wo dies aber auch der Fall iſt, da finden ſich gewoͤhn - lich doppelte Schuͤſſeln, um die Auslaͤnder nicht einem gleichen Zwange zu unterwerfen. Die Tafel macht eine ſehr betraͤchtliche Rubrik un - ter den Ausgaben der Großen. Es giebt Haͤu - ſer, in welchen taͤglich hundert und mehr Ru - bel fuͤr dieſen einzigen Artikel beſtimmt ſind, ohne den großen Einkauf, die Getraͤnke und den Nachtiſch zu rechnen. Leckereyen aus weit - entfernten Laͤndern werden zuweilen ſogar durch Eilboten herbeygeſchafft, und es hat Faͤlle ge - geben, wo eine einzige Fiſchſuppe fuͤnf bis ſechshundert Rubel zu ſtehen kam. In vielen Haͤuſern iſt die Tafel taͤglich und zu allen475 Jahrszeiten mit den koͤſtlichſten und auserle - ſenſten Fruͤchten beſetzt; es giebt Große die in ihren Treibhaͤuſern jaͤhrlich gegen 20,000 Klafter Holz verbrauchen und ihren Gaͤrtner mit tauſend Rubeln bezahlen.

Eben die Gaſtfreyheit, welche den Mittel - ſtand in St. Petersburg auf eine ſo eigen - thuͤmliche Art auszeichnet, iſt auch unter den Großen und in noch hoͤherem Grade herrſchend. Wer einmal in einem Hauſe vorgeſtellt iſt und anſtaͤndig gekleidet erſcheint, kann ſich jedes - mal zur Tafel einfinden, ohne gebeten zu ſeyn und ohne wider den Wohlſtand zu verfehlen. Die Liberalitaͤt der Großen hierinn geht ſo weit, daß es gewiß kein ſeltner Fall iſt, wenn der Wirth des Hauſes dieſen oder jenen Gaſt kaum dem Namen nach kennt. Der alte Graf Raſumowski ſah taͤglich eine große Anzahl Leute an ſeinem Tiſch, von denen ihm die meh - reſten einmal empfohlen waren und alſo freyen Zutritt hatten, ohne daß er ſich weiter um ſie bekuͤmmerte. Ein fremder Offizier, der ruſſi - ſche Dienſte ſuchte, erſchien taͤglich an der Ta - fel des Grafen, und ſah ſich auf dieſe Weiſe bey einer großen Armuth im Stande zwey476 Jahre hindurch in der Reſidenz zu leben. Der Graf, der ihn nicht nur an ſeinem Tiſch, ſondern auch zuweilen in ſeiner Bibliothek an - traf, und einen kenntnißreichen erfahrnen Offi - zier in ihm fand, gewann ihn lieb, ohne ihn jemals um ſeine Verhaͤltniſſe zu befragen, und dieſe zu entdecken hatte der Offizier nicht Entſchloſſenheit genug. Ploͤtzlich permißt man dieſen Mann an der Tafel des Grafen, und es findet ſich, daß Niemand, nicht einmal die Bediente des Hauſes ſeinen Namen oder ſeine Wohnung wiſſen. Der Graf, der einen ſo guten Geſellſchafter ungern verlor, laͤßt uͤberall die ſorgfaͤltigſten Nachforſchungen anſtellen; man trifft den Fremdling nicht weit von der Reſidenz, im Begriff ſeine Ruͤckreiſe anzutre - ten. Er wird, ohne weitere Erklaͤrung, zuruͤck und in das Haus des Grafen gefuͤhrt, wo er, ſtatt einer aͤngſtlich befuͤrchteten Kataſtrophe, eine gute Tafel findet, und ſeinen Platz ne - ben dem Grafen einnehmen muß. Ein freund - ſchaftliches Geſpraͤch loͤſ’t das Raͤthſel, und was zweyjaͤhrige Bemuͤhungen dem Fremden nicht hatten verſchaffen koͤnnen, das gewaͤhrt ihm der Zufall: eine anſtaͤndige Stelle bey der Armee.

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Von der edlen Liberalitaͤt, mit welcher die Großen ihre Haͤuſer und Landſitze dem Ver - gnuͤgen des Publikums widmen, ſind in den vorhergehenden Abſchnitten ſchon ſo viele Bey - ſpiele angefuͤhrt, daß es uͤberfluͤßig ſcheint, hier noch etwas daruͤber zu ſagen. Gewiß in keinem Lande iſt dieſer populaͤre Aufwand groͤßer.

Mit eben der guten Art, mit welcher Leute aus den hoͤchſten Staͤnden Jedermann bey ſich zu empfangen gewohnt ſind, nehmen ſie auch Einladungen von Geringeren an. Es iſt et - was ſehr gewoͤhnliches, Miniſter und Generale vom erſten Range bey ihren Untergeordneten, bey Kaufleuten und Buͤrgern ſpeiſen zu ſehn. Die Großen, die hier ſo gut wie irgendwo die Rechte ihres Standes kennen und geltend zu machen wiſſen, glauben ſich durch dieſe Po - pularitaͤt nicht, wie anderswo, etwas zu ver - geben; ihre Wuͤrde verliert nichts dabey, und Niemand wird ſich dadurch zu einer Vernach - laͤßigung berechtigt halten; aber die Kluft, welche in Deutſchland die hoͤhern Staͤnde von den niedern trennt, iſt hier durch Sitten und Gebraͤuche ausgeglichen. Nicht nur in den478 Haͤuſern einzelner Privatleute, auch in den oͤffentlichen Vergnuͤgungsoͤrtern des Mittelſtan - des ſieht man Große von allen Klaſſen unter dem anſtaͤndigen Publikum vertheilt, wo ſie nicht, wie ehemals in Paris, nur genießen ſehen, ſondern ſelbſt Theil nehmen und ſich ſogar geſellſchaftliche Aemter uͤbertragen laſſen.

Durch Erziehung und Reiſen mit den Spra - chen und Sitten der Auslaͤnder bekannt, findet man unter den Großen nur wenige Spuren einer Anhaͤnglichkeit an alte vaterlaͤndiſche Ge - braͤuche. Der Ton, der in den meiſten Haͤu - ſern herrſcht, iſt der allgemeine europaͤiſche Hofton, den ſich die hoͤhern Klaſſen in ſolchem Maaße eigen gemacht haben, und den ſie mit ſolcher Feinheit und Gewandheit uͤben, daß dieſe Zirkel, naͤchſt denen in dem ehemaligen Verſailles, vielleicht fuͤr die beſte Schule ei - nes Weltmanns gelten koͤnnen.

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Dreyzehnter Abſchnitt. Karakterzuͤge.

Große Miſchung von Nationen, Sitten und Sprachen. Auffallende Wirkung hievon: Mangel einer ſtarkher - vorſpringenden allgemeinen Denkungsart. Peters - burgiſche Deutſche. Großes Beyſpiel deutſcher Ehr - lichkeit, von einer deutſchen Frau gegeben. Franzoſen. Engländer. Uebrige Nationen. Orientalen. Aſiaten. Allgemeine Karakterzüge. Religiöſe, politiſche und geſellſchaftliche Toleranz. Achtung für Stand und Rang. Gutmüthigkeit und Jovialität. Geld - und Rangſucht. Freygebigkeit. Leichtſinn. Unbeſtändig - keit.

Was meine Leſer unter dieſer letzten Rubrik zu erwarten haben, verkuͤndigt die Ueberſchrift. Kein großes zuſammenhaͤngendes Karakterge - maͤlde denn wenn es deſſen noch beduͤrfte, ſo waͤre der Zweck dieſes ganzen Buchs ver -480 fehlt, und der Verfaſſer ſowol als die Leſer haͤtten ſehr uͤbel gethan, jener zu ſchreiben und dieſe zu leſen ſondern einzelne aufgeſam - melte Zuͤge, eine kleine Nachleſe von Bemer - kungen, die uͤberall im Buche ſelbſt keinen ſchicklichen Platz finden konnten.

In der Schilderung der Lebensart und Sitten haben wir die Menſchen nach den Staͤnden geſondert, weil dieſe die Grund - lage machen, nach welcher ſich jene Gegen - ſtaͤnde modifiziren; hier iſt es die Abſtam - mung, welche den Unterſchied und die Eigen - thuͤmlichkeiten hervorbringt, die ſich in dem allgemeinen Karakter einer ſo ſehr gemiſchten Menſchenmaſſe entdecken.

