Ich könnte mich freuen, dass ich den zweiten und lezten Band dieses Werkes so bald nach dem er - sten erscheinen lassen kann, in der Hoffnung, es werden sich, nun die Übersicht des Ganzen möglich ist, manche Missverständnisse lösen, und manches harte Urtheil mildern. Allein sowohl mündlich ha - ben über den ersten Band eben diejenigen am laute - sten geschrieen, welche keine Seite in demselben ge - lesen hatten, als auch schriftlich bis jezt nur solche über denselben geurtheilt, mit welchen ich keine Ver - ständigung hoffen kann, auch wenn sie diesen zwei - ten Theil gelesen haben werden. So will ich mich also keiner Freude hingeben, die mich doch täuschenIVVorrede.würde, aber ebenso wenig auch fernerhin das Ge - schrei der Eulen mich verdriessen lassen, die ich denn freilich allzu rücksichtslos mit ungedämpftem Licht geweckt habe.
Aus den bis jezt erschienenen Beurtheilungen über den ersten Band habe ich für den zweiten noch keinen Nutzen ziehen können, theils weil er schon grösstentheils abgedruckt war, als sie mir zu Gesicht kamen, theils wegen der Beschaffenheit der Beur - theilungen selber.
Die erste, die ich zu lesen bekam, war eine Recension von Herrn Dr. Paulus im Literaturblatt zur allgemeinen Kirchenzeitung. Dem Urheber derselben bin ich Dank schuldig für die liberale und anerken - nende Weise, mit welcher er, bei durchaus abweichen - der Ansicht, doch meine Arbeit behandelt hat. Sein gewichtigster Einwand gegen meine Methode ist der: wenn in einer Erzählung einiges Mythische sei, so folge daraus noch nicht, dass Alles in ihr mythisch sein müsse. Das wäre ohne Zweifel ein[sehr falscher] Schluss, aber den habe ich auch nicht gemacht, son - dern nur, dass dann auch Alles mythisch sein kön -VVorrede.ne. Ob es sich wirklich so verhält, muss sich aus der Beschaffenheit der einzelnen Erzählungen erge - ben, und daraus habe ich es auch, wenn mir Alles noch präsent ist, durchaus entschieden. Eigene Em - pfindungen hat es in mir erregt, des würdigen alten Landsmannes Freude über die Fortschritte der wis - senschaftlichen Freiheit in Würtemberg zu lesen, ver - möge welcher man daselbst dergleichen jezt unge - fährdet schreiben könne: zu einer Zeit, wo ich be - reits auf meine Schrift hin von meiner Repetenten - stelle am Tübinger Seminar entfernt war.
Wie von seiner Wachsamkeit nicht anders er - wartet werden konnte, hat sofort auch Herr Dr. Steudel geglaubt, den verderblichen Wirkungen mei - ner Schrift durch ein „ Vorläufig zu Beherzi - gendes “*)Der volle Titel lautet: „ Vorläufig zu Beherzigendes bei Wür - digung der Frage über die historische oder mythische Grund - lage des Lebens Jesu, wie die canonischen Evangelien die - ses darstellen, vorgehalten aus dem Bewusstsein eines Glau - bigen, der den Supranaturalisten beigezählt wird, zur Be - ruhigung der Gemüther von D. Joh. Christian Friedr. Steu - del. Besonders abgedruckt aus der Tübinger Zeitschrift für Theologie. Tübingen, bei Ludwig Friedrich Fues. 1835. “ (88 S.) zuvorkommen zu sollen. Man hat die -VIVorrede.sem Mann schon so oft gesagt, dass es unschicklich ist, wissenschaftliche Verhandlungen auf das morali - sche Gebiet hinüberzuspielen, dem Gegner seine Ansichten in's Gewissen zu schieben, und den Nicht - orthodoxen als Irreligiösen zu brandmarken. Dennoch hat er auch diessmal wieder den gewohnten Ton an - gestimmt. Es ist freilich das Leichteste, statt in die Sache einzugehen, vielmehr vorläufig um sie herum zu reden, und beiläufig den Gegner mit gehässigen Insi - nuationen zu verwunden, zumal wenn einem derglei - chen Praktiken von sonst her schon geläufig sind. Dass aber damit nichts ausgerichtet ist, liegt am Ta - ge. Oder ja, man richtet etwas aus damit, nämlich den Gegner bei'm grossen Publikum, das die Sache nicht versteht, recht schwarz zu machen. Dazu brauch - te es dann aber keinen Doctor der Theologie, son - dern man konnte es ruhig dem Gerede der Conven - tikel und dem Geschreibe der Tractätchengesellschaf - ten überlassen.
Auch angeblich vom Standpunkt der Philosophie ist meine Schrift beurtheilt worden durch Herrn Prof. Eschenmayer, in einer Broschüre mit dem Titel: derVIIVorrede.Ischariotismus unsrer Tage. Diese Ausgeburt der le - gitimen Ehe[zwischen] theologischer Ignoranz und reli - giöser Intoleranz, eingesegnet von einer schlafwan - delnden Philosophie, fällt so sehr durch sich selbst in's Lächerliche, dass sie jedes Wort der Vertheidi - gung überflüssig macht. Ihr Titel überdiess ist mir zu einer fast gar zu stolzen Erinnerung Anlass gewor - den. An Lessing nämlich, den auch einmal Wie - ner Blätter als zweiten Judas Ischariot verklatsch - ten, weil er — freilich eine noch massivere Beschul - digung, als sie Herr E. gegen mich erhebt — für die Herausgabe der Fragmente seines Ungenannten von der Amsterdamer Judenschaft sich 1000 Dukaten soll - te haben bezahlen lassen. An ihn hätte mich übri - gens schon Herrn Dr. Steudel's Vorläufig zu Be - herzigendes erinnern können, wenn ich es mit Vor - bildern und Weissagungen leichter nähme, denn auch gegen Lessing war „ Etwas Vorläufiges “erschienen vom Hauptpastor Göze, gottseligen Andenkens, was der heitere Mann, der Geschmeidigkeit wegen, lieber das vorläufige Etwas nannte. Und so will ich denn die Vorrede zu diesem zweiten Bande meinesVIIIVorrede.angeblich anstössigen Werks mit den Worten schlies - sen, mit welchen Lessing erklärt hat, warum er es nicht bei Herausgabe der ersten Probe jener ärgerli - chen Fragmente, wie ich nicht bei'm ersten Theile dieses Buchs, habe bewenden lassen: „ darum nicht, weil ich überzeugt bin, dass diess Ärgerniss über - haupt nichts als ein Popanz ist, mit dem gewisse Leute gern allen und jeden Geist der Prüfung ver - scheuchen möchten; darum nicht, weil es schlech - terdings zu nichts hilft, den Krebs nur halb schnei - den zu wollen; darum nicht, weil dem Feuer muss Luft gemacht werden, wenn es gelöscht werden soll “.
Ludwigsburg im Oktober 1835.
Der Verfasser.
Daſs das jüdische Volk zu Jesu Zeit vom Messias Wunderthaten erwartete, ist theils an sich schon natür - lich, da ihm der Messias ein zweiter Moses und der gröſste Prophet war, von Moses und den Propheten aber die heilige Nationalsage Wunder aller Art erzählte; theils läſst es sich aus späteren jüdischen Schriften wahrschein - lich machen1)S. die im 1ten Band, Einleitung S. 73. Anm., angeführten Stellen, wozu noch genommen werden kann 4 Esdr. 13, 50. (Fabric. Cod. pseudepigr. V. T. 2, S. 286) und Sohar Exod. fol. 3, col. 12 (bei Schöttgen, horae, 2, S. 541, auch in Ber - tholdt's Christol. §. 33, not. 1.).; theils wird es aus den Evangelien selbst gewiſs. Als Jesus einmal einen dämonischen Blindstum - men (ohne natürliche Mittel) geheilt hatte, wurde das Volk dadurch auf die Vermuthung geführt:
μήτι οὗτός ἐςιν ὁ υἱὸς Δαυίδ(Matth. 12, 23); zum Beweiſs, daſs man eine wunderbare Heilkraft als Attribut des Messias be - trachtete. Johannes der Täufer wurde durch das Gerücht von den ἔργοις Jesu zu der Frage an ihn veranlaſst, ob er der ἐρχόμενος sei? worauf sich Jesus, zum Beleg, daſs er es sei, nur wieder auf seine Wunderthaten berief (Matth. 11, 2 ff. parall.). Auf dem Laubhüttenfest, das Jesus in Jerusalem feierte, wurden Viele vom Volk an ihn glaubig, indem sie dachten,
ὅτι ὁ Χριςὸς ὅταν ἔλϑῃ,Das Leben Jesu II. Band. 12Zweiter Abschnitt.μήτι πλείονα σημεῖα τούτων ποιήσει, ῶν οὖτος ἐποίησεν(Joh. 7, 31);
Doch nicht bloſs, daſs er überhaupt Wunder thun sollte, sondern auch die verschiedenen Arten von Wun - dern, welche der Messias verrichten würde, waren in der Volkserwartung vorherbestimmt. Auch dieſs durch alttestamentliche Vorbilder und Aussprüche. Durch Moses war dem Volke auf übernatürliche Art Speise und Trank gewährt worden (2 Mos. 16, 17): ein Gleiches erwartete man, wie die Rabbinen ausdrücklich sagen, vom Messias; auf Elisa's Bitten waren den Einen die Augen auf über - natürliche Weise verschlossen, den Andern ebenso geöff - net worden (2 Kön. 6.): auch der Messias sollte die Au - gen der Blinden aufthun; selbst Todte hatte der genannte Prophet und sein Lehrer wiederbelebt (1 Kön. 17. 2 Kön. 4): so konnte auch dem Messias die Macht über den Tod nicht fehlen2)S. die a. a. O. des 1. Bds angeführten rabbinischen Stellen.. Unter den Weissagungen war besonders Jes. 35, 5 f. auf diese Seite der Messiasvorstellung von Ein - fluſs. Hier war von der messianischen Zeit gesagt (LXX. ):
τότε ἀνοιχϑήσονται ὀφϑαλμοὶ τυφλῶν, καὶ ὦτα κωφῶν ἀκού - σονται· τότε ἁλεῖται ὡς ἐλαφος ὁ χωλὸς, τρανὴ δὲ ἔςαι γλῶσ - σα μογιλάλων, was, bei Jesaias zwar in bildlichem Zusam - menhang, doch bald eigentlich verstanden wurde, wie daraus erhellt, daſs Jesus den Boten des Johannes gegenüber (Matth. 11, 5.) mit offenbarer Beziehung auf diese Pro - phetenstelle seine Wunderthaten beschreibt.
Diese Erwartung trat auch Jesu, sofern er zunächst für einen Propheten, weiterhin für den Messias sich gab und gehalten wurde, als Forderung entgegen, wenn er nach mehreren bereits betrachteten Stellen (Matth. 12, 38. 16, 1. parall. ) von seinen pharisäischen Gegnern um ein σημεῖον angegangen wurde; wenn nach der gewaltsamen Vertreibung der Verkäufer und Wechsler aus dem Tempel3Neuntes Kapitel. §. 87.die Juden ein legitimirendes σημεῖον von ihm verlangten (Joh. 2, 18.), und das Volk in der Synagoge von Kaper - naum, als er Glauben an sich als den von Gott gesandten forderte, zur Bedingung dieses Glaubens machte, daſs er ihm ein σημεῖον zeigen sollte (Joh. 6, 30.).
Den neutestamentlichen Nachrichten zufolge hat Je - sus dieser Anforderung, welche seine Zeitgenossen an den Messias machten, mehr als genug gethan. Nicht nur be - steht ein beträchtlicher Theil der evangelischen Erzählun - gen aus Beschreibungen seiner Wunderthaten; nicht nur riefen nach seinem Tode seine Anhänger vor Allem auch die von ihm verrichteten δυνάμεις, σημεῖα und τέρατα den Juden in das Gedächtniſs zurück (A. G. 2, 22.): sondern das Volk selbst war schon zu seinen Lebzeiten nach die - ser Seite so durch ihn befriedigt, daſs viele deſswegen an ihn glaubten (Joh. 2, 23. vgl. 6, 2.), daſs man ihn dem Täufer, der kein σημεῖον gethan hatte, entgegenstellte (Joh. 10, 41.), und selbst vom künftigen Messias nicht glaubte, daſs er ihn in dieser Hinsicht werde überbieten können (Joh. 7, 31.). Daſs es Jesus an Wundern hätte fehlen las - sen, scheinen jene Zeichenforderungen um so weniger zu beweisen, da mehrere derselben unmittelbar nach bedeuten - den Wunderakten gemacht wurden, so Matth. 12, 38. nach der Heilung eines Dämonischen, Joh. 6, 30. nach der Speisung der Fünftausend. Freilich ist eben diese Stellung schwierig; denn wie die Juden die zwei genannten nicht als rechte σημεῖα gelten gelassen haben sollten, ist nicht wohl zu begreifen, da namentlich die Dämonenaustreibun - gen sehr hoch gehalten wurden (Luc. 10, 17.); es müſste denn das in jenen beiden Stellen geforderte Zeichen aus Luc. 11, 16. (vgl. Matth. 16, 1. Marc. 8, 11.) als σημεῖον ἐξ οὐρανοῦ näher bestimmt, und dabei an das specifisch-mes - sianische‘σημεῖον τοῦ υιοῦ τοῦ ἀνϑρώπου ἐν τῷ οὐρανῷ’(Matth. 24, 30.) gedacht werden. Will man aber lieber die Ver - bindung jener Zeichenforderungen mit vorhergegangenen1 *4Zweiter Abschnitt.Wunderacten auflösen, so kann Jesus ganz wohl zahlreiche Wunder gethan, und dennoch einige feindselige Pharisäer, welche zufällig noch bei keinem derselben Augenzeugen gewesen waren, nun auch selbst eines zu sehen verlangt haben.
Auch daſs die Antwort Jesu auf solche Wunderfor - derungen jedesmal ablehnend ist, beweist an sich gar nicht, daſs er nicht in andern Fällen freiwillig Wunder gethan haben könnte, wo ihm solche besser angelegt schienen. Wenn er in Bezug auf die Forderung der Pharisäer Marc. 8, 12. erklärt, es w[e]rde τῇ γενεᾷ ταύτῃ gar keines, oder Matth. 12, 39 f. 16, 4. Luc. 11, 29 f., es werde ihr kein Zeichen ausser dem σημεῖον Ἰωνᾶ τοῦ προφήτου gegeben wer - den: so kann er ja unter dieser γενεὰ, welche er bei Mat - thäus und Lukas als πονηρὰ καὶ μοιχαλίς näher bestimmt, auch nur den ihm feindlichen pharisäischen Theil seiner Zeitgenossen verstanden, und versichern gewollt haben, daſs für diesen, sei es gar kein, oder nur das Zeichen des Jonas, d. h., wie er es bei Matthäus deutet, das Wunder seiner Auferstehung geschehen werde. Allein nimmt man das οὐ δοϑήσεται αὐτῇ in dem Sinn, daſs seine Feinde nicht selbst ein Zeichen von ihm zu sehen bekommen sollen: so müſste es theils sonderbar zugegangen sein, wenn unter den vielen in der gröſsten Öffentlichkeit von Jesu verrich - teten Wundern bei keinem sollten Pharisäer zugegen ge - wesen sein, theils wird dieſs Matth 12, 24 f. parall. wo sie offenbar als gegenwärtig bei der Heilung des Blindstum - men vorausgesezt werden, ausdrücklich widersprochen. Überdieſs, wenn hier von selbstgesehenen Zeichen die Re - de sein soll, so bekamen ja die Auferstehung Jesu und den Auferstandenen seine Feinde gleichfalls nicht zu sehen, so daſs mithin jener Ausspruch nicht blos den Sinn haben kann, seine Feinde sollten vom Selbstsehen seiner Wunder ausgeschlossen werden. Möchte man daher bei dem δο - ϑήσεται αὐτῇ an ein Geschehen zum Besten der bezeich -5Neuntes Kapitel. §. 88.neten Subjekte denken: so sind die übrigen Wunder und die Auferstehung Jesu in gleichem Sinn zu ihrem Besten geschehen oder nicht, nämlich dem Erfolg nach nicht, wohl aber dem Zwecke nach. Es bleibt also nichts übrig, als die γενεὰ von den Zeitgenossen Jesu überhaupt, und eben - so das δίδοσϑαι von möglicher Wahrnehmung überhaupt, mittelbarer wie unmittelbarer, zu verstehen, so daſs Jesus hier alle Wunderthätigkeit überhaupt abgelehnt, und ein - zig nur auf das bevorstehende Wunder seiner Auferste - hung verwiesen hat. Übel freilich scheint sich dieſs mit den vielen Wundererzählungen in den Evangelien zu vertragen, zu deren Betrachtung wir jezt übergehen, indem wir aus einem Grunde, der unten von selbst erhellen wird, zuerst die Dämonenaustreibungen vornehmen.
Während im vierten Evangelium die Ausdrücke δαι - μόνιον ἔχειν und δαιμονιζόμενος nur im Munde der Juden als Beschuldigung gegen Jesum, parallel mit μαίνεσϑαι vorkommen (8, 48 f. 10, 20 f. vgl. Marc. 3, 22. 30. Matth. 11, 18.), sind in den drei ersten Dämonische, man kann sagen die gewöhnlichsten Gegenstände der heilenden Thä - tigkeit Jesu. Gleich wo sie die Anfänge seiner Wirksam - keit in Galiläa beschreiben, stellen die Synoptiker unter den Kranken, welche Jesus geheilt habe, die δαιμονιζομέ - νους1)Dass die ihnen bei Matthäus zugesellten σεληνιαζόμενοι nur eine besondere Art von Dämonischen sind, deren Krankheit sich nämlich nach dem Mondwechsel zu richten schien, zeigt Matth. 17, 14 ff., wo aus einem σεληνιαζόμενος ein δαιμόνιον ausgetrieben wird. oben an (Matth. 4, 24. Marc. 1, 34.), und diese spielen durchweg in ihren summarischen Berichten von der Wirksamkeit Jesu in gewissen Gegenden eine Hauptrolle6Zweiter Abschnitt.(Matth. 8, 16 f. Marc. 1, 39. 3, 11 f. Luc. 6, 18.). Auch seinen Jüngern theilt Jesus vor allem Andern die Voll - macht mit, Dämonen auszutreiben (Matth. 10, 1. 8. Marc. 3, 15. 6, 7. Luc. 9, 1.), was ihnen zu ihrer besondern Freude wirklich nach Wunsch gelang (Luc. 10, 17. 20. Marc. 6, 13.).
Ausser diesen summarischen Angaben aber werden uns auch die Heilungen mehrerer Dämonischen im Einzel - nen erzählt, so daſs wir uns eine ziemlich genaue Vorstel - lung von dem eigenthümlichen Zustand dieser Leute ma - chen können. Gleich bei demjenigen, dessen Heilung in der Synagoge zu Kapernaum die Evangelisten als die er - ste dieser Art setzen (Marc. 1, 23 ff. Luc. 4, 33 ff. ), fin - den wir einestheils eine Alterirung des Selbstbewuſstseins, vermöge deren der Besessene in der Person des Dämon redet, was sich auch bei andern Dämonischen, wie bei den Gadarenischen (Matth. 8, 29 f. parall. ), wiederholt; anderntheils Krämpfe und Convulsionen mit wildem Ge - schrei. Dieses krampfhafte Wesen findet sich bei jenem Dämonischen, der zugleich als Mondsüchtiger bezeichnet ist (Matth. 17, 14 ff. parall. ) deutlich als Fallsucht ausge - bildet; denn das plözliche Niederstürzen, oft an gefährli - chen Orten, das Brüllen, Zähne knirschen und Schäumen sind bekannte Symptome der Epilepsie2)Vergl. die Stellen alter Ärzte bei Winer, bibl. Realwörterb. 1, S. 191.. Die andre Seite, die Störung des Selbstbewuſstseins, erscheint besonders bei dem Gadarenischen Besessenen, neben dem, daſs gleich - falls der Dämon, oder vielmehr eine Mehrheit von solchen als Subjekt aus ihnen spricht, zum menschenscheuen Wahn - sinn mit Anfällen einer gegen sich und Andre wüthenden Tobsucht gesteigert3)Rabbinische u. a. Stellen s. bei Winer, a. a. O. S. 192.. Doch nicht blos Wahnsinnige und Epileptische, sondern auch Stumme (Matth. 9, 32. Luc. 11,7Neuntes Kapitel. §. 88.14. Matth. 12, 22. ist der δαιμονιζόμενος κωφὸς zugleich τυφλὸς), und an gichtischer Verkrümmung des Körpers Leidende (Luc. 13, 11. ff. ) werden mehr oder minder be - stimmt als Dämonische bezeichnet.
Die in den Evangelien vorausgesezte, auch von de - ren Verfassern getheilte Vorstellung von diesen Leidenden ist die, daſs ein böser, unreiner Geist (δαιμόνιον, πνεῦμα ἀκάϑαρτον) oder mehrere, sich ihrer bemächtigt haben (da - her ihr Zustand durch δαιμόνιον ἔχειν, δαιμονίζεσϑαι be - zeichnet wird), welche nun aus ihnen reden (so Matth. 8, 31. οἱ δαίμονες παρεκάλουν αὐτὸν λέγοντες), und ihre Glied - maſsen nach Belieben in Bewegung setzen (so Marc. 9, 20. τὸ πνεῦμα ἐσπάραξεν αὐτὸν), bis sie bei der Heilung, mit Gewalt ausgetrieben, den Menschen verlassen (ἐκβάλλειν, ἐξέρχεσϑαι). Nach der evangelischen Darstellung hatte auch Jesus diese Ansicht von der Sache. Zwar, wenn er zum Behuf der Heilung von Besessenen den in ihnen befindli - chen Dämon anredet (wie Marc. 9, 25. Matth. 8, 32. Luc. 4, 35.): so könnte man dieſs allerdings mit Paulus4)ex. Handb. 1, b, S. 475; vgl. Hase, L. J., §. 60. 2te Auflage. als Eingehen in die fixe Idee dieser mehr oder minder verrück - ten Personen ansehen, wozu der psychische Arzt, um wir - ken zu können, sich bequemen muſs, so sehr er von dem Ungrund jener Vorstellung überzeugt sein mag. Allein wenn nun Jesus auch in Privatunterhaltungen mit seinen Jüngern diesen nicht allein niemals etwas zur Untergrabung jener Vorstellung sagt, sondern vielmehr wiederholt aus der Vor - aussetzung eines dämonischen Grundes jener Zustände heraus spricht (so, ausser dem Auftrag: δαιμόνια ἐκβάλ - λετε Matth. 10, 8. noch Luc. 10, 18. ff. und besonders Matth. 17, 21. parall. : τοῦτο τὸ γένος, sc. δαιμονίων, οὺκ ἐκπορεύε - ται κ. τ. λ. ), wenn er in einer rein theoretischen Ausfüh - rung, vielleicht ebenfalls im engeren Kreise seiner Jünger, eine ganz den damaligen Volksvorstellungen sich anschlies -Bogen 1. ist S. 7 u. 8 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.8Zweiter Abschnitt.sende Beschreibung vom Ausgehen der Dämonen, ihrem Umirren in der Wüste und ihrer verstärkten Rückkehr giebt (Matth. 12, 43 ff. ): so kann man nur ein Zurechtma - chen der Vorstellungen Jesu nach den unsrigen darin se - hen, wenn sonst unbefangene Forscher, wie Winer5)a. a. O. S. 191., Je - sum die Meinung des Volks von der Ursache dieser Krank - heiten nicht theilen, sondern sich ihr nur anbequemen lassen. Um von jedem Gedanken an bloſse Accommoda - tion abzukommen, darf man sich nur die zulezt bemerkte Stelle genauer ansehen. Zwar hat man das Beweisende derselben dadurch zu umgehen gesucht, daſs man sie bild - lich nahm, oder gar als eine Parabel bezeichnete6)Gratz, Comm. z. Matth. 1, S. 615.. Dabei, wenn wir monstra von Ausdeutungen, wie diejenige, wel - che nach Calmet noch Olshausen giebt7)b. Comm. 1, S. 424. Es sei vom jüdischen Volk die Rede, das vor dem Exil durch den Teufel in Form der Abgötterei, nach demselben durch den schlimmeren des Pharisäismus besessen gewesen., bei Seite lassen, kommt das Wesentliche der Erklärung des vorgeblichen Bildes immer darauf hinaus, daſs oberflächliche Bekehrung zu der Sache Jesu einen nur um so schlimmern Rückfall nach sich ziehe8)so Fritzsche, in Matth. p. 447.. Allein ich möchte wissen, was uns denn überhaupt berechtigt, von der eigentlichen Auffassung dieser Rede abzuweichen? In den Sätzen selbst liegt kei - ne Andeutung, ebensowenig in der anderweitigen Darstel - lungsweise Jesu, welcher sonst nirgends sittliche Verhält - nisse in das Bild dämönischer Zustände hüllt, sondern wo er noch, wie hier, von ἐξέρχεσϑαι der bösen Geister spricht, wie Matth. 17, 21. dieſs eigentlich will verstanden wissen. Aber in dem Zusammenhang der Erzählung? Lukas (11, 24, ff. ) stellt den in Frage stehenden Ausspruch hinter die Vertheidigung Jesu gegen die pharisäische Beschuldigung,9Neuntes Kapitel. §. 88.die Dämonen durch Beelzebul auszutreiben, — ohne Zwei - fel irrig, wie wir gesehen haben, aber doch wohl zum Be - weis, daſs er sie eigentlich von wirklichen Dämonen ver - standen hat. Auch Matthäus stellt den Ausspruch in die Nähe jener Beschuldigung und Apologie, doch schiebt er die Zeichenforderung nebst Jesu Gegenäusserungen dazwi - schen, und läſst Jesum am Schlusse die Nutzanwendung machen: οὕτως ἔςαι καὶ τῇ γενεᾷ ταύτῃ τῇ πονηρᾷ. Dadurch giebt er freilich der Rede eine bildliche Beziehung auf den sittlich-religiösen Zustand seiner Zeitgenossen, aber ohne Zweifel nur so, daſs er die vorangeschickte Beschrei - bung des vertriebenen und wiederkehrenden Dämons ei - gentlich von Besessenen gemeint hat, hierauf aber diesen Hergang auch wieder als Bild des moralischen Zustandes seiner Zeitgenossen wendet. Jedenfalls giebt Lukas, der diesen Beisaz nicht hat, die Rede Jesu, wie Paulus sich ausdrückt, als eine Warnung vor dämonischer Recidive. Daſs nun die meisten jetzigen Theologen ohne bestimmten Vorschub von Seiten des Matthäus, und in bestimmtem Widerspruch gegen Lukas, den Ausspruch bloſs bildlich fassen wollen, dieſs scheint nur in der Scheue seinen Grund zu haben, Jesu eine so ausgeführte Dämonologie zuzuschrei - ben, wie sie in den eigentlich gefaſsten Worten liegt. Ei - ner solchen aber entgeht man auch abgesehen von dieser Stelle dennoch nicht. Matth. 12, 25 f. 29. spricht Jesus von einem Reich und Haushalt des Teufels in einer Weise, welche über das blos Figürliche augenscheinlich hinaus - geht, besonders aber ist die schon angeführte Stelle, Luc. 10, 18 — 20. von der Art, daſs sie selbst einem Paulus, der sonst den geheiligten Personen der christlichen Urge - schichte so gerne die Einsichten unsers Zeitalters leiht, das Geständniſs abnöthigt, das Satansreich sei Jesu durchaus nicht bloſs Symbol des Bösen gewesen, und er habe na - mentlich wirkliche Dämonenbesitzungen angenommen. Denn, sagt er ganz richtig, da hier Jesus nicht zu den Kranken,10Zweiter Abschnitt.nicht zum Volk, sondern zu solchen spreche, welche selbst von dergleichen Krankheiten nach seiner Anleitung befrei - ten, so sei es nicht als bloſse Anbequemung erklärbar, wenn er ihr τὰ δαιμόνια ὑποτάσσεται ἡμῖν bestätigend wieder aufnehme, und ihre Befähigung zur Heilung der Dämonischen als eine Gewalt über die δύναμις τοῦ ἐχϑροῦ beschreibe9)exeg. Handb. 2, S. 566.. Ebenso treffend hat derselbe Theologe an andern Orten dem Anstoſs, welchen solche, deren Bildung mit dem Glauben an Dämonenbesitzungen sich nicht ver - trägt, an dem Ergebniſs nehmen könnten, daſs Jesus jenen Glauben gehabt habe, durch die Bemerkung vorgebeugt, daſs selbst der ausgezeichnetste Geist eine unrichtige Zeit - vorstellung beibehalten könne, sofern sie nicht gerade im Bereich seines besondern Nachdenkens liege[10)a. a. O. 1, b, S. 483. 2, S. 96.].
Erläuternd für die neutestamentlichen Vorstellungen von den Dämonischen sind die Ansichten, welche wir bei andern mehr oder minder gleichzeitigen Schriftstellern über diese Materie finden. Die allgemeinen Begriffe von Einflüssen böser Geister auf den Menschen, welche Melan - cholie, Wahnsinn, Epilepsie zur Folge haben, waren zwar schon frühe bei Griechen11)Daher wurde δαιμονᾷν, κακοδαιμονᾷν = μελαγχολᾷν, μαινεσϑαι, gebraucht, und Hippokrates musste die Ableitung der Epi - lepsie von dämonischem Einfluss bestreiten. s. bei Wetstein, S. 282 ff. wie bei Hebräern12)Man vergleiche die רוּחַ רָעָה טֵאֵת יְהוָֹה, welche den Saul melancholisch machte, 1. Sam. 16, 14. Ihr Einfluss auf Saul wird durch בִּעֲתַּתּוּ, sie überfiel ihn, ausgedrückt. verbrei - tet: aber die bestimmtere Vorstellung, daſs die bösen Gei - ster in den Leib des Menschen fahren und von demselben Besiz nehmen, hat sich nachweislich doch erst ziemlich spät, in Folge allgemeiner Verbreitung der orientalischen,11Neuntes Kapitel. §. 88.namentlich persischen, Pneumatologie unter Hebräern und Griechen ausgebildet13)s. Creuzer, Symbolik, 3, S. 69 f. ; Baur, Apollonius von Tyana und Christus, S. 144.. Daher denn bei Josephus die Rede von δαιμόνια τοῖς ζῶσιν εἰσδυόμενα14)Bell. jud. 7, 6, 3., ἐγκαϑεζόμε - να15)Antiq. 6, 11, 2. von dem Zustand Sauls., und dieselben Vorstellungen auch bei Lucian16)Philopseud. 16. und Philostratus17)vita Apollon. 4, 20, 25., vgl. Baur, a. a. O. S. 38 f. 42. In - dessen spricht auch schon Aristoteles, de mirab. 166. ed Bekk., von δαίμονί τινι γενομένοις κατόχοις. .
Über die Natur und Herkunft dieser Geister finden wir in den Evangelien nichts ausdrücklich bemerkt, als daſs sie zum Haushalt des Satan gehören (Matth. 12, 26 ff. parall. ), weſswegen denn, was einer von ihnen thut, auch geradezu dem Satan zugeschrieben wird (Luc. 13, 16). Durch Josephus18)a. a. O. des bell j.:τὰ γρ καλούμενα δαιμόνια — πονηρῶν ἐςιν ἀνϑρώπων πνεύματα, τσῖς ζῶσιν εἰσδυόμενα καὶ κτείνοντα τοὺς βοηϑείας μὴ τυγχάνοντας., Justin den Märtyrer19)Apoll. 1, 18. und Philo - stratus20)a. a. O. 3, 38., mit welchen auch rabbinische Schriften über - einstimmen21)s. Eisenmenger, entdecktes Judenthum, 2, S. 427., erfahren wir nun aber, daſs diese Dämo - nien von Hause aus eigentlich abgeschiedene Seelen böser Menschen seien, und neuere Theologen haben keinen An - stand genommen, diese Ansicht von ihrer Herkunft auch dem N. T. unterzulegen22)Paulus, exeg. Handb. 2, S. 39; L. J. 1, a, S. 217. Er be - ruft sich hiefür namentlich auf Matth. 14, 2., wo Herodes auf das Gerücht von Jesu Wunderthaten hin sagt:ου῟τός ἐςιν Ἰωάννης ὁ βαπτιςὴς, αὐτὸς ἠγέρϑη ἀπὸ τῶν νεκρῶν·worin Pau - lus die rabbinische Ansicht vom עיבור findet, vermöge des -. Näher bestimmen jedoch12Zweiter Abschnitt.Justin und die Rabbinen vorzugsweise die Seelen der Rie - sen, der Abkömmlinge jener Engel, welche sich mit den Töchtern der Menschen vermischten, und die Rabbinen ferner noch die Seelen der in der Sündfluth Umgekomme - nen und der Theilhaber am babylonischen Thurmbau als Plagegeister für die Überlebenden23)Justin. Apol. 2, 5. Eisenmenger, a. a. O. S. 428 ff., womit auch die Klementinen zusammenstimmen, nach welchen gleichfall; jene zu Dämonen gewordenen Riesenseelen sich als die stärkeren an menschliche Seelen zu hängen, und in Men - schenleiber zu fahren suchen24)Homil. 8, 18 f. 9, 9 f.. Da nun in der ersteren weiter lautenden Stelle Justin den Heiden aus ihren ei - genen Vorstellungen heraus die Unsterblichkeit beweisen will, so ist die Ansicht von den Dämonen als Seelen Ver - storbener überhaupt, welche er dort äussert, zumal sein Schüler Tatian sich ausdrücklich gegen diese Vorstellung erklärt25)Orat. contra Graecos, 16., schwerlich als seine eigene zu betrachten; Josephus aber entscheidet für die im N. T. zum Grunde22)sen (im Unterschied vom ג ﬥ גו ﬥ oder der eigentlichen See - lenwanderung, d. h. der Versetzung abgeschiedener Seelen in eben sich bildende Kinderleiber) zu der Seele eines Le - benden die eines Verstorbenen als verstärkender Zusaz sich gesellt (s. Eisenmenger, 2. S. 85 ff.). Allein, dass in dem ἠγέρϑη nicht diese, sondern die Vorstellung einer wirklichen Auferstehung des Täufers liege, hat u. A. Fritzsche z. d. St. gezeigt, und wenn auch jene, so wäre doch hier von einem ganz andern Verhältniss die Rede, als von dem der dämoni - schen Besitzung. Hier wäre es nämlich ein guter Geist, der in einen Propheten zur Verstärkung seiner Kraft übergegan - gen wäre, wie nach späterer jüdischer Vorstellung Seths Seele zu der des Moses, und wieder Moses und Aarons Seelen zu der des Samuel sich gesellt haben (Eisenmenger, a. a. O.), woraus aber die Möglichkeit eines Übergangs böser Seelen in Lebende noch keineswegs folgen würde.13Neuntes Kapitel. §. 88.liegende Ansicht deſswegen nichts, weil sich seiner grie - chischen Bildung wegen sehr fragt, ob er jene Lehre in der ursprünglich jüdischen, oder in gräcisirter Gestalt wiedergiebt. Darf man nun annehmen, daſs die Dämo - nenlehre zu den Hebräern von Persien her gekommen sei: so waren die Dew's der Zendreligion bekanntlich vor der Menschenwelt entstandene, von Hause aus böse Geister, an welchen der Hebraismus für sich nur den lezteren, dem Dualismus angehörigen Zug, nicht aber den ersteren, zu verwischen veranlaſst sein konnte. So wurden die Dämonen in der hebräischen Ansicht die gefallenen Engel von 1 Mos. 9, die Seelen ihrer Kinder, der Riesen, und der groſsen Verbrecher vor und unmittelbar nach der Sündfluth überhaupt, welche die Volksvorstellung allmäh - lig in das Übermenschliche hinaufgesteigert hatte; über den Kreis dieser Seelen jedoch, die man sich als den Hofstaat des Satans denken mochte, lag in den Vorstel - lungen der Hebräer kein Grund herabzusteigen. Ein sol - cher lag nur in der mit der hebräischen zusammentreffen - den griechisch-römischen Bildung: diese hatte keinen Satan, also auch keinen eigenthümlichen, ihm dienenden Geisterstaat, wohl aber hatte sie ihre Manen, Lemuren u. dgl., sämmtlich abgeschiedene Menschengeister, welche die Lebenden beunruhigten. Produkt nun der Ausglei - chung jener jüdischen Vorstellungen, mit diesen griechisch - römischen scheint die Darstellungsweise des Josephus und Justin, wie auch der späteren Rabbinen zu sein: daſs aber auch schon im N. T. eine solche zu finden sei, folgt hieraus nicht. Sondern, wenn wir hier diese gräcisirte Vorstellungsweise nicht positiv angezeigt finden, wie sie es denn nirgends ist, vielmehr an einigen Orten die Dä - monen mit dem Satan als sein zugehöriger Haushalt in Verbindung gesezt sind: so müssen wir, bei der sonsti - gen (soweit keine Umbildung in christlichem Sinne ein - trat) unvermischt jüdischen Denkweise der synoptischen14Zweiter Abschnitt.Evangelien, vielmehr jene rein und ursprünglich jüdische Vorstellung als die ihrige voraussetzen.
Die ältere Theologie nun hat bekanntlich, in Betracht der Auktorität Jesu und der Evangelisten, die Ansicht von einem wirklichen Besessensein jener Menschen durch Dämonen zu der ihrigen gemacht. Die neuere Theologie dagegen, besonders seit Semler26)s. dessen Commentatio de daemoniacis quorum in N. T. fit mentio, und umständliche Untersuchung der dämonischen Leu - te. — Schon zu Origenes Zeit geben übrigens die Ärzte von dem Zustand der angeblich Besessenen natürliche Erklärun - gen, s. Orig. in Matth. 17, 15., in Betracht der auf - fallenden Ähnlichkeit, welche zwischen dem Zustand der neutestamentlichen Dämonischen und mancher natürlich Kranken unsrer Zeit stattfindet, hat angefangen, auch das Übel von jenen aus natürlichen Ursachen abzuleiten, und die im N. T. vorausgesezte übernatürliche Ursache auf Rechnung der Vorstellungen jener Zeit zu schreiben. Daſs, wo in jetziger Zeit Epilepsie, Wahnsinn und selbst eine, dem Zustand der neutestamentlichen Besessenen ähn - liche Alteration des Selbstbewusstseins vorkommen, doch nicht leicht mehr an dämonischen Einfluſs gedacht wird, hat seinen Grund einerseits darin, daſs der fortgeschrittenen Natur - und Seelenkunde jezt mehr Mittel und Anknü - pfungspunkte zur natürlichen Erklärung jener Zustände zu Gebote stehen, theils darin, daſs man die Widersprü - che, welche in der Vorstellung des Besessenseins liegen, wenigstens dunkel zu erkennen angefangen hat. Denn abgesehen von den oben auseinandergesezten Schwierig - keiten, welche die Annahme der Existenz von Teufel und Dämonen überhaupt drücken, so mag man sich das Ver - hältniſs zwischen dem Selbstbewuſstsein und den leibli - chen Organen denken wie man will, immer ist doch das schlechterdings nicht vorzustellen, wie das Band zwischen beiden so lose sein sollte, daſs ein fremdes Selbstbewuſst -15Neuntes Kapitel. §. 88.sein sich einschieben, und mit Verdrängung des zum Or - ganismus gehörigen, diesen in Besiz nehmen könnte. So ergiebt sich für jeden, welcher die Erscheinungen der Gegenwart mit aufgeklärten, und doch die Erzählungen des N. Ts. noch mit orthodoxen Augen betrachtet, der Widerspruch, daſs dasselbe, was jezt aus natürlichen Ursachen kommt, zu Jesu Zeiten übernatürlich müsste verursacht gewesen sein.
Diesen undenkbaren Unterschied der Zeiten wegzu - bringen, und doch dem N. T. nichts zu vergeben, läugnet Olshausen, welchen wir für diesen Punkt füglich als Re - präsentanten der mystischen Theologie und Philosophie jetziger Zeit betrachten können, Beides, sowohl daſs jezt alle dergleichen Zustände natürlich, als daſs damals alle übernatürlich verursacht gewesen seien. Was unsre Zeit betrifft, so fragt er, wenn die Apostel in unsre Irrenhäu - ser träten, wie sie manche der Kranken in denselben nennen würden27)b. Comm. 1, S. 296. Anm.? Allerdings, antworten wir, würden sie viele derselben Besessene nennen, vermöge ihrer Zeit - und Volksvorstellung nämlich, und nicht vermöge aposto - lischer Erleuchtung, so daſs also der herumführende Mann von Fach sie mit Recht eines Bessern zu belehren suchen würde, und daraus gegen die Natürlichkeit jener Zustände in unserer Zeit lediglich nichts folgen kann. Von der Zeit Jesu behauptet der genannte Theologe, auch von den Juden seien dieselben Krankheitsformen, je nach der ver - schiedenen Entstehungsart das einemal für dämonisch ge - halten worden, das andremal nicht, so daſs z. B. einer, der durch organische Verletzung des Gehirns wahnsinnig, oder der Zunge stumm geworden war, nicht für dämonisch gegolten haben würde, sondern nur ein solcher, dessen Zustand mehr oder minder auch psychisch veranlaſst ge - wesen sei. Beispiele einer solchen, im Zeitalter Jesu ge -16Zweiter Abschnitt.machten Unterscheidung bleibt uns Olshausen, wie sich von selbst versteht, schuldig. Wo hätten auch die dama - ligen Juden die Kenntniſs der verborgenen natürlichen Ursachen solcher Zustände hergenommen, wo die Krite - rien, einen durch Miſsbildung des Gehirns entstandenen Wahnsinn oder Blödsinn von psychologisch verursachtem zu unterscheiden? Waren sie nicht ganz und gar auf die äussere Erscheinung und zwar in ihren gröberen Um - rissen, angewiesen? Diese aber ist bei einem Epileptischen mit seinem plözlichen unvorhergesehenen Niederstürzen und seinen Convulsionen, bei einem Wahnsinnigen mit seinem Irrereden, namentlich wenn er, durch Rückwirkung der Volksvorstellungen auf seinen Zustand, in der Person ei - nes Dritten spricht, von der Art, daſs sie auf eine fremde den Menschen beherrschende Macht hinweist, und daſs folg - lich sobald einmal der Glaube an dämonische Besitzungen im Volke gegeben ist, alle dergleichen Zustände auf solche zurückgeführt werden werden, wie wir dieſs im N. T. fin - den; wogegen bei Stummheit und gichtischer Verkrümmung oder Lähmung die Herrschaft einer fremden Macht schon weniger entschieden indicirt ist, und diese Leiden also bald gleichfalls einem besitzenden Dämon zugeschrieben werden können, bald auch nicht, wie wir jenes bei den schon erwähnten Stummen Matth. 9, 32. 12, 22. und bei der verkrümmten Frau, Luc. 13, 11, dieses bei dem κωφὸς μογιλάλος Marc. 7, 32 ff. und bei den mancherlei Paralyti - schen, deren in den Evangelien gedacht wird, finden; wo - bei übrigens die Entscheidung für die eine oder andre An - sicht gewiſs nicht von Erforschung der Entstehungsweise, sondern lediglich von der äussern Erscheinung ausgegan - gen ist. Haben demnach die Juden, und mit ihnen die Evangelisten, die beiden Hauptarten der hiehergehörigen Zustände auf dämonischen Einfluſs zurückgeführt, so bleibt für den, der sich durch ihre Ansicht gebunden glaubt, oh - ne sich doch der Bildung unsrer Zeit entziehen zu wollen,17Neuntes Kapitel. §. 88.die grelle Ungleichheit, dieselben Krankheiten in der ei - nen Zeit sämmtlich als natürliche, in der andern sämmtlich als übernatürliche denken zu müssen.
Die schlimmste Schwierigkeit aber erwächst für den Olshausen'schen Vermittlungsversuch zwischen der jüdisch - neutestamentlichen Dämonologie und der Bildung unsrer Zeit daraus, daſs dieses leztere Element in ihm der An - nahme persönlicher Dämonen widerstrebt. Dasselbe, der Bildung des gedachten Theologen durch die Naturphiloso - phie angehörige Streben, das im N. T. als ein Heer dis - creter Individuen Gedachte emanatistisch in das Con - tinuum einer Substanz aufzulösen, welche zwar einzelne Kräfte aus sich hervortreten, diese jedoch nicht zu selbst - ständigen Individuen sich fixiren, sondern als Accidenzien wieder in die Einheit der Substanz zurückkehren läſst, — dieses Streben sahen wir schon in Olshausen's Angelolo - gie hindurchleuchten, und entschiedener tritt es nun in der Dämonologie hervor. Dämonische Persönlichkeiten sind zu widrig, bei den angeblich Besessenen namentlich das, wie es Olshausen selbst ausdrückt28)S. 295 f., Stecken zweier Subjekte in Einem Individuum zu undenkbar, als daſs man sich eine solche Vorstellung zumuthen könnte. Daher wird überall nur in schwebender Allgemeinheit von einem Rei - che des Bösen und der Finsterniſs geredet, und zwar ein persönlicher Fürst desselben vorausgesezt, aber unter den Dämonen nur die einzelnen Ausflüsse und Wirkungen ver - standen, in welchen das böse Princip sich manifestirt. Da - her, und hieran ist Olshausen's Ansicht von den Dämo - nen am bestimmtesten zu ergreifen, ist es ihm zu viel, daſs Jesus den Dämon im Gadarener um seinen Namen gefragt haben soll: so bestimmt kann doch Christus die von dem Ausleger bezweifelte Persönlichkeit jener Ausflüsse des finstern Reiches nicht vorausgesezt haben; weſswegenDas Leben Jesu II. Band. 218Zweiter Abschnitt.denn das τί σοι ὄγο α; (Marc. 5, 9.) als Frage nach dem Namen nicht des Dämon, sondern des Menschen aufgefaſst wird29)S. 302, nach dem Vorgang von Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 474., gegen allen Zusammenhang offenbar, da die Ant - wort: λεγεὼν, keineswegs als Miſsverstand, sondern als die rechte, von Jesus gewollte Antwort erscheint.
Sind nun aber die Dämonen, nach Olshausen's An - sicht, unpersönliche Kräfte, so ist es die Gesezmäſsigkeit des Reichs der Finsterniſs in seinem Verhältniſs zum Licht - reich, was sie leitet und zu ihren verschiedenen Funktio - nen bewegt. Von dieser Seite müſste also, je schlimmer der Mensch wird, desto enger der Zusammenhang zwi - schen ihm und dem Reiche des Bösen sich knüpfen, und der engste denkbare Zusammenhang, das Eingehen der fin - stern Macht in die Persönlichkeit des Menschen, d. h. die Besessenheit, müſste immer bei den Schlechtesten eintreten. Dieſs finden wir aber geschichtlich gar nicht so, die Dä - monischen erscheinen in den Evangelien nur so weit als Sünder, wie alle Kranke Vergebung der Sünde nöthig ha - ben, und die gröſsten Sünder, wie ein Judas, bleiben von der Besessenheit verschont. Die gewöhnliche Vorstellung, mit ihren persönlichen Dämonen, entgeht diesem Wider - spruch. Zwar hält auch sie, wie wir dieſs z. B. in den Klementinen finden, daran fest, daſs nur durch die Sünde der Mensch dem Dämon den Zugang zu sich eröffne30)Homil. 8, 19.: doch bleibt hier immer noch ein Spielraum für die indivi - duelle Willkühr des Dämon, welcher aus nicht zu berech - nenden subjektiven Gründen oft den Schlechteren vorüber - gehen, auf den weniger Schlechten aber Jagd machen kann31)Wie sich Asmodi die Sara und ihre Männer zum Plagen und Umbringen ausersieht, nicht weil jene oder diese besonders schlecht waren, sondern weil Sara's Schönheit ihn anzog, Tob. 6, 12. 15.. Werden hingegen, wie von Olshausen, die Dä -19Neuntes Kapitel. §. 88.monen nur als die Aktionen der Macht des Bösen in ihrem durch Gesetze geregelten Verhältniſs zur Macht des Guten betrachtet, so ist jede Willkühr und Zufälligkeit ausge - schlossen, und deſswegen hat die Abweichung der Conse - quenz, daſs nach seiner Theorie eigentlich immer die Schlimm - sten besessen sein sollten, Olshausen sichtbare Mühe ver - ursacht. Von dem scheinbaren Kampf zweier Mächte in den Dämonischen ausgehend, ergreift er zunächst den Aus - weg, daſs nicht bei denjenigen, welche sich ganz dem Bö - sen ergeben, und somit eine innere Einheit ihres Wesens behalten, sondern nur bei denen, in welchen noch ein in - neres Widerstreben gegen die Sünde vorhanden sei, der Zustand des Besessenseins eintrete32)S. 294.. So aber, zum rein moralischen Phänomen gemacht, müſste dieser Zustand weit häufiger vorkommen, es müſste jeder heftige innere Kampf in dieser Form sich äussern, und namentlich dieje - nigen, welche sich später dem Bösen ganz ergeben, ihren Durchgang durch eine Periode des Kampfs, also des Be - sessenseins, nehmen. Daher fügt auch Olshausen noch ein physisches Moment hinzu, daſs nämlich das Böse im Men - schen vorwiegend seinen leiblichen Organismus, insbeson - dere das Nervensystem geschwächt haben müsse, wenn er für den dämonischen Zustand empfänglich sein solle. Al - lein wer sieht nicht, zumal solche Zerrüttungen des Ner - vensystems auch ohne sittliche Verschuldung eintreten kön - nen, daſs auf diese Weise der Zustand, welchen man der dämonischen Macht als eigenthümlicher Ursache vindiciren wollte, zum groſsen Theil auf natürliche Gründe zurück - geführt, und somit dem eigenen Zwecke widersprochen wird? Daher wendet sich Olshausen von dieser Seite auch bald wieder weg, und verweilt bei der Vergleichung des δαιμονιζόμενος mit dem πονηρὸς, statt daſs er ihn mit dem Epileptischen und Wahnsinnigen zusammenstellen sollte,2 *20Zweiter Abschnitt.aus deren Vergleichung allein auf den Besessenen ein Licht zurückgeworfen werden kann. Durch dieses Herüberspie - len der Sache vom physiologisch - psychologischen Gebiete auf das moralisch-religiöse ist der Excurs über die Dämo - nischen zu einem d[er]unbrauchbarsten geworden, die im Olshausen'schen Buche zu finden sind33)Er füllt S. 289 — 298..
Lassen wir also die unerfreulichen Versuche, die neutestamentlichen Vorstellungen von den Dämonischen zu modernisiren, und unsre jetzigen Begriffe zu judaisiren, fassen wir vielmehr auch in diesem Punkte das N. T. auf, wie es sich giebt, ohne jedoch durch die Zeit - und Volks - vorstellungen in demselben uns für weitere Forschungen die Hände binden zu lassen.
Den bisher ermittelten Vorstellungen vom Wesen der Dämonischen gemäſs gestaltete sich auch das Heilverfahren mit solchen Personen, namentlich bei den Juden. Da die Krankheitsursache nicht, wie bei natürlichen Übeln als ein unpersönlicher Gegenstand oder Zustand, wie ein ungesun - der Saft, eine krankhafte Spannung oder Schwäche, son - dern als ein selbstbewuſstes Wesen angesehen wurde: so suchte man auf dieselbe auch nicht blos mechanisch, che - misch und dergl., sondern logisch, durch das Wort, zu wir - ken. Man sprach dem Dämon zu, sich zu entfernen, und um diesem Zuspruch Nachdruck zu geben, knüpfte man ihn an die Namen von Wesen, welchen man Macht über das Reich der Dämonen zuschrieb. Daher als Hauptmittel gegen dämonische Besitzungen die Beschwörung34)s. die Anm. 16. angeführte Lucianische Stelle., sei es bei dem Namen Gottes, oder der Engel, oder eines andern übermächtigen Wesens, wie des Messias (A. G. 19, 13.), und mittelst gewisser Formeln, die man von Salomo her - zuleiten pflegte35)Joseph. Antiq. 8, 2, 5.. Übrigens wurden hiemit auch gewisse21Neuntes Kapitel. §. 89.Wurzeln36)Joseph. a. a. O., Steine37)Gittin, f. 67. 2., Räucherungen und Amulete38)Justin. Mart. dial. c. Tryph. 85. in Verbindung gesezt, ebenfalls, wie man glaubte, aus Salo - monischer Überlieferung. Da nun die Ursache von derglei - chen Übeln nicht selten wirklich eine psychische war, oder doch im Nervensystem lag, auf welches sich von geistiger Seite unberechenbar einwirken läſst, so täuschte jenes psy - chologische Verfahren nicht durchaus, sondern es konnte oft wirklich durch die im Kranken erregte Meinung, daſs vor einer Zauberformel der ihn besitzende Dämon sich nicht länger halten könne, eine Hebung des Übels bewirkt wer - den, wie denn Jesus selbst zugiebt, daſs auch jüdischen Beschwörern dergleichen Kuren bisweilen gelingen (Matth. 12, 27.). Von Jesus aber lesen wir, daſs er ohne ander - weitige Mittel und ohne Beschwörung bei einer andern Macht durch sein bloſses Wort die Dämonen ausgetrieben habe, und es sind die hervorstechendsten Heilungen dieser Art, von welchen uns die Evangelien berichten, nunmehr in Erwägung zu ziehen.
Unter den einzelnen Erzählungen, welche uns in den drei ersten Evangelien von den Kuren Jesu an Dämoni - schen gegeben werden, ragen besonders drei hervor: die Heilung eines Dämonischen in der Synagoge zu Kapernaum, die der von einer Menge Dämonen besessenen Gadarener, und endlich die des Mondsüchtigen, welchen die Jünger nicht im Stande gewesen waren zu heilen.
Wie nach Johannes die Wasserverwandlung, so ist nach Markus (1, 23 ff. ) und Lukas (4, 33 ff. ) die Heilung eines Besessenen in der Synagoge von Kapernaum das er -22Zweiter Abschnitt.ste Wunder, das sie von Jesu seit seiner Rückkehr von der Taufe nach Galiläa zu erzählen wissen. Jesus hatte mit gewaltigem Eindruck gelehrt: als auf einmal ein an - wesender Besessener in der Rolle des ihn besitzenden Dä - mons aufschrie, er wolle mit ihm nichts zu schaffen haben, er kenne ihn als den Messias, welcher gekommen sei, sie, die Dämonen, zu verderben; worauf Jesus dem Dämon zu schweigen und auszufahren gebot, was unter Geschrei und Zuckungen von Seiten des Kranken und zum groſsen Er - staunen der Menge über solche Gewalt Jesu geschah.
Hier könnte man sich allerdings mit rationalistischen Auslegern die Sache so vorstellen: wenn der Kranke, der einem lichten Augenblick in die Synagoge getreten war, von der gewaltigen Rede Jesu einen Eindruck bekommen, und dabei einen der Anwesenden von ihm als dem Mes - sias hatte sprechen hören, so konnte in ihm leicht die Vor - stellung sich bilden, der ihn besitzende unreine Geist kön - ne mit dem heiligen Messias nicht zusammenbestehen, wo - durch er in Paroxysmus gerathen, und seine Furcht vor Jesu in der Rolle des Dämon aussprechen mochte. Sah aber Jesus einmal den Menschen so gestimmt: was war ihm näher gelegt, als, die Meinung desselben von seiner Ge - walt über den Dämon zu benützen und diesem das Aus - fahren zu gebieten, was dann nach den Gesetzen der See - lenheilkunde, da der Irre von seiner fixen Idee aus ergrif - fen wurde, gar wohl günstigen Erfolg haben konnte, weſs - wegen Paulus diesen Fall für die Veranlassung hält, durch welche Jesus zuerst auf den Gedanken geführt worden sei, seine messianische Geltung zu Heilung von dergleichen Kran - ken zu benützen1)exeg. Handb. 1, b. S. 422; L. J. 1, a, S. 218..
Doch erhebt sich gegen diese natürliche Vorstellung von der Sache auch manche Schwierigkeit. Daſs Jesus der Messias sei, soll ihr zufolge der Kranke durch die Leute23Neuntes Kapitel. §. 89.in der Synagoge erfahren haben. Davon schweigt der Text nicht blos, sondern er widerspricht einer solchen Annah - me aufs Bestimmteste. Sein Wissen um Jesu Messiani - tät hebt der aus dem Menschen redende Dämon durch das οἶδά σε τίς εἶ κ. τ. λ. deutlich als ein ihm nicht von Men - schen zufällig Mitgetheiltes, sondern als ein ihm vermöge seiner dämonischen Natur wesentlich Zukommendes heraus. Ferner, wenn Jesus ihm ein φιμώϑητι! zuruft, so bezieht sich dieſs eben auf das, was der Dämon zuvor von seiner Messianität ausgesagt hatte, wie ja auch sonst von Jesu erzählt wird, daſs er
οὐκ ἤφιε λαλεῖν τὰ δαιμόνια, ὅτι ἤδει - σαν αὐτὸν (Marc. 1, 34. Luc. 4, 41.), oder, ἵνα μὴ φανερὸν αὐτὸν ποιήσωσιν(Marc. 3, 12.); glaubte also Jesus durch das dem Dämon aufgelegte Schweigen das Bekanntwerden seiner Messianität verhindern zu können, so muſs er der Meinung gewesen sein, daſs nicht der Besessene durch das Volk in der Synagoge etwas von derselben gehört habe, vielmehr umgekehrt dieses es von dem Besessenen erfahren könnte; wie denn auch in der Zeit des ersten Auftritts Jesu, in welche die Evangelisten den Vorfall verlegen, noch Niemand an seine Messianität gedacht hat.
Fragt es sich demnach, wie, ohne Mittheilung von aussen, der Dämonische Jesum als Messias durchschaut haben könne? so beruft sich Olshausen auf die unnatür - lich gesteigerte Nerventhätigkeit, welche in dämonischen Personen wie in somnambülen ein verstärktes Ahnungsver - mögen, eine Art von Hellsehen hervorbringe, vermöge des - sen ein solcher Mensch gar wohl die Bedeutung Jesu für das ganze Geisterreich habe erkennen können2)b. Comm. 1, 296.. Allein abgesehen von den starken Zweifeln, welchen die Wirk - lichkeit eines solchen Hellsehens bei Somnambülen noch unterliegt, so schreibt die evangelische Darstellung jene Kunde nicht einem Vermögen des Kranken, sondern des24Zweiter Abschnitt.in ihm wohnenden Dämons zu, wie dieſs auch allein den damaligen jüdischen Vorstellungen angemessen ist. Der Messias sollte erscheinen, um das dämonische Reich zu stürzen (ἀμολέσαι ἡμᾶς, vgl. 1 Joh. 3, 8. Luc. 10, 18 f.), den Teufel sammt seinen Engeln in den Feuerpfuhl zu werfen (Matth. 25, 41. Offenb. 20, 10.)3)vgl. Bertroldt, Christol. Jud. §§. 36. 41., und daſs nun die Dämonen denjenigen, der ein solches Gericht über sie zu üben bestimmt war, als solchen erkennen würden, er - gab sich von selbst4)Nach Pesikta in Jalkut Schimoni 2, f. 56, 3. (s. Bertholdt, p. 185.) erkennt auf ähnliche Weise der Satan den unter dem Throne Gottes präexistirenden Messias mit Schrecken als den - jenigen, qui me, sagt er, et omnes gentiles in infernum prae - cipitaturus est.. Da wir demnach einerseits eine wirkliche Existenz von Dämonen in jenen Leidenden nicht annehmen, das jedoch ebenso schwer uns denken können, daſs jene Menschen selbst vermöge einer Hellsehergabe Je - sum zu einer Zeit, wo ihn sonst noch Niemand, und viel - leicht er sich selbst noch nicht, für den Messias hielt, als solchen erkannt haben; andrerseits aber dieses Erkanntwer - den des Messias von den Dämonen so ganz mit den volks - thümlichen Vorstellungen zusammentreffen sehen: so müs - sen wir wohl vermuthen, daſs in diesem Punkte die evan - gelische Tradition mehr diesen Vorstellungen, als der hi - storischen Wahrheit gemäſs sich gebildet habe5)Fritzsche, in Marc. p. 35: In multis evangeliorum locis ho mines legas a pravis daemonibus agitatos, quum primum con - spexerint Jesum, eum Messiam esse, a nemine unquam de hac re commonitos, statim intelligere. In qua re hac nostri scriptores ducti sunt sententia, consentaneum esse, Satanae satellites facile cognovisse Messiam, quippe insignia de se supplicia aliquando sumturum.. Hiezu war um so mehr Veranlassung, je rühmlicher für Jesum eine solche Anerkennung von Seiten der Dämonen war. 25Neuntes Kapitel. §. 89.Wie ihm, da die Erwachsenen ihn verkannten, aus dem Munde der Kinder Lob zubereitet war (Matth. 21, 16.), wie er, falls die Menschen schwiegen, überzeugt war, daſs die Steine schreien würden (Luc. 19, 40.): so muſste es angemessen scheinen, den, welchen sein Volk, das zu ret - ten er gekommen war, nicht anerkennen wollte, von den Dämonen anerkannt werden zu lassen, deren Zeugniſs, weil sie nur Verderben von ihm zu gewarten hatten, unpar - teiisch, und wegen ihrer höheren geistigen Natur zuver - lässig war.
Haben wir in der zulezt betrachteten Heilungsgeschichte eines Dämonischen eine von der einfachsten Gattung gehabt: so begegnet uns in der Erzählung von der Heilung der be - sessenen Gadarener (Matth. S, 28 ff. Marc. 5, 1 ff. Luc. 8, 26 ff. ) eine höchst zusammengesezte, indem wir hier, ne - ben mehreren Abweichungen der Evangelisten, statt Eines Dämons viele, und statt des einfachen Ausfahrens derselben ein Fahren in eine Schweineheerde haben.
Nach einer stürmischen Überfahrt über den galiläischen See an das östliche Ufer begegnet Jesu nach Markus und Lukas ein Dämonischer, welcher sich in den Grabmälern jener Gegend aufhielt6)Ein Lieblingsaufenthalt der Rasenden, s. Lightfoot u. Schött - gen z. d. St., und der unreinen Geister, s. die rabbinischen Stellen bei Wetstein. und mit furchtbarer Wildheit ge - gen sich selbst7)Dass das κατακόπτειν ἑαντὸν λίϑοις, welches Markus dem Be - sessenen zuschreibt, in lichten Augenblicken als Busse für seine Verschuldung von ihm geschehen sei, gehört zu den Unrichtigkeiten, zu welchen Olshausen durch seinen falschen, moralisch-religiösen Standpunkt in Betrachtung dieser Er - scheinungen verführt wird, da doch bekannt genug ist, wie gerade in den Paroxysmen solcher Kranken die selbstzerstö - rende Wuth eintritt. und andere zu wüthen pflegte; nach Matthäus waren es ihrer zwei. Es ist erstaunlich, wie26Zweiter Abschnitt.lange sich hier die Harmonistik mit elenden Ausflüchten, wie, daſs Markus und Lukas nur Einen nennen, weil die - ser durch Wildheit sich besonders ausgezeichnet, oder Matthäus zwei, weil er den dem Wahnsinnigen zur Auf - sicht beigegebenen Begleiter mitgezählt habe, und dergl.8)s. die Sammlung von dergleichen Erklärungen bei Fritzsche, in Matth. p. 327. beholfen hat, bis man eine wirkliche Differenz zwischen beiden Relationen zugeben mochte. Hiebei hat man, in Erwägung dessen, daſs dergleichen Rasende ungesellig zu sein pflegen, der Angabe der beiden mittlern Evangelisten den Vorzug gegeben, und die Verdoppelung des Einen Dä - monischen bei dem ersten daraus erklärt, daſs die Mehr - heit der δαίμονες, von welchen in der Erzählung die Rede war, dem Referenten zu einer Mehrheit von δαιμονιζόμενοι geworden sei9)so Schulz, über das Abendmahl, S. 309; Paulus z. d. St.; Hase, L. J. §. 75.. Allein so entschieden ist die Unmöglich - keit, daſs zwei Rasende in der Wirklichkeit sich zusam - mengesellen, oder vielleicht auch nur in der ursprünglichen Sage zusammengestellt wurden, denn doch nicht, daſs hierauf allein schon ein Vorzug des Berichts bei Markus und Lukas vor dem bei Matthäus sich begründen lieſse. Wenigstens wenn man fragt, welche der beiden Darstel - lungen der Sache leichter aus der andern, als der ursprüng - lichen, in der Überlieferung sich habe bilden können? so wird man die Möglichkeit auf beiden Seiten gleich groſs finden. Denn wenn auf die oben angezeigte Weise die mehreren Dämonen zu der Vorstellung auch von mehreren Dämonischen Anlaſs geben konnten, so läſst sich ebenso umgekehrt sagen: in der dem Faktum näheren Darstellung des Matthäus, wo von Besessenen sowohl als von Dämo - nen in der Mehrzahl die Rede war, trat das specifisch Ausserordentliche dieses Falls nicht genug hervor, daſs auf27Neuntes Kapitel. §. 89.Ein Individuum mehrere Dämonen kamen, und indem man, um dieses Verhältniſs hervorzuheben, sich beim Wiederer - zählen so ausdrücken muſste, daſs in Einem Menschen mehrere Dämonen sich befunden haben, so konnte dieſs leicht Veranlassung werden, daſs nach und nach dem Plu - ral der Dämonen gegenüber der Besessene in den Singular gesezt wurde. Im Übrigen ist in diesem ersten Eingang die Erzählung des Matthäus kurz und allgemein, die der beiden andern ausführlich malend, woraus man gleichfalls nicht ermangelt hat, auf die gröſsere Ursprünglichkeit der lezteren zu schlieſsen10)Schulz, a. a. O.. Gewiſs aber kann ebensowohl die Ausführung, in welche sich Lukas und Markus thei - len, daſs der Besessene kein Kleid an sich geduldet, alle Fesseln zerrissen, und sich selbst mit Steinen geschlagen habe, eine willkührliche Ausmalung der einfachen Bezeich - nung χαλεποὶ λίαν sein, welche Matthäus nebst der Folge, daſs Niemand jenen Weg habe gehen können, giebt, als diese eine ungenaue Zusammenfassung von jener.
Die Eröffnung der Scene zwischen dem oder den Dä - monischen und Jesus geschieht hier wie oben durch einen angstvollen Zuruf des Dämonischen in der Person des ihn besitzenden Dämons, daſs er mit Jesus, dem Messias, von welchem er nur Qualen zu erwarten hätte, nichts zu schaf - fen haben wolle. Die zur Erklärung der Erscheinung, daſs der Dämonische Jesum sogleich als Messias erkannt, gemachten Postulate, daſs Jesus damals wohl auch schon auf dem peräischen Ufer als Messias genannt worden sei11)Schleiermacher, über den Lukas, S. 127., oder daſs dem Menschen (welchem seiner Wildheit wegen Niemand nahe kommen konnte!) einige von den mit Je - su über den See Gekommenen gesagt haben, dort sei der Messias an's Land gestiegen12)Paulus, L. J. 1, a, S. 252., sind gleicherweise grund -28Zweiter Abschnitt.los, als offenbar ist, wie auch hier dieselbe jüdisch-christ - liche Voraussetzung über das Verhältniſs der Dämonen zum Messias wie oben diesen Zug der Erzählung hervor - gebracht hat13)s. Fritzsche, in Matth. S. 329.. Indeſs tritt hier noch eine Differenz der Berichte ein. Nach Matthäus nämlich rufen die Besesse - nen, wie sie Jesu ansichtig werden: τί ἡμῖν καὶ σοὶ —; ἦλ - ϑες — βασανίσαι ἡμᾶς; nach Lukas fällt der Dämonische Jesu zu Füſsen, und bittet ihn: μή με βασανίσῃς· nach Markus endlich läuft er von ferne herbei, um Jesum fuſs - fällig bei Gott zu beschwören, daſs er ihn nicht quälen möchte. Wir haben also wieder einen Klimax: bei Mat - thäus ein schreckenvolles Abwehren des unerwünscht kom - menden Jesus: bei Lukas eine bittende Annäherung an den gegenwärtigen; bei Markus sogar ein eiliges Aufsu - chen des noch entfernten. Die Erklärer, von Markus aus - gehend, müssen selbst zugeben, daſs das Herzulaufen eines Dämonischen zu Jesu, den er doch fürchtet, etwas Wider - sprechendes sei, weſswegen sie sich durch die Annahme helfen, der Mensch, als er sich gegen Jesum hin in Bewe - gung sezte, sei in einem lichten Augenblick gewesen, in welchem er vom Dämon befreit zu werden wünschte, und erst durch die Erhitzung des Laufens14)Natürliche Geschichte, 2, 174., oder durch die Anrede Jesu15)Paulus, ex. Handb. 1, b. S. 473; Olshausen, S. 302. sei er in den Paroxysmus gerathen, in welchem er in der Rolle des Dämons um Unterlassung der Austreibung bat. Allein in den zusammenhängenden Wor - ten bei Markus: ἰδὼν — ἔδραμε — καὶ προσεκύ ησε — καὶ κράξας — εἶπε· ist keine Spur von einem Wechsel seines Zustandes zu finden, und es bleibt so das Unwahrschein - liche seiner Darstellung; denn der wirklich Besessene hät - te sich, wenn er den gefürchteten Messias von ferne erkann - te, eher so schnell wie möglich davongemacht, als sich ihm29Neuntes Kapitel. §. 89.genähert, und wenn auch dieſs, so konnte er, der sich durch einen Gott feindseligen Dämon besessen glaubte, Jesum doch gewiſs nicht bei Gott beschwören, wie Mar - kus den Dämonischen thun läſst16)Diess finden auch Paulus S. 474. und Olsmausen S. 303. auf - fallend.. Kann demnach sei - ne Darstellung hier die ursprüngliche nicht sein, so ist die des Lukas ihr zu verwandt, und eigentlich nur um die Züge des Herzulaufens und Beschwörens einfacher, als daſs wir sie für die dem Faktum nächste ansehen könnten. Son - dern die am reinsten gehaltene ist ohne Zweifel die des Matthäus, deren schreckenvolle Frage: ἦλϑες ὧδε πρὸ καιροῦ βασανίσαι ἡμᾶς; einem Dämon, der als Feind des Messiasreichs vom Messias keine Schonung zu erwarten hatte, weit natürlicher steht, als die Bitte um Schonung bei Markus und Lukas, wenn gleich Philostratus in einer Erzählung, die man als Nachbildung dieser evangelischen ansehen könnte, sich an die leztere Form gehalten hat17)Es ist diess die Erzählung von der Entlarvung einer Empusa durch Apollonius von Tyana, vit. Ap. 4, 35; bei Baur S. 145..
Während man nach dem Bisherigen glauben muſste, die Dämonen haben hier wie in der ersten Erzählung, oh - ne daſs etwas von Seiten Jesu vorangegangen war, ihn auf die beschriebene Weise angesprochen: so holen nun die zwei mittleren Evangelisten nach, Jesus habe nämlich dem unsaubern Geiste geboten gehabt, den Menschen zu verlassen. Es fragt sich, wann Jesus dieſs gethan ha - ben soll. Das Nächste wäre: ehe der Mensch ihn anre - dete; aber mit dieser Anrede ist bei Lukas das προσέπεσε, und mit diesem weiter rückwärts das ἀνακρ[ά]ξας so eng verbunden, daſs man den Befehl Jesu vor den Schrei und Fuſsfall als deren Ursache setzen müſste. Nun aber ist als Ursache davon vielmehr der bloſse Anblick Jesu ange - geben, so daſs man bei Lukas nicht sieht, wo jenes Gebot30Zweiter Abschnitt.Jesu seine Stelle finden soll. Noch schlimmer ist es bei Markus, wo der Zuruf Jesu durch eine ähnliche Verket - tung der Sätze sogar vor das ἔδραμε zurückgeschoben wird, so daſs Jesus sonderbarerweise schon aus der Ferne dem Dämon das ἔξελϑε zugerufen haben müſste. Wenn auf diese Weise bei den beiden mittleren Evangelisten ent - weder die vorangeschickte zusammenhängende Darstellung oder der darauffolgende Zusaz unrichtig sein muſs: so fragt sich nur, was von beiden eher den Schein des Unhi - storischen wider sich habe? Und hier hat selbst Schleier - macher eingeräumt, wenn in der ursprünglichen Erzählung von einem vorausgegangenen Gebote Jesu die Rede gewe - sen wäre, so würde dieses gewiſs in seiner rechten Stelle vor der Bitte der Dämonen, und mit Anführung der eig - nen Worte Jesu gegeben worden sein; wogegen seine je - zige Stellung als Nachtrag, und ebenso seine abgekürzte Fassung in der oratio obliqua (bei Lukas; erst Markus wandelt sie nach seiner Weise in oratio recta um) sehr stark die Vermuthung begründe, daſs es auch nur ein er - klärender Nachtrag des Referenten aus eigener Conjektur sei18)a. a. O. S. 128. Wenn er nun aber diese unrichtige Ergän - zung von Seiten des Lukas daraus erklärt, dass sein Bericht - erstatter vermuthlich beim Schiff beschäftigt und etwas zu - rückgeblieben, dem Anfang der Scene mit dem Dämonischen nicht angewohnt habe, so ist diess ein gar zu neugieriger Scharfsinn neben der veralteten Annahme eines möglichst unmittelbaren Verhältnisses der evangelischen Berichte zu den Thatsachen.. Und zwar ist es ein höchst störender, indem er der ganzen Scene nachträglich eine andre Gestalt giebt, als sie von vorne herein zeigte. Zuerst nämlich war sie auf ein zuvorkommendes Erkennen und Bitten des Dämo - nischen angelegt: nun aber fällt der Erzähler aus seiner Rolle, und in der Meinung, der Bitte des Dämons um Schonung müsse ein harter Befehl Jesu vorangegangen sein,31Neuntes Kapitel. §. 89.bemerkt er nachfolgend, daſs Jesus vielmehr mit seinem Gebote zuvorgekommen.
