PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Das Leben Jesu,
kritisch bearbeitet
Erster Band.
Mit Königl. Würtembergischem Privilegium gegen den Nachdruck.
Tübingen,Verlag von C. F. Osiander. 1835.
[II][III]

Vorrede.

Dem Verfasser des Werkes, dessen erste Hälfte hiemit in die Hände des Publikums gelangt, schien es Zeit zu sein, an die Stelle der veralteten supranatu - ralen und natürlichen Betrachtungsweise der Ge - schichte Jesu eine neue zu setzen. Dass sie veral - tet sei, wird in unsern Tagen von der zweiten eher als von der ersteren Ansicht zugegeben werden. Denn während das Interesse an den Wundererklä - rungen und dem Pragmatismus der Rationalisten längst erkaltet ist, sind die gelesensten Evangelien - commentare jezt diejenigen, welche die supranatu - ralistische Auffassung der heiligen Geschichte fürIVVorrede.den neueren Geschmack zuzubereiten[wissen]. De[n]- noch hat sich die orthodoxe Ansicht von dieser G[e]- schichte in der That schon früher als die rationali - stische überlebt gehabt, da nur, weil die erstere der fortschreitenden Bildung nicht mehr genügte, die leztere ausgebildet wurde; die neueren Versuche aber, mit Hülfe einer mystischen Philosophie sich wieder in die supranaturale Anschauungsweise unse - rer Vorfahren zurückzuversetzen, verrathen schon durch die gesteigerte Stimmung, in welcher sie sich halten, dass sie lezte, verzweifelte Unternehmungen sind, das Vergangene gegenwärtig, das Undenkbare denkbar zu machen.

Der neue Standpunkt, der an die Stelle der bezeichneten treten soll, ist der mythische. Er tritt in gegenwärtigem Buche nicht zum erstenmal in Berührung mit der evangelischen Geschichte. Längst hat man ihn auf einzelne Theile derselben angewendet, und er soll jetzt nur an ihrem ganzen Verlaufe durchgeführt werden. Das heisst keines - wegs, dass die ganze Geschichte Jesu für mythischVVorrede.ausgegeben werden soll, sondern nur Alles in ihr kritisch darauf angesehen, ob es nicht Mythisches an sich habe. Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Voraussetzung ausgieng, dass in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen weg - warf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, dass in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf die - sem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen blei - ben, sondern es muss auch die andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf histo - rischem Grund und Boden stehen. Diess ist der na - türliche Gang der Sache, und insofern die Erschei - nung eines Werkes wie das gegenwärtige nicht bloss gerechtfertigt, sondern selbst nothwendig.

Damit ist freilich noch nicht erwiesen, dass ge - rade der Verfasser desselben Beruf hatte, in dieser Stellung hervorzutreten. Dessen ist er sich lebhaftVIVorrede.bewusst, dass viele Andere ein solches Werk un - gleich gelehrter auszustatten im Stande gewesen - ren, als er. Doch glaubt er andrerseits wenigstens Eine Eigenschaft zu besitzen, welche ihn zur Über - nahme dieses Geschäftes vor Andern befähigte. Den gelehrtesten und scharfsinnigsten Theologen fehlt in unsrer Zeit meistens noch das Grunderforderniss ei - ner solchen Arbeit, ohne welches mit aller Gelehr - samkeit auf kritischem Gebiete nichts auszurichten ist: die innere Befreiung des Gemüths und Denkens von gewissen religiösen und dogmatischen Voraus - setzungen, und diese ist dem Verfasser durch philo - sophische Studien frühe zu Theil geworden. Mögen die Theologen diese Voraussetzungslosigkeit seines Werkes unchristlich finden: er findet die gläubigen Voraussetzungen der ihrigen unwissenschaftlich. So sehr in dieser Hinsicht der Ton dieser Arbeit gegen den andächtig-erbaulichen oder mystisch-begeister - ten neuerer Bücher über ähnliche Gegenstände ab - sticht, so wird man doch nirgends den Ernst der Wissenschaft vermissen, oder Frivolität finden kön -[n]en: dass ebenso die Beurtheilungen im wissenschaft -VIIVorrede.lichen Gebiete sich halten, und nicht Ketzereifer und Fanatismus einmischen mögen, scheint eine bil - lige Forderung zu sein.

Den inneren Kern des christlichen Glaubens weiss der Verfasser von seinen kritischen Untersu - chungen völlig unabhängig. Christi übernatürliche Geburt, seine Wunder, seine Auferstehung und Himmelfahrt, bleiben ewige Wahrheiten, so sehr ihre Wirklichkeit als historischer Fakta angezweifelt wer - den mag. Nur die Gewissheit davon kann unsrer Kritik Ruhe und Würde geben, und sie von der naturali - stischen voriger Jahrhunderte unterscheiden, welche mit dem geschichtlichen Faktum auch die religiöse Wahrheit umzustürzen meinte, und daher nothwen - dig frivol sich verhalten musste. Den dogmatischen Gehalt des Lebens Jesu wird eine Abhandlung am Schlusse des Werkes als unversehrt aufzeigen: in - zwischen möge die Ruhe und Kaltblütigkeit, mit wel - cher im Verlaufe desselben die Kritik scheinbar ge - fährliche Operationen vornimmt, eben nur aus der Sicherheit der Überzeugung erklärt werden, dass al -VIIIVorrede.les das den christlichen Glauben nicht verlezt. Dess - wegen könnten übrigens doch durch Untersuchungen dieser Art Individuen in ihrem Glauben sich verlezt finden. Sollte diess bei Theologen der Fall sein, so haben diese in ihrer Wissenschaft das Heilmittel für dergleichen Verwundungen, welche ihnen, sofern sie hinter der Entwicklung unsrer Zeit nicht zurück - bleiben wollen, unmöglich zu ersparen sind; für Nichttheologen allerdings ist die Sache noch nicht gehörig vorbereitet, und desswegen die gegenwärtige Schrift so eingerichtet worden, dass wenigstens die Ungelehrten unter denselben bald und oft zu merken bekommen, die Schrift sei nicht für sie bestimmt, und, lassen sie aus Fürwiz oder Verketzerungssucht sich dessenungeachtet mit derselben ein, so tragen sie dann doch, wie Schleiermacher bei ähnlicher Gelegenheit sagt, die Strafe in ihrem Gewissen mit sich, indem sich ihnen das Gefühl recht aufdringt, dass sie das nicht verstehen, worüber sie doch reden möchten.

Einer neuen Ansicht, die sich an die Stelle vonIXVorrede.älteren setzen will, gebührt es, sich mit diesen voll - ständig auseinanderzusetzen. Daher ist hier der Weg zur mythischen Ansicht für jeden einzelnen Punkt durch die supranaturalistische und rationali - stische und deren respektive Widerlegung genommen worden, so jedoch, dass, wie es der ächten Wider - legung geziemt, aus den bekämpften Ansichten ihr Wahres anerkennend herausgezogen, und dem neuen Standpunkt einverleibt wurde. Hiedurch ist zugleich der äussere Vortheil erreicht worden, dass das Werk nun als Repertorium der vornehmsten Ansichten und Verhandlungen über alle Theile der evangelischen Geschichte dienen kann. Dabei ist jedoch keines - wegs Vollständigkeit der Literatur angestrebt, son - dern, wo es sich thun liess, an den Hauptwerken der verschiedenen Richtungen festgehalten worden. Für die rationalistische Richtung bleiben die Paulus '- schen Schriften classisch, und sind daher vorzugs - weise berücksichtigt; für die orthodoxe war der Com - mentar von Olshausen besonders wichtig, als der neueste und beliebteste Versuch, die wundergläubige Auslegung philosophisch und modern zu machen;XVorredefür eine kritische Bearbeitung des Lebens Jesu aber sind die Commentare von Fritzsche die trefflichste Vorarbeit, indem sie neben der ungemeinen phi - lologischen Gelehrsamkeit zugleich diejenige Un - befangenheit und wissenschaftliche Gleichgültigkeit gegen Resultate und Consequenzen zeigen, welche die erste Bedingung eines Fortschritts auf diesem Gebiete ist.

Der zweite Band, welcher mit einer ausführ - lichen Untersuchung über die Wunder Jesu sich eröffnen, und das ganze Werk schliessen wird, ist bereits ausgearbeitet, und kommt mit der Vollen - dung dieses ersten unter die Presse.

Tübingen den 24. Mai. 1835.

Der Verfasser.

[XI]

Inhalt des ersten Bandes.

  • Seite
  • Einleitung. Die Genesis des mythischen Stand - punkts für die evangelische Geschichte1 76
  • §. 1. Nothwendige Ausbildung verschiedener Erklärungs - weisen heiliger Geschichten1
  • §. 2. Verschiedene Deutungen der Göttersagen bei den Griechen3
  • §. 3. Allegorische Auslegung bei den Hebräern. Philo4
  • §. 4. Die allegorische Auslegung unter den Christen. Origenes6
  • §. 5. Wie die Naturalisten des 17ten und 18ten Jahr - hunderts die heilige Geschichte auffassten. Der Wolfenbüttelsche Fragmentist11
  • §. 6. Die natürliche Erklärungsart der Rationalisten. Eichhorn. Paulus15
  • §. 7. Kant's moralische Interpretation25
  • §. 8. Entstehung der mythischen Auffassungsweise der heiligen Geschichte, zunächst in Bezug auf das A. T. 27
  • §. 9. Die mythische Erklärungsweise in ihrer Anwen - dung auf das N. T. 38
  • §. 10. Der Begriff des Mythus in seiner Anwendung auf die heilige Geschichte von den Theologen nicht rein gefasst41
  • §. 11. Der Begriff des Mythus nicht umfassend genug angewendet46
  • §. 12. Bestreitung und Vertheidigung der mythischen An - sicht von der evangelischen Geschichte51
  • XII
  • Seite
  • Erster Abschnitt. Geschichte der Geburt und Kindheit Jesu77 306
  • Erstes Kapitel. Verkündigung und Ge - burt des Täufers79 104
  • §. 13. Die Erzählung des Lukas und deren unmittelbare, supranaturalistische Auffassung79
  • §. 14. Die natürliche Deutung der Erzählung89
  • §. 15. Die mythische Ansicht von der Erzählung auf ver - schiedenen Stufen97
  • Zweites Kapitel. Jesu Davidische Ab - kunft nach zwei Stammbäumen105 128
  • §. 16. Die beiden Genealogieen Jesu ohne Bezug auf einan - der betrachtet105
  • §. 17. Vergleichung beider Genealogieen. Versuche, ihren Widerstreit zu lösen115
  • §. 18 Die Genealogieen unhistorisch126
  • Drittes Kapitel. Verkündigung der Em - pfängniss Jesu; Benehmen Josephs; Besuch der Maria bei Elisabet129 197
  • §. 19. Abriss der verschiedenen, kanonischen und apo - kryphischen Berichte129
  • §. 20. Abweichung der beiden kanonischen Evangelien in Bezug auf das Formelle der Verkündigung133
  • §. 21. Inhalt der Engelsbotschaft. Erfüllung der Weissa - gung des Jesaias143
  • §. 22. Jesus durch den heiligen Geist erzeugt. Kritik der orthodoxen Ansicht151
  • §. 23. Rückblick auf die Genealogieen156
  • §. 24. Die natürliche Erklärung der Empfängnissgeschichte166
  • §. 25. Die Geschichte der Erzeugung Jesu als Mythus173
  • §. 26. Verhältniss Josephs zu Maria. Brüder Jesu180
  • §. 27. Besuch Maria's bei Elisabet191
  • Viertes Kapitel. Geburt und erste Schicksale Jesu198 278
  • §. 28. Die Schatzung198
  • XIII
  • Seite
  • §. 29. Nähere Umstände der Geburt Jesu, sammt der Be - schneidung208
  • §. 30. Die Magier und ihr Stern, die Flucht nach Ägyp - ten und der bethlehemitische Kindermord. Kritik der supranaturalistischen Ansicht220
  • §. 31. Versuche natürlicher Erklärungen für die Geschich - te von den Magiern. Übergang zur mythischen Auff[as]sung236
  • §. 32. Die Erzählung von den Magiern und was damit zu - sammenhängt, rein mythisch243
  • §. 33. Chronologisches Verhältniss des Besuchs der Magier sammt der Flucht nach Ägypten bei Matthäus zu der Darstellung im Tempel bei Lukas254
  • §. 34. Die Darstellung Jesu im Tempel259
  • §. 35. Rückblick. Differenz zwischen Matthäus und Lukas in Bezug auf den ursprünglichen Wohnort der Eltern Jesu265
  • Fünftes Kapitel. Der erste Tempelbe - such und die Bildung Jesu279 306
  • §. 36. Der 12jährige Jesus im Tempel. Schwierigkeiten der geschichtlichen Auffassung279
  • §. 37. Auch dieses Stück noch mythisch288
  • §. 38. Über die äussere Existenz Jesu bis zu seinem öf - fentlichen Auftritt294
  • §. 39. Jesu geistige Ausbildung298
  • Zweiter Abschnitt. Geschichte des öffent - lichen Lebens Jesu307 .
  • Erstes Kapitel. Das Verhältniss Jesu zum Täufer Johannes309 368
  • §. 40. Chronologisches Verhältniss zwischen Johannes und Jesus309
  • §. 41. Persönliches und reales Verhältniss des Täufers zu Jesu319
  • §. 42. War Jesus von Johannes als Messias anerkannt? Wi - dersprechende Angaben hierüber331
  • XIV
  • Seite
  • §. 43. Urtheil der Evangelisten und Jesu über den Täu - fer, nebst dessen angeblicher Selbstbeurtheilung. Resultat über das Verhältniss beider Männer355
  • §. 44. Die Hinrichtung des Täufers Johannes364
  • Zweites Kapitel. Taufe und Versuchung Jesu369 428
  • §. 45. Warum hat Jesus sich von Johannes taufen lassen? 369
  • §. 46. Die Vorfälle bei der Taufe Jesu als übernatürliche und als natürliche aufgefasst374
  • §. 47. Versuche einer Kritik der Berichte. Mythische Auf - fassung derselben381
  • §. 48. Verhältniss des Übernatürlichen bei der Taufe Jesu zu dem Übernatürlichen bei seiner Erzeugung391
  • §. 49. Ort und Zeit der Versuchung Jesu. Abweichungen der Evangelisten in Darstellung derselben396
  • §. 50. Die Versuchungsgeschichte im Sinne der Evange - listen aufgefasst403
  • §. 51. Die Versuchungsgeschichte als innerer, oder als äusserer natürlicher Vorgang; dieselbe als Parabel410
  • §. 52. Die Versuchungsgeschichte als Mythus417
  • Drittes Kapitel. Lokal und Chronologie des öffentlichen Lebens Jesu429 462
  • §. 53. Differenz zwischen den Synoptikern und Johannes über den gewöhnlichen Schauplaz der Thätigkeit Jesu429
  • §. 54. Der Wohnsiz Jesu in Kapernaum445
  • §. 55. Abweichung der Evangelisten in Bezug auf die Chro - nologie des Lebens Jesu. Dauer seiner öffentlichen Wirksamkeit453
  • §. 56. Die Versuche einer chronologischen Anordnung der einzelnen Begebenheiten des öffentlichen Lebens Jesu458
  • Viertes Kapitel. Jesus als Messias463 519
  • §. 57. Jesus υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου463
  • §. 58. Wie bald Jesus sich als Messias gefasst, und bei Andern als solcher Anerkennung gefunden habe469
  • §. 59. Jesus als υἱὸς τοῦ ϑεοῦ478
  • §. 60. Jesu Sendung und Vollmacht; seine Präexistenz482
  • XV
  • Seite
  • §. 61. Der messianische Plan Jesu. Politische Seite487
  • §. 62. Data für einen rein geistigen Messiasplan Jesu. Ausgleichung491
  • §. 63. Verhältniss Jesu zum mosaischen Gesez494
  • §. 64. Umfang des messianischen Plans Jesu. Verhältniss zu den Heiden502
  • §. 65. Verhältniss das messianischen Plans Jesu zu den Samaritanern. Sein Zusammentreffen mit der sa - maritanischen Frau507
  • Fünftes Kapitel. Die Jünger Jesu520 568
  • §. 66. Die Berufung der ersten Begleiter. Differenz zwi - schen den beiden ersten Evangelien und dem vierten520
  • §. 67. Der Fischzug des Petrus532
  • §. 68. Berufung des Matthäus. Gemeinschaft Jesu mit den Zöllnern541
  • §. 69. Die zwölf Apostel548
  • §. 70. Die Zwölfe einzeln betrachtet. Die drei oder vier vertrautesten Jünger Jesu553
  • §. 71. Die übrigen von den Zwölfen und die siebenzig Jünger563
  • Sechstes Kapitel. Reden Jesu in den drei ersten Evangelien569 630
  • §. 72. Die Bergrede569
  • §. 73. Instruction der Zwölfe. Klage über die galiläischen Städte. Freude über die Berufung der Einfältigen587
  • §. 74. Die Parabeln593
  • §. 75. Vermischte Lehr - und Streitreden Jesu613
  • Siebentes Kapitel. Reden Jesu im vier - ten Evangelium631 676
  • §. 76. Die Unterredung Jesu mit Nikodemus631
  • §. 77. Die Reden Jesu Joh. 5 12. 645
  • §. 78. Einzelne, dem vierten Evangelium mit den übrigen gemeinsame Aussprüche Jesu657
  • §. 79. Die neueren Verhandlungen über die Glaubwürdig - keit der johanneischen Reden. Resultat664
  • XVI
  • Seite
  • Achtes Kapitel. Begebenheiten aus dem öffentlichen Leben Jesu (mit Aus - schluss der Wundergeschichten) 677 731
  • §. 80. Vergleichung der Erzählungsweise der verschiede - nen Evangelisten im Allgemeinen677
  • §. 81. Einzelne Anekdotengruppen. Beschuldigung eines Bundes mit Beelzebul und Zeichenforderung686
  • §. 82. Besuch der Mutter und der Brüder Jesu und die seligpreisende Frau692
  • §. 83. Die Erzählungen von Rangstreitigkeiten unter den Jüngern und von Jesu Liebe zu den Kindern696
  • §. 84. Die Tempelreinigung702
  • §. 85. Die Erzählungen von der Salbung Jesu durch ein Weib709
  • §. 86. Die Erzählungen von der Ehebrecherin und von Maria und Martha723
[1]

Einleitung. Die Genesis des mythischen Standpunktes für die evangelische Geschichte.

§. 1. Nothwendige Ausbildung verschiedener Erklärungsweisen heiliger Geschichten.

Wo immer eine auf schriftliche Denkmale sich stützen - de Religion in weiteren Raum - und Zeitgebieten sich gel - tend macht, und ihre Bekenner durch mannigfaltige und immer höher steigende Entwickelungs - und Bildungsstufen begleitet: da thut sich früher oder später eine Differenz hervor zwischen Geist und Form jener alten Urkunden und zwischen der neuen Bildung derer, welche an dieselben als an heilige Bücher gewiesen sind. Diese Differenz kann bald mehr nur das Unwesentliche und Formelle betreffen, daſs Ausdruck und Darstellung in jenen Schriften der Sa - che unangemessen gefunden werden; bald aber tritt sie selbst an den wesentlichen Inhalt heran, und es wollen auch die Ideen und Grundansichten solcher Bücher der fortge - schrittenen Bildung nicht mehr genügen. So lange diese Differenzen entweder nicht so bedeutend sind, oder nicht so allgemein zum Bewuſstsein kommen, um eine völlige Lossagung von jenen Urkunden, als heiligen, herbeizufüh - ren: so lange muſs unter denen, welche sich derselben heller oder dunkler bewuſst geworden sind, ein Vermitt - lungsproceſs entstehen und sich erhalten,[welcher] in der Auslegung jener Bücher vor sich gehen wird.

Das Leben Jesu I. Band. 12Einleitung. §. 1.

Ein Hauptbestand[t]heil aller Religionsurkunden ist hei - lige Geschichte, ein Geschehen, in welchem das Göttliche unvermittelt in das Menschliche hereintritt, die Ideen un - mittelbar sich verkörpert zeigen. Wie aber Bildung über - haupt Vermittlung ist: so wird die fortschreitende Bildung der Völker auch der Vermittlungen immer deutlicher sich bewuſst, welche die Idee zu ihrer Verwirklichung bedarf, und so erscheint jene Differenz der neuen Bildung und der alten Religionsurkunden in Bezug auf deren geschichtarti - gen Theil namentlich so, daſs jenes unmittelbare Eingrei - fen des Göttlichen in das Menschliche seine Wahrschein - lichkeit verliert. Wozu, da das Menschliche jener Urkun - den ein Menschliches der Vorzeit, also ein relativ unent - wickeltes, nach Umständen selbst rohes ist, auch ein un - behagliches Sichabwenden von diesem insbesondere sich ge - sellen kann. Das Göttliche kann nicht so (theils überhaupt unmittelbar, theils noch dazu roh) geschehen sein, oder das so Geschehene kann nicht Gött - liches gewesen sein so wird die Differenz sich aussprechen, und wenn die Auslegung dieselbe zu vermit - teln sucht, so wird sie dahin streben, entweder das Gött - liche als nicht so Geschehenes darzustellen, also den alten Urkunden die historische Geltung abzusprechen, oder das Geschehene als so nicht Göttliches aufzuweisen, also aus jenen Büchern den absoluten Inhalt hinwegzuerklären. In beiden Fällen kann die Auslegung befangen oder unbefangen zu Werke gehen: befangen, wenn sie gegen das Bewuſst - sein der Differenz zwischen der neuen Bildung und der al - ten Urkunde sich verblendet, und nur den ursprünglichen Sinn der letzteren zu ermitteln sich einbildet; unbefangen, wenn sie klar erkennt und offen eingesteht, daſs sie das, was jene alten Schriftsteller erzählen, anders ansieht, als diese selbst es angesehen haben. Dieser letztere Stand - punkt ist jedoch keineswegs schon ein Sichlossagen von den alten Religionsschriften, sondern es kann auch hier noch3Einleitung. §. 2.bei Festhaltung des Wesentlichen das Unwesentliche un - gescheut preiſsgegeben werden.

§. 2. Verschiedene Deutungen der Göttersagen bei den Griechen.

Man kann nicht sagen, daſs die hellenische Religion auf schriftlichen Urkunden beruht habe, aber sie hatte doch dergleichen z. B. in Homer und Hesiod, und wie diese, so hat auch ihre mündliche Göttersage bei fortschreitender Bil - dung des griechischen Volkes jene verschiedenen Deutun - gen erfahren müssen. Der ernsten griechischen Philosophie gieng frühzeitig das Bewuſstsein auf, daſs das Göttliche sich nicht in solcher menschlichen Unmittelbarkeit und Roheit verwirklichen könne, wie die wilden Kämpfe der hesiodischen Theogonie und das behagliche Treiben der homerischen Götter es darstellten; daher Plato's Zwist mit Homer1)Vgl. de republ. 2, p. 377 f. Steph., daher, daſs Anaxagoras, dem man wohl auch die Erfindung der allegorischen Auslegung zuschrieb, die homerischen Gedichte auf die ἀρετὴ und δικαιοσύνη be - zog2)Diog. Laërt. L. 2. c. 3. No. 7. Vgl. über dies und das Fol - gende Baur, Symb. u. Mythol. I. S. 343 ff., daſs die Stoiker die hesiodische Theogonie von dem Proceſs der Naturprinzipien verstanden, deren oberste Ein - heit ihnen das Göttliche war3)Cic. de nat. Deor. I, 10. 15. Vgl. Clement. hom. 6, 1 ff., womit diese Philosophen zwar einen absoluten Inhalt, jeder nach seiner Weise, der Eine einen physischen, der Andere einen ethischen, in je - nen Darstellungen fanden, aber die Form derselben, als ei - ner menschlichen Geschichte, aufhoben. Umgekehrt war der mehr populären, sophistisch-räsonnirenden Bildung An - derer, wie ihnen jeder göttliche Inhalt überhaupt sich ver - flüchtigt hatte, so auch in Bezug auf die Göttergeschichten zum Bewuſstsein gekommen, daſs ein solches Treiben, wie es hier den Göttern zugeschrieben wurde, kein göttliches1*4Einleitung. §. 3.sei; sie lieſsen also jene Erzählungen zwar als wirkliche Geschichte gelten, nur machten sie mit Euemerus4)Diodor Sic. Bibl. L. 6. Fragm. Cic. de nat. Deor. I, 42. die Subjecte derselben aus Göttern zu Menschen, zu Helden und Weisen der Vorzeit, zu alten Königen und Tyrannen, welche durch Thaten der Kraft und Gewalt sich göttliche Ehre zu Wege gebracht haben; wenn man nicht gar mit einem Polybius5)Reliq. hist. 6, 56. die ganze Götterlehre als eine von den Gründern der Staaten zur Bändigung des Volks ersonnene Fabel betrachtete.

§. 3. Allegorische Auslegung bei den Hebräern. Philo.

Die Stabilität des hebräischen Volkes, sein starres Festhalten am supranaturalistischen Standpunkt, muſste zwar bei ihm die Entstehung ähnlicher Erscheinungen ei - nerseits beschränken, andrerseits aber muſsten diese, wo sie einmal sich zeigten, nur um so markirter her - vortreten, je entschiedener die Geltung der schriftlichen Religionsurkunden war, je behutsamer und kunstgerechter man also bei ihrer Deutung verfahren muſste. Daher ent - wickelten sich selbst in Palästina, in der nachexilischen, und noch mehr in der nachmaccabäischen Zeit allmählig manche Kunstgriffe in der Auslegung des alten Testaments, durch welche es möglich wurde, Anstöſse, die man in dem - selben fand, zu beseitigen, Lücken zu ergänzen, und neuere Ideen hineinzutragen, eine Auslegungsweise, von welcher die Beispiele in den rabbinischen und selbst in den neutestamentlichen Schriften sich finden1)s. Döpke, die Hermeneutik der neutestamentlichen Schrift - steller, S. 123 ff.; aber zusam - menhängend, namentlich in Bezug auf den historischen Inhalt des A. T., wurde eine solche Interpretationsmethode erst an demjenigen Orte ausgebildet, wo am entschieden -5Einleitung. §. 3.sten die jüdische Bildung, durch Berührung namentlich mit der griechischen, über sich selbst hinausgegangen war, in Alexandrien. Nach mehreren Vorgängern war es be - sonders Philo, welcher die Ansicht von einem gemeinen und einem tieferen Sinne der heiligen Schriften ausbildete, von welchen er den ersteren zwar keineswegs überhaupt verworfen wissen wollte, sondern groſsentheils beide ne - beneinander hergehen lieſs: in vielen Fällen jedoch den buchstäblichen Sinn und die geschichtliche Auffassung völ - lig bei Seite setzte, und das Erzählte nur als bildliche Darstellung von Ideen gelten lieſs, namentlich so oft in der heiligen Geschichte sich Züge fanden, welche Gottes un - würdig zu sein, auf Materialismus und Anthropomorphis - mus in Bezug auf das göttliche Wesen zu führen schie - nen2)s. Gfrörer, Philo und die alexandrinische Theosophie 1. Thl. S. 84 ff. 95 ff. Über die mosaische Erzählung z. B. von der Erschaffung des Weibes aus der Ribbe des Mannes sagt er geradezu: τὸ ῥητὸν ἐπὶ τέτου μυϑῶδις ἐςι. Legis alleg. 1. ed. Mang. 1, 70. bei Gfrörer a. a. O. S. 98.. Daſs sich neben dieser Erklärungsweise des A. T., welche, um die Reinheit des absoluten Inhalts zu retten, nicht selten die Form des historischen Geschehenseins auf - gab, nicht auch die entgegengesetzte (euemeristische) aus - bildete, die Geschichte zwar stehen zu lassen, aber sie zu einer gemein-menschlichen zu entgöttern, erklärt sich aus dem supranaturalistischen Standpunkt, welchen die Juden immer festgehalten haben. Erst von den Christen ist auch diese Art der Auslegung über die Bücher des A. T. ver - hängt worden3)Eine ähnliche allegorische Auslegungsweise auch bei andern Völkern, bei Persern, Türken, weist Döpke nach S. 126 f.; vgl. auch Kant, Relig. innerhalb der[Grenzen] d. bl. V. Drit - tes Stück No. VI..

6Einleitung. §. 4.

§. 4. Die allegorische Auslegung unter den Christen. Origenes.

Den Christen der ersten Zeit, welche vor der Fest - stellung des christlichen Kanon sich vorwiegend noch des A. T. als heiliger Urkunde bedienten, war eine allegori - sche Auslegung desselben noch weit mehr Bedürfniſs, da[s]ie entschiedener als selbst die gebildetsten Juden über den A. T. lichen Standpunkt hinausgeschritten waren. Kein Wunder, daſs man fast allgemein in der ersten christli - chen Kirche diese, schon unter den Juden übliche Ausle - gungsweise adoptirte. Am meisten aber bildete sie sich auch unter den Christen wieder in Alexandrien aus, wo sie vornehmlich an den Namen des Origenes geknüpft erscheint. Wenn Origenes überhaupt nach seiner anthro - pologischen Trichotomie der Schrift einen dreifachen Sinn zuschrieb, einen buchstäblichen als den leiblichen, einen moralischen als den psychischen und einen mystischen als den pneumatischen1)Homil. 5. in Levit. §. 5.: so läſst er in der Regel zwar alle drei Arten des Sinnes nebeneinander stattfinden, in einzel - nen Fällen aber soll die buchstäbliche Auffassung auch gar keinen oder nur einen verkehrten Sinn geben, um nur de - sto entschiedener den Leser zur Entdeckung des mystischen Gehaltes hinzutreiben2)De principp. L. 4. §. 20: πᾶσα μὲν (γραφὴ) ἔχει τό πνευμα - τικὸν, οὐ πᾶσα δὲ τὸ σωματικόν. Comm. in Joann. Tom. 10, §. 4: σωζομένου πολλάκις τοῦ ἀληϑοῦς πνευματικοῦ ἐν τῷ σωματικῷ, ὡς ἂν εἴποι τις, ψεύδει.. Namentlich in Bezug auf den geschichtlichen Inhalt des A. T. glaubt Origenes mit Phi - lo auf manche σκάνδαλα und προσκόμματα zu stoſsen, auf Erzählungen von Begebenheiten, welche so nicht gesche - hen, auf Gesetze und Verordnungen, welche so nicht ge - geben sein konnten3)De principp. 4, 15: συνύφῃνεν γραφὴ τῇ ἱςορίᾳ τὸ μη. Nicht selten erinnert er bei7Einleitung. §. 4.biblischen Erzählungen, daſs durch dieselben uns nicht alte Mähren berichtet, sondern Anweisung, recht zu leben, ertheilt werden solle4)Homil. in Exod. 2, 3: Nolite putare, ut saepe jam diximus, veterum vobis fabulas recitari, sed doceri vos per haec, ut agnoscatis ordinem vitae.; stumpfsinnig müſste nach ihm sein, wer nicht von selbst bemerkte, daſs Vieles in der Schrift als geschehen dargestellt sich finde, was nicht wirk - lich so sich ereignet habe5)De principp. 4, 16: καὶ τί δεῖ πλείω λέγειν; τῶν μὴ πάνυ άμβλέων μυρία ὅσα τοιαῦτα δυναμἐνων συναγαγεῖν, γε - γραμμένα μὲν ὡς γεγονότα, οὐ γεγενημένα δὲ κατὰ τὴν λέξιν. ; ja Manches, buchstäblich aufgefaſst, könnte ihm zufolge nur zum Ruin der christli - chen Religion dienen6)Homil. 5. in Levit. §. 1: Haec omnia, nisi alio sensu acci - piamus quam literae textus ostendit, obstaculum magis et subversionem christianae religioni, quam hortationem aedi - sicationemque praestabunt. , weſswegen er den Spruch: der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig auf den Unterschied der buchstäblichen und der allegorischen Schrift - auslegung bezieht7)contra Cels. 6, 70.. Zu solchen, nur allegorisch zu ver - stehenden Erzählungen rechnete Origenes ausser denjeni - gen, welche Gott zu sehr zu vermenschlichen schienen8)De principp. 4, 16., namentlich auch solche, in welchen von Personen, die sonst in ein genaues Verhältniſs zu Gott gesezt waren, anstössi - ge Handlungen berichtet wurden9)Homil. in Genes. 6, 3: Haec (dass Abraham gelogen; sein Weib preisgegeben) Judaei putent, et si qui cum eis sunt literae amici non spiritus..

Doch nicht allein vom A. T. wich die christliche Bil - dung des Origenes so weit ab, daſs er, um die Achtung3)γενόμενον, πῇ μὲν μὴ δυνατὸν γενέσϑαι, πῇ δὲ δυνατὸν μὲν γενέσϑαι, οὐ μὴν γεγενημένον. 8Einleitung. §. 4.vor demselben nicht aufgeben zu müssen, durch eine alle - gorische Erklärung den dadurch in seinem Bewuſstsein ge - sezten Widerspruch zu lösen genöthigt war: sondern auch im neuen Testamente fand er manches, seiner philosophi - schen Bildung so wenig Zusagende, daſs er zu einem ähn - lichen Verfahren auch mit dem N. T. sich veranlaſst fand. Ist doch, dachte er, das N. T. Werk desselben Geistes, wie das alte, und dieser wird bei der Einrichtung von jenem nicht anders als bei der von diesem verfahren sein, dem buchstäblich Geschehenen Nichtgeschehenes einzuweben, um auf den geistigen Sinn hinzuweisen10)De principp. 4, 16: οὐ μόνον δὲ περὶ τῶν πρὸ τῆς παρου - σίας ταυτα τὸ πνεῦμα ᾠκονόμησεν, ἀλλ ', ἅτε τὸ ἀυτὸ τυγχάνον καὶ ἀπὸ τοῦ ἐνὸς, ϑεοῦ, τὸ ὅμοιον καὶ ἐπὶ τῶν εὐαγγελίων πεποίηκε καὶ ἐπὶ τῶν ἀποςόλων, οὐδὲ τούτων πάντη ἄκρατον τὴν ἱςορίαν τῶν προσυφασμένων κατά τὸ σωματικον ἐχόντων, μὴ γεγενημένων. Vgl. Homil. 6. in Esaiam, No. 4.. Ja selbst mit theilweise fabelhaften Erzählungen aus der profanen Ge - schichte und Mythologie stellt Origenes die evangelischen Berichte nicht undeutlich zusammen in der merkwürdigen Stelle, contra Celsum 1, 42., wo er sich folgendermaſsen äussert: Fast bei jeder Geschichte, so wahr sie auch sein mag, ist es eine schwere, ja nicht selten unlösbare Auf - gabe, sie als wirklich geschehen zu erweisen. Gesezt näm - lich, es läugnete Einer, daſs es einen trojischen Krieg ge - geben habe, namentlich wegen der in seine Geschichte ver - webten Unmöglichkeiten, wie die Geburt des Achilleus von einer Meergöttin u. dgl. wie wollten wir die Wirklich - keit desselben beweisen, besonders, gedrängt, wie wir wären, durch die offenbaren Erdichtungen, welche sich auf unbekannte Weise mit der allgemein angenommenen Kunde von dem Kampf zwischen Hellenen und Trojern verwoben haben? Nur dieſs bleibt übrig: wer mit Ver - stand die Geschichte studiren und sich von Täuschungen9Einleitung. §. 4.in derselben frei erhalten will, der wird überlegen, wel - chem Theile derselben er ohne Weiteres glauben dürfe, welchen er dagegen blos bildlich auf[z]ufassen habe (τίτα δὲ τροπολογήσει), mit Rücksicht auf die Absicht der Refe - renten, und welchem er endlich, als aus Menschengefäl - ligkeit geschrieben, ganz misstrauen müsste. Diese Vorbe - merkung wollte ich, schlieſst Origenes, in Bezug auf die ganze in den Evangelien gegebene Geschichte Jesu ma - chen, nicht um zu blindem und grundlosem Glauben die Einsichtsvolleren aufzufordern, sondern um zu zeigen, daſs zum Studium dieser Geschichte Verstand und fleissige Prüfung nöthig ist, und so zu sagen ein Eindringen in den Sinn der Schriftsteller, um ausfindig zu machen, in welcher Absicht ein Jedes von ihnen geschrieben sei. Man sieht, hier ist Origenes beinahe über seinen sonsti - gen allegorischen Standpunkt hinaus auf den neueren my - thischen übergegangen11)Dies hat auch Mosheim bemerkt in seiner Übersetzung der Schrift des Origenes gegen Celsus. S. 94. Anmerk.. That nun aber schon in Bezug auf das A. T. Origenes, um Anstoſs in der orthodoxen Kirche zu vermeiden, sich die offenbare Gewalt an, daſs er von mancher Erzählung, deren buchstäbliche Geltung er für sich gewiss verwarf, diese doch nicht ausdrücklich umstieſs, sondern sich begnügte, neben die buchstäbliche Deutung eine geistige zu stellen: so fand er es noch mehr beim N. T. gerathen, zurückzuhalten, und die Proben fallen daher äusserst kärglich aus, wenn man nun fragt, von welchen Erzählungen des N. T. s Origenes die geschicht - liche Wirklichkeit geläugnet habe, um die gotteswürdige Wahrheit festzuhalten. Denn was er im Verlauf der an - geführten Stelle beispielsweise anführt, buchstäblich lasse sich unter Andrem das nicht verstehen, daſs der Satan dem Herrn auf einem Berge alle Reiche der Welt gezeigt ha - be, da dieſs für ein leibliches Auge unmöglich sei: das10Einleitung. §. 4.giebt eigentlich keine allegorische Erklärung, sondern nur eine andere Wendung des buchstäblichen Sinnes, welcher, statt von einem äusseren, von dem innern Factum einer Vi - sion handeln soll. Auch sonst, selbst wo die lockendste Veranlassung war, den buchstäblichen Sinn gegen einen geistigen aufzuopfern, wie z. B. bei der Verfluchung des Feigenbaums12)Comm. in Matth. Tom. 16, 26 ff., geht Origenes nicht frei mit der Spra - che heraus; am meisten noch bei der Geschichte von der Tempelreinigung, wo er das Verfahren Jesu, buchstäblich gefaſst, als anmaſsend und tumultuarisch bezeichnet13)Comm. in Joan. Tom. 10, 17. Daſs es demunerachtet sehr Vieles war, an dessen ge - schichtlicher Auffassung Origenes verzweifelte, verräth er indirect durch die anscheinend sonderbare Wahl der Bei - spiele, wo es darauf ankam, zu zeigen, daſs er keines - wegs überall die Realität der Historie aufzugeben gemeint sei; indem er hier nichts Besseres anzuführen weiſs, als, historisch bleibe doch immer, daſs Abraham, Isaak und Jakob in der doppelten Höhle bei Hebron begraben wor - den, daſs Joseph Sichem zum Antheil bekommen, daſs Jerusalem die Hauptstadt von Judäa sei, in welcher Sa - lomo einen Tempel gebaut habe u. dgl .14)De princip. 4, 19.. Gewiſs, Ori - genes würde sich nicht auf Anführung solcher statistischen Grunddata beschränkt haben, wenn ihm nicht die speciel - leren historischen Facta mehr oder minder wankend ge - wesen wären; ob er gleich hinzusezt, daſs des historisch Wahren in der Schrift immer noch weit mehr sei, als des blos geistig zu Verstehenden15)πολλ[ῷ]γὰρ πλείονά ἐςι τὰ κατὰ τὴν ἱςορίαν ἀληϑευό - μενα τῶν προσυφανϑέντων γυμνῶν πνευματικῶν.Ebend..

Bei dem fast allgemeinen Eingang, welchen die allego - rische Auslegung sofort in der Kirche fand, wurde nun11Einleitung. §. 5.gerade dasjenige, was den interessantesten Punkt in der Schrifterklärung des[frühe[r]]verketzerten Origenes bildete, aufgegeben, daſs er nämlich, um im N. T. allenthalben göttlichen Inhalt in seinem Sinne finden zu können, die ge - schichtliche Form in manchen Fällen auflösen zu müssen glaubte, und es findet sich etwas Aehnliches eigentlich nur bei einigen gnostischen Parteien, welche gewisse Begeben - heiten im Leben Jesu nicht als wirkliche, sondern nur als scheinbare Vorgänge betrachteten, durch welche übersinn - liche Thatsachen und Ideen haben vorgebildet werden sollen.

§. 5. Wie die Naturalisten des 17. und 18. Jahrhunderts die heilige Ge - schichte auffassten. Der Wolfenbüttelsche Fragmentist.

Hatte sich in der beschriebenen Weise die Eine der Auslegungsarten entwickelt, welche bei fortrückender Bil - dung, wie alle Religionsurkunden überhaupt, so auch die christlichen in Bezug auf ihren geschichtlichen Theil erfah - ren muſsten, diejenige nämlich, welche das Göttliche in denselben anerkennt, aber das leugnet, daſs es sich in die - ser unmittelbaren Weise geschichtlich verwirklicht habe: so bildete sich die andere Hauptform der Auslegung, wel - che eher geneigt ist, den geschichtlichen Hergang zuzuge - ben, nur aber denselben nicht als einen göttlichen, sondern als einen menschlichen faſst, zunächst bei den Gegnern des Christenthums, einem Celsus, Porphyrius, Julianus aus, welche zwar viele Erzählungen der heiligen Geschichte als blose Mährchen verwarfen, Manches jedoch, was von Mo - ses, Jesus u. A. erzählt ist, als geschichtlich stehen lies - sen, nur daſs sie es meistens als entsprungen aus gemeinen Beweggründen und bewerkstelligt durch groben Betrug oder gottlose Zauberei erklärten. Dergleichen Ansichten blieben jedoch nicht für immer ausserhalb der christlichen Kirche stehen, sondern mit der anbrechenden Aufklärung der neueren Zeit drangen sie unaufhaltsam in diese selber ein. 12Einleitung. §. 5.Bei den englischen Deisten und Naturalisten im siebzehn - ten und achtzehnten Jahrhundert vorzüglich giengen B[e]- streitung der Ächtheit und Glaubwürdigkeit der Bibel und Herabwürdigung der darin erzählten Thatsachen zum Ge - meinen bunt durcheinander. Während Toland1)In seinem Amyntor, v. J. 1698, s. in Leland's Abriss deisti - scher Schriften, übersetzt von Schmidt, 1. Thl. S. 83 ff., Boling - broke2)Bei Leland 2. Thl. 1. Abth. S. 198 ff. u. A. die Bibel für eine Sammlung unächter und fabel - hafter Bücher erklärten, gaben sich Andere alle Mühe, die biblischen Personen und Geschichten jedes Schimmers von höherem göttlichem Lichte zu berauben. So ist nach Morgan3)In seiner Schrift: the moral philosopher, 1737, s. Leland 1. Thl. S. 247 ff. das Gesez des Moses ein elendes System des Aberglaubens, der Blindheit und Sclaverei, die jüdischen Priester Betrüger, die Propheten Urheber der Zerrüttung und der Bürgerkriege in den beiden Königreichen. Die jüdische Religion kann nach Chubb4)Posthumous Works 2 Voll. 1748, bei Leland 1, 412 f. unmöglich eine von Gott geoffenbarte sein; dessen moralischer Charakter in ihr nur entstellt ist durch die willkührlichen Gebräuche, die sie ihn vorschreiben läſst, durch seine vorgegebene Parteilichkeit für das jüdische Volk, und vor Allem durch den blutigen Befehl zur Ausrottung der kanaanitischen Völkerschaften. Auch gegen das N. T. wurden von diesen und andern Deisten Streifzüge unternommen, der Charak - ter der Apostel als eigennützig und gewinnsüchtig ver - dächtigt5)Chubb, Posth. W. 1, 102 ff. Bei Leland 1, 481., selbst der Charakter Jesu nicht geschont6)Ebendas. 2, 269. Bei Leland 1, 425., und namentlich die Auferstehung desselben geläugnet7)The resurrection of Jesus considered by a moral philo - sepher. 1744. Leland 1, S. 330.. Das unmittelbarste Einschlagen des Göttlichen in das Mensch -13Einleitung. §. 5.liche im Leben Jesu, seine Wunder, machte besonders Thomas Woolston zum Gegenstand seiner Angriffe8)Six discourses on the miracles of our Saviour. Einzeln her - ausgegeben von 1727 1729. Nebst zwei Vertheidigungs - schriften von den JJ. 1729 u. 30., ein Mann, der auch durch die eigenthümliche Stellung noch besonders bemerkenswerth ist, welche er sich zwischen der alten allegorischen und der neuen naturalistischen Schrifterklärung giebt. Seine ganze Darstellung nämlich bewegt sich in der Alternative: wolle man die Wunder - erzählungen als wirkliche Geschichte festhalten, so verlie - ren sie allen göttlichen Gehalt, und sinken zu ungereimten Streichen, elenden Possen, oder gemeinen Betrügereien herunter: wolle man daher das Göttliche in diesen Erzäh - lungen nicht verlieren, so müsse man mit Aufopferung ih - res geschichtlichen Charakters sie nur als geschichtartige Darstellungen gewisser geistlichen Wahrheiten fassen, wo - für sofort die Auctoritäten der gröſsten Allegoristen unter den Kirchenvätern, eines Origenes, Augustinus u. A. ange - führt werden, so jedoch, daſs ihnen Woolston die Meinung unterstellt, als wollten sie, wie er, durch die allegori - sche Erklärung die buchstäbliche verdrängen, während sie doch, wenige Beispiele bei Origenes abgerechnet, beide Erklärungen nebeneinander bestehen zu lassen geneigt sind. Die Darstellungen Woolstons können Zweifel übrig lassen, auf welche der zwei von ihm einander gegenübergestellten Seiten er mit seiner eignen Ansicht gehöre; bedenkt man die Thatsache, daſs er, ehe er als Gegner des gewöhnlichen Christenthums hervortrat, sich mit allegorischer Schrifter - klärung beschäftigte9)Schröckh, Kirchengesch. seit der Reform. 6. Thl. S. 191.: so könnte man diese für seine ei - gentliche Meinung ansehen; wogegen aber die Ausführun - gen über die Ungereimtheit des buchstäblichen Sinns der Wundergeschichten mit solcher Vorliebe von ihm gegeben14Einleitung. §. 5.sind, und das Ganze mit ihrem frivolen Tone so sehr fär - ben, daſs doch vermuthet werden muſs, der Deist wolle sich durch sein Dringen auf allegorische Deutung nur den Rücken sichern, um desto ungescheuter gegen den buch - stäblichen Sinn losziehen zu können.

Auf deutschen Boden wurden diese Deistischen Ein - würfe gegen die Bibel und die Göttlichkeit ihrer Geschichte hauptsächlich durch den Ungenannten verpflanzt, dessen in der Wolfenbüttelschen Bibliothek aufgefundene Frag - mente Lessing seit dem Jahr 1774 herauszugeben anfieng. Sie betrafen, ausser Mehrerem, was gegen eine geoffenbarte Religion überhaupt gesagt war10)In Lessings Beiträgen zur Geschichte und Literatur, das Frag - ment im dritten Beitrag, S. 195 ff., und im vierten Beitrag das erste Fragment S. 265. und das zweite S. 288., theils das alte11)In Lessings viertem Beitrag das dritte und vierte Fragment, S. 366. u. 384., und die von Schmidt 1787 herausgegebenen übrigen noch ungedruckten Werke des Wolfenbüttelschen Fragmentisten., theils das neue Testament12)In Lessings viertem Beitrag das fünfte Fragment, über die Auferstehungsgeschichte, und das Fragment über den Zweck Jesu und seiner Jünger, von Lessing besonders herausgege - ben 1778.. In Bezug auf jenes fand dieser Verfasser die Männer, welchen dasselbe einen unmittelba - ren Umgang mit Gott zuschreibt, so schlecht, daſs Gott durch ein solches Verhältniſs, seine Wirklichkeit angenom - men, auf's Äusserste compromittirt würde; die Ergebnisse dieses Umgangs aber, die vorgeblich göttlichen Lehren und Gesetze, so craſs und zum Theil verderblich, daſs sie un - möglich Gott zugeschrieben werden können; die begleiten - den Wunder endlich so ungereimt und unglaublich, daſs aus Allem zusammengenommen erhelle, der Umgang mit Gott sei nur vorgegeben, die Wunder Blendwerke gewesen, um gewisse, den Herrschern und Priestern vortheilhafte15Einleitung. §. 6.Gesetze in Vollzug zu setzen. So findet der Verf. an den Patriarchen und den ihnen angeblich zu Theil geworde - nen göttlichen Mittheilungen, wie der an Abraham ergan - genen Aufforderung, seinen Sohn zu opfern, Vieles auszu - setzen; ganz besonders aber sucht er in einem langen Ab - schnitte den Moses mit aller Schmach eines Betrügers zu beladen, der die schändlichsten Mittel nicht gescheut ha - be, um sich zum despotischen Beherrscher eines freien Volkes zu machen. Zur Einleitung dieses Plans habe er Gotteserscheinungen erdichtet, und göttliche Befehle zu Maſsregeln vorgegeben, welche, wie die Entwendung der Geräthe aus Ägypten und die Ausrottung der Bewohner Kanaans, sonst als Betrug, Strassenraub, unmenschliche Grausamkeit gebrandmarkt werden würden, nun aber durch das Hinzukommen der paar Worte: Gott hat es gesagt plötzlich zu gotteswürdigen Handlungen gestempelt werden sollen. Ebensowenig vermag der Fragmentist in der neu - testamentlichen Geschichte eine göttliche zu finden. Der Plan Jesu ist ihm ein politischer; sein Verhältniſs zum Täufer ein abgeredeter Handel, daſs der Eine den Andern dem Volk empfehlen solle; Jesu Tod ist eine von ihm kei - neswegs vorausgesehene Vereitelung seiner Absichten, ein Schlag, den seine Jünger nur durch das betrügerische Vorgeben seiner Auferstehung und eine schlaue Änderung ihres Lehrsystems wieder gut zu machen wuſsten.

§. 6. Die natürliche Erklärungsart der Rationalisten. Eichhorn. Paulus.

Während gegen die englischen Deisten von den dortigen zahlreichen Apologeten, und gegen den Wolfenbüttelschen Un - genannten von der groſsen Mehrheit deutscher Theologen die Realität der biblischen Offenbarung und das Göttliche in der israelitischen und urchristlichen Geschichte im supranaturali - stischen Sinne festgehalten wurde: ergriff eine andere Klasse von Theologen in Deutschland einen neuen Ausweg. Wie16Einleitung. §. 6.nämlich bei der euemeristischen Auffassung der alten Göt - terlehre der zwiefache Weg offen stand und auch einge - schlagen wurde, daſs man die Götter der Volksreligion entweder als gute und wohlthätige Menschen der Vorzeit, als weise Gesezgeber und gerechte Fürsten nahm, welche eine dankbare Mit - und Nachwelt mit dem Glanze göttli - cher Würde umgeben haben sollte; oder aber in ihnen schlaue Betrüger und grausame Tyrannen fand, welche sich, um das Volk sich unterthänig zu machen, in den Nimbus der Göttlichkeit gehüllt haben: so war auch bei der rein menschlichen Auffassung der biblischen Geschichte neben dem von den Deisten betretenen Wege, die Subjekte derselben für schlechte und betrügerische Menschen anzu - sehen, immer noch der andre übrig, jene Subjekte zwar der unmittelbaren Göttlichkeit entkleidet zu lassen, ihnen aber dafür die reine Menschheit ungeschmälert zuzugeste - hen; ihre Thaten zwar nicht als Wunder anzustaunen, ebensowenig aber als Blendwerke zu verschreien, sondern sie für natürliche zwar, aber sittlich untadelhafte Handlun - gen zu erklären. Während der dem kirchlichen Christen - thum überhaupt feindliche Naturalismus zu jener ersteren Auffassungsweise geneigt sein muſste, so war auf die zweite der Rationalismus angewiesen, welcher innerhalb der Kirche verharren wollte. Unmittelbar gegen jenen Naturalismus ist diese Ansicht von Eichhorn gekehrt wor - den in einer Beurtheilung des Wolfenbüttler Fragmenti - sten1)Recension der übrigen, noch ungedruckten Werke des Wol - fenbüttler Fragmentisten, in Eichhorns allgemeiner Bibliothek, erster Band 1s u. 2s Stück.. Eine unmittelbare göttliche Einwirkung, wenig - stens in der A. T. lichen Urgeschichte, nicht anzuerkennen, darin ist Eichhorn mit dem Fragmentisten einverstanden. Die mythologischen Forschungen eines Heyne hatten seinen Gesichtskreis bereits so erweitert, daſs er einsah, wie eine17Einleitung. §. 6.solche Einwirkung entweder allen Völkern in ihrer Urzeit zugeschrieben, oder allen abgesprochen werden müsse. Bei allen Völkern, bemerkte er, in Griechenland wie im Orient, ward alles Unerwartete und Unbegriffene auf die Gottheit zurückgeführt; die weisen Männer dieser Völker lebten immer im Umgang mit höheren Wesen. Während man diese Darstellung (so giebt Eichhorn den Stand der Sache weiter an) in Bezug auf die hebräische Geschichte immer wörtlich und buchstäblich verstand, pflegte man bei Nicht - hebräern solche Erscheinungen bisher insgemein durch die Voraussetzung eines Betrugs und grober Lügen, oder ent - stellter und verdorbener Sagen zu erklären. Offenbar aber, meint Eichhorn, fordere die Gerechtigkeit, Hebräer und Nichthebräer auf gleiche Weise zu behandeln, so daſs man entweder alle Nationen während ihres Kindheitszustan - des mit den Hebräern unter gleichem Einfluſs höherer Wesen stehen lassen, oder einen solchen Einfluſs auf bei - den Seiten leugnen müsse. Denselben allgemein anzu - nehmen, sei bedenklich wegen des nicht selten irrigen In - haltes der unter jenem Einfluſs angeblich geoffenbarten Re - ligionen; wegen der Schwierigkeit, aus jenem Zustande der Bevormundung heraus das Erstarken der Menschheit zur Selbstständigkeit zu erklären; endlich weil, je heller die Zeiten und zuverlässiger die Nachrichten werden, jene unmittelbaren Einflüsse der Gottheit immer mehr verschwin - den. Wenn somit die Einwirkung höherer Wesen bei Hebräern wie bei andern Völkern geleugnet werden muſs: so scheint sich, nach Eichhorn, zuerst die Ansicht, welche man bisher auf das heidnische Alterthum anwendete, auch für die Urgeschichte des hebräischen Volkes darzubieten, daſs nämlich dem Vorgeben jener Offenbarungen Betrug und Lüge, oder den Berichten davon entstellte und verdor - bene Sagen zum Grunde liegen, eine Ansicht, welche wirk - lich der Fragmentist gegen die A. T. liche Geschichte gewendet hat. Allein näher betrachtet, sagt Eichhorn, muſs manDas Leben Jesu I. Band. 218Einleitung. §. 6.vor einer solchen Vorstellung erschrecken. Die gröſsten Männer der früheren Welt, die auf die Bildung ihrer Zeit - genossen so mächtig und wohlthätig gewirkt haben, soll - ten alle Betrüger gewesen sein, und zwar ohne daſs es von den Mitlebenden bemerkt worden wäre?

Zu einer solchen Miſsdeutung wird man nach Eich - horn nur dadurch verleitet, daſs man es versäumt, jene alten Urkunden im Geiste ihrer Zeit aufzufassen. Frei - lich, wenn sie mit der philosophischen Präcision unserer jetzigen Schriftsteller redeten, so könnten wir nur entwe - der wirkliche göttliche Einwirkung, oder ein betrügliches Vorgeben einer solchen in ihnen finden. So aber, als Schriften aus einer unphilosophischen, kindlichen Zeit, re - den sie unbefangen von göttlicher Einwirkung nach alter - thümlicher Vorstellungs - und Ausdrucksweise, und so ha - ben wir zwar keine Wunder anzustaunen, aber auch kei - nen Betrug zu entlarven, sondern nur die Sprache der Vorzeit in unsere heutige zu übersetzen. So lange das Menschengeschlecht, erinnert Eichhorn, dem wahren Ur - sprung der Dinge noch nicht auf den Grund gekommen war, leitete es Alles von übernatürlichen Krätten oder der Dazwischenkunft höherer Wesen ab; höhere Gedanken, groſse Entschlieſsungen, nüzliche Erfindungen und Einrich - tungen, vorzüglich auch lebhafte Träume waren Einwir - kungen der Gottheit, unter deren unmittelbarem Einfluſs man zu stehen glaubte. Die Proben ausgezeichneter Kennt - nisse und Geschicklichkeiten, mit welchen Einer das Volk in Erstaunen sezte, galten für Wunder, für Beweise über - natürlicher Kräfte und des besondern Umgangs mit höhe - ren Wesen, und nicht nur das Volk war dieser Mei - nung, sondern auch jene ausgezeichneten Männer selbst lieſsen sich keinen Zweifel dagegen beifallen, und rühm - ten sich mit voller Uberzeugung eines geheimen Umgangs mit der Gottheit. Gegen den Versuch, alle Erzählungen der mosaischen Geschichte in natürliche Ereignisse aufzu -19Einleitung. §. 6.lösen, kann Niemand etwas haben, bemerkt Eichhorn, und giebt damit die Vordersätze des Wolfenbüttler Fragmenti - sten zu: aber daraus zu folgern, daſs Moses ein Betrü - ger gewesen, diesen Schluſssatz des Fragmentisten erklärt er für eine Übereilung und Ungerechtigkeit. So nahm Eichhorn, wie die Naturalisten, der biblischen Geschich - te ihren unmittelbar göttlichen Inhalt, nur daſs er den übernatürlichen Schein, welcher dieselbe umkleidet, nicht mit jenen aus absichtlich trügerischer Färbung, sondern als von selbst entstanden durch die alterthümliche Beleuch - tung erklärte.

Nach diesen Grundsätzen suchte nun Eichhorn d[i]e Geschichten eines Noa, Abraham, Moses natürlich zu er - klären. Im Lichte ihrer Zeit betrachtet, sei die Berufung des Lezteren nichts Andres gewesen, als daſs dieser Pa - triot den lange gehegten Gedanken, sein Volk zu befreien, als er ihm im Traume mit erneuter Lebendigkeit wieder - kehrte, für eine göttliche Eingebung hielt; das Rauchen und Brennen des Sinai bei seiner Gesetzgebung war wei - ter nichts als ein Feuer, welches er, um der Einbildungs - kraft seines Volkes zu Hülfe zu kommen, auf dem Berge anzündete, womit zufällig noch ein starkes Gewitter zu - sammentraf; das Leuchten seines Angesichts endlich war eine natürliche Folge groſser Erhitzung, was mit dem Volke auch Moses selbst, weil er dessen wahre Ursache nicht kannte, für etwas Göttliches hielt. Sparsamer war Eichhorn in Anwendung dieser Erklärungsweise auf des N. T., und es waren hauptsächlich nur einige Fakta aus der Apostelgeschichte, welche er derselben zu unterwer - fen sich erlaubte, wie das Pfingstwunder2)Eichhorns allgem. Bibliothek. 1. Bd. 1, 91 ff. 2, 757 ff. 3, 225 ff., die Bekeh - rung des Apostels Paulus3)Ebend. 6. Bd. S. 1 ff. und die zahlreichen Engeler -2*20Einleitung. §. 6.scheinungen4)Ebend. 3. Bd. S. 381 ff.. Auch hier führt er Alles auf die bildliche Sprache der Bibel zurück, in welcher, was z. B. den lez - ten Punkt betrifft, bald ein glückliches Ungefähr ein ret - tender, bald eine geistige Freudigkeit ein grüſsender, bald eine innere Beruhigung ein tröstender Engel genannt wor - den sei. In Bezug auf die Evangelien werden wir unten das Auffallende sehen, daſs Eichhorn theils die richtige Einsicht in die Unzulässigkeit der natürlichen Erklärung hatte, theils bei manchen Erzählungen selbst zu einer - heren fortgeschritten war.

Viele Schriften in ähnlichem Geiste erschienen, welche zum Theil auch das neue Testament in den Kreis ihrer Erklärungen zogen5)Z. B. Eck, Versuch über die Wundergeschichten des N. T. 1795. (Venturini) die Wunder des N. T. in ihrer wahren Gestalt für ächte Christusverehrer, 1799.; aber den vollen Ruhm eines christ - lichen Euemerus sollte sich erst Dr. Paulus erwerben in seinem von 1800 an erschienenen Commentar zum N. T. Gleich in der Einleitung dieses Werkes6)1. Bd. S. 5 ff. Vgl. das als neue Auflage des Commentars zu betrachtende exegetische Handbuch über die drei ersten Evangelien 1830 33. 1. Bd. 1. Abthl. S. 4 ff. stellt er es als die erste Anforderung an den Forscher der biblischen Ge - schichte hin, zu unterscheiden, was in derselben Faktum und was Urtheil sei? Faktum ist ihm dasjenige, was den bei einer Begebenheit betheiligten Personen als äussere oder innere Erfahrung gegeben war; Urtheil die Art, wie sie oder die Erzähler jene Erfahrung deuteten und auf ihre vermeintlichen Ursachen zurückführten. Diese beiden Be - standtheile mischen und verschlingen sich nun aber nach Paulus sowohl in den ursprünglich Betheiligten als in den Nacherzählern und Geschichtschreibern leicht so, daſs das Urtheil vom Faktum nicht mehr unterschieden, und mit eben der historischen Sicherheit wie dieses geglaubt21Einleitung. §. 6.und weiter erzählt wird, eine Vermengung, welche sich besonders auch in den geschichtlichen Büchern des N. T. s zeigt, da zur Zeit Jesu noch immer die Neigung herr - schend war, jedes auffallende Erlebniſs sofort von einer unsichtbaren, übermenschlichen Ursache abzuleiten. Die Hauptaufgabe des pragmatischen Historikers, namentlich in Bezug auf das N. T., ist daher, diese beiden so eng ver - wachsenen und doch so verschiedenartigen Bestandtheile zu sondern, und aus der Hülle von persönlichen und Zeitmeinungen den reinen Kern des Faktums herauszu - schälen. Das Verfahren, welches er hiebei zu Hülfe zu nehmen hat, ist, wo ihm keine reiner gehaltene Relation als berichtigende Parallele zu Gebote steht, dieſs, daſs er sich auf den Schauplatz der Begebenheiten und in den Standpunkt der Zeit möglichst lebhaft versetze, und von diesem aus die Erzählung durch vorauszusetzende erklä - rende Nebenumstände zu ergänzen suche, welche der Er - zähler selbst, in seinem supranaturalistischen Urtheil be - fangen, oft nicht einmal andeutete. In welcher Weise die - sen Grundsätzen zu Folge Paulus in seinem Commentar und neuerlich auch in seiner Schrift über das Leben Je - su7)Heidelberg 1828. 2 Bde. die neutestamentliche Geschichte behandelt hat, ist bekannt. Indem er die historische Wahrheit der Erzäh - lungen durchaus festhält, und einen engen chronologischen und pragmatischen Zusammenhang in die evangelische Ge - schichte zu bringen strebt, entzieht er derselben jeden un - mittelbar göttlichen Gehalt, und läugnet jedes übernatür - liche Einwirken höherer Kräfte. Nicht der Sohn Gottes im Sinne der kirchlichen Ansicht ist ihm Jesus, sondern ein weiser und tugendhafter Mensch, und nicht Wunder sind es, die er vollbringt, sondern Thaten bald der Freund - lichkeit und Menschenliebe, bald der ärztlichen Geschick - lichkeit, bald auch des Zufalls und guten Glückes8)Wie sich unter den Vorläufern von Paulus besonders Bahrdt.

22Einleitung. §. 6.

Eine nothwendige Voraussetzung bei dieser Eichhor - nisch-Paulusschen Auffassung der biblischen Geschichte ist, daſs die Urkunden derselben, die A. und N. T. lichen Schriften, sehr genau und treu, also auch sehr bald nach den erzählten Begebenheiten, wo möglich von Augenzeu - gen, verfaſst sein müssen. Denn soll sich in einer Erzäh - lung das ursprüngliche Faktum von dem beigemischten Urtheil unterscheiden lassen: so muſs die Relation noch sehr rein und ursprünglich sein; bei einer später entstan - denen, minder urkundlichen hätte ich ja keine Bürgschaft, ob nicht auch das, was ich für den thatsächlichen Kern halte, nur der Meinung und Sage angehöre? Daher suchte Eichhorn die Abfassung, namentlich auch der A. T. lichen Schriften so nahe als möglich zu der Zeit der Begeben - heiten hinanzurücken, wobei ihm und den mit ihm gleichdenkenden Theologen selbst das Widernatürlichste, wie z. B. die Voraussetzung der Abfassung des Penta - teuchs auf dem Zug durch die Wüste9)Allgem. Biblioth. Bd. 1. S. 64., nicht zu hart8)bemerklich machte (durch seine Briefe über die Bibel im Volkstone, seit 1782), so fand er einen Nacharbeiter ähnli - cher Art in Venturini, dem Verfasser der natürlichen Ge - schichte des grossen Propheten von Nazaret (seit 1800), ein Werk, dessen spätere Theile auch im Einzelnen nach dem Paulusschen Commentar gearbeitet sind. Es ist schief, wenn man diese beiden Schriften (wie Hase, Leben Jesu, §. 26. Anm. 5.) mit dem Wolfenbüttler Fragmentisten zusammen - stellt; sie gehören wesentlich zu der Paulusschen Richtung, denn ihre Tendenz geht gleicherweise dahin, im Leben Jesu Alles als natürlich darzustellen, ohne doch seiner Würde als weisen und edlen Mannes etwas zu vergeben; ihr Ro - manhaftes aber verhält sich zu der Darstellung von Paulus nur als eine noch grössere Willkühr in Einschiebung selbst - erdachter Mittelursachen. Namentlich Bahrdt erklärt sich ausdrücklich gegen den Fragmentisten, Briefe u. s. w. 1tes Bändchen, 14ter Brief.23Einleitung. §. 6.war. Doch erlaubte sich der genannte Kritiker wenigstens bei einigen Theilen des A. T., wie z. B. bei dem Buche der Richter, die Bemerkung, die in demselben enthaltenen Berichte seien nicht gleich Anfangs aufgezeichnet worden, sondern der Geschichtschreiber habe seine Helden im Nebel der verflossenen Zeit gesehen, in welchem sie leicht zu Riesengestalten sich haben vergröſsern können. Einem von ihm selbst gesehenen, oder ihm wenigstens nahe liegenden Faktum freilich würde nur derjenige Geschichtschreiber einen glänzenden Anstrich geben, welcher geflissentlich auf Kosten der Wahrheit unterhalten wollte. Ganz anders, wenn eine Geschichte längst vergangen sei. Da finde sich die Einbildungskraft nicht mehr durch den Widerstand der festen Gestalt historischer Wirklichkeit gehemmt, son - dern durch die Vorstellung, daſs in früheren Zeiten Alles besser und gröſser gewesen, ihren Schwung verstärkt, und der Schriftsteller werde zu höheren Ausdrücken und einer verherrlichenden Sprache hingerissen. Am wenigsten sei dieſs dann zu vermeiden, wenn der spätere Concipient sei - ne Erzählung aus dem Munde der Vorwelt niederschrei - be, und die abenteuerlichen Thaten und Schicksale der Vorfahren, welche der Vater dem Sohne, dieser dem En - kel in begeisterter Sprache überliefert und Dichter mit poëtischem Schmucke umgeben hatten, in eben dieser er - höhten Ausdrucksweise schriftlich verzeichne10)a. a. O. S. 294. Vergl. Einleitung in das A. T. 3ter Band. S. 23 ff. der vierten Ausg.. Übrigens auch bei dieser Ansicht von einem Theile der A. T. lichen Bücher glaubte Eichhorn den historischen Boden noch nicht zu verlieren, sondern getraute sich noch immer, über Ab - zug der mehr oder minder starken traditionellen Zuthaten den natürlichen Geschichtsverlauf herausbekommen zu können.

Doch bei Einer A. T. lichen Erzählung wenigstens ist der Meister der natürlichen Erklärungsweise für das A. T. 24Einleitung. §. 6.über diese zu einer höhern hinausgeschritten, nämlich bei der Geschichte der Schöpfung und des Sündenfalls. Hat - te er in seiner so einfluſsreich gewordenen Urgeschich - te11)Zuerst erschienen im vierten Theil des Repertoriums für bi - blische und morgenländische Literatur, später mit Anmer - kungen herausgegeben von Gabler, von 1790 an. die erstere Erzählung gleich Anfangs für Poësie er - klärt: so hatte er von der lezteren damals noch behauptet, wir haben an ihr keine Mythologie, keine Allegorie, son - dern wahre Geschichte, und diese geschichtliche Grundla - ge bestimmte er nach Abzug alles Übernatürlichen dahin, daſs die menschliche Natur in ihren ersten Anfängen durch den Genuſs einer giftigen Frucht zerrüttet worden sei12)Eichhorns Urgeschichte, herausgegeben von Gabler, 3. Thl. S. 98 ff.. Er fand es zwar an sich wohl möglich, und durch zahl - reiche Beispiele aus der Profangeschichte bestätigt, daſs an der Spitze rein historischer Erzählungen eine mythische stehen könnte: aber durch eine supranaturalistische Vorstel - lung schlug er in Bezug auf die Bibel diese Möglichkeit wieder nieder, indem er es der Gottheit unwürdig fand, in ein Buch, das so unleugbare Spuren des Ursprungs von ihr enthalte, ein mythologisches Fragment einrücken zu las - sen. Später indessen13)Allgem. Biblioth. 1. Bd. S. 989, und Einleitung in das A. T. 3. Thl. S. 82. erklärte Eichhorn selbst, daſs er nun über Genes. 2 und 3. in vielen Stücken anders den - ke, indem er jezt in jenem Abschnitte statt historischer Nachrichten von einer Vergiftung vielmehr das mythisch eingekleidete Philosophem finde, wie die Sehnsucht nach einem besseren Zustande, als der in welchem man sich be - finde, die Quelle alles Übels in der Welt sei. So zog Eichhorn wenigstens an diesem Punkte vor, lieber die Ge - schichte aufzugeben, um die Idee festzuhalten, als mit Aufopferung jedes höheren Gedankeninhalts an der Ge -25Einleitung. §. 7.schichte festzukleben. Im Übrigen blieb er jedoch mit Pau - lus u. A. dabei, das Wunderhafte in der heiligen Geschich - te für ein Gewand zu nehmen, das man nur abziehen dürfe, um die reine historische Gestalt hervortreten zu sehen.

§. 7. Kant's moralische Interpretation.

Unter diesen natürlichen Auslegungen, welche das Ende des 18ten Jahrhunderts in reicher Fülle hervorbrachte, war es ein merkwürdiges Zwischenspiel, mit Einem Male die alte allegorische Erklärung der Kirchenväter herauf - beschworen zu sehen in Kant's moralischer Schriftauslegung. Ihm, als Philosophen, war es nicht, wie den rationalisti - schen Theologen, um eine Geschichte, sondern wie jenen Alten in der geschichtlichen Hülle um eine Idee zu thun, wenn er gleich diese Idee nicht wie jene als absolute, sowohl theoretische als praktische, sondern einseitig als praktische, als moralisches Sollen und dadurch mit der Endlichkeit behaftet, auffaſste, auch als das diese Ideen in den biblischen Text hineinlegende Subjekt nicht den göttlichen Geist, sondern den des philosophischen Schrift - auslegers, oder in einer tieferen Andeutung die moralische Anlage in den Verfassern jener Bücher bestimmte. Kant beruft sich darauf1)Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, drit - tes Stück. No. VI: Der Kirchenglaube hat zu seinem höch - sten Ausleger den reinen Religionsglauben., daſs es mit allen alten und neuen, zum Theil in heiligen Büchern abgefaſsten Glaubensarten jederzeit so sei gehalten worden, daſs verständige und wohldenkende Volkslehrer sie so lange gedeutet haben, bis sie dieselben ihrem wesentlichen Inhalte nach mit den allgemeinen moralischen Glaubenssätzen in Übereinstimmung brachten. So haben es die Moralphilosophen unter den Griechen und Römern mit ihrer fabelhaften Götterlehre ge -26Einleitung. §. 7.macht, daſs sie den gröbsten Polytheismus doch zulezt als bloſse symbolische Vorstellung der Eigenschaften des Ei - nen göttlichen Wesens umzudeuten, und den mancherlei lasterhaften Handlungen ihrer Götter, den wildesten Träu - mereien ihrer Dichter einen mystischen Sinn unterzulegen wuſsten, um den Volksglauben, welchen zu vertilgen nicht ersprieslich war, einer moralischen Lehre nahe zu brin - gen. Auch das spätere Judenthum und selbst das Chri - stenthum bestehe aus solchen zum Theil sehr gezwunge - nen Deutungen, übrigens zu ungezweifelt guten und für alle Menschen nothwendigen Zwecken. Nicht minder wissen die Muhamedaner den üppigen Beschreibungen ih - res Paradieses einen geistigen Sinn unterzulegen, und dasselbe thun die Indier mit ihren Veda's, wenigstens für den aufgeklärteren Theil ihres Volkes. Ebenso müssen nun nach Kant die christlichen Religionsurkunden des A. u. N. T. s durchgängig zu einem Sinn gedeutet werden, welcher mit den allgemeinen praktischen Gesetzen einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt, und es muſs eine solche Deutung, sollte sie auch, scheinbar oder wirklich, dem Text Gewalt anthun, einer solchen buchstäblichen vorgezogen wer - den, welche, wie namentlich auch bei manchen biblischen Ge - schichten der Fall ist, entweder schlechterdings nichts für die Moralität in sich enthält, oder den moralischen Triebfedern wohl gar entgegenwirkt. So werden nun z. B. die rache - schnaubenden Ausdrücke mancher Psalmen gegen Feinde auf die Begierden und Leidenschaften umgedeutet, welche wir al - lerdings streben müssen, nachgerade alle unter den Fu[ſ]s zu bringen, und das Wundervolle, was im N. T. von Jesu Herabkunft vom Himmel, seinem Verhältniſs zu Gott u. s. f. gesagt ist, wird als bildliche Bezeichnung des Ideals der gottwohlgefälligen Menschheit genommen2)Zweites Stück erster Abschnitt, a und b.. Daſs ei - ne solche Deutung möglich ist, ohne eben immer wider den27Einleitung. §. 8.buchstäblichen Sinn jener Urkunden des Volksglaubens zu sehr zu verstoſsen, kommt nach Kant's tiefergehender Be - merkung daher, weil lange vor diesem lezteren die Anlage zur moralischen Religion in der menschlichen Vernunft ver - borgen lag, wovon zwar die ersten rohen Äusserungen blos auf gottesdienstlichen Gebrauch ausgegangen seien, und zu diesem Behuf selbst jene angeblichen Offenbarun - gen veranlaſst, hiedurch aber auch etwas von dem übersinn - lichen Charakter ihres Ursprungs selbst in jene Dichtun - gen, obwohl unvorsäzlich, gelegt haben. Auch gegen den Vorwurf der Unredlichkeit glaubt Kant diese Auslegungs - weise durch die Bemerkung schützen zu können, daſs sie ja keineswegs behaupte, der Sinn, welchen sie den heili - gen Büchern jezt gebe, sei von ihren Verfassern auch durch - aus so beabsichtigt worden, sondern dieses lasse sie dahin - gestellt, und spreche für sich nur die Möglichkeit an, die - selben auch auf ihre Art zu deuten.

Wenn Kant auf diese Weise aus den biblischen Schriften auch ihrem geschichtlichen Theile nach morali - sche Gedanken herauszudeuten suchte, ja diese Gedanken selbst als die objektive Grundlage jener Geschichten anzu - erkennen geneigt war: so nahm er doch einestheils diese Ge - danken nur aus sich und der Bildung seiner Zeit, weſswe - gen er nur in seltenen Fällen annehmen konnte, sie haben wirklich schon bei den Verfassern jener Schriften zum Grunde gelegen; anderntheils unterlieſs er eben deſswegen nachzuweisen, wie sich jene Gedanken zu diesen symboli - schen Darstellungen verhalten, wie es komme, daſs jene in diesen sich ausgeprägt haben.

§. 8. Entstehung der mythischen Auffassungsweise der heiligen Geschichte, zunächst in Bezug auf das A. T.

Bei einem so unhistorischen Verfahren auf der einen Seite, und einem so unphilosophischen auf der andern28Einleitung. §. 8.konnte um so weniger stehen geblieben werden, je mehr das immer allgemeiner und erfolgreicher betriebene mytho - logische Studium auch auf die Ansicht von der biblischen Geschichte seinen Einfluſs äusserte. Wenn schon Eich - horn für hebräische und nichthebräische Urgeschichte glei - che Behandlung verlangt hatte, so verschwand diese Gleich - heit immer mehr, je mehr man für die profane Urge - schichte den mythischen Gesichtspunkt ausbildete, für die hebräische aber bei der natürlichen Erklärungsweise ste - hen blieb. Und Paulus konnten es doch nicht Alle nach - thun, welcher die Consequenz der Behandlung dadurch herstellte, daſs er, wie die biblischen, so auch die zur Ver - gleichung sich bietenden griechischen Sagen natürlich zu erklären sich geneigt zeigte: sondern man half lieber auf der andern Seite und fieng an, auch manche biblische Er - zählungen als Mythen zu betrachten. So wurde durch Gabler1)In der Einleitung zu Eichhorns Urgesch. 2, S. 481 ff. (1792), Schelling2)Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der älte - sten Welt. In Paulus Memorabilien 5. Stück S. 1 ff. (1793) u. A. der Begriff des Mythus als ein ganz allgemein, für alle älteste Geschichte, heilige wie profane, gültiger aufgestellt, nach dem Heyne'schen Grundsa - ze: a mythis omnis priscorum hominum cum historia tum philosophia procedit3)Comm. in Apollodor. Bibl. P. I. p. 3 und 4. und Bauer wagte es sogar, mit ei - ner hebräischen Mythologie des alten und neuen Testa - ments aufzutreten (1802). Die älteste Geschichte aller Völker, meint Bauer, sei mythisch: warum sollte die he - bräische allein eine Ausnahme machen? da vielmehr der Augenschein der heiligen Bücher zeige, daſs auch sie my - thische Bestandtheile enthalten. Eine Erzählung nämlich ist, wie Bauer nach Gabler und Schelling ausführt, als Mythus erkennbar, wenn sie aus einer Zeit stammt, in der es noch keine schriftlich dokumentirte Geschichte gab, sondern die Fakta nur durch mündliche Überlieferung fort -29Einleitung. §. 8.gepflanzt wurden; wenn darin entweder absolut unerfahr - bare Gegenstände, wie Fakta einer übersinnlichen Welt, oder doch relativ unerfahrbare, bei welchen der Umstände wegen Niemand Zeuge sein konnte, in geschichtartiger Weise erzählt werden; oder endlich, wenn diese Erzäh - lungen ins Wunderbare verarbeitet und in einer symboli - schen Sprache vorgetragen sind. Solche Erzählungen nun finden sich auch in der Bibel nicht wenige vor, und daſs man auf dieselben den Begriff des Mythischen nicht an - wenden wolle, habe seinen Grund nur in falschen Vorstel - lungen einerseits von dem Wesen des Mythus, andrerseits von dem Charakter der biblischen Bücher. In ersterer Hinsicht verwechsle man Mythen mit Fabeln, vorsäzlichen Lügen und willkührlichen Erdichtungen, statt dieselben als die nothwendigen Träger der ersten Regungen des menschlichen Geistes erkennen zu lernen; in der andern Rücksicht sei es freilich, den Inspirationsbegriff vorausge - sezt, unwahrscheinlich, daſs Gott von Thatsachen oder Ideen mythische statt der eigentlichen Darstellungen ein - gegeben haben sollte: allein die genauere Betrachtung der biblischen Schriften zeige, daſs der Begriff ihrer Inspiration, weit entfernt, ihre mythische Auffassung zu hindern, viel - mehr selbst nur ein mythischer sei4)Bauers hebr. Mythol. 1. Band. Einleitung..

Bestimmte man hienach von Seiten der genannten Forscher den Mythus im Allgemeinen als Darstellung einer Begebenheit oder eines Gedankens in geschichtlicher, aber durch die sinnliche, phantasiereiche Denk - und Sprechwei - se des Alterthums bestimmter Form: so unterschied man zugleich verschiedene Arten von Mythen5)Vgl. ausser den genannten Autoren noch Ammon, Progr. quo inquiritur in narrationum de vitae Jesu Christi primordiis fon - tes etc. in Pott's und Ruperti's Sylloge Comm. theol. No. 5, und Gabler, n. theol. Journal 5. Bd. S. 83 und 397.. Die Einen seien historische Mythen, d. h. Erzählungen wirkli -30Einleitung. §. 8.cher Begebenheiten, nur gefärbt durch die alterthümliche, Göttliches mit Menschlichem, Natürliches mit Übernatürli - chem vermengende Denkart; es gebe aber auch philoso - phische Mythen, oder solche, welche einen bloſsen Ge - danken, eine Speculation oder Zeitidee, in Geschichte ein - kleiden; überdieſs aber können beide Arten theils sich mischen, theils durch dichterische Überarbeitung zu poëti - schen Mythen werden, bei welchen hinter der phan - tasiereichen Einkleidung so ursprüngliches Faktum wie Idee beinahe verschwinden. Zwischen diesen verschiede - nen Arten von Mythen ist die Unterscheidung deſswegen schwierig, weil auch diejenigen, welchen bloses Raisonne - ment zu Grunde liegt, mit gleichem historischem Anspruch, wie die auf geschichtlichem Grunde ruhenden, auftreten; doch geben die genannten Gelehrten auch für diese Unter - scheidung einige Regeln an. Vor Allem müsse man darauf sehen, ob und was für ein Zweck der Erzählung sich entdecken lasse. Wo gar kein Zweck sichtbar sei, um dessen willen die Sage erdichtet sein könnte: da werde Jedermann den historischen Mythus finden. Entsprechen aber alle Hauptumstände einer Erzählung der Versinnli - chung einer bestimmten Wahrheit: so sei der Zweck der Erzählung sicher nur eben dieser, und der Mythus somit ein philosophischer. Die Mischung des historischen und philosophischen Mythus sei daran kenntlich, wenn sich die Tendenz zeige, gewisse Thatsachen aus ihren Ursachen abzuleiten. Daſs Geschichtliches zum Grunde liege, lasse sich bisweilen auch durch anderweitige Nachrichten erwei - sen, bisweilen stehen gewisse Angaben eines Mythus mit einer bekannten wahren Geschichte in genauer Verbindung, oder trage er in sich selbst unverkennbare Spuren der Wahrscheinlichkeit, so daſs der Kritiker zwar die Einklei - dung verwerfen, doch aber die Grundlage für geschichtlich halten könne. Am schwersten fiel es, den sogenannten poëtischen Mythus zu unterscheiden, und Bauer weiſs nur31Einleitung. §. 8.das negative Kriterium anzugeben, wenn einerseits die Er - zählung so wunderbar klinge, daſs die Begebenheit sich unmöglich so habe zutragen können, andererseits aber doch kein Zweck erkennbar sei, einen bestimmten Gedan - ken zu versinnlichen: so sei zu vermuthen, daſs die ganze Erzählung der Phantasie eines Dichters ihren Ursprung zu danken habe. In Bezug auf sämmtliche Mythen macht besonders die Schelling'sche Abhandlung auf das Kunstlose und Unbefangene in ihrer Entstehung aufmerksam, indem sie theils von den historischen Mythen bemerkt, daſs das Ungeschichtliche in denselben nicht künstliches Produkt absichtlicher Erdichtung sei, sondern sich im Laufe der Zeit und Überlieferung von selbst eingeschlichen habe; theils in Bezug auf die philosophischen erinnert, daſs nicht allein zum Behuf eines sinnlichen Volks, sondern auch zu ihrem eigenen Behufe die ältesten Weisen das Gewand der Geschichte für ihre Ideen gewählt haben, um in Er - mangelung abstrakter Begriffe und Ausdrücke das Dunkle ihrer Vorstellung durch eine sinnliche Darstellung auf - zuhellen.

Da dem früher Bemerkten zufolge die natürliche Deu - tung namentlich der A. T. lichen Geschichte nur so lange sich halten konnte, als die Urkunden derselben für ganz oder nahezu gleichzeitig mit den Begebenheiten galten: so sind die Männer, welche die leztere Meinung umgestoſsen haben, Vater und de Wette, zugleich diejenigen gewesen, durch welche die mythische Ansicht jener Geschichte fest be - gründet worden ist. So wird nach der Bemerkung des Ersteren6)s. die Abhandlung über Moses und die Verfasser des Pen - tateuchs im 3ten Bande des Comm. über den Pent. S. 660. der eigenthümliche Charakter der Nachrichten im Pentateuch erst dann begreiflich, wenn man annimmt, daſs dieselben nicht von Augenzeugen herrühren, son - dern durch die Hand der Tradition hindurchgegangen32Einleitung. §. 8.sind. Dann nur fallen uns nicht mehr die deutlichen Spuren einer späteren Zeit, nicht mehr die zu groſsen Zahlangaben, nebst andern Unrichtigkeiten und Widersprü - chen, nicht mehr das Helldunkel auf, welches über man - chen Begebenheiten schwebt, nicht mehr Vorstellungen, wie die, daſs die Kleider der Israeliten während des Zugs durch die Wüste nicht veraltet seien. Namentlich kann, nach Vater, das Wunderbare nur dann aus dem Penta - teuch ohne Gewalt gegen den ursprünglichen Sinn der Schriftsteller wegerklärt werden, wenn man der Tradition einen groſsen Antheil an der Darstellung jener Begeben - heiten zuschreibt.

Noch entschiedener als Vater hat sich de Wette gegen die natürliche und für die mythische Auffassungs - weise gewisser Theile des A. T. erklärt. Um die Glaub - würdigkeit eines Berichtes zu prüfen, sagt er7)Kritik der mosaischen Geschichte. Einl. S. 10 ff., muſs man zuerst die Tendenz des Erzählers untersuchen. Will er nicht reine Geschichte erzählen, auf etwas anderes wir - ken, als auf die historische Wiſsbegierde, will er er - getzen, rühren, eine philosophische oder religiöse Wahr - heit anschaulich machen: so hat seine Relation keinen historischen Werth. Selbst wenn sich der Erzähler nur einer geschichtlichen Tendenz bewuſst ist, kann er doch vielleicht nicht auf dem historischen Standpunkt ste - hen, sondern ein poëtischer Erzähler sein, nicht sub - jektiv als Dichter, wohl aber objektiv als begriffen in und abhängig von der Poësie. Kennzeichen davon ist, wenn er bona fide Dinge erzählt, welche durchaus un - möglich und undenkbar sind, welche nicht allein die Er - fahrung, sondern auch die natürlichen Gesetze über - schreiten. Erzählungen dieser Art entstehen nament - lich durch die Tradition. Die Tradition, sagt de Wette, ist unkritisch und parteiisch, nicht von historischer, son -33Einleitung. §. 8.dern von patriotisch-poëtischer Tendenz, die patriotische Wiſsbegierde aber begnügt sich mit Allem, was ihrem In - teresse schmeichelt: je schöner, ehrenvoller, wunderbarer, desto annehmlicher, und wo die Überlieferung Lücken gelas - sen hat, da tritt sogleich die Phantasie mit ihren Ergänzungen ein. Indem nun, fährt de Wette fort, ein guter Theil der A. T. lichen Geschichtsbücher dieses Gepräge trägt, so hat man (von Seiten der natürlichen Erklärer) bisher geglaubt, die Ausschmückungen und Umbildungen des geschichtli - chen Stoffs von diesem trennen und so doch noch jene Erzählungen als historische Quelle benützen zu können. Dieſs lieſse sich thun, wenn wir über dieselbe Geschichte neben der wunderhaften noch eine andre, reingeschichtli - che Relation[besäſsen]. Das ist aber in Bezug auf die A. T. liche Geschichte nicht der Fall, sondern wir finden uns ganz an jene Berichte gewiesen, welche wir nicht für reinhistorische erkennen können. In diesen aber ist uns kein Kriterium zur Unterscheidung des Wahren und Falschen gegeben, weil sie Beides in bunter Vermischung und mit gleicher Dignität enthalten. Die ganze natürliche Erklärungsweise ist nach de Wette im Allgemeinen schon durch den Satz widerlegt, daſs die einzige Erkenntniſs - quelle einer Geschichte die Relation ist, die wir über die - selbe besitzen, und über die Relation der Historiker nicht hinausgehen darf. Diese berichtet uns aber im gegenwär - tigen Falle nur den übernatürlichen Hergang der Sache, welchen wir nur entweder annehmen oder verwerfen kön - nen; im letzteren Falle aber müssen wir uns bescheiden, von dem Hergang gar nichts zu wissen, und dürfen uns nicht erlauben, einen natürlichen zu erdichten, von welchem die Relation nicht das Mindeste sagt. Es ist also8)S. die Vorrede, im Anfang. incon - sequent und willkührlich, der Poësie nur die Einkleidung A. T. licher Thatsachen zuzuschreiben, die Fakta aber derDas Leben Jesu I. Band. 334Einleitung. §. 8.Geschichte retten zu wollen, da vielmehr mit dem Einzel - nen auch das Ganze dem poëtischen und mythischen Ge - biete verfällt. So, wenn der Bund Gottes mit Abraham9)S. 59 ff. in dieser Gestalt als Factum aufgegeben, aber doch eine geschichtliche Grundlage der Erzählung festgehalten wird, nämlich die, es habe zwar nicht ein objektiver Verkehr Gottes mit Abraham stattgefunden, wohl aber subjektiv im Gemüthe des Mannes seien in der Vision oder im natürli - chen Wachen Gedanken aufgestiegen, welche er im Geiste der alten Welt auf Gott zurückgeführt habe: so richtet de Wftte an so verfahrende Ausleger die Frage, woher sie denn wissen, daſs Abraham aus sich selber diese Ge - danken gehabt habe? Unsre Relation, bemerkt er, leitet dieselben von Gott ab; nehmen wir dieſs nicht an, so wis - sen wir von solchen Gedanken Abrahams gar nichts mehr, auch davon nicht, daſs sie ihm natürlich aufgestiegen. Über - haupt haben solche Hoffnungen, wie sie den Inhalt jenes Bundes bilden, Stammvater eines Volks zu werden, wel - ches das Land Kanaan besitzen sollte, natürlicherweise gar nicht in Abraham entstehen können; wohl aber sei das na - türlich, daſs die zum Volke gewordenen und in den Be - sitz des Landes gekommenen Israëliten jenen Bund ihrem Stammvater zur Verherrlichung angedichtet haben, so daſs die natürliche Erklärungsweise durch ihre eigne Un - natürlichkeit immer wieder zur mythischen hinführe.

Eichhorn selbst hat die Unzulässigkeit der natürlichen Erklärungsweise, welche er in Bezug auf das A. T. aus - gebildet hatte, in Betreff der evangelischen Geschichte ein - gesehen. Was in diesen Erzählungen einen übernatürlichen Anstrich hat, bemerkt er10)Einleitung in das N. T. I, S. 408 ff., dürfen wir nicht verlangen, in ein natürliches Ereigniſs umzubilden, weil dieſs ohne Zwang nicht möglich sei. Wenn nämlich einmal in einer35Einleitung. §. 8.Erzählung durch Zusammenflieſsen der Volksdeutung mit dem Factum etwas als übernatürlich dargestellt sei, so kön - ne die natürliche Thatsache nur dann noch enträthselt wer - den, wenn über denselben Gegenstand ein zweiter Bericht vorhanden sei, der jene Vermengung nicht enthalte, wie über das Ende des Herodes Agrippa neben A. G. 12, 23. die Erzählung des Josephus11)Antiquit. 19, 8, 2.. Da solche controlirende Berichte über die Geschichte Jesu fehlen: so würde der Erklärer nur unerweisliche Hypothesen spinnen, wenn er bei den wunderhaft lautenden Erzählungen die natürliche Ursache noch entdecken wollte, wo sie nicht deutlich in der Erzählung liegt, eine Bemerkung, durch welche, wie Eichhorn erklärt, viele sogenannte psychologische Erklä - rungen der Evangelien in ihre Nichtigkeit hinfallen.

Derselbe Unterschied der natürlicher und mythischen Erklärungsart ist es, welchen mit besondrer Beziehung auf die Wundergeschichten Krug12)Versuch über die genetische oder formelle Erklärungsart der Wunder. In Henkes Museum 1, 3, S. 395 ff. (1803). bezeichnen wollte, wenn er eine physikalische oder materiale, und eine genetische oder formelle Art der Wundererklärung unterschied. Jene untersucht nach Krug: wie mag dies wundervolle Ereig - niſs, welches hier erzählt ist, nach allen seinen Umstän - den durch Naturkräfte und nach Naturgesetzen möglich gewesen sein? wogegen diese fragt: wie mag die Erzäh - lung von diesem Wunderereigniſs nach und nach entstan - den sein? Jene erklärt die natürliche Möglichkeit der er - zählten Sache (des Stoffs der Erzählung), diese spürt dem Ursprung des vorliegenden Berichts (der Form der Erzäh - lung) nach. Die Versuche mit der ersteren Erklärungsart hält Krug für fruchtlos, weil sie Erklärungen zum Vor - schein bringen, welche noch wunderbarer als das zu er - klärende Factum seien; viel belohnender sei der andere3*36Einleitung. §. 8.Weg, indem man auf demselben zu Resultaten gelange, welche ein Licht über sämmtliche Wundererzählungen ver - breiten. Namentlich gewähre er dem Exegeten den Vor - theil, daſs er bei Erklärung seines Textes demselben nicht die mindeste Gewalt anzuthun brauche, sondern Alles buch - stäblich so auslegen könne, wie es der alte Erzähler ge - meint habe, auch wenn das Erzählte unmöglich sein soll - te: wogegen derjenige, welcher auf materielle oder phy - sikalische Erklärung ausgehe, zu hermeneutischen Kunst - griffen verleitet werde, welche ihm den ursprünglichen Sinn der Erzähler aus dem Gesichte rücken, und diesen etwas ganz Andres unterschieben, als sie sagen konnten oder wollten.

Ebenso empfahl Gabler13)In der Abhandlung: ist es erlaubt, in der Bibel, und so - gar im N. T. Mythen anzunehmen (aus Gelegenheit einer Recens. von Bauers hebr. Mythol. ) im Journal für auserle - sene theol. Literatur, 2ten Bandes 1tes Heft. S. 43 ff. die mythische Ansicht als das beste Mittel, um den zur Mode gewordenen gekünstel - ten, angeblich natürlichen Erklärungen der biblischen Ge - schichte auszuweichen. Der natürliche Erklärer, bemerkt er, will gewöhnlich die ganze Erzählung natürlich machen, und weil dieſs nur selten gelingen kann, so erlaubt er sich die gewaltsamsten Operationen, durch welche die neuere Exegese selbst bei Laien in übeln Ruf gekommen ist. Auf dem mythischen Standpunkte hingegen braucht man dergleichen nicht, weil der gröſsere Theil einer Er - zählung oft blos zur mythischen Darstellung gehört, der faktische Kern aber nicht selten ganz klein ist, wenn man die später dazu gefügten wundersamen Hüllen weggenom - men hat. Auch Horst konnte sich mit dem atomistischen Verfahren nicht vereinigen, welches aus wunderhaften Erzählungen der Bibel nur einzelne Züge als unhistorische herausnahm, und andere, natürliche, an ihre Stelle setzte,37Einleitung. §. 8.statt das Ganze solcher Erzählungen als religiös-morali - schen Mythus, in welchem irgend eine Idee sich darstelle, zu erkennen14)Über die beiden ersten Kapitcl des Lukas, in Henke's Mu - seum 1, 4, S. 693 ff..

Besonders entschieden hat ein Ungenannter in Ber - tholdt's kritischem Journal sich gegen die natürliche Er - klärungsweise der heiligen Geschichte und für die mythi - sche ausgesprochen. Wesentliche Gebrechen der natürlichen Auslegung, wie sie im Paulus'schen Commentar culmnire, sind nach diesem Verfasser vor Allem das durchaus unhi - storische Vnrfahren, welches sie sich erlaubt, Urkunden durch Vermuthungen zu ergänzen, eigne Speculationen für gegebnen Buchstaben zu halten; das höchst gezwungene und immer undankbare Bemühen, natürlich darzustellen, was doch die Urkunde als etwas Wunderbares geben will; endlich die Entleerung der biblischen Geschichte von allem Heiligen und Göttlichen, die Herabwürdigung derselben zur eiteln Unterhaltungslectüre, die selbst den Namen der Ge - schichte nicht verdient. Diese Mängel der natürlichen Er - klärungsweise, wenn man sich doch bei der supranatura - listischen auch nicht beruhigen kann, führen nach dem Verfasser zu dem mythischen Gesichtspunkte, welcher das Material der Erzählung unangefochten läſst, und es nicht wagt, daran im Einzelnen zu deuteln, dafür aber das Gan - ze nicht für wahre Geschichte, sondern für heilige Sage nimmt. Für diese Auffassung spricht die Analogie mit dem ganzen politischen und religiösen Alterthum, da so man - che Erzählungen des A. und N. T. s den Mythen des profanen Alterthums aufs Genaueste ähnlich sehen; hauptsächlich aber dieſs, daſs die zahllosen, sonst nie zu lösenden Schwierigkeiten der heiligen Geschichte in Bezug auf die Harmonie der Evangelien und die Chronologie bei der my - thischen Ansicht wie mit Einem Schlage verschwinden15)Die verschiedenen Rücksichten, in welchen und für welche.

38Einleitung. §. 9.

§. 9. Die mythische Erklärungsweise in ihrer Anwendung auf das N. T.

So war die mythische Auslegungsweise nicht allein in das alte Testament, sondern auch in das neue aufgenom - men, doch nicht ohne daſs man diesen Schritt besonders zu rechtfertigen sich veranlaſst gesehen hätte. Schon Gab - ler hatte an dem Paulus'schen Commentar das ausgesezt, daſs er zu Weniges über den mythischen Gesichtspunkt ge - be, der bei gewissen N. T. lichen Erzählungen angenom - men werden müsse. In manchen von diesen Erzählungen nämlich finden sich nicht blos unrichtige Urtheile, wie sie auch von Augenzeugen gefällt werden können, so daſs sich durch deren Berichtigung ein natürlicher Hergang gewin - nen lieſse: sondern nicht selten finden sich auch falsche Thatsachen und unmögliche Erfolge angegeben, welche von keinem Augenzeugen so erzählt, sondern nur in der Über - lieferung haben fingirt werden können, also mythisch auf - gefaſst werden müssen1)Recens. von Paulus Commentar, im neuesten theol. Journal. 7, 4, 395 ff. (1801)..

Die Hauptschwierigkeit, welche bei Übertragung des mythischen Gesichtspunktes aus dem A. T. in das neue zu beseitigen war, ist diese, daſs man Mythen nur in der fa - belhaften Urzeit unsres Geschlechtes zu suchen pflegte, in welcher überhaupt noch keine Begebenheiten schriftlich verzeichnet wurden: wogegen zur Zeit Jesu das mythi - sche Zeitalter lange vorüber und namentlich die jüdische Nation längst eine schriftstellerische geworden war. Indeſs schon Schelling (in der angeführten Abhandlung) hatte wenigstens in einer Anmerkung eingeräumt, im weiteren Sinne könne auch diejenige Geschichte mythisch genannt werden, welche noch zu einer Zeit, da Alles längst schrift -15)der Biograph Jesu arbeiten kann. In Bertholdts krit. Jour - nal 5. Bd. S. 235 ff.39Einleitung. §. 9.lich verzeichnet zu werden pflegte, im Munde des Volks sich fortgepflanzt habe. Demgemäſs ist nach Bauer2)Hebräische Mythologie 1. Thl. Einl. §. 5. im N. T. zwar nicht eine Reihe von Mythen, eine total mythische Geschichte zu suchen, doch aber können einzelne Mythen in demselben vorkommen, sei es, daſs sie aus dem A. T. in das neue übertragen, oder daſs sie ursprünglich in die - sem entstanden sind. So findet sich nach Bauer nament - lich in der Jugendgeschichte Jesu Manches, was vom my - thischen Gesichtspunkte betrachtet sein will. Wie von ei - nem berühmten Manne bald allerlei Anekdoten sich bilden, welche unter einem wundersüchtigen Volke die Sage mit Wunderdingen aller Art vergrössert: so wurde Jesu in Dunkelheit verlebte Jugend, da er später so berühmt und endlich durch seinen Tod noch mehr verherrlicht war, mit den wunderhaftesten Erzählungen ausgeschmückt. Wenn in dieser Jugendgeschichte himmlische Wesen mit Namen und in Menschengestalt erscheinen, die Zukunft verkün - digen u. dgl. : so haben wir, meint Bauer, doch wohl ein Recht, hier einen Mythus anzunehmen, und als den Grund seiner Entstehung den zu vermuthen, daſs man die gros - sen Wirkungen Jesu aus übersinnlichen Ursachen erklärt, und diese Erklärung mit der Geschichte vermischt habe. In gleicher Beziehung bemerkte Gabler3)Ist es erlaubt, in der Bibel u. sogar im N. T. Mythen an - zunehmen? Im Journal für auserlesene theol. Literatur 2, 1, 49 ff., wie der Be - griff von alter Zeit ein relativer sei; gegen die mosaische Religion gehalten, sei die christliche allerdings jung, doch aber an sich selber alt genug, um die Urgeschichte ihres Stifters zu den alten Zeiten rechnen zu dürfen. Daſs es aber damals über andere Gegenstände bereits schriftliche Urkunden gegeben habe, beweise hieher nichts, sobald es sich zeigen lasse, daſs man eben über Jesum, besonders40Einleitung. §. 9.über seine ersten Lebensumstände, längere Zeit nichts Schriftliches, sondern nur mündliche Erzählungen gehabt habe, welche leicht allmählig in's Wunderbare gemalt, mit jüdischen Zeitideen versezt, und so zu historischen My - then werden konnten. Über manches Andre hatte man nach Gabler gar keine Tradition, man war also der eige - nen Muthmaſsung überlassen, man machte um so mehr Schlüsse, je weniger Geschichte man hatte, und diese hi - storischen Conjecturen und Raisonnements im jüdisch-christ - lichen Geschmacke kann man die philosophischen Mythen der christlichen Urgeschichte nennen. Wenn auf diese Weise, schlieſst Gabler, der Begriff des Mythus bei meh - reren Erzählungen des N. T. s Anwendung findet, warum sollte man die Sache nicht beim rechten Namen nennen dürfen, warum, im wissenschaftlichen Verkehr versteht sich, einen Ausdruck vermeiden, der nur bei Befange - nen oder Falschberichteten Anstoſs erregen kann? Aus dem Wesen des Christenthums selber suchte Horst die Entstehung einer christlichen Mythologie zu erklären. Nach ihm ist das Christenthum seiner ursprünglichen Natur nach mystisch, d. h. nur in inneren Gefühlen und Ideen sich bewegend; aber schon die ersten Stifter desselben, und noch mehr die folgenden Zeiten, bezogen diese Ideen auf bestimmte Objekte und Fakta, und sobald der Mysticismus seine Gedanken und Empfindungen aus sich heraus und auf äussere Objekte überträgt, ist er Mythologie4)Ideen über Mythologie u. s. w. in Henke's neuem Magazin, 6ter Band. S. 454..

Wie aber auf Seiten des A. T. s die mythische Auffas - sung nur von denjenigen festgehalten werden konnte, wel - che zugleich die Abfassung der A. T. lichen Geschichtsur - kunden durch Augenzeugen und Zeitgenossen bezweifelten: so auch auf Seiten des N. T.s. Nur mittelst der Annah - me, daſs durch die drei ersten Evangelien sich blos ein41Einleitung. §. 10.dünner Faden des apostolisch beglaubigten Urevangeliums hindurchziehe, welcher selbst im Matthäusevangelium von einer Masse unapostolischer Zusätze umgeben sei, wuſste Eichhorn viele ihm anstössige Erzählungen aus allen Thei - len des Lebens Jesu als unhistorische Sagen aus dem We - ge zu räumen, wie ausser dem evangelium infantiae z. B. das Nähere der Versuchungsgeschichte, mehrere von Jesu verrichtete Wunder, die Auferstehung der Heiligen bei sei - nem Tode, die Wache an seinem Grabe u. s. f.5)Einleitung in das N. T. I, S. 422 ff. 453 ff.. Be - sonders aber seit sich die Ansicht von dem Ursprung der drei ersten Evangelien aus mündlicher Tradition festge - stellt hat6)Besonders durch Gieseler, über die Entstehung und die frühsten Schicksale der schriftlichen Evangelien., sind in denselben immer mehr theils mythi - sche Ausschmückungen, theils ganze Mythen gefunden wor - den7)S. den Anhang der Schulz'schen Schrift über das Abendmahl, und die Schriften von Sieffert und Schneckenburger über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums.. Dagegen halten jezt die Meisten das Johanneische Evangelium als authentisch und damit auch als historisch zuverlässig fest; nur wer mit Bretschneider8)In den Probabilien. seine apo - stolische Abfassung bezweifelt, kann auch in diesem Evan - gelium dem mythischen Elemente eine bedeutende Stelle einräumen.

§. 10. Der Begriff des Mythus in seiner Anwendung auf die heilige Ge - schichte von den Theologen nicht rein gefasst.

Der hiemit auch für die Erklärung der biblischen Ge - schichte gewonnene Begriff des Mythus wurde indessen noch geraume Zeit weder selbst rein gefaſst, noch in ge - hörigem Umfang angewendet.

Nicht rein gefaſst. Mit der Unterscheidung historischer Mythen nämlich von den philosophischen hatte der Begriff42Einleitung. §. 10.des Mythus ein Merkmal in[s]ich aufgenommen, welches ihn leicht wieder zu der kaum verlassenen natürlichen Er - klärungsweise hinunterziehen konnte. Auch bei'm histori - schen Mythus entstand ja für den Kritiker die Aufgabe, aus der unhistorischen, wunderhaften Ausschmückung ei - nen natürlichen und als geschichtlich festzuhaltenden Kern herauszuschälen, und durch den allerdings wesentlichen Unterschied, daſs bei der Annahme eines historischen My - thus jene Ausschmückung nicht wie bei der natürlichen Er - klärungsart aus dem Urtheil der Betheiligten und der Er - zähler selbst, sondern aus der Tradition hergeleitet wird, lieſs man das Verfahren nur wenig modificirt werden. Konnte der Rationalist, ohne seine Methode wesentlich zu verändern, historische Mythen in der Bibel aufzeigen: so war auch dem Supranaturalisten die Annahme historischer Mythen, durch welche doch die geschichtliche Auffassung der heiligen Erzählungen nicht ganz aufgehoben wird, we - niger anstöſsig, als die Voraussetzung sogenannter philoso - phischer, bei welchen auch die lezte historische Grundlage aufgegeben wird. Kein Wunder daher, daſs die Ausleger, wo sie den mythischen Gesichtspunkt in Anwendung brach - ten, fast durchaus nur von historischen Mythen sprachen, daſs Bauer unter einer ziemlichen Anzahl von Mythen, die er aus dem N. T. namhaft macht, nur einen einzigen phi - losophischen hat, und daſs ein Gemische von mythischer und natürlicher Erklärung entstand, welches noch wider - sprechender als die rein natürliche Auslegung war, deren Schwierigkeiten man hatte entgehen wollen. So glaubte Bauer1)Geschichte der hebr. Nation, Thl. I. S. 123. die Erzählung von der Verheiſsung Jehova's an Abraham historisch-mythisch zu erklären, wenn er als das zum Grunde liegende Faktum dieſs annahm, daſs Abraham bei Betrachtung des sternbesäten Himmels seine Hoffnung auf zahlreiche Nachkommenschaft neubelebt gefunden ha -43Einleitung. §. 10.be; ein Andrer glaubte den mythischen Gesichtspunkt an - zuwenden, wenn er von der Verkündigung der Geburt des Täufers zwar alles Wunderbare hinwegräumte, doch aber das Verstummen des Zacharias als historische Grundlage stehen lieſs2)E. F. über die zwei ersten Kapitel des Matthäus und Lukas. In Henke's Magazin 5ten Bdes 1tes Stück. S. 163.; ebenso legt Krug (in der angef. Abhand - lung), nachdem er eben versichert hatte, nicht die Materie der Geschichte (natürlich), sondern die Entstehung der Erzählung (mythisch) erklären zu wollen, der Erzählung von den Weisen aus Morgenland eine zufällige Durchreise orientalischer Kaufleute zum Grunde; am schreiendsten aber ist der Widerspruch, wenn man in einer Mythologie des N. T. s, wie die Bauer'sche, ein solches Nichtverstehen des - sen, was ein Mythus ist, findet, daſs z. B. bei den Eltern des Täufers wirklich eine lange, unfruchtbare Ehe ange - nommen, die Engel bei Jesu Geburt durch ein feuriges Phänomen erklärt, bei seiner Taufe ein Bliz und Donner - schlag sammt einer zufällig überhin fliegenden Taube voraus - gesezt, bei der Verklärung ein Gewitter zum Grunde ge - legt, und die Engel im Grabe des Auferstandenen zu weis - sen Leintüchern gemacht werden. Auch Kaiser, welcher über das Unnatürliche so mancher natürlichen Erklärungen Klage führt, läſst doch mit der Bemerkung, es wäre ein - seitig, alles Wunderbare im N. T. auf Eine und dieselbe Weise zu erklären, die natürliche Auslegung neben der mythischen stehen. Erkenne man nur an, daſs der alte Autor ein Wunder habe erzählen wollen, so sei die na - türliche Erklärung oft gar wohl zulässig. Sie sei bald eine physikalisch-historische, wie bei der Erzählung vom Aus - sätzigen, welchem Jesus ohne Zweifel die nahe Genesung angesehen habe; bald eine psychologische, indem bei man - chen Kranken der Ruf Jesu und das Vertrauen auf ihn das Meiste gewirkt habe; bald sei auch der Zufall in Rechnung zu44Einleitung. §. 10.bringen, indem, wenn in Jesu Gegenwart Scheintodte von selbst wieder zum Leben kamen, er als Ursache davon ange - sehen worden sei. Bei andern Wundergeschichten übrigens ist nach Kaiser die mythische Erklärung anzuwenden, nur daſs er auch hier dem historischen Mythus viel mehr ein - räumt, als dem philosophischen. Die meisten Wunder des A. u. N. T. s sind nach Kaiser wirkliche Vorfälle, mythisch ausgeschmückt, wie der Stater im Fischmaul, die Verwand - lung des Wassers in Wein, welcher nach ihm ursprüng - lich wohl ein humaner Scherz Jesu zum Grunde lag; We - niges nur ist rein nach jüdischen Ideen erdichtet, wie Jesu wundervolle Geburt, der Bethlehemitische Kindermord u. dergl. 3)Kaiser's biblische Theologie, 1. Thl. S. 194 ff. (1813).

Gabler besonders machte auf den Miſsgriff aufmerk - sam, daſs man bisher manchen philosophischen Mythus als historischen behandelt, und so Thatsachen angenommen habe, welche niemals vorgefallen seien4)Gabler's Journal für auserlesene theol. Literatur. 2, 1. 46.. Zwar will er ebensowenig lauter philosophische Mythen im N. T. anneh - men als lauter historische, sondern, einen Mittelweg ein - schlagend, je nach Beschaffenheit des Inhalts bald die eine bald die andre Art. Man müsse sich ebensosehr vor der Willkührlichkeit hüten, welche da bloſs Philosopheme an - nehme, wo wirkliche Fakta durchschimmern, als vor der entgegengesetzten Neigung, Manches natürlich und ge - schichtlich zu erklären, was doch nur zur mythischen Ein - kleidung gehöre. Namentlich wenn die Ableitung eines Mythus aus einem Räsonnement sehr leicht und natürlich ist, hingegen jeder Versuch, das reine Faktum aus dem - selben hervorzusuchen und dadurch die wunderbare Ge - schichte natürlich zu erklären, entweder sehr gekünstelt ist, oder gar in's Lächerliche fällt, so ist dieſs, nach Gabler, ein sicherer Beweis, daſs man hier einen philosophischen,45Einleitung. §. 10.nicht einen historischen Mythus zu suchen hat. Die phi - losophisch-mythische Deutung, schlieſst er, sei überdieſs in manchen Fällen weit weniger anstöſsig, als die Behand - lung aus dem historisch-mythischen Gesichtspunkt5)Gabler's neuestes theol. Journal, 7. Bd. S. 83. vgl. 397 u. 409.. Bei dieser Neigung Gabler's zum philosophischen Mythus in Bezug auf die biblische Geschichte muſs man sich wun - dern, wenn man sieht, wie er selbst in concreto nicht zu wissen scheint, weder was ein historischer, noch was ein philosophischer Mythus ist. Wenn er nämlich (in der angef. Abh.) von den bisherigen mythologischen Erklärern des N. T. s sagt, Einige von ihnen sehen in der Geschichte Jesu nur historische Mythen, wie Dr. Paulus, Andre lau - ter philosophische, wie der ungenannte E. F. in Henke's Magazin: so ist klar, daſs er natürliche Erklärungen mit historisch-mythischer Auffassung verwechselt, denn in Pau - lus Commentar sind nur die ersteren zu finden, da ja die Sage nicht als Vermittlung der Erzählungen gefaſst wird; ebenso wiederum historische Mythen mit philosophischen, denn jene Abhandlung steht nach der oben mitgetheilten Probe so sehr nur auf dem historisch-mythischen Stand - punkt, daſs man ihre Erklärungen sogar für natürliche halten könnte. Am entschiedensten erklärte sich gegen den Versuch, in den Mythen des N. T. s noch eine histo - rische Grundlage zu suchen, der Ungenannte in Bertholdt's kritischem Journal6)Über die verschiedenen Gesichtspunkte, in welchen und für welche der Biograph Jesu arbeiten kann. In Bertholdt's krit. Journal 5, S. 235 ff.. Ihm scheint auch der von Gabler vorgeschlagene Mittelweg zwischen ausschlieſsender An - nahme von historischen und von philosophischen Mythen nicht anwendbar zu sein, da zwar den meisten Nachrich - ten des N. T. s etwas wirklich Geschehenes zum Grunde liegen möge, ohne daſs es jedoch jezt noch möglich wäre,46Einleitung. §. 11.es von der mythischen Beimischung zu sondern und zu entscheiden, wie viel zu diesem, wie viel zu jenem Be - standtheile gehöre.

Es zeigte sich somit die Unfähigkeit, den Begriff des Mythus in Bezug auf die biblische Geschichte rein zu fas - sen einestheils in der überwiegenden Neigung zur Annah - me historischer Mythen, welche nichts andres ist, als Man - gel an Zutrauen zum Geist und zur Idee, als ob diese nicht im Stande wären, rein aus sich heraus Erzählungen zu erzeugen, sondern es hiezu durchaus einer äusseren, wenn auch noch so zufälligen Begebenheit als Veranlassung bedürfte; andrerseits in einer Vermengung des historisch - mythischen Standpunkts mit der natürlichen Erklärung, indem ohne Rücksicht auf den zugestandenen sagenhaften Charakter des Berichts seine einzelnen Züge in der Erklä - rung so urgirt wurden, als ob er aus dem Munde von Augenzeugen aufgenommen wäre.

§. 11. Der Begriff des Mythus nicht umfassend genug angewendet.

Aber nicht nur unrein gefaſst wurde der Begriff des Mythus bei seinem ersten Aufkommen unter den Theolo - gen, sondern auch auf die biblische Geschichte nicht um - fassend genug angewendet.

Wie Eichhorn nur an der allerersten Schwelle der A. T. lichen Urgeschichte einen wirklichen Mythus aner - kannte, alles Folgende aber als historisch auf natürliche Weise erklären zu müssen glaubte; wie man hierauf eine Zeit lang zwar im A. T. mythische Bestandtheile zugab, aber im N. T. an nichts dergleichen denken mochte: so muſste, einmal in das N. T. zugelassen, der Mythus auch wieder lange an dessen erster Schwelle, der Kindheitsge - schichte Jesu, stehen bleiben, und jeder weitere Schritt47Einleitung. §. 11.wurde ihm streitig gemacht. Ammon1)S. das §. 8. Anm. 5. angeführte Programm., der ungenannte E. F. in Henke's Magazin u. A. machten einen bedeuten - den Unterschied geltend zwischen dem historischen Wer - the der Nachrichten von Jesu öffentlichem Leben und von seiner Kindheit. Die Geschichte der letzteren könne un - möglich gleichzeitig geschrieben sein, da damals noch Nie - mand so sehr auf Jesum geachtet habe; ebensowenig in seinen drei letzten Lebensjahren, weil sie nicht den käm - pfenden und leidenden, sondern den verherrlichten Jesus im Sinne habe; also könne sie erst nach seiner Auf - erstehung verfaſst sein. Damals aber lieſsen sich kei - ne sichern Nachrichten mehr über die Kindheit Jesu einziehen; denn die Apostel waren nicht selbst Genos - sen derselben gewesen; Joseph lebte wahrscheinlich nicht mehr; der Maria, welche noch übrig war, hatten sich indeſs manche Umstände in der Erinnerung herrlicher ausgemalt, und wurden noch mehr von denen, welche es von ihr hörten, nach ihren Messiasbegriffen, verherr - licht; Manches bildete sich auch ohne historische Nach - richten nach Zeitbegriffen und A. T. lichen Orakeln (wie von der schwanger werdenden Jungfrau) aus. Durch al - les dieses aber soll nach jenen Verfassern die Glaubwür - digkeit der Evangelisten bei der folgenden Geschichte des Lebens Jesu nicht das Mindeste verlieren. Ihr Zweck und ihre Aufgabe war blos, eine sichere Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu zu geben, und in dieser verdie - nen sie allen Glauben, weil sie theils selbst gegenwärtig gewesen waren, theils, was sie schrieben, aus dem Munde anderer glaubwürdiger Zeugen wissen konnten. Diese Grenzlinie zwischen der Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte des öffentlichen Lebens Jesu und der Fabelhaf - tigkeit seiner Jugendgeschichte wurde dadurch noch schär - fer gezogen, daſs manche Theologen geneigt waren, die48Einleitung. §. 11.beiden ersten Kapitel des Matthäus und Lukas, welche die Jugendgeschichte enthalten, als unächt und spätere Zu - sätze zu verwerfen2)Vgl. Kuinöl, Prolegom. in Matthaeum, §. 3. in Lucam §. 6..

Wie den ersten Anfang, so fassten aber bald einige Theologen auch das letzte Ende der Lebensgeschichte Jesu, seine Himmelfahrt, mythisch auf3)z. B. Ammon, in der Diss. : Ascensus J. C. in coelum hi - storia biblica, in seinen Opusc. nov., so daſs dieselbe nun an ihren beiden äussersten Rändern von kritischen Zwei - feln angefressen wurde, während ihr eigentlicher Kern, die Periode von der Taufe bis zur Auferstehung, immer noch unangetastet bleiben sollte, oder daſs man, wie ein Recensent von Greiling's Leben Jesu sich ausdrückt4)In Bertholdt's krit. Journ. 5. Bd. S. 248., durch das Prachtthor der Mythe in die evangelische Ge - schichte hinein, und durch ein ähnliches wieder hinaus - fuhr, für das Dazwischenliegende aber mit den krummen und mühseligen Pfaden der natürlichen Erklärung sich be - gnügte.

Etwas mehr erweitert findet sich die Anwendung des mythischen Gesichtspunktes bei Gabler5)Gabler's neuestes theol. Journal Bd. 7. S. 395., wenn er den Unterschied zwischen Wundern, die Jesus that, und sol - chen, die an ihm vorgiengen, in der Art geltend macht, daſs zwar die letzteren mythisch, die ersteren aber natür - lich erklärt werden sollen. Gleich nachher übrigens spricht Gabler wieder so, als ob er mit den oben erwähnten The - ologen blos die Wunder aus der Kindheit Jesu mythisch zu fassen gesonnen wäre, was eine Beschränkung des vo - rigen Gesichtspunktes ist, da zwar alle Kindheitswunder in unsern Evangelien an ihm vorgegangene (nicht von ihm gethane) sind, dergleichen aber auch in seinem folgenden Leben manche vorkommen. Ungefähr nach der Gabler '-49Einleitung. §. 11.schen Unterscheidung von Wundern Jesu und an Jesu scheint auch Bauer in seiner hebräischen Mythologie die Auswahl dessen eingerichtet zu haben, was er im N. T. mythisch fassen zu dürfen glaubte, indem er nur die über - natürliche Empfängniſs Jesu nebst den ausserordentlichen Umständen bei seiner Geburt, die Scene bei der Taufe, die Verklärung, den Engel in Gethsemane und die am Gra - be mythisch behandelte, was zwar Wundergeschichten aus allen Theilen des Lebens Jesu, aber nur solche sind, die an Jesu vorgiengen, nicht von ihm verrichtet wurden, ob - gleich auch jene nicht vollständig.

Wie unzulänglich und inconsequent ein solches unvoll - ständiges Anwenden des Mythusbegriffs auf die Lebensge - schichte Jesu sei, hat besonders der schon mehrmals an - geführte Verfasser der Abhandlung über die verschiedenen Gesichtspunkte, in welchen der Biograph Jesu arbeiten kann, anschaulich zu machen sich bemüht6)a. a. O. S. 243 f.. Der ge - mischte Gesichtspunkt, auf welchem die evangelische Er - zählung zum Theil als reine Geschichte, zum Theil als mythisch betrachtet wird, verdankt nach ihm seinen Ur - sprung solchen Theologen, welche die Geschichte nicht aufgeben, und doch auch bei ihren klaren Resultaten sich nicht beruhigen mögen, und auf diesem Mittelwege beide Parteien vereinigen zu können meinen: ein eitles Bemühen, welches der strenge Supranaturalist verketzern, der Rationa - list verlachen wird. Indem diese Vermittler, bemerkt der Verf., gerne begreiflich machen möchten, was nur irgend möglich ist, so ziehen sie sich alle die Vorwürfe zu, die man der natür - lichen Erklärung mit Recht macht; indem sie aber auch noch der Mythe Raum geben, so trifft sie die Klage über Inconsequenz mit aller ihrer Schwere, der schlimmste Vorwurf, der einem Gelehrten gemacht werden kann. Überdieſs ist das Verfahren dieser Eklektiker das allerwill -Das Leben Jesu I. Band. 450Einleitung. §. 11.kührlichste, da sie meist nach subjektiven Gründen ent - scheiden, was der Geschichte, und was der Mythe ange - hören solle, wenigstens wissen die Evangelisten, die Logik und die ihr angehörige historische Kritik nichts von solchen Unterscheidungen. Den Begriff des Mythus auf den ganzen Umfang der Lebensgeschichte Jesu anzuwenden, in allen Theilen derselben mythische Erzählungen oder wenigstens Ausschmückungen zerstreut zu finden, dieſs ist der Standpunkt dieses Verfassers, welcher nicht blos die Wundererzählungen aus der Kindheit Jesu, sondern auch die aus seinem öffentlichen Leben, und nicht blos die an ihm vorgegangenen, sondern auch die von ihm verrichte - ten Wunder unter die Kategorie des Mythischen stellt.

Wenn de Wette den drei ersten Evangelien einen sa - genhaften und zum Theil sogar mythischen Charakter zu - schreibt, und aus diesem ihre Abweichung in den Erzäh - lungen und selbst in ihrer Darstellung der Reden und Leh - ren Jesu erklärt7)Biblische Dogmatik §. 226. (2te Auflage.), wenn er das Wunder bei Jesu Taufe als Mythus betrachtet8)a. a. O. §. 208., wenn er zugiebt, daſs manche von Jesu angeblich verrichtete Wunder in der Überlieferung entstanden, oder doch vergröſsert worden sein mögen9)a. a. O. §. 222., und endlich selbst den Zweifel stehen läſst, ob Jesus leib - lich oder nur geistig auferstanden und wiedererschienen sei10)a. a. O. §. 224.: so scheint er ziemlich auf demselben Standpunkte mit dem zuletzt angeführten Verf. zu stehen, und man be - greift schwer, wie er dazu kommt, den Standpunkt jener Abhandlung als zu weit geführte mythische Ansicht zu bezeichnen11)§. 226. Anm. a.. Es mag dieſs wohl daher rühren, daſs de Wette das Johannes-Evangelium als Richtschnur der51Einleitung. §. 12.Kritik für den Inhalt der Geschichte und Lehre Jesu ge - brauchen zu können glaubt12)In ebendems. §.; wozu noch in dem gan - zen der Geschichte Jesu gewidmeten Abschnitt seiner bi - blischen Dogmatik ein gewisses Schwanken zwischen my - thischer und natürlicher Erklärung kommt13)Vgl. besonders die §§. 222 und 224..

Die ausgedehnteste Anwendung des Begriffs von phi - losophischem Mythus, welchen man aber in Beziehung auf das alte und neue Testament besser als den dogmatischen bezeichnet, auf das Leben Jesu war schon 1799 in der anonymen Schrift über Offenbarung und Mythologie ge - macht worden. Das ganze Leben Christi, heiſst es hier, was er im Allgemeinen thun sollte und wollte, war lange vorher in der Idee und Anschauung der Juden abgezeich - net. Jesus als Individuum war nicht so da, lebte nicht wirklich so, wie er nach den Erwartungen jenes Volkes gelebt haben sollte. Nicht einmal das, worin alle Anna - len, die seine Thaten berichten, übereinstimmen, ist durch - aus wirkliche Thatsache. Aus verschiedenen Volksbeiträ - gen bildete sich eine Volksstimme von seinem Leben, und nach dieser erst sind die Evangelien gemacht14)S. 103 f.. Freilich bemerkte dagegen ein Recensent, der Verfasser scheine doch weniger Historisches anzunehmen, als den Erzählungen wirklich zum Grunde liege; er hätte besser gethan, sich durch nüchterne Kritik des Einzelnen, als durch einen all - gemeinen Skepticismus leiten zu lassen15)In Gabler's neuest. theol. Journal Bd. 6. 4tes Stück. S. 350..

§. 12. Bestreitung und Vertheidigung der mythischen Ansicht von der evangelischen Geschichte.

Durch den im Bisherigen dargelegten mythischen Ge - sichtspunkt für die biblische Geschichte hatte man sich der4*52Einleitung. §. 12.alten allegorischen Auslegung wieder genähert. Denn wäh - rend die natürliche Erklärungsweise der Rationalisten sammt der schmähenden der Naturalisten der Richtung angehört, welche mit Aufopferung des göttlichen Gehaltes der heili - gen Geschichte die leere historische Form derselben fest - hält: so geht die mythische wie die allegorische darauf aus, lieber umgekehrt mit Aufopferung der historischen Wirklichkeit des Erzählten seine absolute Wahrheit fest - zuhalten. Nach der den beiden letzteren Erklärungsarten (wie auch der moralischen) zum Grunde liegenden Ansicht giebt der Geschichtschreiber zwar etwas scheinbar Histo - risches: aber ihm bewuſst oder unbewuſst1)Nach Philo hat Moses selbst den tieferen Sinn seiner Schrif - ten beabsichtigt, s. Gfrörer I, S. 94.; auch nach Origenes Comm. in Joann. Tom. 6, §. 2. Tom. 10, §. 4., hat der Pro - phet und Evangelist ein gewisses Bewusstsein des tieferen Sinns seiner Worte und Erzählungen: der mythischen An - sicht zufolge wird sich der Berichterstatter der in seiner Erzählung verkörperten Idee nicht rein als solcher, sondern nur in der Form jener Erzählung bewusst. hat ein - herer Geist dieſs Geschichtliche als bloſse Hülle einer über - geschichtlichen Wahrheit oder Meinung zubereitet, und nur der wesentliche Unterschied findet zwischen den zu - letzt angeführten Erklärungsweisen statt, daſs nach der allegorischen dieser höhere Geist unmittelbar der göttliche selbst, nach der mythischen der Geist eines Volks oder einer Gemeinde (nach der moralischen in der Regel der des auslegenden Subjektes) ist, und somit die Erzählung nach der ersteren Ansicht aus übernatürlicher Eingebung sich herschreibt, nach der andern auf dem natürlichen Wege der Sagenbildung sich entwickelt hat; womit noch dieſs zusammenhängt, daſs die allegorische Auslegung (und die moralische) mit der ungebundensten Willkühr jeden Gedanken, den sie für gotteswürdig (moralisch) hält, der Geschichte als Inhalt unterschieben kann, wogegen die my -53Einleitung. §. 12.thische durch die Rücksicht auf die Angemessenheit an den Geist und die Vorstellungsweise eines Volks und einer Zeit in Aufsuchung der den Erzählungen zum Grunde liegen - den Ideen gebunden ist.

Gegen diese neue Ansicht von der heiligen Geschichte sprachen sich übrigens beide Parteien, Orthodoxe wie Ra - tionalisten, aus. Gleich Anfangs, so lange die mythische Auffassung noch innerhalb der Grenzen der A. T. lichen Urgeschichte stand, hat sich von ersterer Seite namentlich Hess gegen dieselbe geäussert2)Grenzbestimmung dessen, was in der Bibel Mythus u. s. f., und was wirkliche Geschichte ist. In seiner Bibliothek der heiligen Geschichte 2. Bd. S. 155 ff.. So unglaublich man es finden mag, so läuft doch der ganze Inhalt seiner ziem - lich umfangreichen Abhandlung auf die drei Schlüsse hin - aus, welche jede weitere Bemerkung überflüssig machen, ausser der, daſs Hess keineswegs der letzte Orthodoxe war, welcher die mythische Erklärungsart durch solche Waffen bekämpfen zu können meinte. 1) Mythen sind uneigent - lich zu verstehen; nun wollen aber die biblischen Geschicht - schreiber eigentlich verstanden sein: folglich erzählen sie keine Mythen. 2) Mythologie ist etwas Heidnisches; die Bibel ist ein christliches Buch: also enthält sie keine My - thologie. Der dritte Schluſs ist complicirter, und wie sich unten zeigen wird, auch mehrsagend: Wenn blos in den ältesten biblischen Büchern, die weniger historisch ver - bürgt sind, Wunderbares vorkäme, in den späteren aber nicht mehr, so könnte man das Wunderbare für ein Kenn - zeichen des Mythischen halten; nun aber kommt das Wun - derbare in den späteren, unleugbar historischen Büchern noch ebenso vor, wie in den frühsten: folglich kann es nicht als ein Kriterium des Mythischen gelten. Selbst die schaalste natürliche Erklärung, wenn sie nur noch etwas von Geschichte stehen lieſs, mochte sie auch jeden höhe -54Einleitung. §. 12.ren Inhalt derselben vernichten, war diesen Orthodoxen noch lieber, als die mythische Auslegung. Das Schlech - teste von natürlicher Deutung ist doch gewiſs jene Eich - horn'sche Ansicht von dem Baum der Erkenntniſs als ei - nem Giftbaum, indem hier die Erzählung vom Sündenfall in dem Stande der tiefsten Erniedrigung und Entäusserung von ihrem absoluten Gehalte erscheint, wogegen desselben Gelehrten spätere mythische Erklärung der Erzählung ei - nen immerhin würdigen Gedankeninhalt in derselben fin - det3)s. o. §. 6.. Dennoch erklärte sich Hess mit der ersteren Deu - tung weit mehr zufrieden, und nahm sie gegen die späte - re, mythische in Schutz4)Bibl. d. h. G. 2, S. 251 f.: so gewiſs ist es, daſs ei - nem solchen Supranaturalismus nach der Weise der Kin - der die bunte historische Hülse, auch ausgeleert von jedem göttlichen Inhalte, doch immer noch weit lieber ist, als der reichste Inhalt, welchem man jenes farbige Gewand ausgezogen.

So unangenehm es aber den Orthodoxen war, durch die aufkommende mythische Erklärungsweise in ihrem hi - storischen Glauben gestört zu werden, so waren doch die Rationalisten nicht minder ungehalten, daſs das kunstrei - che Gewebe ihres Pragmatismus durch dieselbe zerrissen und die Kunststücke ihres natürlichen Erklärens nun mit Einemmale für verlorene Mühe erklärt werden sollten. Nur ungern läſst Dr. Paulus die Ahnung an sich kommen, daſs man in Bezug auf seinen Commentar vielleicht aus - rufen werde: wozu alle die Mühe, dergleichen Legenden historisch zu erklären? wie sonderbar, daſs man Mythen wie Geschichte behandeln, wunderbare Dichtungen nach dem Causalgesez sich begreiflich machen will5)Exegetisches Handbuch I, a, S. 1. 71.! Der Quä - lerei seiner natürlichen Erklärungen gegenüber erscheint55Einleitung. §. 12.dem genannten Theologen die mythische Auffassungsweise nur als eine Geistesträgheit, welche mit der evangelischen Geschichte auf dem leichtesten Wege fertig zu werden wünsche, deſshalb alles Wundersame und Schwerverständ - liche durch das dunkle Wort: Mythus auf die Seite schie - be, und um sich der Mühe der Sonderung des Wunder - baren vom Natürlichen, des Faktums vom Urtheil zu über - heben, die ganze Erzählung in die camera obscura alter heiliger Sage zurückstelle6)a. a. O. S. 4..

Mit noch stärkerer Miſsbilligung hatte sich Greiling gegen Krug's Empfehlung der genetischen d. h. mythischen Wundererklärung ausgesprochen, aber es war ihm begeg - net, fast mit jedem Streich, den er auf diese führen woll - te, vielmehr seine eigene, natürliche Auslegungsweise zu treffen. Unter allen Versuchen, meinte er, dunkle Stellen des N. T. s aufzuklären, könne schwerlich einer der ächt - historischen Auslegung, der Ausmittelung der eigentlichen Thatsachen und ihrer verständigen Absicht nachtheiliger sein (d. h. dem Fürwiz natürlicher Erklärer mehr Abbruch thun), als der Versuch, mit Hülfe einer dichtenden Phan - tasie (so verhält sich die des natürlichen Erklärers, wenn er Nebenumstände einschiebt, von welchen im Text keine Spur ist; der mythische Erklärer verhält sich nicht dich - tend, sondern nur Dichtung erkennend und aufdeckend) der Geschichtserzählung aufzuhelfen. Eine solche unnö - thige, willkührliche Dichtung der Phantasie ist nach Grei - ling die genetische oder formelle Erklärungsart der Wun - der (sezt man noch einen grübelnden Verstand dazu, so ist genau die natürliche Erklärung geschildert). Viele Thatsachen, die sich als solche wohl noch retten lassen, heiſst es weiter, werden dadurch entweder in das Fabel - land gespielt, oder an deren Stelle selbsterfundene Dich - tungen gesezt (mit Unterschiebung solcher Dichtungen giebt56Einleitung. §. 12.sich nur etwa die historisch-mythische Erklärungsweise ab, aber eben sofern sie keine ächt-mythische, sondern mit der natürlichen identisch ist). Namentlich eine Erklärung der Wunder, meint Greiling, dürfe das Faktum selbst nicht verändern und durch die Auslegung taschenspielerisch ein andres unterschieben (was nur die natürliche Erklärung thut), sonst würde ja das dem Verstand anstöſsige Objekt nicht erklärt, sondern das vorausgesezte Faktum geleug - net, womit die Aufgabe nicht gelöst wäre (es ist falsch, zu behaupten, daſs ein Faktum zur Erklärung vorliege; was unmittelbar vorliegt, ist nur ein Bericht, von welchem erst ausgemacht werden muſs, ob ihm ein Faktum zum Grunde liegt, oder nicht). Statt dessen müssen nach dem angeführten Gelehrten namentlich die von Jesu verrichte - ten Wunder natürlich, näher psychologisch, erklärt wer - den, wobei man dann am wenigsten Ursache habe, die er - zählten Thatsachen zu verändern, zu beschneiden, mit Dichtungen so lange zu versetzen, bis sie selbst zur Dich - tung werden (mit welchem Rechte dieſs der natürlichen Erklärungsweise nachgerühmt wird, geht schon aus dem Bisherigen hervor)7)Greiling in Henke's Museum 1, 4, S. 621 ff..

Ueberhaupt, durchgeht man die Gründe, mit welchen von den bezeichneten beiden Seiten die mythische Erklä - rungsweise bekämpft worden ist: so findet man zum grö - ſseren Theile nur Miſsverständnisse und Cirkel im Beweise. Was soll man z. B. sagen, wenn Paulus die Einleitung zu seinem exegetischen Handbuch mit einer Freude darüber eröffnet, daſs das Lukas-Evangelium in seinem Prologe uns recht angelegentlich von der Glaubwürdigkeit der ge - sammelten Thatsachen, und von der prüfenden Sorgfalt des Sammlers versichere; wenn er zuversichtlich fragt, was dadurch entschiedener werde, als daſs wir in diesem Evan - gelium keine Mythen, sondern reine Thatsachen bekommen57Einleitung. §. 12.sollen, da doch Niemand mythische Dichtungen mit einem solchen Vorwort beginnen würde. Diese ganze Argumen - tation fällt durch die einfache Unterscheidung, daſs Lukas zwar allerdings so nicht sprechen konnte, wenn er das von ihm zu Erzählende selbst als Mythen erkannte, gar wohl aber, wenn er davon nichts ahnte, was nach dem Geiste seiner Zeit zum Voraus wahrscheinlich ist. Eben - damit fällt das Andere, was Dr. Paulus hinzusezt, es sei nicht begreiflich, wie es dem Pauliner Lukas möglich ge - wesen wäre, Mythisches in sein Evangelium aufzunehmen, da gerade sein Lehrer Paulus so oft und stark gegen ju - daisirende Mythen eifere (1. Tim. 1, 4. 4, 7. Tit. 1, 14.). Zugegeben auch die paulinische Authentie der citirten Brie - fe, und das enge Verhältniſs des Verfassers des dritten Evangeliums zum Apostel Paulus, so waren einmal die in jenen Briefen bekämpften Mythen offenbar andrer Art, nämlich unerbauliche Ausgeburten einer jüdischen oder christlichen Gnosis, wogegen das, was in dem Evangelium als my[stis]ch in Anspruch genommen wird, auf die erbau - lichste Weise christlichen, wenn auch judaisirenden, Ideen dient; dann aber konnte den Lukas die paulinische Abnei - gung gegen Mythen nicht von der Aufnahme solcher Er - zählungen abhalten, welche er selbst nicht als Mythen er - kannte. Aber freilich, Dr. Paulus kennt in Bezug auf das N. T. nur eine absichtliche Einkleidung in Mythen, um welche also auch Lukas bei der Aufnahme mythischer Stücke in sein Evangelium gewuſst haben müſste, und stüzt so eine irrige Voraussetzung durch eine andre noch verkehrtere.

Das Wort Mythus, erklärt er in dieser Beziehung8)a. a. O. S. 2 ff., sollte schon deſswegen auf die evangelische Geschichte nicht angewendet werden, weil man es bei dieser Anwendung in einem ganz andern Sinn nehmen müsse, als die Wort - bedeutung und der ursprüngliche Gebrauch mit sich brin -58Einleitung. §. 12.ge. Von der alten classischen Mythologie nämlich hat Paulus die richtige Einsicht, daſs in ihr die Voraussetzung eines Eingreifens höherer Wesen in das menschliche Trei - ben nicht blos Einkleidung, noch weniger frommer Betrug gewesen sei; es stand, wie er ausdrücklich versichert, nicht so, als ob die Menschen, und namentlich die Dichter, die sichtbaren und natürlichen Ursachen der Fakta für sich richtig gewuſst, und nur zur Verherrlichung des Gesche - henen die übersinnlichen Ursachen hinzugedacht hätten: vielmehr haben alle, und auch die Dichter, das Dasein und Einwirken unsichtbarer Wesen so gewiſs, als das Sichtbare selbst, geglaubt. Nun aber auf die Anfänge der N. T. lichen Geschichte angewendet, solle, meint Dr. Pau - lus, das Wort Mythus gewöhnlich die Bedeutung einer Einkleidung haben, in welche man erst in der Folgezeit die frühsten, nicht genau bekannten Ereignisse absichtlich eingehüllt habe; es solle also hier nicht wie dort eine be - wuſstlose, unwillkührliche, sondern eine bewuſste und ab - sichtliche Dichtung bezeichnen. Allein wer giebt dem ge - nannten Ausleger das Recht, einen so verkehrten Begriff von N. T. lichen Mythen zum Grunde zu legen, als sollten sie künstliche Produkte absichtsvoller Dichtung sein, eine Vorstellung, welche von allen, die auf gründliche Weise über Mythen in der heiligen Geschichte gehandelt haben, ausdrücklich ausgeschlossen worden ist? 9)s. o. §. 8. namentlich die in Anmerkung 2 und 7. angeführ - ten Schriften. In demselben Irrsal mit Paulus zeigt sich auch Hess in der oben angeführten Abhandlung befangen, wenn er daraus, dass die biblischen Schriftsteller eigentlich verstanden sein wollen, beweisen zu können meint, dass ihre Erzählungen keine Mythen seien.Freilich denkt er sich die Sache eigentlich so, im classischen Alterthum sei das Mythische die psychologische Täuschung der bei der Sache Gegenwärtigen, Mitredenden und Mithandeln -59Einleitung. §. 12.den gewesen, welche durch natürliche Erklärung zurecht zu stellen sei; wogegen die im N. T. angenommenen My - then die auf vergangne Fakta zurückgetragne Meinung der später Lebenden enthalten, und dadurch der natürlichen Erklärung entzogen werden sollen. Allein, was Paulus als Beleg dieser Ansicht von der heidnischen Mythologie an - führt, das sind doch nur solche Punkte, wie Begeisterung des Dichters durch die Musen, Einsprache der Götter im Traum u. dgl., was nur mythische Vorstellungen, nicht aber eigentliche Mythen sind; diese selber, die mythischen Erzählungen, z. B. vom Argonautenzug, vom trojischen Krieg u. s. f., würde ihm doch schwer fallen, aus psy - chologischer Täuschung der Mitlebenden zu erklären, und es würde ihm kaum etwas Andres übrig bleiben, als sie für zurückgetragene Vorstellungen der Nachgeborenen zu halten, also sie ebenso zu behandeln, wie, wer im N. T. Mythen anerkennt, mit diesen verfährt.

Kaum einer Erwähnung werth sind solche Einwände, wie man sie dessen ungeachtet nicht selten noch zu lesen und zu hören bekommt: da das Christenthum eine histo - rische Religion sei, so können in seinen Urkunden keine Mythen sich finden (als ob nicht nach der vorgefundenen Beschaffenheit der Urkunden unsre Vorstellung von dem historischen Charakter des Christenthums sich zu richten hätte); mythologisch sei nur der Polytheismus, der Mono - theismus sei antimythologisch; bei den Völkern, welche Mythen haben, laufe Alles auf das Suchen eines Höheren, einer Gottheit hinaus, und so lasse sich der Mythenbegriff auf das A. und N. T. schon deſshalb nicht anwenden, weil in ihnen die Lehre von dem wahren Gott schon ge - funden sei10)Werner, geschichtliche Auffassung der 3 ersten Kapitel des ersten Buchs Mosis, S. 49. (allerdings drückt die mythische Darstellung ein Suchen und Ringen, das noch nicht gefunden hat,60Einleitung. §. 12.aus, aber nicht nach einem Inhalte, der nun im Christen - thum gefunden wäre, sondern nach einer Form, der des klaren Begriffs, und diese war in der ersten Christenge - meinde noch nicht vorhanden, weſswegen sich in ihr, un - erachtet ihrer Erkenntniſs der religiösen Grundwahrheiten, doch ein Bedürfniſs nach mythischer Darstellung derselben äussern konnte). Wenn ferner geltend gemacht wird, die angeblich mythischen Erzählungen im N. T. seien viel zu genau und umständlich auch in Nebenzügen, die man sich nicht die Mühe genommen haben würde, zu erdichten11)Heydenreich, über die Unzulässigkeit der mythischen Auf - fassung des Historischen im N. T. 1. Abthl. S. 87.: so braucht man sich nicht einmal mit Horst zu bemühen, daran zu erinnern, daſs gerade diese redselige Umständ - lichkeit einer Erzählung als Kennzeichen des Sagenhaften und Dichterischen angesehen werden könne, da der ernste Geschichtschreiber selten so glücklich sei, mit den Bege - benheiten so ganz bis auf deren leiseste Schattirungen ins Reine zu kommen12)In Henke's Museum I, 4, S. 705.; sondern man darf in der Regel bei demselben Verfasser nur einige Blätter umschlagen, um ge - rade auf die entgegengesetzte Argumentation zu stossen, wie sich nämlich da oder dort eine fingirte Legende deſs - wegen nicht annehmen lasse, weil in einer solchen Alles ausführlicher und ausgeschmückter sich zeigen müſste13)Heydenreich a. a. O. S. 91.. Indem so die Erzählung der Evangelisten bald zu ausführ - lich, bald zu wenig ausführlich, das Einemal zu genau bis in die kleinsten Züge hineingezeichnet, das Andremal nicht ausgemalt genug sein soll, um für mythisch angese - hen werden zu können, indem also die Bestreiter der my - thischen Auffassung sich das Entgegengesetzte gleicherwei - se zu Nutze zu machen wissen: so kann man sie in die - sem Stücke durch ihren eigenen Widerspruch als wider -61Einleitung. §. 12.legt betrachten. Übrigens hat gegen das zuletzt angeführte Argument Schneckenburger mit Recht erinnert, daſs es auch im Kreise des Mythischen ein Mehr oder Minder ge - be14)Über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums S. 72., was näher dahin zu bestimmen ist, daſs die My - thenproduktion überall zwei Perioden, eine primäre und eine secundäre hat, und daſs die gesunden Produkte der ersten immer, wie unsre kanonischen Evangelien, durch edle Simplicität, die krankhaften Erzeugnisse der zweiten aber durch Unnatur und Übertreibung, wie die N. T. li - chen Apokryphen, sich bemerkbar machen. Verdienter - maſsen hat daher schon Schelling über diejenigen, wel - che, um den mythischen Charakter einer alten Sage zu be - streiten, mit groſsem Triumph ausrufen: es ist doch gar keine Kunst in ihr bemerkbar, sie ist viel zu einfältig, sie macht zu wenig Jagd auf das Wunderbare, als daſs man sie einen Mythus nennen könnte, das procul este profani! ausgesprochen15)In der §. 8. Anm. 2. angeführten Abhandlung, am Schlusse..

Was einer der neuesten Bestreiter der mythischen Aus - legung, Heydenreich, insbesondere gegen die Wunderscheue, als die Hauptquelle, wie der alten natürlichen, so der neuen mythischen Ansicht vorbringt16)a. a. O. S. 46 ff. 61 ff., ist theils gar zu obso - let, theils für seine eigne supranaturalistische Ansicht ge - fährlich. Einer verschollenen Weltansicht gehört es an, wenn er sagt, obgleich Gott für gewöhnlich nur mittelbar auf die Welt einwirke, so werde doch hiedurch nicht aus - geschlossen, daſs er nicht bisweilen ausnahmsweise auch unmittelbar auf dieselbe sollte wirken können, sobald er es zur Erreichung eines besondern Zweckes nöthig finde, und wenn sofort an den einzelnen göttlichen Eigenschaften der Reihe nach gezeigt wird, wie ihnen ein solches Ein - wirken nicht widerspreche, und an den einzelnen Wun -62Einleitung. §. 12.dergeschichten, wie bei ihnen gerade ein göttliches Eingrei - fen ganz besonders schicklich gewesen sei. Wenn aber hierauf Heydenreich, nach Herder's Vorgange17)Von Gottes Sohn, der Welt Heiland, nach Johannes Evange - lium. S. 18 ff. 116 ff., manche Wunder als symbolische Vorgänge betrachtet, wenn er be - merkt, es habe sich durch dieselben wie im leiblichen Sinn - bilde dasjenige dargestellt, was Jesus an der Menschheit geistig bewirken sollte; es habe, wenn er körperlich Kran - ke heilte und Todte erweckte, dadurch die Heilung der kranken, die Neubelebung der sittlich erstorbenen Seele symbolisch angedeutet und das Verlangen nach solcher gei - stigen Hülfe geweckt werden sollen: so führt er durch diese Betrachtungsweise die gefährliche Möglichkeit herbei, diesen symbolischen Charakter der Wundergeschichten so zu verstehen, daſs der Geist der ersten Christengemeinde sich eben jene Ideen in der symbolischen Hülle nicht wirk - lich vorgefallner Geschichten zum Bewuſstsein zu bringen gesucht habe.

Der gewichtigste, oder eigentlich der einzige gewich - tige Einwurf, welchen die Bestreiter des mythischen Ge - sichtspunktes für die Erklärung des N. T. s vorbringen, ist der, daſs der Ursprung zweier Evangelien von Augenzeugen, und auch bei den beiden andern die wahrscheinlich sehr frühe Abfassung das Einschleichen unhistorischer Sagen in dieselben undenkbar mache; weſswegen sich dann auch dieser Einwurf bei den neuesten, von dem mythischen Standpunkt her besonders bedrohten Auslegern vorzüglich häufig wiederholt. Die dabei zum Grunde liegende An - sicht über den Ursprung unsrer Evangelien wird theils auf innere Gründe, theils auf äussere Zeugnisse gestüzt. In ersterer Beziehung sind alle diejenigen Stücke in den Evan - gelien, welche sich weigern, anders als mythisch sich aus - legen zu lassen, eben so viele innere Gründe gegen die63Einleitung. §. 12.Voraussetzung einer Abfassung derselben durch Apostel oder solche, welche unmittelbar von Aposteln ihre Erkun - digungen eingezogen hätten; auf innere Gründe also kann die Authentie der Evangelien nicht gebaut werden, ehe sämmtliche Erzählungen derselben darauf angesehen sind, ob sie eine historische oder eine mythische Auffassung ver - langen. Freilich, wenn die äussern Zeugnisse für einen apostolischen Ursprung der Evangelien zwingend wären: so würde dieſs ein bedenkliches Hinderniſs der mythischen Ansicht von ihren Berichten sein. Allein so sind jene äus - sern Gründe keineswegs beschaffen. Denn so hoch gehen doch die Zeugnisse weder für das Matthäus - noch für das Johannes-Evangelium hinauf, daſs uns ein Bekannter die - ser Apostel die Mittheilung machte, sie haben Evange - lien, und zwar eben diejenigen geschrieben, welche wir jezt unter ihren Namen lesen. Für das johanneische Evan - gelium findet sich gerade bei Polykarpus, welcher den Jo - hannes gekannt haben soll, nicht blos in dem, was uns von ihm Schriftliches übrig ist, kein Zeugniſs, sondern auch Irenäus, sein Schüler, weiſs sich für die Ächtheit je - nes Evangeliums auf keinen Ausspruch seines Lehrers zu berufen18)de Wette, Einleitung in das N. T. §. 109 (2te Auflage).. Auch aus Papias, der als Ἰωάννου ἀκου[ς]ὴς be - zeichnet wird, wissen die Väter, welche die alten Zeug - nisse für unsre Evangelien sorgfältig aufgesammelt haben, nichts für das johanneische Evangelium beizubringen. Da - gegen bezeugt Papias von Matthäus, daſs er ein Evange - lium (denn das will er allerdings durch τὰ λόγια bezeich - nen19)vgl. Lücke, in ullmann's und umbreit's Studien, 1833, 2. Heft S. 499 ff., gegen Schleiermacher, über Papias Zeugnisse von unsern beiden ersten Evangelien, Studien, 1832, 4, S. 736 ff.) geschrieben habe20)Euseb. H. E. 3, 39.; allein theils wird Papias nicht wie des Johannes, so auch des Matthäus Bekannter64Einleitung. §. 12.genannt; theils führt er keine Stellen aus dem von ihm dem Matthäus zugeschriebenen Werke an, aus welchen wir beurtheilen könnten, ob es dasselbe mit dem uns vor - liegenden angeblichen Matthäus-Evangelium sei; theils end - lich hat nach ihm Matthäus hebräisch geschrieben, und daſs nun unser erstes Evangelium gerade eine Uebersetzung die - ser Apostelschrift sei, beurkundet weder er noch ein andrer Kirchenschriftsteller, sondern man sezt es nur voraus. Man wird die Forderung überspannt nennen, für die Au - thentie eines Buchs ein Zeugniſs von einem Bekannten des Verfassers, also gleichsam von einem Augenzeugen des Aktes der Abfassung und einem Ohrenzeugen der Versiche - rung des Autors, es geschrieben zu haben, zu verlangen. Sie wäre es, wenn es sich nur um Wahrscheinlichkeit, wenn auch noch so hohe, der Authentie einer Schrift han - delte: hier aber wird Nothwendigkeit, oder ein Zeugniſs verlangt, welches uns auch gegen das etwaige Ergebniſs der inneren Kritik doch bei der Annahme eines apostoli - schen Ursprungs der genannten Evangelien zwingend fest - hielte. Ein zwingendes Zeugniſs müſste die angeführte Beschaffenheit haben, und da ein solches fehlt: so bleibt uns die Möglichkeit offen, je nach der inneren Beschaf - fenheit jener Evangelien sie als Werke von Aposteln oder Nichtaposteln zu behandeln. Die beiden mittleren Evan - gelien sollen Werke von Apostelgehülfen sein. Vom zweiten meldet Papias, aus dem Munde des πρεσβύτερος Ἰωάννης, daſs es von Markus, der dem Apostel Petrus als Dolmetscher gedient, aus Erinnerungen an dessen Vor - träge geschrieben worden sei21)Bei Eusebius a. a. O., und Andre lassen diese Schrift noch dazu von Petrus durchgesehen und gebilligt werden22)Clem. Alex. bei Eusebius H. E. 2, 15.. Allein wie sich diese leztere Notiz durch den eigenen Widerspruch ihres Gewährsmanns wider -65Einleitung. §. 12.legt23)Derselbe ebendaselbst 6, 14. Vgl. de Wette, Einleitung in das N. T. §. 99.: so trifft die erstere Angabe, daſs Markus nach den Vorträgen des Petrus, also nach einer eigenthümlichen Quelle gearbeitet habe, bei unsrem jetzigen zweiten Evangelium durchaus nicht zu, welches augenscheinlich aus Matthäus und Lukas zusammengeschrieben ist24)Dies ist zur Evidenz erhoben durch Griesbach in der Com - mentatio, qua Marci Evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse demonstratur. In dessen opus - cula acad. ed. Gabler Vol. 2. No. XXII. Vgl. Saunier, über die Quellen des Evangeliums des Markus, 1825.; abgesehen davon, daſs das οὐ τάξει, welches Papias von der Schrift des Markus prädicirt, auf die uns vorliegende in keiner Hinsicht An - wendung finden kann, so daſs auch hier der anfängliche Schein verschwindet, als rede Papias von unsrem jetzigen Markus-Evangelium25)Vgl. Schleiermacher a. a. O.. Das Lukas-Evangelium hat ein starkes Zeugniſs seiner Abkunft von einem Apostel - schüler in der Apostelgeschichte desselben Verfassers, in welcher er einigemale als Begleiter des Paulus nament - lich auch auf seiner Reise nach Rom, erscheint. Und zwar hat man aus dem abgebrochenen Schluſs der Apostel - geschichte, welcher nur noch eines zweijährigen Aufent - halts Pauli zu Rom, aber keines Ausgangs seiner Sache Meldung thut, folgern zu dürfen geglaubt, daſs Lukas die Apostelgeschichte eben während seines Zusammenseins mit Paulus in Rom, in den Jahren 63 65 geschrieben, folg - lich sein Evangelium, welches er im Eingang der Apostel - geschichte als den πρῶτον λόγον bezeichnet, etwas früher, also zu einer Zeit verfaſst habe, in welcher er bei Paulus und andern Aposteln die genauesten Erkundigungen über das Leben Jesu einziehen konnte. Allein aus dem Schwei - gen der Apostelgeschichte über den weiteren Verlauf und das Ende der Gefangenschaft des Paulus ihre Abfassung während der Dauer von dieser zu schlieſsen, ist ein un -Das Leben Jesu I. Band. 566Einleitung. §. 12.zulässiges argumentum ex silentio, welches, um einiges Gewicht zu bekommen, durch innere Gründe verstärkt werden müſste26)Vgl. de Wette, Einleitung in das N. T. §. 116.; so daſs Lukas immerhin sein Evange - lium möglicherweise viel später, und zu einer Zeit geschrie - ben haben könnte, in welcher er der Unterstützung des Paulus (der übrigens mit den Thatsachen des Lebens Jesu nur mittelbar, und wegen seines seltenen Zusammenseins mit Aposteln auch nur unvollkommen bekannt gewesen zu sein scheint), und ebenso der übrigen Augenzeugen ent - behrte, also der Möglichkeit ausgesetzt war, im Geiste seiner Zeit mythische Elemente unter die historischen aufzunehmen.

Ist somit, die Augenzeugenschaft, oder ein solches Verhältniſs zu Augenzeugen, welches die Aufnahme von Mythen undenkbar machte, von keinem der Verfasser unsrer Evangelien durch äussere Zeugnisse streng zu be - weisen: so fragt sich noch, ob nicht, abgesehen von den Verfassern, die Zeit ihrer Abfassung so frühe zu setzen ist, daſs sie die Annahme mythischer Nachrichten in den - selben unmöglich macht? Da dieſs, in Ermanglung ver - läſslicher Zeugnisse, nur aus der inneren Beschaffenheit der Evangelien erhellen kann: so wollen wir uns, um der folgenden Untersuchung nicht vorzugreifen, vorläufig nur etwa dreissig Jahre Zwischenzeit zwischen Jesu Tod und der Entstehung unsrer Evangelien ausbedingen. Wer die Möglichkeit der Entstehung von Mythen in dieser Zwi - schenzeit leugnete, der würde, um mit Usteri27)In Ullmann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, Jahr - gang 1832, 4tes Heft, S. 787 f. zu re - den, wenig Kenntniſs davon verrathen, wie kurze Zeit dazu nöthig ist, daſs nicht etwa blos verborgene und ge - heime, sondern öffentliche und bekannte Thatsachen durch die Tradition eine neue Wendung und einen Anstrich des Wunderbaren erhalten, wenn einmal die Gemüther hiezu disponirt sind. Herodot bezeugt (1, 95.), daſs zu seiner67Einleitung. §. 12.Zeit, also beiläufig 70 Jahre nach Cyrus Tode, ausser dem von ihm mitgetheilten Berichte solcher über Cyrus, welche nicht darauf ausgehen, σεμνοῦν τὰ περὶ Κῦρον, noch τριφα - σίας ἄλλας λόγων ὁδοὺς φῇναι. Wenn Heydenreich gegen diese Instanz zuversichtlich fragt, welches von unsern Evangelien denn, wie von den Urhebern der von Herodot verworfenen Berichte nach seinen Worten vorausgesetzt werden müsse, ein βούλεσϑαι σεμνοῦν τὰ περὶ Ἰησοῦν zeige?28)a. a. O. 2te Abtheilung, S. 55 f. so antworten wir eben so getrost: alle. Wenn er aber weiter mit Paulus bemerkt, daſs in dem angeführten Falle der zwischen Faktum und Sagenbildung liegende Zeitraum ungleich gröſser sei, als der zwischen Jesu Tod und dem Ursprung unsrer Evangelien anzunehmende29)Heydenreich a. a. O. Paulus exeget. Handbuch I, a, S. 61.: so haben wir uns allerdings hiefür keine 70 Jahre erbeten, sondern vorläufig nur dreissig. Wenn aber nun Paulus, als ob das angeführte Beispiel die kürzeste Zeit für mögliche Sagen - bildung angäbe, darauf sogleich die Behauptung baut, daſs nur etwa erst in der dritten Generation nach dem Faktum mythische Verschönerungen ihren Anfang nehmen können: so sind ihm aus demselben Herodot die offenbaren Legen - den entgegen zu halten, welche dieser nicht blos über Cy - rus, sondern auch über den nur etwa 30 Jahre hinter der Abfassungszeit seiner Geschichte zurückliegenden zweiten Perserkrieg zu erzählen weiſs, wie, daſs das von den Bar - baren bedrohte Delphi durch Erdbeben und kämpfende Heroën gerettet worden sei (8, 37 f.); daſs der von den Persern verbrannte heilige Oelbaum auf der athenischen Burg über Nacht wieder einen ellenhohen Sproſs getrieben (8, 55.); daſs zum Beginne der Salaminischen Schlacht ein φάσμα γυναικὸς mit vernehmlichen Worten aufgefordert habe (8, 84.). Freilich gerade gegen Dr. Paulus ist mit diesen Instanzen wenig auszurichten, da vor seinem Scharf -5*68Einleitung. §. 12.sinn auch die angeführten Herodotischen Wunder sich als - bald in natürliche aber treu berichtete Begebenheiten ver - wandeln werden, wie er ja manche profane Mythen, de - ren man sich als Analogieen zur Unterstützung der mythi - schen Ansicht von gewissen neutestamentlichen Erzählun - gen zu bedienen pflegt, durch Umdeutung in wirkliche, aber natürliche Vorfälle zu jener Beweisführung unbrauch - bar zu machen gesucht hat. Wenn aber der genannte Ge - lehrte darauf noch besonderes Gewicht legt, wie undenk - bar es sei, daſs sich in Palästina selbst, wo die Augenzeu - gen noch lebten, Sagen über Jesum und Sammlungen von solchen gebildet haben: so darf man sich hier nur die Vorstellungen von Palästina und von Augenzeugen näher entwickeln, um zu sehen, daſs sie die Entstehung von Sa - gen in so früher Zeit keineswegs undenkbar machen. Zu - gegeben, daſs sich diese Sagen alle in Palästina gebildet haben: wer sagt uns denn, daſs dies gerade an denjeni - gen Orten geschehen sein müsse, wo Jesus am längsten sich aufgehalten hatte, wo also seine wahren Schicksale bekannt waren? Was aber die Augenzeugen betrifft, so müſste, sofern die Apostel darunter verstanden sein sol - len, diesen eine wahre Allgegenwart zugeschrieben wer - den, wenn sie an allen Orten und Enden, wo unhistori - sche Sagen über Jesum aufkeimten und fortwucherten, zu deren Ausjätung sollten zugegen gewesen sein; Augen - zeugen im weiteren Sinne dagegen, welche Jesum nicht ununterbrochen begleitet, sondern ihn nur das eine oder andere Mal gesehen hatten, muſsten wohl sehr geneigt sein, die Lücken ihrer Kenntniſs von seinem Lebensgang durch mythische Vorstellungen auszufüllen. Daſs endlich zu Lebzeiten der Apostel auch schon Sammlungen von Sagen über das Leben Jesu in allgemeinen Umlauf ge - kommen, und daſs namentlich eines von unsern Evange - lien einem Apostel bekannt und von ihm anerkannt wor - den sei, wird niemals bewiesen werden können.

69Einleitung. §. 12.

Ein besonders kräftiges und erfreuliches Wort hat noch am Ende seiner Laufbahn Usteri für die mythische Auffassung mancher N. T. lichen Erzählungen ausgespro - chen30)Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull - mann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 1832, 4tes Heft, 781 ff.. Wie er diejenigen bekämpft, welche die Zeit zwischen den Begebenheiten und der Abfassung der Evan - gelien für zu kurz halten zur Ausbildung von Mythischem, ist theils oben angegeben, theils macht er noch auf den religiösen Sinn und die keineswegs unpoëtische Natur des jüdischen Volkes, als auf die günstigste Disposition zu dergleichen Produktionen, aufmerksam; auf ähnliche Wei - se begegnet er dem Einwand, die evangelischen Erzählun - gen seien viel zu vortrefflich, als daſs sie erdichtet sein könnten, durch die Bemerkung, daſs sie nur eine Vertraut - heit mit dem A. T. nebst einigem plastischen Sinne voraus - setzen, den man den ersten geistbegabten Christen am we - nigsten Grund habe, abzusprechen. Namentlich, meint der angeführte Theologe, sollten diejenigen, welche stets dar - auf dringen, daſs man die orientalische Phantasie und Be - geisterung doch ja nicht mit dem scholastischen occidenta - lischen Sinne verwechsle (Dr. Paulus), nicht die Unmög - lichkeit behaupten, daſs von einem religiösen Palästinen - ser, zumal auf Veranlassung einer Tradition, solche sym - bolisch-dogmatische Scenen, wie die vorausgesetzten evan - gelischen Mythen sind, haben erdichtet werden können. Sollte es denn, fragt er, ausser abgeschmackten und be - trügerischen Fiktionen und historischen Relationen von Au - gen - und Ohrenzeugen nicht noch ein Drittes geben kön - nen? Nur muſs man sich nach Usteri die Entstehung sol - cher Erzählungen nicht so denken, es habe sich Einer zu seinem Tisch gesetzt und aus seinem eignen Kopfe der -70Einleitung. §. 12.gleichen, wie Dichtungen, verfertigt und niedergeschrie - ben; sondern der Ursprung derselben verliert sich in ein Dunkel, wie bei jeder Sage, und ist nicht mehr nachweis - bar; sie entstanden allmählig, gewannen allmählig Con - sistenz, und das bleibende Resultat sind unsre schriftlichen Evangelien. Auch von den oben gerügten beiden Fehlern einer unreinen Auffassung und einer unvollständigen An - wendung des Begriffs von Mythus hat Usteri den ersteren durch die richtige Einsicht vermieden, welche er aus - spricht, wie viel an den so entstandenen Mythen geschicht - liche Grundlage auf der einen und poëtische Symbolik auf der andern Seite sei, lasse sich jetzt nicht mehr unter - scheiden, durch kein noch so scharfes kritisches Messer lassen sich diese beiden Elemente jetzt noch von einander sondern, höchstens könne es zu einer gewissen Wahr - scheinlichkeit gebracht werden, daſs bei der einen Sage mehr Historisches zu Grunde liege, bei einer andern mehr das Poëtische und Symbolische vorherrsche. Auf den Um - fang der Anwendbarkeit des Mythusbegriffs bezieht sich die Bemerkung Usteri's, wenn Mythen nur in einer vor - geschichtlichen Zeit sich bilden können, so haben wir auch im N. T. eine relativ vorgeschichtliche Zeit, nämlich die vor dem öffentlichen Auftritt Jesu und seinem Zusammen - sein mit den Jüngern; über diese Periode haben daher ganz natürlich mythische Erzählungen entstehen können. Hier zeigt sich Usteri in dem oben gerügten Fehler einer ungehörigen Beschränkung des Mythischen in der Lebens - geschichte Jesu noch befangen. Eine solche Schranke will sich nirgends ziehen lassen, und sowohl vom Anfang als vom Ende der evangelischen Geschichte dringt das Mythi - sche mit Macht auch in den Kern derselben ein. Setzt man nämlich von vorn herein die Taufe Jesu durch Jo - hannes als den Endpunkt des Mythischen: so ist nicht nur diese selbst noch mythisch erzählt, sondern es folgt auf71Einleitung. §. 12.sie die auch von Usteri mythisch gefaſste Versuchungsge - schichte; einmal aber durch jene Pforte eingedrungen, weiſs ich nicht, ob der Mythusbegriff nicht auch noch an - dere Erzählungen aus der Periode des öffentlichen Lebens Jesu sich vindiciren wird, wie das Wandeln auf dem Meer, den Stater im Fischmaul u. dgl. Ebenso, wenn man am Ende der Geschichte Jesu zwar die Himmelfahrt mit ihren Engeln der mythischen Auffassung preiſsgeben will: so findet sich doch auch in der Engelerscheinung am Grabe des Auferstandenen etwas Analoges, und noch weiter zu - rück in dem Engel in Gethsemane etwas, das deutlich nach Legende schmeckt, endlich selbst die am Anfang der Lei - densverkündigung stehende Verklärungsgeschichte will sich so wenig als die Himmelfahrt einer historischen Auffassung bequemen: so daſs, jener willkührlichen Grenzmarken spot - tend, das Mythische auf allen Punkten der Lebensgeschich - te Jesu zum Vorschein kommt.

Wer gegen diesen Augenschein dennoch darauf beste - hen wollte, daſs die historische Zeit, in welche das öffent - liche Leben Jesu fällt, die Bildung von Mythen über dasselbe undenkbar mache, dem ist zu erwiedern, daſs um ein groſses Individuum, zumal wenn an dasselbe eine in das Leben der Menschen tief eingreifende Umwälzung ge - knüpft ist, sich frühzeitig, selbst in der trockensten histo - rischen Zeit, ein unhistorischer Kreis sagenhafter Verherr - lichung bildet. Man denke sich eine junge Gemeinde, wel - che ihren Stifter um so begeisterter verehrt, je unerwar - teter und tragischer er aus seiner Laufbahn herausgerissen worden ist; eine Gemeinde, geschwängert mit einer Masse neuer Ideen, die eine Welt umschaffen sollten; eine Ge - meinde von Orientalen, von gröſstentheils ungelehrten Men - schen, welche also jene Ideen nicht in der abstrakten Form des Verstandes und Begriffs, sondern einzig in der con - ereten Weise der Phantasie, als Bilder und Geschichten72Einleitung. §. 12.sich anzueignen und auszudrücken im Stande waren: so wird man erkennen: es muſste unter diesen Umständen entstehen was entstanden ist, eine Reihe heiliger Erzäh - lungen, durch welche man die ganze Masse neuer, durch Jesum angeregter, so wie alter, auf ihn übertragener Ideen als einzelne Momente seines Lebens sich zur Anschauung brachte. Das einfache historische Gerüste des Lebens Je - su, daſs er zu Nazaret aufgewachsen sei, von Johannes sich habe taufen lassen, Jünger gesammelt habe, im jüdi - schen Lande lehrend umhergezogen sei, überall dem Pha - risäismus sich entgegengestellt und zum Messiasreiche ein - geladen habe, daſs er aber am Ende dem Haſs und Neid der pharisäischen Partei erlegen, und am Kreuze gestor - ben sei: dieses Gerüste wurde mit den manchfaltigsten und sinnvollsten Gewinden frommer Reflexionen[und] Phan - tasieen umgeben, indem alle Ideen, welche die erste Chri - stenheit über ihren entrissenen Meister hatte, in Thatsa - chen verwandelt, seinem Lebenslaufe eingewoben wurden. Den reichsten Stoff zu dieser mythischen Verzierung lie - ferte das alte Testament, in welchem die erste, vornehm - lich aus dem Judenthum gesammelte Christengemeinde lebte und webte. Jesus als der gröſste Prophet muſste in sei - nem Leben und seinen Thaten Alles vereinigt und überbo - ten haben, was die alten Propheten, von welchen das A. T. erzählt, gethan und erlebt hatten; er als der Erneurer der hebräischen Religion durfte hinter dem ersten Gesez - geber in keinem Stücke zurückgeblieben sein31)Die A. T. liche Fundamentalstelle für dieses vorbildliche Verhältniss des Moses zum Messias ist die auch im N. T. A. G. 3, 22. 7, 37. messianisch gedeutete Stelle 5. Mos. 18, 15., wo Moses zu dem Volke spricht: προφήτην ἐκ τῶν ἀδελφῶν σου, ὡς ἐμὲ, ἀναςήσει σοι Κύριος ϑεός σου, ἀυτοῦ ἀκούσεσϑε (LXX.). Daher denn das jüdische Dogma:; an ihm,73Einleitung. §. 12.dem Messias, endlich muſste Alles, was im A. T. Messia - nisches geweissagt war, in Erfüllung gegangen sein, er konnte nicht anders, als dem von den Juden im Voraus entworfenen Schema des Messias, so weit die in seinen historisch bekannten Schicksalen und Reden an diesem Sche - ma gemachten Abänderungen es erlaubten, entsprochen ha - ben. Daſs bei dieser Uebertragung des Erwarteten in die Geschichte des wirklich Erfolgten, überhaupt bei der my - thischen Ausschmückung des Lebens Jesu keine Art von31)בְגֹאֵל רִאשׁוֺן כֵּן נּיֹאֵל אַחֲרוֺן wie es sich z. B. Midrasch Ko - heleth f. 73, 3. (bei Schöttgen, horae hebraicae et talmudicae, 2, S. 251 f.) ausgesprochen findet: R. Berechias nomine R. Isaaci dixit: Quemadmodum Goël primus (Moses), sic etiam postremus (Messias) comparatus est. De Goële primo quid - nam scriptura dicit? Exod. 4, 20: et sumsit Moses uxorem et filios, eosque asino imposuit. Sic Goël postremus, Zachar. 9, 9.: pauper et insidens asino. Quidnam de Goële primo nosti? Is descendere fecit Man, q. d. Exod. 16, 14.: ecce ego pluere faciam vobis panem de coelo. Sic etiam Goël postremus Manna descendere faciet, q. d. Ps. 72, 16.: erit multitudo frumenti in terra. Quomodo Goël primus compa - ratus fuit? Is ascendere fecit puteum: sic quoque Goël po - stremus ascendere faciet aquas, q. d. Joël 4, 18: et fons e domo Domini egredietur, et torrentem Sittim irrigabit. Auch auf die Propheten wird dieses vorbildliche Verhältniss zum Messias ausgedehnt, Tanchuma f. 54, 4. (bei Schöttgen a. a. O. S. 74.): R. Acha nomine R. Samuelis bar Nachma - ni dixit: Quaecumque Deus S. B. facturus est לעתיד לבא (tempore messiano) ea jam ante fecit per manus justorum בעולם הוה (seculo ante Messiam elapso). Deus S. B. sus - citabit mortuos, id quod jam ante fecit per Eliam, Elisam et Ezechielem. Mare exsiccabit, prout per Mosen factum est. Oculos caecorum aperiet, id quod per Elisam fecit. Deus S. B. futuro tempore visitabit steriles, quemadmodum in Abrahamo et Sara fecit.74Einleitung. §. 12.betrügerischer Absichtlichkeit und schlauer Erdichtung statt - gefunden, sollte in unsrer Zeit nicht mehr zu bemerken nöthig sein. Sagen eines Volks oder einer Religionspartei sind ihren ächten Grundbestandtheilen nach nie das Werk eines Einzelnen, sondern des allgemeinen Individuums je - ner Gesellschaft, ebendaher auch nicht bewuſst und ab - sichtlich entstanden. Ein solches unmerkliches gemeinsa - mes Produciren wird dadurch möglich, daſs dabei die mündliche Ueberlieferung das Medium der Mittheilung ist; denn während durch die Aufzeichnung das Wachsthum der Sage sistirt, oder doch nachweisbar gemacht wird, wie viel jedem folgenden Schreiber Antheil an den Zuthaten gebühre: so kommt bei mündlicher Ueberlieferung die Sa - che so zu stehen, daſs das Ueberlieferte im zweiten Munde vielleicht nur um Weniges anders sich gestaltet als im er - sten, im dritten ebenfalls nur Weniges hinzukommt im Verhältniſs zum zweiten, auch im vierten dem dritten ge - genüber nichts Wesentliches geändert wird: und doch kann im dritten und vierten Munde der Gegenstand ein ganz an - drer geworden sein, als er im ersten war, ohne daſs ir - gend ein einzelner Erzähler diese Änderung auf bewuſste Weise vorgenommen hätte, sondern sie kommt auf Rech - nung aller zusammen, und entzieht sich eben um dieser Allmählichkeit willen dem Bewuſstsein, wie dieſs schnee - ballartige Anwachsen der Tradition schon von Lessing in Bezug auf die evangelische Geschichte bemerkt worden ist32)Neue Hypothese über die Evangelisten, §. 5. Anmerkung. Lessing's Werke, Berlin bei Voss, 6ter Bd. S. 229..

Nimmt man dieſs Alles zusammen, so wird der An - nahme von Mythen in allen Theilen der evangelischen Ge - schichte wenig mehr im Wege stehen. Die Benennung,75Einleitung. §. 12.Mythen, selbst aber wird bei Verständigen ebenso wenig Anstoſs erregen, als jemals ein bloſses Wort einen solchen hervorbringen sollte. Denn Alles, was durch die Erinne - rung an die heidnische Mythologie jenem Worte Zweideu - tiges anklebt, schwindet ja durch die bisherige Ausfüh - rung, welcher zufolge unter neutestamentlichen Mythen nichts Andres, als geschichtartige Einkleidungen urchrist - licher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage, zu verstehen sind.

Durch das Bisherige ist gezeigt, daſs, wer den my - thischen Standpunkt auf die evangelische Geschichte in An - wendung bringt, nicht einem Einfall von heute, sondern dem vielhundertjährigen Gang der Sache selbst folgt. Nach dieser Rechtfertigung des Standpunkts der folgenden Un - tersuchungen könnte nun aber noch eine Darlegung der leitenden kritischen Grundsätze derselben, und namentlich der Kriterien erwartet werden, durch welche ein Element der evangelischen Geschichte sich als mythisches erweisen soll. Da jedoch diese Grundsätze und Kriterien doch nur aus der durchgearbeiteten Masse einzelner Fälle ihrer An - wendung abstrahirt werden könnten, und abgesehen von diesen sich nicht einmal mit gehöriger Anschaulichkeit dar - stellen lassen: so ist es wohl besser, ihre Exposition dem Verlauf der Untersuchung einzuflechten; ob Einheit in denselben und Consequenz in ihrer Anwendung sei, wird der kundige Leser auch ohne eine vom Verfasser voran - gestellte Zusammenfassung selbst finden. Was man wei - ter hier erwarten könnte, eine vorgängige Untersuchung über die zu Grunde zu legende Eintheilung des Lebens Jesu in Perioden, hat mehr nur für eine pragmatische Bearbeitung desselben Wichtigkeit, während für die kriti - sche die gewöhnliche Eintheilung beibehalten werden kann; ebenso muſs die weitere Zerfällung des Stoffes in Kapitel und Unterabtheilungen zwar bei einem der reinen Wis -76Einleitung. §. 12.senschaft angehörigen Gegenstande aus diesem selber mit Nothwendigkeit hergeleitet werden, bei einer Kritik hin - gegen, welche den Stoff durchweg von aussen nimmt, dient sie mehr nur der äusseren Bequemlichkeit der Über - sicht, weſswegen über die Freiheit, mit welcher sich in dieser Hinsicht die folgende Untersuchung bewegt, wohl Niemand im Ernste mit dem Verfasser rechten wird.

[77]

Erster Abschnitt. Geschichte der Geburt und Kindheit Jesu.

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Erstes Kapitel. Verkündigung und Geburt des Täufers.

§. 13. Die Erzählung des Lukas*)Ein für allemal mag hier erinnert werden, dass, wo in den folgenden Untersuchungen kurzweg von Lukas, Matthäus u. s. f. gesprochen wird, immer nur der Verf. des dritten, er - sten u. s. w. Evangeliums gemeint ist, unentschieden, ob sie die apostolischen Männer dieses Namens, oder spätere Unbekannte waren. und deren unmittelbare, suprana - turalistische Auffassung.

Dem öffentlichen Auftritt Jesu schicken alle unsre Evangelisten den des Täufers Johannes voraus: seinem er - sten Eintritt in das Leben den Lebensanfang des Täufers voranzustellen, ist dem einzigen Lukas eigen. Diese Er - zählung kann auch von einer, eigentlich nur dem Leben Jesu gewidmeten Betrachtung nicht übergangen werden, theils wegen des engen Zusammenhangs, in welchen schon von vorn herein das Leben des Täufers mit dem Leben Jesu gesetzt wird, theils wegen des Beitrags, welchen der bezeichnete Abschnitt zur Charakteristik der evangelischen Berichte bietet. Denn daſs derselbe, sammt dem Übrigen der beiden ersten Kapitel des Lukas, unächt und spätere Zuthat sei, war eine unkritische Vermuthung Solcher, wel - che den damals noch neuen mythischen Standpunkt, wel - chen diese Kindheitsgeschichte zu fordern schien, auf das übrige Evangelium anzuwenden sich scheuten1)z. B. J. E. Ch. Schmidt, das ächte Evangelium des Lukas, in Henke's Magazin 5, 3, S. 473 ff., K. Ch. L. Schmidt im.

80Erster Abschnitt.

Ein frommes priesterliches Ehepaar ist kinderlos geal - tert: als auf Einmal dem Priester beim Räuchern im Hei - ligthum der Engel Gabriel erscheint, und ihnen in ihren alten Tagen einen Sohn verheiſst, der als Gottgeweihter leben, und der wegbereitende Vorläufer des in der messia - nischen Zeit sein Volk heimsuchenden Gottes sein werde. Als Zacharias wegen seines und der Elisabet hohen Al - ters die Verheiſsung bezweifelt, wird ihm vom Engel als Zeichen und Strafe zugleich bis zur Erfüllung Stummheit auferlegt, welche wirklich andauert, bis bei der Beschnei - dung des nunmehr geborenen Sohnes der Vater ihm den vom Engel vorgeschriebenen Namen beilegen soll, worauf er mit wiedererlangtem Sprachvermögen in einen Hymnus ausbricht (Luk. 1, 5 25. 57 80.).

Daſs hiemit der evangelische Bericht wirklich eine Rei - he äusserer, und zwar wunderbarer Vorgänge: eine von Gott veranstaltete, durch die Erscheinung eines der höch - sten Geister vermittelte Vorherverkündigung des messiani - schen Vorläufers, eine nicht ohne besondern göttlichen Se - gen bewirkte Schwangerschaft, und eine auf ausserordent - liche Weise sowohl eingetretene als gehobene Stummheit erzählen wolle, scheint sich zunächst von selbst zu verste - hen. Eine andere Frage ist, ob auch wir dieser Ansicht des Referenten beitreten und uns überzeugen können, daſs wirklich der Geburt des Täufers eine solche Reihe von wunderbaren Ereignissen vorangegangen sei?

Den ersten Anstoſs, welchen die neuere Bildung in der vorgelegten Erzählung nimmt, bildet die Engelerscheinung, theils als solche überhaupt, theils diese in ihrer besonderen Beschaffenheit. Was das Letztere betrifft, so giebt sich1)Repertorium für die Literatur der Bibel 1, S. 58 ff., Horst, in Henke's Museum, 1, 3, S. 462 ff. Vgl. Eichhorns Einlei - tung, 1. Bd. S. 630 f. Dagegen: Süskind, symbolarum ad illustranda quacdam evangeliorum loca, P. 2. in seinen ver - mischten Aufsätzen, S. 23 ff.81Erstes Kapitel. §. 13.der Engel selbst zu erkennen als Γαβριὴλ, παρεςηκως ἐνώπιον τοῦ ϑεοῦ (1, 19.), und hier findet man es nun undenk - bar, daſs der göttliche Geisterstaat wirklich gerade so be - schaffen sein sollte, wie sich die nachexilischen Juden den - selben dachten, und daſs sogar die Namen der Engel in der Sprache dieses Volkes gegeben sein sollten2)Paulus, exeget. Handbuch 1, a, S. 78 f. 96. Baukr, hebr. My - thol. 2. Bd. S. 218 f.. Selbst der Supranaturalist auf seinem Boden kommt hier in eini - ges Gedränge. Wären nämlich Namen und Rangordnung der Engel, wie sie hier vorausgesetzt werden, ursprüng - lich auf dem Boden der geoffenbarten hebräischen Religion erwachsen, hätte Moses oder einer der älteren Propheten dieselben festgesetzt: so könnten und müſsten sie auf su - pranaturalistischem Standpunkt als richtig angenommen werden. Nun aber finden sich jene näheren Bestimmungen der Engellehre erst in dem makkabäischen Daniel3)Hier Michaël als אַהַד הַשָּׂרִים הָרִאשֹׁנִים bezeichnet 10, 13. Gabriel 8, 16. 9, 21. und dem Apokryphum Tobia4)Hier Raphaël als είς ἐκ των ἑπτὰ ἁγίων ἀγγέλων, οἳ εἰς - πορεύονται ἐνώπιον τῆς δόξης τοῦ ἁγίου (12, 15), fast wie Gabriel bei Lukas, die Zahlbestimmung ausgenommen. Diese ist der Zahl der persischen Amschaspands nachgebildet, vgl. de Wette, biblische Dogmatik §. 171 b)., offenbar in Folge des Einflus - ses der Zendreligion, wie denn die Juden selbst bezeugen, daſs die Engelnamen ihnen aus Babylon gekommen seien5)Hieros. rosch haschanah f. 56, 4. (bei Lightfoot, horae hebr. et talmud. in IV Evangg., p. 723.):R. Simeon ben Lachisch di - cit: nomina angelorum ascenderunt in manu Israëlis ex Baby - lone. Nam antea dictum est: advolavit ad me unus τῶν Seraphim, Seraphim steterunt ante cum, Jes. 6; at post: vir Gabriel, Dan. 9, 21, Michaël princeps vester, Dan. 10, 21.. Hieraus ergiebt sich eine Reihe für den SupranaturalistenDas Leben Jesu I. Band. 682Erster Abschnitt.äusserst bedenklicher Fragen. Sind diese Vorstellungen, so lange sie noch bloſs bei auswärtigen Völkern waren, falsch gewesen, und erst, als sie zu den Juden über - giengen, wahr geworden? oder sind sie von jeher wahr gewesen, und haben also abgöttische Völker eine so hohe Wahrheit früher entdeckt, als das Volk Gottes? Waren jene Völker von besondrer göttlicher Offenbarung ausge - schlossen, kamen sie also durch ihre eigne Vernunft früher auf jene Entdeckung, als die Juden mittelst ihrer Offenba - rung: so scheint ja die Offenbarung überflüssig, oder nur negativ, d. h. zur Verhinderung eines zu frühen Bekannt - werdens wirksam zu sein; nimmt man aber, um dieser Consequenz auszuweichen, lieber auch bei jenen nichtisraë - litischen Völkern einen oftenbarenden Einfluſs Gottes an: so löst sich der supranaturalistische Standpunkt auf, und wir dürfen, da in den sich gegenseitig widerstreitenden Religionen doch nicht Alles geoffenbart sein kann, kritisch auswählend verfahren. Da werden wir es nun einer ge - läuterten Idee von Gott keineswegs angemessen finden, ihn, wie einen menschlichen König, von einem Hofstaat umge - ben zu denken, und wenn Olshausen sich für die Realität solcher Thronengel auf die vernünftigerweise anzunehmen - de Stufenleiter der Wesen beruft6)Biblischer Commentar, 1. Thl. S. 99. (2te Auflage)., so wird hiemit nicht die hebräische Vorstellung gerechtfertigt, sondern ihr eine moderne untergeschoben. Man wäre also auf den Ausweg hingetrieben, eine Accommodation von Seiten Gottes anzu - nehmen, d. h. daſs er einen höheren Geist abgesendet habe mit der Weisung, sich, um bei dem Vater des Täufers Glauben zu finden, der jüdischen Vorstellung gemäſs, ei - nen Rang und Titel beizulegen, die er eigentlich nicht hatte. Da aber, wie sogleich der Erfolg zeigte, Zacharias auch so dem Engel nicht glaubte, sondern erst dem Er - folg: so war jene ganze Accommodation unnütz und kann83Erstes Kapitel. §. 13.daher nicht von Gott veranstaltet worden sein. Was im Besondern noch den Namen des erscheinenden Engels be - trifft, und die Unwahrscheinlichkeit, daſs die Engel ge - rade hebräische Namen haben sollen: so macht zwar Ols - hausen darauf aufmerksam, daſs der Name Gabriel appel - lativisch in der Bedeutung: Mann Gottes genommen, ganz richtig die Natur eines solchen Wesens bezeichne, und in - dem er sich in dieser Bedeutung in allen Sprachen wie - dergeben lasse, keineswegs an die hebräische gebunden sei7)a. a. O. S. 98 f.: aber damit umgeht er eben das eigentlich Anstös - sige, was er lösen sollte, indem er das offenbar als Ei - gennamen sich gebende Wort als bloſses Appellativum nimmt. Es müſste also auch hier eine Accommodation angenommen werden, daſs nämlich der Engel, um sich nach seinem Wesen zu bezeichnen, einen Namen sich beigelegt hätte, welchen er nicht wirklich führte, eine Accommodation, welche mit der vorigen beurtheilt ist.

Aber nicht allein Name und angebliche Stellung des Engels, sondern auch sein Reden und Benehmen hat man anstöſsig gefunden. Zwar wenn Paulus sich dahin äussert, nur ein levitischer Priester, nicht aber ein Engel Jehova's habe für nothwendig erachten können, daſs der Knabe in nasiräischer Abstinenz leben sollte8)a. a. O. S. 77.: so läſst sich dage - gen geltend machen, daſs auch der Engel wissen konnte, unter dieser Form werde Johannes am Meisten auf seine Nation zu wirken im Stande sein. Bedenklicher aber ist das Andre. Als nämlich Zacharias in einem aus Überra - schung und einer nahe liegenden Reflexion hervorgegange - nen Zweifel sich ein Zeichen erbittet: so wird ihm das vom Engel alsbald zum Verbrechen gerechnet, und er mit der Strafe des Verstummens belegt. Wenn man nun auch nicht mit Paulus behaupten mag, ein wirklicher Engel6*84Erster Abschnitt.würde den Untersuchungsgeist des Priesters vielmehr ge - lobt haben: so wird man ihm doch in der Bemerkung bei - stimmen können, daſs ein so imperioses Verfahren weniger einem wirklichen himmlischen Wesen, als der damaligen jüdischen Meinung von einem solchen angemessen sei. Auch auf supranaturalistischem Boden hat man keine rechte Pa - rallele zu diesem harten Verfahren. Denn gegen die Pau - lus'sche Berufung auf das ungleich mildere Verfahren Je - hova's mit Abraham, welchem die ganz gleiche Frage selbst ohne Tadel hingeht, gilt es nur in Bezug auf die Stelle 1. Mos. 15, 8., was Olshausen erinnert, Abraham habe dieſs, nach V. 6, aus einer gläubigen Gesinnung heraus - gesprochen; wogegen nicht allein nach Kap. 18, 12. der weit markirtere Unglaube der Sara in gleichem Falle un - gestraft bleibt, sondern auch nach 17, 17. Abraham selbst die göttliche Verheiſsung bis zum Lachen unglaublich fin - det, ohne auch nur getadelt zu werden. Noch näher liegt das Beispiel der Maria, welche Luk. 1, 34. eigentlich ganz dieselbe Frage wie Zacharias macht, so daſs man immer mit Paulus wird sagen müssen, gewiſs nicht das Verfahren Gottes oder eines höheren Wesens, sondern nur die Vor - stellung der Juden von demselben werde so inconsequent gewesen sein. Eben weil es ihnen in der Art, wie es vor - lag, selbst ein Anstoſs war, haben die orthodoxen Theo - logen für dieses Verstummenlassen allerhand Gründe aus - gesonnen. Hess glaubte das Verfahren des Engels gegen den Vorwurf der Willkührlichkeit dadurch rechtfertigen zu können, daſs er die Stummheit des Zacharias als das einzige Mittel betrachtete, eine Sache auch wider seinen Willen geheim zu halten, deren frühzeitiges Bekanntwer - den für das Kind Johannes ähnliche gefährliche Folgen hätte haben können, wie das Bekanntwerden der Geburt Jesu durch die Magier sie für das Jesuskind hatte9)Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu, sammt dessen Jugendgeschichte. Tübingen 1779. 1. Bd. S. 12.. Al -85Erstes Kapitel. §. 13.lein erstlich sagt von einem solchen Zwecke der Engel nichts, sondern einzig als Strafe und Zeichen zugleich verhängt er die Stummheit (V. 20.); dann aber muſs Zacharias den Hauptinhalt der gehabten Erscheinung doch auch während seiner Stummheit wenigstens seiner Gattin schriftlich mitge - theilt haben, wie wir daraus sehen, daſs diese, noch ehe man ihren Mann befragt, den dem Kinde bestimmten Na - men kennt (V. 60.); endlich, was half es, das ungeborne Kind zwar durch erschwerte Mittheilung seiner wunder - vollen Ankündigung sicher zu stellen, wenn das kaum ge - borene sogleich aller Gefahr dadurch preiſsgegeben wurde, daſs durch die gelöste Zunge des Vaters und das Aufsehen der Scene bei seiner Beschneidung die ganze Umgegend des Redens von dieser Sache voll ward (V. 65.)? An - nehmlicher wäre, wie Olshausen die Sache ansieht, indem er die ganze wundervolle Begebenheit, also namentlich auch das Verstummen, als ein sittliches Erziehungsmittel für Za - charias betrachtet, durch welches er seinen Unglauben ken - nen und überwinden lernen sollte10)Bibl. Comm. I. S. 119.; allein auch hievon steht theils nichts im Texte, theils würde das unverhoffte Eintreten des für unmöglich gehaltenen Erfolgs gewiſs auch, wenn der Engel statt des Verstummens nur etwa ei - nen Verweiſs angebracht hätte, seinen Unglauben gehörig beschämt haben, so daſs auch durch diesen angeblichen Zweck, als einen keineswegs einzig durch das angegebne Mittel erreichbaren, die Verhängung der Stummheit über den Zacharias nicht gerechtfertigt werden kann.

Möchte übrigens der dem Zacharias erschienene Engel sich noch so gotteswürdig benommen haben: schon die Engelserscheinung als solche würden Viele in unsern Ta - gen unglaublich finden. Der Verfasser der hebräischen My - thologie hat geradezu den Satz aufgestellt: wo Angelopha -86Erster Abschnitt.nien sind, da ist ein Mythus, wie im A. T., so im neuen11)Hebr. Mythol. 2, S. 218.. Vorausgesetzt auch, daſs es Engel gebe, so können sie doch, urtheilt man, den Menschen nicht erscheinen, denn sie gehören der übersinnlichen Welt an, welche auf unsre Sinnorgane nicht einwirken kann, so daſs es immer gera - then bleibt, ihre angeblichen Erscheinungen auf die bloſse Einbildungskraft zurückzuführen12)Bauer a. a. O. 1, S. 129. Paulus exeget. Handbuch I, a, 74.. Es sei nicht wahr - scheinlich, sagt man ferner, daſs Gott sie der gewöhnli - chen Vorstellung gemäſs gebrauche, denn es lasse sich kein rechter Zweck ihrer Sendungen erkennen, indem sie ge - wöhnlich nur der Neugier dienen, und noch dazu ihr Ein - wirken die Menschen von selbstständiger Leitung ihres Le - bens abziehen würde13)Paulus Commentar 1, S. 12.. Auch das müsse auffallen, daſs diese Wesen in der alten Welt zwar bei den geringsten Veranlassungen sich geschäftig zeigen, in der neuen aber selbst bei den wichtigsten Begebenheiten müssig bleiben14)Bauer a. a. O.. Wenn aber ihr Erscheinen und Einwirken in die Men - schenwelt, so ist ebendamit auch ihr Dasein überhaupt bezweifelt, weil eben in jenen Funktionen ein Hauptzweck ihrer Existenz liegen müſste. In Bezug auf das Dasein der Engel darf gewiſs die Schleiermacher'sche Kritik als ab - schlieſsend betrachtet werden, weil sie das Ergebniſs der Bildung neuerer Zeit der alten gegenüber auf das Adäqua - teste ausspricht15)Glaubenslehre, 1. Thl. §. 42 und 43 (2te Ausgabe).. Zwar lasse sich, meint Schleierma - cher, das Dasein von Engeln nicht als unmöglich nach - weisen, doch sei die ganze Vorstellung eine solche, wel - che in unsrer Zeit nicht mehr entstehen würde, sondern ganz nur der alterthümlichen Weltanschauung angehöre. Denn wenn der Engelglaube eine gedoppelte Quelle und87Erstes Kapitel. §. 13.Wurzel habe, die eine in dem natürlichen Verlangen unse - res Geistes, mehr Geist in der Welt vorauszusetzen, als in der menschlichen Gattung verwirklicht ist: so ist nach Schleiermacher dieses Verlangen für uns jetzt Lebende durch die Vorstellung befriedigt, daſs auch andre Welt - körper ausser dem unsrigen auf entsprechende Weise be - völkert seien, womit diese erste Quelle des Engelglaubens abgeleitet ist; die andre aber, die Vorstellung Gottes als eines von seinem Hofstaat umgebenen Königs, ist ohnehin nicht mehr die unsere, auch die Veränderungen in Natur und Menschenwelt, welche man sich sonst als von Gott selbst durch dienende Engel bewirkt dachte, wissen wir uns jetzt aus Naturursachen zu erklären, so daſs der Engelglaube jedes wahren Anknüpfungspunktes an einen in der Bildung der neueren Zeit wahrhaft Begriffenen ent - behrt, und nur noch auf todte, traditionelle Weise vor - handen ist.

Diesem für die Annahme von Engeln negativen Resul - tate der Zeitbildung gegenüber sucht Olshausen ebendersel - ben, nach ihrer speculativen Seite, positive Gründe für die Realität der vorliegenden Erscheinung abzugewinnen. Die evangelische Erzählung, meint er, widerspreche einer rich - tigen Weltansicht keineswegs, da ja Gott der Welt imma - nent, sie von seinem Hauche bewegt sei16)Bibl. Comm. 1. Thl. S. 119.. Allein, eben wenn Gott der Welt immanirt, so braucht er am wenig - sten durch Intervention von Engeln auf sie zu wirken; nur wenn er ferne, oben im Himmel thront, braucht er Engel herabzusenden, um auf der Erde etwas vorzuneh - men. Man würde sich wundern müssen, wie Olshausen auf jene Weise argumentiren könne, wenn nicht aus der Art, wie dieser Ausleger die Angelologie und Dämonolo - gie durchweg behandelt, erhellte, daſs ihm die Engel nicht sowohl individuelle, persönlich für sich bestehende Wesen88Erster Abschnitt.sind, als vielmehr nur göttliche Kräfte, vorübergehende Ausflüsse und Fulgurationen des göttlichen Wesens, so daſs die Vorstellung Olshausen's von den Engeln in ihrem Verhältniſs zu Gott der sabellianischen von der Trinität zu entsprechen scheint; daſs aber dieſs nicht die biblische Vor - stellung sei, folglich auch, was für jene vorgebracht wird, für diese nichts beweise, ist hier nicht weiter auseinander zu setzen. Auch was der genannte Theologe ferner sagt, man dürfe die Gemeinheit des Alltagslebens nicht auch für die reichsten Lebensmomente unsres Geschlechtes postuli - ren; in der Zeit, als das ewige Wort sich in das Fleisch versenkte, seien Erscheinungen der geistigen Welt in die unsrige eingetreten, die in minder reich bewegten Zeiten kein Bedürfniſs waren17)a. a. O. S. 92. beruht auf einem Miſsverständ - niſs. Denn die Alltäglichkeit wird in solchen Momenten eben dadurch unterbrochen, daſs Geister wie der des Täu - fers in die Menschheit eintreten, und es würde kindisch sein, die Zeiten und Umstände, unter welchen ein Johan - nes entstand und sich heranbildete, deſswegen alltäglich zu nennen, weil es ihnen an Verzierung durch Engelerschei - nungen gefehlt hätte; ebenso, was in solchen Zeitpunkten die intelligible Welt für die unsrige thut, ist eben, daſs sie ausserordentliche Menschengeister sendet, nicht daſs sie Engel auf und niedersteigen läſst.

Wenn zur Vertheidigung der buchstäblichen Auffassung dieser Abschnitte endlich angedeutet wird, eine solche Vor - zeichnung des Erziehungsplans für das zu gebärende Kind durch den Engel sei nöthig gewesen, um es zu dem Manne zu machen, der es werden sollte18)Hess Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu u. s. w. 1. Thl. S. 13. 35.: so würde das zu viel vor - aussetzen, nämlich, daſs alle groſsen Männer, um zu sol - chen erzogen zu werden, auf ähnliche Weise in die Welt89Erstes Kapitel. §. 14.eingeführt werden müſsten; überhaupt würde hiedurch zu viel Gewicht auf die Erziehung zum Nachtheil der Entfal - tung des Geistes von innen heraus gelegt; endlich aber ist umgekehrt gegen die Auffassung der Erzählung als einer wirklichen Wundergeschichte mit Recht das geltend gemacht worden, daſs vielmehr Vieles in dem folgenden Leben des Täufers ganz unerklärlich werde bei der Voraussetzung, daſs sich wirklich so viele wundervolle Begebenheiten vor und bei seiner Geburt ereignet haben. Denn allerdings, wenn Johannes schon von Anfang an so wunderbar auf Jesus, als den, dessen Vorläufer er sein sollte, hingewie - sen war: so ist es nicht zu begreifen, wie er ihn vor sei - ner Taufe nicht gekannt haben, und selbst später noch an seiner Messianität irre geworden sein kann (Joh. 1, 30. Matth. 11, 2.)19)Horst in Henke's Museum 1, 4. S. 733 f. Gabler in seinem neuest. theol. Journal, 7, 1, S. 403..

Man wird somit der rationalistischen Kritik und Pole - mik in dem negativen Resultate Recht geben müssen, daſs es vor und bei der Geburt des Täufers nicht so übernatür - lich zugegangen sein könne; nur fragt es sich jetzt, wel - che positive Ansicht von der Sache an die Stelle der um - gestossenen zu setzen ist?

§. 14. Die natürliche Deutung der Erzählung.