Die Auslaͤnder, welche in St. Petersburg wohnen, machen ungefaͤhr den ſiebenten Theil der ganzen Bevoͤlkerung aus*)S. den erſten Theil, S. 110, wo auch das Verhält - niß der Ausländer unter einander nach einer wahrſchein - lichen Berechnung angegeben iſt.. Es iſt ſehr moͤglich, daß dieſes Verhaͤltniß auch in andern großen Staͤdten ſtatt findet, aber ſicherlich wird es nirgend ſo auffallend als hier. Diesruͤhrt481ruͤhrt theils daher, weil bey weitem der groͤßte Theil der Auslaͤnder zu den gebildeten Klaſſen gehoͤrt und daher in dieſen ſehr merklich wird; theils auch weil nirgend ſo viele Sprachen uͤblich ſind und weil die Auslaͤnder die ihrigen unter ſich und mit den Ruſſen ſprechen. Die anſaͤßigen Auslaͤnder in Paris, London, Rom, u. ſ. w. gehoͤren nur zu den untern Volksgat - tungen, koͤnnen ohne die Kenntniß der Landes - ſprache ſchlechterdings nicht beſtehen, und fuͤ - gen ſich nach den herrſchenden Sitten und Ge - braͤuchen. Daher kommt es, daß ihre Anzahl, ſelbſt da wo ſie ſehr groß iſt, nicht nur nicht auffaͤllt, ſondern voͤllig unbemerkt bleibt. Hier trifft gerade das Gegentheil zu. Ein Deutſcher z. B. der als Fremdling hier ankoͤmmt, kann bey deutſchen Gaſtwirthen wohnen, ſeine Be - duͤrfniſſe bey deutſchen Handwerkern beſtellen, deutſche Bediente miethen, deutſche hieſige Zeitungen und Intelligenzblaͤtter leſen, deutſche Kirchen beſuchen, ſeine Kinder in deutſche Schulen ſchicken, deutſche Bekanntſchaften in allen Staͤnden finden bis zum Throne hinauf, und allen Genuß des geſellſchaftlichen Lebens theilen, ohne die Landesſprache zu wiſſen. ErZweiter Theil. H h482kann ſein ganzes Leben hindurch allen Geſchaͤf - ten des buͤrgerlichen Lebens vorſtehen, ein Hausweſen fuͤhren, ja ſelbſt oͤffentliche Aemter bekleiden und in wichtigen Staatsbedienungen dem Lande nuͤtzlich werden, ohne eine andere als ſeine Mutterſprache zu ſprechen. Dieſe Ver - faſſung iſt ſo einzig, daß ſie der eigenthuͤm - lichſte Zug in der Karakteriſtik von Peters - burg wird.

Die erſte auffallende Wirkung hievon iſt der Mangel einer ſtark hervorſprin - genden allgemeinen Denkungsart. Der Ruſſe, als der bey weitem zahlreichſte Theil, uͤberwiegt allerdings mit ſeinem Natio - nalkarakter; aber er iſt, unter dieſer Vermi - ſchung mit Auslaͤndern, die er nachahmt und von denen er ſo oft ſeine Erziehung und Bil - dung erhaͤlt, nicht Ruſſe genug, um ſeine in - dividuelle Denkungsart hervorſtechend zu ma - chen. Die uͤbrigen Nationen, vorzuͤglich die Deutſchen und Franzoſen, haben freylich auch einigen Einfluß auf die allgemeine Denk - und Handlungsweiſe; aber die ſchwachen Wirkun - gen hievon verlieren ſich unter der großen Maſſe wider einander ſtoßender Prinzipien und483 Meynungen. So bleibt alſo der Deutſche, der Franzoſe, der Englaͤnder, wenn er gleich mehr oder weniger Ruſſe wird, im Grunde doch immer noch Deutſcher, Franzoſe, Englaͤn - der und der Ruſſe, bey ſeinem Hin - und Herſchwanken zwiſchen dem eigenthuͤmlichen Karakter ſeiner fremden Mitbuͤrger, noch im - mer Ruſſe genug, um nicht verkannt zu wer - den, ob er gleich von ſeiner urſpruͤnglichen Individualitaͤt ſehr viel verliert. Allein trotz dieſer Verſchiedenheit und Abſonderung in der Denkungsart, giebt es dennoch gewiſſe Haupt - zuͤge in derſelben, die durch ihre Allgemeinheit karakteriſtiſch werden und den Geiſt des Pu - blikums beſtimmen. Ehe ich es wagen darf, dieſe zu ſchildern, muß ich vorher die Abwei - chungen anzugeben ſuchen, durch welche ſich der Nationalkarakter jedes Volks nach den Lokalbeſtimmungen nuͤanzirt.

Nichts iſt unbeſtimmter, als die Vorſtel - lung, die man faſt in allen Laͤndern von der moraliſchen Individualitaͤt der Ruſſen hat. Selbſt die mehreſten neueren Beobachter, die auf pſychologiſche Entdeckungen unter dieſem Volke ausgegangen ſind, haben ſich, aus Un -H h 2484bekanntſchaft mit der Landesſprache, auf die unzuverlaͤßigen und uͤbertriebenen Berichte aͤl - terer Reiſenden geſtuͤtzt, und dadurch eine Menge ſchiefer und laͤcherlicher Urtheile von neuem in Umlauf gebracht und mit dem Ge - praͤge einer groͤßern Glaubwuͤrdigkeit verſehen. Faſt allen iſt die ſo wichtige und entſcheidende Bemerkung entgangen, daß der Nationalka - rakter bey weitem in den mehreſten Staͤnden ſeit Peters des Großen ſchoͤpferiſcher Re - gierung ſich in einem Zuſtande von Gaͤhrung befindet, der fuͤr den gegenwaͤrtigen Augenblick jedes allgemeine Urtheil unmoͤglich macht, aber durch ſeine vielverſprechenden Folgen die Auf - merkſamkeit des philoſophiſchen Beobachters aufs hoͤchſte intereſſirt. Nirgend iſt dieſe Gaͤh - rung ſichtbarer, als in der Reſidenz, wo ſie durch die große Miſchung aller Nationen und die wirkſamere Leitung vom Throne herab be - foͤrdert wird. Beyſpiele hievon anzufuͤhren und dies weitlaͤuftiger auseinander zu ſetzen, erlaubt der Plan dieſer Schilderung nicht, da wir es hier weniger mit den Ruſſen als mit den Petersburgern zu thun haben, und was485 dieſe vorzuͤglich karakteriſirt, davon wird in der Folge ausfuͤhrlicher die Rede ſeyn.

Unter den Auslaͤndern ſind die Deut - ſchen, ſowol durch ihre große Anzahl, die der Bevoͤlkerung einer betraͤchtlichen Stadt Ehre machen wuͤrde, als auch durch die Ver - bindung in welcher ſie mit den Ruſſen leben und durch den Einfluß den ſie auf dieſe haben, vorzuͤglich merkwuͤrdig. In allen Staͤnden giebt es hier Deutſche, und in jedem derſelben, den Handelsſtand ausgenommen, uͤberwiegen ſie die uͤbrigen Auslaͤnder. Da ſie ſich mehr als dieſe an die Nation ſchließen, und die Lan - desſprache oft bis zur groͤßten Vollkommenheit erlernen, ſo haben ſie unter allen fremden ſeßhaften Einwohnern beſonders Anſpruch auf Staatsbedienungen und militairiſche Wuͤrden. In der That giebt es hier faſt kein einziges Departement von Wichtigkeit, in welchem nicht Deutſche, und zum Theil in ſehr bedeu - tenden und ehrenvollen Aemtern angeſtellt waͤren; ein Beweis ihrer Brauchbarkeit, der um ſo weniger zweydeutig iſt, da ſie auch hier das Schickſal haben, welches die Deutſchen faſt unter allen europaͤiſchen Nationen ver -H h 3486folgt das Schickſal, keiner Nationalachtung zu genießen. Sey es nun Mangel einer glaͤn - zenden Auſſenſeite, oder ein kleiner Hang zum Steifen und Pedantiſchen, oder was es ſonſt wolle, ſonderbar genug iſt’s, daß der Deutſche, trotz ſeiner anerkannten Vorzuͤge, uͤberall in Europa, in Paris wie in London, in Rom wie in Petersburg, nicht nur als Deutſcher keiner ſonderlichen Achtung genießt, wenn er ſich dieſe nicht durch perſoͤnliche Ueberlegenheit zu erzwingen weiß, ſondern ſelbſt der Gegen - ſtand eines leichten Ridicuͤle beym großen Pu - blikum wird. Dies iſt auch hier natuͤrlich mit gewiſſen Ausnahmen der Fall, und das ruſſiſche Njemez entſpricht dem engliſchen german und dem franzoͤſiſchen allemand voll - kommen.

Die Urſachen dieſer, fuͤr unſere National - ehre ſo beleidigenden Erſcheinung ſcheinen hier vorzuͤglich folgende zu ſeyn. Unter den Deut - ſchen die hieher kommen, befinden ſich nur die wenigſten in der Lage, daß ſie ſich nicht ge - noͤthigt ſehen ſollten, entweder den Beutel des Publikums auf irgend einen gewoͤhnlichen oder ungewoͤhnlichen Weg zu beſchatzen, oder487 ſich auch ſogleich um Informatorſtellen zu be - werben, ein Metier, auf welchem hier aus mancherley Gruͤnden eine beſondere Art von Geringſchaͤtzung ruht. Die Zeitungen ſind voll von Anerbietungen ſolcher Leute, die ſich aufs Gerathewohl hier einfinden, oder vielleicht, durch Mißgeſchick umhergeworfen, nach Pe - tersburg, als dem letzten Hafen aller Gluͤcks - ritter eilen. Oft finden ſich unter ihnen Maͤn - ner von Talent und Brauchbarkeit, und die - ſen ſchlaͤgt es ſelten fehl, ſich zu einer guͤnſti - gern Lage hinaufzuarbeiten; da aber taͤgliche neue Ankoͤmmlinge das vergeſſene Bild ihres vormaligen Zuſtandes erneuern, und die Reſi - denz faſt der einzige Kanal iſt, durch welchen dieſe fremden Anſiedler Rußland uͤberſtroͤmen, ſo iſt es natuͤrlich, daß der Deutſche hier we - niger gelten muß, als irgendwo im Reiche.