An die Nachholung dieses Gebots schlieſst sich nun bei Markus und Lukas die Frage Jesu an den Dämon an: τί σοι ὄνομα; worauf sich eine Mehrheit von Dämonen zu erkennen giebt, und als ihren Namen λεγεὼν bezeich - net, — eine Zwischenhandlung, von welcher Matthäus nichts hat. Wie wäre es nun, wenn, wie der vorige Zusaz ei - ne nachträgliche Erklärung des Vorhergehenden, so diese Frage und Antwort eine vorausgeschickte Einleitung des Folgenden wäre? und ebenso nur aus den eigenen Mitteln der Sage oder des Referenten? Der sofort von den Dä - monen ausgesprochene Wunsch nämlich, in die Schweine - heerde zu fahren, sezt zwar auch bei Matthäus eine Mehr - heit von Dämonen in jedem der beiden Besessenen voraus, weil doch die Zahl der bösen Geister beiläufig der Zahl der Schweine entsprechend gedacht werden muſs: eben dieses Entsprechen aber der beiderseitigen Anzahl schien noch besonders hervorgehoben werden zu müssen. Was nun bei Thieren eine Heerde, das ist bei Menschen und höheren Wesen ein Heer, oder genauer eine Heeresabthei - lung, und da lag, wenn eine gröſsere Abtheilung bezeich - net werden sollte, nichts näher, als die römische Legion, welche Matth. 26, 53. auf die Engel, wie hier auf die Dä - monen angewendet ist. — Daſs es nun aber, auch abgese - hen von dieser näheren Bestimmung, mehrere Dämonen ge - wesen sein sollen, welche hier in Einem Individuum ihre Wohnung aufgeschlagen hatten, ist als undenkbar zu be - zeichnen. Denn wenn man zwar so viel etwa noch sich vorstellig machen kann, wie Ein Dämon mit Unterdrückung des menschlichen Bewuſstseins, sich eines menschlichen Or - ganismus bemächtigen könne: so geht einem doch alle Vor - stellung aus, sobald man gar viele einen Menschen besi - zende dämonische Persönlichkeiten sich denken soll. Denn da dieses Besitzen nichts Andres ist, als, sich zum Sub -32Zweiter Abschnitt.jekt des Bewuſstseins in einem Individuum machen, das Bewuſstsein aber in der Wirklichkeit nur Eine Spitze, Ei - nen Mittelpunkt haben kann: so ist jedenfalls das schlech - terdings nicht zu denken, daſs zu gleicher Zeit mehrere Dämonen von einem Menschen sollten Besiz nehmen kön - nen, und es könnte die mehrfache Besitzung immer nur von einem successiven Wechsel des Besessenseins durch verschiedene Dämonen verstanden werden, und nicht wie hier ein ganzes Heer derselben zugleich im Menschen sein und zugleich ihn verlassen.
Darin nun stimmen weiterhin alle Erzählungen überein, daſs die Dämonen (um nicht, wie Markus sagt, ausser Lan - des, oder nach Lukas in den Abgrund verwiesen zu wer - den) Jesum um die Erlaubniſs gebeten haben, in die be - nachbarte Schweineheerde zu fahren, daſs ihnen dieſs von Jesu gestattet worden, und sofort durch ihre Einwirkung sämmtliche Schweine (Markus, man darf nicht fragen, aus welchen Mitteln, bestimmt ihre Zahl auf 2000) in den See gestürzt und ersoffen seien. Bleibt man hier auf dem Standpunkt der Berichte, welche durchaus wirkliche Dä - monen voraussetzen, stehen, so fragt es sich: wie können Dämonen, — eingeräumt auch, daſs sie von Menschen Be - siz nehmen können, — wie können sie aber, als in jedem Fall vernünftige Geister, den Wunsch haben und errei - chen, in thierische Bildungen einzugehen? Jede Religion und Philosophie, welche die Seelenwanderung verwirft, muſs aus demselben Grunde auch die Möglichkeit eines sol - chen Überganges läugnen, und Olshausen stellt vollkom - men richtig die gadarenischen Säue im N. T. mit Bileams Esel im alten als ein ähnliches σκάνδαλον καὶ πρόσκομμα zusammen19)S. 305. Anm.. Diesem ist er aber durch die Bemerkung, daſs hier nicht an ein Eingehen der einzelnen Dämonen in die einzelnen Schweine, sondern an ein bloſses Einwirken33Neuntes Kapitel. §. 89.sämmtlicher bösen Geister auf die Thiermasse zu denken sei, mehr ausgewichen, als daſs er darüber hinweggekom - men wäre. Denn das εἰσελϑεῖν εἰς τοὺς χοίρους, wie es dem ἐξελϑεῖν ἐκ τοῦ ἀνϑρώπου gegenübersteht, kann doch unmög - lich etwas Anderes bedeuten, als daſs die Dämonen in das - selbe Verhältniſs, in welchem sie bisher zu den besessenen Menschen gestanden, nunmehr zu den Schweinen getre - ten seien; auch konnte sie vor der Verbannung ausser Lands oder in den Abgrund nicht ein bloſses Einwirken, sondern nur ein wirkliches Einwohnen in den Leibern der Thiere bewahren: so daſs jenes σκάνδαλον stehen bleibt. Unmöglich also kann jene Bitte von wirklichen Dämonen, sondern nur etwa von jüdischen Wahnsinnigen vorgebracht worden sein, nach den Vorstellungen ihres Volks. Ohne leibliche Hülle zu sein, macht diesen zufolge den bösen Geistern Qual, weil sie ohne Leib ihre sinnlichen Lüste nicht befriedigen können20)Clem. hom. 9, 10.; waren sie daher aus den Menschen ausgetrieben, so muſsten sie in Thierleiber zu fahren wünschen, und was taugte für ein πνεῦμα ἀκάϑαρτον besser, als ein ζῶον ἀκάϑαρτον, wie das Schwein war? 21)Fritzsche, in Matth. p. 332. Nach Eisenmenger 2, 447 ff. hal - ten sich, der jüdischen Vorstellung gemäss, die Dämonen überhaupt gern an unreinen Orten auf, und in Jalkut Rube - ni f. 10, 2. (bei Wetstein) findet sich die Notiz: Anima ido - lolatrarum, quae venit a spiritu immundo, vocatur porcus.So weit könnten also die Evangelisten in diesem Punkt das Faktische richtig wiedergeben, indem sie nur ihrer Vor - stellung gemäſs den Dämonen zuschrieben, was vielmehr die Kranken aus ihrem Wahne heraus sprachen. Nun aber, wenn es weiter heiſst, die Dämonen seien in die Schweine gefahren, berichten da die Evangelisten nicht eine offenbare Unmöglichkeit? Paulus meint, auch hier, wie sonst immer, identificiren die Evangelisten die besesse - nen Menschen mit den sie besitzenden Dämonen, und schrei -Das Leben Jesu II. Band. 334Zweiter Abschnitt.ben also das εἰσελϑεῖν εἰς τοὺς χοίρους den lezteren zu, wäh - rend doch in der Wirklichkeit nur die ersteren ihrer fixen Idee gemäſs auf die Schweine losgerannt seien22)a. a. O. S. 474. 485. Ebenso Winer, b. Realw. 1, S. 192.. Hier lieſse sich zwar des Matthäus ἀπῆλϑον εἰς τοὺς χοί - ρους, für sich genommen, etwa noch von einem Losrennen auf die Heerde verstehen; aber nicht nur muſs Paulus selbst einräumen, daſs das εἰσ ελϑόντες der beiden andern Synoptiker ein wirkliches Hineingehen in die Schweine bezeichne, sondern es hat auch Matthäus, wie die beiden andern, vor dem ἀπῆλϑον ein ἐξελϑόντες οἱ δαίμονες (sc. ἐκ τῶν ἀνϑρώπων), wodurch also die in die Schweine fah - renden Dämonen von den Menschen, aus welchen sie vor - her wichen, deutlich genug unterschieden sind23)Fritzsche, in Matth. S. 330.. So er - zählen also unsre Berichterstatter hier nicht blos wirklich Vorgefallenes, gefärbt durch die Vorstellungsweise ihrer Zeit, sondern hier haben sie einen Zug, der gar nicht auf diese Weise vorgefallen sein kann.
Neuen Anstoſs macht die Wirkung, welche die Dä - monen in den Schweinen hervorgebracht haben sollen. Kaum in dieselben gefahren nämlich sollen sie die ganze Heerde angetrieben haben, sich in den See zu stürzen, wobei man mit Recht fragt, was denn die Dämonen nun durch das Fahren in die Thiere gewonnen haben, wenn sie diese alsbald vernichteten, und sich somit der so sehr erbetenen leidlichen Interimswohnung selbst wieder be - raubten24)Paulus, a. a. O. S. 475 f.? Die Vermuthung, die Absicht der Dämonen bei Vernichtung der Schweine sei gewesen, die Gemüther der Eigenthümer durch diesen Verlust gegen Jesum einzu - nehmen, was auch erfolgt sei25)Olshausen, S. 307., ist zu weit hergeholt; die andre, daſs der mit Geschrei auf die Heerde losstür -35Neuntes Kapitel. §. 89.zende Dämonische sammt den im Schrecken davonlaufen - den Hirten die Schweine scheu gemacht und in's Wasser gejagt habe26)Paulus, S. 474., würde, wenn sie auch nicht nach dem Obi - gen dem Text zuwider wäre, doch nicht hinreichen, um das Ertrinken einer Heerde von 2000 Stücken nach Mar - kus, oder überhaupt nur einer groſsen Heerde, nach Mat - thäus, zu erklären. Die Ausflucht, daſs wohl nur ein Theil der Heerde ersoffen sei27)Paulus, S. 485; Winer, a. a. O., hat in der evangelischen Er - zählung nicht den mindesten Halt. — Vermehrt wird für diesen Punkt die Schwierigkeit durch die nahe liegende Reflexion auf den nicht geringen Schaden, welchen das Ertrinken der Heerde den Eigenthümern brachte, und des - sen mittelbarer Urheber Jesus gewesen wäre. Die Ortho - doxen, wenn sie Jesum in irgend einer Wendung dadurch rechtfertigen wollen, daſs durch Zulassung des Übergangs der Dämonen in die Schweine die Heilung des Besessenen möglich gemacht worden sei, und daſs doch gewiſs Thiere getödtet werden dürfen, damit die Menschen lebendig wer - den28)Olshausen, a. a. O., bedenken nicht, daſs sie hiedurch auf die für ih - ren Standpunkt inconsequenteste Weise die absolute Macht Jesu über das dämonische Reich beschränken. Die Aus - kunft aber, Jesus habe, sofern die Schweine Juden gehör - ten, diese für ihre gewinnsüchtige Übertretung des Gesetzes strafen wollen29)Ders. ebendas., überhaupt habe er aus göttlicher Voll - macht gehandelt, welche oft zu höheren Zwecken Einzel - nes zerstöre, und durch Bliz, Hagel und Überschwemmung vieler Menschen Habe vernichten lasse30)Ullmann, über die Unsündlichkeit Jesu, in seinen Studien, 1, 1, S. 51 f., worüber Gott3 *36Zweiter Abschnitt.der Ungerechtigkeit anzuklagen, albern wäre31)Olshausen, a. a. O., — dieſs ist wieder die auf orthodoxem Standpunkt unerlaubteste Vermischung des Standes der Erniedrigung Christi mit dem seiner Erhöhung, ein schwärmerisches Hinausgehen über das besonnene paulinische‘γενόμενον ὑπὸ νόμον’(Gal. 4, 4.) und‘ἑαυτὸν ἐκένωσε’(Phil. 2, 7.), welches uns Jesum völlig entfremdet, indem es ihn auch in Bezug auf die sittliche Beurtheilung seiner Handlungen über das Maaſs des Mensch - lichen hinaushebt. Es blieb daher nur noch übrig, das vom Standpunkt der natürlichen Erklärung vorausgesezte Hin - einrennen der Dämonischen unter die Schweine und deren dadurch herbeigeführten Untergang als etwas Jesu selbst Unerwartetes, für das er also auch nicht verantwortlich sei, darzustellen32)Paulus.: im offensten Widerspruch gegen de evangelische Darstellung, welche Jesum die Erfolge, sofern er sie auch nicht geradezu bewirkt, doch auf's Bestimmte - ste vorhersehen läſst33)s. Ullmann.. Es scheint daher auf Jesu die Beschuldigung eines Eingriffs in fremdes Eigenthum liegen zu bleiben, wie denn Gegner des Christenthums diese Er - zählung sich längst gehörig zu Nutze gemacht haben34)z. B. Woolston, Disc. 1, S. 32 ff.; wenigstens wäre Pythagoras in ähnlichem Falle weit billi - ger verfahren, da er die Fische, deren Loslassung er von den Fischern, die sie gefangen hatten, auswirkte, ihnen baar bezahlt haben soll35)Jamblich. vita Pythag. no. 36. ed. Kiessling..
Bei diesem Gewebe von Schwierigkeiten, welche na - mentlich der Punkt mit den Schweinen in die vorliegende Erzählung bringt, ist es kein Wunder, daſs man in Bezug auf diese Anekdote früher als bei den meisten andern aus dem öffentlichen Leben Jesu angefangen hat, die durch - gängige historische Realität der Erzählung zu bezweifeln,37Neuntes Kapitel. §. 89.und insbesondere den Untergang der Schweine mit der durch Jesum bewirkten Austreibung der Dämonen aus - ser Beziehung zu setzen. So fand Krug in der Stellung beider Erfolge ein in der Tradition entstandenes ὕςερον πρότερον. Die Schweine seien schon vor der Landung Je - su durch den Sturm, der während seiner Überfahrt wü - thete, in den See gestürzt worden, und als Jesus nachher den Dämonischen heilen wollte, habe entweder er selbst, oder einer aus seinem Gefolge, den Menschen beredet, sei - ne Dämonen seien bereits in jene Schweine gefahren, und haben sie in den See gestürzt; was dann als wirklich so erfolgt aufgenommen und weiter gesagt worden sei36)In der Abhandlung über genetische oder formelle Erklärungs - art der Wunder, in Henke's Museum 1, 3, S. 410 ff. Zu lo - ben ist hier auch das Bewusstsein davon, dass die Darstel - lung bei Matthäus die einfachere, die der beiden andern Evangelisten die ausgeschmücktere ist.. K. Ch. L. Schmidt läſst, als Jesus an's Land stieg, die Hirten ihm entgegen gehen, indessen von den sich selbst überlassenen Schweinen mehrere in das Wasser stürzen, und da nun um eben diese Zeit Jesus dem Dämon auszu - fahren geboten habe, so haben die Umstehenden Beides in Causalzusammenhang gesezt37)Exeg. Beiträge, 2, 109 ff.. Ohne weitere Bemerkung erkennt man in diesen Erklärungsversuchen, an der gros - sen Rolle, welche in denselben das zufällige Zusammen - treffen verschiedener Umstände spielt, die ungeschickte Vermischung der mythischen Erklärung mit der natürli - chen, wie sie den ersten Unternehmungen auf dem mythi - schen Standpunkt eigen gewesen ist. Da diese Vermischung darin besteht, daſs von dem Unglaublichen in einer Er - zählung, statt es aus Zeitvorstellungen herzuleiten, eine historische aber wunderlose Grundlage angenommen wird: so fragt sich, ob in der Zeit der muthmaſslichen Bildung38Zweiter Abschnitt.der evangelischen Erzählungen sich Vorstellungen finden, aus welchen sich der Zug mit den Schweinen in der vor - liegenden Geschichte erklären lieſse?
Eine hiehergehörige Zeitmeinung hatten wir schon, nämlich die, daſs Dämonen nicht ohne Leib sein wollen, und, daſs sie gerne an unreinen Orten seien, weſswegen ihnen die Leiber von Schweinen am besten taugen muſs - ten: indeſs erklärt sich hieraus der Zug noch nicht, daſs sie die Schweine in das Wasser gestürzt haben sollen. Doch auch hiefür fehlt es nicht an erklärenden Notizen. Josephus berichtet von einem jüdischen Beschwörer, der durch Salomonische Formeln und Mittel die Dämonen aus - trieb, daſs er, um die Anwesenden von der Realität sei - ner Austreibungen zu überführen, in die Nähe des Beses - senen ein Wassergefäſs gestellt habe, welches der ausfah - rende Dämon umwerfen und dadurch den Zuschauern au - genscheinlich zeigen muſste, daſs er aus dem Menschen heraus sei38)Antiq. 8, 2, 5:βουλόμενος δὲ πεῖσαι καὶ παραςῆσαι τοῖς παρα - τυγχάνουσιν ὁ Ἐλεάζαρος, ὅτι ταύτην ἔχει ἰσχὺν, ἐτίϑει μικρὸν ἔμπροσϑεν ἤτοι ποτήριον πλῆρες ὕδατος ἢ ποδόνιπτρον, καὶ τῷ δαιμονίῳ προσέταττεν ἐξιόντι τοῦ ἀνϑρώπου ταῦτ̕ ἀνατρέψαι, καὶ παρασχεῖν ἐπιγνῶναι τοῖς ὁρῶσιν, ὅτι καταλέλοιπε τὸν ἄνϑρωπον.. Auf ähnliche Weise wird von Apollonius von Tyana erzählt, daſs er einem Dämon, der einen Jüng - ling besessen hatte, befohlen habe, sich mit einem sicht - baren Zeichen zu entfernen, worauf derselbe sich erbot, ein in der Nähe befindliches Standbild umzuwerfen, wel - ches dann zum groſsen Erstaunen aller Anwesenden wirk - lich in dem Augenblick umfiel, als der Dämon den Jüng - ling verlieſs39)Philostr. v. Ap., 4, 20; bei Baur, a. a. O. S. 39.. Galt hienach das in Bewegung Setzen ei - nes nahen Gegenstandes ohne körperliche Berührung als die sicherste Probe der Realität einer Dämonenaustreibung: so durfte diese Probe auch Jesu nicht fehlen, und zwar,39Neuntes Kapitel. §. 89.wenn jener Gegenstand bei einem Eleazar nur μικρὸν von dem Beschwörer und dem Kranken entfernt, mithin der Gedanke an eine Täuschung nicht ganz ausgeschlossen war, so räumt in Bezug auf Jesum Matthäus, hierin ausmalen - der als die beiden andern, durch die Bemerkung, daſs die Schweineheerde μακρὰν geweidet habe, auch den lezten Rest einer solchen Möglichkeit hinweg. Daſs nun aber diese Probe hier nicht blos an Einem Gegenstande, son - dern an mehreren sich zeigte, dieſs hatte seinen Grund in einer andern Rücksicht, welche mit der bisher ausgeführ - ten sich verband. Jesus sollte nämlich nicht bloſs gewöhn - liche Besessene, wie den der ersten von uns betrachteten Geschichte, geheilt haben, sondern die schwierigsten Ku - ren dieser Art sollten ihm gelungen sein. Den gegenwär - tigen Fall als einen von äusserster Schwierigkeit darzustel - len, darauf ist von vorne herein die ganze Erzählung mit ihrer grellen Schilderung von dem furchtbaren Zustand des Gadareners angelegt. Zu dem Complicirten eines solchen Falles gehörte nun aber besonders, daſs die Besitzung kei - ne einfache, sondern wie bei Maria Magdalena,
ἀφ̕ ῆς δαιμόνια ἑπτὰ ἐξεληλύϑει(Luc. 8, 2.), oder bei der dämo - nischen Recidive, wo der ausgetriebene Dämon mit sieben ärgeren wiederkommt (Matth. 12, 45.), eine mehrfache war, weſswegen denn hier selbst diese Zahlen noch überboten, und der Darstellung des Markus zufolge gegen 2000 Dä - monen in Einem Menschen zu denken sind. Daher nun für die mehreren Dämonen die mehreren Gegenstände, als welche durch den Zutritt oben erwähnter Vorstellungen Thiere und näher Schweine bestimmt wurden. Die Ein - wirkung der aus dem Menschen vertriebenen Dämonen aber, wie sie an einem Wassergefäſs oder Standbild durch nichts augenscheinlicher sich zeigen konnte, als dadurch, daſs dasselbe gegen sein natürliches, durch das Gesez der Schwere bestimmtes Verhalten umfiel: so konnte sie an Thieren durch nichts sicherer sich bethätigen, als wenn40Zweiter Abschnitt.diese, ihrem natürlichen Lebenstrieb zuwider, sich zu er - säufen veranlaſst wurden. Nur diese Entstehung unserer Erzählung aus dem Zusammentreffen verschiedener Zeitvor - stellungen und Interessen erklärt auch den oben bemerkten Widerspruch, daſs die Dämonen zuerst die Schweine als Aufenthalt sich erbitten, und unmittelbar darauf diesen Aufenthalt selbst zerstören. Jene Bitte nämlich ist, wie gesagt, aus der Vorstellung von der Scheue der Dämonen vor Körperlosigkeit erwachsen, diese Zerstörung aber aus der hiemit gar nicht zusammenhängenden von einer Aus - treibungsprobe; was Wunder, wenn aus so heterogenen Vorstellungen zwei widersprechende Züge in der Erzäh - lung henvorgiengen?
Die dritte und lezte ausführlich erzählte Dämonenaus - treibung hat das Eigenthümliche, daſs zuerst die Jünger vergeblich die Heilung versuchen, hierauf aber Jesus die - selbe mit Leichtigkeit vollbringt. Sämmtliche Synoptiker nämlich (Matth. 17, 14 ff. ; Marc. 9, 14 ff. ; Luc. 9, 37 ff. ) berichten einstimmig, wie Jesus mit seinen drei Vertraute - sten vom Verklärungsberge herabgekommen sei, habe er seine übrigen Jünger in der Verlegenheit gefunden, daſs sie einen besessenen Knaben, welchen sein Vater zu ih - nen gebracht hatte, nicht im Stande gewesen seien zu heilen.
Auch in dieser Erzählung findet eine Abstufung statt von der gröſsten Einfachheit bei Matthäus bis zur gröſsten Ausführlichkeit der Schilderung bei Markus, was denn auch hier wieder die Folge gehabt hat, daſs man den Be - richt des Matthäus als den der Thatsache am fernsten ste - henden den Relationen der beiden andern nachsetzen zu müssen glaubte40)Schulz, S. 319.. Im Eingang läſst Matthäus Jesum, vom Berge herabgestiegen, zu dem ὄχλος stoſsen, hierauf den Vater des Knaben zu ihm treten und ihn fuſsfällig um41Neuntes Kapitel. §. 89.Heilung desselben bitten; nach Lukas kommt ihm der ὄχλος entgegen; nach Markus endlich sieht Jesus um die Jün - ger viel Volks und Schriftgelehrte, die mit ihnen streiten, das Volk, wie es seiner ansichtig wird, läuft hinzu und be - grüſst ihn, er aber fragt, was sie streiten? worauf der Vater des Knaben das Wort nimmt. Hier haben wir in Bezug auf das Benehmen des Volks wieder einen Klimax: aus dem zufälligen Zusammentreffen mit demselben bei Matthäus war schon bei Lukas ein Entgegenkommen des Volks geworden, und dieses steigert nun Markus zu einem Herbeilaufen, um Jesum zu begrüſsen, wozu er noch das abenteuerliche ἐξεϑαμβήϑη fügt. Was in aller Welt hatte das Volk, wenn Jesus mit einigen Jüngern daherkam, so sehr zu erstaunen? Dieſs bleibt durch alle andern Erklä - rungsgründe, die man aufgesucht hat, so unerklärt, daſs ich den Gedanken des Euthymius nicht so absurd finden kann, wie Fritzsche ihn dafür ausgiebt, es sei an dem eben vom Verklärungsberg herabgestiegenen Jesus noch et - was von dem himmlischen Glanz, der ihn dort umleuchtet hatte, sichtbar gewesen, wie bei Moses, als er vom Sinai herunterkam (2 Mos. 34, 29 f.). Daſs unter diesem Volks - gedränge zufällig auch Schriftgelehrte sich befunden ha - ben, welche den Jüngern wegen der miſslungenen Heilung zusezten und sie in einen Streit verwickelten, ist zwar an und für sich gar wohl denkbar, aber im Zusammenhang mit jenen Übertreibungen hinsichtlich des Verhaltens der Menge muſs auch dieser Zug verdächtig werden, zumal die beiden andern Berichterstatter ihn nicht haben; so daſs, wenn sich zeigen läſst, auf welche Weise der Referent dazu kommen konnte, ihn aus eigener Combination hinzu - zufügen, wir ihn mit höchster Wahrscheinlichkeit fallen lassen dürfen. In Bezug auf die Fähigkeit Jesu, Wunder zu thun, hieſs es bei Markus früher einmal (8, 11.) bei Gelegenheit der Forderung eines himmlischen Zeichens von den Pharisäern: ἤρξαντο συζητεῖν αὐτῷ, und so lieſs er42Zweiter Abschnitt.denn hier, wo die Jünger sich unfähig zum Wunderthun zeigten, die groſsentheils zur pharisäischen Sekte gehöri - gen γραμματεῖς als συζητοῦντας τοῖς μαϑηταῖς auftreten. — Auch in der folgenden Schilderung der Umstände des Kna - ben findet dieselbe Abstufung in Bezug auf die Ausführ - lichkeit statt, nur daſs Matthäus das σεληνιάζεται eigen hat, welches man ihm nie hätte zum Vorwurf machen sol - len41)Wie Schulz a. a. O. zu thun scheint., da die Herleitung periodischer Krankheiten vom Monde im Zeitalter Jesu nichts Ungewöhnliches war42)s. die von Paulus ex. Handb. 1, b, S. 569, und von Winer, 1, S. 191 f. angeführten Stellen.. Dem Markus ist die Bezeichnung des den Knaben besitzen - den πνεῦμα als ἄλαλον (V. 17.) und κωφὸν (V. 25.) eigen - thümlich; es konnte nämlich das Ausstossen unartikulir - ter Laute während des epileptischen Anfalles als Stumm - heit, und das für jede Anrede unzugängliche Verhalten des Kranken als Taubheit des Dämons angesehen werden.
Wie der Vater Jesum von dem Gegenstand des Streits und der Unfähigkeit seiner Jünger, den Knaben zu hei - len, unterrichtet hat, bricht Jesus in die Worte aus: γενεὰ ἄπιςος καὶ διεςραμμένη κ. τ. λ. Vergleicht man bei Mat - thäus den Schluſs der Erzählung, wo Jesus den Jüngern auf die Frage, warum sie den Kranken nicht haben hei - len können, zur Antwort giebt: διὰ τὴν ἀπιςίαν ὑμῶν, und hieran die Schilderung der bergeversetzenden Macht schlieſst, welche ein auch nur senfkorngroſser Glaube ha - be (V. 19 ff. ): so kann man nicht zweifelhaft sein, daſs nicht auch jene unwillige Anrede sich auf die Jünger be - ziehe, in deren Unfähigkeit, den Dämon auszutreiben, Jesus einen Beweis ihres noch immer mangelhaften Glau - bens fand43)so Fritzsche z. d. St.. Diese schlieſsliche Erklärung des Unver - mögens der Jünger aus ihrer ἀπιςία läſst Lukas weg, und43Neuntes Kapitel. §. 89.Markus thut ihm nicht nur dieses nach, sondern flicht auch V. 21 — 24. eine ihm eigenthümliche Zwischenscene zwi - schen Jesus und dem Vater ein, in welcher er zuerst Ei - niges über die Krankheitsumstände theils aus Matthäus, theils aus eigenen Mitteln nachholt, hierauf aber den Va - ter zur πίςις aufgefordert werden, und sofort mit Thränen die Schwäche seines Glaubens und den Wunsch einer Stär - kung desselben aussprechen läſst. Dieses zusammengenom - men mit der Notiz von den streitenden Schriftgelehrten, wird man nicht irre gehen, wenn man bei Markus und wohl auch bei Lukas die Anrede: ὦ γενεὰ ἄπιςος, auf das Publikum im Unterschied von den Jüngern, nach Markus namentlich auch auf den Vater des Knaben bezieht, des - sen Unglaube hier als der Heilung hinderlich, wie ander - wärts (Matth. 9, 2.) der Glaube der Angehörigen als der - selben förderlich dargestellt wird. Da aber beide Evange - listen diesen Sinn dadurch hervorbringen, daſs sie die Er - klärung der Unwirksamkeit der Jünger aus ihrer ἀπιςία sammt dem Ausspruch über die Berge versetzende Macht des Glaubens hier weglassen: so fragt sich, ob die an - dern Verbindungen, in welche sie diese Reden stellen, pas - sender als die bei Matthäus sind? Bei Lukas nun steht der Ausspruch: wenn ihr Glauben habt, wie ein Senfkorn u. s. f. (denn das διὰ τὴν ἀπιςίαν ὑμῶν haben beide gar nicht), nur mit der geringen Variation, daſs statt des Ber - ges ein Baum genannt ist, 17, 5. 6. ausser aller Verbin - dung weder mit dem Vorhergehenden noch Folgenden als ein versprengtes Redestück kleinster Gröſse, mit der ohne Zweifel nach Art von Luc. 11, 1. und 13, 23. gemachten Einleitung, daſs die Jünger Jesum bitten: πρόσϑες ἡμῖν πίςιν· Markus giebt die Sentenz vom Berge versetzen - den Glauben als Nutzanwendung zu der Geschichte vom verfluchten Feigenbaum, wo sie auch Matthäus wieder hat. Aber dazu paſst, wie wir bald sehen werden, der Aus - spruch gar nicht, sondern, wenn wir nicht ganz darauf44Zweiter Abschnitt.verzichten wollen, etwas von dem Anlaſs zu wissen, bei welchem er gethan worden ist, so müssen wir die Ver - bindung bei Matthäus als die ursprüngliche annehmen; denn zu einer den Jüngern miſslungenen Kur paſst er vor - trefflich. — Ausser dem Zwischenspiel mit dem Vater hat Markus die Scene auch dadurch noch effektvoller zu ma - chen gesucht, daſs er während jener Zwischenhandlung ei - nen Volkszulauf entstehen, nach Austreibung des Dämons den Knaben ὡσεὶ νεκρὸν, so daſs Viele sagten, ὅτι ἀπέϑα - νεν, hinsinken, und von Jesu, wie er sonst bei Todten that (Matth. 9, 25.), durch ein κρατεῖν τῆς χειρὸς aufgerichtet und ins Leben zurückgerufen werden läſst.
Während nach vollendeter Kur Lukas durch eine kurze Hinweisung auf das Erstaunen des Volkes schlieſst, lassen die ersten Synoptiker beide die Jünger, als sie mit Jesu allein sind, die Frage an ihn richten, warum sie nicht im Stande gewesen seien, den Dämon auszutreiben? was er nun bei Matthäus zunächst auf die erwähnte Weise aus ihrem Unglauben, bei Markus aber daraus erklärt, daſs τοῦτο τὸ γένος ἐν οὐδενὶ δύναται ἐξελϑεῖν, εἰ μὴ ἐν προσευχῇ καὶ νηςείᾳ, was auch Matthäus nach den Reden über Un - glauben und Glaubensmacht noch hinzufügt. Dieſs scheint nun bei Matthäus eine üble Zusammensetzung zu geben; denn wenn zu der Heilung Fasten und Beten erforderlich war: so hätten die Jünger, falls sie nicht vorher gefastet hatten, auch mit dem festesten Glauben den Dämon nicht auszutreiben vermocht44)Schleiermacher, S. 150.. Ob nun die Auskunft genüge, die beiden von Jesu namhaft gemachten Gründe der Un - wirksamkeit der Jünger dadurch zu vereinigen, daſs man Fasten und Beten eben als Stärkungsmittel des Glaubens betrachtet45)Köster, Immanuel, S. 197; Fritzsche z. d. St., oder ob mit Schleiermacher eine Zusam - menstellung von nicht zusammengehörigen Aussprüchen an -45Neuntes Kapitel. §. 89.zunehmen sei, bleibe hier dahingestellt. Daſs übrigens ei - ne solche geistige und leibliche Diät des Exorcisten auf den Besessenen von Wirkung sein sollte, hat man befremdlich gefunden, und indem man eine solche mit Porphyrius46)de abstinent. 2, p. 204 und 417 f. s. Winer, 1, S. 191. eher dem Kranken angemessen dachte, hat man die προσ - ευχὴ καὶ νηςεία als eine dem Besessenen, um die Kur ra - dikal zu machen, gegebene Vorschrift angesehen47)Paulus, ex. Handb. 2, S. 471 f.. Al - lein in offenbarem Widerspruch gegen die Erzählung. Denn wenn Fasten und Beten von Seiten des Kranken zum Gelingen der Kur erforderlich gewesen wäre: so hätten wir eine allmählige Heilung und keine plözliche, was doch alle Kuren sind, die in den Evangelien von Jesu erzählt werden, und wie namentlich diese durch das καὶ ἐϑεραπεύ - ϑη ὁ παῖς ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης bei Matthäus, so wie durch das zwischen ἐπετίμησε κ. τ. λ. und ἀπέδωκε κ. τ. λ. hin - eingestellte ἰάσατο bei Lukas deutlich genug bezeichnet ist. Freilich will Paulus jenen Ausdruck des Matthäus gerade zu seinem Vortheil wenden, indem er ihn so ver - steht, von jener Zeit an sei nun der Knabe durch Anwen - dung der vorgeschriebenen Diät allmählig vollends gesund geworden. Allein man darf nur dieselbe Formel, wo sie sonst in den Evangelien als Schluſsformel von Heilungsge - schichten vorkommt, betrachten, um sich von der Unmög - lichkeit jener Deutung zu überzeugen. Wenn z. B. die Geschichte von der Heilung der Blutflüssigen mit der Be - merkung schlieſst (Matth. 9, 22.): καὶ ἐσώϑη ἡ γυνὴ ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης, so wird man dieſs doch nicht überse - zen wollen: et exinde mulier paulatim servabatur, son - dern es kann nur heiſsen: servata erat, servatam se prae - buit, ab illo temporis momento. Ein Anderes, worauf sich Paulus beruft, um zu beweisen, daſs Jesus hier ein fortzusetzendes Heilverfahren eingeleitet habe, ist das ἀπέ -46Zweiter Abschnitt.δωκεν αὐτὸν τῷ πατρὶ αὐτοῦ bei Lukas, was nach ihm ziem - lich überflüssig wäre, wenn es nicht ein Übergeben zu be - sonderer Fürsorge bezeichnen sollte. Allein ἀποδίδωμι heiſst nicht zunächst übergeben, sondern zurückgeben, und so liegt in dem Satze nur der Sinn: puerum, quem sa - nandum acceperat, sanatum reddidit, oder, daſs er den einer fremden Gewalt, des Dämons, verfallenen Sohn den Eltern als den ihrigen zurückgegeben habe. Endlich, wie willkürlich ist es, wenn Paulus das ἐκπορεύεται (Matth. V. 21.) in der engeren Bedeutung eines völligen Weggehens vom vorläufigen Ausfahren, was schon auf das Wort Jesu (V. 18.) geschehen sei, unterscheidet. So daſs uns auch hier keine successive Kur berichtet ist, sondern, wie sonst immer, eine momentane, weſswegen denn auch die προσευχὴ und νηςεία nicht als Vorschrift für den Patienten gefaſst werden können.
Zu dieser ganzen Geschichte muſs eine analoge Er - zählung aus 2 Kön. 4, 29 ff. verglichen werden. Hier will der Prophet Elisa einen gestorbenen Knaben dadurch wie - der zum Leben bringen, daſs er seinen Knecht Gehasi mit seinem Stabe sendet, welchen dieser dem Todten auf das Angesicht legen soll; aber das Vornehmen des Knechts bleibt ohne Erfolg, und Elisa muſs selbst kommen und den Knaben in's Leben rufen. Das gleiche Verhältniſs, wie in dieser A. T. lichen Geschichte zwischen dem Propheten und seinem Diener, sehen wir in der N. T. lichen Erzählung zwischen dem Messias und seinen Jüngern, daſs diese oh - ne ihn nichts thun können, daſs aber er, was ihnen zu schwer ist, mit Sicherheit vollbringt. Ebendamit aber se - hen wir auch die Tendenz beider Erzählungen: sie ist, durch Hinweisung auf den Abstand zwischen ihm und selbst seinen vertrautesten Schülern den Meister zu heben; oder, wenn wir die vorliegende evangelische Erzählung mit der von dem gadarenischen Besessenen zusammenhalten, so können wir sagen: wie jener früher erwogene Fall an47Neuntes Kapitel. §. 89.sich selbst als einer von höchster Schwierigkeit geschildert wurde, so dieser durch das Verhältniſs, in welches die demselben gewachsene Kraft Jesu zu der, wenn auch sonst noch so groſsen, doch hier nicht ausreichenden Kraft sei - ner Jünger gestellt wird.
Von den übrigen, kürzer erzählten Dämonenaustrei - bungen ist die Heilung eines dämonisch Stummen und ei - nes ebenso Blindstummen oben bei Gelegenheit des daran sich knüpfenden Vorwurfs eines höllischen Bündnisses, so wie die der zusammengebückten Frau in der allgemeinen Betrachtung über die Dämonischen bereits genügend zur Sprache gekommen; die der besessenen Tochter des kana - näischen Weibes aber (Matth. 15, 22 ff. Marc. 7, 25 ff. ) hat nur das Eigenthümliche, daſs sie von Jesu durch ein Wort aus der Entfernung bewirkt wird, wovon später.
Wenn nun den evangelischen Berichten zufolge in allen diesen Fällen die Austreibung des Dämons Jesu ge - lungen ist: so bemerkt Paulus, daſs diese Art von Heilun - gen, unerachtet sie für das Ansehen Jesu bei der Menge das Meiste gewirkt habe, doch an sich die leichteste ge - wesen sei, und auch de Wette will für die Heilung der Dämonischen, aber auch nur für sie, eine psychologische Erklärung gelten lassen48)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 438. L. J. 1, a, S. 223; de Wette, bibl. Dogm. §. 222, Anm. c.; Bemerkungen, welchen wir nicht werden umhin können beizutreten. Denn sehen wir als die wirkliche Grundlage des Zustands der Dämonischen bald eine Art von Verrückung, bald krampfhafte Stimmung des Nervensystems an, so wissen wir, daſs auf psychische und Nervenkrankheiten am ehesten auch psychisch einzu - wirken ist, eine Einwirkung, zu welcher bei dem über - wiegenden Ansehen Jesu als Propheten und später selbst als des Messias alle Bedingungen vorhanden waren. Nun aber findet unter solchen Zuständen eine bedeutende Abstu -48Zweiter Abschnitt.fung statt, je nachdem sich die psychische Verrückung mehr oder weniger auch schon körperlich fixirt hat, und die Verstimmung des Nervensystems mehr oder minder ha - bituell geworden und in die übrigen Systeme übergegangen ist. Es stellt sich also der Kanon: je mehr das Übel blos in einer Verstimmung des Gemüthes lag, auf welches Je - sus unmittelbar durch sein Wort geistig wirken konnte, oder in einer leichteren des Nervensystems, auf welches er durch Vermittlung des Gemüths gewaltigen Eindruck zu machen im Stande war: desto eher war es möglich, daſs Jesus λόγῳ (Matth. 8, 16.) und παραχρῆμα (Luc. 13, 13.) dergleichen Zuständen ein Ende machen konnte; je mehr aber umgekehrt das Übel sich auch schon als kör - perliche Krankheit festgesezt hatte, desto schwerer ist an - zunehmen, daſs Jesus im Stande gewesen sei, auf rein psy - chologische Weise und augenblicklich Hülfe zu schaffen. Ein zweiter Kanon ergiebt sich daraus, daſs, um bedeutend geistig einwirken zu können, das ganze Ansehen Jesu als Propheten mitwirken muſste, weſswegen er in Zeiten und Gegenden, wo er längst in diesem Rufe stand, leichter auf jene Weise wirken konnte, als wo nicht.
An diese beiden Maſsstäbe die evangelischen Erzäh - lungen gehalten, steht der ersten von dem Vorgang in der Synagoge zu Kapernaum, sobald man nur davon abgeht, sie als durchaus historisch zu betrachten, nicht mehr all - zuviel entgegen. Denn ob sie gleich so lautet, als hätte der Dämon Jesum aus sich selbst erkannt, so kann doch theils der in jenen Gegenden bereits sich ausbreitende Ruf Jesu, theils seine gewaltige Rede in der Synagoge auf den Dä - monischen den Eindruck, wenn auch nicht, daſs Jesus der Messias sei, wie die Evangelisten sagen, doch, daſs er ein Prophet sein müsse, gemacht, und so seinem Worte Nach - druck gegeben haben. Was aber den Zustand des Kran - ken betrifft, so wird uns nur von der fixen Idee desselben, besessen zu sein, und von krampfhaften Anfällen gemeldet,49Neuntes Kapitel. §. 89.welche möglicherweise von der leichteren Art gewesen sein könnten, der sich auf psychologischem Wege beikom - men lieſs. Schwieriger in beiden Hinsichten ist die Hei - lung der Gadarener. Denn einmal war Jesus am jenseiti - gen Ufer nicht so bekannt, und dann wird uns der Zustand derselben als ein so heftiger und eingewurzelter Wahnsinn geschildert, daſs hier schwerlich ein Wort Jesu genügen konnte, um dem schrecklichen Zustand ein Ende zu ma - chen. Hier reicht somit die natürliche Erklärung von Pau - lus nicht hin, sondern, wenn überhaupt noch etwas von der Erzählung stehen bleiben soll, so müſste man anneh - men, daſs, wie andre Theile derselben, so namentlich die Schilderung von dem Zustande des Kranken sagenhaft über - trieben sei. Ebendieſs wäre in Bezug auf die Heilung des mondsüchtigen Knaben anzunehmen, da eine von Kindheit an (Marc. V. 21.) dauernde, so heftige und in bestimmten Perioden sich wiederholende Epilepsie etwas zu sehr im Körper eingewurzeltes ist, als daſs die Möglichkeit einer so schnellen reinpsychologischen Hülfe glaublich sein könn - te. Daſs aber selbst Stummheit und vieljährige Verkrüm - mung, welche doch nicht mit Paulus als bloſse närrische Einbildung, man dürfe nicht reden oder sich aufrichten49)ex. Handb. z. d. St., genommen werden kann, auf ein Wort gewichen sei, wird man ohne vorgefaſste dogmatische Meinungen sich nicht überreden können. Am wenigsten endlich läſst sich denken, daſs auch ohne das Imposante seiner Gegenwart der Wunderthäter aus der Ferne habe wirken können, wie dieſs Jesus auf die Tochter des kananäischen Weibes ge - than haben soll.
So sehr sich also der Natur der Sache nach annehmen lieſse, daſs Jesus manche an vermeintlich dämonischer Ver - rückung oder Nervenstörung leidende Personen auf psychische Weise durch die Übermacht seines Ansehens und Wortes ge -Das Leben Jesu II. Band. 450Zweiter Abschnitt.heilt habe: so augenscheinlich ist es doch (wenn man nicht mit Venturini50)Natürliche Geschichte u. s. f. 2, S. 429. und Kaiser51)Bibl. Theologie, 1, S. 196. annehmen will, Kranke die - ser Art haben sich nicht selten geheilt geglaubt, wenn nur durch Jesu Einwirkung die Krisis gebrochen war, und die Referenten haben sie dafür ausgegeben, weil sie nichts Weiteres von ihnen erfuhren und also von der wahrschein - lich wiedergekehrten Krankheit nichts wuſsten), daſs die Sage auch in diesem Felde nicht gefeiert, sondern die leichteren Fälle, welche allein auf jene Weise kurirt wer - den konnten, mit den schwersten und complicirtesten ver - tauscht hat, auf welche eine psychologische Heilart gar keine Anwendung finden konnte52)Zu den vorübergehenden Verstimmungen, auf welche Jesus psychologisch eingewirkt haben kann, lässt sich vielleicht auch der Fieberanfall der Schwiegermutter Petri zählen, wel - chen Jesus nach Matth. 8, 14 ff. parall. gehoben hat.. Ob sich hiemit die obige Verweigerung jedes Zeichens von Seiten Jesu verei - nigen lasse, oder ob, um diese begreiflich zu finden, auch solche psychologisch erklärbare Heilungen, welche aber doch nur als Wunder erscheinen konnten, Jesu abgespro - chen werden müssen, und ob hinwiederum nach Entzie - hung auch dieser Grundlage die Ausbildung so vieler Wun - dererzählungen von Jesu sich erklären lasse? soll hier nur als Frage aufgestellt werden.
Werfen wir schlieſslich noch einen Blick auf das jo - hanneische Evangelium, welches von Dämonischen und de - ren Heilung durch Jesum nichts hat, so ist dieſs dem Apo - stel Johannes, dem voraussezlichen Verfasser, nicht selten als ein Zeichen geläuterter Ansichten zum Vortheil ange - rechnet worden53)So mehr oder minder von Eichhorn, in der allg. Bibliothek, 4, S. 435; Herder, von Gottes Sohn u. s. f., S. 20; Weg -. Allein, wenn der genannte Apostel51Neuntes Kapitel. §. 89.an wirkliche Teufelsbesitzungen nicht glau 'te, so hatte er als Verfasser des vierten Evangeliums, der gewöhnlichen Ansicht von seinem Verhältniſs zu den Synoptikern zufol - ge, die bestimmteste Veranlassung, sie zu berichtigen, und der Verbreitung einer nach seiner Ansicht falschen Mei - nung durch eine Darstellung dieser Heilungen vom richti - gen Gesichtspunkt aus vorzubeugen. Doch wie konnte der Apostel Johannes zur Verwerfung der Ansicht, daſs jene Krankheiten ihren Grund in dämonischen Besitzungen ha - ben, kommen? Sie war nach Josephus jüdische Volksan - sicht in jener Zeit, von der ein palästinischer Jude, der, wie Johannes, erst in späteren Jahren in das Ausland wanderte, nicht mehr im Stande war, sich loszumachen; sie war, der Natur der Sache und den synoptischen Be - richten zufolge, Ansicht Jesu selbst, seines angebeteten Mei - sters, von welcher der Lieblingsjünger gewiſs keinen Fin - ger breit abzuweichen geneigt war. Theilte aber Johan - nes mit seinen Volksgenossen und Jesu selbst die Annah - me wirklicher Dämonenbesitzungen, und bildete die Hei - lung solcher Personen einen Haupttheil, ja vielleicht die eigentliche Grundlage der angeblichen Wunderthätigkeit Jesu: wie kommt es, daſs er dessenungeachtet in seinem Evangelium ihrer keine Erwähnung thut? Daſs er sie übergangen habe, weil die übrigen Evangelisten genug der - gleichen Geschichten aufgenommen hatten, sollte man doch endlich aufhören zu sagen, da er ja mehr als Eine von ih - nen schon berichtete Wundergeschichte wiederholt hat, und sagt man, diese habe er wiederholt, weil sie der Be - richtigung bedurften: so haben wir bei Erwägung der syn - optischen Relationen von den Heilungen der Dämonischen gesehen, daſs bei manchen derselben eine Zurückführung auf die einfache geschichtliche Grundlage gar sehr am Orte53)scheider, Einl. in das Evang. Joh. S. 313.; de Wette, bibl. Dogm. §. 269.4 *52Zweiter Abschnitt.gewesen wäre. So bliebe noch, daſs Johannes aus Anbe - quemung an die griechische Cultur der Kleinasiaten, unter welchen er geschrieben haben soll, die ihnen unglaublichen oder anstössigen Dämonengeschichten aus seinem Evange - lium weggelassen hätte. Aber konnte und durfte wohl, muſs man auch hier fragen, ein Apostel aus bloſser Ac - commodation an die feinen Ohren seiner Zuhörer einen so wesentlichen Zug des Wirkens Jesu zurückbehalten? Ge - wiſs vielmehr deutet auch dieses Stillschweigen auf einen Verfasser hin, welcher die Wirksamkeit Jesu nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus einer durch helle - nischen Einfluſs modificirten Tradition kannte, in welcher daher die der höheren griechischen Bildung weniger ent - sprechenden Dämonenaustreibungen entweder ganz ver - schwunden, oder doch so zurückgetreten waren, daſs sie vom Verfasser des Evangeliums übergangen werden konnten.
Unter den Kranken, welche Jesus heilte, spielen ge - mäſs dem leicht Hautkrankheiten erzeugenden Klima von Palästina die Aussätzigen eine Hauptrolle. Wo Jesus der synoptischen Erzählung zufolge die Abgesandten des Täu - fers auf die faktischen Beweise seiner Messianität hinweist (Matth. 11, 5.), führt er unter diesen auch das λεπροὶ κα - ϑαρίζονται auf; wo er seine Jünger bei der ersten Aus - sendung zu allerhand Wunderthaten bevollmächtigt, stellt er die Reinigung der Aussätzigen oben an (Matth. 10, 8.), und zwei Fälle von solchen Heilungen werden uns im Ein - zelnen erzählt.
Der eine Fall ist allen Synoptikern gemeinschaftlich, wiewohl sie ihn in verschiedenen Zusammenhang stellen. Matthäus nämlich läſst Jesu bei'm Herabgehen von dem Berge, auf welchem er die Bergrede gehalten (8, 1 ff. ), die übrigen in unbestimmter Stellung am Anfang seiner gali -53Neuntes Kapitel. §. 90.läischen Wirksamkeit (Marc. 1, 40 ff. Luc. 5, 12 ff. ) einen Aussätzigen begegnen, der ihn fuſsfällig um Heilung an - fleht, und diese auch durch eine Berührung Jesu erhält, welcher ihn sofort anweist, sich dem Gesetze (3 Mos. 14, 2 ff. ) gemäſs dem Priester zur Reinerklärung zu stellen. Der Zustand des Menschen wird von Matthäus und Mar - kus einfach durch λεπρὸς, von Lukas sogar durch πλήρης λέπρας bezeichnet. Nach Paulus freilich war eben dieses Vollsein von Aussaz ein Symptom der Heilbarkeit, indem das Ausschlagen und Abblättern des Aussatzes auf der gan - zen Haut die Reinigungskrisis bezeichne, und demgemäſs stellt sich jener Ausleger den Hergang folgendermaſsen vor1)Excg. Handb. 1, b, S. 698 ff.. Der Aussätzige geht Jesum als den Messias um ein Gut - achten über seinen Zustand und nach Befund um eine Rein - erklärung an (εἰ ϑέλεις, δύνασαί με καϑαρίσαι), welche ihm den Gang zum Priester entweder ersparen, oder doch eine tröstliche Hoffnung auf denselben mitgeben sollte. Je - sus, indem er sich zu einer Untersuchung bereit erklärt (ϑέλω), streckt die Hand aus, um ihn zu befühlen, ohne daſs doch der vielleicht noch ansteckende Kranke ihm zu nahe käme, und nach genauer Untersuchung spricht er als Ergebniſs derselben die Überzeugung aus, daſs die Krank - heit nicht mehr ansteckend sei (καϑαρίσϑητι), worauf sich denn wirklich bald und leicht (εὐϑέως) der Aussaz vollende ganz verlor.
Hier ist vor Allem die Behauptung, der Aussätzige sei gerade in der Reinigungskrise gewesen, dem Texte fremd, welcher bei den zwei ersten Evangelisten von Aussaz schlechtweg spricht, während das πλήρης λέπρας des drit - ten nichts Andres bedeuten kann, als das A. T. liche מְצׄרׇע כּ ַ שּׁ ׇ ﬥ ֶג (2 Mos. 4, 6. 4 Mos. 12, 10. 2 Kön. 5, 27.), was dem Zusammenhang nach jedesmal den höchsten Grad54Zweiter Abschnitt.des Aussatzes bezeichnet. Daſs das καϑαρίζειν nach he - bräischem und hellenistischem Sprachgebrauch auch bloſs reinerklären bedeuten könne, ist zwar nicht in Abrede zu stellen, nur müſste es diese Bedeutung in dem ganzen Ab - schnitt beibehalten. Daſs nun aber, nachdem von Jesu erzählt war, er habe das καϑαρίσϑητι gesprochen, Mat - thäus noch ein καὶ εὐϑέως ἐκαϑαρίσϑη κ. τ. λ. in dem Sin - ne, daſs also der Kranke wirklich von Jesu reinerklärt worden sei, hinzugefügt haben sollte, ist der albernen Tau - tologie wegen so undenkbar, daſs hier, aber dann auch im ganzen Abschnitt, das καϑαρίζεσϑαι von wirklichem Gereinigtwerden zu nehmen ist. An das
λεπροὶ καϑαρίζον - ται(Matth. 11, 5.) und‘λεπροὺς καϑαρίζετε’(Matth. 10, 8.), wo doch das leztere Wort weder bloſse Reinerklärung, noch auch etwas Anderes als in der vorliegenden Erzäh - lung bezeichnen kann, genügt es zu erinnern. Woran aber die natürliche Deutung der Anekdote am entschiedensten scheitert, das ist die Zerreissung des ϑέλω, καϑαρίσϑητι. Wer wird sich überreden können, daſs diese in allen drei Berichten unmittelbar verbundenen Worte durch eine ziem - liche Pause getrennt gewesen, daſs das ϑέλω bei oder ei - gentlich vor dem Befühlen, das καϑαρίσϑητι aber nach demselben gesprochen worden sei, da doch sämmtliche Evangelisten beide Worte ohne Unterschied während der Berührung gesprochen sein lassen? Gewiſs würde, wenn der angegebene Sinn der ursprüngliche wäre, wenigstens Einer der Evangelisten, statt des ἥψατο αὐτοῦ ὁ Ἰησοῦς λέ - γων· ϑέλω, καϑαρίσϑητι, sagen: ὁ Ἰ. ἀπεκρίνατο· ϑέλω, καὶ ἁψάμενος αὐτοῦ εἶπε· καϑαρίσϑητι. Ist aber das καϑαρί - σϑητι in Einem Zuge mit ϑέλω gesprochen, so daſs Jesus lediglich in Folge seines Willens, ohne dazwischeneinge - tretene Untersuchung, das καϑαρίζεσϑαι eintreten lieſs: so kann dieſs unmöglich eine Reinerklärung, wozu es einer vorgängigen Untersuchung bedurfte, sondern muſs ein wirk - liches Reinmachen gewesen sein. In diesem Zusammenhang55Neuntes Kapitel. §. 90.ist dann auch das ἅπτεσϑαι nicht von untersuchender Be - rührung zu verstehen, sondern, wie sonst immer in sol - chen Erzählungen, von heilender.
Für seine natürliche Erklärung dieses Vorgangs beruft sich Paulus auf den Kanon, daſs überall in einer Erzäh - lung das Gewöhnliche und Ordentliche vorausgesezt wer - den müsse, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angege - ben sei2)a. a. O. S. 705 u. sonst., ein Kanon, welcher an der der ganzen rationa - listischen Auslegung eigenthümlichen Zweideutigkeit leidet, was für uns, und was für die auszulegenden Schriftsteller gewöhnlich und ordentlich ist, nicht zu unterscheiden. Allerdings, wenn ich einen Gibbon vor mir habe, so darf ich in seinen Erzählungen, sofern er nicht ausdrücklich das Gegentheil anmerkt, nur natürliche Ursachen und Vor - gänge voraussetzen, weil von der Bildung eines solchen Schriftstellers aus das Übernatürliche höchstens als selten - ste Ausnahme denkbar ist: schon anders verhält sich dieſs bei einem Herodot, in dessen Vorstellungsweise das Ein - greifen höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und aus - ser der Ordnung ist, und vollends in einer auf jüdischem Boden gewachsenen Anekdotenreihe, deren Zweck ist, ein Individuum als höchsten Propheten, als mit Gott innigst verbundenen Menschen darzustellen, versteht sich das Über - natürliche so sehr von selbst, daſs jener rationalistische Kanon sich dahin umkehrt: wo in solchen Erzählungen auf Erfolge Gewicht gelegt ist, welche, als natürliche be - trachtet, keine Wichtigkeit haben würden, da müſsten übernatürliche Ursachen ausdrücklich ausgeschlossen sein, wenn nicht, daſs solche im Spiele gewesen, als Ansicht des Erzählers vorausgesezt werden sollte. In der vorlie - genden Geschichte ist überdieſs das Ausserordentliche des Hergangs dadurch hinlänglich angedeutet, daſs es heiſst, auf Jesu Wort habe den Kranken der Aussaz alsbald ver -56Zweiter Abschnitt.lassen. Freilich weiſs Paulus, wie schon bemerkt, diese Angabe auf eine allmählige natürliche Genesung zu deuten, da εὐϑέως, wodurch die Evangelisten die Zeit derselben bestimmen, je nach dem verschiedenen Zusammenhange das einemal sogleich bedeute, das andremal nur bald und un - gehindert. Dieſs eingeräumt, soll nun das bei Markus in unmittelbarem Zusammenhang folgende εὐϑέως ἐξέβαλεν αὐτὸν (V. 43.) sagen wollen, bald und ungehindert habe Jesus den Geheilten hinausgetrieben? Oder soll in zwei aufeinander folgenden Versen das Wort in verschiedenem Sinne genommen werden?
Ist somit nach der Absicht der evangelischen Referen - ten von einem augenblicklichen Verschwinden des Aussatzes auf das Wort und die Berührung Jesu hin die Rede: so ist, sich dieſs denkbar zu machen, freilich noch eine ganz andre Aufgabe, als die, das augenblickliche Zurechtbrin - gen eines mit fixer Idee Behafteten, oder einen bleibend stärkenden Eindruck auf einen Nervenkranken sich vorzu - stellen. Daſs eine, in Folge tiefer Verderbniſs der Säfte durch den hartnäckigsten und bösartigsten aller Ausschläge zerfressene Haut durch ein Wort und eine Berührung au - genblicklich rein und gesund geworden sein sollte, dieſs ist, weil es etwas einer langen Reihe von Vermittlungen Bedürftiges als unmittelbar eingetreten darstellt, so undenk - bar3)vgl. Hase, L. J. §. 86., daſs es jeden, der ausserhalb gewisser Vorurtheile steht (was der Kritiker immer soll), unwillkührlich an das Fabelreich erinnern muſs. Und im fabelhaften Gebiet mor - genländischer, näher jüdischer Sage finden wir wirklich das plötzliche sowohl Entstehen – als Verschwindenmachen des Aussatzes zuerst. Als Jehova den Moses zum Behuf seiner Sendung nach Ägypten mit der Fähigkeit, allerlei Zeichen zu thun, ausrüstete, hieſs er ihn unter Anderem auch seine Hand in den Busen stecken, und als er sie57Neuntes Kapitel. §. 90.herauszog, war sie von Aussaz bedeckt: er muſste sie noch einmal hineinstecken, und beim abermaligen Heraus - ziehen war sie wieder rein (2 Mos. 4, 6. 7.). Später, we - gen eines Empörungsversuchs gegen Moses, wurde seine Schwester Mirjam plözlich mit Aussaz geschlagen, aber auf die Fürbitte des Moses bald wieder geheilt (4 Mos. 12, 10 ff.). Besonders aber spielt unter den Wunderthaten des Pro - pheten Elisa die Heilung eines Aussätzigen, deren auch Je - sus (Luc. 4, 27.) gedenkt, eine bedeutende Rolle. Der sy - rische Feldherr Naëman, welcher am Aussaz litt, wandte sich an den israëlitischen Propheten um Hülfe; dieser lieſs ihm die Weisung geben, er solle sich siebenmal im Jordan waschen, worauf auch wirklich der Aussaz wich, welchen aber der Prophet später veranlaſst war, auf seinen betrü - gerischen Diener Gehasi überzutragen (2 Kön. 5.). Ich wüſste nicht, was wir ausser diesen A. T. lichen Vorgän - gen noch weiter bedürfen sollten, um die Entstehung der evangelischen Anekdote erklärbar zu finden. Was der er - ste Goël in Jehova's Auftrag vermochte, das, wie gesagt, muſste auch der zweite zu thun im Stande sein, und oh - nehin hinter einem Propheten durfte der Propheten gröſs - ter nicht zurückbleiben. Waren hienach ohne Zweifel schon in dem jüdischen Messiasbilde dergleichen Heilungen mit - begriffen, so waren noch bestimmter die Christen, welche den Messias in Jesu wirklich erschienen glaubten, veran - laſst, seine Geschichte durch solche aus der mosaischen und prophetischen Sage genommene Züge zu verherrlichen, nur daſs sie dem milden Geiste des neuen Bundes (Luc. 9, 55 f.) gemäſs die strafende Seite jener alten Wunder weglieſsen.
Etwas mehr Schein hat die rationalistische Berufung auf den Mangel einer ausdrücklichen Angabe, daſs eine wunderbare Reinigung vom Aussaz gemeint sei, bei der Erzählung von den zehn Aussätzigen, welche dem Lukas eigenthümlich ist (17, 12 ff.). Hier nämlich verlangen we -58Zweiter Abschnitt.der die Kranken ausdrücklich die Heilung, sondern sie ru - fen nur: ἐλέησον ἡμᾶς, noch thut Jesus ein hierauf sich beziehendes Machtwort, sondern er weist sie nur an, sich den Priestern zu zeigen, was man denn rationalistischer - seits nicht säumt, dahin zu erklären, daſs Jesus, nach ge - nommener Kenntniſs von ihrem Zustand, sie ermuntert ha - be, sich der priesterlichen Visitation zu unterwerfen; dieſs habe wirklich ihre Reinsprechung zur Folge gehabt, und der Samariter sei umgekehrt, um Jesu für seinen ermuthi - genden Rath zu danken4)Paulus, L. J., 1, b, S. 68.. Allein so angelegentlich, wie es hier beschrieben wird, durch ein πίπτειν ἐπὶ πρόσωπον, dankt man nicht für einen bloſsen Rath, noch weniger konnte Jesus verlangen, daſs um des Erfolgs dieses Ra - thes willen alle Zehne hätten umkehren sollen, und zwar um Gott die Ehre zu geben — soll man nun sagen dafür, daſs er Jesum befähigt habe, ihnen einen so guten Rath zu ertheilen? Nein, sondern hier wird eine reellere Lei - stung vorausgesezt, und diese giebt die Erzählung wirklich an, wenn sie sowohl die Umkehr des Samariters durch ἰδὼν ὅτι ἰάϑη begründet, als auch Jesum den Grund, wa - rum er von Allen Dank erwartet hätte, durch ὅχὶ οἱ δέκα ἐκαϑαρίσϑησαν; aussprechen läſst, was Beides doch nur höchst gezwungen so erklärt werden kann, daſs, weil sie gesehen, daſs Jesus mit seiner Reinerklärung recht gehabt, der eine wirklich umgekehrt sei, ihm zu danken, die übri - gen aber hätten umkehren sollen. Entscheidend aber ge - gen die natürliche Erklärung ist der Saz: ἐν τῷ ὑπάγειν αὐτοὺς ἐκαϑαρίσϑησαν. Wollte hier nach jener Deutung der Referent bloſs sagen: wie die Kranken, beim Priester angekommen, sich ihm zeigten, wurden sie für rein er - klärt: so muſste er wenigstens setzen: πορευϑέντες ἐκα - ϑαρίσϑησαν: wogegen nun die absichtsvolle Wahl des ἐν τῷ ὑπάγειν unwidersprechlich zeigt, daſs von einem Rein -59Neuntes Kapitel. §. 90.werden während des Hingehens die Rede ist. Auch hier also haben wir eine wunderbare Aussazheilung, welche eben denselben Schwierigkeiten unterliegt, aber auch eben - so in ihrer Entstehung erklärbar scheint, wie die vorige Anekdote.
Doch es kommt bei dieser Erzählung noch etwas Ei - genthümliches in Betracht, das sie von der vorigen unter - scheidet. Es ist hier keine simple Heilung, ja die Hei - lung ist nicht einmal eigentlich die Hauptsache, diese liegt vielmehr in dem verschiedenen Betragen der Geheilten, und die Frage Jesu: οὐχὶ οἱ δέκα ἐκαϑαρίσϑησαν κ. τ. λ. (V. 17 f.) bildet die Spitze des Ganzen, welches hiemit ganz moralisch schlieſst und zum Behuf der Belehrung erzählt zu sein scheint5)Schleiermacher, über den Lukas, S. 215.. Namentlich daſs der als Muster der Dankbarkeit Erscheinende gerade ein Samariter ist, muſs bei demjenigen Evangelisten auffallen, welchem auch die Lehrrede vom barmherzigen Samariter eigenthümlich ist. Wie nämlich in dieser zwei Juden, ein Priester und ein Levit, sich unbarmherzig beweisen, ein Samariter da - gegen musterhaft barmherzig: so steht hier neun undank - baren Juden ein Samariter als der einzig Dankbare ge - genüber. Wie daher, sofern doch die plötzliche Heilung dieser Kranken nicht historisch sein kann, wenn wir auch hier, wie dort, eine von Jesu vorgetragene Parabel vor uns hätten, welche die Dankbarkeit, wie jene die Barm - herzigkeit, am Beispiel eines Samariters darstellen sollte, nur aber geschichtlich verstanden worden wäre? Dieſs wäre dann so, wie man schon behauptet hat, daſs es mit der Versuchungsgeschichte sich verhalte. Doch eben in Bezug auf diese haben wir gesehen, daſs und warum Je - sus nie sich selbst unmittelbar in einer Gleichniſsrede auf - treten lassen konnte, und dieſs müſste er hier gethan ha - ben, wenn er von zehn Aussätzigen erzählt hätte, die er60Zweiter Abschnitt.einmal geheilt habe. Wollen wir daher den Gedanken, hier etwas ursprünglich Parabolisches zu haben, nicht fal - len lassen, so hätten wir uns die Sache so zu denken, daſs aus der Sage von Heilungen, welche Jesus auch an Aus - sätzigen vollbracht habe, einerseits, und andrerseits aus Parabeln, in welchen Jesus, wie in der vom barmherzigen Samariter, Individuen dieses angefeindeten Volkes als Mu - ster verschiedener Tugenden aufstellte, die urchristliche Sage diese Erzählung zusammengewoben habe, welche eben - daher halb Wundererzählung, halb Parabel ist.
Eine der ersten Stellen unter den von Jesu geheilten Kranken nehmen, gleichfalls nach der Natur des Landes1)s. Winer, Realw. d. A. Blinde., die Blinden ein, von deren Heilung wiederum nicht bloſs in den allgemeinen Schilderungen, welche die Evangelisten (Matth. 15, 30 f. Luc. 7, 21.) oder Jesus selbst (Matth. 11, 5.) von seiner messianischen Thätigkeit geben, die Re - de ist, sondern auch einige einzelne Fälle ausführlich be - richtet werden. Und zwar mehrere als von den Heilun - gen der zulezt beschriebenen Art, ohne Zweifel weil die Blindheit, als ein Leiden des feinsten und complicirtesten Organs, mehrere abweichende Behandlungsweisen zulieſs. Eine dieser Blindenheilungen ist sämmtlichen Synoptikern gemeinsam; die andern sind (sofern wir den dämonischen Blindstummen des Matthäus hier nicht wieder zählen) je eine dem ersten, zweiten und vierten Evangelisten eigen - thümlich.
Gemeinsam ist den drei synoptischen Evangelien die Erzählung, daſs Jesus auf seiner lezten Reise nach Jeru - salem bei Jericho eine Blindenheilung verrichtet habe (Matth. 26, 29. parall. ): aber bedeutende Differenzen finden statt61Neuntes Kapitel. §. 91.sowohl in Bestimmung des Objekts der Heilung, indem Matthäus zwei Blinde hat, die beiden andern nur Einen, als auch in Bezug auf das Lokal derselben, indem Lukas sie bei'm Einzug, Matthäus und Markus bei'm Auszug aus Jericho vor sich gehen lassen; auch wissen von der Berührung, mittelst welcher nach dem ersten Evangelisten Jesus die Blinden heilt, die beiden andern Berichterstat - ter nichts. Von diesen Differenzen mag sich die lezte durch die Bemerkung, daſs Markus und Lukas die Berüh - rung, die sie verschweigen, darum nicht läugnen, etwa lö - sen lassen: schwieriger ist die erste, welche die Zahl der Geheilten betrifft. Hier hat man bald mit Zugrundlegung des Matthäus gesagt, es möge sich einer von beiden Blin - den besonders ausgezeichnet haben, weſswegen in die er - ste Überlieferung er allein gekommen sei; Matthäus aber als Augenzeuge habe ergänzend den zweiten Blinden hin - zugefügt. So widersprechen weder Lukas und Markus dem Matthäus, denn sie läugnen nirgends, daſs nicht noch mehrere als nur der von ihnen hervorgehobene Blinde ge - heilt worden seien; noch Matthäus den beiden andern, denn wo Zwei seien, da sei auch Einer2)Gratz, Comm. z. Matth. 2, S. 323.. Allein wenn der einfache Erzähler von Einem Individuum spricht (und sogar, wie Markus, dessen Namen nennt), an welchem et - was Ausserordentliches geschehen sei: so hat er offenbar der Angabe, es sei an zwei Individuen vorgegangen, still - schweigend widersprochen, was ausdrücklich zu thun er keine Veranlassung hatte. Wenn man sich aber auf die andre Seite wendet, und, die Einzahl des Markus und Lu - kas zum Grunde legend, von Matthäus, der hier wohl nicht Augenzeuge gewesen sei, vermuthet, sein Referent habe vielleicht den Führer des Blinden für einen zweiten Blin - den angesehen3)Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 44.: so ist damit schon ein wahrer Wider -62Zweiter Abschnitt.spruch zugegeben, nur unnöthigerweise eine höchst unwahr - scheinliche Veranlassung desselben erdacht. Daſs die drit - te Differenz, des ἐκπορετομένων ἀπὸ und ἐν τῷ ἐγγίζειν εἰς Ἱεριχὼ, unlösbar sei, kann, wen die Worte nicht überzeu - gen, aus den gewaltsamen Ausgleichungsversuchen lernen, welche von Grotius bis Paulus darüber aufgestellt wor - den sind.