Die leichteste Änderung, welche mit der vorliegenden Erzählung durch Unterscheidung des reinen Faktums von dem Urtheil der betheiligten Personen im Sinne der ratio - nalistischen Auslegung vorgenommen werden könnte, wäre nun diese, die Thatsache nach ihren beiden Haupttheilen, der Erscheinung des Engels und dem Verstummen des Za - charias als wirklichen äusseren Erfolg stehen zu lassen, nur aber sie auf natürliche Weise zu erklären. Dieſs wäre in90Erster Abschnitt.Bezug auf die Angelophanie so möglich, daſs das Erschie - nene für einen Menschen genommen würde, der dem Za - charias, was dieser zu hören glaubte, wirklich gesagt hät - te, von dem Priester aber für einen himmlischen Boten ge - halten worden wäre. Da jedoch diese Ansicht in Betracht der Umstände gar zu unwahrscheinlich ist, so sah man sich genöthigt, einen Schritt weiter zu gehen, und die Thatsache aus einer äussern zu einer innern zu machen, sie vom Gebiete des physischen in das des psychischen Ge - schehens zu verlegen. Hiezu bildet schon die Bahrdt'sche Andeutung, das von Zacharias für einen Engel Gehaltene könne vielleicht ein Bliz gewesen sein1)Briefe über die Bibel im Volkstone (Ausg. Frankfurt und Leipzig 1800), 1tes Bändchen, 6ter Brief, S. 51 f., einen Uebergang, weil hiebei doch das Meiste Zacharias selbst aus seinem Innern hinzugethan haben müſste. Daſs aber in gewöhnli - chem Seelenzustande Jemand aus einem einfachen Blitze eine solche Reihe von Reden und Gegenreden sich heraus - spinnen werde, ist nicht glaublich; es müſste also ein be - sonderer Zustand stattgefunden haben, sei es eine durch Schrecken über den Bliz bewirkte Ohnmacht2)Bahrdt a. a. O. S. 52., wovon aber im Texte keine Spur (kein Niederfallen, wie etwa A. G. 9, 4.), oder ohne Veranlassung durch den Bliz ein Traum, welcher aber bei'm Räuchern im Tempel nicht wohl stattfinden konnte; daher wird man genöthigt, mit Paulus sich darauf zu berufen, daſs es auch im Zustande des Wachens Ekstasen gebe, in welchen der Seele sul - jektive Bilder mit dem Scheine von objektiven Begegnissen vorschweben3)Exeget. Handb. 1, a, S. 74 ff.. Solche Ekstasen sind freilich nichts Ge - wöhnliches; aber bei Zacharias, meint Paulus, kam auch Manches zusammen um einen so ungewöhnlichen Zustand bei ihm hervorzurufen. Die lange Sehnsucht nach Nach -91Erstes Kapitel. §. 14.kommenschaft; nun das auszeichnende Loos, im Heiligen des Tempels mit dem Weihrauch die Gebete des Volks zu Jehova aufsteigen zu lassen, was ihm für ein günstiges Vorzeichen der Erhörung auch seines Gebetes gelten konn - te; vor seinem Abgang von Hause vielleicht noch eine An - mahnung von seiner Frau, wie die von Rahel an Jakob, 1. Mos. 30, 1. (!). In der erhöhten Stimmung im halb - dunkeln Heiligthum denkt er nun betend auch seines höch - sten Wunsches, jezt oder nie erwartet er Erhörung, und ist daher geneigt, in Allem, was sich darbieten mochte, ein Zeichen derselben zu erblicken. Der aufsteigende Weih - rauch, erhellt von den Lampen des Leuchters, bildet Fi - guren: da glaubt der Priester eine himmlische Gestalt zu sehen, von der er anfänglich erschreckt wird, bald aber die Gewährung seiner Wünsche zu vernehmen glaubt. Kaum ist ihm ein leiser Zweifel hiegegen aufgestiegen: so hält der überfromme Priester dieſs bereits für frevelhaft, glaubt sich vom Engel dafür gescholten und hier ist nun wieder eine gedoppelte Erklärung möglich entwe - der lähmt wirklich ein Schlagfluſs auf einige Zeit seine Zunge, was er für gerechte Strafe seines Zweifels nimmt, bis sich dann bei dem freudigen Anlaſs der Beschneidung seines Sohns die Sprache wieder einfindet, so daſs dieser Zug als äussere, physische, wiewohl wunderlose Bege - benheit festgehalten wird4)Bahrdt a. a. O. 7ter Brief. S. 60. E. F. über die beiden ersten Kapitel des Matthäus und Lukas, in Henke's Maga - zin 5, 1, S. 163. Bauer, hebr. Mythol. 2, S. 220.; oder wird auch dieser Vor - gang blos als ein psychischer gefaſst, daſs nämlich Zacha - rias aus jüdischer Superstition den Gebrauch der vermeint - lich miſsbrauchten Zunge sich selbst auf einige Zeit unter - sagt habe5)Exeget. Handb. 1, a, S. 77. 80.. Neubelebt übrigens durch den ausserordent - lichen Vorfall kehrt diesen Deutungen zufolge der Priester zu seiner Gattin zurück, und sie wird eine zweite Sara.

92Erster Abschnitt.

Was nun die Paulus'sche Erklärung der Engelerschei - nung betrifft, auf welche alle andern entweder im Wesent - lichen hinauslaufen, oder durch ihre offenbare Unhaltbar - keit hingetrieben werden: so kann man geradezu sagen, daſs sie das Wunderbare, zu dessen Entfernung sie so viele Mühe anwendet, nicht einmal vermeide. Denn ihr Urheber gesteht selbst zu, daſs von einer solchen Vision, wie er sie hier voraussezt, die meisten Menschen keine Er - fahrung haben6)a. a. O. S. 73.; sollen nun doch in einzelnen Fällen der - gleichen Zustände vorkommen, so muſs doch theils eine be - sondre Disposition dazu vorhanden sein, von welcher bei Zacharias sonst keine Spur zu finden, die auch bei seinem vorgerückten Alter nicht zu vermuthen ist, theils muſs eine bestimmte Veranlassung hinzutreten, welche hier durch - aus fehlt7)Vgl. Schleiermacher über die Schriften des Lukas S. 25.; denn ein so lange gehegter Wunsch äussert sich nicht mehr in ekstatischer Heftigkeit, und das Räu - chern im Tempel konnte einen alten, gedienten Priester nicht wohl ausser sich bringen. So hat Paulus hier nur ein göttliches Wunder in ein Wunder des Zufalls umge - wandelt; ob aber gesagt wird: bei Gott ist kein Ding un - möglich; oder: dem Zufall ist kein Ding unmöglich, ist beides gleich precär und unwissenschaftlich.

Aber auch das Verstummen des Zacharias wird auf diesem Standpunkte nur sehr unbefriedigend erklärt. Denn war dasselbe nach der einen Erklärung durch einen Schlag - fluſs herbeigeführt, so hat dieſs zwar nicht die Schwierig - keit, welche Paulus darin finden will, daſs ein stumm ge - wordener Priester nach 3. Mos. 21, 16. ff. sogleich von den Funktionen hätte abtreten müssen, während doch nach V. 23. Zacharias erst nach dem Ende seiner Dienstwoche von Jerusalem weggieng; dieſs nämlich erledigt sich leicht durch die Bemerkung, welche schon Lightfoot gemacht93Erstes Kapitel. §. 14.hat8)Horae hebr. et talmud. ed. Carpzov. p. 722., daſs eine, wenn auch nur vermeintlich, auf wun - derbare Weise entstandene Sprachlosigkeit nicht mit einer Stummheit als natürlichem Gebrechen in Eine Klasse würde gestellt worden sein. Wohl aber wird man sich mit Schleiermacher darüber verwundern müssen, wie Zacha - rias unerachtet jenes Schlagflusses frisch und übrigens ge - sund nach Hause geht9)a. a. O. S. 26., so daſs er gerade mit dieser theilweisen Lähmung anderntheils die Kraft erhalten haben müſste, seinem langgehegten Wunsche Realität zu schaffen. Auch das muſs als ein sonderbarer Zufall bezeichnet wer - den, daſs gerade am Beschneidungstage des Sohnes die Lähmung der Zunge des Vaters gewichen sein soll, da, wenn dieſs der Gewalt der Freude zugeschrieben wird10)Wofür man sich auf Beispiele aus A. Gellius 5, 9, und Va - lerius Maximus 1, 8. beruft., diese gewiſs am Tage der Geburt des Sohnes gröſser gedacht werden muſs als an dem späteren Beschneidungs - tage, wo sich der Vater an den Besiz des Kindes be - reits gewöhnt hatte. Die andre Erklärung aber, daſs das Nichtredenkönnen des Zacharias nicht eine physische Unmöglichkeit, sondern nur ein psychologisch zu erklärendes Meinen, nicht reden zu dürfen, gewesen sei, ist dem Wort - sinn bei Lukas zuwider. Denn was beweisen alle die Stel - len, welche Paulus zum Beweis dafür aufhäuft, daſs οὐ δύναμαι nicht allein ein wirkliches non posse, sondern auch ein bloſses non sustinere bedeuten könne11)a. a. O. S. 97 f., gegen den klaren Zusammenhang unsrer Stelle? Wenn nämlich etwa auch das erzählende οὐκ ἠδύνατο λαλῆσαι ἀυτοῖς (V. 22.) mit Noth in jenem Sinne genommen werden könn - te: so würde doch V. 20. der Engel in der visionären Vor - stellung des Zacharias, wenn er diesem das Reden nur94Erster Abschnitt.verbieten, nicht unmöglich machen wollte, nicht gesagt ha - ben: καὶ ἔσῃ σιωπῶν, μὴ δυνάμενος λαλῆσαι, sondern: ἴσϑι σιωπῶν, μηδ 'ἐπιχειρήσῃς λαλῆσαι, wie auch das διέμενε κωφὸς (V. 21.) am natürlichsten von wirklicher Stumm - heit verstanden wird. Soll also der Bericht, was auf die - sem Standpunkte durchaus vorausgesezt wird und werden muſs, genau das wiedergeben, was Zacharias selbst über das ihm Begegegnete erzählte: so müſste, wenn man eine wirklich eingetretene Stummheit leugnet, da er doch durch den Engel sich wirklich eine solche ankündigen läſst, an - genommen werden, er habe, unerachtet er hätte reden können, sich doch für stumm gehalten, was auf Verrückt - heit führen würde, die man doch dem Vater des Johannes ohne Nöthigung durch den Text nicht wird aufbürden wollen.

Auch das berücksichtigt diese natürliche Erklärung zu wenig, daſs ihr zufolge einer aus so abnormem Seelenzu - stande entsprungenen Vorherverkündigung der Erfolg mit unbegreiflicher Genauigkeit entsprochen haben müſste. Ein solches Eintreffen einer visionären Voraussagung würde der Rationalist in keinem andern Gebiete glaublich finden. Wie, wenn etwa Dr. Paulus von einer Somnambüle zu lesen bekäme, sie habe in einer Ekstase die den Umstän - den nach im höchsten Grade unwahrscheinliche Erzeugung eines Kindes, und nicht nur eines Kindes überhaupt, son - dern speciell eines Knaben, und zwar mit genauer Angabe sogar seiner künftigen Geistesentwickelung und geschicht - lichen Stellung vorausgesagt, und Alles sei auf's Genauste eingetroffen: würde er ein solches Zusammentreffen an - nehmlich finden? Gewiſs, er würde einen solchen Blick in die geheimste Werkstätte der zeugenden Natur keinem Menschen in keinem Zustande zugestehen; namentlich wür - de er über Frevel an der menschlichen Freiheit Klage er - heben, welche durch die Annahme aufgehoben werde, daſs sich der ganze intellektuelle und moralische Entwick -95Erstes Kapitel. §. 14.lungsweg eines Menschen wie der Ablauf eines Uhrwerks vorherbestimmen lasse, und er würde ebendeſswegen über Ungenauigkeit der Beobachtung und Unzuverläſsigkeit ei - nes Berichtes sich beschweren, welcher so unmögliche Dinge als geschehene erzähle. Warum thut er dieſs nicht auch in Bezug auf unsern N. T. lichen Bericht? warum findet er hier annehmlich, was er dort verwirft? Herr - schen denn in der biblischen Geschichte andere Gesetze als in der übrigen? Dieſs muſs der Rationalist voraussetzen, wenn er das sonst Unglaubliche in der evangelischen Ge - schichte glaublich findet; damit aber kehrt er zum supra - naturalistischen Standpunkt zurück, denn eben die Annah - me, daſs die sonst gewöhnlichen Naturgesetze für jene Ge - schichte nicht gelten, ist das Eigenthümliche des Supra - naturalismus.

Vor dieser Selbstvernichtung sich zu retten, bleibt der dem Wunder ausweichenden Erklärungsart nichts Anderes übrig, als die buchstäbliche Richtigkeit der Erzählung zu bezweifeln. Daſs dieses die einfachste Auskunft wäre, be - merkt auch Paulus, wenn er selbst vermuthet, man werde sein Bemühen mit natürlicher Erklärung eines Berichtes überflüssig finden, welcher nichts Andres als eine von den lobpreisenden Jugendgeschichten sei, wie sie von jedem groſsen Manne nach seinem Tode oder selbst noch zu sei - nen Lebzeiten gedichtet werden. Dennoch glaubt Paulus nach unparteiischer Erwägung diese Analogie hier nicht anwenden zu dürfen. Sein vornehmster Grund ist die all - zukurze Zwischenzeit zwischen der Geburt des Täufers und der Abfassung des Lukas-Evangeliums12)a. a. O. S. 72 f., was wir nach dem in der Einleitung Bemerkten geradezu umkeh - ren und den genannten Ausleger fragen können, wie er begreiflich machen wolle, daſs von einem so gefeierten Manne wie Johannes, in einer so aufgeregten Zeit, seine96Erster Abschnitt.Geburtsgeschichte nach mindestens 60 Jahren noch mit ur - kundlicher Genauigkeit habe überliefert werden können? Hier hat Paulus die auch von Andern (wie Heydenreich, Olshausen) gebilligte Antwort bereit, vermuthlich sei der von Lukas 1, 5 2, 39. eingerückte Aufsaz eine unter der Verwandtschaft des Täufers und Jesu circulirende, wahrscheinlich von Zacharias verfaſste Familiennachricht gewesen13)a. a. O. S. 69., eine aus der Luft gegriffene, moderne Hypothese, welche viel zu ernsthaft behandelt wird, wenn man ihr mit K. Ch. L. Schmidt entgegenhält, eine so ent - stellte (wir würden blos sagen: ausgeschmückte) Erzäh - lung könne unmöglich ein Familienaufsaz sein, sondern wenn sie nicht ganz in die Klasse der Legenden gehöre, so sei doch ihre etwaige geschichtliche Grundlage nicht mehr zu unterscheiden14)In Schmidt's Bibliothek für Kritik und Exegese 3, 1, S. 119.. Weiter wird angeführt, in der Erzählung selbst finden sich Züge, welche kein Dich - ter hätte ersinnen können, welche somit darauf hinweisen, daſs der Bericht ein unmittelbarer Abdruck des Faktums sei. Ein solcher Zug soll von Allen der sein, daſs die messianischen Erwartungen der verschiedenen Luc. 1. u. 2. redend eingeführten Personen so richtig nach ihren Um - ständen und Verhältnissen gezeichnet seien15)Paulus a. a. O.: allein diese Unterschiede sind gar nicht so scharf vorhanden, wie sie Pau - lus dafür ausgiebt, sondern sie verhalten sich mehr nur als Fortschritt vom Allgemeinen zum Bestimmteren, der auch ei - nem Dichter oder einer Volkssage natürlich ist. Ueber - haupt wird man mit Schleiermacher sagen müssen, diese Reden lassen sich gerade am wenigsten als historisch ge - nau im engsten Sinne nehmen, und behaupten, Zacharias habe wirklich in dem Augenblick, als er die Sprache wie - der erhielt, sie auch zu jenem Lobgesang benüzt, ohne97Erstes Kapitel. §. 15.durch die Freude und Verwundrung der Versammlung ge - stört zu werden, durch welche doch der Erzähler selbst sich unterbrechen läſst, sondern es müſste auf jeden Fall angenommen werden, daſs der Verfasser von dem Seinen hinzugefügt, und die Geschichtserzählung durch die lyrischen Ausbrüche seiner Muse bereichert habe16)Über die Schriften des Lukas, S. 23.; denn was Kuinöl vermuthet, Zacharias habe den Lobgesang erst nachher verfertigt und niedergeschrieben, ist doch, neben dem Wunderlichen, dem Texte zu sehr zuwider. End - lich, wenn die Erklärer sich darauf berufen, am allerwe - nigsten würde ein Erfinder gewisse andre Züge so richtig getroffen haben, wie das Zuwinken, den Streit des Fami - milienraths, und daſs der Engel gerade zur rechten Hand des Altars gestanden17)Paulus und Olshausen z. d. St., Heydenreich a. a. O. 1, S. 87.: so zeigen sie nur, daſs sie von Poësie und Volkssage entweder keinen Begriff haben, oder hier keinen haben wollen, da ja ächte Dichtung und Sage gerade durch Anschaulichkeit und Natürlichkeit der einzel - nen Züge sich auszeichnet18)Vergl. Horst, in Henke's Museum, 1, 4, S. 705..

§. 15. Die mythische Ansicht von der Erzählung auf verschie - denen Stufen.

Die oben nachgewiesene Nothwendigkeit und die zu - letzt dargelegte Möglichkeit, die historische Treue des vor - liegenden Berichts zu bezweifeln, hat mehrere Theologen veranlaſst, die ganze Relation über die Verkündigung der Geburt des Täufers für eine Sage zu erklären, entstanden aus der Wichtigkeit, welche Johannes als Vorläufer für die Christen hatte, und aus Nachbildung einiger A. T. li - chen Erzählungen, in welchen Isaaks, Samuels und nament -Das Leben Jesu I. Band. 798Erster Abschnitt.lich Simsons Geburt auf ähnliche Weise angekündigt wird. Doch nicht rein erdichtet sollte die Sache sein, sondern als historische Wahrheit möge zum Grunde liegen, daſs Zacharias mit Elisabet lange in einer unfruchtbaren Ehe gelebt, daſs ihm einmal im Tempel eine Stockung des Bluts seine alte Zunge gelähmt, bald darauf aber seine bejahrte Frau ihm einen Sohn geboren, und er in der Freude hier - über das Sprachvermögen wieder bekommen habe. Schon damals, noch mehr aber als Johannes ein merkwürdiger Mann wurde, machte die Geschichte Aufsehen, und es bil - dete sich die vorliegende Sage1)E. F. über die zwei ersten Kapitel u. s. w. in Henke's Ma - gazin 5, 1, S. 162 ff., und Bauer hebr. Mythol. 2, 220 f..

Man muſs verwundert sein, unter anderem Titel hier beinahe wieder dieselbe Erklärung sich vorgeführt zu se - hen, welche bisher als natürliche beurtheilt worden ist, so daſs die aufgenommene Voraussetzung möglicher Einmi - schung späterer Sagen in die Relation fast keinen Einfluſs auf die Ansicht von der Sache selbst gehabt hat. Da die Erklärungsweise, auf deren Boden wir jetzt getreten sind, das Vertrauen zu den Berichten, als ächthistorischen, ein - mal aufgegeben hat: so müssen ihr alle Züge derselben an sich gleich problematisch sein, und ob sie einige doch als geschichtlich festhalten soll, kann sich nur darnach bestim - men, ob ein und der andere Zug theils für sich nicht so schwierig, theils nicht so im Geist, Interesse und Zusam - menhang der Sage ist, daſs sein Ursprung aus dieser wahr - scheinlich würde. Als solche Züge werden hier festgehal - ten die lange Unfruchtbarkeit der Elisabet und das plöz - liche Verstummen des Zacharias, so daſs nur die Erschei - nung und Vorhersagung des Engels preiſsgegeben wird. Da aber eben durch die Wegschaffung der Angelophanie die Stummheit des Zacharias in ihrem plözlichen Eintre - ten und Wiederaufhören ihre einzig genügende übernatür -99Erstes Kapitel. §. 15.liche Ursache verliert: so kehren hier alle die Schwierig - keiten zurück, welche an der natürlichen Deutung in's Licht gestellt worden sind; wozu noch die Inconsequenz kommt, daſs man bei einmal betretenem mythischen Stand - punkt gar nicht nöthig hat, sich in diese Verlegenheit zu begeben, da man ja nicht mehr durch die Voraussetzung historischer Treue der Berichte an Festhaltung derselben gebunden ist. Das Andre aber, was als geschichtlich bei - behalten wird, die lange Kinderlosigkeit der Eltern des Täufers, ist so ganz im Geist und Interesse der hebräi - schen Sagenpoësie, daſs von diesem Zuge am wenigsten der mythische Ursprung verkannt werden sollte. Wie ver - worren hat dieses Verkennen z. B. das Räsonnement von Bauer gemacht! Man habe, sagt er2)a. a. O. S. 221., im jüdischen Gei - ste so geschlossen: Alle nach langer Unfruchtbarkeit im vorgerückten Alter der Eltern gebornen Kinder werden groſse Männer; Johannes war von alten Eltern da und wurde ein angesehener Lehrer der Buſse: folglich glaubte man berechtigt zu sein, seine Geburt durch einen Engel ankündigen zu lassen. Welch ein Ungethüm von einem Schlusse, und das aus keinem andern Grunde, als weil er das Spätgeborensein des Johannes als gegeben voraussezt. Man mache es zu etwas erst Erschlossenem: so gestaltet sich der Schluſs ohne alle Schwierigkeit. Von groſsen Män - nern, lautet er nun, nahm man gerne an, daſs sie Spätge - borene seien3)Warum man dies annahm, erklärt am besten eine, für diese Materie classische Stelle im Evangelium de nativitate Mariae; bei Fabricius codex apocryphus N. Ti 1, p. 22 f., bei Thilo 1, p. 322, welche zugleich einen Katalog der ausgezeichne - ten Spätgebornen aus der jüdischen Geschichte enthält. Deus heisst es hier cum alicujus uterum claudit, ad hoc facit, ut mirabilius denuo aperiat, et non libidinis esse, quod nascitur, sed divini muneris cog -, und ihre, menschlicherweise nicht mehr7*100Erster Abschnitt.zu erwartende Geburt durch himmlische Boten verkündigt werde; Johannes war ein groſser Mann und Prophet: also machte die Sage auch ihn zu einem Spätgeborenen, und lieſs seine Geburt durch einen Engel verkündigt werden.

Weil auf diese Weise die Deutung der vorliegenden Erzählung als eines halben (sogenannten historischen) My - thus von allen Schwierigkeiten einer halben Maſsregel ge - drückt ist: so hat sich schon Gabler lieber der Annahme eines reinen (sogenannten philosophischen, besser: dog - matischen) Mythus zugewendet4)neuestes theol. Journal 7, 1, S. 402 f., und Horst hielt, wie die ganzen zwei ersten Kapitel des Lukas, so auch diesen Theil derselben für eine sinnreiche Dichtung, in welche mit der Geburtsgeschichte des Messias auch die seines Vor - läufers aufgenommen, und die Vorhersagen über dessen Charakter und Wirksamkeit nach dem Erfolge gebildet seien; wobei gerade auch die redselige Umständlichkeit der Erzählung den Dichter verrathe5)In Henhe's Museum, 1, 4, S. 702 ff.. Ebenso hat Schleier - macher wenigstens das erste Kapitel des Lukas für ein kleines poëtisches Kunstwerk erklärt, in der Art mehrerer jüdischer Dichtungen, die wir noch unter den Apokryphen finden. Er will zwar nicht das Ganze für durchaus er - sonnen erklären, sondern es mögen Thatsachen und weit -3)noscatur. Prima enim gentis vestrae Sara mater nonne usque ad octogesimum annum infecunda fuit? et tamen in ultima senectutis aetate genuit Isaac, cui repromissa erat benedictio omnium gentium. Rachel quoque, tantum Domino grata tantumque a sancto Jacob amata, diu sterilis fuit, et tamen Joseph genuit, non solum dominum Aegypti, sed plurimarum gentium fame periturarum liberatorem. Quis in ducibus vel fortior Sampsone, vel sanctior Samuele? et tamen hi ambo steriles matres habuere. ergo crede dilatos diu conceptus et steriles partus mirabiliores esse solere. 101Erstes Kapitel. §. 15.verbreitete Tradition zu Grunde liegen, wobei jedoch der Dichter sich die Freiheit genommen, das Entfernte zusam - menzurücken und das Schwankende der Ueberlieferung in festen Bildern zu bestimmen; weſswegen das Bestreben, die geschichtliche und natürliche Grundlage noch heraus - zufinden, leer und vergeblich sei6)a. a. O. S. 24 f.. Als Verfasser des Stücks hat schon Horst einen judaisirenden Christen ver - muthet, und auch Schleiermacher nimmt an, daſs es von einem Christen aus der veredelten jüdischen Schule zu ei - ner Zeit verfaſst sei, in welcher es noch reine Johannis - jünger gab, welche es zum Christenthum herüberlocken sollte, indem es die Beziehung des Johannes auf Christus als seine eigentliche höchste Bestimmung angab, selbst aber von der Wiederkunft Christi noch zugleich eine äus - serliche Verherrlichung des Volkes erwartete.

Daſs eine solche Ansicht des Abschnitts die einzig richtige sei, wird vollends ganz klar werden, wenn wir die A. T. lichen Erzählungen genauer betrachten, welchen, wie die meisten Erklärer erinnern, diese Verkündigungs - und Geburtsgeschichte des Täufers auffallend ähnlich ist. Das älteste Urbild aller Spätgeborenen ist Isaak, und aus dessen Geschichte ist in unserer Erzählung namentlich der auf das hohe Alter der beiden Eltern gegründete Unglaube des Vaters und seine Frage nach einem Zeichen genom - men. Wie nämlich Abraham, als ihm Jehova von einem Leibeserben eine Nachkommenschaft verheiſsen hatte, wel - che das Land Kanaan besitzen werde, zweifelnd fragte: κατὰ τί γνώσομαι, ὄτι κληοονομήσω ἀυτήν; (sc. τὴν γῆν. 1. Mos. 15, 8. LXX): so hier Zacharias: κατὰ τί γνώσο - μαι τοῦτο; (V. 18.). Der Unglaube der Sara ist für Elisa - bet nicht benüzt; dieser Name der ϑυγάτηρ Ἀαρὼν aber könnte an den gleichen Namen von Aarons Gattin (2. Mos. 6, 23. LXX) erinnern. Aus der Geschichte eines andern102Erster Abschnitt.Spätgebornen, des Simson, ist der Engel genommen, wel - cher die Geburt des Sohnes verkündigt. Daſs er in unsrer Erzählung dem Vater im Tempel erscheint, während er dort (Richter 13.) zuerst der Mutter, dann dem Vater auf dem Felde sich zeigt, ist eine Umänderung, welche sich von selbst aus der Standesverschiedenheit der beider - seitigen Eltern ergab, indem die Priester nach späterer jüdischer Vorstellung eben beim Räuchern im Tempel nicht selten Angelo - und Theophanien hatten7)S. die Stellen aus Josephus und den Rabbinen bei Wetstein zu Luc. 1, 11. S. 647 f.. Ebendaher ist die Vorschrift genommen, welche den Johannes schon vor seiner Geburt zum Nasiräat bestimmt, indem bei Simson schon seiner Mutter während der Schwangerschaft Wein, starke Getränke und unreine Speisen verboten werden, dann aber auch dem Sohne die gleiche Diät vom Engel vor - geschrieben wird8)Richt. 13, 14 (LXX. ): καὶ οἶνον καὶ σίκερα μὴ πιέτω. Luc. 1, 15: καὶ οἶνον καὶ σίκερα οὐ μὴ πίῃ. , und zwar ähnlich wie bei Johannes, mit dem Beisatz, daſs der Knabe schon von Mutterleib an Gott geheiligt sein werde9)Richt. 13, 5: ὅτι ἡγιασμένον ἔςαι τῷ ϑεῷ τὸ παιδάριον ἐκ τῆς γαςρός. Luc. 1, 15: καὶ πνεύματος ἁγίου πλη - σϑήσεται ἔτι ἐκ κοιλίας μητρὸς ἁυτοῦ. . Auch die Verheiſsung der für ihr Volk segensreichen Wirksamkeit beider Männer ist analog (vgl. Luc. 1, 16. 17. mit Richter 13, 5.), so wie die Schluſsformel über das hoffnungsvolle Heranwachsen der beiden Knaben10)Richt. 13, 24 f.:Καὶ ἠυλόγησεν ἀυτὸν Κύριος, καὶ ἠυ - ξήϑη τὸ παιδάριον· καὶ ἤρξατο πνεῦμα Κυρίου συμπο - ρεύεσϑαι αὐτῷ ἐν παοεμβολῇ Δὰν, ἀναμέσον Σαρὰ καὶ ἀναμέσον Ἐσϑαόλ. Luc. 1, 80: τὸ δὲ παιδίον ἤυξανε καὶ ἐκραταιοῦτο πνεύματι, καὶ ἦν ἐν ταῖς ἐρήμοις, ἕως ἡμέρας ἀναδείξεως κ 'υτοῦ πρὸς τὸν Ἰσραήλ.. Aus der Geburtsgeschichte ei -103Erstes Kapitel. §. 15.nes dritten Spätgebornen, des Samuel, möchte es zwar zu kühn sein, die levitische Abstammung des Johannes als bloſse Nachbildung abzuleiten (vgl. mit 1. Sam. 1, 1. 1. Chron. 7, 27.); aber die lyrischen Ergüsse sind dieser Geschichte abgesehen, welche sich im ersten Kapitel des Lukas finden. Wie nämlich Samuels Mutter bei der Über - gabe ihres Sohnes an den Hohenpriester in einen Hymnus ausbricht (1. Sam. 2, 1 ff. ): so hier der Vater des Täufers bei der Beschneidung seines Sohns; nur daſs im Einzelnen dem Loblied der Hanna weniger das des Zacharias, als das der Maria nachgebildet erscheint, auf welches wir spä - ter kommen werden. Der einzige ungewöhnliche Zug, für welchen eine Analogie in diesen A. T. lichen Stellen fehlt, ist das Verstummen des Zacharias, worauf sich Olshau - sen gegen die mythische Ansicht von unsrer Erzählung be - ruft11)Commentar 1, S. 119.. Allein bedenkt man nur, daſs das Fordern und Bekommen von Zeichen zur Versicherung einer Voraussa - gung bei den Hebräern gewöhnlich war (vgl. Jes. 7, 11 ff. ), und daſs als ausserordentliche Strafe nach einer himmli - schen Erscheinung auch sonst der Verlust eines Sinnes bis auf eine gewisse Zeit verhängt wird (A. G. 9, 8. 17 f.): so kann man sich die Entstehung dieses Zuges in der Sage auch ohne geschichtliche oder vorbildliche Veranlassung gar wohl erklären. Von zwei wunderlosen Nebenzügen ist der eine, die gesetzliche Gerechtigkeit der Eltern des Johannes (V. 6.) in jedem Falle blos auf den Schluſs ge - gründet, daſs nur ein so gottseliges Ehepaar mit einem solchen Sohne habe begnadigt werden können, und hat also keinen historischen Werth; wogegen die Angabe (V. 5.), daſs Johannes unter dem König Herodes (dem Groſsen) geboren sei, eine ohne Zweifel richtige Berechnung ist.

104Erster Abschnitt.

So stehen wir also hier ganz auf poëtisch-mythischem Grunde, und was wir als sichre historische Thatsache fest - halten können, ist nur dieſs: der Täufer Johannes hat durch seine spätere Wirksamkeit und deren Beziehung auf Jesus so bedeutenden Eindruck gemacht, daſs sich die christ - liche Sage zu einer solchen Verherrlichung seiner Geburt in Verbindung mit der Geburt Jesu getrieben fand.

105Zweites Kapitel. §. 16.

Zweites Kapitel. Jesu Davidische Abkunft nach zwei Stammbäumen.

§. 16. Die beiden Genealogieen Jesu ohne Bezug auf einander betrachtet.

Hatten wir für die Geburtsgeschichte des Täufers nur den einzigen Bericht des Lukas: so fällt bei dem Übergang auf die Abstammung Jesu auch Matthäus ein, so daſs nun durch die gegenseitige Controle zweier Erzähler unser kri - tisches Geschäft theils vervielfältigt, theils aber doch er - leichtert wird. Auch die zwei ersten Kapitel des Matthäus übrigens, welche die Geburts - und Kindheitsgeschichte Je - su enthalten, sind, wie die parallelen Abschnitte des Lu - kas, in Bezug auf ihre Ächtheit angezweifelt worden1)Stroth, über Interpolationen im Evang. Matth. In Eichhorn's Repertorium 9, S. 99 f. Hess Bibliothek der heiligen Ge - schichte 1, 208 ff. Eichhorn, Einleitung in das N. T. 1, S. 422 ff. spricht die zwei ersten Kapitel zwar dem Apostel Matthäus ab, erklärt sie aber wegen des gleichen Pragma - tismus, der in denselben wie im übrigen ersten Evangelium herrscht, für ein Werk desselben Verf., welchem wir unsre gegenwärtige Überarbeitung des Matthäus-Evangeliums ver - danken.: doch nur von demselben befangenen Standpunkt aus wie jene, weſswegen auch hier durch gründliche Widerlegun - gen die Zweifel zum Schweigen gebracht sind2)Griesbach, epimetron ad comm. crit. in Matth. p. 57 ff. vgl. Paulus exeg. Handb. 1, a, S. 137. Fritzsche, Comment. in Matth., Excurs. 3..

106Erster Abschnitt.

Der Geschichte der Verkündigung und Geburt Jesu ist bei beiden Evangelisten eine Stammtafel bei Matthäus voran (1, 1 17.), bei Lukas nachgeschickt (3, 23 38.), welche die Davidische Abkunft Jesu als des Messias do - cumentiren soll. Von einer genaueren Untersuchung die - ser Genealogieen mahnt uns zwar Luther ab, da ja Pau - lus ausdrücklich 1. Tim. 1, 4. vor den γενεαλογίαις ἀπε - ράντοις warne, weil sie mehr nur ζητήσεις, als ὀικονομίαν ϑεοῦ τὴν ἐν πίςει zur Folge haben3)Anmerkungen über den Evangelisten Matthäum. Werke, Walch. Ausg. Bd. 14. S. 8 f.; indessen geben sie, so - wohl jede für sich, als beide in Vergleichung mit einan - der betrachtet, so wichtige Aufschlüsse über den Charak - ter der evangelischen Nachrichten in diesem Abschnitt, daſs eine genaue Prüfung derselben nicht umgangen wer - den kann. Nehmen wir zuerst jede ohne Rücksicht auf die andere, so ist wiederum jede, und zwar soll es zuvör - derst die des Matthäus sein, theils an sich, theils in Be - ziehung auf die A. T. lichen Stellen zu betrachten, mit welchen sie parallel läuft.

Bei der von dem Verfasser des ersten Evangeliums mit - getheilten Genealogie ist eine Vergleichung derselben mit sich selber deſswegen von Erfolg, weil sie an ihrem Schlus - se (V. 17.) ein Resultat, eine Summe, zieht, und nun durch Vergleichung des Vorausgeschickten untersucht werden kann, wiefern demselben jenes Resultat wirklich entspricht. Es sagt nämlich die Zusammenfassung am Schlusse aus, von Abraham bis auf Christus seien es dreimal 14 Glieder: einmal von Abraham auf David, dann wieder von diesem zum babylonischen Exil, und endlich von da bis auf Chri - stus herab. Zählen wir nun nach, so treffen von Abra - ham bis auf David, beide miteingeschlossen, die Vierzehn zu (V. 2 5.); ebenso von Salomo bis auf denjenigen, nach welchem des babylonischen Exils gedacht ist, Jechonias107Zweites Kapitel. §. 16.(6 11.); aber von diesem bis auf Jesus bringt man, den letzteren selbst noch mitgezählt, blos 13 Glieder heraus (V. 12 16.). Wie ist diese Differenz zwischen der vom Verf. gezogenen Summe und den vorausgeschickten Zahlen zu erklären? Die Vermuthung, daſs von den Gliedern der dritten Tessareskaidekade eines durch Versehen der Ab - schreiber weggefallen sei4)Paulus a. a. O. S. 292., wird durch die Notiz höchst unwahrscheinlich, daſs schon Porphyrius dieses Glied ver - miſste5)Nach Hieron. in Daniel. init.; der von einigen Handschriften und Versionen zwischen Josias und Jechonias eingeschobene Ἰωακεὶμ6)S. Wetstein z. d. St. aber würde nicht die dritte, mangelhafte Tessareskaidekade ergänzen, sondern die zweite, die schon ohne ihn voll ist, überfüllen7)Paulus a. a. O.. Da somit dieser Mangel ohne Zweifel schon vom Verfasser der Genealogie herrührt, fo fragt sich nur, auf welche Weise er gezählt hat, daſs er auch für seine dritte Abtheilung 14 Glieder herausbrachte? Eine Möglich - keit, verschieden zu zählen, ergiebt sich leicht durch den Unterschied des Inclusiven und Exclusiven. Freilich sollte man denken, wer bei der vorhergehenden Klasse einge - schlossen war, der müsse bei der folgenden ausgeschlossen werden; doch könnte es sein, der Verfasser dieser Stamm - tafel hätte anders gedacht; wenigstens nennt er in seiner Zusammenrechnung den David zweimal: wie, wenn er ihn auch, so falsch dieſs gerechnet wäre, sowohl zur ersten als zur zweiten Reihe gezählt hätte? Freilich würde dieſs, wie oben die Einschaltung des Jojakim, den Mangel in der dritten Reihe nicht ersetzen, sondern nur die zweite über - zählig machen; man müſste denn mit einigen Auslegern8)Z. B. Fritzsche, Comment. in Matth. p. 13. die zweite Reihe nicht, wie gewöhnlich geschieht, mit Je -108Erster Abschnitt.chonia, sondern schon mit seinem Vormann Josia schlies - sen, dann käme der durch die doppelte Zählung Davids in der zweiten Reihe überflüssig gewordene Jechonia der dritten zu Gute, und sie hätte mit Jesus ihre 14 Glieder. Allein es scheint doch gar zu willkührlich, daſs der Ver - fasser zwar das abschlieſsende Glied der ersten Dekatetras auch wieder zur zweiten gezählt haben soll, nicht aber ebenso das Schluſsglied der zweiten noch einmal zur drit - ten; weſswegen man es mit Andern vorziehen könnte, wie den David, so auch den Josias doppelt zu zählen, wo - durch dann die dritte Klasse schon ohne Jesum 14 Glieder bekäme9)Nur nicht aus dem mystischen Grunde Olshausen's, Comm. 1, S. 46: weil es passend sei, Jesum selbst nicht mit in die Geschlechter einzureihen, sondern als die Blüthe des Gan - zen allein zu stellen. Was könnte aus solchen Gründen nicht Alles passend gefunden werden!. Aber, indem diese Zählung eine Anomalie ver - meidet, fällt sie in eine andere, daſs nämlich V. 17. zwar in dem Satze: ἀπὸ Ἀβραὰμ ἕως Δαυὶδ κ. τ. λ. der Letz - tere eingerechnet wird, in dem Satze aber: ἀπὸ τὴς μετ - οικεσίας Βαβυλῶνος ἕως τοῦ χριςοῦ dieser ausgeschlossen. Noch ein gröſseres Gebrechen haben die beiden zuletzt angeführ - ten Zählungsweisen mit einander gemein. Indem nämlich der Verfasser der Genealogie V. 11. und 12. sagt: Ἰωσίας δὲ ἐγέννησε τὸν Ἰεχονίαν ἐπὶ τῆς μετοικεσίας Βαβυλῶνος· μετὰ δὲ τὴν μετοικεσίαν Βαβυλῶνος Ἰεχονίας ἐγέννησε τὸν Σαλαϑιήλ: so setzt er augenscheinlich den durch das Exil gebildeten Abschnitt[zwischen] der zweiten und dritten De - katetras nicht schon hinter Josia, sondern erst nach Je - chonia, dessen Namen er dann zu Anfang der dritten Rei - he ganz ebenso wiederholt, wie am Anfang der zweiten den Namen Davids. Da also, um nicht gegen den klaren Sinn des Schriftstellers zu verstossen, jede Erklärung zu vermeiden ist, bei welcher schon mit Josia die zweite Ab -109Zweites Kapitel. §. 16.theilung geschlossen werden müſste, dennoch aber der drit - ten Reihe zu ihrer 14 Zahl geholfen werden muſs: so bleibt nichts übrig, als den, wenn David nur einfach gezählt wird, die zweite Reihe abschliessenden Jechonia am Anfang der dritten noch einmal zu zählen, um so mit Jesus 14 Glie - der zu bekommen. Dabei findet dann freilich wieder das Ungleichmäſsige statt, daſs nur bei dem Schluſsglied der zweiten Klasse die doppelte Zählung angewendet wird, nicht aber auch bei dem der ersten; allein da jeder andre Ausweg gröſsere Schwierigkeiten hat, so bleibt nur dieser übrig, welchem zufolge der Redacteur dieser Genealogie, falls ihm für diese dritte Reihe keine bestimmte Zahl von Gliedern vorlag, aus Versehen eines zu wenig genommen haben müſste, falls ihm aber in irgend einer unbekannten Quelle nur 13 Glieder gegeben waren, sich, um die 14 Zahl zu erhalten, vielleicht bewuſst und absichtlich durch die doppelte Zählung des Jechonia geholfen hätte.

Halten wir hierauf die Genealogie des Matthäus, im - mer noch ohne Rücksicht auf die des Lukas, mit den entsprechenden Stellen des A. T. s zusammen: so stimmt sie mit diesen nicht durchaus überein, und es zeigt sich das dem eben gewonnenen äusserlich entgegengesetzte Re - sultat, daſs, wenn für sich betrachtet die Genealogie ein Glied verdoppeln muſste, um ihr Schema zu füllen: sie in Vergleichung mit dem A. T. von den in diesem an die Hand gegebenen Gliedern mehrere ausläſst, um ihre 14 Zahl nicht zu überschreiten. Mit A. T. lichen Angaben nämlich läſst sich diese Genealogie, als die berühmte Stammtafel des Davidischen Königsgeschlechts, vergleichen von Abra - ham bis auf Serubabel und seine Söhne, von wo an das Davidische Haus in die Dunkelheit zurückzutreten anfängt, und bei dem Schweigen des A. T. s von demselben die Con - trole für die Matthäische Genealogie aufhört. Und zwar ist das Geschlechtsregister von Abraham bis Juda, Perez und Esron hinlänglich aus der Genesis bekannt; das von Pe -110Erster Abschnitt.rez bis David finden wir am Schlusse des Buchs Ruth und im 2ten Kapitel des ersten Buchs der Chronik; das von David bis auf Serubabel im dritten Kap. desselben Buchs; Parallelen für Einzelnes noch ungerechnet. Vollziehen wir nun die Vergleichung: so finden wir die Linie von Abra - ham bis David, also die ganze erste Tessareskaidekade un - serer Genealogie in den Männernamen den A. T. lichen Angaben gleichlautend, nur fügt sie einige Frauen ein, von welchen Eine Schwierigkeit macht. Daſs nämlich (nach V. 4.) Rahab des Boas Mutter gewesen, ist nicht nur oh - ne Bestätigung im A. T., sondern es sind auch, wenn sie zur Urgroſsmutter Isai's, des Vaters von David, gemacht wird, zwischen ihrer Zeit und dem Davidischen Zeitalter, beiläufig von 1450 1050 v. Chr. zu wenige Generationen gesetzt, nämlich, die Rahab oder den David mitgezählt, 4 für 400 Jahre. Doch dieser Fehler fällt insofern auf die A. T. lichen Genealogieen selber zurück, als Isai's Urgroſs - vater Salmon, welchen Matthäus zum Gatten der Rahab macht, auch Ruth 4, 20. wie bei Matthäus, Sohn eines Nahasson ist, welcher nach 4. Mos. 1, 7. noch der Zeit des Zugs durch die Wüste angehörte10)Hiedurch wird die Auskunft Kuinöl's, Comment. in Matth. p. 3., die hier genannte Rahab von der berühmten zu un - terscheiden, ausser dem Willkührlichen auch vollends über - flüssig., von wo aus es denn nahe lag, seinen Sohn mit jener Rahab, welche die israëlitischen Kundschafter gerettet hatte (Jos. 2.), in Ver - bindung zu bringen, um diese Frau, auf welche der pa - triotische Israëlite einen besondern Werth legte (vgl. Jak. 2, 25. Hebr. 11, 31.), in das Geschlecht Davids und des Messias hereinzuziehen. Mehrere Abweichungen finden sich in dem Abschnitt von David bis zu Serubabel und des - sen Sohn, oder der 2ten Dekatetras sammt den ersten Glie - dern der dritten.

111Zweites Kapitel. §. 16.

Erstlich, während es hier V. 8. heiſst: Ἰωρὰμ ἐγέννησε τ[]ν Ὀζ[ί]αν: so wissen wir aus 1. Chron. 3, 11. 12., daſs Usia nicht der Sohn, sondern der Enkel des Sohns von Joram war, und drei Könige zwischen beide fallen, näm - Ahasja, Joas und Amazia, hierauf erst Usia (2. Chron. 26, 1.; oder, wie er 1. Chron. 3, 12. und 2. Kön. 14, 21. heiſst, Asaria).

Zweitens heiſst es in unsrer Stelle V. 11: Ἰωσίας δὲ ἐγέννησε τὸν Ἰεχονίαν καὶ τοὺς ἀδελφοὺς αὐτοῦ. Aber aus 1. Chron. 3, 16. ersehen wir einerseits, daſs der Sohn und Nachfolger des Josias Jojakim hieſs, und erst dessen Sohn und Nachfolger Jechonia oder Jojachin (2. Kön. 24, 6. 2. Chron. 36, 8.)11)Wegen der Ähnlichkeit der Namen יְהוֺיָקִים und יְהוֺיָכִין glaub - ten Manche, sei der erstere nur zufällig ausgefallen (z. B. Wetstein z. d. St.) und einige Codices und Übersetzungen schoben ihn, wie oben bemerkt wurde, ein.; andrerseits werden von Jechonia, dem hier αδελφοὶ zugeschrieben sind, in jener Stelle keine Brüder erwähnt, wohl aber hatte Jojakim Brüder: so daſs die Erwähnung der ἀδελφοὶ Ἰεχονίοῦ bei Matthäus aus einer Verwechslung der genannten beiden Männer hervorgegan - gen zu sein scheinen könnte, wenn nicht 2. Chron. 36, 10. als Bruder des Jojachin oder Jechonia Zedekia namhaft gemacht würde, welcher 1. Chron. 3, 16. dessen Sohn, 2. Kön. 24, 17. aber, vgl. mit 1. Chron. 3, 15. und Jer. 37, 1. sein Oheim heiſst, so daſs in diesem Stücke in den A. T. lichen Nachrichten selbst ein Schwanken zu bemer - ken ist.

Eine dritte Differenz findet in Bezug auf Serubabel statt. Während dieser hier V. 12. ein Sohn Salathiels heiſst, wird er 1. Chron. 3, 19. nicht durch Sealthiel, son - dern durch dessen Bruder Ped[a]ja von Jechonia abgeleitet, wogegen jedoch Esra 5, 2. und Haggai 1, 1. Serubabel wie112Erster Abschnitt.hier als Sohn Sealthiels bezeichnet ist. Endlich der hier als Serubabels Sohn genannte Abiud ist 1. Chron. 3, 19. f. unter den Kindern Serubabels nicht zu finden.

Von diesen Abweichungen sind die zweite und dritte unverfänglich, und können sich ohne Absicht und auch ohne zu groſse Nachläſsigkeit eingeschlichen haben; denn die Auslassung des Jojakim kann wirklich durch den Gleich - klang der Namen veranlaſst sein, und durch eben diese Verwechslung auch die Erwähnung von Brüdern des Je - chonia, eine Differenz, welche sammt der folgenden über - dieſs das Schwanken auch der A. T. lichen Angaben für sich hat. Aber die zuerst aufgeführte Abweichung, das Ueberspringen von drei wohlbekannten Königen, läſst sich nicht ebenso leichten Kaufs auf die Seite schaffen. Nimmt man die Weglassung als unabsichtlich, so daſs der Verf. von Joram statt auf Ahasja (bei den LXX Ὀχοζίας) auf den ähnlich lautenden Ὀζίας gesprungen sein soll: so würde dieſs doch, zusammengenommen mit dem Falle bei Jojakim, eine Nachläſsigkeit und beinahe Blindheit des Genealogisten voraussetzen, welche an das Undenkbare grenzt. Man wird daher schwerlich umhin können, mit Hieronymus anzunehmen, der Verfasser habe absichtlich drei Namen weggelassen, um seine 14 rein herauszubekom - men12)Vgl. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 19. Paulus exeg. Hand - buch S. 289. Wenn Olshausen S. 46. sagt, es könne nicht die Absicht des Matthäus gewesen sein, die 14Zahl zu ur - giren, da er ja mehrere Glieder auslasse: so ist dies eine der überraschenden Keckheiten, durch welche dieser Ausle - ger bisweilen den Leser zu überrumpeln sucht, indem er die Einwürfe gegen die orthodoxe Ansicht von den biblischen Ge - schichten geradezu in Gründe für dieselbe umwandelt, und so die Sache auf den Kopf stellt. Denn hier ist doch gerade umgekehrt zu schliessen, dem Verf. müsse besonders viol an der 14Zahl gelegen gewesen sein, sonst würde er nicht, um. Da er nämlich von Abraham bis David, wo der113Zweites Kapitel. §. 16.erste Absaz sich ergab, 14 Glieder vorfand: so scheint er gewünscht zu haben, auch die übrigen Abtheilungen die - ser ersten gleichzählig zu finden; es boten sich aber von selbst noch zwei dar, indem in die ganze noch übrige Reihe das babylonische Exil als Scheidepunkt eintrat. Da nun jenem Wunsche die zweite Reihe in der Art nicht ent - sprach, daſs die Stammtafel der Davididen bis zum Exil vier Glieder über 14 darbot: so lieſs er vier Namen weg (warum gerade diese, möchte schwer zu entscheiden sein13)Doch vgl. Fritzsche z. d. St.); umgekehrt, für den dritten Abschnitt enthielt entweder seine Quelle einen Mann zu wenig und er suchte sich dadurch zu helfen, oder er wurde dadurch verlei - tet, selbst einen zu wenig aufzuführen, daſs sich der nach der Erwähnung des Exils noch einmal genannte Jechonia auch zur dritten Reihe zählen lieſs.

Warum dem Verfertiger dieser Genealogie so viel an der dreimal gleichen Zahl lag, davon könnte zwar der Grund, wie Einige annehmen, ein lediglich mnemonischer gewesen sein, leichterer Behaltbarkeit wegen die Genealo - gieen nach orientalischer Sitte in gleiche Abschnitte zu thei - len14)Fritzsche in Matth. S. 11.; doch möchte sich wohl mit diesem zugleich ein mystischer Grund verbunden haben. Es fragt sich, ob die - ser in der bestimmten Zahl, welche sich dreimal wieder - holt, oder überhaupt nur darin, daſs dieselbe Zahl drei -12)sie nicht zu überschreiten, wohlbekannte Glieder ausgemerzt haben. Ebendamit widerlegt sich auch die Ansicht, welche vor den Lücken bei Joram und Josias (V. 8. und 11.) das ἐγέννησε nicht im engern wörtlichen, sondern nur im wei - teren Sinn von: e posteris ejus erat, genommen wissen will, als hätte der Genealogist die weggelassenen Glieder nicht ausschliessen, vielmehr hinzugedacht wissen wollen (Kuinöl z. d. St.); unmöglich hätte er dann so zusammenzählen kön - nen, wie er thut.Das Leben Jesu I. Band. 8114Erster Abschnitt.mal wiederkehrt, zu suchen sei? Daſs es dem Genealogi - sten um die Wiederholung gerade des Vierzehn, als der doppelten heiligen Sieben zu thun gewesen15)Paulus S. 292., ist un - wahrscheinlich, weil er sonst schwerlich die 7 so ganz in die 14 versteckt haben würde; noch weniger läſst sich mit Olshausen zuläſsig finden, daſs die 14 als der Zahlwerth des Namens David besonders hervorgehoben sei16)Bibl. Comment. S. 46. Anm.; denn solche Künsteleien der rabbinischen Gematria finden sich sonst in den Evangelien nicht. Mithin möchte es mehr nur um die Wiederholung der gleichen Zahl, nachdem sich zufällig zuerst die 14 ergeben hatte, bei Festhaltung von dieser zu thun gewesen sein, indem die Juden ausserordentliche gött - liche Heimsuchungen, erfreuliche wie strafende, in be - stimmten Zwischenzeiten wiederkehrend sich dachten, so daſs, wie auf den Gründer des heiligen Volks in 14 Generationen der König nach dem Herzen Gottes gefolgt war: ebenso 14 Generationen nach der Wiederherstellung des Volks der Sohn Davids, der Messias gekommen sein muſste17)S. Schneckenburger, Beiträge zur Einleitung in das N. T. S. 41 f., und die daselbst angeführte Stelle aus Joseph. B. j. 6, 4, 8. Ausserdem ist zu vergleichen die von Schöttgen horae hebr. et talm. zu Matth. 1. angeführte Stelle aus Sy - nopsis Sohar p. 132. n. 18: Ab Abrahamo usque ad Salo - monem XV sunt generationes; atque tunc luna fuit in pleni - lunio. A Salomone usque ad Zedekiam iterum sunt XV ge - nerationes, et tunc luna defecit, et Zedekiae effossi sunt oculi..

Diese apriorische Behandlungsweise seines Stoffes, das Prokrustesbette, auf welches er, fast wie ein construi - render Philosoph, denselben bald dehnend bald verkürzend legt, erweckt kein günstiges Vorurtheil für den Verf. un - serer Genealogie, und es wird nichts gut gemacht durch Kuinöl's Bemerkung, daſs die orientalischen Genealogisten sich auch sonst solche Auslassungen zu erlauben pflegen;115Zweites Kapitel. §. 17.denn Willkühr bleibt Willkühr, ob sie Einem für sich al - lein eigen ist, oder mit einer ganzen Klasse gemein.

Der Genealogie bei Lukas für sich genommen sieht man nicht so viele Fehler, wie der des Matthäus an. Denn einmal ihre Vergleichung mit sich selbst liefert gar kein Resultat, da sie nicht wie jene durch Ziehung einer Sum - me sich selbst controlirt; dann aber auch von Seiten des A. T. fehlt ihr die Controle groſsentheils, weil sie von David und Nathan an fast durch lauter unbekannte Ge - schlechter herabläuft, von welchen sich im A. T. kein Stammbaum findet. Nur in 2 Gliedern berührt sie von da an eine im A. T. erwähnte Linie, in Sealthiel und Seru - babel, kommt aber eben hiedurch in Widerspruch mit 1. Chron. 3, 17. 19. f., indem sie den Sealthiel einen Sohn von Neri nennt, da doch nach der angeführten Stelle Je - chonia sein Vater war; als Sohn Serubabels aber einen Resa namhaft macht, welcher in der Chronik unter Seru - babels Kindern fehlt. Auch in der vorabrahamischen Ge - schlechterreihe findet sich die Differenz, daſs zwischen Arphachsad und Sela Lukas einen Καϊνὰν einschiebt, wel - cher im hebräischen Texte 1. Mos. 10, 24. sich nicht findet, übrigens schon von den LXX als Καϊνᾶμ eingeschaltet war.

§. 17. Vergleichung beider Genealogieen. Versuche, ihren Widerstreit zu lösen.

Noch weit auffallendere Resultate ergeben sich aber, wenn man die beiden Genealogieen bei Matthäus und Lu - kas mit einander vergleicht, und ihrer Abweichung von einander sich bewuſst wird. Einige der stattfindenden Dif - ferenzen zwar sind unverfänglich und selbst unbedeutend, wie die Verschiedenheit der Richtung, daſs die Geschlechts - tafel bei Matthäus abwärts geht von Abraham auf Jesus, die bei Lukas aber aufwärts, von Jesus auf seine Vorfah - ren zurück; ebenso die Verschiedenheit des Umfangs, wel -8*116Erster Abschnitt.chen Lukas weiter absteckt als Matthäus, indem dieser das Geschlecht Jesu nur bis auf Abraham, jener dagegen auf Adam und Gott selbst zurückführt. Eigentlich lag, was den Zweck dieser Genealogieen betrifft, nur daran, Jesum, den Messias, als davidischen Abkömmling darzustellen, worin dann schon lag, daſs der Davidide auch ein Abra - hamide sei; schon das war also ein opus supererogati - vum, daſs Matthäus von Abraham ausholte; noch mehr aber scheint es nur dem unwillkührlichen Fortgehen in der ein - mal begonnenen genealogisirenden Bewegung zuzuschrei - ben, daſs Lukas sogar über Abraham hinaus auf Adam den Gottgeschaffenen zurückgeht1)Ich kann mich zu der Annahme mehrerer Theologen (Ols - hausen, bibl. Comm. 1, S. 41. und Winer, bibl. Realwörter - buch 1, S. 659. der 2ten Auflage), dass es die universalisti - sche Tendenz des Lukas sei, welche ihn noch über Abraham zu Adam und Gott dem Vater aller Menschen hinausgehen lasse, desswegen nicht verstehen, weil als Verf. der Genea - logie nicht der universalistische Lukas, sondern ein alter palästinensischer Judenchrist, der dann eher particularistisch gesinnt gewesen sein wird, anzusehen ist, worüber das Wei - tere unten., wodurch nach Schlei - ermacher's Bemerkung das (für die messianische Würde Jesu) Beweisende in der Genealogie nur versteckt ist2)Über den Lukas S. 51.. Bedenklicher schon ist der nicht geringe Unterschied in der Zahl der Generationen für gleiche Perioden, indem von David bis auf Joseph Lukas 41, Matthäus dagegen nur 26 Geschlechter hat. Der Gröſse des Zeitraums ist die Zahl bei Lukas angemessener; denn von David bis Joseph, d. h. von beiläufig 1050 50 vor Christo sind 26 Generationen zu wenig, indem da auf eine Generation über 38 Jahre kommen, wogegen nach Lukas, der Wahrscheinlichkeit näher, etwas weniger als 25. Die Hauptschwierigkeit je - doch liegt darin, daſs Lukas zum Theil ganz andre Indi -117Zweites Kapitel. §. 17.viduen zu Vorfahren Jesu macht, als Matthäus. Zwar stimmen sie in der Angabe derselben nicht allein darin überein, daſs beide das Geschlecht Jesu durch Joseph auf David und Abraham zurückführen, sondern auch in Bezug auf die Mittelglieder, durch welche sie dieſs thun, treffen sie in den Generationen von Abraham bis David, und später in den beiden Namen Sealthiel und Se - rubabel zusammen. Der eigentlich verzweifelte Punkt ist nun aber der, daſs von David bis auf den Pflegevater Jesu, mit Ausnahme von zweien ungefähr in der Mitte, lauter verschiedene Namen bei Lukas und Matthäus sich finden. Nach Matthäus nämlich hieſs der Vater Josephs Jakob, nach Lukas Eli; nach Matthäus ist der Sohn Davids, durch welchen Joseph von diesem König abstammte, Salomo, nach Lukas Nathan, und so läuft dann das Geschlechtsre - gister des Matthäus durch den bekannten Königsstamm her - unter, das bei Lukas durch eine unbekannte Nebenlinie; nur in Sealthiel und Serubabel treffen beide zusammen, doch so, daſs sie sogleich wieder Sealthiels Vater und den Sohn Serubabels verschieden haben. Da diese Differenz ein vollkommener Widerspruch zu sein scheint: so ist man von jeher mit Lösungsversuchen äusserst geschäftig gewe - sen. Um von offenbar ungenügenden Auswegen, wie my - stischer Deutung3)Orig. homil. in Lucam 28. oder willkührlicher Änderung der Na - men4)Luther, Werke Bd. 14. Walch. Ausg. S. 8 ff. nichts zu sagen, so haben sich besonders zwei Hy - pothesenpaare ausgebildet, von welchen je ein Paar sich gegenseitig stützt oder doch verwandt ist.

Das erste Paar bilden die Voraussetzung des Augusti - nus, daſs bei Joseph ein Adoptionsverhältniſs stattgefun - den, und nun der eine Evangelist seinen wirklichen, der andre seinen Adoptiv-Vater nebst dessen Stammbaum gebe5)De consensu Evangelistarum, 1. 2. c. 3. und unter den Neue - ren z. B. E. F. in Henke's Magazin 5, 1, 180 f.,118Erster Abschnitt. und die Annahme des alten Chronologen Julius Africa - nus, daſs bei Josephs Eltern eine Levirats-Ehe eingetre - ten sei, und nun der Stammbaum des einen Evangelisten dem natürlichen, der andere dem gesetzlichen Vater Josephs angehöre; durch den einen habe er von der Salomonischen, durch den andern von der Nathanischen Linie des Davidi - schen Geschlechtes abgestammt6)Bei Eusebius, H. E. 1, 7. und neuerlich z. B. Schleierma - cher, über den Lukas, S. 53.. Die nähere Frage, wel - che von beiden Genealogieen den natürlichen, und welche den gesetzlichen Vater mit seinem Stammbaum angebe, kann nach zweierlei Kriterien entschieden werden, deren eines mehr dem Buchstaben, das andere mehr dem Geist und Charakter der beiden Evangelisten angehört, und wel - che eine entgegengesetzte Entscheidung herbeiführen. Au - gustinus und auch schon Julius haben darauf gesehen, welcher von beiden Evangelisten zur Bezeichnung des Verhältnisses zwischen Joseph und demjenigen, den er als dessen Vater namhaft macht, sich eines Ausdrucks bedie - ne, welcher bestimmter als der des andern auf ein natür - liches Sohnesverhältniſs hinweise. Einen solchen gebraucht nun Matthäus; indem er nämlich sagt: Ἰακὼβ ἐγέννησε τὸν Ἰωσὴφ: so scheint das γεννᾷν nur das natürliche Verhält - niſs bezeichnen zu können, während das Ἰωσὴφ τοῦ Ἡλὶ bei Lukas ebensowohl das Verhältniſs eines Adoptivsohns, oder eines solchen, der vermöge des Leviratsverhältnisses als Sohn angesehen wird, anzeigen zu können scheint. Al - lein da die Verordnung der Leviratsehe gerade den Zweck hatte, Namen und Geschlecht eines kinderlos Verstorbenen zu erhalten: so war es jüdische Sitte, den aus solcher Ehe zuerst entsprossenen Sohn nicht in das Geschlechtsregister des natürlichen Vaters einzutragen, wie hier Matthäus thun soll, sondern in das des gesetzlichen Vaters, wie dieſs Lu - kas nach der obigen Voraussetzung beobachtet. Daſs nun119Zweites Kapitel. §. 17.aber gerade der so ganz jüdisch gebildete Verfasser des ersten Evangeliums, oder der Genealogie insbesondere, ei - nen solchen Verstoſs begangen haben sollte, kann man nicht wahrscheinlich finden, weſswegen z. B. Schleiermacher dem Geiste der beiden Evangelisten gemäſs annehmen zu müssen glaubt, daſs Matthäus, unerachtet seines ἐγἐννησε, doch nach jüdischem Brauche den Stammbaum des gesetz - lichen Vaters gebe, Lukas aber, vielleicht kein geborener Jude und der jüdischen Gewohnheiten minder kundig, ha - be die Stammtafel der jüngeren Brüder Josephs zur Hand bekommen, welche nicht, wie der Erstgeborene, auf das Geschlecht des verstorbenen gesetzlichen, sondern des na - türlichen Vaters geschrieben wurden, und diese habe er nun auch für die Stammtafel des Erstgeborenen, Joseph, gehalten, was sie nur nach dem natürlichen Momente war, auf welches aber die jüdische Genealogistik keine Rück - sicht nahm7)a. a. O. S. 53. Vgl. Winer, bibl. Realwörterbuch 1. Band. S. 660.. Allein abgesehen von dem erst unten zu Erweisenden, daſs die Genealogie bei Lukas schwerlich vom Verf. des Evangeliums herrührt, also aus dessen minder jüdischer Bildung kein Schluſs auf die Deutung des von ihm aufgenommenen Geschlechtsregisters gilt: so würde der Genealogist im ersten Evangelium sein ἐγέννησε nicht so oh - ne allen Beisatz hingeschrieben haben, wenn er an ein blos gesetzlicher Vaterverhältniſs gedacht hätte; weſswegen die beiden Ansichten von dem Verhältniſs der Genealogieen in dieser Beziehung gleich schwierig sind.

Indeſs, wir müssen uns diese, bis jetzt nur im Allge - meinen bezeichnete Hypothese erst näher vor die Vorstel - lung bringen, um über ihre Zulässigkeit urtheilen zu kön - nen. Da in Bezug auf die Voraussetzung der Leviratsehe Verfahren und Ergebniſs im Ganzen dasselbe bleibt, ob wir mit Augustin und Julius dem Matthäus, oder mit Schleier -120Erster Abschnitt.macher dem Lukas die Angabe des natürlichen Vaters zu - schreiben: so wollen wir das Verhältniſs beispielsweise in der ersten Form betrachten, um so mehr, da uns Euse - bius nach Julius eine sehr genaue Ausführung hierüber hinterlassen hat. Nach dieser Vorstellungsweise war also Josephs Mutter zuerst mit demjenigen Manne verheurathet, welchen Lukas als Josephs Vater nennt, mit Eli; da aber dieser ohne Kinder starb, so ehelichte vermöge des Levi - ratsgesetzes sein Bruder, der von Matthäus als Vater Jo - sephs genannte Jakob, die Wittwe, und erzeugte mit ihr den Joseph, welcher nun gesetzlich als Sohn des verstor - benen Eli angesehen wurde, wie dieſs Lukas angiebt, wäh - rend er natürlich der Sohn seines Bruders Jakob war, eine Betrachtungsweise, welcher Matthäus gefolgt ist.

Allein, blos so weit geführt, würde die Hypothese keineswegs ausreichen. Denn wenn die beiden Väter Jo - sephs wirkliche Brüder, Söhne desselben Vaters waren: so hatten sie Einen und denselben Stammbaum, und es müſsten in diesem Falle die beiden Genealogieen nur den Vater des Joseph verschieden haben, über demselben aber sogleich wieder zusammenlaufen. Um zu erklären, wie sie bis auf David hinauf divergiren können, muſs man die zweite Hypothese hinzufügen, welche auch Julius gemacht hat, daſs die beiden Väter des Joseph nur Halbbrüder ge - wesen, nämlich nur einerlei Mutter, nicht aber denselben Vater gehabt haben. Man müſste also annehmen, die Mut - ter der beiden Väter Josephs habe nach einander in zwei Ehen gelebt, einmal mit dem Matthan des Matthäus, wel - cher durch Salomo und die königliche Linie von David descendirte, und diesem habe sie den Jakob geboren; aus - serdem aber sei sie vor - oder nachher mit dem Matthat des Lukas verchlicht gewesen, welcher durch Nathan Da - vids Nachkomme war, und dieser habe den Eli mit ihr erzeugt, nach dessen Verheurathung und kinderlosem Ab - leben sein Halbbruder Jakob seine Wittwe geheurathet121Zweites Kapitel. §. 17.und gesetzlich für den Verstorbenen den Joseph erzeugt habe8)Stammtafel. [figure].

Müssen wir schon bis hieher die Hypothese einer ge - rade in zwei aufeinanderfolgenden Gliedern so complicir - ten Ehe, zu welcher die Differenz der beiden Genealogieen uns trieb, zwar keineswegs unmöglich, aber doch unwahr - scheinlich finden: so wird die Schwierigkeit durch die un - willkommene Übereinstimmung noch verdoppelt, welche sich, wie schon erwähnt, mitten unter den abweichenden Reihen, in den beiden Gliedern Sealthiel und Serubabel, findet. Um nämlich zu erklären, wie sowohl Neri bei Lu - kas als Jechonia bei Matthäus Vater des Sealthiel, des Vaters von Serubabel, heiſsen könne: müſste nicht nur die Annahme einer Leviratsehe wiederholt werden, sondern auch die, daſs die beiden sich in der Ehe gefolgten Brüder dieſs122Erster Abschnitt.nur mütterlicher Seits gewesen seien9)Wesentlich gemindert wird diese Schwierigkeit auch nicht durch die Bemerkung, dass nicht blos der Bruder, sondern überhaupt der nächste Blutsverwandte dem andern in einer Leviratsehe habe folgen müssen (Ruth 3, 12 f. 4, 4 f. Michai - lis Mos. Recht 2, S. 200. Winer Reallex. S. 408. der er - sten Ausgabe). Denn da auch über zwei Vettern der Stamm - baum weit früher zusammenlaufen muss, als er hier über Jakob und Eli und über Jechonia und Neri zusammengeht: so müsste man doch beidemale die Hypothese von Halbbrü - dern zu Hülfe nehmen, nur dass dann die beiden complicir - ten Ehen nicht in zwei unmittelbar auf einander folgende Generationen fallen würden.. Daſs nun dieser eigenthümliche Doppelfall sich nicht allein zweimal wieder - holt, sondern daſs auch beidemale die Genealogisten sich in die Angabe des natürlichen und des gesetzlichen Vaters auf die gleiche Weise und beidemale stillschweigend ge - theilt haben sollten, das ist so unwahrscheinlich, daſs auch die Hypothese einer Adoption, welche nur von der Hälfte dieser Schwierigkeiten gedrückt ist, schon daran mehr als genug hat. Da nämlich zur Adoption kein brüderliches, oder sonstiges Verwandtschaftsverhältniſs des natürlichen und des Adoptivvaters erfordert wird: so fällt zwar die zweimalige Zuflucht zu einer Halbbruderschaft weg, und es bleibt nur die Nothwendigkeit, zweimal ein Adoptions - Verhältniſs anzunehmen und zweimal das Eigene, daſs die eine Genealogie es unjüdisch ignorirte, die andere aber nur stillschweigend berücksichtigte.

Auf weit einfachere Weise glaubte man daher in neue - rer Zeit den Knoten durch die Annahme zu lösen, daſs wir nur bei dem einen Evangelisten die Genealogie des Jo - seph, bei dem andern aber die der Maria haben, deren Differenz also kein Widerspruch wäre10)So z. B. Spanheim, dubia evang. P. I. S. 13 ff. Lightfoot, Michaelis, Paulus, Kuinöl, Olshausen z. d. St.; wozu man ger -123Zweites Kapitel. §. 17.ne noch die Annahme fügt, daſs Maria eine Erbtochter ge - wesen sei11)Schon Epiphanius, Grotius (s. bei Paulus S. 296.) stellten diese Vermuthung auf. Olshausen nimmt sie an (S. 43.), weil es zum Entwicklungsgange des Davidischen Geschlechts zu passen scheine (siehe über ein ähnliches Passen §. 16. An - merk. 9.), dass diejenige Linie desselben, aus welcher der Messias hervorgehen sollte, sich mit einer Erbtochter be - schloss, die den verheissenen ewigen Erben des Davidischen Throns gebärend, dieselbe endigte. Aus welcher Rumpel - kammer des Mysticismus und Scholasticismus ist dieser Grund hervorgesucht? Denn das wollen wir doch nicht glauben, dass er von einem Theologen des 19ten Jahrhunderts neu ge - schmiedet worden sei.. Die Ansicht, daſs auch Maria aus Davidi - schem Geschlechte gewesen sei, ist schon alt. Zwar der Idee zulieb, daſs in dem Messias, als zweitem Melchisedek, die königliche Würde mit der priesterlichen vereinigt sein sollte12)Testament. XII Patriarch., Test. Simeon c. 71. In Fabric. Codex pseudepigr. V. Ti S. 542: ἐξ ἀυτῶν (den Stämmen Levi und Juda) ἀνατελεῖ ὑμῖν τὸ σωτήριον τοῦ ϑεοῦ. Ἀνα - ςήσει γὰρ Κύριος ἐκ τοῦ Λευῒ ὡς ἀρχιερέα, καὶ ἐκ τοῦ Ἰούδα ὡς βασιλέα κ. τ. λ. , und verleitet durch die Verwandtschaft der Ma - ria mit der Aaronstochter Elisabet, wie sie von Lukas 1, 36. an die Hand gegeben ist13)Vgl. jedoch Paulus a. a. O. S. 119., lieſsen nicht nur schon frühzeitig Manche den Joseph von einer aus den Stämmen Juda und Levi gemischten Familie abstammen14)Vgl. Thilo, cod. apoer. N. Ti I, S. 374 ff., sondern auch die Ansicht war nicht selten, daſs Jesus durch Joseph zwar aus königlichem, durch Maria aber aus priesterlichem Ge - schlechte gewesen sei15)So z. B. der Manichäer Faustus bei Augustin contra Faust. L. 23, 4.. Gewöhnlicher jedoch wurde bald124Erster Abschnitt.die Ansicht von einer davidischen Abstammung Maria's. Mehrere Apokryphen sprechen sich dahin aus16)Protevang. Jacobi c. 1 f. u. 10. (ed. Thilo) und evang. de nativitate Mariae c. 1. werden als die Eltern der Maria Joa - chim und Anna, aus Davidischem Geschlechte, genannt. Fau - stus hingegen, in der angeführten Stelle, bezeichnet eben diesen Joachim als sacerdos., ebenso Justin der Märtyrer, bei welchem man den Ausdruck, daſs die Jungfrau aus dem Geschlechte Davids, Jakobs, Isaaks und Abrahams gewesen, selbst als eine Andeutung ausle - gen könnte, daſs er eines unsrer Geschlechtsregister, wel - che ja ebenso über David auf Abraham zurückgehen, auf die Maria bezogen hätte17)Dial. c. Tryph. 43. 100. der Mauriner Ausg. Paris 1742.; auch die Juden, indem sie eine Maria, Tochter Eli's, als gequält in der Unterwelt vorstellen18)Vgl. Lightfoot, horae, S. 750., scheinen den von Eli ausgehenden Stamm - baum bei Lukas für den der Maria genommen zu haben.

Fragt man nun aber, warum gerade der Stammbaum bei Lukas, oder überhaupt, welcher der beiden Stamm - bäume als der der Maria gefaſst werden solle, so scheint dieſs eigentlich bei keinem von beiden möglich zu sein, indem beide gar zu bestimmt sich als Genealogieen des Jo - seph ankündigen, der eine in den Worten: Ιακωβ ἐγέννησε τὸν Ἰωσὴφ, der andre durch die Worte: υἱὸς Ἰωσὴφ τοῦ Ἡλί. Dennoch aber lautet auch hier das ἐγέννησε des Matthäus bestimmter als das τοῦ des Lukas, welches nach jenen Auslegern wohl auch einen Schwiegersohn oder En - kel bedeuten könnte, so daſs die Genealogie bei Lukas in den Worten 3, 23. entweder sagen wollte: Jesus war nach der gewöhnlichen Ansicht ein Sohn Josephs, welcher selbst ein Schwiegersohn des Eli, Vaters der Maria, war19)So namentlich Paulus z. d. St.; oder: Jesus war, wie man glaubte, ein Sohn Josephs,125Zweites Kapitel. §. 17.und durch Maria ein Enkel des Eli20)So z. B. Lightfoot horae p. 750.. Indem man hie - gegen einwenden kann, daſs die Juden bei ihren Genea - logieen auf die weibliche Linie keine Rücksicht zu neh - men pflegten21)Vgl. Juchasin f. 55, 2. bei Lightfoot S. 183. und Bava bathra f. 110, 2. bei Wetstein S. 230 f.: so kommt hier die weitere Hypothese zu Hülfe, daſs Maria eine Erbtochter, d. h. die Tochter eines söhnelosen Vaters gewesen, in welchem Falle es nach 4. Mos. 36, 6. und Nehem. 7, 63. die jüdische Sitte mit sich gebracht habe, daſs der Mann, den eine solche Toch - ter ehlichte, nicht nur aus demselben Stamme mit ihr sein muſste, sondern sich auch in ihr Geschlecht aufnehmen lieſs, und somit ihre Vorfahren zu den seinigen machte. Allein nur das Erstere ist aus der mosaischen Stelle er - weislich, wogegen aus der andern in Vergleichung mit mehreren ähnlichen (Esra 2, 61. 4. Mos. 32, 41. vergl. mit 1. Chron. 2, 21. f.) nur so viel erhellt, daſs ausnahms - weise bisweilen Einer nach den mütterlichen Vorfahren be - nannt wurde. Indem so die Schwierigkeit wegen der - dischen Sitte bleibt, so tritt sie doch ganz zurück hinter einer ungleich bedeutenderen. Wenn es nämlich gleich nicht geleugnet werden kann, daſs das bei Lukas zu sup - plirende υἱὸς nach dem Hebräischen auch Schwiegersohn oder Enkel bedeuten könnte, so dürfte doch der Zusammen - hang nicht so entschieden dagegen sein, wie hier. Etlich und 70mal deutet in dieser Genealogie das τοῦ den eigentli - chen Sohn an: wie könnte es das Einemal bei Joseph den Schwiegersohn bezeichnen22)Vergl. die Bemerkung Wetstein's zu Luc. 3, 23.? oder wie gar nach Andern das durchaus im Nominativ zu supplirende υἱὸς in immer steigender Progression: Sohn, Enkel, Uren - kel, bis zum entferntesten Abkömmling hin? Beruft man sich auf das Ἀδὰμ τοῦ ϑεοῦ, wo das τοῦ auch nicht Sohn im126Erster Abschnitt.eigentlichen Sinne bedeuten könne23)Paulus a. a. O. S. 284 f.: so zeigt es doch auch hier auf den unmittelbaren Daseinsurheber hin, ein Begriff, unter welchen weder Schwiegervater noch Groſs - vater subsumirt werden können. Eine weitere Schwie - rigkeit hat diese Auffassung der beiden Stammbäume mit der ersteren gemein, nämlich das Zusammentreffen beider in den Namen Sealthiel und Serubabel zu erklären. Man könnte auch hier wie dort eine Leviratsehe supponiren; doch die hichergehörigen Erklärer ziehen meistens die An - nahme vor, daſs diese gleichen Namen in den beiden Ge - nealogieen gar nicht dieselben Personen bezeichnen: allein bei der Berühmtheit des Serubabel, Sohns von Sealthiel zur Zeit des Exils ist kaum glaublich, daſs Lukas mit die - ser Bezeichnung nicht eben ihn gemeint haben sollte24)s. Winter, bibl. Realwörterbuch 1. Bd. S. 659. (2te Auflage)..

Ueberhaupt findet sich sonst im N. T. nicht nur keine Spur von einer davidischen Abstammung der Maria, son - dern mehrere Stellen sprechen sogar dagegen. Matth. 1, 20. wird nur Joseph als υἱὸς Δαυὶδ bezeichnet; Luc. 1, 27. be - zieht sich das ἐξ οἴκου Δαυὶδ nur auf das zunächst stehende: ἀνδρὶ ὅνομα Ἰωσὴφ, nicht aber auf das entferntere: παρϑένον μεμνηςευμένην; hauptsächlich aber die Wendung Luc. 2, 4.: ἀνέβη δὲ καὶ Ἰωσὴφ-διὰ τὸ εἶναι ἀυτὸν ἐξ οἴκου καὶ πατριᾶς Δαυὶδ, ἀπογράψασϑαι σὺν Μαρίᾳ κ. τ. λ., wo so leicht statt ἀυτὸν ἀυτοὺς gesezt werden konnte, wenn der Verfasser einen Gedanken an eine davidische Abkunft auch der Maria hatte, entscheidet gegen die Möglich - keit, die davidische Genealogie gerade des dritten Evange - listen auf die Maria zu beziehen.

§. 18. Die Genealogieen unhistorisch.

Bedenkt man die unüberwindlichen Schwierigkeiten, in welche sich alle diese Vereinigungsversuche unvermeid -127Zweites Kapitel. §. 18.lich verwickeln: so wird man wohl mit freier denkenden Exegeten an der Möglichkeit einer Friedensstiftung zwi - schen beiden verzweifeln und ihren gegenseitigen Wider - spruch anerkennen müssen1)So Eichhorn, Einleit. in das N. T. 1. Bd. S. 425. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 232. de Wette bibl. Dogm. §. 279. Hase, Leben Jesu §. 30. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 35.. Indem so zunächst wenig - stens nicht beide richtig sein können: so wäre, wenn ge - wählt werden sollte, eher die des Lukas als historisch an - zunehmen, da sie doch nicht dieselbe Willkühr im Zählen und Gleichmachen der Perioden, und auch darin weniger verherrlichendes Bestreben als die des Matthäus zeigt, daſs sie, mit der davidischen Abkunft überhaupt zufrieden, das Geschlecht Jesu nicht wie jene gerade durch die könig - liche Linie herunterführt. In der That aber hat eigent - lich doch keine vor der andern etwas voraus, sondern, wenn die eine auf unhistorischem Wege entstehen konnte, so konnte es auch die andere, zumal es sehr unwahrschein - lich ist, daſs nach den Zerrüttungen des Exils und der fol - genden Zeiten in der obscuren Familie des Joseph noch so weit hinaufreichende Genealogieen vorhanden gewesen2)s. Winer a. a. O. S. 660.. Erkennen wir somit beide als willkührliche Compositionen: so möchten wir nicht einmal mit Fritzsche das als histo - rische Grundlage festhalten, daſs Jesus von David abge - stammt habe, und nur die Mittelglieder dieser Abstam - mung von Verschiedenen verschieden ergänzt worden seien3)a. a. O. Nach der Beobachtung übrigens, welche er Pro - legg. in Matthaeum p. XV. ausspricht: omne studium eo contulit scriptor (der Verf. des ersten Evangeliums) ut nihil Jesu ad Messiae exemplar fingi posset expressius, giebt Fritzsche die Tendenz der Genealogie bei Matthäus in der Überschrift des ersten Kapitels, Comm. p. 6., ganz richtig so an: Jesus, ut de futuro Messia canunt V. Ti oracula, est e gente Davidica per Josephum vitricum oriundus.. 128Erster Abschnitt.Denn die durch den Census veranlaſste Reise der Eltern Jesu nach Bethlehem, welche allerdings ihre Abkunft von David wahrscheinlich machen könnte, steht selbst nichts weniger als fest, wie wir bald genug sehen werden, und der Jesu oft beigelegte Titel υἱὺς Δαυὶδ kann auch lediglich den Mes - sias bezeichnen4)s. de Wette, bibl. Dogm. a. a. O., von welchem man, hatte er sich nur sonst Anerkennung verschafft, auch die davidische Ab - stammung, den Weissagungen gemäſs, vorauszusetzen ge - neigt war. Wie denkbar daher, wenn ein Galiläer, des - sen Abstammung weiter hinauf gar nicht bekannt war, sich den Ruf des Messias erworben hatte, daſs sich bald in verschiedenen Formen die Sage von der davidischen Ab - kunft desselben bildete, und daſs nun nach diesen Sagen Genealogieen von ihm verfaſst wurden, welche aber, weil es an urkundlichen Nachrichten fehlte, nothwendig so ab - weichend und widersprechend ausfallen muſsten, wie nun die Geschlechtsregister bei Matthäus und Lukas sich zu einander verhalten.

Fragt man daher nach der geschichtlichen Ausbeute, welche diese Genealogieen gewähren, so besteht sie nur in dem auch sonsther Gewissen: Jesus hat, persönlich oder durch seine Jünger, auch auf streng jüdisch Gesinnte einen so entschiedenen Eindruck der Messianität gemacht, daſs diese nicht zweifelten, auch das prophetische Merk - mal davidischer Abstammung müsse bei ihm zugetroffen haben, und mehr als Eine Feder sich in Bewegung sezte, um durch genealogische Nachweisung dieses Merkmals seine Anerkennung als Messias zu rechtfertigen5)Die weiteren Betrachtungen über Ursprung und Bedeutung dieser Genealogieen, welche sich aus der Zusammenhaltung derselben mit der Nachricht von Jesu übernatürlicher Erzeu - gung ergeben, können erst nach der Untersuchung über die - se letztere Angabe folgen..

129Drittes Kapitel. §. 19.

Drittes Kapitel. Verkündigung der Empfängniss Jesu; Benehmen Josephs; Besuch der Maria bei Elisabet.

§. 19. Abriss der verschiedenen, kanonischen und apokryphischen, Berichte.

In Bezug auf die nächste Herkunft Jesu ist in unsern kanonischen und apokryphischen Evangelien eine bedeu - tende Abstufung, ein Fortschritt vom Unbestimmten zum Bestimmten, vom Einfachen zum Ausgeschmückteren zu bemerken. Die unterste Stufe in Bezug auf die Ausführ - lichkeit nehmen Markus und Johannes ein: sie setzen die Geburt Jesu als gegeben voraus und begnügen sich, im Verlauf ihrer Erzählungen Maria als die Mutter (Marc. 6, 3.) und Joseph als den Vater Jesu (Joh. 1, 46.) nam - haft zu machen. Höher stehen Matthäus und Lukas, wel - che die Entstehung der messianischen Person Jesu gene - tisch darstellen, indem sie seine Geburt sammt den die - selbe vorbereitenden Umständen berichten. Unter den ge - nannten Beiden selbst geht Lukas noch etwas höher hinauf als Matthäus. Dieser nämlich läſst Maria, als Verlobte Jo - sephs, schwanger befunden werden, und als nun hieran ihr Bräutigam Anstoſs nimmt, und damit umgeht, sie zu entlassen, wird er im Traume durch den Engel des Herrn von dem göttlichen Ursprung und der hohen Bestimmung der Leibesfrucht Maria's nach einer A. T. lichen Weissa - gung vergewissert, was die Folge hat, daſs er die Maria heurathet, doch bis zur Geburt Jesu nicht ehlich berührtDas Leben Jesu I. Band. 9130Erster Abschnitt.(Matth. 1, 18 25.). Ist somit bei Matthäus die Schwan - gerschaft der Maria eine vorgefundene und erst nachträg - lich durch den Engel gerechtfertigte: so wird dieselbe bei Lukas durch eine himmlische Erscheinung bevorwortet und angekündigt. Derselbe Gabriel, welcher dem Zacharias die Geburt des Johannes angesagt hatte, kündigt nun auch der mit Joseph verlobten Maria ihre durch göttliche Kraft zu bewirkende Schwangerschaft an, worauf die künftige Mut - ter des Messias mit der schwangeren Mutter des Vorläu - fers auf bedeutungsvolle Weise zusammentrifft, und ihre Empfindungen in hymnischer Form mit derselben tauscht (Luk. 1, 26 56.). Nahmen Matthäus und Lukas wenig - stens das Verhältniſs zwischen Maria und Joseph als ge - gebenes, so suchen apokryphische Evangelien, namentlich das Protevangelium Jacobi1)Bei Thilo, Codex apocryphus N. Ti Tom. I, p. 161 ff. und das Evangelium de na - tivitate Mariae2)Ebendas. p. 319 f., deren Inhalte auch die Kirchenväter gros - sentheils beistimmen, auch dieses in seiner Genesis darzu - stellen; ja sie gehen selbst bis zur Geburt der Maria zu - rück, welcher sie eine ähnliche Vorausverkündigung, wie Lukas der Geburt des Täufers und Jesu, voranschicken. Wie die Geburtsgeschichte des Johannes bei Lukas der des Samuel und Simson im A. T.: so ist nun die Geburtsge - schichte der Maria in den genannten Apokryphen der des Täufers, sammt jenen A. T. lichen, nachgebildet.

Joachim, so lautet die apokryphische Erzählung, und Anna (wie Samuels Mutter hieſs) fühlen sich unglücklich in langer kinderloser Ehe (wie die Eltern des Johannes): da erscheint ihnen beiden (wie Simsons Eltern) an ver - schiedenen Orten ein Engel und verheiſst ihnen ein Kind, die Gottesgebärerin, welche (wie der Täufer) von dem En - gel einer nasiräischen Lebensweise bestimmt wird. In frü - her Kindheit wird nun Maria (wie Samuel) von ihren El -131Drittes Kapitel. §. 19.tern in den Tempel gebracht, wo sie von Engeln besucht und gespeist, auch göttlicher Anschauungen gewürdigt, bis zum zwölften Jahre verweilt. Mit den Jahren der Mann - barkeit soll sie aus dem Tempel entfernt werden, und über ihre weitere Versorgung und Bestimmung wird dem Ho - henpriester das Orakel zu Theil, daſs, zufolge der Weis - sagung Jes. 11, 1 f.: egredietur virga de radice Jesse, et flos de radice ejus ascendet, et requiescet super eum spiritus Domini, alle der Familie Davids angehörige, heurathfähige, unverehelichte Männer nach der einen3)Evang. de nativ. Mar. c. 7:cunctos de domo et familia Da - vid nuptui habiles non conjugatos., oder alle Wittwer im Volke nach der andern Erzählung4)Protev. Jac. c. 8:τοὺς χηρεύοντας τοῦ λαοῦ. ihre Stäbe herbeibringen sollten, und an wessen Stabe sich (wie am Stabe Aarons) ein Zeichen ereigne, nämlich das in der angeführten Prophetenstelle verheiſsene, der solle die Maria zu sich nehmen. Dieſs Zeichen ereignete sich an dem Stabe Josephs, indem aus demselben, ganz nach dem Orakel, eine Blume hervorsproſste und eine Taube sich auf die Spitze desselben setzte5)So im evang. de nativ. Mariae c. 7 u. 8; etwas anders im Pro - tev. Jac. c. 9.. Joseph war nach den Apokryphen und Kirchenvätern schon alt6)Protev. c. 9: πρεσβύτης. Evang. de nativ. Mar. 8.: gran - daevus. Epiphan. adv. haeres. 78, 8:λαμβάνει τὴν Μαρίαν χῆρος, κατάγων ἡλικίαν περί που ὀγδοήκοντα ἐτῶν καὶ πρόσω ἀνήρ.; doch fin - det der Unterschied statt, daſs nach dem Evang. de nativ. Mariae unerachtet des von Maria vorgewendeten Keusch - heitsgelübdes und der Weigerung des Joseph wegen seines Alters, dennoch auf priesterliches Geheiſs eine wirkliche Verlobung und später eine Heurath eintritt (c. 8 u. 10.), (welche freilich im Sinne des Verfassers ohne Zweifel eine9*132Erster Abschnitt.keusche blieb); wogegen es dem Protevang. Jacobi zufolge gleich von Anfang an gar nicht auf Verlobung und Ehe, sondern nur auf Behütung der Jungfrau durch den Joseph abgesehen scheint7)παράλαβ[ε]ἀυτὴν εἰς τήρησιν σεαυτῷ c. 9., und dieser noch bei der Reise nach Bethlehem zweifelt, ob er sie als Tochter oder Frau ein - schreiben lassen solle, weil er durch das letztere, des Al - tersverhältnisses wegen, lächerlich zu werden fürchtet (c. 17.); wie auch, wo bei Matthäus Maria γυνὴ des Joseph heiſst, das Apokryphum sie vorsichtig nur als παῖς bezeichnet, und selbst das παραλαβεῖν gerne vermei - det, oder mit διαφυλάξαι vertauscht8)c. 14. s. die Varianten bei Thilo. p. 227., womit auch man - che Kirchenväter zusammenstimmen9)Vgl. Thilo a. a. O. S. 365. net.. In Josephs Haus aufgenommen, erhält nun nach dem Protevang. Maria mit mehreren Jungfrauen den Auftrag, Zeug zum Tempelvor - hang zu verfertigen, wobei ihr durch das Loos die Bear - beitung des Purpurs zu Theil wird. Während indeſs Jo - seph in Geschäften abwesend ist, bekommt Maria den Be - such des Engels; Joseph, bei seiner Rückkehr, findet sie schwanger, und stellt sie, nicht als Bräutigam, sondern als verantwortlicher Ehrenwächter, zur Rede; sie aber hat die Worte des Engels vergessen, und betheuert, die Ursache ihrer Schwangerschaft nicht zu wissen. Indem nun Jo - seph damit umgeht, die Maria seiner Obhut heimlich zu entlassen, wird ihm im Traum durch den Engel der be - ruhigende Aufschluſs zu Theil. als die Sache vor die Prie - ster kommt, müssen beide wegen des Verdachts der Un - keuschheit das ὕδωρ τῆς ἐλέγξεως trinken, werden aber, da sie durch dasselbe unbeschädigt bleiben, frei gespro - chen, worauf die Schatzung und Jesu Geburt folgt10)So im Protcv. Jac. c. 10 16. Weniger charakteristisch im Evang. de nativ. Mar. c. 8 10.

133Drittes Kapitel. §. 20.

Wie diese apokryphischen Erzählungen lange Zeit in der Kirche für historisch gehalten, und gleich den Berich - ten der kanonischen Evangelien vom supranaturalistischen Standpunkt aus auf wunderhafte Weise erklärt wurden: so haben sie in neuerer Zeit auch das Loos der natürli - chen Erklärung mit den N. T. lichen Erzählungen theilen müssen. War nämlich in der älteren Kirche der Wunder - glaube so überschwenglich stark, daſs er auch noch über das N. T. hinaus für apokryphische Erzählungen zureich - te und über deren offenbar unhistorischen Charakter ver - blendete: so war in einzelnen Herolden der neueren Auf - klärung der rationalistische Pragmatismus so überkräftig, daſs sie, wie z. B. der Verfasser der natürlichen Geschichte des groſsen Propheten von Nazaret, denselben sogar den apokryphischen Mirakeln gewachsen glaubten, weſswegen der genannte Verf. getrost auch die Erzählungen von der Abkunft und Jugend der Maria, natürlich gedeutet, in den Kreis seiner Darstellung aufgenommen hat11)1ter Band, S. 119 ff.. Wenn man in unsern Tagen mit der Einsicht in den offenbar mythi - schen Charakter solcher apokryphischen Erzählungen so - wohl auf jene Kirchenväter, als auf diese natürlichen Er - klärer herabblickt: so fragt es sich, ob nicht doch diese beiden Eines vor jenen Herunterblickenden voraus haben, nämlich die Consequenz, mit welcher sie so verwandte Erzählungen, wie die von den Lebensanfängen der Maria auf der einen, und des Täufers und Jesu auf der andern Seite, auch auf gleiche Weise fassten, entweder beide wun - derhaft oder beide natürlich, nicht aber wie jetzt gewöhn - lich ist, die eine zwar mythisch, die andre aber geschichtlich.

§. 20. Abweichungen der beiden kanonischen[Evangelien] in Bezug auf das Formelle der Verkündigung.

Gehen wir nach diesen allgemeinen Umrissen näher auf134Erster Abschnitt.die Art und Weise ein, in welcher unsern Berichten zu - folge die erste Kunde von dem zu gebärenden Jesus an Maria und Joseph gelangte: so können wir von dem In - halt dieser Verkündigung, daſs nämlich Jesus durch eine ausserordentliche Wirksamkeit des heiligen Geistes erzeugt werden solle, zunächst absehen, und nur das Formelle der - selben berücksichtigen, wem, wann und auf welche Weise jene Verkündigung gegeben wurde.

Daſs es nach unsern beiden Hauptberichten bei Mat - thäus und Lukas, welchen auch die apokryphischen Evan - gelien beistimmen, ein Engel ist, der, wie die Empfäng - niſs des Täufers, so nun auch die Jesu selbst verkündigt, wird uns nicht mehr besonders beschäftigen, indem schon bei jener früheren Erscheinung die Standpunkte angege - ben und beurtheilt worden sind, von welchen solche Er - zählungen angesehen werden können. Während aber dort nur das Eine Evangelium des Lukas jene Erscheinung auf Eine Weise beschrieb: so haben wir hier zwei parallele, aber nicht ganz gleichlautende Berichte, deren Vergleichung uns beschäftigen wird. Abgesehen, wie gesagt, von dem Inhalt, finden sich zwischen beiden Berichten folgende Differenzen: Erstlich, das erscheinende Subjekt heiſst bei Matthäus nur unbestimmt ἄγγελος Κυρίου: bei Lukas ist es namentlich als ἃγγελος Γαβριὴλ bezeichnet; 2) das Sub - jekt, welchem der Engel erscheint, ist nach Matthäus Jo - seph, nach Lukas Maria; 3) der Zustand, in welchem sie die Engelerscheinung haben, ist bei Matthäus der Traum, bei Lukas das Wachen; 4) findet auch in Bezug auf das Zeitverhältniſs der Erscheinung eine Abweichang statt; dem Matthäus zufolge nämlich wird erst nach der bei Ma - ria eingetretenen Schwangerschaft dem Joseph eine himm - lische Kunde zu Theil: nach Lukas der Maria schon vor ihrem Schwangerwerden; worauf endlich 5) auch Zweck und Wirkung der Erscheinung verschieden sind, nämlich nach Matthäus, den durch die Schwangerschaft seiner Braut135Drittes Kapitel. §. 20.unruhig gewordenen Joseph nachträglich zu beruhigen: nach Lukas, durch die Vorherverkündigung jedem mögli - chen Anstoſs zuvorzukommen.

Fragt es sich nun: erzählen die beiden Evangelisten eigentlich Ein und Dasselbe, nur sehr abweichend, oder erzählen sie Verschiedenes, so daſs ihre Erzählungen in einander eingeschoben und durch einander ergänzt werden können? so sind die Abweichungen beider Berichte so groſs und wesentlich, daſs das Erstere nicht wohl ange - nommen werden kann, ohne der historischen Geltung der - selben zu nahe zu treten, weſswegen die Mehrzahl der Theologen, alle nämlich, die hier eine wirkliche, sei es wunderhafte oder natürliche, Geschichte sehen, sich für das Letztere entschieden haben. Indem sie demgemäſs be - haupten, das Stillschweigen eines Evangelisten über eine Begebenheit, welche der andre erzähle, sei kein Leugnen derselben1)Vgl. Augustin. de consens. evangelist. 2, 5., fügen sie die beiden Berichte folgendermaſsen in einander ein: 1) zuerst verkündigt der Engel der Ma - ria ihre bevorstehende Schwangerschaft (Lukas); 2) dann reist sie zu Elisabet (ebenders. ); 3) nach ihrer Rückkehr nimmt Joseph an der entdeckten Schwangerschaft Anstoſs (Matthäus); worauf 4) auch ihm eine Engelerscheinung zu Theil wird (ders.)2)So Paulus, exeget. Handb. 1, a. S. 145 ff. Olshausen, Comm. 1, 146 ff. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 56..

Allein diese Stellung der Begebenheiten hat, wie auch schon von Schleiermacher bemerkt worden ist3)Über die Schriften des Lukas, S. 42 f., viel Be - denkliches, und es scheint, was der eine Evangelist er - zählt, das vom andern Berichtete nicht nur nicht voraus - zusetzen, sondern sogar auszuschlieſsen. Denn fürs Erste ist das Benehmen des dem Joseph erscheinenden Engels schwer erklärlich, wenn er oder ein anderer schon frü -136Erster Abschnitt.her der Maria erschienen war. Jener nämlich (bei Mat - thäus) spricht ganz so, wie wenn sein Erscheinen das er - ste in dieser Sache wäre: er beruft sich nicht auf eine der Maria früher zu Theil gewordene himmlische Botschaft; er macht dem Joseph keinen Vorwurf, daſs er dieser nicht geglaubt habe; besonders aber, daſs er den Namen des zu erwartenden Kindes, mit ausführlicher Begründung die - ser Benennung, dem Joseph an die Hand giebt (Matth. 1, 21.), wäre ganz überflüssig gewesen, hätte (nach Luc. 1, 31.) der Engel bereits der Maria diesen Namen angezeigt gehabt. Doch noch unbegreiflicher wird bei dieser Stel - lung der Sache das Benehmen der beiden Verlobten. Hatte Maria eine Engelerscheinung, welche ihr eine bevorstehen - de Schwangerschaft ohne Zuthun des Joseph ankündigte: was hatte eine zartfühlende Braut Eiligeres zu thun, als die erhaltene himmlische Botschaft dem Bräutigam mitzutheilen, um einer beschämenden Entdeckung ihres Zustandes durch Andere, und einem schlimmen Verdacht des Bräutigams zu - vorzukommen? Aber gerade auf jene Entdeckung durch Andre läſst es Maria ankommen, und führt dadurch diesen Verdacht herbei; denn daſs das εὑρἐϑη ἐν γαςρὶ ἔχ[ου]σα (Matth. 1, 18.) eine Entdeckung ganz ohne Zuthun der Maria bedeutet4)Dies erkennt auch Olshausen an, S. 148., ist klar, und ebenso, daſs auch Joseph nur auf diese Weise ihren Zustand in Erfahrung bringt, da ja sein Benehmen als Folge jenes εὑρίσκεσϑαι darge - stellt wird. Das Räthsel eines solchen Benehmens von Sei - ten der Maria hat schon das apokryphische Protevangelium Jacobi gefühlt, und auf die für den supranaturalistischen Standpunkt vielleicht consequenteste Weise zu lösen ver - sucht. Erinnerte sich Maria noch auf diesem Schlusse beruht die sinnreiche Darstellung des Apokryphums an den Inhalt der himmlischen Botschaft: so muſste sie den - selben auch dem Joseph mittheilen; da sie dieſs, nach137Drittes Kapitel. §. 20.Josephs Benehmen zu schlieſsen, nicht gethan zu haben scheint: so bleibt nur die Annahme übrig, daſs jene, in erhöhtem Gemüthszustande ihr zu Theil gewordene geheim - niſsvolle Eröffnung nachher wieder aus ihrem Gedächtnisse verschwand, und sie selbst die wahre Ursache ihrer Schwan - gerschaft nicht kannte5)Protev. Jac. c. 12: Μαριὰμ δὲ ἐπελάϑετο τῶν μυςηρίων ω ν εἶπε πρὸς ἀυτὴν Γαβριήλ. Als sie daher von Joseph zur Rede gestellt wird, versichert sie ihn mit Thränen: οὐ γινώσκω, πόϑεν ἐςὶ τοῦτο τὸ ἐν τῇ γαςρί μου. c. 13.; wobei sich freilich sogleich die Fragen aufdrängen, wozu dann die Erscheinung dienen sollte, und woher dem Evangelisten die Kunde von dersel - ben kam? Fragen, welche übrigens auf supranaturalisti - schem Boden auch nicht unbeantwortlich sind. In der That bleibt auf diesem Standpunkt für den gegenwärtigen Fall kaum etwas Andres übrig, als sich in das Wunderbare und Unbegreifliche zu flüchten; denn die Versuche, welche neuere Theologen desselben Standpunktes gemacht haben, das Schweigen der Maria gegen Joseph zu erklären, und sogar noch einen vortrefflichen Charakterzug darin zu fin - den, sind ebenso kecke als miſsrathene Bemühungen, aus der Noth eine Tugend zu machen. Nach Hess6)Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu u. s. w. 1. Thl. S. 36. muſs es die Maria nicht wenig Selbstverleugnung gekostet haben, dem Joseph die Mittheilung des Engels zu verschweigen, und man muſs diese Zurückhaltung für ein Zeichen ihres starken Vertrauens auf Gott in dieser nur ihr und ihm be - kannten Angelegenheit halten. Nicht umsonst nämlich, dachte sie ohne Zweifel, ist diese Erscheinung nur mir al - lein zu Theil geworden; sollte auch Joseph schon jetzt da - von erfahren, so würde der Engel auch ihm erschienen sein (wollte Jeder, dem eine höhere Offenbarung zu Theil wird, so denken, wie vieler besonderen Offenbarungen be -138Erster Abschnitt.dürfte es dann?); ferner: es ist die Sache Gottes, ihm habe ich es also zu überlassen, auch den Joseph zu über - zeugen (Grundsatz der Trägheit). Dem stimmt auch Ols - hausen bei und setzt nur noch seine allgemeine Lieblings - bemerkung hinzu, daſs bei so ausserordentlichen Ereignis - sen der Maſsstab der gemeinen Weltverhältnisse nicht an - wendbar sei7)Bibl. Comment. 1, S. 149.. Allein wenn Maria diese sogenannten Ge - setze des Alltagslebens, unter welche Kategorie aber hier wesentliche Rücksichten der Zartheit und Schicklichkeit geworfen werden, verachtete: so dachte sie nicht im Geiste ihres Sohnes, welcher als γενόμενος ὑπὸ νόμον (Gal. 4, 4.) solche Rücksichten nie verletzt hat, und ebensowenig ist es in seinem Geiste, der Maria deſswegen Lob zu erthei - len. Mehr vom Standpunkt der natürlichen Erklärung aus sucht das Evangelium de nativitate Mariae (c. 8 10.), und nach ihm unter den Neueren z. B. der Verfasser der natürlichen Geschichte des groſsen Propheten von Nazaret das Stillschweigen der Maria durch die Voraussetzung ei - ner Entfernung des Joseph von dem Wohnorte seiner Braut zur Zeit der himmlischen Botschaft zu erklären. Ihnen zu - folge ist nämlich Maria von Nazaret, Joseph aber von Beth - lehem, wohin er nach eingegangenem Verlöbniſs sich noch einmal begab, und erst nach drei Monaten zurückkam, wo er dann die in der Zwischenzeit eingetretene Schwanger - schaft der Maria entdeckte. Allein die angenommene Ver - schiedenheit des Wohnorts von Maria und Joseph ist, wie wir unten sehen werden, ohne allen Grund in den kano - nischen Evangelien, und damit wird diese ganze Auskunft zu nichte. Ohne eine solche Voraussetzung könnte man von demselben Standpunkt natürlicher Erklärung aus das Stillschweigen der Maria gegen Joseph vielleicht dadurch begreiflich machen wollen, daſs man sie durch Verschämt - heit abgehalten dächte, einen so leicht dem Verdacht aus -139Drittes Kapitel. §. 20.gesetzten Zustand einzugestehen. Allein wer von dem Gött - lichen in der Sache so fest überzeugt war und sich in die geheimniſsvolle Bestimmung bereits so verständig gefunden hatte, wie Maria (Luc. 1, 38.), dem konnte durch klein - lichte Rücksichten falscher Scham die Zunge unmöglich ge - bunden sein.

Daher haben sich die natürlichen Erklärer, um den Charakter der Maria zu retten, ohne jedoch dem des Jo - seph zu nahe zu treten, bewogen gefunden, eine von Ma - ria dem Joseph gemachte Mittheilung, wiewohl verspätet, um seinen Unglauben erklärlich zu finden, vorauszusetzen. Ähnlich wie das zuletzt genannte Apokryphum zogen sie eine Reise, aber nicht des Joseph, sondern die von Lukas gemeldete der Maria zu Elisabet, herein, um die Verzöge - rung der Mittheilung zu erklären. Vor dieser Reise, meint Paulus, entdeckte sich Maria dem Joseph nicht; wahr - scheinlich wollte sie sich erst mit der älteren Freundin be - sprechen, wie sie sich demselben eröffnen solle, und ob sie, als Mutter des Messias, sich überhaupt verheurathen dürfe? Erst als sie zurückkommt, läſst sie, vermuthlich durch Andere, dem Joseph bedeuten, wie es um sie stehe, und was sie für Verheiſsungen empfangen habe. Den Jo - seph aber fand dieser erste Eindruck nicht gehörig gestimmt und vorbereitet; er gieng mit allerlei Gedanken um, schwank - te zwischen Verdacht und Hoffnung, bis endlich ein Traum entscheidend wurde8)Paulus exeg. Handb. 1, a, S. 121. 145.. Allein ein so verspätetes Ge - ständniſs kann die Maria nicht rechtfertigen. Welches Be - tragen einer Verlobten, nach einer den Bräutigam so nahe angehenden höheren Mittheilung in einer so delicaten Sa - che viele Meilen weit zu verreisen, drei Monate aus - zubleiben, und hierauf erst durch dritte Personen dem Bräutigam das nicht mehr zu Verheimlichende zustecken zu lassen!

140Erster Abschnitt.

Wer daher die Maria nicht auf eine Weise handeln lassen will, wie unsre Evangelisten gewiſs nicht voraus - setzen, daſs sie gehandelt habe, der muſs geradezu anneh - men, sie habe die Engelsbotschaft sogleich nach Erhalt derselben ihrem Bräutigam mitgetheilt, dieser aber habe ihr keinen vollen Glauben geschenkt. Allein nun sehe man zu, wie man mit dem Charakter des Joseph zurecht - kommen möge! Auch Hess ist der Meinung, so wie Jo - seph die Maria kennen muſste, hätte er keine Ursache ge - habt, einen Zweifel in ihre Aussage zu setzen, wenn sie ihm die gehabte Erscheinung mittheilte9)a. a. O.. That er es doch, so scheint dieſs ein Miſstrauen gegen seine Verlobte vorauszusetzen, das mit seinem Charakter als ἀνὴρ δίκαιος (Matth. 1, 19.), und einen Unglauben an das Wunderbare, der mit seiner sonstigen Geneigtheit, auf Engelerscheinun - gen einzugehen, schwer vereinbar ist, und ihm auf keinen Fall bei der später ihm selbst zu Theil gewordnen Erschei - nung so ganz ungeahndet hingegangen wäre.

Da somit unvermeidlich etwas dem Sinne unsrer Evan - gelisten, sofern sie offenbar den Joseph wie die Maria als reine Charaktere halten wollen, Unangemessenes sich er - giebt, wenn man ihre Erzählungen einander gegenseitig voraussetzen und ergänzen läſst: so darf eben dieſs nicht angenommen werden, sondern ihre Berichte schlies - sen einander aus. Nicht ist sowohl der Maria zuerst, als auch dem Joseph hernach der Engel erschienen, son - dern nur entweder dem einen oder dem andern Theil kann er erschienen sein, hiemit aber auch nur die eine oder die andre Relation für historisch angesehen werden. Hier könnte man sich nun nach verschiedenen Rücksichten für die eine oder andere Erzählung entscheiden: man könnte von rationalistischem Standpunkte aus die Erzäh - lung des Matthäus wahrscheinlicher finden, weil sich die141Drittes Kapitel. §. 20.Engelerscheinung im Traum, wie er sie giebt, leichter na - türlich erklären lasse; vom supranaturalistischen aber die des Lukas, weil die Art, wie hier dem Verdachte gegen die heilige Jungfrau zuvorgekommen wird, gotteswürdiger sei: allein ein solches Abwägen eines Berichts gegen den andern in Bezug auf historische Glaubwürdigkeit hat auf dem Standpunkt, welchen man mit dem Aufgeben ihrer Vereinbarkeit betritt, eigentlich keine Stelle mehr. Denn nach äusserer wie innerer Beschaffenheit sehen sich die bei - den Erzählungen so ähnlich, daſs ohne höchste Inconsequenz nicht die eine als historisch aufgegeben, die andre fest - gehalten werden kann, sondern, was der einen Recht ist, muſs der andern billig sein. Beide stehen in kanonischen Evangelien ohne gegründeten Verdacht der Unächtheit; beide haben den Zweck, Jesum als übernatürlich Erzeug - ten darzustellen; beide thun dieſs durch die Erscheinung und Botschaft eines Engels: wo wäre hier das unterschei - dende Kriterium, die eine zu verwerfen, die andre aber festzuhalten? Nein, wenn nicht beide historisch richtig sein können: so ist es weder die eine noch die andre, und wir sehen uns auch hier mit Nothwendigkeit auf den mythischen Standpunkt versezt.

Auf diesem fallen dann auch von selbst die verschie - denen Deutungen weg, welche man, namentlich von Sei - ten natürlicher Erklärer, von den beiden Engelerscheinun - gen zu geben versucht hat. Wenn Paulus die Erscheinung bei Matthäus für einen natürlichen Traum erklärt, bewirkt durch die vorangegangne Mittheilung der Maria über die ihr zu Theil gewordene Verkündigung, von welcher Joseph gewuſst haben müsse, weil sich nur daraus erkläre, wie er sich im Traume ganz ähnliche Worte könne sagen las - sen, als früher der Engel der Maria gesagt hatte10)a. a. O. S. 146.: so beweist vielmehr gerade diese Ähnlichkeit der Worte des142Erster Abschnitt.voraussezlich zweiten Engels mit denen des ersten, ohne daſs doch in jenen auf diese Rücksicht genommen würde, daſs diese früheren dabei nicht vorausgesezt werden, und überhaupt fällt die natürliche Erklärung dadurch weg, daſs die Berichte sich als mythische gezeigt haben. Eben dieſs Leztere gilt auch von der Art, wie Paulus versteckt, der Verf. der natürlichen Geschichte aber offen, den zu Maria eingetretenen Engel (bei Lukas) für einen Menschen er - klären, wovon im folgenden §. noch wird die Rede sein müssen.

Nach allem Bisherigen können wir über den Ursprung der beiden Erzählungen von erschienenen Engeln nur fol - gendermaſsen urtheilen. Daſs Jesus durch göttliche Thätig - keit in Maria erzeugt sei, dieſs durfte nicht blos durch schwankende Vermuthung gefunden, es muſste klar und zuverläſsig ausgesprochen werden, und dazu bedurfte man eines himmlischen Boten, welchen ohnehin, wie für die Geburt eines Simson und Johannes, so noch mehr für die Geburt des Messias das theokratische Decorum zu erfor - dern schien. Daſs den Engel die eine Erzählung schon vorläufig der Maria, die andre erst nachträglich dem Jo - seph erscheinen läſst, ist als Variation der Sage oder der Bearbeitung in der Art zu betrachten, daſs die Erzählung des Matthäus11)Das nach Matthäus dem Joseph zu Hebung seiner Zweifel und Besorgnisse zu Theil gewordene Traumgesicht hat gewisser - massen ein Vorbild an demjenigen, welches nach jüdischer Tradition, wie sie sich schon bei Josephus findet, dem Va - ter des Moses in ähnlicher Lage, als er wegen der Schwan - gerschaft seiner Frau in Sorgen war (nur war der Anlass seiner Unruhe nicht ein Verdacht gegen seine Frau, sondern die Gefahr des Kindes wegen des ergangenen Mordbefehls) zu Theil geworden sein soll. Joseph. Antiq. 2, 9, 3. Ἀμαράμης, τῶν εὖ γεγονότων παρὰ τοῖς Ἑβραίοις, δε - διὼς ὑπὲρ τοῦ παντὸς ἕϑνους, μὴ σπάνει τῆς ἐπιτραφησο - einfacher und in noch roherem Styl ge -143Drittes Kapitel. §. 21.arbeitet ist, indem sie es nicht vermeidet, wenn auch nur in einem vorübergehenden Verdacht des Joseph, einen Schat - ten auf die Maria zu werfen, der erst hintennach wieder entfernt wird: wogegen die Darstellung bei Lukas, schon feiner und kunstreicher, gleich von vorn herein die Maria in dem reinen Lichte einer Braut des Himmels zeigt.

§. 21. Inhalt der Engelsbotschaft. Erfüllung der Weissagung des Jesaias.

Der Engel, welcher nach Lukas der Maria erscheint, spricht zunächst nur davon, daſs Maria, noch unbestimmt, auf welche Weise, schwanger werden, und einen Sohn ge - bären solle, welcher groſs sein, und ὑιὸς ὑψίςου genannt werden werde; ihm werde Gott den Thron seines Ahnherrn David geben, und er das Haus Jakob ohne Ende beherr - schen. Hier ist ganz in den gewöhnlichen jüdischen For - meln vom Messias die Rede, und selbst das ὑιὸς ὑψίςου würde, wenn nichts Weiteres nachkäme, nur in demsel - ben Sinne zu nehmen sein, wie nach 2. Sam. 7, 14. Ps. 2, 7. ein gewöhnlicher israelitischer König, also noch mehr der höchste dieser Könige, der Messias, auch als bloſser Mensch betrachtet, so genannt werden konnte. Dieses - dische Reden wirft nachträglich noch ein weiteres Licht auf den historischen Werth dieser Engelerscheinung zurück, indem man mit Schleiermacher sagen muſs, daſs schwer - lich der wirkliche Engel Gabriel in so strengjüdischen For - meln die Ankunft des Messias verkündigt haben wür -11)μένης νεότητος ἐπιλείπῃ, καὶ χαλεπῶς ἐπ 'ἀυτῷ φέρων, ἐκύει γάρ ἀυτῷ τὸ γύναιον, ἐν ἀμηχάνοις ἦν. Καὶ πρὸς ἱκετείαν τοῦ ϑεοῦ τρέπεται . δὲ ϑεὸς ἐλεήσας ἀυτὸν, ἐφίςαται κατὰ τοὺς ὕπνους ἀυτῷ, καὶ μήτε ἀπογινώσκειν ἀυτὸν περὶ τῶν μελλόντων παρεκάλει . παῖς γὰρ ουτος τὸ μ[]ν[]βραίων γένος τῆς παρ 'Ἀιγυπτίοις ἀνάγκης ἀπολύσει, μνήμης δὲ ἐφ' ὅσον μένει χρόνον τὰ σύμπαντα, τεύξεται παρ 'ἀνϑρώποις. 144Erster Abschnitt.de1)Über den Lukas, S. 23.; ebendeſswegen wird man geneigt sein, mit diesem Theologen auch das gegenwärtige Erzählungsstück wie das vorige, den Täufer betreffende, einem und demselben ju - denchristlichen Verfasser zuzuschreiben. Erst als gegen diese Verheiſsung eines Sohnes Maria von ihrer Jungfrau - schaft aus Einwendungen macht, bestimmt der Engel die Art der Empfängniſs näher dahin, daſs sie durch den hei - ligen Geist, durch die Kraft der Gottheit bewirkt werden werde, wonach nun auch die Benennung υἱὸς ϑεοῦ einen bestimmteren metaphysischen Sinn erhält. Zum bestätigen - den Zeichen, daſs etwas der Art Gott keineswegs unmög - lich sei, wird Maria auf den Vorgang mit ihrer Verwand - tin Elisabet verwiesen, worauf sie sich glaubig in den göttlichen Rathschluſs mit ihr ergiebt.

Bei Matthäus, wo die Beschwichtigung der Bedenk - lichkeiten Josephs die Hauptsache ist, beginnt der Engel sogleich mit der Eröffnung, daſs, wie der Evangelist schon V. 18. für sich referirt hatte, das in Maria erzeugte Kind vom πνεῡμα ἃγιον sei, und hierauf erst wird Jesu messia - nische Bestimmung durch den Ausdruck bezeichnet, daſs er sein Volk von dessen Sünden erlösen werde. Klingt dieſs auch anscheinend weniger jüdisch, als das, wodurch bei Lukas die messianische Funktion des zu gebärenden Kindes ausgedrückt war: so sind doch in den άμαρτίαις auch die Strafen derselben, namentlich die Unterjochung des Volks durch Fremde, mitbegriffen, so daſs auch hier das jüdische Element nicht fehlt; so wie andrerseits in dem βασιλεύειν bei Lukas das Herrschen über ein folgsames, gebessertes Volk enthalten, also hier das Höhere nicht ganz zu vermissen ist. Hierauf fügt, sei es der Engel oder wahr - scheinlicher der Referent, durch die besonders bei ihm so oft wiederkehrende Formel: τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν, ἵνα πλη - ρωϑῇ τὸ ῥηϑὲν κ. τ. λ. (V. 22.) ein A. T. liches Orakel bei,145Drittes Kapitel. §. 21.welches durch diese Art der Empfängniſs Jesu sich erfülle, daſs nämlich nach Jes. 7, 14. eine Jungfrau schwan - ger werden und einen Sohn gebären solle, welchen man Gottmituns nennen werde.

Der ursprüngliche Sinn der jesaianischen Stelle ist den neueren Forschungen zufolge2)Vgl. Paulus, philol. Clavis über den Jesaia z. d. St. Den - selben im exeg. Handb. 1, a, S. 164 ff. Gesenius, Comment. über den Jesaias, 2. Bd. 1. Abthl. S. 296 ff. Umbreit, über die Geburt des Immanuel durch eine Jungfrau, in Ullmann's und seinen theol. Studien 1830, 3. Heft. S. 541 ff. Hitzig, Comm. zum Jesaias, S. 84 ff. dieser. Den König Ahas, welcher aus Furcht vor den Königen Syriens und Israëls sich zu einem Bunde mit Assyrien neigte, will der Pro - phet von dem bald bevorstehenden Untergang jener jezt so gefürchteten Feinde lebhaft versichern, und sagt daher: setze, daſs eine jezt noch Unverheurathete, die sich nun erst in ein geschlechtliches Verhältniſs einlieſse3)Bei dieser Deutung verliert der Streit über die Bedeutung des עַלְמָה sein Moment. Er dürfte übrigens dahin entschie - den sein, dass das Wort nicht die unbefleckte, sondern die mannbare Jungfrau bedeute (s. Gesenius a. a. O. S. 297 f.). Schon zu Justins Zeiten behaupteten die Juden, das עַלְמָה sei nicht durch παρϑένος, sondern durch νεᾶνις zu über - setzen. Dial. c. Tryph. no. 43. p. 139 E. der bezeichneten Ausgabe., ein Kind empfienge; oder kategorisch: eine bestimmte junge Frau (vielleicht die eigne des Propheten) ist schon oder wird schwanger werden: jedenfalls werden bis zu der Ge - burt ihres Kindes die politischen Umstände sich so weit gebessert haben, daſs man demselben einen Namen von guter Vorbedeutung wird geben können, und ehe dann das Kind in die Unterscheidungsjahre getreten sein wird, wer - den die feindlichen Mächte ganz vernichtet sein. D. h. ab - strakt ausgedrückt: ehe 9 Monate vergehen, wird es sichDas Leben Jesu I. Band. 10146Erster Abschnitt.mit der Lage des Reichs schon besser anlassen, und bin - nen dreier Jahre etwa wird die Gefahr verschwunden sein. So viel ist in jedem Falle durch die neuere Auslegung zur Evidenz gebracht, daſs nur ein Zeichen aus der Gegen - wart und nächsten Zukunft in den Verhältnissen, wie sie die Einleitung zu dem Orakel des Jesaias angiebt, einen Sinn haben konnte. Wie unpassend ist die prophetische Rede nach der Deutung Hengstenberg's4)Christologie des A. T. s 1, b, S. 47.: so gewiſs der - einst noch der Messias unter dem Bundesvolke von einer Jungfrau geboren werden wird, so unmöglich ist es, daſs das Volk, unter welchem er geboren werden und die Fa - milie, von welcher er abstammen soll, zu Grunde gehe. Wie übel berechnet von dem Propheten, die Unwahrschein - lichkeit der nahen Rettung durch eine gröſsere Unwahr - scheinlichkeit aus der fernen Zukunft wahrscheinlich ma - chen zu wollen! Und dann vollends der gegebene[T[er]m[i]n] von wenigen Jahren! Der Sturz der beiden Königreiche, deutet hier Hengstenberg, soll erfolgen, nicht in der Zeit bis nun demnächst der bezeichnete Knabe wirklich in die Unterscheidungsjahre treten wird, sondern in so viel Zeit von jezt an, als in fernster Zukunft einst zwi - schen der Geburt des Messias und seiner ersten Entwicke - lung vergehen wird, also ungefähr in drei Jahren. Wel - che abenteuerliche Vermengung der Zeiten! Ein Kind soll geboren werden in ferner Zukunft, und was nun gesche - hen soll, ehe dieses Kind in die Unterscheidungsjahre treten wird, das soll in die nächste Gegenwart fallen.

So entschieden aber Paulus und seine Partei gegen Hengstenberg und die Seinigen darin Recht hat, daſs sei - nem ursprünglichen Lokalsinn nach das Orakel des Jesaias auf gegebene Zeitverhältnisse, und nicht auf den künftigen Messias oder gar auf Jesus sich beziehe: ebenso entschie - den hat Hengstenberg gegen Paulus Recht, wenn er dar -147Drittes Kapitel. §. 21.auf beharrt, daſs hier bei Matthäus die jesaianische Stelle als Weissagung auf Jesu jungfräuliche Geburt genommen werde. Während nämlich die orthodoxen Ausleger in der häufigen Formel ἵνα πληρωϑῇ und ähnlichen von jeher den Sinn fanden: dieſs geschah nach göttlicher Veranstaltung, damit die A. T. liche Weissagung einträfe, mit welcher es schon ursprünglich auf das N. T. liche Ereigniſs abgesehen war, so finden die rationalistischen Erklärer5)S. Paulus, a. a. O. S. 157 ff. nur so viel darin: dieſs geschah auf eine Weise, war so beschaf - fen, daſs die A. T. lichen Worte, die sich ursprünglich zwar auf etwas Andres bezogen, sich doch darauf anwen - den lassen, und dadurch erst gleichsam ihre volle Wahr - heit bekommen. Bei der ersteren Deutung ist das Verhält - niſs zwischen der A. T. lichen Stelle und dem N. T. lichen Ereig - niſs ein objektives, von Gott selbst veranstaltetes6)Die Sache auf diese Formel gebracht, fällt auch Hengsten - berg hieher, ob er gleich die orthodoxe Ansicht (1, a, S. 338 ff. ) weit mehr mildert, als auf seinem Standpunkt consequent ge - funden werden kann.: nach der lezteren nur ein subjektives, von dem späteren Schriftsteller ge - fundenes; nach jener ein genaues, wesentliches, nach dieser ein ungefähres, zufälliges. Allein gegen diese letztere Auffassung der N. T. lichen Stellen, welche eine A. T. liche Weissa - gung als erfüllt nachweisen, ist ebensowohl die Sprache als der Geist der N. T. lichen Schriftsteller. Die Sprache; denn wie u. A. Fritzsche nachweist7)Comm. in Matth. p. 49. 317. und Excurs. I, p. 836 ff., kann weder πλη - ροῦσϑαι in solcher Verbindung etwas Andres heiſsen, als ratum fieri, eventu comprobari, noch ἵνα, ὅπως etwas An - dres als eo consilio ut, indem die verbreitete Annahme eines ἵνα ἐκβατικὸν nur aus dogmatischer Verlegenheit entstanden ist. Ganz besonders aber ist eine solche Aus - legung dem jüdischen Geiste der evangelischen Schriftstel -10*148Erster Abschnitt.ler zuwider. Wenn nämlich Paulus behauptet, der Orien - tale denke nicht im Ernst, das Ältere sei in der Absicht gesagt, oder von Gott deſswegen zur Wirklichkeit gebracht, damit das Neuere dadurch präfigurirt würde, und umge - kehrt8)a. d. a. St.: so ist dieſs ein Hinübertragen unsrer occidentali - schen Nüchternheit in das Phantasieleben des Orientalen; wenn er aber hinzusetzt, vielmehr habe das Zusammen - treffen eines Späteren mit einem Früheren im Gemüthe des Morgenländers nur die Gestalt einer Beabsichtigung an - genommen: so ist hiedurch der erste Satz wieder aufge - hoben, denn es kann damit nichts Anderes gesagt sein, als: das, was nach unsrer Einsicht bloſses Zusammentreffen ist, erschien dem Orientalen als Beabsichtigtes, und diesen Sinn müssen wir in einer orientalischen Darstellung finden, wenn wir sie nach ihrem ursprünglichen Verstande auslegen wol - len. Namentlich von den späteren Juden ist es bekannt, daſs sie allenthalben im A. T. Weissagungen für Gegen - wart und Zukunft fanden, daſs sie namentlich vom künf - tigen Messias aus zum Theil falsch gedeuteten A. T. lichen Stellen sich ein genaues Bild zusammengesetzt hatten9)Vgl. von Schöttgen's Horae den zweiten Theil, de Messia. Fritzsche a. a. O. S. 49., und mit solchen, wenn auch noch so verkehrten Schriftan - wendungen meinte es der Jude wirklich so, daſs er eine eigentliche Erfüllung des Schriftwortes da zu finden glaub - te, wo er es anwendete, weſswegen es, mit Olshausen zu reden10)Bibl. Comm. S. 58., bloſse dogmatische Befangenheit ist, den N. T. li - chen Schriftstellern einen ganz andern, als den unter ih - ren Landsleuten gewöhnlichen Sinn jener Formel unterzu - schieben, nur damit ihnen keine falsche Schriftauslegung zur Last fallen solle.

Unbefangen genug in Rücksicht auf das A. T., um ge -149Drittes Kapitel. §. 21.gen die altorthodoxe Auslegung die ursprüngliche Bezie - hung mancher Weissagungen auf Naheliegendes zu erken - nen; auch nicht gewaltthätig genug gegen das N. T., um mit rationalistischen Exegeten die entschieden messianische Deutung jener Orakel in den Evangelien abzuleugnen, sind doch jetzt manche Theologen nicht vorurtheilsfrei ge - nug, um eine hin und wieder unrichtige Auslegung des A. T. s im neuen zuzugeben; weſswegen sie dann, wie na - mentlich Olshausen, den Ausweg ergreifen, bei jenen Weis - sagungen eine zwiefache Beziehung, auf ein gegenwärtiges Niederes und ein zukünftiges Höheres zu unterscheiden, um so einerseits gegen den klaren pragmatisch-historischen Sinn der A. T. lichen Stellen nicht zu verstossen, und an - drerseits doch auch die N. T. lichen Deutungen dieser Stellen weder zu verdrehen noch Lügen zu strafen. So soll bei dem vorliegenden Orakel des Jesaias der Geist der Weis - sagung die doppelte Absicht gehabt haben, einmal das - herliegende Gebären der Verlobten des Propheten, dann aber auch die hievon verschiedene, in ferner Zukunft lie - gende Geburt Jesu von einer Jungfrau vorauszuverkündi - gen11)Ebend. S. 58 ff.. Aber ein solches Monstrum von Doppelsinn ist ja gleichfalls nur in dogmatischer Verlegenheit gezeugt, um, wie Olshausen selbst sagt, den Anstoſs wegzuräumen, wel - cher in der Annahme liegen könnte, daſs die N. T. lichen Schriftsteller und Jesus selbst das A. T. nicht richtig, oder näher nicht kunstgerecht nach unsern jetzigen hermeneuti - schen Grundsätzen, sondern in der Weise ihrer Zeit, wel - che nicht die richtigste war, ausgelegt haben sollen. In - dem nun aber für den Vorurtheilsfreien dieser Anstoſs so wenig existirt, daſs es ihm vielmehr ein Anstoſs sein wür - de, wenn es sich umgekehrt verhielte, und allen Gesetzen geschichtlich nationaler Entwickelung zuwider die neute - stamentlichen Männer sich aus der Interpretationsweise ih -150Erster Abschnitt.rer Zeit - und Volksgenossen ganz herausgehoben hätten: so werden wir in Bezug auf die im N. T. citirten Weis - sagungen nach Umständen ohne Weiteres zugeben können, daſs sie hier nicht selten ganz anders ausgelegt und ange - wendet werden, als sie ursprünglich gemeint waren.

Wir haben hier in der That eine vollständige Tafel aller 4 über diesen Punkt möglichen Ansichten, worunter 2 Extreme und 2 Vermittlungsweisen, eine falsche und ei - ne, hoffentlich, richtige.

1. Orthodoxe Ansicht (Hengstenberg u. A.): Der - gleichen A. T. liche Stellen hatten schon ursprünglich nur die prophetische Beziehung auf Christus; denn die N. T. - lichen Schriftsteller deuten sie so, und diese müssen Recht haben, wenn auch der Menschenverstand dabei zu Grun - de geht.

2. Rationalistische Ansicht (von Paulus u. A.): Auch die N. T. lichen Schriftsteller geben den A. T. lichen Orakeln jene[streng-messianische] Deutung nicht; denn diese Beziehung ist den Orakeln, verständig angesehen, ursprüng - lich fremd; mit dem Verstande aber müssen die N. T. li - chen Schriftsteller zusammenstimmen, was auch die Alt - gläubigen dagegen sagen mögen.

3. Mystisch vermittelnde Ansicht (von Ols - hausen u. A.): In den A. T. lichen Stellen liegt ursprüng - lich sowohl der von den N. T. lichen Schriftstellern ange - gebene tiefere, als auch der durch verständige Ansicht der - selben uns aufgenöthigte nähere Sinn: so kann sich ge - sunder Menschenverstand und Altgläubigkeit vertragen.

4. Entscheidung der Kritik: Die A. T. lichen Weissagungen hatten ursprünglich meistens nur jene nähere Beziehung auf Zeitverhältnisse: wurden aber von den N. T. lichen Männern als wirkliche Prophezeihungen auf Je - sus als den Messias angesehen, weil der Verstand in je - nen Männern durch die Denkart ihres Volks modificirt war,151Drittes Kapitel. §. 22.was sowohl der Rationalismus als die Altgläubigkeit ver - kennt12)Die ganze rationalistische Schriftauslegung beruht auf einem ziemlich handgreiflichen Paralogismus, mit welchem sie steht und fällt: Die N. T. lichen Schriftsteller dürfen nicht so ausgelegt werden, als ob sie etwas Unvernünftiges sagten (allerdings nichts ihrer Vernunftbildung Widersprechendes). Nun wären aber ihre Aussprüche bei einer gewissen Deu - tung unvernünftig (nämlich gegen unsre Vernunftbildung). Folglich können sie es nicht so gemeint haben, und müs - sen anders ausgelegt werden. Wer sicht hier nicht die quaternio terminorum und die dem Rationalismus tödtliche Inconsequenz eines mit dem Su - pranaturalismus gemeinschaftlichen Bodens, dass nämlich, während man bei jedem Andern erst zusieht, ob er nur Rich - tiges und Wahres rede oder schreibe, den N. T. lichen Män - nern die Prärogative eingeräumt wird, bei ihnen dieses schon vorauszusetzen?.

Demgemäſs werden wir auch in Bezug auf das in Re - de stehende Orakel keinen Augenblick anstehen, einzuräu - men, daſs die Beziehung auf Jesus ihm vom Evangelisten aufgedrungen ist; ob so, daſs die wirkliche Geburt Jesu von einer Jungfrau zu dieser Anwendung des Orakels, oder daſs das schon vorher auf den Messias gedeutete Orakel zu der Annahme einer jungfräulichen Geburt Jesu Veranlas - sung gab, kann erst aus dem Folgenden entschieden werden.

§. 22. Jesus durch den heiligen Geist erzeugt. Kritik der ortho - doxen Ansicht.

Was die beiden Evangelisten, Matthäus und Lukas, über die Art der Erzeugung Jesu melden, ist von den kirchlichen Auslegern jederzeit dahin gedeutet worden, daſs Jesus durch eine, an die Stelle der männlichen Mitwirkung getretene göttliche Thätigkeit in Maria erzeugt worden sei. 152Erster Abschnitt.Und wirklich hat diese Auslegung den ersten Augenschein der Stellen für sich, indem durch das πρὶν συνελϑεῖν αὐ - τοὺς (Matth. 1, 18.) und das ἐπεὶ ἄνδρα οὐ γινώσκω (Luc. 1, 34.) der Antheil des Joseph und jedes Mannes überhaupt an der Erzeugung des in Frage stehenden Kindes ausge - schlossen; durch das πνεῦμα ἅγιον aber und die δύναμις ὑψίςου zwar nicht der heilige Geist im kirchlichen Sinne, als dritte Person in der Gottheit, wohl aber nach A. T. li - chem Sprachgebrauch des רוּחַ אֱלהִֹים, Gott, sofern er auf die Welt einwirkt, bezeichnet; endlich durch die Ausdrücke ἐν γαςρὶ ἔχουσα ἐκ πνεύματος ἁγίου bei Matthäus, und ἐπέρ - χεσϑαι, ἐπισκιάζειν, bei Lukas die göttliche Wirksamkeit deutlich genug an die Stelle der zeugenden männlichen ge - setzt wird.

Erscheint dieſs als die Vorstellung, welche die bezeich - neten evangelischen Abschnitte über den Ursprung des Le - bens Jesu geben wollen: so läſst sich dieselbe doch nicht ohne bedeutende Schwierigkeiten vollziehen. Wir können die, so zu sagen, physico-theologischen von den exegetisch - historischen Schwierigkeiten unterscheiden.

Die physiologischen Schwierigkeiten laufen darin zusammen, daſs eine solche Erzeugung die auffallendste Abweichung von allem Naturgesetze wäre. Es wird ge - wiſs bei dem Plutarchischen Dictum: παιδίον οὐδεμία ποτὲ γυνὴ λέγεται ποιῆσαι δίχα κοινωνίας ἀνδρὸς1)Conjugial. praecept. Opp. ed. Hutten, Vol. 7. S. 428. und bei dem Cerinthischen impossibile2)Irenäus adv. haer. 1, 26:Cerinthus Jesum subjecit non ex virgine natum, impossibile enim hoc ei visum est. sein Bewenden haben, indem es physiologisch gewiſs ist, daſs das Zusammenwirken zweier geschlechtlich verschiedenen Menschenkörper nothwendig ist, wenn die Keime zu Organen eines neuen Menschenle - bens sich aussondern und befruchten sollen3)vgl. Paulus a. a. O. S. 151.. Nur bei den153Drittes Kapitel. §. 22.niedrigsten Thiergattungen ist eine Fortpflanzung ohne Ge - schlechtsvermischung bekannt, auf deren Analogie man sich für Jesu Erzeugung nie hätte berufen sollen4)Wie diess geschieht in Henke's neuem Magazin 3, 3, S. 369. Anmerkung.. In der That, die Sache blos physiologisch betrachtet, wäre es mit einem ohne Geschlechtsvermischung entstandenen Menschen an dem, was Origenes, freilich im Sinne des höchsten Su - pranaturalismus, sagt, daſs die Worte Ps. 22, 7: ich bin ein Wurm und kein Mensch, eine Weissagung auf Je - sum insofern seien, als auch er, wie dieſs bei Würmern sich finde (ohne jene Vermischung) entstanden sei5)Homil. in Lucam 14.. Doch zu der blos physiologischen Betrachtungsweise bringt schon der Engel bei Lukas die theologische hinzu, indem er sich (1, 37.) auf die göttliche Allmacht beruft, welcher kein Ding unmöglich sei. Allein da die göttliche Allmacht ver - möge ihrer Einheit mit der göttlichen Weisheit nie ohne zureichende Gründe wirkt: so müſste sich auch hier ein solcher nachweisen lassen. Ein genügender Grund aber zur Suspension eines selbstgegebenen Naturgesetzes könnte für Gott nur darin liegen, daſs zur Erreichung gotteswürdiger Zwecke jene Abweichung vom Naturgesetz nothwendig wäre. Nun sagt man hier: der Zweck der Erlösung for - derte Jesu Unsündlichkeit; um aber unsündlich sein zu können, muſste Jesus durch Entfernung des Antheils ei - nes sündhaften Vaters und einen göttlichen Einfluſs auf sei - ne Erzeugung aus dem Zusammenhang der Erbsünde her - ausgenommen sein6)s. Olshausen a. a. O. S. 49 f.. Allein, wie auch sonst schon be - merkt7)z. B. von Eichhorn, Einleitung in das N. T. 1. Bd. S. 407., neuestens aber von Schleiermacher auf eine, die Sache von dieser Seite abschlieſsende Weise gezeigt wor - den ist8)Glaubenslehre, 2. Thl. §. 97. S. 73 f. der zweiten Auflage., so war hiezu die Ausschlieſsung blos des -154Erster Abschnitt.terlichen Antheils nicht hinreichend, wenn nicht auch der, gleichfalls Sünde fortpflanzende, mütterliche, etwa durch die Valentinische Behauptung eines bloſsen Durchgangs Christi durch Maria, entfernt wird. Bleibt nun aber der mütterli - che Antheil nach den evangelischen Berichten offenbar ste - hen: so müssen wir, um doch die voraussezlich nothwen - dige Unsündlichkeit herauszubekommen, eine göttliche Thä - tigkeit annehmen, welche den Antheil der sündhaften mensch - lichen Mutter bei der Erzeugung Jesu heiligte. Nahm aber Gott mit dem stehenbleibenden mütterlichen Antheil eine solche Reinigung vor, so lag es näher, dasselbe auch mit dem männlichen zu thun, als durch gänzliche Ausschlieſsung desselben eine so enorme Abweichung vom Gesetze der Natur zu statuiren, und es läſst sich somit die vaterlose Erzeugung Jesu nicht als nothwendiges Mittel zum Zwecke seiner Unsündlichkeit behaupten.

Doch wer auch über die bisher vorgetragenen Schwie - rigkeiten sich hinüberhelfen zu können glaubt, indem er sich in einen für Vernunftgründe und Naturgesetze unzu - gänglichen Supranaturalismus hüllt, dem müssen doch die auf seinem eigenen N. T. lichen Boden gelegenen, exege - tisch-historischen Schwierigkeiten bedenklich sein, wel - che gleichfalls die Ansicht von einer übernatürlichen Er - zeugung Jesu drücken. In keiner andern Stelle des N. T. s nämlich, ausser den beiden Kindheitsevangelien bei Mat - thäus und Lukas, wird von einem solchen Ursprung Jesu gesprochen, oder auch nur deutlich auf denselben hinge - wiesen9)Diese Seite findet sich besonders hervorgekehrt in der Skia - graphie des Dogma's von Jesu übernatürlicher Geburt, in Schmidt's Bibliothek 1, 3, S. 400 ff. ; in den Bemerkungen über den Glaubenspunkt: Christus ist empfangen vom heil. Geist, in Henke's neuem Magazin 3, 3, 365 ff. ; in Kaiser's bibl. Theol. 1, S. 231 f.; de Wette's bibl. Dogmatik, §. 281; Schleiermacher's Glaubenslehre 2. Thl. §. 97.. Nicht allein Markus läſst die Erzeugungsge -155Drittes Kapitel. §. 22.schichte weg, sondern auch der voraussezliche Verf. des vierten Evangeliums, Johannes, der, als angeblicher Haus - genosse der Mutter Jesu nach dessen Tode, am genauesten über diese Verhältnisse unterrichtet sein muſste. Man sagt: er wollte mehr die himmlische als die irdische Herkunft Jesu berichten; aber es fragt sich eben, ob mit seiner im Prologe ausgesprochenen Ansicht von einer, wirklich in Jesu fleischgewordenen und ihm immanent gebliebenen göttlichen Hypostase die in unsern Stellen liegende von einer bloſsen, seine Erzeugung bedingenden, göttlichen Einwirkung verträglich sei, ob er also die Erzeugungs - geschichte des Matthäus und Lukas habe voraussetzen kön - nen? Da jedoch dieser Einwand seine entscheidende Kraft verliert, wenn sich uns der apostolische Ursprung des vier - ten Evangeliums im Verfolg unsrer Untersuchung nicht be - währt: so kommt hauptsächlich dieſs in Betracht, daſs auch im weiteren Verlaufe nicht blos des Markus - und Johannes-Evangeliums, sondern auch des Matthäus und Lukas selbst keine rückweisende Andeutung dieser Art der Erzeugung Jesu vorkommt. Nicht nur bezeichnet Maria den Joseph ohne Weiteres als den Vater Jesu (Luc. 2, 48.), und spricht der Evangelist von Maria und Joseph geradezu als von seinen γονεῖς (Luc. 2, 41.): sondern alle seine Zeitgenossen überhaupt hielten ihn nach unsern Evan - gelien für einen Sohn des Joseph, und nicht selten wurde es verächtlich und vorwurfsweise in seiner Gegenwart ge - äussert (Matth. 13, 55. Luc. 4, 22. Joh. 6, 42.), ihm also entschiedene Veranlassung gegeben, sich auf seine wunderbare Erzeugung zu berufen, was er jedoch mit kei - nem Worte thut. Könnte man hier sagen, daſs er auf diese äusserliche Weise nicht von der Göttlichkeit seiner Person überzeugen wollte, auch bei innerlich Abgeneigten keine Wirkung davon sich versprechen konnte: so ist hin - zuzunehmen, daſs nach der Angabe des vierten Evange - liums auch seine eigenen Jünger neben seiner Gottessohn -156Erster Abschnitt.schaft ihn doch für den wirklichen Sohn Josephs hielten; denn Philippus stellt ihn dem Nathanaël als Ἰησοῦν τὸν ὑιὸν Ἰωσὴφ vor (Joh. 1, 46.), offenbar in demselben Sinne ei - gentlicher Vaterschaft, wie ihn sonst die Juden ebenso be - zeichnen, ohne daſs dieſs irgendwo als eine irrige oder unvollkommne Ansicht dargestellt würde, welche diese Apostel nachher hätten ablegen müssen, vielmehr hat die Erzählung unverkennbar den Sinn, daſs hier der rechte Glaube in denselben zum Dasein gekommen sei. Eben - sowenig als in den Evangelien findet sich in den übrigen N. T. lichen Schriften etwas zur Bestätigung der Ansicht von einer übernatürlichen Erzeugung Jesu. Denn wenn der Apostel Paulus Jesum γενόμενον ἐκ γυναικὸς nennt (Gal. 4, 4.): so wird man in diesem Ausdruck doch nicht eine Ausschlieſsung des männlichen Antheils finden wollen, da ja der Zusaz: γενόμενον ὑπὸ νόμον deutlich zeigt, daſs er, wie so häufig im A. T. (z. B. Hiob 14, 1.), nur die Schwäche und Niedrigkeit der menschlichen Erscheinung Jesu bezeichnet. Wenn Paulus ferner (Röm. 1, 3. vergl. 9, 5.) Christum κατὰ σάρκα von David und den Erzvätern abstammen, κατὰ πνεῦμα ἁγιωσύνης aber als Gottes Sohn sich bewähren läſst: so wird man doch hier den Gegensaz von σὰρξ und πνεῦμα nicht mit dem von menschlichem mütterlichen, und durch göttliche Thätigkeit erseztem - terlichen Antheil an seiner Erzeugung identificiren wollen. Endlich, wenn im Hebräerbrief (7, 3.) Melchisedek als ἀπάτωρ mit dem ὑιὸς τοῦ ϑεοῦ verglichen wird: so verbietet sich eine Beziehung des wörtlich gefaſsten ἀπάτωρ auf die menschliche Erscheinung Jesu schon durch das daneben - stehende ἀμήτωρ, welches bei ihm so wenig als das weiter beigesezte ἀγενεαλόγητος zutreffen würde.

§. 23. Rückblick auf die Genealogieen.

Doch die entscheidendste exegetische Instanz gegen die Wirklichkeit einer übernatürlichen Erzeugung Jesu liegt157Drittes Kapitel. §. 23.uns näher als alle bisher aufgeführten Stellen, nämlich in den beiden Genealogieen, die wir nur so eben erst betrachtet haben. Schon der Manichäer Faustus machte geltend, wer, wie unsre zwei Genealogisten, Jesum durch Joseph von David abstammen lasse, der könne ohne Wi - derspruch nicht voraussetzen, daſs Joseph gar nicht Jesu Vater gewesen sei1)Augustinus contra Faustum Manichaeum L. 23. 3. 4., und Augustinus wuſste ihm nichts Triftiges zu erwiedern, wenn er bemerkte, daſs wegen des Vorrangs des männlichen Geschlechts die Genealogie Jesu durch Joseph habe geführt werden müssen, welcher, wenn auch nicht durch leibliche, doch durch geistige Verbindung Maria's Gatte (und Jesu Vater) gewesen sei2)a. a. O. No. 8.. Auch in neuerer Zeit haben daher manche Theologen die Behaup - tung aufgestellt, aus der Beschaffenheit unserer Geschlechts - register bei Matthäus und Lukas erhelle, daſs die Verfas - ser derselben Jesum als wirklichen Sohn Josephs sich ge - dacht haben3)Skiagraphie des Dogma u. s. f. in Schmidt's Bibl. a. a. O. S. 403 f. K. Ch. L. Schmidt, ebend. 3, 1, S. 132 f. Schleier - macher, Glaubenslehre 2, §. 97. S. 71.. Sie sollen nämlich beweisen, daſs Jesus durch Joseph von Davids Geschlecht abstamme; was be - weisen sie aber, wenn Joseph Jesu Vater gar nicht war? Die als Tendenz der ganzen Genealogie (bei Matthäus 1, 1.) vorausgeschickte Behauptung, daſs Jesus ὑιὸς Δαυὶδ ge - wesen, wird durch die darauf folgende Leugnung seiner Erzeugung durch den Davididen Joseph geradezu wieder aufgehoben. Unmöglich kann man es deſswegen wahr - scheinlich finden, daſs die Genealogie und die Geburtsge - schichte von demselben Verfasser herrühre4)Wie diess z. B. Eichhorn, Einl. in das N. T. 1, S. 425. aus - drücklich für wahrscheinlich erklärt., sondern man wird mit den zuvor angeführten Theologen annehmen müs - sen, daſs die Genealogieen anderswoher genommen seien. 158Erster Abschnitt.Schwerlich möchte man hiegegen mit der Bemerkung aus - reichen, da Joseph ohne Zweifel Jesum adoptirt habe, so habe seine Genealogie auch für diesen volle Gültigkeit be - kommen. Denn die Adoption mochte wohl hinreichen, um dem angenommenen Sohne die Anwartschaft auf gewisse äussere, Erbschafts - und andere Rechte aus der Familie des Adoptirenden zu verschaffen; keineswegs aber konnte ein solches Verhältniſs Anspruch auf die messianische Wür - de verleihen, welche an wirkliches Davidisches Blut und Geschlecht gebunden war. Schwerlich würde daher, wer den Joseph blos für den Adoptiv-Vater Jesu gehalten hät - te, sich die Mühe genommen haben, der Davidischen Ab - stammung des Joseph nachzuspüren, sondern, wenn an - ders neben der einmal gewonnenen Ansicht von Jesu als Gottessohn noch ein Interesse, ihn als Davidssohn darzu - stellen, fortdauerte, so würde man zu diesem Behuf die Genealogie der Maria gegeben haben, indem, wenn auch gegen die Gewohnheit, der Stammbaum der Mutter zu Hülfe genommen werden muſste, wo kein menschlicher Va - ter vorhanden war. Am wenigsten würden mit der Com - position eines durch Joseph vermittelten Stammbaums Je - su Mehrere sich befaſst haben, so daſs uns noch 2 ver - schiedene Genealogieen dieser Art übrig bleiben konnten, wenn man nicht zur Zeit ihrer Abfassung noch ein nähe - res Verhältniſs Jesu zu Joseph angenommen hätte.

Kaum wird man daher dem Urtheil obengenannter Ge - lehrten abstehen können, es seien diese Genealogieen von der Ansicht aus verfertigt, daſs Jesus der wirkliche Sohn Josephs und der Maria gewesen sei; die Verfasser oder Sammler unserer Evangelien aber, obwohl ihrerseits von dem höheren Ursprung Jesu überzeugt, haben dieselben doch in ihre Sammlungen aufgenommen, nur daſs Mat - thäus (1, 16.) das ursprüngliche ἐξ οὗ des Genealogisten nach seiner abweichenden Ansicht in ἐξ ἦς verwandelt, Lukas aber (3, 23.) zwischen das ὢν υἱὸς Ἰωσὴφ ein ὡς ἐνομίζετο159Drittes Kapitel. §. 23.eingeklemmt habe. Man wende hiegegen nicht ein, wenn nach unsrer Bemerkung von der Ansicht aus, daſs Joseph nicht Vater Jesu gewesen, unsre Genealogieen nicht ver - fertigt werden konnten, so könne auch nicht einmal dafür ein Interesse vorhanden gewesen sein, sie den Evangelien einzuverleiben. Denn das ursprüngliche Verfertigen einer Genealogie Jesu, und wenn es in unserem Falle auch nur darin bestanden hätte, daſs schon zuvor existirende Stamm - bäume in Beziehung auf Jesum gesetzt wurden, erforderte ein starkes und ganzes Interesse, welches in der Voraus - setzung einer leiblichen Abkunft Jesu von Joseph durch jene Operation eine Hauptstütze für den messianischen Glauben an ihn zu gewinnen hoffte; wogegen zur Auf - nahme der schon vorhandenen auch das schwache Interesse anregen konnte, daſs sie auch ohne ein zwischen Jesu und Joseph statt gehabtes natürliches Verhältniſs dennoch zur Anknüpfung Jesu an David nicht undienlich scheinen mochten. Ebenso wird ja in den beiden Geburtsgeschichten bei Mat - thäus und Lukas, welche den Joseph entschieden von der Erzeugung Jesu ausschlieſsen, doch noch immer auf die Davidische Abstammung Josephs Gewicht gelegt (Matth. 1, 20. Luk. 1, 27. 2, 4.), indem man das zwar nur bei der früheren Ansicht recht Bedeutsame doch auch nach geän - dertem Standpunkt beibehielt.

Indem wir auf diese Weise den Ursprung unsrer Ge - nealogieen in eine Zeit und einen Kreis der ältesten Kirche verlegen, in welchen Jesus noch für einen natürlich er - zeugten Menschen galt: so sind wir hiemit auf die Ebioni - ten geführt, da uns eben von diesen (sofern sie von den Nazarenern noch unterschieden werden) aus jener ersten Zeit gemeldet wird, daſs sie die bezeichnete Ansicht von der Person Christi hatten5)S. Justin. Mart. Dial. cum Tryphone, 48; Theodoret, Epit. haer. fabb. 2, 4; Origenes contra Celsum L. 5, 61; Com - ment. in Matth. Tom. 16. Opp. ed. de la Rue, Vol. 3, p. 733., und unsre Behauptung ist160Erster Abschnitt.gleich der, daſs die Genealogieen bei Matthäus und Lukas von ebionitisch denkenden Urchristen abgefaſst sein müs - sen. Sollten wir hienach erwarten, in den alten ebioniti - schen Evangelien, von welchen wir noch Kunde haben, vor Allem diese Geschlechtsregister noch anzutreffen: so müssen wir uns nicht wenig überrascht finden, wenn wir erfahren, daſs gerade jene judenchristlichen Evangelien oh - ne die Genealogieen waren6)Haeres. 30. §. 14.. Zwar, da nach Epiphanius das Evangelium der Ebioniten erst mit dem Auftritt des Täufers anfieng, so könnte man unter den γενεαλογίαις, welche sie weggeschnitten haben sollen, die Geburts - und Kindheitsgeschichte der beiden ersten Kapitel unsres Mat - thäus verstehen, welche sie, weil sie die von ihnen verwor - fene vaterlose Zeugung Jesu enthalten, wenigstens nicht in ihrer jetzigen Form annehmen konnten, und könnte nun vermuthen, daſs in ihrem Evangelium vielleicht nur diese ihrem System zuwiderlaufenden Abschnitte gefehlt haben, die ihrer Ansicht zusagenden Geschlechtsregister aber den - noch irgendwo eingefügt gewesen seien. Aber diese Aus - sicht verschwindet alsbald, wenn wir sehen; wie Epipha - nius in Bezug auf die Nazarener die Genealogieen, von wel - chen er nicht weiſs, ob sie auch ihnen gefehlt oder nicht, als τὰς ἀπὸ τοῦ Ἀβραὰμ ἕως Χριςοῦ bestimmt7)Epiphan. haeres. 29, 9., wo - nach er unter den Genealogieen, welche einigen Häretikern fehlten, offenbar zunächst die Geschlechtstafeln versteht, wenn er auch in Beziehung auf die Ebioniten zugleich die Geburtsgeschichte unter jenem Ausdruck mitbegreift.

Wie sollen wir uns nun diese befremdende Erschei - nung erklären, daſs gerade bei derjenigen Christenpartei, bei welcher wir den Ursprung der Genealogieen suchen zu müssen glaubten, dieselben gar nicht zu finden sind? Ein neuerer Forscher stellt die Vermuthung auf, die Juden -161Drittes Kapitel. §. 23.christen haben die Geschlechtsregister aus Klugheit wegge - lassen, um nicht durch dieselben die unter Domitian und vielleicht auch schon früher über die Davidische Familie ver - hängten Verfolgungen zu erleichtern und zu vermehren8)Credner, in den Beiträgen zur Einleitung in das N. T. 1, S. 443. Anm.. Allein zu solchen äusserlichen Erklärungen aus zufälligen Umständen, die selbst noch dem Zweifel der historischen Kritik unterliegen, sollte man nur dann seine Zuflucht neh - men, wenn jede Erklärung der fraglichen Erscheinung aus der Sache selbst, also hier aus dem Innern des ebioniti - schen Systems, unmöglich ist. Das ist sie aber in unsrem Falle nicht, und am wenigsten sollte sie es für den be - zeichneten Gelehrten sein, welcher in seinen schäzbaren Untersuchungen über die Ebioniten an einem andern Orte9)Über Essener und Ebioniten und einen theilweisen Zusammen - hang beider. In Winer's Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, 1. Bd. 2tes und 3tes Heft. bereits alle Prämissen zusammengetragen hat, aus welchen eine befriedigende Erklärung des vorliegenden Umstandes zu gewinnen ist. Epiphanius, dem wir die Notiz von dem Fehlen der Genealogieen im Ebioniten-Evangelium verdan - ken, schildert nicht die ursprünglichen und reinen, son - dern die späteren, durch die Ansichten eines gewissen Elxai, d. h. wie es Credner deutet10)a. a. O. S. 317. Insofern hat die Vermuthung Storr's (über den Zweck der evang. Geschichte und der Briefe Johannis, S. 286. 363. ) ihren richtigen Grund, Epiphanius möge wohl das Evangelium der Elcesaiten mit dem ebionitischen verwech - selt haben., durch essenisch - gnostische Lehren, inficirten Ebioniten. Davon, daſs von den mit den ursprünglichen Ebioniten verwandten Nazare - nern Epiphanius nicht zu entscheiden wagt, ob ihnen die Genealogieen gefehlt oder nicht, abgesehen, weil ja die Nazarener dafür ausgegeben werden, die übernatürlicheDas Leben Jesu I. Band. 11162Erster Abschnitt.Erzeugung Jesu angenommen zu haben: so erzählt uns derselbe Epiphanius von den uralten gnostisirenden Ebio - niten Cerinth und Karpokrates, daſs sie im Übrigen zwar desselben Evangeliums, wie diese, sich bedient, aber die Ge - nealogieen, welche sie demnach in demselben lasen, zum Beweis der menschlichen Erzeugung Jesu durch Joseph gebraucht haben11)Haeres. 30, 14: μὲν γὰρ Κήρινϑος καὶ Καρποκρας τῷ ἀυτῷ χρώμενοι παῤ αὐτοῖς (τοῖς Ἐβιωναίοις) ἐυαγγελίῳ, ἀπὸ τῆς ἀρχῆς τοῦ κατὰ Ματϑαῖον ἐυαγγελίου διὰ τῆς γενεαλογίας βουλονται παριςᾷν ἐκ σπέρματος Ἰωσὴφ καὶ Μαρίας εἶναι τὸν χριςόν. Wie Credner (Beiträge a. a. O.) dazu kommt, hier unter γενεαλογία nicht das Geschlechts - register, sondern die Geburtsgeschichte zu verstehen, ist nicht einzusehen. Wie hätte denn die Matthäische Geburts - geschichte zu einem Beweis für die reinmenschliche Abkunft Jesu dienen können? Wenn sich Credner darauf berufen kann, dass ja dem von Cerinth und Karpokrates gebrauchten Ebionitenevangelium die Geschlechtsregister gefehlt haben, also jene beiden Häretiker nicht aus diesem, ihrer Urkunde gerade fehlenden Theile haben argumentiren können: so liesse sich zunächst fragen, ob nicht eher umgekehrt dem ebioni - tischen Evangelium die Geburtsgeschichte gefehlt habe, die Stammtafel aber nicht, so dass Cerinth und Karpokrates im - merhin aus dieser argumentiren konnten? Da jedoch Epi - phanius mit demselben Worte die γενεαλογίας dem Evange - lium der Ebioniten abspricht, und die beiden genannten - retiker auf die γενεαλογία sich stützen lässt: so ist ohne Zweifel beidemale derselbe Theil des Matthäusevangeliums gemeint, und zwar nach dem oben Erörterten die Stammta - fel. Diese aber konnte gar wohl in dem sonst mit dem Ebio - nitenevangelium identischen Evangelium Cerinths stehen, da auch Epiphanius die genannten Beiden und die Ebioniten einander in dieser Hinsicht entgegenzustellen scheint, wenn er nach jener Äusserung über Cerinths und Karpokrates Be - nützung der Genealogieen zu den Ebioniten durch die Wen - dung übergeht: οὖτοι δὲ ἄλλα τινὰ διανοοῦνται. παρακό - ψαντες γὰρ τὰς παρὰ τῷ Ματϑαίῳ γενεαλογίας κ. τ. λ. . Auch die aus judenchristlichem Ge -163Drittes Kapitel. §. 23.biete stammenden ἀπομνημονεύματα Justins scheinen ei - ne ähnliche Genealogie wie unser Matthäus gehabt zu ha - ben, da Justin wie Matthäus in Bezug auf Jesum von ei - nem γένος τοῦ Δαβὶδ καὶ Ἀβραὰμ, von einem σπέρμα ἐξ Ἰακὼβ, διὰ Ἰούδα, καὶ Φαρὲς καὶ Ἰεσσαἰ καὶ Δαβὶδ κατερ - χόμενον spricht12)Dial. c. Tryph. 100. 120. Auch hier kann ich nicht mit Credner übereinstimmen, welcher dem Justin die Genealo - gie abspricht (a. a. O. S. 212. 443.)., nur daſs zur Zeit und in dem Kreise Justins bereits die Ansicht von einer übernatürlichen Er - zeugung Jesu Veranlassung gegeben hatte, die Genealogie statt auf Joseph, vielmehr auf Maria zu beziehen.

Daſs nun die späteren und durch fremdartige Elemente inficirten Ebioniten des Epiphanius das Geschlechtsregister nicht hatten, wird uns um so weniger irre machen kön - nen, wenn wir die in ihrem späteren, veränderten System liegenden Gründe zu entdecken im Stande sind, durch wel - che sie der Genealogie des Matthäus abgeneigt wurden. Ein Sohn Josephs und der Maria war ihnen Jesus, sowohl nach der Angabe des Epiphanius13)Haeres. 30, 14. vgl. 2., als nach der Andeu - tung der Klementinischen Homilien14)Homil. 3, 17. und dazu Credner in der angef. Abh. S. 253 f., welche Credner in der angeführten Abhandlung richtig als ein Werk die - ser späteren Ebioniten nachgewiesen hat; ihre Ansicht also von dem Verhältniſs Jesu zu Joseph, von welchem die Genealogie ausgeht, würde der Annahme derselben nicht im Wege gestanden haben: wohl aber ihre Ansicht von demjenigen, auf welchen sie zurückgeht, nämlich von David. Die Ebioniten des Epiphanius und der Klementi - nen unterscheiden bekanntlich im A. T. eine doppelte Pro - phetie, eine männliche und eine weibliche, reine und un - reine, von welchen jene nur Himmlisches und Wahres, diese Irdisches und Trügliches verheiſse; jene von Adam11*164Erster Abschnitt.und Abel, diese von Eva und Kain ausgehend, und beide durch die ganze Geschichte der Offenbarung herunterlau - fend15)Homil. 3, 23 27.. Als wahre Propheten werden im A. T. nur die frommen Männer von Adam bis Josua anerkannt: die spä - teren Propheten und Gottesmänner, unter welchen auch David und Salomo namhaft gemacht sind, werden nicht nur nicht anerkannt, sondern verabscheut16)Epiphan. haeres. 30, 18: μετὰ τούτους δὲ (Moses und Josua) οὐκέτι ὁμολογοῦσί τινα τῶν προφητῶν, ἀλλὰ καὶ ἀναϑεμα - τίζουσι καὶ χλευάζεσι, Δαβὶδ τε καὶ τὸν Σολομῶνα, ὁμοίως δὲ τοὺς περὶ Ἡοαΐαν καὶ Ἱερεμίαν καὶ Δανιὴλ καὶ Ἰεζεκιήλ· Ἠλία τε καὶ Ἐλισσαῖον ἀϑετοῦσιν· οὐ γὰρ συν - τίϑενται, βλασφημοῦντες τὰς αὐτῶν προφητείας. Vgl. 15.. Wir fin - den aber sogar bestimmte Spuren, daſs den David ihre Abneigung ganz besonders getroffen hat. Mehrere Punkte waren es, welche sie von David (und auch von Salomo) abstieſsen. David war ein blutiger Krieger: Blutvergieſsen aber nach der Lehre dieser Ebioniten eine der vornehm - sten Sünden; von David ist ein Ehebruch (von Salomo seine Wollust) bekannt: den Ehebruch aber verabscheute die genannte Partei noch mehr als selbst den Mord; David war ein Saitenspieler: das Saitenspiel aber galt jener Sekte, als Erfindung der Kainiten (1. Mos. 4, 21.) für ein Zei - chen der falschen Prophetie; endlich giengen sowohl die von David ausgegangenen als die an ihn (und Salomo) ge - knüpften Weissagungen auf ein irdisches Reich, von wel - chem die späteren Ebioniten nichts wissen wollten17)S. die Belegstellen bei Credner, in der angef. Abhandlung.. Daſs es diese Züge gewesen seien, welche der genannten Christenpartei an David miſsfielen, wird wenigstens in Ei - ner Stelle der Klementinischen Homilien auch ohne Nen - nung des Namens klar genug18)Diese von Crkdner nicht gehörig berücksichtigte Stelle steht Homil. 3, 25: ἔτι μὴν καὶ οἱ ἀπὸ τῆς τούτου (τοῦΚαῒν) δια -. Diese Verwerfung Da -165Drittes Kapitel. §. 23.vids und der späteren A. T. lichen Gottesmänner aber ge - hört mit der ganzen kritischen und eklektischen Stellung gegen das A. T. nicht dem alten, vom ordinären Juden - thum ausgegangenen, sondern nur jenem neueren, esse - nisch oder wie sonst inficirten Ebionitismus an. Daher kam es auch, daſs, während die früheren, reinen Ebio - niten die Benennung Jesu als Sohns Gottes ablehn - ten19)Tertullian. de praescript. haer. 33. und ohne Zweifel ihn nur Sohn Davids genannt wissen wollten: die Ebioniten der Klementinen und des Epiphanius gerade umgekehrt ihn Sohn Gottes nannten (welche Benennung sie mit ihrer Ansicht von der natür - lichen Erzeugung Jesu wohl zu vereinigen wuſsten)20)Epiphan. haeres. 30, 18., die Benennung, Sohn Davids, aber als der gemeinen - dischen Ansicht zugehörig, verwarfen21)Clement. homil. 18, 13. Sie bezogen hienach den Spruch Matth. 11, 27: οὐδεὶς ἔγνω τὸν πατέρα, εἰ μὴ υἱὸς κ. τ. λ. auf τοὺς πατέρα νομίζοντας χριςοῦ τὸν Δαβὶδ, καὶ αὐτὸν δὲ τὸν χριςὸν υἱὸν ὄντα, καὶ υἱὸν ϑεοῦ μὴ ἐγνω - κότας, und beklagten sich, dass ἀντὶ τοῦ ϑεοῦ τὸν Δαβὶδ πάντες ἔλεγον. . So hätten dem - nach mit den ältesten Judenchristen auch die Ebioniten des Epiphanius unsre Genealogieen annehmen können, so - fern diese für eine rein-menschliche Erzeugung Jesu durch Joseph sprachen: aber sie muſsten sie verwerfen, sofern sie eine Abstammung von David und Salomo lehrten, wel - che ihrem System zufolge zu den falschen Propheten ge - hörten.

Auf diese Weise wird die aus der Sache selbst sich ergebende Vermuthung, daſs die Genealogieen Jesu bei18)δοχῆς προεληλυϑότες πρῶτοι μοιχοὶ ἐγένοντο, καὶ ψαλ - τήρια, καὶ κιϑάραι, καὶ χαλκεῖς ὄπλων πολεμικῶν ἐγέ - νοντο. Δἰ καὶ τῶν ἐγγόνων προφητεία, μοιχῶν καὶ ψαλτηρίων γέμουσα, λανϑανοντως δια τῶν ηδυπαϑειῶν ὡς τοὺς πολέμους ἐγείρει. 166Erster Abschnitt.Matthäus und Lukas auf dem Boden des ältesten Judenchristen - thums entstanden seien, durch die Erscheinung keineswegs umgestoſsen, daſs sie sich gerade bei den Ebioniten des Epi - phanius nicht finden; denn dieſs sind die ursprünglichen, reinen Ebioniten nicht mehr; die alten Ebioniten haben nach mehreren Spuren die Genealogieen gehabt: die nach - maligen waren durch Gründe, welche in der späteren Um - gestaltung ihres Systemes lagen, genöthigt, sie zu ver - werfen.

§. 24. Die natürliche Erklärung der Empfängnissgeschichte.

Hat nach dem zuletzt Ausgeführten die supranaturali - stische Erklärung der Empfängniſsgeschichte so bedeuten - de, sowohl philosophische als exegetische Schwierigkeiten: so verlohnt es sich wohl, die evangelische Erzählung noch einmal darauf anzusehen, ob nicht vielleicht eine andere Auslegung derselben möglich sei, durch welche die ange - zeigten Schwierigkeiten vermieden würden. Eine solche hat man wirklich von verschiedenen Seiten in der Art ver - sucht, daſs man bald nur mit dem einen oder andern, bald aber auch mit allen beiden Berichten auf dem Wege natürlicher Erklärung fertig werden zu können glaubte. Zunächst schien sich die Erzählung des Matthäus einer solchen Deutung darzubieten. In Bezug auf sie wurde durch zahlreiche rabbinische Stellen nachgewiesen, daſs nach jüdischer Ansicht ein Sohn frommer Eltern un - ter Mitwirkung des heiligen Geistes erzeugt sei und ein Sohn desselben genannt werde, ohne daſs hiebei an Aus - schlieſsung des männlichen Antheils an seiner Erzeugung gedacht würde. Der betreffende Abschnitt des Matthäus nun, meinte man, enthalte weiter nichts, als diese Vor - stellung: der Engel wolle hier dem Joseph nicht sagen, daſs Maria ohne Zuthun eines Mannes schwanger gewor - den, sondern nur, daſs sie dessenungeachtet als rein, nicht167Drittes Kapitel. §. 24.als eine Gefallene anzusehen sei. Erst bei Lukas sei, ver - möge einer Steigerung der ursprünglichen Vorstellung, durch das ἄνδρα οὐ γινώσκω jede väterliche Mitwirkung aus - geschlossen1)Br , die Nachricht, dass Jesus durch den heil. Geist und von einer Jungfrau geboren sei, aus Zeitbegriffen erläutert. In Schmidt's Bibl. 1, 1. S. 101 ff. Horst, in Henke's Mu - seum 1, 4, 497 ff., über die beiden ersten Kapitel im Evang. Lukas.. Wurde von der andern Seite hiegegen richtig bemerkt, daſs ja bei Matthäus der einzige, hier in Frage kommende Mann, nämlich Joseph, durch das πρὶν συνελϑεῖν ἀυτοὺς (1, 18.) zu entschieden ausgeschlossen sei: so glaubte man nun diese Ausschlieſsung im Lukas - evangelium weniger entschieden zu finden, freilich nur, indem man entweder unexegetisch den klaren Wortsinn auf den Kopf stellte, oder unkritisch einen Theil der so wohl zusammenhängenden Erzählung verdächtigte. Bei dem er - steren Verfahren sollte die Frage der Maria: πῶς ἔςαι τοῦτο, ἐπεὶ ἄνδρα οὺ γινώσκω (1, 34.); so viel heiſsen: wie kann ich, die schon Verlobte und Vermählte, den Messias gebären, als dessen Mutter ich keinen Mann haben müſste? worauf der Engel erwiedere, daſs auch aus ih - rem mit Joseph erzeugten Kinde Gott durch seine Kraft etwas Besondres machen könne2)Bemerkungen über den Glaubenspunkt: Christus ist empfan - gen vom heil. Geist. In Henke's neuem Magazin 3, 3. 399.. Noch willkührlicher ist das andre Verfahren, die angeführte Zwischenfrage der Maria für eine unnatürliche Unterbrechung der Rede des Engels zu erklären, jene abgerechnet aber in der Stelle keine bestimmte Hindeutung auf die aussernatürliche Em - pfängniſs zu finden3)Schleiermacher, über den Lukas, S. 26 f..

Ist somit die Schwierigkeit der natürlichen Erklärung für beide Berichte gleich groſs: so muſste entweder auf168Erster Abschnitt.beiden Seiten auf eine solche verzichtet, oder sie beidemale gewagt werden, und der consequente Rationalismus, z. B. eines Paulus, konnte sich nur für das Letztere entschei - den4)Exeget. Handbuch 1, a. S. 99 ff. 111 ff. Vergl. (Walther) schriftmässiger Beweis, dass Joseph der wahre Vater Jesu sei, 1791.. Den Antheil Josephs zwar hält der genannte Aus - leger durch Matth. 1, 18. für ausgeschlossen, keineswegs aber jede andre männliche Wirksamkeit; so wenig als er in πνεῦμα ἅγιον und δύναμις ὑψίςου (Luc. 1, 35.) eine wun - dervolle göttliche Thätigkeit finden kann. Das πνεῦμα ἅγιον ist ihm nichts Objektives, von aussen auf Maria Einwir - kendes, sondern ihre eigene fromme Gesinnung; die δύνα - μις ὑψίςου aber ist ihm nicht unmittelbar die göttliche All - macht, sondern jede gottgefällig angewandte Naturkraft kann nach ihm so genannt werden. Demzufolge ist nach Paulus der Sinn der Verkündigung des Engels nur dieser, vor der Verehlichung mit Joseph werde Maria mit reiner Begeisterung für das Heilige ihrerseits, und durch gottge - fällige Wirksamkeit (versteht sich, eines Mannes) auf der andern Seite, Mutter eines Kindes werden, das, wegen die - ses heiligen Ursprungs, ein Gottessohn zu nennen sein werde5)Diese Erklärung betrachtet Paulus als die einzige, der orien - talischen Denk - und Sprechweise angemessene, und warnt, sie occidentalisch umzudeuten (S. 114.). Es soll also occi - dentalische Umdeutung sein, wenn man jene Worte so ver - steht, das Kind werde ohne menschlichen Vater durch Got - tes heiligen Geist und allmächtige Kraft im Leibe der Mut - ter gebildet werden; paraphrasirt man hingegen: aus reiner gottergebener Begeisterung wirst du dich vorwurfslos einer gottgewollten Wirksamkeit hingeben, so ist das, nach Dr. Paulus, orientalisch gesprochen..

Sehen wir aber noch näher nach, wie sich der ge - nannte Repräsentant rationalistischer Auslegung die Um -169Drittes Kapitel. §. 24.stände der Erzeugung Jesu vorstellt. Von Elisabet, der patriotischen, klugen Aaronstochter, wie er sie nennt, geht er aus. Hatte diese die Hoffnung gefaſst, einen Gottespro - pheten zu gebären: so muſste sie wünschen, daſs er der höchste Prophet, der Vorläufer des Messias sein, daſs also auch dieser bald geboren werden möchte. Und eine zur Mutter des Messias ganz taugliche Person hatte sie in ih - rer Verwandtschaft: die jungfräuliche Davidische Descen - dentin Maria; es kam nur darauf an, sie zu besonderen Hoffnungen zu veranlassen6)a. a. O. S. 99 f.. Während man nach diesen Andeutungen bereits einen schlauen Plan der Elisabet mit ihrer jungen Verwandtin ahnt, und in denselben einge - weiht zu werden hofft: läſst Paulus hier auf einmal den Vorhang fallen, und bemerkt, die Art, wie Maria zu der Überzeugung gekommen, Mutter des Messias zu werden, müsse man historisch unentschieden lassen; nur so viel sei gewiſs, daſs Maria dabei rein geblieben sei, indem sie un - möglich, wie später geschah, mit gutem Gewissen unter das Kreuz ihres Sohnes hätte treten können, wenn sie sich eines Vorwurfs über den Ursprung ihrer Hoffnungen von ihm bewuſst gewesen wäre7)a. a. O. S. 100. 114.. Nur folgende Winke über die eigentliche Ansicht von Paulus kommen weiterhin noch vor: daſs der verkündigende Engel vielleicht Abends, oder gar bei Nacht zu Maria gekommen, ja der richtigeren Les - art zufolge, welche Luc. 1, 28. nur: καὶ εἰσελϑὼν πρὸς ἀυτὴν εἶπε, ohne ἄγγελος, habe, sei hier nur von einem Hereingekommenen überhaupt die Rede (als ob das εἰσελ - ϑὼν in diesem Falle nicht nothwendig τὶς bei sich haben, oder ohne dieses auf das Subjekt: ἄγγελος ϒαβριὴλ, V. 26, bezogen werden müſste!); daſs es der Engel Gabriel ge - wesen, habe sich Maria erst nachher, als sie von der Vi - sion des Zacharias hörte, ergänzt.

170Erster Abschnitt.

Was in dieser Erklärung des Vorgangs stecke, hat schon Gabler in einer Recension des Paulus'schen Com - mentars8)Im neuesten theol. Journal 7. Bd. 4. Stück. S. 407 f. Vgl. Bauer, hebr. Mythol. 1, S. 192. e ff. mit angemessener Derbheit an's Licht gezogen, indem er geradezu sagt, bei der Ansicht von Paulus blei - be nichts Andres zu denken übrig, als daſs sich Jemand für den Engel Gabriel ausgegeben, und als angeblicher Got - tesbote selbst die Maria beschlafen habe, um den Messias mit ihr zu erzeugen. Und das, fragt Gabler, wenn Ma - ria zu einer Zeit, da sie schon verlobt ist, von einem An - dern schwanger wird, soll eine unsündliche gottgefällige Weise, eine vorwurflose heilige Wirksamkeit heiſsen? Ma - ria erschiene hier als eine fromme Schwärmerin, und der angebliche Gottesbote entweder als ein Betrüger, oder auch als ein grober Schwärmer. Mit Recht findet der genannte Theologe vom christlichem Standpunkt aus eine solche Be - hauptung empörend, und auf dem rein-kritischen muſs man sie der Absicht der Berichte ganz widersprechend finden, welche die fleckenlose Reinheit dieses ganzen Verhältnis - ses voraussetzen.

Als der würdigste Dolmetscher von Paulus aber ist hier der Verfasser der natürlichen Geschichte des groſsen Propheten von Nazaret zu betrachten, welcher, wenn er auch bei Abfassung dieses Theils von seinem Werke den Paulus'schen Commentar noch nicht benutzen konnte, doch ganz in dessen Geiste, was dieser noch behutsam mit einem Schleier verhüllt, ohne Scheue aufdeckt. Er vergleicht ei - ne Erzählung bei Josephus9)Antiq. 18, 3, 4., nach welcher eben im Zeit - alter Jesu ein römischer Ritter die keusche Gattin eines edeln Römers dadurch für seine Wünsche gewann, daſs er sie durch einen Isispriester in den Tempel dieser Göttin unter dem Vorwand laden lieſs, der Gott Anubis begehre171Drittes Kapitel. §. 24.sie zu umarmen, worein die Frau unschuldsvoll und glau - big sich ergab, und später vielleicht auch ein Götterkind zu gebären geglaubt haben würde, wenn nicht der Buhle bald darauf mit bitterm Hohn ihr den wahren Stand der Sache entdeckt hätte. Auf ähnliche Weise glaubt nun der Verfasser, sei Maria als Verlobte des ältlichen Joseph durch einen verliebten und schwärmerischen Jüngling (er läſst ihn in der folgenden Geschichte als Joseph von Ari - mathäa auftreten!) getäuscht worden, und habe sofort, in aller Unschuld, wieder Andere getäuscht10)1ter Theil, S. 140 ff.. Nachdem Paulus diese Venturini'sche Vergleichung ebenfalls ange - führt, und ihr mit sichtbarer Liebe nachgeholfen11)a. a. O. S. 117 f., muſs man sich wundern, wie er hinzusetzen kann, wer einen höheren Standpunkt erreicht habe, der werde alle derglei - chen Muthmaſsungen mit dem Wunsch anhören, daſs doch nie an den Körper Jesu mehr als an seinen Geist gedacht werden möchte. Wo ist denn dem Verfasser der natürli - chen Geschichte gegenüber der höhere Standpunkt, den Paulus in seiner Darstellung erreicht hätte? Besteht er in etwas Andrem, als in dem Verschweigen der Folgesätze, welche, wenn einmal die Prämissen so wie bei Paulus ge - geben sind, doch jeder im Stillen unwillkührlich ziehen muſs? Besser in jedem Falle, sie werden ausgesprochen, dann täuscht die Ansicht weniger und richtet eher sich sel - ber. Denn von der Darstellung des Verfassers der natür - lichen Geschichte aus fällt es nun von selbst in die Augen, daſs diese Erklärungsart nicht verschieden ist von jener uralten jüdischen Blasphemie, welche wir bei Origenes und im Talmud finden, daſs Jesus seine Geburt von einer rei - nen Jungfrau fälschlich vorgegeben, in der That aber von Maria im Ehebruch mit einem gewissen Pantheras erzeugt worden sei12)Die Sage hat verschiedene Formationen erlebt, durch welche.

172Erster Abschnitt.

Treffender kann man über diese ganze, in der Läste - rung der Juden culminirende Ansicht nicht urtheilen, als schon Origenes gethan hat, indem er sagt: wenn sie der Geschichte von Jesu übernatürlicher Erzeugung etwas An - dres hätten unterschieben wollen, so hätten sie dieſs we - nigstens auf wahrscheinlichere Weise thun sollen; sie hät - ten nicht, gleichsam wider Willen, zugeben dürfen, daſs Maria von Joseph unberührt gewesen sei, sondern schon diesen Zug hätten sie leugnen, und Jesum aus einer ge - wöhnlichen menschlichen Ehe jener beiden entstehen lassen müssen; wogegen nun das Gezwungene und Abenteuerliche ihrer Hypothese jedem Kenner die Lüge verrathe13)c. Cels. 1, 32.. Was heiſst dieſs anders, als: wenn einmal an einigen Zügen ei - ner wunderhaften Erzählung gezweifelt wird, so ist es in - consequent, andre unbezweifelt stehen zu lassen, vielmehr muſs dann ein solcher Bericht in allen seinen Theilen von einem andern als historischen Standpunkt aus betrachtet werden. Diese letztere Ansicht in Bezug auf die vorlie - gende Erzählung lag, wenigstens indirekt, in Origenes. Denn wenn er das einemal mit der übernatürlichen Em - pfängniſs Jesu die Erzählung von Plato's Erzeugung durch Apollo als gleichartig zusammenstellt (aber hier freilich der Meinung ist, nur Böswillige können dergleichen bezwei - feln)14)c. Cels. 6, 8.; das andremal aber von der Erzählung über Pla - to sagt, sie gehöre zu den Mythen, durch welche man die ausgezeichnete Weisheit und Kraft groſser Männer habe erklären wollen (aber hier die Erzählung von Jesu Erzeu - gung aus dem Spiele läſst)15)Ebend. 1, 37.: so hatte er ja die beiden12)aber immer der Name Pantheras oder Pandira hindurchgeht. S. Origenes c. Cels. 1, 28. 32. Schöttgen, Horae 2, 693 ff. aus Tract. Sanhedrin u. A.; Eisenmenger, entdecktes Juden - thum, 1, S. 105 ff. aus der Schmähschrift: Toledoth Jeschu.173Drittes Kapitel. §. 25.Prämissen (Gleichartigkeit der beiden Erzählungen und my - thischen Charakter der einen), aus welchen sich als Schluſs - satz der blos mythische Werth der Erzählung von der Em - pfängniſs Jesu ergab, ein Schluſs, den er aber freilich auch nicht einmal vor seinem eignen Bewuſstsein gezogen zu haben scheint.

§. 25. Die Geschichte der Erzeugung Jesu als Mythus.

Wenn man dem übernatürlichen Ursprunge Jesu aus - weichen will, sagt Gabler in seiner Recension von Pau - lus Commentar1)In seinem neuesten theol. Journal, 7, 4. S. 408 f. Mit ihm stimmen in der mythischen Auffassung dieser Erzählung zu - sammen: Br , in Schmidt's Bibl. 1, 1, S. 101 ff. ; E. F., in Henke's Magazin, 5, 1, 151 ff. ; Horst, in Henke's Museum, 1, 4, S. 685 ff. ; Eichhorn, Einleit. in das N. T. 1, S. 428 f.; Bauer, hebr. Mythol. 1, 192 e ff. ; de Wette, bibl. Dogmat. §. 281. ; Kaiser, bibl. Theologie, 1, S. 231 f.; die Abhandlung über die verschiedenen Rücksichten u. s. f. in Bertholdt's krit. Journ. 5. Bd. S. 237. ; Fritzsche, Comment. in Matth. S. 56. Der Letztere schon in der Ueberschrift des ersten Kapitels, S. 6. richtig: non minus ille (Jesus) ut ferunt doctorum Ju - daicorum de Messia sententiae, patrem habet spiritum divi - num, matrem virginem., um nicht in unsern Tagen zum Ge - spötte zu werden, wenn aber andrerseits die natürlichen Erklärungen desselben auf sonderbare nicht nur, sondern selbst empörende Behauptungen führen: so wähle man doch lieber die Annahme eines Mythus, durch welche alle Schwie - rigkeiten jener Erklärungen vermieden werden. Viele groſse Männer hatten in der alten mythischen Welt eine ausser - ordentliche Geburt und waren Göttersöhne. Jesus selbst sprach von seinem himmlischen Ursprung, nannte Gott sei - nen Vater, und hieſs ohnehin als Messias Gottes Sohn. Aus Matth. 1, 22. f. sieht man ferner, daſs die Stelle Jesai. 174Erster Abschnitt.7, 14. in der ersten christlichen Kirche auf Jesum bezogen wurde. Jesus, dachte man, muſs als Messias, dieser Stelle zufolge, von einer Jungfrau durch Gotteskraft ge - boren sein; was sein muſste, schloſs man, ist auch wirk - lich geschehen, und so entstand ein philosophischer (dog - matischer) Mythus über die Geburt Jesu. Seiner wirkli - chen Geschichte nach ist dann Jesus, dieser Erklärungsart zufolge, aus einer ordentlichen Ehe Josephs und der Maria entsprossen, womit, wie mit Recht bemerkt wird, eben - sowohl die Würde Jesu als die schuldige Achtung gegen seine Mutter besteht.

Man hat also, um sich die Entstehung eines solchen Mythus zu erklären, an die Neigung der alten Welt ge - dacht, groſse Männer und Wohlthäter ihres Geschlechts als Göttersöhne darzustellen. Die Beispiele sind von den Theologen reichlich beigebracht. Namentlich aus der grie - chisch-römischen Mythologie und Geschichte hat man an Herkules und die Dioskuren erinnert, an Romulus und Alexander, vor Allen aber an Pythagoras2)Jamblich. vita Pythagorae, cap. 2. ed. Kiessling. und Plato3)Diog. Laërt. III, 2, 3., von deren Lezterem Hieronymus, ganz auch auf Jesum anwendbar, sagt: sapientiae principem non aliter arbi - trantur, nisi de partu virginis editum4)adv. Jovin. 1, 26.. Wenn man aus diesen Beispielen schlieſsen möchte, daſs wohl auch die Erzählung von der übernatürlichen Erzeugung Jesu, ohne historischen Grund, aus einer ähnlichen Neigung her - vorgegangen sein dürfte: so vereinigen sich Orthodoxe und Rationalisten, jene Analogie nicht gelten zu lassen, wiewohl aus sehr verschiedenen Gründen. Wenn bei Ori - genes nicht viel fehlt, daſs er um der Gleichartigkeit der beiderseitigen Erzählungen willen auch die heidnischen Sa - gen von Göttersöhnen für wahre Wundergeschichten hiel -175Drittes Kapitel. §. 25.te: so ist Paulus auf seinem Standpunkt mit mehr Ent - schiedenheit so consequent, beiderlei Erzählungen als na - türliche aber historisch zu fassende Geschichten zu erklä - ren. Wie weit er diese Erklärungsweise auf die eigentli - che Mythologie anwendet, erhellt bei dieser Gelegenheit nicht; von der den Plato betreffenden Erzählung aber sagt er, man könne nicht behaupten, daſs sie der Hauptsache nach erst später entstanden sei; vielmehr habe Periktione leicht glauben können, von einem ihrer Götter schwanger zu sein: daſs ihr Sohn hierauf wirklich ein Plato wurde, könne zur Bestätigung ihres Glaubens gedient haben, ohne doch dessen Ursache gewesen zu sein5)Exeg. Handbuch 1, a, S. 169.. Auf andre Weise will Olshausen die Analogie der mythischen Göttersöhne unschädlich machen, indem er darauf aufmerksam macht, wie diese Erzählungen, wenn gleich unhistorisch, doch für die allgemeine Ahnung und Sehnsucht nach einem solchen Faktum, und damit für die Wirklichkeit desselben wenig - stens in Einer historischen Erscheinung bürgen6)Bibl. Comm. 1, S. 49.. Aller - dings nun muſs einer allgemeinen Ahnung und Vorstellung Wahrheit zum Grunde liegen, nur daſs diese nicht in ei - ner einzelnen, jener Vorstellung genau entsprechenden That - sache bestehen wird, sondern in einer Idee, welche sich in einer Reihe, jener Vorstellung oft sehr unähnlicher, That - sachen verwirklicht, und wie die verbreitete Vorstellung eines goldenen Zeitalters nicht beweist, daſs wirklich ein - mal eine solche Zeit gewesen: so hat auch die Vorstellung von göttlichen Erzeugungen in etwas ganz Andrem ihre Wahrheit, als darin, daſs irgendeinmal ein Individuum auf diesem Wege zum Dasein gekommen ist.

Eine wesentlichere Einwendung gegen die dargelegte Analogie wäre, daſs die Vorstellungen der Heidenwelt nichts für die abgeschlossenen Juden beweisen, und daſs176Erster Abschnitt.namentlich die dem Polytheismus angehörige Idee von Göt - tersöhnen auf ihre strengmonotheistischen Messiasbegriffe nicht wohl einen Einfluſs habe ausüben können. Aller - dings darf man hier nicht zu schnell aus dem Ausdruck: Sohn Gottes, der sich auch bei ihnen findet, argumenti - ren, welcher, wo er im A. T. von Obrigkeiten (Ps. 82, 6.) oder theokratischen Königen (2. Sam. 7, 14. Ps. 2, 7.) gebraucht wird, eben nur dieses theokratische, kein phy - sisches oder metaphysisches Verhältniſs anzeigt; noch we - niger darf man darauf Gewicht legen, daſs bei Josephus ein Römer schöne jüdische Fürstenkinder schmeichelnd Götterkinder nennt7)Antiq. 15, 2, 6.. Doch aber hatten, wie oben be - merkt8)§. 24., die Juden die Vorstellung, daſs bei Erzeugung der Frommen der heilige Geist mitwirke, ferner, daſs die auserwähltesten Rüstzeuge Gottes durch göttlichen Beistand von solchen Eltern erzeugt werden, welche nach dem na - türlichen Lauf der Dinge kein Kind mehr bekommen ha - ben würden, und wenn bei diesen schon die göttliche Wirksamkeit das Meiste that: so war der Schritt leicht, daſs sie bei Erzeugung des höchsten jener Rüstzeuge, des Messias, Alles thun werde; dieses verhält sich zu jenem nur wie ein höherer Grad des Wunderbaren9)Dieses Verhältniss der vaterlosen Erzeugung Jesu zu der der Maria von bejahrten Eltern drückt das evang. de nativ. Ma - riae c. 3. so aus: sicut ipsa (Maria) mirabiliter ex ste - rili nascetur, ita incomparabiliter virgo generabit altis - simi filium. . Daſs es zu dieser Steigerung vollends kommen muſste, dazu lag die Veranlassung zum Theil in dem, einmal für den Mes - sias solenn gewordenen Titel: ὑιὸς ϑεοῦ10)Vgl. Eichhorn, Einl. in das N. T. a. a. O.. Denn es ist die Natur solcher zunächst bildlichen Ausdrücke, daſs sie mit der Zeit immer mehr eigentlich und im strengen Sinne177Drittes Kapitel. §. 25.genommen werden, und besonders unter den späteren Ju - den war eine sinnliche Auffassung des früher geistig und bildlich Gemeinten gewöhnlich geworden. Dieser natürli - chen Neigung, das υἱὸς ϑεοῦ vom Messias in immer wörtli - cherem Verstande zu nehmen, kam dann einerseits der Zu - satz entgegen, welchen Ps. 2, 7. das messianisch gedeutete בְנִי אַתָּה in dem הַיּוֺם יְלִדְתִּךָ hat, welches fast unausbleib - lich verleiten muſste, hier an ein physisches Verhältniſs zu denken; andererseits das jesaianische Orakel von der gebärenden Jungfrau, welches man, wie so viele, deren nächste Beziehung sich verdunkelt hatte, auf den Messias bezogen zu haben scheint: worauf dann die Begriffe von Gottessohn und Sohn der Jungfrau so combinirt wurden, daſs man die göttliche Wirksamkeit an die Stelle der mensch - lich-väterlichen setzte. Fr[ei]lich versichert Wetstein, daſs nie ein Jude die jesaianische Stelle auf den Messias bezo - gen habe11)N. T. 1, S. 239., und auch Schöttgen weiſs Spuren der An - sicht vom Messias als Jungfrauensohn aus den Rabbinen nur äusserst mühselig zusammenzulesen12)Horae, 2, S. 421 ff. Jüngere Rabbinen haben sie allerdings, s. Matthaei, Religionsgl. der Apostel 2, a. S. 555 ff.: allein bei der Mangelhaftigkeit der Nachrichten über die messianischen Ideen jener Zeit beweist dieſs nichts gegen die Vorauss[e]- zung einer Zeitvorstellung, von welcher die vollständigen Prämissen im A. T., und eine kaum verkennbare Folge im neuen sich findet.

Aber auch abgesehen von der Gültigkeit oder Ungül - tigkeit jener Analogie, stimmen die bezeichneten zwei Par - teien von Auslegern darin überein, daſs bei der mythischen Auffassung der Empfängniſsgeschichte unerklärbar bleibe, wie Jesus das habe werden können, was er werden sollte und wirklich wurde. Wenn dieſs Olshausen so versteht, daſs der Erlöser nicht von einem Manne aus sündigem Sa -Das Leben Jesu I. Band. 12178Erster Abschnitt.men habe erzeugt werden können13)S. 49 f.: so ist hievon oben hinlänglich die Rede gewesen. Paulus wendet den Ein - wurf so, daſs ohne einen wunderähnlichen Anfang des Le - bens Jesu nicht erklärbar wäre, was er im zwölften Jahre und später war14)S. 71 f. 169.. Unter dem wunderartigen Anfang des Lebens Jesu versteht er natürlich nicht eine wirklich gött - liche Erzeugung desselben, sondern nur die von der Mut - ter gehegte und auch dem Sohne eingeprägte Meinung, daſs eine solche stattgefunden. Wir finden, äussert Paulus, in Jesu schon im zwölften Jahr eine religiöse Eigenthümlich - keit, und im dreissigsten ist er nahe der Überzeugung, daſs er der Messias sei: wie läſst sich dieſs, da ihn doch weder Habsucht noch Ehrgeiz inspirirten, erklären, wenn nicht wirklich seine Mutter, durch ausserordentliche, wie - wohl natürliche Begebenheiten schon vor seiner Geburt an - regt, ihm gesagt hatte, daſs er zum Messias bestimmt sei? Hier ist die Instanz aus dem zwölften Jahre in keinem Falle gültig, weil sie, was erst zu beweisen ist, schon vor - aussetzt, die historische Glaubwürdigkeit der Kindheitsge - schichte Jesu; der andre Termin aber, bis zum dreissigsten Jahr, ist lang genug, daſs bis zu demselben Jesus, ver - möge innerer Anlage und äusserer Veranlassung, auch oh - ne jene Ereignisse vor seiner Geburt, seiner messianischen Bestimmung gewiſs werden konnte. Paulus freilich spricht hier so, wie wenn nur entweder Ehrgeiz und Habsucht, oder ausserordentliche Spiele des Zufalls zu groſsen Ent - schlüssen veranlassen könnten: bei ihm muſs der Zufall alle Wunder thun, weil er den Geist verkennt, welcher allein der wahre Wunderthäter ist. Daſs sich die ge - nannten beiden Theologen ferner auf die Kürze der Zeit berufen, welche zwischen den Ereignissen von Jesu Ge - burt und der Aufzeichnung unsrer Nachrichten liege, ein179Drittes Kapitel. §. 25.Zeitraum, in welchem sich nicht wohl schon legendenar - tige Nachrichten über jene Begebenheiten haben bilden kön - nen, darüber ist, nach dem in der Einleitung und aus Ver - anlassung der Empfängniſsgeschichte des Täufers Gesag - ten, nichts mehr zu bemerken übrig.

Eine Einwendung aber ist Olshausen eigenthümlich, und ihr Ruhm soll nicht von ihm genommen werden. Näm - lich, die mythische Auffassung der vorliegenden Erzählung sei besonders deſswegen gefährlich, weil sie nur zu geeig - net sei, profanen und gotteslästerlichen Vorstellungen über den Ursprung Jesu, wenn auch nur dunkel, Eingang zu verschaffen. Denn sie könne nur die, den Begriff eines Erlösers vernichtende, Ansicht begünstigen, daſs Jesus auf unheilige Weise in's Leben getreten sei, da ja Maria un - vermählt gewesen sei, als sie ihn unter dem Herzen ge - tragen habe15)Bibl. Comm. 1, S. 48 f.. Wenn Olshausen in der ersten Auflage hinzusetzte, er wolle übrigens gerne zugestehen, daſs sol - che Erklärer nicht wissen, was sie thun, so ist es billig, das gleiche Zugeständniſs auch ihm zu Gute kommen zu lassen, da er hier gar nicht zu wissen scheint, was my - thische Erklärung ist. Denn wie könnte er sonst sagen, daſs diese Erklärungsweise nur jene blasphemische An - sicht begünstigen könne, daſs also Alle, welche die vor - liegende Erzählung mythisch fassen, das Unsinnige zu be - gehen geneigt seien, was schon Origenes den jüdischen Lästerern zum Vorwurf machte, daſs sie von einer Erzäh - lung, welche sie im Übrigen für unhistorisch erkennen, doch den Zug von der noch nicht erfolgten Verheurathung der Maria festhalten? So verblendet und inconsequent ist kein einziger der Erklärer, welche hier einen Mythus im vollen Sinne finden, gewesen, sondern alle haben eine le - gitime Ehe zwischen Joseph und Maria vorausgesetzt, und nur Olshausen malt die mythische Auffassungsweise in das12*180Erster Abschnitt.Fratzenhafte, um desto eher mit derselben fertig zu wer - den, weil sie, wie er eingesteht, in diesem Abschnitt be - sonders viel Blendendes hat.

§. 26. Verhältniss Josephs zu Maria. Brüder Jesu.

Ganz im Geiste der alten Sage finden es unsre Evan - gelien anständig, die Mutter Jesu, so lange sie diese himm - lische Frucht unter dem Herzen trug, von keinem irdi - schen Manne berührt und verunreinigt werden zu lassen. Daher läſst Lukas vor Jesu Geburt den Joseph mit der Maria nur im Verhältniſs der Verlobung stehen (2, 5.), und wie es von Plato's Vater heiſst, nachdem seine Gattin von Apollo empfangen hatte: ὅϑεν καϑαρὰν γάμου φυλαξαι ἔως τῆς ἀποκυήσεως1)Diog. Laërt. a. a. O. Vgl. Origenes c. Cels. 1, 37., so wird bei Matthäus von Joseph be - merkt (1, 25.):

καὶ οὐκ ἐγίνωσκεν ἀυτὴν (τὴν γυναῖκα ἁυτοῦ) ἕως οὖ ἔτεκε τὸν υἱὸν αὑτῆς τὸν πρωτότοκον

. Offenbar muſs in beiden verwandten Stellen das ἔως auf gleiche Weise genommen werden; nun aber bezeichnet es in der erste - ren unstreitig nur dieſs, daſs zwar bis zu Plato's Geburt sein Vater sich der Gemeinschaft mit der Gattin enthalten habe, nachher aber in seine ehelichen Rechte eingetreten sei, zumal wir ja von Brüdern Plato's wissen. Nicht an - ders wird daher das ἔως in Bezug auf die Eltern Jesu zu nehmen sein, daſs es nur bis zu der angegebenen Grenze hin die eheliche Gemeinschaft negirt, nach derselben aber sie stillschweigend voraussetzt. Ebenso scheint das πρω - τότοκος, wie Jesus in beiden Evangelien bezeichnet wird (Matth. 1, 25. Luc. 2, 7.), eine Folge andrer Kinder der Maria vorauszusetzen, nach dem Lucianischen: εἰ μὲν πρῶ - τος, οὐ μόνος· εἰ δὲ μόνος, οὐ πρῶκος2)Demonax, 29., zumal in denselben Evangelien (Matth. 13, 55. Luc. S, 19.) von ἀδελφοῖς Ἰησοῦ181Drittes Kapitel. §. 26.die Rede ist. Wenn also nach Fritzsche's Worten luben - tissime post Jesu natales Mariam concessit Matthaeus (ebenso auch Lukas) uxorem Josepho, in hoc uno occu - patus, ne quis ante Jesu primordia mutua Venere usos suspicaretur3)Comment. in Matth. p. 55.: so genügte dieſs doch den Orthodoxen um so weniger in die Länge, je höher bald die Verehrung der Maria stieg, deren Leib, einmal durch göttliche Thätig - keit befruchtet, nicht mehr durch gemeinmenschlichen Ge - schlechtsverkehr entheiligt werden sollte4)S. Origenes in Matthaeum, Opp. ed. de la Rue Vol. 3. S. 463.. Frühzeitig trat daher die Ansicht, daſs Maria nach der Geburt Jesu mit Joseph ehelichen Umgang gehabt, in die Kreise der Ketzer zurück5)Der aufgeklärte Arianer Eunomius lehrte nach Photius, τὸν Ἰωσὴφ μετὰ τὴν ἄφραςον κυοφορίαν συνάπτεσϑαί τῇ παρϑένῳ. Ebenso nach Epiphanius die von ihm sogenann - ten Dimöriten und Antidikomarianiten, und nach Augustin die Helvidianer. Vgl. hierüber die Sammlung von Suicer, im Thesaurus II, s. v. Μαρία, fol. 305 f., und die rechtgläubigen Väter suchten auf jede Weise derselben auszuweichen und sie zu bekämpfen. Exe - getisch erdachte man sich für das ἔως οὖ die Auslegung, daſs es bisweilen nicht blos bis zu der angegebenen Zeit - gränze hin, sondern auch über dieselbe hinaus, für immer, etwas behaupte oder läugne, so daſs hier das οὐκ ἐγίνωσκεν αὐτὴν ἕως οὖ ἔτεκε κ. τ. λ. die eheliche Gemeinschaft zwi - schen Joseph und Maria für alle Zeiten ausschlieſse6)Vgl. Theophylakt und Suidas bei Suicer I, s. v. ἔως, f 1294 f.. Ebenso machte man in Bezug auf das πρωτότοκος geltend, es schlieſse nicht nothwendig in sich, daſs nachher noch andere Kinder geboren seien, sondern nur, daſs andere vorher, schlieſse es aus7)Hieron. z. d. St.. Um aber nicht blos gramma -182Erster Abschnitt.tisch, sondern auch physiologisch den Gedanken an ein ehe - liches Verhältniſs zwischen Maria und Joseph zu entfer - nen, machte man den Letzteren zum abgelebten Greisen, welchem Maria mehr nur zur Aufsicht und Beschützung übergeben worden sei8)S. die Stellen oben §. 19., und sah demnach die im N. T. vorkommenden ἀδελφοὺς Ἰησοῦ für Kinder Josephs aus ei - ner früheren Ehe an9)S. Orig. in Matth. Tom. 10, 17; Epiphan. haeres. 78, 7; Hi - storia Josephi c. 2; Protev. Jac. 9. 18.. Bald aber sollte Maria nicht al - lein von Joseph niemals berührt, sondern auch durch die Geburt Jesu ihrer Jungfrauschaft nicht verlustig geworden sein10)Chrysostomus hom. 142, bei Suicer s. v. Μαρία, be - sonders widerlich ausgeführt im Protev. Jac. c. 19 und 20.. Ja selbst die unverletzte Jungfräulichkeit der Ma - ria genügte in die Länge nicht, auch von Joseph wurde beständige Virginität verlangt; man war nicht zufrieden, daſs er mit Maria keinen ehelichen Umgang gehabt, er sollte überhaupt niemals in ehelichen Verhältnissen gestan - den haben. Daher wurde, was selbst Epiphanius zugiebt, von Hieronymus als gottlose apokryphische Träumerei ver - worfen, daſs nämlich Joseph von einer früheren Gattin Söh - ne gehabt habe, und es wurden von jetzt an die ἀδελφοὶ Ἰησοῦ zu bloſsen Vettern desselben degradirt11)Hieron. ad Matth. 12, und advers. Helvid. bei Suicer 1, S. 85..