Ich uͤbergehe mehrere andere Urſachen, um nur noch die letzte und wirkſamſte, den Mangel an Selbſtgefuͤhl und Natio - nalſtolz, zu ruͤgen. Dieſe beyden Eigen - ſchaften, durch welche ſich alle, auch die arm - ſeligſten Voͤlkerſchaften des Erdbodens aus - zeichnen, ſcheinen dem Deutſchen, und nur demH h 4488Deutſchen, zu fehlen. Kein andres Volk ſchmiegt ſich ſo leicht und gern an fremde Sitten an, kein andres Volk vergißt ſo bald ſein Vaterland, als die Deutſchen. Der Eng - laͤnder lebt in Neapel, Liſſabon und Peters - burg als Englaͤnder; er ſieht ſeinen Aufent - halt, und waͤre er ein Paradies, nur als eine Verbannung an, und kehrt zuruͤck in ſein ge - liebtes Vaterland, ſobald ein guͤnſtiges Schick - ſal ihm laͤchelt. Die Deutſchen verlieren im Auslande, vorzuͤglich wenn es ihnen wohl geht, in wenigen Jahren ſelbſt die Ruͤckerinnerung an ihr Vaterland, was auch ihre Dichter ſin - gen und ſagen moͤgen. Ich habe Leute ge - kannt, die aus den ſchoͤnſten und gluͤcklichſten Gegenden Deutſchlands in dem Alter der Ue - berlegung hieher gekommen waren, und mich von den Vorzuͤgen ihres Vaterlandes mit Be - geiſterung ſprechen hoͤrten, ohne nur einen Wunſch nach der Ruͤckkehr in daſſelbe zu aͤu - ßern. Mehrere wohlhabende und unabhaͤn - gige Deutſche, die ich hieruͤber befragte, gaben mir mit der kaͤlteſten Unempfindlichkeit zu ver - ſtehen, daß ihnen allenthalben wohl ſey, wo Braten und Punſch zu haben waͤre. Nur489 bey aͤußerſt Wenigen kann dieſe Denkungsart ſich auf Dankbarkeit gegen das Land gruͤnden, dem ſie ihren Wohlſtand ſchuldig ſind; ein ſo ſeines Gefuͤhl iſt nicht die Ausſteuer des gro - ßen Hauſens.

Da es in St. Petersburg keinen herrſchen - den Geiſt, keine Nationaldenkungsart giebt, ſo ſind die Deutſchen hier natuͤrlich weit weniger Ruſſen, als ſie in Paris Franzoſen oder in London Englaͤnder ſind; aber mehr als alle andere hier lebende Fremdlinge haben ſie ſich doch den Ruſſen genaͤhert. Die deutſche Frau vom bon Ton ſpricht lieber ruſſiſch als deutſch; es giebt Deutſche, die ſich ihres Namens ſchaͤ - men, weil ſie ſich fuͤrchten, zu einer Nation gezaͤhlt zu werden, wider die das Vorurtheil ſpricht.

Die fremden Einwohner jeder Nation bil - den einen engern Zirkel unter ſich; ſo auch die Deutſchen. Aber jede dieſer Kolonieen hat zugleich ein gemeinſames, mehr oder weniger ſtarkes Intereſſe; dies haben die Deutſchen nicht. Statt dieſes Gemeingeiſts findet man bey ihnen jene kleinſtaͤdtiſche Theilnahme an den Schickſalen ihrer Mitbuͤrger, die ſich aufH h 5490eine bloße unfruchtbare Neugier beſchraͤnkt. Alles, was im vorigen Abſchnitte uͤber die geſellſchaftliche Toleranz geſagt worden iſt, lei - det unter den Deutſchen ſtarke Ausnahmen. Nirgend wird der Deutſche ſchaͤrfer gefaßt und haͤrter beurtheilt, als unter Deutſchen. Statt alle fuͤr Einen und Einer fuͤr alle zu ſtehen, wie dies bey mehreren Kolonieen der Fall iſt, geben ſich die Deutſchen ſelbſt einan - der preis.

Iſt es nicht natuͤrlich, daß ſie unter dieſen Umſtaͤnden im Ganzen der Achtung nicht ge - nießen, die ihnen uͤbrigens ihre mannigfaltigen guten Seiten und das perſoͤnliche Verdienſt ſo vieler achtungswuͤrdigen Leute aus ihrem Mit - tel zuſichern koͤnnten? Es ſcheint das boͤſe Loos der Deutſchen zu ſeyn, daß ihre Natio - nalfehler und Schwachheiten ſo hervorſtechend, und ihre guten und trefflichen Eigenſchaften ſo unſcheinbar ſind!

Doch, auch dieſe zeigen ſich hier nicht ſel - ten in einem glaͤnzenden, gefaͤlligen Lichte, und es thut mir wohl, dieſe Bemerkung nieder - ſchreiben zu koͤnnen. Die großen Nationaltu - genden der Deutſchen, Arbeitſamkeit und491 Ehrlichkeit, zeichnen dieſes Volk auch hier auf eine ſehr ehrenhafte Weiſe aus. Es giebt kein noch ſo muͤhſames Geſchaͤfte, in welchem die Deutſchen hier nicht etwas geleiſtet haͤtten; in den mehreſten Gewerben, Wiſſenſchaften und Kuͤnſten ſind ſie die Lehrer der Ruſſen geweſen und ſind es zum Theil noch. Ihre Ehrlichkeit freylich wird hier durch Bey - ſpiel und Intereſſe ſo oft in Verſuchung ge - fuͤhrt, daß ſie zuweilen unterliegt; aber noch iſt der Ruf dieſer alten deutſchen Tugend un - ter uns nicht verloren gegangen, und noch ſind die Faͤlle nicht ſelten, da ſich dieſer Ruf auf eine ſehr merkwuͤrdige Art bewaͤhrt. Fol - gende, in den kleinſten Umſtaͤnden wahre Ge - ſchichte iſt von dieſer und von mehreren an - dern Seiten ſo karakteriſtiſch, daß ich es als keine Abweichung von meinem Zwecke anſehen kann, wenn ich ihr hier den kleinen Platz goͤnne, den ſie einnimmt.

In der kleinen Kreisſtadt Oranienbaum lebt eine Frau von neunzig Jahren, aus Holl - ſtein gebuͤrtig. Ein kleines Haͤuschen iſt ihr ganzer Beſitz, und der Beſuch einiger Schiffer,492 die auf feſtem Lande guͤnſtigen Wind abwar - ten, ihr ganzer Erwerb.

Einsmals, da mehrere hollaͤndiſche Schiffer bey ihr zu Abend gegeſſen hatten, findet ſie beym Aufraͤumen einen verſiegelten Beutel mit Geld unter dem Tiſch. Ihre Beſtuͤrzung uͤber dieſen unerwarteten Fund iſt natuͤrlich ſehr groß; es mußte Jemand aus der ſo eben ab - gereiſ’ten Geſellſchaft den Beutel vergeſſen ha - ben: aber die Schiffer waren in See, der Wind guͤnſtig und an keine Ruͤckkehr der Gaͤſte zu denken. Die gute Frau legt den Beutel in ihren Schrank, wo er ſo lange ruhen ſollte, bis ſich ſein Beſitzer melden wuͤrde. Doch, dieſer meldet ſich nicht. Sieben Jahre hindurch bewahrt ſie aufs ſorgfaͤltigſte ihr Un - terpfand, oft von Gelegenheiten verſucht, noch oͤfter vom Mangel gedraͤngt, das Geſchenk des Zufalls zu benutzen. Doch ihre Ehrlichkeit ſiegt uͤber jeden Reiz der Gelegenheit und uͤber jedes Gebot des Mangels. Nach ſieben Jah - ren bewirthet ſie abermals einige Schiffer. Drey unter ihnen waren Englaͤnder, der vierte ein Hollaͤnder. Unter andern Geſpraͤchen fra - gen jene dieſen, ob er ſchon jemals in Oranien -493 baum geweſen ſey. Was ſollt ich nicht! iſt die Antwort. Ich kenne das verdammte Neſt nur zu gut. Es hat mich ſiebenhundert Rubel gekoſtet. Wie das? Je, ich habe in der Trunkenheit einmal in einer hie - ſigen Schenke einen Bentel mit Silbermuͤnze liegen laſſen. War der Beutel verſiegelt? fragte die Wirthinn, die in einer Ecke der Stube ſaß, und durch dieſe Erzaͤhlung auf - merkſam gemacht wurde. Ja wohl! da, ich trage das Petſchaft noch bey mir, womit er zugeſiegelt war. Die Frau erkannte das naͤmliche Siegel. Nun, ſagte ſie, ſo kann ſich’s wol noch einmal wieder finden, was er verloren hat. Ja, wiederfinden, Mutter! Da muͤßt ich nicht ſo alt geworden ſeyn, wenn ich das hoffen koͤnnte. Nein, ſo ehrlich iſt die Welt nicht mehr! Bedenkt ’mal, ſieben Jahr iſt’s her! Wollt ich doch, daß der verdammte Beutel bey allen waͤr. Hat mir ganz meinen guten Humor verdorben. Noch ein Glas Punſch, Mutter!

Waͤhrend die vier Herren beſchaͤftigt wa - ren, das Andenken an dieſen verdruͤßlichen Vorfall in Punſch zu ertraͤnken, hatte ſich das494 Muͤtterchen hinausgeſchlichen, und kam itzt mit ihrem Beutel muͤhſam herbeygewatſchelt. Sieht er, daß die Ehrlichkeit nicht ſo rar iſt als er glaubt, ſagte ſie, und ſetzte den Beutel auf den Tiſch.