Besser haben daher die älteren Harmonisten4)Schulz, Anmerkungen zu Michaelis, 2, S. 105. gethan, welchen deſswegen auch neuere Kritiker beigefallen sind5)Sieffert, a. a. O. S. 104., wenn sie mit Rücksicht auf die zulezt besprochene Diffe - renz hier zweierlei Begebenheiten unterschieden, und an - nahmen, Jesus habe zuerst bei'm Einzug in Jericho (nach Lukas), dann wieder bei'm Auszug (nach Matthäus und Markus) einen Blinden geheilt. Mit der andern Abwei - chung, rücksichtlich der Zahl, glauben diese Harmonisten durch die Voraussetzung fertig zu werden, Matthäus habe die beiden Blinden, den vor und den hinter Jericho ge - heilten, zusammengezählt, und die Heilung von beiden hinter Jericho versezt. Allein, wenn man der Angabe des Matthäus rücksichtlich der Lokalität der Heilung so viel Gewicht beilegt, um ihr und der des Markus zufolge zwei Heilungen, die eine vor, die andre hinter der Stadt anzu - nehmen: so weiſs ich nicht, warum seine abweichende Zahlangabe nicht ebensoviel Geltung haben soll, und Storr scheint mir consequenter zu verfahren, wenn er, auf bei - de Differenzen gleiches Gewicht legend, annimmt, daſs Je - sus zuerst bei'm Einzug nach Jericho Einen Blinden (Lu - kas), dann bei'm Auszug von da zwei Blinde (Matthäus) geheilt habe6)Über den Zweck der ev. Geschichte und der Br. Joh. S. 345.. Kommt nun aber hiebei Matthäus zu sei - nem vollen Rechte, so ist dieſs hingegen dem Markus ver - weigert. Denn wenn dieser, wie hier geschieht, um sei -63Neuntes Kapitel. §. 91.ner Ortsangabe willen mit Matthäus zusammengestellt ist, so geschieht hiebei seiner Zahlangabe Gewalt, welche für sich vielmehr eine Zusammenstellung mit Lukas erheischen würde: so daſs, wenn man keine seiner Angaben beein - trächtigen will, was man bei dieser Verfahrungsart nicht darf, er von beiden gleicherweise getrennt werden muſs. So hätten wir drei verschiedene Blindenheilungen bei Je - richo: 1) die Heilung Eines Blinden bei'm Einzug, 2) die eines weiteren bei'm Auszug, und 3) die Heilung zweier Blinden bei'm Auszug, also zusammen vier Blinde. Den zweiten und dritten Fall nun auseinanderzuhalten, ist frei - lich schwierig. Denn wenn doch Jesus zu zwei verschie - denen Thoren zu gleicher Zeit nicht ausgezogen sein kann, so will sich ebensowenig das vorstellen lassen, daſs er, bloſs auf der Durchreise begriffen, nach dem ersten Aus - zug wieder in die Stadt zurückgekehrt, und später noch einmal ausgezogen wäre. Überhaupt aber, drei so ganz ähnliche Vorfälle hier zusammentreffen zu lassen, will kaum angehen. Schon die Häufung von Blindenheilungen muſs befremden. Besonders aber wird das Benehmen der Begleiter Jesu unbegreiflich, welche, hatten sie einmal bei'm Einzug gesehen, daſs das ἐπιτιμᾷν τῷ τυφλῷ, ἵνα σιωπήσῃ nicht in Jesu Sinne sei, indem er ihn ja zu sich rief, dieſs doch nicht bei dem Auszug, und zwar zweimal, wieder - holt haben werden. Storr'n freilich stört diese Wiederho - lung nicht in der Annahme von wenigstens zwei Vorfäl - len dieser Art, denn Niemand wisse ja, ob diejenigen, welche hinter Jericho Stille geboten, nicht ganz andre ge - wesen seien, als die vor der Stadt das Gleiche gethan hatten; wenn aber auch, so wäre eine solche Wiederho - lung eines von Jesu faktisch miſsbilligten Benehmens zwar unschicklich gewesen, aber darum nicht unmöglich, da auch die Jünger, welche der ersten Speisung angewohnt hatten, doch vor der zweiten wieder gefragt haben, wo Brot für so Viele herzunehmen sei? — allein das heiſst aus64Zweiter Abschnitt.der Wirklichkeit einer Unmöglichkeit auf die der andern argumentirt, wie wir bald genug bei Betrachtung des doppelten Speisungswunders sehen werden. Doch nicht allein das Benehmen der Begleiter, sondern überhaupt fast alle Züge der Begebenheit müſsten sich auf die unbegreif - lichste Weise wiederholt haben. Einmal wie das andere der Ruf der Blinden: ἐλέησον ἡμᾶς, oder με, υἱὲ Δαυίδ! hierauf (nach dem ihnen von der Umgebung auferlegten Stillschweigen,) der Befehl Jesu, sie zu ihm zu bringen; seine Frage, was sie von ihm wollen? ihre Antwort: se - hend werden; seine Gewährung ihres Wunsches, worauf sie ihm dankbar nachfolgen. Daſs sich dieſs Alles drei - mal, oder auch nur zweimal so wiederholt haben sollte, ist eine der Unmöglichkeit gleichkommende Unwahrschein - lichkeit, und es müsste entweder nach der von Sieffert in solchen Fällen angewandten Hypothese eine sagenhafte Assimilation verschiedener Fakta, oder eine traditionelle Variation einer einzigen Begebenheit angenommen werden. Fragt man sich, um hier zu entscheiden: was konnte, ein - mal eine Vermittlung durch die Sage vorausgesezt, leichter geschehen, das Eine, daſs dieselbe Geschichte bald von Einem, bald von Mehreren, bald vom Einzug, bald vom Aus - zug erzählt wurde? so braucht man das Andre gar nicht erst dazuzudenken, da jenes Erstere so ohne Vergleichung wahrscheinlich ist, daſs man keinen Augenblick zweifeln kann, es als wirklich vorauszusetzen. Reducirt man aber so die scheinbar mehreren Fakta auf wenigere, so bleibe man nur nicht mit Sieffert bei der Reduktion auf zwei stehen, da hiebei nicht allein die Schwierigkeiten hinsicht - lich der Wiederholung desselben Hergangs bleiben, son - dern auch die Consequenz verlangt, wenn man die eine Abweichung (in der Zahl) als unwesentlich aufgiebt, auch von der andern (im Lokal) zu abstrahiren. Stellt sich nun, wenn hier nur Eine Begebenheit erzählt werden soll, die weitere Frage, welche der verschiedenen Erzählungen65Neuntes Kapitel. §. 91.wohl die ursprüngliche sei? so wird die Ortsangabe zu keiner Entscheidung helfen, da genau ebensogut vor als hinter Jericho ein Blinder zu Jesu stoſsen konnte. Eher wird man in Bezug auf die Zahl Grund haben, sich zu entscheiden, und zwar zu Gunsten des Lukas und Markus für bloſs Einen Blinden. Keineswegs zwar aus dem von Schleiermacher angegebenen Grunde, weil Markus, der durch die Angabe, wie der Blinde geheiſsen, eine genauere Bekanntschaft mit den Verhältnissen beurkunde, auch nur Einen habe7)a. a. O. S. 237., da dem so oft auf eigne Hand individuali - sirenden Markus am wenigsten bei den ihm eigenthümli - chen Namen zu trauen sein dürfte; sondern aus dem Grun - de, weil sich denn doch, diesen Fall mit der Erzählung von dem Gadarenischen Besessenen zusammengehalten, ei - ne Neigung des ersten Evangeliums zu Verdopplungen nicht verkennen läſst.
Vielleicht war die Verdoppelung des Blinden bei Mat - thäus durch die Erinnerung an die demselben Evangelisten eigenthümliche Erzählung von einer früheren Heilung zweier Blinden (9, 27 ff. ) veranlaſst. Hier, gleichfalls im Wegge - hen, nämlich von dem Ort, wo er die Tochter des ἄρχων wiedererweckt hatte, folgen Jesu zwei Blinde nach, (die bei Jericho sitzen) und rufen ähnlich wie dort den Da - vidssohn um Erbarmen an, der sie sofort auch hier, wie dort nach Matthäus, durch Handauflegung heilt. Daneben finden sich freilich nicht geringe Abweichungen: von ei - nem Stillegebot der Begleiter Jesu steht hier nichts, und während bei Jericho Jesus die Blinden sogleich zu sich ruft, kommen sie in dem früheren Falle erst zu ihm, als er wieder zu Hause ist; ferner, während er dort sie fragt, was sie von ihm wollen? fragt er hier gleich, ob sie das Vertrauen haben, daſs er sie heilen könne? endlich das Verbot, Niemand etwas zu sagen, ist dem früheren FallDas Leben Jesu II. Band. 566Zweiter Abschnitt.eigenthümlich. Bei diesem Verhältniſs beider Erzählun - gen könnte wohl eine Assimilation in der Art stattgefunden haben, daſs dem Matthäus die zwei Blinden und die Berüh - rung Jesus aus der ersten Anekdote in die zweite, die Form des Rufs der Kranken aber aus der zweiten in die erste hineingekommen wäre.
Wie beide Geschichten angelegt sind, scheint für ei - ne natürliche Erklärung sich wenig darzubieten. Dennoch haben die rationalistischen Ausleger eine solche zu veran - stalten gewuſst. Daſs Jesus in dem früheren Falle die Blinden fragt, ob sie Vertrauen zu ihm haben, erklärt man dahin, Jesus habe sich überzeugen wollen, ob sie ihm wohl bei der Operation festhalten und seine weiteren Vor - schriften pünktlich befolgen würden8)Paulus, L. J. 1, a, S. 249.; erst zu Hause hier - auf, um ungestört zu sein, habe er ihr Übel untersucht, und als er in demselben ein heilbares (nach Venturini9)Natürliche Geschichte des Propheten von Naz. 2, S. 216. durch den feinen Staub jener Gegenden bewirktes) Übel erkannte, die Leidenden versichert, daſs ihnen nach dem Maaſs ihres Zutrauens geschehen solle. Hierauf sagt Pau - lus nur kurz, Jesus habe das Hinderniſs ihres Sehens ent - fernt; aber auch er muſs sich etwas Ähnliches mit Ven - turini denken, welcher Jesum die Augen der Blinden mit einem scharfen, von ihm vorher zubereiteten Wasser be - streichen, und sie so von dem entzündeten Staube reini - gen läſst, worauf in Kurzem ihr Gesicht zurückgekehrt sei. Allein auch diese natürliche Erklärung hat nicht die mindeste Wurzel im Text; denn weder kann in der von den Kranken geforderten πίςις etwas Andres, als, wie immer in ähnlichen Fällen, das Vertrauen auf Jesu Wun - dermacht, gefunden werden, noch in dem ἥψατο eine chir - urgische Operation, sondern lediglich jenes Berühren, welches bei so vielen evangelischen Heilungswundern, sei67Neuntes Kapitel. §. 91.es als Zeichen oder als Leiter der heilenden Kraft Jesu, er - scheint; von weiteren Vorschriften zur völligen Herstel - lung ist ohnehin nichts zu bemerken. Nicht anders verhält es sich mit der Heilung der Blinden bei Jericho, wo über - dieſs die zwei mittleren Evangelisten nicht einmal einer Berührung gedenken.
Sollen aber auf diese Weise nach dem Sinne der Re - ferenten auf das bloſse Wort oder die Berührung Jesu hin Blinde augenblicklich sehend geworden sein: so werden wohl ähnliche Bedenklichkeiten hier eintreten, wie in dem vorigen Fall mit den Aussätzigen. Denn ein Augenübel, es mag noch so leicht sein, wie es nicht ohne manchfache Vermittlung entstanden ist, so wird es noch weniger un - mittelbar auf ein Wort oder eine Berührung hin weichen wollen, sondern es erfordert sehr complicirte theils chirur - gische theils medicinische Behandlung, und so vornehmlich die Blindheit, wenn sie überhaupt heilbarer Art ist. Wie sollten wir uns auch die plötzliche heilende Einwirkung ei - nes Wortes und einer Hand auf ein erblindetes Auge vor - stellen? rein wunderbar und magisch? das hieſse das Den - ken über die Sache aufgeben; oder magnetisch? allein es ist ohne Beispiel, daſs auf dergleichen Übel der Magnetis - mus von Einfluſs gewesen; oder endlich psychisch? aber die Blindheit ist etwas vom Seelenleben so Unabhängiges, selbstständig Körperliches, daſs an eine, namentlich plöz - liche, Hebung derselben von geistiger Seite her nicht zu denken ist. Wir müssen folglich bekennen, daſs eine ge - schichtliche Auffassung dieser Erzählungen uns mehr als nur schwer fällt, und es kommt nun darauf an, ob wir die Entstehung unhistorischer Sagen dieser Art wahrschein - lich machen können.
Die Stelle ist bereits angeführt, wo nach dem ersten und dritten Evangelium Jesus den Gesandten des Täufers gegenüber, welche ihn zu fragen hatten, ob er der ἐρχό - μενος sei, sich auf seine Thaten beruft, und vor allem An -5 *68Zweiter Abschnitt.dern hervorhebt, daſs τυφλοὶ ἀναβλέπουσι, zum deutli - lichen Beweis, daſs namentlich auch solche, an Blinden verrichtete Wunder vom Messias erwartet wurden, wie ja jene Worte aus Jes. 35, 5, einer messianisch gedeute - ten Weissagung, genommen sind, und auch in einer oben angeführten rabbinischen Stelle unter den Wundern, wel - che Jehova in der messianischen Zeit ausführen werde, das hervorgehoben ist, daſs er oculos caecorum aperict, id quod per Elisam fecit10)s. Band 1, S. 73, Anm.. Eine eigentliche Blindheit nun hat Elisa nicht geheilt, sondern nur einmal seinem Diener die Augen für eine Wahrnehmung aus der über - sinnlichen Welt eröffnet, und dann eine in Folge seines Gebets über seine Feinde verhängte Verblendung wieder aufhören lassen (2 Kön. 17 — 20.). Diese Thaten des Elisa nun faſste man, ohne Zweifel in Rücksicht auf die jesaia - nische Stelle, geradezu als Eröffnung erblindeter Augen auf, wie wir aus jener rabbinischen Stelle sehen, und so wurden vom Messias auch Blindenheilungen erwartet11)Auch sonst finden wir, dass in jener Zeit Männern, die für Lieblinge der Gottheit galten, das Vermögen wunderbarer Heilung, namentlich auch der Blindheit, zugeschrieben zu werden pflegte. So erzählen uns Tacitus, Hist. 4, 81., und Sueton, Vespas. 7, in Alexandrien habe sich an den kürzlich Imperator gewordenen Vespasian ein Blinder, angeblich nach einer Weisung des Gottes Serapis, mit der Bitte gewendet, ihn durch Benetzung seiner Augen mit seinem Speichel zu heilen, was Vespasian mit dem Erfolge gethan habe, dass der Blinde augenblicklich das Gesicht wieder erhielt. Da Taci - tus die Richtigkeit dieser Erzählung ganz besonders ver - bürgt, so dürfte Paulus wohl nicht Unrecht haben, wenn er die Sache als Veranstaltung schmeichlerischer Priester an - sieht, welche durch subornirte Scheinkranke den Kaiser in den Ruf des Wunderthäters, und dadurch ihren Gott, dessen Rath den Vorgang veranlasst hatte, bei ihm in Gunst setzen wollten. Exeg. Handb. 2, S. 56 f. Jedenfalls aber sehen wir. 69Neuntes Kapitel. §. 91.Nahm nun die urchristliche Gemeinde, wie sie aus den Juden hervorgegangen war, Jesum für das messianische Subjekt, so muſste sie die Tendenz haben, ihm auch alle messianischen Prädikate, und so auch das in Rede stehen - de, zuzuschreiben.
Die dem Markus eigenthümliche Erzählung von einer Blindenheilung bei Bethsaida (8, 22 ff. ) ist, neben der gleichfalls nur bei ihm zu findenden von der Heilung ei - nes schwerredenden Tauben (7, 32 ff. ), welche wir deſs - wegen hier mitberücksichtigen, die Lieblingserzählung aller rationalistischen Ausleger. Wären uns doch, rufen sie aus, auch sonst bei den evangelischen Heilungsgeschichten wie hier die erklärenden Nebenumstände aufbehalten, so wür - de, daſs Jesus nicht durch bloſse Machtsprüche heilte, hi - storisch zu erweisen, und für tiefer Forschende sogar die natürlichen Mittel seiner Heilungen zu entdecken sein12)So ungefähr Paulus, ex. Handb. 2, S. 312. 391.! So ist, vorzüglich aus Veranlassung dieser Erzählungen, welchen sich dann aber auch einzelne Züge aus andern Theilen des zweiten Evangeliums anschlieſsen, Markus in neuester Zeit auch von solchen, die sonst dieser Ausle - gungsweise nicht eben geneigt sind, als Patron der natür - lichen Erklärung dargestellt worden13)de Wette, Beitrag zur Charakteristik des Evangelisten Mar - kus, in Ullmann's und Umbreit's Studien 1, 4, 789 ff. Vgl. Röster, Immanuel, S. 72..
Was nun unsre beiden Heilungen betrifft, so ist den rationalistischen Auslegern schon das eine gute Vorbedeu - tung, daſs Jesus beide Kranke vom Volke weg besonders nimmt, aus keinem andern Grunde, wie sie glauben, als um ihren Zustand ärztlich zu untersuchen, und zu sehen,11)hieraus, was man in jener Zeit auch ausserhalb Palästina's von einem Manne erwartete, welcher, wie Tacitus sich hier über Vespasian ausdrückt, einen favor e coelis und eine in - clinatio numinum genoss.70Zweiter Abschnitt.ob sich helfen lasse oder nicht. Eine solche Untersuchung finden die bezeichneten Erklärer vom Evangelisten selbst angezeigt, wenn nach ihm Jesus dem Tauben die Finger in die Ohren steckte, wobei er die Taubheit als eine heil - bare, vielleicht nur durch verhärtete Feuchtigkeit im Ohr entstandene, gefunden, und hierauf, gleichfalls mit den Fingern, das Hinderniſs des Gehörs entfernt habe. Wie das ἔβαλε τοὺς δακτύλους εἰς τὰ ὦτα, so wird auch das ἥψα το τῆς γλώσσης von einer chirurgischen Operation verstan - den, durch welche Jesus das Zungenband bis auf den er - forderlichen Punkt gelöst, und dem erstarrten Organ sei - ne Gelenkigkeit wieder gegeben habe, und ebenso wird das ἐπιϑεὶς τὰς χεῖρας αὐτῷ bei dem Blinden dahin erklärt, Jesus habe vielleicht durch ein Drücken der Augen die verdickte Linse herausgebracht. Eine weitere Hülfe findet diese Erklärungsweise darin, daſs Jesus beidemale, an der Zunge des Schwerredenden und an den Augen des Blin - den, Speichel anwandte. Schon für sich hat der Speichel, besonders nach älteren Ärzten14)Plin. H. N. 28, 7. u. a. St. bei Wetstein., eine für die Augen heilsa - me Kraft; da er indeſs so schnell in keinem Falle wirkt, um eine Blindheit und einen Fehler der Sprachorgane mit Einemmale entfernen zu können, so wird für beide Fälle vermuthet, Jesus habe den Speichel nur gebraucht, um ein Arzneimittel, wahrscheinlich ein ätzendes Pulver, anzu - feuchten, wobei sowohl der Blinde nur das Ausspucken ge - hört, von den eingemischten Medikamenten aber nichts ge - sehen, als auch der Taube nach dem Geist der Zeit die natürlichen Mittel wenig beachtet, oder die Sage sie nicht weiter aufbewahrt habe. Wird hierauf in der Erzählung vom Tauben die Heilung nur einfach angegeben, so zeich - net sich die vom Blinden noch dadurch aus, daſs sie die Wiederherstellung seines Gesichts umständlich als eine suc - cessive beschreibt. Nachdem Jesus die Augen des Kran -71Neuntes Kapitel. §. 91.ken auf die beschriebene Weise behandelt hatte, fragte er denselben, εἴ τι βλέπει; gar nicht, bemerkt Paulus, wie ein Wunderthäter, der des Erfolges sicher ist, sondern recht wie ein Arzt, der nach gemachter Operation den Patienten probiren läſst, ob ihm geholfen sei. Der Kran - ke erwiedert, er sehe, aber erst undeutlich, so daſs ihm die Menschen wie Bäume erscheinen. Hier kann nun der rationalistische Erklärer siegreich, wie es scheint, den orthodoxen fragen: wenn Jesu die göttliche Kraft zu Be - wirkung von Heilungen zu Gebote stand, warum heilte er den Blinden nicht sogleich vollständig? Wenn ihm das Übel einen Widerstand entgegensezte, den er nicht schon bei'm ersten Versuch zu überwinden vermochte, wird daraus nicht klar, daſs seine Kraft eine endliche, gewöhnlich menschliche gewesen ist? Hierauf legte Jesus noch ein - mal Hand an die Augen des Kranken, um der ersten Ope - ration nachzuhelfen, und nun erst war die Kur vollendet15)Paulus, a. a. O. S. 312 f. 392 ff. ; natürliche Geschichte, 3, S. 31 ff. 216 f. Röster, Immanuel, S. 188 ff..
Die Freude der rationalistischen Ausleger an diesen Erzählungen des Markus ist durch die trockene Bemer - kung zu stören, daſs auch hier die Umstände, welche die natürliche Erklärung möglich machen sollen, nicht vom Evangelisten selbst angegeben, sondern von den Auslegern untergeschoben sind. Denn bei beiden Heilungen giebt Markus nur den Speichel her, das wirksame Pulver aber streuen Paulus und Venturini darein, wie auch nur sie es sind, die aus dem Legen der Finger in die Ohren zu - erst ein Sondiren, dann ein Operiren, und aus dem ἐπι - τιϑέναι τὰς χεῖρας ἐπὶ τοὺς ὀφϑαλμοὺς sprachwidrig statt eines Handauflegens ein chirurgisches Handanlegen machen. Auch das Beiseitenehmen der Kranken bezieht sich dem Zusammenhang zufolge (7, 36. 8, 20.) auf die Absicht Je - su, den wunderbaren Erfolg geheim zu halten, nicht auf72Zweiter Abschnitt.das Verlangen, in Anwendung der natürlichen Mittel un - gestört zu sein: so daſs der rationalistischen Erklärung alle Stützen sinken und die orthodoxe sich ihr auf's Neue gegenüberstellen kann. Diese nimmt die Berührung und den Speichel entweder als Herablassung zu den Kranken, welchen dadurch nahe gelegt werden sollte, wessen Macht sie ihre Heilung zu verdanken hätten16)Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 590 f., oder als ein lei - tendes Medium der geistigen Kraft Christi, an dessen Ge - brauch er jedoch nicht gebunden gewesen sei17)Olshausen, b. Comm. 1, S. 510.; das Suc - cessive der Heilung aber sucht man dann theils so zu wen - den, daſs Jesus durch die halbe Heilung zuvor den Glau - ben des Blinden habe beleben wollen, und erst als dieser gewachsen war, den nunmehr Würdigen ganz wiederher - gestellt habe18)bei Kuinöl, in Marc. p. 110.; oder vermuthet man, dem Blinden, bei seinem tiefgewurzelten Leiden, wäre eine plötzliche Hei - lung vielleicht schädlich gewesen19)Olshausen, S. 509..
Allein durch diese Versuche, namentlich die lezte Ei - genheit der evangelischen Erzählung zu deuten, begeben sich die supranaturalistischen Theologen, welche sie vor - bringen, selbst auf Einen Boden mit den Rationalisten, in - dem sie nicht minder als jene in den Text hineintragen, was in demselben nicht von ferne angedeutet ist. Denn wo ist in dem Heilverfahren Jesu mit dem Kranken irgend eine Spur, daſs er zuerst nur darauf ausgegangen sei, sei - nen Glauben zu prüfen und zu stärken? in welchem Falle statt des nur seinen äussern Zustand betreffenden ἐπηρώτα αὐτὸν εἴ τι βλέπει; vielmehr wie Matth. 9, 28. ein πιςεύεις ὅτι δύναμαι τοῦτο ποιῆσαι; stehen müſste. Vollends aber die Vermuthung, eine plötzliche Kur möchte schädlich ge - wesen sein! Der heilende Akt eines Wunderthäters ist73Neuntes Kapitel. §. 91.doch (namentlich nach Olshausen's Ansicht) nicht als der bloſs negative der Wegräumung eines Übels, sondern zu - gleich als der positive einer Mittheilung neuen Lebens und frischer Kraft an das leidende Organ zu betrachten, bei welcher von Schädlichkeit ihres plözlichen Eintritts nicht die Rede sein kann. Da somit kein Grund sich ausfin - dig machen läſst, aus welchem Jesus absichtlich dem au - genblicklichen Wirken seiner Wunderkraft Einhalt gethan hätte, so müſste sie nur ohne seinen Willen von aussen durch die Macht des eingewurzelten Übels gehemmt wor - den sein, was aber der ganzen evangelischen Vorstellung von der selbst dem Tod überlegenen Wundermacht Jesu entgegen ist, folglich nicht Meinung unsres Evangelisten sein kann. Sondern die Absicht des Markus, wenn wir seine ganze schriftstellerische Eigenthümlichkeit erwägen, kann auch hier auf nichts Andres als auf Veranschauli - chung gehen. Alles Plözliche aber ist schwer sich zur Anschauung zu bringen: wer eine geschwinde Bewegung einem Andern deutlich machen will, der macht sie ihm zuerst langsam vor, und ein schneller Erfolg wird nur dann recht vorstellbar, wenn ihn der Erzähler durch al - le seine Momente hindurchführt; weſswegen denn ein Re - ferent, dem es darum zu thun ist, in seiner Erzählung der Vorstellungskraft seiner Leser möglichst zu Hülfe zu kom - men, auch die Neigung zeigen wird, wo möglich überall das Unmittelbare zu vermitteln und an dem plözlichen Erfolg doch das Successive seines Eintritts hervorzukehren. So glaub - te hier Markus oder sein Gewährsmann viel für die An - schaulichkeit zu thun, wenn er zwischen die Blindheit des Mannes und die völlige Herstellung seiner Sehkraft die halbfertige Heilung oder das Sehen der Menschen wie Bäu - me einschob, und das eigne Gefühl wird jedem sagen, daſs dieser Zweck vollkommen erreicht ist. Darin aber liegt, wie auch Andre bemerkt haben20)Fritzsche, Comm. in Marc. p. XLIII., so wenig eine74Zweiter Abschnitt.Hinneigung des Markus zu natürlicher Auffassung solcher Wunder, daſs er ja vielmehr nicht selten die Wunder zu vergrössern bemüht ist, wie wir theils bei'm Gadarener gesehen haben, theils noch öfters werden bemerken kön - nen. Auf ähnliche Weise wird dann auch das zu beur - theilen sein, daſs Markus namentlich in diesen ihm eigenen Erzählungen (aber auch sonst, wie 6, 13, wo er bemerkt, daſs die Jünger die Kranken mit Öl gesalbt haben) die Anwendung äusserer Mittel und Manipulationen bei den Heilungswundern hervorhebt. Daſs diese Mittel, wie be - sonders der Speichel, in der damaligen Volksansicht nicht als natürlich wirkende Ursachen der Heilung galten, davon kann schon die oben angeführte Erzählung von Vespasian üherzeugen, so wie Stellen jüdischer und römischer Auto - ren, nach welchen das Anspucken als magisches Mittel, vornehmlich gegen Augenübel, galt21)s. d. St. bei Wetstein und Lightfoot zu Joh. 9, 6.. Sondern Olshau - sen giebt ganz die damalige Vorstellung, wenn er Berüh - rung, Speichel u. dgl. für die Conduktoren der dem Wun - dermann inwohnenden höheren Kraft erklärt. Nur frei - lich diese Ansicht auch zu der unsrigen machen könnten wir nur dann, wenn wir mit Olshausen von einer Parallele der Wunderkraft Jesu mit der animalisch ‒ magnetischen ausgiengen, eine Vergleichung, welche zur Erklärung der Wunder Jesu, insbesondere des vorliegenden, unzureichend und darum überflüssig ist. Wir schreiben daher jene Mit - tel lediglich auf Rechnung des Evangelisten. Auf diese kommt dann ohne Zweifel auch das Besondernehmen der Kranken, die übertreibende Beschreibung der Verwunde - rung des Volks (ὑπερπερισσῶς ἐξεπλήσσοντο ἅπαντες, 7, 37.), und das strenge Verbot, Niemand von den Heilun - gen etwas zu sagen. Dieses Geheimhalten gab der Sache ein mysteriöses Ansehen, welches auch nach andern Stel - len dem Markus gefallen zu haben scheint. Zu dem My -75Neuntes Kapitel. §. 91.steriösen gehört bei der Heilung des Tauben auch das ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανὸν ἐςέναξε (7, 34.). Denn wozu hier seufzen? über das Elend des Menschengeschlechts22)so nach Euthymius Fritzsche, in Marc. p. 304., das Jesu aus viel traurigeren Fällen längst bekannt sein muſste? oder wollen wir durch die Erklärung, daſs jener Ausdruck nichts weiter, als stilles Beten oder lautes Spre - chen bedeute23)Ersteres Kuinöl, Lezteres Schott., der Schwierigkeit ausweichen? Wer den Markus kennt, wird vielmehr den übertreibenden Er - zähler darin erkennen, daſs er Jesu eine tiefe Gemüths - bewegung bei einem Anlaſs zuschreibt, der eine solche gar nicht hervorbringen konnte, aber von derselben begleitet sich nur um so geheimniſsvoller ausnahm. Ganz vorzüg - lich aber scheint mir etwas Mysteriöses darin zu liegen, daſs Markus das gebietende Wort, mit welchem Jesus die Ohren des Tauben aufthut, in seiner ursprünglichen syri - schen Form: ἐφφαϑὰ, wiedergiebt, wie bei der Erweckung der Tochter des Jairus nur unser Evangelist (5, 41.) das ταλιϑὰ κοῦμι hat. Man sagt wohl, dieſs seien nichts we - niger als Zauberformeln gewesen24)Hess, Gesch. Jesu, 1, S. 391. Anm. 1.; allein, daſs Markus diese Machtworte so gerne in der seinen Lesern, denen er sie ja erklären muſs, fremden Ursprache wiedergiebt, be - weist doch, daſs er eben dieser ihrer ursprünglichen Form eine besondere Bedeutung beigelegt haben muſs, welche dem Zusammenhang zufolge nur eine magische scheint ge - wesen sein zu können. Diese Neigung zum Mysteriösen können wir rückwärts blickend nun auch in der Anwen - dung jener äusseren Mittel finden, welche zum Erfolg in keinem Verhältniſs stehen; denn eben darin besteht ja das Mysterium, daſs mit einer inadäquaten, endlichen Form ein unendlicher Inhalt, mit einem scheinbar unwirksamen Mittel die kräftigste Wirkung sich verbindet.
76Zweiter Abschnitt.Haben wir nun oben die einfache Erzählung sämmt - licher Synoptiker von der Blindenheilung bei Jericho nicht für historisch halten können, so sind wir dieſs bei der ge - heimniſsvollen Schilderung des Einen Markus von der Heilung eines Blinden bei Bethsaida noch weniger im Stan - de, sondern wir müssen sie als ein Produkt der Sage mit mehr oder weniger Zuthaten des evangelischen Referen - ten ansehen, und ebenso die von ihm mit gleicher Eigen - thümlichkeit erzählte Heilung des κωφὸς μογιλάλος. Denn auch bei dieser lezteren Geschichte fehlen uns neben den schon ausgeführten negativen Gründen gegen ihre histori - sche Glaubwürdigkeit die positiven Veranlassungen ihrer mythischen Entstehung nicht, da die Weissagung auf die messianische Zeit: τότε-ὦτα κωφῶν ἀκου̍σονται — τρανη δὲ ἔςαι γλῶσσα μογιλάλων (Jes. 35, 5. 6. ) vorhanden war, und nach Matth. 11, 5. eigentlich verstanden wurde.
So günstig der natürlichen Erklärung auf den ersten Anblick die eben betrachteten Erzählungen des Markus zu sein schienen: so ungünstig und vernichtend, sollte man glauben, müsse die johanneische Erzählung, Kap. 9., auf sie fallen, wo nicht von einem Blinden schlechtweg, des - sen zufällig eingetretenes Übel leichter wieder zu heben sein mochte, sondern von einem Blindgeborenen die Rede ist. Doch wie die Ausleger dieser Richtung scharfsichtig sind, und den Muth nicht bald verlieren, so wissen sie auch hier manches ihnen Günstige zu entdecken. Vor Al - lem den Zustand des Kranken finden sie, so bestimmt auch das τυφλὸν ἐκ γενετῆς zu lauten scheint, doch nur unge - nau bezeichnet. Die Zeitbestimmung zwar, welche darin liegt, enthält sich Paulus, wiewohl ungern und eigentlich nur halb, umzustoſsen: um so mehr muſs er dann aber an der Qualitätsbestimmung des Zustandes zu rütteln suchen. Τυφλὸς müsse nicht gerade totale Blindheit bezeichnen, und wenn Jesus den Kranken anweise, zum Siloateich zu gehen, nicht sich führen zu lassen, so müsse derselbe noch77Neuntes Kapitel. §. 91.einigen Schein des Augenlichts gehabt haben, um selbst den Weg dahin finden zu können. Noch mehr Hülfe sehen die rationalistischen Ausleger in dem Heilverfahren Jesu. Gleich Anfangs (V. 4.) sage er, er müsse wirken ἕως ἡμέρα ἐςὶν, in der Nacht lasse sich nichts mehr anfangen: Beweis genug, daſs er den Blinden nicht mit einem blo - sen Machtwort zu heilen im Sinne gehabt habe, was er auch bei Nacht hätte aussprechen können, daſs er viel - mehr eine künstliche Operation habe vornehmen wollen, zu welcher er freilich das Tageslicht bedurfte. Der πηλὸς ferner, welchen Jesus mittelst seines Speichels macht und dem Blinden auf die Augen streicht, ist ja der natürlichen Auslegung noch günstiger als das bloſse πτύσας bei'm vo - rigen Fall, weſswegen denn aus demselben die Fragen und Vermuthungen wie Pilze in üppiger Fülle aufschies - sen. Woher wuſste Johannes, fragt man, daſs Jesus nichts weiter als Speichel und Staub zu der Augensalbe nahm? war er selbst dabei, oder hatte er es blos aus der Erzäh - lung des geheilten Blinden? Dieser konnte aber bei dem schwachen Schimmer, den er nur hatte, nicht genau se - hen, was Jesus vornahm, er konnte vielleicht, wenn Je - sus, während er aus andern Ingredienzien eine Salbe mischte, zufällig auch ausspuckte, auf den Wahn verfal - len, aus dem Ausgespuckten sei die Salbe entstanden. Noch mehr: hat Jesus, während oder ehe er etwas auf die Augen strich, nicht auch etwas aus denselben wegge - nommen, weggestrichen, oder sonst etwas daran verän - dert, was der Blinde selbst und die Umstehenden leicht für Nebensache ansehen konnten? Endlich das dem Blin - den gebotene Waschen im Teiche dauerte vielleicht mehrere Tage, war eine längere Badekur, und das ἦλϑε βλέπων sagt nicht, daſs er nach dem ersten Bade, sondern daſs er zu seiner Zeit, nach Vollendung der Kur, sehend wie - derkam25)Paulus, Comm. 4, S. 472 ff..
78Zweiter Abschnitt.Allein, um von vorne anzufangen, so wird hier dem ἡμέρα und νὺξ eine Bedeutung gegeben, welche selbst ei - nem Venturini zu seicht gewesen ist26)Natürliche Gesch. 3, S. 215., und namentlich dem Zusammenhang mit V. 5. zuwiderläuft, welcher durch - aus eine Beziehung der Worte auf den baldigen Hingang Jesu erheischt27)s. Tholuck und Lücke z. d. St.. Was aber von etwaigen medicinischen Ingredienzien des πηλὸς vermuthet wird, ist um so boden - loser, als hier nicht wie bei dem vorigen Fall gesagt wer - den kann, es werde nur das angegeben, was der Blinde durch das Gehör oder einen leichten Lichtschimmer wahr - nehmen konnte, da ja dieſsmal Jesus den Kranken nicht allein, sondern in Gegenwart seiner Jünger vornahm. Über die weitere Vermuthung vorangegangener chirurgi - scher Operationen, durch welche die im Texte allein an - gegebene Bestreichung und Waschung zur Nebensache wird, ist nichts zu sagen, als daſs man an diesem Beispiele sieht, wie zügellos die einmal eingelassene natürliche Erklärung sich alsbald gebärdet, und die klarsten Worte des Textes durch die Gebilde ihrer eigenen Combination verdrängt. Wenn ferner daraus, daſs Jesus den Blinden zum Tei - che gehen hieſs, gefolgert wird, er müsse noch einen Schein des Lichts gehabt haben, so ist dagegen zu be - merken, daſs Jesus demselben nur angab, wohin er sich begeben (ὑπάγειν) solle; wie er dieſs näher angreifen wollte, ob allein gehen oder einen Führer nehmen, das überlieſs er ihm selber. Endlich wenn das engverbun - dene ἀπῆλϑεν οῦ͗ν καὶ ἐνίφατο καὶ ἦλϑε βλέπων (V. 7, vgl. V. 11.) zu einer mehrwöchigen Badekur auseinander - gezogen wird, so ist dieſs gerade, wie wenn man das veni, vidi, vici übersetzen wollte: nach meiner Ankunft recognoscirte ich mehrere Tage, lieferte hierauf in gehöri - gen Zwischenzeiten unterschiedliche Schlachten, und blieb endlich Sieger.
79Neuntes Kapitel. §. 91.Es läſst uns also auch hier die natürliche Erklärung im Stiche, und wir behalten einen von Jesu wunderbar geheilten Blindgeborenen. Daſs unsre obigen Zweifel ge - gen die Realität der Blindenheilungen hier, wo es sich von angeborener Blindheit handelt, in verstärktem Maaſse wiederkehren, ist natürlich. Und zwar kommen hier noch einige besondere kritische Gründe hinzu. Keiner der drei ersten Evangelisten weiſs etwas von dieser Heilung. Nun aber, wenn doch in der Gestaltung der apostolischen Tra - dition und in der Auswahl, welche sie unter den von Jesu zu erzählenden Wundern traf, irgend ein Verstand gewe - sen sein soll, so muſs sich diese nach den zwei Gesichts - punkten gerichtet haben: erstlich, die gröſseren Wunder vor den scheinbar minder bedeutenden auszuwählen, und zweitens diejenigen, an welche sich erbauliche Erörterun - gen knüpften, vor denen, bei welchen dieſs nicht der Fall war. In der ersteren Rücksicht war nun offenbar die Hei - lung eines von Geburt an Blinden, als die ungleich schwie - rigere, vor der eines Blinden schlechthin auszuwählen, und man begreift nicht, wenn doch Jesus wirklich einen Blind - geborenen sehend gemacht hat, warum davon nichts in die evangelische Tradition und also in die synoptischen Evangelien gekommen ist. Freilich konnte mit dieser Rück - sicht auf die Gröſse des Wunders die andere auf die Er - baulichkeit der daran sich knüpfenden Reden nicht selten collidiren, so daſs ein minder auffallendes, aber durch die Gespräche, die es veranlaſste, fruchtbareres Wunder ei - nem auffallenderen, aber bei welchem das Leztere weni - ger zutraf, vorgezogen werden mochte. Allein die Hei - lung des Blindgeborenen bei Johannes ist von so merkwür - digen Gesprächen, zuerst Jesu mit den Jüngern, dann des Geheilten mit der Obrigkeit, endlich Jesu mit dem Geheilten, begleitet, wie von dergleichen bei den synopti - schen Blindenheilungen keine Spur ist, Gespräche, von welchen, wenn auch nicht der ganze dialogische Verlauf,80Zweiter Abschnitt.so doch gnomische Perlen, wie V. 4. 5. 39., sich auch für die Darstellung der drei ersten Evangelisten trefflich eig - neten. Diese hätten also nicht umhin gekonnt, statt der sowohl weniger merkwürdigen, als auch minder erbauli - chen Blindenheilungen, welche sie haben, die Heilung des Blindgeborenen aufzunehmen, wenn dieselbe in der evangelischen Überlieferung, aus welcher sie schöpften, befindlich gewesen wäre. Der allgemeinen evangelischen Verkündigung konnte sie möglicherweise unbekannt blei - ben, wenn sie an einem Orte und unter Umständen vor - gefallen war, die ihre Ausbreitung nicht begünstigten, also wenn sie in einem Winkel des Landes ohne weitere Zeu - gen verrichtet worden war. Aber Jesus vollbringt sie ja vielmehr zu Jerusalem, im Kreise seiner Jünger, mit gröſs - tem Aufsehen in der Stadt, und zum höchsten Anstoſs bei der Obrigkeit: da muſste die Sache bekannt werden, wenn sie anders geschehen war, und da wir sie in der gewöhn - lichen Evangelientradition nicht als bekannt antreffen, so entsteht der Verdacht, sie möchte vielleicht gar nicht ge - sehehen sein.
Aber der Gewährsmann ist doch der Apostel Johan - nes. Wenn dieſs nur nicht, ausser dem unglaublichen, also schwerlich von einem Augenzeugen herrührenden In - halt des Berichts, auch noch aus einem andern Grund un - wahrscheinlich würde. Der Referent erklärt nämlich den Namen des Teiches Σιλωὰμ durch das griechische ἀπεςαλ - μένος (V. 7.): eine falsche Erklärung, denn ein Abge - schickter heiſst שָׁלוּחַ, wogegen שׁלחַֹ der wahrscheinlich - sten Erklärung zufolge einen Wasserguſs bedeutet28)s. Paulus und Lücke z. d. St.. Der Evangelist wählte aber jene Deutung, weil er zwischen dem Namen des Teichs und der Sendung des Blinden zu demselben eine bedeutungsvolle Beziehung suchte, und sich also vorgestellt zu haben scheint, der Teich habe durch81Neuntes Kapitel. §. 91.besondere Fügung den Namen des Gesendeten bekommen, weil dereinst vom Messias zur Offenbarung seiner Herr - lichkeit ein Blinder zu demselben gesendet werden sollte29)so Euthymius und Paulus z. d. St.. Nun konnte allerdings ein Apostel eine grammatisch un - richtige Erklärung geben, sofern er nur nicht als inspirirt vorausgesetzt wird, und auch ein geborener Palästinenser konnte sich in Etymologieen hebräischer Worte irren, wie das A. T. selber zeigt: doch aber sieht eine Spielerei die - ser Art eher wie das Machwerk eines entfernter Stehen - den als eines Augenzeugen aus. Der Augenzeuge hatte an dem angeschauten Wunder und den vernommenen Reden genug Bedeutungsvolles: erst bei dem entfernter Stehen - den konnte die Mikrologie eintreten, daſs er auch aus den kleinsten Nebenzügen eine Bedeutung herauszupressen such - te. Tholuck und Lücke stossen sich stark an einer sol - chen, wie der Leztere sich ausdrückt, an Unsinn streifen - den Allegorie, welche sie ebendeſswegen sich nicht für jo - hanneisch aufreden lassen wollen, sondern als eine Glosse betrachten. Da jedoch alle kritischen Auktoritäten, bis auf Eine, minder bedeutende, dieselbe bieten, so ist eine solche Behauptung die baare Willkühr, und man hat nur die Wahl, ob man mit Olshausen auch an diesem Zug als einem apostolischen sich erbauen30)b. Comm. 2, S. 230, wo er jedoch das ἀπεςαλμένος auf den von Gott ausgehenden Geistesstrom bezieht., oder mit den Proba - bilien denselben mit unter die Merkmale von dem nicht apostolischen Ursprung des vierten Evangeliums zählen will31)S. 93..
Was nun aber den Verfasser des vierten Evangeliums, oder die Überlieferung, aus welcher er schöpfte, veran - lassen konnte, unzufrieden mit den Blindenheilungen, von welchen die Synoptiker berichten, die vorliegende Erzäh -Das Leben Jesu II. Band. 682Zweiter Abschnitt.lung auszubilden, liegt schon in dem bisher Ausgeführten. Es ist schon von Andern die Bemerkung gemacht, wie das vierte Evangelium zwar wenigere, aber um so stärkere Wun - der von Jesu erzähle32)Köster, Immanuel, S. 79; Bretschneider, Probab. S. 122.. So, wenn die übrigen Evange - lien simple Paralytische haben, welche Jesus heilt, hat das vierte Evangelium einen, der 38 Jahre lang gelähmt war; wenn Jesus in jenen eben Verstorbene wiederbelebt, ruft er in diesem einen schon vier Tage in der Gruft Gelege - nen, bei welchem bereits der Eintritt der Verwesung zu vermuthen war, in das Leben zurück; ebenso hier statt einfacher Blindenheilungen die Heilung eines Blindgebore - nen, — eine Steigerung der Wunder, wie sie der apolo - getisch ‒ dogmatischen Tendenz dieses Evangeliums ganz angemessen ist. Auf welchem Wege hiebei der Verfasser des Evangeliums oder die particuläre Tradition, welcher er folgte, zu den einzelnen Zügen der Erzählung kommen konnte, ergiebt sich leicht. Das πτύειν war bei magischen Augenkuren gewöhnlich; der πηλὸς lag als Surrogat einer Augensalbe nahe und kommt auch sonst bei zauberhaften Proceduren vor33)Wetstein z. d. St.; der Befehl, sich im Siloateich zu wa - schen, kann der Verordnung Elisa's, daſs der aussätzige Naëman sich siebenmal im Jordan baden solle, nachge - bildet sein. Die Verhandlungen, welche sich an die Hei - lung knüpfen, gehen theils aus der, auch von Storr be - merklich gemachten Tendenz des johanneischen Evangeliums hervor, sowohl die Heilung als die angeborne Blindheit des Menschen möglichst urkundlich zu machen und zu verbür - gen, daher das wiederholte Verhör des Geheilten selbst und sogar seiner Eltern; theils drehen sie sich um die symbo - lische Bedeutung der Ausdrücke: τυφλὸς und βλέπων, ἡμέρα und νὺξ, wie sie zwar auch den Synoptikern nicht fremd ist, noch specifischer jedoch in den johanneischen Bilder - kreis gehört.
Ein wichtiger Zug in der johanneischen Heilungsge - schichte des Blindgeborenen ist übergangen worden, weil er erst in Verbindung mit einem entsprechenden in der synoptischen Erzählung von der Heilung eines Paralyti - schen (Matth. 9, 1 ff. Marc. 2, 1 ff. Luc. 5, 17 ff. ), die wir demnächst zu betrachten haben, richtig gewürdigt werden kann. Hier nämlich erklärt Jesus dem Kranken zuerst: ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι σου, und hierauf, als Beweis, daſs er zu solcher Sündenvergebung Vollmacht habe, heilt er ihn, wobei die Beziehung auf die jüdische Ansicht nicht verkannt werden kann, daſs das Übel und namentlich die Krankheit des Einzelnen Strafe seiner Sünde sei; eine An - sicht, welche, in ihren Grundzügen im A. T. angelegt (3 Mos. 26, 14 ff. 5 Mos. 28, 15 ff. 2 Chron. 21, 15. 18 f.), von den späteren Juden auf's Bestimmteste ausgesprochen wurde1)Nedarim f. 41, 1. (bei Schöttgen, 1, S. 93.): Dixit R. Chija fil. Abba: nullus aegrotus a morbo suo sanatur, doncc ipsi omnia peccata remissa sint.. Hätten wir nun bloſs jene synoptische Erzäh - lung, so müſsten wir glauben, Jesus habe die Ansicht sei - ner Zeit - und Volksgenossen über diesen Punkt getheilt, indem er ja seine Befugniſs, Sünden (als Grund der Krank - heit) zu vergeben, durch eine Probe seiner Fähigkeit, Krankheiten (die Folgen der Sünde) zu heilen, beweist. Allein, sagt man, es finden sich andre Stellen, wo Jesus die - ser jüdischen Meinung geradezu widerspricht, und daraus folgt, daſs, was er dort zum Paralytischen sprach, bloſse Accommodation an die Vorstellungen des Kranken zur För - derung seiner Heilung war2)Hase, L. J. §. 73. Fritzsche, in Matth. S. 335..
Die Hauptstelle, welche man hiefür anzuführen pflegt,6 *84Zweiter Abschnitt.ist eben die Einleitung der zulezt betrachteten Geschichte vom Blindgeborenen (Joh. 9, 1 — 3). Hier nämlich legen die Jünger, wie sie den Mann, den sie als von Geburt an Blinden kennen, am Wege stehen sehen, Jesu die Fra - ge vor, ob seine Blindheit Folge seiner eigenen, oder der Sünde seiner Eltern sei? Der Fall war für die jüdische Vergeltungstheorie besonders schwierig. Von Übeln, wel - che einem Menschen erst im Verlauf seines Lebens zuge - stossen sind, wird der auf eine gewisse Seite sich einmal neigende Beobachter leicht irgend welche eigne Verschul - dungen dieses Menschen als Ursache ausfindig machen oder doch voraussetzen. Von angeborenen Übeln dagegen gab zwar die althebräische Ansicht (2 Mos. 20, 5. 5 Mos. 5, 9. 2 Sam. 3, 29.) die Erklärung an die Hand, daſs durch die - selben die Sünden der Vorfahren an den Nachkommen heimgesucht werden; allein, wie für das menschliche Recht das mosaische Gesez selbst festsezte, daſs Jeder nur für eigene Vergehungen solle gestraft werden können (5 Mos. 24, 16. 2 Kön. 14, 6.), und auch in Bezug auf die göttli - che Strafgerechtigkeit die Propheten ein Gleiches ahnten (Jer. 31, 30. Ezech. 18, 19 f.): so ergab sich für angebo - rene Übel dem rabbinischen Scharfsinn der Ausweg, sol - che Menschen mögen wohl schon in Mutterleibe gesündigt haben3)Sanhedr. f. 91, 2. und Bereschith Rabba f. 38, 1. (bei Light - foot S. 1050): Antoninus interrogavit Rabbi (Judam): a quo - nam tempore incipit malus affectus praevalere in homine? an a tempore formationis ejus (in utero), an a tempore pro - cessionis ejus (ex utero)? Dicit ei Rabbi: a tempore for - mationis ejus. , und diese Meinung war es ohne Zweifel auch, welche die Jünger bei ihrer Frage V. 2. voraussetzten Wenn ihnen nun Jesus zur Antwort giebt, weder um ei - ner eignen noch um einer Sünde seiner Eltern willen sei jener Mensch blind zur Welt gekommen, sondern um durch85Neuntes Kapitel. §. 92.die Heilung, welche er als Messias an ihm vollziehen soll - te, die Wundermacht Gottes zur Anschauung zu bringen: so wird dieſs insgemein so verstanden, als hätte damit Je - sus jene ganze Meinung, daſs Krankheit und sonstiges Übel wesentlich Sündenstrafe sei, verworfen. Allein ausdrück - lich spricht hier Jesus nur von dem Falle, der ihm eben vorlag, daſs dieses bestimmte Übel hier nicht in der Ver - schuldung des Individuums, sondern in höheren göttlichen Absichten seinen Grund habe; einen allgemeineren Sinn und die Verwerfung der ganzen jüdischen Ansicht in jenem Ausspruch zu finden, könnte man nur durch andre be - stimmter dahin lautende Ausspräche ein Recht bekommen. Da nun aber dem Obigen zufolge in den synoptischen Evan - gelien eine Erzählung sich findet, welche, einfach aufge - faſst, vielmehr ein Einstimmen Jesu in die herrschende Meinung enthält, so würde sich fragen, was leichter an - gehe, jenen synoptischen Ausspruch Jesu als Accommoda - tion, oder den johanneischen nur mit Bezug auf den vor - liegenden Fall zu fassen? eine Frage, welche Jeder zu Gunsten des lezten Gliedes entscheiden wird, der einerseits die Schwierigkeiten der Accommodationshypothese in ihrer Anwendung auf die evangelischen Aussprüche Jesu kennt, und andrerseits sich klar macht, daſs in der betreffenden Stelle des vierten Evangeliums eine allgemeinere Beziehung des Ausspruchs gar nicht angedeutet ist.
Freilich darf nach richtigen Interpretationsgrundsätzen ein Evangelist nicht unmittelbar aus einem andern erläu - tert werden, sondern es bliebe in unsrem Falle wohl mög - lich, daſs, während die Synoptiker Jesu jene Zeitansicht zuschreiben, der höher gebildete Verfasser des vierten Evangeliums ihn dieselbe verwerfen lieſse: allein daſs auch er jene Abweisung der Zeitansicht von Seiten Jesu nur auf den einzelnen Fall bezog, beweist er durch die Art, wie er ein andermal Jesum reden läſst. Wenn dieser näm - lich zu dem achtunddreiſsigjährigen Kranken Joh. 5. nach86Zweiter Abschnitt.seiner Wiederherstellung warnend sagt: μηκέτι ἁμάρτανε, ἵνα μὴ χεῖρόν τί σοι γένηται (V. 14.), so ist dieſs so gut, als wenn er einem zu Heilenden zuruft: ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι σου, beidemale nämlich wird Krankheit als Sün - denstrafe hier aufgehoben, dort angedroht. Doch auch hier wissen die Erklärer, denen es unwillkommen ist, von Jesu eine Ansicht, welche sie verwerfen, anerkannt zu finden, dem natürlichen Sinne auszuweichen. Jesus soll das be - sondre Übel dieses Menschen als eine natürliche Folge gewisser Ausschweifungen erkannt, und ihn vor Wieder - holung derselben gewarnt haben, weil dieſs eine gefährli - chere Recidive herbeiführen könnte4)Paulus, Comm. 4, S. 264 Lücke, 2, S. 22.. Allein der Denk - weise des Zeitalters Jesu liegt die Einsicht in den natürli - chen Zusammenhang gewisser Ausschweifungen mit gewis - sen Krankheiten als deren Folgen weit ferner als die An - sicht von einem positiven Zusammenhang der Sünde über - haupt mit der Krankheit als deren Strafe; es müſste also, wenn wir dennoch den Worten Jesu den ersteren Sinn sollten unterlegen dürfen, dieser sehr bestimmt in der Stel - le angezeigt sein. Nun aber ist in der ganzen Erzählung von einer bestimmten Ausschweifung des Menschen nicht die Rede, das von Jesu ihm zugerufene μηκέτι ἁμάρτανε be - zeichnet nur Sündigen überhaupt, und eine Unterredung Jesu mit dem Kranken, in welcher er denselben über den Zusammenhang seines Leidens mit einer bestimmten Sünde belehrt hätte, zu suppliren,5)Wie Tholuck z. d. St. thut., ist die willkührlichste Fik - tion. Welche Auslegung, wenn man, um einem dogmatisch unangenehmen Ergebniſs auszuweichen, die eine Stelle (Joh. 9.) zu einer nicht in ihr liegenden Allgemeinheit erweitert, die andere (Matth. 9.) durch die Accommodationshypothe - se eludirt, der dritten (Joh. 5.) einen modernen Begriff gewaltsam aufdrängt: statt daſs, wenn man nur die erste87Neuntes Kapitel. §. 92.Stelle nicht mehr sagen läſst als sie sagt, die beiden an - dern in ihrem zunächst liegenden Sinn nicht im Mindesten angetastet zu werden brauchen!
Doch man bringt noch eine weitere, und zwar syn - optische Stelle herbei, um Jesu die Erhabenheit über die bezeichnete Volksmeinung zu vindiciren. Wie ihm nämlich einmal von Galiläern erzählt wurde, welche Pilatus bei'm Opfern hatte niederhauen lassen, und von andern, welche durch den Einsturz eines Thurmes verunglückt waren (Luc. 13, 1 ff. ), wobei die Erzähler, wie man glauben muſs, zu erkennen gaben, daſs sie jene Unglücksfälle für göttliche Strafen der besondern Verworfenheit jener Leute ansehen, erwiederte Jesus, sie möchten ja nicht glauben, jene Men - schen seien besonders schlecht gewesen; sie selbst seien um nichts besser, und sehen daher, falls sie sich nicht be - kehren, einem gleichen Untergang entgegen. Es ist in der That nicht klar, wie man in dieser Äusserung Jesu eine Verwerfung jener Volksansicht finden kann. Wollte Jesus gegen diese sprechen, so muſste er entweder sagen: ihr seid ebenso groſse Sünder, wenn ihr auch nicht auf die gleiche Weise leiblich zu Grunde gehet; oder: glaubet ihr, daſs jene Menschen ihrer Sünde wegen zu Grunde ge - gangen seien? nein! dieſs sieht man an euch, die ihr un - erachtet eurer Schlechtigkeit doch nicht ebenso zu Grunde gehet. So dagegen, wie der Ausspruch Jesu bei Lukas lautet, kann der Sinn desselben nur dieser sein: daſs jene Menschen schon jezt ein solcher Unfall betroffen hat, be - weist nichts für ihre besondre Schlechtigkeit, so wenig das, daſs ihr bisher von dergleichen verschont geblieben seid, für eure gröſsere Würdigkeit beweist; vielmehr werden früher oder später über euch kommende ähnliche Strafge - richte eure gleiche Schlechtigkeit beurkunden — wodurch also das Gesez des Zusammenhangs zwischen Sünde und Unglück jedes Einzelnen bestätigt, nicht umgestoſsen wür - de. Diese vulgär-hebräische Ansicht von Krankheit und88Zweiter Abschnitt.Übel steht nun allerdings im Widerspruch mit jener esote - rischen, essenisch-ebionitischen, die wir im Eingang der Bergrede, im Gleichniſs vom reichen Mann und sonst ge - funden haben, nach welcher vielmehr die Gerechten in die - sem Äon die Leidenden, Armen, Kranken sind: allein bei - de Ansichten liegen einmal in den Äusserungen Jesu für eine unbefangene Exegese zu Tage, und der Widerspruch, welchen wir zwischen beiden finden, berechtigt uns we - der, die eine Klasse von Aussprüchen gewaltsam zu deu - ten, noch auch, sie Jesu abzusprechen, da wir nicht be - rechnen können, wie er den Widerstreit zweier ihm von verschiedenen Seiten der damaligen jüdischen Bildung her gebotenen Weltanschauungen für sich gelöst haben mag.
Was nun die oben erwähnte Heilung betrifft, so las - sen die Synoptiker Jesum den Boten des Täufers gegen - über sich namentlich auch darauf berufen, daſs durch sei - ne Wundermacht‘χωλοὶ περιπατοῦσιν’(Matth. 11, 5.), und ein andermal wundert sich das Volk, wie es neben andern Geheilten auch χωλοὺς περιπατοῦντας und κυλλοὺς ὑγιεῖς er - blickt (Matth. 15, 31.). An der Stelle der χωλοὶ werden anderwärts παραλυτικοὶ aufgeführt (Matth. 4, 24.), und namentlich sind in den detaillirten Heilungsgeschichten, welche wir über diese Art von Kranken haben, (wie Matth. 9, 1 ff. parall. 8, 5 ff. parall. ) nicht χωλοὶ, sondern παρα - λυτικοὶ genannt. Der Kranke Joh. 5, 5. gehörte wohl zu den χωλοῖς, von welchen V. 3. die Rede gewesen war; ebendaselbst sind ξηροὶ aufgeführt, und so finden wir Matth. 12, 9 ff. parall. die Heilung eines Menschen, der eine χεὶρ ξηρὰ hatte. Da jedoch die drei zulezt angeführten Hei - lungen von Gliederkranken unter andern Rubriken uns wiederkehren werden: so bleibt hier nur die Heilung des Paralytischen Matth. 9, 1 ff. parall. zu beleuchten übrig.
Da die Definitionen, welche die alten Ärzte von der παράλυσις geben, zwar alle auf Lähmung, aber unentschie -89Neuntes Kapitel. §. 92.den, ob totale oder partiale, gehen6)Man sehe sie bei Wetstein, N. T. 1, S. 284, und in Wahl's Clavis u. d. A. nach., und überdieſs von den Evangelisten kein strenges Festhalten an der medicini - schen Kunstsprache zu erwarten ist, so müssen wir, was sie unter Paralytischen verstehen, aus ihren eignen Be - schreibungen von dergleichen Kranken entnehmen. In unsrer Stelle nun erfahren wir von dem παραλυτικὸς, daſs er auf einer κλίνη getragen werden muſste, und daſs, ihn zum Aufstehen und Tragen seines Bettes zu befähigen, für ein nie gesehenes παράδοξον galt, woraus wir also auf eine Lähmung wenigstens der Füſse schlieſsen müssen. Während von Schmerzen und einem hitzigen Charakter der Krankheit in unsrem Falle nicht die Rede ist, wird ein solcher in der Geschichte Matth. 8, 6. unverkennbar vor - ausgesezt, wenn der Centurio von seinem Knechte sagt: βέβληται-παραλυτικὸς, δεινῶς βασανιζόμενος, so daſs wir also unter der παράλυσις in den Evangelien bald eine schmerzlos lähmende, bald eine schmerzhaft gichtische Gliederkrankheit zu verstehen hätten7)vgl. Winer, Realw. 1 Aufl. S. 776. und Fritzsche, in Matth. p. 194..
In Schilderung der Scene, wie der Paralytische Matth. 9, 1 ff. parall. zu Jesu gebracht wird, findet zwischen den drei Berichten eine merkliche Abstufung statt. Matthäus sagt einfach, wie Jesus von einem Ausflug an das jensei - tige Ufer nach Kapernaum zurückgekehrt sei, habe man ihm einen Paralytischen, auf einem Lager hingestreckt, ge - bracht. Lukas beschreibt genau, wie Jesus, von einer groſsen Menge, namentlich von Pharisäern und Schrift - gelehrten, umgeben, in einem Hause lehrte und heilte, und wie die Träger des Paralytischen, weil sie vor der Volks - menge nicht durch die Thüre zu Jesu gelangen konnten, den Kranken durch das Dach zu ihm niederlieſsen. Be -90Zweiter Abschnitt.denkt man die Struktur morgenländischer Häuser, auf de - ren plattes Dach aus dem oberen Stockwerk eine Öffnung führte8)Winer, a. a. O. u. d. A. Dach., und nimmt man den rabbinischen Sprachgebrauch hinzu, in welchem der via per portam (דרך פתחים) die via per tectum (דרך גגין) als nicht minder ordentlicher Weg, namentlich um in das ὑπερῷον zu gelangen, gegen - übergestellt wird: so kann man unter dem καϑιέναι διὰ τῶν κεράμων schwerlich etwas Anderes verstehen, als daſs die Träger, welche entweder mittelst einer unmittelbar von der Strasse dahin führenden Treppe, oder vom Dache des Nachbarhauses aus auf das platte Dach des Hauses, in welchem Jesus sich befand, gelangt waren, den Kranken sammt seinem Bette durch die im Dachboden bereits be - findliche Öffnung, wie es scheint an Stricken, zu Jesu her - abgelassen haben. Markus, der in der Verlegung der Sce - ne nach Kapernaum mit Matthäus, in Schilderung des gros - sen Gedränges und der dadurch veranlaſsten Besteigung des Daches mit Lukas zusammenstimmt, geht, ausserdem, daſs er die Zahl der Träger auf viere festsezt, darin noch wei - ter als Lukas, daſs er dieselben, ohne Rücksicht auf die schon vorher vorhandene Thüre, das Dach abdecken und durch eine erst aufgegrabene Öffnung den Kranken hinun - terbefördern läſst.
Fragen wir auch hier, in welcher Richtung, ob auf - wärts oder abwärts, der Klimax wohl eher entstanden sein möge, so hat die auf der Spitze desselben stehende Erzäh - lung des Markus so viel Schwieriges, daſs sie wohl kaum für die der Wahrheit nächste wird angesehen werden kön - nen. Denn nicht allein von Gegnern ist gefragt worden, wie denn das Dach habe aufgegraben werden können, oh - ne die darunter Befindlichen zu beschädigen10)Woolston, Disc. 4.? sondern9)Lightfoot, p. 601.91Neuntes Kapitel. §. 92.auch Olshausen räumt ein, daſs die Zerstörung der oberen, mit Ziegeln bedeckten Fläche etwas Abenteuerliches ha - be11)1, S. 310 f.. Diesem auszuweichen nehmen manche Erklärer an, Jesus habe entweder im inneren Hofe12)Köster, Immanuel, S. 166. Anm. 66., oder vor dem Hause13)So scheint es Paulus zu meinen, L. J. 1, a. S. 238. Anders ex. Handb. 1, b, S. 505. unter freiem Himmel gelehrt, und die Träger ha - ben nur von der Brustwehr des Daches ein Stück heraus - gebrochen, um den Kranken bequemer herunterlassen zu können. Allein sowohl die Bezeichnung: διὰ τῶν κεράμων bei Lukas, als die Ausdrücke des Markus machen diese Auffassung unmöglich, indem hier weder ςέγη Brustwehr des Dachs, noch ἀποςεγάζω das Durchbrechen von dieser, ἐξορύττω aber doch nur das Aufgraben eines Loches be - deuten kann. Bleibt hiemit das Aufbrechen des oberen Dachbodens, so wird dieſs auch noch deſswegen unwahr - scheinlich, weil es bei der in jedem Dache befindlichen Thüre völlig überflüssig war. Daher hat man sich durch die Annahme zu helfen gesucht, daſs die Träger zwar die im Dache schon vorher befindliche Thüre benüzt, diese aber, weil sie für die Lagerstatt des Kranken zu eng ge - wesen, durch Wegbrechen der umgebenden Ziegellagen er - weitert haben14)So Lightfoot, Ruinöl, Olshausen z. d. St.; allein auch hiebei bleibt das Gefährli - che, und die Worte lauten von einer eigens gemachten, nicht blos erweiterten Öffnung im Dache.
So gefährlich und überflüssig aber ein solches Begin - nen in der Wirklichkeit war, so leicht läſst sich erklären, wie Markus, in weiterer Ausmalung des Berichtes von Lukas begriffen, auf diesen Zug verfallen konnte. Lukas hatte gesagt, man habe den Kranken hinabgelassen, so daſs er ἔμπροσϑεν τοῦἸησοῦ herunterkam. Wie konnten die Leute ge -92Zweiter Abschnitt.rade diese Stelle treffen, fragte sich Markus, wenn Jesus nicht zufällig unter der Thüre des Daches stand, als da - durch, daſs sie das Dach in der Gegend, unter welcher sie Jesum befindlich wuſsten, aufbrachen, (ἀπεςέγασαν τὴν ςέγην ὅπου ἦν15)s. Fritzsche, in Marc. S. 52.? ein Zug, den Markus um so lieber aufnahm, weil er den keine Mühe scheuenden Eifer, wel - chen das Zutrauen zu Jesu den Leuten einflöſste, in das stärkste Licht zu setzen geeignet war. Aber eben aus dem lezteren Interesse scheint auch schon die Abweichung des Lukas von Matthäus hervorgegangen zu sein. Bei Mat - thäus nämlich, der die Träger den Paralytischen auf dem gewöhnlichen Wege zu Jesu bringen läſst, indem er ohne Zweifel das mühselige Herbeischleppen des Kranken auf seinem Lager für sich schon als Probe ihres Glaubens an - sah, tritt es doch minder bestimmt hervor, worin Jesus ihre πίςις gesehen haben soll. Wurde nun die Geschichte ursprünglich so, wie sie im ersten Evangelium lautet, vor - getragen, so konnte leicht der Reiz entstehen, ein mehr hervortretendes Zeichen ihres Zutrauens für die Träger ausfindig zu machen, welches, sofern man die Scene zu - gleich in groſsem Volksgedränge vor sich gehen lieſs, am angemessensten in dem ungewöhnlichen Wege bestanden zu haben scheinen konnte, welchen die Leute einschlugen, um ihren Kranken zu Jesu zu bringen.
Doch auch die Darstellung des Matthäus können wir nicht für treuen Bericht von einem Faktum halten. Man hat zwar den Erfolg dadurch als einen natürlichen darzu - stellen gesucht, daſs man den Zustand des Kranken nur für Nervenschwäche erklärte, bei welcher das Schlimmste die Einbildung des Kranken, sein Übel müsse als Sünden - strafe fortdauern, gewesen sei16)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 498. 501.; man hat sich auf ana - loge Fälle schneller psychischer Heilung von Lähmungen93Neuntes Kapitel. §. 93.berufen17)Bengel, Gnomon, 1, S. 245. ed. 2. Paulus, S. 502, nimmt auch hier wieder ein offenbares Mährchen aus Livius 2, 36, als natürlich erklärbare Geschichte., und eine länger fortgesezte Nachkur ange - nommen18)Paulus, a. a. O. S. 501.; allein das Erste und Lezte ist reine Will - kühr; wenn aber an den angeblichen Analogieen auch et - was Wahres sein sollte, so ist es doch immerhin ohne Vergleichung leichter möglich gewesen, daſs Heilungsge - schichten von χωλοῖς und παραλυτικοῖς den messianischen Erwartungen gemäſs sich in der Sage bilden, als daſs sie wirklich erfolgen konnten. In der schon angeführten Stelle des Jesaias nämlich, 35, 6, war von der messianischen Zeit auch verheiſsen: τότε ἁλεῖται ὡς ἐλαφος ὁ χωλὸς, und in demselben Zusammenhang, V. 3., war den γόνατα πα - ραλελυμένα ein ἰσχύσατε zugerufen, was, wie die übrigen damit zusammenhängenden Züge, später eigentlich verstan - den und als Wunderleistung vom Messias erwartet worden sein muſs, da sich, wie schon erwähnt, Jesus, zum Be - weis, daſs er der ἐρχόμενος sei, auch darauf, daſs χωλοὶ περιπατοῦσι, berief.
Etlichemale in ihren allgemeinen Angaben über die hei - lende Thätigkeit Jesu bemerken die Synoptiker, daſs Kranke aller Art Jesum nur zu berühren, oder am Saum seines Kleides zu fassen gesucht haben, um geheilt zu werden, was dann auf die Berührung hin auch wirklich erfolgt sei (Matth. 14, 36. Marc. 3, 10. 6, 56. Luc. 6, 19.). Hier wirkte also Jesus nicht, wie wir es bis jezt immer gefun - den haben, mit bestimmter Richtung auf einzelne Kranke, sondern, ohne daſs er von jedem besondre Notiz nehmen konnte, auf ganze Massen; sein Vermögen zu heilen er - scheint hier nicht, wie sonst, an seinen Willen, sondern94Zweiter Abschnitt.an seinen Leib und dessen Umhüllungen gebunden; er spendet nicht selbstthätig Kräfte aus, sondern muſs sich dieselben unwillkührlich abgewinnen lassen.
Auch von dieser Gattung der Heilungswunder ist uns ein detaillirtes Beispiel aufbehalten, in der Geschichte von der blutflüssigen Frau, welche sämmtliche Synoptiker wie - dergeben, und sie auf eigenthümliche Weise mit der Ge - schichte von der Auferweckung der Tochter des Jairus so verflechten, daſs auf dem Hinweg zu dessen Hause Jesus die Frau geheilt haben soll (Matth. 9, 20 ff. Marc. 5, 25 ff. Luc. 8, 43 ff.). Vergleichen wir die Darstellung des Vorgangs bei den verschiedenen Evangelisten, so könn - ten wir dieſsmal versucht sein, die des Lukas für die ur - sprüngliche zu halten, weil aus ihr die gleichmäſsige Ver - bindung der bezeichneten zwei Geschichten sich vielleicht erklären lieſse. Wie nämlich die Leidenszeit der Frau von sämmtlichen Referenten, so wird von Lukas, welchem Markus folgt, auch das Lebensalter des Mädchens auf zwölf Jahre gesezt, eine Gleichheit der Zahl, welche wohl im Stande gewesen könnte, die beiden Geschichten in der evangelischen Überlieferung zusammenzugesellen. Doch die - ses Moment steht viel zu vereinzelt, um für sich eine Ent - scheidung herbeizuführen, welche nur aus einer durchge - führten Vergleichung der drei Berichte nach ihren einzel - nen Zügen hervorgehen kann. Matthäus nun bezeichnet die Frau einfach als γυνὴ αἱμοῤῥοοῦσα δώδεκα ἔτη, was ei - nen so lange andauernden starken Blutverlust, vermuth - lich in Form zu reichlicher Menstruation, bedeutet. Lu - kas, der angebliche Arzt, zeigt sich hier seinen Kunstver - wandten keineswegs hold, sondern sezt hinzu, die Frau habe ihr ganzes Vermögen an Ärzte gewendet, ohne daſs diese ihr hätten helfen können. Markus, noch ungünsti - ger, fügt bei, daſs sie von den vielen Ärzten viel habe leiden müssen, und daſs es durch dieselben, statt besser, vielmehr schlimmer mit ihr geworden sei. Die Umgebung95Neuntes Kapitel. §. 93.Jesu, als die Frau zu ihm tritt, bilden nach Matthäus seine Jünger, nach Markus und Lukas drängende Volks - massen. Nachdem nun alle drei Berichterstatter erzählt haben, wie die Frau, ebenso schüchtern als vertrauens - voll, von hinten herzugetreten sei und den Saum von Jesu Gewand berührt habe, melden Markus und Lukas, sie sei alsbald geheilt worden, Jesus aber habe das Ausgehen ei - ner Kraft gefühlt und gefragt, wer ihn berührt habe? Als die Jünger befremdet erwiedern, wie er denn bei so all - gemeinem Drängen und Drücken des Volks eine einzelne Berührung habe unterscheiden können? beharrt er nach Lukas auf seiner Behauptung, nach Markus blickt er su - chend um sich, die Thäterin ausfindig zu machen. Auf dieses kommt nach beiden die Frau zitternd herbei, fällt ihm zu Füſsen und bekennt Alles, worauf er ihr die be - ruhigende Versicherung giebt, daſs ihr Glaube ihr gehol - fen habe. Diesen complicirten Hergang hat Matthäus nicht, sondern läſst nach der Berührung Jesum sich umschauen, die Frau entdecken, ihr die Rettung durch ihren Glauben verkündigen, und sofort ihre Heilung erfolgen.
