PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Das Leben Jesu,
kritisch bearbeitet
Zweiter Band.
Mit Königl. Würtembergischem Privilegium gegen den Nachdruck.
Tübingen,Verlag von C. F. Osiander. 1836.
[II][III]

Vorrede.

Ich könnte mich freuen, dass ich den zweiten und lezten Band dieses Werkes so bald nach dem er - sten erscheinen lassen kann, in der Hoffnung, es werden sich, nun die Übersicht des Ganzen möglich ist, manche Missverständnisse lösen, und manches harte Urtheil mildern. Allein sowohl mündlich ha - ben über den ersten Band eben diejenigen am laute - sten geschrieen, welche keine Seite in demselben ge - lesen hatten, als auch schriftlich bis jezt nur solche über denselben geurtheilt, mit welchen ich keine Ver - ständigung hoffen kann, auch wenn sie diesen zwei - ten Theil gelesen haben werden. So will ich mich also keiner Freude hingeben, die mich doch täuschenIVVorrede.würde, aber ebenso wenig auch fernerhin das Ge - schrei der Eulen mich verdriessen lassen, die ich denn freilich allzu rücksichtslos mit ungedämpftem Licht geweckt habe.

Aus den bis jezt erschienenen Beurtheilungen über den ersten Band habe ich für den zweiten noch keinen Nutzen ziehen können, theils weil er schon grösstentheils abgedruckt war, als sie mir zu Gesicht kamen, theils wegen der Beschaffenheit der Beur - theilungen selber.

Die erste, die ich zu lesen bekam, war eine Recension von Herrn Dr. Paulus im Literaturblatt zur allgemeinen Kirchenzeitung. Dem Urheber derselben bin ich Dank schuldig für die liberale und anerken - nende Weise, mit welcher er, bei durchaus abweichen - der Ansicht, doch meine Arbeit behandelt hat. Sein gewichtigster Einwand gegen meine Methode ist der: wenn in einer Erzählung einiges Mythische sei, so folge daraus noch nicht, dass Alles in ihr mythisch sein müsse. Das wäre ohne Zweifel ein[sehr falscher] Schluss, aber den habe ich auch nicht gemacht, son - dern nur, dass dann auch Alles mythisch sein kön -VVorrede.ne. Ob es sich wirklich so verhält, muss sich aus der Beschaffenheit der einzelnen Erzählungen erge - ben, und daraus habe ich es auch, wenn mir Alles noch präsent ist, durchaus entschieden. Eigene Em - pfindungen hat es in mir erregt, des würdigen alten Landsmannes Freude über die Fortschritte der wis - senschaftlichen Freiheit in Würtemberg zu lesen, ver - möge welcher man daselbst dergleichen jezt unge - fährdet schreiben könne: zu einer Zeit, wo ich be - reits auf meine Schrift hin von meiner Repetenten - stelle am Tübinger Seminar entfernt war.

Wie von seiner Wachsamkeit nicht anders er - wartet werden konnte, hat sofort auch Herr Dr. Steudel geglaubt, den verderblichen Wirkungen mei - ner Schrift durch ein Vorläufig zu Beherzi - gendes *)Der volle Titel lautet: Vorläufig zu Beherzigendes bei Wür - digung der Frage über die historische oder mythische Grund - lage des Lebens Jesu, wie die canonischen Evangelien die - ses darstellen, vorgehalten aus dem Bewusstsein eines Glau - bigen, der den Supranaturalisten beigezählt wird, zur Be - ruhigung der Gemüther von D. Joh. Christian Friedr. Steu - del. Besonders abgedruckt aus der Tübinger Zeitschrift für Theologie. Tübingen, bei Ludwig Friedrich Fues. 1835. (88 S.) zuvorkommen zu sollen. Man hat die -VIVorrede.sem Mann schon so oft gesagt, dass es unschicklich ist, wissenschaftliche Verhandlungen auf das morali - sche Gebiet hinüberzuspielen, dem Gegner seine Ansichten in's Gewissen zu schieben, und den Nicht - orthodoxen als Irreligiösen zu brandmarken. Dennoch hat er auch diessmal wieder den gewohnten Ton an - gestimmt. Es ist freilich das Leichteste, statt in die Sache einzugehen, vielmehr vorläufig um sie herum zu reden, und beiläufig den Gegner mit gehässigen Insi - nuationen zu verwunden, zumal wenn einem derglei - chen Praktiken von sonst her schon geläufig sind. Dass aber damit nichts ausgerichtet ist, liegt am Ta - ge. Oder ja, man richtet etwas aus damit, nämlich den Gegner bei'm grossen Publikum, das die Sache nicht versteht, recht schwarz zu machen. Dazu brauch - te es dann aber keinen Doctor der Theologie, son - dern man konnte es ruhig dem Gerede der Conven - tikel und dem Geschreibe der Tractätchengesellschaf - ten überlassen.