Das ſprachloſe Erſtaunen der Gaͤſte, und bey wiederkehrendem Bewußtſeyn, ihre ver - ſchiedenen Ausbruͤche von Dankbarkeit und Beyfall erlaſſe ich meinen Leſern. Die vier Herren waren ſaͤmmtlich bey ziemlichen Jah - ren, hatten die Welt von Japan bis Terre - neuve und vom Kap bis Archangel ebenmaͤßig durchkreuzt; hatten mit ſchwarzen und brau - nen Geſichtern, mit kraushaarigen und friſir - ten Koͤpfen zu thun gehabt daß ihr Erſtau - nen um deſto groͤßer war, iſt freylich keine Lobrede auf unſere Zeiten.

In keiner Seele giengen ſo große Bewe - gungen vor, als in der des Hollaͤnders. Von der hoͤchſten Ueberzeugung ſeines Verluſts bis zur hoͤchſten Gewißheit des wiedererlangten Be - ſitzes der Sprung war zu groß, um nicht alle Fibern ſeines phlegmatiſchen Koͤrpers in Erſchuͤtterung zu ſetzen. Ein Blick auf die ehrliche Frau, der er dies frohe Entzuͤcken ver -495 dankte, brachte ihn wieder zu ſich ſelbſt. Ein ploͤtzlicher Anſtoß von Großmuth bemaͤchtigte ſich ſeiner, und alle andere Empfindungen wi - chen ehrerbietig zuruͤck. Er griff in den Beu - tel, nahm Einen Rubel heraus, und legte ihn mit einer zierlichen Dankſagung fuͤr ge - habte Bemuͤhung auf den Tiſch.

Ein Erſtaunen jagte das andere. Die Zu - ſchauer verſtummten.

God dam! ſagte endlich der Englaͤnder einer und ſchlug mit der Fauſt auf den Tiſch. Den Beutel da, Bruder, wirſt du doch nicht fuͤr dich behalten wollen? Der gehoͤrt, hol mich und ſtraf mich! der Frau. Die bey - den Englaͤnder, die bisher ſtumm geſeſſen hat - ten, gaben dieſer Bill mit dem kraͤftigſten Un - geſtuͤm ihren Beyfall. Der Hollaͤnder erblaßte und ſuchte Troſt in den vielfaͤltigen Betheu - rungen der Wirthinn, daß ſie gar nichts ver - lange, daß ſie nur ihre Schuldigkeit gethan zu haben glaube, und daß der Hollaͤnder ſo - gar ſeinen Rubel zuruͤcknehmen muͤſſe. Doch, ſo leicht wollten die Britten die Segel nicht ſtreichen. Das Geſpraͤch ward hitziger, die God dam’s folgten ſich ſchneller, und die496 Faͤuſte der Englaͤnder ſchickten ſich an, dem Streit via facti ein Ende zu machen. Indeſ - ſen ſuchte der Hollaͤnder das Korpus delikti in ſeine Gewahrſam zu bringen.

Nach langem Debattiren, und weil er keine Moͤglichkeit ſah, hier zu entkommen, ließ er ſich zu funfzig Rubeln willig finden. Die Brit - ten beſtunden auf hundert. Dieſer Vorſchlag ſchien dem Hollaͤnder ſo unbillig, daß er er - klaͤrte, ſich eher dem ganzen Gewicht ihrer Faͤuſte preis geben zu wollen.

Halt Kinder! rief der Englaͤnder ſeinen Landsleuten zu, der vorhin den erſten Angriff auf die Großmuth des Hollaͤnders gethan hatte. Ein Vorſchlag zur Guͤte. Der Beutel da iſt zwar nicht euer, aber ihr ſeyd Britten, und die Frau hier hat, bey Gott! brav ge - handelt und muß belohnt werden. Hurtig die Haͤnde in den Sack! Wir werfen die hun - dert Rubel zuſammen!

Geſagt, gethan. Der Hollaͤnder, durch dieſen Schlag betaͤubt, hatte noch nicht Zeit gehabt, ſich zu faſſen, als ſchon die hundert Rubel wohlgezaͤhlt auf dem Tiſche lagen.

Das497

Das war eine Nationalfehde! Wo menſch - liches Gefuͤhl, Dankbarkeit, Großmuth und engliſche Faͤuſte vergebliche Angriffe verſucht hatten, da ſiegte Nationalſtolz. Der Hol - laͤnder drang darauf, daß die Britten ihr Geld zuruͤcknehmen mußten, und trennte ſich mit ſtoiſcher Gelaſſenheit von hundert geliebten, lange bejammerten und kaum wiedergefundenen Rubeln.

Naͤchſt den Deutſchen ſind die Franzo - ſen unter allen Auslaͤndern die zahlreichſten. Die Sprache, die Sitten, die Moden, die Litteratur und das Theater dieſer Nation wer - den allgemein geliebt, nachgeahmt und bewun - dert; aber die Nation ſelbſt hatte nur einen ſehr maͤßigen Antheil an dieſer Achtung, und ſelbſt dieſer iſt jetzt, durch leicht einzuſehende Urſachen, geſchmaͤlert. In den hoͤheren Staͤn - den, in Staatsbedienungen, beym Militaire und als Kaufleute leben hier nur wenige Fran - zoſen. Der groͤßte Theil derſelben beſteht aus Abentheurern aller Art, unter denen ſich viele nicht zum erſtenmal auf dieſem Schauplatz verſuchen. Kammerdiener, Friſeurs, Gar - koͤche, Modehaͤndler, Putzmacherinnen, undZweiter Theil. J i498wenn es mit keinem dieſer Gewerbe mehr fort will Hauslehrer und Informatoren. Nur aͤußerſt wenige unter dieſen kommen als Leute von Erziehung, mit nuͤtzlichen oder gelehrten Kenntniſſen und einem ausgebildeten Karakter hieher. Durch mannigfaltige Erfahrungen be - lehrt, iſt der ruſſiſche Adel behutſamer in der Wahl ſolcher Leute geworden, denen er die Er - ziehung ſeiner Kinder anvertraut, und ſeit ei - niger Zeit ſucht er hiezu lieber Schweizer und Deutſche.

Indeſſen, was ihm an reeller Brauchbar - keit abgeht, erſetzt der Franzoſe aus dieſer Klaſſe durch gefaͤllige Talente mancherley Art, die nicht ſelten der Weg zu einem guten Fort - kommen werden. Da er ſo gluͤcklich iſt, eine in ganz Europa bekannte und hier vorzuͤglich beliebte Sprache zu ſprechen, die, wenn er ſie gut ſpricht, ihm ſchon zum Verdienſt ange - rechnet wird, ſo hat er eine große Schwierig - keit weniger und einen großen Vortheil mehr als jeder andere Fremdling. Das, dieſer Na - tion ſo eigene Talent der Ueberredung, ein gewiſſes, dem Franzoſen augenblicklich gegen - waͤrtiges Gefuͤhl des Schicklichen, verbunden499 mit einer hinlaͤnglichen Doſis Dreiſtigkeit, ſetzen ihn in den Stand Entwuͤrfe auszufuͤhren, vor deren Kuͤhnheit der ſchwerfaͤllige, kalte Deutſche zuruͤckbebt. Aus hundert Beyſpielen nur eins.

Bey einem ruſſiſchen Großen meldet ſich einſt ein Franzoſe und wuͤnſcht vorgelaſſen zu werden. Es geſchieht; der Fremdling bittet um Protektion, und weiß ſeine Bitte mit ſo guter Art anzubringen, daß ſie Intereſſe er - regt. Auf die Frage, in welcher Abſicht er hieher gekommen ſey, erfolgt die Antwort: pour éclairer la Russic. Der Große, durch dieſe Inſolenz aufgebracht, iſt im Begriff, dem Franzoſen die Thuͤre zu weiſen, als die - ſer, mit einer Manier, die den gluͤcklichen Er - folg ſeines Einfalls entſcheidet, ſich erklaͤrt, daß er ſeinem Gewerbe nach ein Lichtzieher ſey.

Die Englaͤnder in Petersburg ſind groͤß - tentheils Kaufleute, gewinnen und verzehren viel Geld, leben nach vaterlaͤndiſcher Sitte, und genießen unter allen Auslaͤndern der vor - zuͤglichſten Achtung.

Sie erlernen die Landesſprache, weil ihr Gewerbe ſie ihnen nothwendig macht, und fuͤ -J i 2500gen ſich nach Landesgebrauch, ſo weit dieſer mit engliſcher Sitte beſtehen kann. Ihr Na - tionalſtolz, der daheim auf ihrer Inſel gut Ding ſeyn mag, erhebt ſie in ihrer Meynung auch hier uͤber Ruſſen und Auslaͤnder.

In den Haͤuſern der hieſigen Britten kann man ſich den vollſtaͤndigſten Begriff von der engliſchen Lebensart machen. Hausgeraͤth, Tafel, Unterhaltung, alles iſt engliſch bis auf das Kaminfeuer. Bekanntlich brennt man in England nur Steinkohlen wegen der Theu - rung des Holzes; hier, wo das Holz wohl - feiler iſt, brennt jeder Englaͤnder Steinkohlen.

Seit mehreren Jahren beſteht eine engli - ſche Ballgeſellſchaft, die keinen Tanzliebhaber zulaͤßt, der nicht zur brittiſchen Nation ge - hoͤrt. Der deutſche Ball iſt zu tolerant, um Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Der Galeerenhof, eine der ſchoͤnſten Ge - genden der Stadt, war ehemals beynahe nur von Englaͤndern bewohnt, die dieſe Gaſſe die engliſche Linie nannten. Es ſchmeichelte ihrem Stolz, beyſammen und abgeſondert zu woh - nen und eine der beſten Gegenden zu behaup -501 ten. Itzt werden ſie allmaͤlig von ruſſiſchen Großen und deutſchen Kaufleuten verdraͤngt.