Auch neuere orthodoxe Theologen halten mit den Kir - chenvätern daran fest, daſs niemals ein ehelicher Umgang zwischen Joseph und Maria eingetreten sei, und glauben demgemäſs auch die evangelischen Ausdrücke, welche für das Gegentheil zu sprechen scheinen, erklären zu können. Wenn in Beziehung auf πρωτότοκος Olshausen behauptet, daſs es ebensowohl den einzigen Sohn, als den ersten ne - ben andern bedeuten könne12)a. a. O. S. 61.: so wird ihm hierin auch183Drittes Kapitel. §. 26.von Paulus Recht gegeben13)a. a. O. S. 168., und Clemen14)Die Brüder Jesu. In Winer's Zeitschrift für wissenschaftli - che Theologie 1, 3, S. 364 f. und Fritz - sche15)Comm. in Matth. z. d. St. suchen vergebens die Unmöglichkeit dieser Ausle - gung darzuthun; denn wenn es 2. Mos. 13, 2. heiſst: פֶּטֶר כׇּל־רֶתֶם (πρωτότοκον πρωτογενὲς LXX.) קַדֶּשׁ־לִי כָל־בְּכוֺר so war doch keineswegs allein ein solches Erstgeborene, auf welches noch andere, später Geborene folgten, Jehova heilig, sondern jede Leibesfrucht, vor welcher keine andre von derselben Mutter geboren war, was also der Ausdruck: πρωτότοκος nothwendig auch muſs bezeichnen können. Frei - lich muſs man andererseits mit Winer16)Biblisches Realwörterbuch, 2te Auflage, 1. Bd. S. 664, Anm. sagen, daſs, wenn der Erzähler, vor welchem die Geschichte abgeschlossen daliegt, jenen Ausdruck gebraucht, man denselben in sei - nem ursprünglichen Sinne zu nehmen versucht ist, da der Schriftsteller, wenn er weitere Kinder ausschlieſsen wollte, wohl eher den Ausdruck μονογενὴς gebraucht, oder mit πρωτότοκος verbunden haben würde. Doch, wenn auch die - ses nichts entscheiden mag, so ist um so schlagender die Ausführung Fritzsche's in Bezug auf das ἕως οὖ κ. τ. λ., in welcher er die angeblichen Belegstellen der kirchenvä - terlichen Auslegung jener Formel widerlegt und zeigt, daſs sie, ihrem nächsten Sinne nach nur bis zu einer angege - benen Grenze hin etwas aussagend, und von dieser an das Eintreten des logischen Gegentheils voraussetzend, nur in dem Falle dieses Letztere nicht thue, wenn aus dem Zu - sammenhang das Eintreten dieses Gegentheils als unmöglich von selbst erhelle17)Comment. in Matth. S. 53 ff., vgl. auch S. 835.. Dann z. B., wenn es hieſse: οὺκ ἐγινωσκεν ἀυτὴν, ἕως οὖ ἀπέϑανεν, verstände es sich von selbst, daſs das von der Zeit bis zum Tode Geleugnete auch184Erster Abschnitt.nachher nicht eingetreten sei: heiſst es aber, wie bei Mat - thäus, οὐκ . . ἕως οὖ ἔτεκεν, so liegt in dem Ausgebären der göttlichen Frucht keine Unmöglichkeit, sondern umgekehrt die Wiederherstellung der Möglichkeit, d. h. Schicklich - keit, das eheliche Verhältniſs in Wirklichkeit treten zu lassen18)Das von Olshausen S. 62. zur Unterstützung seiner Ausle - gung des ἕως οὖ ersonnene Beispiel ist besonders unglücklich gewählt. Denn wenn gesagt wird: wir warteten bis Mitter - nacht, aber es kam Niemand, so liegt darin allerdings nicht nothwendig, dass nun nach Mitternacht Jemand gekommen sei: wohl aber, wenn diess nicht, das Andere, dass wir nach Mitternacht nicht mehr gewartet haben, so dass hiedurch dem bis seine exclusive Bedeutung nicht geschmälert wird..

Auch Olshausen übrigens widerspricht hier der kla - ren Grammatik und Logik nur, weil ihn ähnliche dogma - tische Gründe, wie die Kirchenväter, dazu treiben; ohne nämlich die Heiligkeit der Ehe beeinträchtigen zu wollen, meint er, Joseph habe nach solchen Erfahrungen (?) wohl denken müssen, seine Ehe mit Maria habe einen andern Zweck, als den, Kinder zu erzeugen; auch scheine es na - tur (?) gemäſs zu sein19)Abermals ein ähnliches passend , wie §§. 16 und 17., daſs die letzte Davididin des Zweiges, aus welchem der Messias geboren ward, mit die - sem letzten, ewigen Spröſsling ihr Geschlecht beschlossen habe20)Bibl. Comm. 1, S. 62.. Es läſst sich hienach eine hübsche Leiter des Glau - bens und respective Aberglaubens in Bezug auf das Ver - hältniſs zwischen Maria und Joseph entwerfen:

1. Zeitgenossen Jesu und Verfasser der Genealogieen: Joseph und Maria Eheleute, und aus ihrer Ehe Jesus erzeugt.

2. Zeitalter und Verfasser unsrer Geburtsgeschichten: Maria und Joseph nur verlobt, Joseph ohne Antheil an dem Kinde, und vor dessen Geburt in keiner ehelichen Be - rührung mit Maria.

185Drittes Kapitel. §. 26.

3. Olshausen u. A.: Auch nach der Geburt Jesu, wie - wohl nun Maria's Gatte, wollte doch Joseph keinen Ge - brauch von seinem ehelichen Rechte machen.

4. Epiphanius, Protevangelium Jacobi u. A.: Als ab - gelebter Greis konnte er dieſs auch nicht wohl mehr, sei - ne angeblichen Kinder sind aus einer früheren Ehe, und überhaupt bekommt Joseph die Maria nicht sowohl zur Braut und Frau, als vielmehr blos in Obhut.

5. Protev., Chrysostomus u. A.: Nicht nur nicht durch spätere von Joseph erzeugte Kinder, sondern auch nicht durch die Geburt Jesu wurde die Jungfrauschaft der Ma - ria im Mindesten verletzt.

6. Hieronymus: Nicht allein Maria, sondern auch Jo - seph beobachtete beständige Virginität, und die angeblichen Brüder Jesu sind nicht seine Söhne, sondern Jesu Vettern.

Auch gegen die Ansicht, daſs die im N. T. vorkom - menden ἀδελφοὶ und ἀδελφαὶ Ἰησοῦ bloſse Stiefgeschwister oder gar bloſse Geschwisterkinder Jesu gewesen, muſs aus der vorgelegten Genesis dieser Meinung das schlimmste Präjudiz entstehen, indem sie hienach, sammt der Mei - nung, daſs zwischen Joseph und Maria nie ein ehlicher Verkehr stattgefunden, als eine bloſse Erdichtung des Aber - glaubens erscheint. In der That aber verhält es sich hie - mit nicht so, sondern es sind rein exegetische Gründe vor - handen, vermöge welcher auch vorurtheilsfreie Theologen geglaubt haben, die Ansicht, daſs Jesus wirkliche Brüder gehabt, aufgeben zu müssen21)Vgl. über diesen Gegenstand besonders Clemen, die Brüder Jesu, in Winer's Zeitschrift für wiss. Theol. 1, 3, S. 329 ff. ; Paulus, exeg. Handbuch 1. Bd. S. 557 ff. ; Fritzsche, a. a. O. S. 480 ff; Winer, bibl. Realwörterbuch, in den A. A.: Jesus, Jacobus, Apostel, wo auch die weitere Literatur nachgewie - sen ist.. Zwar, wenn wir blos die Stellen Matth. 13, 55. Marc. 6, 3. hätten, wo die Na -186Erster Abschnitt.zaretaner, sich über die Weisheit ihres Landsmannes ver - wundernd, um seine ihnen wohlbekannte Herkunft zu be - zeichnen, unmittelbar hinter dem τέκτων als seinem Vater und seiner Mutter Maria seine ἀδελφοὺς, Namens Jako - bus, Joses, Simon und Judas, nebst seinen ungenann - ten Schwestern22)Wie sie die Legende verschiedentlich benannt hat, s. bei Thilo, Codex apocryphus N. Ti 1, S. 363. not. aufführen; ferner Matth. 12, 46. Luc. 8, 19., wo die Brüder mit der Mutter Jesu ihn besuchen; Joh. 2, 12., wo Jesus mit ihnen und seiner Mutter nach Kapernaum reist; A.G. 1, 14., wo sie gleichfalls mit Ma - ria zusammen genannt werden: so würden wir keinen Au - genblick anstehen, an leibliche Geschwister Jesu wenig - stens von mütterlicher Seite, an Kinder Josephs und der Maria zu denken, nicht nur wegen der nächsten Wortbe - deutung von ἀδελφὸς, sondern namentlich auch wegen der stehenden Verbindung, in welcher sie mit Joseph und Ma - ria erscheinen. Auch Stellen, wie Joh. 7, 5., wo bemerkt wird, auch seine ἀδελφοὶ haben nicht an Jesum geglaubt, und Marc. 3, 21. vergl. mit 31., wo der wahrscheinlich - sten Erklärung zufolge die Brüder Jesu mit seiner Mutter ausgehen, um seiner, als eines von Sinnen Gekommenen sich zu bemächtigen, enthalten keinen hinreichenden Grund, die unmittelbarste Wortbedeutung von ἀδελφὸς zu verlas - sen. Denn daſs wirkliche Söhne der Maria auch sogleich an Jesum geglaubt haben müſsten, weſswegen manche Theo - logen auch schon mit Rücksicht auf die zulezt angeführten Stellen die ἀδελφοὺς Ιησοῦ für seine Stiefbrüder und Söhne des Joseph aus einer früheren Ehe erklärt haben, läſst sich nur aus Vorurtheilen beweisen. Schwieriger scheint sich die Sache zu stellen, wenn man Joh. 19, 26. f. liest, daſs Jesus am Kreuze seine Mutter dem Johannes, Soh - nesstelle an ihr zu vertreten, empfohlen habe, was man nicht schicklich finden zu können glaubt, wenn Maria noch187Drittes Kapitel. §. 26.mehrere leibliche Kinder hatte, sondern nur wenn die über - lebenden Geschwister ältere, ihm abgeneigte, Stiefbrüder waren. Allein immerhin konnten theils in äusseren, theils in inneren gemüthlichen Verhältnissen Gründe liegen, war - um Jesus seine Mutter lieber dem Johannes übergeben mochte, als den Brüdern, von welchen dadurch, daſs sie nach der Himmelfahrt (A.G. 1, 14.) in der Gesellschaft der Apostel erscheinen, noch keineswegs bewiesen ist, daſs sie auch bei Jesu Tod schon geglaubt haben müssen.

Das eigentlich Miſsliche in dieser Sache fängt erst da - mit an, daſs ausser dem Jakobus und Joses, welche als Brüder Jesu aufgeführt werden, noch zwei Männer gleiches Namens als Söhne einer andern Maria vorkommen (Marc. 15, 40,47. 16, 1. Matth. 27, 56.), ohne Zweifel derselben, welche Joh. 19, 25. als Schwester der Mutter Jesu und Gattin eines Klopas bezeichnet ist, so daſs wir sowohl un - ter den Söhnen der Maria, Mutter Jesu, als auch unter ihrer Schwester Kindern beidemale einen Jakobus und Jo - ses hätten. Diese Gleichnamigkeit in dem nächsten Kreise Jesu vermehrt sich, wenn wir erwägen, daſs wir in den Apostelverzeichnissen (Matth. 10, 2 ff. Luc. 6, 14 ff. ) noch zwei Jakobus, also mit dem Bruder und Vetter Jesu 4; ferner 2 Judas, also mit dem Bruder Jesu 3; ebenso 2 Simon, also mit Jesu Bruder gleichfalls 3 haben, wobei sich der Gedanke aufdringt, ob nicht mitunter identische Personen hier als verschiedene genommen seien? Dieser Verdacht scheint zunächst bei dem Namen Jakobus entstehen zu müssen. Nämlich, wie der Jakobus Alphäi Sohn im Apo - stelkatalog als der zweite, vielleicht jüngere, nach dem Zebedaiden aufgeführt ist, so heiſst auch der Jakobus, Jesu Vetter Marc. 15, 40. μικρὸς, und wenn dieser Lez - tere bei Vergleichung von Joh. 19, 25. als Sohn eines Klo - pas erscheint, so könnten die Namen Κλωπᾶς, wie der Mann von Maria's Schwester, und[]λφαῖος, wie der Va - ter des Apostels genannt wird, gar leicht nur verschiedene188Erster Abschnitt.Formen für das hebräische חלפי sein. So wäre also der Apostel Jakobus der zweite mit dem Vetter Jesu gleiches Namens identisch, und es blieben ausser ihm nur noch der Zebedaide und der Bruder Jesu. Nun tritt in der Apo - stelgeschichte (15, 13.) ein Jakobus mit entscheidender Stimme bei dem sogen. Apostelconcil auf, und da nach A.G. 12, 2. der Zebedaide schon getödtet, sonst aber in der A.G. bis dahin von keinem weiteren Jakobus, als dem Sohne des Alphäus (1, 13.) die Rede gewesen war: so kann unter jenem nicht näher bezeichneten Jakobus A.G. 15, 13. nicht wohl ein anderer als dieser verstanden sein. Paulus nun aber (Gal. 1, 19.) spricht von einem Jakobus, ἀδελφος τοῦ Κυρίου, welchen er zu Jerusalem gesehen, und da er ohne Zweifel denselben Gal. 2, 9. mit Petrus und Johannes zu den ςύλοι der Gemeinde rechnet, ganz wie jener (Apostel) Jakobus bei dem apostolischen Concil er - scheint : so wäre also dieser mit dem Bruder des Herrn identisch, um so mehr, da in dem Ausdruck:

ἕτερον δὲ τῶν ἀποςόλων οὐκ εἶδον, εἰ μὴ Ἰάκωβον τὸν ἀδελφὸν τοῦ Κυρίου

(Gal. 1, 19.) der Bruder des Herrn zu den Aposteln ge - rechnet zu sein scheint, womit auch die alte Nachricht stimmt, welche Jakobus den Gerechten, einen Bruder Je - su, zum ersten Vorsteher der jerusalemischen Gemeinde macht23)Euseb. H. E. 2, 1.. Der Jakobus in der A.G. aber ist, seine Iden - tität mit dem bezeichneten Apostel vorausgesezt, ein Sohn des Alphäus, nicht des Joseph, folglich könnte, wenn er zugleich ἀδελφὸς τοῦ Κυρίου sein sollte, ἀδελφὸς nicht ei - nen Bruder bedeuten. Nimmt man nun den Alphäus gleich dem Klopas, Gemahl der Mutterschwester Jesu: so läge es nahe, ἀδελφὸς, von dem Verhältniſs seines Sohnes zu Jesu gebraucht, in der Bedeutung von Geschwisterkind, Vetter, zu nehmen. Ist auf diese Weise einmal der Apo - stel Jakobus Alphäi mit dem Vetter, und dieser mit dem189Drittes Kapitel. §. 26.Bruder Jesu gleiches Namens identificirt: so liegt es dann nahe, das Ἰούδας Ἰακώβου in den Apostelkatalogen des Lu - kas (Luc. 6, 16. A.G. 1, 13.) durch Bruder des Jakobus (Alphäi) zu übersetzen, und diesen Apostel Judas nun mit dem Judas ἀδελφὸς Ἰησοῦ als Vetter des Herrn und Sohn der Maria Klopa (unerachtet er bei dem Namen dieser Frau nirgends genannt ist) für identisch zu halten, wo - mit, wenn der Brief des Judas in unsrem Kanon ächt ist, das ganz zusammenstimmen würde, daſs der Verfasser desselben sich V. 1. als ἀδελφὸς Ἰακώβου be - zeichnet. Weiter könnte dann nach Einigen der Apostel Simon ζηλωτὴς oder Κανανίτης mit dem unter den ἀδελφοῖς Ἰησοῦ aufgeführten Simon zusammengeworfen werden, wel - cher der kirchlichen Sage zufolge nach Jakobus Vorsteher der jerusalemischen Gemeinde geworden sein soll24)Euseb. H. E. 3, 11., so daſs nur Joses allein leer ausgienge.

Sollen demnach die ἀδελφοὶ Ἰησοῦ bloſse Vettern von ihm, und drei derselben Apostel gewesen sein: so muſs es doch befremden, wie sowohl A.G. 1, 14. nach Aufzählung aller Apostel die Brüder Jesu noch besonders erwähnt wer - den, als auch 1. Kor. 9, 5. von den Aposteln als eine ei - gene Klasse unterschieden zu sein scheinen; wie denn auch Gal. 1, 19. vielleicht so gedeutet werden muſs, daſs Jako - bus der Bruder des Herrn als Nichtapostel bezeichnet ist25)Fritzsche, Comm. in Matth. p. 482.. Scheinen auf diese Weise die ἀδελφοὶ Ἰησοῦ aus der Zahl der Apostel herausgerissen zu werden: so widerstreben sie noch entschiedener dem, für bloſse Geschwisterkinder Jesu sich ansehen zu lassen, da sie in so vielen Stellen in un - mittelbarer Verbindung mit der Mutter Jesu, und nur in zwei bis drei Stellen zwei ihnen Gleichnamige in Verbin - dung mit derjenigen Maria vorkommen, welche hienach ihre wirkliche Mutter wäre. Auch das Wort ἀδελφὸς, ob190Erster Abschnitt.es gleich in ungenauer Redeweise, wie das hebräische ח , auch einen entfernteren Verwandten bedeuten kann, möchte doch, da es für das Verhältniſs der bezeichneten Personen zu Jesus so oft sich wiederholt, ohne jemals mit ἀνεψιὸς vertauscht zu sein, welches, wo ein Vetter bezeichnet wer - den soll, dem N. T. lichen Sprachschatze keineswegs fehlt (Kol. 4, 10.), nicht wohl anders, als in seiner eigentlichen Bedeutung genommen werden dürfen. Daſs ferner die Iden - tität der Namen Alphäus und Klopas, auf welcher die des Jakobus, Vetters von Jesus und des Apostels Jakobus mi - nor beruht, ebenso die Übersetzung von Ἰούδας Ἰακώβου durch Bruder des Jakobus, und nicht minder die ange - nommene Identität des Verfassers des letzten katholischen Briefs mit dem Apostel Judas höchst unsicher ist, braucht nur angedeutet zu werden. Weicht so das Gewe - be dieser Identificationen auf allen Punkten auseinan - der, und werden wir hiemit auf den Anfang unsrer Unter - suchung zurückgeworfen, so daſs wir wieder eigentliche Brüder Jesu, ferner 2 von diesen verschiedene Vettern mit gleichen Namen mit zweien von jenen, ausserdem einige mit beiden gleichnamige Apostel hätten: so ist zwar die gleiche Benennung zweier Paare von Söhnen in einer Fa - milie nichts so Ungewöhnliches, daſs man sich daran stos - sen dürfte; wohl aber ist es bedenklich, daſs derselbe Ja - kobus, welcher im Galaterbrief als ἀδελφὸς Κυρίου bezeich - net wird, nach der A. G. ohne Zweifel als Sohn des Al - phäus zu denken ist, was er, wenn doch jenes einen Bru - der bedeutet, nicht gewesen sein kann.

So bleibt auf alle Fälle eine ziemliche Verwirrung, und sie scheint nur dadurch, wiewohl blos negativ und ohne ein geschichtliches Resultat, gelöst werden zu können, daſs man bei den N. T. lichen Schriftstellern und in der urchristlichen Sage selbst einige Unklarheit und Irrung über diesen Punkt annimmt, welche bei etwas verwickelten Ver - wandtschafts - und Namens-Verhältnissen oher eintreten191Drittes Kapitel. §. 27.kann als ausbleiben. Wir haben also keinen Grund, zu leugnen, daſs Jesu Mutter ihrem Gatten ausser Jesu noch mehrere Kinder geboren habe, jüngere und vielleicht auch ältere; Letzteres, weil die Angabe, daſs Jesus der erstgeborene Sohn gewesen sei, so gut zur My - the als N. T. licher gehört, wie, daſs er der einzige gewe - sen, zu ihr als patristischer.

§. 27. Besuch Maria's bei Elisabet.

Der Engel, welcher der Maria ihre bevorstehende Schwangerschaft verkündete, hatte ihr zugleich von der ihrer Verwandten, Elisabet, Kunde gegeben (Luc. 1, 36.), welche damals bereits im sechsten Monath stand. Unmittel - bar darauf unternimmt Maria eine Reise zu ihr, wobei sich das Ausserordentliche ereignet, daſs auf den Gruſs der Maria das Kind im Leibe der Elisabet sich freudig be - wegt, und auch diese selbst in Begeisterung Maria als künftige Mutter des Messias anredet, worauf die Leztere hymnisch erwiedert (Luc. 1, 39 56.).

Mit dieser Erzählung des Lukasevangeliums glaubt die rationalistische Exegese leicht durch eine ganz natürliche Erklärung fertig zu werden. Der Unbekannte, meint Pau - lus1)Exeget. Handb. 1, a, S. 120 ff., welcher die Maria zu so eigenthümlichen Hoffnun - gen veranlaſste, hatte sie zugleich mit demjenigen bekannt gemacht, was der Elisabet Ähnliches begegnet war. Um so mehr treibt es jezt die Maria, sich mit ihrer älteren Verwandten über ihre Angelegenheiten zu besprechen. Bei derselben angekommen, erzählte sie vorerst, was ihr be - gegnet war, was aber unser Referent verschweigt, weil er es, als schon berichtet, nicht wiederholen wollte. Nicht allein vor dem Anfang der Rede der Elisabet, sondern auch zwischen diese hinein glaubt daher Paulus Worte derBogen 12 ist p. 191 u. 192 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.192Erster Abschnitt.Maria suppliren zu dürfen, welche stückweise, und so, daſs dazwischen hinein Elisabet zum Worte kam, dieser ihre Geschichte vorgetragen habe. Die Gemüthsbewegung der Mutter theilte sich, so wird weiter erklärt, nach natürlichen Gesetzen dem Kinde mit, welches, wie Fötus von 6 Monaten schon zu thun pflegen, eine Bewe - gung machte, was die Mutter erst nach den weiteren Mit - theilungen der Maria bedeutsam fand, und auf den Gruſs der Messiasmutter bezog. Ebenso natürlich findet man es dann, daſs Maria ihre durch Elisabet bestätigten messia - nischen Erwartungen in einem psalmartigen Recitativ aus - spricht, das aus allerlei A. T. lichen Reminiscenzen zusam - mengesetzt ist.

Aber in dieser Erklärungsart ist Manches dem Texte durchaus zuwider. Dahin gehört schon das, daſs Elisabet durch Maria selbst die dieser zu Theil gewordne Himmels - botschaft erfahren haben soll, da doch nirgends eine Spur vorangegangener Mittheilung ist2)Olshausen z. d. St., noch weniger eine Un - terbrechung der Rede Elisabet's durch weitere Aufschl[ü]sse der Maria; vielmehr, wie es eine übernatürliche Offenba - rung ist, durch welche Maria von der Schwangerschaft ih - rer Base in Kenntniſs gesetzt wird: so ist auch das einer Offenbarung zuzuschreiben, daſs Elisabet die Maria als - bald für die zur Messiasgebärerin Erkorene erkennt. Eben - sowenig verträgt der andere Zug der Erzählung, daſs sich der eintretenden Messiasmutter der Vorläufer in Mutter - leibe entgegenbewegt, eine natürliche Auslegung, obwohl selbst orthodoxe Ausleger neuerer Zeit sich zu derselben neigen, wenn sie, wie Hess3)Geschichte Jesu, 1, S. 26. und Olshausen4)Bibl. Comm. 1, S. 112., der Sa - che die Wendung geben, daſs Elisabet zuerst eine Offenba - rung bekommen, und erst an der dadurch erregten Ent -193Drittes Kapitel. §. 27.zückung der Mutter das Kind, physiologisch erklärbar, gleichsam Antheil genommen habe. So aber stellt der Re - ferent die Sache nicht dar, als ob die Gemüthsbewegung der Mutter die vorausgehende Ursache der Bewegung des Kindes gewesen wäre: sondern die Begeisterung der Mut - ter wird erst nach der Bewegung des Kindes erwähnt, und auch nach V. 44. muss man die Sache so fassen, daſs die höhere Anregung umgekehrt vom Kinde aus sich der Mutter mitgetheilt habe, was in jedem Falle etwas Über - natürliches voraussetzt. Aber eben hierin liegt Einiges, was selbst auf supranaturalistischem Boden zum Anstoſs gereichen kann; woher es eben kommt, daſs auch jene or - thodoxen Ausleger bemüht waren, einer unmittelbar über - natürlichen Anregung der Bewegung des Kindes auszuwei - chen. Wenn wir uns nämlich zwar wohl denken können, wie der göttliche Geist auf den ihm verwandten menschli - chen in unmittelbarer Weise anregend wirke: so läſst sich doch die Vorstellung, wie er an ein Unbegeistetes, was ein Embryo noch ist, unmittelbar sich mittheilen möge, nur schwer vollziehen. Und fragt man nach dem Zweck eines so abenteuerlichen Wunders: so will sich auch kein rech - ter zeigen. Denn sollte es sich auf den Täufer beziehen, also diesem möglichst frühe ein Eindruck von Demjenigen gegeben werden, für welchen zu wirken er bestimmt war: so weiſs man gar nicht, wie ein solcher Eindruck auf ei - nen Embryo müsste beschaffen gewesen sein; sollte aber der Zweck in den übrigen Personen, in Maria oder Elisabet, liegen: so war ja diesen das erforderliche Maaſs von Ein - sicht und Glauben bereits in Folge höherer Offenbarungen zu Theil geworden. Nicht geringere Schwierigkeiten setzt zunächst der natürlichen, dann aber ebenso auch der su - pranaturalistischen Deutung der Hymnus der Maria entge - gen. Denn daſs gerade vor den Worten Maria's die For - mel: ἐπλήσϑη πνεύματος ἁγίου nicht steht, welche sowohl den Hymnus des Zacharias (V. 67.), als auch die AnredeDas Leben Jesu I. Band. 13194Erster Abschnitt.der Elisabet (V. 41.) einleitet, kann bei der Gleichartigkeit der drei Reden nicht als Beweis dafür angeführt werden, daſs der Verfasser nicht auch diese Rede, wie die beiden andern, als Wirkung des πνεῦμα betrachtet wissen wolle. Aber auch abgesehen von der Meinung des Verfassers, kann es überhaupt auf rein natürlichem Wege nicht so zugehen, daſs sich besuchende Freundinnen auch bei noch so ausser - ordentlichen Ereignissen in solche Hymnen ausbrechen, und ihre Unterhaltung die Farbe eines Dialogs so ganz verliert, wie er unter dergleichen Umständen natürlich ist. Nur durch höheren Einfluſs konnte die Stimmung der bei - den Freundinnen auf eine, dem gewöhnlichen Leben so durchaus fremde Weise erhöht werden. Ist nun aber der Hymnus der Maria als Wirkung des πνεῦμα ἅγιον zu fas - sen: so muſs es auffallend gefunden werden, daſs eine, un - mittelbar aus der göttlichen Quelle der Begeisterung ge - flossene Rede nicht origineller ausgefallen ist, sondern so stark mit Reminiscenzen aus dem A. T., namentlich aus dem, unter verwandten Umständen gesprochenen Lobgesang der Mutter Samuels (1. Sam. 2.) besetzt sich zeigt5)Vergl. besonders Luc. 1, 46 f. mit 1. Sam. 2, 1; Luc. V. 52. mit 1. Sam. V. 8; und Luc. V. 53. mit Sam. V. 5.. Hie - nach müssen wir freilich eine auf natürlichem Wege vor sich gegangene Zusammensetzung dieser Rede aus A. T. li - chen Erinnerungen annehmen, nur, wenn dieselbe wirklich natürlich vor sich gegangen sein soll, dürfen wir sie nicht der einfachen Maria zuschreiben, sondern demjenigen, wel - cher die über die vorliegende Scene umlaufende Sage poë - tisch bearbeitete.

Da somit alle Hauptvorfälle dieses Besuchs weder bei der wunderhaften Auslegung denkbar sind, noch eine na - türliche vertragen: so sind wir auch für dieses Stück, wie für die bisherigen, auf eine mythische Auffassung hinge - wiesen. Dieser Weg ist auch schon von Andern einge -195Drittes Kapitel. §. 27.schlagen. Der ungenannte E. F. in Henke's Magazin6)5. Band, 1. Stück. S. 161 f. sprach auch über diese Erzählung die Einsicht aus, sie berichte nicht genau Alles, wie es vorgefallen sei, sondern wie es wohl vorgefallen sein möchte. Demnach sei namentlich in die Reden der beiden Frauen Manches von dem zurückge - tragen, was über die Bestimmung ihrer Söhne erst der spätere Erfolg lehrte, und auch sonst sei mancher Zug aus der Sage hinzugekommen. Dennoch liege ein wahres Fak - tum zum Grunde, nämlich ein wirklicher Besuch der Ma - ria bei Elisabet, ihre vergnügte Unterhaltung und ihr Dank gegen Gott, was Alles habe stattfinden können, auch ohne daſs die beiden Frauen von der ausserordentlichen Bestimmung ihrer Kinder damals schon etwas wuſsten, lediglich vermö - ge des hohen Werthes, welchen die Orientalinnen auf Mut - terfreuden legten. Von dieser vergnügten Zusammenkunft und den Äusserungen ihres Dankes gegen Gott mochte nun nach diesem Verfasser Maria oft erzählt haben, wenn sie über das folgende, merkwürdige Leben ihres Sohnes nach - dachte, und so kam diese Erzählung in Umlauf. Auch Horst, der sonst einen richtigen Blick in die dichterische Natur dieser Abschnitte hat und die natürliche Erklärungs - weise derselben gut widerlegt, gleitet hier unversehens zur Hälfte in diese zurück, indem er gar nichts Unwahrschein - liches darin findet, daſs Maria ihre ältere und an Erfah - rung reichere Verwandte während ihrer, in manchem Be - tracht leidensvollen Schwangerschaft besucht, und daſs Eli - sabet bei diesem Besuche das erste Leben an ihrem Kinde gespürt habe, ein Zug, welcher, weil er später für ominös gehalten wurde, sich durch die mündliche Sage wohl habe erhalten können7)In Henke's Museum, 1, 4, S. 725..

Auch hier wieder dasselbe unkritische Verfahren, wel - ches das Mythische und Poëtische einer Erzählung ausge -13*196Erster Abschnitt.schieden zu haben glaubt, wenn es etliche Zweige und Blü - then dieses Triebes abpflückt, die eigentliche mythische Wurzel aber unangetastet beim Reinhistorischen liegen läſst. Dieser mythische Grundzug, auf welchen die übrigen nur aufgetragen sind, ist in unsrer Erzählung gerade der, wel - chen die angeführten vorgeblich mythologischen Erklärer als historisch durchlassen, nämlich der Besuch Maria's bei der schwangeren Elisabet. Denn da wir als Haupttendenz des ersten Kapitels im Lukas bereits die kennen, Jesum dadurch zu verherrlichen, daſs dem Täufer schon so frühe wie möglich eine Beziehung auf Jesum, aber im Verhält - niſs der Unterordnung, gegeben wird: so konnte dieser Zweck nicht besser erreicht werden, als wenn nicht erst die Söh - ne, sondern schon die Mütter, doch bereits mit Beziehung auf die Söhne, also während ihrer Schwangerschaft, zu - sammengeführt wurden, und sich hiebei etwas ereignete, was das einstige Verhältniſs der beiden Männer bedeutungs - voll vorzubilden geeignet war. Je mehr somit als die Ba - sis dieses Besuches das dogmatische Interesse der Tradition hervortritt, desto unwahrscheinlicher wird es, daſs er eine geschichtliche Grundlage gehabt habe. An diesen Grund - zug reihen sich sofort die übrigen Züge folgendermaſsen an. Der Besuch der beiden Frauen muſste überhaupt als mög - lich und wahrscheinlich dargestellt werden durch den Zug, daſs Elisabet eine συγγενὴς der Maria gewesen (V. 36.); ferner, daſs der Besuch gerade in diesem Zeitpunkte ge - macht wurde, muſste eine besondere Veranlassung haben: daher wird Maria durch den Engel auf ihre Verwandte verwiesen; bei dem Besuche selbst sollte sich das dienende Verhältniſs des Täufers zu Jesu vorbedeutend aussprechen: dieſs konnte durch die Mutter desselben geschehen, wie es in ihrer Anrede an Maria wirklich geschieht, doch sollte wo möglich auch der künftige Täufer selbst schon ein Zeichen geben, wie das Verhältniſs von Jakob und Esau zu einander sich gleichfalls schon durch ihre Bewegung und197Drittes Kapitel. §. 27.Stellung im Mutterleibe vorgebildet hatte (1. Mos. 25, 22 ff. ); eine ominöse Bewegung aber konnte dem Kind im Leibe der Elisabet, wenn nicht zu sehr gegen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit verstossen werden sollte, nicht eher zugeschrieben werden, als bis die Schwangerschaft seiner Mutter bis zu einem Zeitpunkt vorgeschritten war, wo die Leibesfrucht sich zu bewegen anfängt: daher der Zug, daſs Elisabet schon 6 Monate schwanger ist, als Maria durch den Engel sie zu besuchen veranlaſst wird (V. 36.). So hängt, wie Schleiermacher bemerkt hat8)Über den Lukas. S. 23 f., diese ganze Zeitbestimmung von dem Umstande ab, den der Verf. ger - ne anbringen wollte, daſs das Kind unter dem Herzen der Elisabet sich der eintretenden Maria freudig entgegenbe - wegt habe; denn nur deſswegen muſs diese ihren Besuch aufschieben bis nach dem fünften Monat, und kommt auch der Engel nicht bälder zu ihr.

Nicht nur also der Besuch Maria's bei Elisabet und was dabei vorgefallen sein soll, fällt als unhistorisch hin, sondern auch, daſs Johannes nur ein halbes Jahr älter ge - wesen, als Jesus, daſs beider Mütter sich verwandt und ihre Familien befreundet gewesen, können wir auf den bloſsen Bericht des Lukas hin nicht mit historischer Si - cherheit behaupten, wenn es nicht noch von andern Seiten her bestätigt wird, wovon wir aber im weiteren Verfolge unserer Kritik vielmehr das Gegentheil finden werden.

198Erster Abschnitt.

Viertes Kapitel. Geburt und erste Schicksale Jesu.

§. 28. Die Schatzung.

In Bezug auf die Geburt Jesu stimmen die Relationen von Matthäus und Lukas darin überein, daſs sie beide die - selbe in Bethlehem erfolgen lassen; während aber der Leztere die näheren Umstände derselben ausführlich erzählt, gedenkt der Erstere des Faktums nur ge - legentlich, einmal anhangsweise auf dasselbe als etwas Nachfolgendes verweisend (1, 25.), das andremal voraus - setzungsweise darauf zurückdeutend (2, 1.). Daher wür - den wir nach Matthäus glauben, die Geburt Jesu sei ohne alle auffallenden Ereignisse vor sich gegangen, deren doch Lukas mehr als Eines zu erzählen weiſs, und namentlich scheinen bei jenem die Eltern Jesu als vorher schon in Bethlehem wohnhaft vorausgesezt zu sein, da sie doch nach diesem erst durch ganz besondre Umstände dahin ge - führt werden. Sehen wir übrigens von dem lezteren Dif - ferenzpunkt für jezt noch ab, da er erst später, wenn wir noch mehrere Data beisammen haben, seine Erledigung finden kann, so hat dieſsmal die übrige Abweichung der beiden Darstellungen, da sie auf Seiten des Matthäus ei - gentlich in bloſsem Stillschweigen besteht, kein so bedeu - tendes Moment, als ein Verstoſs, welcher dem Lukas, wenn man ihn mit sich selbst und mit sonst bekannten Da - ten vergleicht, begegnet zu sein scheint. Dieſs ist die An - gabe, daſs Jesu Eltern, welche sich sonst zu Nazaret auf - gehalten, durch einen von Augustus um die Zeit, als Qui -199Viertes Kapitel. §. 28.rinus Statthalter von Syrien war, angeordneten Census zu der Reise nach Bethlehem, wo Jesus geboren wurde, ver - anlaſst worden seien (Luk. 2, 1. ff.).

Hier ist schon das schwierig, daſs die von Augustus befohlene[ἀπογραφὴ] (d. h. Einschreibung der Namen und Vermögensanschlag zum Behuf der Besteurung,) auf πᾶ - σαν τὴν οἰκουμένην bezogen wird (V. 1.). Dieser Ausdruck in seinem damals gewöhnlichen Sinn würde den orbis Roma - nus bezeichnen. Nun aber meldet kein Schriftsteller et - was von einem solchen von August ausgeschriebenen Ge - neralcensus, sondern nur von einzelnen, zu verschiedenen Zeiten angeordneten Provincialschatzungen ist die Rede. Hier lautet der alte Schluſs der orthodoxen Exegese, wel - chen auch noch Olshausen unbedenklich nachmacht1)a. a. O. S. 128.: weil uns bekannt ist, daſs eine allgemeine Einschä - zung des orbis Romanus unter August nicht stattgefun - den: so kann Lukas durch das οἰκουμένη nicht nach seinem gewöhnlichem Sinn die römische Welt, sondern nur das jüdische Land haben bezeichnen wollen. Für die Möglichkeit hievon werden sofort Beispiele angeführt2)Olshausen a. d. a. St.; Paulus, S. 172. ; Kuinöl, Comm. in Luc. S. 316., welche aber sämmtlich nichts beweisen; denn in allen die - sen Stellen aus den LXX, dem Josephus und dem N. T. bezieht sich οἰκουμένη, in dem übertreibenden Sinne der Schriftsteller, auf die ganze bekannte Erde. Man muſs also hier schon einen Verstoſs erkennen, indem unser Evan - gelist oder sein Gewährsmann ein, für seinen auf die Eine Provinz beschränkten Gesichtskreis wichtiges Ereigniſs so - gleich als ein alle Welt betreffendes nahm, und deſswe - gen überdieſs die Schatzung, welche nur für Judäa die erste war, als die πρώτη für die ganze römische Welt be - zeichnete. Dieser Anstoſs findet sich bei Justin vermie -200Erster Abschnitt.den, indem er die Schatzung blos auf Judäa bezieht3)Dial. c. Tryph. 78: ἀλλὰ ἀπογραφῆς ου῎σης ἐν τῇ Ἰουδαίᾳ τότε πρώτης. Noch enger, aber ganz unverständig, be - schränkt die Schatzung das Protev. Jac. c. 17, nämlich auf die Bewohner Bethlehems., was aber, wie bald erhellen wird, keineswegs mit Cred - ner4)Beiträge zur Einleitung in das N. T. 1, S. 229. 34. als eine auf historischer Nachricht, sondern nur auf einem Schlusse Justins oder seines Gewährsmanns ru - hende Angabe zu betrachten ist.

Doch auch nur in Judäa allein konnte um die Zeit, in welche Lukas und Matthäus die Geburt Jesu setzen, ein römischer Census nicht wohl gehalten werden. Nicht allein nach Matthäus nämlich ist Jesus noch einige Zeit vor dem Tode Herodes des Groſsen geboren, da nach Matth. 2, 19. erst während des Aufenthalts Jesu in Ägyp - ten Herodes starb: sondern auch Lukas sagt zwar nicht ausdrücklich, daſs Jesus noch unter Herodes I. geboren sei, doch geht er, wo von der Ankündigung der Geburt des Täufers die Rede ist (1, 5.), von den ἡμέραις Ἡρώδου τοῦ βασιλέως aus, und sechs Monate später läſst er die Ge - burt Jesu verkündigt werden, so daſs nach ihm Jesus, wie Johannes, wenn nicht gleichfalls noch vor, so doch kurz nach dem Tode Herodes I. geboren ist. Nach dessen Tode aber fiel (Matth. 2, 22.) die Provinz Judäa seinem Sohn Archelaus zu, welcher nach zehnjähriger Regierung von Augustus abgesezt und verbannt wurde5)Joseph. Antiq. 17, 13, 2., worauf erst Judäa zur römischen Provinz gemacht, von römischen Beamten verwaltet zu werden anfieng6)Ebendas. 17, 13, 5. und 18, 1, 1.. Nun müſste also der Census, von welchem hier die Rede ist, entweder noch unter Herodes d. Gr. selbst, oder in der ersten Zeit des Archelaus, und zwar durch einen römischen Beamten gehalten201Viertes Kapitel. §. 28.worden sein. Dieſs ist äusserst unwahrscheinlich; denn in solchen Ländern, welche noch nicht in formam provinciae redigirt waren, sondern von regibus sociis verwaltet wur - den, erhoben diese Fürsten die Steuern selbst, und be - zahlten den Römern einen Abtrag7)Vgl. Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 171., so auch in Judäa vor der Absetzung des Archelaus. Man hat zwar Mehre - res aufgesucht, um wahrscheinlich zu machen, daſs Augu - stus ausnahmsweise schon unter Herodes einen Census in Pa - lästina angeordnet habe. Paulus macht darauf aufmerksam, daſs in dem breviarium imperii Romani, welches Augustus hinterlieſs, auch die finanziellen Verhältnisse des ganzen Reichs enthalten waren, und um diese für Palästina genau zu ermitteln, habe er vielleicht durch Herodes eine Auf - zeichnung veranstalten lassen8)Ebendas.. Mit mehr Schein beruft man sich auf die Nachricht des Josephus, daſs aus Anlaſs einer in dem Verhältnisse des Herodes zu Augustus einmal eingetretenen Störung dieser dem Ersteren gedroht habe, ihn von jezt an den Untergebenen fühlen zu lassen9)ὅτι, πάλαι χρώμενος ἀυτῷ φίλῳ, νῦν ὑπηκόῳ χρήσεται.Joseph. Antiq. 16, 9, 3., wozu es sehr gut passe, daſs er alsbald durch Verfügung eines Census sein Land wie eine Provinz behandelt habe. Auch auf den Huldigungseid hat man sich berufen, wel - chen nach Josephus noch zu Lebzeiten des Herodes die Juden dem Augustus leisten muſsten10)Ebendas. 17, 2, 4., und darauf, daſs Augustus, weil er im Sinne hatte, nach Herodes Tode sei - nen Söhnen die Gewalt zu beschränken, gar wohl in des - sen lezten Jahren eine Schatzung könne angeordnet haben.

Einer ausführlichern Prüfung dieser, mehr oder we - niger unhistorischen und willkührlichen Combinationen über - hebt uns unser Evangelist durch den Zusaz, welchen er202Erster Abschnitt.zu seiner ἀπογραφὴ macht, daſs sie nämlich vorgenommen worden sei ἡγεμονεύοντος τῆς̛ Συρίας Κυρηνίου; denn von der Quirinischen Schatzung ist es nun notorisch, daſs sie nicht schon unter Herodes oder in der ersten Zeit des Archelaus stattfand, wohin nach Lukas selbst die Geburt Jesu fällt. Quirinus nämlich war damals noch nicht Proconsul von Syrien, sondern diese Stelle bekleideten in den lezten Jahren des Herodes Sentius Saturninus und nach ihm Quintilius Varus; erst längere Zeit nach des Herodes Tode trat Quirinus das syrische Proconsulat an. Daſs die - ser einen Census in Judäa vorgenommen, ist aus Josephus gewiſs11)Antiq. 18, 1, 1., welcher aber zugleich bemerkt, er sei zu des - sen Vornahme geschickt worden τῆς Ἀρχελάου χώρας ὑπο - τελοῦς προςνεμηϑείσης τῇ Σύρων12)Ebendas. 17, 13, 5., also beiläufig zehn Jahre nach der Zeit, in welcher nach Lukas und Mat - thäus Jesus geboren sein müſste. Daſs aber Lukas diesen Census hier meint, erhellt aus der Vergleichung von A.G. 5, 37., wo er sagt, zur Zeit der ἀπογραφὴ, ohne Zwei - fel derselben, von welcher im Evangelium die Rede gewe - sen sei Judas der Galiläer aufgestanden: dieser aber empörte sich nach Josephus eben wegen jener Schatzung des Quirinus13)Ebend. 18, 1, 1.. Doch auch diesen so unleugbar schei - nenden Widerspruch des Lukas gegen die Geschichte ha - ben die Erklärer auf verschiedene Weise lösen zu können geglaubt. Die Beherztesten dadurch, daſs sie den ganzen zweiten Vers für eine schon frühzeitig in den Text gekom - mene Glosse erklärten14)So z. B. Kuinöl, Comm. in Luc. p. 320. Wenn Olshausen, Comm. 1, S. 130., vermuthet, schon Lukas selbst möge in den Text des von ihm benützten Familienberichts diese Glos - se hineingetragen haben: so baut er eine Erdichtung auf die andere, um eine halbe Massregel herauszubringen.. Andere durch Änderung der203Viertes Kapitel. §. 28.Lesart, und zwar die Einen am nomen proprium, indem sie entweder nach Tertullians Vorgang, welcher den Cen - sus geradezu dem Saturninus zuschreibt15)Adv. Marcion. 4, 19, Opp. ed. Semler, Vol. 1, S. 261., den Namen von diesem, oder von Quintilius in den Text setzen16)S. bei Winer, Realwörterbuch u. d. A. Quirinus.. Die Andern nehmen bei den übrigen Worten Änderungen und Zusätze vor, am leichtesten noch Paulus, welcher statt〈…〉〈…〉 τη[αὐτὴ] liest, und annimmt, schon unter Herodes I. habe Augustus aus den oben angegebenen Gründen die An - ordnungen zu einem Census getroffen, und diese seien be - reits so weit gediehen gewesen, um Jesu Eltern zu der Reise nach Bethlehem zu veranlassen; doch sei Augustus wieder begütigt worden, und so die Sache damals noch nicht durchgeführt, vielmehr[αὐτὴ] ἀπογραφὴ erst gerau - me Zeit später, unter Quirinus, gehalten worden17)a. a. O. S. 174 f..

Solchen willkührlichen Textveränderungen gegenüber sind immerhin diejenigen Versuche höher zu stellen, wel - che ohne dergleichen, auf dem reinen Wege der Ausle - gung, zurechtzukommen unternehmen. Freilich mit Storr und Süskind πρώτη in diesem Zusammenhang für προτέρα zu nehmen, und es von einer Schatzung vor der Quirini - schen zu verstehen18)Storr, opusc. acad. 3, S. 126 f. Süskind, vermischte Auf - sätze, S. 63., ist grammatisch nicht weniger ge - waltsam, als nach πρώτη πρὸ τῆς einzuschieben19)Michaelis, Anm. z. d. St. und Einl. in d. N. T. 1, 71., es kritisch ist. Ebensowenig läſst sich mit Wetstein (z. d. St.) annehmen, daſs ein schon unter Herodes gegebenes Vor - spiel des spätern Quirinischen Census, etwa der schon er - wähnte Huldigungseid, nachmals mit jenem unter Einem Namen zusammengefaſst worden sei. Endlich, das ἡγεμο - νεύοντος in weiterem Sinne von der Funktion eines ausser -204Erster Abschnitt.ordentlichen Steuercommissärs zu verstehen, in welchem Auftrag Quirinus vielleicht schon unter Herodes nach Ju - däa gesandt worden sei20)Birch, de censu Quirini., wird durch den Zusaz: Συρίας unmöglich gemacht, mit welchem verbunden jener Ausdruck nur das Proconsulat bezeichnen kann. Neuestens21)Credner, Beiträge zur Einl. in das N. T. 1, S. 230 ff. hat man geglaubt, den Lukas aus Justin berichtigen zu kön - nen, nach welchem Quirinus den Census nicht als ἡγεμὼν von Syrien, sondern als ἐν Ἰουδαίᾳ πρῶτος γενόμενος ἐπίτροπος vornimmt22)Apol. 1, 34., was man nun so versteht, Au - gustus habe vielleicht schon unter Herodes den Quirinus, der damals noch bloſser Procurator gewesen, zu einer Zählung in Judäa beauftragt. Da zu Herodes und Arche - laus Zeit noch kein römischer Procurator in Judäa war: so müſste Quirinus damals nur etwa in einem andern Lan - de dieses Amt verwaltet haben, und von da zu jenem vor - übergehenden Geschäfte nach Judäa geschickt worden sein; aber die angeführten Worte Justins bezeichnen ihn so deut - lich als Procurator gerade dieses Landes, daſs hier offen - bar ein bloſser Miſsverstand Justins stattfindet, der weit ent - fernt ist, zur Berichtigung unsres Lukas dienen zu können.

Also zu der Zeit, in welcher Jesus nach Matth. 2, 1. und Luc. 1, 5. 26. geboren ist, kann unmöglich der Cen - sus stattgefunden haben, von welchem Lukas 2, 1. f. spricht, und wenn jene Angaben richtig sind, so muſs diese noth - wendig falsch sein. Aber könnte es sich nicht umgekehrt verhalten, und Jesus erst nach des Archelaus Verbannung, zur Zeit des Quirinischen Census geboren sein? Abgesehen auch von den Schwierigkeiten, in welche uns diese An - nahme rücksichtlich der Chronologie des späteren Lebens Jesu verwickeln würde: so konnte ein römischer Census nach des Archelaus Verbannung unmöglich Jesu Eltern von dem205Viertes Kapitel. §. 28.galiläischen Nazaret in das judäische Bethlehem rufen. Denn nur Judäa und was sonst zum Antheil des Archelaus ge - hört hatte, wurde römische Provinz und dem Census un - terworfen; in Galiläa blieb Herodes Antipas als verbünde - ter Fürst, und diesem konnte kein in Nazaret Angesesse - ner zur Schatzung nach Bethlehem gezogen werden. Da hienach unser Schriftsteller, um eine Schatzung zu bekom - men, die Verhältnisse sich so denkt, wie sie nach Arche - laus Absetzung waren, zugleich aber, um den Census auch für Galiläa gültig zu machen, das ungetheilte Reich, wie es unter Herodes d. Gr. war, voraussezt: so sezt er offen - bar Widersprechendes voraus, oder vielmehr er hat über - haupt nur eine äusserst trübe Vorstellung von den Zeitver - hältnissen, indem er ja, wie wir uns erinnern müssen, die Schatzung nicht blos auf ganz Palästina, sondern selbst auf die ganze römische Welt sich erstrecken läſst.

Indeſs, mit diesen chronologischen Anstöſsen sind die Schwierigkeiten der Angabe des Lukas noch nicht erschöpft, sondern es liegen dergleichen auch noch in der Art, wie nach ihm die Schatzung vorgenommen worden sein soll. Es heiſst nämlich erstens, der Schatzung wegen sei Jeder gereist εἰς τὴν ἰδίαν πόλιν, d. h. nach dem Zusammenhang an den Ort, wo sein Geschlecht ursprünglich herstammte. Dieſs nun, daſs Jeder in seinem Stammorte sich einschrei - ben lassen muſste, fand allerdings statt bei jüdischen Auf - zeichnungen, weil bei den Juden die Familien - und Stamm - Verfassung die Grundlage des Staates bildete; die Römer hingegen zogen bei den ihnen unterworfenen Völkerschaf - ten dergleichen Particularitäten nicht in Betracht, sondern nahmen den Census in den Wohnorten und Bezirkshaupt - städten vor23)S. Paulus a. a. O. S. 178.. Daſs aber die Römer, um weniger Anstoſs bei den Juden zu erregen, die Form der jüdischen Ein - schreibungen beibehalten hätten, läſst sich nicht denken,206Erster Abschnitt.weil dem Zwecke der Vermögensschätzung und Besteurung die Entfernung der Einzelnen von ihren Wohnorten und Bezirkshauptstädten gar zu sehr entgegen gewesen wäre24)Diess weist Credner nach a. a. O. S. 234.. Eher lieſse sich daher mit Schleiermacher annehmen, die wahre Veranlassung, welche die Eltern Jesu nach Bethle - hem führte, sei eine priesterliche Aufzeichnung gewesen, welche aber der Referent mit der ihm vorzugsweise be - kannten römischen unter Quirinus verwechselt habe25)Über den Lukas, S. 35 f.. Allein, selbst dieſs zugegeben, weicht der Widerspruch von dieser miſslichen Angabe des Lukas nicht. Er läſst mit Joseph auch die Maria eingeschrieben werden (V. 5.), da doch die Aufzeichnung nach jüdischer Sitte nur auf die Männer sich bezog26)Vgl. Paulus a. a. O. S. 179. ; Kuinöl S. 321.. Es bliebe also wenigstens dieſs unrichtig, daſs Lukas auch der Maria zum Reisezweck giebt, sich am Stammort ihres Verlobten einschreiben zu lassen; oder wenn man dieſs mit Paulus durch eine ge - zwungene Construction entfernt, so sieht man nicht, was Maria bewegen konnte, in ihren damaligen Umständen ei - ne solche Reise zu unternehmen, da sie, sofern man nicht mit Olshausen27)a. a. O. S. 43. 131. u. A. die Hypothese, daſs sie eine in Bethlehem begüterte Erbtochter gewesen, aus der Luft grei - fen will, dort lediglich nichts zu schaffen hatte.

Unser Verf. freilich wuſste gar wohl, was sie dort zu thun hatte, nämlich der Weissagung Micha 5, 1. gemäſs in der Davidsstadt den Messias zu gebären. Da er nun von der Voraussetzung ausgieng, daſs Jesu Eltern eigent - lich zu Nazaret ihre Wohnung gehabt haben, so suchte er nach einem Hebel, um sie für die Zeit der Geburt Jesu nach Bethlehem in Bewegung zu setzen. Da bot sich weit und breit nichts als die berühmte Schatzung dar; nach207Viertes Kapitel. §. 28.dieser griff er um so unbedenklicher, je mehr ihm bei sei - ner dunkeln Vorstellung von den Verhältnissen jener Zeit die vielen Schwierigkeiten verborgen waren, welche in die - ser Combination liegen. Steht es so mit seiner Notiz: so wird man K. Ch. L. Schmidt Recht geben müssen, wenn er sagt, durch die Versuche, die Angabe des Lukas von der ἀπογραφὴ mit der Chronologie in Einklang zu bringen, wer - de dem Referenten viel zu viel Ehre angethan; er habe die Maria nach Bethlehem hinübersetzen wollen, und da habe sich die liebe Zeit nach seinem Willen fügen müs - sen28)In Schmidt's Bibliothek für Kritik und Exegese 3, 1, S. 124.. Um so auffallender ist es, daſs selbst noch die neueste Kritik des Matthäus-Evangeliums die historische Richtigkeit der in Frage stehenden Notiz des Lukas so ent - schieden voraussetzt, daſs sie es dem Matthäus zum Vor - wurf macht, von den besondern Umständen nichts zu wis - sen, durch welche die Eltern Jesu von Nazaret nach Beth - lehem geführt worden seien29)Sieffert, über den Ursprung des ersten kanonischen Evange - liums, S. 68 ff. 158 f. S. dagegen Kern, über den Ursprung des Evang. Matth., in der Tübinger Zeitschrift für Theolo - gie, 1834, 2tes Heft, S. 115.. Gewiſs hat in diesem Punk - te Matthäus durch sein Schweigen sich weniger verredet, als Lukas durch seine, gelehrt scheinende, chronologische Notiz. Also weder einen festen Anhaltspunkt für die Chro - nologie der Geburt Jesu bekommen wir hier, noch auch einen Aufschluſs über die Veranlassung, welche seine Ge - burt gerade in Bethlehem herbeiführte. Läſst sich, kön - nen wir hier schon sagen, kein anderer Grund beibrin - gen, warum Jesus in Bethlehem soll geboren worden sein, als der von Lukas angegebene: so haben wir gar keine Bürgschaft, daſs Bethlehem sein Geburtsort sei30)Vgl. Kaiser, bibl. Theologie 1, S. 230..

208Erster Abschnitt.

§. 29. Nähere Umstände der Geburt Jesu sammt der Beschneidung.

Auf die einmal gewählte Grundlage, daſs Maria und Joseph als fremde Reisende der Schatzung wegen nach Bethlehem gekommen seien, trägt die Erzählung des Lukas die weiteren Züge folgerecht auf. Wegen des durch die Schatzung verursachten Zusammenflusses vieler Fremden in Bethlehem haben jene beiden im Hause des Gastfreundes keinen Raum, und müssen sich bequemen, in einem Stalle sich einzurichten, wo Maria sofort ihres Erstgeborenen entbunden wird. Aber das auf Erden unter so unschein - baren Umständen in's Dasein getretene Kind ist im Him - mel hoch angesehen: ein Bote von da verkündet Hir - ten, welche nächtlich auf dem Feld ihre Heerden bewa - chen, die Geburt des Messias, und weist sie auf das Kind in der Krippe hin, welches sie, nachdem noch ein Chor himmlischer Heerschaaren mit einem Lobgesang eingefal - len, aufsuchen und finden (2, 6 20.).

Noch weiter haben die apokryphischen Evangelien und die Tradition bei den Kirchenvätern die Geburt Jesu aus - geschmückt. Als nach dem Protevangelium Jacobi1)Cap. 17 ff. Vgl. Historia de nativ. Mariae et de infantia Ser - vatoris c. 13. Jo - seph die Maria auf einem Esel nach Bethlehem zur Schat - zung führt, beginnt sie in der Nähe der Stadt bald trau - rig bald freudig sich zu gebärden, und giebt, hierüber be - fragt, die Auskunft, daſs sie (wie einst in Rebekkas Leibe sich zwei feindliche Nationen stieſsen, 1. Mos. 25, 23.) zwei Völker, das eine weinend, das andere lachend vor sich se - he, d. h. nach der einen Erklärung2)Fabricius, im Codex Apocryph. N. T. 1, S. 105. not. y. die zwei Theile von Israël, davon einem die Erscheinung Jesu (nach Luc. 2, 34.) εἰς πτῶσιν, dem andern εἰς ανάςασιν gereichen sollte; nach der andern aber das Volk der Juden, welche Jesum her -209Viertes Kapitel. §. 29.nach verwarfen, und das der Heiden, welche ihn annah - men3)Das zuletzt angeführte Apokryphum a. a. O.. Als bald darauf Maria, wie es nach dem Zusam - menhang und mehreren Lesarten scheint, noch ausserhalb Bethlehem, von Geburtswehen befallen wird, bringt sie Jo - seph in eine am Wege liegende Höhle, wo sie, während die ganze Natur feiernd stillesteht, von einer Lichtwolke verborgen, das Kind zur Welt bringt, und von herbeige - rufenen Frauen auch nach der Entbindung noch als Jung - frau befunden wird. Die Sage von der Geburt Jesu in einer Höhle kennen schon Justin4)Dial. c. Tryph. 78. und Origenes5)c. Cels. 1, 51. und bringen sie mit der Nachricht des Lukas, daſs Jesus in ei - ner φατνη niedergelegt worden sei, so in Einklang, daſs sie in der Höhle eine Krippe sich befinden lassen, worin ihnen auch manche Neuere beistimmen6)Hess, Geschichte Jesu 1, S. 43. Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 132., während Andre lieber die Höhle selbst als φάτνη, in der Bedeutung von Futterstall, betrachten7)Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 182.. Für die Geburt Jesu in der Höhle beruft sich Justin auf die Weissagung Jes. 33, 16.:

οὖτος (der Gerechte) οἰκήσει ἐν ὑψηλῷ σπηλαίῳ πέτρας ἰσχυρᾶς

8)a. a. O. No. 70 und 78., wie die Historia de nativitate Mariae etc. für die Angabe, daſs das am dritten Tage aus der Höhle in den Stall gebrachte Jesuskind vom Ochsen und Esel an - gebetet worden sei, auf Jes. 1, 3.:cognovit bos posses - sorem suum, et asinus praesepe domini sui9)Cap. 14.. In meh - reren namhaften Apokryphen fallen zwischen den geburts - helfenden Frauen und den Magiern die Hirten aus; doch finden sie sich z. B. in dem Evangelium infantiae ara -Das Leben Jesu I. Band. 14210Erster Abschnitt.bicum, wo ihnen, als sie zur Höhle gekommen, Freuden - feuer anzündeten, das himmlische Heer erscheint10)Cap. 4, bei Thilo, S. 69..

Nehmen wir nun die von Lukas erzählten Umstände der Geburt Jesu in supranaturalem Sinne, so ergeben sich mehrere Schwierigkeiten. Zuerst läſst sich billig fragen, welchem Zweck die Engelerscheinung dienen sollte? 11)S. Gabler im neuest. theol. Journal 7, 4, S. 410.Die nächste Antwort ist: die Geburt Jesu bekannt zu machen. Aber sie wird ja durch dieselbe so wenig bekannt, daſs in das so nahe gelegene Jerusalem erst später die Magier die erste Kunde von dem neugeborenen Judenkönig brin - gen, und überhaupt in der weiteren Geschichte keine Spur eines solchen Vorfalls bei der Geburt Jesu sich findet. Kann demnach der Zweck jener ausserordentlichen Er - scheinung nicht ihr Bekanntwerden in weiteren Kreisen gewesen sein, weil sonst Gott seinen Zweck verfehlt ha - ben würde: so müſste man mit Schleiermacher annehmen, sie habe nur in der unmittelbaren Wirkung auf die Hir - ten selber ihr Ziel gehabt12)Über den Lukas, S. 33.. Dabei müſste man dann aber mit Schleiermacher und Olshausen13)a. a. O. S. 132. voraussetzen, diese Hirten seien, wie jener Simeon, von messianischen Erwartungen besonders erfüllt gewesen, und diesen ihren frommen Glauben habe Gott durch jene Erscheinung be - lohnen und befestigen wollen. Aber weder von einer sol - chen Beschaffenheit der Hirten berichtet die Erzählung ir - gend etwas, noch wird eine bleibende Wirkung auf die - selben bemerklich gemacht; überhaupt erscheint der gan - zen Darstellung zufolge nichts die Hirten Betreffendes als Zweck der Erscheinung, sondern lediglich die Verherrli - chung und Bekanntmachung der Geburt Jesu als des Mes - sias. Da aber das Letztere, wie schon bemerkt, nicht er -211Viertes Kapitel. §. 29.reicht wurde, das Erstere aber rein für sich, wie jedes leere Gepränge, kein gotteswürdiger Zweck ist: so stellt dieser Umstand, auch abgesehen von dem, was gegen En - gelerscheinungen überhaupt oben erinnert ist, einer supra - naturalistischen Auffassung dieser Geschichte ein nicht un - bedeutendes Hinderniſs entgegen. Eine weitere Schwie - rigkeit liegt noch in der Art, wie die Hirten zu dem Kin - de gewiesen werden. Sie werden ein Kind finden, sagt ih - nen der Engel, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Aber wo? sollten sie vorher alle Stallungen des Orts durchsuchen? oder sollte sie durch ein zweites Wun - der ein geheimer Zug des Geistes in der Dunkelheit der Nacht zu dem Kinde leiten? 14)Olshausen, a. a. O. S. 133.Denn mit Olshausen noch dazu anzunehmen, die Hirten seien vielleicht eben die Ei - genthümer der Höhle gewesen, und haben deſswegen bei ihrer Rückkehr zu derselben das Kind antreffen müssen, heiſst mit unnöthiger Inconsequenz den einen Fuſs auf den Boden der natürlichen Erklärung setzen.

Diese ist denn freilich in ihren ersten Versuchen grob genug ausgefallen. So nahm Eck den ἄγγελος für einen Boten aus Bethlehem, welcher Licht bei sich hatte, das den Hirten in die Augen fiel, und den Lobgesang der Heer - schaaren als ein Freudengeschrei mehrerer Begleiter dieses Boten15)In seinem Versuch über die Wundergeschichten des N. T. s, vgl. Gabler's neuestes theol. Journal 7, 4, S. 411. Der Verf. der natürlichen Geschichte des Propheten von Nazaret hat auch hier an den Wundern der N. T. lichen Erzählung nicht genug Stoff für seine Lust zu natürlicher Erklärung, sondern er unternimmt es, auch die Fabeln der Apokryphen auf sei - ne Weise zurechtzulegen.. Feiner und pragmatischer hat Paulus die Sa - che ausgesponnen. Maria, welche in einer Hirtenfamilie zu Bethlehem gastfreundliche Aufnahme gefunden hatte, er - zählte, voll Hoffnung, wie sie war, den Messias zu gebä -14*212Erster Abschnitt.ren, auch den Gliedern dieser Familie davon, welche als Bewohner der Davidsstadt nicht unempfänglich dafür sein konnten. Als daher in der Nacht diese Hirten auf dem Felde sind und eine feurige Lufterscheinung erblicken, wie sie nach Berichten von Reisenden in jener Gegend nicht ungewöhnlich sind, so deuten sie dieſs als eine Gottesbot - schaft, daſs die fremde Frau in ihrem Futterstalle wirklich von dem Messias entbunden worden sei, und als die Licht - erscheinung sich ausbreitet und hinundherbewegt, so sehen sie hierin lospreisende Engelschaaren. Heimgekehrt, finden sie ihre Erwartung durch den Erfolg bestätigt, und stellen nun das, was nur sie selbst als Sinn und Bedeutung jener Erscheinung vorausgesetzt hatten, morgenländisch als wirk - liche Worte derselben dar16)a. a. O. S. 180 ff. Wie Paulus eine äussere Naturerschei - nung, so nimmt Matthaei, Synopse der vier Evangelien, S. 3., eine innere Engelanschauung an..

Bei dieser Erklärung hängt Alles an der Voraussetzung, daſs die Hirten schon vorher etwas von den Erwartungen der Maria, den Messias zu gebären, gewuſst haben; eben dieses aber ist der vollkommenste Widerspruch gegen den evangelischen Bericht. Denn erstlich, daſs ihnen der Stall zugehört habe, setzt dieser offenbar nicht voraus, wenn er, nachdem er die Entbindung der Maria in dem Stalle erzählt hat, zu den Hirten als zu etwas ganz Neuem und Fremdem, das mit jenem Stalle gar nicht zusammenhängt, in den Worten übergeht: καὶ ποιμένες ἦσαν ἐν τῇ χώρᾳ τῇ αὐτῇ, statt deren bei jener Erklärung doch wenigstens οἱ δὲ ποιμένες κ. τ. λ. stehen müſste, so wie dann auch das nicht unerwähnt hätte bleiben dürfen, daſs die Hirten den Tag über in dem Stalle ab - und zugegangen und erst mit Anbruch der Nacht zum Hüten ausgezogen seien. Doch, auch diese Umstände vorausgesetzt, ist es von Paulus in - consequent, die Maria früher so schweigsam über ihre213Viertes Kapitel. §. 29.messianische Schwangerschaft vorzustellen, daſs sie An - fangs selbst dem Joseph dieselbe nicht entdecken will: nun aber mit Einem Male so geschwätzig, daſs sie, kaum an - gekommen, vor fremden Leuten die ganze Geschichte ihrer Erwartungen auskramt. Übrigens widerspricht die Annah - me, daſs die Hirten durch Maria selbst schon vor ihrer Niederkunft von der Sache unterrichtet gewesen, auch dem weiteren Verfolg der Erzählung. Denn wie diese lautet, so bekommen die Hirten durch den erscheinenden Engel die erste Kunde von der Geburt des σωτὴρ, und zum Zei - chen der Wahrheit dieser Kunde soll ihnen das neugebor - ne Kind in der Krippe dienen; hätten sie bereits durch Ma - ria etwas von dem nächstens zu gebärenden Messias ge - wuſst: so wäre ihnen schon die Lichterscheinung ein ση - μεῖον für jene Aussage der Maria, und nicht erst das Fin - den des Kindes ein Zeichen für die Wahrhaftigkeit der Erscheinung gewesen. Auch das bleibt ein auffallendes Zu - sammentreffen, daſs gerade in der Geburtsnacht Jesu eine so ausserordentliche Erscheinung sich zeigt17)Gabler, a. a. O. S. 412.; oder wenn nach Paulus dergleichen Phänomene in jenen Gegenden nicht selten sein sollen: so hat schon Schleiermacher dar - auf aufmerksam gemacht, daſs, je gewöhnlicher sie daselbst waren, desto nothwendiger Hirten, gewohnt, einen groſsen Theil des Jahrs im Freien zu übernachten, so weit mit denselben vertraut sein muſsten, um sie nicht für himmli - sche Zeichen besonderer Begebenheiten zu halten18)Über den Lukas, S. 34..

Dieser nach allen Seiten so schwierigen natürlichen Erklärung gegenüber kündigte Bauer eine mythische Auf - fassung an19)Hebräische Mythologie, 2. Thl. S. 223 ff., kam aber in der That keinen Schritt über die natürliche Deutung hinaus, sondern wiederholte Zug für Zug die Paulus'sche Auslegung. Mit Recht setzte Gab -214Erster Abschnitt.ler an dieser gemischt-mythischen Erklärung aus, daſs sie, wie die natürliche, zu viel Unwahrscheinliches häufe; ein - facher erscheine Alles bei Annahme eines reinen, dogmati - schen Mythus, wodurch auch mehr Harmonie in diese christ - liche Urgeschichte komme, deren bisherige Stücke ja eben - falls als reine Mythen haben ausgelegt werden müssen20)Recension von Bauer's hebr. Mythologie in Gabler's Journal für auserlesene theol. Literatur, 2, 1, S. 58 f.. Demgemäſs erklärt nun Gabler die Erzählung aus der Zeit - vorstellung, bei der Geburt des Messias müssen wohl En - gel geschäftig sein. Nun habe man gewuſst, daſs Maria in einer Hirtenwohnung entbunden worden war; diesen guten Hirten, habe man also geschlossen, müssen die En - gel sogleich die Botschaft gebracht haben, daſs der Mes - sias in ihrem Stalle geboren sei, und die Engel, die ja immer Gott preisen, müssen auch hier einen Lobgesang an - gestimmt haben. Anders, meint Gabler, konnte sich ein Judenchrist die Geburt Jesu, wenn er einige Data von der - selben wuſste, unmöglich denken, als sie hier gemalt ist21)Neuest. theol. Journal 7, 4, S. 412 f..

Auf merkwürdige Weise zeigt diese Gabler'sche Er - klärung, wie schwer es hält, sich von der natürlichen Er - klärungsweise völlig loszuwinden, und ganz zu der mythi - schen zu erheben; denn während der genannte Theologe ganz schon auf mythischen Boden getreten zu sein meint, steht er doch mit einem Fuſse noch auf dem der natürli - chen Auslegung. Einen Zug nämlich aus dem Berichte des Lukas nimmt er als historisch, welchen sein Zusammen - hang mit unhistorischen Elementen und seine Angemessen - heit an den Geist der urchristlichen Sage zu deutlich als blos mythischen bezeichnet, nämlich, daſs Jesus wirklich in einer Hirtenwohnung geboren sei, und eine Vorausse - zung nimmt er aus der natürlichen Erklärungsweise auf, welche die mythische gar nicht dem Texte aufzudringen215Viertes Kapitel. §. 29.braucht, daſs die Hirten, welchen angeblich die Engel er - schienen, Eigenthümer des Stalles, in welchem Maria ge - bar, gewesen sein sollen. Was das Erste betrifft, mit wel - chem das Andere von selbst hinfällt, so beruht es auf der - selben Maschinerie, durch welche Lukas mittelst der Schat - zung die Eltern Jesu von Nazaret nach Bethlehem in Be - wegung setzt. Nun wissen wir aber, wie es mit dieser Schatzung steht: sie fällt ohne Rettung vor der Kritik da - hin, und mit ihr das auf sie gebaute Datum, daſs Jesus in einem Hirtenstalle geboren worden. Denn waren Jesu Eltern zu Bethlehem nicht fremd, und kamen sie nicht ge - rade bei einem groſsen Zusammenfluſs von Fremden, wie er aus Gelegenheit eines Census stattfinden konnte, dahin: so ist kein Anlaſs dazu mehr vorhanden, daſs Maria einen Stall zum Lokal ihrer Entbindung nehmen muſste. Aber ebenso stimmt andrerseits der Zug, daſs Jesus in einem Stalle geboren und zuerst von Hirten begrüſst worden sein soll, mit dem Geist der alten Sage so ganz überein, daſs es klar ist, wie sie veranlaſst sein konnte, ihn rein zu er - dichten. Schon Theophylakt deutet dieſs richtig an, wenn er sagt, nicht zu Jerusalem den Pharisäern und Schriftge - lehrten, welche aller Bosheit voll waren, sei der Engel er - schienen, sondern auf dem Felde den Hirten, wegen ihres einfachen, arglosen Wesens, und weil sie durch ihre Le - bensweise Nachfolger der alten Patriarchen gewesen seien22)in Luc. 2. Bei Suicer 2, p. 789 f.. Auf dem Felde bei den Heerden hatte auch Moses die himm - lische Erscheinung (2. Mos. 3, 1 ff. ), und den Ahnherrn des Messias, David, hatte Gott, nach Ps. 78, 70 f. (vergl. 1. Sam. 16, 11.), aus den Hürden (bei Bethlehem) genom - men, um sein Volk zu waiden. Überhaupt läſst die My - thologie der alten Welt Landleuten23)Servius ad Virg. Ecl. 10, 26. und Hirten24)Liban. progymn. p. 138, bei Wetstein S. 662. am216Erster Abschnitt.liebsten Gotteserscheinungen zu Theil werden; die Götter - söhne und groſsen Männer werden häufig unter Hirten er - zogen25)So Cyrus, nach Herod. 1, 110 ff. Romulus, nach Liv. 1, 4.. In demselben Geiste der alten Sage ist auch die apokryphische Nachricht gedichtet, daſs Jesus in einer Höhle geboren sei, wodurch man an die Geburtshöhle des Zeus und anderer Götter erinnert wird26)S. die Stellen bei Wetstein, p. 660 f., wenn auch gleich die miſsverstandne Stelle Jes. 33, 16. die nächste Veranlassung dieses Zuges gewesen sein mag27)Diess ist die Ansicht Thilo's, Codex Apocr. N. T. 1, S. 383, not.. Die Nacht ferner, in welche die Scene verlegt wird, wenn man nicht an rabbinische Vorstellungen denken will, nach welchen, wie die Erlösung aus Ägypten, so auch die durch den Messias bei Nacht vor sich gehen sollte28)S. Schöttgen, a. a. O. 2, S. 531., bildet den dunkeln Hintergrund, auf welchem sich die erscheinen - de δόξα Κυρίου um so glänzender ausnimmt, welche, wie sie die Geburt des Moses verherrlicht haben sollte29)Sota, 1, 48: Sapientes nostri perhibent, circa horam nativi - tatis Mosis totam domum repletam fuisse luce (Wetst.)., so auch bei der seines höhern Nachbildes, des Messias, nicht fehlen konnte.

Einen Gegner hat die mythische Auffassung dieses Ab - schnitts namentlich an Schleiermacher gefunden30)Über den Lukas, S. 29 f.. Zwar, wenn er es unwahrscheinlich findet, daſs dieser Anfang von Luc. 2. eine Fortsetzung des Vorigen, und von dem - selben Verfasser mit diesem sei, weil die mehrfache Ver - anlassung, sich in lyrischen Ergüssen auszubreiten, wie z. B. bei der lobpreisenden Umkehr der Hirten V. 20., hier gar nicht so wie im ersten Kapitel benüzt werde: so kann man ihm hierin wohl etwa beistimmen; wenn er aber daraus weiter folgert, daſs dieser Erzählung auch nicht ein vorwiegend dichterisches Gepräge zugeschrieben wer -217Viertes Kapitel. §. 29.den dürfe, indem dieses nothwendig mehr Lyrisches her - beigeführt haben würde: so beweist dieſs nur, daſs Schleier - macher den Begriff derjenigen Poësie, welche hauptsäch - lich hieher gehört, nämlich der Poësie der Sage, nicht ge - hörig erfaſst hat. Die Sagenpoësie ist mit Einem Worte eine objektive Poësie, welche das Dichterische ganz in die erzählte Materie hineinlegt, und daher in ganz schlichter Form, ohne allen Aufwand lyrischer Ergieſsungen erschei - nen kann, welche lezteren vielmehr nur die spätere Zu - that einer subjektiven, mehr bewuſst und künstlerisch aus - geübten Poësie sind. Allerdings also haben wir, wie es scheint, diese jezt folgenden Abschnitte mehr in der ur - sprünglichen Form der Sage, während die Erzählungen des ersten Kapitels bei Lukas mehr das Gepräge der Um - arbeitung durch ein dichtendes Individuum tragen; aber von historischer Wahrheit ist deſswegen dennoch hier eben - sowenig als dort etwas zu suchen. Daher kann es auch nur als Spiel eines luxurirenden Scharfsinns angesehen werden, wenn Schleiermacher weiterhin sogar die Quelle auszumitteln sich anheischig macht, aus welcher diese Er - zählung in das Lukasevangelium gekommen sein möge. Daſs er als diese Quelle nicht die Maria annehmen will, obgleich in der Bemerkung V. 19., sie habe alle diese Re - den im Herzen bewahrt, eine Berufung auf sie gefunden werden könnte, daran hat er zwar um so mehr Recht, als jene Bemerkung (worauf Schleiermacher keine Rück - sicht nimmt), nur eine aus der Geschichte Jakobs und Jo - sephs herübergenommene Phrase ist. Wie nämlich die Er - zählung der Genesis von Jakob als Vater jenes Wunder - kindes berichtet, daſs er, wenn Joseph von seinen vorbe - deutenden Träumen erzählte und die Brüder ihn deſswegen beneideten, dessen Reden nachdenklich im Herzen bewahrt habe: so giebt nun die Erzählung bei Lukas der Maria zu dem Ausserordentlichen, was sich mit ihrem Kinde zu - trug, hier und unten 2, 51. die schickliche Stellung, daſs218Erster Abschnitt.sie, während die Übrigen in laute Bewunderung ausbra - chen, was sie sah und hörte nachdenklich in sich aufge - nommen und bei sich überdacht habe31)Man vergleiche:1. Mos. 37, 11 (LXX):Ἐζήλωοαν δὲ αὐτὸν οἱ ἀδελφοὶ αὐτοῦ· δὲ πατὴρ αὐτοῦ διετήρησε τὸ ῥῆμα. Und dazu die Rab - binen, bei Schöttgen, ho - rae, 1, 262. Luc. 2, 18 f.:καὶ πάντες οἱ ἀκούσαντες ἐϑαύ - μασαν, δὲ Μαριὰ μ πάντα συνετήρει τὰ ή - ματα ταῦτα, συμβάλλουσα ἐν τῇ καρδίᾳ αὑτῆς. 2, 51:καὶ μήτηρ αὐτοῦ διετ ήρει πάντα τὰ ῥήματα ταῦτα ἐν τῇ καρδίᾳ αὑτῆς.. Wenn nun aber der genannte Theologe statt der Maria die Hirten als Quelle unsrer Erzählung bezeichnet, weil Alles aus dem Stand - punkt nicht von jener, sondern von diesen erzählt sei: so ist es vielmehr aus dem Standpunkt der Sage erzählt, wel - che gleicherweise über beiden steht. Wenn Schleierma - cher es unmöglich findet, daſs diese Erzählung eine aus Nichts zusammengeballte Luftblase sei32)a. a. O. S. 33.: so muſs er un - ter dem Nichts die jüdischen und urchristlichen Ideen von Bethlehem als dem nothwendigen Geburtsorte des Messias, von dem Hirtenstande als dem des Verkehrs mit dem Him - mel besonders gewürdigten, und von den Engeln, als den Vermittlern dieses Verkehrs, verstehen, Vorstellungen, welche wir unsrerseits unmöglich so gering anschlagen, sondern uns wohl denken können, wie sich aus denselben etwas, wie unsre Erzählung hier, gestalten konnte. End - lich, wenn er eine zufällige oder absichtliche Dichtung sich hier deſswegen nicht denken zu können versichert, weil die Christen jener Gegend so leicht die Maria oder die Jünger über die Sache haben befragen können: so ist dieſs doch zu sehr im Style der alten Apologetik geredet, und219Viertes Kapitel. §. 29.sezt die in der Einleitung besprochene Ubiquität jener Per - sonen voraus, welche doch unmöglich an allen den Orten berichtigend zugegen sein konnten, wo eine Neigung zu christlicher Sagenbildung sich regte.

Die Notiz von der Beschneidung Jesu Luc. 2, 21. rührt offenbar von einem solchen her, welcher, ohne von dieser Scene wirkliche Nachricht zu haben, nur in Gemäſsheit der jüdischen Sitte für gewiſs annahm, daſs dieselbe am achten Tage nach der Geburt in gewöhnlicher Weise statt - gefunden. Dabei ist der Contrast auffallend zwischen der ausführlichen Benützung und Ausmalung desselben Punk - tes im Leben des Johannes (1, 59. ff. ) und der Trocken - heit und Kürze, mit welcher derselbe hier in Bezug auf Jesum behandelt ist, worin man mit Schleiermacher33)a. a. O. S. 27 f. ein Zeichen finden kann, daſs wenigstens hier der Verfas - ser von Kap. 1. nicht mehr der Concipient ist. Bei diesem Stand der Sache erfahren auch wir für unsern Zweck aus dieser Angabe nichts, als was wir schon wissen konnten, nur noch nicht ausdrücklich zu bemerken Gelegenheit hat - ten, daſs nämlich die angebliche Bestimmung des Namens Jesu schon vor seiner Geburt auch nur zu der mythischen Einkleidung der Erzählung gehöre. Wenn nämlich in un - serem Verse darauf Gewicht gelegt wird, der Name Jesus sei κληϑὲν ὑπὸ τοῦ ἀγγέλου πρὸ τοῦ συλληφϑῆναι ἀυτὸν ἐν τῇ κοιλίᾳ: so erinnert dieses Bestreben, die Präexistenz des Namens des Messias wenigstens vor seiner irdischen Erscheinung zu be - haupten, an die jüdische Meinung, nach welcher dieser Name sogar vor der Welt schon präexistirt hat34)Bereschith rabba, sect. 1, fol. 3, 3 (bei Schöttgen, horae, 2, S. 436.):Sex res praevenerunt creationem mundi: quaedam ex illis creatae sunt, nempe lex et thronus gloriae; aliae ascenderunt in cogitationem (Dei) ut crearentur, nimirum Patriarchae, Israël, templum, et nomen Messiae.; wie - wohl selbst ohne Beziehung darauf es z. B. auch bei dem220Erster Abschnitt.Täufer bedeutsam schien, seinen Namen nicht aus Zufall und menschlicher Willkühr, sondern aus göttlicher Vor - herbestimmung abzuleiten (Luc. 1, 13.). Der Sohn der Maria führte also in Folge einer, wir können nicht mehr wissen, durch welche, aber gewiſs durch rein natürliche Gründe bestimmten Wahl seiner Eltern den bei den Juden sehr gewöhnlichen Namen יֵשׁוּעַ (abgekürzt aus יְהיֹשֻׁעַ d. h. Κύριος σωτηρία); weil aber dieser Name mit seinem später gewählten Berufe als Messias und σωτὴρ auf be - deutsame Weise zusammentraf, und überdieſs der Name des Messias als göttlich vorherbestimmter galt: so wurde die Festsetzung jenes Namens dem die Empfängniſs Jesu vorherverkündigenden Engel übertragen.

§. 30. Die Magier und ihr Stern, die Flucht nach Ägypten und der bethlehemitische Kindermord. Kritik der supranaturalistischen Ansicht.

Mit der bisher betrachteten Erzählung des Lukas über die Einführung des neugeborenen Messias in die Welt läuft bei Matthäus eine ziemlich verschiedene doch parallel (2, 1. f.). Auch sie nämlich hat zum Zweck, die feierliche Introduk - tion des messianischen Kindes, die erste, vom Himmel selbst übernommene Bekanntmachung seiner Geburt, und seine erste Aufnahme bei den Menschen zu beschreiben1)Vergl. Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kano - nischen Evangeliums, S. 69 ff.. Nach beiden Erzählungen macht eine himmlische Erschei - nung auf den neugeborenen Messias aufmerksam, welche nach Lukas ein Engel im Lichtglanz, nach Matthäus ein Stern ist. Gemäſs der Verschiedenheit des Zeichens sind auch die Subjekte, welchen es erscheint, verschieden: dort einfache Hirten, zu welchen der Engel spricht; hier orien - talische Magier, welche das stumme Zeichen sich selbst zu221Viertes Kapitel. §. 30.deuten wissen. Beide Theile werden nach Bethlehem ge - wiesen: die Hirten durch die Worte des Engels selbst; die Magier nach eingezogener Erkundigung in Jerusalem, und beide huldigen dem Kinde: die Hirten durch Lobgesänge, die sie anstimmen, die Magier durch kostbare Geschenke aus ihrer orientalischen Heimath. Aber von hier an begin - nen die beiden Erzählungen bedeutender zu divergiren. Bei Lukas geht Alles heiter aus: die Hirten kehren freu - dig wieder um, und dem Kinde geschieht kein Leid, son - dern es kann zur gehörigen Zeit im Tempel dargestellt werden, und wächst sofort im Frieden auf; bei Matthäus hingegen nimmt die Sache eine tragische Wendung: da veranlaſst die Nachfrage der Magier in Jerusalem nach dem neugeborenen Judenkönig einen Mordbefehl des He - rodes gegen die Kinder zu Bethlehem, welchem das Je - suskind nur durch schleunige Flucht in das benachbarte Ägypten entzogen wird, von wo es mit den Eltern erst nach des Herodes Tode wieder in das heilige Land zu - rückkehrt.

Wir haben also hier eine doppelte Introduktion des messianischen Kindes, welche wir so stellen könnten, daſs die eine, durch den Engel, bei Lukas, die Geburt des Messias der nächsten Nähe, die andre, durch den Stern, bei Matthäus, der weiten Ferne habe ankündigen sollen. Allein, da nach Matthäus die Geburt Jesu erst durch den Stern auch in der nächsten Nähe, in Jerusalem, bekannt wird: so kann, wenn diese Erzählung historisch ist, jene andre bei Lukas, nach welcher die Hirten, was ihnen als Sache des ganzen Volks verkündigt war (V. 10.), mit Preiſs gegen Gott weiter erzählten (V. 17. 20. ), unmög - lich richtig sein; so wie umgekehrt, wenn wirklich nach Lukas die Geburt Jesu durch einen Engel mittelst der Hir - ten der Gegend von Bethlehem bekannt gemacht worden war, es irrig sein muſs, daſs Matthäus erst später durch die Magier die erste Kunde davon in das nur 2 3 Stun -222Erster Abschnitt.den von Bethlehem entfernte Jerusalem2)S. Winer, bibl. Realwörterbuch, d. A. Bethlehem. gelangen läſst. Da wir nun aber die Erzählung des Lukas von der den Hirten geschehenen Verkündigung aus mehreren Gründen als unhistorisch erkannt haben: so bliebe insofern für die des Matthäus unverkümmerter Raum, und es ist sonach ihre historische Glaubwürdigkeit aus inneren Gründen zu untersuchen.

Unsere Erzählung beginnt ganz so, wie wenn es sich von selbst verstände, daſs Astrologen einen die Geburt des Messias ankündigenden Stern als solchen zu erkennen ver - mögen. Könnten wir hiebei zunächst uns darüber wun - dern, wie heidnische Magier aus dem Orient etwas von einem jüdischen König wissen konnten, dem sie eine reli - giöse Verehrung darzubringen hätten: so wollen wir uns hierüber einstweilen mit der Notiz bei Tacitus3)Histor. 5, 13. und Sue - ton4)Vespas. 4., daſs 70 Jahre später im Orient die Erwartung ei - nes Weltherrschers aus dem jüdischen Volke verbreitet ge - wesen sei, beruhigen, um auf das Bedenklichere zu kom - men, daſs es ja nach dieser Erzählung scheint, als hätte die Astrologie Recht mit der Behauptung, daſs die Geburt groſser Männer und bedeutende Veränderungen der mensch - lichen Verhältnisse durch siderische Erscheinungen ange - zeigt werden, eine Meinung, welche längst in das Gebiet des Aberglaubens verwiesen ist. Man müſste also zu er - klären suchen, wie jene trügerische Kunst in diesem ein - zelnen Falle Recht haben konnte, ohne daſs jedoch auf an - dre Fälle daraus geschlossen werden dürfte. Das nächste für den orthodoxen Standpunkt wäre, daſs man sich auf eine ausserordentliche Veranstaltung Gottes beriefe, wel - cher sich dieſsmal, um die fernen Magier zu Jesu herbei - zuziehen, ihren astrologischen Vorstellungen accommodirt,223Viertes Kapitel. §. 30.und den von ihnen erwarteten Stern habe erscheinen las - sen. Aber mit dieser Auskunft verwickelt man sich in ei - nen bedenklichen Handel. Denn ein solches Zusammen - treffen des merkwürdigsten Erfolgs mit der astrologischen Prognose muſste nicht nur jene Magier selbst und ihre Landsleute, sondern auch die Juden und Christen, welche von der Sache erfuhren, in dem Vertrauen zu jener trü - gerischen Wissenschaft bestärken, und dadurch unbere - chenbaren Irrthum und Schaden stiften. Und dieses Är - gerniſs, wie leicht konnte es vermieden werden, wenn Gott, wie er ja nach der orthodoxen Ansicht auch sonst thut, durch Gesichte und Träume, auf welche nach V. 12. jene orientalischen Weisen gleichfalls bauten5)Vergl. Diog. Laërt., prooem., sie zu der Rei - se nach Judäa veranlaſste. Ist es also nicht gerathen, eine ausserordentliche Veranstaltung Gottes hier einzumischen, und will man doch auch nicht annehmen, daſs nach dem ordentlichen Naturlauf mit bedeutenden irdischen Ereignis - sen astronomische Veränderungen zusammenzutreffen pfle - gen: so müſste man nur auf ein zufälliges Zusammentref - fen in diesem einzelnen Falle sich berufen, womit aber, wie immer durch Berufung auf den Zufall, theils nichts gesagt, theils der supranaturalistische Standpunkt verlas - sen ist.

Doch nicht allein die falsche Kunst der Astrologen wird bei der orthodoxen Auffassung dieses Berichtes bestätigt, sondern auch eine falsche Auslegung einer Prophetenstelle. Denn wie die Magier, ihrem Sterne folgend, richtig ge - hen: so geben die Hohenpriester und Schriftgelehrten in Jerusalem, welche Herodes auf die Nachricht von der An - kunft und Absicht der Magier zu sich beruft, und nach dem Geburtsort des Judenkönigs fragt, der Stelle Micha 5, 1. die Deutung, der Messias müsse in Bethlehem gebo - ren werden (V. 5 f.), und dieser Deutung entspricht der224Erster Abschnitt.Erfolg. Das war aber doch nur eine Auslegung in der bekannten rabbinischen Weise, die Worte zu pressen. Denn abgesehen davon, ob unter dem ל ֵ מ in der angeführten Stelle der Messias verstanden werden darf oder nicht, so bezeichnet doch nach dem ganzen Zusammenhang das Aus - gehen des erwarteten Herrschers aus Bethlehem nicht ein Geborenwerden an diesem Orte, sondern nur die Abstam - mung von dem Davidischen Geschlecht, dessen alter Stamm - ort Bethlehem war6)S. die gründliche Ausführung von Paulus, exeg. Handbuch, 1, a, S. 213 ff.. Sind also die Magier durch die rabbinische Exegese des Orakels richtig geführt worden: so hat eine falsche Auslegung dieſsmal das Wahre getrof - fen, entweder durch anbequemende Veranstaltung Gottes, oder durch Zufall; worüber wie oben zu urtheilen ist.

Nach dem angegebenen Responsum des Synedriums be - ruft nun Herodes die Magier, und seine erste Frage ist nach der Zeit, wann ihnen der Stern erschienen sei (V. 7.)? Wozu brauchte er dieſs zu erfahren? Der 16te Vers sagt es uns, nämlich um das Alter des messianischen Kindes dar - nach zu ermessen und also zu wissen, wie weit herauf im Alter er die Kinder in Bethlehem umbringen lassen müsse, um unter ihnen auch das durch den Stern angezeigte zu treffen. Allein diesen Plan, durch Ermordung aller Kin - der bis zu einem gewissen Alter das ihm fatale mitzutref - fen, faſste ja Herodes erst, nachdem die Magier nicht, wie er gehofft hatte, zu ihm nach Jerusalem zurückgekom - men waren, eine Täuschung, welche, wie aus seinem ge - waltigen Zorn über dieselbe (V. 16.) erhellt, Herodes kei - neswegs vorherberechnet hatte. Vorher war nach V. 8. seine Absicht, sich durch die wiederkehrenden Magier das Kind, dessen Wohnung und übrige Verhältnisse so genau beschreiben zu lassen, daſs er es nachher nicht verfehlen, und ohne andre mitzumorden, aus dem Wege räumen las -225Viertes Kapitel. §. 30.sen könnte. Erst als die Magier ausblieben, war er zu je - ner andern Maſsregel veranlaſst, zu deren Behuf er die Zeit, wann der Stern erschienen war, wissen muſste7)Treffend Fritzsche z. d. St.: comperto, quasi magos non ad se redituros statim scivisset, orti sideris tempore, etc.. Wie glücklich daher für ihn, daſs er, auch ohne noch je - nen Plan zu haben, doch gleich Anfangs nach dieser Zeit sich erkundigte; aber auch wie unbegreiflich, daſs er die - ses, was ihm bei seinem ersten Plane Nebensache war, gleich zu seiner ersten Frage (καλέσας-ἠκρίβωσε κ. τ. λ. V. 7.) und zur Hauptangelegenheit machte. War die Er - kundigung nach der Zeit der ersten Erscheinung des Sterns Mittel zu dem Zwecke, die seit dieser Zeit in Bethlehem geborenen Kinder in Masse zu morden; hatte aber Herodes selbst diesen Zweck noch nicht, als er jenes Mittel wählte: so müſste ein höheres Bewuſstsein ihm dasselbe an die Hand gegeben haben, welches Bewuſstsein auf orthodoxem Stand - punkt nur entweder Gott sein könnte, von welchem man dann sagen müſste, er habe dem Tyrannen jene Frage ein - gegeben, damit er nicht in der Ungewiſsheit über das Al - ter des gesuchten Kindes geradezu alle Kinder zu Bethle - hem8)So vergrössert findet sich die Sache bei Justin, Dial. c. Tryph. 78., auch die älteren, erwürgen möchte; oder der Teu - fel, wenn nicht das Hineintragen übernatürlicher Ma - schinerie in den biblischen Text ebenso unerlaubt wäre als das von natürlicher. Ist es aber unerlaubt, und doch bei der orthodoxen Auffassung der Erzählung unvermeidlich: so ist diese Auffassung selbst unmöglich.

Das Zweite, was Herodes mit den Magiern verhandelt, ist, daſs er ihnen aufträgt, alles das königliche Kind Be - treffende genau zu erkunden und ihm bei ihrer Rückkehr zu melden, damit auch er hingehen und dem Kinde seine Verehrung bezeigen, d. h. nach dem wahren Sinn, es sicherDas Leben Jesu I. Band. 15226Erster Abschnitt.ermorden lassen könnte (V. 8.). Daſs eine solche Einlei - tung der Sache von dem schlauen Herodes schwer zu be - greifen sei, ist längst bemerkt worden9)K. Ch. L. Schmidt, exeg. Beiträge, 1, S. 150 f. Vgl. Fritz - sche, Comm. in Mitth. S. 82.. Von den Ma - giern konnte er nicht mit Sicherheit voraussetzen, daſs sie ihm, zumal er seinen bösen Willen so schlecht verborgen hatte, trauen würden, und jedenfalls muſste er fürchten, sie möchten, von Andern auf seine wahrscheinlich übeln Absichten mit dem Kinde aufmerksam gemacht, ihm keine Nachricht zurückbringen. Von den Eltern des Kindes konnte er vermuthen, daſs sie, wenn sie von seinem ge - fährlichen Interesse an demselben hörten, es durch Flucht in Sicherheit bringen würden; so wie endlich von denjeni - gen, welche in Bethlehem und der Umgegend messianische Erwartungen hegten, daſs sie durch die Ankunft der Ma - gier nicht wenig in denselben bestärkt werden müſsten. Aus allen diesen Gründen muſste Herodes entweder die Ma - gier in Jerusalem aufhalten und indessen durch geheime Abgesandte das in dem kleinen Bethlehem leicht zu erfra - gende Kind, an welches sich so besondre Hoffnungen knüpf - ten, aus dem Wege räumen lassen, oder er muſste den Magiern Begleiter mitgeben, welche das Kind, sobald es von jenen aufgefunden wäre, auf die sicherste Weise um das Leben brächten. Auch Olshausen findet diese Bemer - kungen nicht ganz grundlos, und weiſs sich gegen diesel - ben in letzter Instanz nur darauf zu berufen, daſs in der Geschichte aller Zeiten unbegreifliche Vergeſslichkeiten vor - kommen, welche eben nur zeigen, daſs eine höhere Hand die Geschichte lenke10)Bibl. Comm. 1, S. 76.. Auf diese höhere Hand muſs sich allerdings der Supranaturalist hier in der Art berufen, daſs er annimmt, Gott selber habe den sonst so klugen Herodes über die sicherste Maſsregel zu seinem Zwecke verblendet,227Viertes Kapitel. §. 30.um das messianische Kind vom frühzeitigen Untergange zu retten. Aber die andre Seite dieser göttlichen Veranstal - tung ist, daſs nun statt des Einen viele andere Kinder ster - ben muſsten. Hiegegen wäre für den Fall nichts einzu - wenden, wenn es erweislich auf andere Art nicht möglich gewesen wäre, Jesum einem, mit dem Erlösungszweck un - vereinbaren, Schicksal zu entziehen. Aber wenn Gott ein - mal so übernatürlich eingriff, daſs er das Gemüth des He - rodes verblendete und den Magiern später eingab, nicht mehr nach Jerusalem zurückzukehren: warum gab er die - sen nicht gleich Anfangs ein, mit Umgehung Jerusalems geradezu nach Bethlehem zu reisen, wo dann die Auf - merksamkeit des Herodes nicht so unmittelbar erregt, und so vielleicht das ganze Unheil vermieden worden wäre? 11)Schmidt, exeg. Beiträge, 1, 155 f.Hiegegen bleibt auf diesem Standpunkt nichts übrig, als im ganz alten Styl zu sagen, den Kindern sei es gut ge - wesen, so frühe umzukommen, weil sie so durch ein kur - zes Leiden vielem Elende und namentlich der Gefahr ent - zogen wurden, sich mit den ungläubigen Juden an Jesu zu versündigen, weil sie nun die Ehre hatten, um Christi wil - len ihr Leben zu lassen und Märtyrer zu werden, u. s. w.12)Stark, Synops. bibl. exeg. in N. T. p. 62..

Die Magier ziehen jetzt von Jerusalem ab, bei Nacht, wie es scheint, in welcher die Orientalen gerne reisen; der Stern, den sie seit der Abreise aus ihrer Heimath nicht mehr gesehen zu haben scheinen, zeigt sich wieder, und zieht ihnen auf der Strasse nach Bethlehem voran, bis er endlich über dem Wohnhause des Kindes und seiner Eltern stehen bleibt. Von Jerusalem nach Bethlehem geht der Weg südlich; nun ist aber die wahre Bahn der bewegli - chen Sterne entweder von West nach Ost, wie die der Planeten und eines Theils der Kometen, oder von Ost15*228Erster Abschnitt.nach West, wie bei einem andern Theile der Kometen13)Schubert, Lehrbuch der Sternkunde, S. 106. 173 f., und wenn auch von manchen Kometen die wahre Bahn nahezu von Norden nach Süden geht14)S. den zuletzt angeführten Ort., so wird doch bei allen diesen Sternen ihre eigene wahre Bewegung von der durch die tägliche Drehung der Erde hervorgebrachten scheinbaren, welche von Osten nach Westen geht, so weit überwogen, daſs in der kurzen Zeit der zwei - bis drei - stündigen Reise nach Bethlehem nicht jene, sondern höch - stens diese bemerkbar werden konnte. Doch auch diese Ortsveränderung der Sterne ist bei einer kurzen Wande - rung nicht so in die Augen fallend, als die optische, wel - che durch die Ortsveränderung des Beobachters entsteht, vermöge welcher ein vor uns stehender Stern, wenn wir uns vorwärts bewegen, in's Endlose voranzugehen scheint, also namentlich nicht über einem bestimmten Hause stille halten kann, und zumal sternkundigen Männern, wie die Magier, dieſs zu thun nicht scheinen konnte15)S. Michaelis Anmerkungen z. d. St.. Nach al - lem diesem kann der in Frage stehende kein gewöhnlicher, natürlicher Stern gewesen sein, denn ein solcher bewegt sich nicht wirklich so schnell von Nord nach Süd, daſs es in Zeit einiger Stunden bemerkbar wäre; bewegt er sich aber blos optisch so, durch d[as]Weitergehen des Beob - achters, so kann er nicht durch sein Stillestehen einen Wanderer veranlassen, Halt zu machen, sondern umge - kehrt, erst wenn der Wanderer Halt macht, wird auch der Stern zum Stehen kommen. Es müſste also, was auf die - sem Standpunkte keinen Anstand hat, ein von Gott beson - ders zu diesem Behufe geschaffener Stern gewesen sein, wie auch einige Kirchenväter angenommen haben16)z. B. Euseb. Demonstr. evang. 9. angef. bei Suicer, 1, S. 559., wel - cher von dem Schöpfer nach eigener Regel bewegt und zum229Viertes Kapitel. §. 30.Stillstand gebracht wurde. Allein ein wirklicher Stern in der eigentlichen Höhe und Sphäre der Sterne könnte er auch so nicht gewesen sein, da ein solcher, er mag be - wegt und festgehalten werden wie er will, doch nach op - tischen Gesetzen niemals scheinen kann über einem ein - zelnen Hause unverrückbar stille zu stehen. Es müſste da - her etwas niedriger über der Erde sich Hinbewegendes ge - wesen sein, und da haben etliche Kirchenväter und Apo - kryphen17)Chrysostomus u. A. bei Suicer a. a. O., und das evang. in - fant. arab. c. 7. einen Engel angenommen, der nun freilich den Magiern auf ihrem Wege in Gestalt eines Sternes voraus - fliegen und zu Bethlehem in mäſsiger Höhe über dem Hau - se der Maria Halt machen konnte; Neuere haben ein Me - teor vermuthet18)S. bei Kuinöl, Comm. in Matth. S. 23.; Beides gegen den Text des Matthäus: Ersteres, weil es nicht die Art unserer Evangelien ist, et - was rein Übernatürliches, wie eine Engelerscheinung, durch einen natürlichklingenden Ausdruck, wie ἀςὴρ, zu bezeich - nen; Lezteres, weil ein bloſses Meteor für eine so lange Zeit, wie von dem Aufbruch der Magier aus ihrer fernen Heimath bis zu ihrer Ankunft in Bethlehem vergieng, nicht zureicht, wenn man nicht annehmen will, Gott habe für die Reise der Magier von Jerusalem nach Bethlehem ein ganz neues und anderes Meteor geschaffen, als er ihnen in ihrer Heimath gezeigt hatte.

Von diesen Schwierigkeiten in Beziehung auf den Stern haben sich selbst manche orthodoxe Erklärer der - maſsen gedrückt gefunden, daſs sie seinem Voranlaufen nach Bethlehem und seinem Stillstehen über einem Hause um jeden Preis zu entgehen versuchten. So hat namentlich die Süskind'sche Erklärung vielen Beifall gefunden, nach welcher das προῆγεν V. 9. nicht als Imperfectum ein sichtbares Vorangehen, sondern, gleich dem Plusquam -230Erster Abschnitt.perfectum, ein unsichtbares Vorangegangensein bedeutet, so daſs der Evangelist sagen wolle: der Stern, den die Magier im Morgenlande erblickt und seitdem nicht mehr gesehen hatten, kam plözlich in Bethlehem über dem Hau - se des Kindes wieder zum Vorschein, er war ihnen also dahin vorangegangen19)Vermischte Aufsätze, S. 8.. Allein das heiſst rationalistische Kunstgriffe auf das Gebiet der orthodoxen Exegese verpflan - zen; denn daſs hier nicht blos das προῆγεν, sondern auch das ἔως ἐλϑὼν κ. τ. λ[.]das Vorangehen des Sterns als eine nicht schon vorher abgeschlossene, sondern erst noch vor den Augen der Magier sich verlaufende Begebenheit be - zeichnet, das kann nur eine exegetische Willkühr verken - nen, welche dann consequenterweise auch noch weiter ge - hen, und die ganze Erzählung auf das Gebiet des Natürli - chen herüberziehen muſs. Ebenso, wenn Olshausen zwar einräumt, daſs ein Stern durch seinen Stand unmöglich ein einzelnes Haus bezeichnen könne, daſs daher die Magier das Haus des Kindes wohl haben erfragen müssen, und nur in kindlich naiver Weise auch den Ausgang wie den Anfang ihrer Reise auf den[himmlischen] Führer bezogen haben20)Bibl. Comm. 1, S. 70.: so ist er damit auf den rationalistischen Stand - punkt herübergetreten und liest natürliche Erklärungsgründe zwischen die Linien des biblischen Textes hinein, was er selbst an andern Stellen einem Paulus u. A. mit Recht übel nimmt.

Die Magier treten nun in das Haus, bezeigen dem Kinde ihre Verehrung und überreichen ihm Produkte ih - rer Heimath als Geschenke (V. 11.). Man kann sich hie - bei wundern, daſs der Überraschung nicht gedacht ist, welche es für diese Männer sein muſste, statt des erwar - teten Prinzen ein Kind in ganz gewöhnlichen, vielleicht dürftigen Umständen zu finden21)Schmidt, exeg. Beiträge, 1, 152 ff.. So weit freilich darf231Viertes Kapitel. §. 30.man den Contrast nicht treiben, daſs man, wie gewöhn - lich geschieht, die Magier das Kind im Stall und in der Krippe finden läſst; denn von diesen dem Lukas eigen - thümlichen Angaben weiſs Matthäus nichts, sondern spricht schlechtweg von einer οἰκία, in welcher das Kind sich be - funden habe. Sofort erfolgt die Warnung der Magier im Traum (V. 12.), von welcher wir, wie gesagt, nur wünschen möchten, daſs sie früher gekommen wäre, um durch Ablenkung der Magier von Jerusalem vielleicht das ganze folgende Blutbad zu ersparen.

Während nun Herodes noch auf die Rückkehr der Astrologen wartet, wird Joseph im Traume durch eine Engelerscheinung angewiesen, das messianische Kind sammt dessen Mutter nach dem benachbarten Ägypten in Sicher - heit zu bringen (V. 13 15.). Dieſs hat auf dem ange - nommenen Standpunkt keine Schwierigkeit, wohl aber die Weissagung, welche dadurch in Erfüllung gegangen sein soll, Hosea 11, 1.: מִמִּצְרַיִם קָרָאתִי לִבְנִי. Denn wenn hier der Prophet Jehova sagen läſst: da Israël ein Knabe war, hatte ich ihn lieb, und aus Ägypten rief ich (ihn,) mei - nen Sohn: so darf auch dem orthodoxesten Erklärer noch so viel gesunder Blick zugemuthet werden, um einzusehen, daſs hier im zweiten Hemistich nicht von einem andern Subjekte die Rede sein könne, als von dem des ersten He - mistichs, nämlich dem Volk Israël, welches hier, wie auch sonst (z. B. 2. Mos. 4, 22. ; Sirach 36, 14.), Sohn Gottes genannt, und dessen langvergangene Ausführung aus Ägyp - ten unter Moses gemeint ist; daſs also keineswegs an den Mes - sias und dessen künftigen Aufenthalt in Ägypten vom Prophe - ten gedacht worden sei. Und doch, indem unser Evangelist V. 15. sagt, die Flucht Jesu nach Ägypten sei deſswegen ver - anstaltet worden, damit jene Worte des Hosea erfüllt wür - den: so hat er diese als Weissagung auf Christus verstan - den, mithin miſsverstanden. Die Olshausen'sche Doppel -232Erster Abschnitt.sinnigkeit, daſs die Prophetenstelle zunächst zwar auf das Volk Israël gehe, nichtsdestoweniger aber zugleich als Weissagung auf Christum gefaſst werden könne, weil die Schicksale des leiblichen Israël Vorbilder der Schicksale Jesu seien22)a. a. O. S. 74., ist hier um so weniger anwendbar, als diese Vorbildlichkeit in unsrem Falle eine völlig äusserliche und geistlose wäre, indem nur das Formelle eines Aufent - halts in Ägypten auf beiden Seiten gleich, die näheren Verhältnisse aber, unter welchen das israëlitische Volk und das Kind Jesus sich daselbst aufhielten, ganz verschiedene gewesen sind.

Wie die Rückkehr der Magier sich so lange ver - zieht, daſs Herodes merken kann, sie haben nicht im Sinn, ihm Wort zu halten: erläſst er einen Mordbefehl gegen alle männlichen Kinder in und um Bethlehem, welche in - nerhalb der Altersklasse standen, in welche, nach den Angaben der Magier über die Zeit der Erscheinung des Sterns, auch der messianische Knabe gehören muſste (V. 16 18.). Wollen wir hier auch nicht viel Gewicht auf die Bemerkung legen, daſs der bei aller Grausamkeit doch kluge Herodes schwerlich so in's Blinde hinein gewüthet haben würde, da er ja leicht erfahren konnte, daſs der Knabe, welchem so kostbare Geschenke gebracht worden waren, gar nicht mehr in Bethlehem zu finden war23)Schleiermacher, über den Lukas, S. 44 f.: so sollte man doch jedenfalls erwarten, daſs von einer so ganz besonders empörenden Blutthat auch andre Schrift - steller uns etwas berichten würden24)S. Schmidt, a. a. O. S. 156.. Allein weder Jo - sephus, welcher sehr ausführlich über Herodes ist, noch die Rabbinen, die ihm sonst alles Üble nachsagen, erwäh - nen dieses Faktums mit einem Worte. Diese setzen die Reise Jesu nach Ägypten zwar gleichfalls mit einer Mord -233Viertes Kapitel. §. 30.scene in Verbindung, welche aber nicht von Herodes, son - dern von dem König Jannäus veranstaltet worden sein und nicht Kinder, sondern Rabbinen betroffen haben soll25)Babylon. Sanhedr. f. 107, 2, bei Lightfoot, horae, S. 207.. Dabei liegt aber eine Verwechselung des ihnen aus der christlichen Tradition bekannten Datums mit einer frühe - ren Begebenheit zu Grunde, da jener Jannäus schon 40 Jahre vor Christi Geburt starb26)S. Schöttgen, horae, 2, S. 533.. Den herodischen Kin - dermord berührt nur der einzige Macrobius aus dem vier - ten Jahrhundert, doch in einem Zusammenhang, welcher deutlich zeigt, daſs ihm die von Herodes befohlne Ermor - dung seines Sohnes Antipater, der kein Kind mehr war27)Joseph. Antiq. 17, 7., mit dem bethlehemitischen Kindermord, der ihm von christ - licher Seite bekannt geworden sein mochte, zusammen - floſs28)Macrob. Saturnal. 2, 4:Quum audisset (Augustus) inter pueros, quos in Syria Herodes rex Judaeorum intra bimatum jussit interfici, filium quoque ejus occisum, ait: melius est, Herodis porcum esse quam filium.. Mag man nun auch durch die Erinnerung an die geringe Zahl von Knaben des bezeichneten Alters, welche in dem kleinen Bethlehem sich vorfinden mochten, das Auf - fallende jenes Stillschweigens zu vermindern suchen, und ferner bemerken, daſs unter den vielen Greuelthaten des Herodes diese That wie ein Tropfen im Meere verschwun - den sei29)S. Wetstein, Kuinöl, Olshausen z. d. St.: so ist hiebei das specifisch Abscheuliche des Hinwürgens wenn auch nur weniger unschuldigen Kinder übersehen, um dessen willen diese That, wenn sie wirk - lich vorgefallen war, schwerlich so ganz würde vergessen worden sein30)Fritzsche, Comm. in Matth. S. 93 f.. Auch hiezu wird wieder eine Pro - phetenstelle (Jerem. 31, 15.), als eine, durch diesen Kindermord erfüllte Weissagung angeführt (V. 17. 18. ),234Erster Abschnitt.welche sich ursprünglich auf etwas ganz Andres, nämlich die Wegführung der Judäer nach Babylon, bezog, und in welcher an etwas in ferner Zukunft Liegendes auf keine Weise gedacht war.

Während sich nun das Jesuskind mit seinen Eltern in Ägypten aufhält, stirbt Herodes I., und Joseph wird durch einen, ihm im Traum erscheinenden Engel zur Rückkehr in die Heimath eingeladen, welche Rückkehr jedoch, weil auch Archelaus, des Herodes Nachfolger in Judäa, zu fürchten war, durch ein zweites Traumorakel näher dahin bestimmt wird, daſs Joseph nach Nazaret in Galiläa, in das Gebiet des milderen Herodes Antipas ziehen solle (V. 19 23.). Wir hätten somit in diesem Passus 5 ausseror - dentliche göttliche Veranstaltungen: nämlich einen ungewöhn - lichen Stern und 4 Traumgesichte. Schon der Stern und das erste Traumgesicht hätten, wie oben bemerkt, nicht nur ohne Schaden, sondern selbst mit Nutzen in Eins zu - sammengethan werden können, so daſs entweder der Stern oder die Traumerscheinung gleich Anfangs die Magier von Jerusalem ab nach Bethlehem gewiesen hätte, wodurch das von Herodes verhängte Blutbad vielleicht wäre zu ver - hüten gewesen. Ein ganz entschiedener Überfluſs ist es nun aber, daſs die beiden lezten Weisungen im Traum nicht in Eine verwandelt sind; denn was dem Joseph bei der lezten gesagt wurde, daſs er wegen des Archelaus nicht nach Bethlehem, sondern nach Nazaret ziehen solle, das konnte doch wohl einfacher schon bei der vorangegan - genen hinzugesezt werden. Eine solche, bis zur Ver - schwendung gehende Nichtachtung der lex parsimoniae in Bezug auf das Wunderbare muſs man versucht sein, eher der menschlichen Meinung, als der göttlichen Vorse - hung zuzuschreiben.

Den falschen Auslegungen A. T. licher Stellen in die - sem Abschnitt sezt sofort die Bemerkung im lezten Verse die Krone auf, durch die Ansiedlung der Eltern Jesu in235Viertes Kapitel. §. 30.Nazaret sei die Weissagung der Propheten erfüllt worden: ὅτι Ναζωραῖος κληϑήσεται Denn will man sich nicht muthlos in das Dunkel flüchten durch die Annahme, daſs dieses Orakel, welches sich mit denselben Worten im A. T. nicht findet, aus einem verloren gegangenen kanonischen31)So Chrysostomus u. A. oder apokryphischen32)S. Gratz, Comm. zum Ev. Matth. 1, S. 115. Buche sei: so muſs man entwe - der den Evangelisten einer höchst willkührlichen Bezeich - nung zeihen, wenn er nach den Einen die A. T. lichen Vorhersagungen, daſs der Messias verachtet sein werde, so ausgedrückt haben soll, er werde ein Nazaretaner, d. h. Bürger eines verachteten Städtchens heiſsen33)Kuinöl, ad Matth. p. 44 f.; oder muſs man ihn der gröbsten Entstellung des Sinnes und der ge - waltsamsten Umformung der Worte beschuldigen, wenn er das Wort נָזִיר gemeint haben soll, durch welches, wenn es anders im A. T. von Messias vorkäme, dieser nur ent - weder als Nasiräer34)S. Wetstein z. d. St., was übrigens Jesus nie war, oder als Gekrönter35)Schneckenburger, Beiträge zur Einleitung in das N. T. S. 42., wie Joseph 1. Mos. 49, 26., keines - wegs aber als ein in dem Städtchen Nazaret Aufwachsen - der bezeichnet wäre. Endlich auch bei der wahrschein - lichsten Deutung dieser Stelle, welche die Auctorität der von Hieronymus befragten Judenchristen für sich hat, daſs nämlich der Evangelist hier auf Jes. 11, 1. anspiele, wo der Messias נֵצֶר יִשַׁי (surculus Jesse) wie sonst צֶמַח, heiſse36)Gieseler, in den Studien und Kritiken, 1831, 3. Heft, S. 588 f. und Fritzsche S. 104. Vgl. Hieron ad Jesai. 11, 1., bleibt immer die gleiche Gewaltsamkeit, wel - che dem vom Messias gebrauchten appellativum eine ihm ganz fremde Beziehung auf das nomen proprium der Stadt Nazaret giebt.

236Erster Abschnitt.

§. 31. Versuche natürlicher Erklärungen für die Geschichte von den Magiern. Übergang zur mythischen Auffassung.

Die vielen Anstöſse zu vermeiden, welche der supra - naturalistischen Erklärungsweise dieses Abschnitts bei je - dem Schritte hemmend in den Weg treten, verlohnte es sich wohl, eine andere Auslegung zu versuchen, welche, ohne Einmischung von etwas Übernatürlichem, Alles nach physischen und psychologischen Gesetzen zu erklären ver - möchte, wie sie am besten Paulus gegeben hat1)a. a. O. S. 200 ff..

Gleich der erste Anstoſs, wie heidnische Magier aus dem fernen Orient etwas von einem zu gebärenden jüdi - schen König haben wissen können, wird dadurch wegge - räumt, daſs man jene Männer zu auswärtigen Juden macht. Allein, wie es scheint, ganz gegen den Sinn des Evange - listen. Denn indem dieser den Magiern die Frage in den Mund legt: ποῦ ἐςιν τεχϑεὶς βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων (V. 2.); so läſst er sie von den Juden sich unterscheiden, und was die Tendenz der ganzen Erzählung betrifft, so scheint die kirchliche Ansicht nicht so ganz Unrecht zu haben, wie Paulus meint, wenn sie diesen Besuch der Magier als das erste Bekanntwerden Christi unter den Heiden betrachtet. Ferner ist nun nach dieser natürlichen Erklärung der ei - gentliche Reisezweck jener Männer nicht, den neugebore - nen König zu sehen, und die Veranlassung ihres Zuges nicht der von ihnen beobachtete Stern: sondern sie reisen vielleicht in merkantilischer Absicht nach Jerusalem, und nur weil sie da und dort im Lande von einem neugebore - nen König sprechen hören, fällt ihnen eine, kürzlich be - merkte, himmlische Erscheinung ein, und sie wünschen, gelegentlich das besprochene Kind selbst zu sehen. Da - durch wird freilich das Anstöſsige der Bedeutsamkeit, wel - che bei der gewöhnlichen Deutung der Erzählung die Astro -237Viertes Kapitel. §. 31.logie bekommt, gemindert, doch nur auf Kosten der ungezwungnen Auslegung. Denn, wenn es auch angienge, aus μάγοις ohne Weiteres Kaufleute zu machen, so kann doch bei dieser Reise ihr Zweck kein merkantilischer ge - wesen sein, da bei ihrer Ankunft in Jerusalem ihre erste Frage nach dem neugeborenen Judenkönig ist, und sie so - fort als Grund dieser Frage den im Morgenland gesehenen Stern, als veranlaſst durch diesen ihre jetzige Reise, und als Zweck derselben die dem Neugeborenen darzubringende Huldigung angeben (V. 2.: ποῦ εςιν εἴδομεν γἀρ καὶ ἤλϑομεν προσκυνῆσαι ).

Der ἀςὴρ wird von dieser Erklärungsweise entweder zum natürlichen Meteor gemacht2)S. bei Kuinöl, p. 23., oder zum Kometen3)Ebendas., oder zu einer Constellation, d. h. einer Conjunktion meh - rerer Planeten, welcher, von Kepler aufgestellten Ansicht neuerlich mehrere Astronomen und Theologen beigetreten sind4)Kepler, in mehreren Abhandlungen; Münter, der Stern der Weisen; Ideler, Handbuch der mathemat. und technischen Chronologie, 2. Bd. S. 399 ff.. Die Hauptfrage ist hiebei, ob das im Text angege - bene Voranlaufen des ἀςὴρ, nebst seinem Stillestehen über einem Hause, bei dieser Ansicht von demselben leichter er - klärlich werde? Von den beiden ersteren Auffassungswei - sen ist schon oben in dieser Beziehung die Rede gewesen. Bei der Fassung des ἀςὴρ als Constellation wird das προ - άγειν (V. 9.) entweder von dem Auseinandertreten der bis dahin beisammen gestandenen Planeten gedeutet5)S. bei Olshausen S. 69.: allein im Texte ist von keinem Auseinandergehen der Theile der Erscheinung, sondern von einem Vorwärtsgehen der gan - zen Erscheinung die Rede; oder man nimmt das Süskind '- sche Plusquamperfectum zu Hülfe, und stellt sich vor, die Constellation, welche die Magier in dem Thal zwischen238Erster Abschnitt.Jerusalem und Bethlehem nicht haben sehen können, habe sich ihnen bei der Annäherung zu Bethlehem mit Einem - male wieder gezeigt, und zwar über dem Wohnort des Kindes hin stehend6)Paulus a. a. O. S. 202. 221.. Denn das ἐπάνω οὖ ἦν τὸ παιδίον (V. 9.) soll nur überhaupt den Wohnort, nicht das Wohn - haus des Kindes und seiner Eltern bedeuten. Wir geben dieſs zu; aber indem der Evangelist gleich folgen läſst: καὶ εἰσελϑόντες εἰς τὴν οἰκίαν, so wird eben hiedurch der Wohnort näher als das Wohnhaus bestimmt, so daſs diese Erklärung nur aus dem vergeblichen Bestreben entstanden sich zeigt, das Wunderbare aus der evangelischen Erzäh - lung zu entfernen. Das Merkwürdigste bei der Deutung des ἀςὴρ auf eine Constellation ist nun aber, daſs man durch dieselbe einen festen Punkt in der beglaubigten Ge - schichte gefunden zu haben meint, an welchen man die Erzählung des Matthäus anknüpfen könne. Nach Kepler's, von Ideler7)a. a. O. berichtigter Berechnung nämlich fand drei Jahre vor Herodes Tod eine Conjunktion des Jupiter und Saturn im Zeichen der Fische statt, und diese, wie sie in jenem von den Astrologen auf die Juden bezogenen Zei - chen auf dieselbe Weise beiläufig alle 800 Jahre wieder - kehrt, hatte nach des Juden Abarbanel Berechnung auch drei Jahre vor der Geburt des Moses stattgefunden: so daſs sich gar wohl an diese Constellation zu Herodes Zeit Erwartungen des zweiten groſsen Retters der Nation an - knüpfen, und babylonische Juden zur Nachfrage veranlas - sen konnten8)Paulus a. a. O. S. 205 f.. Daſs nun aber der von Matthäus erwähnte Stern eben jene Planetenconjunktion gewesen sei, wird theils durch die Unsicherheit des Geburtsjahrs Jesu precär, theils passen Züge der evangelischen Erzählung nicht da - zu, wie das προῆγεν und ἐςη, so wie, daſs die Magier239Viertes Kapitel. §. 31.als Nichtjuden bezeichnet sind; so daſs, sobald wir auf irgend ein anderes Datum stoſsen, welches unsrer Erzäh - lung bei Matthäus ähnlicher sieht, als diese Constellation, wir jenes und nicht diese als die Grundlage derselben vor - auszusetzen berechtigt sind.

Die Anstöſse wegen der falsch gedeuteten A. T. lichen Stellen werden auf diesem Standpunkte dadurch entfernt, daſs eine falsche Auslegung von Seiten der N. T. lichen Schriftsteller geradezu in Abrede gezogen wird. Die Weis - sagung des Micha soll eben nur das Synedrium auf den Messias und sein Geborenwerden in Bethlehem gedeutet, Matthäus aber diese Deutung mit keinem Worte gebilligt haben9)Ders. S. 202. 219 f.. Allein, da Matthäus weiter erzählt, wie der Erfolg der Auslegung des Synedriums entsprochen habe: so ist darin eine faktische Billigung dieser Auslegung ent - halten. Eigen geht Paulus mit der Stelle aus Hosea zu Werke. Nur abwehren wolle Matthäus durch Anführung derselben den Anstoſs, welchen palästinische Juden daran nehmen konnten, daſs der Messias das heilige Land einst verlassen habe, indem er darauf aufmerksam mache, daſs auch jener Erstgeborene Gottes in andrem Sinne (das - dische Volk) aus Ägypten geholt worden sei, weſswegen sich Niemand daran stoſsen dürfe, daſs auch bei diesem Sohne Gottes (dem Messias) eine solche Reise in das un - heilige Ausland stattgefunden. Allein von einem solchen blos negativen, abwehrenden Zwecke der angeführten A. T. lichen Weissagungen ist in der ganzen Stelle keine Spur10)Später knüpften sich zwar an diese ägyptische Reise Jesu jüdische Lästerungen, aber ganz anderer Art, von welchen im folgenden Kapitel die Rede werden wird., vielmehr haben diese Anführungen durchaus die positive Absicht, die Messianität Jesu dadurch zu begrün - den, daſs messianische Weissagungen als an ihm in Erfül -240Erster Abschnitt.lung gegangen nachgewiesen werden. Daſs ebenso ver - geblich in Bezug auf die beiden andern in unsrem Ab - schnitt citirten Weissagungen das πληρωϑῆναι zur bloſsen Analogie und Anwendbarkeit zu verflüchtigen gesucht wer - de, bedarf keiner weiteren Ausführung.

Die mehrfachen Weisungen endlich, welche die Per - sonen unserer Erzählung durch Traumerscheinungen be - kommen, werden auf dem gegenwärtigen Standpunkte sämmtlich psychologisch aus vorangegangenen Erkundigun - gen und Gedanken der Wachenden erklärt. Dieſs scheint zwar bei der letzten Erscheinung dieser Art, V. 22, durch den Text selbst an die Hand gegeben, indem es hier heiſst, Joseph habe gehört, daſs Archelaus Herr von Judäa ge - worden sei, und habe sich daher gefürchtet, dorthin zu gehen; hierauf erst sei ihm eine höhere Weisung im Trau - me zugekommen. Dennoch ist auch hier, wenn man ge - nauer zusieht, das im Traume Mitgetheilte etwas Neues und nicht aus dem Wachen herübergenommen; nämlich nur das Negative, daſs wegen des Archelaus eine Nieder - lassung in Bethlehem nicht wohl rathsam sei, war dem Joseph im Wachen gegeben: das Positive, daſs er nach Nazaret ziehen solle, wird erst im Traum hinzugefügt. Bei den übrigen Traumerscheinungen unseres Abschnitts aber ist es geradezu Interpolation des Textes, wenn man sie auf die bezeichnete Weise erklären will. Denn sowohl daſs Herodes dem Kinde nach dem Leben trachte, als, daſs er nun gestorben sei, läſst der Text dem Joseph erst durch den Traum bekannt werden; so wie auch die Ma - gier kein Miſstrauen gegen Herodes haben, bis der Traum sie vor ihm warnt.

Wenn hienach die Auffassung der Matth. 2. erzählten Vorgänge als natürlicher dem Sinne des Berichts entschie - den zuwider ist, in ihrem ursprünglichen Sinne genommen aber die evangelische Erzählung bis zum Abenteuerlichen Übernatürliches, und Unwahrscheinliches bis zum Unmög -241Viertes Kapitel. §. 31.lichen enthält: so muſs man zum Zweifel an dem histori - schen Charakter der Erzählung, und zu der Vermuthung geführt werden, daſs wir hier etwas Sagenhaftes vor uns haben. Von dieser mythischen Auffassungsweise sind aber auch hier die ersten Versuche so ungeschickt ausgefallen, daſs sie über die Sphäre der natürlichen Erklärung, wel - che sie überfliegen wollten, in der That nicht hinausge - kommen sind. Der Verfasser einer schon öfters angeführ - ten Abhandlung über die beiden ersten Kapitel des Mat - thäus und Lukas11)In Henke's Magazin 5, 1, 171 ff. Auf etwas Ähnliches läuft auch die Ansicht von Matthaei, Religionsgl. der Apostel, 2, S. 422 ff. hinaus. glaubt das ursprünglich Geschichtli - che und die sagenhaften Zuthaten der Erzählung auf folgende Weise scheiden zu können. Historisch, meint er, möge sein, daſs, bei der allgemeinen Erwartung des Mes - sias in jener Zeit, einigen arabischen Juden, die sich mit Astronomie beschäftigten, ein Komet aufgefallen war, des - sen von ihnen angenommene Beziehung auf den Messias sie zu einer Reise nach Jerusalem, wo sie Herodes zu sich kommen lieſs, und von da nach Bethlehem veranlasste; wobei nun aber das Vorangehen und Stehenbleiben des Sterns mythische Zuthat sei. In Bethlehem, wo vielleicht gerade kein andres neugebornes Kind war, fanden sie das der Maria, welches sie jedoch seines armseligen Zustandes wegen nicht für das messianische erkannten, sondern, nach - dem sie ihm aus Mitleid Einiges von ihren Schätzen ge - schenkt, auf einem andern Wege zurückreisten, indem sie es nicht für der Mühe werth hielten, dem Herodes von ihrem vergeblichen Gange Rapport zu erstatten. Weil nun aber der Sohn der Maria sich später als Messias auswies, so drehte sich die Erzählung: der Stern muſste ihnen den Weg zu ihm gezeigt haben, sie selbst huldigend vor dem Kinde niedergefallen sein, und ein Engel sie gewarntDas Leben Jesu I. Band. 16242Erster Abschnitt.haben, nicht mehr zu Herodes zurückzukehren. Daſs He - rodes sofort Kinder in Bethlehem morden lieſs, und Jo - seph, davon unterrichtet, nach Ägypten floh, ist wieder historisch; nur die darauf angewendeten A. T. lichen Stel - len und die Engelerscheinungen sind späterer Zusaz. Schon etwas mehr glaubte Krug12)Über formelle oder genetische Erklärungsart der Wunder. In Henke's Museum, 1, 3, 399 ff. auf Rechnung der Sa - ge schreiben zu müssen. Arabische Kaufleute, meint er, welche zufällig nach Bethlehem kamen, lernten Jesu Eltern als bedürftige Fremde kennen (nach Matthäus sind Jesu Eltern in Bethlehem nicht fremd), beschenkten sie, wünsch - ten ihnen viel Gutes für ihr Kind, und reisten weiter. Wie Jesus später als Messias sich geltend machte, erin - nerte man sich jener Begebenheit, und schmückte sie mit Stern, Traumerscheinung und glaubiger Huldigung aus. Auch die Erzählungen von der Flucht nach Ägypten und dem Bethlehemitischen Kindermord schloſsen sich an, weil man eine Wirkung jenes Vorfalls auf den Herodes voraussezt[e], der vielleicht um jene Zeit aus andern Ursachen in Bethle - hem einige Familien umbringen lieſs, wie auch Jesus viel - leicht später zu andern Zwecken in Ägypten war.

Bei dieser, wie bei der reinnatürlichen Erklärungsart, bleiben also die Fakta der Ankunft einiger Orientalen, der Flucht nach Ägypten und der Blutscene in Bethlehem ste - hen, entkleidet jedoch von allem wunderhaften Schmucke, welcher sie in der evangelischen Erzählung umgiebt. So sollen nun diese Fakta begreiflich sein, und gar wohl sich haben zutragen können. In der That aber werden sie da - durch unbegreiflicher, als selbst bei der orthodoxen Erklä - rungsart. Denn mit dem übernatürlichen Schmucke ist je - nen Thatsachen zugleich alles Motivirende genommen, und sie schweben völlig in der Luft. Wie die Orientalen in ein Verhältniſs zu Jesu Eltern und dem Kinde kommen,243Viertes Kapitel. §. 32.ist in der Erzählung des Matthäus vollständig motivirt: bei der zulezt ausgeführten Erklärungsweise aber bleibt es ein wunderlicher Zufall. Das Blutbad zu Bethlehem hat in der evangelischen Geschichte seine bestimmte Ver - anlassung: hier aber begreift man nicht, wie Herodes da - zu gekommen sein soll, es zu veranstalten, und ebenso steht die Reise Jesu nach Ägypten, so dringend begründet bei Matthäus, bei dieser Ansicht ganz unerklärlich da. Man kann zwar sagen: diese Begebenheiten werden in der Wirk - lichkeit ihre hinreichenden Veranlassungen gehabt haben, nur daſs Matthäus diesen natürlichen Zusammenhang ver - schwiegen und einen andern wunderhaften an die Stelle ge - sezt hat. Allein der Schriftsteller oder die Sage, wenn sie Begebenheiten mit ganz falschen Motiven und Neben - umständen zu umgeben im Stande sind: so vermögen sie auch die Begebenheiten selbst zu erdichten, und dieſs wird um so wahrscheinlicher, je klarer sich nachweisen läſst, wie die Sage, auch ohne daſs irgend etwas dergleichen wirklich vorgefallen war, ein Interesse haben konnte, es als so vorgefallen darzustellen. Dieſs läſst sich aber kaum bei einem evangelischen Abschnitt einleuchtender machen, als eben bei dem unsrigen.

§. 32. Die Erzählung von den Magiern und was damit zusammenhängt, rein mythisch.

In naiver Weise haben mehrere Kirchenväter auf den wahren Schlüssel der Erzählung von den Magiern und ihrem Sterne hingewiesen, indem sie, um zu erklären, wo - her jene heidnischen Astrologen von einem Stern des Mes - sias haben wissen können, die Vermuthung aufstellten, sie mögen wohl aus den Weissagungen des heidnischen Pro - pheten Bileam, dessen Orakel von dem aus Jakob aufge - henden Sterne auch bei Moses sich finde, geschöpft ha -16*244Erster Abschnitt.ben1)Orig. c. Cels. 1, 60. Ebenso Auctor op. imperf. in Matth. bei Fabric. Cod. Pseudepigr. V. T. p. 807 f.. Mit richtiger Einsicht hat daher K. Ch. L. Schmidt an der Paulus'schen Auslegung dieses Abschnitts beson - ders dieſs getadelt, daſs sie keine Rücksicht auf den Stern nehme, welcher sich, nach jüdischer Erwartung, bei der Erscheinung des Messias zeigen sollte. Und doch, sezt er hinzu, ist in keinem Andern Heil, ist auch kein andrer Name da, wodurch dieser Erzählung könnte geholfen wer - den2)Schmidt's Bibliothek, 3, 1, S. 130.. Nämlich die Weissagung Bileams 4. Mos. 24, 17. von einem Stern aus Jakob war allerdings die Veranlas - sung, freilich nicht, wie die Kirchenväter glaubten, daſs wirklich damals Magier einen erschienenen Stern für den des Messias erkannten und deſshalb nach Jerusalem reisten, wohl aber, daſs die Sage bei Jesu Geburt einen Stern er - scheinen und von Astrologen als den des Messias erkannt werden lieſs. Die dem Bileam in den Mund gelegte Weis - sagung bezog sich ursprünglich auf irgend einen glückli - chen und siegreichen israëlitischen Regenten; sie scheint aber frühzeitig eine messianische Deutung erhalten zu ha - ben. Sollte auch die Übersetzung des Targum Onkelos: surget rex ex Jacobo, et Messias (unctus) ungetur ex Israële nichts beweisen, da hier das unctus als Parallele des rex vielleicht auch einen gewöhnlichen König bedeuten könnte: so haben doch nach Aben Esra's Zeugniſs3)In loc. Num. (bei Schöttgen, horae, 2, S. 152.): Multi in - terpretati sunt haec de Messia. und den von Wetstein und Schöttgen angeführten Stellen4)Wetstein z. d. St., Schöttgen, horae, 2, S. 151 f. manche Rabbinen die Weissagung auf den Messias bezo - gen. Auch der Name Bar Cochba, welchen der bekann - te Pseudomessias unter Hadrian führte, war mit Rück - sicht auf die messianisch gedeutete Weissagung des Bi - leam gewählt.

245Viertes Kapitel. §. 32.

Ihrem ursprünglichen Sinn nach spricht zwar die be - zeichnete Stelle von keinem wirklichen Sterne, sondern vergleicht nur den zu erwartenden Fürsten Israëls mit ei - nem solchen, und so wird sie auch noch von dem ange - führten Targum ausgelegt; bald aber machte der steigen - de Glaube an Astrologie, vermöge dessen man jede merk - würdige Begebenheit durch siderische Veränderungen an - gezeigt sich dachte, daſs man den Spruch des Bileam nicht mehr bildlich, sondern eigentlich von einem Stern verstand, der zur Zeit des Messias am Himmel erscheinen sollte. Was die Verbreitung des astrologischen Glaubens um die Zeit Jesu betrifft, so glaubte man z. B. die künftige Grös - se des Mithridates durch einen, in den Jahren seiner Ge - burt und seines Regierungsantritts erschienenen Kometen vorbedeutet,5)Justin. Hist. 37, 2. und ein bald nach J. Cäsars Tod beobach - teter Komet wurde in genaue Beziehung zu diesem Ereig - niſs gesezt6)Plin. H. N. 2, 23.. Daſs diese Vorstellungsweise auch auf die Juden von Einfluſs war, erhellt daraus, daſs wenigstens spätere jüdische Schriften zur Zeit von Abrahams Geburt einen ausgezeichneten Stern erscheinen lassen7)Jalkut Rubeni, f. 32, 3 (bei Wetstein): qua hora natus est Abrahamus, pater noster, super qu[e]m sit pax, stetit quod - dam sidus in oriente et deglutivit quatuor astra, quae erant in quatuor coeli plagis. Nach einer arabischen Schrift, Ma - allem betitelt, wird dieser die Geburt Abrahams vorbedeu - tende Stern von Nimrod im Traum gesehen. Fabric. Cod. pseudepigr. V. T. 1, S. 345.. Von hier aus lag es denn nahe, auch die Geburt des Messias durch einen Stern verkündigt sich zu denken, zumal ein solcher in dem messianisch gedeuteten Bileamsorakel bereit lag. Wirklich machten die Juden diese Combination; denn rab - binische Vorstellung ist es wenigstens, daſs zur Zeit der Geburt des Messias ein Stern im Osten erscheinen und246Erster Abschnitt.längere Zeit sichtbar sein werde8)Testamentum XII Patriarcharum, test. Levi, 18 (Fabric. Cod. pseud. V. T. p. 584 f.): καὶ ἀνατελεῖ ἄςρον αὐτ[οῦ](des mes - sianischen ἱερεὺς καινὸς) ἐν οὐρανῷ, φωτίζον φῶς γνώσεως κ. τ. λ. Pesikta Sotarta f. 48, 1 (bei Schöttgen 2, S. 531): Et prodibit stella ab oriente, quae est stella Messiae, et in oriente versabitur dies XV. Vgl. Sohar Genes. f. 74. bei Schöttgen 2, 524, und einige andere Stellen, welche Ideler nachweist im Handbuch der Chronologie, 2. Bd. S. 409. An - merk. 1. und Bertholdt, Christologia Judaeor. §. 14.. Wie mit dieser ein - facheren jüdischen Vorstellung, daſs zur Zeit des Me - sias überhaupt ein Stern erscheinen werde, unsre Erzäh - lung im Matthäus verwandt ist: so mit jenen übertreiben - den Schilderungen des zu Abrahams Zeit erschienenen Ge - stirns die apokryphischen Beschreibungen des Sterns, der Jesu Geburt verkündigt haben sollte9)Vergl. mit den, Anm. 7. angeführten Stellen Protevang. Jac. cap. 21: εἴδομεν ἀςέρα παμμεγέϑη, λάμψαντα ἐν τοῖς ἄςροις τούτοις καὶ ἀμβλύνοντα αὐτοὺς τοῦ φαίνειν. Noch mehr übertrieben in Ignat. ep. ad Ephes. 19. S. die Sammlung hiehergehöriger Stellen bei Thilo, cod. apocr. 1, S. 390 f.. Offenbar also ver - hält es sich mit dem bei Jesu Geburt nach Matthäus er - schienenen Stern so, wie schon K. Ch. L. Schmidt10)Exeget. Beiträge 1, S. 159 ff., mit welchem neuestens auch Fritzsche übereinstimmt, es darge - stellt hat. Wie Sterne überhaupt immer die Vorläufer groſser Begebenheiten sind: so, dachten die Juden zur Zeit Jesu, müsse nach 4. Mos. 24, 17. auch des Messias Geburt durch einen Stern voraus verkündigt werden. Die neuen Christen aus den Juden aber konnten ihren Glauben an Je - sum als den Messias vor sich und Andern nur dadurch rechtfertigen und begründen, daſs sie alle Attribute, welche die jüdische Zeitvorstellung dem Messias lieh, an ihrem Jesus als verwirklicht nachzuweisen sich bemühten, was247Viertes Kapitel. §. 32.um so argloser und unwidersprochener geschehen konnte, je weiter man sich von dem Zeitalter Jesu entfernte, und je mehr namentlich die Geschichte seiner Kindheit im Dunkel lag. Daher zweifelte man bald genug nicht mehr, daſs nicht auch die erwartete Erscheinung eines Sterns bei Jesu Geburt wirklich zugetroffen sei11)Fritzsche in der Überschrift vom Kap. 2: Etiam stella, quam judaica disciplina sub Messiae natales visum iri dicit, quo Jesus nascebatur tempore exorta est.. Daſs aber diese Erscheinung von orientalischen Magiern gesehen worden, dieser Zug ergab sich, den Stern einmal vorausgesezt, von selbst; denn die Bedeutung desselben konnte Niemand bes - ser verstehen als Astrologen, und als das Vaterland dieser Kenntnisse galt der Orient.

Indessen hängt dieſs, so wie ohnehin das, daſs die Magier eine Reise nach Judäa unternehmen und dem mes - sianischen Kinde köstliche Geschenke bringen, noch mit andern A. T. lichen Stellen zusammen. In der Schilde - rung der besseren Zukunft, welche Jesaias Kap. 60. giebt, wird namentlich auch dieſs hervorgehoben, daſs in jener Zeit die entferntesten Völker und Könige zur Verehrung Jehova's nach Jerusalem kommen und Gold und Weihrauch und allerlei angenehme Gaben darbringen werden12)Wie es Matth. 2, 11. von den Magiern heisst: προσήνεγκαν αυτῷ χρυσὸν καὶ λίβανον: so Jes. 60, 6 (LXX): ἥξουσι, φέροντες χρυσίον, καὶ λίβανον οἴσουσι. Das dritte Geschenk, welches bei Matth. in σμύρνα besteht, ist bei Jes. λίϑος τίμιος.. Wenn in dieser jesaianischen Stelle nur von der messianischen Zeit die Rede ist, ein messianisches Subjekt aber fehlt: so wird Ps. 72. von einem Könige, von dem es heiſst, man werde ihn fürchten so lange Mond und Sonne währen, zu seiner Zeit werde Gerechtigkeit blühen und alle Völker ihn preisen, also von einem leicht messianisch zu fassenden248Erster Abschnitt.Subjekte, gerade wie Jes. 60. gesagt, daſs ihm fremde - nige Gold und andere Geschenke bringen werden (V. 10. 15.). Dazu kommt, daſs in jener Prophetenstelle das Wall - fahrten fremder Völker nach Jerusalem mit einem über die - ser Stadt aufgegangenen Lichte in Verbindung gesetzt ist13)V. 1 (LXX): φωτίζου, φωτίζου, Ἱερουσαλὴμ, ἥκει γάρ σου τὸ φῶς, καὶ δόξα Κυρίου ἐπί σε ἀνατέταλκεν. V. 3: καὶ πορεύσονται βασιλεῖς τῷ φωτί σου (לְאוֺרֵךְ) κ. τ. λ. , welches an den Stern des Bileam erinnern muſste. Was war daher natürlicher, da man auf der einen Seite einen messianischen Stern aus Jakob, zu dessen Beobachtung Sternkundige am geeignetsten waren, auf der andern ein über Jerusalem aufgegangenes Licht hatte, zu welchem ferne Völker, Geschenke bringend, wandeln sollten, als Beides zu combiniren und zu sagen: des über Jerusalem aufgegangenen Sterns wegen kamen fernher Astrologen mit Geschenken für den durch den Stern angedeuteten Mes - sias? Hatte man aber einmal einen Stern und um sei - netwillen fernher ziehende Reisende: so lieſs man lieber auch vollends diesen Stern den unmittelbaren Führer ihrer Reise sein, ihnen auf ihrem Zuge voranleuchten. Diese Vorstellung war im Alterthum sehr gewöhnlich: dem Äneas bezeichnete nach Virgil eine stella facem ducens vorbe - deutend den Weg von Troja in das Abendland14)Aeneid. 2, 693 ff.; den Thrasybul und Timoleon führten himmlische Feuer15)S. die Nachweisungen bei Wetstein z. d. St. und auch dem Abraham sollte ein Stern den Weg zum Moria gezeigt haben16)Nach einer Stelle bei Wetstein S. 247.. Zudem schien in der Prophetenstelle selbst das Himmelslicht mit der Wanderung der Geschen - kebringenden als Leiter ihres Zugs in Verbindung gesetzt zu sein; wenigstens konnte der zunächst bildliche Aus - druck, Völker und Könige werden in dem, über Jerusalem249Viertes Kapitel. §. 32.aufgegangenen Lichte wandeln, später leicht in rabbinischem Geiste eigentlich verstanden werden. Daſs der Stern die Magier nicht geradezu nach Bethlehem führt, wo Jesus sich befand, sondern sie erst nach Jerusalem sich wenden, könnte einestheils in der Prophetenstelle seinen Grund ha - ben, welche das aufgehende Licht und die Geschenkebrin - genden auf Jerusalem bezieht; der Hauptgrund ist jedoch, daſs zu Jerusalem Herodes zu finden war. Was eignete sich nämlich mehr zur Veranlassung des herodischen Mord - befehls, als die Aufsehen erregende Nachricht der Magier, den Stern des groſsen Judenkönigs gesehen zu haben?

Einen Mordbefehl des Herodes gegen Jesum ergehen zu lassen, lag aber im Interesse der urchristlichen Sage. Durch Mordanschläge und Aussetzungen hat von jeher die Sage die Kindheit groſser Männer verherrlicht: je gröſser die Gefahr, welche über ihnen schwebte, desto höher scheint ihr Werth zu steigen; je unerwarteter ihre Ret - tung erfolgt, desto deutlicher zeigt sich, wie viel dem Him - mel an ihnen gelegen war. Daher finden wir in den Kind - heitsgeschichten des Cyrus bei Herodot17)1, 108 ff., des Romulus bei Livius18)1, 4., selbst noch später in der des Augustus bei Sueton19)August. 94:Ante paucos quam nasceretur menses prodigium Romae factum publice, quo denuntiabatur, regem populi Ro - mani naturam parturire. Senatum exterritum, censuisse, ne quis illo anno genitus educaretur. Eos, qui gravidas uxores haberent, quo ad se quisque spem traheret, curasse, ne Se - natusconsultum ad aerarium deferretur., diesen Zug, und auch die hebräische Sage hat ihn bei Moses nicht vergessen. Die Erzählung 2. Mos. 1. 2. ist der unsrigen besonders darin genau verwandt, daſs der Mordbefehl beidemale nicht blos speciell auf Moses oder Jesus, sondern allgemein auf eine gewisse Klasse von Kin - dern, dort alle männlichen, neugeborenen, hier auf alle250Erster Abschnitt.von und unter zwei Jahren, sich bezieht. Freilich nach der Erzählung des Exodus ist der Mordbefehl ganz ohne Rücksicht auf den Moses gegeben, von dessen Geburt Pha - rao nichts ahnt, und der also nur zufällig durch jenen Be - fehl mitgefährdet wird: aber diese Darstellung war der Tradition im hebräischen Volke nicht absichtsvoll genug, und sie hat daher schon bei Josephus eine Wendung erhalten, durch welche sie den Sagen von Cyrus und Augustus, aber auch der Erzählung des Matthäus bedeutend ähnlicher wurde, die nämlich, daſs eine Eröffnung seiner Schriftdeu - ter (wie bei Herodot der Traumdeuter und bei Matthäus der Sterndeuter), es werde ein Kind geboren werden, das den Israëliten aufhelfen, die Ägypter aber demüthigen wür - de, den Pharao zu jenem Mordbefehl veranlaſst habe20)Joseph. Antiq. 2, 9, 2: τῶν ἱερογραμματέων τις ἀγ - γέλλει τῷ βασιλεῖ, τεχϑήσεσϑαί τινα κατ 'ἐκεῖνον τὸν καιρὸν τοῖς Ἰσραηλίταις, ὃς ταπεινώσει μὲν τὴν Αἰ - γυπτίων ἡγεμονίαν, αὐξήσει δὲ τοὺς Ἰσραηλίτας τραφεὶς, ἀρετῇ δὲ πάντας ὑπερβαλεῖ, καὶ δόξαν [ου]ίμνηςον κτή - σεται. Δείσας δὲ βασιλεὺς, κατὰ γνώμην τὴν ἐκείνου κελεύει πᾶν τὸ γεννηϑὲν ἄρσεν ὑπὸ τῶν Ἰσραηλιτῶν εἰς τὸν ποταμὸν ῥιπτοῦντας διαφϑείρειν. . Wie den Gesetzgeber, so lieſs die Sage bald auch den Stammvater der Nation, kaum geboren, durch den Mord - anschlag eines argwöhnischen Tyrannen in Lebensgefahr gerathen. Wie dem Moses Pharao als Feind und Unter - drücker entgegenstand, so wurde dem Abraham Nimrod in der gleichen Rolle gegenübergestellt. Diesem sagten sei - ne Weisen, durch einen ausgezeichneten Stern aufmerksam gemacht, daſs dem Tharah ein Sohn geboren sei, von wel - chem ein gewaltiges Volk abstammen werde, worauf er ebenfalls einen Mordbefehl ergehen läſst, welchem jedoch Abraham glücklich entgeht21)Jalkut Rubeni (Fortsetzung der Anm. 7. angeführten Stelle):dixerunt sapientes Nimrodi: natus est Tharae filius hac ipsa hora, ex quo egressurus est populus, qui haereditabit prae -. Was Wunder, daſs man251Viertes Kapitel. §. 32.nun, wie dem Stammvater und dem Gesetzgeber, so auch dem Wiederhersteller der Nation, dem Messias, einen an - dern Nimrod und Pharao in der Person des Herodes ent - gegenstellte, diesem durch Weise seine Geburt verkündi - gen, ihn dem Neugeborenen nach dem Leben trachten, diesen aber seinen Nachstellungen glücklich entkommen lieſs? Hat ja doch die apokryphische Legende sich bewo - gen gefunden, auch in der Geschichte des Vorläufers die - sen Zug nachzubilden: auch er soll durch den herodischen Mordbefehl in Gefahr gekommen, aus dieser durch das Wunder eines für ihn und seine Mutter sich öffnenden Berges gerettet, sein Vater aber, weil er den Aufenthalts - ort des Knaben nicht anzeigen wollte, ermordet worden sein22)Protev. Jacobi c. 22 f..

Die Art, wie Jesus den Nachstellungen des Herodes entgeht, ist eine andere, als wie nach der mosaischen Ge - schichte Moses und nach der jüdischen Sage Abraham23)S. die Fortsetzung der Not. 21. angeführten Stellen. den gegen sie ergangenen Mordbefehlen; nämlich durch eine Flucht aus dem Lande, nach Ägypten. Eine Flucht ausser Landes kommt zwar auch im Leben des Moses vor, aber nicht in der Geschichte seiner Kindheit, sondern nach - dem er als Mann den Ägypter erschlagen, als Pharao ihm deſshalb nach dem Leben trachtet, flüchtet er sich nach Midian (2. Mos. 2, 15.). Daſs auf diese Flucht des ersten Goël bei der des zweiten Rücksicht genommen ist, zeigt unser Text selbst ausdrücklich an, indem er dem Engel, welcher den Joseph zur Rückkehr aus Ägypten nach Palä - stina ermuntert, dieselben Worte in den Mund legt, mit welchen dort die Rückkehr des Moses aus Midian nach21)sens et futurum seculum; si tibi placuerit, detur patri ip - sius domus argento auroque plena, et occidat ipsum. Vgl. auch die Stelle des arabischen Buchs, bei Fabric. Cod. pseud - epigr. a. a. O.252Erster Abschnitt.Ägypten motivirt ist24)2. Mos. 4, 19 (LXX): βάδιζε, ἄπελϑε εἰς Αϊγυπτον· τεϑνή - κασι γὰρ πάντες οἱ ζητοῦντές σου τὴν ψυχήν. Matth. 2, 20: ἐγερϑεὶς-πορεύου εἰς γῆν Ἰσραὴλ, τεϑνή - κασι γὰρ οἱ ζητοῦντες τὴν ψυχὴν τοῦ παιδιου.. Daſs nun aber Jesus gerade nach Ägypten geflüchtet wird, dafür läſst sich freilich die eben dahin gehende Flucht Jerobeanus, dieses Abtrünnigen von dem Davidisch-messianischen Geschlechte (1. Kön. 11, 40. 12, 2.) nicht anführen; sondern wir müssen uns hiefür an die Prophetenstelle halten, welche unser Evangelist aus Hosea 11, 1. citirt: ἐξ Αἰγύπτου ἐκάλεσα τὸν υἱόν μου. Daſs diese Stelle von den Juden auf den Messias bezogen wor - den wäre, dafür sind zwar die unmittelbaren Belege sehr unsicher25)S. z. B. Schöttgen, horae, 2, 209., doch war es bei Vergleichung von Stellen wie Ps. 2, 7, wo das בְנֵי אַתָּה auf den Messias bezogen wur - de, natürlich, daſs man auch dem לִבְנִי bei Hosea eine mes - sianische Beziehung gab; was zur Erklärung dieses Zuges in der Kindheitsgeschichte Jesu hinreicht, wenn auch al - lerdings die jüdische Meinung, daſs der Messias bald nach seiner Geburt werde verborgen werden26)Schöttgen, 2, 532 f., zu heterogen, die andre aber, daſs er unter Heiden erzogen werden wer - de27)Tanchuma f. 19, 3. bei Schöttgen, 2, S. 169., erst nach der lezten Zerstreuung des Volks ent - standen sein mag.

Da sich den Schwierigkeiten der supranaturalistischen wie der natürlichen Erklärung gegenüber, wie wir nun - mehr sehen, die mythische so ganz von selbst ergiebt: so kann nicht lange die Frage sein, welche den Vorzug ver - diene, und wir müssen uns daher bescheiden, auch durch die bisher betrachtete Erzählung kein einzelnes Faktum aus dem Leben Jesu zu erfahren, sondern nur eine neue Probe davon zu bekommen, wie bestimmt der messianische253Viertes Kapitel. §. 32.Eindruck war, den Jesus hinterlieſs, da selbst der Ge - schichte seiner Kindheit ein messianischer Zuschnitt gege - ben wurde28)Auch Schleiermacher, über den Lukas, S. 47, erklärt die Er - zählung von den Magiern u. s. w. für eine symbolische; da er es aber verschmäht, auf die hiehergehörigen A. T. lichen u. a. Stellen Rücksicht zu nehmen, so rächt sich diess da - durch, dass er in der Deutung der Erzählung theils im All - gemeinen stehen bleibt, theils in's Schiefe geräth..

Blicken wir von hier noch einmal auf die Erzählung des Lukas, Kap. 2., zurück, so weit sie der unsrigen par - allel läuft: so haben wir schon gesehen, daſs die unsrige das von Lukas Erzählte nicht als früher Vorgefallenes vor - aussezt; noch weniger kann das Umgekehrte stattfinden, daſs die Magier vor den Hirten gekommen wären: es fragt sich also, ob nicht vielleicht beide Berichte dasselbe dar - stellen wollen, nur daſs sie dieſs auf verschiedene Weise thun? Auf dem älteren orthodoxen Standpunkte, welcher den Stern bei Matthäus als einen Engel zu fassen geneigt war, lag es nahe, denselben mit dem Engel bei Lukas in der Art zu identificiren, daſs der in der Geburtsnacht Jesu den bethlehemitischen Hirten erschienene Engel von den Magiern in der Ferne für einen über Judäa stehenden Stern gehalten worden sein sollte29)So Lightfoot, horae p. 202., so daſs beide Be - richte im Wesentlichen richtig wären. Neuerlich hat man nur Einen, und zwar den des Lukas, als den richtigen vorausgesezt, den des Matthäus aber als ausgeschmückte Umbildung von jenem dargestellt. Aus dem Engel im himm - lischen Glanze bei Lukas soll in der umbildenden Erzäh - lung der Matthäustradition ein Stern geworden sein, wie die Begriffe von Engeln und Sternen in der höheren - dischen Theologie zusammenfloſsen; die Hirten aber sollen zu königlichen Weisen umgebildet worden sein, wie ja die254Erster Abschnitt.Könige im Alterthum Hirten der Völker heiſsen30)Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums, S. 69 ff.. Diese Ableitung wäre selbst dann durch ihre Künstlichkeit un - wahrscheinlich, wenn es richtig wäre, was dabei voraus - gesezt wird, daſs die hiehergehörigen Erzählungen des Lukas den Stempel der historischen Wahrheit tragen. Da wir aber hievon das Gegentheil nachgewiesen zu haben hoffen, mithin zwei gleich unhistorische Erzählungen vor uns liegen: so fehlt jeder Grund, die gequälte Herausdeu - tung des Matthäischen Berichts aus dem des Lukas der so einfachen Ableitung desselben aus A. T. lichen Stellen und jüdischen Meinungen vorzuziehen. Es sind also diese bei - den Beschreibungen der ersten Introduktion Jesu zwar Variationen über dasselbe Thema, aber ohne direkten Ein - fluſs der einen auf die andere.

§. 33. Chronologisches Verhältniss des Besuchs der Magier sammt der Flucht nach Ägypten bei Matthäus zu der Darstellung im Tempel bei Lukas.

Es ist oben bemerkt worden, daſs die im Anfang ziem - lich parallel laufenden Erzählungen des Matthäus und Lu - kas in der Folge ganz auseinandergehen, indem, statt der tragischen Katastrophe mit Kindermord und Flucht uns Lukas die friedliche Scene der Darstellung des Jesuskindes im Tempel aufbehalten hat. Setzen wir für jezt das Re - sultat unsrer lezten Untersuchung, den blos mythischen Charakter der Erzählung bei Matthäus, bei Seite und fra - gen: in welchem Zeitverhältniſs soll diese Darstellung im Tempel zu dem Magierbesuch und der Flucht nach Aegyp - ten stehen?

Eine ausdrückliche chronologische Bestimmung hat von beiden Begebenheiten nur die Darstellung im Tempel, von welcher es heiſst, daſs sie nach der gesetzlichen Zeit der255Viertes Kapitel. §. 33.Reinigung einer Mutter, d. h. also, nach 3. Mos. 12, 2 4., 40 Tage nach der Geburt des Kindes, vorgegangen sei (Luc. 2, 22.). Die Zeit der andern Begebenheit ist nicht so be - stimmt festgesezt: es heiſst nur, die Magier seien angekom - men τοῦ Ἰησοῦ γεννηϑέντος ἐν Βηϑλεὲμ (Matth. 2, 1.), un - bestimmt wie lange hernach. Da aber durch dieses Par - ticip der Besuch der Magier unmittelbar, wenigstens wie wenn nichts Bedeutendes dazwischen vorgefallen wäre, an die Geburt des Kindes angeknüpft zu werden scheint: so hat dieſs einige Ausleger auf die Ansicht geführt, daſs je - ner Besuch vor die Darstellung im Tempel zu setzen sei1)So z. B. Augustin de consensu evangelistarum 2, 5. Storr, opusc. acad. 3, S. 96 ff.. Dabei bleibt noch die doppelte Möglichkeit offen, entwe - der auch noch die Flucht nach Ägypten der Darstellung im Tempel vorzusetzen, oder den Besuch der Magier zwar dieser voranzustellen, die F[l]ucht aber erst auf die Darstel - lung folgen zu lassen. Nimmt man das Leztere an, und klemmt die Darstellung im Tempel zwischen den Magier - besuch und die Flucht ein: so verwickelt man sich in einen schlimmen Zwiespalt sowohl mit den Worten des Matthäus als mit dem Zusammenhang der Sachen. Da nämlich mit derselben Participialconstruktion der Evangelist hier an die Umkehr der Magier die Aufforderung zur Flucht knüpft (ἀναχωρησάντων αὐτῶν ἰδοὺ ἄγγελος κ. τ. λ. V. 13.), mit welcher er V. 1. die Ankunft der Morgenländer an die Ge - burt Jesu angeschlossen hatte: so muſs doch gewiſs derje - nige, welchen diese Construktion oben bewogen hatte, die durch sie verbundenen Begebenheiten ohne Dazwischen - kunft eines andern bedeutenden Vorfalls aufeinander fol - gen zu lassen, auch hier sich durch dieselbe abgehalten finden, zwischen die durch sie verknüpften Ereignisse des Besuchs und der Flucht ein drittes einzuschieben. Was aber die Sache betrifft, so wird man doch nicht wahrschein -256Erster Abschnitt.lich finden wollen, daſs in einem Zeitpunkt, in welchem Gott dem Joseph anzeigen läſst, er sei zu Bethlehem nicht mehr vor Herodes sicher, demselben eine Reise nach Je - rusalem, also eigentlich in die Hände des Herodes hinein, zugelassen worden wäre. Jedenfalls hätte allen Betheilig - ten die strengste Vorsicht eingeschärft werden müssen, das Ruchtbarwerden der Anwesenheit des messianischen Kindes in Jerusalem zu verhüten. Solches ängstliche Incognito ist aber in der Erzählung des Lukas nirgends zu spüren, vielmehr macht nicht nur Simeon im Tempel auf Jesum aufmerksam, ohne vom Geist oder von den Eltern daran verhindert zu werden, sondern auch Hanna glaubt der gu - ten Sache einen Dienst zu thun, wenn sie die Kunde von dem neugeborenen Messias so sehr wie möglich verbreite (Luc. 2, 28. ff. 38.). Daſs sie dieſs nur unter Gleichge - sinnten that (ἐλάλει περὶ ἀυτοῦ πᾶσι τοῖς προςδεχομένοις λύτρωσιν ἐν Ἱερουσαλὴμ), konnte nicht verhindern, daſs es nicht auch der herodischen Partei bekannt wurde, da eben, je gröſser die Aufregung jener προςδεχόμενοι durch solche Kunde wurde, desto mehr auch die Aufmerksamkeit der Regierung erregt werden, und so Jesus in die Hände des lauernden Herodes fallen muſste.

In jedem Falle müſste sich also, wer die Darstellung im Tempel nach dem Besuch der Magier sezt, auch dazu vollends entschlieſsen, sie selbst bis nach der Rückkehr aus Ägypten zu verschieben. Allein auch dabei geht es nicht ohne Verstoſs gegen die Berichte ab. Es müſste sich nämlich dieser Annahme zufolge zwischen der Geburt Jesu und seiner Darstellung im Tempel ereignet haben: die An - kunft der Magier; die Flucht nach Aegypten; der bethle - hemitische Kindermord; der Tod des Herodes; die Rück - kehr der Eltern Jesu aus Aegypten. Das ist aber für 40 Tage offenbar zu viel; man müſste daher annehmen, die Darstellung des Kindes und der erste Tempelbesuch der Wöchnerin sei über die gesetzliche Zeit hinaus verschoben257Viertes Kapitel. §. 33.worden. Dieſs läuft aber der Erzählung des Lukas zuwi - der, welcher durch sein ἅτε ἐπλήσϑησαν αἱ ἡμέραι τοῦ κα - ϑαρισμοῦ αὐτῶν κατὰ τὸν νόμον Μωσέως (V. 22.) ausdrück - lich sagt, daſs der Tempelbesuch zur gesetzlichen Zeit stattgefunden. Doch gleichviel, ob früher oder später: die Eltern Jesu konnten dem Matthäus zufolge nach ihrer Rückkehr aus Aegypten so wenig als unmittelbar vor ih - rem Abgang dahin an eine Reise nach Jerusalem denken. Denn da bei der Rückkehr von der Flucht Joseph wegen des Archelaus vor Judäa gewarnt wird, das unter sei - ner Herrschaft stand, so konnte er es am wenigsten wa - gen, in dessen Residenz, Jerusalem, selbst sich zu begeben.

Da also auf keine dieser beiden Weisen die Darstel - lung im Tempel es ertragen will, dem Magierbesuche nach - gesezt zu werden, so bleibt nur das Andre übrig, jene von Lukas erzählte Begebenheit den beiden von Matthäus berichteten voranzustellen, wofür sich auch immer die Mehrheit der Ausleger entschieden hat2)Unter den Neueren z. B. Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 51 ff. Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 203 f. Olshausen, bibl. Com - ment. 1, S. 147.. Hienach wären also die Eltern Jesu zuerst von Bethlehem, wo das Kind geboren war, nach Jerusalem gereist, um die gesetzlichen Gaben darzubringen; sodann wären sie wieder nach Beth - lehem zurückgekehrt, wo (nach Matth. 2, 1. und 5.) die Magier sie fanden; hierauf wäre die Flucht nach Aegyp - ten, und nach der Rückkehr von derselben die Ansiede - lung in Nazaret vor sich gegangen. Die hiebei vor Allem sich aufdringende Frage: was hatten denn die Eltern Je - su nach der Darstellung im Tempel noch einmal in Beth - lehem zu thun, das ja gar nicht ihre Heimath war, und wo sie binnen der 40 Tage ihre Geschäfte wegen der Schat - zung gewiſs hatten abmachen können? muſs zwar auf spä - ter verwiesen werden; indessen wird dieser in der SacheDas Leben Jesu I. Band. 17258Erster Abschnitt.liegende Entscheidungsgrund vollständig ersetzt durch einen, der in den Worten liegt. Lukas nämlich sagt (V. 39.) gar zu bestimmt, nach Vollendung der gesetzlichen Opfer u. s. f., seien Jesu Eltern wieder nach Nazaret zurückgekehrt, als in ihre eigentliche Heimath, und nicht nach dem blos vor - übergehenden Aufenthaltsort Bethlehem. Kamen also die Magier nach der Darstellung im Tempel: so muſsten sie die Eltern Jesu schon wieder in Nazaret treffen und nicht in Bethlehem, wie Matthäus sagt3)Was Olshausen S. 147. einen mindestens haltbaren Ausweg für denjenigen nennt, der die Syrten der Mythen zu vermei - den den Beruf fühle, dass nämlich (S. 145.) zwischen das bei Lukas 2, 39. unmittelbar verbundene ὡς ἐτέλεσαν απαν - τα und ὑπέςρεψαν εἰς Ναζαρὲτ sich gar wohl noch andere Reisen hineindenken lassen, indem das ὑπέςρεψαν κ. τ. λ. als Schlussformel nur den fortan bleibenden Aufenthalt Jesu anzeige, vor welchem wohl noch einige vorübergehende (wie Bethlehem, Ägypten) vorangegangen sein könnten, das sollte er vielmehr eine Ausflucht heissen, die nur derjenige haltbar zu nennen den Beruf fühlen kann, welcher befangen genug ist, vor Mythen im N. T. als vor Syrten zurückzu - schrecken. Dass aber nach Michaelis (Anmerk. zu seiner Übersetzung S. 379.) der Weg von Jerusalem nach Nazaret über das in entgegengesetzter Richtung gelegene Bethlehem geführt haben solle, eine so kecke Behauptung zeigt am deutlichsten, wie verzweifelt es um eine Sache ste - he, welcher zulieb dergleichen gemacht werden.. Dazu kommt noch, daſs, wenn wirklich der Ankunft der Magier die Darstel - lung im Tempel mit dem Aufsehen, welches die Reden Si - meon's und der Hanna machen muſsten, schon vorangegan - gen war: unmöglich dann bei der Ankunft der Magier die Geburt des messianischen Kindes zu Jerusalem noch so un - bekannt sein konnte, daſs, wie Matthäus meldet, die An - kündigung derselben durch die Magier allgemeine Bestür - zung erregte (2, 3.)4)Dieselbe Differenz in Feststellung des chronologischen Ver -.

259Viertes Kapitel. §. 34.

Wenn somit die Darstellung Jesu im Tempel weder früher noch auch später stattgefunden haben kann, als der Besuch der Magier und die Flucht nach Aegypten, und ebenso wenig diese letztere Begebenheit früher oder spä - ter als jene erste: so ist es also unmöglich, daſs die eine sowohl als die andere sollte vorgefallen sein, sondern höch - stens kann die eine oder die andere sich ereignet haben5)Diese Unverträglichkeit der beiden Erzählungen ist schon frühe einigen Gegnern des Christenthums (Epiphanius, hae - res. 51, 8. nennt neben Celsus und Porphyr noch einen Phi - losabbatius) zum Bewusstsein gekommen. Nur überspannten sie den Bogen dadurch, dass sie den Matthäus so deuteten, als sollten noch in der Geburtsnacht Jesu die Magier ange - kommen sein.. Hätten wir sonach zu wählen, so dürften wir uns, so weit wir jetzt in der Untersuchung sind, in keinem Fall für die Erzählung des Matthäus und gegen die des Lukas entschei - den, sondern, da wir jene als mythisch erkannt haben, so bliebe uns nur übrig, mit neuern Kritikern6)Schleiermacher, über den Lukas, S. 47. Schneckenburger a. a. O. an der Er - zählung des Lukas festzuhalten und die des Matthäus preiſs - zugeben. Indeſs, ob nicht auch jene von gleicher Quali - tät mit dieser sei, mithin statt des Entweder, Oder, viel - mehr weder die eine noch die andre als historisch festge - halten werden dürfe, wird die nächstfolgende Untersuchung lehren.

§. 34. Die Darstellung Jesu im Tempel.

Die Erzählung von der Darstellung Jesu im Tempel (Luc. 2, 22 38.) scheint auf den ersten Anblick ein ganz4)hältnisses der beiden Begebenheiten findet sich auch zwischen zwei verschiedenen Texten des Apokryphums: historia de na - tivitate Mariae et de inf. serv., s. bei Thilo, S. 385, not.17*260Erster Abschnitt.geschichtliches Gepräge zu tragen. Ein doppeltes Gesetz, das eine der Mutter ein Reinigungsopfer vorschreibend, das andre die Loskaufung des erstgeborenen Sohnes hei - schend, führt die Eltern Jesu mit dem Kinde nach Jeru - salem in den Tempel. Hier treffen sie einen frommen, messianischen Erwartungen hingegebenen Mann, mit Na - men Simeon, an. Manche Erklärer halten diesen Simeon für denselben mit dem Rabban Simeon (Hillels Sohn und Nachfolger als Präsident des Synedriums, und Vater Ga - maliels), welchen selbst wieder manche mit dem Sameas des Josephus1)Antiq. 14, 9. 4. 15, 1, 1 u. 10, 4. identificiren, und auf seine angeblich Davidi - sche Abkunft deſswegen Gewicht legen, weil diese ihn zum Verwandten Jesu mache, und die folgende Scene natürlich erklären helfe2)S. bei Paulus a. a. O. S. 194 f.. Doch auch ohne diese Annahme, welche schon durch die, für einen so bekannten Mann zu kahle Bezeichnung: ἄνϑρωπός τις bei Lukas unwahrscheinlich wird3)Paulus a. a. O. Das Evang. Nicodemi freilich nennt ihn c. 16, μέγας διδάσκαλος, und das Protev. Jacobi c. 24. macht ihn zum Priester oder gar zum Hohenpriester, s. die Varr. bei Thilo Cod. Apocr. N. T. 1, S. 271. vgl. 203., scheint sich immerhin die Scene, welche sich so - fort zwischen den Eltern Jesu und diesem Simeon zutrug, wie auch die Rolle, welche die Prophetin Hanna dabei spielte, auf sehr natürliche Weise erklären zu lassen. Nicht einmal das braucht man mit dem Verf. der natürlichen Ge - schichte4)1. Thl. S. 205 ff. vorauszusetzen, daſs Simeon schon vorher um die Hoffnung der Maria, den Messias zu gebären, gewuſst habe: man denke sich nur mit Paulus u. A.5)Paulus a. a. O. S. 191. Kuinöl, Comm. in Luc. p. 340. die Sache so. Be - seelt, wie Manche in jener Zeit, von der Erwartung der nahe bevorstehenden Ankunft des Messias, bekommt Simeon,261Viertes Kapitel. §. 34.wahrscheinlich im Traum, die Gewiſsheit, ihn vor seinem Ende noch sehen zu dürfen. Als er daher eines Tags dem Drange nicht widerstehen kann, den Tempel zu besuchen, und nun eben an diesem Tage Maria ihr Kind dahin brach - te, dessen Schönheit ihn schon anzog: so wurde, als sie ihm vollends die Davidische Abkunft des Kindes eröffnete, die Aufmerksamkeit und Theilnahme des Mannes in einem Grade rege, welcher die Maria bewog, ihm die Hoffnungen, wel - che auf diesem Spröſsling des al[te]n Königshauses ruhten, und die ausserordentlichen Ereign[is]se, welche dieselben ver - anlaſst hatten, zu entdecken. Diese Hoffnungen ergreift Si - meon mit Zuversicht, und spricht nun seine messianischen Erwartungen und Befürchtungen, in der Überzeugung, daſs sie an diesem Kinde in Erfüllung gehen werden, in begei - sterter Rede aus. Noch weniger braucht man für die Han - na die Annahme des Verfs. der natürlichen Geschichte, daſs sie, als eine jener bei der Entbindung Marias anwe - senden Frauen, mit den auf dem Kinde ruhenden Hoffnun - gen schon vorher bekannt gewesen: sie hatte ja Simeons Reden gehört, und gleichgestimmt, wie sie war, gab sie denselben ihren Beifall.

So einfach diese natürliche Erklärung scheint: so ist sie doch auch hier nicht minder gewaltsam, als wir sie sonst gefunden haben. Denn daſs dem Simeon, ehe er in seine begeisterte Rede sich ergoſs, die Eltern Jesu etwas von ihren ausserordentlichen Erwartungen mitgetheilt hät - ten, sagt unser Referent nicht nur nirgends, sondern die Pointe seiner ganzen Erzählung besteht gerade darin, daſs der fromme Greis in Kraft des ihn erfüllenden Geistes Je - sum sogleich als das messianische Kind erkannt habe, und ebendeſswegen wird auch sein Verhältniſs zum πνεῦμα ἅγιον so hervorgehoben, um erklärbar zu machen, wie er auch ohne vorangegangene Mittheilung doch Jesum als den ihm Verheiſsenen zu erkennen und zugleich den Gang seines messianischen Schicksals vorherzusagen vermochte. Wie262Erster Abschnitt.unser kanonisches Evangelium dasjenige, was Jesum dem Simeon kenntlich machte, in den Simeon selbst, aber als übernatürliches Princip, versezt: so legt es das Evange - lium infantiae arabicum als etwas Objektives in die Er - scheinung Jesu6)Cap. 6: viditque illum Simeon senex instar columnae lucis refulgentem, cum Domina Maria virgo, mater ejus, ulnis suis eum gestaret, et circumdabant eum angeli instar cir - culi, celebrantes illum etc. Bei Thilo, S. 71. immer noch mehr im Geiste der ur - sprünglichen Erzählung, als die natürliche Erklärungswei - se, weil es doch das Wunderbare an der Sache festhält. Haben wir also in jenem dem Simeon verliehenen Seherblic - ke unserem Text zufolge ein Wunder zu erkennen: so wis - sen wir von diesem Wunder doch gar nicht, daſs es Früch - te getragen hätte, indem nirgends eine Spur ist, daſs die - ser Vorfall aus Jesu Kindheit mit ein Hebel geworden - re, um den Glauben an Jesum als den Messias begründen zu helfen; wir müſsten also diesen Zweck, wie es auch der Evangelist wendet (V. 26. 29. ), nur in Simeon und Hanna suchen, deren treuem Hoffen dieser individuelle Lohn zu Theil geworden wäre, daſs ihnen zur Erkenntniſs des messianischen Kindes der Blick geöffnet wurde. Allein daſs um solcher particulärer Zwecke willen die Vorsehung Wunder geschehen lasse, diese Annahme stimmt schwer - lich mit richtigen Begriffen von derselben überein.

Man wird sich daher auch hier zu einem Zweifel an dem historischen Charakter der Erzählung veranlaſst finden, um so mehr, als sie sich nach dem Bisherigen an lauter mythische Erzählungen anschlieſst. Nur muſs man dann nicht dabei stehen bleiben, zu sagen, die wahren Aus - drücke Simeons mögen wohl gewesen sein: möchte ich doch so, wie ich dieſs Kind hier trage, auch den neuge - borenen Messias noch erblicken! was dann ex eventu in der Sage dahin umgedeutet worden sei, wie wir es jetzt263Viertes Kapitel. §. 34.bei Lukas lesen7)So E. F. in der Abhandlung über die beiden ersten Kapp. des Matth. und Lukas. In Henke's Magazin 5. Bd. S. 169 f. Eine ähnliche Halbheit bei Matthaei, Synopse der vier Evang. S. 3. 5 f.; sondern man muſs in der Oekonomie dieses Theils der evangelischen Geschichte und in dem In - teresse der urchristlichen Sage die Veranlassung nachwei - sen, warum dergleichen von Jesu in Umlauf kam. Was nun das Erstere betrifft, so wird man die Parallele nicht verkennen, welche zwischen dieser Scene bei der Darstel - lung Jesu im Tempel, und der bei der Beschneidung des Täufers nach der Erzählung desselben Evangelisten statt - findet, indem beidemale, dort durch den Vater, hier durch einen andern frommen Mann, auf Antrieb des heiligen Gei - stes Gott für die Geburt dieser Retter gedankt, und ihr künftiger Beruf prophetisch vorausverkündigt wird. Daſs diese Scene das einemal an die Beschneidung, das andre - mal an die Darstellung im Tempel sich geknüpft hat, scheint zufällig; hatte aber einmal in Bezug auf Jesum die Sage seine Darstellung im Tempel so verherrlicht: so muſste die Beschneidung, wie wir es oben gefunden haben, leer aus - gehen. Daſs aber eine solche Erzählung im Interesse der Sage lag, ist ebenfalls leicht einzusehen. Wer sich als Mann so augenscheinlich als den Messias zu erkennen gab, der muſs, dachte man, auch schon als Kind für ein durch den göttlichen Geist geschärftes Auge als solcher zu erkennen gewesen sein; derjenige, welcher in späterer Zeit durch mächtige Reden und Thaten sich als den Sohn Got - tes erwies, gewiſs, er hat auch schon ehe er sprechen und sich frei bewegen konnte, den göttlichen Stempel getragen. Ferner, wenn Menschen, vom Geiste Gottes getrieben, Je - sum so frühe schon liebend und ehrfurchtsvoll in die Ar - me schlossen: dann war auch der Geist, der ihn beseelte, nicht, wie man ihm vorwarf, ein ungöttlicher, und wenn264Erster Abschnitt.ein frommer Seher ihm im Gefolge seiner hohen Bestim - mung zugleich die Kämpfe, welche er zu bestehen haben, und seiner Mutter den Schmerz, den ihr sein Schicksal machen würde8)Die von Simeon an Maria gerichteten Worte: καὶ σοῦ δὲ αὐτῆς τὴν ψυχὴν διελεύσεται ῥομφαία (V. 35.) können an die Worte des messianischen Unglückspsalms 22, V. 21. erinnern: ῥῦσαι ἀπὸ ῥομφαίας τὴν ψυχήν μου. , vorausgesagt hatte: dann war es gewiſs kein Ungefähr, sondern ein göttlicher Plan, der ihn auf dem Wege zu seiner Erhöhung in diese Tiefe der Ernie - drigung führte.

Gegen eine solche, positiv aus der Sache selbst und negativ aus den Schwierigkeiten andrer Auffassungsweisen sich ergebende Ansicht von der vorliegenden Erzählung kön - nen Bemerkungen nichts ausrichten wie die: zu natürlich um gedichtet zu sein, sei das, wie Simeon, als ihm das erbetene Zeichen von der Messianität dieses Kindes zu Theil geworden war, zuerst noch für sich selbst und ohne von den Eltern Notiz zu nehmen, in eine begeisterte Rede aus - breche, und erst, als er ihre Verwunderung bemerkt, sich an sie wende9)Schleiermacher, über den Lukas, S. 37.. Denn wenn dieser Ausspruch nicht bloſse Phrase sein soll, so käme er ja darauf hinaus, daſs das Gedichtete immer ein minder Natürliches sein müſste, wo - gegen doch, namentlich in Bezug auf die Sagenpoësie, an - erkannt ist, daſs sie natürlicher ist, nicht als die Wirk - lichkeit selbst, wohl aber als die prosaische Nacherzählung derselben, bei welcher, wenn nicht ein poëtischer Trieb sich einmischt, im zweiten und dritten Munde solche in - dividuelle, natürliche Züge gerade verloren gehen. Mehr Gewicht hat die andere Bemerkung Schleiermacher's, wer diese Erzählung fingirt hätte, der würde schwerlich neben dem Simeon auch noch die Hanna erdichtet haben, die gar nicht einmal dichterisch benutzt werde, und noch dazu mit265Viertes Kapitel. §. 35.dieser Genauigkeit in ihren Personalien, wogegen die Haupt - person weit nachlässiger bezeichnet sei. Allein aus zweier Zeugen Mund die Würde des Kindes Jesu kund werden zu lassen, und namentlich neben den Propheten auch noch eine Prophetin zu stellen, das ist doch gewiſs ganz die symmetrische Gruppirung, wie sie die Sage liebt. Daſs dann der Frau nichts mehr übrig bleibt, als das von dem Manne Gesagte zu bestätigen, ist natürlich, wenn ihr die - ser alles Wesentliche vorweggenommen hatte, und daſs nun der der Sage nacherzählende Verfasser, was er an der Rede bei dieser Person abbrechen muſste, an der detaillirten Personalbezeichnung hereinbrachte, ist eben - falls ganz in der Ordnung. Daraus ergiebt sich zu - gleich, was von der Schleiermacher'schen Vermuthung zu halten ist, daſs unser Referent diese Erzählung unmit - telbar oder mittelbar aus dem Munde der so genau beschrie - benen Hanna haben möge: sie ist eine Spielerei des Scharf - sinns, wie so manche die sonst verdienstvolle Schrift von Schleiermacher über den Lukas entstellen.

Auch hier, wo die Erzählung des Lukas Jesum auf eine Reihe von Jahren verläſst, wird, wie an dem ent - sprechenden Punkt im Leben des Täufers, eine Schluſs - formel über das gesegnete Aufwachsen des Kindes beige - fügt (V. 40.), welche, wie die den Täufer betreffende, an die ähnliche Formel in der Geschichte Simsons (Richt. 13, 24 f.) erinnert.

§. 35. Rückblick. Differenz zwischen Matthäus und Lukas in Bezug auf den ursprünglichen Wohnort der Eltern Jesu.

Es ist bis hieher die geschichtliche Glaubwürdigkeit der evangelischen Erzählungen über die Abkunft, Geburt und Kindheit Jesu aus dem doppelten Gesichtspunkte in Anspruch genommen worden, weil theils die einzelnen Be - richte in sich selber Elemente haben, welche der geschicht -266Erster Abschnitt.lichen Auffassung widerstreben, theils die parallelen Er - zählungen des Matthäus und Lukas sich gegenseitig aus - schlieſsen, so daſs unmöglich beide Recht haben können, sondern nothwendig müsse Einer (dieſs aber könne der eine so gut als der andere, also vielleicht auch beide sein,) Unrecht haben. Einer von diesen Widersprüchen der bei - den Berichte gegen einander ist es besonders, welcher sich vom Anfang unsrer Kindheitsgeschichte bis zu dem hier er - reichten Abschnitt hindurchzieht, auf den wir daher auch schon früher gestoſsen sind, ohne daſs wir uns jedoch bis jezt länger bei demselben hätten verweilen können, weil wir erst jezt, wo er seine Rolle ausgespielt hat, Materia - lien genug zu gründlicher Würdigung desselben in der Hand haben. Es ist dieſs eine Differenz, welche zwischen Matthäus und Lukas in Bezug auf den ursprünglichen Wohnort der Eltern Jesu stattfindet.

Lukas nämlich giebt gleich von Anfang Nazaret als den Wohnort der Eltern Jesu an: hier sucht der Engel die Maria auf (1, 26.); hier ist Maria's οἶκος (1, 56.) zu den - ken; von da reisen Jesu Eltern nach Bethlehem zur Scha - zung (2, 4.); kehren aber, sobald es die Umstände erlau - ben, wieder nach Nazaret, als die πόλις αὑτῶν, zurück (V. 39.). Bei Lukas ist also augenscheinlich Nazaret der eigentliche Wohnort der Eltern Jesu und nach Bethlehem kommen sie nur durch zufällige Veranlassung auf kurze Zeit.

Bei Matthäus wird von[] vorne herein nicht gesagt, wo Joseph und Maria sich aufgehalten haben. Nach 2, 1. ist Jesus in Bethlehem geboren, und indem von ausseror - dentlichen Umständen, welche (nach Lukas) seine Eltern dahin geführt haben sollen, nichts erwähnt ist, so scheint es, Matthäus setze dieselben als ursprünglich schon zu Bethlehem wohnhaft voraus. Hier läſst er sofort die El - tern mit dem Kinde den Besuch der Magier erhalten, hier - auf sich nach Aegypten flüchten, und von der Flucht zu - rückkehrend wollen sie wieder nach Judäa sich wen -267Viertes Kapitel. §. 35.den, wenn nicht eine ausserordentliche Warnung sie in das galiläische Nazaret wiese (2, 22.). Durch diesen Zug wird der vorhin entstandene Schein zur Gewiſsheit, daſs Matthäus nicht wie Lukas Nazaret, sondern Bethlehem als ursprünglichen Wohnort der Eltern Jesu voraussetze, und den Zug nach Nazaret nur durch unvorhergesehene Umstände herbeigeführt sich denke.

Daſs man über diesen Widerspruch gewöhnlich so arg - los hinübergleitet, davon liegt der Grund in dem Charak - ter der Erzählung des Matthäus, auf welchen ein neuerer Erklärer sogar die Behauptung gebaut hat, dieser Evan - gelist sage über den ursprünglichen Aufenthaltsort der El - tern Jesu nicht etwas von der Aussage des Lukas Ver - schiedenes, sondern gar nichts aus, indem es ihm um to - pologische wie chronologische Genauigkeit gar nicht zu thun sei. Den späteren Aufenthaltsort der Eltern Jesu und seinen Geburtsort mache er nur deſswegen namhaft, weil sich daran A. T. liche Weissagungen knüpfen lieſsen; da der Wohnort der Eltern Jesu vor seiner Geburt zu keinem ähnlichen Citate Anlaſs gegeben, so habe ihn Mat - thäus ganz verschwiegen, was aber, bei seiner Darstel - lungsart, keineswegs beweise, daſs er von diesem Aufent - halt nichts gewuſst, oder gar Bethlehem als ursprüngli - chen Wohnort der Eltern Jesu vorausgesezt habe1)Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 146 f.. Al - lein, auch zugegeben, daſs das Stillschweigen des Mat - thäus über den früheren Aufenthalt von Jesu Eltern in Nazaret und über die besondern Umstände, durch welche die Geburt Jesu zu Bethlehem veranlaſst war, noch nichts beweise: so müſste dann doch das spätere Vertauschen Bethlehem's mit Nazaret so dargestellt sein, daſs ein Wink gegeben wäre, oder nur wenigstens die Möglichkeit übrig bliebe, den ersteren Ort als blos vorübergehenden Aufent - halt, die Reise in den lezteren aber als Rückreise in die268Erster Abschnitt.eigentliche Heimath zu fassen. Ein solcher Wink wäre gegeben, wenn Matthäus nach der ägyptischen Reise die Ansiedelung Josephs in Nazaret dadurch motivirte, daſs er ihm durch die Traumerscheinung sagen lieſse: kehret jezt in das Land Israël zurück, und zwar in euren ur - sprünglichen Wohnort, Nazaret; denn in Bethlehem habt ihr nichts mehr zu schaffen, da ja die Weissagung, daſs euer messianisches Kind an diesem Orte geboren werden sollte, bereits erfüllt ist. Doch weil es ja dem Matthäus überhaupt um Lokalitäten nicht zu thun sein soll, so wol - len wir billig sein, und keinen positiven Wink, sondern nur das Negative von ihm verlangen, daſs er uns die Vor - stellung, Nazaret sei der ursprüngliche Aufenthalt der El - tern Jesu gewesen, nicht geradezu unmöglich mache. Diese Forderung wäre dann erfüllt, wenn die Reise der Eltern Jesu aus Aegypten nach Nazaret geradezu gar nicht moti - virt, sondern nur gesagt wäre, sie seien auf höhere Wei - sung in das Land Israël zurückgekehrt und haben sich nach Nazaret begeben. Freilich wäre es dann auffallend genug, ohne alle Bevorwortung statt des bisherigen Beth - lehem auf einmal Nazaret genannt zu finden, was auch unser Erzähler gefühlt, und ebendeſswegen die Veranlas - sung der Reise nach dem leztgenannten Orte ausführlich angegeben hat (2, 22. f.). Statt nun aber dieſs so zu thun, wie er es nach dem Obigen thun muſste, wenn er mit Lukas Nazaret als den ursprünglichen Wohnort von Jesu Eltern kannte, thut er es gerade auf die entgegen - gesezte Art, welche unwidersprechlich zeigt, daſs seine Voraussetzung die umgekehrte von der des Lukas war. Denn wenn er den aus Aegypten zurückkehrenden Joseph nur aus Furcht vor Archelaus nicht nach Judäa gehen läſst: so schreibt er ihm ja eine Geneigtheit zu, sich wie - der dahin zu begeben, eine Geneigtheit, welche unbegreif - lich bleibt, wenn ihn nach Bethlehem nur der Schatzungs - befehl geführt hatte, und einzig unter der Voraussetzung269Viertes Kapitel. §. 35.sich erklärt, daſs er schon vorher dort wohnhaft gewesen. Andrerseits, indem Matthäus für die Ansiedelung in Na - zaret nur jene Gefahr, nebst dem Zweck der Erfüllung einer Weissagung angiebt: so kann er ein ursprüngliches Zuhausesein in Nazaret nicht voraussetzen, da dieses ja ein für sich entscheidender Grund gewesen wäre, neben welchem es jener andern nicht bedurft hätte.

Da hienach die Schwierigkeit einer Vereinigung des Matthäus mit Lukas in diesem Stücke darauf beruht, daſs es sich nicht will denken lassen, wie Jesu Eltern, aus Aegypten zurückkommend, im Sinne haben konnten, sich noch einmal nach Bethlehem zu begeben, wenn dieses nicht ihre ursprüngliche Heimath war: so haben sich die Bemü - hungen der Erklärer hauptsächlich auf den Punkt concen - triren müssen, noch anderweitige Gründe ausfindig zu ma - chen, durch welche in Joseph und Maria jene Neigung veranlaſst sein konnte. Solche Versuche finden sich schon sehr frühe. An Lukas anknüpfend, welcher, so bestimmt er Nazaret als den Wohnort der Eltern Jesu voraussezt, doch auch Bethlehem dem Joseph nicht ganz fremd sein, sondern als Stammort mit ihm in Beziehung stehen läſst, scheint, seinen apostolischen Denkwürdigkeiten folgend, Justin Nazaret zwar als Wohnort, Bethlehem aber als Geburtsort Josephs vorauszusetzen2)Dial. c. Tryph. 78: ἀνεληλύϑει (Ἰωσὴφ) ἀπὸ Ναζαρὲτ, ἔνϑα ᾤκει, εἰς Βηϑλεὲμ, ὅϑεν ἦν, ἀπογράψασ ϑαι. Indess könnte man das ὅϑεν ἦν möglicherweise als Bezeich - nung des blossen Stammorts fassen, zumal wenn man den Zusatz Justins erwägt: ἀπὸ γὰρ τῆς κατοικούσης τὴν γῆν ἐκείνην φυλῆς Ἰούδα τὸ γένος ἦν. , und Credner glaubt in dieser Justinischen Nachricht die Quelle und die Aus - gleichung der abweichenden Berichte unsrer beiden Evan - gelisten zu finden3)Beiträge zur Einleit. in das N. T. 1, S. 217.. Allein, fürs Erste, ausgeglichen sind270Erster Abschnitt.sie hiedurch keineswegs. Denn wenn doch als der Ort, wo sich Joseph häuslich niedergelassen hatte, auch hier Nazaret stehen bleibt, so hatte er immer keinen Grund, nach seiner Rückkehr von der ägyptischen Flucht auf Ein - mal seinen bisherigen Wohnort mit seinem Geburtsort zu vertauschen, zumal er auch zu der früheren Reise dahin nach Justin selbst nicht etwa durch einen Plan, sich dort anzusiedeln, sondern lediglich durch die Schatzung veran - laſst worden war, ein Anlaſs, welcher nach der Flucht jedenfalls fehlte. So steht die Darstellung Justin's mehr auf der Seite des Lukas, und reicht nicht hin, um den Matthäus mit ihm zu vereinigen. Daſs aber die Justinische Nachricht auch die Quelle der beiden unsrigen sein sollte, ist noch weniger zu glauben. Denn wie aus der Angabe bei Justin, welche doch schon Nazaret als Wohnort, und die Schatzung als Veranlassung der Reise nach Bethlehem hat, die Erzählung des Matthäus habe entstehen können, welche von beidem nichts weiſs, begreift man nicht, und überhaupt, wo sich einestheils zwei divergirende Berichte, anderntheils eine ungenügende Vereinigung derselben fin - det, da ist gewiſs nicht diese das ursprüngliche und jene abgeleitet, sondern umgekehrt, und eben in dieser Rolle, Ausgleichungen zu versuchen, haben wir den Justin oder seine Quellen schon oben, bei Gelegenheit der Genealo - gieen kennen gelernt.

Ein nachhaltigerer Ausgleichungsversuch ist in dem apokryphischen Evangelium de nativitate Mariae gemacht worden, und hat auch bei neueren Theologen vielen Bei - fall gefunden. Nach diesem Apokryphum ist das elterliche Haus der Maria in Nazaret, und obwohl im Tempel zu Jerusalem erzogen, und dort mit Joseph verlobt, kehrt sie doch, nachdem dieſs geschehen, zu ihren Eltern nach Galiläa zurück. Joseph hingegen war nicht blos gebürtig von Bethlehem, wie Justin sagen zu wollen scheint, son - dern er hatte auch sein Haus daselbst, und holte die Ma -271Viertes Kapitel. §. 35.ria dahin heim4)C. 1. S. 10.. Allein diese Ausgleichung ist nun zu sehr zu Gunsten des Matthäus, gegen den Lukas. Denn die Schatzung nebst Zubehör ist weggelassen und muſste weggelassen werden, weil, wenn Joseph in Bethlehem zu Hause, und nur um seine Braut heimzuholen nach Naza - ret gereist war, nicht erst der Census ihn wieder dorthin gerufen haben würde, sondern er wäre nach wenigen Ta - gen Abwesenheit von selbst zurückgekehrt; hauptsächlich aber, wenn er in Bethlehem sein Heimwesen (eine domus zu disponiren, c. 8.) hatte: so brauchte er bei seiner Da - hinkunft nicht ein κατάλυμα aufzusuchen, um auch in die - sem keinen Raum zu finden, sondern er würde die Maria unter sein eigenes Dach geführt haben. Daher nehmen neuere Ausleger, welche, wie Paulus5)Exeget. Handb. 1, a, S. 178. die Auskunft des Apokryphums sich zu Nutze machen, aber auch die Scha - zung des Lukas nicht fallen lassen wollen, an, Joseph habe zwar früher in Bethlehem gewohnt und gearbeitet, doch keine eigene Wohnung daselbst besessen, und auch als ihn die Schatzung, ehe er's dachte, dahin zurückrief, noch nicht für eine solche gesorgt gehabt. Allein nicht nur nicht als Ansäſsige, sondern nicht einmal als Fremde, die sich ansiedeln wollen, vielmehr nur als solche, die nach möglichst kurzem Aufenthalt wieder abzureisen gedenken, erscheinen nach Lukas Jesu Eltern in Bethlehem. Sezt diese Paulus'sche Annahme die Eltern Jesu als sehr arm voraus: so will Olshausen zum Behuf der Ausgleichung der vorliegenden Differenz sie lieber bereichern, indem er annimmt, sie haben sowohl in Bethlehem als in Nazaret Besitzungen gehabt, hätten also an dem einen oder an - dern Orte sich niederlassen können: aber unbekannte Um - stände haben nach der Rückkehr aus Aegypten sie geneigt gemacht, für Bethlehem sich zu entscheiden, bis die272Erster Abschnitt.himmlische Warnung dazwischen getreten sei6)Bibl. Comm. 1, S. 148, Anm.. Jenen von Olshausen unbestimmt gelassenen Grund, der den El - tern Jesu eine Niederlassung in Bethlehem wünschenswerth machte, geben andere Ausleger, wie Heydenreich7)Über die Unzulässigkeit der mythischen Auffassung u. s. f. 1, S. 101., da - hin an, es habe ihnen am schicklichsten scheinen müssen, daſs der ihnen geschenkte Davidssohn in der Davidsstadt erzogen werde. Welche Geschäftigkeit, in den Text hin - einzutragen, was nicht darin liegt, weil man von dem, was darin liegt, einem Widerspruch, nichts wissen will; welches einhellige Zusammenwirken der Rationalisten und Orthodoxen, wo es gilt, den gemeinschaftlichen Feind, die mythische Auffassung, zu bekämpfen, welche freilich den Vorurtheilen von diesen wie den Kunststücken von je - nen auf Einmal den Garaus macht. Alle jene Bemühun - gen aber können die Thatsache nicht wegräumen, welche von den tüchtigsten Kritikern anerkannt ist8)Schleiermacher, über den Lukas, S. 45. Sieffert, über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums. S. 68 f., daſs die bei - den Evangelisten Verschiedenes, ja Entgegengeseztes voraus - setzen, daſs also im besten Falle nur Einer von ihnen Recht haben kann; es fragt sich nur welcher?

Hier nun hängt die Art, wie Matthäus seine Darstel - lung, der Aufenthalt der Eltern Jesu in Nazaret sei erst Folge eines späteren Zuges gewesen, begründet hat, mit den unhistorischen Daten des bethlehemitischen Kinder - mords und der Flucht nach Ägypten so zusammen, daſs ohne diese jede Veranlassung einer späteren Verlegung des Wohnsitzes hinwegfällt, und wir werden daher in diesem Stücke auf die Seite des Lukas treten, welcher die Eltern Jesu nach wie vor dessen Geburt an demselben Orte woh - nen läſst. Dafür hängt dann aber bei Lukas die Angabe, Jesus sei an einem andern Orte geboren als wo seine El -273Viertes Kapitel. §. 35.tern wohnhaft waren, mit einem eben so wenig historischen Datum, nämlich der Schatzung, zusammen, und mit dieser fällt jeder Anlaſs für die Eltern Jesu weg, bei herannahen - der Entbindung der Maria eine so weite Reise zu unter - nehmen, so daſs wir in diesem Stücke dem Matthäus Recht geben müssen, wenn er Jesum nicht auswärts, sondern an dem Wohnorte seiner Eltern geboren werden läſst. Doch nur dieſs Formelle haben wir bis jezt, daſs Jesu Eltern nir - gends anders früher gewohnt haben als später, und daſs Jesus nirgends anders geboren ist, als wo seine Eltern wohnten: über das Materielle, welches denn dieser Ort gewesen, ist die Untersuchung erst anzustellen.

In dieser Hinsicht werden wir nun in entgegengesez - ter Richtung auseinandergezogen, indem wir als Geburtsort Jesu, wo nach unsrem eben gewonnenen Resultat seine Eltern auch wohnhaft gewesen sein müſsten, in beiden Evangelien Bethlehem angegeben finden, als späteren Wohn - ort dagegen, welcher nach dem Obigen auch als der ur - sprüngliche und somit als Geburtsort Jesu zu denken - re, gleichfalls in beiden Nazaret. Dieser Widerspruch ist unauflöslich, wenn beide Richtungen wirklich gleich stark anziehen; er löst sich aber, sobald auf der einen Seite das Band reiſst, und uns der andern Richtung ungehindert folgen läſst. Prüfen wir zuerst das Band, welches uns an die Annahme des galiläischen Nazaret als des späteren Wohnsitzes der Eltern Jesu knüpft, so besteht es nicht allein in der trockenen Angabe der vorliegenden Stellen im zweiten Kapitel des Matthäus und Lukas, daſs die El - tern Jesu nach dessen Geburt sich in Nazaret aufgehalten: sondern in einer fortlaufenden Reihe von Daten aus der evangelischen und der ältesten Kirchengeschichte. Der Ga - liläer, der Nazarener, war der stehende Beiname Jesu: als Jesus von Nazaret stellte ihn Philippus dem Nathanaël vor, welcher ihm die Frage zurückgab: was kann aus Nazaret Gutes kommen? (Joh. 1, 46. f.) Nazaret wird nicht blosDas Leben Jesu I. Band. 18274Erster Abschnitt.als der Ort, οὖ ἦν τεϑραμμένος (Luc. 4, 16.), sondern gera - dezu auch als seine πατρὶς bezeichnet (Matth. 13, 54. Marc. 6, 1.); als Jesus der Nazaretaner wird er von den Leuten kenntlich gemacht (Luc. 18, 37.) und von den Dämonen angerufen (Marc. 1, 24.); der galiläische Dialekt verräth den Petrus als seinen Anhänger (Marc. 14, 70.); noch am Kreuze bezeichnet ihn die Überschrift als Nazarener (Joh. 19, 19.), und nach seiner Auferstehung verkündigen die Apostel allenthalben Jesum von Nazaret (A. G. 2, 22.) und thun in seinem Namen als des Nazareners Wunder (A. G. 3, 6.). Auch seine Anhänger wurden noch längere Zeit Nazarener genannt, und erst in späteren Zeiten gieng die - ser Name auf eine ketzerische Sekte über9)Tertull. adv. Marcion L. 4. c. 8. Epiphan. haer. 29, 1.. Diese Be - nennung sezt, wenn auch nicht dieſs, daſs Jesus von Naza - ret gebürtig ist, so doch einen längeren Aufenthalt dessel - ben an dem gedachten Orte voraus, ein Aufenthalt, welcher, da sich Jesus, glaubwürdigen Nachrichten zufolge (Luc. 4, 16 ff. und die Parall. ), während seines öffentlichen Lebens nur vorübergehend daselbst verweilt hat, einzig in seine frühere Lebensperiode fallen kann, welche er im Schoose seiner Familie verlebte. Diese also und namentlich seine Eltern müssen während der Kindheit Jesu in Nazaret ge - wohnt haben, und wenn einmal, dann ohne Zweifel von jeher, da wir keinen geschichtlichen Grund haben, eine Wohnortsveränderung anzunehmen: so daſs dieser eine der beiden widersprechenden Sätze unerschütterlich feststeht.

