Dem Verfasser des Werkes, dessen erste Hälfte hiemit in die Hände des Publikums gelangt, schien es Zeit zu sein, an die Stelle der veralteten supranatu - ralen und natürlichen Betrachtungsweise der Ge - schichte Jesu eine neue zu setzen. Dass sie veral - tet sei, wird in unsern Tagen von der zweiten eher als von der ersteren Ansicht zugegeben werden. Denn während das Interesse an den Wundererklä - rungen und dem Pragmatismus der Rationalisten längst erkaltet ist, sind die gelesensten Evangelien - commentare jezt diejenigen, welche die supranatu - ralistische Auffassung der heiligen Geschichte fürIVVorrede.den neueren Geschmack zuzubereiten[wissen]. De[n]- noch hat sich die orthodoxe Ansicht von dieser G[e]- schichte in der That schon früher als die rationali - stische überlebt gehabt, da nur, weil die erstere der fortschreitenden Bildung nicht mehr genügte, die leztere ausgebildet wurde; die neueren Versuche aber, mit Hülfe einer mystischen Philosophie sich wieder in die supranaturale Anschauungsweise unse - rer Vorfahren zurückzuversetzen, verrathen schon durch die gesteigerte Stimmung, in welcher sie sich halten, dass sie lezte, verzweifelte Unternehmungen sind, das Vergangene gegenwärtig, das Undenkbare denkbar zu machen.
Der neue Standpunkt, der an die Stelle der bezeichneten treten soll, ist der mythische. Er tritt in gegenwärtigem Buche nicht zum erstenmal in Berührung mit der evangelischen Geschichte. Längst hat man ihn auf einzelne Theile derselben angewendet, und er soll jetzt nur an ihrem ganzen Verlaufe durchgeführt werden. Das heisst keines - wegs, dass die ganze Geschichte Jesu für mythischVVorrede.ausgegeben werden soll, sondern nur Alles in ihr kritisch darauf angesehen, ob es nicht Mythisches an sich habe. Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Voraussetzung ausgieng, dass in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen weg - warf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, dass in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf die - sem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen blei - ben, sondern es muss auch die andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf histo - rischem Grund und Boden stehen. Diess ist der na - türliche Gang der Sache, und insofern die Erschei - nung eines Werkes wie das gegenwärtige nicht bloss gerechtfertigt, sondern selbst nothwendig.
Damit ist freilich noch nicht erwiesen, dass ge - rade der Verfasser desselben Beruf hatte, in dieser Stellung hervorzutreten. Dessen ist er sich lebhaftVIVorrede.bewusst, dass viele Andere ein solches Werk un - gleich gelehrter auszustatten im Stande gewesen wä - ren, als er. Doch glaubt er andrerseits wenigstens Eine Eigenschaft zu besitzen, welche ihn zur Über - nahme dieses Geschäftes vor Andern befähigte. Den gelehrtesten und scharfsinnigsten Theologen fehlt in unsrer Zeit meistens noch das Grunderforderniss ei - ner solchen Arbeit, ohne welches mit aller Gelehr - samkeit auf kritischem Gebiete nichts auszurichten ist: die innere Befreiung des Gemüths und Denkens von gewissen religiösen und dogmatischen Voraus - setzungen, und diese ist dem Verfasser durch philo - sophische Studien frühe zu Theil geworden. Mögen die Theologen diese Voraussetzungslosigkeit seines Werkes unchristlich finden: er findet die gläubigen Voraussetzungen der ihrigen unwissenschaftlich. So sehr in dieser Hinsicht der Ton dieser Arbeit gegen den andächtig-erbaulichen oder mystisch-begeister - ten neuerer Bücher über ähnliche Gegenstände ab - sticht, so wird man doch nirgends den Ernst der Wissenschaft vermissen, oder Frivolität finden kön -[n]en: dass ebenso die Beurtheilungen im wissenschaft -VIIVorrede.lichen Gebiete sich halten, und nicht Ketzereifer und Fanatismus einmischen mögen, scheint eine bil - lige Forderung zu sein.
Den inneren Kern des christlichen Glaubens weiss der Verfasser von seinen kritischen Untersu - chungen völlig unabhängig. Christi übernatürliche Geburt, seine Wunder, seine Auferstehung und Himmelfahrt, bleiben ewige Wahrheiten, so sehr ihre Wirklichkeit als historischer Fakta angezweifelt wer - den mag. Nur die Gewissheit davon kann unsrer Kritik Ruhe und Würde geben, und sie von der naturali - stischen voriger Jahrhunderte unterscheiden, welche mit dem geschichtlichen Faktum auch die religiöse Wahrheit umzustürzen meinte, und daher nothwen - dig frivol sich verhalten musste. Den dogmatischen Gehalt des Lebens Jesu wird eine Abhandlung am Schlusse des Werkes als unversehrt aufzeigen: in - zwischen möge die Ruhe und Kaltblütigkeit, mit wel - cher im Verlaufe desselben die Kritik scheinbar ge - fährliche Operationen vornimmt, eben nur aus der Sicherheit der Überzeugung erklärt werden, dass al -VIIIVorrede.les das den christlichen Glauben nicht verlezt. Dess - wegen könnten übrigens doch durch Untersuchungen dieser Art Individuen in ihrem Glauben sich verlezt finden. Sollte diess bei Theologen der Fall sein, so haben diese in ihrer Wissenschaft das Heilmittel für dergleichen Verwundungen, welche ihnen, sofern sie hinter der Entwicklung unsrer Zeit nicht zurück - bleiben wollen, unmöglich zu ersparen sind; für Nichttheologen allerdings ist die Sache noch nicht gehörig vorbereitet, und desswegen die gegenwärtige Schrift so eingerichtet worden, dass wenigstens die Ungelehrten unter denselben bald und oft zu merken bekommen, die Schrift sei nicht für sie bestimmt, und, lassen sie aus Fürwiz oder Verketzerungssucht sich dessenungeachtet mit derselben ein, so tragen sie dann doch, wie Schleiermacher bei ähnlicher Gelegenheit sagt, die Strafe in ihrem Gewissen mit sich, indem sich ihnen das Gefühl recht aufdringt, dass sie das nicht verstehen, worüber sie doch reden möchten.
Einer neuen Ansicht, die sich an die Stelle vonIXVorrede.älteren setzen will, gebührt es, sich mit diesen voll - ständig auseinanderzusetzen. Daher ist hier der Weg zur mythischen Ansicht für jeden einzelnen Punkt durch die supranaturalistische und rationali - stische und deren respektive Widerlegung genommen worden, so jedoch, dass, wie es der ächten Wider - legung geziemt, aus den bekämpften Ansichten ihr Wahres anerkennend herausgezogen, und dem neuen Standpunkt einverleibt wurde. Hiedurch ist zugleich der äussere Vortheil erreicht worden, dass das Werk nun als Repertorium der vornehmsten Ansichten und Verhandlungen über alle Theile der evangelischen Geschichte dienen kann. Dabei ist jedoch keines - wegs Vollständigkeit der Literatur angestrebt, son - dern, wo es sich thun liess, an den Hauptwerken der verschiedenen Richtungen festgehalten worden. Für die rationalistische Richtung bleiben die Paulus '- schen Schriften classisch, und sind daher vorzugs - weise berücksichtigt; für die orthodoxe war der Com - mentar von Olshausen besonders wichtig, als der neueste und beliebteste Versuch, die wundergläubige Auslegung philosophisch und modern zu machen;XVorredefür eine kritische Bearbeitung des Lebens Jesu aber sind die Commentare von Fritzsche die trefflichste Vorarbeit, indem sie neben der ungemeinen phi - lologischen Gelehrsamkeit zugleich diejenige Un - befangenheit und wissenschaftliche Gleichgültigkeit gegen Resultate und Consequenzen zeigen, welche die erste Bedingung eines Fortschritts auf diesem Gebiete ist.
Der zweite Band, welcher mit einer ausführ - lichen Untersuchung über die Wunder Jesu sich eröffnen, und das ganze Werk schliessen wird, ist bereits ausgearbeitet, und kommt mit der Vollen - dung dieses ersten unter die Presse.
Tübingen den 24. Mai. 1835.
Der Verfasser.
Wo immer eine auf schriftliche Denkmale sich stützen - de Religion in weiteren Raum - und Zeitgebieten sich gel - tend macht, und ihre Bekenner durch mannigfaltige und immer höher steigende Entwickelungs - und Bildungsstufen begleitet: da thut sich früher oder später eine Differenz hervor zwischen Geist und Form jener alten Urkunden und zwischen der neuen Bildung derer, welche an dieselben als an heilige Bücher gewiesen sind. Diese Differenz kann bald mehr nur das Unwesentliche und Formelle betreffen, daſs Ausdruck und Darstellung in jenen Schriften der Sa - che unangemessen gefunden werden; bald aber tritt sie selbst an den wesentlichen Inhalt heran, und es wollen auch die Ideen und Grundansichten solcher Bücher der fortge - schrittenen Bildung nicht mehr genügen. So lange diese Differenzen entweder nicht so bedeutend sind, oder nicht so allgemein zum Bewuſstsein kommen, um eine völlige Lossagung von jenen Urkunden, als heiligen, herbeizufüh - ren: so lange muſs unter denen, welche sich derselben heller oder dunkler bewuſst geworden sind, ein Vermitt - lungsproceſs entstehen und sich erhalten,[welcher] in der Auslegung jener Bücher vor sich gehen wird.
Das Leben Jesu I. Band. 12Einleitung. §. 1.Ein Hauptbestand[t]heil aller Religionsurkunden ist hei - lige Geschichte, ein Geschehen, in welchem das Göttliche unvermittelt in das Menschliche hereintritt, die Ideen un - mittelbar sich verkörpert zeigen. Wie aber Bildung über - haupt Vermittlung ist: so wird die fortschreitende Bildung der Völker auch der Vermittlungen immer deutlicher sich bewuſst, welche die Idee zu ihrer Verwirklichung bedarf, und so erscheint jene Differenz der neuen Bildung und der alten Religionsurkunden in Bezug auf deren geschichtarti - gen Theil namentlich so, daſs jenes unmittelbare Eingrei - fen des Göttlichen in das Menschliche seine Wahrschein - lichkeit verliert. Wozu, da das Menschliche jener Urkun - den ein Menschliches der Vorzeit, also ein relativ unent - wickeltes, nach Umständen selbst rohes ist, auch ein un - behagliches Sichabwenden von diesem insbesondere sich ge - sellen kann. Das Göttliche kann nicht so (theils überhaupt unmittelbar, theils noch dazu roh) geschehen sein, oder das so Geschehene kann nicht Gött - liches gewesen sein — so wird die Differenz sich aussprechen, und wenn die Auslegung dieselbe zu vermit - teln sucht, so wird sie dahin streben, entweder das Gött - liche als nicht so Geschehenes darzustellen, also den alten Urkunden die historische Geltung abzusprechen, oder das Geschehene als so nicht Göttliches aufzuweisen, also aus jenen Büchern den absoluten Inhalt hinwegzuerklären. In beiden Fällen kann die Auslegung befangen oder unbefangen zu Werke gehen: befangen, wenn sie gegen das Bewuſst - sein der Differenz zwischen der neuen Bildung und der al - ten Urkunde sich verblendet, und nur den ursprünglichen Sinn der letzteren zu ermitteln sich einbildet; unbefangen, wenn sie klar erkennt und offen eingesteht, daſs sie das, was jene alten Schriftsteller erzählen, anders ansieht, als diese selbst es angesehen haben. Dieser letztere Stand - punkt ist jedoch keineswegs schon ein Sichlossagen von den alten Religionsschriften, sondern es kann auch hier noch3Einleitung. §. 2.bei Festhaltung des Wesentlichen das Unwesentliche un - gescheut preiſsgegeben werden.
Man kann nicht sagen, daſs die hellenische Religion auf schriftlichen Urkunden beruht habe, aber sie hatte doch dergleichen z. B. in Homer und Hesiod, und wie diese, so hat auch ihre mündliche Göttersage bei fortschreitender Bil - dung des griechischen Volkes jene verschiedenen Deutun - gen erfahren müssen. Der ernsten griechischen Philosophie gieng frühzeitig das Bewuſstsein auf, daſs das Göttliche sich nicht in solcher menschlichen Unmittelbarkeit und Roheit verwirklichen könne, wie die wilden Kämpfe der hesiodischen Theogonie und das behagliche Treiben der homerischen Götter es darstellten; daher Plato's Zwist mit Homer1)Vgl. de republ. 2, p. 377 f. Steph., daher, daſs Anaxagoras, dem man wohl auch die Erfindung der allegorischen Auslegung zuschrieb, die homerischen Gedichte auf die ἀρετὴ und δικαιοσύνη be - zog2)Diog. Laërt. L. 2. c. 3. No. 7. Vgl. über dies und das Fol - gende Baur, Symb. u. Mythol. I. S. 343 ff., daſs die Stoiker die hesiodische Theogonie von dem Proceſs der Naturprinzipien verstanden, deren oberste Ein - heit ihnen das Göttliche war3)Cic. de nat. Deor. I, 10. 15. Vgl. Clement. hom. 6, 1 ff., womit diese Philosophen zwar einen absoluten Inhalt, jeder nach seiner Weise, der Eine einen physischen, der Andere einen ethischen, in je - nen Darstellungen fanden, aber die Form derselben, als ei - ner menschlichen Geschichte, aufhoben. Umgekehrt war der mehr populären, sophistisch-räsonnirenden Bildung An - derer, wie ihnen jeder göttliche Inhalt überhaupt sich ver - flüchtigt hatte, so auch in Bezug auf die Göttergeschichten zum Bewuſstsein gekommen, daſs ein solches Treiben, wie es hier den Göttern zugeschrieben wurde, kein göttliches1*4Einleitung. §. 3.sei; sie lieſsen also jene Erzählungen zwar als wirkliche Geschichte gelten, nur machten sie mit Euemerus4)Diodor Sic. Bibl. L. 6. Fragm. Cic. de nat. Deor. I, 42. die Subjecte derselben aus Göttern zu Menschen, zu Helden und Weisen der Vorzeit, zu alten Königen und Tyrannen, welche durch Thaten der Kraft und Gewalt sich göttliche Ehre zu Wege gebracht haben; wenn man nicht gar mit einem Polybius5)Reliq. hist. 6, 56. die ganze Götterlehre als eine von den Gründern der Staaten zur Bändigung des Volks ersonnene Fabel betrachtete.
Die Stabilität des hebräischen Volkes, sein starres Festhalten am supranaturalistischen Standpunkt, muſste zwar bei ihm die Entstehung ähnlicher Erscheinungen ei - nerseits beschränken, andrerseits aber muſsten diese, wo sie einmal sich zeigten, nur um so markirter her - vortreten, je entschiedener die Geltung der schriftlichen Religionsurkunden war, je behutsamer und kunstgerechter man also bei ihrer Deutung verfahren muſste. Daher ent - wickelten sich selbst in Palästina, in der nachexilischen, und noch mehr in der nachmaccabäischen Zeit allmählig manche Kunstgriffe in der Auslegung des alten Testaments, durch welche es möglich wurde, Anstöſse, die man in dem - selben fand, zu beseitigen, Lücken zu ergänzen, und neuere Ideen hineinzutragen, eine Auslegungsweise, von welcher die Beispiele in den rabbinischen und selbst in den neutestamentlichen Schriften sich finden1)s. Döpke, die Hermeneutik der neutestamentlichen Schrift - steller, S. 123 ff.; aber zusam - menhängend, namentlich in Bezug auf den historischen Inhalt des A. T., wurde eine solche Interpretationsmethode erst an demjenigen Orte ausgebildet, wo am entschieden -5Einleitung. §. 3.sten die jüdische Bildung, durch Berührung namentlich mit der griechischen, über sich selbst hinausgegangen war, in Alexandrien. Nach mehreren Vorgängern war es be - sonders Philo, welcher die Ansicht von einem gemeinen und einem tieferen Sinne der heiligen Schriften ausbildete, von welchen er den ersteren zwar keineswegs überhaupt verworfen wissen wollte, sondern groſsentheils beide ne - beneinander hergehen lieſs: in vielen Fällen jedoch den buchstäblichen Sinn und die geschichtliche Auffassung völ - lig bei Seite setzte, und das Erzählte nur als bildliche Darstellung von Ideen gelten lieſs, namentlich so oft in der heiligen Geschichte sich Züge fanden, welche Gottes un - würdig zu sein, auf Materialismus und Anthropomorphis - mus in Bezug auf das göttliche Wesen zu führen schie - nen2)s. Gfrörer, Philo und die alexandrinische Theosophie 1. Thl. S. 84 ff. 95 ff. Über die mosaische Erzählung z. B. von der Erschaffung des Weibes aus der Ribbe des Mannes sagt er geradezu: τὸ ῥητὸν ἐπὶ τέτου μυϑῶδις ἐςι. Legis alleg. 1. ed. Mang. 1, 70. bei Gfrörer a. a. O. S. 98.. Daſs sich neben dieser Erklärungsweise des A. T., welche, um die Reinheit des absoluten Inhalts zu retten, nicht selten die Form des historischen Geschehenseins auf - gab, nicht auch die entgegengesetzte (euemeristische) aus - bildete, die Geschichte zwar stehen zu lassen, aber sie zu einer gemein-menschlichen zu entgöttern, erklärt sich aus dem supranaturalistischen Standpunkt, welchen die Juden immer festgehalten haben. Erst von den Christen ist auch diese Art der Auslegung über die Bücher des A. T. ver - hängt worden3)Eine ähnliche allegorische Auslegungsweise auch bei andern Völkern, bei Persern, Türken, weist Döpke nach S. 126 f.; vgl. auch Kant, Relig. innerhalb der[Grenzen] d. bl. V. Drit - tes Stück No. VI..
Den Christen der ersten Zeit, welche vor der Fest - stellung des christlichen Kanon sich vorwiegend noch des A. T. als heiliger Urkunde bedienten, war eine allegori - sche Auslegung desselben noch weit mehr Bedürfniſs, da[s]ie entschiedener als selbst die gebildetsten Juden über den A. T. lichen Standpunkt hinausgeschritten waren. Kein Wunder, daſs man fast allgemein in der ersten christli - chen Kirche diese, schon unter den Juden übliche Ausle - gungsweise adoptirte. Am meisten aber bildete sie sich auch unter den Christen wieder in Alexandrien aus, wo sie vornehmlich an den Namen des Origenes geknüpft erscheint. Wenn Origenes überhaupt nach seiner anthro - pologischen Trichotomie der Schrift einen dreifachen Sinn zuschrieb, einen buchstäblichen als den leiblichen, einen moralischen als den psychischen und einen mystischen als den pneumatischen1)Homil. 5. in Levit. §. 5.: so läſst er in der Regel zwar alle drei Arten des Sinnes nebeneinander stattfinden, in einzel - nen Fällen aber soll die buchstäbliche Auffassung auch gar keinen oder nur einen verkehrten Sinn geben, um nur de - sto entschiedener den Leser zur Entdeckung des mystischen Gehaltes hinzutreiben2)De principp. L. 4. §. 20: πᾶσα μὲν (γραφὴ) ἔχει τό πνευμα - τικὸν, οὐ πᾶσα δὲ τὸ σωματικόν. Comm. in Joann. Tom. 10, §. 4: — σωζομένου πολλάκις τοῦ ἀληϑοῦς πνευματικοῦ ἐν τῷ σωματικῷ, ὡς ἂν εἴποι τις, ψεύδει.. Namentlich in Bezug auf den geschichtlichen Inhalt des A. T. glaubt Origenes mit Phi - lo auf manche σκάνδαλα und προσκόμματα zu stoſsen, auf Erzählungen von Begebenheiten, welche so nicht gesche - hen, auf Gesetze und Verordnungen, welche so nicht ge - geben sein konnten3)De principp. 4, 15: συνύφῃνεν ἡ γραφὴ τῇ ἱςορίᾳ τὸ μη. Nicht selten erinnert er bei7Einleitung. §. 4.biblischen Erzählungen, daſs durch dieselben uns nicht alte Mähren berichtet, sondern Anweisung, recht zu leben, ertheilt werden solle4)Homil. in Exod. 2, 3: Nolite putare, ut saepe jam diximus, veterum vobis fabulas recitari, sed doceri vos per haec, ut agnoscatis ordinem vitae.; stumpfsinnig müſste nach ihm sein, wer nicht von selbst bemerkte, daſs Vieles in der Schrift als geschehen dargestellt sich finde, was nicht wirk - lich so sich ereignet habe5)De principp. 4, 16: καὶ τί δεῖ πλείω λέγειν; τῶν μὴ πάνυ άμβλέων μυρία ὅσα τοιαῦτα δυναμἐνων συναγαγεῖν, γε - γραμμένα μὲν ὡς γεγονότα, οὐ γεγενημένα δὲ κατὰ τὴν λέξιν. ; ja Manches, buchstäblich aufgefaſst, könnte ihm zufolge nur zum Ruin der christli - chen Religion dienen6)Homil. 5. in Levit. §. 1: Haec omnia, nisi alio sensu acci - piamus quam literae textus ostendit, obstaculum magis et subversionem christianae religioni, quam hortationem aedi - sicationemque praestabunt. , weſswegen er den Spruch: der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig — auf den Unterschied der buchstäblichen und der allegorischen Schrift - auslegung bezieht7)contra Cels. 6, 70.. Zu solchen, nur allegorisch zu ver - stehenden Erzählungen rechnete Origenes ausser denjeni - gen, welche Gott zu sehr zu vermenschlichen schienen8)De principp. 4, 16., namentlich auch solche, in welchen von Personen, die sonst in ein genaues Verhältniſs zu Gott gesezt waren, anstössi - ge Handlungen berichtet wurden9)Homil. in Genes. 6, 3: Haec (dass Abraham gelogen; sein Weib preisgegeben) Judaei putent, et si qui cum eis sunt literae amici non spiritus..
Doch nicht allein vom A. T. wich die christliche Bil - dung des Origenes so weit ab, daſs er, um die Achtung3)γενόμενον, πῇ μὲν μὴ δυνατὸν γενέσϑαι, πῇ δὲ δυνατὸν μὲν γενέσϑαι, οὐ μὴν γεγενημένον. 8Einleitung. §. 4.vor demselben nicht aufgeben zu müssen, durch eine alle - gorische Erklärung den dadurch in seinem Bewuſstsein ge - sezten Widerspruch zu lösen genöthigt war: sondern auch im neuen Testamente fand er manches, seiner philosophi - schen Bildung so wenig Zusagende, daſs er zu einem ähn - lichen Verfahren auch mit dem N. T. sich veranlaſst fand. Ist doch, dachte er, das N. T. Werk desselben Geistes, wie das alte, und dieser wird bei der Einrichtung von jenem nicht anders als bei der von diesem verfahren sein, dem buchstäblich Geschehenen Nichtgeschehenes einzuweben, um auf den geistigen Sinn hinzuweisen10)De principp. 4, 16: οὐ μόνον δὲ περὶ τῶν πρὸ τῆς παρου - σίας ταυτα τὸ πνεῦμα ᾠκονόμησεν, ἀλλ ', ἅτε τὸ ἀυτὸ τυγχάνον καὶ ἀπὸ τοῦ ἐνὸς, ϑεοῦ, τὸ ὅμοιον καὶ ἐπὶ τῶν εὐαγγελίων πεποίηκε καὶ ἐπὶ τῶν ἀποςόλων, οὐδὲ τούτων πάντη ἄκρατον τὴν ἱςορίαν τῶν προσυφασμένων κατά τὸ σωματικον ἐχόντων, μὴ γεγενημένων. Vgl. Homil. 6. in Esaiam, No. 4.. Ja selbst mit theilweise fabelhaften Erzählungen aus der profanen Ge - schichte und Mythologie stellt Origenes die evangelischen Berichte nicht undeutlich zusammen in der merkwürdigen Stelle, contra Celsum 1, 42., wo er sich folgendermaſsen äussert: „ Fast bei jeder Geschichte, so wahr sie auch sein mag, ist es eine schwere, ja nicht selten unlösbare Auf - gabe, sie als wirklich geschehen zu erweisen. Gesezt näm - lich, es läugnete Einer, daſs es einen trojischen Krieg ge - geben habe, namentlich wegen der in seine Geschichte ver - webten Unmöglichkeiten, wie die Geburt des Achilleus von einer Meergöttin u. dgl. — wie wollten wir die Wirklich - keit desselben beweisen, besonders, gedrängt, wie wir wären, durch die offenbaren Erdichtungen, welche sich auf unbekannte Weise mit der allgemein angenommenen Kunde von dem Kampf zwischen Hellenen und Trojern verwoben haben? Nur dieſs bleibt übrig: wer mit Ver - stand die Geschichte studiren und sich von Täuschungen9Einleitung. §. 4.in derselben frei erhalten will, der wird überlegen, wel - chem Theile derselben er ohne Weiteres glauben dürfe, welchen er dagegen blos bildlich auf[z]ufassen habe (τίτα δὲ τροπολογήσει), mit Rücksicht auf die Absicht der Refe - renten, und welchem er endlich, als aus Menschengefäl - ligkeit geschrieben, ganz misstrauen müsste. Diese Vorbe - merkung wollte ich, schlieſst Origenes, in Bezug auf die ganze in den Evangelien gegebene Geschichte Jesu ma - chen, nicht um zu blindem und grundlosem Glauben die Einsichtsvolleren aufzufordern, sondern um zu zeigen, daſs zum Studium dieser Geschichte Verstand und fleissige Prüfung nöthig ist, und so zu sagen ein Eindringen in den Sinn der Schriftsteller, um ausfindig zu machen, in welcher Absicht ein Jedes von ihnen geschrieben sei. “— Man sieht, hier ist Origenes beinahe über seinen sonsti - gen allegorischen Standpunkt hinaus auf den neueren my - thischen übergegangen11)Dies hat auch Mosheim bemerkt in seiner Übersetzung der Schrift des Origenes gegen Celsus. S. 94. Anmerk.. That nun aber schon in Bezug auf das A. T. Origenes, um Anstoſs in der orthodoxen Kirche zu vermeiden, sich die offenbare Gewalt an, daſs er von mancher Erzählung, deren buchstäbliche Geltung er für sich gewiss verwarf, diese doch nicht ausdrücklich umstieſs, sondern sich begnügte, neben die buchstäbliche Deutung eine geistige zu stellen: so fand er es noch mehr beim N. T. gerathen, zurückzuhalten, und die Proben fallen daher äusserst kärglich aus, wenn man nun fragt, von welchen Erzählungen des N. T. s Origenes die geschicht - liche Wirklichkeit geläugnet habe, um die gotteswürdige Wahrheit festzuhalten. Denn was er im Verlauf der an - geführten Stelle beispielsweise anführt, buchstäblich lasse sich unter Andrem das nicht verstehen, daſs der Satan dem Herrn auf einem Berge alle Reiche der Welt gezeigt ha - be, da dieſs für ein leibliches Auge unmöglich sei: das10Einleitung. §. 4.giebt eigentlich keine allegorische Erklärung, sondern nur eine andere Wendung des buchstäblichen Sinnes, welcher, statt von einem äusseren, von dem innern Factum einer Vi - sion handeln soll. Auch sonst, selbst wo die lockendste Veranlassung war, den buchstäblichen Sinn gegen einen geistigen aufzuopfern, wie z. B. bei der Verfluchung des Feigenbaums12)Comm. in Matth. Tom. 16, 26 ff., geht Origenes nicht frei mit der Spra - che heraus; am meisten noch bei der Geschichte von der Tempelreinigung, wo er das Verfahren Jesu, buchstäblich gefaſst, als anmaſsend und tumultuarisch bezeichnet13)Comm. in Joan. Tom. 10, 17. Daſs es demunerachtet sehr Vieles war, an dessen ge - schichtlicher Auffassung Origenes verzweifelte, verräth er indirect durch die anscheinend sonderbare Wahl der Bei - spiele, wo es darauf ankam, zu zeigen, daſs er keines - wegs überall die Realität der Historie aufzugeben gemeint sei; indem er hier nichts Besseres anzuführen weiſs, als, historisch bleibe doch immer, daſs Abraham, Isaak und Jakob in der doppelten Höhle bei Hebron begraben wor - den, daſs Joseph Sichem zum Antheil bekommen, daſs Jerusalem die Hauptstadt von Judäa sei, in welcher Sa - lomo einen Tempel gebaut habe u. dgl .14)De princip. 4, 19.. Gewiſs, Ori - genes würde sich nicht auf Anführung solcher statistischen Grunddata beschränkt haben, wenn ihm nicht die speciel - leren historischen Facta mehr oder minder wankend ge - wesen wären; ob er gleich hinzusezt, daſs des historisch Wahren in der Schrift immer noch weit mehr sei, als des blos geistig zu Verstehenden15)πολλ[ῷ]γὰρ πλείονά ἐςι τὰ κατὰ τὴν ἱςορίαν ἀληϑευό - μενα τῶν προσυφανϑέντων γυμνῶν πνευματικῶν.Ebend..
Bei dem fast allgemeinen Eingang, welchen die allego - rische Auslegung sofort in der Kirche fand, wurde nun11Einleitung. §. 5.gerade dasjenige, was den interessantesten Punkt in der Schrifterklärung des[frühe[r]]verketzerten Origenes bildete, aufgegeben, daſs er nämlich, um im N. T. allenthalben göttlichen Inhalt in seinem Sinne finden zu können, die ge - schichtliche Form in manchen Fällen auflösen zu müssen glaubte, und es findet sich etwas Aehnliches eigentlich nur bei einigen gnostischen Parteien, welche gewisse Begeben - heiten im Leben Jesu nicht als wirkliche, sondern nur als scheinbare Vorgänge betrachteten, durch welche übersinn - liche Thatsachen und Ideen haben vorgebildet werden sollen.
Hatte sich in der beschriebenen Weise die Eine der Auslegungsarten entwickelt, welche bei fortrückender Bil - dung, wie alle Religionsurkunden überhaupt, so auch die christlichen in Bezug auf ihren geschichtlichen Theil erfah - ren muſsten, diejenige nämlich, welche das Göttliche in denselben anerkennt, aber das leugnet, daſs es sich in die - ser unmittelbaren Weise geschichtlich verwirklicht habe: so bildete sich die andere Hauptform der Auslegung, wel - che eher geneigt ist, den geschichtlichen Hergang zuzuge - ben, nur aber denselben nicht als einen göttlichen, sondern als einen menschlichen faſst, zunächst bei den Gegnern des Christenthums, einem Celsus, Porphyrius, Julianus aus, welche zwar viele Erzählungen der heiligen Geschichte als blose Mährchen verwarfen, Manches jedoch, was von Mo - ses, Jesus u. A. erzählt ist, als geschichtlich stehen lies - sen, nur daſs sie es meistens als entsprungen aus gemeinen Beweggründen und bewerkstelligt durch groben Betrug oder gottlose Zauberei erklärten. Dergleichen Ansichten blieben jedoch nicht für immer ausserhalb der christlichen Kirche stehen, sondern mit der anbrechenden Aufklärung der neueren Zeit drangen sie unaufhaltsam in diese selber ein. 12Einleitung. §. 5.Bei den englischen Deisten und Naturalisten im siebzehn - ten und achtzehnten Jahrhundert vorzüglich giengen B[e]- streitung der Ächtheit und Glaubwürdigkeit der Bibel und Herabwürdigung der darin erzählten Thatsachen zum Ge - meinen bunt durcheinander. Während Toland1)In seinem Amyntor, v. J. 1698, s. in Leland's Abriss deisti - scher Schriften, übersetzt von Schmidt, 1. Thl. S. 83 ff., Boling - broke2)Bei Leland 2. Thl. 1. Abth. S. 198 ff. u. A. die Bibel für eine Sammlung unächter und fabel - hafter Bücher erklärten, gaben sich Andere alle Mühe, die biblischen Personen und Geschichten jedes Schimmers von höherem göttlichem Lichte zu berauben. So ist nach Morgan3)In seiner Schrift: the moral philosopher, 1737, s. Leland 1. Thl. S. 247 ff. das Gesez des Moses ein elendes System des Aberglaubens, der Blindheit und Sclaverei, die jüdischen Priester Betrüger, die Propheten Urheber der Zerrüttung und der Bürgerkriege in den beiden Königreichen. Die jüdische Religion kann nach Chubb4)Posthumous Works 2 Voll. 1748, bei Leland 1, 412 f. unmöglich eine von Gott geoffenbarte sein; dessen moralischer Charakter in ihr nur entstellt ist durch die willkührlichen Gebräuche, die sie ihn vorschreiben läſst, durch seine vorgegebene Parteilichkeit für das jüdische Volk, und vor Allem durch den blutigen Befehl zur Ausrottung der kanaanitischen Völkerschaften. Auch gegen das N. T. wurden von diesen und andern Deisten Streifzüge unternommen, der Charak - ter der Apostel als eigennützig und gewinnsüchtig ver - dächtigt5)Chubb, Posth. W. 1, 102 ff. Bei Leland 1, 481., selbst der Charakter Jesu nicht geschont6)Ebendas. 2, 269. Bei Leland 1, 425., und namentlich die Auferstehung desselben geläugnet7)The resurrection of Jesus considered — by a moral philo - sepher. 1744. Leland 1, S. 330.. Das unmittelbarste Einschlagen des Göttlichen in das Mensch -13Einleitung. §. 5.liche im Leben Jesu, seine Wunder, machte besonders Thomas Woolston zum Gegenstand seiner Angriffe8)Six discourses on the miracles of our Saviour. Einzeln her - ausgegeben von 1727 — 1729. Nebst zwei Vertheidigungs - schriften von den JJ. 1729 u. 30., ein Mann, der auch durch die eigenthümliche Stellung noch besonders bemerkenswerth ist, welche er sich zwischen der alten allegorischen und der neuen naturalistischen Schrifterklärung giebt. Seine ganze Darstellung nämlich bewegt sich in der Alternative: wolle man die Wunder - erzählungen als wirkliche Geschichte festhalten, so verlie - ren sie allen göttlichen Gehalt, und sinken zu ungereimten Streichen, elenden Possen, oder gemeinen Betrügereien herunter: wolle man daher das Göttliche in diesen Erzäh - lungen nicht verlieren, so müsse man mit Aufopferung ih - res geschichtlichen Charakters sie nur als geschichtartige Darstellungen gewisser geistlichen Wahrheiten fassen, wo - für sofort die Auctoritäten der gröſsten Allegoristen unter den Kirchenvätern, eines Origenes, Augustinus u. A. ange - führt werden, so jedoch, daſs ihnen Woolston die Meinung unterstellt, als wollten sie, wie er, durch die allegori - sche Erklärung die buchstäbliche verdrängen, während sie doch, wenige Beispiele bei Origenes abgerechnet, beide Erklärungen nebeneinander bestehen zu lassen geneigt sind. Die Darstellungen Woolstons können Zweifel übrig lassen, auf welche der zwei von ihm einander gegenübergestellten Seiten er mit seiner eignen Ansicht gehöre; bedenkt man die Thatsache, daſs er, ehe er als Gegner des gewöhnlichen Christenthums hervortrat, sich mit allegorischer Schrifter - klärung beschäftigte9)Schröckh, Kirchengesch. seit der Reform. 6. Thl. S. 191.: so könnte man diese für seine ei - gentliche Meinung ansehen; wogegen aber die Ausführun - gen über die Ungereimtheit des buchstäblichen Sinns der Wundergeschichten mit solcher Vorliebe von ihm gegeben14Einleitung. §. 5.sind, und das Ganze mit ihrem frivolen Tone so sehr fär - ben, daſs doch vermuthet werden muſs, der Deist wolle sich durch sein Dringen auf allegorische Deutung nur den Rücken sichern, um desto ungescheuter gegen den buch - stäblichen Sinn losziehen zu können.
Auf deutschen Boden wurden diese Deistischen Ein - würfe gegen die Bibel und die Göttlichkeit ihrer Geschichte hauptsächlich durch den Ungenannten verpflanzt, dessen in der Wolfenbüttelschen Bibliothek aufgefundene Frag - mente Lessing seit dem Jahr 1774 herauszugeben anfieng. Sie betrafen, ausser Mehrerem, was gegen eine geoffenbarte Religion überhaupt gesagt war10)In Lessings Beiträgen zur Geschichte und Literatur, das Frag - ment im dritten Beitrag, S. 195 ff., und im vierten Beitrag das erste Fragment S. 265. und das zweite S. 288., theils das alte11)In Lessings viertem Beitrag das dritte und vierte Fragment, S. 366. u. 384., und die von Schmidt 1787 herausgegebenen übrigen noch ungedruckten Werke des Wolfenbüttelschen Fragmentisten., theils das neue Testament12)In Lessings viertem Beitrag das fünfte Fragment, über die Auferstehungsgeschichte, und das Fragment über den Zweck Jesu und seiner Jünger, von Lessing besonders herausgege - ben 1778.. In Bezug auf jenes fand dieser Verfasser die Männer, welchen dasselbe einen unmittelba - ren Umgang mit Gott zuschreibt, so schlecht, daſs Gott durch ein solches Verhältniſs, seine Wirklichkeit angenom - men, auf's Äusserste compromittirt würde; die Ergebnisse dieses Umgangs aber, die vorgeblich göttlichen Lehren und Gesetze, so craſs und zum Theil verderblich, daſs sie un - möglich Gott zugeschrieben werden können; die begleiten - den Wunder endlich so ungereimt und unglaublich, daſs aus Allem zusammengenommen erhelle, der Umgang mit Gott sei nur vorgegeben, die Wunder Blendwerke gewesen, um gewisse, den Herrschern und Priestern vortheilhafte15Einleitung. §. 6.Gesetze in Vollzug zu setzen. So findet der Verf. an den Patriarchen und den ihnen angeblich zu Theil geworde - nen göttlichen Mittheilungen, wie der an Abraham ergan - genen Aufforderung, seinen Sohn zu opfern, Vieles auszu - setzen; ganz besonders aber sucht er in einem langen Ab - schnitte den Moses mit aller Schmach eines Betrügers zu beladen, der die schändlichsten Mittel nicht gescheut ha - be, um sich zum despotischen Beherrscher eines freien Volkes zu machen. Zur Einleitung dieses Plans habe er Gotteserscheinungen erdichtet, und göttliche Befehle zu Maſsregeln vorgegeben, welche, wie die Entwendung der Geräthe aus Ägypten und die Ausrottung der Bewohner Kanaans, sonst als Betrug, Strassenraub, unmenschliche Grausamkeit gebrandmarkt werden würden, nun aber durch das Hinzukommen der paar Worte: Gott hat es gesagt — plötzlich zu gotteswürdigen Handlungen gestempelt werden sollen. Ebensowenig vermag der Fragmentist in der neu - testamentlichen Geschichte eine göttliche zu finden. Der Plan Jesu ist ihm ein politischer; sein Verhältniſs zum Täufer ein abgeredeter Handel, daſs der Eine den Andern dem Volk empfehlen solle; Jesu Tod ist eine von ihm kei - neswegs vorausgesehene Vereitelung seiner Absichten, ein Schlag, den seine Jünger nur durch das betrügerische Vorgeben seiner Auferstehung und eine schlaue Änderung ihres Lehrsystems wieder gut zu machen wuſsten.
Während gegen die englischen Deisten von den dortigen zahlreichen Apologeten, und gegen den Wolfenbüttelschen Un - genannten von der groſsen Mehrheit deutscher Theologen die Realität der biblischen Offenbarung und das Göttliche in der israelitischen und urchristlichen Geschichte im supranaturali - stischen Sinne festgehalten wurde: ergriff eine andere Klasse von Theologen in Deutschland einen neuen Ausweg. Wie16Einleitung. §. 6.nämlich bei der euemeristischen Auffassung der alten Göt - terlehre der zwiefache Weg offen stand und auch einge - schlagen wurde, daſs man die Götter der Volksreligion entweder als gute und wohlthätige Menschen der Vorzeit, als weise Gesezgeber und gerechte Fürsten nahm, welche eine dankbare Mit - und Nachwelt mit dem Glanze göttli - cher Würde umgeben haben sollte; oder aber in ihnen schlaue Betrüger und grausame Tyrannen fand, welche sich, um das Volk sich unterthänig zu machen, in den Nimbus der Göttlichkeit gehüllt haben: so war auch bei der rein menschlichen Auffassung der biblischen Geschichte neben dem von den Deisten betretenen Wege, die Subjekte derselben für schlechte und betrügerische Menschen anzu - sehen, immer noch der andre übrig, jene Subjekte zwar der unmittelbaren Göttlichkeit entkleidet zu lassen, ihnen aber dafür die reine Menschheit ungeschmälert zuzugeste - hen; ihre Thaten zwar nicht als Wunder anzustaunen, ebensowenig aber als Blendwerke zu verschreien, sondern sie für natürliche zwar, aber sittlich untadelhafte Handlun - gen zu erklären. Während der dem kirchlichen Christen - thum überhaupt feindliche Naturalismus zu jener ersteren Auffassungsweise geneigt sein muſste, so war auf die zweite der Rationalismus angewiesen, welcher innerhalb der Kirche verharren wollte. Unmittelbar gegen jenen Naturalismus ist diese Ansicht von Eichhorn gekehrt wor - den in einer Beurtheilung des Wolfenbüttler Fragmenti - sten1)Recension der übrigen, noch ungedruckten Werke des Wol - fenbüttler Fragmentisten, in Eichhorns allgemeiner Bibliothek, erster Band 1s u. 2s Stück.. Eine unmittelbare göttliche Einwirkung, wenig - stens in der A. T. lichen Urgeschichte, nicht anzuerkennen, darin ist Eichhorn mit dem Fragmentisten einverstanden. Die mythologischen Forschungen eines Heyne hatten seinen Gesichtskreis bereits so erweitert, daſs er einsah, wie eine17Einleitung. §. 6.solche Einwirkung entweder allen Völkern in ihrer Urzeit zugeschrieben, oder allen abgesprochen werden müsse. Bei allen Völkern, bemerkte er, in Griechenland wie im Orient, ward alles Unerwartete und Unbegriffene auf die Gottheit zurückgeführt; die weisen Männer dieser Völker lebten immer im Umgang mit höheren Wesen. Während man diese Darstellung (so giebt Eichhorn den Stand der Sache weiter an) in Bezug auf die hebräische Geschichte immer wörtlich und buchstäblich verstand, pflegte man bei Nicht - hebräern solche Erscheinungen bisher insgemein durch die Voraussetzung eines Betrugs und grober Lügen, oder ent - stellter und verdorbener Sagen zu erklären. Offenbar aber, meint Eichhorn, fordere die Gerechtigkeit, Hebräer und Nichthebräer auf gleiche Weise zu behandeln, so daſs man entweder alle Nationen während ihres Kindheitszustan - des mit den Hebräern unter gleichem Einfluſs höherer Wesen stehen lassen, oder einen solchen Einfluſs auf bei - den Seiten leugnen müsse. Denselben allgemein anzu - nehmen, sei bedenklich wegen des nicht selten irrigen In - haltes der unter jenem Einfluſs angeblich geoffenbarten Re - ligionen; wegen der Schwierigkeit, aus jenem Zustande der Bevormundung heraus das Erstarken der Menschheit zur Selbstständigkeit zu erklären; endlich weil, je heller die Zeiten und zuverlässiger die Nachrichten werden, jene unmittelbaren Einflüsse der Gottheit immer mehr verschwin - den. Wenn somit die Einwirkung höherer Wesen bei Hebräern wie bei andern Völkern geleugnet werden muſs: so scheint sich, nach Eichhorn, zuerst die Ansicht, welche man bisher auf das heidnische Alterthum anwendete, auch für die Urgeschichte des hebräischen Volkes darzubieten, daſs nämlich dem Vorgeben jener Offenbarungen Betrug und Lüge, oder den Berichten davon entstellte und verdor - bene Sagen zum Grunde liegen, eine Ansicht, welche wirk - lich der Fragmentist gegen die A. T. liche Geschichte gewendet hat. Allein näher betrachtet, sagt Eichhorn, muſs manDas Leben Jesu I. Band. 218Einleitung. §. 6.vor einer solchen Vorstellung erschrecken. Die gröſsten Männer der früheren Welt, die auf die Bildung ihrer Zeit - genossen so mächtig und wohlthätig gewirkt haben, soll - ten alle Betrüger gewesen sein, und zwar ohne daſs es von den Mitlebenden bemerkt worden wäre? —
Zu einer solchen Miſsdeutung wird man nach Eich - horn nur dadurch verleitet, daſs man es versäumt, jene alten Urkunden im Geiste ihrer Zeit aufzufassen. Frei - lich, wenn sie mit der philosophischen Präcision unserer jetzigen Schriftsteller redeten, so könnten wir nur entwe - der wirkliche göttliche Einwirkung, oder ein betrügliches Vorgeben einer solchen in ihnen finden. So aber, als Schriften aus einer unphilosophischen, kindlichen Zeit, re - den sie unbefangen von göttlicher Einwirkung nach alter - thümlicher Vorstellungs - und Ausdrucksweise, und so ha - ben wir zwar keine Wunder anzustaunen, aber auch kei - nen Betrug zu entlarven, sondern nur die Sprache der Vorzeit in unsere heutige zu übersetzen. So lange das Menschengeschlecht, erinnert Eichhorn, dem wahren Ur - sprung der Dinge noch nicht auf den Grund gekommen war, leitete es Alles von übernatürlichen Krätten oder der Dazwischenkunft höherer Wesen ab; höhere Gedanken, groſse Entschlieſsungen, nüzliche Erfindungen und Einrich - tungen, vorzüglich auch lebhafte Träume waren Einwir - kungen der Gottheit, unter deren unmittelbarem Einfluſs man zu stehen glaubte. Die Proben ausgezeichneter Kennt - nisse und Geschicklichkeiten, mit welchen Einer das Volk in Erstaunen sezte, galten für Wunder, für Beweise über - natürlicher Kräfte und des besondern Umgangs mit höhe - ren Wesen, — und nicht nur das Volk war dieser Mei - nung, sondern auch jene ausgezeichneten Männer selbst lieſsen sich keinen Zweifel dagegen beifallen, und rühm - ten sich mit voller Uberzeugung eines geheimen Umgangs mit der Gottheit. Gegen den Versuch, alle Erzählungen der mosaischen Geschichte in natürliche Ereignisse aufzu -19Einleitung. §. 6.lösen, kann Niemand etwas haben, bemerkt Eichhorn, und giebt damit die Vordersätze des Wolfenbüttler Fragmenti - sten zu: aber daraus zu folgern, daſs Moses ein Betrü - ger gewesen, diesen Schluſssatz des Fragmentisten erklärt er für eine Übereilung und Ungerechtigkeit. So nahm Eichhorn, wie die Naturalisten, der biblischen Geschich - te ihren unmittelbar göttlichen Inhalt, nur daſs er den übernatürlichen Schein, welcher dieselbe umkleidet, nicht mit jenen aus absichtlich trügerischer Färbung, sondern als von selbst entstanden durch die alterthümliche Beleuch - tung erklärte.
Nach diesen Grundsätzen suchte nun Eichhorn d[i]e Geschichten eines Noa, Abraham, Moses natürlich zu er - klären. Im Lichte ihrer Zeit betrachtet, sei die Berufung des Lezteren nichts Andres gewesen, als daſs dieser Pa - triot den lange gehegten Gedanken, sein Volk zu befreien, als er ihm im Traume mit erneuter Lebendigkeit wieder - kehrte, für eine göttliche Eingebung hielt; das Rauchen und Brennen des Sinai bei seiner Gesetzgebung war wei - ter nichts als ein Feuer, welches er, um der Einbildungs - kraft seines Volkes zu Hülfe zu kommen, auf dem Berge anzündete, womit zufällig noch ein starkes Gewitter zu - sammentraf; das Leuchten seines Angesichts endlich war eine natürliche Folge groſser Erhitzung, was mit dem Volke auch Moses selbst, weil er dessen wahre Ursache nicht kannte, für etwas Göttliches hielt. — Sparsamer war Eichhorn in Anwendung dieser Erklärungsweise auf des N. T., und es waren hauptsächlich nur einige Fakta aus der Apostelgeschichte, welche er derselben zu unterwer - fen sich erlaubte, wie das Pfingstwunder2)Eichhorns allgem. Bibliothek. 1. Bd. 1, 91 ff. 2, 757 ff. 3, 225 ff., die Bekeh - rung des Apostels Paulus3)Ebend. 6. Bd. S. 1 ff. und die zahlreichen Engeler -2*20Einleitung. §. 6.scheinungen4)Ebend. 3. Bd. S. 381 ff.. Auch hier führt er Alles auf die bildliche Sprache der Bibel zurück, in welcher, was z. B. den lez - ten Punkt betrifft, bald ein glückliches Ungefähr ein ret - tender, bald eine geistige Freudigkeit ein grüſsender, bald eine innere Beruhigung ein tröstender Engel genannt wor - den sei. In Bezug auf die Evangelien werden wir unten das Auffallende sehen, daſs Eichhorn theils die richtige Einsicht in die Unzulässigkeit der natürlichen Erklärung hatte, theils bei manchen Erzählungen selbst zu einer hö - heren fortgeschritten war.
Viele Schriften in ähnlichem Geiste erschienen, welche zum Theil auch das neue Testament in den Kreis ihrer Erklärungen zogen5)Z. B. Eck, Versuch über die Wundergeschichten des N. T. 1795. (Venturini) die Wunder des N. T. in ihrer wahren Gestalt für ächte Christusverehrer, 1799.; aber den vollen Ruhm eines christ - lichen Euemerus sollte sich erst Dr. Paulus erwerben in seinem von 1800 an erschienenen Commentar zum N. T. Gleich in der Einleitung dieses Werkes6)1. Bd. S. 5 ff. Vgl. das als neue Auflage des Commentars zu betrachtende exegetische Handbuch über die drei ersten Evangelien 1830 — 33. 1. Bd. 1. Abthl. S. 4 ff. stellt er es als die erste Anforderung an den Forscher der biblischen Ge - schichte hin, zu unterscheiden, was in derselben Faktum und was Urtheil sei? Faktum ist ihm dasjenige, was den bei einer Begebenheit betheiligten Personen als äussere oder innere Erfahrung gegeben war; Urtheil die Art, wie sie oder die Erzähler jene Erfahrung deuteten und auf ihre vermeintlichen Ursachen zurückführten. Diese beiden Be - standtheile mischen und verschlingen sich nun aber nach Paulus sowohl in den ursprünglich Betheiligten als in den Nacherzählern und Geschichtschreibern leicht so, daſs das Urtheil vom Faktum nicht mehr unterschieden, und mit eben der historischen Sicherheit wie dieses geglaubt21Einleitung. §. 6.und weiter erzählt wird, eine Vermengung, welche sich besonders auch in den geschichtlichen Büchern des N. T. s zeigt, da zur Zeit Jesu noch immer die Neigung herr - schend war, jedes auffallende Erlebniſs sofort von einer unsichtbaren, übermenschlichen Ursache abzuleiten. Die Hauptaufgabe des pragmatischen Historikers, namentlich in Bezug auf das N. T., ist daher, diese beiden so eng ver - wachsenen und doch so verschiedenartigen Bestandtheile zu sondern, und aus der Hülle von persönlichen und Zeitmeinungen den reinen Kern des Faktums herauszu - schälen. Das Verfahren, welches er hiebei zu Hülfe zu nehmen hat, ist, wo ihm keine reiner gehaltene Relation als berichtigende Parallele zu Gebote steht, dieſs, daſs er sich auf den Schauplatz der Begebenheiten und in den Standpunkt der Zeit möglichst lebhaft versetze, und von diesem aus die Erzählung durch vorauszusetzende erklä - rende Nebenumstände zu ergänzen suche, welche der Er - zähler selbst, in seinem supranaturalistischen Urtheil be - fangen, oft nicht einmal andeutete. In welcher Weise die - sen Grundsätzen zu Folge Paulus in seinem Commentar und neuerlich auch in seiner Schrift über das Leben Je - su7)Heidelberg 1828. 2 Bde. die neutestamentliche Geschichte behandelt hat, ist bekannt. Indem er die historische Wahrheit der Erzäh - lungen durchaus festhält, und einen engen chronologischen und pragmatischen Zusammenhang in die evangelische Ge - schichte zu bringen strebt, entzieht er derselben jeden un - mittelbar göttlichen Gehalt, und läugnet jedes übernatür - liche Einwirken höherer Kräfte. Nicht der Sohn Gottes im Sinne der kirchlichen Ansicht ist ihm Jesus, sondern ein weiser und tugendhafter Mensch, und nicht Wunder sind es, die er vollbringt, sondern Thaten bald der Freund - lichkeit und Menschenliebe, bald der ärztlichen Geschick - lichkeit, bald auch des Zufalls und guten Glückes8)Wie sich unter den Vorläufern von Paulus besonders Bahrdt.
22Einleitung. §. 6.Eine nothwendige Voraussetzung bei dieser Eichhor - nisch-Paulusschen Auffassung der biblischen Geschichte ist, daſs die Urkunden derselben, die A. und N. T. lichen Schriften, sehr genau und treu, also auch sehr bald nach den erzählten Begebenheiten, wo möglich von Augenzeu - gen, verfaſst sein müssen. Denn soll sich in einer Erzäh - lung das ursprüngliche Faktum von dem beigemischten Urtheil unterscheiden lassen: so muſs die Relation noch sehr rein und ursprünglich sein; bei einer später entstan - denen, minder urkundlichen hätte ich ja keine Bürgschaft, ob nicht auch das, was ich für den thatsächlichen Kern halte, nur der Meinung und Sage angehöre? Daher suchte Eichhorn die Abfassung, namentlich auch der A. T. lichen Schriften so nahe als möglich zu der Zeit der Begeben - heiten hinanzurücken, wobei ihm und den mit ihm gleichdenkenden Theologen selbst das Widernatürlichste, wie z. B. die Voraussetzung der Abfassung des Penta - teuchs auf dem Zug durch die Wüste9)Allgem. Biblioth. Bd. 1. S. 64., nicht zu hart8)bemerklich machte (durch seine Briefe über die Bibel im Volkstone, seit 1782), so fand er einen Nacharbeiter ähnli - cher Art in Venturini, dem Verfasser der natürlichen Ge - schichte des grossen Propheten von Nazaret (seit 1800), ein Werk, dessen spätere Theile auch im Einzelnen nach dem Paulusschen Commentar gearbeitet sind. Es ist schief, wenn man diese beiden Schriften (wie Hase, Leben Jesu, §. 26. Anm. 5.) mit dem Wolfenbüttler Fragmentisten zusammen - stellt; sie gehören wesentlich zu der Paulusschen Richtung, denn ihre Tendenz geht gleicherweise dahin, im Leben Jesu Alles als natürlich darzustellen, ohne doch seiner Würde als weisen und edlen Mannes etwas zu vergeben; ihr Ro - manhaftes aber verhält sich zu der Darstellung von Paulus nur als eine noch grössere Willkühr in Einschiebung selbst - erdachter Mittelursachen. Namentlich Bahrdt erklärt sich ausdrücklich gegen den Fragmentisten, Briefe u. s. w. 1tes Bändchen, 14ter Brief.23Einleitung. §. 6.war. Doch erlaubte sich der genannte Kritiker wenigstens bei einigen Theilen des A. T., wie z. B. bei dem Buche der Richter, die Bemerkung, die in demselben enthaltenen Berichte seien nicht gleich Anfangs aufgezeichnet worden, sondern der Geschichtschreiber habe seine Helden im Nebel der verflossenen Zeit gesehen, in welchem sie leicht zu Riesengestalten sich haben vergröſsern können. Einem von ihm selbst gesehenen, oder ihm wenigstens nahe liegenden Faktum freilich würde nur derjenige Geschichtschreiber einen glänzenden Anstrich geben, welcher geflissentlich auf Kosten der Wahrheit unterhalten wollte. Ganz anders, wenn eine Geschichte längst vergangen sei. Da finde sich die Einbildungskraft nicht mehr durch den Widerstand der festen Gestalt historischer Wirklichkeit gehemmt, son - dern durch die Vorstellung, daſs in früheren Zeiten Alles besser und gröſser gewesen, ihren Schwung verstärkt, und der Schriftsteller werde zu höheren Ausdrücken und einer verherrlichenden Sprache hingerissen. Am wenigsten sei dieſs dann zu vermeiden, wenn der spätere Concipient sei - ne Erzählung aus dem Munde der Vorwelt niederschrei - be, und die abenteuerlichen Thaten und Schicksale der Vorfahren, welche der Vater dem Sohne, dieser dem En - kel in begeisterter Sprache überliefert und Dichter mit poëtischem Schmucke umgeben hatten, in eben dieser er - höhten Ausdrucksweise schriftlich verzeichne10)a. a. O. S. 294. Vergl. Einleitung in das A. T. 3ter Band. S. 23 ff. der vierten Ausg.. Übrigens auch bei dieser Ansicht von einem Theile der A. T. lichen Bücher glaubte Eichhorn den historischen Boden noch nicht zu verlieren, sondern getraute sich noch immer, über Ab - zug der mehr oder minder starken traditionellen Zuthaten den natürlichen Geschichtsverlauf herausbekommen zu können.
Doch bei Einer A. T. lichen Erzählung wenigstens ist der Meister der natürlichen Erklärungsweise für das A. T. 24Einleitung. §. 6.über diese zu einer höhern hinausgeschritten, nämlich bei der Geschichte der Schöpfung und des Sündenfalls. Hat - te er in seiner so einfluſsreich gewordenen Urgeschich - te11)Zuerst erschienen im vierten Theil des Repertoriums für bi - blische und morgenländische Literatur, später mit Anmer - kungen herausgegeben von Gabler, von 1790 an. die erstere Erzählung gleich Anfangs für Poësie er - klärt: so hatte er von der lezteren damals noch behauptet, wir haben an ihr keine Mythologie, keine Allegorie, son - dern wahre Geschichte, und diese geschichtliche Grundla - ge bestimmte er nach Abzug alles Übernatürlichen dahin, daſs die menschliche Natur in ihren ersten Anfängen durch den Genuſs einer giftigen Frucht zerrüttet worden sei12)Eichhorns Urgeschichte, herausgegeben von Gabler, 3. Thl. S. 98 ff.. Er fand es zwar an sich wohl möglich, und durch zahl - reiche Beispiele aus der Profangeschichte bestätigt, daſs an der Spitze rein historischer Erzählungen eine mythische stehen könnte: aber durch eine supranaturalistische Vorstel - lung schlug er in Bezug auf die Bibel diese Möglichkeit wieder nieder, indem er es der Gottheit unwürdig fand, in ein Buch, das so unleugbare Spuren des Ursprungs von ihr enthalte, ein mythologisches Fragment einrücken zu las - sen. Später indessen13)Allgem. Biblioth. 1. Bd. S. 989, und Einleitung in das A. T. 3. Thl. S. 82. erklärte Eichhorn selbst, daſs er nun über Genes. 2 und 3. in vielen Stücken anders den - ke, indem er jezt in jenem Abschnitte statt historischer Nachrichten von einer Vergiftung vielmehr das mythisch eingekleidete Philosophem finde, wie die Sehnsucht nach einem besseren Zustande, als der in welchem man sich be - finde, die Quelle alles Übels in der Welt sei. So zog Eichhorn wenigstens an diesem Punkte vor, lieber die Ge - schichte aufzugeben, um die Idee festzuhalten, als mit Aufopferung jedes höheren Gedankeninhalts an der Ge -25Einleitung. §. 7.schichte festzukleben. Im Übrigen blieb er jedoch mit Pau - lus u. A. dabei, das Wunderhafte in der heiligen Geschich - te für ein Gewand zu nehmen, das man nur abziehen dürfe, um die reine historische Gestalt hervortreten zu sehen.
Unter diesen natürlichen Auslegungen, welche das Ende des 18ten Jahrhunderts in reicher Fülle hervorbrachte, war es ein merkwürdiges Zwischenspiel, mit Einem Male die alte allegorische Erklärung der Kirchenväter herauf - beschworen zu sehen in Kant's moralischer Schriftauslegung. Ihm, als Philosophen, war es nicht, wie den rationalisti - schen Theologen, um eine Geschichte, sondern wie jenen Alten in der geschichtlichen Hülle um eine Idee zu thun, wenn er gleich diese Idee nicht wie jene als absolute, sowohl theoretische als praktische, sondern einseitig als praktische, als moralisches Sollen und dadurch mit der Endlichkeit behaftet, auffaſste, auch als das diese Ideen in den biblischen Text hineinlegende Subjekt nicht den göttlichen Geist, sondern den des philosophischen Schrift - auslegers, oder in einer tieferen Andeutung die moralische Anlage in den Verfassern jener Bücher bestimmte. Kant beruft sich darauf1)Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, drit - tes Stück. No. VI: Der Kirchenglaube hat zu seinem höch - sten Ausleger den reinen Religionsglauben., daſs es mit allen alten und neuen, zum Theil in heiligen Büchern abgefaſsten Glaubensarten jederzeit so sei gehalten worden, daſs verständige und wohldenkende Volkslehrer sie so lange gedeutet haben, bis sie dieselben ihrem wesentlichen Inhalte nach mit den allgemeinen moralischen Glaubenssätzen in Übereinstimmung brachten. So haben es die Moralphilosophen unter den Griechen und Römern mit ihrer fabelhaften Götterlehre ge -26Einleitung. §. 7.macht, daſs sie den gröbsten Polytheismus doch zulezt als bloſse symbolische Vorstellung der Eigenschaften des Ei - nen göttlichen Wesens umzudeuten, und den mancherlei lasterhaften Handlungen ihrer Götter, den wildesten Träu - mereien ihrer Dichter einen mystischen Sinn unterzulegen wuſsten, um den Volksglauben, welchen zu vertilgen nicht ersprieslich war, einer moralischen Lehre nahe zu brin - gen. Auch das spätere Judenthum und selbst das Chri - stenthum bestehe aus solchen zum Theil sehr gezwunge - nen Deutungen, übrigens zu ungezweifelt guten und für alle Menschen nothwendigen Zwecken. Nicht minder wissen die Muhamedaner den üppigen Beschreibungen ih - res Paradieses einen geistigen Sinn unterzulegen, und dasselbe thun die Indier mit ihren Veda's, wenigstens für den aufgeklärteren Theil ihres Volkes. Ebenso müssen nun nach Kant die christlichen Religionsurkunden des A. u. N. T. s durchgängig zu einem Sinn gedeutet werden, welcher mit den allgemeinen praktischen Gesetzen einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt, und es muſs eine solche Deutung, sollte sie auch, scheinbar oder wirklich, dem Text Gewalt anthun, einer solchen buchstäblichen vorgezogen wer - den, welche, wie namentlich auch bei manchen biblischen Ge - schichten der Fall ist, entweder schlechterdings nichts für die Moralität in sich enthält, oder den moralischen Triebfedern wohl gar entgegenwirkt. So werden nun z. B. die rache - schnaubenden Ausdrücke mancher Psalmen gegen Feinde auf die Begierden und Leidenschaften umgedeutet, welche wir al - lerdings streben müssen, nachgerade alle unter den Fu[ſ]s zu bringen, und das Wundervolle, was im N. T. von Jesu Herabkunft vom Himmel, seinem Verhältniſs zu Gott u. s. f. gesagt ist, wird als bildliche Bezeichnung des Ideals der gottwohlgefälligen Menschheit genommen2)Zweites Stück erster Abschnitt, a und b.. Daſs ei - ne solche Deutung möglich ist, ohne eben immer wider den27Einleitung. §. 8.buchstäblichen Sinn jener Urkunden des Volksglaubens zu sehr zu verstoſsen, kommt nach Kant's tiefergehender Be - merkung daher, weil lange vor diesem lezteren die Anlage zur moralischen Religion in der menschlichen Vernunft ver - borgen lag, wovon zwar die ersten rohen Äusserungen blos auf gottesdienstlichen Gebrauch ausgegangen seien, und zu diesem Behuf selbst jene angeblichen Offenbarun - gen veranlaſst, hiedurch aber auch etwas von dem übersinn - lichen Charakter ihres Ursprungs selbst in jene Dichtun - gen, obwohl unvorsäzlich, gelegt haben. Auch gegen den Vorwurf der Unredlichkeit glaubt Kant diese Auslegungs - weise durch die Bemerkung schützen zu können, daſs sie ja keineswegs behaupte, der Sinn, welchen sie den heili - gen Büchern jezt gebe, sei von ihren Verfassern auch durch - aus so beabsichtigt worden, sondern dieses lasse sie dahin - gestellt, und spreche für sich nur die Möglichkeit an, die - selben auch auf ihre Art zu deuten.
Wenn Kant auf diese Weise aus den biblischen Schriften auch ihrem geschichtlichen Theile nach morali - sche Gedanken herauszudeuten suchte, ja diese Gedanken selbst als die objektive Grundlage jener Geschichten anzu - erkennen geneigt war: so nahm er doch einestheils diese Ge - danken nur aus sich und der Bildung seiner Zeit, weſswe - gen er nur in seltenen Fällen annehmen konnte, sie haben wirklich schon bei den Verfassern jener Schriften zum Grunde gelegen; anderntheils unterlieſs er eben deſswegen nachzuweisen, wie sich jene Gedanken zu diesen symboli - schen Darstellungen verhalten, wie es komme, daſs jene in diesen sich ausgeprägt haben.
Bei einem so unhistorischen Verfahren auf der einen Seite, und einem so unphilosophischen auf der andern28Einleitung. §. 8.konnte um so weniger stehen geblieben werden, je mehr das immer allgemeiner und erfolgreicher betriebene mytho - logische Studium auch auf die Ansicht von der biblischen Geschichte seinen Einfluſs äusserte. Wenn schon Eich - horn für hebräische und nichthebräische Urgeschichte glei - che Behandlung verlangt hatte, so verschwand diese Gleich - heit immer mehr, je mehr man für die profane Urge - schichte den mythischen Gesichtspunkt ausbildete, für die hebräische aber bei der natürlichen Erklärungsweise ste - hen blieb. Und Paulus konnten es doch nicht Alle nach - thun, welcher die Consequenz der Behandlung dadurch herstellte, daſs er, wie die biblischen, so auch die zur Ver - gleichung sich bietenden griechischen Sagen natürlich zu erklären sich geneigt zeigte: sondern man half lieber auf der andern Seite und fieng an, auch manche biblische Er - zählungen als Mythen zu betrachten. So wurde durch Gabler1)In der Einleitung zu Eichhorns Urgesch. 2, S. 481 ff. (1792), Schelling2)Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der älte - sten Welt. In Paulus Memorabilien 5. Stück S. 1 ff. (1793) u. A. der Begriff des Mythus als ein ganz allgemein, für alle älteste Geschichte, heilige wie profane, gültiger aufgestellt, nach dem Heyne'schen Grundsa - ze: a mythis omnis priscorum hominum cum historia tum philosophia procedit3)Comm. in Apollodor. Bibl. P. I. p. 3 und 4. und Bauer wagte es sogar, mit ei - ner „ hebräischen Mythologie des alten und neuen Testa - ments “aufzutreten (1802). Die älteste Geschichte aller Völker, meint Bauer, sei mythisch: warum sollte die he - bräische allein eine Ausnahme machen? da vielmehr der Augenschein der heiligen Bücher zeige, daſs auch sie my - thische Bestandtheile enthalten. Eine Erzählung nämlich ist, wie Bauer nach Gabler und Schelling ausführt, als Mythus erkennbar, wenn sie aus einer Zeit stammt, in der es noch keine schriftlich dokumentirte Geschichte gab, sondern die Fakta nur durch mündliche Überlieferung fort -29Einleitung. §. 8.gepflanzt wurden; wenn darin entweder absolut unerfahr - bare Gegenstände, wie Fakta einer übersinnlichen Welt, oder doch relativ unerfahrbare, bei welchen der Umstände wegen Niemand Zeuge sein konnte, in geschichtartiger Weise erzählt werden; oder endlich, wenn diese Erzäh - lungen ins Wunderbare verarbeitet und in einer symboli - schen Sprache vorgetragen sind. Solche Erzählungen nun finden sich auch in der Bibel nicht wenige vor, und daſs man auf dieselben den Begriff des Mythischen nicht an - wenden wolle, habe seinen Grund nur in falschen Vorstel - lungen einerseits von dem Wesen des Mythus, andrerseits von dem Charakter der biblischen Bücher. In ersterer Hinsicht verwechsle man Mythen mit Fabeln, vorsäzlichen Lügen und willkührlichen Erdichtungen, statt dieselben als die nothwendigen Träger der ersten Regungen des menschlichen Geistes erkennen zu lernen; in der andern Rücksicht sei es freilich, den Inspirationsbegriff vorausge - sezt, unwahrscheinlich, daſs Gott von Thatsachen oder Ideen mythische statt der eigentlichen Darstellungen ein - gegeben haben sollte: allein die genauere Betrachtung der biblischen Schriften zeige, daſs der Begriff ihrer Inspiration, weit entfernt, ihre mythische Auffassung zu hindern, viel - mehr selbst nur ein mythischer sei4)Bauers hebr. Mythol. 1. Band. Einleitung..
Bestimmte man hienach von Seiten der genannten Forscher den Mythus im Allgemeinen als Darstellung einer Begebenheit oder eines Gedankens in geschichtlicher, aber durch die sinnliche, phantasiereiche Denk - und Sprechwei - se des Alterthums bestimmter Form: so unterschied man zugleich verschiedene Arten von Mythen5)Vgl. ausser den genannten Autoren noch Ammon, Progr. quo inquiritur in narrationum de vitae Jesu Christi primordiis fon - tes etc. in Pott's und Ruperti's Sylloge Comm. theol. No. 5, und Gabler, n. theol. Journal 5. Bd. S. 83 und 397.. Die Einen seien historische Mythen, d. h. Erzählungen wirkli -30Einleitung. §. 8.cher Begebenheiten, nur gefärbt durch die alterthümliche, Göttliches mit Menschlichem, Natürliches mit Übernatürli - chem vermengende Denkart; es gebe aber auch philoso - phische Mythen, oder solche, welche einen bloſsen Ge - danken, eine Speculation oder Zeitidee, in Geschichte ein - kleiden; überdieſs aber können beide Arten theils sich mischen, theils durch dichterische Überarbeitung zu poëti - schen Mythen werden, bei welchen hinter der phan - tasiereichen Einkleidung so ursprüngliches Faktum wie Idee beinahe verschwinden. Zwischen diesen verschiede - nen Arten von Mythen ist die Unterscheidung deſswegen schwierig, weil auch diejenigen, welchen bloses Raisonne - ment zu Grunde liegt, mit gleichem historischem Anspruch, wie die auf geschichtlichem Grunde ruhenden, auftreten; doch geben die genannten Gelehrten auch für diese Unter - scheidung einige Regeln an. Vor Allem müsse man darauf sehen, ob und was für ein Zweck der Erzählung sich entdecken lasse. Wo gar kein Zweck sichtbar sei, um dessen willen die Sage erdichtet sein könnte: da werde Jedermann den historischen Mythus finden. Entsprechen aber alle Hauptumstände einer Erzählung der Versinnli - chung einer bestimmten Wahrheit: so sei der Zweck der Erzählung sicher nur eben dieser, und der Mythus somit ein philosophischer. Die Mischung des historischen und philosophischen Mythus sei daran kenntlich, wenn sich die Tendenz zeige, gewisse Thatsachen aus ihren Ursachen abzuleiten. Daſs Geschichtliches zum Grunde liege, lasse sich bisweilen auch durch anderweitige Nachrichten erwei - sen, bisweilen stehen gewisse Angaben eines Mythus mit einer bekannten wahren Geschichte in genauer Verbindung, oder trage er in sich selbst unverkennbare Spuren der Wahrscheinlichkeit, so daſs der Kritiker zwar die Einklei - dung verwerfen, doch aber die Grundlage für geschichtlich halten könne. Am schwersten fiel es, den sogenannten poëtischen Mythus zu unterscheiden, und Bauer weiſs nur31Einleitung. §. 8.das negative Kriterium anzugeben, wenn einerseits die Er - zählung so wunderbar klinge, daſs die Begebenheit sich unmöglich so habe zutragen können, andererseits aber doch kein Zweck erkennbar sei, einen bestimmten Gedan - ken zu versinnlichen: so sei zu vermuthen, daſs die ganze Erzählung der Phantasie eines Dichters ihren Ursprung zu danken habe. In Bezug auf sämmtliche Mythen macht besonders die Schelling'sche Abhandlung auf das Kunstlose und Unbefangene in ihrer Entstehung aufmerksam, indem sie theils von den historischen Mythen bemerkt, daſs das Ungeschichtliche in denselben nicht künstliches Produkt absichtlicher Erdichtung sei, sondern sich im Laufe der Zeit und Überlieferung von selbst eingeschlichen habe; theils in Bezug auf die philosophischen erinnert, daſs nicht allein zum Behuf eines sinnlichen Volks, sondern auch zu ihrem eigenen Behufe die ältesten Weisen das Gewand der Geschichte für ihre Ideen gewählt haben, um in Er - mangelung abstrakter Begriffe und Ausdrücke das Dunkle ihrer Vorstellung durch eine sinnliche Darstellung auf - zuhellen.