Die vorgelegte Differenz ist so erheblich, daſs man sich nicht zu sehr wundern darf, wenn Storr zwei ver - schiedene Heilungen blutflüssiger Frauen annehmen woll - te1)Über den Zweck der evang. Gesch. und der Br. Joh. S. 351 f.. Wurde er aber hiezu noch mehr durch die bedeu - tenderen Abweichungen bestimmt, welche in der mit vor - liegender Heilungsgeschichte verflochtenen Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Jairus sich finden: so wird es eben durch diese Verflechtung vollends unmöglich, sich vorzustellen, daſs Jesus zweimal, beidemale im Hin - weg zur Wiederbelebung der Tochter eines jüdischen ἄρ - χων, eine zwölf Jahre lang mit dem Blutfluſs behaftete Frau geheilt haben solle. Wenn in Betracht dessen die Kritik längst für die Einheit der faktischen Grundlage un -96Zweiter Abschnitt.serer drei Erzählungen sich entschieden hat, so hat sie zugleich den Berichten des Markus und Lukas, ihrer grös - seren Anschaulichkeit wegen, den Vorzug gegeben2)Schulz, a. a. O. S. 317; Olshausen, 1, S. 322.. Al - lein, gleich von vorne, wenn doch von Markus Jeder zu - geben wird, daſs sein Zusaz: ἀλλὰ μᾶλλον εἰς τὸ χεῖ - ρον ἐλϑοῦσα, als Ausmalung des οὐκ ἴσχυσεν ὑπ̕ οὐδενὸς ϑε - ραπευϑῆναι bei Lukas, auf seine eigene Rechnung kommt: so scheint dieser Zug bei Lukas gleichfalls nur eine selbst - erschlossene Ergänzung des αἱμοῤῥοοῦσα δώδεκα ἔτη zu sein, welches Matthäus ohne Zusaz wiedergiebt. War die Frau so lange krank, dachte man, so wird sie in dieser Zeit viel mit Ärzten zu thun gehabt haben, und weil zugleich im Contrast gegen die Ärzte, welche nichts ausgerichtet hatten, die Wundermacht Jesu, welche augenblicklich Hülfe schaffte, in um so glänzenderem Lichte erschien: so bildeten sich in der Sage oder bei den Referenten jene Zusätze. Wie nun, wenn es mit den übrigen Differenzen sich ebenso verhielte? Daſs die Frau auch nach Matthäus Jesum nur von hinten berührte, drückte das Bestreben und die Hoffnung aus, verborgen zu bleiben; daſs Jesus sich sogleich nach ihr umsah, darin lag, daſs er ihre Berüh - rung gefühlt haben muſste. Jene Hoffnung der Frau wurde erklärlicher und dieses Gefühl Jesu um so wundervoller, je mehr Menschen Jesum umgaben und drängten: daher wurde aus dem Geleite der μαϑηταὶ bei Matthäus von den beiden andern ein συνϑλίβεσϑαι durch die ὄχλοι gemacht. Da zugleich in dem auch von Matthäus erwähnten Um - schauen Jesu nach der Berührung die Voraussetzung lag, daſs er diese auf eigenthümliche Weise empfunden habe, so bildete sich weiterhin die Scene aus, wie Jesus, ob - gleich von allen Seiten gedrängt, doch jene einzelne Be - rührung an der Kraft, die sie ihm entlockte, herausfühlt, und so wurde das einfache ἐπιςραφεὶς καὶ ἰδὼν αὐτὴν des97Neuntes Kapitel. §. 93.Matthäus zu einem fragenden und die Thäterin aus der Menge heraussuchenden Sichumwenden, welches das Ge - ständniſs der Frau zur Folge hatte, umgebildet. Endlich, weil als das Eigenthümliche dieser Heilungsgeschichte, auch nach ihrer Gestalt im ersten Evangelium, das Ausgehen ei - ner Heilkraft aus Jesu noch ehe er die hülfesuchende Per - son gesehen hatte, sich bemerklich macht: so bestrebte man sich bei'm Weitererzählen der Geschichte immer mehr, unmittelbar nach der Berührung den Erfolg eintreten, und Jesum auch nach demselben noch längere Zeit über die Thäterin in Ungewiſsheit sein zu lassen (Lezteres im Wi - derspruch mit der sonstigen Voraussetzung eines höheren Wissens Jesu); so daſs sich von allen Seiten die Erzäh - lung des ersten Evangeliums als die frühere und einfachere, die der beiden andern als spätere und ausgeschmücktere Formation der Sage zu erkennen giebt.
Was nun den gemeinschaftlichen Inhalt der Erzählungen betrifft, so ist in neuerer Zeit beiden, orthodoxen wie ra - tionalistischen Theologen das Unwillkührliche des heilenden Einwirkens Jesu ein Anstoſs gewesen. Gar zu sehr — hierin stimmen Paulus und Olshausen zusammen3)ex. Handb. 1, b, S. 524 f.; bibl. Comm. 1, S. 324 f.; vgl. Köster, Immanuel, S. 201 ff. — werde hiedurch die Wirksamkeit Jesu in das Gebiet des Physi - schen herabgezogen; Jesus erscheine da wie ein Magne - tiseur, welcher bei der heilenden Berührung nervenschwa - cher Personen einen Abgang an Kraft verspürt; wie eine geladene elektrische Batterie, die bei'm Betasten sich ent - ladet. Eine solche Vorstellung von Christo, meint Ols - hausen, verbiete das christliche Bewuſstsein, welches sich vielmehr genöthigt finde, die in Jesu wohnende Kraftfülle als durchaus beherrscht durch seinen Willen, und diesen geleitet durch das Bewuſstsein von dem sittlichen Zustande der zu heilenden Personen, sich zu denken. DeſswegenDas Leben Jesu II. Band. 798Zweiter Abschnitt.wird nun vorausgesezt, Jesus habe die Frau auch ungese - hen wohl erkannt, und mit Rücksicht auf ihre Fähigkeit, durch diese leibliche Hülfe auch geistig gewonnen zu wer - den, seine heilende Kraft wohlbedacht in sie ausströmen lassen, sich aber, um ihre falsche Scham zu brechen und sie zum offenen Bekenntniſs zu treiben, gestellt, als ob er nicht wüſste, wer ihn berührt habe. Allein das christliche Bewuſstsein, d. h. in dergleichen Fällen nichts Anderes, als die fortgeschrittene religiöse Bildung unsrer Zeit, wel - che die alterthümlichen Vorstellungen der Bibel nicht zu den ihrigen machen will, hat zu schweigen, wo es eben nicht auf dogmatische Aneignung, sondern rein auf exege - tische Ermittlung der biblischen Vorstellungen ankommt. Wie von der Einmischung dieses angeblich christlichen Be - wuſstseins alle Verirrungen der Exegese herrühren, so hat es auch hier den genannten Ausleger von dem offenbaren Sinn der Berichte abgeführt. Denn nicht nur lautet in den beiden ausführlicheren Erzählungen die Frage Jesu: τίς μου ἥψατο; in der Art, wie er sie bei Lukas wieder - holt und bei Markus durch ein suchendes Umherblicken bekräftigt, durchaus als eine ernstlich gemeinte, wie ja überhaupt die Bemühung dieser beiden Evangelisten dahin geht, das Wunderbare an der Heilkraft Jesu dadurch in ein besonders helles Licht zu setzen, daſs durch bloſse glaubige Berührung seines Gewandes, ohne daſs er die be - rührende Person erst zu kennen, oder ein Wort zu ihr zu spre - chen brauchte, Heilung von ihm zu erlangen gewesen sei: sondern auch ursprünglich schon in der kürzeren Darstel - lung des Matthäus liegt in dem προσελϑοῦσα ὄπισϑεν ἥψα - το und ἐπιςραφεὶς ἰδὼν αὐτὴν deutlich dieſs, daſs Jesus erst nachträglich die Frau kennen gelernt habe, nachdem bereits die heilende Kraft in sie ausgeströmt war. Läſst sich somit eine der Heilung vorausgegangene Kenntniſs der Frau und ein specieller Wille, ihr zu helfen, bei Jesu nicht nachweisen, so bliebe für denjenigen, welcher keine un -99Neuntes Kapitel. §. 93.willkührliche Äusserung der Heilkraft Jesu annehmen will, nur übrig, einen beständigen allgemeinen Willen, zu heilen, in ihm vorauszusetzen, mit welchem dann nur der Glau - be im Kranken zusammentreffen durfte, um die wirkliche Heilung hervorzubringen. Allein daſs, unerachtet eine specielle Willensrichtung auf die Heilung dieser Frau in Jesu nicht vorhanden war, sie durch ihren bloſsen Glauben, auch oh - ne Berührung seines Kleides gesund geworden wäre, ist gewiſs nicht die Vorstellung der Evangelisten, sondern es tritt hier an die Stelle des individuellen Willensaktes von Seiten Jesu die Berührung von Seiten des Kranken; diese ist es, welche statt des ersteren die in Jesu ruhende Kraft zur Äusserung bringt: so daſs mithin das Materialistische der Vorstellung auf diesem Wege nicht zu vermeiden ist.
Einen Schritt weiter muſs die rationalistische Ausle - gung gehen, welcher nicht bloſs, wie dem modernen Su - pranaturalismus, ein unbewuſstes, sondern überhaupt das Ausgehen heilender Kräfte von Jesu unglaublich ist, wel - che aber doch die Evangelisten geschichtlich wahr erzäh - len lassen will. Nach ihr wurde Jesus zu der Frage, wer ihn berührt habe, lediglich dadurch veranlaſst, daſs er sich im Vorwärtsgehen aufgehalten fühlte; daſs die Empfindung einer δύναμις ἐξελϑοῦσα die Veranlassung gewesen sei, is - bloſser Schluſs zweier Referenten, von welchen der eine Markus, es auch bloſs als eigene Bemerkung giebt, und nur Lukas es der Frage Jesu einverleibt; die Genesung der Frau wurde durch ihr exaltirtes Zutrauen bewirkt, vermöge dessen sie bei der Berührung des Saumes Jesu in allen Nerven zusammenschauderte, wodurch vielleicht eine plözli - che Zusammenziehung der erweiterten Blutgefäſse herbei - geführt wurde; übrigens konnte sie im Augenblick nur meinen, nicht gewiſs wissen, geheilt zu sein, und erst nach und nach, vielleicht in Folge des Gebrauchs von Mit - teln, die ihr Jesus anrieth, wird das Übel sich völlig ver -7 *100Zweiter Abschnitt.loren haben4)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 524 f. 530; L. J. 1, a, S. 244 f.; Venturini, 2, S. 204 ff. ; Köster a. a. O.. Allein wer wird sich die schüchterne Be - rührung einer kranken Frau, deren Absicht war, verbor - gen zu bleiben, und deren Glaube auch durch das leiseste Anstreifen Heilung zu erlangen gewiſs war, als ein Anfas - sen, das Jesum im Gehen aufhielt, vorstellen? was für ein mächtiges Vertrauen ferner auf die Macht des Vertrauens gehört zu der Annahme, daſs es ohne Hinzutritt einer rea - len Kraft von Seiten Jesu einen zwölfjährigen Blutfluſs geheilt oder auch nur gemindert habe? endlich aber, wenn die Evangelisten einen selbstgemachten Schluſs (daſs eine Kraft von ihm ausgegangen) Jesu in den Mund gelegt, und eine nur successiv eingetretene Wiederherstellung als eine momentane beschrieben haben sollen: so fällt mit dem Auf - geben dieser Züge die Bürgschaft für die historische Rea - lität der ganzen Erzählung, aber ebendamit auch die Ver - anlassung hinweg, sich mit der natürlichen Erklärung ver - gebliche Mühe zu machen.
In der That auch, betrachten wir nur die vorliegende Erzählung etwas näher, und vergleichen sie mit verwand - ten Anekdoten, so können wir über ihren eigentlichen Cha - rakter nicht im Zweifel bleiben. Wie hier und an eini - gen andern Stellen von Jesu erzählt wird, daſs durch blo - se Berührung seines Kleides Kranke genesen seien: so be - richtet die Apostelgeschichte, daſs die σουδάρια und σιμι - κίνϑια des Paulus, wenn man sie auflegte (19, 11 f.), und von Petrus selbst der Schatten, wenn er auf einen fiel (5, 15.), Kranke aller Art gesund gemacht habe, und apo - kryphische Evangelien lassen durch die Windeln und das Waschwasser des Kindes Jesu eine Masse von Kuren ver - richtet werden5)s. das Evangelium infantiae arabicum.. Von diesen lezteren Geschichten weiſs Jedermann, daſs er sich mit denselben auf dem Gebiet der101Neuntes Kapitel. §. 93.Sage und Legende befindet; aber wodurch sollen sich von diesen Kuren durch die Windeln Jesu die Heilungen durch die Schweiſstücher Pauli unterscheiden, als etwa dadurch, daſs jene von einem Kinde, diese von einem Erwachsenen ausgehen? Gewiſs, stände die leztere Nachricht nicht in einem kanonischen Buche, so würde sie Jedermann für fa - belhaft halten: und doch soll die Glaubwürdigkeit der Er - zählungen nicht aus dem vorausgesezten Ursprung des Buchs, das sie enthält, sondern die Ansicht von dem Buche muſs aus der Beschaffenheit seiner einzelnen Erzählungen er - schlossen werden. Zwischen diesen Heilungen durch die Schweiſstücher aber und denen durch die Berührung des Saums am Kleide findet wieder kein wesentlicher Unter - schied statt. Beidemale eine Berührung von Gegenständen, welche nur in äusserem Zusammenhang mit dem Wunder - thäter stehen; nur daſs dieser Zusammenhang bei den abgelegten Schweiſstüchern ein unterbrochener, bei dem Gewande noch ein fortdauernder ist; beidemale aber werden Erfolge, welche doch auch der orthodoxe Stand - punkt nur aus dem geistigen Wesen jener Männer ablei - ten, und als Akte ihres mit dem göttlichen einigen Willens betrachten kann, zu physischen Wirkungen und Ausflüs - sen gemacht. Steigt hiemit die Sache vom religiösen und theologischen Standpunkt auf den natürlichen und physi - kalischen herunter, weil ein Mensch mit einer solchen sei - nem Körper inwohnenden und ihn als Atmosphäre umflies - senden Heilkraft zu den Gegenständen der Naturkunde, nicht mehr der Religion, gehören würde: so findet sich die Naturwissenschaft ausser Stands, eine solche Heilkraft durch sichere Analogieen oder klare Begriffe festzustellen, und es fallen also jene Heilungen, vom objektiven Gebiet auf das subjektive vertrieben, der Psychologie zur Begutach - tung anheim. Diese wird nun allerdings, wenn sie die Macht der Einbildung und des Glaubens in Rechnung nimmt, für möglich erachten, daſs ohne eine wirkliche102Zweiter Abschnitt.Heikraft in dem vermeintlichen Wunderthäter, einzig durch das überschwengliche Zutrauen des Kranken zu demsel - ben, körperliche Leiden, welche mit dem Nervensystem in engerem Zusammenhang stehen, geheilt werden können: wenn nun aber die Psychologie geschichtliche Belege hie - für aufsucht, so wird die Kritik, welche sie hiebei zu Hül - fe zu nehmen hat, bald finden, daſs eine weit gröſsere Zahl von dergleichen Kuren durch den Glauben Anderer erdich - tet, als durch den angeblich dabei Betheiligter verrichtet worden ist. So wäre es zwar keineswegs an sich un - möglich, daſs durch den starken Glauben an eine selbst den Kleidern und Tüchern Jesu und der Apostel inwoh - nende Heilkraft manche Kranke bei Berührung derselben wirklich Besserung verspürt hätten: aber mindestens eben - sogut läſst sich denken, daſs man erst später, als nach dem Tode jener Männer ihr Ansehen in der Gemeinde im - mer höher stieg, dergleichen sich glaubig erzählt habe, und es kommt auf die Beschaffenheit der Berichte hierüber an, für welche von beiden Annahmen man sich zu entscheiden hat. An den allgemeinen Angaben nun in den Evangelien und der A. G., welche ganze Massen auf jene Weise ku - rirt werden lassen, ist eben diese Häufung jedenfalls tra - ditionell; die detaillirte Geschichte aber, welche wir bis - her untersucht haben, hat darin, daſs sie die Frau ganze zwölf Jahre lang an einer sehr hartnäckigen und am we - nigsten blos psychisch zu heilenden Krankheit leiden, und die Heilung, statt durch die Einbildung der Kranken, durch eine Jesu fühlbar entströmte Kraft vor sich gehen läſst, so viel Mythisches, daſs wir eine historische Grundlage gar nicht mehr herausfinden können, und das Ganze als Sage betrachten müssen.
Was diesem Zweige der evangelischen Wundersage im Unterschied von andern sein Dasein gegeben hat, ist nicht schwer zu sehen. Der sinnliche Glaube des Volks, unfä - hig, das Göttliche mit dem Gedanken zu ergreifen, strebt,103Neuntes Kapitel. §. 94.es immer mehr in das materielle Sein herabzuziehen. Da - her muſste nach der späteren Meinung der heilige Mann als Knochenreliquie Wunder thun, Christi Leib in der ver - wandelten Hostie gegenwärtig sein, und ebendaher auch nach einer schon frühe ausgebildeten Vorstellung die Heil - kraft der neutestamentlichen Männer an ihrem Leib und dessen Bedeckungen haften. Je weniger man Jesu Worte faſste, desto mehr hielt man auf das Fassen seines Man - tels, und je mehr man sich von der freien Geisteskraft des Apostels Paulus entfernte, desto getroster lieſs man seine Heilkraft im Schweiſstuch nach Hause tragen.
Von jenen unwillkührlichen Heilungen sind nun sol - che, welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigent - lich das gerade Gegentheil. Geschehen jene durch bloſse körperliche Berührung, ohne besondern Willensakt: so er - folgen diese durch den bloſsen Willensakt ohne leibliche Berührung oder auch nur räumliche Nähe. Zugleich aber muſs man sagen: war die Heilkraft Jesu so materiell, daſs sie bei der bloſsen leiblichen Berührung unwillkührlich sich entlud, so kann sie nicht so geistig gewesen sein, daſs der bloſse Wille sie auch über bedeutende Entfernungen hin - übergetragen hätte; war sie aber so geistig, um auch oh - ne leibliche Gegenwart zu wirken, so kann sie nicht so materiell gewesen sein, um ohne Willen sich zu entladen. Da wir nun jene reinphysische Wirkungsweise Jesu be - zweifelt haben: so bliebe uns für diese geistige freier Raum, und die Entscheidung über dieselbe wird also rein von der Untersuchung der Berichte und der Sache selber abhängen.
Als Proben einer solchen in die Ferne wirkenden Heil - kraft Jesu berichten uns Matthäus und Lukas die Heilung des kranken Knechts eines Hauptmanns zu Kapernaum, Johannes die des kranken Sohns eines βασιλικὸς ebenda -104Zweiter Abschnitt.selbst (Matth. 8, 5 ff. Luc. 7, 1 ff. Joh. 4, 46 ff. ); ferner Matthäus (15, 22 ff. ) und Markus (7, 25 ff. ) die Heilung der Tochter des kananäischen Weibes, wovon, da die leztere in der summarischen Relation nichts Eigenthümliches hat, nur die ersteren beiden hier zu untersuchen sind. Die gewöhnliche Ansicht nämlich über die bezeichneten Erzäh - lungen ist die, daſs zwar Matthäus und Lukas dasselbe, Johannes aber ein von diesem verschiedenes Faktum mel - de, da sein Bericht von dem der beiden andern in folgen - den Zügen abweiche: 1) der Ort, von wo aus Jesus hei - le, sei bei den Synoptikern der Aufenthaltsort des Kran - ken, Kapernaum, nach Johannes ein davon verschiedener, nämlich Kana; 2) die Zeit, in welche die Synoptiker die Begebenheit setzen, nämlich beide unmittelbar hinter die Heimkehr Jesu nach der Bergrede, sei von der im vierten Evangelium angegebenen, ebenso unmittelbar nach der Rück - kehr Jesu vom ersten Pascha und seiner Wirksamkeit in Samaria, verschieden; 3) der Kranke sei nach jenen der Sklave, nach diesem der Sohn des Bittstellers; die wich - tigsten Abweichungen aber finden 4) in Hinsicht des Bitt - stellers selber statt, indem er im ersten und dritten Evan - gelium eine Militärperson (ein ἑκατόνταρχος), im vierten ein Hofbeamter (βασιλικὸς), nach jenen (laut V. 10 ff. bei Matth.) ein Heide, nach diesem ohne Zweifel als Jude zu denken sei; hauptsächlich aber werde er nach den Synop - tikern von Jesu als Muster des innigsten, demüthigsten Glaubens belobt, weil er ja Jesum in der Zuversicht, daſs er auch aus der Ferne heilen könne, verhinderte, in sein Haus zu gehen: nach Johannes dagegen werde er umge - kehrt, weil er die Gegenwart Jesu in seinem Hause zum Behuf der Heilung für nöthig hielt, wegen seines schwa - chen, der σημεῖα und τέρατα bedürftigen Glaubens geta - delt1)s. die Ausführungen von Paulus, Lücke, Tholuck und Ols - hausen z. d. St..
105Neuntes Kapitel. §. 94.Diese Abweichungen sind allerdings bedeutend genug, um von einem gewissen Gesichtspunkt aus um ihretwillen auf der Verschiedenheit des dem synoptischen und des dem johanneischen Berichte zum Grunde liegenden Faktischen zu beharren: nur sollte man, wenn man es von dieser Seite so genau nimmt, sich über die Abweichungen, welche auch zwischen den beiden synoptischen Berichten stattfinden, nicht verblenden. Schon in Bezeichnung der Person des Leidenden stimmen sie nicht ganz zusammen: Lukas heiſst ihn einen δοῦλος ἔντιμος des Hauptmanns, bei Matthäus nennt dieser ihn ὁ παῖς μου, was ebensowohl einen Sohn als einen Diener bedeuten kann, und dadurch, daſs der Hauptmann V. 9, wo er von seinem Knechte spricht, den Ausdruck: δοῦλος gebraucht, während der Geheilte V. 13. wieder als ὁ παῖς αὐτοῦ bezeichnet wird, eher im ersteren Sinne erklärt zu sein scheint. In Betreff seines Leidens wird der Mensch von Matthäus als ein παραλυτικὸς δει - νῶς βασανιζόμενος geschildert, von welcher Krankheitsform Lukas nicht allein schweigt, sondern, indem er zu dem unbe - stimmten: κακῶς ἔχων noch ἤμελλε τελευτᾷν sezt, Manchen eine andere Krankheit vorauszusetzen scheint, da die Pa - ralyse sonst nicht als schnell tödtende Krankheit vor - komme2)Schleiermacher, über den Lukas, S. 92.. Als die bedeutendste Differenz aber geht durch die ganze Erzählung diese hindurch, daſs Alles, was nach Matthäus der Centurio unmittelbar selbst thut, bei Lukas durch Gesandtschaften vermittelt ist, indem er hier zuerst schon, nicht wie bei Matthäus persönlich, sondern durch die πρεσβυτέρους τῶν Ἰουδαίων Jesum um die Heilung ersucht, dann aber von dem Betreten seines Hauses ihn wiederum nicht selbst zurückhält, sondern durch einige Freunde ab - mahnen läſst. Zur Ausgleichung dieser Differenz pflegt man sich auf die Regel: quod quis per alium facit etc. zu be -106Zweiter Abschnitt.rufen3)Augustin, de consens. evang. 1, 20; Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 709; Köster, Immanuel, S. 63.. Soll damit, wie es auf dem Standpunkt der so urtheilenden Erklärer nicht anders denkbar ist, gesagt sein, Matthäus habe wohl gewuſst, daſs zwischen dem Hauptmann und Jesu Alles durch Mittelspersonen verhan - delt worden sei, dennoch aber habe er der Kürze wegen mittelst jener Redefigur ihn selbst mit Jesu sprechen las - sen: so hat Storr vollkommen recht mit der Gegenbemer - kung, daſs wohl schwerlich irgend ein Geschichtschreiber jene Metonymie so beharrlich durch eine ganze Erzählung hindurchführen würde, und zwar in einem Falle, wo ei - nerseits die Redefigur sich keineswegs so von selbst verrathe, wie z. B. wenn einem Feldherrn zugeschrieben wird, was seine Soldaten thun, und wo andrerseits gerade auf den Um - stand, ob die Person selbst oder durch Andere gehandelt habe, zur vollen Erkennbarkeit ihres Charakters etwas an - komme4)Über den Zweck u. s. f. S. 351.. Mit löblicher Consequenz hat daher Storr, wie er der bedeutenden Differenzen wegen die Erzählung des vierten Evangeliums auf ein anderes Faktum beziehen zu müssen glaubte, als die des ersten und dritten, ebenso um der Abweichungen willen, welche er zwischen den Berich - ten der lezteren beiden fand, auch diese für Erzählungen zweier verschiedenen Begebenheiten erklärt. Wundert man sich, daſs zu drei verschiedenen Malen ein so ganz ähnli - cher Heilungsfall an dem gleichen Orte vorgekommen sein soll (denn auch nach Johannes lag und genas der Kranke in Kapernaum): so verwundert sich Storr seinerseits, wie man im Mindesten unwahrscheinlich finden könne, daſs in Kapernaum zu verschiedenen Zeiten zwei Hauptleute einen kranken Knecht, und wieder ein andermal ein Hofbeamter einen kranken Sohn gehabt, daſs der zweite Hauptmann (des Lukas) von der Geschichte des ersten gehört, sich auf107Neuntes Kapitel. §. 94.ähnliche Art an Jesum gewendet, und sein Beispiel ebenso durch Demuth zu übertreffen gesucht habe, wie der erste Hauptmann (Matth.), dem die frühere Geschichte des Hof - manns (Joh.) bekannt gewesen sei, das schwache Vertrauen dieses lezteren habe übertreffen wollen, und daſs endlich Jesus alle drei Patienten auf dieselbe Weise aus der Ferne geheilt habe. Allein der Vorfall, daſs ein vornehmer Be - amter von Kapernaum Jesum um die Heilung eines Ange - hörigen bat, und Jesus aus der Entfernung so auf diesen einwirkte, daſs um dieselbe Zeit, da Jesus das heilende Wort sprach, der Kranke zu Hause genas, ist so einzig in seiner Art, daſs eine dreimalige Wiederholung dessel - ben unmöglich angenommen werden kann, und auch schon eine bloſs zweimalige Schwierigkeiten hat; weſswegen der Versuch gemacht werden muſs, ob nicht die drei Berichte auf Eine Grundlage zurückgeführt werden können.
Hier ist nun die am allgemeinsten für verschiedenartig gehaltene Erzählung des vierten Evangelisten nicht allein in den schon angegebenen Grundzügen der synoptischen verwandt, sondern in manchen bemerkenswerthen Einzel - heiten stimmt einer oder der andere der beiden synopti - schen Referenten genauer mit Johannes zusammen als mit dem andern Synoptiker. So, während in dem Zuge, daſs er den Kranken als παῖς bezeichnet, Matthäus mindestens ebensowohl mit dem johanneischen υἱὸς übereinstimmend gefunden werden kann, als mit dem δοῦλος des Lukas, tref - fen Matthäus und Johannes darin entschieden zusammen, daſs nach beiden der kapernaitische Beamte sich unmittel - bar an Jesum selber wendet, und nicht, wie bei Lukas, durch Vermittler. Dagegen stimmt der johanneische Be - richt mit dem des Lukas gegen den Matthäus in der Be - schreibung des Zustandes überein, in welchem der Lei - dende sich befunden haben soll: beide wissen nichts von der παράλυσις, von welcher Matthäus spricht, sondern be - zeichnen den Kranken als dem Tode nahe, Lukas durch108Zweiter Abschnitt.ἤμελλε τελευτᾷν, Johannes durch ἤμελλεν ἀποϑνήσκειν, wozu der leztere V. 52 nachträglich bemerkt, daſs die Krankheit von einem πυρετὸς begleitet gewesen. In Dar - stellung der Art, wie Jesus die Heilung des Kranken voll - zog, und wie dessen Genesung erfolgte, steht Johannes wieder auf Seiten des Matthäus gegen den Lukas. Wäh - rend nämlich dieser eine ausdrückliche Versicherung Jesu, daſs der Knecht geheilt sei, gar nicht hat, lassen jene bei - den ihn sehr übereinstimmend zu dem Beamten sagen, der eine: ὕπαγε, καὶ ὡς ἐπίςευσας γενηϑήτω σοι, der andere: πορεύου, ὁ υἱός σου ζῇ, und auch der Schluſs des Matthäus: καὶ ἰάϑη ὁ παῖς αὐτοῦ ἐν τῇ ὥρᾳ ἐκείνῃ, stimmt wenigstens der Form nach mehr zu der johanneischen Angabe, bei ge - haltener Nachfrage habe der Vater gefunden, daſs ἐν ἐκείνῃ τῇ ὥρᾳ, in welcher Jesus jenes Wort gesprochen, sein Sohn gesund geworden sei, als zu der des Lukas, daſs die zurückgekehrten Boten den kranken Knecht gesund ange - troffen haben. In einem andern Punkte dieses Schlusses wendet sich nun aber die Zustimmung des Johannes von Matthäus wieder zu Lukas zurück. Bei beiden nämlich ist von einer Art von Gesandtschaft die Rede, welche zu - lezt noch aus dem Hause des Beamten tritt: bei Lukas eine Anzahl von Freunden des Hauptmanns, welche Jesum abhalten sollen, sich selbst zu bemühen; bei Johannes Knechte, welche jubelnd ihrem Herrn entgegenziehen und ihm die Kunde von der Genesung seines Sohnes bringen. Gewiſs, wo drei Erzählungen so durcheinander verschlun - gen sind, wie diese, darf man nicht bloſs zwei derselben für identisch erklären und eine als verschiedene stehen las - sen, sondern man muſs die drei Berichte entweder alle auseinander halten, oder alle zusammenwerfen, wie Lez - teres nach älteren Vorgängern Semler gethan5)s. bei Lücke, 1, S. 552., und Tho - luck wenigstens für möglich erklärt hat, es zu thun. Nur suchen solche Ausleger dann die Abweichungen der drei109Neuntes Kapitel. §. 94.Berichte so zu erklären, daſs keiner der Evangelisten et - was Falsches gesagt haben soll. Den Stand des Bittstel - lers betreffend sucht man den βασιλικὸς des Johannes zum Militärbeamten zu machen, wovon dann das ἑκατόνταρχος der beiden andern nur nähere Bestimmung wäre; was aber den Hauptpunkt, das Benehmen des Bittstellers, betrifft, so könnten, meint man, die verschiedenen Erzähler ver - schiedene Seiten der Sache in der Art hervorgehoben ha - ben, daſs Johannes nur das Frühere wiedergäbe, wie sich Jesus über die anfängliche Schwäche des Glaubens in dem Bittenden beklagte, die Synoptiker nur das Spätere, wie er seinen schnell gewachsenen Glauben belobte. Wie man auf noch leichtere Weise die Hauptdifferenz zwischen den beiden synoptischen Berichten, in Hinsicht der mittelbaren oder unmittelbaren Bittstellung, ausgleichen zu können meinte, ist bereits angegeben worden. Dieses Bestreben, die Widersprüche der drei Relationen auf gütlichem Wege auszugleichen, ist ein falsches. Es bleibt dabei: die Syn - optiker haben sich den Bittsteller als einen Centurio ge - dacht, der vierte Evangelist als einen Hofbeamten; jene als glaubensstark, dieser als der Stärkung noch bedürftig; Johannes und Matthäus stellten sich vor, er habe sich un - mittelbar, Lukas, er habe sich aus Bescheidenheit nur mit - telbar an Jesum gewendet6)Fritzsche, in Matth. p. 310: discrepat autem Lucas ita a Matthaei narratione, ut centurionem non ipsum venisse ad Jesum, sed per legatos cum eo egisse tradat; quibus dissi - dentibus pacem obtrudere, boni nego interpretis esse..
Wer stellt nun die Sache auf die rechte, und wer auf irrige Weise dar? Nehmen wir zuerst die beiden Synop - tiker für sich, so ist nur Eine Stimme der Erklärer, daſs Lukas die genauere Darstellung gebe. Schon das will man unwahrscheinlich finden, daſs der Kranke nach Matthäus ein Paralytischer gewesen sein sollte, da bei dem Ungefähr - lichen dieses Leidens der bescheidene Hauptmann schwer -110Zweiter Abschnitt.lich Jesum gleich bei'm Eintritt in die Stadt in Beschlag genommen haben würde7)Schlkiermacher, a. a. O. S. 92 f.: als ob ein sehr schmerzhaf - tes Übel, wie das von Matthäus beschriebene, nicht mög - lichst schnelle Abhülfe wünschenswerth machte, und als ob es ein unbescheidener Anspruch gewesen wäre, Je - sum noch vor seiner Nachhausekunft um ein heilendes Wort zu ersuchen. Vielmehr das umgekehrte Verhält - niſs zwischen Matthäus und Lukas wird durch die Be - merkung wahrscheinlich, daſs das Wunder und also auch das Übel des wunderbar Geheilten in der Überlieferung sich nie verkleinert, sondern stets vergröſsert, daher eher der arggeplagte Paralytische zum μέλλων τελευτᾷν gestei - gert, als dieser zu einem bloſs Leidenden herabgesezt wer - den mochte. Hauptsächlich aber die doppelte Gesandtschaft bei Lukas ist nach Schleiermacher etwas, das nicht leicht erdacht wird. Wie, wenn sich dieser Zug vielmehr sehr deutlich als einen erdachten zu erkennen gäbe? Während bei Matthäus der Hauptmann Jesum auf sein Erbieten, mit ihm gehen zu wollen, durch die Einwendung zurück - zuhalten sucht: κύριεοὐκ εἰμὶ ἱκανὸς, ἵνα μου ὑπὸ τὴν ςέγην εἰσέλϑῃς, läſst er bei Lukas durch die abgesandten Freunde noch hinzusetzen: διὸ οὐδὲ ἐμαυτὸν ἠξίωσα πρός σε ἐλϑεῖν, womit deutlich genug der Schluſs angegeben ist, auf wel - chem diese Gesandtschaft beruhte. Erklärte sich der Mann für unwürdig, daſs Jesus zu ihm komme, dachte man, so hat er wohl auch sich selbst nicht für würdig gehalten, zu Jesu zu kommen, eine Steigerung der Demuth des Mannes, durch welche sich auch hier der Bericht des Lukas als der secundäre zu erkennen giebt. Den ersten Anstoſs zu diesen Gesandtschaften scheint übrigens das andere Inter - esse gegeben zu haben, die Bereitwilligkeit Jesu, in des Heiden Haus zu gehen, durch eine vorgängige Empfehlung desselben zu motiviren. Das ist ja das Erste, was die πρεσβύτεροι τῶν Ἰουδαίων, nachdem sie Jesu den Krankheits -111Neuntes Kapitel. §. 94.fall berichtet, hinzusetzen, ὅτι ἄξιός ἐςιν ᾧ παρέξει τοῦτο· ἀγαπᾷ γὰρ τὸ ἔϑνος ἡμῶν κ. τ. λ., ähnlich, wie gleichfalls bei Lukas, in der A. G. 10, 22., die Boten des Cornelius dem Petrus, um ihn zu einem Gang in dessen Haus zu vermögen, auseinandersetzen, daſs er ein ἀνὴρ δίκαιος καὶ φοβου̍μενος τὸν ϑεὸν, μαρτυρου̍μενός τε ὑπὸ ὅλουτοῦἔϑνους τῶν Ἰουδαίων sei. Daſs die doppelte Gesandtschaft nicht ursprüng - lich sein kann, erhellt am deutlichsten daraus, daſs durch dieselbe die Erzählung des Lukas alle Haltung verliert. Bei Matthäus hängt Alles wohl zusammen: der Hauptmann zeigt Jesu zuerst nur den Zustand des Kranken an, und überläſst entweder ihm selber, was er nun thun wolle, oder es kommt ihm, ehe er seine Bitte stellt, Jesus mit seinem Anerbieten, sich in sein Haus zu begeben, zuvor, was nun der Hauptmann auf die bekannte Weise ablehnt. Welches Benehmen dagegen, wenn nach Lukas der Centurio Jesu zu - erst durch die jüdischen Ältesten sagen läſst, er möchte kom - men (ἐλϑὼν) und seinen Knecht heilen, hierauf aber, wie Jesus wirklich kommen will, gereut es ihn wieder, ihn dazu veranlaſst zu haben, und er begehrt nur ein wunder - thätiges Wort von ihm. Daſs die erste Bitte nur von den Ältesten, nicht von dem Centurio ausgegangen8)Kuinöl, in Matth. S. 221 f., diese Aus - kunft läuft den ausdrücklichen Worten des Evangelisten entgegen, welcher durch die Wendung: ἀπέςειλε — πρεσβυ — τέρους — ἐρωτῶν αὐτὸν die Bitte als vom Hauptmann selber ausgegangen darstellt; daſs aber dieser mit dem ἐλϑὼν nur gemeint haben sollte, Jesus möchte sich in die Nähe seines Hauses begeben, und nun wie er gesehen, daſs Jesus so - gar in sein Haus treten wolle, dieſs abgelehnt habe, wäre doch wohl zu ungereimt, als daſs man es dem sonst ver - ständigen Manne zutrauen könnte, von welchem aber eben - deſshalb noch weniger eine so wetterwendische Umstim - mung zu erwarten ist, wie sie im Texte des Lukas liegt. 112Zweiter Abschnitt.Wie aber dieser dazukam, die Bitte der ersten Gesandt - schaft durch eine zweite zurücknehmen zu lassen, dieſs ent - deckt uns ein unscheinbarer Verräther, der Ausdruck: κύριε, μὴ σκύλλου nämlich, welcher in unsrer Erzählung dem Lukas eigenthümlich ist. Diese Formel erinnert an die ähnliche, welche derselbe Evangelist, und nach ihm Markus, in der Geschichte von der Tochter des Jairus gebraucht, wo, nachdem vor Jesu Ankunft im Hause das Mädchen gestorben ist, ein Bote von da dem mit Jesu sich nähernden Vater mit der Erinnerung: μὴ σκύλλε τὸν διδά - σκαλον, entgegenkommt (8, 49.). Der Hauptmann, welcher Jesum nicht in sein Haus bemühen will, erinnerte ihn an den Boten, der dem Jairus wehrte, den Lehrer in sein Haus zu bemühen, und wie hier, so lieſs er nun auch dort der Ablehnung eine Aufforderung, in das Haus zu kom - men, vorangehen. Da zu einer solchen Contre-ordre nur bei Jairus, in dessen Hause sich seit der ersten Aufforde - rung durch den Tod der Tochter die Lage der Dinge ver - ändert hatte, keineswegs aber bei dem Centurio, dessen Knecht noch immer im gleichen Zustande war, ein Grund vorlag, so kann der Zug mit der widerrufenden Botschaft nur aus jener Geschichte, wenn sie gleich erst nach der unsrigen kommt, in diese herübergewandert sein, nicht aber umgekehrt.
Da von der Identification aller drei Geschichten die neueren Erklärer sich hauptsächlich durch die Furcht ab - gehalten finden, Johannes möchte dabei in das Licht eines solchen gestellt werden, der die Scene nicht genau genug aufgefaſst, und wohl gar das Hauptmoment übersehen ha - be9)Tholuck, S. 102 f. Hase, §. 68. Anm. 2.: so würden sie also, wenn sie eine Vereinigung dennoch wagen wollten, dem vierten Evangelium so viel möglich die ursprünglichste Darstellung der Sache vindici - ren, eine Voraussetzung, die wir sofort aus der Beschaf -113Neuntes Kapitel. §. 94.fenheit der Berichte heraus zu prüfen haben. Das nun, daſs dem vierten Evangelisten der Bittende ein βασιλικὸς ist, nicht, wie den übrigen, ein ἑκατόνταρχος, ist ein in - differenter Zug, aus welchem sich für keinen Theil etwas schlieſsen läſst, und ebenso kann es mit der Abweichung in Betreff des Verhältnisses des Kranken zum Bittsteller sich zu verhalten scheinen. Indessen, wenn man in Bezug auf den lezteren Punkt sich fragt: welche der drei Bezeich - nungsweisen eignet sich am ehesten dazu, die beiden an - dern aus sich haben entstehen zu lassen? so wird man wohl schwerlich annehmen können, daſs aus dem johanneischen υἱὸς in absteigender Linie zuerst unbestimmt ein παῖς, dann ein δοῦλος geworden sei, und auch die umgekehrte aufsteigende Richtung ist hier minder wahrscheinlich, als das Mittlere, daſs aus dem zweideutigen παῖς, welches wir im ersten Evangelium finden, in zwei Richtungen das ei - nemal ein Knecht, wie bei Lukas, das andremal ein Sohn, wie bei Johannes, gemacht worden sein mag. Daſs die Be - zeichnung des Zustandes, in welchem sich der Leidende befand, bei Johannes wie bei Lukas sich zu der bei Mat - thäus als Steigerung, mithin als die spätere verhalte, ist bereits oben bemerkt. Der Unterschied in der Ortsan - gabe würde auf dem jetzigen Standpunkt der verglei - chenden Evangelienkritik ohne Zweifel so beurtheilt wer - den, daſs in der apostolischen Tradition, aus welcher die Synoptiker schöpften, der Ort, von welchem aus Jesus das Wunder verrichtete, mit dem, in welchem der Kranke lag, zusammengeflossen, das minder bekannte Kana von dem berühmten Kapernaum verschlungen worden sei, Jo - hannes aber, als Augenzeuge, das Genauere aufbewahrt habe. Allein so erscheint das Verhältniſs nur, wenn man den vierten Evangelisten als Augenzeugen schon voraus - sezt: sucht man, wie man soll, rein aus der Beschaffen - heit der Berichte heraus zu entscheiden, so stellt sich ein ganz anderes Ergebniſs heraus. Es wird hier eine Hei -Das Leben Jesu II. Band. 8114Zweiter Abschnitt.lung aus der Ferne berichtet, in welcher das Wunder um so gröſser erscheint, je weiter die Distanz zwischen dem Heilenden und Geheilten ist. Wird nun die mündliche Überlieferung, wenn sich die Erzählung in dieser fort - pflanzt, eine Neigung haben, jene Entfernung, und damit das Wunder, zu verkleinern, so daſs wir in der Darstel - lung des Johannes, der Jesum die Heilung von einem Orte aus verrichten läſst, von welchem der Hofbeamte erst am andern Tag bei dem Geheilten ankommt, die ursprüngliche, in der der Synoptiker dagegen, welche Jesum mit dem kranken Knecht in derselben Stadt sich befinden lassen, die traditionell umgebildete Erzählung hätten? Nur das Um - gekehrte kann der Sage gemäſs gefunden werden, und auch hierin also zeigt sich der johanneische Bericht als ein abgeleiteter. Besonders gemacht zeigt sich noch die Pünktlichkeit, mit welcher im vierten Evangelium die Stun - de der Genesung des Kranken ausgemittelt wird. Aus dem einfachen, auch sonst am Schlusse von Heilungsgeschichten vorkommenden ἰάϑη ἐν τῇ ὥρᾳ ἐκείνῃ des Matthäus ist ei - ne Nachfrage des Vaters nach der ὥρα ἐν ᾖ κομψότερον ἔσχε, eine Antwort der Knechte: ὅτι χϑὲς, ὥραν ἑβδόμην, ἀφῆκεν αὐτὸν ὁ πυρετὸς, und endlich das Resultat, daſs ἐν ἐκείνῃ τἥἥὥρᾳ, ἐν ᾖ εἶπεν αὐτῷ ὁ Ἰ. ὁ υἱός σουζῇ, die - ser wirklich gesund geworden sei, gemacht: eine ängstli - che Genauigkeit, eine Quälerei mit der Rechnung, welche weit mehr das Streben des Referenten, das Wunder zu constatiren, als den ursprünglichen Hergang der Sache zu zeigen scheint. Darin, daſs er den βασιλικὸς persönlich mit Jesu verhandeln läſst, hat der Verfasser des vierten Evan - geliums mehr als der des dritten die ursprüngliche Ein - fachheit der Erzählung bewahrt, wiewohl er, wie bemerkt, in den entgegenkommenden Knechten einen Anklang an die zweite Botschaft des Lukas hat. In dem Hauptdiffe - renzpunkt aber, der den Charakter des Bittstellers betrifft, könnte man mit Anwendung unsers eigenen Maſsstabes dem115Neuntes Kapitel. §. 94.Johannes den Vorzug vor den beiden andern Referenten zuerkennen wollen. Denn wenn diejenige Erzählung die mehr sagenhafte ist, welche ein Bestreben nach Vergröſse - rung oder Verschönerung zu erkennen giebt: so könnte man sagen, es zeige sich der Bittende, der nach Johannes ziemlich schwach im Glauben gewesen sei, bei den Synop - tikern zu einem Glaubensmuster verschönert. Allein nicht auf Verschönerung überhaupt, sondern nur in Beziehung auf ihren Hauptzweck, welcher bei den Evangelien die Verherrlichung Jesu ist, geht die Sage oder ein dichtender Referent aus, und hienach wird man in doppelter Hinsicht die Verschönerung auf Seiten des vierten Evangeliums fin - den. Einmal, wie es überhaupt darauf ausgeht, die Über - legenheit Jesu durch den Contrast mit der Schwäche de - rer, die mit ihm zu thun haben, hervorzuheben, konnte es auch hier sein Interesse sein, den Bittsteller eher schwach - als starkgläubig darzustellen, wobei ihm jedoch die Erwie - derung, welche es Jesu in den Mund legt: ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τέρατα ἴδητε, οὐμὴ πιςεύσητε, doch wohl zu hart ge - rathen ist, weſswegen sie denn auch die meisten Erklärer in Verlegenheit sezt. Zweitens aber konnte es unschick - lich erscheinen, daſs Jesus von seinem anfänglichen Vor - saz, in das Haus des Kranken zu gehen, sich nachher wieder abbringen lieſs, und so fremdem Einfluſs zu folgen schien; man konnte es für angemessener halten, die Hei - lung aus der Ferne als seinen ursprünglichen Vorsaz, und nicht erst durch einen Andern ihm eingeredet, darzustel - len. Sollte nun aber, wie dieſs die Überlieferung an die Hand gab, der Bittsteller doch eine Einrede gethan haben, so muſste diese die entgegengesetzte Richtung als bei den Synoptikern bekommen, nämlich, Jesum zu einem Gange in das Haus des Kranken bestimmen zu wollen.
Fragt es sich nun um die Möglichkeit und den nähe - ren Hergang des vorliegenden Ereignisses, so glaubt die natürliche Erklärung am leichtesten mit der Erzählung8 *116Zweiter Abschnitt.des vierten Evangeliums zurechtzukommen. Hier, wird be - merkt, sage Jesus nichts davon, daſs er die Heilung des Kranken bewirken wolle, sondern er versichere den Vater nur, daſs das Leben seines Sohnes ausser Gefahr sei (ὁ υἱός σου ζῇ), und auch der Vater, wie er finde, daſs das Besserwerden seines Sohnes mit der Zeit, um welche er mit Jesus gesprochen, zusammenfalle, schlieſse keineswegs, daſs Jesus die Heilung aus der Ferne bewirkt habe. So sei diese Geschichte nur die Probe davon, daſs Jesus, ver - möge gründlicher Kenntnisse in der Semiotik, im Stande gewesen sei, auf gegebene Beschreibung der Umstände ei - nes Kranken hin eine richtige Prognose über den Verlauf seiner Krankheit zu stellen; daſs jene Beschreibung hier nicht mitgetheilt sei, daraus folge nicht, daſs sie Jesus sich nicht habe geben lassen; ein σημεῖον aber werde diese Probe (V. 54.) genannt, als Zeichen einer von Jo - hannes zuvor noch nicht angedeuteten Fertigkeit Jesu, die Genesung eines besorglich Kranken vorauszusagen10)Paulus, Comm. 4, S. 253 f. Venturini, 2, S. 140 ff. Vgl. Hase, §. 68. Al - lein, abgesehen von dieser Miſsdeutung des Wortes σημεῖον und jener Einschwärzung eines im Text nicht angedeute - ten Gesprächs, erschiene bei dieser Ansicht von der Sa - che der Charakter und selbst der Verstand Jesu im zweideutigsten Lichte. Denn, wenn wir schon denjenigen Arzt für unvorsichtig halten würden, welcher auf selbst - genommenen Augenschein hin bei einem Fieberkranken, den man so eben noch für sterbend hielt, die Genesung verbürgte, und dadurch seinen Kredit auf das Spiel sez - te: um wie viel vermessener hätte Jesus gehandelt, wenn er auf die bloſse Beschreibung eines Laien hin die Ge - fahrlosigkeit des Umstandes versichert hätte? Ein solches Benehmen können wir uns an ihm deſswegen nicht den - ken, weil es der Analogie seines sonstigen Verfahrens, und117Neuntes Kapitel. §. 94.dem Eindruck, welchen sein Charakter bei den Zeitgenos - sen zurücklieſs, geradezu widersprechen würde. Hat al - so Jesus die Genesung des Fieberkranken auch nur vor - ausgesagt, ohne sie zu bewirken, so muſs er doch auf zu - verläſsigere Weise als durch natürliches Räsonnement von derselben versichert gewesen sein, er muſs sie auf über - natürliche Art gewuſst haben. Diese Wendung hat der neueste Erklärer des Johannes der Sache zu geben versucht. Er stellt die Frage, ob wir hier ein Wunder des Wissens oder des Wirkens haben? und da nun von einer unmit - telbaren Wirkung des Wortes Jesu nirgends die Rede sei, sonst aber im vierten Evangelium gerade das höhere Wis - sen Jesu besonders hervorgehoben werde, so erklärt er sich dahin, Jesus habe vormöge seiner höheren Natur nur gewuſst, daſs in jenem Augenblicke die Krankheit sich zum Leben entschied11)Lücke 1, S. 550 f.. Allein die öftere Hervorhebung des hö - heren Wissens Jesu in unserem Evangelium beweist hie - her nichts, da es ebenso oft auf sein höheres Wirken auf - merksam macht. Ferner, wenn von übernatürlichem Wis - sen Jesu die Rede ist, wird dieſs sonst deutlich angegeben (wie 1, 49. 2, 25. 6, 64.), und so würde Johannes, wenn eine übernatürliche Kunde von der ohnehin erfolgten Ge - nesung des Knaben gemeint wäre, Jesum wohl auch hier auf ähnliche Weise, wie dort zu Nathanaël, zu dem Vater sprechen lassen, daſs er seinen Sohn bereits in er - träglicherem Zustande auf seinem Bette erblicke. Nicht nur aber ist von höherem Wissen nichts angedeutet, son - dern eine wunderbare Wirksamkeit deutlich genug zu ver - stehen gegeben. Wenn nämlich von einem μέλλων ἀπο - ϑνήσκειν die plözliche Genesung gemeldet ist, so will man zunächst die Ursache wissen, welche diese unerwartete Wendung herbeigeführt habe, und wenn nun ein Bericht, der auch sonst auf das Wort seines Helden hin Wunder erfolgen läſst, eine Versicherung desselben, daſs der Kran -118Zweiter Abschnitt.ke lebe, mittheilt, so kann nur das falsche Bestreben, das Wunderbare zu vermindern, der Anerkenntniſs im Wege stehen, daſs der Erzähler in diesem Worte die Ursache jener Veränderung angeben wolle.
Bei der synoptischen Erzählung ist mit der Annahme einer bloſsen Prognose nicht abzukommen, da hier der Vater (Matth. V. 8.) eine heilende Einwirkung verlangt, und Jesus ihm (V. 13.) eben diese seine Bitte gewährt. Dadurch schien sich bei der Entfernung Jesu von dem Kranken, welche alle physische wie psychische Einwirkung unmöglich machte, der natürlichen Erklärung jeder Weg zu verschlieſsen: wenn nicht Ein Zug der Erzählung unerwartete Hülfe ge - boten hätte. Die Vergleichung nämlich, welche der Cen - turio zwischen sich und Jesu anstellt, daſs, wie er nur ein Wort sprechen dürfe, um durch seine Soldaten und Die - ner dieſs und jenes ausgerichtet zu sehen, so auch Jesum es nur ein Wort koste, seinem Knechte zur Gesundheit zu verhelfen, konnte man möglicherweise so pressen, daſs, wie auf Seiten des Hauptmanns, so auch auf Seiten Jesu an menschliche Mittelspersonen gedacht wurde. Demnach soll nun der Hauptmann Jesu haben vorstellen wollen, er dürfe nur zu einem seiner Jünger ein Wort sprechen, so werde dieser mit ihm gehen und seinen Knecht gesund machen, was sofort auch wirklich geschehen sein soll12)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 710 f.; natürliche Geschichte, 2, S. 285 ff.. Allein, da dieſs der erste Fall wäre, daſs Jesus durch sei - ne Jünger heilen lieſs, und der einzige, daſs er sie unmit - telbar zu einer bestimmten Heilung abschickte: wie konn - te dieser eigenthümliche Umstand sogar in der sonst so ausführlichen Erzählung des Lukas stillschweigend vor - ausgesetzt werden? warum, da dieser Referent in Aus - spinnung der übrigen Rede der Abgesandten nicht spar - sam ist, geizt er mit den paar Worten, welche Alles auf -119Neuntes Kapitel. §. 94.geklärt haben würden, wenn er nämlich zu dem εἰπὲ λόγῳ, ἑνὶ τῶν μαϑητῶν σου oder dergleichen etwas gesezt hätte? Vollends aber am Schlusse der Erzählung, wo der Erfolg ge - meldet wird, kommt diese Deutung nicht blos durch das Stillschweigen der Referenten, sondern durch einen positi - ven Zug bei Lukas in die übelste Verlegenheit. Lukas schlieſst nämlich mit der Notiz, daſs die Freunde des Haupt - manns bei ihrer Rückkehr in dessen Haus den Knecht be - reits gesund gefunden haben. Soll ihn nun Jesus dadurch wiederhergestellt haben, daſs er den Abgesandten einen oder mehrere seiner Jünger mitgab, so konnte es mit dem Kranken erst von da an, als die Abgesandten mit den Jüngern im Hause ankamen, allmählig besser werden, nicht aber konnten sie ihn bei ihrer Ankunft schon her - gestellt finden. Paulus freilich sezt voraus, die Abgesandten haben sich bei den Reden Jesu noch etwas verweilt, und so seien die Jünger vor ihnen angekommen: aber wie sich jene so unnöthig haben verweilen mögen, und wie der Evangelist neben der Absendung der Jünger nun auch noch das Zurückbleiben der Abgesandten habe verschwei - gen können, enthält er sich zu erklären. Mag man nun statt dessen als dasjenige, was den Soldaten des Haupt - manns auf Seiten Jesu entspricht, Krankheitsdämonen13)so schon Clem. homil. 9, 21; jezt Fritzsche, in Matth. 313., oder dienstbare Engel14)Wetstein, N. T. 1, p. 349; vgl. Olshausen, 1, S. 269., oder blos das Wort und die Heilkräfte Jesu15)Köster, Immanuel, S. 195. Anm. denken: jedenfalls bleibt uns eine wunderbare Wirksamkeit in die Ferne.
Diese Art des Wirkens Jesu nun hat nach dem Zuge - ständniſs selbst solcher Ausleger, welche sonst das Wun - derbare nicht scheuen, darin etwas besonders Schwieri - ges, daſs durch den Mangel der persönlichen Gegenwart Jesu und ihres wohlthätigen Eindrucks auf den Kranken120Zweiter Abschnitt.uns jede Möglichkeit genommen ist, die Heilung durch ein Analogon des Natürlichen uns denkbar zu machen16)Lücke, 1, S. 550.. Nach Olshausen zwar hat auch diese Fernwirkung ihre Analogieen, nämlich im thierischen Magnetismus17)b. Comm. 1, S. 268.. Ich will dieſs nicht geradezu bestreiten, sondern nur auf die Schranken aufmerksam machen, innerhalb deren sich mei - nes Wissens diese Erscheinung im Gebiete des Magnetis - mus immer hält. In die Ferne hin wirken kann nach den bisherigen Erfahrungen nur theils der Magnetiseur oder ein anderes im magnetischen Rapport mit ihr stehendes In - dividuum auf die somnambüle Person, wo also der Fern - wirkung immer eine unmittelbare Berührung vorausgegan - gen sein muſs, was in dem Verhältniſs Jesu zu dem Kran - ken unsrer Erzählung nicht gegeben ist; theils kommt eine solche Wirkungsart bei den Somnambülen selbst oder an - dern in zerrüttetem Nervenzustand befindlichen Menschen vor, was wiederum auf Jesum keine Anwendung findet. Geht also ein solches Heilen entfernter Personen, wie es in unsern Erzählungen Jesu zugeschrieben wird, über je - nes Äusserste natürlicher Wirksamkeit, wie wir es im Magnetismus und den verwandten Erscheinungen finden, noch weit hinaus: so wird uns durch jene Erzählungen, sofern sie historische Geltung ansprechen, Jesus zu einem übernatürlichen Wesen, und ehe wir ein solches uns als wirklich denken, verlohnt es sich auf unserem kriti - schen Standpunkt, zuvor noch zu untersuchen, ob die betrachtete Erzählung nicht auch ohne historischen Grund dennoch habe entstehen können? zumal sich, daſs sie sagenhafte Ingredienzien enthalte, schon an den ver - schiedenen Formationen zeigt, welche sie in den drei evan - gelischen Berichte erhalten hat. Und hier erhellt es nun von selbst, daſs das wunderbare Heilen Jesu durch Berüh -121Neuntes Kapitel. §. 94.rung des Kranken, wie wir es z. B. bei dem Aussätzigen Matth. 8, 3. und den Blinden Matth. 9, 29. antreffen, ver - möge eines nahe liegenden Klimax zunächst zum Heilen Gegenwärtiger mittelst des bloſsen Wortes, wie bei den Dämonischen, den Aussätzigen Luc. 17, 14. und andern Kranken, dann aber zur Herstellung selbst Abwesender durch ein Wort sich steigern konnte, wie denn schon im A. T. ein Analogon hievon besonders herausgehoben ist. Wie nämlich nach 2. Kön. 5, 9 ff. der syrische Feldherr Naëman vor die Wohnung des Propheten Elisa kam, um sich vom Aussaz heilen zu lassen, gieng dieser nicht selbst zu ihm heraus, sondern sandte ihm einen Boten und lieſs ihn zu siebenmaliger Waschung im Jordan anweisen. Dar - über wurde der Syrer so ungehalten, daſs er, ohne die Anweisung des Propheten zu berücksichtigen, wieder heim - ziehen wollte. Er habe erwartet, erklärt er, der Prophet werde zu ihm hertreten und unter Anrufung Gottes mit der Hand über die aussätzige Stelle fahren; daſs nun aber der Prophet, ohne selbst etwas an ihm vorzunehmen, ihn an den Jordan verweist, das macht ihn muthlos und ärger - lich, weil, wenn es auf Wasser ankäme, er solche zu Hause besser als hier hätte haben können. Man sieht aus dieser A. T. lichen Darstellung: das Ordentliche, was man von einem Propheten erwartete, war, daſs er anwesend mit körperlicher Berührung heilen könne; daſs er es auch entfernt und ohne Berührung vermöge, wurde nicht vor - ausgesetzt. Daſs Elisa dennoch auf die letztere Weise die Kur des aussätzigen Feldherrn vollbringt, (denn das Wa - schen war es auch hier so wenig als Joh. 9., was den Kranken gesund machte, sondern die Wundermacht des Propheten, welche ihre Wirksamkeit an diese äussere Handlung zu knüpfen für gut fand), dadurch bewies er sich als einen besonders ausgezeichneten Propheten, — und nun der Messias, durfte der auch in diesem Stücke hinter dem Propheten zurückbleiben? So zeigt sich unsre N. T. liche122Zweiter Abschnitt.Erzählung als nothwendiges Gegenbild jener A. T. lichen. Wie dort der Kranke an die Möglichkeit seiner Wieder - herstellung nicht glauben will, wenn der Prophet nicht aus seinem Hause heraus zu ihm trete: so zweifelt hier nach der einen Redaktion der für den Kranken Bittende ebenso an der Möglichkeit der Heilung, wenn nicht Jesus in sein Haus trete, nach der andern im Gegentheil ist er von der Wirksamkeit der Heilkraft Jesu auch ohne das überzeugt, und nach beiden gelingt hier Jesu wie dort dem Propheten auch dieser besonders schwierige Wunderakt.
Groſsen Anstoſs erregte den evangelischen Nachrichten zufolge Jesus dadurch, daſs er nicht selten seine Heilungs - wunder am Sabbat verrichtete, wovon ein Beispiel den drei Synoptikern gemeinschaftlich ist, zwei dem Lukas eigen - thümlich, und zwei dem Johannes.
In jener den drei ersten Evangelisten gemeinschaftli - chen Erzählung sind zwei Fälle vermeinter Sabbatsenthei - ligung verbunden, das Ährenraufen der Jünger (Matth. 12, 1. parall. ) und die durch Jesum vollbrachte Heilung des Menschen mit der verdorrten Hand (V. 9 ff. parall.). Nach der auf dem Felde vorgefallenen Verhandlung über das Ährenraufen fahren die beiden ersten Evangelisten so fort, wie wenn Jesus unmittelbar von dieser Scene weg in die Synagoge desselben nicht näher bezeichneten Orts sich verfügt, und hier aus Anlaſs der Heilung des Men - schen mit der verdorrten Hand abermals einen Streit über die Heiligung des Sabbats gehabt hätte. Offenbar aber waren diese beiden Geschichten ursprünglich nur der Ähn - lichkeit des Inhalts wegen zusammengestellt, weſswegen hier Lukas zu loben ist, daſs er durch die Worte: ἐν ἑτέ - ρῳ σαββάτῳ den chronologischen Zusammenhang zwischen123Neuntes Kapitel. §. 95.beiden ausdrücklich zerschnitten hat1)Schleiermacher, über den Lukas, S. 80 f.. Die weitere Un - tersuchung, wessen Erzählung hier die ursprünglichere sei, können wir durch die Bemerkung erledigen, daſs, wenn die von Matthäus den Pharisäern in den Mund gelegte Frage, ob es erlaubt sei, am Sabbat zu heilen, als ein Stück von gemachtem Dialogisiren bezeichnet wird2)Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 50., dessen ebensogut dieselbe Frage beschuldigt werden kann, welche die zwei mittleren Evangelisten Jesu leihen, und noch dazu ihre belobte3)Schleiermacher, a. a. O. Schilderung, wie Jesus den Kranken in die Mitte treten heiſst, und später strafende Blicke ringsumher wirft, einer gemachten Anschaulichkeit.
Das Übel des Kranken war nach den übereinstimmen - den Nachrichten eine χεὶρ ξηρὰ oder ἐξηραμμένη. So un - bestimmt diese Bezeichnung ist, so macht es sich doch die natürliche Erklärung allzuleicht, wenn sie mit Paulus nur eine durch Hitze angegriffene4)ex. Handb. 2, S. 48 ff., oder gar nach Venturini's Ausdruck eine verstauchte Hand5)Natürliche Geschichte, 2, S. 421. darunter versteht. Son - dern wenn wir, um die Bedeutung der N. T. lichen Be - zeichnungsweise zu bestimmen, billig auf das A. T. zu - rückgehen, so finden wir 1. Kön. 13, 4. eine Hand, wel - che im Ausstrecken ἐξηράνϑη (וַ הּ ׅיבַ שׁ), als unfähig geschil - dert, an den Leib zurückgezogen zu werden, so daſs also an Lähmung und Starrheit der Hand, und, bei Verglei - chung des von einem Epileptischen gebrauchten ξηραίνεσϑαι Marc. 9, 18., zugleich an ein Saftloswerden und Schwin - den zu denken ist6)Winer, b. Realw. 1, S. 796.. Dafür nun aber, daſs Jesus dieses und andre Übel mit natürlichen Mitteln behandelt habe, wird aus der vorliegenden Erzählung ein sehr scheinbares124Zweiter Abschnitt.Argument abgeleitet. Nur ein solches Heilen, sagt man, war am Sabbat verboten, welches mit irgend einer Be - schäftigung verbunden war: also müssen die Pharisäer, wenn sie, wie es hier heiſst, von Jesu eine Übertretung der Sabbatsgesetze durch Heilen erwarteten, gewuſst ha - ben, daſs er nicht durch das bloſse Wort, sondern durch Medicamente und chirurgische Operationen zu heilen pfleg - te7)Paulus, a. a. O. S. 49. 54. Köster, Immanuel, S. 185 f.. Da indessen, wie Paulus selbst anderswo anführt, am Sabbat das Heilen auch nur durch eine sonst erlaubte Beschwörung verboten war8)a. a. O. S. 83., aus tract. Schabbat., da ferner zwischen den Schulen Hillel's und Schammai's ein Streit obwaltete, ob auch nur das Trösten der Kranken am Sabbat erlaubt sei9)Schabbat, f. 12, 1, bei Schöttgen, 1, p. 123., und da überdieſs nach Paulus eigener Bemerkung die äl - teren Rabbinen im Punkte des Sabbats strenger waren als diejenigen, von welchen die uns vorliegenden Schriften über diesen Gegenstand herstammen10)a. d. zulezt a. O.: so konnten die Heilungen Jesu, auch ohne daſs natürliche Mittel dabei in's Spiel kamen, von chicanirenden Pharisäern unter die Kategorie von Sabbatsverletzungen gezogen werden. Dem Haupteinwand gegen die rationalistische Erklärung, der aus dem Schweigen der Evangelisten von natürlichen Mitteln hergenommen wird, glaubt Paulus für unsern Fall durch die Wendung zu begegnen, daſs damals in der Synagoge keine zur Anwendung gekommen seien, sondern Jesus habe sich die Hand vorzeigen lassen, um zu sehen, wie die bisher von ihm angeordneten Mittel (also werden der - gleichen doch fingirt) geholfen hätten, und da habe er sie bereits völlig geheilt gefunden; denn daſs sie bereits wie - derhergestellt gewesen sei, nicht daſs sie nun plötzlich ge - sund geworden, bedeute das ἀποκατεςάϑη sämmtlicher Re -125Neuntes Kapitel. §. 95.ferenten. Allerdings sagt dieser Aorist: sie war herge - stellt und wurde es nicht erst während des Ausstreckens, welches ohne vorangegangene Heilung so wenig möglich gewesen wäre als 1. Kön. 13, 4. das Anziehen: aber sie war es geworden durch das Wort Jesu, welches die Evan - gelisten mittheilen, nicht durch natürliche Mittel, welche nur von den Erklärern ersonnen sind11)Fritzsche, in Matth. p. 427; in Marc. S. 79..
Gleich sehr entscheidend aber für die Nothwendigkeit, hier eine Wunderheilung anzunehmen, wie für die Mög - lichkeit, die Entstehung der Anekdote zu erklären, ist die nähere Vergleichung der bereits erwähnten A. T. lichen Er - zählung 1. Kön. 13, 1 ff. Als ein Prophet aus Juda dem am Götzenaltar räuchernden Jerobeam mit dem Untergang des Altars und des Götzendienstes drohte, und der König mit ausgestreckter Hand den Unglückspropheten zu grei - fen befahl, da vertrocknete plötzlich seine Hand, so daſs er sie nicht mehr zurückziehen konnte, und der Altar zer - fiel. Wie aber auf Ersuchen des Königs der Prophet Je - hova um Wiederherstellung der Hand bat, konnte sie jener wieder an sich ziehen, und sie wurde, wie sie vorher ge - wesen war12)1 Kön. 13, 4. LXX:καὶ ἰδοὺ ἐξηράνϑη ἡ χεὶρ αὐτοῦ, ‒ ‒.6:καὶ ἐπέςρεψε τὴν χεῖρα τοῦ βασιλέως πρὸς αὐτὸν, καὶ ἐγένετο καϑὼς τὸ πρότερον.Matth. 12, 10:καὶ ἰδοὺ ἄν - ϑρωπος ἠν τὴν χεῖρα ἔχων ξη - ράν(Marc. ἐξηραμμένην). 13:τότε λέγει τῷ ἀνϑρώπῳ· ἔκτεινον τὴν χεῖρά σου· καὶ ἐξέ - τεινε· καὶ ἀποκατεςάϑη ὑγιὴς ὡς ἡ ἄλλη.. Auch Paulus vergleicht hier diese Erzäh - lung, aber nur um auch auf sie seine natürliche Erklärungs - weise durch die Bemerkung anzuwenden, Jerobeams Zorn habe leicht eine vorübergehende krampfhafte Erstarrung der Muskeln u. s. w. in der gerade mit Heftigkeit aus - gestreckten Hand hervorbringen können. Wem fällt es126Zweiter Abschnitt.aber nicht vielmehr in die Augen, daſs wir hier eine Sage zur Verherrlichung des monotheistischen Prophe - tenthums und zur Brandmarkung des israëlitischen Göz - zendiensts in der Person seines Urhebers Jerobeam vor uns haben? Der Mann Gottes weissagt dem Götzenaltar schnellen wunderbaren Ruin; der abgöttische König streckt freventlich die Hand gegen den Gottesmann aus; die Hand erstarrt, der Götzenaltar zerfällt in Staub, und nur auf die Fürbitte des Propheten wird der König wiederhergestellt: wer mag hier über wunderbaren oder natürlichen Hergang rechten, wo man eine offenbare Mythe vor sich hat? Und wer kann ferner in unsrer evangelischen Erzählung eine Nachbildung jener A. T. lichen verkennen, wobei nur dem Geiste des Christenthums gemäſs die Vertrocknung der Hand nicht als Strafwunder eintritt, sondern als natürliche Krank - heit dargestellt, und Jesu nur die Heilung zugeschrieben, ebendeſswegen auch nicht wie dort die Ausstreckung der Hand zur verbrecherischen Ursache und zum pönalen Ha - bitus der Krankheit, das Anziehen derselben aber zum Zei - chen der Genesung gemacht wurde, sondern die Hand, wel - che bis dahin krankhaft angezogen war, nach vollbrachter Heilung wieder ausgestreckt werden kann. Daſs auch sonst um jene Zeit im Orient den Lieblingen der Götter das Vermögen zu dergleichen Heilungen zugeschrieben wurde, sehen wir aus einer schon früher angeführten Erzählung, in welcher dem Vespasian neben einer Blindenheilung auch die Wiederherstellung einer kranken Hand zugeschrieben wird13)Tacit. Histor. 4, 81.
Nicht selbstständig übrigens und als Zweck für sich tritt in dieser Geschichte das Heilungswunder auf, sondern die Hauptsache ist, daſs es am Sabbat geschieht, und die Spitze der Anekdote liegt in den Worten, durch welche Jesus seine heilende Thätigkeit am Sabbat gegen die Pha -127Neuntes Kapitel. §. 95.risäer rechtfertigt, bei Lukas und Markus nämlich durch die Frage, was am Sabbat eher angehe, Gutes zu thun oder Böses, ein Leben zu erhalten, oder zu verderben? bei Mat - thäus, neben einem Stück von dieser Rede, durch das Dik - tum von der sabbatlichen Rettung des in die Grube gefal - lenen Schaafs. Lukas, welcher diese Gnome hier nicht hat, legt sie mit der Abweichung, daſs statt des πρόβατον ein ὄνος ἢ βοῦς, und statt der Grube der Brunnen steht, bei Gelegenheit der Heilung eines ὑδρωπικὸς Jesu in den Mund (14, 5.), eine Erzählung, an welcher überhaupt die Ähn - lichkeit mit der bisher erwogenen auffällt. Jesus speist bei einem Pharisäerobersten, wo man, wie dort in der Syna - goge nach den zwei mittleren Evangelisten, auf ihn lauert (hier: ἠσαν παρατηρου̍μενοι, dort: παρετήρουν); es ist ein Wassersüchtiger da, wie dort ein Mensch mit verdorrter Hand; wie dort nach Matthäus die Pharisäer Jesum fra - gen: εἰ ἐξεςι τοῖς σάββασι ϑεραπεύειν; nach Markus und Lukas Jesus sie fragt, ob es erlaubt sei, am Sabbat ein Leben zu retten u. s. f.: so legt er ihnen hier die Frage vor: εἰ ἔξέςι τῷ σαββάτῳ ϑεραπεύειν; worauf, wie dort, die Gefragten schweigen (dort Markus: οἱ δὲ ἐσιώπων, hier Lukas: οἱ δὲ ἡσύχασαν); endlich als Epilog der Hei - lung, wie dort bei Matthäus als Prolog, das Diktum von dem in den Brunnen gefallenen Thiere. Eine natürliche Erklärung, wie sie auch von diesem Heilungswunder gege - ben worden ist14)Paulus, ex. Handb. 2, S. 341 f., erscheint hier ganz besonders als ver - lorene Mühe, wo wir gar keine besondere Geschichte vor uns haben, die auf eigenem historischen Fundamente ruh - te, sondern eine bloſse Variation über das Thema der Sab - batheilungen und die Gnome von dem verunglückten Last - thier, welche dem einen (Matthäus) in Verbindung mit der Wiederherstellung einer dürren Hand, dem andern (Lu - kas) mit der Heilung eines Wassersüchtigen, einem drit -128Zweiter Abschnitt.ten in noch anderer Verbindung zukommen konnte; denn auch noch einer dritten Heilungsgeschichte ist ein ähnlicher Ausspruch beigesellt. Lukas nämlich erzählt 13, 10 ff. die von Jesu am Sabbat vollzogene Heilung einer dämonisch zusammengebückten Frau, wo auf die Beschwerde des Syn - agogenvorstehers Jesus die Frage zurückgiebt, ob denn nicht jeder am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe löse und zur Tränke führe? eine Frage, in wel - cher die Variation der obigen nicht zu verkennen ist. So ganz identisch erscheint diese Geschichte mit der zulezt er - wähnten, daſs Schleiermacher daraus, daſs bei der zwei - ten nicht auf die vorhergehende zurückgewiesen, und so die Wiederholung durch das Eingeständniſs entschuldigt ist, schlieſst, es könne Luc. 13, 10 — 14, 5. nicht von demsel - ben Verfasser hintereinander geschrieben sein15)a. a. O. S. 196..