Auch der andere Saz, daſs Jesus in Bethlehem gebo - ren sei, ruht keineswegs nur auf der Angabe unsrer er - sten Kapitel, sondern zugleich auf der durch eine Propheten - stelle veranlaſsten Erwartung, daſs der Messias in Bethle - hem werde geboren werden (vergl. mit Matth. 2, 5 f. Joh. 7, 42.). Aber eben dieſs ist eine gefährliche Stütze, und derjenige sollte sie gerne missen, welcher Jesu Geburt275Viertes Kapitel. §. 35.in Bethlehem als historisch festhalten will. Denn wo der Nachricht von einem Erfolge eine lange Erwartung dessel - ben vorangeht, da muſs schon ein starker Verdacht entste - hen, ob nicht die Erzählung, daſs das Erwartete erfolgt sei, nur der Voraussetzung, daſs es habe erfolgen müssen, ihre Entstehung verdanken möge. Zumal wenn jene Er - wartung ungegründet war, wie hier der Erfolg eine fal - sche Auslegung eines[prophetischen] Orakels bestätigt haben müſste. Also diese prophetische Grundlage der Geburt Je - su in Bethlehem benimmt der historischen, welche in der Erzählung von Matth. und Luc. 2. liegt, alle Kraft, indem die letztere nur auf die erstere gebaut erscheint, und also mit ihr hinfällt. Ausser diesen aber sucht man einen an - derweitigen Beleg für jene Annahme vergeblich. Nirgends sonst im N. T. wird Jesu bethlehemitischer Geburt erwähnt; nirgends tritt er mit diesem seinem angeblichen Geburts - ort in irgend eine Beziehung, oder erweist ihm die Ehre eines Besuchs, die er doch dem unwürdigen Nazaret nicht versagt10)Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 230.; nirgends beruft er sich auf jenes Datum als einen Mitbeweis seiner Messianität, unerachtet er dazu die bestimmteste Veranlassung hatte, da sich Manche an seiner galiläischen Abkunft stieſsen und sich darauf beriefen, daſs der Messias aus der Davidsstadt Bethlehem kommen müs - se (Joh. 7, 42.)11)s. K. Ch. L. Schmidt, in Schmidt's Bibliothek 3, 1, S. 123 f. vgl. Kaiser a. a. O.. Zwar sagt hier Johannes nicht, daſs diese Bedenklichkeiten in Gegenwart Jesu geäussert worden seien12)Worauf sich z. B. Heydenreich beruft, über die Unzulässig - keit u. s. f. 1, S. 99.; aber wie er unmittelbar vorher (V. 39.) ei - ne Rede Jesu mit der Bemerkung begleitet hat, es habe damals noch kein πνεῦμα ἅγιον gegeben: so würde auch hier die Bemerkung an der Stelle gewesen sein, das Volk18*276Erster Abschnitt.habe nämlich noch nicht gewuſst, daſs Jesus von Bethle - hem gebürtig gewesen. Man wird eine solche Notiz für einen Johannes zu äusserlich und unbedeutend finden; al - lein soviel ist gewiſs, wenn er mehrmals von der Mei - nung der Leute, daſs Jesus ein geborner Nazarener sei, und ihrem Anstoſs daran zu erzählen hatte, so muſste er, wenn er es anders wuſste, eine berichtigende Bemerkung hinzufügen, oder er erregte den falschen Schein, als stim - me auch er jener Meinung bei. Nun aber findet sich nicht blos an jener Stelle, sondern auch Joh. 1, 46 ff. ein sol - cher Anstoſs, welchen hier, wie schon oben erwähnt, Na - thanaël an der nazaretanischen Abkunft Jesu nimmt, ohne daſs diese Meinung unmittelbar oder mittelbar berichtigt würde; denn nirgends erfährt er nachher, daſs dieser Gu - te wirklich nicht aus Nazaret gewesen, sondern er muſs lernen, daſs auch aus Nazaret etwas Gutes kommen könne. Überhaupt, wäre Jesus, wenn auch noch so zufällig, in Bethlehem geboren gewesen: so wäre es, bei der Bedeu - tung, welche dieſs für den Glauben an seine Messianität gehabt hätte, nicht zu begreifen, wie ihn auch die Seini - gen immer nur den Nazarener nennen konnten, ohne die - sem, von den Gegnern mit polemischem Accent ausgespro - chenen Beinamen den apologetischen Ehrennamen des Beth - lehemiten entgegenzustellen. Ist die Angabe von Jesu Geburt in Bethlehem auf diese Weise von allen gültigen historischen Zeugnissen verlassen, ja hat sie bestimmte ge - schichtliche Thatsachen gegen sich, und lässt sie sich na - mentlich mit dem, was uns nun feststeht, daſs die Eltern Jesu später, und, wie wir nicht anders wissen, auch von jeher, in Nazaret gewohnt haben, und daſs Jesus, sofern uns keine glaubwürdige Nachricht vom Gegentheil versi - chert, an keinem, von dem Wohnsitze seiner Eltern ver - schiedenen Orte geboren sei, nicht vereinigen: so kann es uns keine Überwindung mehr kosten, uns dahin zu ent - scheiden, daſs Jesus nicht in Bethlehem, sondern, da277Viertes Kapitel. §. 35.wir keine andere sichere Spur haben, in Nazaret gebo - ren sei.

Demnach würde sich in diesem Punkte das Verhält - niſs der beiden Evangelisten folgendermaſsen stellen. Was das Formelle betrifft, hätte jeder zur Hälfte Recht und zur Hälfte Unrecht: Lukas Recht in der Behauptung der Identität des früheren Wohnorts der Eltern Jesu mit dem späteren, und hierin hätte Matthäus Unrecht; Matthäus Recht in der Festhaltung der Identität des Geburtsortes Jesu mit dem Wohnort seiner Eltern, und hierin wäre der Irrthum auf Seiten des Lukas. In Hinsicht auf das Materielle aber hat Lukas darin das völlig Richtige, daſs er vor wie nach der Geburt Jesu dessen Eltern in Nazaret wohnen läſst, wo Matthäus nur die halbe Wahrheit hat, daſs sie nämlich nach Jesu Geburt daselbst ansässig gewesen; in der Anga - be aber, daſs Jesus in Bethlehem geboren worden, haben beide entschieden Unrecht. Woher nun alles Falsche bei beiden kommt, das ist die jüdische Meinung, der sie nachgaben, der Messias müsse zu Bethlehem geboren sein; woher aber alles Richtige, das ist das Faktum, welches sie vorfanden, daſs Jesus immer als Nazaretaner gegolten hat; woher endlich das verschiedene Verhältniſs des Wahren und Falschen in beiden, und das Übergewicht des lezteren Elementes bei Matthäus, das ist die verschiedene Weise, wie sich beide zu jenen Prämissen verhielten. Galt es nämlich eine Vereinigung der beiden Punkte: des histori - schen Datums, daſs Jesus als Nazarener bekannt war, und des prophetischen Postulats, daſs er, als Messias, zu Beth - lehem geboren sein müsse: so vollzog Matthäus, oder die Sage welcher er folgte, nach der vorwiegenden Richtung die - ses Evangeliums auf prophetischen Pragmatismus die Ver - einigung so, daſs das Übergewicht auf das vom Propheten an die Hand gegebene Bethlehem gelegt, dieses schon als die ursprüngliche Heimath der Eltern Jesu angenommen, und Nazaret als der, nur durch eine spätere Wendung der278Erster Abschnitt.Dinge herbeigeführte Zufluchtsort dargestellt wurde; wo - gegen der mehr historisch-pragmatische Lukas diejenige Gestaltung der Sage aufnahm oder selbst bildete, nach wel - cher auf das von der Geschichte an die Hand gegebene Nazaret der Hauptnachdruck gelegt, es als der ursprüngli - che Wohnort der Eltern Jesu gefaſst, und der Aufenthalt in Bethlehem nur als ein in Folge eines zufälligen Ereig - nisses zwischeneingetretener betrachtet wurde13)Bei diesem Stand der Sache wird es wohl Niemand vorzie - hen wollen, weder mit Schleiermacher (über den Lukas, S. 49.) die Frage über das Verhältniss der beiden Berichte zum Thatbestand unentschieden zu lassen, noch mit Sieffert (über den Ursprung des ersten kanonischen Evang. S. 68 f. und 158.) einseitig für den des Lukas sich zu entscheiden..

279Fünftes Kapitel. §. 36.

Fünftes Kapitel. Der erste Tempelbesuch und die Bil - dung Jesu.

§. 36. Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Schwierigkeiten der ge - schichtlichen Auffassung.

Über die ganze Periode von der Rückkehr der Eltern Jesu mit ihrem Kinde aus Ägypten bis zu der Taufe Jesu durch Johannes geht das Matthäus-Evangelium stillschwei - gend hinweg, und auch Lukas weiſs uns aus der langen Zeit von der ersten Kindheit Jesu bis zu seinem Mannes - alter nur Einen Vorfall noch zu berichten, die Art und Weise nämlich, wie er im zwölften Lebensjahre im Tem - pel zu Jerusalem auftrat (2, 41 52.). Diese Erzählung aus der beginnenden Jugend Jesu unterscheidet sich von den bisher betrachteten aus seiner Kindheit nach der richtigen Beobachtung von Hess1)Geschichte Jesu, 1, S. 110. dadurch, daſs sich in derselben Jesus nicht mehr, wie in jenen, blos leidend verhält, son - dern eine thätige Probe von seiner hohen Bestimmung ab - legt, und zwar hat man dieselbe von jeher als eine sol - che besonders geschäzt, die uns den Moment zeige, in wel - chem das höhere Bewuſstsein in Jesu hervorgetreten sei2)Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 149..

Im zwölften Jahre, wo nach jüdischer Sitte der Kna - be zum selbstständigen Antheil an den heiligen Gebräuchen gelangte, nahmen dieser Erzählung zufolge die Eltern, wie es scheint zum erstenmale, Jesum zum Paschafeste nach Jerusalem mit. Nach Ablauf der Festzeit traten die Eltern den Rückweg an; daſs der Sohn ihnen fehlte, bekümmerte280Erster Abschnitt.sie zunächst nicht, weil sie ihn irgendwo bei der Reisege - sellschaft vermutheten. Erst nachdem sie eine Tagreise ohne ihn zurückgelegt, und ihn bei Verwandten und Be - kannten vergeblich gesucht, kehren sie nach Jerusalem zu - rück, um dort nach ihm zu sehen. Dieſs Benehmen der Eltern Jesu muſs befremden. Man kann es mit der Sorg - falt, die man von denselben voraussetzen zu dürfen glaubt, nicht reimen, daſs sie das ihnen anvertraute Himmelskind so lange aus den Augen gelassen haben, und man hat ih - nen daher von manchen Seiten in Bezug auf diesen Fall geradezu Nachlässigkeit und Pflichtversäumniſs vorgewor - fen3)Olshausen, a. a. O. 1, 150.. Wenn man hiegegen zur Rechtfertigung der El - tern Jesu sich im Allgemeinen darauf beruft, daſs bei ei - ner liberalen Erziehung eine solche dem Knaben gestatte - te grössere Freiheit leicht denkbar sei4)Hase, Leben Jesu, §. 33.: so wäre selbst nach unsern modernen Begriffen ein solches Ausserachtlas - sen eines zwölfjährigen Knaben von Seiten der Eltern mehr als nur liberal, und wie vollends nach den strengeren An - sichten, welche das Alterthum, auch das jüdische, von Kin - derzucht hatte? Wird aber bemerkt, daſs insbesondere, wie die Eltern Jesu ihren Sohn kannten, sie seinem Ver - stand und Charakter wohl so weit haben trauen können, um von einem solchen freieren Gehenlassen keine Gefahr für ihn befürchten zu müssen5)Heydenreich, über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 103.: so kann man aus ihrer nachherigen Angst ersehen, daſs sie hierin ihrer Sache doch nicht so ganz gewiſs waren. Unerwartet bleibt also immer ihr Benehmen, ohne daſs es jedoch damit un - glaublich, oder schon durch diesen Zug die ganze Erzäh - lung unwahrscheinlich würde; denn die Eltern Jesu sind uns ja keine Heiligen, welchen kein Fehler zugetraut wer - den dürfte.

281Fünftes Kapitel. §. 36.

Nach Jerusalem umgekehrt, finden sie am dritten Tage den Sohn im Tempel, ohne Zweifel in einer der äusseren Hallen, unter einem consessus von Lehrern, in einer Un - terredung mit ihnen begriffen, und als Gegenstand allge - meiner Bewunderung (V. 45. ff.). Hier könnte es nach einigen Spuren scheinen, als wäre Jesu den Lehrern ge - genüber ein höheres Verhältniſs gegeben, als es einem zwölfjährigen Knaben zukommen konnte. Schon das κα - ϑεζόμενον (V. 46.) hat Anstoſs erregt, da nach jüdischen Nachrichten erst nach dem weit späteren Tode des Rab - ban Gamaliel die Sitte aufgekommen ist, daſs die Rabbi - nenschüler saſsen, während sie bis dahin in der Schule hatten stehen müssen6)Megillah f. 21, 1, bei Lightfoot z. d. St.; allein diese jüdische Tradition ist zweifelhaft7)s. bei Kuinöl, in Luc. p. 353.. Auch das hat man anstöſsig gefunden, daſs Jesus sich nicht blos receptiv als ἀκούων, sondern auch aktiv als ἐπερωτῶν zu den Lehrern verhalte, und so gleich - sam als ihren Lehrer zu geriren scheine. So fassen es freilich die apokryphischen Evangelien, nach welchen Je - sus schon vor seinem zwölften Jahre alle Lehrer durch seine Fragen verlegen macht8)Evangel. Thomae c. 6 ff. Bei Thilo, S. 288 ff. und evang. infant. arab. c. 48 ff. p. 123 ff. bei Thilo. und seinem Informator im Alphabet die mystische Bedeutung desselben aufschlieſst9)Ebend.; bei jenem Tempelbesuch aber Streitfragen wie die über den Messias als zugleich Davids Sohn und Herrn (Matth. 22, 41. ff. ) auf die Bahn bringt10)Evang. inf. arab. c. 50., und sofort gleichsam in allen Fakultäten Unterricht ertheilt11)Im angef. Kap. und den folgenden; vergl. ev. Thomac c. 19.. Wäre freilich das ἐρωτᾷν und ἀποκρίνεσϑαι von einem solchen belehren - den Verhältniſs zu verstehen: so müſsten wir eines so un -282Erster Abschnitt.natürlichen Zuges wegen12)Dafür erkennt diese Vorstellung auch Olshausen an, S. 151. die evangelische Erzählung verdächtig finden. Allein zu einer solchen Auffassung der Worte nöthigt uns nichts, da nach jüdischer Sitte der rab - binische Unterricht von der Art war, daſs nicht blos die Lehrer den Schülern, sondern auch diese den Lehrern Fragen vorlegten, wenn sie über etwas Aufschluſs wünsch - ten13)s. die Belege (z. B. Hieros. Taanith 67, 4.) bei Wetstein und Lightfoot z. d. St.. So dürfen wir daher auch hier an solche, einem Knaben geziemende Fragen um so wahrscheinlicher den - ken, als unser Text nicht ohne Absicht, wie es scheint, die Verwunderung der Lehrer nicht an die Fragen, son - dern an die ἀποκρίσεις Jesu knüpft, also an dasjenige, worin sich Jesus am meisten als verständigen Schüler zei - gen konnte. Bedenklicher könnte der Ausdruck schei - nen, daſs der Knabe Jesus ἐν μέσῳ τῶν διδασκάλων geses - sen habe. Denn was einem Schüler ziemte, das sagt uns Paulus A.G. 22, 3., nämlich sich zu bilden παρὰ τοὺς πόδας der Rabbinen, indem diese auf Kathedern, die Schüler aber auf dem Boden saſsen14)Lightfoot, horae, S. 742., nicht aber mitten unter den Lehrern Plaz zu nehmen. Freilich glaubt man das ἐν μέσῳ bald so erklären zu können, daſs es nur ein Sitzen zwischen den Lehrern bedeute, indem mehrere Lehrer auf ihren Suggesten, und zwischen diesen Jesus mit andern Schülern auf der Erde sitzend vorgestellt wer - de15)Paulus, a. a. O. S. 279.; bald soll es überhaupt nur in Gesellschaft von Leh - rern, d. h. in der Synagoge, bedeuten16)Kuinöl, a. a. O. S. 353 f.: allein dem Wortsinn nach scheint doch καϑέζεσϑαι ἐν μέσῳ τινῶν, wenn auch nicht, wie Schöttgen in majorem Jesu glo - riam glaubt17)Horae, 2, S. 886., einen Ehrenplaz, so doch ein Sitzen in283Fünftes Kapitel. §. 36.gleichem Verhältniſs mit Anderen zu bezeichnen. Man darf sich auch nur die Frage vorlegen, ob es mit dem Geiste unsrer Erzählung harmoniren würde, statt des κα - ϑεζόμενον ἐν μέσῳ τῶν διδασκάλων die Formel καϑ. παοὰ τούς πόδας τ. δ. zu setzen? so wird man sich dieſs gewiſs verneinen müssen, aber ebendamit anerkennen, daſs unsre Erzählung Jesum zu den Lehrern in ein anderes Verhält - niſs als in das eines Lernenden sezt, welches leztere doch für einen, auch noch so begabten, Knaben von 12 Jahren das allein naturgemäſse ist. Denn daſs in Jesum nichts von aussen, von fremder Weisheit sich hineingebildet habe, weil dieſs der Bestimmung des Messias, als des absolut Bestimmenden, zuwider gewesen wäre, diese Behaup - tung Olshausen's18)a. a. O. S. 151. widerspricht dem von ihm selbst vor - angestellten kirchlichen Grundsatze, daſs Jesus in seiner menschlichen Erscheinung dem allgemein menschlichen Ent - wicklungsgang gefolgt sei. Denn dieser besteht nicht blos darin, daſs es mit dem Menschen nur stufenweise aufwärts geht, sondern das Wesentlichere ist dieſs, daſs die Ent - wickelung des Menschen, geistige wie leibliche, durch das Wechselspiel von Aufnehmen und Einwirken bedingt ist. Dieſs in Bezug auf Jesu leibliches Leben zu leugnen, und z. B. zu sagen, die Speise, welche er zu sich genom - men, habe nicht durch wirkliche Assimilation zur Nah - rung und zum Wachsthum seines Leibes gedient, sondern ihm nur Veranlassung gegeben, sich von innen heraus zu reproduciren, dieſs würde Jedem als Doketismus in die Augen fallen: und dieselbe Behauptung in Bezug auf seine geistige Entwickelung, daſs er nämlich nichts von aussen in sich hineingebildet, sondern, was er von Andern hörte, nur als Anlaſs gebraucht habe, aus sich selbst eine Wahr - heit um die andere hervorzuholen, das sollte etwas An - dres, als ein feinerer Doketismus sein? Wirklich auch,284Erster Abschnitt.wenn man nach dieser Ansicht sich von der Unterhaltung Jesu mit den Lehrern im Tempel eine Vorstellung zu bil - den versucht, so kommt sie wenig natürlich heraus. Er soll nicht gelehrt haben, aber auch nicht eigentlich belehrt worden sein, sondern die Reden der Lehrer sollen nur die Veranlassung abgegeben haben, daſs er sich selbst belehr - te, daſs ihm namentlich über seine eigene Bestimmung ein immer helleres Licht aufgieng. Aber dieſs wird er dann gewiſs auch ausgesprochen haben, so daſs doch wieder eine lehrende Stellung des Knaben herauskäme, welche Olshausen selbst als monströs bezeichnet. Wenigstens ein solches indirektes Lehren käme heraus, wie es Hess an - nimmt, wenn er vermuthet, Jesus habe wohl damals schon die ersten Versuche gemacht, die Vorurtheile, welche in den Synagogen herrschten, zu bestreiten, indem er durch ein gutmüthiges Fragen und Erklärungfordern, wie man es der kindlichen Unschuld gern erlaube, den Lehrern An - laſs gegeben habe, die Schwäche von manchen ihrer Lehr - sätze einzusehen19)Geschichte Jesu, 1, S. 112.. Aber auch ein solches Auftreten des 12jährigen Knaben ist der wahrhaft menschlichen Entwik - kelung, welche auch der Gottmensch durchgemacht haben soll, nicht angemessen. Dergleichen Reden eines Knaben hätten freilich ein allgemeines Erstaunen der Versammelten erregen müssen: aber eben auch dieser Ausdruck: ἐξίςαντο παντες οἱ ακούοντες αὐτοῦ, sieht einer panegyrischen For - mel gar zu ähnlich.

Es läſst hierauf die Erzählung die vorwurfsvolle Frage der Mutter Jesu an den wiedergefundenen Sohn folgen, warum er den Eltern das Herzeleid dieses kummervollen Suchens nicht erspart habe? worauf er die Antwort giebt, welche eigentlich die Spitze der ganzen Erzählung bildet, ob sie nicht hätten wissen können, daſs er nirgends anders, als im Hause seines Vaters, im Tempel, zu suchen sei? (V. 285Fünftes Kapitel. §. 36.48. f.) Diese Bezeichnung Gottes als τοῦ πατρὸς könnte man unbestimmt davon nehmen wollen, daſs er dadurch Gott als den Vater aller Menschen, und nur so auch als den seinigen darstellen wolle. Allein, es so zu verste - hen, verbietet nicht allein das hinzugesezte μου, da bei je - nem Sinne (wie Matth. 6, 9.) ἡμῶν stehen müſste, son - dern hauptsächlich, daſs Jesu Eltern diese Rede nicht ver - stehen, (V. 50.), was bestimmt darauf hindeutet, daſs der Ausdruck etwas Besonderes bedeuten muſs, was hier nur das Geheimniſs der Messianität Jesu, der, als solcher, υἱὸς ϑεοῦ im besondern Sinne war, sein kann. Daſs nun aber in dem 12jährigen Jesus schon das Bewuſstsein seiner Messianität aufgegangen gewesen, ob dieſs auf orthodoxem Standpunkte consequent angenommen werden könne, und ob es nicht gegen die auch von diesem Standpunkt behaup - tete menschliche Form der Entwickelung Jesu verstoſse, soll hier nicht untersucht werden. Ebenso kann die na - türliche Erklärung, welche das Bisherige als Geschichte, wenn auch wunderlose, festhalten zu müssen glaubt, wel - che also die Eltern Jesu durch eigenthümliche Fügung der Umstände schon vor seiner Geburt zu der Überzeugung von der Messianität ihres Kindes kommen, und diese ih - rem Sohne von der ersten Kindheit an einflöſsen läſst, auch diese kann sich zwar erklären, wie Jesus schon da - mals über sein messianisches Verhältniſs zu Gott so im Klaren sein konnte; aber sie kann es nur durch das Po - stulat eines unerhörten Zusammentreffens der ausserordent - lichsten Zufälle. Wir hingegen, denen sich die bisher er - zählten Begebenheiten weder im übernatürlichen, noch im natürlichen Sinne als geschichtliche bewährt haben, kön - nen uns nicht dazu verstehen, das Bewuſstsein seiner mes - sianischen Bestimmung schon so frühe in Jesu entwickelt zu setzen. Denn wenn zwar das Bewuſstsein einer mehr subjektiven Bestimmung, wie zum Dichter, Künstler u. dgl., wobei Alles auf die, schon frühzeitig empfindbare, innere286Erster Abschnitt.Begabung des Individuums ankommt, möglicherweise sehr frühe aufgehen kann: so ist doch eine objektive Bestim - mung, in welcher die Verhältnisse der gegenständlichen Wirklichkeit einen Hauptfaktor ausmachen, wie die Be - stimmung zum Staatsmann, zum Feldherrn, zum Refor - mator einer Religion, schwerlich auch dem begabtesten In - dividuum jemals so frühe klar geworden, weil dazu eine Kenntniſs der gegebenen Verhältnisse erforderlich ist, wel - che nur eine längere Beobachtung und reifere Erfahrung gewähren kann. Eben zu der lezteren Art aber gehört auch die Bestimmung zum Messias, und wenn diese in den Worten liegt, mit welchen Jesus im zwölften Jahre seinen Aufenthalt im Tempel gerechtfertigt haben soll: so kann er diese Worte damals gar nicht gesprochen haben.

Merkwürdig auch in anderer Beziehung ist es, daſs (V. 50.) von Jesu Eltern gesagt wird, sie haben das Wort nicht verstanden, welches Jesus zu ihnen gesprochen hatte. Er hatte aber Gott seinen Vater genannt, in dessen Hause er sein müsse. Daſs nun ihr Sohn in specifischem Sinne ein υίὸς ϑεοῦ genannt werden würde, dieſs war der Maria schon durch den verkündigenden Engel zu wissen gethan (Luc. 1, 32. 35. ), und daſs er eine besondere Beziehung zum Tempel haben würde, dieſs konnten sie theils eben hieraus, theils aus dem glänzenden Empfange abnehmen, welchen er noch als Kind bei seiner ersten Darstellung im Tempel erfahren hatte. Die Eltern Jesu, oder wenigstens Maria, von welcher wiederholt gerühmt wird, daſs sie die ausserordentlichen Eröffnungen über ihren Sohn sorgfältig im Herzen bewahrt habe, sollten also über seine damalige Rede keinen Augenblick im Dunkeln geblieben sein. Aber auch schon bei jener Darstellung im Tempel hieſs es, daſs sich die Eltern Jesu über die Reden Simeons gewundert (V. 33.), sie also wohl nicht recht verstanden haben. Und zwar war dieſs nicht von jenem Ausspruch Simeons be - merkt, daſs ihr Knabe nicht allein εἰς ἀνάςασιν, sondern287Fünftes Kapitel. §. 36.auch εἰς πτῶσιν gereichen, und das Herz seiner Mutter eine ῥομφαία durchdringen werde, von welcher Seite sei - nes Berufs und Schicksals allerdings den Eltern Jesu noch nichts mitgetheilt worden war, worüber sie sich also wohl hätten verwundern können; sondern diese Eröffnungen macht Simeon erst nach der Verwunderung der Eltern, welche ihrerseits nur durch die Äusserungen der Freude Simeons über den Anblick des Retters, der zur Herrlich - keit Israëls und zur Leuchte auch für die ἔϑνη dienen wer - de, verursacht ist. Und hier nun wiederum ist keine An - deutung, daſs die Verwunderung etwa der von Simeon ausgesprochenen Beziehung Jesu auch zu den Heiden ge - golten hätte, was sie überdieſs auch nicht wohl konnte, da diese weitere Bestimmung des Messias schon im A. T. gegeben war. Es bleibt mithin als Grund jener Verwun - derung nur die von Simeon ausgesprochene Messianität des Kindes, welche ihnen aber schon längst durch Engel an - gekündigt, und von Maria in ihrem Lobgesang erkannt worden war. Ebenso unbegreiflich nun wie dort die Ver - wunderung, ist in unsrer Stelle das Nichtverstehen, und wir müssen sagen: haben die Eltern Jesu diesen Ausspruch des Zwölfjährigen nicht verstanden: so können jene frü - heren Mittheilungen nicht geschehen sein; oder, ist dieses Frühere wirklich vorgefallen, so kann ihnen jene spätere Rede nicht unverständlich geblieben sein. Sofern nun wir jene früheren Ereignisse als historische aufgehoben haben, könnten wir dieses später sich zeigende Nichtverstehen uns gefallen lassen, wenn wir nicht bei einem Berichte, dessen folgende Stücke mit den vorhergehenden so wenig zusam - menstimmen, billig gegen alle miſstrauisch würden. Denn das ist ganz der Charakter nicht einer geschichtlichen Nachricht, sondern einer Wundersage, ihre Figuren so permanent in der Stimmung des Verwunderns verbleiben zu lassen, daſs sie nicht allein bei dem ersten Hervortre - ten des Ausserordentlichen, sondern auch bei der zweiten,288Erster Abschnitt.dritten, zehnten Wiederholung desselben, wo sie sich längst darein gefunden haben sollten, immer noch staunen und nichtverstehen, natürlich, um durch diese fortdauernde Unfaſslichkeit das sich mittheilende Göttliche desto erhabe - ner darzustellen. So wird, um aus der späteren Geschich - te Jesu ein Beispiel hieherzuholen, der göttliche Rath - schluſs des Leidens und Sterbens Jesu in den evangelischen Erzählungen dadurch in seiner ganzen Erhabenheit geltend gemacht, daſs auch die wiederholten deutlichen Eröffnun - gen über denselben von Seiten Jesu den Jüngern durchaus unverständlich bleiben: wie hier das Mysterium von Jesu Messianität überhaupt dadurch noch gehoben wird, daſs seine Eltern, so oft und klar es ihnen auch verkündigt worden war, doch bei jeder neuen, dasselbe betreffenden Rede auf's Neue erstaunen und nicht begreifen.

Auch die doppelte Schluſsformel, daſs Jesu Mutter alle diese Worte in ihrem Herzen bewahrt (V. 51.), und daſs der Knabe forthin an Alter und Weisheit u. s. f. zugenom - men (V. 52.), haben wir schon oben als beliebte Schluſs - und Übergangsformeln der hebräischen Heldensage kennen gelernt; besonders die das Heranwachsen betreffende Schluſs - formel, wie sie oben zweimal schon aus der Geschichte Simsons genommen schien, so ist sie dieſsmal beinahe gleich - lautend mit der in Bezug auf Samuel gebrauchten20)1. Sam. 2, 26 (LXX): καὶ τὸ παιδάριον Σαμουὴλ ἐπορεύετο μεγαλυνόμενον, καὶ ἀγαϑὸν καὶ μετὰ Κυρίου καὶ μετὰ ἀνϑρώπων. Luc. 2, 52: καὶ Ἰησοῦς προέκοπτε σοφίᾳ καὶ ἡλικίᾳ, καὶ χάριτι παρὰ ϑεῷ καὶ ἀνϑρώποις. Vergl. hiezu noch, was Josephus Antiq. 2, 9, 6. von der χαρις παιδικὴ des Moses zu sagen weiss..

§. 37. Auch dieses Stück noch mythisch.

Müssen wir nach dem Bisherigen auch hier den Ein - fluſs der Sage anerkennen, so könnten wir, da der Grund -289Fünftes Kapitel. §. 37.stock der Begebenheit ein durchaus natürlicher ist, hier den vermittelnden Weg vorziehen, und nach Hinweg - schaffung des Mythischen noch einen Rest von Geschichte zu retten suchen. Wir könnten also etwa annehmen, Jesu Eltern haben wirklich ihren Sohn in früher Jugend ein - mal nach Jerusalem zum Fest genommen, und da er ihnen hier, doch noch vor ihrer Abreise, aus den Augen gekom - men, haben sie ihn im Tempel wieder gefunden, wo er lernbegierig zu den Füſsen der Rabbinen gesessen habe. Zur Rede gestellt, habe er erklärt, daſs im Hause Gottes sein liebster Aufenthalt sei1)s. Gabler, im neuesten theol. Journal 3, 1, S. 39., welche Rede die Eltern er - freut und bei den Umstehenden Beifall gefunden habe. Das Weitere hätte, nachdem Jesus als Messias erkannt gewesen, die vergröſsernde Sage hinzugethan. Hier würde also alles Anstöſsige in unsrer Erzählung, das Weg - reisen der Eltern ohne den Sohn, dessen Sitzen inmitten der Lehrer, und seine Rede von Gott als seinem Vater in besondrem Sinne, weggeworfen; aber die Reise des 12jäh - rigen Jesus, seine bewiesene Lernbegierde und Vorliebe zum Tempel stehen gelassen. Diesen Zügen ist nun frei - lich auf negativem Wege nichts anzuhaben, indem sie nichts Unwahrscheinliches in sich schlieſsen; ihre historische Wahrheit wird aber auch in dem Falle zweifelhaft, wenn sich positiv ein starkes Interesse der Sage zeigt, aus wel - chem die ganze Erzählung und namentlich auch diese für sich nicht unwahrscheinlichen Züge derselben hervorgegan - gen sein könnten.

Daſs nun von groſsen Männern, welche sich im reifen Alter durch geistige Überlegenheit ausgezeichnet haben, gerne auch schon die ersten, vorbedeutenden Regungen ih - res Geistes aufgefaſst, und wenn sie nicht historisch zu er - mitteln sind, nach der Wahrscheinlichkeit erdichtet wer - den, ist bekannt. Namentlich aber auch in der hebräischenDas Leben Jesu I. Band. 19290Erster Abschnitt.Geschichte und Sage finden wir diese Neigung mehrfach bethätigt. So wird von Samuel im A. T. selbst berichtet, daſs er schon als Knabe eine göttliche Offenbarung und die Gabe der Weissagung erhalten habe (1. Sam. 3.), und von Moses, über dessen Knabenjahre die A. T. liche Erzählung schweigt, wuſste die spätere Tradition, welcher Josephus und Philo folgen, auffallende Proben seiner frühen Ent - wickelung zu erzählen. Wie in dem vorliegenden Bericht Jesus sich über sein Alter verständig zeigt: so soll das - selbe auch bei Moses der Fall gewesen sein2)Joseph. Antiq. 2, 9, 6: σύνεσις δὲ οὐ κατὰ τὴν ἡλικίαν ἐφύετο αὐτῷ, κ. τ. λ. ; wie Jesus von dem eiteln Geräusche der festlich bewegten Stadt sich abwendend, im Tempel bei den Lehrern seine liebste Un - terhaltung findet: so zog auch den Knaben Moses nicht kindisches Spiel, sondern nur ernste Beschäftigung an, und frühzeitig muſsten ihm Lehrer bestellt werden, welchen er jedoch, wie der zwölfjährige Jesus, sich bald überlegen zeigte3)Philo, de vita Mosis, Opp. ed. Mangey, Vol. 2. S. 83 f.: οὐχ οἷα κομιδῆ νήπιος ἥδετο τωϑασμοῖς καὶ γέλωσι καὶ παιδιαῖς ἀλλ 'αἰδὼ καὶ σεμνότητα παραφαίνων, ἀκούσ - μασι καὶ ϑεάμασιν, τὴν ψυχὴν ἔμελλεν ὠφελήσειν, προσεῖχε. διδάσκαλοι δ' εὐϑὺς, ἀλλαχόϑεν ἀλλος, παρῆ - σαν ὧν ἐν οὐ μακρῷ χρόνῳ τὰς δυνάμεις ὑπερέβαλεν, εὐμοιρίᾳ φύσεως φϑάνων τὰς ὑφηγήσεις. .

Namentlich aber bildete nach jüdischer Sitte und Denk - weise das zwölfte Jahr einen solchen Entwicklungspunkt, an welchen man gerne besondere Proben des erwachenden Genius knüpfte, da von dem genannten Jahr an, wie etwa bei uns vom 14ten, der Knabe als den kindischen Verhält - nissen entwachsen angesehen wurde4)Chagiga, bei Wetstein z. d. St.: A XII anno filius censetur maturus. Ebenso Joma f. 82, 1. Berachoth f. 24, 1; woge - gen Bereschith Rabba 63, ebenfalls bei Wetstein, das drei - zehnte Jahr als jenes Entscheidungsjahr bezeichnet.. Demzufolge wur -291Fünftes Kapitel. §. 37.de von Moses angenommen, daſs er im zwölften Jahre aus dem Hause seines Vaters getreten sei, um unabhängiges Organ der göttlichen Offenbarungen zu werden5)Schemoth R. V. f. 94, 4. bei Wetstein: Dixit R. Chama: Moses duodenarius avulsus est a domo patris sui etc.; Sa - muel, von welchem im A. T. unbestimmt gelassen war, wie frühe ihm die Gabe der Prophetie mitgetheilt worden sei, sollte nach der späteren Tradition vom 12ten Jahr an geweissagt haben6)Joseph. Antiq. 5, 10, 4: Σαμούηλος δε πεπληρωκὼς ἔτος ἤδη δωδέκατον, προεφήτευε. , und ebenso sollte von Salomo der weise Urtheilsspruch (1. Kön. 3, 23. ff. ) schon im 12ten Jahre gefällt worden sein7)Ignat. ep. interp. ad Magnes. c. 3: Σολομῶν δὲ δωδε - καετὴς βασιλεύσας τὴν φοβερὰν ἐκείνην καὶ δυσερμ[ή]νευ - τον ἐπὶ ταῖς γυναιξὶ κρίσιν ἕνεκα τῶν παιδίων ἐποιήσατο. . War bei diesen A. T. lichen Heroën der gemeinen Vorstellung zufolge der Geist, wel - cher sie trieb, im 12ten Lebensjahr zuerst in selbstthäti - gen Äusserungen hervorgetreten: so kann er, dachte man, bei Jesu auch nicht länger verborgen gewesen sein, und wenn Samuel sich in jenem Alter schon in seiner späteren Eigenschaft als gottbegeisterten Propheten, Salomo in der eines weisen Regenten gezeigt hatte: so muſste sich Jesus ebenso schon damals in der Rolle gezeigt haben, welche ihm später eigenthümlich war, als Sohn Gottes und Leh - rer der Menschheit. Und wenn es bis daher das sichtbare Streben unsrer Relation bei Lukas war, keinen Knoten - punkt in der ersten Lebenszeit Jesu zu übergehen, ohne ihn mit göttlichem Glanze, mit bedeutsamen Vorzeichen des Künftigen zu umkleiden, wie er seine Geburt in die - sem Style behandelt, die Beschneidung wenigstens auf be - deutungsvolle Weise genannt, ganz besonders aber die Dar - stellung im Tempel in diesem Sinne benüzt hatte: so blieb ihm der jüdischen Sitte zufolge noch Ein Zeitpunkt, das zwölfte Jahr mit der ersten Festreise; wie konnte er an -19*292Erster Abschnitt.ders, als, der Sage folgend, auch diesen Entwicklungskno - ten so verzieren, wie wir es in seiner Erzählung finden, und wie könnten wir anders, als seine Erzählung für eine sagenhafte Ausschmückung jenes Entwicklungspunktes im Leben Jesu halten8)Diese Einsicht hat Kaiser, bibl. Theol. 1, 234., durch welche wir von dessen wirk - licher Entwicklung wieder nichts9)Also auch davon nichts, was Hase (Leben Jesu §. 33.) darin finden will, diese Erzählung, indem sie dieselbe Gottesnähe zeige, welche die Idee des späteren Lebens Jesu war, sei eine Andeutung davon, dass seine spätere Herrlichkeit nicht früheren Verirrungen abgerungen, sondern ununterbrochene Entwicklung seiner Freiheit gewesen sei., sondern nur von der hohen Meinung etwas erfahren, die man in der ersten Gemeinde von dem frühreifen Geiste Jesu hatte.

Wie nun aber gerade diese Erzählung unter die My - then gerechnet werden könne, findet man besonders unbe - greiflich. Trage sie doch, meint Heydenreich10)Über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 92., einen rein historischen Charakter (das ist eben erst zu bewei - sen), und das Gepräge der höchsten Einfachheit (wie jede Volkssage in ihrer ursprünglichen Gestalt); sie enthalte gar nichts Wunderbares, worin doch der Hauptcharakter eines Mythus (aber keineswegs eines jeden) bestehen solle; sie sei so entfernt von aller Ausschmückung, daſs die Ge - spräche Jesu mit den Lehrern gar nicht ausgeführt seien (es genügte der Sage der anschauliche Zug καϑεζομένον ἐν μέσῳ τῶν διδα κάλων, als Diktum war nur das V. 49. wichtig, zu welchem daher ohne Aufenthalt hingeeilt wird), ja daſs selbst die zwischen ihm und seiner Mutter gewech - selten Reden nur fragmentarisch und aphoristisch gegeben seien (keine Spur einer Lücke); endlich hätte ein Erdich - ter Jesum anders mit seiner Mutter sprechen lassen, und ihm nichts in den Mund gelegt, was als Beweis der Un - ehrerbietigkeit oder Gleichgültigkeit gegen sie ausgelegt wer -293Fünftes Kapitel. §. 37.den konnte. In dieser lezteren Bemerkung stimmt Hey - denreich mit Schleiermacher zusammen, welcher ebenfalls in dem leicht miſsdeutbaren Benehmen Jesu gegen seine Mutter eine sichere Bürgschaft findet, daſs nicht etwa die ganze Geschichte erdichtet sei, um auch etwas Merkwür - diges von Jesu zu haben aus diesem Zeitpunkt, wo ihm zuerst die Heiligthümer des Tempels und Gesetzes aufge - schlossen wurden11)Über den Lukas, S. 39 f.. Hier brauchen wir uns gegen die Behauptung, daſs ein fingirender Erzähler Jesu einen sol - chen Zug scheinbarer Härte gegen seine Mutter schwerlich angedichtet haben würde, nicht auf das apokryphische Evangelium Thomae zu berufen, welches den Knaben Jesus zu seinem Pflegevater Joseph sagen läſst: insipien - tissime fecisti12)Cap. 5: Auch im griechischen Text ist die wahrscheinlichere Lesart: καὶ μάλιςα οὐ συφῶς, s. Thilo, S. 287., da selbst in der kanonischen Evangelien - Sage oder Geschichte entsprechende Züge sich vorfinden. In der Erzählung von der Hochzeit zu Kana findet sich die harte Anrede Jesu an seine Mutter: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ γ[ύ]ν[αι](Joh. 2, 4.); in der Geschichte von dem Besuch seiner Mutter und Brüder bei Jesu das Auffallende, daſs er von diesen Blutsverwandten gar keine Notiz nehmen zu wollen scheint (Matth. 12, 46. ff.). Sind dieſs wirkliche Begebenheiten: so war ja durch sie die Sage historisch veranlaſst, einen ähnlichen Zug auch schon in die erste Jugend Jesu zurückzutragen; sind es aber selbst nur Sa - gen: so sind sie ja der lebendigste Beweis, daſs es zur Erdichtung solcher Züge an Veranlassung nicht gefehlt hat. Worin diese Veranlassung lag, ist leicht zu sehen. Aus dem obscuren Hintergrunde seiner beschränkten Familien - verhältnisse hob sich die Gestalt Jesu um so glänzender hervor, wenn es sich recht oft zeigte, wie wenig selbst sei - ne Eltern im Stande waren, seinen hohen Geist zu fassen,294Erster Abschnitt.und wenn auch er selber bisweilen sie diese Erhabenheit fühlen lieſs, soweit es unbeschadet des kindlichen Gehor - sams geschehen konnte, der ja auch in unsrer Erzählung (V. 51.) ausdrücklich vorbehalten wird.

§. 38. Über die äussere Existenz Jesu bis zu seinem öffentlichen Auftritt.

In welchen äusseren Verhältnissen Jesus von der zu - lezt besprochenen Scene an bis zu der Zeit seines öffent - lichen Auftritts gelebt habe, darüber findet sich in unsern kanonischen Evangelien kaum eine Andeutung. Zuerst von seinem Aufenthaltsorte erfahren wir ausdrücklich nur dieſs, daſs er sowohl am Anfang, als am Ende dieser dunkeln Periode in Nazaret gewesen sei. Nämlich nach Luc. 2, 51. kehrte der zwölfjährige Jesus mit seinen Eltern dahin zu - rück, und nach Matth. 3, 13. Marc. 1, 9. kam der dreis - sigjährige von da zur Taufe des Johannes. Es scheinen also unsere Evangelisten vorauszusetzen, Jesus habe auch in der Zwischenzeit in Galiläa und näher in Nazaret sich aufgehalten. Daſs uns diese unbestimmte Andeutung nicht bindet, versteht sich; doch ohne positive Spuren können wir auch nicht das Gegentheil hehaupten.

Die Art der Beschäftigung Jesu in seinen Knaben - und Jünglingsjahren scheint sich, einer Andeutung unsrer Evangelien zufolge, nach dem Gewerbe seines Vaters be - stimmt zu haben, welchen sie als τέκτων bezeichnen (Matth. 13, 55.) Dieser von dem Gewerbe des Joseph gebrauchte Ausdruck wird gewöhnlich in der Bedeutung von faber lignarius gefaſst1)Daher die Überschrift eines arabischen Apokryphums (nach der lat. Übersetzung bei Thilo, 1, S. 3.): historia Josephi, fabri lignarii., nur Einzelne haben aus mystischen Gründen einen faber ferrarius, aurarius, oder einen cae - mentarius darin gefunden2)s. Thilo Cod. Apocr. N. T. 1, S. 368 f. not.. Die Holzarbeiten, welche295Fünftes Kapitel. §. 38.er verfertigt, finden sich bald als gröſsere bald als kleinere bestimmt: nach Justin und dem Evangelium Thomae3)Justin. Dial. c. Tryph. 88. Diese Stücke lässt er Jesum fer - tigen, ohne Zweifel angeleitet von Joseph. Im Evang. Tho - mae c. 13. ist Joseph der Verfertiger. waren es ἄροτρα καὶ ζυγὰ, also was wir als Wagnerarbeit bezeichnen würden; nach dem Evangelium infantiae ara - bicum4)cap. 38 f., S. 112 ff., bei Thilo. Thüren, Melkgefäſse, Siebe und Kästen; einmal macht er auch dem König einen Thronsessel, also theils Tischler - theils Bötticherarbeit; das Protevangelium Ja - cobi dagegen läſst ihn an οἰκοδομαῖς arbeiten5)cap. 9 und 13., ohne Zweifel als Zimmermann. An dieser Beschäftigung des Vaters scheint nun Jesus nach einer Andeutung des Mar - kus Theil genommen zu haben, welcher die Nazaretaner von Jesu nicht blos, wie Matthäus in der Parallelstelle, fra - gen läſst: οὐχ οὖτός ἐςιν τοῦ τέκτονος υἱὸς; sondern geradezu ουχ ουτος ἐςιν τέκτων (6, 3.). Zwar auf den Spott des Cel - sus, daſs der Lehrer der Christen τέκτων ἦν τὴν τέχνην, er - widerte Origenes, er müsse übersehen haben, ὅτι οὐδαμοῦ τῶν ἐν ταῖς ἐκκλησίαις φερομένων εὐαγγελίων τέκτων αὐτὸς Ἰη - σοῦς ἀναγέγραπται6)c. Cels. 6, 36.; Wirklich hat nun jene Stelle des Markus die Variante, τοῦ τέκτονος υἱὸς, wie auch Orige - nes, wenn er die Stelle nicht ganz übersehen haben soll, gelesen haben muſs, und auch neuere Kritiker haben diese Lesart vorgezogen7)Fritzsche in Marc. p. 200.. Allein mit Recht hat schon Beza hiezu bemerkt: fortasse mutavit aliquis, existimans, hanc artem Christi majestati parum convenire8)Bei Wetstein, N. T. S. 577. Vgl. Winer, Realwörterbuch 1, S. 665. Anm.: wo - gegen schwerlich Jemand ein Interesse haben konnte, die296Erster Abschnitt.umgekehrte Änderung vorzunehmen9)s. Paulus, exeg. Handb. 2, S. 199.. Auch Kirchenvä - ter und Apokryphen lassen nach dieser Andeutung des Mar - kus Jesum seinem Vater in dessen Geschäft an die Hand gehen. Justin legt besondern Werth darauf, daſs Jesus Pflüge und Joche, als Sinnbilder des thätigen Lebens und der Gerechtigkeit, verfertigt habe10)a. a. O.: ταῦτα γὰρ τὰ τεκτονικὰ ἔργα εἰργάζετο ἐν ἀνϑρώποις ὢν, ἄροτρα καὶ ζυγά· διὰ τούτων καὶ τὰ τῆς δικαιοσύνης σύμβολα διδάσκων, καὶ ἐνεργῆ βίον. ; nach dem arabischen Kindheitsevangelium geht Jesus mit Joseph an den Orten, wo dieser Arbeit hatte, umher, um ihm in der Art zu hel - fen, daſs er, wenn Joseph etwas zu lang oder zu kurz ge - macht hatte, durch Berührung oder bloſses Ausstrecken der Hand der Sache die rechte Gröſse gab; eine Nachhülfe, welche dem Pflegevater Jesu zu Statten kam, weil er, wie das Apokryphum, als wäre auch für ihn jenes Handwerk zu gemein gewesen, naiv bemerkt: nec admodum peritus erat artis fabrilis11)cap. 38.. Abgesehen von diesen apokry - phischen Ausmalungen hat jene Nachricht über die Jugend - Beschäftigung Jesu Vieles für sich. Einmal die Zusammen - stimmung mit der jüdischen Sitte, nach welcher auch der zu einer gelehrten oder überhaupt geistigen Laufbahn Be - stimmte nebenher ein Gewerbe zu lernen pflegte, wie der Rabbinenzögling Paulus zugleich ein σκηνοποιὸς τὴν τέχνην war (A. G. 18, 3.). Da wir überdieſs nach unsern bisheri - gen Resultaten von ausserordentlichen Erwartungen und Planen, welche die Eltern Jesu in Bezug auf ihren Sohn gehabt hätten, nichts historisch wissen: so ist nichts na - türlicher, als die Annahme, daſs Jesus frühzeitig zu dem Geschäfte des Vaters angehalten worden sei. Ferner konn - ten die Christen eher ein Interesse haben, sich gegen die - se Ansicht von der früheren Beschäftigung ihres Messias297Fünftes Kapitel. §. 38.zu wehren, als sie zu erdichten, da sie ihnen nicht selten den Spott ihrer Gegner zuzog. So konnte sich, wie be - merkt, Celsus einer Anmerkung darüber nicht enthalten, weſswegen Origenes von einer Bezeichnung Jesu als τέκτων im N. T. gar nichts wissen will, und bekannt ist die spöt - tische Frage des Libanius nach dem Zimmermannssohn, welche nur ex eventu mit einer so schlagenden Antwort versehen scheint12)Theodoret H. E. 3, 23.. Freilich lieſse sich dagegen sagen, daſs nicht nur die ganze Ansicht von den τεκτονικοῖς ἔργοις Jesu auf einem bloſsen Schlusse von dem Handwerk seines Vaters auf das Treiben des Sohns beruhe, welcher doch ebenso gut auch eine andre Kunstfertigkeit sich habe an - eignen können; sondern auch, daſs die ganze Sage vom Zimmermannshandwerk Jesu und Josephs jener von Ju - stin herausgehobenen symbolischen Bedeutsamkeit desselben ihre Entstehung verdanke. Da indessen die Angabe unse - rer Evangelien von Joseph als τέκτων ganz trocken ist, und nirgends im N. T. allegorisch benuzt wird: so möchte ich diesem das genannte Handwerk nicht streitig machen, von Jesus aber unausgemacht lassen, ob er daran Theil ge - nommen oder nicht.

In welchen Vermögensumständen Jesus und seine El - tern gewesen, ist Gegenstand mancher Verhandlungen ge - worden. Daſs die Behauptung einer drückenden Armuth Jesu von Seiten orthodoxer Theologen auf dogmatisch-äs - thetischen Gründen beruhte, indem man theils den status exinanitionis auch in diesem Stücke durchführen, theils den Contrast zwischen der μορφὴ ϑεοῦ und μορφὴ δούλου recht grell ausmalen wollte, erhellt von selbst. Daſs ferner der angeführte paulinische Gegensatz (Phil. 2, 6 ff. ), so wie desselben Apostels Ausdruck, daſs Christus ἐπτώχευσε (2. Kor. 8, 9.), nur das glanzlose, mühevolle Leben bezeich - ne, welchem er sich nach seiner himmlischen Präexistenz298Erste Abschnitt.und statt der in der jüdischen Vorstellung gegebenen mes - sianischen Königsrolle unterzog, ist gleicherweise als an - erkannt zu betrachten13)s. Hase, Leben Jesu, §. 42. Winer, bibl. Realwörterbuch 1, S. 665.. In dem eignen Ausspruch Jesu, er habe nicht ποῦ τὴν κεφαλὴν κλίνῃ (Matth. 8. 20. ), kann möglicherweise auch nur die freiwillige Resignation auf ruhigen Gütergenuſs zum Behuf seines messianischen Wan - derlebens liegen, so daſs nur noch die Eine Nachricht (Luc. 2, 24.) übrig bleibt, daſs Maria als Reinigungsopfer Tauben, also nach 3. Mos. 12, 8. das Opfer der Armen, darge - bracht habe, welche allerdings beweist, daſs der Verfasser jenes Abschnitts sich die Eltern Jesu in keineswegs glän - zenden Verhältnissen vorstellte14)Winer a. a. O.; allein wer bürgt uns, daſs nicht auch ihn schon unhistorische Gründe zu dieser Darstellung bewogen haben? Indessen haben wir ebenso - wenig von dem Umgekehrten, daſs Jesus Vermögen beses - sen habe, haltbare Spuren; wenigstens auf den ungenäh - ten Leibrock Joh. 19, 23. wollen wir uns nicht beru - fen15)Wie diess die genannten beiden Theologen a. d. a. OO. thun., ehe wir unten genauer untersucht haben werden, was es mit demselben für eine Bewandtniſs hat.

§. 39. Jesu geistige Ausbildung.

Waren über die äussere Existenz Jesu während sei - ner Jugend die Nachrichten äusserst dürftig: so fehlen sie über seine geistige Entwicklung beinahe ganz. Denn auf die in der Kindheitsgeschichte bei Lukas sich wiederholen - de Phrase von seinem geistigen Erstarken und Zunehmen an Weisheit wird man doch kein Gewicht legen wollen; auf die Erwartungen aber, welche seine Eltern schon vor seiner Geburt von ihm gehabt, und auf die Gesinnungen,299Fünftes Kapitel. §. 39.welche namentlich seine Mutter dabei an den Tag gelegt haben soll, ist ebenso wenig ein Schluſs zu gründen, da eben diese angeblichen Erwartungen und Äusserungen un - historisch sind. Mehr scheint auf die Angabe Luc. 2, 41. gebaut werden zu können, Jesu Eltern seien alle Jahre nach Jerusalem zum Paschafest gereist, wobei man ver - muthen könnte, daſs auch Jesus vom zwölften Jahr an ge - wöhnlich mitgereist sein, und die treffliche Gelegenheit be - nüzt haben werde, sich unter dem Zusammenfluſs von Ju - den und Judengenossen aus allen Ländern und von allen Gesinnungen und Ansichten auszubilden, den Zustand sei - nes Volkes, und die falschen Grundsätze der pharisäischen Leiter desselben kennen zu lernen, und seinen Blick über die engen Grenzen Palästina's hinaus zu erweitern1)Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 273 ff.. Doch ist auch das ein bloſser Schluſs aus einer flüchtigen Anga - be des Lukas, welcher überdieſs vielleicht ein zu enges reli - giöses Band zwischen der Γαλιλαία τῶν ἐϑνῶν und Jeru - salem voraussezt.

Ob und in wie weit Jesus die gelehrte Bildung eines Rabbinen erhalten habe, ist gleichfalls in unsern kanoni - schen Evangelien nicht gesagt. Aus Stellen wie Matth. 7, 29., daſs Jesus gelehrt habe ούχ ὡς οἱ γραμματεῖς, ist nur zu schlieſsen, daſs er die Methode der Schriftgelehrten nicht zu der seinigen gemacht, nicht aber, daſs er die Bildung eines γραμματεὺς nicht genossen habe. Freilich scheint an - drerseits aus dem Datum, daſs Jesus nicht blos von seinen Schülern (Matth. 26, 25. 49. Marc. 9, 5. 11, 21. 14, 45. Joh. 4, 31. 9, 2. 11, 8. 20, 16. vergl. 1, 38. 40. 50. ) und von flehenden Hülfsbedürftigen (Marc. 10, 51.) ῥαββὶ und ῥαββουνὶ genannt wurde, sondern daſs ihm auch der phari - säische αρχων Nikodemus (Joh. 3, 2.) und selbst seine Feinde (Joh. 6, 25.) diesen Titel nicht versagten, ebenso - wenig zu folgen, daſs er die schulmäſsige Bildung eines300Erster Abschnitt.Rabbinen erhalten hatte2)Darauf beruft sich Paulus, a. a. O. 275 ff., da die Begrüſsung als Rabbi, wie auch das Recht des Vortrags in der Synagoge (Luc. 4, 16 ff. ), worauf man sich ebenfalls beruft, gewiſs nicht blos graduirten Rabbinen, sondern jedem faktisch erprob - ten Lehrer zukam3)Vergl. Hase, Leben Jesu. §. 41.. Gegen die bestimmte und von Jesu nicht wiedersprochene Aussage seiner Feinde, daſs er ein γράμματα μὴ μεμαϑηκὼς sei (Joh. 7, 15.), und gegen die Verwunderung der Nazaretaner, solche Weisheit bei ihm zu finden (Matth. 13, 54 ff. ), von welchem ihnen also kein gelehrtes Studium bekannt gewesen sein muſs, kann man wohl schwerlich das anführen, daſs Jesus sich selbst ein - mal als Muster eines für das Gottesreich ausgebildeten γραμ - ματεὺς darstelle (Matth. 13, 52.)4)Paulus, a. a. O., da dieses Wort hier einen Schriftlehrer überhaupt, nicht gerade nur einen schul - mäſsig gebildeten bedeutet. Endlich auch die genaue Kennt - niſs der rabbinischen Traditionen und Miſsbräuche, wie er sie besonders in der Bergrede, Matth. 5 ff., und in der antipharisäischen, Matth. 23., an den Tag legt5)Darauf beruft sich Schöttgen: Christus rabbinorum summus in s. horae, 2, S. 890 f., konnte er durch die zahlreichen Vorträge der Pharisäer an das Volk, ohne einen gelehrten Cursus bei ihnen zu machen, sich erwerben. Wenn so die evangelischen Data zusam - mengenommen das Resultat geben, daſs Jesus nicht förm - lich durch eine rabbinische Schule gegangen sei: so könnte dagegen andrerseits die Erwägung, daſs es im Interesse der christlichen Sage liegen muſste, Jesum als reinen Theo - didakten darzustellen, zu einem Zweifel an jenen N. T. li - chen Angaben, und zu der Vermuthung veranlassen, daſs Jesu die gelehrte Bildung seines Volkes nicht fremd gewe - sen sein möge. Doch kann aus Mangel an urkundlichen Nachrichten hierüber nicht entschieden werden.

301Fünftes Kapitel. §. 39.

Indessen hat man mehr oder minder unabhängig von den Angaben des N. Ts. in alter wie in neuer Zeit ver - schiedene Hypothesen über die geistige Entwickelung Jesu aufgestellt, welche der Gegensaz der natürlichen und über - natürlichen Ansicht in zwei Hauptklassen zerfallen macht. Indem es nämlich der übernatürlichen Ansicht von Jesu Person darum zu thun sein muſs, ihn als völlig einzig in seiner Art, als unabhängig von allen äusseren, menschli - chen Einflüssen, als Auto - und näher Theodidakten hinzu - stellen: so muſs sie nicht allein jede Vermuthung, als hätte er etwas von Andern entlehnt und gelernt, entschieden zu - rückweisen, und daher die Schwierigkeiten, welche der natürlichen Ausbildung Jesu sich in den Weg stellten, in möglichst grellem Lichte malen6)Wie diess z. B. Reinhard thut, in seinem Plan Jesu.: sondern, um desto si - cherer jedes Empfangen auszuschliessen, muſste man auf diesem Standpunkte geneigt sein, Jesu eigne Spontaneität in der Art, wie wir sie bei gereiftem Alter in ihm finden, so frühe wie möglich hervortreten zu lassen. Diese Selbst - thätigkeit ist eine doppelte, eine theoretische und eine prak - tische. Was jene Seite, die Einsicht und Erkenntniſs be - trifft, so findet sich das Bestreben, diese so frühe wie mög - lich auf selbstständige Weise in Jesu hervortreten zu las - sen, schon in der zulezt betrachteten Erzählung des Lu - kas von dem Tempelbesuch des 12jährigen Knaben; noch mehr in den dort angeführten Schilderungen der Apokry - phen von der Art, wie Jesus schon lange vor dem zwölf - ten Jahr seine Lehrer übersehen habe, da er ja nach ei - nem derselben bereits in der Wiege gesprochen und sich für den Sohn Gottes erklärt haben soll7)Evang. infant. arab. c. 1. S. 60 f. bei Thilo.. Aber auch die praktische Seite der höheren Selbstthätigkeit, welche Jesu in späteren Jahren eigen gewesen sein soll, nämlich das Wunderthun, versetzen zwar nicht die kanonischen, wohl302Erster Abschnitt.aber die apokryphischen Evangelien schon in seine erste Kindheit und Jugend. Mit dem fünften Jahre Jesu eröff - net das Evangelium Thomae seine Erzählungen von des - sen Wunderthaten8)cap. 2, S. 278 Thilo., und das arabische Evangelium in - fantiae füllt schon die ägyptische Reise mit einer Masse von Mirakeln, welche die Mutter Jesu mittelst der Win - deln oder des Waschwassers ihres Kindes verrichtet9)cap. 10 ff.. Die Wunder, welche nach diesen Apokryphen das Kind und der Knabe Jesus thut, sind theils den N. T. lichen analog, Heilungen und Todtenerweckungen; theils, ganz abwei - chend von dem in den kanonischen Evangelien herrschenden Typus, höchst widrige Strafwunder, vermöge deren Jeder, der dem Knaben Jesus in irgend etwas entgegen ist, er - lahmen oder gar sterben muſs10)z. B. Evang. Thomae, c. 3 5. Evang. infant. arab. c. 46 f.; oder völlig abenteuer - liche Stücke, wie die Belebung aus Koth geformter Sper - linge11)Evang. Thomae, c. 2. Evang. inf. arab. c. 36..

Das entgegengesezte Interesse der natürlichen Ansicht von Jesu, seine Erscheinung dem Causalitätsgesetze gemäſs aus verwandten früheren und gleichzeitigen zu erklären, und daher seine Abhängigkeit und Receptivität hervorzu - heben, hat sich gleichfalls schon frühe, bei jüdischen und heidnischen Gegnern des Christenthums hervorgethan. Frei - lich, indem in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeit der ganze geistige Boden bei Heiden wie bei Juden noch ein supranaturalistischer war: so konnte damals der Vorwurf, daſs Jesus seine Einsichten und wunderähnli - chen Geschicklichkeiten nicht sich selbst oder Gott, son - dern einer Mittheilung von aussen verdanke, noch nicht die Gestalt annehmen, er habe auf dem gewöhnlichen Wege des Unterrichts natürliche Kunstfertigkeiten und Einsichten303Fünftes Kapitel. §. 39.von Andern empfangen: sondern es wurde dem Göttlichen und Übernatürlichen statt des Natürlichen und Menschli - chen ein Unnatürliches und Dämonisches entgegengestellt, und Jesu vorgeworfen, daſs er zum Behuf seiner Wunder in seiner Jugend die Zauberei erlernt habe. Diese Be - schuldigung lieſs sich am ehesten an die Reise seiner El - tern mit ihm nach Ägypten, in dieses uralte Land der Ma - gie und geheimen Weisheit, knüpfen, und so gewendet finden wir sie wirklich sowohl bei Celsus als im Talmud. Jener läſst einen Juden unter Andrem auch das gegen Je - sum vorbringen, er habe sich nach Ägypten um Lohn ver - dungen, dort habe er sich einige Zauberkünste anzueignen gewuſst, und nach seiner Rückkehr um derselben willen sich prahlerisch für einen Gott ausgegeben12)Orig. c. Cels. 1, 28: καὶ (λέγει) ὅτι ου῟τος ( Ἰησοῦς) διὰ πενιαν εἰς Αἴγυπτον μισϑαρνήσας, κἀκεῖ δυνάμεών τι - νων πειραϑεὶς, ἐφ 'αἷς Αἰγύπτιοι σεμνύνονται, ἐπαν - ῆλϑεν, ἐν ταῖς δυνάμεσι μέγα φρονῶν, καὶ δἰ αὐτὰς ϑεὸν αὑτὸν ἀνηγόρευσε. . Der Tal - mud giebt ihm einen jüdischen Synedristen zum Lehrer, läſst ihn mit diesem nach Ägypten reisen und von da Zau - berformeln nach Palästina zurückbringen13)Sanhedr. f. 107, 2: R. Josua f. Perachja et ישו Alexan - driam Aegypti profecti sunt ישו ex illo tempore ma - giam exercuit, et Israëlitas ad pessima quaevis perduxit. Schabbath f. 104, 2: Traditio est, R. Elieserem dixisse ad viros doctos: annon f. Satdae (i. e. Jesus) magiam ex Aegyp - to adduxit per incisionem in carne sua factam?s. Schött - gen, horae, 2, S. 697 ff, Eisenmenger, entdecktes Judenthum, 1, S. 149 f..

Der rein natürliche Gesichtspunkt für die geistige Ent - wickelung Jesu konnte erst auf dem Boden der neuern Bildung gefaſst werden, und hier bildet den Hauptunter - schied der Ansichten dieſs, ob aus den in jener Zeit gege - benen Bildungsmomenten einseitig nur Eines herausgegrif - fen, oder mit umfassenderem Sinne von ihrer Gesammt -304Erster Abschnitt.heit ausgegangen wird; ob ferner dieser äusseren Einwir - kung gegenüber die innere Begabung und freie Selbstbe - stimmung Jesu gehörig berücksichtigt wird oder nicht. Unter den damals gegebenen Bildungsmomenten lagen die drei jüdischen Sekten am nächsten, unter welchen aber freilich die von Jesu später so sehr bestrittenen Pharisäer nur als negatives Bildungsmittel für ihn in Betracht kom - men können. Eher könnte man an die Gegner der Phari - säer, an die sadducäische Sekte, denken, und es hat wirk - lich nicht an Solchen gefehlt, welche in dem, die phari - säische Tradition und Heuchelei verwerfenden Sadducäis - mus eine Schule für Jesum gefunden haben14)z. B. des Côtes, Schutzschrift für Jesus von Nazaret, S. 128 ff.. Noch mehr leuchtete aber Andern die Sekte der Essener mit ih - rer strengen Sittenzucht, ihrer Verwerfung des Eides und ihrer Gütergemeinschaft als vergleichbar ein, und beson - ders war es ihr, dem pythagoräischen ähnlich organisirter Bund, welcher in der Zeit der Freimaurerei und gehei - men Orden unter uns die Einbildungskraft vieler Schrift - steller so weit bestach, daſs sie auch Jesum, wie ohnehin seinen Vorläufer Johannes, als Mitglieder und geheime Emissäre dieses Bundes betrachteten15)So nach englischen Deisten und Friedrich d. Gr. namentlich Stäudlin, Geschichte der Sittenlehre Jesu 1, S. 570 ff.. Was Theologen wie Stäudlin zu dieser Combination bewog, war nicht blos die Verwandtschaft der Lehre und des Plans Jesu mit den Grundsätzen der Essener, sondern vorzüglich auch der Umstand, daſs das plötzliche Verschwinden Jesu vom Schauplatze, nachdem er durch die Schicksale seiner Kind - heit und so eben noch durch seinen Auftritt im Tempel so groſses Aufsehen erregt hatte, durch ein Zurücktreten in einen geheimen Orden am besten erklärt zu werden schien. Für dieses Zurücktreten nun brauchen wir nach unsrer Auf - fassung der Kindheitsgeschichte keine Erklärung mehr, und305Fünftes Kapitel. §. 39.jene Ähnlichkeit beweist ohnehin für sich noch keineswegs einen engeren Zusammenhang Jesu mit dem genannten Or - den, wovon uns jede wirkliche Anzeige fehlt. Während übrigens Stäudlin noch Differenzen zwischen den Grund - sätzen Jesu und den essenischen zugiebt, und ohne zu entscheiden, ob Johannes und Jesus wirklich bestellte Emissäre der Essenergesellschaft gewesen seien, nur den Plan Jesu zu den Geheimnissen des obersten Grades in je - nem Orden rechnet: so haben Andere, wie der Verfasser der natürlichen Geschichte des Propheten von Nazaret, diese Grenzen der Vorsicht weit überschritten. Schon bei der Reise nach Ägypten läſst dieser Verf. den Joseph mit Essenern bekannt werden; später wird Jesus sammt dem jungen Johannes in den essenischen Orden aufgenommen, wo er Verwerfung der Opfer, unverbrüchlichen Gehorsam gegen die Obrigkeit, Wohlwollen auch gegen Heiden, lernt, und na - mentlich auch viele, damals noch geheime, Kenntnisse in Na - tur - und Heilkunde sich erwirbt. Nach Ablauf der Pro - bezeit entscheidet sich hierauf Johannes für das einsame, Jesus für das gesellige Leben im Dienste des Ordens, beide auf die Gelegenheit wartend, für die Zwecke desselben und seiner geheimen Unterstützung gewiſs in Verbindung miteinander öffentlich aufzutreten16)s. Band 1.. Weniger auf ein einzelnes der damals gegebenen Bildungsmomente hat sich Bahrdt beschränkt, dafür aber alles Mögliche und Un - mögliche bunt durcheinander gemischt. Von durchreisen - den Persern bekommt schon der Knabe Jesus gewisse Medikamente und Recepte; von alexandrinischen Juden und aufgeklärten Priestern, die er bei seinen auch schon vor dem 12ten Jahr unternommenen Festreisen kennen lernt, wird ihm ein freierer Blick in religiösen Dingen eröffnet, und von einem der Ersteren sogar ein sokratischer Dialog eingehändigt; ägyptische Priester endlich machen ihn mitDas Leben Jesu I. Band. 20306Erster Abschnitt.den Einrichtungen ihrer geheimen Bünde bekannt17)Briefe über die Bibel, zweites Bändchen, 18ter, 20ster Brief und ff. 4tes Bändchen, 49ster Brief.. Nachdem dieses Bundschmecken wenigstens bei unsern Schriftstellern in Abgang gekommen, hat man auch das Phantastische und Willkührliche solcher Hypothesen ein - gesehen, und sich dahin entschieden, zur Erklärung dessen, was Jesus geworden, sich auf diejenigen Bildungsmittel zu beschränken, welche einem Israëliten zu Jesu Zeit im A. T. und dessen Auslegungen, in dem Verkehr mit seinen Volks - genossen und den Mitgliedern der verschiedenen Sekten, und in dem Zusammenfluss von Fremden von allen mögli - chen Bildungsformen und Ansichten bei den Festen zu Je - rusalem gegeben war; wobei aber, wie man jetzt anerkennt, das Meiste die eigene hohe Begabung und welthistorische Bestimmung Jesu thun muſsten18)So Paulus a. a. O. 1, a, 273 ff. Planck, Geschichte des Chri - stenthums in der Periode seiner ersten Einführung 1, S. 84. de Wette, bibl. Dogm. §. 212. Hase L. J. §. 41. Winer, bibl. Realw. S. 677 f..

Doch da unser Absehen nur auf kritische Prüfung der N. T. lichen Nachrichten über das Leben Jesu, nicht aber auf pragmatische Ergänzung derselben geht: so haben wir uns auf diese muthmaſslichen Hebel der Bildung Jesu, über welche unsre Quellen keine Aussage enthalten, nicht weiter einzulassen, sondern uns auf diejenigen Punkte zu beschrän - ken, welche das N. T. selbst als solche Hebel namhaft macht. Sehen wir nun von der schon beurtheilten Kindheitsgeschichte ab, so lassen unsre Evangelien nur Eine Erscheinung in die Entwicklung der Thätigkeit Jesu eingreifen, nämlich die des Täufers Johannes. Da aber der Wirksamkeit dieses Man - nes erst in Verbindung mit der Taufe und dem öffentlichen Auftreten Jesu von den Evangelien gedacht wird: so wol - len wir das ihn und sein Verhältniss zu Jesu Betreffende nicht mehr hier abhandeln, sondern mit der Untersuchung darüber den zweiten Abschnitt eröffnen.

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Zweiter Abschnitt. Geschichte des öffentlichen Lebens Jesu.

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Erstes Kapitel. Das Verhältniss Jesu zum Täufer Johannes.

§. 40. Chronologisches Verhältniss zwischen Johannes und Jesus.

Von dem Auftritt des Täufers Johannes, dessen sämmt - liche Evangelien gedenken, geben uns das zweite und vierte keine Zeitbestimmung; das erste eine ungenaue; das dritte eine, wie es scheint, sehr präcise.

Nach Matth. 3, 1. tritt Johannes als Buſsprediger auf ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείυαις, das hieſse, wenn man auf das zu - letzt Erzählte (2, 23.) zurückblickt, um die Zeit, als Jesu Eltern sich in Nazaret ansiedelten1)Die von Süskind (vermischte Aufsätze S. 76 ff. ) behauptete Be - ziehung des ἐν ταῖς ἡμ. ἐκ. auf die Zeit, als Jesus noch in Nazaret wohnte, hat Schneckenburger (über den Ursprung des ersten kan. Ev. S. 30.), mit Recht wie es scheint, als einen Nothbehelf von der Hand gewiesen., wo Jesus noch ein Kind war. Wenn nun im Folgenden berichtet wird, wie Jesus, um sich taufen zu lassen, zu Johannes gekommen sei: so müſste man zwischen dem ersten Auftritt des Täu - fers, der in die Kindheit Jesu fiele, und dem Zeitpunkt, in welchem er Jesum taufte, eine Reihe von Jahren ein - schieben, während welcher Jesus so weit herangereift sein müſste, um an der johanneischen Taufe Theil nehmen zu können. Aber die Schilderung der Person und Wirksam - keit des Täufers bei Matthäus ist so kurz, es wird ihm so wenig eine selbstständige, so ganz nur eine auf Jesum hin - zielende Wirksamkeit zugeschrieben, daſs es gewiſs nicht310Zweiter Abschnitt.im Sinne des Evangelisten ist, denselben eine lange Reihe von Jahren für sich wirken zu lassen, sondern seine Mei - nung geht unstreitig dahin, die kurze Wirksamkeit des Täufers habe frühzeitig ihr Ziel darin gefunden, daſs Je - sus sich von ihm taufen lieſs. Haben wir auf diese Weise nicht zwischen den Auftritt des Täufers und die Taufe Jesu, also zwischen V. 12. und 13. des dritten Kap. bei Matthäus, die lange Zwischenzeit hineinzudenken, welche wir hier in jedem Falle nöthig haben: so bleibt nichts übrig, als sie zwischen dem Schluſs des zweiten und dem Anfang des dritten Kapitels, d. h. zwischen der Ansiedelung der Eltern Jesu in Nazaret und dem Auftritt des Täufers ein - zuschalten, wenn nur nicht das ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις entgegenstände, welches ja diese beiden Vorgänge in die - selbe Zeit zu verlegen scheint. Indessen, daſs diese For - mel nur die schlaffe Zeitbestimmung eines Solchen ist, wel - cher eine präcisere entweder nicht geben will oder nicht geben kann, ist bekannt2)s. Fritzsche, in Matth. S. 106.; oder noch besser vielleicht nimmt man mit Paulus an, Matthäus rücke hier ein Stück aus einer Diegese über den Täufer ein, in welcher von dessen, seinem öffentlichen Auftritt unmittelbar vorangehen - dem Leben Manches berichtet, und dann mit vollem Recht durch ἐν τ. ἡμ. ἐκ. fortgefahren war, welche Verbindungs - formel nun Matthäus, ob er gleich das, worauf sie sich be - zog, weggelassen, dennoch beibehalten habe3)Exeget. Handb. 1, a, S. 46. Ihm stimmt auch Schnecken - burger bei a. a. O.. So erfah - ren wir also aus Matthäus über die Zeit des Auftritts von Johannes nichts, als daſs derselbe in der Periode zwischen der Kindheit und dem Mannesalter Jesu geschehen sei.

Lukas giebt eine vielfache Zeitbestimmung für den Auf - tritt des Täufers, indem er denselben in die Verwaltungs - zeit des Pilatus in Judäa; in die Regierung des Herodes311Erstes Kapitel. §. 40.(Antipas), des Philippus und Lysanias in den übrigen Thei - len Palästina's; in die Hohepriesterschaft des Hannas und Kaiphas; bestimmt aber in das 15te Regierungsjahr des Tiberius (welches, vom Tode des Augustus an gerechnet, dem Jahr 28 29 unsrer aera entspricht)4)s. Paulus a. a. O. S. 336. verlegt 3, 1. 2.). Mit dieser letzteren, genauesten Zeitbestimmung harmoni - ren alle die vorhergenannten minder genauen (auch die, daſs neben Kaiphas noch Hannas als Hohenpriester genannt wird, sobald man die eigenthümliche Auktorität erwägt, welche nach A. G. 4, 6., Joh. 18, 13. jener gewesene Ho - hepriester auch nach dem Amtsantritt seines Schwieger - sohns Kaiphas beibehielt, mit Ausnahme der Angabe über den Lysanias. Zwar spricht auch Josephus von einer Ἀβίλα Λυσανίου καλουμένη5)Antiq. 19, 5, 1 und 20, 7, 1. vergl. Bell. jud. 2, 11, 5. und führt einen Lysanias als Herrscher von Chalcis am Libanon, in dessen Nähe auch das Gebiet von Abila zu suchen ist6)s. die erste der zuvor angeführten Stellen, und Winer, bibl. Realwörterbuch, d. A. Abilene., auf7)B. jud. 1, 13, 1. vergl. mit Antiq. 14, 7, 4., der also ohne Zweifel auch der Beherrscher von diesem war: aber die - ser Lysanias war bereits 34 Jahre vor Christi Geburt auf Anstiften der Kleopatra ermordet worden8)Joseph. Antiq. 15, 4, 1., und eines an - dern Lysanias erwähnt weder Josephus, noch sonst ein Schriftsteller über jene Zeit. Die Herrschaft jenes Lysa - nias fiele also nicht nur mehr als 60 Jahre früher als das 15te Jahr des Tiberius, sondern auch über die andern von Lukas mit diesem zusammengestellten weiteren Perioden um Vieles hinaus. Man hat daher angenommen, Lukas spreche hier von einem jüngeren Lysanias, einem Nach - kommen jenes früheren, welcher unter Tiberius jene Land - schaft besessen habe, von Josephus aber, seiner minderen312Zweiter Abschnitt.Berühmtheit wegen, nicht erwähnt werde9)Süskind, vermischte Aufsätze, S. 15 ff.. Nun läſst sich zwar freilich nicht beweisen, was Süskind zur Wi - derlegung dieser Deutung verlangt, daſs Josephus des jün - geren Lysanias nothwendig hätte erwähnen müssen, wenn ein solcher existirt hätte; aber doch, daſs er mehr als Eine Veranlassung dazu hatte, hat Paulus genügend aufgezeigt10)a. a. O. S. 343.. Namentlich da er noch in Bezug auf die Zeiten des ersten und zweiten Agrippa Abila als τοῦ Λυσανίου bezeichnet, so muſste er doch hiedurch daran erinnert werden, daſs er des zweiten Lysanias, von welchem, als dem späteren Regenten, das Land um jene Zeit zunächst diesen Beina - men gehabt haben müſste, gar nicht erwähnt, sondern nur von dem ersten erzählt hatte. Ist demnach der zweite Ly - sanias nichts anderes als eine historische Fiktion: so ist freilich das, was man statt desselben in Vorschlag bringt11)Michaelis, Anmerk. zur Übersetzung d. St.; Paulus a. a. O. S. 342 ff. Schneckenburger, in Ullmann's und Umbreit's Stu - dien, 1833, 4. Heft, S. 1056 ff., auch nicht weiter als eine philologische. Denn wenn vor - hergegangen war: Φιλίππου τετραρχοῦντος τῆς Ἰτουραίας κ. τ. λ., und es folgt nun: καὶ Λυσαν ου τῆς Ἀβιληνῆς τετραρ - χοῦντος: so kann dieſs unmöglich so verstanden werden, als hätte eben jener Philippus auch über das Abilene des Ly - sanias geherrscht. Denn in diesem Falle durfte das τετραρ - χοῦντος nicht wiederholt12)Denn auf die Auktorität eines einzigen Codex hin mit Schnek - kenburger u. A. das zweite τετραρχοῦντος zu streichen, ist doch eine zu offenbare Gewaltsamkeit., und muſste τῆς vor Λυσανίου gestellt werden, wenn der Verfasser nicht miſsverstanden sein wollte. Es bleibt daher nichts übrig, als die Annah - me, der Verfasser selbst habe sich geirrt, und aus dem Umstand, daſs auch in späteren Zeiten noch Abilene von dem lezten Herrscher der früheren Dynastie Λυσανίου313Erstes Kapitel. §. 40.zubenannt war, den Schluſs gezogen, daſs es auch damals noch einen Herrscher dieses Namens gehabt habe, während es doch entweder unter Philippus, oder noch wahrschein - licher unter den Römern stand. Es ist also hier, wie oben bei der Angabe von der Schatzung, dem Lukas, gerade wo er recht genau in der Zeitbestimmung sein wollte, ein star - ker chronologischer Miſsgriff begegnet. Indeſs, unerachtet er der Zeitdifferenz nach gerechnet beiläufig sechsmal grös - ser ist, als jener: so möchte ich ihn doch für weniger be - deutend halten, da es leichter und verzeihlicher war, über einen kleinen Fürsten am Libanon um 60 Jahre zu feh - len, als in Bezug auf den berühmten Census um zehn.

Die chronologische Angabe unsrer Stelle betrifft zu - nächst nur den Täufer Johannes; wo Lukas später (V. 21 ff. ) auf Jesum zu reden kommt, vermiſst man eine ähnliche. Von ihm wird blos das ungefähre Alter (ὡσεὶ ἐτῶν τριά - κοντα) bei seinem Auftritt (ἀρχόμενος) angegeben, der Zeit - punkt aber verschwiegen; so wie umgekehrt für Johannes die Altersangabe fehlt. Ist also gleich Johannes im funf - zehnten Jahr des Tiberius aufgetreten, so können wir, scheint es, daraus doch nichts für die Zeit des Auftritts Jesu abnehmen, da ja nirgends gesagt ist, wie kurz oder lange nachdem Johannes zu taufen angefangen, Jesus zu ihm an den Jordan gekommen sei; ebenso, wenn wir gleich wissen, daſs Jesus bei seiner Taufe ungefähr 30 Jahre zählte, so erfahren wir dadurch nicht, wie alt Johannes war, da er seine Wirksamkeit als Täufer begann. Frei - lich, wenn wir uns an Luc. 1, 26. erinnern, wonach Jo - hannes gerade ein halbes Jahr älter als Jesus war, und wenn wir das Datum zu Hülfe nehmen, daſs vor dem dreis - sigsten Jahre die jüdische Sitte ein öffentliches Auftreten nicht wohl erlaubt habe: so könnte der Täufer nur ein halbes Jahr vor Jesu Ankunft am Jordan aufgetreten sein, da er nur so lange vor ihm das hiezu nothwendige Alter erreicht hätte. Allein vor dem angegebenen Lebensjahre314Zweiter Abschnitt.öffentlich aufzutreten, verbot wenigstens kein ausdrückli - ches Gesetz, und ob von den Priestern und Leviten, wel - chen jenes Jahr als Anfang des ordentlichen Dienstes be - stimmt war (4. Mos. 4, 3. 47., vergl. übrigens 2. Chron. 31, 17., wo das zwanzigste genannt ist), ein Schluſs auf die freiere Wirksamkeit eines Propheten gelte, hat man mit Recht in Frage gestellt13)s. Paulus, S. 294.. Dieſs also würde nicht hin - dern, auch das angegebene Altersverhältniſs vorausgesezt, doch den Auftritt des Täufers dem von Jesu um ein Ziem - liches vorangehen zu lassen. Indeſs schwerlich im Sinne des Evangelisten. Denn daſs dieser den Auftritt des Vor - läufers zwar so übersorgfältig bestimmt haben sollte, den des Messias selbst aber unbestimmt gelassen, das wäre doch gar zu ungeschickt14)s. Schleiermacher, über den Lukas, S. 62., und wir können kaum anders, als ihm die Absicht unterlegen, durch seine Angaben für den Auftritt des Täufers auch die Zeit des Auftritts Jesu mit - zubestimmen. Dieſs trifft aber nur dann zu, wenn er an - nahm, daſs sehr bald nach dem Auftritt des Johannes Jesus zu ihm an den Jordan gekommen sei und sofort selbst auch zu lehren angefangen habe15)Dieser Ansicht war auch Bengel, Ordo temporum, S. 204 f. ed. 2.. Denn daſs jene Zeitbestim - mung ursprünglich nur den Anfang eines von Lukas einge - rückten Aufsatzes über den Täufer ausgemacht haben sollte, ist deſswegen wenig wahrscheinlich, weil solche chronolo - gische Akribie eher dem παρηκολουϑηκότι ἄνωϑεν πᾶσιν ακριβῶς und demjenigen ähnlich sieht, der auch die Zeit von Jesu Geburt auf entsprechende Weise zu bestimmen gesucht hatte.

Daſs nun aber dieser Darstellung zufolge Johannes nur so ganz kurze Zeit vor Jesu sollte aufgetreten sein, ist nicht so leicht sich vorzustellen. Nicht ohne Grund hat man eine315Erstes Kapitel. §. 40.so kurze Dauer der Wirksamkeit des Täufers unwahr - scheinlich gefunden, da er doch eine beträchtliche Anzahl Jünger (Joh. 4, 1.), und zwar nicht blos solche, die sich nur von ihm taufen lieſsen, sondern von ihm besonders gebil - dete Schüler (Luc. 11, 1.) hatte, und eine eigene Partei von Anhängern hinterlassen hat (A. G. 18, 25. 19, 3.), was schwerlich das Werk von wenigen Monaten sein konnte. Es muſste doch, wurde bemerkt, erst einige Zeit hingehen, bis der Täufer so bekannt wurde, daſs Leute die Reise zu ihm in die Wüste unternahmen; es bedurfte Zeit, seine Lehre zu fassen, und Zeit, daſs sich dieselbe, zumal sie ge - gen die gangbaren jüdischen Begriffe verstieſs, erst Ein - gang verschaffen und sich festsetzen konnte; überhaupt, das hohe und dauernde Ansehen, in welches sich Johannes nach Josephus16)Antiq. 18, 5, 2., wie nach den Evangelien (Matth. 14, 2. 21, 26.), bei seiner Nation gesezt hatte, lieſs sich nicht in so kurzer Zeit erwerben17)So Cludius, über die Zeit und Lebensdauer Johannis und Je - su. In Henke's Museum, 2, 3, 502 ff..

Doch, indem durch das Bisherige nur überhaupt eine längere Wirksamkeit des Täufers gefordert ist: so ist da - mit noch nicht bewiesen, daſs unsre Evangelien Unrecht haben, wenn sie die Zeit seines Wirkens vor Jesu so kurz darstellen, da sie ja vielleicht, was vorne fehlt, hinten ansetzen und den Täufer nach dem Auftritt Jesu desto länger noch fortwirken lassen. Allein auch eine Verlän - gerung der Wirksamkeit des Täufers nach dieser Seite ist wenigstens in den zwei ersten Evangelien nicht zu finden. Denn nicht nur berichten diese nach Jesu Taufe über Jo - hannes nichts mehr, ausser jener Sendung zweier Jünger (Matth. 11.), die schon aus dem Gefängnisse erfolgt, son - dern es lautet Matth. 4, 12. Marc. 1, 14. ganz so, als ob während oder kurz nach dem vierzigtägigen Aufenthalt316Zweiter Abschnitt.Jesu in der Wüste der Täufer gefangen genommen wor - den, und in Folge dessen Jesus nach Galiläa gegangen wäre, um daselbst öffentlich aufzutreten. Lukas freilich (4, 14.) erwähnt der Gefangennehmung des Täufers nicht als der Veranlassung von Jesu Auftreten in Galiläa, und von der Sendung der zwei Johannisjünger scheint er sich vorzustellen, sie sei noch während der freien Wirksam - keit des Täufers erfolgt (7, 18. ff. ); noch bestimmter spricht sich das vierte Evangelium gegen die Vorstellung aus, als wäre Johannes so bald nach Jesu Taufe gefangen gesezt worden, indem es 3, 24. ausdrücklich bemerkt, daſs noch nach dem ersten von Jesu während seines öffentlichen Lebens besuchten Pascha Johannes in freier Wirksamkeit gestanden habe. Allein theils kann dieſs Fortwirken des Täufers nach Jesu Auftritt doch nicht sehr lange mehr gedauert haben, da er geraume Zeit vor Jesu hingerichtet worden zu sein scheint (Luc. 9, 9. Matth. 14, 1. ff. Marc. 14, 16.); theils ersezt das, was man nach Jesu Auftritt der Wirk - samkeit des Johannes zusetzen mag, dasjenige nicht, was ihr vor diesem Zeitpunkt abgeht. Denn, abgesehen da - von, daſs dem vierten Evangelium (1, 35.) zufolge der Täufer bei'm Auftritt Jesu schon einen bestimmten Kreis vertrauterer Schüler gesammelt hatte, so wäre überhaupt der feste Boden, welchen seine Schule gewann, schwer zu erklären, wenn er nur etliche Monate allein gewirkt hätte, und dann so frühe von Jesu überflügelt worden wäre.

Ein Ausweg ist allein noch übrig, nämlich der, zwi - schen der Taufe Jesu und seinem öffentlichen Auftritt zu unterscheiden und zu sagen: er ist zwar schon nach dem ersten Halbjahr der Wirksamkeit des Johannes von dessen Rufe so angezogen worden, daſs er sich seiner Taufe un - terwarf; aber von da an hat er sich noch längere Zeit entweder im Gefolge und der Schule desselben, oder wie - der zu Hause in der Zurückgezogenheit aufgehalten, und ist erst geraume Zeit später selbstständig hervorgetreten. 317Erstes Kapitel. §. 40.So würden wir einerseits den gröſseren Zeitraum, wel - chen Johannes vor dem Auftritt Jesu und unverdunkelt von diesem gewirkt haben muſs, gewinnen, und doch hät - ten unsre Evangelien Recht, wenn sie die Taufe Jesu scheinbar so bald nach dem Auftritt des Täufers erfolgen lassen. Allein die Annahme einer solchen längeren Zwi - schenzeit zwischen der Taufe Jesu und seinem öffentlichen Auftritt ist den N. T. lichen Schriftstellern am allermeisten fremd. Denn die Taufe Jesu betrachten sie, wie aus dem Herabkommen des Geistes und der Himmelsstimme erhellt, als Einweihung Jesu zu seinem messianischen Berufe; die einzige Pause, welche sie nach derselben noch eintreten lassen, ist das sechswöchige Fasten in der Wüste; nach diesem aber tritt Jesus, dem Lukas zufolge unmittelbar (4, 14.), dem Matthäus und Markus zufolge, nachdem der Täufer, wahrscheinlich übrigens in der Zwischenzeit, in das Gefängniſs gesezt war, in Galiläa auf. Besonders aber indem Lukas 3, 23. die Taufe Jesu (der wahrscheinlichsten Auslegung zufolge) als sein ἄρχεσϑαι, seinen Amtsantritt, bezeichnet, und A.G. 1, 22. Jesum von dem βάπτισμα Ἰωάννου an mit seinen Jüngern verkehren läſst, so hat er augenscheinlich Jesu Taufe durch Johannes und seinen öf - fentlichen Auftritt als Eines und dasselbe und durch keine Zwischenzeit (ausser jenen 6 Wochen) getrennt sich vor - gestellt.

Wenn somit den beiden Annahmen, zu welchen wir, um für die bedeutende Wirksamkeit des Täufers Raum zu gewinnen, geneigt sein müssen, daſs Jesus entweder spä - ter zu seiner Taufe sich begeben, oder daſs er noch län - gere Zeit, nachdem er getauft war, seinen öffentlichen Auftritt verzögert habe, die evangelische Darstellung ent - schieden in den Weg tritt: so sind sie uns hiedurch doch nur so lange verboten, bis wir nachzuweisen im Stande sind, was, auch ohne historische Gründe, die N. T. lichen Schriftsteller zu einer solchen Darstellung veranlassen318Zweiter Abschnitt.konnte. Dieses Moment aber liegt nahe genug, und ist schon im Vorhergehenden angedeutet. War einmal, wie es in der ersten Christengemeinde geschah (A.G. 19, 4.), der Täufer nicht mehr als eine Erscheinung für sich, son - dern als eine, nur zur Vorbereitung auf Christum dienende gefaſst: so verweilte die Vorstellung nicht mehr bei der Wirksamkeit des bloſsen Vorläufers, sondern eilte zu der - jenigen Erscheinung fort, welche er vorbereiten sollte. Noch offenbarer ist das Interesse, welches auch ohne ge - schichtlichen Grund die urchristliche Tradition dafür ha - ben muſste, zwischen der Taufe Jesu und seinem öffentli - chen Auftritt jede Zwischenzeit auszuschlieſsen. Denn daſs durch die Taufe Jesus sich an Johannes als Schüler ange - schlossen und sofort noch längere Zeit in diesem Verhält - nisse gelebt hätte, dieſs anzunehmen, widersprach dem re - ligiösen Interesse der neuen Gemeinde, welches einen, nicht von Menschen, sondern von Gott belehrten Stifter dersel - ben verlangte; weſswegen, auch wenn es sich wirklich auf jene Weise verhalten hätte, dennoch gewiſs frühzeitig der Sache diese andre Wendung gegeben worden wäre, welcher zufolge die Taufe Jesu durch Johannes nicht seinen Eintritt in die johanneische Schule, sondern nur seine Einweihung zum selbstständigen Auftritt bezeich - nete. So finden wir uns also durch die abweichende Dar - stellung unsrer Quellen unbehindert, dasjenige anzuneh - men, wozu die Sache selbst uns drängt, daſs nämlich der Täufer schon längere Zeit vor dem Auftritt Jesu gewirkt habe.

Dieses angenommen, so müſste, wenn wir nach Luc. 1, 26. und 3, 23. voraussetzen, daſs Jesus, nur ein halbes Jahr jünger als Johannes, bei seinem Auftritt ungefähr im dreissigsten Jahre gestanden habe, Johannes noch in den Zwanzigen öffentlich aufgetreten sein. Gegen ein so früh - zeitiges Auftreten eines Propheten ist nun zwar nach dem Obigen kein ausdrückliches jüdisches Gesez; auch möchte319Erstes Kapitel. §. 41.ich nicht so bestimmt, wie Cludius18)a. a. O., es unwahrschein - lich finden, daſs ein so junger Buſsprediger hätte Eindruck machen und namentlich für einen Propheten aus der alten Zeit, für einen Elias, gehalten werden können: sondern nur auf das Allgemeine will ich mich berufen, daſs es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge natürlich ist, den um ein Ziemliches früher zu öffentlicher Wirksamkeit Her - vorgetretenen auch als den um so viel Älteren zu präsu - miren, zumal, wenn Inhalt und Geist seiner Wirksam - keit so ganz einem reiferen Alter entsprechen, wie die Buſspredigt des Johannes. Von dieser Regel giebt es zwar nicht wenige Ausnahmen: aber zur Annahme einer solchen im gegenwärtigen Falle uns zu bewegen, ist die Angabe Luc. 1, 26., daſs Johannes nur um 6 Monate älter gewe - sen als Jesus, zu schwach, da sie ganz nur im Interesse der Sagenpoësie gemacht ist, und daher gegen die mindeste Unwahrscheinlichkeit aufgegeben werden muſs.

Das Resultat unsrer Kritik der chronologischen Angabe Luc. 3, 1. 2. vergl. 23. und 1, 26. ist also: Wenn Jesus, wie dieſs die Meinung des Lukas zu sein scheint, im funfzehnten Jahre des Tiberius aufgetreten ist: so fällt der Auftritt des Johannes nicht ebenfalls erst in dieses Jahr, sondern früher, und wenn Jesus in seinem dreiſsigsten Jahre auf - getreten ist: so ist der längere Zeit vor ihm aufgetretene Täufer nicht blos um sechs Monate älter zu denken.

§. 41. Persönliches und reales Verhältniss des Täufers zu Jesu.

Johannes, wie unsre Quellen andeuten, ein Nasiräer (Luc. 1, 15.) und Ascet (Matth. 3, 4. 9, 14. 11, 18.), wie manche Theologen vermuthet haben1)Stäudlin, Geschichte der Sittenlehre Jesu, 1, S. 580. Paulus exeg. Handb. 1, a, S. 136. Vergl. auch Creuzer, Symbolik, 4, S. 413 ff., auch mit Es -320Zweiter Abschnitt.senern im Zusammenhang, wurde nach der Angabe des Lukas (3, 2.) durch ein an ihn in der Wüste ergehendes ῥῆμα ϑεοῦ aufgefordert, öffentlich hervorzutreten. Da wir hier in keinem Falle mehr die eigne Erklärung des Täu - fers vor uns haben, so ist das Dilemma, wie es Paulus stellt, man könne nicht wissen, ob sich Johannes selbst ein äusseres oder inneres Faktum als Aufforderung Gottes gedeutet, oder ob ein Anderer ihn so aufgerufen habe2)a. a. O. S. 347., nicht vollständig, und es muſs als dritte Möglichkeit hin - zugesezt werden, daſs vielleicht seine Anhänger die Beru - fung ihres Lehrers durch jenen an die alten Propheten er - innernden Ausdruck verherrlicht haben.

Während es nach der Darstellung des Lukas scheint, als wäre nur der göttliche Ruf an den Täufer ἐν τῇ ἐρήμῳ ergangen, zum Behuf des Lehrens und Taufens aber habe er sich von da in die περίχωρος τοῦ Ἰορδάνου begeben (V. 3.): so macht Matthäus (3, 1. ff. ) die jüdische Wüste selbst zum Schauplaz der Predigt und Taufe des Johannes, wie wenn der Jordan, in welchem er taufte, durch jene Wüste geflossen wäre. Nun floſs dieser zwar nach Josephus vor seinem Einfall in das todte Meer allerdings durch πολλὴν ἐρημίαν3)Bell. jud. 3, 10, 7., was aber nicht die eigentliche Wüste Juda war, welche weiter südlich lag. Deſswegen hat man hier einen Fehler des ersten Evangelisten finden wollen, wel - cher, verführt durch die Beziehung der Weissagung: φωνὴ βοῶντος ἐν τῇ ἐρήμῳ auf den, aus der ἔρημος τῆς Ἰουδαίας stammenden Johannes auch seine Thätigkeit als Buſspredi - ger und Täufer dorthin verlegt habe, deren Schauplaz doch das blühende Jordanthal gewesen sei5)Schneckenburger, a. a. O. S. 38 f.. Sieht man indeſs4)s. Winer, bibl. Realwörterbuch, d. A. Wüste. Schnecken - burger, über den Ursprung des ersten kanonischen Evange - liums, S. 39.321Erstes Kapitel. §. 41.im Lukasevangelium weiter vorwärts: so verschwindet der Schein, als lieſse dasselbe den Johannes nach erhaltenem Ruf die Wüste verlassen, da unten, bei der Gesandtschaft des Täufers, auch Lukas Jesum in Bezug auf denselben fragen läſst: τί ἐξεληλύϑατε εἰς τὴν ἔρημον ϑεάσασϑαι (7, 24.); Da nun die Jordanaue in der Nähe des todten Meeres, wo - hin die Wirksamkeit des Täufers zu setzen ist, den schma - len Uferrand ausgenommen, wirklich eine dürre Ebene war6)s. ausser der angef. Stelle des Josephus, Winer, bibl. Real - wörterbuch, 1, S. 708.: so bliebe nur das etwa ein dem Matthäus eigen - thümlicher Irrthum, daſs er diese Wüste als die ἔρημος τῆς Ἰουδαίας bezeichnet; wenn man nicht anders entweder annehmen will, Johannes habe sich, als er von der Buſs - predigt zur Taufe schritt, aus der jüdischen Wüste an das Jordanufer hinaufgezogen7)Winer, a. a. O. S. 691., oder, der öde Strich am Jordan sei als Fortsetzung der judäischen Wüste gleich - falls noch mit diesem Namen bezeichnet worden8)Paulus, a. a. O. S. 301..

Die Taufe des Johannes, schwerlich aus der, ohne Zweifel erst nachchristlichen, Proselytentaufe9)s. die Schrift von Schneckenburger, über das Alter der jüdi - schen Proselytentaufe., eher in Analogie mit den religiösen Lustrationen, wie sie auch unter den Juden, vorzüglich bei den Essenern, eingeführt waren, entstanden, gründete sich, wie es scheint, haupt - sächlich auf die bildlichen Äusserungen mehrerer Prophe - ten, die in der Folge eigentlich verstanden wurden, nach welchen Gott von dem israëlitischen Volke, wenn es wie - der zu Gnaden angenommen werden wolle, ein Baden und Abwaschen seiner Unreinigkeit verlangt und es selbst mit Wasser zu reinigen verspricht (Jes. 1, 16. Ezech. 36, 25. vergl. Jerem. 2, 22.). Nimmt man dazu die jüdische Vor - stellung, daſs der Messias mit seinem Reiche nicht eherDas Leben Jesu I. Band. 21322Zweiter Abschnitt.erscheinen werde, als wenn die Israëliten Buſse thun10)Sanhedr. f. 97, 2: R. Elieser dixit: si Israëlitae poeniten - tiam agunt, tunc per Goëlem liberantur; sin vero, non li - berantur. Bei Schöttgen, horae, 2, S. 680 ff., so sieht man, wie leicht die Combination gemacht werden konnte, daſs also eine, die Besserung und Sündenverge - bung symbolisch darstellende Abwaschung der Ankunft des Messias vorangehen müsse. Ueber die Bedeutung der Taufe des Johannes stimmen die Berichte nicht ganz zu - sammen. Alle zwar kommen darin überein, daſs die με - τάνοια ein wesentliches Erforderniſs bei derselben gewesen sei, denn auch was Josephus vom Täufer sagt, er habe die Juden ermahnt, ἀρετὴν ἐπασκοῦντας, καὶ τῇ πρὸς ἀλλήλους δικαιοσύνῃ καὶ πρὸς τὸν ϑεὸν εὐσεβείᾳ χρωμένους βαπτισμῷ συνιέναι11)Antiq. 18, 5, 2. ist doch, nur gräcisirt, das Nämliche. Nun aber verbinden Markus und Lukas mit der Bezeichnung der Johannistaufe als βάπτισμα μετανοίας den Zusaz: εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν (1, 4. 3, 3.); diesen hat Matthäus hier nicht, doch bezeichnet auch er, wie Markus, diejenigen, wel - che sich taufen lieſsen, zugleich als ἐξομολογούμενοι τὰς ἁμαρτίας αὑτῶν (3, 6.); Josephus dagegen scheint gera - dezu zu widersprechen, wenn er als die Meinung des Täu - fers die angiebt: ο[]τω γὰρ καὶ τὴν βάπτισιν ἀποδεκτὴν αὐτᾳ (τῷ ϑεῷ) φανεῖσϑαι, μὴ ἐπί τινων ἁμαρτάδων παραιτήσει χρωμένων, ἀλλ 'ἐφ̔ ἁγνείᾳ τοῦ σώματος, ἄτε δὴ καὶ τῆς ψυχῆς δικαιοσύνῃ προεκκεκαϑαρμένης12)Ebendas.. Und hier könnte man nun das auffassen, daſs das εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν nach A. G. 2, 38. u. a. St. eine gewöhnliche Bezeichnung der christlichen Taufe war, und daher vielleicht auch auf die johanneische unhistorisch übertragen sein könnte; indessen, da doch schon in der angeführten Stelle aus Ezechiel die Abwaschung nicht blos Besserung, sondern auch Sünden - vergebung versinnlichte, so wird doch die Angabe der Evan -323Erstes Kapitel. §. 41.gelisten gegen Josephus festzuhalten sein, dessen Worte sich überdieſs mit der N. T. lichen Angabe vereinigen las - sen, wenn man sie so faſst, daſs durch die Johannistaufe nicht die Reinigung von einzelnen, zudem noch blos leviti - schen Unreinigkeiten, sondern des ganzen Menschen, und diese Reinigung nicht unmittelbar und mysteriös durch das Wasser, sondern durch Vermittlung des sittlichen Aktes der Besserung habe bewirkt werden sollen13)So Paulus, a. a. O. S. 314 und 361. Anm..

Eine weitere Differenz findet in Bezug auf das Verhält - niſs statt, in welches die verschiedenen Nachrichten über Johannes seine Taufe zu der βασιλεία τῶν οὐρανῶν stellen. Nach Matthäus war der kurze Inhalt der Aufforderung, welche er mit der Taufe verband, der: μετανοεῖτε· ἤγγικε γὰρ βασιλεία τῶν οὐρανῶν (3, 2.); nach Lukas spricht der Täufer anfänglich nur von μετάνοια und ἄφεσις ἁμαρτιῶν, aber von keinem Himmelreich, und erst die Vermuthung des Volkes, er möchte vielleicht selbst der Messias sein, veranlaſst ihn, auf diesen, als nach ihm kommenden hinzu - weisen (3, 15 ff. ); bei Josephus aber findet sich von einer Beziehung der Thätigkeit des Täufers auf die messianische Idee gar nichts. Auch hier jedoch darf man aus der Ab - weichung der Berichte nicht schlieſsen, der Täufer selbst habe sich in kein Verhältniſs zum messianischen Reiche gestellt, und erst die christliche Sage habe ihm dieſs zu - geschrieben. Denn schon seine Taufe ist, sofern man die Ableitung aus der Proselytentaufe von der Hand weist, nicht recht erklärlich, wenn man nicht an die oben erwähn - te sühnende Lustration des Volkes denken darf, welche man in der messianischen Zeit erwartete; dann aber wird auch die Erscheinung Jesu begreiflicher, wenn schon Jo - hannes die Idee des nahen Messiasreichs auf die Bahn ge - bracht hatte. Daſs Josephus die messianische Beziehung der Sache zurückstellt, stimmt ganz mit seiner sonstigen21*324Zweiter Abschnitt.Praxis überein, welche sich namentlich aus der Rücksicht auf das Verhältniſs seines Volks zu den Römern erklärt; überdieſs liegt in dem Ausdruck: βαπτισμῷ συνιέναι, wel - chen er gebraucht, in dem συςρέφεσϑαι der Leute, und der Furcht des Antipas vor einer durch Johannes zu bewir - kenden ἀπόςασις, wovon er weiterhin spricht, ganz die Andeutung einer solchen religiöspolitischen Vereinigung, wie sie durch messianische Hoffnungen gebildet werden konnte. Wie der Täufer so bestimmt erklären konnte, daſs wirklich das Messiasreich nun vor der Thüre sei, darüber könnte man sich verwundern, und, nicht beruhigt durch die Verweisung des Lukas auf eine göttliche Auf - forderung und Offenbarung, der Vermuthung nachgeben, daſs vielleicht der christliche Referent aus dem späteren Erfolg heraus, da ja nach Johannes wirklich derjenige auf - trat, welchen er für den Messias hielt, der Rede des Täu - fers eine Bestimmtheit gegeben habe, welche ursprünglich nicht in derselben lag, indem dieser nämlich, ganz adäquat der oben angeführten jüdischen Vorstellung, nur gesagt ha - ben könnte: μετανοεῖτε, ἴνα ἔλϑῃ βασ. τ. οὐρ., und erst die spätere Darstellung hätte statt des ἴνα γὰρ gesetzt. Doch dieser Annahme bedarf es nicht; leicht konnte ja Johannes in den damaligen bewegten Zeiten Merkmale zu entdecken glauben, welche ihm die Nähe des messianischen Reichs zu verbürgen schienen, und wie nahe es sei, das lieſs er ja immer unbestimmt.

Den Eintritt der βασιλεία τῶν οὐρανῶν knüpfte Johan - nes unsern Evangelien zufolge an ein messianisches Indivi - duum, welchem er, zum Unterschied von seiner Wasser - taufe, ein βαπτίζειν πνεύματι ἁγίῳ καὶ πυρὶ zuschrieb (Matth. 3, 11. parallel. ), da ja die Ausgiessung des heiligen Geistes für einen Hauptzug der messianischen Zeiten galt (Joël 3, 1 5. A. G. 2, 16 ff. ); von welchem er ferner eine, mit dem Worfeln des Getraides vergleichbare Sichtung des Volks erwartete, was auch die Propheten, wenn gleich un -325Erstes Kapitel. §. 41.ter andern Bildern, für die messianische Zeit vorhergesagt hatten (Malach. 3, 2. 3. Zachar. 13, 9.). Hier stellen nun die Synoptiker die Sache so, als ob der Täufer unter die - sem messianischen Individuum bestimmt schon Jesum von Nazaret verstanden hätte. Nach Lukas waren ja die Müt - ter der beiden Männer verwandt und von dem künftigen Verhältniſs ihrer Söhne unterrichtet; schon in Mutterleibe hatte sich der Täufer Jesu entgegenbewegt, und es ist da - her, wie hier die Sache eingeleitet ist, vorauszusetzen, daſs beide schon frühzeitig sich in ihrem durch himmlische Mittheilung vorherbestimmten Verhältniſs kennen gelernt und anerkannt haben. Matthäus zwar berichtet über sol - che Familienverhältnisse zwischen Johannes und Jesus nichts; doch legt er, wie sich Jesus taufen lassen will, dem Jo - hannes Ausdrücke in den Mund, welche eine frühere Be - kanntschaft beider vorauszusetzen schei[nen]. Denn sein Be - fremden äussern, daſs Jesus zu ihm komme, da doch er vielmehr nöthig hätte, von ihm getauft zu werden, dieſs konnte Johannes nicht, wenn ihm Jesus nicht entweder früher schon bekannt gewesen, oder im Augenblick durch eine Offenbarung bekannt gemacht worden war; wovon das Letztere durch nichts angedeutet ist; das sichtbare Zeichen der Messianität Jesu wenigstens erfolgt erst nach - her. Stimmen so das erste und dritte Evangelium (das zweite behandelt die Sache zu epitomirend, als daſs seine Ansicht in dieser Beziehung klar werden könnte) darin überein, daſs Johannes und Jesus einander schon vor der Taufe nicht fremd gewesen: so behauptet im vierten der Täufer ausdrücklich, Jesum vor der himmlischen Erschei - nung, welche den Synoptikern zufolge bei seiner Taufe sich ereignete, nicht gekannt zu haben (1, 31. 33.). Ein - fach die Sache angesehen, erscheint dieſs als ein Wider - spruch, und weil die frühere Bekanntschaft beider Män - ner bei Lukas als der objektive Thatbestand, und bei Mat - thäus als unwillkührliches Eingeständniſs des überraschten326Zweiter Abschnitt.Johannes; das frühere Nichtgekannthaben dagegen im vier - ten Evangelium als subjektive, und zwar wohlbedachte, Versicherung des Täufers erscheint: so lag es nahe, mit dem Wolfenbüttler Fragmentisten den Widerspruch auf Rech - nung des Johannes und Jesu in der Art zu schreiben, daſs sie in der That zwar sich längst gekannt und verab - redet gehabt, vor den Leuten aber sich das Ansehen gege - ben haben, als wären sie einander bisher fremd gewesen, und legten nun ganz unbefangen der eine von des andern Trefflichkeit Zeugniſs ab, um einander in die Hände zu arbeiten14)Fragment von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, heraus - gegeben von Lessing, S. 133 ff..

Da man diesen Widerspruch nicht als absichtliche Verstellung auf Johannes und mittelbar auch auf Jesus lie - gen lassen wollte, versuchte man auf exegetischem Wege das Vorhandensein desselben zu leugnen. Das κἀγὼ οὐκ ᾔδειν αὐτὸν soll nicht heissen: die Person, sondern die Mes - sianität Jesu war mir unbekannt15)So Semler in der Beantwortung des angeführten Fragments z. d. St., ebenso die meisten Neueren, Planck, Geschichte des Christenthums in der Periode seiner Einführung, 1, K. 7. Winer, bibl. Realwörterbuch, 1, S. 691.. Allerdings, sofern dasjenige, was dem Johannes sofort durch das himmlische Zeichen bekannt gemacht wird, die Messianität Jesu ist (Joh. 1, 33 f.): so kann er unter dem, was ihm bis dahin unbekannt gewesen, nichts Andres als eben diese verstan - den haben, wodurch eine vorangegangene persönliche Be - kanntschaft nicht nothwendig ausgeschlossen würde. Es fragt sich jedoch, ob bei der Art, wie, den Bericht des Mat - thäus und Lukas vorausgesezt, Johannes Jesum gekannt haben müſste, die Bekanntschaft mit seiner Messianität von der mit seiner Person auf solche Weise getrennt werden kann? Soll nämlich Johannes Jesum persönlich gekannt ha -327Erstes Kapitel. §. 41.ben auf die Weise, wie uns Lukas die Familienverhältnis - se zwischen beiden angiebt: so ist unmöglich, daſs er nicht auch frühe genug davon Kunde bekommen haben sollte, wie feierlich Jesus schon vor und bei seiner Geburt als Mes - sias angekündigt worden war; er hätte also später nicht sagen können, er habe davon nichts gewuſst, bis er ein himm - lisches Zeichen bekommen habe, sondern er hätte sich so ausdrücken müssen, er habe der Erzählung von den frühe - ren Zeichen, deren eines ja an ihm selbst vorgegangen war, nicht geglaubt. Kann man daher nicht umhin, anzuerken - nen, daſs durch den besprochenen Ausdruck im vierten Evangelium dem Täufer nicht allein die frühere Kenntniſs von Jesu Messianität, sondern auch die persönliche Bekannt - schaft mit ihm abgesprochen werde: so sucht man hiemit doch das erste Kapitel des Lukas durch Berufung auf die weite Entfernung der Wohnorte beider Familien zu verei - nigen, welche dieselben verhindert habe, in weitere Be - rührung zu kommen16)Lücke, Commentar zum Evang. Johannis 1, S. 362. (2te Aufl.). Allein, war der Maria als Ver - lobten der Weg von Nazaret in das jüdische Gebirge nicht zu weit gewesen: wie sollte er es den beiden Söhnen, als sie zu Jünglingen heranreiften, gewesen sein? Welche sträfliche Gleichgültigkeit der beiden Familien gegen die empfangenen höheren Mittheilungen wird hiebei vorausge - setzt, und endlich welchen Zweck sollen die letzteren ge - habt haben, wenn ihnen in Bezug auf das Verhältniſs der beiden Söhne gar nicht nachgelebt wurde?

Wollte man indeſs auch zugeben, daſs das vierte Evan - gelium nichts weiter, als die Bekanntschaft des Täufers mit Jesu Messianität ausschlieſse, das dritte aber nichts weiter, als die Bekanntschaft desselben mit seiner Person voraussetze: so ist damit der Widerspruch der Evangelien doch nicht gelöst. Denn bei Matthäus spricht Johannes, als er Jesum taufen soll, so, als ob er Jesum nicht blos328Zweiter Abschnitt.persönlich, sondern als den Messias bereits kennen würde. Wenn er ihn nämlich nicht taufen will, indem er sagt: ἐγὼ χρείαν ἔχω ὑπὸ σοῦ βαπτισϑῆναι, καὶ σὺ ἕρχῃ πρός με (3, 14.); so hat man dieſs zwar im Sinne der Harmonistik so zu erklären gesucht, daſs Johannes hiedurch nur die höhere Vortrefflichkeit Jesu, nicht aber seine Messianität habe aussprechen wollen17)Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 117 f. Paulus, a. a. O. S. 366.. Allein das Recht, die zum messianischen Reiche vorbereitende Lustration vorzuneh - men, konnte nicht durch hohe Vortrefflichkeit überhaupt ertheilt werden, sondern es gehörte ein besonderer Beruf dazu, wie ihn auch Johannes erhalten hatte, und wie er nach jüdischer Vorstellung nur an einen Propheten, oder den Messias und dessen Vorläufer ergehen konnte (Joh. 1, 19 ff.). Schrieb also Johannes Jesu die Befugniſs zu tau - fen zu, so muſs er ihn nicht blos für vortrefflich über - haupt, sondern bestimmt für einen Propheten gehalten ha - ben, und zwar, da er ihn für würdig hielt, ihn selber zu taufen, für einen höheren als sich selbst, was, da er sich als den Vorläufer des Messias gefaſst hatte, nur der Mes - sias selbst sein konnte. Dazu kommt, daſs Matthäus so eben (3, 11.) eine Rede des Täufers mitgetheilt hatte, in welcher dieser dem nach ihm kommenden Messias eine Taufe zuschreibt, welche kräftiger als die seinige sein wer - de: wie könnten wir also seine darauf folgende Äusserung gegen Jesum anders verstehen, als so: was soll dir meine Wassertaufe, o Messias? weit eher wäre mir deine Feuer - taufe noth! 18)Vergl. die Ausführung des Fragmentisten a. a. O.

Läſst sich somit der Widerspruch nicht wegräumen, so muſs man ihn, wenn er nicht den betheiligten Personen als absichtliche Täuschung zur Last fallen soll, auf die Referenten überwälzen, was um so ungehinderter gesche - hen kann, je anschaulicher sich machen läſst, wie einer329Erstes Kapitel. §. 41.von ihnen oder beide zu einer unrichtigen Darstellung ge - kommen sind. Nun steht bei Matthäus seiner Übereinstim - mung mit Johannes in dem bezeichneten Punkte nur die Stellung der Rede des Täufers entgegen, durch welche er Jesum von seiner Taufe zurückhalten will: nur weil je - ner, ehe irgend etwas Ausserordentliches erfolgt ist, so spricht, scheint eine vorangegangene Kenntniſs Jesu in sei - ner Messianität vorausgesetzt zu werden. Wirklich stellt nun das Hebräerevangelium bei Epiphanius die Bitte des Johannes, daſs Jesus vielmehr ihn taufen möchte, als Folge der himmlischen Erscheinung dar19)Haeres. 30, 13: Καὶ ὡς ἀνῆλϑεν ἀπὸ τοῦ ὕδατος, ἠνοίγη - σαν οἱ οὐρανοὶ, καὶ εἶδε τὸ πνεῦμα τοῦ ϑεοῦ τὸ ἅγιον ἐν εϊδει περιςερᾶς κ. τ. λ. καὶ φωνὴ ἐγένετο κ. τ. λ. καὶ εὐϑὺς περιέλαμψε τὸν τόπον φῶς μέγα. ὅν ἰδών, φησιν, Ἰωάννης λέγει αυ 'τῷ· σὺ τίς εἶ, Κύριε; καὶ πάλιν φωνὴ κ. τ. λ. καὶ τότε, φησὶν, Ἰωάννης παραπεσών αυ' τῷ ἔλεγε· δέομαί σου Κύριε, σύ με βάπτισον. , und diese Darstel - lung hat man neuerlich für die ursprüngliche angesehen, welche der Verfasser unsres ersten Evangeliums abgekürzt habe, indem er zugleich, um die Sache effektvoller zu machen, schon bei dem ersten Nahen Jesu den Täufer sich weigern und jenen Ausspruch thun lasse20)Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums, S. 121 f. Lücke, Comm. z. Ev. Joh. 1, S. 361. Vergl. Usteri, über den Täufer Johannes u. s. w. Studien 2, 3. S. 446.. Allein, daſs wir an der Relation des Hebräerevangeliums nicht die ursprüngliche Form dieser Erzählung besitzen, konnte schon die äusserst schleppende Wiederholung der Himmelsstimme sammt dem Auseinandergezogenen der ganzen Darstellung zeigen. Vielmehr ist sie ein sehr abgeleiteter Bericht, und die Stellung der Weigerung des Johannes nach der Er - scheinung und Stimme zwar keineswegs zu dem Ende vor - genommen, um den Widerspruch gegen das vierte Evan - gelium zu vermeiden, welches in dem Kreise jener ebioni -330Zweiter Abschnitt.tischen Christen nicht als anerkannt vorausgesetzt werden darf, sondern in eben der Absicht, welche man irrig, bei der angeblich umgekehrten Änderung, dem Matthäus zu - schreibt, nämlich, die Scene effektvoller zu machen. Eine simple Weigerung von Seiten des Täufers schien zu matt; es muſste wenigstens ein Fuſsfall (παραπεσὼν) vor dem Messias stattgefunden haben: dieser konnte aber nicht bes - ser motivirt werden, als durch die himmlische Erschei - nung, welche somit vorangestellt werden muſste. Auf diese Weise erklärt sich also nicht, wie Matthäus zu seinem Widerspruch gegen Johannes gekommen ist, so wie ohnehin für die Darstellung des Lukas diese Ableitung nicht aus - reicht.

Alles erklärt sich ungezwungen, wenn man nur be - denkt, daſs das wichtige Verhältniſs zwischen Johannes und Jesus als ein von jeher bestandenes erscheinen muſste vermöge der Eigenthümlichkeit populärer Vorstel - lungsweise, das Wesentliche sich als von jeher Gewesenes zu denken. Wie demgemäſs die Seele, sobald sie als we - senhaft anerkannt ist, auch klarer oder dunkler als prä - existirende gedacht wird: so hat auch jedes folgenreiche Verhältniſs in populärer Denkweise eine solche Präexistenz. So muſs nun der Täufer, welcher später in eine so bedeu - tungsvolle Beziehung zu Jesus trat, diesen von jeher ge - kannt haben, wie es in solcher Unbestimmtheit bei Mat - thäus dargestellt ist; oder wie es Lukas genauer zeichnet, schon ihre Mütter kannten sich und noch in Mutterleibe wurden beide zusammengeführt. Dieſs Alles fehlt bei Jo - hannes, welcher den Täufer vielmehr die entgegengesezte Versicherung geben läſst, aber nur, weil bei ihm ein an - deres Interesse das so eben bezeichnete überwog. Je we - niger nämlich der Täufer Jesum schon vorher gekannt hatte, den er nachher so hoch erhob, desto mehr fiel alles Gewicht auf die wunderbare Scene, welche ihn auf Jesum hinwies, desto mehr erschien sein ganzes Verhältniſs zu331Erstes Kapitel. §. 42.ihm nicht als ein natürlich entstandenes, sondern als ein unmittelbar von Gott gewirktes.

§. 42. War Jesus von Johannes als Messias anerkannt? Widerspre - chende Angaben hierüber.

Mit der bisher besprochenen Differenz über die Frage, ob Johannes Jesum vor der Taufe schon gekannt habe, hängt die andere zusammen, was überhaupt der Täufer von Jesu und seiner Messianität gehalten habe? Nach sämmtlichen evangelischen Berichten erklärt Johannes vor Jesu Ankunft bei ihm aufs Bestimmteste, daſs demnächst einer kommen werde, zu welchem er nur in untergeord - netem Verhältniſs stehe; durch die Scene bei der Taufe Jesu war ihm Jesus unverkennbar als derjenige bezeich - net worden, als dessen Vorläufer er gekommen war; daſs er diesem Zeichen Glauben geschenkt habe, müssen wir nach Markus und Lukas voraussetzen, nach dem vierten Evangelium bezeugt er es ausdrücklich (1, 34.) und thut überdieſs Aussprüche, welche die tiefste Einsicht in Jesu höhere Natur und Bestimmung beurkunden (1, 29. ff. 36.) nach dem ersten war er bereits vor der Taufe Jesu davon überzeugt. Dagegen berichten nun aber Matthäus (11, 2. ff. ), und Lukas (7, 18.), daſs späterhin der Täufer auf die Kunde von der Wirksamkeit Jesu einige seiner Schüler an ihn abgeordnet habe, mit der Anfrage, ob er der ver - heissene Messias sei, oder ob man eines andern zu war - ten habe?

Dem ersten Eindruck nach scheint diese Frage eine Ungewiſsheit des Täufers auszudrücken, ob Jesus wirk - lich der Messias sei, und so ist sie schon frühzeitig ver - standen worden1)z. B. Tertull. adv. Marcion. 4, 18.. Aber ein solcher Zweifel steht mit al - len übrigen Umständen im vollkommensten Widerspruch. 332Zweiter Abschnitt.Mit Recht findet man es psychologisch undenkbar, daſs derjenige, welcher, durch das Zeichen bei Jesu Taufe, das er für eine göttliche Erklärung hielt, überzeugt, seit - dem so bestimmt über die messianische Bestimmung und höhere Natur Jesu sich ausgesprochen hatte, auf einmal sollte in seiner Überzeugung wankend geworden sein, er müſste denn einem vom Wind hin - und hergewehten Rohre geglichen haben, was Jesus gerade rühmend von dem Täu - fer leugnete (Matth. 11, 7. ff. ); man sucht vergeblich nach einem Anlaſs in dem Benehmen oder dem damaligen Schick - sal Jesu, denn eben auf die Nachricht von den ἔργα τοῦ Χριςοῦ, welche nach Lukas Wunderthaten waren, die doch am wenigsten Zweifel in ihm erregen konnten, sandte er jene Botschaft ab; endlich muſs man sich wundern, wie Jesus später (Joh. 5, 33. ff. ) so zuversichtlich auf des Täufers Zeugniſs von ihm sich berufen konnte, wenn es doch bekannt war, daſs Johannes am Ende selbst an sei - ner Messianität irre geworden sei2)s. Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 747 f. Kuinöl, Comm. in Matth. S. 309..

Man hat deſswegen den Versuch gemacht, der Sache die Wendung zu geben, daſs Johannes nicht für sich selbst, um seine eigene schwankende Überzeugung zu be - festigen, sollte haben fragen lassen, sondern für seine Jünger, um deren Zweifel niederzuschlagen, von welchen er selber unberührt gewesen sei3)So z. B. Calvin, Comm. in harm. ex Matth., Marc. et Luc. z. d. St. P, 1, S. 258, ed. Tholuck.. Damit erledigen sich allerdings die erwähnten Schwierigkeiten, namentlich scheint klar zu werden, wie der Täufer gerade auf die Nachricht von Jesu Wundern hin jene Sendung habe veranstalten können, indem er nämlich hoffte, seine Jünger, welche seinen Worten über Jesum nicht glaubten, werden durch die Anschauung von dessen ausserordentlichen Thaten sich333Erstes Kapitel. §. 42.überzeugen, daſs er Recht habe, sie auf ihn als Messias hinzuweisen. Allein wie konnte Johannes hoffen, daſs seine Abgesandten Jesum zufällig im Wunderthun begrif - fen antreffen würden? Auch trafen sie ihn nicht so, nach Matthäus, sondern Jesus berief sich nach V. 4. f. nur auf das, was sie von ihm oft sehen und wovon sie überall in seiner Nähe hören könnten, und nur die augenscheinlich secundäre Erzählung des Lukas miſsversteht die Worte Jesu dahin, als hätte er sie nicht gebrauchen können, wenn die Johannesjünger ihn nicht mitten im Wunderthun ange - troffen hätten4)Schleiermacher, über den Lukas, S. 106 f.. Und dann, wenn es die Absicht des Täufers war, seine Jünger durch den Anblick der Thaten Jesu zu überführen, durfte er ihnen keine Frage an Je - sum aufgeben, mit welcher es nur auf Worte, auf eine authentische Erklärung Jesu abgesehen schien. Denn durch eine Erklärung desjenigen, an dessen Messianität sie eben zweifelten, konnte er seine Schüler nicht zu überzeugen hoffen, welche durch seine eignen Erklärungen, die ihnen sonst Alles galten, nicht überzeugt worden waren5)s. Kuinöl, Comm. in Matth. S. 308.. Über - haupt wäre es ein wunderliches Benehmen vom Täufer ge - wesen, fremden Zweifeln seine eigenen Worte zu leihen und dadurch, wie Schleiermacher mit Recht bemerkt6)a. a. O. S. 109., sein früheres wiederholtes Zeugniſs für Jesum zu compro - mittiren. Wie denn auch Jesus die von den Boten ihm vorgetragene Frage als von Johannes selber ausgegangen faſst (ἀπαγγείλατε Ἰωάννῃ, Matth. 11, 4.) und sich über dessen Ungewiſsheit indirekt durch Seligpreisung derer, die keinen Anstoſs an ihm nehmen, beschwert (V. 6.)7)Vergl. übrigens Calvin z. d. St..

Bleibt es somit dabei, daſs Johannes nicht blos für seine Schüler, sondern für sich selbst hat fragen lassen,334Zweiter Abschnitt.und kann man ihm doch auch nicht nach der früheren Ent - schiedenheit jezt auf Einmal Zweifel an der Messianität Jesu zuschreiben: so bleibt nichts übrig, als, statt dieser negativen die positive Seite an seiner Frage hervorzukeh - ren, und das Skeptische an ihr als bloſse Einkleidung des Protreptischen aufzufassen8)So die meisten jetzigen Erklärer: Paulus und Kuinöl, z. d. St. Hase, Leben Jesu, §. 79. Selbst Fritzsche, Comm. in Matth. S. 397. findet diess aliquanto verosimilius und bleibt dabei stehen.. Dem Täufer wurde, nach dieser Erklärung, in seinem Gefängniſs die Zeit zu lang, welche Jesus vergehen lieſs, ohne öffentlich als Messias aufzutreten, daher läſst er ihn fragen, wie lange er noch auf sich warten lassen, wie lange noch zaudern wolle, durch die Erklärung, daſs er der Messias sei, das Volk für sich zu gewinnen, und dann einen Hauptschlag gegen die Feinde seiner Sache zu führen, der auch ihn, den Jo - hannes, aus seiner Haft befreien könnte? Allein, schon formell, wenn Johannes an der Messianität Jesu nicht zweifelte, so konnte er auch daran nicht zweifeln, daſs Jesus am besten die rechte Zeit und Art des messianischen Auftritts wissen werde; der bloſse Vorläufer, der sich frü - her zum Diener des Messias zu gering gehalten hatte, konnte ohne Änderung seiner Gesinnung sich jetzt nicht zum Rathgeber desselben aufwerfen wollen. Dann aber auch materiell konnte der Täufer an dem, was man das Zaudern Jesu mit dem Auftritt als Messias nennt, keinen Anstoſs nehmen, oder ihn zu rascherem Handeln auffor - dern wollen, wenn er noch seine frühere Ansicht von Jesu Bestimmung hatte. Denn wenn er ihn noch wie ehmals (Joh. 1, 29.) als ἀμνὸς τοῦ ϑεοῦ, αϊρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου, mithin als leidenden Messias auffaſste, so konnte ihm kein Gedanke an einen von Jesu gegen seine Feinde zu füh - renden Schlag, überhaupt an ein gewaltsames, auf äussern335Erstes Kapitel. §. 42.Sieg berechnetes Verfahren kommen, sondern der stille Weg, den Jesus gieng, muſste ihm eben als der rechte, seiner Lammsbestimmung angemessene erscheinen. Auch so daher, wenn die Frage des Johannes eine bloſse Auf - forderung enthielte, hätte der Täufer durch dieselbe sei - nen früheren Ansichten widersprochen. Aber die Frage kann diesen Sinn gar nicht haben. Den Worten nach ent - hält sie lauter Zweifel, und die Aufforderung muſs man immer erst hineintragen. Wie sehr man dabei den Wor - ten Gewalt anthun muſs, erhellt am besten aus der Um - deutung, welche Schleiermacher im Sinn dieser Erklärung mit denselben vornimmt. Die unentschiedene Frage: σὺ εἶ ἐρχόμενος; verwandelt er in die entschiedene Vorausse - zung: du bist doch der da kommen soll, und die an - dere noch bedenklichere: ἔτερον προςδοκῶμεν; macht er vollends ganz unkenntlich, indem er sie so wendet: wor - auf sollen wir (da du ohnehin so groſse Dinge thust) noch warten, und soll nicht gleich Johannes mit seiner ganzen Auktorität Allen, die sich von ihm haben taufen lassen, durch uns befehlen, dir als Messias zu gehorchen und dei - ner Winke gewärtig zu sein9)a. a. O. S. 110.?

Ist es also mit allen diesen Ausflüchten nichts, so kehrt uns die ursprüngliche Auslegung zurück, die Frage als den Ausdruck einer in dem Täufer selbst entstandenen Unge - wiſsheit über Jesu messianische Würde aufzufassen, wie auch Olshausen richtig anerkannt hat10)Bibl. Comm. 1, S. 360 ff.. Wenn er nun aber den vorübergehenden Abfall des Täufers von seinen früheren glaubensstarken Zeugnissen daraus zu erklären sucht, daſs in seinem dunkeln Kerker den Mann Gottes ei - ne finstre Stunde des Zweifels überfallen habe: so wollen wir hier nicht die oben aufgeführten Gründe wiederholen, aus welchen nach der früheren Gewiſsheit des Johannes336Zweiter Abschnitt.solche Zweifel als undenkbar erscheinen müssen, sondern wir erklären jezt geradezu, daſs diesen Zweifeln gar kei - ne Gewiſsheit vorangegangen sein kann. Es ist bereits der Schwierigkeit erwähnt, welche die Angabe des Mat - thäus verursacht, Johannes habe die zwei Jünger abgesandt ἀκούσας τὰ ἔργα τοῦ Χριςοῦ, oder nach Lukas, weil seine Schü - ler ihm ἀπήγγειλαν περὶ πάντων τούτων es war aber im unmittelbar Vorhergehenden eine Todtenerweckung und eine Krankenheilung erzählt. Früher also zwar, ehe noch Jesus etwas Messianisches gethan hatte, soll Johannes von seiner Messianität überzeugt gewesen sein, nun aber Jesus anfieng, durch Wunder, wie man sie vom Messias erwar - tete, sich als solchen zu legitimiren, sollen ihn Zweifel an - gewandelt haben? Dieſs ist so gegen alle psychologische Möglichkeit, daſs mich wundert, wie nicht Dr. Paulus oder ein andrer Erklärer, welcher in der Psychologie stark ist, und in der Wortkritik nicht unbeherzt, schon auf die Ver - muthung gekommen ist, es sei vielleicht bei Matthäus V. 2. eine Negation ausgefallen, und sollte eigentlich heiſsen: δὲ Ἰωάννης ούκ ἀκούσας ἐν τῷ δεσμωτηρίῳ τὰ ἔργα τοῦ Χριςοῦ κ. τ. λ. Dann wäre auf Einmal Alles eher zu begreifen: Johannes war zwar früher von der Messianität Jesu über - zeugt gewesen, nun aber in seinem Gefängniſs kam ihm von Jesu Thaten nichts mehr zu Ohren, und indem er ihn unthätig glaubte, stiegen ihm Zweifel auf. Gewiſs, hatte Johannes vorher Jesum für den Messias gehalten, so konnte nur etwa die Unkunde von dessen Wunderwerken ihm zu Zweifeln Veranlassung geben: da es aber gerade die Kunde von diesen Thaten war, welche ihn ungewiſs mach - te, so kann er nicht vorher schon von Jesu Messianität überzeugt gewesen sein.

Wie konnte er aber über Jesu Messianität jetzt unge - wiſs werden, wenn er sie nicht früher angenommen hatte? Freilich nicht so, daſs er zu argwöhnen anfieng, Jesus möchte wohl der Messias nicht sein; wohl aber so, daſs er337Erstes Kapitel. §. 42.zu vermuthen begann, der Mann von solchen Thaten möchte vielleicht der Messias sein. Nicht also von einer ver - schwindenden Gewiſsheit ist hier die Rede, sondern von ei - ner werdenden, nicht von einer untergehenden Sonne des Glaubens, sondern von einer solchen, die im Aufgang be - griffen ist. So nur wird Alles klar und hell in den be - sprochenen Stellen. Johannes wuſste früher von Jesu nichts, als daſs er seine Taufe angenommen hatte, wie viele An - dere, und vielleicht einige Zeit im Kreise seiner Schüler ge - wandelt; erst nach des Täufers Gefangennehmung that sich Jesus als Lehrer und Wunderthäter hervor. Das hörte Johannes und nun entstand in ihm, wie er ja die Nähe des Messiasreichs verkündigt hatte, die hoffnungsvolle Vermuthung, ob nicht vielleicht dieser Jesus es sein möch - te, durch welchen sich die Idee des Himmelreichs verwirk - lichen solle. So aufgefaſst, schlieſst diese Sendung des Täu - fers seine früheren Zeugnisse für Jesum geradezu aus: hat er früher so gesprochen, so kann er später nicht so haben fragen lassen, und wenn dieses, dann jenes nicht. Daher für uns die Aufgabe, die beiden widersprechenden Angaben zu vergleichen, um zu sehen, welche mehr als die andre die Spuren der Wahrheit oder Unwahrheit an sich trägt.

Die bestimmtesten Ausdrücke der früheren Überzeugung des Täufers von Jesu Messianität finden sich im vierten Evangelium, und wir müssen hiebei zwei Fragen unter - scheiden, einmal, ob es denkbar sei, daſs Johannes über - haupt einen solchen Begriff vom Messias gehabt, und zwei - tens, ob es wahrscheinlich sei, daſs er denselben in der Person Jesu verwirklicht geglaubt habe.

Was das Erstere betrifft, so hat der Messiasbegriff des Täufers nach dem vierten Evangelium die Merkmale des sühnenden Leidens und einer vorweltlichen, himmli - schen Existenz. Zwar hat man versucht, die Ausdrücke, mit welchen er 1, 29 und 36. seine Schüler auf Jesum hin -Das Leben Jesu I. Band. 22338Zweiter Abschnitt.weist, so zu deuten, daſs der Begriff eines versühnenden Leidens wegfiele, Jesus mit einem Lamme nur seiner Sanft - muth und Duldsamkeit wegen verglichen, das αϊρειν τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου entweder von einem geduldigen Ertra - gen der Bosheit der Welt, oder von einem Versuche, die Sünde der Welt bessernd hinwegzuräumen, verstanden, und in dem Ausspruch des Täufers der Sinn gefunden würde, wie rührend es sei, daſs dieser sanfte und weiche Jesus sich einem so harten und schweren Geschäfte unter - zogen habe11)Gabler, meletem. in loc. Joh. 1, 29, in s. Opusc. acad. S. 514 ff. Paulus, Leben Jesu, 2, a, die Übersetzung d. St., und Comm. zum Ev. Joh. z. d. St.. Allein die besten Exegeten haben gezeigt, daſs, wenn zwar αϊρειν für sich in der bezeichneten Weise gefaſst werden könnte, doch das ἀμνὸς, nicht blos mit dem Artikel, sondern überdieſs noch mit dem Beisaz: τοῦ ϑεοῦ nicht ein Lamm überhaupt, sondern ein bestimmtes heili - ges Lamm bezeichnen muſs, wobei dann, wenn es der wahrscheinlichsten Erklärung zufolge auf das Lamm Jes. 53, 7. sich bezieht, auch das αϊρειν τὴν ἁμαρτίαν nur aus demjenigen erklärt werden kann, was dort von dem mit ei - nem Lamm verglichenen Knecht Gottes gesagt ist, daſs er τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν φέρει, καὶ περὶ ἡμῶν ὀδυνᾶται (V. 4, LXX. ), wonach es also ein stellvertretendes Leiden bezeich - nen müſste12)de Wette, de morte Christi expiatoria, in s. Opusc. theol. S. 77 ff. Lücke, Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 347 ff. Winer, bibl. Realwörterb. 1, S. 693, Anm.. Daſs nun der Täufer diese Prophetenstelle auf den Messias bezogen, diesen mithin als einen leiden - den sich gedacht habe, dieſs eben hat man neuerlich mehr als zweifelhaft gefunden13)Gabler und Paulus a. d. a. OO. Auch de Wette a. a. O. S. 75 ff. 80 ff.. Denn der gangbaren Mei - nung wenigstens war eine solche Ansicht vom Messias so fremd, daſs die Jünger Jesu während der ganzen Zeit ih -339Erstes Kapitel. §. 42.res Umgangs mit ihm sich in dieselbe nicht finden konnten, und nach seinem wirklich erfolgten Tode völlig an ihm, als Messias, irre wurden (Luc. 24, 20 ff.). Wie sollte nun der Täufer, welcher der durch die evangelischen Nachrich - ten über sein unfreies Ascetenleben bestätigten Erklärung Jesu (Matth. 11, 11.) zufolge tief unter den Bürgern des Himmelreiches stand, zu welchen doch auch damals schon die Jünger gehörten, wie sollte dieser entfernter Stehen - de lange vor dem Leiden Jesu zu einer Einsicht in dessen Nothwendigkeit für den Messias gekommen sein, zu wel - cher den zunächst Stehenden nur der Erfolg verholfen hat? oder wie sollte, wenn Johannes wirklich diese Einsicht hatte und gegen seine Jünger aussprach, dieselbe nicht durch diejenigen, welche aus seiner Schule in die Gesellschaft Jesu übergiengen, auch in der letzteren Eingang gefunden, und überhaupt durch das Ansehen, welches der Täufer genoſs, auch im grösseren Publikum den Anstoſs, welchen man am Tode Jesu nahm, gemildert haben14)de Wette, a. a. O. S. 76.? Zudem, se - hen wir die ausserjohanneischen Nachrichten vom Täufer alle durch: nirgends finden wir, daſs er mit dergleichen Speculationen über das Schicksal des Messias sich abgege - ben hätte, sondern, um von Josephus nichts zu sagen, sprach er den Synoptikern zufolge zwar von einem nach ihm kommenden Messias, als dessen Geschäft er jedoch le - diglich die Geistestaufe und Sichtung des Volkes heraus - hob. Doch die Möglichkeit bleibt immer offen, daſs auch schon vor dem Tode Jesu ein tiefer blickender Geist, wie der Täufer, aus A. T. lichen Stellen und Vorbildern einen leidenden Messias herausgelesen, ohne daſs doch seine Schüler und Zeitgenossen seine dunkeln Andeutungen hier - über verstanden hätten.

Dieſs also möge noch nichts entscheiden, und wir wen - den uns daher zu den Äusserungen über die vorweltliche22*340Zweiter Abschnitt.Existenz und himmlische Abkunft des Messias, mit der Frage, ob der Täufer wohl solche Ansichten gehabt haben könne? Daſs aus den Worten Joh. 1, 15. 27. 30 : ὀπίσω μου ἐρχόμενος ἔμπροσϑέν μου γέγονεν, ὅτι πρῶτός μου ἦν nur dogmatische Willkühr den Präexistenzbegriff verbannen könne, zeigt der bloſse Anblick von Erklärungen, wie die Paulus'sche: der in der Zeitfolge nach mir Gekommene ist doch vor meinen Augen (ἔμπροσϑέν μου) so geworden, daſs er (ὅτι = ὥςε, Grund = Folge!) dem Range und der Sache nach der erste zu heiſsen verdient15)Paulus, Leben Jesu, 2, a, die Übers. S. 29. 31.. Mit über - wiegenden Gründen haben sich vorurtheilsfreiere Ausleger dahin erklärt, es werde hier dafür, daſs der in der Zeit - folge nach Johannes erschienene Jesus doch der Würde nach ihm voranstehe (ἔμπροσϑεν), seine Präexistenz vor dem Täufer (πρῶτός μου ἦν) als Grund angegeben16)Tholuck, Comm. zum Ev. Johannis, 2te Ausg. S. 49 f. Lücke Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 311 ff.. Offenbar also haben wir hier das johanneische Dogma von der ewi - gen Präexistenz des λόγος, wie es freilich dem Verfasser des Evangeliums präsent war, zumal er eben von seinem Prologe herkam: ob aber auch dem Täufer? das ist eine andre Frage. So viel giebt der neueste Ausleger des vier - ten Evangeliums zu, daſs der Sinn, in welchem der Evan - gelist das πρῶτός μου nimmt, dem Täufer auf seinem Stand - punkt ziemlich fern und fremd gewesen sein möge. Doch nur insofern, meint er, als der Täufer nicht wie der Evan - gelist den Begriff des λόγος mit jenen Worten verbunden, sondern mehr auf populär jüdische Weise an die Präexi - stenz des Messias, als Subjekts der A. T. lichen Theopha - nieen u. s. w. gedacht habe17)Lücke, a. a. O.. Von dieser jüdischen An - sicht finden sich allerdings auch ausser den Schriften des vierten Evangelisten noch Spuren bei Paulus (z. B. 1. Kor. 341Erstes Kapitel. §. 42.10, 4. Kol. 1, 15 f.) und den Rabbinen18)s. Bertholdt, Christologia Judaeorum Jesu apostolorumque aetate, §§. 23 25., und wenn sie auch ursprünglich alexandrinisch gewesen wäre, was Bret - schneider gegen unsre Stelle geltend macht19)Probabilia S. 41.: so fragt sich, ob nicht auch schon vor Christi Zeit die alexandri - nisch-jüdische Theologie auf die Ansichten des Mutterlands von Einfluss war? 20)s. Gfrörer, Philo und die alexandr. Theosophie, 2. Thl. von S. 280 an.Also auch diese Aussprüche ent - scheiden für sich noch nichts, ob es gleich bedenklich zu werden anfängt, dem Täufer, der sonst nur dafür bekannt ist, die praktische Seite an der Idee des Messiasreichs her - vorgekehrt zu haben, von dem einzigen vierten Evangeli - sten zwei Begriffe, welche in jener Zeit ohne Zweifel nur der tiefsten messianischen Speculation angehörten, zugeschrie - ben zu sehen, und zwar in solcher Weise, daſs jedenfalls die Form, in welcher er sie ausdrückt, zu johanneisch ist, um nicht auf Rechnung dieses Evangelisten geschrieben werden zu müssen.

Von dieser letzten Seite vollendet sich nun das Resul - tat, wenn wir noch die Stelle Joh. 3, 27 36. in Betracht ziehen, wo der Täufer auf die Klage einiger Jünger über den Abbruch, den Jesu Taufe der ihrigen thue, auf eine Weise antwortet, welche alle Ausleger in Verle - genheit setzt. Nachdem er sich nämlich darüber erklärt hatte, wie es in ihrer beiderseitigen Bestimmung, über welche er nicht hinauszuschreiten verlange, begründet sei, daſs er abnehmen, Jesus aber zunehmen müsse, fährt er von V. 31. an in Formeln fort, welche ganz dieselben sind mit denjenigen, in welchen sonst der vierte Evange - list Jesum selbst von sich reden läſst, oder seine eigenen Gedanken über Jesum ausdrückt; namentlich, wie auch342Zweiter Abschnitt.der neueste Ausleger zugesteht21)Lücke, a. a. O. S. 500., erscheint diese Rede des Johannes als Nachhall der vorausgegangenen Unterre - dung Jesu mit Nikodemus22)Man vergleiche besonders:Joh. 3, 11 (Jesus zu Niko - demus): ἀμὴν, ἀμὴν, λέ - γω σοι, ὅτι οϊδαμεν, λαλοῦμεν, καὶ ἑωράκα - μεν, μαρτυροῦμεν, καὶ τὴν μαρτυρίαν ἡμῶν οὐ λαμ - βάνετε. V. 18: πιςεύων εἰς αὐ - τὸν οὐ κρίνεται· δὲ μὴ πιςεύων, ἤδη κέκριται, ὅτι μὴ πεπίςευκεν εἰς τὸ ὄνομα τοῦ μονογενοῦς υἱοῦ τοῦ ϑεοῦ. Joh. 3, 32 (der Täufer): καὶ ἑώρακε καὶ ἤκουσε, τοῦτο μαρτυρεῖ, καὶ τὴν μαρ - τυρίαν αὐτοῦ οὐδεὶς λαμ - βάνει. V. 36: πιςεύων εἰς τὸν υἱὸν ἔχει ζωὴν αἰώνιον· δὲ ἀπειϑῶν τῷ υἱῷ οὐκ ὄψε - ται ζωὴν, ἀλλ ' ὀργὴ τοῦ ϑεοῦ μένει ἐπ' αὐτόν. Vergl. aus der Rede des Täufers noch V. 31. mit Joh. 3, 6. 12 f. 8, 23; V. 32. mit 8, 26; V. 33. mit 6, 27; V. 34. mit 12, 49. 50 ; V. 35. mit 5, 22. 27. 10, 28 f. 17, 2.. Die Ausdrücke dieser dem Täufer geliehenen Rede sind specifisch johanneisch, wie σφραγίζω, μαρτυρία, der Gegensatz von ἄνωϑεν und ἐκ τῆς γῆς, die Phrasis: ἔχειν ζωὴν αἰώνιον, und es fragt sich: ist es wahrscheinlicher, daſs sowohl der Evangelist als auch Jesus, dem er sie so oft in den Mund legt, sie von dem Täufer geborgt haben, oder umgekehrt, daſs sie der Evangelist, ich will für jezt nur sagen dem Täufer, gelie - hen habe? Dieſs muſs sich durch das Andere entscheiden, daſs nämlich auch die Ideen, welche hier der Täufer aus - spricht, ganz dem Boden des Christenthums, und zwar wieder speciell des johanneischen angehören. Eben jener Gegensatz von ἄνω und ἐκ τῆς γῆς, die Bezeichnung Jesu als des ἄνωϑεν ἐρχόμενος, als dessen, ὅν ἀπέςειλεν ο ϑεὸς, welcher daher τὰ ῥήματα τοῦ ϑεοῦ λαλεῖ, das Verhältniſs Jesu zu Gott als des υἱὸς, welchen πατὴρ ἀγαπᾷ, was soll denn noch eigenthümlich christlich und johanneisch343Erstes Kapitel. §. 42.sein, wenn es diese Ideen nicht sind? und diese sollte der Täufer Johannes schon gehabt haben? welcher Christia - nismus ante Christum! Und dann, nach Olshausen's23)Bibl. Comm. 2, S. 105. (zweite Ausg.) richtiger Bemerkung, wie schickt es sich für den Täufer, der doch, auch nach dem vierten Evangelium, von Jesus geschieden blieb, von dem Segen eines gläubigen Anschlies - sens an Jesum zu reden (V. 33. und 36.)? Soviel dem - nach ist gewiſs und auch von der Mehrzahl neuerer Aus - leger anerkannt: die Worte V. 31 36. kann der Täufer nicht gesprochen haben. Folglich, schloſsen nun aber die Theologen, kann auch der Evangelist sie ihm nicht in den Mund gelegt haben, sondern von dem bezeichneten Verse an nimmt dieser selbst das Wort24)Paulus, Olshausen, z. d. St.. Dieſs klingt an - nehmlich, wenn man uns nur die Fuge nachweist, durch welche der Evangelist seinen eignen Zusatz von der Rede des Täufers gesondert hat. Allein eine solche sucht man vergeblich. Zwar spricht der von V. 31. an Redende, wo er den Täufer bezeichnen will, nicht mehr, wie noch V. 30., in der ersten Person, sondern in der dritten; al - lein der Täufer wird hier nicht mehr geradezu und indi - viduell, sondern nur mit einer ganzen Klasse zusammen bezeichnet, wo er also, auch wenn er selbst der Redende war, die dritte Person wählen muſste. Nirgends also findet sich eine Grenzscheide, und ganz unmerklich gleitet die Rede aus denjenigen Passagen, welche der Täufer etwa noch gesprochen haben kann, in diejenigen hinüber, welche ihm schlechthin unangemessen sind, namentlich wird auch nach V. 30. von Jesu im Präsens zu reden fortgefahren, wie der Evangelist nur den Täufer zu Jesu Lebzeiten spre - chen lassen konnte, nicht aber selbst in eigner Person nach Jesu Tode so schreiben; wie er denn, wo er eigne Reflexionen über Jesum vorbringt, sich des Präteritums zu344Zweiter Abschnitt.bedienen pflegt25)z. B. während hier, V. 32, gesagt wird: τὴν μαρτυρίαν αὐ - τοῦ οὐδεὶς λαμβάνει, heisst es im Prolog V. 11: καὶ οἱ ἴδιοι αὐτὸν οὐ παρέλαβον. Vgl. Lücke, a. a. O. S. 501.. Grammatisch betrachtet also spricht von V. 31. an der Täufer fort, und doch kann er, histo - risch erwogen, das Folgende nicht gesprochen haben; ein Widerspruch, welcher dadurch unauflöslich wird, daſs man hinzusezt: dogmatisch beurtheilt aber kann der Evan - gelist dem Täufer nichts in den Mund gelegt haben, was dieser nicht wirklich gesprochen hat. Wollen wir nun nicht den klaren Regeln der Grammatik und den festste - henden Daten der Historie um des eingebildeten Dogma's von der Inspiration willen widersprechen: so werden wir aus den gegebenen Prämissen vielmehr mit dem Verfasser der Probabilien den Schluſs ziehen, daſs folglich der Evan - gelist dem Täufer jene Reden mit Unrecht zuschreibe, und ihm seine eigene Christologie in den Mund lege, von wel - cher jener noch nichts wissen konnte. Nur nicht ebenso unumwunden sagt dasselbe das Geständniſs von Lücke26)a. a. O., daſs sich hier mit der Rede des Täufers auf eine nicht mehr genau zu unterscheidende Weise, aber überwiegend, die Reflexion des Evangelisten mische. Denn näher verhält es sich hiemit so, daſs die Reflexion des Evangelisten zwar leicht zu erkennen und mit Händen zu greifen ist; aber von zum Grunde liegenden Gedanken des Täufers ist nichts zu spüren, wenn man nicht mit besonders gutem Willen sucht, welchen wir in diesem Stücke nicht haben mögen, weil er die Befangenheit selbst ist. Haben wir nun aber an der zulezt betrachteten Stelle einen Beweis, daſs es dem vierten Evangelisten nicht darauf ankam, dem Täufer Johannes messianische und andere Begriffe zu leihen, wel - che dieser nicht hatte: so werden wir auch im Rückblick auf die früher betrachteten Stellen uns dafür entscheiden,345Erstes Kapitel. §. 42.was wir, so wahrscheinlich es war, doch bisher noch da - hingestellt sein lieſsen, daſs auch die in diesen ausgespro - chenen Ideen von einem leidenden und präexistenten Messias nicht dem Täufer, sondern nur dem Evangelisten angehören.

Durch die bisherige Beantwortung der ersten wäre nun eigentlich die andere Frage, welche uns noch übrig ist, bereits mitbeantwortet; denn wenn der Täufer der - gleichen Messiasbegriffe gar nicht hatte, so kann er sie auch nicht auf die Person Jesu übergetragen haben. Doch um die Evidenz des bereits gewonnenen Resultats zu ver - stärken, nehmen wir auch diese Untersuchung noch beson - ders auf. Nach dem vierten Evangelium schreibt der Täu - fer alle zuletzt erörterte messianische Attribute Jesu zu. That er dieſs so begeistert, so öffentlich und so wiederholt, wie wir es bei Johannes lesen: so konnte er unmöglich von Jesu (Matth. 11, 11.) aus der βασιλεία τῶν οὐρανῶν ausgeschlossen und der Kleinste in derselben ihm vorgezo - gen werden. Denn solche Bekenntnisse, wie dieser Täu - fer, wenn er Jesum den υἱὸς τοῦ ϑεοῦ, welcher vor ihm ge - wesen sei, nennt, solche geläuterte Einsichten in die mes - sianische Ökonomie, wie wenn er Jesum als ἀμνὸς τοῦ ϑεοῦ, αϊρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου bezeichnet, hatte selbst Petrus nicht aufzuweisen, welchen Jesus doch für sein Bekenntniſs Matth. 16, 16. nicht nur in das Gottes - reich aufnimmt, sondern selbst zum Felsen macht, auf welchen es gegründet werden sollte. Indeſs, das Unbe - greifliche liegt noch weiter zurück. Als Zweck seiner Taufe giebt Johannes im vierten Evangelium an, ϊνα φανε - ρωϑῇ (Jesus als Messias) τῷ Ἰσραὴλ (1, 31.) und erkennt es als göttliche Ordnung, daſs dem zunehmenden Jesus ge - genüber er abnehmen müsse (3, 30.): dennoch, während bereits Jesus durch seine Jünger taufen läſst, sezt auch er seine Taufe fort (3, 23.). Warum nun aber, wenn er doch mit der Introduktion Jesu die Bestimmung seiner Taufe erfüllt wuſste, und nun seine Anhänger auf Jesum346Zweiter Abschnitt.als den Messias verwies (1, 36. f.), fuhr er noch selbst zu taufen fort27)de Wette, de morte Christi expiatoria, in s. Opusc. theol. p. 81; Ders., biblische Dogmatik, §. 209; Winer, bibl. Re - alwörterbuch 1, S. 692.? Dieſs war zwecklos; denn was Lücke sagt, daſs an solchen Orten wenigstens, wo Jesus nicht selbst erschien, die Taufe des Johannes noch am Platze gewesen, widerlegt er selbst durch die Bemerkung, daſs wenigstens in der Zeit, von welcher Joh. 3, 22. ff. gehandelt wird, Jesus und Johannes unfern von einander getauft ha - ben müssen, da ja die Schüler des Johannes über den Zu - lauf zu Jesus eifersüchtig wurden28)a. a. O. S. 488.. Aber selbst zweck - widrig erscheint die Fortsetzung der Taufe von Seiten des Johannes, wenn blos Hinweisung auf Jesus als den Mes - sias sein Zweck war. Er hielt dadurch noch immer einen Kreis von Menschen in den Vorhallen des Messiasreiches hin, und verzögerte oder hinderte selbst ganz ihren Über - tritt zu Jesu, wie wir denn die Partei der Johannisjünger noch zu des Apostels Paulus Zeit (A.G. 18, 24. f. 19, 1. ff. ), und wenn es wahr ist, was die sogenannten Zabier von sich behaupten29)s. Gesenius, Probeheft der Ersch und Gruber'schen Encyclo - pädie, d. A. Zabier., bis auf die neuesten Zeiten fortdauren sehen. Gewiſs, jene Überzeugung des Täufers in Bezug auf Jesum vorausgesezt, wäre es für ihn das Natürliche gewesen, sich an diesen anzuschlieſsen; nun dieſs aber nicht geschah, folgern wir, so kann er auch jene Über - zeugung nicht gehabt haben30)Bretschneider, Probab. S. 46 f.; vergl. Lücke, S. 493 f.; de Wette, Opusc. a. a. O..

Hauptsächlich aber macht der Charakter und das ganze Wesen des Täufers die Annahme unmöglich, daſs er sich zu Jesu auf den Fuſs gestellt habe, welchen das vierte Evangelium angiebt. Er, der Mann aus der Wüste, der347Erstes Kapitel. §. 42.strenge Ascet, der sich von Heuschrecken und Waldhonig nährte und auch seinen Schülern harte Fasten vorschrieb, der finstere, drohende, vom Geist des Elias beseelte Buſs - prediger, wie hätte er sich mit Jesu befreunden kön - nen, der in Allem das Widerspiel von ihm war? Gewiſs muſste er sich, so gut wie seine Schüler (Matth. 9, 14.), an der liberalen Weise Jesu stoſsen, und dadurch gehin - dert werden, in ihm den Messias anzuerkennen. Starrer ist nichts als ascetische Vorurtheile: wer, wie der Täufer, es zur Frömmigkeit rechnet, zu fasten und den Leib zu kasteien, der wird denjenigen nie als einen in göttlichen Dingen höher Stehenden anerkennen, welcher sich über jene Ascese hinwegsezt. Ein solcher beschränkterer Stand - punkt, wie ihn Johannes einnahm, wird den höheren, wie Jesus auf einem stand, niemals begreifen, während der höhere wohl den niedrigeren sich zurechtzulegen weiſs; daher konnte zwar Jesus den Täufer in seiner Stelle schä - zen und anerkennen, niemals aber dieser jenen so über sich stellen, wie er namentlich nach dem vierten Evange - lium gethan haben soll. Besonders häufig hört man die Stellung, welche sich der johanneische Täufer 3, 30. durch die Erklärung giebt, daſs er abnehmen, Jesus aber zuneh - men müsse, als ein Beispiel der edelsten und erhabensten Resignation preisen31)s. statt Aller Greiling, Leben Jesu von Nazaret, S. 132 f.. Wir geben zu, diese Darstellung mag schön sein: aber wahr ist sie nicht. Es wäre das einzige Beispiel in der Geschichte, daſs ein welthistorischer Mann dem, welcher nach ihm kommt, um ihn zu verdun - keln und überflüssig zu machen, die Zügel des Theils der Geschichte, den er bis dahin regiert hatte, so gutwillig abgetreten hätte. Es geht bei Individuen dieser Schritt nicht minder hart als bei Völkern, und dieſs nicht blos in Folge eines Fehlers, wie Egoismus und Ehrgeiz, so daſs man (aber auch dann nur aus Vorurtheil) bei einem Man -348Zweiter Abschnitt.ne wie der Täufer eine Ausnahme statuiren zu müssen glauben könnte: sondern es hängt mit der unverschuldeten Beschränktheit zusammen, welche, wie schon bemerkt, jedem niedrigeren Standpunkt im Verhältniſs zum höheren eigen ist und um so hartnäckiger festgehalten wird, je mehr das auf demselben stehende Individuum, wie der Täufer, von derber und schroffer Natur ist. Wenn daher neue - stens gewichtige Stimmen anerkennen, daſs in Bezug auf die Zeichnung des Täufers zwischen den Synoptikern und Johannes eine auf Rechnung des Lezteren kommende Dif - ferenz obwalte32)Schulz, die Lehre vom Abendmahl, S. 145 f. Winer, Real - wörterb. 1, S. 693.: so bestimmt und verstärkt sich dieses Urtheil durch das Bisherige dahin, daſs uns der vierte Evangelist den Täufer zu einem ganz andern gemacht hat, als er bei den Synoptikern und Josephus erscheint: aus ei - nem praktischen Buſsprediger zu einem speculirenden Chri - stologen, aus einer harten und unbeugsamen Natur zu ei - nem weichen, resignirenden Charakter.

Auch die Ausmalung der Scenen zwischen Johannes und Jesus, Joh. 1, 29. ff. 35. ff. zeigt sich theils aus freier Composition der Phantasie, theils aus verherrlichender Um - bildung der synoptischen Erzählung entstanden. Was das Erstere betrifft, so wandelt nach V. 35. Jesus in der Nähe des Johannes, nach V. 29. kommt er sogar auf ihn zu: dennoch ist beidemale von einem Zusammentreffen beider nicht die Rede. Sollte Jesus wirklich dem Zusammenkom - men mit dem Täufer ausgewichen sein, etwa um, nach Lampe's Vermuthung, den Schein eines abgeredeten Han - dels zu vermeiden? Allein dieſs ist aus ziemlich modernen Reflexionen heraus gesprochen, welche der Zeit und den Verhältnissen Jesu fremd waren. Oder hat nur der Er - zähler das zwischen Jesus und Johannes nach ihrem Zu - sammentreffen Vorgefallene zufällig oder absichtlich weg -349Erstes Kapitel. §. 42.gelassen? Allein gerade hievon muſste er besonders Inter - essantes zu erzählen haben; so daſs, wie auch Lücke zu - gesteht33)a. a. O. S. 380., sein Stillschweigen räthselhaft erscheint. Auf unsrem Standpunkte löst sich das Räthsel. Der Täufer hatte, nach der Ansicht des Evangelisten, auf Jesum als den Messias hingewiesen. Dieſs sinnlich, als ein Hinzeigen aufgefaſst, so muſste, um es möglich zu machen, Jesus vorübergehen, oder auf Johannes zukommen; dieser Zug wurde daher in die Erzählung gesezt, der weitere aber, daſs nun beide auch vollends zusammengetroffen, wurde, weil man ihn nicht brauchte, freilich auf sehr steife Wei - se, weggelassen. Daſs nun aber in Folge dieses Hinzei - gens des Täufers auf Jesum einige Schüler von jenem zu diesem übergehen (1, 37. ff. ), dieſs kann als eine Umbil - dung der synoptischen Erzählung von der Sendung der Johannisjünger aus dem Gefängniſs betrachtet werden. Wie nämlich nach Matth. 11, 2. und Luc. 7, 18. Johannes zwei Jünger an Jesum abordnet, mit der zweifelnden Fra - ge, ob er der ἐρχόμενος sei? so weist er nach dem vierten Evangelium gleichfalls zwei Jünger, aber mit der bestimm - ten Behauptung, Jesus sei der ἀμνὸς ϑεοῦ, zu diesem hin; wie jenen, nachdem sie ihres Auftrags sich entledigt, Je - sus die Weisung giebt: gehet und saget dem Johannes εἴδετε καὶ ἠκούσατε: so giebt er diesen, als sie ihn um sei - nen Aufenthaltsort gefragt, die Antwort: ἔρχεσϑε καὶ ἴδετε, während aber nach den Synoptikern die zwei ausgesende - ten Jünger zu Johannes zurückkehren, schlieſsen sie sich im vierten Evangelium bleibend an Jesum an.

So undenkbar es nach dem Bisherigen ist, daſs der Täufer jemals Jesum persönlich für den Messias gehalten und erklärt haben sollte: so leicht ist hingegen nachzu - weisen, wie aus des Täufers allgemeiner Verweisung auf einen nach ihm kommenden Messias jene Vorstellung sich350Zweiter Abschnitt.bilden konnte. Nach A.G. 19, 4. erklärt der Apostel Pau - lus, was in der Geschichte hinlänglich begründet scheint, daſs Johannes εἰς τὸν ἐρχόμενον getauft habe, und dieser kommende Messias, auf welchen er hingewiesen, sezt Pau - lus hinzu, sei eben Jesus gewesen (τουτέςιν εἰς χριςὸν Ἰησοῦν). Dieſs war eine Deutung der Worte des Täufers aus dem Erfolg, da als den durch Johannes vorausverkündigten Messias sich bei einer groſsen Zahl seiner Volksgenossen Jesus bewährt hatte. Wie nahe aber lag von hier aus die Meinung, als ob der Täufer selbst schon unter dem ἐρχό - μενος die Person Jesu verstanden, selbst schon jenes του - τέςιν κ. τ. λ. gedacht hätte; eine Ansicht, welche, so un - historisch sie ist, doch für die ältesten Christen um so ein - ladender sein muſste, je erwünschter es war, durch die in der damaligen jüdischen Welt vielgeltende Auktorität des Täufers das Ansehen Jesu zu stützen. Auch dar - über, warum gerade der vierte Evangelist so besonders geschäftig ist, den Täufer zu Jesu in ein günstigeres Ver - hältniſs zu setzen, als geschichtlich denkbar ist, bietet uns die angeführte Stelle aus der Apostelgeschichte vielleicht einigen Aufschluſs. Derselben zufolge (V. 1. ff. ) fanden sich nämlich in Ephesus Leute, die nur von der johannei - schen Taufe wuſsten, und daher vom Apostel Paulus noch einmal, auf Jesum, getauft wurden. Nun ist aber einer alten Überlieferung zufolge das vierte Evangelium in Ephesus geschrieben34)Irenaeus adv. haer. 3, 1.. Nehmen wir diese an, wie sie denn in dem Allgemeinen, daſs sie eine griechische Lo - kalität für die Abfassung dieses Evangeliums angiebt, in jedem Falle Recht hat, und setzen wir jener Andeutung der Apostelgeschichte zufolge Ephesus als den Siz einer Anzahl von Anhängern des Täufers, welche dann Pau - lus schwerlich alle bekehrt haben wird, voraus: so würde sich aus dem Bestreben, diese zu Jesu herüberzuziehen,351Erstes Kapitel. §. 42.das auffallende Gewicht erklären, welches das vierte Evan - gelium auf die μαρτυρία Ἰωάννου legt35)Sehr richtig hat diess schon Storr bemerkt und ausgeführt, über den Zweck der evangelischen Geschichte und der Briefe Johannis, S. 5 ff. 24 f. Vergl. auch Hug, Einleitung in das N. T. 2, S. 190 f. (3te Ausg.).

Welche von beiden unverträglichen Angaben über das Verhältniſs des Täufers zu Jesu als die unhistorische auf - zugeben sei, diese Frage hätten wir zwar mit ziemlicher Sicherheit durch den allgemeinen Kanon entscheiden kön - nen, daſs, wo in Erzählungen, welche die Tendenz haben, eine Person oder Sache zu verherrlichen, zwei widerstrei - tende Nachrichten sich finden, jedesmal diejenige, welche diesem Zwecke am meisten entspricht, die am wenigsten historische ist, weil, wenn ihr zufolge der ursprüngliche Thatbestand so herrlich gewesen wäre, die Entstehung je - ner andern minder glänzenden Darstellung sich nicht be - greifen lieſse; wie hier, wenn in der That Johannes Je - sum so frühe schon anerkannte, unerklärlich ist, wie man dazu kommen konnte, eine Erzählung auszubilden, welcher zufolge er noch sehr spät über Jesum im Ungewissen ge - wesen wäre. Nun wir aber durch Prüfung der johannei - schen Nachrichten in ihren einzelnen Zügen zu der Ein - sicht gelangt sind, daſs sie sich selbst widersprechen und sich in sich selber auflösen: so wird dieses unabhängig von jenem Kanon gefundene Resultat demselben zur Bestäti - gung dienen.

Indessen, was sich uns bis jetzt ergeben hat, ist nur das Negative, daſs Alles, was auf jene frühzeitige Aner - kennung der Messianität Jesu von Seiten des Täufers Be - ziehung hat, keinen Anspruch darauf machen kann, als historisch festgehalten zu werden: über das Positive wis - sen wir damit noch nichts, ob nun statt dessen die späte Botschaft aus dem Gefängniſs als das zum Grund liegende352Zweiter Abschnitt.Wahre anzusehen sei, und wir müssen daher auch diese Seite für sich einer Prüfung unterwerfen. Hier nun soll, was oben gegen die Wahrscheinlichkeit einer so frühen und bestimmten Überzeugung des Täufers geltend gemacht worden ist, nicht auch auf eine solche, später in ihm auf - gestiegene, bloſse Vermuthung, ob nicht vielleicht Jesus der Messias sein möchte, ausgedehnt werden, und es bleibe so - mit der eigentliche Inhalt der Erzählung unangefochten. Dagegen ist die Form der Sache, daſs der Täufer ἐν τῳ δεσμωτηρίῳ Nachricht von dem Treiben Jesu erhält, aus demselben Lokale seine Jünger an Jesum abordnet, und diese ihm, wie vorauszusetzen ist, in das Gefängniſs Ant - wort bringen, nicht ohne einige Bedenklichkeit. Nach Jo - sephus36)Antiq. 18, 5, 2. war Furcht vor Unruhen die Ursache, warum Herodes den Täufer verhaften lieſs; sollte dieſs aber auch blos Mitursache gewesen sein neben dem, was die Evan - gelien angeben: so ist doch schwer zu glauben, daſs zu ei - nem Manne, der mit deſswegen gefangen gesetzt war, um durch Entfernung desselben von seinem Anhang Unru - hen unter diesem zu verhüten, seine Schüler freien Zutritt behalten haben37)Schleiermacher, über den Lukas, S. 109.. War also Johannes unter solchen Um - ständen im Gefängniſs, so konnte er nicht wohl so schik - ken: hat er aber wirklich so geschickt, so muſs er damals noch auf freiem Fuſs gewesen sein. Nun findet sich die Angabe, daſs die Sendung aus dem δεσμωτήριον erfolgt sei, nur bei Matthäus: Lukas, der sie auch erzählt, erwähnt von einem Gefängniſs nichts. Man könnte daher mit Schlei - ermacher die Darstellung des Lukas in diesem Stück für die wahre, und das δεσμωτήριον bei Matthäus für einen unhistorischen Zusaz halten. Allein der genannte Kritiker selbst hat an den müssigen und zum Theil selbst Miſsver - stand verrathenden Zusätzen, welche die Erzählung des353Erstes Kapitel. §. 42.Lukas (7, 20. 21. 29. 30. ) giebt, sehr überzeugend nach - gewiesen, daſs Matthäus diese Erzählung in der ursprüng - lichen, Lukas in einer überarbeiteten Form gebe38)Ebendas. S. 106 f.. Hie - bei wäre es sonderbar, wenn sich in jenem Einem Punkte das Verhältniſs umgekehrt und Matthäus das ursprünglich fehlende δεσμωτήριον von dem Seinigen hinzugesezt hätte[;]weit natürlicher ist es, anzunehmen, daſs Lukas, der im ganzen Abschnitt als Überarbeiter erscheint, die ursprüng - lich angemerkte Kerkerlokalität verwischt habe.

Die Frage, was den Lukas hiezu veranlassen konnte, führt auf die verschiedenen Zeitpunkte, in welche die ver - schiedenen Evangelien die Verhaftung des Täufers fallen lassen. Matthäus, dem sich Markus anschlieſst, setzt sie vor den öffentlichen Auftritt Jesu in Galiläa, indem er durch dieselbe Jesu Rückkehr in diese Provinz motivirt (Matth. 4, 12. Marc. 1, 14.); Lukas weist der Gefangen - nehmung des Täufers keine bestimmte chronologische Stelle an (s. 3, 19 f.), doch scheint sie nach ihm, da er ja bei der Sendung der beiden Jünger nichts vom Gefängniſs be - merkt, erst später eingetreten zu sein; Johannes aber er - klärt noch nach Jesu erstem Messiaspascha ausdrücklich: ου῎πω γὰρ ἦν βεβλημένος εἰς τὴν φυλακὴν Ἰωάννης (3, 24). Fragt es sich: wer hat hier Recht? so leidet die Darstel - lung des ersten Evangelisten an einer Ungeschicklichkeit, welche manche Erklärer geneigt gemacht hat, sie ohne Weiteres gegen die der beiden lezten aufzugeben. Daſs nämlich Jesus auf die Kunde von des Täufers Gefangen - nehmung durch Herodes Antipas nach Galiläa, also gerade in das Gebiet dieses Fürsten sich zurückgezogen haben sollte (ἀνεχώρησεν), ist, wie Schneckenburger mit Recht behauptet39)Über den Ursprung u. s. w. S. 79. Vergl. Fritzsche, Comm. in Matth. S. 178., undenkbar, da er ja gerade hier am wenig -Das Leben Jesu I. Band. 23354Zweiter Abschnitt.sten vor einem ähnlichen Schicksale sicher war. Hier al - so ist die Form der Darstellung, daſs Jesus seiner Sicher - heit wegen nach Galiläa gegangen sei, jedenfalls preiſszu - geben: es fragt sich nur, ob nicht der wesentliche Inhalt der Nachricht sich doch noch retten lasse? Matthäus und Markus knüpfen an diese nach des Täufers Verhaftung erfolgte Reise Jesu nach Galiläa die Anfänge seiner öffentlichen Wirk - samkeit, und daſs diese erst nach des Täufers Wegnahme begonnen habe, dieſs Wesentliche möchte ich ihnen gerne glauben. Denn wenn es an und für sich schon das Natür - lichste ist, daſs der Abgang des Täufers, dessen Schüler er bis dahin gewesen zu sein scheint (daſs die Evangelisten Jesum gleich nach der Taufe sich wieder von Johannes trennen, und die Gefangennehmung desselben nur aus der Ferne ver - nehmen lassen, können wir, wie im folgenden Kapitel noch klarer werden wird, nicht als historisch anerkennen), Jesum bewog, an seiner Statt die Predigt des μετανοεῖτε· ἤγγικε γαρ βασιλεία τῶν οὐρανῶν fortzusetzen: so spricht auch unser oben aufgestellter Kanon ganz für den Matthäus. Denn fragt man: was konnte eher die verherrlichende Sa - ge ohne historischen Grund erdichten, daſs Johannes schon vor Jesu Auftritt abgetreten sei, oder daſs er noch einige Zeit lang mit ihm zusammengewirkt habe? so wird man nicht anders sagen können, als: das Letztere. Tritt näm - lich derjenige, welchem der Held einer Erzählung über - legen ist, schon vor dessen Auftritt vom Schauplaz ab: so geht die beste Gelegenheit verloren, den Helden seine Übermacht beweisen zu lassen, welche nur dann in ihrem vollen Glanze sich zeigen kann, wenn die Erzählung der aufgehenden Sonne gegenüber den schwindenden Mond noch über dem Horizonte stehen, und allmählig immer mehr erbleichen läſst. Gerade das Letztere nun findet bei Jo - hannes und auch schon bei Lukas statt: das Erstere aber bei Matthäus und Markus, indem diese beiden den Täufer schon vor dem Eintritt Jesu in die Schranken vom Schau -355Erstes Kapitel. §. 43.plaz wegräumen, jene aber denselben gleichsam in of - fenem Felde noch sich an Jesum ergeben lassen, wo - von, als das minder Verherrlichende, das Erstere die hi - storische Wahrscheinlichkeit für sich hat.

Also um die Zeit, in welche die Sendung der zwei Jünger gefallen sein müſste, war der Täufer bereits ver - haftet, und für diesen Fall war schon oben gesagt, daſs er schwerlich auf diese Weise Botschaft aussenden und er - halten konnte. Wohl aber konnte die Sage sich veranlaſst finden, eine solche Botschaft zu erdichten, um den Täufer nicht ohne eine wenigstens werdende Anerkennung der Mes - sianität Jesu scheiden zu lassen; so daſs mithin von den beiden unverträglichen Darstellungen weder die eine noch die andere als historisch sich bewährt.

§. 43. Urtheil der Evangelisten und Jesu über den Täufer, nebst des - sen angeblicher Selbstbeurtheilung. Resultat über das Verhältniss beider Männer.

Auf den Johannes, als Vorbereiter des durch Jesum ge - stifteten Messiasreichs, wenden die Evangelien mehrere A. T. liche Stellen an. Der Aufenthalt des Bu[ß]predigers in der Wüste, seine wegbereitende Thätigkeit für den Messias, muſste an die jesaianische Stelle erinnern (40, 3 ff. LXX): φωνὴ βοῶντος ἐν ἐρήμῳ· ἑτοιμάσατε τὴν ὁδὸν Κυρίῳ κ. τ. λ. In den drei ersten Evangelien ist es der Referent, welcher diese Stelle auf den Täufer anwendet (Matth. 3, 3. Marc. 1, 3. Luc. 3, 4 ff. ), und es lieſse sich ganz wohl denken, daſs dieſs erst spätere, christliche Applikation wäre: doch steht auch dem nicht zu viel entgegen, daſs dem vierten Evangelium zufolge der Täufer selbst seine Bestimmung durch jene prophetischen Worte bezeichnet hätte (1, 23.). Ausser der dem Markus (1, 2.) eigenthümlichen Anwendung der Stelle aus Malachia (3, 1.) von dem von Jehova voraus - gesendeten Engel, wird in Gemäſsheit einer andern Stelle23*356Zweiter Abschnitt.desselben Propheten1)3, 23 f. (4, 4 f. LXX): Καὶ ἰδοὺ ἐγὼ ἀποςέλλω ὑμῖν Ἠλίαν τὸν Θεσβίτην, πρίν ἐλϑεῖν ἡμέραν Κυρίου τὴν μεγάλην καὶ ἐπιφανῆ. ὃς ἀποκαταςήσει καρδίαν κ. τ. λ. dem Täufer namentlich eine Bezie - hung zu Elias gegeben. Daſs Johannes, ἐν πνεύματι καὶ δυναμει Ἠλίου auf Besserung des Volks hinwirkend, dem in der messianischen Zeit sein Volk heimsuchenden Κύριος vorangehen werde, war nach Luc. 1, 17. schon vor seiner Geburt vorhergesagt. Bei Johannes (1, 21.) lehnt der Täu - fer auf die Frage der Abgesandten des Synedriums, ob er Elias sei? diese Würde ab, nach der gewöhnlichen Erklä - rung freilich nur in dem Sinn, daſs er nicht der rohen Volksvorstellung gemäſs der leibhaftig wiedergekommene alte Seher sei, wogegen er das, was die Synoptiker von ihm sagen, ein Mann im Geiste des Elias zu sein, dieser Deutung zufolge selbst auch eingeräumt haben würde; in - dessen scheint es doch, wenn der vierte Evangelist mit der Vorstellung vom Täufer als andrem Elias vertraut gewesen wäre, so würde er ihm nicht auf die angegebene Frage ein so unumwundenes Nein in den Mund gelegt haben.

Diese dem vierten Evangelium eigenthümliche Scene, daſs Johannes den Eliastitel nebst mehreren andern ausge - schlagen haben soll, verlangt noch eine genauere Betrach - tung, und zwar muſs sie mit einer Erzählung des Lukas (3, 15. ff. ) verglichen werden, mit welcher sie auffallende Ähnlichkeit hat. Wie bei Lukas das um den Täufer ver - sammelte Volk auf den Gedanken kommt, μήποτε αὐτὸς εἴη Χριςός; so fragen ihn bei Johannes Deputirte des Synedriums2)So wird der Ausdruck οἱ Ἰουδαῖοι in unsrer Stelle von den erfahrensten Exegeten gedeutet. Vergl. Paulus, Lücke, Tho - luck z. d. St.: σὺ τις εἶ; was, nach der Antwort des Täufers zu schlieſsen, den Sinn haben muſs: bist du, wie man von dir glaubt, der Messias3)Lücke, a. a. O. S. 327.? Nach Lukas antwor -357Erstes Kapitel. §. 43.tet Jesus: ἐγὼ μὲν ὕδατι βαπτίζω ὑμᾶς· ἔρχεται δὲ ίσχυ - ρότερός μου, οὖ οὐκ εἰμὶ ἱκανὸς λῦσαι τὸν ίμάντα τῶν ὑποδη - μάτων αὐτοῦ, nach Johannes erwiedert er gleichfalls: ἐγὼ βαπτίζω ἐν ὔδατι· μέσος δὲ ὑμῶν ἔςηκεν, ὃν ὑμεῖς οὐκ οἴδατε οὖ ἐγὼ οὐκ εἰμὶ ἄξιος ἴνα λύσω αὐτοῦ τὸν ἱμάντα τοῦ ὑποδή - ματος, worauf dann bei Johannes noch die ihm eigenthüm - lichen Aussprüche über Jesu Präexistenz folgen, statt de - ren Lukas eine Erwähnung der messianischen Geistestaufe hat, welche Johannes erst bei einer späteren Gelegenheit (V. 33.) nachholt. Wie aber Lukas diese ganze Scene in der Absicht und mit der Bedeutung einrückt, die Mes - sianität Jesu auch dadurch zu begründen, daſs der Täu - fer sie von sich abgelehnt und auf einen nach ihm Kom - menden übergetragen habe: so hat sie, nur mit noch stärke - rem Gewicht, dieselbe Bedeutung auch bei Johannes. Liegt nun den beiden so verwandten Erzählungen schwerlich mehr als Ein Vorfall zum Grunde4)Auch Lücke gesteht (S. 339 seines Comm.) zu, die Ansicht von der Identität beider Relationen habe vielen Schein für sich; dass er selbst (S. 342.) sich für die Verschiedenheit erklärt, hat seinen Grund nur in dem eingestandenen Wun - sche, beide evangelische Erzählungen in ihrem Werthe zu erhalten., so fragt sich, wel - che ihn getreuer wiedergiebt? Hier ist in der Darstellung des Lukas keine innere Unwahrscheinlichkeit, vielmehr läſst sich leicht denken, wie das um den Täufer geschaarte Volk den Mann, der die Annäherung des Messiasreichs verkündigte und mit Beziehung auf dasselbe taufte, in be - geisterten Augenblicken für den Messias selber halten mochte. Daſs dagegen die Synedristen aus Jerusalem zu 6ohannes an den Jordan geschickt haben sollten, um ihn so wie der vierte Evangelist erzählt, fragen zu lassen, ob er der Messias sei, kann schon nicht ebenso natürlich er - scheinen. Der Zweck ihrer Frage könnte nur der gewe -358Zweiter Abschnitt.sen sein, so, wie sie später auch bei Jesus thaten (Matth. 21, 23. ff. ), des Johannes Befugniſs zur Taufe zu unter - suchen, wie auch aus V. 25. hervorgeht. Und zwar konn - ten sie hiebei nach der feindseligen Stellung, welche sich der Täufer zu den Sekten der Pharisäer und Sadducäer, denen die Synedristen angehörten, gegeben hatte (Matth. 3, 7.), keine andre als die Voraussetzung haben, daſs er nicht der Messias und kein Prophet sei, also auch keine Be - fugniſs habe, ein βάπτισμα vorzunehmen. Dann aber konn - ten sie unmöglich so fragen, wie das vierte Evangelium sie fragen läſst. In der angeführten Stelle des ersten Evangeli - ums fragen sie Jesum in der gleichen Voraussetzung, daſs er keine prophetische Befugniſs habe, ganz angemessen: ἐν ποίᾳ ἐξουσίᾳ ταῦτα ποιεῖς; bei Johannes aber fragen sie den Täufer gerade, wie wenn sie voraussetzten, er sei der Messias, und als er, zu ihrem Befremden, wie es scheint, dieses verneint hat, präsentiren sie ihm nacheinander noch die Würden des Elias und eines andern prophetischen Vor - läufers, wie wenn sie angelegentlich wünschten, er möchte sich doch einen dieser Titel gefallen lassen. So werden nicht ausforschende Gegner einem Manne, dem sie übel - wollen, die höchsten Würden aufdringen, sondern nur ein Erzähler kann dieſs so darstellen, welcher die Bescheiden - heit jenes Mannes und seine Unterordnung unter Jesum da - durch hervorheben will, daſs er ihn alle jene glänzenden Titel ausschlagen läſst: natürlich, soll er sie ausschlagen können, so müssen sie ihm aufgedrungen worden sein; in der Wirklichkeit aber kann so etwas blos von Wohlwollen - den geschehen, wie Lukas richtig dem Volke, das dem Täu - fer anhieng, die Vermuthung seiner Messianität leiht.

Warum schrieb nun der vierte Evangelist nicht gleich - falls dem Volke jene Fragen zu, in dessen Mund sie mit leichter Abänderung so gut gepaſst hätten? Joh. 5, 33. be - ruft sich Jesus den ungläubigen Ἰουδαίοις in Jerusalem ge - genüber auf ihre Sendung zu dem Täufer und auf das wahr -359Erstes Kapitel. §. 43.haftige Zeugniſs, welches dieser damals abgelegt habe. Hatte Johannes nur vor dem gemeinen Volke jene Aussprü - che über sein Verhältniſs zu Jesu gethan, so war eine solche Berufung nicht möglich, sondern, sollte Jesus seinen Fein - den gegenüber auf das Zeugniſs des Johannes sich berufen können, so muſste dieses vor den Feinden abgelegt worden sein; sollte die Aussage des Täufers gleichsam diplomati - sche Gültigkeit haben, so muſste sie auf die officielle An - frage einer obrigkeitlichen Deputation erfolgt sein. Dieser Umwandlung scheint die oben erwähnte Erzählung aus der synoptischen Tradition zu Hülfe gekommen zu sein, wel - cher zufolge die Hohenpriester und Schriftgelehrten Jesum fragen, mit welcher Befugniſs er dergleichen (wie die Ver - treibung der Käufer und Verkäufer) thue? Hier beruft sich Jesus auch auf Johannes, indem er ihr Urtheil über dessen Befugniſs zu erfahren begehrt, freilich nur in der negativen Absicht, um ihnen für weiteres Inquiriren nach seiner Befugniſs den Mund zu stopfen (Matth. 21, 23. ff. parall. ); wie leicht aber konnte dieser Berufung die posi - tive Wendung gegeben, und statt des Arguments: wisset ihr nicht, was Johannes für eine Vollmacht hatte, so brauchet ihr auch nicht zu wissen, woher die meinige sich schreibt, das andre gesezt werden: da ihr wisset, was Johannes über mich ausgesagt hat, so müsset ihr auch wis - sen, welche Vollmacht und Würde mir zukommt; wobei dann, was ursprünglich eine Anfrage an Jesum war, sich in eine Botschaft an den Täufer verwandelte5)Ob auch der Vorgang mit den bei Johannes sich beklagen - den Jüngern (Joh. 3, 25 ff. ) eine Umbildung der entspre - chenden Scene Matth. 9, 14 f. sei, wie Bretschneider, Pro - bab. S. 66 ff. nachzuweisen sucht, bleibe dahingestellt..

Was Jesus seinerseits über den Johannes urtheilte, findet sich bei den Synoptikern an zwei Orte vertheilt, in - dem hier Jesus theils nach dem Abgang der Boten des Jo -360Zweiter Abschnitt.hannes sich zu einer Erklärung über diesen veranlaſst sieht (Matth. 11, 7. ff. parall. ), theils nach der Erscheinung des Elias bei der Verklärung durch eine Frage der Jünger auf ihn zu sprechen kommt (Matth. 17, 12. f. par. ); im vierten Evangelium spricht Jesus den Ἰουδαίοις gegenüber, nach - dem er sich, wie bemerkt, auf ihre Sendung zu Johannes berufen, ein ehrendes Urtheil über diesen aus (5, 35.). In der johanneischen Stelle nennt er den Täufer ein hellschei - nendes Licht, in dessen Strahle sich das wankelmüthige Volk eine Zeit lang habe ergötzen mögen; in der mittleren ver - sichert er, daſs Johannes der als[messianischer] Vorläu - fer verheiſsene Elias sei; in der ersten Stelle sind drei Punkte zu unterscheiden. Erstlich das Wesen und die Wirksamkeit des Johannes betreffend, wird sein strenger und fester Sinn und die Erhabenheit, welche er als mes - sianischer Vorläufer, der mit gewaltiger Hand das Him - melreich eröffnet habe, selbst über die Propheten behaupte, gerühmt (V. 7 14.); zweitens im Verhältniſs zu Jesus und den Bürgern der βασιλεία τῶν οὐρανῶν wird der Täufer zu - rückgestellt als derjenige, welcher, obwohl über alle Mit - glieder der A. T. lichen Ökonomie erhaben, doch jedem, dem durch Jesum das neue Licht aufgegangen, nachstehe (V. 11.). Wie Jesus dieſs verstanden habe, sehen wir aus dem, was V. 18. folgt, wenn wir es mit Matth. 9, 16 f. vergleichen. In der ersteren Stelle bezeichnet Jesus den Johannes als μήτε ἐοϑίων μήτε πίνων, und eben diese von Johannes in seiner Schule eingeführte Ascese gehört ihm nach der zwei - ten Stelle zu den ίματίοις und ασκοῖς παλαιοῖς, zu welchen das Neue, was er gebracht, nicht passe. Was Andres kann es demnach sein, worin der Täufer unter den Kin - dern des Reiches Jesu stehen soll, als im Zusammen - hang versteht sich damit, daſs er Jesum gar nicht oder nicht zweifellos als den Messias anerkannte, der Äus - serlichkeitsgeist, welcher noch an Fasten und andern der - gleichen Werken hieng, sammt der damit verbundenen -361Erstes Kapitel. §. 43.stern Ascese? und wirklich verbürgt ja nur das Hinaus - sein über diese den Übertritt von der unfreien zu freier, geistiger Religiosität6)Dass Jesus, wie Manche annehmen, den Täufer auch desswe - gen zurückstelle, weil dieser die neue Ordnung der Dinge nicht ohne äussere Gewalt herbeizuführen gedacht habe, ist ohne Spur in den Evangelien.. Was drittens das Verhältniſs der Wirksamkeit sowohl des Johannes als Jesu zu den Zeit - genossen betrifft, so wird V. 16 ff. über die gleiche Unem - pfänglichkeit für beide geklagt, wiewohl V. 12. bemerkt war, daſs der gewaltige Eifer einiger βιαςαὶ nach Anlei - tung des Johannes sich den Zugang zum Messiasreich er - zwungen habe7)Eine abweichende Erklärung s. bei Schneckenburger, Bei - träge, S. 48 ff..

Zum Schlusse ist noch eine Übersicht des Stufengangs zu geben, in welchem an die einfachen historischen Grund - züge des Verhältnisses zwischen Johannes und Jesus all - mählig immer mehr Traditionelles sich angesezt hat. Hi - storisch scheint dieses zu sein, daſs Jesus durch den Ruf der Taufe des Johannes angezogen, sich derselben unter - warf, und nachdem er einige Zeit vielleicht im Gefolge des Täufers gewesen und durch ihn mit der Idee des nahen - den Messiasreiches vertraut geworden war, nach der Ver - haftung des Johannes dessen Wirksamkeit in modificirter Weise fortsezte, doch, auch nachdem er über ihn hinaus - geschritten, niemals aufhörte, ihm aufrichtige Hochachtung zu zollen.

Das Erste nun, was sich in der christlichen Sage hieran schloſs, war dieſs, daſs Johannes von Jesu noch beifällige Notiz genommen haben sollte. Während seiner öffentlichen Wirksamkeit hatte er, das wuſste man, nur unbestimmt auf einen nach ihm Kommenden hingewiesen; nun sollte er aber auch noch persönlich Jesum, wenigstens362Zweiter Abschnitt.vermuthungsweise, als diesen bezeichnet haben. Dazu mag, so dachte man, der Ruf von Jesu Thaten ihn bewogen ha - ben, welcher, so stark wie er erscholl, wohl durch die Mauern seines Kerkers dringen konnte. So bildete sich die Erzählung des Matthäus von der Botschaft aus dem Gefängniſs; der erste, gleichsam noch schüchterne Versuch, den Täufer für Jesum zeugen zu lassen, welchen man, weil ein kategorisches Zeugniſs desselben für Jesum gar zu unerhört war, nur erst in eine Frage einkleidete.

Doch dieses späte und halbe Zeugniſs genügte nicht. Es war ein spätes; denn vor demselben blieb ja immer noch die Taufe, welche Jesus von Johannes angenommen und dadurch gewissermaſsen sich ihm untergeordnet hatte. Daher muſste der Taufe selbst die entgegengesezte Wen - dung gegeben werden (wovon unten); daher ferner jene Scenen bei Lukas, durch welche der Täufer vor seiner Geburt schon in ein dienendes Verhältniſs zu Jesu gesezt wurde.

Aber nicht allein ein spätes Zeugniſs war jenes in der Botschaft der Jünger abgelegte, sondern auch ein blos hal - bes, weil es in der Frage noch eine Ungewiſsheit und in dem ἐρχόμενος eine Unbestimmtheit enthielt. Daher im vierten Evangelium keine Frage nach der Messianität Jesu mehr, sondern die heiligste Versicherung derselben; daher die bestimmtesten Aussprüche über Jesu ewige, göttliche Natur und seinen Charakter als des leidenden Messias.

Mit diesen so bestimmten Aussprüchen konnte nun frei - lich in einer nach Einheit strebenden Darstellung, wie die des vierten Evangeliums ist, jene zweifelnde Sendung nicht wohl zusammen bestehen, weſswegen sie in diesem Evan - gelium nur in total umgewandelter Gestalt eine Stelle ge - funden hat; übrigens auch mit dem, was die Synoptiker bei der Taufe Jesu und schon früher zwischen Johannes und Jesus vorfallen lassen, reimt sie sich nicht, aber in ihre loseren Compositionen nahmen diese Evangelisten ne -363Erstes Kapitel. §. 43.ben der späteren auch noch die frühere Gestaltung der Sa - ge auf, indem sie weniger auf die Frage des Johannes, als auf die damit in Verbindung gebrachte Rede Jesu über denselben Gewicht legen mochten8)Nur in Form einer Anmerkung sei hier der Halbheit gedacht, mit welcher das Verhältniss des Täufers zu Jesu auch von denjenigen, welchen über die Unhaltbarkeit der gewöhnlichen Ansicht von demselben ein Licht aufgegangen, doch noch immer gefasst wird. Unter diese ist Planck nicht einmal zu zählen, indem er die Berichte über dieses Verhältniss durch - aus als historisch nimmt, dann aber nicht umhin kann, ei - nen zwischen beiden Männern abgeredeten Plan aufs Bestimm - teste zu behaupten. s. dessen Geschichte des Christenthums in der Per. seiner Einführung, 1, K. 7. Die Abhandlung eines Ungenannten hingegen in Henke's neuem Magazin 6, 3, S. 373 ff., Johannes und Jesus über - schrieben, geht von dem richtigen Bewusstsein aus, dass die orthodoxe Vorstellung von Johannes als blossem Vorläu - fer Jesu, der seine Bestimmung und Absicht nicht in sich selber, sondern einzig in dem nach ihm Gekommenen gehabt habe, unhaltbar sei, ebensowenig aber der naturalistische Verdacht, dass zwischen beiden Männern eine vorgängige Abrede stattgefunden, irgend einen Grund für sich aufzu - weisen habe. In ersterer Beziehung nun räumt der Verf. mit vieler Unbefangenheit die Meinung hinweg, als hätte Jo - hannes bestimmt schon auf Jesum als Messias hingewiesen, und geht hierin selbst zu weit, indem er der schwer zu be - gründenden Vermuthung nachhängt, vielleicht habe der Täu - fer anfänglich sich selbst zum Messias berufen geglaubt, und durch seine Taufe für sich Partei machen wollen. Gegen die andre Vermuthung aber geht er lange nicht weit genug. Er giebt nämlich nicht blos die Verwandtschaft, das ziemlich gleiche Alter und die frühe Bekanntschaft beider zu, son - dern ergeht sich auch in romantischen Vorstellungen von den Weltverbesserungsplanen, welche die Jünglinge zusammen entworfen, von dem edelmüthigen Streit, in welchem sie ge - standen, indem jeder den andern für würdiger gehalten ha - be, den Messias vorzustellen, bis endlich Johannes im Be -.

364Zweiter Abschnitt.

§. 44. Die Hinrichtung des Täufers Johannes.

Anhangsweise nehmen wir hier gleich dasjenige vor, was uns über das tragische Ende des Täufers Johannes ge - meldet wird. Nach den übereinstimmenden Berichten der Synoptiker und des Josephus1)Antiq. 18, 5. 2. wurde er, nachdem er ei - nige Zeit lang gefangen gesessen, auf Befehl des Herodes Antipas, Tetrarchen von Galiläa, hingerichtet, und zwar nach den N. T. lichen Nachrichten enthauptet (Matth. 14, 3 ff. Marc. 6, 17 ff. Luc. 9, 9.).

8)wusstsein seiner Unzulänglichkeit zurückgetreten, Jesus aber durch eine Naturbegebenheit bei seiner Taufe in der Über - zeugung, der Messias zu sein, bestärkt worden sei. Winer, unter dem Artikel Johannes in seinem bibl. Real - wörterbuch, 1, S. 690 ff. hat zwar die richtige Einsicht in die unausgleichbare Differenz zwischen der synoptischen und johanneischen Darstellung des Täufers, so wie darüber, dass die letztere die Farbe johanneischer Gnosis trage; aber von dem theilweise sagenhaften Charakter auch der synoptischen Berichte hat er keine Ahnung, sondern setzt aus Lukas die Verwandtschaft und das Altersverhältniss, aus Matthäus die frühere Bekanntschaft Beider voraus, und glaubt auch uner - achtet dieses Verhältnisses die späteren in der Sendung aus dem Kerker bewiesenen Zweifel des Täufers aus seinen A. T. lichen Messiasvorstellungen begreifen zu können. Auch Hase, §. 46. seines Lebens Jesu, findet es noch wahr - scheinlich, dass Johannes ein Blutsfreund von Jesus gewesen sei und mit ihm in einer auf höchste Achtung gegründeten Freundschaft gestanden habe, ohne übrigens vor der Taufe dessen messianische Bestimmung zu kennen. Besonders aber giebt diesem Theologen die Aufopferung, mit welcher der Täufer, sobald er die messianische Bestimmung Jesu erkannt hatte, sich unter ihn stellte, zu einem effektvollen Schlusse seines ersten Theiles Veranlassung. Ich begnüge mich, diese Ansichten anzuführen, da ihre Kritik bereits in der bisherigen Ausführung gegeben ist.

365Erstes Kapitel. §. 44.

Über die Ursache seiner Gefangennehmung und Hin - richtung aber findet zwischen Josephus und den Evange - listen eine Abweichung statt. Während nämlich nach den lezteren der Tadel, welchen Johannes über die Verheura - thung des Herodes mit der Frau seines (Halb -) Bruders2)Diesen früheren Gemahl der Herodias nennen die Evangelien Philippus, Josephus Herodes. Von dem Tetrarchen Philip - pus war er verschieden. s. Paulus z. d. St. und Winer, b. Realwörterb. d. A. Herodias. ausgesprochen hatte, die Veranlassung seiner Gefangenneh - mung war, und die rachsüchtige List der Herodias während eines Hoffestes die Hinrichtung herbeiführte: giebt Jose - phus die Furcht vor Unruhen, welche Herodes von dem bedeutenden Anhang des Täufers besorgt habe, als Grund der Verhaftung und des Mordes an3)a. a. O.. Hält man diese beiden Relationen, wie sie sich zunächst geben, für ver - schiedene und unvereinbare, so könnte man zu zweifeln veranlaſst sein, welche von beiden den Vorzug verdienen möge? Hier ist es nämlich keineswegs so, wie z. B. bei dem Bericht vom Tode des Herodes Agrippa, A. G. 12, 23., daſs die N. T. liche Erzählung durch Einmischung einer über - natürlichen Ursache, wo Josephus nur eine natürliche hat, sich zum Voraus als die unhistorische zeigte; sondern man könnte hier umgekehrt der evangelischen Erzählung, we - gen der ausgezeichneten Individualität ihrer Züge, vor der des Josephus den Vorzug geben4)Hase, Leben Jesu, §. 79.. Doch muſs man auf der andern Seite auch erwägen, daſs eben solche Indivi - dualisirung und namentlich die Verwandlung eines politi - schen Grundes in einen persönlichen, einer Staatsaktion in eine Familienscene, ganz im Geiste der Sage ist, wie sie sich unter dem im häuslichen mehr als im politischen Krei - se einheimischen Volke zu bilden pflegt. Indessen ist es366Zweiter Abschnitt.hier gar wohl möglich, beide Erzählungen zu vereinigen. Dieſs hat man so versucht, daſs man vermuthete, die Furcht vor Aufruhr sei der eigentliche Kabinetsgrund zur Verhaf - tung des Täufers gewesen, das unehrerbietige Urtheil über die Herrscher aber als ostensibler Grund vorgeschoben wor - den5)Fritzsche, Comm. in Matth. z. d. St. Winer, bibl. Realwör - terb. 1, S. 694.. Allein ich zweifle sehr, ob Herodes den von Jo - hannes gerügten skandalösen Punkt absichtlich wird her - vorgekehrt haben, sondern, wenn man hier zwischen ge - heimer und ostensibler Ursache unterscheiden will, so möchte eher der Tadel jener Heurath die geheime gewesen, und die Sache so zu denken sein, daſs die Furcht vor Aufruhr ab - sichtlich, um den Mord zu entschuldigen, ausgestreut wor - den sei6)so Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 361; Schleiermacher, über den Lukas, S. 109.. Übrigens braucht man jene Unterscheidung nicht, da ja Antipas befürchtet haben kann, eben auch durch den starken Tadel jener gesezwidrigen Heurath und seiner Lebensweise überhaupt möchte Johannes das Volk gegen ihn in Aufruhr bringen.

Aber auch zwischen den evangelischen Erzählungen selbst findet sich eine Differenz, nicht nur darin, daſs Mar - kus in anschaulichster Ausführlichkeit die Scene bei dem Festmahl erzählt, Lukas dagegen sich mit einer kurzen Angabe begnügt (3, 18 20. 9, 9.), während Matthäus in der Mitte steht: sondern es wird auch das Verhältniſs des Herodes zum Täufer von Markus wesentlich anders als von Matthäus dargestellt. Während nämlich nach dem letzte - ren Herodes den Täufer zu tödten wünschte, aber nicht dazu kommen konnte, weil er das Volk scheuen muſste, das ihn für einen Propheten hielt (V. 5.): so ist es nach Markus nur Herodias, welche ihm nach dem Leben trach - tet, aber ihren Zweck nicht erreichen kann, weil ihr Ge -367Erstes Kapitel. §. 44.mahl den Johannes als einen heiligen Mann scheute, ihn bei Gelegenheit selbst gerne hörte, und seinem Rath nicht selten Folge leistete (V. 19 f.)7)vergl. Fritzsche, Comm. in Marc. p. 225.. Hier hat nun ebenfalls wieder das individuell Charakteristische der Erzählung des Markus die Erklärer bewogen, seiner Darstellung den Vor - zug vor der des Matthäus zu geben8)z. B. Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kano - nischen Evangeliums, S. 86 f. Dass das ἐλυπήϑη des Mat - thäus V. 9. kein Widerspruch dieses Evangelisten mit sich selber ist, darüber vergl. Fritzsche z. d. St.. Allein auch hier kann man gerade in diesen Ausmalungen und Änderungen bei Markus die Spur des Traditionellen zu erkennen glau - ben, zumal auch Josephus nur vom Volke sagt: ᾔρϑησαν τῇ ακροάσει τῶν λόγων, den Herodes aber als denjenigen aufführt, welcher δείσας κρεῖττον ἡγεῖται (τὸν Ἰωάννην) ἀναιρεῖν. Wie nahe lag es nämlich, zu weiterer Erhebung des Täufers den Contrast herbeizuführen, daſs selbst der Fürst, gegen welchen er gesprochen und der ihn deſswe - gen verhaftet hatte, im Gewissen gehalten gewesen sei, ihn zu achten, und nur sein rachsüchtiges Weib[zu]seinem Bedauern ihm den Mordbefehl abgelistet habe. Mit dem Charakter des Antipas, wie wir ihn sonsther kennen, ist die Darstellung des Matthäus ohnehin nicht unverträglich9)s. Winer, b. Realwörterb. d. A. Herodes Antipas..