Auch angeblich vom Standpunkt der Philosophie ist meine Schrift beurtheilt worden durch Herrn Prof. Eschenmayer, in einer Broschüre mit dem Titel: derVIIVorrede.Ischariotismus unsrer Tage. Diese Ausgeburt der le - gitimen Ehe[zwischen] theologischer Ignoranz und reli - giöser Intoleranz, eingesegnet von einer schlafwan - delnden Philosophie, fällt so sehr durch sich selbst in's Lächerliche, dass sie jedes Wort der Vertheidi - gung überflüssig macht. Ihr Titel überdiess ist mir zu einer fast gar zu stolzen Erinnerung Anlass gewor - den. An Lessing nämlich, den auch einmal Wie - ner Blätter als zweiten Judas Ischariot verklatsch - ten, weil er freilich eine noch massivere Beschul - digung, als sie Herr E. gegen mich erhebt für die Herausgabe der Fragmente seines Ungenannten von der Amsterdamer Judenschaft sich 1000 Dukaten soll - te haben bezahlen lassen. An ihn hätte mich übri - gens schon Herrn Dr. Steudel's Vorläufig zu Be - herzigendes erinnern können, wenn ich es mit Vor - bildern und Weissagungen leichter nähme, denn auch gegen Lessing war Etwas Vorläufiges erschienen vom Hauptpastor Göze, gottseligen Andenkens, was der heitere Mann, der Geschmeidigkeit wegen, lieber das vorläufige Etwas nannte. Und so will ich denn die Vorrede zu diesem zweiten Bande meinesVIIIVorrede.angeblich anstössigen Werks mit den Worten schlies - sen, mit welchen Lessing erklärt hat, warum er es nicht bei Herausgabe der ersten Probe jener ärgerli - chen Fragmente, wie ich nicht bei'm ersten Theile dieses Buchs, habe bewenden lassen: darum nicht, weil ich überzeugt bin, dass diess Ärgerniss über - haupt nichts als ein Popanz ist, mit dem gewisse Leute gern allen und jeden Geist der Prüfung ver - scheuchen möchten; darum nicht, weil es schlech - terdings zu nichts hilft, den Krebs nur halb schnei - den zu wollen; darum nicht, weil dem Feuer muss Luft gemacht werden, wenn es gelöscht werden soll .

Ludwigsburg im Oktober 1835.

Der Verfasser.

[IX]

Inhalt des zweiten Bandes.