Haben wir hienach gleich nicht drei verschiedene Vorfälle hier, sondern nur drei verschiedene Rahmen, in welche die Sage das unvergeſsliche, wahrhaft volksthümli - che Diktum von dem am Sabbat zu rettenden oder zu ver - sorgenden Hausthier gefaſst hat: so muſs doch, scheint es, wenn wir Jesu eine so originelle und angemessene Re - de nicht absprechen wollen, irgend eine, am Sabbat vor - gefallene Heilung zum Grunde liegen. Nur nicht gerade eine wunderbare. Sondern wie Lukas in der zulezt an - geführten Stelle jenen Ausspruch mit der Heilung einer dämonischen Frau verbindet, so könnte er von Jesu bei Ge - legenheit einer jener Heilungen von Dämonischen, deren natürliche Möglichkeit wir unter gewissen Einschränkun - gen zugegeben haben, gethan worden sein; oder kann Je - sus auch, wenn er bei Krankheitsfällen unter seiner Ge - sellschaft in Anwendung der üblichen Medikamente auf den Sabbat keine Rücksicht nahm, jene Appellation an den praktischen Menschenverstand zu seiner Rechtfertigung129Neuntes Kapitel. §. 95.nöthig gehabt haben; oder endlich, wenn an der Annahme rationalistischer Erklärer etwas Wahres ist, daſs Jesus in orientalischer, namentlich essenischer Weise neben der Seelenheilung auch mit leiblicher sich befaſst habe, so kann er hiebei, wenn er der Aufforderung hiezu auch am Sabbat nicht widerstand, zu einer solchen Apologie ver - anlaſst gewesen sein; nur daſs wir dann immer nicht mit jenen Auslegern in den einzelnen übernatürlichen Heilun - gen, welche die Evangelien melden, die zum Grunde lie - genden natürlichen aufsuchen dürften, sondern wir müſs - ten eingestehen, daſs uns diese ganz verloren, und jene an ihre Stelle getreten seien16)Treffend Winer, b. Realw. 1, S. 796: „ man sollte sich doch bescheiden, [von den Heilungen Jesu] nicht in den ein - zelnen Fällen eine natürliche Erklärung geben zu wol - len, und immer bedenken, dass die Verbannung des Wun - derbaren aus der Wirksamkeit Jesu, so lange die Evan - gelien geschichtlich betrachtet werden, nie - mals gelingen kann. “. Übrigens müssen es nicht einmal Heilungen überhaupt gewesen sein, an welche sich jener Ausspruch Jesu knüpfte, sondern jeder als Lebens - rettung oder Lebenserhaltung zu betrachtende und mit äus - serer Geschäftigkeit verbundene Dienst, den er oder seine Jünger leisteten, konnte ihm der pharisäischen Partei ge - genüber Anlaſs zu einer solchen Vertheidigung werden.
Von den zwei Sabbatheilungen des vierten Evange - liums ist die eine schon mit den Blindenheilungen betrach - tet worden; die andere (5, 1 ff. ), welche unter den Hei - lungen der Paralytischen vorgenommen werden konnte, lieſs sich, weil doch der Kranke nicht mit jenem Ausdruck bezeichnet ist, hieher versparen. In den Hallen des Teichs Bethesda in Jerusalem fand Jesus einen schon 38 Jahre, wie aus dem Folgenden erhellt, an Lähmung kranken Men - schen, welchen er mit einem Worte zum Aufstehen und Heimtragen seines Bettes befähigt, dadurch jedoch, weil esDas Leben Jesu II. Band. 9130Zweiter Abschnitt.Sabbat war, die Feindschaft der jüdischen Hierarchen auf sich ladet. Auf eigene Weise glaubten seit Woolston17)Disc. 3. Manche mit dieser Geschichte durch die Annahme fertig zu werden, daſs Jesus hier nicht einen wirklich Leiden - den geheilt, sondern nur einen verstellten Kranken entlarvt habe18)Paulus, Comm. 4, S. 263 ff. L. J. 1, a, S. 298 ff.. Der einzige Grund, der mit einigem Schein hie - für angeführt werden kann, ist, daſs der Gesundgemachte Jesum seinen Feinden als denjenigen angebe, der ihm am Sabbat sein Bette zu tragen befohlen habe (V. 15. vgl. 11 ff. ), was sich nur dann erklären lasse, wenn Jesus ihm etwas Unwillkommenes erwiesen hatte. Allein jene Anzeige konnte er auch entweder in guter Meinung machen, wie der Blind - geborene (Joh. 9, 11. 25. ), oder wenigstens in der unschul - digen, den Vorwurf der Sabbatsverletzung von sich auf einen Stärkeren abzuwälzen19)s. Lücke und Tholuck z. d. St.. Daſs der Mensch wirk - lich krank, und zwar an einem langwierigen Übel krank gewesen sei, giebt wenigstens der Evangelist als seine Ansicht, wenn er ihn als τριάκοντα καὶ ὀκτὼ ἔτη ἔχων ἐν τῇ ἀσϑενείᾳ bezeichnet (V. 5.), wovon Paulus seine früher vorgetragene gewaltsame Erklärung, nach welcher er die 38 Jahre auf das Lebensalter, nicht auf die Krankheitszeit des Mannes bezog, neuerlich selbst nicht mehr vertreten mag20)vgl. mit Comm. 4, S. 290. das L. J. 1, a, S. 298.. Unerklärlich bleibt bei jener Ansicht von dem Vorfall auch, was Jesus bei einer späteren Begegnung zu dem Geheilten sprach (V. 14.): ἴδε ὑγιὴς γέγονας· μηκέτι ἁμάρτανε, ἵνα μὴ χεῖρόν τί σοι γένηται. Paulus selbst sieht sich durch diese Worte genöthigt, ein wirkliches, nur un - bedeutendes Unwohlsein bei dem Menschen vorauszuse - zen, d. h. das Unzureichende seiner Grundansicht von dem Vorfall selbst einzugestehen, so daſs wir also hier ein Wunder, und zwar keines der geringsten, behalten.
131Neuntes Kapitel. §. 95.Was nun die historische Glaubwürdigkeit der Erzäh - lugn betrifft, so kann man es allerdings auffallend finden, daſs einer so groſsartigen Wohlthätigkeitsanstalt, wie Jo - hannes Bethesda beschreibt, weder Josephus noch die Rab - binen Erwähnung thun, zumal, wenn die Volksmeinung an den Teich eine wunderbare Heilkraft knüpfte21)Bretschneider, Probab. S. 69.: doch führt dieſs noch keine Entscheidung herbei. Daſs in der Beschreibung des Teiches ein fabelhafter Volksglaube liegt, und vom Referenten acceptirt zu werden scheint (wenn auch V. 4. unächt ist, so liegt jener Glaube doch in der κίνησις τοῦ ὕδατος V. 3. und dem ταραχϑῇ V. 7.), beweist gegen die Wahrheit der Erzählung nichts, da auch ein Augenzeuge und Jünger Jesu den betreffenden Volksglau - ben getheilt haben kann. Daſs nun aber ein seit 38 Jah - ren in der Art gelähmter Mensch, daſs er zum Gehen un - fähig auf einem Bette liegen muſste, durch ein Wort völlig wiederhergestellt worden sein soll, dieſs denkbar zu ma - chen, reicht weder die Annahme psychologischer Einwir - kung (der Mensch kannte ja Jesum nicht einmal, V. 13.), noch irgend welche physische Analogie (wie Magnetismus u. dergl. ) auch nur von ferne hin, sondern wenn dieſs wirklich erfolgt ist, so müssen wir den, durch welchen es erfolgte, über alle Grenzen des Menschlichen und Natürli - chen hinausheben. Dagegen hätte man das, daſs Jesus aus der Menge von Kranken, welche in den Hallen von Be - thesda sich befanden, nur diesen einzigen zur Heilung aus - erkor, niemals bedenklich finden sollen22)Wie Hase, L. J. §. 92., da die Heilung dessen, der am längsten krank lag, zur Verherrlichung der messianischen Wunderkraft nicht nur besonders geeignet, sondern auch hinreichend war. Dennoch knüpft sich an - drerseits eben an diesen Zug die Vermuthung eines mythi - schen Charakters der Erzählung. Auf einem groſsen Schau -9 *132Zweiter Abschnitt.platz der Krankheit, wo alle mögliche Leidende ausgestellt sind, tritt der groſse Wunderarzt Jesus auf, und wählt sich denjenigen, der am hartnäckigsten leidet, heraus, um durch Wiederherstellung desselben die glänzendste Probe seiner Heilkraft abzulegen. Wie wir es bereits als die Weise des vierten Evangeliums kennen, statt der extensiv gröſseren Masse synoptischer Wundergeschichten wenige, aber desto intensivere zu geben: so hat es auch hier durch die Erzählung von der Heilung eines 38 Jahre lang Ge - lähmten alle synoptischen Berichte von Heilungen glieder - kranker Personen, von welchen die am längsten leidende bei Lukas 13, 11. nur als eine γυνὴ πνεῦμα ἔχουσα ἀσϑενείας ἔτη δέκα καὶ ὀκτὼ bezeichnet war, bei Weitem überbo - ten. Ohne Zweifel war dem Evangelisten eine, obwohl, wie wir dieſs auch sonst schon fanden, ziemlich unbestimmte Kunde von dergleichen Heilungen Jesu, namentlich der des Paralytischen Matth. 9, 2 ff. parall., zugekommen, da der heilende Zuruf und der Erfolg der Heilung hier bei Jo - hannes fast wörtlich ebenso, wie dort namentlich bei Mar - kus, angegeben ist23)Marc. 2, 9:(τί ἐςιν εὐκοπώτερον, εἰπεῖν -- --) ἔγειρε, ᾄρόν σουτὸν κράββατον καὶ περιπάτει;10:— ἔγειρε, ᾄρον τὸν κράββατόν σου καὶ ὕπαγε εἰς τὸν οῖκόν σου.12:καὶ ἠγέρϑη εὐϑέως, καὶ ᾄρας τὸν κράββατον ἐξῆλϑεν ἐναντίον πάντων.Joh. 5, 8:ἔγειραι, ᾄρον τὸν κράββατόν σου, καὶ περιπάτει. 9: καὶ εὐϑέως ἐγένετο ὑγιὴς ὁ ἄνϑρωπος, καὶ ῇρε τὸν κράβ - βατον αὑτοῦκαὶ περιεπάτει.. Auch davon, daſs in der synopti - schen Erzählung jene Heilung zugleich als ein Akt der Sündenvergebung erscheint, ist in der vorliegenden johan - neischen Geschichte noch eine Spur, indem Jesus, wie er133Neuntes Kapitel. §. 96.dort den Kranken vor der Heilung mit einem ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι beruhigt, so hier nach der Heilung ihn durch das μηκέτι ἁμάρτανε κ. τ. λ. verwarnt. Die so aus - geschmückte Heilungsgeschichte aber wurde zugleich zur Sabbatheilung gemacht, weil das darin vorkommende Ge - heiſs, das Bette hinwegzutragen, als der geeignetste An - laſs zum Vorwurf der Sabbatentheiligung erscheinen mochte.
Drei Todtenerweckungen wissen die Evangelisten von Jesu zu erzählen, davon eine den drei Synoptikern ge - meinschaftlich, eine dem Lukas, und eine dem Johannes eigenthümlich ist.
Die gemeinsame ist diejenige, welche von Jesu an ei - nem Mädchen verrichtet worden, und in allen drei Berich - ten mit der Erzählung von der blutflüssigen Frau verbun - den ist (Matth. 9, 18 f. 23 — 26. Marc. 5, 22 ff. Luc. 8, 41 ff.). In der näheren Bezeichnung des Mädchens und ihres Va - ters weichen die Synoptiker ab, indem Matthäus den Va - ter, ohne einen Namen zu nennen, unbestimmt als ἄρχων εἷς, die beiden andern aber als Synagogenvorsteher Na - mens Ἰάειρος einführen, und ebendieselben auch die Toch - ter als zwölfjährig, Lukas noch ausserdem als das einzige Kind ihres Vaters, bestimmen, wovon Matthäus nichts weiſs. Bedeutender ist die weitere Differenz, daſs nach Matthäus der Vater das Mädchen Jesu gleich Anfangs als gestorben ankündigt, und ihre Wiederbelebung verlangt, während er nach den beiden andern sie noch lebend, ob - wohl in den letzten Zügen, verlieſs, um Jesum zur Verhü - tung ihres wirklichen Todes herbeizuholen, und erst, wie Jesus mit ihm auf dem Wege war, Leute aus seinem Hau - se mit der Nachricht kommen, daſs das Mädchen indeſs gestorben, und nun jede weitere Bemühung Jesu vergeb - lich sei. Auch die Umstände bei der Wiederbelebung wer -134Zweiter Abschnitt.den verschieden beschrieben, indem Matthäus namentlich davon nichts weiſs, daſs Jesus nach den beiden andern Referenten nur den engsten Ausschuſs seiner Jünger, den Petrus und die Zebedaiden, als Zeugen mitgenommen ha - ben soll. Diese Abweichungen hat z. B. Storr so bedeu - tend gefunden, daſs er zwei verschiedene Fälle annahm, in welchen unter ähnlichen Umständen die Tochter das ei - nemal eines weltlichen ἄρχων (Matthäus), das andremal eines Synagogarchen Jairus (Markus und Lukas) vom To - de erweckt worden sei1)Über den Zweck des Joh. S. 351 ff.. Daſs nun aber, was Storr noch dazu annimmt, und was auf diesem Standpunkt an - genommen werden muſs, Jesus nicht blos zweimal ein Mäd - chen vom Tode erweckt, sondern auch beidemale unmittel - bar vorher eine Frau vom Blutfluſs geheilt haben soll, ist ein Zusammentreffen, welches sich durch die vage Bemer - kung Storr's, es können sich zu verschiedenen Zeiten gar wohl sehr ähnliche Dinge zutragen, um nichts wahrschein - licher wird. Muſs man somit einräumen, daſs die Evan - gelisten nur Eine Begebenheit erzählen, so sollte man doch des weichlichen Bestrebens sich entschlagen, eine völlige Übereinstimmung ihrer Erzählungen herauszubringen. Denn weder kann das ἄρτι ἐτελεύτησε bei Matthäus, wie Kuinöl will2)Comm. in Matth. p. 263. Welche Argumentation:verba [NB. Matthaei]: ἄρτι ἐτελεύτησεν non possunt latine reddi: jam mortua est; nam, auctore [NB.] Luca, patri adhuc cum Christo colloquenti nuntiabat servus, filiam jam exspirasse, ergo [auetore Matthaeo?] nondum mortua erat, cum pater ad Jesum accederet., est morti proxima heiſsen, noch läſst sich das ἐσχάτως ἔχει und ἀπέϑνησκε bei Markus und Lukas von bereits erfolgtem Tode verstehen, zumal bei beiden die Todesnachricht den Vater später als etwas Neues hinter - bracht wird3)Vergl. über diese falschen Ausgleichungsversuche Schleier -.
135Neuntes Kapitel. §. 96.Hat daher die neuere Kritik mit Recht hier eine Ab - weichung der Relationen zugegeben, so findet sie die ge - nauere Darstellung des Hergangs einstimmig auf Seiten der mittleren Evangelisten, sei es, daſs man mit Schonung des Matthäus in seiner Darstellung eine Abkürzung findet, wie sie auch von einem Augenzeugen veranstaltet sein könn - te4)Olshausen, 1, S. 323., oder daſs man diese mindere Genauigkeit als Zeichen eines nichtapostolischen Ursprungs des ersten Evangeliums ansieht5)Schleiermacher, a. a. O. S. 131 ff. ; Schulz, über das Abendm. S. 316 f.. Daſs nun Markus und Lukas den von Matthäus verschwiegenen Namen des Bittstellers angeben, und auch seinen Stand genauer als jener bestimmen, kann ebenso - wohl zu Ungunsten, als, wie gewöhnlich, zu Gunsten je - ner beiden ausgelegt werden, da die namentliche Bezeich - nung der Personen, wie schon früher bemerkt, nicht sel - ten Zuthat der späteren Sage ist, wie die blutflüssige Frau erst in der Tradition eines Joh. Malala Veronika6)s. Fabricius, Cod. apocr. N. T. 2, S. 449 ff., das kananäische Weib erst in den Klementinen Justa heiſst7)Homil. 2, 19., und die beiden Mitgekreuzigten Jesu erst im Evangelium Nicodemi Gestas und Demas8)Cap. 10.. Das μονογενὴς des Lu - kas ohnehin dient nur, die Scene rührender zu machen, und das ἐτῶν δώδεκα konnte er und nach ihm Markus aus der Geschichte der Blutflüssigen heraufnehmen. Die Dif - ferenz, daſs nach Matthäus das Mädchen schon Anfangs als gestorben, nach den beiden andern erst als sterbend angekündigt wird, müſste man sehr oberflächlich angese - hen haben, wenn man dieselbe nach unserem eigenen Ka - non zu Ungunsten des Matthäus unter dem Vorwand ge -3)macher, über den Lukas, S. 132. und Fritzsche, in Matth. p. 347 f.136Zweiter Abschnitt.brauchen zu können glaubte, daſs bei ihm das Wunder vergrössert sei. Denn auch bei den beiden andern wird hernach der Tod des Mädchens gemeldet, und daſs er nach Matthäus einige Augenblicke früher eingetreten sein müſs - te, kann keine Vergröſserung des Wunders heiſsen. Um - gekehrt muſs man sagen, daſs bei den beiden andern die Wundermacht Jesu, zwar nicht objektiv, wohl aber subjek - tiv gröſser, weil gesteigert durch den Contrast und das Unerwartete, erscheine. Dort, wo Jesus gleich Anfangs um eine Todtenerweckung gebeten wird, leistet er nicht mehr, als von ihm verlangt war: hier dagegen, wo er, nur um eine Krankenheilung ersucht, eine Todtenerweckung voll - bringt, thut er mehr als die Betheiligten bitten und ver - stehen; dort, wo das Vermögen, Todte zu erwecken, vom Vater bei Jesu vorausgesezt wird, ist das Ungemeine eines solchen Vermögens noch nicht so hervorgehoben, als hier, wo der Vater zunächst nur das Vermögen, die Kranke zu heilen, voraussezt, und als der Tod eingetreten ist, von jeder weiteren Hoffnung abgemahnt wird. In der Art, wie die Ankunft und das Verfahren Jesu im Leichenhause be - schrieben wird, ist Matthäus bei seiner Kürze wenigstens klarer als die andern mit ihren weitläuftigen Berichten. Denn daſs Jesus, im Hause angelangt, die bereits zur Lei - che versammelten Pfeifer sammt der übrigen Menge aus dem Grunde weggewiesen habe, weil es hier keine Leiche geben werde, ist vollkommen verständlich; warum er aber nach Markus und Lukas ausserdem auch seine Jünger bis auf jene drei von dem vorzunehmenden Schauspiel ausge - schlossen haben soll, davon ist ein Grund schwer einzu - sehen. Daſs eine gröſsere Anzahl von Zuschauern phy - sisch oder psychologisch ein Hinderniſs der Wiederbele - bung gewesen wäre, kann man nur unter Voraussetzung eines natürlichen Hergangs sagen: war es ein Wunder, so könnte man den Grund jener Ausschlieſsung nur in der minderen Fähigkeit der Ausgeschlossenen suchen, wel -137Neuntes Kapitel. §. 96.cher aber eben durch die Anschauung eines solchen Wun - ders hätte aufgeholfen werden sollen. Vielmehr scheint es nach Allem, als hätten die zwei späteren Synoptiker, welche auch im Gegensaz gegen die Schluſsformel des Mat - thäus, daſs das Gerücht von diesem Ereigniſs sich im ganzen Lande verbreitet habe, den Zeugen desselben von Jesu das strengste Stillschweigen auflegen lassen, den Vorgang als ein Mysterium betrachtet, zu welchem ausser den nächsten Angehörigen nur der engste Ausschuſs der Jünger gezogen worden sei. Vollends auf das von Schulz herausgehobene, daſs, während Matthäus Jesum das Mäd - chen nur einfach bei der Hand nehmen läſst, Markus und Lukas uns die Worte, welche er dazu gesprochen, der er - stere sogar in der Ursprache, zu überliefern wissen, kann entweder kein Gewicht gelegt werden, oder nur in entge - gengeseztem Sinne. Denn daſs Jesus, wenn er bei Aufer - weckung eines Mädchens etwas sprach, sich ungefähr der Worte: ἡ παῖς ἐγείρουbedient haben werde, dieſs konnte wohl auch der vom Faktum entfernteste Erzähler auf ei - gene Hand sich vorstellen, und bei Markus gar das ταλιϑὰ κοῦμι als Zeichen einer besonders ursprünglichen Quelle, aus welcher der Evangelist geschöpft habe, anse - hen, heiſst das Näherliegende vergessen, daſs er es ebenso leicht aus dem Griechischen seines Gewährsmanns über - tragen haben kann, um, wie bei jenem ἐφφαϑὰ, das geheim - niſsvolle Lebenswort in seiner ursprünglichen fremden Spra - che, also nur um so mysteriöser klingend, wiederzugeben. Gerne werden wir uns demnach dessen bescheiden, mit Schleiermacher'schem Scharfsinn auszumachen, ob der ur - sprüngliche Gewährsmann der Erzählung des Lukas einer von den drei zugelassenen Jüngern gewesen, und ob der - selbe, der sie ursprünglich berichtete, sie auch niederge - schrieben habe9)a. a. O. S. 129 f.?
138Zweiter Abschnitt.In Bezug nun auf den vorauszusetzenden wirklichen Hergang der Sache tritt die natürliche Erklärung hier ganz besonders zuversichtlich auf, indem sie Jesu eigene Versicherung für sich zu haben glaubt, daſs das Mädchen nicht wirklich todt sei, sondern nur in einem schlafähnlichen Zustand der Ohnmacht sich befinde, und nicht bloſs entschie - den rationalistische Ausleger, wie Paulus, oder halbratio - nalistische, wie Schleiermacher, sondern auch entschieden supranaturalistische Theologen, wie Olshausen, glauben um der bezeichneten Erklärung Jesu willen hier an keine Todtenerweckung denken zu dürfen10)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 526. 31 f. Schleiermacher, a. a. O. S. 132. Olshausen, 1, S. 327.. Der zulezt ge - nannte Erklärer legt besonders auf den Gegensaz in der Rede Jesu Gewicht, und meint, weil zu dem οὐκ ἀπέϑανε noch das ἀλλὰ καϑεύδει gesezt sei, so könne der erstere Ausdruck nicht bloſs so gefaſst werden: sie ist nicht todt, indem ich den Vorsaz habe, sie zu erwecken — wunder - lich, da doch dieser Zusaz gerade anzeigt, daſs sie nur in - sofern nicht gestorben sei, als Jesus sie zu erwecken ver - möge. Man beruft sich ferner auf die Erklärung Jesu über den Lazarus, Joh. 11, 14, welche mit ihrem Λάζαρος ἀπέ - ϑανε der gerade Gegensaz zu unserem οὐκ ἀπέϑανε τὸ κορά - σιον sei. Aber vorher hatte Jesus doch auch von Lazarus gesagt: αὕτη ἡ ἀσϑένεια ουκ ἔςι πρὸς ϑάνατον (V. 4.) und: Λάζαρος ὁ φίλος ἡμῶν κεκοίμηται (V. 11.), also ganz die - selbe Leugnung des Todes und Behauptung eines bloſsen Schlafes, wie hier, und doch bei einem wirklich Gestorbe - nen. Gewiſs hat demnach Fritzsche recht, wenn er den Sinn der Worte Jesu in unsrer Stelle so angiebt: puel - lam ne pro mortua habetote, sed dormire existimatote, quippe in vitam mox redituram. Ohnehin, wenn Mat - thäus 11, 5. Jesum sagen läſst: νεκροὶ ἐγείρονται, so seheint er, der sonst keine Todtenerweckung erzählt, eben an die - se gedacht haben zu müssen.
139Neuntes Kapitel. §. 96.Doch auch abgesehen von der falschen Deutung der Worte Jesu hat diese Erklärung noch manche andere Schwierigkeiten. Zwar, daſs sowohl an sich bei manchen Krankheiten Zustände eintreten können, welche dem Tode täuschend ähnlich sehen, als auch insbesondere bei dem schlechten Zustand der Heilkunde unter den damaligen Ju - den eine Ohnmacht leicht für wirklichen Tod genommen werden konnte, ist nicht in Abrede zu stellen. Nun aber, woher soll Jesus gewuſst haben, daſs gerade bei diesem Mädchen ein bloſser Scheintod stattfand? Erzählte ihm auch der Vater den Gang der Krankheit noch so genau, ja, war er mit den Umständen des Mädchens vielleicht vorher schon bekannt, wie die natürliche Erklärung sup - ponirt, immer fragt sich, wie er hierauf so viel bauen konn - te, um, ohne das Kind noch gesehen zu haben, im Wi - derspruch gegen die Versicherung der Augenzeugen, es, nach der rationalistischen Deutung seiner Worte, bestimmt für nicht gestorben zu erklären? Dieſs wäre Vermessenheit gewesen und Unklugheit dazu, wenn nicht anders Jesus auf übernatürlichem Wege von dem wahren Thatbestand sichere Kenntniſs hatte, womit aber der Standpunkt der natürlichen Erklärung verlassen wäre. Nach Jesu Ankunft bei der angeblich Scheintodten schiebt nun Paulus zwi - schen das ἐκράτησε τῆς χειρὸς αὐτῆς und das ἠγέρϑη τὸ κοράσιον, was, bei Matthäus schon enge genug verbunden, die beiden andern Evangelisten durch εὐϑέως und παρα - χρῆμα noch näher zusammenrücken, eine längere Zeit der ärztlichen Behandlung ein, und Venturini weiſs die ange - wandten Mittel sogar im Einzelnen namhaft zu machen11)Natürliche Geschichte, 2, S. 212.. Mit Recht hält gegen solche Willkührlichkeiten Olshausen daran fest, daſs nach der Ansicht der Erzähler der bele - bende Ruf Jesu, und wir können hinzusetzen, die Berüh -140Zweiter Abschnitt.rung seiner mit göttlicher Macht gerüsteten Hand, das Me - dium der Erweckung des Mädchens gewesen sei.
Bei der dem Lukas eigenthümlichen Erweckungsge - schichte (7, 11 ff. ) fehlt der natürlichen Erklärung die Handhabe, die in der zulezt betrachteten der Ausspruch Jesu bot, in welchem er den wirklich erfolgten Tod des Mädchens zu leugnen schien. Dennoch fassen die ratio - nalistischen Ausleger Muth, und knüpfen ihre Hoffnungen hauptsächlich daran, daſs Jesus V. 14. den im Sarge lie - genden Jüngling anredet: anreden aber, sagen sie, könne man doch nicht einen Todten, sondern nur einen solchen, den man des Hörens fähig erkannt habe oder vermuthe12)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 716. Anm. und 719 f.. Allein dieser Kanon würde auch beweisen, daſs die Tod ten alle, welche am Ende der Tage Christus auferwecken wird, nur Scheintodte seien, da sie sonst nicht, wie es doch ausdrücklich heiſst (Joh. 5, 28. vgl. 1. Thess. 4, 16.), seine Stimme hören könnten, — er würde also zu viel be - weisen. Allerdings muſs, wer angeredet wird, als hörend und in gewissem Sinne lebend vorausgesezt werden, aber hier nur insofern, als die Stimme des Todtenerweckers auch in erstorbene Ohren dringen kann. Nächstdem wer - den wir zwar die Möglichkeit, daſs bei der jüdischen Un - sitte, die Todten schon einige Stunden nach deren Ver - scheiden zu begraben, leicht ein bloſs Scheintodter zu Grabe getragen werden konnte, zugeben müssen13)Ders. a. a. O. S. 723.: alles Weitere aber, wodurch gezeigt werden soll, daſs diese Möglichkeit hier Wirklichkeit gewesen, ist ein Gewebe von Erdichtungen. Um zu erklären, wie Jesus, auch ohne den Vorsaz, hier ein Wunder zu thun, sich mit dem Lei - chenzuge einlassen, wie er auf die Vermuthung, der zu Begrabende möchte vielleicht nicht wirklich todt sein, kom - men konnte, wird zuerst fingirt, die beiden Züge, der141Neuntes Kapitel. §. 96.Leichenzug und der Zug der Begleiter Jesu, seien gerade unter dem Stadtthor zusammengetroffen, und da sie einan - der den Weg sperrten, eine Weile aufgehalten worden: geradezu gegen den Text, der erst als Jesus den Sarg anfaſste, die Träger stillestehen läſst. Durch die Erzäh - lung der näheren Umstände des Todesfalls, die er sich während des Stillstands habe geben lassen, gerührt, sei nun Jesus zu der Mutter getreten, und habe, ohne Bezug auf eine zu vollbringende Todtenerweckung, rein nur als tröstenden Zuspruch, die Worte: μὴ κλαῖε zu ihr gespro - chen14)so auch Hase, L. J. §. 87.. Allein was wäre doch das für ein leerer, an - maſsender Tröster, welcher einer Mutter, die ihren einzi - gen Sohn begräbt, nur geradezu das Weinen verbieten wollte, ohne weder reale Hülfe durch Wiederbelebung des Gestorbenen, noch ideale durch ausgesuchte Trostgründe ihr zu bieten? Das Leztere thut nun Jesus nicht: soll er also nicht ganz unzart aufgetreten sein, so muſs er das Erstere im Sinn gehabt haben, und dazu macht er auch alle Anstalt, indem er absichtlich den Sarg anhält und die Träger zum Stehen bringt. Vor dem erweckenden Ruf Jesu schiebt nun die natürliche Erklärung den Umstand ein, daſs Jesus an dem Jüngling irgend ein Lebenszeichen bemerkt, und auf dieses hin entweder unmittelbar, oder nach vorgängiger Anwendung von Medikamenten15)Venturini, 2, S. 293., jene Worte gesprochen habe, welche ihn vollends erwecken halfen. Allein abgesehen davon, daſs jene Zwischenmo - mente in den Text nur eingeschoben sind, und das starke: νεανίσκε, σοὶ λέγω, ἐγέρϑητι, eher dem Machtbefehl eines Wunderthäters als dem Belebungsversuch eines Arztes ähn - lich sieht: wie konnte Jesus, wenn er sich bewuſst war, den Jüngling als lebenden schon angetroffen, nicht selbst erst ihn vom Tode zurückgerufen zu haben, mit gutem Ge -142Zweiter Abschnitt.wissen die Lobpreisungen hinnehmen, welche dem Bericht zufolge die zuschauende Menge dieser That wegen ihm als groſsem Propheten zollte? Nach Paulus war er selber un - gewiſs, wie er den Erfolg anzusehen habe; aber eben wenn er nicht überzeugt war, den Erfolg sich selber zu - schreiben zu dürfen, so erwuchs ihm die Pflicht, alles Lob in Bezug auf denselben abzulehnen, und er kommt, wenn er dieſs nicht that, in ein zweideutiges Licht, in welchem er nach der übrigen evangelischen Geschichte, sofern sie unbefangen aufgefaſst wird, keineswegs steht. Auch hier also müssen wir anerkennen, daſs der Evan - gelist uns eine wunderbare Todtenerweckung erzählen will, und daſs nach ihm auch Jesus seine That als ein Wunder angesehen haben muſs16)vgl. Schleiermacher, a. a. O. S. 103 f..
Je weniger bei der dritten Todtenerweckungsgeschich - te, welche dem johanneischen Evangelium (Kap. 11.) ei - genthümlich ist, weil wir an Lazarus keinen eben Gestor - benen, oder auf dem Weg zum Grabe Befindlichen, son - dern einen schon mehrere Tage Begrabenen vor uns ha - ben, an eine natürliche Erklärung gedacht werden zu kön - nen scheint: desto künstlicher und ausführlicher hat sie sich gerade in Bezug auf diese Erzählung ausgebildet. Und zwar ist hier neben der streng und consequent rationali - stischen Auslegungsweise, welche den evangelischen Be - richt durchaus als geschichtlich festhaltend, alle Theile des - selben natürlich zu deuten sich anheischig macht, auch noch jene andere aufgetreten, welche einzelne Züge des Berichts als solche ausscheidet, die erst nach dem Erfolg hinzugesezt seien, womit also schon ein Schritt in die my - thische Erklärung hinüber gemacht worden ist.
Auf die nämlichen Prämissen wie bei der vorigen Er - zählung gestüzt, daſs sowohl an sich als wegen der jüdi - schen Sitten ein Begrabener wohl nach viertägigem Auf -143Neuntes Kapitel. §. 96.enthalt in einer Felsengruft wieder zum Leben habe kom - men können — eine Möglichkeit, die wir als solche auch hier nicht bestreiten —, beginnt die natürliche Erklärung17)Paulus, Comm. 4, S. 535 ff. L. J. 1, b, S. 55 ff. mit der Voraussetzung, die wir vielleicht schon nicht mehr ebenso passiren lassen sollten, daſs bei dem Boten, den ihm die Schwestern mit der Krankheitsnachricht sandten, Jesus sich genau nach den Umständen der Krankheit er - kundigt haben werde, und nun soll die Antwort, welche er dem Boten gab (V. 4.): αὕτη ἡ ἀσϑένεια ουκ ἔςι πρὸς ϑάνατον κ. τ. λ. eben nur als Schluſs aus den von dem Bo - ten eingezogenen Nachrichten seine Überzeugung ausdrü - cken, daſs die Krankheit nicht tödtlich sei. Mit einer sol - chen Ansicht von dem Zustande des Freundes würde aller - dings das auf's Beste zusammenstimmen, daſs Jesus nach erhaltener Botschaft noch zwei Tage in Peräa blieb (V. 6.), indem er nach jener Voraussetzung seine Anwesenheit in Bethanien für nicht so dringend nothwendig erachten konnte. Nun aber, wie kommt es, daſs er nach Abfluſs dieser zwei Ta - ge nicht nur entschlossen ist, dahin zu reisen (V. 8.), sondern auch von dem Zustand des Lazarus eine ganz andre Ansicht, ja die bestimmte Kunde von seinem Tode hat, welchen er den Jün - gern zuerst verblümt (V. 11.), dann offen (V. 14.) ankündigt? Hier erhält die bezeichnete Erklärungsart einen bedeuten - den Riſs, den sie durch die Fiktion eines zweiten Boten18)Im L. J. 2, b (Textübersetzung) S. 46. scheinen gar nach der im Evangelium erwähnten Sendung noch drei weitere vorausgesezt zu werden., welcher nach Verfluſs der zwei Tage Jesu die Nachricht von des Lazarus indeſs erfolgtem Ableben gebracht habe, nur um so auffallender macht. Denn von einem zweiten Boten kann wenigstens der Verfasser des Evangeliums nichts gewuſst haben, sonst müſste er seiner Erwähnung thun, da die Verschweigung desselben der ganzen Erzäh -144Zweiter Abschnitt.lung eine andre Farbe giebt, die nämlich, daſs Jesus auf wunderbare Weise von dem Tode des Lazarus Kenntniſs gehabt habe. Daſs sofort Jesus, als er entschlossen war, nach Bethanien zu reisen, zu den Jüngern sagte, er wolle den eingeschlummerten Lazarus aufwecken (κεκοίμηται — ἐξυπνίσω — V. 11.), wird auf diesem Standpunkt so er - klärt, Jesus müsse aus den Nachrichten des Boten, der den Tod des Lazarus meldete, irgendwie abgenommen ha - ben, daſs derselbe nur in einem soporösen Zustand sich befinde. Allein hier so wenig als oben können wir Jesu die unkluge Vermessenheit zutrauen, ehe er noch den an - geblich Verstorbenen gesehen hatte, die bestimmte Versi - cherung, daſs er noch lebe, zu geben19)vgl. C. Ch. Flatt, etwas zur Vertheidigung des Wunders der Wiederbelebung des Lazarus, in Süskind's Magazin, 14tes Stück, S. 93 ff.. Auch das hat auf diesem Standpunkt seine Schwierigkeit, daſs Jesus zu seinen Jüngern (V. 15.) sagt, er freue sich um ihretwillen, vor und bei des Lazarus Tode nicht zugegen gewesen zu sein, ἵνα πιςεύσητε. Die Paulus'sche Erklärung dieser Worte, als ob Jesus gefürchtet hätte, der in seiner Gegen - wart erfolgte Tod hätte sie im Glauben an ihn wankend machen können, hat nicht allein das von Gabler Bemerk - te gegen sich, daſs πιςεύω nicht geradezu nur das Nega - tive: den Glauben nicht verlieren, bedeuten kann, was vielmehr durch eine Phrasis, wie: ἵνα μὴ ἐκλείπῃ ἡ πίςις ὑμῶν (s. Luc. 22, 32.) ausgedrückt sein müſste20)Gabler's Journal für auserlesene theol. Literatur, 3, 2, S. 261, Anm., son - dern es ist auch nirgendsher eine solche Vorstellung der Jünger von Jesu als dem Messias nachzuweisen, mit wel - cher das Sterben eines Menschen, oder näher eines Freun - des, in seiner Gegenwart unverträglich gewesen wäre.
Von Jesu Ankunft in Bethanien an wird die evange - lische Erzählung der natürlichen Erklärung etwas günsti -145Neuntes Kapitel. §. 96.ger. Zwar die Anrede der Martha an ihn (V. 21 f.): wä - re er zugegen gewesen, so würde ihr Bruder nicht gestor - ben sein, ἀλλὰ καὶ νῦν οἶδα, ὅτι, ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν ϑεὸν, δώσει σοι ὁ ϑεὸς, scheint unverkennbar die Hoffnung aus - zusprechen, daſs Jesus auch den schon Gestorbenen in das Leben zurückzurufen vermöge; allein daſs sie auf die fol - gende Zusicherung Jesu: ἀναςήσεται ὁ ἀδελφός σου, klein - müthig erwiedert: ja, am jüngsten Tage (V. 24.), thut al - lerdings einer Erklärung Vorschub, welche nun rückwärts auch der obigen Äusserung der Martha (V. 22.) den unbe - stimmten Sinn unterlegt, auch jezt noch, unerachtet er ihren Bruder nicht bei'm Leben erhalten habe, glaube sie an Jesum als an denjenigen, welchem Gott Alles, was er bitte, gewähre, d. h. als den Liebling der Gottheit, den Messias. Allein nicht πιςεύω sagte Martha dort, sondern οἶδα, und die Wendung: ich weiſs, daſs das und das ge - schieht, wenn du nur willst, ist eine gewöhnliche indirekte Form der Bitte, und hier um so unverkennbarer, da der Gegenstand der Bitte aus dem vorausgeschickten Gegensatze dahin klar wird, daſs Martha sagen will: den Tod des Bruders zwar hast du nicht verhindert, aber auch jezt ist es noch nicht zu spät, sondern auf deine Bitte wird ihn Gott dir und uns wieder schenken. Ein Wechsel der Stim - mung, wie er dann in Martha angenommen werden muſs, deren kaum geäusserte Hoffnung in der Erwiederung V. 24. bereits wieder erloschen ist, kann bei einem Weibe, wel - ches hier und sonst als von sehr beweglicher Natur sich zeigt, nicht zu sehr befremden, und wird in unserem Falle durch die Form der vorangegangenen Zusicherung Jesu (V. 23.) hinlänglich erklärt. Auf ihre indirekte Bitte näm - lich hatte Martha eine bestimmte gewährende Zusage er - wartet: da nun Jesus nur ganz allgemein und mit einem Ausdruck antwortet, welchen man auf die Auferstehung am Ende der Dinge zu beziehen gewohnt war (ἀναςήσεται), so giebt sie halb empfindlich halb kleinmüthig jene Erklä -Das Leben Jesu II. Band. 10146Zweiter Abschnitt.rung21)Flatt, a. a. O. S. 102 f.. Eben jene so allgemein lautende Äusserung Je - su aber, so wie die noch unbestimmteren, V. 25 f: ἐγώ εἰμι ἡ ἀνάςασις κ. τ. λ., glaubt man nun rationalistischer - seits dahin deuten zu können, Jesus selbst sei von der Er - wartung eines ausserordentlichen Erfolgs noch entfernt ge - wesen, deſswegen tröste er die Martha bloſs mit der allge - meinen Hoffnung, daſs er, der Messias, den an ihn Glau - bigen die einstige Auferstehung und ein seliges Leben ver - schaffen werde. Da jedoch Jesus oben (V. 11.) zu seinen Jüngern zuversichtlich von einem Aufwecken des Lazarus gesprochen hatte, so müſste er indessen umgestimmt wor - den sein, wozu kein Anlaſs zu finden ist. Auch beruft sich Jesus V. 40, wo er, im Begriff, zur Erweckung des Lazarus zu schreiten, zu Martha sagt: ουκ εἶπόν σοι, ὅτι, ἐὰν πιςεύσῃς, ὄψει τὴν δόξαν τοῦ ϑεοῦ offenbar auf V. 23, in welchem er also schon die vorzunehmende Wiederbele - bung vorhergesagt haben will. Daſs er diese nicht be - stimmter bezeichnet, und das kaum gegebene Versprechen in Bezug auf den ἀδελφὸς V. 25 f. wieder in allgemeine Verheiſsungen für den πιςεύων überhaupt verhüllt, ge - schieht, um den Glauben der Martha zu prüfen und zu stärken22)Flatt, a. a. O., Lücke und Tholuck z. d. St..
Wie nun Maria mit Begleitung herauskommt, und durch ihr Weinen auch Jesus bis zu Thränen erschüttert wird, das ist ein Punkt, auf welchen sich die natürliche Erklärung mit besonderer Zuversicht beruft und fragt, ob Jesus, wenn ihm die Wiederbelebung des Freundes jezt schon gewiſs gewesen wäre, nicht vielmehr mit der innig - sten Freude sich seiner Gruft genähert haben würde, aus der er ihn im nächsten Augenblick lebend wieder hervor - rufen zu können sich bewuſst war? Hiebei wird dann das ἐνεβριμήσατο (V. 33.) und ἐμβριμώμενος (V. 38.) von ge -147Neuntes Kapitel. §. 96.waltsamem Zurückdrängen des Schmerzens über den Tod des Freundes verstanden, der sich hierauf in dem ἐδάκρυ - σεν Luft gemacht habe. Allein sowohl nach der Etymolo - gie, nach welcher es fremere in aliquem oder in se heiſst, als nach der Analogie des N. T. lichen Sprachgebrauchs, wo es Matth. 9, 30. Marc. 1, 43. 14, 5. immer nur im Sinne von increpare aliquem vorkommt, bezeichnet ἐμβριμᾶσϑαι eine Bewegung des Zorns, nicht des Schmerzens, und zwar müſste es hier, wo es nicht mit dem Dativ einer andern Person, sondern mit τῷ πνεύματι und ἐν ἑαυτῷ verbunden ist, von einem stillen, verhaltenen Unwillen verstanden wer - den. In diesem Sinne würde es V. 38, wo es zum zwei - tenmal vorkommt, ganz wohl passen, denn in der voran - gegangenen Äusserung der Juden: οὐκ ἠδύνατο οὗτος, ὁ ἀνοίξας τοὺς ὀφϑαλμοὺς τοῦ τυφλοῦ, ποιῆσαι ἵνα καὶ οὗτος μὴ ἀποϑάνῃ; liegt jedenfalls ein σκανδαλίζεσϑαι, indem Jesu frühere That sie an seinem jetzigen Benehmen, und dieses hinwiederum an jener irre machte. Wo aber das erstemal von einem ἐμβριμᾶσϑαι die Rede ist, V. 33, scheint zwar das allgemeine Weinen Jesum eher zu einer wehmüthigen als unwilligen Bewegung haben veranlassen zu können: doch war auch hier eine starke Miſsbilligung der sich zei - genden ὀλιγοπιστία möglich. Daſs hierauf Jesus selbst in Thränen ausbrach, beweist nur, daſs sein Unwille über die γενεὰ ἄπιςος um ihn her sich in Wehmuth auflöste, nicht aber, daſs Wehmuth von Anfang an seine Empfin - dung war. Endlich, daſs die Juden (V. 36.) die Thränen Jesu als Zeichen auslegten, πῶς ἐφίλει αὐτὸν, dieſs scheint eher gegen als für diejenigen zu sprechen, welche die Ge - müthsbewegung Jesu als Schmerz über den Tod des Freun - des und Mitgefühl mit dessen Schwestern betrachten, da, wie der Charakter der[johanneischen] Darstellung überhaupt eher einen Gegensaz zwischen dem wirklichen Sinn des Be - nehmens Jesu und der Art, wie die Zuschauer es auffaſs - ten, erwarten läſst, so insbesondere οἱ Ἰουδαῖοι in diesem10 *148Zweiter Abschnitt.Evangelium sonst immer diejenigen sind, welche Jesu Worte und Thaten theils miſsverstehen, theils miſsdeuten. Man beruft sich freilich noch auf den sonst so milden Charak - ter Jesu, welchem die Härte nicht angemessen sei, mit wel - cher er hier der Maria und den Übrigen ihr so natürliches Weinen übelgenommen haben müſste23)Lücke, 2, S. 388.: allein dem jo - hanneischen Christus ist eine solche Denkweise keineswegs fremd. Derjenige, welcher dem βασιλικὸς, der ihm mit der unverfänglichen Bitte, zur Heilung seines Sohnes in sein Haus zu kommen, entgegentrat, den Verweis gab: ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τϑ; έρατα ἴδητε, ουμὴ πιςεύσητε (4, 48.); der die Jünger, welche sich an der harten Rede des 6ten Kapitels gestossen hatten, so schneidend mit einem τοῦτο ὑμᾶς σκαν - δαλίζει; und μὴ καὶ ὑμεῖς ϑέλετε ὑπάγειν; anlieſs (6, 61. 67. ); der seine eigene Mutter, als sie bei der Hochzeit zu Kana ihm den Weinmangel klagte, durch das harte: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ, γύναι; abwies (2, 4.); der also jedesmal dann am unwilligsten wurde, wenn Menschen, sein höheres Thun und Denken nicht begreifend, sich kleinmüthig oder zu - dringlich zeigten: der war hier ganz besonders zu ähnli - chem Unwillen veranlaſst. Ist bei dieser Erklärung der Stelle von einem Schmerz Jesu über den Tod des Lazarus gar nicht die Rede, so fällt auch die Hülfe weg, welche die natürliche Erklärung des ganzen Hergangs in diesem Zuge zu finden glaubt; indeſs auch bei der anderen Deu - tung läſst sich die augenblickliche Rührung durch das Mit - gefühl mit den Weinenden gar wohl mit der Voraussicht der Wiederbelebung vereinigen24)Flatt a. a. O. S. 104 f. Lücke, a. a. O.. Und wie hätten sich auch die Worte der Juden V. 37. nach der Behauptung natürlicher Erklärer geeignet, die Hoffnung, daſs Gott auch jezt vielleicht etwas Auszeichnendes für ihn thun werde, in Jesu zuerst anzuregen? Nicht die Hoffnung, daſs er149Neuntes Kapitel. §. 96.den Todten wiedererwecken könne, sondern nur die Ver - muthung, daſs er vielleicht den Kranken am Leben zu er - halten im Stande gewesen wäre, sprachen ja die Juden aus; es hatte also schon früher Martha durch die Äusse - rung, daſs auch jezt noch der Vater ihm gewähren werde, was er bitte, mehr gesagt: so daſs, wenn dergleichen Hoffnungen erst von aussen in Jesu angeregt wurden, die - selben schon früher angeregt sein muſsten, und namentlich vor jenem Weinen Jesu, auf welches man sich dafür, daſs sie noch nicht angeregt gewesen, zu berufen pflegt.
Daſs die Äusserung der Martha, als Jesus den Stein vom Grabe zu nehmen befiehlt: κύριε, ἤδη ὄζει (V. 39.), für die wirklich schon eingetretene Verwesung und also gegen die Möglichkeit einer natürlichen Wiederbelebung nichts beweise, da sie auch bloſser Schluſs aus dem τεταρ - ταῖος sein kann, ist auch von supranaturalistischen Aus - legern eingeräumt worden25)Flatt, S. 106; Olshausen, 2, S. 269.. Hierauf aber die Worte, mit welchen Jesus, die Einrede der Martha ablehnend, auf der Öffnung des μνημεῖον besteht (V. 40.), daſs sie, wenn sie nur glaube, τὴν δοξαν τοῦ ϑεοῦ sehen werde, wie konnte er diese aussprechen, wenn er sich seiner Macht, den Lazarus zu erwecken, nicht auf's Bestimmteste bewuſst war? Nach Paulus sagte jener Ausspruch nur allgemein, daſs der Vertrauensvolle auf irgend eine Weise eine herr - liche Äusserung der Gottheit erlebe. Allein welche herr - liche Äusserung der Gottheit war denn hier, bei Eröffnung der Gruft eines seit vier Tagen Begrabenen zu erleben, wenn nicht die, daſs er auferweckt werden sollte? und im Gegensaz vollends gegen die Versicherung der Martha, daſs den Bruder bereits die Verwesung ergriffen haben müs - se, was können jene Worte für einen Sinn haben, als, hier sei der Mann, der Verwesung zu wehren? Um aber ganz sicher zu erfahren, was die δόξα τοῦ ϑεοῦ in unserer150Zweiter Abschnitt.Stelle sagen will, darf man nur auf V. 4. zurücksehen, wo Jesus gesagt hatte, die Krankheit des Lazarus sei nicht πρὸς ϑάνατον, sondern ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ ϑεοῦ, κ. τ. λ. Hier erhellt doch wohl aus dem Gegensaz: nicht zum To - de, unabweisbar, daſs die δόξα τοῦ ϑεοῦ die Verherrlichung Gottes durch das Leben, also, sofern er jezt bereits todt war, durch die Wiederbelebung des Lazarus bedeutet, — eine Hoffnung, welche Jesus gerade im entscheidendsten Augenblick nicht anzuregen wagen konnte, ohne eine hö - here Gewiſsheit zu haben, daſs sie in Erfüllung gehen wer - de26)Flatt, S. 97 f.. Daſs er sofort nach Eröffnung der Gruft, noch ehe er dem Todten das δεῦρο ἔξω! zugerufen, bereits dem Vater für die Erhörung seiner Bitte dankt, dieſs wird vom Standpunkt der natürlichen Erklärung als der klarste Be - weis dafür angeführt, daſs er den Lazarus nicht durch je - nes Wort erst in das Leben gerufen, sondern beim Hinein - blick in die Gruft ihn bereits wiederbelebt gefunden haben müsse. Ein solches Argument sollte man von Kennern des johanneischen Evangeliums in der That nicht erwarten. Wie gewöhnlich ist es diesem nicht, z. B. in dem Ausspruch: ἐδοξάσϑη ὁ υἱὸς τ. ἀ., das erst noch Bevorstehende und nur erst Angelegte als bereits Verwirklichtes darzustellen; wie passend war es namentlich hier, die Gewiſsheit der Erhö - rung dadurch hervorzuheben, daſs sie als bereits gesche - hene bezeichnet wurde? Und welcher Fiktionen bedarf es nun ferner, um zu erklären, theils wie Jesus das in den Lazarus zurückgekehrte Leben bemerken, theils wie er wieder zum Leben gelangt sein konnte! Zwischen dem Weg - nehmen des Steins, sagt Paulus, und Jesu Dankgebet liegt der Moment des überraschenden Erfolgs; damals muſs Je - sus, noch um einige Schritte entfernt, den Lazarus als ei - nen Lebenden erkannt haben. Woran? müssen wir fra - gen, und wie so schnell und sicher? und warum nur er151Neuntes Kapitel. §. 96.und Niemand sonst? Erkannt möge er ihn haben an Be - wegungen, vermuthet man. Aber wie leicht konnte er sich hierin täuschen bei einem in dunkler Felsengruft lie - genden Todten; wie voreilig, wenn er, ohne erst genauer untersucht zu haben, so schnell und bestimmt die Über - zeugung, daſs er lebe, aussprach! Oder, wenn die Bewe gungen des Todtgeglaubten stark und unverkennbar waren, wie konnten sie den Umstehenden entgehen? Endlich, wie konnte Jesus in seinem Gebet das bevorstehende Faktum als Erkennungszeichen seiner göttlichen Sendung darstel - len, wenn er sich bewuſst war, die Wiederbelebung des Lazarus nicht bewirkt, sondern nur entdeckt zu haben? Für die natürliche Möglichkeit eines Wiederauflebens des schon Begrabenen wird unsre Unkenntniſs der näheren Um - stände seines vermeintlichen Todes, das schnelle Begraben bei den Juden, hierauf die kühle Gruft, die stark duften - den Specereien, und endlich der warme Luftzug angeführt, welcher mit der Abwälzung des Steins belebend in die Gruft strömte. Alle diese Umstände jedoch führen nicht über den niedrigsten Grad der Möglichkeit, welcher der höchsten Unwahrscheinlichkeit gleich ist, hinaus, womit dann die Gewiſsheit, mit welcher Jesus den Erfolg vorausverkün - digt, unvereinbar bleiben muſs27)vgl. auch hierüber vorzüglich Flatt und Lücke..
Eben diese bestimmten Vorhersagen, als das Haupthin - derniſs einer natürlichen Erklärung dieses Abschnitts, sind es daher, welche man, noch vom rationalistischen Stand - punkt aus, durch die Annahme beseitigen wollte, daſs sie nicht von Jesu selbst herrühren, sondern ex eventu vom Referenten hinzugefügt sein mögen. Paulus selbst fand wenigstens das ἐξυπνίσω αὐτὸν (V. 11.) gar zu bestimmt, und wagte daher die Vermuthung, daſs der Erzähler nach dem Erfolge ein milderndes Vielleicht, das Jesus hinzuge -152Zweiter Abschnitt.sezt hatte, weggelassen habe28)So im Commentar, 4, S. 537; im L. J. 1, b, S. 57, und 2, b, S. 46. wird diese Vermuthung nicht mehr angewendet.. Diese Auskunft hat Gabler in erweiterte Anwendung gebracht. Nicht bloſs über den bezeichneten Ausspruch theilt er die Paulus'sche Vermuthung, sondern schon V. 4. ist er geneigt, das ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ ϑεοῦ nur auf Rechnung des Evangelisten zu schreiben; ebenso V. 15., bei dem χαίρω δἰ ὑμᾶς, ἵνα πιςεύ - σητε, ὅτι ουκ ἤμην ἐκεῖ, vermuthet er eine kleine, von Jo - hannes nach dem Erfolg angebrachte Verstärkung; endlich auch bei den Worten der Martha, V. 22.: ἀλλὰ καὶ νῦν οἶδα κ. τ. λ. giebt er dem Gedanken an einen eigenen Zu - saz des Referenten Raum29)a. a. O. S. 272 ff. Wie Gabler diese Äusserungen nicht von Jesu, sondern nur von Johannes, so glaubte sie Dieffenbach, in Bertholdt's krit. Journal, 5, S. 7 ff., auch nicht von Jo - hannes ableiten zu können, und da er das übrige Evangelium für johanneisch hielt, so erklärte er jene Stellen für Inter - polationen.. Durch diese Wendung hat die natürliche Auslegungsweise sich selbst als unfähig be - kannt, mit der johanneischen Erzählung fertig zu wer - den. Denn wenn sie, um sich an derselben geltend ma - chen zu können, mehrere, gerade der bezeichnendsten Stellen ausmerzen muſs, so gesteht sie damit eben, daſs die Erzählung, so wie sie vorliegt, eine natürliche Deu - tung nicht zuläſst. Zwar sind die Stellen, deren Unver - träglichkeit mit der rationalistischen Erklärungsart durch Ausscheidung derselben eingestanden wird, sehr sparsam gewählt: allein aus der obigen Darstellung erhellt, daſs, wollte man alle in diesem Abschnitt vorkommende Züge, welche der natürlichen Ansicht vom ganzen Hergang wi - derstreben, auf Rechnung des Evangelisten schreiben, am Ende nur nicht gar Alles, was hier verhandelt wird, als spätere Erdichtung angesehen werden müſste. Hiemit ist, was bei den früher betrachteten zwei Berichten von Tod -153Neuntes Kapitel. §. 96.tenerweckungen wir gethan haben, bei der lezten und merkwürdigsten Geschichte dieser Art von den verschiede - nen auf einander gefolgten Erklärungsversuchen selbst voll - zogen worden, nämlich die Sache auf die Alternative zu treiben, daſs man von der evangelischen Erzählung entwe - der den Hergang als übernatürlichen hinnehmen, oder, wenn man ihn als solchen unglaublich findet, den histori - schen Charakter der Erzählung leugnen muſs.
Um in diesem Dilemma für alle drei hiehergehörige Erzählungen eine Entscheidung zu finden, müssen wir auf den eigenthümlichen Charakter derjenigen Art von Wundern zurückgehen, welche wir hier vor uns haben. Wir sind bis jezt durch eine Stufenleiter des Wunderbaren aufge - stiegen. Zuerst Heilungen von Geisteskranken; dann von allen Arten leiblich Kranker, deren Organismus aber doch noch nicht bis zum Entweichen des Geistes und Lebens zerrüttet war; nunmehr die Wiederbelebung solcher Kör - per, aus welchen das Leben bereits geflohen ist. Dieser Klimax des Wunderbaren ist zugleich eine Stufenreihe des Undenkbaren. Das nämlich haben wir uns zwar etwa noch vorstellen können, wie eine geistige Störung, bei welcher von den körperlichen Organen nur das dem Geiste zunächst angehörige Nervensystem sich einigermaſsen angegriffen zeigte, auch auf dem rein geistigen Wege des bloſsen Wor - tes, Anblicks, Eindrucks Jesu gehoben werden mochte: je weiter aber in das Körperliche eingedrungen das Übel sich zeigte, desto undenkbarer war uns eine Heilung die - ser Art. Wo bei Geisteskranken das Gehirn bis zur wil - desten Tobsucht, bei Nervenkranken das Nervensystem bis zu periodischer Epilepsie zerrüttet war, da konnten wir uns schon schwer vorstellen, wie durch jene geistige Ein - wirkung bleibende Hülfe geschafft worden sein sollte; noch schwerer, wo die Krankheit ausser allem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Geistigen sich zeigte, wie bei Aus - saz, Blindheit, Lähmung und dergleichen. Immer aber154Zweiter Abschnitt.war doch hier noch etwas vorhanden, woran die Wunder - kraft Jesu, sofern wir sie uns doch geistiger Art denken müssen, sich wenden konnte; es war doch noch ein Be - wuſstsein in den Menschen, auf welches Eindruck zu ma - chen, und durch dessen Vermittlung möglicherweise auch auf den Körper solcher Personen zu wirken war. Nun aber bei Todten ist das anders. Der Gestorbene, dem mit dem Leben auch das Bewuſstsein entflohen ist, hat den lez - ten Anknüpfungspunkt für die Einwirkung des Wunder - thäters verloren, er nimmt ihn nicht mehr wahr, bekommt keinen Eindruck mehr von ihm, da ihm selbst die Fähig - keit, Eindrücke zu bekommen, auf's Neue verliehen wer - den muſs. Diese aber zu verleihen, oder beleben im ei - gentlichen Sinn, ist eine schöpferische Thätigkeit, welche von einem Menschen ausgeübt zu denken, wir unsre Un - fähigkeit bekennen müssen.
Doch auch innerhalb unsrer drei Todtenerweckungs - geschichten selbst findet ein unverkennbarer Klimax statt. Mit Recht hat schon Woolston bemerkt, es sehe aus, wie wenn von diesen drei Erzählungen jede zu der vorange - henden an Wunderbarem hätte hinzufügen wollen, was dieser noch fehlte30)Disc. 5.. Die Jairustochter erweckt Jesus noch auf demselben Lager, auf welchem sie so eben ver - schieden war; den nainitischen Jüngling schon im Sarg und auf dem Wege zur Bestattung; den Lazarus endlich nach viertägigem Aufenthalt in der Gruft. War es in je - ner ersten Geschichte nur durch ein Wort angezeigt, daſs das Mädchen den unterirdischen Mächten verfallen gewe - sen: so wurde dieſs in der zweiten Geschichte durch den Zug, daſs man den Jüngling bereits vor die Stadt hinaus zu Grabe getragen habe, auch für die Anschauung ausge - prägt, am entschiedensten aber ist der längst in der Gruft verschlossene Lazarus als ein bereits der Unterwelt an -155Neuntes Kapitel. §. 96.gehöriger geschildert, so daſs, wenn die Wirklichkeit des Todes im ersten Falle bezweifelt werden konnte, dieſs bei'm zweiten schon schwerer, bei'm dritten so viel wie unmöglich ist31)Bretschneider, Probab. S. 61.. In dieser Abstufung steigt dann auch die Schwierigkeit, die drei Begebenheiten sich denkbar zu machen: wenn anders, wo die Sache selbst undenkbar ist, zwischen verschiedenen Modificationen derselben eine Stei - gerung der Undenkbarkeit stattfinden kann. Wäre näm - lich eine Todtenerweckung überhaupt möglich, so müſste sie wohl eher möglich sein bei einem so eben verschiede - nen, noch lebenswarmen Individuum, als bei einem erkal - teten, das schon zu Grabe getragen wird, und wiederum bei diesem eher als bei einem solchen, an welchem wegen bereits viertägigen Aufenthalts im Grabe der Anfang der Verwesung als eingetreten vorausgesezt, und daſs sich diese Voraussetzung bestätigt habe, wenigstens nicht ver - neint wird.
Doch auch abgesehen von dem Wunderbaren ist von den betrachteten Geschichten immer die folgende theils in - nerlich unwahrscheinlicher, theils äusserlich unverbürgter als die vorhergehende. Was die innere Unwahrscheinlich - keit betrifft, so tritt ein Moment derselben, welches an sich zwar in allen, und somit auch in der ersten liegt, doch bei der zweiten besonders hervor. Als Motiv, war - um Jesus den Jüngling zu Nain erweckte, wird hier das Mitleiden mit seiner Mutter bezeichnet (V. 13.). Damit ist nach Olshausen eine Beziehung dieser Handlung auf den Erweckten selbst nicht ausgeschlossen. Denn der Mensch, bemerkt er, kann als bewuſstes Wesen nie bloſs als Mittel behandelt werden, wie es hier der Fall wäre, wenn man die Freude der Mutter als alleinigen Zweck Jesu bei der Auferweckung des Jünglings betrachten woll - te32)1, S. 276.. Hiedurch hat Olshausen auf dankenswerthe Weise156Zweiter Abschnitt.die Schwierigkeit dieser und jeder Todtenerweckung nicht gehoben, sondern in's Licht gestellt. Denn der Schluſs, daſs, was an sich, oder nach geläuterten Begriffen, nicht erlaubt oder schicklich ist, von den Evangelisten Jesu nicht zugeschrieben werden könne, ist ein durchaus unerlaubter: vielmehr müſste, die Reinheit des Charakters Jesu voraus - gesezt, wenn ihm die Evangelien etwas Unerlaubtes zu - schreiben, auf die Unrichtigkeit ihrer Erzählungen ge - schlossen werden. Daſs nun Jesus bei seinen Todtenerwe - ckungen darauf Rücksicht genommen hätte, ob sie den zu erweckenden Personen, vermöge des Seelenzustands, in welchem sie gestorben waren, zu Gute kommen oder nicht, davon finden wir keine Spur; daſs, wie Olshausen an - nimmt, bei den leiblich Erweckten auch die geistige Erwe - ckung habe eintreten sollen und eingetreten sei, wird nir - gends gesagt; überhaupt treten diese Erweckten, auch den Lazarus nicht ausgenommen, nach ihrer Erweckung durch - aus zurück, weſswegen Woolston fragen konnte, warum doch Jesus gerade diese unbedeutenden Personen dem Tode entrissen habe, und nicht einen Täufer Johannes oder ei - nen andern allgemein nüzlichen Mann? Wollte man sagen, er habe es als den Willen der Vorsehung erkannt, daſs diese Männer, einmal gestorben, im Tode blieben: so hätte er, scheint es, von allen einmal Gestorbenen so denken müssen, und es wird in lezter Beziehung keine andere Ant - wort übrig bleiben, als diese: weil man von berühmten Männern urkundlich wuſste, daſs die durch ihren Tod ent - standene Lücke durch kein Wiederaufleben ausgefüllt wor - den war, so konnte die Sage, was sie von Todtenerwe - ckungen zu erzählen Lust hatte, nicht an solche Namen knüpfen, sondern muſste unbekannte Subjekte wählen, bei welchen jene Controle wegfiel.
Ist dieser Anstoſs allen drei Erzählungen gemein, und tritt bei der zweiten nur eines zufälligen Ausdrucks we - gen sichtbarer hervor: so ist dagegen die dritte Erzählung157Neuntes Kapitel. §. 96.voll von ganz eigenthümlichen Schwierigkeiten, indem das ganze Benehmen Jesu und zum Theil auch der übrigen Personen nicht wohl zu begreifen ist. Wie Jesus die Nachricht von der Krankheit des Lazarus und die darin enthaltene Bitte der Schwestern, nach Bethanien zu kom - men, erhält, bleibt er noch zwei Tage an Ort und Stelle, und sezt sich erst, nachdem er seines Todes gewiſs gewor - den, nach Judäa in Bewegung. Warum dieſs? Daſs es nicht geschah, weil er etwa die Krankheit für ungefährlich gehalten hätte, ist oben gezeigt, da er vielmehr den Tod des Lazarus voraussah. Daſs es ebensowenig Gleichgültig - keit gegen diesen war, wird vom Evangelisten (V. 5.) aus - drücklich bemerkt. Was also sonst? Lücke vermuthet, Jesus sei vielleicht eben in einer besonders gesegneten Wirk - samkeit in Peräa begriffen gewesen, welche er um des La - zarus willen nicht sogleich habe abbrechen wollen, indem er für Pflicht gehalten habe, seinem höheren Beruf als Lehrer den geringeren als heilender Wunderthäter und helfender Freund nachzusetzen33)Comm. 2, S. 376.. Allein neben dem, daſs er hier ganz wohl das Eine thun und das Andre nicht las - sen konnte, nämlich entweder einige Jünger zur Fortse - zung seiner Wirksamkeit in jener Gegend zurücklassen, oder den Lazarus, sei es durch einen Jünger, oder durch die Macht seines Willens in die Ferne heilen, schweigt ja unser Referent völlig über eine solche Veranlassung des längeren Verweilens Jesu, es darf sich also diese Ansicht von demselben nur dann erst, und zwar als bloſse Ver - muthung, hören lassen, wenn vom Evangelisten kein an - derer Grund von Jesu Verweilen angedeutet ist. Dieser liegt aber, worauf auch Olshausen aufmerksam macht, ganz offen in der Erklärung Jesu V. 15., deſswegen sei es ihm lieb, daſs er bei Lazarus Tode nicht gegenwärtig gewesen sei, weil für den Zweck, den Glauben der Jün -158Zweiter Abschnitt.ger zu stärken, die Wiederbelebung des Gestorbenen wirk - samer sein werde, als die Heilung des nur erst Kranken hätte sein können. Absichtlich also hatte Jesus den La - zarus erst sterben lassen, um durch seine wunderbare Er - weckung sich um so mehr Glauben zu verschaffen. Das - selbe im Ganzen fassen Tholuck und Olshausen nur zu mo - ralisch, wenn sie von einer pädagogischen Absicht Jesu reden, den Seelenzustand der Bethanischen Familie und seiner Jünger zu vollenden34)Tholuck, S. 202. Olshausen, 2, S. 260., da es doch nach Ausdrü - cken, wie ἵνα δοξασϑῇ ὁ υἱὸς τ. ϑ. (V. 4. ), vielmehr mes - sianisch um Verbreitung und Befestigung des Glaubens an Jesum als Gottessohn, zunächst freilich in jenem engsten Kreise, zu thun war. Hier ruft zwar Lücke: nimmer - mehr! so willkührlich und eigensinnig hat der Helfer in der Noth, der edelste Menschenfreund, nie gehandelt35)a. a. O., und auch de Wette macht darauf aufmerksam, daſs Jesus sonst niemals seine Wunder absichtlich herbeigeführt oder vergröſsert habe36)Andachtsbuch, 1, S. 292 f.. Allein wenn beide hieraus schlieſsen, es müsse also Jesum irgend etwas Äusseres, ein anderwei - tiges Berufsgeschäft, abgehalten haben: so ist dieſs im Obigen schon als dem Bericht zuwiderlaufend erwiesen, so daſs, wenn jene Männer mit Recht darauf beharren, der wirkliche Jesus habe so nicht handeln können, das aber nur mit Unrecht leugnen, daſs der Verfasser des vierten Evangeliums seinen Jesus so handeln lasse, nichts Ande - res übrig bleibt, als aus dieser Incongruenz des johannei - schen Christus und des denkbar wirklichen mit den Pro - babilien37)S. 59 f. 79. auf den unhistorischen Charakter der johan - neischen Erzählung zu schlieſsen.
Auch das angebliche Benehmen der Jünger V. 12. f. muſs befremden. Wenn ihnen Jesus doch, sofern jeden -159Neuntes Kapitel. §. 96.falls ihre drei Koryphäen dabei gegenwärtig gewesen wa - ren, schon den Tod der Jairustochter als einen bloſsen Schlaf dargestellt hatte: wie konnten sie dann, wenn er nun von Lazarus sagte: κεκοίμηται und ἐξυπνίσω αὐτον, an einen natürlichen Schlaf denken? Aus einem gesunden Schlaf weckt man doch wohl einen Patienten nicht, und so muſste den Jüngern alsbald einfallen, daſs hier vielmehr in dem Sinn, wie bei jenem Mädchen, von einer κοίμησις die Rede sei. Daſs statt dessen die Jünger das tiefer Ge - meinte so oberflächlich verstehen, das ist ja ganz nur die Lieblingsmanier des vierten Evangelisten, die wir schon an einer Reihe von Beispielen kennen gelernt haben. Es war ihm traditionell der Sprachgebrauch Jesu zu Ohren gekommen, den Tod nur als einen Schlaf zu bezeichnen, und alsbald ergab sich in seiner, zu dergleichen Antithe - sen geneigten Phantasie für diese Bilderrede ein entspre - chendes Miſsverständniſs.
Was die Juden V. 37. sagen, ist, die Wahrheit der synoptischen Todtenerweckungen vorausgesezt, schwer be - greiflich. Die Juden berufen sich auf die Heilung des Blindgeborenen (Joh. 9.), und machen den Schluſs, daſs derjenige, welcher diesem zum Gesicht verholfen, wohl auch im Stande gewesen sein müſste, den Tod des Laza - rus zu verhindern. Wie verfallen sie auf dieses heterogene und unzureichende Beispiel, wenn ihnen doch in den bei - den Todtenerweckungen gleichartigere vorlagen, und sol - che, welche selbst noch für den Fall des bereits erfolgten Todes Hoffnung zu geben geeignet waren? Vorangegangen waren aber jene galiläischen Todtenerweckungen dieser judäischen in jedem Fall, weil Jesus nach dieser nicht mehr nach Galiläa kam; auch konnten jene Vorgänge in der Hauptstadt nicht unbekannt geblieben sein, zumal es ja von beiden ausdrücklich heiſst, das Gerücht von densel - ben habe sich εἰς ὅλην τὴν γῆν ἐκείνην, ἐν ὅλῃ τῇ Ἰουδαίᾳ καὶ ἐν πάσῃ τῇ περιχώρῳ verbreitet. Den wirklichen Juden160Zweiter Abschnitt.also hätten diese Fälle näher gelegen: da der vierte Evan - gelist sie auf etwas weit weniger Naheliegendes sich be - rufen läſst, so wird wahrscheinlich, daſs er von jenen Vorgängen nichts gewuſst hat; denn daſs die Berufung nur ihm, nicht den Juden selber angehört, zeigt sich schon darin, daſs er sie gerade auf diejenige Heilung sich bezie - hen läſst, welche er nächstzuvor erzählt hatte.