Eine Spur des Sagenhaften wenigstens wird man aus unsern evangelischen Berichten über des Täufers Ende nicht wohl wegerklären können. Jeder nämlich, der sie liest, wird den Eindruck bekommen, als wäre der abge - schlagene Kopf des Johannes noch über Tisch präsentirt worden, also das Gefängniſs desselben ganz in der Nähe gewesen. Nun aber erfahren wir aus der angeführten Stelle des Josephus, daſs der Täufer in Machärus, einem festen Platz an der Südgränze von Peräa, gefangen gesessen ha - be, wogegen die Residenz des Herodes in dem eine Täg -368Zweiter Abschnitt.reise davon entfernten Tiberias war10)Vergl. Winer, a. a. O. S. 694; Fritzsche, Comm. in Matth. S. 491.. Deſswegen hat Grotius angenommen, die γενέσια des Herodes seien auf Machärus gefeiert worden; aber schwerlich hat dieser Fürst ein solches Fest, zu welchem er nach Markus alle seine μεγιςάνας und χιλιάρχους sammt den πρώτοις τῆς Γαλιλαίας geladen hatte, an einem andern Orte als in seiner Residenz, am wenigsten in einer abgelegenen Gränzfestung, gegeben. Von Machärus aber nach Tiberias konnte das Haupt des Jo - hannes erst nach zwei Tagen, also nicht mehr über Tafel, herbeigebracht werden. Hierin findet zwar selbst Fritzsche keinen Widerspruch gegen die evangelischen Erzählungen, da in diesen mit keinem Worte gesagt sei, das Haupt des Jo - hannes sei noch während des Mahles gebracht worden. Al - lein ausdrücklich gesagt ist es nur deſswegen nicht, weil es aus der ganzen Darstellung von selbst erhellt. Nicht nur ist in unmittelbarem Zusammenhang mit den Vorfällen bei der Mahlzeit die Absendung des speculator und seine Rückkehr mit dem Kopf des Enthaupteten erzählt: sondern nur so hat auch die ganze, dramatisch gehaltene Scene ihren gehörigen Schluſs; nur so tritt der Contrast recht hervor, welchen der Blutbefehl mit dem Freudenfeste bildet; endlich auch der πίναξ, auf welchem der abgeschlagene Kopf herbeigebracht wird, bezeichnet denselben als das köstlichste Gericht, wel - ches die unnatürliche Rachsucht eines Weibes sich über Ta - fel bringen lassen mochte. Ist also hier das augenblickli - che Herbeibringen des Hauptes auf einem Teller in jedem Falle sagenhaft: so fragt sich, ob nicht mehr oder weniger auch die ganze Ausmalung der Scene?

369Zweites Kapitel. §. 45.

Zweites Kapitel. Taufe und Versuchung Jesu.

§. 45. Warum hat Jesus sich von Johannes taufen lassen?

In Gemäſsheit der von den Evangelisten an den Tag ge - legten Ansicht von der Sache beantwortet man die voran - gestellte Frage von orthodoxer Seite gewöhnlich dahin, Je - sus habe sich durch die johanneische Taufe zu seinem mes - sianischen Berufe einweihen lassen wollen, wofür man sich auch auf eine Stelle bei Justin berufen kann, nach welcher es jüdische Vorstellung war, der Messias werde als solcher sich selbst und Andern unbekannt sein, bis Elias als sein Vorläufer ihn salben und dadurch Allen kennbar machen werde1)Dial. c. Tryph. 8, S. 110. der Mauriner Ausg.. Der Täufer selbst indess, wie ihn der erste Evangelist darstellt, muſs diese Ansicht nicht getheilt ha - ben; denn hätte er seine Taufe für eine Weihung ange - sehen, welche der Messias nothwendig bekommen müsse: so würde er sich nicht gesträubt haben, sie an Jesu zu vollziehen (3, 14.).

Dem Obigen zufolge bezog sich die Taufe des Johan - nes einerseits εἰς τὸν ἐρχόμενον, indem man durch dieselbe auf den erwarteten Messias glaubig sich vorbereiten zu wol - len versprach: wie konnte Jesus, wenn er der ἐρχόμενος selbst zu sein sich bewuſst war, dieser Taufe sich unter - werfen? Die gewöhnliche Antwort auf orthodoxem Stand - punkt ist: Jesus, obwohl sich seiner Messianität bewuſst, redete und handelte doch, so lange er nicht durch GottDas Leben Jesu I. Band. 24370Zweiter Abschnitt.selbst dafür erklärt war, nicht als Messias, sondern blos als Israëlite, der sich zur Pflicht macht, jeder seine Na - tion betreffenden göttlichen Verordnung nachzukommen2)Hess, Geschichte Jesu, 1. Bd. S. 118 f. Anmerk.. Allein man muſs hier wohl unterscheiden: negativ, nichts Messianisches zu thun, kein Vorrecht des Messias auszu - üben, ehe er feierlich dafür erklärt wäre, das ziemte Je - su; auch positiv allen den Ordnungen sich zu unterwer - fen, welche jeder Israëlit zu befolgen hatte: aber einen neuaufgekommenen Ritus mitmachen, welcher die Erwar - tung eines andern künftigen Messias aussprach, das konn - te der, welcher sich bewuſst war, selbst der gegenwärtige Messias zu sein, ohne Simulation nicht. Mit Recht haben daher neuere Theologen zugegeben, daſs Jesus, als er zu Johannes kam, um sich taufen zu lassen, sich noch nicht entschieden als den Messias gedacht haben könne3)Paulus, a. a. O. S. 362 ff. 367. Hase, Leben Jesu, §. 48.. Frei - lich fassen sie diese Ungewiſsheit nur als das Sträuben der Bescheidenheit auf, indem namentlich Paulus erin - nert, daſs Jesus, unerachtet er von seinen Eltern sei - ne messianische Bestimmung vernommen, und an diesen ersten Anstoſs sich in den äusseren Ereignissen wie in sei - ner innern Entwicklung Manches günstig angereiht hatte, doch sich nicht habe übereilen wollen, das ihm gleichsam auf - gedrungene Prädikat sich beizulegen. Allein, sieht man in den bisherigen Erzählungen von Jesu eine Geschichte, und zwar, wie man dann nicht anders kann, eine überna - türliche: so muſste der von Engeln Angekündigte, übernatür - lich Gezeugte, durch Huldigungen von Magiern und Propheten in der Welt Aufgenommene, der schon im zwölften Jahre den Tempel als seines Vaters Haus kannte, längst über alle Skrupel einer falschen Bescheidenheit hinaus von seiner Messianität überzeugt sein; glaubt man dagegen die Kindheitsgeschichte kritisch auflösen zu können: so sind damit alle Veranlas -371Zweites Kapitel. §. 45.sungen verschwunden, welche Jesum so frühe auf den Ge - danken, er möchte der Messias sein, bringen muſsten, und es wird die Stellung, welche er durch die Annahme der johanneischen Taufe sich zur messianischen Idee gab, aus einem gezierten Nichtwissenwollen, daſs er der Mes - sias sei, zum wirklichen Nichtwissen dieser Bestimmung. Zu bescheiden, meinen jene Erklärer weiter, um sich ei - genmächtig für den Messias zu erklären, habe Jesus Alles, was die strengste Selbstbeurtheilung erforderte, erfüllen (πληρῶσαι πᾶσαν δικαιοσύνην) und den entscheidenden Ver - such machen wollen, ob es die Gottheit dulden würde, daſs auch er wie jeder Andere auf den kommenden Mes - sias sich einweihen lasse, oder ob sie einen Wink geben würde, daſs er selbst der ἐρχόμενος sei? Allein auf diese Weise etwas thun, was man selbst als unangemessen er - kennt, nur um zu versuchen, ob nicht Gött das Un - passende corrigiren werde, ein solches Herausfordern eines göttlichen Zeichens ist doch nichts Andres, als ein ἐκπειράζειν τὸν Κύριον, was Jesus bald nach der Taufe so entschieden von sich gewiesen haben soll (Matth. 4, 7.). Das also wird man anerkennen müssen: sofern die Taufe des Johannes eine Taufe εἰς τὸν ἐρχόμενον war, kann Jesus, wenn er sich derselben ohne Heuchelei und Vermessenheit unterworfen haben soll, noch nicht sich selbst für diesen ἐρχόμενος gehalten haben, und wenn er das ου῞τω πρέπον ἐςὶ κ. τ. λ. wirklich gesprochen hätte, wozu aber ohne die mit dessen früherer Überzeugung von seiner Messianität wegfallende Weigerung des Täufers keine Veranlassung war, so konnte er es, wenn es auch der Referent vom Standpunkt des späteren Erfolgs aus anders versteht, nur so gemeint haben, es zieme ihm, wie jedem frommen Is - raëliten, durch die Taufe sich dem zu erwartenden Mes - sias im Voraus anzuschlieſsen.

Doch die bisher besprochene Beziehung ist nur die eine Seite der johanneischen Taufe; die andere, historisch24*372Zweiter Abschnitt.noch sicherer verbürgte ist, daſs sie ein βάπτισμα μετανοίας war. Die Israëliten, heiſst es Matth. 3, 6, haben sich von Johannes taufen lassen ἐξομολογούμενοι τὰς ἁμαρτίας αὑτῶν: soll nun Jesus gleichfalls ein solches Bekenntniſs abgelegt haben? es ergieng an sie der Ruf: μετανοε[ί]τε (Matth. 3, 2.): soll auch Jesus sich dieſs haben gesagt sein lassen? Schon in der alten Kirche war dieſs Bedenken; im Hebräer-Evan - gelium der Nazarener richtete Jesus an seine Mutter und Brüder, welche ihn aufforderten, sich von Johannes tau - fen zu lassen, die Frage, was er denn gesündigt habe, daſs er diese Taufe nöthig hätte4)Hieron. adv. Pelagian. 3, 2:In Evangelio juxta Hebraeos narrat historia: Ecce mater Domini et fratres ejus dice - bant ei: Joannes baptista baptizat in remissionem peccato - rum; eamus et baptizemur ab eo. Dixit autem eis: quid peccavi ut vadam et baptizer ab eo? nisi forte hoc ipsum quod dixi, ignorantia est.? und ein ketzerisches Apokryphum soll Jesum bei seiner Taufe geradezu ein Be - kenntniſs eigener Sünde haben ablegen lassen5)Der Verfasser des tractatus de non iterando baptismo in Cy - prians Werken ed. Rigalt. p. 139. sagt (die Stelle steht auch in Fabric. Cod. apocr. N. T. 1, S. 799 f.):Est liber, qui inscribitur Pauli praedicatio. In quo libro, contra omnes scripturas et de peccato proprio confitentem invenies Chri - stum, qui solus omnino nihil deliquit, et ad accipiendum Joannis baptisma paene invitum a matre sua Maria esse com - pulsum. Da dieses Sträuben gegen die Taufe nicht zum Bekenntniss eigner Sünde, sondern eigentlich nur zu dem Bewusstsein der Sündlosigkeit passt, wie es Jesus im Naza - renerevangelium ausspricht: so mag die Darstellung der Prae - dicatio Pauli der des genannten Evangeliums verwandt gewe - sen, und vielleicht nur aus verketzerndem Missverstand här - ter dargestellt worden sein..

Faſst man zusammen, was neuere Theologen, um diesem Anstoſs auszuweichen, angedeutet haben6)Ruinöl, Comm. in Matth. S. 70. Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 175., so ist373Zweites Kapitel. §. 45.es dieſs, daſs sie, die Unterscheidung zwischen dem, was der Mensch als einzelner und was er als Glied der Gesammt - heit ist, auf Jesum anwendend, behaupten, für sich selbst zwar habe er keine μετάνοια nöthig gehabt, wohl aber das Bewuſstsein, daſs sie bei allen andern Menschen, auch seine Volksgenossen, die Nachkommen Abrahams, nicht ausgenommen, nothwendig sei, und um für ein diese Wahr - heit bethätigendes Institut seine Billigung auszusprechen, habe sich Jesus demselben gleichfalls unterworfen. Allein man stelle sich nur die Sache genauer vor. Nach Matth. 3, 6. scheint Johannes vor der Taufe ein Sündenbekenntniſs ver - langt zu haben: ablegen konnte Jesus, als sündlos vor - ausgesezt, ein solches ohne Unwahrheit nicht; verweigerte er es, so taufte ihn Johannes schwerlich, denn für den Messias hielt er ihn vorher nicht und bei jedem andern Israë - liten muſste er ein Sündenbekenntniſs für nöthig halten. Wollte also Jesus keines ablegen, so müſste sich wohl hier - über der Streit entsponnen haben, welchem Matthäus eine ganz andre Beziehung giebt; aber freilich, wenn das διε - κώλυεν des Johannes durch eine solche Weigerung Jesu veranlaſst gewesen wäre, so würde sich die Sache schwer - lich durch ein bloſses ο[]τω πρέπον ἐςὶν haben abmachen las - sen, sondern eben das πληρῶοαι πᾶσαν δικαιοσυνην würde der Täufer vermiſst haben, wenn kein Sündenbekenntniſs abgelegt war. Indessen, wenn auch vielleicht nicht jeder einzelne Täufling ein solches Bekenntniſs ablegen muſste: so hat doch wohl Johannes bei Vollziehung der Taufhand - lung nicht ganz geschwiegen, sondern den Täufling mit Wor - ten angeredet, welche sich auf die μετάνοια bezogen. Konn - te Jesus solche Worte über sich sprechen lassen, wenn er sich bewuſst war, keine Sinnesänderung nöthig zu haben? und machte er dadurch, daſs er von sich als ei - nem Sünder reden lieſs, nicht die Gemüther irre, welche nachher an ihn als den Sündlosen glauben sollten? Las - sen wir aber selbst auch die Behauptung fallen, daſs Jo -374Zweiter Abschnitt.hannes die Täuflinge in angegebener Weise angeredet ha - be: so muſsten doch die Gebärden derjenigen, welche in die reinigende Fluth hinabstiegen und wieder auftauchten, die von Büſsenden sein, und wenn Jesus diese auch nur stillschweigend mitmachte, ohne sie doch auf sich zu bezie - hen: so könnte er von Simulation nicht freigesprochen werden.

Hier ist also kein anderer Ausweg, als daſs Jesus, wie er bei seiner Taufe noch nicht daran gedacht haben kann, selbst der Messias zu sein, so auch, was die μετάνοια betrifft, sich zwar unter die Trefflichsten in Israël mit Recht mag haben zählen können, ohne sich jedoch von dem, was Hiob 4, 18. 15, 15. gesagt ist, auszuschlieſsen. Von histo - rischer Seite wird hiegegen wenig einzuwenden sein; denn das τίς ἐξ ὑμῶν ἐλέγχει με περὶ ἁμαρτίας; (Joh. S, 46.) konn - te sich doch theils nur auf offenkundige Fehltritte, theils nur auf die spätere Zeit der gereiften Entwicklung Jesu beziehen; die Scene aus seinem zwölften Jahre aber wür - de für sich eine sündlose Entwicklung selbst dann nicht beweisen, wenn sie historisch wäre.

§. 46. Die Vorfälle bei der Taufe Jesu als übernatürliche und als natürliche aufgefasst.

Eben als Johannes seine Taufe an Jesus vollendet hat - te, ereignete es sich nach den synoptischen Evangelien, daſs der Himmel sich öffnete, der heilige Geist in Gestalt einer Taube auf Jesum herabkam und eine Himmelsstimme sich hören lieſs, die ihn als den Sohn Gottes, auf welchem des Vaters Wohlgefallen ruhe, bezeichnete (Matth. 13, 16. f. Marc. 1, 10. f. Luc. 3, 21. f.). Das vierte Evangelium läſst (1, 32. ff. ) durch den Täufer erzählen, wie er den heiligen Geist einer Taube gleich auf Jesum habe herab - kommen und über ihm bleiben sehen; von einer Stimme wird hier nichts gesagt, auch nicht, daſs die Scene gerade bei der Taufe Jesu vorgefallen sei: doch da im unmittel - bar Vorhergehenden Johannes von seiner Taufe gesagt hat -375Zweites Kapitel. §. 46.te, sie sei zur Offenbarung des Messias bestimmt gewesen, überdieſs die johanneische Beschreibung des herabkommenden Geistes fast wörtlich der synoptischen entspricht: so ist wohl nicht zu zweifeln, daſs hier derselbe Vorfall berichtet werden solle. Die alten verlorenen Evangelien Justins und der Ebioni - ten verbanden hiemit noch ein himmlisches Licht oder ein im Jordan aufflammendes Feuer1)Justin. Mart. dial. c. Tryph. 88: κατελϑόντος τοῦ Ἰησοῦ ἐπὶ τὸ ὔδωρ, καὶ πῦρ ἀνήφϑη ἐν τῷ Ἰορδάνῃ κ. τ. λ. Epiphan. haeres. 30, 13 (nach der Himmelsstimme): καὶ εὐ - ϑὺς περιέλαμψε τὸν τόπον φῶς μέγα. ; auch mit der Taube und Himmelsstimme nahmen sie Veränderungen vor, von wel - chen unten zu sprechen sein wird. Wem denn eigentlich die Erscheinung gegolten habe, darüber kann man bei Ver - gleichung der verschiedenen Berichte zweifelhaft bleiben. Nach Johannes, wo der Täufer sie seinen Anhängern er - zählt, scheinen diese nicht Augenzeugen gewesen zu sein, sondern, indem er davon spricht, wie ihm von demjeni - gen, der ihn zu taufen gesandt habe, das Herabkommen und Bleiben des Geistes über Einem als Kennzeichen des Messias verheiſsen worden sei, sieht es aus, als wäre die Erscheinung vorzugsweise nur für den Täufer bestimmt ge - wesen. Bei Matthäus und Markus erregt das ἀνεῴχϑησαν αὐτῷ (τῷ Ἰησοῦ) und εἶδε ( . ) den Schein, als hätte zu - nächst Jesus die Erscheinung gehabt; da indeſs bei Mat - thäus die Himmelsstimme in der dritten Person von Jesu redet: so wird ausser ihm jedenfalls noch Ein weiteres In - dividuum, das die Stimme mitanhörte, vorausgesezt, wel - ches dann, den Johannes verglichen, der Täufer sein müſste. Aber Lukas scheint dem Vorfall ein noch viel gröſseres Publikum zu geben, indem er ἐν τῷ βαπτισϑῆναι ἄπαντα τὸν λαὸν auch Jesum die Taufe empfangen und hierauf, wie man kaum anders glauben kann, vor allem Volk die beschriebene Scene sich ereignen läſst2)Über diese Differenzen vergl. Usteri, über den Täufer Jo -.

376Zweiter Abschnitt.

Sämmtliche Erzählungen veranlassen zunächst zu kei - ner andern Auffassung, als daſs alles Angegebene äusser - lich sichtbar und hörbar vor sich gegangen, und so sind sie deſswegen von jeher von der Mehrheit der Ausleger verstanden worden. Will man sich aber die Sache als wirklich so geschehen vorstellen: so stöſst die gebildete Reflexion auf nicht unbedeutende Schwierigkeiten. Erst - lich, daſs bei der Erscheinung eines göttlichen Wesens auf der Erde sich erst der Himmel aufthun müsse, um dem - selben das Heruntersteigen aus seinem gewöhnlichen Sitze möglich zu machen, dieſs kann doch wohl nichts Objekti - ves, sondern nur subjektive Vorstellung einer Zeit sein, welche den Wohnplatz Gottes über dem festen Himmelsge - wölbe sich dachte. Ferner, wie ist es mit richtigen Be - griffen von dem heiligen Geiste, als der göttlichen, Alles erfüllenden Kraft, zu vereinigen, daſs sich derselbe, wie ein endliches Wesen, von einem Orte zum andern bewe - gen, und vollends gar in einer Taube sich verkörpern solle? Endlich aber, daſs Gott menschlich articulirte Töne in ei - ner bestimmten Landessprache von sich gegeben habe, hat man mit Recht selbst abenteuerlich gefunden3)Bauer, hebr. Mythologie 2, S. 225 f. vgl. Gratz, Commentar zum Evang. Matth. 1, S. 172 ff..

Schon in der alten Kirche waren daher gebildetere Väter namentlich in Bezug auf die in der biblischen Ge - schichte sich findenden Gottesstimmen auf die Ansicht ge - kommen, daſs sie nicht eigentlich äussere, durch Bewe - gung der Luft entstandene Töne, sondern innerliche Ein - drücke gewesen seien, welche Gott im Gemüthe derjeni - gen, denen er sich mittheilen wollte, hervorgebracht ha - be4)So Basil. M. in Suicer's Thesaurus 2, S. 1479., und so behaupteten auch von der Erscheinung bei2)hannes, die Taufe und Versuchung Christi, in Ullmann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 2ten Bandes drittes Heft, S. 442 ff.377Zweites Kapitel. §. 46.Jesu Taufe Origenes und Theodor von Mopsvestia gerade - zu, daſs sie ὀπτασία, οὐ φύσις gewesen sei5)Diess die Worte Theodors, in Münter's Fragmenta patr. graec. Fasc. 1. S. 142. Orig. c. Cels. 1, 48.. Den Einfäl - tigen freilich, sagt Origenes treffend, ist es in ihrer Ein - falt ein Geringes, die ganze Welt in Bewegung zu setzen und eine so fest verbundene Masse wie den Himmel zu spalten; wer aber tiefer über dergleichen Dinge forsche, meint er, der werde an jene höhere Eröffnung des Sinnes denken, vermöge welcher, wie öfters im Traume, so auch im Wachen erwählte Personen mit ihren leiblichen Sinnen etwas zu vernehmen glauben, während doch nur ihr Ge - müth in Bewegung gesezt ist: so daſs folglich auch hier die ganze Erscheinung nicht als äusserer Vorgang, son - dern als innere, von Gott gewirkte Vision zu fassen - re, eine Auffassung, welche auch unter neueren Theo - logen vielen Beifall gefunden hat.

Sie wäre nicht unzulässig, wenn wir entweder blos die Relation des Johannes, oder blos die des Markus be - säſsen. Denn nach dem ersteren könnte man denken, nur der Täufer, nach dem lezteren, nur Jesus habe die Er - scheinung gehabt, und was nur Einer allein, wenn auch äusserlich, wahrzunehmen glaubt, das kann wenig - stens möglicherweise eine blos innere Anschauung sein. Daher hat namentlich schon Theodor darauf gedrungen, daſs das Niedersteigen des heiligen Geistes οὐ πᾶσιν ὤφϑη τοῖς παροῦσιν, ἀλλα κατά τινα πνευματικὴν ϑεωρίαν ὤφϑη μόνῳ τῷ Ἰωάννῃ, wie das vierte Evangelium es darzustel - len scheint. Nehmen wir aber den Johannes und den Mar - kus zusammen: so hätten wenigstens Jesus und der Täu - fer miteinander dieselbe Erscheinung gehabt, was nicht die Art der Visionen ist6)Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 368. Hase, Leben Jesu, §. 48.; dasselbe sezt die Darstellung des Matthäus voraus, und von Lukas gesteht auch Lücke zu,378Zweiter Abschnitt.er stelle die Erscheinung bei der Taufe Jesu als etwas ganz Objektives dar und gebe durch den Zusatz: σωματικῷ εἴδει dem ὡσεὶ περιςερὰν ein so starkes leibliches Gewicht, daſs man nicht zweifeln könne, er habe dabei bestimmt an eine äussere Erscheinung der Taube als Symbols des Geistes gedacht7)Commentar zum Evang. Joh. 1, S. 370.. Um also die Auffassung des Phänomens bei der Taufe Jesu als einer Vision möglich zu machen, muſs, scheint es, gegen die Auktorität Eines Evangelisten die Glaubwürdigkeit aller übrigen in dieser Erzählung auf - geopfert werden, wie dieſs der zulezt angeführte Ausleger wirklich thut, indem er, unerachtet die synoptischen Be - richte, wie er sich ausdrückt, doch auch Glauben ver - dienen, dieselben dennoch, je nach dem Grade ihrer Abwei - chung von Johannes, für weniger sicher erklärt. Allein ein solches Verwerfen eines Theils der Berichte ist auf or - thodoxem, wie auf dem Standpunkt der natürlichen Erklä - rung inconsequent, weil, sobald man einmal eines unsrer kanonischen Evangelien kritisch verdächtigt, dann, vermöge der Gleichheit der äusseren Begründung ihrer Glaubwür - digkeit, und ihrer inneren Verwandtschaft ein gleiches Verfahren auch gegen die übrigen möglich wird, wodurch sodann dem Erklärer alles supranaturalistische wie natura - listische Deuten erspart, und er auf die mythische Auffas - sung angewiesen ist. Dieſs hat Olshausen richtig gefühlt, wenn er der Relation der Synoptiker und namentlich des Lukas insoweit nachgiebt, daſs er eine Volksmenge bei dem Vorgange zugegen sein und dieselbe auch etwas sehen und hören läſst, doch nur etwas Unbestimmtes und Un - verstandenes8)Bibl. Comm. 1, S. 177 f.. Hiemit wird die Sache einerseits aus dem Gebiete subjektiver Vision wieder auf das des objektiven Geschehens hinübergespielt; indem aber andrerseits die er - schienene Taube nicht dem physischen, sondern nur dem379Zweites Kapitel. §. 46.eröffneten geistigen Auge sichtbar, und ebenso die Worte nicht leiblichen Ohren hörbar, sondern nur dem Geiste ver - nehmlich gewesen sein sollen: so geht über solcher über - sinnlichen Sinnlichkeit Olshausen'scher Pneumatologie uns Übrigen das Verständniſs aus, und wir eilen aus dieser dumpfen Atmosphäre gerne zu der Klarheit derjenigen fort, welche uns einfach sagen, die Sache sei ein äusserer Vor - gang, aber ein rein natürlicher gewesen.

Von dieser Seite beruft man sich auf die Weise des Alterthums, natürliche Vorgänge als göttliche Zeichen an - zusehen und in bedeutungsvollen Momenten, wo es auf ei - nen kühnen Entschlnſs ankam, sich durch dieselben leiten zu lassen. So habe auch für Jesum, als er, innerlich zum Messias herangereift, nur noch auf eine äussere göttliche Bestätigung wartete, und ebenso für den Täufer, der sei - nen Jugendfreund bereits über sich selber stellte, in der feierlichen Stimmung bei der Taufe des Ersteren durch den Lezteren jedes zufällig eintretende Naturphänomen be - deutungsvoll sein, und ihnen als Zeichen des göttlichen Willens erscheinen müssen9)Paulus, a. a. O. S. 363 ff.. Was nun dieses natürliche Phänomen gewesen sei, darüber sind die Erklärer getheil - ter Meinung10)Unentschieden lässt es Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 236.. Die einen nehmen mit den Synoptikern sowohl etwas Hörbares als etwas Sichtbares an, die an - dern mit Johannes nur etwas Sichtbares. Was das Sicht - bare betrifft, so deuten sie das Sichöffnen des Himmels entweder von plötzlicher Zertheilung der Wolken11)Paulus, a. a. O. und S. 373., oder von einem Blitzstrahl12)Bauer, hebr. Mythologie 2, 226 f. Kuinöl, Comm. in Matth. p. 72.; die Taube aber nehmen sie ent - weder als einen wirklichen Vogel dieser Gattung, welcher zufällig über das Haupt Jesu langsam hinschwebte13)So Paulus, Bauer.,380Zweiter Abschnitt.oder sezt man voraus, daſs eben jener die Wolken zer - theilende Bliz14)Kuinöl., oder ein sonstiges Meteor15)Hase. der Art seines Herabkommens wegen mit einer Taube verglichen werde. Nimmt man neben diesem Sichtbaren auch noch etwas Hörbares bei der Scene an, so versteht man auf die - sem Standpunkt einen Donnerschlag darunter, welchem die[Anwesenden] als einer Bath-kol die Auslegung ge - geben haben, die wir bei den ersten Evangelisten lesen16)Bauer, Kuinöl.; wogegen Andere Alles, was von hörbaren Worten gesagt ist, nur als Ausdeutung des sichtbaren Zeichens fassen, in welchem man eine Deklaration Jesu zum υἱὸς ϑεοῦ gefun - den habe17)Paulus, Hase.. Diese leztere Ansicht sezt die Synoptiker, welche unverkennbar von einer wirklichen Stimme reden, gegen Johannes zurück, enthält also einen kritischen Zwei - fel an dem historischen Charakter der Berichte, welcher, consequent verfolgt, auf einen ganz andern Standpunkt, als den der natürlichen Erklärung, führt. Ebenso wenn das Hörbare ein bloſser Donner gewesen, die Worte aber nur eine subjektive Auslegung desselben sein sollen: so müſste, da in der synoptischen Darstellung die Worte au - genscheinlich zum objektiven Vorgang gerechnet sind, eine traditionelle Zuthat in diesen Berichten angenommen wer - den. Was das Sichtbare betrifft, so ist zwar nicht zu leugnen, daſs schnell sich theilende Wolken oder ein Bliz - strahl als Sichöffnen des Himmels bezeichnet werden konn - ten; keineswegs aber konnte einem Bliz oder Meteor eine Taubengestalt zugeschrieben werden. Die Gestalt aber ist nicht nur bei Lukas entschieden der Vergleichungspunkt, sondern ohne Zweifel auch bei den übrigen Referenten, obgleich selbst Fritzsche das ὡσεὶ περιςερὰν bei Matthäus381Zweites Kapitel. §. 47.nur auf die schnelle Bewegung bezogen wissen will. In ihrer Bewegung hat die Taube keine so bestimmte Eigen - thümlichkeit, daſs nicht, wenn blos diese der Verglei - chungspunkt wäre, in einer der vier Parallelstellen eine Variation und Substitution eines andern Vogels, oder über - haupt einer andern Bezeichnung sich finden müſste; da statt dessen durch unsre 4 Berichte die περιςερὰ als ste - hende Bezeichnung hindurchgeht: so muſs sich die Ver - gleichung auf etwas der Taube ausschlieſsend Eigenthüm - liches beziehen, und dieſs scheint nur die Gestalt sein zu können. Daher thun diejenigen zwar dem Text die we - nigste Gewalt an, welche an eine wirkliche Taube denken; aber da hat nun Paulus ein schweres Geschäft, durch eine Masse naturhistorischer und andrer Bemerkungen die Tau - be so weit kirre zu machen, daſs ein solches Herbeifliegen derselben zu einem Menschen, wie es hier angenommen werden müſste, glaublich würde18)a. a. O. S. 368 f.; wie aber eine Taube gar so lange über Jemand schwebend verweilen könne, daſs sich sagen lieſse: ἔμεινεν ἐπ 'αὐτὸν, das hat er doch nicht denkbar gemacht, und damit gegen die Erzählung des Jo - hannes, welchem er sich in Bezug auf das Fehlen der Stimme anschloſs, selbst verstoſsen.

§. 47. Versuche einer Kritik der Berichte. Mythische Auffassung derselben.

Kann man somit den Vorgang bei Jesu Taufe einer verständigen Vorstellung nicht näher bringen, ohne den evangelischen Berichten Gewalt anzuthun und eine unge - naue Darstellung bei einem Theile derselben vorauszuse - zen: so wird man hiedurch mit Nothwendigkeit zu einer kritischen Behandlung dieser Berichte hingetrieben, wie382Zweiter Abschnitt.eine solche namentlich de Wette1)Biblische Dogmatik, §. 208. Anm. b., Schleiermacher2)Über den Lukas, S. 58 f. und diesem folgend Usteri3)In der im vorigen §. Anm. 2. angeführten Abhandlung, von S. 446. an. unternommen haben. Ihr Bestreben geht dahin, aus der johanneischen Erzählung, als der reinen Quelle, die übrigen, als getrübte Abflüsse, herzuleiten. Bei Johannes sei von keinem sich öffnenden Himmel, von keiner göttlichen Stimme die Rede; nur das Herabsteigen des Geistes werde dem Täufer nach einer ihm gewordenen Verheiſsung zum göttlichen Zeugniſs, daſs Jesus der Messias sei; auf welche Weise aber der Täufer wahrgenommen, daſs der Geist auf üesu ruhe, sage er uns nicht, und gar wohl können ihm auch blos Reden Jesu das Zeichen davon gewesen sein.

Man muſs sich über die Behauptung Schleiermacher's wundern, daſs im vierten Evangelium nicht angegeben wer - de, in welcher Weise der Täufer das niedersteigende πνεῦμα wahrgenommen, da doch das auch hier sich fin - dende ὡσεὶ περιςερὰν es deutlich genug sagt, und eben durch diesen Zug jenes Herabkommen als sichtbares, nicht blos aus Reden erschlossenes unverkennbar dargestellt ist. Usteri freilich meint, die Taube habe der Täufer nur als Bild gebraucht, um den sanften und milden Geist zu be - zeichnen, den er an Jesu bemerkte. Allein, wenn er nur dieſs wollte, so würde er eher Jesum selbst, wie sonst mit einem ἀμνὸς, so hier mit einer περιςερὰ verglichen, nicht aber durch das malerische τεϑέαμαι τὸ πνεῦμα κατα - βαῖνον ὡσεὶ περιςερὰν ἐξ οὐρανοῦ, den Gedanken an eine sinn - liche Anschauung erregt haben. Es ist also in Bezug auf das von der Taube Gesagte nicht wahr, daſs erst in der entfernteren Tradition, wie sie die Synoptiker geben sol - len, das ursprünglich blos bildlich Gemeinte eigentlich ge -383Zweites Kapitel. §. 47.deutet worden sei, sondern schon Johannes versteht es ei - gentlich, und da dieser die richtige Darstellung haben soll: so müſste der Täufer selbst schon von einer sichtbaren, taubenähnlichen Erscheinung gesprochen haben, womit alle Schwierigkeiten der Erklärung dieses Punktes wiederkehren.

Wie also in Bezug auf die Taube der angebliche Un - terschied zwischen den drei ersten und dem vierten Evan - gelium sich gar nicht findet: so ist hinsichtlich der Stimme dieser Unterschied so groſs, daſs man nicht begreift, wie aus der einen Darstellung die andre geworden sein kann. Denn hier soll nach Usteri die Erklärung, welche Johan - nes in Folge jener Erscheinung über Jesum abgab: ὅτι οὖτός ἐςιν υἱὸς τοῦ ϑεοῦ (Joh. 1, 34.) in der fortgehenden Überlieferung zu einer unmittelbaren himmlischen Erklä - rung geworden sein, wie wir sie bei Matthäus in der Form: ου῟τός ἐςιν υἱός μου ἀγαπητὸς ἐν εὐδόκησα, lesen. Da zu einer solchen Umwandlung, wenn sie annehmlich sein soll, auch irgend eine Veranlassung nachgewiesen werden muſs: so bietet sich Jes. 42, 1. dar, wo Jehova von sei - nem עֶבֶד aussagt: הֵן עַבְדִּי אֶתְמָךְ־בּוֺ בְחִירִיּ רָֽצְתָה נַפְשִׁי wovon die ausser Klammer befindlichen Worte durch die Worte der Himmelsstimme bei Matthäus fast wörtlich über - setzt sind. Wurde nun diese Stelle, wie wir aus Matth. 12, 17 ff. sehen, auch sonst auf Jesus als den Messias an - gewendet: so lag in ihr, indem doch hier wie bei der Tau - fe Gott selbst der Redende ist, nähere Veranlassung, eine Himmelsstimme zu fingiren, als in dem bezeichneten Aus - spruch des Johannes. Indem wir also, um die Entstehung der Sage von einer Gottesstimme zu erklären, den Miſsver - stand der Rede des Täufers nicht brauchen; zur Ableitung der Sage von der Taube aber jene Rede nicht brauchen können: so müssen wir die Quelle unsrer Erzählung nicht in einem der evangelischen Berichte, sondern ausserhalb des N. T. s im Gebiete der auf das A. T. gegründeten Zeit -384Zweiter Abschnitt.vorstellungen suchen, welche namentlich Schleiermacher zum groſsen Schaden des objektiven Werthes seiner neutesta - mentlichen Kritik, aber freilich zur groſsen Erleichterung des selbstgefälligen Spiels eines subjektiven Scharfsinns, durchaus vernachlässigt hat.

Aussprüche über den Messias, welche Dichter dem Je - hova in den Mund gelegt hatten, als wirklich vernehmbar gewordene himmlische Stimmen zu betrachten, war ganz im Geiste des späteren Judenthums, welches selbst ausge - zeichneten Rabbinen nicht selten himmlische Stimmen zu Theil werden lieſs4)Nach Bava Mezia f. 59, 1. (bei Wetstein S. 427.) berief sich R. Elieser dafür, dass er die Tradition auf seiner Seite ha - be, auf ein himmlisches Zeichen. Tum persounit Echo coe - lestis: quid vobis cum R. Eliesere? nam ubivis secundum illum obtinet traditio., und dessen Voraussetzungen vom Mes - sias die erste Christengemeinde sowohl selbst theilte, als auch denselben den Juden gegenüber zu genügen suchen muſste. Nun hatte man in der angeführten jesaianischen Stelle einen göttlichen Ausspruch, in welchem wie mit dem Finger auf den gegenwärtigen Messias hingewiesen war, der sich also ganz besonders eignete, als himmlischer Ruf über denselben aufgefaſst zu werden: wie konnte die christ - liche Sage in die Länge säumen, ein Scene auszubilden, in welcher diese Worte hörbar vom Himmel herab über ihren Messias ausgesprochen worden waren? Doch eine noch dringendere Veranlassung, die Sache auf diese Weise zu gestalten, entdecken wir, wenn wir vergleichen, wie den Kirchenvätern zufolge in einigen der alten verlorenen Evan - gelien die Himmelsstimme gelautet hat. Justin giebt sie nach seinen ἀπομνημονεύματα τῶν ἀποςόλων so wieder: υἱός μου εἶ σύ· ἐγὼ σήμερον γεγέννηκά σε5)Dial. c. Tryph. 88.; im Hebräer - evangelium des Epiphanius stand dieser Ausspruch neben385Zweites Kapitel. §. 47.dem, welchen unsere Evangelien haben6)Haeres. 30, 13., und Klemens von Alexandrien7)Paedagog. 1, 6. und Augustin8)De consens. Evangg. 2. 14. scheinen selbst in Exempla - ren von diesen jene Worte gelesen zu haben, welche bei Lukas wenigstens auch noch einige unsrer Codices an die Hand geben9)s. Wetstein z. d. St. des Lukas und de Wette Einl. in das N. T. S. 100.. Hier waren also in der Himmelsstimme nicht Worte aus der angeführten jesaianischen Stelle, son - dern aus Ps. 2, 7., einer Stelle, welche von den jüdischen Erklärern auf den Messias gedeutet10)s. Rosenmüller's Schol. in Psalm. zu Ps. 2., auch Hebr. 1, 5. auf Christum angewendet wird, und durch die Form einer unmittelbaren Anrede eine noch stärkere Veranlassung ent - hielt, sie als eine wirkliche, vom Himmel herab an den Mes - sias gerichtete Stimme aufzufassen. Waren nun ursprüng - lich vielleicht die Worte des Psalms der Himmelsstimme in den Mund gelegt, oder war auch nur, wie jedenfalls aus der zweiten Person: συ εἶ, bei Markus und Lukas sich er - giebt, welche nur durch die Psalmstelle, nicht aber durch die jesaianische an die Hand gegeben war, neben dieser auch noch auf jene Rücksicht genommen: was bedürfen wir weiter Zeugniſs, um in diesen, längst messianisch gedeu - teten und bald auch als himmlische Anrede an den auf Er - den gegenwärtigen Messias gefaſsten Stellen die Quelle un - serer Erzählung von der himmlischen Stimme bei Jesu Tau - fe zu finden? Denn daſs sie gerade mit der Taufe verbun - den wurde, ergab sich von selbst, sobald diese einmal als Einweihung Jesu zu seinem Amte aufgefaſst war.

Was nun das Herabkommen des πνεῦμα in Gestalt ei - ner περιςερα betrifft, so müssen wir das Herabsteigen des Geistes und die Gestalt der Taube trennen und jedes be - sonders betrachten. Daſs der göttliche Geist in besonde -Das Leben Jesu I. Band. 25386Zweiter Abschnitt.rem Maaſse auf dem Messias ruhen werde, diese Erwar - tung ergab sich von selbst, sobald einmal die messianische Zeit als die der Ausgiessung des Geistes über alles Fleisch gefaſst war (Joël 3, 1 ff. )11)Vergl. Fritzsche, Comm. in Matth. z. d. St., und Jes. 11, 1 f. war ja von dem Sproſs Isai's ausdrücklich gesagt, daſs auf ihm der Geist Gottes in aller seiner Fülle, als Geist der Weisheit und Klugheit, der Stärke und Gottesfurcht ruhen werde. Und zwar ist in dem Ausdruck: נוּחַ עַל ־, welcher hier von dem Ruhen des Geistes auf dem bezeichneten Subjekte ge - braucht ist, bereits ein Moment sinnlicher Anschauung ent - halten, indem jenes Verbum ein Sichniederlassen von Hee - ren, oder, wie das entsprechende arabische Wort, auch von Thieren bedeutet; diesem נוּחַ aber entspricht deutlich genug das johanneische μένειν, obgleich die LXX es noch genauer durch ἀναπαύεσϑαι wiedergeben. War einmal durch einen solchen Ausdruck die Einbildungskraft ange - regt: so muſste sie sich zur Vollendung des Bildes um so mehr getrieben finden, als das Herabkommen des Geistes auf den Messias ausgezeichnet werden muſste, jüdischer - seits vor der Art, wie auch über Propheten (z. B. Jes. 61, 1.), christlicherseits vor der, wie auch über die ge - tauften Christen (z. B. A. G. 19, 1 ff. ) der göttliche Geist zu kommen pflegte12)Schleiermacher, über den Lukas, S. 57.; war einmal gegeben, daſs der Geist sich auf den Messias niederlassen werde: so lag die Frage nahe: wie wird er sich niederlassen? Dieſs muſste sich nach der Volksvorstellung bestimmen, je nachdem näm - lich bei den Juden der göttliche Geist unter diesem oder jenem Bilde vorgestellt zu werden pflegte. Im A. T. und auch im neuen (A. G. 2, 3.) finden wir vorzugsweise das Feuer als Symbol des heiligen Geistes13)Lücke, Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 367., woraus aber387Zweites Kapitel. §. 47.nicht folgt, daſs nicht auch noch andere sinnliche Gegen - stände als solche Symbole haben gebraucht werden können. Nun war aber in einer A. T. lichen Hauptstelle über die רוּחַ אֱלהִֹים (1. Mos. 1, 2.) diese als schwebend (מְרַתֶפֶ[ת]) dar - gestellt; suchte man hiefür ein sinnliches Substrat, so konnte man nicht sowohl an Feuer, als an die Bewegung eines Vogels denken, wie denn das רָחַפ 5. Mos. 32, 11. von dem Schweben eines solchen über seinen Jungen gebraucht ist. Konnte aber bei dem unbestimmten Bilde eines Vogels über - haupt für jenes Schweben des Gottesgeistes die Vorstellung wieder nicht stehen bleiben: so muſste alles auf die Wahl gerade der Taube hinführen.

Im Orient, namentlich in Syrien und Palästina, ist die Taube ein heiliger Vogel14)Tibull. Carm. L. 1. eleg. 8. V. 17 f. und dazu die Anmerkung von Broeckhuis; Creuzer, Symbolik, 2, S. 70 f. ; Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 369., und zwar gerade aus ei - nem Grunde, welcher beinahe nöthigen muſste, sie mit dem auf den Urgewässern schwebenden Geiste, 1. Mos. 1, 2., in Beziehung zu setzen. Die Taube nämlich, als brütende, war ein Symbol der belebenden Naturwärme15)Creuzer, Symbolik 2, S. 80., sie stellte also ganz jene Funktion dar, welche in der mosaischen Schöpfungsgeschichte dem göttlichen Geiste zugeschrieben wird, durch seine belebende Kraft aus dem chaotischen Zustande der ersten Schöpfung die Welt des Lebens her - vorzurufen. Überdieſs, als die Erde zum zweitenmal vom Wasser bedeckt worden war, ist es eine von Noa ausge - sendete Taube, welche über den Wassern schwebt, und durch das Oelblatt, das sie bringt und zuletzt durch ihr Aussenbleiben die wiedergekehrte Möglichkeit des Lebens auf der Erde verkündigt. Wen kann es hienach noch Wun - der nehmen, wenn in jüdischen Schriften der über dem Ur -25*388Zweiter Abschnitt.gewässer schwebende Geist ausdrücklich mit einer Taube verglichen sich findet16)Chagiga c. 2. (bei Wetstein S. 268.): Spiritus Dei fereba - tur super aquas sicut columba, quae incumbit pullis suis Vergl. Ir Gibborim ad Genes. 1, 2. bei Schöttgen horae 1, S. 9. und auch abgesehen von dieser Erzählung die Taube als Symbol des heiligen Geistes ge - faſst wird? 17)Targum Koheleth 2, 12. wird die vox turturis als vox spiri - tus sancti gedeutet. Diess mit Lücke S. 367. für eine will - kührliche Deutung zu erklären, scheint nach den obigen Da - ten selbst der Willkühr ähnlich zu sehen.Wie nahe es von hier aus lag, der schwe - benden Taube eine Beziehung auf den Messias zu geben, auf welchen der mit einer Taube verglichene Gottesgeist herabkommen sollte, erhellt von selbst, und ohne daſs man sich auf jüdische Schriften zu berufen brauchte, welche den über dem Wasser schwebenden Geist, 1. Mos. 1, 2, als den Geist des Messias bezeichnen18)Bereschith rabba, sect. 2, f. 4, 4, ad Genes. 1, 2 (bei Schött - gen a. a. O.): intelligitur spiritus regis Messiae, de quo di - citur Jes. 11, 2: et quiescet super illum spiritus Domini., und die Noachische Taube, dieses Nachbild des taubenartig über dem Urwas - ser brütenden Gottesgeistes, mit dem Messias in Verbin - dung bringen19)Sohar Numer. f. 68. col. 271 f. (bei Schöttgen, horae, 2, S. 537 f.). Der Inhalt dieser Stelle beruht auf dem kabbali - stischen Schlusse: Ist David nach Ps. 52, 10. der Oelbaum: so ist der Messias, Davids Spross, das Oelblatt; heisst es von Noa's Taube Genes. 8, 11., sie habe ein Oelblatt im Munde geführt: so wird der Messias durch eine Taube in der Welt eingeführt werden. Auch christliche Ausleger haben die Taube bei Jesu Taufe mit der Noachischen vergli - chen, s. Suicer, Thesaurus 2, d. A. περιςερὰ, S. 688 f. Was man sonst wohl hier anzuführen pflegte, dass die Sama - ritaner auf Garizim eine Taube unter dem Namen Achima göttlich verehrt haben, ist wohl nur aus absichtlicher Miss -.

389Zweites Kapitel. §. 47.

Waren auf diese Weise die himmlische Stimme und der als Taube herabschwebende göttliche Geist aus jüdischen Zeitvorstellungen Bestandtheile der christlichen Sage von den Umständen bei Jesu Taufe geworden: so ergab sich als ergänzender Zug das Sichaufthun des Himmels von selbst, weil nämlich das einmal sinnlich vorgestellte πνεῦμα doch auch eine Gasse haben muſste, um durch das Himmelsge - wölbe auf Jesum herunterkommen zu können20)s. Fritzsche, Comm. in Matth. S. 148..

Was wir bis jetzt gefunden haben, den blos mythischen Werth der angeblich wunderbaren Umstände bei der Taufe Jesu, hätten wir weit kürzer auf dem Wege eines Schlus - ses aus dem Resultat des vorigen Kapitels finden können; denn wenn diesem z folge Johannes Jesum nicht als den Messias anerkannt hat: so können auch bei Jesu Taufe keine Erscheinungen vorgefallen sein, welche den Johan - nes von seiner Messianität hätten überzeugen müssen. Nun wir aber auf den mythischen Charakter der Taufbegeben - heiten gekommen sind, ohne das Resultat des vorigen Ka - pitels irgend vorauszusetzen: so können die beiden unab - hängig von einander gefundenen Ergebnisse sich gegensei - tig zur Bestätigung dienen.

Sind nach dem Bisherigen alle näheren Umstände der Taufe Jesu unhistorisch: so fragt es sich, ob auch das Datum selbst, daſs Jesus von Johannes die Taufe empfan - gen, zum blos Mythischen zu schlagen ist? Fritzsche scheint hiezu nicht ganz ungeneigt, wenn er es dahingestellt sein läſst, ob die ältesten Christen historisch gewuſst, oder nur in Gemäſsheit ihrer messianischen Erwartungen gemeint haben, Jesus sei durch Johannes als seinen Vorläufer in das messianische Amt eingeweiht worden21)a. a. O. S. 153.. Ich möchte19)deutung hervorgegangne jüdische Beschuldigung, s. Stäud - lin's und Tzschirner's Archiv 1, 3, S. 66. vgl. 55. 59. 64. ; Lücke, 1, S. 367.390Zweiter Abschnitt.das Faktum der Taufe Jesu durch Johannes nicht bezwei - feln, 1) weil die urchristliche Sage es so entschieden wie wenige Punkte des Lebens Jesu voraussezt (A.G. 1, 22.); 2) weil, es zu erdichten, wenig Versuchung vorlag, da es Jesum unter den Täufer zu stellen scheinen konnte; haupt - sächlich aber 3) weil es den natürlichsten Anknüpfungs - punkt für eine Erklärung des messianischen Auftretens Jesu giebt. Wenn wir aus Einer und derselben Zeit zwei Männer haben, von welchen der eine die Nähe des Mes - siasreichs verkündigt, der andre später die Rolle des Mes - sias selbst übernimmt: so müſste auch ohne positive Nach - richten die Vermuthung entstehen, daſs beide in einer Be - ziehung zu einander gestanden haben, durch den Ersteren die Idee in dem Lezteren geweckt worden sei. War aber Jesus durch Johannes zu messianischen Ideen angeregt, doch, wie natürlich, für den Anfang nur so, daſs auch er der Ankunft des messianischen Individuums, als wel - ches er nicht am ersten Tage gleich sich selber wird er - kannt haben, erwartungsvoll entgegensah: so wird er sich auch der johanneischen Taufe unterzogen haben. Diese gieng sofort ohne alles Auffallende vor sich, und Jesus, keineswegs schon bei dieser Gelegenheit als der über dem Täufer Stehende angekündigt, mag, wie schon oben be - merkt, noch längere Zeit als Schüler desselben sich benom - men haben.

Sehen wir von hier vergleichend auf unsre vier evan - gelischen Berichte zurück: so verschwindet der Vorzug vollends ganz, welchen man neuerlich dem Berichte des vierten Evangeliums vor dem der übrigen einräumen wollte. Denn das allein Historische, die Taufe Jesu durch Johan - nes, erwähnt der bezeichnete Evangelist, einzig um das mythische Beiwerk bemüht, gar nicht, diese Nebenum - stände aber berichtet er in der That nur darin einfacher als die Synoptiker, daſs er von dem Sichöffnen des Him - mels nichts erwähnt; denn die göttliche Anrede fehlt, wenn391Zweites Kapitel. §. 48.wir nur recht zusehen, auch bei ihm nicht. Wenn es näm - lich 1, 33. heiſst: πέμψας με βαπτίζειν ἐκεῖνός μοι εἶπεν· ἐφ 'ὃν ἂν ϊδῃς τὸ πνεῦμα καταβαῖνον ου῟τός ἐςιν βαπτί - ζων ἐν πνεύματι ἁγίῳ: so haben wir hier nicht allein den - selben wesentlichen Inhalt mit der synoptischen Himmels - stimme, sondern auch ebenso einen göttlichen Ausspruch, nur daſs dieser hier ausschlieſsend dem Johannes und schon vor der Taufe Jesu zu Theil wird. Dieſs hieng aber genau mit dem Gewichte zusammen, welches der vierte Evange - list auf das Verhältniſs des Täufers zu Jesu legte, und welchem zufolge demselben bei seiner Berufung schon mit der Nähe des Messiasreiches auch die Kriterien des messianischen Individuums geoffenbart sein muſsten.

§. 48. Verhältniss des Übernatürlichen bei der Taufe Jesu zu dem Übernatürlichen bei seiner Erzeugung.

Wie im Eingang dieses Kapitels nach der subjektiven Absicht gefragt worden ist, welche Jesus bei Annahme der johanneischen Taufe haben konnte: so kann hier zum Schlusse dieser Materie nach dem objektiven Zwecke ge - fragt werden, welchem das Wunderbare bei Jesu Taufe dienen sollte? Die gewöhnliche Antwort ist: Jesus sollte dadurch in sein öffentliches Amt eingeführt und für den Messias erklärt werden1)Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 120., d. h. es sollte durch dasselbe ihm nicht noch etwas gegeben, sondern nur das, was er schon war, den Übrigen kund get[h]an werden. Es fragt sich aber, ob diese Abstraktion im Sinn unsrer Berichte ist? Eine unter göttlicher Mitwirkung vollzogene Einwei - hung in ein Amt betrachtete das Alterthum immer zugleich als eine Verleihung göttlicher Kräfte zu Führung dessel - ben; daher erfüllt im A. T. die Könige, sobald sie gesalbt sind, Gottes Geist (1. Sam. 10, 6. 10. 16, 13.), und auch392Zweiter Abschnitt.im N. T. werden die Apostel vor dem Antritt ihres Be - rufs mit höheren Kräften ausgerüstet (A.G. 2.). Hienach läſst sich zum Voraus vermuthen, daſs der ursprünglichen Tendenz der Evangelien zufolge mit der Weihe Jesu bei der Taufe zugleich eine Ausrüstung desselben mit höheren Kräften werde verbunden zu denken sein, und der An - blick unsrer Erzählungen bestätigt dieſs. Denn die synop - tischen bemerken alle, daſs nach der Taufe das πνεῦμα Jesum in die Wüste geführt habe, offenbar, um diesen Gang als die erste Wirkung des bei der Taufe empfange - nen höheren Princips zu bezeichnen; bei Johannes aber scheint das dem auf Jesum herabkommenden Geiste zuge - schriebene μένειν ἐπ 'αὐτ[]ν (1, 33.) anzudeuten, daſs von der Taufe an ein früher nicht stattgefundenes Verhältniſs des πνεῦμα ἅγιον zu Jesu eingetreten sei.

Diese Bedeutung des Wunderbaren bei Jesu Taufe scheint mit den Erzählungen von seiner Erzeugung im Wi - derspruch zu stehen. War Jesus nach Matthäus und Lu - kas durch den heiligen Geist erzeugt, oder war in ihm gar nach Johannes gleich von Anfang an der göttliche λόγος Fleisch geworden2)Dass diess der Sinn des Johannes sei, darüber vergl. Lücke S. 377 f.: wozu bedurfte er dann noch bei sei - ner Taufe einer besondern Ausrüstung mit dem πνεῦμα ἄγιον? Mehrere neuere Erklärer haben diese Schwierigkeit gefühlt und zu lösen gesucht. Was Olshausen darüber vorbringt3)Bibl. Comm. 1, S. 175 f., läuft auf den Unterschied des Potentiellen und Aktuellen hinaus, womit es aber sich selbst widerlegt. Ist nämlich der Charakter des Χ[ϱ]ιςὸς, welcher in Jesu mit erreichtem Mannesalter bei der Taufe actu hervortrat, schon in dem Kinde und Jüngling potentia vorhanden ge - wesen: so war damit auch ein Entwicklungstrieb gesezt, vermöge dessen jene Anlage sich von innen heraus allmäh -393Zweites Kapitel. §. 48.lig entfaltet haben und nicht erst durch das von aussen kommende πνεῦμα mit Einem Male geweckt worden sein wird. Hiedurch ist jedoch nicht ausgeschlossen, daſs das in Jesu als übernatürlich Erzeugtem von seiner Geburt an gesezte Göttliche nicht doch zugleich, vermöge der mensch - lichen Form seiner Entwicklung, der Anregung von aussen bedurft hätte, und von diesem Gegensatz innerer Entwick - lung und äusserer Anregung ist Lücke richtiger ausgegan - gen4)Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 378 f.. Der von Geburt an in Jesu vorhandene λόγος, meint er, habe bei allem Triebe von innen doch auch der Anregung und Belebung von aussen nöthig gehabt, um zur vollen Wirksamkeit und Manifestation in der Welt zu ge - langen; dasjenige aber, was die göttlichen Lebenskeime in der Welt anregt und leitet, sei nach apostolischer Vor - stellungsweise eben das πνεῦμα ἅγιον. Dieſs zugegeben, so stehen doch innere Anlage und erforderliche Stärke der äusseren Anregung in umgekehrtem Verhältniſs, so daſs, je stärkere Anregung erfordert wird, desto geringer die Anlage ist, bei absolut groſser Anlage aber, wie sie in dem durch das πνεῦμα erzeugten oder vom λόγος beseelten Jesus vorausgesezt werden muſs, die Anregung ein mini - mum sein darf, d. h. jeder gegebene Umstand, auch der gewöhnlichste, zur Anregung für den mächtigen Trieb wird. Sehen wir nun aber bei Jesu Taufe ein maximum äusse - ren Anstoſses in dem sichtbaren Herabkommen des göttli - chen Geistes gegeben: so kommt zwar das Einzige der mes - sianischen Aufgabe allerdings in Betracht, zu deren - sung er befähigt werden sollte, doch aber kann nicht zu - gleich jenes maximum der inneren Anlage zum υἱὸς ϑεοῦ als ein schon von seiner Geburt an in ihm vorhandenes vorausgesezt werden, eine Consequenz, welcher auch Lücke nur dadurch entgeht, daſs er die Scene bei Jesu Taufe hinterher doch wieder zur bloſsen Inauguration394Zweiter Abschnitt.herabsezt, womit er nach dem Obigen den evangelischen Berichten widerspricht.

Wir müssen also, wie oben bei den Geschlechtsregi - stern, so auch hier sagen: in demjenigen Kreise der ur - christlichen Gemeinde, in welchem die Erzählung von der Herabkunft des πνεῦμα auf Jesum bei seiner Taufe sich gebildet hat, kann die Vorstellung von einer Erzeugung Jesu durch dasselbe πνεῦμα nicht herrschend gewesen sein, sondern während man sich jezt das Göttliche Jesu schon in seiner Erzeugung mitgetheilt denkt, müssen jene Chri - sten erst die Taufe als den Zeitpunkt dieser Mittheilung angesehen haben. Wirklich sind nun diejenigen uralten Christen, welche wir oben als solche gefunden haben, die von einer übernatürlichen Erzeugung Jesu nichts wuſsten, oder nichts wissen wollten, zugleich auch diejenigen, wel - che die Mittheilung göttlicher Kräfte an Jesum erst an des - sen Taufe im Jordan gebunden dachten. Um keiner andern Lehre willen haben ja die orthodoxen Kirchenväter die al - ten Ebioniten5)Epiphan. haeres. 30, 14: ἐπ[ε]ιδὴ γὰρ βούλονται τὸν μὲν Ἰη - σοῦν ὄντως ἄνϑρωπον εἶναι, Χριςὸν δὲ ἐν αὐτῷ γεγενῆ - σϑαι τὸν ἐν εϊδει περιςερᾶς καταβεβηκότα κ. τ. λ. sammt ihrem gnostisirenden Glaubensge - nossen Cerinth6)Epiphan. haeres. 28, 1. grimmiger verfolgt, als weil sie behaup - teten, mit dem Menschen Jesus habe sich erst bei der Taufe der heilige Geist oder der himmlische Christus ver - einigt, wie denn im Evangelium der Ebioniten zu lesen war, daſs das πνεῦμα in Gestalt der Taube nicht blos auf Jesum herabgekommen, sondern in denselben hineingegan - gen sei7)Epiphan. haeres. 30, 13: περιςερᾶς κατελϑούσης καὶ εἰσελϑούσης εἰς αὐτόν. , und auch die gemeine jüdische Erwartung dem Justin zufolge die war, daſs erst bei der Salbung durch den Vorläufer Elias dem Messias höhere Kräfte werden mitgetheilt werden8)Dial. c. Tryph. 49..

395Zweites Kapitel. §. 48.

Es scheint der Entwicklungsgang dieser Vorstellungen folgender gewesen zu sein. Als man unter den Juden zu - erst anfieng, die messianische Würde Jesu anzuerkennen, glaubte man seine Ausrüstung mit den erforderlichen Ga - ben am schicklichsten an den Zeitpunkt zu knüpfen, von welchem an Jesus erst einigermaſsen bekannt geworden war, und welcher sich zugleich durch die in denselben fal - lende Ceremonie am besten zu einer solchen Salbung mit dem heiligen Geiste eignete, wie sie die Juden bei dem Messias erwarteten, und auf diesem Standpunkte bildete sich unsre Sage von den Vorgängen bei Jesu Taufe aus. Wie aber die Verehrung gegen Jesum stieg, und zugleich Männer in die christliche Gemeinde traten, welche mit - heren Messiasideen bekannt waren, genügte diese spät ent - standene Messianität Jesu nicht mehr, es wurde sein Ver - hältniſs zum πνεῦμα ἅγιον schon auf seine Empfängniſs zu - rückdatirt, und von diesem Standpunkt aus wurde die Sage von der übernatürlichen Erzeugung Jesu gebildet. Hier dürfte es auch gewesen sein, wo die Himmelsstimme, wel - che ursprünglich nach Ps. 2, 7. gelautet haben mag, nach Jes. 42, 1. umgestaltet wurde. Denn die Worte: σήμερον γεγ[έν]νηκά σε hatten zwar ihren angemessenen Sinn bei der Ansicht, daſs Jesus eben erst bei der Taufe zum υἱὸς ϑεοῦ gemacht, und mit den entsprechenden Kräften ausgestattet worden sei; aber sie paſsten nicht mehr zur Taufe Jesu, nachdem die Ansicht entstanden war, daſs schon sein er - ster Lebensanfang auf göttlicher Zeugung beruht habe. Durch diese spätere Vorstellung jedoch wurde die frühere keineswegs verdrängt, sondern, wie die Sage und der mit ihr auf gleichem Standpunkt stehende Schriftsteller weit - herzig ist, giengen beide Erzählungen, die von den Wun - dern bei Jesu Taufe und die von seiner wundervollen Er - zeugung oder der Einwohnung des λόγος in ihm von Le - bensanfang an, wiewohl sie sich eigentlich ausschlieſsen, friedlich neben einander her, und wurden so auch von un -396Zweiter Abschnitt.sern Evangelisten, dieſsmal selbst den vierten nicht ausge - nommen, beide aufgezeichnet. Ganz wie oben bei den Ge - nealogieen: entstehen konnte die Erzählung von der bei der Taufe geschehenen Geistesmittheilung nicht mehr, sobald die Vorstellung von der Erzeugung Jesu durch das πνεῦμα ausgebildet war; aber nachgeführt werden neben dieser konnte sie noch immer, weil die Sage nicht gerne etwas von den einmal gewonnenen Schätzen verlieren mag.

§. 49. Ort und Zeit der Versuchung Jesu. Abweichungen der Evan - gelisten in Darstellung derselben.

Der Übergang von der Taufe zur Versuchung Jesu, wie ihn die Synoptiker machen (Matth. 4, 1. Marc. 1, 12. Luc. 4, 1.), hat in Bezug sowohl auf die Ortsbezeichnung als die Zeitbestimmung Schwierigkeit.

Was die erstere betrifft, so fällt es auf, daſs sämmtli - chen Synoptikern zufolge Jesus nach seiner Taufe zum Be - huf der Versuchung εἰς τὴν ἔρημον soll geführt worden sein, als ob er nicht schon zuvor in der ἔρημος gewesen wäre, da doch nach Matth. 3, 1. Johannes, von welchem er sich taufen lieſs, daselbst sich aufhielt. Diesen anscheinenden Widerspruch hat die neueste Kritik des Matthäusevange - liums hervorgehoben, um die Angabe desselben, daſs der Täufer in der Wüste gewirkt habe, als eine irrige darzu - stellen1)Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kanonischen Evang. S. 39.. Wer jedoch aus früher dargelegten Gründen die - se Angabe zu verwerfen sich nicht entschlieſsen mag, der kann sich auch hier entweder durch die Annahme helfer, daſs Johannes seine ersten Vorträge zwar in der judäischen Wüste gehalten, sofort aber zum Behuf des Taufens aus derselben hinweg an den Jordan sich begeben habe; oder wenn man auch das Jordanufer noch zu jener Wüste ge -397Zweites Kapitel. §. 49.rechnet sich denkt, durch die Voraussetzung, die Evange - listen hätten zwar eigentlich nur sagen müssen, von der Taufe weg habe Jesum der Geist tiefer in die Wüste hin - eingeführt, diese nähere Bestimmung haben sie jedoch weg - gelassen, weil der Gedanke, daſs die Wüste schon das Lo - kal der Predigt und Taufe des Johannes gewesen, durch die Schilderung der Scene bei Jesu Taufe in ihrer Vor - stellung zurückgetreten war.

Aber noch störender kommt hier eine chronologische Schwierigkeit in den Weg. Während nämlich nach den Synoptikern Jesus in frischer Fülle des ihm am Jordan mit - getheilten πνεῦμα, mithin unmittelbar von der Taufe weg, sich auf 40 Tage in die Wüste begiebt, wo die Versuchung erfolgt, und hierauf erst nach Galiläa zurückkehrt: so scheint dagegen Johannes, der von der Versuchung schweigt, zwischen der Taufe und der galiläischen Reise Jesu nur eine Zwischenzeit von wenigen Tagen zu statuiren, in wel - cher jener vierzigtägige Aufenthalt in der Wüste keinen Plaz finden kann. Das vierte Evangelium beginnt nämlich seine Erzählung mit dem Zeugniſs, welches der Täufer vor den Gesandten des Synedriums ablegt (1, 19 ff. ); den Tag darauf (τῇ ἐπαύριον) läſst es denselben beim Anblick Jesu die nach den Synoptikern bei dessen Taufe erfolgte Scene erzählen (V. 29 ff. ); wieder τῇ ἐπαύριον veranlaſst der Täu - fer zwei seiner Schüler, Jesu nachzufolgen (V. 35 ff. ); abermals τῇ ἐπαύριον (V. 44.), wie Jesus nach Galiläa zu reisen im Begriff steht, kommen Philippus und Nathanaël zu ihm, und endlich τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ (2, 1.) ist Jesus auf der Hochzeit zu Kana in Galiläa. Zunächst liegt hier die Annahme, daſs eben vor der Erzählung, welche Jo - hannes von dem bei der Taufe Jesu Vorgefallenen macht, diese selbst stattgefunden, und da den Synoptikern zufolge unmittelbar mit der Taufe die Versuchung zusammenhing, auch diese sammt der Taufe zwischen V. 28 und 29. zu setzen sei, wie dieſs schon Euthymius angenommen hat. 398Zweiter Abschnitt.Da nun aber zwischen dem bis V. 28. Erzählten und dem von V. 29. an Folgenden nur die Zwischenzeit eines ἐπαύριον gesetzt ist, die Versuchung aber einen Zeitraum von 40 Ta - gen erfordert: so glaubten die Ausleger dem ἐπαύριον den weiteren Sinn von ὕςερον geben zu müssen, was jedoch schon deſswegen unzulässig ist, weil im Zusammenhang mit jenem Worte hier τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ vorkommt, im Un - terschied von welchem ἐπαύριον nur den zweiten, unmittel - bar folgenden Tag bedeuten kann2)s. Lücke, a. a. O. S. 343.. Daher könnte man mit Kuinöl3)Comm. in Joh. z. d. St. sich versucht finden, Taufe und Versuchung zu trennen, und jene zwar nach V. 28. zu setzen, das Tags darauf erfolgte Zusammentreffen Jesu mit Johannes aber (V. 29.) als einen dem Letzteren vom Ersteren gemach - ten Abschiedsbesuch anzusehen, und nach diesem erst den Gang in die Wüste und die Versuchung einzufügen. Allein, auch abgesehen davon, daſs die drei ersten Evangelisten zwischen der Taufe Jesu und seinem Abgang in die - ste auch eine solche Zwischenzeit von nur Einem Tage nicht zuzulassen scheinen, so weiſs man auch später ebensowe - nig, wo man jene 40 Tage unterbringen soll. Denn zwi - schen diesen seinsollenden Abschiedsbesuch und die Hin - weisung zweier Jünger zu Jesus, d. h. zwischen V. 34 und 35., wie Kuinöl will, kann jener Aufenthalt ebensowenig gesetzt werden, wie zwischen V. 28 und 29, da jene Verse so gut wie diese durch τῇ ἐπαύριον verbunden sind. Man müſste daher noch weiter herabsteigen und es zwischen V. 43 und 44. versuchen; aber auch hier ist nur die Zwi - schenzeit eines ἐπαύριον, und selbst 2, 1. nur eine ἡμέρα τρίτη: so daſs man, auf diesem Wege fortgehend, die Ver - suchung am Ende in den galiläischen Aufenthalt Jesu hin - einbrächte, ganz gegen die Darstellung der Synoptiker, ne - ben dem, daſs man sie, in einem weiteren Widerspruch399Zweites Kapitel. §. 49.gegen dieselben, immer mehr von der Taufe entfernen wür - de. Wenn also auf diese Weise weder bei noch unterhalb des V. 29. sich die Spalte findet, in welche sich der vier - zigtägige Aufenthalt Jesu in der Wüste mit der Versuchung einschieben lieſse: so muſs man es mit Lücke4)S. 344. u. A. ober - halb jener Stelle versuchen, und dieſs wäre nur vor V. 19. möglich, wo sich insofern einschieben läſst, so viel man will, als hier erst das vierte Evangelium seine Geschichts - erzählung anfängt. Zwar ist nun auch das von da an bis V. 28. Folgende nicht von der Art, daſs es die Taufe und Versuchung Jesu als schon früher geschehen, geradezu aus - schlösse: doch bleibt immer unwahrscheinlich, daſs der vierte Evangelist die den übrigen so wichtige Versuchungs - geschichte blos zufällig übergangen haben sollte. Sondern entweder war sie ihm dogmatisch anstössig, so daſs er sie absichtlich weggelassen hat; oder sie war in dem Überlie - ferungskreise, aus welchem er schöpfte, gar nicht vor - handen.

Stehend ist bei allen drei Synoptikern die Zeitbestim - mung von 40 Tagen für Jesu Aufenthalt in der Wüste: aber hieran knüpft sich sogleich die nicht unerhebliche Ab - weichung, daſs dem Matthäus zufolge die Versuchung des Teufels erst nach Ablauf der 40 Tage eingetreten, den übri - gen zufolge auch schon während dieses Zeitraums vor sich gegangen zu sein scheint; denn des Markus ἦν-ἐν τῇ ἐρήμῳ ἡμέρας τεσσαράκοντα πειραζόμενος ὑπὸ τοῦ σατανᾶ (1, 13.) und die ähnliche Wendung bei Lukas (4, 1. 2. ) kann nichts anders als dieſs aussagen. Wozu noch zwischen den beiden zulezt ge - nannten Evangelisten die Differenz kommt, daſs bei Markus das Versuchtwerden rein nur in die Dauer der 40 Tage verlegt ist, ohne daſs die einzelnen Versuchungsakte, wel - che dem Matthäus zufolge nach jenen 40 Tagen fielen, namhaft gemacht wären; bei Lukas dagegen Beides, so -400Zweiter Abschnitt.wohl das durch die 40 Tage hindurchgehende πειράζεσϑαι im Allgemeinen erwähnt, als auch die nachher erfolgten drei einzelnen πειρασμοὶ herausgehoben sind5)Fritzsche, Comm. in Marc. S. 23.. Dieſs hat man durch die Annahme ausgleichen zu können geglaubt, daſs der Teufel Jesum sowohl während der 40 Tage, wie Markus sagt, als auch insbesondre noch nach Abfluſs der - selben, so wie Matthäus berichtet, versucht habe, was beides von Lukas zusammengefaſst sei6)Kuinöl, Comm. in Luc. S. 379., und diese bei - derlei Versuchungen hat man wohl auch so unterschieden, daſs die nicht näher bezeichneten, während der 40 Tage vorgefallenen, unsichtbare und solche gewesen seien, wie sie der Teufel auch sonst gegen die Menschen unternehme, wogegen er, als ihm diese fehlgeschlagen, am Ende der 40 Tage persönlich und sichtbar hervorgetreten sei7)Lightfoot, horae, p. 243.. Al - lein, wenn die leztere Unterscheidung offenbar aus der Luft gegriffen ist, so begreift man nicht, warum Lukas von den vielen Versuchungen der 40 Tage keine einzige, sondern nur die drei nach denselben vorgefallenen, über - einstimmend mit Matthäus namhaft macht. Man könnte daher auf die Vermuthung gerathen, die drei von Lukas erzählten Versuchungen seien nicht erst nach den 6 Wo - chen eingetreten, sondern von den vielen in diesen Zeit - raum selbst gehörigen führe er nur beispielsweise drei an, was dann Matthäus dahin miſsverstanden habe, als wären sie nach jenen 6 Wochen erst eingetreten8)Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kan. Evang. S. 46.. Allein die Aufforderung, Steine in Brot zu verwandeln, muſs doch jedenfalls an das Ende dieses Zeitraums gestellt werden, da sie ja durch den aus dem 40tägigen Fasten entstandenen Hunger Jesu, (ein Moment, welches nur bei Markus fehlt,) motivirt ist. Nun aber ist dieſs auch bei Lukas die erste401Zweites Kapitel. §. 49.Versuchung, und wenn diese schon an das Ende der 40 Tage fällt, so können die folgenden nicht früher fallen; denn das geht doch nicht an, zu sagen, weil die einzelnen Versu - chungen bei Lukas nicht wie bei Matthäus durch τότε und παλι[ν], sondern nur durch καὶ aneinandergereiht seien, so habe man sich an ihre Ordnung nicht zu binden, sondern gar wohl könne im Sinne des dritten Evangelisten die zweite und dritte vor der zuerst erwähnten sich zugetragen ha - ben. Bleibt demnach bei Lukas das Ungeschickte, daſs er Jesum 40 Tage vom Teufel versucht werden läſst, aus die - ser langen Zeit aber keine Versuchung namhaft zu machen weiſs, sondern nur etliche nachmals eingetretene: so wird man hienach wenig geneigt sein, mit der neuesten Kritik des Matthäusevangeliums bei Lukas die ursprüngliche, bei Matthäus dagegen die abgeleitete und getrübte Erzählung zu finden9)Ders. ebendas.. Sondern indem die Versuchungsgeschichte bald unbestimmt erzählt und dann das πειράζεσϑαι über - haupt in die 40 Tage verlegt wurde, wie Markus die Sa - che wiedergiebt, bald aber mit Anführung der bestimmten Fälle, wobei dann der zum Motiv des ersten gewählte Hunger die Stellung nach dem 40tägigen Fasten erheisch - te, wie wir es bei Matthäus finden: so hat nun Lukas die offenbar secundäre Darstellung, beides auf eine kaum er - trägliche Weise zusammenzufassen, und nach dem unbe - stimmten 40tägigen Versuchtwerden zum Überfluſs auch noch das bestimmte, spätere zu stellen. Damit soll keines - wegs gesagt werden, daſs Lukas erst nach Markus und in Abhängigkeit von ihm geschrieben habe, sondern wenn auch umgekehrt Markus hier aus Lukas schöpfte, so nahm er sich nur den ersten Theil von dessen Darstellung, das Unbestimmte, heraus, indem er statt der weiteren Angabe einzelner Versuchungen einen eigenthümlichen Zug in Be - reitschaft hatte, daſs nämlich Jesus während seines Auf - enthalts in der Wüste μετα τῶν ϑηρίων gewesen sei.

Das Leben Jesu I. Band. 26402Zweiter Abschnitt.

Was Markus mit den Thieren will, ist schwer zu sa - gen. Die meisten Erklärer meinen, er wolle das schau - derhafte Bild der Wüste dadurch vollenden10)So schon Euthymius, jetzt Kuinöl u. A. z. d. St.; doch ist nicht ohne Grund hiegegen erinnert worden, daſs dann der Zusatz enger mit dem ἦν ἐν τῇ ἐρήμῳ verbunden und nicht erst nach dem πειραζόμ[ε]νος gestellt sein müſste11)Fritzsche z. d. St.. Usteri hat die Vermuthung geäussert, ob nicht vielleicht durch diesen Zug Christus als Antitypus von Adam darge - stellt werden solle, welcher auch im Paradies in einem eigenthümlichen Verhältniſs zu den Thieren gestanden ha - be12)Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull - mann's und Umbreit's Studien, 1834, 4, S. 789., und Olshausen hat diesen mystischen Zug begierig aufgegriffen13)Bibl. Comm. 1, S. 192.; doch auch diese Deutung findet zu wenig Hülfe in dem Zusammenhang. Wenn Schleiermacher die - sen Zug als einen abenteuerlichen bezeichnet14)Über den Lukas, S. 56., so meint er dieſs doch ohne Zweifel so, daſs durch denselben Mar - kus, wie auch sonst öfters durch übertreibende Züge, an die Weise der apokryphischen Evangelien streife, von deren willkührlichen Dichtungen wir nicht selten keinen Anlaſs und Zweck mehr angeben können, und so müssen wir uns wohl auch hier vor der Hand bescheiden, in den Sinn dieser Angabe des Markus eindringen zu wollen.

In Bezug auf die Differenz zwischen Matthäus und Lu - kas in der Anordnung der einzelnen Versuchungen wird es wohl gleichfalls bei demjenigen sein Bewenden haben, was Schleiermacher zur Erklärung und Beurtheilung die - ser Abweichung gesagt hat15)Ebendas. S. 55 f., daſs nämlich die Ordnung des Matthäus als die ursprüngliche erscheine, weil sie nach403Zweites Kapitel. §. 50.der Hauptrücksicht auf das Gewicht der Versuchungen ge - macht sei, in welcher Beziehung die Aufforderung zur An - betung, mit welcher Matthäus schlieſst, als die stärkste Versuchung sich verhalte; wogegen die Anordnung des Lu - kas einer späteren, nicht sehr glücklichen Umstellung ähn - lich sehe, welche von der dem ursprünglichen Sinn der Erzählung fremden Rücksicht ausgehe, daſs Jesus mit dem Teufel wohl eher aus der Wüste auf den nahe gelegenen Berg und von da nach Jerusalem werde gegangen sein, als aus der Wüste in die Stadt, und von da wieder in das Gebirge zurück16)Doch vergl. Schneckenburger, über den Ursprung u. s. w. S. 46 f..

Während die beiden ersten Evangelisten damit schlies - sen, daſs sie zur Bedienung Jesu Engel erscheinen lassen, ist dem Lukas der Schluſs eigen, der Teufel sei von Jesu abgestanden άχρι καιροῦ (V. 13.), wodurch, wie es scheint, namentlich das Leiden Jesu als eine weitere Anfechtung des Teufels voraus bezeichnet werden soll, eine Bezeich - nung, welche übrigens unten bei Lukas nicht wieder auf - genommen, wohl aber bei Johannes, 14, 30, angedeutet ist.

§. 50. Die Versuchungsgeschichte im Sinne der Evangelisten aufgefasst.

Nicht leicht ist einer evangelischen Perikope eine fleis - sigere Bearbeitung zu Theil geworden, als der gegenwär - tigen, und nicht leicht hat eine so vollständig den Kreis aller möglichen Auffassungen durchlaufen. Denn die per - sönliche Teufelserscheinung, welche sie zu enthalten scheint, war ein Stachel, welcher die Erklärer bei der sich zuerst bietenden Deutung nicht ruhen lieſs, sondern sie rastlos immer weiter zu andern und wieder andern Versuchen fort - trieb. Die hiemit sich bildende Reihe verschiedener Erklä - rungsversuche lud zu beurtheilenden Zusammenstellungen26*404Zweiter Abschnitt.ein, unter welchen in den von K. Ch. L. Schmidt1)Exegetische Beiträge, 1, S. 277 ff., von Fritzsche2)Comm. in Matth. S. 172 ff. und Usteri3)In der angef. Abhandlung, von S. 768 an. gegebenen die Untersuchung wirklich als zu ihrem Ziele geführt erscheint.

Die erste Auffassung, welche sich der unbefangenen Betrachtung des Textes bietet, ist die, daſs Jesus von dem bei der Taufe empfangenen göttlichen Geist in die Wüste geführt worden sei, um eine Versuchung des Teufels zu bestehen, welcher ihm sofort persönlich und sichtbarlich erschienen sei, und auf verschiedene Weise, an verschie - denen Orten, zu welchen er ihn hinführte, seine Versu - chungen mit ihm vorgenommen habe, nach deren siegrei - cher Abwehr von Seiten Jesu der Teufel ihn verlassen und Engel erschienen seien, ihm zu dienen. Indeſs, so einfach sich dieſs exegetisch als Sinn der Erzählung ergiebt, so thun sich doch, sobald sie nun als Geschichte angesehen werden soll, in allen Theilen derselben Schwierigkeiten hervor.

Wenn, um gleich vorne anzufangen, der göttliche Geist Jesum in der Absicht in die Wüste führte, um ihn daselbst versuchen zu lassen, wie dieſs Matthäus in den Worten: ἀνήχϑη εἰς τὴν ἔρημον ὑπὸ τοῦ πνεύματος, πειρασϑῆναι (4, 1.) ausdrücklich sagt: wozu sollte diese Versuchung dienen? Ei - nen stellvertretenden, erlösenden Werth derselben wird man doch wohl nicht behaupten wollen, so wenig als daſs Gott erst nöthig gehabt hätte, Jesum auf eine Probe zu stellen; sollte aber durch dieselbe Jesus uns gleich und nach Hebr. 4, 15. in allen Dingen versucht werden wie wir: so wurde ihm ja der Prüfungen vollestes Maaſs in seinem folgenden Leben zu Theil, und durch eine Versu - chung des persönlich erscheinenden Teufels wäre er uns405Zweites Kapitel. §. 50.Übrigen vielmehr ungleich geworden, die wir von derglei - chen Erscheinungen verschont bleiben.

Auch mit dem 40tätigen Fasten ist es etwas Eigenes. Man begreift nicht, wie Jesus nach 6wöchiger Enthaltung von aller Nahrung noch hungern konnte und nicht schon längst verhungert war, da für gewöhnlich die menschliche Natur nicht Eine Woche völlige Nahrungslosigkeit ertra - gen kann. Freilich trösten sich die Ausleger damit, die ημέραι τεσσαράκοντα seien eine runde Zahl, das νηςευσας bei Matthäus aber und selbst das οὺκ [φ]αγεν οὐδὲν bei Lukas sei nicht so streng zu nehmen und bezeichne nicht Enthal - tung von allen, sondern nur von den gewöhnlichen Spei - sen, so daſs der Genuſs von Wurzeln und Kräutern da - durch nicht ausgeschlossen werde4)So z. B. Kuinöl, Comm. in Matth. p. 84. Vergl. Gratz, Comm. zum Matth., 1, S. 229.. Aber von den 40 Tagen kann man in keinem Falle so viel abziehen, als - thig wäre, um ein so langes Fasten denkbar zu finden, und was dieses selbst betrifft, so hat Fritzsche evident ge - zeigt5)Comm. in Matth. p. 157 f., und auch Olshausen giebt es zu6)Bibl. Comm. 1, S. 187 f., daſs nament - lich wegen der Parallele mit dem ebenso langen Fasten des Moses (2. Mos. 34, 28. 5. Mos. 9, 9. 18. ) und des Elias (1. Kön. 19, 8.), von deren Ersterem es heiſst: er aſs kein Brot und trank kein Wasser, vom Lezteren aber, er sei durch die Kraft einer vor der Abreise genossenen Speise 40 Tage lang gegangen, auch hier an nichts Gerin - geres, als an gänzliche Enthaltung von aller Nahrung zu denken ist. Eine solche aber ist nicht allein rücksichtlich der Möglichkeit, sondern auch der Zweckmäſsigkeit schwie - rig. Dem Zusammenhang nach muſs das Fasten von Jesu auf Antrieb desselben πνεῦμα übernommen gewesen sein, welches ihn zu dem Gang in die Wüste veranlaſst hatte,406Zweiter Abschnitt.und nunmehr zu einer heiligen Übung aufmunterte, durch welche auch die Gottesmänner des alten Bundes sich ge - läutert und göttlicher Anschauungen würdig gemacht hat - ten. Jenem πνεῦμα aber konnte nicht verborgen sein, daſs gerade an diesem Fasten der Satan Jesum ergreifen und den dadurch hervorgerufenen Hunger zum Fürsprecher sei - ner Versuchung werde nehmen wollen. Und war nun in diesem Falle das Fasten nicht eine Art von Herausforde - rung des Satans, eine Vermessenheit, wie sie auch dem seiner selbst Gewissesten übel ansteht7)Usteri, über den Täufer Johannes, die Taufe und Versuchung Christi. In Ullmann's und Umbreit's theol. Studien und Kri - tiken, zweiten Jahrgangs (1829) drittes Heft, S. 450.?

Nun aber der persönlich erscheinende Teufel mit sei - nen Versuchungen ist der eigentliche Stein des Anstoſses in der vorliegenden Erzählung. Wenn es auch einen per - sönlichen Teufel geben sollte, sagt man, so kann er doch nicht sichtbar erscheinen, und wenn auch dieſs, so wird er sich schwerlich so benehmen, wie er sich nach unsrer Erzählung benommen haben müſste. Indeſs, schon mit der Existenz des Teufels verhält es sich wie mit der der En - gel, daſs selbst der Offenbarungsglaubige an derselben aus dem Grunde irre werden kann, weil diese Vorstellung nicht rein auf dem Boden des Offenbarungsvolks gewachsen, son - dern im Exil aus profanen Gebieten herüberverpflanzt wor - den ist8)de Wette, bibl. Dogmatik, §. 171; Gramberg, Grundzüge ei - ner Engellehre des A. T. s, §. 5. In Winer's Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, 1. Bd. S. 182 ff.. Ohnehin aber für diejenigen unter den Zeitge - nossen, welche sich der Bildung des Jahrhunderts nicht verschlossen haben, ist die Existenz eines Teufels im höch - sten Grade zweifelhaft geworden. Auch in Bezug auf diese wie auf die Engelvorstellung kann als Interpret der neue - ren Bildung Schleiermacher gelten, wenn er auf der einen407Zweites Kapitel. §. 50.Seite zeigt, daſs die Vorstellung eines Wesens, wie der Teu - fel eines sein müſste, aus Widersprüchen zusammengesezt ist, auf der andern bemerklich macht, daſs, wie die En - gelvorstellung aus beschränkter Naturbeobachtung, so sie aus beschränkter Selbstbeobachtung entstanden, mit den Fortschritten von dieser immer mehr in den Hintergrund treten und die Berufung auf den Teufel hinfort als Aus - flucht der Unwissenheit oder Trägheit gelten muſs9)Glaubenslehre 1, §§. 44. 45. der zweiten Ausg.. Aber auch die Existenz des Teufels zugegeben, so hat doch ein persönliches und sichtbares Erscheinen desselben, wie es hier vorausgesezt wird, noch seine besonderen Schwierig - keiten. Selbst Olshausen erinnert, daſs ein solches sonst weder im alten noch im neuen Testament vorkomme10)Bibl. Comm. 1, S. 183.. Ferner, wenn doch der Teufel, um hoffen zu können, Je - sum zu täuschen, nicht in seiner eigenthümlichen Gestalt, sondern nur entweder als Mensch, oder als guter Engel erscheinen durfte: so fragt man mit Recht, ob denn die Stelle 2. Kor. 11, 14, nach welcher σατανᾶς μετασχημα - τὶζεται εἰς ἂγγελον φωτὸς, buchstäblich zu verstehen sei, und wenn dieſs, ob diese abenteuerliche Vorstellung in - nere Wahrheit haben könne? 11)s. Schmidt, exeg. Beiträge, 1, S. 279. Kuinöl, in Matth. S. 76.

Was nun die Versuchungen betrifft, so hat im Allge - meinen schon Julian gefragt, wie denn der Teufel habe hoffen können, Jesum zu verführen, da er doch seine - here Natur gekannt haben müsse12)In einem Fragment Theodors von Mopsvestia, in Münter's Fragm. Patr. graec. Fasc. 1, S. 99 f.? und Theodors von Mopsvestia Antwort darauf, daſs dem Teufel Jesu Gött - lichkeit damals noch unbekannt gewesen sei, widerlegt sich leicht durch die Bemerkung, wenn er nicht damals schon in Jesu ein höheres Wesen gesehen hätte, würde er sich schwerlich die Mühe gegeben haben, ihm ausnahmsweise408Zweiter Abschnitt.persönlich zu erscheinen. In Bezug auf die einzelnen Versuchungen wird man dem Kanon seinen Beifall nicht versagen können, daſs, um glaubwürdig zu erscheinen, die Erzählung dem Teufel nichts seiner vorauszusetzenden Klug - heit widersprechendes zuschreiben dürfte13)Paulus, a. a. O. S. 376.. Nun ist al - lerdings die erste Versuchung durch den Hunger nicht so übel motivirt; schlug diese bei Jesu nicht an, so muſste der Teufel als kluger Taktiker eine noch lockendere Ver - suchung bereit haben: statt dessen aber finden wir nun (bei Matthäus) den Vorschlag zu dem halsbrechenden Un - ternehmen, sich von der Tempelzinne herabzustürzen, wor - nach es den, welcher die Steinverwandlung ausgeschlagen, noch weniger gelüsten konnte, und als auch dieser Vor - schlag keinen Anklang gefunden, folgt zum Schlusse (bei Lukas ist dieſs die zweite, die zuvorgenannte die dritte Versuchung) eine Zumuthung, welche jeder fromme Israë - lit ungesäumt mit Abscheu zurückweisen muſste, den Teu - fel fuſsfällig zu verehren. Eine so ungeschickte Auswahl und Anordnung der Versuchungen hat die meisten neue - ren Erklärer bedenklich gemacht14)s. besonders Schmidt a. a. O..

Da die drei Versuchungen an drei verschiedenen, selbst entlegenen Orten vorfallen, so fragt es sich, wie Je - sus mit dem Teufel von einem zum andern gekommen sei? Diese Ortsveränderung haben selbst Orthodoxe ganz natür - lich zugehen lassen, indem sie annahmen, Jesus sei ohne - hin auf der Reise gewesen und der Teufel ihm nachge - folgt15)Hess, Geschichte Jesu, 1, 124.. Allein die Ausdrücke: παραλαμβάνει αὐτὸν διάβολος bei Matthäus, ἀναγαγὼν und ἤγαγε bei Lukas, deuten unverkennbar auf eine vom Teufel eigens veranlaſste Ortsveränderung, und da ohnehin der Zug bei Lukas (V, 5.), der Teufel habe Jesu alle Reiche der Welt ἐν ςιγμῇ χρόνου409Zweites Kapitel. §. 50.gezeigt, auf etwas Zauberhaftes in der Sache hinweist: so ist ohne Zweifel an magische Versetzungen zu denken, wie A.G. 8, 39. dem πνεῡμα Κυρ[ί]ου ein solches ἁρπάζειν zu - geschrieben ist. Hier fand man es nun aber schon früh - zeitig mit der Würde Jesu unvereinbar, daſs der Teufel auf diese Weise eine magische Gewalt über ihn geübt und ihn in der Luft mit sich herumgeführt haben solle16)s. den Verf. der Rede de jejunio et tentationibus Christi un - ter den Werken Cyprians., und nur derjenige wird diesen Zug natürlich finden, dem auch das persönliche Erscheinen des Teufels nicht zu aben - teuerlich ist. Das Unglaubliche häuft sich, wenn man be - denkt, welches Aufsehen es gemacht haben müſste, Jesum (sein Begleiter mag sich hier etwa unsichtbar gemacht ha - ben) auf dem Tempeldach erscheinen zu sehen, falls es sich auch nicht beweisen läſst, daſs auf dasselbe sich zu stellen, wegen der vergoldeten Spieſse, mit welchen es be - sezt war, unmöglich17)Joseph. b. j. 5, 5, 6. 6, 5, 1., oder doch dem Laien unerlaubt gewesen sei18)s. bei Fritzsche, in Matth. S. 164., wovon übrigens das Leztere nicht unwahr - scheinlich ist. Die lezte Versuchung betreffend, ist die Frage allbekannt, wo denn der Berg sei, von welchem man alle Reiche der Welt übersehen könne? und wenn die Auskunft, daſs unter κόσμος hier nur Palästina und unter den βασιλείαις dessen einzelne Gebiete und Tetrarchien verstanden seien19)Kuinöl, in Matth. S. 90., kaum minder lächerlich ist, als die, der Teufel habe Jesu die Welt auf einer Karte gezeigt20)angeführt bei Fritzsche, p. 168.: so bleibt keine Antwort übrig, als, ein solcher Berg exi - stire nur in der alterthümlichen Vorstellung von der Erde als einer Fläche einerseits und andrerseits in der volks - thümlichen Phantasie, welche leicht einen Berg bis in den410Zweiter Abschnitt.Himmel hinein erhöhen und ein Auge in's Unendliche schär - fen kann.

Endlich auch der lezte Zug der Erzählung, daſs, nach - dem der Teufel mit der Versuchung zu Ende war, Engel zu Jesu gekommen seien und ihn bedient haben, ist, auch abgesehen von dem oben besprochenen Zweifel an der Exi - stenz solcher Wesen, von Anstoſs nicht frei. Denn das διηκόνουν kann doch keine andere Art von Bedienung bedeu - ten, als die Darreichung von Nahrungsmitteln, wie nicht allein der Zusammenhang, welchen zufolge Jesus nach langem Hungern eben eine solche Bedienung nöthig hatte, sondern auch die Vergleichung mit 1. Kön. 19, 5. zeigt, wo dem Elias ein Engel Speise bringt. Dann aber ist beides gleich unwahrscheinlich, was man möglicherweise annehmen könn - te, daſs entweder ätherische Wesen, wie Engel, irdische, materielle Speisen dahergetragen haben, oder daſs Jesu menschlicher Leib mit himmlischen Substanzen, wenn es solche giebt, gestärkt worden sei.

§. 51. Die Versuchung als innerer, oder als äusserer natürlicher Vor - gang; dieselbe als Parabel.

Das Undenkbare jener plözlichen Entrückungen Je - su auf den Tempel und Berg hat schon einige der alten Erklärer auf die Ansicht gebracht, daſs wenigstens die Lo - kale der zweiten und dritten Versuchung nicht leiblich und äusserlich, sondern blos im Gesichte Jesu gegenwärtig gewesen seien1)Theodor von Mopsvestia a. a. O. S. 107. behauptete gegen Julian, φαντασίαν ὂρους τὸν διάβολον πεποιηκέναι, und nach dem Verfasser des schon angeführten Sermo de jejunio et tentationibus Christi gieng die erste Versuchung zwar lo - caliter in deserto vor, auf dem Tempel und Berg aber war Jesus nur so, wie Ezechiel vom Chaboras aus zu Jerusalem, nämlich in spiritu.; wogegen die Neueren, welchen überhaupt411Zweites Kapitel. §. 51.die äusserlich sichtbare Teufelserscheinung anstöſsig war, die ganze Verhandlung mit demselben gleich von Anfang in das Innere der Seele Jesu hineinverlegten. Dabei fas - sen sie entweder auch das 40tägige Fasten als bloſs innere Vorstellung auf2)Paulus, S. 379., was aber wegen der ganz historisch lautenden Angabe: νηςεύσας ἡμέρας τεσσαράκοντα ὕςερον ἐπείνασε die unerlaubteste Willkühr ist, oder man nimmt es als wirkliche Thatsache, wobei dann für diesen Zug die im vorigen §. erwähnten nicht geringen Schwierigkeiten stehen bleiben. Jenes innere Anschauen und Vorstellen der Versuchungen verlegen die Einen in einen Zustand eksta - tischer Vision, für welche man den übernatürlichen Ur - sprung beibehalten und sie entweder von Gott3)So H. Farmer, bei Gratz, Comm. zum Ev. Matth. 1, S. 217., oder von der Einwirkung des Reichs der Finsterniſs4)Olshausen, a. a. O. 1, S. 184. ableiten kann; Andre fassen die Vision mehr als traumartig und suchen demgemäſs einen natürlichen Grund für dieselbe in den Ge - danken, mit welchen Jesus wachend umgegangen war5)Paulus, a. a. O. S. 377 ff.. In der erhöhten Stimmung, so wird hier die Sache vorge - stellt, in welcher sich Jesus noch von der Scene bei sei - ner Taufe her befand, durchdenkt er in der Einsamkeit noch einmal seinen messianischen Plan und hält sich neben den wahren Mitteln zu dessen Ausführung auch die mög - lichen Gegensätze vor: Übertreibung des Wunderglaubens und Herrschsucht, durch welche der Mensch nach jüdischer Denkart aus einem Rüstzeug Gottes ein Vollstrecker der Plane des Teufels wurde. Indem er sich solchen Gedan - ken überläſst, unterliegt sein feinorganisirter Körper der Anspannung, und versinkt auf einige Zeit in tiefe Er - mattung und hierauf in einen traumartigen Zustand, in412Zweiter Abschnitt.welchem sein Geist die vorigen Gedanken unwissend in redende und handelnde Gestalten umschafft.

Für diese Verlegung des ganzen Vorgangs in das In - nere Jesu glauben die Erklärer einige Züge der evangeli - schen Erzählung selbst anführen zu können. Das ἀνήχϑη εἰς τὴν ἔρημον ὑπὸ τοῦ πνεύματος bei Matthäus, noch mehr das ἤγετο ἐν τῷ πνεύματι bei Lukas sei doch ganz entspre - chend den Formeln: ἐγενόμην ἐν πνεύματι, Offenb. 1, 10., ἀπήνεγκέ με εἰς ἔρημον ἐν πνεύματι, ebend. 17,3., und ähnli - chen bei Ezechiel; da nun in diesen Stellen nur von in - nerer Anschauung die Rede sei, so könne auch in der uns - rigen kein äusserer Vorgang gemeint sein6)Paulus, a. a. O., vergl. Kuinöl, in Matth. p. 77.. Allein mit Grund hat man dagegen bemerkt7)Fritzsche, in Matth. 155 f. Usteri, Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, a. a. O. S. 774 f., daſs jene Formeln für sich beides bedeuten können: vom göttlichen Geist äusser - lich und wirklich wohin versezt werden, wie A. G. 8, 39. 2. K. 2, 16; oder nur innerlich und visionär, wie in den angeführten Stellen der Apokalypse, und daſs zwischen bei - den möglichen Deutungen der Zusammenhang entscheiden müsse. Dieser entscheide nun allerdings in einem durch und durch visionären Buche, wie die Apokalypse und Eze - chiel, für einen blos inneren Vorgang; in einem geschicht - lichen Werke aber, wie unsere Evangelien, für einen äus - seren. Träume ohnehin, aber auch Visionen werden in den historischen Büchern des N. T. s immer durch ausdrück - liche Bemerkungen als solche angekündigt, und so müſste es auch an unsrer Stelle entweder εἶδεν ἐν ὁράματι, ἐν ἐκςάσει heiſsen, wie A. G. 9, 12. 10, 10. oder ἐφάνη αὐτῷ κατ 'ὄναρ, wie Matth. 1, 20. 2, 13. Namentlich aber, wenn ein Traum erzählt werden sollte, müſste der Übergang aus demselben zu dem weitern Verlauf der wirklichen Geschich - te, wie Matth. 1, 24. 2, 14. 21., durch ein διεγερϑεὶς ge -413Zweites Kapitel. §. 51.macht sein, wodurch, wie Paulus sehr wahr bemerkt, die Verfasser den Exegeten groſse Mühe erspart haben wür - den. Überdieſs ist gegen die Auffassung des Vorgangs als Ekstase mit Recht eingewendet worden, daſs dergleichen Zustände sonst nicht im Leben Jesu vorkommen8)Ullmann, über die Unsündlichkeit Jesu, in s. Studien 1, 1, S. 56., gegen die Annahme eines Traums aber dieſs, daſs Jesus sonst nirgends einen Traum und zwar mit solchem Gewichte wie - dererzählt habe9)Usteri, a. a. O. S. 775.. Ferner, was das Bewirkende dieser Zustände betrifft, so begreift man nicht, wozu Gott in Je - su diese Vision erregt hätte, und ebensowenig, daſs der Teufel eine solche, zumal in Christo, hervorzubringen Macht und Befugniſs gehabt haben sollte; bei der Annah - me eines durch die eigenen Gedanken Jesu bewirkten Trau - mes aber darf man nicht vergessen, daſs man dabei eine groſse Gewalt jener falschen Messiasideen im Gemüthe Je - su voraussezt10)Ebenders. S. 776..

Kann so nach dem Ergebniſs der lezten Betrachtung die Versuchungsgeschichte nicht als innerer Vorgang ge - nommen werden, und nach dem früher Ausgeführten nicht als übernatürlicher: so scheint nichts übrig zu sein, als dieselbe als äussere zwar, aber durchaus natürliche Bege - gebenheit anzusehen, d. h. also den Versucher zu einem blo - sen Menschen zu machen. Nachdem Johannes auf Jesum als den Messias aufmerksam gemacht hatte, meint der Verf. der natürlichen Geschichte des Propheten von Nazaret11)1. Bd. S. 542 ff., nach Hermann von der Hardt, Basedow u. A.; noch neuestens Kuinöl S. 81., habe die herrschende Partei zu Jerusalem einen listigen Pharisäer ausgesandt, der Jesum auf die Probe stellen soll - te, ob er wirklich messianische Wunderkräfte besäſse, und ob er nicht in das Interesse der Priesterschaft zu ziehen414Zweiter Abschnitt.und zu einer Unternehmung gegen die Römer zu gebrau - chen wäre? Eine Fassung des διάβολος, mit welcher es auf würdige Weise zusammenstimmt, die nach dessen Ab - gang zur Erquickung Jesu erscheinenden ἄγγελοι von einer sich nähernden Karawane mit Lebensmitteln12)so eine Abhandlung in Henke's n. Magazin 4, 2, S. 352., oder von sanften, erfrischenden Winden13)Natürliche Geschichte u. s. f. 1, S. 591. zu verstehen. Indeſs hat diese Ansicht, nach Usteri's Ausdruck, ihren Kreislauf in der theologischen Welt so sehr schon vollendet, daſs es überflüssig ist, zu ihrer Widerlegung ein Wort zu verlieren.

Wenn sich nach dem Bisherigen die Versuchungsge - schichte, wie sie die Synoptiker uns erzählen, weder als äusserer noch als innerer, weder als übernatürlicher, noch als natürlicher Vorgang denken läſst: so folgt nothwendig der Schluſs: dieselbe kann überhaupt nicht so vorgegangen sein, wie die Synoptiker berichten.

Der gelindeste Ausweg ist hiebei die Annahme, daſs zwar wirklich ein Vorfall aus dem Leben Jesu zum Grun - de liege, welchen Jesus den Jüngern erzählt habe, aber so, daſs seine Erzählung kein ganz genauer Abdruck des Faktums gewesen sei. Versuchende Gedanken, welche ihm entweder wirklich während seines Aufenthalts in der Wüste nach der Taufe, oder zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Gelegenheiten vor die Seele getreten, aber durch die reine Kraft seines Willens alsbald niedergeschla - gen worden seien, habe er nach orientalischer Denk - und Ausdrucksweise als teuflische Versuchungen erzählt, und diese bildliche Erzählung sei eigentlich verstanden worden14)So nach vielen Vorgängen, welche Schmidt, Kuinöl, u. A. nachweisen, Ullmann, a. a. O. S. 56 ff., und Hase, Leben Jesu, §. 49.. Die Haupteinwendung zwar, welche gegen diese Ansicht415Zweites Kapitel. §. 51.gekehrt worden ist, daſs sie die Unsündlichkeit Jesu gefähr - de15)Schleiermacher, über den Lukas, S. 54. Usteri, a. a. O. S. 777 ff., ist, da sie auf einem dogmatischen Begriff beruht, für unsern kritischen Standpunkt nicht vorhanden; wohl aber können wir aus dem Verlauf der evangelischen Ge - schichte so viel vorwegnehmen, daſs in derselben der Ver - stand Jesu durchaus klar und richtig erscheint; dieser aber müſste schadhaft gewesen sein, wenn Jesus zu etwas der Art, wie die zweite Versuchung bei Matthäus ist, jemals Lust empfinden, und fast ebenso, wenn er auch nur darauf verfallen konnte, eine Versuchung verständigerer Art unter dieser Form darzustellen. Zudem hätte Jesus in einer sol - chen Erzählung ein von einem redlichen Lehrer, wie er sonst erscheint, nicht zu erwartendes, trübes Gemisch von Dichtung und Wahrheit aus seinem Leben gegeben, nament - lich wenn man nicht annimmt, die versuchenden Gedan - ken seien ihm wirklich nach dem 40tägigen Aufenthalt in der Wüste in Einem Zuge aufgestiegen, sondern dieſs noch zur Einkleidung rechnet; nimmt man dagegen jene Zeitbe - stimmung geschichtlich, so bleibt auch das vierzigtägige Fa - sten stehen, und mit ihm einer der bedeutendsten Anstöſse in der Erzählung. Jedenfalls, wenn Jesus den innern Vor - gang einfach erzählen wollte, nur aber in der Art, wie der Hebräer jeden bösen Gedanken durch einen Schluſs von der Wirkung auf die Ursache dem Teufel zuschrieb: so war er hiedurch nur zu der Wendung veranlaſst, der Sa - tan habe ihm dieſs und das in das Herz geben wollen, keineswegs aber dazu, von einem persönlichen Auftreten des Satans und einem Herumreisen mit demselben zu reden, wenn nicht neben oder statt der Absicht des Erzählens noch eine andere, poëtisch-didaktische stattgefunden ha - ben soll.

Eine solche Absicht hatte nun allerdings Jesus denje -416Zweiter Abschnitt.nigen zufolge, nach welchen die Versuchungsgeschichte von ihm als Parabel erzählt, von den Jüngern dagegen geschicht - lich verstanden worden ist. Dabei wird meistens das Be - denkliche, daſs ein wirkliches inneres Erlebniſs Jesu zum Grunde gelegen, fallen gelassen: nicht Jesus selbst soll sol - che Versuchungen durchlebt, sondern nur seine Jünger vor denselben zu verwahren beabsichtigt haben, indem er ih - nen, gleichsam als ein Compendium messianischer und apo - stolischer Weisheit, die drei Maximen einprägen wollte: 1) kein Wunder zu thun zu eigenem Vortheil, selbst un - ter den dringendsten Umständen; 2) nie in Hoffnung auf ausserordentlichen göttlichen Beistand etwas Abenteuerli - ches zu unternehmen; 3) nie, auch wenn der gröſste Vor - theil dadurch zu erreichen wäre, sich in Gemeinschaft mit dem Bösen einzulassen16)J. E. C. Schmidt, in seiner Bibliothek, 1, 1, S. 60 f.; Schlei - ermacher, über den Lukas, 8. 54 f. ; Usteri, über den Täu - fer Johannes, die Taufe und Versuchung Christi, in Ull - mann's und Umbreit's Studien, 2, 3, S. 456 ff.. Längst hat man gegen diese Auffassung bemerkt, daſs die Erzählung nicht leicht als Pa - rabel zu erkennen, und die Belehrung schwer herauszufin - den gewesen wäre17)R. Ch. L. Schmidt, exeg. Beiträge, 1, S. 339.. Gewiſs wäre, was das Leztere be - trifft, namentlich die zweite Versuchung ein wenig passend gewähltes Bild18)Usteri, Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, Studien, 1832, 4, S. 780.; doch die erstere Bemerkung bleibt die Hauptsache. Warum diese Erzählung so gar nicht das Ge - präge einer Parabel trage, das ist neuerlich dahin bestimmt worden, eine Parabel könne bei der ihr wesentlichen ge - schichtlichen Form nur dadurch sich von wirklicher Ge - schichte unterscheiden, daſs die in derselben handelnden Personen sich sogleich als fingirte ergeben19)Hasert, Bemerkungen über die Ansichten Ullmann's und Uste - ri's von der Versuchungsgesch., Studien, 3, 1, S. 74 f.. Dieſs ist aber417Zweites Kapitel. §. 52.dann der Fall, wenn die Personen entweder unbestimmt bezeichnet sind, wie in den Gleichniſsreden Jesu als σπεί - ρων, βασιλεὺς u. dgl., oder wenn ihnen zwar eine indivi - duelle Bestimmung gegeben ist, aber eine solche, welche sie als unhistorische Personen, als Träger von Dichtungen kenntlich macht, was, in Verbindung mit den übrigen - gen jener Parabel, selbst von dem mit Namen genannten Λάζαρος im Gleichniſs vom reichen Manne gilt. In beiden Rücksichten kann ein sinnlich Gegenwärtiger nicht als Subjekt einer Parabel gebraucht werden, denn ein solcher ist immer eine bestimmte und augenscheinlich historische Person. Also weder den Petrus, oder sonst einen seiner Jünger, noch auch sich selbst konnte Jesus zum Subjekt einer Gleichniſsrede machen, da die eigene Person dessen, der eine solche vorträgt, am unmittelbarsten zu den da - bei gegenwärtigen gehört, und ebendeſswegen kann er die Versuchungsgeschichte, in welcher er das Subjekt ist, nicht als Parabel vorgetragen haben. Anzunehmen aber, daſs die Parabel ursprünglich ein anderes Subjekt gehabt habe, an dessen Stelle dann in der mündlichen Überliefe - rung Jesus gesezt worden sei, geht nicht an, weil die Erzählung auch als Parabel nur dann eine rechte Bedeu - tung hat, wenn der Messias das Subjekt derselben ist20)Hasert, a. a. O. S. 76..

Da auf diese Weise weder ein wirklicher Gemüthszu - stand Jesu, noch eine von ihm vorgetragene Parabel der Versuchungsgeschichte zum Grunde liegen kann: so kann sie überhaupt nicht von Jesu, sondern nur über ihn gebil - det worden sein, d. h. sie ist urchristliche Sage.

§. 52. Die Versuchungsgeschichte als Mythus.

Der Übertritt auf dieses vernünftige Gebiet kommt frei - lich den alten theologischen Adam so sauer an, daſs dieje -Das Leben Jesu I. Band. 27418Zweiter Abschnitt.nigen, welche sich zuerst zur mythischen Auffassung der vorliegenden Erzählung hinneigten, doch wo möglich noch an einem Strohhalm von Historie sich zu halten suchten. Da die Geneigtheit zur mythischen Auffassung der Versu - chungsgeschichte oft nur einseitig durch die Scheue vor dem Teufelsglauben veranlaſst war, so war man zufrieden, die Vorgänge mit dem Teufel für mythisch zu erklären, und lieſs den 40tägigen Aufenthalt in der Wüste um so lieber in geschichtlichem Werth, als man dadurch eine Veranlas - sung für die Entstehung des Mythus zu bekommen glaubte, welche man in Gedanken und Ideen zu finden noch nicht im Stande war. So sollte denn also Jesus nach seiner Tau - fe wirklich 40 Tage unter Nüchternheit und Gebet allein in der Wüste zugebracht haben, und um einen Grund und Zweck dieses Aufenthalts zu finden, soll man auf die Sa - ge von einer in dieser Zeit vorgefallenen Versuchung des Teufels gerathen sein, den man sich ohnehin in der Wüste dachte1)Diese Ansicht verband J. E. Ch. Schmidt späterhin mit der im vorigen §. von ihm angeführten, s. seine Bibliothek, 2, S. 223 ff. Andere s. bei Ruinöl, S. 80.. Als ob ein solcher Aufenthalt nicht auch schon durch den Zweck einer heiligen Ascese hinlänglich erklärt gewesen wäre2)Fritzsche, in Matth. S. 176., und was die Hauptsache ist, als ob nicht gerade ein 40tägiges Fasten in der Wüste, auch ohne ge - schichtlichen Grund, zu erdichten, wegen der vor Augen liegenden Parallele mit gleichen Vorgängen aus dem Leben des Moses und Elias, ganz besonders im Interesse der Sa - ge gelegen hätte.

So aller geschichtlichen Grundlage beraubt, sind wir zur Ableitung der vorliegenden Erzählung rein nur auf Ge - danken, auf jüdische und urchristliche Vorstellungen ver - wiesen, und hier sind wir so glücklich, sagen zu können, daſs sich kein Zug in der Erzählung findet, der nicht aus419Zweites Kapitel. §. 52.A. T. lichen Vorbildern oder aus den damaligen Begriffen vom Messias und vom Satan zu erklären wäre3)So Fritzsche, in Matth. S. 173. Treffend derselbe schon in der Überschrift S. 154:Quod in vulgari Judaeorum opinione erat, fore, ut Satanas salutaribus Messiae consiliis omni mo - do, sed sine effectu tamen, nocere studeret, id ipsum Jesu Messiae accidit. Nam quum is ad exemplum illustrium majo - rum quadraginta dierum in deserto loco egisset jejunium, Sa - tanas eum convenit, protervisque atque impiis consiliis ad impietatem deducere frustra conatus est..

Der aus der persischen Religion als böses und men - schenfeindliches Wesen herübergenommene Satan wurde von den Juden, deren Partikularismus alles Gute und wahrhaft Menschliche auf das israëlitische Volk beschränkte, zum besonderen Widersacher ihrer Nation, und damit zum Herrn der ihnen feindlichen Heidenvölker gemacht4)Vergl. Zachar. 3, 1, wo dem vor Jehova's Engel stehenden Hohenpriester Satan widersteht; ferner Vajikra rabba f. 151, 1. (bei Bertholdt Christolog. Jud. S. 183.): wo nach Rabbi Jochanan Jehova zum מלאך המות (d. h. zum Satan, vergl. Hebr. 2, 14. und Lightfoot, horae, p. 1088) spricht: feci quidem te κοσμοκράτορα, at vero cum populo foederis ne - gotium nulla in re tibi est.. Wurden nun die Interessen des jüdischen Volks in der Person des Messias concentrirt, so war es natürlich, daſs der Satan namentlich als Gegner des Messias aufgefaſst wurde, wie denn auch im N. T. mit der Vorstellung, daſs Jesus der Messias sei, sich überall die vom Satan als dem Gegner seiner Person und Sache verbindet. Wie Christus deſswe - gen erschienen ist, um die Werke des Teufels zu zerstö - ren (1. Joh. 3, 8.): so ergreift nun dieser jede Gelegen - heit, um unter den guten Samen, welchen des Menschen Sohn ausstreut, Unkraut zu säen (Matth. 13, 39.), und tritt sowohl Jesum selbst an, ob er nicht Meister über ihn wer - den könne (Joh. 14, 30.), als er auch seinen Glaubigen be -27*420Zweiter Abschnitt.ständig zusezt (Ephes. 6, 11. 1. Petr. 5, 8.). Indem die An - griffe des Teufels auf die Frommen nichts Anders als Ver - suche sind, ob er nicht den einen oder andern in seine Gewalt bekommen, d. h. zum Sündigen bewegen könne (Luc. 22, 31.), diese Probe aber nicht anders gemacht wer - den kann, als durch mittelbares Veranlassen oder unmittel - bares Eingeben böser, verführerischer Gedanken: so war damit der Satan als Versucher, als πειράζων aufgefaſst. Mittelbar, durch Verhängung von Plagen und Unglück, sucht er im Prolog des Hiob den Frommen von Gott abzuziehen; als unmittelbare diabolische Einflüsterung aber wurde früh - zeitig der verführerische Rathschlag aufgefaſst, welchen nach 1. Mos. 3. die Schlange den ersten Menschen gab (Weish. 2, 24. Joh. 8, 44. Offenb. 12, 9.).

Der Begriff des Versuchens (נִסָּה LXX: πειράζειν) war dem älteren Hebraismus in Bezug auf Gott selbst ge - läufig, welcher seine Lieblinge, wie Abraham (1. Mos. 22, 1.) und das Volk Israël (2. Mos. 16, 4. u. sonst) auf die Probe stellte, oder auch im gerechten Zorne die Menschen zu un - heilbringenden Handlungen reizte (2. Sam. 24, 1.). Nach - dem sich aber die Vorstellung des Satans ausgebildet hatte, wurde dieselbe benüzt, um das Versuchen, welches, wie man nachgerade zu bemerken anfieng, mit Gottes absoluter Güte sich nicht vertrug ([s]. Jac. 1, 13.), Gott abzunehmen und auf den Satan zu überwälzen. Daher ist es nun die - ser, welcher bei Gott die Erlaubniſs auswirkt, den Hiob durch Leiden auf die gefährlichste Probe zu stellen; daher ist der strafbare Gedanke Davids, das Volk zu zählen, welcher im zweiten Buch Samuels noch vom Zorne Gottes hergeleitet war, in der späteren Chronik (1 Chr. 22, 1.) geradezu auf Rechnung des Teufels geschrieben, und selbst die gutgemeinte Versuchung, welche der Genesis zufolge Gott mit Abraham vornahm, als er die Opferung des Sol - nes von ihm forderte, war nach späterer jüdischer Ansicht421Zweites Kapitel. §. 52.auf Anstiften des Satans von Gott vorgenommen5)s. die von Fabricius Cod. pseudepigr. V. T. p. 395. aus Ge - mara Sanhedrin angeführte Stelle.. Ja auch dieſs genügte nicht, sondern es wurden Scenen erdacht, wie der Teufel dem Abraham bei seinem Hinausgang zur Opferung persönlich mit einer Versuchung in den Weg ge - treten sein, und wie er das Volk Israël in Abwesenheit des Moses versucht haben sollte6)Ebendas. p. 396. Als Abraham hinzog, um dem Befehle Je - hova's gemäss seinen Sohn zu opfern, antevertit eum Sata - nas in via, et tali colloquio cum ipso habito a proposito aver - tere eum conatus est etc. Schemoth R. 41 (bei Wetstein z. d. St. d. Matth.): Cum Moses in altum adscenderet, dixit Israëli: post dies XL hora sexta redibo. Cum autem XL illi dies elapsi essent, venit Satanas, et turbavit mundum, dixitque: ubi est Moses, magister vester? mortuus est. Bemerkens - werth ist, dass auch hier die Versuchung nach Ablauf von 40 Tagen eintritt..

Waren so die vornehmsten Frommen des hebräischen Alterthums, war das Volk Israël selbst nach der früheren Ansicht von Gott, nach der späteren vom Teufel versucht worden: was lag näher, als die Vorstellung, daſs vor Al - len an den Messias, das Haupt aller Gerechten und den Repräsentanten und Vorkämpfer des Volks Gottes, der Sa - tan sich wagen werde, um ihn zu fällen, wie wir dieſs wirklich als rabbinische Meinung angedeutet finden7)Schöttgen, horae 2, 538, führt nach Fini flagellum Judaeorum, 3, 35. eine Stelle aus Pesikta an: Ait Satan: Domine, per - mitte me tentare Messiam et ejus generationem. Cui inquit Deus: non haberes ullam adversus eum potestatem. Satan iterum ait: sine me, quia potestatem habeo. Respondit Deus: si in hoc diutius perseverabis, Satan, potius (te) de, und zwar nach der sinnlichen Vorstellungsweise des späteren Judenthums in einer leibhaften Erscheinung und einem per - sönlichen Zwiegespräch. Fragte es sich um die Zeit, in422Zweiter Abschnitt.welcher der Satan muthmaſslich eine solche Versuchung mit dem Messias vornehmen werde, so lag es am nächsten, die - sen, als einen andern Herkules am Scheidewege, beim Ein - tritt in das reife Alter und in das messianische Amt eine solche Probe bestehen zu lassen; handelte es sich um den Ort, so bot sich von mehr als Einer Seite die Wüste dar. Nicht nur ist sie von Asasel (3 Mos. 16, 8. 10. ) und As - modi (Tob. 8, 3.) bis zu den von Jesu ausgetriebenen - monen herunter (Matth. 12, 43.) der schauderhafte Wohn - plaz der höllischen Mächte: sondern die Wüste war auch das Lokal, in welchem das Volk Israël, dieser filius Dei collectivus, versucht worden war8)5. Mos. 8, 2. (LXX) wird das Volk so angeredet: μνησϑή - σῃ πᾶσαν τὴν ὁδὸν, ἣν ηγαγέ οε Κύριος ϑεός σου τοῦτο τεσσαρακοςὸν ἒτος ἐν τῇ ἐρήμῳ, ὅπως κακώσῃ σε καὶ πειράσῃ σε, καὶ διαγνωσϑῇ τὰ ἐν τῇ καρδίᾳ σου, εἰ φυλάξῃ τὰς ἐντολὰς αὐτοῦ, οὔ.. Was aber sollte der Messias in der Wüste thun? Daſs auch der zweite Retter, wie Moses, der erste, als er in der Wüste auf dem Berg Sinai war (2. Mos. 34, 28. 5. Mos. 9, 9.), die heilige Ascese des Fastens über sich genommen haben werde, lag um so näher, als dieſs die angemessenste Einleitung zu der ersten, sich an den Hunger knüpfenden Versuchung geben konnte. Durch das Vorbild des Moses, zu welchem hier noch das des Elias (1. Kön. 19, 8.) kam, war auch die Zeitdauer dieses Fastens in der Wüste bestimmt, denn auch sie hat - ten 40 Tage gefastet, wie denn die Vierzig auch sonst im7)mundo perdam, quam aliquam animam generationis Messiae perdi permittam. Diese Stelle beweist wenigstens, dass eine vom Teufel gegen den Messias zu unternehmende Versuchung dem jüdischen Vorstellungskreise nicht fremd war. Liess der Urheber der angeführten Stelle dem Satan, wie es scheint, sein Gesuch abgeschlagen werden, so werden es Andere, da die Vorstellung einmal angeregt war, gewiss haben in Erfül - lung gehen lassen.423Zweites Kapitel. §. 52.hebräischen Alterthum als heilige Zahl eine Rolle spielt9)s. Wetstein, S. 270; de Wette, in Daub's und Creuzer's Studien, 3, S. 245.. Namentlich scheinen die 40 Tage der Versuchung Jesu im verkleinerten Maaſsstabe dasselbe zu sein, was die 40 Prü - fungsjahre des israëlitischen Volks in der Wüste10)Olshausen, 1, S. 188.. Denn daſs bei der Versuchung Jesu auf die Versuchungen, wel - che das Volk in der Wüste zu bestehen hatte, ganz beson - dere Rücksicht genommen ist, zeigt schon der Umstand, daſs alle, vom Satan gegenüber von Jesu angezogenen Schrift - stellen aus der rekapitulirenden Schilderung des Zugs der Israëliten, 5. Mos. 6 und 8, genommen sind. Auch der Apo - stel Paulus zählt 1. Kor. 10, 6 ff. eine Reihe von Zügen aus dem Benehmen der Israëliten in der Wüste, sammt den von Gott dafür verhängten Strafgerichten auf, und warnt die Christen vor einem ähnlichen Betragen, indem, wie er V. 6 und 11 sagt, jene Strafgerichte über die Alten als τύποι für die zu seiner Zeit, die er als τέλη τῶν αἰώνων bezeichnet, Lebenden, verhängt worden seien, weſswegen, wer stehe, zusehen möge, daſs er nicht falle. Schwerlich war dieſs blos zufällige Privatmeinung des Apostels, son - dern, wie überhaupt das Mosaische, so scheinen besonders diese harten Prüfungen des von Moses geführten Volkes als Vorbilder derjenigen angesehen worden zu sein, welche in der durch den Messias herbeizuführenden Katastrophe sei - nen Anhängern, vor Allen aber ihrem Anführer, dem Mes - sias selbst, bevorständen, der hier in sofern als Antitypus des Volks erscheint, als er alle die Versuchungen, wel - chen dieses erlegen war, siegreich bestehen sollte.

So war also die erste Versuchung des Messias dadurch zum Voraus bestimmt, daſs das Volk Israël in der Wüste hauptsächlich durch Hunger versucht worden war11)5. Mos. 8, 3 (Fortsetzung des not. 8. Angeführten): καὶ ἐκάκωσέ σε καὶ ἐλιμαγχόνησέ σε κ. τ. λ. ; wie424Zweiter Abschnitt.denn unter den verschiedenen Versuchungen, welche die Rabbinen von Abraham zu erzählen wissen, meistens auch der Hunger mitaufgezählt wird12)s. Fabricius, Cod. pseudepigr. V. T. p. 398 ff.. Daſs der Satan die Aufforderung an Jesum, die Befriedigung seines Bedürf - nisses, statt sie vertrauensvoll von Gott zu erwarten, auf eigenmächtige Weise herbeizuführen, gerade so aus - drückt, wie wir es bei den Evangelisten lesen, kann nicht Wunder nehmen, wenn man, neben dem steinigten Lokal der Wüste, bedenkt, wie gewöhnlich für den Ersatz eines gänzlich mangelnden Gegenstandes die Formel war, ihn aus Steinen hervorzubringen (Matth. 3, 9. vergl. Luc. 19, 40.), und wie namentlich Stein und Brot einen auch sonst ge - läufigen Gegensatz bilden (Matth. 7, 9.). Was Jesus auf diese Zumuthung erwiedert, ist aus demselben Zusammen - hang, welchem der ganze erste Versuchungsakt nachgebil - det scheint. Denn eben das giebt hier Jesus dem Satan zur Antwort, was nach 5. Mos. 8, 3. das Volk Israël durch die Versuchung des Hungers (die es aber zunächst nicht bestanden, sondern sich zum Murren hatte verleiten las - sen), doch nachträglich hatte lernen müssen, nämlich, ὄτι οὐκ ἐπ 'ἄρτῳ μόνῳ ζήσεται ἄνϑρωπος κ. τ. λ.

Doch an Einer Versuchung war es nicht genug. Von Abraham zählten die Rabbinen deren zehn; für eine dra - matische Darstellung aber, wie wir sie in den Evangelien haben, war dieſs zu viel, und unter den niedrigeren Zah - len lag keine näher, als die heilige Drei. Dreimal riſs sich im Seelenkampf in Gethsemane Jesus von seinen Jün - gern los (Matth. 26.); dreimal verleugnete Petrus den Herrn, (ebendas. ), und dreimal stellte nachher Jesus des - sen Liebe zu ihm in Frage (Joh. 21.); auch in jener rab - binischen Stelle, welche den Abraham durch den Teufel persönlich versucht werden läſst, sind es drei Gänge, wel - che er mit ihm macht, eine Darstellung, welche auch425Zweites Kapitel. §. 52.durch die Art, wie ihr zufolge zwischen beiden Theilen mit A. T. lichen Stellen hin - und hergefochten wird, der evangelischen verwandt ist13)Gemara Sanh. meldet das oben not. 6. Angeführte, wo dann das colloquium zwischen Abraham und Satan ferner so lautet: 1. Satanas: Annon tentare te (Deum) in tali re aegre fe - ras? Ecce erudiebas multos labantem erigebant verba tua quum nunc advenit ad te (Deus taliter te tentans) nonne aegre ferres (Job. 4, 2 5.)? Cui resp. Abraham: ego in integritate mea ambulo (Ps. 26, 11.). 2. Satanas: Annon timor tuus, spes tua (Job. 4, 6.)? Abraham: recordare quaeso, quis est insons, qui perierit (V. 7.)? 3. Quare, quum videret Satanas, se nihil proficere, nec Abrahamum sibi obedire, dixit ad illum: et ad me verbum furtim ablatum est (V. 12.), audivi pecus futurum esse pro holocausto (Gen. 22, 7.) non autem Isaacum. Cui respondit Abraham: Haec est poena mendacis, ut etiam cum vera loquitur, fides ei non habeatur. Ich bin weit entfernt, zu behaupten, dass diese rabbini - sche Darstellung das Vorbild unsrer Versuchungsgeschichte gewesen sei; wenn man dagegen von der andern Seite eben - so wenig beweisen kann, dass dergleichen Darstellungen sich nur als Nachbilder der neutestamentlichen haben gestalten kön - nen: so weist die voraussezlich unabhängige Entstehung so entsprechender Erzählungen bestimmt genug darauf hin, wie leicht sie aus den gegebenen Prämissen sich von selbst bil - den konnten.. Die zweite Versuchung war nicht ebenso durch den Zusammenhang mit dem Vor - hergegangenen bestimmt, wie die erste, sie tritt daher ab - gebrochen auf und die Auswahl derselben kann zufällig und willkührlich erscheinen. In Bezug auf die Form der - selben mag dieſs der Fall sein; aber ihr Inhalt steht dadurch mit dem der vorhergehenden in genauem Zusammenhang, daſs auch er aus dem Benehmen des jüdischen Volks in der Wüste genommen ist. Diesem war 5. Mos. 6, 16. die Er -426Zweiter Abschnitt.mahnung gegeben, Gott nicht mehr zu versuchen, wie sie ihn bei Massa versucht hätten, eine Ermahnung, welche 1. Kor. 10, 9. auch den Mitgliedern des neuen Bundes, doch mehr mit Anspielung auf 4. Mos. 21, 4. ff. und mit Bezug auf Chri - stum, gegeben wird. Auch zu dieser besonders schweren Sünde also, welcher das alte Volk Gottes erlegen war, muſste der Messias gereizt werden, um durch seinen Sieg über diesen Reiz die Übertretung des Volks gleichsam gut zu machen. Nun war aber bei dem Volke das als ἐκπει - ράζειν Κύριον bezeichnete Benehmen durch einen Wasser - mangel veranlaſst, und das Gott Versuchen war ihr Mur - ren. Dieſs schien der späteren Sage jenem Ausdruck nicht völlig zu entsprechen, man sah sich nach etwas Adäqua - terem um, und kaum konnte von diesem Gesichtspunkt aus passender gewählt werden, als wie wir es in unsrer Ver - suchungsgeschichte finden; denn nichts kann in eigent - licherem Sinne Gott versucht heiſsen, als wenn auf so toll - kühne Weise, wie der Satan in seiner zweiten Aufforde - rung Jesu anmuthet, sein ausserordentlicher Beistand in Anspruch genommen wird. Was die Veranlassung war, als Beispiel solcher Vermessenheit gerade das Herabstürzen vom Tempel namhaft zu machen, das ist dem Satan selbst in den Mund gelegt. Es fiel nämlich dem Urheber dieses Zugs der Sage als mögliche Verführung zu einer tollküh - nen Handlung die Stelle Ps. 91, 11. f. ein, wo dem unter Jehova's Schutze Stehenden, als welchen er vorzugsweise den Messias dachte, verheiſsen ist, die Engel werden ihn auf den Händen tragen, damit er seinen Fuſs an keinen Stein stoſse. Da das αἴρειν ἐπὶ χειρῶν um das προσκόπτειν zu vermeiden auf ein Herabstürzen aus der Höhe zu deu - ten schien, so konnte dieſs auf die Vorstellung führen, daſs der von Gott beschüzte Messias sich unversehrt von einer Höhe herabstürzen könne. Von welcher Höhe? darüber konnte bei dem Messias nicht wohl ein Zweifel sein. Dem Frommen, und somit auch ihm, dem Haupt aller From -427Zweites Kapitel. §. 52.men, ist es ja nach Ps. 15, 1 f. 24, 3 f. eigenthümlich, auf Jehova's heiligen Berg gehen und an seiner geweihten Stätte stehen zu dürfen: die Höhe des Tempels konnte da - her nach jener vermessenen Schluſsweise als diejenige an - gesehen werden, von welcher der Messias unverlezt sich hinablassen könne.

Die dritte Versuchung, welche Jesus besteht, ist wie - derum eine der gefährlichsten von denen, welchen das Volk Israël unterlegen war, die zur Abgötterei, oder, was nach der späteren jüdischen Vorstellung dasselbe war (Ba - ruch 4, 7. 1. Kor. 10, 20.), zur Teufelsanbetung. Diese Versuchung führt auch der Apostel Paulus 1. Kor. 10, 7. unter den Vorbildern für die Christen auf, und in einer oben (Not. 6) angeführten rabbinischen Stelle wird sie dem Teufel als unmittelbarem Urheber zugeschrieben. Wie sollte nun der Messias zur Anbetung des Teufels versucht werden? Hier reichten sich die Vorstellungen vom Messias als demjenigen, welcher als König des jüdischen Volks zu - gleich zum Herrn der übrigen bestimmt war, und vom Sa - tan, als dem durch den Messias zu besiegenden Beherr - scher der Heidenwelt14)Bertholdt, Christolog. Judaeorum Jesu aetate, §. 36. not. 1. und 2. Fritzsche, Comm. in Matth. S. 169 f. die Hände. Die Weltherrschaft, welche der Messias nach der christianisirten Vorstellung der Zeit durch lange, zum Theil leidenvolle Mühe zu er - ringen hatte, bot ihm der Satan leichten Kaufes an, wenn er ihm den Zoll der Anbetung bringen wollte. Dieser Ver - suchung begegnet Jesus so, daſs er die Maxime, Gott al - lein zu dienen, welche den Israëliten 5. Mos. 6, 13. mit Bezug auf ihren Fehltritt eingeschärft worden war, dem Satan entgegenhält, und ihm damit zugleich den Abschied giebt.

Was hierauf Matthäus und Markus als Schluſs der Ver - suchungsgeschichte haben, daſs Engel zu Jesu getreten428Zweiter Abschnitt.seien und ihn nach dem langen Fasten und der Arbeit der Versuchungen mit Nahrungsmitteln erquickt haben, ist theils durch den Engel vorgebildet, welcher nach 1. Kön. 19, 5. 6. dem Elias vor, wie nun dem Messias nach dem 40tägigen Fasten Speise gebracht hatte, theils wurde ja auch das Manna, welches den Hunger des Volks in der Wüste still - te, ἂρτος ἀγγέλων genannt (Ps. 78, 25. LXX. vergl. Weis - heit 16, 20.)15)Vergl. mit der gegebenen Darstellung die im Ganzen über - einstimmenden Ausführungen von Schmidt, Fritzsche und Usteri an den §. 50. not. 1 3. angeführten Orten..

429Drittes Kapitel. §. 53.

Drittes Kapitel. Lokal und Chronologie des öffentlichen Lebens Jesu.

§. 53. Differenz zwischen den Synoptikern und Johannes über den gewöhnlichen Schauplaz der Thätigkeit Jesu.

Den Synoptikern zufolge hatte der zwar in dem judäi - schen Bethlehem geborene, aber in dem galiläischen Na - zaret aufgewachsene Jesus Galiläa nur auf die kurze Zeit von seiner Taufe bis zur Gefangennehmung des Täufers verlassen, begab sich aber nach dem lezteren Ereigniſs als - bald dahin zurück und begann lehrend, heilend, Jünger berufend, seine Wirksamkeit in der Art, daſs er ganz Ga - liläa durchreiste, zum Behuf eines Mittelpunkts seiner Thä - tigkeit aber seinen bisherigen Wohnort Nazaret mit Kaper - naum, am nordwestlichen Ufer des galiläischen Sees, ver - tauschte (Matth. 4, 12 25. parall.). Von hier an haben zwar Markus und Lukas im Unterschiede von Matthäus manches Eigenthümliche und das mit ihm Gemeinsame zum Theil in andrer Ordnung; da sie jedoch in Bezug auf den geographischen Kreis, welchen sie Jesum beschreiben las - sen, von Matthäus nicht abweichen, so kann die Darstel - lung dieses Lezteren hier unbedenklich zum Grunde gelegt werden. Ihm zufolge gehen nun galiläische und zum Theil bestimmt in Kapernaum vorgefallene Begebenheiten fort, bis 8, 18., wo Jesus über den galiläischen See sezt, aber, kaum am östlichen Ufer gelandet, wieder nach Kapernaum zurückkehrt (9, 1.). Nun eine Reihe durch kurze Über - gänge, wie παράγων ἐκεῖϑεν (9, 9. 27. ) τότε (V. 14.) ταῦτα430Zweiter Abschnitt.αὐτοῦ λαλοῦντος (V. 18.) u. dergl. verknüpfter Scenen, bei welchen an keine wesentliche Ortsveränderung, d. h. an keinen Wechsel der Provinz, dergleichen der Verfasser sonst weit sorgfältiger anzuzeigen pflegt, gedacht werden kann, wie denn auch das περιῆγεν Ἰησοῦς τὰς πόλεις πάσας διδάσκων ἐν ταῖς συναγωγαῖς αὐτῶν 9, 35. offenbar nur eine Wiederholung ist von dem καὶ περιῆγεν ὅλην τὴν Γαλι - λαίαν Ἰησοῦς δίδάσκων ἐν ταῖς συναγωγαῖς αὐτῶν 4, 23., also nur von einem Umherwandern in Galiläa zu verstehen. Die Botschaft des Täufers (K. 11.) empfängt Jesus nach dem Sinne des Referenten wahrscheinlich gleichfalls in Galiläa, da er ja im Zusammenhang mit derselben die Klage über die gali - läischen Städte ausspricht; bei dem Vortrag der Parabeln (K. 13.) ist er am Meer, ohne Zweifel am galiläischen, und weil von seiner οἰκία die Rede ist (V. 1.), wahrschein - lich in der Nähe von Kapernaum. Nachdem er hierauf seine Vaterstadt Nazaret besucht hat (13, 53. ff. ), fährt er (14, 13.) über den See, dem Lukas zufolge (9, 10.) nach der Gegend von Bethsaida (Julias), von wo er aber, nach - dem er die Speisung vorgenommen, alsbald wieder an das westliche Ufer sich zurückbegiebt (14, 34.). Hierauf zieht sich Jesus in das nördlichste Ende des jüdischen Landes, an die phönicische Grenze hinauf (15, 21.), bald aber an den galiläischen See zurückgekehrt (V. 29.), begiebt er sich zu Schiffe an das östliche Uf[e]r, in die Gegend von Magdala (V. 39.), zieht sich aber v[o]n hier wiederum nörd - lich, in die Gegend von Cäsarea Philippi (16, 13.), in die Nähe des Libanon, unter dessen Vorbergen wohl auch der Verklärungsberg (17, 1.) zu suchen ist. Nachdem er sich sofort mit seinen Jüngern noch einige Zeit in Galiläa um - getrieben (17, 22.), auch Kapernaum noch einmal besucht hatte (V. 24.), verläſst er Galiläa (19, 1.), um (der wahr - scheinlichsten Erklärung zufolge)1)Fritzsche, p. 591. durch Peräa nach Ju -431Drittes Kapitel. §. 53.däa zu reisen, (eine Reise, welche er nach Luc. 9, 52. durch Samarien gemacht zu haben scheint); 20, 17. ist er auf der Reise nach Jerusalem; V. 29. kommt er durch Jericho; 21, 1. befindet er sich in der Nähe von Jerusalem, wo er V. 10. einzieht.

Den Synoptikern zufolge kommt also Jesus von seiner Rückkehr nach der Johannistaufe bis zu seiner lezten Reise nach Jerusalem über die Grenzen von Nordpalästina nicht hinaus, sondern zieht in den Landschaften westlich und öst - lich vom galiläischen See und vom oberen Jordan, in den Gebieten des Herodes Antipas und Philippus, umher, ohne jemals südlich Samaria, noch weniger Judäa, überhaupt nicht das unter unmittelbarer römischer Administration stehende Gebiet zu berühren. Und innerhalb dieser Gren - zen ist es näher wiederum das Land westlich vom Jordan und vom See Tiberias, also Galiläa, die Provinz des Anti - pas, in welche vorzugsweise die Wirksamkeit Jesu fällt, indem nur von drei kurzen Abstechern auf das östliche Ufer des Sees, und zwei, schwerlich längere, an die nörd - lichen Grenzen des Landes, berichtet wird.

Ganz anders wird der Schauplaz der Wirksamkeit Je - su im vierten Evangelium angegeben. Auch hier zwar geht er, als er von Johannes getauft ist, nach Galiläa zu der Hochzeit in Kana (2, 1.) und von dort nach Kapernaum (V. 12.); doch schon nach wenigen Tagen ruft ihn das nahe Paschafest nach Jerusalem (V. 13.). Von Jerusalem begiebt er sich in die Landschaft Judäa (3, 22.), von wo er nach längerer Wirksamkeit (4, 1.) durch Samarien nach Galiläa zurückkehrt (V. 43.). Nachdem von hier nur eine Wunderheilung berichtet ist, folgt sogleich wieder eine neue Festreise nach Jerusalem (5, 1.) und aus dem dor - tigen Aufenthalt werden eine Heilung, Verfolgungen und längere Reden Jesu gemeldet, bis er (6, 1.) sich auf das östliche Uferland des Sees Tiberias, und von hier nach Kapernaum (V. 17. 59. ) begiebt, worauf er einige Zeit in432Zweiter Abschnitt.Galiläa umherzog (7, 1.). Aber schon wieder reist er von da zum Laubhüttenfest nach Jerusalem (V. 2. 10. ), und aus seinem dieſsmaligen Aufenthalt daselbst werden uns besonders viele Reden von ihm und Schwankungen seiner Stellung mitgetheilt (7, 10 10, 21.), auch an denselben, oh - ne einer Wegreise aus Jerusalem und Judäa zu erwähnen, unmittelbar sein Auftreten bei dem Fest der Tempelweihe angeknüpft (10, 22.). Nach diesem zog sich Jesus wieder in die Gegend von Peräa, wo er zuerst mit Johannes ge - wesen war, zurück (10, 40.) und hielt sich einige Zeit da - selbst auf, bis ihn der Tod des Lazarus nach Bethanien bei Jerusalem rief (11, 1 ff. ), von wo er sich nach Ephraim, in der Nähe der jüdischen Wüste, zurückzog (V. 54.), bis das Paschafest sich nahte, welches Jesus sofort, als sein leztes, besuchte (12, 1 ff.).

Nach Johannes war also Jesus vor seiner lezten Fest - reise schon bei vier Festen in Jerusalem und ausserdem Einmal in Bethanien gewesen, hatte ferner längere Zeit in der Landschaft Judäa und auf der Durchreise auch in Sa - maria gewirkt.

Warum haben nun, muſs man fragen, die Synoptiker diese öftere Anwesenheit Jesu in Jerusalem und Judäa ver - schwiegen? warum die Sache so dargestellt, als wäre Je - sus vor seiner lezten, verhängniſsvollen Reise nach Jerusa - lem nicht über Galiläa und Peräa hinausgekommen? Lan - ge Zeit freilich hat man in der Kirche diese Abweichung der synoptischen Darstellung übersehen, und neuerlich die - selbe sogar leugnen zu dürfen geglaubt. Allerdings, hat man gesagt, verlege Matthäus gleich Anfangs die Scene nach Galiläa und Kapernaum, und erzähle fort, ohne, bis auf die lezte, einer Reise nach Judäa zu gedenken: allein daraus dürfe man nicht schlieſsen, Matthäus wisse nichts von einer früheren judäischen Thätigkeit Jesu; denn da bei diesem Evangelisten das lokale Interesse hinter dem Stre - ben nach einer Sachordnung gänzlich zurücktrete, so könne433Drittes Kapitel. §. 53.man nicht wissen, ob nicht Manches, was er in den frü - heren Theilen seiner Schrift ohne Ortsangabe erzähle, viel - leicht ihm selber wohl bewuſst, nur von ihm nicht erwähnt, bei den früheren judäischen Reisen und Aufenthalten vor - gefallen sei2)Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 194.. Allein dieses angebliche Zurücktreten des lokalen Interesses bei Matthäus ist, wie man neuestens gründlich nachgewiesen hat3)Schneckenburger, Beiträge, S. 38 f.; über den Ursprung u. s. f. S. 7 f., nichts weiter als eine har - monistische Fiktion. Wenn Matthäus so sorgfältig Kap. 4. den Anfang und K. 19. das Ende des vorwiegend galiläi - schen Aufenthalts Jesu angiebt: so muſs doch wohl das dazwischen Erzählte, wenn nicht besonders das Gegentheil bemerkt wird, als in Galiläa vorgefallen betrachtet werden; da er es alsbald bemerklich macht, wenn Jesus nur auf kurze Zeit über den galiläischen See hinüberfuhr, oder ei - nen Zug nach Nordgaliläa unternahm: so wird er doch nicht die bedeutenderen Reisen nach Judäa und die zum Theil längeren Aufenthalte daselbst mit Stillschweigen über - gangen haben, wenn er etwas von denselben wuſste oder wissen wollte. Nur so viel ist zuzugeben, daſs die spe - ciellsten Lokalitätsangaben, die Bezeichnungen der Orte und Ortsgebiete, in welchen Jesus wirkte, bei Matthäus nicht selten vernachlässigt sich finden; in dem Allgemeineren der Ortsbestimmungen hingegen, in der Angabe der palästini - schen Landestheile und Provinzen, innerhalb deren Je - sus wirksam war, will er so genau sein, als irgend ein Anderer.

Man wird sich daher bequemen müssen, in diesem Stücke eine Differenz zwischen den Synoptikern und Jo - hannes einzuräumen4)de Wette, Einleitung in das N. T. §. 98 und 106., wobei dann, wer die Evangelien harmonisiren zu müssen glaubt, zu verhüten suchen muſs,Das Leben Jesu I. Band. 28434Zweiter Abschnitt.daſs die Differenz nicht zum Widerspruch werde, was nur dadurch geschehen kann, daſs man versucht, jene Abwei - chung nicht aus einer verschiedenen Ansicht der Evangeli - sten von dem Aufenthalt Jesu, sondern, bei gleicher An - sicht aus verschiedener Absicht zu erklären. Da nehmen nun die Einen an, dem Matthäus als Galiläer sei das Ga - liläische das Nächste gewesen, und deſswegen habe er, obwohl auch der jerusalemischen Wirksamkeit Jesu kun - dig, doch nur auf die Darstellung von jenem sich beschränkt5)Paulus, ex. Handb. 1, a. S. 39.. Allein welcher Biograph, der, unerachtet er seinen Helden selbst in verschiedene Provinzen begleitet und ihn in den - selben hatte wirken gesehen, doch nur das von ihm er - zählte, was er gerade in seiner, des Biographen, Heimath verrichtet hatte! Schwerlich ist eine solche provineielle Bornirtheit jemals vorgekommen. Daher haben Andere die Annahme vorgezogen, daſs Matthäus, zu Jerusalem schrei - bend, aus der ihm vollständig bekannten Masse der Reden und Thaten Jesu vornehmlich nur die galiläischen heraus - gehoben habe, weil das in dem entfernteren Galiläa Ge - schehene zu Jerusalem weniger bekannt war und also eher erzählt zu werden brauchte, als das, was, in und bei Je - rusalem vorgegangen, allen daselbst Wohnenden noch in frischer Erinnerung stand6)Guerike, Beiträge zur Einleitung in das N. T. S. 33.. Doch hiegegen ist bereits von Andern7)Schneckenburger, über den Ursprung u. s. w. S. 9. bemerkt worden, wie unerwiesen die specielle Bestimmung des Matthäusevangeliums für judäische und je - rusalemische Christen sei, daſs aber, diese selbst vorausge - sezt, doch auch eine genaue Hinweisung auf das in der Heimath der Leser Geschehene keineswegs überflüssig hätte erscheinen können, und daſs endlich (was auch gegen den vorlezten Erklärungsversuch gilt) die gleiche Beschränkung Jesu auf Galiläa bei Markus und Lukas sich hieraus nicht435Drittes Kapitel. §. 53.erklären lasse, da ja diese augenscheinlich nicht blos für Judäa schrieben (noch auch, nach jener Erklärung, Gali - läer waren) und zu Matthäus nicht in solchem Abhängig - keits-Verhältniſs standen, daſs sie über die von diesem gezogene Grenze nicht durch eigenthümliche Nachrichten hinauszugehen im Stande gewesen wären. Das Schönste aber ist, daſs diese zwei Arten, den Widerspruch zwischen Johannes und den Synoptikern zu lösen, sich selbst ge - genseitig durch Widerspruch auflösen. Denn wenn nach der einen Annahme Matthäus wegen der Nähe, nach der andern wegen der Entfernung von dem judäischen Schau - plaz das auf diesem Vorgefallene soll verschwiegen haben: so zeigt die Erscheinung, daſs man zur Erklärung eines und desselben Umstands gleich gut zwei entgegengesezte Hypothe - sen machen kann, daſs beide sich gleich schlecht dazu eignen.

Wenn hienach derjenige Versuch, die bezeichnete Dif - ferenz zu lösen, welcher blos auf die örtlichen Verhält - nisse der Verfasser Rücksicht nimmt, nicht ausreicht: so muſs höher hinaufgestiegen und auch Geist und Tendenz der evangelischen Schriften in Rechnung genommen werden. Von diesem Standpunkt aus hat man den Satz aufgestellt, dasselbe, was den Unterschied im Gehalte zwischen dem jo - hanneischen Evangelium und den synoptischen begründe, liege auch ihrer Abweichung in Hinsicht auf den Umfang zum Grunde, d. h. weil die jerusalemischen Reden Jesu, welche uns Johannes berichtet, um verstanden zu werden, eine höhere Entwickelung des Christenthums, als sie in der ersten apostolischen Zeit gegeben war, erfordert ha - ben, so sei das frühere Jerusalemische aus der ursprüngli - chen Evangelientradition, als deren Organe die Synoptiker schrieben, ausgeschlossen geblieben, und erst von dem spä - ter schreibenden Johannes zu einer Zeit, in welcher jene Entwicklung schon zum Theil vor sich gegangen war, nach - geholt worden8)Kern, über den Ursprung des Evang. Matthäi, in der Tübin -. Allein unerachtet dieser Lösungsversuch28*436Zweiter Abschnitt.tiefer geht, als die zuvorgenannten, so kann doch auch er nicht ausreichend befunden werden. Denn wie sollte doch das Populäre und das Esoterische in den Vorträgen Jesu so wunderlich sich vertheilt haben, daſs jenes durchaus nur nach Galiläa, dieses, mit alleiniger Ausnahme der har - ten Rede in der Synagoge zu Kapernaum, ausschlieſslich nach Jerusalem gefallen wäre? Man könnte sagen: in Je - rusalem hatte er ein gebildeteres Publikum vor sich als in Galiläa, das ihn eher fassen konnte. Allein übler konnten ihn unmöglich die Galiläer miſsverstehen, als ihn nach Jo - hannes Bericht die Judäer durchaus miſsverstanden, und da in Galiläa Jesus am ungestörtesten mit seinen Jüngern zusammen war, sollte man eben hier den Siz seines tiefe - ren Unterrichts vermuthen. Überdieſs, da aus dem lezten jerusalemischen Aufenthalt Jesu die Synoptiker eine reiche Lese allgemein verständlicher Reden desselben zu geben wissen, so können die früheren nicht ganz leer von der - gleichen gewesen sein, es müſsten denn die Unterhaltungen Jesu bei den früheren Festaufenthalten sich durchaus - her gehalten haben, als die während des lezten, wovon sich schlechterdings kein Grund denken läſst. Doch, auch angenommen, daſs alle früheren judäischen und jerusale - mischen Reden Jesu für die Zwecke der ersten apostoli - schen Überlieferung zu hoch gewesen wären, so gab es ja auch Thaten von dort zu erzählen, wie die Heilung des 38jährigen Kranken, des Blindgeborenen, die Auferweckung des Lazarus, welche durch die Wichtigkeit, die sie von jeher für die Verkündigung des Christenthums hatten, fast nöthigen muſsten, der früheren judäischen Aufenthalte Je - su, in welche sie fielen, Erwähnung zu thun.

Auf keine Weise also läſst es sich erklären, wie die Synoptiker, wenn sie von früheren Reisen Jesu nach Je -8)ger Zeitschrift, 1834, 2tes Heft, S. 108 ff. Vergl. Hug, Ein - leit. in d. N. T. 2, S. 205 ff. (3te Ausg.)437Drittes Kapitel. §. 53.rusalem wuſsten, dieselben nicht erwähnt haben sollten, und man muſs sagen: hat Johannes Recht, so wissen die drei ersten Evangelisten von einem wesentlichen Theil der früheren Wirksamkeit Jesu nichts; haben aber diese Recht, so hat der Verfasser des vierten Evangeliums, oder, wenn er einer Sage folgte, diese, einen groſsen Theil des von ihm erzählten Wirkens Jesu erdichtet, wenigstens in eine falsche Lokalität verlegt.

Näher angesehen indeſs verhalten sich Johannes und die Synoptiker nicht blos so, daſs diese etwas nicht wüſs - ten, was jener berichtet, sondern ihr Verhältniſs ist der Art, daſs sie von positiv entgegengesezten Annahmen aus - gehen. Wie nämlich die Synoptiker und besonders Mat - thäus, so oft Jesus, seit er sich einmal nach des Täufers Verhaftung dort ansässig gemacht hatte, Galiläa verläſst, selten versäumen, einen besondern Grund davon anzuge - ben, sei es, daſs er dem Volksandrang durch eine Über - fahrt über den See habe entgehen wollen (Matth. 8, 18.), oder vor den Nachstellungen des Herodes in die peräische Wüste sich zurückgezogen habe (14, 13.), oder daſs er we - gen des Anstosses, welchen die Schriftgelehrten an seinen Reden genommen, in die Gegend von Tyrus und Sidon entwichen sei (15, 21.): so finden wir umgekehrt bei Jo - hannes gewöhnlich einen besondern Grund dafür angegeben, daſs Jesus Judäa verläſst und sich nach Galiläa zurückzieht. Will man auch nicht behaupten, daſs gleich seine erste Reise dahin nach der Taufe nur durch die Einladung nach Kana motivirt erscheine, so ist doch davon, daſs Jesus nach dem ersten Pascha, das er seit seinem öffentlichen Auftritt in Jerusalem zugebracht, wieder nach Galiläa geht, als Grund ausdrücklich die gefährliche Aufmerksamkeit angege - ben, welche die wachsende Zahl seiner Anhänger bei den Pharisäern erregt hatte (4, 1 ff. ); auch daſs er sich nach dem zweiten von ihm besuchten Feste in die Gegend öst - lich vom See Tiberias zurückzieht (6, 1.), muſs wohl ebenso438Zweiter Abschnitt.zu dem ἐζήτουν αὐτὸν οἱ Ἰουδαῖοι ἀποκτεῖναι (5, 18.) in Bezug gesezt werden, als gleich darauf für Jesu Wandel in Ga - liläa der Grund angegeben wird, daſs ihm der Aufenthalt in Judäa wegen der Nachstellungen seiner Feinde lebensge - fährlich gewesen (7, 1.). Zwischen dem folgenden Laub - hütten - und dem Enkänienfest (10, 22.) scheint es, wie wenn Jesus, weil dieſsmal keine ungünstigen Umstände ihn zur Entfernung nöthigten, die dazwischenliegenden Monate in der Hauptstadt geblieben wäre9)So Tholuck, Comm. zum Evang. Joh., S. 194.; ohnehin stellen sich die Züge nach Peräa (10, 40.) und Ephraim (11, 54.) als sol - che dar, zu welchen Jesum nur die Rücksicht auf die Ver - folgungen seiner Feinde genöthigt habe.

Ganz dasselbe Verhältniſs also, welches in Bezug auf den ursprünglichen Wohnort der Eltern Jesu zwischen Matthäus und Lukas stattfand, haben wir hier in Betreff des eigentlichen Schauplatzes der Wirksamkeit Jesu zwi - schen den drei ersten Evangelisten und dem vierten. Wie nämlich dort Matthäus Bethlehem als den ursprünglichen Wohnsiz voraussetzte, Nazaret aber nur als den durch zufällige Umstände herbeigeführten, Lukas umgekehrt: so ruht hier die ganze Darstellung der Synoptiker auf der Ansicht, daſs Galiläa das eigenthümliche Gebiet der Thätig - keit Jesu vor seiner lezten Reise gewesen sei, welches er nur aus besondern Ursachen bisweilen auf kurze Zeit ver - lassen habe, die des Johannes aber umgekehrt auf der Voraussetzung, eigentlich hätte Jesus immer in Judäa und Jerusalem wirken mögen, wenn ihm nicht die Vorsicht bisweilen gerathen hätte, sich in die entlegeneren Provin - zen zurückzuziehen10)Vgl. Lücke, a. a. O. S. 546..

Kann von diesen entgegengesezten Voraussetzungen nur Eine die richtige sein: so hat man in der Wahl zwischen beiden neuestens immer nur zu Gunsten des vierten Evan -439Drittes Kapitel. §. 53.gelisten entschieden, und selbst der Verfasser der Probabi - lien hat diese Differenz nicht zum Nachtheil desselben gel - tend gemacht. De Wette hat es geradezu unter den Be - denklichkeiten gegen die Ächtheit des Matthäusevange - liums aufgezählt, daſs es die Wirksamkeit Jesu fälschlich auf Galiläa einschränke11)Einleitung in das N. T. §. 98., und Schneckenburger weiſs unter den Zweifelsgründen gegen den apostolischen Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums keinen bedeutsamer hervorzuheben, als die Unbekanntschaft seines Verfassers mit dem aussergaliläischen Wirken Jesu12)Über den Ursprung u. s. f., S. 7. Beiträge u. s. f., S. 38 ff.. Soll diese Entscheidung gegründet sein, so muſs sie auf sorgfältiger Erwägung der Frage ruhen, welche von beiden unverein - baren Erzählungen durch äussere Gründe mehr gestüzt und nach inneren Gründen die wahrscheinlichere sei? Hier steht es nun mit den äusseren Gründen, welche in den Zeugnissen für die Ächtheit der beiderseitigen Evan - gelien, und zwar auf Seiten der Synoptiker namentlich des Matthäusevangeliums, bestehen, der Einleitung zufolge ziemlich gleich, d. h. sie entscheiden beiderseits nicht, son - dern überlassen den inneren Gründen die Entscheidung. In Bezug auf diese aber kommen zwei Fragen in Betracht, zunächst die: ist es wahrscheinlicher, daſs, unerachtet Je - sus wirklich schon vor seiner lezten Reise öfters in Jeru - salem und Judäa gewesen war, doch in der Zeit und Ge - gend, wo die synoptischen Evangelien entstanden, jede Kunde davon sich verloren, oder daſs umgekehrt, ohne daſs Jesus vor seiner lezten Reise jemals in öffentlicher Wirksamkeit nach Judäa gekommen war, doch an dem Ort und bis zu der Zeit der Abfassung des vierten Evan - geliums die Sage von mehreren solchen Reisen sich gebil - det hatte?

Daſs der erste Fall leicht möglich gewesen, dieſs su -440Zweiter Abschnitt.chen die genannten Kritiker auf folgende Weise darzuthun. Das erste Evangelium, sagen sie13)Schneckenburger, Beiträge, S. 39 f., und mehr oder we - niger auch die zwei mittleren, enthalten die Tradition über das Leben Jesu, wie sie sich in Galiläa gebildet hatte; hier aber hatte sich vorwiegend nur die Kunde von dem, was von Jesu eben in dieser Provinz gethan und geredet worden war, erhalten, von dem Aussergaliläischen aber war nur das Wichtigste, die Geburt, Einweihung und na - mentlich die lezte Reise Jesu, auf welcher sein Tod er - folgte, bekannt geworden, das Übrige aber, so namentlich die früheren Festreisen, entweder unbekannt geblieben oder frühzeitig wieder in Vergessenheit gerathen, so daſs, was et - wa auch von einzelnen Notizen aus einem oder dem andern früheren Festaufenthalt Jesu verlautete, weil man nur von Ei - nem solchen, dem lezten, wuſste, in diesen verlegt wurde. Allein ebenderselbe Johannes, auf welchen diese Theolo - gen sonst Alles bauen, meldet ausdrücklich von den Gali - läern (4, 45.), daſs auch sie auf dem ersten Paschafeste, welches Jesus nach seiner Taufe besuchte (und also wohl auch auf den übrigen), gewesen seien, und zwar in Masse wie es scheint, da ja in Folge dessen, daſs die Galiläer in Jerusalem seine Thaten gesehen hatten, Jesus eine gün - stige Aufnahme in Galiläa fand. Nimmt man noch dazu, daſs die meisten Jünger Jesu, die ihn auch auf den frü - heren Festreisen begleiteten (s. z. B. Joh. 4, 22. 9, 2.), Galiläer waren, so ist es undenkbar, daſs nicht von An - fang an Nachrichten über die frühere Wirksamkeit Jesu in Jerusalem nach Galiläa gekommen sein sollten. Einmal dahin gekommen aber konnten sie vielleicht mit der Zeit wieder erlöschen? Allerdings hat die Tradition eine ver - schwemmende, assimilirende Kraft: da die lezte Reise Jesu nach Jerusalem besonders merkwürdig war, so konnten die früheren allmählich mit dieser zusammenflieſsen. Aber441Drittes Kapitel. §. 53.einen anderen Trieb hat die Sage auch und der ist ihr stärkster, nämlich zu verherrlichen. Nun könnte man frei - lich sagen: zur Verherrlichung der Provinz, in welcher die synoptische Tradition entstand, diente es, die frühere Wirksamkeit Jesu ganz in die Grenzen Galiläa's einzu - schlieſsen. Allein, nicht Galiläa wollte die synoptische Sage verherrlichen, über welches sich vielmehr sehr harte Ur - theile in derselben finden, sondern Jesum verherrlicht sie, und dieser steht um so gröſser da, je weniger er sich von jeher in dem galiläischen angulus terrae verkrochen, je öfter er sich auf dem glänzenden Schauplatz der Haupt - stadt, besonders wenn diese von Zuschauern und Zuhö - rern aus allen Regionen so zahlreich wie um die Festzei - ten besucht war, producirt hatte. Wenn daher auch ge - schichtlich nur Eine jerusalemische Reise Jesu stattgefun - den hätte, so konnte doch die Sage versucht sein, nach und nach deren mehrere zu machen, indem sie für sich von dem Schlusse ausgieng: wie wird ein so groſses Licht als Jesus war, so lange unter dem Scheffel gestanden und nicht frühzeitig und oft sich auf den erhabenen Leuchter gestellt haben (Matth. 5, 15.), welchen ihm Jerusalem darbot? in Bezug auf die Gegner aber glaubte man Ein - würfen, wie schon die ungläubigen ἀδελφοὶ Ἰησοῦ Joh. 7, 3. 4. sie machten, daſs, wer etwas Rechtes leisten zu kön - nen sich bewuſst sei, sich nicht verstecke, sondern die Öffentlichkeit suche, um sich Anerkennung zu verschaffen, nicht besser begegnen zu können, als durch die Wendung, daſs Jesus allerdings auch früher schon jene Öffentlichkeit gesucht und sich Anerkennung in weiteren Kreisen erwor - ben habe, woraus sich dann leicht allmählig die Vorstel - lung bilden konnte, wie sie jetzt im vierten Evangelium zum Grunde liegt, daſs nicht Galiläa, sondern Judäa der eigentliche Aufenthalt Jesu gewesen sei.

Wenn sich auf diese Weise, die Sache vom Stand - punkt möglicher Sagenbildung aus betrachtet, die Wage442Zweiter Abschnitt.auf die Seite der Synoptiker neigt: so fragt sich, ob das Resultat dasselbe bleibt, wenn zu den Verhältnissen und Absichten Jesu hinaufgestiegen und von diesem Gesichts - punkt aus zweitens gefragt wird, ob es wahrscheinlicher sei, daſs Jesus während seines öffentlichen Lebens mehr - mals oder nur Einmal in Judäa und Jerusalem gewesen sei? Auch hier zwar ist die Bedenklichkeit, daſs mit den mehreren Festreisen auch ein Hauptmoment, die Bildung Jesu zu erklären, wegfiele, nicht schwer zu heben. Denn theils reicht zur Erklärung der Bildung Jesu auch die An - nahme von mehreren Festreisen nicht aus, und da auf die innere Begabung doch das Hauptgewicht gelegt werden muſs, können wir nicht wissen, ob einem Geist wie der seinige war, nicht auch Galiläa genug Bildungsmittel dar - bot; theils würden ja, wenn wir den Synoptikern folgen, nur diejenigen Festreisen wegfallen, welche Jesus nach sei - nem öffentlichen Auftritt gemacht haben soll, so daſs er früher, ohne noch eine Rolle zu spielen, öfters auf den Festen gegenwärtig gewesen sein könnte. Wollte man aber selbst das nicht begreiflich finden, wie Jesus nach seinem öffent - lichen Auftritt sich so lange auf Galiläa habe beschränken mögen, statt auf den durch höhere Bildung und gröſsere Frequenz weit tauglicheren Boden Judäa's und Jerusalems sich zu begeben: so ist es ja längst anerkannt, wie in dem von Priesterherrschaft und Pharisäerthum weniger abhän - gigen Galiläa mit seinen einfachen und kräftigen Naturen Jesus leichter Eingang finden und daher Ursache genug ha - ben konnte, erst nachdem er hier durch längere Wirksam - keit einen festen Grund gelegt, sich auch nach Jerusalem zu wenden, wo er, als im Mittelpunkt des priesterlichen und pharisäischen Regiments, auf stärkeren Widerstand rechnen muſste. Bedenklicher wird die Sache, wenn man die Darstellung der Synoptiker im Verhältniſs zum mosai - schen Gesez und zur jüdischen Sitte betrachtet. Bei der strengen Vorschrift des Gesetzes, daſs jeder Israëlit jähr -443Drittes Kapitel. §. 53.lich an den drei Hauptfesten vor Jehova erscheinen solle (2. Mos. 23, 14 ff. ) und bei Jesu Ehrfurcht vor den mosai - schen Institutionen (Matth. 5, 17 ff. ), läſst es sich nicht ohne Schwierigkeit denken, daſs Jesus während der gan - zen Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit nur Eine Festreise sollte unternommen haben14)Hug, Einleit. in das N. T. 2. Thl., S. 210.. Indeſs, das Matthäusevan - gelium, welches diese Darstellung giebt, wir mögen von Zeit und Ort seiner Abfassung urtheilen, wie wir wollen, ist jedenfalls in einem judenchristlichen Gebiet entstanden, wo man, was das Gesez von einem frommen Israëliten for - derte, gar wohl wuſste, also auch ein Bewuſstsein davon haben muſste, in welchen Widerspruch gegen das Gesez man Jesum verwickelte, wenn man aus seiner mehrjähri - gen öffentlichen Wirksamkeit nur Einen Festbesuch mel - dete, oder (falls die Synoptiker nur ein einjähriges Wir - ken Jesu voraussetzen sollten, wovon unten) wenn man ihn ausser dem Pascha die beiden andern Jahresfeste ver - säumen lieſs. Fand also ein der jüdischen Sitte noch so nahe stehender Kreis an der Annahme nur Eines Festbe - suchs Jesu nichts Anstöſsiges: so weiſs ich nicht, ob diese Auktorität nicht auch uns das Bedenken in dieser Sache benehmen sollte? Wirklich auch, wenn man die histori - schen und geographischen Verhältnisse näher erwägt, könnte die Frage entstehen, ob zwischen dem entlegenen, zum Theil von Heiden bewohnten Galiläa und Jerusalem das kirchliche Band damals ein so enges gewesen sei, daſs ein Mitmachen sämmtlicher Festreisen von einem Galiläer er - wartet werden konnte? wie denn auch nach der johannei - schen Darstellung Jesus ein in die Periode seines öffentli - chen Lebens gefallenes Pascha nicht besucht hat (Joh. 6, 4.). Der für die Synoptiker ungünstigste Punkt aber ist nun, daſs es unerklärlich scheint, wie Jesus bei seinem lezten Aufenthalt in Jerusalem während der kurzen Dauer der444Zweiter Abschnitt.Festtage sich mit der regierenden Partei der Hauptstadt so entschieden habe verfeinden können, daſs sie seine Gefan - gennehmung und Hinrichtung veranstaltete, wenn man nicht nach Johannes annimmt, daſs sich diese Feindschaft schon bei früherer öfteren Anwesenheit Jesu in Jerusalem ange - sponnen und allmählig ausgebildet hatte15)Hug, a. a. O. S. 211 f.. Beruft man sich hier darauf, daſs sich theils auch in galiläischen Syn - agogen ansäſsige Schriftgelehrte und Pharisäer fanden (Matth. 9, 3. 12, 14.), theils solche, die in der Haupt - stadt wohnten, die Provinzen zu durchreisen pflegten (Matth. 15, 1.), daſs also ein hierarchischer Nexus vorhanden war, vermöge dessen man Jesu in Jerusalem längst den Tod ge - schworen haben konnte, ehe er einmal öffentlich wirkend dahingekommen war: so scheint eben hieraus eine kirchli - che Verbindung zwischen Galiläa und Jerusalem sich zu ergeben, welche die Unterlassung einer Reihe von Festbe - suchen von Seiten Jesu unwahrscheinlich macht. Eine den Synoptikern sehr gefährliche Einzelheit ist noch folgende. Die Worte: Ἱερουσαλὴμ, Ἱερουσαλὴμ, ποσάκις ήϑέλησα ἐπισυνάξαι τὰ τέκνα σου καὶ οὐκ ἠϑελήσατε, haben bei Lu - kas, der sie Jesu in den Mund legt, ehe er während sei - ner öffentlichen Wirksamkeit Jerusalem auch nur gesehen (13, 34.), gar keinen Sinn, und auch nach der besseren Anordnung des Matthäus (23, 37.) ist nicht abzusehen, wie Jesus nach einem einzigen Aufenthalt von wenigen Ta - gen auf häufige Versuche, die Bewohner Jerusalems zu ge - winnen, sich berufen konnte. Sollen also diese Worte nicht dafür angesehen werden, Jesu später untergelegt wor - den zu sein, was bei einer so originellen Gnome immer schwer hält: so müſste, um sie passend zu finden, aller - dings eine Reihe früherer jerusalemischer Aufenthalte Jesu, wie sie das vierte Evangelium bietet, angenommen werden.

Aus dem Bisherigen wird erhellen, ob, wo so Vieles445Drittes Kapitel. §. 54.pro und contra sich disputiren läſst, die unbedenkliche Entscheidung der Kritiker für die Darstellung des vierten Evangeliums eine berechtigte sei; wir unsrerseits sind weit entfernt, uns ebenso übereilt für die Synoptiker auszuspre - chen, und begnügen uns, den oft übersehenen wahren Stand der synoptisch-johanneischen Streitsache zu weite - rer Prüfung vorgelegt zu haben.

§. 54. Der Wohnsitz Jesu in Kapernaum.

Wie Jesu für die Zeit, die er in Judäa zubrachte, vorzugsweise die Hauptstadt und deren Umgegend zum Schau - plaz seiner Wirksamkeit angewiesen war: so könnte es scheinen, als wäre ihm für den galiläischen Aufenthalt et - wa seine Vaterstadt Nazaret nahe gelegt gewesen. Statt dessen finden wir ihn aber, wenn er nicht auf Reisen ist, wie schon erwähnt, in Kapernaum heimisch: die Synopti - ker bezeichnen diesen Ort als die ἰδία πόλις Jesu (Matth. 9, 1. vrgl. Mare. 2, 1.); hier war nach ihnen der οἶκος, wo sich Jesus aufzuhalten pflegte (Marc. 2, 1. 3, 20. Matth. 13, 1. 36. ), welches vielleicht das Haus des Petrus war (Marc. 1, 29. Matth. 8. 14. 17, 25. Luc. 4, 38.). Im vier - ten Evangelium, welches Jesum überhaupt nur sehr vor - übergehend in Galiläa zeigt, tritt auch Kapernaum nicht als Wohnort Jesu hervor, und scheint eher Kana als der Ort vorausgesezt zu werden, mit welchem Jesus am meisten Verbindung hatte. Nach seiner Taufe kommt er hier zu - erst nach Kana (2, 1.), zwar dieſsmal aus einer besondern Veranlassung; hierauf hält er sich nur kurze Zeit in Kapernaum auf (V. 12.); dann aber nach der Rückkehr von der ersten Festreise ist es wieder Kana, wohin sich Jesus begiebt, und selbst eine Heilung, welche er nach den Synop - tikern zu Kapernaum vornimmt, läſst ihn das vierte Evan - gelium von Kana aus verrichten (4, 46 ff. ), worauf wir ihn nur noch Einmal in der Synagoge von Kapernaum finden446Zweiter Abschnitt.(6, 59.). Auch die vornehmsten Jünger läſst das johan - neische Evangelium nicht, wie die Synoptiker, aus Kaper - naum, sondern theils aus Kana (21, 2.), theils aus Bethsai - da sein (1, 45.). Der leztere Ort übrigens wird neben Chorazin auch von den Synoptikern als ein solcher erwähnt, an welchem Jesus vorzugsweise wirksam gewesen (Matth. 11, 21. Luc. 10, 13.).

Wie es gekommen sei, daſs Jesus gerade Kapernaum zum Mittelpunkt seines galiläischen Aufenthalts machte, davon giebt Markus gar keine Rechenschaft, sondern läſst ihn nach seiner Rückkehr nach Galiläa und der Berufung der Fischerpaare ohne Weiteres dahin kommen (1, 21.). Matthäus (4, 13 ff. ) giebt einen Grund an, aber einen wunderlichen, daſs nämlich eine A. T. liche Weissa - gung (Jes. 8, 23. 9, 1.) dadurch habe erfüllt werden müs - sen; eine Begründung, welche nur zeigt, daſs der Evange - list keine bessere zu geben wuſste. Lukas glaubt den Grund in etwas Andrem gefunden zu haben, das sich weit eher hören läſst. Nach ihm nämlich nimmt Jesus nicht sogleich nach seiner Rückkehr von der Taufe in Kapernaum seinen Aufenthalt, sondern macht zuerst in Nazaret einen Versuch, nach dessen Fehlschlagen er sich erst nach Kapernaum wendet. Mit gröſster Anschaulichkeit wird uns berichtet, wie Jesus am Sabbat in der Synagoge zu Nazaret aufge - treten sei, und eine Prophetenstelle auf eine Weise ausge - legt habe, welche allgemeine Bewunderung seines Vortrags, aber ebensobald auch hämische Rückblicke auf seine be - schränkten Familienverhältnisse hervorrief. Jesus hierauf habe die Unzufriedenheit der Nazaretaner darüber, daſs er nicht auch bei ihnen wie in Kapernaum Wunder thue, auf die Geringschätzung, die jeder Prophet eben in seiner Heimath am meisten zu erfahren habe, zurückgeführt, und ihnen in A. T. lichen Beispielen gedroht, daſs die gött - lichen Wohlthaten ihnen entzogen und Auswärtigen wer - den zugewendet werden. Hierüber ergrimmt, haben sie447Drittes Kapitel. §. 54.ihn an den Abhang des Bergs hinausgeführt, um ihn hin - abzustürzen: er aber sei unverlezt durch ihre Reihen hin - durchgegangen 4, 16 30.).

Von einem Besuch Jesu in Nazaret wissen auch die beiden anderen Synoptiker, aber sie versetzen ihn in eine viel spätere Zeit, als Jesus schon längst in Galiläa gewirkt, und namentlich schon lange sich in Kapernaum ansässig gemacht hatte (Matth. 13, 54 ff. Marc. 6, 1 ff.). Beide Vor - gänge pflegte man sonst1)So noch Paulus, exeg. Handb. 1, b. S. 403. in das Verhältniſs zu stellen, daſs Jesus, unerachtet er das erste Mal so übel aufgenom - men worden war, wie Lukas erzählt, doch später noch einmal habe einen Versuch machen wollen, ob nicht seine längere Abwesenheit und seither erworbener Ruhm das kleinstädtische Urtheil der Nazaretaner gebessert habe, was aber nicht der Fall gewesen sei. Allein die beiden Scenen sehen sich doch gar zu ähnlich, um sich leicht auseinan - derhalten zu lassen. Beidemale macht das Lehren Jesu in der Synagoge, welches Lukas nur näher beschreibt, den - selben Eindruck, daſs die Nazaretaner eine solche Weis - heit an dem Sohne des Zimmermanns Joseph nicht begrei - fen können; beidemale läſst es Jesus an Wundern fehlen, wovon bei den zwei ersten Evangelisten mehr die Ursache, nämlich der Unglaube der Nazaretaner, bei dem dritten mehr die ungünstige Wirkung auf dieselben hervorgehoben wird; beidemale endlich spricht Jesus die Erfahrung aus von dem in der eigenen Heimath am wenigsten angesehe - nen Propheten, woran er bei Lukas noch weitere Reden knüpft, welche die Nazaretaner zum Versuch eines Gewalt - streichs reizen, wovon die beiden andern Referenten nichts wissen. Entscheidender aber ist das Andere, daſs keine von beiden Erzählungen die andre vor sich dulden will, sondern jede den Anspruch macht, den ersten Vorfall die -448Zweiter Abschnitt.ser Art zu betreffen2)Diess hat besonders Schleiermacher in's Licht gestellt, über den Lukas S. 63., indem sich in beiden die erste Be - fremdung der Landsleute Jesu über seine plözlich zu Tage gekommenen Geistesgaben ausspricht, die sie mit seinen sonstigen Verhältnissen nicht sogleich zu reimen wuſsten3)Sieffert, über den Ursprung des ersten kanonischen Evan - geliums, S. 89.. Wäre nämlich nach der zunächst sich bietenden Annahme dem von Matthäus und Markus erzählten Auftritt der bei Lukas beschriebene vorangegangen gewesen: so hätten die Nazaretaner nicht zum zweitenmal sich wundern können, πόϑεν τούτῳ σοφία αὕτη; da sie ja von dieser schon das erstemal Proben bekommen hatten; sollte aber umgekehrt die von Lukas erzählte Begebenheit die zweite sein: so konnten sie sich dann theils nicht wieder über die λόγους τῆς χάριτος an dem υἱὸς Ἰωσηφ verwundern aus demsel - ben Grunde, theils konnte Jesus nicht schlechtweg sagen: σήμερον πεπλήρωται γραφὴ αὕτη ἐν τοῖς ὠσ[ι]ν ύμῶν, ohne einen strafenden Rückblick auf die frühere Gelegen - heit zu werfen, bei welcher sie sich bereits hatte erfüllen wollen, aber durch ihre Unempfänglichkeit daran verhin - dert worden war.

Durch diese Erwägungen sind jezt die Ausleger gros - sentheils zu der Einsicht gelangt, daſs hier dieselbe Ge - schichte nur verschieden gestellt und geschildert sei4)So Olshausen, Fritzsche z. d. St. Hase, Leben Jesu §. 56. Sieffert, a. a. O., und es fragt sich blos noch, welche Relation den Vorzug verdiene? Was die Stellung betrifft, so scheint auf den ersten Anblick die des Lukas Alles für sich zu haben. Für die Verlegung des Wohnsitzes giebt sie den erwünschten Grund; auch die Verwunderung der Nazaretaner scheint sich am besten begreifen zu lassen, wenn Jesus nur so eben erst öffentlich aufgetreten war, und so hat man noch449Drittes Kapitel. §. 54.neuestens dem Matthäus seine von Lukas abweichende fal - sche Einordnung dieser Erzählung zum bedeutenden Vor - wurf gemacht5)Sieffert, a. a. O.. Allein Ein Zug findet sich in allen drei Erzählungen, der es erschwert, den Vorfall in so ganz frühe Zeit zu setzen. Trat nämlich Jesus in dieser Weise zu Nazaret auf, ehe er Kapernaum zum Hauptschauplaz seiner Wirksamkeit gemacht hatte: so konnten die Naza - retaner nicht sagen, wie Jesus bei Lukas sie sagen läſst: ὅσα ἠκούσαμεν γενόμενα ἐν τῇ Καπερναοὺμ, ποίηοον καὶ ὧδε ἐν τῇ πατρίδι σου, noch auch konnten sie sich nach Mat - thäus und Markus über die δυνάμεις Jesu wundern, wel - che, unerachtet der verwirrenden Verbindung mit der in Nazaret erprobten σοφία, doch, weil ja Jesus in Nazaret damals kein oder nur wenige Wunder that, nothwendig als anderswo verrichtet gedacht werden müssen. Wunder - ten sich also die Nazaretaner und sahen scheel über die Thaten Jesu in Kapernaum: so muſste Jesus schon vorher sich daselbst aufgehalten haben, und kann nicht erst in Folge des damaligen Auftritts in Nazaret dorthin gezogen sein. Hieraus wird deutlich, daſs diese Erzählung ur - sprünglich für eine spätere Stellung gemacht und von Lu - kas nur durch Conjektur früher gestellt worden ist, wel - cher hiebei redlich wenn wir wollen, oder nachläſsig ge - nug war, die nur bei der späteren Stellung denkbare Er - wähnung kapernaitischer Thaten Jesu stehen zu lassen6)Schleiermacher, a. a. O. S. 64.. Neigt sich so in Betreff der Stellung der Begebenheit der Vortheil auf die Seite des Matthäus und Markus: so blei - ben wir über den Grund, welcher Jesum bewog, seinen Sitz von Nazaret nach Kapernaum zu verlegen, im Dun - keln, wenn nicht theils der Umstand, daſs einige seiner vertrautesten Jünger dort zu Hause waren, theils der grös - sere Verkehr des Ortes etwas dazu beigetragen hat.

Das Leben Jesu I. Band. 29450Zweiter Abschnitt.

Was die beiderseitige Schilderung der Scene betrifft, so hat die Ausführlichkeit der von Lukas gelieferten gegen - über dem Summarischen der von den beiden andern Evan - gelisten gegebenen gewöhnlich das Urtheil zur Folge, daſs jene die genauere und richtigere sei7)Ders. ebendas. S. 63 f.. Treten wir näher, so zeigt sich die gröſsere Ausführlichkeit der Erzählung des Lukas zuerst darin, daſs er sich nicht begnügt, nur im Allgemeinen eines von Jesu in der Synagoge gehaltenen Vortrags zu gedenken, sondern auch die A. T. liche Stelle angiebt, über welche er gesprochen, und den Anfang der Anwendung, die er von derselben gemacht habe. Die Stelle ist aus Jes. 61, 1. 2., wo der Prophet die Rückkehr aus dem Exil ankündigt; nur die Worte: ἀποςεῖλαι τεϑραυσ - μ[έ]νους ἐν ἀφεσει sind aus Jes. 58, 6. eingeschoben. Dieser Stelle giebt nun Jesus eine messianische Deutung, indem er sie durch seinen Auftritt für erfüllt erklärt. Wie er gerade auf diesen Text gekommen, darüber hat man Ver - schiedenes vermuthet. Da man weiſs, daſs bei den späte - ren Juden für die einzelnen Sabbate und Feste bestimmte Abschnitte aus der Thorah und den Propheten zum Vor - lesen in den Synagogen bestimmt waren: so vermuthete man, für den damaligen Sabbat oder Festtag sei eben jener Abschnitt aus Jesaias festgesezt gewesen. Und zwar, da die Perikope, aus welcher die Worte ἀποςεῖλαι κ. τ. λ. genommen sind, am groſsen Versöhnungsfest gelesen zu werden pflegte: so hat Bengel zu einem Grundpfeiler seiner evangelischen Chronologie die Voraussetzung gemacht, daſs die vorliegende Begebenheit am Versöhnungstage vor sich gegangen8)Ordo temporum S. 220 ff. ed. 2.. Allein wenn Jesus an diesem Feste die or - dentliche Vorlesung hielt, so durfte er aus der für das - selbe bestimmten Perikope nicht blos ein paar verlorene Worte einflieſsen lassen, und den gröſseren Theil der Lek -451Drittes Kapitel. §. 54.tion aus einer ganz andern Stelle nehmen; überhaupt aber ist nicht erweislich, daſs schon zu Jesu Zeit bestimmte Lesestücke auch aus den Propheten vorgeschrieben gewe - sen seien9)Paulus, a. a. O. 1, b, S. 407.. War also Jesus nicht durch diese äussere Veranlassung auf die bezeichnete Stelle hingewiesen, so fragt sich: schlug er sie absichtlich oder unabsichtlich auf? Manche freilich lassen ihn so lange blättern, bis er die Stelle, welche er im Sinne hatte, findet10)Paulus, a. a. O., aber auch Lightfoot, horae, S. 765.: allein Ols - hausen hat wohl recht, wenn er sagt, das ἀναπτύξας τὸ βιβλίον εὗρε τὸν τόπον deute nicht auf ein reflektirend ab - sichtliches, sondern auf ein vom Geist geleitetes Finden je - ner Stelle hin11)Bibl. Comm. 1, S. 470.. Daſs aber auf diese Weise Jesus hier zufällig gerade diejenige Stelle aufgeschlagen haben soll, welche zur Bezeichnung seines ersten messianischen Auf - tretens so ausgesucht paſste, das Auffallende hievon wird durch die Berufung auf den Geist als deus ex machina nur schlecht versteckt. Wohl konnte Jesus diese Stelle mit Bezug auf sich selber im Munde führen, und ebenso konnte sie dem Evangelisten als in Jesu erfüllt vorschwe - ben; Matthäus hätte sie vielleicht in seiner eignen Person durch ἵνα πληρωϑῇ eingeführt und gesagt, Jesus habe nun - mehr sein messianisches κήρ[υ]γμα begonnen, auf daſs die Weissagung Jes. 61. 1 f. erfüllet würde; statt dessen legt sie Lukas, der diese Formel weniger liebt, oder die Tra - dition, aus welcher er schöpfte, Jesu selbst bei seinem ersten messianischen Auftritt in den Mund, sehr ge - schickt offenbar, aber wegen des dabei vorauszusetzenden Zufalls minder wahrscheinlich, so daſs ich mir lieber an der unbestimmten Angabe des Matthäus und Markus genü - gen lassen will.

Das Andere, worin der Vorzug der Schilderung des29*452Zweiter Abschnitt.Lukas in Hinsicht der Ausführlichkeit bestehen soll, das anschauliche Gemälde der tumultuarischen Schluſsscene, ha - ben selbst diejenigen, welche im Ganzen seiner Erzählung den Vorzug geben, doch nicht ganz zurechtzulegen gewuſst. Denn einmal konnte man sich nicht verbergen, daſs die Gründe einer so äusserst gewaltsamen Vertreibung aus der Darstellung des Lukas nicht erhellen12)Hase, Leben Jesu, §. 56., und doch läſst sich, daſs es dabei auf das Leben Jesu abgesehen gewesen sei, nicht (mit Schleiermacher13)Über den Lukas, S. 63.) leugnen, ohne das εἰς τὸ κατακρημνίσαι αυτὸν (V. 29.) geradezu für einen falschen Zusaz des Referenten zu erklären, wodurch seine Glaub - würdigkeit für den ganzen Abschnitt einen bedeutenden Stoſs bekäme. Besonders aber das διελϑὼν διὰ μέσου αὐτῶν ἐπορεύετο (V. 30.) ist ein Zug, der sich, wenigstens nach des Erzählers Absicht, nicht durch den bloſsen Herrscher - blick Jesu (mit Hase) erklären läſst, sondern auch hier behält Olshausen Recht, wenn er sagt, der Tendenz des Schriftstellers nach solle ausgesprochen sein, Jesus sei deſs - wegen ungekränkt mitten durch seine wüthenden Feinde hindurchgegangen, weil seine göttliche Kraft Sinn und Glie - der derselben gebunden hielt, weil seine Stunde noch nicht gekommen war (Joh. S, 20.), und weil Niemand sein Le - ben von ihm nehmen konnte, bis er selbst es hingab (Joh. 10, 18.)14)a. a. O. S. 479, vgl. 2, S. 214.. Nur um so weniger aber wird man auch in diesem Zuge das verherrlichende Bestreben der Sage ver - kennen, vermöge dessen sie Jesum als einen solchen dar - zustellen liebte, von welchem, wie von einem Lot (1 Mos. 19, 11.) und Elisa (2 Kön. 6, 18.) eine höhere Hand, oder besser seine eigene Macht als höheren Wesens, die Feinde abwehrte, wenn man auch nicht gerade, was schon Ter -453Drittes Kapitel. §. 55.tullian verwehrt15)adv. Marcion. 4, 8., ein illudere per caliginem, wie in jenen beiden Fällen, annehmen will. Also auch in diesem Stük - ke ist der einfachere Schluſs bei den beiden ersten Evan - gelisten vorzuziehen, daſs Jesus, durch den Unglauben der Nazaretaner an weiterer Wirksamkeit verhindert, seine undankbare Vaterstadt verlassen habe.

§. 55. Abweichungen der Evangelisten in Bezug auf die Chronologie des Lebens Jesu. Dauer seiner öffentlichen Wirksamkeit.

Was die Zeitrechnung des öffentlichen Lebens Jesu betrifft, so muſs die Frage nach der Dauer desselben im Ganzen von der andern nach der Vertheilung der einzel - nen Begebenheiten innerhalb dieses Zeitraums unterschie - den werden.

Wie lange die öffentliche Wirksamkeit Jesu gewährt habe, wird von keinem unsrer Evangelisten ausdrücklich gesagt; doch während uns die Synoptiker auch zu einem Schluſs auf jene Dauer nichts an die Hand geben, finden wir bei Johannes einige Data, welche uns zu einem sol - chen Schlusse zu berechtigen scheinen. Bei den Synoptikern ist keine Andeutung, wie lange nach Jesu Taufe seine Ge - fangennehmung und Hinrichtung vorgefallen; nirgends sind Monate und Jahre unterschieden, und wenn es ein und das andremal heiſst: μεϑ 'ἡμέρας ἒξ oder δύο (Matth. 17, 1. 26, 2.), so können diese einzelnen festen Punkte in der allgemeinen Unbestimmtheit, in welcher sie schwimmen, durchaus keinen sichern Halt gewähren. Das vierte Evan - gelium dagegen giebt uns eben durch jene Festreisen Jesu, durch deren Mehrzahl es sich von den übrigen unterschei - det, zugleich chronologische Anhaltspunkte an die Hand, indem, so oft Jesus auf einem dieser jährigen Feste und namentlich auf dem Paschafest erschienen ist, so viele volle454Zweiter Abschnitt.Jahre seiner Wirksamkeit, nach Abzug des ersten Festes, gerechnet werden dürfen. Wir haben im vierten Evange - lium nach der Taufe Jesu zuerst ein von ihm besuchtes Paschafest (2, 13.), zwischen welchem und der Taufe nur kurze Zeit zu liegen scheint (vergl. 1, 29. 35. 44. 2, 1. 12.). Nun aber das nächste von Jesu besuchte Fest (5, 1.) wel - ches nur unbestimmt als ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων bezeichnet ist, war von jeher die crux der N. T. lichen Chronologen. Be - deutend ist es für die Bestimmung der Dauer des öffentli - chen Lebens Jesu nur, wenn es ein Pascha ist, denn in diesem Falle wäre hier das erste Jahr seiner Wirksamkeit zu Ende. Daſs nun durch ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων vorzugs - weise das Paschafest bezeichnet werden könne1)Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 788 f., glauben wir gerne; allein die besten Codices haben in unsrer Stelle keinen Artikel, und ohne diesen kann jener Ausdruck nur unbestimmt irgend ein jüdisches Fest bedeuten, das der Ver - fasser nicht näher namhaft machen will2)s. Lücke, Comm. zum Ev. Joh. 2, S. 6.. An sich könnte es also gleich gut Pfingsten3)Bengel, ordo temporum S. 219 f., Purim4)Hug, Einl. in d. N. T. 2, S. 229 ff., Pascha5)Paulus, Comm. zum Ev. Joh. S. 279 f. Exeg. Handb. 1, b. S. 784 ff. oder ein anderes sein6)Zusammenstellungen der verschiedenen Ansichten geben Hase, L. J. §. 47. Lücke a. a. O. S. 2 ff.; doch im Sinne des Referenten ist wohl nicht an ein Paschafest zu denken, theils weil er dieses gröſste Fest schwerlich so unbezeichnet gelassen hätte, theils weil 6, 4. schon wieder ein Paschafest kommt, und so zwi - schen 5, 47. und 6, 1. ein ganzes Jahr mit Stillschweigen übergangen sein müſste. Denn daſs das ἦν δὲ ἐγγὺς τὸ πάσχα (6, 4.) sich rückwärts auf das eben verflossene Fest beziehe, ist doch eine zu gewaltsame Auskunft von455Drittes Kapitel. §. 55.Paulus, da, wie er selbst gesteht7)exeg. Handb. 1, b. S. 785., dieselbe Phrase bei Jo - hannes sonst immer das nahe bevorstehende Fest bedeutet (2, 13. 7, 2. 11, 55.), und auch ihrer Natur nach bedeuten muſs, wofern nicht aus dem Zusammenhang das Gegentheil sich ergiebt. Erst also Joh. 6, 4. haben wir das zweite Paschafest, von welchem übrigens nicht gemeldet wird, daſs Jesus es besucht hätte8)s. Storr, über den Zweck der evang. Gesch. und der Briefe Johannis, S. 330.. Nachdem nun noch des Festes der Laubhütten und der Tempelweihe gedacht ist, wird 11, 55. 12, 1. das lezte Pascha aufgeführt, welches Jesus besuchte. So hätten also wir, nach unserer Ansicht von Joh. 5, 1. und 6, 4., für die öffentliche Wirksamkeit Jesu zwei Jahre, nebst demjenigen Zeitabschnitt, welcher zwi - schen seiner Taufe und dem ersten von ihm besuchten Pa - scha liegt. Auf dieselbe Rechnung kommen diejenigen, welche, wie Paulus, 5, 1. ein Pascha, aber 6, 4. nur eine Rückweisung auf dieses sehen, wogegen die alte, kirchen - väterliche Ansicht, welche in den angeführten beiden Stel - len zwei verschiedene Paschafeste fand, drei volle Jahre herausbrachte. Indeſs durch jene Rechnung bekommen wir nur das minimum der Dauer des öffentlichen. Wirkens Je - su nach Johannes, da weder der Referent irgendwo an - deutet, daſs er gerade alle Feste, welche in jenen Zeitraum fielen, und namentlich auch die von Jesu nicht besuchten, namhaft machen wolle, noch wir, sofern wir nicht den Apostel Johannes als den Verfasser des vierten Evangeliums schon voraussetzen, eine Bürgschaft haben, daſs er von al - len gewuſst habe.

Wenn man nun nicht selten sagt, dieser johanneischen Rechnung gegenüber geben die Synoptiker Veranlassung, die öffentliche Wirksamkeit Jesu auf Ein Jahr zu beschrän - ken9)z. B. Winer, b. Realw. 1, S. 666.: so beruht dieſs nur auf der aus Johannes herüber -456Zweiter Abschnitt.genommenen Voraussetzung, daſs der Galiläer Jesus alle Paschafeste habe besuchen müssen, eine Annahme, welche übrigens durch das Datum desselben Johannes, daſs Jesus das Paschafest 6, 4. unbesucht gelassen, widerlegt wird. Denn hier ist nicht etwa eine von Jesus wirklich gemachte Reise vom Referenten verschwiegen, sondern von 6, 1. an, wo Jesus auf der Ostseite des Sees Tiberias ist, durch 6, 17 und 59, wo er nach Kapernaum geht, und 7, 1, wo er, um Judäa zu vermeiden, in Galiläa wandelt, bis 7, 2 und 10, wo er zur Skenopegie nach Jerusalem reist, hängt die Darstellung des Evangelisten so genau zusammen, daſs nirgends eine Paschareise eingeschoben werden kann. Aus den Synoptikern für sich wissen wir gar nicht, wie lange Jesus öffentlich gewirkt hat, und er könnte nach ihnen ebensogut mehrere Jahre als blos Eines thätig gewesen, nur aber im lezten erst zum Paschafest gereist sein. Frei - lich sprachen schon einige der ältesten Häretiker10)Iren. adv. haer. 1, 1, 5. 2, 35. 38. (ed. Grabe), von den Va - lentinianern. Clem. hom. 17, 19. und Kirchenväter11)Clem. Alex. Stromat. 1, p. 174, Würzb. Ausg., 340 Sylburg; Orig. de principp. 4, 5, vrgl. homil. in Luc. 32. von einer blos einjährigen Wirksamkeit Jesu: allein, daſs nicht das Fehlen der früheren Fest - reisen Jesu bei den Synoptikern, sondern etwas ganz Zufälliges die Quelle dieser Ansicht war, geben jene Väter selbst zu verstehen, indem sie sich für dieselbe auf die auch von Jesus Luc. 4. auf sich bezogene Propheten - stelle Jes. 61, 1 f. berufen, wo von einem ἐνιαυτὸς Κυρίου δεκτ[ό]ς die Rede ist, welchen der Prophet, oder nach der evangelischen Deutung der Messias, zu verkündigen gesen - det sei. Indem sie diesen Ausdruck im strengen, chrono - logischen Sinne verstanden, kamen sie auf ihre Annahme nur Eines Messiasjahrs, welche sie denn freilich mit den Synoptikern leichter vereinigen konnten, als mit Johannes,457Drittes Kapitel. §. 55.nach dessen Darstellung jene Rechnung bald genug in der Kirche berichtigt wurde.

In auffallendem Contraste mit diesem niedrigsten An - schlag der Zeit von Jesu öffentlichem Leben steht die eben - falls sehr alte Tradition, daſs Jesus zwar im dreissigsten Jahr getauft worden, aber bei seiner Kreuzigung nicht mehr weit von den Funfzigen entfernt gewesen sei12)Iren. 2, 39., ei - ne Angabe, welche ihr Gewährsmann Irenäus auf das Zeugniſs aller derjenigen zurückführt, welche in Kleinasien mit Johannes zusammengelebt und dieſs von ihm gehört ha - ben. Auch diese Annahme jedoch, wie die zuvor angeführte, scheint nur auf einer miſsverstandenen N. T. lichen Stelle zu beruhen, auf welche sich auch Irenäus beruft, auf Joh. 8, 57. nämlich, wo die Juden Jesu entgegenhalten: πεν - τήκοντα ἔτη ου῎πω ἔχεις, καὶ Ἀβραὰμ ἑώρακας; woraus man schlieſsen zu dürfen glaubte, Jesus müsse damals schon in das funfzigste Jahr gegangen sein. Allein gar wohl konnten die Juden auch zu einem etlich und Dreissigjähri - gen sagen, er sei viel zu jung, um Abraham gesehen zu haben, da er ja noch nicht einmal das funfzigste Jahr er - reicht, d. h. nach jüdischer Vorstellung, das Mannesalter vollendet habe13)Lightfoot und Tholuck z. d. St..

So wissen wir also aus unsern Evangelien nicht genau, wie lange Jesu öffentliches Wirken gedauert habe, sondern können nur so viel sagen, daſs es, wenn wir dem vierten Evangelium folgen, nicht unter zwei Jahren und etwas darüber anzuschlagen wäre. Allein die mehreren Festrei - sen, auf welche diese Zeitbestimmung sich gründet, sind ja selbst nicht über allen Zweifel erhaben.

Diesem minimum gegenüber erhalten wir ein maximum für die Dauer des öffentlichen Lebens Jesu, wenn wir die Angabe des Lukas 3, 1 ff. und 23. so verstehen, daſs die458Zweiter Abschnitt.Taufe Jesu in das funfzehnte Jahr des Tiberius gefallen sei, und wenn wir, darauf fuſsend, das andere Datum dazu nehmen, daſs Jesus noch unter der Procuratur des Pontius Pilatus hingerichtet worden ist. Da nämlich Pila - tus im Todesjahr des Tiberius von seinem Posten abberu - fen wurde14)Joseph. Antiq. 18, 4, 2., Tiberius aber nach jenem funfzehnten Jahr noch etwas über sieben Jahre regierte15)Sueton. Tiber. c. 73. Joseph. Antiq. 18, 6, 10.: so wären sie - ben Jahre das maximum für die Wirksamkeit Jesu nach seiner Taufe. Allein so sicher das eine Datum ist, daſs Jesus unter Pilatus gestorben ist, so sehr ist das andere durch Verwebung mit einem chronologischen Verstoſse ver - dächtig gemacht: so daſs hier in der That nicht blos keine genaue Bestimmung, sondern auch keine ungefähre zu er - zielen scheint.

§. 56. Die Versuche einer chronologischen Anordnung der einzelnen Be - gebenheiten des öffentlichen Lebens Jesu.

Um die in den Zeitraum des öffentlichen Lebens Jesu fallenden einzelnen Begebenheiten chronologisch gegenein - ander zu stellen, ist vermöge des eigenthümlichen Verhält - nisses der Synoptiker zum Johannes eine Betrachtung theils jedes dieser Theile für sich, theils beider in Beziehung auf einander erforderlich.

Was das Leztere betrifft, so müſsten, wenn eine Aus - gleichung möglich sein sollte, die johanneischen Festreisen die Fächer abgeben, in welche der von den Synoptikern gelieferte Stoff in der Art einzutragen wäre, daſs jedesmal zwischen zwei jener Reisen und die jerusalemischen Er - eignisse, welche sich an sie anschlieſsen, eine Parthie der galiläischen Begebenheiten fiele. Sollte diese Einordnung mit einiger Sicherheit zu Stande gebracht werden können,459Drittes Kapitel. §. 56.so müſste zweierlei stattfinden: einmal von Seiten der drei ersten Evangelisten, daſs sie, so oft bei dem vierten von einem Festaufenthalt die Rede ist, eine Abreise Jesu aus Galiläa anzeigten; dann von Seiten des Johannes, daſs er dieselben galiläischen Begebenheiten, welche die Synopti - ker in Einem Zuge berichten, zwischen die verschiedenen Feste hinein vertheilt erzählte oder andeutete. Allein jene Anzeigen von Seiten der Synoptiker finden sich nach dem Obigen gar nicht; Johannes aber trifft bekanntlich zwischen der Taufe Jesu und den lezten Ereignissen seines Lebens nur in zwei bis drei Erzählungen mit den übrigen Evan - gelisten zusammen. Das ου῎πω ἦν βεβλημένος εἰς τὴν φυλα - κὴν Ἰωάννης (Joh. 3, 24.), woraus man zu schlieſsen pflegt, Matthäus, welcher Jesum erst nach des Täufers Ver - haftung nach Galiläa zurückkehren läſst, melde nicht die Rückkehr von der Taufe, sondern vom ersten Paschafest1)vrgl. Paulus, Leben Jesu, 1, a, S. 214 f., ist, weit entfernt einen chronologischen Vereinigungspunkt der synoptischen Berichte mit dem johanneischen an die Hand zu geben, vielmehr ein Beweis ihrer völligen Unverein - barkeit. Das nächste, aber von den meisten bezweifelte Zu - sammentreffen findet bei der Heilung des Sohns eines βα - σιλικὸς nach Joh. 4, 46 ff, oder des Knechts eines ἑκατόν - ταρχος Matth. 8, 5 ff. Luc. 7, 1 ff. statt, welche Johannes unmittelbar (V. 47.) nach der Zurückkunft Jesu von seinem längeren Au[f]enthalt in Judäa und Samarien bei und nach dem ersten Paschafeste sezt. Nun müſste also unmittelbar vor der entsprechenden Erzählung bei den Synoptikern ei - ne Andeutung der ersten Festreise Jesu sich finden. Aber nicht einmal eine Spalte für die mögliche Einfügung dieser Reise findet man, da den Synoptikern zufolge jene Heilung vor sich geht, nachdem Jesus eben die Bergrede gehalten, welche, namentlich nach Matthäus, mit dem übrigens auch460Zweiter Abschnitt.Lukas zusammenstimmt, der Höhepunkt einer so viel man sehen kann ununterbrochenen galiläischen Wirksamkeit Jesu ist. So läſst sich also an diesem Punkte der Chronologie der drei ersten Evangelisten durch die des vierten nicht aufhelfen, indem sich nirgends eine Fuge zeigt, an wel - cher die Darstellung des Lezteren in die der Ersteren ein - greifen könnte. Ein anderes entschiedeneres Zusammen - treffen des Johannes mit den Synoptikern findet sich in den aneinanderhängenden Erzählungen von der Speisung und dem Wandeln auf dem Meer Joh. 6, 1 21. Matth. 14, 14 36. parallel., welche Johannes (6, 4.) in die Zeit un - mittelbar vor dem zweiten, von Jesus nicht besuchten, Pascha verlegt. Aber hier sind vollends die Anfangs - und Endpunkte der Erzählung auf beiden Seiten so verschie - den, daſs man sagen muſs: der eine oder der andere Theil hat sie in falsche Verbindung gestellt. Denn während Je - sus nach Matthäus von Nazaret, in jedem Fall von Galiläa aus auf das jenseitige Ufer sich zurückzieht, wo sofort die Speisung erfolgt: kommt er nach Johannes von Jerusalem und Judäa her, und während er bei den beiden ersten Evangelisten nach der Speisung in eine Gegend, wo er minder bekannt war (es wird ja Matth. V. 34. ausdrück - lich herausgehoben, daſs die Leute ihn erkannt haben), sich begiebt, geht er nach Johannes gerade in die ihm vertrauteste Stadt, nach Kapernaum. Wenn wir so nicht wissen, ob nicht das genannte Ereigniſs bei den Synopti - kern oder bei Johannes zu früh oder zu spät gesezt ist: so können wir auch nicht absehen, wie viele von den syn - optischen Erzählungen vor und wie viele nach dem mit jener Speisung zusammentreffenden zweiten Pascha zu se - zen sind. Damit sind nun aber die Berührungspunkte aus der Zeit vor der lezten Reise Jesu zu Ende, und wenn schon diese so wenig sicher sind, daſs sie eine Verthei - lung des synoptischen Stoffs durch die beiden Paschafeste vergebens versprechen: wie kann man hoffen, durch die461Drittes Kapitel. §. 56.Reisen Jesu auf die ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων, auf die Skenope - gie, und wenn dieſs eine besondere Reise ist, auf die En - känien den ununterbrochenen Fluſs der galiläischen Erzäh - lungen in den drei ersten Evangelien chronologisch abthei - len zu können? wie dieſs bis auf die neueste Zeit eine Rei - he von Forschern mit einem Aufwand von Scharfsinn und Gelehrsamkeit versucht hat, der eines fruchtbareren Stof - fes würdig gewesen wäre2)s. besonders die Leistungen von Paulus in den chronologischen Excursen seines Commentars und exegetischen Handbuchs; von Hug in der Einleit. z. N. T. 2, S. 2, 233 ff., und Anderen, welche Winer nachweist, im bibl. Realwörterb. 1, S. 667.. Mit Recht haben daher un - befangene Richter sich dahin entschieden, da die Erzäh - lung der drei ersten Evangelien zu wenig darbiete, was bei einer solchen Einordnung einigermaſsen sicher leiten könnte: so habe keine der bisherigen Evangelienharmonieen einen Anspruch, für mehr als ein Gewebe historischer Con - jekturen gehalten zu werden3)Winer, a. a. O.; vgl. Kaiser, biblische Tehologie, 1, S. 254. Anm.; die Abhandlung über die verschiedenen Rücksichten u. s. w. in Bertholdt's krit. Journal, 5, S. 239..