  • Seite
  • (Zweiter Abschnitt.) Neuntes Kapitel. Die Wunder Jesu1 251
  • §. 87. Jesus als Wunderthäter1
  • §. 88. Die Dämonischen, allgemein betrachtet5
  • §. 89. Jesu Dämonenaustreibungen einzeln betrachtet21
  • §. 90. Heilungen von Aussätzigen52
  • §. 91. Blindenheilungen60
  • §. 92. Heilungen von Paralytischen. Ob Jesus Krankhei - ten als Sündenstrafen betrachtet habe83
  • §. 93. Unwillkührliche Heilungen93
  • §. 94. Heilungen in die Ferne103
  • §. 95. Sabbatheilungen122
  • §. 96. Todtenerweckungen133
  • §. 97. Sturm -, See - und Fischgeschichten173
  • §. 98. Die wunderbare Speisung197
  • §. 99. Jesus verwandelt Wasser in We'n219
  • §. 100. Jesus verwünscht einen unfruchtbaren Feigenbaum236
  • Zehntes Kapitel. Jesu Verklärung und lezte Reise nach Jerusalem252 300
  • §. 101. Die Verklärung Jesu als wunderbarer äusserer Vorgang252
  • §. 102. Die natürliche Auffassung der Erzählung in ver - schiedenen Formen256
  • §. 103. Die Verklärungsgeschichte als Mythus263
  • §. 104. Abweichende Nachrichten über die lezte Reise Jesu nach Jerusalem274
  • [X]
  • Seite
  • §. 105. Abweichungen der Evangelien in Hinsieht auf den Ausgangspunkt des Einzugs Jesu in Jerusalem281
  • §. 106. Näherer Hergang bei dem Einzug. Zweck und hi - storische Realität desselben287
  • Dritter Abschnitt. Geschichte des Leidens, Todes, und der Auferstehung Jesu301 685
  • Erstes Kapitel. Verhältniss Jesu zu der Idee eines leidenden und sterbenden Messias; seine Reden von Tod, Aufer - stehung und Wiederkunft303 373
  • §. 107. Ob Jesus sein Leiden und seinen Tod in bestimm - ten Zügen vorhergesagt habe? 303
  • §. 108. Jesu Todesverkündigung im Allgemeinen; ihr Ver - hältniss zu den jüdischen Messiasbegriffen; Aus - sprüche Jesu über den Zweck und die Wirkun - gen seines Todes311
  • §. 109. Bestimmte Aussprüche Jesu über seine künftige Auferstehung324
  • §. 110. Bildliche Reden, in welchen Jesus seine Auferste - hung vorherverkündigt haben soll329
  • §. 111. Die Reden Jesu von seiner Parusie. Kritik der verschiedenen Auslegungen341
  • §. 112. Ursprung der Reden über die Parusie355
  • Zweites Kapitel. Anschläge der Feinde Jesu; Verrath des Judas; leztes Mahl mit den Jüngern374 442
  • §. 113. Entwicklung des Verhältnisses Jesu zu seinen Feinden374
  • §. 114. Jesus und sein Verräther380
  • §. 115. Verschiedene Ansichten über den Charakter des Ju - das, und die Motive seines Verraths390
  • §. 116. Bestellung des Paschamahls396
  • §. 117. Abweichende Angaben über die Zeit des lezten Mahles Jesu402
  • XI
  • Seite
  • §. 118. Differenzen in Betreff der Vorgänge beim lezten Mahle Jesu415
  • §. 119. Verkündigung des Verraths und der Verleugnung425
  • §. 120. Die Einsetzung des Abendmahls436
  • Drittes Kapitel. Gang nach dem Oelberg, Gefangennehmung, Verhör, Verur - theilung und Kreuzigung Jesu443 553
  • §. 121. Jesu Seelenkampf im Garten443
  • §. 122. Verhältniss des vierten Evangeliums zu den Vor - gängen in Gethsemane. Die johanneischen Ab - schiedsreden und die Scene bei Anmeldung der Hellenen454
  • §. 123. Gefangennehmung Jesu472
  • §. 124. Jesu Verhör vor dem Hohenpriester480
  • §. 125. Die Verleugnung des Petrus489
  • §. 126. Der Tod des Verräthers498
  • §. 127. Jesus vor Pilatus und Herodes511
  • §. 128. Die Kreuzigung527
  • Viertes Kapitel. Tod und Auferstehung Jesu554 663
  • §. 129. Die Naturerscheinungen bei'm Tode Jesu554
  • §. 130. Der Lanzenstich in die Seite Jesu565
  • §. 131. Begräbniss Jesu574
  • §. 132. Die Wache am Grabe Jesu582
  • §. 133. Erste Runde der Auferstehung590
  • §. 134. Galiläische und judäische, paulinische und apokry - phische Erscheinungen des Auferstandenen609
  • §. 135. Die Qualität des Leibs und Wandels Jesu nach der Auferstehung629
  • §. 136. Die Debatte über die Realität des Todes und der Auferstehung Jesu645
  • Fünftes Kapitel. Die Himmelfahrt664 685
  • §. 137. Die lezten Anordnungen und Verheissungen Jesu664
  • §. 138. Die sogenannte Himmelfahrt als übernatürliches und als natürliches Ereigniss672
  • XII
  • Seite
  • §. 139. Das Ungenügende der Nachrichten über Jesu Him - melfahrt. Deren mythische Auffassung677
  • Schluſsabhandlung. Die dogmatische Bedeu - tung des Lebens Jesu686 744
  • §. 140. Nothwendiger Übergang der Kritik in das Dogma686
  • §. 141. Die Christologie des orthodoxen Systems689
  • §. 142. Bestreitung der kirchlichen Lehre von Christo701
  • §. 143. Die Christologie des Rationalismus707
  • §. 144. Eine eklektische Christologie. Schlkiermacher710
  • §. 145. Die Christologie, symbolisch gewendet. Kant. de Wette720
  • §. 146. Die speculative Christologie729
  • §. 147. Leztes Dilemma732
[1]