Da dem früher Bemerkten zufolge die natürliche Deu - tung namentlich der A. T. lichen Geschichte nur so lange sich halten konnte, als die Urkunden derselben für ganz oder nahezu gleichzeitig mit den Begebenheiten galten: so sind die Männer, welche die leztere Meinung umgestoſsen haben, Vater und de Wette, zugleich diejenigen gewesen, durch welche die mythische Ansicht jener Geschichte fest be - gründet worden ist. So wird nach der Bemerkung des Ersteren6)s. die Abhandlung über Moses und die Verfasser des Pen - tateuchs im 3ten Bande des Comm. über den Pent. S. 660. der eigenthümliche Charakter der Nachrichten im Pentateuch erst dann begreiflich, wenn man annimmt, daſs dieselben nicht von Augenzeugen herrühren, son - dern durch die Hand der Tradition hindurchgegangen32Einleitung. §. 8.sind. Dann nur fallen uns nicht mehr die deutlichen Spuren einer späteren Zeit, nicht mehr die zu groſsen Zahlangaben, nebst andern Unrichtigkeiten und Widersprü - chen, nicht mehr das Helldunkel auf, welches über man - chen Begebenheiten schwebt, nicht mehr Vorstellungen, wie die, daſs die Kleider der Israeliten während des Zugs durch die Wüste nicht veraltet seien. Namentlich kann, nach Vater, das Wunderbare nur dann aus dem Penta - teuch ohne Gewalt gegen den ursprünglichen Sinn der Schriftsteller wegerklärt werden, wenn man der Tradition einen groſsen Antheil an der Darstellung jener Begeben - heiten zuschreibt.
Noch entschiedener als Vater hat sich de Wette gegen die natürliche und für die mythische Auffassungs - weise gewisser Theile des A. T. erklärt. Um die Glaub - würdigkeit eines Berichtes zu prüfen, sagt er7)Kritik der mosaischen Geschichte. Einl. S. 10 ff., muſs man zuerst die Tendenz des Erzählers untersuchen. Will er nicht reine Geschichte erzählen, auf etwas anderes wir - ken, als auf die historische Wiſsbegierde, will er er - getzen, rühren, eine philosophische oder religiöse Wahr - heit anschaulich machen: so hat seine Relation keinen historischen Werth. Selbst wenn sich der Erzähler nur einer geschichtlichen Tendenz bewuſst ist, kann er doch vielleicht nicht auf dem historischen Standpunkt ste - hen, sondern ein poëtischer Erzähler sein, nicht sub - jektiv als Dichter, wohl aber objektiv als begriffen in und abhängig von der Poësie. Kennzeichen davon ist, wenn er bona fide Dinge erzählt, welche durchaus un - möglich und undenkbar sind, welche nicht allein die Er - fahrung, sondern auch die natürlichen Gesetze über - schreiten. Erzählungen dieser Art entstehen nament - lich durch die Tradition. Die Tradition, sagt de Wette, ist unkritisch und parteiisch, nicht von historischer, son -33Einleitung. §. 8.dern von patriotisch-poëtischer Tendenz, die patriotische Wiſsbegierde aber begnügt sich mit Allem, was ihrem In - teresse schmeichelt: je schöner, ehrenvoller, wunderbarer, desto annehmlicher, und wo die Überlieferung Lücken gelas - sen hat, da tritt sogleich die Phantasie mit ihren Ergänzungen ein. Indem nun, fährt de Wette fort, ein guter Theil der A. T. lichen Geschichtsbücher dieses Gepräge trägt, so hat man (von Seiten der natürlichen Erklärer) bisher geglaubt, die Ausschmückungen und Umbildungen des geschichtli - chen Stoffs von diesem trennen und so doch noch jene Erzählungen als historische Quelle benützen zu können. Dieſs lieſse sich thun, wenn wir über dieselbe Geschichte neben der wunderhaften noch eine andre, reingeschichtli - che Relation[besäſsen]. Das ist aber in Bezug auf die A. T. liche Geschichte nicht der Fall, sondern wir finden uns ganz an jene Berichte gewiesen, welche wir nicht für reinhistorische erkennen können. In diesen aber ist uns kein Kriterium zur Unterscheidung des Wahren und Falschen gegeben, weil sie Beides in bunter Vermischung und mit gleicher Dignität enthalten. Die ganze natürliche Erklärungsweise ist nach de Wette im Allgemeinen schon durch den Satz widerlegt, daſs die einzige Erkenntniſs - quelle einer Geschichte die Relation ist, die wir über die - selbe besitzen, und über die Relation der Historiker nicht hinausgehen darf. Diese berichtet uns aber im gegenwär - tigen Falle nur den übernatürlichen Hergang der Sache, welchen wir nur entweder annehmen oder verwerfen kön - nen; im letzteren Falle aber müssen wir uns bescheiden, von dem Hergang gar nichts zu wissen, und dürfen uns nicht erlauben, einen natürlichen zu erdichten, von welchem die Relation nicht das Mindeste sagt. Es ist also8)S. die Vorrede, im Anfang. incon - sequent und willkührlich, der Poësie nur die Einkleidung A. T. licher Thatsachen zuzuschreiben, die Fakta aber derDas Leben Jesu I. Band. 334Einleitung. §. 8.Geschichte retten zu wollen, da vielmehr mit dem Einzel - nen auch das Ganze dem poëtischen und mythischen Ge - biete verfällt. So, wenn der Bund Gottes mit Abraham9)S. 59 ff. in dieser Gestalt als Factum aufgegeben, aber doch eine geschichtliche Grundlage der Erzählung festgehalten wird, nämlich die, es habe zwar nicht ein objektiver Verkehr Gottes mit Abraham stattgefunden, wohl aber subjektiv im Gemüthe des Mannes seien in der Vision oder im natürli - chen Wachen Gedanken aufgestiegen, welche er im Geiste der alten Welt auf Gott zurückgeführt habe: so richtet de Wftte an so verfahrende Ausleger die Frage, woher sie denn wissen, daſs Abraham aus sich selber diese Ge - danken gehabt habe? Unsre Relation, bemerkt er, leitet dieselben von Gott ab; nehmen wir dieſs nicht an, so wis - sen wir von solchen Gedanken Abrahams gar nichts mehr, auch davon nicht, daſs sie ihm natürlich aufgestiegen. Über - haupt haben solche Hoffnungen, wie sie den Inhalt jenes Bundes bilden, Stammvater eines Volks zu werden, wel - ches das Land Kanaan besitzen sollte, natürlicherweise gar nicht in Abraham entstehen können; wohl aber sei das na - türlich, daſs die zum Volke gewordenen und in den Be - sitz des Landes gekommenen Israëliten jenen Bund ihrem Stammvater zur Verherrlichung angedichtet haben, — so daſs die natürliche Erklärungsweise durch ihre eigne Un - natürlichkeit immer wieder zur mythischen hinführe.
Eichhorn selbst hat die Unzulässigkeit der natürlichen Erklärungsweise, welche er in Bezug auf das A. T. aus - gebildet hatte, in Betreff der evangelischen Geschichte ein - gesehen. Was in diesen Erzählungen einen übernatürlichen Anstrich hat, bemerkt er10)Einleitung in das N. T. I, S. 408 ff., dürfen wir nicht verlangen, in ein natürliches Ereigniſs umzubilden, weil dieſs ohne Zwang nicht möglich sei. Wenn nämlich einmal in einer35Einleitung. §. 8.Erzählung durch Zusammenflieſsen der Volksdeutung mit dem Factum etwas als übernatürlich dargestellt sei, so kön - ne die natürliche Thatsache nur dann noch enträthselt wer - den, wenn über denselben Gegenstand ein zweiter Bericht vorhanden sei, der jene Vermengung nicht enthalte, wie über das Ende des Herodes Agrippa neben A. G. 12, 23. die Erzählung des Josephus11)Antiquit. 19, 8, 2.. Da solche controlirende Berichte über die Geschichte Jesu fehlen: so würde der Erklärer nur unerweisliche Hypothesen spinnen, wenn er bei den wunderhaft lautenden Erzählungen die natürliche Ursache noch entdecken wollte, wo sie nicht deutlich in der Erzählung liegt, eine Bemerkung, durch welche, wie Eichhorn erklärt, viele sogenannte psychologische Erklä - rungen der Evangelien in ihre Nichtigkeit hinfallen.
Derselbe Unterschied der natürlicher und mythischen Erklärungsart ist es, welchen mit besondrer Beziehung auf die Wundergeschichten Krug12)Versuch über die genetische oder formelle Erklärungsart der Wunder. In Henkes Museum 1, 3, S. 395 ff. (1803). bezeichnen wollte, wenn er eine physikalische oder materiale, und eine genetische oder formelle Art der Wundererklärung unterschied. Jene untersucht nach Krug: wie mag dies wundervolle Ereig - niſs, welches hier erzählt ist, nach allen seinen Umstän - den durch Naturkräfte und nach Naturgesetzen möglich gewesen sein? wogegen diese fragt: wie mag die Erzäh - lung von diesem Wunderereigniſs nach und nach entstan - den sein? Jene erklärt die natürliche Möglichkeit der er - zählten Sache (des Stoffs der Erzählung), diese spürt dem Ursprung des vorliegenden Berichts (der Form der Erzäh - lung) nach. Die Versuche mit der ersteren Erklärungsart hält Krug für fruchtlos, weil sie Erklärungen zum Vor - schein bringen, welche noch wunderbarer als das zu er - klärende Factum seien; viel belohnender sei der andere3*36Einleitung. §. 8.Weg, indem man auf demselben zu Resultaten gelange, welche ein Licht über sämmtliche Wundererzählungen ver - breiten. Namentlich gewähre er dem Exegeten den Vor - theil, daſs er bei Erklärung seines Textes demselben nicht die mindeste Gewalt anzuthun brauche, sondern Alles buch - stäblich so auslegen könne, wie es der alte Erzähler ge - meint habe, auch wenn das Erzählte unmöglich sein soll - te: wogegen derjenige, welcher auf materielle oder phy - sikalische Erklärung ausgehe, zu hermeneutischen Kunst - griffen verleitet werde, welche ihm den ursprünglichen Sinn der Erzähler aus dem Gesichte rücken, und diesen etwas ganz Andres unterschieben, als sie sagen konnten oder wollten.
Ebenso empfahl Gabler13)In der Abhandlung: ist es erlaubt, in der Bibel, und so - gar im N. T. Mythen anzunehmen (aus Gelegenheit einer Recens. von Bauers hebr. Mythol. ) im Journal für auserle - sene theol. Literatur, 2ten Bandes 1tes Heft. S. 43 ff. die mythische Ansicht als das beste Mittel, um den zur Mode gewordenen gekünstel - ten, angeblich natürlichen Erklärungen der biblischen Ge - schichte auszuweichen. Der natürliche Erklärer, bemerkt er, will gewöhnlich die ganze Erzählung natürlich machen, und weil dieſs nur selten gelingen kann, so erlaubt er sich die gewaltsamsten Operationen, durch welche die neuere Exegese selbst bei Laien in übeln Ruf gekommen ist. Auf dem mythischen Standpunkte hingegen braucht man dergleichen nicht, weil der gröſsere Theil einer Er - zählung oft blos zur mythischen Darstellung gehört, der faktische Kern aber nicht selten ganz klein ist, wenn man die später dazu gefügten wundersamen Hüllen weggenom - men hat. Auch Horst konnte sich mit dem atomistischen Verfahren nicht vereinigen, welches aus wunderhaften Erzählungen der Bibel nur einzelne Züge als unhistorische herausnahm, und andere, natürliche, an ihre Stelle setzte,37Einleitung. §. 8.statt das Ganze solcher Erzählungen als religiös-morali - schen Mythus, in welchem irgend eine Idee sich darstelle, zu erkennen14)Über die beiden ersten Kapitcl des Lukas, in Henke's Mu - seum 1, 4, S. 693 ff..
Besonders entschieden hat ein Ungenannter in Ber - tholdt's kritischem Journal sich gegen die natürliche Er - klärungsweise der heiligen Geschichte und für die mythi - sche ausgesprochen. Wesentliche Gebrechen der natürlichen Auslegung, wie sie im Paulus'schen Commentar culmnire, sind nach diesem Verfasser vor Allem das durchaus unhi - storische Vnrfahren, welches sie sich erlaubt, Urkunden durch Vermuthungen zu ergänzen, eigne Speculationen für gegebnen Buchstaben zu halten; das höchst gezwungene und immer undankbare Bemühen, natürlich darzustellen, was doch die Urkunde als etwas Wunderbares geben will; endlich die Entleerung der biblischen Geschichte von allem Heiligen und Göttlichen, die Herabwürdigung derselben zur eiteln Unterhaltungslectüre, die selbst den Namen der Ge - schichte nicht verdient. Diese Mängel der natürlichen Er - klärungsweise, wenn man sich doch bei der supranatura - listischen auch nicht beruhigen kann, führen nach dem Verfasser zu dem mythischen Gesichtspunkte, welcher das Material der Erzählung unangefochten läſst, und es nicht wagt, daran im Einzelnen zu deuteln, dafür aber das Gan - ze nicht für wahre Geschichte, sondern für heilige Sage nimmt. Für diese Auffassung spricht die Analogie mit dem ganzen politischen und religiösen Alterthum, da so man - che Erzählungen des A. und N. T. s den Mythen des profanen Alterthums aufs Genaueste ähnlich sehen; hauptsächlich aber dieſs, daſs die zahllosen, sonst nie zu lösenden Schwierigkeiten der heiligen Geschichte in Bezug auf die Harmonie der Evangelien und die Chronologie bei der my - thischen Ansicht wie mit Einem Schlage verschwinden15)Die verschiedenen Rücksichten, in welchen und für welche.
So war die mythische Auslegungsweise nicht allein in das alte Testament, sondern auch in das neue aufgenom - men, doch nicht ohne daſs man diesen Schritt besonders zu rechtfertigen sich veranlaſst gesehen hätte. Schon Gab - ler hatte an dem Paulus'schen Commentar das ausgesezt, daſs er zu Weniges über den mythischen Gesichtspunkt ge - be, der bei gewissen N. T. lichen Erzählungen angenom - men werden müsse. In manchen von diesen Erzählungen nämlich finden sich nicht blos unrichtige Urtheile, wie sie auch von Augenzeugen gefällt werden können, so daſs sich durch deren Berichtigung ein natürlicher Hergang gewin - nen lieſse: sondern nicht selten finden sich auch falsche Thatsachen und unmögliche Erfolge angegeben, welche von keinem Augenzeugen so erzählt, sondern nur in der Über - lieferung haben fingirt werden können, also mythisch auf - gefaſst werden müssen1)Recens. von Paulus Commentar, im neuesten theol. Journal. 7, 4, 395 ff. (1801)..
Die Hauptschwierigkeit, welche bei Übertragung des mythischen Gesichtspunktes aus dem A. T. in das neue zu beseitigen war, ist diese, daſs man Mythen nur in der fa - belhaften Urzeit unsres Geschlechtes zu suchen pflegte, in welcher überhaupt noch keine Begebenheiten schriftlich verzeichnet wurden: wogegen zur Zeit Jesu das mythi - sche Zeitalter lange vorüber und namentlich die jüdische Nation längst eine schriftstellerische geworden war. Indeſs schon Schelling (in der angeführten Abhandlung) hatte wenigstens in einer Anmerkung eingeräumt, im weiteren Sinne könne auch diejenige Geschichte mythisch genannt werden, welche noch zu einer Zeit, da Alles längst schrift -15)der Biograph Jesu arbeiten kann. In Bertholdts krit. Jour - nal 5. Bd. S. 235 ff.39Einleitung. §. 9.lich verzeichnet zu werden pflegte, im Munde des Volks sich fortgepflanzt habe. Demgemäſs ist nach Bauer2)Hebräische Mythologie 1. Thl. Einl. §. 5. im N. T. zwar nicht eine Reihe von Mythen, eine total mythische Geschichte zu suchen, doch aber können einzelne Mythen in demselben vorkommen, sei es, daſs sie aus dem A. T. in das neue übertragen, oder daſs sie ursprünglich in die - sem entstanden sind. So findet sich nach Bauer nament - lich in der Jugendgeschichte Jesu Manches, was vom my - thischen Gesichtspunkte betrachtet sein will. Wie von ei - nem berühmten Manne bald allerlei Anekdoten sich bilden, welche unter einem wundersüchtigen Volke die Sage mit Wunderdingen aller Art vergrössert: so wurde Jesu in Dunkelheit verlebte Jugend, da er später so berühmt und endlich durch seinen Tod noch mehr verherrlicht war, mit den wunderhaftesten Erzählungen ausgeschmückt. Wenn in dieser Jugendgeschichte himmlische Wesen mit Namen und in Menschengestalt erscheinen, die Zukunft verkün - digen u. dgl. : so haben wir, meint Bauer, doch wohl ein Recht, hier einen Mythus anzunehmen, und als den Grund seiner Entstehung den zu vermuthen, daſs man die gros - sen Wirkungen Jesu aus übersinnlichen Ursachen erklärt, und diese Erklärung mit der Geschichte vermischt habe. — In gleicher Beziehung bemerkte Gabler3)Ist es erlaubt, in der Bibel u. sogar im N. T. Mythen an - zunehmen? Im Journal für auserlesene theol. Literatur 2, 1, 49 ff., wie der Be - griff von alter Zeit ein relativer sei; gegen die mosaische Religion gehalten, sei die christliche allerdings jung, doch aber an sich selber alt genug, um die Urgeschichte ihres Stifters zu den alten Zeiten rechnen zu dürfen. Daſs es aber damals über andere Gegenstände bereits schriftliche Urkunden gegeben habe, beweise hieher nichts, sobald es sich zeigen lasse, daſs man eben über Jesum, besonders40Einleitung. §. 9.über seine ersten Lebensumstände, längere Zeit nichts Schriftliches, sondern nur mündliche Erzählungen gehabt habe, welche leicht allmählig in's Wunderbare gemalt, mit jüdischen Zeitideen versezt, und so zu historischen My - then werden konnten. Über manches Andre hatte man nach Gabler gar keine Tradition, man war also der eige - nen Muthmaſsung überlassen, man machte um so mehr Schlüsse, je weniger Geschichte man hatte, und diese hi - storischen Conjecturen und Raisonnements im jüdisch-christ - lichen Geschmacke kann man die philosophischen Mythen der christlichen Urgeschichte nennen. Wenn auf diese Weise, schlieſst Gabler, der Begriff des Mythus bei meh - reren Erzählungen des N. T. s Anwendung findet, warum sollte man die Sache nicht beim rechten Namen nennen dürfen, warum, — im wissenschaftlichen Verkehr versteht sich, — einen Ausdruck vermeiden, der nur bei Befange - nen oder Falschberichteten Anstoſs erregen kann? — Aus dem Wesen des Christenthums selber suchte Horst die Entstehung einer christlichen Mythologie zu erklären. Nach ihm ist das Christenthum seiner ursprünglichen Natur nach mystisch, d. h. nur in inneren Gefühlen und Ideen sich bewegend; aber schon die ersten Stifter desselben, und noch mehr die folgenden Zeiten, bezogen diese Ideen auf bestimmte Objekte und Fakta, und sobald der Mysticismus seine Gedanken und Empfindungen aus sich heraus und auf äussere Objekte überträgt, ist er Mythologie4)Ideen über Mythologie u. s. w. in Henke's neuem Magazin, 6ter Band. S. 454..
Wie aber auf Seiten des A. T. s die mythische Auffas - sung nur von denjenigen festgehalten werden konnte, wel - che zugleich die Abfassung der A. T. lichen Geschichtsur - kunden durch Augenzeugen und Zeitgenossen bezweifelten: so auch auf Seiten des N. T.s. Nur mittelst der Annah - me, daſs durch die drei ersten Evangelien sich blos ein41Einleitung. §. 10.dünner Faden des apostolisch beglaubigten Urevangeliums hindurchziehe, welcher selbst im Matthäusevangelium von einer Masse unapostolischer Zusätze umgeben sei, wuſste Eichhorn viele ihm anstössige Erzählungen aus allen Thei - len des Lebens Jesu als unhistorische Sagen aus dem We - ge zu räumen, wie ausser dem evangelium infantiae z. B. das Nähere der Versuchungsgeschichte, mehrere von Jesu verrichtete Wunder, die Auferstehung der Heiligen bei sei - nem Tode, die Wache an seinem Grabe u. s. f.5)Einleitung in das N. T. I, S. 422 ff. 453 ff.. Be - sonders aber seit sich die Ansicht von dem Ursprung der drei ersten Evangelien aus mündlicher Tradition festge - stellt hat6)Besonders durch Gieseler, über die Entstehung und die frühsten Schicksale der schriftlichen Evangelien., sind in denselben immer mehr theils mythi - sche Ausschmückungen, theils ganze Mythen gefunden wor - den7)S. den Anhang der Schulz'schen Schrift über das Abendmahl, und die Schriften von Sieffert und Schneckenburger über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums.. Dagegen halten jezt die Meisten das Johanneische Evangelium als authentisch und damit auch als historisch zuverlässig fest; nur wer mit Bretschneider8)In den Probabilien. seine apo - stolische Abfassung bezweifelt, kann auch in diesem Evan - gelium dem mythischen Elemente eine bedeutende Stelle einräumen.
Der hiemit auch für die Erklärung der biblischen Ge - schichte gewonnene Begriff des Mythus wurde indessen noch geraume Zeit weder selbst rein gefaſst, noch in ge - hörigem Umfang angewendet.
Nicht rein gefaſst. Mit der Unterscheidung historischer Mythen nämlich von den philosophischen hatte der Begriff42Einleitung. §. 10.des Mythus ein Merkmal in[s]ich aufgenommen, welches ihn leicht wieder zu der kaum verlassenen natürlichen Er - klärungsweise hinunterziehen konnte. Auch bei'm histori - schen Mythus entstand ja für den Kritiker die Aufgabe, aus der unhistorischen, wunderhaften Ausschmückung ei - nen natürlichen und als geschichtlich festzuhaltenden Kern herauszuschälen, — und durch den allerdings wesentlichen Unterschied, daſs bei der Annahme eines historischen My - thus jene Ausschmückung nicht wie bei der natürlichen Er - klärungsart aus dem Urtheil der Betheiligten und der Er - zähler selbst, sondern aus der Tradition hergeleitet wird, lieſs man das Verfahren nur wenig modificirt werden. Konnte der Rationalist, ohne seine Methode wesentlich zu verändern, historische Mythen in der Bibel aufzeigen: so war auch dem Supranaturalisten die Annahme historischer Mythen, durch welche doch die geschichtliche Auffassung der heiligen Erzählungen nicht ganz aufgehoben wird, we - niger anstöſsig, als die Voraussetzung sogenannter philoso - phischer, bei welchen auch die lezte historische Grundlage aufgegeben wird. Kein Wunder daher, daſs die Ausleger, wo sie den mythischen Gesichtspunkt in Anwendung brach - ten, fast durchaus nur von historischen Mythen sprachen, daſs Bauer unter einer ziemlichen Anzahl von Mythen, die er aus dem N. T. namhaft macht, nur einen einzigen phi - losophischen hat, und daſs ein Gemische von mythischer und natürlicher Erklärung entstand, welches noch wider - sprechender als die rein natürliche Auslegung war, deren Schwierigkeiten man hatte entgehen wollen. So glaubte Bauer1)Geschichte der hebr. Nation, Thl. I. S. 123. die Erzählung von der Verheiſsung Jehova's an Abraham historisch-mythisch zu erklären, wenn er als das zum Grunde liegende Faktum dieſs annahm, daſs Abraham bei Betrachtung des sternbesäten Himmels seine Hoffnung auf zahlreiche Nachkommenschaft neubelebt gefunden ha -43Einleitung. §. 10.be; ein Andrer glaubte den mythischen Gesichtspunkt an - zuwenden, wenn er von der Verkündigung der Geburt des Täufers zwar alles Wunderbare hinwegräumte, doch aber das Verstummen des Zacharias als historische Grundlage stehen lieſs2)E. F. über die zwei ersten Kapitel des Matthäus und Lukas. In Henke's Magazin 5ten Bdes 1tes Stück. S. 163.; ebenso legt Krug (in der angef. Abhand - lung), nachdem er eben versichert hatte, nicht die Materie der Geschichte (natürlich), sondern die Entstehung der Erzählung (mythisch) erklären zu wollen, der Erzählung von den Weisen aus Morgenland eine zufällige Durchreise orientalischer Kaufleute zum Grunde; am schreiendsten aber ist der Widerspruch, wenn man in einer Mythologie des N. T. s, wie die Bauer'sche, ein solches Nichtverstehen des - sen, was ein Mythus ist, findet, daſs z. B. bei den Eltern des Täufers wirklich eine lange, unfruchtbare Ehe ange - nommen, die Engel bei Jesu Geburt durch ein feuriges Phänomen erklärt, bei seiner Taufe ein Bliz und Donner - schlag sammt einer zufällig überhin fliegenden Taube voraus - gesezt, bei der Verklärung ein Gewitter zum Grunde ge - legt, und die Engel im Grabe des Auferstandenen zu weis - sen Leintüchern gemacht werden. Auch Kaiser, welcher über das Unnatürliche so mancher natürlichen Erklärungen Klage führt, läſst doch mit der Bemerkung, es wäre ein - seitig, alles Wunderbare im N. T. auf Eine und dieselbe Weise zu erklären, die natürliche Auslegung neben der mythischen stehen. Erkenne man nur an, daſs der alte Autor ein Wunder habe erzählen wollen, so sei die na - türliche Erklärung oft gar wohl zulässig. Sie sei bald eine physikalisch-historische, wie bei der Erzählung vom Aus - sätzigen, welchem Jesus ohne Zweifel die nahe Genesung angesehen habe; bald eine psychologische, indem bei man - chen Kranken der Ruf Jesu und das Vertrauen auf ihn das Meiste gewirkt habe; bald sei auch der Zufall in Rechnung zu44Einleitung. §. 10.bringen, indem, wenn in Jesu Gegenwart Scheintodte von selbst wieder zum Leben kamen, er als Ursache davon ange - sehen worden sei. Bei andern Wundergeschichten übrigens ist nach Kaiser die mythische Erklärung anzuwenden, nur daſs er auch hier dem historischen Mythus viel mehr ein - räumt, als dem philosophischen. Die meisten Wunder des A. u. N. T. s sind nach Kaiser wirkliche Vorfälle, mythisch ausgeschmückt, wie der Stater im Fischmaul, die Verwand - lung des Wassers in Wein, welcher nach ihm ursprüng - lich wohl ein humaner Scherz Jesu zum Grunde lag; We - niges nur ist rein nach jüdischen Ideen erdichtet, wie Jesu wundervolle Geburt, der Bethlehemitische Kindermord u. dergl. 3)Kaiser's biblische Theologie, 1. Thl. S. 194 ff. (1813).
Gabler besonders machte auf den Miſsgriff aufmerk - sam, daſs man bisher manchen philosophischen Mythus als historischen behandelt, und so Thatsachen angenommen habe, welche niemals vorgefallen seien4)Gabler's Journal für auserlesene theol. Literatur. 2, 1. 46.. Zwar will er ebensowenig lauter philosophische Mythen im N. T. anneh - men als lauter historische, sondern, einen Mittelweg ein - schlagend, je nach Beschaffenheit des Inhalts bald die eine bald die andre Art. Man müsse sich ebensosehr vor der Willkührlichkeit hüten, welche da bloſs Philosopheme an - nehme, wo wirkliche Fakta durchschimmern, als vor der entgegengesetzten Neigung, Manches natürlich und ge - schichtlich zu erklären, was doch nur zur mythischen Ein - kleidung gehöre. Namentlich wenn die Ableitung eines Mythus aus einem Räsonnement sehr leicht und natürlich ist, hingegen jeder Versuch, das reine Faktum aus dem - selben hervorzusuchen und dadurch die wunderbare Ge - schichte natürlich zu erklären, entweder sehr gekünstelt ist, oder gar in's Lächerliche fällt, so ist dieſs, nach Gabler, ein sicherer Beweis, daſs man hier einen philosophischen,45Einleitung. §. 10.nicht einen historischen Mythus zu suchen hat. Die phi - losophisch-mythische Deutung, schlieſst er, sei überdieſs in manchen Fällen weit weniger anstöſsig, als die Behand - lung aus dem historisch-mythischen Gesichtspunkt5)Gabler's neuestes theol. Journal, 7. Bd. S. 83. vgl. 397 u. 409.. — Bei dieser Neigung Gabler's zum philosophischen Mythus in Bezug auf die biblische Geschichte muſs man sich wun - dern, wenn man sieht, wie er selbst in concreto nicht zu wissen scheint, weder was ein historischer, noch was ein philosophischer Mythus ist. Wenn er nämlich (in der angef. Abh.) von den bisherigen mythologischen Erklärern des N. T. s sagt, Einige von ihnen sehen in der Geschichte Jesu nur historische Mythen, wie Dr. Paulus, Andre lau - ter philosophische, wie der ungenannte E. F. in Henke's Magazin: so ist klar, daſs er natürliche Erklärungen mit historisch-mythischer Auffassung verwechselt, denn in Pau - lus Commentar sind nur die ersteren zu finden, da ja die Sage nicht als Vermittlung der Erzählungen gefaſst wird; ebenso wiederum historische Mythen mit philosophischen, denn jene Abhandlung steht nach der oben mitgetheilten Probe so sehr nur auf dem historisch-mythischen Stand - punkt, daſs man ihre Erklärungen sogar für natürliche halten könnte. — Am entschiedensten erklärte sich gegen den Versuch, in den Mythen des N. T. s noch eine histo - rische Grundlage zu suchen, der Ungenannte in Bertholdt's kritischem Journal6)Über die verschiedenen Gesichtspunkte, in welchen und für welche der Biograph Jesu arbeiten kann. In Bertholdt's krit. Journal 5, S. 235 ff.. Ihm scheint auch der von Gabler vorgeschlagene Mittelweg zwischen ausschlieſsender An - nahme von historischen und von philosophischen Mythen nicht anwendbar zu sein, da zwar den meisten Nachrich - ten des N. T. s etwas wirklich Geschehenes zum Grunde liegen möge, ohne daſs es jedoch jezt noch möglich wäre,46Einleitung. §. 11.es von der mythischen Beimischung zu sondern und zu entscheiden, wie viel zu diesem, wie viel zu jenem Be - standtheile gehöre.
Es zeigte sich somit die Unfähigkeit, den Begriff des Mythus in Bezug auf die biblische Geschichte rein zu fas - sen einestheils in der überwiegenden Neigung zur Annah - me historischer Mythen, welche nichts andres ist, als Man - gel an Zutrauen zum Geist und zur Idee, als ob diese nicht im Stande wären, rein aus sich heraus Erzählungen zu erzeugen, sondern es hiezu durchaus einer äusseren, wenn auch noch so zufälligen Begebenheit als Veranlassung bedürfte; andrerseits in einer Vermengung des historisch - mythischen Standpunkts mit der natürlichen Erklärung, indem ohne Rücksicht auf den zugestandenen sagenhaften Charakter des Berichts seine einzelnen Züge in der Erklä - rung so urgirt wurden, als ob er aus dem Munde von Augenzeugen aufgenommen wäre.
Aber nicht nur unrein gefaſst wurde der Begriff des Mythus bei seinem ersten Aufkommen unter den Theolo - gen, sondern auch auf die biblische Geschichte nicht um - fassend genug angewendet.
Wie Eichhorn nur an der allerersten Schwelle der A. T. lichen Urgeschichte einen wirklichen Mythus aner - kannte, alles Folgende aber als historisch auf natürliche Weise erklären zu müssen glaubte; wie man hierauf eine Zeit lang zwar im A. T. mythische Bestandtheile zugab, aber im N. T. an nichts dergleichen denken mochte: so muſste, einmal in das N. T. zugelassen, der Mythus auch wieder lange an dessen erster Schwelle, der Kindheitsge - schichte Jesu, stehen bleiben, und jeder weitere Schritt47Einleitung. §. 11.wurde ihm streitig gemacht. Ammon1)S. das §. 8. Anm. 5. angeführte Programm., der ungenannte E. F. in Henke's Magazin u. A. machten einen bedeuten - den Unterschied geltend zwischen dem historischen Wer - the der Nachrichten von Jesu öffentlichem Leben und von seiner Kindheit. Die Geschichte der letzteren könne un - möglich gleichzeitig geschrieben sein, da damals noch Nie - mand so sehr auf Jesum geachtet habe; ebensowenig in seinen drei letzten Lebensjahren, weil sie nicht den käm - pfenden und leidenden, sondern den verherrlichten Jesus im Sinne habe; also könne sie erst nach seiner Auf - erstehung verfaſst sein. Damals aber lieſsen sich kei - ne sichern Nachrichten mehr über die Kindheit Jesu einziehen; denn die Apostel waren nicht selbst Genos - sen derselben gewesen; Joseph lebte wahrscheinlich nicht mehr; der Maria, welche noch übrig war, hatten sich indeſs manche Umstände in der Erinnerung herrlicher ausgemalt, und wurden noch mehr von denen, welche es von ihr hörten, nach ihren Messiasbegriffen, verherr - licht; Manches bildete sich auch ohne historische Nach - richten nach Zeitbegriffen und A. T. lichen Orakeln (wie von der schwanger werdenden Jungfrau) aus. Durch al - les dieses aber soll nach jenen Verfassern die Glaubwür - digkeit der Evangelisten bei der folgenden Geschichte des Lebens Jesu nicht das Mindeste verlieren. Ihr Zweck und ihre Aufgabe war blos, eine sichere Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu zu geben, und in dieser verdie - nen sie allen Glauben, weil sie theils selbst gegenwärtig gewesen waren, theils, was sie schrieben, aus dem Munde anderer glaubwürdiger Zeugen wissen konnten. — Diese Grenzlinie zwischen der Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte des öffentlichen Lebens Jesu und der Fabelhaf - tigkeit seiner Jugendgeschichte wurde dadurch noch schär - fer gezogen, daſs manche Theologen geneigt waren, die48Einleitung. §. 11.beiden ersten Kapitel des Matthäus und Lukas, welche die Jugendgeschichte enthalten, als unächt und spätere Zu - sätze zu verwerfen2)Vgl. Kuinöl, Prolegom. in Matthaeum, §. 3. in Lucam §. 6..
Wie den ersten Anfang, so fassten aber bald einige Theologen auch das letzte Ende der Lebensgeschichte Jesu, seine Himmelfahrt, mythisch auf3)z. B. Ammon, in der Diss. : Ascensus J. C. in coelum hi - storia biblica, in seinen Opusc. nov., so daſs dieselbe nun an ihren beiden äussersten Rändern von kritischen Zwei - feln angefressen wurde, während ihr eigentlicher Kern, die Periode von der Taufe bis zur Auferstehung, immer noch unangetastet bleiben sollte, oder daſs man, wie ein Recensent von Greiling's Leben Jesu sich ausdrückt4)In Bertholdt's krit. Journ. 5. Bd. S. 248., durch das Prachtthor der Mythe in die evangelische Ge - schichte hinein, und durch ein ähnliches wieder hinaus - fuhr, für das Dazwischenliegende aber mit den krummen und mühseligen Pfaden der natürlichen Erklärung sich be - gnügte.
Etwas mehr erweitert findet sich die Anwendung des mythischen Gesichtspunktes bei Gabler5)Gabler's neuestes theol. Journal Bd. 7. S. 395., wenn er den Unterschied zwischen Wundern, die Jesus that, und sol - chen, die an ihm vorgiengen, in der Art geltend macht, daſs zwar die letzteren mythisch, die ersteren aber natür - lich erklärt werden sollen. Gleich nachher übrigens spricht Gabler wieder so, als ob er mit den oben erwähnten The - ologen blos die Wunder aus der Kindheit Jesu mythisch zu fassen gesonnen wäre, was eine Beschränkung des vo - rigen Gesichtspunktes ist, da zwar alle Kindheitswunder in unsern Evangelien an ihm vorgegangene (nicht von ihm gethane) sind, dergleichen aber auch in seinem folgenden Leben manche vorkommen. Ungefähr nach der Gabler '-49Einleitung. §. 11.schen Unterscheidung von Wundern Jesu und an Jesu scheint auch Bauer in seiner hebräischen Mythologie die Auswahl dessen eingerichtet zu haben, was er im N. T. mythisch fassen zu dürfen glaubte, indem er nur die über - natürliche Empfängniſs Jesu nebst den ausserordentlichen Umständen bei seiner Geburt, die Scene bei der Taufe, die Verklärung, den Engel in Gethsemane und die am Gra - be mythisch behandelte, was zwar Wundergeschichten aus allen Theilen des Lebens Jesu, aber nur solche sind, die an Jesu vorgiengen, nicht von ihm verrichtet wurden, ob - gleich auch jene nicht vollständig.
Wie unzulänglich und inconsequent ein solches unvoll - ständiges Anwenden des Mythusbegriffs auf die Lebensge - schichte Jesu sei, hat besonders der schon mehrmals an - geführte Verfasser der Abhandlung über die verschiedenen Gesichtspunkte, in welchen der Biograph Jesu arbeiten kann, anschaulich zu machen sich bemüht6)a. a. O. S. 243 f.. Der ge - mischte Gesichtspunkt, auf welchem die evangelische Er - zählung zum Theil als reine Geschichte, zum Theil als mythisch betrachtet wird, verdankt nach ihm seinen Ur - sprung solchen Theologen, welche die Geschichte nicht aufgeben, und doch auch bei ihren klaren Resultaten sich nicht beruhigen mögen, und auf diesem Mittelwege beide Parteien vereinigen zu können meinen: ein eitles Bemühen, welches der strenge Supranaturalist verketzern, der Rationa - list verlachen wird. Indem diese Vermittler, bemerkt der Verf., gerne begreiflich machen möchten, was nur irgend möglich ist, so ziehen sie sich alle die Vorwürfe zu, die man der natür - lichen Erklärung mit Recht macht; indem sie aber auch noch der Mythe Raum geben, so trifft sie die Klage über Inconsequenz mit aller ihrer Schwere, der schlimmste Vorwurf, der einem Gelehrten gemacht werden kann. Überdieſs ist das Verfahren dieser Eklektiker das allerwill -Das Leben Jesu I. Band. 450Einleitung. §. 11.kührlichste, da sie meist nach subjektiven Gründen ent - scheiden, was der Geschichte, und was der Mythe ange - hören solle, — wenigstens wissen die Evangelisten, die Logik und die ihr angehörige historische Kritik nichts von solchen Unterscheidungen. Den Begriff des Mythus auf den ganzen Umfang der Lebensgeschichte Jesu anzuwenden, in allen Theilen derselben mythische Erzählungen oder wenigstens Ausschmückungen zerstreut zu finden, dieſs ist der Standpunkt dieses Verfassers, welcher nicht blos die Wundererzählungen aus der Kindheit Jesu, sondern auch die aus seinem öffentlichen Leben, und nicht blos die an ihm vorgegangenen, sondern auch die von ihm verrichte - ten Wunder unter die Kategorie des Mythischen stellt.
Wenn de Wette den drei ersten Evangelien einen sa - genhaften und zum Theil sogar mythischen Charakter zu - schreibt, und aus diesem ihre Abweichung in den Erzäh - lungen und selbst in ihrer Darstellung der Reden und Leh - ren Jesu erklärt7)Biblische Dogmatik §. 226. (2te Auflage.), wenn er das Wunder bei Jesu Taufe als Mythus betrachtet8)a. a. O. §. 208., wenn er zugiebt, daſs manche von Jesu angeblich verrichtete Wunder in der Überlieferung entstanden, oder doch vergröſsert worden sein mögen9)a. a. O. §. 222., und endlich selbst den Zweifel stehen läſst, ob Jesus leib - lich oder nur geistig auferstanden und wiedererschienen sei10)a. a. O. §. 224.: so scheint er ziemlich auf demselben Standpunkte mit dem zuletzt angeführten Verf. zu stehen, und man be - greift schwer, wie er dazu kommt, den Standpunkt jener Abhandlung als zu weit geführte mythische Ansicht zu bezeichnen11)§. 226. Anm. a.. Es mag dieſs wohl daher rühren, daſs de Wette das Johannes-Evangelium als Richtschnur der51Einleitung. §. 12.Kritik für den Inhalt der Geschichte und Lehre Jesu ge - brauchen zu können glaubt12)In ebendems. §.; wozu noch in dem gan - zen der Geschichte Jesu gewidmeten Abschnitt seiner bi - blischen Dogmatik ein gewisses Schwanken zwischen my - thischer und natürlicher Erklärung kommt13)Vgl. besonders die §§. 222 und 224..
Die ausgedehnteste Anwendung des Begriffs von phi - losophischem Mythus, welchen man aber in Beziehung auf das alte und neue Testament besser als den dogmatischen bezeichnet, auf das Leben Jesu war schon 1799 in der anonymen Schrift über Offenbarung und Mythologie ge - macht worden. Das ganze Leben Christi, heiſst es hier, was er im Allgemeinen thun sollte und wollte, war lange vorher in der Idee und Anschauung der Juden abgezeich - net. Jesus als Individuum war nicht so da, lebte nicht wirklich so, wie er nach den Erwartungen jenes Volkes gelebt haben sollte. Nicht einmal das, worin alle Anna - len, die seine Thaten berichten, übereinstimmen, ist durch - aus wirkliche Thatsache. Aus verschiedenen Volksbeiträ - gen bildete sich eine Volksstimme von seinem Leben, und nach dieser erst sind die Evangelien gemacht14)S. 103 f.. Freilich bemerkte dagegen ein Recensent, der Verfasser scheine doch weniger Historisches anzunehmen, als den Erzählungen wirklich zum Grunde liege; er hätte besser gethan, sich durch nüchterne Kritik des Einzelnen, als durch einen all - gemeinen Skepticismus leiten zu lassen15)In Gabler's neuest. theol. Journal Bd. 6. 4tes Stück. S. 350..
Durch den im Bisherigen dargelegten mythischen Ge - sichtspunkt für die biblische Geschichte hatte man sich der4*52Einleitung. §. 12.alten allegorischen Auslegung wieder genähert. Denn wäh - rend die natürliche Erklärungsweise der Rationalisten sammt der schmähenden der Naturalisten der Richtung angehört, welche mit Aufopferung des göttlichen Gehaltes der heili - gen Geschichte die leere historische Form derselben fest - hält: so geht die mythische wie die allegorische darauf aus, lieber umgekehrt mit Aufopferung der historischen Wirklichkeit des Erzählten seine absolute Wahrheit fest - zuhalten. Nach der den beiden letzteren Erklärungsarten (wie auch der moralischen) zum Grunde liegenden Ansicht giebt der Geschichtschreiber zwar etwas scheinbar Histo - risches: aber ihm bewuſst oder unbewuſst1)Nach Philo hat Moses selbst den tieferen Sinn seiner Schrif - ten beabsichtigt, s. Gfrörer I, S. 94.; auch nach Origenes Comm. in Joann. Tom. 6, §. 2. Tom. 10, §. 4., hat der Pro - phet und Evangelist ein gewisses Bewusstsein des tieferen Sinns seiner Worte und Erzählungen: der mythischen An - sicht zufolge wird sich der Berichterstatter der in seiner Erzählung verkörperten Idee nicht rein als solcher, sondern nur in der Form jener Erzählung bewusst. hat ein hö - herer Geist dieſs Geschichtliche als bloſse Hülle einer über - geschichtlichen Wahrheit oder Meinung zubereitet, und nur der wesentliche Unterschied findet zwischen den zu - letzt angeführten Erklärungsweisen statt, daſs nach der allegorischen dieser höhere Geist unmittelbar der göttliche selbst, nach der mythischen der Geist eines Volks oder einer Gemeinde (nach der moralischen in der Regel der des auslegenden Subjektes) ist, und somit die Erzählung nach der ersteren Ansicht aus übernatürlicher Eingebung sich herschreibt, nach der andern auf dem natürlichen Wege der Sagenbildung sich entwickelt hat; womit noch dieſs zusammenhängt, daſs die allegorische Auslegung (und die moralische) mit der ungebundensten Willkühr jeden Gedanken, den sie für gotteswürdig (moralisch) hält, der Geschichte als Inhalt unterschieben kann, wogegen die my -53Einleitung. §. 12.thische durch die Rücksicht auf die Angemessenheit an den Geist und die Vorstellungsweise eines Volks und einer Zeit in Aufsuchung der den Erzählungen zum Grunde liegen - den Ideen gebunden ist.
Gegen diese neue Ansicht von der heiligen Geschichte sprachen sich übrigens beide Parteien, Orthodoxe wie Ra - tionalisten, aus. Gleich Anfangs, so lange die mythische Auffassung noch innerhalb der Grenzen der A. T. lichen Urgeschichte stand, hat sich von ersterer Seite namentlich Hess gegen dieselbe geäussert2)Grenzbestimmung dessen, was in der Bibel Mythus u. s. f., und was wirkliche Geschichte ist. In seiner Bibliothek der heiligen Geschichte 2. Bd. S. 155 ff.. So unglaublich man es finden mag, so läuft doch der ganze Inhalt seiner ziem - lich umfangreichen Abhandlung auf die drei Schlüsse hin - aus, welche jede weitere Bemerkung überflüssig machen, ausser der, daſs Hess keineswegs der letzte Orthodoxe war, welcher die mythische Erklärungsart durch solche Waffen bekämpfen zu können meinte. 1) Mythen sind uneigent - lich zu verstehen; nun wollen aber die biblischen Geschicht - schreiber eigentlich verstanden sein: folglich erzählen sie keine Mythen. 2) Mythologie ist etwas Heidnisches; die Bibel ist ein christliches Buch: also enthält sie keine My - thologie. Der dritte Schluſs ist complicirter, und wie sich unten zeigen wird, auch mehrsagend: Wenn blos in den ältesten biblischen Büchern, die weniger historisch ver - bürgt sind, Wunderbares vorkäme, in den späteren aber nicht mehr, so könnte man das Wunderbare für ein Kenn - zeichen des Mythischen halten; nun aber kommt das Wun - derbare in den späteren, unleugbar historischen Büchern noch ebenso vor, wie in den frühsten: folglich kann es nicht als ein Kriterium des Mythischen gelten. Selbst die schaalste natürliche Erklärung, wenn sie nur noch etwas von Geschichte stehen lieſs, mochte sie auch jeden höhe -54Einleitung. §. 12.ren Inhalt derselben vernichten, war diesen Orthodoxen noch lieber, als die mythische Auslegung. Das Schlech - teste von natürlicher Deutung ist doch gewiſs jene Eich - horn'sche Ansicht von dem Baum der Erkenntniſs als ei - nem Giftbaum, indem hier die Erzählung vom Sündenfall in dem Stande der tiefsten Erniedrigung und Entäusserung von ihrem absoluten Gehalte erscheint, wogegen desselben Gelehrten spätere mythische Erklärung der Erzählung ei - nen immerhin würdigen Gedankeninhalt in derselben fin - det3)s. o. §. 6.. Dennoch erklärte sich Hess mit der ersteren Deu - tung weit mehr zufrieden, und nahm sie gegen die späte - re, mythische in Schutz4)Bibl. d. h. G. 2, S. 251 f.: — so gewiſs ist es, daſs ei - nem solchen Supranaturalismus nach der Weise der Kin - der die bunte historische Hülse, auch ausgeleert von jedem göttlichen Inhalte, doch immer noch weit lieber ist, als der reichste Inhalt, welchem man jenes farbige Gewand ausgezogen.
So unangenehm es aber den Orthodoxen war, durch die aufkommende mythische Erklärungsweise in ihrem hi - storischen Glauben gestört zu werden, so waren doch die Rationalisten nicht minder ungehalten, daſs das kunstrei - che Gewebe ihres Pragmatismus durch dieselbe zerrissen und die Kunststücke ihres natürlichen Erklärens nun mit Einemmale für verlorene Mühe erklärt werden sollten. Nur ungern läſst Dr. Paulus die Ahnung an sich kommen, daſs man in Bezug auf seinen Commentar vielleicht aus - rufen werde: wozu alle die Mühe, dergleichen Legenden historisch zu erklären? wie sonderbar, daſs man Mythen wie Geschichte behandeln, wunderbare Dichtungen nach dem Causalgesez sich begreiflich machen will5)Exegetisches Handbuch I, a, S. 1. 71.! Der Quä - lerei seiner natürlichen Erklärungen gegenüber erscheint55Einleitung. §. 12.dem genannten Theologen die mythische Auffassungsweise nur als eine Geistesträgheit, welche mit der evangelischen Geschichte auf dem leichtesten Wege fertig zu werden wünsche, deſshalb alles Wundersame und Schwerverständ - liche durch das dunkle Wort: Mythus auf die Seite schie - be, und um sich der Mühe der Sonderung des Wunder - baren vom Natürlichen, des Faktums vom Urtheil zu über - heben, die ganze Erzählung in die camera obscura alter heiliger Sage zurückstelle6)a. a. O. S. 4..
Mit noch stärkerer Miſsbilligung hatte sich Greiling gegen Krug's Empfehlung der genetischen d. h. mythischen Wundererklärung ausgesprochen, aber es war ihm begeg - net, fast mit jedem Streich, den er auf diese führen woll - te, vielmehr seine eigene, natürliche Auslegungsweise zu treffen. Unter allen Versuchen, meinte er, dunkle Stellen des N. T. s aufzuklären, könne schwerlich einer der ächt - historischen Auslegung, der Ausmittelung der eigentlichen Thatsachen und ihrer verständigen Absicht nachtheiliger sein (d. h. dem Fürwiz natürlicher Erklärer mehr Abbruch thun), als der Versuch, mit Hülfe einer dichtenden Phan - tasie (so verhält sich die des natürlichen Erklärers, wenn er Nebenumstände einschiebt, von welchen im Text keine Spur ist; der mythische Erklärer verhält sich nicht dich - tend, sondern nur Dichtung erkennend und aufdeckend) der Geschichtserzählung aufzuhelfen. Eine solche unnö - thige, willkührliche Dichtung der Phantasie ist nach Grei - ling die genetische oder formelle Erklärungsart der Wun - der (sezt man noch einen grübelnden Verstand dazu, so ist genau die natürliche Erklärung geschildert). Viele Thatsachen, die sich als solche wohl noch retten lassen, heiſst es weiter, werden dadurch entweder in das Fabel - land gespielt, oder an deren Stelle selbsterfundene Dich - tungen gesezt (mit Unterschiebung solcher Dichtungen giebt56Einleitung. §. 12.sich nur etwa die historisch-mythische Erklärungsweise ab, aber eben sofern sie keine ächt-mythische, sondern mit der natürlichen identisch ist). Namentlich eine Erklärung der Wunder, meint Greiling, dürfe das Faktum selbst nicht verändern und durch die Auslegung taschenspielerisch ein andres unterschieben (was nur die natürliche Erklärung thut), sonst würde ja das dem Verstand anstöſsige Objekt nicht erklärt, sondern das vorausgesezte Faktum geleug - net, womit die Aufgabe nicht gelöst wäre (es ist falsch, zu behaupten, daſs ein Faktum zur Erklärung vorliege; was unmittelbar vorliegt, ist nur ein Bericht, von welchem erst ausgemacht werden muſs, ob ihm ein Faktum zum Grunde liegt, oder nicht). Statt dessen müssen nach dem angeführten Gelehrten namentlich die von Jesu verrichte - ten Wunder natürlich, näher psychologisch, erklärt wer - den, wobei man dann am wenigsten Ursache habe, die er - zählten Thatsachen zu verändern, zu beschneiden, mit Dichtungen so lange zu versetzen, bis sie selbst zur Dich - tung werden (mit welchem Rechte dieſs der natürlichen Erklärungsweise nachgerühmt wird, geht schon aus dem Bisherigen hervor)7)Greiling in Henke's Museum 1, 4, S. 621 ff..
Ueberhaupt, durchgeht man die Gründe, mit welchen von den bezeichneten beiden Seiten die mythische Erklä - rungsweise bekämpft worden ist: so findet man zum grö - ſseren Theile nur Miſsverständnisse und Cirkel im Beweise. Was soll man z. B. sagen, wenn Paulus die Einleitung zu seinem exegetischen Handbuch mit einer Freude darüber eröffnet, daſs das Lukas-Evangelium in seinem Prologe uns recht angelegentlich von der Glaubwürdigkeit der ge - sammelten Thatsachen, und von der prüfenden Sorgfalt des Sammlers versichere; wenn er zuversichtlich fragt, was dadurch entschiedener werde, als daſs wir in diesem Evan - gelium keine Mythen, sondern reine Thatsachen bekommen57Einleitung. §. 12.sollen, da doch Niemand mythische Dichtungen mit einem solchen Vorwort beginnen würde. Diese ganze Argumen - tation fällt durch die einfache Unterscheidung, daſs Lukas zwar allerdings so nicht sprechen konnte, wenn er das von ihm zu Erzählende selbst als Mythen erkannte, gar wohl aber, wenn er davon nichts ahnte, was nach dem Geiste seiner Zeit zum Voraus wahrscheinlich ist. Eben - damit fällt das Andere, was Dr. Paulus hinzusezt, es sei nicht begreiflich, wie es dem Pauliner Lukas möglich ge - wesen wäre, Mythisches in sein Evangelium aufzunehmen, da gerade sein Lehrer Paulus so oft und stark gegen ju - daisirende Mythen eifere (1. Tim. 1, 4. 4, 7. Tit. 1, 14.). Zugegeben auch die paulinische Authentie der citirten Brie - fe, und das enge Verhältniſs des Verfassers des dritten Evangeliums zum Apostel Paulus, so waren einmal die in jenen Briefen bekämpften Mythen offenbar andrer Art, nämlich unerbauliche Ausgeburten einer jüdischen oder christlichen Gnosis, wogegen das, was in dem Evangelium als my[stis]ch in Anspruch genommen wird, auf die erbau - lichste Weise christlichen, wenn auch judaisirenden, Ideen dient; dann aber konnte den Lukas die paulinische Abnei - gung gegen Mythen nicht von der Aufnahme solcher Er - zählungen abhalten, welche er selbst nicht als Mythen er - kannte. Aber freilich, Dr. Paulus kennt in Bezug auf das N. T. nur eine absichtliche Einkleidung in Mythen, um welche also auch Lukas bei der Aufnahme mythischer Stücke in sein Evangelium gewuſst haben müſste, und stüzt so eine irrige Voraussetzung durch eine andre noch verkehrtere.
Das Wort Mythus, erklärt er in dieser Beziehung8)a. a. O. S. 2 ff., sollte schon deſswegen auf die evangelische Geschichte nicht angewendet werden, weil man es bei dieser Anwendung in einem ganz andern Sinn nehmen müsse, als die Wort - bedeutung und der ursprüngliche Gebrauch mit sich brin -58Einleitung. §. 12.ge. Von der alten classischen Mythologie nämlich hat Paulus die richtige Einsicht, daſs in ihr die Voraussetzung eines Eingreifens höherer Wesen in das menschliche Trei - ben nicht blos Einkleidung, noch weniger frommer Betrug gewesen sei; es stand, wie er ausdrücklich versichert, nicht so, als ob die Menschen, und namentlich die Dichter, die sichtbaren und natürlichen Ursachen der Fakta für sich richtig gewuſst, und nur zur Verherrlichung des Gesche - henen die übersinnlichen Ursachen hinzugedacht hätten: vielmehr haben alle, und auch die Dichter, das Dasein und Einwirken unsichtbarer Wesen so gewiſs, als das Sichtbare selbst, geglaubt. Nun aber auf die Anfänge der N. T. lichen Geschichte angewendet, solle, meint Dr. Pau - lus, das Wort Mythus gewöhnlich die Bedeutung einer Einkleidung haben, in welche man erst in der Folgezeit die frühsten, nicht genau bekannten Ereignisse absichtlich eingehüllt habe; es solle also hier nicht wie dort eine be - wuſstlose, unwillkührliche, sondern eine bewuſste und ab - sichtliche Dichtung bezeichnen. Allein wer giebt dem ge - nannten Ausleger das Recht, einen so verkehrten Begriff von N. T. lichen Mythen zum Grunde zu legen, als sollten sie künstliche Produkte absichtsvoller Dichtung sein, eine Vorstellung, welche von allen, die auf gründliche Weise über Mythen in der heiligen Geschichte gehandelt haben, ausdrücklich ausgeschlossen worden ist? 9)s. o. §. 8. namentlich die in Anmerkung 2 und 7. angeführ - ten Schriften. — In demselben Irrsal mit Paulus zeigt sich auch Hess in der oben angeführten Abhandlung befangen, wenn er daraus, dass die biblischen Schriftsteller eigentlich verstanden sein wollen, beweisen zu können meint, dass ihre Erzählungen keine Mythen seien.Freilich denkt er sich die Sache eigentlich so, im classischen Alterthum sei das Mythische die psychologische Täuschung der bei der Sache Gegenwärtigen, Mitredenden und Mithandeln -59Einleitung. §. 12.den gewesen, welche durch natürliche Erklärung zurecht zu stellen sei; wogegen die im N. T. angenommenen My - then die auf vergangne Fakta zurückgetragne Meinung der später Lebenden enthalten, und dadurch der natürlichen Erklärung entzogen werden sollen. Allein, was Paulus als Beleg dieser Ansicht von der heidnischen Mythologie an - führt, das sind doch nur solche Punkte, wie Begeisterung des Dichters durch die Musen, Einsprache der Götter im Traum u. dgl., was nur mythische Vorstellungen, nicht aber eigentliche Mythen sind; diese selber, die mythischen Erzählungen, z. B. vom Argonautenzug, vom trojischen Krieg u. s. f., würde ihm doch schwer fallen, aus psy - chologischer Täuschung der Mitlebenden zu erklären, und es würde ihm kaum etwas Andres übrig bleiben, als sie für zurückgetragene Vorstellungen der Nachgeborenen zu halten, also sie ebenso zu behandeln, wie, wer im N. T. Mythen anerkennt, mit diesen verfährt.
Kaum einer Erwähnung werth sind solche Einwände, wie man sie dessen ungeachtet nicht selten noch zu lesen und zu hören bekommt: da das Christenthum eine histo - rische Religion sei, so können in seinen Urkunden keine Mythen sich finden (als ob nicht nach der vorgefundenen Beschaffenheit der Urkunden unsre Vorstellung von dem historischen Charakter des Christenthums sich zu richten hätte); mythologisch sei nur der Polytheismus, der Mono - theismus sei antimythologisch; bei den Völkern, welche Mythen haben, laufe Alles auf das Suchen eines Höheren, einer Gottheit hinaus, und so lasse sich der Mythenbegriff auf das A. und N. T. schon deſshalb nicht anwenden, weil in ihnen die Lehre von dem wahren Gott schon ge - funden sei10)Werner, geschichtliche Auffassung der 3 ersten Kapitel des ersten Buchs Mosis, S. 49. (allerdings drückt die mythische Darstellung ein Suchen und Ringen, das noch nicht gefunden hat,60Einleitung. §. 12.aus, aber nicht nach einem Inhalte, der nun im Christen - thum gefunden wäre, sondern nach einer Form, der des klaren Begriffs, und diese war in der ersten Christenge - meinde noch nicht vorhanden, weſswegen sich in ihr, un - erachtet ihrer Erkenntniſs der religiösen Grundwahrheiten, doch ein Bedürfniſs nach mythischer Darstellung derselben äussern konnte). Wenn ferner geltend gemacht wird, die angeblich mythischen Erzählungen im N. T. seien viel zu genau und umständlich auch in Nebenzügen, die man sich nicht die Mühe genommen haben würde, zu erdichten11)Heydenreich, über die Unzulässigkeit der mythischen Auf - fassung des Historischen im N. T. 1. Abthl. S. 87.: so braucht man sich nicht einmal mit Horst zu bemühen, daran zu erinnern, daſs gerade diese redselige Umständ - lichkeit einer Erzählung als Kennzeichen des Sagenhaften und Dichterischen angesehen werden könne, da der ernste Geschichtschreiber selten so glücklich sei, mit den Bege - benheiten so ganz bis auf deren leiseste Schattirungen ins Reine zu kommen12)In Henke's Museum I, 4, S. 705.; sondern man darf in der Regel bei demselben Verfasser nur einige Blätter umschlagen, um ge - rade auf die entgegengesetzte Argumentation zu stossen, wie sich nämlich da oder dort eine fingirte Legende deſs - wegen nicht annehmen lasse, weil in einer solchen Alles ausführlicher und ausgeschmückter sich zeigen müſste13)Heydenreich a. a. O. S. 91.. Indem so die Erzählung der Evangelisten bald zu ausführ - lich, bald zu wenig ausführlich, das Einemal zu genau bis in die kleinsten Züge hineingezeichnet, das Andremal nicht ausgemalt genug sein soll, um für mythisch angese - hen werden zu können, indem also die Bestreiter der my - thischen Auffassung sich das Entgegengesetzte gleicherwei - se zu Nutze zu machen wissen: so kann man sie in die - sem Stücke durch ihren eigenen Widerspruch als wider -61Einleitung. §. 12.legt betrachten. Übrigens hat gegen das zuletzt angeführte Argument Schneckenburger mit Recht erinnert, daſs es auch im Kreise des Mythischen ein Mehr oder Minder ge - be14)Über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums S. 72., was näher dahin zu bestimmen ist, daſs die My - thenproduktion überall zwei Perioden, eine primäre und eine secundäre hat, und daſs die gesunden Produkte der ersten immer, wie unsre kanonischen Evangelien, durch edle Simplicität, die krankhaften Erzeugnisse der zweiten aber durch Unnatur und Übertreibung, wie die N. T. li - chen Apokryphen, sich bemerkbar machen. Verdienter - maſsen hat daher schon Schelling über diejenigen, wel - che, um den mythischen Charakter einer alten Sage zu be - streiten, mit groſsem Triumph ausrufen: es ist doch gar keine Kunst in ihr bemerkbar, sie ist viel zu einfältig, sie macht zu wenig Jagd auf das Wunderbare, als daſs man sie einen Mythus nennen könnte, — das procul este profani! ausgesprochen15)In der §. 8. Anm. 2. angeführten Abhandlung, am Schlusse..
Was einer der neuesten Bestreiter der mythischen Aus - legung, Heydenreich, insbesondere gegen die Wunderscheue, als die Hauptquelle, wie der alten natürlichen, so der neuen mythischen Ansicht vorbringt16)a. a. O. S. 46 ff. 61 ff., ist theils gar zu obso - let, theils für seine eigne supranaturalistische Ansicht ge - fährlich. Einer verschollenen Weltansicht gehört es an, wenn er sagt, obgleich Gott für gewöhnlich nur mittelbar auf die Welt einwirke, so werde doch hiedurch nicht aus - geschlossen, daſs er nicht bisweilen ausnahmsweise auch unmittelbar auf dieselbe sollte wirken können, sobald er es zur Erreichung eines besondern Zweckes nöthig finde, und wenn sofort an den einzelnen göttlichen Eigenschaften der Reihe nach gezeigt wird, wie ihnen ein solches Ein - wirken nicht widerspreche, und an den einzelnen Wun -62Einleitung. §. 12.dergeschichten, wie bei ihnen gerade ein göttliches Eingrei - fen ganz besonders schicklich gewesen sei. Wenn aber hierauf Heydenreich, nach Herder's Vorgange17)Von Gottes Sohn, der Welt Heiland, nach Johannes Evange - lium. S. 18 ff. 116 ff., manche Wunder als symbolische Vorgänge betrachtet, wenn er be - merkt, es habe sich durch dieselben wie im leiblichen Sinn - bilde dasjenige dargestellt, was Jesus an der Menschheit geistig bewirken sollte; es habe, wenn er körperlich Kran - ke heilte und Todte erweckte, dadurch die Heilung der kranken, die Neubelebung der sittlich erstorbenen Seele symbolisch angedeutet und das Verlangen nach solcher gei - stigen Hülfe geweckt werden sollen: so führt er durch diese Betrachtungsweise die gefährliche Möglichkeit herbei, diesen symbolischen Charakter der Wundergeschichten so zu verstehen, daſs der Geist der ersten Christengemeinde sich eben jene Ideen in der symbolischen Hülle nicht wirk - lich vorgefallner Geschichten zum Bewuſstsein zu bringen gesucht habe.
Der gewichtigste, oder eigentlich der einzige gewich - tige Einwurf, welchen die Bestreiter des mythischen Ge - sichtspunktes für die Erklärung des N. T. s vorbringen, ist der, daſs der Ursprung zweier Evangelien von Augenzeugen, und auch bei den beiden andern die wahrscheinlich sehr frühe Abfassung das Einschleichen unhistorischer Sagen in dieselben undenkbar mache; weſswegen sich dann auch dieser Einwurf bei den neuesten, von dem mythischen Standpunkt her besonders bedrohten Auslegern vorzüglich häufig wiederholt. Die dabei zum Grunde liegende An - sicht über den Ursprung unsrer Evangelien wird theils auf innere Gründe, theils auf äussere Zeugnisse gestüzt. In ersterer Beziehung sind alle diejenigen Stücke in den Evan - gelien, welche sich weigern, anders als mythisch sich aus - legen zu lassen, eben so viele innere Gründe gegen die63Einleitung. §. 12.Voraussetzung einer Abfassung derselben durch Apostel oder solche, welche unmittelbar von Aposteln ihre Erkun - digungen eingezogen hätten; auf innere Gründe also kann die Authentie der Evangelien nicht gebaut werden, ehe sämmtliche Erzählungen derselben darauf angesehen sind, ob sie eine historische oder eine mythische Auffassung ver - langen. Freilich, wenn die äussern Zeugnisse für einen apostolischen Ursprung der Evangelien zwingend wären: so würde dieſs ein bedenkliches Hinderniſs der mythischen Ansicht von ihren Berichten sein. Allein so sind jene äus - sern Gründe keineswegs beschaffen. Denn so hoch gehen doch die Zeugnisse weder für das Matthäus - noch für das Johannes-Evangelium hinauf, daſs uns ein Bekannter die - ser Apostel die Mittheilung machte, sie haben Evange - lien, und zwar eben diejenigen geschrieben, welche wir jezt unter ihren Namen lesen. Für das johanneische Evan - gelium findet sich gerade bei Polykarpus, welcher den Jo - hannes gekannt haben soll, nicht blos in dem, was uns von ihm Schriftliches übrig ist, kein Zeugniſs, sondern auch Irenäus, sein Schüler, weiſs sich für die Ächtheit je - nes Evangeliums auf keinen Ausspruch seines Lehrers zu berufen18)de Wette, Einleitung in das N. T. §. 109 (2te Auflage).. Auch aus Papias, der als Ἰωάννου ἀκου[ς]ὴς be - zeichnet wird, wissen die Väter, welche die alten Zeug - nisse für unsre Evangelien sorgfältig aufgesammelt haben, nichts für das johanneische Evangelium beizubringen. Da - gegen bezeugt Papias von Matthäus, daſs er ein Evange - lium (denn das will er allerdings durch τὰ λόγια bezeich - nen19)vgl. Lücke, in ullmann's und umbreit's Studien, 1833, 2. Heft S. 499 ff., gegen Schleiermacher, über Papias Zeugnisse von unsern beiden ersten Evangelien, Studien, 1832, 4, S. 736 ff.) geschrieben habe20)Euseb. H. E. 3, 39.; allein theils wird Papias nicht wie des Johannes, so auch des Matthäus Bekannter64Einleitung. §. 12.genannt; theils führt er keine Stellen aus dem von ihm dem Matthäus zugeschriebenen Werke an, aus welchen wir beurtheilen könnten, ob es dasselbe mit dem uns vor - liegenden angeblichen Matthäus-Evangelium sei; theils end - lich hat nach ihm Matthäus hebräisch geschrieben, und daſs nun unser erstes Evangelium gerade eine Uebersetzung die - ser Apostelschrift sei, beurkundet weder er noch ein andrer Kirchenschriftsteller, sondern man sezt es nur voraus. Man wird die Forderung überspannt nennen, für die Au - thentie eines Buchs ein Zeugniſs von einem Bekannten des Verfassers, also gleichsam von einem Augenzeugen des Aktes der Abfassung und einem Ohrenzeugen der Versiche - rung des Autors, es geschrieben zu haben, zu verlangen. Sie wäre es, wenn es sich nur um Wahrscheinlichkeit, wenn auch noch so hohe, der Authentie einer Schrift han - delte: hier aber wird Nothwendigkeit, oder ein Zeugniſs verlangt, welches uns auch gegen das etwaige Ergebniſs der inneren Kritik doch bei der Annahme eines apostoli - schen Ursprungs der genannten Evangelien zwingend fest - hielte. Ein zwingendes Zeugniſs müſste die angeführte Beschaffenheit haben, und da ein solches fehlt: so bleibt uns die Möglichkeit offen, je nach der inneren Beschaf - fenheit jener Evangelien sie als Werke von Aposteln oder Nichtaposteln zu behandeln. — Die beiden mittleren Evan - gelien sollen Werke von Apostelgehülfen sein. Vom zweiten meldet Papias, aus dem Munde des πρεσβύτερος Ἰωάννης, daſs es von Markus, der dem Apostel Petrus als Dolmetscher gedient, aus Erinnerungen an dessen Vor - träge geschrieben worden sei21)Bei Eusebius a. a. O., und Andre lassen diese Schrift noch dazu von Petrus durchgesehen und gebilligt werden22)Clem. Alex. bei Eusebius H. E. 2, 15.. Allein wie sich diese leztere Notiz durch den eigenen Widerspruch ihres Gewährsmanns wider -65Einleitung. §. 12.legt23)Derselbe ebendaselbst 6, 14. Vgl. de Wette, Einleitung in das N. T. §. 99.: so trifft die erstere Angabe, daſs Markus nach den Vorträgen des Petrus, also nach einer eigenthümlichen Quelle gearbeitet habe, bei unsrem jetzigen zweiten Evangelium durchaus nicht zu, welches augenscheinlich aus Matthäus und Lukas zusammengeschrieben ist24)Dies ist zur Evidenz erhoben durch Griesbach in der Com - mentatio, qua Marci Evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse demonstratur. In dessen opus - cula acad. ed. Gabler Vol. 2. No. XXII. Vgl. Saunier, über die Quellen des Evangeliums des Markus, 1825.; abgesehen davon, daſs das οὐ τάξει, welches Papias von der Schrift des Markus prädicirt, auf die uns vorliegende in keiner Hinsicht An - wendung finden kann, so daſs auch hier der anfängliche Schein verschwindet, als rede Papias von unsrem jetzigen Markus-Evangelium25)Vgl. Schleiermacher a. a. O.. — Das Lukas-Evangelium hat ein starkes Zeugniſs seiner Abkunft von einem Apostel - schüler in der Apostelgeschichte desselben Verfassers, in welcher er einigemale als Begleiter des Paulus nament - lich auch auf seiner Reise nach Rom, erscheint. Und zwar hat man aus dem abgebrochenen Schluſs der Apostel - geschichte, welcher nur noch eines zweijährigen Aufent - halts Pauli zu Rom, aber keines Ausgangs seiner Sache Meldung thut, folgern zu dürfen geglaubt, daſs Lukas die Apostelgeschichte eben während seines Zusammenseins mit Paulus in Rom, in den Jahren 63 — 65 geschrieben, folg - lich sein Evangelium, welches er im Eingang der Apostel - geschichte als den πρῶτον λόγον bezeichnet, etwas früher, also zu einer Zeit verfaſst habe, in welcher er bei Paulus und andern Aposteln die genauesten Erkundigungen über das Leben Jesu einziehen konnte. Allein aus dem Schwei - gen der Apostelgeschichte über den weiteren Verlauf und das Ende der Gefangenschaft des Paulus ihre Abfassung während der Dauer von dieser zu schlieſsen, ist ein un -Das Leben Jesu I. Band. 566Einleitung. §. 12.zulässiges argumentum ex silentio, welches, um einiges Gewicht zu bekommen, durch innere Gründe verstärkt werden müſste26)Vgl. de Wette, Einleitung in das N. T. §. 116.; so daſs Lukas immerhin sein Evange - lium möglicherweise viel später, und zu einer Zeit geschrie - ben haben könnte, in welcher er der Unterstützung des Paulus (der übrigens mit den Thatsachen des Lebens Jesu nur mittelbar, und wegen seines seltenen Zusammenseins mit Aposteln auch nur unvollkommen bekannt gewesen zu sein scheint), und ebenso der übrigen Augenzeugen ent - behrte, also der Möglichkeit ausgesetzt war, im Geiste seiner Zeit mythische Elemente unter die historischen aufzunehmen.