Was nun die chronologische Würdigung der Synopti - ker abgesehen von Johannes betrifft, so weichen sie in der Anordnung der Begebenheiten so oft von einander ab und so wenig behält Einer die Wahrscheinlichkeit durchaus auf seiner Seite, daſs auf jeden von ihnen eine Zahl chro - nologischer Verstöſse kommt, welche seine Verläſslichkeit in diesem Stücke untergraben muſs. Überdieſs, wenn man ihre ganze Darstellungsweise ansieht, so ist an der Be - hauptung, sie haben bei Abfassung ihrer Bücher an keine bestimmte Zeitordnung gedacht4)Olshausen, 1, S. 24 ff., wenigstens so viel wahr, daſs ihre Erzählungen über den Zeitraum von der Taufe Jesu bis zur Leidensgeschichte allerdings einem Aggregat von Anekdoten ähnlich sehen, welches[m]eistens nur nach462Zweiter Abschnitt.Rücksichten der Analogie und Ideenassociation gemacht ist; wobei man jedoch wohl unterscheiden muſs, daſs zwar wir dem Inhalt des Erzählten zufolge dieſs einsehen und aus den unbestimmten und eintönigen Verbindungsformeln, welche sie gebrauchen, schlieſsen können, daſs ihnen die Einsicht in das genauere chronologische Verhältniſs des von ihnen Erzählten abgegangen sei: dennoch aber aus dem, wenn auch noch so unbestimmten, chronologischen Character der meisten jener Übergangsformeln (wie κατα - βάντι ἀπὸ τοῦ ὅρους, παράγων ἐκεῖϑεν, ταῦτα αὐτοῦ λαλοῦντος, ἐν αὐτῇ τῇ ἡμέρᾳ, τότε, καὶ ἰδοὺ u. s. f.) abnehmen müs - sen, daſs die Verfasser sich geschmeichelt haben, eine chronologische Erzählung zu geben5)Schneckenburger's Beiträge, S. 25 ff..

Johannes freilich unterliegt in Bezug auf die Chrono - logie seiner gröſstentheils eigenthümlichen Erzählungen we - der einer solchen Controle anderer Berichte, wie die Syn - optiker untereinander, noch auch fehlt es an Zusammen - hang und Fortschritt in seiner Darstellung; wir können da - her seine Anordnung nur so beurtheilen, daſs wir fragen: ist der Entwicklungsgang und Fortschritt der Sache und des Planes Jesu, wie ihn das vierte Evangelium giebt, ein in sich und bei Vergleichung brauchbarer Data aus den übrigen Evangelien glaubwürdiger? worauf die Antwort erst in der folgenden Untersuchung sich ergeben kann.

463Viertes Kapitel. §. 57.

Viertes Kapitel. Jesus als Messias. *)Alles, was sich auf die Idee des Messias als leidenden, ster - benden und wiederkommenden bezieht, bleibt hier ausge - schlossen und der Leidensgeschichte vorbehalten.

§. 57. Jesus υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου.

Indem wir von dem Verhältniſs handeln, in welches sich Jesus zur messianischen Idee gesezt hat, können wir dasjenige, was er in dieser Beziehung von seiner Person aussagte, von demjenigen unterscheiden, was er über das von ihm unternommene Werk geäussert hat.

Der gewöhnlichste Ausdruck, durch welchen Jesus den Evangelien zufolge seine eigene Person bezeichnet, ist der Ausdruck υἱος τοῦ ἀνϑρώπου. Das zunächst entsprechende hebräische בֶּן־אָדָם ist im A. T. eine ganz allgemeine Be - zeichnung des Menschen überhaupt, und so könnte man es auch im Munde Jesu verstehen wollen. Dieſs gienge in einigen Stellen an, wie, wenn Jesus Matth. 12, 8. sagt: κύριος γαρ ἐςι τοῦ σαββάτου υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου, dieſs an und für sich schicklich mit Grotius ganz allgemein so ge - fasst werden könnte, daſs der Mensch Herr über den Sab - bat sei, besonders wenn man den Markus vergleicht, bei welchem (2, 27.) der Saz vorhergieng: τὸ σάββατον διὰ τὸν ὰνϑρωπον ἐγένετο, οὐχ ἄνϑρωπος διὰ τὸ σάββατον. Allein die meisten übrigen Stellen lauten auf einen bestimmten Menschen. So, wenn Jesus Matth. 8, 20. den zu seiner Nach - folge sich anbietenden γραμματεὺς, um ihm die mit der - selben verknüpften Beschwerlichkeiten zu bedenken zu ge -464Zweiter Abschnitt.ben, darauf aufmerksam macht, daſs υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου οὐκ ἔχει, ποῦ τὴν κεφαλὴν κλίνῃ: so muſs er hier einen be - stimmten Menschen gemeint haben, und zwar denjenigen, zu dessen Begleitung der Schriftgelehrte sich erbot, d. h. sich selber. Wie dieſs in dem Ausdruck liegen könne, hat man so erklärt, daſs Jesus, nach der morgenländischen Art, das Ich zu vermeiden, sich in der dritten Person, als diesen Menschen hier, bezeichne1)Paulus, ex. Handb. 1, b. S. 465; Fritzsche, in Matth. p. 320.. Allein sich selbst in der dritten Person bezeichnen kann man doch, sofern man verstanden sein will, nur so, daſs entweder die Bezeich - nung eine bestimmte ist, und auf keinen der Anwesenden ausser dem Redenden passt, wie wenn der Vater, der König, von sich in dieser Weise spricht; oder, wenn die Bezeichnung an sich unbestimmt ist, so muſs ihr durch ein demonstratives Pronomen nachgeholfen werden; wie namentlich, wenn einer unter der allerallgemeinsten Per - sonalbezeichnung: Mensch, von sich selber reden will, ein solches unerlässlich ist. So viel etwa mag noch zugegeben werden, daſs ein und das andere Mal statt eines hinwei - senden Wortes auch eine hinzeigende Gebärde genügen kann: daſs aber Jesus so unendlich oft, als er jenes Aus - drucks sich bediente, es jedesmal auf das Deuten sollte ha - ben ankommen lassen, und daſs namentlich die Referenten, in deren Berichten die Anschauung des Deutens wegfiel, der Unbestimmtheit des Ausdrucks nicht durch einen de - monstrativen Beisaz abgeholfen haben sollten, ist undenk - bar. Fanden dieſs beide Theile überflüssig, so muſs die nähere Bestimmung in dem Ausdruck selbst schon gelegen haben. Hier sind nun Einige der Meinung, Jesus wolle sich durch denselben als den Menschen im edelsten Sinne des Worts, als den idealen Menschen bezeichnen2)So nach Herder z. B. Köster, im Immanuel, S. 265; Tho - luck, Comm. zum Evang. Joh., S. 65.; allein465Viertes Kapitel. §. 57.dieſs ist nur aus modernen Vorstellungen heraus ohne ge - schichtlichen Grund gesprochen, da von einer solchen Be - deutung des Ausdrucks zur Zeit Jesu jede Spur fehlt3)Lücke, Comm. zum Joh. 1, S. 397 f., und weit eher die umgekehrte eines niedrigen, verachteten Menschen darin nachzuweisen ist, welche daher Manche auch für die Mehrzahl der Stellen, in welchen Jesus sich so nennt, vorausgesezt haben4)z. B. Grotius.. Abgesehen davon, daſs auch hier ein hinzugeseztes Demonstrativum vermisst wird, würde diese Bedeutung zwar für manche Stellen, wie Matth. 8, 20. Joh. 1, 52. sich eignen: in Stellen dagegen, wie Matth. 17, 22, u. a., wo Jesus seinen gewaltsamen Tod voraussagend, sich als υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου bezeichnet, wird durchaus der Contrast einer hohen Würde mit dem schmählichen Schicksale erfordert; so wie Matth. 10, 23. die den ausgesendeten Jüngern gegebene Versicherung, ehe sie in sämmtlichen israëlitischen Städten herumgereist sein würden, werde des Menschen Sohn kommen, nur dann Gewicht hatte, wenn durch diesen Ausdruck eine bedeu - tende Person bezeichnet war. Welche Würde und Bedeu - tung aber jene Worte anzeigten, darüber giebt die Verglei - chung von Matth. 16, 28. Aufschluss, wo gleichfalls von einem ἔρχεσϑαι des Menschensohns, aber mit dem Beisaz: ἐν τῇ βασιλείᾳ αὐτοῦ die Rede ist, ein Beisaz, der nur das messianische Reich, also der υἱὸς τοῦ ἀνϑρώποῦ nur den Mes - sias, bedeuten kann.

Inwiefern nun aber dieser so unbestimmt klingende Ausdruck gerade den Messias bezeichnen könne, ist aus Matth. 26, 64. parall. zu ersehen. Hier ist von einem Kommen des Menschensohns ἐπὶ τῶν νεφελῶν τοῦ οὐρανοῦ die Rede, mit unverkennbarer Beziehung auf Dan. 7, 13. f., wo es, nachdem von dem Untergang der vier Thiere ge - handelt war, heiſst: ich sah in nächtlichen Gesichten, undDas Leben Jesu I. Band. 30466Zweiter Abschnitt.siehe, mit den Wolken des Himmels kam wie eines Men - schen Sohn (כְּבַר אֱנָשׁ, ὡς υἱὸς ἀνϑρώπου, LXX), und man brachte ihn vor den Alten der Tage, und ihm ward Herr - lichkeit und Königreich gegeben, dass alle Völker ihm die - nen, und seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft. Indem die vier Thiere V. 17 ff. auf die vier groſsen Reiche gedeu - tet werden, deren leztes das macedonische mit seinem Zweige, dem syrischen, ist, und indem nun nach deren Untergang das Reich auf ewige Zeiten dem Volke Gottes gegeben werden soll: so kann unter dem in den Wolken Kommenden nur entweder eine Personification des heiligen Volkes selbst5)So unter den Juden Abenesra, s. Hävernick, Comm. zum Da - niel S. 244. oder ein vom Himmel stammender Führer desselben, als ein messianisches Wesen verstanden werden, und diese leztere Deutung war die bei den Juden gewöhn - liche6)Schöttgen, horae, 2, S. 63. 73. Hävernick, a. a. O. S. 243 f.. In dieser Würde freilich ist das beschriebene Sub - jekt hier nicht durch den Zug, daſs es einem Menschen geglichen, vielmehr durch den andern, daſs es in den Wol - ken des Himmels daher gekommen sei, bezeichnet, woge - gen das כְּבַר אֱנָשׁ nur entweder dieſs, daſs der vom Him - mel Kommende darum nicht in einer übermenschlichen Ge - stalt, etwa eines Engels, sondern in menschlicher erschei - nen werde, oder den Gegensaz der Humanität des zu er - wartenden Reichs der Heiligen gegen die durch Thierge - stalten symbolisirte Inhumanität der früheren Reiche aus - drücken zu können scheint7)s. die vornehmsten Ansichten bei Hävernick, a. a. O. 242 f.. Daher haben zwar die späteren Juden der Stelle einen wesentlicheren Zug zur Bezeichnung des Messias entnommen, wenn sie ihm von seinem Kommen עִם־עֲנָנֵי שְׁמַיָא den Namen Anani beileg - ten8)Schöttgen, horae 2, S. 73.: indessen ist auch das ganz im jüdischen Geschmacke,467Viertes Kapitel. §. 57.einen bloſsen Nebenzug, wie hier. die Vergleichung mit ei - nem Menschensohn, zur stehenden Bezeichnung einer Per - son oder Sache zu machen9)Man denke nur an die Bezeichnung jener Davidischen Elegie 2 Sam. 1, 17 ff. durch קֶשֶׁת, und an die Benennung des Mes - sias als צֶמַח. Hätte Schleiermacher diese jüdische Bezeich - nungsweise beachten mögen, so hätte er nicht die Beziehung des υἱὸς τοῦ . auf die Danielische Stelle einen sonderbaren Einfall nennen können (Glaubensl. §. 99. S. 99. Anm.). Muſste so der Ausdruck υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου nothwendig an die auf den Messias be - zogene Stelle des Daniel erinnern: so konnte Jesus den - selben unmöglich so oft, und zwar in Verbindungen, wel - che auf den Messias deuteten, gebrauchen, ohne diesen dadurch bezeichnen zu wollen.

Weit eher, als die Annahme, er habe mit dem be - sprochenen Ausdruck sich selbst ohne Bezug auf die mes - sianische Würde gemeint, lieſse sich vielleicht die umge - kehrte Vermuthung begründen, er möchte wohl öfters, wenn er vom υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου sprach, den Messias, aber ohne Bezug auf seine Person, gemeint haben. Wenn er Matth. 10, 23. bei der ersten Aussendung der Zwölfe zur Verkündigung des Gottesreichs diese über die ihnen bevor - stehenden Verfolgungen durch die schon angeführte Ver - sicherung beruhigt, sie werden nicht in allen israëlitischen Städten herumgekommen sein, ἔως ἄν[ἔλ]ϑ[] υἱὸς τοῦ ἀν - ϑρώπου: so würde man, diesen Ausspruch für sich genom - men, um so eher an eine dritte Person denken, deren bal - dige messianische Ankunft Jesus verspreche, als er selber, der Redende, ja bereits gekommen war, und man vorläu - fig nicht sieht, wie er sein Kommen als ein erst bevorste - hendes darstellen könne. Ebenso, wenn Jesus Matth. 13, 37 ff. den σπε[]ρων der Parabel als den υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου deutet, welcher am Ende der Tage Ernte und Gericht hal - ten werde: so könnte er an und für sich auch hier auf30*468Zweiter Abschnitt.den Messias als eine dritte, von ihm verschiedene Person hinweisen. Nicht minder, wenn er 16, 27 f., um den Saz zu begründen, daſs ein Schaden an der ψυχὴ durch den Gewinn des κόσμος ὅλος nicht zu ersetzen sei, auf die bal - dige Zukunft des Menschensohns zur Vergeltung verweist: so konnte gar wohl auch ein messianischer Vorläufer auf diese Art den nach ihm Kommenden ankündigen. Vollends aber die zusammenhängenden Reden Matth. 24. 25. parall. würden sich, wie erst tiefer unten erhellen kann, selbst leichter begreifen lassen, wenn man annehmen dürfte, daſs der Redende hier unter dem υἱὸς τοῦ ἀνϑρώποῦ, dessen παρ - ουσία er beschreibt, einen Andern als sich selbst verstan - den habe.

Doch bei Weitem nicht auf alle Fälle, in welchen Je - sus den Ausdruck gebraucht, ist diese Erklärung anwend - bar. Wenn er den Menschensohn nicht als einen erst zu erwartenden, sondern als einen bereits gekommenen und gegenwärtigen darstellt, wie Matth. 18, 11., wo er sagt: ἠλϑε γὰρ υἱὸς τοῦ ανϑρώπου ζητῆσαι καὶ σῶσαι τὸ ἀπολω - λός· wenn er von ihm selbst verrichtete Handlungen durch die dem Menschensohn zustehende Vollmacht rechtfertigt, wie Matth. 9, 6.; wenn er Marc. 8, 31 ff. vgl. Matth. 16, 22. von dem des Menschen Sohne bevorstehenden Leiden und Tode mit dem Erfolge spricht, daſs Petrus ausruft:[]μη ἔςαι σοι τοῦτο: so kann er in diesen und ähnlichen Fällen unter dem υἱὸς τ. . nur sich selbst verstanden ha - ben. Und sogar jene Stellen, welche wir, isolirt genom - men, der Deutung auf eine von Jesu verschiedene messia - nische Person fähig gefunden haben, verlieren, wenn wirk - lich alles dasjenige, was jezt im Zusammenhang mit den - selben steht, in dieser Verbindung gesprochen worden ist, diese Fähigkeit. Möglicherweise indessen könnten ja hier von den Referenten entweder Aussprüche in Verbindung gesezt sein, die es ursprünglich nicht waren, oder von der späteren Überzeugung von Jesus als dem υίὸς τοῦ ὰνϑρώπου469Viertes Kapitel. §. 58.aus das ursprünglich nur von dem lezteren Gesagte in un - mittelbare Beziehung zu dem ersteren gebracht.

Neben der Thatsache also, daſs in vielen Fällen Je - sus sich selbst als den Menschensohn bezeichnet hat, blie - be uns die Möglichkeit, daſs er in manchen andern auch eine von ihm verschiedene Person damit gemeint haben könn - te, welche lezteren Fälle dann der Zeit nach natürlich vor die ersteren zu stellen wären. Ob daher jene Möglichkeit zur Wirklichkeit erhoben werden muſs, wird davon abhän - gen, ob sich in der Zeit, aus welcher wir Aussprüche von Jesu haben, ein Abschnitt findet, in welchem er sich noch nicht als den Messias gefaſst hatte?

§. 58. Wie bald Jesus sich als Messias gefasst, und bei Andern als sol - cher Annerkennung gefunden habe.

Daſs Jesus die Überzeugung, der Messias zu sein, ge - habt und ausgesprochen habe, steht als unbestreitbare That - sache fest. Nicht allein hat er den evangelischen Berich - ten zufolge, ausser den so eben erwogenen Aussprüchen, die Anerkennung der Jünger, daſs er der Χριςὸς sei (Matth. 16, 16 f.) und die Begrüssung des Volks: ὡσαννὰ τῷ υἱῷ Δαυὶδ (21, 15 f.) mit Wohlgefallen aufgenommen, nicht nur sich selbst wiederholt wie vor Privatpersonen (Joh. 4, 26. 9, 37. 10, 25.), so auch vor Gericht (Matth. 26, 64. vgl. Joh. 18, 37.) für den Messias erklärt: sondern, was die Hauptsache ist, daſs den Gestorbenen seine Jünger als den Messias festhielten und verkündigten, läſst sich nicht be - greifen, wenn nicht der Lebende schon durch bestimmte Erklärungen diese Überzeugung in ihnen gepflanzt hatte.

Auch die nähere Frage, wie bald Jesus angefangen habe, sich selbst für den Messias zu erklären, und von Andern für denselben gehalten zu werden, beantworten sämmtliche Evangelisten zunächst einstimmig dahin, daſs er von seiner Taufe an jene Rolle übernommen habe. Alle470Zweiter Abschnitt.lassen bei der Taufe Jesu Dinge sich ereignen, welche ihn selbst, sofern er es nicht schon vorher war, und alle, wel - che den Erzählungen darüber Glauben schenkten, von se[i]- ner Messianität überzeugen muſsten, und wie hierauf nach Johannes die ersten Jünger ihn gleich beim ersten Zusam - mentreffen in dieser Würde anerkennen (1, 42 ff. ): so hat er nach Matthäus (7, 21 ff. ) gleich zu Anfang seiner Lehr - thätigkeit in der Bergrede sich als Weltrichter, mithin als Messias dargestellt.

Bei näherer Betrachtung jedoch thut sich in dieser Hinsicht zwischen der synoptischen und johanneischen Dar - stellung eine merkliche Abweichung hervor. Während näm - lich bei Johannes Jesus seinem Bekenntniſs, die Jünger und seine Anhänger unter dem Volk ihrer Überzeugung, daſs er der Messias sei, durchweg getreu bleiben: so sind bei den Synoptikern gleichsam Rückfälle zu bemerken, in - dem bei den Jüngern und dem Volke die in früheren Fäl - len ausgesprochene Überzeugung von Jesu Messianität im Verlauf der Erzählung zuweilen wieder verschwindet, um einer weit niedrigeren Ansicht von ihm Platz zu machen, und auch Jesus selbst mit der früher unumwunden gege - benen Erklärung in späteren Fällen mehr zurückhält. Dieſs ist zwar besonders auffallend, wenn man die synoptische Darstellung gegen die johanneische hält; aber auch jene für sich betrachtet, ist das Ergebniſs ein ähnliches. In ersterer Beziehung soll nach Johannes (6, 15.) das Volk in Folge der wunderbaren Speisung Lust bekommen haben, Jesum als (messianischen) König auszurufen: wogegen den ersten Evangelisten zufolge entweder um dieselbe Zeit (Luc. 9, 18 f.) oder noch etwas später (Matth. 16, 13 f. Marc. 8, 27 f.) die Jünger ihm als die Ansicht des Volks über ihn nur dieſs zu berichten wissen, daſs die Einen ihn für den (wiedererstandenen) Täufer, die Anderen für Elias, die Dritten für Jeremias oder sonst einen Propheten halten. Indeſs mit Grund kann in Bezug auf jene johanneische471Viertes Kapitel. §. 58.Stelle, so wie auch in Bezug auf die synoptische Matth. 14, 33., laut welcher um ein Ziemliches vor jener von Je - su über die Volksmeinung eingezogenen Erkundigung die mit ihm im Schiff befindlichen Leute1)Dass durch den Ausdruck οἱ ἐν τῷ πλοίῳ ausser den Jün - gern noch andre, Jesu ferner stehende Personen bezeichnet seien, darüber s. Fritzsche z. d. St., als er den Sturm durch ein Wort gestillt hatte, ihm als υἱὸς ϑεοῦ zu Füſsen fielen, geltend gemacht werden, daſs gar wohl in Folge be - sonderer Eindrücke Einzelne in begeisterten Augenblicken auf den Gedanken, er möchte der Messias sein, kommen konnten, während die allgemeine und ruhige Volksstimme ihn noch immer blos als Propheten beurtheilte. Schwie - riger ist die Abweichung, welche die Jünger betrifft. Wäh - rend bei Johannes Andreas schon nach seiner ersten Zu - sammenkunft mit Jesu seinem Bruder sagt: εὑρήκαμεν τὸν Μεσσίαν (1, 42.), ebenso Philippus ihn dem Nathanaël als den von Moses und den Propheten Geweissagten bezeich - net (V. 46.), endlich auch Nathanaël selbst ihn als den υἱὶς τοῦ ϑεοῦ und βασιλεὺς τοῦ Ἰσραὴλ begrüſst (V. 50.): geht bei den ersten Evangelisten erst nach langem Zusammen - sein mit ihm und kurz vor seinem Leiden dem den Übri - gen voraneilenden Petrus die Einsicht auf, daſs Jesus der Χριὁὸς, υἱὸς τοῦ ϑεου τοῦ ζῶντος sei (Matth. 16, 16. parall.). Unmöglich konnte durch dieses Bekenntniſs Jesus so über - rascht werden, daſs er nach Matthäus (V. 17.) den Petrus um desselben willen selig prieſs und seine Einsicht als gött - liche Offenbarung darstellte, oder nach Markus und Lukas (8, 30. 9, 21.) den Jüngern wie erschrocken die weitere Ausbreitung der von Petrus ausgesprochenen Überzeugung verbot, wenn diese eine im Kreise seiner Jünger längst gehegte Ansicht, und nicht vielmehr ein neues dem Petrus jezt eben aufgegangenes und dadurch erst den übrigen zum Bewuſstsein gebra[c]htes Licht war. Ebenso schwierig ist472Zweiter Abschnitt.die dritte Abweichung, welche die eignen Erklärungen Jesu über seine Messianität betrifft. Nach Johannes bestätigt er nicht blos gleich Anfangs die Huldigung, welche ihm Na - thanaël als dem Sohn Gottes und König Israëls darbringt, als den richtigen Glauben (πιςεύεις) und bezeichnet sich so - fort durch den messianischen Titel, Menschensohn (1, 51 f.), sondern auch den Samaritern giebt er sich nach seinem er - sten Festbesuch (4, 26. 39 ff. ) und den Juden auf dem zwei - ten (5, 46.) als den von Moses geweissagten Messias zu er - kennen. Nach den Synoptikern hingegen verbietet er nicht allein in dem angeführten und vielen andern Fällen die Ausbreitung der Überzeugung von seiner Messianität in weiteren Kreisen, sondern wenn er bei der bezeichneten Gelegenheit seine Jünger fragt: ὑμεῖς δὲ τίνα με λέγετε εἶναι (Matth. 16, 15.); so scheint er gewünscht zu haben, daſs sie selbst aus seinen messiaswürdigen Reden und Thaten auf die Einsicht von seiner Messianität kommen möchten2)In dieser Hinsicht macht übrigens die Art und Weise Schwie - rigkeit, wie Jesus nach Matthäus die Frage nach der Mei - nung der Leute von ihm ausgedrückt haben soll, nämlich: τίνα με λέγουσιν οἱ ἄνϑρωποι εἶναι, τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώπε; d. h. welche Ansicht haben die Leute von mir, der ich der Messias bin? Diese vorgreifende Erklärung haben die Aus - leger auf verschiedene Weise zu entfernen gesucht. Die Ei - nen (z. B. Beza) fassen den Beisaz nicht als eigene Aussage Jesu über seine Person, sondern als nähere Bestimmung der Frage: wofür halten mich die Leute? etwa für den Mcs - sias? Allein diess wäre eine Suggestivfrage, welche, wie Fritzsche richtig bemerkt, ein Haschen nach dem Messiastitel verrathen würde, wie es Jesu sonst nicht eigen war. Daher wollen Andre (wie Paulus, Fritzsche) dem υἱὸς τ. . die allgemeine Bedeutung: dieser Mensch hier, geben, was je - doch nach dem früher Ausgeführten nicht angeht. So bleibt nichts übrig, als der Ausweg, welchen das Fehlen jener Wor -, und wenn er die von Petrus geäusserte Überzeugung einer Offenbarung des himmlischen Vaters zuschreibt, so kann473Viertes Kapitel. §. 58.nicht er selbst schon früher den Jüngern diese Eröffnung gemacht haben, weder in der Art, wie Johannes berich - tet, noch auch nur so, wie er bei Matthäus in der Berg - rede und sonst sich unumwunden die messianische Stel - lung giebt.

Indem so die synoptische Darstellung in diesem Punkte nicht allein der johanneischen, sondern auch sich selbst widerspricht: so scheint sie gegen die leztere, in sich ein - stimmige, unbedingt aufgegeben werden zu müssen, und mit Recht hat ihr die Kritik den Vorwurf einer Verwirrung der messianischen Oeconomie im Leben Jesu gemacht3)Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 28 f.. Doch wir dürfen auch hier unseres sonst bewährten Kanons nicht vergessen, daſs bei verherrlichenden Relatio - nen, wie unsre Evangelien sind, in streitigen Fällen immer diejenige Angabe die minder glaubwürdige ist, welche je - nem Zweck der Verherrlichung am meisten entspricht. Dieſs aber ist hier mit der johanneischen Darstellung der Fall, nach welcher Jesus von Anfang bis zu Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit im unveränderten messianischen Glanze strahlt, während er bei den Synoptikern in dieser Hinsicht gleichsam einem Wechsel des Lichtes unterwor - fen ist. Hat auf diese Weise die Darstellung der drei er - sten Evangelisten ein Kriterium grösserer Wahrscheinlich - keit für sich, so kann sie doch in der Ordnung, in wel - cher sie auf unumwundene Erklärungen und Anerkennt - nisse der Messianität Jesu wieder ein Nichtwissen und Verbergen derselben folgen lässt, unmöglich richtig sein, sondern wir müssen annehmen, die Synoptiker haben zwei verschiedene Abschnitte des öffentlichen Lebens Jesu unter -2)te in den Parallelstellen der beiden andern Synoptiker zeigt: dieselben für einen Zusatz zu halten, welchen der Verf. des ersten Evangeliums aus seiner Überzeugung heraus Jesu am unrechten Orte in den Mund gelegt habe.474Zweiter Abschnitt.einandergebracht, in deren zweitem er erst mit der Erklä - rung, der Messias zu sein, hervorgetreten sei. Wirklich finden wir ja die Losung, mit welcher Jesus zuerst öffent - lich auftrat, von der des Johannes, der doch nur Vorläu - fer sein wollte, in keinem Worte verschieden: es ist das - selbe μετανοεῖτε· ἤγγικε γὰρ βασιλεία τῶν οὐρανῶν (Matth. 4, 17), wie es zuvor der Täufer ausgesprochen hatte (3, 2), ein Ruf, mit welchem Einer wie der Andere noch nicht die Rolle des Messias, der das Himmelreich als gegenwär - tiges eröffnet, sondern nur die eines Lehrers, der auf das - selbe als künftiges hinweist, übernahm4)Jene Unterscheidung zweier Abschnitte im öffentlichen Leben Jesu machen auch Fritzsche, Comm. in Matth. S. 213. 536. und Schneckenburger a. a. O.. Mit Recht hat daher die neueste Kritik des ersten Evangeliums alle die - jenigen von demselben berichteten Reden und Thaten, durch welche sich Jesus unumwunden für den Messias gab, oder in deren Folge er die laute Anerkennung, daſs er der Messias sei, frei gewähren lieſs, wenn sie vor der eigenen Erklärung Jesu (Joh. 5.) oder vor dem apostolischen Be - kenntniſs (Matth. 16.) erzählt werden, für eine Sünde des Verfassers entweder gegen die Chronologie, oder gegen die buchstäbliche Treue erklärt5)Schneckenburger, a. a. O. S. 29.. Das aber begreift man hiebei nicht, wie dieser Vorwurf nur das erste, oder über - haupt blos die synoptischen, und nicht in noch weit stär - kerem Grade das vierte Evangelium treffen soll. Denn ver - zeihlicher ist es doch immer, wenn uns die ersten Evan - gelisten die Denkmale aus dem vormessianischen Abschnitt des öffentlichen Lebens Jesu in unrichtiger Stellung geben, als wenn das vierte sie gar nicht giebt; erträglicher, wenn jene die beiden Abschnitte vermischen, als wenn dieses den früheren ganz verwischt.

Hat aber auf diese Weise Jesus sich nicht gleich von Anfang für den Messias ausgegeben, so fragt sich: unter -475Viertes Kapitel. §. 58.[D]eſs er dieſs, weil er auch für sich selbst erst später zu der Überzeugung von seiner Messianität gelangte, oder hatte er diese für sich zwar schon von seinem öffentlichen Auftritt an, verbarg sie aber aus gewissen Rücksichten? Auf die leztere Vermuthung kann man geführt werden, wenn man in den ersten Evangelien bei den Wunderhei - lungen Jesu es fast als stehende Formel findet, daſs er durch ein ὄρα μηδενὶ εἴπῃς oder etwas Ähnliches dem Ge - retteten die Ausbreitung der Sache untersagt, wie dem Aussätzigen Matth. 8, 4. parall. ; den Blinden Matth. 9, 30; einer Anzahl von Geheilten Matth. 12, 16; den Eltern des wiederbelebten Mädchens Marc. 5, 43; namentlich aber legte er den Dämonischen Schweigen auf, Marc. 1, 34. 3, 12. Ebenso verbot er den Dreien, welche mit ihm auf dem Verklärungsberge gewesen waren, die Bekanntmachung dieser Scene (Matth. 17, 9.), nach dem Bekenntniſs Pe - tri den Jüngern die Verbreitung der in demselben enthal - tenen Ansicht von ihm (Luc. 9, 21.) und Joh. 5, 13. heiſst es nach der Heilung des Kranken am Teiche: Ἰησοῦς ἐξένευσεν, ὅχλου ὅντος ἐν τῷ τόπῳ. Was Jesus mit jenem Verbot beabsichtigte, war schwerlich, wie die Erklärer meistens annehmen6)Fritzsche, in Matth. p. 309. vrgl. 352. Olshausen, S. 265. ein nach Umständen Verschiedenes, so daſs es bald auf den Gemüthszustand des Geheilten, bald auf die Stimmung des Volks, bald auf die Lage Jesu sich bezogen hätte, sondern bei der wesentlichen Gleich - heit der Umstände, unter welchen er es den Leuten auf - legt, wird wohl, wenn irgend einmal ein glaubhafter Grund davon in den Evangelien angedeutet ist, dieser auch auf die übrigen Fälle, in welchen jenes Verbot gegeben ist, anzuwenden sein. Dieser Grund ist zunächst kein ande - rer. als der Wunsch, die Ansicht, daſs er der Messias sei, sich nicht zu sehr verbreiten zu lassen. Wenn es nämlich Marc. 1, 34. heiſst, Jesus habe die Dämonen,476Zweiter Abschnitt.welche er austrieb, nicht reden lassen, ὅτι ᾔδεισαν αὐτὸν, und wenn er nach Marc. 3, 12. den Dämonen und nach Matth. 12, 16. den geheilten Kranken einschärft, ἴνα μὴ φανερον αὐτὸν ποιήσωσιν: so sollten offenbar jene ihn nicht als denjenigen bekannt machen, als welchen sie ihn ver - möge ihres tieferen dämonischen Blickes, diese nicht als denjenigen, als welchen sie ihn aus der ihnen zu Theil gewordenen wundervollen Heilung kannten, nämlich als den Messias. Warum er dieſs nicht wollte, davon hat man den Grund gewöhnlich unter Beiziehung von Joh. 6, 15. darin gesucht, daſs er eine Aufregung der politischen Messiasidee der Menge und daraus entspringende Unruhen habe verhüten wollen7)Fritzsche, p. 352. Olshausen, a. a. O.. Dieſs wäre ein triftiger Grund; doch stellen die Synoptiker die Sache eher so, als wäre es theils Werk der Demuth gewesen8)Dem steht die Ansicht des Fragmentisten gerade entgegen, welcher jenem Verbote durchaus die Absicht unterlegt, die Leute nur desto begieriger zu machen. Vom Zweck Jesu und s. Jünger, S. 141 f., wie denn Matthäus (12, 19.) im Zusammenhang eines solchen Verbots das je - saianische Orakel vom geräuschlos wirkenden Knecht Got - tes (Jes. 42, 1 f.) auf Jesum anwendet; theils, und zwar überwiegend, hat es das Ansehen, als hätte sich Jesus bei seiner Messianität fürchten müssen, als wäre der Messias, wenigstens ein solcher, wie Jesus war, schon zum Voraus durch die jüdische Hierarchie in die Acht erklärt gewesen.

Wenn es nach allem diesem scheinen könnte, als hätte Jesus nur äusserer Rücksichten wegen mit einer of - fenen Erklärung noch zurückgehalten, während er für sich von seiner Messianität von Anfang an überzeugt ge - wesen sei: so kann doch das Leztere schon nach demjeni - gen nicht wohl angenommen werden, was wir oben ge - sehen haben, daſs Jesus im Anfang ganz nur mit dersel - ben Verkündigung wie der Täufer, welche bei ihm schwer -477Viertes Kapitel. §. 58.lich einen andern Sinn hatte, als bei jenem, nämlich auf den kommenden Messias hinzuweisen, aufgetreten ist, und hier zu sagen, Jesus habe sich blos aus äusserer Rück - sicht einstweilen nur für einen Herold des kommenden Messias ausgegeben, im Stillen aber sich schon selbst für den Messias gehalten, hieſse ihn einer starken Simulation zeihen, wogegen weit ungezwungener die Voraussetzung sich ergiebt, daſs Jesus, der zuerst ein Schüler des Täu - fers war, nach dessen Verhaftung aber als Verkündiger der μετάνοια und der nahenden βασιλεία τῶν οὐρανῶν in seine Fuſsstapfen trat, Anfangs, ob zwar in liberalerem und groſsartigerem Geist, doch nur dieselbe Stellung zum Messiasreich wie der Täufer sich gegeben, und erst all - mählig zu dem Gedanken, selbst der Messias zu sein, sich erhoben habe. Bei dieser Annahme erst erklären sich auch die zulezt erwogenen Verbote, namentlich dasjenige, welches Jesus an das Bekenntniſs des Petrus anschloſs, auf genügende Weise, indem hienach Jesus, so oft der Gedanke, er möchte der Messias sein, durch irgend etwas bei Andern erregt und ihm von aussen entgegengebracht wurde, gleichsam erschrak, das laut und bestimmt ausge - sprochen zu hören, was er bei sich selber kaum zu ver - muthen wagte, oder worüber er doch erst seit Kurzem mit sich in's Reine gekommen war. Da indessen die Evan - gelisten Jesu solche Verbote bisweilen ganz am unrechten Orte in den Mund legen, wie z. B. Matth. 8, 4. nach ei - ner im Gedränge des Volks vollbrachten Heilung es nichts nützen konnte, dem Geheilten die Ausbreitung der Sache zu verbieten9)S. Fritzsche, S. 309.: so mag es sein, daſs in der evangelischen Tradition, welche durch das Geheimniſsvolle, das in jenem von Jesu gespielten Incognito lag, sich angezogen fand10)vrgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 74., die derartigen Fälle unhistorisch vervielfältigt worden sind.

478Zweiter Abschnitt.

§. 59. Jesus als υἱος τοῦ ϑεοῦ.

Den Ausdruck: υἱος τοῦ ϑεοῦ haben wir Luc. 1, 35. in der engsten, eigentlich physischen Bedeutung gefunden, indem dort Jesus vermöge seiner unmittelbaren Erzeugung durch den göttlichen Geist so genannt worden war. Um - gekehrt im allerweitesten moralischen und metaphorischen Sinne findet sich der Ausdruck Matth. 5, 45, wenn die Gott in der Feindesliebe Nachahmenden als Söhne des himmli - schen Vaters bezeichnet werden. In einem mittleren Sinn, welchen wir den metaphysischen nennen können, weil er mehr als eine bloſse Ähnlichkeit der Willensrichtung, und doch nicht das Verhältniſs wirklicher Vaterschaft, sondern eine innere Gemeinschaft des Wesens enthält, kommt der Ausdruck besonders häufig im vierten Evangelium vor, wenn Jesus von sich sagt, er rede und thue nichts von ihm sel - ber, sondern nur was er als Sohn vom Vater gelernt habe (5, 19. 12, 49. und sonst), welcher übrigens in ihm (17, 21.), und unerachtet seiner Erhabenheit über ihn (14, 28.) doch auch wieder Eins mit ihm sei (10, 30.). Der Ausdruck kommt aber auch noch in einem andern Sinne vor. Wenn (Matth. 4, 3.) der Teufel Jesum unter der Voraussetzung: εἱ υἱὸς εἶ τοῦ ϑεοῦ, zum Verwandeln der Steine auffordert; wenn Nathanaël zu Jesu sagt: σὺ εἶ υἱος τοῦ ϑεοῦ, βα - σιλεὐς τοῦ Ἰσραὴλ (Joh. 1, 50.); wenn Petrus bekennt: σὺ εἶ Χριςὸς, υἱὸς τοῦ ϑεοῦ τοὐ ζῶντος (Matth. 16, 16. vgl. Joh. 6, 69.); wenn Martha ihren Glauben an Jesum so aus - spricht: ἐγὼ πεπίςευκα, ὅτι σὺ εἶ Χριςὸς, υἱὸς τοῦ ϑεοῦ (Joh. 11, 47.); wenn der Hohepriester Jesum beschwört, ihm zu sagen, ob er sei Χριςὸς, υἱὸς τοῦ ϑεοῦ; (Matth. 26, 63.): so will weder der Teufel etwas Anderes sagen, als: wenn du der Messias bist, noch läſst in den übrigen Stellen die Verbindung des υἱὸς τοῦ ϑεοῦ mit Χριςὸς und βα - σιλεὺς verkennen, daſs es nur Epexegese des Messiasbe - griffs ist.

479Viertes Kapitel. §. 59.

Wiefern dieſs1)Vrgl. über das Folgende die treffliche Ausführung von Pau - lus, in der Einleitung zum Leben Jesu, 1, a, S. 28 ff., das kann schon aus dem erhellen, was bereits gelegentlich bemerkt werden muſste, daſs Hos. 11, 1. 2 Mos. 4, 22. das Volk Israël, und ebenso 2 Sam. 7, 14. Ps. 2, 7. (vgl. 89, 28.) der König dieses Volkes als Sohn und Erstgeborener Gottes bezeichnet werde. Sohn Gottes wurde der König (wie das Volk) der Israëliten nach der Stelle aus 2. Sam. in Beziehung auf das besondre und un - mittelbare Erziehungs - und Liebesverhältniſs genannt, in welches Jehova zu demselben treten wollte; wozu nach der Stelle aus dem zweiten Psalm noch der weitere Grund kommt, daſs, wie menschliche Könige einen Sohn zum Mit - oder Unterregenten anzunehmen pflegen, so der israëliti - sche König von Jehova dem höchsten Herrscher mit der Verwaltung seiner Lieblingsprovinz beauftragt ist. Daſs diese, ursprünglich auf jeden im Sinne der Theokratie re - gierenden israëlitischen König anwendbare Bezeichnung mit der Entfaltung des Begriffs eines Messias vorzugsweise auf diesen, als den geliebtesten Sohn und gewaltigsten Statthalter Gottes auf Erden bezogen werden muſste, er - hellt von selbst.

Ist also dieſs die ursprüngliche, historische Bedeutung des Ausdrucks υἱὸς τοῦ ϑεοῦ, so fragt sich: kann ihn auch Jesus nur in dieser, oder auch in einer der drei zuerst an - geführten Bedeutungen von sich gebraucht haben? Zuerst in dem engsten physischen Sinn wird er Jesu gar nicht in den Mund gelegt, sondern dem verkündigenden Engel Luc. 1, 35., was der Evangelist zu verantworten hat. In dem mittleren, metaphysischen Sinne, in welchem er We - senseinheit und Lebensgemeinschaft mit Gott bedeutet, könn - te Jesus selbst den Ausdruck gar wohl genommen haben, indem er den seinen Volksgenossen geläufigen theokrati - schen Sinn desselben für sich umbildete: doch muſs es in480Zweiter Abschnitt.Bezug auf das vierte Evangelium Wunder nehmen, daſs hier Jesus den theokratischen Sinn des Ausdrucks ganz ignorirt, und den metaphysischen, in welchem er denselben in diesem Evangelium gebraucht, nur aus jenem vagen me - taphorischen heraus zu rechtfertigen weiſs. Wenn er näm - lich Joh. 10, 34 ff. für die Befugniſs, sich υἱὸς τοῦ ϑεοῦ zu nennen, auf die Benennung ϑεοὶ, welche im A. T. (Ps. 82, 6.) auch andern Menschen, wie Fürsten und Obrigkeiten, ge - geben werde, sich beruft: so fällt es auf, wie Jesus zu diesem so ferne liegenden und prekären Argumente greifen konnte, während ihm das schlagende so nahe lag: da im A. T. die theokratischen Könige, oder, nach der damals üblichen Deutung der betreffenden Stellen, der Messias, als Sohn Jehova's bezeichnet sei: so habe somit er, der sich ja V. 25. für den Messias erklärt hatte, vollkomme - nes Recht, diese Benennung sich zu vindiciren.

Was die Ansichten Anderer über Jesus als Gottessohn betrifft, so kommt in den Anreden wohlgesinnter Personen an ihn zwar auch im vierten Evangelium das υἱὸς τοῦ ϑε[οῦ], wie schon bemerkt, einigemale in Verbindungen vor, welche es als bloſse Epexegese des Χριςὸς erscheinen lassen: aber die mit Jesu streitenden Ἰουδαῖοι dieses Evangeliums ignoriren in ihren Angriffen diese Bedeutung des Ausdrucks ebenso, wie dort Jesus in seiner Vertheidigung, und scheinen blos von der metaphysischen Notiz zu nehmen. Zwar auch bei den Synoptikern ruft der Hohepriester, als Jesus seine Frage, ob er Christus, der Sohn Gottes sei, bejaht und auf sein Kommen in den Wolken hingewiesen hatte (Matth. 26, 65. parall. ) ein ἐβλασφήμησε aus; aber dieſs bezieht sich nur auf die nach seiner Ansicht unbefugte Anmaſsung der theokratischen Würde des Messias. Dagegen im vierten Evangelium wollen die Juden Jesum, wie er sich als Sohn Gottes darstellt (Joh. 5, 17 f. 10, 30 ff. ), tödten, aus dem ausdrücklich angegebenen Grunde, weil er sich dadurch ἴσον τῷ ϑεῷ, ja sogar ἑαυτὸν ϑεὸν mache. Während den481Viertes Kapitel. §. 59.Synoptikern zufolge der jüdische Hohepriester den Begriff: Sohn Gottes, so sehr als zum Messiasbegriff mitgehörig be - trachtet, daſs er in seiner an Jesum gerichteten Frage bei - de Ausdrücke zusammenstellt: so fassen die Juden bei Jo - hannes den erstern Begriff als soweit über den leztern hin - ausgehend auf, daſs sie zwar die Aussage Jesu, er sei der Messias (10, 25.), geduldig anhören, sobald er sich aber als Sohn Gottes darzustellen anfängt, Steine aufheben. Was in den synoptischen Evangelien als der Vorwurf erscheint, daſs Jesus, ein gemeiner Mensch, sich für den Messias ausgebe, das lautet bei Johannes so, daſs er als ein bloſser Mensch sich nicht für ein göttliches Wesen ausgeben sollte. Mit Recht wird daher von Olshausen u. A. darauf gedrungen, daſs in jenen Stellen des vierten Evangeliums das υ[]ὸς τοῦ ϑεοῦ kein mit Messias gleichbedeutender, son - dern ein über den gewöhnlichen Messiasbegriff weit hinaus - gehender Name sei2)Bibl. Comm. 2, S. 130. 253.; daraus aber zu schlieſsen, daſs auch in den drei ersten Evangelien der in Redestehende Ausdruck mehr als nur den Messias bezeichne3)Olshausen, a. a. O, 1, S. 108 ff., dazu haben jene Ausleger kein Recht. Denn der Frage des Hohenpriesters Matth. 26, 63. ist jede Erklärung nur aufgedrungen, wel - che das ό υἱὸς τ[οῦ]ϑεοῦ nicht als Epexegese des Χρινος fasst, und wenn in der Parallelstelle bei Lukas die Richter Jesum zuerst fragen, ob er der Χριςος sei (22, 67.)? und als er eine direkte Antwort abgelehnt, doch auf das Sitzen des Menschensohns zur Rechten Gottes hingewiesen hatte, hastig einfallen: ου οὖν εἶ υἱὸς τοῦ ϑεοῦ (V. 70.), hierauf aber, nachdem sie eine bejahende Antwort zu vernehmen geglaubt, ihn bei Pilatus als einen, der sich für Χριςόν βασιλέα ausgebe, anklagen (23, 2.): so ist wohl nichts deut - licher, als daſs sie Menschensohn, Gottessohn und Messias als Wechselbegriffe angesehen haben müssen. Es ist alsoDas Leben Jesu I. Band. 31482Zweiter Abschnitt.hier eine Differenz zwischen den Synoptikern und Johan - nes zuzugestehen, und vielleicht auch eine Schwankung des lezteren für sich, indem er in mehreren Anreden an Jesum die übliche Formel, welche das υ[]ὸς τοῦ ϑεοῦ mit Χριςὸς oder βαριλευς τοῦ Ἰσραὴλ verband, beibehielt, ohne sich, wie man bei Formeln dieſs oft unterläſst, den Unter - schied zwischen der Bedeutung, welche das υἱὸς τ. ϑ. in dieser Verbindung haben muſste, und dem Sinn, in wel - chem er es sonst nahm, zum deutlichen Bewuſstsein zu bringen; denn ebensowenig als in der Frage des Hohen - priesters will sich in der Anrede Nathanaëls jener Aus - druck zu einer höheren Bedeutung hinaufschrauben lassen4)Wie diess gleichwohl Olshausen versucht, 2, S. 70 f..

Daſs nun aber im vierten Evangelium Jesus und seine Gegner die theokratische Bedeutung des Ausdrucks: υἱὸς τοῦ ϑεοῦ so ganz ignoriren, hat der Verfasser der Probabi - lien mit Recht bedenklich gefunden5)S. 53 f. 85.; denn sowohl Jesu als den Juden, mit welchen er es zu thun hatte, muſste diese Bedeutung am nächsten liegen, wofern unter densel - ben kein alexandrinisch gebildeter war, welchem freilich, wie auch dem vierten Evangelisten als Verfasser des Pro - logs, das metaphysische Verhältniſs des λόγος μονογενὴς zu Gott noch näher lag.

§. 60. Jesu Sendung und Vollmacht; seine Präexistenz.

In Bezug auf die Erklärungen Jesu über seine göt - liche Sendung und Vollmacht stimmen die vier Evangelien überein. Wie jeder Prophet, so ist auch er von Gott ge - sendet (Matth. 10, 40. Joh. 5, 23 f. 36 f. u. sonst, handelt und redet im Auftrag und unter unmittelbarer Leitung Got - tes (Joh. 5, 19 ff. ), er ist im ausschlieſslichen Besiz der adae - quaten Gotteserkenntniſs, die er allein den Menschen mit - theilen kann (Matth. 11, 27. Joh. 3, 13.). Als dem Mes -483Viertes Kapitel. §. 60.sias ist ihm von Gott alle Gewalt übergeben (Matth. 11, 27.), zunächst über das von ihm zu stiftende und zu re - gierende Reich und dessen Mitglieder (Joh. 10, 29. 17, 6.), dann aber auch über alle Menschen überhaupt (Joh. 17, 2.) und selbst über die äussere Natur und somit über die ganze Welt (Matth. 28, 18.) sofern ohne eine durchgreifende Re - volution in dieser das messianische Reich nicht begründet werden kann. Bei einstiger Eröffnung dieses Reiches hat Jesus als Messias die Vollmacht, die Todten zu erwecken (Joh. 5, 28.) und das Gericht, die Scheidung derer, wel - che der Theilnahme am Gottesreich würdig sind, von den Unwürdigen, vorzunehmen (Matth. 25, 31 ff. Joh. 5, 22. 29. ), lauter Befugnisse, welche die jüdische Zeitvorstellung dem Messias zuschrieb1)Bertholdt, Christol. Jud. §§. 8. 35. 42., welche also auch Jesus, hatte er sich einmal als Messias gefaſst, auf sich scheint haben übertragen zu müssen.

Nicht ebenso einstimmig sind die Evangelisten in ei - nem andern Punkte. Während nämlich nach den Synop - tikern Jesus zwar für Gegenwart und Zukunft die höch - ste menschliche Würde und das erhabenste Verhältniſs zur Gottheit sich zuschreibt, über den Anfang seines mensch - lichen Daseins aber nicht zurückgeht: so finden sich im vierten Evangelium mehrere Reden Jesu, welche die Be - hauptung einer Präexistenz desselben vor seiner menschli - chen Erscheinung in sich schlieſsen. Zwar wenn in diesem Evangelium Jesus sich als den vom Himmel auf die Erde Herabgekommenen bezeichnet (Joh. 3, 13. 16, 28.), so läſst sich dieſs für sich genommen leicht als blos bildliche Be - zeichnung seines höheren, göttlichen Ursprungs fassen. Schon schwerer, doch möglicherweise vielleicht, könnte die Behauptung Jesu: πρὶν Ἀβραὰμ γενέσϑαι, ἐγώ εἰμι (Joh. 8, 58.) mit dem Socinianer Crell von einem blos idea - len Sein in der Vorherbestimmung Gottes, die Bitte an den Vater aber Joh. 17, 5., ihm die δόξα zu gewähren,31*484Zweiter Abschnitt.welche er πρὸ τοῦ τὸν κόσμον εἶναι bei ihm gehabt habe, von Verleihung einer Jesu von jeher zugedachten Herr - lichkeit verstanden werden. Hören wir nun aber noch Joh. 6, 62. Jesum von einem ἀναβαίνειν des Menschensohns,[]ποῦ ἠν τὸ πρότερον sprechen: so ist dieſs theils für sich, theils in Verbindung mit den übrigen Stellen eine zu bestimmte Bezeichnung eines früheren Seins, als daſs wir dieses für ein blos ideales halten könnten.

Man hat nun schon vermuthet, diese Jesu in den Mund gelegten Aussprüche, oder wenigstens ihre Deutung auf eine reale Präexistenz, rühren blos von dem Verfasser des vierten Evangeliums her2)Bretschneider, Probabilia, S. 59., mit dessen im Prologe dar - gelegten Ansichten sie allerdings ganz zusammenstimmen; denn war der λόγος ἐν ἀρχῇ πρὸς τον ϑεὸν: so konnte Jesus, in welchem er σὰρξ ἐγένετο, im realsten Sinne sich eine Präexistenz vor Abraham, eine Herrlichkeit bei'm Vater vor Grundlegung der Welt zuschreiben. Zu jener Ansicht sind wir aber nur in dem Falle berechtigt, wenn sich weder zeigen läſst, daſs die Idee von einer Präexi - stenz des Messias zu Jesu Zeit unter den palästinischen Juden vorhanden war, noch auch wahrscheinlich machen, daſs Jesus unabhängig von Zeit - und Volksvorstellungen auf eine solche Ansicht von sich selbst gekommen sei.

Daſs nun das Leztere stattgefunden, und Jesus aus eigener vermeintlicher Erinnerung von seinem vormensch - lichen und vorweltlichen Zustand gesprochen, diese An - nahme hieſse das gesunde menschliche Bewuſstsein Jesu zerstören3)Vergl. Schleiermacher's Glaubenslehre, 2, S. 99. und ihn der Schwärmerei zeihen, von wel - cher er sonst sich frei zeigt. Eine Basis zu dergleichen Zeitvorstellungen aber könnte man, was das A. T. be - trifft, etwa in der angeführten Danielischen Beschreibung von dem in den Wolken des Himmels kommenden Men -485Viertes Kapitel. §. 60.schensohn finden, indem vielleicht schon der Verfasser, und jedenfalls mancher Leser sich denselben als ein über - menschliches Wesen, das zuvor gleich den Engeln bei Gott gewesen, vorgestellt hat. Daſs aber jeder, der diese Stelle auf den Messias bezog, und namentlich Jesus, sofern er sich nach derselben den Menschensohn nannte, auch an eine Präexistenz gedacht habe, läſst sich nicht beweisen; denn sein Kommen in des Himmels Wolken dachte er sich doch, wenn wir von Johannes absehen, nicht so, als wäre er, wie ein von jeher im Himmel zu Hause gewesener aus den Wolken auf die Erde herniedergekommen, son - dern nach Matth. 26, 65. (vrgl. Matth. 24, 25) so, daſs er, der Erdgeborene, nach Vollendung seiner irdischen Lauf - bahn in den Himmel aufgenommen werden und von da zur Eröffnung seines Reiches wiederkehren werde, wo - durch also die Vorstellung des Kommens in den Wolken eine Wendung bekam, bei welcher sie nicht nothwendig eine Präexistenz in sich schloſs. Sonst findet sich in den Proverbien, dem Sirach und dem Buch der Weisheit die Idee einer personifieirten und endlich selbst hypostasirten Weisheit Gottes, ebenso in den Psalmen und Propheten starke Personificationen des göttlichen Wortes4)S. die Nachweisung und Auslegung der Stellen bei Lücke, Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 211 ff.; beson - ders wichtig aber ist, daſs in Folge der Scheue des späte - ren Judenthums vor Anthropomorphismus in der Vorstel - lung vom göttlichen Wesen es gewöhnlich wurde, sein Sprechen, Erscheinen und unmittelbares Einwirken dem Wort (ימראמ) oder der Wohnung (שכינתא) Jehova's zuzu - schreiben, wie sich dieſs schon in dem uralten5)Winer, de Onkeloso, p. 10; vrgl. de Wette, Einleit. in das A. T. §. 58. Targum des Onkelos findet6)Bertholdt, Christologia Judacor. §§. 23 25. vrgl. Lücke, a. a. O. S. 244 Anm.. Diese Vorstellungen, Anfangs bloſse486Zweiter Abschnitt.Umschreibungen des Namens Gottes, bekamen bald den schwankenden Werth einer eigenen Hypostase, eines von ihm verschiedenen und doch mit ihm einigen Wesens. Da die meisten Offenbarungen und Einwirkungen Gottes, als deren Organ dieses personificirte Gotteswort angesehen wurde, zu Gunsten des israëlitischen Volkes geschehen waren: so war es natürlich, diejenige von Gott noch zu veranstaltende Erscheinung, von welcher das meiste Heil für Israël erwartet wurde, die Erscheinung des Messias, in besondre Beziehung mit dem Wort oder der Schechina zu setzen, woraus sich einerseits die Vorstellung, daſs mit dem Messias die Schechina erscheinen werde7)Schöttgen, 2, S. 6 f., andrer - seits das sich ergab, daſs, was der Schechina zuzuschrei - ben war, auch vom Messias ausgesagt wurde, eine Dar - stellungsweise, welche nicht blos bei den Rabbinen, sondern auch bei dem Apostel Paulus sich findet. Hienach war der Messias schon in der Wüste der unsichtbare Begleiter und Wohlthäter des Volks Gottes (1 Kor. 10, 4. 9. )8)Targ. Jes. 16, 1: iste (Messias) in deserto fuit rupes eccle - siae Zionis (bei Bertholdt, a. a. O. S. 145.); er war bereits bei den ersten Eltern im Paradiese9)Sohar chadasch f. 82, 4, bei Schöttgen 2, S. 440.; schon bei der Weltschöpfung war er als Organ derselben thätig (Kol. 1, 16.); selbst vor derselben existirte er10)Nezach Israël c. 35 f. 48, 1. (bei Schmidt, Bibl. für Kritik u. Exegese 1, S. 38): משיח מפני תוהו. Sohar Levit. f. 14, 56, (bei Schöttgen, 2, S. 436): Septem (lumina condita sunt, antequam mundus conderetur), nimirum ...... et lumen Messiae. Die hier als real dargestellte Präexistenz des Mes - sias findet sich mehr nur ideal gefasst in Bereschith rabba, sect. 1. f. 3, 3, (Schöttgen, ebendas.), und war vor seiner Menschwerdung in Jesus in herrlichem Zustande bei Gott (Phil. 2, 6).

Da auf diese Weise in der höheren jüdischen Theologie487Viertes Kapitel. §. 61.unmittelbar nach Jesu Zeit die Idee von einer Präexistenz des Messias gegeben war: so liegt die Vermuthung nahe, daſs dieselbe auch schon in der Zeit, in welcher Jesus sich bildete, vorhanden gewesen, und daſs er somit, wenn er sich einmal als Messias faſste, auch diesen Zug der Messias - vorstellung auf sich habe übertragen können. Ob jedoch Jesus so weit wie etwa ein Paulus in die Schulweisheit seiner Zeit eingeweiht gewesen ist, so daſs er aus ihr jene Vorstellung schöpfen konnte, ist noch die Frage, und da nur der mit alexandrinischer Logologie vertraute Verfasser des vierten Evangeliums ihm die Behauptung einer Präexi - stenz in den Mund legt, so muſs es sehr zweifelhaft blei - ben, ob sie der eigenen Ansicht Jesu von sich, oder nur der Reflexion des vierten Evangelisten über ihn angehört.

§. 61. Der messianische Plan Jesu. Politische Seite.

Jesus verkündigte, wie wir gesehen haben, früher vielleicht unbestimmt irgend einen, später bestimmt sich selbst als denjenigen, welcher die βασ[ι]λεία τῶν οὐρανῶν zu stiften gekommen sei. Die Idee des messianischen Reiches gehörte dem israëlitischen Volke an; es fragt sich: hat Jesus sie nur so, wie er sie unter diesem vorfand, aufge - nommen, oder auch selbstständig Modificationen an dersel - ben angebracht?

Da die Idee eines Messias unter den Juden aus politisch - religiösem Boden erwachsen, ihre weitere Ausbildung vorzüg - lich durch das politische Unglück der Zeiten befördert wor - den war, und auch zu Jesu Zeit, nach dem eigenen Zeug - niſs der Evangelien, erwartet wurde, daſs er den Herr - scherstuhl seines Ahnherrn David besteigen, das jüdische Volk vom Drucke der Römer befreien und ein Reich ohne Ende stiften werde (Luc. 1, 32 f. 68 ff. A. G. 1, 6): so muſs unsre erste Frage diese sein, ob Jesus auch dieses politische488Zweiter Abschnitt.Grundelement in seinen messianischen Plan aufgenommen habe?

Daſs Jesus zum weltlichen Herrscher sich habe auf - werfen wollen, ist von jeher von Gegnern des Christen - thums behauptet, von keinem aber so scharf an der Hand der Exegese durchgeführt worden, als von dem Wolfen - büttler Fragmentisten1)Von dem Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 108 157., welcher ihm übrigens hiebei das Streben nach sittlicher Besserung seiner Nation keineswegs absprach. Das Erste, was dem Fragmentisten zufolge für einen politischen Plan Jesu zu sprechen scheint, ist, daſs er immer nur schlechtweg das sich nahende Messiasreich ankündigte und die Bedingungen des Eintritts in dasselbe vorlegte, ohne sich näher darüber zu erklären, was es sei und worin es bestehe2)Vgl. Fritzsche, in Matth. S. 114., mithin den Begriff desselben als einen allbekannten voraussetzte. Nun war aber der da - mals herrschende Begriff von demselben überwiegend poli - tisch gefärbt: folglich konnten die Juden, wenn Jesus ohne nähere Erklärung vom Messiasreiche sprach, nur an eine weltliche Herrschaft denken, und da Jesus keine andre Auffassung seiner Worte voraussetzen konnte, so muſs er eben so haben verstanden sein wollen. Dasselbe scheint sich daraus zu ergeben, daſs er die Apostel, deren Vor - stellungsweise ihm nicht verborgen sein konnte, zur Ver - kündigung des Messiasreichs im Lande umherschickte (Matth. 10). Nun aber hatten diese, welche sich um die oberste Stelle in dem von Jesu zu errichtenden Reiche zankten (Matth. 18, 1. Luc. 22, 24.), von welchen zwei sich bestimmt die Sitze zur Rechten und Linken des messia - nischen Königs ausbaten (Marc. 10, 35 ff. ), welche selbst nach dem Tod und der Auferstehung Jesu noch ein ἀπο - καϑιςάνειν τὴν βασιλείαν τῷ Ἰσραὴλ erwarteten (A. G. 1, 6), diese hatten doch offenbar von Anfang bis zum Ende ihres489Viertes Kapitel. §. 61.Umgangs mit Jesu ganz die gewöhnlichen Vorstellungen vom Messias: wenn also Jesus sie als Herolde seines Rei - ches aussandte, so muſs es in seiner Absicht gelegen ha - ben, daſs sie aller Orten ihre politischen Messiasbegriffe verbreiten sollten.

Unter den eigenen Reden Jesu läſst sich besonders Eine hervorheben. Matth. 19, 28. (vrgl. Luc. 22, 30.) ver - heiſst er auf die Anfrage des Petrus, was ihnen, die um seinetwillen Alles verlassen haben, dafür werden würde? seinen Jüngern, daſs sie in der παλιγγενεσία, wenn des Menschen Sohn seinen herrlichen Thron bestiegen haben werde, selbst auch auf 12 Stühlen sitzen und die 12 Stäm - me Israëls richten sollen. Daſs der nächste Wortsinn die - ser Verheiſsung dem Zusammenhang der weltlichen Messias - hoffnungen der damaligen Juden angehöre, darf als einge - standen vorausgesetzt werden. Aber Jesus soll sie nicht wörtlich, sondern uneigentlich gemeint, und durch ge - wohnte jüdische Bilder nur dieſs haben ausdrücken wollen, daſs die Apostel für ihre hier gemachten Aufopferungen in jenem Leben durch die Theilnahme an seiner Herrlichkeit reichlich entschädigt werden würden3)Kuinöl, Comm. in Matth. S. 518 ff. Auch Olshausen, S. 744, fasst die Rede symbolisch, ob er gleich einen andern Sinn in derselben findet.. Allein die Jün - ger müssen diese Rede eigentlich verstanden haben, wenn doch selbst nach Jesu Auferstehung noch ähnliche Gedan - ken in ihnen wohnten, und da Jesus ihre Geneigtheit zu irdischen Messiashoffnungen aus mehreren Proben kannte, so würde er sich schwerlich jenes Versprechen erlaubt haben, wenn er nicht beabsichtigte, diese Erwartungen in ihnen zu nähren. Daſs er dieſs, ohne sie selbst zu thei - len, aus bloser Accommodation an die Jünger, um ihren Muth zu befeuern, gethan habe, diese Voraussetzung läſst ihn unredlich handeln, und dieſs im gegebenen Fall490Zweiter Abschnitt.noch besonders unnöthig, da, wie Olshausen mit Recht be - merkt, auf die Frage des Petrus jede andre lobende Aner - kennung des Strebens der Jünger genügt haben würde. Scheint so Jesus die jüdischen Erwartungen, welche er hier vorträgt, selbst auch getheilt haben zu müssen: so versuchen die Ausleger die verzweifeltsten Sprünge, um diesem unwillkommenen Ergebniſs sich zu entziehen. Die einen durch willkührliche Änderung der Lesart4)Paulus, ex. Handb. 2, S. 613 f.; die anderen, indem sie aus Jesu Worten eine Ironie über die hohen Ansprüche der Jünger bei noch so geringen Leistun - gen herausdeuten5)Liebe, in Winer's exeget. Studien 1, 59 ff., andere noch anders, aber alle so un - natürlich, daſs man lieber eingesteht, Jesus habe hier im Zusammenhang mit jüdischen Vorstellungen den Aposteln einen Antheil an dem von ihm äusserlich abzuhaltenden messianischen Gerichte zuerkannt, was allerdings auf ein politisches Element in seinen Begriffen vom Messiasreich hinzudeuten scheint6)Hase, L. J. §. 68., zumal er der Apostelgeschichte zu - folge (1, 7.) auch nach der Auferstehung noch auf die schon erwähnte Frage der Jünger nicht dieſs verneint, daſs er das Reich Israël wiederherstellen werde, sondern nur die Frage nach den χρόνοις und καιροῖς dieser Wieder - herstellung als ungehörig zurückweist.

Unter den Handlungen Jesu beruft man sich für die Behauptung eines politischen Plans besonders auf seinen lezten Einzug in Jerusalem (Matth. 21, 1 ff). Hier deutet nach dem Fragmentisten Alles auf eine politische Absicht hin. Der Zeitpunkt, den er wählt: nach hinreichend lan - ger Vorbereitung des Volks in den Provinzen das von die - sem zahlreich besuchte Osterfest; das Thier, das er be - steigt, durch welches er sich mit Bezug auf Zacharias als den für Jerusalem bestimmten König ankündigen wollte;491Viertes Kapitel. §. 62.die Billigung, die er ausspricht, als das Volk ihn mit - niglichem Gruſs empfängt; das gewaltsame Verfahren, welches er sich sofort im Tempel erlaubt; die scharfe Rede endlich gegen den hohen Rath (Matth. 23.), an deren Schluſs er sich die Anerkennung als messianischer König durch die Drohung, sich dem Volk sonst gar nicht mehr zu zeigen, erzwingen will.

§. 62. Data für einen rein geistigen Messiasplan Jesu. Ausgleichung.

Nirgends findet sich jedoch in unsern evangelischen Darstellungen eine Spur, daſs Jesus politisch Partei zu machen gesucht hätte. Vielmehr hat er sich der Aufre - gung des Volks, das ihn zum König machen wollte, entzo - gen (Joh. 6, 15.), hat erklärt, daſs das Messiasreich nicht μετὰ παρατηρήσεως komme, sondern im Innern der Men - schen zu suchen sei (Luc. 17, 20 f.); Vereinigung des Ge - horsams gegen Gott und gegen die, wenn auch heidnische, Obrigkeit ist sein Grundsatz (Matth. 22, 21.), und was er vor seinem Richter behauptet, daſs sein Reich οὐκ ἐντεῦϑεν, οὐκ ἐκ τοῦ κόσμου τούτου sei (Joh. 18, 36.), darüber haben wir nicht Ursache, weder ihn noch den Evangelisten Lügen zu strafen.

Wie nun unter diesen sich entgegenstehenden Indicien die Gegner des kirchlichen Christenthums ausschlieſslich die ersteren festhielten, welche für einen politischen und näher revolutionären Plan Jesu zu sprechen scheinen: so die orthodoxen Theologen nur die lezteren, welche für sich auf einen rein geistigen Plan Jesu führen würden1)So Reinhard, über den Plan, welchen der Stifter der christ - lichen Religion zum Besten der Menschheit entwarf. S. 57 ff. (4te Aufl.), und jede Partei hat sich bemüht, die ihr entgegenstehenden492Zweiter Abschnitt.Stellen durch hermeneutische Künste zu entkräften. Daſs Beides gleich einseitig sei, hat man neuerlich anerkannt, und die Nothwendigkeit einer Ausgleichung eingesehen.

Diese hat man vornehmlich so versucht, daſs man eine frühere und eine spätere Gestaltung des Planes Jesu unter - schied2)Paulus, Leben Jesu 1, b. S. 85. 94. 106 ff; Venturini, 2, S. 310 f. Hase, Leben Jesu §§. 68. 84. In der so eben erschie - nenen zweiten Auflage, §§. 49. 50. (vrgl. die theol. Streit - schriften, S. 61 ff. ) hat Hase diese Ansicht, wiewohl ungern, zurückgenommen.. Obgleich, hat man gesagt, sittliche Besserung und religiöse Erhebung seines Volkes von jeher sein Haupt - zweck gewesen sei, so habe er doch zu Anfang seines öf - fentlichen Wirkens die Hoffnung gehegt, vermittelst dieser innern Wiedergeburt auch die äussere Herrlichkeit der Theokratie zu erneuern, wenn er von seiner Nation als Messias anerkannt nnd dadurch zugleich als die höchste Staatsgewalt constituirt würde; erst als diese Hoffnung fehl - geschlagen, habe er hierin die göttliche Verwerfung jeder politischen Beziehung seines Planes erkannt, und dadurch diesen zur reinen Geistigkeit verklärt. Eine solche Verän - derung im Plane Jesu soll namentlich daraus hervorgehen, daſs über sein erstes Auftreten ebensoviel Heiterkeit, als über die spätere Zeit seines Wirkens Wehmuth ausgegos - sen sei, daſs an die Stelle des angenehmen Jahrs des Herrn, das er Anfangs verkündete, hernach das Wehe habe tre - ten müssen, und daſs er selbst über Jerusalem gesagt ha - be, er habe es zu retten gedacht, nun aber werde es, auch politisch, untergehen. Da jedoch die Evangelisten diese beiden angeblichen Perioden nicht auseinanderhalten, sondern g[e]rade die zwei für das Politische im Plane Jesu gewichtigsten Data, die Verheiſsung des Sitzens auf Thro - nen und den Einzug, in die lezte Zeit des Lebens Jesu stellen: so könnte zwar, wie oben in Bezug auf das Ver - hältniſs Jesu zur messianischen Idee überhaupt, so auch493Viertes Kapitel. §. 62.hier eine Vermengung der Zeiten in ihren Berichten vor - ausgesezt werden: doch nur wenn kein andrer Ausweg möglich, d. h. wenn es auf keine Weise denkbar ist, wie Jesus zu gleicher Zeit jene politisch klingenden und diese alles Politische scheinbar ausschliessenden Aussprüche ge - than haben kann.

Dieſs scheint jedoch keineswegs undenkbar, sondern ein καϑ ζεσϑαι ἐπὶ ϑρόνους für sich und seine Jünger konnte Jesus verheiſsen, ohne durch eine politische Revolution sich dieser Würde bemächtigen zu wollen, wenn er auf eine von Gott zu bewirkende Revolution wartete, welche den erforderlichen Umschwung der Dinge herbeiführen soll - te. Dieſs liegt schon darin, daſs Jesus jenes richterliche Auftreten seiner Jünger in die παλιγγενεσία versezt; denn diese ist ebensowenig eine politische Umwälzung als eine sittliche Wiedergeburt, sondern es ist die Auferstehung der Todten, welche Gott durch den Messias bewirken und damit die messianische Zeit eröffnen wird3)s. Fritzsche, in Matth. S. 606 f.. Allerdings also erwartete Jesus, den Thron Davids wiederherzustel - len und mit seinen Jüngern ein befreites Volk zu beherr - schen: aber keineswegs sezte er dabei auf das Schwert menschlicher Anhänger seine Hoffnung (Luc. 22, 38. Matth. 26, 52.), sondern auf die Engellegionen, welche sein himm - lischer Vater ihm senden könne (Matth. 26, 53.). Wo im - mer er von dem Antritt seiner messianischen Herrlichkeit spricht, sind es Engel und himmlische Mächte, mit welchen er sich umgiebt (Matth. 16, 27. 24, 39 f. 25, 31. Joh. 1, 52.); vor der Majestät des in den Wolken des Himmels kom - menden Menschensohns werden sich die Völker ohne Schwert - streich beugen, und auf den Ruf der Engelposaune sich sammt den auferstehenden Todten ihm und seinen Zwölfen zum Gerichte stellen. Dieſs Alles wollte Jesus nicht eigen - willig herbeiführen, sondern überlieſs es dem himmlischen494Zweiter Abschnitt.Vater, der allein die rechte Zeit für diese Katastrophe wis - se (Marc. 13. 32. ), ihm gleichsam das Signal zu geben, und wurde auch dadurch nicht irre gemacht, daſs ihn das Ende ereilte, ehe ein solches erfolgt war. Wer diese An - sicht von dem Hintergrunde des messianischen Planes Jesu blos deſswegen scheut, weil er durch dieselbe Jesum zum Schwärmer zu machen glaubt4)de Wette, bibl. Dogm. §. 216., der bedenke, wie genau diese Hoffnungen den langgehegten Messiasbegriffen der Juden entsprachen5)Bertholdt, Christol. Judacor. §§. 30 ff., und wie leicht auf dem supranatu - ralistischen Boden jener Zeit und in dem abgeschlossenen Kreise der jüdischen Nation eine für sich abenteuerliche Vorstellung, wenn sie nur Nationalvorstellung war und sonst wahre und groſsartige Seiten bot, auch einen beson - nenen Mann in sich hineinziehen konnte.

Was sofort nach dem Gericht die Frommen erwartet, die ζωὴ αἰωνιος in der βασιλεία τοῦ πατρὸς, diese vergleicht Jesus zwar in Einstimmung mit jüdischen Vorstellungen6)Bertholdt, §. 39. gerne mit einem Gastmahl (Matth. 8, 11. 22, 2 ff. u. s.), in welchem er selbst noch zu trinken (Matth. 26, 29.) und das Pascha zu feiern hofft (Luc. 22, 16.): doch scheint seine anderweitige bestimmte Erklärung, daſs in dem αἰὼν μέλ - λων die organischen Verhältnisse der Geschlechter aufhö - ren und die Menschen ἰσάγγελοι sein werden (Luc. 20, 35 f.), jene Reden mehr oder weniger zur Geltung von Bildern herabzusetzen.

§. 63. Verhältniss Jesu zum mosaischen Gesetz.

Weil in der von Jesu gestifteten Kirche die mosaische Religionsverfassung faktisch ihren Untergang gefunden hat, so liegt es nahe, zu vermuthen, daſs auch in der Absicht495Viertes Kapitel. §. 63.des Stifters die Abschaffung des Mosaismus gelegen habe, und je höher durch eine solche Erhebung über den engen Gesichtskreis des jüdischen Ceremonialdienstes Jesus zu stehen kommt, desto mehr haben sich von jeher die Apo - logeten angelegen sein lassen, den Beweiſs dafür zu füh - ren1)Wie Reinhard, Plan Jesu, S. 14 ff.. Auch fehlt es keineswegs an Aussprüchen und Handlungen Jesu, welche unverkennkar dahin zu deuten scheinen. Wo immer er die Bedingungen der Theilnahme an der βασιλε[ί]α τῶν οὐρανῶν auseinandersetzt, wie in der Bergrede, da hebt er nicht die Beobachtung der mosai - schen Ritualvorschriften, sondern den innern Geist der Religiosität und Sittlichkeit hervor; dem Fasten, Beten, Almosengeben, schreibt er blos in Verbindung mit entspre - chender Richtung des Gemüths einen Werth zu (Matth. 6, 1 18); die beiden Hauptbestandtheile des mosaischen Cultus, den Opferdienst und die Fest - und Sabbatsfeier empfiehlt er nicht nur nirgends ausdrücklich, sondern stellt sogar den erstern merklich zurück, indem er einen γραμματεὺς, der von herzlicher Gottes - und Nächstenliebe erklärt hatte, sie sei πλεῖον πάντων τῶν ὁλοκαυτωμάτων καὶ ϑυσιῶν, lobend für einen solchen erklärte, welcher οὐ μα - κρὰν ἀπὸ τῆς βασιλείας τοῦ ϑεοῦ sei (Marc. 12, 33 f.)2)Eine Übertreibung des Ebionitenevangeliums s. bei Epipha - nius, haer. 30, 16.; gegen die damals übliche Sabbatsfeier aber hat Jesus mehr als einmal sowohl faktisch verstoſsen, als ausdrücklich sich erklärt (Matth. 12, 1 13. Marc. 2, 23 28. 3, 1 5. Luc. 6, 1 10. 13, 10 ff. 14, 1 ff. Joh. 5, 5 ff. 7, 22 f. 9, 1 ff. ), und sich als dem υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου die Macht über den Sabbat zugeschrieben; wie denn die Juden vom Messias eine Revision des mosaischen Gesetzes erwartet zu haben scheinen3)Bertholdt, a. a. O. §. 31.. Überhaupt kann man sagen: wer einmal wie496Zweiter Abschnitt.Jesus den alleinigen Werth des Innern gegenüber vom Äussern, der Gesammtheit der Gesinnung im Vergleich mit der von derselben losgerissenen einzelnen Handlung in der Art erkannt hat, daſs er die Gottes - und Nächstenliebe für das Wesentliche des Gesetzes erklärt (Matth. 22, 36 ff. ), dem kann nicht verborgen bleiben, daſs ebendamit dasjenige im Gesez, was auf diese beiden Punkte sich nicht bezieht, als Unwesentliches bestimmt ist. Ganz entschieden aber scheint die Aussicht Jesu auf Abschaffung des mosaischen Cultus in den Aussprüchen enthalten zu sein, daſs der Mittelpunkt desselben, der Tempel in Jerusalem, zerstört, (Matth. 24, 2 parall. ) und die Gottesverehrung künftig an keinen Ort mehr gebunden, eine rein geistige sein werde (Joh. 4, 21 ff.)

Indeſs alles dieſs ist doch nur die eine Seite der Stel - lung, welche Jesus sich zum mosaischen Gesetze gab, in - dem sich ebenso Data finden, welche zu beweisen schei - nen, daſs er an einen Umsturz der alten Religionsver - fassung seines Volkes nicht gedacht habe; eine Seite, wel - che früher, aus leicht denkbaren Gründen, vorzugsweise von Gegnern des Christenthums in seiner kirchlichen Form ausgeführt4)Auch diess am bündigsten vom Wolfenbüttler Fragmentisten, von dem Zweck u. s. f. S. 66 ff., und erst neuerlich, bei erweitertem theolo - gischen Gesichtskreis, auch von unbefangenen kirchlichen Auslegern anerkannt worden ist5)Vorzüglich von Fritzsche, in Matth. S. 214.. Im Leben vorerst bleibt Jesus dem väterlichen Gesetze treu: er besucht am Sabbat die Synagoge, reist zur Festzeit nach Jerusalem und iſst an Ostern mit seinen Jüngern das Paschalamm. Wenn er am Sabbat heilt oder seine Schüler Ähren aus - raufen läſst (Matth. 12, 1 ff. ), wenn er in seiner Gesell - schaft keine Fasten und keine Waschungen vor Tische ein - führt (Matth. 9, 14. 15, 2): so war dieſs nicht gegen das mosaische Gesez, welches nur Enthaltung von gemeiner497Viertes Kapitel. §. 63.Arbeit, הכׇאלׇמְ verlangte (2 Mos. 20, 8 ff. 31, 12 ff. 5 Mos. 5, 12 ff. ), worunter namentlich Pflügen und Ernten (2 Mos. 34, 21.), Holzsammeln (4 Mos. 15, 32 ff. ) u. dergl. subsu - mirt war, Heilen aber und Abpflücken einiger Ähren nur von dem späteren Kleinigkeitsgeist subsumirt wurde6)S. Winer, Realwörterb. 1te Aufl. S. 585.; ebenso war das Waschen der Hände vor dem Essen nur eine höchst gezwungene rabbinische Folgerung aus 3 Mos. 15, 11.7)Paulus, exeg. Handb. 2, S. 273.; so wie, was das Fasten betrifft, im Gesetze nur Ein jährliches allgemeines (3 Mos. 16, 29 ff. 23, 27 ff. ), von Privatfasten aber nichts geboten war8)Winer, Realw. 2te Aufl. 1. Bd. S. 426.. Von Aussprü - chen Jesu findet sich in derselben Bergpredigt, in welcher er die geistige Religiosität so weit über alles Rituale sezt, neben der deutlichen Voraussetzung des Fortbestehens der Opfer (Matth. 5, 23 f.), die Erklärung, daſs er nicht ge - kommen sei, das Gesez und die Propheten aufzulösen, son - dern zu erfüllen (Matth. 5, 17.), wo, wenn auch wahr - scheinlich πλ[η]ρῶσαι hauptsächlich von Verwirklichung der messianischen Weissagungen des A. T. s zu verstehen ist, doch das οὐκ ἠλϑονκαταλῦσαι zugleich von Beibehaltung des mosai - schen Gesetzes verstanden werden muſs, wenn sogleich im Folgenden dem kleinsten Buchstaben des Gesetzes ewige Dauer verheiſsen, und demjenigen, der auch nur das ge - ringste Gebot desselben als unverbindlich darstelle, mit Zu - rücksetzung im Himmelreich gedroht wird9)Fritzsche, S. 214 ff.. Demgemäſs hielten sich die Apostel selbst nach dem ersten Pfingstfest noch streng an das jüdische Gesez, sie giengen um die Gebetsstunde in den Tempel (A. G. 3, 1.), hielten sich zu den Synagogen, hiengen an den mosaischen Speiseverboten (10, 14., und wuſsten die Klagen der judaisirenden Par - tei über das Verfahren des Barnabas und Paulus, welcheDas Leben Jesu I. Band. 32498Zweiter Abschnitt.Heiden tauften, ohne ihnen die Last des mosaischen Ge - setzes aufzulegen, wenigstens durch keine Berufung auf ausdrückliche Erklärungen Jesu zurückzuweisen (A. G. 15.).

Diesen scheinbaren Widerspruch in dem Benehmen und den Äusserungen Jesu hat man von apologetischem In - teresse aus in der Art lösen zu können geglaubt, daſs man nicht blos die eigene Gesetzbeobachtung Jesu, sondern auch seine Erklärungen zu Gunsten des Gesetzes als nothwen - dige Accommodation an seine Volksgenossen faſste, welche ihm ihr Vertrauen sogleich entzogen haben würden, wenn er sich als Zerstörer des heilig geachteten Gesetzes ange - kündigt hätte10)Reinhard, a. a. O. S. 15 ff. Planck, Geschichte des Chri - stenthums in der Periode seiner Einführung, 1, S. 175 ff.. Hieraus lieſse sich wirklich das, daſs Jesus für seine Person das Gesez beobachtete, so gut er - klären, als das gesezliche Leben des Apostels Paulus un - ter Juden nach seiner eigenen Erklärung bloſse Anbeque - mung war (1. Kor. 9, 20. vgl. A. G. 16, 3.). Aber die starken Versicherungen über die Unvergänglichkeit des Ge - setzes und die Schuld dessen, der auch nur das kleinste Gebot desselben aufzulösen sich erkühne, lassen sich aus bloſser Accommodation unmöglich ableiten; denn für un - entbehrlich erklären, was man doch für überflüssig hält, und selbst nach und nach in Abgang zu bringen wünscht, würde neben der Unredlichkeit zugleich allzu unklug ge - handelt sein.

Daher haben Andre den Unterschied des Moralischen und Ritualen geltend gemacht, und die Erklärung Jesu, das Gesez nicht aufheben zu wollen, nur auf das erstere bezogen, welches er durch reinere Herausarbeitung aus dem blos Ceremoniellen zu vervollkommnen (πληρῶσαι) gestrebt habe11)de Wette, bibl. Dogm. §. 210.. Allein eine solche Unterscheidung liegt in der betreffenden Stelle der Bergrede keineswegs; vielmehr ist499Viertes Kapitel. §. 63.theils durch νόμος und προφῆται die ganze A. T. liche Re - ligionsverfassung im weitesten Umfang bezeichnet12)Fritzsche, S. 214., theils sind unter den unbedeutendsten Geboten und kleinsten Buch - staben des Gesetzes, welche gleichwohl nicht abrogirt wer - den sollen, nicht wohl andre, als eben Ceremonialgebote zu verstehen13)s. den Fragmentisten, vom Zwecke u. s. w. S. 69..

Glücklicher ist die Unterscheidung zwischen wirklich mosaischen Vorschriften und den traditionellen Zusätzen zu denselben14)Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 600 f. Leben Jesu, 1, a, S. 296. 312.. Wirklich liefen ja die Sabbatheilungen Je - su, seine Geringschätzung des pedantischen Waschens vor dem Essen u. dgl. nicht gegen Moses, sondern nur gegen spätere rabbinische Satzungen, und auch mehrere Reden Jesu führen auf diesen Unterschied. Matth. 15, 3 ff. stellt Jesus die παράδοσις τῶν πρε[σ]βυτέρ[ων]der ἐντολὴ τοῦ ϑεοῦ gegenüber, und Matth. 23, 23. erklärt er, wo sich beide miteinander vertragen, möge man τα[]τ[α]ποιῆσαι, κἀκε[]να μὴ ἀφιέναι, weſswegen er auch V. 3. das Volk ermahnt, alles was ihm die Schriftgelehrten und Pharisäer vorschrei - ben, zu thun; könne oder wolle man dagegen nur Eines oder das Andere thun, bemerkt er Matth. 15, 3 ff., so sei es gerathener, um dem göttlichen (durch Moses gegebenen) Gebot folgen zu können, παραβαίνειν τὴν παράδοσιν, als umgekehrt παραβα[ί]νειν τὴν ἐντολὴν τοῦ ϑεοῦ διὰ τὴν παρά - δοσιν. Überhaupt findet er in der Masse traditioneller Ge - bote ein φορτίον δυσβάςακτον (23, 4.), welches er dem hart - gedrückten Volke abzunehmen und ihm dafür sein φορτ[ί]ον ἐλαφρον, seinen ζυγὸς χρηςος aufzulegen gedenkt (11, 29 f.), weſswegen bei aller Schonung, die er gegen das Bestehen - de, sofern es nur nicht positiv verderblich wirkte, auszu - üben geneigt war, doch seine Meinung dahin gieng, daſs32*500Zweiter Abschnitt.alle diese ἐντάλματα ἀνϑρώπων, als eine φυτε[ί]α, ἣν οὐκ ἐφ[ύ]- τευσεν πατὴρ οὐράνιος, zu Grunde gehen werden (15, 9. 13.). Insofern dieses pharisäische Satzungswesen gros - sentheils auf Äusserlichkeiten gerichtet war, unter welchen der edle sittliche Kern des mosaischen Gesetzes sich verlor, wie wenn man durch Geschenke an den Tempel sich von der schuldigen Unterstützung bedürftiger Eltern dispensi - ren lieſs (15, 5.), oder über dem Verzehnten des Tills und Kümmels die Nächstenliebe vergaſs (23, 23.): so fällt frei - lich diese Unterscheidung mit der vorigen gewissermaſsen zusammen, indem es in den rabbinischen Satzungen eben die blos ceremonielle Richtung war, was Jesus perhorres - cirte, im mosaischen Gesetze aber der moralisch-religiöse Kern, um dessen willen er es hauptsächlich schäzte. Nur daſs man dann immer nicht sagen darf, er habe das mo - saische Gesez nur diesem lezteren Theile nach wollen be - stehen lassen, da die angeführten Stellen namentlich aus der Bergrede klar beweisen, daſs er auch das blos Rituelle nicht aufzuheben beabsichtigte.

Consequenterweise hätte allerdings Jesus, wenn er ein - mal das auf Sittlichkeit und geistige Gottesverehrung sich Beziehende als das allein Wesentliche in der Religion er - kannt hatte, alles blos Rituelle, sofern es sich religiöse Be - deutung anmaſste, dergleichen sich schon eine groſse Mas - se im mosaischen Gesetze selber fand, verwerfen müssen: allein man weiſs, wie langsam solche Consequenzen, wenn ihnen ein geheiligtes Herkommen entgegensteht, gezogen werden. Daſs Gehorsam besser denn Opfer sei, hat an - geblich schon Samuel erkannt (1. Sam. 15, 22.), und As - saph, daſs ein Opfer gefühlten Danks Gott besser gefalle, als von geschlachteten Thieren (Ps. 50.: und doch, wie lange wurden noch Opfer neben und statt des wahren Ge - horsams beibehalten? Lebendiger noch als jene Alten war Jesus von dieser Überzeugung durchdrungen; die wahre ἐντολὴ του ϑεοῦ am mosaischen Gesez war ihm eigentlich nur501Viertes Kapitel. §. 63.das τίμα τὸν πατέρα, das οὐ φονεύσεις u. s. w., vor Allem aber das ἀγαπησεις Κύριον τὸν ϑεὸν καὶ τὸν πλησίον: aber der tiefgewurzelte Respect vor dem heiligen Gesezbuch machte, daſs er um dieses wesentlichen Inhalts willen auch den unwesentlichen ehrte, was er um so eher konnte, da im Verhältniſs zu dem in's Unsinnige übertriebenen Pedan - tismus der traditionellen Zusätze das Rituelle im Penta - teuch als höchst einfach erscheinen muſste. Diesen lezte - ren Theil des Gesetzes zwar als göttlich entsprungenen fortan zu achten, ihn aber doch für abrogirt zu erklären mittelst der Idee einer göttlichen Erziehung des Menschen - geschlechts, vermöge welcher Gott für eine frühere Periode eine Anordnung nöthig finden konnte, welche später über - flüssig wird, dieser Gedanke des νόμος παιδαγωγὸς (Gal. 3, 24.) scheint in seiner Ausbildung erst dem Apostel Pau - lus anzugehören; wiewohl in der Äusserung Jesu, daſs Gott dem alten Hebräervolk πρὸς τὴν σκληροκαρδίαν αὐτῶν Manches zugelassen habe, was jezt, bei fortgeschrittener Bildung, nicht mehr angehe (Matth. 19, 8 f.), derselbe Ge - danke im Keime liegt.

Eine ähnliche Beschränkung der Dauer des Gesetzes von Seiten Jesu würde darin liegen, wenn er wirklich (was erst später untersucht werden kann) dem Tempel zu Je - rusalem den bei seiner baldigen Wiederkunft bevorstehen - den Untergang (Matth. 24.), und die Lösung der Gottes - verehrung von jeder lokalen Gebundenheit (Joh. 4.) voraus - verkündigt hat, da hiemit die ganze mosaische Form des Cultus fallen muſste. Daſs er Matth. 5, 18. das Gesez fort - dauern läſst, so lange Himmel und Erde stehen, widerspricht dem nicht, sobald man sich aus Matth. 24. erinnert, daſs sich der Hebräer den Untergang seines Staats und Heilig - thums und das Ende der (alten) Welt im engsten Zusam - menhang dachte, so daſs es dasselbe war zu sagen: so lan - ge der Tempel steht, wird das Gesez dauren, oder so lan -502Zweiter Abschnitt.ge die Welt steht15)Vgl. Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 598 f.. Zwar scheint Luc. 16, 16, wenn es heiſst: νόμος καὶ οἱ π οφῆται ἕως Ἰωάννου· die Gültig - keit des Gesetzes schon mit dem Auftritt des Täufers auf - gehoben; indeſs verliert diese Stelle durch die Parallele Matth. 11, 13. ebenso ihren ungünstigen Sinn, als freilich der Ausspruch Matth. 5, 18. in Luc. 16, 17. seinen günsti - gen. Hienach wären dann die Ansicht Jesu und die des Pau - lus nur so verschieden, daſs, was jener erst auf der bei seiner Wiederkunft zu erneuernden Erde sich als wegfal - lend dachte, dieser schon in Folge der ersten Ankunft des Messias, noch auf der alten Erde, abschaffen zu dürfen glaubte16)Rabbinische Vorstellungen von Abschaffung des Gesetzes s. bei Schöttgen 2, S. 611 ff..

§. 64. Umfang des messianischen Plans Jesu. Verhältniss zu den Heiden.

Unerachtet faktisch das von Jesu gestiftete Reich sich frühzeitig über die Grenzen des jüdischen Volkes hinaus verbreitet hat: so möchte man doch nach einigen Indicien urtheilen, daſs eine solche Ausdehnung gar nicht in sei - ner Absicht gelegen habe1)So der Wolfenbüttler Fragmentist, a. a. O. S. 72 ff.. Denn als er die Zwölfe auf die erste Missionsreise aussendet, weiſs er ihnen nichts angelegentlicher einzuschärfen, als: εἰς ὁδὸν ἐϑνῶν μὴ ἀπέλ - ϑητε πορεύεσϑε δὲ μᾶλλον πρὸς τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραήλ (Matth. 10, 5 f.). Daſs diesen Ausspruch nur Matthäus hat, die beiden andern Synoptiker aber nicht, dieſs ist schwerlich so zu erklären, daſs der judaisirende Verfas - ser des ersten Evangeliums diese Worte mit Unrecht hinzuge - sezt, sondern umgekehrt so, daſs die hellenisirenden Ver - fasser der beiden andern sie weggelassen haben. Denn da unser Matthäus doch nicht so sehr judaisirt, daſs er Jesu die Absicht unterlegte, das messianische Reich auf Juden503Viertes Kapitel. §. 64.zu beschränken, da er vielmehr 8, 11 f., 21, 33 ff., 22, 1 ff. 28, 19 f. Jesum deutlich von der Berufung der Heiden spre - chen läſst: so hatte er keinen Anlaſs, einen so partikulari - stischen Zusatz zu machen; wohl aber die andern, das Dik - tum, zur Vermeidung des Anstoſses bei den nunmehr auf - genommenen Heiden, wegzulassen. Da es aber bei Mat - thäus stehen geblieben ist, so sucht die Auslegung den An - stoſs dadurch zu entfernen, daſs sie die Vorschrift Jesu als bloſse Klugheitsmaſsregel darstellt2)So Reinhard, a. a. O.; Planck, Geschichte des Christen - thums in der Per. seiner Einführung, 1, S. 179 ff., und es ist nicht in Abrede zu stellen, daſs Jesus, wenn auch seine Plane auf Heiden wie auf Juden giengen, doch, um es mit sei - nen Volksgenossen nicht für immer zu verderben, für den Anfang jene Einschränkung sich und den Jüngern zur Regel machen muſste. Hieraus lieſse sich, wie es scheint, auch Jesu eigenes Verfahren bei einer andern Gelegenheit erklären, wo er der Bitte des kananäischen Weibes um Heilung ihrer kranken Tochter deſswegen nicht entspre - chen will, weil er nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israël gesandt sei (Matth. 15, 24). Indessen han - delte es sich hier nicht um Einladung zum messianischen Reich, sondern nur um eine einzelne, zeitliche Wohlthat, wie dergleichen schon Elias und Elisa auch Nichtisraëli - ten erwiesen hatten (1 Kön. 17, 9 ff; 2 Kön. 5, 1 ff. ), wor - auf sich Jesus sonst beruft (Luc. 4, 25 ff). Deſswegen fan - den auch die Jünger es natürlich und unanstöſsig, der Frau ihre Bitte zu gewähren, und jene bloſse Klugheitsrücksicht kann es nicht gewesen sein, welche Jesum davon eine Weile zurückhielt. Damit nun nicht eine Abneigung ge - gen Heiden als dieser Grund sich zeige, hat man vermu - thet, um das Incognito nicht zu brechen, das er nach Markus (7, 25.) in jener Gegend suchte, habe Jesus kein messianisches Werk thun mögen3)Paulus, Leben Jesu, 1, a, S. 380 f. Hase, L. J. §. 95.. Dann aber muſste er504Zweiter Abschnitt.den Jüngern diesen Grund angeben, und nicht durch den andern, welchen er vorschiebt, ihren ohnehin schon star - ken Partikularismus bekräftigen. Eher lieſse sich daher das Andre hören, Jesus habe den Glauben der Frau durch die anfängliche Weigerung nur prüfen und zur Äusserung sei - ner ganzen Stärke veranlassen wollen4)Olshausen, 1, S. 507.: wenn nur im Text eine Spur von bloſser Verstellung, und nicht viel - mehr die Kennzeichen einer wirklichen Umstimmung5)Hase, a. a. O. lägen, wie auch Markus die Geschichte verstanden haben muſs; denn hätte er an bloſse Prüfung gedacht, so würde er wohl durch einen Zusaz wie τοῦτο δὲ ἔλεγε πειράζων αὐτὴν (vrgl. Joh. 6, 6.) den Anstoſs gemildert haben, statt daſs er jezt nichts Anderes zu machen weiſs, als den anstöſsi - gen Ausspruch geradehin wegzulassen. Es scheint also hier Jesus die Abneigung seiner Volksgenossen gegen Heiden zu theilen; ja diese erscheint dieſsmal in ihm selbst stär - ker ausgeprägt, als in seinen Jüngern, wenn nicht anders deren Fürsprache für die Frau nur ein Zug der Contraste und Gruppen suchenden Sage ist.

Freilich wird diese Geschichte beinahe unbrauchbar gemacht durch eine andere, wo Jesus ganz auf die ent - gegengesetzte Weise verfährt. Der Hauptmann von Ka - pernaum nämlich, gleichfalls ein Heide (wie aus dem οὐδὲ ἐν τῷ Ἰσραὴλ τοσαύτην πίςιν εὗρον erhellt), hat Jesu kaum eine ähnliche Noth wie jenes Weib geklagt, als er sich schon von selbst erbietet, zur Heilung seines Knechts in sein Haus zu kommen (Matth. 8, 5. ff). Findet hier Jesus so gar kein Bedenken darin, seine Heilkraft zu Gunsten eines Heiden zu verwenden: wie kommt es, muſs man fragen, daſs er in einem ganz analogen Falle sich so lange weigert, dasselbe zu thun? und zwar, wenn die Stellung der beiden Geschichten in den Evangelien irgend etwas505Viertes Kapitel. §. 64.bedeuten soll, müſste er später um soviel härter und be - schränkter geworden sein. Indeſs diese einzelne Wohlthat, welche Jesus einem Heiden erzeigte, wenn sie gleich mit der obigen Erzählung, laut welcher er eine eben solche verweigert, in einem ungelösten Widerspruche steht, so beweist sie doch immer noch nicht, daſs er Heiden auch in sein messianisches Reich zuzulassen gedachte; so wie, daſs er bei dieser und andern Gelegenheiten dem israëliti - schen Volke drohte, es werde wegen seiner Unempfäng - lichkeit von jenem Reiche ausgeschlossen und andere Völ - ker statt seiner zugelassen werden, auch so verstanden werden kann, wie auch die Propheten ihre Verheissungen von der Ausdehnung des Messiasreichs auf alle Völker im - mer nur gemeint hatten, daſs die Heiden einst sich zum Jehovadienst kehren, die mosaische Religion in ihrem gan - zen Umfang annehmen, und in Folge dessen auch in das Messiasreich zugelassen werden werden; womit es sich sehr gut verträgt, daſs, ehe diese Umwendung von Seiten der Heiden geschehen wäre, Jesus seinen Jüngern die Hinwendung zu ihnen verbot.

Doch die Synoptiker berichten, nach seiner Auferste - hung habe Jesus den Jüngern die Anweisung gegeben: πορευϑέντες μαϑητεύσατε πάντα τὰ ἔϑνη, βαπτ[ί]ζοντες αὐτοὺς κ. τ. λ., d. h. doch wohl, sie sollen ihnen, auch ohne daſs sie zuvor Juden geworden wären, mit der An - erbietung des messianischen Reichs entgegenkommen (Matth. 28, 19. Marc. 16, 15. Luc. 24, 47). Allein nicht nur bege - ben sich die Jünger nach dem ersten Pfingstfest keines - wegs sofort an die Ausführung dieses Befehls, sondern als ein Fall sich aufdringt, in welchem sie demselben nach - kommen sollten, benehmen sie sich ganz, als ob sie von einer solchen Anweisung Jesu gar nichts wüssten (A. G. 10 und 11). Der heidnische Hauptmann Cornelius, durch seinen gottseligen Wandel der Aufnahme in die messiani - sche Gemeinde würdig, wird von Gott durch einen Engel506Zweiter Abschnitt.an den Apostel Petrus gewiesen. Weil es aber Gott nicht verborgen war, müssen wir im Geist der Erzählung er - gänzen, wie schwer der Apostel dazu zu bewegen sein würde, einen Heiden ohne Weiteres in das Messiasreich aufzunehmen, fand er es für nöthig, denselben in einem symbolischen Gesichte zu einem solchen Schritte vorzube - reiten. Auf diese Weisung geht Petrus zwar zu Corne - lius; ihn aber mit seiner Familie zu taufen, dazu wird er erst durch ein weiteres Zeichen bewogen, indem er näm - lich das πνεῦμα ἅγιον über sie kommen sieht. Wie ihn nachher die Judenchristen in Jerusalem über die Aufnahme von Heiden zur Rede stellen, beruft sich Petrus zu sei - ner Rechtfertigung nur auf die gehabte Vision und das bei der Familie des Hauptmanns bemerkte πνεῦμα ἅγιον. Man mag von dieser Geschichte denken, wie man will: in jedem Fall ist sie ein Denkmal der vielen Überlegungen und Kämpfe, welche es nach Jesu Abgang die Apostel kostete, sich von der Aufnahmsfähigkeit der Heiden als solcher in das Reich ihres Christus zu überzeugen, und der Gründe, durch welche sie zur Aufnahme derselben endlich bewogen worden sind. War ihnen nun aber hiezu in dem sogenannten Taufbefehl eine so klare An - weisung Jesu gegeben: wozu bedurfte es noch einer Vision, um den Petrus zur Befolgung derselben zu er - muntern? oder, wenn man die Vision als sagenhafte Ein - kleidung natürlicher Überlegungen der Jünger faſst, was brauchte es den Umweg der Reflexion, daſs alle Menschen getauft werden dürfen, weil vor Gott alle Menschen wie alle Thiere als seine Geschöpfe rein seien, wenn man doch auf einen ausdrücklichen Befehl Jesu sich berufen konn - te? Es stellt sich somit die Alternative: hat Jesus selbst schon jenen Befehl gegeben, so können die Jünger nicht erst so, wie A. G. 10. 11. erzählt ist, auf die Zulässig - keit der Heiden gekommen sein; ist aber diese Geschichte richtig, so kann jener angebliche Befehl Jesu nicht histo -507Viertes Kapitel. §. 65.risch sein. Unser Kanon entscheidet für das Leztere. Denn daſs, was später Praxis wurde, und bald als Hauptvor - zug des Christenthums galt, seine Zugänglichkeit für alle Völker und seine Gleichgültigkeit gegen περιτομὴ und ἀκρο - β[ύστι]α, schon im Sinne Jesu gelegen hätte, das wäre das Höhere und Herrlichere: wogegen, daſs erst nach Jesu Tod durch die allmähliche Entwicklung der Verhältnisse das vom Stifter den Heiden nur sofern sie zuvor Juden würden, zugedachte Reich diese Schranke durchbrochen hat, der einfach natürliche und ebendarum wahrscheinli - chere Gang der Sache ist6)S. Paulus, Comm. 4, S. 512 f..

§. 65. Verhältniss des messianischen Plans Jesu zu den Samaritanern. Sein Zusammentreffen mit der samaritanischen Frau.

Ähnlich verhält es sich mit der Stellung, welche Je - sus sich und seinen Jüngern zu den Bewohnern Samariens gegeben hat. Während er nämlich in der Instruktions - rede Matth. 10, 5. seinen Jüngern das Besuchen einer πόλις Σαμαρειτῶν eben so sehr wie das Betreten der ὁδὸς ἐϑνῶν untersagt: lesen wir bei Johannes (K. 4.), daſs Je - sus selbst auf der Durchreise durch Samarien mit vielem Erfolge als Messias gewirkt, und zu dem Ende sich zwei Tage in einer samarischen Stadt aufgehalten, und in der Apostelgeschichte, (1, 8.), daſs er vor seiner Himmelfahrt den Jüngern aufgetragen habe, seine Zeugen nicht blos ἐν Ἱερουσαλημ καὶ ἐν πάσῃ τῇ Ἰουδαίᾳ, sondern auch ἰν τῇ Σαμαρείᾳ zu sein. Daſs Jesus nicht, wie es nach jenem Verbote scheinen könnte, Samarien gänzlich gemieden habe, sieht man aus Luc. 9, 52. (vrgl. 17, 11.), wo seine Jünger in einer[κ]ώ[μ]η Σαμαρειτῶν für ihn Quartier bestellen wol - len, wie denn auch nach Josephus der gewöhnliche Weg der zu den Festen reisenden Galiläer durch Samarien508Zweiter Abschnitt.gieng1)Antiq. 20, 6, 1. Nicht ganz zusammenstimmende rabbinische Grundsätze hierüber s. bei Lightfoot, S. 991 ff.; daſs er den Samaritanern nicht abhold war, viel - mehr in mancher Hinsicht ihre Vorzüge vor den Juden anerkannte, erhellt aus seiner Parabel vom barmherzigen Samariter (Luc. 10, 30 ff. ); auch war ihm ja nach Luc. 17, 16. ein Fall vorgekommen, wo unter zehn Geheilten nur Einer, und zwar ein Samariter, sich dankbar bewies, und selbst von der messianischen Idee waren, sofern wir dieſs aus Joh. 4, 25. und neueren Nachrichten2)s. Bertholdt, Christol. Judaeorum, §. 7. schlies - sen dürfen, die Bewohner Samariens nicht unberührt.

So natürlich es hienach zu sein scheint, daſs Jesus diese empfängliche Seite des samarischen Volks durch ge - legentliche Verkündigung des Messiasreichs bei demselben auch wirklich in Anspruch genommen habe: so muſs doch das eigenthümliche Verhältniſs Bedenken erregen, in wel - chem man in dieser Hinsicht die vier Evangelisten zu ein - ander erblickt. Während nämlich Matthäus weder eine Berührung Jesu mit den Samaritanern, noch einen Aus - spruch über sie ausser jenem Verbote hat: giebt Markus zwar gleichfalls weder eine Berührung noch eine günstige Äusserung, aber doch auch ebensowenig eine nachtheilige wie Matthäus; Lukas hat zwei Berührungen Jesu mit ih - nen, von welchen die eine zwar ungünstig, die andre aber, sammt seinen Äusserungen über die Samariter, um so günstiger ausfällt; Johannes endlich weiſs von einem ganz genauen und höchst günstigen Verhältniſs Jesu zu dem samarischen Volke zu erzählen. Sollen alle diese so ver - schiedenen Nachrichten gegründet sein: wie konnte Jesus das einemal verbieten, die Samaritaner in den messiani - schen Plan hereinzuziehen, das andremal aber dies selber ohne Anstand thun? und zwar müſste, wenn die Anord - nung der Evangelisten etwas gelten soll, die eigene Wirk -509Viertes Kapitel. §. 65.samkeit Jesu in Samarien früher fallen, als das den Jün - gern auf ihre Missionsreise mitgegebene Verbot. Denn die in Galiläa vor sich gegangene Aussendung der Zwölfe hat in der kurzen Zeit, welche dem vierten Evangelium zufolge Jesus vor dem ersten Pascha in Galiläa war (2, 1 13), keinen Raum, sie müſste also nach diesem Pascha, und, weil der Besuch in Samarien auf die Rückreise von dem - selben fällt, auch nach jenem Besuche erst vor sich gegan - gen sein; wie aber konnte Jesus, wenn er selbst bereits und zwar mit dem schönsten Erfolg in Samarien messia - nisch gewirkt hatte, seinen Jüngern ein Ähnliches verbie - ten? Sezt man dagegen die von Johannes erzählte Scene nach dem von Matthäus aufbehaltenen Verbote: so sollten die Jünger nicht so sehr darüber, daſs Jesus überhaupt mit einem Weibe (Joh. 4, 27.), als daſs er gerade mit ei - ner Samariterin sich so angelegentlich unterhielt, sich ge - wundert haben3)Mit Unrecht wollten diess Einige in die Frage legen; s. bei Lücke, 1, S. 533..

Da somit keine der beiden extremen Erzählungen (bei Matthäus und Johannes) die andre voraussezt: so stellt sich uns das Dilemma, oder, da wir, alle vier Evangelien zusammengenommen, einen Klimax haben, müssen wir fra - gen: ist es wahrscheinlicher, daſs er in aufsteigender Li - nie entstanden ist, oder in absteigender? d. h. hatte sich in der Wirklichkeit zwar Jesus in ein so enges Verhält - niſs zu den Samaritanern gesezt, und sich so günstig über dieselben ausgesprochen, wie jenes Johannes, dieses Lukas meldet, hat aber Beides Markus übergangen, und Matthäus gar aus jüdischem Partikularismus eine sehr ungünstige Äusserung dazugesezt? oder hat Jesus in der That nur diese harte Äusserung gethan und auch nur etwa eine un - günstige Berührung mit dem Volke Samariens gehabt, hat man aber in der Folge, als der Gesichtskreis der ersten Gemein -510Zweiter Abschnitt.de sich erweiterte, und namentlich auch in Samarien sich dem Evangelium eine groſse Thüre aufgethan hatte, jene Äusserung als unglaublich cassirt, und nachgerade günsti - ge Aussprüche, am Ende selbst das engste Verhältniſs zu den Samaritanern an die Stelle treten lassen?

In diesem Streite der Evangelien haben wir auch hier den Vortheil, die Apostelgeschichte als Schiedsrichterin auf - rufen zu können. Noch ehe auf höheren Antrieb Petrus den ersten Heiden in das neue Reich des Messias aufgenom - men hatte, war aus Veranlassung der ϑλίψις γενομένη ἐπὶ Στε - φάνῳ der Diakonus Philippus εἰς πόλιν Σαμαρείας gereist, wo er den Christus verkündigte und durch Wunder aller Art viele Samaritaner zum Glauben und zur Annahme der Taufe bewog (A. G. 8, 5. ff.). Diese Erzählung bildet mit der früher betrachteten von der Aufnahme der ersten Hei - den einen völligen Gegensaz; während es dort die ausseror - dentlichsten Vorbereitungen durch ein Gesicht und einen besondern Antrieb des πνεῦμα bedurfte, um den Petrus den Heiden zu nähern: so fängt hier Philippus, und zwar oh - ne noch jenen Vorgang zu haben, ohne Weiteres in Sama - rien zu taufen an. Damit man aber nicht etwa sage, der Diakonus sei vielleicht liberaler als der Apostel gesinnt gewesen, so kommt sofort Petrus selbst mit Johannes nach Samarien, und auch dieſs ist ein Zug weiter in dem Ge - gensaz der beiden Erzählungen, daſs, während dort die Aufnahme der ersten Heiden bei der Muttergemeinde in Je - rusalem einen höchst ungünstigen Eindruck machte, hier die Kunde, ὅτι δέδεκται Σαμαρεία τὸν λόγον τοῦ ϑεοῦ, beifällig aufgenommen und das vornehmste Apostelpaar ab - geschickt wird, um das Werk des Philippus zu bestätigen und zu vollenden. Hier wäre es gar nicht unwahrschein - lich, daſs man wirklich einen Vorgang Jesu selbst gehabt hätte, nur daſs sich fragt, ob er in bloſsen Äusserungen Je - su zu Gunsten der Samaritaner, oder in einem wirklichen Anfang, den er bei ihnen gemacht, bestanden habe?

511Viertes Kapitel. §. 65.

Diese Frage ist nur dadurch einer Entscheidung ent - gegenzuführen, daſs die Erzählung des vierten Evangeliums (K. 4) von dem Zusammentreffen Jesu mit der samaritanischen Frau und was sich daran schlieſst, darauf angesehen wird, ob sie ein historisches Gepräge trägt oder nicht? Hier kön - nen wir zwar die Anstöſse nicht finden, welche der Ver - fasser der Probabilien schon in der Bezeichnung der Lo - kalität und dem Anfang des Gesprächs Jesu mit der Frau nachweisen zu können glaubt4)Bretschneider, a. a. O. S. 47 ff. 97 f.: aber von V. 16. an thun sich auch nach dem Geständniſs unparteiischer Ausleger5)Lücke, 1, S. 520 ff. manche Schwierigkeiten hervor. Die Frau hatte zulezt Je - sum gebeten, ihr auch von dem Wasser zu geben, welches für immer den Durst lösche, und darauf sagt nun Jesus unmittelbar: ὕπαγε, φώνησον τὸν ἄνδρα σου. Wozu dieſs? Die Ansicht, Jesus habe durch diese Frage, wohlwissend, daſs sie keinen rechtmäſsigen Mann habe, die Frau nur be - schämen und zur Buſse leiten wollen6)so Tholuck z. d. St., weist Lücke ab, weil ihm solche Verstellung an Jesu nicht gefällt, und vermu - thet, wegen des Unverstands der Frau habe Jesus durch Berufung ihres vielleicht empfänglicheren Mannes sich Ge - legenheit zu einer gedeihlicheren Unterhaltung verschaffen wollen. Aber wenn doch Jesus, wie sich sogleich zeigt, wuſste, daſs das Weib im gegenwärtigen Zeitpunkt keinen eigentlichen Ehemann hatte, so konnte er nicht im Ernst die Herbeirufung desselben verlangen, und namentlich, wenn er, auch nach Lücke's Zugeständniſs, diese Kunde auf über - natürliche Weise hatte, so konnte ihm, der auch sonst wuſste, was im Menschen war, auch dieſs nicht verborgen sein, daſs die Frau wenig geneigt sein werde, seiner Aufforde - rung zu entsprechen. Hat er aber vorausgewuſst, daſs das Verlangte nicht geschehen werde, ja selbst nicht ge -512Zweiter Abschnitt.schehen könne: so war auch die Aufforderung nur eine verstellte, und hatte nicht die Herbeischaffung des Mannes, sondern etwas ganz Anderes zum Zwecke. Daſs aber dieſs die Buſse der Frau gewesen wäre, davon liegt in der Er - zählung nichts; denn als endliche Wirkung auf die Frau tritt keineswegs Beschämung und Reue, sondern Glaube an den prophetischen Blick Jesu hervor (V. 19.), und dieſs wird auch die Absicht Jesu gewesen sein, denn die Erzäh - lung ist so gehalten, wie wenn ihm sein Vorhaben mit der Frau gelungen, also der Erfolg mit der Absicht zusammen - getroffen wäre. Hiebei ist indessen nicht sowohl das anstös - sig, was Lücke Verstellung nennt, da diese ganz unter die Kategorie des auch sonst vorkommenden unverfänglichen πειράζειν fällt, als vielmehr die Gewaltsamkeit, mit welcher Jesus die Gelegenheit, sich in seiner prophetischen Gabe zu zeigen, selber macht.

Mit derselben Gewaltsamkeit muſs hernach die Frau das Gespräch auf einen Punkt hintreiben, an welchem auch vollends die Messianität Jesu offenbar werden kann. So - bald sie nämlich Jesum als einen Propheten erkannt hat, eilt sie sogleich, ihn über die zwischen Juden und Samari - tern obschwebende Streitfrage rücksichtlich des Ortes der wahren Gottesverehrung zu consultiren (V. 20). Daſs ein so starkes Interesse an dieser religiös-nationalen Frage zu dem sonstigen beschränkten Wesen der Frau nicht passe, des - sen sind die meisten jetzigen Erklärer durch die Annahme geständig, sie habe, weil sie sich durch die Äusserung Je - su über ihre ehlichen Verhältnisse getroffen fühlte, durch jene Wendung nur das Gespräch von dem ihr empfindlichen Punkte ablenken wollen7)So Lücke und Tholuck z. d. St., Hase, L. J. §. 60.. War hienach die Frage nach dem rechten Ort des Gottesdienstes dem Weibe nicht ernst, sondern lag derselben nur falsche Scham, welche sich dem Bekenntniſs und der Buſse entziehen will, zum Grunde:513Viertes Kapitel. §. 65.so sollten jene Ausleger sich doch an das erinnern, was sie sonst bis zum Überdruſs wiederholen8)s. Tholuck, S. 77. 121. 141. 155., daſs Jesus bei Jo - hannes) in seinen Antworten durchaus nicht sowohl auf den ausdrücklichen Sinn der Fragen, als auf die dabei zum Grunde liegende Gesinnung Rücksicht nehme. Dieser Me - thode zufolge durfte er die nicht ernstlich gemeinte Frage der Frau nicht im höchsten Ernst beantworten, sondern muſste mit Umgehung derselben auf den zuvor schon getrof - fenen empfindlichen Fleck im Bewuſstsein der Frau, den sie jezt zu verdecken suchte, losarbeiten, um sie womög - lich zum vollen Gefühl und offenen Bekenntniſs ihrer Schuld zu bringen. Aber dem Referenten ist es einmal darum zu thun, Jesum hier nicht blos als Propheten, sondern be - stimmt als Messias anerkannt werden zu lassen, und dieſs glaubte er am besten durch die Lenkung des Gesprächs auf die Frage nach dem wahren Orte der Gottesverehrung, deren Lösung man vom Messias erwartete (V. 25.)9)vgl. Schöttgen, horae, 1, S. 970 f. Wetstein, S. 863., her - beiführen zu können.

Die Kenntniſs, welche V. 17 f. Jesus von den Verhält - nissen des Weibes zeigt, hat man natürlich zu erklären ge - sucht durch die Voraussetzung, daſs, während Jesus am Brunnen saſs und die Frau aus dem Städtchen daherge - gangen kam, ihm ein Vorübergehender einen Wink gegeben habe, sich mit ihr, als einer solchen, die jezt nach dem sechsten Manne trachte, nicht einzulassen10)Paulus, Leben Jesu, 1, a, 187; Comment. 4, z. d. St.. Allein neben dem Unwahrscheinlichen, daſs ein Vorübergehender nichts Angelegeneres mit Jesu zu sprechen gehabt haben sollte, als ihn von den Verhältnissen eines unbedeutenden Weibes zu unterrichten, stimmen jezt Freunde wie Gegner des vierten Evangeliums darin überein, daſs jede natürliche Er - klärung jener Kunde Jesu der Absicht des Referenten ge -Das Leben Jesu I. Band. 33514Zweiter Abschnitt.radezu widerstrebe11)Vgl. Olshausen z. d. St. und Bretschneider, Probab. S. 50.. Denn wenn dieser um der Eröff - nungen über ihre Verhältnisse willen nicht allein die Frau selbst (V. 19.), sondern auch viele Bewohner der Stadt (V. 39.) an Jesum glaubig werden läſst: so meint er dieſs gewiſs nicht so, daſs diese Leute, wenn auch nicht im Re - sultat (daſs Jesus ein Prophet sei), so doch im Kriterium (daſs er es vermöge jener Kenntniſs sein müsse) sich ge - täuscht und übereilt, sondern daſs sie ganz recht gehabt haben. War somit jenes Wissen Jesu nach des Referenten Ansicht ein Ausfluſs seiner höheren Natur, so läſst es sich doch nicht mit modernen Supranaturalisten auf das Ver - mögen Jesu zurückführen, welches Johannes auch 2, 24 f. an ihm rühmt, daſs er nämlich ohne fremdes Zeugniſs ge - wuſst habe, was im Menschen war12)Olshausen, Lücke z. d. St.. Denn hier weiſs Jesus nicht bloſs was in dem Weibe ist, ihre jetzige zwei - deutige Gemüthslage zu demjenigen, der nicht eigentlich ihr Mann war, sondern auch die rein äusserliche Notiz hat er, daſs sie vorher schon fünf Männer gehabt habe, von welchen man sich doch nicht vorstellen kann, daſs jeder ei - ne besondre Spur in ihrem Gemüthe zurückgelassen hätte. Daſs nun Jesus vermöge des durchdringenden Scharfblicks, mit welchem er die Herzen derer, mit denen er zu thun hatte, durchdrang, auch seine eigenen messianischen Schick - sale und die groſsen Entwicklungsknoten seines Reiches prophetisch vorausgesehen habe, dieſs kann man bei einer gewissen Ansicht von seiner Person wahrscheinlich und in jedem Falle nur höchst würdig finden: daſs er aber die äussern Verhältnisse anderer unbedeutenden Personen im kleinsten Detail gekannt habe, dieſs ist, je höher man sei - ne prophetische Würde faſst, eine desto unwürdigere Vor - stellung, und jedenfalls zerstört eine solche empirische, nicht Allwissenheit sondern Alleswisserei, das menschliche515Viertes Kapitel. §. 65.Bewuſstsein, das wir in Jesu zu setzen haben13)Vgl. Bretschneider, a. a. O. S. 49 f.. So wenig aber dem wahren, so genau entspricht ein solches Wissen den jüdischen Begriffen von einem Propheten und insbesondere vom Messias: im A. T. weiſs Daniel um einen Traum Nebukadnezars, der diesem selbst entfallen ist (Dan. 2.); in den klementinischen Homilien ist der wahre Prophet πάντοτε πάντα εἰδώς· τὰ μεν γεγ[ο]νότα ὡς ἐγένετο, τὰ δὲ γινόμενα ὡς γίνεται, τὰ δὲ ἐσόμεια ὡς ἔςαι14)Homil. 2, 6. vgl. 3, 12.; die Rabbinen zählen eine solche Allwissenheit unter den Kenn - zeichen des Messias auf, schreiben sie auch dem Moses und Salomo zu, und bemerken, daſs Bar Cochba an dem Man - gel derselben als Pseudomessias erkannt worden sei15)Schöttgen, horae 2, S. 371 f..

Weiter spricht nun Jesus (V. 23 ff. ) gegen das Weib, um mit Hase zu reden, den höchsten Grundsatz seiner Religion aus, geistige Verehrung Gottes durch ein frommes Leben, mit Aufhebung jedes Ceremonialdienstes, und be - kennt sich offen als den Gründer einer solchen Gottesver - ehrung, als den Messias. Schon an einem andern Orte hat es sich als unwahrscheinlich gezeigt, daſs Jesus, der seinen eigenen Jüngern erst verhältniſsn äſsig spät sich als den Messias zu erkennen gab, schon früher einem samari - schen Weibe eine bestimmte Eröffnung hierüber sollte ge[-]macht haben. Hier aber muſs man noch insbesondere fra[-]gen: in welcher Hinsicht war denn dieses Weib einer s[o]hohen Mittheilung würdig, wie sie nicht einmal den Jün - gern mit so klaren Worten zu Theil geworden ist? was konnte Jesum bewegen, den Blick einer Person in die weite Ferne der Religionsgeschichte ausschweifen zu machen, der es am besten gethan hätte, in ihr eigenes Innere geführt, bei der Verdorbenheit ihres Herzens festgehalten zu wer - den? Nur das, wenn er um jeden Preis von der Frau, ohne Rücksicht auf ihre Besserung, ausser dem Anerkennt -33*516Zweiter Abschnitt.niſs seiner prophetischen Gabe auch noch das seiner Mes - sianität sich erzwingen wollte, wozu jene Wendung des Gesprächs nothwendig schien. So einseitig aber kann die eigne Absicht Jesu nicht gewesen sein, von welchem wir sonst eine angemessenere Behandlung der Menschen ken - nen, sondern nur die Absicht der verherrlichenden Sage oder eines idealisirenden Biographen. Aber auch an sich schon ist die Verkündigung V. 21. 23 f. so einzig in ihrer Art, sie geht so weit über Alles hinaus, was wir sonst im Munde Jesu von universalistischen Aussprüchen finden, daſs man gegen sie Verdacht schöpfen müſste, wenn sie auch in angemessenerem Zusammenhang stände.

Indessen, fährt die Erzählung V. 27. fort, kamen die Jünger Jesu mit Lebensmitteln aus der Stadt zurück, und wunderten sich, daſs er gegen den rabbinischen Grund - satz16)bei Lightfoot, S. 1002. mit einem Weibe sich unterhalte. Während die Frau, durch die lezte Eröffnung Jesu aufgeregt, in die Stadt zurückläuft, um ihre Mitbürger zur Besichtigung des messiasartigen Fremden einzuladen, fordern ihn die Jünger auf, von der mitgebrachten Speise etwas zu sich zu nehmen, worauf er erwiedert: ἐγὼ βρῶσιν ἔχω φαγεῖν, ἣν ὑμεῖς οὐκ οἴδατε (V. 32.), was seine Jünger dahin miſs - verstehen, es habe ihm vielleicht in ihrer Abwesenheit jemand zu essen gebracht; eine jener fleischlichen Auffas - sungen geistig gemeinter Aussprüche Jesu, wie sie im vierten Evangelium stehend sind, und eben dadurch ver - dächtig werden. Weiter folgt eine Rede über Säen und Ernten (V. 35 ff. ), welche, wenn man V. 37 f. vergleicht, nur den Sinn haben kann, daſs, was Jesus gesäet habe, die Jünger ernten sollten17)Lücke, 1, S. 542.. Kann dieſs gleich ganz all - gemein darauf bezogen werden, daſs Jesus die Keime der βασιλεία τοῦ ϑεοῦ, welche unter der Pflege seiner Jünger517Viertes Kapitel. §. 65.Blüthen und Früchte trugen, zuerst in die Menschheit ge - legt habe: so läſst sich doch zugleich eine speciellere Be - ziehung unmöglich abweisen. Jesus sieht voraus, daſs ihm die zur Stadt geeilte Frau Gelegenheit verschaffen werde, in Samarien die Saat des Evangeliums auszustreuen, und verheiſst den Jüngern, daſs sie die Früchte dieser seiner Bemühungen einst zu genieſsen haben werden. Wer denkt hier nicht an die schon erwähnte Ausbreitung des Christenthums in Samarien durch Philippus und einige Apostel, wie sie A. G. 8. uns berichtet ist? 18)Lücke, S. 540 Anm. Bretschneider, S. 52.Daſs Jesus diesen Fortgang seiner Sache in Samarien nach seiner Kenntniſs der Bewohner schon damals habe vorhersehen können, läſst sich zwar auch bei einer natürlichen An - sicht von der Person Jesu nicht geradezu in Abrede stel - len; doch da dieser Zug zu einem in historischer Bezie - hung mehr als unwahrscheinlichen Ganzen gehört: so ist er ebensobald aufzugeben, als sich erklären läſst, wie er auch ohne faktischen Grund entstehen konnte. Diese Er - klärung ist nun aber nicht weit zu suchen. Nach der ge - wöhnlichen Tradition der ersten Gemeinde, wie sie in den drei ersten Evangelien niedergelegt ist, hatte Jesus nur in Galiläa, Peräa und Judäa persönlich gewirkt, nicht ebenso in Samarien, welches jedoch nach der A. G. auch frühzeitig das Evangelium annahm. Wie natürlich nun, daſs die Tendenz entstand, die Thätigkeit Jesu durch die Annahme zu vervollständigen, daſs er auch in Samarien, und somit in allen Theilen Palästina's, den himmlischen Samen ausgestreut habe, den Ruhm der Apostel und andern Lehrer aber in Hinsicht jener Provinz auf den des bloſsen Erntens zu beschränken.

Nachdem die Prüfung der einzelnen Züge der johan - neischen Erzählung das Resultat geliefert hat, daſs wir hier schwerlich eine wirkliche Geschichte vor uns haben,518Zweiter Abschnitt.muſs es erlaubt sein, auch den Totaleindruck des Ganzen zu Gunsten dieses Resultates geltend zu machen. Seit Herakleon und Origenes19)Comm. in Joan. Tom. 13, am Anfang des zweiten Bandes der Ausg. von Lommatzsch. haben sich die älteren Erklä - rer selten enthalten, die Geschichte mit der Samariterin allegorisch zu deuten, wovon der Grund wohl mit darin liegt, daſs die ganze Scene eine sagenhafte, poëtische Farbe hat. Das Lokal am Brunnen ist das idyllische Lokal der althebräischen Sage, auf welchem sie gerne verhängniſs - volle Begegnungen vor sich gehen läſst; daſs der Brunnen die Jakobsquelle und das Grundstück dasjenige ist, wel - ches nach der (aus 1 Mos. 33, 19. 48, 22. Jos. 24, 32. ge - bildeten Sage Jakob dem Joseph geschenkt hatte, giebt dem idyllischen Boden noch die bestimmtere Weihe des Nationalen und Patriarchalischen, damit er um so eher würdig sei, vom Messias betreten zu werden. An dem[Brunnen] trifft Jesus mit einem Weibe zusammen, wel - ches herauskommt, um Wasser zu schöpfen: ganz dieselbe Scene, wie 1 Mos. 24, 15., wo dem am Brunnen warten - den Elieser Rebekka mit dem Kruge begegnet, wie 1. Mos. 29, 9., wo Jakob die künftige Stammmutter Israëls, Rahel, oder wie 2 Mos. 2, 16., wo Moses ebenso seine künftige Gattin am Brunnen findet. Jesus begehrt von dem Weibe zu trinken, wie Elieser von Rebekka; nachdem er sich ihr als Messias zu erkennen gegeben, läuft sie in die Stadt zurück und holt ihre Mitbürger heraus, wie Rebekka, nach - dem Elieser sich als Abrahams Verwalter kund gegeben, und Rahel, nachdem sie Jakob als Verwandter begrüſst hatte, eilend hineinliefen und die Ihrigen holten, um den werthen Gast zu bewillkommen. Freilich nicht eine ta - dellose, wie die beiden nachmaligen Stammmütter des hei - ligen Volks oder die künftige Gattin seines Gesezgebers, ist es, welche hier Jesu begegnet; kam ja dieses Weib heraus519Viertes Kapitel. §. 65.als Repräsentantin eines unreinen Volkes, das die Ehe mit Jehova gebrochen hatte und jezt in falschem Gottesdienste lebte, daher es von ihr nicht wie von Rebekka heiſsen konnte: παρϑένος ἦν, ἀνὴρ οὐκ ἔγνω αὐ[τ]ὴν (LXX), sondern Jesus muſste ihr sagen: πέντε ἄνδρας ἔσχεs, καὶ νῦν ὃν ἔχεις, οὐκ ἔςι σου ἀνὴρ, und auch der gute Wille des Wei - bes, verbunden mit schwacher Kraft und Einsicht, bezeich - net ganz den damaligen Zustand des Volks von Samaria. So ist das Zusammentreffen Jesu mit dem samarischen Weibe nur die poëtische Darstellung seiner gleich darauf erzähl - ten Wirksamkeit unter den Samaritanern, wie diese selbst nur das sagenhafte Vorspiel jener nach Jesu Tode erfolg - ten Ausbreitung des Christenthums in Samarien ist.

Da sich somit die Erzählung von einem Verhältniſs, welches Jesus als Messias mit den Samaritanern angeknüpft hätte, als unhistorisch ausgewiesen hat: so bliebe nur noch seine denselben günstige Beobachtung Luc. 17, 16. neben der ungünstigen Luc. 9, 53, und neben dem Verbote Matth. 10, 5. die lobende Parabel Luc. 10, 30 ff. und die Anwei - sung, in Samarien das Evangelium zu verkündigen A. G. 1, 8. Da nun diese ausdrückliche Anweisung als eine erst nach der Auferstehung Jesu geschehene bis zur Untersuchung dieses Faktums uns problematisch bleiben muſs: so fragt sich, ob auch ohne sie und unerachtet jenes Verbots das unbedenkliche Verfahren der Apostel A.G. 8, sich erklären läſst, oder ob, sei es von Seiten der Apostelgeschichte ein Übergehen stattgehabter Bedenklichkeiten, oder lieber von Seiten des Matthäus eine zu partikularistische Zeichnung Jesu angenommen werden soll? was hier nicht weiter zu untersuchen ist.

520Zweiter Abschnitt.

Fünftes Kapitel. Die Jünger Jesu.

§. 66. Die Berufung der ersten Begleiter. Differenz zwischen den beiden ersten Evangelien und dem vierten.

Nach der übereinstimmenden Erzählung der zwei er - sten Evangelien (Matth. 4, 18 22. Marc. 1, 16 20.) hat Jesus, am galiläischen See wandelnd, zuerst die beiden Brüder Petrus und Andreas, unmittelbar darauf den Jako - bus und Johannes, von den Fischernetzen weg zu seiner Nachfolge berufen. Auch das vierte Evangelium erzählt gleich zu Anfang (1, 35 52.), wie sich die ersten Schüler an Jesum anschloſsen, unter welchen auch hier Petrus und Andreas, und wahrscheinlich auch Johannes, sich befinden, indem der ungenannte Begleiter des Andreas gewöhnlich auf jenen gedeutet wird. Jakobus fehlt in dieser Erzählung; statt seiner wird noch die Berufung des Philippus und Na - thanaël berichtet. Doch auch von den identischen Perso - nen sind alle näheren Umstände ihres Zusammentreffens mit Jesu verschieden erzählt. Während nach den beiden Synoptikern der Schauplaz desselben das Ufer des galiläi - schen Sees ist, kommen im vierten Evangelium Andreas, Petrus und der Ungenannte in Peräa in der Nähe des Jor - dan, Philippus und Nathanaël auf dem Weg von da nach Galiläa zu Jesu. Während ferner dort je ein Brüderpaar zusammen berufen wird, treffen hier zuerst Andreas und der Ungenannte, dann Petrus, hierauf Philippus und Natha - naël mit Jesu zusammen. Hauptsächlich aber, während bei Matthäus und Markus die Brüderpaare von ihrem Fischer - geschäft hinweg unmittelbar von Jesu berufen werden,521Fünftes Kapitel. §. 66.giebt Johannes als Situation der Berufenen nur überhaupt ein ἕργεσϑαι und εὑρίσκεσϑαι an, und läſst von Jesu un - mittelbar nur den Philippus berufen werden; den Andreas und den Ungenannten weist der Täufer, den Petrus bringt Andreas, den Nathanaël Philippus zu ihm hin.

Scheinen so die beiden Erzählungen verschiedene Er - eignisse zu betreffen, und fragt es sich, welche das frühe - re und welche das spätere? so scheint Johannes die Ge - schichte noch etwas früher einzureihen, weil er sie schon vor Jesu Rückkehr von seiner Taufe nach Galiläa erfolgen läſst die Synoptiker erst nach derselben, zumal wenn, nach einer gewöhnlichen Berechnung, die Rückreise, von welcher die Synoptiker ausgehen, nicht die von der Taufe, sondern von dem ersten Paschafest sein soll. Auch der inneren Beschaffenheit des Vorgangs nach scheint das vom vierten Evangelium Erzählte nicht das Spätere sein zu können. Denn waren nach den Synoptikern Andreas und Johannes bereits Jesu nachgefolgt, so konnten sie nicht wieder, wie im vierten Evangelium, zum Gefolge des Täufers sich ge - sellen, noch brauchte dieser erst sie auf Jesum hinzuwei - sen; ebenso wenn Petrus schon unmittelbar von Jesu zum Menschenfischer berufen war, brauchte ihn nicht erst sein Bruder Andreas zu ihm zu führen. Dagegen stimmen die Ausleger darin überein, daſs sowohl die synoptische Erzäh - lung sich eigne, die johanneische vor sich, als diese, jene nach sich zu haben. Das vierte Evangelium, sagt man1)Kuinöl, Comm. in Matth. S. 100. Lücke, Comm. z. Joh. 1, S. 388. Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 197. Hase, Leben Jesu, §. 55., erzähle nur das erste Bekanntwerden Jesu mit jenen Män - nern, auf welches hin sie noch nicht sogleich seine bestän - digen Begleiter geworden seien; erst bei der von den Syn - optikern aufbehaltenen Gelegenheit habe sie Jesus zum beständigen Geleite, zur eigentliehen Jüngerschaft berufen.

522Zweiter Abschnitt.

Allein wenn man in der synoptischen Relation die Auf forderung Jesu: δεῦτε ὀπίσω μου und die Bezeichnung des Erfolgs durch ἠκολούϑησαν αὐτῷ von beständiger Begleitung versteht: so fällt es auf, wie man in der johanneischen Erzählung das gleiche ἀκολούϑει μοι in andrer Bedeutung nehmen kann, und man muſs die Consequenz von Paulus loben, wenn er nicht nur in der lezteren, sondern auch in der ersteren Erzählung eine Aufforderung zu einer bloſs vorübergehenden Begleitung auf dem nächsten Gange fin - det2)Leben Jesu, 1, a, 212.. Allein diese Deutung der synoptischen Erzählung ist unmöglich. Wie hätte doch Petrus später im Namen seiner Mitjünger Jesum so nachdrücklich erinnern können: ἰδοὺ ἡμεῖς άφήκαμεν πάντα καὶ ἠκολουϑήσαμέν σοι, und dazu fragen: τί ἄρα ἔςαι ἡμῖν; und wie hätte Jesus den ἀκολε - ϑήσαντες αὐτῷ und jedem, der um seinetwillen ἀφῆκεν οἰκίας κ. τ. λ. hundertfältigen Ersaz verheiſsen können, (Matth. 19, 27 ff. ) wenn dieses Verlassen und Nachfolgen und also auch das ganz ebenso bezeichnete in unserer Er - zählung nur ein so vorübergehendes und unterbrochenes gewesen wäre? Wird schon hieraus wahrscheinlich, daſs auch das ἀκολούϑει μοι bei Johannes die Anknüpfung eines bleibenden Verhältnisses bezeichnen werde: so sind über - dieſs in dem Zusammenhang der johanneischen Erzählung die deutlichsten Spuren hievon zu finden. Ganz nämlich, wie bei den Synoptikern vor dieser Berufungsscene Jesus al - lein erscheint, nachher aber bei jeder schicklichen Gelegenheit die Begleitung seiner μαϑηταὶ erwähnt wird: so tritt auch im vierten Evangelium der vorher unbegleitete Jesus von je - nem Vorfall an in Gesellschaft von Jüngern auf (2, 2. 12. 17. 3, 22. 4, 8. 27 u. s.), und die Annahme, daſs diese in Peräa gewonnenen Jünger nach Jesu Rückkehr nach Galiläa sich wieder zerstreut haben3)Paulus, Leben Jesu, 1, a, S. 213. Sieffert, über den Ur - sprung u. s. f. S. 72., ist den Evangelien nur523Fünftes Kapitel. §. 66.vom harmonistischen Bestreben aufgedrungen. Indeſs, auch dieſs vorausgesezt, konnten sie ihm doch in der kurzen Zeit, welche jene Entfernung immer nur gedauert haben kann, unmöglich so entfremdet werden, daſs er so, wie in der synoptischen Berufungsgeschichte der Fall ist, die Bekannt - schaft mit ihnen ganz wieder wie von vorne anzufangen sich veranlaſst finden konnte. Namentlich wenn er den Simon schon bei jener angeblich ersten Zusammenkunft durch den Beinamen Κηφᾶς auf das individuellste ausge - zeichnet hatte, konnte er nicht wohl den Antiklimax ma - chen, ihm bei einer späteren Gelegenheit mit der Berufung zum ἁλιεὺς ἀνϑρώπων entgegenzukommen, was eine ihm mit allen übrigen Jüngern gemeinsame Bestimmung aus - drückte.

Als einen besondern Vortheil dieser Stellung der bei - den Erzählungen heben die rationalistischen Erklärer dieſs hervor, daſs so allein begreiflich werde, worüber man sonst im höchsten Grade staunen müſste, wie sowohl Je - sus nur so im Vorbeigehen auf den ersten Blick vier Fi - scher zu Jüngern habe wählen und darunter gleich die zwei ausgezeichnetsten Apostel treffen können, als auch wie die vier geschäftigen Männer auf den räthselhaften Ruf eines ihnen nicht näher bekannten Mannes hin so - gleich ihr Gewerbe verlassen und sich zu seiner Beglei - tung haben hergeben mögen; bei Vergleichung des vierten Evangeliums sehe man nämlich, daſs Jesus diese Männer längst vorher kennen gelernt und sich gleicherweise ihnen in seiner Vortrefflichkeit gezeigt hatte, woraus sich nun sowohl das Glückliche seiner Wahl, als auch ihre Bereit - willigkeit ihm zu folgen, erkläre. Allein gerade dieser scheinbare Vortheil ist es, der über die bezeichnete Stel - lung der beiden Erzählungen vollends den Stab bricht. Denn entschiedener kann nichts gegen die Absicht der beiden ersten Evangelisten sein, als die Voraussetzung ei - nes schon vorher zwischen Jesu und den berufenen Brü -524Zweiter Abschnitt.derpaaren bestandenen Verhältnisses. Legt nämlich die Erzählung bei beiden darauf so groſses Gewicht, daſs sie εὐϑέως ihre Netze verlassen und sich zur Nachfolge Jesu entschlossen haben: so muſs dieſs im Sinne der Referenten etwas Ausserordentliches gewesen sein, was es nicht war, wenn die Männer schon früher im Gefolge Jesu gewesen waren. Und ebenso in Bezug auf Jesum liegt die Pointe der Erzählung darin, daſs er mit prophetischem Geiste gleich auf den ersten Blick die rechten herausgefunden, daſs er nach Joh. 2, 25. οὐ χρείαν εἶχεν, ἵνα τις μαρτυρήσῃ περὶ τοῦ ἀνϑρώπου, weil er αὐτὸς ἐγίνωσκε, τί ἦν ἐν τῷ ἀν - ϑρώπῳ, wodurch er einer Forderung genügte, welche die Juden an den Messias stellten.

Macht so jede der zwei verschiedenen Erzählungen darauf Anspruch, das erste Bekanntwerden Jesu mit sei - nen vornehmsten Jüngern zu beschreiben: so kann nur Eine richtig, die andere muſs irrig sein4)s. Fritzsche, in Matth. p. 189., und es ist nun nach innern Gründen zu untersuchen, welche? Hier muſs man in Bezug auf die Darstellung der Synoptiker Paulus Recht geben, daſs man sich nicht genug wundern könnte, wenn gleich das erste Zusammentreffen Jesu mit jenen Männern sich so gemacht hätte, wie sie erzählen. Ein Durchschauen des Menschen auf den ersten Blick, wie es Jesus hier erprobt hätte, gienge weit über Alles hinaus, was der glücklichsten und geübtesten Menschen - kenntniſs natürlicherweise möglich ist. Das Innere des Menschen ist nur aus einer Reihe von Reden und Handlun - gen sicher zu erkennen: eine Gabe, ohne diese Vermittlung in das Gemüth der Andern einzudringen, streift schon an das Visionäre und damit in ein Gebiet hinein, für welches der von den Rabbinen für diese Gabe des Messias gebrauch - te Ausdruck: odorando judicare5)Schöttgen, horae, 2, p. 372. keineswegs zu mon -525Fünftes Kapitel. §. 66.strös ist. Ebenso ist von Seiten der Jünger die ungesäum - te Nachfolge mehr als sich natürlicherweise erwarten läſst, da Jesus damals in Galiläa noch nicht den Ruhm wie spä - ter hatte, und man müſste aus dieser Bereitwilligkeit fast auf eine unmittelbar in die Gemüther eindringende, von Vorbereitung und Gründen unabhängige Kraft der Stimme und des Willens Jesu schlieſsen6)Paulus, a. a. O., was zu dem oben be - zeichneten visionären noch ein magischer Zug wäre, um das Unglaubliche der Erzählung zu vollenden.

Sind auf diese Weise die negativen Gründe gegen den historischen Charakter der Erzählung stark genug, so muſs man sich für eine mythische Auffassung derselben entschei - den, sobald sich noch positiv zeigen läſst, wie sie auch ohne historische Grundlage auf traditionelle Weise sich bilden konnte. Hiezu lag nun aber hinreichender Anlaſs nicht allein in der schon angeführten jüdischen Vorstel - lung vom Messias als Herzenskündiger, sondern auch ein ganz specielles Vorbild dieser Apostelberufung war in der Erzählung (1 Kön. 19, 19 21.) von der Art und Weise gegeben, wie der Prophet Elia den Elisa zu seiner Nach - folge bestimmt haben sollte. Wie hier Jesus die Brüder - paare von den Netzen und dem Fischfang: so ruft dort der Prophet seinen künftigen Schüler von den Rindern und dem Pfluge weg; beidemale von einer einfachen ma - teriellen Arbeit zum höchsten geistigen Berufe, ein Con - trast, welchen, wie aus der römischen Geschichte bekannt, die Sage besonders gerne entweder aufbewahrt oder macht. Ferner, wie die Fischer auf den Ruf Jesu ihre Netze ver - lassen und ihm nachfolgen: so Elisa, als Elia seinen Man - tel auf ihn warf, κατέλιπε τὰς βόας καὶ κατέδραμεν ὀπίσω Ηλιου (V. 20. LXX). Nun aber folgt eine bemerkenswerthe Differenz. Der berufene Prophetenschüler bat, ehe er sich ganz an Elia anschlöſse, sich noch von Vater und Mutter526Zweiter Abschnitt.verabschieden zu dürfen, und der Prophet nimmt keinen Anstand, ihm dieſs zu gestatten, wenn nur Elisa sofort wieder zu ihm zurückkehren würde. Ähnliche Bitten wer - den auch Jesu (Luc. 9, 59 ff. Matth. 8, 21 f.) von Einigen gestellt, die er zur Nachfolge berufen, oder die sich frei - willig dazu erboten hatten; aber Jesus gewährt diese Ge - suche nicht, sondern weist den Einen, welcher zuvor sei - nen Vater zu begraben wünschte, zu augenblicklichem An - tritt seiner Jüngerschaft an, den Andern aber, der sich ausgebeten hatte, sich erst noch von seiner Familie ver - abschieden zu dürfen, weist er zurück; wogegen von den beiden Fischerpaaren hier gesagt wird, daſs sie, ohne um Frist zu bitten, Alles, die Zebedaiden selbst ihren Vater, im Stiche gelassen haben. Könnte es sich klarer, als durch diesen Zug, verrathen, wie die ganze Erzählung bei Matthäus und Markus nur eine überbietende Nachbil - dung der A. T. lichen ist, um, wie Paulus richtig sieht7)Exeg. Handbuch, 1, b, S. 464., zu zeigen, daſs Jesus als Messias noch entschlossenere und mit grösserer Aufopferung verbundene Nachfolge ge - fordert habe, als Elias der Prophet verlangte und verlan - gen durfte? Die historische Grundlage der Erzählung mag sein, daſs mehrere der vorzüglichsten Jünger Jesu, wie namentlich Petrus, als Anwohner des galiläischen Sees, Fischer gewesen waren, weſswegen Jesus sie in ihrer späteren apostolischen Wirksamkeit bisweilen als ἁλιεῖς ἀνϑρώπων bezeichnet haben mag. Ihr Verhältniſs zu Jesu aber machte sich ohne Zweifel so allmählich, wie sonst menschliche Verhältnisse pflegen, nur daſs uns von diesem natürlichen Gang der Sache keine Kunde aufbehalten ist.

Wäre somit durch Wegräumung des synoptischen Be - richtes für den johanneischen Raum gemacht: so kann doch, ob er diesen als historischer einnehmen darf, erst aus einer Prüfung seiner innern Beschaffenheit sich erge -527Fünftes Kapitel. §. 66.ben. Hier erregt es gleich kein gutes Präjudiz, daſs Jo - hannes der Täufer es ist, welcher Jesu die zwei ersten Schüler zugewiesen haben soll; denn, ist in der früher gegebenen Darstellung des Verhältnisses zwischen Jesu und dem Täufer nur irgend etwas Wahres: so konnten zwar wohl Johannisjünger aus eignem Antrieb sich an Jesus, ihren früheren Mitschüler, anschlieſsen, aber dem Täufer fiel nichts weniger ein, als Jemanden von sich weg an Jesum zu verweisen, und es scheint dieser Zug sein Dasein nur dem apologetischen Interesse des vierten Evan - geliums zu verdanken, durch das Zeugniſs des Täufers die Sache Jesu zu stützen. Darüber ferner, daſs Andreas, nach - dem er einen Abend mit Jesu zusammengewesen, ihn seinem Bruder sogleich mit den Worten: εύρήκαμεν τὸν Μεσσίαν an - gekündigt haben soll (1, 42) und auf ähnliche Weise Phi - lippus gleich nach seiner Berufung sich gegen Nathanaël über ihn ausspricht (V. 46.), weiſs ich mich nicht stark genug auszudrücken, wie unmöglich es ist. Aus der, nach dem oben Ausgeführten, glaubwürdigen Darstellung der Synoptiker wissen wir besser, wie lange Zeit es brauchte, bis die Jünger Jesum als den Messias anerkannten, und dieſs durch ihren Sprecher Petrus laut werden lieſsen, des - sen späte Einsicht Jesus mit Unrecht als Offenbarung ge - priesen haben würde, wenn sie ihm gleich Anfangs durch seinen Bruder Andreas entgegengebracht worden wäre. Ebenso anstöſsig ist die Art, wie sofort Jesus den Simon empfangen haben soll. Schon das, daſs er, nachdem er ihn in das Auge gefasst, ihm sagt: σὺ εἶ Σίμων, υἱὸς Ἰωνᾶ klingt nach Bengel's richtiger Beobachtung8)Gnomon, z. d. St. so, als sollte hier Jesu eine übernatürliche Kenntniſs des Namens und der Abkunft eines ihm sonst unbekannten Mannes zu - geschrieben werden, in demselben Sinne, wie er von den Männern der Samariterin und in unserer Stelle von dem528Zweiter Abschnitt.Aufenthalt des Nathanaël unter dem Feigenbaume weiſs. Jedenfalls aber, wenn er ihm nun den bedeutsamen Bei - namen Κηφᾶς oder Πέτρος zulegt, so ist dieſs, sofern man dieses Diktum nicht mit Paulus durch Beziehung auf die Körpergestalt des Mannes bis zum Scurrilen herunterzie - hen will9)Leben Jesu, 1, a, S. 168., so gemeint, daſs Jesus auf den ersten Anblick mit dem Auge des καρδιογνώςης sein Inneres durchschaut, und nicht blos seine allgemeine Befähigung zum Apostolat, sondern auch die individuellen Eigenschaften erkannt habe, welche den Mann mit einem Felsen vergleichbar machten. Diesen Beinamen, sammt einer Erklärung seiner Bedeu - tung, läſst Matthäus dem Simon erst nach längerem Um - gang mit Jesu und nachdem er schon manche Proben sei - nes eigenthümlichen Wesens abgelegt, gegeben werden (16, 18): weit natürlicher offenbar (obgleich gar wohl die christliche Sage von einem Namen, welchen Simon viel - leicht von jeher geführt hatte, weil er bedeutsam schien, Jesum als den Urheber dargestellt haben könnte), als der vierte Evangelist, wenn er Jesum gleich auf den ersten Blick die eigenthümliche Bedeutung weghaben läſst, welche Simon für seine Sache dereinst gewinnen sollte; ein odo - rando judicare, welches über das von den Synoptikern behauptete in dem Grade hinausgeht, in welchem das σὺ κληϑήσῃ Κηφᾶς eine genauere Kenntniſs des Mannes vor - aussezt, als das ποιήσω ὑμᾶς ἁλιεῖς ἀνϑρώπων. Auch nach einer längeren Unterredung mit Petrus, wie Lücke eine voraussezt10)S. 385., konnte sich Jesus keinen so bestimmten Ausspruch über seinen Charakter erlauben, ohne entweder Herzenskündiger zu sein, oder eines vorschnellen Urtheils beschuldigt werden zu müssen.

Vollends aber die Verhandlung mit Nathanaël ist ein Gewebe von Unwahrscheinlichkeiten. Wie Philippus ihm529Fünftes Kapitel. §. 66.von einem Messias aus Nazaret sagt, macht er die berühm - te Frage: ἐκ Ναζαρὲτ δύναταί τι ἀγαϑὸν εἶναι (V. 47.); Daſs nun schon, als Jesus auftrat, Nazaret in besonderer Verachtung gestanden, läſst sich, wie auch Lücke bemerkt11)S. 389 f., durch kein einziges historisches Datum belegen, und es hat alle Wahrscheinlichkeit, daſs erst von den Gegnern des Christenthums dieser Vaterstadt des von ihnen verworfenen Messias ein Schandfleck angehängt worden ist. Zu Jesu Zeit stand Nazaret nur in der Eigenschaft einer galiläischen Stadt überhaupt bei den Judäern in Verachtung; aber in diesem Sinne konnte Nathanaël nicht auf dasselbe herab - sehen, da er selbst ein Galiläer war (21, 2.). Leicht könnte also hier eine spottende Frage, welche zur Zeit der Ab - fassung des vierten Evangeliums die Christen oft von ihren Gegnern hören muſsten, schon einem Zeitgenossen Jesu in den Mund gelegt sein, um durch die Art, wie diesem sein Zweifel benommen wird, auch Andern ein ἔρχου καὶ ἴδε zu - zurufen. Wie nun Nathanaël auf Jesum zukommt, soll dieser über ihn das Urtheil gefällt haben: ἴδε ἀληϑῶς Ἰσ - ραηλίτης, ἐν δόλος οὐκ ἔςι (V. 48.). Paulus meint, von Nathanaël aus Kana, wohin er eben zur Hochzeit von Ver - wandten gieng, könne Jesus wohl schon vorher gewuſst haben12)a. a. O.. Allein, war Nathanaëls Charakter Jesu auf na - türlichem Wege bekannt geworden, so muſste er auf des - sen Frage: πόϑεν με γινώσκεις; entweder ihn an die Ge - legenheit erinnern, bei welcher sie schon früher Bekannt - schaft gemacht, oder sich auf Andre berufen, die ihm von Nathanaël schon Gutes gesagt hatten; wenn er statt des - sen von einem Wissen um den Aufenthalt Nathanaëls un - ter einem Feigenbaum spricht, welches den Schein des Wun - derbaren hat: so wäre ein solches Benehmen, wenn irgend eines, Charlatanerie gewesen. Da aber der Referent JesuDas Leben Jesu I. Band. 34530Zweiter Abschnitt.so etwas nicht zuschreiben will: so geht seine Intention unverkennbar dahin, Jesu ein übernatürliches Wissen um den Charakter Nathanaëls zuzuschreiben. Ebensowenig ist das ὄντα ὑπὸ τὴν συκῆν εἶδόν σε durch den Paulus'schen Ausspruch: wie oft sieht und beobachtet man einen, der es selbst nicht bemerkt! erklärt. Zwar denken auch Lücke und Tholuck hier an ein natürliches Beobachten, nur daſs sie Jesum den Nathanaël in einer Situation beobachten las - sen, welche, wie etwa Gebet und Studium des Gesetzes, ihm einen Schluſs auf den Charakter des Mannes möglich gemacht habe. Allein, wollte Jesus sagen: wie sollte ich von deiner Redlichkeit nicht überzeugt sein, da ich ja dein eifriges Bibelstudium und brünstiges Gebet unter der συκῆ beobachtet habe? so müſste doch wohl ein προσευχόμενον oder ἀναγινώσκοντα dabeistehen; ohne diesen Beisaz kann als Sinn des Ausspruchs nur dieser erscheinen: mein Ver - mögen, in dein Inneres zu blicken, kannst du daraus er - kennen, daſs ich dich in einer Lage, in welcher du auf natürliche Weise keinen Beobachter hattest, gesehen habe, wobei es also auf eine bestimmte Situation des Gesehe - nen nicht ankommt, sondern einzig auf das Sehen Jesu, welches, sofern aller Nachdruck auf demselben liegt, kein natürliches gewesen sein kann. Ein solches Fernsehen bei Jesu anzunehmen ist freilich sehr abenteuerlich, aber de - sto angemessener dem damaligen Begriffe von einem Pro - pheten und dem Messias. Ein ganz ähnliches Fernsehen und Fernhören wird schon im A. T. dem Elisa zugeschrie - ben. Als (nach 2 Kön. 6, 8 ff. ) der König von Syrien ge - gen Israël Krieg führte, zeigte Elisa jedesmal dem israëli - tischen König an, wo die Feinde sich gelagert hatten, und als der König von Syrien Verrath durch Überläufer vermu - thete, wurde er belehrt, daſs der israëlitische Prophet Al - les wisse, was der König in seinem innersten Gemach rede. Wie konnte man hinter diesem Seherblick des Propheten den Messias zurückbleiben lassen? Insbesondere aber unse -531Fünftes Kapitel. §. 66.rem Evangelisten diente dieser Zug, einen Klimax hervor - zubringen, und Jesum von dem Durchschauen eines unmit - telbar Gegenwärtigen (V. 43.) zum Durchblicken eines nur erst sich Nähernden (V. 48.), und nun vollends zum Wahr - nehmen eines Entfernten aufsteigen zu lassen. Daſs Jesus hier noch einen Schritt weiter in der Steigerung geht, und sagt, diese Probe seiner messianischen Fernsicht sei noch eine Kleinigkeit gegen das, was Nathanaël noch zu sehen bekommen werde, daſs über ihm als dem Messias aus ge - öffnetem Himmel göttliche Kräfte gleichsam auf - und nie - dersteigen werden (V. 51 f.), beweist keineswegs, wie Pau - lus meint, daſs in jener ersteren Probe nichts Wunderba - res gewesen, da es auch im Wunder eine Steigerung giebt.

Sind wir so in dieser johanneischen Erzählung bei jedem Schritte auf Schwierigkeiten, und zum Theil auf gröſsere als in der synoptischen, gestoſsen: so erfahren wir über die Art, wie die ersten Jünger zu Jesu kamen, durch die eine so wenig als durch die andere. Die Abweichung der johanneischen von der synoptischen möchte ich nicht mit dem Verfasser der Probabilien13)S. 141. daraus herleiten, daſs der vierte Evangelist die Erwähnung des dem Spotte ausgesezten Fischerhandwerks der vornehmsten Apostel ha - be umgehen wollen, da er ja im 21. Kap., welches auch Bretschneider dem Verfasser des übrigen Evangeliums zu - schreibt, desselben unbedenklich Erwähnung thut; sondern, daſs sie gerade vom Fischen weg berufen worden seien, scheint in der Region, wo das vierte Evangelium entstand, nicht verlautet, und so daselbst die Scene sich theils viel - leicht nach der nicht unwahrscheinlichen historischen Nach - richt, daſs einige Jünger Jesu früher in der Schule des Täufers gewesen seien, theils aus dem Interesse für den Täufer und für das übernatürliche Wissen Jesu gebildet zu haben.

34*532Zweiter Abschnitt.

§. 67. Der Fischzug des Petrus.

Anders wird die Berufung des Petrus und seiner Ge - nossen zu Menschenfischern von Lukas (5, 1 11.) erzählt. Abgesehen von den Kleinigkeiten, auf welche z. B. Storr Gewicht legt, um seine Erzählung von der der beiden ersten Evangelisten zu trennen1)Über den Zweck der ev. Gesch. und der Br. Joh. S. 350., liegt ein wesentlicher Unterschied darin, daſs bei Lukas das Anschliessen der Fischer an Jesus nicht auf eine bloſse Einladung hin, sondern in Folge eines rei - chen Fischzugs geschieht, zu welchem Jesus dem Petrus ver - holfen hatte. Giebt sich so die Relation des Lukas für die Erzählung einer andern Begebenheit, als welche seine Vor - männer berichten, so ist nun zunächst ihre Glaubwürdig - keit für sich zu untersuchen, und dann ihr Verhältniſs zu der des Matthäus und Markus zu bestimmen.

Jesus, am galiläischen See vom Volke gedrängt, be - steigt ein Schiff, um in[e]iniger Entfernung vom Ufer un - gehinderter zum Volke sprechen zu können; nach geendig - ten Reden fordert er den Simon, den Eigenthümer des Kah - nes, auf, tiefer in den See hineinzufahren, und da die Ne - ze zum Fang auszuwerfen. Simon, obwohl wenig ermuthigt durch den schlechten Erfolg der Fischerarbeit in der ver - gangnen Nacht, erklärte sich doch bereit, und der Erfolg war ein so ausserordentlich reicher Fang, daſs Petrus und seine Genossen Jakobus und Johannes (Andreas wird hier nicht erwähnt) in das äusserste Erstaunen, der Erstere selbst in eine Art von Furcht vor Jesu als einem höheren Wesen gerieth, und auf die Anrede Jesu an Petrus: μὴ φοβοῦ· ἀπὸ τοῦ νῦν ἀνϑρώπους ἔσῃ ζωγρῶν, alle drei Alles verlieſsen und ihm nachfolgten.

Daſs, was hier erzählt wird, auf natürliche Weise möglich gewesen, suchen die rationalistischen Ausleger ange - legentlich darzuthun. Nach ihnen war der auffallende Erfolg theils Werk einer richtigen Beobachtung Jesu, theils glück -533Fünftes Kapitel. §. 67.licher Zufall. Tiefer in den See hineinfahren wollte Jesus nach Paulus2)Exeg. Handb. 1, b, S. 449. zuerst nur, um das Volk zu entlassen, und erst als er im Hinfahren einen fischreichen Platz zu be - merken glaubte, forderte er den Petrus auf, hier das Netz auszuwerfen. Ein doppelter Widerspruch gegen die evan - gelische Erzählung. Wenn doch Jesus in unmittelbarer Verbindung sagt: ἐπανάγαγε εἰς τὸ βάϑος, καὶ χαλάσατε τὰ δίκτυα κ. τ. λ. so hatte er offenbar schon bei der Ab - fahrt die Absicht, einen Fischzug zu veranlassen, und sprach er diese schon am Ufer aus, so konnte seine Hoff - nung auf einen glücklichen Fang nicht Resultat der Beobach - tung einer fischreichen Stelle auf der Höhe des Sees sein, die sie noch gar nicht erreicht hatten. Man müſste also mit dem Verfasser der natürlichen Geschichte sagen, Jesus habe überhaupt vermuthet, daſs unter den gegebenen Um - ständen (vielleicht bei herannahendem Sturme) der Fang auf der Mitte des Sees jezt besser als in der Nacht gelin - gen werde3)2, S. 159.. Allein, vom natürlichen Gesichtspunkt aus - gegangen, wie sollte Jesus dieſs besser zu beurtheilen ge - wuſst haben, als die Männer, welche ihr halbes Leben als Fischer auf dem See zugebracht hatten? Gewiſs, bemerk - ten die Fischer nichts, was ihnen zu einem guten Fange Hoffnung machen konnte: so kann auch Jesus etwas der Art natürlicherweise nicht bemerkt haben, und das Zusam - mentreffen des Erfolgs mit seinem Worte muſs, den natür - lichen Standpunkt festgehalten, rein auf Rechnung des Zu - falls geschrieben werden. Doch welche unbesonnene Ver - messenheit, so auf Gerathewohl etwas zu versprechen, was nach dem Vorgang der verflossenen Nacht eher fehlschla - gen als gelingen konnte! Aber, sagt man, Jesus fordert ja den Petrus auch nur auf, noch einen Versuch zu machen, ohne ihm etwas Bestimmtes zu versprechen4)Paulus, a. a. O.. Allein in534Zweiter Abschnitt.[s]einer bestimmten Aufforderung, welche sich auch durch die Bemerkung des Petrus, wie ungünstig die Umstände dem Fange seien, nicht irren läſst, liegt doch zugleich ein Versprechen, und schwerlich hat das χαλάσατε κ. τ. λ. in unsrer Stelle einen andern Sinn, als bei der ähnlichen Sce - ne Joh. 21. das βάλετε εἰς τὰ δεξιὰ μέρη τοῦ πλοίου τὸ δίκ - τυον, καὶ εὑρήσετε (V. 6.). Wenn ferner Petrus selbst seine Bedenklichkeit in den Worten zurücknimmt: ἐπὶ δὲ τῷ ῥήματί σου χαλάσω τὸ δίκτυον, so mag zwar ῥῆμα nicht geradezu durch Zusage, sondern durch Befehl zu überse - zen sein, in jedem Falle aber liegt die Hoffnung darin, daſs, was Jesus gebiete, nicht erfolglos sein werde. Diese Hoffnung, wenn sie Jesus nicht hatte erregen wollen, muſs - te er alsbald wieder niederschlagen, um sich nicht der Be - schämung durch einen etwaigen ungünstigen Erfolg auszu - setzen, und in keinem Falle durfte er nach gelungenem Fang den Fuſsfall des Petrus annehmen, wenn er ihn nicht bes - ser, als durch einen auf gut Glück gegebenen Rath ver - dient hatte.

Es bleibt also der ganzen Tendenz der Erzählung zu - folge nichts übrig, als hier ein Wunder anzuerkennen; was nun entweder mehr als Wunder der Wirksamkeit oder des Wissens gefaſst werden kann. Zunächst ergäbe sich die erste Auffassungsweise, daſs Jesus durch seine Wunder - macht die Fische im See dahin zusammengetrieben hätte, wo er den Petrus das Netz auswerfen hieſs. Nun daſs Je - sus auf Menschen, an deren Geist seine Geisteskraft ei - nen Anknüpfungspunkt hatte, unmittelbar durch seinen Willen einzuwirken vermochte, dieſs kann man sich viel - leicht noch denken, ohne von den Gesetzen psychologischer Wirksamkeit allzuweit abzukommen; aber wie er auf ver - nunftlose Wesen, und zwar nicht auf einzelne und ihm unmittelbar gegenwärtige, sondern auf Schaaren von Fischen in der Tiefe eines Sees auf diese Weise habe wirken kön - nen, das läſst sich nicht vorstellig machen, ohne in das535Fünftes Kapitel. §. 67.Zauberhafte hineinzugerathen. Die Olshausen'sche Verglei - chung wenigstens, Jesus habe hier dasselbe gethan, was die göttliche Allmacht alljährlich mit den wandernden Fi - schen und Zugvögeln thue5)Bibl. Comm. 1, 283., hinkt nicht bloſs, son - dern weicht ganz auseinander; denn der Unterschied, daſs das Leztere eine göttliche Thätigkeit ist, welche mit der ganzen übrigen Naturwirksamkeit Gottes, mit dem Wech - sel der Jahreszeiten u. s. f. in engster Verbindung steht, das Erstere aber, auch Jesum als wirklichen Gott voraus - gesezt, eine aus allem Naturzsammenhang herausgerissene vereinzelte That wäre, hebt alle Vergleichbarkeit beider Er - scheinungen auf. Doch auch die Möglichkeit eines sol - chen Wunders vorausgesezt, wie denn auf supranaturali - stischen Standpunkt nichts an sich unmöglich ist: läſst sich denn auch nur ein scheinbarer Zweck denken, welcher Je - sum bewegen konnte, von seiner Wunderkraft einen so aben - teuerlichen Gebrauch zu machen? War es denn so viel werth, daſs Petrus durch den Vorfall eine abergläubische und gar nicht neutestamentliche Furcht vor Jesu bekam? und lieſs sich nur auf diese der wahre Glaube pfropfen? oder glaub - te Jesus nur durch solche Zeichen sich Jünger werben zu können? wie wenig hätte er da auf die Macht des Geistes und der Wahrheit vertraut, wie viel zu gering den Petrus angeschlagen, der wenigstens später (Joh. 6, 68.) nicht durch die Mirakel, die er von Jesus sah, sondern durch die ῥήματα ζωῆς αἰωνίου, die er von ihm hörte, in seiner Gesell - schaft festgehalten war.

Von diesen Schwierigkeiten gedrängt, kann man sich auf die andre Seite flüchten und als das Gelindere anneh - men, Jesus habe nur vermöge seines übermenschlichen Wis - sens die Kenntniſs gehabt, daſs an jenem Platze gerade ei - ne Menge von Fischen sich befinde, und dieſs dem Petrus mitgetheilt. Meint man dieſs so, Jesus habe mit einer536Zweiter Abschnitt.Allwissenheit, wie man sie bei Gott sich vorzustellen pflegt, jederzeit um alle Fische in allen Seen, Flüssen und Mee - ren gewuſst: so ist es mit seinem menschlichen Bewuſst - sein aus; soll er aber nur etwa wenn er gerade über ein Wasser fuhr, von dem Treiben der Fische in demselben Kenntniſs bekommen haben, so ist auch dieſs schon genug, um in seinem Gemüthe den Platz für wichtigere Gedan - ken zu versperren; endlich, soll er so etwas nicht immer und wesentlich gewuſst haben, sondern es nur, so oft er wollte, haben wissen können: so begreift man nicht, wie in Jesu ein Antrieb entstehen konnte, dergleichen etwas zu erfahren, wie derjenige, dessen Beruf auf die Tiefen der menschlichen Herzen sich bezog, mit den fischreichen Tiefen der Gewässer sich zu befassen versucht sein mochte.

Doch ehe wir über diese Erzählung des Lukas ent - scheiden, müssen wir sie zuvor noch im Verhältniſs zu der Berufungsgeschichte bei den zwei ersten Synoptikern betrachten, wobei die erste Frage das chronologische Ver - hältniſs beider Begebenheiten betrifft. Daſs nun der wun - derbare Fischzug bei Lukas vorangegangen, die Berufung bei den beiden andern aber erst nachgefolgt sei, diese Voraussetzung ist dadurch abgeschnitten, daſs nach der starken Anhänglichkeit, welche durch jenes Wunder in den Jüngern angeregt war, keine neue Berufung nöthig sein konnte; oder, wenn die mit einem Wunder verknüpf - te Einladung nicht hingereicht hatte, die Männer bei Jesu festzuhalten, konnte er von dem Antiklimax einer später erlassenen kahlen und wunderlosen Aufforderung sich noch weniger Erfolg versprechen. Bei der umgekehrten Stellung könnte sich ein passender Klimax der beiden Einladungen zu ergeben scheinen: doch wozu überhaupt eine zweite, da die erste schon gewirkt hatte? Denn anzunehmen, daſs die Brüder, welche ihm auf die erste hin nachgefolgt waren, ihn bis zur zweiten wieder verlassen gehabt, ist doch nur eine willkührliche Nothhülfe. Namentlich537Fünftes Kapitel. §. 67.aber, wenn man auch das vierte Evangelium hinzunimmt, was wäre das für ein Verhältniſs, wenn Jesus diese Jün - ger zuerst so wie Johannes erzählt, in seine Gesellschaft gezogen haben soll; hierauf aber, nachdem sie sich aus einer unbekannten Ursache wieder von ihm getrennt, hätte er sie noch einmal, wie wenn nichts vorangegangen wäre, am galiläischen See berufen, und als auch diese Einladung noch keine bleibende Verbindung hervorbrachte, hätte er zum drittenmal mit Hülfe eines Wunders sie zu seiner Nachfolge aufgefordert? Ihrer ganzen Anlage nach ist vielmehr die Erzählung bei Lukas so beschaffen, daſs auch sie ein früheres engeres Verhältniſs zwischen Jesu und seinen nachmaligen Jüngern ausschlieſst. Denn wenn sie ganz unbestimmt damit anhebt, Jesus habe zwei Schiffe am Ufer gesehen, deren Inhaber aus denselben gestiegen waren, um ihre Netze zu waschen, und erst hierauf als der Eigenthümer des einen dieser Fahrzeuge Simon namhaft gemacht wird: so klingt doch dieſs, wie Schleier - macher bündig gezeigt hat6)Über den Lukas, S. 70., völlig fremd, und nur wie auf ein jezt anzuknüpfendes Verhältniſs vorbereitend, nicht ein schon bestandenes voraussetzend, so daſs auch die von Lukas vorher erzählte Heilung der Schwiegermutter des Petrus entweder, wie so manche Heilungen Jesu, noch ohne Anknüpfung eines engeren Verhältnisses vorüberge - gangen, oder von Lukas (Matthäus hat sie später) zu früh gestellt sein muſs.

Es geht uns also auch mit dieser Erzählung des Lu - kas in ihrem Verhältniſs zu der des Matthäus und Markus, wie es uns mit der johanneischen Erzählung im Verhältniſs zu der leztern gieng, daſs nämlich keine von beiden weder vor noch nach der andern sich will einreihen lassen, daſs sie somit einander ausschlieſsen. Fragt sich hiebei, wer die richtige Erzählung gebe? so hat schon Schleiermacher538Zweiter Abschnitt.die des von ihm behandelten Evangelisten als die genauere vorgezogen, und neuestens hat Sieffert sehr emphatisch versichert, gewiſs habe noch Niemand daran gezweifelt, daſs die Erzählung des Lukas ein viel treueres Bild des ganzen Vorfalls gebe, indem sie sich durch eine Fülle specieller, anschaulicher und innerlich wahrer Züge höchst vortheilhaft von der Erzählung des ersten (und zweiten) Evangeliums unterscheide, welche ihrerseits durch Aus - lassung des eigentlich ergreifenden Hauptmoments (des Fischzugs) sich als von einem Nichtaugenzeugen herrüh - rend charakterisire7)Über den Ursprung des ersten kan. Ev. S. 73.. Ich habe mich diesem Kritiker schon an einem andern Orte8)Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1834. Nov. als denjenigen gestellt, der einen solchen Zweifel wagen wolle, und ich kann auch hier nur die Frage wiederholen: was ist wenn doch die eine der beiden Erzählungen durch mündliche Überliefe - rung entstellt sein soll dem Wesen der Tradition ange - messener, das wirklich geschehene Faktum des Fischzugs zum bloſsen Diktum von Menschenfischern verflüchtigt, oder diese ursprünglich allein vorhandene bildliche Rede zu jener Geschichte vergröbert zu haben? Die Antwort auf diese Frage kann nicht zweifelhaft sein. Denn seit wann wäre es doch in der Art der Sage, zu vergeistigen, Reales, wie eine Wundergeschichte ist, in Ideales, wie bloſse Reden, zu verwandeln? da doch nach der ganzen Natur der Bildungsstufe und der Geistesvermögen, wel - chen sie vorzugsweise angehört, die Sage darauf ausgehen muſs, dem flüchtigen Gedanken einen soliden Leib zu bauen, das leicht miſsverstehbare und schnell verhallende Wort als allgemein verständliche und unvergeſsliche Be - gebenheit zu fixiren.

Und wie leicht läſst sich erklären, wie aus der von den zwei ersten Evangelisten aufbewahrten Gnome die539Fünftes Kapitel. §. 67.Wundererzählung des dritten sich bilden konnte. Hatte Jesus seine Apostel, sofern einige derselben früher das Fischergewerbe getrieben hatten, als Menschenfischer be - zeichnet; hatte er das Himmelreich mit einer σαγήνῃ βλη - ϑείσῃ εἰς τὴν ϑάλασσαν verglichen, in welcher Fische al - ler Art gefangen werden (Matth. 13, 47 ff. ): so ergaben sich von selbst die Apostel als diejenigen, welche auf Jesu Wort dieses Netz auswarfen und in demselben den wun - derbar reichen Fischzug thaten. Nimmt man noch dazu, daſs die alte Sage ihre Wundermänner gerne mit Fisch - zügen zu schaffen haben lieſs, wie denn Porphyr und Jamblich etwas Ähnliches von Pythagoras erzählen9)Porphyr. vita Pythagorae, no. 25. ed. Kiessling; Jamblich. v. P. no. 36. ders. Ausg. Diese Geschichte darf hier verglichen werden, da sie als die weniger wunderbare schwerlich durch Nachbildung der evangelischen Erzählung, sondern unabhän - gig von derselben entstanden ist, und also auf eine gemein - same Neigung der alten Sage zu dergleichen Geschichten hinweist.: so ist nicht abzusehen, was der Ansicht noch entgegenste - hen könnte, daſs der Fischzug des Petrus nur die zur Wundergeschichte gewordene Gnome von den Menschen - fischern sei, wodurch zugleich alle Schwierigkeiten, wel - che die natürliche wie die supranaturale Auffassung der Erzählung drücken, mit Einem Schlage weggeräumt sind.

Einen ähnlichen wunderbaren Fischzug weiſs das vierte Evangelium aus den Tagen der Auferstehung Jesu zu berichten (K. 21). Gleichfalls auf dem galiläischen See fischt Petrus, wie dort in Begleitung der beiden Zebedai - den und einiger andern Jünger, die ganze Nacht hindurch, ohne etwas zu fangen10)Luc. 5, 5: δἰ ὄλης τῆς νυκτὸς κοπιάσαντες οὐδὲν ἐλάβομεν. Joh. 21, 3: καὶ ἐν ἐκείνῃ τῇ νυκτὶ ἐπίασαν οὐδέν.. Mit dem ersten Morgen kommt Jesus an das Ufer und fragt, von ihnen unerkannt, ob sie kein προσφάγιον haben? und als sie dieſs verneinen,540Zweiter Abschnitt.heiſst er sie rechts vom Schiffe das Netz auswerfen, wor - auf sie wirklich einen überaus reichen Fang thun, und daran Jesum erkennen. Daſs dieſs eine von der bei Lukas erzählten Begebenheit verschiedene sei, ist wegen der gros - sen Ähnlichkeit kaum denkbar, und ohne allen Zweifel ist dieselbe Geschichte durch die Tradition in verschiedene Theile des Lebens Jesu verlegt worden.

Vergleichen wir nun diese drei Fischzugsgeschichten, die beiden von Jesus erzählten und die von Pythagoras, so wird uns ihr mythischer Charakter vollends anschaulich. Was bei Lukas ohne Zweifel ein Wunder der Macht sein soll, ist in der jamblichischen Erzählung ein Wunder des Wissens, indem Pythagoras von den bereits auf natürli - chem Wege gefangenen Fischen nur die Zahl auf wunder - bare Weise anzugeben weiſs; zwischen beiden aber steht die johanneische Darstellung insofern in der Mitte, als auch in ihr, wenn gleich nicht als Vorherbestimmung des Wunderthäters, sondern nur als Angabe des Referenten die Zahl der Fische (153) eine Rolle spielt. Ein sagenhaf - ter Zug ist ferner die offenbare Übertreibung, mit wel - cher die Menge und Schwere der Fische geschildert wird, besonders wenn man auf die Variationen merkt, welche sich in dieser Hinsicht in den verschiedenen Erzählungen finden. Nach Lukas ist die Menge der Fische so groſs, daſs die Netze zerreissen, daſs Ein Schiff sie nicht faſst, und auch nach der Vertheilung in zwei Fahrzeuge beide zu sinken drohen. Daſs in Gegenwart des Wunderthäters die durch seine Wundermacht gefüllten Netze zerrissen sein sollten, will der Tradition im vierten Evangelium nicht recht einleuchten; da sie aber doch durch Hervorhebung der Menge und Schwere der gefangenen Fische das Wun - der heben will, so zählt sie dieselben, bestimmt sie als μεγάλους, und fügt hinzu, daſs die Männer das Netz οὐκ ἔτι ἑλκῦσαι ἴσχυσαν ἀπὸ τοῦ πλήϑους τῶν ἰχϑύων: statt nun aber durch ein Zerreissen der Netze aus dem mirakulösen541Fünftes Kapitel. §. 68.Zusammenhang zu fallen, weiſs sie geschickt ein zweites Wunder daraus zu machen, daſs τοσούτων ὄντων, ούκ ἐσχ[ί]σ - ϑη τὸ δίκτυον. Ein weiteres Wunder bietet Jamblich dar, welches übrigens bei ihm neben dem Wissen des Pytha - goras um die Zahl der Fische das einzige ist, daſs näm - lich während des Abzählens der Fische, wozu es doch bei ihrer groſsen Menge geraume Zeit brauchte, keiner derselben gestorben sei. Wem in diesen Vergleichungen nicht das Schalten und Walten der Sage, und damit auch der sagenhafte Charakter der evangelischen Erzählungen zur Anschauung kommt, sondern die Anhänglichkeit an die geschichtliche, sei es natürliche oder übernatürliche Fassung derselben bleibt: nun der muſs doch ebensowenig einen Begriff von Sage wie von Geschichte, von Natürli - chem wie von Übernatürlichem haben.

§. 68. Berufung des Matthäus. Gemeinschaft Jesu mit den Zöllnern.

Das erste Evangelium erzählt (9, 9 ff. ) von einem ἄνϑρωπος Ματϑαῖος λεγόμενος, statt dessen das zweite und dritte (2, 14 ff. 5, 27 ff. ) einen Λευῒν (τὸν τοῦ Ἀλφαίου bei Markus) haben, welchem, wie er an seiner Zollstätte saſs, Jesus das ἀκολούϑει μοι zurief, worauf er (nach Lu - kas Alles verlieſs) ihm nachfolgte und ein Mahl veranstal - tete, an welchem viele Zöllner und Sünder zum Anstoſs der Pharisäer Theil nahmen.

Wegen des verschiedenen Namens hat man schon ge - meint, es müssen hier zwei verschiedene Begebenheiten zum Grunde liegen1)s. bei Kuinöl, in Matth. p. 255.; doch jene Namensverschiedenheit wird weit überwogen von der Ähnlichkeit, welche darin liegt, daſs Matthäus wie die beiden andern diese Berufungs - geschichte zwischen die gleichen Begebenheiten hineinstellt, daſs beiderseits das Subjekt der Erzählung in die gleiche542Zweiter Abschnitt.Situation versezt, Jesu Anrede mit denselben Worten ge - geben, und ihr der gleiche Erfolg zugeschrieben wird2)Sieffert, a. a. O. S. 55.. Ist man daher jezt ziemlich allgemein einverstanden, daſs die drei Synoptiker blos Eine Begebenheit erzählen: so fragt sich nur, ob man darin nicht zu weit geht, daſs man zugleich annimmt, sie haben unter den verschiedenen Namen doch nur Eine Person, und zwar den Apostel Mat - thäus verstanden. Dieſs sucht man gewöhnlich durch die Voraussetzung denkbar zu machen, daſs Levi der eigent - liche, Matthäus nur der Beiname des Mannes gewesen sei3)Kuinöl, a. a. O. Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 513. L. J. 1, a, 240., oder daſs er nach seinem Übertritt zu Jesus jenen mit diesem vertauscht habe4)Bertholdt, Einleitung, 3, S. 1255 f. Fritzsche, S. 340.. Um zu einer solchen An - nahme berechtigt zu sein, müſsten wir eine Spur haben, daſs die Evangelisten, welche den hier berufenen Zöllner Levi nennen, darunter keinen andern verstehen, als den - jenigen, welchen sie im Apostelkataloge als Matthäus auf - führen. Allein nicht nur erwähnen sie hier (Marc. 3, 18. Luc. 6, 15. A. G. 1, 13.), wo mehrere Beinamen und Doppel - namen vorkommen, des Namens Levi als früherer oder eigentlicher Benennung des Matthäus nicht, sondern sie lassen bei ihrem Matthäus auch das[]τελώνης weg, wel - ches der erste Evangelist in seinem Kataloge (10, 3.) bei - sezt, zum deutlichen Beweiſs, daſs sie den Matthäus nicht mit dem vom Zolle weg berufenen Levi identisch denken5)vgl. Sieffert, S. 56..

Erzählen so die Evangelisten die Berufung von zwei verschiedenen Männern, aber auf ganz gleiche Weise: so ist, daſs beide Theile Recht haben sollten, deſswegen un - wahrscheinlich, weil schwerlich so ganz dieselbe Begeben - heit sich wiederholte, und muſs somit der eine Theil Un - recht haben, so hat man in dem Bericht des ersten Evan -543Fünftes Kapitel. §. 68.geliums den Übelstand finden wollen, daſs hier Matthäus erst ziemlich nach der Bergrede berufen werde, da doch nach Lukas (6, 13 ff. ) vor der Bergrede schon sämmtliche Zwölfe ausgewählt gewesen seien6)Sieffert, S. 60.. Allein dieſs würde höchstens nur beweisen, daſs das erste Evangelium jene Berufungsgeschichte unrichtig stelle, nicht aber, daſs es dieselbe auch falsch erzähle. Da es somit irrig ist, der Erzählung des ersten Evangelisten eigenthümliche Schwie - rigkeiten aufbürden zu wollen, ebensowenig aber in der der beiden andern sich dergleichen zeigen: so fragt es sich nur noch, ob sie von keinen gemeinsamen gedrückt wer - den, welche dann beide Berichte als unhistorisch erschei - nen lassen würden?

In dieser Hinsicht kann die genaue Analogie dieser Berufungsgeschichte mit der der beiden Brüderpaare be - denklich machen. Wie diese von den Netzen, so wird hier der Jünger von der Zollbank abgerufen; wie dort, so braucht es hier nichts weiter als das einfache: ἀκολούϑει μοι, und dieser Ruf des Messias hat über das Gemüth der Berufenen eine so unwiderstehliche Gewalt, daſs hier der Zöllner, wie dort die Fischer, καταλιπὼν ἄπαντα άναςὰς ἠκολούϑησεν αὐτῷ. Allerdings ist nicht zu leugnen, womit Fritzsche die Anklagen eines Julian und Porphyrius, Matthäus zeige sich hier leichtsinnig, zurückschlägt, daſs Matthäus Jesum, der damals schon längere Zeit in jenen Gegenden gewirkt hatte, längst gekannt haben müsse; aber eben je länger auch Jesus ihn schon beobachtet hatte, desto leichter konnte er eine Gelegenheit finden, den Mann allmählich und ruhig in seine Nachfolge zu ziehen, statt ihn so tumultuarisch mitten aus seinem Beruf herauszu - reissen. Freilich meint Paulus, es sei hier von keiner Berufung zur Jüngerschaft, von keinem plözlichen Ver - lassen des bisherigen Gewerbes die Rede, sondern Jesus544Zweiter Abschnitt.habe dem Freunde, der ihm für diesen Tag ein Mahl be - reitet hatte, nach geendigtem Lehrgeschäft nur bemerk - lich machen wollen, daſs er jezt bereit sei, mit ihm nach Hause und zur Tafel zu gehen7)Exeg. Handb. 1, b, S. 510. L. J. 1, a, 240.. Allein die Mahlzeit erscheint, namentlich bei Lukas, nicht als Grund, sondern als Folge jener Abberufung; zur Mahlzeit ferner wird ein bescheidener Gast dem Wirth der ihn geladen nur durch ein ἀκολουϑήσω σοι, nicht durch ein ἀκολούϑει μοι sich an - sagen; endlich wird ja bei dieser Auffassung die ganze Anekdote so bedeutungslos, daſs sie besser weggeblieben wäre8)Schleiermacher, über den Lukas, S. 79.. Somit bleibt das Jähe und Gewaltsame dieser Scene, und wir müssen sagen: dieſs ist nicht der Gang des wirklichen Lebens, noch das Verfahren eines Mannes, der, wie Jesus, die Gesetze und Formen der Wirklichkeit achtet, sondern das Verfahren der Sage und Poësie ist es, welche Contraste und ergreifende Scenen liebt, welche den Austritt eines Mannes aus einem früheren Lebens - kreise und den Eintritt in einen neuen durch die Wendung zu veranschaulichen sucht, derselbe habe das Werkzeug seines bisherigen Treibens weggeworfen, seine Werkstätte verlassen, um ein neues Leben zu beginnen. Die ge - schichtliche Grundlage mag also sein, daſs Jesus wirklich unter seinen Jüngern Zöllner hatte, und daſs namentlich Matthäus vielleicht einer war. Diese Männer hatten dann allerdings die Zollbank verlassen, um Jesu nachzufolgen, doch nur im tropischen Sinne dieser Redensart, und nicht, wie die Sage es malte, im eigentlichen.

Auch das ist nun erstaunlich rasch und promt, daſs der Zöllner alsbald ein groſses Mahl für Jesum in Bereit - schaft hat. Denn daſs dieses Mahl erst an einem der fol - genden Tage veranstaltet worden sei9)Gratz, Comm. z. Matth. 1, S. 470., ist ganz gegen545Fünftes Kapitel. §. 68.die Erzählungen, namentlich die beiden ersten. Dagegen ist es völlig im Ton der Sage, des Zöllners Freude und Jesu Herablassung gegen ihn dadurch auszudrücken, und zu - gleich die folgenden Vorwürfe wegen der Sünderfreund - schaft dadurch anzuknüpfen, daſs sie unmittelbar auf die Be - rufung ein groſses Zöllnermahl bei dem Berufenen fol - gen lieſs.

Besondere Aufmerksamkeit verdient bei dieser Erzäh - lung noch der Umstand, daſs, nach der gewöhnlichen Vor - aussetzung über den Verfasser des ersten Evangeliums, in diesem Matthäus selbst die Geschichte seiner Berufung er - zählen würde. Daſs nun positive Spuren hievon in der Erzählung sich keine finden, ist als eingestanden anzuneh - men, und es fragt sich daher nur, ob keine negativen vor - handen sind, die jene Annahme unmöglich machen? Daſs der Evangelist hier nicht in der ersten Person von sieh re - det, und nicht sofort diejenigen Begebenheiten, welche er selbst miterlebte, in der ersten Person des Plural, wie der Verfasser der A.G., vorträgt, dieſs freilich kann noch nichts beweisen, da auch ein Cäsar und andre Historiker von sich in der dritten Person schreiben, und das Wir des Pseudomatthäus im Ebionitenevangelium gerade höchst verdächtig klingt. Aber daſs er sich selbst durch den al - lerfremdesten Ausdruck: ἂνϑρωπον, Ματϑαῖον λεγόμενον bezeichnet, dieſs geht doch darüber hinaus, aus treuer Hin - gabe an den Gegenstand und naiver Reflexionslosigkeit er - klärt werden zu können10)Olshausen, 1, S. 315., und man wird es mit Schulz11)Über das Abendmahl, S. 308. als ein Zeichen ansehen müssen, daſs der Verfasser des ersten Evangeliums nicht eben dieser Matthäus war. Auch das Übrige erzählt das erste Evangelium weit weniger an - schaulich, als namentlich das dritte; man weiſs dort nicht, wie auf einmal von einem ἀνακεῖσϑαι ἐν τῇ οἰκίᾳ die Re -Das Leben Jesu I. Band. 35546Zweiter Abschnitt.de sein kann, da doch der erste Evangelist, wenn er selbst der gastgebende Zöllner war, seine Freude über die Beru - fung gewiſs auch in der Erzählung noch dadurch hätte hervortreten lassen, daſs er, wie Lukas, ausdrücklich be - merkt hätte, wie er alsbald eine δοχὴν μεγάλην in seinem Hau - se veranstaltet habe. Sagt man, er habe dieſs aus Beschei - denheit nicht so ausdrücklich sagen mögen, so zieht man einen derben Galiläer jener Zeit in die Ziererei des schwäch - lichsten modernen Bewuſstseins herunter.

An das Mahl bei'm Zöllner, an welchem viele Berufs - genossen desselben Theil nahmen, knüpfen die Evangeli - sten Vorwürfe, welche die φαρισαῖοι und γραμματεῖς gegen Jesu Jünger geäussert haben, daſs ihr Lehrer μετὰ τελωνῶν καὶ ὰμαρτωλων esse, worauf Jesus, der den Tadel hatte hören können, die bekannten Gnomen von der Bestimmung des Arztes für Kranke und des Menschensohns für Sünder zu - rückgab (Matth. 9, 11 ff. parall.). Daſs Vorwürfe über zu groſse Gemeinschaft mit dem verachteten Stande der Zöllner Jesu nicht selten von seinen pharisäischen Gegnern gemacht wurden (vgl. Matth. 11, 19.), liegt ganz in dem Wesen seiner Stellung, und ist also, wenn irgend etwas, historisch; so wie die Jesu hier in den Mund gelegte Be - antwortung jener Vorwürfe durch ihren coneisen, gnomi - schen Charakter sich ganz zu wörtlicher Aufbewahrung in der Überlieferung eignete. Daſs jener Anstoſs nament - lich auch dadurch erregt worden sei, daſs Jesus mit Zöll - nern speiste und unter ihr Dach g〈…〉〈…〉 ng, hat gleichfalls kei - ne Unwahrscheinlichkeit gegen sich. Aber daſs nun die Vorwürfe der Gegner sich unmittelbar an das Zöllnermahl angeschlossen haben sollen, wie es nach unsrer Erzählung den Schein gewinnt, wenn es namentlich bei Markus (V. 16.) heiſst: καὶ οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ φαρισαῖοι ἰδόντες αὐτον ἐσϑίοντα ἔλεγον τοῖς μαϑηταῖς, dieſs will sich schon nicht ebensogut denken lassen. Denn da die Mahlzeit, an welcher auch die Jünger Theil nahmen, ἐν τῇ ο[]κίᾳ war,547Fünftes Kapitel. §. 68.wie konnten die Pharisäer diesen noch während des Es - sens solche Vorwürfe machen, ohne durch εἰσελϑεῖν παρὰ άμαρτωλῷ sich ebenso zu verunreinigen, wie sie es Jesu Luc. 19, 7.) vorwarfen? und draussen gewartet, bis das Mahl zu Ende wäre, werden die Pharisäer doch auch nicht haben. Daſs aber die evangelische Erzählung nur einen causalen, keinen Zeitzusammenhang zwischen dem Zöllner - mahl und dem pharisäischen Tadel statuire, kann schwer - lich auch nur von der Darstellung bei Lukas mit Schleier - macher12)Über den Lukas, S. 77. behauptet werden. Kann nun diese unmittel - bare Verknüpfung nicht historisch sein, so ist sie doch ganz trefflich sagenhaft, und man wüſste kaum, wie das abstrak - te Datum, daſs an dem freundlichen Verkehr Jesu mit den Zöllnern die Pharisäer Anstoſs genommen, und dieſs bei verschiedenen Gelegenheiten ausgesprochen haben, sich in der Alles in's Concrete umbildenden Sage anders hätte dar - stellen können, als so: Jesus speiste einmal in eines Zöll - ners Hause mit vielen Zöllnern; das sahen die Pharisäer, traten zu den Jüngern und machten ihnen Vorwürfe, wel - che auch Jesus hörte und alsbald lakonisch genug beant - wortete.

Ganz dasselbe Verhältniſs behandelt auch eine andre Erzählung, welche dem Lukas eigenthümlich ist (19, 1 10.. Wie Jesus auf seiner lezten Festreise durch Jericho kommt, war ein αρχιτελώνης Zacchäus, um ihn in dem Volksge - dränge bei seiner kleinen Statur doch sehen zu können, auf einen Baum gestiegen, wo ihn Jesus bemerkte, und ihn sogleich würdig fand, das Nachtquartier bei ihm zu neh - men. Auch hier erregt dieſs Anschlieſsen an einen Zöllner die Unzufriedenheit der strengerdenkenden Zuschauer, wor - auf, nachdem noch Zacchäus wohlthätige Gelübde für die Zukunft gethan, Jesus durch eine ähnliche Gnome wie oben antwortet. Bei dieser Erzählung kann zwar die verführe -35*548Zweiter Abschnitt.rische Anschaulichkeit der Scene für ihren historischen Charakter zu sprechen scheinen: doch enthält auch sie Ei - niges, was bedenklich machen muſs. Nämlich die Erzäh - lung lautet gar nicht so, als ob Jesus von dem Manne schon vorher gewuſst, und jezt ihm Jemand denselben mit Nennung des Namens gezeigt hätte13)Paulus, exeg. Handbuch 3, a, S. 48. Kuinöl, in Luc. p. 632., sondern Olshausen hat Recht, wenn er die Kenntniſs, die hier Jesus plözlich von Zacchäus zeigt, auf sein Vermögen zurückführt, ohne Zeugniſs Andrer zu wissen, was im Menschen war14)a. a. O. S. 764.. Aber eben hiedurch fällt wenigstens dieser Zug dem Sa - genhaften anheim, und die Erzählung könnte als eine Va - riation über das auch in der Berufungsgeschichte des Mat - thäus mitbehandelte Thema, das freundliche Verhältniſs Je - su zu den Zöllnern, erscheinen.

§. 69. Die zwölf Apostel.

Die Männer, deren Berufung bisher betrachtet wor - den ist, die Jonaiden, die Zebedaiden, sammt Philippus und Matthäus, den einzigen Nathanaël ausgeschlossen, bil - den die Hälfte desjenigen engeren Kreises von Schülern Jesu, welcher unter dem Namen οἱ δώδεκα, οἱ δώδεκα μα - ϑηταὶ oder ἀπόςολοι, durch das ganze N. T. hindurchgeht. Die zum Grunde liegende Vorstellung von diesen Zwölfen ist, daſs Jesus selbst sie ausgewählt habe (Marc. 3, 13 f. Luc. 6, 13. Joh. 6, 70. 15, 16.). Matthäus zwar erzählt uns die Geschichte der Auswahl sämmtlicher Zwölfe nicht, sondern sezt sie stillschweigend voraus, indem er 10, 1. diesel - ben schon als feststehendes Collegium einführt. Lukas hin - gegen erzählt (6, 12 ff. ), wie nach einer auf dem Berge im Gebete durchwachten Nacht Jesus aus dem weiteren Kreise seiner Anhänger Zwölfe ausgewählt habe, und hierauf mit ihnen von der Höhe herabgestiegen sei, um die sogenannte549Fünftes Kapitel. §. 69.Bergrede zu halten. Auch Markus (a. a. O.) berichtet in dem - selben Zusammenhang, daſs Jesus auf einem Berge aus der gröſseren Anzahl seiner Schüler nach beliebiger Auswahl zwölf Männer berufen habe.

Daſs nun Jesus nach der Darstellung des Lukas ge - rade vor der Bergrede und mit Beziehung auf dieselbe die Zwölfe ausgewählt habe, davon läſst sich kein Grund ent - decken, indem diese Rede weder besonders auf sie berech - net ist1)Schleiermacher, über den Lukas, S. 85., noch sie bei Abhaltung derselben eine Funktion haben konnten; die Darstellung bei Markus aber sieht so ganz darnach aus, nach dem ganz unbestimmten Datum, daſs Jesus die Zwölfe ausgewählt habe, aus eigner Phan - tasie gemacht zu sein, daſs aus ihr über die eigentliche Veranlassung und Art dieser Auswahl keine Belehrung zu entnehmen ist2)Vgl. dens. ebendas., und Matthäus noch am besten zu thun scheint, wenn er die eigentliche Berufungsscene, ohne sie zu schildern, blos voraussezt, wie auch Johannes, ohne vorher einer Auswahl gedacht zu haben, auf einmal (6, 67.) von den δώδεκα zu sprechen anfängt.

Wird so, daſs Jesus selbst die Zwölfzahl der Apostel festgestellt habe, in den Evangelien eigentlich immer nur vorausgesezt: so fragt sich, ob die Voraussetzung richtig ist? Zwar, daſs zu Jesu Lebzeiten schon jene Zahl sich fixirt hatte, scheint dadurch unumstöſslich zu werden, daſs nicht nur nach der Darstellung der Apostelgeschichte die Zwölfe gleich nach Jesu Himmelfahrt als ein so geschlossenes Corps auftreten, daſs sie die durch den Abgang des Judas ent - standene Lücke alsbald durch eine neue Wahl ausfüllen zu müssen glauben (1, 15 ff. ), sondern auch Paulus (1 Cor. 15, 5.) von einer τοῖς δώδεκα zu Theil gewordenen Erscheinung des Auferstandenen spricht. Das aber hat namentlich Schlei - ermacher gefragt, ob Jesus selbst die Zwölfe ausgewählt,550Zweiter Abschnitt.und nicht vielmehr das besondre Verhältniſs von Zwölfen aus dem Kreise seiner Anhänger zu ihm sich allmählich von selbst gemacht habe3)a. a. O. S. 88.? Daſs nun die Wahl der Zwölfe in Einem besondern feierlichen Akte vor sich gegangen wäre, dafür haben wir nach dem Bisherigen nicht nur kei - ne Bürgschaft, sondern die Evangelien selbst lassen ja Sech - se von ihnen einzeln und paarweise bei verschiedenen An - lässen berufen werden; eine andre Frage aber ist, ob nicht doch die Zwölfzahl eine von Jesu selbst bestimmte gewe - sen sei, er also mit Vergrösserung seines nächsten Gefol - ges bei dieser Zahl absichtlich inne gehalten habe? Zufäl - lig kann dieselbe um so weniger sein, je bedeutsamer sie ist, und je leichter sich nachweisen läſst, was Jesum be - wogen haben mag, sie zu wählen. Er selbst, wenn er Matth. 19, 28. den Jüngern verheiſst: καϑίσεσϑε ἐπὶ δώδεκα ϑρό - νους, κρίνοντες τὰς δώδεκα φυλὰς τοῦ Ἰσραὴλ, giebt der Zahl derselben eine Beziehung auf die Zahl der Stämme seines Volks, und das höchste christliche Alterthum war der An - sicht, daſs er sie in dieser Beziehung gewählt habe4)Ep. Barnab. 8, und das Evangelium der Ebioniten bei Epi - phanius, haer. 30, 13.. War er und seine Jünger zunächst gesandt εἰς τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραὴλ (Matth. 10, 6. 15, 24.): so konnte es angemessen scheinen, die Zahl der auszusendenden Hir - ten nach der Zahl der hirtenlosen (Matth. 9, 36.) Stämme fest - zusetzen.