Neuntes Kapitel. Die Wunder Jesu.

§. 87. Jesus als Wunderthäter.

Daſs das jüdische Volk zu Jesu Zeit vom Messias Wunderthaten erwartete, ist theils an sich schon natür - lich, da ihm der Messias ein zweiter Moses und der gröſste Prophet war, von Moses und den Propheten aber die heilige Nationalsage Wunder aller Art erzählte; theils läſst es sich aus späteren jüdischen Schriften wahrschein - lich machen1)S. die im 1ten Band, Einleitung S. 73. Anm., angeführten Stellen, wozu noch genommen werden kann 4 Esdr. 13, 50. (Fabric. Cod. pseudepigr. V. T. 2, S. 286) und Sohar Exod. fol. 3, col. 12 (bei Schöttgen, horae, 2, S. 541, auch in Ber - tholdt's Christol. §. 33, not. 1.).; theils wird es aus den Evangelien selbst gewiſs. Als Jesus einmal einen dämonischen Blindstum - men (ohne natürliche Mittel) geheilt hatte, wurde das Volk dadurch auf die Vermuthung geführt:

μήτι οὗτός ἐςιν υἱὸς Δαυίδ

(Matth. 12, 23); zum Beweiſs, daſs man eine wunderbare Heilkraft als Attribut des Messias be - trachtete. Johannes der Täufer wurde durch das Gerücht von den ἔργοις Jesu zu der Frage an ihn veranlaſst, ob er der ἐρχόμενος sei? worauf sich Jesus, zum Beleg, daſs er es sei, nur wieder auf seine Wunderthaten berief (Matth. 11, 2 ff. parall.). Auf dem Laubhüttenfest, das Jesus in Jerusalem feierte, wurden Viele vom Volk an ihn glaubig, indem sie dachten,

ὅτι Χριςὸς ὅταν ἔλϑῃ,Das Leben Jesu II. Band. 12Zweiter Abschnitt.μήτι πλείονα σημεῖα τούτων ποιήσει, ῶν οὖτος ἐποίησεν

(Joh. 7, 31);

Doch nicht bloſs, daſs er überhaupt Wunder thun sollte, sondern auch die verschiedenen Arten von Wun - dern, welche der Messias verrichten würde, waren in der Volkserwartung vorherbestimmt. Auch dieſs durch alttestamentliche Vorbilder und Aussprüche. Durch Moses war dem Volke auf übernatürliche Art Speise und Trank gewährt worden (2 Mos. 16, 17): ein Gleiches erwartete man, wie die Rabbinen ausdrücklich sagen, vom Messias; auf Elisa's Bitten waren den Einen die Augen auf über - natürliche Weise verschlossen, den Andern ebenso geöff - net worden (2 Kön. 6.): auch der Messias sollte die Au - gen der Blinden aufthun; selbst Todte hatte der genannte Prophet und sein Lehrer wiederbelebt (1 Kön. 17. 2 Kön. 4): so konnte auch dem Messias die Macht über den Tod nicht fehlen2)S. die a. a. O. des 1. Bds angeführten rabbinischen Stellen.. Unter den Weissagungen war besonders Jes. 35, 5 f. auf diese Seite der Messiasvorstellung von Ein - fluſs. Hier war von der messianischen Zeit gesagt (LXX. ):