Die Englaͤnder handeln bey allen oͤffentli - chen Vorfaͤllen mit einem Gemeingeiſt, der ih - nen Ehre macht. Wenn es moͤglich iſt, einen aus ihrem Mittel vom Bankerott zu retten, ſo geſchieht’s. Vor einigen Jahren brannte einem hieſigen Englaͤnder von mittelmaͤßigen Gluͤcksumſtaͤnden ſein hoͤlzernes Haus ab, und Tags darauf erhielt er einen, unter ſeinen Landsleuten geſammelten Beytrag von mehre - ren tauſend Rubeln.

Unter den uͤbrigen fremden Einwohnern zeichnet ſich keine Nation durch ihre Anzahl oder Eigenthuͤmlichkeit aus. Die Hollaͤnder ſind faſt ſaͤmmtlich Kaufleute oder Gaͤrtner, leben ſtill und ſchließen ſich ziemlich an die Deutſchen. Die wenigen Polen, Daͤnen, Spanier, Portugieſen und Italiener die hier anſaͤßig ſind, werden unter der großen Maſſe von Menſchen nicht ſehr bemerklich und koͤnnen auch zum Theil nur als periodiſche Einwohner angeſehen werden. Zahlreicher ſind die Schweden; ſie treiben Handwerke und Manufakturen, ſind arbeitſam und thaͤtig,J i 3502und werden dem Lande auf mancherley Weiſe nuͤtzlich.

Intereſſant fuͤr den Beobachter ſind auch die Orientalen, die ſich hier von Zeit zu Zeit einfinden und mit deren Eigenthuͤmlichkei - ten man hier naͤher bekannt werden kann. Waͤhrend des letzten Krieges ſah man haͤufig gefangene Tuͤrken beyder Geſchlechter. Dieſe Menſchen, welche durch ihr Schickſal aus den ſuͤdlichſten Provinzen von Europa und aus dem wolluͤſtigen aſiatiſchen Klima unter den ſechzigſten Grad der Breite verſetzt wurden, haben hier durchgehends eine Behandlung ge - noſſen, die der Menſchlichkeit und Aufklaͤrung unſers Jahrhunderts zur Ehre gereicht. Sie lebten ſtill und friedlich unter ihren großmuͤ - thigen Ueberwindern, lernten ſo viel von der Landesſprache, daß ſie ſich nothduͤrftig verſtaͤnd - lich machen konnten, und durften Theil an allen oͤffentlichen Ergoͤtzungen nehmen. Den Vornehmern unter ihnen waren Geſellſchafter zugeordnet, die fuͤr ihre Beduͤrfniſſe ſorgen, ihnen in allen Verlegenheiten aushelfen, und ſie mit den merkwuͤrdigſten Gegenſtaͤnden die - ſer Reſidenz bekannt machen mußten. Vor -503 zuͤglich viel Vergnuͤgen fanden ſie an den mi - litairiſchen Uebungen in den hieſigen Kadetten - korps, die ihr Erſtaunen und ihre Bewunde - rung in hohem Grade erregten. Die jungen, unerzogenen Tuͤrken welche hieher gebracht wurden, ſind groͤßtentheils in herrſchaftliche Haͤuſer aufgenommen, wo man ihre Erziehung mit ſeltner Liberalitaͤt beſorgt.

Zu den intereſſanten Gegenſtaͤnden dieſer Art gehoͤren endlich auch die verſchiedenen Erd - bewohner mit gelben und braunen Geſichtern, mit platten und breiten Naſen, mit und ohne Schweinsaugen, u. ſ. w. die man hier faſt zu jeder Zeit ſehen kann. Wie ſonderbar auch die Form beſchaffen ſeyn mag, in welche die große unentraͤthſelte Natur ihren Stoff ge - goſſen hat: der menſchliche Beobachter erkennt das Weſen ſeiner Art auch unter dieſer ſeltſa - men Huͤlle. Der freye offne Sinn des Kal - muͤcken, die Treue und Anhaͤnglichkeit des Ta - taren ſind der Spiegel, der ihm das Bild ſeines eignen Selbſt zuruͤckwirft. Leicht und gern ſchließt er ſich an das Geſchoͤpf, an wel - ches ein unſichtbares ſtarkes Band ihn knuͤpft, und verſucht’s, den Funken hervorzulocken, derJ i 4504in der Bruſt ſeines ungebildeten Geſchlechts - verwandten ſchlummert.

Wo die Natur geſaͤet hat, da erndtet ſie auch. Iſt ſie euch noch ein Problem, die kuͤnftige Kultur dieſer Voͤlker? O ſo habt ihr keinen Sinn fuͤr den großen harmoniſchen Plan der mutterliebenden Natur, der kein Staͤub - chen ihrer beſeelten Schoͤpfung gleichguͤltig iſt!

Ich habe es verſucht, die Individualitaͤten anzudeuten, welche aus der verſchiedenen Ab - ſtammung einer ſo gemiſchten Volksmenge fließen; jetzt will ich es wagen, die hervorſte - chendſten Karakterzuͤge zu zeichnen, welche dieſe bunte Maſſe von Menſchen, als Peters - burger, gemein hat.

Der eigenthuͤmlichſte und allgemeinſte Ka - rakterzug dieſes Publikums iſt Toleranz; eine Tugend, die in gewiſſem Sinne ſeit lange bey der Nation Wurzel gefaßt hat, hier aber, durch das Zuſammenſtroͤmen ſo vieler Men - ſchen von der mannigfaltigſten Denkungsart, von den verſchiedenſten Glaubensſyſtemen, von den ungleichartigſten Sitten, Gebraͤuchen, Mey -505 nungen und Vorurtheilen eine ſo allgemeine und ausgedehnte Herrſchaft erlangt hat, daß es gewiß nicht leicht einen Fleck auf der Erde giebt, wo ſich’s, in dieſer Ruͤckſicht, angeneh - mer und ruhiger leben laͤßt, als in St. Pe - tersburg. Man ſieht wol, daß ich hier dem Worte: Duldung, nicht jene engbruͤſtige Deu - tung gebe, die es gewoͤhnlich zu haben pflegt, wenn von einer erzwungenen und befohlnen Religionsvertraͤglichkeit, oder von einer durch Geſetze beſtimmten Exiſtenz der ſchwaͤchern Par - they die Rede iſt. Der Begriff, den wir hier mit dieſem Worte verbinden, ſchließt eine frey - willige, in die Denk - und Handlungsweiſe uͤbergegangene Schonung ein, die ſich uͤberall und gegen Jeden aͤußert, der anders denkt und anders handelt. Er begreift alſo nicht nur die religioͤſe, ſondern auch die politiſche und geſellſchaftliche Toleranz, in ſo weit ſie nicht als Karakter des Regierungsſyſtems ſondern als Karakter des Publikums merkwuͤr - dig wird.

Daß die religioͤſe Duldung bey der Nation ſelbſt herrſchend iſt, beweiſ’t ſich ſchon daraus, daß die großen und ausgedehntenJ i 5506Freyheiten, welche die geduldeten Religions - partheyen unter Katharinens Schutz ge - nießen, nirgend, weder bey dem Volk noch in den hoͤhern Staͤnden, nicht einmal bey der Geiſtlichkeit, die geringſte Unzufriedenheit oder Rivalitaͤt erwecken. Praͤlaten der griechiſchen Kirche leben mit den Religionslehrern fremder Glaubensverwandten in freundſchaftlichem Um - gange und laden ſie zu ihren Tafeln oder Fe - ſten ein; ruſſiſche Geiſtliche wohnen dem Got - tesdienſte der Proteſtanten bey, ſtudiren in Holland, England und Deutſchland die hoͤhern Wiſſenſchaften und hoͤren dort zuweilen theo - logiſche Vorleſungen. Man hat ſogar das Beyſpiel, daß ein angeſehener ruſſiſcher Geiſt - liche ſeine Tochter einem lutheriſchen Prediger zur Erziehung uͤbergab. Unter den Layen der griechiſchen Religionsparthey geht dieſe Vertraͤglichkeit natuͤrlich noch weiter. Sie er - ſcheinen nicht nur als erbetene Zeugen bey feyerlichen Vorgaͤngen, ſondern auch außerdem haͤufig in den Kirchen der Auslaͤnder, tragen gerne zur Erhaltung der Kirchen und Schu - len bey, laſſen ihre Kinder von Auslaͤndern erziehen, und verheyrathen ſich mit dieſen ohne507 Bedenklichkeit, von welcher Religion ſie auch ſeyn moͤgen. Im geſellſchaftlichen Umgange iſt nun vollends keine Spur eines religioͤſen Partheygeiſtes zu finden. Unterredungen, welche die Religion betreffen, hoͤrt man nur aͤußerſt ſelten; Debatten uͤber Gegenſtaͤnde dieſer Art niemals.