Die Bestimmung dieser Zwölfe wird Joh. 15, 16. nur ganz allgemein, Marc. 3, 14 f. dagegen genauer und ohne Zweifel richtig angegeben. Ἐποίησε δώδεκα, heiſst es hier, 1) ἵνα ὦσι μετ 'αὐτοῦ, d. h. um einerseits auf seinen Reisen nicht ohne Gesellschaft, Hülfe und Bedienung zu sein, wie sie ihm denn vielfältig zu Bestellung von Quartier (Luc. 9, 52. Matth. 26, 17 f.), zu Herbeischaffung von Lebens -551Fünftes Kapitel. §. 69.mitteln (Joh. 4, 8.) und andern Reisebedürfnissen (Matth. 21, 1 ff. ) behülflich waren; andrerseits sollten sie in sei - ner Gesellschaft herangebildet werden zu γραμματεῖς μαϑη - τευϑέντες εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν (Matth. 13, 52.), zu welchem Behufe ihnen Gelegenheit gegeben war, theils Jesu meisten Lehrvorträgen anzuwohnen, und selbst noch besondre Aufschlüsse über dieselben sich von ihm zu er - bitten (Matth. 13, 10 ff. 36 ff. ), theils durch seine ebenso freundliche als strenge Zucht ihre Gesinnung zu läutern (Matth. 8, 26. 16, 23. 18, 1 ff. 21 ff. Luc. 9, 50. 55 f. Joh. 13, 12 ff. u. s.), theils endlich durch den Anblick sei - nes Vorbildes sich zu heben (Joh. 14, 9). Daran schlieſst sich sofort das Zweite an, was dort als Zweck der Erwäh - lung der Zwölfe namhaft gemacht wird, ἵνα ἀποςέλλῃ αὐτοὺς κηρύσσειν, nämlich τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν (womit in der Stelle bei Markus noch die ἐξουσία ϑεραπεύειν τὰς νόσους καὶ ἐκβάλλειν τὰ δαιμόνια verbunden ist, ein Punkt, von welchem erst später die Rede werden kann).

Eben von dieser Bestimmung hatten sie auch den aus - zeichnenden Namen ἀπόςολοι (Matth. 10, 2. Marc. 6, 30. Luc. 6, 13 u. s.). Man hat gezweifelt, ob wirklich nach Luc. 6, 13. dieser Name den Zwölfen von Jesus selbst schon beigelegt gewesen, und nicht vielleicht erst später ex eventu aufgekommen sei5)Schleiermacher, a. a. O. S. 87.? Allein, daſs Jesus sie seine Abgesandten genannt habe, kann nichts Unwahr - scheinliches haben, wenn er sie wirklich schon (Matth. 10, 5 ff. parall. ) auf eine Reise zur Verkündigung des na - henden Messiasreiches ausgesendet hat. Freilich könnte man eben auch diese Sendung dafür ansehen, aus der Zeit nach Jesu Tod in seine Lebzeiten zurückgetragen zu sein, um von der nachherigen Mission der Apostel ein Vorspiel noch unter Jesu Augen vorgehen zu lassen: indeſs da es gar nichts Unwahrscheinliches hat, daſs Jesus, vielleicht552Zweiter Abschnitt.sogar schon ehe er sich selbst als den Messias gefasst hatte, Boten des nahenden Messiasreichs ausgesendet habe, so sind wir zu einem solchen Zweifel schwerlich berechtigt.

Wie Johannes nichts von dieser Missionsreise der Synoptiker: so wissen diese nichts davon, was Johannes sagt, daſs schon zu Lebzeiten Jesu seine Jünger getauft haben (4, 2.), sondern erst nach der Auferstehung, wie es scheint, giebt er ihnen hier zum Taufen die Vollmacht (Matth. 28, 19 parall.). Da jedoch der Taufritus schon von Johannes eingeführt war, so ist es, je mehr Jesus von Anfang an nur in dessen Fuſsstapfen zu treten beab - sichtigte, um so wahrscheinlicher, daſs auch er mit seinen Jüngern sich der Taufe bedient habe, und nicht dieses positive Datum des vierten Evangeliums möchte zu be - zweifeln sein, vielmehr das negative, daſs Ἰησοῦς αὐτὸς οὐκ ἐβάπτιζεν (4, 2.), eine Notiz, die überdieſs sehr nach - träglich auf ein wiederholtes ἐβάπτιζεν und βαπτίζει Ἰη - σοῦς (3, 22. 4, 1.) als Einschränkung folgt, könnte man aus der Tendenz des vierten Evangeliums, Jesum auf das Ent - schiedenste über den Täufer zu stellen, also aus einer Scheue, den Messias selbst die Funktion des bloſsen Vor - läufers ausüben zu lassen, erklären, unerachtet freilich bald hernach gerade dieſs der Kirche viele Skrupel machte, daſs Jesus nicht wenigstens die Apostel getauft haben sollte.

Ausser jener Missionsreise gedenken die Evangelien keiner längeren Entfernung der Zwölfe von Jesu. Nur der Eifer harmonisirender Theologen, welche nach der ersten Berufung noch für eine zweite und dritte Raum gewinnen wollten, auf der einen, und die Bemühung prag - matischer Ausleger auf der andern Seite, das Auskommen so vieler unbemittelten Männer dadurch begreiflicher zu machen, daſs man sie dazwischen hinein wieder durch Arbeit etwas verdienen lieſs, konnte aus den Evangelien solche Unterbrechungen des Zusammenseins Jesu mit den553Fünftes Kapitel. §. 70.Zwölfen herauslesen. Was nun das Auskommen Jesu und seiner Gesellschaft betrifft, so liegen in der Gastfreundlich - keit des Orients, welche bei den Juden besonders dem Rabbinen zu Gute kam; in der Begleitung begüterter Frauen, αἴτιυες διηκόνουν αὐτῷ ἀπὸ τῶν ὑπαρχόντων αὐταῖς (Luc. 8, 2 f.); endlich in dem nur vom vierten Evangelisten er - wähnten γλωσσόκομον (12, 6. 13, 29.), aus welchem neben den Bedürfnissen der Gesellschaft auch noch den Armen Unterstützung gereicht werden konnte, und in welches, wie wir denken müssen, bemittelte Freunde Jesu Beiträge gaben, wie es scheint, Subsistenzmittel genug. Wer diese jedoch entweder ohne eigenen Erwerb der Jünger nicht für zureichend hält, oder überhaupt eine gänzliche Los - sagung der Zwölfe von ihren bürgerlichen Geschäften nicht wahrscheinlich findet, der muſs nur seine Ansicht nicht auch den Evangelien aufzwingen wollen, welche vielmehr durch das groſse Gewicht, welches sie auf das ἀφήκαμεν πάντα von Seiten der Apostel legen (Matth. 19, 27 ff. ) deutlich die entgegengesezte zu erkennen geben.

So weit uns über den Stand der zwölf Jünger Jesu etwas aufbehalten ist, gehörten sie sämmtlich der niederen Klasse an: vier Fischer und ein Zolleinnehmer, und auch für die übrigen macht die Bildungsstufe, welche sie zei - gen, so wie Jesu überall sich äussernde Vorliebe für die πτωχοὺς und νηπίους (Matth. 5, 3. 11, 5. 25. ) wahrschein - lich, daſs sie aus ähnlichem Stande gewesen seien.

§. 70. Die Zwölfe einzeln betrachtet. Die drei oder vier vertrautesten Jünger Jesu.

Wir haben im N. T. vier Apostelkataloge, je bei den drei Synoptikern einen und einen in der Apostelgeschichte (Matth. 10, 2 4. Marc. 3, 16 19. Luc. 6, 14 16. A. G. 1, 13). Jedes der vier Verzeichnisse läſst sich in drei Te - traden theilen, deren Flügelmänner, und bei der lezten554Zweiter Abschnitt.auch der abschlieſsende (A. G. 1, 13. wo er fehlt, abge - rechnet,) durchweg dieselben, die übrigen, doch innerhalb derselben Tetraden, verschieden geordnet sind, in der lezten aber selbst eine Namens - oder Personendifferenz sich findet.

Voran der ersten Tetrade und dem ganzen Kataloge steht in allen Verzeichnissen, und zwar im ersten mit dem Beisaz: πρῶτος, Simon Petrus, Sohn von Jonas (Matth. 16, 17.), nach dem vierten Evangelium von Bethsaida (1, 45.), nach den synoptischen in Kapernaum ansäſsig, (Matth. 8, 14 parall.)1)Wenn πόλις Ἀνδρέου καὶ Πέτρου Joh. 1, 45. dasselbe be - deutet, wie ἰδία πόλις Matth. 9, 1.: so findet hier ein Widerspruch zwischen Johannes und den Synoptikern statt.. Hier klingt bei protestantischen Auslegern noch die alte Polemik nach, wenn sie diese Stellung ent - weder für bloſsen Zufall ausgeben2)Fritzsche, in Matth. p. 358., wogegen die Über - einstimmung aller vier, sonst in der Anordnung variirenden Verzeichnisse in der Stellung des Petrus ist; oder sie daraus erklären, daſs Petrus zuerst berufen worden sei3)s. dens. ebendas., was nach dem vierten Evangelium nicht einmal richtig wäre. Daſs dieses durchgängige Voranstellen einen gewis - sen Vorrang des Petrus unter den Zwölfen bedeute, wird auch aus seiner sonstigen Erscheinung in der evangeli - schen Geschichte offenbar. Mit dem Feuer seines Wesens ist er überall den andern voran, sowohl wo es zu spre - chen (Matth. 16, 20. Joh. 6, 68 u. s.), als wo es zu han - deln gilt (Matth. 14, 28. Joh. 18, 10.), und wenn dieſs zwar nicht selten ein verfehltes Reden und Thun ist, und der eben gezeigte Muth ihm oft schnell wieder verfliegt, wie seine Verläugnung zeigt, so ist doch nach der synop - tischen Darstellung er auch der Erste, welcher die Mes - sianität Jesu ausspricht (Matth. 16, 16 parall.). Von den bei dieser Gelegenheit ihm ertheilten Lobsprüchen und555Fünftes Kapitel. §. 70.Vorzügen bleibt übrigens nur der zunächst an seinen Bei - namen geknüpfte ihm eigenthümlich; die Befugniſs des δέειν und λύειν, d. h. des Verbietens und Erlaubens4)vgl. Lightfoot z. d. St. im neuerrichteten Messiasreich, wird bald nachher (18, 18.) auf alle Apostel ausgedehnt.

Auf den Petrus läſst der Katalog des ersten und drit - ten Evangeliums seinen Bruder Andreas folgen, der des zweiten Evangeliums und der Apostelgeschichte den Ja - kobus und nach ihm den Johannes. Die ersteren offenbar von der Rücksicht geleitet, die Brüderpaare zusammenzu - stellen: die beiden andern von dem Gesichtspunkt aus, die zwei an Auszeichnung dem Petrus zunächst Stehenden dem minder hervortretenden Andreas vorzusetzen, welchen sie deſshalb zum lezten der ersten Tetrade machen. Wie diese Viere in der christlichen Sage durch eine besondre Be - rufungsgeschichte ausgezeichnet worden sind, ist bereits erwogen worden. Sonst stehen sie bei Markus noch einige - male beisammen: zuerst 1, 29, wo Jesus in Begleitung der beiden Zebedaiden in das Haus des Petrus und Andreas tritt, was aber, da die andern Referenten hier nur des Petrus gedenken, vielleicht nur ein Zusatz des Markus aus eignen Mitteln ist, indem er schloſs, die vier kurz zuvor berufenen Fischer werden Jesum auch dorthin begleitet, und an des Petrus Hause werde auch sein Bruder Andreas Antheil gehabt haben5)vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 55 ff.. Noch einmal stehen die Viere Marc. 13, 3. beisammen, wo Jesus das Orakel über die Zerstörung des Tempels und seine Parusie eben ihnen κατ 'ἰδίαν mittheilt. Allein die Parallelen haben hievon nichts, und wenn wir bei Matthäus (24, 3.) lesen: προσῆλϑον αὐτῷ οἱ μαϑηταὶ κατ' ἰδίαν: so sehen wir schon, daſs Markus nur durch einen Irrthum zu jener Angabe gekommen ist. Das κατ 'ἰδίαν nämlich, welches er in dem von ihm benüzten Be -556Zweiter Abschnitt.richte zur Unterscheidung der Zwölfe von dem Volke vor - fand, klang ihm als Einleitungsformel, wie es sonst vor - zukommen pflegt (Matth. 17, 1. Marc. 9, 2.) zu einer Pri - vatconferenz Jesu mit Petrus, Jakobus und Johannes, zu welchen er dann, der Brüderschaft wegen, wie es scheint, noch den Andreas sezte, wie umgekehrt Lukas (5, 10.) bei der Erzählung vom Fischfang und der Berufung den Andreas, welchen die beiden andern haben, wegläſst, weil er sonst in dem engeren Ausschuſs aus den Zwölfen nicht erscheint, sondern nur noch Joh. 6, 9. 12, 22. ohne be - sondre Bedeutung vorkommt.

Neben Petrus treten sonst nur die beiden Zebedaiden noch mit Auszeichnung hervor. Sie zeigen einen ähnli - chen feurigen, aber der Mäſsigung bedürftigen Eifer wie Petrus (Luc. 9, 54.; einmal auch Johannes allein, Marc. 9, 38. Luc. 9, 49.), welchem sie den ihnen von Jesu bei - gelegten Namen בני רגש, υἱοὶ βροντῆς (Marc. 3, 17.) ver - dankten, und standen unter den Zwölfen so hoch, daſs sie für sich (Marc. 10, 35 ff. ) oder ihre Mutter für sie (Matth. 20, 20 ff. ) auf die ersten Plätze im Reiche Jesu Anspruch machen zu können glaubten. Bemerkenswerth ist, daſs nicht nur in allen vier Katalogen, sondern auch wo die beiden Brüder sonst zusammen genannt werden, wie Matth. 4, 21. 17, 1. Marc. 1, 19. 29. 5, 37. 9, 2. 10, 35. 13, 3. 14, 33. Luc. 5, 10. 9, 54., mit Ausnahme von Luc. 8, 51. 9, 28. immer Jakobus zuerst genannt und Johannes gerne als ἀδελφὸς αὐτοῦ an ihn angelehnt erscheint. Man wundert sich hierüber, weil, während man von Jakobus nichts Besonderes weiſs, Johannes als der Lieblingsjünger Jesu bekannt ist. Da demnach, wie man glaubt, dieses Voranstellen unmöglich einen Vorzug des Jakobus vor Jo - hannes bezeichnen kann, so sucht man es daraus zu erklä - ren, daſs Jakobus vielleicht der Ältere gewesen sei6)Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 556.. 557Fünftes Kapitel. §. 70.Indessen fragt es sich sehr, ob ein so durchgängiges Vor - anstellen nicht auch auf einen Vorzug des Jakobus deute, oder ob, wenn bei den Synoptikern Johannes ebenso wie im vierten Evangelium als der Lieblingsjünger vorgestellt wäre, er nicht, wenn gleich der jüngere, seinem Bruder Jakobus vorgesezt sein würde? Dieſs führt uns auf eine Differenz zwischen den drei ersten Evangelien und dem vierten, welche noch näher erwogen werden muſs.

Bei den Synoptikern bildet, wie gesagt, Petrus mit Jakobus und Johannes den engeren Ausschuſs aus den Zwölfen, welchen Jesus zu einigen Scenen beizieht, deren richtiger Auffassung die übrigen nicht gewachsen schienen, wie die Verklärung auf dem Berge, der Kampf in Gethse - mane, und nach Markus (5, 37.) die Auferweckung der Tochter des Jairus7)Diess beruht indessen ohne Zweifel wieder auf einem blossen Schlusse des Markus. Weil Jesus die unberufene Menge weg - trieb und die Mittheilung des Vorfalls verbot, so sah der Evangelist hier einen jener geheimen Vorgänge, zu welchen Jesus sonst nur jene Drei mitzunehmen pflegte.. Auch nach Jesu Tod erscheinen ein Jakobus, Petrus und Johannes als ςύλοι der Gemeinde (Gal. 2, 9.); aber dieser Jakobus ist nicht der schon frühe (A. G. 12, 2.) hingerichtete Zebedaide, sondern der auch bei'm ersten Apostelconcil mit vorwiegender Auktorität auf - getretene Bruder des Herrn (Gal. 1, 19.), welchen Manche für den zweiten Jakobus der Apostelverzeichnisse halten8)Diesen Dreien, glaubte man in der ältesten Kirche, habe Je - sus die γνῶσις zu geheimer Überlieferung mitgetheilt. S. bei Gieseler, K. G. 1, S. 234., und auch schon im Anfang der Apostelgeschichte tritt der Zebedaide hinter Petrus und Johannes zurück. Da sich auf diese Weise der ältere Jakobus in der ersten Gemeinde nicht auszeichnete, und auch nicht bekannt ist, daſs er wegen seines frühen Märtyrertods besonders hoch geprie - sen worden wäre, also die Sage keine Veranlassung hatte,558Zweiter Abschnitt.aus späterem Erfolg auf das Verhältniſs des Mannes zu Jesu einen unhistorischen Glanz zurückzutragen: so ist kein Grund vorhanden, die Nachricht von der ausgezeich - neten Stellung, welche Jakobus sammt Petrus und Johan - nes zu Jesu gehabt haben soll, in Zweifel zu ziehen.

Um so mehr muſs man sich wundern, im vierten Evangelium das Triumvirat dieser Männer beinahe zur Monarchie umgewandelt zu sehen, indem Jakobus, gleich - sam als ein Lepidus, geradezu entlassen ist, zwischen Petrus aber und Johannes, wie zwischen Antonius und Octavian, die Sache so steht, daſs der leztere nahe daran ist, den ersteren aus allen Ansprüchen an höheren oder auch nur gleichen Rang mit ihm verdrängt zu haben. Von Jakobus wird selbst der Name im vierten Evangelium nicht genannt, nur im Anhang (21, 2.) kommen einmal οἱ τοῦ Ζεβεδαίοῦ zusammen vor; während mehrere Berufungs - geschichten, wahrscheinlich auch die des Johannes, mit - getheilt werden, ist von der des Jakobus nicht die Rede; auch tritt er nirgends, wie manche einzelne Apostel in diesem Evangelium, redend auf. Ein anderes ist das Verfahren des vierten Evangelisten mit Petrus. Er läſst ihn gleichfalls unter den ersten in die Gesellschaft Jesu kommen, auch nicht seltener als die Synoptiker bedeutend hervortreten; er verbirgt es nicht, daſs Jesus ihm einen ehrenden Bei - namen ertheilt habe (1, 43); er legt ihm (6. 68 f.) ein Be - kenntniſs in den Mund, welches nur als Variation des berühmten, Matth. 16, 16, erscheint; auch nach ihm wirft sich Petrus einmal, um schneller zu Jesu zu kommen, in das Meer (21, 7.); bei dem lezten Mahle und im Garten Gethsemane läſst er den Petrus selbst noch thätiger sein, als die Synoptiker (13, 6 ff. 18, 10 f.); er nimmt ihm die Ehre nicht, Jesu in den hohenpriesterlichen Palast ge - folgt (18, 15.) und nach der Auferstehung unter den er - sten zum Grabe Jesu gegangen zu sein (20, 3 ff. ); ja selbst noch eine besondre Unterredung des Auferstandenen mit559Fünftes Kapitel. §. 70.Petrus weiſs er zu erzählen (21, 15 ff). Doch auf eigen - thümliche Weise werden im vierten Evangelium diese Vor - züge des Petrus verkümmert und zu Gunsten des Johan - nes in Schatten gestellt. Lassen die Synoptiker den Petrus und Johannes auf gleiche Weise und jenen noch etwas früher als diesen von Jesus berufen werden: so gesellt der vierte Evangelist zu dem Ungenannten, welcher den Johannes vorstellen soll, lieber den Andreas, und läſst den Petrus nur durch Vermittlung dieses Bruders zu Jesu kommen9)Auch Paulus, L. J. 1, a, S. 167 f. bemerkt, wie der vierte Evangelist diess absichtlich hervorzuheben scheine.; zwar, daſs von dem Beinamen: Petrus die eh - rende Auslegung und bei dem Bekenntniſs Petri die Belo - bung weggelassen ist, hat das vierte Evangelium mit den beiden mittlern gemein; dagegen gehört, was nach dem johanneischen Evangelium Petrus bei'm lezten Mahle und im Garten Besonderes thut, nur unter die Kategorie der Miſsgriffe. Je näher man der Katastrophe rückt, desto mehr findet man jenes eigenthümliche Subordinationsver - hältniſs des Petrus zu Johannes hervorgehoben. Schon bei'm lezten Mahle zeigt sich zwar Petrus um Entdeckung des Verräthers besonders bemüht: aber er kann sich nicht unmittelbar an Jesum wenden, sondern muſs die Vermitt - lung des Johannes, der έν τῷ κόλπῳ τοῦ Ἰησοῦ liegt, anru - fen (13, 23 ff. ); gieng den ersten Evangelien zufolge der einzige Petrus Jesu in den hohenpriesterlichen Palast nach: so geht nach dem vierten auch Johannes mit, und zwar so, daſs ohne ihn auch Petrus nicht hineingekonnt hätte, indem Johannes als γνωςὸς τῷ ἀρχιερεῖ ihn einführen muſs (18, 15 f.); unter das Kreuz, wohin die Synoptiker keinen Jünger sich wagen lassen, stellt das vierte Evangelium den Johannes, und läſst ihn daselbst in ein Verhältniſs zu der Mutter Jesu treten, von welchem jene nichts wissen (19, 26 f.); bei der Erscheinung des Auferstandenen am560Zweiter Abschnitt.galiläischen See wirft sich Petrus als der ϑερμότερος nur dann erst in das Meer, nachdem Johannes, als der διορα - τικώτερος (Euthym. ) in dem am Ufer Stehenden den Herrn erkannt hatte (21, 7.); bei der darauf folgenden Unterre - dung wird zwar allerdings Petrus durch den Auftrag: βόσκε τὰ ἀρνία μου geehrt, doch ist diese Ehre durch die zweifelnde Frage: φιλεῖς με getrübt; auch ist, während Petrus auf einen Märtyrertod hingewiesen wird, dem Jo - hannes die Auszeichnung des μένειν ἕως ἕρχομαι verheis - sen, und Petrus wird von Neid über diesen Vorzug ab - gemahnt. Endlich aber, was das Augenfälligste ist, wäh - rend nach Luc. 24, 12. Petrus zuerst unter den Aposteln allein zum leeren Grabe des Auferstandenen kommt, giebt ihm das vierte Evangelium (20, 3 ff. ) den Johannes zum Begleiter, und zwar so, daſs dieser dem Petrus voranläuft (προέδραμε τάχιον τοῦ Πέτρου) und zuerst an das Grab ge - langt; hierauf geht Petrus, ἀκολουϑῶν αὐτῷ, zwar vor Jo - hannes in das Grab hinein, aber erst von diesem heiſst es: καὶ εἶδε καὶ ἐπίςευοεν, fast im Gegensaz zu der Angabe des Lukas, daſs Petrus heimgekehrt sei ϑαυμάζων το γε - γονός. Diese Stelle giebt dem Eindruck, welchen die Stellung des Johannes zu Petrus im vierten Evangelium macht, den angemessenen Ausdruck: dieses προδραμεῖν τοῦ Πέτρου, das Bestreben, durch Johannes dem Petrus den Rang ablaufen zu lassen, ist der Totaleindruck, welchen der aufmerksame Leser von dieser Seite der Darstellung dieses Verhältnisses im vierten Evangelium bekommen muſs10)Dem Scharfblick von Dr. Paulus ist diess nicht entgangen. In einer Recens. des ersten Bandes der zweiten Auflage von Lücke's Comm. zum Johannes, im Lit. Bl. zur allg. Kirchen - zeitung, Febr. 1834, no. 18, S. 137 f. sagt er: Von Petrus hat das Johannesevangelium (die einzige Stelle 6, 68. ausge - nommen) nur minder vortheilhafte Umstände [hier werden die oben erwogenen Stellen angeführt], die ihn beson -.

561Fünftes Kapitel. §. 70.

Besonders aber wird Johannes in dem von ihm be - nannten Evangelium durch die stehende Benennung μα - ϑητὴς ὃν ἠγάπα oder ἐφίλει Ἰησοῦς vor allen andern aus - gezeichnet (13, 23. 19, 26. 20, 2. 21, 7. 20.). Zwar läſst sich, daſs durch diese Formel und durch die unbestimmte - re ἄλλος oder auch nur ἄλλος μαϑητὴς (18, 15 f. 20, 3. 4. 8. ), welche, wie aus 20, 2 f. erhellt, dieselbe Person mit jener andeutet, der Apostel Johannes bezeichnet sei, aus dem vierten Evangelium für sich oder mit den übrigen ver - glichen nicht beweisen. Denn weder wird diese Bezeich - nung irgendwo mit dem Namen dieses Apostels vertauscht, noch wird im vierten Evangelium etwas von dem Lieblings - jünger erzählt, was in den drei ersten dem Johannes zuge - schrieben wäre. Daraus aber, daſs 21, 2. unter den An - wesenden οἱ τοῦ Ζεβεδαίου aufgeführt sind, folgt nicht, daſs der nachher, V. 7., erwähnte μαϑητὴς ὃν ἠγάπα Ἰησοῦς gerade Johannes sein müsse; ebensogut könnte Jakobus oder einer der V. 2. aufgezählten ἄλλοι ἐκ τῶν μαϑητῶν δύο gemeint sein. Dennoch scheint die kirchliche Tradi - tion mit gutem Grund unter dem auf jene Weise Bezeich - neten von jeher den Johannes verstanden zu haben, da in dem griechischen Entstehungsgebiet des vierten Evange - liums kaum ein andrer von den in demselben nicht genann - ten Aposteln so bekannt war, um auf jene Bezeichnung hin erkannt zu werden, als eben nur Johannes, dessen Aufenthalt in Ephesus schwerlich als leere Sage von der Hand zu weisen ist.

Zweifelhafter kann scheinen, ob durch die genannten For - meln der Verfasser zugleich sich selbst, und also sich als den10)ders gegen Johannes zurücksetzen, aufbewahrt. Ein Petriner kann schwerlich an dem Johannesevangelium Theil genommen haben [sondern von einem Antipetriner scheint es herzurühren, dergleichen es, wie wir hier sehen, nicht blos paulinische, sondern auch johanneische gab].Das Leben Jesu I. Band. 36562Zweiter Abschnitt.Apostel Johannes bezeichnen wolle? Der Schluſs des 21ten Kapitels freilich, V. 24., macht den Lieblingsjünger zum μαρτυρῶν περὶ τούτων καὶ γράψας ταῦτα: doch daſs dieſs ein Zusatz von fremder Hand sei, kann als anerkannt vor - ausgesezt werden11)s. Lücke, Comm. z. Joh. 2, S. 708.. Wenn aber in dem ächten Context des Evangeliums, 19, 35., der Verfasser von dem Erfolg des Jesu am Kreuze beigebrachten Lanzenstichs sagt: ἑωρακὼς μεμαρτύρηκε: so kann damit zwar nur der Lieblingsjünger gemeint sein, weil nur er unter den Jüngern, die doch allein hier als Zeugen aufzuführen schicklich war, als bei dem Kreuze gegenwärtig vorausgesezt ist; auch würde, daſs der Verfasser dadurch zugleich sich selbst gemeint habe, durch die dritte Person, deren er sich bedient, keineswegs unwahrscheinlich: wohl aber könnte das Prä - teritum zweifelhaft machen, ob nicht doch der Verfasser sich hier auf das Zeugniſs des Johannes, als einer von ihm ver - schiedenen Person berufe12)Hierüber am gründlichsten Paulus, in der Recens. von Bret - schneider's Probabilien, in den Heidelberger Jahrbüchern, 1821, no. 9, S. 138.? Doch läſst sich diese Aus - drucksweise auch im andern Fall erklären13)Lücke, a. a. O. S. 664., und in dem ἐϑεασάμεϑα und[]λάβομεν 1, 14. 16. scheint sich der Verf. als Augenzeugen der von ihm erzählten Geschichte zu geben.

Ob nun aber der Verfasser des vierten Evangeliums, welcher sich wahrscheinlich als den Apostel Johannes zu errathen geben will, dieser auch wirklich gewesen sei, ist eine andre Frage, über welche wir übrigens hier nur nach Maſsgabe des uns bis jezt Vorliegenden uns aussprechen können. Ob der Apostel Johannes eine so unhistorische Zeichnung des Täufers hätte geben können, wie wir im vierten Evangelium eine gefunden haben, sei nur kurz in Erinnerung gebracht. Hier aber fragt es sich, ob es irgend563Fünftes Kapitel. §. 71.wahrscheinlich sei, daſs der wirkliche Johannes die wohlbe - gründeten Ansprüche seines Bruders Jakobus an eine be - sondere Auszeichnung so unbillig vernachlässigt hätte? und ob dieſs nicht vielmehr auf einen entfernt lebenden helle - nistischen Verfasser deute, zu welchem von dem frühe ge - mordeten Bruder des Johannes kaum eine Kunde gedrun - gen war? Ebenso ist hier über die Bezeichnung: μο - ϑητὴς ὃν ἠγάπα Ἰησοῦς, welche 21, 20. gar durch den Zusaz: ὃς καὶ ἀνέπεσεν ἐν τῷ δείπνῳ ἐπἰ τὸ ςῆϑος αὐτοῦ καὶ εἶπε· Κύριε τίς ἐςιν παραδιδούς σου; in das Schleppende ver - längert wird, zu urtheilen, nicht zwar, daſs sie ein Verstoſs gegen die Bescheidenheit14)Bretschneider, Probabilien, S. 111 f., wohl aber, daſs sie zu ge - sucht und geziert sei für einen, der ohne Nebenabsicht ge - radezu nur sich selbst bezeichnen will, da ein solcher doch bisweilen sich durch einfache Nennung seines Namens be - merklich gemacht haben würde, wogegen ein Verehrer des Johannes, vielleicht aus einer johanneischen Schule hervor - gegangen, ganz natürlich dazu kommen konnte, den von ihm verehrten Apostel, unter dessen Namen er schreiben wollte, auf diese theils ehrenvolle, theils geheimniſsvolle Weise zu bezeichnen15)vgl. Paulus, a. a. O. S. 137..

§. 71. Die übrigen von den Zwölfen und die siebenzig Jünger.

Die zweite Tetrade eröffnet in allen vier Katalogen Philippus. Die drei ersten Evangelien wissen ausser sei - nem Namen nichts von ihm. Das vierte allein giebt seinen Geburtsort Bethsaida an und berichtet seine Berufung (1, 44 f.); in demselben tritt er auch öfters redend und ange - redet auf, mit miſsverstehenden Äusserungen (6, 7. 14, 8.), bedeutender vielleicht dadurch, daſs sich (12, 21.) die ἕλ - ληνες, welche Jesum zu sehen wünschen, gerade an ihn wenden.

36*564Zweiter Abschnitt.

Der nächste in den drei evangelischen Verzeichnissen ist Bartholomäus, ein Name, der ausser den Katalogen sonst nirgends genannt wird. Wie die synoptischen Verzeich - nisse den Bartholomäus, so verbindet in der oben betrach - teten Berufungsgeschichte das vierte Evangelium (1, 46.) mit Philippus den Nathanaël, welchen es auch 21, 2. in der Gesellschaft von Aposteln aufführt. Unter diesen aber fin - det Nathanaël keinen Raum, wenn er nicht mit irgend ei - nem, den die Synoptiker anders nennen, identisch ist. Da - zu scheint sich am leichtesten Bartholomäus eben dadurch zu eignen, daſs ihn die drei ersten Evangelien ebenso ne - ben Philippus aufführen, wie das vierte, das von einem Bartholomäus nichts weiſs, den Nathanaël, wozu noch kommt, daſs בר תלמי nur die Bezeichnung des Sohns vom Vater her ist, neben welcher also noch ein eigentlicher Name, wie Nathanaël, Plaz hatte1)So die meisten Erklärer, auch Fritzsche, Matth. S. 359, Wi - ner, Realwörterb. 1, S. 163 f.. Allein weder jene gleiche Zusammenstellung des Bartholomäus und Nathanaël mit Philippus, welche sich dadurch als zufällige zeigt, daſs so - wohl A.G. 1, 13. Bartholomäus, als Joh. 21, 2. Nathanaël in andrer Verbindung erscheinen, ist für diese Identification ein hinreichender Grund, noch das Fehlen des Bartholo - mäus bei Johannes, der auch andere von den Zwölfen ver - schweigt, noch endlich die Beschaffenheit dieses Namens, da auch neben nicht blos patronymischen Namen, wie Si - mon, Lebbäus, zweite Namen geführt wurden; so daſs jeder andre von Johannes nicht genannte Apostel gleich gut mit seinem Nathanaël identificirt werden könnte, wo - durch das ganze zwischen den genannten beiden Namen angenommene Verhältniſs als eine harmonistische Hypothese sich zu erkennen giebt.

Im Katalog der Apostelgeschichte folgt auf Philip - pus statt des Bartholomäus Thomas, welchen das Verzeich -565Fünftes Kapitel. §. 71.niſs im ersten Evangelium nach Bartholomäus, die der bei - den andern auch noch nach Matthäus haben. Thomas, grie - chisch Δίδυμος, kommt nur im vierten Evangelium einmal in der Rolle schwermuthsvoller Treue 11, 16.), ein ander - mal in der bekannteren des Schwerzuüberzeugenden vor (20, 24 ff.). Der nun folgende Matthäus findet sich sonst nur noch in seiner Berufungsgeschichte.

Die dritte Tetras wird übereinstimmend durch den Jakobus Alphäi eröffnet, von welchem schon oben die Re - de war. Auf ihn folgt in den beiden Verzeichnissen des Lukas Simon, welcher bei ihm ζηλωτὴς, bei Matthäus und Markus, die ihn um eine Stelle später haben, κανανίτης heiſst, ein Beiname, der ihn als einen früher der jüdischen Sekte der Religionseiferer2)s. Joseph. bell. jud. 4, 3, 9. Angehörigen zu bezeichnen scheint. Während nun die lezte Stelle in allen Verzeich - nissen, die ihn noch haben, mit Judas Ischariot besezt ist, von welchem erst in der Leidensgeschichte die Rede werden kann, so differiren in der Besetzung der in der dritten Te - trade noch offenen Stelle die Kataloge des Lukas von den beiden andern, indem jene einen Ἰούδας Ἰακώβου, diese ei - nen Θαδδαῖος oder nach Matthäus Λεββαῖος, ἐπικληϑεὶς Θαδ - δαῖος hier haben. Mit Recht tadelt Schleiermacher die zum Theil höchst unnatürlichen Versuche, auch hier nur zwei verschiedene Namen Einer Person nachzuweisen wenn er aber jene Differenz daraus zu erklären sucht, daſs vielleicht noch zu Lebzeiten Jesu einer von beiden Männern gestorben oder aus dem Kreise der Apostel getre - ten sei und der andre seine Stelle eingenommen habe, so daſs nun die einen Verzeichnisse den früheren, die andern den späteren Personalbestand wiedergeben3)Über den Lukas, S. 88 f.: so ist ge - wiſs keiner unsrer Apostelkataloge aus den Lebzeiten Je - su her; nachher aber wird wohl Niemand ein früh abge -566Zweiter Abschnitt.gangenes Mitglied des Apostelcollegiums, sondern nur die zulezt um Jesum gewesenen aufgezählt haben. So daſs auch hier nichts übrig bleibt, als eine Abweichung der Ver - zeichnisse anzuerkennen, welche leicht daraus entstehen konnte, daſs man zwar die Zwölfzahl der Apostel hatte und die ausgezeichneteren unter denselben kannte, die übrig blei - benden Stellen aber, wo bestimmte Data fehlten, nach ver - schiedenen Traditionen verschieden besezte.

Mit einem eigenthümlichen Kreise von Jüngern Jesu, welcher zwischen dem engeren der Zwölfe und dem wei - testen seiner Anhänger überhaupt in der Mitte steht, macht uns Lukas bekannt, indem er 10, 1 ff. sagt, daſs Jesus aus - ser den Zwölfen noch ἑτέρους ἑβδομήκοντα ausgewählt, und sie paarweise in die Ortschaften, durch welche er auf sei - ner lezten Reise zu kommen gedachte, vorangeschickt ha - be, um die Nähe der βασιλεία τῶν οὐρανῶν zu verkündigen. Da die übrigen Evangelisten von diesem Umstand schwei - gen, so hat die neueste Kritik nicht ermangelt, namentlich dem ersten, als seinsollendem Apostel, dieses Stillschwei - gen zum Vorwurf zu machen4)Schulz, über das Abendmahl, S. 307. Schneckenburger, über den Ursprung, S. 13 f.. Allein die hieraus gegen Matthäus erwachsene Ungunst muſs sich mildern, wenn man erwägt, daſs nicht nur, wie bemerkt, in keinem der übrigen Evangelien, sondern auch weder in der Apostelge - schichte noch einem apostolischen Briefe von den 70 Jün - gern eine Spur sich findet, welche schwerlich so ganz feh - len könnte, wenn ihre Sendung so erfolgreich gewesen - re, als man gewöhnlich anzunehmen pflegt. Doch weniger durch ihren Erfolg als durch ihre Bedeutsamkeit soll jene Auswahl wichtig gewesen sein; wie nämlich die 12 Apo - stel durch ihre Beziehung auf die 12 Stämme Israëls die Bestimmung Jesu für das jüdische Volk andeuteten: so wa - ren, sagt man, die 70, oder, wie einige Auktoritäten ha -567Fünftes Kapitel. §. 71.ben, 72 Jünger Repräsentanten der 70 oder 72 Völker, wel - che, mit eben so vielen Sprachen, nach jüdischer und alt - christlicher Ansicht auf der Erde sich finden sollten5)Tuf haarez f. 19, c. 3; Recognit. Clement. 2, 42; Epiphan. haer. 1, 5., und wiesen somit auf die universelle Bestimmung Jesu und sei - nes Reiches hin6)Schneckenburger, a. a. O.; Gieseler, über Entstehung der schriftl. Evangelien, S. 127 f.. Doch auch für die jüdische Nation für sich hatte jene Zahl als heilige Zahl Bedeutung: 70 Älte - ste wählte sich Moses als Gehülfen (4 Mos. 11, 16. 25.); 70 Mitglieder hatte das Synedrium7)s. Lightfoot, p. 786.; ebenso viele grie - chische Dolmetscher das A. T.

Hier fragt sich nun: hatte der in das Gedränge der Umstände hineingestellte Jesus nichts Angelegeneres zu thun, als alle möglichen bedeutsamen Zahlen zusammenzu - suchen und sich nach Maſsgabe derselben mit verschiedenen Jüngerkreisen zu umgeben? oder ist ein solches durchge - führtes Halten an heiligen Zahlen, ein solches Fortspinnen des einmal durch die Zahl der Apostel dazu gegebenen Anfangs nicht vielmehr ganz im Geist der urchristlichen Sage, welche, sofern wir sie jüdisch gefärbt uns denken, den Schluſs machte, wenn Jesus die 12 Stämme in der Zahl seiner Apostel abgebildet habe, so werde er auch die 70 Ältesten durch eine entsprechende Anzahl von Jüngern nachgebildet haben, oder sofern wir sie mehr paulinisch-uni - versalistisch vorstellen, nicht umhin konnte, vorauszusetzen, daſs Jesus neben der durch die Zahl der Apostel angedeu - teten Beziehung seiner Sache auf das israëlitische Volk zu - gleich durch die Auswahl von 70 Jüngern ihre weitere Bestimmung für alle Völker der Erde vorgebildet habe? Und so angenehm auch von jeher der Kirche die Klasse der 70 Jünger gewesen ist, gleichsam als Versorgungsan - stalt, um Männer unterzubringen, welche nicht zu den Zwöl -568Zweiter Abschnitt.fen gehörten, an denen ihr aber doch etwas gelegen war, wie einen Markus, Lukas, Matthias: so werden wir doch diese leztere Frage bejahen, die Entscheidung der neue - sten Kritik für Übereilung erklären, und gestehen müssen, daſs durch die Aufnahme einer solchen, von aller histori - schen Bestätigung verlassenen, nur auf dogmatisches Inter - esse als Quelle hinweisenden Nachricht das Lukasevange - lium gegen das des Matthäus im Nachtheil ist. So viel freilich scheint namentlich aus A.G. 1, 21 f. zu erhellen, daſs Jesus auch ausser den Zwölfen noch andre beständi - ge Begleiter hatte: daſs aber diese gerade ein Corps von Siebzigen gebildet, oder aus ihnen so viele ausgelesen wor - den seien, scheint nicht gehörig verbürgt zu sein.

569Sechstes Kapitel. §. 72.

Sechstes Kapitel. Reden Jesu in den drei ersten Evangelien. *)Was auf Leiden, Tod und Wiederkunft sich bezieht, bleibt auch hier aufgespart.

§. 72. Die Bergrede.

In dem weiteren Verlauf des öffentlichen Lebens Jesu lassen sich von den Begebenheiten diejenigen Reden ab - sondern, welche nicht bloſs Accidenzen von Begebenhei - ten, sondern selbstständige Ganze bilden; wiewohl dieser Unterschied immerhin ein flieſsender ist, und von man - chem Redestück, wegen des veranlassenden Ereignisses, behauptet werden kann, es sollte unter die Begebenheiten, so wie von mancher Begebenheit, wegen der daran sich knüpfenden Erörterungen, sie sollte zu den Reden gestellt werden. Da ferner zwischen den drei ersten Evangelisten und dem vierten namentlich auch in Hinsicht auf die Reden eine solche Differenz stattfindet, daſs dieser mit jenen nur wenige einzelne Aussprüche gemein hat: so sind die Re - den Jesu bei den Synoptikern und die bei Johannes einer abgesonderten Betrachtung zu unterwerfen. Unter sich verhalten sich in diesem Stück die drei ersten Evangeli - sten so, daſs Matthäus gerne gröſsere Massen von Reden Jesu zusammenstellt, welche sich bei Lukas an verschie - dene Orte und Anlässe vertheilt finden, wobei jedoch jeder von beiden auch wieder eigenthümliche Redestücke für sich hat; bei Markus tritt das Element der Reden sehr zurück. Es wird demnach das Zweckmäſsigste sein, wenn wir zu -570Zweiter Abschnitt.nächst von den Redemassen des Matthäus ausgehen, das ihnen Entsprechende bei den andern Evangelisten aufsu - chen, hierauf fragen, wer wohl diese Reden besser ge - stellt und dargestellt habe, und endlich darüber, wiefern sie wirklich als aus Jesu Munde gekommen zu betrachten seien, uns ein Urtheil zu bilden streben.

Die erste gröſsere Redemasse bei Matthäus ist die so - genannte Bergrede, K. 5 7. Nachdem nämlich dieser Evangelist die Rückkehr Jesu von der Taufe nach Galiläa und die Berufung der beiden Fischerpaare erzählt hat, berichtet er, wie Jesus lehrend und heilend ganz Galiläa durchreist habe, und viel Volks aus allen Theilen Palä - stina's ihm nachgezogen sei; als er die Volksmenge gese - hen, sei er auf einen Berg gestiegen, und habe die be - zeichnete Rede gehalten (4, 23 ff.). Während man eine Parallele zu dieser Rede bei Markus vergeblich sucht, giebt dagegen Lukas, 6, 20 49, einen Vortrag, der nicht nur denselben Anfang und Schluſs, sondern auch in dem dazwischen liegenden Inhalt und Gedankengang die auf - fallendste Verwandtschaft mit jenem hat, wozu noch kommt, daſs auch bei ihm wie bei Matthäus nach Beendigung des Vortrags Jesus nach Kapernaum geht, und den Knecht des Hauptmanns heilt. Freilich reiht er die Rede etwas später ein, indem er vor derselben manche Wanderungen und Heilungen Jesu erzählt, welche Matthäus nach der seinigen stellt; er läſst ferner, fast im Gegensaz gegen Matthäus, Jesum die Rede nicht ἀναβάντα εἰς τὸ ὄρος, sondern καταβάντα, ἐπὶ τόπου πεδινοῦ, und nicht, wie bei Matthäus, καϑίσαντα, sondern stehend halten; wozu end - lich noch dieſs kommt, daſs die Rede bei Lukas dem Um - fang nach nur etwa ein Viertheil von der bei Matthäus beträgt, somit ein bedeutender Theil von dieser in jener fehlt, während übrigens doch auch die Rede bei Lukas einige eigenthümliche Elemente hat, welche in der des Matthäus vermiſst werden.

571Sechstes Kapitel. §. 72.

Um daher nicht zugeben zu müssen, daſs von zwei inspirirten Evangelisten einer Unrecht habe, wenn doch der eine Jesum auf dem Berge, der andre auf der Ebene, der eine sitzend, der andere stehend, der eine früher, der andre später dasselbe reden lieſse, zudem entweder der eine wesentliche Auslassungen, oder der andere ebensol - che Zusätze sich erlaubt hätte: hat die alte Harmonistik beide Reden für verschieden erklärt1)Augustin. de consens. ev. 2, 19. Storr, über den Zweck u. s. f. S. 347 ff. Die weitere Literatur s. in Tholuck's Aus - legung der Bergpredigt, Einl. §. 1., mit Berufung darauf, daſs Jesus wichtige Stücke seiner Lehre öfters behandelt haben müsse, und dabei auch gewisse besonders schlagende Aussprüche wörtlich wiederholt haben könne. So unbedenklich dieſs von einzelnen Sentenzen zuzugeben ist, so entschieden ist es von längeren Ausführungen zu leugnen; ja selbst jene kurzen Gnomen wird der begabte und erfindungsreiche Lehrer jedesmal in andrer Stellung und Verbindung vorzubringen wissen, und unmöglich kann ein anderer als ein ganz dürftiger Kopf einen so bestimmt ausgeführten Anfang und Schluſs, wie ihn die in Frage stehenden Reden an den Makarismen und dem Bilde des auf Felsen oder auf Sand gebauten Hauses haben, zu wiederholten Malen gebrauchen.

Muſste man sich daher für die Identität beider Reden entscheiden, so galt es zuerst, die Differenzen zwischen beiden Relationen auszugleichen, oder auf eine Weise zu erklären, bei welcher ihre Glaubwürdigkeit unangetastet blieb. In Bezug auf die verschiedene Bezeichnung des Lokals hat Paulus das ἐπὶ bei Lukas premirt und von einem Ste - hen über der Ebene, also auf einem Hügel erklärt2)exeg. Handb. 1, b, S. 572.; besser Tholuck den τόπος πεδινὸς von der eigentlichen Ebene unterschieden und als eine weniger gähe Stelle sei -572Zweiter Abschnitt.nes Abhangs zu dem Berge geschlagen3)a. a. O. S. 53.; indeſs, da der eine Evangelist den Vortrag Jesu unmittelbar an ein Hin - aufsteigen, der andre an ein Herabsteigen knüpft: so wird man doch mit Olshausen sagen müssen, wenn Jesus nach Lukas auf der Ebene oder an einer niedrigeren Stelle des Berges gesprochen, so habe Matthäus das auf das Hinauf - steigen gefolgte Heruntersteigen übergangen; oder wenn nach Matthäus Jesus auf der Höhe des Berges geredet, so habe Lukas vergessen zu melden, daſs er, nachdem er schon herabgestiegen war, sich doch des Gedränges we - gen vor der Rede wieder etwas in die Höhe gezogen ha - be4)Bibl. Comm. 1, S. 201.. Und zwar hat jeder von beiden, was er nicht mel - det, davon ohne Zweifel auch nichts gewuſst, und indem in der Überlieferung diese Rede mit einem Aufenthalt Jesu auf einem Berge in Verbindung stand, so dachte wohl Matthäus sich eben den Berg als eine bequeme Er - höhung für eine Volksrede, während Lukas ein Herabstei - gen zu der Menge für nöthig erachtete; womit auch die weitere Differenz zusammenhängt, daſs der vom Berg aus Redende sitzen zu können schien, weil er durch den Berg schon genug über die am Abhang herunter aufge - stellten Zuhörer hervorragte: der auf der Ebene Spre - chende aber musste natürlich stehen. Ebenso wie diese das Lokal betreffende, wird man auch die chronologische Differenz einräumen und sich falscher Ausgleichungsver - suche enthalten müssen.

Die Abweichungen im Umfang und Inhalt der Rede lassen an sich die dreifache Erklärung offen, daſs entwe - der der kürzere Bericht des Lukas nur ein Auszug aus der ganzen Rede, wie sie vollständig Matthäus wiedergebe, oder daſs in der Aufzeichnung des Matthäus manches bei andern Gelegenheiten Gesprochene hinzugefügt, oder end -573Sechstes Kapitel. §. 72.lich daſs beides zugleich der Fall sei. Wer wie Tholuck die fides divina, oder wie Paulus die fides humana der Evangelisten unverlezt halten will, dem empfiehlt sich die erstere Ansicht, weil Weglassen von Vorgekommenem ein unverfänglicherer Fehler ist, als Hinzusetzen von Nicht - vorgekommenem, und man beruft sich hiebei auf den engen Zusammenhang, welchen man in der Bergrede des Matthäus nachweisen zu können glaubt, und der darauf hinweisen soll, daſs die Rede in Einem Zuge von Jesus selbst so gesprochen worden sei. Allein theils kann ja wohl auch ein nur nicht ganz ungeschickter Referent ur - sprünglich nicht zusammengehörige Aussprüche in erträgli - chen Zusammenhang bringen, theils geht dieser, wie jene Erklärer selbst gestehen müssen5)Tholuck, S. 24. Paulus S. 584., nur etwas über die Hälfte der Bergrede hinüber, so daſs von 6, 19. an mehr oder minder isolirte Sentenzen folgen, und sogar an sol - chen Aussprüchen fehlt es nicht ganz, welche an dieser Stelle gar nicht gethan sein können. Daher hat sich die neueste Kritik umgekehrt dahin entschieden, daſs die kür - zere Relation bei Lukas ganz oder doch nahezu die ur - sprüngliche Gestalt der Rede Jesu wiedergebe, Matthäus dagegen sich erlaubt habe, an dasjenige, was Jesus bei dem beschriebenen Anlaſs vorgetragen, manches bei andern Gelegenheiten von ihm Gesprochene in der Art anzurei - hen, daſs der gemeinschaftliche Grundriſs, nämlich An - fang, Schluſs und zwischen beiden das Wesentliche des Gedankenfortschritts blieb, in dieses Fachwerk aber mehr oder minder Verwandtes von anderwärts her eingeschoben wurde6)So Schulz, vom Abendmahl, S. 313 f. Sieffert, S. 74 ff. Fritzsche, S. 301.; eine Ansicht, welche hauptsächlich dadurch unterstüzt wird, daſs viele von den Aussprüchen, welche Matthäus in der Bergrede zusammenstellt, bei Lukas und574Zweiter Abschnitt.zum Theil auch bei Markus an verschiedene Orte zerstreut vorkommen. Dieſs zuzugeben genöthigt, und doch be - strebt, einen Irrthum, der seine Augenzeugenschaft mehr als zweifelhaft machen würde, von dem Evangelisten ab - zuwälzen, behaupten nun andre Theologen, nicht in der Meinung, sie sei in Einem Zuge gesprochen worden, son - dern mit klarem Bewuſstsein, daſs dieſs nicht der Fall ge - wesen sei, und in der Voraussetzung, daſs dieſs auch sei - nen Lesern klar sein werde, habe Matthäus diese Rede zusammengesezt7)Olshausen, 1, S. 201. Kern, in der Tüb. Zeitschrift 1834, 2, S. 33.. Allein mit Recht ist hiegegen bemerkt worden, wenn doch Matthäus Jesum, ehe er die Rede be - ginnt, auf den Berg hinauf, und nachdem er sie geendigt, von demselben wieder herabsteigen lasse, so stelle er dadurch das zwischen beiden Momenten Gesprochene augenschein - lich als in Einem Zuge gesprochen dar, und wenn er von den ὄχλοις, deren er vor dem Beginn der Rede gedacht hatte, nach deren Beendigung bemerke, welchen Ein - druck die Rede auf sie gemacht: so müsse er doch wohl einen zusammenhängenden Vortrag schildern wollen8)Schulz, a. a. O. S. 315. Schneckenburger, Beiträge, S. 26.. Indessen auch bei Lukas hat man theils in seiner Bergrede Stellen gefunden, wo der unterbrochene Zusammenhang auf Lücken schlieſsen läſst, und Zusätze, welche schwer - lich ursprünglich sind9)Schleiermacher, über den Lukas, S. 89 f.; theils ist die richtigere Stellung derjenigen Aussprüche, welche er an andern Orten hat, sehr problematisch gefunden worden10)Tholuck, a. a. O. S. 11 ff., und meine Recens. der Schriften von Sieffert u. s. f. in den Jahrbüchern f. wiss. Kritik, November 1834., weſswegen, wie wir bald näher sehen werden, in diesem Stücke Lukas nichts vor Matthäus voraus hat.

575Sechstes Kapitel. §. 72.

Das Publikum, für welches die Bergrede bestimmt war, könnte von Lukas als ein engerer Kreis bezeichnet zu sein scheinen, wenn er die Apostelwahl unmittelbar vorhergehen, und bei'm Beginn des Vortrags Jesum die Augen εἰς τοὺς μαϑητὰς αὑτοῦ erheben läſst, als von Mat - thäus, der der Rede eine Beziehung auf die ὄχλους giebt. Da indessen andererseits sowohl Matthäus vor der Berg - rede die μαϑητὰς zu Jesu treten und diese sofort von ihm belehrt werden, als auch Lukas ihn die Rede εἰς τὰς ἀκοὰς τοῦ λαοῦ halten läſst: so zeigt sich, daſs Jesus zum versammelten Volk überhaupt, doch mit besonderer Be - ziehung auf seine Schüler geredet hat11)vgl. Tholuck, a. a. O. S. 25 ff.; denn daſs hier ein bestimmter feierlicher Redeakt zum Grunde liege, ha - ben wir nicht Ursache zu bezweifeln.

Schreiten wir jezt zur Betrachtung des Einzelnen: so ist in beiden Redaktionen die Bergrede durch eine Anzahl von Makarismen eröffnet, von welchen übrigens bei Lukas nicht nur mehrere fehlen, sondern auch, wie Storr12)Über den Zweck u. s. w. S. 348. besser eingesehen hat, als jezt Olshausen, die meisten in einem andern Sinn genommen sind, als bei Matthäus. Indem nämlich weder die πτωχοὶ, wie bei Matthäus, durch den Zusaz τῷ πνεύματι näher bestimmt, also nicht die Ein - fältigen und Demüthigen, sondern die eigentlich Armen sind, noch der Hunger der πεινῶντες auf τὴν δικαιοσύνην bezogen, also kein geistiger, sondern ein leiblicher ist, dagegen sowohl die πεινῶντες als die κλαίοντες durch die Zeitbestimmung νῦν näher bezeichnet werden: so ist der Gegensaz bei Lukas nicht wie bei Matthäus der concrete von jezt unbefriedigten und leidenden Frommen und de - ren künftiger Glückseligkeit, sondern der abstrakte von jetzigem Leiden und künftigem Wohlergehen überhaupt. Diese Art der Entgegensetzung des αἰὼν ούτος und μέλλων576Zweiter Abschnitt.kommt bei Lukas auch sonst, namentlich in der Paral el vom reichen Manne, vor, und ohne hier schon zu unter - suchen, welche von beiden Darstellungen wohl die ur - sprüngliche sein möge, bemerke ich nur, daſs eben die des Lukas ganz in dem ebionitischen Geiste gemacht ist, welchen man neuestens im Matthäusevangelium hat finden wollen. Bei den Ebioniten nämlich, wie sie namentlich in den klementinischen Homilien sich darstellen, ist dieſs ein Hauptsaz, daſs, wer sich in dieser Zeit sein Theil nehme, in der künftigen leer ausgehe, wer aber auf irdi - schen Besiz verzichte, sich dadurch himmlische Schätze sammle13)Homil. 15, 7 u. s. vgl. Credner in Winer's Zeitschrift f. w. Theol. 1, S. 298 f. Schneckenburger, über das Evangelium der Ägyptier, §. 6.. Der lezte μακαρισμὸς bezieht sich auf dieje - nigen, welche um Jesu willen verfolgt werden. Lukas in der Parallelstelle hat ἔνεκεν τοῦ υἱοῦ τοῦ ἀνϑρώπου, und so kann auch das ἕνεκεν ἐμοῦ bei Matthäus Jesum nur in der Eigenschaft des Messias bezeichnen. Ist nun wirklich die Bergrede so in die erste Zeit von Jesu Wirksamkeit zu setzen, wie sie die Evangelisten stellen: so kann er da - mals, wo er nach dem Obigen sich selbst noch gar nicht für den Messias erklärt hatte, unmöglich schon so gespro - chen haben, sondern, wenn er wirklich ἔνεκεν ἐμοῦ gesagt hat, so ist der ganze Ausspruch aus späterer Zeit, oder wenn er vom Menschensohn in der dritten Person gespro - chen hat, so wollte er diesen damals noch nicht als iden - tisch mit ihm selbst bezeichnen14)Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 29..

Auf die Makarismen folgen bei Lukas ebensoviele οὐαὶ, welche bei Matthäus fehlen. In ihnen tritt die ebionitische Entgegensetzung des עולם הוא und הבא noch schroffer hervor, wenn ohne Weiteres den πλουσίοις, ἐμπεπλησμένοις und γελῶσι wehe zugerufen, und in der kommenden, mes - sianischen Weltordnung mit entsprechenden Übeln gedroht577Sechstes Kapitel. §. 72.wird, eine Darstellung, welche an Jac. 5, 1 ff. erinnert. Da jedenfalls das lezte οὐαὶ etwas steif dem lezten μακάριοι nachgebildet ist, indem gewiſs nur dem Gegensaz mit den vielverlästerten wahren Propheten zulieb und nicht weil ein historisches Datum vorhanden gewesen wäre, behaup - tet wird, bei den ψευδοπροφήταις sei es der Fall gewesen, daſs Jedermann Gutes von ihnen gesagt habe: so könnte man wohl mit Schleiermacher15)a. a. O. S. 90. vermuthen, der Refe - rent im dritten Evangelium habe die den Seligpreisungen correspondirenden Wehe von seinem Eigenen hinzugethan. Weniger übrigens weil er, wie Schleiermacher meint, eine Lücke fühlte, die er nicht mehr ergänzen konnte, als weil es dem Messias angemessen scheinen mochte, wie einst Moses, neben dem Segen auch den Fluch ausgespro - chen zu haben. Wenn man nämlich in der Bergrede sonst zwar mit Recht ein Seitenstück zur sinaitischen Gesezge - bung findet: so ist doch dieser Eingang wenigstens mehr mit dem Abschnitt im Deuteronomium (27, 11 ff. ) zu ver - gleichen, wo Moses gebietet, daſs bei'm Einzug des Volks in Kanaan die eine Hälfte auf den Berg Garizim, die an - dere auf den Ebal sich stellen, und jene einen vielfachen Segen für die dem Gesetze Gehorsamen, diese einen eben - so vielfachen Fluch gegen die Übertreter desselben aus - sprechen solle, was nach Jos. 8, 33 ff. wirklich vollzo - gen worden ist16)Auch die Rabbinen legten auf diese mosaischen Segnungen und Flüche Gewicht, s. Lightfoot, S. 255. Ferner, wie wir hier acht Makarismen haben, so liessen sie den Abraham be - nedictionibus septem (Baal Turim in Gen. 12. bei Lightfoot S. 256.), den David, Daniel sammt drei Genossen und den Messias benedictionibus sex gesegnet werden (Targ. Ruth. 3. ebendas.). Auch zählten sie gegenüber von 20 beatitudinibus in den Psalmen, ebensoviele vae im Jesaias auf (Midrasch Tehillim in Ps. 1. ebend.)..

Das Leben Jesu I. Band. 37578Zweiter Abschnitt.

Passend reiht sich an die Makarismen bei Matthäus die Darstellung der Jünger Jesu als τὸ αλας τῆς γῆς und τὸ φῶς τοῦ κόσμου an (5, 13 ff.). Bei Lukas findet sich die Rede vom Salz mit etwas verschiednem Anfang an einer andern Stelle (14, 34 f.), wo Jesus seine Zuhörer ermahnt, in reiflicher Erwägung der in seiner Nachfolge zu brin - genden Opfer sich lieber gar nicht an ihn anzuschlieſsen, als nachher mit Schande zu bestehen, und hierauf füglich solche schwachwerdende Schüler mit abstehendem Salze vergleichen kann. Paſst so das Diktum an beide Stellen, so ist es zugleich in seiner gnomischen Kürze von der Art, daſs es öfters wiederholt werden konnte, also in beiden Verbindungen gesprochen sein kann. Dagegen kann es nicht gesprochen sein in dem Zusammenhang, welchen ihm Markus (9, 50) anweist; denn das auf die Hölle sich beziehende αλίζειν kann mit dem αλας, durch welches der Vorzug des wahren Anhängers Jesu dargestellt wird, in keinem inneren Zusammenhang stehen, vielmehr ist die Verbindung nur äusserlich durch das gleiche Wort ver - mittelt, eine Art von Zusammenhang, welche treffend als lexikalischer bezeichnet worden ist17)Schneckenburger, Beiträge, S. 58.. Der veränderte Schluſs, welchen Markus der Gnome giebt, kann zwar möglicherweise in Verbindung mit derselben, ebensogut aber in ganz andrem Zusammenhang vorgetragen worden sein. Auch die Gnome vom Licht, das, wie das Salz nicht kraftlos, so nicht verborgen werden dürfe, fehlt in der Bergrede des Lukas, welcher mit Weglassung der be - stimmten Beziehung auf die Jünger den Ausspruch an zwei verschiedenen Orten hat. Zuerst 8, 16, unmittelbar nach der Auslegung der Parabel vom Säemann, wohin auch Markus (4, 21) das Diktum stellt, lieſse sich zwar das Leuchten des Lichts mit dem καρποφορεῖν des Samens in Verbindung setzen: doch ist nach der Auslegung einer579Sechstes Kapitel. §. 72.Gleichniſsrede ein Ruhepunkt, über welchen ein verstän - diger Redner nicht so leicht zu neuen Bildern hinwegei - len wird; jedenfalls aber findet zwischen diesem Leuch - ten des inneren Lichts und dem von Lukas darangehäng - ten Ausspruch, daſs alles Verborgene an den Tag komme, kein innerer Zusammenhang statt, sondern wir haben hier eine Erscheinung, welche bei Lukas besonders häufig sich wiederholt, daſs nämlich in den Zwischenraum zwischen zwei selbstständigen Reden oder Erzählungen mehrere ver - einzelte Gnomen zusammengeworfen sind. So ist hier zwi - schen der Parabel vom Säemann und der Erzählung von dem Besuch der Mutter und Brüder Jesu zuerst die Gnome vom nicht zu bergenden Lichte wegen einiger inneren Ver - wandtschaft mit der Parabel eingefügt; dann, weil in die - ser Gnome der Gegensaz von Verbergen und offen Hin - stellen vorkam, fiel dem Referenten die sonst heterogene Rede vom Offenbarwerden alles Verborgenen ein; worauf ohne Zusammenhang mit dieser, aber wieder in einiger Beziehung auf die Parabel, der Ausspruch: wer hat, dem wird gegeben, hinzugesezt ist. Vollends aber an der zwei - ten Stelle, 11, 33, ist zwischen der Rede Jesu, daſs seine Zeitgenossen einst durch die Nineviten werden verur - theilt werden und dem οὐδεὶς δὲ λύχ[ν]ον αψας kein Zusam - menhang nachzuweisen, wenn man ihn nicht hineinlegt18)wie Olshausen, 1, S. 615. Das Richtige angedeutet bei Schnek - renburger, Beiträge, S. 58; Tholuck, a. a. O. S. 11., sondern wir haben auch hier wieder, zwischen den Reden gegen die Zeichenforderung und denen bei'm Pharisäer - mahl, eine solche Fuge, welche mit abgerissenen Redestük - ken ausgefüllt ist.

Es folgt nun 5, 17 ff. der Übergang zum eigentlichen Thema der Rede, nämlich die Versicherung Jesu, nicht zur Auflösung, sondern zur Erfüllung des Gesetzes und der Propheten gekommen zu sein u. s. f.; was, da sich hiemit Jesus offenbar als den Messias voraussezt, welchem37*580Zweiter Abschnitt.man die Befugniſs zur Abrogirung eines Theils des Ge - setzes zuschrieb, wieder ein Ausspruch ist, der nicht zu einer Zeit gethan sein kann, in welcher sich Jesus noch gar nicht als Messias erklärt hatte19)Fritzsche, S. 213.. Lukas (16, 17.) stellt diesen Ausspruch zwar nach dieser Erklärung, zu - gleich aber neben den scheinbar ganz entgegengesezten, daſs das Gesez und die Propheten nur bis auf Johannes gehen, zwei Aussprüche, die unmöglich in demselben Zu - sammenhang gethan sein können, sondern auch hier ist der Zusammenhang nur ein lexikalischer, indem ad vocem νόμος, womit der erste Saz anfieng, dem Verfasser ein anderer, gleichfalls den νόμος betreffender Ausspruch Jesu beifallen mochte20)Diess ist der von Schleiermacher S. 205. vermisste Anlass, zum 16ten Vers den 17ten unhistorisch hinzuzufügen.. Überhaupt ist hier, zwischen den Parabeln vom Haushalter und vom reichen Mann, wieder eine jener Spalten, in welchen sich bei Lukas gerne ab - gerissene Redestücke zusammenfinden.

So wenig, wird V. 20. fortgefahren, sei Jesus geson - nen, Nichtachtung des mosaischen Gesetzes zu lehren, daſs er vielmehr eine noch strengere Achtung desselben als die Schriftgelehrten und Pharisäer verlange, und diese sich gegenüber als diejenigen erscheinen lasse, welche das Gesez untergraben; woraus sofort an einer Reihe von mo - saischen Geboten gezeigt wird, wie Jesus, statt sich an den Buchstaben zu halten, in den Geist der Gesetze ein - dringe, und namentlich die rabbinische Auslegung dersel - ben in ihrer Verwerflichkeit durchschaue ( V. 48.). Daſs dieser Abschnitt in der Ordnung und Vollständigkeit, wie wir ihn bei Matthäus lesen, in der Bergrede des Lukas fehlt, ist ein entschiedenes Zeichen, daſs diese leztere Lücken hat. Denn in dieser Passage ist der Grundge - danke nicht nur der Rede, wie sie Matthäus hat, angege -581Sechstes Kapitel. §. 72.ben, sondern auch die zerstreuten Äusserungen über Fein - desliebe, Versöhnlichkeit, Wohlthätigkeit, welche Lukas giebt, finden nur in dem Gegensaz der geistigen Schrift - auslegung Jesu und der fleischlichen der damaligen Leh - rer ihren bestimmten Sinn und Einheitspunkt. Auch ist mit Recht darauf aufmerksam gemacht worden, daſs die Worte, mit welchen Lukas (V. 27.) Jesum nach dem lez - ten Wehe fortfahren läſst: ἀλλὰ ὑμῖν λέγω21)Schleiermacher, a. a. O. S. 90. und ebenso V. 39. das εἶπε δὲ παραβολὴν αὐτοῖς22)Tholuck, S. 21. Lücken ver - rathen. Was einzelne Parallelen betrifft, so ist die Er - mahnung zu schneller Ausgleichung mit dem ἀντίδικος (5, 25 f.) bei Lukas (12, 58 f.) nach dem Urtheil erfahre - ner Exegeten wenigstens nicht so leicht mit dem Vorange - gangenen in Zusammenhang zu bringen, als bei Mat - thäus23)Tholuck, S. 12. 187.: noch schlimmer jedoch steht es mit der Paral - lele zu 5, 32, von der Ehescheidung, wo, was bei Mat - thäus in engster Verbindung steht, bei Lukas (16, 18.) in einer der schon bezeichneten Spalten zwischen die Ver - sicherung der Unvergänglichkeit des Gesetzes und die Pa - rabel vom reichen Manne eingeklemmt ist. Denn zum Behuf einer Verbindung dieses Satzes mit dem vorherge - henden das μοιχεύειν mit Olshausen24)a. a. O. S. 692 ff. ohne Weiteres allegorisch von Untreue gegen das göttliche Gesez zu deu - ten, oder Behufs des Zusammenhangs mit der folgenden Parabel diese mit Schleiermacher25)a. a. O. S. 206 f. auf den ehebrecheri - schen Herodes zu beziehen, das heiſst doch gleicherweise Gespenster sehen. Vielmehr scheint in dem Verfasser die Überlieferung nachgeklungen zu haben, daſs Jesus nach vorangeschickter Versicherung von der Unverbrüchlichkeit des mosaischen Gesetzes unter Anderem auch diesen stren -582Zweiter Abschnitt.gen Grundsaz in Bezug auf die Scheidung ausgesprochen habe, und diesen, der ihm von jener Ausführung allein präsent war, stellte er hieher. Derselbe Ausspruch kommt Matth. 19, 9. in einem Zusammenhang wieder, der eine Wiederholung glaublich macht. Während sofort bei Mat - thäus die Gebote der Duldung und Nachgiebigkeit (5, 38 42) unter der geistigen Auslegung des ὀφϑαλμὸν ἀντὶ ὀφϑαλμοῦ im begriffsmäſsigsten Zusammenhang stehen, sind sie in der Bergrede des Lukas (6, 29.) weit unbestimmter durch das Gebot der Feindesliebe (V. 27 f.) eingeleitet, welches selbst bei Matthäus, wiederum entschieden besser, als Be - richtigung des ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου καὶ μισήσεις τὸν ἐχϑρόν σου (V. 43 ff. ) gegeben ist. Namentlich die Bemer - kung, daſs nur die Freunde zu lieben, nichts sei, was nicht auch schlechte Menschen thun könnten, welche bei Matthäus (V. 46 f.) als Polemik gegen die zum mosaischen Gebot der Freundesliebe in der Tradition hinzugekommene Erlaubniſs, den Feind zu hassen, so genau sich anschlieſst, steht bei Lukas (V. 32.) nach dem: was ihr wollt u. s. f., welches Matthäus erst weiter unten (7, 12.) hat, ohne Zusammenhang. Überhaupt, vergleicht man den Abschnitt Luc. 6, 27 36, mit dem entsprechenden bei Matthäus: so wird man hier geordneten Fortschritt der Gedanken, dort eine ziemliche Verwirrung finden.

Bleiben hierauf die Warnungen vor pharisäischer Heu - chelei (6, 1 6.) ohne Parallele, so folgt in Bezug auf das Mustergebet eine, auf welche die neuere Kritik nicht we - nig zum Nachtheil des Matthäus baut. Die ältere Harmo - nistik zwar machte sich kein Bedenken, dieses Gebet von Jesu zweimal, sowohl unter den Umständen, welche Mat - thäus, als welche Lukas (11, 1 ff. ) erzählt, vorgetragen sein zu lassen26)so noch Hess, Gesch. Jesu, 2, S. 48 f.: allein schwerlich werden, wenn Jesus in der Bergrede schon ein Mustergebet gegeben hatte, seine Jün -583Sechstes Kapitel. §. 72.ger ihn später, wie wenn nichts dergleichen vorhergegan - gen wäre, um ein solches angesprochen haben; in keinem Falle hätte wohl Jesus ohne alle Erinnerung, daſs er ein solches ja längst gegeben, das früher mitgetheilte Muster wiederholt. Deſswegen hat sich die neueste Kritik dahin entschieden, daſs nur Lukas den natürlichen und wahren Anlaſs der Mittheilung dieses Gebetes aufbewahrt habe, woge - gen es in der Bergrede des Matthäus nur, wie so manche andre Redestücke, vom Referenten eingeschoben sei27)Schleiermacher, a. a. O. S. 173. Olshausen, S. 235. Sief - fert, S. 78 ff.. Allein die Natürlichkeit, welche man an der Darstellung dieser Sache bei Lukas rühmt, kann ich nicht entdecken. Abgese - hen davon, was die bezeichneten Kritiker selbst unwahr - scheinlich finden, daſs die Jünger Jesu bis zur lezten Reise, in welche Lukas die Scene versezt, ohne Anweisung zu beten gewesen sein sollten, fällt überhaupt schon das, daſs Jesus mit einer solchen gewartet haben soll, bis die Jünger ihn darum ersuchten, und daſs er dann auf ihr Begehren sich sogleich in ein Gebet geworfen haben soll, schwer zu glau - ben; sondern gewiſs hat er von Anfang an oft in ihrem Kreise gebetet, dann aber war ihre Bitte überflüssig, und er muſste sie, wenn sie doch baten, wie Joh. 14, 9. auf das verweisen, was sie in seinem Umgang längst haben se - hen und hören können. Die Darstellung bei Lukas scheint nach bloſser Vermuthung gemacht, indem man zwar wuſste, daſs jenes Gebet von Jesu herrührte, auf die weitere Fra - ge aber, was ihn zur Mittheilung desselben bewogen ha - be, sich selbst die Antwort ertheilte, ohne Zweifel werden sie ihn um ein Mustergebet ersucht haben. Ohne daher behaupten zu wollen, daſs Matthäus uns die Verbindung aufbewahrt habe, in welcher dieses Gebet ursprünglich von Jesu gesprochen ist, zweifeln wir doch ebensosehr, ob wir diese bei Lukas zu lesen bekommen. Was das584Zweiter Abschnitt.Einzelne dieses Gebets betrifft, so ist es zwar unleugbar, was Wetstein sagt: tota haec oratio ex formulis Hebrae - orum concinnata est28)N. T. 1, S. 323. Man sehe die Parallelen bei ihm und Lightfoot.: aber eben so richtig bleibt, was Fritzsche erinnert, daſs so allgemeine Wünsche gar wohl von Verschiedenen auf unabhängige Weise im Gebete, und zwar selbst mit ähnlichen Worten, ausgesprochen werden konnten29)Comm. in Matth. p. 265., was am besten die von Wetstein auch aus nichtjüdischen Schriften aufgehäuften Parallelen beweisen. Das nach dem Schluſs des Gebetes angehängte Corollarium zur drittlezten Bitte steht hier nach der Unterbrechung durch die folgenden Bitten um so weniger gut, als es auch am Folgenden keinen Halt hat, wo V. 16 18. dem frühe - ren Gedankengange gemäſs gegen das Heuchlerische des pharisäischen Fastens gesprochen wird; doch hat Markus 11, 25. diesen Ausspruch, sammt der Anweisung, beim Ge - bet seinen Feinden zu vergeben, an die vorangegangenen Reden von der Kraft des glaubensvollen Gebetes noch üb - ler angehängt.

Von 6, 19. an sollten alle Ausleger mit Paulus beken - nen, daſs ihnen der Faden des engeren Zusammenhangs ent - falle, nur daſs man dann nicht mit ebendemselben behaup - ten kann, unerachtet des mangelnden Zusammenhangs ha - be doch Jesus selbst auch die folgenden Gnomen noch zu - sammen gesprochen, sondern hier hat die neuere Kritik Alles für sich, wenn sie eine Zusammenstellung verschie - denzeitiger Aussprüche vermuthet. Voran steht die Gno - me von irdischen und himmlischen ϑησαυροῖς (V. 19 21.), welche Lukas 12, 33 f. in einer seine Anhänger von irdi - schen Sorgen abmahnenden Rede Jesu wahrscheinlich im rich - tigeren Zusammenhang hat. Hierauf (V. 22 f.) die Sentenz vom Auge als des Leibes Licht, welche bei Lukas 11, 34 f. der schon erwähnten Gnome von dem auf den Leuchter585Sechstes Kapitel. §. 72.zu stellenden Lichte angehängt ist. Da aber der λύχνος auf dem Leuchter etwas ganz Anderes bezeichnet, als die Vergleichung des Augs mit einem λύχνος besagen will: so bleibt für die Verbindung der Sätze bei Lukas nur das lee - re Wort λύχνος übrig, ein lexikalischer Zusammenhang, welcher schlimmer als gar keiner ist. Folgt sodann (V. 24.) wieder ohne nachweisbaren Zusammenhang die Gnome von den zwei Herren, bei Lukas 16, 13. in der schon erwähn - ten Fuge zwischen den Parabeln vom Haushalter und vom reichen Mann, an das Vorhergehende wahrscheinlich blos ad vocem μαμωνᾶς angeschlossen. Nun kommt bei Mat - thäus V. 25 34. eine Abmahnung von irdischen Sorgen durch Hinweisung auf das harmlose Gedeihen von Natur - gegenständen, von Lukas 12, 22 ff. passend an eine ihm eigenthümliche Parabel von dem Manne angehängt, welchen mitten unter dem Anhäufen irdischer Schätze der Tod ab - fordert. Das folgende Verbot des Richtens (7, 1 5.) hat auch Lukas wieder in seiner Bergrede (V. 37 f. 41 f.), und es schlieſst sich hier zwar zufällig besser an die vorange - gangene Ermahnung zur Barmherzigkeit an, ist aber V. 39. 40. und zum Theil auch 38. durch fremdartige Dinge auf das Gewaltsamste unterbrochen. Ganz unpassend hat die darin vorkommende Phrasis vom Messen Markus 4, 24. ein - gefügt, in einer Stelle, welche ganz den mehrbesproche - nen Fugen bei Lukas gleicht. Ist sofort V. 6. bei Matthäus gleichsehr ohne Zusammenhang wie ohne Parallele, so fin - det sich die folgende Ausführung über den Nutzen des Gebets (V. 7 11.) bei Lukas 11, 9. sehr passend an eine ihm gleichfalls eigenthümliche Gleichniſsrede von dem aus dem Schlaf gepochten Freunde angeschlossen; wogegen das bei Matthäus zusammenhanglose: was ihr wollt, daſs euch die Leute thun sollen u. s. f. in der Bergrede des Lukas 6, 31. auch nur einen ungefähren Zusammenhang hat. Was sofort (V. 13 f.) von der ςενὴ πύλη u. s. w. gesagt wird, leitet Lukas (13, 23.) durch die an Jesum gestellte Frage:586Zweiter Abschnitt.εἰ ὀλίγοι οἱ σωζόμενοι; ein, welche leicht, wie jene Bitte um eine Gebetsformel, von einem Solchen gemacht schei - nen könnte, der zwar wohl wuſste, daſs Jesus jenen Aus - spruch gethan hatte, aber um eine Veranlassung desselben verlegen war; auch ist das Bild bei Lukas weit mangel - hafter als bei Matthäus ausgeführt, und mit parabolischen Elementen verschmolzen. Die Rede von dem Erkennen des Baum es an seinen Früchten (V. 16. 20.), welche bei Lukas (6, 43 ff. ) und auch bei Matthäus selbst weiter un - ten (12, 33 ff. ) in allgemeiner Beziehung, in der Bergrede des Matthäus aber in speciellem Bezug auf Pseudoprophe - ten vorkommt, steht bei Lukas am allerwenigsten in schick - lichem Zusammenhang. Die folgende Erklärung Jesu ge - gen diejenigen, welche blos Κύριε Κύριε zu ihm sagen, und am Tage des Gerichts von ihm werden abgewiesen wer - den (V. 21 23.), kann, weil sie Jesum bestimmt als Mes - sias voraussezt, so frühe nicht gegeben sein, und steht in sofern bei Lukas (13, 25 ff. ) schicklicher. Der Schluſs der Rede, wie schon erwähnt, ist beiden Evangelisten gemein - schaftlich.

Aus der bisher angestellten Vergleichung sehen wir bereits, daſs die körnigen Reden Jesu durch die Fluth der mündlichen Überlieferung zwar nicht aufgelöst werden konn - ten, wohl aber nicht selten aus ihrem natürlichen Zusam - menhang losgerissen, von ihrem ursprünglichen Lager weg - geschwemmt, und als Gerölle an Orten abgesezt worden sind, wohin sie eigentlich nicht gehörten. Und dabei fin - den wir zwischen den drei ersten Evangelisten den Unter - schied, daſs Matthäus, einem geschickten Sammler ähnlich, den Stücken zwar bei Weitem nicht immer den ursprüng - lichen Zusammenhang wiederzugeben vermocht, doch aber meistens das Verwandte sinnig zusammenzureihen gewuſst hat, während bei den beiden andern manche kleine Stücke da, wo gerade der Zufall sie abgesezt hatte, namentlich in Spalten zwischen grösseren Redemassen, liegen geblieben587Sechstes Kapitel. §. 73.sind, wobei dann insbesondere Lukas in einigen Fällen sich bemüht hat, sie künstlich zu fassen, was aber den natür - lichen Zusammenhang nicht ersetzen konnte.

§. 73. Instruktion der Zwölfe. Klage über die galiläischen Städte. Freude über die Berufung der Einfältigen.

Bei Gelegenheit der Aussendung der Zwölfe stellt das erste Evangelium (K. 10.) wieder eine gröſsere Rede zu - sammen, welche, soweit sie ihm nicht eigenthümlich ist, die beiden andern Synoptiker nur zum kleineren Theile bei eben diesem Anlaſs gesprochen sein lassen; die meisten Bestandtheile derselben rückt Lukas theils bei Gelegenheit der Aussendung der Siebenzig (10, 2 ff. ), theils bei einem späteren Gespräch mit den Jüngern (12, 2 ff. ) ein; Etli - ches findet sich auch sowohl bei Matthäus als bei dem übri - gen in den Reden Jesu über seine Parusie wieder.

Wie auch hier die ältere Harmonistik unbedenklich eine Wiederholung derselben Reden annahm1)z. B. Hess, Gesch. Jesu, 1, S. 545.: so will die neuere Kritik nur bei Lukas die ursprünglichen An - lässe und Verbindungen, bei Matthäus eine bloſse Zusam - menstellung des Referenten finden2)Schulz, a. a. O. S. 308. 314. Sieffert, S. 80 ff., und auch die Diffe - renz kehrt wieder, daſs die apologetisch gesinnten Ausleger dem Matthäus das Bewuſstsein zuschreiben, hier zu ver - schiedenen Zeiten Gesprochenes zusammenzustellen3)Olshausen, 1, S. 333., wo - gegen andre mit Recht auf die Art hinweisen, wie die Re - de V. 5, durch die Worte: τούτους τοὺς δώδεκα ἀπέςειλεν . παραγγείλας αὐτοῖς eingeführt, und 11, 1. durch καὶ ἐγένετο[]τε ἐτέλεσεν . διατάσσων το[]ς δώδεκα κ. τ. λ. abge - schlossen ist, woraus zur Genüge die Meinung des Evan -588Zweiter Abschnitt.gelisten, hier einen zusammenhängenden Vortrag zu geben, erhelle4)Schulz, S. 315..

Eigenthümlich ist in dieser Rede dem Matthäus ne - ben Anderem, was mehr nur als Erweiterung von Gedan - ken erscheint, die auch in den entsprechenden Stellen der beiden andern Synoptiker angelegt sind, der Eingang der Instruktion, der die Ausgesendeten auf Juden beschränkt (V. 5. 6. ) und ihnen den Auftrag ertheilt, neben Verkün - digung des Messiasreichs und Heilung der Kranken, wo - von ebenso Lukas (9, 2.) spricht, auch Todte zu erwecken: ein befremdender Auftrag, da von den Aposteln vor Jesu Hingang keine Todtenerweckung bekannt ist, und solche, ohne daſs sie uns erzählt werden, dennoch mit Olshausen vorauszusetzen, Wenige Lust haben werden. Erst die Apostel - geschichte weiſs von den Todtenerweckungen eines Petrus und Paulus: was die Jünger nach ihrem Ausgang in alle Welt thaten, dazu lieſs sie die Sage schon bei ihrer ersten Aussendung durch Jesum bevollmächtigt werden.

Gemeinschaftlich sind den Synoptikern bei der Aus - sendung der Zwölfe eigentlich nur die Regeln für das äus - sere Verhalten der Ausgesendeten, auf welche Weise sie reisen, und wie sie sich in verschiedenen Fällen beneh - men sollten (Matth. V. 9 11. 14. Marc. 6, 8 11. Luc. 9, 3 5.), wobei die Differenz, daſs Jesus nach Matthäus und Lukas den Jüngern ausser Geld, Ranzen u. dgl. auch ὑποδήματα und ῥάβδον mitzunehmen verbietet, nach Mar - kus dagegen ihnen nur untersagt, etwas Weiteres mit sich zu führen, εἰ μὴ ῥάβδον μόνον und σανδάλια, am ein - fachsten durch das Geständniſs zu lösen ist, daſs, wo die Sage nur dieſs festhielt, daſs Jesus, mit ausdrücklicher Nennung des Stabs und der Schuhe die Einfachheit der apostolischen Ausrüstung bezeichnet hatte, dieſs leicht der Eine so verstehen konnte, als hätte Jesus alles Reisege -589Sechstes Kapitel. §. 73.räthe bis auf jene Stücke, der Andre, als hätte er auch diese untersagt. Und zwar konnte gerade der veranschau - lichende Markus, wenn zu seiner Anschauung eines wan - dernden Apostels ein Stab vielleicht mitgehörte, geneigt sein, der ersteren Auffassung den Vorzug zu geben.

Bei Aussendung der Siebenzig ist es, daſs Lukas (10, 2.) Jesum die Worte gebrauchen läſst, welche Matthäus schon 9, 37 f. als das Motiv Jesu zur Aussendung der Zwölfe enthaltend, wiedergiebt, die Gnome: μὲν ϑερισμὸς πολὺς κ. τ. λ. ; ferner das Diktum, daſs der Arbeiter seines Loh - nes werth sei (V. 7. vrgl. Matth. 10, 10); ebenso die Rede vom apostolischen Gruſs und dessen Wirkung (Matth. V. 12 f. Luc. V. 5 f.); die Drohung gegen die Unempfäng - lichen (Matth. V. 15. Luc. V. 12.); endlich das ἀποςέλλω ὑμᾱς ὡς πρόβατα κ. τ. λ. (Matth. V. 16. Luc. V. 3.). Der Zusammenhang dieser Sätze ist beidemale ziemlich gleich natürlich, die Vollständigkeit bald auf der einen, bald auf der andern Seite gröſser, doch so, daſs bei Matthäus Wesentlicheres, wie V. 16, bei Lukas mehr Äusserliches hinzugefügt ist, wie V. 7. u. 8, und V. 4, dessen sonder - bares Verbot, Jemand auf dem Wege zu grüſsen, als un - historische Nachbildung von 2 Kön. 4, 29. erscheinen könnte, wo der Prophet Elisa seinem Diener, aber mit mehr Grund, weil er zur Ausrichtung eines einzelnen dringlichen Geschäfts eilen sollte, die gleiche Weisung giebt. Wenn von diesen Vorschriften, welche Jesus nach Matthäus den Zwölfen, nach Lukas den Siebzigen giebt, Sieffert bemerkt, daſs sie an sich ebensogut bei dem ei - nen als bei dem andern Anlaſs ertheilt sein können5)S. 81 f., so möchte ich schon dieſs aus dem Grunde bezweifeln, weil es mir unwahrscheinlich vorkommt, daſs Jesus nach Lu - kas die vertrauteren Jünger nur mit dürftigen Regeln für ihr äusserliches Verhalten entlassen, den Siebzigen aber590Zweiter Abschnitt.mehreres weit Wesentlichere und Herzlichere zugerufen haben sollte. Wenn sich aber jener Kritiker zulezt für die Stellung des Lukas entscheidet, weil seine Erzählung vermöge der Unterscheidung der Siebenzig von den Zwöl - fen die bestimmtere sei: so ist dieser Punkt oben zum Vortheil vielmehr des Matthäus erledigt worden. Auch der am Schluſs der Instruktionsrede bei Matthäus über denjenigen ausgesprochene Segen, der einem seiner Anhänger nur ein π[ο]τήριον ψυχροῦ reiche, (V. 42.) ist hier wenigstens schicklicher eingefügt, als in der endlosen Wirrniſs des lezten Stücks von Marc. 9. (V. 41.), wo das verknüpfende Band am Ende nur noch das ἐὰν und ὃς ἂν zu bilden scheint, womit die zusammenhanglosen Sätze beginnen.

Anders stellt sich die Sache, wenn wir diejenigen Theile der Instruktionsrede betrachten, welche bei Lukas K. 12. und später stehen, und auch bei Matthäus als zwei - ter Theil derselben sich aussondern. Ausspräche näm lich, wie Matth. 10, 19 f. Luc. 12, 11, wo den Jün - gern gesagt ist, was sie thun sollen, wenn sie vor Gericht gezogen werden; wie Matth. V. 28, Luc. V. 4 f. daſs sie diejenigen nicht fürchten sollen, die nur den Leib tödten können; wie Matth. V. 32 f. Luc. V. 8 f. die Warnung vor Verleugnung Jesu; auch die Rede von der durch ihn zu stiftenden allgemeinen Entzweiung (Matth. V. 34 ff. Luc. 51 ff., woran Matthäus, wie es scheint aus Veran - lassung der hiebei aufgezählten Familienglieder, den Aus - spruch Jesu knüpft, daſs man an diesen nicht stärker als an ihm hängen dürfe, sein Kreuz auf sich nehmen müsse u. s. f., was er zum Theil unten, 16, 24 f. in schickliche - rem Zusammenhang wiederholt); ferner Aussprüche, wel - che sich in den Reden von der Parusie wiederholen, wie von allgemeiner Verfolgung der Jünger Jesu (V. 17 f. 22. vrgl. 24, 9. 13); das bei Lukas in der Bergrede (6, 40) eingeklemmte, und auch bei Johannes (15, 20) vorkommen -591Sechstes Kapitel. §. 73.de Diktum, daſs der Jünger kein besseres Loos als der Meister anzusprechen habe (V. 24 f.); endlich die der Re - de bei Matthäus eigenthümliche Anweisung, von einer Stadt in die andre zu fliehen, sammt dem dazugefügten Troste (V. 23): dergleichen Aussprüche, haben die Kriti - ker wohl mit Recht erklärt6)Schulz, S. 308; Sieffert, S. 82 ff., passen nicht gut zu dieser ersten Aussendung der Zwölfe, welche, wie die angebli - che der Siebenzig, nur erfreuliche Resultate lieferte (Luc. 9, 10. 10, 17), sie setzen vielmehr die getrübteren Verhält - nisse voraus, wie sie nach Jesu Tode und vielleicht auch schon in der lezten Zeit seines Lebens sich gestalteten. Demnach hätte Lukas das Richtigere, indem er diese Re - den in die lezte Reise Jesu versezt7)Den durchaus befriedigenden Zusammenhang übrigens, wel - chen die neuere Kritik in dem 12ten Kapitel des Lukas fin - det, kann ich ebenso wenig entdecken, als Tholuch, Ausleg. der Bergpr. S. 13 f., welcher hier zugleich die Parteilichkeit Schleiermacher's für den Lukas und gegen den Matthäus treffend gezeichnet hat.: wenn nicht gar dergleichen Schilderungen des späteren Schicksals der Apostel und übrigen Anhänger Jesu erst nach dessen Tode ex eventu gemacht, und ihm als Weissagungen in den Mund gelegt worden sind.

Die nächste längere Rede Jesu bei Matthäus ist die, so weit sie sich auf den Täufer bezog, bereits betrachtete, K. 11. Von der V. 20 24 folgenden Klage und Drohung gegen die galiläischen Städte, εν αἷς έγένοντο αἱ πλεῖςαι δυνάμεις αὐτ[οὐ], und welche doch οὐ μετενόησαν, möchten die neuesten Kritiker vielleicht mit Recht behaupten, daſs sie mitten in die galiläische Wirksamkeit hinein, wohin Mat - thäus sie stellt, weniger passe, als in die Zeit, in welche sie Lukas (10, 13 ff. ) versezt, als Jesus Galiläa verlassen und sich zum lezten Versuche nach Judäa und Jerusalem592Zweiter Abschnitt.auf den Weg gemacht hatte8)Schleiermacher, über den Lukas, S. 169 f. Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 32 f.. Anders dagegen verhält es sich mit dem näheren Zusammenhang dieser Aussprü - che. Während nämlich bei Matthäus zu der vorangegan - genen Zusammenstellung der gleich schlechten Aufnahme, welche Jesus wie Johannes gefunden, diese Klage über die Hauptschauplätze der Wirksamkeit des Ersteren treff - lich paſst: ist schwer zu begreifen, wie Jesus nach Lukas den auszusendenden Siebzigen gegenüber, welche ganz der Zukunft zugekehrt sein mussten, von seiner eigenen trü - ben Vergangenheit reden mochte, ohne doch das den gali - läischen Städten angedrohte Strafgericht mit demjenigen in Verbindung zu bringen, welches er eben vorher über die Stadt ausgesprochen hatte, die seine Abgesandten nicht aufnehmen würde. Vielmehr nur den Referenten erinnert diese von Jesu überlieferte Vergleichung einer gegen seine Jünger widerspenstigen Stadt mit Sodom an die ähnliche der gegen ihn selbst unfolgsamen Orte mit Tyrus und Sidon, ohne daſs ihm die Unzusammengehörigkeit beider zum Bewuſstsein käme.

Die V. 25 27 folgende ἀγαλλίασις über die den νη - πίοις verliehene Einsicht knüpft Matthäus nur unbestimmt an die vorhergegangene Verwünschung an; da sie jedoch einen durch erfreuliche Anlässe geänderten Gemüthszustand Jesu voraussezt: so würde es alle Wahrscheinlichkeit haben, daſs Lukas (10, 17. 21 ff. ) die Rückkehr der Sie - benzig mit erfreulichen Nachrichten als Anlaſs jener Rede heraushebt; wenn nur die Auswahl und also auch die Rückkehr der 70 Jünger nicht so problematisch wäre, statt deren übrigens die der Zwölfe hiehergezogen werden könnte. Die an dieses Frohlocken bei Matthäus sich schlieſsende Einladung an die κοπιῶντες καὶ πεφορτισμένοι (V. 28 30) fehlt bei Lukas, welcher statt dessen Jesum593Sechstes Kapitel. §. 74.κατ 'ἰδίαν zu den Jüngern sich wenden, und sie glücklich preisen läſst, daſs sie sehen und hören dürfen, wonach viele Propheten und Könige vergeblich sich gesehnt hät - ten (V. 23 f.), was zu dem Vorangegangenen wenigstens nicht so specifisch, wie das bei Matthäus damit Verbun - dene, paſst, auch bei diesem 13, 16 f. in einer Verbin - dung steht, welche mit der bei Lukas sich jedenfalls messen kann.

§. 74. Die Parabeln.

Wenn Matthäus K. 13. Jesum sieben Parabeln, sämmt - lich die βασιλεία τῶν οὐρανῶν betreffend, vortragen läſst: so ist die neuere Kritik bedenklich geworden, ob wirklich Jesus so viele Gleichnisse in Einem Zuge gesprochen haben möge1)Schulz, über das Abendmahl, S. 314.? Die Parabel, hat man erinnert, sei eine Aufga - be, welche durch eigenes Nachdenken gelöst zu werden verlange, deſswegen nach jeder ein Ruhepunkt nöthig, wenn man durch dieselben wahrhaft belehren, und nicht vielmehr durch den Wechsel unverstandener Bilder zer - streuen wolle2)Olshausen, b. Comm. 1, S. 437.. Gewiſs würde daher, hat man geschlos - sen, Jesus das Lob der Lehrweisheit nicht verdienen, wenn er jene Gleichniſsreden alle, so wie Matthäus es darstellt, in einem Zuge gesprochen hätte3)Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 33.. Sah man hienach auch an dieser Stelle eine Zusammenstellung gleichartiger, aber zu verschiedenen Zeiten gesprochener Reden: so erhob sich sofort auch hier die Debatte, ob sie Matthäus mit Be - wuſstsein von diesem lezteren Umstand, oder in der Mei - nung, zusammenhängend Vorgetragenes zu geben, veran - staltet habe? wovon das Leztere aus der Anfangsformel (V. 3.): καὶ ἐλάλησεν αὐτοῖς πολλὰ ἐν παραβολαῖς, und dem Schlusse (V. 53.): ὅτε ἐτέλεσεν . τὰς παραβολὰςDas Leben Jesu I. Band. 38594Zweiter Abschnitt.ταύτας, unwidersprechlich zu erhellen scheint. Darauf wenig - stens, daſs die Jünger Jesum nicht wohl vor allem Volke, sondern, wie auch Markus (4, 10.) berichte, als sie wieder καταμόνας waren, um eine Erklärung der ersten Parabel werden angegangen haben, kann man sich für ein Abbre - chen des Vortrags gleich nach dieser nicht berufen4)Wie Olshausen thut, S. 438., weil daraus, daſs nach der ersten Parabel Matthäus nicht wie Markus Jesum nach Hause gehen, sondern auf dem Platze von seinen Jüngern um Erläuterung ersucht werden läſst, deutlich erhellt, daſs er sich hier kein Abbrechen des Vor - trags gedacht hat. Mit mehr Grund kann man sich auf die Schluſsformel berufen, welche Matthäus schon nach der vier - ten Parabel V. 34 f. einfügt, indem er die bisherigen Gleich - nisse durch die Bemerkung: ταῦτα πάντα ἐλάλησεν . ἐν παραβολαῖς κ. τ. λ. zusammenfaſst, und sogar durch An - wendung einer A. T. lichen Weissagung den Ruhepunkt voll - kommen macht; sowie auf die Veränderung des Lokals, die hier bei ihm eintritt, indem V. 36. Jesus das Volk ent - läſst, und vom Ufer des galiläischen Sees, wo er bisher gesprochen, εἰς τὴν οἰκίαν kommt, wo ihn die Jünger um Er - klärung der zweiten Parabel angehen, an welche er sofort noch drei weitere Gleichnisse knüpft5)Ders. ebendas.. Allein, daſs auf diese Weise der Vortrag der drei lezten Parabeln von dem der übri - gen durch einen Ortswechsel und somit auch durch einige Zwi - schenzeit getrennt ist, verändert den Stand der Sache wenig. Denn daſs Jesus vor dem so leicht zu überladenden Vol - ke auch nur 4 Parabeln, worunter 2 der bedeutendsten, in Einem Zuge vorgetragen, und daſs er hierauf die Jünger, deren Fassungskraft er bei dem ersten und zweiten Gleich - niſs hatte zu Hülfe kommen müssen, statt sie zu prüfen, ob sie nun das dritte und vierte sich selbst auszulegen im Stande wären, mit drei neuen Gleichnissen überschüttet595Sechstes Kapitel. §. 74.haben sollte, bleibt immer noch unwahrscheinlich genug. Übrigens dürfen wir die Erzählung des Matthäus nur ge - nauer ansehen, um zu bemerken, wie er zu der Unterbre - chung V. 34 ff. nur unwillkührlich gekommen ist. Hatte er im Sinn, eine Masse von Parabeln, und für die zwei wichtigsten und daher voranzustellenden zwei privatim den Jüngern gegebene Erklärungen mitzutheilen: so konnte er hiebei auf dreifache Weise zu Werke gehen. Entwe - der lieſs er unmittelbar nachdem eine Parabel vorgetragen war, noch im Angesicht des Volkes Jesum den Jüngern die Erklärung geben, wie er nach der ersten Gleichniſsre - de (V. 10 23.) wirklich thut. Allein diese Darstellung hat das Unbequeme, daſs man nicht begreift, wie Jesus dem in gespannter Erwartung um ihn versammelten Volke gegenüber zu einer Privatunterhaltung der Art Muſse be - kommen konnte6)Schleiermacher, S. 120.. Diesen Übelstand hat Markus gefühlt, und deſshalb die zweite mögliche Auskunft ergriffen, daſs er nämlich nach der ersten Parabel Jesum mit den Jün - gern nach Hause gehen, und ihnen hier die Lösung der - selben geben läſst. Indeſs, diese Wendung war für denje - nigen gar zu hinderlich, der mehrere Gleichniſsreden nach einander zu geben gedachte; denn war schon nach der er - sten Jesus zu Hause gebracht: so war der Schauplaz ver - lassen, auf welchem mit Fug die weiteren vorgetragen wer - den konnten. Deſswegen mag der Referent im ersten Evan - gelium nach der zweiten Parabel in Bezug auf die Erklä - rung weder seine erste Auskunft wiederholen, noch die andere in Anwendung bringen, sondern, indem er ohne Unterbrechung zu zwei weiteren Gleichnissen fortgeht, scheint er sich eine dritte Maſsregel vorzubehalten, näm - lich, die ihm im Sinne liegenden Parabeln vorher alle dem Volke vortragen, und dann erst, wenn er nach Abschluſs der - selben Jesum nach Hause gebracht hätte, ihn die rückstän -38*596Zweiter Abschnitt.dige Auslegung der zweiten geben zu lassen. Hiedurch ent - stand ein Conflikt in dem Referenten zwischen den Para - beln, die ihm noch im Sinne lagen, und der Auslegung, deren Rückstand ihn drängte: sobald in seiner Erinnerung an jene die mindeste Stockung entstand, muſste er mit die -[s]er und also mit Schluſsformel und Heimkehr bei der Hand sein, und fielen ihm hierauf noch einige weitere Gleich - nisse ein, so muſste er sie eben nachher noch beisetzen. So ist es dem Matthäus mit den 3 lezten Parabeln begeg - net, die er nun fast wider Willen den Jüngern allein muſs vorgetragen werden lassen, für welche doch nicht besondere Parabeln, sondern nur Auslegungen derselben gehörten; wie denn auch Markus (V. 33 f.) offenbar voraussezt, die wei - teren Gleichnisse, die er auf die Auslegung des ersten fol - gen läſst, seien wieder dem Volke vorgetragen worden7)Fritzsche, Comm. in Marc. S. 120. 128. 134..

Markus, welcher 4, 1. dieselbe Scene am See malt, wie Matthäus, stellt nur drei Parabeln zusammen, von wel - chen die erste der ersten, die dritte (vom Senfkorn) der dritten bei Matthäus entspricht, die mittlere aber gewöhn - lich für eine dem Markus ganz eigenthümliche Gleichniſs - rede gehalten wird8)Saunier, über die Quellen des Markus, S. 74; Fritzsche, a. zulezt a. O.. Matthäus hat hier die Parabel, in welcher das Himmelreich einem Manne verglichen wird, der guten Samen in seinen Acker säet; während aber die Leute schlafen, kommt der Feind, und säet Unkraut darun - ter, welches sofort mit dem Waizen aufgeht, ohne daſs die Knechte wissen, woher es komme? Sie wollen es ausrau - fen: aber der Herr giebt ihnen die Weisung, beides mit einander bis zur Ernte wachsen zu lassen, wo es Zeit ge - nug sein werde, es zu sondern. Bei Markus vergleicht Je - sus das Himmelreich einem Manne, der Samen in die Erde säet, und während er schläft und wieder aufsteht, wächst die597Sechstes Kapitel. §. 74.Saat heran, er weiſs nicht wie, von einer Entwicklungsstu - fe zur andern. Endlich wenn sie reif ist, schickt er die Sichel, weil die Zeit zur Ernte da ist. In dieser Parabel fehlt, was bei Matthäus das Hauptmoment ausmacht, das vom Feind ausgesäte Unkraut; da jedoch die übrigen Mo - mente: Säen, Schlafen, Aufwachsen man weiſs nicht wie, Ernte, ganz dieselben sind, so fragt es sich, ob nicht Mar - kus hier bloſs eine ihm sonst woher bekannte andere Recension derselben Gleichniſsrede giebt, welche er der des Matthäus vielleicht mit deſswegen vorzog, weil sie in jener Gestalt mehr vermittelnd zwischen die erste vom Säemann und die dritte vom Senfkorn eintrat.

Auch Lukas hat von den 7 Parabeln Matth. 13. bloſs drei, die vom Säemann, vom Senfkorn und vom Sauerteig, so daſs also dem Matthäus die Gleichnisse vom vergrabe - nen Schatz, von der Perle und vom Netze, wie auch die vom Unkraut im Acker (in dieser Form) eigenthümlich blei - ben. Das Gleichniſs vom Säemann stellt Lukas etwas früher (8, 4 ff. ) und auch nicht in dieselbe Umgebung wie Mat - thäus, hauptsächlich aber getrennt von den zwei weiteren Parabeln, die er noch mit der Sammlung des Matthäus gemein hat. Diese bringt er später, 13, 18 21, nach, ei - ne Stellung, welche die neueren Kritiker einstimmig als die richtige anerkennen9)Schleiermacher, a. a. O. S. 192. Olshausen, 1, S. 438. Schneckenburger, a. a. Q. S. 33.. Allein dieses Urtheil gehört zu dem Wunderlichsten, wozu sich die jetzige Kritik durch ihre Parteilichkeit für den Lukas hat verleiten lassen. Denn sehen wir den so sehr gerühmten Zusammenhang an, so hat hier Jesus in einer Synagoge ein zusammenge - bücktes Weib geheilt, hierauf den schwierigen Synagogen - vorsteher durch das Argument vom Ochsen und Esel zum Schweigen gebracht, und nun heiſst es V. 17: καὶ ταῦτα λέγοντος αυτοῦοῦ κατῃσχύνοντο πάντες οἱ ἀντικείμενοι αὐτῷ,598Zweiter Abschnitt.καὶ πᾶς ὄχλος ἔχαιρεν ἐπὶ πᾶσι τοῖς ἐνδόξοις τοῖς γινομού - νοις ὑπ 'αὐτοῦ. Gewiſs eine Schluſsformel, so ausführlich und entschieden, wie irgend eine, nach welcher unmög - lich noch die Begebenheit auf derselben Scene weiterge - führt sein kann, sondern, wenn hierauf durch ein ἔλεγε δὲ und πάλιν εἷπε die beiden Parabeln angehängt werden: so sieht man, der Verfasser wuſste die Gelegenheit nicht mehr, bei welcher sie Jesus vorgetragen hatte, daher fügte er sie auf Gerathewohl irgendwo in dieser unbestimmten Weise ein, und zwar weit weniger geschickt offenbar als Mat - thäus, der sie doch zu Gleichartigem zu gesellen wuſste.

Wenn wir hierauf von den übrigen evangelischen Pa - rabeln zuerst diejenigen, welche Einem Evangelisten eigen - thümlich sind, betrachten: so stoſsen wir zuvörderst bei Matthäus 18, 23 ff. auf das Gleichniſs von dem Knechte, welcher, unerachtet ihm sein Herr eine Schuld von 10,000 Talenten geschenkt hatte, doch seinem Mitknecht nicht ein - mal eine von 100 Denaren erlassen wollte10)Eine ähnliche Vergleichung giebt Tanchuma f. 30, 3. bei Schöttgen, 1, S. 154 f.; passend eingeleitet durch die Frage des Petrus, wie oft man dem fehlenden Bruder vergeben solle? Gleichfalls eigenthüm - lich ist dem Matthäus das Gleichniſs von den Arbeitern im Weinberg (20, 1 ff. )11)Auch zu dieser Parabel fehlt es an rabbinischen Parallelen nicht, vgl. Wetstein, Lightfoot und Schöttgen, z. d. St., von welchem man zweifeln kann, ob es nach der Verheiſsung des Sitzens auf zwölf Stühlen an der rechten Stelle steht; jedenfalls passt von den Sentenzen, welche Matthäus (V. 16.) an die Parabel hängt, nur die erste: ἔσονται οἱ ἔσχατοι πρῶτοι κ. τ. λ.12)Eine analoge Sentenz aus Tanchuma f. 3, 1. giebt Schöttgen, 1, S. 165., die er ihr auch schon vorausgeschickt hatte (19, 30.), zu derselben, die andere: πολλοί εἰσι κλητοὶ κ. τ. λ. aber giebt vielmehr die Moral der Parabel vom königlichen Gastmahl599Sechstes Kapitel. §. 74.und vom hochzeitlichen Gewande an, wo sie auch wirklich Matthäus wiederholt (22, 14.). Sie eignete sich aber ganz dazu, auch abgerissen als isolirte Gnome zu cursiren, und da es passend schien, an das Ende einer Gleichniſsrede ei - ne oder mehrere dergleichen kurze Sentenzen zu stellen: so mag diese hier wegen einiger äusserlichen Ähnlichkeit mit der andern ihr vom Referenten beigesellt worden sein. Weiter ist dem Matthäus die Parabel von den zwei in den Weinberg geschickten Söhnen (21, 28 ff. ) eigenthümlich, wel - che sich an eine Verhandlung mit den Hohenpriestern und Ältesten nicht übel lehnt, und deren antipharisäische Be - deutung durch die Zusätze V. 31 f. auf erwünschte Wei - se in's Licht gestellt ist.

Unter den dem Lukas eigenthümlichen Parabeln ha - ben die von den zwei Schuldnern (7, 41 ff. ) die vom barm - herzigen Samariter (10, 30 ff. ), die von dem Manne, den im Sammeln irdischer Schätze der Tod unterbricht (12, 16 ff. vrgl. Sir. 11, 17 ff. ), so wie die beiden, welche die Wirksamkeit des anhaltenden Gebets versinnlichen (11, 5 ff. 18, 2 ff. )13)Ähnliche rabbinische Aussprüche s. bei Schöttgen, z. d. St. ihren unverkennbaren Sinn, und bis auf die lezte, welche abgebrochen eintritt, auch leidlichen Zusam - menhang; zugleich kann man an den beiden lezten lernen, wie in den Parabeln Jesu oft von einem Zug ganz abstra - hirt werden muſs, indem in der einen derselben Gott mit einem trägen Freunde, in der andern mit einem ungerech - ten Richter in Parallele gestellt ist. An die zulezt ge - nannte Parabel schlieſst sich die vom Pharisäer und Zöll - ner14)Eine ähnliche Sentenz aus Pirke Aboth s. bei Schöttgen, 1, S. 306 f. an (V. 9 14), von welcher nur Schleiermacher, einem selbstgemachten Zusammenhang mit dem Vorherge - henden zulieb, die antipharisäische Tendenz leugnen kann15)Über den Lukas, S. 220.. Eine ähnliche Tendenz haben die Gleichnisse600Zweiter Abschnitt.vom verlornen Schaf, Groschen16)Eine entsprechende Vergleichung aus Schir R. bei Wetstein S. 757. und Sohn, (Luc. 15, 3 32), von welchen Matthäus (18, 12 ff. ) nur das erste, aber in einem andern Zusammenhang, hat, der auch den Sinn etwas anders, und zwar ohne Zweifel unrichtig, bestimmt. Daſs diese drei Parabeln unmittelbar hinter einander ge - sprochen sein können, ist deſswegen denkbar, weil die zweite nur eine untergeordnete Variation der ersten, die dritte aber weitere Ausführung und Erläuterung von bei - den ist. Ob ebenso, nach der Behauptung der neuesten Kritik, auch noch die zwei folgenden Gleichnisse mit den vorhergehenden in Einen zusammenhängenden Vortrag ge - hören17)Schleiermacher, a. a. O. S. 202 ff. Olshausen, S. 437. 668 ff., muſs die nähere Betrachtung ihres auch an sich bemerkenswerthen Inhalts zeigen.

Die nächstfolgende, als crux interpretum bekannte Parabel vom ungerechten Haushalter (16, 1 ff. )18)Einen verwandten Ausspruch aus Kimchi s. bei Lightfoot, S. 842. ist doch in sich selber ohne alle Schwierigkeit. Liest man blos bis zum Ende des Gleichnisses, die zunächst darangehäng - te Moral V. 9. miteingeschlossen: so bringt man den ein - fachen Sinn heraus, daſs der Mensch, der, auch ohne ge - rade bestimmt auf unrechtmäſsige Weise zu Geld und Gut gelangt zu sein, doch Gott gegenüber immer ein δοῦλος ἀχρεῖος (Luc. 17, 10) und in Anwendung der ihm von Gott anvertrauten Gaben ein οἰκονόμος τῆς ἀδικίας ist, diese immer mitunterlaufende Untreue am besten durch Nachsicht und Wohlthätigkeit gegen seine Mitmenschen gut machen, und sich durch deren Vermittlung ein Pläz - chen im Himmel verschaffen könne19)Eine ähnliche rabbinische Sentenz s. bei Schöttgen, 1, S. 299.. Daſs diese Wohl - thätigkeit in der fingirten Geschichte ein Betrug ist, da - von muſs man, wie in den vorhin angeführten Parabeln601Sechstes Kapitel. §. 74.davon, daſs der Freund träg und der Richter ungerecht ist, abstrahiren, was überdieſs in der Erzählung selbst dadurch angedeutet ist, daſs V. 8. gesagt wird, was der οἰκονόμος im Sinne dieser Welt gethan habe, sei in der Anwendung im höheren Sinne der υἱοὶ τοῦ φωτὸς zu ver - stehen. Freilich, wenn man nun auch noch das πιςὸς ἐν ἐλαχίςῳ κ. τ. λ. V. 10 12. in demselben Zusammen - hang gesprochen sich denkt: gewinnt es den Schein, als müſste der in der Parabel als Muster aufgestellte οἰκονόμος in irgend einem Sinne treu genannt werden können, und wenn V. 13. von zweien Herren, Gott und dem Mammon, die Rede wird, denen nicht zugleich gedient werden könne: so scheint der Haushalter es mit dem rechten gehalten ha - ben zu müssen. Daher Erklärungen, wie die Schleier - macher'sche, welche unter dem Herrn die Römer, unter den Schuldnern das jüdische Volk, unter dem Haushalter die auf Kosten von jenen gegen dieses wohlthätigen Zöll - ner versteht, zu diesem Behuf aber auf die willkührlichste Weise den Herrn zum gewaltthätigen Manne machen, den Haushalter aber rechtfertigen muſs20)a. a. O. S. 202 ff., eine Verkehrung, welche in Olshausen bis zum Extrem fortgegangen ist, in - dem nun dieser den Herrn, der durch sein richterliches Auftreten sich deutlich als Repräsentanten Gottes ankün - digt, zum ἄρχων τοῦ κόσμου τούτου verschlimmert, den Haus - halter aber zum Bilde eines Menschen erhebt, der die Güter dieser Welt zu geistigen Zwecken verwendet21)b. Comm. 1, S. 680 ff.. Allein den bezeichneten Versen auf die Deutung der Para - bel Einfluſs zu gestatten, wäre man, da diese in der Moral V. 9. den befriedigendsten Abschluſs hat, und un - richtige Zusammenstellungen bei Lukas nicht ohne Bei - spiel sind, nur dann veranlaſst, wenn eine genaue Ver - wandtschaft des Inhalts zu Tage läge: wovon aber nur602Zweiter Abschnitt.das Gegentheil, die störendste Heterogeneität, vorhanden ist. Überdieſs fällt es nicht schwer, nachzuweisen, was den Lukas hier zu einer falschen Zusammenstellung ver - führt haben mag. Es war in der Parabel vom μαμωνᾶς τῆς ἀδικίας die Rede: dieſs weckte in ihm die Erinnerung an ein ähnlich lautendes Diktum Jesu, daſs, wer an dem ἀδίκῳ μαμωνᾷ, als dem Geringeren, sich treu beweise, dem auch das Höhere anvertraut werden könne. War aber einmal vom Mammon die Rede, wie konnte der Verf. umhin, sich des bekannten Ausspruchs Jesu von Gott und dem Mammon, als zwei unvereinbaren Herren, zu erin - nern, und zum Überfluſs auch diesen noch beizusetzen? 22)Diesen lezteren Vers hat auch Schneckenburger, Beiträge, No. V., wo er zugleich die Olshausen'sche Deutung der Pa - rabel treffend widerlegt, als nicht hieher gehörig erkannt, während er von den vorangegangenen Versen, mit Unrecht schon vom 9ten an, diese Ansicht blos möglich findet. Die zahlreichen älteren und neueren Versuche, das Gleichniss vom Haushalter ohne eine solche kritische Sonderung zu er - klären, sind nur eben so viele Beweise, dass ohne dieselbe eine befriedigende Auslegung der Parabel unmöglich ist.Daſs durch diese Zusätze die vorhergemeldete Gleichniſs - rede in ein völlig falsches Licht gestellt wurde, kümmerte den Referenten wenig, der vielleicht ihren Sinn selbst nicht klar gefaſst hatte, oder in dem Bestreben, sein evangelisches Gedächtniſs vollständig zu entleeren, auf den Zusammenhang keinen Bedacht nahm. Man sollte überhaupt mehr Bewuſstsein davon haben, daſs bei denjenigen unsrer Evangelisten, welche nach der jezt herrschenden Annahme eine mündliche Überlieferung aufzeichneten, in Abfassung ihrer Schriften das Gedächtniſs in einer Weise angespro - chen war, welche die Thätigkeit der Reflexion zurück - drängen muſste, weſswegen in ihren Berichten das herr - schende Band die Ideenassociation mit ihren zum Theil sehr äusserlichen Gesetzen ist, und wir uns nicht wun -603Sechstes Kapitel. §. 74.dern dürfen, namentlich manche Reden Jesu nach dem bloſsen Gleichklang gewisser Schlagworte zusammengereiht zu finden.

Sehen wir von hier auf die Behauptung zurück, daſs das Gleichniſs vom ungerechten Verwalter im Zusammen - hang mit dem vorhergehenden vom verlorenen Sohn ge - sprochen sein müsse: so sehen wir dieselbe nur auf fal - scher Deutung beruhen. Soll nämlich nach Schleiermacher die Vertheidigung der Zöllner gegen die Pharisäer das Band ausmachen: so finden wir von Zöllnern und Phari - säern in der Parabel keine Spur; soll aber nach Olshau - sen der zuvor dargestellten barmherzigen Liebe Gottes gegenüber nun die barmherzige Liebe der Menschen her - vorgehoben werden: so ist hier überall nur von simpler Wohlthätigkeit die Rede, und eine Parallele zwischen die - ser und der Art, wie Gott dem Verlorenen verzeihend ent - gegenkommt, nicht von ferne angedeutet. Auch die Be - merkung V. 14, daſs alles dieſs die Pharisäer gehört, und als φιλάργυροι Jesum verspottet haben, muſs sich theils nicht nothwendig auf dieselben Individuen beziehen, von welchen 15, 2. die Rede gewesen war, so daſs diese die ganze Rede als zusammenhängende angehört haben müſs - ten, theils bewiese sie doch zunächst nur die Ansicht des Referenten von der Zusammengehörigkeit dieser Parabeln, welche nach dem Bisherigen uns unmöglich binden kann.

Nach einer bereits besprochenen, mit zusammenhang - losen Redestücken ausgefüllten Spalte, V. 15 18 wird an das lezte dieser Stücke, vom μοιχεύειν, das Gleichniſs vom reichen Manne auf eine Weise angefügt, welche man vergeblich nach dem früher Bemerkten als Zusammenhang darzustellen sich bemüht. Darin jedoch wird man Schleier - macher'n Recht geben müssen, daſs, wenn man das Gleich - niſs vom Vorhergehenden trennt, die alsdann gewöhnliche Beziehung desselben auf die göttliche Strafgerechtigkeit604Zweiter Abschnitt.gleichfalls ihre groſsen Schwierigkeiten habe23)a. a. O. S. 208.. Denn gar nichts ist doch in der ganzen Parabel herausgehoben, was der Reiche und Lazarus gethan haben müſsten, um nach unsern Begriffen mit Recht der eine in Abrahams Schooſs, der andre in die Qual versezt zu werden, son - dern das Verbrechen des einen scheint nur im Reichthum, wie des andern Verdienst nur in der Armuth bestanden zu haben. Man nimmt zwar gewöhnlich von dem Reichen an, theils daſs er im Genusse ausgeschweift, theils daſs er den Lazarus lieblos behandelt habe24)s. Kuinöl, z. d. St.. Allein das Leztere ist nirgends angedeutet; denn daſs der Arme hart πρὸς τὸν πυλῶνα des Reichen liegt, soll nicht den Vor - wurf für diesen enthalten, daſs er ihm leicht hätte helfen können, und es doch unterlassen habe, sondern nur den Contrast sowohl zwischen ihrem beiderseitigen irdischen Loose, als zwischen ihrer Nähe in diesem, und ihrer Entfernung im andern Leben ins Licht stellen, und ebenso will der Zug, daſs der Arme begierig gewesen sei, von den Brosamen sich zu sättigen, die von des Reichen Tische fielen, nicht sagen, daſs der Reiche ihm auch diese ver - weigert, oder daſs er ihm mehr als bloſs die Brosamen hätte zukommen lassen sollen, sondern nur die tiefe Un - terordnung des irdischen Looses von Lazarus unter das des reichen Mannes soll es anzeigen im Gegensaz gegen das umgekehrte Verhältniſs, welches nach dem Tode ein - trat, wo der Reiche sich nach einem Tropfen Wassers von der Hand des Lazarus sehnte. Auf dieses Gesuch könnte, sofern der Reiche als unbarmherzig gegen den Lazarus gezeichnet werden sollte, der Abraham der Para - bel nicht anders als in der Art antworten: du hast einst einen weit näheren Weg zu diesem Lazarus gehabt und ihn doch nicht erquickt, wie sollte nun er einen so wei -605Sechstes Kapitel. §. 74.ten Weg zu dir hinüber machen, um dir Linderung zu bringen? Ebenso ist das herrliche Leben des Reichen nur im Contraste gegen das Elend des Armen so ausgemalt; wäre er als ausschweifend im Genusse vorausgesezt, so müsste ihn Abraham erinnern, wie er im Leben sich des Guten zu viel genommen, nicht bloſs, wie er sein Gutes empfangen habe. Nicht minder grundlos ist es andrerseits, bei Lazarus hohe sittliche Vorzüge vorauszusetzen, da solche weder in der Beschreibung seiner Persönlichkeit angedeutet, noch in der Rede Abrahams ihm angerechnet sind; sein einziges Verdienst ist, in diesem Leben Übles empfangen zu haben. Es ist also in dieser Parabel als Maſsstab bei der künftigen Vergeltung nicht das in diesem Leben gethane Gute und verübte Böse, sondern das hier erlittene Übel und genossene Gute vorausgesezt und das sprechendste Motto zu derselben haben wir in der Berg - rede nach der Redaktion des Lukas gehabt, in dem: μα - κάριοι οἱ πτωχοί· ότι ὺμετέρα ἐςὶν βασιλεία τοῦ ϑεοῦ πλὴν οὐαὶ ὑμῖν τοῖς πλουσίοις· ὅτι ἀπέχετε τὴν παράκλησιν ὑμῶν, wo auch erinnert worden ist, wie genau diese Aussprü - che mit der Weltansicht der Ebioniten zusammenstimmen. Eine ähnliche Werthschätzung der äusseren Armuth schrei - ben übrigens auch die andern Synoptiker in der Erzäh - lung von dem reichen Jüngling und der Gnome vom Kameel und Nadelöhr (Matth. 19, 16 ff. Marc. 10, 17 ff. vrgl. Luc. 18, 18 ff.) Jesu zu, was, sei es in ihm selbst, oder nur in der synoptischen Tradition über ihn, durch essenische Ansichten hervorgerufen scheinen könnte25)Über die Essener als καταφρονητὰς πλούτου vgl. Joseph. b. j. 2, 8, 3; Credner, über Essener und Ebioniten, in Winer's Zeitschrift 1, S. 217. ; Gfrörer, Philo, 2, 8. 311.. Das bisher Betrachtete ist der Inhalt der Parabel vom reichen Mann bis V. 27, von wo an der weitere Gedanke von den A. T. li - chen Schriften, als zureichenden und einzigen Gnaden - mitteln eintritt.

606Zweiter Abschnitt.

Zum Schlusse wenden wir uns noch zu einer Gruppe von Parabeln, aus welcher zwar einige wegen ihrer Beziehung auf Tod und Wiederkunft Christi aufzusparen wären, doch aber wegen ihres Zusammenhangs mit den übrigen, wie - wohl nur in soweit, hier mitgenommen werden müssen. Es sind die drei Gleichnisse von den rebellischen Wein - gärtnern (Matth. 21, 33 ff. parall. ), von den Talenten oder Minen (Matth. 25, 14 ff. Luc. 19, 12 ff. ), und dem Gast - mahl (Matth. 22, 2 ff. Luc. 14, 16 ff.). Unter diesen sind die Parabel von den Weingärtnern nach allen Relationen, die von den Talenten bei Matthäus26)Ein verwandtes Gleichniss aus Sohar chadasch bei Schött - gen, 1, 217. und die vom Gast - mahl bei Lukas27)Eine auffallend ähnliche Parabel aus Sohar Levit. giebt Schött - gen, S. 174 f. einfache Parabeln, die keine weitere Schwierigkeit machen: anders verhält es sich mit dem Gleichniſs von den Minen bei Lukas und dem vom Gast - mahl bei Matthäus. Daſs das erstere mit dem von den Ta - lenten bei Matthäus im Grunde dasselbe sei, ist unerach - tet der mancherlei Abweichungen unleugbar. In beiden fin - det sich die Abreise eines Herrn; das Zusammenrufen der Knechte, um ihnen ein Kapital zum Umtrieb anzuvertrauen; nach der Rückkehr des Herrn eine Rechenschaft, bei wel - cher drei Knechte hervorgehoben werden, von denen zwei thätig, der dritte aber unthätig gewesen ist, und daher dieser bestraft, jene belohnt werden, wobei besonders die Entschuldigung des Knechts und die Antwort des Herrn in beiden Darstellungen fast gleichlautend sind. Die Haupt - verschiedenheit dagegen ist, daſs bei Lukas ausser dem Verhältniſs des abreisenden Herrn zu seinen Knechten noch ein zweites Verhältniſs desselben zu rebellischen Bürgern eingeschoben ist, weſswegen der nach Matthäus nur als ἄνϑρωπος bezeichnete Herr bei Lukas ἄνϑρωπος εὐγενὴς607Sechstes Kapitel. §. 74.heiſst, und ihm ein βασιλεύειν zugeschrieben ist, der Zweck seiner Reise aber, den Matthäus nicht angiebt, dahin be - stimmt wird, er sei gezogen εἰς χώραν μακρὰν, λαβεῖν ἑαυτῷ βασιλείαν. Die Unterthanen dieses Herrn nun, heiſst es weiter, haben ihn gehaſst, und nach seiner Abreise ihm den Gehorsam anfkündigen lassen. Daher werden nach der Rückkehr des Herrn neben dem faulen Knecht auch noch die rebellischen Bürger, und zwar durch Niederme - zelung, bestraft, und die treuen Diener nicht bloſs unbe - stimmt durch Eingehen in die χαρὰ ihres Herrn, sondern königlich durch die Schenkung einer Anzahl von Städten belohnt. Weniger wesentlich sind die Differenzen, daſs die Zahl der Knechte bei Matthäus unbestimmt, bei Lukas auf zehn festgesezt ist; daſs sie nach Matthäus Talente, nach Lukas Minen, bei jenem ungleiche Summen (ἑκάςῳ κατὰ τὴν ἰδίαν δύναμιν) bei Lukas gleiche bekommen, und sofort nach jenem aus ungleichem Kapital durch gleichen Kraftaufwand Ungleiches gewinnen, und daher gleich be - lohnt werden, nach diesem dagegen schaffen sie mit glei - chem Kapital durch ungleiche Kraftanstrengung Ungleiches, und werden daher auch ungleich belohnt.

Sollte diese Parabel zu zwei verschiedenen Malen in veränderter Gestalt aus dem Munde Jesu gekommen sein, so müſste er sie, wenn Matthäus und Lukas sie richtig stellen, zuerst in der zusammengesezteren Form, wie sie Lukas, dann erst in der einfacheren, wie Matthäus sie giebt, vorgetragen haben28)so Kuinöl, Comm. in Luc. p. 635., da jener sie vor, dieser nach dem Einzug in Jerusalem sezt. Allein dieſs wäre gegen alle Analogie. Die erste Ausführung eines Gedankens ist ihrer Natur nach die einfachere: bei der zweiten können neue Beziehungen hinzukommen, die Sache von mehreren Sei - ten betrachtet und in manchfaltigere Verbindungen gesezt werden. So müſste jedenfalls mit Schleiermacher angenom -608Zweiter Abschnitt.men werden, daſs, gegen die Stellung in den Evangelien die Parabel von Jesu zuerst in der einfacheren Gestalt vor - getragen, dann bei einer späteren Gelegenheit bereichert worden sei29)Über den Lukas, S. 239 f.. Indessen für unsern besonderen Fall ist dieſs nicht weniger undenkbar als jenes. Der eigne Urhe - ber einer solchen Darstellung nämlich, besonders wenn sie nur erst in seinem Geist und Munde lebt, und noch nicht schriftlich fixirt ist, bleibt auch bei einer späteren Über - arbeitung seines Stoffes Herr, die Gestaltung, die er ihm früher gegeben, widersteht ihm nicht als spröde, sondern verhält sich als flüssige Masse, so daſs er zu den neu hin - zukommenden Gedanken und Bildern die von früherher vorhandenen in das richtigste Verhältniſs setzen, und Ein - heit in seine Darstellung bringen kann. So muſste derje - nige, welcher der vorliegenden Parabel die Gestalt gab, die sie bei Lukas hat, falls er auch ihr erster Urheber ge - wesen wäre, hatte er einmal den Herrn zu einem König gemacht und den Zug von den rebellischen Bürgern hin - zugefügt, nothwendig den Knechten statt Kapitalien lieber Waffen anvertrauen, sie ihre Treue statt durch Gelderwerb vielmehr durch Bekämpfung der Rebellen beweisen, über - haupt die beiden Klassen von Personen in der Parabel, die Knechte und die Bürger, in irgend eine Beziehung tre - ten lassen: statt dessen nun beide durch die ganze Erzäh - lung hindurch beziehungslos auseinanderfallen, und die Parabel in zwei übel zusammengeleimte Theile gespalten sich zeigt30)Wie Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 76, die Parabel in der zu - sammengesezteren Form bei Lukas als die besser nicht allein ausgemalte, sondern auch abgerundete bezeichnen kann, ge - hört zum rein Unbegreiflichen.. Dieſs beweist sehr bestimmt, daſs die Bereiche - rung der Parabel mit den bezeichneten Zügen nicht von demselben Urheber herrührt, wie ihre erste Schöpfung, sondern durch einen andern muſs sie in der Überlieferung609Sechstes Kapitel. §. 74.auf diese Weise erweitert worden sein. Dieſs kann nicht in der Art vor sich gegangen sein, daſs durch allmählige weitere Ausmalung, wie dieſs in der Art der Sage ist, je - ne Züge sich ihr angebildet hätten; denn aus den Knech - ten und Talenten wellen sich auf keine Weise rebellische Bürger herausspinnen lassen, sondern diese sind von aus - sen zu dem Übrigen hinzugefügt, müssen also neben die - sem als Theil eines besondern Ganzen vorhanden gewesen sein. Das heiſst nun nichts Anderes, als, wir haben hier die Erscheinung, daſs zwei ursprünglich getrennte Para - beln, die eine von Knechten und Talenten, die andre von rebellischen Bürgern handelnd, des gemeinsamen Zugs von der Abreise und Wiederkunft eines Herrn wegen zusam - mengeflossen sind. Die Probe unsrer Behauptung ist, wenn sich die beiden Parabeln leicht wieder auseinander neh - men lassen, und dieſs gelingt aufs Willkommenste, indem man durch Herausnahme der Verse 12. 14. 15. und 27. mit geringer Modifikation die Parabel von den rebellischen Bürgern, freilich in etwas verkürzter Gestalt, doch rein herausbekommt, von welcher man alsdann sieht, daſs sie mit der von den rebellischen Weingärtnern einerlei Ten - denz hatte31)V. 12. ἄνϑρωπός τις εὐγενὴς ἐπορεύϑη εἰς χώραν μακρὰν, λαβεῖν ἑαυτῷ βασιλείαν, καὶ ὑποςρέψαι. 14. οἱ δὲ πο - λῖται αὐτοῦ ἐμίσουν αὐτὸν, καὶ ἀπέςειλαν πρεσβείαν ὀπίσω αὐτοῦ, λέγοντες· οὐ ϑέλομεν τοῦτον βασιλεῦσαι ἐφ 'ἡμᾶς. 15. καὶ ἐγένετο ἐν τῷ ἐπανελϑεῖν αὐτὸν λαβόντα τὴν βασιλείαν, καὶ εἶπε φωνηϑῆναι αὑτῷ τους δούλους (καὶ εἶπεν αὐτοῖς·) 27. τοὺς ἐχϑροὺς μου ἐκείνους, τοὺς μὴ ϑελήσαντάς με βασιλεῦσαι ἐπ' αὐτοὺς, ἀγάγετε ὧδε καὶ κατασφάξατε ἔμπροσϑέν μου..

Ein ähnliches Verhältniſs findet zwischen der Form statt, in welcher das Gleichniſs vom Gastmahl bei Lukas und bei Matthäus erscheint, nur daſs hier Lukas, wie dort Matthäus, das Verdienst hat, die einfache und ursprüngli - che Form aufbehalten zu haben. Während nämlich aufDas Leben Jesu I. Band. 39610Zweiter Abschnitt.beiden Seiten die Züge: Gastmahl, Einladung, Zurückwei - sung derselben, und daher Berufung Anderer die Einerlei - heit beider Parabeln verbürgen: ist dann andrerseits der Gastgeber, bei Lukas ἄνϑρωπός τις, von Matthäus zum βα - σιλεὺς gemacht, welchen die Hochzeit seines Sohns veran - laſst, ein Festmahl zu geben; die Geladenen, welche sich bei Lukas gegen die nur Einmal gesendeten Boten durch verschiedene Gründe entschuldigen, wollen nach Matthäus auf die erste Ladung nicht kommen, bei der zweiten, drin - genderen, gehen die einen zu ihren Geschäften, die andern miſshandeln und tödten die Knechte des Königs, welcher so - fort Heere ausschickt, um jene Mörder zu verderben und ihre Stadt einzuäschern. Hievon ist bei Lukas nichts zu finden; nach ihm läſst der Herr einfach nur statt der zu - erst Geladenen die Nächsten Besten von der Straſse zum Mahle ziehen, ein Zug, den auch Matthäus auf den zuvor erwähnten folgen läſst. Während hierauf Lukas durch die Versicherung des Herrn, daſs keiner der zuerst Ge - ladenen an seinem Mahle Antheil bekommen solle, die Parabel abschlieſst: hat Matthäus noch den weiteren Zug, nachdem das Haus voll geworden war, habe der König die Gäste gemustert und einen ohne hochzeitliches Kleid gefunden, welchen er sofort εἰς τὸ σκότος τὸ ἐξώτερον habe abführen lassen.

Hier will gleich Anfangs der Zug bei Matthäus, daſs die Geladenen die Boten des Königs miſshandelt und ge - tödtet haben, nicht recht passen, und wie ein Herausfal - len aus dem gewählten Bilde erscheinen. Miſsachtung ei - ner Einladung nämlich wird hinlänglich durch Ausschla - gen derselben unter nichtigen Vorwänden, wie sie Lukas namhaft macht, an den Tag gelegt; Miſshandlung oder gar Tödtung der Ladenden ist ein übertreibender Zug, von welchem sich nicht einsehen läſst, wie Jesus, wohl aber, wie der Referent im ersten Evangelium zu demsel - ben kommen mochte. Dieser hatte nämlich unmittelbar611Sechstes Kapitel. §. 74.zuvor die Parabel von den rebellischen Weingärtnern mit - getheilt, und von daher schwebte ihm noch die Art vor, wie diese den von ihrem Herrn ihnen zugeschickten Bo - ten begegnet waren, indem sie λαβόντες τους δούλους αὐτοῦ ὃν μὲν ἔδειραν, ὃν δὲ ἀπέκτειναν, ὃν δὲ ἐλιϑοβόλησαν, und dieſs trug er auch in die gegenwärtige Parabel über in den Worten: κρατήσαντες τοὺς δούλους αὐτοῦ ύβριοαν καὶ ἀπέκτειναν, übersah aber, daſs, was dort, als Verfahren gegen Diener, die mit Forderungen und auf Execution kamen, wohl motivirt war, hier völlig unmotivirt erschien. Daſs hierauf der König, nicht zufrieden, sie von seinem Mahle auszuschlieſsen, die Mörder durch seine Heere töd - ten und ihre Stadt anzünden läſst, folgt zwar aus dem vorangegangenen Zug nothwendig, scheint aber, wie die - ser, aus einer Parabel genommen zu sein, welche das Verhältniſs zwischen dem Herrn und den Andern nicht in der milderen Form einer ausgeschlagenen Einladung, son - dern in der härteren einer Empörung faſste, wie das Gleichniſs von den Weingärtnern und das von den rebel - lischen Bürgern, welches wir oben aus dem von den Mi - nen ausgeschieden haben. Noch bestimmter aber weigert sich der lezte Zug unsrer Parabel bei Matthäus, der mit dem hochzeitlichen Kleide, im Zusammenhang mit dem Übrigen ursprünglich gesprochen worden zu sein. Hatte nämlich der König so eben alle nur immer Aufzutreiben - de, πονηρούς τε καὶ ἀγαϑοὺς, zum Mahle führen lassen: so konnte er sich nicht verwundern, daſs nicht Alle hoch - zeitlich aufgeschmückt waren. Denn daſs die von der Straſse weg Geholten vorher hätten nach Hause gehen sollen, um sich zu waschen und besser anzuziehen32)Fritzsche, S. 656., ist ebenso in den Text hineingetragen, als daſs nach der Sitte morgenländischer Herrscher der König den Geladenen je - dem einen Kaftan habe austheilen lassen, dessen Nichtge -39*612Zweiter Abschnitt.brauch somit auch dem Ärmsten zum Vorwurf gemacht werden konnte33)Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 210; Olshausen, b. Comm., 1, S. 811.; eine Sitte, welche theils für jene Zeit unerwiesen ist34)s. Fritzsche, a. a. O., theils nicht blos stillschweigend vor - ausgesezt werden durfte, weil ohne diesen Zug der Un - wille des Königs unbegründet erscheint. Doch nicht allein dem Bild, sondern auch der Idee dieser Parabel ist der fragliche Zusaz entgegen. Denn bis dahin bewegte sich dieselbe in dem nationalen Gegensaz der widerspenstigen Juden und der heilsbegierigen Heiden: nun müſste sie auf Einmal zu dem moralischen von Würdigen und Unwür - digen überhaupt übergehen. Daſs, nachdem die Juden die Ladung zum Gottesreiche verschmäht hatten, die Heiden in dasselbe berufen werden sollten, ist eine Idee für sich, mit welcher sich daher die Parabel bei Lukas, wie billig, schlieſst; daſs, wer sich der Berufung nicht durch ent - sprechende Gesinnung würdig zeige, aus dem Reiche wie - der ausgeschlossen werde, ist eine andere Idee, welche eine abgesonderte Behandlung in einer andern Parabel ver - langte. Alles leitet uns daher auch hier wieder auf die schon sonst ausgesprochene35)Aus dem Zusazblatt zu Schneckenburger's Beiträgen ersehe ich, dass auch ein Recensent im theol. Literaturblatt, 1831, No. 88. hier eine Verschmelzung zweier ursprünglich ver - schiedenen Parabeln vermuthet hat. Vermuthung hin, daſs der Schluſs dieser Gleichniſsrede bei Matthäus Fragment ei - ner andern Parabel sei, welche, weil beide von einem Gastmahl handelten, leicht in der Sage oder in der Erin - nerung eines Einzelnen mit dem Gleichniſs, welches in seiner Reinheit durch Lukas aufbewahrt worden ist, zu - sammenflieſsen konnte. Diese andre Parabel müſste ein - fach dahin gelautet haben, daſs ein König verschiedene Gäste zu einem Hochzeitmahle geladen habe unter der613Sechstes Kapitel. §. 75.stillschweigenden Voraussetzung eines würdigen Anzugs, und daſs er sofort ein Individuum, bei welchem er diesen nicht fand, seiner verdienten Strafe übergeben habe36)Ähnliche Parabeln, wie die vom hochzeitlichen Gewand für sich genommen gedacht werden müsste, finden sich in meh - reren jüdischen Schriften, z. B. Koheleth R. 9, 8, und Mi - drasch Mischle 16, 11. bei Wetstein, p. 471. vgl. Schabbath f. 152, 2 bei Meuschen N. T. ex. Talm. ill. p. 117.. So hätten wir hier die Erscheinung einer noch com - plicirteren Parabel als oben, einer Parabel, bei welcher 1) das Gleichniſs von den undankbaren Geladenen (Luc. 14.) die Grundlage bildet, doch so, daſs 2) ein Faden aus dem Gleichniſs von den rebellischen Weingärtnern oder Bürgern darein verwoben, der Schluſs aber 3) aus einem sonst nicht bekannten Gleichniſs vom unhochzeitli - chen Gewande darangenäht ist; eine Erscheinung, welche uns einen folgenreichen Blick in die Art und Weise ge - stattet, wie die evangelische Tradition mit ihrem Stoff zu verfahren pflegte.

§. 75. Vermischte Lehr - und Streitreden Jesu.

Da die Reden Matth. 15, 1 20. schon oben erwogen sind, so ist zu 18, 1 ff. Marc. 9, 33 ff. Luc. 9, 46 ff. über - zugehen, wo sich an die durch einen Rangstreit der Jün - ger veranlaſste Aufstellung eines Kindes verschiedene Re - den knüpfen. Vollkommen angemessen schlieſst sich bei Matthäus an die Aufstellung des Kindes zunächst die Er - mahnung, wieder Kinder zu werden und sich wie dieſs Kind zu erniedrigen (V. 3. 4. ); wogegen, wie hiemit der folgende Ausspruch Jesu, wer ein solches Kind in seinem Namen aufnehme, der nehme ihn selbst auf, zusammen - hänge, schon nicht ebenso klar ist. Denn aufgestellt war das Kind, um den Jüngern anschaulich zu machen, was sie ihm nachthun, nicht, was sie ihm thun sollten, und wie614Zweiter Abschnitt.Jesus diese Absicht auf Einmal aus den Augen verlieren konnte, begreift man nicht. Noch greller als bei Mat - thäus tritt das Unzusammenhängende dieses Ausspruchs bei Markus und Lukas darin hervor, daſs sie nach der Aufstellung des Kindes unmittelbar das ὃς ἐὰν δέξηται κ. τ. λ. folgen lassen, so daſs also Jesus schon während des Auf - stellens vergessen haben müſste, weſswegen er das Kind aufstellte, nämlich, um es als nachahmungswürdig, nicht aber um es als aufnahmsbedürftig darzustellen. Von sei - nen Schülern, den μικροῖς τούτοις, pflegte Jesus zu sagen, wer sie aufnehme, nehme ihn selbst, und in ihm denjeni - gen auf, der ihn gesandt habe (Matth. 10, 40 ff. Luc. 10, 16. Joh. 13, 20): von den Kindern sagte er sonst nur, wer das Himmelreich nicht als ein Kind aufnehme, der werde nicht hineinkommen (Marc. 10, 15. Luc. 18, 17). Dieser Ausspruch würde auch hieher trefflich sich eignen, und man möchte fast die Vermuthung wagen, daſs hier das ursprünglich hiehergehörige ὃς ἐὰν μὴ δέξηται τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανων ὡς παιδίον mit dem ähnlich lautenden ὃς ἐὰν δέξηται παιδίον τοιοῦτον ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου verwechselt wor - den sein möge.

Wie in unmittelbarster Beziehung auf das zulezt an - geführte Wort Jesu fügen hierauf Markus (V. 38 f.) und Lukas (V. 49 f.) durch ein ἀποκριϑεὶς die Nachricht ein, welche Johannes Jesu gegeben haben soll, daſs sie einem Menschen, der in Jesu Namen Dämonen austrieb, ohne sich doch an sie anzuschlieſsen, dieſs niedergelegt haben. Schleiermacher faſst den Zusammenhang so: weil Jesus eben die Aufnahme der Kinder ἐπὶ τῷ ὀτόματί μου (τ. . ) em - pfohlen hatte, so habe ihm Johannes das Geständniſs ge - than, sie hätten bisher das, daſs einer etwas gerade ἐπὶ τῷ ὀνόματί σου (τ. . ) thue, so wenig für die Hauptsache gehalten, daſs sie einem, der sich nicht an sie angeschlos - sen, das Handeln auf seinen Namen gewehrt haben1)Über den Lukas S. 153 f.. 615Sechstes Kapitel. §. 75.Allein daſs Johannes aus dem in der Rede Jesu dem Sinne nach nicht hervortretenden, und durch die Anschauung des in die Mitte gestellten Kindes noch besonders in den Hintergrund gedrängten Beisaz: ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου im Au - genblick den allgemeinen Gedanken sollte herausgezogen haben: also ist das im Namen Jesu bei allem Thun die Hauptsache, und ebenso schnell auf den ganz entfernt liegenden Fall reflektirt: mit dieser Regel steht unser Ver - fahren gegen jenen Exorcisten im Widerspruch, das sezt Schleiermacher'sche Denkfertigkeit voraus, nicht eine Schwäche, wie sie den Jüngern damals noch eigen war. Dennoch hat Schleiermacher unfehlbar das Rechte getrof - fen, wenn er in dem Ausdruck ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου das Band zwischen der vorhergehenden Rede Jesu und dieser ἀπό - κρισις des Johannes erkannt hat, nur daſs dieses Band kein inneres und ursprüngliches ist, sondern ein äusseres und secundäres. Denn wenn es zwar für die zuhörenden Jünger viel zu ferne lag, bei jenem Worte Jesu sich durch innere Gedankenvermittlung sogleich jenes Falls aus ihrer Praxis zu erinnern: so lag dem nach Reminiscenzen aus der evangelischen Tradition schreibenden Referenten im dritten Evangelium, aus welchem der im zweiten hier geschöpft zu haben scheint, nach unsern bisherigen Beob - achtungen nichts näher, als durch das Schlagwort ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου in der ebengemeldeten Rede Jesu an eine Anek - dote mit demselben Schlagworte erinnert zu werden, und sie auf diese äusserliche Ähnlichkeit hin frischweg anzuknüpfen.

Nachdem hierauf Matthäus (V. 6 f.) an die Empfeh - lung der Aufnahme solcher Kinder die Warnung vor dem σκανδαλίζειν τῶν μικρῶν τούτων, was aber nach dem jüdi - schen und N. T. lichen Sprachgebrauch die Jünger und Anhänger Jesu sind2)Fritzsche in Matth. p. 391., angeschlossen hat, und auch Mar - kus, unerachtet der beschriebenen Unterbrechung, doch616Zweiter Abschnitt.(V. 42.) auf dieselbe Weise fortgefahren ist, ohne Zwei - fel weil er von Lukas, der hier abbricht und die Reden von den σκανδάλοις weiter unten (17, 1 ff. ) ohne Zusam - menhang einfügt, zu Matthäus übersprang3)s. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 111.: folgt bei Matthäus (V. 8 f.) und Markus (V. 43 f.) eine Stelle, wel - che allein schon den Auslegern über die Art der Synop - tiker, die Aussprüche Jesu zusammenzureihen, die Augen öffnen sollte. An die Warnung Jesu vor dem σκανδαλίζειν der Kleinen nämlich und den Weheruf über den, durch welchen τὸ σκάνδαλον ἔρχεται knüpfen sie die Gnomen von dem σκανδαλίζειν der Hand, des Auges u. s. w. So konnte Jesus nicht fortfahren, da die Sätze: verführet die Klei - nen nicht! und: lasset euch durch eure Sinnlichkeit nicht verführen! ausser dem Worte: Verführen nichts Gemein - sames haben. So fällt es uns von selbst in die Hand, was es auch mit dieser Verbindung für eine Bewandtniſs hat. Das Schlagwort σκανδαλίζειν rief dem Referenten im ersten Evangelium Alles, was er an hievon handeln - den Reden Jesu wuſste, in das Gedächtniſs zurück, und unerachtet er die Aussprüche von der Verführung durch die eignen Glieder schon in der Bergrede in besserem Zu - sammenhang wiedergegeben hatte, kann er doch der Ver - suchung nicht widerstehen, sie auch hier, blos ad vocem σκανδαλίζειν, mitzutheilen, worauf er jedoch V. 10. den Zusammenhang mit V. 6 und 7. wieder aufnimmt, und noch ein weiteres die μικροὺς betreffendes Diktum beifügt. Den Werth der μικροὶ läſst hierauf Matthäus Jesum durch den Saz, daſs des Menschen Sohn gekommen sei, das Verlorene zu suchen, und durch das Gleichniſs vom ver - lorenen Schaf begründen (V. 11 14). Da jedoch nicht abzusehen ist, wie Jesus die μικροὺς geradezu zu dem ἀπολωλὸς soll haben rechnen können: so scheint jene Gnome Luc. 19, 10. bei der Berufung des Zacchäus, diese617Sechstes Kapitel. §. 75.Parabel aber Luc. 15, 3 ff. als Erwiederung auf den An - stoſs der Pharisäer an seiner Zöllnerfreundschaft besser zu stehen, und von Matthäus nur deſswegen hiehergestellt zu sein, weil ihm bei den Reden Jesu von den μικροῖς leicht auch die von den ἀπολωλόσι, beides Beweise seiner ταπεινότης und φιλανϑρωπία, einfallen konnten.

Zwischen der Moral der bezeichneten Parabel (V. 14.) und den folgenden Regeln für das Verhalten der Christen bei Beleidigungen durch Andere (V. 15 ff. ) liegt wiederum nur ein Verbalzusammenhang durch die Worte ἀπόληται und ἐκέρδησας zu Tage, indem der Ausspruch, Gott wolle nicht, daſs dieser Geringsten einer verloren gehe, an den andern erinnern konnte, daſs man also die Brüder durch Versöhnlichkeit zu gewinnen suchen müsse. Wegen der Anweisung (V. 17.), den Beleidiger in gewissen Fällen vor die ἐκκλησία zu bringen, wird diese Stelle gewöhnlich unter den Beweisen, daſs Jesus eine Kirche habe stiften wollen, aufgeführt. Allein Jesus spricht hier von einer bereits bestehenden Institution, also von der jüdischen Syn - agoge, wofür auch die auffallende Analogie dieser An - weisungen mit jüdischen Vorschriften spricht4)s. Wetstein, Lightfoot, Schöttgen z. d. St.. Der Re - ferent freilich scheint an die zu gründende neue Gemeinde gedacht zu haben, wenn er Jesum sofort die schon frü - her dem Petrus gegebene Vollmacht zu binden und zu lösen, also eine neue messianische Religionsverfassung zu begründen, sämmtlichen Jüngern ertheilen läſst, womit sodann die Aussprüche von der Erhörung des einmüthigen Gebets und von der Gegenwart Jesu bei zwei oder drei in seinem Namen Versammelten zusammenhängen, welche gleichfalls nicht ohne Analogie in jüdischen Schriften sind5)Berachoth, f. 6, 1. bei Schöttgen 1, S. 152 f..

Die nächste Rede, die uns begegnet, Matth. 19, 3 12. Marc. 10, 2 12. ist, obzwar nach den Evangelisten auf618Zweiter Abschnitt.der lezten Festreise Jesu vorgefallen, doch eine jener Dispu - tationen, welche sie sonst gröſstentheils in den lezten Auf - enthalt Jesu in Jerusalem stellen. Pharisäer legen ihm die in den jüdischen Schulen damaliger Zeit vielbespro - chene6)Bemidbar R. ad. Num. 5, 30. bei Wetstein p. 303. Frage vor, ob man das Eheweib um jeder belie - bigen Ursache willen entlassen könne? Wenn man hiebei, um Jesum nicht in Widerspruch mit der modernen Pra - xis kommen zu lassen, darauf dringt, daſs er nur diejeni - ge Art der Ehetrennung, von welcher man damals allein wuſste, nämlich das willkührliche Wegschicken der Frau, nicht aber die gerichtliche Scheidung, wie sie jezt einge - führt ist, miſsbilligt habe7)z. B. Paulus, L. J. 1, b. S. 46.: so ist damit doch zugestanden, daſs Jesus, soweit er von Ehetrennungen wuſste, sie allge - mein verworfen hat, wobei also noch sehr die Frage ist, ob ihn die neuere Art, die Ehe aufzulösen, wenn er davon Kunde hätte bekommen können, bewogen haben würde, je - ne allgemeine Verwerfung einzuschränken? Auch bei dem folgenden, durch eine Frage der Jünger veranlaſsten Aus - spruch, von welchem Jesus selber sagt, nicht Alle begrei - fen ihn, sondern nur ο[]ς δέδοται, daſs nämlich die Ehelosig - keit auch um des Reichs Gottes willen übernommen wer - den könne (V. 11 f.), hat man, um Jesum nichts den jetzi - gen Vorstellungen Zuwiderlaufendes sagen zu lassen, sich beeilt, den Gedanken einzuschwärzen, nur mit Rücksicht auf die bevorstehenden Zeitumstände, oder damit sie in ih - rer apostolischen Thätigkeit nicht gehindert würden, habe Jesus den Jüngern, sofern sie es vermöchten, die Ehelosig - keit angerühmt8)Ders. ebendas. S. 50. ex. Handb. 2, S. 599.; allein im Zusammenhang liegt davon noch weniger eine Andeutung, als in der verwandten Stel - le 1 Kor. 7, 25 ff.9)In dieser Stelle wird zwar die Ehelosigkeit zuerst nur διὰ, sondern es ist auch hier wieder ei -619Sechstes Kapitel. §. 75.ner der Orte, wo ascetische Grundsätze, wie sie damals zuverlässig unter den Essenern10)s. Gfrörer, Philo, 2, S. 310 f., wahrscheinlich aber noch weiter unter den Juden verbreitet waren, auch bei Jesu durchscheinen.

Die Streitreden, welche nach dem Einzug Jesu in Je - rusalem Matthäus fast durchaus in Übereinstimmung mit den beiden andern Synoptikern folgen läſst (21, 23 27. 22, 15 46.)11)Eine bündige Erläuterung derselben giebt Hase, L. J. §. 118., sind gewiſs vorzüglich ächte Stücke, weil sie so ganz im Geist und Ton damaliger rabbinischer Dia - lektik gehalten sind. Unter ihnen sind die dritte und fünf - te dadurch besonders merkwürdig, daſs sie Jesum als Schrifterklärer zeigen. In Bezug auf den ersteren Fall, wo Jesus den Sadducäern aus der mosaischen Benennung Gottes als ϑεὸς Ἀβραὰμ καὶ Ἰσαὰκ καὶ Ἰακὼβ, da doch Gott nicht ϑεὸς νεκρῶν, sondern ζώντων sei, zu beweisen sucht, ὅτι ἐγείρονται νεκροὶ (V. 31 33. parall. ), giebt Pau - lus zwar zu, daſs Jesus hier subtil argumentire, doch lie - ge in seiner Prämisse wirklich das, was er daraus ablei - te12)ex. Handb. 3, a, S. 233.. Allein in dem zur Formel gewordenen אֱלהֵֹי־אַבְרָהָם u. s. w. ist nichts enthalten, als daſs Jehova, wie er der Schutzgott dieser Männer gewesen sei, so fort und fort auch für ihre Nachkommen es sein werde: an ein auch nach ihrem Tode fortdaurendes individuelles Verhältniſs Jehova's zu jenen Männern wird sonst im Pentateuch nicht ge - dacht, und in unsre Worte konnte es nur durch rabbini - sche Hermeneutik zu einer Zeit hineingelegt werden, in9)τὴν ἐνεςῶσαν ἀνάγκην empfohlen; dabei aber bleibt der Apo - stel nicht stehen, sondern führt V. 32 ff. in dem: ἄγαμος μεριμνᾷ τὰ τοῦ Κυρίου ό δὲ γαμήσας τὰ τοῦ κόσμου einen Grund für die Ehelosigkeit an, der unter allen Umständen gültig sein müsste, und in den ascetischen Hintergrund der Ansichten des Paulus blicken lässt.620Zweiter Abschnitt.welcher man die indeſs aufgegangene Idee der Unsterblich - keit um jeden Preiſs auch schon in dem Gesetze finden wollte, wo sie doch nicht anzutreffen ist; wie denn die Beziehung Gottes auf Abraham, Isaak und Jakob auch sonst in rabbinischen Argumentationen, die schwerlich alle die - ser Beweisführung Jesu nachgebildet sind, zum Beleg der Unsterblichkeit gebraucht sich findet13)s. Gemara Hieros. Berac. f. 5, 4. bei Lightfoot, S. 423, und R. Manasse ben Isr. bei Schöttgen 1, S. 180.. Sieht man sich auch noch in den neuesten Commentaren um, so findet man nirgends ein unumwundenes Geständniſs, wie es mit die - ser Argumentation Jesu steht. Olshausen weiſs Wunder von der tiefen Wahrheit dieser Beweisführung zu sagen, aus welcher er nebenher noch 1) die Authentie, 2) die Gött - lichkeit des Pentateuchs auf dem kürzesten Wege ableiten zu können glaubt; Paulus liest den Nerv des Beweises zwischen den Linien des Textes; Fritzsche schweigt. Wozu diese Winkelzüge? warum den Ruhm, in dieser Sache klar gesehen und offen geredet zu haben, dem Wolfenbütt - ler Fragmentisten überlassen14)s. dessen 4tes Fragment, in Lessing's 4tem Beitrag, S. 434 ff.? Zu welchen Gespenstern und Doppelgängern macht man einen Moses, einen Jesus, wenn sie unter ihren Zeitgenossen herumgewandelt haben sollen, ohne auf lebendige Weise mit deren Einsichten und Schwächen, wie mit ihren Freuden und Leiden zusammen - zuhängen, sondern losgetrennt von ihrer Zeit und ihrem Volk sollen sie nur äusserlich und aus Anbequemung sich diesen gleichgestellt, innerlich aber und ihrem Wesen nach in den vordersten Reihen der neuesten Zeit und ihrer Er - kenntnisse gestanden haben. Würdiger gewiſs, ja allein fähig der Theilnahme und Verehrung sind diese Männer dann, wenn sie auf ächtmenschliche Weise kämpfend mit den Schranken und Vorurtheilen ihrer Zeit diesen in hun - dert Nebendingen unterlegen sind, nur nicht in Bezug621Sechstes Kapitel. §. 75.auf den Einen Punkt, in welchem jeder von ihnen die Welt - geschichte vorwärts zu bringen berufen war.

Daſs nun aber vollends von der Streitfrage über den Messias als Davids Sohn und zugleich Herrn, welche Jesus den Pharisäern vorlegt (V. 41 46.), Paulus behaupten kann, sie sei ein Muster textgemäſser Schriftauslegung15)L. J. 1, b, S. 115 ff., erregt kein gutes Vorurtheil für die Textgemäſsheit seiner eige - nen. Nach ihm will Jesus, wenn er fragt, wie doch Da - vid im 110ten Psalm den Messias, welcher laut der allge - meinen Vorstellung vielmehr sein Sohn war, seinen Herrn nennen könne? die Pharisäer darauf aufmerksam machen, daſs eben in diesem Psalm weder David noch vom Mes - sias rede, sondern ein anderer Dichter rede von David als seinem Herrn, so daſs dieser kriegerisch lautende Psalm gar kein messianischer sei. Warum sollte, fragt Paulus, Jesus diesen Sinn des Psalms nicht gefunden haben, da er an sich wahr ist? Allein das ist eben das πρῶτον ψεῦδος dieser ganzen Art von Exegese, zu meinen, was an sich, oder näher für uns, wahr ist, das müsse bis auf das Ein - zelste hinaus auch schon für Jesum und die Apostel das Wahre gewesen sein. Wie kann, da die älteren jüdischen Erklärer den Psalm groſsentheils vom Messias verstanden16)s. Wetstein, z. d. St.; Hengstenberg, Christol. 1, a, S. 140 f; auch Paulus selbst, ex. Handb. 3, a, S. 283 f., da die Apostel ihn als Weissagung auf Christum gebrau - chen (A. G. 2, 34 f. 1 Kor. 15, 25.), da Jesus selbst nach Matthäus und Markus durch den Zusaz ἐν πνεύματι zu Δα - υὶδ καλεῖ αὐτὸν Κύριον offenbar seine Beistimmung zu der Meinung, daſs hier David, und zwar vom Messias spreche, ausdrückt: wie kann man da annehmlich finden, daſs Jesus der entgegengesezten Meinung gewesen sei? Bleibt es viel - mehr dabei, was auch Olshausen gut ausführt, daſs Jesus den Psalm als messianischen voraussezte, aber eben -622Zweiter Abschnitt.so sehr, worin dann Paulus Recht behält, daſs er ursprüng - lich nicht auf den Messias, sondern auf einen jüdischen Regenten, sei dieser nun David oder ein anderer, gieng: so sehen wir hier im Munde Jesu ein Muster nicht textge - mäſser, wohl aber zeitgemäſser Schriftauslegung, was wir uns denn nach dem oben Bemerkten nur gar nicht wollen wundern lassen. Den Schlüssel zu dem Räthsel, welches er den Pharisäern aufgab, hat Jesus nach des Referenten Ansicht ohne Zweifel in der Lehre von der höheren Natur des Messias besessen; da die Pharisäer nach unsrer Erzählung diese Auskunft nicht fanden, so scheint ihnen jene Lehre nicht geläufig gewesen zu sein. Die Absicht Jesu bei Vor - legung dieser Frage war, den Pharisäern zu zeigen, daſs auch er, was sie früher gegen ihn versucht hatten, im Stan - de sei, sie durch verfängliche Fragen in die Enge zu trei - ben, und zwar mit besserem Erfolg als sie. Deſswegen stellen die Evangelisten dieses Stück an den Schluſs der von ihnen mitgetheilten Disputationen, und Matthäus sezt die Schluſsformel: οὐδὲ ἐτόλμησέ τις ἀπ '[έ]κείνης τῆς ἡμέρας ἐπερωτῆσαι αὐτὸν οὐκέτι gewiſs passender hieher als Lukas nach der Zurechtweisung der Sadducäer (20, 40.), oder Markus nach der Verhandlung über das gröſste Gebot (12, 34.).

Zunächst vor dieser von Jesu den Pharisäern gestellten Aufgabe nämlich erzählen die beiden ersten Evangelisten eine Verhandlung Jesu mit einem νομικὸς oder γραμματεὺς über das vornehmste Gebot (Matth. 22, 34 ff. Marc. 12, 28 ff. ), welche Matthäus an die Disputation mit den Sadducäern so anknüpft, als hätten die Pharisäer durch ihre Frage nach dem höchsten Gebot die Niederlage der Sadducäer rächen wollen. So befreundet aber waren diese beiden Sekten bekanntlich nicht, sondern umgekehrt war nach A. G. 23, 7. die eine geneigt, sich auf die Seite eines sonst Angefeindeten zu schlagen, wenn sich dieser als Gegner der andern zu stellen wuſste. Sondern hier muſs Schnek -623Sechstes Kapitel. §. 75.kenburger's17)Über den Ursprung u. s. f. S. 45. 47. Beobachtung gelten, daſs Matthäus nicht selten (3, 7. 16, 1.) die Pharisäer und Sadducäer in einer Weise nebeneinanderstelle, wie sie keineswegs in der sie feindlich trennenden Wirklichkeit, sondern nur in der traditionellen Erinnerung, in welcher der eine Gegensatz den andern hervorrief, gestanden haben kön - nen. Leidlicher weiſs in dieser Hinsicht Markus dieses Gespräch an das vorige anzuschlieſsen; indeſs scheint eben das ein Irrthum der Synoptiker zu sein, daſs sie meinen, diese, der Ähnlichkeit wegen in der Überlieferung zusam - mengruppirten Verhandlungen müssen auch der Zeit nach auf einander so gefolgt sein, daſs eine Rede die andre gab. Dem Lukas fehlt die Frage nach dem höchsten Ge - bot im Zusammenhang dieser Streitreden; eine ähnliche Erzählung aber hat er schon früher in dem Reisebericht, 10, 25 ff. gehabt. Hier ist nun die gewöhnliche Ansicht, daſs die beiden ersten Evangelisten Eine und dieselbe Begebenheit berichten, der Dritte aber eine verschie - dene18)so Paulus, ex. Handb. 2, S. 570 ff. vgl. 3, a, 261; Olshau - sen, 1, S. 602 vgl. 831.. Wirklich unterscheidet sich die Erzählung des Lukas von der der beiden andern in mehreren nicht un - wesentlichen Punkten. Zuerst in Betreff der Zeitordnung auf die bereits erwähnte Weise, und dieſs hat wohl am meisten für die Auseinanderhaltung gewirkt; hienächst in der Frage, welche bei Lukas nach einer Lebensregel zum Behuf der Ererbung der ζωὴ αἰώνιος, bei den andern nach dem höchsten Gebote lautet; dann in dem Subjekt, welches die höchsten Gebote ausspricht, was bei den zwei ersten Synoptikern Jesus, bei dem dritten der Schriftgelehrte ist; endlich auch in dem Ausgang der Sache, indem bei Lukas der νομικὸς eine zweite, recht - haberische Frage thut, an welche sich das Gleichniſs624Zweiter Abschnitt.vom barmherzigen Samariter schlieſst, während er bei den beiden andern ohne weitere Frage befriedigt oder abgefertigt sich giebt. Indeſs auch zwischen der Erzäh - lung des Matthäus und der des Markus zeigen sich er - hebliche Verschiedenheiten. Die hauptsächlichste betrifft den Charakter des Fragenden, der bei Matthäus als πειρά - ζων, bei Markus in gutmüthiger Absicht kommt, weil er wuſste, daſs Jesus den Sadducäern καλῶς ἀπεκρίϑη. Pau - lus zwar, unerachtet er anderswo (Luc. 10, 25.) den ἐκπει - ράζων selbst als einen eigensüchtigen Probemacher nimmt, erklärt doch, hier bei Matthäus könne πειράζων nur im guten Sinne gemeint sein20)ex. Handb. 3, a, S. 261.. Allein ein Grund hiezu liegt im Matthäus nicht, sondern nur im Markus und in der unberechtigten Voraussetzung, daſs beide Referenten in Bezug auf den Charakter und die Absicht des fragen - den Gesezlehrers nicht verschiedener Meinung gewesen sein können. Mit Recht hat hiegegen Fritzsche darauf aufmerksam gemacht, wie hier einer Vereinigung des Matthäus mit dem Markus theils die Bedeutung des πειρά - ζων, theils der Zusammenhang entgegenstehe, welcher nicht gestatte, eine Reihe böswilliger Fragen der Gegner Jesu ohne besondre Anzeige durch eine gutgemeinte un - terbrochen zu denken21)Comm. in Matth. p. 667.. Mit dieser Hauptdifferenz hängt die andre zusammen, daſs, während bei Matthäus der Schriftgelehrte, nachdem ihm Jesus die beiden Gebote genannt hat, wahrscheinlich beschämt, schweigt, was auch kein Zeichen einer freundlichen Stellung zu Jesu ist, er bei Markus nicht nur durch ein: καλῶς, διδάσκαλε, ἐπ 'ἀληϑείας εἶπας Jesu Beifall giebt, sondern auch das von diesem gesagte weiter ausführt, wofür er von Jesu, ὅτι νουνεχῶς ἀπεκρίϑη, als einer bezeichnet wird, der nicht ferne vom Reich Gottes sei. Auch das kann noch ange -625Sechstes Kapitel. §. 75.führt werden, daſs, während bei Matthäus Jesus nur von dem Gebot der Liebe spricht, er bei Markus von dem ἄκουε Ἰσραὴλ, Κύριος ϑεὸς ἡμῶν Κύριος εἶς ἐςι ausholt. Wenn man also um der Differenzen zwischen der Er - zählung des Lukas und der der beiden andern willen diese unterscheiden zu müssen glaubt: so muſs man nicht gerin - gerer Unterschiede wegen auch den Markus von Matthäus trennen, und so dreierlei Begebenheiten als zum Grunde liegend denken. Aber drei im Wesentlichen so ähnliche Vorfälle anzunehmen, fällt so schwer, daſs man sich im - mer wieder zu Reduktionsversuchen veranlaſst finden wird. Und hier scheinen sich nun zwar vor Allem die beiden Erzählungen des Matthäus und Markus zur Identificirung darzubieten: indessen fehlt es auch weder zwischen Mat - thäus und Lukas an Berührungspunkten, da in beiden der νομικὸς als πειράζων auftritt, und durch Jesu Antwort nicht zu dessen Gunsten gestimmt wird, noch auch zwi - schen Lukas und Markus, indem beide der Nennung der höchsten Gebote noch eine weitere erläuternde Verhand - lung folgen, und in das Gespräch Jesu mit dem Schrift - gelehrten Beifallsformeln wie ὀρϑῶς ἀπεκρίϑης, καλῶς ἐπ 'ἀληϑείας εἶπας einflieſsen lassen. So sehen wir, daſs, nur zwei von diesen Erzählungen zusammenzunehmen, eine halbe Maſsregel ist, und entweder alle drei auseinander - gehalten werden müssen, oder, da dieſs nicht angeht, alle drei zusammengefaſst, woraus wir abermals sehen, in wie freien Variationen die urchristliche Sage das glei - che Thema hier das, daſs Jesus aus dem mosaischen Gesetze die beiden Gebote der Gottes - und Nächstenliebe als die vornehmsten herausgehoben habe, zu behandeln pflegte.

Wir kommen nun an die groſse antipharisäische Rede, welche Matthäus K. 23. als Haupttreffen auf die Vorspiele der Disputationen folgen läſst. Auch Markus (12, 38 ff. ) und Lukas (20, 45 ff. ) haben hier eine Rede Jesu gegenDas Leben Jesu I. Band. 40626Zweiter Abschnitt.die γραμματεῖς, doch nur von wenigen Versen. Wohl mochte aber Jesus, wie auch die neueste Kritik zuge - steht22)Sieffert, über den Ursprung, S. 117 f., unter den damaligen Umständen veranlaſst sein, sich ausführlicher gegen jene Menschen auszulassen, und es müssen auch wohl solche scharfe Erörterungen der Katastrophe vorausgegangen sein: so daſs man also die Darstellung des Matthäus hier wenigstens nicht nach dem was die beiden andern Synoptiker geben, abmessen darf, zumal die von jenem mitgetheilte Rede in sich selber wohl zusammenhängt. Freilich hat auch hier wieder Lukas Man - ches von dem, was Matthäus zusammenstellt, an verschie - dene Orte und Anlässe vertheilt, und hieraus würde fol - gen, daſs auch dieſsmal Matthäus den ursprünglichen Lehr - stoff mit verwandten Elementen aus andrer Zeit verschmol - zen habe23)Schulz, über das Abendmahl S. 314. Schneckenburger, über den Ursprung, S. 35., wenn es ausgemacht wäre, daſs die Stel - lung jener Redestücke bei Lukas die richtige sei, was so - fort zu untersuchen ist. Lukas hat, was er ausser den paar Versen, die er an gleicher Stelle wie Matthaus von der antipharisäischen Rede Jesu beibringt, mit dieser gemein hat, bei zwei pharisäischen Gastmahlen untergebracht, zu welchen er eine nur bei ihm sich findende Artigkeit Jesum geladen werden läſst (11, 37 ff. 14, 1 ff. ), und hier ist unter den jetzigen Auslegern fast nur Eine Stimme darüber, wie natürlich und treu uns Lukas die ursprüng - lichen Veranlassungen dieser Reden aufbewahrt habe24)Schleiermacher, über den Luk. S. 182. 196 f. Olshausen, S. 617. 655; vgl. die in der vorigen Anm. genannten.. Nun nimmt sich wirklich bei dem zweiten der angeführ - ten Pharisäermahle das natürlich genug aus, wie Jesus von dem dabei bemerkbaren Trachten der Geladenen nach den obersten Plätzen Veranlassung nimmt, vor dem Oben - ansitzen bei Gastmahlen schon aus Klugheitsrücksichten627Sechstes Kapitel. §. 75.zu warnen, was bei Matthäus und Markus, aber auch bei Lukas selbst wieder, in jener lezten antipharisäischen Rede, ohne besondern Anlaſs und kürzer, sich findet. Anders dagegen verhält es sich mit den Reden, welche Lukas bei dem früheren Pharisäermahl geführt werden läſst. Hier spricht Jesus nicht nur gleich von vorne herein von ἁρπαγὴ und πονηρία, womit die Pharisäer ihre Schüsseln füllen, und beehrt sie mit dem Titel ἄφρονες, sondern er bricht sofort in ein οὐαὶ um das andere über sie und die Schrift - gelehrten aus, und droht ihnen mit einem Strafgericht für alles Blut, das sie und die ihnen Gleichgesinnten von jeher vergossen haben. Ist nun gleich von einem jüdischen Leh - rer keine attische Urbanität zu verlangen, so muſsten doch gerade auch nach morgenländischem Maſsstab gemessen solche Reden, über Tisch gegen den Wirth und die Mit - gäste geführt, als die gröbste Verletzung des Gastrechts erscheinen. Dieſs hat Schleiermacher fein genug gefühlt, weſswegen er denn das Gastmahl selber friedlich vorüber - gehen, und erst nach demselben, als Jesus sich schon wieder draussen befand, sowohl den Gastgeber mit seiner Verwunderung über die von Jesus und seinen Jüngern unterlassene Waschung herausrücken, als auch Jesum hierauf so gewaltig antworten läſst25)a. a. O. S. 180 f.. Allein daſs auf diese Weise der Referent das Gastmahl selbst und was dabei vorgegangen gar nicht beschrieben, sondern nur des Zusammenhangs wegen erwähnt haben soll, ist eine ge - waltsame Annahme, und wenn man liest: εἰσελϑὼν δὲ ἀνέ - πεσεν· δὲ φαρισαῖος ἰδὼν ἐϑαύμασεν, ὅτι ου᾽ πρῶτον ἐβαπ - τίσϑη · εἶπε δὲ Κύριος πρὸς αὐτὸν, so ist es rein un - möglich, irgendwo zwischen diese Sätze den Verlauf der Mahlzeit einzuschieben, sondern es muſs sich nach der Ansicht des Erzählers sowohl das ἐϑαύμασεν an das ἀνέ - πεσεν, als das εἶπεν an das ἐϑαύμασεν unmittelbar ange -40*628Zweiter Abschnitt.schlossen haben. Kann aber dieſs, wenn Jesus nicht auf das Gröbste gegen alle Sitte verstoſsen haben soll, nicht wirklich so der Fall gewesen sein: so hat es mit dem Rühmen der Stellung dieser Rede bei Lukas ein Ende, und wir müssen nur noch sehen, wie er zu einer so fal - schen Stellung gekommen sein kann. Dieſs finden wir, wenn wir die Art vergleichen, wie die beiden andern Synoptiker des Anstoſses Erwähnung thun, welchen die Pharisäer an der Unterlassung der Waschung vor Tische von Seiten Jesu und seiner Schule nahmen, woran sie übrigens andre Reden als Lukas knüpfen, welche schon oben betrachtet worden sind. Bei Matthäus (15, 1 ff. ) kommen die γραμματεῖς und φαρισαῖοι von Jerusalem und fragen Jesum, warum seine Jünger die Sitte des Wa - schens vor Tische nicht beobachten, was sie also, wie man voraussetzen kann, durch das Gerücht erfahren haben mögen; bei Markus (7, 1 ff. ) sehen sie unmittelbar zu (ἰδόντες), wie einige von Jesu Jüngern mit ungewaschenen Händen essen, und stellen sie darüber zur Rede; bei Lu - kas endlich speist, wie wir gesehen haben, Jesus selbst bei einem Pharisäer, und bei dieser Gelegenheit zeigt es sich, daſs er die Waschung unterläſst. Dieſs ist ein of - fenbarer Klimax: Hörensagen Zusehen Mitspeisen, und es fragt sich nur, in welcher Richtung er entstanden sein mag, ob in der absteigenden von Lukas zu Matthäus, oder in der aufsteigenden von Matthäus zu Lukas? Von dem Standpunkt der neuesten Kritik des ersten Evange - liums wird man nicht ermangeln, das Erstere zu behaup - ten, daſs nämlich die Kunde von der ursprünglichen Scene, dem Mahle, sich in der Überlieferung verloren habe und deſswegen im ersten Evangelium fehle. Allein abgesehen von dem Undenkbare, daſs jene Reden bei einem Mahle sollten geführt worden sein, so ist es keineswegs die Weise der Sage, einen so anschaulichen Zug, wie eine Mahl - zeit ist, wenn sie ihn einmal hat, wieder fallen zu lassen,629Sechstes Kapitel. §. 75.sondern eher, wenn sie ihn nicht hat, ihn zu erdichten. Wie überhaupt das Abstrakte in der Sage zum Concreten umgebildet wird: so macht sie das Mittelbare zum Unmit - telbaren, das fando audire zum Sehen, den Zuschauer zum Theilnehmer, und da sich der Anstoſs, welchen die Pharisäer an Jesu nahmen, unter Andrem auch auf Tisch - gebräuche bezog: so war es der Sage nahe gelegt, jenen Anstoſs an Ort und Stelle entstehen, und zu diesem Be - hufe pharisäische Einladungen an Jesum ergehen zu las - sen, von welchen nun auch bedenklich wird, daſs sie Lukas allein hat, und die beiden andern Synoptiker nichts von dergleichen wissen. Hiedurch wird dann auch das andre der erwähnten Pharisäermahle verdächtig, und wir sehen hier wieder den Lukas in seiner beliebten Geschäf - tigkeit, zu überlieferten Reden Jesu passend scheinende Rahmen zu verfertigen oder aufzunehmen, ein Verfah - ren, welches von der historischen Wahrheit um ein gutes Stück weiter abliegt, als das Bestreben des Matthäus, Reden aus verschiedenen Zeiten, doch ohne eigne Zuthat, zusammenzustellen. Der bezeichnete Klimax übrigens ist dem sonstigen Verhältniſs der Synoptiker gemäſs nur so zu denken, daſs Markus, welcher in dieser Erzählung augenscheinlich den Matthäus vor sich hatte, in dessen Darstellung das anschauliche ἰδόντες hineintrug, während Lukas, von beiden unabhängig, sogar ein δεῖπνον sei es von der weiter fortgeschrittenen Sage überkam, oder mit regerer Phantasie dazudichtete.

Sonst ist aus dieser Rede besonders V. 35. viel besprochen worden, wo Jesus seinen Zeitgenossen droht, daſs alles un - schuldig vergossene Blut von Abel bis zu dem im Heiligthum ermordeten Zacharias, Barachias Sohn, über sie kommen wer - de. Da nämlich derjenige Zacharias, von welchem 2 Chron. 24, 20 ff. ein solches Ende erzählt wird, ein Sohn nicht von Barachias, sondern von Jojada war, dagegen im jüdi - schen Krieg ein Zacharias Baruchs Sohn ein gleiches Ende630Zweiter Abschnitt.nahm26)Joseph. b. j. 4, 5. 4.: so glaubte man eine Verwechselung jenes früheren Faktums mit diesem späteren hier zu finden, was man sofort als Mitbeweis einer späteren Abfassung des ersten Evangeliums gebrauchte27)Eichhorn, Einleitung in das N. T. 1, S. 510 ff. Hug, Einl. in das N. T. 2. S. 10 ff.. Ebensogut indeſs kann der nach der Chro - nik ermordete Zacharias Jojada's Sohn mit dem gleichna - migen Propheten, der ein Sohn von Barachias war (Zach. 1, 1. LXX; Baruch bei Josephus ist nicht einmal derselbe Name), verwechselt worden sein28)s. die gründliche Untersuchung von Theile, über Zacharias Barachias Sohn, in Winer's und Engelhardt's neuem krit. Journ. 2, S. 401 ff., zumal auch ein Tar - gum, offenbar in Folge der gleichen Verwechslung mit dem Propheten, der ein Enkel Iddo's war, den ermordeten Za - charias einen Sohn von Iddo nennt29)Targum Thren. 2, 20, bei Wetstein, S. 491..

Nachdem wir nun von den Reden Jesu bei Matthäus alle diejenigen betrachtet und mit ihren Parallelen verglichen haben, welche uns nicht entweder schon früher vorgekom - men sind, oder später, theils in der Betrachtung einzelner Begebenheiten aus der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, theils in der Leidensgeschichte noch vorkommen werden: so könn - te es zur Vollständigkeit zu gehören scheinen, daſs wir ebenso auch noch die Zusammenstellungen, in welchen die beiden andern Synoptiker die Reden Jesu geben, für sich betrachteten, und von da aus auf die Parallelen im Mat - thäus hinübersähen. Indeſs auf die merkwürdigsten Rede - massen bei Markus und Lukas haben wir bereits einen ver - gleichenden Blick geworfen, die Parabeln, welche beiden eigenthümlich sind, durchgegangen, das Übrige aber, was sie an Reden voraushaben, wird uns theils gleichfalls spä - ter noch vorkommen, theils ergiebt sich der Standpunkt für die Betrachtung desselben aus dem Bisherigen: weſswegen es hiebei sein Bewenden haben mag.

631Siebentes Kapitel. §. 76.

Siebentes Kapitel. Reden Jesu im vierten Evangelium.

§. 76. Die Unterredung Jesu mit Nikodemus.

Das erste gröſsere Redestück, welches uns das johan - neische Evangelium mittheilt, ist die Unterhaltung Jesu mit Nikodemus (3, 1 21.). Vorher (2, 23 25.) war berich - tet worden, wie während des ersten von Jesu seit seinem öffentlichen Auftritt besuchten Paschafestes durch die ση - μεῖα, welche er verrichtete, Viele zum Glauben an ihn ge - bracht worden seien, wie aber er sich ihnen nicht anver - traut habe, weil er sie ohne Zweifel in Hinsicht der Unsicherheit und Unreinheit ihres Glaubens durchschau - te. Nun wird, als Beispiel sowohl von dem Anhang, wel - chen Jesus schon damals fand, als auch von der Behut - samkeit, mit welcher er bei Prüfung und Aufnahme seiner Anhänger zu Werke gieng, die Art näher beschrieben, wie sich Nikodemus, ein zur Pharisäersekte gehöriger jüdi - scher ἄρχων, an ihn gewendet, und wie ihn Jesus be - handelt habe.

Von diesem Nikodemus erfahren wir einzig durch das johanneische Evangelium, welches ihn auch 7, 50 f. als Fürsprecher für Jesum insofern auftreten läſst, als er diesen nicht ungehört verdammt wissen will, und 19, 39. ihn die Sorge für die Bestattung Jesu mit Joseph von Ari - mathäa theilen läſst. Mit Recht hat die neuere Kritik es befremdend gefunden, daſs Matthäus (mit den übrigen Syn - optikern) auch nicht einmal den Namen jenes merkwür - digen Anhängers Jesu irgendwo nenne, so daſs wir Alles,632Zweiter Abschnitt.was uns von demselben bekannt ist, aus dem vierten Evan - gelium erfahren müssen, da doch das eigenthümliche Ver - hältniſs, in welchem Nikodemus zu Jesu gestanden, und daſs auch er an seiner Bestattung Theil genommen, dem Matthäus ebensogut als dem Johannes habe bekannt sein müssen. Dieſs wird sofort in den Kreis jener Gründe ge - zogen, welche beweisen sollen, daſs das erste Evangelium nicht vom Apostel Matthäus verfaſst, sondern aus ziemlich später Tradition entstanden sei1)Schulz, über das Abendmahl, S. 321.. Allein auch an der ge - meinen urchristlichen Sage, aus welcher die Synoptiker schöpften, muſs es auffallen, daſs sie von diesem Nikode - mus nichts weiſs. Hat sie doch die Namen aller übri - gen, welche dem gemordeten Meister die lezte Ehre er - weisen halfen, eines Joseph von Arimathäa und der beiden Marien, mit rührender Pietät in ihre Gedenkbücher einge - zeichnet (Matth. 27, 57 61. parall. ): warum sollte ihr in sämmtlichen uns aufbehaltenen Denkmalen gerade dieser Nikodemus entgangen sein, welcher unter den Theilneh - mern an der Bestattung Jesu durch jenen nächtlichen Be - such bei ihm und die Fürsprache für ihn besonders ausge - zeichnet war? Daſs, wenn der Mann sich in der That so hervorgethan, sein Name dennoch aus der vulgären evan - gelischen Überlieferung habe verschwinden können, dieſs ist so schwer sich begreiflich zu machen, daſs man sich ge - nöthigt findet, zu versuchen, ob nicht das Umgekehrte er - klärlicher ist, wie nämlich, ohne daſs er wirklich in einem solchen Verhältniſs zu Jesu stand, die Sage davon sich den - noch bilden, und vom Verfasser des vierten Evangeliums aufgenommen werden konnte.

Joh. 12, 42. wird ausdrücklich hervorgehoben, daſs auch [κ]τῶν ἀρχόντων πολλοὶ an Jesum geglaubt haben, nur haben sie aus Furcht vor dem pharisäischen Bann es nicht wollen laut werden lassen, indem sie fälschlich die δόξα633Siebentes Kapitel. §. 76.τῶν ἀνϑρώπων der δόξα τοῦ ϑεοῦ vorgezogen haben2)Diese geheimere Kunde muss freilich einem Ausleger, wie Dr. Paulus, höchst willkommen sein, weil sie über manche Vorfälle des Lebens Jesu, deren Ursachen nicht öffentlich erscheinen, einen merkwürdigen Wink giebt (L. J. 1, b, S. 141), d. h. weil auch Paulus, wie Bahrdt und Venturini, nur weniger offen, dergleichen einflussreiche geheime Ver - bündete als deos ex machina zur Erklärung manches Wun - derbaren im Leben Jesu (Verklärungsgeschichte, Aufenthalt nach der Wiederbelebung u. dgl. ) zu gebrauchen Lust hat.. Daſs nun gegen das Ende der Laufbahn Jesu wirklich viele Vornehme, wenn auch nur insgeheim, an ihn geglaubt ha - ben sollten, ist deſswegen nicht sehr wahrscheinlich, weil sich in der Apostelgeschichte so gar keine Spur davon fin - det; denn daſs der Rath des Gamaliel (A.G. 5, 34 ff. ) nicht aus einer, der Sache Jesu positiv günstigen Gesinnung her - vorgegangen war, scheint sein Schüler Saulus zu beweisen. Auch lassen die synoptischen Evangelien Jesum unumwun - den aussprechen, daſs das Geheimniſs seiner Messianität nur den νηπίοις klar geworden, den σοφοῖς und συνετοῖς aber verborgen geblieben sei (Matth. 11, 25. Luc. 10, 21.), und erwähnen als Anhänger Jesu aus der herrschenden Klasse nur jenen Joseph von Arimathäa. Wie konnte denn aber, wenn Jesus ohne Anhang von Vornehmen ge - blieben war, die Sache dennoch später auf die bezeich - nete Weise dargestellt werden? Joh. 7, 48 f. lesen wir, wie die Pharisäer Jesum durch die Bemerkung herabzu - setzen gesucht haben, daſs keiner ἐκ τῶν ἀρχόντων ἐκ τῶν φαρισαίων, sondern nur der unwissende ὄχλος an ihn glaube, und auch spätere Gegner des Christenthums, wie Celsus, legten besonderes Gewicht darauf, daſs Jesus ἐπιῤῥήτους ἀνϑρώπους, τελώνας καὶ ναύ[τ]ας τοὺς πονηροτάτους, zu Schülern gehabt habe3)Orig. c. Ccls. 1, 62.. Dieser Vorwurf war ein Stachel im Bewuſstsein der ersten Gemeinde, und wenn634Zweiter Abschnitt.sie auch, so lange sie wirklich nur aus Leuten aus dem Volke bestand, sich durch die Reflexion auf Aussprüche Jesu beruhigte, in welchen er die πτωχοὺς und νηπίους se - lieg gepriesen hatte: so konnten doch, sobald Männer von Stand und Bildung zu derselben übergetreten waren, die - se nicht anders denken, als daſs ihresgleichen auch schon zu Jesu Lebzeiten ihm angehangen haben müssen. Aber es war doch von solchen sonst nichts bekannt, muſste man sich einwenden. Natürlich, antwortete man, da die Furcht vor ihren Standesgenossen sie bewogen haben wird, ihr Verhältniſs zu Jesu geheim zu halten; womit dann für beliebig viele Vornehme, welche geheime Anhänger Jesu gewesen sein sollten (Joh. 12, 42 f.), Thür und Thor geöffnet war. Doch, muſste man weiter fragen, wie konn - ten sie denn unbemerkt mit Jesu zusammenkommen? Un - ter dem Schleier der Nacht, antwortete man, und hiemit war die Scene für die Zusammenkünfte solcher Männer mit Jesu gegeben, sie waren ἐλϑόντες πρὸς τὸν Ἰησοῦν νυκ - τός (19, 39). Nun muſste aber doch auch ein Repräsen - tant dieser Klasse von Anhängern Jesu auf dem nächtli - chen Schauplaz wirklich auftreten; es konnte Joseph von Arimathäa gewählt werden, der in der synoptischen Tra - dition lebte: allein theils war sein Bild bereits abgeschlos - sen, theils lag es ja im Interesse der Sage, mehr als Ei - nen vornehmen Freund Jesu namhaft zu machen, und es bildete sich daher eine neue Figur, deren griechischer Name Νικόδημος schon den Repräsentanten der volkbeherr - schenden Klasse anzudeuten scheint4)Man denke nur an die verwandten Namen Nikolaus und Nikolaiten.. Warum nun die - se Fortbildung der Sage nur im vierten Evangelium sich zeigt, dieſs erklärt sich theils aus der, auch nach der ge - wöhnlichen Annahme, späteren Zeit seines Ursprungs, theils daraus, daſs in dem augenscheinlich gebildeteren Kreise, in welchem es entstand, die Beschränkung des635Siebentes Kapitel. §. 76.ersten Anhangs Jesu auf das gemeine Volk mehr Anstoſs erregen muſste, als in den Kreisen, in welchen die synop - tische Tradition sich bildete. Hiemit hat sich der Vor - wurf, welchen die neueste Kritik dem ersten Evangelium über sein Schweigen von Nikodemus machte, gegen das vierte und seine Erzählungen von diesem Manne umge - wendet.

Daraus soll jedoch gegen das folgende Gespräch, wel - ches der eigentliche Gegenstand unsrer Betrachtung ist, noch kein Präjudiz hergenommen werden. Es könnte gleichwohl in der Hauptsache ächt sein: Jesus könnte es mit einem seiner Anhänger aus dem Volke geführt, und unser Evangelist nur die Veränderung mit demselben vor - genommen haben, daſs er die Rolle des Mitsprechenden einem Vornehmen übertrug. Und so wollen wir auch weder mit dem Verfasser der Probabilien gleich an der Anrede des Nikodemus Anstoſs nehmen, noch mit demsel - ben zwischen dieser Anrede und der Antwort Jesu den Zusammenhang vermissen5)Probab. S. 44. Darin aber behält Bretschneider Recht, dass er gegen die Kuinöl'sche Weise, den Zusammenhang nament - lich der johanneischen Reden durch Hineindenken angeblich weggelassener Sätze und Zwischenreden zu vermitteln, sich erklärt, wie denn auch Lücke (1, S. 446) gesteht, wenn gleich zwischen zwei von Johannes unmittelbar verbundenen Aussprüchen Jesu etwas fehlen sollte, so müsse doch der Evangelist sich zwischen beiden einen unmittelbaren Zusam - menhang gedacht haben, welcher vom Exegeten zu ermitteln sei. Wirklich ist in den Reden des vierten Evangeliums der Zusammenhang, wenn er auch bisweilen sehr versteckt ist, doch niemals ganz zu vermissen.. Daſs Jesus sofort als Be - dingung des Eintritts in das Himmelreich das γεννηϑῆναι ἄνωϑεν verlangt, ist von dem aus den Synoptikern be - kannten μετανοεῖτε· ἤγγικε γὰρ βασιλεία τῶν οὐρανῶν nicht wesentlich verschieden. Das Bild der neuen Geburt, der636Zweiter Abschnitt.neuen Schöpfung, war den Juden sehr geläufig, nament - lich um die Umwandlung eines Menschen aus einem Göz - zendiener in einen Verehrer Jehova's zu bezeichnen. Von Abraham pflegte man zu sagen, daſs er bei seinem von den Juden vorausgesezten Übertritt aus dem Götzendienst zur Verehrung des wahren Gottes ein neues Geschöpf (בריה חדשה) geworden sei6)Bereschith R. sect. 39 f. 38, 2. Bammidbar R. s. 11 f. 211, 2. Tanchuma f. 5. 2, bei Schöttgen, 1, S. 704. Etwas Ähnliches von Moses aus Schemoth R. ebendas., und ebenso wurde der Pros - elyt wegen seines Austritts aus allen bisherigen Verhält - nissen mit einem neugeborenen Kinde verglichen7)Jevamoth f. 62, 1. 92, 1, bei Ligntfoot S. 984.. Daſs diese Redeweise schon in jener Zeit unter den Juden üb - lich war, beweist die Sicherheit, mit welcher Paulus 2 Kor. 5, 17. Gal. 6, 15. den entsprechenden Ausdruck καινὴ κτίσις wie einen keiner weiteren Erklärung bedürf - tigen auf die wahrhaft zu Christo Übergetretenen anwen - det. Verlangte nun Jesus das γεννηϑῆναι ἄνωϑεν, wel - ches die Juden den zu ihnen übertretenden Heiden zu - schrieben, auch von den Juden, sofern sie in das Mes - siasreich zugelassen werden wollten: so konnte sich Ni - kodemus allerdings über diese Forderung wundern, da der Israëlite schon als solcher ein unbedingtes Anrecht auf dasselbe zu haben glaubte, und diesen Sinn hat man daher wirklich in seiner Frage V. 4. finden wollen8)So z. B. Knapp, Comm. in colloq. Christi cum Nicod. z. d. St.. Allein Nikodemus fragt nicht: πῶς σὺ λέγεις δεῖν ἄνϑρωπον ἀναγεννηϑῆναι Ἰουδαῖον oder υἱὸν Ἀβραὰμ ὄντα; sondern darüber wundert er sich, daſs Jesus vorauszusetzen scheine, es könne ein Mensch, und zwar γέρων ὢν, aufs Neue εἰς τὴν κοιλίαν τῆς μητρὸς εἰσελϑεῖν καὶ γεννηϑῆναι: es befremdet ihn also nicht, wie einem Juden die geistige Wiedergeburt, sondern wie einem Menschen überhaupt ein leibliches Neugeborenwerden zugemuthet werden könne. 637Siebentes Kapitel. §. 76.Wie nun ein Orientale, dem die bildliche Sprache über - haupt, näher ein Jude, dem insbesondere das Bild von der neuen Geburt geläufig sein muſste, und noch dazu ein διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ, bei welchem man nicht, wie bei den Aposteln, das Miſsverstehen bildlicher Reden (wie Matth. 15, 15 f. 16, 7.) auf Rechnung des Mangels an Bildung schreiben kann, jenen Ausdruck eigentlich verste - hen konnte, darüber haben sich, wie Jesus V. 10, die Er - klärer der verschiedensten Parteien immer höchlich ver - wundert. Daher setzen die einen voraus, der Pharisäer habe Jesum wohl verstanden, und durch seine Frage ihn nur prüfen wollen, ob er das bildlich Ausgesprochene auch in klare Begriffe umzusetzen wisse9)Paulus, Comm. 4, S. 183. L. J. 1, a. S. 176.: allein Jesus wenigstens behandelt ihn nicht, wie er in diesem Falle muſste, als ὑποκριτὴν, sondern als einen wirklich οὐ γινώσ - κοντα (V. 10); andre drehen die Frage so: im leiblichen Verstande kann es nicht gemeint sein, weil dieſs unmög - lich wäre, wie also sonst?10)Lücke, 1, S. 452. Tholuck, S. 79. aber die Frage lautet viel - mehr dahin: das kann ich nur von leiblichem Wiederge - borenwerden verstehen, wie aber ist dieſs möglich? Es bleibt also die Verwunderung über solche Unwissenheit des jüdischen Lehrers, und diese muſs noch steigen, wenn selbst nach der ausführlichen Erörterung Jesu (V. 5 8.) darüber, daſs die von ihm verlangte neue Geburt ein γεν - νηϑῆναι ἐκ τοῦ πνεύματος sei, Nikodemus noch auf dersel - ben Stelle, wie vorher, steht, und, wie wenn er Jesu, Erklärung überhört hätte, mit verschlossenem Verständ - niſs fragt (V. 9): πῶς δύναται ταῦτα γενέσϑαι; Von die - sem lezteren Übelstand findet sich auch Lücke so gedrückt, daſs, wie andre Exegeten schon das anfängliche, so er, wider seinen sonstigen exegetischen Takt, wenigstens das fortdauernde Nichtverstehen des Nikodemus auf die von638Zweiter Abschnitt.Jesu behauptete Nothwendigkeit der Wiedergeburt auch für Israëliten bezieht, in welchem Falle aber Nikodemus eben nach der Nothwendigkeit, nicht nach der Möglich - keit fragen, und statt πῶς δύναται κ. τ. λ. πῶς δεῖ κ. τ. λ. setzen muſste. Bleibt somit der unbegreifliche Miſsver - stand eines jüdischen Lehrers: so muſs unsre Befremdung über denselben zum bestimmtesten Verdachte werden, so - bald sich ein Interesse der Sage oder des Evangelisten zeigt, den Mann, der sich hier mit Jesu unterhält, ein - fältiger zu schildern, als er wirklich war. Hier muſs uns zuerst das allgemeine Interesse einfallen, welches jede Darstellung für Contraste hat, wodurch sie leicht dazu kommt, wenn in einer darzustellenden Unterredung Ei - ner der Belehrende, der Andre der Belehrte ist, diesen im Gegensaz zu der Weisheit von jenem in's Einfältige zu malen; ferner müssen wir uns erinnern, welche Befriedi - gung es für ein christliches Gemüth jener Zeit sein muſste, einen διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ im Verhältniſs zu dem Leh - rer der Christen als einen Thoren bestehen zu lassen; endlich gehört es, wie wir bald näher sehen werden, zur stehenden Manier des vierten Evangeliums, in den Unter - redungen Jesu die Verwickelung und den Fortschritt da - durch herbeizuführen, daſs die von Jesu geistig gemein - ten Bilderreden von den Mitsprechenden fleischlich ver - standen werden.

Wenn in Erwiederung auf die zweite Frage des Ni - kodemus Jesus fast ganz die Sprache des johanneischen Prologs redet (V. 11 13)11)3, 11: ἑωράκαμεν, μαρ - τυροῦμεν· καὶ τὴν μαρτυ - ρίαν ἡμῶν οὐ λαμβάνετε. 13: καὶ οὐδεὶς ἀναβέβηκεν εἰς τὸν οὐρανὸν, εἰ μὴ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβὰς, υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου, ὢν ἐν τῷ οὐρανῷ. 1, 18: ϑεὸν οὐδεὶς ἑώρακε πώ - ποτε· μονογενὴς υἱὸς, ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς, ἐκεῖ - νος ἐξηγήσατο. 11: καὶ οἱ ἴδιοι αὐτὸν οὐ παρέλαβον. , und hieraus die Frage639Siebentes Kapitel. §. 76.entsteht, ob wohl eher der Evangelist diese Redeweise von Jesu entlehnt, oder die seinige Jesu geliehen haben möge? so ist aus der Ähnlichkeit philonischer Darstellun - gen noch nicht sofort zu schlieſsen, daſs der Verfasser Jesu hier seine alexandrinische Logoslehre in den Mund lege12)Wie diess in den Probabilien S. 46. geschicht., weil sich doch zu dem οἴδαμεν λαλοῦμεν κ. τ. λ. und οὐδεὶς ἀναβέβηκεν κ. τ. λ. in dem οὐδεὶς ἐπιγνώσει τὸν πατέρα κ. τ. λ. Matth. 11, 27. eine Analogie findet, von der hier vorausgesezten himmlischen Präexistenz des Mes - sias aber nach dem früher Bemerkten auch der Apostel Paulus weiſs. Nur Eines kann hier Verdacht erwecken, nämlich die Bezeichnung des υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου als ὢν ἐν τῷ οὐρανῷ. Dieses, 1, 18. in einer analogen Wendung vor - kommende ὤν mit Erasmus in ὃς ἦν aufzulösen, möchte doch zu bequem sein, und in unsrer Stelle einen gar zu müſsigen Beisaz geben. Gewiſs ist es mit der ältesten und wiederum neuesten Exegese13)Winer, N. T. liche Gramm. S. 291. Lücke, 1, S. 468. in seiner präsentiel - len Bedeutung zu fassen; aber schwerlich mit der lezteren zu dem metaphorischen Sinn einer fortwährenden innig - sten Gemeinschaft mit dem Himmel herunterzustimmen, sondern mit der ersteren in der eigentlichen Bedeutung eines realen Seins im Himmel festzuhalten. Aber wie konnte der vor Nikodemus Stehende oder Sitzende sich als im Himmel befindlichen bezeichnen? An die Ubiquität seiner göttlichen Natur, wie die alten Ausleger, werden wir nicht denken wollen, und so bleibt nichts übrig, als zu bekennen, daſs wir nicht verstehen, wie in unsrer Stelle Jesus so sprechen, wohl aber, wie 1, 18. der Evan - gelist sich dieser Ausdrücke bedienen konnte. Ihm näm - lich, auf seinem Standpunkt, nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, war dieser bereits wieder ein im Schooſs des Vaters befindlicher, so daſs er im vollen präsentiellen640Zweiter Abschnitt.Sinne das ὢν κ. τ. λ. von ihm gebrauchen konnte. Auch in unsrer Stelle 3, 13. also scheint es, können wir nur den Evangelisten als den Redenden denken; indem er aber Jesum reden lassen will, so sehen wir auf's Neue, wie wenig genau er es genommen hat, zu den Reden Jesu von dem Seinigen hinzuzuthun. Und von hier aus könnte selbst auf das οὐδεὶς ἀναβέβηκεν εἰς τὸν οὐρανὸν in demsel - ben Verse ein zweideutiger Schimmer des Verdachts zu - rückfallen, ob es nicht vielleicht eine Anspielung auf das ἀναβαίνειν nach der Auferstehung (Joh. 20, 17. vgl. 6, 62.) enthalte. Denn das Präteritum würde uns hieran keines - wegs, wie Lücke äussert, hindern, da es nicht unpassen - der ist in Jesu Munde, als das eben besprochene Präsens, und ihm ebenso leicht wie dieses vom Evangelisten unter - schoben werden konnte, von dessen Standpunkt aus Jesu Aufsteigen in den Himmel ein vergangnes war, wie sein Sein in demselben ein gegenwärtiges.