τότε ἀνοιχϑήσονται ὀφϑαλμοὶ τυφλῶν, καὶ ὦτα κωφῶν ἀκού - σονται· τότε ἁλεῖται ὡς ἐλαφος χωλὸς, τρανὴ δὲ ἔςαι γλῶσ - σα μογιλάλων

, was, bei Jesaias zwar in bildlichem Zusam - menhang, doch bald eigentlich verstanden wurde, wie daraus erhellt, daſs Jesus den Boten des Johannes gegenüber (Matth. 11, 5.) mit offenbarer Beziehung auf diese Pro - phetenstelle seine Wunderthaten beschreibt.

Diese Erwartung trat auch Jesu, sofern er zunächst für einen Propheten, weiterhin für den Messias sich gab und gehalten wurde, als Forderung entgegen, wenn er nach mehreren bereits betrachteten Stellen (Matth. 12, 38. 16, 1. parall. ) von seinen pharisäischen Gegnern um ein σημεῖον angegangen wurde; wenn nach der gewaltsamen Vertreibung der Verkäufer und Wechsler aus dem Tempel3Neuntes Kapitel. §. 87.die Juden ein legitimirendes σημεῖον von ihm verlangten (Joh. 2, 18.), und das Volk in der Synagoge von Kaper - naum, als er Glauben an sich als den von Gott gesandten forderte, zur Bedingung dieses Glaubens machte, daſs er ihm ein σημεῖον zeigen sollte (Joh. 6, 30.).

Den neutestamentlichen Nachrichten zufolge hat Je - sus dieser Anforderung, welche seine Zeitgenossen an den Messias machten, mehr als genug gethan. Nicht nur be - steht ein beträchtlicher Theil der evangelischen Erzählun - gen aus Beschreibungen seiner Wunderthaten; nicht nur riefen nach seinem Tode seine Anhänger vor Allem auch die von ihm verrichteten δυνάμεις, σημεῖα und τέρατα den Juden in das Gedächtniſs zurück (A. G. 2, 22.): sondern das Volk selbst war schon zu seinen Lebzeiten nach die - ser Seite so durch ihn befriedigt, daſs viele deſswegen an ihn glaubten (Joh. 2, 23. vgl. 6, 2.), daſs man ihn dem Täufer, der kein σημεῖον gethan hatte, entgegenstellte (Joh. 10, 41.), und selbst vom künftigen Messias nicht glaubte, daſs er ihn in dieser Hinsicht werde überbieten können (Joh. 7, 31.). Daſs es Jesus an Wundern hätte fehlen las - sen, scheinen jene Zeichenforderungen um so weniger zu beweisen, da mehrere derselben unmittelbar nach bedeuten - den Wunderakten gemacht wurden, so Matth. 12, 38. nach der Heilung eines Dämonischen, Joh. 6, 30. nach der Speisung der Fünftausend. Freilich ist eben diese Stellung schwierig; denn wie die Juden die zwei genannten nicht als rechte σημεῖα gelten gelassen haben sollten, ist nicht wohl zu begreifen, da namentlich die Dämonenaustreibun - gen sehr hoch gehalten wurden (Luc. 10, 17.); es müſste denn das in jenen beiden Stellen geforderte Zeichen aus Luc. 11, 16. (vgl. Matth. 16, 1. Marc. 8, 11.) als σημεῖον ἐξ οὐρανοῦ näher bestimmt, und dabei an das specifisch-mes - sianischeσημεῖον τοῦ υιοῦ τοῦ ἀνϑρώπου ἐν τῷ οὐρανῷ(Matth. 24, 30.) gedacht werden. Will man aber lieber die Ver - bindung jener Zeichenforderungen mit vorhergegangenen1 *4Zweiter Abschnitt.Wunderacten auflösen, so kann Jesus ganz wohl zahlreiche Wunder gethan, und dennoch einige feindselige Pharisäer, welche zufällig noch bei keinem derselben Augenzeugen gewesen waren, nun auch selbst eines zu sehen verlangt haben.