Die Beyſpiele dieſer liebenswuͤrdigen Ver - traͤglichkeit wuͤrden ſehr beſchaͤmend fuͤr die Auslaͤnder ſeyn, wenn ſie denſelben nicht nach - zuahmen ſtrebten. Aber auch unter dieſen herrſcht eine gegenſeitige Duldung und Scho - nung, wie man ſie gewiß nur ſelten, ſelbſt in den aufgeklaͤrteſten Staaten findet. Geiſtliche aller Religionen leben in der groͤßten Einig - keit*)Leider machen die Deutſchen auch hierinn zuweilen eine Ausnahme., zum Theil in genauem Umgange. Vor einigen Jahren hielten die reformirten und lu - theriſchen Prediger woͤchentliche Zuſammen - kuͤnfte, um ſich uͤber Religionsmaterien und Amtsverrichtungen zu unterreden und ihre Ein - tracht durch einen vertraulichen Umgang zu508 erhoͤhen. Dieſe lobenswuͤrdigen Zirkel wurden auch zuweilen von katholiſchen und ruſſiſchen Geiſtlichen beſucht. Noch vor kurzem, da die Stelle eines deutſchen reformirten Predigers erledigt war, hielt der Bibliothekar der Aka - demie der Wiſſenſchaften, Buſſe, der ein Lutheraner und kein Geiſtlicher iſt, eine lange Zeit hindurch die gewoͤhnlichen Kanzelvortraͤge in dieſer Kirche. Lutheriſche Prediger haben ſchon oft Reformirten das Abendmahl gereicht, und reformirte Prediger haben in lutheriſchen Kirchen Leichenreden gehalten. Man hat ein Beyſpiel, daß ein lutheriſcher Prediger Tauf - zeuge bey einem Katholiken war, und es ſeyn konnte, weil der katholiſche Geiſtliche die Fra - gen vermied, die Jener nach dem Lehrbegriff ſeiner Kirche nicht haͤtte bejahen koͤnnen. Auslaͤnder aller Religionspartheyen verheyra - then ſich unter einander und mit Ruſſen, ohne daß dies das allermindeſte Aufſehen erregte. Mit ſeinen Religionsmeynungen, ſie moͤgen ſo ſeltſam ſeyn als ſie wollen, kann hier niemand in Gefahr gerathen, verfolgt oder verabſcheut zu werden, wenn man ſie nicht Andern auf - zudringen, oder auf eine unſchickliche Art gel -509 tend zu machen ſucht. Ein gewiß ſehr großer Theil der hieſigen Auslaͤnder lebt außer aller kirchlichen Verbindung, aber Niemand wird ſich zum Glaubensinquiſitor dieſer Indepen - denten aufwerfen, und Niemand bekuͤmmert ſich darum. Nur an wenigen Orten hoͤrt man ſo freymuͤthige Urtheile uͤber Gegenſtaͤnde und Formen der Religion, und nirgend erre - gen kuͤhne Grundſaͤtze weniger Senſation, als hier.

Eben ſo allgemein und von eben ſo großer Ausdehnung iſt die politiſche Duldung, die nirgend in Europa ihres Gleichen hat. Wem koͤnnte es unbekannt ſeyn, daß Auslaͤn - der von jeder Nation und von jeder Glaubens - parthey in Rußland zu allen Aemtern und Wuͤrden, ſelbſt zu den erſten und wichtigſten, befoͤrdert werden? Daß ihnen alle Kanaͤle des Erwerbs und der Induſtrie, eben ſo gut wie den Eingebornen offen ſtehn? Dieſe That - ſache beweiſ’t nicht bloß fuͤr das tolerante Syſtem der Regierung; ohne eine gleichge - ſtimmte Denkungsart des Publikums und vor - zuͤglich der Großen, wuͤrde ſie uͤberall viele Einſchraͤnkungen leiden. In keinem Lande iſt,510 bey einem ſo betraͤchtlichen Antheil von Na - tionalſtolz, die Eiferſucht gegen Auslaͤnder ge - ringer, als in Rußland, und nirgend im Reiche zeigen ſich die Spuren derſelben ſchwaͤcher, als hier. Wie zahlreich ſind nicht die Beyſpiele, da ruſſiſche Große ſich der Auslaͤnder anneh - men, ihnen eine anſtaͤndige Laufbahn eroͤffnen, und ſie ihr ganzes Leben hindurch mit der großmuͤthigſten Theilnahme auf derſelben be - gleiten. Mir ſind Faͤlle bekannt, daß einzelne Auslaͤnder von reichen und angeſehenen Leu - ten aus der Nation gleichſam als Glieder ih - rer Familien aufgenommen worden ſind, Zeit - lebens in ihren Haͤuſern bey ihnen gelebt, und ſo betraͤchtliche Geſchenke erhalten haben, daß ſie bey dem fruͤhern Abſterben ihrer Wohlthaͤ - ter ein unabhaͤngiges Schickſal waͤhlen konn - ten. Es iſt etwas ganz gewoͤhnliches, wenn Auslaͤnder, zuweilen ſogar ohne große An - ſpruͤche, ſich durch Heyrathen mit reichen und angeſehenen ruſſiſchen Haͤuſern verbinden. In den Kollegien und Departements, wo Ruſſen neben Auslaͤndern angeſtellt ſind, iſt oft keine Spur von Partheylichkeit oder Eiferſucht ſicht - bar; dieſe genießen uͤberall gleiche Rechte mit511 jenen, und wenn hie und da zu Gunſten der einen oder andern Parthey eine Ausnahme ge - macht wird, hoͤrt man daruͤber keine beleidi - gende Klagen. So angenehm es den Ruſſen iſt, wenn ſie einen Auslaͤnder ihre Sprache reden hoͤren, ſo gefaͤllig ſind ſie doch auch ge - gen Jeden der ſie nicht verſteht, ſo bereitwil - lig ihm auszuhelfen, ſich ihm verſtaͤndlich zu machen, ſelbſt in Faͤllen wo ihr eignes In - tereſſe oder die Pflicht des Fremden zu einer ſtrengern Forderung berechtigen koͤnnte.

Die geſellſchaftliche Duldung iſt im vorigen Abſchnitte hinlaͤnglich karakteriſirt, um ihren Umfang beurtheilen zu koͤnnen. Eben die große Miſchung von Menſchen, die es hier verhindert, daß das Publikum keinen ſehr aus - gezeichneten, eigenthuͤmlichen Geiſt hat, iſt auch die wohlthaͤtige Urſache, daß wir hier keine allgemeine Norm, kein Modell, wenn ich ſo ſagen darf, fuͤr unſer ſittliches Betragen haben. Jeder kann hier ſo erſcheinen wie er iſt; ſehr excentriſche Menſchen freylich erregen auch hier einige Bemerkung, aber ihrer giebt es immer nur wenige und in kurzer Zeit wird man ihrer gewohnt. Wer nicht zu dieſer512 Klaſſe gehoͤrt, kann ſicher ſeyn, daß ihn Niemand wegen ſeiner Eigenheiten in Anſpruch nehmen wird. Die Mode iſt hier nicht der ſtrenge Tyrann, unter deſſen Szepter ſich Jedermann beugen muß, um die Geißel der Laͤcherlichkeit zu vermeiden. Nichts iſt hier gleichguͤltiger, als das qu’en dira-t-on? welches ehemals in Paris alle Menſchen in einen gleichen Zu - ſchnitt brachte.

Es wird vielleicht beym erſten Ueberblick auffallend ſcheinen, wie ſich dieſe geſellſchaft - liche Toleranz mit der Achtung fuͤr Stand und Rang vertraͤgt, die ein ſo hervorſtechen - der Zug der Petersburger iſt. Es verurſacht allerdings ein ſonderbares Gefuͤhl, ein in vie - len Ruͤckſichten ſo billiges und tolerantes Pu - blikum in dieſem Stuͤck der haͤrteſten Unduld - ſamkeit beſchuldigen zu muͤſſen; aber freylich laͤßt ſich dieſer moraliſche Widerſpruch ſehr wohl durch die den Menſchen uͤberall ſo ge - woͤhnliche Inkonſequenz erklaͤren. Es giebt ſicherlich keine Reſidenz in Europa, in welcher der Geburtsrang und der Adel der Abſtam - mung weniger in Anſchlag gebracht wird. Ich wohne jetzt ſechs Jahre in Petersburg undlebe513leben in ſehr verſchiedenen und gemiſchten Zir - keln, aber noch nicht ein einziges Mal habe ich dieſe oder aͤhnliche Fragen gehoͤrt: Iſt der Mann aus einer guten Familie? Iſt er von Adel? Wer war ſein Vater? Was war er, ehe er dieſen Poſten bekam? Nir - gend hat perſoͤnliches wirkliches oder er - borgtes Verdienſt groͤßern Anſpruch auf Achtung; nirgend iſt es ſchwerer, durch die Talente und Tugenden ſeiner Vorfahren zu glaͤnzen, als hier. Und eben dieſes Publi - kum, welches ſich durch eine ſo aufgeklaͤrte Denkungsart auszeichnet iſt der Sklave eines andern Vorurtheils, deſſen Feſſeln ſo viel leichter abzuwerfen waͤren! Die Peters - burger hieruͤber anklagen, hieße die menſchliche Natur zur Rechenſchaft ziehen. Die Men - ſchen handeln und denken uͤberall nach gewiſ - ſen Beſtimmungen, wenn ſie ſich derſelben gleich nicht allemal bewußt ſind. Oft ſehen wir die Wirkung ohne die Urſache, wenn dieſe vielleicht zu tief liegt, und dann nennen wir jene einen Widerſpruch, weil wir ihre Verket - tung nicht kennen. Wer alle Faͤden der mora - liſchen Erſcheinungen uͤberſehen und jeden ver -Zweiter Theil. K k514borgenen Zuſammenhang entdecken koͤnnte, wuͤrde ſehr oft in dem Thun und Laſſen der Menſchen eine groͤßere Uebereinſtimmung fin - den.