Ein starker Anstoſs liegt auch in dem Gebete, welches V. 41 f. Jesu in den Mund gelegt wird. Nachdem er dem Vater für die Erhörung gedankt, sezt er hinzu, er für sich wisse wohl, daſs der Vater ihn jederzeit erhöre, und nur um des Volkes willen, um ihm Glauben an seine göttliche Sendung beizubringen, spreche er diesen besonderen Dank aus. Zuerst also giebt er seiner Rede eine Beziehung auf Gott, hinterher aber sezt er diese Beziehung zu einer nur um des Volks willen gemachten herunter. Und dieſs nicht nur so, wie Lücke will, daſs Jesus für sich zwar bloſs still gebetet haben würde, um des Volks willen aber sein Gebet laut spreche (denn für das bloſs stille Beten liegt in der Gewiſsheit der Erhörung kein Grund), sondern in dem Sinne, daſs er für sich dem Vater nicht für einen einzelnen Erfolg, wie gleichsam überrascht, zu danken brauche, da er der Gewährung im Voraus gewiſs sei, also Wunsch und Dank zusammenfallen, überhaupt sein Verhältniſs zum Vater nicht in einzelnen Akten der Bitte, der Erhörung und des Danks sich bewege, sondern ein beständiger und stetiger Austausch dieser gegenseitigen Funktionen sei, aus wel - chem an und für sich kein einzelner Dankakt in dieser Weise sich aussondern würde. Wenn nun allerdings in Bezug auf die Bedürfnisse des Volks und aus Sympathie mit demselben in Jesu ein solcher einzelner Akt hervorge - treten sein könnte: so müſste doch, wenn in dieser Stel - lung Wahrheit gewesen sein soll, Jesus ganz im Mitgefühl aufgegangen sein, den Standpunkt des Volks zu dem sei - nigen gemacht, und so in jenem Augenblicke doch auch161Neuntes Kapitel. §. 96.aus eigenem Trieb und für sich selber gebetet haben. Hier aber hat er kaum zu beten angefangen, so steigt ihm schon die Reflexion auf, daſs er nicht in eigenem Bedürfnisse bete, er betet also nicht aus lebendigem Gefühl, sondern aus kalter Accommodation, und dieſs muſs man anstöſsig, ja widrig finden. In keinem Falle darf, wer auf diese Wei - se nur zur Erbauung Anderer betet, es diesen sagen, es geschehe nicht von seinem, sondern nur von ihrem Stand - punkt aus, weil ein lautes Gebet auf die Hörer nur dann Eindruck machen kann, wenn sie voraussetzen, daſs der Spre - chende mit ganzer Seele dabei sei. Wie mochte also Je - sus sein angefangenes Gebet durch diesen Zusaz unwirk - sam machen? Drängte es ihn, vor Gott ein Bekennt - niſs des wahren Bestands der Sache abzulegen, so konnte er dieſs im Stillen thun; daſs er es laut aussprach, und in Folge dessen auch wir es hier lesen, dieſs könnte nur auf die spätere Christenheit, auf die Leser des Evange - liums, berechnet gewesen sein. Während nämlich zur Erweckung des Glaubens in der umstehenden Menge er - klärtermaſsen das Dankgebet nöthig war, konnte der fort - geschrittene Glaube, wie ihn das vierte Evangelium voraus - sezt, sich an demselben stossen, weil es aus einem zu un - tergeordneten, und namentlich zu wenig stetigen Verhält - niſs des Sohns zum Vater hervorgegangen scheinen konn - te; es muſste folglich jenes Gebet, das für die gegenwär - tigen Hörer nöthig war, für die späteren Leser wieder annullirt, oder auf den Werth einer bloſsen Accommodation restringirt werden. Diese Rücksicht aber kann unmöglich schon Jesus, sondern nur ein später lebender Christ ge - habt haben. Dieſs hat schon früher ein Kritiker gefühlt, und daher den 42. Vers als unächten Zusaz von späterer Hand aus dem Texte werfen wollen38)Dieffenbach, über einige wahrscheinliche Interpolationen im Evangelium Johannis, in Bertholdt's krit. Journal, 5, S. 8 f.. Da jedoch diesesDas Leben Jesu II. Band. 11162Zweiter Abschnitt.Urtheil von allen äusseren Gründen verlassen ist, so müſste man, wenn jene Worte doch nicht von Jesu sein können, annehmen, wozu Lücke früher nicht ganz ungeneigt war39)Comm. z. Joh. 1te Aufl. 2, S. 310., der Evangelist habe Jesu jene Worte nur geliehen, um die in V. 41. vorangegangenen zu erläutern. Ganz gewiſs ha - ben wir hier Worte, die Jesu vom Evangelisten nur gelie - hen sind: aber, wenn einmal diese, wer steht uns dann auch hier dafür, daſs es nur mit diesen sich so verhält? In einem Evangelium, in welchem wir schon so viele Re - den als bloſs geliehene erkannt haben, im Zusammenhang einer Erzählung, welche an allen Enden historische Un - denkbarkeiten hat, ist die Schwierigkeit eines einzelnen Verses nicht ein Zeichen, daſs er nicht zum Übrigen, son - dern in Verbindung mit dem Übrigen davon, daſs das Ganze nicht in die Klasse historischer Compositionen gehört40)So auch der Verf. der Probabilien S. 61..
Was für's Andere die Abstufung zwischen den drei Erzählungen in Rücksicht auf die äussere Beglaubigung be - trifft, so hat schon Woolston richtig beobachtet, wie auf - fallend es sei, daſs nur die Erweckung der Jairustochter, in welcher das Wunderbare am wenigsten hervortrete, bei drei Evangelisten vorkomme, die beiden andern aber je nur bei Einem41)Disc. 5., und zwar, indem es bei der Erweckung des Lazarus noch weit weniger begreiflich ist, wie sie bei den übrigen fehlen kann, als bei der Erweckung des naini - tischen Jünglings, so ist auch hier ein vollständiger Kli - max vorhanden.
Daſs die zulezt genannte Begebenheit nur allein vom Verfasser des Lukasevangeliums erzählt ist, daſs insbeson - dere Matthäus und Markus sie nicht neben oder statt der Erzählung von dem erweckten Mädchen haben, macht in mehr als Einer Hinsicht Schwierigkeit42)Vgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 103 ff.. Schon über -163Neuntes Kapitel. §. 96.haupt als Todtenerweckung, sollte man glauben, da deren nach unsern Berichten nur wenige vorgekommen waren, und diese von ausgezeichneter Beweiskraft sind, es müſste die Evangelisten nicht verdrossen haben, neben der einen auch noch die zweite aufzunehmen, da es ja Matthäus für der Mühe werth gehalten hat, z. B. von Blindenheilungen drei Proben zu berichten, welche doch weit weniger Ge - wicht hatten, wo er also weit eher mit Einer hätte ab - kommen, und statt der übrigen noch eine oder die ande - re Todtenerweckung aufnehmen können. Gesezt aber auch, die zwei ersten Evangelisten wollten aus einem nicht mehr zu ermittelnden Grunde nicht weiter als Eine Todtener - weckungsgeschichte geben, so sollten sie, muſs man mei - nen, weit eher die vom Jüngling zu Nain, sofern sie von derselben wuſsten, ausgewählt haben, als die von der Jai - rustochter, weil sie, wie oben ausgeführt, eine entschiede - nere und auffallendere Todtenerweckung war. Geben sie dessen ungeachtet nur die leztere, so kann von der andern wenigstens Matthäus nichts gewuſst haben; dem Markus freilich lag sie wahrscheinlich im Lukas vor, aber er war schon 3, 7. oder 20. von Lukas 6, 12. (17.) zu Matthäus 12, 15. übergesprungen, und kehrt erst 4, 35. (21 ff. ) zu Lukas 8, 22. (16 ff. ) zurück43)Saunier, über die Quellen des Markus, S. 66 ff., wo er dann die Erweckung des Jünglings (Luc. 7, 11 ff. ) bereits hinter sich hat. Die nunmehr entstehen - de zweite Frage: wie kann die Wiederbelebung des Jüng - lings, wenn sie wirklich vorgegangen war, dem Verfasser des ersten Evangeliums unbekannt geblieben sein? hat, auch abgesehen von dem voraussezlich apostolischen Ur - sprung dieses Evangeliums, doch nicht geringere Schwie - rigkeiten als die vorige. Waren doch ausser vielem Vol - ke auch μαϑηταὶ ἱκανοὶ dabei; der Ort Nain kann, wie Josephus seine Lage im Verhältniſs zum Thabor bestimmt, nicht fern von dem gewöhnlichen galiläischen Schauplaz11 *164Zweiter Abschnitt.der Thätigkeit Jesu gewesen sein44)vgl. Winer, b. Realw. d. A.; endlich verbreitete sich ja das Gerücht von dem Ereigniſs, wie natürlich, weit umher (V. 17.). Schleiermacher meint, die nichtapostoli - schen Verfasser der ersten Aufzeichnungen aus dem Le - ben Jesu haben weniger gewagt, die vielbeschäftigten Apo - stel um Notizen anzugehen, sondern mehr die Freunde Je - su zweiter Ordnung aufgesucht, und hiebei haben sie sich natürlich am meisten an diejenigen Orte gewendet, wo sie die reichste Ernte hoffen konnten, nach Kapernaum und Jerusalem: was sich, wie die in Rede stehende Todtener - weckung, an andern Orten zugetragen, das habe nicht so leicht Gemeingut werden können. Allein diese Vorstellung der Sache ist theils zu subjektiv, indem sie die Verbreitung der Kunde von Jesu Thaten durch Nachfrage einzelner Liebhaber und Anekdotensammler gehen läſst, theils, was damit zusammenhängt, liegt von dergleichen Geschichten die irrige Ansicht zum Grunde, als wären sie an den Plätzen, wo sie vorgegangen, wie träge Klumpen zu Boden gefallen, desselben Orts als todte Schätze verwahrt, und nur denen, die sich an Ort und Stelle bemühten, vorgezeigt worden: statt daſs dieselben, vielmehr von dem Ort, wo sie sich begeben oder gebildet haben, lebendig auffliegen, allenthalben umherschweifen, und nicht selten das Band, das sie mit dem Ort ihrer Entstehung verknüpft, ganz zer - reissen, wie wir an unzähligen wahren oder erdichteten Geschichten täglich sehen, welche als an den verschieden - sten Orten vorgefallen dargestellt werden. Hat sich ein - mal eine solche Erzählung gebildet, so ist sie die Substanz, die angebliche Lokalität das Accidens, keineswegs, wie Schlei - ermacher es wendet, der Ort die Substanz, an welche die Er - zählung als Accidens gebunden wäre. Läſst es sich dem - nach nicht wohl denken, wie eine Begebenheit dieser Art, wenn sie wirklich vorgefallen war, ausser der allgemei - nen Überlieferung bleiben, und daher dem Verfasser des165Neuntes Kapitel. §. 96.ersten Evangeliums unbekannt sein konnte: so ergiebt sich aus der Thatsache, daſs er nichts von derselben weiſs, ein Schluſs gegen ihr wirkliches Vorgefallensein.
Doch mit ungleich schwererem Gewicht fällt dieser Zweifelsgrund auf die Erzählung des vierten Evangeliums von der Auferweckung des Lazarus. Wuſsten die Verfas - ser oder Sammler der drei ersten Evangelien von dieser, so konnten sie aus mehr als Einem Grunde nicht umhin, sie in ihre Schriften aufzunehmen. Denn erstlich ist sie unter sämmtlichen von Jesu vollbrachten Todtenerweckungen, ja unter seinen sämmtlichen Wundern überhaupt dasjenige, dem der Charakter des Wunderbaren am unverkennbarsten aufgeprägt ist, und welches daher, wenn es gelingt, einen von seiner historischen Realität zu überzeugen, eine vor - züglich starke Beweiskraft hat45)Man erinnere sich der bekannten Äusserung von Spinoza., weſswegen die Evan - gelisten, sie mochten schon eine oder zwei andre Todten - erweckungen erzählt haben, doch nicht überflüssig finden konnten, auch diese noch hinzuzufügen. Zweitens aber griff sie, laut der johanneischen Darstellung, entscheidend in die Entwickelung des Schicksals Jesu ein, indem nach 11, 47 ff. der vermehrte Zulauf zu Jesu und das groſse Aufsehen, was die Wiederbelebung des Lazarus herbeige - führt hatte, das Synedrium zu jener Berathschlagung ver - anlaſste, bei welcher der blutige Rath des Kaiphas gege - ben wurde und Eingang fand. Diese doppelte, dogmatische sowohl als pragmatische Wichtigkeit des Ereignisses muſste die Synoptiker nöthigen, es zu erzählen, wenn sie davon wuſsten. Indeſs die Theologen haben allerlei Gründe aus - findig gemacht, warum jene Evangelisten, auch wenn ih - nen die Sache bekannt war, doch nichts von derselben sol - len haben erzählen mögen. Die einen waren der Meinung, zur Zeit der Abfassung der drei ersten Evangelien sei die Geschichte noch in aller Munde, mithin ihre Aufzeichnung166Zweiter Abschnitt.überflüssig gewesen46)Whitby, Annot. 2. d. St.; Andre vermutheten umgekehrt, man habe das weitere Bekanntwerden derselben verhüten wollen, um dem noch lebenden Lazarus, welcher nach Joh. 12, 10. wegen des an ihm geschehenen Wunders von den jüdischen Hierarchen verfolgt wurde, oder seiner Familie, keine Ge - fahr zu bereiten, was in der späteren Zeit, als Johannes sein Evangelium schrieb, nicht mehr zu befürchten gewe - sen sei47)So Grotius, Herder; auch Olshausen bekennt sich vermu - thungsweise zu dieser Ansicht, 2, S. 256 f. Anmerk.. Zwar heben sich nun diese beiden Gründe auf's Schönste gegenseitig auf, und sind auch jeder für sich kaum einer ernsthaften Widerlegung werth: doch sollen, weil ähnliche Ausflüchte auch sonst noch öfter als man glauben möchte, angewendet werden, einige Gegenbemer - kungen nicht gespart sein. Die Behauptung, als in ihrem Kreise allgemein bekannt sei die Wiederbelebung des La - zarus von den Synoptikern nicht aufgezeichnet worden, beweist zu viel, indem auf diese Weise gerade die Haupt - punkte im Leben Jesu, seine Taufe im Jordan, sein Tod und seine Auferstehung, hätten unbeschrieben bleiben müs - sen. Es dient aber eine solche Schrift, die, wie unsre Evangelien, in einer religiösen Gemeinde entsteht, keines - wegs bloſs dazu, Unbekanntes bekannt zu machen, son - dern auch das bereits Bekannte festzuhalten. Gegen die andre Erklärung ist schon von Andern bemerkt worden, das Bekanntwerden dieser Geschichte unter Nichtpalästi - nensern, für welche Markus und Lukas schrieben, habe dem Lazarus nichts schaden können; aber auch der Ver - fasser des ersten Evangeliums, falls er in und für Palästina geschrieben, würde wohl schwerlich aus Rücksicht auf La - zarus, welcher, ohne Zweifel Christ geworden, wenn er auch im unwahrscheinlichen Fall zur Zeit der Abfassung des ersten Evangeliums noch gelebt haben sollte, so wenig167Neuntes Kapitel. §. 96.als seine Familie sich weigern durfte, um des Namens Christi willen zu leiden, ein Faktum verschwiegen haben, in welchem sich dessen Herrlichkeit so besonders geoffen - bart hatte. Die gefährlichste Zeit für Lazarus war nach Joh. 12, 10. die gleich nach seiner Wiederbelebung, und schwerlich konnte eine so spät kommende Erzählung diese Gefahr erhöhen oder erneuern; überhaupt muſste in der Ge - gend von Bethanien und Jerusalem, von woher dem La - zarus die Gefahr drohte, der Vorgang so bekannt sein und im Andenken bleiben, daſs durch Aufzeichnung desselben nichts zu verderben war48)s. diese Argumente zerstreut bei Paulus und Lücke z. d. ALsch. ; bei Gabler in der angef. Abhandl. S. 238 ff. und Hase, L. J. §. 119. Einen neuen Grund, warum namentlich Matthäus von der Auferweckung des Lazarus schweige, hat Heydenreich (über die Unzulässigkeit der mythischen Auffas - sung, 2tes Stück, S. 42.) ausgedacht. Der Evangelist habe sie übergangen, weil sie mit einer Zartheit und Lebendig - keit des Gefühls dargestellt und behandelt sein wolle, zu welcher er sich nicht fähig gefühlt habe. Daher habe der bescheidene Mann sich lieber gar nicht an die Geschichte wagen wollen, als sie in seiner Erzählung an rührender Kraft und Erhabenheit verlieren lassen. — Welche eitle Beschei - denheit diess gewesen wäre!.
Bleibt es also, daſs die Synoptiker von der Auferwe - ckung des Lazarus, von welcher sie nichts erzählen, auch nichts gewuſst haben können, so entsteht auch hier die zweite Frage, wie dieſs Nichtwissen möglich war? Die mysteriöse Antwort Hase's, der Grund dieser Auslassung sei in den gemeinsamen Verhältnissen verborgen, unter welchen die Synoptiker überhaupt von allen früheren Vor - fällen in Judäa schweigen, läſst wenigstens dem Aus - druck nach ungewiſs, ob damit zu Ungunsten des vierten Evangeliums oder der übrigen entschieden sein soll. Ge - rade dieses Beste an der Hase'schen Antwort hat die neue - ste Kritik des Matthäusevangeliums etwas zufahrend ver -168Zweiter Abschnitt.dorben, indem sie jene gemeinsamen Verhältnisse eiligst dahin bestimmte, daſs durch die Unbekanntschaft mit einer Geschichte, die einem Apostel habe bekannt sein müssen, die Synoptiker sich sämmtlich als Nichtapostel beurkun - den49)Schneckenburger, über den Urspr. S. 10.. Durch diese Verzichtleistung auf den aposto - lischen Ursprung des ersten Evangeliums wird sein und der andern Nichtwissen um den Vorgang mit Lazarus noch keineswegs erklärlich. Denn bei der Merkwürdigkeit des Faktums, da es ferner im Mittelpunkte des jüdischen Lan - des vorgefallen war, groſses Aufsehen erregt hatte, und die Apostel als Augenzeugen zugegen gewesen waren: ist gar nicht einzusehen, wie es nicht in die allgemeine Über - lieferung, und aus ihr in die synoptischen Evangelien hätte kommen sollen. Man berief sich darauf, daſs diesen Evan - gelien galiläische Sagen, d. h. mündliche Erzählungen und schriftliche Aufsätze der galiläischen Freunde und Beglei - ter Jesu zum Grunde liegen; diese seien bei der Auferwe - ckung des Lazarus nicht zugegen gewesen, und haben sie also nicht in ihre Denkwürdigkeiten aufgenommen; die Verfasser der ersten Evangelien aber, indem sie sich streng an diese galiläischen Nachrichten hielten, haben die Bege - benheit gleichfalls übergangen50)Gabler, a. a. O. S. 240 f.. Allein so streng läſst sich die Scheidewand zwischen Galiläischem und Judäi - schem nicht ziehen, daſs der Ruf eines Ereignisses wie die Auferweckung des Lazarus nicht auch nach Galiläa hätte hinübertönen müssen; war es auch nicht in einer Festzeit vorgefallen, wo (wie Joh. 4, 45.) viele Galiläer Augen - zeugen sein konnten, so waren doch die Jünger, gröſsern - theils Galiläer, dabei (V. 16.), und muſsten, sobald sie nach Jesu Auferstehung wieder nach Galiläa kamen, das Faktum überall auch in dieser Provinz ausbreiten; oder vielmehr muſsten schon vorher, an dem lezten von Jesu169Neuntes Kapitel. §. 96.besuchten Paschafest, die festbesuchenden Galiläer die stadtkundige Begebenheit erfahren haben. Daher findet auch Lücke diese Gabler'sche Erklärung ungenügend; wenn er aber seinerseits das Räthsel durch die Bemerkung lösen will, daſs die ursprüngliche evangelische Überlieferung, welcher die Synoptiker gefolgt seien, die Leidensgeschichte wenig pragmatisch, also auch ohne Rücksicht auf diese Begebenheit, als das geheime Motiv des Mordbefehls ge - gen Jesum, dargestellt habe, und erst der in die innere Geschichte des Synedriums eingeweihte Johannes im Stande gewesen sei, diese Ergänzung zu geben51)Comm. z. Joh. 2, S. 402.: so könnte zwar hiemit der eine Grund entkräftet zu sein scheinen, der die Synoptiker nöthigen muſste, jene Begebenheit auf - zunehmen, der nämlich, welcher von ihrer pragmatischen Wichtigkeit hergenommen ist; wenn aber hinzugesezt wird, als Wunder an sich und ohne jene näheren Umstände be - trachtet, habe sie sich leicht unter den übrigen Wunderer - zählungen verlieren können, von welchen wir in den drei ersten Evangelien eine zum Theil zufällige Auswahl ha - ben: so erscheint die synoptische Wunderauswahl eben nur dann als eine zufällige, wenn man, was hier erst bewie - sen werden soll, schon voraussezt, daſs die johanneischen Wunder historisch seien, und ist sie nicht bis zum Ver - standlosen zufällig, so kann sie ein solches Wunder nicht verloren haben52)Darf ich mich auch auf eine erst zu druckende Schrift bezie - hen, so werden wir in den Schleiermacher'schen Vorlesun - gen über das Leben Jesu zur Erklärung des fraglichen Still - schweigens darauf verwiesen werden, dass die synoptischen Evangelien überhaupt das Verhältniss Jesu zur Bethanischen Familie ignoriren, weil vielleicht die Apostel eine vertraute persönliche Verbindung dieser Art nicht in die allgemeine Tradition haben übergehen lassen wollen, aus welcher jene Evangelisten schöpften: mit dem Verhältniss Jesu zu dieser.
170Zweiter Abschnitt.Diese und ähnliche Erwägungen sind es wohl gewe - sen, welche einen der neuesten Sprecher in der Streitsa - che des ersten Evangeliums zu einer Rüge der Einseitig - keit veranlaſsten, mit welcher man die obige Frage immer nur zum Nachtheil der Synoptiker und namentlich des Matthäus beantwortet habe, ohne daran zu denken, daſs ebenso nahe eine dem vierten Evangelium gefährliche Ant - wort liege53)Kern, über den Ursprung des Evang. Matth. Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 110., und auch uns schrecken Lücke's Bannstrah - len, welcher auch in der neuen Ausgabe demjenigen, der aus dem Schweigen der Synoptiker auf Erdichtung dieser Erzählung und Unächtheit des johanneischen Evangeliums schlieſst, eine Akrisie sonder Gleichen und gänzlichen Man - gel an Einsicht in das Verhältniſs unsrer Evangelien zu einander (wie es nämlich die geistliche Sicherheit der Theo - logen, auch durch die zum Theil treffenden Winke der Proba -52)Familie überhaupt sei nun auch dieses einzelne auf sie sich beziehende Faktum unbekannt geblieben. Allein was sollte die Apostel zu einem solchen Zurückhalten bewogen haben? sollen wir denn an geheime, oder mit Venturini an zarte Verbindungen denken? sollte bei Jesu nicht auch ein sol - ches Privatverhältniss des Erbaulichen viel gehabt haben? Wirklich enthalten ja die Proben, welche uns Johannes und Lukas von dem Verhältniss Jesu zu der bezeichneten Fami - lie geben, dessen viel, und aus der Erzählung des Lezteren von dem Besuch Jesu bei Martha und Maria sehen wir zu - gleich, dass auch die apostolische Verkündigung keineswegs abgeneigt war, etwas von jenem Verhältniss sehen zu lassen, sofern es allgemeines Interesse gewähren konnte. In dieser Hinsicht ragte nun aber die Auferweckung des Lazarus als eminentes Wunder ohne Vergleichung weiter als jener Be - such mit seinem ἑνός ἐςι χρεία über das Privatverhältniss Je - su zur Bethanischen Familie hinaus: das vorausgesezte Stre - ben, dieses geheim zu halten, konnte der Verbreitung von jener nicht in den Weg treten.171Neuntes Kapitel. §. 96.bilien nicht aufgerüttelt, noch immer festhält) vorwirft, nicht so sehr, um uns von der bestimmten Erklärung zu - rückzuhalten, daſs wir die Erweckungsgeschichte des La - zarus für die wie innerlich unwahrscheinlichste, so äusser - lich am wenigsten beglaubigte halten, und auch diesen Ab - schnitt in Verbindung mit den bisher beleuchteten als Kenn - zeichen der Unächtheit des vierten Evangeliums betrachten.
Sind auf diese Weise alle drei evangelische Todtener - weckungsgeschichten durch negative Gründe mehr oder minder zweifelhaft gemacht, so fehlt jezt nur noch der po - sitive Nachweis, daſs leicht auch ohne historischen Grund die Sage, Jesus habe Todte erweckt, sich bilden konnte. Vom Messias wurde bei seiner Ankunft nach rabbini - schen54)Bertholdt, Christol. Jud. §. 35. wie nach N. T. lichen Stellen (z. B. Joh. 5, 28 f. 6, 40. 44. 1. Kor. 15. 1. Thess. 4, 16.) die Auferweckung der Todten erwartet. Nun war aber die παρουσία des Mes - sias Jesus in der Ansicht der ersten Gemeinde durch sei - nen Tod in zwei Stücke gebrochen: in seine erste vorbe - reitende Anwesenheit, welche mit seiner menschlichen Ge - burt begann und mit der Auferstehung und Himmelfahrt schloſs, und in die zweite, noch zu erwartende Ankunft in den Wolken des Himmels, um den αἰὼν μέλλων wirk - lich zu eröffnen. Da es der ersten Parusie Jesu an der von einem Messias erwarteten Herrlichkeit gefehlt hatte, so wurden die groſsartigen Bethätigungen messianischer Macht, wie namentlich die allgemeine Todtenerweckung, in die zweite, noch bevorstehende Parusie verlegt. Doch muſste, zum Unterpfand für das zu Erwartende, auch schon durch die erste Anwesenheit die Herrlichkeit der zweiten in einzelnen Proben hindurchgeschimmert, Jesus seinen Beruf, einst alle Todte zu erwecken, schon bei sei - ner ersten Ankunft durch Erweckung einiger Todten be - urkundet haben, er muſste, um seine Messianität gefragt,172Zweiter Abschnitt.unter den Kriterien derselben auch das νεκροὶ ἐγείρονται (Matth. 11, 5.) haben aufführen und seinen Aposteln dieselbe Vollmacht ertheilen können (Matth. 10, S. vgl. A. G. 9, 40. 20, 10.), namentlich aber als genaues Vorspiel davon, daſs einst
πάντες οἱ ἐν τοῖς μνημείοις ἀκου̍σονται τῆς φωνῆς αὐτοῦ καὶ ἐκπορεύσονται(Joh. 5, 28 f.), einem
τέσσαρας ἡμέρας ἤδη ἔχοντι ἐν τῷ μνημείῳ φωνῇ μεγάλῃ das δεῦρο ἔξωzu - gerufen haben (Joh. 11, 17. 43.). Für die Entstehung de - taillirter Erzählungen von einzelnen Todtenerweckungen lagen überdieſs im A. T. die geeignetsten Vorbilder. Die Propheten Elias (1. Kön. 17, 17 ff. ) und Elisa (2. Kön. 4, 18 ff. ) hatten Todte erweckt, und darauf berufen sich jüdische Schriften als auf ein Vorbild der messianischen Zeit55)s. die Band 1, S. 73. angeführte Stelle aus Tanchuma.. Objekt ihrer Todtenerweckungen war bei bei - den ein Kind, nur ein Knabe, wie in der den Synoptikern gemeinsamen Erzählung ein Mädchen; beide erweckten es, wie Jesus die Jairustochter, noch auf dem Bette; beide so, daſs sie sich allein in die Todtenkammer begaben, wie Jesus dort Alle ausser wenigen Vertrauten hinauswies; nur braucht wie billig der Messias die mühsamen Mani - pulationen nicht vorzunehmen, durch welche die Prophe - ten zu ihrem Zwecke zu gelangen suchen. Elia im Beson - dern erweckte den Sohn einer Wittwe, wie Jesus zu Nain that; er begegnete der Sareptanischen Wittwe (aber vor dem Tod ihres Sohnes) am Thor, wie Jesus mit der Nainitischen (nach ihres Sohnes Tod) unter dem Stadtthor zusammentraf; endlich wird mit denselben Worten beidemale gemeldet, wie der Wunderthäter den Sohn der Mutter zurückgegeben ha - be56)1 Kön. 17, 23. LXX:‘καὶ ἔδωκεν αὐτὸ τῇ μητρὶ αὐτοῦ.’Luc. 7, 16:‘καὶ ἔδωκεν αὐτὸν τῇ μητρὶ αὐτοῦ.’. Selbst ein bereits in's Grab Gelegter, wie Lazarus, wur - de durch Elisa erweckt (2 Kön. 13, 21.), nur daſs damals der Prophet längst todt war, und die Berührung seiner Gebeine den173Neuntes Kapitel. §. 97.zufällig darauf geworfenen Leichnam belebte; zwischen den zuvor angeführten A. T. lichen Todtenerweckungen aber und der des Lazarus besteht darin eine Ähnlichkeit, daſs Jesus, während er bei den beiden andern geradezu gebie - tend auftritt, bei dieser zu Gott betet, wie Elisa und namentlich Elia gethan hatte. Während nun Paulus auch auf diese A. T. lichen Erzählungen seine an den evangeli - schen vollzogene natürliche Erklärung ausdehnt: haben wei - tersehende Theologen längst bemerkt, daſs die N. T. lichen Todtenerweckungen nichts Anderes als Mythen seien, ent - standen aus der Neigung der ältesten Christengemeinde, ihren Messias dem Vorbilde der Propheten und dem mes - sianischen Ideale gemäſs zu machen57)So der Verf. der Abhandlung über die verschiedenen Rücksich - ten, in welchen der Biograph Jesu arbeiten kann, in Ber - tholdt's krit. Journal, 5, S. 237 f. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 202. — Eine der Erweckung des Jünglings zu Nain auffal - lend ähnliche Todtenerweckung weiss Philostratus von sei - nem Apollonius zu erzählen: „ Wie es nach Lukas ein Jüng - ling, der einzige Sohn einer Wittwe, war, der schon vor die Stadt hinausgetragen wurde: so ist es bei Philostratus ein erwachsenes, schon dem Bräutigam verlobtes Mädchen, dessen Bahre Apollonius begegnet. Der Befehl, die Bahre niederzusetzen, die blosse Berührung und wenige ausgespro - chene Worte reichen hier wie dort hin, den Todten wieder zum Leben zu bringen “(Baur, Apollonius v. Tyana und Christus, S. 145). Ich möchte wissen, ob vielleicht Paulus oder wer sonst Lust hätte, auch diese Erzählung natürlich zu erklären; wenn man sie aber, wie man wohl nicht um - hin kann, als Nachbildung der evangelischen fassen muss:.
Wie überhaupt, wenigstens nach der Darstellung der drei ersten Evangelisten, die Umgegend des galiläischen174Zweiter Abschnitt.Sees Hauptschauplaz der Thätigkeit Jesu war: so steht auch eine ziemliche Anzahl seiner Wunder mit dem See in unmittelbarer Beziehung. Eines von dieser Gattung, der dem Petrus bescheerte wunderbare Fischzug, hat sich uns bereits zur Betrachtung dargeboten; übrig sind nun noch die wunderbare Stillung des Sturms, der, während Jesus schlief, auf dem See entstanden war, bei den drei Synop - tikern; das Wandeln Jesu auf dem See, gleichfalls wäh - rend eines Sturms, bei Matthäus, Markus und Johannes, die Zusammenfassung der meisten dieser Momente, welche der Anhang des vierten Evangeliums in die Zeit nach der Auferstehung verlegt; endlich der von Petrus zu erangeln - de Stater bei Matthäus.
Die zuerst genannte Erzählung (Matth. S, 23 ff. parall. ) will uns ihrer eigenen Schluſsformel zufolge Jesum als denjenigen darstellen, welchem οἱ ἄνεμοι καὶ ἡ ϑάλασσα ὑπακου̍0223; σιν. Es wird also, wenn wir den bisherigen Wun - derklimax verfolgen, hier nicht bloſs vorausgesezt, daſs Jesus auf den menschlichen Geist und durch diesen auf den Körper psychologisch, oder auf den vom Geist verlassenen menschlichen Organismus neu belebend, auch nicht bloſs, wie in der früher erwogenen Fischzugsgeschichte, daſs er auf die vernunftlose aber lebendige Natur, sondern, daſs er selbst auf die leblose unmittelbar bestimmend habe einwirken können. Durch ein richtiges Bewuſstsein davon, wie eine solche Gewalt über die äussere Natur mit der Bestimmung Jesu für die Menschheit und ihre Erlösung57)so gehört schon eine vorgefasste Meinung von dem Charak - ter der N. T. lichen Bücher dazu, um der Consequenz aus - zuweichen, dass ebenso die in ihnen sich findenden Todten - erweckungen nur minder absichtlich entstandene Nachbildun - gen jener A. T. lichen seien, welche selbst aus dem Glauben des Alterthums an die den Tod bezwingende Kraft gottge - liebter Männer (Herkules, Äsculap), und näher aus den jü - dischen Begriffen von einem Propheten abzuleiten sind.175Neuntes Kapitel. §. 97.an sich nicht zusammenhänge, ist Olshausen auf den Ver - such geführt worden, das Naturereigniſs, welchem Jesus hier Einhalt thut, in eine Beziehung zur Sünde, und da - mit zum Beruf Jesu zu setzen. Die Stürme sind ihm die Krämpfe und Zuckungen der Natur, und als solche Fol - gen der Sünde, welche in ihrer furchtbaren Wirksamkeit auch die physische Seite des Daseins zerrüttet hat1)b. Comm. 1, S. 287.. Al - lein nur eine Naturbeobachtung, welche über dem Einzel - nen das Allgemeine vergiſst, kann Stürme, Gewitter u. dgl. die im Zusammenhang des Ganzen ihre nothwendige Stelle und wohlthätige Wirkung haben, als Übel und Abnormi - täten betrachten, und eine Weltansicht, welche im Ernst der Meinung ist, vor und ohne den Sündenfall würde es keine Stürme und Gewitter, wie andrerseits keine Gift - pflanzen und reissende Thiere, gegeben haben, streift — man weiſs nicht, soll man sagen, an das Schwärmerische oder an das Kindische. Wozu aber, wenn sich die Sache auf diese Weise nicht fassen läſst, bei Jesu eine solche Macht über die Natur? Als Mittel, ihm Glauben zu erwe - cken, war sie unzureichend und überflüssig; denn einzelne Gläubige fand Jesus auch ohne diese Art von Machtbewei - sen, und allgemeinen Anhang verschafften ihm auch diese nicht. Als Bild der ursprünglichen Herrschaft des Men - schen über die äussere Natur, zu deren Wiedererlangung er bestimmt ist, kann sie ebensowenig betrachtet werden, denn der Werth dieser Herrschaft besteht eben darin, daſs sie eine vermittelte, durch das fortgesetzte Nachdenken und die vereinigte Anstrengung von Jahrhunderten der Natur abgerungene, nicht aber eine unmittelbare, magische ist, welche nur ein Wort kostet. So ist in Bezug auf den Theil der Natur, von welchem hier die Rede ist, der Kompaſs, das Dampfschiff, eine ungleich wahrere Verwirk - lichung der Herrschaft des Menschen über dieselbe, als176Zweiter Abschnitt.die Beschwichtigung des Meeres durch ein bloſses Wort gewesen wäre. Die Sache hat aber noch eine andere Sei - te, indem die Herrschaft des Menschen über die Natur nicht bloſs eine in sie eingreifende, praktische, sondern auch eine immanente oder theoretische ist, vermöge wel - cher der Mensch, auch wo er äusserlich der Macht des Elementes unterliegt, doch innerlich nicht von derselben besiegt wird, sondern in der Überzeugung, daſs die Na - turgewalt nur das Natürliche an ihm zu zerstören vermö - ge, sich in der Selbstgewiſsheit des Geistes über den mög - lichen Untergang seiner Natürlichkeit emporhebt. Diese geistige Macht, sagt man, bewies Jesus, indem er mitten im Sturme ruhig schlief, und, von den zagenden Jüngern aufgeweckt, ihnen Muth einsprach. Da jedoch, wenn Muth bewiesen werden soll, wirkliche Gefahr vorhanden sein muſs, für Jesum aber, sofern er sich als die unmit - telbare Macht über die Natur wuſste, eine solche gar nicht vorhanden war: so hätte er auch von dieser theoretischen Macht keine wahre Probe hier abgelegt.
In beiden Hinsichten hat die natürliche Erklärung in der evangelischen Erzählung nur das Denkbare und Wün - schenswerthe Jesu zugeschrieben finden wollen, nämlich einerseits verständige Beobachtung des Gangs der Witte - rung, andererseits hohen Muth bei wirklicher Gefahr des Untergangs. Das ἐπιτιμᾷν τοῖς ἀνέμοις soll nur in einem Sprechen über den Sturm, in einigen Ausrufungen über seine Heftigkeit, das Stillegebieten in der auf Beobachtung gewisser Zeichen gegründeten Voraussage bestanden haben, daſs der Sturm sich nun wohl bald legen werde, und der Zuspruch an die Jünger soll, wie jener bekannte von Cä - sar, nur aus dem Vertrauen hervorgegangen sein, daſs ein Mann, auf welchen in der Weltgeschichte gerechnet sei, nicht so leicht durch Zufälle aus seiner Bahn herausge - worfen werde. Daſs hierauf die im Schiff Befindlichen die Stillung des Sturms als Wirkung der Worte Jesu angese -177Neuntes Kapitel. §. 97.hen haben, beweise nichts, da ja Jesus ihre Deutung nir - gends billige2)so Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 468 ff. Venturini, 2, S. 166 ff. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 197. Auch Hase, §. 74, findet die - se Ansicht möglich.. Doch auch miſsbilligt hat er sie nicht, unerachtet er den Eindruck wohl bemerken muſste, wel - chen von der bezeichneten Ansicht aus der Erfolg auf die Leute gemacht hatte; er müſste also absichtlich, wie Ven - turini wirklich annimmt, ihre hohe Meinung von seiner Wundermacht nicht haben stören wollen, um sie desto fester an sich zu knüpfen. Noch ganz abgesehen hievon aber, wie sollte die natürlichen Vorzeichen von dem Ende des Sturmes Jesus, der nie einen Beruf auf dem See ge - habt hatte, besser verstanden haben, als ein Petrus, Ja - kobus, Johannes, welche von Jugend an auf demselben einheimisch waren3)Hase, a. a. O.? Endlich, wie konnte, wenn Mat - thäus, zwar damals noch nicht in der Gesellschaft Jesu, doch ohne Zweifel von den übrigen Jüngern als Augen - zeugen den Hergang vernommen hat, von diesen dem blo - sen Räsonniren Jesu über das Wetter der Sinn eines ἐπι - τιμᾷν gegeben werden?
Es bleibt also dabei: so, wie die Evangelisten uns den Vorgang erzählen, müssen wir in demselben ein Wun - der erkennen; dieses nun aber vom exegetischen Ergeb - niſs zum wirklichen Faktum zu erheben, fällt nach dem oben Ausgeführten äusserst schwer, woraus gegen den hi - storischen Charakter der Erzählung ein Verdacht erwächst. Näher jedoch läſst sich, den Matthäus zum Grund gelegt, gegen die Erzählung bis zur Mitte von V. 26. nichts ein - wenden, sondern Jesus könnte bei seinen öfteren Fahrten auf dem galiläischen See wirklich einmal geschlafen haben, als ein Sturm ausbrach, die Jünger könnten ihn mit Sehre - cken erweckt, er aber ruhig und gefaſst das τί δειλοί ἐςε, ὀλιγόπιςοι; zu ihnen gesprochen haben. Was dann wei -Das Leben Jesu II. Band. 12178Zweiter Abschnitt.ter folgt, das ἐπιτιμῆν τῇ ϑαλάσσῃ, welches Markus wie - der mit seiner bekannten Vorliebe für solche Machtworte mit den angeblich eigenen Ausdrücken Jesu nach griechi - scher Übersetzung (σιώπα, πεφίμωσο!) wiedergiebt, der Erfolg und der Eindruck, könnte in der Sage hinzugefügt worden sein. Daſs ein solches ἐπιτιμᾷν τῇ ϑαλάσσῃ Jesu angedichtet werden konnte, dazu lag die Veranlassung im A. T. Hier wird in poëtischen Darstellungen des Durch - gangs der Israëliten durch das rothe Meer Jehova als der - jenige bezeichnet, welcher ἐπετίμησε τῇ ἐρυϑρᾷ ϑαλάσσῃ (Ps. 106, 9. LXX. vgl. Nahum 1, 4.), daſs sie zurückwei - chen sollte. Da nun das Werkzeug dieser Zurückweisung des rothen Meers Moses gewesen war (2 Mos. 14, 16. 21. ), so lag es nahe, seinem groſsen Nachfolger, dem Messias, eine ähnliche Funktion zuzuschreiben, wie denn wirklich nach rabbinischen Stellen in der messianischen Zeit ein ähnliches Austrocknen des Meeres, von Gott — ohne Zwei - fel durch den Messias — bewirkt, erwartet wurde, wie einst Moses eines herbeigeführt hatte4)s. Band 1, S. 73, Anmerk.. Daſs Jesu hier statt des Austrocknens nur ein Stillen des Meers zuge - schrieben wird, erklärt sich, wenn man den Sturm und die dabei von Jesu bewiesene Fassung historisch nimmt, eben aus dem Anknüpfen des Mythischen an diese ge - schichtliche Grundlage, wo ein Austrocknen des Sees, da sie ja zu Schiffe waren, nicht an der Stelle gewesen wäre.
Immerhin indeſs ist es ohne sicheres Beispiel, und auch an sich unwahrscheinlich, daſs auf den Stamm eines wirklichen Vorfalls ein mythischer Zusaz in der Art ge - pfropft worden wäre, daſs jener völlig unverändert blieb. Und Ein Zug ist schon in jenem bisher als historisch vor - ausgesezten Stücke, welcher, näher angesehen, sich doch eher dafür giebt, in der Sage gedichtet, als wirklich so vorgefallen zu sein. Daſs nämlich Jesus vor dem Aus -179Neuntes Kapitel. §. 97.bruch des Sturmes einschlief, und auch als er ausbrach, nicht sogleich erwachte, das war nicht seine That, son - dern Zufall; eben dieser Zufall aber ist es, welcher der ganzen Scene erst ihre volle Bedeutung giebt; denn der im Sturm schlafende Jesus ist durch den Contrast, wel - cher darin liegt, ein nicht minder sinnvolles Bild, als der nach so vielen Stürmen im Schlaf an der heimischen Insel landende Odysseus. Daſs nun Jesus wirklich bei'm Aus - bruch eines Sturms geschlafen, kann zwar von Ungefähr in Einem Falle unter zehn geschehen sein: auch in den neun Fällen aber, wo es nicht geschehen war, sondern Je - sus nur überhaupt im Sturme gefaſst und muthig sich zeig - te, würde, glaube ich, die Sage ihren Vortheil so weit ver - standen haben, daſs sie den Contrast der Seelenruhe Jesu mit dem Toben der Elemente, wie er sich für den Ge - danken in den Worten Jesu ausdrückte, so für die An - schauung in das Bild des im Schiffe (oder wie Markus malt5)vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 82., auf einem Kissen im Hintertheil des Schiffs) schla - fenden Jesus zusammenfaſste. Wenn so, was in Einem Falle vielleicht sich wirklich ereignet hat, in neun Fällen von der Sage producirt werden muſste: so ist doch wohl wahrscheinlicher, daſs wir hier einen dieser neun, als daſs wir jenen Einen Fall vor uns haben. Bliebe auf die - se Weise als historische Grundlage nichts mehr übrig, als daſs Jesus im Gegensaz zu tobenden Meereswellen den Glaubensmuth seiner Jünger in Anspruch genommen, so muſs er dieſs nicht gerade mitten in einem Seesturm oder überhaupt zur See gethan haben, sondern, so gut er bild - lich sagen konnte: wenn ihr Glauben habt nur eines Senf - korns groſs, so seid ihr im Stande, zu diesem Berg zu sprechen: hebe dich weg und wirf dich in's Meer (Matth. 21, 21.), oder zu diesem Baume: entwurzle dich und pflan - ze dich in den Meeresgrund (Luc. 17, 6.), und beides mit12 *180Zweiter Abschnitt.Erfolg (καὶ ὑπήκ0223σεν ἂν ὑμῖν, Luc.): so konnte auch, sei es er sich des Bildes bedienen, oder die Sage es ihm nach - bildend leihen, daſs demjenigen, der Glauben habe, Wind und Wellen auf das Wort gehorsam seien (ὅτι καὶ τοῖς ἀνέμοις ἐπιτάσσει καὶ τῷ ὕδατι, καὶ ὑπακου̍0223; σιν αὐτῷ Luc.). Bringen wir nun noch in Rechnung, was auch Olshausen bemerkt, und Schneckenburger belegt hat6)Über den Ursprung u. s. f. S. 68 f., daſs der Kampf des Gottesreichs mit der Welt in der ersten christ - lichen Zeit gerne mit einer Fahrt durch einen stürmischen Ocean verglichen wurde: so sieht man, wie leicht die Sa - ge dazu kommen konnte, aus der Parallele mit Moses, aus Äusserungen Jesu, und aus ihrer Vorstellung von ihm als demjenigen, welcher das Schifflein des Gottesreichs durch die empörten Wogen des κόσμος sicher hindurchsteuert, eine solche Erzählung zusammenzusetzen. Oder, abgese - hen hievon, die Sache nur allgemein vom Begriff eines Wunderthäters aus betrachtet, findet man z. B. auch ei - nem Pythagoras ähnliche Macht über Sturm und Unwetter zugeschrieben7)Nach Jamblich. vita Pyth. 135, ed. Kiessling, wurden von Pythagoras erzählt ἀνέμων βιαίων χαλαζῶν τε χύσεως παραυτίκα κατευνήσεις καὶ κυμάτων ποταμίων τε καὶ ϑαλασοίων ἀπευδιασμοὶ πρὸς εὐμαρῆ τῶν ἑταίρων διάβασιν. Vgl. Porphyr. v. P. 29. ders. Ausg..
Verwickelter als diese erste ist die andere See - und Sturmgeschichte, welche dem Lukas fehlt, dagegen aber neben Matth. 14, 22 ff. und Marc. 6, 45 ff. sich auch bei Johannes, 6, 16 ff., findet, wo der Sturm die in der Nacht allein schiffenden Jünger überfällt, und sofort Jesus, über den See daherwandelnd, zu ihrer Rettung erscheint. Wäh - rend auch hier mit Jesu Eintritt in das Schiff wunderba - rer Weise der Sturm sich legt, bildet doch den eigentli - chen Knoten der Erzählung dieſs, daſs in derselben der181Neuntes Kapitel. §. 97.Leib Jesu von einem Gesetze, welches sonst ausnahmslos alle menschlichen Leiber in seinen Banden hält, von dem Gesez der Schwere, so sehr ausgenommen erscheint, daſs er im Wasser nicht nur nicht unter -, sondern selbst nicht einsinkt, vielmehr über die Wellen wie über festen Boden sich emporhält. Da müſste man sich den Leib Jesu in ir - gend einer Art als einen ätherischen Scheinkörper denken, wie die Doketen thaten, eine Vorstellung, welche, wie von den Kirchenvätern als eine irreligiöse, so von uns als eine abenteuerliche zurückgewiesen werden muſs. Zwar sagt Olshausen, an einer höheren Leiblichkeit, geschwän - gert mit Kräften einer höheren Welt, dürfe eine solche Erscheinung nicht befremden8)a. a. O. S. 491.: doch das sind Worte, mit welchen sich kein bestimmter Gedanke verbindet. Wenn man die den Leib verklärende und vollendende Thätigkeit des Geistes Jesu, statt sie als eine solche zu fassen, welche seinen Leib den psychischen Gesetzen der Lust und Sinn - lichkeit immer vollständiger entnahm, vielmehr so versteht, daſs derselbe durch sie den physischen Gesetzen der Schwe - re enthoben worden sei: so ist dieſs ein Materialismus, von welchem, wie oben, schwer zu entscheiden ist, ob man ihn mehr phantastisch nennen soll oder kindisch. Ein Jesus, der im Wasser nicht einsänke, wäre ein Gespenst, und die Jünger in unserer Erzählung hätten ihn nicht mit Un - recht dafür gehalten. Auch daran müssen wir uns erin - nern, daſs bei seiner Taufe im Jordan Jesus diese Eigen - schaft nicht zeigte, sondern ordentlich wie ein anderer Mensch untertauchte. Hatte er nun auch damals schon die Fähigkeit, sich über der Wasserfläche zu halten, und wollte sie nur nicht gebrauchen? und war es also ein Akt seines Willens, sich schwer oder leicht zu machen? oder aber, wie Olshausen vielleicht sagen würde, war er zur Zeit seiner Taufe im Proceſs der Läuterung seines Körpers noch182Zweiter Abschnitt.nicht so weit gekommen, daſs ihn das Wasser frei getra - gen hätte, sondern so weit hätte er es erst später gebracht? — Fragen, die wir nur machen, um einen Blick in den Abgrund von Ungereimtheiten zu eröffnen, in welche man sich bei der supranaturalistischen Deutung dieser Erzäh - lung verwickelt.
Sie zu vermeiden, hat die natürliche Erklärung man - cherlei Wendungen genommen. Am kühnsten hat Paulus geradezu behauptet, es stehe gar nicht im Text, daſs Je - sus auf dem Meere gegangen, das Wunder in dieser Stelle sei lediglich ein philologisches, indem das περιπατεῖν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης nur, wie 2 Mos. 14, 2. das ςρατοπεδεύειν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης ein Lagern, so ein Wandeln über dem Meer, d. h. am erhabenen Ufer desselben, bedeute9)Paulus, Memorabilien, 6. Stück, No. V.; ex. Handb. 2, S. 238 ff.. Der Be - deutung der einzelnen Worte nach ist diese Erklärung mög - lich: ihre wirkliche Anwendbarkeit aber muſs sich erst aus dem Zusammenhang ergeben. Dieser nun läſst die Jün - ger 25 — 30 Stadien weit gefahren sein (Joh.) oder mitten im See sich befinden (Matth. u. Mark. ), und nun heiſst es, Jesus sei auf sie zu -, und zwar so nahe, daſs er mit ih - nen sprechen konnte, an das Schiff herangekommen, περι - πατῶν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης — wie konnte er dieſs, wenn er am Ufer blieb? Dieser Instanz auszuweichen, vermuthet Paulus, die Jünger seien in der stürmischen Nacht wohl nur am Ufer hingefahren: was dem ἐν μέσῳ τῆς ϑαλάσ - σης, wenn es auch allerdings nicht mathematisch genau, sondern nach populärer Redeweise zu nehmen ist, zu ent - schieden widerspricht, um in weitere Rücksicht kommen zu können. Tödtlich aber verlezt sich diese Auffassungs - weise an der Stelle, wo Matthäus auch von Petrus sagt, daſs er καταβὰς ἀπὸ τοῦ πλοίουπεριεπάτησεν ἐπὶ τὰ ὕδατα (V. 29.), was, da unmittelbar darauf von καταποντίζεσϑαι183Neuntes Kapitel. §. 97.die Rede ist, doch wohl kein Wandeln am Ufer sein kann, und wenn dieses nicht, dann auch nicht das wesentlich ebenso bezeichnete Wandeln Jesu10)Gegen die höchst gewaltsame Auskunft, welche hier Paulus traf, s. Storr, Opusc. acad. 3, p. 288..
Aber, wenn Petrus bei seinem περιπατεῖν ἐπὶ τὰ ὕδατα zu sinken anfieng, könnte da nicht bei ihm sowohl als bei Jesus an ein Schwimmen auf dem See oder an ein Waten durch seine Untiefen zu denken sein? Beide Ansichten sind wirklich aufgestellt worden11)Jene von Bolten, Bericht des Matthäus z. d. St., diese in Henre's neuem Magazin, 6, 2, S. 327 ff.. Allein das Waten müſste durch περιπατεῖν διὰ τ. ϑ. ausgedrückt, um das Schwimmen zu bezeichnen aber doch irgend einmal in den parallelen Stellen der uneigentliche Ausdruck mit dem ei - gentlichen vertauscht sein; abgesehen davon, daſs 25 — 30 Stadien im Sturm zu schwimmen, oder bis gegen die Mitte des gewiſs nicht so weit hinein seichten Sees zu waten, beides gleich unmöglich sein muſste, ferner ein Schwim - mender nicht leicht für ein Gespenst gehalten werden konn - te, und endlich die Bitte des Petrus um besondere Erlaub - niſs, es Jesu nachzuthun, und daſs er wegen Mangels an Glauben es nicht vermochte, auf etwas Übernatürliches hinweist12)vgl. Paulus und Fritzsche z. d. St..
Das Räsonnement, worauf auch hier die natürliche Ausle - gungsweise beruht, hat bei dieser Gelegenheit Paulus in einer Weise ausgesprochen, an welcher der zum Grunde liegende Irrthum besonders glücklich in die Augen fällt. Die Frage, sagt er, bleibe in solchen Fällen immer die, ob die Möglichkeit eines nicht ganz genauen Ausdrucks von Seiten der Schriftsteller, oder eine Abweichung vom Na - turlauf das Wahrscheinlichere sei? Man sieht, wie falsch das Dilemma gestellt ist, da es vielmehr nur heiſsen sollte,184Zweiter Abschnitt.ob es wahrscheinlicher sei, daſs der Verfasser sich unge - nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder daſs er eine Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede: was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem immerwährenden Paulus'schen Reden von Unterscheidung des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar - aus, daſs unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs, daſs ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche nicht annehmen und berichten konnte13)s. die treffliche Stelle bei Fritzsche, Comm. in Matth. p. 505.: um also das Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise des Geschichtlichen auszuschlieſsen ist. Und in dieser Hin - sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei - genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig sind.
Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem Meer gegen die Jünger dahergekommen, καὶ ἤϑελε παρελϑεῖν αὐτοὺς, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet Fritzsche diese Stelle so, daſs Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber mit eben so vielem Rechte fragt Paulus: hätte etwas zweck - loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames Wunder zu thun, ohne daſs es gesehen werden sollte? Nur daſs man deſswegen nicht mit diesem Ausleger den Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der185Neuntes Kapitel. §. 97.Stelle dem Geist unsres Schriftstellers vollkommen ange - messen ist. Nicht zufrieden mit der Darstellung seines Ge - währsmanns, daſs Jesus mit besondrer Rücksicht auf die Jünger dieſsmal einen so ausserordentlichen Weg gemacht habe, giebt er durch jenen Zusaz der Sache die Wendung, als wäre Jesu ein solches Gehen auf dem Wasser so na - türlich und gewöhnlich gewesen, daſs er auch ohne Rück - sicht auf die Jünger, wo ihm ein Wasser im Wege lag, seine Straſse über dasselbe so unbedenklich, wie über fe - stes Land, nahm. Daſs nun ein solches Gehen bei Jesu ha - bituell gewesen, dieſs würde am entschiedensten eine Ols - hausen'sche Leibesverklärung, mithin das Undenkbare, vor - aussetzen, wodurch sich dieser Zug als einer der stärk - sten von jenen zu erkennen giebt, durch welche das zweite Evangelium sich hin und wieder der apokryphischen Über - treibung nähert14)Des Markus Neigung zum Übertreiben zeigt sich auch in der Schlussformel, V. 51 (vgl. 7, 37): καὶ λίαν ἐκ περισσοῦ ἐν ἑαυτοῖς ἐξίςαντο καὶ ἐϑαύμαζον, worin man doch nicht mit Paulus (2, S. 266) eine Missbilligung des unverhältnissmäs - sigen Erstaunens wird finden wollen..
Auf andre Weise findet sich bei Matthäus das Wun - derbare des Vorgangs, nicht sowohl gesteigert, als verviel - fältigt, indem er ausser Jesu auch den Petrus einen, wie - wohl nicht ganz gut abgelaufenen, Versuch im Gehen auf dem Meere machen läſst. Diesen Zug macht ausser dem Stillschweigen der beiden Correferenten auch seine eigne Natur verdächtig. Auf das Wort Jesu hin und durch sei - nen anfänglichen Glauben vermag Petrus wirklich eine Zeit lang auf dem Wasser zu gehen, und erst als Furcht und Kleingläubigkeit ihn ergreift, fängt er unterzusinken an. Was sollen wir nun hievon denken? Vermochte Je - sus mittelst eines verklärten Leibes auf dem Wasser zu ge - hen: wie konnte er dem Petrus, der eines solchen Kör -186Zweiter Abschnitt.pers sich nicht erfreute, zusprechen, ein Gleiches zu thun? oder wenn er durch ein bloſses Wort den Leib des Petrus vom Gesez der Schwere dispensiren konnte, ist er dann noch ein Mensch? und wenn ein Gott, wird dieser auf den Einfall eines Menschen hin so spielend Naturgesetze cessiren lassen? oder endlich, soll der Glaube die Kraft haben, augenblicklich den Körper des Gläubigen leichter zu machen? Der Glaube hat freilich eine solche Kraft, näm - lich in der kaum erwähnten bildlichen Rede Jesu, nach wel - cher der Gläubige Berge und Bäume in's Meer zu versetzen, — und warum nicht auch auf dem Meere zu wandeln? — im Stande ist. Und daſs nun, sobald der Glaube weiche, auch das Gelingen aufhöre, dieſs konnte in keinem der zwei er - steren Bilder so geschickt dargestellt werden, wie in dem lezten durch die Wendung: so lange einer Glauben habe, vermöge er ungefährdet auf dem wogenden Meere einher - zuschreiten, sobald er aber Zweifeln Raum gebe, sinke er unter, wenn nicht Christus helfend ihm die Hand reiche. Das also werden die Grundgedanken der von Matthäus ein - geschobenen Erzählung sein, daſs Petrus auf die Festigkeit seines Glaubens zu viel vertraut habe, durch das plözliche Schwachwerden desselben in groſse Gefahr gekommen, aber durch Jesus gerettet worden sei, ein Gedanke, wel - cher sich Luc. 22, 31 f. wirklich ausgesprochen findet, wenn Jesus zu Simon sagt: ὁ σατανᾶς ἐξῃτήσατο ὑμᾶς τοῦ συνιᾶσαι ὡς τὸν σῖτονς ἐγὼ δὲ ἐδεήϑην περὶ σοῦἵνα μὴ ἐκλείπῃ ἡ πίςις σου. Dieſs sagt Jesus dem Petrus mit Be - zug auf seine bevorstehende Verleugnung: diese war der Fall, wo sein Glaube, kraft dessen er sich so eben noch erboten hatte, mit Jesu καὶ εἰς φυλακὴν καὶ εἰς ϑάνατον πορεύεσϑαι, wankend wurde, wenn nicht der Herr durch seine Fürbitte ihm neue Stärke verschafft hätte. Nehmen wir dazu die schon erwähnte Neigung der ersten christli - chen Zeit, die den Christen anfechtende Welt unter dem Bilde eines wilden Meeres darzustellen: so werden wir187Neuntes Kapitel. §. 97.nicht umhin können, mit einem der neuesten Kritiker in dem sich muthig zum Gehen auf dem Meer anschickenden, bald jedoch kleinmüthig untersinkenden, aber von Jesu emporgehaltenen Petrus eine in der Sage gebildete allego - risch-mythische Darstellung jener Glaubensprobe zu fin - den, welche der so stark sich dünkende Jünger so schwach bestanden, und nur durch höheren Beistand glücklich über - standen hat15)Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 68 f..
Doch auch der Relation des vierten Evangeliums fehlt es nicht an einigen eigenthümlichen Zügen, die einen un - historischen Charakter verrathen. Von jeher hat es den Harmonisten Kreuz gemacht, daſs nach Matthäus und Mar - kus das Schiff erst ungefähr in der Mitte des Sees sich befand, als Jesus demselben begegnete: nach Johannes aber bald vollends das jenseitige Ufer erreicht gehabt haben soll; daſs nach jenen Jesus wirklich noch in das Schiff stieg, und darauf der Sturm sich legte: nach Johannes dagegen die Jünger ihn zwar in das Schiff nehmen wollten, die wirkliche Aufnahme aber durch das sogleich erfolgte An - landen überflüssig gemacht wurde. Zwar fand man auch hier Ausgleichungen in Menge: das zu λαβεῖν gesezte ἤϑε - λον sollte bald abundiren, bald, wie wenn es ἐϑέλοντες ἔλαβον hieſse, die freudige Aufnahme bezeichnen, bald nur den ersten Eindruck beschreiben, welchen das Erkennen Jesu auf die Jünger gemacht habe, wobei die später wirk - lich erfolgte Aufnahme in das Schiff verschwiegen sei16)s. bei Lücke und Tholuck.. Doch zu einer solchen Deutung liegt der einzige Anlaſs in der unbefugten Vergleichung der Synoptiker: in der Er - zählung des Johannes für sich liegt nicht nur kein Grund dafür, sondern ein entschiedener dagegen. Denn der hin - zugefügte Saz: εὐϑέως τὸ πλοῖον ἐγένετο ἐπὶ τῆς γῆς, εἰς ἣν ὑπῆγον, wenn er auch nicht durch δὲ, sondern durch188Zweiter Abschnitt.καὶ angeknüpft ist, kann doch nur adversativ in dem Sinn genommen werden, daſs es zur wirklichen Aufnahme Jesu in das Schiff unerachtet der Bereitwilligkeit der Jünger doch nicht gekommen sei, weil sie sich bereits am Ufer befunden haben. In Betracht dieser Differenz hat Chrysostomus zwei verschiedene Gänge Jesu auf dem Meer angenommen, und wenn er sagt, bei dem zweiten Fall, den Johannes erzäh - le, sei Jesus nicht in das Schiff gestiegen, ἵνα τὸ ϑαῦμα μεῖζον ἐργάσηται17)Homil. in Joann. 43.: so werden wir diese Absicht auf den Evangelisten übertragend sagen, wenn Markus das Wunder dadurch vergrössert habe, daſs er Jesu die Ab - sicht, an den Jüngern vorbei über den ganzen See hinüber - zuwandeln, unterlegte: so gehe Johannes noch weiter, in - dem er ihn diese Absicht wirklich ausführen, und ohne Aufnahme in das Schiff bis an das jenseitige Ufer gelan - gen lasse. — Doch nicht nur zu vergrössern, sondern auch fester zu begründen und zu constatiren hat der vierte Evan - gelist das vorliegende Wunder gesucht. Nach den Syn - optikern sind die einzigen Gewährsmänner desselben die Jünger, welche Jesum auf dem Meer daherschreiten sa - hen: Johannes fügt zu diesen wenigen unmittelbaren Ge - währsmännern eine Masse von mittelbaren hinzu, näm - lich das Volk, das bei der Speisung versammelt gewesen war. Dieses nämlich, wie es am andern Morgen Jesum nicht mehr an Ort und Stelle findet, berechnet nach ihm, 1) zu Schiff könne Jesus nicht über den See gekommen sein, denn a) das Fahrzeug der Jünger habe er nicht mitbestie - gen (V. 22.), b) ein andres Fahrzeug sei nicht dagewesen (ebendas. ); daſs er aber 2) auch nicht zu Land hinüber - gekommen sei, ist darin enthalten, daſs das Volk, als es sofort über den See fährt, ihn bereits am jenseitigen Ufer findet (V. 25.), wohin er zu Lande in der kurzen Zwi - schenzeit schwerlich gelangen konnte. So bleibt in der189Neuntes Kapitel. §. 97.Darstellung des vierten Evangeliums, indem alle natürlichen Wege des Hinüberkommens Jesu abgeschnitten werden, nur ein übernatürlicher übrig, und diese Folgerung ist von der Menge in der verwunderten Frage wirklich gezogen, welche sie an Jesum, als sie ihn am jenseitigen Ufer fin - det, macht: πότε ὧδε γέγονας; Da diese ganze Controle des wunderbaren Übergangs Jesu an der schnellen Überfahrt der Menge hängt: so beeilt sich der Evangelist, zum Be - huf von dieser ἄλλα πλοιάρια herbeizuschaffen (V. 23.). Nun ist die überfahrende Menge (V. 22. 26 ff. ) als diejeni - ge bezeichnet, welche Jesus wunderbar gespeist hatte, und diese belief sich (nach V. 10.) auf 5000 Menschen. Wenn von diesen auch nur ⅕, ja nur $$\tfrac{1}{10}$$ hinüberfuhr, so bedurfte es hiezu, nach der richtigen Bemerkung der Pro - babilien, einer ganzen Flotte von Schiffen, namentlich wenn man an Fischernachen denkt; nimmt man aber Frachtschiffe an, so werden diese nicht gerade alle die Richtung nach Kapernaum gehabt, oder dem Begehren des Volks zulieb ihre ursprüngliche Richtung abgeändert haben. Es scheint also diese ganze Volksüberfahrt nur gemacht zu sein18)Bretschneider, Probabil. S. 81., theils um das Wandeln Jesu auf dem Meer durch eine Controle zu bestätigen, theils, wie wir später noch sehen werden, um Jesum, welcher der allgemeinen Überlieferung zufolge unmittelbar nach der Speisung an das andre Ufer des Sees sich begeben hatte, noch mit dem Volk über die Speisung reden lassen zu können.
Nach Hinwegnahme dieser, den einzelnen Erzählungen eigenthümlichen Auswüchse des Wunderhaften bleibt im - mer noch der Stamm des Wunders, daſs nämlich Jesus eine bedeutende Strecke weit auf dem Meer gewandelt ha - be, mit aller oben auseinandergesezten Unwahrscheinlich - keit eines solchen Faktums zurück. Doch hat uns die Auflösung jener Nebenzüge, indem wir die Anlässe ihrer190Zweiter Abschnitt.unhistorischen Entstehung entdeckten, die Auffindung sol - cher Anlässe auch für die Haupterzählung erleichtert, und damit die Auflösung auch dieser selbst möglich gemacht. Daſs die Gewalt Gottes und des mit ihm einigen mensch - lichen Geistes über die Natur von den Hebräern und er - sten Christen gerne unter dem Bilde einer Übermacht über die tobenden Meereswellen vorgestellt wurde, haben wir aus dem vorigen Beispiel gesehen. In der Erzählung des Exodus stellt sich diese Übermacht so dar, daſs das Meer durch einen Wink aus seiner Stelle verjagt, und so dem Volk Gottes ein trockener Weg durch seinen Grund geöff - net wurde; in der zuvor betrachteten N. T. lichen Erzäh - lung so, daſs das Meer an seiner Stelle blieb, und nur so weit zur Ruhe gewiesen wurde, daſs Jesus und seine Jün - ger zu Schiff gefahrlos über dasselbe hinübergelangen konn - ten: in der jezt vorliegenden Anekdote wird aus der zwei - ten der Zug beibehalten, daſs das Meer an seiner Stelle bleibt, zugleich jedoch aus der ersten der herbeigeholt, daſs zu Fuſs, nicht zu Schiffe hinübergewandelt wird, doch, mit Rücksicht auf den andern Zug, nicht durch seinen Grund, sondern über seine Oberfläche. Daſs sich auf sol - che Weise die Anschauung der Übermacht des Wunder - thäters über Wasserwogen fortbildete, dazu läſst sich theils im A. T., theils in den Meinungen des Zeitalters Jesu noch nähere Veranlassung finden. Unter den Wundern des Elisa wird neben dem, daſs er mittelst seines Mantels den Jordan getheilt, und so trockenen Fuſses habe hin - durchgehen können (2 Kön. 2, 14.), auch das erzählt, daſs er ein in's Wasser gefallenes Eisen schwimmend gemacht habe (2 Kön. 6, 6.): eine Übermacht über das Gesez der Schwere, welche der Wunderthäter wohl auch am eige - nen Leibe geltend machen, und so, wie es Hiob 9, 8. LXX. von Jehova heiſst, als περιπατῶν ὡς ἐπ̕ ἐδάφους ἐπὶ ϑαλάσσης sich darstellen konnte. Von Wunderthätern, die auf dem Wasser gehen konnten, wuſste man sich um die Zeit Jesu191Neuntes Kapitel. §. 97.Vieles zu erzählen. Abgesehen von eigenthümlich griechi - schen Vorstellungen19)s. die Stellen bei Wetstein, p. 417 f., so schrieb die orientalisch-grie - chische Sage dem Hyperboreer Abaris einen Pfeil zu, auf welchem er über Flüsse, Meere und Abgründe schwe - bend sezte20)Jamblich. vita Pythagorae 136, vgl. Porphyr. 29.; der gemeine Volksglaube lieh manchen Thaumaturgen die Fähigkeit, auf dem Wasser zu gehen21)Lucian. Philopseudes, 13.: und es erscheint so die Möglichkeit, daſs sich aus allen diesen Elementen und Veranlassungen eine gleiche Sage auch über Jesum bilden konnte, ungleich gröſser, als die eines wirklichen Vorgangs dieser Art, — womit unsre Rechnung geschlossen ist.
Mit den bisher betrachteten Seeanekdoten hat die Joh. 21. erzählte φανέρωσις Jesu ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης τῆς Τιβεριά - δος so auffallende Ähnlichkeit, daſs wir, obwohl das vierte Evangelium den Vorfall in die Tage der Auferstehung Je - su verlegt, doch nicht umhin können, wie wir sie schon früher ihrem einen Theile nach mit der Erzählung vom Fischzug Petri in Verbindung brachten, so nun ihren an - dern Bestandtheil mit dem Wandeln Jesu und Petri auf dem Meer in Parallele zu setzen. Beidemale wird in dem noch nächtlichen Dunkel des Frühmorgens Jesus von den im Schiffe befindlichen Jüngern erblickt, nur daſs er bei dem späteren Falle nicht wie in dem früheren auf dem Meere geht, sondern am Ufer steht, und die Jünger nicht durch Sturm, sondern nur durch die Fruchtlosigkeit ihrer Fischerarbeit in Verlegenheit gesezt sind. Beidemale fürch - ten sie ihn: dort, weil sie ihn für ein Gespenst halten, hier wagt es keiner, zu fragen, wer er sei, εἰδότες, ὅτι ὁ Κύριός ἐςιν. Im Besondern aber findet die dem ersten Evangelium eigenthümliche Scene mit Petrus in der genann - ten Stelle des vierten ihre Parallele. Wie Petrus dort,192Zweiter Abschnitt.als der über den See einherschreitende Jesus sich zu er - kennen giebt, ihn um die Erlaubniſs bittet, zu ihm über das Wasser hingehen zu dürfen: so wirft er sich hier, sobald der am Ufer stehende Jesus erkannt ist, in das Wasser, um auf dem kürzesten Wege schwimmend zu ihm zu gelangen. Da auf diese Weise, was in jener früheren Erzählung ein wunderbares Wandeln auf dem Meere, in der vorliegenden in Bezug auf Jesum ein wunderloses Ste - hen am Ufer, in Bezug auf den Petrus aber ein natürli - ches Schwimmen ist, somit die leztere Geschichte fast wie eine rationalistische Paraphrase der ersteren lautet: so hat es nicht an solchen gefehlt, welche wenigstens von der pe - trinischen Anekdote im ersten Evangelium behaupteten, daſs sie eine traditionelle Umbildung des Zugs Joh. 21, 7. in's Wunderhafte sei22)Schneckenburger, über den Urspr. S. 68.. Diese Vermuthung auch auf das Meerwandeln Jesu auszudehnen, wird die jetzige Kritik dadurch abgehalten, daſs diesen Zug das als apostolisch vorausgesezte vierte Evangelium selbst in der früheren Er - zählung hat; wogegen wir auf unserem Standpunkt es gar wohl möglich finden werden, daſs demselben vierten Evangelisten dieselbe Geschichte in zwiefacher Form zu Ohren gekommen, und von ihm an verschiedenen Orten seiner Erzählung einverleibt worden sei. Indessen, wenn beide Geschichten verglichen werden sollen, so dürfen wir nicht schon zum Voraus die eine, Joh. 21., als die ur - sprüngliche, die andere, Matth. 14. parall., als die abge - leitete setzen, sondern müssen erst fragen, welche von bei - den sich eher zum Einen oder Andern eigne? Allerdings nun, wenn wir dem bewährten Kanon folgen, daſs die wunderhaftere Erzählung die spätere sei, so erscheint die von Joh. 21. in Bezug auf die Art, wie Jesus in die Nähe der Jünger, und Petrus zu ihm gelangt, als die ursprüng - liche. Aber aufs Engste hängt mit jenem Kanon der an -193Neuntes Kapitel. §. 97.dre zusammen, daſs die einfachere Erzählung die frühere, die zusammengeseztere die spätere ist, wie das Conglome - rat später als die einfache Steinbildung, — und nach die - sem Kanon wäre umgekehrt die Erzählung Joh. 21. die ab - geleitete, da in ihr die bezeichneten Züge noch mit dem wunderbaren Fischzug verflochten sind, während sie in der früheren Erzählung für sich ein Ganzes ausmachen. Allerdings zwar kann auch ein gröſseres Ganze in kleinere Stücke zersplittern: doch solchen Bruchstücken sehen die getrennten Erzählungen vom Fischzug und vom Wandeln auf dem Meere keineswegs ähnlich, welche vielmehr jede als wohlgeschlossenes Ganze sich verhalten. Aus dieser Ver - flechtung mit dem Wunder des Fischzugs, wozu noch kommt, daſs der ganze Vorgang um den auferstandenen Jesus, der an sich schon ein Wunder ist, sich dreht, wird nun auch erklärlich, wie, gegen die sonstige Regel, die oft bezeich - neten beiden Züge in der späteren Darstellung ihr Wun - derhaftes verlieren konnten, indem sie nämlich durch die Verbindung mit anderweitigem Wunderbaren zu bloſsen Nebenzügen, zur natürlichen Staffage heruntergesezt wur - den. Ist aber auf diese Weise die Erzählung Joh. 21. ei - ne durchaus abgeleitete, so ist sie in Bezug auf ihren hi - storischen Werth bereits mit denjenigen Erzählungen be - urtheilt, welche ihre Grundlage bilden.