V. 14 und 15 steigt Jesus von den leichteren ἐπιγείοις, den Eröffnungen über die Wiedergeburt, zu den schwieri - geren ἐπουρανίοις, der Kunde von der Bestimmung des Messias zu einem versöhnenden Tode, auf. Des Menschen Sohn, sagt er, müsse erhöht werden (ὑψωϑῆναι, im johanneischen Sprachgebrauch den Kreuzestod, mit Anspielung auf die Erhebung zur Herrlichkeit bezeichnend)14)Lücke, a. a. O. S. 470. auf dieselbe Weise und mit demselben rettenden Erfolge, wie die eherne Schlange 4 Mos. 21, 8. 9. Hier drängen sich mehrere Fragen auf. Ist es glaublich, daſs Jesus schon damals, zu Anfang seiner öffentlichen Wirksamkeit, seinen Tod, und zwar in der bestimmten Form als Kreuzestod, vorhergewuſst, und daſs er, lange ehe er seine Jünger über diesen Punkt be - lehrte, einem Pharisäer eine darauf bezügliche Eröffnung gemacht habe? Kann man es der Lehrweisheit Jesu an - gemessen finden, daſs er gerade dem Nikodemus eine sol -641Siebentes Kapitel. §. 76.che Mittheilung machte? Auch Lücke15)a. a. O. S. 476. macht sich den Einwurf, warum Jesus, wenn doch Nikodemus das Leich - tere nicht verstand, ihn mit dem Schwereren gequält habe, und warum gerade mit dem Geheimniſs vom Tode des Messias, der damals noch so ferne lag? Er antwor - tet, es sei der Lehrweisheit Jesu vollkommen angemessen gewesen, das ihm von Gott verordnete Leiden so bald als möglich zu offenbaren, weil nichts geeigneter gewesen sei, falsche sinnliche Hoffnungen niederzuschlagen. Allein je ferner ihrer sinnlichen Erwartungen wegen seinen Zeit - genossen der Gedanke an den Tod des Messias lag, desto deutlicher und unumwundener muſste Jesus, wenn er ihn verbreiten wollte, diesen Gedanken aussprechen, und nicht in einem räthselhaften Bilde, von welchem er nicht sicher war, ob es Nikodemus nur verstehen würde. Aber Ni - kodemus, sagt Lücke, war ein empfänglicher Mann, dem wohl etwas mehr zugemuthet werden durfte. Allein ge - rade in diesem Gespräch hatte er sich durch das Nichtver - stehen der ἐπίγεια als noch weniger für die ἐπουράνια em - pfänglich bewiesen, und Jesus selbst verzweifelte nach V. 12. daran, daſs er diese verstehen werde. Aber eben dadurch, bemerkt nun Lücke leztlich, daſs er zu dem nicht verstandenen Leichteren das noch weniger verständliche Schwerere fügte, habe Jesus auch sonst die Geister spor - nen wollen, um durch Spannung ihrer Aufmerksamkeit ihr Nachdenken um so mehr in Anspruch zu nehmen. Indeſs die Beispiele eines solchen Verfahrens Jesu, wel - che Lücke beibringt, sind sämmtlich aus dem vierten Evan - gelium selbst, von welchem es sich eben fragt, ob es das Lehrverfahren Jesu in diesem Stücke richtig wiedergebe, beweisen also im Cirkel. Ein ähnliches Verfahren Jesu haben wir in der Erzählung von seinem Gespräch mit der Samariterin gehabt, aber schon dort erklären müssen, daſsDas Leben Jesu I. Band. 41642Zweiter Abschnitt.wir ein solches Überladen schwacher Fassungskräfte mit Räthseln über Räthsel dem weisen pädagogischen Grund - satze nicht angemessen finden, welchen dasselbe Evange - lium, 16, 12. Jesu in den Mund legt. Das kann nicht spornen, sondern nur verwirren heiſsen, wenn einem sol - chen, der den bekannten Tropus von der Wiedergeburt beharrlich nicht versteht, zugemuthet wird, die unerhörte Vergleichung des Messias mit der ehernen Schlange auf dessen Tod zu beziehen, und diese Vorstellung sofort mit seinen jüdischen Begriffen zu vereinigen16)vgl. Bretschneider, a. a. O.. Ganz anders verfährt Jesus in den drei ersten Evangelien: wenn sich hier von Seiten der Jünger ein Nichtverstehen zeigt, so bleibt er, wo er nicht überhaupt abbricht, oder die Re - ferenten offenbar unhistorisch bildliche Reden zusammen - häufen, mit ächtpädagogischer Assiduität eben an jenem Punkte stehen, bis er ihn völlig aufgeklärt hat, und geht erst dann, immer Schritt für Schritt, zu weiteren Beleh - rungen fort (so Matth. 13, 10 ff. 36 ff. 15, 16. 16, 8 ff.). Dieſs ist das Verfahren eines weisen Lehrers: die desul - torische, überladende und überspannende Manier dagegen, in welcher der vierte Evangelist ihn reden läſst, kann nur aus dem Interesse eines Darstellers erklärt werden, wel - cher den schon Anfangs angelegten Contrast zwischen der Weisheit des Lehrers und dem Unverstand des Schülers dadurch auf die effektvollste Weise steigern zu können glaubt, daſs er vor demjenigen, welcher schon bei dem Leichtesten unverständige Fragen that, nun auch das Schwerste aufhäufen, und ihm diesem gegenüber vollends alle Gedanken vergehen läſst.

Von V. 16. an geht jezt selbst denjenigen Auslegern, die sich sonst in diesem Fache etwas zuzumuthen pflegen, der Glaube, daſs auch das Folgende noch von Jesu so ge - sprochen sein könne, aus, was hier nicht blos Paulus, son -643Siebentes Kapitel. §. 76.dern auch Olshausen mit bündiger Angabe der Gründe, erklärt17)Bibl. Comm. 2, S. 96.. Es verschwindet nämlich von hier an jede nähere Beziehung der Rede auf Nikodemus, und beginnt eine völlig allgemeine Ausführung über die Bestimmung des Menschensohns zur Beseligung der Welt, und über die Art, wie der Unglaube sich dieses Segens verlustig mache, diese Gedanken zum Theil in einer Form ausgedrückt, wel - che theils als Reminiscenz aus dem Prolog des Evangeli - sten erscheint, theils mit Stellen aus dem ersten johannei - schen Briefe auffallende Ähnlichkeit hat18)3, 19: αὕτη δέ ἐςιν κρί - σις, ὅτι τὸ φῶς ἐλήλυϑεν εἰς τὸν κόσμον, καὶ ἠγάπη - σαν οἱ ἄνϑρωποι μᾶλλον τὸ σκότος τὸ φῶς. 3, 16: ου[]τω γὰρ ἠγάπησεν ϑεὸς τὸν κόσμον, ὥςε τὸν υἱὸν αὑτοῦ τὸν μονογενῆ ἔδω - κεν, ἵνα πᾶς πιςεύων εἰς αὐτὸν, μὴ ἀπόληται, ἀλλ 'ἔχῃ ζωὴν αἰώνιον. 1, 9: ἦν τὸ φῶς τὸ ἀληϑι - νὸν, τὸ φωτίζον πάντα ἄνϑρα - πον, ἐρχόμενον εἰς τὸν κόσμον. 5: καὶ τὸ φῶς ἐν τῇ σκοτίᾳ φαίνει, καὶ σκοτία αὐτὸ οὐ κατέλαβεν. 1. Joh. 4, 9: ἐν τούτῳ ἐφανερώ - ϑη ἀγάπη τοῦ ϑεοῦ ἐν ἡμῖν, ὅτι τὸν υἱὸν αὑτοῦ τὸν μονογε - νῆ ἀπέςειλεν ϑεὸς εἰς τὸν κόσμον, ἵνα ζήσωμεν δἰ αὐτοῦ. . Namentlich der Ausdruck μονογενὴς υἱὸς, welcher Jesu wiederholt (V. 16. und 18.) zur Bezeichnung seiner eigenen Person geliehen ist, kommt sonst selbst im vierten Evangelium im Munde Jesu nirgends vor: um so entschiedener aber ist er ein Lieblingsterminus des Evangelisten (1, 14. 18. ) und des Briefstellers (1 Joh. 4, 9.). Ferner ist im Folgenden Manches als vergangen dargestellt, was zur Zeit jenes Ge - sprächs erst bevorstand; denn wenn auch das ἔδωκεν (V. 16.) nicht die Hingabe in den Tod, sondern die Sendung in die Welt bedeutet: so lautet doch, was auch Lücke bemerkt, das ἠγάπησαν οἱ ἄνϑρωποι τὸ σκότος und ἦν πονηρὰ αὐτῶν τὰ ἔργα (V. 19.) so, wie man erst sprechen konnte, als sich in der Verwerfung und Hinrichtung Jesu die Übermacht der Finsterniſs erprobt hatte, also vom Standpunkt des spä -41*644Zweiter Abschnitt.ter schreibenden Evangelisten, nicht aber des im ersten An - fang seiner Thätigkeit stehenden Jesus. Überhaupt lautet diese ganze angebliche Rede Jesu mit ihrer fortwährend zu seiner Bezeichnung gebrauchten dritten Person, mit den dogmatischen terminis von μονογενὴς, φῶς, u. dgl., unter welchen sie Jesum betrachtet, mit ihrem Überblick über die durch Jesu Erscheinung herbeigeführte Krisis und de - ren Resultate, viel zu objektiv und gegenständlich, als daſs wir glauben könnten, eigene Worte Jesu in derselben zu vernehmen: so konnte nicht Jesus, aus sich heraus, sondern nur ein Dritter über Jesum sprechen. Demnach soll nun, wie in einem früher betrachteten Falle der Täufer, so hier Jesus nur bis zu V. 16. reden, von da an aber der Evan - gelist seine eigenen dogmatischen Reflexionen anknüpfen19)So Paulus und Olshausen z. d. St.. Aber hier so wenig wie dort findet sich im Text hievon eine Andeutung, vielmehr scheint das anknüpfende γὰρ V. 16. eine Fortsetzung derselben Rede zu bezeichnen. So streut kein Schriftsteller, und namentlich nicht der Ver - fasser des vierten Evangeliums (vgl. 7, 39. 11, 51 f. 12, 16. 33. 37 ff. ), eigene Bemerkungen ein, er müſste denn absicht - lich Miſsverständnisse veranlassen wollen. Bleibt es sonach gleicherweise dabei, daſs der Evangelist auch von hier an noch Worte Jesu geben will, und daſs Jesus so nicht ge - sprochen haben kann: so werden wir uns auch hier nicht mit der halben Maſsregel Lücke's beruhigen können, wenn er von der bezeichneten Stelle an zwar Jesum fortsprechen, doch aber zugleich die erläuternde und erweiternde Hand des Evangelisten stärker als bis dahin dazwischentreten läſst20)a. a. O. S. 479.. Denn mit diesem Zugeständniſs verliert man alle Sicherheit, wie weit die Rede Jesu oder dem Referenten angehöre, und da sie überdieſs durch die genaueste Gleich - förmigkeit der Gedanken und des Tones sich auszeichnet,645Siebentes Kapitel. §. 77.so kann man sie nur entweder ganz Jesu oder ganz dem Evangelisten zuschreiben, wobei man sich für das Leztere entscheiden muſs, da das Erstere nach dem so eben Aus - geführten unmöglich, das Leztere hingegen nach dem frü - her Beobachteten ganz in der Weise des vierten Evangeli - sten ist.

Doch nicht blos über den Abschnitt V. 16 21. müs - sen wir dieses Urtheil fällen, sondern auch schon den 14ten Vers fanden wir im Munde Jesu minder passend, in V. 13. stieſs uns einiges Verdächtige auf, das Benehmen des Nikodemus V. 4. und 9. war uns undenkbar, und endlich dieser selbst sammt der nächtlichen Scene, auf welcher Al - les vorgeht, erschien fingirt. So hat uns das vierte Evan - gelium gleich bei dieser ersten Probe, wenn wir sie mit dem vergleichen, was wir über Joh. 3, 22 ff. 4, 1 ff. bereits gesehen haben, alle Haupteigenthümlichkeiten der von ihm mitgetheilten Reden Jesu dargelegt. Sie fangen gerne dia - logisch an, und soweit diese Form geht, ist der Hebel des Gesprächs der grelle Contrast zwischen geistigem Sinn und fleischlicher Auffassung der Reden Jesu; meistens aber verlieren sie sich hierauf in fortlaufende Vorträge, in wel - chen der Referent die Person Jesu mit seiner eigenen ver - schmelzt, und jenen von sich selber reden läſst, wie nur er über Jesum reden konnte.

§. 77. Die Reden Jesu Joh. 5 12.

Im 5ten Kapitel des johanneischen Evangeliums knüpft sich an eine von Jesu am Sabbat verrichtete Heilung eine längere Rede (V. 19 47.). Schon die Weise, wie Jesus V. 17. seine Thätigkeit am Sabbat vertheidigt, ist im Un - terschied von der Art, wie er dieſs in den ersten Evange - lien thut, bemerkenswerth. Diese haben hiefür drei Argu - mente: das von David, der die Schaubrote aſs, woran sich das auch Joh. 7, 23. aufgeführte von dem sabbatlichen Arbeiten der646Zweiter Abschnitt.Priester im Tempel schlieſst (Matth. 12, 3 ff. parall. ); fer - ner das vom Ochsen und Esel, der in den Brunnen fällt, (Matth. 12, 11. parall. ), oder zur Tränke geführt wird (Luc. 13, 15,): ganz in dem praktischen Geiste der popu - lären Lehrweise Jesu. Das vierte Evangelium hingegen läſst ihn hier aus der nie unterbrochenen Thätigkeit Got - tes argumentiren, und erinnert durch sein: πατὴρ ἕως ἄρτι ἐργάζεται an das alexandrinische ποιῶν ϑεὸς οὐδέποτε παύεται1)Philo, Opp. ed. Mang. 1, 44, bei Gfrörer, 1, S. 122., ein metaphysischer Saz, welcher dem Verfasser des vierten Evangeliums, wie wir ihn bis hieher kennen gelernt haben, wenigstens näher liegen mochte, als Jesu selbst. Und statt daſs bei den Synoptikern an solche Sab - batheilungen weitere Aussprüche über Wesen und Bestim - mung des Sabbats, als höchstnöthige Belehrung des Volks, sich anzuknüpfen pflegen, wendet sich hier die Rede als - bald auf das Grundthema des Evangeliums, auf die Person Christi und sein Verhältniſs zum Vater, eine Wendung, auf deren öfteres Vorkommen die Gegner des vierten Evan - geliums nicht ohne Schein den Vorwurf einer einseitig theo - retischen und auf die Verherrlichung Jesu gerichteten Ten - denz gegründet haben. In dem Inhalt der folgenden Rede findet sich sofort nichts Anstössiges, und was nicht Jesus selber so könnte gesprochen haben, da im besten Zusam - menhang Dinge vorgetragen werden, welche, wie nament - lich die Todtenerweckung und das Gericht, theils die Ju - den vom Messias erwarteten, theils Jesus auch nach den Synoptikern sich zugeschrieben hat. Desto bedenklicher dagegen ist die Form und Ausdrucksweise, in welcher Je - sus das Alles ausgesprochen haben soll. Ganz voll näm - lich ist diese Rede, besonders in ihrer zweiten Hälfte (von V. 31. an), der genauesten Analogieen theils mit dem er - sten johanneischen Briefe, theils mit solchen Stellen des Evangeliums, in welchen entweder der Verfasser, oder der647Siebentes Kapitel. §. 77.Täufer Johannes redet2)Joh. 5, 20: γὰρ πατὴρ φιλεῖ τὸν υἱὸν καὶ πάντα δείκνυσιν αὐτῷ αὐτὸς ποιεῖ. 24: τὸν λόγον μου ἀκούων μεταβέβηκεν ἐκ τοῦ ϑα - νάτου εἰς τὴν ζωήν. 32: καὶ οἶδα, ὅτι ἀληϑής ἐςιν μαρτυρία, ἣν μαρτυ - ρεῖ περὶ ἐμοῦ. 34: ἐγὼ δὲ οὐ παρὰ ἀνϑρώ - που τὴν μαρτυρίαν λαμβάνω. 36: ἐγὼ δὲ ἔχω μαρτυ - ρίαν μείζω τοῦ Ἰωάννου. 37: καὶ πέμψας με πα - τὴρ αὐτὸς μεμαρτύρηκε περὶ ἐμοῦ. Ebend. : ου῎τε τὴν φωνὴν αὐτοῦ ἀκηκόατε πώποτε, ου῎τε τὸ εἶδος αὐτοῦ ἑωράκατε. 38: καὶ τὸν λόγον αὐτοῦ οὐκ ἔχετε μένοντα ἐν ὑμῖν. 40: καὶ οὐ ϑέλετε ἐλϑεῖν πρός με, ἵνα ζωὴν ἔχητε. 42: ὅτι τὴν ἀγάπην τοῦ ϑεοῦ οὐκ ἔχετε ἐν ἑαυτοῖς. 44: πῶς δύνασϑε ὑμεῖς πιςεύειν, δόξαν παρὰ ἀλλή - λων λαμβάνοντες, καὶ τὴν δόξαν τὴν παρὰ τοῦ μόνου ϑεοῦ οὐ ζητεῖτε;Joh. 3, 35 (der Täufer): γὰρ πατὴρ ἀγαπᾷ τὸν υἱὸν καὶ πάντα δέδωκεν ἐν τῇ χειρὶ αὐτοῦ. 1 Joh. 3, 14: ἡμεῖς οἵδαμεν, ὅτι μεταβεβήκαμεν ἐκ τοῦ ϑα - νάτου εἰς τὴν ζωήν. Joh. 19, 35: καὶ ἀληϑινή ἐςιν αὐτοῦ μαρτυρία, κἀκεῖ - νος οἶδεν, ὅτι ἀληϑῆ λέγει. Vgl. 21, 24. 1 Joh. 3, 12. 1 Joh. 5, 9: εἰ τὴν μαρτυ - ρίαν τῶν ἀνϑρώπων λαμβάνο - μεν, μαρτυρία τοῦ ϑεοῦ μείζων ἐςίν· ὅτι αςτη ἐςὶν μαρτυ - ρία τοῦ ϑεοῦ, ἣν μεμαρτύρηκε περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ. Joh. 1. 18: ϑεὸν οὐδεὶς ἑώ - ρακε πώποτε. Vgl. 1 Joh. 4, 12. 1 Joh. 1, 10: καὶ λόγος αὐτοῦ οὐκ ἔςιν ἐν ὑμῖν. 1 Joh. 5, 12: μὴ ἔχων τὸν υἱὸν τοῦ ϑεοῦ ζωὴν οὐκ ἔχει. 1 Joh. 2, 15: οὐκ ἔςιν ἀγά - πη τοῦ πατρὸς ἐν αὐτῷ. Joh. 12, 43: ἠγάπησαν γὰρ τὴν δόξαν τῶν ἀνϑρώπων μᾶλ - λον, ἤπερ τὴν δόξαν τοῦ ϑεοῦ.. Um die erstere Ähnlichkeit zu erklären, müſste angenommen werden, daſs der Evangelist seine ganze Ausdrucksweise auf das Genaueste der von Je - su nachgebildet hätte. Daſs dieſs möglich sei, ist nicht zu bestreiten, aber ebensowenig, daſs es nur bei ganz unselbst - ständigen Geistern vorzukommen pflegt, als deren einen648Zweiter Abschnitt.sich der vierte Evangelist sonst keineswegs zeigt. Ferner, da bei den übrigen Evangelisten Jesus in ganz anderem Styl und Tone spricht, so müſste, wenn er so, wie bei Johannes, gesprochen haben sollte, die Art, wie jene ihn reden lassen, eine gemachte sein. Daſs sie nun aber we - nigstens von den Evangelisten selbst nicht gemacht ist, zeigt der Umstand, daſs sie ihres Redestoffs so wenig Meister sind; aber auch von der Sage können jene Reden ihrem grösse - ren Theile nach nicht fingirt sein, wegen ihres nicht bloſs höchst originellen, sondern auch völlig zeit - und ortsge - mäſsen Gepräges. Wogegen der vierte Evangelist sowohl durch die Leichtigkeit, mit welcher er den Redestoff be - herrscht, den Verdacht erregt, nur selbsterzeugten vor sich zu haben, als auch durch Lieblingsbegriffe und Redensar - ten, wie in dem gegenwärtigen Abschnitt ausser den schon angeführten noch der Ausdruck, daſs der Vater πάντα δείκνυσι τῷ υἱῷ, αὐτὸς ποιεῖ3)s. die von Gfrörer, 1, S. 194., verglichene Stelle aus Philo, de linguarum confusione., eher auf hellenistische als palästinische Quellen hinweist. Doch das Hauptmoment in dieser Sache ist, daſs, wie wir früher schon gesehen ha - ben, auch der Täufer Johannes in diesem Evangelium ganz in denselben Formeln und in dem gleichen Tone spricht, wie der Verfasser des Evangeliums und dessen Jesus. Da es sich hier nicht denken läſst, daſs neben dem Evangeli - sten auch der schon vor Jesu als scharf markirter Charak - ter hervorgetretene Täufer seine Ausdrucksweise wörtlich genau nach der von Jesu bestimmt haben sollte: so bleiben nur die zwei Fälle möglich, daſs entweder der Täufer die Sprechweise sowohl Jesu als des vierten Evangelisten, der ja auch sein Schüler gewesen sein soll, oder daſs der Evangelist die Redeweise sowohl des Täufers als Jesu nach der seinigen determinirt habe. Das Erstere werden die Or - thodoxen mit Rücksicht auf die höhere Natur in Christo649Siebentes Kapitel. §. 77.sich verbitten, und wir wenigstens deſswegen, weil Jesus, wenn auch vom Täufer angeregt, doch sonst wesentlich von ihm verschieden und als Original erscheint, hauptsächlich aber, weil dieser johanneische Styl für den rauhen Täufer viel zu weich, für den praktischen Kopf viel zu mystisch ist. So bleibt also nur das Andere, daſs der Evangelist sowohl Jesum als den Täufer in seinem Tone reden läſst, eine Annahme, welche, an sich schon weit natürlicher als die vorige, durch eine Menge von Beispielen aller mögli - chen Geschichtschreiber gedeckt ist. Ist hienach die Form dieser Rede Jesu auf Rechnung des Evangelisten zu schrei - ben, so könnte der Inhalt zwar möglicherweise Jesu ange - hören: doch können wir theils nicht berechnen, wie weit, theils haben wir schon sonst Beispiele gehabt, daſs der vier - te Evangelist auf die freieste Weise an bequeme Veranlas - sungen seine eigenen Reflexionen in Form von Reden Jesu knüpft.

Aus der Rede Kap. 6. ist zwar das, daſs Jesus sich oder vielmehr seinen Vater V. 27 ff. als den Geber des geistigen Manna darstellt, in Analogie mit der oben ange - führten jüdischen Erwartung, daſs der zweite Goël wie der erste Manna gewähren werde4)oben, S. 73. Anmerk., und mit der Einla - dung der Weisheit in den Proverbien 9, 5: ἔλϑετε, φάγετε τῶν ἐμῶν ἀρτων: daſs er aber sofort sich selbst den ἄρτος ζῶν ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβὰς nennt (V. 35 ff. ), scheint doch nur in der philonischen Darstellung des λόγος ϑεῖος als des τρέφον τὴν ψυχὴν5)de profugis, Opp. Mang. 1, S. 566. bei Gfrörer 1, S. 202. Das hier noch weiter vom λόγος Gesagte: ἀφ 'οῦ πᾶσαι παι - δε αι καὶ σοφίαι ῥέουσιν ἀένναοι kann mit Joh. 4, 14. 6, 35. 7, 38. verglichen werden. seine vollkommene Analogie zu finden. Schwieriger ist, daſs Jesus von V. 51. an als das Him - melsbrot sein Fleisch darstellt, welches er zum Heil der650Zweiter Abschnitt.Welt geben werde, und das φαγεῖν τὴν σάρκα τοῦ υἱοῦ τοῦ ἀνϑρώπου und πιεῖν τὸ αἶμα αὐτοῦ für das einzige Mittel, zur ζωὴ αἰώνιος zu gelangen, ausgiebt. Durch die Ähnlich - keit dieser Ausdrücke mit den Worten, welche die Synop - tiker und Paul[u]s Jesum bei der Einsetzung des Abend - mahls sprechen lassen, bewogen, haben die älteren Ausleger diese Stelle meistens als Hindeutung auf das zu stiftende Abendmahl gefaſst6)s. Lücke's Geschichte der Auslegung dieser Stelle, in s. Comm. 2, Anhang B, S. 727 ff.. Die Haupteinwendung gegen diese Auslegung ist, daſs damals, vor der Stiftung des Abend - mahls, eine solche Andeutung völlig unverständlich gewe - sen wäre7)Schulz, die Lehre vom Abendmahl, S. 161; Lücke, a. a. O. S. 113.. Allein unverständlich blieb ja die Rede, sie mochte einen Sinn haben, welchen sie wollte, nach der eige - nen Angabe der Relation, den Zuhörern doch, auch kommt Jesu im vierten Evangelium auf die Unmöglichkeit, verstan - den zu werden, nicht so viel an, daſs hiedurch jene Er - klärung unwahrscheinlich würde, welche an der Verwandt - schaft mit den Einsetzungsworten einen Halt besizt, der einem der neuesten Kritiker das Bekenntniſs abgedrungen hat, wenn auch nicht Jesus, indem er so sprach, so - ge doch Johannes, indem er gerade diese Reden Jesu aus - wählte und überlieferte, an das Abendmahl gedacht, und in denselben eine Vorandeutung davon gefunden haben8)Hase, L. J. §. 92.. Indeſs schwerlich hat er dann die Reden Jesu unmodificirt gelassen, sondern, da sich die Wahl der Ausdrücke: σάρκα φαγεῖν u. s. w. nur aus der Beziehung auf das Abend - mahl genügend erklären läſst, so haben wir diese ohne Zweifel nur dem Evangelisten zu verdanken. Hatte dieser einmal, wie es scheint nach alexandrinischen Ideen, Jesum sich als ἄρτος τῆς ζωῆς bezeichnen lassen: wie hätte ihm nicht der ἄρτος einfallen sollen, welcher in der christlichen651Siebentes Kapitel. §. 77.Gemeinde als Leib Christi, sammt einem Getränk als sei - nem Blute, genossen zu werden pflegte? und er ergriff um so lieber diese Gelegenheit, Jesum das Abendmahl so gleich - sam prophetisch einsetzen zu lassen da er von dessen hi - storischer Einsetzung durch Jesum, wie wir später sehen werden, nichts Bestimmtes wuſste9)Vgl. Bretschneider, Probab. p. 56. 88 ff..

Auch die eben betrachtete Rede trägt die dialogische Form, und zwar ist ihr der eigenthümliche Typus des johanneischen Dialogs, daſs geistig gemeinte Reden fleisch - lich verstanden werden, ganz besonders aufgeprägt. Zu - erst, V. 34., meinen die Juden, ganz wie früher (4, 15) die samarische Frau in Bezug auf das Wasser, Jesus ver - stehe unter dem ἄρτος ἐκ τοῦ οὐρανοῦ eine leibliche Speise, und bitten ihn, sie nur immer mit solcher zu versorgen. So möglich an sich dieses Miſsverständniſs war, so scheint es doch, die Juden würden, ehe sie sich hierauf weiter einlieſsen, vor Allem gegen die Behauptung Jesu (V. 32.), Moses habe kein Himmelsbrot gegeben, mit Entrüstung sich erklärt haben. Wie sofort Jesus sich selber den ἄρ - τος ἐκ τοῦ οὐρανοῦ nennt, murren die Juden in der Synagoge zu Kapernaum darüber, daſs er, der Sohn Josephs, dessen Vater und Mutter sie kennen, sich eine Herabkunft vom Himmel zuschreibe (V. 41 f.), eine Reflexion, welche die Synoptiker mit gröſserer Wahrscheinlichkeit in Jesu Vater - stadt Nazaret verlegen und mit einem natürlicheren An - laſs verbinden. Daſs V. 53. die Juden nicht verstehen, wie ihnen Jesus sein Fleisch zu essen geben könne, ist sehr begreiflich: desto weniger, wie gesagt, wie Jesus jenes Unverständliche sagen konnte; ebenso wird man V. 60. 66. das Hintersichgehen vieler Jünger auf solchen σκληρὸς λόγος hin sehr erklärlich finden, um so weniger aber einsehen, wie Jesus dieſs einerseits selbst herbeifüh - ren, und doch, als es eintrat, so verstimmt sein konnte, wie die Fragen V. 61 und 67 es aussprechen. Man sagt652Zweiter Abschnitt.zwar: Jesus wollte seine Jünger sichten, die nur ober - flächlich Gläubigen, irdisch Gesinnten, denen er sich nicht anvertrauen konnte, aus seiner Gesellschaft entfernen; aber, wie er es hier angriff, war es eine Probe, die auch die Besseren und Verständigeren von ihm abwendig ma - chen konnte. Denn gewiſs hatten auch die Zwölfe, wel - che ein andermal nicht wuſsten, was er mit dem Sauer - teig der Pharisäer (Matth. 16, 7) und mit dem Gegensaz des zum Munde Ein - und Ausgehenden sagen wollte (Matth. 15, 15.), die gegenwärtige Rede nicht verstanden, und die ῥήματα ζωῆς αἰωνίου, um welcher willen sie bei ihm blieben (V. 68.), waren gewiſs nicht die Worte die - ses 6ten Kapitels10)Ich muss in Bezug auf dieses Kapitel ganz der Bemerkung der Probabilien beistimmen (S. 56.): videretur Jesus ipse studuisse, ut verbis illuderet Judaeis, nec ab iis intelligere - tur, sed reprobaretur. Ita vero nec egit, nec agere potuit, neque si ita docuisset, tanta effecisset, quanta illum effecisse historia testatur. .

Je weiter man sich in die Reden des vierten Evange - liums hineinliest, desto mehr fallen die endlosen Wieder - holungen derselben Gedanken und Ausdrücke auf. So sind die Reden Jesu aus der Zeit des Laubhüttenfestes, K. 7 und 8., wie auch Lücke beobachtet hat, nur eine wiederholte und erweiterte Abhandlung der bereits (na - mentlich Kap. 5.) dagewesenen Gegensätze des Gekommen - seins, Redens und Handelns von sich selber und von Gott (7, 17. 28 f. 8, 28 f. 38. 40. 42. vgl. mit 5, 30. 43. 6, 38.), des εἶναι ἐκ τῶν ἄνω und ἐκ τῶν κάτω (8, 23. vgl. 3, 31.), des von sich selbst Zeugens und von Gott Zeugniſsnehmens (8, 13 19. vgl. 5, 31 37), von wahrem und falschem Rich - ten (8, 15 f. vgl. 5, 30), von Licht und Finsterniſs (8, 12. vgl. 3, 19 ff. auch 12, 35 f.). Was von neuen Gedanken in diesen Kapiteln ist, wird alsbald wiederholt, wie die Erwähnung des Hingangs Jesu, wohin ihm die Juden653Siebentes Kapitel. §. 77.nicht folgen können (7, 33 f. 8, 21, noch mehr später, 13, 33. 14, 2 ff. 16, 16 ff. ), ein Ausspruch, an welchen sich überdieſs die beiden ersten Male ziemlich unwahrschein - liche Miſsverständnisse oder Verdrehungen der Juden knü - pfen, indem sie das einemal, unerachtet Jesus gesagt hatte: ὑπάγω πρὸς τὸν πέμψαντά με, an eine Reise zu der διασπορὰ τῶν Ἑλλήνων, das andremal gar an Selbstmord gedacht haben sollen. Wie oft sind ferner auch in diesen Kapiteln die Versicherungen Jesu wiederholt, daſs er nicht seine eigne Ehre, sondern die des Vaters suche (7, 17 f. 8, 50. 54. ), daſs die Juden seine Herkunft, sei - nen Vater, nicht kennen (7, 28. 8, 14. 19. 54. ), daſs, wer an ihn glaube, ewig leben, den Tod nicht sehen werde, wer aber nicht glaube, ohne Antheil an der ζωὴ in seinen Sünden sterben müsse (8, 21. 24. 51. vgl. 3, 36. 6, 40). Das 9te Kapitel, dem gröſsten Theil nach eine Verhand - lung des Synedriums mit dem von Jesu geheilten Blind - gebornen, ist durchaus dialogisch gehalten, doch tritt, weil Jesus mehr aus dem Spiele bleibt, jenes gemachte Contrastsuchen nicht so wie sonst hervor, und der Dialog gestaltet sich natürlicher.

Das zehnte Kapitel beginnt mit der bekannten Rede vom guten Hirten, eine Rede, welche man mit Unrecht eine Parabel zu nennen pflegt11)z. B. Tholuck, S. 185 ff., und Lücke, welcher aber doch zu - giebt, dass sie mehr nur eine angefangene als vollendete Pa - rabel sei. 2, S. 345. Anm. 2.; wie denn auch Olshausen (2, 335.) bemerkt, das hier vom Hirten und das 15, 1 ff. vom Weinstock Gesagte sei mehr nur Vergleichung als Parabel.. Auch die kleinsten der sonst von Jesu vorgetragenen Gleichnisse, wie die vom Sauerteig, vom Senfkorn, enthalten die Grundzüge einer sich fortbewegenden Geschichte, welche Anfang, Fortgang und Schluſs hat. Hier dagegen ist schlechter - dings kein historischer Verlauf: auch die geschichtartigen Züge sind allgemein gehalten (was zu geschehen pflege,654Zweiter Abschnitt.nicht was einmal geschehen sei, wird gesagt), und da - durch zum Stehen gebracht; ja das ursprüngliche Haupt - bild vom ποιμὴν durch das andre von der ϑύρα unterbro - chen, so daſs wir hier keine Parabel haben, sondern eine Allegorie. Es bildet also diese Stelle wenigstens (und wir werden auch keine andre finden, denn mit dem sogenannten Gleichniſs vom Weinstock K. 15. hat es, wie auch Lücke sieht, die gleiche Bewandtniſs wie mit die - sem) keine Instanz gegen die Art, wie neuere Kritiker ihren Verdacht gegen das vierte Evangelium auch dadurch zu begründen gesucht haben, daſs es von der paraboli - schen Lehrweise, welche Jesus den übrigen Evangelisten zufolge so sehr liebte, nichts zu wissen scheine. Unbe - kannt übrigens scheint es dem Verfasser desselben nicht gewesen zu sein, daſs Jesus gerne in Parabeln lehrte, da er hier und K. 15. Proben davon zu geben strebt, von welchen er die erstere ausdrücklich eine παροιμία nennt (V. 6.): aber man sieht, wie seinem anders gebildeten Ge - schmacke diese Form widerstand, wie er namentlich nicht genug Objektivität hatte, um sich der Einmischung von Reflexionen zu enthalten, weſswegen sich ihm unter der Hand die Parabel in Allegorie verwandelte.

Bis 10, 18 gehen die Reden Jesu auf dem Laubhüt - tenfeste: von V. 25. an meldet der Evangelist Äusserun - gen, welche Jesus drei Monate später, auf dem Feste der Tempelweihe gethan haben soll. Hier erwiedert Jesus den Juden, welche eine bestimmte Erklärung, ob er der Messias sei, von ihm verlangten, zunächst, daſs er ihnen dieſs bereits zur Genüge gesagt habe, und wiederholt die Berufung auf das Zeugniſs des Vaters für ihn durch die ἕργα (aus 5, 36). Hierauf aber (von V. 26 an) fällt er durch die Wendung, daſs die ungläubigen Frager nicht zu seinen Schafen gehören, in die eben verlassene Alle - gorie vom Hirten mit zum Theil wörtlicher Wiederholung655Siebentes Kapitel. §. 77.zurück12)10, 27: τὰ πρόβατα τὰ ἐμὰ τῆς φωνῆς μου ἀκούει κἀγὼ γινώσκω αὐτὰ 28: καὶ ἀκολουϑοῦσί μοι. 10, 3: καὶ τὰ πρόβατα τῆς φωνῆς αὐτοῦ ἀκούει 14: καὶ γινώσκω τὰ ἐμὰ 4: καὶ τὰ πρόβατα αὐτῷ ἀκολουϑε[]. Auch das folgende κἀγὼ ζωὴν αἰώνιον δίδωμι αὐτοῖς entspricht dem obigen ἐγὼ ἦλϑον, ἵνα ζωὴν ἔχωσι, V. 10, so wie das καὶ οὐχ ἁρπάσει τις αὐτὰ ἐκ τῆς χειρός μου das Gegenstück davon ist, dass nach V. 12. der Miethling die Schafe ἁρπάζειν lässt.. Eben verlassen aber hatte diese Allegorie nicht Jesus, denn seit dieser sie vorgetragen, waren drei Monate verflossen, und gewiſs Vieles von ihm gespro - chen, gethan und erlebt worden, was ihm diese Bilder - rede in den Hintergrund des Gedächtnisses rücken muſste, so daſs er schwerlich zu derselben zurückgekehrt, in kei - nem Falle aber sie so wörtlich zu wiederholen im Stande gewesen wäre. Wer unmittelbar von jener Allegorie her - kommt, ist vielmehr nur der Evangelist, welchem freilich vom Niederschreiben der ersten Hälfte dieses Kapitels bis zur zweiten nicht Monate vergangen waren, sondern er schrieb das nach seiner Zeitangabe ziemlich Entfernte in Einem Zuge fort, und so mochte wohl in seinem Gedächt - niſs, nicht aber ebenso in Jesu die Allegorie vom Hirten auf solche Weise nachklingen. Wer sich hier dadurch noch helfen zu können glaubt, daſs er nur die wörtliche Ähnlichkeit der späteren Rede mit der früheren auf Rech - nung des Evangelisten schreibt, dem kann man dieſs nicht verwehren: für mich ist dieser Punkt in Verbindung mit den übrigen dafür entscheidend, daſs die Reden Jesu bei Johannes ziemlich freie Compositionen sind.

Dasselbe erhellt auch aus derjenigen Rede, mit wel - cher der vierte Evangelist Jesum seine öffentliche Thätig - keit beschlieſsen läſst (12, 44 50). Diese Rede nämlich656Zweiter Abschnitt.ist so durch und durch nur von Reminiscenzen aus den bisherigen Reden Jesu zusammengesezt13)Vgl. V. 44 mit 7, 17; V. 46 mit 8, 12; V. 47 mit 3, 17; V. 48 mit 3, 18. 5, 45; V. 49 mit 8, 28; V. 50 mit 6, 40. 7, 17. 8, 28., so ganz nur, wie Dr. Paulus sich ausdrückt14)L. J. 1, b. S. 142., ein Widerschall man - cher sonst ausgesprochenen Hauptworte Jesu, daſs man sich schwer entschlieſsen kann, mit einer so wenig origi - nellen Rede das öffentliche Wirken Jesu endigen zu las - sen, und daher die neueren Ausleger gröſstentheils der Meinung sind, nur der Evangelist sei es, der hier die Summe von Jesu Lehre noch einmal zusammenfassen wol - le15)Lücke 2, S. 462. ; Tholuck S. 236; Paulus a. a. O.. Auch nach unserer Ansicht redet hier wieder der Evangelist, aber sein Vorgeben ist, einen Vortrag Jesu zu geben, wenn er doch die Rede durch ein Ἰησοῦς δὲ ἔκραξε καὶ εἶπεν einleitet. Dieſs freilich wollen die Ausleger nicht zugeben, und sie können sich nicht ohne Schein darauf berufen, daſs ja der Evangelist schon V. 36. gesagt hatte, Jesus habe sich nunmehr zurückgezogen (ἐκρύβη), und daſs er durch die folgende Betrachtung über den durch so viele von Jesu verrichtete σημεῖα nicht gebrochenen Unglauben der Juden nicht undeutlich Jesu öffentliches Wirken für geschlossen erklärt hatte, weſswegen es also gegen seinen eigenen Plan wäre, Jesum hier noch einmal mit einer öffentlichen Rede auftreten zu lassen. Und hiegegen mag ich mich zwar nicht mit älteren Exegeten darauf berufen, daſs Jesus, nachdem er schon den Rückzug angetreten, sich noch einmal umgewendet und den Juden jene Worte zugerufen habe; aber daran halte ich fest, daſs der Evan - gelist durch den bezeichneten Eingang V. 44. nur einen bestimmten Redeakt kann anzeignen wollen. Zwar soll der Aorist in ἔκραξε und εἶπε die Bedeutung des Plusquam - perfektums haben, und hier die früheren Reden Jesu re -657Siebentes Kapitel. §. 78.kapitulirt werden, deren ungeachtet die Juden ihm keinen Glauben geschenkt haben: allein diese nachholende Stel - lung des Satzes müſste durch eine Partikel wie καίτοι an - gezeigt sein, und da statt einer solchen das fortfahrende δὲ steht, so wird man sich die Sache so zu denken haben, daſs Johannes zwar mit V. 36. den Bericht von der öffentlichen Thätigkeit Jesu hatte schlieſsen wollen: aber durch die ausführliche Schluſsbetrachtung V. 37 ff., und durch die Kategorieen der πίςις und ἀπιςία, welche in derselben vor - kamen, wurde er an früher von ihm vorgetragene Reden Jesu erinnert, welche diesen und ähnliche Gegensätze be - handelten, und welche er nicht umhin konnte, hier mit verstärktem Nachdruck Jesum wiederholen zu lassen.

§. 78. Einzelne, dem vierten Evangelium mit den übrigen gemeinsame Aussprüche Jesu.

Die bisher erwogenen längeren Reden Jesu waren dem vierten Evangelium eigenthümlich: nur einige kürzere Aussprüche finden sich, zu welchen die Synoptiker Paral - lelen bieten. Von diesen haben wir diejenigen, welche bei Johannes in nicht minder passender Verbindung stehen (wie 12, 25. vgl. mit Matth. 10, 39. 16, 25. und 13, 16. vgl. mit Matth. 10, 24.), nicht besonders zu betrachten, und da die Stelle 2, 19. vgl. mit Matth. 26, 61. erst im Con - text der Leidensgeschichte zur Sprache kommen kann, so bleiben uns hier nur drei Stellen übrig, von welchen die erste 4, 44. ist.

Nachdem der Evangelist gemeldet hat, wie sich Je - sus von Samaria wieder nach Galiläa gewendet habe, sezt er hinzu: αὐτὸς γὰρ . ἐμαρτύρησεν, ὅτι προφήτης ἐν τῇ ἰδίᾳ πατρίδι τιμὴν οὐκ ἔχει. Denselben Ausspruch finden wir Matth. 13, 57. (Marc. 6, 4. Luc. 4, 24.) mit den Worten: οὐκ ἔνι προφήτης ἄτιμος εἰ μὴ ἐν τῇ πατρίδι αὑτοῦ καὶ ἐν τῇ οἰκίᾳ αὑτοῦ. Allein, während er hier am ganz geeignetenDas Leben Jesu I. Band. 42658Zweiter Abschnitt.Orte steht, veranlaſst nämlich durch die schlechte Aufnah - me, welche Jesus in seiner Vaterstadt Nazaret fand, die er deſswegen wieder verlieſs: so erscheint er bei Johannes umgekehrt wie ein Motiv der Reise Jesu in seine Heimath Galiläa, wo er übrigens sofort gut aufgenommen wurde. Da ihn die in jenem Diktum ausgesprochene Erfahrung viel - mehr hätte abhalten, als antreiben müssen, eine Reise nach Galiläa zu unternehmen, so läge allerdings dem Bedürfniſs die Erklärung am nächsten, welche noch Kuinöl aufgenom - men hat, das γὰρ geradezu für obgleich zu nehmen, wenn sie nur nicht die sprachwidrigste Gewalthülfe wäre. In - dessen, da es dabei bleibt, daſs, wenn Jesus diese Stellung des Propheten zu seiner πατρὶς kannte, er vielmehr nicht dahin gehen muſste: so war man sofort veranlaſst, πατρὶς nicht von der Provinz, sondern im engeren Sinne von der Vaterstadt zu verstehen, und nach der Angabe, daſs er nach Galiläa gegangen, zu suppliren, daſs er sich jedoch in seine Vaterstadt Nazaret aus dem angezeigten Grunde nicht begeben habe1)So Cyrill, Erasmus. Was Tholuck's (S. 100.) Auskunft, wel - cher auch Olshausen (2, S. 122.) beitritt, das ἐμαρτύρησεν als Plusquamperfectum und das γὰρ explanativ zu nehmen, helfen soll, sehe ich nicht ein, da auch so durch γὰρ und οὖν; (V. 45.) ein Verhältniss der Übereinstimmung zwischen zwei Sätzen bleibt, zwischen welchen man einen, etwa durch μὲν und δὲ angezeigten Gegensaz erwarten sollte.; allein eine Ellipse, wie sie bei die - ser Erklärung angenommen wird, gehört nicht minder zu den Unmöglichkeiten, als jene Umdeutung von γὰρ bei der vorigen. Da man hienach eine Angabe, wie man sie bedürfte, daſs Jesus gar nicht in seine πατρὶς gegangen, in unsre Stelle nicht hineinbringen kann: so glaubte man wenigstens das in ihr zu finden, daſs er nicht bald dahin zurückgekehrt sei, wovon dann das ὅτι προφήτης κ. τ. λ. ganz passend den Grund anzugeben schien2)Paulus, Comm. 4, S. 251. 56.. Sollte die -659Siebentes Kapitel. §. 78.se Auffassung zulässig sein, so müſste unmittelbar vorher die ganze Dauer des auswärtigen Aufenthalts Jesu zusam - mengefaſst sich finden: statt dessen aber ist V. 45. nur die kurze Zeit angegeben, welche Jesus in Samarien ver - weilt hatte, so daſs, in lächerlichem Miſsverhältniſs von Grund und Folge, die Furcht vor der Verachtung seiner Landsleute als der Grund bezeichnet wäre, nicht warum er erst nach mehrmonatlichem Aufenthalt in Judäa, sondern warum er nicht eher als nach Verfluſs zweier in Samaria zugebrachten Tage nach Galiläa gegangen sei. Kann so - mit, so lange man Galiläa und Nazaret als die πατρὶς Je - su sich denkt, aus unsrer Stelle das absurdum nicht ent - fernt werden, daſs Jesus, bewogen durch die daselbst zu erwartende Miſsachtung, dahin gegangen sei: so war es dem Ausleger nahe gelegt, sich aus seinem Matthäus und Lukas zu besinnen, daſs ja Jesus vielmehr in der Davids - stadt Bethlehem geboren, somit Judäa seine eigentliche Hei - math sei, welche er nun, der daselbst erfahrenen Miſsach - tung wegen, verlassen habe3)Dieser Gedanke ist so ganz im Geiste der alten Harmonistik, dass es mich wundert, wenn wirklich erst Lücke (Comm. 1, S. 545 f.) auf denselben verfallen ist.. Allein in Judäa hatte er ja nach 4, 1. vgl. 2, 23. 3, 26 ff. einen sehr bedeutenden Anhang gewonnen, und konnte sich also über Mangel an τιμὴ nicht beklagen; denn die Nachstellungen der Phari - säer, welche 4, 1. zu verstehen gegeben sind, waren eben durch das wachsende Ansehen Jesu in Judäa veran - laſst, und ihrerseits keineswegs auf das ὅτι προφήτης κ. τ. λ. zurückzuführen. Ferner ist in unsrer Stelle das Gehen nach Galiläa nicht mit einem Verlassen Judäas, sondern Samariens in Verbindung gesezt, so daſs, da es heiſst, er verlieſs Samarien und gieng nach Galiläa, weil er die Er - fahrung gemacht hatte, daſs ein Prophet in seinem Vater - land nichts gelte, vielmehr Samarien als sein Vaterland be -42*660Zweiter Abschnitt.zeichnet zu werden scheinen könnte, wie er 8, 48. Σαμα - ρείτης gescholten wird aber auch in Samarien hatte er nach 4, 39. eine günstige Aufnahme gefunden. Überdieſs haben wir schon oben gesehen, daſs das vierte Evangelium von einer Geburt Jesu in Bethlehem nichts weiſs, sondern ihn allenthalben als Galiläer und Nazaretaner voraussezt4)s. oben, S. 275 f.. Ergiebt sich aus der bisherigen Betrachtung nur das ne - gative Resultat, daſs für das besprochene Diktum ein pas - sender Zusammenhang nicht zu finden ist: so wird das Po - sitive, wie es dessen unerachtet hieher verschlagen werden konnte, sich vielleicht ergeben, wenn wir erst die beiden andern hier noch in Frage kommenden Stellen erwogen haben werden.

Der Ausspruch 13, 20: λαμβάνων ἐάν τινα πέμψω, ἐμὲ λαμβάνει· δὲ ἐμὲ λαμβάνων λαμβάνει τὸν πέμψαντά με hat Matth. 10, 40. eine fast wörtliche Parallele. Vor - angegangen war bei Johannes die Vorherverkündigung des Verraths und die Erklärung Jesu gegen die Jünger, daſs er ihnen dieſs im Voraus habe sagen wollen, damit sie, wenn sich seine Vorhersage erfülle, an ihn als Messias glauben möch - ten. Wie hängt nun damit jener Ausspruch zusammen? und wie mit dem Folgenden, wo alsbald wieder vom Verräther die Rede wird? Man sagt, Jesus wolle auf die hohe Würde eines messianischen Lehrgesandten aufmerksam machen, wel - che der Verräther verscherze5)Paulus, L. J. 1, b, S. 158.: aber eben dieser negati - ve Gedanke des Verlierens, auf welchen hier Alles an - kommt, ist im Texte durch nichts angedeutet. Andere neh - men an, durch die Schilderung ihres hohen Werthes habe Jesus den durch die Erwähnung des Verräthers niederge - schlagenen Jüngern neuen Muth machen wollen6)Lücke, 2, S. 478.: aber dann durfte er nicht unmittelbar darauf wieder vom Ver -661Siebentes Kapitel. §. 78.räther fortfahren. Noch Andere vermuthen ausgelassene Mittelglieder7)Tholuck, S. 251.: kaum besser, als wenn Kuinöl an ein Glos - sem aus Matth. 10, 40. denkt, das ursprünglich zu V. 16. gemacht, hierauf aber hieher, an den Schluſs des Abschnitts, verwiesen worden sei. Hiebei ist übrigens die Hinweisung auf V. 16. ein brauchbarer Fingerzeig. Auch dieser Vers nämlich, wie der 20te, hat seine Parallele in der Instruk - tionsrede bei Matthäus (10, 24.); waren dem Verfasser des vierten Evangeliums aus dieser einige Stücke auf tra - ditionellem Wege zugekommen: so konnte leicht eines das andere in seiner Erinnerung hervorrufen. V. 16. war von dem ἀπόςολος und dem πέμψας αὐτὸν die Rede, ebenso hier, V. 20, von denen, welche Jesus senden werde, und dem, der ihn gesandt habe. Freilich jenes, um Demuth zu empfehlen, dieses um zu ermuthigen, also dem Sinne nach nicht zusammenhängend, sondern nur den Worten nach: so daſs wir also den Verfasser des vierten Evangeliums, sobald er traditionelle Aussprüche Jesu aus dem Gedächt - niſs berichtet, demselben Gesetze der Ideenassociation fol - gen sehen, wie die Synoptiker. Das Natürlichste wäre hie - bei zwar gewesen, den 20ten Vers unmittelbar nach dem 16ten zu stellen; indeſs der Gedanke an den Verräther drängte sich vor, und der doch nur lexikalisch in der Er - innerung des Evangelisten wiedererweckte V. 20. konnte ja ebensogut auch etwas später stehen.

Die dritte hier in Betracht kommende Stelle, 14, 31, steht zwar noch tiefer als die zulezt beleuchtete, im Be - reich der Leidensgeschichte: kann aber, da sie sich, wie jene, ganz abgesehen von diesem Zusammenhang untersu - chen läſst, hier ebenso unbedenklich mitgenommen werden. In dieser Stelle erinnern die Worte: ἐγείρεσϑε ἄγωμεν ἐν - τεῦϑεν an das ἐγείρεσϑε ἄγωμεν, durch welches Jesus Matth. 26, 46. Marc. 14, 42. seine Jünger auffordert, mit ihm dem662Zweiter Abschnitt.Verräther entgegenzugehen. In dem Zusammenhang bei Jo - hannes fallen diese Worte deſswegen auf, weil der in den - selben enthaltenen Aufforderung zum Weggehen keine Fol - ge gegeben wird, sondern Jesus, wie wenn er so etwas gar nicht gesagt hätte, unmittelbar (15, 1.) fortfährt: ἐγώ ε[]μι ἄμπελος ἀληϑινὴ κ. τ. λ., und erst nach lange noch fortgesezten Reden 18, 1. mit seinen Jüngern auf - bricht. Mit seltener Übereinstimmung jedoch haben die Ausleger der verschiedensten Farben jene Worte dahin er - klärt, daſs Jesus zwar im Sinne gehabt habe, nunmehr weg - zugehen und sich nach Gethsemane zu begeben, daſs ihn aber die Liebe und der Drang, seinen Jüngern noch Meh - reres mitzutheilen, festgehalten habe; so sei zwar das Ei - ne, wozu er aufforderte, das ἐγείρεσϑε, in Vollzug gekom - men, aber stehend im Speisesaale habe er sofort noch wei - ter gesprochen, bis erst später (18, 1.) auch dem ἄγωμεν[]ντεῦϑεν Folge gegeben worden sei8)Paulus, L. J. 1, b. S. 175; Lücke, 2, S. 526 f. Tholuck, S. 273; Olshausen, 2, S. 334. Hug, Einl. in das N. T. 2, S. 209.. Die Möglichkeit eines solchen Hergangs wird zugegeben werden müssen, so wie, daſs im Andenken eines Jüngers das Bild dieses lez - ten Abends mit allen seinen Einzelheiten gar wohl so leb - haft sich erhalten konnte, daſs er auch Jesu Aufstehen und rührendes Verweilen an gehöriger Stelle miterzählte. Aber, wer aus lebendiger Erinnerung heraus erzählte, der muſste gerade das Anschauliche an der Sache, das Aufbrechen, und wie doch noch verweilt wurde, herausheben, nicht aber die bloſsen Worte, welche ohne Beifügung jener Umstän - de durchaus unverständlich bleiben. Auch hier entsteht also die Vermuthung, daſs dem vierten Evangelisten eine Reminiscenz aus der evangelischen Tradition aufgestiegen, und von ihm eben da, wo sie ihm einfiel, freilich nicht im besten Zusammenhang, eingefügt worden sei, und sie wird ebensobald zur Wahrscheinlichkeit, als sich nachweisen663Siebentes Kapitel. §. 78.läſst, was ihn gerade hier an jenen Ausspruch erinnern konnte. In den synoptischen Parallelen steht die Auffor - derung: ἐγείρεσϑε ἄγωμεν mit der Ankündigung im Zusam - menhang: ἰδοὺ ἤγγικεν ὥρα, καὶ υἱὸς τ. . παραδίδοται εἰς χεῖρας ἁμαρτωλῶν ἰδοὺ ἤγγικεν παραδιδούς με, also mit der Verkündigung des Nahens der feindlichen Macht, vor welcher sich jedoch Jesus nicht fürchtet, sondern mit jener entschlossenen Aufforderung der Gefahr entgegengeht. Von dem Herannahen einer feindlichen Macht hatte Jesus auch im Zusammenhang der johanneischen Stelle gespro - chen, wenn er sagte: ἔρχεται τοῦ κόσμου ἄρχων, καὶ ἐν ἐμοὶ οὐκ ἔχει οὐδέν. Hiebei kann es keinen Unterschied be - gründen, daſs hier die in dem Verräther und den von ihm Geführten wirksame Macht, dort aber der von derselben getriebene Verräther als das sich Nähernde namhaft gemacht ist: sondern, wuſste der Verfasser aus der Überlieferung, daſs Jesus mit der Hinweisung auf die nahende Gefahr ein entschlossenes ἐγείρεσϑε ἄγωμεν verbunden hatte, so muſste ihm dieſs bei der Erwähnung des feindlich nahen - den ἄρχων τοῦ κόσμου einfallen, und er fügte, weil er Jesum und seine Jünger noch in der Stadt und im Hause hatte, sie also bis zum Zusammentreffen mit der feindseligen Macht noch eine bedeutende Ortsveränderung vornehmen lassen muſste, dem ἄγωμεν noch das ἐντεῦϑεν hinzu. Wie ihm aber dieses traditionelle Diktum nur unwillkührlich in den Gang derjenigen Gedanken, welche er Jesu als Abschieds - reden in den Mund zu legen gedachte, zwischeneingeschlüpft war, so wurde es auch alsbald wieder ignorirt, und dem noch nicht erschöpften Strome der Abschiedsreden nach - wie vorher freier Lauf gelassen.

Sehen wir von hier aus auf die oben noch ausgesezte Stelle 4, 44. zurück, so zeigt sich nunmehr leicht, wie der Evangelist veranlaſst sein konnte, das Zeugniſs von der Miſsachtung des Propheten im Vaterland an so wenig passender Stelle einzurücken. Es war ihm aus der Über -664Zweiter Abschnitt.lieferung bekannt, und er scheint es, weil er von einer ungünstigen Berührung Jesu gerade mit Nazaret nichts wuſste, auf Galiläa überhaupt bezogen zu haben. Da ihm ferner eine besondre Scene, durch welche es veranlaſst sein konnte, nicht bekannt war, so brachte er es unter, wo es ihm einmal bei Erwähnung von Galiläa einfiel, auf eine Weise freilich, bei der er sich kaum etwas Bestimm - tes gedacht haben dürfte.

Wir haben also das Resultat: So gut dem Verfasser des vierten Evangeliums in den Reden Jesu der Zusam - menhang geräth, wo er es mit eigenen Gedanken zu thun hat: so übel geht es ihm damit nicht selten, wenn es dar - auf ankommt, wirkliche, traditionelle Aussprüche Jesu gehörigen Ortes einzuschalten. Hier, wo er dieselbe Auf - gabe mit den Synoptikern zu lösen hat, geht es ihm auch ebenso wie diesen, ja noch schlimmer, wenn man will, je sparsamer seine ganz anderartige Darstellung für ächt - überlieferte Redetheile Berührungspunkte bot, und je we - niger er, sonst aus Einem Gusse zu bilden gewohnt, in solcher musivischen Arbeit bewandert war.

§. 79. Die neueren Verhandlungen über die Glaubwürdigkeit der johanneischen Reden. Resultat.

Durch die bisherige Untersuchung der Reden Jesu im vierten Evangelium werden wir nun hinreichend aus - gerüstet sein, um uns in dem Streite, welcher neuerlich über dieselben geführt worden ist, ein Urtheil zu bilden. Die neuere Kritik nämlich hat diese Reden theils nach ih - rer inneren Beschaffenheit, mit Beziehung auf gewisse allgemein anerkannte Maſsstäbe der Glaubwürdigkeit, theils nach ihrem äusseren Verhältniſs zu andern Reden und Darstellungen, verdächtig gefunden: wogegen es aber nicht an zahlreichen Vertheidigern derselben gefehlt hat.

In Bezug auf die innere Beschaffenheit entsteht die665Siebentes Kapitel. §. 79.doppelte Frage: entsprechen jene Reden, so wie sie vor uns liegen, den Gesetzen 1) der Wahrscheinlichkeit, und 2) der Behaltbarkeit? In ersterer Hinsicht wird von den Freunden des vierten Evangeliums bemerkt, seine Reden zeichnen sich durch ein besonderes Gepräge der Wahrheit und Zuverläſsigkeit aus, die Gespräche, die es Jesum mit Menschen der verschiedensten Gattungen führen lasse, seien durchaus treue Charakterschilderungen, welche den strengsten Anforderungen der psychologischen Kritik Ge - nüge thun1)Wegscheider, Einleit. in das Evang. Joh. S. 271. Tholuck, Comm. S. 20.. Dem ist von der andern Seite entgegenge - sezt worden, wie es vielmehr höchst unwahrscheinlich sei, daſs einerseits Jesus zu Personen von den verschie - densten Bildungsstufen so ganz auf dieselbe Weise, zu den Galiläern in der Synogoge zu Kapernaum nicht ver - ständlicher, als zu dem διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ in Jerusa - lem gesprochen, daſs den Inhalt seiner Reden fast durch - weg nur die Eine Lehre von seiner Person und deren Er - habenheit gebildet haben, die Form derselben aber wie absichtlich darauf berechnet gewesen sein sollte, die Leute irre zu machen und von ihm zurückzustoſsen. Ebenso andrerseits bei den Zuhörern und Mitunterrednern hat man die Angemessenheit ihrer Zwischenreden nicht selten vermiſst. Hier ist, wie wir gesehen haben, kein Unter - schied zwischen einem samarischen Weibe und dem ge - bildetsten Pharisäer: dieser so gut wie jene muſs die gei - stig gemeinten Reden Jesu fleischlich miſsverstehen, und diese Miſsverständnisse sind nicht selten so grell, daſs sie allen Glauben übersteigen, jedenfalls aber so einförmig, daſs sie einer stehenden Manier ähnlich sehen, in welcher der Verfasser des vierten Evangeliums willkührlich des Contrastes wegen die mit Jesu sich Unterhaltenden gezeich - net zu haben scheint2)So Eckermann, theol. Beiträge, 5, 2, S. 228; (Vogel) der. Und hienach weiſs ich wirklich666Zweiter Abschnitt.nicht, was sich diejenigen unter Wahrscheinlichkeit den - ken, welchen die Reden Jesu bei Johannes das Gepräge derselben zu tragen scheinen.

Was fürs Andere die Gesetze der Behaltbarkeit be - trifft, so ist man so ziemlich darin einverstanden, daſs diejenige Art von Reden, wie sie das johanneische Evan - gelium, im Unterschied von den einzeln stehenden oder zusammengereihten Sinnsprüchen und Parabeln der übri - gen, berichtet, nämlich zusammenhängende Demonstratio - nen oder fortlaufende Dialogen, zu demjenigen gehöre, was sich am schwersten behalten und treu wiedergeben läſst3)de Wette, Einl. in das N. T. §. 105. Tholuck, S. 19. Lücke, 1, S. 198 f.. Wenn solche Reden nicht protokollarisch nach - geschrieben werden, so ist für ein treues Wiedergeben nicht zu stehen. Wirklich hat daher Dr. Paulus einmal den Einfall gehabt, es mögen vielleicht bei den Tempel - oder Synagogengerichten zu Jerusalem eine Art von Ge - schwindschreibern als Protokollisten angestellt gewesen sein, aus deren Akten dann nach Jesu Tode die Christen Abschriften gesammelt hätten4)Commentar, 4, S. 275 f., und auf ähnliche Weise meinte Bertholdt, unser Evangelist habe noch bei Leb - zeiten Jesu die meisten seiner Reden aramäisch aufge - zeichnet und diese Aufzeichnungen bei der weit späteren Abfassung seines Evangeliums zum Grunde gelegt5)Verosimilia de origine evangelii Joannis, opusc. S. 1 ff. und Einleit. in das N. T. S. 1302 ff. Dieser Ansicht giebt Weg - scheider, a. a. O. S. 270 ff. Beifall, und auch Hug, 2, 263 f. und Tholuck, S. 21., glauben die Annahme früherer Aufzeich - nungen nicht ganz ausschliessen zu dürfen.. So leicht das Unhistorische dieser modernen Hypothesen in2)Evangelist Johannes und seine Ausleger vor dem jüngsten Ge - richt, 1, S. 28 ff., bei Wegscheider, a. a. O. S. 281; Bret - schneider, Probabil. S. 33. 45.667Siebentes Kapitel. §. 79.die Augen fällt6)Lücke, 1, S. 192 f., so wuſsten ihre Freunde doch meh - rere Gründe für dieselben aufzuführen. Die prophetischen Aussprüche Jesu, sagte Bertholdt, welche seinen Tod und seine Auferstehung betreffen, finden sich bei Johan - nes noch unbestimmter gehalten, zum sicheren Zeichen, daſs sie noch vor dem Erfolge niedergeschrieben seien, da sie sonst so gut wie bei den Synoptikern ex eventu näher bestimmt worden sein würden. Wozu wir das ver - wandte Argument setzen können, durch welches Henke wenigstens die vorzügliche Ächtheit der johanneischen Reden beweisen zu können glaubte, daſs nämlich der vierte Evangelist nicht selten dunkle Aussprüche Jesu durch eigene Beisätze, und zwar öfters falsch, erkläre, was die gröſste Gewissenhaftigkeit im Wiedergeben der Reden Jesu beweise, da er sonst seine Deutungen in die Reden selber würde haben einflieſsen lassen7)Henke, programm. quo illustratur Joannes apostolus nonnul - lorum Jesu apophthegmatum et ipse interpres.. Mit Recht aber ist hiegegen bemerkt worden, die Dunkelheit jener Vorhersagungen im vierten Evangelium sei dem my - stischen Geiste des ganzen Werkes völlig angemessen8)Bretschneider, Probab. S. 14 f., und da überdieſs, neben der Vorliebe für das Dunkle und Räthselhafte, der Verfasser unsres Evangeliums un - leugbar Geschmack besaſs: so muſste er auch fühlen, daſs eine Prophezeihung nur um so pikanter und glaubwürdi - ger werde, je dunkler sie vorgetragen ist, weſswegen er, wenn er auch lange erst nach dem Erfolg Voraussagun - gen desselben Jesu in den Mund legte, doch geneigt sein konnte, sie so unbestimmt zu fassen. Eben daraus er - klärt sich auch, warum der Evangelist seine eigenen Er - läuterungen mancher dunkeln Aussprüche Jesu gerne in der Form anfügt, daſs die Jünger Jesu erst nach seiner Auferstehung oder nach der Ausgieſsung des Geistes der -668Zweiter Abschnitt.gleichen Reden verstanden haben (2, 22. 7, 39), weil näm - lich der Gegensaz des Dunkels, in welchem damals die Jünger noch tappten, mit dem nachmals ihnen aufgegan - genen Lichte mit zu den Contrasten gehörte, welche die - ses Evangelium durchweg so eifrig verfolgt. Ein Anderes, was Bertholdt für seine Voraussetzung anführt, und wor - in ihm auch Tholuck beistimmt, ist, daſs sich in den jo - hanneischen Reden bisweilen Sätze finden, die weder an sich bedeutend, noch mit dem übrigen Vortrag im Zusam - menhang, nur äusserlich durch die Situation veranlaſst gewesen sein können, deren Aufbewahrung mithin nur durch die Annahme der frischesten und unmittelbarsten Aufzeichnung sich erklären lasse, wofür sich jene Kriti - ker namentlich auf das ἐγείρεσϑε ἄγωμεν ἐντεῦϑεν (14, 31) berufen. Allein die Entstehung solcher unzusammenhän - genden Zwischensätze ist oben von uns auf eine Weise erklärt worden, welche die Hypothese von augenblickli - cher Aufzeichnung überflüssig macht.

Muſste man daher auf andre Mittel denken, um sich der Treue der im vierten Evangelium mitgetheilten Reden Jesu zu versichern, und bleibt die oft vorgebrachte all - gemeine Berufung darauf, was ein gutes Gedächtniſs, namentlich unter einfach lebenden, der Schrift ungewohn - ten Menschen leisten könne, im Gebiete der abstrakten Möglichkeit stehen, auf welchem, wie auch Lücke be - merkt9)a. a. O. S. 199., sich immer fast gleichviel für und wider spre - chen läſst: so hatte man sich näher an das dem Johan - nes Eigenthümliche zu halten, und berief sich in dieser Hinsicht auf sein ganz besonders enges Verhältniſs zu Jesu als Lieblingsjüngers, auf seine Begeisterung für den - selben, welche gewiſs auch sein Gedächtniſs habe stärken und Alles, was aus dem Munde des göttlichen Freundes gekommen war, ihm im lebhaftesten Andenken erhalten669Siebentes Kapitel. §. 79.müssen10)Wegscheider, S. 286; Lücke, S. 195 f.. Unerachtet dieses ganz einzige Verhältniſs des Johannes zu Jesu eben nur aus dem johanneischen Evangelium erhellt, so lieſse sich doch daraus in dem Fall ohne Cirkel auf die Glaubwürdigkeit der von ihm mitge - theilten Reden schlieſsen, wenn dieses Evangelium nur auf solche Fehler angeklagt wäre, welche aus dem unver - meidlichen Erbleichen der Erinnerung flieſsen, weil die positiven Notizen über jenes Verhältniſs unmöglich aus dieser bloſs negativen Ursache hervorgehen konnten. Da aber der gegen das vierte Evangelium erhobene Verdacht weit über jene Grenze hinaus auf freie Erdichtung geht: so ist in dieser Hinsicht jene nur johanneische Notiz zur Stütze für die johanneischen Reden unbrauchbar. Doch auch jenes Lieblingsverhältniſs zugegeben, so reicht es ebensowenig als die Bemerkung, daſs Johannes wahrscheinlich in früher Jugend, wo die Eindrücke sich am tiefsten einprägen, zu Jesu gekommen sei, und daſs er auch vom Tode Jesu an immer im Kreise der Erinne - rung an denselben gelebt habe11)Wegscheider, S. 285. Lücke, a. a. O., hin, um wahrschein - lich zu machen, daſs Johannes so lange Gedankenreihen und so verwickelte Dialogen bis auf die Zeit hin habe be - halten können, in welche die Abfassung seines Evange - liums zu setzen ist. Denn darin sind die Kritiker ein - verstanden, daſs die Beschaffenheit des vierten Evange - liums, sein Bestreben, den gemeinen Glauben der Chri - sten zur Gnosis zu vergeistigen, und dabei manchen indeſs hervorgetretenen Verirrungen vorzubeugen, entschieden für eine spätere Abfassung in einer schon reiferen Ent - wicklungsperiode der Kirche, und somit auch im höheren Alter des Apostels, spreche12)Lücke, a. a. O. S. 124 f. 175. Kern, über den Ursprung des Evang. Matthäi, in der Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 109..

670Zweiter Abschnitt.

Deſswegen müssen sich die Vertheidiger der in Frage stehenden Reden in lezter Instanz immer auf den über - natürlichen Beistand des den Jüngern verheissenen παρά - κλητος berufen, welcher dieselben an Alles, was ihnen Jesus gesagt hatte, erinnern sollte. Dieſs thut Tholuck mit groſser Zuversicht13)S. 20 f., Lücke mit einiger Schüchtern - heit14)S. 197: Endlich aber, was scheuen wir uns, auch dasjeni - ge anzuführen, u. s. f., und wenn ihn der Tholuck'sche Anzeiger hierüber hart angelassen hat, so müssen wir ihn darum vielmehr loben, weil in dieser Scheue das richtige Gefühl liegt theils von dem Cirkel, welchen es auch hier immerhin bildet, die Glaubwürdigkeit der johanneischen Reden aus einer eben nur in diesen Reden so vorkommenden Ver - heissung Jesu zu beweisen (der Matth. 10, 19 f. den Jün - gern zugesagte Beistand vor Gericht ist noch lange kein υπομιμνήσκειν an die Reden Jesu Joh. 14, 26.), theils von dem Unangemessenen, in einer wissenschaftlichen Unter - suchung sich auf populäre Vorstellungen, wie Beistand des heiligen Geistes, zu berufen. Das Gefühl der Unzu - länglichkeit einer solchen Berufung zeigt sich auch bei Tholuck indirekt darin, daſs er neben dem Paraklet sich doch noch auf frühzeitige Aufzeichnungen beruft, und bei Lücke ohnehin darin, daſs er dennoch die wörtliche Au - thentie der Reden Jesu bei Johannes aufgiebt, und nur auf ihrer Glaubwürdigkeit im Wesentlichen beharrt, aus Gründen, welche übrigens mehr in dem Verhältniſs die - ser Reden zu andern Darstellungen liegen.

Dieses äussere Verhältniſs der Reden Jesu bei Johan - nes ist selbst wieder ein gedoppeltes, indem sich zur Ver - gleichung mit denselben theils diejenigen Reden darbieten, welche die Synoptiker Jesu in den Mund legen, theils die Art und Weise, wie der Verfasser des vierten Evange - liums, wo er in eigner Person auftritt, zu reden pflegt.

671Siebentes Kapitel. §. 79.

In ersterer Beziehung hat man die bedeutende Diffe - renz hervorgehoben, welche zwischen den beiderseitigen Reden sowohl dem Inhalt als der Form nach stattfindet. Während Jesus in den drei ersten Evangelien sich aufs Engste an die Bedürfnisse seines hirtenlosen Volks an - schlieſse, und demgemäſs bald den verderblichen Satzun - gen der Pharisäer gegenüber den sittlichen und religiö - sen Gehalt des mosaischen Gesetzes, bald im Gegensaz gegen die sinnlichen Messiashoffnungen der Zeit das rein - geistige Wesen seines Reichs und die Bedingungen des Eintritts in dasselbe auseinandersetze: drehe er sich im vierten Evangelium immer nur, und oft auf unfruchtbar speculative Weise, um die Lehre von seiner Person und höhern Natur, so daſs dem manchfaltigen, bald theoreti - schen, bald praktischen Inhalt der synoptischen Reden Jesu in den johanneischen ein einseitiger Dogmatismus entgegenstehe15)Bretschneider, Probab. S. 2. 3. 31 ff.. Daſs dieſs kein totaler Gegensaz sei, sondern sowohl in den synoptischen Reden johanneisch - artige Bestandtheile, als umgekehrt, sich finden, wird man besonnenen Kritikern zugeben müssen16)de Wette, Einl. in das N. T. §. 103; Hase, L. J. §. 7.: aber auch nur das bedeutende Vorwiegen des dogmatischen Elements auf der einen, des praktischen auf der andern Seite be - darf einer gründlichen Erklärung. Gewöhnlich nimmt man hier den Zweck zu Hülfe, welchen Johannes bei Abfassung seines Evangeliums gehabt haben soll, die drei ersten Evangelien zu ergänzen und die von ihnen gelas - senen Lücken auszufüllen. Allein, wenn doch Jesus bald auf die eine Weise, bald auf die andere sprach, warum nahmen sich die Synoptiker fast durchaus nur die prak - tisch populären, Johannes fast ohne Ausnahme nur die dogmatisch speculativen Bestandtheile seiner Reden heraus? Jenes weiſs man auf eine Weise zu erklären, die an und für672Zweiter Abschnitt.sich befriedigen könnte. In der mündlichen Überlieferung, bemerkt man, aus welcher die drei ersten Evangelien ge - flossen seien, habe von den Reden Jesu nur das Einfache und Gemeinverständliche, das Kurzgefaſste und Schlagende, als das Behaltbarste, sich fortpflanzen können, das Tiefere aber und feiner Ausgesponnene verloren gehen müssen17)Lücke, a. a. O. S. 100. Kern, a. a. O.. Daſs nun aber der Verfasser des vierten Evangeliums in der Nachlese, welche er nach dieser Voraussetzung an - stellte, fast alles jener praktischen Tendenz Angehörige übergeht, da doch gewiſs nicht alle Reden Jesu von die - ser Art bereits durch die Synoptiker aufbehalten waren, dieſs läſst sich doch nur aus einer Vorliebe des Evange - listen für dergleichen Reden erklären, welche nicht allein in dem objektiven Bedürfniſs seiner Zeit und Umgebung, sondern auch in der subjektiven Richtung seines eignen Geistes ihren Grund gehabt haben muſs. Dieſs geben selbst die der Ächtheit dieses Evangeliums günstigsten Kri - tiker zu18)Tholuck, S. 21.: nur glauben sie, jene Vorliebe habe sich bloſs negativ durch Weglassen, nicht aber auch positiv durch Zusetzen geäussert.

In formeller Hinsicht ist auf die Differenz zwischen der gnomischen oder parabolischen Form der Belehrungen Jesu bei den Synoptikern und der dialektischen bei Johan - nes aufmerksam gemacht worden19)Bretschneider, a. a. O.. Die Parabel nun allerdings fehlt dem oben Bemerkten zufolge im vierten Evangelium ganz, und man muſs sich wundern, da doch Lukas neben Matthäus noch so manches schöne Gleichniſs eigen hat, wie nicht Johannes nach beiden noch eine be - deutende Nachlese zu machen gewuſst haben sollte? Daſs es an einzelnen Gnomen und Sentenzen, welche den syn - optischen ähnlich sind, im vierten Evangelium nicht durch -673Siebentes Kapitel. §. 79.aus fehle, müssen wir zwar zugeben: aber ebenso sollte man von der andern Seite eingestehen, daſs im Ganzen für einen palästinischen Volkslehrer jener vorwiegend gnomische und parabolische Vortrag, den ihm die Synoptiker leihen, besser als der dialektische bei Johannes passe20)de Wette, a. a. O. §. 105..

Entscheidend aber ist nun das Verhältniſs der Reden Jesu bei Johannes zu der eigenen Denk - und Schreibart des Evangelisten. Hier nämlich haben wir eine Ähnlich - keit zwischen beiden gefunden21)vgl. hiezu Schulze, der schriftst. Charakter und Werth des Johannes. 1803., welche sich, da auch die Reden Dritter, namentlich des Täufers, in diesem Evan - gelium den gleichen Ton haben, nicht durch die Vorausse - zung erklären läſst, der Jünger habe sich ganz in die Denk - und Redeweise des Meisters hineingebildet22)so Stronck de doctrina et dictione Joannis apostoli, ad Jesu magistri doctrinam dictionemque exacte composita. 1797., son - dern nur daraus, daſs der Evangelist der in seiner Schrift redenden Hauptperson seine eigene Sprache geliehen hat. Wenn der neueste Commentator des Johannes dieſs nicht bloſs von der Färbung des Ausdrucks anerkennt, sondern auch in Bezug auf den Inhalt erläuternde Erweiterungen des Evangelisten zu finden glaubt, welcher, wie er sich ausdrückt, in den längeren und schwierigeren Reden Jesu seine Hand dazwischen habe23)Lücke, Comm. z. Joh. 1, S. 200 f.: so fragt sich, da dersel - be dieſs nicht ausdrücklich anzeigt, was uns versichern kann, daſs nicht allenthalben seine Hand im Spiele, ja, daſs nicht alle Reden, die er mittheilt, nur Gebilde seiner eigenen Hand seien? Der Ton und Ausdruck giebt keinen Fin - gerzeig, da dieser durchweg sich gleich und eingestand - nermaſsen von ihm geliehen ist; der Inhalt ebensowenig, denn der ist ebenfalls, wo der Evangelist selber redet, kein wesentlich andrer, als wo er Jesum reden läſst: wo liegtDas Leben Jesu I. Band. 43674Zweiter Abschnitt.also die Bürgschaft, daſs nicht, wie der Verfasser der Pro - babilien angenommen hat, die Reden Jesu vom vierten Evan - gelisten frei fingirt sind?

Lücke führt einige Punkte auf, welche bei dieser An - nahme unerklärlich wären24)a. a. O. S. 199.. Erstlich das fast wörtliche Zusammentreffen des Johannes mit den Synoptikern in einzelnen Aussprüchen Jesu. Allein da der vierte Evan - gelist doch innerhalb der christlichen Gemeinde stand, so muſs ihm auch eine Überlieferung zu Gebot gestanden ha - ben, aus welcher er, wenn er auch im Ganzen freibil - dend verfuhr, doch einzelne markirte Aussprüche ziemlich unverändert schöpfen konnte. Das Andre, was Lücke vorbringt, besagt noch weniger. Daſs nämlich Johannes, wenn er einmal Lust und Talent hatte, Reden Jesu zu erdichten, noch häufiger längere Reden eingemischt haben müſste, daſs die Abwechslung kürzerer Aussprüche mit längeren Vorträgen bei jener Voraussetzung unerklärlich sei, dieſs folgt doch nur dann, wenn man den Verfasser des vierten Evangeliums als einen Geschmacklosen sich vorstellt, welchem sein Gefühl nicht sagte, daſs zu der einen Veranlassung zwar eine längere, zu der andern aber eine kürzere Rede sich schicke, und daſs überhaupt eine Abwechslung von ausführlichen Vorträgen und concisen Sentenzen den besten Eindruck hervorzubringen geeignet sei. Gewichtiger ist, was Paulus bemerkt, wenn der vierte Evangelist die Reden Jesu frei componirt hätte, so würde er mehr von seinen eigenen, im Prolog geäusser - ten Ansichten hineingebracht haben, wogegen nun die Gewissenhaftigkeit, mit welcher er sich enthalte, seine Logologie Jesu in den Mund zu legen, ein Beweis für die Treue sei, mit welcher er sich in Aufzeichnung jener Reden an das Gegebene gehalten habe25)In der Recens. der zweiten Aufl. von Lücke's Commentar, im Lit. Blatt der allgem. Kirchenzeitung 1834, no. 18.. Allein der675Siebentes Kapitel. §. 79.wesentliche Inhalt der Lehre des Prologs ist in den fol - genden Reden Jesu enthalten, der Form derselben aber als Logologie war sich der Verfasser zu bestimmt als ei - ner Jesu fremden bewuſst.

Bleibt es somit dabei, daſs wir an den johanneischen Reden Jesu im Ganzen freie Compositionen des Evangeli - sten haben, ist aber oben zugegeben worden, daſs er manches Diktum Jesu aus der ächten Überlieferung ge - schöpft habe: so möchten wir das Leztere doch nicht weit über diejenigen Stellen hinaus ausdehnen, bei welchen es sich durch synoptische Parallelen wahrscheinlich ma - chen läſst. Wie nämlich im Gedächtniſs behaltene Reden eines Andern sich in der Aufzeichnung gestalten, sehen wir an den drei ersten Evangelien: indem sie aus ihrem ur - sprünglichen Zusammenhang kommen, und in immer klei - nere Stücke zersplittern, verlieren diese doch ihre Gedie - genheit und Härte nicht, und geben, wenn sie wieder ge - sammelt werden, den Anblick einer Mosaikarbeit, in wel - cher der Zusammenhang der Theile ein bloſs äusserer, und jeder eigentliche Übergang ein Sprung ist. Die Reden Jesu im vierten Evangelium bieten gerade die umgekehrte Erscheinung dar. Die milden, nur wegen der Tiefe des Sinnes, in welcher sie liegen, bisweilen dunkeln Über - gänge, wo sich ein Gedanke aus dem andern heraus - spinnt, und der folgende Saz so häufig nur eine erläu - ternde Umbildung des vorhergehenden ist26)Treffender kann man diese Eigenthümlichkeit der johannei - schen Reden nicht bezeichnen, als Erasmus in der seiner Pa - raphrase vorausgeschickten epist. ad Ferdinandum: habet Joannes suum quoddam dicendi genus, ita sermonem velut ansulis ex sese cohaerentibus contexens, nonnunquam ex con - trariis, nonnunquam ex similibus, nonnunquam ex iisdem subinde repetitis, ut orationis quodque membrum sem - per excipiat prius, sic ut prioris finis sit initium sequentis etc. , verrathen eine weiche, widerstandlose Masse, wie niemals die über -43*676Zweiter Abschnitt.lieferte fremde Rede, sondern nur der eigene Gedanken - vorrath demjenigen sich darbietet, der ihn frei und selbst - ständig in Worte faſst. Das Überlieferte an diesem Ge - dankenvorrath können ebendeſswegen, jene auch bei den früheren Evangelisten sich findenden Aussprüche abge - rechnet, nicht sowohl bestimmte, in sich geschlossene Dikta Jesu, als vielmehr nur gewisse Grundgedanken seiner Reden, übrigens in alexandrinischem oder überhaupt hel - lenistischem Geiste weitergebildet, gewesen sein, nament - lich die Begriffsgruppen von πατὴρ und υἱὸς, von φῶς und σκότος, ζωὴ und ϑανατος, ἄνω und κάτω, σὰρξ und πνεῦμα, ferner einige symbolische Bezeichnungen, wie ἄρτος τῆς ζωῆς, ὔδωρ ζῶν, welche nebst andern ähnlichen die Faktoren bilden, durch deren verschiedene Zusammensetzung von ge - schickter Hand sämmtliche Reden Jesu bei Johannes, übri - gens eben dieser einfachen Grundbestandtheile wegen nicht ohne eine gewisse Einförmigkeit, sich construiren lieſsen.

677Achtes Kapitel. §. 80.

Achtes Kapitel. Begebenheiten aus dem öffentlichen Leben Jesu (mit Ausschluſs der Wundergeschichten).

§. 80. Vergleichung der Erzählungsweise der verschiedenen Evan - gelisten im Allgemeinen.

Vergleichen wir, ehe wir uns zur Betrachtung des Einzelnen wenden, zuvor den allgemeinen Charakter und Ton der Geschichtserzählung in den verschiedenen Evan - gelien: so treten hier Differenzen theils zwischen Mat - thäus und den beiden andern Synoptikern, theils zwischen sämmtlichen drei ersten Evangelisten und dem vierten hervor.

Unter den Vorwürfen, mit welchen die neuere Kri - tik das Matthäusevangelium überhäuft hat, nimmt eine Hauptstelle der des Mangels an Anschaulichkeit, an in - dividualisirender Lebendigkeit ein, ein Mangel, aus wel - chem man, da sich sonst der Augenzeuge gerade im Wie - dergeben des Bestimmten und Einzelnen zeige, schlieſsen zu dürfen glaubte, der Verfasser sei kein Augenzeuge gewesen1)Schulz, über das Abendmahl, S. 303 ff. Sieffert, über den Urspr. S. 58. 73, u. s. Schneckenburger, über den Urspr. S. 73.. Und gewiſs, wenn man in diesem Evange - lium die Unbestimmtheit seiner Zeit -, Orts - und Personal - angaben, das so häufig wiederkehrende τότε, παράγων678Zweiter Abschnitt.ἐκεῖϑεν, ἄνϑρωπος u. dgl. liest, wenn man an die zahlrei - chen Angaben in Bausch und Bogen, wie, daſs Jesus alle Städte und Flecken durchzogen (9, 35. 11, 1. vgl. 4, 23.), daſs man ihm alle Kranke gebracht und er sie alle geheilt habe (4, 24 f. 14, 35 f. vgl. 15, 29 ff. ), und endlich an die trockene Kürze auch so mancher einzelnen Erzählungen sich erinnert: so wird man die Behauptung dieser Kritik nicht miſsbilligen können, das Alles sehe ganz so aus, wie wenn vor geraumer Zeit geschehene Begebenheiten durch lange mündliche Überlieferung sich mehr und mehr ins Allgemeine und Unbestimmte umgeformt hätten.

Nun aber wird von der neueren Kritik Matthäus nicht bloſs an diesem reinen Maſsstab des on einem Augen - zeugen zu Erwartenden, sondern auch an dem gegebenen der Darstellung seiner Mitevangelisten gemessen. Unter diesen findet man nicht nur ohnehin den Johannes, theils in den wenigen Parallelen, theils in seiner ganzen Dar - stellungsweise, dem Matthäus an Anschaulichkeit entschie - den überlegen2)Hug, Einl. in das N. T. 2, S. 212 ff., sondern auch die beiden andern Synop - tiker, vorzüglich Markus, geben, wie man behauptet, in der Regel eine weit klarere und vollständigere Darstel - lung3)s. die obengenannten drei Kritiker an mehreren Orten, auch Olshausen a. v. St.. Die Sache verhält sich wirklich so, und man sollte sie nicht mehr leugnen. Was das vierte Evangelium betrifft, so fehlen zwar natürlich auch ihm allgemeine Zu - sammenfassungen, wie daſs Jesus während des Festes viele Zeichen gethan, und daher Viele an ihn geglaubt haben (2, 23 f.) und andere dergleichen (3, 22. 7, 1.) nicht, auch die Personen bezeichnet er nicht selten unbe - stimmt: doch einigemale giebt er, wo Matthäus nur von Einem oder Einigen spricht, die Namen an (12, 3. 4. vgl. mit Matth. 26, 7. 8. und 18, 10. vgl. mit Matth. 26, 51;679Achtes Kapitel. §. 80.auch 6, 5 ff. mit Matth. 14, 16 f.); in Bezug auf das Lo - kal weiſs man in der Regel genau, in welcher Ortschaft oder Gegend eine Begebenheit vorgefallen; von der fleissi - gen Chronologie dieses Evangeliums ist schon oben die Rede gewesen, und was die Hauptsache ist, seinen Er - zählungen ist eine Anschaulichkeit und Lebendigkeit eigen, welche man, wie sie sich z. B. in der Erzählung vom Blindgebornen und von der Wiedererweckung des Lazarus zeigt, im ersten Evangelium vergeblich sucht. Auch bei den zwei mittlern Evangelisten fehlt es an unbestimmten Bezeichnungen der Zeit (z. B. Marc. 8, 1. Luc. 5, 17. 8, 22.) des Ortes (Marc. 3, 13. Luc. 6, 12.) und der Per - sonen (Marc. 10, 17. Luc. 13, 23.) nicht, ebensowenig an An - gaben, daſs Jesus alle Städte bereist und alle Kranke geheilt habe (Marc. 1, 32 ff. 38 f. Luc. 4, 40 f.): nicht selten jedoch finden sich bei ihnen die von Matthäus nur allgemein an - gegebenen Verhältnisse individualisirt, indem nicht allein Lukas, wie wir schon gesehen haben, von Reden Jesu die bei Matthäus verschwiegene besondere Veranlassung her - vorhebt, sondern er und Markus auch Personen, welche jener nur unbestimmt zu bezeichnen weiſs, bei Amt oder Namen nennen (Matth. 9, 18. Marc. 5, 22. Luc. 8, 41. Matth. 19, 16. Luc. 18, 18. Matth. 20, 30. Marc. 10, 46); vor Allem aber in anschaulicher Schilderung der einzelnen Begebenheiten ist Lukas und noch mehr Markus dem Matthäus entschieden überlegen: man vergleiche nur von dem bereits Vorgekommenen die Erzählungen des Mat - thäus und des Markus von der Hinrichtung des Täufers (Matth. 14, 3 ff. Marc. 6, 17 ff. ), und von dem noch nicht Dagewesenen vor Allem die Erzählung von dem (oder den) Besessenen aus Gadara (Matth. 8, 28 ff. parall.).

Daraus hat nun die neueste Kritik für den Verfas - ser des vierten Evangeliums eine Bestätigung seiner an - geblichen Autopsie, für die der beiden mittleren Evange - lien wenigstens so viel entnehmen zu können geglaubt,680Zweiter Abschnitt.daſs sie den Thatsachen näher als der erste Evangelist ge - standen haben müssen. Allein daraus, daſs keiner, der durchweg nicht anschaulich erzählt, ein Augenzeuge sein kann, folgt nicht, daſs alle anschaulich Erzählenden Au - genzeugen sind, sondern nur daſs einige. Wie deſswe - gen überall, wo über denselben Gegenstand ein ausführli - cherer und ein kürzerer Bericht vorhanden ist, die Mei - nungen getheilt sein können, ob jener oder dieser der ursprüngliche sei4)vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 42 ff.; so hat man insbesondre in Bezug auf solche Berichte, bei welchen eine Einmischung der Tradition anzunehmen ist, eine zweifache Funktion der - selben zu unterscheiden: die eine, vermöge welcher sie das Bestimmte der concreten Wirklichkeit in ein Unbestimmtes, das Individuelle in ein Allgemeines verflüchtigt, und die andre, nicht minder wesentliche, an die Stelle der ver - lorengegangenen geschichtlichen Wirklichkeit eine will - kührliche Ausmalung treten zu lassen5)Kern, über den Urspr. des Ev. Matth. a. a. O. S. 70 f.. Schreibt man nun die Unbestimmtheit in der Darstellung des Matthäus - evangeliums auf Rechnung der ersteren Funktion der Sage, so fragt es sich: darf man die Bestimmtheit und Anschau - lichkeit in den übrigen ohne Weiteres als Zeichen zum Grunde liegender Autopsie betrachten, und muſs man nicht vielmehr zusehen, ob sie nicht aus jener zweiten Funk - tion der Sage abzuleiten sei? Daſs man das Erstere so entschieden voraussezt, ist in der That nur ein Nachge - schmack der altorthodoxen Ansicht, daſs unsre sämmtli - chen Evangelien unmittelbar, oder wenigstens durch eine reine Vermittlung, von Augenzeugen herrühren. Dieser Voraussetzung hat die neuere Kritik ihre Allgemeinheit benommen, und die Wahrscheinlichkeit, daſs eines oder das andere unsrer Evangelien durch mündliche Überliefe - rung alterirt sein möge, eingeräumt. Dabei nimmt sie681Achtes Kapitel. §. 80.ganz richtig an, daſs ein Evangelium, dessen Schil - derungen fast durchaus der Anschaulichkeit ermangeln, nicht von einem Augenzeugen in oben bezeichneter Weise herrühren könne, sondern in der Überlieferung gelitten haben müsse. Daſs nun aber die übrigen, ausführlicher und anschaulicher erzählenden Evangelien auf Augenzeu - genschaft beruhen, folgt nur unter der Voraussetzung, daſs unter unsern Evangelien jedenfalls etliche autoptische seien. Denn allerdings, wenn unter mehreren Erzählun - gen beiderlei vorausgesezt werden: so sind die anschauli - cheren auf Augenzeugen zurückzuführen. Allein jene Vor - aussetzung selbst hat lediglich den subjektiven Grund, daſs von der alten Annahme lauter unmittelbar oder mittelbar autoptischer Berichte leichter zu der beschränk - ten Einräumung zu gelangen war, daſs vielleicht einem, als zu der allgemeinen, daſs möglicherweise auch allen dieser Charakter abgehen möge. Consequenterweise aber fällt mit der orthodoxen Ansicht vom Kanon die Präsum - tion rein autoptischer Berichte nicht bloſs für ein oder das andre, sondern für sämmtliche Evangelien weg, es muſs die Möglichkeit des Gegentheils bei allen vorausge - sezt, und, wie es sich wirklich verhalte, erst aus der Beschaffenheit der Berichte ermittelt werden. Von die - sem Standpunkt, dem einzig kritischen, die Sache ange - sehen, ist es nun ebensowohl möglich, daſs die drei übri - gen Evangelisten die Anschaulichkeit, die sie vor Mat - thäus voraushaben, einer weiteren Ausschmückung durch die Sage, als daſs sie dieselbe einem näheren Verhältniſs zur ursprünglichen Augenzeugenschaft verdanken.

Sehen wir in dieser Beziehung, um nichts anticipiren zu müssen, auf die bereits gewonnenen Resultate zurück: so ist uns die bestimmtere Bezeichnung der Veranlassun - gen zu manchen Reden Jesu, wie wir sie bei Lukas dem Matthäus gegenüber finden, als spätere Zuthat erschie - nen; die Nennung bestimmter Personen bei Markus (13, 3. 682Zweiter Abschnitt.vgl. 5, 37. Luc. 8, 51.) schien uns auf einem eigenen Schluſs des Referenten zu beruhen, und bei Johannes ha - ben wir sogar fingirte Personen zu finden geglaubt; nun - mehr aber, am Eingang zu den einzelnen Erzählungen, wo wir stehen, wollen wir die schon erwähnten allge - meinen Anfangs -, Schluſs - und Übergangsformeln der ver - schiedenen Evangelien aus dem angegebenen Gesichtspunkt noch betrachten. Hier nämlich finden wir zwischen Mat - thäus und den übrigen Synoptikern den Unterschied der gröſseren und geringeren Anschaulichkeit auf eine Weise ausgeprägt, welche uns am besten belehren kann, was es mit dieser Anschaulichkeit auf sich hat.

Wenn Matthäus (8, 16 f.) nur allgemein angiebt, daſs am Abend nach der Heilung der Schwiegermutter des Pe - trus viele Dämonische zu Jesu gebracht worden seien, wel - che er, sammt andern Kranken, alle geheilt habe: so sezt Markus (1, 32.) höchst anschaulich, wie wenn er es selbst gesehen hätte, hinzu, daſs die ganze Stadt sich vor der Thüre des Hauses, in welchem Jesus war, versammelt ha - be; ein andermal läſst er so viel Volks zusammenströmen, daſs es das ganze Vorhaus sperrte (2, 2.); zwei weitere Male macht er das Getümmel so groſs, daſs Jesus und sei - ne Jünger nicht einmal zum Essen kommen können (3, 20. 6, 31.), und Lukas läſst gar einmal Myriaden Volks zu - sammenkommen, in solchem Gedränge, ὥςε καταπατεῖν ἀλ - λήλες (12, 1.). Alles höchst anschauliche Züge offenbar, aber deren Mangel dem Matthäus nur zur Ehre gereichen kann; denn was sind sie anders, als sagenhafte Übertrei - bungen, wie sie nach Schleiermacher's Bemerkung6)Über den Lukas, S. 74 u. sonst. na - mentlich der Erzählung des Markus nicht selten ein fast apokryphisches Ansehen geben? Wenn dann in detaillir - ten Erzählungen, wie uns im Folgenden die Beispiele zahl - reich genug vorkommen werden, während Matthäus einfach683Achtes Kapitel. §. 80.wiedergiebt, was Jesus bei einer gewissen Gelegenheit ge - sprochen, die beiden andern uns auch von dem Blicke zu sagen wissen, mit welchem er das Gesprochene begleitet habe (Marc. 3, 5. 10, 21. Luc. 6, 10.), wenn von einem blinden Bettler bei Jericho Markus uns den Namen und Vaternamen anzuführen sich beeifert (10, 46.), und wenn in allen diesen Beziehungen vornehmlich der vierte Evange - list in dem Rufe steht, mit unnachahmlicher Anschaulichkeit zu erzählen: so können wir bereits ahnen, was uns die Untersuchung der einzelnen Erzählungen bestimmter zeigen wird, daſs wir hier jene andre Funktion der Überlieferung vor uns haben, welche wir mit Einem Wort die ausmalen - de nennen können. Ob nun diese Ausmalung noch in der mündlichen Sage allmählig von selbst entstanden, oder als absichtliche Zuthat der Aufzeichner unsrer Evangelien an - zusehen sei, darüber läſst sich streiten, und höchstens in Bezug auf einzelne Stellen bis zu einer gewissen Wahr - scheinlichkeit kommen: jedenfalls indessen steht nicht bloſs eine durch eigene Zuthat des Referenten ausgeschmückte Erzählung der ursprünglichen Wahrheit ferner als eine von solchem Zusatz freie, sondern auch die Sage selbst scheint eher in früheren Perioden ihrer Bildung kurz und nur auf Hervorhebung der Hauptmomente, seien diese nun Dikta oder Fakta, gerichtet zu sein, später aber sich mehr auf gleichmäſsige Veranschaulichung aller, auch der Neben - züge zu legen, als umgekehrt: so daſs auch in dieser Hin - sicht das nähere Verhältniſs zur Wahrheit auf Seiten des ersten Evangeliums bliebe.

Wie die Differenz gröſserer oder geringerer Anschau - lichkeit der Schluſs - und Übergangsformeln mehr zwischen Matthäus und den übrigen Synoptikern stattfindet: so eine andre Differenz in Bezug auf jene Formeln zwischen sämmt - lichen Synoptikern und Johannes. Während nämlich die meisten synoptischen Erzählungen aus dem öffentlichen Le - ben Jesu panegyrisch auslaufen: so bei Johannes die mei -684Zweiter Abschnitt.sten, so zu sagen, polemisch. Zwar berichten auch die drei ersten Evangelisten nicht selten schlieſslich von dem Anstoſs, den Jesus bei Engherzigen erregt, und von den Anschlägen, welche seine Feinde gegen ihn gemacht haben (Matth. 8, 34. 12, 14. 21, 46. 26, 3f. Luc. 4, 28f. 11, 53 f.), und umgekehrt schlieſst auch der vierte einige Rede - und Wunderakte mit der Be - merkung, daſs dadurch Viele an ihn glaubig geworden seien (2, 23. 4, 39. 53. 7, 31. 40 f. 8, 30. 10, 42. 11, 45.). Doch aber herrschen bei jenen für die Zeit vor dem jerusalemi - schen Aufenthalt Jesu im Ganzen Formeln vor, wie, daſs weit und breit der Ruf Jesu erschollen sei (Matth. 4, 24. 9, 26. 31. Marc. 1, 28. 45. 5, 20. 7, 36. Luc. 4, 37. 5, 15. 7, 17. 8, 39.), daſs das Volk seine Lehre bewundert (Matth. 7, 28. Marc. 1, 22. 11, 18. Luc. 19, 48. u. s.), seine Wun - derthaten angestaunt habe (Matth. 8, 27. 9, 8. 14, 33. 15, 31. u. s.) und deſswegen ihm allenthalben nachgezogen sei (Matth. 4, 25. 8, 1. 9, 36. 12, 15. 13, 2. 14, 13. u. s.): im vierten Evangelium dagegen findet sich häufiger die Be - merkung, die Juden haben Jesu nach dem Leben getrach - tet (5, 18. 7, 1.); die Pharisäer haben ihn festnehmen wol - len, oder Diener ausgesendet, ihn zu greifen (7, 30. 32. 44. vgl. 8, 20. 10, 39.); es seien Steine gegen ihn aufgehoben worden (8, 59. 10, 31.), und selbst in den meisten jener Stellen, wo von einer günstigen Stimmung des Volks be - richtet wird, stellt dieſs der vierte Evangelist so dar, daſs nur ein Theil des Volks so gestimmt gewesen sei, ein an - drer aber auf die entgegengesezte, feindselige Weise. Be - sonders gerne aber macht er bemerklich, wie vor der lez - ten Katastrophe alle List und Gewalt der Feinde Jesu ver - geblich gewesen sei, weil ὥρα αὐτοῦ noch nicht gekom - men war (7, 30. 8, 20.); daſs die mehrmals gegen ihn aus - geschickten Schergen, überwältigt von der Macht seiner Rede und der Erhabenheit seiner Person, jedesmal wieder unverrichteter Sache abgezogen seien (7, 32. 44 ff. ); daſs Jesus durch die erbitterten Rotten unversehrt hindurchge -685Achtes Kapitel. §. 80.schritten sei (8, 59. 10, 39. vgl. hiezu Luc. 4, 30.). Ge - wiſs ist, wie schon oben bemerkt, hier nicht an ein na - türliches, sondern nur an ein solches Entkommen zu den - ken, worin Jesu höhere Natur, seine Unverlezlichkeit, so lange er nicht selbst sein Leben lassen wollte, sich be - währte. Dieſs giebt aber zugleich Licht über den Zweck, welchen der vierte Evangelist bei der besondern Hervor - hebung dieser Züge hat: sie helfen ihm nämlich die Zahl je - ner Contraste vermehren, mittelst welcher er in seiner gan - zen Schrift die Person und Würde Jesu zu heben sucht. Wie im Gegensaz gegen den rohen Unverstand der Juden Jesu tiefe Weisheit als des göttlichen λόγος nur um so glän - zender leuchtete: so erschien seine Güte der verstockten Bosheit seiner Feinde gegenüber in um so rührenderem Lichte; das Bedeutende seiner Erscheinung hob sich, je mehr Streit unter dem Volke über ihn war, und seine Macht, als dessen, der das Leben in ihm selber hatte, trat um so ehrfurchtgebietender hervor, je öfter seine Feinde und de - ren Werkzeuge ausgiengen, ihn zu greifen, aber wie durch eine höhere Macht gebunden, keine Hand an ihn zu legen vermochten, je unbegreiflicher er selbst durch die Reihen der zu seinem Untergang gerüsteten Widersacher unverlezt hindurchgieng. So sehr man also dem vierten Evangelisten gerade auch dieſs nachrühmt, daſs die Opposition der pha - risäischen Partei gegen Jesum nur durch ihn in ihrer Ent - stehung und allmähligen Steigerung anschaulich werde: so entsteht doch eben hier gar sehr die Frage, ob dieser Prag - matismus ein natürlicher oder ein gemachter sei? Etwas Gemachtes ist jedenfalls daran, indem das bezeichnete Evan - gelium den Grund, warum die Feinde Jesu so lange nichts gegen ihn ausrichteten, auf die beschriebene Weise im Über - natürlichen sucht, wogegen die Synoptiker mit ächtem Prag - matismus den natürlichen Grund hervorheben, daſs die - dischen Hierarchen das Volk haben fürchten müssen, wel - ches Jesu als einem Propheten angehangen habe (Matth. 21,686Zweiter Abschnitt.46. Marc. 12, 12. Luc. 20, 19.). Folgte somit der vierte Evangelist seinem dogmatischen Interesse so weit, daſs er dem für Jesum unschädlichen Ausgang jener früheren Nach - stellungen und Angriffe willkührlich einen Grund unter - schob, wie er ihm eben paſste: wer bürgt uns dann dafür, daſs er nicht auch so wie wir ihn bereits kennen jenem Interesse zulieb ganze Scenen der Art frei arrangirt hat? Nicht als ob es unwahrscheinlich wäre, daſs der lezten Katastrophe des Schicksals Jesu manche vergebliche Anschläge und Angriffe seiner Feinde vorangegangen seien: nur das können wir nicht wissen, ob diese Auftritte gera - de diejenigen und so beschaffen waren, wie das johannei - sche Evangelium uns berichtet.

§. 81. Einzelne Anekdotengruppen. Beschuldigung eines Bundes mit Beelzebul und Zeichenforderung.

Unsrer kritischen Absicht zufolge werden uns hier nur solche Erzählungen interessiren, bei welchen der Ein - fluſs der Sage sich nachweisen läſst, und da dieser sich vornehmlich auch darin zeigt, daſs eine Erzählung durch die andre alterirt, oder gar die eine in der andern bloſs variirt ist, so werden wir, zumal uns die Chronologie ih - re Dienste versagt hat, die in Betracht kommenden Anekdo - ten nach ihrer Verwandtschaft zusammenstellen.

So, um bei dem Einfacheren zu beginnen, hat schon Schulz darüber sich beschwert, daſs Matthäus von zwei Fällen erzähle, in welchen Jesu ein Bündniſs mit Beelze - bul vorgeworfen, und ein Zeichen von ihm verlangt wor - den sei, was beides Markus und Lukas nur je Einmal ge - schehen lassen1)a. a. O. S. 311.. Was jenen Vorwurf betrifft, so hat das erstemal (Matth. 9, 32 ff.) Jesus einen Dämonischstummen geheilt: darüber verwundert sich das Volk, die Pharisäer687Achtes Kapitel. §. 81.aber bemerken, er treibe die Dämonen aus durch den ἄρχων der Dämonen. Daſs Jesus etwas darauf erwiedert hätte, davon meldet hier Matthäus nichts. Das zweitemal (12, 22 ff. ) ist es ein dämonischer Blindstummer, welchen Jesus heilt, worüber wieder das Volk erstaunt, die Phari - säer aber äussern, er thue dieſs durch Hülfe des Beelzebul, des ἄρχων der Dämonen, worauf sofort Jesus das Absurde dieser Beschuldigung aufdeckt. Daſs nun jene Beschuldi - gung gegen Jesum bei seinen Dämonenaustreibungen zu wiederholten Malen erhoben worden sei, ist an sich ganz wohl glaublich. Nur dieſs macht bedenklich, daſs der - monische, welcher jene Äusserung veranlaſste, beidemale ein κωφὸς (nur das einemal noch τυ λὸς dazu) gewesen sein soll. Der Dämonischen waren doch so vielerlei, alle Arten von Krankheiten wurden dem Einfluſs böser Geister zuge - schrieben: warum soll nicht auch an die Heilung eines Be - sessenen andrer Art, sondern zweimal an die eines dämo - nisch Stummen besagte Beschuldigung sich geknüpft haben? Die Schwierigkeit vergrössert sich, wenn wir die Erzählung des Lukas (11, 14 f.) dazunehmen, welche, was die voran - gestellte Beschreibung des Hergangs betrifft, der ersten, nicht der zweiten bei Matthäus entspricht; denn wie dort, ist auch bei Lukas der Dämonische nur stumm, genau mit der - selben Formel wird seine Heilung, und ebenso entsprechend die Verwunderung des Volks ausgedrückt, in welchen Be - ziehungen allen die zweite Erzählung des Matthäus der des Lukas weit ferner steht. Nun verbindet aber Lukas mit der Heilung dieses Stummen, welche Matthäus von Seiten Jesu still vorübergehen läſst, dieselben Reden Jesu, wie Matthäus mit der Heilung seines Blindstum - men, so daſs Jesus bei diesen zwei aufeinander ge - folgten Fällen das Gleiche müſste geredet haben. Dieſs geht über das Wahrscheinliche zu weit hinaus, und ver - bunden mit der Unwahrscheinlichkeit einer zweimaligen gleichen Beschuldigung gerade bei Gelegenheit eines -688Zweiter Abschnitt.monisch Stummen führt es von selbst auf die Frage, ob hier nicht ein und derselbe Vorfall sich in der Sage ver - doppelt haben möge? Wie dieſs zugegangen sein kann, darüber giebt uns Matthäus selbst Aufschluſs, indem er den Dämonischen das einemal nur einfach stumm, das andremal zugleich blind sein läſst. Eine auffallende Kur muſste es wohl sein, an welche sich theils jene Bewunde - rung des Volks, theils dieser verzweifelte Angriff der Feinde Jesu knüpfte: bald mag daher für das geheilte Subjekt die bloſse Stummheit nicht genügt haben, und es in der steigernden Sage auch noch des Gesichtes beraubt worden sein. Gieng nun aber neben dieser neuen Forma - tion der Sage auch noch die ältere her: was Wunder, wenn ein mehr gewissenhafter als kritischer Sammler, wie der Verfasser des ersten Evangeliums, beides als ver - schiedene Geschichten neben einander aufnahm, nur daſs er, um die Wiederholung zu vermeiden, das einemal die Reden Jesu weglieſs?2)Wie Schleiermacher (S. 175.) von der Rede über die Blas - phemie des πνεῦμα ἄγιον bei Matthäus (12, 31 f.), welche sich an das vorangegangene ἐγὼ ἐν πνεύματι ϑεοῦ ἐκβάλλω τα δαιμόνια (V. 28.) trefflich anschliesst, den Zusammenhang vermissen kann, ist doch immer noch erklärlicher, als dass er (S. 185 f.) diesen Ausspruch bei Lukas (12, 10.) besser eingefügt findet. Denn zwischen dem hier vorangeschickten Satze, dass, wer des Menschen Sohn vor den Menschen ver - leugne, von ihm vor den Engeln verleugnet werden werde, und dem in Rede stehenden findet doch kein anderer Zusam - menhang statt, als dass das ἀρνεῖσϑαι τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώ -.

Schnitt Matthäus 9, 34. die Rede Jesu weg, so konnte er auch die Zeichenforderung, welche eine Abfertigung von Seiten Jesu erforderte, erst bei seiner zweiten Er - zählung von der Beschuldigung wegen Beelzebuls damit verbinden, und auch in diesem Stücke ist Lukas, welcher die Zeichenforderung gleichfalls an jene Beschuldigung689Achtes Kapitel. §. 81.knüpft, mit der späteren Stelle des Matthäus parallel .3)Dass Lukas Beschuldigung und Zeichenforderung unmittelbar hinter einander aussprechen und hierauf von Jesu nacheinan - der beantworten lässt, findet die neuere Kritik ungleich wahrscheinlicher, als wenn Matthäus zuerst die Beschuldi - gung und deren Beantwortung, dann die Zeichenforderung und deren Zurückweisung giebt, sofern es sich nämlich schwer denken lasse, dass, nachdem Jesus sich gegen jenen Vorwurf lange genug verantwortet, nun die nämlichen Leu - te, welche denselben vorgebracht, oder doch ein Theil von ihnen, noch ein Zeichen begehrt haben sollten (Schleier - macher, S. 175; Schneckenburger, über den Urspr. S. 52 f.). Indess ebensogut lässt sich andrerseits das unwahrscheinlich finden, dass Jesus, nachdem er längst in einer gewaltigen Rede gegen das Bedeutendere, die Beschuldigung wegen Beel - zebuls, gesprochen, und sogar nach einer Unterbrechung, die ihn zu einer ganz anderartigen Äusserung veranlasste (Luc. 11, 27 f.), noch auf die minder bedeutende Zeichen - forderung sollte zurückgekommen sein. Was sich hierauf bei Matthäus (V. 43 45.) anschliesst, die Rede von den ver - stärkt wiederkehrenden Dämonen, scheint bei Lukas (11, 24 ff. ) in Verbindung mit den Äusserungen gegen den Vorwurf ei - ner Austreibung der Dämonen durch Beelzebul passender zu stehen, als bei Matthäus erst nach den Reden gegen die Zei - chenforderung. Sehen wir indessen genauer zu, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass Jesus an die ihm gewaltsam ab - gedrungene Apologie seiner Dämonenaustreibungen gegen Feinde eine so ruhige, rein theoretische Ausführung, welche,. Nun aber hat Matthäus nicht bloſs wie Lukas Eine Zei -2)που dem Referenten das εἰπεῖν λόγον εἰς τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώπου in Erinnerung brachte. Hiefür ist die Probe, dass nun zwi - schen diesem Ausspruch und dem folgenden, dass seinen Jün - gern vor Gericht das Nöthige durch das πνεῦμα ἅγιον wer - de eingegeben werden, die Verbindung ebenso äusserlich durch den Ausdruck πνεῦμα ἅγιον vermittelt ist. Was bei Matthäus (V. 33 37.) [na]ch folgt, ist zum Theil schon in der Bergrede da gewesen, steht aber auch hier in besserem Zusammenhang, als Schleiermacher anerkennen will.Das Leben Jesu I. Band. 44690Zweiter Abschnitt.chenforderung, in Verbindung mit jenem Vorwurf, son - dern noch eine andere (16, 1 ff. ) nach der zweiten Spei - sung, welche auch Markus (8, 11 f.) hat, der dagegen die erstere wegläſst. Hier treten Pharisäer (bei Matthäus in der unwahrscheinlichen Begleitung von Sadducäern) zu ihm, und ersuchen ihn um ein σημεῖον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ, wor - auf ihnen Jesus eine Antwort giebt, deren Schluſssaz: γενεὰ πονηρὰ καὶ μοιχαλὶς σημεῖον ἐπιζητεῖ, καὶ σημεῖον οὐ δοϑήσεται αὐτῇ, εἰ μὴ τὸ σημεῖον Ἰωνᾶ τοῦ προφήτου bei Matthäus wörtlich mit dem Anfang der früheren Abwei - sung, 12, 39. zusammenstimmt. Ist schon dieſs, daſs Je - sus jene Zumuthung zweimal mit derselben räthselhaften Hinweisung auf Jonas und auch sonst mit denselben Wor - ten abgefertigt habe, unwahrscheinlich genug: so sind die inder zweiten Stelle des Matthäus dem zuleztangeführten Satze vorangehenden Worte (V. 2 und 3.) vollends unbe - greiflich. Denn wie Jesus auf die Forderung eines wun - derbaren Zeichens am Himmel seinen Gegnern erwiedern kann, daſs sie zwar auf die natürlichen Zeichen am Him - mel sich gut verständen, desto schlechter aber auf die3)wo nicht für ihn interessirte, doch empfängliche Zuhörer voraussezt, geknüpft haben sollte, und wir finden hier in lezter Beziehung keinen andern Zusammenhang, als dass bei - de Reden von Austreibung der Dämonen handeln. Durch diese Ähnlichkeit liess sich der Referent im dritten Evange - lium verführen, die Verbindung zwischen den Reden gegen die oftgenannte Beschuldigung und gegen die Zeichenforde - rung, welche, als die zwei stärksten Proben des böswilli - gen Unglaubens seiner Feinde betreffend, in der Überliefe - rung zusammengefügt gewesen zu sein scheinen, zu spren - gen, eine Gewaltsamkeit, deren der erste Evangelist sich enthielt, und die ihm durch jene Verdächtigung der Dämo - nenaustreibungen Jesu in das Gedächtniss gerufene Rede von der Wiederkehr der Dämonen zurückbehielt, bis er zuvor auch die Zurückweisung der Zeichenforderung mitgetheilt hatte.691Achtes Kapitel. §. 81.geistigen Zeichen dieser messianischen Zeit, das ist so dunkel, daſs aus der Verzweiflung an einem Zusammen - hang die sonst unbegründete Auslassung der Verse 2 und 34)s. Griesbach, Comm. crit. z. d. St. hervorgegangen scheint. Lukas, der diesen Vorwurf Jesu, daſs seine Zeitgenossen besser die Zeichen der Wit - terung als der Zeit verstehen, nur zum Theil mit andern Worten, gleichfalls hat (12, 54 f.), stellt denselben in andern Zusammenhang, und ohne Zweifel in bessern, in - dem nach den Reden von dem Feuer, das er anzünden, und der Entzweiung, welche er herbeiführen werde, Je - sus nun ganz schicklich zum Volke sagen kann: von den unverkennbaren Vorzeichen einer so groſsen Revolution, wie sich durch mich eine vorbereitet, nehmet ihr keine Notiz, so schlecht verstehet ihr euch auf die Zeichen der Zeit5)Etwas anders Schleiermacher, S. 190 f.. Sehen wir von hier auf Matthäus zurück, so zeigt sich uns leicht, wie er zu seiner Darstellung kom - men konnte. Zur Verdopplung der Zeichenforderung mag ihn die Variation veranlaſst haben, welche er vorfand, daſs das geforderte Zeichen bald als σημεῖον schlechtweg, bald als σημ. ἐκ τοῦ οὐρανοῦ bestimmt zu werden pflegte. Und wenn er nun wuſste, daſs Jesus die Juden von dem διακρίνειν τὸ πρόσωπον τοῦ οὐρανοῦ auf die διάκρισις der σημεῖα τῶν καιρῶν verwiesen hatte: so lag ihm die Ver - muthung nicht allzu ferne, daſs die Juden diese Abferti - gung vielleicht durch das Verlangen eines σημεῖον ἐκ τ[οῦ]ουρανοῦ veranlaſst haben mögen. So begegnet uns hier Matthäus wie sonst öfters Lukas mit einer gemachten Ein - leitung einer Rede Jesu, zum Beleg für den von Sieffert aufgestellten6)Über den Ursprung, S. 115., aber zu wenig berücksichtigten Saz, daſs es in der Natur solcher traditionellen Berichte, wie wir sie an den drei ersten Evangelien haben, liege, daſs der44*692Zweiter Abschnitt.eine Zug in diesem, der andre im andern sich besser er - halten zeige, somit bald dieser bald jener im Nachtheil gegen die übrigen sei.

§. 82. Besuch der Mutter und der Brüder Jesu, und die selig - preisende Frau.

Sämmtliche Synoptiker wissen uns von einem Besuche der Mutter und der Brüder Jesu zu erzählen, bei dessen Anmeldung Jesus, auf seine Jünger deutend, den Aus - spruch gethan habe, daſs die seinem Worte Folgsamen seine Mutter und Brüder seien (Matth. 12, 46 ff. Marc. 3, 31 ff. Luc. 8, 19 ff.). Matthäus und Lukas sagen von dem Zwecke dieses Besuches nichts, also auch nicht, ob jene scheinbar abweisende Äusserung Jesu durch etwas Besonderes veranlaſst war. Markus hat hierüber eine un - erwartete Auskunft, indem er uns (V. 21.) zu wissen thut, daſs, während Jesus unter einem Volkszulauf, der ihn selbst am Essen verhinderte, zu lehren gepflegt habe, seine Verwandten, in der Meinung, er sei verrückt, aus - gegangen seien, um sich seiner zu bemächtigen und ihn in Familiengewahrsam zu nehmen1)Den Beweis für diese Deutung der Ausdrücke: οἱ παῤ αὐτοῦ, κρατῆσαι und ἐξέςη führt Fritzsche, Comm. in Marc. p. 97 ff.. Nachdem er hier - auf, wie es scheint, bloſs der Ähnlichkeit wegen, welche zwischen dem die Verwandten betreffenden ἔλεγον, ὄτι[]ξέςη, und dem οἱ γραμματεῖς ἔλεγον, ὄτι Βεελζεβοὺλ ἔχει κ. τ. λ. (vgl. Joh. 10, 20) stattfindet, diesen Vorwurf sammt Jesu Antwort, aber ohne die Veranlassung durch eine Dämonenaustreibung, eingeschaltet hat, läſst er die indeſs angekommenen Verwandten Jesu, als welche jezt näher seine Mutter und Brüder namhaft gemacht sind, bei ihm angemeldet werden, und ihn hierauf die obige Antwort ertheilen.

693Achtes Kapitel. §. 82.

Diese Notiz des Markus ist den Auslegern sehr will - kommen, um die Härte, welche in der Entgegnung Jesu auf die Anmeldung seiner nächsten Verwandten zu liegen scheint, aus der verkehrten Absicht ihres Besuchs zu er - klären und zu rechtfertigen. Allein auch abgesehen da - von, daſs bei der gewöhnlichen historischen Auffassung der Kindheitsgeschichte Jesu sich schwer erklärt, wie seine Mutter nach solchen Ereignissen später so weit an ihrem Sohne irre werden konnte, so fragt es sich doch sehr, ob wir jene Notiz des Markus annehmen dürfen? Bedenkt man, wie sie theils neben der augenscheinlichen Übertreibung steht, daſs Jesus und die Seinigen des Volks - zudrangs wegen nicht einmal zum Essen haben kommen können, theils in ihrer Abgebrochenheit sich selbst nicht minder wunderlich ausnimmt: so wird man kaum umhin - können, dem Urtheil Schleiermacher's beizutreten, daſs in diesem Zusaz kein Aufschluſs über das damalige Ver - hältniſs Jesu zu seiner Familie zu suchen sei, derselbe vielmehr zu jenen Übertreibungen gehöre, welche Mar - kus sowohl in den Eingängen einzelner Begebenheiten, als in den allgemeinen Darstellungen so gerne anbringe2)Über den Lukas, S. 121.. Er wollte die abweisende Antwort Jesu auf die Anmel - dung seiner Verwandten begreiflich machen, glaubte deſs - wegen ihrem Besuche eine für Jesum unerwünschte Ab - sicht unterlegen zu müssen, und weil er nun von den Pharisäern wuſste, daſs sie ihn unter Einfluſs des Beelze - bul gestellt haben, so schrieb er auch jenen eine ähnli - che Ansicht zu.

Legen wir diese Notiz des Markus bei Seite, so bie - tet zwar die Vergleichung der sehr ähnlichlautenden drei Berichte an sich keine Ausbeute3)Wenn Schneckenburger (über den Ursprung, S. 54.) in dem εἶπέ τις und dem ἐκτείνας τὴν χεῖρα bei Matthäus gegen -, wohl aber muſs uns694Zweiter Abschnitt.die verschiedene Verbindung auffallen, in welche die Evangelisten diese Begebenheit setzen: Matthäus und Mar - kus nämlich nach der Vertheidigung gegen den Verdacht eines höllischen Beistands und vor der Parabel vom Säe - mann; wogegen Lukas den Besuch um ein Ziemliches vor jene Beschuldigung, die Parabel aber noch vor den Besuch stellt. Merkwürdiger Weise dagegen hat Lukas an derselben Stelle, nach der Vertheidigung gegen den Vorwurf eines Teufelsbundes, wo die beiden andern den Besuch der Verwandten Jesu einfügen, einen Vorfall, welcher auf ein ganz ähnliches Diktum, wie jene Anmel - dung, ausläuft. Nach der Widerlegung jenes Vorwurfs nämlich und der Belehrung über die Wiederkehr der - monen, bricht eine Frau aus der Menge bewundrungsvoll in eine Seligpreisung der Mutter Jesu aus, worauf Jesus, wie oben bei der Anmeldung seiner Mutter, erwiedert: selig vielmehr diejenigen, welche das Wort Gottes hören und beobachten! 4)Antwort auf die Anmel - dung, 8, 21: μήτηρ μου καὶ ἀδελφοί μου οὗτοί εἰοιν οἱ τὸν λόγον τοῦ ϑεοῦ ἀκέοντες καὶ ποιοῦντες αὐτόν. Antwort auf die Seligpreisung, 11, 28: μενοῦνγε μακάριυι (sc. οὐχ μήτηρ μου, ἀλλ ') οι ἀκοῦοι - τες τὸν λόγον τοῦ ϑεοῦ καὶ φυλάσσοντες αὐτόν.Schleiermacher nun zieht auch hier3)über dem εἶπον und περιβλεψάμενος κύκλῳ des Markus eine gemachte Anschaulichkeit finden will: so ist diess eine merkwürdige Probe der willkührlichen Scharfsichtigkeit zu Ungunsten des Matthäus, welche in der neuesten Kritik die - ses Evangeliums eine so grosse Rolle spielt. Denn wer sieht nicht, wenn nun umgekehrt Matthäus das εἶπον hätte, wie es alsbald zu den Zügen verwischter Anschaulichkeit gezählt werden würde? an dem ἐκτείνας τὴν χείρα aber ist vol - lends gar nichts zu entdecken, was diesem Ausdruck mehr als dem περιβλεψάμενος das Gepräge des Gemachten geben sollte, vielmehr könnte umgekehrt diese leztere Formel aus der schon erwähnten Liebhaberei des Markus für Bezeich - nung des Augenspiels abgeleitet, und somit als willkührliche Zuthat betrachtet werden.695Achtes Kapitel. §. 82.den Beri[c]h des Lukas vor; von der kleinen Zwischen - handlung mit der seligpreisenden Frau namentlich glaubt er, sie ver[r]athe eine frische und lebendige Erinnerung, welche sie an Ort und Stelle, wo sie vorgefallen, einge - schoben zu haben scheine, wogegen Matthäus mit der Ant - wort Jesu auf den Ausruf der Frau die sehr ähnliche auf die Anmeldung der Verwandten verwechselt, diese an die Stelle von jener gesezt, und so die Scene mit der Frau übergangen habe5)a. a. O. S. 177 f.. Allein wie gerade durch die tech - nische Erörterung über die Wiederkehr der ausgetriebe - nen Dämonen oder auch durch die vorangegangenen Straf - reden die Frau sich zu einer so begeisterten Ausrufung hingerissen fühlen konnte, ist schwer begreiflich, und es möchte eher die der Schleiermacher'schen entgegengesez - te Vermuthung sich begründen lassen, daſs an die Stelle der Anmeldung der Verwandten der Referent im dritten Evangelium d[i]e ähnlich auslaufende Scene mit der selig - preisenden Frau gesezt habe. Es hatte nämlich, wie wir aus Matthäus und Markus sehen, die evangelische Über - lieferung, sei es aus einem historischen oder einem zu - fälligen Grunde, jenen Besuch und das Diktum von den geistigen Verwandten mit den Reden Jesu gegen den Vor - wurf eines Verhältnisses zum Beelzebul und von der Wie - derkehr der Dämonen in Verbindung gebracht, und auch Lukas, wo er an den Schluſs dieser Reden kam, wurde an jene Scene und deren Pointe, die Erhebung der gei - stigen Verwandtschaft Jesu, erinnert. Nun aber hatte er den Besuch bereits oben gemeldet6)Was den Evangelisten veranlasste, den Besuch nach der Pa - rabel vom Säemann einzuschalten, muss auch nicht gerade, wie Schleiermacher meint, eine wirkliche chronologische Ver - bindung gewesen sein, vielmehr werden wir das ganz in sei - ner Art finden, dass ihm der Schluss der Auslegung jener Parabel: οὗτοί εἰσιν οἵτινες ἀκούσαντες τὸν λόγον κατ -, er griff daher nach696Zweiter Abschnitt.der ähnlich auslaufenden Anekdote von der Frau. Dabei glaube ich aber der groſsen Ähnlichkeit beider Anekdoten wegen kaum, daſs zwei wirklich verschiedene Begeben - heiten zum Grunde liegen: sondern der unvergeſsliche Ausspruch Jesu, in welchem er seine geistigen Verwand - ten über seine leiblichen sezte, hatte in der Sage zwei verschiedene Fassungen oder Rahmen bekommen, indem es dem Einen als das Natürlichste erscheinen mochte, daſs eine solche Zurücksetzung seiner Blutsverwandten mit ei - ner wirklichen Zurückweisung derselben verbunden, dem Andern, daſs die Erhebung der ihm geistig nahe Stehen - den durch eine vorangegangne Seligpreisung derjenigen, die ihm leiblich am nächsten stand, hervorgerufen gewe - sen sei. Von diesen zwei Formationen geben Matthäus und Markus nur die erstere; Lukas aber, welcher diese schon bei einer früheren Gelegenheit vorweggenommen hatte, fand sich, als er an die Stelle kam, wo in der gewöhnlichen evangelischen Tradition jene Anekdote ihren Siz hatte, veranlaſst, sie nunmehr in der zweiten Form hier einzufügen.

§. 83. Die Erzählungen von Rangstreitigkeiten unter den Jüngern und von Jesu Liebe zu den Kindern.

Die drei ersten Evangelien erzählen uns von mehre - ren Rangstreitigkeiten, welche unter den Jüngern ausge - brochen seien, und von der Art, wie Jesus dieselben bei - gelegt habe. Allen ist ein Rangstreit gemein, welcher nach Jesu Verklärung und erster Leidensverkündigung unter den Jüngern zum Ausbruch gekommen sein soll (Matth. 18, 1 ff. 6)ἐχουσι καὶ καρποφοροῦσιν ἐν ὑπομονῇ den ähnlichen Aus - spruch Jesu bei jenem Besuche: οὖτοί εἰσιν οἱ τὸν λόγον τοῦ ϑεοῦ ἀκούοντες καὶ ποιοῦντες αὐτόν in die Erinnerung rief.697Achtes Kapitel. §. 83.Marc. 9, 33 ff. Luc. 9, 46 ff. ), wobei sich zwar Differen - zen in den Erzählungen finden, aber die Identität dersel - ben durch die in allen vorkommende Aufstellung eines Kin - des verbürgt ist, da so etwas, wie auch Schleiermacher bemerkt1)a. a. O. S. 152., sich nicht leicht wiederholt. Matthäus und Mar - kus haben einen Rangstreit gemein, welcher durch die bei - den Söhne des Zebedäus angeregt wurde, indem diese sich (nach Markus) oder ihre Mutter ihnen (nach Matthäus) die zwei ersten Stellen neben Jesu im messianischen Reich ausbat (Matth. 20, 20 ff. Marc. 10, 35 ff.)2)Es ist consequent in dem Tone der neueren Kritik über den Matthäus gesprochen, wenn Schulz (üb. d. Abendm. S. 320.) in Bezug auf die bemerkte Differenz zwischen den beiden ersten Evangelisten äussert, er zweifle keinen Augen - blick, dass jeder aufmerksame Leser sich ohne Be - denken der Darstellung des Markus zuwenden werde, wel - cher, ohne Erwähnung der Mutter, die ganze Verhandlung zwischen Jesus und den beiden Aposteln vorgehen lasse. Al - lein, was die historische Wahrscheinlichkeit betrifft, so möch - te ich wissen, warum eine Frau, welche zu den Begleiterin - nen Jesu gehörte (Matth. 27, 56.), eine solche Bitte nicht sollte haben wagen dürfen; was aber die psychologische, so hat das Gefühl der Kirche in der Wahl der Perikope auf den Jakobustag wohl mit Recht für die Darstellung des Matthäus entschieden, da eine so feierliche Bittscene aus dem Steg - reif ganz in der Art eines Weibes und näher einer für ihre Söhne sich verwendenden Mutter ist.. Von einer solchen Bitte der Zebedaiden weiſs das dritte Evangelium nichts, wohl aber hat es ohne diesen Anlaſs noch einen weiteren Rangstreit, bei welchem ähnliche Reden fallen, wie sie die beiden ersten an jene Bitte angeknüpft haben. Bei dem lezten Mahle nämlich, das Jesus vor seinem Leiden mit seinen Jüngern hielt, läſst Lukas unter den Jüngern eine φιλονεικία ausbrechen, wer von ihnen der gröſste sei, welche Jesus sofort durch dieselben Gründe, zum Theil698Zweiter Abschnitt.mit denselben Worten, niederzuschlagen sucht, wie nach Matthäus und Markus die über die Bitte der Zebedaiden unter den Jüngern entstandene ἀγανάκτησις, worunter ein Ausspruch sich findet, den Lukas selbst und Markus auch bei der Aufstellung des Kindes schon fast ebenso gehabt haben, und welchen Matthäus, ausser bei der Bitte der Sa - lome, auch noch in der groſsen antipharisäischen Rede hat (vgl. Luc. 22, 26. Marc. 9, 35. Luc. 9, 48. Matth. 20, 26 f. 23, 11.). So glaublich es nun auch sein mag, daſs bei den weltlichen Messiashoffnungen der Jünger öfters Rangstrei - tigkeiten unter ihnen zu dämpfen waren, so ist es doch keineswegs wahrscheinlich, daſs z. B. die Sentenz: wer unter euch der gröſste sein will, sei Aller Diener, 1) bei der Aufstellung des Kindes, 2) aus Anlaſs der Bitte der Zebedaiden, 3) in der antipharisäischen Rede, und 4) bei dem lezten Mahle gesprochen worden sei. Sondern hier findet augenscheinlich eine traditionelle Verwirrung statt, sei es nun, daſs, wie Sieffert in solchen Fällen gerne an - nimmt, mehrere ursprünglich verschiedene Vorgänge in der Sage assimilirt, d. h. hier dieselben Reden irrig bei verschiedenen Anlässen wiederholt, oder daſs aus Einem Falle durch die Sage mehrere gemacht, d. h. hier zu den - selben Reden verschiedene Veranlassungen erdacht worden sind. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten wird darnach entschieden werden müssen, ob die verschiedenen Fakta, an welche die analogen Demuthsreden sich knüpfen, eher das unselbstständige Ansehen bloſser Rahmen für die Re - den, oder das selbstständige von Vorgängen haben, welche ihre Wahrheit und Bedeutsamkeit in sich selbst tragen.

Hier nun wird vor Allen der Bitte der Zebedaiden nicht abgesprochen werden können, für sich schon etwas so Bestimmtes und Merkwürdiges zu sein, daſs sie gar nicht darnach aussieht, nur als Einfassung der folgenden Reden sich angesezt zu haben, und ebenso wird man über die Aufstellung des Kindes urtheilen müssen: so daſs wir699Achtes Kapitel. §. 83.also vorerst zwei für sich bestehende Fälle von Rangstrei - tigkeit hätten. Wollen wir jedem dieser beiden Fälle die zu ihm gehörigen Reden zutheilen, so gehören die Aus - sprüche, welche Matthäus bei der Aufstellung des Kindes h[a]t: wenn ihr nicht wieder werdet wie die Kinder u. s. w. und: wer sich erniedrigt, wie dieſs Kind u. s. w., unver - kennbar zu diesem Anlaſs, und andrerseits die vom Herr - schen und Dienen in der Welt und im Reich Jesu schei - nen der Bitte der beiden Jünger um die Herrscherstühle im messianischen Reich, womit Matthäus sie verbindet, ganz angemessen zu sein; wogegen das Diktum vom Ersten und Lezten, Gröſsten und Kleinsten, welches Markus und Lu - kas auch schon bei der Kinderscene haben, Matthäus mit Recht für die Scene mit den Zebedaiden aufgespart zu ha - ben scheint. Anders als mit den bisher besprochenen bei - den Anlässen verhält es sich mit dem Wetteifer Luc. 22, 24 ff. Dieser knüpft sich weder an eine besondre Veran - lassung, noch läuft er in eine markirte Scene aus (wenn wir nicht aus Johannes, der übrigens keines Wettstreits gedenkt, die Fuſswaschung herübernehmen wollten, wo - von jedoch erst in der Leidensgeschichte die Rede werden kann) sondern er wird nur eingeleitet durch ἐγένετο δὲ καὶ φιλονεικία ἐν αυτοῖς, fast mit denselben Worten, wie Lu - kas bereits den ersten Rangstreit (9, 46.) eingeführt hatte, und veranlaſst Jesum zu Reden, welche, wie schon er - wähnt, Matthäus und Markus ihn bei den früheren Rang - streitigkeiten führen lassen, so daſs also für diese hier nichts Eigenthümliehes übrig bleibt, als nur die Stelle beim lezten Mahle, welche aber auch nicht die sicherste ist. Denn daſs unmittelbar nach den für die Jünger so demü - thigenden Reden vom Verräther ihnen der Hochmuth als - bald wieder so stark sollte gewachsen sein, ist ebenso schwer zu glauben, als es bei Gegeneinanderhaltung der Verse 23. und 24. leicht zu entdecken ist, wie der Refe - rent ohne geschichtlichen Grund verführt werden konnte,700Zweiter Abschnitt.einen Rangstreit hieherzustellen. Unverkennbar nämlich waren es die Worte: καὶ αὐτοὶ ἤρξαντο συζητεῖν προς ἑαυ - τοὺς, το, τὶς αρα εἴη ἐξ αὐτῶν τοῦτο μὲλλων πράσσειν wel - che ihm das ähnliche: ἐγένετο δὲ καὶ φιλονεικία ἐν αὐτοῖς, τὸ, τίς αυτῶν δοκ[ε] εἶναι μείζων, d. h. es waren die Streit - reden über den Verräther, welche ihm die Streitreden über den Vorrang in die Erinnerung riefen. Einen solchen Streit hatte er zwar bereits gemeldet, aber mit demselben, Eine Sentenz abgerechnet, nur jene Reden, zu welchen Jesum das Kind veranlaſste, in Verbindung gebracht: nun waren ihm noch die andern übrig, welche die beiden er - sten Evangelisten an die Bitte der Zebedaiden knüpfen, ein Anlaſs, der dem Referenten im Lukasevangelium nicht präsent gewesen zu sein scheint, weſswegen er die dazu gehörigen Reden hier mit der unbestimmten Angabe eines ausgebrochenen Rangstreits einfügt. Indeſs die chrono - logische Stellung auch der zwei zuerst genannten Rang - streitigkeiten, beidemale nach einer Leidensverkündigung, welche doch, wie die Voraussagung des Verraths, solche irdische Hochmuthsgedanken scheint haben niederschlagen zu müssen, hat so wenig Wahrscheinlichkeit, daſs der Fin - gerzeig willkommen sein muſs, welcher in der evangeli - schen Darstellung selbst über die Art liegt, wie die Refe - renten auf unhistorische Weise zu einer solchen Anord - nung gekommen sind. In Jesu Antwort auf die Bitte der Salome nämlich war die Hinweisung auf das ihm und sei - nen Jüngern bevorstehende Leiden das Hervorstechendste: daher schloſs sich durch die natürlichste Ideenassociation an die Leidensverkündigung die Erzählung von dem auf das bevorstehende Leiden verwiesenen Ehrgeiz der beiden Jünger an. Bei der ersten Rangstreitigkeit aber geht die voranstehende Leidensverkündigung nach den beiden mitt - leren Evangelisten in die Bemerkung aus, daſs die Jün -3)vgl. Schleiermacher, a. a. O. S. 283.701Achtes Kapitel. §. 83.ger die Rede Jesu nicht verstanden, und doch, Jesum dar - über zu fragen, sich gefürchtet (also ohne Zweifel über den Sinn der Rede unter sich gesprochen und gestritten) haben, und hier schloſs sich nun sehr natürlich der gleich - falls hinter Jesu Rücken geführte Streit über den Vorrang an. Auf die Erzählung des Matthäus übrigens findet die - se Erklärung ihre Anwendung nicht ebenso, da bei ihm zwischen die Leidensverkündigung und den Wetteifer die Anekdote von dem erangelten Stater eingeschoben ist.

Mit diesen Rangstreitigkeiten hängt durch Vermitte - lung des bei einer derselben aufgestellten Kindes noch ei - ne andre Anekdote zusammen, die nämlich, wie die Leu - te Kinder zu Jesu bringen, um sie von ihm segnen zu lassen, die Jünger es hindern wollen, Jesus aber das freund - liche ἄφετε τὰ παιδία κ. τ. λ. spricht und bemerkt, daſs nur Kindern und ihresgleichen das Himmelreich beschie - den sei (Matth. 19, 13 ff. Marc. 10, 13 ff. Luc. 18, 15 ff.). Diese Erzählung hat mit der von dem inmitten der Jünger aufgestellten Kinder viele Ähnlichkeit. 1) Beidemale stellt Jesus die Kinder als Muster vor und erklärt, daſs nur Kinderähnliche in das Reich Gottes kommen können; 2) bei - demale erscheinen die Jünger in einem Gegensaz gegen die Kinder, und endlich 3) sagt Markus beidemale, Jesus ha - be die Kinder in die Arme genommen (ἐναγκαλισάμενο[ς]). Wollte man deſshalb nur Einen Vorfall als zum Grunde liegend vermuthen, so müſste jedenfalls die leztere Erzäh - lung als die der Wahrheit nähere festgehalten werden, weil das Wort Jesu: ἄφετε τὰ παιδία κ. τ. λ., welches in seiner durch alle drei Berichte hindurch sich gleich bleibenden Originalität den Stempel der Ächtheit unverkennbar an sich trägt, nicht wohl bei jener andern Gelegenheit gespro - chen werden konnte, wogegen die angeblich aus Anlaſs des Rangstreits gethanen Aussprüche von den Kindern als De - muthsmustern gar wohl bei der unsrigen im Rückblick auf frühere Rangstreitigkeiten vorgetragen sein könnten. 702Zweiter Abschnitt.Eher möchte indeſs hier der Ort sein, eine Assimilation ursprünglich verschiedener Fälle anzunehmen, da wenig - stens Markus sein ἐναγκαλισάμενος offenbar nur der Ähnlich - keit beider Scenen wegen bei beiden gleicherweise ange - bracht hat.

§. 84. Die Tempelreinigung.

Wenn Johannes (2, 14 ff.) Jesum bei seinem ersten, die Synoptiker (Matth. 21, 12 ff. parall. ) bei seinem lezten Aufenthalt in Jerusalem eine Tempelreinigung vornehmen lassen, so dachten die älteren und denken auch noch man - che neuere Ausleger1)Paulus, Comm. 4, S. 168. und exeg. Handb. 3, a, S. 155; Tho - luck, Comm. S. 72 f. an zwei verschiedene Begebenheiten, zumal ausser der chronologischen Differenz auch in der Darstellung des Vorgangs sich zwischen den drei ersten Evangelisten und dem vierten einige Abweichung findet. Während nämlich in Bezug auf das Verfahren Jesu bei je - nen nur überhaupt von einem ἐκβάλλειν die Rede ist, heiſst es bei diesem, er habe sich zu diesem Behufe ein φραγέλλιον ἐκ σχοινίων gemacht; ferner während er dort gegen alle Ver - käufer auf gleiche Weise verfährt, scheint er hier einigen Unterschied zu machen und die Taubenhändler etwas mil - der zu behandeln, auch ist bei Johannes davon nicht die Rede, daſs er mit den Verkäufern auch die Käufer ausge - trieben hätte. Auch in der Rede Jesu bei diesem Anlaſs findet sich die Differenz, daſs die Synoptiker sie genau in Form eines Citats aus dem A. T., Johannes aber nur als ungefähre Anspielung darauf giebt. Besonders aber im Erfolg zeigt sich der Unterschied, daſs nach dem vierten Evangelium Jesu sogleich Einsprache gethan wird, wovon die Synoptiker nichts berichten, sondern erst Tags darauf die jüdischen Hierarchen eine Frage an Jesum richten las -703Achtes Kapitel. §. 84.sen, welche Bezug auf die Tempelreinigung zu haben scheint (Matth. 21, 23 ff. ), auf welche Jesus auch ganz anders ant - wortet, als nach dem vierten Evangelium auf jene Einspra - che. Die Wiederholung einer solchen Execution sucht man durch die Bemerkung erklärlich zu machen, daſs, da auf die erste Austreibung hin der Unfug schwerlich unterblieb, bei jeder Erneuerung desselben Jesus auch zu wiederhol - tem Einschreiten veranlaſst gewesen sei; daſs aber näher die johanneische Tempelreinigung eine frühere als die syn - optische sei, davon glaubt man die Spur eben auch darin zu entdecken, daſs bei jener Jesu alsbald Einsprache gethan wurde, bei dieser hingegen seines inzwischen gestiegenen Ansehens wegen nicht mehr.

Allein bei allen Abweichungen ist doch die Überein - stimmung der beiden Erzählungen überwiegend. Derselbe Unfug, dieselbe gewaltsame Art, ihm durch ἐκβάλλειν der Leute und αναςρέφειν der Tische zu steuern, ja auch im Wesentlichen dieselbe Rede zur Begründung dieses Ver - fahrens, welche, wenn gleich nicht mit ebensovielen Wor - ten, doch auch bei Johannes eine Hinweisung auf Jes. 56, 7. Jer. 7, 11. enthält. Jedenfalls müſste man dieser bedeu - tenden Ähnlichkeiten wegen mit Sieffert2)Über den Urspr., S. 108 ff. annehmen, die zwei sich ursprünglich weniger ähnlichen Vorfälle seien in der Überlieferung assimilirt, die Züge des einen auf den andern übergetragen worden. Allein soviel scheint klar: die Synoptiker wissen nichts von einer frühern Be - gebenheit dieser Art, so wenig als von einem früheren jerusalemischen Aufenthalt Jesu überhaupt, und ebenso scheint der vierte Evangelist die Tempelreinigung nach dem lezten Einzug Jesu in die Hauptstadt nicht deſswe - gen übergangen zu haben, weil er sie als aus den übri - gen bekannt voraussezte, sondern weil er den einzigen Akt dieser Art, der ihm überhaupt bekannt war, in eine704Zweiter Abschnitt.frühere Zeit setzen zu müssen glaubte. Wissen so sämmt - liche Evangelisten nur je von Einem Vorfall dieser Art: so berechtigen uns weder die kleinen Abweichungen in der Beschreibung, noch die bedeutende in der Stellung der Begebenheit, zwei verschiedene Vorfälle vorauszuse - zen, da ja namentlich chronologische Differenzen in den Evangelien keineswegs selten, und bei traditionell entstan - denen Schriften auch ganz natürlich sind. Mit Recht hat daher nach älteren Vorgängen der neueste Ausleger des Johannes sich für die Identität beider Geschichten erklärt3)Lücke, 1, S. 435 ff..

Auf welcher Seite hiebei der Irrthum, namentlich in chronologischer Beziehung, liege, darüber kann man im Voraus wissen, wie sich die jetzige Kritik entscheiden wird, nämlich zu Gunsten des vierten Evangeliums. Die Peitsche, die abgestufte Behandlung der verschiedenen Klassen von Händlern, die freiere Anspielung auf die A. T. liche Stelle, sind nach Lücke ebensoviele Kennzei - chen des Augen - und Ohrenzeugen; in Bezug auf die Chronologie sei ohnehin anerkannt, daſs die Synoptiker sie gar nicht beobachten, sondern nur Johannes, weſswe - gen es, nach Sieffert4)a. a. O. S. 109; vgl. Schnechenburger, S. 26 f., das Gewisse gegen das Unge - wisse aufgeben hieſse, wenn man die johanneische Erzäh - lung der synoptischen gegenüber fallen lassen wollte. Allein, was jene Anschaulichkeit betrifft, so hat auch Mar - kus in seinem καὶ οὐκ ἤφιεν, ϊνα τις διενέγκῃ σκεῦος διὰ τοῦ ἱεροῦ (V. 16.) einen solchen Zug vor den übrigen voraus, der sich überdieſs einer Stütze in der jüdischen Sitte er - freut, welche nicht erlaubte, den Tempelvorhof zum Durch - weg zu machen5)Lightfoot, S. 632, aus Bab. Jevamoth, f. 6, 2.. Sezt man dennoch von diesem Zuge voraus, daſs er zu der willkührlichen Ausmalung gehöre, wie sie Markus auch sonst liebt6)Lücke, S. 438.: was berechtigt dann,705Achtes Kapitel. §. 84.ähnliche malerische Züge, wenn man sie bei dem vierten Evangelisten findet, als Kennzeichen seiner Autopsie zu be - trachten? Sich dabei auf seine anerkannte Augenzeugen - schaft zu berufen7)Lücke, S. 437; Sieffert, S. 110., ist doch eine gar zu grelle petitio prin - cipii, wenigstens auf dem Standpunkt einer vergleichen - den Kritik, auf welchem es lediglich nach der inneren Wahrscheinlichkeit entschieden werden muſs, ob nicht auch die malerischen Züge des vierten Evangeliums bloſse Aus - malung sind. Wenn hier die verschiedene Behandlung der verschiedenen Menschenklassen ein für sich wahrschein - licher, die freiere Bezugnahme auf das A. T. wenigstens ein indifferenter Zug ist: so verhält es sich mit dem auf - fallendsten Zug der johanneischen Erzählung ganz anders. An dem Flechten und Anwenden der Strickpeitsche hat schon Origenes, als an einem gar zu gewaltthätigen und ordnungswidrigen Schritte, Anstoſs genommen8)Comm. in Joh. Tom. 10, §. 17, Opp. 1, p. 322, ed. Lom - matzsch., und die Milderung neuerer Erklärer, daſs Jesus dieselbe nur gegen das Vieh gebraucht habe9)Kuinöl, z. d. St., ist theils gegen den Text, wel - cher mittelst des φραγέλλιον πάντας austreiben läſst, theils kann auch sie nicht abhalten, das Anwenden einer Geiſsel überhaupt für eine Person von Jesu Würde unschicklich, und jedenfalls nur geeignet zu finden, das ohnehin Tu - multuarische der Handlung auf unwillkommene Weise zu vermehren10)Bretschneider, Probab., p. 43.. Solche Schwierigkeiten hat der dem Mar - kus eigenthümliche Zug nicht gegen sich, und doch soll er verworfen, der des Johannes aber angenommen werden. Gewiſs nicht, wenn sich auch noch andeuten läſst, wie der vierte Evangelist zu freier Fiktion dieses Zuges veran - laſst sein konnte. Er faſste aber, wie das ihm eigenthüm -Das Leben Jesu I. Band. 45706Zweiter Abschnitt.liche Citat V. 17. zeigt, den Akt Jesu vorzugsweise aus dem Gesichtspunkt eines heiligen ζῆλος auf: Versuchung genug, in Ausmalung der Scene Alles möglichst zelotisch anzulegen.

In Bezug auf die chronologische Differenz dürfen wir uns nur erinnern, wie der vierte Evangelist die Anerken - nung Jesu als des Messias von Seiten der Jünger und die Belegung des Simon mit dem Namen Petrus viel zu frühe gesezt hat, um von der allgemeinen Präsumtion sei - ner vorzüglichen chronologischen Genauigkeit, welche man zu Gunsten seiner Stellung der Tempelreinigung geltend macht, zurückzukommen. Für diesen besondern Fall aber wird man nicht Einen Grund aufzubringen im Stande sein, um dessen willen die fragliche Begebenheit besser in die Zeit des ersten, als in die des lezten von Jesu besuchten Pascha taugen sollte, wohl aber ist in entgegengeseztem Sinn nicht Ungegründetes geltend gemacht worden. Zwar, wenn man es unwahrscheinlich fand, daſs Jesus so frühe schon, wie er nach der Deutung des Johannes durch den Ausspruch vom abzubrechenden und wiederaufzubauenden Tempel gethan hätte, auf seinen Tod und seine Auferstehung hingewiesen haben sollte11)So englische Ausleger, bei Lücke, 1, S. 435 f. Anm.: so werden wir seinesorts se - hen, daſs eben diese Beziehung auf den Tod nur durch den Evangelisten in jene Worte hineingetragen ist. Das aber ist kein unerheblicher Grund gegen die johanneische Stellung der Begebenheit, daſs Jesus bei seinem besonne - nen Takte schwerlich so frühe schon einen so gewaltsa - samen Akt seiner messianischen Auktorität werde ausge - übt haben12)Englische Ausleger a. a. O.. Denn nicht nur gab er sich in jener ersten Zeit noch gar nicht als den Messias, und unter andrer als mes - sianischer Auktorität hätte damals kaum ein solcher Schritt gewagt werden mögen, sondern er traf auch von Anfang707Achtes Kapitel. §. 84.an noch weit mehr auf gütliche Weise mit seinen Volks - genossen zusammen, weſswegen kaum zu glauben ist, daſs er gleich Anfangs, ohne in Güte einen Versuch zu machen, so kriegerisch aufgetreten sein sollte. In die lezte Woche seines Lebens hingegen passt ein solcher Auftritt vollkom - men. Damals, nach seinem messianischen Einzug in Jeru - salem, legte er es absichtlich darauf an, durch Alles, was er that und sprach, dem Widerspruch seiner Feinde zum Troz, sich als den Messias zu geben; damals stand Alles schon so auf der Spitze, daſs durch einen solchen Schritt nichts mehr zu verlieren war.

Was die Begebenheit an sich betrifft, so hat schon Origenes unglaublich gefunden, daſs dem einzelnen Manne von noch immer sehr bestrittenem Ansehen eine solche Menge von Menschen so ohne Widerstand sollte gewichen sein, wobei er sich nur dadurch zu helfen wuſste, daſs er sich auf die höhere Macht Jesu berief, vermöge deren er den Grimm seiner Gegner plözlich zu dämpfen oder doch unschädlich zu machen im Stande gewesen sei, weſswegen denn Origenes diese Austreibung den gröſsten Wundern Jesu an die Seite sezt13)Comm. in Joh. Tom. 10, 16. p. 321 f. ed. Lommatzsch.. Wenn neuere Ausleger das Wunder ablehnen14)Lücke, z. d. St., so hat doch nur Paulus die Bemer - kung des Origenes gehörig erwogen, daſs einer einzelnen Person nach dem gewöhnlichen Gang solcher Dinge die Menge sich entgegengesezt haben würde. Man mag von der Überraschung durch das Plözliche des Auftretens Je - su15)Lücke, S. 413. (wenn er nach Johannes vorher eine Geiſsel aus Stri - cken sich zurecht machte, brauchte er schon einige Zeit zur Vorbereitung), auf die Gewalt des auf seiner Seite stehen - den Rechts16)Ders. ebend. und Tholuck, S. 70. (aber auf der Seite derer, die er angriff,45*708Zweiter Abschnitt.war das Herkommen), endlich auf den unwiderstehlichen Eindruck von Jesu Persönlichkeit17)Olshausen, 1, S. 785. (auf Wucherer und Viehhändler, auf Thiermenschen, wie sie Paulus nennt?), sagen, was man will: von einem einzelnen Manne hätte sich diese Überzahl, welche des Schutzes der Priesterschaft gewiſs sein konnte, nicht ohne Weiteres aus dem Tempel werfen lassen. Daher nimmt nun Paulus an, daſs mit Je - su eine groſse Zahl Andrer, welche gleichfalls durch den Marktunfug sich gestört fanden, gemeinschaftliche Sache gemacht, und ihren vereinigten Kräften die Käufer und Verkäufer haben weichen müssen18)Comm. 4, S. 164.. Allein dadurch wird die Sache erst vollends miſslich. Denn nun wird, was Je - sus veranlaſst, ein offener Tumult, und man begreift we - der, wie man dieſs mit seiner sonstigen Abneigung gegen alles Revolutionäre vereinigen, noch auch, wie man sich erklären soll, daſs die Feinde Jesu es nicht zur Anklage gegen ihn benüzt haben. Denn daſs sie im Gewissen sollten gehalten gewesen sein, ihm hierin Recht zu geben, ist um so weniger anzunehmen, da, einer rabbinischen Nachricht zufolge19)Hieros. Jom tobh f. 61, 3, bei Lightfoot, S. 411., die Juden an einem solchen Markt im Vorhof der Heiden (und dieser ist doch unter dem ἱερὸν nur zu verstehen20)Lüche, Comm. 1, S. 410.) so wenig Anstoſs genommen zu haben schei - nen, daſs ihnen das Fehlen desselben als eine traurige Ver - ödung des Tempels erschien. Diesemnach ist es nicht zu verwundern, daſs Origenes den historischen Werth dieser Erzählung durch ein ε[]γε καὶ αὐτὴ γεγένηται in Zweifel zieht, und höchstens zugiebt, daſs der Evangelist, um ei - nen Gedanken allegorisch darzustellen, καὶ γεγενημένῳ συν - εχρήσατο πράγματι21)a. a. O. Vgl. auch Woolston, Disc. 1..

709Achtes Kapitel. §. 85.

Doch um gegen die Übereinstimmung aller vier Evange - listen die Realität dieser Geschichte mit Entschiedenheit an - fechten zu können, müſsten zu den bisher aufgeführten ne - gativen Gründen noch genügende positive kommen, aus welchen ersichtlich wäre, wie die urchristliche Sage auch ohne geschichtlichen Grund zur Erdichtung einer solchen Scene kommen konnte. An solchen aber scheint es denn doch zu gebrechen. Denn was wir in dieser Beziehung allein besitzen, ist theils die von den Synoptikern citirte Doppelstelle aus Jesaias und Jeremias, den Tempel nicht zur Mördergrube zu machen, theils die Stelle Malach. 3, 1 3., nach welcher man erwartete, daſs Jehova in der messianischen Zeit plötzlich in den Tempel kommen, daſs Niemand vor seinem Anblick bestehen, und daſs er eine Reinigung mit dem Volk und dem Cultus vornehmen wer - de. Allerdings ist hier Einiges von der unwiderstehlichen reformatorischen Thätigkeit Jesu im Tempel, wie sie unsere Evangelien darstellen; aber daſs sich diese gerade auf den Markt im Tempelhof beziehen solle, ist in allen diesen Stellen so wenig angedeutet, daſs doch wohl eine wirkliche Opposition Jesu gegen diesen Miſsbrauch der Anlaſs scheint gewesen sein zu müssen, warum die Erfüllung jener Weis - sagungen durch Jesum gerade als Austreibung der Käufer und Verkäufer dargestellt wurde.

§. 85. Die Erzählungen von der Salbung Jesu durch ein Weib.

Von einer Salbung Jesu durch ein Weib während eines Gastmahls erzählen uns sämmtliche Evangelisten (Matth. 26, 6 ff. Marc. 14, 3 ff. Luc. 7, 36 ff. Joh. 12, 1 ff. ), mit Abweichungen freilich, welche besonders zwischen Lukas und den übrigen bedeutend sind. Erstens nämlich, die Chronologie betreffend, sezt Lukas den Vorgang in die frühere Zeit des Lebens Jesu, vor seine Abreise aus710Zweiter Abschnitt.Galiläa, die übrigen dagegen in die lezte Woche seines Lebens; zweitens, den Charakter der salbenden Frau an - langend, ist diese nach Lukas eine γυνὴ ἁμαρτωλὸς, nach den beiden andern Synoptikern aber eine unbescholtene Person, welche Johannes sogar als die Bethanische Maria näher bestimmt. Mit diesem zweiten Punkte hängt das zusammen, daſs der Vorwurf der Anwesenden bei Lukas der Zulassung einer so verrufenen Person, bei den übri - gen nur der Verschwendung des Weibes gilt; mit beiden das, daſs Jesus in seiner Vertheidigung dort die dankbare Liebe der Frau im Gegensaz gegen die stolze Lieblosig - keit des Pharisäers, hier seinen baldigen Tod im Gegen - saz gegen die immer zu habenden Armen hervorhebt. Geringere Differenzen sind noch, daſs als die Ortschaft, in welcher das Gastmahl und die Salbung vor sich geht, von den zwei ersten und dem vierten Evangelisten Betha - nien (was nach Joh. 11, 1. eine κώμη war), bei Lukas unbestimmt eine πόλις genannt wird; ferner, daſs der Vor - wurf nach jenen dreien von Seiten der Jünger, nach Lu - kas von dem Gastgeber kommt. Daher denn nun bei den meisten Erklärern die Unterscheidung von zwei Salbun - gen, deren eine Lukas, die andere die übrigen Evangeli - sten erzählen1)So Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 766. L. J. 1, a, S. 292. Tholuck, Lücke, Olshausen, z. den St.; Hase, L. J. §. 85. Anm..

Allein es fragt sich, wenn man den Lukas mit den drei übrigen einstimmig zu machen verzweifelt, ob die Übereinstimmung von diesen unter sich so entschieden ist, und nicht vielmehr von der Unterscheidung zweier Sal - bungen noch weiter zur Unterscheidung von dreien oder gar vieren fortgegangen werden muſs? Zu vieren nun freilich wird es wohl nicht reichen, da Markus von Mat - thäus nur durch einige Züge seiner wohlbekannten Ver -711Achtes Kapitel. §. 85.anschaulichung abweicht; wohl aber finden sich zwischen diesen beiden auf der einen und Johannes auf der andern Seite Differenzen, welche sich denen zwischen Lukas und den übrigen an die Seite stellen dürfen. Die erste betrifft das Haus, in welchem das Gastmahl vor sich gegangen sein soll; nach den zwei ersten Evangelisten nämlich im Hause eines sonst unbekannten Σίμων λεπρός: der vierte nennt zwar den Gastgeber nicht ausdrücklich, da er aber Martha als die aufwartende, und ihren Bruder Lazarus als Mitspeisenden namhaft macht, so ist nach ihm ohne Zweifel das Haus dieses Lezteren als das Lokal des Gast - mahls zu denken2)Diese Differenz ist auch dem Origenes aufgefallen, welcher überhaupt eine kritische Vergleichung dieser vier Erzählun - gen gegeben hat, wie man sie in neueren Commentaren in dieser Schärfe vergeblich sucht; s. dessen in Matth. Com - mentarior. series, Opp. ed. de la Rue, 3, S. 892 ff.. Auch die Zeit des Vorgangs ist nicht ganz dieselbe, sondern nach Matthäus und Markus geht die Scene nach dem feierlichen Einzug in Jerusalem, höch - stens zwei Tage vor dem Pascha vor: nach Johannes da - gegen vor dem Einzug, schon 6 Tage vor dem Pascha3)s. Origenes, a. a. O.. Die Frau ferner, welche nach Johannes die Jesu so eng verbundene Maria von Bethanien ist, wissen die beiden ersten Evangelisten nur unbestimmt durch γυνὴ zu be - zeichnen4)Ders. ebend., auch lassen sie dieselbe nicht wie die Maria in das Haus und zu der Familie des Wirths gehören, sondern, man weiſs nicht woher, zu dem bei Tische lie - genden Jesus kommen. Auch der Akt der Salbung ist im vierten Evangelium ein anderer als in den beiden ersten. Nach diesen nämlich gieſst die Frau ihre Nardensalbe über Jesu Haupt aus, nach Johannes dagegen salbt sie ihm die Füſse, und trocknet dieselben mit ihren Haaren5)Ders. ebend.,712Zweiter Abschnitt.was der ganzen Scene eine andre Farbe giebt. Endlich wissen die beiden Synoptiker auch davon nichts, daſs eben Judas es gewesen sei, welcher den Tadel gegen die Frau aussprach, sondern Matthäus legt ihn den Jüngern, Markus den Anwesenden überhaupt in den Mund6)Ders. ebend..

So ist also zwischen der Erzählung des Johannes und der des Matthäus und Markus ein kaum geringerer Unter - schied, als zwischen dem Berichte dieser drei zusam - men und dem des Lukas: wer hier zwei verschiedene Be - gebenheiten voraussezt, ist nur dann consequent, wenn er dieſs auch dort thut, und so mit Origenes einstweilen drei verschiedene Salbungen statuirt. Dennoch aber, so - bald man sich diese Consequenz näher ansieht, muſs man über dieselbe bedenklich werden. Denn wie unwahrschein - lich ist es doch, daſs Jesus dreimal, jedesmal bei einem Gastessen, allemal von einer Frau, aber jedesmal wieder von einer andern, kostbar gesalbt worden sein, und daſs es sich hiebei jedesmal gefügt haben sollte, daſs Jesus diese Handlung der Frau gegen Angriffe der Zuschauer zu vertheidigen hatte? 7)vgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 111.Wie läſst sich namentlich das denken, daſs, wenn Jesus bei einem, und selbst bei zwei früheren Anlässen die ihm erwiesene Ehre der Sal - bung so entschieden in Schutz genommen hatte, die Jün - ger oder einer derselben sie doch immer wieder sollten getadelt haben?8)Origenes und Schleiermacher a. a. O..

Muſs man sich hiedurch getrieben finden, auf Re - duktionen bedacht zu sein: so wird es allerdings immer am nächsten liegen, mit den Erzählungen der beiden er - sten Synoptiker und der des Johannes den Anfang zu machen, denn sie haben nicht allein den Ort der Hand - lung, Bethanien, gemein, sondern auch im Allgemeinen713Achtes Kapitel. §. 85.die Zeit, die lezte Woche des Lebens Jesu; hauptsächlich aber ist Rede und Gegemede auf beiden Seiten nahezu dieselbe, und bei diesen Ähnlichkeiten wird man über die Differenzen theils durch den Drang der Unwahrscheinlich - keit eines wiederholten Vorfalls dieser Art, theils durch die Wahrscheinlichkeit hinweggehoben, daſs bei der tra - ditionellen Fortpflanzung der Anekdote dergleichen Ab - weichungen sich eingeschlichen haben mögen. Hat man aber auf dieser Seite in Betracht der Ähnlichkeiten uner - achtet der Differenzen im Bericht die Identität des Vor - falls zugegeben: so können auch auf der andern Seite die der Erzählung des Lukas eigenthümlichen Abweichungen nicht mehr hindern, sie mit der der drei übrigen Evange - listen für identisch zu erklären, sobald sich nur einige erhebliche Ähnlichkeiten zwischen beiden hervorstellen. Und diese sind wirklich vorhanden, indem Lukas bald mit Matthäus und Markus gegen Johannes, bald mit die - sem gegen jene auffallend zusammenstimmt. Dem Gastge - ber giebt Lukas denselben Namen, wie die zwei ersten Evangelisten dem Hauswirth, nämlich Simon, nur daſs ihn jener durch φαρισαῖος, diese durch λεπρὸς, - her bezeichnen. Auch darin stimmt Lukas mit den übri - gen Synoptikern gegen Johannes überein, daſs nach ihrer gemeinsamen Darstellung die salbende Frau eine nicht zum Hause gehörige Ungenannte ist, ferner darin, daſs sie dieselbe mit einem ἀλάβαςρον μύροῦ auftreten lassen, während Johannes nur von einer λίτρα μύροῦ, ohne An - gabe des Gefäſses, spricht. Mit Johannes hingegen stimmt Lukas auf merkwürdige Weise in der Art der Salbung gegen die beiden andern Evangelisten zusammen. Wäh - rend nämlich diesen zufolge die Salbe auf das Haupt Jesu ausgegossen wird, salbt nach Lukas die Sünderin, wie nach Johannes die Maria, Jesu vielmehr die Füſse, und selbst der auffallende Zug findet sich bei beiden fats mit den gleichen Worten angegeben, daſs sie mit ihren714Zweiter Abschnitt.Haaren seine Füſse getrocknet habe9)Luc. 7, 38: τοὐς πόδας αὐ - τοῦ ταῖς ϑριξὶ τῆς κε - φαλῆς αὑτῆς ἐξέμασσε. Joh. 12, 3: ἐξέμαξε ταῖς ϑριξὶν αὑτῆς τους πόδας αὐτοῦ. , nur daſs bei Lu - kas, wo die Frau als Sünderin gehalten ist, noch die Be - netzung der Füſse durch ihre Thränen sammt dem Küssen derselben hinzukommt. Ohne Zweifel haben wir also hier nur Eine Geschichte in drei ziemlich abweichenden Formen, was schon die eigentliche Ansicht des Origenes war, und neuerlich von Schleiermacher angenommen worden ist.

Dabei sucht man dann aber möglichst wohlfeilen Kau - fes abzukommen, und die Abweichungen der verschiede - nen Evangelisten wenigstens vor dem Schein des Wider - spruchs zu bewahren. Was zuerst die Differenzen zwi - schen den beiden ersten Evangelisten und dem lezten be - trifft, so hat man vor Allem die verschiedene Zeitangabe durch die Voraussetzung auszugleichen gesucht, daſs das Bethanische Mahl zwar wirklich, wie Johannes berichtet, 6 Tage vor Ostern gehalten worden sei, daſs aber Mat - thäus, welchem Markus nachgeschrieben, keine dem wi - dersprechende, sondern vielmehr gar keine Zeitbestim - mung habe; denn daſs er jenes Mahl erst nach dem Aus - spruch Jesu: ὅτι μετὰ δύο ἡμέρας τὸ πάσχα γίνεται ein - rücke, beweise nicht, daſs er dasselbe der Zeit nach später stellen wolle, vielmehr hole er hier, ehe er auf den Verrath des Judas komme, die Begebenheit nach, bei welcher dieser den schwarzen Entschluſs dazu faſste, nämlich das Mahl, bei welchem ihn die Verschwendung der Maria ärgerte, und die abweisende Antwort Jesu er - bitterte10)Kuinöl, Comm. in Matth. p. 687.. Allein treffend hat die neueste Kritik gezeigt, wie einestheils in der milden und ganz allgemeinen Rede Jesu nichts persönlich Erbitterndes für den Judas liegen konnte, und wie anderntheils die zwei ersten Evangelien715Achtes Kapitel. §. 85.als Tadler der Salbung nicht den Judas, sondern die Jünger oder die Umstehenden überhaupt nennen, da sie doch, wenn sie die Scene bei der Salbung lediglich als Motiv der Verrätherei des Judas hier nachholten, diesen namentlich hervorheben muſsten11)Sieffert, über den Ursprung, S. 125 f.. Folglich bleibt hier ein chronologischer Widerspruch zwischen den beiden er - sten Synoptikern und Johannes, welchen auch Olshausen anerkennt12)bibl. Comm. 2, S. 277..

Der weiteren Differenz, rücksichtlich der Person des Gastgebers, hat man auf verschiedene Weise auszuwei - chen gesucht. Da Matthäus und Markus nur von der οἰκία Σίμωνος τοῦ λεπροῦ sprechen, so haben Einige den Hauseigenthümer Simon von dem Gastgeber, welcher ohne Zweifel Lazarus gewesen sei, unterschieden, und ange - nommen, daſs nun beiderseits ohne Irrthum der vierte Evangelist diesen, die zwei ersten jenen namhaft ma - chen13)s. bei Kuinöl, a. a. O. S. 688, auch Tholuck, S. 219.. Allein wer bezeichnet denn ein Gastmahl durch den Namen des Hauseigenthümers, wenn dieser nicht ir - gendwie zugleich der Gastgeber ist? Weil übrigens Johannes den Lazarus nicht ausdrücklich als den Wirth, sondern als einen der συνανακειμένων bezeichnet, und, daſs er zugleich der Gastgeber gewesen, lediglich daraus geschlossen wird, daſs seine Schwester, Martha, διηκονει: so haben Andre den Simon als den entweder wegen Aussatzes abgeson - derten, oder bereits verstorbenen Gatten der Martha be - trachtet, bei welcher sich damals auch ihr Bruder Laza - rus aufgehalten habe14)Paulus, ex. Handb. 2, S. 582. 3, b, S. 466.. Doch dieses Verhältniſs ist so rein fingirt, daſs selbst der Verfasser der natürlichen Ge - schichte es nicht hat aufnehmen mögen, sondern lieber den Simon zum reichen Vetter des Lazarus macht, in716Zweiter Abschnitt.dessen verwandtem Hause die geschäftige Martha es sich nicht habe nehmen lassen, für Küche und Keller zu sor - gen15)3. Band, S. 547; ebenso Olshausen, a. a. O.. Hiegegen indeſs ist mit Recht bemerkt worden, daſs in einem fremden, wenn auch verwandten Hause Martha schwerlich aufgewartet haben würde, daſs also durch diesen Zug Martha, und sofern von einem Gemahl derselben nichts bekannt ist, ihr Bruder, als Geber des Mahls bezeichnet seien, welcher leztere nur deſswegen als ἀνακείμενος aufgeführt werde, um die Realität seiner Wie - derbelebung durch Jesum in volles Licht zu setzen16)Lücke, 2, S. 417; Tholuck, S. 220. Wir haben also hier einen zweiten Widerspruch anzu - erkennen.

Die Abweichung in Bezug auf die Art der Salbung, welche den zwei ersten Evangelisten zufolge das Haupt, nach dem vierten die Füſse Jesu betraf, hat man nach der älteren trivialen Ausgleichung, daſs vielleicht beides der Fall gewesen sei, neuestens durch die Annahme bei - zulegen versucht, daſs Maria zwar wirklich nur die Ab - sicht gehabt haben soll, Jesu die Füſse zu salben (Johan - nes), daſs aber, da sie zufällig das Gefäſs zerbrach (συν - τρίψασα, Mark. ), auch das Haupt Jesu mit Salbe über - gossen worden sei (Matth.)17)Schneckenbuager, über den Ursprung u. s. f. S. 60. So wenig übri - gens in der Darstellung bei Markus eine Spur ist, dass das συντρίψασα τὸ ἀλάβαςρον ein unabsichtliches Zerbrechen be - zeichne, so wenig kann es doch mit Paulus (ex. Handb. 3, b, S. 471.) und Fritzsche (in Marc. p. 602.) ohne die härteste Ellipse von dem blossen Aufbrechen des Verschlusses der Mündung verstanden werden, sondern es kann, ungezwungen erklärt, nur ein Zerbrechen des Gefässes selbst bedeuten. Fragt man hiegegen mit Paulus: wozu das (kostbare) Gefäss verder - ben? oder mit Fritzsche: wozu eine Verletzung der eige - nen Hand und vielleicht auch des Hauptes Jesu riskiren? so; eine Ausgleichung, wel -717Achtes Kapitel. §. 85.che dadurch in's Komische fällt, daſs, da man nicht den - ken kann, wie die zu einer Fuſssalbung sich anschickende Frau das Salbengefäſs über das Haupt Jesu bringen konnte, man sich ein Aufwärtsspritzen der Salbe, wie eines schäu - menden Getränkes, vorstellen müſste. So daſs auch hier der Widerspruch bleibt, und zwar nicht bloſs zwischen Matthäus und Johannes, wo ihn auch Schneckenburger anerkennt, sondern auch Markus ist mit Johannes nicht zu vereinigen.

Am leichtesten glaubte man mit den beiden Abwei - chungen rücksichtlich der Person der salbenden Frau und ihres Tadlers fertig zu werden. Daſs, was Johannes nur dem Einen Judas zuschreibt, Matthäus und Markus auf sämmtliche Jünger oder Anwesende übertragen, glaubte man einfach durch die Annahme zu erklären, während die übri - gen ihre Miſsbilligung nur durch Gebärden zu erkennen gaben, habe Judas den Sprecher gemacht18)Kuinöl, in Matth. p. 689.. Allerdings nun muſs das ἔλεγον, da ihm bei Markus ἀγανακτοῦντες πρὸς ἑαυτοὺς vorangeht, bei Matthäus γνοὺς δὲ Ἰησοῦς folgt, nicht nothwendig ein lautes Reden sämmtlicher Jünger be - zeichnen; da indeſs die zwei ersten Evangelisten unmit - telbar nach diesem Mahl den Verrath des Judas berichten, so hätten sie gewiſs den Verräther auch dort schon nam - haft gemacht, wenn er sich ihres Wissens bei jenem hab - süchtigen Tadel besonders hervorgethan hätte. Daſs aber Johannes die salbende Frau, deren Namen die Synoptiker nicht nennen, als die Maria von Bethanien bezeichnet, ist nach der gewöhnlichen Ansicht nur ein Beispiel, wie der17)ist das ganz richtig bemerkt für die Handlung der Frau, nur nicht für die Erzählung des Markus. Denn dass diesem ein solches Zugrunderichten auch des köstlichen Gefässes zu der edeln Verschwendung der Frau mitzugehören schien, das ist ganz in seiner, uns längst bekannten, übertreibenden Art.718Zweiter Abschnitt.vierte Evangelist die früheren ergänzt19)so Paulus, ex. Handb. 3, b. S. 466. und viele Andere.. Allein, da je - ne beiden auf die Handlung der Frau so groſses Gewicht legen, daſs sie, was Johannes nicht hat, ihr Unvergeſslich - keit ankündigen lassen, so würden sie sicher auch den Na - men der Thäterin angegeben haben, wenn er ihnen bekannt gewesen wäre, so daſs also in jedem Falle soviel bleibt: sie wissen von der Frau nicht, wer, und namentlich nicht, daſs sie die Bethanische Maria war.

Also, wenn man die Identität auch nur dessen, was die beiden ersten und was der lezte Evangelist erzählen, aner - kennt, muſs man eingestehen, daſs man auf der einen oder an - dern Seite ungenaue und durch die Überlieferung entstellte Be - richte hat. Doch nicht allein zwischen diesen, sondern auch zwischen Lukas und den übrigen, sucht, wer ihren Berichten nur Eine Begebenheit unterlegt, den Schein des Wider - spruchs möglichst zu entfernen. Schleiermacher, dessen höchste Instanz Johannes ist, der aber doch auch seinen Lukas nirgends fallen lassen will, kommt hier, wo sie so stark abweichen, in eine eigene Klemme, aus der er sich besonders geschickt ziehen zu können geglaubt haben muſs, da er ihr nicht, wie ähnlichen sonst, durch die Annahme zweier zum Grunde liegenden Begebenheiten ausgewichen ist. So viel zwar sieht er sich gedrungen, zu Gunsten des Johannes dem Lukas zu vergeben, daſs sein Gewährsmann hier kein Augenzeuge sei, woraus sich geringere Abwei - chungen, wie namentlich in Bezug auf die Lokalität, erklä - ren; die scheinbar bedeutenderen Differenzen dagegen, daſs nach Lukas die Frau eine Sünderin ist, nach Johannes Maria von Bethanien, daſs nach jenem der Wirth, nach den übrigen die Jünger Einwendungen machen, und daſs die Erwiederung Jesu beiderseits eine ganz andere ist, die - se haben nach Schleiermacher darin ihren Grund, daſs der Vorgang sich aus zwei Gesichtspunkten fassen lieſs. Die719Achtes Kapitel. §. 85.eine Seite des Vorgangs nämlich sei das Murren der Jün - ger und namentlich des Judas gewesen, und diese Seite habe Matthäus aufgefaſst; die andre Seite, die Verhand - lung Jesu mit dem pharisäischen Wirthe, stelle Lukas dar, und Johannes berichtige beide Darstellungen. Was hier am entschiedensten einer Vereinigung des Lukas mit den übrigen widerstrebt, seine Bezeichnung der Frau als ἁμαρ - τωλος, läſst Schleiermacher als eine falsche Folgerung des Referenten aus der Anrede Jesu an die Maria: ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι, fallen. Dieſs nämlich habe Jesus mit Be - zug auf eine uns unbekannte Verschuldung, wie sie auch dem Reinsten begegne, zu Maria sagen können, ohne sie vor den Anwesenden, die sie ja hinlänglich gekannt haben, zu compromittiren, und nur der Referent habe daraus und aus den weiteren Reden Jesu irrig geschlossen, es habe sich hier von einer Sünderin im gemeinen Sinne des Wor - tes gehandelt, weſswegen er dann auch die Gedanken des Wirthes V. 39. unrichtig ergänzt habe20)Über den Lukas, S. 111 ff.. Allein nicht blos von ἁμαρτίαις schlechtweg, sondern von πολλαῖς ἁμαρ - τίαις spricht Jesus in Bezug auf die Frau, und wenn auch dieſs ein unrichtiger Zusaz des Referenten sein soll, sofern es auf die Bethanische Maria nicht paſst, so hat er die ganze Rede Jesu, von V. 40 48., welche sich um den Gegensaz von πολὺ und ὀλίγον ἀφιέναι und ἀγαπᾷν dreht, entweder verfälscht, oder falsch gestellt, und es ist auf dieser Seite besonders vergeblich, zwischen den abwei - chenden Berichten Frieden stiften zu wollen.

Sind demnach die vier Erzählungen nur unter der Voraussetzung zu vereinigen, daſs mehrere derselben be - deutende traditionelle Umbildungen erfahren haben: so fragt es sich jezt, welche von ihnen dem ursprünglichen Faktum am nächsten stehe? Daſs hier die neuere Kritik einstimmig für den Johannes entscheidet, kann uns nach720Zweiter Abschnitt.unsern bisherigen Wahrnehmungen nicht mehr befremden, und ebensowenig die Beschaffenheit der Gründe, aus wel - chen es geschieht: nämlich vermöge des Cirkelschlusses, daſs die Erzählung des Augenzeugen Johannes ohne Wei - teres als die richtige vorausgesetzt werden müsse21)Sieffert, a. a. O. S. 123 f., welcher indeſs bisweilen noch durch den falschen Ober - saz weiter begründet wird, daſs, wer nur ausführlicher und anschaulicher erzähle, der genauere Referent, der Augenzeuge sei22)Schulz, a. a. O. S. 320 f.. Von solchen Anschaulichkeiten wird man wohl leicht geneigt sein, dem Markus sein συντρίψασα als Ausmalung zurückzugeben: hat aber nicht auch Jo - hannes in seiner Angabe von einem Pfunde Narden einen an Übertreibung grenzenden Zug, so daſs die Extravaganz, welche Olshausen in Bezug auf einen so unverhältniſsmäs - sigen Verbrauch von Salbe der Liebe Maria's zuschreibt, auf die Phantasie des Evangelisten zu übertragen wäre, womit dann auch die Angabe: δὲ οἰκία ἐπληρώϑη ἐκ τῆς ὀσμῆς τοῦ μύρου auf gleiche Rechnung käme? Bemerkens - werth ist auch, daſs die Zahlbestimmung des Werthes der Salbe zu 300 Denaren nur Johannes und Markus geben, wie auch bei der wunderbaren Speisung gleich - falls diese beiden den Anschlag der nöthigen Lebensmittel auf 200 Denare gemein haben. Hätte bloſs Markus diese näheren Bestimmungen, wie schnell wären sie, wenigstens von Schleiermacher, für Zusätze aus den eigenen Mitteln des Erzählers erklärt: was, wie nun die Sachen stehen, dieses Urtheil selbst als Vermuthung nicht aufkommen läſst, ist es etwas Anderes, als das Vorurtheil für das vierte Evangelium? Hat man doch selbst die Hauptsalbung der beiden Synoptiker, weil Johannes statt derselben eine Fuſssalbung hat, für ungewöhnlich und zum Mahle nicht passend ausgegeben23)Schneckenburger, a. a. O. S. 60., während, wie auch der neueste721Achtes Kapitel. §. 85.Commentator des vierten Evangeliums einräumt, umgekehrt das Salben der Füſse mit kostbarem Oel das minder Ge - wöhnliche war24)Lücke, 2, S. 417; vgl. Lightfoot, horae, S. 468. 1081..

Ganz besonders dankbar ist man aber dem Augenzeu - gen Johannes dafür, daſs er den Namen sowohl der sal - benden Frau als des tadelnden Jüngers der Vergessenheit entrissen hat25)Schulz, a. a. O.. Da in Bezug auf die Frau die Auskunft, die Synoptiker haben ihren Namen wohl gewuſst, ihn aber aus Rücksicht auf mögliche Gefahr für die Familie des Lazarus verschwiegen, und erst der später schreibende Johannes habe wagen können, ihn zu nennen26)so Gtotius, Herder., einem aus der Mode gekommenen Pragmatismus in Bezug auf das Leben Jesu angehört, so bleibt es dabei, daſs die er - sten Evangelisten von dem Namen der Frau nichts gewuſst haben, und es fragt sich, wie dieſs möglich war? Da Jesus der That des Weibes ausdrücklich Verewigung ver - hieſs, so muſste die Tendenz entstehen, auch ihren Na - men aufzubewahren, und wenn dieser nun mit dem be - kannten und vielfach genannten der Bethanischen Maria zusammentraf, so ist nicht einzusehen, wie dieses Band in der Überlieferung wieder gelöst, und jene salbende Frau zur Unbekannten werden konnte. Fast noch unbe - greiflicher aber ist, wie, wenn der habsüchtige Tadel der Frau wirklich von dem nachmaligen Verräther ausgespro - chen worden war, dieſs in der Überlieferung vergessen, und derselbe den Jüngern überhaupt zugeschrieben wer - den konnte. Wenn von einer sonst unbekannten Person namentlich etwas erzählt wird, oder auch von einer be - kannten etwas, das mit ihrem anderweitigen Charakter nicht sichtbar zusammenhängt, so ist es natürlich, daſs sich in der Überlieferung der Name verliert: wenn aberDas Leben Jesu I. Band. 46722Zweiter Abschnitt.das erzählte Wort oder Werk einer Person so ganz mit ihrem sonst bekannten Charakter übereinstimmt, wie hier der habsüchtige und zugleich heuchlerische Tadel mit dem Charakter des Verräthers, wie da die Sage diesen Namen verlieren kann, das gestehe ich nicht einzusehen. Zumal da die Geschichte, bei welcher jener Tadel ausgesprochen wurde, besonders nach ihrer Stellung bei den zwei ersten Evangelisten, so nahe mit dem Zeitpunkt des Verraths zusammenfiel, und so eine Beziehung dieses Schritts auf jene Äusserung fast aufgedrungen war. So sehr in der That, daſs, wenn jene Äusserung versteckten Geizes auch nicht wirklich von Judas gethan worden war, man sich doch später versucht finden muſste, sie ihm als Beitrag zu seiner Charakteristik und zur Erklärung seines nach - maligen Verrathes zuzuschreiben. So daſs sich hier die Sache umkehrt, und die Frage entsteht, ob wir nicht, statt den Johannes zu loben, daſs er uns diese bestimmte Notiz erhalten hat, vielmehr die Synoptiker rühmen müs - sen, daſs sie sich einer so nahe liegenden, aber unhisto - rischen Combination enthalten haben. Anders werden wir auch über die Bezeichnung der salbenden Frau als Maria von Bethanien nicht urtheilen können, als daſs, so unbe - greiflich die Trennung jener That von ihrem berühmten Namen ist, wenn sie ursprünglich ihr angehört haben soll, ebenso leicht die sich fortbildende Sage dazu kommen konnte, eine Handlung ergebener Liebe gegen Jesum, wenn sie auch ursprünglich einer andern, minder bekann - ten Person angehörte, derjenigen zuzuschreiben, deren inniges Verhältniſs zu Jesu dem dritten und vierten Evan - gelium zufolge frühzeitig groſsen Ruhm in der ersten Ge - meinde erlangt hatte.

Doch auch von einer andern Seite noch sehen wir uns veranlaſst, eher die Erzählungen des Matthäus und Markus, welche die Frau nicht nennen, als die des Jo - hannes, der sie als die Bethanische Maria bezeichnet, für723Achtes Kapitel. §. 86.den Grundstock der vorliegenden Anekdotengruppe anzu - sehen. Da nämlich von unserer Annahme der Identität aller vier Erzählungen aus sich auch das erklären lassen muſs, wie die Darstellung der Sache bei Lukas habe ent - stehen können: so ist, die johanneische Erzählung als die der Wahrheit nächste vorausgesezt, nicht wenig befrem - dend, wie in der Sage die salbende Frau in doppelter Absteigung von der hochgefeierten Maria Lazari zur na - menlosen Unbekannten, und von dieser gar zur berüchtig - ten Sünderin herabgesezt werden konnte, und weit natür - licher scheint es hier, die indifferente Darstellung der beiden ersten Synoptiker in die Mitte zu stellen, aus de - ren zweideutiger Ungenannten gleicherweise in aufsteigen - der Linie eine Maria, wie in absteigender eine Sünderin gemacht werden konnte.

Da die Möglichkeit der ersteren Umwandlung im All - gemeinen schon anerkannt ist, so fragt sich zunächst, worin eine Veranlassung liegen konnte, die salbende Frau ohne historischen Grund nach und nach als Sünderin zu fassen? Hier läſst sich in der Erzählung selbst nur der Zug auffinden, welchen die zwei ersten Synoptiker nicht, wohl aber Johannes mit Lukas gemein hat, daſs die Frau die Füſse Jesu gesalbt habe. Dieser Zug, wie er dem vierten Evangelisten zu dem empfindsamen, hingebenden Wesen der Maria, die er auch sonst (11, 32.) Jesu zu Füſsen fallen läſst, zu gehören schien: so mochte er von einem andern, wie von Lukas geschieht, als Gebärde des Büſsens genommen werden, was die Auffassung der Frau als Sünderin begünstigen konnte. Doch auch nur begün - stigen, nicht veranlassen: nach einer Veranlassung müs - sen wir uns noch anderswo umsehen.

§. 86. Die Erzählungen von der Ehebrecherin und von Maria und Martha.

Das johanneische Evangelium erzählt uns 8, 1 11. 46*724Zweiter Abschnitt.von einer im Ehebruch ergriffenen Frau, welche die Pha - risäer und Schriftgelehrten zu Jesu brachten, um sein Gutachten über das gegen sie zu beobachtende Verfahren einzuholen, worauf Jesus durch Aufregung des Gewissens der Kläger die Frau befreite, und mit einer Ermahnung entlieſs. Über die Ächtheit dieser Perikope waltet vieler Streit, und man möchte ihre Unächtheit für erwiesen ach - ten, wenn nicht selbst in den gründlichsten Untersuchun - gen hierüber1)Bei Wetstein, Paulus, Lücke z. d. St. immer die Absicht durchblickte, welche Paulus offen gesteht, den bedenklichen Vermuthungen über die Entstehung des vierten Evangeliums auszuweichen, welche bei der Voraussetzung, daſs die Perikope ein äch - ter Bestandtheil desselben sei, aus den vielen Unwahrschein - lichkeiten, die sie enthält, erwachsen. Für's erste nämlich, wenn die Schriftgelehrten zu Jesu sagen: ἐν τῷ νόμῳ Μωσῆς ἡμῖν ἐνετείλατο, τὰς τοιαύτας λιϑοβολεῖσϑαι: so ist weder im Pentateuch diese Strafe auf den Ehebruch gesezt, son - dern unbestimmt Todesstrafe (3 Mos. 20, 10. 5 Mos. 22, 22.), noch war dieſs spätere talmudische Bestimmung, sondern nach dem Kanon: omne mortis supplicium, in scriptura absolute positum, esse strangulationem2)Maimonides zu Sanhedr. 7, 1., wird im Talmud für den Ehebruch die Strafe der Erdros - selung bestimmt3)Mischna, tr. Sanhedr. c. 10.. Ferner ist schwer einzusehen, was das Verfängliche der Jesu vorgelegten Frage hätte sein sollen4)s. die Ausführung d[i]eses und der folgenden Punkte bei Pau - lus und Lücke z. d. St.; denn gaben ihm die Schriftgelehrten, wie wenn sie ihn warnen, nicht versuchen wollten, die Verordnung des Gesetzes an, so konnten sie nicht erwarten, daſs er anders als dem Gesetz gemäſs entscheiden würde; wie denn auch gegen seine Entscheidung bemerkt werden725Achtes Kapitel. §. 86.kann, daſs, wenn nur der völliger Reinheit sich Bewuſste sollte richten und strafen können, alle bürgerliche Ord - nung sich auflösen würde. Sagenhaft und mysteriös muſs auch das Schreiben Jesu auf die Erde erscheinen, wel - ches, wenn es auch die Glosse des Hieronymus: eorum videlicet, qui accusabant, et omnium mortalium peccata, nicht richtig erklärt, doch etwas Geheimniſsvolleres, als bloſse Abweisung der Ankläger zu enthalten scheint. Kaum denkbar endlich ist es, daſs alle die gesetzeseifri - gen und Jesu abgeneigten Menschen, welche die Frau zu ihm geschleppt hatten, ein so zartes Gewissen gehabt haben sollten, um auf die Schärfung desselben durch Jesum hin sich sämmtlich unverrichteter Dinge zu ent - fernen, und das Weib ungekränkt zurückzulassen, son - dern dieſs scheint nur zur poëtischen Ausschmückung der Scene in der Sage zu gehören. So unwahrscheinlich die - sen Bemerkungen zufolge werden muſs, daſs die Begeben - heit gerade so, wie sie hier erzählt wird, vorgefallen sei: so wenig beweist dieſs doch, wie Bretschneider mit Recht festhält5)Probab. S. 72 ff., gegen die Ächtheit der Perikope, da die apo - stolische Abfassung des vierten Evangeliums, mithin die Unmöglichkeit, eine in sich widersprechende Erzählung als Bestandtheil desselben zu betrachten, vor Untersuchung eben aller seiner einzelnen Theile ohne unverantwortlichen Cirkel nicht vorausgesezt werden darf. Indeſs ist doch auf der andern Seite das Fehlen des Abschnitts in den ältesten Auktoritäten so bedenklich, daſs eine Entschei - dung in der Sache nicht wohl gewagt werden kann.

Sehr alt muſs in jedem Falle die Erzählung von dem Zusammentreffen Jesu mit einer Sünderin sein, da sie nach Eusebius schon im Hebräerevangelium und bei Papias sich vorfand6)Euseb. H. E. 3, 39: ἐκτέϑειται δὲ ([]Παπ[ί]ας) καὶ ἄλλην. Von jeher war es gewöhnlich, diese726Zweiter Abschnitt.Frau des Hebräerevangeliums und des Papias für die Ehe - brecherin des Johannes zu halten. Hat man hiegegen mit Recht erinnert, die wegen vieler Sünden bei Jesus Ver - läumdete sei doch eine andre als die auf der Einen That des Ehebruchs Ertappte7)Lücke, 2, S. 217. Paulus, Comm. 4, S. 410.: so muſs ich mich wundern, daſs meines Wissens noch Niemand auf den Einfall ge - kommen ist, bei der Stelle des Eusebius vielmehr an die Sünderin des Lukas zu denken, von welcher Jesus eben sagt, daſs ihr ἁμαρτίαι πολλαὶ vergeben seien. Freilich paſst zu dieser das διαβληϑείσης nicht ganz, da bei Lukas nicht von wirklichen Äusserungen des Pharisäers zum Nachtheil der Frau, sondern nur von ungünstigen Ge - danken, die er hatte, die Rede ist, und in dieser Hin - sicht würde zu der Eusebischen Stelle hinwiederum die johanneische Erzählung besser passen, welche ein aus - drückliches Anbringen, ein διαβάλλειν, hat.

So sind wir durch einen äussern Grund, durch den Zweifel, ob eine alte Erwähnung sich auf die eine oder andere beziehe, auf die Verwandtschaft der beiden Erzäh - lungen geführt8)Auch sonst wurden beide verwechselt, s. Fabricii Cod. apo - cryph. N T. 1, S. 357. not., welche aus inneren Gründen ohnehin von solber einleuchten muſs. Beidemale ein Weib, eine Sünderin, vor Jesu; diese beidemale von pharisäischer Scheinheiligkeit übel angesehen, von Jesu aber in Schutz genommen, und mit einem friedlichen πορεύου entlassen. Gerade diese Züge wuſsten wir in der Erzählung des Lu - kas, sofern sie nur eine Variation von der Salbungsge - schichte der übrigen Evangelisten sein sollte, in ihrer Ent - stehung nicht zu begreifen. Was liegt also näher, als an - zunehmen, daſs sie aus der Geschichte von der losgespro -6)ἱςορίαν περὶ γυναικὸς ἐπὶ πολλαῖς ἁμαρτίαις διαβληϑεί - σης ἐπὶ τοῦ· Κυρίοῦ, ἣν τὸ καϑ 'Ἑβραίους εὐαγγέλιον πε - ριέχει. 727Achtes Kapitel. §. 86.chenen Sünderin in die Salbungsgeschichte des Lukas ge - kommen seien? War in der urchristlichen Sage einerseits die Kunde von einer Frau, die Jesum gesalbt hatte, deſswegen angegriffen, von Jesu aber vertheidigt, und andrerseits von einem Weibe, das wegen vieler Sünden vor ihm angeklagt, von ihm aber losgesprochen worden war: wie leicht konn - ten, vermittelt durch die Vorstellung einer auch als Buſse zu fassenden Fuſssalbung, beide Geschichten ineinander - flieſsen, und die salbende zugleich zur Sünderin, die Sün - derin zugleich zur salbenden werden? Daſs dann der Schauplaz der Lossprechung ein Gastmahl wurde, kam auch aus der Erzählung von der Salbung; der Gastgeber muſs - te ein Pharisäer sein, theils weil die Anklage der Sünde - rin von pharisäischer Seite ausgegangen sein sollte, theils hat sich uns Lukas sonst schon als Liebhaber von Phari - säermahlen gezeigt; die Reden Jesu endlich mögen zum Theil aus der ursprünglichen Erzählung von der Sünderin genommen, zum Theil von verwandten Fällen entlehnt sein. Die rein erhaltenen Geschichten hätten wir so einerseits bei den zwei ersten Evaugelisten, andrerseits bei dem vier - ten oder wer der Verfasser der Perikope von der Ehe - brecherin ist; denn ist hier gleich schon manches Sagen - hafte mituntergelaufen, so ist doch von der Salbung noch nichts eingemischt.

Haben wir hiemit die eine Umgestaltung der Erzäh - lung von der salbenden Frau, nämlich ihre Herabsetzung zur Sünderin, aus dem Einfluſs einer andern verwandten Anekdote erklärt, welche in der ersten Christenheit im Umlauf war: so können wir jezt versuchsweise uns umse - hen, ob nicht auch zu der entgegengesezten, übrigens für sich schon leicht erklärlichen, Umbildung der Unbekann - ten in die Maria von Bethanien ein ähnlicher äusserer Ein - fluſs mitgewirkt habe? Dieser könnte nur von der Einen Geschichte ausgegangen sein, welche uns (ausser ihrem Auf - treten bei der Wiederbelebung des Lazarus) von dieser Ma -728Zweiter Abschnitt.ria aufbehalten, und durch den Ausspruch Jesu: Eins ist Noth, Maria hat das beste Theil erwählt u. s. w. bekannt ist (Luc. 10, 38 ff.). In der That haben wir hier wie dort die Martha mit Aufwartung beschäftigt (Joh. 12, 2: καὶ Μάρϑα διηκό[ν]ε[ι]. Luc. 10, 40: δὲ Μάρϑα περιεσπᾱτο περὶ πολλὴν διακονίαν); Maria zu den Füſsen Jesu sitzend, wie dort seine Füſse salbend; hier von der Schwester, wie dort von Judas, ihres unnützen Treibens wegen getadelt, und beidemale von Jesu in Schutz genommen. Wie könn - ten wir uns enthalten, auch hier zu sagen: war einmal neben der Erzählung von der salbenden Frau auch die von Maria und Martha im Umlauf, so lag es bei den mancher - lei Berührungspunkten, welche sich beide boten, sehr nahe, daſs sie in der Sage oder durch Combination eines Einzel - nen verschmolzen wurden: die Jesu Füſse salbende, geta - delte und von Jesu gerechtfertigte Unbekannte wurde in die durch eine ähnliche Situation bekannte Maria verwandelt, ihrer Schwester Martha auch bei dem mit der Salbung zusammenhängenden Mahle die διακονία übertragen, und endlich der Bruder Lazarus zum Theilnehmer der Mahl - zeit gemacht, so daſs sich hier die Erzählung des Lu - kas auf der einen und die der zwei ersten Synoptiker auf der andern Seite als reine Anekdoten zeigen, die des Jo - hannes aber als eine gemischte.

In der Erzählung des Lukas übrigens von Jesu Be - such bei den beiden Schwestern ist des Lazarus nicht ge - dacht, mit welchem doch nach Joh. 11. und 12. Maria und Martha zusammengewohnt zu haben scheinen, und Lu - kas spricht gan[z]so, wie wenn er von der Existenz oder Anwesenheit dieses Bruders, dessen auch sonst weder er noch ein andrer Synoptiker gedenkt, gar nichts wüſste. Denn wuſste er etwas von ihm, und dachte er ihn damals anwesend, so konnte er nicht sagen: γυνὴ ὀνόματι Μάρϑα ὑπεδ[έ]ξατο τὸν . εἰς τὸν οἶκον αὑτῆς, sondern er muſste wenigstens neben ihr den Bruder nennen, zumal dieser nach729Achtes Kapitel. §. 86.Johannes ein vertrauter Freund von Jesu war. Dieſs Still - schweigen kann man auffallend finden, wenigstens ist es nirgends viel besser erklärt, als in der natürlichen Ge - schichte des Propheten von Nazaret, wo der bald darauf er - folgte Tod des Lazarus zu der Voraussetzung benüzt ist, derselbe sei wohl um die Zeit jenes Besuchs Jesu auf ei - ner Reise zur Stärkung seiner Gesundheit begriffen gewe - sen9)3, S. 379 f.. Nicht minder fällt ein andrer Punkt auf, der sich auf die Lokalität dieser Scene bezieht. Nach Johannes wohnten Maria und Martha in dem Jerusalem zunächst gelegenen Flecken Bethania; Lukas dagegen, wo er von dem Besuche Jesu bei diesen Schwestern spricht, nennt nur κώμην τινὰ, was sich übrigens mit der Angabe des Jo - hannes ebenso leicht vereinigen läſst, als daſs er jenen Be - such in die Reise Jesu nach Jerusalem verlegt, da ja Be - thanien dem aus Galiläa dahin reisenden auf dem Wege lag. Doch ganz am Ende dieses Weges, so daſs Jesu Be - such daselbst an den Schluſs seiner Reise fallen muſste: wogegen Lukas denselben bald nach dem Aufbruch aus Galiläa stellt, und von dem Einzug in Jerusalem durch ei - ne Menge von Reisebegebenheiten und volle 8 Kapitel trennt. Soviel also ist klar: der Verfasser oder Redacteur des drit - ten Evangeliums wuſste nichts davon, daſs jener Besuch in Bethanien gemacht worden, und Maria und Martha hier wohnhaft gewesen seien, sondern nur derjenige Evange - list, welcher die Maria als die salbende Frau darstellt, nennt auch als Heimath der Maria Bethanien, wo nach den zwei ersten Synoptikern die Salbung vorgefallen ist. Natürlich, war einmal Maria zur salbenden Frau gemacht, die Salbung aber bekanntermaſsen in Bethanien vorgefallen: so muſste Maria wohl in diesem Orte wohnhaft gewesen sein, und es hat somit wahrscheinlich der umlaufenden Erzählung von dem Besuch Jesu bei Martha und Maria die salbende Frau730Zweiter Abschnitt.ihren Namen, der Erzählung vom Bethanischen Mahle aber Maria eine Heimath zu danken.

So hätten wir eine Gruppe von 5 Geschichten, un - ter welchen die Erzählung der beiden ersten Synoptiker von der Salbung Jesu durch ein Weib den Mittelpunkt, die des Johannes von der Ehebrecherin und die des Lu - kas von Maria und Martha die äussersten Enden, die Sal - bung durch die Sünderin aber bei Lukas und die durch Maria bei Johannes die Mittelglieder bilden. Zwar könnte man alle fünf Erzählungen nur als verschiedene Ausma - lungen Einer geschichtlichen Grundlage ansehen wollen; doch möchte ich dieses wegen der wesentlichen Verschie - denheiten weniger, und es scheint mir eher, als läge den beiden äussersten sowohl wie der mittleren jeder eine beson - dre Begebenheit zum Grunde, die beiden Mittelglieder aber hätten sich durch traditionelle Vermischung von jenen als secundäre Bildungen gestaltet, wie nebenstehende Tafel ver - anschaulichen wird.

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(Diese vier Scenen gehen bei einem Mahle vor.)

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Druckfehler und Zusätze.

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3717 v. u.konntekönnte
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3843 d. Anm.persounitpersonuit
43119längerelängeren
4615 d. Anm.TehologieTheologie
53514supranaturalistischensupranaturalistischem
622lezteSondernAlso
63726hinter Jesu das Comma zu streichen
6563 v. u.anzeignenanzeigen.
6906 d. Anm.hinter Reden zu setzen Jesu .

Kleinere Verstösse, namentlich im griechischen Accent und Spiri - tus, wie auf den ersten Bogen hin und wieder ἀυτὸς statt αὐτὸς, S. 694 Lin. 8. der Anm. χείρα statt χεῖρα, wird der kundige Le - ser selbst verbessern. Zu S. 102. Anm. 9 und 10. Die LXX ist hier nach der Brei - tingerschen Quartausgabe citirt; in andern Ausgaben sind zwar zum Theil abweichende Lesarten aufgenommen, welche aber ebenso gut zu vergleichen gewesen wären. Zu S. 163. Wenn nach Schneckenburger (das Evangelium der Ägyptier S. 7.) und Baur (christl. Gnosis S. 760 ff. ) die klemen - tinischen Ebioniten Jesum nicht für menschlich erzeugt gehalten haben sollten, so würde gerade diess am augenscheinlichsten zu den späteren Modificationen des ebionitischen Systems gehören.

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About this transcription

TextDas Leben Jesu, kritisch bearbeitet
Author David Friedrich Strauß
Extent759 images; 204870 tokens; 22051 types; 1415396 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDas Leben Jesu, kritisch bearbeitet Erster Band David Friedrich Strauß. . XVI, 731, [1] S. OsianderTübingen1835.

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