Ohne den Petersburgern alſo dieſe Inkon - ſequenz allzuhoch anzurechnen, oder ſie deswe - gen gar vor den Richterſtuhl der Philoſophie zu citiren, wird der aufgeklaͤrte und billige Beobachter dieſen Schatten in einem ſonſt ſo lichten und lieblichen Gemaͤlde leicht uͤberſehen. In der That, wenn die Schwachheiten der Menſchen uͤberall durch ſo anziehende Vorzuͤge aufgewogen wuͤrden, ſo koͤnnte man hoffen, ſelbſt den finſterſten Miſanthropen und den giftigſten Satirenſchreiber zu bekehren. Wer haͤtte wol das Herz einer Menſchengattung gram zu ſeyn, bey welcher Gutmuͤthigkeit und Jovialitaͤt herrſchende Karakterzuͤge ſind und jede Farbe brechen, die in dem bun - ten Gemaͤlde ihrer Sitten, Leidenſchaften und Launen ſpielt? Dieſe beyden Eigenſchaften ſind es, die jedem Fremden den Aufenthalt in der Reſidenz ſo angenehm machen, und jeden Ein - wohner, der ſich hie und da von gewiſſen Ei - genheiten und Thorheiten gedruͤckt fuͤhlt, wie -515 der mit ſeinen Mitbuͤrgern ausſoͤhnen. Wirk - lich iſt nichts gefaͤlliger, als die Art womit die Petersburger Gefaͤlligkeiten ausuͤben. Gleich weit entfernt von der trocknen Soliditaͤt der Englaͤnder und von der leeren Theilnahme der ehemaligen Franzoſen, kennen und leiſten ſie die Pflichten des geſelligen Lebens, ohne etwas ſehr verdienſtliches dabey zu ahnden. Selten werden Reiſende eine groͤßere Bereitwilligkeit finden, ſie mit den Merkwuͤrdigkeiten, dem Genuß und den Freuden ihres Aufenthalts be - kannt zu machen, als hier. Nichts wird den Petersburgern ſaurer, als eine abſchlaͤgige Antwort geben zu muͤſſen. Auf die ſinnreichſte Art entſchuldigt man Fehler, Eigenheiten und Launen Anderer, um in gleichem Fall auf glei - che Nachſicht rechnen zu duͤrfen.

Geld - und Ehrſucht beherrſchen auch hier einen ſehr großen Theil der Menſchen, aber als eigenthuͤmliche Karakterzuͤge koͤnnen dieſe Fehler nicht gelten, da ſie uͤberall in gro - ßen Staͤdten zu Hauſe ſind, wo der Genuß des Lebens ſo anziehend und ſo vervielfaͤltigt iſt, wo Armuth beſchimpft und Reichthum adelt, wo der Ehrgeiz ſo großen SpielraumK k 2516hat und wo ihm ſo glaͤnzende Ziele vorgeſteckt ſind. Schwerer wird es, die Indifferenz zu rechtfertigen, mit welcher man ziemlich allge - mein auf die Mittel und Wege ſieht, die hier bisweilen zu Reichthum und Anſehen fuͤhren. Doch, vielleicht laͤßt ſich auch dieſe Erſchei - nung durch die Wirkungen der allgemeinen To - leranz erklaͤren, die man jedem rechtlichen Er - denſohne uͤber alle Dinge zugeſteht, fuͤr die er ſelbſt verantworten kann oder mag.

So wie die Rangſucht mit der Gleichguͤl - tigkeit gegen den Geburtsadel kontraſtirt, ſo und noch aͤrger ſticht die Liebe und die Ver - achtung des Geldes gegen einander ab. Es iſt ſchon mehr als einmal geſagt: dieſes Land iſt das Land der Extreme. Eben die Men - ſchen, die ſich die Erlangung eines gewiſſen Wohlſtandes zu dem Ziel ihrer Wuͤnſche ge - macht haben, und dieſes Ziel mit der außer - ordentlichſten Anſtrengung aller Kraͤfte, mit der leidenſchaftlichſten Thaͤtigkeit, oft ſogar mit der Herabwuͤrdigung ihrer Moralitaͤt zu errei - chen ſtreben eben dieſe Menſchen ſieht man nicht ſelten nach der Erreichung ihres Zwecks in eine wunderbare Gleichguͤltigkeit gegen das517 bisherige Idol ihrer Wuͤnſche verfallen. So herrſchend die Geldſucht hier iſt, ſo wenig Geizige ſieht man. Kein Laſter iſt ſeltner als dieſes. Der Beweis hievon liegt ſchon in der Lebensart, die ſich ſchlechterdings mit keiner Knauſerey, geſchweige mit dem Geize vertraͤgt. Nichts finden die Petersburger daher laͤcher - licher, als die einzelnen Beyſpiele dieſer Thor - heit, die dieſes oder jenes Individuum dem Publikum zum Beſten giebt. Alltaͤgliche Zuͤge dieſer Art, die an andern Orten gar keine Senſation erregen wuͤrden, fallen hier zum Erſtaunen auf, und wenn die gutmuͤthige Laune der Petersburger irgendwo in Sarkas - men uͤbergeht, ſo iſt es bey ſolchen Gelegen - heiten. Eine Folge dieſer Denkungsart iſt der Hang zur Freygebigkeit, der als eine ſehr allgemeine Schattirung im Karakter ausgehoben zu werden verdient. Vorzuͤglich eigen iſt dieſer Hang den Ruſſen, bey welchen er durch Religionsgrundſaͤtze, Erziehung und Beyſpiel genaͤhrt wird. Von ſeiner Allgemein - heit kann ſich der fluͤchtigſte Beobachter uͤber - zeugen. Selten geht ein gemeiner Ruſſe bey einem Bettler voruͤber, ohne, auch unaufge -K k 3518fordert, in ſeine Taſche zu greifen. Wohlha - bende Leute machen ſich’s zum Geſetz, Arme und Gefangene zu beſtimmten Zeiten mit Geld, Kleidungsſtuͤcken und Speiſen zu verſorgen; die Vorraͤthe, welche woͤchentlich und beſon - ders an gewiſſen Feſttagen in den Gefaͤngniſ - ſen abgeliefert werden, ſind oft groͤßer als das Beduͤrfniß ſie erheiſcht. Es iſt gewiß nur in wenigen großen Staͤdten ſo leicht, Kollekten und Unterzeichnungen fuͤr wohlthaͤtige Zwecke zuſammenzubringen; Beyſpiele von der außer - ordentlichſten Art ſind haͤufig in dieſem Buche vorhanden. Fremde die ohne hinlaͤnglichen Geldvorrath hier ankommen, Leute denen es an Mitteln fehlt, nuͤtzliche Unternehmungen zu machen oder ſich einem gewiſſen Zweck zu widmen, finden bey einiger Bekanntſchaft im - mer Menſchen die ſich fuͤr ſie intereſſiren und ihrem Beduͤrfniß oft auf eine Art aushelfen, die ihre Hoffnungen weit uͤberſteigt. Die Faͤlle von welchen ich Augenzeuge geweſen bin, wuͤr - den dies hinlaͤnglich beglaubigen, wenn es moͤg - lich waͤre, ſie anzufuͤhren, ohne Geber und Empfaͤnger zu einer gewiſſen Publizitaͤt zu bringen.

519

Mit dieſen zum Theil ſehr liebenswuͤrdigen Eigenſchaften verbinden die Petersburger einen bey vielen Gelegenheiten auffallenden Leicht - ſinn, und eine Unbeſtaͤndigkeit, die ih - ren beſten Entwuͤrfen und Einrichtungen den Untergang droht, ſo bald ſie aufgehoͤrt haben, etwas Neues zu ſeyn. Die Reſidenz iſt der Mittelpunkt aller politiſchen Verbindungen, der Hauptſitz des Handels und der Gewerbe; jeder findet hier die Sphaͤre ſeiner Thaͤtigkeit, das Ziel ſeines Strebens. Natuͤrlich iſt es nirgend im Reiche leichter, Gluͤck zu machen, als hier. Die haͤufigen Erfahrungen hievon entfernen den Gedanken an die Zukunft, die Vorſorge fuͤr moͤgliche, aber nicht wahrſchein - liche Faͤlle. Die mehreſten Menſchen leben fuͤr den Augenblick, und laſſen ihr gutes Schickſal fuͤr das Uebrige ſorgen. Leute die eine abhaͤngige Exiſtenz oder zahlreiche Fami - lien haben, ſind ruhig, wenn ſie nur das Be - duͤrfniß des Tages befriedigen koͤnnen. Viele nehmen in Verlegenheiten ihre Zuflucht zu kri - tiſchen und ſeltſamen Huͤlfsmitteln; aber mit Schulden belaſtet und von Glaͤubigern ver - folgt, bringen ſie eine heitre Stirne und dieK k 4520froͤhlichſte Laune in Geſellſchaften mit. Ein ploͤtzlicher Gluͤckswechſel, auf welchen freylich nicht zu rechnen war, der hier aber, wie ein wahrer deus ex machina ſo manchen Schick - ſalsknoten loͤſet, rettet ſie vom Untergange, und ſie behalten die naͤmliche Stimmung, ohne ſich durch widrige oder guͤnſtige Vorfaͤlle in ihrem Lebensgenuſſe ſtoͤren zu laſſen. Kinder verurſachen Leuten dieſer Gattung uͤberhaupt keine Sorgen. Die großen oͤffentlichen An - ſtalten uͤberheben ſie der Koſten, welche die Erziehung verurſachen wuͤrde, und mit dem Eintritt in die Welt beginnen junge Leute ihre eigene Laufbahn, auf der ſie ſich, auch ohne Unterſtuͤtzung, fortzuhelfen wiſſen. Daß dieſe Denkungsart nur bey einem Theile des Pu - blikums allgemein iſt und in gewiſſen Klaſſen von Menſchen große Ausnahmen leidet, bedarf wahrſcheinlich keiner Bemerkung. Allge - meiner und karakteriſtiſcher iſt die Unbeſtaͤn - digkeit. Nicht leicht wird man an irgend ei - nem Orte ſo viele mit Enthuſiasmus angefan - gene und ploͤtzlich aufgegebene Unternehmun - gen gewahr werden, als hier. Gebaͤude, Gaͤr - ten, Sammlungen von Seltenheiten, Biblio -521 theken, tragen den Karakter dieſer Unbeſtaͤn - digkeit. Der leidenſchaftliche Eifer, mit wel - chem man ſich zuweilen fuͤr einen liebenswuͤr - digen Fremden, fuͤr große Kuͤnſtler, fuͤr einen gemeinnuͤtzigen Vorſchlag intereſſirt, geht in Kaͤlte uͤber, ſobald der Gegenſtand deſſelben den Reiz der Neuheit verliert. Selbſt die Vergnuͤgungsoͤrter des Publikums, ſo geſchmack - voll und befriedigend ſie immer ſeyn moͤgen, duͤrfen auf kein beſſeres Schickſal Rechnung machen. Nirgend veraͤndert man ſeine Woh - nung mit ſolcher Leichtigkeit, als hier; es giebt Leute, die jedes Jahr einen a[nd]ern Stadttheil zu ihren Aufenthalt waͤhlen Faſt alle Mieth - kontrakte werden nur auf einen Monat ge - ſchloſſen, und ſogar die Domeſtiken machen ſich dieſer Einrichtung zu Nutze, um ſo oft als moͤglich ihre Herrſchaft zu aͤndern. Mit dieſer Unbeſtaͤndigkeit, die ſich auch uͤber Sitten, Gebraͤuche und Moden verbreitet, ſticht die Anhaͤnglichkeit des gemeinen Ruſſen an ſeine Nationallebensart auf eine ſonderbare Weiſe ab. Aber nicht lange mehr wird dieſer Kontraſt vorhanden ſeyn.