Sehen wir, ehe wir weiter gehen, auf die bisher durch - laufene Reihe von Sturm -, See - und Fischgeschichten zu - rück, so finden wir, daſs zwar die eine äusserste der an - dern durchaus unähnlich ist, indem in der einen bloſs von Fischen, in der andern bloſs vom Sturm gehandelt wird: doch aber, je nachdem man sie aufstellt, hängt jede mit der folgenden durch einen gemeinsamen Zug zusammen. Die Erzählung von der Berufung der Menschenfischer (Matth. 4, 18 ff. parall. ) eröffnet die Reihe; mit dieser hat die vom Fischzug des Petrus (Luc. 5, 1 ff. ) die Gnome von Men - schenfischern gemein, aber das Faktum des Fischzugs istDas Leben Jesu II. Band. 13194Zweiter Abschnitt.ihr eigenthümlich; dieser leztere kehrt Joh. 21. wieder, wo noch das morgenliche Stehen Jesu am Ufer und das Hinüberschwimmen des Petrus dazukommt; dieſs Stehen und Schwimmen erscheint Matth. 14, 22 ff. parall. als Ge - hen auf dem Meer, und zugleich ist ein Sturm und dessen Aufhören mit Jesu Eintritt in das Schiff hinzugefügt; Matth. 8, 23 ff. parall. endlich steht die Stillung des Sturms durch Jesum für sich allein.
Entfernter von den bisher betrachteten Erzählungen steht die Geschichte Matth. 17, 24 ff. Zwar findet sich auch hier wie bei einigen von jenen eine Anweisung Jesu an den Petrus zum Fischfang, welcher, wie zwar nicht aus - drücklich gesagt ist, doch vorausgesezt werden muſs, der Erfolg entspricht: aber theils soll nur Ein Fisch, und zwar mit dem Angel, gefangen werden, theils ist die Hauptsache die, daſs in seinem Maule ein Geldstück gefunden werden soll, um damit die Tempelsteuer für Jesus und Petrus, um welche der leztere angegangen war, zu bezahlen. Diese Erzählung, wie sie zunächst sich giebt, hat eigenthümliche Schwierigkeiten, welche Paulus gut auseinandersezt, und auch Olshausen nicht in Abrede stellt. Wenn nämlich Fritzsche mit Recht bemerkt, zwei wunderbare Stücke seien in dieser Geschichte: das eine, daſs der Fisch einen Stater im Maule haben sollte, das andere, daſs Jesus dieſs vorherwuſste, so erscheint theils jenes und damit auch die - ses als abenteuerlich, theils das ganze Wunder als unnö - thig. Zwar, daſs Fische Metalle und Kostbarkeiten im Leibe gehabt haben, wird auch sonst erzählt23)Die Beispiele s. bei Wetstein z. d. St., und ist nicht unglaublich: daſs aber ein Fisch ein Geldstück im Maule haben und darin behalten sollte, während er zu - gleich nach dem Angel schnappt, das fand auch Dr. Schnap - pinger24)Die heil. Schrift des n. Bundes 1, S. 314. 2te Aufl. unbegreiflich. Der Anlaſs des Wunders aber195Neuntes Kapitel. §. 97.konnte weder Geldmangel sein: denn wenn auch damals gerade kein Vorrath in der gemeinsamen Kasse war, so befand sich doch Jesus in dem befreundeten Kapernaum, wo er auf natürlichem Weg zu dem nöthigen Gelde gelan - gen konnte, man müſste denn mit Olshausen das Entleh - nen durch Zusammenwerfen mit dem Betteln gegen das von Jesu zu beobachtende decorum divinum finden; noch konnte Jesus nach so vielen Proben seiner Wunderkraft auch dieses Wunder noch nöthig finden, um den Petrus im Glauben an seine Messianität zu bestärken.
Deſswegen ist es nicht zu verwundern, wenn ratio - nalistische Ausleger gesucht haben, eines Wunders, das auch Olshausen das schwierigste in der ganzen evangeli - schen Geschichte nennt, um jeden Preis sich zu entledigen: es kommt nur auf die Art an, wie sie dieſs angegriffen haben. Der Nerv der natürlichen Erklärung des Faktums liegt darin, daſs man in der Anweisung Jesu das εὑρήσεις nicht vom unmittelbaren Finden eines Staters im Fische, sondern von einem mittelbaren Erwerben dieses Geldbe - trags durch Verkauf des Erangelten versteht25)Paulus, ex. Handb. 2, 502 ff. vgl. Hase, L. J. §. 111.. Daſs das angezeigte Wort auch diese Bedeutung haben kann, ist zu - zugeben, nur muſs, daſs es diese und nicht seine gewöhn - liche Bedeutung habe, im einzelnen Falle aus dem Zusam - menhang erhellen. Wenn es also in unsrem Fall hieſse: nimm den ersten besten Fisch, trage ihn auf den Markt, κἀκεῖ εὑρήσεις ςατῆρα, so wäre jene Erklärung an der Stelle; da statt dessen dem εὑρήσεις vielmehr ein ἀνοίξας τὸ ςόμα αὐτοῦ vorhergeht, da also nicht ein Ort zum Ver - kaufen, sondern nur ein Ort am Fisch angegeben ist, wo der Stater erlangt werden sollte, so kann nur an ein unmittelbares Finden des Geldstücks in diesem Theile des Fischs gedacht werden26)vgl. Storr im Flatt'schen Magazin, 2, S. 68. ff.. Wozu wäre auch das Öffnen13 *196Zweiter Abschnitt.des Fischmauls ausdrücklich bemerkt, wenn nicht eben in demselben das Begehrte gefunden werden sollte? Paulus findet darin nur die Anweisung, den Fisch ungesäumt vom Angel zu lösen, um ihn lebendig zu erhalten und desto eher verkäuflich zu machen. Zu dem Befehl, das Maul des Fisches zu öffnen, könnte allerdings, wenn sonst nichts dabei stände, die Herausnahme des Angels als Zweck und Erfolg hinzugedacht werden: da aber εὑρήσεις νατῆρα da - beisteht, so ist unverkennbar dieses als nächster Zweck des Maulöffnens bezeichnet. Das Gefühl, daſs, so lange von einem Aufthun des Maules am Fisch in der Stelle die Rede sei, auch der Stater als in demselben zu findender vorausgesezt werde, bewog die rationalistischen Erklärer, das ςόμα wo möglich auf ein anderes Subjekt als den Fisch zu beziehen, und da war nur der Fischer, Petrus, übrig. Da nun aber das ςόμα durch das dabeistehende αὐτοῦan den Fisch gebunden scheint, so hat Dr. Paulus, den Vor - schlag eines Freundes, statt αὐτοῦεὑρήσεις geradezu ἀνϑ - ευρήσεις zu lesen, mildernd oder überbietend, das stehen gelassene αὐτοῦ von ςόμα getrennt, adverbialisch genommen, und übersezt: du darfst dann nur deinen Mund aufthun, um den Fisch feilzubieten, so wirst du auf der Stelle (αὐτοῦ) einen Stater für denselben ausbezahlt bekommen. Wie konnte aber, muſste man noch fragen, in dem fischreichen Kaper - naum ein einziger Fisch so theuer bezahlt werden? daher nahm dann Paulus das τὸν ἀναβάντα πρῶτον ἰχϑὺν ᾆρον collectiv: nimm allemal den Fisch, der dir zuerst aufstöſst, und mache so fort, bis du eines Staters werth eran - gelt hast.
Werden wir durch die Reihe von Gewaltthätigkeiten, welche zur natürlichen Erklärung dieser Erzählung nö - thig sind, wieder zu derjenigen zurückgewiesen, welche hier ein Wunder findet, und erscheint uns doch nach dem früher Bemerkten dieses Wunder als abenteuerlich und unnöthig, mithin als unglaublich: so bleibt nichts übrig,197Neuntes Kapitel. §. 98.als auch hier ein sagenhaftes Element vorauszusetzen. Dieſs hat man so versucht, daſs man ein wirkliches aber natürliches Faktum als zum Grunde liegend annahm, daſs nämlich Jesus einmal den Petrus angewiesen habe, so lan - ge zu fischen, bis die Tempelsteuer erangelt wäre, woraus dann die Sage entstanden sei, der Fisch habe die Steuer - münze im Maule gehabt27)Kaiskr, bibl. Theol. 1, S. 200. vgl. Hase a. a. O.. Diesen immer ungenügenden Mittelweg zwischen natürlicher und mythischer Erklärung zu vermeiden, denken wir uns lieber als Veranlassung die - ser Anekdote das vielbenüzte Thema von einem Fischfang des Petrus auf der einen, und die bekannten Erzählungen von Kostbarkeiten, die im Leibe von Fischen gefunden worden, auf der andern Seite. Petrus war, wie wir aus Matth. 4, Luc. 5, Joh. 21. wissen, in der evangelischen Sage der Fischer, welchem Jesus in verschiedenen Formen, zunächst symbolisch, dann eigentlich, den reichen Fang bescheert hatte. Das Werthvolle des Fangs tritt nun hier als Geldmünze heraus, welche, wie dergleichen Dinge sonst im Bauche von Fischen, so durch eine Steigerung des Wunders gleich im Maule des Fisches gefunden werden sollte. Daſs es gerade der zur Tempelsteuer erforderliche Stater ist, könnte durch eine wirkliche Äusserung Jesu über sein Verhältniſs zu dieser Abgabe, welche zufällig mit jener Anekdote in Verbindung kam, veranlaſst sein, oder könnte umgekehrt der in der Sage vom Fischfang zu - fällig vorhandene Stater an die Tempelabgabe, welche für zwei Personen eben so viel betrug, und den darauf be - züglichen Ausspruch Jesu erinnert haben.
In diesen mährchenhaften Ausläufer endigen die See - und Fisch-Anekdoten.
Wie in den zulezt betrachteten Geschichten Jesus be -198Zweiter Abschnitt.stimmend und besänftigend auf die vernunftlose und selbst auf die leblose Natur einwirkte: so wirkt er in denjenigen Erzählungen, zu deren Betrachtung wir jezt fortschreiten, sogar vermehrend nicht allein auf Naturgegenstände, son - dern selbst auf künstlich verarbeitete Naturprodukte.
Daſs Jesus zubereitete Nahrungsmittel auf wunderbare Weise vermehrt, mit wenigen Broten und Fischen eine groſse Menschenmenge gespeist habe, erzählen uns mit sel - tener Einstimmigkeit sämmtliche Evangelisten (Matth. 14, 13 ff. Marc. 6, 30 ff. Luc. 9, 10 ff. Joh. 6, 1 ff.). Und glauben wir den beiden ersten von ihnen, so hat Jesus dieſs nicht bloſs Einmal gethan, sondern Matth. 15, 32 ff. Marc. 8, 1 ff. wird eine zweite Speisung erzählt, bei der es im Wesentlichen ebenso wie bei der ersten zugieng. Sie fällt der Zeit nach etwas später; der Ort ist etwas an - ders bezeichnet, und die Dauer des Aufenthalts der Menge bei Jesu abweichend angegeben; auch ist, was mehr besa - gen will, das Gröſsenverhältniſs zwischen dem Speisevor - rath und der Menschenmenge ein verschiedenes, indem das erstemal mit 5 Broten und 2 Fischen 5000, das zweitemal mit 7 Broten und wenigen Fischen 4000 Mann gesättigt werden, und dort 12, hier 7 Körbe mit Brocken übrig bleiben. Demungeachtet ist nicht nur die Substanz der Geschichte auf beiden Seiten ganz dieselbe: Sättigung ei - ner Volksmenge mit unverhältniſsmäſsig wenigen Nahrungs - mitteln, sondern auch die Ausmalung der Scene ist in den Grundzügen ganz analog: beidemale das Lokal eine einsa - me Gegend in der Nähe des galiläischen Sees; beidemale die Veranlassung des Wunders ein zu langes Verweilen des Volks bei Jesu; beidemale bezeigt Jesus Lust, die Menge aus eigenen Mitteln zu speisen, was die Jünger als eine unmögliche Sache betrachten; beidemale besteht der disponible Speisevorrath in Broten und Fischen; beidemale läſst Jesus die Leute sich lagern und theilt ihnen nach gesprochenem Dankgebet durch Vermittlung seiner Jünger199Neuntes Kapitel. §. 98.aus; beidemale werden sie vollkommen satt, und es kann noch eine unverhältniſsmäſsig groſse Menge übrig gebliebe - ner Brocken in Körbe gesammelt werden; endlich einmal wie das andere sezt Jesus nach vollbrachter Speisung über den See.
Bei dieser Wiederholung desselben Faktums macht na - mentlich die Frage Schwierigkeit, ob es wohl denkbar sei, daſs die Jünger, nachdem sie selbst mitangesehen hatten, wie Jesus mit wenigen Nahrungsmitteln eine groſse Menge zu speisen vermochte, dennoch bei einem zweiten ähnli - chen Fall jenen ersten spurlos vergessen gehabt, und ge - fragt haben sollten: πόϑεν ἡμῖν ἐν ἐρημίᾳ ἄρτοι τοσοῦτοι, ὥςε χορτάσαι ὄχλον τοσοῦτον; Wenn man sich für eine sol - che Vergeſslichkeit der Jünger darauf beruft, daſs sie auf ähnliche unbegreifliche Weise die Erklärungen Jesu über sein bevorstehendes Leiden und Sterben vergessen gehabt haben, als dasselbe eintrat1)Olshausen, 1, S. 512. Die ebendas. in der Anmerkung gel - tend gemachte Instanz, dass laut des ἄρτους ουκ ἐλάβομεν Matth. 16, 7. die Jünger auch nach der zweiten Speisung noch sich nicht gemerkt hatten, wie man in der Nähe des Menschen - sohns keine Speise für den Leib mitzunehmen brauche, be - weist desswegen nichts, weil die Umstände hier ganz andere waren. Dass aus der wunderbaren Sättigung des zufällig in der Wüste verspäteten Volks die Jünger nicht den beque - men Schluss zogen, welchen der bibl. Comm. daraus zieht, kann ihnen nur zur Ehre gereichen., so ist es ja ebenso noch eine obschwebende Frage, ob nach so deutlichen Voraussagen Jesu sein Tod den Jüngern so unerwartet hätte sein kön - nen? Denkt man sich aber zwischen beide Speisungen eine längere Zeit und eine Anzahl analoger Fälle hinein, wo aber Jesus nicht für gut gefunden habe, auf wunderbare Weise zu helfen2)Ders. ebendas., so sind dieſs theils reine Erdichtungen, theils bliebe auch so unbegreiflich, wie die gar zu spre -200Zweiter Abschnitt.chende Ähnlichkeit der Umstände vor der zweiten Spei - sung mit denen vor der ersten auch nicht Einen der Jün - ger an diese sollte erinnert haben. Mit Recht behauptet daher Paulus, hätte Jesus schon einmal die Menge durch ein Wunder gespeist gehabt, so würden bei'm zweiten Mal die Jünger auf seine Erklärung, er möge das Volk nicht nüchtern entlassen, ihn getrost zur Wiederholung des vo - rigen Wunders aufgefordert haben.
Jedenfalls daher, wenn Jesus zu zwei verschiedenen Malen eine Volksmenge mit unverhältniſsmäſsig geringem Vorrath gesättigt hat, müſste man mit einigen Kritikern annehmen, daſs aus der Erzählung von der einen Bege - benheit viele Züge in die von der andern übergegangen, und so beide, ursprünglich sich unähnlicher, in der münd - lichen Überlieferung immer mehr ausgeglichen worden seien, wobei also namentlich die zweifelnde Frage der Jünger nur das erste, nicht aber auch das zweitemal vorgekom - men sein könnte3)Gratz, Comm. z. Matth. 2, S. 90 f. Sieffert, über den Urspr. S. 97.. Für eine solche Assimilation kann der Umstand zu sprechen scheinen, daſs der vierte Evan - gelist, der namentlich in den Zahlangaben auf Seiten der ersten Speisung des Matthäus und Markus ist, doch von deren zweiter Speisungsgeschichte die Züge hat, daſs eine Anrede Jesu, nicht der Jünger, die Scene eröffnet, und daſs das Volk zu Jesu auf einen Berg kommt. Allein wenn man hiebei die Grundzüge: Wüste, Speisung des Volks, Aufsammeln der Brocken, auf beiden Seiten stehen läſst, so ist auch ohne jene Frage der Jünger immer noch un - wahrscheinlich genug, daſs eine solche Scene sich auf so ganz ähnliche Weise wiederholt haben sollte; läſst man hin - gegen auch jene allgemeinen Züge bei der einen Geschichte fallen, so ist nicht weiter einzusehen, wie man die Treue der evangelischen Erzählung in Bezug auf den Hergang der201Neuntes Kapitel. §. 98.zweiten Speisung auf allen Punkten in Anspruch nehmen, und doch an der Angabe, daſs eine solche vorgefallen, festhalten kann, zumal nur Matthäus und der ihm folgen - de Markus von derselben wissen.
Daher haben neuere Kritiker, mit mehr4)Thiess, krit. Commentar, 1, S. 168 ff. Schulz, über d. Abendm. S. 311. vgl. Fritzsche, in Matth. p. 523. oder weni - ger5)Schleiermacher, über den Lukas, S. 145. Sieffert a. a. O. S. 95 ff. Hase, §. 97. Entschiedenheit, die Ansicht ausgesprochen, es sei hier ein und dasselbe Faktum durch Miſsverstand des er - sten Evangelisten, welchem der zweite folgte, verdoppelt worden. Von der wunderbaren Speisung seien verschie - dene Erzählungen im Umlauf gewesen, welche namentlich in den Zahlangaben von einander abwichen, und nun habe der Verfasser des ersten Evangeliums, welchem jede Wun - dergeschichte weiter ein willkommener Fund, und der deſs - halb zu kritischer Reduktion zweier verschieden lautenden Erzählungen der Art wenig geeignet war, beide in seine Sammlung aufgenommen. Dann erklärt sich vollkommen, wie bei der zweiten Speisung die Jünger noch einmal so ungläubig sich äussern können: weil nämlich auch die zweite Geschichte da, wo der Verfasser des ersten Evan - geliums sie hernahm, die einzige und erste gewesen war, und der Evangelist verwischte diesen Zug nicht, weil er überhaupt die beiden Erzählungen ganz so, wie er sie hörte oder las, seiner Schrift einverleibt zu haben scheint, was sich unter Anderem auch in der Constanz zeigt, mit welcher er und der ihm nachschreibende Markus nicht nur in der Darstellung der Begebenheiten selbst, sondern auch in der späteren Erwähnung derselben Matth. 16, 9 f. Marc. 8, 19 f. bei der ersten Speisung die Körbe durch κόφινοι, bei der zweiten durch σπυρίδες bezeichnet6)vgl. Saunier a. a. O. S. 105.. Freilich202Zweiter Abschnitt.wird mit Recht behauptet, daſs der Apostel Matthäus un - möglich einerlei für zweierlei habe aufgreifen, und eine gar nicht vorgefallene neue Geschichte erzählen können7)Paulus, ex. Handb. 2, S. 315. Olshausen, 1, S. 512.: aber die Wirklichkeit einer doppelten Speisung folgt nur dann hieraus, wenn man den apostolischen Ursprung des ersten Evangeliums schon voraussezt, der doch erst zu be - weisen ist. Wenn ferner Paulus einwirft, die Verdoppe - lung jenes Faktums wäre ohne allen Vortheil für die Sache des Evangelisten gewesen, und Olshausen dieſs näher da - hin entwickelt, daſs die Sage die zweite Speisungsgeschichte nicht so einfach und nüchtern, wie die erste, gelassen ha - ben würde: so kann dieses begehrliche Reden, es sei et - was keine Erdichtung, weil es als solche noch ausge - schmückter sein müſste, eigentlich geradezu abgewiesen werden, weil es, jedes bestimmten Maſsstabs entbehrend, unter allen Umständen wiederkehren, und am Ende das Mährchen selbst nicht mährehenhaft genug finden wird; insbesondre aber hier ist es deſswegen völlig leer, weil es die Erzählung von der ersten Speisung als eine historisch genaue voraussezt: haben wir in dieser schon ein sagenhaf - tes Produkt, so braucht sich die Variation davon, die zweite Speisungsgeschichte, nicht noch durch besondre traditio - nelle Züge auszuzeichnen. Doch nicht bloſs nicht in's Wun - derbarere ist die Erzählung von der zweiten Speisung ge - genüber von der ersten ausgeschmückt, sondern, indem sie, die Menge der Nahrungsmittel vermehrend, die Zahl der Gesättigten vermindert, verringert sie damit das Wun - der, und in diesem Antiklimax findet man die sicherste Bürgschaft für die Wirklichkeit der zweiten Speisung, in - dem, wer zu der ersten noch eine weitere hinzudichten wollte, dieselbe wohl auch überboten, und statt der 5000 Menschen nicht 4000, sondern 10,000 gesezt haben würde8)Olshausen, S. 513.. 203Neuntes Kapitel. §. 98.Auch diese Argumentation beruht auf der unbegründeten Voraussetzung, daſs die erste Speisung historisch sei, wo - bei Olshausen selbst den Gedanken hat, daſs einer wohl auch die zweite für die historische Grundlage, und die er - ste für die sagenhafte Zuthat ansehen könnte, und dann verhielte sich die erdichtete zur wahren, wie gefordert wür - de, als Steigerung. Wenn er nun aber hiegegen bemerkt, wie unwahrscheinlich es sei, daſs der unlautere Referent das ächte Faktum als das geringere nachbringe, und das falsche voranstelle, vielmehr wolle ein solcher die Wahr - heit überbieten, und stelle deſshalb immer das Erdichtete als das Glänzendere hinten an: so zeigt er damit auf's Neue, daſs er sich auf die mythische Ansicht von den bi - blischen Erzählungen nicht einmal soweit versteht, als zu ihrer Beurtheilung nöthig ist. Denn von einem unlauteren Referenten, welcher absichtlich die wahre Speisungsge - schichte hätte überbieten wollen, spricht hier Niemand, und am wenigsten erklärt irgend wer den Matthäus für ei - nen solchen, sondern, mit vollkommenster Redlichkeit, ist die Meinung, hatte der eine von 5000, der andre von 4000 Gesättigten geschrieben, ebenso redlich schrieb der erste Evangelist Beides nach, und eben weil er völlig arg - und absichtslos zu Werke gieng, kam es ihm auch nicht dar - auf an, welche von beiden Geschichten voran - oder nach - stehe, die bedeutendere oder die von minderem Belange, son - dern er lieſs sich hierin durch zufällige Umstände, wie daſs er die eine mit Begebenheiten zusammengestellt fand, die ihm die früheren, die andre mit solchen, die ihm die späteren schienen, bestimmen. Hiemit haben wir indeſs bloſs das negative Resultat, daſs der doppelten Erzählung der ersten Evangelien nicht zwei verschiedene Begebenheiten können zum Grunde gelegen haben: welche, und ob überhaupt eine von beiden historisch begründet sei, muſs Gegenstand einer eigenen Untersuchung werden.
Wenn, um dem magischen Scheine auszuweichen, wel -204Zweiter Abschnitt.chen das vorliegende Wunder vor andern hat, Olshausen dasselbe mit dem Gemüthszustand der betheiligten Perso - nen in Beziehung sezt, und die wunderbare Speisung durch den geistlichen Hunger der Menge vermittelt wissen will: so ist dieſs nur ein zweideutiges Reden, das bei dem ersten Versuch, den Sinn desselben festzustellen, in Nichts zer - fällt. Denn bei Heilungen z. B. besteht nach der hier vor - ausgesezten Ansicht jene Vermittlung darin, daſs das Ge - müth des Kranken sich der Einwirkung Jesu glaubig öff - net, so daſs bei fehlendem Glauben auch der Wunderkraft Jesu der erforderliche Anknüpfungspunkt im Menschen fehlt: hier also ist die Vermittlung eine reale. Sollte nun hier dieselbe Art von Vermittlung stattgehabt, und also bei denjenigen von der Menge, welche etwa unglaubig wa - ren, die sättigende Einwirkung Jesu keinen Eingang ge - funden haben: so müſste hier die Sättigung wie dort die Heilung als etwas von Jesu geradezu und ohne vorange - gangene Vermehrung der äusserlich vorhandenen Nahrungs - mittel in dem Leibe der Hungrigen Gewirktes angesehen werden. Allein eine solche Vorstellung von der Sache wird, wie Paulus mit Recht erinnert, und auch Olshausen an - deutet, durch die Bemerkung der Evangelisten abgeschnit - ten, daſs unter die Menge wirklich Speisen vertheilt wor - den seien, daſs von diesen jeder, so viel er wollte, genos - sen habe, und daſs am Ende noch mehr als ursprünglich vorräthig gewesen, übrig gebiieben sei. Die hierin liegende äusserlich und objektiv vorgegangene Vermehrung der Nah - rungsmittel kann nun doch nicht durch den Glauben des Volks auf reale Weise vermittelt gedacht werden, so daſs jener Glaube zum Gelingen der Brotvermehrung mitwirken muſste, die Vermittlung kann vielmehr nur eine teleologi - sche gewesen sein, d. h. daſs um eines gewissen Gemüths - zustands der Menge willen Jesus die Speisung vornahm. Eine solche Vermittlung aber giebt mir nicht die mindeste Hülfe, mir den fraglichen Vorgang denkbarer zu machen,205Neuntes Kapitel. §. 98.denn nicht, warum es so, sondern wie es zugegangen sei, ist die Frage. So beruht mithin Alles, was Olshausen hier gethan zu haben glaubt, um das Wunder denkbarer zu machen, auf der Amphibolie des Ausdrucks: Vermittlung, und es bleibt die Undenkbarkeit einer unmittelbaren Ein - wirkung des Willens Jesu auf die vernunftlose Natur die - ser Geschichte mit den zulezt erwogenen gemein.
Doch eigenthümlich vor den andern ist ihr die Schwie - rigkeit, daſs hier nicht bloſs wie bisher von einer den Naturgegenständen ertheilten Richtung oder Modifikation, sondern von einer Vermehrung derselben, und zwar in's Ungeheure, die Rede ist. Zwar ist uns nichts alltäglicher, als Wachsthum und Vermehrung der Naturgegenstände, wie sie z. B. vom Samenkorn in den Parabeln vom Säe - mann und vom Senfkorn dargestellt ist. Allein diese ge - schieht erstlich nicht ohne Zutritt anderer Naturdinge, wie Erde, Wasser, Luft, so daſs auch hier, nach dem bekann - ten Saz der Naturlehre, nicht eigentlich die Substanz ver - mehrt, sondern nur die Accidenzien verwandelt werden; zweitens geschieht dieser Proceſs so, daſs er seine verschie - denen Stadien in entsprechenden Zeitdistanzen zurücklegt. Hier dagegen, bei der Vermehrung der Nahrungsmittel durch Jesus, findet weder das Eine noch das Andere statt: das Brot in der Hand Jesu hängt nicht mehr, wie der Halm, auf welchem die Frucht wuchs, mit dem mütterli - chen Boden zusammen, noch geschieht seine Vermehrung allmählig, sondern plözlich.
Das aber eben soll das Wunderbare an der Sache sein, und namentlich nach der lezteren Seite hin das gegenwär - tige Wunder ein beschleunigter Naturproceſs genannt wer - den können. Was von der Aussaat bis zur Ernte in drei Vierteljahren geschieht, soll da in Minuten unter der Aus - theilung der Speise geschehen sein; denn einer Beschleu - nigung seien die Naturentwicklungen fähig, und einer wie206Zweiter Abschnitt.groſsen, das sei nicht zu bestimmen9)So nach Pfenninger, Olshausen, 1, S. 489 f. vgl. Hase, §. 97.. Ein beschleunig - ter Naturproceſs wäre es gewesen, wenn in Jesu Hand je ein Korn hundertfältige Frucht getragen und zur Reife gebracht, und er die vermehrten Körner aus immer vollen Händen dem Volke hingeschüttet hätte, um sie von diesem zerreiben, kneten und backen, oder in der Wüste, wo sie waren, roh aus den Hülsen heraus geniessen zu lassen; wenn er einen lebendigen Fisch genommen, und die Eier in dessen Leibe plözlich hervorgerufen, befruchtet, und zu ausgewachsenen Fischen gemacht hätte, welche dann die Jünger oder das Volk hätten sieden oder braten mögen. So hingegen nimmt er nicht Korn in die Hand, sondern Brot, und auch die Fische müssen, so wie sie in Stücken ausgetheilt werden, irgendwie zubereitet, vielleicht, wie Luc. 24, 42. vgl. Joh. 21, 9. gebraten, oder eingesalzen ge - wesen sein. Hier ist also auf beiden Seiten kein reines, lebendiges Naturprodukt mehr, sondern ein todtes und durch Kunst modificirtes; um ein solches in einen Naturproceſs jener Art zu versetzen, hätte Jesus vor Allem durch seine Wunderkraft aus dem Brot wieder Körner, aus den Brat - fischen wieder rohe und lebende machen, dann geschwind die beschriebene Vermehrung vornehmen, endlich sämmt - liches Vermehrte vom Naturzustand in den künstlichen zu - rückversetzen müssen. So wäre mithin dieses Wunder zu - sammengesezt 1) aus einer Wiederbelebung, welche alle sonst in den Evangelien erzählte an Mirakulosität überträ - fe; 2) aus einem höchst beschleunigten Naturproceſs, und 3) aus einem unsichtbar vorgenommenen und ebenfalls höchst beschleunigten Kunstproceſs, indem alle die langen Proce - duren des Müllers und Bäckers auf der einen, und des Kochs auf der andern Seite durch Jesu Wort in einem Au - genblick müſsten vor sich gegangen sein. Wie mag also Olshausen sich selbst und den glaubigen Leser durch den207Neuntes Kapitel. §. 98.annehmlich klingenden Ausdruck: beschleunigter Naturpro - ceſs, täuschen, wenn doch dieser die Sache, von der die Rede ist, nur zum dritten Theil bezeichnet?
Wie sollen wir uns nun ein solches Wunder zur An - schauung bringen, und in welchen Moment des Hergangs es versetzen? In Betreff des Lezteren sind nach der An - zahl der in unsrer Erzählung handelnden Gruppen drei Ansichten möglich, indem entweder in den Händen Jesu, oder in denen der austheilenden Jünger, oder endlich erst in denen des empfangenden Volks die Vermehrung vor sich gegangen sein kann. Die leztere Vorstellung ist theils bis zum Abenteuerlichen minutiös, wenn man sich Jesum und die Apostel denken will, mit Behutsamkeit, daſs es doch ja ausreichen möge, Krümchen vertheilend, die in den Hän - den der Empfänger zu Stücken anschwellen, theils wäre es nicht wohl möglich gewesen, für eine Masse von 5000 Mann aus 5 Broten, welche nach hebräischer Sitte, und da sie ja ein Knabe trug, nicht sehr groſs können gewesen sein, und vollends aus 2 Fischen für jeden ein, wenn auch noch so kleines, Stückchen herauszubringen. Unter den zwei übrigen Vorstellungsweisen finde ich es mit Olshau - sen am angemessensten, daſs unter den schöpferischen Hän - den Jesu sich die Nahrungsmittel vermehrt, und er neue und immer neue Stücke den vertheilenden Jüngern gebo - ten habe. Zur Anschauung kann man sich dann den Vor - gang auf die doppelte Art zu bringen sucher, daſs man entweder sich vorstellt, so oft ein Brotkuchen und ein Fisch zu Ende war, sei aus den Händen Jesu ein neuer gekommen, oder man denkt sich, die einzelnen Brotku - chen und Fische seien gewachsen, so daſs, wie ein Stück abgebrochen wurde, es sich so lange wieder ergänzte, bis berechnetermaſsen die Reihe an den folgenden kommen konnte. Die erstere Vorstellung scheint dem Texte fremd zu sein, welcher, wenn er von Brocken ἐκ τῶν πέντε ἄρτων spricht (Joh. 6, 13.), schwerlich eine Vermehrung dieser208Zweiter Abschnitt.Anzahl voraussezt, und so bleibt nur die zweite, durch deren poëtische Ausmalung Lavater der orthodoxen An - sicht einen schlechten Dienst erwiesen hat10)Jesus Messias, 2. Bd. No. 14. 15 und 20.. Denn die - ses Wunder gehört zu denjenigen, welche nur so lange einigermaſsen glaublich erscheinen können, als man sie im Halbdunkel einer unbestimmten Vorstellung zu halten weiſs: sobald man dieselben an's Licht ziehen und in al - len Theilen genau anschauen will, lösen sie sich in Nebel - gebilde auf. Brote, die in den Händen des Austheilenden wie angefeuchtete Schwämme aufquellen, Bratfische, wel - chen, wie dem lebendigen Krebs die abgerissenen Scheeren allmählig, so die abgebrochenen Theile plözlich wieder wach - sen, gehören offenbar nicht in das Reich der Wirklich - keit, sondern in ein ganz anderes.
Wie groſsen Dank verdient daher auch hier die ratio - nalistische Auslegung, wenn es wahr ist, daſs sie uns von der Zumuthung, ein so unerhörtes Wunder anzunehmen, auf die leichteste Weise zu befreien weiſs. Hören wir Dr. Paulus11)exeg. Handb. 2, S. 205 ff., so wollen die Evangelisten gar kein Wun - der erzählen, und das Wunder ist erst von den Erklä - rern in ihren Bericht hineingetragen worden. Was sie er - zählen, ist nach ihm nur so viel, daſs Jesus seinen gerin - gen Vorrath an Lebensmitteln habe austheilen lassen, und daſs in Folge dessen die ganze Menge genug zu essen be - kommen habe. Hier sei jedenfalls das Mittelglied ausge - lassen, welches näher angebe, wie es möglich gewesen, daſs, unerachtet Jesus nur so wenige Lebensmittel zu bie - ten hatte, dennoch die groſse Volksmasse habe gesättigt werden können. Ein sehr natürliches Mittelglied aber er - gebe sich aus der historischen Combination der Umstände. Da nach Vergleichung von Joh. 6, 4. die Menge wahrschein - lich zum gröſseren Theil aus einer Festkaravane bestan -209Neuntes Kapitel. §. 98.den habe, so könne sie nicht ohne alle Speisevorräthe ge - wesen, und nur einigen Ärmeren vielleicht der Vorrath bereits ausgegangen gewesen sein. Um nun die besser Ver - sehenen zur Mittheilung an die, denen es fehlte, zu ver - anlassen, habe Jesus ein Mahl veranstaltet, und sei mit eigenem Beispiele in der Mittheilung dessen, was er und seine Jünger von ihrem geringen Vorrath entbehren konn - ten, vorangegangen; dieser Vorgang habe Nachahmung gefunden, und so sei, indem Jesu Brotaustheilung eine allgemeine Mittheilung veranlaſste, der ganze Volkshaufe satt geworden. Allerdings müsse man dieses natürliche Mittelglied in den Text erst hineindenken; da jedoch das übernatürliche, welches man gewöhnlich annehme, die wun - derbare Brotvermehrung, ebenso wenig ausdrücklich ange - geben sei, sondern beide gleicherweise hinzugedacht wer - den müssen: so könne man nicht anders, als für das na - türliche sich entscheiden. — Doch das hier behauptete glei - che Verhältniſs der beiden Mittelglieder zum Text findet in der That nicht statt. Sondern, während zum Behuf der natürlichen Erklärung ein neues austheilendes Subjekt (die besser Versehenen unter der Menge), und ein neues ausgetheiltes Objekt (deren Vorräthe), sammt der Handlung des Austheilens von diesen hinzugedacht werden muſs: be - gnügt sich die supranaturalistische Erklärung mit dem vor - handenen Subjekt (Jesu und seinen Jüngern), Objekt (de - ren kleinem Vorrath) und dessen Austheilung, und läſst nur die Art hinzudenken, wie dieser Vorrath zur Sätti - gung der Menge zulänglich gemacht wurde, indem er sich nämlich unter Jesu (oder seiner Jünger) Händen wunder - bar vermehrte. Wie kann man hier noch behaupten, dem Text liege keines von beiden Mittelgliedern näher als das andere? Daſs die wunderbare Vermehrung der Brote und Fische verschwiegen ist, erklärt sich daraus, daſs dieser Vorgang selbst sich nicht für die Anschauung festhalten lassen will, daher besser nur nach dem Erfolg bezeichnetDas Leben Jesu II. Band. 14210Zweiter Abschnitt.wird: wie aber will man erklären, daſs von der durch Jesum hervorgerufenen Mittheilsamkeit der übrigen mit Vor - rath Versehenen nichts gesagt ist? Zwischen das
ἔδωκε τοῖς μαϑηταῖς, οἱ δὲ μαϑηταὶ τοῖς ὄχλοις(Matth. 14, 19.) und καὶ ἔφαγον πάντες καὶ ἐχορτάσϑησαν (V. 20.) jene Mittheilung der Andern hineinzudenken, ist reine Willkühr, wogegen durch das‘καὶ τοὺς δύο ἰχϑύας ἐμέρισε πᾶσι’(Marc. 6, 41.) unverkennbar angezeigt ist, daſs nur die 2 Fische — und also auch nur die 5 Brote — das Objekt der Thei - lung für Alle waren12)Olshausen, 1, S. 488.. Ganz besonders aber kommt die - se natürliche Erklärung mit den Körben in Verlegenheit, welche, nachdem Alle satt geworden, Jesus noch mit den übrig gebliebenen Brocken füllen lieſs. Wenn hier der vierte Evangelist sagt:
συνήγαγον οὖν, καὶ ἐγέμισαν δώδεκα κοφίνους κλασμάτων ἐκ τῶν πέντε ἄρτων τῶν κριϑίνων, ἃ ἐπερίσσευσε τοῖς βεβρωκόσιν(6, 13.): so scheint doch hiedurch deutlich genug gesagt zu sein, daſs eben von je - nen 5 Broten, nachdem 5000 Mann sich von denselben gesättigt, noch 12 Körbe voll Brocken, also mehr als der ursprüngliche Vorrath betragen hatte, übrig geblieben seien. Hier hat daher der natürliche Erklärer die abenteuerlich - sten Wendungen nöthig, um dem Wunder auszuweichen. Zwar, wenn die Synoptiker nur schlechtweg sagen, man habe die Überreste des Mahls gesammelt, und mit densel - ben 12 Körbe gefüllt, so könnte man vom Standpunkt der natürlichen Erklärung etwa denken, Jesus habe aus Ach - tung für die Gottesgabe auch das, was die Versammlung von den eigenen Vorräthen liegen lieſs, durch seine Jün - ger aufsammeln lassen. Allein, wie das, daſs das Voik das übrig Gebliebene liegen lieſs und nicht zu sich steckte, anzudeuten scheint, daſs es die gereichten Nahrungsmittel als fremdes Eigenthum behandelte: so scheint Jesus, in - dem er es ohne Weiteres durch seine Jünger einsammeln211Neuntes Kapitel. §. 98.läſst, es als sein Eigenthum zu betrachten. Daher nimmt denn Paulus das ᾖραν κ. τ. λ. der Synoptiker nicht von einem auf das Essen erst gefolgten Aufsammeln des nach Sättigung der Menge Übriggebliebenen, sondern von dem Überfluſs ihres geringen Vorraths, welchen die Jünger, nachdem sie das für Jesum und sie selbst Erforderliche zurückgethan, vor dem gemeinsamen Mahle und um ein solches zu veranlassen, herumgetragen haben. Wie kann aber, wenn nach ἔφαγον καὶ ἐχορτάσϑησαν unmittelbar καὶ ᾖραν folgt, damit auf die Zeit vor dem Essen zurückge - sprungen sein? müſste es nicht nothwendig wenigstens ᾖραν γὰρ heiſsen? Ferner, wie kann, nachdem eben gesagt war, das Volk habe sich satt gegessen, τὸ περισσεῦσαν, vollends wenn, wie bei Lukas, αὐτοῖς dabei steht, etwas Anderes als das vom Volk Übergelassene bedeuten? Endlich, wie ist es möglich, daſs von 5 Broten und 2 Fischen, nachdem Jesus und seine Jünger ihren Bedarf genommen, oder selbst ohne dieſs, 12 Körbe zur Austheilung an das Volk gefüllt werden konnten? Doch noch seltsamer geht es bei Erklä - rung der johanneischen Stelle zu. Wegen der Anweisung Jesu, das Übriggebliebene zu sammeln, ἵνα μή τι ἀπόληται, scheint der folgenden Angabe, daſs sie von dem Überschuſs der 5 Brote 12 Körbe gefüllt haben, die Beziehung auf die Zeit nach dem Mahle nicht entzogen werden zu können, wobei dann ohne wunderbare Brotvermehrung nicht abzu - kommen wäre. Lieber reiſst daher Paulus von dem στν - ήγαγονοὖ; ν das in Einem fortlaufende καὶ ἐγέμισαν δώδεκα κοφίνους κ. τ. λ. ab, und läſst nun hier die Rede, noch här - ter als bei den Synoptikern, ohne alle Andeutung auf Ein - mal in das Plusquamperfectum und in die Zeit vor dem Mahle zurückspringen.
Auch hier demnach löst die natürliche Erklärung ih - re Aufgabe nicht: dem Texte bleibt sein Wunder, und wenn wir Gründe haben, dieses unglaublich zu finden, so müssen wir untersuchen, ob die Erzählung des Textes14 *212Zweiter Abschnitt.wirklich Glauben verdiene? Für ihre ausgezeichnete Glaub - würdigkeit führt man gewöhnlich die Übereinstimmung sämmtlicher 4 Evangelisten in derselben an: aber diese Übereinstimmung ist so vollständig nicht. Zwar die Dif - ferenzen, welche zwischen Matthäus und Lukas, und wie - der zwischen diesen beiden und dem auch hier ausmalen - den Markus stattfinden, ferner zwischen sämmtlichen Syn - optikern und Johannes darin, daſs jene den Vorgang schlechtweg an einen τόπος ἔρημος, dieser ihn auf ein ὄρος versezt, und daſs den Synoptikern zufolge die Handlung durch eine Anrede der Jünger, nach Johannes durch ei - ne Frage Jesu eröffnet ist (zwei Züge, worin, wie bereits bemerkt, die johanneische Erzählung sich dem Bericht des Matthäus und Markus von der zweiten Speisung nähert), endlich noch die Differenz, daſs die Reden, welche die drei ersten Evangelisten unbestimmt τοῖς μαϑηταῖς in den Mund legen, der vierte in seiner individualisirenden Wei - se namentlich dem Philippus und Andreas leiht, welcher leztere auch als Träger der Brote und Fische bestimmt ein παιδάριον angiebt, — diese Abweichungen können wir als minder wesentlich übergehen, um nur an Eine uns zu hal - ten, welche tiefer eingreift. Während nämlich nach den synoptischen Berichten Jesus die Volksmenge zuerst lange belehrt und ihre Kranken geheilt hatte, und erst durch den einbrechenden Abend und die bemerkte Verspätung veranlaſst wurde, sie noch zu speisen: ist bei Johannes, sobald er nur die Augen aufhebt und das Volk heranzie - hen sieht, Jesu erster Gedanke der, welchen er in der Frage an den Philippus ausspricht: woher Brot nehmen, um diese zu speisen? oder, da er dieſs nur πειράζων frag - te, wohlwissend, τί ἤμελλε ποιεῖν, der Vorsaz, hier eine wunderbare Speisung zu veranstalten. Wie konnte denn aber Jesu bei'm ersten Herannahen des Volks sogleich die Aufgabe entstehen, ihm zu essen zu geben? Deſshalb kam es ja gar nicht zu ihm, sondern um seiner Lehre und213Neuntes Kapitel. §. 98.Heilkraft willen. Er muſste sich also ganz aus eigenem Antrieb jene Aufgabe stellen, um seine Wundermacht in einer recht ausgezeichneten Probe zu beweisen. Aber that er auch je sonst ein Wunder so ohne Noth und selbst oh - ne Veranlassung, ganz eigenwillig, nur um ein Wunder zu verrichten? Ich weiſs es nicht stark genug auszusprechen, wie unmöglich hier das Essen Jesu erster Gedanke sein, wie unmöglich er dem Volk sein Speisungswunder in die - ser Weise aufdringen konnte. Hier geht also die synopti - sche Darstellung, in welcher das Wunder doch einen An - laſs hat, der des vierten Evangelisten bedeutend vor, wel - cher, zum Wunder eilend, die nöthige Motivirung dessel - ben überspringt, und Jesum die Gelegenheit zu demselben machen, nicht abwarten läſst. So konnte ein Augenzeuge nicht erzählen, und wenn somit der Bericht desjenigen Evangeliums, welchem man jezt die gröſste Auktorität ein - räumt, als unhistorisch bei Seite gestellt werden muſs: so sind bei den übrigen die oben beregten Schwierigkei - ten der Thatsache hinreichende Gründe, ihre historische Zuverlässigkeit zu bezweifeln, besonders wenn sich neben diesen negativen auch positive Gründe auffinden lassen, welche eine unhistorische Entstehung unsrer Erzählung denkbar machen.
Solche Veranlassungen finden sich wirklich sowohl innerhalb der evangelischen Berichte selbst, als ausserhalb ihrer in der A. T. lichen Geschichte und dem jüdischen Volksglauben. In ersterer Beziehung ist es bemerkenswerth, daſs sowohl bei den Synoptikern als bei Johannes an die durch Jesum vollzogene Speisung mit eigentlichem Brote mehr oder minder unmittelbar Reden Jesu von Brot und Brotmasse in uneigentlichem Sinne angehängt sind, näm - lich hier die Aussprüche vom wahren Himmels - und Le - bensbrot, das Jesus gebe (Joh. 6, 27 ff. ), dort die vom fal - schen Sauerteig der Pharisäer und Sadducäer, nämlich ih - rer falschen Lehre und Heuchelei (Matth. 16, 5 ff. Marc. 214Zweiter Abschnitt.8, 14 ff. vgl. Luc. 12, 1.), und beiderseits wird diese bild - liche Rede Jesu 'irrig von eigentlichem Brot verstanden. Hienach läge die Vermuthung nicht allzufern, wie in den angeführten Stellen das Volk und die Jünger, so habe auch die erste christliche Überlieferung das von Jesu uneigent - lich Gemeinte eigentlich gefaſst, und wenn er sich etwa in bildlicher Rede bisweilen als denjenigen dargestellt hat - te, welcher dem verirrten und hungernden Volke das wah - re Lebensbrot, die beste Zukost, zu reichen vermöge, wo - mit er vielleicht den Sauerteig der Pharisäer in Gegensaz stellte: so habe dieſs in der Sage, ihrer realistischen Rich - tung gemäſs, die Wendung genommen, als ob Jesus wirk - lich einmal in der Wüste hungernde Volksmassen wunder - bar gespeist hätte. Wenn das vierte Evangelium die Re - den vom Himmelsbrot als veranlaſst durch die Speisung hinstellt, so könnte das Verhältniſs leicht umgekehrt dieſs gewesen sein, daſs die Entstehung dieser Geschichte durch jene Rede veranlaſst war, zumal auch der Eingang der jo - hanneischen Erzählung mit seinem: πόϑεν ἀγοράσομεν ἄρ — τους, ἵνα φάγωσιν οὖτοι; sich gleich bei'm ersten Anblick des Volks in Jesu Munde eher denken läſst, wenn er da - mit auf eine Speisung durch das Wort Gottes (vgl. Joh. 4, 32 ff. ), auf eine Stillung des geistigen Hungers (Matth. 5, 6.) anspielte, um das höhere Verständniſs seiner Jün - ger zu üben (πειο ίζων), als wenn er wirklich an leibliche Sättigung gedacht, und seine Jünger nur in der Hinsicht auf die Probe gestellt haben soll, ob sie sich dabei auf seine Wunderkraft verlassen würden. Weniger ladet zu einer solchen Ansicht die Erzählung der Synoptiker ein: durch die bildlichen Reden vom Sauerteig für sich konnte die Entstehung der Speisungsgeschichte nicht veranlaſst werden, und da so nit das johanneische Evangelium in Be - zng auf jenen Schein eigentlich allein steht, so ist es dem Charakter desselben doch angemessener, zu vermuthen, daſs es die traditionell überkommene Wundererzählung zu bild -215Neuntes Kapitel. §. 98.lichen Reden im alexandrinischen Geschmacke verwendet, als daſs es uns die ursprünglichen Reden aufbewahrt ha - be, aus welchen die Sage jene Wundergeschichte gespon - nen hätte.
Sind nun vollends die ausserhalb des N. T. s liegen - den möglichen Veranlassungen zur Entstehung der Spei - sungsgeschichte sehr stark: so werden wir den aufgenom - menen Versuch, dieselbe aus N. T. lichen Stoffen zu con - struiren, wieder fallen lassen müssen. Und hier erinnert uns gleich der vierte Evangelist durch die dem Volke in den Mund gelegte Erwähnung des Manna, jenes Himmels - brots, welches Moses in der Wüste den Vorfahren zu es - sen gegeben habe (V. 31.), an einen der berühmtesten Zü - ge der israëlitischen Urgeschichte (2 Mos. 16.), welcher sich ganz dazu eignete, daſs in der messianischen Zeit ein Nachbild desselben erwartet wurde, wie wir denn wirk - lich aus rabbinischen Schriften wissen, daſs unter denjeni - gen Zügen, welche vom ersten Goël auf den zweiten über - getragen wurden, das Verleihen von Himmelsbrot eine Hauptstelle einnahm13)S. den 1. Band, S. 73, Anm.. Und wenn das mosaische Manna sich dazu hergiebt, als Vorbild des von Jesu auf wunder - bare Weise vermehrten Brotes angesehen zu werden: so könnten die Fische, welche Jesus ebenso wunderbar ver - mehrte, daran erinnern, wie auch durch Moses nicht nur in dem Manna ein Brotsurrogat, sondern auch in den Wachteln eine Fleischspeise dem Volk zu Theil geworden war (2 Mos. 16, 8. 12. 13. 4 Mos. 11, 4 — Ende). Ver - gleicht man diese mosaischen Erzählungen mit unsrer evan - gelischen, so findet sich auch in den einzelnen Zügen ei - ne auffallende Ähnlichkeit. Das Lokal ist beidemale die Wüste; die Veranlassung des Wunders hier wie dort die Besorgniſs, das Volk möchte in der Wüste Mangel leiden, oder gar durch Hunger zu Grunde gehen: in der A. T. -216Zweiter Abschnitt.lichen Geschichte die vorlaute, mit Murren verbundene des Volks, in der N. T. lichen die kurzsichtige der Jünger und die menschenfreundliche Jesu. Steht hierauf mit der An - weisung des lezteren an die Jünger, sie sollen dem Volk zu essen geben, in welcher schon sein Vorhaben einer wunderbaren Speisung liegt, die Zusage parallel, welche Jehova dem Moses gab, das Volk mit Manna (2 Mos. 16, 4.) und mit Wachteln (2 Mos. 16, 12. 4 Mos. 11, 18 — 20) zu speisen: so ist ganz besonders sprechend die Ähnlich - lichkeit des Zuges der evangelischen Erzählung, daſs die Jünger es als Unmöglichkeit ansehen, für eine so groſse Volksmasse in der Wüste Nahrungsmittel herbeizuschaffen, mit dem, was der A. T. liche Bericht den Moses gegen die Verheiſsung Jehova's, das Volk mit Fleisch zu sätti - gen, zweifelnd einwenden läſst (4 Mos. 11, 21 f.). Wie nämlich die Jünger, so findet auch Moses die Menge des Volks zu groſs, als daſs er für möglich halten könnte, es hinreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen; wie jene fragen, woher in der Wüste so viele Brote nehmen? so fragt Moses ironisch, ob sie denn Schafe und Rinder (was sie nicht hatten) schlachten sollen? und wie die Jünger ein - wenden, daſs nicht einmal durch die erschöpfendste Aus - gabe von ihrer Seite dem Bedürfniſs gründlich abgeholfen werden könnte: so hatte Moses in einer andern Wendung erklärt, um das Volk so, wie Jehova verhieſs, sättigen zu können, müſste das Unmögliche geschehen (die Fische aus dem Meer herbeikommen), — Einwendungen, auf welche dort Jehova, wie hier Jesus, nicht achtet, sondern das Volk zur Empfangnahme der wunderbaren Speise sich rü - sten heiſst.
So analog übrigens der Hergang der ausserordentlichen Speisung auf beiden Seiten ist, so findet sich doch der we - sentliche Unterschied, daſs im A. T. beidemale, bei dem Manna wie bei den Wachteln, von wunderbarer Beischaf - fung zuvor nicht vorhandener Speise, im neuen aber von217Neuntes Kapitel. §. 98.wunderbarer Vermehrung eines schon vorhandenen, aber unzureichenden Vorraths die Rede ist, so daſs die Kluft zwischen der mosaischen Erzählung und der evangelischen zu groſs wäre, um diese unmittelbar aus jener ableiten zu können. Sehen wir uns hier nach einem Mittelglied um, so trifft es sich ganz sachgemäſs, daſs zwischen Moses und den Messias auch in diesem Stück die Propheten eintreten. Von Elias ist es bekannt, wie durch ihn und um seinet - willen der geringe Vorrath an Mehl und Öl, den er bei der Wittwe zu Zarpath fand, wunderbar vermehrt, oder näher während der ganzen Dauer einer Hungersnoth zu - reichend erhalten wurde (1 Kön. 17, 8 — 16.). Noch wei - ter, und mehr zur Ähnlichkeit mit der evangelischen Er - zählung entwickelt findet sich diese Wundergeschichte bei Elisa (2. Kön. 4, 42 ff.). Dieser will, wie Jesus in der Wüste mit 5 Broten und 2 Fischen 5000, so während ei - ner Hungersnoth mit 20 Broten (welche, wie die von Jesu vertheilten bei Johannes, als Gerstenbrote bezeichnet wer - den) nebst etwas zerriebenem Getreide (כַּרְמֶל, LXX: πα - λάϑας) 100 Menschen speisen, ein Miſsverhältniſs zwischen Vorrath und Mannschaft, welches sein Diener, wie dort Jesu Jünger, in der Frage ausdrückt, was denn für 100 Mann dieſs Wenige solle14)2. Kön. 4, 43. LXX:τί δῶ τοῦτο ἐνώπιον ἑκατὸν ἀνδρῶνJoh. 6, 9:‘ἀλλὰ ταῦτα τί ἐςιν εἰς τοσουτους;’? Elisa wie Jesus läſst sich dadurch nicht irren, sondern befiehlt dem Diener, das Vorhandene dem Volk zu essen zu geben, und wie in der evangelischen Erzählung das Sammeln der übriggebliebenen Brocken, so wird auch in der A. T. lichen am Schlusse das besonders hervorgehoben, daſs unerachtet von dem Vor - rath so Viele gegessen hatten, doch noch Überschuſs sich218Zweiter Abschnitt.herausgestellt habe15)Ebendas. V. 44:καὶ ἔφαγον, καὶ κατέλιπον κατὰ τὸ ῥῆμα Κυρίου.Matth. 14, 20:καὶ ἔφαγον πάν - τες καὶ ἐχορτάσϑησαν, καὶ ῇραν τὸ περισσεῦον τῶν κλασμάτων κ. τ. λ.. Die einzige Differenz ist hier ei - gentlich noch die geringere Zahl der Brote und die gröſsere des gesättigten Volks auf Seiten der evangelischen Erzäh - lung; allein wer weiſs nicht, daſs überhaupt die Sage nicht leicht nachbildet, ohne zugleich zu überbieten, und wer sieht nicht, daſs es insbesondre der Stellung des Messias völlig angemessen war, seine Wunderkraft zu der eines Elisa, was das Bedürfniſs natürlicher Mittel betrifft, in das Verhältniſs von 5 zu 20, was aber die übernatürliche Leistung, in das von 5000 zu 100 zu setzen? Paulus frei - lich, um die Folgerung abzuschneiden, daſs, wie die bei - den A. T. lichen, so auch die ihnen so auffallend ähnliche evangelische Erzählung mythisch zu fassen sei, dehnt auch auf jene den Versuch einer natürlichen Erklärung aus, den er an dieser durchgeführt, und läſst den Ölkrug der Witt - we durch Beiträge der Prophetenschüler voll erhalten wer - den, die 20 Brote aber für 100 Mann vermöge einer lo - benswerthen Mäſsigkeit derselben zureichen16)ex. Handb. 2, S. 237 f., eine Er - klärung, welche in dem Maaſse noch weniger verführe - risch ist, als die entsprechende der N. T. lichen Erzählung, in welchem bei jener vermöge ihrer gröſseren Zeitentfer - nung weniger kritische (und vermöge ihres nur mittelba - ren Verhältnisses zum Christenthum auch weniger dogma - tische) Beweggründe vorhanden sind, an ihrer historischen Richtigkeit festzuhalten.
Diese mythische Deduktion der Speisungsgeschichte vollständig zu machen, fehlt nichts mehr, als die Nach - weisung, daſs auch die späteren Juden noch von besonders heiligen Männern glaubten, es werde durch ihren Einfluſs219Neuntes Kapitel. §. 99.geringer Speisevorrath zureichend gemacht, — und auch mit solchen Notizen hat uns der uneigennützige Sammler - fleiſs von Dr. Paulus beschenkt, wie namentlich, daſs zur Zeit eines besonders heiligen Mannes die wenigen Schau - brote zur Sättigung der Priester bis zum Überfluſs zuge - reicht haben17)Joma f. 39, 1:Tempore Simeonis justi benedictio erat super duos panes pentecostales et super decem panes προϑέσεως, ut singuli sacerdotes, qui pro rata parte acciperent quantitatem olivae, ad satietatem comederent, imo ut adhuc reliquiae superessent.. Consequenterweise sollte der genannte Ausleger auch diese Erzählung natürlich, etwa gleichfalls durch die Mäſsigkeit jener Priester, zu erklären suchen: doch die Geschichte steht ja nicht im Kanon, daher kann er sie unbedenklich für ein Mährchen halten, und räumt ihrer auffallenden Ähnlichkeit mit der evangelischen nur so viel ein, daſs vermöge des durch jene rabbinische No - tiz dokumentirten Glaubens der Juden an dergleichen Spei - severmehrungen auch die N. T. liche Erzählung von judai - sirenden Christen frühzeitig in gleichem (wunderhaftem) Sinne habe aufgefaſst werden können. Allein laut unsrer Untersuchung ist der evangelische Bericht in diesem Sinne schon abgefaſst, und lag dieser Sinn im Geist der jüdischen Volkssage, so ist die evangelische Erzählung ohne Zweifel ein Produkt derselben.
An die Speisungsgeschichte läſst sich die Erzählung des vierten Evangeliums (2, 1 ff. ) anreihen, daſs Jesus bei einer Hochzeit zu Kana in Galiläa Wasser in Wein verwandelt habe. Nach Olshausen sollen beide Wunder unter dieselbe Kategorie zusammenfallen, indem beidemale ein Substrat vorhanden sei, dessen Substanz modificirt220Zweiter Abschnitt.werde1)b. Comm. 2, S. 74.. Allein hiebei ist der logische Unterschied über - sehen, daſs in der Speisungsgeschichte die Modification des Substrats eine bloſs quantitative, eine Vermehrung des be - reits in dieser Eigenschaft Vorhandenen, ist (Brot wird nur mehr Brot, aber bleibt Brot): wogegen bei der Hochzeit zu Kana das Substrat qualitativ modificirt, aus etwas nicht bloſs mehr dergleichen, sondern ein Anderes (aus Wasser Wein) wird, somit eine eigentliche Trans - substantiation vor sich geht. Zwar giebt es qualitative Ver - änderungen, welche naturgemäſs erfolgen, und deren plöz - liche Hervorbringung von Seiten Jesu noch leichter denk - bar wäre, als eine ebenso schnelle Vermehrung des Quan - tums, wie z. B. wenn er plözlich Most zu Wein, oder Wein zu Essig gemacht haben würde: denn dieſs wäre nur ein beschleunigtes Hindurchführen desselben vegetabi - lischen Substrats, des Traubensafts, durch verschiedene ihm natürliche Zuständlichkeiten; wogegen es schon wun - derbarer wäre, wenn Jesus dem Saft einer andern Pflan - zenfrucht, z. B. des Apfels, die Qualität des Traubensafts ertheilt hätte, ob er gleich hiebei doch immer noch inner - halb der Grenzen desselben Naturreichs stehen geblieben wäre. Hier nun aber, wo Wasser in Wein verwandelt wird, ist von einem Naturreich in das andere, vom Ele - mentarischen in das Vegetabilische übergesprungen, ein Wunder, welches so weit über dem Speisungswunder steht, als wenn Jesus dem Rath des Versuchers Gehör gegeben, und aus Steinen Brot gemacht hätte.
Auch auf diese, wie auf die vorige Wundererzählung wendet Olshausen, nach Augustin2)In Joann. tract. 8: Ipse vinum fecit in nuptiis, qui omni anno hoc facit in vitibus., die Kategorie eines beschleunigten Naturprocesses an, so daſs hier nichts An - dres geschehen sein soll, als in accelerirter Weise dassel -221Neuntes Kapitel. §. 99.be, was in langsamer Entwickelung sich jährlich am Wein - stock darstelle. Diese Betrachtungsweise wäre in dem Fall gegründet, wenn das Substrat, auf welches Jesus ein - wirkte, dasselbe gewesen wäre, aus welchem naturgemäſs der Wein hervorzugehen pflegt: hätte er eine Weinrebe zur Hand genommen, und diese plözlich zum Blühen und Tragen reifer Trauben gebracht, so lieſse sich dieſs ein beschleunigter Naturproceſs nennen. Auch so übrigens hät - ten wir noch keinen Wein, und brachte Jesus aus der zur Hand genommenen Rebe sogleich auch diesen hervor, so muſste er noch ein unsichtbares Surrogat des Kelterns, also einen beschleunigten Kunstproceſs hinzufügen, so daſs auch so schon die Kategorie des beschleunigten Naturprocesses unzureichend würde. Doch wir haben ja keine Rebe als Substrat dieser Weinproduktion, sondern Wasser, und hiebei könnte von einem beschleunigten Naturproceſs nur dann mit Fug gesprochen werden, wenn jemals aus Was - ser, sei es auch noch so allmählig, Wein entstände. Hier wird nun der Sache die Wendung gegeben, daſs allerdings aus Wasser, aus der durch Regen u. dgl. in die Erde ge - brachten Feuchtigkeit, die Rebe ihren Saft ziehe, den sie sofort zur Produktion der Traube und des in ihr enthal - tenen Weines verwende, so daſs folglich allerdings jähr - lich vermöge eines natürlichen Processes aus Wasser Wein entstehe3)So, von Olshausen gebilligt, Augustin a. a. O.: sicut enim, quod miserunt ministri in hydrias, in vinum conversum est opere Domini, sic et quod nubes fundunt, in vinum conver - titur ejusdem opere Domini.. Allein abgesehen davon, daſs das Wasser nur Eine der elementarischen Potenzen ist, welche die Rebe zu ihrer Fruchtbarkeit nöthig hat, und daſs zu demselben noch Erde, Luft und Licht hinzukommen müssen: so könnte doch weder von einer, noch von allen diesen elementari - schen Potenzen zusammen gesagt werden, daſs sie die222Zweiter Abschnitt.Traube oder den Wein hervorbringen, daſs also Jesus, wenn er aus Wasser Wein hervorbrachte, dasselbe, nur schneller, gethan habe, was sich in allmähligem Processe jährlich wiederhole, sondern auch hier wieder sind we - sentlich verschiedene logische Kategorieen verwechselt. Wir mögen nämlich das Verhältniſs des Produkts zum Pro - ducirenden, von welchem es sich hier handelt, unter die Kategorie von Kraft und Äusserung, oder von Ursache und Wirkung stellen: niemals wird gesagt werden können, daſs das Wasser die Kraft oder die Ursache sei, welche Trau - ben und Wein hervorbringe, sondern die Kraft, welche deren Entstehung verursacht, ist immer nur die vegetabi - lische Individualität des Weinstocks, zu welcher sich das Wasser nebst den übrigen elementarischen Agenzien nur wie die Solicitation zur Kraft, wie die Veranlassung zur Ursache verhält. D. h. ohne Einwirkung von Wasser, Luft u. s. f. kann allerdings die Traube nicht entstehen, so wenig als ohne die Rebe; aber der Unterschied ist, daſs in der Rebe die Traube an sich oder dem Keime nach bereits vorhanden ist, welchem Wasser u. s. f. nur zur Entwicklung verhelfen: in diesen elementarischen Wesen dagegen ist die Traube weder actu noch potentia vorhan - den, sie können dieselbe auf keine Weise aus sich, son - dern nur aus einem Andern, der Rebe, entwickeln. Aus Wasser Wein machen heiſst also nicht, eine Ursache schnel - ler als auf natürlichem Wege erfolgen würde, zur Wirk - samkeit bringen, sondern ohne Ursache, aus der bloſsen Veranlassung, die Wirkung entstehen lassen, oder bestimm - ter auf das Organische bezogen, ein organisches Produkt ohne den producirenden Organismus aus dem bloſsen un - organischen Material, oder vielmehr nur aus Einem Be - standtheil dieses Materials, hervorrufen: ungefähr wie wenn Einer aus Erde, ohne Dazwischenkunft der Getreidepflan - ze, Brot, aus Brot, ohne es vorher durch einen thierischen Körper assimiliren zu lassen, Fleisch, aus Wein auf eben223Neuntes Kapitel. §. 99.dieselbe Weise Blut gemacht haben sollte. Will man sich daher nicht bloſs auf das Unbegreifliche eines Allmachts - worts Jesu berufen, sondern mit Olshausen den Proceſs, der in dem fraglichen Wunder enthalten sein müſste, nach Art eines Naturprocesses sich näher bringen: so muſs man nur nicht, um die Sache scheinbarer zu machen, einen Theil der dazu gehörigen Momente verschweigen, sondern alle hervorstellen, welche dann folgende gewesen sein müſs - ten: 1) Zu dem elementarischen agens des Wassers müſste Jesus die Kraft der übrigen oben genannten Elemente ge - fügt, dann aber 2) was die Hauptsache ist, die organische Individualität der Rebe ebenso unsichtbar herbeigeschafft haben; 3) hätte er nun den natürlichen Proceſs dieser Ge - genstände mit einander, das Blühen und Fruchttragen der Rebe sammt dem Reifen der Traube bis zum Augenblick - lichen beschleunigt; 4) hierauf den Kunstproceſs des Pres - sens u. s. f. unsichtbar und plözlich geschehen lassen, und endlich 5) den weiteren Naturproceſs der Gährung wieder bis zum Augenblicklichen beschleunigen müssen. Auch hier demnach ist die Bezeichnung des wunderbaren Vorgangs als beschleunigten Naturprocesses nur von zwei Momenten unter fünfen hergenommen, während deren drei unter die - sen Gesichtspunkt sich gar nicht bringen lassen, von wel - chen doch die beiden ersten, namentlich das zweite, von einem Belange sind, der selbst den bei der Speisungsge - schichte von dieser Vorstellungsweise vernachlässigten Mo - menten nicht zukam: so daſs also von einem beschleunig - ten Naturproceſs hier so wenig wie dort die Rede sein kann4)Auch Lücke, 1, S. 405. findet die Analogie mit dem bezeich - neten Naturprocess mangelhaft und undeutlich, und weiss sich hierüber nur dadurch einigermassen zu beruhigen, dass ein ähnlicher Übelstand auch bei dem Speisungswunder statt - finde.. Da aber allerdings diese Kategorie die einzige224Zweiter Abschnitt.oder äusserste ist, unter welcher wir dergleichen Vorgän - ge unserem Vorstellen und Begreifen näher bringen kön - nen: so ist mit der Unanwendbarkeit jener Kategorie auch die Undenkbarkeit des Vorgangs dargethan.
Doch nicht allein in Bezug auf die Möglichkeit, son - dern auch auf die Zweckmäſsigkeit und Schicklichkeit ist das vorliegende Wunder in Anspruch genommen worden. Zwar der in älteren5)Bei Chrysostomus, homil. in Joann. 21. und neueren6)Woolston, Disc. 4. Zeiten gemachte Vorwurf, daſs es Jesu unwürdig sei, sich nicht allein in Gesellschaft von Trunkenen betreten zu lassen, sondern ihrer Trunkenheit durch seine Wunderkraft noch Vorschub zu thun, ist als übertrieben abzuweisen, indem, wie die Erklärer mit Recht bemerken, aus dem ὅταν μεϑυσϑῶσι (V. 10.), welches der ἀρχιτρίκλινος in Bezug auf den ge - wöhnlichen Hergang bei dergleichen Mahlen bemerkt, für den damaligen Fall nichts mit Sicherheit gefolgert werden kann. So viel jedoch bleibt immer, was nicht allein Pau - lus und die Probabilien7)p. 42. bemerklich machen, sondern auch Lücke und Olshausen als eine bei'm ersten Anblick sich aufdringende Bedenklichkeit zugestehen, daſs nämlich Jesus durch dieses Wunder nicht, wie er sonst pflegte, irgend einer Noth, einem wirklichen Bedürfniſs abhalf, sondern nur einen weiteren Reiz der Lust herbeischaffte; nicht sowohl hülfreich, als vielmehr gefällig sich erwies; mehr nur so zu sagen ein Luxuswunder, als ein wirklich wohlthätiges verrichtete. Sagt man hier, es sei ein hinrei - chender Zweck des Wunders gewesen, den Glauben der Jünger zu befestigen8)Tholuck, z. d. St., was nach V. 11. auch wirklich die Folge war: so muſs man sich erinnern, daſs bei den übrigen Wundern Jesu in der Regel nicht allein das For -225Neuntes Kapitel. §. 99.male derselben, d. h. daſs sie ausserordentliche Erfolge waren, etwas Wünschenswerthes, nämlich den Glauben der Anwesenden, zur Folge hatte, sondern auch ihrem Materialen, d. h. daſs sie in Heilungen, Speisungen u. dgl. bestanden, eine wohlthätige Absicht zum Grunde lag. Bei dem gegenwärtigen Wunder fehlt diese Seite, und Paulus hat so Unrecht nicht, wenn er auf den Widerspruch auf - merksam macht, welcher darin liege, daſs Jesus zwar dem Versucher gegenüber jede Aufforderung zu solchen Wun - dern, die, ohne materiell wohlthätig, und durch ein drin - gendes Bedürfniſs gefordert zu sein, nur formell etwa Glau - ben und Bewunderung wirken könnten, abgewiesen, und nun doch ein solches Wunder gethan haben sollte9)Comm. 4, S. 151 f..