Ist somit, die Augenzeugenschaft, oder ein solches Verhältniſs zu Augenzeugen, welches die Aufnahme von Mythen undenkbar machte, von keinem der Verfasser unsrer Evangelien durch äussere Zeugnisse streng zu be - weisen: so fragt sich noch, ob nicht, abgesehen von den Verfassern, die Zeit ihrer Abfassung so frühe zu setzen ist, daſs sie die Annahme mythischer Nachrichten in den - selben unmöglich macht? Da dieſs, in Ermanglung ver - läſslicher Zeugnisse, nur aus der inneren Beschaffenheit der Evangelien erhellen kann: so wollen wir uns, um der folgenden Untersuchung nicht vorzugreifen, vorläufig nur etwa dreissig Jahre Zwischenzeit zwischen Jesu Tod und der Entstehung unsrer Evangelien ausbedingen. Wer die Möglichkeit der Entstehung von Mythen in dieser Zwi - schenzeit leugnete, der würde, um mit Usteri27)In Ullmann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, Jahr - gang 1832, 4tes Heft, S. 787 f. zu re - den, wenig Kenntniſs davon verrathen, wie kurze Zeit dazu nöthig ist, daſs nicht etwa blos verborgene und ge - heime, sondern öffentliche und bekannte Thatsachen durch die Tradition eine neue Wendung und einen Anstrich des Wunderbaren erhalten, wenn einmal die Gemüther hiezu disponirt sind. Herodot bezeugt (1, 95.), daſs zu seiner67Einleitung. §. 12.Zeit, also beiläufig 70 Jahre nach Cyrus Tode, ausser dem von ihm mitgetheilten Berichte solcher über Cyrus, welche nicht darauf ausgehen, σεμνοῦν τὰ περὶ Κῦρον, noch τριφα - σίας ἄλλας λόγων ὁδοὺς φῇναι. Wenn Heydenreich gegen diese Instanz zuversichtlich fragt, welches von unsern Evangelien denn, wie von den Urhebern der von Herodot verworfenen Berichte nach seinen Worten vorausgesetzt werden müsse, ein βούλεσϑαι σεμνοῦν τὰ περὶ Ἰησοῦν zeige?28)a. a. O. 2te Abtheilung, S. 55 f. so antworten wir eben so getrost: alle. Wenn er aber weiter mit Paulus bemerkt, daſs in dem angeführten Falle der zwischen Faktum und Sagenbildung liegende Zeitraum ungleich gröſser sei, als der zwischen Jesu Tod und dem Ursprung unsrer Evangelien anzunehmende29)Heydenreich a. a. O. Paulus exeget. Handbuch I, a, S. 61.: so haben wir uns allerdings hiefür keine 70 Jahre erbeten, sondern vorläufig nur dreissig. Wenn aber nun Paulus, als ob das angeführte Beispiel die kürzeste Zeit für mögliche Sagen - bildung angäbe, darauf sogleich die Behauptung baut, daſs nur etwa erst in der dritten Generation nach dem Faktum mythische Verschönerungen ihren Anfang nehmen können: so sind ihm aus demselben Herodot die offenbaren Legen - den entgegen zu halten, welche dieser nicht blos über Cy - rus, sondern auch über den nur etwa 30 Jahre hinter der Abfassungszeit seiner Geschichte zurückliegenden zweiten Perserkrieg zu erzählen weiſs, wie, daſs das von den Bar - baren bedrohte Delphi durch Erdbeben und kämpfende Heroën gerettet worden sei (8, 37 f.); daſs der von den Persern verbrannte heilige Oelbaum auf der athenischen Burg über Nacht wieder einen ellenhohen Sproſs getrieben (8, 55.); daſs zum Beginne der Salaminischen Schlacht ein φάσμα γυναικὸς mit vernehmlichen Worten aufgefordert habe (8, 84.). Freilich gerade gegen Dr. Paulus ist mit diesen Instanzen wenig auszurichten, da vor seinem Scharf -5*68Einleitung. §. 12.sinn auch die angeführten Herodotischen Wunder sich als - bald in natürliche aber treu berichtete Begebenheiten ver - wandeln werden, wie er ja manche profane Mythen, de - ren man sich als Analogieen zur Unterstützung der mythi - schen Ansicht von gewissen neutestamentlichen Erzählun - gen zu bedienen pflegt, durch Umdeutung in wirkliche, aber natürliche Vorfälle zu jener Beweisführung unbrauch - bar zu machen gesucht hat. Wenn aber der genannte Ge - lehrte darauf noch besonderes Gewicht legt, wie undenk - bar es sei, daſs sich in Palästina selbst, wo die Augenzeu - gen noch lebten, Sagen über Jesum und Sammlungen von solchen gebildet haben: so darf man sich hier nur die Vorstellungen von Palästina und von Augenzeugen näher entwickeln, um zu sehen, daſs sie die Entstehung von Sa - gen in so früher Zeit keineswegs undenkbar machen. Zu - gegeben, daſs sich diese Sagen alle in Palästina gebildet haben: wer sagt uns denn, daſs dies gerade an denjeni - gen Orten geschehen sein müsse, wo Jesus am längsten sich aufgehalten hatte, wo also seine wahren Schicksale bekannt waren? Was aber die Augenzeugen betrifft, so müſste, sofern die Apostel darunter verstanden sein sol - len, diesen eine wahre Allgegenwart zugeschrieben wer - den, wenn sie an allen Orten und Enden, wo unhistori - sche Sagen über Jesum aufkeimten und fortwucherten, zu deren Ausjätung sollten zugegen gewesen sein; Augen - zeugen im weiteren Sinne dagegen, welche Jesum nicht ununterbrochen begleitet, sondern ihn nur das eine oder andere Mal gesehen hatten, muſsten wohl sehr geneigt sein, die Lücken ihrer Kenntniſs von seinem Lebensgang durch mythische Vorstellungen auszufüllen. Daſs endlich zu Lebzeiten der Apostel auch schon Sammlungen von Sagen über das Leben Jesu in allgemeinen Umlauf ge - kommen, und daſs namentlich eines von unsern Evange - lien einem Apostel bekannt und von ihm anerkannt wor - den sei, wird niemals bewiesen werden können.
69Einleitung. §. 12.Ein besonders kräftiges und erfreuliches Wort hat noch am Ende seiner Laufbahn Usteri für die mythische Auffassung mancher N. T. lichen Erzählungen ausgespro - chen30)Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull - mann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 1832, 4tes Heft, 781 ff.. Wie er diejenigen bekämpft, welche die Zeit zwischen den Begebenheiten und der Abfassung der Evan - gelien für zu kurz halten zur Ausbildung von Mythischem, ist theils oben angegeben, theils macht er noch auf den religiösen Sinn und die keineswegs unpoëtische Natur des jüdischen Volkes, als auf die günstigste Disposition zu dergleichen Produktionen, aufmerksam; auf ähnliche Wei - se begegnet er dem Einwand, die evangelischen Erzählun - gen seien viel zu vortrefflich, als daſs sie erdichtet sein könnten, durch die Bemerkung, daſs sie nur eine Vertraut - heit mit dem A. T. nebst einigem plastischen Sinne voraus - setzen, den man den ersten geistbegabten Christen am we - nigsten Grund habe, abzusprechen. Namentlich, meint der angeführte Theologe, sollten diejenigen, welche stets dar - auf dringen, daſs man die orientalische Phantasie und Be - geisterung doch ja nicht mit dem scholastischen occidenta - lischen Sinne verwechsle (Dr. Paulus), nicht die Unmög - lichkeit behaupten, daſs von einem religiösen Palästinen - ser, zumal auf Veranlassung einer Tradition, solche sym - bolisch-dogmatische Scenen, wie die vorausgesetzten evan - gelischen Mythen sind, haben erdichtet werden können. Sollte es denn, fragt er, ausser abgeschmackten und be - trügerischen Fiktionen und historischen Relationen von Au - gen - und Ohrenzeugen nicht noch ein Drittes geben kön - nen? Nur muſs man sich nach Usteri die Entstehung sol - cher Erzählungen nicht so denken, es habe sich Einer zu seinem Tisch gesetzt und aus seinem eignen Kopfe der -70Einleitung. §. 12.gleichen, wie Dichtungen, verfertigt und niedergeschrie - ben; sondern der Ursprung derselben verliert sich in ein Dunkel, wie bei jeder Sage, und ist nicht mehr nachweis - bar; sie entstanden allmählig, gewannen allmählig Con - sistenz, und das bleibende Resultat sind unsre schriftlichen Evangelien. Auch von den oben gerügten beiden Fehlern einer unreinen Auffassung und einer unvollständigen An - wendung des Begriffs von Mythus hat Usteri den ersteren durch die richtige Einsicht vermieden, welche er aus - spricht, wie viel an den so entstandenen Mythen geschicht - liche Grundlage auf der einen und poëtische Symbolik auf der andern Seite sei, lasse sich jetzt nicht mehr unter - scheiden, durch kein noch so scharfes kritisches Messer lassen sich diese beiden Elemente jetzt noch von einander sondern, höchstens könne es zu einer gewissen Wahr - scheinlichkeit gebracht werden, daſs bei der einen Sage mehr Historisches zu Grunde liege, bei einer andern mehr das Poëtische und Symbolische vorherrsche. Auf den Um - fang der Anwendbarkeit des Mythusbegriffs bezieht sich die Bemerkung Usteri's, wenn Mythen nur in einer vor - geschichtlichen Zeit sich bilden können, so haben wir auch im N. T. eine relativ vorgeschichtliche Zeit, nämlich die vor dem öffentlichen Auftritt Jesu und seinem Zusammen - sein mit den Jüngern; über diese Periode haben daher ganz natürlich mythische Erzählungen entstehen können. Hier zeigt sich Usteri in dem oben gerügten Fehler einer ungehörigen Beschränkung des Mythischen in der Lebens - geschichte Jesu noch befangen. Eine solche Schranke will sich nirgends ziehen lassen, und sowohl vom Anfang als vom Ende der evangelischen Geschichte dringt das Mythi - sche mit Macht auch in den Kern derselben ein. Setzt man nämlich von vorn herein die Taufe Jesu durch Jo - hannes als den Endpunkt des Mythischen: so ist nicht nur diese selbst noch mythisch erzählt, sondern es folgt auf71Einleitung. §. 12.sie die auch von Usteri mythisch gefaſste Versuchungsge - schichte; einmal aber durch jene Pforte eingedrungen, weiſs ich nicht, ob der Mythusbegriff nicht auch noch an - dere Erzählungen aus der Periode des öffentlichen Lebens Jesu sich vindiciren wird, wie das Wandeln auf dem Meer, den Stater im Fischmaul u. dgl. Ebenso, wenn man am Ende der Geschichte Jesu zwar die Himmelfahrt mit ihren Engeln der mythischen Auffassung preiſsgeben will: so findet sich doch auch in der Engelerscheinung am Grabe des Auferstandenen etwas Analoges, und noch weiter zu - rück in dem Engel in Gethsemane etwas, das deutlich nach Legende schmeckt, endlich selbst die am Anfang der Lei - densverkündigung stehende Verklärungsgeschichte will sich so wenig als die Himmelfahrt einer historischen Auffassung bequemen: so daſs, jener willkührlichen Grenzmarken spot - tend, das Mythische auf allen Punkten der Lebensgeschich - te Jesu zum Vorschein kommt.
Wer gegen diesen Augenschein dennoch darauf beste - hen wollte, daſs die historische Zeit, in welche das öffent - liche Leben Jesu fällt, die Bildung von Mythen über dasselbe undenkbar mache, dem ist zu erwiedern, daſs um ein groſses Individuum, zumal wenn an dasselbe eine in das Leben der Menschen tief eingreifende Umwälzung ge - knüpft ist, sich frühzeitig, selbst in der trockensten histo - rischen Zeit, ein unhistorischer Kreis sagenhafter Verherr - lichung bildet. Man denke sich eine junge Gemeinde, wel - che ihren Stifter um so begeisterter verehrt, je unerwar - teter und tragischer er aus seiner Laufbahn herausgerissen worden ist; eine Gemeinde, geschwängert mit einer Masse neuer Ideen, die eine Welt umschaffen sollten; eine Ge - meinde von Orientalen, von gröſstentheils ungelehrten Men - schen, welche also jene Ideen nicht in der abstrakten Form des Verstandes und Begriffs, sondern einzig in der con - ereten Weise der Phantasie, als Bilder und Geschichten72Einleitung. §. 12.sich anzueignen und auszudrücken im Stande waren: so wird man erkennen: es muſste unter diesen Umständen entstehen was entstanden ist, eine Reihe heiliger Erzäh - lungen, durch welche man die ganze Masse neuer, durch Jesum angeregter, so wie alter, auf ihn übertragener Ideen als einzelne Momente seines Lebens sich zur Anschauung brachte. Das einfache historische Gerüste des Lebens Je - su, daſs er zu Nazaret aufgewachsen sei, von Johannes sich habe taufen lassen, Jünger gesammelt habe, im jüdi - schen Lande lehrend umhergezogen sei, überall dem Pha - risäismus sich entgegengestellt und zum Messiasreiche ein - geladen habe, daſs er aber am Ende dem Haſs und Neid der pharisäischen Partei erlegen, und am Kreuze gestor - ben sei: — dieses Gerüste wurde mit den manchfaltigsten und sinnvollsten Gewinden frommer Reflexionen[und] Phan - tasieen umgeben, indem alle Ideen, welche die erste Chri - stenheit über ihren entrissenen Meister hatte, in Thatsa - chen verwandelt, seinem Lebenslaufe eingewoben wurden. Den reichsten Stoff zu dieser mythischen Verzierung lie - ferte das alte Testament, in welchem die erste, vornehm - lich aus dem Judenthum gesammelte Christengemeinde lebte und webte. Jesus als der gröſste Prophet muſste in sei - nem Leben und seinen Thaten Alles vereinigt und überbo - ten haben, was die alten Propheten, von welchen das A. T. erzählt, gethan und erlebt hatten; er als der Erneurer der hebräischen Religion durfte hinter dem ersten Gesez - geber in keinem Stücke zurückgeblieben sein31)Die A. T. liche Fundamentalstelle für dieses vorbildliche Verhältniss des Moses zum Messias ist die auch im N. T. A. G. 3, 22. 7, 37. messianisch gedeutete Stelle 5. Mos. 18, 15., wo Moses zu dem Volke spricht: προφήτην ἐκ τῶν ἀδελφῶν σου, ὡς ἐμὲ, ἀναςήσει σοι Κύριος ὁ ϑεός σου, ἀυτοῦ ἀκούσεσϑε (LXX.). Daher denn das jüdische Dogma:; an ihm,73Einleitung. §. 12.dem Messias, endlich muſste Alles, was im A. T. Messia - nisches geweissagt war, in Erfüllung gegangen sein, er konnte nicht anders, als dem von den Juden im Voraus entworfenen Schema des Messias, so weit die in seinen historisch bekannten Schicksalen und Reden an diesem Sche - ma gemachten Abänderungen es erlaubten, entsprochen ha - ben. Daſs bei dieser Uebertragung des Erwarteten in die Geschichte des wirklich Erfolgten, überhaupt bei der my - thischen Ausschmückung des Lebens Jesu keine Art von31)בְגֹאֵל רִאשׁוֺן כֵּן נּיֹאֵל אַחֲרוֺן wie es sich z. B. Midrasch Ko - heleth f. 73, 3. (bei Schöttgen, horae hebraicae et talmudicae, 2, S. 251 f.) ausgesprochen findet: R. Berechias nomine R. Isaaci dixit: Quemadmodum Goël primus (Moses), sic etiam postremus (Messias) comparatus est. De Goële primo quid - nam scriptura dicit? Exod. 4, 20: et sumsit Moses uxorem et filios, eosque asino imposuit. Sic Goël postremus, Zachar. 9, 9.: pauper et insidens asino. Quidnam de Goële primo nosti? Is descendere fecit Man, q. d. Exod. 16, 14.: ecce ego pluere faciam vobis panem de coelo. Sic etiam Goël postremus Manna descendere faciet, q. d. Ps. 72, 16.: erit multitudo frumenti in terra. Quomodo Goël primus compa - ratus fuit? Is ascendere fecit puteum: sic quoque Goël po - stremus ascendere faciet aquas, q. d. Joël 4, 18: et fons e domo Domini egredietur, et torrentem Sittim irrigabit. — Auch auf die Propheten wird dieses vorbildliche Verhältniss zum Messias ausgedehnt, Tanchuma f. 54, 4. (bei Schöttgen a. a. O. S. 74.): R. Acha nomine R. Samuelis bar Nachma - ni dixit: Quaecumque Deus S. B. facturus est לעתיד לבא (tempore messiano) ea jam ante fecit per manus justorum בעולם הוה (seculo ante Messiam elapso). Deus S. B. sus - citabit mortuos, id quod jam ante fecit per Eliam, Elisam et Ezechielem. Mare exsiccabit, prout per Mosen factum est. Oculos caecorum aperiet, id quod per Elisam fecit. Deus S. B. futuro tempore visitabit steriles, quemadmodum in Abrahamo et Sara fecit.74Einleitung. §. 12.betrügerischer Absichtlichkeit und schlauer Erdichtung statt - gefunden, sollte in unsrer Zeit nicht mehr zu bemerken nöthig sein. Sagen eines Volks oder einer Religionspartei sind ihren ächten Grundbestandtheilen nach nie das Werk eines Einzelnen, sondern des allgemeinen Individuums je - ner Gesellschaft, ebendaher auch nicht bewuſst und ab - sichtlich entstanden. Ein solches unmerkliches gemeinsa - mes Produciren wird dadurch möglich, daſs dabei die mündliche Ueberlieferung das Medium der Mittheilung ist; denn während durch die Aufzeichnung das Wachsthum der Sage sistirt, oder doch nachweisbar gemacht wird, wie viel jedem folgenden Schreiber Antheil an den Zuthaten gebühre: so kommt bei mündlicher Ueberlieferung die Sa - che so zu stehen, daſs das Ueberlieferte im zweiten Munde vielleicht nur um Weniges anders sich gestaltet als im er - sten, im dritten ebenfalls nur Weniges hinzukommt im Verhältniſs zum zweiten, auch im vierten dem dritten ge - genüber nichts Wesentliches geändert wird: und doch kann im dritten und vierten Munde der Gegenstand ein ganz an - drer geworden sein, als er im ersten war, ohne daſs ir - gend ein einzelner Erzähler diese Änderung auf bewuſste Weise vorgenommen hätte, sondern sie kommt auf Rech - nung aller zusammen, und entzieht sich eben um dieser Allmählichkeit willen dem Bewuſstsein, wie dieſs schnee - ballartige Anwachsen der Tradition schon von Lessing in Bezug auf die evangelische Geschichte bemerkt worden ist32)Neue Hypothese über die Evangelisten, §. 5. Anmerkung. Lessing's Werke, Berlin bei Voss, 6ter Bd. S. 229..
Nimmt man dieſs Alles zusammen, so wird der An - nahme von Mythen in allen Theilen der evangelischen Ge - schichte wenig mehr im Wege stehen. Die Benennung,75Einleitung. §. 12.Mythen, selbst aber wird bei Verständigen ebenso wenig Anstoſs erregen, als jemals ein bloſses Wort einen solchen hervorbringen sollte. Denn Alles, was durch die Erinne - rung an die heidnische Mythologie jenem Worte Zweideu - tiges anklebt, schwindet ja durch die bisherige Ausfüh - rung, welcher zufolge unter neutestamentlichen Mythen nichts Andres, als geschichtartige Einkleidungen urchrist - licher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage, zu verstehen sind.
Durch das Bisherige ist gezeigt, daſs, wer den my - thischen Standpunkt auf die evangelische Geschichte in An - wendung bringt, nicht einem Einfall von heute, sondern dem vielhundertjährigen Gang der Sache selbst folgt. Nach dieser Rechtfertigung des Standpunkts der folgenden Un - tersuchungen könnte nun aber noch eine Darlegung der leitenden kritischen Grundsätze derselben, und namentlich der Kriterien erwartet werden, durch welche ein Element der evangelischen Geschichte sich als mythisches erweisen soll. Da jedoch diese Grundsätze und Kriterien doch nur aus der durchgearbeiteten Masse einzelner Fälle ihrer An - wendung abstrahirt werden könnten, und abgesehen von diesen sich nicht einmal mit gehöriger Anschaulichkeit dar - stellen lassen: so ist es wohl besser, ihre Exposition dem Verlauf der Untersuchung einzuflechten; ob Einheit in denselben und Consequenz in ihrer Anwendung sei, wird der kundige Leser auch ohne eine vom Verfasser voran - gestellte Zusammenfassung selbst finden. — Was man wei - ter hier erwarten könnte, eine vorgängige Untersuchung über die zu Grunde zu legende Eintheilung des Lebens Jesu in Perioden, hat mehr nur für eine pragmatische Bearbeitung desselben Wichtigkeit, während für die kriti - sche die gewöhnliche Eintheilung beibehalten werden kann; ebenso muſs die weitere Zerfällung des Stoffes in Kapitel und Unterabtheilungen zwar bei einem der reinen Wis -76Einleitung. §. 12.senschaft angehörigen Gegenstande aus diesem selber mit Nothwendigkeit hergeleitet werden, bei einer Kritik hin - gegen, welche den Stoff durchweg von aussen nimmt, dient sie mehr nur der äusseren Bequemlichkeit der Über - sicht, weſswegen über die Freiheit, mit welcher sich in dieser Hinsicht die folgende Untersuchung bewegt, wohl Niemand im Ernste mit dem Verfasser rechten wird.
Dem öffentlichen Auftritt Jesu schicken alle unsre Evangelisten den des Täufers Johannes voraus: seinem er - sten Eintritt in das Leben den Lebensanfang des Täufers voranzustellen, ist dem einzigen Lukas eigen. Diese Er - zählung kann auch von einer, eigentlich nur dem Leben Jesu gewidmeten Betrachtung nicht übergangen werden, theils wegen des engen Zusammenhangs, in welchen schon von vorn herein das Leben des Täufers mit dem Leben Jesu gesetzt wird, theils wegen des Beitrags, welchen der bezeichnete Abschnitt zur Charakteristik der evangelischen Berichte bietet. Denn daſs derselbe, sammt dem Übrigen der beiden ersten Kapitel des Lukas, unächt und spätere Zuthat sei, war eine unkritische Vermuthung Solcher, wel - che den damals noch neuen mythischen Standpunkt, wel - chen diese Kindheitsgeschichte zu fordern schien, auf das übrige Evangelium anzuwenden sich scheuten1)z. B. J. E. Ch. Schmidt, das ächte Evangelium des Lukas, in Henke's Magazin 5, 3, S. 473 ff., K. Ch. L. Schmidt im.
80Erster Abschnitt.Ein frommes priesterliches Ehepaar ist kinderlos geal - tert: als auf Einmal dem Priester beim Räuchern im Hei - ligthum der Engel Gabriel erscheint, und ihnen in ihren alten Tagen einen Sohn verheiſst, der als Gottgeweihter leben, und der wegbereitende Vorläufer des in der messia - nischen Zeit sein Volk heimsuchenden Gottes sein werde. Als Zacharias wegen seines und der Elisabet hohen Al - ters die Verheiſsung bezweifelt, wird ihm vom Engel als Zeichen und Strafe zugleich bis zur Erfüllung Stummheit auferlegt, welche wirklich andauert, bis bei der Beschnei - dung des nunmehr geborenen Sohnes der Vater ihm den vom Engel vorgeschriebenen Namen beilegen soll, worauf er mit wiedererlangtem Sprachvermögen in einen Hymnus ausbricht (Luk. 1, 5 — 25. 57 — 80.).
Daſs hiemit der evangelische Bericht wirklich eine Rei - he äusserer, und zwar wunderbarer Vorgänge: eine von Gott veranstaltete, durch die Erscheinung eines der höch - sten Geister vermittelte Vorherverkündigung des messiani - schen Vorläufers, eine nicht ohne besondern göttlichen Se - gen bewirkte Schwangerschaft, und eine auf ausserordent - liche Weise sowohl eingetretene als gehobene Stummheit erzählen wolle, scheint sich zunächst von selbst zu verste - hen. Eine andere Frage ist, ob auch wir dieser Ansicht des Referenten beitreten und uns überzeugen können, daſs wirklich der Geburt des Täufers eine solche Reihe von wunderbaren Ereignissen vorangegangen sei?
Den ersten Anstoſs, welchen die neuere Bildung in der vorgelegten Erzählung nimmt, bildet die Engelerscheinung, theils als solche überhaupt, theils diese in ihrer besonderen Beschaffenheit. Was das Letztere betrifft, so giebt sich1)Repertorium für die Literatur der Bibel 1, S. 58 ff., Horst, in Henke's Museum, 1, 3, S. 462 ff. Vgl. Eichhorns Einlei - tung, 1. Bd. S. 630 f. — Dagegen: Süskind, symbolarum ad illustranda quacdam evangeliorum loca, P. 2. in seinen ver - mischten Aufsätzen, S. 23 ff.81Erstes Kapitel. §. 13.der Engel selbst zu erkennen als Γαβριὴλ, ὁ παρεςηκως ἐνώπιον τοῦ ϑεοῦ (1, 19.), und hier findet man es nun undenk - bar, daſs der göttliche Geisterstaat wirklich gerade so be - schaffen sein sollte, wie sich die nachexilischen Juden den - selben dachten, und daſs sogar die Namen der Engel in der Sprache dieses Volkes gegeben sein sollten2)Paulus, exeget. Handbuch 1, a, S. 78 f. 96. Baukr, hebr. My - thol. 2. Bd. S. 218 f.. Selbst der Supranaturalist auf seinem Boden kommt hier in eini - ges Gedränge. Wären nämlich Namen und Rangordnung der Engel, wie sie hier vorausgesetzt werden, ursprüng - lich auf dem Boden der geoffenbarten hebräischen Religion erwachsen, hätte Moses oder einer der älteren Propheten dieselben festgesetzt: so könnten und müſsten sie auf su - pranaturalistischem Standpunkt als richtig angenommen werden. Nun aber finden sich jene näheren Bestimmungen der Engellehre erst in dem makkabäischen Daniel3)Hier Michaël als אַהַד הַשָּׂרִים הָרִאשֹׁנִים bezeichnet 10, 13. Gabriel 8, 16. 9, 21. und dem Apokryphum Tobia4)Hier Raphaël als είς ἐκ των ἑπτὰ ἁγίων ἀγγέλων, οἳ — εἰς - πορεύονται ἐνώπιον τῆς δόξης τοῦ ἁγίου (12, 15), fast wie Gabriel bei Lukas, die Zahlbestimmung ausgenommen. Diese ist der Zahl der persischen Amschaspands nachgebildet, vgl. de Wette, biblische Dogmatik §. 171 b)., offenbar in Folge des Einflus - ses der Zendreligion, wie denn die Juden selbst bezeugen, daſs die Engelnamen ihnen aus Babylon gekommen seien5)Hieros. rosch haschanah f. 56, 4. (bei Lightfoot, horae hebr. et talmud. in IV Evangg., p. 723.):R. Simeon ben Lachisch di - cit: nomina angelorum ascenderunt in manu Israëlis ex Baby - lone. Nam antea dictum est: advolavit ad me unus τῶν Seraphim, Seraphim steterunt ante cum, Jes. 6; at post: vir Gabriel, Dan. 9, 21, Michaël princeps vester, Dan. 10, 21.. Hieraus ergiebt sich eine Reihe für den SupranaturalistenDas Leben Jesu I. Band. 682Erster Abschnitt.äusserst bedenklicher Fragen. Sind diese Vorstellungen, so lange sie noch bloſs bei auswärtigen Völkern waren, falsch gewesen, und erst, als sie zu den Juden über - giengen, wahr geworden? oder sind sie von jeher wahr gewesen, und haben also abgöttische Völker eine so hohe Wahrheit früher entdeckt, als das Volk Gottes? Waren jene Völker von besondrer göttlicher Offenbarung ausge - schlossen, kamen sie also durch ihre eigne Vernunft früher auf jene Entdeckung, als die Juden mittelst ihrer Offenba - rung: so scheint ja die Offenbarung überflüssig, oder nur negativ, d. h. zur Verhinderung eines zu frühen Bekannt - werdens wirksam zu sein; nimmt man aber, um dieser Consequenz auszuweichen, lieber auch bei jenen nichtisraë - litischen Völkern einen oftenbarenden Einfluſs Gottes an: so löst sich der supranaturalistische Standpunkt auf, und wir dürfen, da in den sich gegenseitig widerstreitenden Religionen doch nicht Alles geoffenbart sein kann, kritisch auswählend verfahren. Da werden wir es nun einer ge - läuterten Idee von Gott keineswegs angemessen finden, ihn, wie einen menschlichen König, von einem Hofstaat umge - ben zu denken, und wenn Olshausen sich für die Realität solcher Thronengel auf die vernünftigerweise anzunehmen - de Stufenleiter der Wesen beruft6)Biblischer Commentar, 1. Thl. S. 99. (2te Auflage)., so wird hiemit nicht die hebräische Vorstellung gerechtfertigt, sondern ihr eine moderne untergeschoben. Man wäre also auf den Ausweg hingetrieben, eine Accommodation von Seiten Gottes anzu - nehmen, d. h. daſs er einen höheren Geist abgesendet habe mit der Weisung, sich, um bei dem Vater des Täufers Glauben zu finden, der jüdischen Vorstellung gemäſs, ei - nen Rang und Titel beizulegen, die er eigentlich nicht hatte. Da aber, wie sogleich der Erfolg zeigte, Zacharias auch so dem Engel nicht glaubte, sondern erst dem Er - folg: so war jene ganze Accommodation unnütz und kann83Erstes Kapitel. §. 13.daher nicht von Gott veranstaltet worden sein. Was im Besondern noch den Namen des erscheinenden Engels be - trifft, und die Unwahrscheinlichkeit, daſs die Engel ge - rade hebräische Namen haben sollen: so macht zwar Ols - hausen darauf aufmerksam, daſs der Name Gabriel appel - lativisch in der Bedeutung: Mann Gottes genommen, ganz richtig die Natur eines solchen Wesens bezeichne, und in - dem er sich in dieser Bedeutung in allen Sprachen wie - dergeben lasse, keineswegs an die hebräische gebunden sei7)a. a. O. S. 98 f.: aber damit umgeht er eben das eigentlich Anstös - sige, was er lösen sollte, indem er das offenbar als Ei - gennamen sich gebende Wort als bloſses Appellativum nimmt. Es müſste also auch hier eine Accommodation angenommen werden, daſs nämlich der Engel, um sich nach seinem Wesen zu bezeichnen, einen Namen sich beigelegt hätte, welchen er nicht wirklich führte, — eine Accommodation, welche mit der vorigen beurtheilt ist.
Aber nicht allein Name und angebliche Stellung des Engels, sondern auch sein Reden und Benehmen hat man anstöſsig gefunden. Zwar wenn Paulus sich dahin äussert, nur ein levitischer Priester, nicht aber ein Engel Jehova's habe für nothwendig erachten können, daſs der Knabe in nasiräischer Abstinenz leben sollte8)a. a. O. S. 77.: so läſst sich dage - gen geltend machen, daſs auch der Engel wissen konnte, unter dieser Form werde Johannes am Meisten auf seine Nation zu wirken im Stande sein. Bedenklicher aber ist das Andre. Als nämlich Zacharias in einem aus Überra - schung und einer nahe liegenden Reflexion hervorgegange - nen Zweifel sich ein Zeichen erbittet: so wird ihm das vom Engel alsbald zum Verbrechen gerechnet, und er mit der Strafe des Verstummens belegt. Wenn man nun auch nicht mit Paulus behaupten mag, ein wirklicher Engel6*84Erster Abschnitt.würde den Untersuchungsgeist des Priesters vielmehr ge - lobt haben: so wird man ihm doch in der Bemerkung bei - stimmen können, daſs ein so imperioses Verfahren weniger einem wirklichen himmlischen Wesen, als der damaligen jüdischen Meinung von einem solchen angemessen sei. Auch auf supranaturalistischem Boden hat man keine rechte Pa - rallele zu diesem harten Verfahren. Denn gegen die Pau - lus'sche Berufung auf das ungleich mildere Verfahren Je - hova's mit Abraham, welchem die ganz gleiche Frage selbst ohne Tadel hingeht, gilt es nur in Bezug auf die Stelle 1. Mos. 15, 8., was Olshausen erinnert, Abraham habe dieſs, nach V. 6, aus einer gläubigen Gesinnung heraus - gesprochen; wogegen nicht allein nach Kap. 18, 12. der weit markirtere Unglaube der Sara in gleichem Falle un - gestraft bleibt, sondern auch nach 17, 17. Abraham selbst die göttliche Verheiſsung bis zum Lachen unglaublich fin - det, ohne auch nur getadelt zu werden. Noch näher liegt das Beispiel der Maria, welche Luk. 1, 34. eigentlich ganz dieselbe Frage wie Zacharias macht, so daſs man immer mit Paulus wird sagen müssen, gewiſs nicht das Verfahren Gottes oder eines höheren Wesens, sondern nur die Vor - stellung der Juden von demselben werde so inconsequent gewesen sein. — Eben weil es ihnen in der Art, wie es vor - lag, selbst ein Anstoſs war, haben die orthodoxen Theo - logen für dieses Verstummenlassen allerhand Gründe aus - gesonnen. Hess glaubte das Verfahren des Engels gegen den Vorwurf der Willkührlichkeit dadurch rechtfertigen zu können, daſs er die Stummheit des Zacharias als das einzige Mittel betrachtete, eine Sache auch wider seinen Willen geheim zu halten, deren frühzeitiges Bekanntwer - den für das Kind Johannes ähnliche gefährliche Folgen hätte haben können, wie das Bekanntwerden der Geburt Jesu durch die Magier sie für das Jesuskind hatte9)Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu, sammt dessen Jugendgeschichte. Tübingen 1779. 1. Bd. S. 12.. Al -85Erstes Kapitel. §. 13.lein erstlich sagt von einem solchen Zwecke der Engel nichts, sondern einzig als Strafe und Zeichen zugleich verhängt er die Stummheit (V. 20.); dann aber muſs Zacharias den Hauptinhalt der gehabten Erscheinung doch auch während seiner Stummheit wenigstens seiner Gattin schriftlich mitge - theilt haben, wie wir daraus sehen, daſs diese, noch ehe man ihren Mann befragt, den dem Kinde bestimmten Na - men kennt (V. 60.); endlich, was half es, das ungeborne Kind zwar durch erschwerte Mittheilung seiner wunder - vollen Ankündigung sicher zu stellen, wenn das kaum ge - borene sogleich aller Gefahr dadurch preiſsgegeben wurde, daſs durch die gelöste Zunge des Vaters und das Aufsehen der Scene bei seiner Beschneidung die ganze Umgegend des Redens von dieser Sache voll ward (V. 65.)? An - nehmlicher wäre, wie Olshausen die Sache ansieht, indem er die ganze wundervolle Begebenheit, also namentlich auch das Verstummen, als ein sittliches Erziehungsmittel für Za - charias betrachtet, durch welches er seinen Unglauben ken - nen und überwinden lernen sollte10)Bibl. Comm. I. S. 119.; allein auch hievon steht theils nichts im Texte, theils würde das unverhoffte Eintreten des für unmöglich gehaltenen Erfolgs gewiſs auch, wenn der Engel statt des Verstummens nur etwa ei - nen Verweiſs angebracht hätte, seinen Unglauben gehörig beschämt haben, so daſs auch durch diesen angeblichen Zweck, als einen keineswegs einzig durch das angegebne Mittel erreichbaren, die Verhängung der Stummheit über den Zacharias nicht gerechtfertigt werden kann.
Möchte übrigens der dem Zacharias erschienene Engel sich noch so gotteswürdig benommen haben: schon die Engelserscheinung als solche würden Viele in unsern Ta - gen unglaublich finden. Der Verfasser der hebräischen My - thologie hat geradezu den Satz aufgestellt: wo Angelopha -86Erster Abschnitt.nien sind, da ist ein Mythus, wie im A. T., so im neuen11)Hebr. Mythol. 2, S. 218.. Vorausgesetzt auch, daſs es Engel gebe, so können sie doch, urtheilt man, den Menschen nicht erscheinen, denn sie gehören der übersinnlichen Welt an, welche auf unsre Sinnorgane nicht einwirken kann, so daſs es immer gera - then bleibt, ihre angeblichen Erscheinungen auf die bloſse Einbildungskraft zurückzuführen12)Bauer a. a. O. 1, S. 129. Paulus exeget. Handbuch I, a, 74.. Es sei nicht wahr - scheinlich, sagt man ferner, daſs Gott sie der gewöhnli - chen Vorstellung gemäſs gebrauche, denn es lasse sich kein rechter Zweck ihrer Sendungen erkennen, indem sie ge - wöhnlich nur der Neugier dienen, und noch dazu ihr Ein - wirken die Menschen von selbstständiger Leitung ihres Le - bens abziehen würde13)Paulus Commentar 1, S. 12.. Auch das müsse auffallen, daſs diese Wesen in der alten Welt zwar bei den geringsten Veranlassungen sich geschäftig zeigen, in der neuen aber selbst bei den wichtigsten Begebenheiten müssig bleiben14)Bauer a. a. O.. Wenn aber ihr Erscheinen und Einwirken in die Men - schenwelt, so ist ebendamit auch ihr Dasein überhaupt bezweifelt, weil eben in jenen Funktionen ein Hauptzweck ihrer Existenz liegen müſste. In Bezug auf das Dasein der Engel darf gewiſs die Schleiermacher'sche Kritik als ab - schlieſsend betrachtet werden, weil sie das Ergebniſs der Bildung neuerer Zeit der alten gegenüber auf das Adäqua - teste ausspricht15)Glaubenslehre, 1. Thl. §. 42 und 43 (2te Ausgabe).. Zwar lasse sich, meint Schleierma - cher, das Dasein von Engeln nicht als unmöglich nach - weisen, doch sei die ganze Vorstellung eine solche, wel - che in unsrer Zeit nicht mehr entstehen würde, sondern ganz nur der alterthümlichen Weltanschauung angehöre. Denn wenn der Engelglaube eine gedoppelte Quelle und87Erstes Kapitel. §. 13.Wurzel habe, die eine in dem natürlichen Verlangen unse - res Geistes, mehr Geist in der Welt vorauszusetzen, als in der menschlichen Gattung verwirklicht ist: so ist nach Schleiermacher dieses Verlangen für uns jetzt Lebende durch die Vorstellung befriedigt, daſs auch andre Welt - körper ausser dem unsrigen auf entsprechende Weise be - völkert seien, womit diese erste Quelle des Engelglaubens abgeleitet ist; die andre aber, die Vorstellung Gottes als eines von seinem Hofstaat umgebenen Königs, ist ohnehin nicht mehr die unsere, auch die Veränderungen in Natur und Menschenwelt, welche man sich sonst als von Gott selbst durch dienende Engel bewirkt dachte, wissen wir uns jetzt aus Naturursachen zu erklären, — so daſs der Engelglaube jedes wahren Anknüpfungspunktes an einen in der Bildung der neueren Zeit wahrhaft Begriffenen ent - behrt, und nur noch auf todte, traditionelle Weise vor - handen ist.
Diesem für die Annahme von Engeln negativen Resul - tate der Zeitbildung gegenüber sucht Olshausen ebendersel - ben, nach ihrer speculativen Seite, positive Gründe für die Realität der vorliegenden Erscheinung abzugewinnen. Die evangelische Erzählung, meint er, widerspreche einer rich - tigen Weltansicht keineswegs, da ja Gott der Welt imma - nent, sie von seinem Hauche bewegt sei16)Bibl. Comm. 1. Thl. S. 119.. Allein, eben wenn Gott der Welt immanirt, so braucht er am wenig - sten durch Intervention von Engeln auf sie zu wirken; nur wenn er ferne, oben im Himmel thront, braucht er Engel herabzusenden, um auf der Erde etwas vorzuneh - men. Man würde sich wundern müssen, wie Olshausen auf jene Weise argumentiren könne, wenn nicht aus der Art, wie dieser Ausleger die Angelologie und Dämonolo - gie durchweg behandelt, erhellte, daſs ihm die Engel nicht sowohl individuelle, persönlich für sich bestehende Wesen88Erster Abschnitt.sind, als vielmehr nur göttliche Kräfte, vorübergehende Ausflüsse und Fulgurationen des göttlichen Wesens, so daſs die Vorstellung Olshausen's von den Engeln in ihrem Verhältniſs zu Gott der sabellianischen von der Trinität zu entsprechen scheint; daſs aber dieſs nicht die biblische Vor - stellung sei, folglich auch, was für jene vorgebracht wird, für diese nichts beweise, ist hier nicht weiter auseinander zu setzen. Auch was der genannte Theologe ferner sagt, man dürfe die Gemeinheit des Alltagslebens nicht auch für die reichsten Lebensmomente unsres Geschlechtes postuli - ren; in der Zeit, als das ewige Wort sich in das Fleisch versenkte, seien Erscheinungen der geistigen Welt in die unsrige eingetreten, die in minder reich bewegten Zeiten kein Bedürfniſs waren17)a. a. O. S. 92. — beruht auf einem Miſsverständ - niſs. Denn die Alltäglichkeit wird in solchen Momenten eben dadurch unterbrochen, daſs Geister wie der des Täu - fers in die Menschheit eintreten, und es würde kindisch sein, die Zeiten und Umstände, unter welchen ein Johan - nes entstand und sich heranbildete, deſswegen alltäglich zu nennen, weil es ihnen an Verzierung durch Engelerschei - nungen gefehlt hätte; ebenso, was in solchen Zeitpunkten die intelligible Welt für die unsrige thut, ist eben, daſs sie ausserordentliche Menschengeister sendet, nicht daſs sie Engel auf ‒ und niedersteigen läſst.
Wenn zur Vertheidigung der buchstäblichen Auffassung dieser Abschnitte endlich angedeutet wird, eine solche Vor - zeichnung des Erziehungsplans für das zu gebärende Kind durch den Engel sei nöthig gewesen, um es zu dem Manne zu machen, der es werden sollte18)Hess Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu u. s. w. 1. Thl. S. 13. 35.: so würde das zu viel vor - aussetzen, nämlich, daſs alle groſsen Männer, um zu sol - chen erzogen zu werden, auf ähnliche Weise in die Welt89Erstes Kapitel. §. 14.eingeführt werden müſsten; überhaupt würde hiedurch zu viel Gewicht auf die Erziehung zum Nachtheil der Entfal - tung des Geistes von innen heraus gelegt; endlich aber ist umgekehrt gegen die Auffassung der Erzählung als einer wirklichen Wundergeschichte mit Recht das geltend gemacht worden, daſs vielmehr Vieles in dem folgenden Leben des Täufers ganz unerklärlich werde bei der Voraussetzung, daſs sich wirklich so viele wundervolle Begebenheiten vor und bei seiner Geburt ereignet haben. Denn allerdings, wenn Johannes schon von Anfang an so wunderbar auf Jesus, als den, dessen Vorläufer er sein sollte, hingewie - sen war: so ist es nicht zu begreifen, wie er ihn vor sei - ner Taufe nicht gekannt haben, und selbst später noch an seiner Messianität irre geworden sein kann (Joh. 1, 30. Matth. 11, 2.)19)Horst in Henke's Museum 1, 4. S. 733 f. Gabler in seinem neuest. theol. Journal, 7, 1, S. 403..
Man wird somit der rationalistischen Kritik und Pole - mik in dem negativen Resultate Recht geben müssen, daſs es vor und bei der Geburt des Täufers nicht so übernatür - lich zugegangen sein könne; nur fragt es sich jetzt, wel - che positive Ansicht von der Sache an die Stelle der um - gestossenen zu setzen ist?
Die leichteste Änderung, welche mit der vorliegenden Erzählung durch Unterscheidung des reinen Faktums von dem Urtheil der betheiligten Personen im Sinne der ratio - nalistischen Auslegung vorgenommen werden könnte, wäre nun diese, die Thatsache nach ihren beiden Haupttheilen, der Erscheinung des Engels und dem Verstummen des Za - charias als wirklichen äusseren Erfolg stehen zu lassen, nur aber sie auf natürliche Weise zu erklären. Dieſs wäre in90Erster Abschnitt.Bezug auf die Angelophanie so möglich, daſs das Erschie - nene für einen Menschen genommen würde, der dem Za - charias, was dieser zu hören glaubte, wirklich gesagt hät - te, von dem Priester aber für einen himmlischen Boten ge - halten worden wäre. Da jedoch diese Ansicht in Betracht der Umstände gar zu unwahrscheinlich ist, so sah man sich genöthigt, einen Schritt weiter zu gehen, und die Thatsache aus einer äussern zu einer innern zu machen, sie vom Gebiete des physischen in das des psychischen Ge - schehens zu verlegen. Hiezu bildet schon die Bahrdt'sche Andeutung, das von Zacharias für einen Engel Gehaltene könne vielleicht ein Bliz gewesen sein1)Briefe über die Bibel im Volkstone (Ausg. Frankfurt und Leipzig 1800), 1tes Bändchen, 6ter Brief, S. 51 f., einen Uebergang, weil hiebei doch das Meiste Zacharias selbst aus seinem Innern hinzugethan haben müſste. Daſs aber in gewöhnli - chem Seelenzustande Jemand aus einem einfachen Blitze eine solche Reihe von Reden und Gegenreden sich heraus - spinnen werde, ist nicht glaublich; es müſste also ein be - sonderer Zustand stattgefunden haben, sei es eine durch Schrecken über den Bliz bewirkte Ohnmacht2)Bahrdt a. a. O. S. 52., wovon aber im Texte keine Spur (kein Niederfallen, wie etwa A. G. 9, 4.), oder ohne Veranlassung durch den Bliz ein Traum, welcher aber bei'm Räuchern im Tempel nicht wohl stattfinden konnte; daher wird man genöthigt, mit Paulus sich darauf zu berufen, daſs es auch im Zustande des Wachens Ekstasen gebe, in welchen der Seele sul - jektive Bilder mit dem Scheine von objektiven Begegnissen vorschweben3)Exeget. Handb. 1, a, S. 74 ff.. Solche Ekstasen sind freilich nichts Ge - wöhnliches; aber bei Zacharias, meint Paulus, kam auch Manches zusammen um einen so ungewöhnlichen Zustand bei ihm hervorzurufen. Die lange Sehnsucht nach Nach -91Erstes Kapitel. §. 14.kommenschaft; nun das auszeichnende Loos, im Heiligen des Tempels mit dem Weihrauch die Gebete des Volks zu Jehova aufsteigen zu lassen, was ihm für ein günstiges Vorzeichen der Erhörung auch seines Gebetes gelten konn - te; vor seinem Abgang von Hause vielleicht noch eine An - mahnung von seiner Frau, wie die von Rahel an Jakob, 1. Mos. 30, 1. (!). In der erhöhten Stimmung im halb - dunkeln Heiligthum denkt er nun betend auch seines höch - sten Wunsches, jezt oder nie erwartet er Erhörung, und ist daher geneigt, in Allem, was sich darbieten mochte, ein Zeichen derselben zu erblicken. Der aufsteigende Weih - rauch, erhellt von den Lampen des Leuchters, bildet Fi - guren: da glaubt der Priester eine himmlische Gestalt zu sehen, von der er anfänglich erschreckt wird, bald aber die Gewährung seiner Wünsche zu vernehmen glaubt. Kaum ist ihm ein leiser Zweifel hiegegen aufgestiegen: so hält der überfromme Priester dieſs bereits für frevelhaft, glaubt sich vom Engel dafür gescholten und — hier ist nun wieder eine gedoppelte Erklärung möglich — entwe - der lähmt wirklich ein Schlagfluſs auf einige Zeit seine Zunge, was er für gerechte Strafe seines Zweifels nimmt, bis sich dann bei dem freudigen Anlaſs der Beschneidung seines Sohns die Sprache wieder einfindet, so daſs dieser Zug als äussere, physische, wiewohl wunderlose Bege - benheit festgehalten wird4)Bahrdt a. a. O. 7ter Brief. S. 60. — E. F. über die beiden ersten Kapitel des Matthäus und Lukas, in Henke's Maga - zin 5, 1, S. 163. Bauer, hebr. Mythol. 2, S. 220.; oder wird auch dieser Vor - gang blos als ein psychischer gefaſst, daſs nämlich Zacha - rias aus jüdischer Superstition den Gebrauch der vermeint - lich miſsbrauchten Zunge sich selbst auf einige Zeit unter - sagt habe5)Exeget. Handb. 1, a, S. 77. 80.. Neubelebt übrigens durch den ausserordent - lichen Vorfall kehrt diesen Deutungen zufolge der Priester zu seiner Gattin zurück, und sie wird eine zweite Sara.
92Erster Abschnitt.Was nun die Paulus'sche Erklärung der Engelerschei - nung betrifft, auf welche alle andern entweder im Wesent - lichen hinauslaufen, oder durch ihre offenbare Unhaltbar - keit hingetrieben werden: so kann man geradezu sagen, daſs sie das Wunderbare, zu dessen Entfernung sie so viele Mühe anwendet, nicht einmal vermeide. Denn ihr Urheber gesteht selbst zu, daſs von einer solchen Vision, wie er sie hier voraussezt, die meisten Menschen keine Er - fahrung haben6)a. a. O. S. 73.; sollen nun doch in einzelnen Fällen der - gleichen Zustände vorkommen, so muſs doch theils eine be - sondre Disposition dazu vorhanden sein, von welcher bei Zacharias sonst keine Spur zu finden, die auch bei seinem vorgerückten Alter nicht zu vermuthen ist, — theils muſs eine bestimmte Veranlassung hinzutreten, welche hier durch - aus fehlt7)Vgl. Schleiermacher über die Schriften des Lukas S. 25.; denn ein so lange gehegter Wunsch äussert sich nicht mehr in ekstatischer Heftigkeit, und das Räu - chern im Tempel konnte einen alten, gedienten Priester nicht wohl ausser sich bringen. So hat Paulus hier nur ein göttliches Wunder in ein Wunder des Zufalls umge - wandelt; ob aber gesagt wird: bei Gott ist kein Ding un - möglich; oder: dem Zufall ist kein Ding unmöglich, ist beides gleich precär und unwissenschaftlich.
Aber auch das Verstummen des Zacharias wird auf diesem Standpunkte nur sehr unbefriedigend erklärt. Denn war dasselbe nach der einen Erklärung durch einen Schlag - fluſs herbeigeführt, so hat dieſs zwar nicht die Schwierig - keit, welche Paulus darin finden will, daſs ein stumm ge - wordener Priester nach 3. Mos. 21, 16. ff. sogleich von den Funktionen hätte abtreten müssen, während doch nach V. 23. Zacharias erst nach dem Ende seiner Dienstwoche von Jerusalem weggieng; dieſs nämlich erledigt sich leicht durch die Bemerkung, welche schon Lightfoot gemacht93Erstes Kapitel. §. 14.hat8)Horae hebr. et talmud. ed. Carpzov. p. 722., daſs eine, wenn auch nur vermeintlich, auf wun - derbare Weise entstandene Sprachlosigkeit nicht mit einer Stummheit als natürlichem Gebrechen in Eine Klasse würde gestellt worden sein. Wohl aber wird man sich mit Schleiermacher darüber verwundern müssen, wie Zacha - rias unerachtet jenes Schlagflusses frisch und übrigens ge - sund nach Hause geht9)a. a. O. S. 26., so daſs er gerade mit dieser theilweisen Lähmung anderntheils die Kraft erhalten haben müſste, seinem langgehegten Wunsche Realität zu schaffen. Auch das muſs als ein sonderbarer Zufall bezeichnet wer - den, daſs gerade am Beschneidungstage des Sohnes die Lähmung der Zunge des Vaters gewichen sein soll, da, wenn dieſs der Gewalt der Freude zugeschrieben wird10)Wofür man sich auf Beispiele aus A. Gellius 5, 9, und Va - lerius Maximus 1, 8. beruft., diese gewiſs am Tage der Geburt des Sohnes gröſser gedacht werden muſs als an dem späteren Beschneidungs - tage, wo sich der Vater an den Besiz des Kindes be - reits gewöhnt hatte. — Die andre Erklärung aber, daſs das Nichtredenkönnen des Zacharias nicht eine physische Unmöglichkeit, sondern nur ein psychologisch zu erklärendes Meinen, nicht reden zu dürfen, gewesen sei, ist dem Wort - sinn bei Lukas zuwider. Denn was beweisen alle die Stel - len, welche Paulus zum Beweis dafür aufhäuft, daſs οὐ δύναμαι nicht allein ein wirkliches non posse, sondern auch ein bloſses non sustinere bedeuten könne11)a. a. O. S. 97 f., gegen den klaren Zusammenhang unsrer Stelle? Wenn nämlich etwa auch das erzählende οὐκ ἠδύνατο λαλῆσαι ἀυτοῖς (V. 22.) mit Noth in jenem Sinne genommen werden könn - te: so würde doch V. 20. der Engel in der visionären Vor - stellung des Zacharias, wenn er diesem das Reden nur94Erster Abschnitt.verbieten, nicht unmöglich machen wollte, nicht gesagt ha - ben: καὶ ἔσῃ σιωπῶν, μὴ δυνάμενος λαλῆσαι, sondern: ἴσϑι σιωπῶν, μηδ 'ἐπιχειρήσῃς λαλῆσαι, wie auch das διέμενε κωφὸς (V. 21.) am natürlichsten von wirklicher Stumm - heit verstanden wird. Soll also der Bericht, was auf die - sem Standpunkte durchaus vorausgesezt wird und werden muſs, genau das wiedergeben, was Zacharias selbst über das ihm Begegegnete erzählte: so müſste, wenn man eine wirklich eingetretene Stummheit leugnet, da er doch durch den Engel sich wirklich eine solche ankündigen läſst, an - genommen werden, er habe, unerachtet er hätte reden können, sich doch für stumm gehalten, was auf Verrückt - heit führen würde, die man doch dem Vater des Johannes ohne Nöthigung durch den Text nicht wird aufbürden wollen.
Auch das berücksichtigt diese natürliche Erklärung zu wenig, daſs ihr zufolge einer aus so abnormem Seelenzu - stande entsprungenen Vorherverkündigung der Erfolg mit unbegreiflicher Genauigkeit entsprochen haben müſste. Ein solches Eintreffen einer visionären Voraussagung würde der Rationalist in keinem andern Gebiete glaublich finden. Wie, wenn etwa Dr. Paulus von einer Somnambüle zu lesen bekäme, sie habe in einer Ekstase die den Umstän - den nach im höchsten Grade unwahrscheinliche Erzeugung eines Kindes, und nicht nur eines Kindes überhaupt, son - dern speciell eines Knaben, und zwar mit genauer Angabe sogar seiner künftigen Geistesentwickelung und geschicht - lichen Stellung vorausgesagt, und Alles sei auf's Genauste eingetroffen: würde er ein solches Zusammentreffen an - nehmlich finden? Gewiſs, er würde einen solchen Blick in die geheimste Werkstätte der zeugenden Natur keinem Menschen in keinem Zustande zugestehen; namentlich wür - de er über Frevel an der menschlichen Freiheit Klage er - heben, welche durch die Annahme aufgehoben werde, daſs sich der ganze intellektuelle und moralische Entwick -95Erstes Kapitel. §. 14.lungsweg eines Menschen wie der Ablauf eines Uhrwerks vorherbestimmen lasse, und er würde ebendeſswegen über Ungenauigkeit der Beobachtung und Unzuverläſsigkeit ei - nes Berichtes sich beschweren, welcher so unmögliche Dinge als geschehene erzähle. Warum thut er dieſs nicht auch in Bezug auf unsern N. T. lichen Bericht? warum findet er hier annehmlich, was er dort verwirft? Herr - schen denn in der biblischen Geschichte andere Gesetze als in der übrigen? Dieſs muſs der Rationalist voraussetzen, wenn er das sonst Unglaubliche in der evangelischen Ge - schichte glaublich findet; damit aber kehrt er zum supra - naturalistischen Standpunkt zurück, denn eben die Annah - me, daſs die sonst gewöhnlichen Naturgesetze für jene Ge - schichte nicht gelten, ist das Eigenthümliche des Supra - naturalismus.
Vor dieser Selbstvernichtung sich zu retten, bleibt der dem Wunder ausweichenden Erklärungsart nichts Anderes übrig, als die buchstäbliche Richtigkeit der Erzählung zu bezweifeln. Daſs dieses die einfachste Auskunft wäre, be - merkt auch Paulus, wenn er selbst vermuthet, man werde sein Bemühen mit natürlicher Erklärung eines Berichtes überflüssig finden, welcher nichts Andres als eine von den lobpreisenden Jugendgeschichten sei, wie sie von jedem groſsen Manne nach seinem Tode oder selbst noch zu sei - nen Lebzeiten gedichtet werden. Dennoch glaubt Paulus nach unparteiischer Erwägung diese Analogie hier nicht anwenden zu dürfen. Sein vornehmster Grund ist die all - zukurze Zwischenzeit zwischen der Geburt des Täufers und der Abfassung des Lukas-Evangeliums12)a. a. O. S. 72 f., was wir nach dem in der Einleitung Bemerkten geradezu umkeh - ren und den genannten Ausleger fragen können, wie er begreiflich machen wolle, daſs von einem so gefeierten Manne wie Johannes, in einer so aufgeregten Zeit, seine96Erster Abschnitt.Geburtsgeschichte nach mindestens 60 Jahren noch mit ur - kundlicher Genauigkeit habe überliefert werden können? Hier hat Paulus die auch von Andern (wie Heydenreich, Olshausen) gebilligte Antwort bereit, vermuthlich sei der von Lukas 1, 5 — 2, 39. eingerückte Aufsaz eine unter der Verwandtschaft des Täufers und Jesu circulirende, wahrscheinlich von Zacharias verfaſste Familiennachricht gewesen13)a. a. O. S. 69., — eine aus der Luft gegriffene, moderne Hypothese, welche viel zu ernsthaft behandelt wird, wenn man ihr mit K. Ch. L. Schmidt entgegenhält, eine so ent - stellte (wir würden blos sagen: ausgeschmückte) Erzäh - lung könne unmöglich ein Familienaufsaz sein, sondern wenn sie nicht ganz in die Klasse der Legenden gehöre, so sei doch ihre etwaige geschichtliche Grundlage nicht mehr zu unterscheiden14)In Schmidt's Bibliothek für Kritik und Exegese 3, 1, S. 119.. Weiter wird angeführt, in der Erzählung selbst finden sich Züge, welche kein Dich - ter hätte ersinnen können, welche somit darauf hinweisen, daſs der Bericht ein unmittelbarer Abdruck des Faktums sei. Ein solcher Zug soll von Allen der sein, daſs die messianischen Erwartungen der verschiedenen Luc. 1. u. 2. redend eingeführten Personen so richtig nach ihren Um - ständen und Verhältnissen gezeichnet seien15)Paulus a. a. O.: allein diese Unterschiede sind gar nicht so scharf vorhanden, wie sie Pau - lus dafür ausgiebt, sondern sie verhalten sich mehr nur als Fortschritt vom Allgemeinen zum Bestimmteren, der auch ei - nem Dichter oder einer Volkssage natürlich ist. Ueber - haupt wird man mit Schleiermacher sagen müssen, diese Reden lassen sich gerade am wenigsten als historisch ge - nau im engsten Sinne nehmen, und behaupten, Zacharias habe wirklich in dem Augenblick, als er die Sprache wie - der erhielt, sie auch zu jenem Lobgesang benüzt, ohne97Erstes Kapitel. §. 15.durch die Freude und Verwundrung der Versammlung ge - stört zu werden, durch welche doch der Erzähler selbst sich unterbrechen läſst, — sondern es müſste auf jeden Fall angenommen werden, daſs der Verfasser von dem Seinen hinzugefügt, und die Geschichtserzählung durch die lyrischen Ausbrüche seiner Muse bereichert habe16)Über die Schriften des Lukas, S. 23.; denn was Kuinöl vermuthet, Zacharias habe den Lobgesang erst nachher verfertigt und niedergeschrieben, ist doch, neben dem Wunderlichen, dem Texte zu sehr zuwider. — End - lich, wenn die Erklärer sich darauf berufen, am allerwe - nigsten würde ein Erfinder gewisse andre Züge so richtig getroffen haben, wie das Zuwinken, den Streit des Fami - milienraths, und daſs der Engel gerade zur rechten Hand des Altars gestanden17)Paulus und Olshausen z. d. St., Heydenreich a. a. O. 1, S. 87.: so zeigen sie nur, daſs sie von Poësie und Volkssage entweder keinen Begriff haben, oder hier keinen haben wollen, da ja ächte Dichtung und Sage gerade durch Anschaulichkeit und Natürlichkeit der einzel - nen Züge sich auszeichnet18)Vergl. Horst, in Henke's Museum, 1, 4, S. 705..
Die oben nachgewiesene Nothwendigkeit und die zu - letzt dargelegte Möglichkeit, die historische Treue des vor - liegenden Berichts zu bezweifeln, hat mehrere Theologen veranlaſst, die ganze Relation über die Verkündigung der Geburt des Täufers für eine Sage zu erklären, entstanden aus der Wichtigkeit, welche Johannes als Vorläufer für die Christen hatte, und aus Nachbildung einiger A. T. li - chen Erzählungen, in welchen Isaaks, Samuels und nament -Das Leben Jesu I. Band. 798Erster Abschnitt.lich Simsons Geburt auf ähnliche Weise angekündigt wird. Doch nicht rein erdichtet sollte die Sache sein, sondern als historische Wahrheit möge zum Grunde liegen, daſs Zacharias mit Elisabet lange in einer unfruchtbaren Ehe gelebt, daſs ihm einmal im Tempel eine Stockung des Bluts seine alte Zunge gelähmt, bald darauf aber seine bejahrte Frau ihm einen Sohn geboren, und er in der Freude hier - über das Sprachvermögen wieder bekommen habe. Schon damals, noch mehr aber als Johannes ein merkwürdiger Mann wurde, machte die Geschichte Aufsehen, und es bil - dete sich die vorliegende Sage1)E. F. über die zwei ersten Kapitel u. s. w. in Henke's Ma - gazin 5, 1, S. 162 ff., und Bauer hebr. Mythol. 2, 220 f..
Man muſs verwundert sein, unter anderem Titel hier beinahe wieder dieselbe Erklärung sich vorgeführt zu se - hen, welche bisher als natürliche beurtheilt worden ist, so daſs die aufgenommene Voraussetzung möglicher Einmi - schung späterer Sagen in die Relation fast keinen Einfluſs auf die Ansicht von der Sache selbst gehabt hat. Da die Erklärungsweise, auf deren Boden wir jetzt getreten sind, das Vertrauen zu den Berichten, als ächthistorischen, ein - mal aufgegeben hat: so müssen ihr alle Züge derselben an sich gleich problematisch sein, und ob sie einige doch als geschichtlich festhalten soll, kann sich nur darnach bestim - men, ob ein und der andere Zug theils für sich nicht so schwierig, theils nicht so im Geist, Interesse und Zusam - menhang der Sage ist, daſs sein Ursprung aus dieser wahr - scheinlich würde. Als solche Züge werden hier festgehal - ten die lange Unfruchtbarkeit der Elisabet und das plöz - liche Verstummen des Zacharias, so daſs nur die Erschei - nung und Vorhersagung des Engels preiſsgegeben wird. Da aber eben durch die Wegschaffung der Angelophanie die Stummheit des Zacharias in ihrem plözlichen Eintre - ten und Wiederaufhören ihre einzig genügende übernatür -99Erstes Kapitel. §. 15.liche Ursache verliert: so kehren hier alle die Schwierig - keiten zurück, welche an der natürlichen Deutung in's Licht gestellt worden sind; wozu noch die Inconsequenz kommt, daſs man bei einmal betretenem mythischen Stand - punkt gar nicht nöthig hat, sich in diese Verlegenheit zu begeben, da man ja nicht mehr durch die Voraussetzung historischer Treue der Berichte an Festhaltung derselben gebunden ist. Das Andre aber, was als geschichtlich bei - behalten wird, die lange Kinderlosigkeit der Eltern des Täufers, ist so ganz im Geist und Interesse der hebräi - schen Sagenpoësie, daſs von diesem Zuge am wenigsten der mythische Ursprung verkannt werden sollte. Wie ver - worren hat dieses Verkennen z. B. das Räsonnement von Bauer gemacht! Man habe, sagt er2)a. a. O. S. 221., im jüdischen Gei - ste so geschlossen: Alle nach langer Unfruchtbarkeit im vorgerückten Alter der Eltern gebornen Kinder werden groſse Männer; Johannes war von alten Eltern da und wurde ein angesehener Lehrer der Buſse: folglich glaubte man berechtigt zu sein, seine Geburt durch einen Engel ankündigen zu lassen. Welch ein Ungethüm von einem Schlusse, und das aus keinem andern Grunde, als weil er das Spätgeborensein des Johannes als gegeben voraussezt. Man mache es zu etwas erst Erschlossenem: so gestaltet sich der Schluſs ohne alle Schwierigkeit. Von groſsen Män - nern, lautet er nun, nahm man gerne an, daſs sie Spätge - borene seien3)Warum man dies annahm, erklärt am besten eine, für diese Materie classische Stelle im Evangelium de nativitate Mariae; bei Fabricius codex apocryphus N. Ti 1, p. 22 f., bei Thilo 1, p. 322, welche zugleich einen Katalog der ausgezeichne - ten Spätgebornen aus der jüdischen Geschichte enthält. Deus — heisst es hier — cum alicujus uterum claudit, ad hoc facit, ut mirabilius denuo aperiat, et non libidinis esse, quod nascitur, sed divini muneris cog -, und ihre, menschlicherweise nicht mehr7*100Erster Abschnitt.zu erwartende Geburt durch himmlische Boten verkündigt werde; Johannes war ein groſser Mann und Prophet: also machte die Sage auch ihn zu einem Spätgeborenen, und lieſs seine Geburt durch einen Engel verkündigt werden.
Weil auf diese Weise die Deutung der vorliegenden Erzählung als eines halben (sogenannten historischen) My - thus von allen Schwierigkeiten einer halben Maſsregel ge - drückt ist: so hat sich schon Gabler lieber der Annahme eines reinen (sogenannten philosophischen, besser: dog - matischen) Mythus zugewendet4)neuestes theol. Journal 7, 1, S. 402 f., und Horst hielt, wie die ganzen zwei ersten Kapitel des Lukas, so auch diesen Theil derselben für eine sinnreiche Dichtung, in welche mit der Geburtsgeschichte des Messias auch die seines Vor - läufers aufgenommen, und die Vorhersagen über dessen Charakter und Wirksamkeit nach dem Erfolge gebildet seien; wobei gerade auch die redselige Umständlichkeit der Erzählung den Dichter verrathe5)In Henhe's Museum, 1, 4, S. 702 ff.. Ebenso hat Schleier - macher wenigstens das erste Kapitel des Lukas für ein kleines poëtisches Kunstwerk erklärt, in der Art mehrerer jüdischer Dichtungen, die wir noch unter den Apokryphen finden. Er will zwar nicht das Ganze für durchaus er - sonnen erklären, sondern es mögen Thatsachen und weit -3)noscatur. Prima enim gentis vestrae Sara mater nonne usque ad octogesimum annum infecunda fuit? et tamen in ultima senectutis aetate genuit Isaac, cui repromissa erat benedictio omnium gentium. Rachel quoque, tantum Domino grata tantumque a sancto Jacob amata, diu sterilis fuit, et tamen Joseph genuit, non solum dominum Aegypti, sed plurimarum gentium fame periturarum liberatorem. Quis in ducibus vel fortior Sampsone, vel sanctior Samuele? et tamen hi ambo steriles matres habuere. — ergo — crede — dilatos diu conceptus et steriles partus mirabiliores esse solere. 101Erstes Kapitel. §. 15.verbreitete Tradition zu Grunde liegen, wobei jedoch der Dichter sich die Freiheit genommen, das Entfernte zusam - menzurücken und das Schwankende der Ueberlieferung in festen Bildern zu bestimmen; weſswegen das Bestreben, die geschichtliche und natürliche Grundlage noch heraus - zufinden, leer und vergeblich sei6)a. a. O. S. 24 f.. Als Verfasser des Stücks hat schon Horst einen judaisirenden Christen ver - muthet, und auch Schleiermacher nimmt an, daſs es von einem Christen aus der veredelten jüdischen Schule zu ei - ner Zeit verfaſst sei, in welcher es noch reine Johannis - jünger gab, welche es zum Christenthum herüberlocken sollte, indem es die Beziehung des Johannes auf Christus als seine eigentliche höchste Bestimmung angab, selbst aber von der Wiederkunft Christi noch zugleich eine äus - serliche Verherrlichung des Volkes erwartete.