K k 5522

Die großen Gegenſtaͤnde ſind erſchoͤpft und ich werfe meinen Pinſel weg. Ich habe es gewagt, die hervorſtechendſten Karakterzuͤge mit Unpartheylichkeit und Schonung zu entwerfen; einem groͤßern Maler mag es uͤberlaſſen ſeyn, ſie zu gruppiren und in ein Ganzes zu bringen. Auch das vollendete Ge - maͤlde, nach dieſen Grundzuͤgen ausgebildet, wird keine Kopie eines haͤßlichen Originals ge - nannt werden koͤnnen. Wo Licht und Schat - ten ſo gut vertheilt ſind, da darf der Maler ſich kuͤhnlich an die Natur halten, ohne fuͤr ſeine Arbeit den Dank zu erwarten, den eine haͤßliche Schoͤne ihren Spiegel zu zollen pflegt.

[523]

Nachſchrift.

Die weite Entfernung des Verfaſſers vom Druckorte hat, ungeachtet der groͤßten Sorg - falt, folgende Druckfehler veranlaßt, die man vor dem Durchleſen zu verbeſſern bittet.

  • Vorerinnerung.
  • S. I. Z. 3. lies unzertrennlich, ſtatt: unzertrenn -
  • Anmerkung.
  • S. XIII. Z. 12. lies Arſchin, ſt. Arſhin.
  • ebendaſ. Tſchetwerik ſt. Tſhetwerik.
  • S. XIV. Z. 7 Jer’s ſt. Jev’s.
  • Im Buche ſelbſt:
  • S. 3 Z. 6 von unten. Moskowiſcher ſt. Mosko - witiſcher.
  • 4 5 v. u. der Nation ſt. die Nation.
  • 6 9 v. u. außerordentlichſte ſt. außeror - dentliche.
  • 6 7 v. u. Staatsverwaltung ſt. Staats - verfaſſung.
  • 17 15 an ſt. in.
  • 31 14 wie eine ſt. wie die.
  • 32 7 v. u. muß das Wort: die, weg.
  • 37 4 v. u. zaͤhlt ſt. nennt.
[524]
  • S. 43 Z. 4 v. u. wiſſenſchaftlichen ſt. geſell - ſchaftlichen.
  • 46 10 v. u. der obern ſt. der obere.
  • 55 1 muß vor dem Wort: Reformir - te, das Wort Lutheraner eingeſchoben werden.
  • 57 4 muß das Wort: die, weg.
  • 58 2 Wirkung ſt. Arbeit.
  • 77 2 v. u. Lehnen ſt. Lehne.
  • 86 9 iſt mit ſt. iſt von.
  • 96 7 muß nach den Worten: mitten unter, das Wort: den, ein - geſchoben werden.
  • 100 4 v. u. iſt an jeder Seite durch.
  • 107 9 10,160 ſt. 710,160.
  • 116 14 Orten ſt. Arten.
  • 149 6 u. 7 Sbiten’ſchtſchiki ſt. Sbiten’ſchiki.
  • 181 9 Petersburgerinn ſt. Ruſſinn.
  • 183 3 aufgegeſſen ſt. aufgegeben.
  • 186 6 von ſt. vor.
  • 188 13 muß einmal durch weggeſtrichen werden.
  • 194 2 Klubbs ſt. Klubben.
  • Eben dieſe Verbeſſerung S. 226 Z. 13.
  • 231 2 v. u. den ſt. der.
  • 232 6 v. u. ruſſiſche ſt. rusiſche.
  • 237 6 v. u. Sawa ſt. Saiva.
  • 284 9 vor der ſt. vor die.
  • 291 4 v. u. ſeit kurzem ſt. ſeit kurzen.
  • 294 6 Lehrern ſt. Leuten.
[525]
  • Zweyter Theil.
  • S. 4 Z. 3 Roͤntgen’s ſt. Roͤntgeo’s.
  • 7 3 Perfectibilitaͤt ſt. Profektibilitaͤt.
  • 12 11 Landhandels ſt. Buchhandels.
  • 17 3 muß die Ueberſchrift der erſten Ru - brik heißen: von Rußland ein, ſt. nach Rußland ein.
  • 26 10 v. u. veredelte ſt. veredeln.
  • 32 7 richtiges ſt. wichtiges.
  • 51 8 v. u. gerade um ſt. gerade und um.
  • 57 9. 10 Werkſtaͤtten ſt. Werkſtaͤtte.
  • 59 5 auslaͤndiſche ſt. engliſche.
  • 62 1 Podrjaͤde ſt. Podyaͤde.
  • 64 7 eingerichtete ſt. eingerichteter.
  • 65 11 Nach: Menſchenklaſſe muß ein Komma ſtehen.
  • 65 16 Beduͤrfniß ſt. Bedrfniß.
  • 69 2 Knjaͤſhnin ſt. Knjaͤſhnie.
  • Derſchawin ſt. Derſchawin, und wo dieſer Name ſonſt vorkommt.
  • 69 3 Romane ſt. Romano.
  • 117 2 v. u ſebaiſchen ſt. ſebaͤiſchen.
  • 156 4 Aegide ſt. Aegiede.
  • 284 7 unterſcheiden ſt. unterſchieden.
  • 386 5 v. u. Droſchken ſt. Dreſchken.
  • 406 9 v. u. Verfall ſt. Vorfall.
  • 442 8 v. u. Damen ſt. denen.
  • 459 7 Momente ſt. Monate.
  • 513 1 lebe ſt. leben.
[526]

In dieſer Anzeige ſind nur die auffallend - ſten Druckfehler geruͤgt, die den Sinn verder - ben. Die hin und wieder vorkommenden Un - gleichheiten der Orthographie wird jeder billige Leſer von ſelbſt entſchuldigen und verbeſſern. So findet ſich z. B. gleich auf dem Titelblatte und ſelbſt hie und da im Buche: Gemaͤhlde ſt. Gemaͤlde; ein Verſtoß gegen die Recht - ſchceibung, den man hoffentlich nicht auf die Rechnung des Verfaſſers ſetzen wird.

Die Verzoͤgerung, welche der Druck und die Kupfer veranlaßt haben, iſt der Wahrheit und Treue dieſes Gemaͤldes in manchen klei - nen Zuͤgen ſchaͤdlich geworden. Ein ſo leben - diger Gegenſtand, als der, den dieſes Buch zu zeichnen wagt, veraͤndert in einem ſo be - traͤchtlichen Zeitraum ſeine Schattirungen auf mannigfaltige Weiſe. Einzelne Thatſachen, uͤber welche der Verfaſſer keine beſtimmte Aus - kunft zu geben wußte, ſind ihm ſeitdem naͤher bekannt geworden. Ein gluͤcklicher Zufall hat ihn vor kurzem in den Beſitz aller Polizey - zaͤhlungen von 1792 geſetzt, da die Angaben im Buch ſaͤmtlich von den Jahren 1788 bis 1790 ſind. Unvollkommenheiten dieſer Art liegen in der Natur der Dinge; wohl dem Schriftſteller, welchem die Kritik keine andere vorzuwerfen hat!

St. Petersburg, im Decbr. 1793.

About this transcription

TextGemählde von St. Petersburg
Author Heinrich Friedrich von Storch
Extent549 images; 79405 tokens; 13763 types; 601718 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationGemählde von St. Petersburg Zweiter Theil Heinrich Friedrich von Storch. . [3] Bl., S. [3] - 522, VI S. HartknochRiga1794.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, 39 MA 10184-2http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=687611954

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Gesellschaftswissenschaften; Gebrauchsliteratur; Reiseliteratur; Wissenschaft; Geographie; core; ready; china

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