Man war daher supranaturalistischerseits auf die Wen - dung angewiesen, nicht Glauben überhaupt, welcher eben - so gut oder noch besser durch eine auch materiell wohl - thätige Wunderhandlung zu bewirken war, sondern eine ganz specielle, eben nur durch dieses Wunder zu bewir - kende Überzeugung habe Jesus durch dasselbe hervorbrin - gen wollen. Und hier lag nun nichts näher, als durch den Gegensaz von Wasser und Wein, um welchen sich das Wunder dreht, an den Gegensaz zwischen dem βαπτίζων ἐν ὕδατι (Matth. 3, 11.), der zugleich ein οἶ νον μὴ πίνων war (Luc. 1, 15. Matth. 11, 18.), und demjenigen, wel - cher, wie er mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufte, so auch die feurige, geistreiche Frucht des Weinstocks sich nicht versagte, und daher οἰνοπότης gescholten ward (Matth. 11, 19.), erinnert zu werden, um so mehr, da das vierte Evangelium, welches die Erzählung von der Hoch - zeit zu Kana enthält, in seinen ersten Abschnitten beson - ders die Tendenz zeigt, vom Täufer zu Jesu herüberzufüh - ren. Daher haben denn Herder10)Von Gottes Sohn u. s. f. nach Johannes Evangelium, S. 131 f. und nach ihm einigeDas Leben Jesu II. Band. 15226Zweiter Abschnitt.Andere11)C. C. Flatt, über die Verwandlung des Wassers in Wein, in Süskind's Magazin, 14. Stück, S. 86 f. Olshausen a. a. O. S. 75 f. angenommen, Jesus habe durch jenes Vorneh - men seinen Jüngern, von welchen mehrere vorher Schü - ler des Täufers gewesen waren, das Verhältniſs seines Geistes und Amtes zu dem des Johannes versinnlichen, und den Anstoſs, welchen sie etwa an seiner liberaleren Lebensweise nehmen mochten, durch das Wunder nieder - schlagen wollen. Allein hier tritt nun dasjenige ein, was gleichfalls selbst Freunde dieser Auslegung als auffallend her - vorheben12)Olshausen a. a. O., daſs Jesus das sinnbildliche Wunder nicht be - nüzt, um durch erläuternde Reden seine Jünger über sein Verhältniſs zum Täufer aufzuklären. Wie nöthig eine sol - che Auslegung war, wenn das Wunder nicht seinen spe - ciellen Zweck verfehlen sollte, erhellt sogleich daraus, daſs der Referent nach V. 11. dasselbe gar nicht in diesem Sinn, als Veranschaulichung einer besondern Maxime Je - su, sondern ganz allgemein, als φανέρωσις seiner δόξα, ver - standen hat13)Auch Lücke findet jene symbolische Deutung zu weit herge - holt, und zu wenig im Tone der Erzählung begründet. S. 406.. War also doch jene specielle Verständi - gung Jesu Zweck bei dem vorliegenden Wunder, so hat ihn der Verfasser des vierten Evangeliums, d. h. nach der Voraussetzung jener Erklärer sein empfänglichster Schüler, miſsverstanden, und Jesus, diesem Miſsverständniſs vorzu - beugen, auf unzweckmäſsige Weise versäumt; oder, wenn man dieses Beides nicht annehmen will, so bleibt es dabei, daſs Jesus den allgemeinen Zweck, seine Wunderkraft zu zeigen, gegen seine sonstige Weise durch eine Handlung zu erreichen gesucht hätte, an deren Stelle er eine nüzli - chere scheint haben setzen zu können.
Auch das unverhältniſsmäſsige Quantum Weins, wel - ches Jesus den Gästen gewährt, muſs in Erstaunen setzen. 227Neuntes Kapitel. §. 99.6 Krüge, jeder 2 bis 3 μετρητὰς fassend, gäben, wenn der dem hebräischen Bath entsprechende attische μετρητὴς, zu 1½ römischen amphoris oder 21 Würtembergischen Maaſsen, verstanden ist, 252 — 378 Maaſs14)Wurm, de ponderum, mensurarum etc. rationibus ap. Rom. et Graec. p. 123. 126. Vgl. Lücke, z. d. St.. Welches Quan tum für eine Gesellschaft, die bereits ziemlich getrunken hatte! Welche ungeheuren Krüge! ruft auch Dr. Paulus aus, und wendet nun Alles an, um die Maaſsangabe des Tex - tes zu verkleinern. Auf die sprachwidrigste Weise giebt er dem ἀνὰ statt seiner distributiven eine zusammenfassen - de Bedeutung, so daſs die 6 Hydrien nicht jede, sondern zusammen 2 bis 3 Metreten enthalten haben sollen, und auch Olshausen getröstet sich nach Semler dessen, daſs ja nirgends bemerkt sei, das Wasser aller Krüge sei in Wein verwandelt worden. Allein das sind Ausflüchte: wem die Herbeischaffung eines so verschwenderisch und gefährlich groſsen Quantums von Seiten Jesu unglaublich ist, der muſs daraus auf einen unhistorischen Charakter der ganzen Er - zählung schlieſsen.
Eigenthümliche Schwierigkeit macht bei dieser Er - zählung auch das Verhältniſs, in welches sie Jesum zu sei - ner Mutter und diese zu ihm sezt. Nach des Evangelisten ausdrücklicher Angabe war dieses Wunder die ἀρχὴ τῶν σημείων Jesu: und doch zählt seine Mutter so bestimmt darauf, er werde hier ein Wunder thun, daſs sie ihm den eingetretenen Weinmangel nur anzeigen zu dürfen glaubt, um ihn zu übernatürlicher Abhülfe zu bewegen, und selbst als sie eine abweisende Antwort erhält, verliert sie diese Hoffnung so wenig, daſs sie den Dienern Anweisung giebt, der Winke ihres Sohnes gewärtig zu sein (V. 3. 5.). Wie sollen wir diese Erwartung eines Wunders bei Jesu Mut - ter erklären? sollen wir die johanneische Angabe, die Was - serverwandlung sei das erste Zeichen Jesu gewesen, nur15 *228Zweiter Abschnitt.auf die Zeit seines öffentlichen Lebens beziehen, für seine Jugend aber die apokryphischen Wunder der Kindheits - evangelien voraussetzen? oder wenn dieſs schon Chrysosto - mus mit Recht zu unkritisch gefunden hat15)Homil. in Joann. z. d. St., sollen wir lieber vermuthen, Maria habe, vermöge ihrer durch die Zeichen bei Jesu Geburt bewirkten Überzeugung, daſs er der Messias sei, auch Wunder von ihm erwartet, und, wie vielleicht schon bei einigen früheren, so nun auch bei die - sem Anlaſs, wo die Verlegenheit groſs war, eine Probe je - ner Kraft von ihm verlangt16)Tholuck, z. d. St.? Wenn nur jene frühe Überzeugung der Angehörigen Jesu von seiner Messiani - tät in etwas wahrscheinlicher, und namentlich die ausseror - dentlichen Ereignisse der Kindheit, durch welche sie hervor - gebracht worden sein soll, mehr beglaubigt wären! wozu noch kommt, daſs, auch den Glauben der Maria an die Wunderkraft ihres Sohnes vorausgesezt, immer nicht er - hellt, wie sie unerachtet seiner abweisenden Antwort doch noch zuversichtlich erwarten konnte, er werde gerade bei dieser Gelegenheit sein erstes Wunder thun, und bestimmt zu wissen glauben, er werde es gerade so thun, daſs er die Diener dazu gebrauchen würde. Dieſs bestimmte Wis - sen der Maria selbst um die Modalität des zu verrichtenden Wunders scheint auf eine vorangegangene Eröffnung Je - su gegen sie zu deuten, und so sezt Olshausen voraus, Jesus habe seiner Mutter über das Wunder, das er vor - hatte, einen Wink gegeben gehabt. Wann aber sollte die - se Eröffnung geschehen sein? schon wie sie zu der Hoch - zeit giengen? da müſste also Jesus vorausgesehen haben, daſs es an Wein gebrechen würde, in welchem Falle dann aber Maria nicht wie von einer unerwarteten Verlegenheit ihn von dem οἶνον ουκ ἐχουσι in Kenntniſs setzen konnte. Oder erst nach dieser Anzeige, also in Verbindung mit den229Neuntes Kapitel. §. 99.Worten: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ γύναι; κ. τ. λ. ? aber hiemit läſst sich eine so entgegengesezte Eröffnung gar nicht in Ver - bindung denken, man müſste sich denn die abweisenden Worte laut, die zusagenden aber leise, bloſs für Maria, gesprochen vorstellen, was eine Komödie veranstalten hieſse. Begreift man somit auf keine Weise, wie Maria ein Wunder, und gerade ein solches, erwarten konnte, so lieſse sich der ersteren Schwierigkeit zwar durch die Annah - me scheinbar ausweichen, daſs Maria nicht in Erwartung eines Wunders, sondern nur so, wie sie sich in allen schwierigen Fällen bei ihrem Sohne Raths erholte, sich auch in diesem an ihn gewendet habe17)Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 135. Vgl. auch Calvin, z. d. St.: aber seine Erwiederung zeigt, daſs er in den Worten seiner Mutter die Aufforderung zu einem Wunder gefunden hatte, und die Anweisung, welche Maria den Dienern giebt, bleibt ohnehin bei dieser Annahme unerklärt.
Die Erwiederung Jesu auf die Anmahnung seiner Mut - ter (V. 4.) ist ebenso oft auf übertriebene Weise getadelt18)z. B. von Woolston a. a. O. als auf ungenügende gerechtfertigt worden. Man mag im - merhin sagen, das hebräische מַה־לִּי וָלָךְ, dem das τί ἐμοὶ καὶ σοὶ entspreche, komme z. B. 2. Sam. 16, 10. auch als gelinder Tadel vor19)Flatt, a. a. O. S. 90; Tholuck, z. d. St., oder sich darauf berufen, daſs mit dem Amtsantritt Jesu sein Verhältniſs zur Mutter, was die Wirksamkeit betrifft, sich gelöst habe20)Olshausen, z. d. St.: gewiſs durfte doch Jesus auf die Gelegenheiten, seine Wundermacht in Anwendung zu bringen, mit Bescheidenheit aufmerksam gemacht werden, und so wenig derjenige, welcher ihm ei - nen Krankheitsfall mit hinzugefügter Bitte um Hülfe an - zeigte, eine Schmähung verdiente, so wenig und noch we - niger Maria, wenn sie einen eingetretenen Mangel mit bloſs230Zweiter Abschnitt.hinzugedachter Bitte um Abhülfe zu seiner Kenntniſs brach - te. Ein Anderes wäre es gewesen, wenn Jesus den Fall nicht geeignet, oder gar unwürdig gefunden hätte, ein Wun - der an denselben zu knüpfen: dann hätte er die auffor - dernde Anzeige als Reizung zu falscher Wunderthätigkeit (wie in der Versuchungsgeschichte) hart abweisen mögen; so hingegen, da er bald darauf durch die That zeigte, daſs er den Anlaſs allerdings eines Wunders werth finde, ist schlechterdings nicht einzusehen, wie er der Mutter ihre Anzeige, die ihm nur vielleicht einige Augenblicke zu frü - he kam, verdenken konnte21)Vgl. auch die Probabilien, p. 41 f..
Den zahlreichen Schwierigkeiten der supranaturalisti - schen Auffassung hat man auch hier durch natürliche Deu - tung der Geschichte zu entfliehen versucht. Von der Sitte ausgehend, daſs bei jüdischen Hochzeiten Geschenke an Wein oder Öl gewöhnlich waren, und davon, daſs Jesus, der 5 neugeworbene Schüler als ungeladene Gäste mitbrach - te, einen Mangel an Wein voraussehen konnte, nimmt man an, des Scherzes wegen habe Jesus sein Geschenk auf un - erwartete und geheimniſsvolle Weise anbringen wollen. Die δόξα, welche er durch diese Handlung offenbarte, ist hie - nach nur seine Humanität, welche gehörigen Ortes auch einen Spaſs zu machen nicht verschmähte; die πίςις, die er sich dadurch bei seinen Jüngern zuwege brachte, ist das freudige Anschlieſsen an einen Mann, welcher nichts von dem drückenden Ernste zeigte, den man sich vom Messias prognosticirte. Die Mutter wuſste um den Vor - saz des Sohnes und mahnt ihn, wie es ihr Zeit schien, denselben zur Ausführung zu bringen; er aber erinnert sie scherzend, ihm nicht durch Vorschnelligkeit den Spaſs zu verderben. Daſs er Wasser einschöpfen lieſs, scheint zu der scherzhaften Täuschung gehört zu haben, welche er beabsichtigte; daſs, als auf Einmal Wein statt Was -231Neuntes Kapitel. §. 99.sers in den Krügen sich fand, dieſs für eine wunderbare Verwandlung gehalten wurde, ist leicht begreiflich in ei - ner späten Nachtstunde, wo man schon ziemlich getrunken hatte; daſs endlich Jesus die Hochzeitleute über den wah - ren Thatbestand nicht aufklärte, war die natürliche Con - sequenz, die hervorgebrachte scherzhafte Täuschung nicht selbst zerstören zu wollen22)Paulus, Comm. 4, S. 150 ff. ; L. J. 1, a, S. 169 ff. ; Natür - liche Geschichte, 2, S. 61 ff.. Wie übrigens die Sache zugegangen, durch welche Veranstaltung Jesus den Wein an die Stelle des Wassers gebracht, dieſs, meint Paulus, lasse sich nicht mehr ausmachen; genug, wenn wir wis - sen, daſs Alles natürlich vor sich gegangen sei. Da aber nach der Annahme dieses Auslegers der Evangelist sich der Natürlichkeit des Erfolgs im Allgemeinen bewuſst war, warum hat er uns keinen Wink darüber gegeben? Wollte er auch den Lesern die Überraschung bereiten, welche Je - sus den Zuschauern bereitet hatte, so muſste er sie doch hinterher auflösen, um die Täuschung nicht bleibend zu machen. Namentlich durfte er nicht den irreführenden Ausdruck gebrauchen, daſs Jesus durch diesen Akt τὴν δόξαν αὑτοῦ (V. 11.), was in der Sprache seines Evangeliums nur dessen höhere Würde bedeuten kann, geoffenbart ha - be; er durfte den Vorfall kein σημεῖον nennen, was ein Übernatürliches involvirt; er durfte endlich nicht durch den Ausdruck: τὸ ὕδωρ οἶνον γεγενημένον (V. 9.), noch we - niger unten (4, 46.) durch die Bezeichnung Kana's mit ὅπου ἐποίησεν ὕδωρ οἶνον, den Schein erregen, als stimmte er der wunderhaften Auffassung des Vorgangs bei23)Vgl. hierüber Flatt a. a. O. S. 77 ff. und Lücke, z. d. Absch.. Die - se Schwierigkeiten suchte der Verfasser der natürlichen Geschichte durch die Einräumung zu umgehen, daſs der Referent selbst, Johannes, die Sache für ein Wunder an - gesehen habe und als solches erzähle. Indeſs, abgesehen232Zweiter Abschnitt.von der unwürdigen Art, wie er diesen Irrthum des Evan - gelisten erklärt24)Er giebt dem μεϑύσκεσϑαι V. 10. eine Beziehung auch auf den Johannes., wäre es von Jesu nicht wohl denkbar, daſs er auch seine Schüler in der Täuschung der übrigen Gäste erhalten, und nicht wenigstens ihnen eine Aufklä - rung über den wirklichen Hergang der Sache gegeben ha - ben sollte. Man müſste daher annehmen, der Referent die - ses Vorfalls im vierten Evangelium sei keiner von Jesu Schülern gewesen, was jedoch über die Sphäre dieser Er - klärungsweise hinausgeht. Doch auch zugegeben, daſs der Referent selbst, wer er immer sein möge, in der Täuschung derer, welche in dem Vorgang ein Wunder sahen, befan - gen gewesen sei, wobei also seine Darstellungsweise und die von ihm gebrauchten Ausdrücke begreiflich würden: so ist Jesu Verfahren und Handlungsweise desto unbegreif - licher, wenn kein wirkliches Wunder im Spiel war. Warum richtete er die Darbringung des Geschenks mit raffinirtem Fleiſse so ein, daſs es als wunderbare Bescheerung er - scheinen muſste? warum lieſs er namentlich die Gefäſse, in welche er sofort den Wein zu bringen im Sinne hatte, vorher mit Wasser voll machen, dessen nothwendige Wie - derentfernung am unbemerkten Vornehmen der Sache nur hinderlich sein konnte? wenn man nicht mit Woolston an - nehmen will, er habe dem Wasser nur durch zugegossene Liqueure einen Weingeschmack ertheilt. Das Gefühl die - ser doppelten Schwierigkeit, theils das Hineinbringen des Weins in die bereits mit Wasser gefüllten Krüge denkbar zu machen, theils Jesum von dem Verdacht freizusprechen, als hätte er den Schein einer wunderbaren Verwandlung des Wassers erregen wollen, mag es gewesen sein, was den Verfasser der natürlichen Geschichte bewog, den Zusam - menhang zwischen dem eingefüllten Wasser und dem spä - ter zum Vorschein gekommenen Wein ganz zu zerreissen233Neuntes Kapitel. §. 99.durch die Annahme, das Wasser habe Jesus holen lassen, weil es auch daran fehlte, und er den wohlthätigen Ge - brauch des Waschens vor und nach der Tafel empfehlen wollte, den Wein aber habe er hernach aus einer anstos - senden Kammer, wohin er ihn gestellt hatte, herbeibrin - gen lassen — eine Auffassung, bei welcher freilich entwe - der die Trunkenheit sämmtlicher Gäste und namentlich des Referenten als ziemlich bedeutend angenommen werden müſste, wenn sie den aus der Kammer gebrachten Wein für einen aus den Wasserkrügen geschöpften angesehen haben sollen, oder die täuschende Veranstaltung Jesu als sehr fein angelegt, was mit seiner sonstigen Geradheit sich nicht verträgt.
In dieser Klemme zwischen der supranaturalen und der natürlichen Erklärung, von welchen auch hier die eine so wenig als die andre genügen kann, müſsten wir nun mit dem neuesten Ausleger des vierten Evangeliums warten, „ bis es Gott gefällt, durch weitere Entwicklungen des be - sonnenen christlichen Denkens die Lösung dieser Räthsel zu allgemeiner Befriedigung herbeizuführen25)Lücke, S. 407. “, wenn uns nicht ein Ausweg schon dadurch angezeigt wäre, daſs wir die betreffende Geschichte nur bei dem Einen Jo - hannes finden. War sie, einzig in ihrer Art wie sie ist, zugleich das erste Zeichen Jesu, so muſste sie, wenn auch damals noch nicht alle Zwölfe mit Jesu waren, doch die - sen allen bekannt werden, und wenn auch unter den übri - gen Evangelisten kein Apostel ist, doch in die allgemeine Tradition und von da in die synoptischen Aufzeichnungen übergehen: so, da sie nur Johannes hat, scheint die An - nahme, daſs sie in einem den Synoptikern unbekannten Sa - gengebiet erst entstanden, leichter als die andere, daſs sie aus dem ihrigen so frühzeitig verschwunden sei; es kommt nur darauf an, ob wir im Stande sind, nachzuweisen, wie234Zweiter Abschnitt.auch ohne historischen Grund eine solche Sage sich gestal - ten konnte. Kaiser verweist hiefür auf den abenteuerli - chen Geist des verwandelnden Orients: aber diese Instanz ist so unbestimmt, daſs Kaiser allerdings noch die Voraus - setzung eines wirklich vorgefallenen humanen Scherzes Jesu nöthig hat26)bibl. Theol. 1, S. 200., womit er in der unglücklichen Mitte zwi - schen mythischer und natürlicher Erklärung stehen bleibt, aus welcher man nicht eher herauskommt, als bis man be - stimmtere, näher liegende mythische Anhalts - und Entste - hungspunkte für eine Erzählung herbeizuschaffen im Stande ist. Im gegenwärtigen Falle nun braucht man weder bei'm Orient überhaupt, noch bei Verwandlungen im Allgemei - nen stehen zu bleiben, da sich bestimmt Wasserverwand - lungen im engeren Kreise der hebräischen Urgeschichte finden. Neben einigen Erzählungen, daſs Moses den Israë - liten in der Wüste aus dürrem Felsen Wasser verschafft habe (2. Mos. 17, 1 ff. 4. Mos. 20, 1 ff. ), eine Wasser - bescheerung, welche, nachdem sie in modificirter Weise sich in der Geschichte Simson's wiederholt hatte (Richt. 15, 18 f.), auch in die messianischen Erwartungen übergetra - gen wurde27)In der Band 1, S. 73. Anm. angeführten Stelle aus Midrasch Koheleth heisst es unter Anderem: Goël primus — ascendere fecit puteum: sie quoque Goël postremus ascendere faciet aquas etc., ist die erste dem Moses zugeschriebene Wasserverwandlung jene Umwandlung alles Wassers in Ägypten in Blut, welche unter den sogenannten zehn Pla - gen aufgeführt wird (2. Mos. 7, 17 ff.). Neben dieser mutatio in deterius findet sich aber in der Geschichte des Moses auch eine am Wasser vollzogene mutatio in melius, indem er bitteres Wasser nach Jehova's Anweisung süſs machte (2. Mos. 14, 23 ff. ), wie später auch Elisa ein un - gesundes Wasser gut und unschädlich gemacht haben soll235Neuntes Kapitel. §. 99.(2. Kön. 2, 19 ff.). Wie, laut der angeführten rabbinischen Stelle, die Wasserbescheerung, so scheint unsrer johannei - schen Erzählung zufolge auch die Wasserverwandlung von Moses und den Propheten auf den Messias übergetragen worden zu sein, mit denjenigen Modificationen jedoch, wel - che in der Natur der Sache lagen. Konnte nämlich auf der einen Seite eine Veränderung des Wassers in's Schlim - mere, wie jene mosaische Verwandlung desselben in Blut, konnte ein solches Strafwunder dem milden Geiste des als Messias erkannten Jesus nicht wohl angemessen gefunden werden: so konnte andrerseits eine solche Veränderung in's Bessere, welche, wie die Vertreibung der Bitterkeit oder Schädlichkeit, innerhalb der species des Wassers ste - hen blieb, und nicht, wie jene Verwandlung in Blut, die Substanz des Wassers selbst änderte, für den Messias ungenügend erscheinen; beides zusammengenommen aber, eine Veränderung des Wassers in's Bessere, welche zu - gleich eine specifische Veränderung seiner Substanz wäre, muſste beinahe von selbst eine Verwandlung in Wein ge - ben. Diese ist nun von Johannes so erzählt, wie es zwar nicht der Wirklichkeit, um so mehr aber dem Geist seines Evangeliums angemessen gefunden werden muſs. Denn so undenkbar, geschichtlich betrachtet, die Härte Jesu ge - gen seine Mutter erscheint: so ganz im Geiste des vierten Evangeliums ist es, seine Erhabenheit als des göttlichen λόγος durch ein solches Benehmen gegen Bittende (wie Joh. 4, 48.), und selbst gegen seine Mutter, auf die Spitze zu stellen28)Vgl. die Probabilien, a. a. O.. Ebenso im Geiste dieses Evangelisten ist es auch, den festen Glauben, welchen Maria unerachtet der abweisenden Antwort Jesu behielt, dadurch herauszu - heben, daſs er sie in einer historisch unmöglichen Ahnung selbst von der Art und Weise, wie Jesus das Wunder ver -236Zweiter Abschnitt.richten würde, die oben besprochene Anweisung den Die - nern geben läſst.
Die Anekdote von dem Feigenbaum, welchen Jesus, weil er, hungrig, keine Früchte auf ihm fand, durch sein Wort verdorren machte, ist den zwei ersten Evangelien eigenthümlich (Matth. 21, 18 ff. Marc. 11, 12 ff. ), wird aber von ihnen mit Abweichungen erzählt, welche auf die An - sicht von der Sache von Einfluſs sind. Und zwar schien die eine dieser Abweichungen des Markus von Matthäus der natürlichen Erklärung so günstig zu sein, daſs man namentlich auch mit Rücksicht auf sie dem Evangelisten neuerlich eine Tendenz zu natürlicher Ansicht von den Wundern Jesu zugeschrieben, und um dieser einen, günsti - gen Abweichung willen ihn auch bei der andern, ziemlich unbequemen, die sich in vorliegender Erzählung findet, in Schutz genommen hat.
Bliebe es nämlich bei der Art, wie der erste Evange - list den Erfolg der Verwünschung Jesu angiebt: καὶ ἐξη - ράνϑη παραχρῆμα ἡ συκῆ (V. 19.), so würde es wohl schwer halten, hier mit einer natürlichen Erklärung anzukommen, da auch die gewaltsame Paulus'sche Deutung, nach wel - cher das παραχρῆμα nur weiteres menschliches Zuthun, nicht aber eine längere Zeitfrist ausschlieſsen soll, doch nur auf unbefugtem Herübertragen des Markus in den Matthäus beruht. Bei Markus nämlich verwünscht Jesus den Baum am Morgen nach seinem Einzug in Jerusalem, und erst am folgenden Morgen bemerken die Jünger im Vor - übergehen, daſs der Baum verdorrt ist. Durch diese Zwi - schenzeit, welche Markus zwischen der Rede Jesu und dem Verdorren des Baumes offen läſst, drängt sich nun die natürliche Erklärung der ganzen Geschichte ein, darauf fuſsend, daſs in dieser Frist der Baum wohl auch durch na -237Neuntes Kapitel. §. 100.türliche Ursachen habe verdorren können. Demgemäſs soll nun Jesus an dem Baume neben dem Mangel an Früch - ten auch sonst noch eine Beschaffenheit bemerkt haben, aus welcher er ein baldiges Absterben desselben prognosti - cirte, und dieses Prognostikon soll er ihm in den Worten: von dir wird wohl Niemand mehr Früchte zu essen be - kommen, gestellt haben. Als die Hitze des Tages die Vor - aussage Jesu unvermuthet schnell verwirklichte, und die Jünger dieſs am andern Morgen bemerkten, da erst sez - ten sie diesen Erfolg mit den Worten Jesu vom vorigen Morgen in Verbindung, und begannen diese als Verwün - schung aufzufassen; eine Deutung, welche übrigens Jesus nicht bestätigt, sondern den Jüngern zu Gemüthe führt, mit nur einigem Selbstvertrauen werden sie nicht bloſs solche schon physiologisch bemerkbare Erfolge voraussa - gen, sondern noch viel Schwereres wissen und bewirken können1)Paulus, ex. Handb., 3, a, S. 157 ff.. Allein gesezt auch, die Angabe des Markus wäre die richtige, so bleibt doch auch so die natürliche Er - klärung unmöglich. Denn die Worte Jesu bei Markus (V. 14.): μηκέτι ἐκ σοῦ εἰς τὸν αἰῶνα μηδεὶς καρπὸν φάγοι, müſsten, wenn sie bloſs eine Vermuthung, was wohl ge - schehen werde, enthalten sollten, nothwendig ein ἂν bei sich haben, und in dem μηκέτι ἐκ σοῦκαρπὸς γένηται des Matthäus ist ohnehin der Befehl nicht zu verkennen, ob - gleich Paulus auch hier mit einem bloſsen „ mag werden “abkommen möchte. Auch daſs Jesus den Baum selbst an - redet, so wie das feierliche εἰς τὸν αἰῶνα, welches er hin - zufügt, spricht gegen eine simple Voraussage und für die Verwünschung; Paulus fühlt dieſs wohl, und deutet daher mit unerlaubter Gewaltsamkeit das λέγει αὐτῇ zu einem Sagen in Beziehung auf den Baum um, während er das εἰς τὸν αἰῶνα durch die Übersetzung: in die Folgezeit hin, abschwächt. Doch gesezt auch, die Evangelisten hätten aus238Zweiter Abschnitt.ihrer irrigen Ansicht von dem Vorgang heraus die Worte Jesu über den Feigenbaum in etwas verändert, und Jesus also wirklich dem Baum nur ein Prognostikon gestellt: so hat er doch, als das Vorausgesagte eingetreten war, den Erfolg seiner übernatürlichen Einwirkung zugeschrieben. Denn wenn er das, was er in Bezug auf den Feigenbaum geleistet, als ein ποιεῖν bezeichnet (V. 21. bei Matth.), so kann schon dieſs nur gezwungen auf eine bloſse Voraus - sage bezogen werden; namentlich aber, wenn er es dem Bergeversetzen gegenüberstellt, so muſs, wie dieses nach jeder möglichen Deutung doch immer ein Bewirken ist, ebenso auch jenes als eine Einwirkung auf den Baum ge - faſst werden; jedenfalls muſste Jesus dem κατηράσω des Petrus (V. 21. Marc.) entweder widersprechen, oder war sein Stillschweigen darüber Zustimmung. Schreibt demnach Jesus das Verdorren des Baums hinterher seiner Einwir - kung zu, so hat er entweder auch schon durch seine An - rede an denselben eine Einwirkung beabsichtigt, oder er hat den zufälligen Erfolg zur Täuschung seiner Jünger ehr - geizig miſsbraucht, ein Dilemma, in welchem uns die Worte Jesu, wie sie von den Evangelisten referirt sind, entschie - den auf die erstere Seite hinweisen.
Unerbittlich also werden wir von diesem natürlichen Erklärungsversuch auf die supranaturalistische Auffassung zurückgedrängt, so schwierig diese auch gerade bei vorlie - gender Geschichte ist. Was sich gegen die physische Mög - lichkeit einer solchen Einwirkung sagen lieſse, übergehen wir, nicht zwar, als ob wir mit Hase uns anheischig ma - chen könnten, sie aus der natürlichen Magie zu begrei - fen2)L. J. §. 128., sondern weil eine andere Schwierigkeit die Unter - suchung schon vorher abschlieſst, und gar nicht bis zur Erwägung der physischen Möglichkeit kommen läſst. Die - ser entscheidende Anstoſs betrifft die moralische Möglich -239Neuntes Kapitel. §. 100.keit einer solchen Handlung von Seiten Jesu. Was er hier vollzieht, ist ein Strafwunder. Ein solches findet sich sonst in den kanonischen Berichten über das Leben Jesu nicht: nur die apokryphischen Evangelien sind, wie oben bemerkt wurde, voll davon. In einem der kanonischen Evangelien findet sich vielmehr eine gleichfalls schon öfters angeführ - te Stelle, Luc. 9, 55 f., welche es als Bewuſstsein Jesu ausspricht, daſs eine Benützung der Wunderkraft, um Stra - fe zu üben und Rache zu nehmen, dem Geiste seines Be - rufs widerspreche, und dasselbe Bewuſstsein spricht der Evangelist über ihn aus, wenn er das jesaianische: κάλα - μον συντετριμμένον ουκατεάξει κ. τ. λ. auf ihn anwendet (Matth. 12, 20). Diesem Grundsaz und seinem sonstigen Verfahren gemäſs hätte Jesus vielmehr einen dürren Baum neubeleben, als einen grünen verdorren machen müssen, und um seine dieſsmalige Handlungsweise zu begreifen, müſsten wir Gründe nachzuweisen im Stande sein, wel - che er gehabt haben könnte, von dem dort ausgesprochenen Grundsaz, welcher keine Zeichen der Unächtheit gegen sich hat, in diesem Falle abzugehen. Die Gelegenheit, bei welcher er jenen Grundsaz aufstellte, war die aus An - laſs der Weigerung eines samarischen Dorfs, Jesum und seine Jünger gastlich aufzunehmen, an ihn gerichtete Fra - ge der Zebedaiden, ob sie nicht nach der Weise des Elias Feuer auf das Dorf herabregnen lassen sollen? worauf sie Jesus an die Eigenthümlichkeit des Geistes mahnt, dem sie angehören, mit welcher ein so verderbendes Thun sich nicht vertrage. In unserem Falle hatte es Jesus nicht wie dort mit Menschen, die sich unrecht gegen ihn betragen hatten, sondern mit einem Baume zu thun, den er nicht in der erwünschten Verfassung traf. Statt daſs nun hierin ein besonderer Grund läge, von jener Regel abzugehen, ist vielmehr der Hauptgrund, welcher in jenem ersten Falle möglicherweise zur Verhängung eines Strafwunders hätte bewegen können, bei diesem zweiten nicht vorhanden. Der240Zweiter Abschnitt.moralische Zweck der Strafe nämlich, den Gestraften zur Einsicht und Anerkenntniſs seines Fehlers zu bringen und dadurch zu bessern, fällt einem Baume gegenüber völlig weg, und selbst von Strafe als Vergeltung kann bei einem unfreien Naturgegenstande nicht die Rede sein3)Augustin, de verbis Domini in ev. sec. Joann. sermo 44: Quid arbor fecerat, fructum non afferendo? quae culpa ar - boris infoecunditas?. Sich gegen einen leblosen Gegenstand, den man eben nicht im erwünschten Zustand findet, zu ereifern, wird mit Recht als Mangel an Bildung ausgelegt; in solcher Entrüstung bis zur Zerstörung des Gegenstandes fortzugehen, wird selbst für roh und unwürdig angesehen, und Woolston hat so Unrecht nicht, wenn er behauptet, an jedem Andern als an Jesu würde eine solche Handlung streng getadelt werden4)Disc. 4.. Zwar bei wirklich objektiv und habituell feh - lerhafter Beschaffenheit eines Naturgegenstandes kann es wohl etwa geschehen, daſs der Mensch ihn aus dem Wege räumt, um einen bessern an seine Stelle zu setzen, wozu übrigens immer nur der Eigenthümer die gehörige Auffor - derung und Befugniſs hat (vgl. Luc. 13, 7.). Daſs aber dieser Baum, weil er eben damals keine Früchte bot, auch im folgenden Jahre keine getragen haben würde, verstand sich keineswegs von selbst, und auch in der Erzählung wird das Gegentheil angedeutet, wenn Jesus seine Verwün - schung so ausdrückt, daſs auf dem Baume nie mehr Früch - te wachsen sollen, was also ohne diesen Fluch voraussez - lich doch noch geschehen sein würde.
War so die üble Beschaffenheit des Baums keine ha - bituelle, sondern nur eine vorübergehende, so war sie, wenn wir dem Markus weiter folgen, nicht einmal eine ob - jektive, sondern rein subjektiv nur in dem zufälligen Ver - hältniſs des Baums zu dem augenblicklichen Wunsch und241Neuntes Kapitel. §. 100.Bedürfniſs Jesu gegründet. Denn nach einem Zusaz, wel - cher die zweite Eigenthümlichkeit des Markus in dieser Erzählung bildet, war eben damals nicht Feigenzeit (V. 13.), es war also kein Fehler, vielmehr ganz in der Ordnung, daſs auch dieser Baum damals keine hatte, und Jesus, an den es schon Wunder nehmen muſs, daſs er so zur Un - zeit Feigen auf dem Baum erwartete, hätte wenigstens, als er keine fand, sich auf das Ungegründete seiner Erwar - tung besinnen, und eine so ganz unbillige Handlung, wie die Verwünschung war, unterlassen sollen. Schon Kirchen - väter stieſsen sich an diesem Zusaz des Markus, und fan - den unter Voraussetzung desselben das Verfahren Jesu ganz besonders räthselhaft5)Orig. Comm. in Matth. Tom. 16, 29:Ὁ δὲ Μάρκος ἀναγράψας τὰ κατὰ τὸν τόπον, ἀπεμφαῖνόν τι ὡς πρὸς τὸ ῥητὸν προσέϑηκε, ποιήσας, ὅτι — ουγὰρ ἠν καιρὸς σύκων· — Εἴποι γὰρ ἄν τις· εἰ μὴ ὁ καιρὸς σύκων ἠν, πῶς ἠλϑεν ὁ Ἰ. ὡς εὑρήσων τι ἐν αὐτῇ, καὶ πῶς δικαίως εὶπεν αὐτῇ· μηκέτι εἰς τὸν αἰῶνα ἐκ σοῦμηδεὶς καρπὸν φάγῃ;vgl. Augustin a. a. O.; Woolston aber spottet nicht mit Unrecht, wenn ein Kentischer Bauer im Frühjahr Obst in seinem Garten suchte, und die Bäume umhiebe, welche kei - nes haben, so würde er von Jedermann ausgelacht wer - den. Die Ausleger haben durch eine bunte Reihe von Con - jekturen und Deutungen der Schwierigkeit dieses Zusatzes zu entgehen gesucht. Von der einen Seite hat man den Wunsch, daſs doch die schwierigen Worte lieber gar nicht dastehen möchten, geradezu in die Hypothese verwandelt, sie mögen wohl spätere Glosse sein6)Touph emendd. in Suidam, 1, p. 330 f.. Andrerseits, da, wenn ein Zusaz der Art dastehen sollte, eher die umge - kehrte Angabe zu wünschen war, daſs damals Feigenzeit gewesen, um nämlich Jesu Erwartung, und seinen Unwil - len, als er sie getäuscht sah, begreifen zu können: so hat man auf verschiedene Weise die Negation aus dem SatzeDas Leben Jesu II. Band. 16242Zweiter Abschnitt.zu entfernen gesucht, theils ganz gewaltsam, indem man statt οὐ οὗ las, nach ἦν interpungirte, hinter σύκων ein zwei - tes ἦν supplirte, und übersezte: ubi enim tum versaba - tur, tempus ficuum erat7)Heinsius u. A., bei Fritzsche z. d. St.; theils abgeschmackt, durch Verwandlung des Satzes in einen Fragesaz: nonne enim etc.8)Maji Obs. s. bei dems.; theils dadurch, daſs das καιρὸς σύκων von der Zeit der Feigenärnte genommen, und so in dem Zusaz die An - gabe, die Feigen seien noch nicht weggelesen, d. h. noch auf den Bäumen gewesen, gefunden wird9)Dahme, in Henke's n. Magazin, 2. Bd. 2. Heft, S. 252. Auch Kuinöl, in Marc. p. 150 f., wofür man sich auf das καιρὸς τῶν καρπῶν Matth. 21, 34. beruft. Al - lein wie unter diesem Ausdruck, der eigentlich nur das antecedens der Ärnte, das Vorhandensein der Früchte auf Äckern oder Bäumen bezeichnet, wenn er in einem affirma - tiven Satze steht, das consequens, die mögliche Fruchtein - sammlung, nur in der Art verstanden sein kann, daſs das antecedens, das Dasein der Früchte auf dem Felde, mit - eingeschlossen bleibt, folglich ἔςι καιρὸς καρπῶν nur so viel bedeuten kann: die (reifen) Früchte stehen auf den Äckern, und sind demnach zur Einsammlung bereit: ebenso wird, wenn jener Ausdruck in einem negativen Satze steht, zu - erst das antecedens, das Befindlichsein der Früchte auf dem Acker, Baum u. dgl., und erst mittelst dessen das conse - quens, die Einsammlung der Früchte, aufgehoben; ουκ ἔςι καιρὸς σύκων heiſst also: die Feigen sind nicht auf den Bäu - men gegenwärtig, und somit auch nicht zum Einsammeln bereit, keineswegs aber umgekehrt: sie sind noch nicht eingesammelt, und stehen also noch auf den Bäumen. Aber nicht nur diese unerhörte Redefigur, daſs, während der Form nach das antecedens aufgehoben wird, dem Sinne nach nur das consequens aufgehoben, das antecedens aber243Neuntes Kapitel. §. 100.gesezt sein soll, sondern noch eine andere, die man bald Synchysis, bald Hyperbaton nennt, muſs bei dieser Erklä - rung angenommen werden. Denn als Angabe, daſs damals die Feigen noch auf den Bäumen gewesen, giebt der in Rede stehende Zusaz nicht den Grund, warum Jesus auf jenem Baume keine fand, sondern, warum er welche er - wartete, er sollte also nicht hinter ουδὲν εῦρεν κ. τ. λ., sondern nach ἦλϑεν, εἰ ἄρα εὑρήσει κ. τ. λ. stehen, eine Versetzung, welche aber nur beweist, daſs diese ganze Erklärung gegen den Text läuft. Überzeugt einerseits, daſs der Zusaz des Markus das Obwalten günstiger Umstände für das Vorhandensein von Feigen auf jenem Baume ver - neine, aber andrerseits doch bemüht, Jesu Erwartung zu rechtfertigen, suchten andre Erklärer jener Verneinung statt des allgemeinen Sinns, daſs es überhaupt nicht an der Jahrs - zeit gewesen sei, wovon Jesus nothwendig hätte Notiz ha - ben müssen, den particulären zu geben, daſs nur besondre Umstände, welche Jesu nicht nothwendig bekannt sein muſs - ten, der Fruchtbarkeit des Feigenbaums entgegengestanden haben. Ein ganz specielles Hinderniſs wäre es gewesen, wenn etwa der Boden, in welchem der Baum wurzelte, ein unfruchtbarer gewesen wäre, und wirklich soll nach Einigen καιρὸς σύκων einen für Feigen günstigen Boden be - zeichnen10)s. bei Kuinöl, z. d. St.; Andere, mit mehr Achtung vor der Wortbe - deutung von καιρὸς, bleiben zwar bei der Erklärung von günstiger Zeit, nur daſs sie diese nicht universell von ei - ner stehend und alljährlich der Feigen ermangelnden Jah - reszeit, sondern nur von einem einzelnen, zufällig den Fei - gen ungünstigen Jahrgang verstehen11)Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 175. Olshausen, b. Comm. 1, S. 782 f.. Allein καιρὸς ist zunächst die rechte Zeit im Gegensaz zur Unzeit, nicht eine günstige gegenüber einer ungünstigen; nun aber kann, wenn16 *244Zweiter Abschnitt.einer, auch in einem unfruchtbaren Jahrgang, zu der Zeit, in welcher sonst die Früchte zu reifen pflegen, solche sucht, doch nicht gesagt werden, daſs es zur Unzeit sei, viel - mehr könnte ein Miſsjahr gerade dadurch bezeichnet wer - den, daſs, ὅτε ἦλϑεν ὁ καιρὸς τῶν καρπῶν, man nirgends welche gefunden habe. Jedenfalls, wenn der ganze Jahr - gang die Feigen, eine in Palästina so häufige Frucht, nicht begünstigte, muſste Jesus dieſs fast ebensogut wissen, als wenn die unrechte Jahrszeit war: so daſs das Räthsel bleibt, wie Jesus über eine Beschaffenheit des Baums, wel - che in Folge ihm bekannter Umstände nicht anders sein konnte, so ungehalten sein mochte.
Allein erinnern wir uns doch nur, wer es ist, dem wir jenen Zusaz verdanken. Es ist Markus, welcher in seinem erläuternden, veranschaulichenden Bestreben so Man - ches aus seinem Eignen zusezt, und dabei, wie längst an - erkannt ist, und auch wir auf unsrem Wege schon zur Genüge gefunden haben, nicht immer auf die überlegteste Weise zu Werke geht. So hier nimmt er gleich das erste Auffallende, was ihm begegnet, daſs der Baum keine Früchte hatte, und ist eilig mit der Erklärung bei der Hand, es werde die Zeit nicht gewesen sein; merkt aber nicht, daſs er, indem er physikalisch die Leerheit des Baums erklärt, dadurch das Verfahren Jesu moralisch unerklär - lich macht. Auch die oben erwähnte Abweichung von Mat - thäus in Betreff der Zeit, innerhalb welcher der Baum verdorrte, ist, weit entfernt, eine gröſsere Urkundlichkeit des Markus in dieser Erzählung12)Wie Sieffert meint, über den Ursprung u. s. f. S. 113 ff. Vergl. dagegen meine Recens, in den Jahrh. f. wiss. Kritik, Nov. 1834., oder eine Neigung zu natürlicher Erklärung des Wunderbaren zu beweisen, wieder nur aus demselben veranschaulichenden Bestreben, wie der zulezt betrachtete Zusaz, hervorgegangen. Das245Neuntes Kapitel. §. 100.Bild eines auf ein Wort hin plözlich verdorrenden Baums fällt der Einbildungskraft schwer zu vollziehen: wogegen es nicht übel dramatisch genannt werden kann, den Pro - ceſs des Verdorrens hinter die Scene zu verlegen, und erst von dessen Resultate die später Vorübergehenden Ansicht nehmen zu lassen. — Mit seiner Behauptung übrigens, es sei damals, etliche Tage vor Ostern, keine Zeit für Feigen ge - wesen, hätte, auf die klimatischen Verhältnisse Palästina's gesehen, Markus insofern recht, als in so früher Jahrszeit die frisch getriebenen Feigen jenes Jahrgangs noch nicht reif waren, indem die Frühfeige oder Boccore doch erst um die Mitte oder gegen Ende Juni's, die eigentliche Fei - ge, die Kermus, aber gar erst im Augustmonat reif wird. Dagegen konnte um die Osterzeit noch vom vorigen Herbst und über den Winter her die dritte Frucht des Feigen - baums, die späte Kermus, hie und da auf einem Baume angetroffen werden13)s. Paulus, a. a. O. S. 168 f.; Winer, b. Realw. d. A. Fei - genbaum., wie denn nach Josephus ein Theil von Palästina (das Uferland des galiläischen Sees, freilich fruchtbarer, als die Gegend um Jerusalem, wo die frag - liche Geschichte vorgieng) σῦκον δέκα μησὶν ἀδιαλείπτως χορηγεῖ14)bell. jud. 3, 10, 8..
Doch wenn wir auch auf diese Weise die allerdings erschwerende Notiz des Markus, daſs der Mangel des Baums kein wirklicher gewesen, sondern nur Jesu ver - möge einer irrigen Erwartung so erschienen sei, auf die Seite gebracht haben: so bleibt uns doch auch nach Mat - thäus noch das Miſsverhältniſs, daſs Jesus wegen eines vielleicht bloſs vorübergehenden Mangels einen Naturgegen - stand zu Grunde gerichtet hätte. Weil ihn hiezu weder ökonomische Rücksichten, da er nicht Eigenthümer des Baumes war, noch auch moralische Absichten — auf einen246Zweiter Abschnitt.bewuſstlosen Naturgegenstand — bewogen haben können, so hat man den Ausweg ergriffen, als das eigentliche Ob - jekt, auf welches Jesus hier wirken wollte, die Jünger zu substituiren, den Baum aber und was Jesus an ihm that, als bloſses Mittel seiner Absicht auf jene zu betrach - ten. Dieſs ist die symbolische Auffassung, durch welche schon die Kirchenväter, und nun auch die meisten ortho - doxen Theologen unter den Neueren, die Handlungsweise Jesu von dem Vorwurf des Unpassenden zu befreien ge - meint haben. Nicht Erboſsung über den Baum, der sei - nem Hunger keine Stillung bot, war hienach die Stimmung Jesu bei diesem Akte, sein Zweck nicht schlechtweg die Vertilgung des unfruchtbaren Gewächses: sondern mit Be - sonnenheit hat er die Gelegenheit eines früchteleer befun - denen Baumes dazu benüzt, den Jüngern durch eine sym - bolische Handlung anschaulicher und unvergeſslicher als durch Worte die Wahrheit zu machen, die nun entweder speciell so gefaſst werden kann, daſs das jüdische Volk, welches beharrlich keine Gott und dem Messias gefälligen Früchte bringe, zu Grunde gehen werde, oder allgemeiner so, daſs überhaupt jeder, der von guten Werken so ent - blöſst sei, wie dieser Baum von Früchten, einem ähnlichen Strafgerichte entgegenzusehen habe15)Ullmann, über die Unsündlichkeit Jesu, in seinen Studien, 1, S. 50. Sieffert, a. a. O. S. 115 ff. Olshausen, 1, S. 783 f.. Mit Recht indeſs fordern andre Ausleger, wenn Jesus mit der Handlung dieſs bezweckte, so hätte er sich irgendwie darüber erklä - ren müssen16)Paulus, a. a. O. S. 170; Hase, L. J. §. 128; auch Sieffert, a. a. O.; denn war bei seinen Gleichniſsreden eine Auslegung nöthig, so war sie bei einer Handlung um so unentbehrlicher, je mehr diese ohne eine derartige Hin - weisung auf einen ausser ihr liegenden Zweck als Zweck für sich selbst gefaſst werden muſste. Zwar lieſse sich auch247Neuntes Kapitel. §. 100.hier, wie sonst, annehmen, Jesus habe wohl zur Verstän - digung seiner Jünger über das von ihm Vollzogene noch etwas gesprochen, was jedoch die Referenten, mit dem Wunderfaktum zufrieden, weggelassen haben. Allein sollte Jesus eine Deutung seiner Handlung im angegebenen sym - bolischen Sinne gegeben haben, so hätten die Evangelisten diese Rede nicht bloſs verschwiegen, sondern eine falsche an deren Stelle gesezt; denn sie lassen Jesum nach seinem Vornehmen mit dem Baume nicht schweigen, sondern aus Anlaſs einer verwundrungsvollen Frage seiner Jünger, wie es mit dem Baume zugegangen, eine Erläuterung geben, welche aber nicht jene symbolische, sondern von ihr ver - schieden, ja ihr entgegengesezt ist. Denn wenn Jesus ih - nen sagt, sie sollen sich über das Verdorren des Feigen - baums auf sein Wort hin nicht wundern, mit nur weni - gem Glauben werden sie noch Gröſseres zu thun im Stande sein: so legt er das Hauptgewicht auf sein Thun in der Sache, nicht auf den Zustand und das Leiden des Baums als Symbole; er hätte also, wenn doch auf das Leztere sein Absehen gieng, zweckwidrig zu seinen Jüngern ge - sprochen, oder vielmehr, wenn er so sprach, kann jenes seine Absicht nicht gewesen sein. Ebendamit fällt auch Sieffert's, ohnehin aus der Luft gegriffene Hypothese, daſs Jesus zwar nicht nach, wohl aber vor jenem Akte, auf dem Weg zum Feigenbaum hin, über den Zustand und die Zukunft des israëlitischen Volks mit seinen Jüngern Gespräche geführt habe, zu welchen die symbolische Ver - wünschung des Baums nur als von selbst verständlicher Schluſsstein gefügt worden sei; denn alles durch jene Ein - leitung etwa angebahnte Verständniſs des fraglichen Aktes hätte, zumal bei der Neigung der Zeit zum Mirakulösen, durch jenes Nachwort, welches nur die wunderbare Seite des Faktums berücksichtigte, wieder zu Nichte gemacht werden müssen. Mit Recht hat daher Ullmann den hin - zugefügten Worten Jesu so weit nachgegeben, daſs er der248Zweiter Abschnitt.von ihm zulässig gefundenen symbolischen Auffassung die andere noch vorzieht, welche auch sonst schon vorgetra - getragen war17)Heydenreich, in den theol. Nachrichten, 1814, Mai, S. 121 ff., Jesus habe durch die Wunderhandlung den Seinigen einen neuen Beweis seiner Machtvollkommen - heit geben wollen, um dadurch ihr Vertrauen auf ihn für die bevorstehenden Gefahren zu stärken. Oder vielmehr, da eine specielle Beziehung auf das bevorstehende Leiden nirgends hervorgehoben, und in den Worten Jesu nichts enthalten ist, was er nicht auch schon früher gesagt hätte (Matth. 17, 20. Luc. 17, 6.): so muſs man mit Fritzsche als die Ansicht der Referenten ganz allgemein diese aus - sprechen, Jesus habe seinen Unwillen über die Unfrucht - barkeit des Feigenbaums als Gelegenheit zur Verrichtung eines Wunders benüzt, dessen Zweck nur der allgemeine aller seiner Wunder war, sich als Messias zu beurkun - den18)Comm. in Matth. p. 637.. Ganz in dem von Fritzsche gezeichneten19)Comm. in Marc. p. 481: Male — vv. dd. in eo haeserunt, quod Jesus sine ratione innocentem ficum aridam reddidisse videretur, mirisque argutiis usi sunt, ut aliquod hujus rei consilium fuisse ostenderent. Nimirum apostoli, evangelistae et omnes primi temporis Christiani, qua erant ingeniorum simplicitate, quid quantumque Jesus portentose fecisse dice - retur, curarunt tantummodo, non quod Jesu in edendo mi - raculo consilium fuerit, subtiliter et argute quaesiverunt. Geist der Referenten spricht daher Euthymius, wenn er alles Grübeln über den besondern Zweck der Handlung verbie - tet, und nur im Allgemeinen auf das Wunder in ihr zu sehen ermahnt20)Μὴ ἀκριβολογοῦ, διατί τετιμώρηται τὸ φυτὸν, ἀναίτιον ὄν· ἀλλὰ μόνον ὅρα τὸ ϑαῦμα, καὶ ϑαύμαζε τὸν ϑαυματουργόν. . Keineswegs aber folgt daraus, daſs auch wir uns des Nachdenkens hierüber enthalten, und ohne Weiteres das Wunder glaubig hinnehmen müſsten: vielmehr können wir uns der Bemerkung nicht erwehren,249Neuntes Kapitel. §. 100.daſs das besondere Wunder, welches wir hier haben, we - der aus dem allgemeinen Zweck des Wunderthuns über - haupt, noch aus irgend einem besondern Zweck und Grund als wirklich von Jesu verrichtet sich erklären läſst, viel - mehr in jeder Hinsicht seiner Theorie wie sonstigen Praxis widerstrebt, und deſswegen mit gröſserer Bestimmtheit als irgend ein andres, auch abgesehen von der Frage über die physische Möglichkeit, für ein solches erklärt werden muſs, welches Jesus nicht wirklich verrichtet haben kann.
Indem uns nun aber noch der positive Nachweis der - jenigen Veranlassung obliegt, durch welche, auch ohne ge - schichtlichen Grund, eine solche Erzählung entstehen konn - te: so finden wir in unsrer gewöhnlichen Quelle, dem A. T., zwar wohl manche bildliche Reden und Erzählungen von Bäumen und von Feigenbäumen insbesondere, aber keine, welche zu unsrer Erzählung eine so specifische Ver - wandtschaft hätte, daſs wir sagen könnten, diese sei jener nachgebildet. Statt dessen aber dürfen wir im N. T. nicht weit blättern, so finden wir schon, zuerst in des Täufers (Matth. 3, 10.), dann in Jesu eigenem Munde (7, 19.) die Gnome von dem Baum, der, weil er keine gute Frucht trägt, abgehauen und in's Feuer geworfen wird, und wei - terhin (Luc. 13, 6 ff. ) findet sich dieses Thema zu der fin - girten Geschichte eines Herrn ausgeführt, welcher auf ei - nem Feigenbaum in seinem Weinberge drei Jahre lang ver - geblich Früchte sucht, und deſswegen denselben umhauen lassen will, wenn nicht durch die Fürbitte des Gärtners ihm noch eine einjährige Frist ausgewirkt würde. Schon Kirchenväter haben in der Verwünschung des Feigenbaums nur eine thatsächliche Ausführung der Parabel vom Fei - genbaum gefunden21)Ambrosius, Comm. in Luc. z. d. St.; freilich in dem Sinne der vorhin angeführten Erklärung, daſs Jesus selbst den damaligen Zustand und das bevorstehende Schicksal des jüdischen250Zweiter Abschnitt.Volks wie früher durch eine bildliche Rede, so damals durch eine symbolische Handlung habe darstellen wollen; was, wie wir gesehen haben, undenkbar ist. Dennoch werden wir uns der Vermuthung nicht erwehren können, daſs wir hier ein und dasselbe Thema in drei verschiedenen Gestalten vor uns haben, zuerst in concentrirtester Form als Gnome, dann zur Parabel erweitert, und endlich zur Geschichte realisirt; wobei wir nur nicht annehmen, daſs Jesus, was er zweimal durch Worte, zulezt auch noch durch eine Handlung dargestellt, sondern, daſs die Tradi - tion, was sie als Gnome und parabolische Geschichte vor - fand, auch vollends zur wirklichen Begebenheit gemacht habe. Daſs in dieser wirklichen Geschichte das Ende des Baums ein etwas andres ist, als was ihm in der Gnome und Gleichniſsrede angedroht wird, nämlich Verdorren statt des Umgehauenwerdens, darf nicht zum Anstoſs ge reichen. Denn war die Parabel einmal zur wirklichen Geschichte, mit dem Subjekt Jesus, geworden, war also ihr ganzer didaktischer und symbolischer Gehalt in der äus - seren Handlung aufgegangen: so muſste diese, sollte sie noch Gewicht und Interesse haben, als Wunderhandlung sich bestimmen, also die durch Axt und Hauen natürlich vermittelte Vertilgung des Baums in ein unmittelbares Ver - dorren auf das Wort Jesu sich verwandeln. Zwar scheint gegen diese Ansicht von der Erzählung, nach welcher ihr innerster Kern doch kein andrer als ein symbolischer blie - be, sich ebendasselbe, was gegen die oben erwogene, ein - wenden zu lassen, daſs nämlich die daran sich knüpfen - de Rede Jesu einer solchen Auffassung widerstrebe. Al - lein bei unsrer Ansicht von den Berichten sind wir befugt, zu sagen, daſs mit der Umwandlung der Parabel zur Ge - schichte in der Tradition auch der ursprüngliche Sinn von jener verloren gieng, und, indem das Wunderbare als der Nerv der Sache betrachtet zu werden anfieng, irrigerweise jene, die Wundermacht und Glaubenskraft betreffende Re -251Neuntes Kapitel. §. 100.de damit verknüpft wurde. Sogar die besondere Veranlas - sung, warum gerade die Rede vom Bergeversetzen an die Erzählung vom Feigenbaum angeknüpft ist, läſst sich mit Wahrscheinlichkeit nachweisen. Die Glaubenskraft, wel - che hier durch ein von Erfolg begleitetes Sprechen zu einem Berge: ἄρϑητι καὶ βλήϑητι εἰς τὴν ϑάλασσαν dargestellt ist, findet sich anderswo (Luc. 17,6. ) versinnbildlicht durch ein ebenso wirksames Sprechen zu einer Art von Feigenbaum (συκάμινος): ἐκριζώϑητι καὶ φυτεύϑητι ἐν τῇ ϑαλάσσῃ. So erinnerte der verwünschte Feigenbaum, sobald sein Ver - dorren als Wirkung der Wunderkraft Jesu gefaſst wurde, an den durch die wunderbare Kraft des Glaubens zu ver - pflanzenden Baum oder Berg, und so wurde dieses Diktum jenem Faktum angehängt. Hier also gebührt dem dritten Evangelium der Preiſs, welches uns die Parabel von der unfruchtbaren συκῆ, und die Gnome von der durch den Glauben zu verpflanzenden συκάμινος getrennt und rein, jede in ihrer ursprünglichen Form und Bedeutung, erhal - ten hat: während die beiden andern Synoptiker die Para - bel zur Geschichte umgebildet, die Gnome aber (in etwas andrer Form) zu einer falschen Deutung jener angeblichen Geschichte verwendet haben.
Mit den bisher untersuchten Wundererzählungen konnte die Geschichte von der Verklärung Jesu auf dem Berge nicht mehr verbunden werden, nicht bloſs weil sie kein von Jesu verrichtetes Wunder, wie jene, vielmehr ein an ihm vorgegangenes betrifft, sondern auch weil sie als ein für sich stehender Moment im Leben Jesu hervortritt, welche der Gleichartigkeit wegen nur etwa mit der Taufe und Auferstehung zusammengestellt werden könnte; wie denn Herder mit Recht diese drei Begebenheiten als die drei lichten Punkte himmlischer Beurkundung im Leben Jesu bezeichnet hat1)Vom Erlöser der Menschen nach unsern drei ersten Evan - gelien, S. 114..
So, wie sich die synoptische Erzählung (Matth. 17, 1 ff. Marc. 9, 2 ff. Luc. 9, 28 ff. ) — denn im vierten Evan - gelium fehlt die Geschichte — dem ersten Anblick darbie - tet, haben wir hier einen wirklichen äusseren und zwar wunderbaren Vorgang: als Jesus 6 — 8 Tage nach seiner ersten Leidensverkündigung mit seinen drei vertrautesten Jüngern einen hohen Berg bestieg, waren diese Zeugen, wie mit Einem Male sein Angesicht und selbst seine Klei - der in überirdischem Glanze sich verklärten, wie zwei ehrwürdige Gestalten aus dem Geisterreich, Moses und253Zehntes Kapitel. §. 101.Elias, erschienen, sich mit ihm zu unterreden, und wie endlich aus einer lichten Wolke eine himmlische Stimme Jesum für Gottes Sohn, dem sie Gehör zu schenken hät - ten, erklärte.
Diese wenigen Züge der Geschichte regen eine Men - ge Fragen an, um deren Sammlung sich Gabler ein be - sonderes Verdienst erworben hat2)In einer Abhandlung über die Verklärungsgeschichte, in s. neuesten theol. Journal, 1. Bd. 5. Stück, S. 517 ff. Vgl. Bauer, hebr. Mythol. 2, S. 233 ff.. Bei jedem der drei Momente des Vorgangs, dem Glanze, der Todtenerschei - nung, und der Stimme, läſst sich sowohl nach der Mög - lichkeit, als nach dem zureichenden Zwecke fragen. Wo - her soll vorerst der ausserordentliche Glanz an Jesum ge - kommen sein? Bedenkt man, daſs von einem μεταμορφοῦ - σϑαι Jesu die Rede ist, so scheint nicht an ein bloſses Be - schienenwerden von aussen her, sondern an eine von innen kommende Verklärung gedacht werden zu müssen, so zu sagen an ein momentanes Durchleuchten der göttlichen δόξα durch die menschliche Hülle, wie auch Olshausen diese Begebenheit als einen Hauptmoment in dem Läuterungs - und Verklärungsprocesse faſst, in welchem er die Leiblich - keit Jesu während seines ganzen Lebens bis zur Himmel - fahrt begriffen denkt3)b. Comm. 1, S. 534 f.. Allein, ohne das schon oben Gesagte hier weiter auszuführen, daſs Jesus entweder kein wahrer Mensch war, oder die mit ihm während seines Le - bens vorgegangene Läuterung eine andere gewesen sein muſs, als welche in einem Licht - und Leichtwerden des Körpers bestand: so ist in keinem Falle zu begreifen, wie an einem solchen Verklärungsproceſs ausser seinem Lei - be auch seine Kleider theilnehmen konnten. Möchte man dieses lezteren Punktes wegen lieber an eine Beleuchtung von aussen denken, so wäre dieſs dann keine Metamorpho -254Zweiter Abschnitt.se, von welcher doch die Evangelisten sprechen: so daſs also diese Scene zu keiner in sich zusammenstimmenden Anschauung gebracht werden kann, wofern man nicht et - wa mit Olshausen beides verbunden, Jesum sowohl strah - lend als bestrahlt, sich denken will. Aber war dieser Glanz auch möglich: immer bleibt doch die Frage, wozu er denn gedient haben soll? Sagt man, was am nächsten liegt: um Jesum zu verherrlichen, so war der geistigen Verherr - lichung gegenüber, welche Jesus durch Rede und That sich selber gab, diese physische durch glänzende Beleuch - tung eine sehr unwesentliche, und fast kindisch zu nen - nen; soll sie aber dennoch zur Erhaltung des allzuschwa - chen Glaubens nöthig gewesen sein, so müſste sie vor der Menge, oder doch vor dem weiteren Kreise der Jünger, nicht aber vor dem engsten Ausschluſs der kräftigsten vor - genommen, mindestens den wenigen Augenzeugen nicht die Mittheilung gerade für die am meisten kritische Zeit, bis zur Auferstehung, untersagt worden sein. — Mit ver - stärkter Kraft kehren diese beiden Fragen bei dem zweiten Moment in unserer Geschichte, bei der Erscheinung der beiden Verstorbenen, wieder. Können abgeschiedene See - len den Lebenden erscheinen? und wenn, wie es scheint, die beiden Gottesmänner mit ihrem vormaligen, nur ver - klärten, Leibe sich zeigten, woher nahmen sie diesen — nach biblischer Vorstellung — vor der allgemeinen Auf - erstehung? Zwar bei Elias, der ohne Ablegung des Kör - pers gen Himmel fuhr, macht dieſs weniger Schwierig - keit: allein Moses war doch gestorben, und sein Leich - nam begraben worden. Vollends aber zu welchem Zweck sollten die beiden groſsen Todten erschienen sein? Die evangelische Darstellung, indem sie die beiden Gestal - ten als συλλαλοῦντες τῷ Ἰ. darstellt, scheint den Zweck der Erscheinung in Jesum zu setzen; näher, wenn Lukas recht hat, bezog sich dieselbe auf das Jesu bevorstehende Lei - den und Sterben. Aber angekündigt können sie ihm dieſs255Zehntes Kapitel. §. 101.nicht erst haben, da der einstimmigen Angabe der Synop - tiker zufolge schon eine Woche vorher er selbst es voraus - gesagt hatte (Matth. 16, 21 parall.). Daher vermuthet man, durch Moses und Elias sei Jesus nur von den näheren Umständen und Verhältnissen seines Todes genauer unter - richtet worden4)Olshausen, a. a. O. S. 537.; allein einerseits ist es der Stellung, welche die Evangelien Jesu zu den alten Propheten geben, nicht angemessen, daſs er von ihnen Belehrung bedurft haben soll, andrerseits hatte Jesus schon früher sein Lei - den mit so genauen Zügen vorhergesagt, daſs die speciel - leren Eröffnungen aus der Geisterwelt nur etwa das πα - ραδίδοσϑαι τοῖς ἔϑνεσιν und ἐμπτύεσϑαι, wovon er erst später sagt (Matth. 20, 19. Marc. 10, 34.), betroffen haben könnten. Oder sollte die an Jesum zu machende Mitthei - lung nicht sowohl in einer Belehrung, als in einer Stär - kung für sein bevorstehendes Leiden bestehen: so ist um diese Zeit noch keine Spur eines Gemüthszustands bei Je - su vorhanden, welcher einen Beistand dieser Art zu er - heischen scheinen konnte; für das spätere Leiden aber hätte diese so frühe Stärkung doch nicht hingereicht, wie wir daraus sehen, daſs in Gethsemane eine weitere nöthig war. Werden wir so, wiewohl bereits gegen die Anlage des Textes, zu dem Versuch veranlaſst, ob sich der Er - scheinung nicht vielleicht eine Beziehung auf die Jünger geben lasse, so reicht der Zweck der Glaubensstärkung überhaupt zur Begründung einer so besondern Veranstal - tung theils als zu allgemein nicht aus, theils müſste Jesus in der Parabel vom reichen. Mann den leitenden Grundsaz der göttlichen Fügungen in dieser Beziehung falsch gedeu - tet haben, wenn er ihn dahin aussprach, daſs, wer den Schriften des Mosses und der Propheten — und wie viel mehr, wer dem gegenwärtigen Christus — kein Gehör schenke, auch durch einen wiederkehrenden Todten nicht256Zweiter Abschnitt.zum Glauben gebracht werden würde, weſswegen denn eine solche Erscheinung, wenigstens zu jenem Zwecke, von Gott nicht verfügt werde. Der speciellere Zweck, die Jünger von der Übereinstimmung der Lehre und Schick - sale Jesu mit Moses und den Propheten zu überzeugen, war zum Theil schon erreicht, zum Theil aber wurde er es erst nach dem Tode und der Auferstehung Jesu und der Ausgieſsung des Geistes, ohne daſs die Verklärung in die - ser Hinsicht irgend Epoche gemacht hätte. — Endlich die Stimme aus der lichten Wolke (ohne Zweifel der Schechi - nah) ist, gleich der bei der Taufe, eine Gottesstimme; aber wie authropomorphistisch muſs die Vorstellung von Gott sein, welche ein wirkliches hörbares Sprechen Got - tes für möglich hält: oder wenn hier nur von einer Mit - theilung Gottes an das geistige Ohr die Rede sein soll5)Olshausen, S. 539. vgl. 178., so ist damit die Sache in das Visionäre hinübergespielt, und in eine ganz andere Betrachtungsweise übergesprungen.
Den ausgeführten Schwierigkeiten derjenigen Ansicht, welche die Verklärung Jesu als wunderbare und zwar äus - sere Begebenheit betrachtet, hat man dadurch zu entgehen gesucht, daſs man den ganzen Vorgang in das Innere der dabei betheiligten Personen verlegte. Hiebei braucht das Wunderbare nicht sogleich aufgegeben zu werden, nur scheint es als ein im menschlichen Innern gewirktes Wun - der einfacher und denkbarer zu sein. Man nimmt daher an, daſs durch göttliche Einwirkung das geistige Wesen der drei Apostel, und wohl auch Jesu selbst, bis zur Ekstase gesteigert worden sei, in welcher sie entweder wirklich mit der höheren Welt in Berührung traten, oder deren Gestalten auf's Lebendigste selbst produci -257Zehntes Kapitel. §. 102.ren konnten, d. h. man denkt sich den Vorgang als Vi - sion1)So Tertull. adv. Marcion. 4, 22; Herder, a. a. O. S. 115 f., welchen auch Gratz, Comm. z. Matth. 2, S. 163 f. 169. bei - stimmt.. Allein die erste Stütze dieser Auffassung, daſs ja Matthäus selbst durch den Ausdruck: ὅραμα (V. 9.) die Sache als einen bloſs subjektiven, visionären Vorgang be - zeichne, weicht alsbald, wenn man sich erinnert, daſs we - der in der Wortbedeutung von ὅραμα das Merkmal des bloſs Innerlichen liegt, noch auch der N. T. liche Sprach - gebrauch den Ausdruck nur für innere, sondern, wie A. G. 7, 31., ebenso auch für äussere Anschauungen verwendet2)Fritzsche, in Matth. p. 552. Olshausen, 1, S. 533.. Die Sache selbst betreffend aber ist es unwahrscheinlich, und auch in der Schrift beispiellos, daſs Mehrere, wie hier Drei oder Viere, an demselben Gesichte Theil gehabt hät - ten3)Olshausen, a. a. O.; wozu noch kommt, daſs die ganze schwierige Frage nach der Zweckmäſsigkeit einer solchen wunderbaren Ver - anstaltung auch bei dieser Auffassung der Sache wiederkehrt.
Diesen Anstoſs zu vermeiden, haben daher Andere den Vorgang zwar im Innern der betheiligten Personen belas - sen, aber als Produkt einer natürlichen Thätigkeit der Seele, das Ganze mithin für einen Traum erklärt4)Rau, symbola ad illustrandam Evv. de metamorphosi J. Chr. narrationem; Gabler, a. a. O. S. 539 ff. Ruinöl, Comm. z. Matth. p. 459 ff.. Wäh - rend oder nach einem von Jesu oder ihnen selbst gespro - chenen Gebete, in welchem des Moses und Elias gedacht, und ihre Ankunft als messianischer Vorläufer gewünscht worden war, schliefen dieser Auffassung zufolge die drei Jünger ein, und träumten, indem wohl auch die von Jesu genannten Namen jener Beiden in ihre schlaftrunkenen Oh - ren hineintönten, als ob Moses und Elias gegenwärtig wä - ren und Jesus sich mit ihnen unterhielte, was ihnen auchDas Leben Jesu II. Band. 17258Zweiter Abschnitt.bei'm ersten, trüben Erwachen noch einen Augenblick vor - schwebte. — Wie die vorige Erklärung auf das ὅραμα des Matthäus, so stüzt sich diese darauf, daſs Lukas die Jün - ger als βεβαρημένοι ὕπνψ, und erst gegen das Ende der Scene wieder als διαγρηγορήσαντες bezeichnet (V. 32.). Auf die Handhabe, welche der dritte Evangelist hiemit der natürlichen Erklärung bietet, wird nun ein bedeutender Vor - zug seiner Erzählung vor der der beiden ersten begründet, indem die neueren Kritiker erklären, daſs durch diese und andre Züge, welche die Begebenheit dem Natürlichen nä - her bringen, die Darstellung bei Lukas sich als die ur - sprüngliche, die des Matthäus dagegen durch Weglassung derselben sich als die abgeleitete erweise, da bei der wunder - süchtigen Richtung jener Zeit wohl Niemand solche, das Wunder mindernde Züge, wie das Schlafen der Jünger, hinzugedichtet haben würde5)Schulz, über das Abendmahl, S. 319; Schleiermacher, über den Lukas, S. 148 f.; vgl. auch Köster, Immanuel, S. 60 f.. Diese Schluſsweise wür - den wir zu der unsrigen machen müssen, wenn wirklich der bezeichnete Zug nur im Sinne der natürlichen Erklä - rung aufgefaſst werden könnte. Hier dürfen wir uns aber nur erinnern, wie bei einer andern Scene, in welcher das nach Lukas bei der Verklärung Jesu angekündigte Leiden in Erfüllung zu gehen anfieng, und bei welcher nach dem - selben Evangelisten gleichfalls eine himmlische Erscheinung Jesu zu Theil wurde, in Gethsemane nämlich, die Jünger ebenso, und zwar nach sämmtlichen Synoptikern, als καϑ - εύδοντες erscheinen (Matth. 26, 40 parall.). Konnte hier schon die bloſs äussere, formelle Ähnlichkeit beider Sce - nen einen Referenten zur Übertragung des Zugs vom Schlaf in die Verklärungsgeschichte veranlassen: so konnte ihm noch mehr der Sinn und Inhalt dieses Zugs auch hier an seinem Orte scheinen. Durch das Schlafen der Jünger nämlich, eben während mit ihrem Meister das Wichtigste259Zehntes Kapitel. §. 102.vorgeht, wird ihr unendlicher Abstand von ihm, ihre Un - fähigkeit, seine Höhe zu erreichen, und seine Überlegenheit bezeichnet; der Prophet, der Empfänger einer Offenba - rung, ist unter den gewöhnlichen Menschen wie ein Wa - chender unter Schlafenden: weſswegen es sich ganz von selbst ergab, wie bei dem tiefsten Leiden, so auch hier bei der höchsten Verherrlichung Jesu die Jünger als schlaf