Daſs eine solche Ansicht des Abschnitts die einzig richtige sei, wird vollends ganz klar werden, wenn wir die A. T. lichen Erzählungen genauer betrachten, welchen, wie die meisten Erklärer erinnern, diese Verkündigungs - und Geburtsgeschichte des Täufers auffallend ähnlich ist. Das älteste Urbild aller Spätgeborenen ist Isaak, und aus dessen Geschichte ist in unserer Erzählung namentlich der auf das hohe Alter der beiden Eltern gegründete Unglaube des Vaters und seine Frage nach einem Zeichen genom - men. Wie nämlich Abraham, als ihm Jehova von einem Leibeserben eine Nachkommenschaft verheiſsen hatte, wel - che das Land Kanaan besitzen werde, zweifelnd fragte: κατὰ τί γνώσομαι, ὄτι κληοονομήσω ἀυτήν; (sc. τὴν γῆν. 1. Mos. 15, 8. LXX): so hier Zacharias: κατὰ τί γνώσο - μαι τοῦτο; (V. 18.). Der Unglaube der Sara ist für Elisa - bet nicht benüzt; dieser Name der ϑυγάτηρ Ἀαρὼν aber könnte an den gleichen Namen von Aarons Gattin (2. Mos. 6, 23. LXX) erinnern. — Aus der Geschichte eines andern102Erster Abschnitt.Spätgebornen, des Simson, ist der Engel genommen, wel - cher die Geburt des Sohnes verkündigt. Daſs er in unsrer Erzählung dem Vater im Tempel erscheint, während er dort (Richter 13.) zuerst der Mutter, dann dem Vater auf dem Felde sich zeigt, ist eine Umänderung, welche sich von selbst aus der Standesverschiedenheit der beider - seitigen Eltern ergab, indem die Priester nach späterer jüdischer Vorstellung eben beim Räuchern im Tempel nicht selten Angelo - und Theophanien hatten7)S. die Stellen aus Josephus und den Rabbinen bei Wetstein zu Luc. 1, 11. S. 647 f.. Ebendaher ist die Vorschrift genommen, welche den Johannes schon vor seiner Geburt zum Nasiräat bestimmt, indem bei Simson schon seiner Mutter während der Schwangerschaft Wein, starke Getränke und unreine Speisen verboten werden, dann aber auch dem Sohne die gleiche Diät vom Engel vor - geschrieben wird8)Richt. 13, 14 (LXX. ): καὶ οἶνον καὶ σίκερα μὴ πιέτω. Luc. 1, 15: καὶ οἶνον καὶ σίκερα οὐ μὴ πίῃ. , und zwar ähnlich wie bei Johannes, mit dem Beisatz, daſs der Knabe schon von Mutterleib an Gott geheiligt sein werde9)Richt. 13, 5: ὅτι ἡγιασμένον ἔςαι τῷ ϑεῷ τὸ παιδάριον ἐκ τῆς γαςρός. Luc. 1, 15: καὶ πνεύματος ἁγίου πλη - σϑήσεται ἔτι ἐκ κοιλίας μητρὸς ἁυτοῦ. . Auch die Verheiſsung der für ihr Volk segensreichen Wirksamkeit beider Männer ist analog (vgl. Luc. 1, 16. 17. mit Richter 13, 5.), so wie die Schluſsformel über das hoffnungsvolle Heranwachsen der beiden Knaben10)Richt. 13, 24 f.:Καὶ ἠυλόγησεν ἀυτὸν Κύριος, καὶ ἠυ - ξήϑη τὸ παιδάριον· καὶ ἤρξατο πνεῦμα Κυρίου συμπο - ρεύεσϑαι αὐτῷ ἐν παοεμβολῇ Δὰν, ἀναμέσον Σαρὰ καὶ ἀναμέσον Ἐσϑαόλ. Luc. 1, 80: τὸ δὲ παιδίον ἤυξανε καὶ ἐκραταιοῦτο πνεύματι, καὶ ἦν ἐν ταῖς ἐρήμοις, ἕως ἡμέρας ἀναδείξεως κ 'υτοῦ πρὸς τὸν Ἰσραήλ.. — Aus der Geburtsgeschichte ei -103Erstes Kapitel. §. 15.nes dritten Spätgebornen, des Samuel, möchte es zwar zu kühn sein, die levitische Abstammung des Johannes als bloſse Nachbildung abzuleiten (vgl. mit 1. Sam. 1, 1. 1. Chron. 7, 27.); aber die lyrischen Ergüsse sind dieser Geschichte abgesehen, welche sich im ersten Kapitel des Lukas finden. Wie nämlich Samuels Mutter bei der Über - gabe ihres Sohnes an den Hohenpriester in einen Hymnus ausbricht (1. Sam. 2, 1 ff. ): so hier der Vater des Täufers bei der Beschneidung seines Sohns; nur daſs im Einzelnen dem Loblied der Hanna weniger das des Zacharias, als das der Maria nachgebildet erscheint, auf welches wir spä - ter kommen werden. Der einzige ungewöhnliche Zug, für welchen eine Analogie in diesen A. T. lichen Stellen fehlt, ist das Verstummen des Zacharias, worauf sich Olshau - sen gegen die mythische Ansicht von unsrer Erzählung be - ruft11)Commentar 1, S. 119.. Allein bedenkt man nur, daſs das Fordern und Bekommen von Zeichen zur Versicherung einer Voraussa - gung bei den Hebräern gewöhnlich war (vgl. Jes. 7, 11 ff. ), und daſs als ausserordentliche Strafe nach einer himmli - schen Erscheinung auch sonst der Verlust eines Sinnes bis auf eine gewisse Zeit verhängt wird (A. G. 9, 8. 17 f.): so kann man sich die Entstehung dieses Zuges in der Sage auch ohne geschichtliche oder vorbildliche Veranlassung gar wohl erklären. — Von zwei wunderlosen Nebenzügen ist der eine, die gesetzliche Gerechtigkeit der Eltern des Johannes (V. 6.) in jedem Falle blos auf den Schluſs ge - gründet, daſs nur ein so gottseliges Ehepaar mit einem solchen Sohne habe begnadigt werden können, und hat also keinen historischen Werth; wogegen die Angabe (V. 5.), daſs Johannes unter dem König Herodes (dem Groſsen) geboren sei, eine ohne Zweifel richtige Berechnung ist.
104Erster Abschnitt.So stehen wir also hier ganz auf poëtisch-mythischem Grunde, und was wir als sichre historische Thatsache fest - halten können, ist nur dieſs: der Täufer Johannes hat durch seine spätere Wirksamkeit und deren Beziehung auf Jesus so bedeutenden Eindruck gemacht, daſs sich die christ - liche Sage zu einer solchen Verherrlichung seiner Geburt in Verbindung mit der Geburt Jesu getrieben fand.
Hatten wir für die Geburtsgeschichte des Täufers nur den einzigen Bericht des Lukas: so fällt bei dem Übergang auf die Abstammung Jesu auch Matthäus ein, so daſs nun durch die gegenseitige Controle zweier Erzähler unser kri - tisches Geschäft theils vervielfältigt, theils aber doch er - leichtert wird. Auch die zwei ersten Kapitel des Matthäus übrigens, welche die Geburts - und Kindheitsgeschichte Je - su enthalten, sind, wie die parallelen Abschnitte des Lu - kas, in Bezug auf ihre Ächtheit angezweifelt worden1)Stroth, über Interpolationen im Evang. Matth. In Eichhorn's Repertorium 9, S. 99 f. — Hess Bibliothek der heiligen Ge - schichte 1, 208 ff. — Eichhorn, Einleitung in das N. T. 1, S. 422 ff. spricht die zwei ersten Kapitel zwar dem Apostel Matthäus ab, erklärt sie aber wegen des gleichen Pragma - tismus, der in denselben wie im übrigen ersten Evangelium herrscht, für ein Werk desselben Verf., welchem wir unsre gegenwärtige Überarbeitung des Matthäus-Evangeliums ver - danken.: doch nur von demselben befangenen Standpunkt aus wie jene, weſswegen auch hier durch gründliche Widerlegun - gen die Zweifel zum Schweigen gebracht sind2)Griesbach, epimetron ad comm. crit. in Matth. p. 57 ff. vgl. Paulus exeg. Handb. 1, a, S. 137. Fritzsche, Comment. in Matth., Excurs. 3..
106Erster Abschnitt.Der Geschichte der Verkündigung und Geburt Jesu ist bei beiden Evangelisten eine Stammtafel — bei Matthäus voran ‒ (1, 1 — 17.), bei Lukas nachgeschickt (3, 23 — 38.), welche die Davidische Abkunft Jesu als des Messias do - cumentiren soll. Von einer genaueren Untersuchung die - ser Genealogieen mahnt uns zwar Luther ab, da ja Pau - lus ausdrücklich 1. Tim. 1, 4. vor den γενεαλογίαις ἀπε - ράντοις warne, weil sie mehr nur ζητήσεις, als ὀικονομίαν ϑεοῦ τὴν ἐν πίςει zur Folge haben3)Anmerkungen über den Evangelisten Matthäum. Werke, Walch. Ausg. Bd. 14. S. 8 f.; indessen geben sie, so - wohl jede für sich, als beide in Vergleichung mit einan - der betrachtet, so wichtige Aufschlüsse über den Charak - ter der evangelischen Nachrichten in diesem Abschnitt, daſs eine genaue Prüfung derselben nicht umgangen wer - den kann. Nehmen wir zuerst jede ohne Rücksicht auf die andere, so ist wiederum jede, und zwar soll es zuvör - derst die des Matthäus sein, theils an sich, theils in Be - ziehung auf die A. T. lichen Stellen zu betrachten, mit welchen sie parallel läuft.
Bei der von dem Verfasser des ersten Evangeliums mit - getheilten Genealogie ist eine Vergleichung derselben mit sich selber deſswegen von Erfolg, weil sie an ihrem Schlus - se (V. 17.) ein Resultat, eine Summe, zieht, und nun durch Vergleichung des Vorausgeschickten untersucht werden kann, wiefern demselben jenes Resultat wirklich entspricht. Es sagt nämlich die Zusammenfassung am Schlusse aus, von Abraham bis auf Christus seien es dreimal 14 Glieder: einmal von Abraham auf David, dann wieder von diesem zum babylonischen Exil, und endlich von da bis auf Chri - stus herab. Zählen wir nun nach, so treffen von Abra - ham bis auf David, beide miteingeschlossen, die Vierzehn zu (V. 2 — 5.); ebenso von Salomo bis auf denjenigen, nach welchem des babylonischen Exils gedacht ist, Jechonias107Zweites Kapitel. §. 16.(6 — 11.); aber von diesem bis auf Jesus bringt man, den letzteren selbst noch mitgezählt, blos 13 Glieder heraus (V. 12 — 16.). Wie ist diese Differenz zwischen der vom Verf. gezogenen Summe und den vorausgeschickten Zahlen zu erklären? Die Vermuthung, daſs von den Gliedern der dritten Tessareskaidekade eines durch Versehen der Ab - schreiber weggefallen sei4)Paulus a. a. O. S. 292., wird durch die Notiz höchst unwahrscheinlich, daſs schon Porphyrius dieses Glied ver - miſste5)Nach Hieron. in Daniel. init.; der von einigen Handschriften und Versionen zwischen Josias und Jechonias eingeschobene Ἰωακεὶμ6)S. Wetstein z. d. St. aber würde nicht die dritte, mangelhafte Tessareskaidekade ergänzen, sondern die zweite, die schon ohne ihn voll ist, überfüllen7)Paulus a. a. O.. Da somit dieser Mangel ohne Zweifel schon vom Verfasser der Genealogie herrührt, fo fragt sich nur, auf welche Weise er gezählt hat, daſs er auch für seine dritte Abtheilung 14 Glieder herausbrachte? Eine Möglich - keit, verschieden zu zählen, ergiebt sich leicht durch den Unterschied des Inclusiven und Exclusiven. Freilich sollte man denken, wer bei der vorhergehenden Klasse einge - schlossen war, der müsse bei der folgenden ausgeschlossen werden; doch könnte es sein, der Verfasser dieser Stamm - tafel hätte anders gedacht; wenigstens nennt er in seiner Zusammenrechnung den David zweimal: wie, wenn er ihn auch, so falsch dieſs gerechnet wäre, sowohl zur ersten als zur zweiten Reihe gezählt hätte? Freilich würde dieſs, wie oben die Einschaltung des Jojakim, den Mangel in der dritten Reihe nicht ersetzen, sondern nur die zweite über - zählig machen; man müſste denn mit einigen Auslegern8)Z. B. Fritzsche, Comment. in Matth. p. 13. die zweite Reihe nicht, wie gewöhnlich geschieht, mit Je -108Erster Abschnitt.chonia, sondern schon mit seinem Vormann Josia schlies - sen, dann käme der durch die doppelte Zählung Davids in der zweiten Reihe überflüssig gewordene Jechonia der dritten zu Gute, und sie hätte mit Jesus ihre 14 Glieder. Allein es scheint doch gar zu willkührlich, daſs der Ver - fasser zwar das abschlieſsende Glied der ersten Dekatetras auch wieder zur zweiten gezählt haben soll, nicht aber ebenso das Schluſsglied der zweiten noch einmal zur drit - ten; weſswegen man es mit Andern vorziehen könnte, wie den David, so auch den Josias doppelt zu zählen, wo - durch dann die dritte Klasse schon ohne Jesum 14 Glieder bekäme9)Nur nicht aus dem mystischen Grunde Olshausen's, Comm. 1, S. 46: weil es passend sei, Jesum selbst nicht mit in die Geschlechter einzureihen, sondern als die Blüthe des Gan - zen allein zu stellen. Was könnte aus solchen Gründen nicht Alles „ passend “gefunden werden!. Aber, indem diese Zählung eine Anomalie ver - meidet, fällt sie in eine andere, daſs nämlich V. 17. zwar in dem Satze: ἀπὸ Ἀβραὰμ ἕως Δαυὶδ κ. τ. λ. der Letz - tere eingerechnet wird, in dem Satze aber: ἀπὸ τὴς μετ - οικεσίας Βαβυλῶνος ἕως τοῦ χριςοῦ dieser ausgeschlossen. Noch ein gröſseres Gebrechen haben die beiden zuletzt angeführ - ten Zählungsweisen mit einander gemein. Indem nämlich der Verfasser der Genealogie V. 11. und 12. sagt: Ἰωσίας δὲ ἐγέννησε τὸν Ἰεχονίαν — ἐπὶ τῆς μετοικεσίας Βαβυλῶνος· μετὰ δὲ τὴν μετοικεσίαν Βαβυλῶνος Ἰεχονίας ἐγέννησε τὸν Σαλαϑιήλ: so setzt er augenscheinlich den durch das Exil gebildeten Abschnitt[zwischen] der zweiten und dritten De - katetras nicht schon hinter Josia, sondern erst nach Je - chonia, dessen Namen er dann zu Anfang der dritten Rei - he ganz ebenso wiederholt, wie am Anfang der zweiten den Namen Davids. Da also, um nicht gegen den klaren Sinn des Schriftstellers zu verstossen, jede Erklärung zu vermeiden ist, bei welcher schon mit Josia die zweite Ab -109Zweites Kapitel. §. 16.theilung geschlossen werden müſste, dennoch aber der drit - ten Reihe zu ihrer 14 Zahl geholfen werden muſs: so bleibt nichts übrig, als den, wenn David nur einfach gezählt wird, die zweite Reihe abschliessenden Jechonia am Anfang der dritten noch einmal zu zählen, um so mit Jesus 14 Glie - der zu bekommen. Dabei findet dann freilich wieder das Ungleichmäſsige statt, daſs nur bei dem Schluſsglied der zweiten Klasse die doppelte Zählung angewendet wird, nicht aber auch bei dem der ersten; allein da jeder andre Ausweg gröſsere Schwierigkeiten hat, so bleibt nur dieser übrig, welchem zufolge der Redacteur dieser Genealogie, falls ihm für diese dritte Reihe keine bestimmte Zahl von Gliedern vorlag, aus Versehen eines zu wenig genommen haben müſste, falls ihm aber in irgend einer unbekannten Quelle nur 13 Glieder gegeben waren, sich, um die 14 Zahl zu erhalten, vielleicht bewuſst und absichtlich durch die doppelte Zählung des Jechonia geholfen hätte.
Halten wir hierauf die Genealogie des Matthäus, — im - mer noch ohne Rücksicht auf die des Lukas, — mit den entsprechenden Stellen des A. T. s zusammen: so stimmt sie mit diesen nicht durchaus überein, und es zeigt sich das dem eben gewonnenen äusserlich entgegengesetzte Re - sultat, daſs, wenn für sich betrachtet die Genealogie ein Glied verdoppeln muſste, um ihr Schema zu füllen: sie in Vergleichung mit dem A. T. von den in diesem an die Hand gegebenen Gliedern mehrere ausläſst, um ihre 14 Zahl nicht zu überschreiten. Mit A. T. lichen Angaben nämlich läſst sich diese Genealogie, als die berühmte Stammtafel des Davidischen Königsgeschlechts, vergleichen von Abra - ham bis auf Serubabel und seine Söhne, von wo an das Davidische Haus in die Dunkelheit zurückzutreten anfängt, und bei dem Schweigen des A. T. s von demselben die Con - trole für die Matthäische Genealogie aufhört. Und zwar ist das Geschlechtsregister von Abraham bis Juda, Perez und Esron hinlänglich aus der Genesis bekannt; das von Pe -110Erster Abschnitt.rez bis David finden wir am Schlusse des Buchs Ruth und im 2ten Kapitel des ersten Buchs der Chronik; das von David bis auf Serubabel im dritten Kap. desselben Buchs; Parallelen für Einzelnes noch ungerechnet. Vollziehen wir nun die Vergleichung: so finden wir die Linie von Abra - ham bis David, also die ganze erste Tessareskaidekade un - serer Genealogie in den Männernamen den A. T. lichen Angaben gleichlautend, nur fügt sie einige Frauen ein, von welchen Eine Schwierigkeit macht. Daſs nämlich (nach V. 4.) Rahab des Boas Mutter gewesen, ist nicht nur oh - ne Bestätigung im A. T., sondern es sind auch, wenn sie zur Urgroſsmutter Isai's, des Vaters von David, gemacht wird, zwischen ihrer Zeit und dem Davidischen Zeitalter, beiläufig von 1450 — 1050 v. Chr. zu wenige Generationen gesetzt, nämlich, die Rahab oder den David mitgezählt, 4 für 400 Jahre. Doch dieser Fehler fällt insofern auf die A. T. lichen Genealogieen selber zurück, als Isai's Urgroſs - vater Salmon, welchen Matthäus zum Gatten der Rahab macht, auch Ruth 4, 20. wie bei Matthäus, Sohn eines Nahasson ist, welcher nach 4. Mos. 1, 7. noch der Zeit des Zugs durch die Wüste angehörte10)Hiedurch wird die Auskunft Kuinöl's, Comment. in Matth. p. 3., die hier genannte Rahab von der berühmten zu un - terscheiden, ausser dem Willkührlichen auch vollends über - flüssig., von wo aus es denn nahe lag, seinen Sohn mit jener Rahab, welche die israëlitischen Kundschafter gerettet hatte (Jos. 2.), in Ver - bindung zu bringen, um diese Frau, auf welche der pa - triotische Israëlite einen besondern Werth legte (vgl. Jak. 2, 25. Hebr. 11, 31.), in das Geschlecht Davids und des Messias hereinzuziehen. — Mehrere Abweichungen finden sich in dem Abschnitt von David bis zu Serubabel und des - sen Sohn, oder der 2ten Dekatetras sammt den ersten Glie - dern der dritten.
111Zweites Kapitel. §. 16.Erstlich, während es hier V. 8. heiſst: Ἰωρὰμ ἐγέννησε τ[ὸ]ν Ὀζ[ί]αν: so wissen wir aus 1. Chron. 3, 11. 12., daſs Usia nicht der Sohn, sondern der Enkel des Sohns von Joram war, und drei Könige zwischen beide fallen, näm - Ahasja, Joas und Amazia, hierauf erst Usia (2. Chron. 26, 1.; oder, wie er 1. Chron. 3, 12. und 2. Kön. 14, 21. heiſst, Asaria).
Zweitens heiſst es in unsrer Stelle V. 11: Ἰωσίας δὲ ἐγέννησε τὸν Ἰεχονίαν καὶ τοὺς ἀδελφοὺς αὐτοῦ. Aber aus 1. Chron. 3, 16. ersehen wir einerseits, daſs der Sohn und Nachfolger des Josias Jojakim hieſs, und erst dessen Sohn und Nachfolger Jechonia oder Jojachin (2. Kön. 24, 6. 2. Chron. 36, 8.)11)Wegen der Ähnlichkeit der Namen יְהוֺיָקִים und יְהוֺיָכִין glaub - ten Manche, sei der erstere nur zufällig ausgefallen (z. B. Wetstein z. d. St.) und einige Codices und Übersetzungen schoben ihn, wie oben bemerkt wurde, ein.; andrerseits werden von Jechonia, dem hier αδελφοὶ zugeschrieben sind, in jener Stelle keine Brüder erwähnt, wohl aber hatte Jojakim Brüder: so daſs die Erwähnung der ἀδελφοὶ Ἰεχονίοῦ bei Matthäus aus einer Verwechslung der genannten beiden Männer hervorgegan - gen zu sein scheinen könnte, wenn nicht 2. Chron. 36, 10. als Bruder des Jojachin oder Jechonia Zedekia namhaft gemacht würde, welcher 1. Chron. 3, 16. dessen Sohn, 2. Kön. 24, 17. aber, vgl. mit 1. Chron. 3, 15. und Jer. 37, 1. sein Oheim heiſst, so daſs in diesem Stücke in den A. T. lichen Nachrichten selbst ein Schwanken zu bemer - ken ist.
Eine dritte Differenz findet in Bezug auf Serubabel statt. Während dieser hier V. 12. ein Sohn Salathiels heiſst, wird er 1. Chron. 3, 19. nicht durch Sealthiel, son - dern durch dessen Bruder Ped[a]ja von Jechonia abgeleitet, wogegen jedoch Esra 5, 2. und Haggai 1, 1. Serubabel wie112Erster Abschnitt.hier als Sohn Sealthiels bezeichnet ist. Endlich der hier als Serubabels Sohn genannte Abiud ist 1. Chron. 3, 19. f. unter den Kindern Serubabels nicht zu finden.
Von diesen Abweichungen sind die zweite und dritte unverfänglich, und können sich ohne Absicht und auch ohne zu groſse Nachläſsigkeit eingeschlichen haben; denn die Auslassung des Jojakim kann wirklich durch den Gleich - klang der Namen veranlaſst sein, und durch eben diese Verwechslung auch die Erwähnung von Brüdern des Je - chonia, eine Differenz, welche sammt der folgenden über - dieſs das Schwanken auch der A. T. lichen Angaben für sich hat. Aber die zuerst aufgeführte Abweichung, das Ueberspringen von drei wohlbekannten Königen, läſst sich nicht ebenso leichten Kaufs auf die Seite schaffen. Nimmt man die Weglassung als unabsichtlich, so daſs der Verf. von Joram statt auf Ahasja (bei den LXX Ὀχοζίας) auf den ähnlich lautenden Ὀζίας gesprungen sein soll: so würde dieſs doch, zusammengenommen mit dem Falle bei Jojakim, eine Nachläſsigkeit und beinahe Blindheit des Genealogisten voraussetzen, welche an das Undenkbare grenzt. Man wird daher schwerlich umhin können, mit Hieronymus anzunehmen, der Verfasser habe absichtlich drei Namen weggelassen, um seine 14 rein herauszubekom - men12)Vgl. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 19. Paulus exeg. Hand - buch S. 289. Wenn Olshausen S. 46. sagt, es könne nicht die Absicht des Matthäus gewesen sein, die 14Zahl zu ur - giren, da er ja mehrere Glieder auslasse: so ist dies eine der überraschenden Keckheiten, durch welche dieser Ausle - ger bisweilen den Leser zu überrumpeln sucht, indem er die Einwürfe gegen die orthodoxe Ansicht von den biblischen Ge - schichten geradezu in Gründe für dieselbe umwandelt, und so die Sache auf den Kopf stellt. Denn hier ist doch gerade umgekehrt zu schliessen, dem Verf. müsse besonders viol an der 14Zahl gelegen gewesen sein, sonst würde er nicht, um. Da er nämlich von Abraham bis David, wo der113Zweites Kapitel. §. 16.erste Absaz sich ergab, 14 Glieder vorfand: so scheint er gewünscht zu haben, auch die übrigen Abtheilungen die - ser ersten gleichzählig zu finden; es boten sich aber von selbst noch zwei dar, indem in die ganze noch übrige Reihe das babylonische Exil als Scheidepunkt eintrat. Da nun jenem Wunsche die zweite Reihe in der Art nicht ent - sprach, daſs die Stammtafel der Davididen bis zum Exil vier Glieder über 14 darbot: so lieſs er vier Namen weg (warum gerade diese, möchte schwer zu entscheiden sein13)Doch vgl. Fritzsche z. d. St.); umgekehrt, für den dritten Abschnitt enthielt entweder seine Quelle einen Mann zu wenig und er suchte sich dadurch zu helfen, — oder er wurde dadurch verlei - tet, selbst einen zu wenig aufzuführen, daſs sich der nach der Erwähnung des Exils noch einmal genannte Jechonia auch zur dritten Reihe zählen lieſs.
Warum dem Verfertiger dieser Genealogie so viel an der dreimal gleichen Zahl lag, davon könnte zwar der Grund, wie Einige annehmen, ein lediglich mnemonischer gewesen sein, leichterer Behaltbarkeit wegen die Genealo - gieen nach orientalischer Sitte in gleiche Abschnitte zu thei - len14)Fritzsche in Matth. S. 11.; doch möchte sich wohl mit diesem zugleich ein mystischer Grund verbunden haben. Es fragt sich, ob die - ser in der bestimmten Zahl, welche sich dreimal wieder - holt, oder überhaupt nur darin, daſs dieselbe Zahl drei -12)sie nicht zu überschreiten, wohlbekannte Glieder ausgemerzt haben. — Ebendamit widerlegt sich auch die Ansicht, welche vor den Lücken bei Joram und Josias (V. 8. und 11.) das ἐγέννησε nicht im engern wörtlichen, sondern nur im wei - teren Sinn von: e posteris ejus erat, genommen wissen will, als hätte der Genealogist die weggelassenen Glieder nicht ausschliessen, vielmehr hinzugedacht wissen wollen (Kuinöl z. d. St.); unmöglich hätte er dann so zusammenzählen kön - nen, wie er thut.Das Leben Jesu I. Band. 8114Erster Abschnitt.mal wiederkehrt, zu suchen sei? Daſs es dem Genealogi - sten um die Wiederholung gerade des Vierzehn, als der doppelten heiligen Sieben zu thun gewesen15)Paulus S. 292., ist un - wahrscheinlich, weil er sonst schwerlich die 7 so ganz in die 14 versteckt haben würde; noch weniger läſst sich mit Olshausen zuläſsig finden, daſs die 14 als der Zahlwerth des Namens David besonders hervorgehoben sei16)Bibl. Comment. S. 46. Anm.; denn solche Künsteleien der rabbinischen Gematria finden sich sonst in den Evangelien nicht. Mithin möchte es mehr nur um die Wiederholung der gleichen Zahl, nachdem sich zufällig zuerst die 14 ergeben hatte, bei Festhaltung von dieser zu thun gewesen sein, indem die Juden ausserordentliche gött - liche Heimsuchungen, erfreuliche wie strafende, in be - stimmten Zwischenzeiten wiederkehrend sich dachten, so daſs, wie auf den Gründer des heiligen Volks in 14 Generationen der König nach dem Herzen Gottes gefolgt war: ebenso 14 Generationen nach der Wiederherstellung des Volks der Sohn Davids, der Messias gekommen sein muſste17)S. Schneckenburger, Beiträge zur Einleitung in das N. T. S. 41 f., und die daselbst angeführte Stelle aus Joseph. B. j. 6, 4, 8. Ausserdem ist zu vergleichen die von Schöttgen horae hebr. et talm. zu Matth. 1. angeführte Stelle aus Sy - nopsis Sohar p. 132. n. 18: Ab Abrahamo usque ad Salo - monem XV sunt generationes; atque tunc luna fuit in pleni - lunio. A Salomone usque ad Zedekiam iterum sunt XV ge - nerationes, et tunc luna defecit, et Zedekiae effossi sunt oculi..
Diese apriorische Behandlungsweise seines Stoffes, das Prokrustesbette, auf welches er, fast wie ein construi - render Philosoph, denselben bald dehnend bald verkürzend legt, erweckt kein günstiges Vorurtheil für den Verf. un - serer Genealogie, und es wird nichts gut gemacht durch Kuinöl's Bemerkung, daſs die orientalischen Genealogisten sich auch sonst solche Auslassungen zu erlauben pflegen;115Zweites Kapitel. §. 17.denn Willkühr bleibt Willkühr, ob sie Einem für sich al - lein eigen ist, oder mit einer ganzen Klasse gemein.
Der Genealogie bei Lukas für sich genommen sieht man nicht so viele Fehler, wie der des Matthäus an. Denn einmal ihre Vergleichung mit sich selbst liefert gar kein Resultat, da sie nicht wie jene durch Ziehung einer Sum - me sich selbst controlirt; dann aber auch von Seiten des A. T. fehlt ihr die Controle groſsentheils, weil sie von David und Nathan an fast durch lauter unbekannte Ge - schlechter herabläuft, von welchen sich im A. T. kein Stammbaum findet. Nur in 2 Gliedern berührt sie von da an eine im A. T. erwähnte Linie, in Sealthiel und Seru - babel, kommt aber eben hiedurch in Widerspruch mit 1. Chron. 3, 17. 19. f., indem sie den Sealthiel einen Sohn von Neri nennt, da doch nach der angeführten Stelle Je - chonia sein Vater war; als Sohn Serubabels aber einen Resa namhaft macht, welcher in der Chronik unter Seru - babels Kindern fehlt. Auch in der vorabrahamischen Ge - schlechterreihe findet sich die Differenz, daſs zwischen Arphachsad und Sela Lukas einen Καϊνὰν einschiebt, wel - cher im hebräischen Texte 1. Mos. 10, 24. sich nicht findet, übrigens schon von den LXX als Καϊνᾶμ eingeschaltet war.
Noch weit auffallendere Resultate ergeben sich aber, wenn man die beiden Genealogieen bei Matthäus und Lu - kas mit einander vergleicht, und ihrer Abweichung von einander sich bewuſst wird. Einige der stattfindenden Dif - ferenzen zwar sind unverfänglich und selbst unbedeutend, wie die Verschiedenheit der Richtung, daſs die Geschlechts - tafel bei Matthäus abwärts geht von Abraham auf Jesus, die bei Lukas aber aufwärts, von Jesus auf seine Vorfah - ren zurück; ebenso die Verschiedenheit des Umfangs, wel -8*116Erster Abschnitt.chen Lukas weiter absteckt als Matthäus, indem dieser das Geschlecht Jesu nur bis auf Abraham, jener dagegen auf Adam und Gott selbst zurückführt. Eigentlich lag, was den Zweck dieser Genealogieen betrifft, nur daran, Jesum, den Messias, als davidischen Abkömmling darzustellen, worin dann schon lag, daſs der Davidide auch ein Abra - hamide sei; schon das war also ein opus supererogati - vum, daſs Matthäus von Abraham ausholte; noch mehr aber scheint es nur dem unwillkührlichen Fortgehen in der ein - mal begonnenen genealogisirenden Bewegung zuzuschrei - ben, daſs Lukas sogar über Abraham hinaus auf Adam den Gottgeschaffenen zurückgeht1)Ich kann mich zu der Annahme mehrerer Theologen (Ols - hausen, bibl. Comm. 1, S. 41. und Winer, bibl. Realwörter - buch 1, S. 659. der 2ten Auflage), dass es die universalisti - sche Tendenz des Lukas sei, welche ihn noch über Abraham zu Adam und Gott dem Vater aller Menschen hinausgehen lasse, desswegen nicht verstehen, weil als Verf. der Genea - logie nicht der universalistische Lukas, sondern ein alter palästinensischer Judenchrist, der dann eher particularistisch gesinnt gewesen sein wird, anzusehen ist, worüber das Wei - tere unten., wodurch nach Schlei - ermacher's Bemerkung das (für die messianische Würde Jesu) Beweisende in der Genealogie nur versteckt ist2)Über den Lukas S. 51.. Bedenklicher schon ist der nicht geringe Unterschied in der Zahl der Generationen für gleiche Perioden, indem von David bis auf Joseph Lukas 41, Matthäus dagegen nur 26 Geschlechter hat. Der Gröſse des Zeitraums ist die Zahl bei Lukas angemessener; denn von David bis Joseph, d. h. von beiläufig 1050 — 50 vor Christo sind 26 Generationen zu wenig, indem da auf eine Generation über 38 Jahre kommen, wogegen nach Lukas, der Wahrscheinlichkeit näher, etwas weniger als 25. Die Hauptschwierigkeit je - doch liegt darin, daſs Lukas zum Theil ganz andre Indi -117Zweites Kapitel. §. 17.viduen zu Vorfahren Jesu macht, als Matthäus. Zwar stimmen sie in der Angabe derselben nicht allein darin überein, daſs beide das Geschlecht Jesu durch Joseph auf David und Abraham zurückführen, sondern auch in Bezug auf die Mittelglieder, durch welche sie dieſs thun, treffen sie in den Generationen von Abraham bis David, und später in den beiden Namen Sealthiel und Se - rubabel zusammen. Der eigentlich verzweifelte Punkt ist nun aber der, daſs von David bis auf den Pflegevater Jesu, mit Ausnahme von zweien ungefähr in der Mitte, lauter verschiedene Namen bei Lukas und Matthäus sich finden. Nach Matthäus nämlich hieſs der Vater Josephs Jakob, nach Lukas Eli; nach Matthäus ist der Sohn Davids, durch welchen Joseph von diesem König abstammte, Salomo, nach Lukas Nathan, und so läuft dann das Geschlechtsre - gister des Matthäus durch den bekannten Königsstamm her - unter, das bei Lukas durch eine unbekannte Nebenlinie; nur in Sealthiel und Serubabel treffen beide zusammen, doch so, daſs sie sogleich wieder Sealthiels Vater und den Sohn Serubabels verschieden haben. Da diese Differenz ein vollkommener Widerspruch zu sein scheint: so ist man von jeher mit Lösungsversuchen äusserst geschäftig gewe - sen. Um von offenbar ungenügenden Auswegen, wie my - stischer Deutung3)Orig. homil. in Lucam 28. oder willkührlicher Änderung der Na - men4)Luther, Werke Bd. 14. Walch. Ausg. S. 8 ff. nichts zu sagen, so haben sich besonders zwei Hy - pothesenpaare ausgebildet, von welchen je ein Paar sich gegenseitig stützt oder doch verwandt ist.
Das erste Paar bilden die Voraussetzung des Augusti - nus, daſs bei Joseph ein Adoptionsverhältniſs stattgefun - den, und nun der eine Evangelist seinen wirklichen, der andre seinen Adoptiv-Vater nebst dessen Stammbaum gebe5)De consensu Evangelistarum, 1. 2. c. 3. und unter den Neue - ren z. B. E. F. in Henke's Magazin 5, 1, 180 f.,118Erster Abschnitt.— und die Annahme des alten Chronologen Julius Africa - nus, daſs bei Josephs Eltern eine Levirats-Ehe eingetre - ten sei, und nun der Stammbaum des einen Evangelisten dem natürlichen, der andere dem gesetzlichen Vater Josephs angehöre; durch den einen habe er von der Salomonischen, durch den andern von der Nathanischen Linie des Davidi - schen Geschlechtes abgestammt6)Bei Eusebius, H. E. 1, 7. und neuerlich z. B. Schleierma - cher, über den Lukas, S. 53.. Die nähere Frage, wel - che von beiden Genealogieen den natürlichen, und welche den gesetzlichen Vater mit seinem Stammbaum angebe, kann nach zweierlei Kriterien entschieden werden, deren eines mehr dem Buchstaben, das andere mehr dem Geist und Charakter der beiden Evangelisten angehört, und wel - che eine entgegengesetzte Entscheidung herbeiführen. Au - gustinus und auch schon Julius haben darauf gesehen, welcher von beiden Evangelisten zur Bezeichnung des Verhältnisses zwischen Joseph und demjenigen, den er als dessen Vater namhaft macht, sich eines Ausdrucks bedie - ne, welcher bestimmter als der des andern auf ein natür - liches Sohnesverhältniſs hinweise. Einen solchen gebraucht nun Matthäus; indem er nämlich sagt: Ἰακὼβ ἐγέννησε τὸν Ἰωσὴφ: so scheint das γεννᾷν nur das natürliche Verhält - niſs bezeichnen zu können, während das Ἰωσὴφ τοῦ Ἡλὶ bei Lukas ebensowohl das Verhältniſs eines Adoptivsohns, oder eines solchen, der vermöge des Leviratsverhältnisses als Sohn angesehen wird, anzeigen zu können scheint. Al - lein da die Verordnung der Leviratsehe gerade den Zweck hatte, Namen und Geschlecht eines kinderlos Verstorbenen zu erhalten: so war es jüdische Sitte, den aus solcher Ehe zuerst entsprossenen Sohn nicht in das Geschlechtsregister des natürlichen Vaters einzutragen, wie hier Matthäus thun soll, sondern in das des gesetzlichen Vaters, wie dieſs Lu - kas nach der obigen Voraussetzung beobachtet. Daſs nun119Zweites Kapitel. §. 17.aber gerade der so ganz jüdisch gebildete Verfasser des ersten Evangeliums, oder der Genealogie insbesondere, ei - nen solchen Verstoſs begangen haben sollte, kann man nicht wahrscheinlich finden, weſswegen z. B. Schleiermacher dem Geiste der beiden Evangelisten gemäſs annehmen zu müssen glaubt, daſs Matthäus, unerachtet seines ἐγἐννησε, doch nach jüdischem Brauche den Stammbaum des gesetz - lichen Vaters gebe, Lukas aber, vielleicht kein geborener Jude und der jüdischen Gewohnheiten minder kundig, ha - be die Stammtafel der jüngeren Brüder Josephs zur Hand bekommen, welche nicht, wie der Erstgeborene, auf das Geschlecht des verstorbenen gesetzlichen, sondern des na - türlichen Vaters geschrieben wurden, und diese habe er nun auch für die Stammtafel des Erstgeborenen, Joseph, gehalten, was sie nur nach dem natürlichen Momente war, auf welches aber die jüdische Genealogistik keine Rück - sicht nahm7)a. a. O. S. 53. Vgl. Winer, bibl. Realwörterbuch 1. Band. S. 660.. Allein abgesehen von dem erst unten zu Erweisenden, daſs die Genealogie bei Lukas schwerlich vom Verf. des Evangeliums herrührt, also aus dessen minder jüdischer Bildung kein Schluſs auf die Deutung des von ihm aufgenommenen Geschlechtsregisters gilt: so würde der Genealogist im ersten Evangelium sein ἐγέννησε nicht so oh - ne allen Beisatz hingeschrieben haben, wenn er an ein blos gesetzlicher Vaterverhältniſs gedacht hätte; weſswegen die beiden Ansichten von dem Verhältniſs der Genealogieen in dieser Beziehung gleich schwierig sind.
Indeſs, wir müssen uns diese, bis jetzt nur im Allge - meinen bezeichnete Hypothese erst näher vor die Vorstel - lung bringen, um über ihre Zulässigkeit urtheilen zu kön - nen. Da in Bezug auf die Voraussetzung der Leviratsehe Verfahren und Ergebniſs im Ganzen dasselbe bleibt, ob wir mit Augustin und Julius dem Matthäus, oder mit Schleier -120Erster Abschnitt.macher dem Lukas die Angabe des natürlichen Vaters zu - schreiben: so wollen wir das Verhältniſs beispielsweise in der ersten Form betrachten, um so mehr, da uns Euse - bius nach Julius eine sehr genaue Ausführung hierüber hinterlassen hat. Nach dieser Vorstellungsweise war also Josephs Mutter zuerst mit demjenigen Manne verheurathet, welchen Lukas als Josephs Vater nennt, mit Eli; da aber dieser ohne Kinder starb, so ehelichte vermöge des Levi - ratsgesetzes sein Bruder, der von Matthäus als Vater Jo - sephs genannte Jakob, die Wittwe, und erzeugte mit ihr den Joseph, welcher nun gesetzlich als Sohn des verstor - benen Eli angesehen wurde, wie dieſs Lukas angiebt, wäh - rend er natürlich der Sohn seines Bruders Jakob war, eine Betrachtungsweise, welcher Matthäus gefolgt ist.
Allein, blos so weit geführt, würde die Hypothese keineswegs ausreichen. Denn wenn die beiden Väter Jo - sephs wirkliche Brüder, Söhne desselben Vaters waren: so hatten sie Einen und denselben Stammbaum, und es müſsten in diesem Falle die beiden Genealogieen nur den Vater des Joseph verschieden haben, über demselben aber sogleich wieder zusammenlaufen. Um zu erklären, wie sie bis auf David hinauf divergiren können, muſs man die zweite Hypothese hinzufügen, welche auch Julius gemacht hat, daſs die beiden Väter des Joseph nur Halbbrüder ge - wesen, nämlich nur einerlei Mutter, nicht aber denselben Vater gehabt haben. Man müſste also annehmen, die Mut - ter der beiden Väter Josephs habe nach einander in zwei Ehen gelebt, einmal mit dem Matthan des Matthäus, wel - cher durch Salomo und die königliche Linie von David descendirte, und diesem habe sie den Jakob geboren; aus - serdem aber sei sie vor - oder nachher mit dem Matthat des Lukas verchlicht gewesen, welcher durch Nathan Da - vids Nachkomme war, und dieser habe den Eli mit ihr erzeugt, nach dessen Verheurathung und kinderlosem Ab - leben sein Halbbruder Jakob seine Wittwe geheurathet121Zweites Kapitel. §. 17.und gesetzlich für den Verstorbenen den Joseph erzeugt habe8)Stammtafel. [figure].
Müssen wir schon bis hieher die Hypothese einer ge - rade in zwei aufeinanderfolgenden Gliedern so complicir - ten Ehe, zu welcher die Differenz der beiden Genealogieen uns trieb, zwar keineswegs unmöglich, aber doch unwahr - scheinlich finden: so wird die Schwierigkeit durch die un - willkommene Übereinstimmung noch verdoppelt, welche sich, wie schon erwähnt, mitten unter den abweichenden Reihen, in den beiden Gliedern Sealthiel und Serubabel, findet. Um nämlich zu erklären, wie sowohl Neri bei Lu - kas als Jechonia bei Matthäus Vater des Sealthiel, des Vaters von Serubabel, heiſsen könne: müſste nicht nur die Annahme einer Leviratsehe wiederholt werden, sondern auch die, daſs die beiden sich in der Ehe gefolgten Brüder dieſs122Erster Abschnitt.nur mütterlicher Seits gewesen seien9)Wesentlich gemindert wird diese Schwierigkeit auch nicht durch die Bemerkung, dass nicht blos der Bruder, sondern überhaupt der nächste Blutsverwandte dem andern in einer Leviratsehe habe folgen müssen (Ruth 3, 12 f. 4, 4 f. Michai - lis Mos. Recht 2, S. 200. Winer Reallex. S. 408. der er - sten Ausgabe). Denn da auch über zwei Vettern der Stamm - baum weit früher zusammenlaufen muss, als er hier über Jakob und Eli und über Jechonia und Neri zusammengeht: so müsste man doch beidemale die Hypothese von Halbbrü - dern zu Hülfe nehmen, nur dass dann die beiden complicir - ten Ehen nicht in zwei unmittelbar auf einander folgende Generationen fallen würden.. Daſs nun dieser eigenthümliche Doppelfall sich nicht allein zweimal wieder - holt, sondern daſs auch beidemale die Genealogisten sich in die Angabe des natürlichen und des gesetzlichen Vaters auf die gleiche Weise und beidemale stillschweigend ge - theilt haben sollten, das ist so unwahrscheinlich, daſs auch die Hypothese einer Adoption, welche nur von der Hälfte dieser Schwierigkeiten gedrückt ist, schon daran mehr als genug hat. Da nämlich zur Adoption kein brüderliches, oder sonstiges Verwandtschaftsverhältniſs des natürlichen und des Adoptivvaters erfordert wird: so fällt zwar die zweimalige Zuflucht zu einer Halbbruderschaft weg, und es bleibt nur die Nothwendigkeit, zweimal ein Adoptions - Verhältniſs anzunehmen und zweimal das Eigene, daſs die eine Genealogie es unjüdisch ignorirte, die andere aber nur stillschweigend berücksichtigte.
Auf weit einfachere Weise glaubte man daher in neue - rer Zeit den Knoten durch die Annahme zu lösen, daſs wir nur bei dem einen Evangelisten die Genealogie des Jo - seph, bei dem andern aber die der Maria haben, deren Differenz also kein Widerspruch wäre10)So z. B. Spanheim, dubia evang. P. I. S. 13 ff. Lightfoot, Michaelis, Paulus, Kuinöl, Olshausen z. d. St.; wozu man ger -123Zweites Kapitel. §. 17.ne noch die Annahme fügt, daſs Maria eine Erbtochter ge - wesen sei11)Schon Epiphanius, Grotius (s. bei Paulus S. 296.) stellten diese Vermuthung auf. Olshausen nimmt sie an (S. 43.), weil es zum Entwicklungsgange des Davidischen Geschlechts zu passen scheine (siehe über ein ähnliches Passen §. 16. An - merk. 9.), dass diejenige Linie desselben, aus welcher der Messias hervorgehen sollte, sich mit einer Erbtochter be - schloss, die den verheissenen ewigen Erben des Davidischen Throns gebärend, dieselbe endigte. — Aus welcher Rumpel - kammer des Mysticismus und Scholasticismus ist dieser Grund hervorgesucht? Denn das wollen wir doch nicht glauben, dass er von einem Theologen des 19ten Jahrhunderts neu ge - schmiedet worden sei.. Die Ansicht, daſs auch Maria aus Davidi - schem Geschlechte gewesen sei, ist schon alt. Zwar der Idee zulieb, daſs in dem Messias, als zweitem Melchisedek, die königliche Würde mit der priesterlichen vereinigt sein sollte12)Testament. XII Patriarch., Test. Simeon c. 71. In Fabric. Codex pseudepigr. V. Ti S. 542: ἐξ ἀυτῶν (den Stämmen Levi und Juda) ἀνατελεῖ ὑμῖν τὸ σωτήριον τοῦ ϑεοῦ. Ἀνα - ςήσει γὰρ Κύριος ἐκ τοῦ Λευῒ ὡς ἀρχιερέα, καὶ ἐκ τοῦ Ἰούδα ὡς βασιλέα κ. τ. λ. , und verleitet durch die Verwandtschaft der Ma - ria mit der Aaronstochter Elisabet, wie sie von Lukas 1, 36. an die Hand gegeben ist13)Vgl. jedoch Paulus a. a. O. S. 119., lieſsen nicht nur schon frühzeitig Manche den Joseph von einer aus den Stämmen Juda und Levi gemischten Familie abstammen14)Vgl. Thilo, cod. apoer. N. Ti I, S. 374 ff., sondern auch die Ansicht war nicht selten, daſs Jesus durch Joseph zwar aus königlichem, durch Maria aber aus priesterlichem Ge - schlechte gewesen sei15)So z. B. der Manichäer Faustus bei Augustin contra Faust. L. 23, 4.. Gewöhnlicher jedoch wurde bald124Erster Abschnitt.die Ansicht von einer davidischen Abstammung Maria's. Mehrere Apokryphen sprechen sich dahin aus16)Protevang. Jacobi c. 1 f. u. 10. (ed. Thilo) und evang. de nativitate Mariae c. 1. werden als die Eltern der Maria Joa - chim und Anna, aus Davidischem Geschlechte, genannt. Fau - stus hingegen, in der angeführten Stelle, bezeichnet eben diesen Joachim als sacerdos., ebenso Justin der Märtyrer, bei welchem man den Ausdruck, daſs die Jungfrau aus dem Geschlechte Davids, Jakobs, Isaaks und Abrahams gewesen, selbst als eine Andeutung ausle - gen könnte, daſs er eines unsrer Geschlechtsregister, wel - che ja ebenso über David auf Abraham zurückgehen, auf die Maria bezogen hätte17)Dial. c. Tryph. 43. 100. der Mauriner Ausg. Paris 1742.; auch die Juden, indem sie eine Maria, Tochter Eli's, als gequält in der Unterwelt vorstellen18)Vgl. Lightfoot, horae, S. 750., scheinen den von Eli ausgehenden Stamm - baum bei Lukas für den der Maria genommen zu haben.
Fragt man nun aber, warum gerade der Stammbaum bei Lukas, oder überhaupt, welcher der beiden Stamm - bäume als der der Maria gefaſst werden solle, so scheint dieſs eigentlich bei keinem von beiden möglich zu sein, indem beide gar zu bestimmt sich als Genealogieen des Jo - seph ankündigen, der eine in den Worten: Ιακωβ ἐγέννησε τὸν Ἰωσὴφ, der andre durch die Worte: υἱὸς Ἰωσὴφ τοῦ Ἡλί. Dennoch aber lautet auch hier das ἐγέννησε des Matthäus bestimmter als das τοῦ des Lukas, welches nach jenen Auslegern wohl auch einen Schwiegersohn oder En - kel bedeuten könnte, so daſs die Genealogie bei Lukas in den Worten 3, 23. entweder sagen wollte: Jesus war nach der gewöhnlichen Ansicht ein Sohn Josephs, welcher selbst ein Schwiegersohn des Eli, Vaters der Maria, war19)So namentlich Paulus z. d. St.; oder: Jesus war, wie man glaubte, ein Sohn Josephs,125Zweites Kapitel. §. 17.und durch Maria ein Enkel des Eli20)So z. B. Lightfoot horae p. 750.. Indem man hie - gegen einwenden kann, daſs die Juden bei ihren Genea - logieen auf die weibliche Linie keine Rücksicht zu neh - men pflegten21)Vgl. Juchasin f. 55, 2. bei Lightfoot S. 183. und Bava bathra f. 110, 2. bei Wetstein S. 230 f.: so kommt hier die weitere Hypothese zu Hülfe, daſs Maria eine Erbtochter, d. h. die Tochter eines söhnelosen Vaters gewesen, in welchem Falle es nach 4. Mos. 36, 6. und Nehem. 7, 63. die jüdische Sitte mit sich gebracht habe, daſs der Mann, den eine solche Toch - ter ehlichte, nicht nur aus demselben Stamme mit ihr sein muſste, sondern sich auch in ihr Geschlecht aufnehmen lieſs, und somit ihre Vorfahren zu den seinigen machte. Allein nur das Erstere ist aus der mosaischen Stelle er - weislich, wogegen aus der andern in Vergleichung mit mehreren ähnlichen (Esra 2, 61. 4. Mos. 32, 41. vergl. mit 1. Chron. 2, 21. f.) nur so viel erhellt, daſs ausnahms - weise bisweilen Einer nach den mütterlichen Vorfahren be - nannt wurde. Indem so die Schwierigkeit wegen der jü - dischen Sitte bleibt, so tritt sie doch ganz zurück hinter einer ungleich bedeutenderen. Wenn es nämlich gleich nicht geleugnet werden kann, daſs das bei Lukas zu sup - plirende υἱὸς nach dem Hebräischen auch Schwiegersohn oder Enkel bedeuten könnte, so dürfte doch der Zusammen - hang nicht so entschieden dagegen sein, wie hier. Etlich und 70mal deutet in dieser Genealogie das τοῦ den eigentli - chen Sohn an: wie könnte es das Einemal bei Joseph den Schwiegersohn bezeichnen22)Vergl. die Bemerkung Wetstein's zu Luc. 3, 23.? oder wie gar nach Andern das durchaus im Nominativ zu supplirende υἱὸς in immer steigender Progression: Sohn, Enkel, Uren - kel, bis zum entferntesten Abkömmling hin? Beruft man sich auf das Ἀδὰμ τοῦ ϑεοῦ, wo das τοῦ auch nicht Sohn im126Erster Abschnitt.eigentlichen Sinne bedeuten könne23)Paulus a. a. O. S. 284 f.: so zeigt es doch auch hier auf den unmittelbaren Daseinsurheber hin, ein Begriff, unter welchen weder Schwiegervater noch Groſs - vater subsumirt werden können. — Eine weitere Schwie - rigkeit hat diese Auffassung der beiden Stammbäume mit der ersteren gemein, nämlich das Zusammentreffen beider in den Namen Sealthiel und Serubabel zu erklären. Man könnte auch hier wie dort eine Leviratsehe supponiren; doch die hichergehörigen Erklärer ziehen meistens die An - nahme vor, daſs diese gleichen Namen in den beiden Ge - nealogieen gar nicht dieselben Personen bezeichnen: allein bei der Berühmtheit des Serubabel, Sohns von Sealthiel zur Zeit des Exils ist kaum glaublich, daſs Lukas mit die - ser Bezeichnung nicht eben ihn gemeint haben sollte24)s. Winter, bibl. Realwörterbuch 1. Bd. S. 659. (2te Auflage)..
Ueberhaupt findet sich sonst im N. T. nicht nur keine Spur von einer davidischen Abstammung der Maria, son - dern mehrere Stellen sprechen sogar dagegen. Matth. 1, 20. wird nur Joseph als υἱὸς Δαυὶδ bezeichnet; Luc. 1, 27. be - zieht sich das ἐξ οἴκου Δαυὶδ nur auf das zunächst stehende: ἀνδρὶ ᾦ ὅνομα Ἰωσὴφ, nicht aber auf das entferntere: παρϑένον μεμνηςευμένην; hauptsächlich aber die Wendung Luc. 2, 4.: ἀνέβη δὲ καὶ Ἰωσὴφ-διὰ τὸ εἶναι ἀυτὸν ἐξ οἴκου καὶ πατριᾶς Δαυὶδ, ἀπογράψασϑαι σὺν Μαρίᾳ κ. τ. λ., wo so leicht statt ἀυτὸν ἀυτοὺς gesezt werden konnte, wenn der Verfasser einen Gedanken an eine davidische Abkunft auch der Maria hatte, — entscheidet gegen die Möglich - keit, die davidische Genealogie gerade des dritten Evange - listen auf die Maria zu beziehen.
Bedenkt man die unüberwindlichen Schwierigkeiten, in welche sich alle diese Vereinigungsversuche unvermeid -127Zweites Kapitel. §. 18.lich verwickeln: so wird man wohl mit freier denkenden Exegeten an der Möglichkeit einer Friedensstiftung zwi - schen beiden verzweifeln und ihren gegenseitigen Wider - spruch anerkennen müssen1)So Eichhorn, Einleit. in das N. T. 1. Bd. S. 425. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 232. de Wette bibl. Dogm. §. 279. Hase, Leben Jesu §. 30. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 35.. Indem so zunächst wenig - stens nicht beide richtig sein können: so wäre, wenn ge - wählt werden sollte, eher die des Lukas als historisch an - zunehmen, da sie doch nicht dieselbe Willkühr im Zählen und Gleichmachen der Perioden, und auch darin weniger verherrlichendes Bestreben als die des Matthäus zeigt, daſs sie, mit der davidischen Abkunft überhaupt zufrieden, das Geschlecht Jesu nicht wie jene gerade durch die könig - liche Linie herunterführt. In der That aber hat eigent - lich doch keine vor der andern etwas voraus, sondern, wenn die eine auf unhistorischem Wege entstehen konnte, so konnte es auch die andere, zumal es sehr unwahrschein - lich ist, daſs nach den Zerrüttungen des Exils und der fol - genden Zeiten in der obscuren Familie des Joseph noch so weit hinaufreichende Genealogieen vorhanden gewesen2)s. Winer a. a. O. S. 660.. Erkennen wir somit beide als willkührliche Compositionen: so möchten wir nicht einmal mit Fritzsche das als histo - rische Grundlage festhalten, daſs Jesus von David abge - stammt habe, und nur die Mittelglieder dieser Abstam - mung von Verschiedenen verschieden ergänzt worden seien3)a. a. O. Nach der Beobachtung übrigens, welche er Pro - legg. in Matthaeum p. XV. ausspricht: omne studium — eo contulit scriptor (der Verf. des ersten Evangeliums) ut nihil Jesu ad Messiae exemplar fingi posset expressius, giebt Fritzsche die Tendenz der Genealogie bei Matthäus in der Überschrift des ersten Kapitels, Comm. p. 6., ganz richtig so an: Jesus, ut de futuro Messia canunt V. Ti oracula, est e gente Davidica per Josephum vitricum oriundus.. 128Erster Abschnitt.Denn die durch den Census veranlaſste Reise der Eltern Jesu nach Bethlehem, welche allerdings ihre Abkunft von David wahrscheinlich machen könnte, steht selbst nichts weniger als fest, wie wir bald genug sehen werden, und der Jesu oft beigelegte Titel υἱὺς Δαυὶδ kann auch lediglich den Mes - sias bezeichnen4)s. de Wette, bibl. Dogm. a. a. O., von welchem man, hatte er sich nur sonst Anerkennung verschafft, auch die davidische Ab - stammung, den Weissagungen gemäſs, vorauszusetzen ge - neigt war. Wie denkbar daher, wenn ein Galiläer, des - sen Abstammung weiter hinauf gar nicht bekannt war, sich den Ruf des Messias erworben hatte, daſs sich bald in verschiedenen Formen die Sage von der davidischen Ab - kunft desselben bildete, und daſs nun nach diesen Sagen Genealogieen von ihm verfaſst wurden, welche aber, weil es an urkundlichen Nachrichten fehlte, nothwendig so ab - weichend und widersprechend ausfallen muſsten, wie nun die Geschlechtsregister bei Matthäus und Lukas sich zu einander verhalten.
Fragt man daher nach der geschichtlichen Ausbeute, welche diese Genealogieen gewähren, so besteht sie nur in dem auch sonsther Gewissen: Jesus hat, persönlich oder durch seine Jünger, auch auf streng jüdisch Gesinnte einen so entschiedenen Eindruck der Messianität gemacht, daſs diese nicht zweifelten, auch das prophetische Merk - mal davidischer Abstammung müsse bei ihm zugetroffen haben, und mehr als Eine Feder sich in Bewegung sezte, um durch genealogische Nachweisung dieses Merkmals seine Anerkennung als Messias zu rechtfertigen5)Die weiteren Betrachtungen über Ursprung und Bedeutung dieser Genealogieen, welche sich aus der Zusammenhaltung derselben mit der Nachricht von Jesu übernatürlicher Erzeu - gung ergeben, können erst nach der Untersuchung über die - se letztere Angabe folgen..
In Bezug auf die nächste Herkunft Jesu ist in unsern kanonischen und apokryphischen Evangelien eine bedeu - tende Abstufung, ein Fortschritt vom Unbestimmten zum Bestimmten, vom Einfachen zum Ausgeschmückteren zu bemerken. Die unterste Stufe in Bezug auf die Ausführ - lichkeit nehmen Markus und Johannes ein: sie setzen die Geburt Jesu als gegeben voraus und begnügen sich, im Verlauf ihrer Erzählungen Maria als die Mutter (Marc. 6, 3.) und Joseph als den Vater Jesu (Joh. 1, 46.) nam - haft zu machen. Höher stehen Matthäus und Lukas, wel - che die Entstehung der messianischen Person Jesu gene - tisch darstellen, indem sie seine Geburt sammt den die - selbe vorbereitenden Umständen berichten. Unter den ge - nannten Beiden selbst geht Lukas noch etwas höher hinauf als Matthäus. Dieser nämlich läſst Maria, als Verlobte Jo - sephs, schwanger befunden werden, und als nun hieran ihr Bräutigam Anstoſs nimmt, und damit umgeht, sie zu entlassen, wird er im Traume durch den Engel des Herrn von dem göttlichen Ursprung und der hohen Bestimmung der Leibesfrucht Maria's nach einer A. T. lichen Weissa - gung vergewissert, was die Folge hat, daſs er die Maria heurathet, doch bis zur Geburt Jesu nicht ehlich berührtDas Leben Jesu I. Band. 9130Erster Abschnitt.(Matth. 1, 18 — 25.). Ist somit bei Matthäus die Schwan - gerschaft der Maria eine vorgefundene und erst nachträg - lich durch den Engel gerechtfertigte: so wird dieselbe bei Lukas durch eine himmlische Erscheinung bevorwortet und angekündigt. Derselbe Gabriel, welcher dem Zacharias die Geburt des Johannes angesagt hatte, kündigt nun auch der mit Joseph verlobten Maria ihre durch göttliche Kraft zu bewirkende Schwangerschaft an, worauf die künftige Mut - ter des Messias mit der schwangeren Mutter des Vorläu - fers auf bedeutungsvolle Weise zusammentrifft, und ihre Empfindungen in hymnischer Form mit derselben tauscht (Luk. 1, 26 — 56.). Nahmen Matthäus und Lukas wenig - stens das Verhältniſs zwischen Maria und Joseph als ge - gebenes, so suchen apokryphische Evangelien, namentlich das Protevangelium Jacobi1)Bei Thilo, Codex apocryphus N. Ti Tom. I, p. 161 ff. und das Evangelium de na - tivitate Mariae2)Ebendas. p. 319 f., deren Inhalte auch die Kirchenväter gros - sentheils beistimmen, auch dieses in seiner Genesis darzu - stellen; ja sie gehen selbst bis zur Geburt der Maria zu - rück, welcher sie eine ähnliche Vorausverkündigung, wie Lukas der Geburt des Täufers und Jesu, voranschicken. Wie die Geburtsgeschichte des Johannes bei Lukas der des Samuel und Simson im A. T.: so ist nun die Geburtsge - schichte der Maria in den genannten Apokryphen der des Täufers, sammt jenen A. T. lichen, nachgebildet.
Joachim, so lautet die apokryphische Erzählung, und Anna (wie Samuels Mutter hieſs) fühlen sich unglücklich in langer kinderloser Ehe (wie die Eltern des Johannes): da erscheint ihnen beiden (wie Simsons Eltern) an ver - schiedenen Orten ein Engel und verheiſst ihnen ein Kind, die Gottesgebärerin, welche (wie der Täufer) von dem En - gel einer nasiräischen Lebensweise bestimmt wird. In frü - her Kindheit wird nun Maria (wie Samuel) von ihren El -131Drittes Kapitel. §. 19.tern in den Tempel gebracht, wo sie von Engeln besucht und gespeist, auch göttlicher Anschauungen gewürdigt, bis zum zwölften Jahre verweilt. Mit den Jahren der Mann - barkeit soll sie aus dem Tempel entfernt werden, und über ihre weitere Versorgung und Bestimmung wird dem Ho - henpriester das Orakel zu Theil, daſs, zufolge der Weis - sagung Jes. 11, 1 f.: egredietur virga de radice Jesse, et flos de radice ejus ascendet, et requiescet super eum spiritus Domini, — alle der Familie Davids angehörige, heurathfähige, unverehelichte Männer nach der einen3)Evang. de nativ. Mar. c. 7:cunctos de domo et familia Da - vid nuptui habiles non conjugatos., oder alle Wittwer im Volke nach der andern Erzählung4)Protev. Jac. c. 8:‘τοὺς χηρεύοντας τοῦ λαοῦ.’ ihre Stäbe herbeibringen sollten, und an wessen Stabe sich (wie am Stabe Aarons) ein Zeichen ereigne, nämlich das in der angeführten Prophetenstelle verheiſsene, der solle die Maria zu sich nehmen. Dieſs Zeichen ereignete sich an dem Stabe Josephs, indem aus demselben, ganz nach dem Orakel, eine Blume hervorsproſste und eine Taube sich auf die Spitze desselben setzte5)So im evang. de nativ. Mariae c. 7 u. 8; etwas anders im Pro - tev. Jac. c. 9.. Joseph war nach den Apokryphen und Kirchenvätern schon alt6)Protev. c. 9: πρεσβύτης. Evang. de nativ. Mar. 8.: gran - daevus. Epiphan. adv. haeres. 78, 8:λαμβάνει τὴν Μαρίαν χῆρος, κατάγων ἡλικίαν περί που ὀγδοήκοντα ἐτῶν καὶ πρόσω ὁ ἀνήρ.; doch fin - det der Unterschied statt, daſs nach dem Evang. de nativ. Mariae unerachtet des von Maria vorgewendeten Keusch - heitsgelübdes und der Weigerung des Joseph wegen seines Alters, dennoch auf priesterliches Geheiſs eine wirkliche Verlobung und später eine Heurath eintritt (c. 8 u. 10.), (welche freilich im Sinne des Verfassers ohne Zweifel eine9*132Erster Abschnitt.keusche blieb); wogegen es dem Protevang. Jacobi zufolge gleich von Anfang an gar nicht auf Verlobung und Ehe, sondern nur auf Behütung der Jungfrau durch den Joseph abgesehen scheint7)παράλαβ[ε]ἀυτὴν εἰς τήρησιν σεαυτῷ c. 9., und dieser noch bei der Reise nach Bethlehem zweifelt, ob er sie als Tochter oder Frau ein - schreiben lassen solle, weil er durch das letztere, des Al - tersverhältnisses wegen, lächerlich zu werden fürchtet (c. 17.); wie auch, wo bei Matthäus Maria ἡ γυνὴ des Joseph heiſst, das Apokryphum sie vorsichtig nur als ἡ παῖς bezeichnet, und selbst das παραλαβεῖν gerne vermei - det, oder mit διαφυλάξαι vertauscht8)c. 14. s. die Varianten bei Thilo. p. 227., womit auch man - che Kirchenväter zusammenstimmen9)Vgl. Thilo a. a. O. S. 365. net.. In Josephs Haus aufgenommen, erhält nun nach dem Protevang. Maria mit mehreren Jungfrauen den Auftrag, Zeug zum Tempelvor - hang zu verfertigen, wobei ihr durch das Loos die Bear - beitung des Purpurs zu Theil wird. Während indeſs Jo - seph in Geschäften abwesend ist, bekommt Maria den Be - such des Engels; Joseph, bei seiner Rückkehr, findet sie schwanger, und stellt sie, nicht als Bräutigam, sondern als verantwortlicher Ehrenwächter, zur Rede; sie aber hat die Worte des Engels vergessen, und betheuert, die Ursache ihrer Schwangerschaft nicht zu wissen. Indem nun Jo - seph damit umgeht, die Maria seiner Obhut heimlich zu entlassen, wird ihm im Traum durch den Engel der be - ruhigende Aufschluſs zu Theil. als die Sache vor die Prie - ster kommt, müssen beide wegen des Verdachts der Un - keuschheit das ὕδωρ τῆς ἐλέγξεως trinken, werden aber, da sie durch dasselbe unbeschädigt bleiben, frei gespro - chen, worauf die Schatzung und Jesu Geburt folgt10)So im Protcv. Jac. c. 10 — 16. Weniger charakteristisch im Evang. de nativ. Mar. c. 8 — 10.
133Drittes Kapitel. §. 20.Wie diese apokryphischen Erzählungen lange Zeit in der Kirche für historisch gehalten, und gleich den Berich - ten der kanonischen Evangelien vom supranaturalistischen Standpunkt aus auf wunderhafte Weise erklärt wurden: so haben sie in neuerer Zeit auch das Loos der natürli - chen Erklärung mit den N. T. lichen Erzählungen theilen müssen. War nämlich in der älteren Kirche der Wunder - glaube so überschwenglich stark, daſs er auch noch über das N. T. hinaus für apokryphische Erzählungen zureich - te und über deren offenbar unhistorischen Charakter ver - blendete: so war in einzelnen Herolden der neueren Auf - klärung der rationalistische Pragmatismus so überkräftig, daſs sie, wie z. B. der Verfasser der natürlichen Geschichte des groſsen Propheten von Nazaret, denselben sogar den apokryphischen Mirakeln gewachsen glaubten, weſswegen der genannte Verf. getrost auch die Erzählungen von der Abkunft und Jugend der Maria, natürlich gedeutet, in den Kreis seiner Darstellung aufgenommen hat11)1ter Band, S. 119 ff.. Wenn man in unsern Tagen mit der Einsicht in den offenbar mythi - schen Charakter solcher apokryphischen Erzählungen so - wohl auf jene Kirchenväter, als auf diese natürlichen Er - klärer herabblickt: so fragt es sich, ob nicht doch diese beiden Eines vor jenen Herunterblickenden voraus haben, nämlich die Consequenz, mit welcher sie so verwandte Erzählungen, wie die von den Lebensanfängen der Maria auf der einen, und des Täufers und Jesu auf der andern Seite, auch auf gleiche Weise fassten, entweder beide wun - derhaft oder beide natürlich, nicht aber wie jetzt gewöhn - lich ist, die eine zwar mythisch, die andre aber geschichtlich.
Gehen wir nach diesen allgemeinen Umrissen näher auf134Erster Abschnitt.die Art und Weise ein, in welcher unsern Berichten zu - folge die erste Kunde von dem zu gebärenden Jesus an Maria und Joseph gelangte: so können wir von dem In - halt dieser Verkündigung, daſs nämlich Jesus durch eine ausserordentliche Wirksamkeit des heiligen Geistes erzeugt werden solle, zunächst absehen, und nur das Formelle der - selben berücksichtigen, wem, wann und auf welche Weise jene Verkündigung gegeben wurde.
Daſs es nach unsern beiden Hauptberichten bei Mat - thäus und Lukas, welchen auch die apokryphischen Evan - gelien beistimmen, ein Engel ist, der, wie die Empfäng - niſs des Täufers, so nun auch die Jesu selbst verkündigt, wird uns nicht mehr besonders beschäftigen, indem schon bei jener früheren Erscheinung die Standpunkte angege - ben und beurtheilt worden sind, von welchen solche Er - zählungen angesehen werden können. Während aber dort nur das Eine Evangelium des Lukas jene Erscheinung auf Eine Weise beschrieb: so haben wir hier zwei parallele, aber nicht ganz gleichlautende Berichte, deren Vergleichung uns beschäftigen wird. Abgesehen, wie gesagt, von dem Inhalt, finden sich zwischen beiden Berichten folgende Differenzen: Erstlich, das erscheinende Subjekt heiſst bei Matthäus nur unbestimmt ἄγγελος Κυρίου: bei Lukas ist es namentlich als ὁ ἃγγελος Γαβριὴλ bezeichnet; 2) das Sub - jekt, welchem der Engel erscheint, ist nach Matthäus Jo - seph, nach Lukas Maria; 3) der Zustand, in welchem sie die Engelerscheinung haben, ist bei Matthäus der Traum, bei Lukas das Wachen; 4) findet auch in Bezug auf das Zeitverhältniſs der Erscheinung eine Abweichang statt; dem Matthäus zufolge nämlich wird erst nach der bei Ma - ria eingetretenen Schwangerschaft dem Joseph eine himm - lische Kunde zu Theil: nach Lukas der Maria schon vor ihrem Schwangerwerden; worauf endlich 5) auch Zweck und Wirkung der Erscheinung verschieden sind, nämlich nach Matthäus, den durch die Schwangerschaft seiner Braut135Drittes Kapitel. §. 20.unruhig gewordenen Joseph nachträglich zu beruhigen: nach Lukas, durch die Vorherverkündigung jedem mögli - chen Anstoſs zuvorzukommen.
Fragt es sich nun: erzählen die beiden Evangelisten eigentlich Ein und Dasselbe, nur sehr abweichend, oder erzählen sie Verschiedenes, so daſs ihre Erzählungen in einander eingeschoben und durch einander ergänzt werden können? so sind die Abweichungen beider Berichte so groſs und wesentlich, daſs das Erstere nicht wohl ange - nommen werden kann, ohne der historischen Geltung der - selben zu nahe zu treten, weſswegen die Mehrzahl der Theologen, alle nämlich, die hier eine wirkliche, sei es wunderhafte oder natürliche, Geschichte sehen, sich für das Letztere entschieden haben. Indem sie demgemäſs be - haupten, das Stillschweigen eines Evangelisten über eine Begebenheit, welche der andre erzähle, sei kein Leugnen derselben1)Vgl. Augustin. de consens. evangelist. 2, 5., fügen sie die beiden Berichte folgendermaſsen in einander ein: 1) zuerst verkündigt der Engel der Ma - ria ihre bevorstehende Schwangerschaft (Lukas); 2) dann reist sie zu Elisabet (ebenders. ); 3) nach ihrer Rückkehr nimmt Joseph an der entdeckten Schwangerschaft Anstoſs (Matthäus); worauf 4) auch ihm eine Engelerscheinung zu Theil wird (ders.)2)So Paulus, exeget. Handb. 1, a. S. 145 ff. Olshausen, Comm. 1, 146 ff. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 56..
Allein diese Stellung der Begebenheiten hat, wie auch schon von Schleiermacher bemerkt worden ist3)Über die Schriften des Lukas, S. 42 f., viel Be - denkliches, und es scheint, was der eine Evangelist er - zählt, das vom andern Berichtete nicht nur nicht voraus - zusetzen, sondern sogar auszuschlieſsen. Denn fürs Erste ist das Benehmen des dem Joseph erscheinenden Engels schwer erklärlich, wenn er oder ein anderer schon frü -136Erster Abschnitt.her der Maria erschienen war. Jener nämlich (bei Mat - thäus) spricht ganz so, wie wenn sein Erscheinen das er - ste in dieser Sache wäre: er beruft sich nicht auf eine der Maria früher zu Theil gewordene himmlische Botschaft; er macht dem Joseph keinen Vorwurf, daſs er dieser nicht geglaubt habe; besonders aber, daſs er den Namen des zu erwartenden Kindes, mit ausführlicher Begründung die - ser Benennung, dem Joseph an die Hand giebt (Matth. 1, 21.), wäre ganz überflüssig gewesen, hätte (nach Luc. 1, 31.) der Engel bereits der Maria diesen Namen angezeigt gehabt. Doch noch unbegreiflicher wird bei dieser Stel - lung der Sache das Benehmen der beiden Verlobten. Hatte Maria eine Engelerscheinung, welche ihr eine bevorstehen - de Schwangerschaft ohne Zuthun des Joseph ankündigte: was hatte eine zartfühlende Braut Eiligeres zu thun, als die erhaltene himmlische Botschaft dem Bräutigam mitzutheilen, um einer beschämenden Entdeckung ihres Zustandes durch Andere, und einem schlimmen Verdacht des Bräutigams zu - vorzukommen? Aber gerade auf jene Entdeckung durch Andre läſst es Maria ankommen, und führt dadurch diesen Verdacht herbei; denn daſs das εὑρἐϑη ἐν γαςρὶ ἔχ[ου]σα (Matth. 1, 18.) eine Entdeckung ganz ohne Zuthun der Maria bedeutet4)Dies erkennt auch Olshausen an, S. 148., ist klar, und ebenso, daſs auch Joseph nur auf diese Weise ihren Zustand in Erfahrung bringt, da ja sein Benehmen als Folge jenes εὑρίσκεσϑαι darge - stellt wird. Das Räthsel eines solchen Benehmens von Sei - ten der Maria hat schon das apokryphische Protevangelium Jacobi gefühlt, und auf die für den supranaturalistischen Standpunkt vielleicht consequenteste Weise zu lösen ver - sucht. Erinnerte sich Maria noch — auf diesem Schlusse beruht die sinnreiche Darstellung des Apokryphums — an den Inhalt der himmlischen Botschaft: so muſste sie den - selben auch dem Joseph mittheilen; da sie dieſs, nach137Drittes Kapitel. §. 20.Josephs Benehmen zu schlieſsen, nicht gethan zu haben scheint: so bleibt nur die Annahme übrig, daſs jene, in erhöhtem Gemüthszustande ihr zu Theil gewordene geheim - niſsvolle Eröffnung nachher wieder aus ihrem Gedächtnisse verschwand, und sie selbst die wahre Ursache ihrer Schwan - gerschaft nicht kannte5)Protev. Jac. c. 12: Μαριὰμ δὲ ἐπελάϑετο τῶν μυςηρίων ω ν εἶπε πρὸς ἀυτὴν Γαβριήλ. Als sie daher von Joseph zur Rede gestellt wird, versichert sie ihn mit Thränen: οὐ γινώσκω, πόϑεν ἐςὶ τοῦτο τὸ ἐν τῇ γαςρί μου. c. 13.; wobei sich freilich sogleich die Fragen aufdrängen, wozu dann die Erscheinung dienen sollte, und woher dem Evangelisten die Kunde von dersel - ben kam? Fragen, welche übrigens auf supranaturalisti - schem Boden auch nicht unbeantwortlich sind. In der That bleibt auf diesem Standpunkt für den gegenwärtigen Fall kaum etwas Andres übrig, als sich in das Wunderbare und Unbegreifliche zu flüchten; denn die Versuche, welche neuere Theologen desselben Standpunktes gemacht haben, das Schweigen der Maria gegen Joseph zu erklären, und sogar noch einen vortrefflichen Charakterzug darin zu fin - den, sind ebenso kecke als miſsrathene Bemühungen, aus der Noth eine Tugend zu machen. Nach Hess6)Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu u. s. w. 1. Thl. S. 36. muſs es die Maria nicht wenig Selbstverleugnung gekostet haben, dem Joseph die Mittheilung des Engels zu verschweigen, und man muſs diese Zurückhaltung für ein Zeichen ihres starken Vertrauens auf Gott in dieser nur ihr und ihm be - kannten Angelegenheit halten. Nicht umsonst nämlich, dachte sie ohne Zweifel, ist diese Erscheinung nur mir al - lein zu Theil geworden; sollte auch Joseph schon jetzt da - von erfahren, so würde der Engel auch ihm erschienen sein (wollte Jeder, dem eine höhere Offenbarung zu Theil wird, so denken, wie vieler besonderen Offenbarungen be -138Erster Abschnitt.dürfte es dann?); ferner: es ist die Sache Gottes, ihm habe ich es also zu überlassen, auch den Joseph zu über - zeugen (Grundsatz der Trägheit). Dem stimmt auch Ols - hausen bei und setzt nur noch seine allgemeine Lieblings - bemerkung hinzu, daſs bei so ausserordentlichen Ereignis - sen der Maſsstab der gemeinen Weltverhältnisse nicht an - wendbar sei7)Bibl. Comment. 1, S. 149.. Allein wenn Maria diese sogenannten Ge - setze des Alltagslebens, unter welche Kategorie aber hier wesentliche Rücksichten der Zartheit und Schicklichkeit geworfen werden, verachtete: so dachte sie nicht im Geiste ihres Sohnes, welcher als γενόμενος ὑπὸ νόμον (Gal. 4, 4.) solche Rücksichten nie verletzt hat, und ebensowenig ist es in seinem Geiste, der Maria deſswegen Lob zu erthei - len. — Mehr vom Standpunkt der natürlichen Erklärung aus sucht das Evangelium de nativitate Mariae (c. 8 — 10.), und nach ihm unter den Neueren z. B. der Verfasser der natürlichen Geschichte des groſsen Propheten von Nazaret das Stillschweigen der Maria durch die Voraussetzung ei - ner Entfernung des Joseph von dem Wohnorte seiner Braut zur Zeit der himmlischen Botschaft zu erklären. Ihnen zu - folge ist nämlich Maria von Nazaret, Joseph aber von Beth - lehem, wohin er nach eingegangenem Verlöbniſs sich noch einmal begab, und erst nach drei Monaten zurückkam, wo er dann die in der Zwischenzeit eingetretene Schwanger - schaft der Maria entdeckte. Allein die angenommene Ver - schiedenheit des Wohnorts von Maria und Joseph ist, wie wir unten sehen werden, ohne allen Grund in den kano - nischen Evangelien, und damit wird diese ganze Auskunft zu nichte. — Ohne eine solche Voraussetzung könnte man von demselben Standpunkt natürlicher Erklärung aus das Stillschweigen der Maria gegen Joseph vielleicht dadurch begreiflich machen wollen, daſs man sie durch Verschämt - heit abgehalten dächte, einen so leicht dem Verdacht aus -139Drittes Kapitel. §. 20.gesetzten Zustand einzugestehen. Allein wer von dem Gött - lichen in der Sache so fest überzeugt war und sich in die geheimniſsvolle Bestimmung bereits so verständig gefunden hatte, wie Maria (Luc. 1, 38.), dem konnte durch klein - lichte Rücksichten falscher Scham die Zunge unmöglich ge - bunden sein.
Daher haben sich die natürlichen Erklärer, um den Charakter der Maria zu retten, ohne jedoch dem des Jo - seph zu nahe zu treten, bewogen gefunden, eine von Ma - ria dem Joseph gemachte Mittheilung, wiewohl verspätet, um seinen Unglauben erklärlich zu finden, vorauszusetzen. Ähnlich wie das zuletzt genannte Apokryphum zogen sie eine Reise, aber nicht des Joseph, sondern die von Lukas gemeldete der Maria zu Elisabet, herein, um die Verzöge - rung der Mittheilung zu erklären. Vor dieser Reise, meint Paulus, entdeckte sich Maria dem Joseph nicht; wahr - scheinlich wollte sie sich erst mit der älteren Freundin be - sprechen, wie sie sich demselben eröffnen solle, und ob sie, als Mutter des Messias, sich überhaupt verheurathen dürfe? Erst als sie zurückkommt, läſst sie, vermuthlich durch Andere, dem Joseph bedeuten, wie es um sie stehe, und was sie für Verheiſsungen empfangen habe. Den Jo - seph aber fand dieser erste Eindruck nicht gehörig gestimmt und vorbereitet; er gieng mit allerlei Gedanken um, schwank - te zwischen Verdacht und Hoffnung, bis endlich ein Traum entscheidend wurde8)Paulus exeg. Handb. 1, a, S. 121. 145.. — Allein ein so verspätetes Ge - ständniſs kann die Maria nicht rechtfertigen. Welches Be - tragen einer Verlobten, nach einer den Bräutigam so nahe angehenden höheren Mittheilung in einer so delicaten Sa - che — viele Meilen weit zu verreisen, drei Monate aus - zubleiben, und hierauf erst durch dritte Personen dem Bräutigam das nicht mehr zu Verheimlichende zustecken zu lassen!
140Erster Abschnitt.Wer daher die Maria nicht auf eine Weise handeln lassen will, wie unsre Evangelisten gewiſs nicht voraus - setzen, daſs sie gehandelt habe, der muſs geradezu anneh - men, sie habe die Engelsbotschaft sogleich nach Erhalt derselben ihrem Bräutigam mitgetheilt, dieser aber habe ihr keinen vollen Glauben geschenkt. — Allein nun sehe man zu, wie man mit dem Charakter des Joseph zurecht - kommen möge! Auch Hess ist der Meinung, so wie Jo - seph die Maria kennen muſste, hätte er keine Ursache ge - habt, einen Zweifel in ihre Aussage zu setzen, wenn sie ihm die gehabte Erscheinung mittheilte9)a. a. O.. That er es doch, so scheint dieſs ein Miſstrauen gegen seine Verlobte vorauszusetzen, das mit seinem Charakter als ἀνὴρ δίκαιος (Matth. 1, 19.), und einen Unglauben an das Wunderbare, der mit seiner sonstigen Geneigtheit, auf Engelerscheinun - gen einzugehen, schwer vereinbar ist, und ihm auf keinen Fall bei der später ihm selbst zu Theil gewordnen Erschei - nung so ganz ungeahndet hingegangen wäre.
Da somit unvermeidlich etwas dem Sinne unsrer Evan - gelisten, sofern sie offenbar den Joseph wie die Maria als reine Charaktere halten wollen, Unangemessenes sich er - giebt, wenn man ihre Erzählungen einander gegenseitig voraussetzen und ergänzen läſst: so darf eben dieſs nicht angenommen werden, sondern ihre Berichte schlies - sen einander aus. Nicht ist sowohl der Maria zuerst, als auch dem Joseph hernach der Engel erschienen, son - dern nur entweder dem einen oder dem andern Theil kann er erschienen sein, hiemit aber auch nur die eine oder die andre Relation für historisch angesehen werden. Hier könnte man sich nun nach verschiedenen Rücksichten für die eine oder andere Erzählung entscheiden: man könnte von rationalistischem Standpunkte aus die Erzäh - lung des Matthäus wahrscheinlicher finden, weil sich die141Drittes Kapitel. §. 20.Engelerscheinung im Traum, wie er sie giebt, leichter na - türlich erklären lasse; vom supranaturalistischen aber die des Lukas, weil die Art, wie hier dem Verdachte gegen die heilige Jungfrau zuvorgekommen wird, gotteswürdiger sei: allein ein solches Abwägen eines Berichts gegen den andern in Bezug auf historische Glaubwürdigkeit hat auf dem Standpunkt, welchen man mit dem Aufgeben ihrer Vereinbarkeit betritt, eigentlich keine Stelle mehr. Denn nach äusserer wie innerer Beschaffenheit sehen sich die bei - den Erzählungen so ähnlich, daſs ohne höchste Inconsequenz nicht die eine als historisch aufgegeben, die andre fest - gehalten werden kann, sondern, was der einen Recht ist, muſs der andern billig sein. Beide stehen in kanonischen Evangelien ohne gegründeten Verdacht der Unächtheit; beide haben den Zweck, Jesum als übernatürlich Erzeug - ten darzustellen; beide thun dieſs durch die Erscheinung und Botschaft eines Engels: wo wäre hier das unterschei - dende Kriterium, die eine zu verwerfen, die andre aber festzuhalten? Nein, wenn nicht beide historisch richtig sein können: so ist es weder die eine noch die andre, und wir sehen uns auch hier mit Nothwendigkeit auf den mythischen Standpunkt versezt.
Auf diesem fallen dann auch von selbst die verschie - denen Deutungen weg, welche man, namentlich von Sei - ten natürlicher Erklärer, von den beiden Engelerscheinun - gen zu geben versucht hat. Wenn Paulus die Erscheinung bei Matthäus für einen natürlichen Traum erklärt, bewirkt durch die vorangegangne Mittheilung der Maria über die ihr zu Theil gewordene Verkündigung, von welcher Joseph gewuſst haben müsse, weil sich nur daraus erkläre, wie er sich im Traume ganz ähnliche Worte könne sagen las - sen, als früher der Engel der Maria gesagt hatte10)a. a. O. S. 146.: so beweist vielmehr gerade diese Ähnlichkeit der Worte des142Erster Abschnitt.voraussezlich zweiten Engels mit denen des ersten, ohne daſs doch in jenen auf diese Rücksicht genommen würde, daſs diese früheren dabei nicht vorausgesezt werden, und überhaupt fällt die natürliche Erklärung dadurch weg, daſs die Berichte sich als mythische gezeigt haben. Eben dieſs Leztere gilt auch von der Art, wie Paulus versteckt, der Verf. der natürlichen Geschichte aber offen, den zu Maria eingetretenen Engel (bei Lukas) für einen Menschen er - klären, wovon im folgenden §. noch wird die Rede sein müssen.
Nach allem Bisherigen können wir über den Ursprung der beiden Erzählungen von erschienenen Engeln nur fol - gendermaſsen urtheilen. Daſs Jesus durch göttliche Thätig - keit in Maria erzeugt sei, dieſs durfte nicht blos durch schwankende Vermuthung gefunden, es muſste klar und zuverläſsig ausgesprochen werden, und dazu bedurfte man eines himmlischen Boten, welchen ohnehin, wie für die Geburt eines Simson und Johannes, so noch mehr für die Geburt des Messias das theokratische Decorum zu erfor - dern schien. Daſs den Engel die eine Erzählung schon vorläufig der Maria, die andre erst nachträglich dem Jo - seph erscheinen läſst, ist als Variation der Sage oder der Bearbeitung in der Art zu betrachten, daſs die Erzählung des Matthäus11)Das nach Matthäus dem Joseph zu Hebung seiner Zweifel und Besorgnisse zu Theil gewordene Traumgesicht hat gewisser - massen ein Vorbild an demjenigen, welches nach jüdischer Tradition, wie sie sich schon bei Josephus findet, dem Va - ter des Moses in ähnlicher Lage, als er wegen der Schwan - gerschaft seiner Frau in Sorgen war (nur war der Anlass seiner Unruhe nicht ein Verdacht gegen seine Frau, sondern die Gefahr des Kindes wegen des ergangenen Mordbefehls) zu Theil geworden sein soll. Joseph. Antiq. 2, 9, 3. Ἀμαράμης, τῶν εὖ γεγονότων παρὰ τοῖς Ἑβραίοις, δε - διὼς ὑπὲρ τοῦ παντὸς ἕϑνους, μὴ σπάνει τῆς ἐπιτραφησο - einfacher und in noch roherem Styl ge -143Drittes Kapitel. §. 21.arbeitet ist, indem sie es nicht vermeidet, wenn auch nur in einem vorübergehenden Verdacht des Joseph, einen Schat - ten auf die Maria zu werfen, der erst hintennach wieder entfernt wird: wogegen die Darstellung bei Lukas, schon feiner und kunstreicher, gleich von vorn herein die Maria in dem reinen Lichte einer Braut des Himmels zeigt.
Der Engel, welcher nach Lukas der Maria erscheint, spricht zunächst nur davon, daſs Maria, noch unbestimmt, auf welche Weise, schwanger werden, und einen Sohn ge - bären solle, welcher groſs sein, und ὑιὸς ὑψίςου genannt werden werde; ihm werde Gott den Thron seines Ahnherrn David geben, und er das Haus Jakob ohne Ende beherr - schen. Hier ist ganz in den gewöhnlichen jüdischen For - meln vom Messias die Rede, und selbst das ὑιὸς ὑψίςου würde, wenn nichts Weiteres nachkäme, nur in demsel - ben Sinne zu nehmen sein, wie nach 2. Sam. 7, 14. Ps. 2, 7. ein gewöhnlicher israelitischer König, also noch mehr der höchste dieser Könige, der Messias, auch als bloſser Mensch betrachtet, so genannt werden konnte. Dieses jü - dische Reden wirft nachträglich noch ein weiteres Licht auf den historischen Werth dieser Engelerscheinung zurück, indem man mit Schleiermacher sagen muſs, daſs schwer - lich der wirkliche Engel Gabriel in so strengjüdischen For - meln die Ankunft des Messias verkündigt haben wür -11)μένης νεότητος ἐπιλείπῃ, καὶ χαλεπῶς ἐπ 'ἀυτῷ φέρων, ἐκύει γάρ ἀυτῷ τὸ γύναιον, ἐν ἀμηχάνοις ἦν. Καὶ πρὸς ἱκετείαν τοῦ ϑεοῦ τρέπεται —. ὁ δὲ ϑεὸς ἐλεήσας ἀυτὸν, — ἐφίςαται κατὰ τοὺς ὕπνους ἀυτῷ, καὶ μήτε ἀπογινώσκειν ἀυτὸν περὶ τῶν μελλόντων παρεκάλει — — —. ὁ παῖς γὰρ ουτος — τὸ μ[ὲ]ν[Ἑ]βραίων γένος τῆς παρ 'Ἀιγυπτίοις ἀνάγκης ἀπολύσει, μνήμης δὲ ἐφ' ὅσον μένει χρόνον τὰ σύμπαντα, τεύξεται παρ 'ἀνϑρώποις. 144Erster Abschnitt.de1)Über den Lukas, S. 23.; ebendeſswegen wird man geneigt sein, mit diesem Theologen auch das gegenwärtige Erzählungsstück wie das vorige, den Täufer betreffende, einem und demselben ju - denchristlichen Verfasser zuzuschreiben. — Erst als gegen diese Verheiſsung eines Sohnes Maria von ihrer Jungfrau - schaft aus Einwendungen macht, bestimmt der Engel die Art der Empfängniſs näher dahin, daſs sie durch den hei - ligen Geist, durch die Kraft der Gottheit bewirkt werden werde, wonach nun auch die Benennung υἱὸς ϑεοῦ einen bestimmteren metaphysischen Sinn erhält. Zum bestätigen - den Zeichen, daſs etwas der Art Gott keineswegs unmög - lich sei, wird Maria auf den Vorgang mit ihrer Verwand - tin Elisabet verwiesen, worauf sie sich glaubig in den göttlichen Rathschluſs mit ihr ergiebt.
Bei Matthäus, wo die Beschwichtigung der Bedenk - lichkeiten Josephs die Hauptsache ist, beginnt der Engel sogleich mit der Eröffnung, daſs, wie der Evangelist schon V. 18. für sich referirt hatte, das in Maria erzeugte Kind vom πνεῡμα ἃγιον sei, und hierauf erst wird Jesu messia - nische Bestimmung durch den Ausdruck bezeichnet, daſs er sein Volk von dessen Sünden erlösen werde. Klingt dieſs auch anscheinend weniger jüdisch, als das, wodurch bei Lukas die messianische Funktion des zu gebärenden Kindes ausgedrückt war: so sind doch in den άμαρτίαις auch die Strafen derselben, namentlich die Unterjochung des Volks durch Fremde, mitbegriffen, so daſs auch hier das jüdische Element nicht fehlt; so wie andrerseits in dem βασιλεύειν bei Lukas das Herrschen über ein folgsames, gebessertes Volk enthalten, also hier das Höhere nicht ganz zu vermissen ist. Hierauf fügt, sei es der Engel oder wahr - scheinlicher der Referent, durch die besonders bei ihm so oft wiederkehrende Formel: τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν, ἵνα πλη - ρωϑῇ τὸ ῥηϑὲν κ. τ. λ. (V. 22.) ein A. T. liches Orakel bei,145Drittes Kapitel. §. 21.welches durch diese Art der Empfängniſs Jesu sich erfülle, daſs nämlich nach Jes. 7, 14. eine Jungfrau schwan - ger werden und einen Sohn gebären solle, welchen man Gottmituns nennen werde.
Der ursprüngliche Sinn der jesaianischen Stelle ist den neueren Forschungen zufolge2)Vgl. Paulus, philol. Clavis über den Jesaia z. d. St. Den - selben im exeg. Handb. 1, a, S. 164 ff. Gesenius, Comment. über den Jesaias, 2. Bd. 1. Abthl. S. 296 ff. Umbreit, über die Geburt des Immanuel durch eine Jungfrau, in Ullmann's und seinen theol. Studien 1830, 3. Heft. S. 541 ff. Hitzig, Comm. zum Jesaias, S. 84 ff. dieser. Den König Ahas, welcher aus Furcht vor den Königen Syriens und Israëls sich zu einem Bunde mit Assyrien neigte, will der Pro - phet von dem bald bevorstehenden Untergang jener jezt so gefürchteten Feinde lebhaft versichern, und sagt daher: setze, daſs eine jezt noch Unverheurathete, die sich nun erst in ein geschlechtliches Verhältniſs einlieſse3)Bei dieser Deutung verliert der Streit über die Bedeutung des עַלְמָה sein Moment. Er dürfte übrigens dahin entschie - den sein, dass das Wort nicht die unbefleckte, sondern die mannbare Jungfrau bedeute (s. Gesenius a. a. O. S. 297 f.). Schon zu Justins Zeiten behaupteten die Juden, das עַלְמָה sei nicht durch παρϑένος, sondern durch νεᾶνις zu über - setzen. Dial. c. Tryph. no. 43. p. 139 E. der bezeichneten Ausgabe., ein Kind empfienge; oder kategorisch: eine bestimmte junge Frau (vielleicht die eigne des Propheten) ist schon oder wird schwanger werden: jedenfalls werden bis zu der Ge - burt ihres Kindes die politischen Umstände sich so weit gebessert haben, daſs man demselben einen Namen von guter Vorbedeutung wird geben können, und ehe dann das Kind in die Unterscheidungsjahre getreten sein wird, wer - den die feindlichen Mächte ganz vernichtet sein. D. h. ab - strakt ausgedrückt: ehe 9 Monate vergehen, wird es sichDas Leben Jesu I. Band. 10146Erster Abschnitt.mit der Lage des Reichs schon besser anlassen, und bin - nen dreier Jahre etwa wird die Gefahr verschwunden sein. So viel ist in jedem Falle durch die neuere Auslegung zur Evidenz gebracht, daſs nur ein Zeichen aus der Gegen - wart und nächsten Zukunft in den Verhältnissen, wie sie die Einleitung zu dem Orakel des Jesaias angiebt, einen Sinn haben konnte. Wie unpassend ist die prophetische Rede nach der Deutung Hengstenberg's4)Christologie des A. T. s 1, b, S. 47.: so gewiſs der - einst noch der Messias unter dem Bundesvolke von einer Jungfrau geboren werden wird, so unmöglich ist es, daſs das Volk, unter welchem er geboren werden und die Fa - milie, von welcher er abstammen soll, zu Grunde gehe. Wie übel berechnet von dem Propheten, die Unwahrschein - lichkeit der nahen Rettung durch eine gröſsere Unwahr - scheinlichkeit aus der fernen Zukunft wahrscheinlich ma - chen zu wollen! Und dann vollends der gegebene[T[er]m[i]n] von wenigen Jahren! Der Sturz der beiden Königreiche, deutet hier Hengstenberg, soll erfolgen, — nicht in der Zeit bis nun demnächst der bezeichnete Knabe wirklich in die Unterscheidungsjahre treten wird, sondern — in so viel Zeit von jezt an, als in fernster Zukunft einst zwi - schen der Geburt des Messias und seiner ersten Entwicke - lung vergehen wird, also ungefähr in drei Jahren. Wel - che abenteuerliche Vermengung der Zeiten! Ein Kind soll geboren werden in ferner Zukunft, und was nun gesche - hen soll, ehe dieses Kind in die Unterscheidungsjahre treten wird, das soll in die nächste Gegenwart fallen.
So entschieden aber Paulus und seine Partei gegen Hengstenberg und die Seinigen darin Recht hat, daſs sei - nem ursprünglichen Lokalsinn nach das Orakel des Jesaias auf gegebene Zeitverhältnisse, und nicht auf den künftigen Messias oder gar auf Jesus sich beziehe: ebenso entschie - den hat Hengstenberg gegen Paulus Recht, wenn er dar -147Drittes Kapitel. §. 21.auf beharrt, daſs hier bei Matthäus die jesaianische Stelle als Weissagung auf Jesu jungfräuliche Geburt genommen werde. Während nämlich die orthodoxen Ausleger in der häufigen Formel ἵνα πληρωϑῇ und ähnlichen von jeher den Sinn fanden: dieſs geschah nach göttlicher Veranstaltung, damit die A. T. liche Weissagung einträfe, mit welcher es schon ursprünglich auf das N. T. liche Ereigniſs abgesehen war, — so finden die rationalistischen Erklärer5)S. Paulus, a. a. O. S. 157 ff. nur so viel darin: dieſs geschah auf eine Weise, war so beschaf - fen, daſs die A. T. lichen Worte, die sich ursprünglich zwar auf etwas Andres bezogen, sich doch darauf anwen - den lassen, und dadurch erst gleichsam ihre volle Wahr - heit bekommen. Bei der ersteren Deutung ist das Verhält - niſs zwischen der A. T. lichen Stelle und dem N. T. lichen Ereig - niſs ein objektives, von Gott selbst veranstaltetes6)Die Sache auf diese Formel gebracht, fällt auch Hengsten - berg hieher, ob er gleich die orthodoxe Ansicht (1, a, S. 338 ff. ) weit mehr mildert, als auf seinem Standpunkt consequent ge - funden werden kann.: nach der lezteren nur ein subjektives, von dem späteren Schriftsteller ge - fundenes; nach jener ein genaues, wesentliches, nach dieser ein ungefähres, zufälliges. Allein gegen diese letztere Auffassung der N. T. lichen Stellen, welche eine A. T. liche Weissa - gung als erfüllt nachweisen, ist ebensowohl die Sprache als der Geist der N. T. lichen Schriftsteller. Die Sprache; denn wie u. A. Fritzsche nachweist7)Comm. in Matth. p. 49. 317. und Excurs. I, p. 836 ff., kann weder πλη - ροῦσϑαι in solcher Verbindung etwas Andres heiſsen, als ratum fieri, eventu comprobari, noch ἵνα, ὅπως etwas An - dres als eo consilio ut, indem die verbreitete Annahme eines ἵνα ἐκβατικὸν nur aus dogmatischer Verlegenheit entstanden ist. Ganz besonders aber ist eine solche Aus - legung dem jüdischen Geiste der evangelischen Schriftstel -10*148Erster Abschnitt.ler zuwider. Wenn nämlich Paulus behauptet, der Orien - tale denke nicht im Ernst, das Ältere sei in der Absicht gesagt, oder von Gott deſswegen zur Wirklichkeit gebracht, damit das Neuere dadurch präfigurirt würde, und umge - kehrt8)a. d. a. St.: so ist dieſs ein Hinübertragen unsrer occidentali - schen Nüchternheit in das Phantasieleben des Orientalen; wenn er aber hinzusetzt, vielmehr habe das Zusammen - treffen eines Späteren mit einem Früheren im Gemüthe des Morgenländers nur die Gestalt einer Beabsichtigung an - genommen: so ist hiedurch der erste Satz wieder aufge - hoben, denn es kann damit nichts Anderes gesagt sein, als: das, was nach unsrer Einsicht bloſses Zusammentreffen ist, erschien dem Orientalen als Beabsichtigtes, und diesen Sinn müssen wir in einer orientalischen Darstellung finden, wenn wir sie nach ihrem ursprünglichen Verstande auslegen wol - len. Namentlich von den späteren Juden ist es bekannt, daſs sie allenthalben im A. T. Weissagungen für Gegen - wart und Zukunft fanden, daſs sie namentlich vom künf - tigen Messias aus zum Theil falsch gedeuteten A. T. lichen Stellen sich ein genaues Bild zusammengesetzt hatten9)Vgl. von Schöttgen's Horae den zweiten Theil, de Messia. Fritzsche a. a. O. S. 49., und mit solchen, wenn auch noch so verkehrten Schriftan - wendungen meinte es der Jude wirklich so, daſs er eine eigentliche Erfüllung des Schriftwortes da zu finden glaub - te, wo er es anwendete, weſswegen es, mit Olshausen zu reden10)Bibl. Comm. S. 58., bloſse dogmatische Befangenheit ist, den N. T. li - chen Schriftstellern einen ganz andern, als den unter ih - ren Landsleuten gewöhnlichen Sinn jener Formel unterzu - schieben, nur damit ihnen keine falsche Schriftauslegung zur Last fallen solle.
Unbefangen genug in Rücksicht auf das A. T., um ge -149Drittes Kapitel. §. 21.gen die altorthodoxe Auslegung die ursprüngliche Bezie - hung mancher Weissagungen auf Naheliegendes zu erken - nen; auch nicht gewaltthätig genug gegen das N. T., um mit rationalistischen Exegeten die entschieden messianische Deutung jener Orakel in den Evangelien abzuleugnen, — sind doch jetzt manche Theologen nicht vorurtheilsfrei ge - nug, um eine hin und wieder unrichtige Auslegung des A. T. s im neuen zuzugeben; weſswegen sie dann, wie na - mentlich Olshausen, den Ausweg ergreifen, bei jenen Weis - sagungen eine zwiefache Beziehung, auf ein gegenwärtiges Niederes und ein zukünftiges Höheres zu unterscheiden, um so einerseits gegen den klaren pragmatisch-historischen Sinn der A. T. lichen Stellen nicht zu verstossen, und an - drerseits doch auch die N. T. lichen Deutungen dieser Stellen weder zu verdrehen noch Lügen zu strafen. So soll bei dem vorliegenden Orakel des Jesaias der Geist der Weis - sagung die doppelte Absicht gehabt haben, einmal das nä - herliegende Gebären der Verlobten des Propheten, dann aber auch die hievon verschiedene, in ferner Zukunft lie - gende Geburt Jesu von einer Jungfrau vorauszuverkündi - gen11)Ebend. S. 58 ff.. Aber ein solches Monstrum von Doppelsinn ist ja gleichfalls nur in dogmatischer Verlegenheit gezeugt, um, wie Olshausen selbst sagt, den Anstoſs wegzuräumen, wel - cher in der Annahme liegen könnte, daſs die N. T. lichen Schriftsteller und Jesus selbst das A. T. nicht richtig, oder näher nicht kunstgerecht nach unsern jetzigen hermeneuti - schen Grundsätzen, sondern in der Weise ihrer Zeit, wel - che nicht die richtigste war, ausgelegt haben sollen. In - dem nun aber für den Vorurtheilsfreien dieser Anstoſs so wenig existirt, daſs es ihm vielmehr ein Anstoſs sein wür - de, wenn es sich umgekehrt verhielte, und allen Gesetzen geschichtlich nationaler Entwickelung zuwider die neute - stamentlichen Männer sich aus der Interpretationsweise ih -150Erster Abschnitt.rer Zeit - und Volksgenossen ganz herausgehoben hätten: so werden wir in Bezug auf die im N. T. citirten Weis - sagungen nach Umständen ohne Weiteres zugeben können, daſs sie hier nicht selten ganz anders ausgelegt und ange - wendet werden, als sie ursprünglich gemeint waren.
Wir haben hier in der That eine vollständige Tafel aller 4 über diesen Punkt möglichen Ansichten, worunter 2 Extreme und 2 Vermittlungsweisen, eine falsche und ei - ne, hoffentlich, richtige.
1. Orthodoxe Ansicht (Hengstenberg u. A.): Der - gleichen A. T. liche Stellen hatten schon ursprünglich nur die prophetische Beziehung auf Christus; denn die N. T. - lichen Schriftsteller deuten sie so, und diese müssen Recht haben, wenn auch der Menschenverstand dabei zu Grun - de geht.
2. Rationalistische Ansicht (von Paulus u. A.): Auch die N. T. lichen Schriftsteller geben den A. T. lichen Orakeln jene[streng-messianische] Deutung nicht; denn diese Beziehung ist den Orakeln, verständig angesehen, ursprüng - lich fremd; mit dem Verstande aber müssen die N. T. li - chen Schriftsteller zusammenstimmen, was auch die Alt - gläubigen dagegen sagen mögen.
3. Mystisch vermittelnde Ansicht (von Ols - hausen u. A.): In den A. T. lichen Stellen liegt ursprüng - lich sowohl der von den N. T. lichen Schriftstellern ange - gebene tiefere, als auch der durch verständige Ansicht der - selben uns aufgenöthigte nähere Sinn: so kann sich ge - sunder Menschenverstand und Altgläubigkeit vertragen.
4. Entscheidung der Kritik: Die A. T. lichen Weissagungen hatten ursprünglich meistens nur jene nähere Beziehung auf Zeitverhältnisse: wurden aber von den N. T. lichen Männern als wirkliche Prophezeihungen auf Je - sus als den Messias angesehen, weil der Verstand in je - nen Männern durch die Denkart ihres Volks modificirt war,151Drittes Kapitel. §. 22.was sowohl der Rationalismus als die Altgläubigkeit ver - kennt12)Die ganze rationalistische Schriftauslegung beruht auf einem ziemlich handgreiflichen Paralogismus, mit welchem sie steht und fällt: Die N. T. lichen Schriftsteller dürfen nicht so ausgelegt werden, als ob sie etwas Unvernünftiges sagten (allerdings nichts ihrer Vernunftbildung Widersprechendes). Nun wären aber ihre Aussprüche bei einer gewissen Deu - tung unvernünftig (nämlich gegen unsre Vernunftbildung). Folglich können sie es nicht so gemeint haben, und müs - sen anders ausgelegt werden. Wer sicht hier nicht die quaternio terminorum und die dem Rationalismus tödtliche Inconsequenz eines mit dem Su - pranaturalismus gemeinschaftlichen Bodens, dass nämlich, während man bei jedem Andern erst zusieht, ob er nur Rich - tiges und Wahres rede oder schreibe, den N. T. lichen Män - nern die Prärogative eingeräumt wird, bei ihnen dieses schon vorauszusetzen?.
Demgemäſs werden wir auch in Bezug auf das in Re - de stehende Orakel keinen Augenblick anstehen, einzuräu - men, daſs die Beziehung auf Jesus ihm vom Evangelisten aufgedrungen ist; ob so, daſs die wirkliche Geburt Jesu von einer Jungfrau zu dieser Anwendung des Orakels, oder daſs das schon vorher auf den Messias gedeutete Orakel zu der Annahme einer jungfräulichen Geburt Jesu Veranlas - sung gab, kann erst aus dem Folgenden entschieden werden.
Was die beiden Evangelisten, Matthäus und Lukas, über die Art der Erzeugung Jesu melden, ist von den kirchlichen Auslegern jederzeit dahin gedeutet worden, daſs Jesus durch eine, an die Stelle der männlichen Mitwirkung getretene göttliche Thätigkeit in Maria erzeugt worden sei. 152Erster Abschnitt.Und wirklich hat diese Auslegung den ersten Augenschein der Stellen für sich, indem durch das πρὶν ἢ συνελϑεῖν αὐ - τοὺς (Matth. 1, 18.) und das ἐπεὶ ἄνδρα οὐ γινώσκω (Luc. 1, 34.) der Antheil des Joseph und jedes Mannes überhaupt an der Erzeugung des in Frage stehenden Kindes ausge - schlossen; durch das πνεῦμα ἅγιον aber und die δύναμις ὑψίςου zwar nicht der heilige Geist im kirchlichen Sinne, als dritte Person in der Gottheit, wohl aber nach A. T. li - chem Sprachgebrauch des רוּחַ אֱלהִֹים, Gott, sofern er auf die Welt einwirkt, bezeichnet; endlich durch die Ausdrücke ἐν γαςρὶ ἔχουσα ἐκ πνεύματος ἁγίου bei Matthäus, und ἐπέρ - χεσϑαι, ἐπισκιάζειν, bei Lukas die göttliche Wirksamkeit deutlich genug an die Stelle der zeugenden männlichen ge - setzt wird.
Erscheint dieſs als die Vorstellung, welche die bezeich - neten evangelischen Abschnitte über den Ursprung des Le - bens Jesu geben wollen: so läſst sich dieselbe doch nicht ohne bedeutende Schwierigkeiten vollziehen. Wir können die, so zu sagen, physico-theologischen von den exegetisch - historischen Schwierigkeiten unterscheiden.
Die physiologischen Schwierigkeiten laufen darin zusammen, daſs eine solche Erzeugung die auffallendste Abweichung von allem Naturgesetze wäre. Es wird ge - wiſs bei dem Plutarchischen Dictum: παιδίον οὐδεμία ποτὲ γυνὴ λέγεται ποιῆσαι δίχα κοινωνίας ἀνδρὸς1)Conjugial. praecept. Opp. ed. Hutten, Vol. 7. S. 428. und bei dem Cerinthischen impossibile2)Irenäus adv. haer. 1, 26:Cerinthus Jesum subjecit non ex virgine natum, impossibile enim hoc ei visum est. sein Bewenden haben, indem es physiologisch gewiſs ist, daſs das Zusammenwirken zweier geschlechtlich verschiedenen Menschenkörper nothwendig ist, wenn die Keime zu Organen eines neuen Menschenle - bens sich aussondern und befruchten sollen3)vgl. Paulus a. a. O. S. 151.. Nur bei den153Drittes Kapitel. §. 22.niedrigsten Thiergattungen ist eine Fortpflanzung ohne Ge - schlechtsvermischung bekannt, auf deren Analogie man sich für Jesu Erzeugung nie hätte berufen sollen4)Wie diess geschieht in Henke's neuem Magazin 3, 3, S. 369. Anmerkung.. In der That, die Sache blos physiologisch betrachtet, wäre es mit einem ohne Geschlechtsvermischung entstandenen Menschen an dem, was Origenes, freilich im Sinne des höchsten Su - pranaturalismus, sagt, daſs die Worte Ps. 22, 7: ich bin ein Wurm und kein Mensch, — eine Weissagung auf Je - sum insofern seien, als auch er, wie dieſs bei Würmern sich finde (ohne jene Vermischung) entstanden sei5)Homil. in Lucam 14.. Doch zu der blos physiologischen Betrachtungsweise bringt schon der Engel bei Lukas die theologische hinzu, indem er sich (1, 37.) auf die göttliche Allmacht beruft, welcher kein Ding unmöglich sei. Allein da die göttliche Allmacht ver - möge ihrer Einheit mit der göttlichen Weisheit nie ohne zureichende Gründe wirkt: so müſste sich auch hier ein solcher nachweisen lassen. Ein genügender Grund aber zur Suspension eines selbstgegebenen Naturgesetzes könnte für Gott nur darin liegen, daſs zur Erreichung gotteswürdiger Zwecke jene Abweichung vom Naturgesetz nothwendig wäre. Nun sagt man hier: der Zweck der Erlösung for - derte Jesu Unsündlichkeit; um aber unsündlich sein zu können, muſste Jesus durch Entfernung des Antheils ei - nes sündhaften Vaters und einen göttlichen Einfluſs auf sei - ne Erzeugung aus dem Zusammenhang der Erbsünde her - ausgenommen sein6)s. Olshausen a. a. O. S. 49 f.. Allein, wie auch sonst schon be - merkt7)z. B. von Eichhorn, Einleitung in das N. T. 1. Bd. S. 407., neuestens aber von Schleiermacher auf eine, die Sache von dieser Seite abschlieſsende Weise gezeigt wor - den ist8)Glaubenslehre, 2. Thl. §. 97. S. 73 f. der zweiten Auflage., so war hiezu die Ausschlieſsung blos des vä -154Erster Abschnitt.terlichen Antheils nicht hinreichend, wenn nicht auch der, gleichfalls Sünde fortpflanzende, mütterliche, etwa durch die Valentinische Behauptung eines bloſsen Durchgangs Christi durch Maria, entfernt wird. Bleibt nun aber der mütterli - che Antheil nach den evangelischen Berichten offenbar ste - hen: so müssen wir, um doch die voraussezlich nothwen - dige Unsündlichkeit herauszubekommen, eine göttliche Thä - tigkeit annehmen, welche den Antheil der sündhaften mensch - lichen Mutter bei der Erzeugung Jesu heiligte. Nahm aber Gott mit dem stehenbleibenden mütterlichen Antheil eine solche Reinigung vor, so lag es näher, dasselbe auch mit dem männlichen zu thun, als durch gänzliche Ausschlieſsung desselben eine so enorme Abweichung vom Gesetze der Natur zu statuiren, und es läſst sich somit die vaterlose Erzeugung Jesu nicht als nothwendiges Mittel zum Zwecke seiner Unsündlichkeit behaupten.
Doch wer auch über die bisher vorgetragenen Schwie - rigkeiten sich hinüberhelfen zu können glaubt, indem er sich in einen für Vernunftgründe und Naturgesetze unzu - gänglichen Supranaturalismus hüllt, dem müssen doch die auf seinem eigenen N. T. lichen Boden gelegenen, exege - tisch-historischen Schwierigkeiten bedenklich sein, wel - che gleichfalls die Ansicht von einer übernatürlichen Er - zeugung Jesu drücken. In keiner andern Stelle des N. T. s nämlich, ausser den beiden Kindheitsevangelien bei Mat - thäus und Lukas, wird von einem solchen Ursprung Jesu gesprochen, oder auch nur deutlich auf denselben hinge - wiesen9)Diese Seite findet sich besonders hervorgekehrt in der Skia - graphie des Dogma's von Jesu übernatürlicher Geburt, in Schmidt's Bibliothek 1, 3, S. 400 ff. ; in den Bemerkungen über den Glaubenspunkt: Christus ist empfangen vom heil. Geist, in Henke's neuem Magazin 3, 3, 365 ff. ; in Kaiser's bibl. Theol. 1, S. 231 f.; de Wette's bibl. Dogmatik, §. 281; Schleiermacher's Glaubenslehre 2. Thl. §. 97.. Nicht allein Markus läſst die Erzeugungsge -155Drittes Kapitel. §. 22.schichte weg, sondern auch der voraussezliche Verf. des vierten Evangeliums, Johannes, der, als angeblicher Haus - genosse der Mutter Jesu nach dessen Tode, am genauesten über diese Verhältnisse unterrichtet sein muſste. Man sagt: er wollte mehr die himmlische als die irdische Herkunft Jesu berichten; aber es fragt sich eben, ob mit seiner im Prologe ausgesprochenen Ansicht von einer, wirklich in Jesu fleischgewordenen und ihm immanent gebliebenen göttlichen Hypostase die in unsern Stellen liegende von einer bloſsen, seine Erzeugung bedingenden, göttlichen Einwirkung verträglich sei, ob er also die Erzeugungs - geschichte des Matthäus und Lukas habe voraussetzen kön - nen? Da jedoch dieser Einwand seine entscheidende Kraft verliert, wenn sich uns der apostolische Ursprung des vier - ten Evangeliums im Verfolg unsrer Untersuchung nicht be - währt: so kommt hauptsächlich dieſs in Betracht, daſs auch im weiteren Verlaufe nicht blos des Markus - und Johannes-Evangeliums, sondern auch des Matthäus und Lukas selbst keine rückweisende Andeutung dieser Art der Erzeugung Jesu vorkommt. Nicht nur bezeichnet Maria den Joseph ohne Weiteres als den Vater Jesu (Luc. 2, 48.), und spricht der Evangelist von Maria und Joseph geradezu als von seinen γονεῖς (Luc. 2, 41.): sondern alle seine Zeitgenossen überhaupt hielten ihn nach unsern Evan - gelien für einen Sohn des Joseph, und nicht selten wurde es verächtlich und vorwurfsweise in seiner Gegenwart ge - äussert (Matth. 13, 55. Luc. 4, 22. Joh. 6, 42.), ihm also entschiedene Veranlassung gegeben, sich auf seine wunderbare Erzeugung zu berufen, was er jedoch mit kei - nem Worte thut. Könnte man hier sagen, daſs er auf diese äusserliche Weise nicht von der Göttlichkeit seiner Person überzeugen wollte, auch bei innerlich Abgeneigten keine Wirkung davon sich versprechen konnte: so ist hin - zuzunehmen, daſs nach der Angabe des vierten Evange - liums auch seine eigenen Jünger neben seiner Gottessohn -156Erster Abschnitt.schaft ihn doch für den wirklichen Sohn Josephs hielten; denn Philippus stellt ihn dem Nathanaël als Ἰησοῦν τὸν ὑιὸν Ἰωσὴφ vor (Joh. 1, 46.), offenbar in demselben Sinne ei - gentlicher Vaterschaft, wie ihn sonst die Juden ebenso be - zeichnen, ohne daſs dieſs irgendwo als eine irrige oder unvollkommne Ansicht dargestellt würde, welche diese Apostel nachher hätten ablegen müssen, vielmehr hat die Erzählung unverkennbar den Sinn, daſs hier der rechte Glaube in denselben zum Dasein gekommen sei. — Eben - sowenig als in den Evangelien findet sich in den übrigen N. T. lichen Schriften etwas zur Bestätigung der Ansicht von einer übernatürlichen Erzeugung Jesu. Denn wenn der Apostel Paulus Jesum γενόμενον ἐκ γυναικὸς nennt (Gal. 4, 4.): so wird man in diesem Ausdruck doch nicht eine Ausschlieſsung des männlichen Antheils finden wollen, da ja der Zusaz: γενόμενον ὑπὸ νόμον deutlich zeigt, daſs er, wie so häufig im A. T. (z. B. Hiob 14, 1.), nur die Schwäche und Niedrigkeit der menschlichen Erscheinung Jesu bezeichnet. Wenn Paulus ferner (Röm. 1, 3. vergl. 9, 5.) Christum κατὰ σάρκα von David und den Erzvätern abstammen, κατὰ πνεῦμα ἁγιωσύνης aber als Gottes Sohn sich bewähren läſst: so wird man doch hier den Gegensaz von σὰρξ und πνεῦμα nicht mit dem von menschlichem mütterlichen, und durch göttliche Thätigkeit erseztem vä - terlichen Antheil an seiner Erzeugung identificiren wollen. Endlich, wenn im Hebräerbrief (7, 3.) Melchisedek als ἀπάτωρ mit dem ὑιὸς τοῦ ϑεοῦ verglichen wird: so verbietet sich eine Beziehung des wörtlich gefaſsten ἀπάτωρ auf die menschliche Erscheinung Jesu schon durch das daneben - stehende ἀμήτωρ, welches bei ihm so wenig als das weiter beigesezte ἀγενεαλόγητος zutreffen würde.
Doch die entscheidendste exegetische Instanz gegen die Wirklichkeit einer übernatürlichen Erzeugung Jesu liegt157Drittes Kapitel. §. 23.uns näher als alle bisher aufgeführten Stellen, nämlich in den beiden Genealogieen, die wir nur so eben erst betrachtet haben. Schon der Manichäer Faustus machte geltend, wer, wie unsre zwei Genealogisten, Jesum durch Joseph von David abstammen lasse, der könne ohne Wi - derspruch nicht voraussetzen, daſs Joseph gar nicht Jesu Vater gewesen sei1)Augustinus contra Faustum Manichaeum L. 23. 3. 4., und Augustinus wuſste ihm nichts Triftiges zu erwiedern, wenn er bemerkte, daſs wegen des Vorrangs des männlichen Geschlechts die Genealogie Jesu durch Joseph habe geführt werden müssen, welcher, wenn auch nicht durch leibliche, doch durch geistige Verbindung Maria's Gatte (und Jesu Vater) gewesen sei2)a. a. O. No. 8.. Auch in neuerer Zeit haben daher manche Theologen die Behaup - tung aufgestellt, aus der Beschaffenheit unserer Geschlechts - register bei Matthäus und Lukas erhelle, daſs die Verfas - ser derselben Jesum als wirklichen Sohn Josephs sich ge - dacht haben3)Skiagraphie des Dogma u. s. f. in Schmidt's Bibl. a. a. O. S. 403 f. K. Ch. L. Schmidt, ebend. 3, 1, S. 132 f. Schleier - macher, Glaubenslehre 2, §. 97. S. 71.. Sie sollen nämlich beweisen, daſs Jesus durch Joseph von Davids Geschlecht abstamme; was be - weisen sie aber, wenn Joseph Jesu Vater gar nicht war? Die als Tendenz der ganzen Genealogie (bei Matthäus 1, 1.) vorausgeschickte Behauptung, daſs Jesus ὑιὸς Δαυὶδ ge - wesen, wird durch die darauf folgende Leugnung seiner Erzeugung durch den Davididen Joseph geradezu wieder aufgehoben. Unmöglich kann man es deſswegen wahr - scheinlich finden, daſs die Genealogie und die Geburtsge - schichte von demselben Verfasser herrühre4)Wie diess z. B. Eichhorn, Einl. in das N. T. 1, S. 425. aus - drücklich für wahrscheinlich erklärt., sondern man wird mit den zuvor angeführten Theologen annehmen müs - sen, daſs die Genealogieen anderswoher genommen seien. 158Erster Abschnitt.Schwerlich möchte man hiegegen mit der Bemerkung aus - reichen, da Joseph ohne Zweifel Jesum adoptirt habe, so habe seine Genealogie auch für diesen volle Gültigkeit be - kommen. Denn die Adoption mochte wohl hinreichen, um dem angenommenen Sohne die Anwartschaft auf gewisse äussere, Erbschafts - und andere Rechte aus der Familie des Adoptirenden zu verschaffen; keineswegs aber konnte ein solches Verhältniſs Anspruch auf die messianische Wür - de verleihen, welche an wirkliches Davidisches Blut und Geschlecht gebunden war. Schwerlich würde daher, wer den Joseph blos für den Adoptiv-Vater Jesu gehalten hät - te, sich die Mühe genommen haben, der Davidischen Ab - stammung des Joseph nachzuspüren, sondern, wenn an - ders neben der einmal gewonnenen Ansicht von Jesu als Gottessohn noch ein Interesse, ihn als Davidssohn darzu - stellen, fortdauerte, so würde man zu diesem Behuf die Genealogie der Maria gegeben haben, indem, wenn auch gegen die Gewohnheit, der Stammbaum der Mutter zu Hülfe genommen werden muſste, wo kein menschlicher Va - ter vorhanden war. Am wenigsten würden mit der Com - position eines durch Joseph vermittelten Stammbaums Je - su Mehrere sich befaſst haben, so daſs uns noch 2 ver - schiedene Genealogieen dieser Art übrig bleiben konnten, wenn man nicht zur Zeit ihrer Abfassung noch ein nähe - res Verhältniſs Jesu zu Joseph angenommen hätte.
Kaum wird man daher dem Urtheil obengenannter Ge - lehrten abstehen können, es seien diese Genealogieen von der Ansicht aus verfertigt, daſs Jesus der wirkliche Sohn Josephs und der Maria gewesen sei; die Verfasser oder Sammler unserer Evangelien aber, obwohl ihrerseits von dem höheren Ursprung Jesu überzeugt, haben dieselben doch in ihre Sammlungen aufgenommen, nur daſs Mat - thäus (1, 16.) das ursprüngliche ἐξ οὗ des Genealogisten nach seiner abweichenden Ansicht in ἐξ ἦς verwandelt, Lukas aber (3, 23.) zwischen das ὢν υἱὸς Ἰωσὴφ ein ὡς ἐνομίζετο159Drittes Kapitel. §. 23.eingeklemmt habe. Man wende hiegegen nicht ein, wenn nach unsrer Bemerkung von der Ansicht aus, daſs Joseph nicht Vater Jesu gewesen, unsre Genealogieen nicht ver - fertigt werden konnten, so könne auch nicht einmal dafür ein Interesse vorhanden gewesen sein, sie den Evangelien einzuverleiben. Denn das ursprüngliche Verfertigen einer Genealogie Jesu, und wenn es in unserem Falle auch nur darin bestanden hätte, daſs schon zuvor existirende Stamm - bäume in Beziehung auf Jesum gesetzt wurden, erforderte ein starkes und ganzes Interesse, welches in der Voraus - setzung einer leiblichen Abkunft Jesu von Joseph durch jene Operation eine Hauptstütze für den messianischen Glauben an ihn zu gewinnen hoffte; wogegen zur Auf - nahme der schon vorhandenen auch das schwache Interesse anregen konnte, daſs sie auch ohne ein zwischen Jesu und Joseph statt gehabtes natürliches Verhältniſs dennoch zur Anknüpfung Jesu an David nicht undienlich scheinen mochten. Ebenso wird ja in den beiden Geburtsgeschichten bei Mat - thäus und Lukas, welche den Joseph entschieden von der Erzeugung Jesu ausschlieſsen, doch noch immer auf die Davidische Abstammung Josephs Gewicht gelegt (Matth. 1, 20. Luk. 1, 27. 2, 4.), indem man das zwar nur bei der früheren Ansicht recht Bedeutsame doch auch nach geän - dertem Standpunkt beibehielt.
Indem wir auf diese Weise den Ursprung unsrer Ge - nealogieen in eine Zeit und einen Kreis der ältesten Kirche verlegen, in welchen Jesus noch für einen natürlich er - zeugten Menschen galt: so sind wir hiemit auf die Ebioni - ten geführt, da uns eben von diesen (sofern sie von den Nazarenern noch unterschieden werden) aus jener ersten Zeit gemeldet wird, daſs sie die bezeichnete Ansicht von der Person Christi hatten5)S. Justin. Mart. Dial. cum Tryphone, 48; Theodoret, Epit. haer. fabb. 2, 4; Origenes contra Celsum L. 5, 61; Com - ment. in Matth. Tom. 16. Opp. ed. de la Rue, Vol. 3, p. 733., — und unsre Behauptung ist160Erster Abschnitt.gleich der, daſs die Genealogieen bei Matthäus und Lukas von ebionitisch denkenden Urchristen abgefaſst sein müs - sen. Sollten wir hienach erwarten, in den alten ebioniti - schen Evangelien, von welchen wir noch Kunde haben, vor Allem diese Geschlechtsregister noch anzutreffen: so müssen wir uns nicht wenig überrascht finden, wenn wir erfahren, daſs gerade jene judenchristlichen Evangelien oh - ne die Genealogieen waren6)Haeres. 30. §. 14.. Zwar, da nach Epiphanius das Evangelium der Ebioniten erst mit dem Auftritt des Täufers anfieng, so könnte man unter den γενεαλογίαις, welche sie weggeschnitten haben sollen, die Geburts - und Kindheitsgeschichte der beiden ersten Kapitel unsres Mat - thäus verstehen, welche sie, weil sie die von ihnen verwor - fene vaterlose Zeugung Jesu enthalten, wenigstens nicht in ihrer jetzigen Form annehmen konnten, und könnte nun vermuthen, daſs in ihrem Evangelium vielleicht nur diese ihrem System zuwiderlaufenden Abschnitte gefehlt haben, die ihrer Ansicht zusagenden Geschlechtsregister aber den - noch irgendwo eingefügt gewesen seien. Aber diese Aus - sicht verschwindet alsbald, wenn wir sehen; wie Epipha - nius in Bezug auf die Nazarener die Genealogieen, von wel - chen er nicht weiſs, ob sie auch ihnen gefehlt oder nicht, als τὰς ἀπὸ τοῦ Ἀβραὰμ ἕως Χριςοῦ bestimmt7)Epiphan. haeres. 29, 9., wo - nach er unter den Genealogieen, welche einigen Häretikern fehlten, offenbar zunächst die Geschlechtstafeln versteht, wenn er auch in Beziehung auf die Ebioniten zugleich die Geburtsgeschichte unter jenem Ausdruck mitbegreift.
Wie sollen wir uns nun diese befremdende Erschei - nung erklären, daſs gerade bei derjenigen Christenpartei, bei welcher wir den Ursprung der Genealogieen suchen zu müssen glaubten, dieselben gar nicht zu finden sind? Ein neuerer Forscher stellt die Vermuthung auf, die Juden -161Drittes Kapitel. §. 23.christen haben die Geschlechtsregister aus Klugheit wegge - lassen, um nicht durch dieselben die unter Domitian und vielleicht auch schon früher über die Davidische Familie ver - hängten Verfolgungen zu erleichtern und zu vermehren8)Credner, in den Beiträgen zur Einleitung in das N. T. 1, S. 443. Anm.. Allein zu solchen äusserlichen Erklärungen aus zufälligen Umständen, die selbst noch dem Zweifel der historischen Kritik unterliegen, sollte man nur dann seine Zuflucht neh - men, wenn jede Erklärung der fraglichen Erscheinung aus der Sache selbst, also hier aus dem Innern des ebioniti - schen Systems, unmöglich ist. Das ist sie aber in unsrem Falle nicht, und am wenigsten sollte sie es für den be - zeichneten Gelehrten sein, welcher in seinen schäzbaren Untersuchungen über die Ebioniten an einem andern Orte9)Über Essener und Ebioniten und einen theilweisen Zusammen - hang beider. In Winer's Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, 1. Bd. 2tes und 3tes Heft. bereits alle Prämissen zusammengetragen hat, aus welchen eine befriedigende Erklärung des vorliegenden Umstandes zu gewinnen ist. Epiphanius, dem wir die Notiz von dem Fehlen der Genealogieen im Ebioniten-Evangelium verdan - ken, schildert nicht die ursprünglichen und reinen, son - dern die späteren, durch die Ansichten eines gewissen Elxai, d. h. wie es Credner deutet10)a. a. O. S. 317. Insofern hat die Vermuthung Storr's (über den Zweck der evang. Geschichte und der Briefe Johannis, S. 286. 363. ) ihren richtigen Grund, Epiphanius möge wohl das Evangelium der Elcesaiten mit dem ebionitischen verwech - selt haben., durch essenisch - gnostische Lehren, inficirten Ebioniten. Davon, daſs von den mit den ursprünglichen Ebioniten verwandten Nazare - nern Epiphanius nicht zu entscheiden wagt, ob ihnen die Genealogieen gefehlt oder nicht, abgesehen, weil ja die Nazarener dafür ausgegeben werden, die übernatürlicheDas Leben Jesu I. Band. 11162Erster Abschnitt.Erzeugung Jesu angenommen zu haben: so erzählt uns derselbe Epiphanius von den uralten gnostisirenden Ebio - niten Cerinth und Karpokrates, daſs sie im Übrigen zwar desselben Evangeliums, wie diese, sich bedient, aber die Ge - nealogieen, welche sie demnach in demselben lasen, zum Beweis der menschlichen Erzeugung Jesu durch Joseph gebraucht haben11)Haeres. 30, 14: ὁ μὲν γὰρ Κήρινϑος καὶ Καρποκρας τῷ ἀυτῷ χρώμενοι παῤ αὐτοῖς (τοῖς Ἐβιωναίοις) ἐυαγγελίῳ, ἀπὸ τῆς ἀρχῆς τοῦ κατὰ Ματϑαῖον ἐυαγγελίου διὰ τῆς γενεαλογίας βουλονται παριςᾷν ἐκ σπέρματος Ἰωσὴφ καὶ Μαρίας εἶναι τὸν χριςόν. Wie Credner (Beiträge a. a. O.) dazu kommt, hier unter γενεαλογία nicht das Geschlechts - register, sondern die Geburtsgeschichte zu verstehen, ist nicht einzusehen. Wie hätte denn die Matthäische Geburts - geschichte zu einem Beweis für die reinmenschliche Abkunft Jesu dienen können? Wenn sich Credner darauf berufen kann, dass ja dem von Cerinth und Karpokrates gebrauchten Ebionitenevangelium die Geschlechtsregister gefehlt haben, also jene beiden Häretiker nicht aus diesem, ihrer Urkunde gerade fehlenden Theile haben argumentiren können: so liesse sich zunächst fragen, ob nicht eher umgekehrt dem ebioni - tischen Evangelium die Geburtsgeschichte gefehlt habe, die Stammtafel aber nicht, so dass Cerinth und Karpokrates im - merhin aus dieser argumentiren konnten? Da jedoch Epi - phanius mit demselben Worte die γενεαλογίας dem Evange - lium der Ebioniten abspricht, und die beiden genannten Hä - retiker auf die γενεαλογία sich stützen lässt: so ist ohne Zweifel beidemale derselbe Theil des Matthäusevangeliums gemeint, und zwar nach dem oben Erörterten die Stammta - fel. Diese aber konnte gar wohl in dem sonst mit dem Ebio - nitenevangelium identischen Evangelium Cerinths stehen, da auch Epiphanius die genannten Beiden und die Ebioniten einander in dieser Hinsicht entgegenzustellen scheint, wenn er nach jener Äusserung über Cerinths und Karpokrates Be - nützung der Genealogieen zu den Ebioniten durch die Wen - dung übergeht: οὖτοι δὲ ἄλλα τινὰ διανοοῦνται. παρακό - ψαντες γὰρ τὰς παρὰ τῷ Ματϑαίῳ γενεαλογίας κ. τ. λ. . Auch die aus judenchristlichem Ge -163Drittes Kapitel. §. 23.biete stammenden ἀπομνημονεύματα Justins scheinen ei - ne ähnliche Genealogie wie unser Matthäus gehabt zu ha - ben, da Justin wie Matthäus in Bezug auf Jesum von ei - nem γένος τοῦ Δαβὶδ καὶ Ἀβραὰμ, von einem σπέρμα ἐξ Ἰακὼβ, διὰ Ἰούδα, καὶ Φαρὲς καὶ Ἰεσσαἰ καὶ Δαβὶδ κατερ - χόμενον — spricht12)Dial. c. Tryph. 100. 120. Auch hier kann ich nicht mit Credner übereinstimmen, welcher dem Justin die Genealo - gie abspricht (a. a. O. S. 212. 443.)., nur daſs zur Zeit und in dem Kreise Justins bereits die Ansicht von einer übernatürlichen Er - zeugung Jesu Veranlassung gegeben hatte, die Genealogie statt auf Joseph, vielmehr auf Maria zu beziehen.
Daſs nun die späteren und durch fremdartige Elemente inficirten Ebioniten des Epiphanius das Geschlechtsregister nicht hatten, wird uns um so weniger irre machen kön - nen, wenn wir die in ihrem späteren, veränderten System liegenden Gründe zu entdecken im Stande sind, durch wel - che sie der Genealogie des Matthäus abgeneigt wurden. Ein Sohn Josephs und der Maria war ihnen Jesus, sowohl nach der Angabe des Epiphanius13)Haeres. 30, 14. vgl. 2., als nach der Andeu - tung der Klementinischen Homilien14)Homil. 3, 17. und dazu Credner in der angef. Abh. S. 253 f., welche Credner in der angeführten Abhandlung richtig als ein Werk die - ser späteren Ebioniten nachgewiesen hat; ihre Ansicht also von dem Verhältniſs Jesu zu Joseph, von welchem die Genealogie ausgeht, würde der Annahme derselben nicht im Wege gestanden haben: wohl aber ihre Ansicht von demjenigen, auf welchen sie zurückgeht, nämlich von David. Die Ebioniten des Epiphanius und der Klementi - nen unterscheiden bekanntlich im A. T. eine doppelte Pro - phetie, eine männliche und eine weibliche, reine und un - reine, von welchen jene nur Himmlisches und Wahres, diese Irdisches und Trügliches verheiſse; jene von Adam11*164Erster Abschnitt.und Abel, diese von Eva und Kain ausgehend, und beide durch die ganze Geschichte der Offenbarung herunterlau - fend15)Homil. 3, 23 — 27.. Als wahre Propheten werden im A. T. nur die frommen Männer von Adam bis Josua anerkannt: die spä - teren Propheten und Gottesmänner, unter welchen auch David und Salomo namhaft gemacht sind, werden nicht nur nicht anerkannt, sondern verabscheut16)Epiphan. haeres. 30, 18: μετὰ τούτους δὲ (Moses und Josua) οὐκέτι ὁμολογοῦσί τινα τῶν προφητῶν, ἀλλὰ καὶ ἀναϑεμα - τίζουσι καὶ χλευάζεσι, Δαβὶδ τε καὶ τὸν Σολομῶνα, ὁμοίως δὲ τοὺς περὶ Ἡοαΐαν καὶ Ἱερεμίαν καὶ Δανιὴλ καὶ Ἰεζεκιήλ· Ἠλία τε καὶ Ἐλισσαῖον ἀϑετοῦσιν· οὐ γὰρ συν - τίϑενται, βλασφημοῦντες τὰς αὐτῶν προφητείας. Vgl. 15.. Wir fin - den aber sogar bestimmte Spuren, daſs den David ihre Abneigung ganz besonders getroffen hat. Mehrere Punkte waren es, welche sie von David (und auch von Salomo) abstieſsen. David war ein blutiger Krieger: Blutvergieſsen aber nach der Lehre dieser Ebioniten eine der vornehm - sten Sünden; von David ist ein Ehebruch (von Salomo seine Wollust) bekannt: den Ehebruch aber verabscheute die genannte Partei noch mehr als selbst den Mord; David war ein Saitenspieler: das Saitenspiel aber galt jener Sekte, als Erfindung der Kainiten (1. Mos. 4, 21.) für ein Zei - chen der falschen Prophetie; endlich giengen sowohl die von David ausgegangenen als die an ihn (und Salomo) ge - knüpften Weissagungen auf ein irdisches Reich, von wel - chem die späteren Ebioniten nichts wissen wollten17)S. die Belegstellen bei Credner, in der angef. Abhandlung.. Daſs es diese Züge gewesen seien, welche der genannten Christenpartei an David miſsfielen, wird wenigstens in Ei - ner Stelle der Klementinischen Homilien auch ohne Nen - nung des Namens klar genug18)Diese von Crkdner nicht gehörig berücksichtigte Stelle steht Homil. 3, 25: ἔτι μὴν καὶ οἱ ἀπὸ τῆς τούτου (τοῦΚαῒν) δια -. Diese Verwerfung Da -165Drittes Kapitel. §. 23.vids und der späteren A. T. lichen Gottesmänner aber ge - hört mit der ganzen kritischen und eklektischen Stellung gegen das A. T. nicht dem alten, vom ordinären Juden - thum ausgegangenen, sondern nur jenem neueren, esse - nisch oder wie sonst inficirten Ebionitismus an. Daher kam es auch, daſs, während die früheren, reinen Ebio - niten die Benennung Jesu als Sohns Gottes ablehn - ten19)Tertullian. de praescript. haer. 33. und ohne Zweifel ihn nur Sohn Davids genannt wissen wollten: die Ebioniten der Klementinen und des Epiphanius gerade umgekehrt ihn Sohn Gottes nannten (welche Benennung sie mit ihrer Ansicht von der natür - lichen Erzeugung Jesu wohl zu vereinigen wuſsten)20)Epiphan. haeres. 30, 18., die Benennung, Sohn Davids, aber als der gemeinen jü - dischen Ansicht zugehörig, verwarfen21)Clement. homil. 18, 13. Sie bezogen hienach den Spruch Matth. 11, 27: οὐδεὶς ἔγνω τὸν πατέρα, εἰ μὴ ὁ υἱὸς κ. τ. λ. auf τοὺς πατέρα νομίζοντας χριςοῦ τὸν Δαβὶδ, καὶ αὐτὸν δὲ τὸν χριςὸν υἱὸν ὄντα, καὶ υἱὸν ϑεοῦ μὴ ἐγνω - κότας, und beklagten sich, dass ἀντὶ τοῦ ϑεοῦ τὸν Δαβὶδ πάντες ἔλεγον. . So hätten dem - nach mit den ältesten Judenchristen auch die Ebioniten des Epiphanius unsre Genealogieen annehmen können, so - fern diese für eine rein-menschliche Erzeugung Jesu durch Joseph sprachen: aber sie muſsten sie verwerfen, sofern sie eine Abstammung von David und Salomo lehrten, wel - che ihrem System zufolge zu den falschen Propheten ge - hörten.
Auf diese Weise wird die aus der Sache selbst sich ergebende Vermuthung, daſs die Genealogieen Jesu bei18)δοχῆς προεληλυϑότες πρῶτοι μοιχοὶ ἐγένοντο, καὶ ψαλ - τήρια, καὶ κιϑάραι, καὶ χαλκεῖς ὄπλων πολεμικῶν ἐγέ - νοντο. Δἰ ὃ καὶ ἡ τῶν ἐγγόνων προφητεία, μοιχῶν καὶ ψαλτηρίων γέμουσα, λανϑανοντως δια τῶν ηδυπαϑειῶν ὡς τοὺς πολέμους ἐγείρει. 166Erster Abschnitt.Matthäus und Lukas auf dem Boden des ältesten Judenchristen - thums entstanden seien, durch die Erscheinung keineswegs umgestoſsen, daſs sie sich gerade bei den Ebioniten des Epi - phanius nicht finden; denn dieſs sind die ursprünglichen, reinen Ebioniten nicht mehr; die alten Ebioniten haben nach mehreren Spuren die Genealogieen gehabt: die nach - maligen waren durch Gründe, welche in der späteren Um - gestaltung ihres Systemes lagen, genöthigt, sie zu ver - werfen.
Hat nach dem zuletzt Ausgeführten die supranaturali - stische Erklärung der Empfängniſsgeschichte so bedeuten - de, sowohl philosophische als exegetische Schwierigkeiten: so verlohnt es sich wohl, die evangelische Erzählung noch einmal darauf anzusehen, ob nicht vielleicht eine andere Auslegung derselben möglich sei, durch welche die ange - zeigten Schwierigkeiten vermieden würden. Eine solche hat man wirklich von verschiedenen Seiten in der Art ver - sucht, daſs man bald nur mit dem einen oder andern, bald aber auch mit allen beiden Berichten auf dem Wege natürlicher Erklärung fertig werden zu können glaubte. Zunächst schien sich die Erzählung des Matthäus einer solchen Deutung darzubieten. In Bezug auf sie wurde durch zahlreiche rabbinische Stellen nachgewiesen, daſs nach jüdischer Ansicht ein Sohn frommer Eltern un - ter Mitwirkung des heiligen Geistes erzeugt sei und ein Sohn desselben genannt werde, ohne daſs hiebei an Aus - schlieſsung des männlichen Antheils an seiner Erzeugung gedacht würde. Der betreffende Abschnitt des Matthäus nun, meinte man, enthalte weiter nichts, als diese Vor - stellung: der Engel wolle hier dem Joseph nicht sagen, daſs Maria ohne Zuthun eines Mannes schwanger gewor - den, sondern nur, daſs sie dessenungeachtet als rein, nicht167Drittes Kapitel. §. 24.als eine Gefallene anzusehen sei. Erst bei Lukas sei, ver - möge einer Steigerung der ursprünglichen Vorstellung, durch das ἄνδρα οὐ γινώσκω jede väterliche Mitwirkung aus - geschlossen1)Br …, die Nachricht, dass Jesus durch den heil. Geist und von einer Jungfrau geboren sei, aus Zeitbegriffen erläutert. In Schmidt's Bibl. 1, 1. S. 101 ff. — Horst, in Henke's Mu - seum 1, 4, 497 ff., über die beiden ersten Kapitel im Evang. Lukas.. Wurde von der andern Seite hiegegen richtig bemerkt, daſs ja bei Matthäus der einzige, hier in Frage kommende Mann, nämlich Joseph, durch das πρὶν ἢ συνελϑεῖν ἀυτοὺς (1, 18.) zu entschieden ausgeschlossen sei: so glaubte man nun diese Ausschlieſsung im Lukas - evangelium weniger entschieden zu finden, freilich nur, indem man entweder unexegetisch den klaren Wortsinn auf den Kopf stellte, oder unkritisch einen Theil der so wohl zusammenhängenden Erzählung verdächtigte. Bei dem er - steren Verfahren sollte die Frage der Maria: πῶς ἔςαι τοῦτο, ἐπεὶ ἄνδρα οὺ γινώσκω (1, 34.); so viel heiſsen: wie kann ich, die schon Verlobte und Vermählte, den Messias gebären, als dessen Mutter ich keinen Mann haben müſste? worauf der Engel erwiedere, daſs auch aus ih - rem mit Joseph erzeugten Kinde Gott durch seine Kraft etwas Besondres machen könne2)Bemerkungen über den Glaubenspunkt: Christus ist empfan - gen vom heil. Geist. In Henke's neuem Magazin 3, 3. 399.. Noch willkührlicher ist das andre Verfahren, die angeführte Zwischenfrage der Maria für eine unnatürliche Unterbrechung der Rede des Engels zu erklären, jene abgerechnet aber in der Stelle keine bestimmte Hindeutung auf die aussernatürliche Em - pfängniſs zu finden3)Schleiermacher, über den Lukas, S. 26 f..
Ist somit die Schwierigkeit der natürlichen Erklärung für beide Berichte gleich groſs: so muſste entweder auf168Erster Abschnitt.beiden Seiten auf eine solche verzichtet, oder sie beidemale gewagt werden, und der consequente Rationalismus, z. B. eines Paulus, konnte sich nur für das Letztere entschei - den4)Exeget. Handbuch 1, a. S. 99 ff. 111 ff. Vergl. (Walther) schriftmässiger Beweis, dass Joseph der wahre Vater Jesu sei, 1791.. Den Antheil Josephs zwar hält der genannte Aus - leger durch Matth. 1, 18. für ausgeschlossen, keineswegs aber jede andre männliche Wirksamkeit; so wenig als er in πνεῦμα ἅγιον und δύναμις ὑψίςου (Luc. 1, 35.) eine wun - dervolle göttliche Thätigkeit finden kann. Das πνεῦμα ἅγιον ist ihm nichts Objektives, von aussen auf Maria Einwir - kendes, sondern ihre eigene fromme Gesinnung; die δύνα - μις ὑψίςου aber ist ihm nicht unmittelbar die göttliche All - macht, sondern jede gottgefällig angewandte Naturkraft kann nach ihm so genannt werden. Demzufolge ist nach Paulus der Sinn der Verkündigung des Engels nur dieser, vor der Verehlichung mit Joseph werde Maria mit reiner Begeisterung für das Heilige ihrerseits, und durch gottge - fällige Wirksamkeit (versteht sich, eines Mannes) auf der andern Seite, Mutter eines Kindes werden, das, wegen die - ses heiligen Ursprungs, ein Gottessohn zu nennen sein werde5)Diese Erklärung betrachtet Paulus als die einzige, der orien - talischen Denk - und Sprechweise angemessene, und warnt, sie occidentalisch umzudeuten (S. 114.). Es soll also occi - dentalische Umdeutung sein, wenn man jene Worte so ver - steht, das Kind werde ohne menschlichen Vater durch Got - tes heiligen Geist und allmächtige Kraft im Leibe der Mut - ter gebildet werden; paraphrasirt man hingegen: aus reiner gottergebener Begeisterung wirst du dich vorwurfslos einer gottgewollten Wirksamkeit hingeben, — so ist das, nach Dr. Paulus, orientalisch gesprochen..
Sehen wir aber noch näher nach, wie sich der ge - nannte Repräsentant rationalistischer Auslegung die Um -169Drittes Kapitel. §. 24.stände der Erzeugung Jesu vorstellt. Von Elisabet, der patriotischen, klugen Aaronstochter, wie er sie nennt, geht er aus. Hatte diese die Hoffnung gefaſst, einen Gottespro - pheten zu gebären: so muſste sie wünschen, daſs er der höchste Prophet, der Vorläufer des Messias sein, daſs also auch dieser bald geboren werden möchte. Und eine zur Mutter des Messias ganz taugliche Person hatte sie in ih - rer Verwandtschaft: die jungfräuliche Davidische Descen - dentin Maria; es kam nur darauf an, sie zu besonderen Hoffnungen zu veranlassen6)a. a. O. S. 99 f.. Während man nach diesen Andeutungen bereits einen schlauen Plan der Elisabet mit ihrer jungen Verwandtin ahnt, und in denselben einge - weiht zu werden hofft: läſst Paulus hier auf einmal den Vorhang fallen, und bemerkt, die Art, wie Maria zu der Überzeugung gekommen, Mutter des Messias zu werden, müsse man historisch unentschieden lassen; nur so viel sei gewiſs, daſs Maria dabei rein geblieben sei, indem sie un - möglich, wie später geschah, mit gutem Gewissen unter das Kreuz ihres Sohnes hätte treten können, wenn sie sich eines Vorwurfs über den Ursprung ihrer Hoffnungen von ihm bewuſst gewesen wäre7)a. a. O. S. 100. 114.. Nur folgende Winke über die eigentliche Ansicht von Paulus kommen weiterhin noch vor: daſs der verkündigende Engel vielleicht Abends, oder gar bei Nacht zu Maria gekommen, ja der richtigeren Les - art zufolge, welche Luc. 1, 28. nur: καὶ εἰσελϑὼν πρὸς ἀυτὴν εἶπε, ohne ὁ ἄγγελος, habe, sei hier nur von einem Hereingekommenen überhaupt die Rede (als ob das εἰσελ - ϑὼν in diesem Falle nicht nothwendig τὶς bei sich haben, oder ohne dieses auf das Subjekt: ὁ ἄγγελος ϒαβριὴλ, V. 26, bezogen werden müſste!); daſs es der Engel Gabriel ge - wesen, habe sich Maria erst nachher, als sie von der Vi - sion des Zacharias hörte, ergänzt.
170Erster Abschnitt.Was in dieser Erklärung des Vorgangs stecke, hat schon Gabler in einer Recension des Paulus'schen Com - mentars8)Im neuesten theol. Journal 7. Bd. 4. Stück. S. 407 f. Vgl. Bauer, hebr. Mythol. 1, S. 192. e ff. mit angemessener Derbheit an's Licht gezogen, indem er geradezu sagt, bei der Ansicht von Paulus blei - be nichts Andres zu denken übrig, als daſs sich Jemand für den Engel Gabriel ausgegeben, und als angeblicher Got - tesbote selbst die Maria beschlafen habe, um den Messias mit ihr zu erzeugen. Und das, fragt Gabler, wenn Ma - ria zu einer Zeit, da sie schon verlobt ist, von einem An - dern schwanger wird, soll eine unsündliche gottgefällige Weise, eine vorwurflose heilige Wirksamkeit heiſsen? Ma - ria erschiene hier als eine fromme Schwärmerin, und der angebliche Gottesbote entweder als ein Betrüger, oder auch als ein grober Schwärmer. Mit Recht findet der genannte Theologe vom christlichem Standpunkt aus eine solche Be - hauptung empörend, und auf dem rein-kritischen muſs man sie der Absicht der Berichte ganz widersprechend finden, welche die fleckenlose Reinheit dieses ganzen Verhältnis - ses voraussetzen.
Als der würdigste Dolmetscher von Paulus aber ist hier der Verfasser der natürlichen Geschichte des groſsen Propheten von Nazaret zu betrachten, welcher, wenn er auch bei Abfassung dieses Theils von seinem Werke den Paulus'schen Commentar noch nicht benutzen konnte, doch ganz in dessen Geiste, was dieser noch behutsam mit einem Schleier verhüllt, ohne Scheue aufdeckt. Er vergleicht ei - ne Erzählung bei Josephus9)Antiq. 18, 3, 4., nach welcher eben im Zeit - alter Jesu ein römischer Ritter die keusche Gattin eines edeln Römers dadurch für seine Wünsche gewann, daſs er sie durch einen Isispriester in den Tempel dieser Göttin unter dem Vorwand laden lieſs, der Gott Anubis begehre171Drittes Kapitel. §. 24.sie zu umarmen, worein die Frau unschuldsvoll und glau - big sich ergab, und später vielleicht auch ein Götterkind zu gebären geglaubt haben würde, wenn nicht der Buhle bald darauf mit bitterm Hohn ihr den wahren Stand der Sache entdeckt hätte. Auf ähnliche Weise glaubt nun der Verfasser, sei Maria als Verlobte des ältlichen Joseph durch einen verliebten und schwärmerischen Jüngling (er läſst ihn in der folgenden Geschichte als Joseph von Ari - mathäa auftreten!) getäuscht worden, und habe sofort, in aller Unschuld, wieder Andere getäuscht10)1ter Theil, S. 140 ff.. Nachdem Paulus diese Venturini'sche Vergleichung ebenfalls ange - führt, und ihr mit sichtbarer Liebe nachgeholfen11)a. a. O. S. 117 f., muſs man sich wundern, wie er hinzusetzen kann, wer einen höheren Standpunkt erreicht habe, der werde alle derglei - chen Muthmaſsungen mit dem Wunsch anhören, daſs doch nie an den Körper Jesu mehr als an seinen Geist gedacht werden möchte. Wo ist denn dem Verfasser der natürli - chen Geschichte gegenüber der höhere Standpunkt, den Paulus in seiner Darstellung erreicht hätte? Besteht er in etwas Andrem, als in dem Verschweigen der Folgesätze, welche, wenn einmal die Prämissen so wie bei Paulus ge - geben sind, doch jeder im Stillen unwillkührlich ziehen muſs? Besser in jedem Falle, sie werden ausgesprochen, dann täuscht die Ansicht weniger und richtet eher sich sel - ber. Denn von der Darstellung des Verfassers der natür - lichen Geschichte aus fällt es nun von selbst in die Augen, daſs diese Erklärungsart nicht verschieden ist von jener uralten jüdischen Blasphemie, welche wir bei Origenes und im Talmud finden, daſs Jesus seine Geburt von einer rei - nen Jungfrau fälschlich vorgegeben, in der That aber von Maria im Ehebruch mit einem gewissen Pantheras erzeugt worden sei12)Die Sage hat verschiedene Formationen erlebt, durch welche.
172Erster Abschnitt.Treffender kann man über diese ganze, in der Läste - rung der Juden culminirende Ansicht nicht urtheilen, als schon Origenes gethan hat, indem er sagt: wenn sie der Geschichte von Jesu übernatürlicher Erzeugung etwas An - dres hätten unterschieben wollen, so hätten sie dieſs we - nigstens auf wahrscheinlichere Weise thun sollen; sie hät - ten nicht, gleichsam wider Willen, zugeben dürfen, daſs Maria von Joseph unberührt gewesen sei, sondern schon diesen Zug hätten sie leugnen, und Jesum aus einer ge - wöhnlichen menschlichen Ehe jener beiden entstehen lassen müssen; wogegen nun das Gezwungene und Abenteuerliche ihrer Hypothese jedem Kenner die Lüge verrathe13)c. Cels. 1, 32.. Was heiſst dieſs anders, als: wenn einmal an einigen Zügen ei - ner wunderhaften Erzählung gezweifelt wird, so ist es in - consequent, andre unbezweifelt stehen zu lassen, vielmehr muſs dann ein solcher Bericht in allen seinen Theilen von einem andern als historischen Standpunkt aus betrachtet werden. Diese letztere Ansicht in Bezug auf die vorlie - gende Erzählung lag, wenigstens indirekt, in Origenes. Denn wenn er das einemal mit der übernatürlichen Em - pfängniſs Jesu die Erzählung von Plato's Erzeugung durch Apollo als gleichartig zusammenstellt (aber hier freilich der Meinung ist, nur Böswillige können dergleichen bezwei - feln)14)c. Cels. 6, 8.; das andremal aber von der Erzählung über Pla - to sagt, sie gehöre zu den Mythen, durch welche man die ausgezeichnete Weisheit und Kraft groſser Männer habe erklären wollen (aber hier die Erzählung von Jesu Erzeu - gung aus dem Spiele läſst)15)Ebend. 1, 37.: so hatte er ja die beiden12)aber immer der Name Pantheras oder Pandira hindurchgeht. S. Origenes c. Cels. 1, 28. 32. Schöttgen, Horae 2, 693 ff. aus Tract. Sanhedrin u. A.; Eisenmenger, entdecktes Juden - thum, 1, S. 105 ff. aus der Schmähschrift: Toledoth Jeschu.173Drittes Kapitel. §. 25.Prämissen (Gleichartigkeit der beiden Erzählungen und my - thischen Charakter der einen), aus welchen sich als Schluſs - satz der blos mythische Werth der Erzählung von der Em - pfängniſs Jesu ergab, ein Schluſs, den er aber freilich auch nicht einmal vor seinem eignen Bewuſstsein gezogen zu haben scheint.
Wenn man dem übernatürlichen Ursprunge Jesu aus - weichen will, sagt Gabler in seiner Recension von Pau - lus Commentar1)In seinem neuesten theol. Journal, 7, 4. S. 408 f. Mit ihm stimmen in der mythischen Auffassung dieser Erzählung zu - sammen: Br …, in Schmidt's Bibl. 1, 1, S. 101 ff. ; E. F., in Henke's Magazin, 5, 1, 151 ff. ; Horst, in Henke's Museum, 1, 4, S. 685 ff. ; Eichhorn, Einleit. in das N. T. 1, S. 428 f.; Bauer, hebr. Mythol. 1, 192 e ff. ; de Wette, bibl. Dogmat. §. 281. ; Kaiser, bibl. Theologie, 1, S. 231 f.; die Abhandlung über die verschiedenen Rücksichten u. s. f. in Bertholdt's krit. Journ. 5. Bd. S. 237. ; Fritzsche, Comment. in Matth. S. 56. Der Letztere schon in der Ueberschrift des ersten Kapitels, S. 6. richtig: non minus ille (Jesus) ut ferunt doctorum Ju - daicorum de Messia sententiae, patrem habet spiritum divi - num, matrem virginem., um nicht in unsern Tagen zum Ge - spötte zu werden, wenn aber andrerseits die natürlichen Erklärungen desselben auf sonderbare nicht nur, sondern selbst empörende Behauptungen führen: so wähle man doch lieber die Annahme eines Mythus, durch welche alle Schwie - rigkeiten jener Erklärungen vermieden werden. Viele groſse Männer hatten in der alten mythischen Welt eine ausser - ordentliche Geburt und waren Göttersöhne. Jesus selbst sprach von seinem himmlischen Ursprung, nannte Gott sei - nen Vater, und hieſs ohnehin als Messias Gottes Sohn. Aus Matth. 1, 22. f. sieht man ferner, daſs die Stelle Jesai. 174Erster Abschnitt.7, 14. in der ersten christlichen Kirche auf Jesum bezogen wurde. Jesus, dachte man, muſs als Messias, dieser Stelle zufolge, von einer Jungfrau durch Gotteskraft ge - boren sein; was sein muſste, schloſs man, ist auch wirk - lich geschehen, und so entstand ein philosophischer (dog - matischer) Mythus über die Geburt Jesu. Seiner wirkli - chen Geschichte nach ist dann Jesus, dieser Erklärungsart zufolge, aus einer ordentlichen Ehe Josephs und der Maria entsprossen, womit, wie mit Recht bemerkt wird, eben - sowohl die Würde Jesu als die schuldige Achtung gegen seine Mutter besteht.
Man hat also, um sich die Entstehung eines solchen Mythus zu erklären, an die Neigung der alten Welt ge - dacht, groſse Männer und Wohlthäter ihres Geschlechts als Göttersöhne darzustellen. Die Beispiele sind von den Theologen reichlich beigebracht. Namentlich aus der grie - chisch-römischen Mythologie und Geschichte hat man an Herkules und die Dioskuren erinnert, an Romulus und Alexander, vor Allen aber an Pythagoras2)Jamblich. vita Pythagorae, cap. 2. ed. Kiessling. und Plato3)Diog. Laërt. III, 2, 3., von deren Lezterem Hieronymus, ganz auch auf Jesum anwendbar, sagt: sapientiae principem non aliter arbi - trantur, nisi de partu virginis editum4)adv. Jovin. 1, 26.. Wenn man aus diesen Beispielen schlieſsen möchte, daſs wohl auch die Erzählung von der übernatürlichen Erzeugung Jesu, ohne historischen Grund, aus einer ähnlichen Neigung her - vorgegangen sein dürfte: so vereinigen sich Orthodoxe und Rationalisten, jene Analogie nicht gelten zu lassen, wiewohl aus sehr verschiedenen Gründen. Wenn bei Ori - genes nicht viel fehlt, daſs er um der Gleichartigkeit der beiderseitigen Erzählungen willen auch die heidnischen Sa - gen von Göttersöhnen für wahre Wundergeschichten hiel -175Drittes Kapitel. §. 25.te: so ist Paulus auf seinem Standpunkt mit mehr Ent - schiedenheit so consequent, beiderlei Erzählungen als na - türliche aber historisch zu fassende Geschichten zu erklä - ren. Wie weit er diese Erklärungsweise auf die eigentli - che Mythologie anwendet, erhellt bei dieser Gelegenheit nicht; von der den Plato betreffenden Erzählung aber sagt er, man könne nicht behaupten, daſs sie der Hauptsache nach erst später entstanden sei; vielmehr habe Periktione leicht glauben können, von einem ihrer Götter schwanger zu sein: daſs ihr Sohn hierauf wirklich ein Plato wurde, könne zur Bestätigung ihres Glaubens gedient haben, ohne doch dessen Ursache gewesen zu sein5)Exeg. Handbuch 1, a, S. 169.. Auf andre Weise will Olshausen die Analogie der mythischen Göttersöhne unschädlich machen, indem er darauf aufmerksam macht, wie diese Erzählungen, wenn gleich unhistorisch, doch für die allgemeine Ahnung und Sehnsucht nach einem solchen Faktum, und damit für die Wirklichkeit desselben wenig - stens in Einer historischen Erscheinung bürgen6)Bibl. Comm. 1, S. 49.. Aller - dings nun muſs einer allgemeinen Ahnung und Vorstellung Wahrheit zum Grunde liegen, nur daſs diese nicht in ei - ner einzelnen, jener Vorstellung genau entsprechenden That - sache bestehen wird, sondern in einer Idee, welche sich in einer Reihe, jener Vorstellung oft sehr unähnlicher, That - sachen verwirklicht, — und wie die verbreitete Vorstellung eines goldenen Zeitalters nicht beweist, daſs wirklich ein - mal eine solche Zeit gewesen: so hat auch die Vorstellung von göttlichen Erzeugungen in etwas ganz Andrem ihre Wahrheit, als darin, daſs irgendeinmal ein Individuum auf diesem Wege zum Dasein gekommen ist.
Eine wesentlichere Einwendung gegen die dargelegte Analogie wäre, daſs die Vorstellungen der Heidenwelt nichts für die abgeschlossenen Juden beweisen, und daſs176Erster Abschnitt.namentlich die dem Polytheismus angehörige Idee von Göt - tersöhnen auf ihre strengmonotheistischen Messiasbegriffe nicht wohl einen Einfluſs habe ausüben können. Aller - dings darf man hier nicht zu schnell aus dem Ausdruck: Sohn Gottes, der sich auch bei ihnen findet, argumenti - ren, welcher, wo er im A. T. von Obrigkeiten (Ps. 82, 6.) oder theokratischen Königen (2. Sam. 7, 14. Ps. 2, 7.) gebraucht wird, eben nur dieses theokratische, kein phy - sisches oder metaphysisches Verhältniſs anzeigt; noch we - niger darf man darauf Gewicht legen, daſs bei Josephus ein Römer schöne jüdische Fürstenkinder schmeichelnd Götterkinder nennt7)Antiq. 15, 2, 6.. Doch aber hatten, wie oben be - merkt8)§. 24., die Juden die Vorstellung, daſs bei Erzeugung der Frommen der heilige Geist mitwirke, ferner, daſs die auserwähltesten Rüstzeuge Gottes durch göttlichen Beistand von solchen Eltern erzeugt werden, welche nach dem na - türlichen Lauf der Dinge kein Kind mehr bekommen ha - ben würden, — und wenn bei diesen schon die göttliche Wirksamkeit das Meiste that: so war der Schritt leicht, daſs sie bei Erzeugung des höchsten jener Rüstzeuge, des Messias, Alles thun werde; dieses verhält sich zu jenem nur wie ein höherer Grad des Wunderbaren9)Dieses Verhältniss der vaterlosen Erzeugung Jesu zu der der Maria von bejahrten Eltern drückt das evang. de nativ. Ma - riae c. 3. so aus: sicut ipsa (Maria) mirabiliter ex ste - rili nascetur, ita incomparabiliter virgo generabit altis - simi filium. . Daſs es zu dieser Steigerung vollends kommen muſste, dazu lag die Veranlassung zum Theil in dem, einmal für den Mes - sias solenn gewordenen Titel: ὑιὸς ϑεοῦ10)Vgl. Eichhorn, Einl. in das N. T. a. a. O.. Denn es ist die Natur solcher zunächst bildlichen Ausdrücke, daſs sie mit der Zeit immer mehr eigentlich und im strengen Sinne177Drittes Kapitel. §. 25.genommen werden, und besonders unter den späteren Ju - den war eine sinnliche Auffassung des früher geistig und bildlich Gemeinten gewöhnlich geworden. Dieser natürli - chen Neigung, das υἱὸς ϑεοῦ vom Messias in immer wörtli - cherem Verstande zu nehmen, kam dann einerseits der Zu - satz entgegen, welchen Ps. 2, 7. das messianisch gedeutete בְנִי אַתָּה in dem הַיּוֺם יְלִדְתִּךָ hat, welches fast unausbleib - lich verleiten muſste, hier an ein physisches Verhältniſs zu denken; andererseits das jesaianische Orakel von der gebärenden Jungfrau, welches man, wie so viele, deren nächste Beziehung sich verdunkelt hatte, auf den Messias bezogen zu haben scheint: worauf dann die Begriffe von Gottessohn und Sohn der Jungfrau so combinirt wurden, daſs man die göttliche Wirksamkeit an die Stelle der mensch - lich-väterlichen setzte. Fr[ei]lich versichert Wetstein, daſs nie ein Jude die jesaianische Stelle auf den Messias bezo - gen habe11)N. T. 1, S. 239., und auch Schöttgen weiſs Spuren der An - sicht vom Messias als Jungfrauensohn aus den Rabbinen nur äusserst mühselig zusammenzulesen12)Horae, 2, S. 421 ff. Jüngere Rabbinen haben sie allerdings, s. Matthaei, Religionsgl. der Apostel 2, a. S. 555 ff.: allein bei der Mangelhaftigkeit der Nachrichten über die messianischen Ideen jener Zeit beweist dieſs nichts gegen die Vorauss[e]- zung einer Zeitvorstellung, von welcher die vollständigen Prämissen im A. T., und eine kaum verkennbare Folge im neuen sich findet.
Aber auch abgesehen von der Gültigkeit oder Ungül - tigkeit jener Analogie, stimmen die bezeichneten zwei Par - teien von Auslegern darin überein, daſs bei der mythischen Auffassung der Empfängniſsgeschichte unerklärbar bleibe, wie Jesus das habe werden können, was er werden sollte und wirklich wurde. Wenn dieſs Olshausen so versteht, daſs der Erlöser nicht von einem Manne aus sündigem Sa -Das Leben Jesu I. Band. 12178Erster Abschnitt.men habe erzeugt werden können13)S. 49 f.: so ist hievon oben hinlänglich die Rede gewesen. Paulus wendet den Ein - wurf so, daſs ohne einen wunderähnlichen Anfang des Le - bens Jesu nicht erklärbar wäre, was er im zwölften Jahre und später war14)S. 71 f. 169.. Unter dem wunderartigen Anfang des Lebens Jesu versteht er natürlich nicht eine wirklich gött - liche Erzeugung desselben, sondern nur die von der Mut - ter gehegte und auch dem Sohne eingeprägte Meinung, daſs eine solche stattgefunden. Wir finden, äussert Paulus, in Jesu schon im zwölften Jahr eine religiöse Eigenthümlich - keit, und im dreissigsten ist er nahe der Überzeugung, daſs er der Messias sei: wie läſst sich dieſs, da ihn doch weder Habsucht noch Ehrgeiz inspirirten, erklären, wenn nicht wirklich seine Mutter, durch ausserordentliche, wie - wohl natürliche Begebenheiten schon vor seiner Geburt an - regt, ihm gesagt hatte, daſs er zum Messias bestimmt sei? Hier ist die Instanz aus dem zwölften Jahre in keinem Falle gültig, weil sie, was erst zu beweisen ist, schon vor - aussetzt, die historische Glaubwürdigkeit der Kindheitsge - schichte Jesu; der andre Termin aber, bis zum dreissigsten Jahr, ist lang genug, daſs bis zu demselben Jesus, ver - möge innerer Anlage und äusserer Veranlassung, auch oh - ne jene Ereignisse vor seiner Geburt, seiner messianischen Bestimmung gewiſs werden konnte. Paulus freilich spricht hier so, wie wenn nur entweder Ehrgeiz und Habsucht, oder ausserordentliche Spiele des Zufalls zu groſsen Ent - schlüssen veranlassen könnten: bei ihm muſs der Zufall alle Wunder thun, weil er den Geist verkennt, welcher allein der wahre Wunderthäter ist. — Daſs sich die ge - nannten beiden Theologen ferner auf die Kürze der Zeit berufen, welche zwischen den Ereignissen von Jesu Ge - burt und der Aufzeichnung unsrer Nachrichten liege, ein179Drittes Kapitel. §. 25.Zeitraum, in welchem sich nicht wohl schon legendenar - tige Nachrichten über jene Begebenheiten haben bilden kön - nen, darüber ist, nach dem in der Einleitung und aus Ver - anlassung der Empfängniſsgeschichte des Täufers Gesag - ten, nichts mehr zu bemerken übrig.
Eine Einwendung aber ist Olshausen eigenthümlich, und ihr Ruhm soll nicht von ihm genommen werden. Näm - lich, die mythische Auffassung der vorliegenden Erzählung sei besonders deſswegen gefährlich, weil sie nur zu geeig - net sei, profanen und gotteslästerlichen Vorstellungen über den Ursprung Jesu, wenn auch nur dunkel, Eingang zu verschaffen. Denn sie könne nur die, den Begriff eines Erlösers vernichtende, Ansicht begünstigen, daſs Jesus auf unheilige Weise in's Leben getreten sei, da ja Maria un - vermählt gewesen sei, als sie ihn unter dem Herzen ge - tragen habe15)Bibl. Comm. 1, S. 48 f.. Wenn Olshausen in der ersten Auflage hinzusetzte, er wolle übrigens gerne zugestehen, daſs sol - che Erklärer nicht wissen, was sie thun, so ist es billig, das gleiche Zugeständniſs auch ihm zu Gute kommen zu lassen, da er hier gar nicht zu wissen scheint, was my - thische Erklärung ist. Denn wie könnte er sonst sagen, daſs diese Erklärungsweise nur jene blasphemische An - sicht begünstigen könne, daſs also Alle, welche die vor - liegende Erzählung mythisch fassen, das Unsinnige zu be - gehen geneigt seien, was schon Origenes den jüdischen Lästerern zum Vorwurf machte, daſs sie von einer Erzäh - lung, welche sie im Übrigen für unhistorisch erkennen, doch den Zug von der noch nicht erfolgten Verheurathung der Maria festhalten? So verblendet und inconsequent ist kein einziger der Erklärer, welche hier einen Mythus im vollen Sinne finden, gewesen, sondern alle haben eine le - gitime Ehe zwischen Joseph und Maria vorausgesetzt, und nur Olshausen malt die mythische Auffassungsweise in das12*180Erster Abschnitt.Fratzenhafte, um desto eher mit derselben fertig zu wer - den, weil sie, wie er eingesteht, in diesem Abschnitt be - sonders viel Blendendes hat.
Ganz im Geiste der alten Sage finden es unsre Evan - gelien anständig, die Mutter Jesu, so lange sie diese himm - lische Frucht unter dem Herzen trug, von keinem irdi - schen Manne berührt und verunreinigt werden zu lassen. Daher läſst Lukas vor Jesu Geburt den Joseph mit der Maria nur im Verhältniſs der Verlobung stehen (2, 5.), und wie es von Plato's Vater heiſst, nachdem seine Gattin von Apollo empfangen hatte: ὅϑεν καϑαρὰν γάμου φυλαξαι ἔως τῆς ἀποκυήσεως1)Diog. Laërt. a. a. O. Vgl. Origenes c. Cels. 1, 37., so wird bei Matthäus von Joseph be - merkt (1, 25.):
καὶ οὐκ ἐγίνωσκεν ἀυτὴν (τὴν γυναῖκα ἁυτοῦ) ἕως οὖ ἔτεκε τὸν υἱὸν αὑτῆς τὸν πρωτότοκον. Offenbar muſs in beiden verwandten Stellen das ἔως auf gleiche Weise genommen werden; nun aber bezeichnet es in der erste - ren unstreitig nur dieſs, daſs zwar bis zu Plato's Geburt sein Vater sich der Gemeinschaft mit der Gattin enthalten habe, nachher aber in seine ehelichen Rechte eingetreten sei, zumal wir ja von Brüdern Plato's wissen. Nicht an - ders wird daher das ἔως in Bezug auf die Eltern Jesu zu nehmen sein, daſs es nur bis zu der angegebenen Grenze hin die eheliche Gemeinschaft negirt, nach derselben aber sie stillschweigend voraussetzt. Ebenso scheint das πρω - τότοκος, wie Jesus in beiden Evangelien bezeichnet wird (Matth. 1, 25. Luc. 2, 7.), eine Folge andrer Kinder der Maria vorauszusetzen, nach dem Lucianischen: εἰ μὲν πρῶ - τος, οὐ μόνος· εἰ δὲ μόνος, οὐ πρῶκος2)Demonax, 29., zumal in denselben Evangelien (Matth. 13, 55. Luc. S, 19.) von ἀδελφοῖς Ἰησοῦ181Drittes Kapitel. §. 26.die Rede ist. Wenn also nach Fritzsche's Worten luben - tissime post Jesu natales Mariam concessit Matthaeus (ebenso auch Lukas) uxorem Josepho, in hoc uno occu - patus, ne quis ante Jesu primordia mutua Venere usos suspicaretur3)Comment. in Matth. p. 55.: so genügte dieſs doch den Orthodoxen um so weniger in die Länge, je höher bald die Verehrung der Maria stieg, deren Leib, einmal durch göttliche Thätig - keit befruchtet, nicht mehr durch gemeinmenschlichen Ge - schlechtsverkehr entheiligt werden sollte4)S. Origenes in Matthaeum, Opp. ed. de la Rue Vol. 3. S. 463.. Frühzeitig trat daher die Ansicht, daſs Maria nach der Geburt Jesu mit Joseph ehelichen Umgang gehabt, in die Kreise der Ketzer zurück5)Der aufgeklärte Arianer Eunomius lehrte nach Photius, τὸν Ἰωσὴφ μετὰ τὴν ἄφραςον κυοφορίαν συνάπτεσϑαί τῇ παρϑένῳ. Ebenso nach Epiphanius die von ihm sogenann - ten Dimöriten und Antidikomarianiten, und nach Augustin die Helvidianer. Vgl. hierüber die Sammlung von Suicer, im Thesaurus II, s. v. Μαρία, fol. 305 f., und die rechtgläubigen Väter suchten auf jede Weise derselben auszuweichen und sie zu bekämpfen. Exe - getisch erdachte man sich für das ἔως οὖ die Auslegung, daſs es bisweilen nicht blos bis zu der angegebenen Zeit - gränze hin, sondern auch über dieselbe hinaus, für immer, etwas behaupte oder läugne, so daſs hier das οὐκ ἐγίνωσκεν αὐτὴν ἕως οὖ ἔτεκε κ. τ. λ. die eheliche Gemeinschaft zwi - schen Joseph und Maria für alle Zeiten ausschlieſse6)Vgl. Theophylakt und Suidas bei Suicer I, s. v. ἔως, f 1294 f.. Ebenso machte man in Bezug auf das πρωτότοκος geltend, es schlieſse nicht nothwendig in sich, daſs nachher noch andere Kinder geboren seien, sondern nur, daſs andere vorher, schlieſse es aus7)Hieron. z. d. St.. Um aber nicht blos gramma -182Erster Abschnitt.tisch, sondern auch physiologisch den Gedanken an ein ehe - liches Verhältniſs zwischen Maria und Joseph zu entfer - nen, machte man den Letzteren zum abgelebten Greisen, welchem Maria mehr nur zur Aufsicht und Beschützung übergeben worden sei8)S. die Stellen oben §. 19., und sah demnach die im N. T. vorkommenden ἀδελφοὺς Ἰησοῦ für Kinder Josephs aus ei - ner früheren Ehe an9)S. Orig. in Matth. Tom. 10, 17; Epiphan. haeres. 78, 7; Hi - storia Josephi c. 2; Protev. Jac. 9. 18.. Bald aber sollte Maria nicht al - lein von Joseph niemals berührt, sondern auch durch die Geburt Jesu ihrer Jungfrauschaft nicht verlustig geworden sein10)Chrysostomus hom. 142, bei Suicer s. v. Μαρία, — be - sonders widerlich ausgeführt im Protev. Jac. c. 19 und 20.. Ja selbst die unverletzte Jungfräulichkeit der Ma - ria genügte in die Länge nicht, auch von Joseph wurde beständige Virginität verlangt; man war nicht zufrieden, daſs er mit Maria keinen ehelichen Umgang gehabt, er sollte überhaupt niemals in ehelichen Verhältnissen gestan - den haben. Daher wurde, was selbst Epiphanius zugiebt, von Hieronymus als gottlose apokryphische Träumerei ver - worfen, daſs nämlich Joseph von einer früheren Gattin Söh - ne gehabt habe, und es wurden von jetzt an die ἀδελφοὶ Ἰησοῦ zu bloſsen Vettern desselben degradirt11)Hieron. ad Matth. 12, und advers. Helvid. bei Suicer 1, S. 85..
Auch neuere orthodoxe Theologen halten mit den Kir - chenvätern daran fest, daſs niemals ein ehelicher Umgang zwischen Joseph und Maria eingetreten sei, und glauben demgemäſs auch die evangelischen Ausdrücke, welche für das Gegentheil zu sprechen scheinen, erklären zu können. Wenn in Beziehung auf πρωτότοκος Olshausen behauptet, daſs es ebensowohl den einzigen Sohn, als den ersten ne - ben andern bedeuten könne12)a. a. O. S. 61.: so wird ihm hierin auch183Drittes Kapitel. §. 26.von Paulus Recht gegeben13)a. a. O. S. 168., und Clemen14)Die Brüder Jesu. In Winer's Zeitschrift für wissenschaftli - che Theologie 1, 3, S. 364 f. und Fritz - sche15)Comm. in Matth. z. d. St. suchen vergebens die Unmöglichkeit dieser Ausle - gung darzuthun; denn wenn es 2. Mos. 13, 2. heiſst: פֶּטֶר כׇּל־רֶתֶם (πρωτότοκον πρωτογενὲς LXX.) קַדֶּשׁ־לִי כָל־בְּכוֺר so war doch keineswegs allein ein solches Erstgeborene, auf welches noch andere, später Geborene folgten, Jehova heilig, sondern jede Leibesfrucht, vor welcher keine andre von derselben Mutter geboren war, was also der Ausdruck: πρωτότοκος nothwendig auch muſs bezeichnen können. Frei - lich muſs man andererseits mit Winer16)Biblisches Realwörterbuch, 2te Auflage, 1. Bd. S. 664, Anm. sagen, daſs, wenn der Erzähler, vor welchem die Geschichte abgeschlossen daliegt, jenen Ausdruck gebraucht, man denselben in sei - nem ursprünglichen Sinne zu nehmen versucht ist, da der Schriftsteller, wenn er weitere Kinder ausschlieſsen wollte, wohl eher den Ausdruck μονογενὴς gebraucht, oder mit πρωτότοκος verbunden haben würde. Doch, wenn auch die - ses nichts entscheiden mag, so ist um so schlagender die Ausführung Fritzsche's in Bezug auf das ἕως οὖ κ. τ. λ., in welcher er die angeblichen Belegstellen der kirchenvä - terlichen Auslegung jener Formel widerlegt und zeigt, daſs sie, ihrem nächsten Sinne nach nur bis zu einer angege - benen Grenze hin etwas aussagend, und von dieser an das Eintreten des logischen Gegentheils voraussetzend, nur in dem Falle dieses Letztere nicht thue, wenn aus dem Zu - sammenhang das Eintreten dieses Gegentheils als unmöglich von selbst erhelle17)Comment. in Matth. S. 53 ff., vgl. auch S. 835.. Dann z. B., wenn es hieſse: οὺκ ἐγινωσκεν ἀυτὴν, ἕως οὖ ἀπέϑανεν, verstände es sich von selbst, daſs das von der Zeit bis zum Tode Geleugnete auch184Erster Abschnitt.nachher nicht eingetreten sei: heiſst es aber, wie bei Mat - thäus, οὐκ ἐ. ἀ. ἕως οὖ ἔτεκεν, so liegt in dem Ausgebären der göttlichen Frucht keine Unmöglichkeit, sondern umgekehrt die Wiederherstellung der Möglichkeit, d. h. Schicklich - keit, das eheliche Verhältniſs in Wirklichkeit treten zu lassen18)Das von Olshausen S. 62. zur Unterstützung seiner Ausle - gung des ἕως οὖ ersonnene Beispiel ist besonders unglücklich gewählt. Denn wenn gesagt wird: wir warteten bis Mitter - nacht, aber es kam Niemand, so liegt darin allerdings nicht nothwendig, dass nun nach Mitternacht Jemand gekommen sei: wohl aber, wenn diess nicht, das Andere, dass wir nach Mitternacht nicht mehr gewartet haben, so dass hiedurch dem „ bis “seine exclusive Bedeutung nicht geschmälert wird..
Auch Olshausen übrigens widerspricht hier der kla - ren Grammatik und Logik nur, weil ihn ähnliche dogma - tische Gründe, wie die Kirchenväter, dazu treiben; ohne nämlich die Heiligkeit der Ehe beeinträchtigen zu wollen, meint er, Joseph habe nach solchen Erfahrungen (?) wohl denken müssen, seine Ehe mit Maria habe einen andern Zweck, als den, Kinder zu erzeugen; auch scheine es na - tur (?) gemäſs zu sein19)Abermals ein ähnliches „ passend “, wie §§. 16 und 17., daſs die letzte Davididin des Zweiges, aus welchem der Messias geboren ward, mit die - sem letzten, ewigen Spröſsling ihr Geschlecht beschlossen habe20)Bibl. Comm. 1, S. 62.. Es läſst sich hienach eine hübsche Leiter des Glau - bens und respective Aberglaubens in Bezug auf das Ver - hältniſs zwischen Maria und Joseph entwerfen:
1. Zeitgenossen Jesu und Verfasser der Genealogieen: Joseph und Maria Eheleute, und aus ihrer Ehe Jesus erzeugt.
2. Zeitalter und Verfasser unsrer Geburtsgeschichten: Maria und Joseph nur verlobt, Joseph ohne Antheil an dem Kinde, und vor dessen Geburt in keiner ehelichen Be - rührung mit Maria.
185Drittes Kapitel. §. 26.3. Olshausen u. A.: Auch nach der Geburt Jesu, wie - wohl nun Maria's Gatte, wollte doch Joseph keinen Ge - brauch von seinem ehelichen Rechte machen.
4. Epiphanius, Protevangelium Jacobi u. A.: Als ab - gelebter Greis konnte er dieſs auch nicht wohl mehr, sei - ne angeblichen Kinder sind aus einer früheren Ehe, und überhaupt bekommt Joseph die Maria nicht sowohl zur Braut und Frau, als vielmehr blos in Obhut.
5. Protev., Chrysostomus u. A.: Nicht nur nicht durch spätere von Joseph erzeugte Kinder, sondern auch nicht durch die Geburt Jesu wurde die Jungfrauschaft der Ma - ria im Mindesten verletzt.
6. Hieronymus: Nicht allein Maria, sondern auch Jo - seph beobachtete beständige Virginität, und die angeblichen Brüder Jesu sind nicht seine Söhne, sondern Jesu Vettern.
Auch gegen die Ansicht, daſs die im N. T. vorkom - menden ἀδελφοὶ und ἀδελφαὶ Ἰησοῦ bloſse Stiefgeschwister oder gar bloſse Geschwisterkinder Jesu gewesen, muſs aus der vorgelegten Genesis dieser Meinung das schlimmste Präjudiz entstehen, indem sie hienach, sammt der Mei - nung, daſs zwischen Joseph und Maria nie ein ehlicher Verkehr stattgefunden, als eine bloſse Erdichtung des Aber - glaubens erscheint. In der That aber verhält es sich hie - mit nicht so, sondern es sind rein exegetische Gründe vor - handen, vermöge welcher auch vorurtheilsfreie Theologen geglaubt haben, die Ansicht, daſs Jesus wirkliche Brüder gehabt, aufgeben zu müssen21)Vgl. über diesen Gegenstand besonders Clemen, die Brüder Jesu, in Winer's Zeitschrift für wiss. Theol. 1, 3, S. 329 ff. ; Paulus, exeg. Handbuch 1. Bd. S. 557 ff. ; Fritzsche, a. a. O. S. 480 ff; Winer, bibl. Realwörterbuch, in den A. A.: Jesus, Jacobus, Apostel, wo auch die weitere Literatur nachgewie - sen ist.. — Zwar, wenn wir blos die Stellen Matth. 13, 55. Marc. 6, 3. hätten, wo die Na -186Erster Abschnitt.zaretaner, sich über die Weisheit ihres Landsmannes ver - wundernd, um seine ihnen wohlbekannte Herkunft zu be - zeichnen, unmittelbar hinter dem τέκτων als seinem Vater und seiner Mutter Maria seine ἀδελφοὺς, Namens Jako - bus, Joses, Simon und Judas, nebst seinen ungenann - ten Schwestern22)Wie sie die Legende verschiedentlich benannt hat, s. bei Thilo, Codex apocryphus N. Ti 1, S. 363. not. aufführen; ferner Matth. 12, 46. Luc. 8, 19., wo die Brüder mit der Mutter Jesu ihn besuchen; Joh. 2, 12., wo Jesus mit ihnen und seiner Mutter nach Kapernaum reist; A.G. 1, 14., wo sie gleichfalls mit Ma - ria zusammen genannt werden: so würden wir keinen Au - genblick anstehen, an leibliche Geschwister Jesu wenig - stens von mütterlicher Seite, an Kinder Josephs und der Maria zu denken, nicht nur wegen der nächsten Wortbe - deutung von ἀδελφὸς, sondern namentlich auch wegen der stehenden Verbindung, in welcher sie mit Joseph und Ma - ria erscheinen. Auch Stellen, wie Joh. 7, 5., wo bemerkt wird, auch seine ἀδελφοὶ haben nicht an Jesum geglaubt, und Marc. 3, 21. vergl. mit 31., wo der wahrscheinlich - sten Erklärung zufolge die Brüder Jesu mit seiner Mutter ausgehen, um seiner, als eines von Sinnen Gekommenen sich zu bemächtigen, enthalten keinen hinreichenden Grund, die unmittelbarste Wortbedeutung von ἀδελφὸς zu verlas - sen. Denn daſs wirkliche Söhne der Maria auch sogleich an Jesum geglaubt haben müſsten, weſswegen manche Theo - logen auch schon mit Rücksicht auf die zulezt angeführten Stellen die ἀδελφοὺς Ιησοῦ für seine Stiefbrüder und Söhne des Joseph aus einer früheren Ehe erklärt haben, läſst sich nur aus Vorurtheilen beweisen. Schwieriger scheint sich die Sache zu stellen, wenn man Joh. 19, 26. f. liest, daſs Jesus am Kreuze seine Mutter dem Johannes, Soh - nesstelle an ihr zu vertreten, empfohlen habe, was man nicht schicklich finden zu können glaubt, wenn Maria noch187Drittes Kapitel. §. 26.mehrere leibliche Kinder hatte, sondern nur wenn die über - lebenden Geschwister ältere, ihm abgeneigte, Stiefbrüder waren. Allein immerhin konnten theils in äusseren, theils in inneren gemüthlichen Verhältnissen Gründe liegen, war - um Jesus seine Mutter lieber dem Johannes übergeben mochte, als den Brüdern, von welchen dadurch, daſs sie nach der Himmelfahrt (A.G. 1, 14.) in der Gesellschaft der Apostel erscheinen, noch keineswegs bewiesen ist, daſs sie auch bei Jesu Tod schon geglaubt haben müssen.
Das eigentlich Miſsliche in dieser Sache fängt erst da - mit an, daſs ausser dem Jakobus und Joses, welche als Brüder Jesu aufgeführt werden, noch zwei Männer gleiches Namens als Söhne einer andern Maria vorkommen (Marc. 15, 40,47. 16, 1. Matth. 27, 56.), ohne Zweifel derselben, welche Joh. 19, 25. als Schwester der Mutter Jesu und Gattin eines Klopas bezeichnet ist, so daſs wir sowohl un - ter den Söhnen der Maria, Mutter Jesu, als auch unter ihrer Schwester Kindern beidemale einen Jakobus und Jo - ses hätten. Diese Gleichnamigkeit in dem nächsten Kreise Jesu vermehrt sich, wenn wir erwägen, daſs wir in den Apostelverzeichnissen (Matth. 10, 2 ff. Luc. 6, 14 ff. ) noch zwei Jakobus, also mit dem Bruder und Vetter Jesu 4; ferner 2 Judas, also mit dem Bruder Jesu 3; ebenso 2 Simon, also mit Jesu Bruder gleichfalls 3 haben, wobei sich der Gedanke aufdringt, ob nicht mitunter identische Personen hier als verschiedene genommen seien? Dieser Verdacht scheint zunächst bei dem Namen Jakobus entstehen zu müssen. Nämlich, wie der Jakobus Alphäi Sohn im Apo - stelkatalog als der zweite, vielleicht jüngere, nach dem Zebedaiden aufgeführt ist, so heiſst auch der Jakobus, Jesu Vetter Marc. 15, 40. ὁ μικρὸς, und wenn dieser Lez - tere bei Vergleichung von Joh. 19, 25. als Sohn eines Klo - pas erscheint, so könnten die Namen Κλωπᾶς, wie der Mann von Maria's Schwester, und[Ἀ]λφαῖος, wie der Va - ter des Apostels genannt wird, gar leicht nur verschiedene188Erster Abschnitt.Formen für das hebräische חלפי sein. So wäre also der Apostel Jakobus der zweite mit dem Vetter Jesu gleiches Namens identisch, und es blieben ausser ihm nur noch der Zebedaide und der Bruder Jesu. Nun tritt in der Apo - stelgeschichte (15, 13.) ein Jakobus mit entscheidender Stimme bei dem sogen. Apostelconcil auf, und da nach A.G. 12, 2. der Zebedaide schon getödtet, sonst aber in der A.G. bis dahin von keinem weiteren Jakobus, als dem Sohne des Alphäus (1, 13.) die Rede gewesen war: so kann unter jenem nicht näher bezeichneten Jakobus A.G. 15, 13. nicht wohl ein anderer als dieser verstanden sein. Paulus nun aber (Gal. 1, 19.) spricht von einem Jakobus, ἀδελφος τοῦ Κυρίου, welchen er zu Jerusalem gesehen, und da er ohne Zweifel denselben Gal. 2, 9. mit Petrus und Johannes zu den ςύλοι der Gemeinde rechnet, — ganz wie jener (Apostel) Jakobus bei dem apostolischen Concil er - scheint —: so wäre also dieser mit dem Bruder des Herrn identisch, um so mehr, da in dem Ausdruck:
ἕτερον δὲ τῶν ἀποςόλων οὐκ εἶδον, εἰ μὴ Ἰάκωβον τὸν ἀδελφὸν τοῦ Κυρίου(Gal. 1, 19.) der Bruder des Herrn zu den Aposteln ge - rechnet zu sein scheint, womit auch die alte Nachricht stimmt, welche Jakobus den Gerechten, einen Bruder Je - su, zum ersten Vorsteher der jerusalemischen Gemeinde macht23)Euseb. H. E. 2, 1.. Der Jakobus in der A.G. aber ist, seine Iden - tität mit dem bezeichneten Apostel vorausgesezt, ein Sohn des Alphäus, nicht des Joseph, folglich könnte, wenn er zugleich ἀδελφὸς τοῦ Κυρίου sein sollte, ἀδελφὸς nicht ei - nen Bruder bedeuten. Nimmt man nun den Alphäus gleich dem Klopas, Gemahl der Mutterschwester Jesu: so läge es nahe, ἀδελφὸς, von dem Verhältniſs seines Sohnes zu Jesu gebraucht, in der Bedeutung von Geschwisterkind, Vetter, zu nehmen. Ist auf diese Weise einmal der Apo - stel Jakobus Alphäi mit dem Vetter, und dieser mit dem189Drittes Kapitel. §. 26.Bruder Jesu gleiches Namens identificirt: so liegt es dann nahe, das Ἰούδας Ἰακώβου in den Apostelkatalogen des Lu - kas (Luc. 6, 16. A.G. 1, 13.) durch Bruder des Jakobus (Alphäi) zu übersetzen, und diesen Apostel Judas nun mit dem Judas ἀδελφὸς Ἰησοῦ als Vetter des Herrn und Sohn der Maria Klopa (unerachtet er bei dem Namen dieser Frau nirgends genannt ist) für identisch zu halten, wo - mit, wenn der Brief des Judas in unsrem Kanon ächt ist, das ganz zusammenstimmen würde, daſs der Verfasser desselben sich V. 1. als ἀδελφὸς Ἰακώβου be - zeichnet. Weiter könnte dann nach Einigen der Apostel Simon ὁ ζηλωτὴς oder Κανανίτης mit dem unter den ἀδελφοῖς Ἰησοῦ aufgeführten Simon zusammengeworfen werden, wel - cher der kirchlichen Sage zufolge nach Jakobus Vorsteher der jerusalemischen Gemeinde geworden sein soll24)Euseb. H. E. 3, 11., so daſs nur Joses allein leer ausgienge.
Sollen demnach die ἀδελφοὶ Ἰησοῦ bloſse Vettern von ihm, und drei derselben Apostel gewesen sein: so muſs es doch befremden, wie sowohl A.G. 1, 14. nach Aufzählung aller Apostel die Brüder Jesu noch besonders erwähnt wer - den, als auch 1. Kor. 9, 5. von den Aposteln als eine ei - gene Klasse unterschieden zu sein scheinen; wie denn auch Gal. 1, 19. vielleicht so gedeutet werden muſs, daſs Jako - bus der Bruder des Herrn als Nichtapostel bezeichnet ist25)Fritzsche, Comm. in Matth. p. 482.. Scheinen auf diese Weise die ἀδελφοὶ Ἰησοῦ aus der Zahl der Apostel herausgerissen zu werden: so widerstreben sie noch entschiedener dem, für bloſse Geschwisterkinder Jesu sich ansehen zu lassen, da sie in so vielen Stellen in un - mittelbarer Verbindung mit der Mutter Jesu, und nur in zwei bis drei Stellen zwei ihnen Gleichnamige in Verbin - dung mit derjenigen Maria vorkommen, welche hienach ihre wirkliche Mutter wäre. Auch das Wort ἀδελφὸς, ob190Erster Abschnitt.es gleich in ungenauer Redeweise, wie das hebräische ח אָ, auch einen entfernteren Verwandten bedeuten kann, möchte doch, da es für das Verhältniſs der bezeichneten Personen zu Jesus so oft sich wiederholt, ohne jemals mit ἀνεψιὸς vertauscht zu sein, welches, wo ein Vetter bezeichnet wer - den soll, dem N. T. lichen Sprachschatze keineswegs fehlt (Kol. 4, 10.), nicht wohl anders, als in seiner eigentlichen Bedeutung genommen werden dürfen. Daſs ferner die Iden - tität der Namen Alphäus und Klopas, auf welcher die des Jakobus, Vetters von Jesus und des Apostels Jakobus mi - nor beruht, ebenso die Übersetzung von Ἰούδας Ἰακώβου durch Bruder des Jakobus, und nicht minder die ange - nommene Identität des Verfassers des letzten katholischen Briefs mit dem Apostel Judas höchst unsicher ist, braucht nur angedeutet zu werden. — Weicht so das Gewe - be dieser Identificationen auf allen Punkten auseinan - der, und werden wir hiemit auf den Anfang unsrer Unter - suchung zurückgeworfen, so daſs wir wieder eigentliche Brüder Jesu, ferner 2 von diesen verschiedene Vettern mit gleichen Namen mit zweien von jenen, ausserdem einige mit beiden gleichnamige Apostel hätten: so ist zwar die gleiche Benennung zweier Paare von Söhnen in einer Fa - milie nichts so Ungewöhnliches, daſs man sich daran stos - sen dürfte; wohl aber ist es bedenklich, daſs derselbe Ja - kobus, welcher im Galaterbrief als ἀδελφὸς Κυρίου bezeich - net wird, nach der A. G. ohne Zweifel als Sohn des Al - phäus zu denken ist, was er, wenn doch jenes einen Bru - der bedeutet, nicht gewesen sein kann.
So bleibt auf alle Fälle eine ziemliche Verwirrung, und sie scheint nur dadurch, wiewohl blos negativ und ohne ein geschichtliches Resultat, gelöst werden zu können, daſs man bei den N. T. lichen Schriftstellern und in der urchristlichen Sage selbst einige Unklarheit und Irrung über diesen Punkt annimmt, welche bei etwas verwickelten Ver - wandtschafts - und Namens-Verhältnissen oher eintreten191Drittes Kapitel. §. 27.kann als ausbleiben. Wir haben also keinen Grund, zu leugnen, daſs Jesu Mutter ihrem Gatten ausser Jesu noch mehrere Kinder geboren habe, jüngere und vielleicht auch ältere; Letzteres, weil die Angabe, daſs Jesus der erstgeborene Sohn gewesen sei, so gut zur My - the als N. T. licher gehört, wie, daſs er der einzige gewe - sen, zu ihr als patristischer.
Der Engel, welcher der Maria ihre bevorstehende Schwangerschaft verkündete, hatte ihr zugleich von der ihrer Verwandten, Elisabet, Kunde gegeben (Luc. 1, 36.), welche damals bereits im sechsten Monath stand. Unmittel - bar darauf unternimmt Maria eine Reise zu ihr, wobei sich das Ausserordentliche ereignet, daſs auf den Gruſs der Maria das Kind im Leibe der Elisabet sich freudig be - wegt, und auch diese selbst in Begeisterung Maria als künftige Mutter des Messias anredet, worauf die Leztere hymnisch erwiedert (Luc. 1, 39 — 56.).
Mit dieser Erzählung des Lukasevangeliums glaubt die rationalistische Exegese leicht durch eine ganz natürliche Erklärung fertig zu werden. Der Unbekannte, meint Pau - lus1)Exeget. Handb. 1, a, S. 120 ff., welcher die Maria zu so eigenthümlichen Hoffnun - gen veranlaſste, hatte sie zugleich mit demjenigen bekannt gemacht, was der Elisabet Ähnliches begegnet war. Um so mehr treibt es jezt die Maria, sich mit ihrer älteren Verwandten über ihre Angelegenheiten zu besprechen. Bei derselben angekommen, erzählte sie vorerst, was ihr be - gegnet war, was aber unser Referent verschweigt, weil er es, als schon berichtet, nicht wiederholen wollte. Nicht allein vor dem Anfang der Rede der Elisabet, sondern auch zwischen diese hinein glaubt daher Paulus Worte derBogen 12 ist p. 191 u. 192 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.192Erster Abschnitt.Maria suppliren zu dürfen, welche stückweise, und so, daſs dazwischen hinein Elisabet zum Worte kam, dieser ihre Geschichte vorgetragen habe. Die Gemüthsbewegung der Mutter theilte sich, — so wird weiter erklärt, — nach natürlichen Gesetzen dem Kinde mit, welches, wie Fötus von 6 Monaten schon zu thun pflegen, eine Bewe - gung machte, was die Mutter erst nach den weiteren Mit - theilungen der Maria bedeutsam fand, und auf den Gruſs der Messiasmutter bezog. Ebenso natürlich findet man es dann, daſs Maria ihre durch Elisabet bestätigten messia - nischen Erwartungen in einem psalmartigen Recitativ aus - spricht, das aus allerlei A. T. lichen Reminiscenzen zusam - mengesetzt ist.
Aber in dieser Erklärungsart ist Manches dem Texte durchaus zuwider. Dahin gehört schon das, daſs Elisabet durch Maria selbst die dieser zu Theil gewordne Himmels - botschaft erfahren haben soll, da doch nirgends eine Spur vorangegangener Mittheilung ist2)Olshausen z. d. St., noch weniger eine Un - terbrechung der Rede Elisabet's durch weitere Aufschl[ü]sse der Maria; vielmehr, wie es eine übernatürliche Offenba - rung ist, durch welche Maria von der Schwangerschaft ih - rer Base in Kenntniſs gesetzt wird: so ist auch das einer Offenbarung zuzuschreiben, daſs Elisabet die Maria als - bald für die zur Messiasgebärerin Erkorene erkennt. Eben - sowenig verträgt der andere Zug der Erzählung, daſs sich der eintretenden Messiasmutter der Vorläufer in Mutter - leibe entgegenbewegt, eine natürliche Auslegung, obwohl selbst orthodoxe Ausleger neuerer Zeit sich zu derselben neigen, wenn sie, wie Hess3)Geschichte Jesu, 1, S. 26. und Olshausen4)Bibl. Comm. 1, S. 112., der Sa - che die Wendung geben, daſs Elisabet zuerst eine Offenba - rung bekommen, und erst an der dadurch erregten Ent -193Drittes Kapitel. §. 27.zückung der Mutter das Kind, physiologisch erklärbar, gleichsam Antheil genommen habe. So aber stellt der Re - ferent die Sache nicht dar, als ob die Gemüthsbewegung der Mutter die vorausgehende Ursache der Bewegung des Kindes gewesen wäre: sondern die Begeisterung der Mut - ter wird erst nach der Bewegung des Kindes erwähnt, und auch nach V. 44. muss man die Sache so fassen, daſs die höhere Anregung umgekehrt vom Kinde aus sich der Mutter mitgetheilt habe, was in jedem Falle etwas Über - natürliches voraussetzt. Aber eben hierin liegt Einiges, was selbst auf supranaturalistischem Boden zum Anstoſs gereichen kann; woher es eben kommt, daſs auch jene or - thodoxen Ausleger bemüht waren, einer unmittelbar über - natürlichen Anregung der Bewegung des Kindes auszuwei - chen. Wenn wir uns nämlich zwar wohl denken können, wie der göttliche Geist auf den ihm verwandten menschli - chen in unmittelbarer Weise anregend wirke: so läſst sich doch die Vorstellung, wie er an ein Unbegeistetes, was ein Embryo noch ist, unmittelbar sich mittheilen möge, nur schwer vollziehen. Und fragt man nach dem Zweck eines so abenteuerlichen Wunders: so will sich auch kein rech - ter zeigen. Denn sollte es sich auf den Täufer beziehen, also diesem möglichst frühe ein Eindruck von Demjenigen gegeben werden, für welchen zu wirken er bestimmt war: so weiſs man gar nicht, wie ein solcher Eindruck auf ei - nen Embryo müsste beschaffen gewesen sein; sollte aber der Zweck in den übrigen Personen, in Maria oder Elisabet, liegen: so war ja diesen das erforderliche Maaſs von Ein - sicht und Glauben bereits in Folge höherer Offenbarungen zu Theil geworden. Nicht geringere Schwierigkeiten setzt zunächst der natürlichen, dann aber ebenso auch der su - pranaturalistischen Deutung der Hymnus der Maria entge - gen. Denn daſs gerade vor den Worten Maria's die For - mel: ἐπλήσϑη πνεύματος ἁγίου nicht steht, welche sowohl den Hymnus des Zacharias (V. 67.), als auch die AnredeDas Leben Jesu I. Band. 13194Erster Abschnitt.der Elisabet (V. 41.) einleitet, kann bei der Gleichartigkeit der drei Reden nicht als Beweis dafür angeführt werden, daſs der Verfasser nicht auch diese Rede, wie die beiden andern, als Wirkung des πνεῦμα betrachtet wissen wolle. Aber auch abgesehen von der Meinung des Verfassers, kann es überhaupt auf rein natürlichem Wege nicht so zugehen, daſs sich besuchende Freundinnen auch bei noch so ausser - ordentlichen Ereignissen in solche Hymnen ausbrechen, und ihre Unterhaltung die Farbe eines Dialogs so ganz verliert, wie er unter dergleichen Umständen natürlich ist. Nur durch höheren Einfluſs konnte die Stimmung der bei - den Freundinnen auf eine, dem gewöhnlichen Leben so durchaus fremde Weise erhöht werden. Ist nun aber der Hymnus der Maria als Wirkung des πνεῦμα ἅγιον zu fas - sen: so muſs es auffallend gefunden werden, daſs eine, un - mittelbar aus der göttlichen Quelle der Begeisterung ge - flossene Rede nicht origineller ausgefallen ist, sondern so stark mit Reminiscenzen aus dem A. T., namentlich aus dem, unter verwandten Umständen gesprochenen Lobgesang der Mutter Samuels (1. Sam. 2.) besetzt sich zeigt5)Vergl. besonders Luc. 1, 46 f. mit 1. Sam. 2, 1; Luc. V. 52. mit 1. Sam. V. 8; und Luc. V. 53. mit Sam. V. 5.. Hie - nach müssen wir freilich eine auf natürlichem Wege vor sich gegangene Zusammensetzung dieser Rede aus A. T. li - chen Erinnerungen annehmen, nur, wenn dieselbe wirklich natürlich vor sich gegangen sein soll, dürfen wir sie nicht der einfachen Maria zuschreiben, sondern demjenigen, wel - cher die über die vorliegende Scene umlaufende Sage poë - tisch bearbeitete.
Da somit alle Hauptvorfälle dieses Besuchs weder bei der wunderhaften Auslegung denkbar sind, noch eine na - türliche vertragen: so sind wir auch für dieses Stück, wie für die bisherigen, auf eine mythische Auffassung hinge - wiesen. Dieser Weg ist auch schon von Andern einge -195Drittes Kapitel. §. 27.schlagen. Der ungenannte E. F. in Henke's Magazin6)5. Band, 1. Stück. S. 161 f. sprach auch über diese Erzählung die Einsicht aus, sie berichte nicht genau Alles, wie es vorgefallen sei, sondern wie es wohl vorgefallen sein möchte. Demnach sei namentlich in die Reden der beiden Frauen Manches von dem zurückge - tragen, was über die Bestimmung ihrer Söhne erst der spätere Erfolg lehrte, und auch sonst sei mancher Zug aus der Sage hinzugekommen. Dennoch liege ein wahres Fak - tum zum Grunde, nämlich ein wirklicher Besuch der Ma - ria bei Elisabet, ihre vergnügte Unterhaltung und ihr Dank gegen Gott, was Alles habe stattfinden können, auch ohne daſs die beiden Frauen von der ausserordentlichen Bestimmung ihrer Kinder damals schon etwas wuſsten, lediglich vermö - ge des hohen Werthes, welchen die Orientalinnen auf Mut - terfreuden legten. Von dieser vergnügten Zusammenkunft und den Äusserungen ihres Dankes gegen Gott mochte nun nach diesem Verfasser Maria oft erzählt haben, wenn sie über das folgende, merkwürdige Leben ihres Sohnes nach - dachte, und so kam diese Erzählung in Umlauf. — Auch Horst, der sonst einen richtigen Blick in die dichterische Natur dieser Abschnitte hat und die natürliche Erklärungs - weise derselben gut widerlegt, gleitet hier unversehens zur Hälfte in diese zurück, indem er gar nichts Unwahrschein - liches darin findet, daſs Maria ihre ältere und an Erfah - rung reichere Verwandte während ihrer, in manchem Be - tracht leidensvollen Schwangerschaft besucht, und daſs Eli - sabet bei diesem Besuche das erste Leben an ihrem Kinde gespürt habe, ein Zug, welcher, weil er später für ominös gehalten wurde, sich durch die mündliche Sage wohl habe erhalten können7)In Henke's Museum, 1, 4, S. 725..
Auch hier wieder dasselbe unkritische Verfahren, wel - ches das Mythische und Poëtische einer Erzählung ausge -13*196Erster Abschnitt.schieden zu haben glaubt, wenn es etliche Zweige und Blü - then dieses Triebes abpflückt, die eigentliche mythische Wurzel aber unangetastet beim Reinhistorischen liegen läſst. Dieser mythische Grundzug, auf welchen die übrigen nur aufgetragen sind, ist in unsrer Erzählung gerade der, wel - chen die angeführten vorgeblich mythologischen Erklärer als historisch durchlassen, nämlich der Besuch Maria's bei der schwangeren Elisabet. Denn da wir als Haupttendenz des ersten Kapitels im Lukas bereits die kennen, Jesum dadurch zu verherrlichen, daſs dem Täufer schon so frühe wie möglich eine Beziehung auf Jesum, aber im Verhält - niſs der Unterordnung, gegeben wird: so konnte dieser Zweck nicht besser erreicht werden, als wenn nicht erst die Söh - ne, sondern schon die Mütter, doch bereits mit Beziehung auf die Söhne, also während ihrer Schwangerschaft, zu - sammengeführt wurden, und sich hiebei etwas ereignete, was das einstige Verhältniſs der beiden Männer bedeutungs - voll vorzubilden geeignet war. Je mehr somit als die Ba - sis dieses Besuches das dogmatische Interesse der Tradition hervortritt, desto unwahrscheinlicher wird es, daſs er eine geschichtliche Grundlage gehabt habe. An diesen Grund - zug reihen sich sofort die übrigen Züge folgendermaſsen an. Der Besuch der beiden Frauen muſste überhaupt als mög - lich und wahrscheinlich dargestellt werden durch den Zug, daſs Elisabet eine συγγενὴς der Maria gewesen (V. 36.); ferner, daſs der Besuch gerade in diesem Zeitpunkte ge - macht wurde, muſste eine besondere Veranlassung haben: daher wird Maria durch den Engel auf ihre Verwandte verwiesen; bei dem Besuche selbst sollte sich das dienende Verhältniſs des Täufers zu Jesu vorbedeutend aussprechen: — dieſs konnte durch die Mutter desselben geschehen, wie es in ihrer Anrede an Maria wirklich geschieht, — doch sollte wo möglich auch der künftige Täufer selbst schon ein Zeichen geben, wie das Verhältniſs von Jakob und Esau zu einander sich gleichfalls schon durch ihre Bewegung und197Drittes Kapitel. §. 27.Stellung im Mutterleibe vorgebildet hatte (1. Mos. 25, 22 ff. ); eine ominöse Bewegung aber konnte dem Kind im Leibe der Elisabet, wenn nicht zu sehr gegen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit verstossen werden sollte, nicht eher zugeschrieben werden, als bis die Schwangerschaft seiner Mutter bis zu einem Zeitpunkt vorgeschritten war, wo die Leibesfrucht sich zu bewegen anfängt: daher der Zug, daſs Elisabet schon 6 Monate schwanger ist, als Maria durch den Engel sie zu besuchen veranlaſst wird (V. 36.). So hängt, wie Schleiermacher bemerkt hat8)Über den Lukas. S. 23 f., diese ganze Zeitbestimmung von dem Umstande ab, den der Verf. ger - ne anbringen wollte, daſs das Kind unter dem Herzen der Elisabet sich der eintretenden Maria freudig entgegenbe - wegt habe; denn nur deſswegen muſs diese ihren Besuch aufschieben bis nach dem fünften Monat, und kommt auch der Engel nicht bälder zu ihr.
Nicht nur also der Besuch Maria's bei Elisabet und was dabei vorgefallen sein soll, fällt als unhistorisch hin, sondern auch, daſs Johannes nur ein halbes Jahr älter ge - wesen, als Jesus, daſs beider Mütter sich verwandt und ihre Familien befreundet gewesen, können wir auf den bloſsen Bericht des Lukas hin nicht mit historischer Si - cherheit behaupten, wenn es nicht noch von andern Seiten her bestätigt wird, wovon wir aber im weiteren Verfolge unserer Kritik vielmehr das Gegentheil finden werden.
In Bezug auf die Geburt Jesu stimmen die Relationen von Matthäus und Lukas darin überein, daſs sie beide die - selbe in Bethlehem erfolgen lassen; während aber der Leztere die näheren Umstände derselben ausführlich erzählt, gedenkt der Erstere des Faktums nur ge - legentlich, einmal anhangsweise auf dasselbe als etwas Nachfolgendes verweisend (1, 25.), das andremal voraus - setzungsweise darauf zurückdeutend (2, 1.). Daher wür - den wir nach Matthäus glauben, die Geburt Jesu sei ohne alle auffallenden Ereignisse vor sich gegangen, deren doch Lukas mehr als Eines zu erzählen weiſs, und namentlich scheinen bei jenem die Eltern Jesu als vorher schon in Bethlehem wohnhaft vorausgesezt zu sein, da sie doch nach diesem erst durch ganz besondre Umstände dahin ge - führt werden. Sehen wir übrigens von dem lezteren Dif - ferenzpunkt für jezt noch ab, da er erst später, wenn wir noch mehrere Data beisammen haben, seine Erledigung finden kann, so hat dieſsmal die übrige Abweichung der beiden Darstellungen, da sie auf Seiten des Matthäus ei - gentlich in bloſsem Stillschweigen besteht, kein so bedeu - tendes Moment, als ein Verstoſs, welcher dem Lukas, wenn man ihn mit sich selbst und mit sonst bekannten Da - ten vergleicht, begegnet zu sein scheint. Dieſs ist die An - gabe, daſs Jesu Eltern, welche sich sonst zu Nazaret auf - gehalten, durch einen von Augustus um die Zeit, als Qui -199Viertes Kapitel. §. 28.rinus Statthalter von Syrien war, angeordneten Census zu der Reise nach Bethlehem, wo Jesus geboren wurde, ver - anlaſst worden seien (Luk. 2, 1. ff.).
Hier ist schon das schwierig, daſs die von Augustus befohlene[ἀπογραφὴ] (d. h. Einschreibung der Namen und Vermögensanschlag zum Behuf der Besteurung,) auf πᾶ - σαν τὴν οἰκουμένην bezogen wird (V. 1.). Dieser Ausdruck in seinem damals gewöhnlichen Sinn würde den orbis Roma - nus bezeichnen. Nun aber meldet kein Schriftsteller et - was von einem solchen von August ausgeschriebenen Ge - neralcensus, sondern nur von einzelnen, zu verschiedenen Zeiten angeordneten Provincialschatzungen ist die Rede. Hier lautet der alte Schluſs der orthodoxen Exegese, wel - chen auch noch Olshausen unbedenklich nachmacht1)a. a. O. S. 128.: weil — uns — bekannt ist, daſs eine allgemeine Einschä - zung des orbis Romanus unter August nicht stattgefun - den: so kann — Lukas — durch das οἰκουμένη nicht nach seinem gewöhnlichem Sinn die römische Welt, sondern nur das jüdische Land haben bezeichnen wollen. Für die Möglichkeit hievon werden sofort Beispiele angeführt2)Olshausen a. d. a. St.; Paulus, S. 172. ; Kuinöl, Comm. in Luc. S. 316., welche aber sämmtlich nichts beweisen; denn in allen die - sen Stellen aus den LXX, dem Josephus und dem N. T. bezieht sich οἰκουμένη, in dem übertreibenden Sinne der Schriftsteller, auf die ganze bekannte Erde. Man muſs also hier schon einen Verstoſs erkennen, indem unser Evan - gelist oder sein Gewährsmann ein, für seinen auf die Eine Provinz beschränkten Gesichtskreis wichtiges Ereigniſs so - gleich als ein alle Welt betreffendes nahm, und deſswe - gen überdieſs die Schatzung, welche nur für Judäa die erste war, als die πρώτη für die ganze römische Welt be - zeichnete. — Dieser Anstoſs findet sich bei Justin vermie -200Erster Abschnitt.den, indem er die Schatzung blos auf Judäa bezieht3)Dial. c. Tryph. 78: ἀλλὰ ἀπογραφῆς ου῎σης ἐν τῇ Ἰουδαίᾳ τότε πρώτης. Noch enger, aber ganz unverständig, be - schränkt die Schatzung das Protev. Jac. c. 17, nämlich auf die Bewohner Bethlehems., was aber, wie bald erhellen wird, keineswegs mit Cred - ner4)Beiträge zur Einleitung in das N. T. 1, S. 229. 34. als eine auf historischer Nachricht, sondern nur auf einem Schlusse Justins oder seines Gewährsmanns ru - hende Angabe zu betrachten ist.
Doch auch nur in Judäa allein konnte um die Zeit, in welche Lukas und Matthäus die Geburt Jesu setzen, ein römischer Census nicht wohl gehalten werden. Nicht allein nach Matthäus nämlich ist Jesus noch einige Zeit vor dem Tode Herodes des Groſsen geboren, da nach Matth. 2, 19. erst während des Aufenthalts Jesu in Ägyp - ten Herodes starb: sondern auch Lukas sagt zwar nicht ausdrücklich, daſs Jesus noch unter Herodes I. geboren sei, doch geht er, wo von der Ankündigung der Geburt des Täufers die Rede ist (1, 5.), von den ἡμέραις Ἡρώδου τοῦ βασιλέως aus, und sechs Monate später läſst er die Ge - burt Jesu verkündigt werden, so daſs nach ihm Jesus, wie Johannes, wenn nicht gleichfalls noch vor, so doch kurz nach dem Tode Herodes I. geboren ist. Nach dessen Tode aber fiel (Matth. 2, 22.) die Provinz Judäa seinem Sohn Archelaus zu, welcher nach zehnjähriger Regierung von Augustus abgesezt und verbannt wurde5)Joseph. Antiq. 17, 13, 2., worauf erst Judäa zur römischen Provinz gemacht, von römischen Beamten verwaltet zu werden anfieng6)Ebendas. 17, 13, 5. und 18, 1, 1.. Nun müſste also der Census, von welchem hier die Rede ist, entweder noch unter Herodes d. Gr. selbst, oder in der ersten Zeit des Archelaus, und zwar durch einen römischen Beamten gehalten201Viertes Kapitel. §. 28.worden sein. Dieſs ist äusserst unwahrscheinlich; denn in solchen Ländern, welche noch nicht in formam provinciae redigirt waren, sondern von regibus sociis verwaltet wur - den, erhoben diese Fürsten die Steuern selbst, und be - zahlten den Römern einen Abtrag7)Vgl. Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 171., so auch in Judäa vor der Absetzung des Archelaus. Man hat zwar Mehre - res aufgesucht, um wahrscheinlich zu machen, daſs Augu - stus ausnahmsweise schon unter Herodes einen Census in Pa - lästina angeordnet habe. Paulus macht darauf aufmerksam, daſs in dem breviarium imperii Romani, welches Augustus hinterlieſs, auch die finanziellen Verhältnisse des ganzen Reichs enthalten waren, und um diese für Palästina genau zu ermitteln, habe er vielleicht durch Herodes eine Auf - zeichnung veranstalten lassen8)Ebendas.. Mit mehr Schein beruft man sich auf die Nachricht des Josephus, daſs aus Anlaſs einer in dem Verhältnisse des Herodes zu Augustus einmal eingetretenen Störung dieser dem Ersteren gedroht habe, ihn von jezt an den Untergebenen fühlen zu lassen9)‘ὅτι, πάλαι χρώμενος ἀυτῷ φίλῳ, νῦν ὑπηκόῳ χρήσεται.’Joseph. Antiq. 16, 9, 3., wozu es sehr gut passe, daſs er alsbald durch Verfügung eines Census sein Land wie eine Provinz behandelt habe. Auch auf den Huldigungseid hat man sich berufen, wel - chen nach Josephus noch zu Lebzeiten des Herodes die Juden dem Augustus leisten muſsten10)Ebendas. 17, 2, 4., und darauf, daſs Augustus, weil er im Sinne hatte, nach Herodes Tode sei - nen Söhnen die Gewalt zu beschränken, gar wohl in des - sen lezten Jahren eine Schatzung könne angeordnet haben.
Einer ausführlichern Prüfung dieser, mehr oder we - niger unhistorischen und willkührlichen Combinationen über - hebt uns unser Evangelist durch den Zusaz, welchen er202Erster Abschnitt.zu seiner ἀπογραφὴ macht, daſs sie nämlich vorgenommen worden sei ἡγεμονεύοντος τῆς̛ Συρίας Κυρηνίου; denn von der Quirinischen Schatzung ist es nun notorisch, daſs sie nicht schon unter Herodes oder in der ersten Zeit des Archelaus stattfand, wohin nach Lukas selbst die Geburt Jesu fällt. Quirinus nämlich war damals noch nicht Proconsul von Syrien, sondern diese Stelle bekleideten in den lezten Jahren des Herodes Sentius Saturninus und nach ihm Quintilius Varus; erst längere Zeit nach des Herodes Tode trat Quirinus das syrische Proconsulat an. Daſs die - ser einen Census in Judäa vorgenommen, ist aus Josephus gewiſs11)Antiq. 18, 1, 1., welcher aber zugleich bemerkt, er sei zu des - sen Vornahme geschickt worden τῆς Ἀρχελάου χώρας ὑπο - τελοῦς προςνεμηϑείσης τῇ Σύρων12)Ebendas. 17, 13, 5., also beiläufig zehn Jahre nach der Zeit, in welcher nach Lukas und Mat - thäus Jesus geboren sein müſste. Daſs aber Lukas diesen Census hier meint, erhellt aus der Vergleichung von A.G. 5, 37., wo er sagt, zur Zeit der ἀπογραφὴ, — ohne Zwei - fel derselben, von welcher im Evangelium die Rede gewe - sen — sei Judas der Galiläer aufgestanden: dieser aber empörte sich nach Josephus eben wegen jener Schatzung des Quirinus13)Ebend. 18, 1, 1.. — Doch auch diesen so unleugbar schei - nenden Widerspruch des Lukas gegen die Geschichte ha - ben die Erklärer auf verschiedene Weise lösen zu können geglaubt. Die Beherztesten dadurch, daſs sie den ganzen zweiten Vers für eine schon frühzeitig in den Text gekom - mene Glosse erklärten14)So z. B. Kuinöl, Comm. in Luc. p. 320. Wenn Olshausen, Comm. 1, S. 130., vermuthet, schon Lukas selbst möge in den Text des von ihm benützten Familienberichts diese Glos - se hineingetragen haben: so baut er eine Erdichtung auf die andere, um — eine halbe Massregel herauszubringen.. Andere durch Änderung der203Viertes Kapitel. §. 28.Lesart, und zwar die Einen am nomen proprium, indem sie entweder nach Tertullians Vorgang, welcher den Cen - sus geradezu dem Saturninus zuschreibt15)Adv. Marcion. 4, 19, Opp. ed. Semler, Vol. 1, S. 261., den Namen von diesem, oder von Quintilius in den Text setzen16)S. bei Winer, Realwörterbuch u. d. A. Quirinus.. Die Andern nehmen bei den übrigen Worten Änderungen und Zusätze vor, — am leichtesten noch Paulus, welcher statt〈…〉〈…〉 τη[αὐτὴ] liest, und annimmt, schon unter Herodes I. habe Augustus aus den oben angegebenen Gründen die An - ordnungen zu einem Census getroffen, und diese seien be - reits so weit gediehen gewesen, um Jesu Eltern zu der Reise nach Bethlehem zu veranlassen; doch sei Augustus wieder begütigt worden, und so die Sache damals noch nicht durchgeführt, vielmehr[αὐτὴ] ἡ ἀπογραφὴ erst gerau - me Zeit später, unter Quirinus, gehalten worden17)a. a. O. S. 174 f..
Solchen willkührlichen Textveränderungen gegenüber sind immerhin diejenigen Versuche höher zu stellen, wel - che ohne dergleichen, auf dem reinen Wege der Ausle - gung, zurechtzukommen unternehmen. Freilich mit Storr und Süskind πρώτη in diesem Zusammenhang für προτέρα zu nehmen, und es von einer Schatzung vor der Quirini - schen zu verstehen18)Storr, opusc. acad. 3, S. 126 f. Süskind, vermischte Auf - sätze, S. 63., ist grammatisch nicht weniger ge - waltsam, als nach πρώτη — πρὸ τῆς einzuschieben19)Michaelis, Anm. z. d. St. und Einl. in d. N. T. 1, 71., es kritisch ist. Ebensowenig läſst sich mit Wetstein (z. d. St.) annehmen, daſs ein schon unter Herodes gegebenes Vor - spiel des spätern Quirinischen Census, etwa der schon er - wähnte Huldigungseid, nachmals mit jenem unter Einem Namen zusammengefaſst worden sei. Endlich, das ἡγεμο - νεύοντος in weiterem Sinne von der Funktion eines ausser -204Erster Abschnitt.ordentlichen Steuercommissärs zu verstehen, in welchem Auftrag Quirinus vielleicht schon unter Herodes nach Ju - däa gesandt worden sei20)Birch, de censu Quirini., wird durch den Zusaz: Συρίας unmöglich gemacht, mit welchem verbunden jener Ausdruck nur das Proconsulat bezeichnen kann. Neuestens21)Credner, Beiträge zur Einl. in das N. T. 1, S. 230 ff. hat man geglaubt, den Lukas aus Justin berichtigen zu kön - nen, nach welchem Quirinus den Census nicht als ἡγεμὼν von Syrien, sondern als ἐν Ἰουδαίᾳ πρῶτος γενόμενος ἐπίτροπος vornimmt22)Apol. 1, 34., was man nun so versteht, Au - gustus habe vielleicht schon unter Herodes den Quirinus, der damals noch bloſser Procurator gewesen, zu einer Zählung in Judäa beauftragt. Da zu Herodes und Arche - laus Zeit noch kein römischer Procurator in Judäa war: so müſste Quirinus damals nur etwa in einem andern Lan - de dieses Amt verwaltet haben, und von da zu jenem vor - übergehenden Geschäfte nach Judäa geschickt worden sein; aber die angeführten Worte Justins bezeichnen ihn so deut - lich als Procurator gerade dieses Landes, daſs hier offen - bar ein bloſser Miſsverstand Justins stattfindet, der weit ent - fernt ist, zur Berichtigung unsres Lukas dienen zu können.
Also zu der Zeit, in welcher Jesus nach Matth. 2, 1. und Luc. 1, 5. 26. geboren ist, kann unmöglich der Cen - sus stattgefunden haben, von welchem Lukas 2, 1. f. spricht, und wenn jene Angaben richtig sind, so muſs diese noth - wendig falsch sein. Aber könnte es sich nicht umgekehrt verhalten, und Jesus erst nach des Archelaus Verbannung, zur Zeit des Quirinischen Census geboren sein? Abgesehen auch von den Schwierigkeiten, in welche uns diese An - nahme rücksichtlich der Chronologie des späteren Lebens Jesu verwickeln würde: so konnte ein römischer Census nach des Archelaus Verbannung unmöglich Jesu Eltern von dem205Viertes Kapitel. §. 28.galiläischen Nazaret in das judäische Bethlehem rufen. Denn nur Judäa und was sonst zum Antheil des Archelaus ge - hört hatte, wurde römische Provinz und dem Census un - terworfen; in Galiläa blieb Herodes Antipas als verbünde - ter Fürst, und diesem konnte kein in Nazaret Angesesse - ner zur Schatzung nach Bethlehem gezogen werden. Da hienach unser Schriftsteller, um eine Schatzung zu bekom - men, die Verhältnisse sich so denkt, wie sie nach Arche - laus Absetzung waren, zugleich aber, um den Census auch für Galiläa gültig zu machen, das ungetheilte Reich, wie es unter Herodes d. Gr. war, voraussezt: so sezt er offen - bar Widersprechendes voraus, oder vielmehr er hat über - haupt nur eine äusserst trübe Vorstellung von den Zeitver - hältnissen, indem er ja, wie wir uns erinnern müssen, die Schatzung nicht blos auf ganz Palästina, sondern selbst auf die ganze römische Welt sich erstrecken läſst.
Indeſs, mit diesen chronologischen Anstöſsen sind die Schwierigkeiten der Angabe des Lukas noch nicht erschöpft, sondern es liegen dergleichen auch noch in der Art, wie nach ihm die Schatzung vorgenommen worden sein soll. Es heiſst nämlich erstens, der Schatzung wegen sei Jeder gereist εἰς τὴν ἰδίαν πόλιν, d. h. nach dem Zusammenhang an den Ort, wo sein Geschlecht ursprünglich herstammte. Dieſs nun, daſs Jeder in seinem Stammorte sich einschrei - ben lassen muſste, fand allerdings statt bei jüdischen Auf - zeichnungen, weil bei den Juden die Familien - und Stamm - Verfassung die Grundlage des Staates bildete; die Römer hingegen zogen bei den ihnen unterworfenen Völkerschaf - ten dergleichen Particularitäten nicht in Betracht, sondern nahmen den Census in den Wohnorten und Bezirkshaupt - städten vor23)S. Paulus a. a. O. S. 178.. Daſs aber die Römer, um weniger Anstoſs bei den Juden zu erregen, die Form der jüdischen Ein - schreibungen beibehalten hätten, läſst sich nicht denken,206Erster Abschnitt.weil dem Zwecke der Vermögensschätzung und Besteurung die Entfernung der Einzelnen von ihren Wohnorten und Bezirkshauptstädten gar zu sehr entgegen gewesen wäre24)Diess weist Credner nach a. a. O. S. 234.. Eher lieſse sich daher mit Schleiermacher annehmen, die wahre Veranlassung, welche die Eltern Jesu nach Bethle - hem führte, sei eine priesterliche Aufzeichnung gewesen, welche aber der Referent mit der ihm vorzugsweise be - kannten römischen unter Quirinus verwechselt habe25)Über den Lukas, S. 35 f.. Allein, selbst dieſs zugegeben, weicht der Widerspruch von dieser miſslichen Angabe des Lukas nicht. Er läſst mit Joseph auch die Maria eingeschrieben werden (V. 5.), da doch die Aufzeichnung nach jüdischer Sitte nur auf die Männer sich bezog26)Vgl. Paulus a. a. O. S. 179. ; Kuinöl S. 321.. Es bliebe also wenigstens dieſs unrichtig, daſs Lukas auch der Maria zum Reisezweck giebt, sich am Stammort ihres Verlobten einschreiben zu lassen; oder wenn man dieſs mit Paulus durch eine ge - zwungene Construction entfernt, so sieht man nicht, was Maria bewegen konnte, in ihren damaligen Umständen ei - ne solche Reise zu unternehmen, da sie, sofern man nicht mit Olshausen27)a. a. O. S. 43. 131. u. A. die Hypothese, daſs sie eine in Bethlehem begüterte Erbtochter gewesen, aus der Luft grei - fen will, dort lediglich nichts zu schaffen hatte.
Unser Verf. freilich wuſste gar wohl, was sie dort zu thun hatte, nämlich der Weissagung Micha 5, 1. gemäſs in der Davidsstadt den Messias zu gebären. Da er nun von der Voraussetzung ausgieng, daſs Jesu Eltern eigent - lich zu Nazaret ihre Wohnung gehabt haben, so suchte er nach einem Hebel, um sie für die Zeit der Geburt Jesu nach Bethlehem in Bewegung zu setzen. Da bot sich weit und breit nichts als die berühmte Schatzung dar; nach207Viertes Kapitel. §. 28.dieser griff er um so unbedenklicher, je mehr ihm bei sei - ner dunkeln Vorstellung von den Verhältnissen jener Zeit die vielen Schwierigkeiten verborgen waren, welche in die - ser Combination liegen. Steht es so mit seiner Notiz: so wird man K. Ch. L. Schmidt Recht geben müssen, wenn er sagt, durch die Versuche, die Angabe des Lukas von der ἀπογραφὴ mit der Chronologie in Einklang zu bringen, wer - de dem Referenten viel zu viel Ehre angethan; er habe die Maria nach Bethlehem hinübersetzen wollen, und da habe sich die liebe Zeit nach seinem Willen fügen müs - sen28)In Schmidt's Bibliothek für Kritik und Exegese 3, 1, S. 124.. Um so auffallender ist es, daſs selbst noch die neueste Kritik des Matthäus-Evangeliums die historische Richtigkeit der in Frage stehenden Notiz des Lukas so ent - schieden voraussetzt, daſs sie es dem Matthäus zum Vor - wurf macht, von den besondern Umständen nichts zu wis - sen, durch welche die Eltern Jesu von Nazaret nach Beth - lehem geführt worden seien29)Sieffert, über den Ursprung des ersten kanonischen Evange - liums, S. 68 ff. 158 f. S. dagegen Kern, über den Ursprung des Evang. Matth., in der Tübinger Zeitschrift für Theolo - gie, 1834, 2tes Heft, S. 115.. Gewiſs hat in diesem Punk - te Matthäus durch sein Schweigen sich weniger verredet, als Lukas durch seine, gelehrt scheinende, chronologische Notiz. Also weder einen festen Anhaltspunkt für die Chro - nologie der Geburt Jesu bekommen wir hier, noch auch einen Aufschluſs über die Veranlassung, welche seine Ge - burt gerade in Bethlehem herbeiführte. Läſst sich, — kön - nen wir hier schon sagen, — kein anderer Grund beibrin - gen, warum Jesus in Bethlehem soll geboren worden sein, als der von Lukas angegebene: so haben wir gar keine Bürgschaft, daſs Bethlehem sein Geburtsort sei30)Vgl. Kaiser, bibl. Theologie 1, S. 230..
Auf die einmal gewählte Grundlage, daſs Maria und Joseph als fremde Reisende der Schatzung wegen nach Bethlehem gekommen seien, trägt die Erzählung des Lukas die weiteren Züge folgerecht auf. Wegen des durch die Schatzung verursachten Zusammenflusses vieler Fremden in Bethlehem haben jene beiden im Hause des Gastfreundes keinen Raum, und müssen sich bequemen, in einem Stalle sich einzurichten, wo Maria sofort ihres Erstgeborenen entbunden wird. Aber das auf Erden unter so unschein - baren Umständen in's Dasein getretene Kind ist im Him - mel hoch angesehen: ein Bote von da verkündet Hir - ten, welche nächtlich auf dem Feld ihre Heerden bewa - chen, die Geburt des Messias, und weist sie auf das Kind in der Krippe hin, welches sie, nachdem noch ein Chor himmlischer Heerschaaren mit einem Lobgesang eingefal - len, aufsuchen und finden (2, 6 — 20.).
Noch weiter haben die apokryphischen Evangelien und die Tradition bei den Kirchenvätern die Geburt Jesu aus - geschmückt. Als nach dem Protevangelium Jacobi1)Cap. 17 ff. Vgl. Historia de nativ. Mariae et de infantia Ser - vatoris c. 13. Jo - seph die Maria auf einem Esel nach Bethlehem zur Schat - zung führt, beginnt sie in der Nähe der Stadt bald trau - rig bald freudig sich zu gebärden, und giebt, hierüber be - fragt, die Auskunft, daſs sie (wie einst in Rebekkas Leibe sich zwei feindliche Nationen stieſsen, 1. Mos. 25, 23.) zwei Völker, das eine weinend, das andere lachend vor sich se - he, d. h. nach der einen Erklärung2)Fabricius, im Codex Apocryph. N. T. 1, S. 105. not. y. die zwei Theile von Israël, davon einem die Erscheinung Jesu (nach Luc. 2, 34.) εἰς πτῶσιν, dem andern εἰς ανάςασιν gereichen sollte; nach der andern aber das Volk der Juden, welche Jesum her -209Viertes Kapitel. §. 29.nach verwarfen, und das der Heiden, welche ihn annah - men3)Das zuletzt angeführte Apokryphum a. a. O.. Als bald darauf Maria, wie es nach dem Zusam - menhang und mehreren Lesarten scheint, noch ausserhalb Bethlehem, von Geburtswehen befallen wird, bringt sie Jo - seph in eine am Wege liegende Höhle, wo sie, während die ganze Natur feiernd stillesteht, von einer Lichtwolke verborgen, das Kind zur Welt bringt, und von herbeige - rufenen Frauen auch nach der Entbindung noch als Jung - frau befunden wird. — Die Sage von der Geburt Jesu in einer Höhle kennen schon Justin4)Dial. c. Tryph. 78. und Origenes5)c. Cels. 1, 51. und bringen sie mit der Nachricht des Lukas, daſs Jesus in ei - ner φατνη niedergelegt worden sei, so in Einklang, daſs sie in der Höhle eine Krippe sich befinden lassen, worin ihnen auch manche Neuere beistimmen6)Hess, Geschichte Jesu 1, S. 43. Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 132., während Andre lieber die Höhle selbst als φάτνη, in der Bedeutung von Futterstall, betrachten7)Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 182.. Für die Geburt Jesu in der Höhle beruft sich Justin auf die Weissagung Jes. 33, 16.:
οὖτος (der Gerechte) οἰκήσει ἐν ὑψηλῷ σπηλαίῳ πέτρας ἰσχυρᾶς8)a. a. O. No. 70 und 78., wie die Historia de nativitate Mariae etc. für die Angabe, daſs das am dritten Tage aus der Höhle in den Stall gebrachte Jesuskind vom Ochsen und Esel an - gebetet worden sei, auf Jes. 1, 3.:cognovit bos posses - sorem suum, et asinus praesepe domini sui9)Cap. 14.. In meh - reren namhaften Apokryphen fallen zwischen den geburts - helfenden Frauen und den Magiern die Hirten aus; doch finden sie sich z. B. in dem Evangelium infantiae ara -Das Leben Jesu I. Band. 14210Erster Abschnitt.bicum, wo ihnen, als sie zur Höhle gekommen, Freuden - feuer anzündeten, das himmlische Heer erscheint10)Cap. 4, bei Thilo, S. 69..
Nehmen wir nun die von Lukas erzählten Umstände der Geburt Jesu in supranaturalem Sinne, so ergeben sich mehrere Schwierigkeiten. Zuerst läſst sich billig fragen, welchem Zweck die Engelerscheinung dienen sollte? 11)S. Gabler im neuest. theol. Journal 7, 4, S. 410.Die nächste Antwort ist: die Geburt Jesu bekannt zu machen. Aber sie wird ja durch dieselbe so wenig bekannt, daſs in das so nahe gelegene Jerusalem erst später die Magier die erste Kunde von dem neugeborenen Judenkönig brin - gen, und überhaupt in der weiteren Geschichte keine Spur eines solchen Vorfalls bei der Geburt Jesu sich findet. Kann demnach der Zweck jener ausserordentlichen Er - scheinung nicht ihr Bekanntwerden in weiteren Kreisen gewesen sein, weil sonst Gott seinen Zweck verfehlt ha - ben würde: so müſste man mit Schleiermacher annehmen, sie habe nur in der unmittelbaren Wirkung auf die Hir - ten selber ihr Ziel gehabt12)Über den Lukas, S. 33.. Dabei müſste man dann aber mit Schleiermacher und Olshausen13)a. a. O. S. 132. voraussetzen, diese Hirten seien, wie jener Simeon, von messianischen Erwartungen besonders erfüllt gewesen, und diesen ihren frommen Glauben habe Gott durch jene Erscheinung be - lohnen und befestigen wollen. Aber weder von einer sol - chen Beschaffenheit der Hirten berichtet die Erzählung ir - gend etwas, noch wird eine bleibende Wirkung auf die - selben bemerklich gemacht; überhaupt erscheint der gan - zen Darstellung zufolge nichts die Hirten Betreffendes als Zweck der Erscheinung, sondern lediglich die Verherrli - chung und Bekanntmachung der Geburt Jesu als des Mes - sias. Da aber das Letztere, wie schon bemerkt, nicht er -211Viertes Kapitel. §. 29.reicht wurde, das Erstere aber rein für sich, wie jedes leere Gepränge, kein gotteswürdiger Zweck ist: so stellt dieser Umstand, auch abgesehen von dem, was gegen En - gelerscheinungen überhaupt oben erinnert ist, einer supra - naturalistischen Auffassung dieser Geschichte ein nicht un - bedeutendes Hinderniſs entgegen. — Eine weitere Schwie - rigkeit liegt noch in der Art, wie die Hirten zu dem Kin - de gewiesen werden. Sie werden ein Kind finden, sagt ih - nen der Engel, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Aber wo? sollten sie vorher alle Stallungen des Orts durchsuchen? oder sollte sie durch ein zweites Wun - der ein geheimer Zug des Geistes in der Dunkelheit der Nacht zu dem Kinde leiten? 14)Olshausen, a. a. O. S. 133.Denn mit Olshausen noch dazu anzunehmen, die Hirten seien vielleicht eben die Ei - genthümer der Höhle gewesen, und haben deſswegen bei ihrer Rückkehr zu derselben das Kind antreffen müssen, heiſst mit unnöthiger Inconsequenz den einen Fuſs auf den Boden der natürlichen Erklärung setzen.
Diese ist denn freilich in ihren ersten Versuchen grob genug ausgefallen. So nahm Eck den ἄγγελος für einen Boten aus Bethlehem, welcher Licht bei sich hatte, das den Hirten in die Augen fiel, und den Lobgesang der Heer - schaaren als ein Freudengeschrei mehrerer Begleiter dieses Boten15)In seinem Versuch über die Wundergeschichten des N. T. s, vgl. Gabler's neuestes theol. Journal 7, 4, S. 411. Der Verf. der natürlichen Geschichte des Propheten von Nazaret hat auch hier an den Wundern der N. T. lichen Erzählung nicht genug Stoff für seine Lust zu natürlicher Erklärung, sondern er unternimmt es, auch die Fabeln der Apokryphen auf sei - ne Weise zurechtzulegen.. Feiner und pragmatischer hat Paulus die Sa - che ausgesponnen. Maria, welche in einer Hirtenfamilie zu Bethlehem gastfreundliche Aufnahme gefunden hatte, er - zählte, voll Hoffnung, wie sie war, den Messias zu gebä -14*212Erster Abschnitt.ren, auch den Gliedern dieser Familie davon, welche als Bewohner der Davidsstadt nicht unempfänglich dafür sein konnten. Als daher in der Nacht diese Hirten auf dem Felde sind und eine feurige Lufterscheinung erblicken, wie sie nach Berichten von Reisenden in jener Gegend nicht ungewöhnlich sind, so deuten sie dieſs als eine Gottesbot - schaft, daſs die fremde Frau in ihrem Futterstalle wirklich von dem Messias entbunden worden sei, und als die Licht - erscheinung sich ausbreitet und hinundherbewegt, so sehen sie hierin lospreisende Engelschaaren. Heimgekehrt, finden sie ihre Erwartung durch den Erfolg bestätigt, und stellen nun das, was nur sie selbst als Sinn und Bedeutung jener Erscheinung vorausgesetzt hatten, morgenländisch als wirk - liche Worte derselben dar16)a. a. O. S. 180 ff. Wie Paulus eine äussere Naturerschei - nung, so nimmt Matthaei, Synopse der vier Evangelien, S. 3., eine innere Engelanschauung an..
Bei dieser Erklärung hängt Alles an der Voraussetzung, daſs die Hirten schon vorher etwas von den Erwartungen der Maria, den Messias zu gebären, gewuſst haben; eben dieses aber ist der vollkommenste Widerspruch gegen den evangelischen Bericht. Denn erstlich, daſs ihnen der Stall zugehört habe, setzt dieser offenbar nicht voraus, wenn er, nachdem er die Entbindung der Maria in dem Stalle erzählt hat, zu den Hirten als zu etwas ganz Neuem und Fremdem, das mit jenem Stalle gar nicht zusammenhängt, in den Worten übergeht: καὶ ποιμένες ἦσαν ἐν τῇ χώρᾳ τῇ αὐτῇ, statt deren bei jener Erklärung doch wenigstens οἱ δὲ ποιμένες κ. τ. λ. stehen müſste, so wie dann auch das nicht unerwähnt hätte bleiben dürfen, daſs die Hirten den Tag über in dem Stalle ab - und zugegangen und erst mit Anbruch der Nacht zum Hüten ausgezogen seien. Doch, auch diese Umstände vorausgesetzt, ist es von Paulus in - consequent, die Maria früher so schweigsam über ihre213Viertes Kapitel. §. 29.messianische Schwangerschaft vorzustellen, daſs sie An - fangs selbst dem Joseph dieselbe nicht entdecken will: nun aber mit Einem Male so geschwätzig, daſs sie, kaum an - gekommen, vor fremden Leuten die ganze Geschichte ihrer Erwartungen auskramt. Übrigens widerspricht die Annah - me, daſs die Hirten durch Maria selbst schon vor ihrer Niederkunft von der Sache unterrichtet gewesen, auch dem weiteren Verfolg der Erzählung. Denn wie diese lautet, so bekommen die Hirten durch den erscheinenden Engel die erste Kunde von der Geburt des σωτὴρ, und zum Zei - chen der Wahrheit dieser Kunde soll ihnen das neugebor - ne Kind in der Krippe dienen; hätten sie bereits durch Ma - ria etwas von dem nächstens zu gebärenden Messias ge - wuſst: so wäre ihnen schon die Lichterscheinung ein ση - μεῖον für jene Aussage der Maria, und nicht erst das Fin - den des Kindes ein Zeichen für die Wahrhaftigkeit der Erscheinung gewesen. Auch das bleibt ein auffallendes Zu - sammentreffen, daſs gerade in der Geburtsnacht Jesu eine so ausserordentliche Erscheinung sich zeigt17)Gabler, a. a. O. S. 412.; oder wenn nach Paulus dergleichen Phänomene in jenen Gegenden nicht selten sein sollen: so hat schon Schleiermacher dar - auf aufmerksam gemacht, daſs, je gewöhnlicher sie daselbst waren, desto nothwendiger Hirten, gewohnt, einen groſsen Theil des Jahrs im Freien zu übernachten, so weit mit denselben vertraut sein muſsten, um sie nicht für himmli - sche Zeichen besonderer Begebenheiten zu halten18)Über den Lukas, S. 34..
Dieser nach allen Seiten so schwierigen natürlichen Erklärung gegenüber kündigte Bauer eine mythische Auf - fassung an19)Hebräische Mythologie, 2. Thl. S. 223 ff., kam aber in der That keinen Schritt über die natürliche Deutung hinaus, sondern wiederholte Zug für Zug die Paulus'sche Auslegung. Mit Recht setzte Gab -214Erster Abschnitt.ler an dieser gemischt-mythischen Erklärung aus, daſs sie, wie die natürliche, zu viel Unwahrscheinliches häufe; ein - facher erscheine Alles bei Annahme eines reinen, dogmati - schen Mythus, wodurch auch mehr Harmonie in diese christ - liche Urgeschichte komme, deren bisherige Stücke ja eben - falls als reine Mythen haben ausgelegt werden müssen20)Recension von Bauer's hebr. Mythologie in Gabler's Journal für auserlesene theol. Literatur, 2, 1, S. 58 f.. Demgemäſs erklärt nun Gabler die Erzählung aus der Zeit - vorstellung, bei der Geburt des Messias müssen wohl En - gel geschäftig sein. Nun habe man gewuſst, daſs Maria in einer Hirtenwohnung entbunden worden war; diesen guten Hirten, habe man also geschlossen, müssen die En - gel sogleich die Botschaft gebracht haben, daſs der Mes - sias in ihrem Stalle geboren sei, und die Engel, die ja immer Gott preisen, müssen auch hier einen Lobgesang an - gestimmt haben. Anders, meint Gabler, konnte sich ein Judenchrist die Geburt Jesu, wenn er einige Data von der - selben wuſste, unmöglich denken, als sie hier gemalt ist21)Neuest. theol. Journal 7, 4, S. 412 f..
Auf merkwürdige Weise zeigt diese Gabler'sche Er - klärung, wie schwer es hält, sich von der natürlichen Er - klärungsweise völlig loszuwinden, und ganz zu der mythi - schen zu erheben; denn während der genannte Theologe ganz schon auf mythischen Boden getreten zu sein meint, steht er doch mit einem Fuſse noch auf dem der natürli - chen Auslegung. Einen Zug nämlich aus dem Berichte des Lukas nimmt er als historisch, welchen sein Zusammen - hang mit unhistorischen Elementen und seine Angemessen - heit an den Geist der urchristlichen Sage zu deutlich als blos mythischen bezeichnet, nämlich, daſs Jesus wirklich in einer Hirtenwohnung geboren sei, und eine Vorausse - zung nimmt er aus der natürlichen Erklärungsweise auf, welche die mythische gar nicht dem Texte aufzudringen215Viertes Kapitel. §. 29.braucht, daſs die Hirten, welchen angeblich die Engel er - schienen, Eigenthümer des Stalles, in welchem Maria ge - bar, gewesen sein sollen. Was das Erste betrifft, mit wel - chem das Andere von selbst hinfällt, so beruht es auf der - selben Maschinerie, durch welche Lukas mittelst der Schat - zung die Eltern Jesu von Nazaret nach Bethlehem in Be - wegung setzt. Nun wissen wir aber, wie es mit dieser Schatzung steht: sie fällt ohne Rettung vor der Kritik da - hin, und mit ihr das auf sie gebaute Datum, daſs Jesus in einem Hirtenstalle geboren worden. Denn waren Jesu Eltern zu Bethlehem nicht fremd, und kamen sie nicht ge - rade bei einem groſsen Zusammenfluſs von Fremden, wie er aus Gelegenheit eines Census stattfinden konnte, dahin: so ist kein Anlaſs dazu mehr vorhanden, daſs Maria einen Stall zum Lokal ihrer Entbindung nehmen muſste. Aber ebenso stimmt andrerseits der Zug, daſs Jesus in einem Stalle geboren und zuerst von Hirten begrüſst worden sein soll, mit dem Geist der alten Sage so ganz überein, daſs es klar ist, wie sie veranlaſst sein konnte, ihn rein zu er - dichten. Schon Theophylakt deutet dieſs richtig an, wenn er sagt, nicht zu Jerusalem den Pharisäern und Schriftge - lehrten, welche aller Bosheit voll waren, sei der Engel er - schienen, sondern auf dem Felde den Hirten, wegen ihres einfachen, arglosen Wesens, und weil sie durch ihre Le - bensweise Nachfolger der alten Patriarchen gewesen seien22)in Luc. 2. Bei Suicer 2, p. 789 f.. Auf dem Felde bei den Heerden hatte auch Moses die himm - lische Erscheinung (2. Mos. 3, 1 ff. ), und den Ahnherrn des Messias, David, hatte Gott, nach Ps. 78, 70 f. (vergl. 1. Sam. 16, 11.), aus den Hürden (bei Bethlehem) genom - men, um sein Volk zu waiden. Überhaupt läſst die My - thologie der alten Welt Landleuten23)Servius ad Virg. Ecl. 10, 26. und Hirten24)Liban. progymn. p. 138, bei Wetstein S. 662. am216Erster Abschnitt.liebsten Gotteserscheinungen zu Theil werden; die Götter - söhne und groſsen Männer werden häufig unter Hirten er - zogen25)So Cyrus, nach Herod. 1, 110 ff. Romulus, nach Liv. 1, 4.. In demselben Geiste der alten Sage ist auch die apokryphische Nachricht gedichtet, daſs Jesus in einer Höhle geboren sei, wodurch man an die Geburtshöhle des Zeus und anderer Götter erinnert wird26)S. die Stellen bei Wetstein, p. 660 f., wenn auch gleich die miſsverstandne Stelle Jes. 33, 16. die nächste Veranlassung dieses Zuges gewesen sein mag27)Diess ist die Ansicht Thilo's, Codex Apocr. N. T. 1, S. 383, not.. Die Nacht ferner, in welche die Scene verlegt wird, — wenn man nicht an rabbinische Vorstellungen denken will, nach welchen, wie die Erlösung aus Ägypten, so auch die durch den Messias bei Nacht vor sich gehen sollte28)S. Schöttgen, a. a. O. 2, S. 531., — bildet den dunkeln Hintergrund, auf welchem sich die erscheinen - de δόξα Κυρίου um so glänzender ausnimmt, welche, wie sie die Geburt des Moses verherrlicht haben sollte29)Sota, 1, 48: Sapientes nostri perhibent, circa horam nativi - tatis Mosis totam domum repletam fuisse luce (Wetst.)., so auch bei der seines höhern Nachbildes, des Messias, nicht fehlen konnte.
Einen Gegner hat die mythische Auffassung dieses Ab - schnitts namentlich an Schleiermacher gefunden30)Über den Lukas, S. 29 f.. Zwar, wenn er es unwahrscheinlich findet, daſs dieser Anfang von Luc. 2. eine Fortsetzung des Vorigen, und von dem - selben Verfasser mit diesem sei, weil die mehrfache Ver - anlassung, sich in lyrischen Ergüssen auszubreiten, wie z. B. bei der lobpreisenden Umkehr der Hirten V. 20., hier gar nicht so wie im ersten Kapitel benüzt werde: so kann man ihm hierin wohl etwa beistimmen; wenn er aber daraus weiter folgert, daſs dieser Erzählung auch nicht ein vorwiegend dichterisches Gepräge zugeschrieben wer -217Viertes Kapitel. §. 29.den dürfe, indem dieses nothwendig mehr Lyrisches her - beigeführt haben würde: so beweist dieſs nur, daſs Schleier - macher den Begriff derjenigen Poësie, welche hauptsäch - lich hieher gehört, nämlich der Poësie der Sage, nicht ge - hörig erfaſst hat. Die Sagenpoësie ist mit Einem Worte eine objektive Poësie, welche das Dichterische ganz in die erzählte Materie hineinlegt, und daher in ganz schlichter Form, ohne allen Aufwand lyrischer Ergieſsungen erschei - nen kann, welche lezteren vielmehr nur die spätere Zu - that einer subjektiven, mehr bewuſst und künstlerisch aus - geübten Poësie sind. Allerdings also haben wir, wie es scheint, diese jezt folgenden Abschnitte mehr in der ur - sprünglichen Form der Sage, während die Erzählungen des ersten Kapitels bei Lukas mehr das Gepräge der Um - arbeitung durch ein dichtendes Individuum tragen; aber von historischer Wahrheit ist deſswegen dennoch hier eben - sowenig als dort etwas zu suchen. Daher kann es auch nur als Spiel eines luxurirenden Scharfsinns angesehen werden, wenn Schleiermacher weiterhin sogar die Quelle auszumitteln sich anheischig macht, aus welcher diese Er - zählung in das Lukasevangelium gekommen sein möge. Daſs er als diese Quelle nicht die Maria annehmen will, obgleich in der Bemerkung V. 19., sie habe alle diese Re - den im Herzen bewahrt, eine Berufung auf sie gefunden werden könnte, daran hat er zwar um so mehr Recht, als jene Bemerkung (worauf Schleiermacher keine Rück - sicht nimmt), nur eine aus der Geschichte Jakobs und Jo - sephs herübergenommene Phrase ist. Wie nämlich die Er - zählung der Genesis von Jakob als Vater jenes Wunder - kindes berichtet, daſs er, wenn Joseph von seinen vorbe - deutenden Träumen erzählte und die Brüder ihn deſswegen beneideten, dessen Reden nachdenklich im Herzen bewahrt habe: so giebt nun die Erzählung bei Lukas der Maria zu dem Ausserordentlichen, was sich mit ihrem Kinde zu - trug, hier und unten 2, 51. die schickliche Stellung, daſs218Erster Abschnitt.sie, während die Übrigen in laute Bewunderung ausbra - chen, was sie sah und hörte nachdenklich in sich aufge - nommen und bei sich überdacht habe31)Man vergleiche:1. Mos. 37, 11 (LXX):Ἐζήλωοαν δὲ αὐτὸν οἱ ἀδελφοὶ αὐτοῦ· ὁ δὲ πατὴρ αὐτοῦ διετήρησε τὸ ῥῆμα. Und dazu die Rab - binen, bei Schöttgen, ho - rae, 1, 262. Luc. 2, 18 f.:καὶ πάντες οἱ ἀκούσαντες ἐϑαύ - μασαν, — — ἡ δὲ Μαριὰ μ πάντα συνετήρει τὰ ῥ ή - ματα ταῦτα, συμβάλλουσα ἐν τῇ καρδίᾳ αὑτῆς. 2, 51:καὶ ἡ μήτηρ αὐτοῦ διετ ήρει πάντα τὰ ῥήματα ταῦτα ἐν τῇ καρδίᾳ αὑτῆς.. Wenn nun aber der genannte Theologe statt der Maria die Hirten als Quelle unsrer Erzählung bezeichnet, weil Alles aus dem Stand - punkt nicht von jener, sondern von diesen erzählt sei: so ist es vielmehr aus dem Standpunkt der Sage erzählt, wel - che gleicherweise über beiden steht. Wenn Schleierma - cher es unmöglich findet, daſs diese Erzählung eine aus Nichts zusammengeballte Luftblase sei32)a. a. O. S. 33.: so muſs er un - ter dem Nichts die jüdischen und urchristlichen Ideen von Bethlehem als dem nothwendigen Geburtsorte des Messias, von dem Hirtenstande als dem des Verkehrs mit dem Him - mel besonders gewürdigten, und von den Engeln, als den Vermittlern dieses Verkehrs, verstehen, Vorstellungen, welche wir unsrerseits unmöglich so gering anschlagen, sondern uns wohl denken können, wie sich aus denselben etwas, wie unsre Erzählung hier, gestalten konnte. End - lich, wenn er eine zufällige oder absichtliche Dichtung sich hier deſswegen nicht denken zu können versichert, weil die Christen jener Gegend so leicht die Maria oder die Jünger über die Sache haben befragen können: so ist dieſs doch zu sehr im Style der alten Apologetik geredet, und219Viertes Kapitel. §. 29.sezt die in der Einleitung besprochene Ubiquität jener Per - sonen voraus, welche doch unmöglich an allen den Orten berichtigend zugegen sein konnten, wo eine Neigung zu christlicher Sagenbildung sich regte.
Die Notiz von der Beschneidung Jesu Luc. 2, 21. rührt offenbar von einem solchen her, welcher, ohne von dieser Scene wirkliche Nachricht zu haben, nur in Gemäſsheit der jüdischen Sitte für gewiſs annahm, daſs dieselbe am achten Tage nach der Geburt in gewöhnlicher Weise statt - gefunden. Dabei ist der Contrast auffallend zwischen der ausführlichen Benützung und Ausmalung desselben Punk - tes im Leben des Johannes (1, 59. ff. ) und der Trocken - heit und Kürze, mit welcher derselbe hier in Bezug auf Jesum behandelt ist, worin man mit Schleiermacher33)a. a. O. S. 27 f. ein Zeichen finden kann, daſs wenigstens hier der Verfas - ser von Kap. 1. nicht mehr der Concipient ist. Bei diesem Stand der Sache erfahren auch wir für unsern Zweck aus dieser Angabe nichts, als was wir schon wissen konnten, nur noch nicht ausdrücklich zu bemerken Gelegenheit hat - ten, daſs nämlich die angebliche Bestimmung des Namens Jesu schon vor seiner Geburt auch nur zu der mythischen Einkleidung der Erzählung gehöre. Wenn nämlich in un - serem Verse darauf Gewicht gelegt wird, der Name Jesus sei κληϑὲν ὑπὸ τοῦ ἀγγέλου πρὸ τοῦ συλληφϑῆναι ἀυτὸν ἐν τῇ κοιλίᾳ: so erinnert dieses Bestreben, die Präexistenz des Namens des Messias wenigstens vor seiner irdischen Erscheinung zu be - haupten, an die jüdische Meinung, nach welcher dieser Name sogar vor der Welt schon präexistirt hat34)Bereschith rabba, sect. 1, fol. 3, 3 (bei Schöttgen, horae, 2, S. 436.):Sex res praevenerunt creationem mundi: quaedam ex illis creatae sunt, nempe lex et thronus gloriae; aliae ascenderunt in cogitationem (Dei) ut crearentur, nimirum Patriarchae, Israël, templum, et nomen Messiae.; wie - wohl selbst ohne Beziehung darauf es z. B. auch bei dem220Erster Abschnitt.Täufer bedeutsam schien, seinen Namen nicht aus Zufall und menschlicher Willkühr, sondern aus göttlicher Vor - herbestimmung abzuleiten (Luc. 1, 13.). Der Sohn der Maria führte also in Folge einer, wir können nicht mehr wissen, durch welche, aber gewiſs durch rein natürliche Gründe bestimmten Wahl seiner Eltern den bei den Juden sehr gewöhnlichen Namen יֵשׁוּעַ (abgekürzt aus יְהיֹשֻׁעַ d. h. ὁ Κύριος σωτηρία); weil aber dieser Name mit seinem später gewählten Berufe als Messias und σωτὴρ auf be - deutsame Weise zusammentraf, und überdieſs der Name des Messias als göttlich vorherbestimmter galt: so wurde die Festsetzung jenes Namens dem die Empfängniſs Jesu vorherverkündigenden Engel übertragen.
Mit der bisher betrachteten Erzählung des Lukas über die Einführung des neugeborenen Messias in die Welt läuft bei Matthäus eine ziemlich verschiedene doch parallel (2, 1. f.). Auch sie nämlich hat zum Zweck, die feierliche Introduk - tion des messianischen Kindes, die erste, vom Himmel selbst übernommene Bekanntmachung seiner Geburt, und seine erste Aufnahme bei den Menschen zu beschreiben1)Vergl. Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kano - nischen Evangeliums, S. 69 ff.. Nach beiden Erzählungen macht eine himmlische Erschei - nung auf den neugeborenen Messias aufmerksam, welche nach Lukas ein Engel im Lichtglanz, nach Matthäus ein Stern ist. Gemäſs der Verschiedenheit des Zeichens sind auch die Subjekte, welchen es erscheint, verschieden: dort einfache Hirten, zu welchen der Engel spricht; hier orien - talische Magier, welche das stumme Zeichen sich selbst zu221Viertes Kapitel. §. 30.deuten wissen. Beide Theile werden nach Bethlehem ge - wiesen: die Hirten durch die Worte des Engels selbst; die Magier nach eingezogener Erkundigung in Jerusalem, und beide huldigen dem Kinde: die Hirten durch Lobgesänge, die sie anstimmen, die Magier durch kostbare Geschenke aus ihrer orientalischen Heimath. Aber von hier an begin - nen die beiden Erzählungen bedeutender zu divergiren. Bei Lukas geht Alles heiter aus: die Hirten kehren freu - dig wieder um, und dem Kinde geschieht kein Leid, son - dern es kann zur gehörigen Zeit im Tempel dargestellt werden, und wächst sofort im Frieden auf; bei Matthäus hingegen nimmt die Sache eine tragische Wendung: da veranlaſst die Nachfrage der Magier in Jerusalem nach dem neugeborenen Judenkönig einen Mordbefehl des He - rodes gegen die Kinder zu Bethlehem, welchem das Je - suskind nur durch schleunige Flucht in das benachbarte Ägypten entzogen wird, von wo es mit den Eltern erst nach des Herodes Tode wieder in das heilige Land zu - rückkehrt.
Wir haben also hier eine doppelte Introduktion des messianischen Kindes, welche wir so stellen könnten, daſs die eine, durch den Engel, bei Lukas, die Geburt des Messias der nächsten Nähe, die andre, durch den Stern, bei Matthäus, der weiten Ferne habe ankündigen sollen. Allein, da nach Matthäus die Geburt Jesu erst durch den Stern auch in der nächsten Nähe, in Jerusalem, bekannt wird: so kann, wenn diese Erzählung historisch ist, jene andre bei Lukas, nach welcher die Hirten, was ihnen als Sache des ganzen Volks verkündigt war (V. 10.), mit Preiſs gegen Gott weiter erzählten (V. 17. 20. ), unmög - lich richtig sein; so wie umgekehrt, wenn wirklich nach Lukas die Geburt Jesu durch einen Engel mittelst der Hir - ten der Gegend von Bethlehem bekannt gemacht worden war, es irrig sein muſs, daſs Matthäus erst später durch die Magier die erste Kunde davon in das nur 2 — 3 Stun -222Erster Abschnitt.den von Bethlehem entfernte Jerusalem2)S. Winer, bibl. Realwörterbuch, d. A. Bethlehem. gelangen läſst. Da wir nun aber die Erzählung des Lukas von der den Hirten geschehenen Verkündigung aus mehreren Gründen als unhistorisch erkannt haben: so bliebe insofern für die des Matthäus unverkümmerter Raum, und es ist sonach ihre historische Glaubwürdigkeit aus inneren Gründen zu untersuchen.
Unsere Erzählung beginnt ganz so, wie wenn es sich von selbst verstände, daſs Astrologen einen die Geburt des Messias ankündigenden Stern als solchen zu erkennen ver - mögen. Könnten wir hiebei zunächst uns darüber wun - dern, wie heidnische Magier aus dem Orient etwas von einem jüdischen König wissen konnten, dem sie eine reli - giöse Verehrung darzubringen hätten: so wollen wir uns hierüber einstweilen mit der Notiz bei Tacitus3)Histor. 5, 13. und Sue - ton4)Vespas. 4., daſs 70 Jahre später im Orient die Erwartung ei - nes Weltherrschers aus dem jüdischen Volke verbreitet ge - wesen sei, beruhigen, um auf das Bedenklichere zu kom - men, daſs es ja nach dieser Erzählung scheint, als hätte die Astrologie Recht mit der Behauptung, daſs die Geburt groſser Männer und bedeutende Veränderungen der mensch - lichen Verhältnisse durch siderische Erscheinungen ange - zeigt werden, eine Meinung, welche längst in das Gebiet des Aberglaubens verwiesen ist. Man müſste also zu er - klären suchen, wie jene trügerische Kunst in diesem ein - zelnen Falle Recht haben konnte, ohne daſs jedoch auf an - dre Fälle daraus geschlossen werden dürfte. Das nächste für den orthodoxen Standpunkt wäre, daſs man sich auf eine ausserordentliche Veranstaltung Gottes beriefe, wel - cher sich dieſsmal, um die fernen Magier zu Jesu herbei - zuziehen, ihren astrologischen Vorstellungen accommodirt,223Viertes Kapitel. §. 30.und den von ihnen erwarteten Stern habe erscheinen las - sen. Aber mit dieser Auskunft verwickelt man sich in ei - nen bedenklichen Handel. Denn ein solches Zusammen - treffen des merkwürdigsten Erfolgs mit der astrologischen Prognose muſste nicht nur jene Magier selbst und ihre Landsleute, sondern auch die Juden und Christen, welche von der Sache erfuhren, in dem Vertrauen zu jener trü - gerischen Wissenschaft bestärken, und dadurch unbere - chenbaren Irrthum und Schaden stiften. Und dieses Är - gerniſs, wie leicht konnte es vermieden werden, wenn Gott, wie er ja nach der orthodoxen Ansicht auch sonst thut, durch Gesichte und Träume, auf welche nach V. 12. jene orientalischen Weisen gleichfalls bauten5)Vergl. Diog. Laërt., prooem., sie zu der Rei - se nach Judäa veranlaſste. Ist es also nicht gerathen, eine ausserordentliche Veranstaltung Gottes hier einzumischen, und will man doch auch nicht annehmen, daſs nach dem ordentlichen Naturlauf mit bedeutenden irdischen Ereignis - sen astronomische Veränderungen zusammenzutreffen pfle - gen: so müſste man nur auf ein zufälliges Zusammentref - fen in diesem einzelnen Falle sich berufen, womit aber, wie immer durch Berufung auf den Zufall, theils nichts gesagt, theils der supranaturalistische Standpunkt verlas - sen ist.
Doch nicht allein die falsche Kunst der Astrologen wird bei der orthodoxen Auffassung dieses Berichtes bestätigt, sondern auch eine falsche Auslegung einer Prophetenstelle. Denn wie die Magier, ihrem Sterne folgend, richtig ge - hen: so geben die Hohenpriester und Schriftgelehrten in Jerusalem, welche Herodes auf die Nachricht von der An - kunft und Absicht der Magier zu sich beruft, und nach dem Geburtsort des Judenkönigs fragt, der Stelle Micha 5, 1. die Deutung, der Messias müsse in Bethlehem gebo - ren werden (V. 5 f.), und dieser Deutung entspricht der224Erster Abschnitt.Erfolg. Das war aber doch nur eine Auslegung in der bekannten rabbinischen Weise, die Worte zu pressen. Denn abgesehen davon, ob unter dem ל שׁ ֵ וֹ מ in der angeführten Stelle der Messias verstanden werden darf oder nicht, so bezeichnet doch nach dem ganzen Zusammenhang das Aus - gehen des erwarteten Herrschers aus Bethlehem nicht ein Geborenwerden an diesem Orte, sondern nur die Abstam - mung von dem Davidischen Geschlecht, dessen alter Stamm - ort Bethlehem war6)S. die gründliche Ausführung von Paulus, exeg. Handbuch, 1, a, S. 213 ff.. Sind also die Magier durch die rabbinische Exegese des Orakels richtig geführt worden: so hat eine falsche Auslegung dieſsmal das Wahre getrof - fen, entweder durch anbequemende Veranstaltung Gottes, oder durch Zufall; worüber wie oben zu urtheilen ist.
Nach dem angegebenen Responsum des Synedriums be - ruft nun Herodes die Magier, und seine erste Frage ist nach der Zeit, wann ihnen der Stern erschienen sei (V. 7.)? Wozu brauchte er dieſs zu erfahren? Der 16te Vers sagt es uns, nämlich um das Alter des messianischen Kindes dar - nach zu ermessen und also zu wissen, wie weit herauf im Alter er die Kinder in Bethlehem umbringen lassen müsse, um unter ihnen auch das durch den Stern angezeigte zu treffen. Allein diesen Plan, durch Ermordung aller Kin - der bis zu einem gewissen Alter das ihm fatale mitzutref - fen, faſste ja Herodes erst, nachdem die Magier nicht, wie er gehofft hatte, zu ihm nach Jerusalem zurückgekom - men waren, eine Täuschung, welche, wie aus seinem ge - waltigen Zorn über dieselbe (V. 16.) erhellt, Herodes kei - neswegs vorherberechnet hatte. Vorher war nach V. 8. seine Absicht, sich durch die wiederkehrenden Magier das Kind, dessen Wohnung und übrige Verhältnisse so genau beschreiben zu lassen, daſs er es nachher nicht verfehlen, und ohne andre mitzumorden, aus dem Wege räumen las -225Viertes Kapitel. §. 30.sen könnte. Erst als die Magier ausblieben, war er zu je - ner andern Maſsregel veranlaſst, zu deren Behuf er die Zeit, wann der Stern erschienen war, wissen muſste7)Treffend Fritzsche z. d. St.: — comperto, quasi magos non ad se redituros statim scivisset, orti sideris tempore, etc.. Wie glücklich daher für ihn, daſs er, auch ohne noch je - nen Plan zu haben, doch gleich Anfangs nach dieser Zeit sich erkundigte; aber auch wie unbegreiflich, daſs er die - ses, was ihm bei seinem ersten Plane Nebensache war, gleich zu seiner ersten Frage (καλέσας-ἠκρίβωσε κ. τ. λ. V. 7.) und zur Hauptangelegenheit machte. War die Er - kundigung nach der Zeit der ersten Erscheinung des Sterns Mittel zu dem Zwecke, die seit dieser Zeit in Bethlehem geborenen Kinder in Masse zu morden; hatte aber Herodes selbst diesen Zweck noch nicht, als er jenes Mittel wählte: so müſste ein höheres Bewuſstsein ihm dasselbe an die Hand gegeben haben, welches Bewuſstsein auf orthodoxem Stand - punkt nur entweder Gott sein könnte, von welchem man dann sagen müſste, er habe dem Tyrannen jene Frage ein - gegeben, damit er nicht in der Ungewiſsheit über das Al - ter des gesuchten Kindes geradezu alle Kinder zu Bethle - hem8)So vergrössert findet sich die Sache bei Justin, Dial. c. Tryph. 78., auch die älteren, erwürgen möchte; oder der Teu - fel, — wenn nicht das Hineintragen übernatürlicher Ma - schinerie in den biblischen Text ebenso unerlaubt wäre als das von natürlicher. Ist es aber unerlaubt, und doch bei der orthodoxen Auffassung der Erzählung unvermeidlich: so ist diese Auffassung selbst unmöglich.
Das Zweite, was Herodes mit den Magiern verhandelt, ist, daſs er ihnen aufträgt, alles das königliche Kind Be - treffende genau zu erkunden und ihm bei ihrer Rückkehr zu melden, damit auch er hingehen und dem Kinde seine Verehrung bezeigen, d. h. nach dem wahren Sinn, es sicherDas Leben Jesu I. Band. 15226Erster Abschnitt.ermorden lassen könnte (V. 8.). Daſs eine solche Einlei - tung der Sache von dem schlauen Herodes schwer zu be - greifen sei, ist längst bemerkt worden9)K. Ch. L. Schmidt, exeg. Beiträge, 1, S. 150 f. Vgl. Fritz - sche, Comm. in Mitth. S. 82.. Von den Ma - giern konnte er nicht mit Sicherheit voraussetzen, daſs sie ihm, zumal er seinen bösen Willen so schlecht verborgen hatte, trauen würden, und jedenfalls muſste er fürchten, sie möchten, von Andern auf seine wahrscheinlich übeln Absichten mit dem Kinde aufmerksam gemacht, ihm keine Nachricht zurückbringen. Von den Eltern des Kindes konnte er vermuthen, daſs sie, wenn sie von seinem ge - fährlichen Interesse an demselben hörten, es durch Flucht in Sicherheit bringen würden; so wie endlich von denjeni - gen, welche in Bethlehem und der Umgegend messianische Erwartungen hegten, daſs sie durch die Ankunft der Ma - gier nicht wenig in denselben bestärkt werden müſsten. Aus allen diesen Gründen muſste Herodes entweder die Ma - gier in Jerusalem aufhalten und indessen durch geheime Abgesandte das in dem kleinen Bethlehem leicht zu erfra - gende Kind, an welches sich so besondre Hoffnungen knüpf - ten, aus dem Wege räumen lassen, oder er muſste den Magiern Begleiter mitgeben, welche das Kind, sobald es von jenen aufgefunden wäre, auf die sicherste Weise um das Leben brächten. Auch Olshausen findet diese Bemer - kungen nicht ganz grundlos, und weiſs sich gegen diesel - ben in letzter Instanz nur darauf zu berufen, daſs in der Geschichte aller Zeiten unbegreifliche Vergeſslichkeiten vor - kommen, welche eben nur zeigen, daſs eine höhere Hand die Geschichte lenke10)Bibl. Comm. 1, S. 76.. Auf diese höhere Hand muſs sich allerdings der Supranaturalist hier in der Art berufen, daſs er annimmt, Gott selber habe den sonst so klugen Herodes über die sicherste Maſsregel zu seinem Zwecke verblendet,227Viertes Kapitel. §. 30.um das messianische Kind vom frühzeitigen Untergange zu retten. Aber die andre Seite dieser göttlichen Veranstal - tung ist, daſs nun statt des Einen viele andere Kinder ster - ben muſsten. Hiegegen wäre für den Fall nichts einzu - wenden, wenn es erweislich auf andere Art nicht möglich gewesen wäre, Jesum einem, mit dem Erlösungszweck un - vereinbaren, Schicksal zu entziehen. Aber wenn Gott ein - mal so übernatürlich eingriff, daſs er das Gemüth des He - rodes verblendete und den Magiern später eingab, nicht mehr nach Jerusalem zurückzukehren: warum gab er die - sen nicht gleich Anfangs ein, mit Umgehung Jerusalems geradezu nach Bethlehem zu reisen, wo dann die Auf - merksamkeit des Herodes nicht so unmittelbar erregt, und so vielleicht das ganze Unheil vermieden worden wäre? 11)Schmidt, exeg. Beiträge, 1, 155 f.Hiegegen bleibt auf diesem Standpunkt nichts übrig, als im ganz alten Styl zu sagen, den Kindern sei es gut ge - wesen, so frühe umzukommen, weil sie so durch ein kur - zes Leiden vielem Elende und namentlich der Gefahr ent - zogen wurden, sich mit den ungläubigen Juden an Jesu zu versündigen, weil sie nun die Ehre hatten, um Christi wil - len ihr Leben zu lassen und Märtyrer zu werden, u. s. w.12)Stark, Synops. bibl. exeg. in N. T. p. 62..
Die Magier ziehen jetzt von Jerusalem ab, bei Nacht, wie es scheint, in welcher die Orientalen gerne reisen; der Stern, den sie seit der Abreise aus ihrer Heimath nicht mehr gesehen zu haben scheinen, zeigt sich wieder, und zieht ihnen auf der Strasse nach Bethlehem voran, bis er endlich über dem Wohnhause des Kindes und seiner Eltern stehen bleibt. Von Jerusalem nach Bethlehem geht der Weg südlich; nun ist aber die wahre Bahn der bewegli - chen Sterne entweder von West nach Ost, wie die der Planeten und eines Theils der Kometen, oder von Ost15*228Erster Abschnitt.nach West, wie bei einem andern Theile der Kometen13)Schubert, Lehrbuch der Sternkunde, S. 106. 173 f., und wenn auch von manchen Kometen die wahre Bahn nahezu von Norden nach Süden geht14)S. den zuletzt angeführten Ort., so wird doch bei allen diesen Sternen ihre eigene wahre Bewegung von der durch die tägliche Drehung der Erde hervorgebrachten scheinbaren, welche von Osten nach Westen geht, so weit überwogen, daſs in der kurzen Zeit der zwei - bis drei - stündigen Reise nach Bethlehem nicht jene, sondern höch - stens diese bemerkbar werden konnte. Doch auch diese Ortsveränderung der Sterne ist bei einer kurzen Wande - rung nicht so in die Augen fallend, als die optische, wel - che durch die Ortsveränderung des Beobachters entsteht, vermöge welcher ein vor uns stehender Stern, wenn wir uns vorwärts bewegen, in's Endlose voranzugehen scheint, also namentlich nicht über einem bestimmten Hause stille halten kann, und zumal sternkundigen Männern, wie die Magier, dieſs zu thun nicht scheinen konnte15)S. Michaelis Anmerkungen z. d. St.. Nach al - lem diesem kann der in Frage stehende kein gewöhnlicher, natürlicher Stern gewesen sein, denn ein solcher bewegt sich nicht wirklich so schnell von Nord nach Süd, daſs es in Zeit einiger Stunden bemerkbar wäre; bewegt er sich aber blos optisch so, durch d[as]Weitergehen des Beob - achters, so kann er nicht durch sein Stillestehen einen Wanderer veranlassen, Halt zu machen, sondern umge - kehrt, erst wenn der Wanderer Halt macht, wird auch der Stern zum Stehen kommen. Es müſste also, was auf die - sem Standpunkte keinen Anstand hat, ein von Gott beson - ders zu diesem Behufe geschaffener Stern gewesen sein, wie auch einige Kirchenväter angenommen haben16)z. B. Euseb. Demonstr. evang. 9. angef. bei Suicer, 1, S. 559., wel - cher von dem Schöpfer nach eigener Regel bewegt und zum229Viertes Kapitel. §. 30.Stillstand gebracht wurde. Allein ein wirklicher Stern in der eigentlichen Höhe und Sphäre der Sterne könnte er auch so nicht gewesen sein, da ein solcher, er mag be - wegt und festgehalten werden wie er will, doch nach op - tischen Gesetzen niemals scheinen kann über einem ein - zelnen Hause unverrückbar stille zu stehen. Es müſste da - her etwas niedriger über der Erde sich Hinbewegendes ge - wesen sein, und da haben etliche Kirchenväter und Apo - kryphen17)Chrysostomus u. A. bei Suicer a. a. O., und das evang. in - fant. arab. c. 7. einen Engel angenommen, der nun freilich den Magiern auf ihrem Wege in Gestalt eines Sternes voraus - fliegen und zu Bethlehem in mäſsiger Höhe über dem Hau - se der Maria Halt machen konnte; Neuere haben ein Me - teor vermuthet18)S. bei Kuinöl, Comm. in Matth. S. 23.; Beides gegen den Text des Matthäus: Ersteres, weil es nicht die Art unserer Evangelien ist, et - was rein Übernatürliches, wie eine Engelerscheinung, durch einen natürlichklingenden Ausdruck, wie ἀςὴρ, zu bezeich - nen; Lezteres, weil ein bloſses Meteor für eine so lange Zeit, wie von dem Aufbruch der Magier aus ihrer fernen Heimath bis zu ihrer Ankunft in Bethlehem vergieng, nicht zureicht, wenn man nicht annehmen will, Gott habe für die Reise der Magier von Jerusalem nach Bethlehem ein ganz neues und anderes Meteor geschaffen, als er ihnen in ihrer Heimath gezeigt hatte.
Von diesen Schwierigkeiten in Beziehung auf den Stern haben sich selbst manche orthodoxe Erklärer der - maſsen gedrückt gefunden, daſs sie seinem Voranlaufen nach Bethlehem und seinem Stillstehen über einem Hause um jeden Preis zu entgehen versuchten. So hat namentlich die Süskind'sche Erklärung vielen Beifall gefunden, nach welcher das προῆγεν V. 9. nicht als Imperfectum ein sichtbares Vorangehen, sondern, gleich dem Plusquam -230Erster Abschnitt.perfectum, ein unsichtbares Vorangegangensein bedeutet, so daſs der Evangelist sagen wolle: der Stern, den die Magier im Morgenlande erblickt und seitdem nicht mehr gesehen hatten, kam plözlich in Bethlehem über dem Hau - se des Kindes wieder zum Vorschein, er war ihnen also dahin vorangegangen19)Vermischte Aufsätze, S. 8.. Allein das heiſst rationalistische Kunstgriffe auf das Gebiet der orthodoxen Exegese verpflan - zen; denn daſs hier nicht blos das προῆγεν, sondern auch das ἔως ἐλϑὼν κ. τ. λ[.]das Vorangehen des Sterns als eine nicht schon vorher abgeschlossene, sondern erst noch vor den Augen der Magier sich verlaufende Begebenheit be - zeichnet, das kann nur eine exegetische Willkühr verken - nen, welche dann consequenterweise auch noch weiter ge - hen, und die ganze Erzählung auf das Gebiet des Natürli - chen herüberziehen muſs. Ebenso, wenn Olshausen zwar einräumt, daſs ein Stern durch seinen Stand unmöglich ein einzelnes Haus bezeichnen könne, daſs daher die Magier das Haus des Kindes wohl haben erfragen müssen, und nur in kindlich naiver Weise auch den Ausgang wie den Anfang ihrer Reise auf den[himmlischen] Führer bezogen haben20)Bibl. Comm. 1, S. 70.: so ist er damit auf den rationalistischen Stand - punkt herübergetreten und liest natürliche Erklärungsgründe zwischen die Linien des biblischen Textes hinein, was er selbst an andern Stellen einem Paulus u. A. mit Recht übel nimmt.
Die Magier treten nun in das Haus, bezeigen dem Kinde ihre Verehrung und überreichen ihm Produkte ih - rer Heimath als Geschenke (V. 11.). Man kann sich hie - bei wundern, daſs der Überraschung nicht gedacht ist, welche es für diese Männer sein muſste, statt des erwar - teten Prinzen ein Kind in ganz gewöhnlichen, vielleicht dürftigen Umständen zu finden21)Schmidt, exeg. Beiträge, 1, 152 ff.. So weit freilich darf231Viertes Kapitel. §. 30.man den Contrast nicht treiben, daſs man, wie gewöhn - lich geschieht, die Magier das Kind im Stall und in der Krippe finden läſst; denn von diesen dem Lukas eigen - thümlichen Angaben weiſs Matthäus nichts, sondern spricht schlechtweg von einer οἰκία, in welcher das Kind sich be - funden habe. — Sofort erfolgt die Warnung der Magier im Traum (V. 12.), von welcher wir, wie gesagt, nur wünschen möchten, daſs sie früher gekommen wäre, um durch Ablenkung der Magier von Jerusalem vielleicht das ganze folgende Blutbad zu ersparen.
Während nun Herodes noch auf die Rückkehr der Astrologen wartet, wird Joseph im Traume durch eine Engelerscheinung angewiesen, das messianische Kind sammt dessen Mutter nach dem benachbarten Ägypten in Sicher - heit zu bringen (V. 13 — 15.). Dieſs hat auf dem ange - nommenen Standpunkt keine Schwierigkeit, wohl aber die Weissagung, welche dadurch in Erfüllung gegangen sein soll, Hosea 11, 1.: מִמִּצְרַיִם קָרָאתִי לִבְנִי. Denn wenn hier der Prophet Jehova sagen läſst: da Israël ein Knabe war, hatte ich ihn lieb, und aus Ägypten rief ich (ihn,) mei - nen Sohn: so darf auch dem orthodoxesten Erklärer noch so viel gesunder Blick zugemuthet werden, um einzusehen, daſs hier im zweiten Hemistich nicht von einem andern Subjekte die Rede sein könne, als von dem des ersten He - mistichs, nämlich dem Volk Israël, welches hier, wie auch sonst (z. B. 2. Mos. 4, 22. ; Sirach 36, 14.), Sohn Gottes genannt, und dessen langvergangene Ausführung aus Ägyp - ten unter Moses gemeint ist; daſs also keineswegs an den Mes - sias und dessen künftigen Aufenthalt in Ägypten vom Prophe - ten gedacht worden sei. Und doch, indem unser Evangelist V. 15. sagt, die Flucht Jesu nach Ägypten sei deſswegen ver - anstaltet worden, damit jene Worte des Hosea erfüllt wür - den: so hat er diese als Weissagung auf Christus verstan - den, mithin miſsverstanden. Die Olshausen'sche Doppel -232Erster Abschnitt.sinnigkeit, daſs die Prophetenstelle zunächst zwar auf das Volk Israël gehe, nichtsdestoweniger aber zugleich als Weissagung auf Christum gefaſst werden könne, weil die Schicksale des leiblichen Israël Vorbilder der Schicksale Jesu seien22)a. a. O. S. 74., ist hier um so weniger anwendbar, als diese Vorbildlichkeit in unsrem Falle eine völlig äusserliche und geistlose wäre, indem nur das Formelle eines Aufent - halts in Ägypten auf beiden Seiten gleich, die näheren Verhältnisse aber, unter welchen das israëlitische Volk und das Kind Jesus sich daselbst aufhielten, ganz verschiedene gewesen sind.
Wie die Rückkehr der Magier sich so lange ver - zieht, daſs Herodes merken kann, sie haben nicht im Sinn, ihm Wort zu halten: erläſst er einen Mordbefehl gegen alle männlichen Kinder in und um Bethlehem, welche in - nerhalb der Altersklasse standen, in welche, nach den Angaben der Magier über die Zeit der Erscheinung des Sterns, auch der messianische Knabe gehören muſste (V. 16 — 18.). Wollen wir hier auch nicht viel Gewicht auf die Bemerkung legen, daſs der bei aller Grausamkeit doch kluge Herodes schwerlich so in's Blinde hinein gewüthet haben würde, da er ja leicht erfahren konnte, daſs der Knabe, welchem so kostbare Geschenke gebracht worden waren, gar nicht mehr in Bethlehem zu finden war23)Schleiermacher, über den Lukas, S. 44 f.: so sollte man doch jedenfalls erwarten, daſs von einer so ganz besonders empörenden Blutthat auch andre Schrift - steller uns etwas berichten würden24)S. Schmidt, a. a. O. S. 156.. Allein weder Jo - sephus, welcher sehr ausführlich über Herodes ist, noch die Rabbinen, die ihm sonst alles Üble nachsagen, erwäh - nen dieses Faktums mit einem Worte. Diese setzen die Reise Jesu nach Ägypten zwar gleichfalls mit einer Mord -233Viertes Kapitel. §. 30.scene in Verbindung, welche aber nicht von Herodes, son - dern von dem König Jannäus veranstaltet worden sein und nicht Kinder, sondern Rabbinen betroffen haben soll25)Babylon. Sanhedr. f. 107, 2, bei Lightfoot, horae, S. 207.. Dabei liegt aber eine Verwechselung des ihnen aus der christlichen Tradition bekannten Datums mit einer frühe - ren Begebenheit zu Grunde, da jener Jannäus schon 40 Jahre vor Christi Geburt starb26)S. Schöttgen, horae, 2, S. 533.. Den herodischen Kin - dermord berührt nur der einzige Macrobius aus dem vier - ten Jahrhundert, doch in einem Zusammenhang, welcher deutlich zeigt, daſs ihm die von Herodes befohlne Ermor - dung seines Sohnes Antipater, der kein Kind mehr war27)Joseph. Antiq. 17, 7., mit dem bethlehemitischen Kindermord, der ihm von christ - licher Seite bekannt geworden sein mochte, zusammen - floſs28)Macrob. Saturnal. 2, 4:Quum audisset (Augustus) inter pueros, quos in Syria Herodes rex Judaeorum intra bimatum jussit interfici, filium quoque ejus occisum, ait: melius est, Herodis porcum esse quam filium.. Mag man nun auch durch die Erinnerung an die geringe Zahl von Knaben des bezeichneten Alters, welche in dem kleinen Bethlehem sich vorfinden mochten, das Auf - fallende jenes Stillschweigens zu vermindern suchen, und ferner bemerken, daſs unter den vielen Greuelthaten des Herodes diese That wie ein Tropfen im Meere verschwun - den sei29)S. Wetstein, Kuinöl, Olshausen z. d. St.: so ist hiebei das specifisch Abscheuliche des Hinwürgens wenn auch nur weniger unschuldigen Kinder übersehen, um dessen willen diese That, wenn sie wirk - lich vorgefallen war, schwerlich so ganz würde vergessen worden sein30)Fritzsche, Comm. in Matth. S. 93 f.. — Auch hiezu wird wieder eine Pro - phetenstelle (Jerem. 31, 15.), als eine, durch diesen Kindermord erfüllte Weissagung angeführt (V. 17. 18. ),234Erster Abschnitt.welche sich ursprünglich auf etwas ganz Andres, nämlich die Wegführung der Judäer nach Babylon, bezog, und in welcher an etwas in ferner Zukunft Liegendes auf keine Weise gedacht war.
Während sich nun das Jesuskind mit seinen Eltern in Ägypten aufhält, stirbt Herodes I., und Joseph wird durch einen, ihm im Traum erscheinenden Engel zur Rückkehr in die Heimath eingeladen, welche Rückkehr jedoch, weil auch Archelaus, des Herodes Nachfolger in Judäa, zu fürchten war, durch ein zweites Traumorakel näher dahin bestimmt wird, daſs Joseph nach Nazaret in Galiläa, in das Gebiet des milderen Herodes Antipas ziehen solle (V. 19 — 23.). Wir hätten somit in diesem Passus 5 ausseror - dentliche göttliche Veranstaltungen: nämlich einen ungewöhn - lichen Stern und 4 Traumgesichte. Schon der Stern und das erste Traumgesicht hätten, wie oben bemerkt, nicht nur ohne Schaden, sondern selbst mit Nutzen in Eins zu - sammengethan werden können, so daſs entweder der Stern oder die Traumerscheinung gleich Anfangs die Magier von Jerusalem ab nach Bethlehem gewiesen hätte, wodurch das von Herodes verhängte Blutbad vielleicht wäre zu ver - hüten gewesen. Ein ganz entschiedener Überfluſs ist es nun aber, daſs die beiden lezten Weisungen im Traum nicht in Eine verwandelt sind; denn was dem Joseph bei der lezten gesagt wurde, daſs er wegen des Archelaus nicht nach Bethlehem, sondern nach Nazaret ziehen solle, das konnte doch wohl einfacher schon bei der vorangegan - genen hinzugesezt werden. Eine solche, bis zur Ver - schwendung gehende Nichtachtung der lex parsimoniae in Bezug auf das Wunderbare muſs man versucht sein, eher der menschlichen Meinung, als der göttlichen Vorse - hung zuzuschreiben.
Den falschen Auslegungen A. T. licher Stellen in die - sem Abschnitt sezt sofort die Bemerkung im lezten Verse die Krone auf, durch die Ansiedlung der Eltern Jesu in235Viertes Kapitel. §. 30.Nazaret sei die Weissagung der Propheten erfüllt worden: ὅτι Ναζωραῖος κληϑήσεται Denn will man sich nicht muthlos in das Dunkel flüchten durch die Annahme, daſs dieses Orakel, welches sich mit denselben Worten im A. T. nicht findet, aus einem verloren gegangenen kanonischen31)So Chrysostomus u. A. oder apokryphischen32)S. Gratz, Comm. zum Ev. Matth. 1, S. 115. Buche sei: so muſs man entwe - der den Evangelisten einer höchst willkührlichen Bezeich - nung zeihen, wenn er nach den Einen die A. T. lichen Vorhersagungen, daſs der Messias verachtet sein werde, so ausgedrückt haben soll, er werde ein Nazaretaner, d. h. Bürger eines verachteten Städtchens heiſsen33)Kuinöl, ad Matth. p. 44 f.; oder muſs man ihn der gröbsten Entstellung des Sinnes und der ge - waltsamsten Umformung der Worte beschuldigen, wenn er das Wort נָזִיר gemeint haben soll, durch welches, wenn es anders im A. T. von Messias vorkäme, dieser nur ent - weder als Nasiräer34)S. Wetstein z. d. St., was übrigens Jesus nie war, oder als Gekrönter35)Schneckenburger, Beiträge zur Einleitung in das N. T. S. 42., wie Joseph 1. Mos. 49, 26., keines - wegs aber als ein in dem Städtchen Nazaret Aufwachsen - der bezeichnet wäre. Endlich auch bei der wahrschein - lichsten Deutung dieser Stelle, welche die Auctorität der von Hieronymus befragten Judenchristen für sich hat, daſs nämlich der Evangelist hier auf Jes. 11, 1. anspiele, wo der Messias נֵצֶר יִשַׁי (surculus Jesse) wie sonst צֶמַח, heiſse36)Gieseler, in den Studien und Kritiken, 1831, 3. Heft, S. 588 f. und Fritzsche S. 104. Vgl. Hieron ad Jesai. 11, 1., — bleibt immer die gleiche Gewaltsamkeit, wel - che dem vom Messias gebrauchten appellativum eine ihm ganz fremde Beziehung auf das nomen proprium der Stadt Nazaret giebt.
Die vielen Anstöſse zu vermeiden, welche der supra - naturalistischen Erklärungsweise dieses Abschnitts bei je - dem Schritte hemmend in den Weg treten, verlohnte es sich wohl, eine andere Auslegung zu versuchen, welche, ohne Einmischung von etwas Übernatürlichem, Alles nach physischen und psychologischen Gesetzen zu erklären ver - möchte, wie sie am besten Paulus gegeben hat1)a. a. O. S. 200 ff..
Gleich der erste Anstoſs, wie heidnische Magier aus dem fernen Orient etwas von einem zu gebärenden jüdi - schen König haben wissen können, wird dadurch wegge - räumt, daſs man jene Männer zu auswärtigen Juden macht. Allein, wie es scheint, ganz gegen den Sinn des Evange - listen. Denn indem dieser den Magiern die Frage in den Mund legt: ποῦ ἐςιν ὁ τεχϑεὶς βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων (V. 2.); so läſst er sie von den Juden sich unterscheiden, und was die Tendenz der ganzen Erzählung betrifft, so scheint die kirchliche Ansicht nicht so ganz Unrecht zu haben, wie Paulus meint, wenn sie diesen Besuch der Magier als das erste Bekanntwerden Christi unter den Heiden betrachtet. — Ferner ist nun nach dieser natürlichen Erklärung der ei - gentliche Reisezweck jener Männer nicht, den neugebore - nen König zu sehen, und die Veranlassung ihres Zuges nicht der von ihnen beobachtete Stern: sondern sie reisen vielleicht in merkantilischer Absicht nach Jerusalem, und nur weil sie da und dort im Lande von einem neugebore - nen König sprechen hören, fällt ihnen eine, kürzlich be - merkte, himmlische Erscheinung ein, und sie wünschen, gelegentlich das besprochene Kind selbst zu sehen. Da - durch wird freilich das Anstöſsige der Bedeutsamkeit, wel - che bei der gewöhnlichen Deutung der Erzählung die Astro -237Viertes Kapitel. §. 31.logie bekommt, gemindert, doch nur auf Kosten der ungezwungnen Auslegung. Denn, wenn es auch angienge, aus μάγοις ohne Weiteres Kaufleute zu machen, so kann doch bei dieser Reise ihr Zweck kein merkantilischer ge - wesen sein, da bei ihrer Ankunft in Jerusalem ihre erste Frage nach dem neugeborenen Judenkönig ist, und sie so - fort als Grund dieser Frage den im Morgenland gesehenen Stern, als veranlaſst durch diesen ihre jetzige Reise, und als Zweck derselben die dem Neugeborenen darzubringende Huldigung angeben (V. 2.: ποῦ εςιν — εἴδομεν γἀρ — καὶ ἤλϑομεν προσκυνῆσαι —).
Der ἀςὴρ wird von dieser Erklärungsweise entweder zum natürlichen Meteor gemacht2)S. bei Kuinöl, p. 23., oder zum Kometen3)Ebendas., oder zu einer Constellation, d. h. einer Conjunktion meh - rerer Planeten, welcher, von Kepler aufgestellten Ansicht neuerlich mehrere Astronomen und Theologen beigetreten sind4)Kepler, in mehreren Abhandlungen; Münter, der Stern der Weisen; Ideler, Handbuch der mathemat. und technischen Chronologie, 2. Bd. S. 399 ff.. Die Hauptfrage ist hiebei, ob das im Text angege - bene Voranlaufen des ἀςὴρ, nebst seinem Stillestehen über einem Hause, bei dieser Ansicht von demselben leichter er - klärlich werde? Von den beiden ersteren Auffassungswei - sen ist schon oben in dieser Beziehung die Rede gewesen. Bei der Fassung des ἀςὴρ als Constellation wird das προ - άγειν (V. 9.) entweder von dem Auseinandertreten der bis dahin beisammen gestandenen Planeten gedeutet5)S. bei Olshausen S. 69.: allein im Texte ist von keinem Auseinandergehen der Theile der Erscheinung, sondern von einem Vorwärtsgehen der gan - zen Erscheinung die Rede; oder man nimmt das Süskind '- sche Plusquamperfectum zu Hülfe, und stellt sich vor, die Constellation, welche die Magier in dem Thal zwischen238Erster Abschnitt.Jerusalem und Bethlehem nicht haben sehen können, habe sich ihnen bei der Annäherung zu Bethlehem mit Einem - male wieder gezeigt, und zwar über dem Wohnort des Kindes hin stehend6)Paulus a. a. O. S. 202. 221.. Denn das ἐπάνω οὖ ἦν τὸ παιδίον (V. 9.) soll nur überhaupt den Wohnort, nicht das Wohn - haus des Kindes und seiner Eltern bedeuten. Wir geben dieſs zu; aber indem der Evangelist gleich folgen läſst: καὶ εἰσελϑόντες εἰς τὴν οἰκίαν, so wird eben hiedurch der Wohnort näher als das Wohnhaus bestimmt, so daſs diese Erklärung nur aus dem vergeblichen Bestreben entstanden sich zeigt, das Wunderbare aus der evangelischen Erzäh - lung zu entfernen. — Das Merkwürdigste bei der Deutung des ἀςὴρ auf eine Constellation ist nun aber, daſs man durch dieselbe einen festen Punkt in der beglaubigten Ge - schichte gefunden zu haben meint, an welchen man die Erzählung des Matthäus anknüpfen könne. Nach Kepler's, von Ideler7)a. a. O. berichtigter Berechnung nämlich fand drei Jahre vor Herodes Tod eine Conjunktion des Jupiter und Saturn im Zeichen der Fische statt, und diese, wie sie in jenem von den Astrologen auf die Juden bezogenen Zei - chen auf dieselbe Weise beiläufig alle 800 Jahre wieder - kehrt, hatte nach des Juden Abarbanel Berechnung auch drei Jahre vor der Geburt des Moses stattgefunden: so daſs sich gar wohl an diese Constellation zu Herodes Zeit Erwartungen des zweiten groſsen Retters der Nation an - knüpfen, und babylonische Juden zur Nachfrage veranlas - sen konnten8)Paulus a. a. O. S. 205 f.. Daſs nun aber der von Matthäus erwähnte Stern eben jene Planetenconjunktion gewesen sei, wird theils durch die Unsicherheit des Geburtsjahrs Jesu precär, theils passen Züge der evangelischen Erzählung nicht da - zu, wie das προῆγεν und ἐςη, so wie, daſs die Magier239Viertes Kapitel. §. 31.als Nichtjuden bezeichnet sind; so daſs, sobald wir auf irgend ein anderes Datum stoſsen, welches unsrer Erzäh - lung bei Matthäus ähnlicher sieht, als diese Constellation, wir jenes und nicht diese als die Grundlage derselben vor - auszusetzen berechtigt sind.
Die Anstöſse wegen der falsch gedeuteten A. T. lichen Stellen werden auf diesem Standpunkte dadurch entfernt, daſs eine falsche Auslegung von Seiten der N. T. lichen Schriftsteller geradezu in Abrede gezogen wird. Die Weis - sagung des Micha soll eben nur das Synedrium auf den Messias und sein Geborenwerden in Bethlehem gedeutet, Matthäus aber diese Deutung mit keinem Worte gebilligt haben9)Ders. S. 202. 219 f.. Allein, da Matthäus weiter erzählt, wie der Erfolg der Auslegung des Synedriums entsprochen habe: so ist darin eine faktische Billigung dieser Auslegung ent - halten. Eigen geht Paulus mit der Stelle aus Hosea zu Werke. Nur abwehren wolle Matthäus durch Anführung derselben den Anstoſs, welchen palästinische Juden daran nehmen konnten, daſs der Messias das heilige Land einst verlassen habe, indem er darauf aufmerksam mache, daſs auch jener Erstgeborene Gottes in andrem Sinne (das jü - dische Volk) aus Ägypten geholt worden sei, weſswegen sich Niemand daran stoſsen dürfe, daſs auch bei diesem Sohne Gottes (dem Messias) eine solche Reise in das un - heilige Ausland stattgefunden. Allein von einem solchen blos negativen, abwehrenden Zwecke der angeführten A. T. lichen Weissagungen ist in der ganzen Stelle keine Spur10)Später knüpften sich zwar an diese ägyptische Reise Jesu jüdische Lästerungen, aber ganz anderer Art, von welchen im folgenden Kapitel die Rede werden wird., vielmehr haben diese Anführungen durchaus die positive Absicht, die Messianität Jesu dadurch zu begrün - den, daſs messianische Weissagungen als an ihm in Erfül -240Erster Abschnitt.lung gegangen nachgewiesen werden. — Daſs ebenso ver - geblich in Bezug auf die beiden andern in unsrem Ab - schnitt citirten Weissagungen das πληρωϑῆναι zur bloſsen Analogie und Anwendbarkeit zu verflüchtigen gesucht wer - de, bedarf keiner weiteren Ausführung.
Die mehrfachen Weisungen endlich, welche die Per - sonen unserer Erzählung durch Traumerscheinungen be - kommen, werden auf dem gegenwärtigen Standpunkte sämmtlich psychologisch aus vorangegangenen Erkundigun - gen und Gedanken der Wachenden erklärt. Dieſs scheint zwar bei der letzten Erscheinung dieser Art, V. 22, durch den Text selbst an die Hand gegeben, indem es hier heiſst, Joseph habe gehört, daſs Archelaus Herr von Judäa ge - worden sei, und habe sich daher gefürchtet, dorthin zu gehen; hierauf erst sei ihm eine höhere Weisung im Trau - me zugekommen. Dennoch ist auch hier, wenn man ge - nauer zusieht, das im Traume Mitgetheilte etwas Neues und nicht aus dem Wachen herübergenommen; nämlich nur das Negative, daſs wegen des Archelaus eine Nieder - lassung in Bethlehem nicht wohl rathsam sei, war dem Joseph im Wachen gegeben: das Positive, daſs er nach Nazaret ziehen solle, wird erst im Traum hinzugefügt. Bei den übrigen Traumerscheinungen unseres Abschnitts aber ist es geradezu Interpolation des Textes, wenn man sie auf die bezeichnete Weise erklären will. Denn sowohl daſs Herodes dem Kinde nach dem Leben trachte, als, daſs er nun gestorben sei, läſst der Text dem Joseph erst durch den Traum bekannt werden; so wie auch die Ma - gier kein Miſstrauen gegen Herodes haben, bis der Traum sie vor ihm warnt.
Wenn hienach die Auffassung der Matth. 2. erzählten Vorgänge als natürlicher dem Sinne des Berichts entschie - den zuwider ist, in ihrem ursprünglichen Sinne genommen aber die evangelische Erzählung bis zum Abenteuerlichen Übernatürliches, und Unwahrscheinliches bis zum Unmög -241Viertes Kapitel. §. 31.lichen enthält: so muſs man zum Zweifel an dem histori - schen Charakter der Erzählung, und zu der Vermuthung geführt werden, daſs wir hier etwas Sagenhaftes vor uns haben. Von dieser mythischen Auffassungsweise sind aber auch hier die ersten Versuche so ungeschickt ausgefallen, daſs sie über die Sphäre der natürlichen Erklärung, wel - che sie überfliegen wollten, in der That nicht hinausge - kommen sind. Der Verfasser einer schon öfters angeführ - ten Abhandlung über die beiden ersten Kapitel des Mat - thäus und Lukas11)In Henke's Magazin 5, 1, 171 ff. Auf etwas Ähnliches läuft auch die Ansicht von Matthaei, Religionsgl. der Apostel, 2, S. 422 ff. hinaus. glaubt das ursprünglich Geschichtli - che und die sagenhaften Zuthaten der Erzählung auf folgende Weise scheiden zu können. Historisch, meint er, möge sein, daſs, bei der allgemeinen Erwartung des Mes - sias in jener Zeit, einigen arabischen Juden, die sich mit Astronomie beschäftigten, ein Komet aufgefallen war, des - sen von ihnen angenommene Beziehung auf den Messias sie zu einer Reise nach Jerusalem, wo sie Herodes zu sich kommen lieſs, und von da nach Bethlehem veranlasste; wobei nun aber das Vorangehen und Stehenbleiben des Sterns mythische Zuthat sei. In Bethlehem, wo vielleicht gerade kein andres neugebornes Kind war, fanden sie das der Maria, welches sie jedoch seines armseligen Zustandes wegen nicht für das messianische erkannten, sondern, nach - dem sie ihm aus Mitleid Einiges von ihren Schätzen ge - schenkt, auf einem andern Wege zurückreisten, indem sie es nicht für der Mühe werth hielten, dem Herodes von ihrem vergeblichen Gange Rapport zu erstatten. Weil nun aber der Sohn der Maria sich später als Messias auswies, so drehte sich die Erzählung: der Stern muſste ihnen den Weg zu ihm gezeigt haben, sie selbst huldigend vor dem Kinde niedergefallen sein, und ein Engel sie gewarntDas Leben Jesu I. Band. 16242Erster Abschnitt.haben, nicht mehr zu Herodes zurückzukehren. Daſs He - rodes sofort Kinder in Bethlehem morden lieſs, und Jo - seph, davon unterrichtet, nach Ägypten floh, ist wieder historisch; nur die darauf angewendeten A. T. lichen Stel - len und die Engelerscheinungen sind späterer Zusaz. — Schon etwas mehr glaubte Krug12)Über formelle oder genetische Erklärungsart der Wunder. In Henke's Museum, 1, 3, 399 ff. auf Rechnung der Sa - ge schreiben zu müssen. Arabische Kaufleute, meint er, welche zufällig nach Bethlehem kamen, lernten Jesu Eltern als bedürftige Fremde kennen (nach Matthäus sind Jesu Eltern in Bethlehem nicht fremd), beschenkten sie, wünsch - ten ihnen viel Gutes für ihr Kind, und reisten weiter. Wie Jesus später als Messias sich geltend machte, erin - nerte man sich jener Begebenheit, und schmückte sie mit Stern, Traumerscheinung und glaubiger Huldigung aus. Auch die Erzählungen von der Flucht nach Ägypten und dem Bethlehemitischen Kindermord schloſsen sich an, weil man eine Wirkung jenes Vorfalls auf den Herodes voraussezt[e], der vielleicht um jene Zeit aus andern Ursachen in Bethle - hem einige Familien umbringen lieſs, wie auch Jesus viel - leicht später zu andern Zwecken in Ägypten war.
Bei dieser, wie bei der reinnatürlichen Erklärungsart, bleiben also die Fakta der Ankunft einiger Orientalen, der Flucht nach Ägypten und der Blutscene in Bethlehem ste - hen, entkleidet jedoch von allem wunderhaften Schmucke, welcher sie in der evangelischen Erzählung umgiebt. So sollen nun diese Fakta begreiflich sein, und gar wohl sich haben zutragen können. In der That aber werden sie da - durch unbegreiflicher, als selbst bei der orthodoxen Erklä - rungsart. Denn mit dem übernatürlichen Schmucke ist je - nen Thatsachen zugleich alles Motivirende genommen, und sie schweben völlig in der Luft. Wie die Orientalen in ein Verhältniſs zu Jesu Eltern und dem Kinde kommen,243Viertes Kapitel. §. 32.ist in der Erzählung des Matthäus vollständig motivirt: bei der zulezt ausgeführten Erklärungsweise aber bleibt es ein wunderlicher Zufall. Das Blutbad zu Bethlehem hat in der evangelischen Geschichte seine bestimmte Ver - anlassung: hier aber begreift man nicht, wie Herodes da - zu gekommen sein soll, es zu veranstalten, und ebenso steht die Reise Jesu nach Ägypten, so dringend begründet bei Matthäus, bei dieser Ansicht ganz unerklärlich da. Man kann zwar sagen: diese Begebenheiten werden in der Wirk - lichkeit ihre hinreichenden Veranlassungen gehabt haben, nur daſs Matthäus diesen natürlichen Zusammenhang ver - schwiegen und einen andern wunderhaften an die Stelle ge - sezt hat. Allein der Schriftsteller oder die Sage, wenn sie Begebenheiten mit ganz falschen Motiven und Neben - umständen zu umgeben im Stande sind: so vermögen sie auch die Begebenheiten selbst zu erdichten, und dieſs wird um so wahrscheinlicher, je klarer sich nachweisen läſst, wie die Sage, auch ohne daſs irgend etwas dergleichen wirklich vorgefallen war, ein Interesse haben konnte, es als so vorgefallen darzustellen. Dieſs läſst sich aber kaum bei einem evangelischen Abschnitt einleuchtender machen, als eben bei dem unsrigen.
In naiver Weise haben mehrere Kirchenväter auf den wahren Schlüssel der Erzählung von den Magiern und ihrem Sterne hingewiesen, indem sie, um zu erklären, wo - her jene heidnischen Astrologen von einem Stern des Mes - sias haben wissen können, die Vermuthung aufstellten, sie mögen wohl aus den Weissagungen des heidnischen Pro - pheten Bileam, dessen Orakel von dem aus Jakob aufge - henden Sterne auch bei Moses sich finde, geschöpft ha -16*244Erster Abschnitt.ben1)Orig. c. Cels. 1, 60. Ebenso Auctor op. imperf. in Matth. bei Fabric. Cod. Pseudepigr. V. T. p. 807 f.. Mit richtiger Einsicht hat daher K. Ch. L. Schmidt an der Paulus'schen Auslegung dieses Abschnitts beson - ders dieſs getadelt, daſs sie keine Rücksicht auf den Stern nehme, welcher sich, nach jüdischer Erwartung, bei der Erscheinung des Messias zeigen sollte. Und doch, sezt er hinzu, ist in keinem Andern Heil, ist auch kein andrer Name da, wodurch dieser Erzählung könnte geholfen wer - den2)Schmidt's Bibliothek, 3, 1, S. 130.. Nämlich die Weissagung Bileams 4. Mos. 24, 17. von einem Stern aus Jakob war allerdings die Veranlas - sung, — freilich nicht, wie die Kirchenväter glaubten, daſs wirklich damals Magier einen erschienenen Stern für den des Messias erkannten und deſshalb nach Jerusalem reisten, wohl aber, daſs die Sage bei Jesu Geburt einen Stern er - scheinen und von Astrologen als den des Messias erkannt werden lieſs. Die dem Bileam in den Mund gelegte Weis - sagung bezog sich ursprünglich auf irgend einen glückli - chen und siegreichen israëlitischen Regenten; sie scheint aber frühzeitig eine messianische Deutung erhalten zu ha - ben. Sollte auch die Übersetzung des Targum Onkelos: surget rex ex Jacobo, et Messias (unctus) ungetur ex Israële nichts beweisen, da hier das unctus als Parallele des rex vielleicht auch einen gewöhnlichen König bedeuten könnte: so haben doch nach Aben Esra's Zeugniſs3)In loc. Num. (bei Schöttgen, horae, 2, S. 152.): Multi in - terpretati sunt haec de Messia. und den von Wetstein und Schöttgen angeführten Stellen4)Wetstein z. d. St., Schöttgen, horae, 2, S. 151 f. manche Rabbinen die Weissagung auf den Messias bezo - gen. Auch der Name Bar Cochba, welchen der bekann - te Pseudomessias unter Hadrian führte, war mit Rück - sicht auf die messianisch gedeutete Weissagung des Bi - leam gewählt.
245Viertes Kapitel. §. 32.Ihrem ursprünglichen Sinn nach spricht zwar die be - zeichnete Stelle von keinem wirklichen Sterne, sondern vergleicht nur den zu erwartenden Fürsten Israëls mit ei - nem solchen, und so wird sie auch noch von dem ange - führten Targum ausgelegt; bald aber machte der steigen - de Glaube an Astrologie, vermöge dessen man jede merk - würdige Begebenheit durch siderische Veränderungen an - gezeigt sich dachte, daſs man den Spruch des Bileam nicht mehr bildlich, sondern eigentlich von einem Stern verstand, der zur Zeit des Messias am Himmel erscheinen sollte. Was die Verbreitung des astrologischen Glaubens um die Zeit Jesu betrifft, so glaubte man z. B. die künftige Grös - se des Mithridates durch einen, in den Jahren seiner Ge - burt und seines Regierungsantritts erschienenen Kometen vorbedeutet,5)Justin. Hist. 37, 2. und ein bald nach J. Cäsars Tod beobach - teter Komet wurde in genaue Beziehung zu diesem Ereig - niſs gesezt6)Plin. H. N. 2, 23.. Daſs diese Vorstellungsweise auch auf die Juden von Einfluſs war, erhellt daraus, daſs wenigstens spätere jüdische Schriften zur Zeit von Abrahams Geburt einen ausgezeichneten Stern erscheinen lassen7)Jalkut Rubeni, f. 32, 3 (bei Wetstein): qua hora natus est Abrahamus, pater noster, super qu[e]m sit pax, stetit quod - dam sidus in oriente et deglutivit quatuor astra, quae erant in quatuor coeli plagis. Nach einer arabischen Schrift, Ma - allem betitelt, wird dieser die Geburt Abrahams vorbedeu - tende Stern von Nimrod im Traum gesehen. Fabric. Cod. pseudepigr. V. T. 1, S. 345.. Von hier aus lag es denn nahe, auch die Geburt des Messias durch einen Stern verkündigt sich zu denken, zumal ein solcher in dem messianisch gedeuteten Bileamsorakel bereit lag. Wirklich machten die Juden diese Combination; denn rab - binische Vorstellung ist es wenigstens, daſs zur Zeit der Geburt des Messias ein Stern im Osten erscheinen und246Erster Abschnitt.längere Zeit sichtbar sein werde8)Testamentum XII Patriarcharum, test. Levi, 18 (Fabric. Cod. pseud. V. T. p. 584 f.): καὶ ἀνατελεῖ ἄςρον αὐτ[οῦ](des mes - sianischen ἱερεὺς καινὸς) ἐν οὐρανῷ, — φωτίζον φῶς γνώσεως κ. τ. λ. Pesikta Sotarta f. 48, 1 (bei Schöttgen 2, S. 531): Et prodibit stella ab oriente, quae est stella Messiae, et in oriente versabitur dies XV. Vgl. Sohar Genes. f. 74. bei Schöttgen 2, 524, und einige andere Stellen, welche Ideler nachweist im Handbuch der Chronologie, 2. Bd. S. 409. An - merk. 1. und Bertholdt, Christologia Judaeor. §. 14.. Wie mit dieser ein - facheren jüdischen Vorstellung, daſs zur Zeit des Me - sias überhaupt ein Stern erscheinen werde, unsre Erzäh - lung im Matthäus verwandt ist: so mit jenen übertreiben - den Schilderungen des zu Abrahams Zeit erschienenen Ge - stirns die apokryphischen Beschreibungen des Sterns, der Jesu Geburt verkündigt haben sollte9)Vergl. mit den, Anm. 7. angeführten Stellen Protevang. Jac. cap. 21: εἴδομεν ἀςέρα παμμεγέϑη, λάμψαντα ἐν τοῖς ἄςροις τούτοις καὶ ἀμβλύνοντα αὐτοὺς τοῦ φαίνειν. Noch mehr übertrieben in Ignat. ep. ad Ephes. 19. S. die Sammlung hiehergehöriger Stellen bei Thilo, cod. apocr. 1, S. 390 f.. Offenbar also ver - hält es sich mit dem bei Jesu Geburt nach Matthäus er - schienenen Stern so, wie schon K. Ch. L. Schmidt10)Exeget. Beiträge 1, S. 159 ff., mit welchem neuestens auch Fritzsche übereinstimmt, es darge - stellt hat. Wie Sterne überhaupt immer die Vorläufer groſser Begebenheiten sind: so, dachten die Juden zur Zeit Jesu, müsse nach 4. Mos. 24, 17. auch des Messias Geburt durch einen Stern voraus verkündigt werden. Die neuen Christen aus den Juden aber konnten ihren Glauben an Je - sum als den Messias vor sich und Andern nur dadurch rechtfertigen und begründen, daſs sie alle Attribute, welche die jüdische Zeitvorstellung dem Messias lieh, an ihrem Jesus als verwirklicht nachzuweisen sich bemühten, was247Viertes Kapitel. §. 32.um so argloser und unwidersprochener geschehen konnte, je weiter man sich von dem Zeitalter Jesu entfernte, und je mehr namentlich die Geschichte seiner Kindheit im Dunkel lag. Daher zweifelte man bald genug nicht mehr, daſs nicht auch die erwartete Erscheinung eines Sterns bei Jesu Geburt wirklich zugetroffen sei11)Fritzsche in der Überschrift vom Kap. 2: Etiam stella, quam judaica disciplina sub Messiae natales visum iri dicit, quo Jesus nascebatur tempore exorta est.. Daſs aber diese Erscheinung von orientalischen Magiern gesehen worden, dieser Zug ergab sich, den Stern einmal vorausgesezt, von selbst; denn die Bedeutung desselben konnte Niemand bes - ser verstehen als Astrologen, und als das Vaterland dieser Kenntnisse galt der Orient.
Indessen hängt dieſs, so wie ohnehin das, daſs die Magier eine Reise nach Judäa unternehmen und dem mes - sianischen Kinde köstliche Geschenke bringen, noch mit andern A. T. lichen Stellen zusammen. In der Schilde - rung der besseren Zukunft, welche Jesaias Kap. 60. giebt, wird namentlich auch dieſs hervorgehoben, daſs in jener Zeit die entferntesten Völker und Könige zur Verehrung Jehova's nach Jerusalem kommen und Gold und Weihrauch und allerlei angenehme Gaben darbringen werden12)Wie es Matth. 2, 11. von den Magiern heisst: προσήνεγκαν αυτῷ — χρυσὸν καὶ λίβανον: so Jes. 60, 6 (LXX): ἥξουσι, φέροντες χρυσίον, καὶ λίβανον οἴσουσι. Das dritte Geschenk, welches bei Matth. in σμύρνα besteht, ist bei Jes. λίϑος τίμιος.. Wenn in dieser jesaianischen Stelle nur von der messianischen Zeit die Rede ist, ein messianisches Subjekt aber fehlt: so wird Ps. 72. von einem Könige, von dem es heiſst, man werde ihn fürchten so lange Mond und Sonne währen, zu seiner Zeit werde Gerechtigkeit blühen und alle Völker ihn preisen, also von einem leicht messianisch zu fassenden248Erster Abschnitt.Subjekte, gerade wie Jes. 60. gesagt, daſs ihm fremde Kö - nige Gold und andere Geschenke bringen werden (V. 10. 15.). Dazu kommt, daſs in jener Prophetenstelle das Wall - fahrten fremder Völker nach Jerusalem mit einem über die - ser Stadt aufgegangenen Lichte in Verbindung gesetzt ist13)V. 1 (LXX): φωτίζου, φωτίζου, Ἱερουσαλὴμ, ἥκει γάρ σου τὸ φῶς, καὶ ἡ δόξα Κυρίου ἐπί σε ἀνατέταλκεν. V. 3: καὶ πορεύσονται βασιλεῖς τῷ φωτί σου (לְאוֺרֵךְ) κ. τ. λ. , welches an den Stern des Bileam erinnern muſste. Was war daher natürlicher, da man auf der einen Seite einen messianischen Stern aus Jakob, zu dessen Beobachtung Sternkundige am geeignetsten waren, auf der andern ein über Jerusalem aufgegangenes Licht hatte, zu welchem ferne Völker, Geschenke bringend, wandeln sollten, — als Beides zu combiniren und zu sagen: des über Jerusalem aufgegangenen Sterns wegen kamen fernher Astrologen mit Geschenken für den durch den Stern angedeuteten Mes - sias? — Hatte man aber einmal einen Stern und um sei - netwillen fernher ziehende Reisende: so lieſs man lieber auch vollends diesen Stern den unmittelbaren Führer ihrer Reise sein, ihnen auf ihrem Zuge voranleuchten. Diese Vorstellung war im Alterthum sehr gewöhnlich: dem Äneas bezeichnete nach Virgil eine stella facem ducens vorbe - deutend den Weg von Troja in das Abendland14)Aeneid. 2, 693 ff.; den Thrasybul und Timoleon führten himmlische Feuer15)S. die Nachweisungen bei Wetstein z. d. St. und auch dem Abraham sollte ein Stern den Weg zum Moria gezeigt haben16)Nach einer Stelle bei Wetstein S. 247.. Zudem schien in der Prophetenstelle selbst das Himmelslicht mit der Wanderung der Geschen - kebringenden als Leiter ihres Zugs in Verbindung gesetzt zu sein; wenigstens konnte der zunächst bildliche Aus - druck, Völker und Könige werden in dem, über Jerusalem249Viertes Kapitel. §. 32.aufgegangenen Lichte wandeln, später leicht in rabbinischem Geiste eigentlich verstanden werden. Daſs der Stern die Magier nicht geradezu nach Bethlehem führt, wo Jesus sich befand, sondern sie erst nach Jerusalem sich wenden, könnte einestheils in der Prophetenstelle seinen Grund ha - ben, welche das aufgehende Licht und die Geschenkebrin - genden auf Jerusalem bezieht; der Hauptgrund ist jedoch, daſs zu Jerusalem Herodes zu finden war. Was eignete sich nämlich mehr zur Veranlassung des herodischen Mord - befehls, als die Aufsehen erregende Nachricht der Magier, den Stern des groſsen Judenkönigs gesehen zu haben?
Einen Mordbefehl des Herodes gegen Jesum ergehen zu lassen, lag aber im Interesse der urchristlichen Sage. Durch Mordanschläge und Aussetzungen hat von jeher die Sage die Kindheit groſser Männer verherrlicht: je gröſser die Gefahr, welche über ihnen schwebte, desto höher scheint ihr Werth zu steigen; je unerwarteter ihre Ret - tung erfolgt, desto deutlicher zeigt sich, wie viel dem Him - mel an ihnen gelegen war. Daher finden wir in den Kind - heitsgeschichten des Cyrus bei Herodot17)1, 108 ff., des Romulus bei Livius18)1, 4., selbst noch später in der des Augustus bei Sueton19)August. 94:Ante paucos quam nasceretur menses prodigium Romae factum publice, quo denuntiabatur, regem populi Ro - mani naturam parturire. Senatum exterritum, censuisse, ne quis illo anno genitus educaretur. Eos, qui gravidas uxores haberent, quo ad se quisque spem traheret, curasse, ne Se - natusconsultum ad aerarium deferretur., diesen Zug, und auch die hebräische Sage hat ihn bei Moses nicht vergessen. Die Erzählung 2. Mos. 1. 2. ist der unsrigen besonders darin genau verwandt, daſs der Mordbefehl beidemale nicht blos speciell auf Moses oder Jesus, sondern allgemein auf eine gewisse Klasse von Kin - dern, dort alle männlichen, neugeborenen, hier auf alle250Erster Abschnitt.von und unter zwei Jahren, sich bezieht. Freilich nach der Erzählung des Exodus ist der Mordbefehl ganz ohne Rücksicht auf den Moses gegeben, von dessen Geburt Pha - rao nichts ahnt, und der also nur zufällig durch jenen Be - fehl mitgefährdet wird: aber diese Darstellung war der Tradition im hebräischen Volke nicht absichtsvoll genug, und sie hat daher schon bei Josephus eine Wendung erhalten, durch welche sie den Sagen von Cyrus und Augustus, aber auch der Erzählung des Matthäus bedeutend ähnlicher wurde, die nämlich, daſs eine Eröffnung seiner Schriftdeu - ter (wie bei Herodot der Traumdeuter und bei Matthäus der Sterndeuter), es werde ein Kind geboren werden, das den Israëliten aufhelfen, die Ägypter aber demüthigen wür - de, den Pharao zu jenem Mordbefehl veranlaſst habe20)Joseph. Antiq. 2, 9, 2: τῶν ἱερογραμματέων τις — — ἀγ - γέλλει τῷ βασιλεῖ, τεχϑήσεσϑαί τινα κατ 'ἐκεῖνον τὸν καιρὸν τοῖς Ἰσραηλίταις, ὃς ταπεινώσει μὲν τὴν Αἰ - γυπτίων ἡγεμονίαν, αὐξήσει δὲ τοὺς Ἰσραηλίτας τραφεὶς, ἀρετῇ δὲ πάντας ὑπερβαλεῖ, καὶ δόξαν ἀ[ου]ίμνηςον κτή - σεται. Δείσας δὲ ὁ βασιλεὺς, κατὰ γνώμην τὴν ἐκείνου κελεύει πᾶν τὸ γεννηϑὲν ἄρσεν ὑπὸ τῶν Ἰσραηλιτῶν εἰς τὸν ποταμὸν ῥιπτοῦντας διαφϑείρειν. . Wie den Gesetzgeber, so lieſs die Sage bald auch den Stammvater der Nation, kaum geboren, durch den Mord - anschlag eines argwöhnischen Tyrannen in Lebensgefahr gerathen. Wie dem Moses Pharao als Feind und Unter - drücker entgegenstand, so wurde dem Abraham Nimrod in der gleichen Rolle gegenübergestellt. Diesem sagten sei - ne Weisen, durch einen ausgezeichneten Stern aufmerksam gemacht, daſs dem Tharah ein Sohn geboren sei, von wel - chem ein gewaltiges Volk abstammen werde, worauf er ebenfalls einen Mordbefehl ergehen läſst, welchem jedoch Abraham glücklich entgeht21)Jalkut Rubeni (Fortsetzung der Anm. 7. angeführten Stelle):dixerunt sapientes Nimrodi: natus est Tharae filius hac ipsa hora, ex quo egressurus est populus, qui haereditabit prae -. Was Wunder, daſs man251Viertes Kapitel. §. 32.nun, wie dem Stammvater und dem Gesetzgeber, so auch dem Wiederhersteller der Nation, dem Messias, einen an - dern Nimrod und Pharao in der Person des Herodes ent - gegenstellte, diesem durch Weise seine Geburt verkündi - gen, ihn dem Neugeborenen nach dem Leben trachten, diesen aber seinen Nachstellungen glücklich entkommen lieſs? Hat ja doch die apokryphische Legende sich bewo - gen gefunden, auch in der Geschichte des Vorläufers die - sen Zug nachzubilden: auch er soll durch den herodischen Mordbefehl in Gefahr gekommen, aus dieser durch das Wunder eines für ihn und seine Mutter sich öffnenden Berges gerettet, sein Vater aber, weil er den Aufenthalts - ort des Knaben nicht anzeigen wollte, ermordet worden sein22)Protev. Jacobi c. 22 f..
Die Art, wie Jesus den Nachstellungen des Herodes entgeht, ist eine andere, als wie nach der mosaischen Ge - schichte Moses und nach der jüdischen Sage Abraham23)S. die Fortsetzung der Not. 21. angeführten Stellen. den gegen sie ergangenen Mordbefehlen; nämlich durch eine Flucht aus dem Lande, nach Ägypten. Eine Flucht ausser Landes kommt zwar auch im Leben des Moses vor, aber nicht in der Geschichte seiner Kindheit, sondern nach - dem er als Mann den Ägypter erschlagen, als Pharao ihm deſshalb nach dem Leben trachtet, flüchtet er sich nach Midian (2. Mos. 2, 15.). Daſs auf diese Flucht des ersten Goël bei der des zweiten Rücksicht genommen ist, zeigt unser Text selbst ausdrücklich an, indem er dem Engel, welcher den Joseph zur Rückkehr aus Ägypten nach Palä - stina ermuntert, dieselben Worte in den Mund legt, mit welchen dort die Rückkehr des Moses aus Midian nach21)sens et futurum seculum; si tibi placuerit, detur patri ip - sius domus argento auroque plena, et occidat ipsum. Vgl. auch die Stelle des arabischen Buchs, bei Fabric. Cod. pseud - epigr. a. a. O.252Erster Abschnitt.Ägypten motivirt ist24)2. Mos. 4, 19 (LXX): βάδιζε, ἄπελϑε εἰς Αϊγυπτον· τεϑνή - κασι γὰρ πάντες οἱ ζητοῦντές σου τὴν ψυχήν. Matth. 2, 20: ἐγερϑεὶς-πορεύου εἰς γῆν Ἰσραὴλ, τεϑνή - κασι γὰρ οἱ ζητοῦντες τὴν ψυχὴν τοῦ παιδιου.. Daſs nun aber Jesus gerade nach Ägypten geflüchtet wird, dafür läſst sich freilich die eben dahin gehende Flucht Jerobeanus, dieses Abtrünnigen von dem Davidisch-messianischen Geschlechte (1. Kön. 11, 40. 12, 2.) nicht anführen; sondern wir müssen uns hiefür an die Prophetenstelle halten, welche unser Evangelist aus Hosea 11, 1. citirt: ἐξ Αἰγύπτου ἐκάλεσα τὸν υἱόν μου. Daſs diese Stelle von den Juden auf den Messias bezogen wor - den wäre, dafür sind zwar die unmittelbaren Belege sehr unsicher25)S. z. B. Schöttgen, horae, 2, 209., doch war es bei Vergleichung von Stellen wie Ps. 2, 7, wo das בְנֵי אַתָּה auf den Messias bezogen wur - de, natürlich, daſs man auch dem לִבְנִי bei Hosea eine mes - sianische Beziehung gab; was zur Erklärung dieses Zuges in der Kindheitsgeschichte Jesu hinreicht, wenn auch al - lerdings die jüdische Meinung, daſs der Messias bald nach seiner Geburt werde verborgen werden26)Schöttgen, 2, 532 f., zu heterogen, die andre aber, daſs er unter Heiden erzogen werden wer - de27)Tanchuma f. 19, 3. bei Schöttgen, 2, S. 169., erst nach der lezten Zerstreuung des Volks ent - standen sein mag.
Da sich den Schwierigkeiten der supranaturalistischen wie der natürlichen Erklärung gegenüber, wie wir nun - mehr sehen, die mythische so ganz von selbst ergiebt: so kann nicht lange die Frage sein, welche den Vorzug ver - diene, und wir müssen uns daher bescheiden, auch durch die bisher betrachtete Erzählung kein einzelnes Faktum aus dem Leben Jesu zu erfahren, sondern nur eine neue Probe davon zu bekommen, wie bestimmt der messianische253Viertes Kapitel. §. 32.Eindruck war, den Jesus hinterlieſs, da selbst der Ge - schichte seiner Kindheit ein messianischer Zuschnitt gege - ben wurde28)Auch Schleiermacher, über den Lukas, S. 47, erklärt die Er - zählung von den Magiern u. s. w. für eine symbolische; da er es aber verschmäht, auf die hiehergehörigen A. T. lichen u. a. Stellen Rücksicht zu nehmen, so rächt sich diess da - durch, dass er in der Deutung der Erzählung theils im All - gemeinen stehen bleibt, theils in's Schiefe geräth..
Blicken wir von hier noch einmal auf die Erzählung des Lukas, Kap. 2., zurück, so weit sie der unsrigen par - allel läuft: so haben wir schon gesehen, daſs die unsrige das von Lukas Erzählte nicht als früher Vorgefallenes vor - aussezt; noch weniger kann das Umgekehrte stattfinden, daſs die Magier vor den Hirten gekommen wären: es fragt sich also, ob nicht vielleicht beide Berichte dasselbe dar - stellen wollen, nur daſs sie dieſs auf verschiedene Weise thun? Auf dem älteren orthodoxen Standpunkte, welcher den Stern bei Matthäus als einen Engel zu fassen geneigt war, lag es nahe, denselben mit dem Engel bei Lukas in der Art zu identificiren, daſs der in der Geburtsnacht Jesu den bethlehemitischen Hirten erschienene Engel von den Magiern in der Ferne für einen über Judäa stehenden Stern gehalten worden sein sollte29)So Lightfoot, horae p. 202., so daſs beide Be - richte im Wesentlichen richtig wären. Neuerlich hat man nur Einen, und zwar den des Lukas, als den richtigen vorausgesezt, den des Matthäus aber als ausgeschmückte Umbildung von jenem dargestellt. Aus dem Engel im himm - lischen Glanze bei Lukas soll in der umbildenden Erzäh - lung der Matthäustradition ein Stern geworden sein, wie die Begriffe von Engeln und Sternen in der höheren jü - dischen Theologie zusammenfloſsen; die Hirten aber sollen zu königlichen Weisen umgebildet worden sein, wie ja die254Erster Abschnitt.Könige im Alterthum Hirten der Völker heiſsen30)Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums, S. 69 ff.. Diese Ableitung wäre selbst dann durch ihre Künstlichkeit un - wahrscheinlich, wenn es richtig wäre, was dabei voraus - gesezt wird, daſs die hiehergehörigen Erzählungen des Lukas den Stempel der historischen Wahrheit tragen. Da wir aber hievon das Gegentheil nachgewiesen zu haben hoffen, mithin zwei gleich unhistorische Erzählungen vor uns liegen: so fehlt jeder Grund, die gequälte Herausdeu - tung des Matthäischen Berichts aus dem des Lukas der so einfachen Ableitung desselben aus A. T. lichen Stellen und jüdischen Meinungen vorzuziehen. Es sind also diese bei - den Beschreibungen der ersten Introduktion Jesu zwar Variationen über dasselbe Thema, aber ohne direkten Ein - fluſs der einen auf die andere.
Es ist oben bemerkt worden, daſs die im Anfang ziem - lich parallel laufenden Erzählungen des Matthäus und Lu - kas in der Folge ganz auseinandergehen, indem, statt der tragischen Katastrophe mit Kindermord und Flucht uns Lukas die friedliche Scene der Darstellung des Jesuskindes im Tempel aufbehalten hat. Setzen wir für jezt das Re - sultat unsrer lezten Untersuchung, den blos mythischen Charakter der Erzählung bei Matthäus, bei Seite und fra - gen: in welchem Zeitverhältniſs soll diese Darstellung im Tempel zu dem Magierbesuch und der Flucht nach Aegyp - ten stehen?
Eine ausdrückliche chronologische Bestimmung hat von beiden Begebenheiten nur die Darstellung im Tempel, von welcher es heiſst, daſs sie nach der gesetzlichen Zeit der255Viertes Kapitel. §. 33.Reinigung einer Mutter, d. h. also, nach 3. Mos. 12, 2 — 4., 40 Tage nach der Geburt des Kindes, vorgegangen sei (Luc. 2, 22.). Die Zeit der andern Begebenheit ist nicht so be - stimmt festgesezt: es heiſst nur, die Magier seien angekom - men τοῦ Ἰησοῦ γεννηϑέντος ἐν Βηϑλεὲμ (Matth. 2, 1.), un - bestimmt wie lange hernach. Da aber durch dieses Par - ticip der Besuch der Magier unmittelbar, wenigstens wie wenn nichts Bedeutendes dazwischen vorgefallen wäre, an die Geburt des Kindes angeknüpft zu werden scheint: so hat dieſs einige Ausleger auf die Ansicht geführt, daſs je - ner Besuch vor die Darstellung im Tempel zu setzen sei1)So z. B. Augustin de consensu evangelistarum 2, 5. Storr, opusc. acad. 3, S. 96 ff.. Dabei bleibt noch die doppelte Möglichkeit offen, entwe - der auch noch die Flucht nach Ägypten der Darstellung im Tempel vorzusetzen, oder den Besuch der Magier zwar dieser voranzustellen, die F[l]ucht aber erst auf die Darstel - lung folgen zu lassen. Nimmt man das Leztere an, und klemmt die Darstellung im Tempel zwischen den Magier - besuch und die Flucht ein: so verwickelt man sich in einen schlimmen Zwiespalt sowohl mit den Worten des Matthäus als mit dem Zusammenhang der Sachen. Da nämlich mit derselben Participialconstruktion der Evangelist hier an die Umkehr der Magier die Aufforderung zur Flucht knüpft (ἀναχωρησάντων αὐτῶν ἰδοὺ ἄγγελος κ. τ. λ. V. 13.), mit welcher er V. 1. die Ankunft der Morgenländer an die Ge - burt Jesu angeschlossen hatte: so muſs doch gewiſs derje - nige, welchen diese Construktion oben bewogen hatte, die durch sie verbundenen Begebenheiten ohne Dazwischen - kunft eines andern bedeutenden Vorfalls aufeinander fol - gen zu lassen, auch hier sich durch dieselbe abgehalten finden, zwischen die durch sie verknüpften Ereignisse des Besuchs und der Flucht ein drittes einzuschieben. Was aber die Sache betrifft, so wird man doch nicht wahrschein -256Erster Abschnitt.lich finden wollen, daſs in einem Zeitpunkt, in welchem Gott dem Joseph anzeigen läſst, er sei zu Bethlehem nicht mehr vor Herodes sicher, demselben eine Reise nach Je - rusalem, also eigentlich in die Hände des Herodes hinein, zugelassen worden wäre. Jedenfalls hätte allen Betheilig - ten die strengste Vorsicht eingeschärft werden müssen, das Ruchtbarwerden der Anwesenheit des messianischen Kindes in Jerusalem zu verhüten. Solches ängstliche Incognito ist aber in der Erzählung des Lukas nirgends zu spüren, vielmehr macht nicht nur Simeon im Tempel auf Jesum aufmerksam, ohne vom Geist oder von den Eltern daran verhindert zu werden, sondern auch Hanna glaubt der gu - ten Sache einen Dienst zu thun, wenn sie die Kunde von dem neugeborenen Messias so sehr wie möglich verbreite (Luc. 2, 28. ff. 38.). Daſs sie dieſs nur unter Gleichge - sinnten that (ἐλάλει περὶ ἀυτοῦ πᾶσι τοῖς προςδεχομένοις λύτρωσιν ἐν Ἱερουσαλὴμ), konnte nicht verhindern, daſs es nicht auch der herodischen Partei bekannt wurde, da eben, je gröſser die Aufregung jener προςδεχόμενοι durch solche Kunde wurde, desto mehr auch die Aufmerksamkeit der Regierung erregt werden, und so Jesus in die Hände des lauernden Herodes fallen muſste.
In jedem Falle müſste sich also, wer die Darstellung im Tempel nach dem Besuch der Magier sezt, auch dazu vollends entschlieſsen, sie selbst bis nach der Rückkehr aus Ägypten zu verschieben. Allein auch dabei geht es nicht ohne Verstoſs gegen die Berichte ab. Es müſste sich nämlich dieser Annahme zufolge zwischen der Geburt Jesu und seiner Darstellung im Tempel ereignet haben: die An - kunft der Magier; die Flucht nach Aegypten; der bethle - hemitische Kindermord; der Tod des Herodes; die Rück - kehr der Eltern Jesu aus Aegypten. Das ist aber für 40 Tage offenbar zu viel; man müſste daher annehmen, die Darstellung des Kindes und der erste Tempelbesuch der Wöchnerin sei über die gesetzliche Zeit hinaus verschoben257Viertes Kapitel. §. 33.worden. Dieſs läuft aber der Erzählung des Lukas zuwi - der, welcher durch sein ἅτε ἐπλήσϑησαν αἱ ἡμέραι τοῦ κα - ϑαρισμοῦ αὐτῶν κατὰ τὸν νόμον Μωσέως (V. 22.) ausdrück - lich sagt, daſs der Tempelbesuch zur gesetzlichen Zeit stattgefunden. Doch gleichviel, ob früher oder später: die Eltern Jesu konnten dem Matthäus zufolge nach ihrer Rückkehr aus Aegypten so wenig als unmittelbar vor ih - rem Abgang dahin an eine Reise nach Jerusalem denken. Denn da bei der Rückkehr von der Flucht Joseph wegen des Archelaus vor Judäa gewarnt wird, das unter sei - ner Herrschaft stand, so konnte er es am wenigsten wa - gen, in dessen Residenz, Jerusalem, selbst sich zu begeben.
Da also auf keine dieser beiden Weisen die Darstel - lung im Tempel es ertragen will, dem Magierbesuche nach - gesezt zu werden, so bleibt nur das Andre übrig, jene von Lukas erzählte Begebenheit den beiden von Matthäus berichteten voranzustellen, wofür sich auch immer die Mehrheit der Ausleger entschieden hat2)Unter den Neueren z. B. Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 51 ff. Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 203 f. Olshausen, bibl. Com - ment. 1, S. 147.. Hienach wären also die Eltern Jesu zuerst von Bethlehem, wo das Kind geboren war, nach Jerusalem gereist, um die gesetzlichen Gaben darzubringen; sodann wären sie wieder nach Beth - lehem zurückgekehrt, wo (nach Matth. 2, 1. und 5.) die Magier sie fanden; hierauf wäre die Flucht nach Aegyp - ten, und nach der Rückkehr von derselben die Ansiede - lung in Nazaret vor sich gegangen. Die hiebei vor Allem sich aufdringende Frage: was hatten denn die Eltern Je - su nach der Darstellung im Tempel noch einmal in Beth - lehem zu thun, das ja gar nicht ihre Heimath war, und wo sie binnen der 40 Tage ihre Geschäfte wegen der Schat - zung gewiſs hatten abmachen können? muſs zwar auf spä - ter verwiesen werden; indessen wird dieser in der SacheDas Leben Jesu I. Band. 17258Erster Abschnitt.liegende Entscheidungsgrund vollständig ersetzt durch einen, der in den Worten liegt. Lukas nämlich sagt (V. 39.) gar zu bestimmt, nach Vollendung der gesetzlichen Opfer u. s. f., seien Jesu Eltern wieder nach Nazaret zurückgekehrt, als in ihre eigentliche Heimath, und nicht nach dem blos vor - übergehenden Aufenthaltsort Bethlehem. Kamen also die Magier nach der Darstellung im Tempel: so muſsten sie die Eltern Jesu schon wieder in Nazaret treffen und nicht in Bethlehem, wie Matthäus sagt3)Was Olshausen S. 147. einen mindestens haltbaren Ausweg für denjenigen nennt, der die Syrten der Mythen zu vermei - den den Beruf fühle, dass nämlich (S. 145.) zwischen das bei Lukas 2, 39. unmittelbar verbundene ὡς ἐτέλεσαν απαν - τα und ὑπέςρεψαν εἰς Ναζαρὲτ sich gar wohl noch andere Reisen hineindenken lassen, indem das ὑπέςρεψαν κ. τ. λ. als Schlussformel nur den fortan bleibenden Aufenthalt Jesu anzeige, vor welchem wohl noch einige vorübergehende (wie Bethlehem, Ägypten) vorangegangen sein könnten, — das sollte er vielmehr eine Ausflucht heissen, die nur derjenige haltbar zu nennen den Beruf fühlen kann, welcher befangen genug ist, vor Mythen im N. T. als vor Syrten zurückzu - schrecken. — Dass aber nach Michaelis (Anmerk. zu seiner Übersetzung S. 379.) der Weg von Jerusalem nach Nazaret über das in entgegengesetzter Richtung gelegene Bethlehem geführt haben solle, eine so kecke Behauptung zeigt am deutlichsten, wie verzweifelt es um eine Sache ste - he, welcher zulieb dergleichen gemacht werden.. Dazu kommt noch, daſs, wenn wirklich der Ankunft der Magier die Darstel - lung im Tempel mit dem Aufsehen, welches die Reden Si - meon's und der Hanna machen muſsten, schon vorangegan - gen war: unmöglich dann bei der Ankunft der Magier die Geburt des messianischen Kindes zu Jerusalem noch so un - bekannt sein konnte, daſs, wie Matthäus meldet, die An - kündigung derselben durch die Magier allgemeine Bestür - zung erregte (2, 3.)4)Dieselbe Differenz in Feststellung des chronologischen Ver -.
259Viertes Kapitel. §. 34.Wenn somit die Darstellung Jesu im Tempel weder früher noch auch später stattgefunden haben kann, als der Besuch der Magier und die Flucht nach Aegypten, und ebenso wenig diese letztere Begebenheit früher oder spä - ter als jene erste: so ist es also unmöglich, daſs die eine sowohl als die andere sollte vorgefallen sein, sondern höch - stens kann die eine oder die andere sich ereignet haben5)Diese Unverträglichkeit der beiden Erzählungen ist schon frühe einigen Gegnern des Christenthums (Epiphanius, hae - res. 51, 8. nennt neben Celsus und Porphyr noch einen Phi - losabbatius) zum Bewusstsein gekommen. Nur überspannten sie den Bogen dadurch, dass sie den Matthäus so deuteten, als sollten noch in der Geburtsnacht Jesu die Magier ange - kommen sein.. Hätten wir sonach zu wählen, so dürften wir uns, so weit wir jetzt in der Untersuchung sind, in keinem Fall für die Erzählung des Matthäus und gegen die des Lukas entschei - den, sondern, da wir jene als mythisch erkannt haben, so bliebe uns nur übrig, mit neuern Kritikern6)Schleiermacher, über den Lukas, S. 47. Schneckenburger a. a. O. an der Er - zählung des Lukas festzuhalten und die des Matthäus preiſs - zugeben. Indeſs, ob nicht auch jene von gleicher Quali - tät mit dieser sei, mithin statt des Entweder, Oder, viel - mehr weder die eine noch die andre als historisch festge - halten werden dürfe, wird die nächstfolgende Untersuchung lehren.
Die Erzählung von der Darstellung Jesu im Tempel (Luc. 2, 22 — 38.) scheint auf den ersten Anblick ein ganz4)hältnisses der beiden Begebenheiten findet sich auch zwischen zwei verschiedenen Texten des Apokryphums: historia de na - tivitate Mariae et de inf. serv., s. bei Thilo, S. 385, not.17*260Erster Abschnitt.geschichtliches Gepräge zu tragen. Ein doppeltes Gesetz, das eine der Mutter ein Reinigungsopfer vorschreibend, das andre die Loskaufung des erstgeborenen Sohnes hei - schend, führt die Eltern Jesu mit dem Kinde nach Jeru - salem in den Tempel. Hier treffen sie einen frommen, messianischen Erwartungen hingegebenen Mann, mit Na - men Simeon, an. Manche Erklärer halten diesen Simeon für denselben mit dem Rabban Simeon (Hillels Sohn und Nachfolger als Präsident des Synedriums, und Vater Ga - maliels), welchen selbst wieder manche mit dem Sameas des Josephus1)Antiq. 14, 9. 4. 15, 1, 1 u. 10, 4. identificiren, und auf seine angeblich Davidi - sche Abkunft deſswegen Gewicht legen, weil diese ihn zum Verwandten Jesu mache, und die folgende Scene natürlich erklären helfe2)S. bei Paulus a. a. O. S. 194 f.. Doch auch ohne diese Annahme, welche schon durch die, für einen so bekannten Mann zu kahle Bezeichnung: ἄνϑρωπός τις bei Lukas unwahrscheinlich wird3)Paulus a. a. O. Das Evang. Nicodemi freilich nennt ihn c. 16, ὑ μέγας διδάσκαλος, und das Protev. Jacobi c. 24. macht ihn zum Priester oder gar zum Hohenpriester, s. die Varr. bei Thilo Cod. Apocr. N. T. 1, S. 271. vgl. 203., scheint sich immerhin die Scene, welche sich so - fort zwischen den Eltern Jesu und diesem Simeon zutrug, wie auch die Rolle, welche die Prophetin Hanna dabei spielte, auf sehr natürliche Weise erklären zu lassen. Nicht einmal das braucht man mit dem Verf. der natürlichen Ge - schichte4)1. Thl. S. 205 ff. vorauszusetzen, daſs Simeon schon vorher um die Hoffnung der Maria, den Messias zu gebären, gewuſst habe: man denke sich nur mit Paulus u. A.5)Paulus a. a. O. S. 191. Kuinöl, Comm. in Luc. p. 340. die Sache so. Be - seelt, wie Manche in jener Zeit, von der Erwartung der nahe bevorstehenden Ankunft des Messias, bekommt Simeon,261Viertes Kapitel. §. 34.wahrscheinlich im Traum, die Gewiſsheit, ihn vor seinem Ende noch sehen zu dürfen. Als er daher eines Tags dem Drange nicht widerstehen kann, den Tempel zu besuchen, und nun eben an diesem Tage Maria ihr Kind dahin brach - te, dessen Schönheit ihn schon anzog: so wurde, als sie ihm vollends die Davidische Abkunft des Kindes eröffnete, die Aufmerksamkeit und Theilnahme des Mannes in einem Grade rege, welcher die Maria bewog, ihm die Hoffnungen, wel - che auf diesem Spröſsling des al[te]n Königshauses ruhten, und die ausserordentlichen Ereign[is]se, welche dieselben ver - anlaſst hatten, zu entdecken. Diese Hoffnungen ergreift Si - meon mit Zuversicht, und spricht nun seine messianischen Erwartungen und Befürchtungen, in der Überzeugung, daſs sie an diesem Kinde in Erfüllung gehen werden, in begei - sterter Rede aus. Noch weniger braucht man für die Han - na die Annahme des Verfs. der natürlichen Geschichte, daſs sie, als eine jener bei der Entbindung Marias anwe - senden Frauen, mit den auf dem Kinde ruhenden Hoffnun - gen schon vorher bekannt gewesen: sie hatte ja Simeons Reden gehört, und gleichgestimmt, wie sie war, gab sie denselben ihren Beifall.
So einfach diese natürliche Erklärung scheint: so ist sie doch auch hier nicht minder gewaltsam, als wir sie sonst gefunden haben. Denn daſs dem Simeon, ehe er in seine begeisterte Rede sich ergoſs, die Eltern Jesu etwas von ihren ausserordentlichen Erwartungen mitgetheilt hät - ten, sagt unser Referent nicht nur nirgends, sondern die Pointe seiner ganzen Erzählung besteht gerade darin, daſs der fromme Greis in Kraft des ihn erfüllenden Geistes Je - sum sogleich als das messianische Kind erkannt habe, und ebendeſswegen wird auch sein Verhältniſs zum πνεῦμα ἅγιον so hervorgehoben, um erklärbar zu machen, wie er auch ohne vorangegangene Mittheilung doch Jesum als den ihm Verheiſsenen zu erkennen und zugleich den Gang seines messianischen Schicksals vorherzusagen vermochte. Wie262Erster Abschnitt.unser kanonisches Evangelium dasjenige, was Jesum dem Simeon kenntlich machte, in den Simeon selbst, aber als übernatürliches Princip, versezt: so legt es das Evange - lium infantiae arabicum als etwas Objektives in die Er - scheinung Jesu6)Cap. 6: viditque illum Simeon senex instar columnae lucis refulgentem, cum Domina Maria virgo, mater ejus, ulnis suis eum gestaret, — et circumdabant eum angeli instar cir - culi, celebrantes illum etc. Bei Thilo, S. 71. — immer noch mehr im Geiste der ur - sprünglichen Erzählung, als die natürliche Erklärungswei - se, weil es doch das Wunderbare an der Sache festhält. Haben wir also in jenem dem Simeon verliehenen Seherblic - ke unserem Text zufolge ein Wunder zu erkennen: so wis - sen wir von diesem Wunder doch gar nicht, daſs es Früch - te getragen hätte, indem nirgends eine Spur ist, daſs die - ser Vorfall aus Jesu Kindheit mit ein Hebel geworden wä - re, um den Glauben an Jesum als den Messias begründen zu helfen; wir müſsten also diesen Zweck, wie es auch der Evangelist wendet (V. 26. 29. ), nur in Simeon und Hanna suchen, deren treuem Hoffen dieser individuelle Lohn zu Theil geworden wäre, daſs ihnen zur Erkenntniſs des messianischen Kindes der Blick geöffnet wurde. Allein daſs um solcher particulärer Zwecke willen die Vorsehung Wunder geschehen lasse, diese Annahme stimmt schwer - lich mit richtigen Begriffen von derselben überein.
Man wird sich daher auch hier zu einem Zweifel an dem historischen Charakter der Erzählung veranlaſst finden, um so mehr, als sie sich nach dem Bisherigen an lauter mythische Erzählungen anschlieſst. Nur muſs man dann nicht dabei stehen bleiben, zu sagen, die wahren Aus - drücke Simeons mögen wohl gewesen sein: möchte ich doch so, wie ich dieſs Kind hier trage, auch den neuge - borenen Messias noch erblicken! was dann ex eventu in der Sage dahin umgedeutet worden sei, wie wir es jetzt263Viertes Kapitel. §. 34.bei Lukas lesen7)So E. F. in der Abhandlung über die beiden ersten Kapp. des Matth. und Lukas. In Henke's Magazin 5. Bd. S. 169 f. Eine ähnliche Halbheit bei Matthaei, Synopse der vier Evang. S. 3. 5 f.; sondern man muſs in der Oekonomie dieses Theils der evangelischen Geschichte und in dem In - teresse der urchristlichen Sage die Veranlassung nachwei - sen, warum dergleichen von Jesu in Umlauf kam. Was nun das Erstere betrifft, so wird man die Parallele nicht verkennen, welche zwischen dieser Scene bei der Darstel - lung Jesu im Tempel, und der bei der Beschneidung des Täufers nach der Erzählung desselben Evangelisten statt - findet, indem beidemale, dort durch den Vater, hier durch einen andern frommen Mann, auf Antrieb des heiligen Gei - stes Gott für die Geburt dieser Retter gedankt, und ihr künftiger Beruf prophetisch vorausverkündigt wird. Daſs diese Scene das einemal an die Beschneidung, das andre - mal an die Darstellung im Tempel sich geknüpft hat, scheint zufällig; hatte aber einmal in Bezug auf Jesum die Sage seine Darstellung im Tempel so verherrlicht: so muſste die Beschneidung, wie wir es oben gefunden haben, leer aus - gehen. — Daſs aber eine solche Erzählung im Interesse der Sage lag, ist ebenfalls leicht einzusehen. Wer sich als Mann so augenscheinlich als den Messias zu erkennen gab, der muſs, dachte man, auch schon als Kind für ein durch den göttlichen Geist geschärftes Auge als solcher zu erkennen gewesen sein; derjenige, welcher in späterer Zeit durch mächtige Reden und Thaten sich als den Sohn Got - tes erwies, gewiſs, er hat auch schon ehe er sprechen und sich frei bewegen konnte, den göttlichen Stempel getragen. Ferner, wenn Menschen, vom Geiste Gottes getrieben, Je - sum so frühe schon liebend und ehrfurchtsvoll in die Ar - me schlossen: dann war auch der Geist, der ihn beseelte, nicht, wie man ihm vorwarf, ein ungöttlicher, und wenn264Erster Abschnitt.ein frommer Seher ihm im Gefolge seiner hohen Bestim - mung zugleich die Kämpfe, welche er zu bestehen haben, und seiner Mutter den Schmerz, den ihr sein Schicksal machen würde8)Die von Simeon an Maria gerichteten Worte: καὶ σοῦ δὲ αὐτῆς τὴν ψυχὴν διελεύσεται ῥομφαία (V. 35.) können an die Worte des messianischen Unglückspsalms 22, V. 21. erinnern: ῥῦσαι ἀπὸ ῥομφαίας τὴν ψυχήν μου. , vorausgesagt hatte: dann war es gewiſs kein Ungefähr, sondern ein göttlicher Plan, der ihn auf dem Wege zu seiner Erhöhung in diese Tiefe der Ernie - drigung führte.
Gegen eine solche, positiv aus der Sache selbst und negativ aus den Schwierigkeiten andrer Auffassungsweisen sich ergebende Ansicht von der vorliegenden Erzählung kön - nen Bemerkungen nichts ausrichten wie die: zu natürlich um gedichtet zu sein, sei das, wie Simeon, als ihm das erbetene Zeichen von der Messianität dieses Kindes zu Theil geworden war, zuerst noch für sich selbst und ohne von den Eltern Notiz zu nehmen, in eine begeisterte Rede aus - breche, und erst, als er ihre Verwunderung bemerkt, sich an sie wende9)Schleiermacher, über den Lukas, S. 37.. Denn wenn dieser Ausspruch nicht bloſse Phrase sein soll, so käme er ja darauf hinaus, daſs das Gedichtete immer ein minder Natürliches sein müſste, wo - gegen doch, namentlich in Bezug auf die Sagenpoësie, an - erkannt ist, daſs sie natürlicher ist, nicht als die Wirk - lichkeit selbst, wohl aber als die prosaische