Auch daſs die Antwort Jesu auf solche Wunderfor - derungen jedesmal ablehnend ist, beweist an sich gar nicht, daſs er nicht in andern Fällen freiwillig Wunder gethan haben könnte, wo ihm solche besser angelegt schienen. Wenn er in Bezug auf die Forderung der Pharisäer Marc. 8, 12. erklärt, es w[e]rde τῇ γενεᾷ ταύτῃ gar keines, oder Matth. 12, 39 f. 16, 4. Luc. 11, 29 f., es werde ihr kein Zeichen ausser dem σημεῖον Ἰωνᾶ τοῦ προφήτου gegeben wer - den: so kann er ja unter dieser γενεὰ, welche er bei Mat - thäus und Lukas als πονηρὰ καὶ μοιχαλίς näher bestimmt, auch nur den ihm feindlichen pharisäischen Theil seiner Zeitgenossen verstanden, und versichern gewollt haben, daſs für diesen, sei es gar kein, oder nur das Zeichen des Jonas, d. h., wie er es bei Matthäus deutet, das Wunder seiner Auferstehung geschehen werde. Allein nimmt man das οὐ δοϑήσεται αὐτῇ in dem Sinn, daſs seine Feinde nicht selbst ein Zeichen von ihm zu sehen bekommen sollen: so müſste es theils sonderbar zugegangen sein, wenn unter den vielen in der gröſsten Öffentlichkeit von Jesu verrich - teten Wundern bei keinem sollten Pharisäer zugegen ge - wesen sein, theils wird dieſs Matth 12, 24 f. parall. wo sie offenbar als gegenwärtig bei der Heilung des Blindstum - men vorausgesezt werden, ausdrücklich widersprochen. Überdieſs, wenn hier von selbstgesehenen Zeichen die Re - de sein soll, so bekamen ja die Auferstehung Jesu und den Auferstandenen seine Feinde gleichfalls nicht zu sehen, so daſs mithin jener Ausspruch nicht blos den Sinn haben kann, seine Feinde sollten vom Selbstsehen seiner Wunder ausgeschlossen werden. Möchte man daher bei dem δο - ϑήσεται αὐτῇ an ein Geschehen zum Besten der bezeich -5Neuntes Kapitel. §. 88.neten Subjekte denken: so sind die übrigen Wunder und die Auferstehung Jesu in gleichem Sinn zu ihrem Besten geschehen oder nicht, nämlich dem Erfolg nach nicht, wohl aber dem Zwecke nach. Es bleibt also nichts übrig, als die γενεὰ von den Zeitgenossen Jesu überhaupt, und eben - so das δίδοσϑαι von möglicher Wahrnehmung überhaupt, mittelbarer wie unmittelbarer, zu verstehen, so daſs Jesus hier alle Wunderthätigkeit überhaupt abgelehnt, und ein - zig nur auf das bevorstehende Wunder seiner Auferste - hung verwiesen hat. Übel freilich scheint sich dieſs mit den vielen Wundererzählungen in den Evangelien zu vertragen, zu deren Betrachtung wir jezt übergehen, indem wir aus einem Grunde, der unten von selbst erhellen wird, zuerst die Dämonenaustreibungen vornehmen.

§. 88. Die Dämonischen, allgemein betrachtet.

Während im vierten Evangelium die Ausdrücke δαι - μόνιον ἔχειν und δαιμονιζόμενος nur im Munde der Juden als Beschuldigung gegen Jesum, parallel mit μαίνεσϑαι vorkommen (8, 48 f. 10, 20 f. vgl. Marc. 3, 22. 30. Matth. 11, 18.), sind in den drei ersten Dämonische, man kann sagen die gewöhnlichsten Gegenstände der heilenden Thä - tigkeit Jesu. Gleich wo sie die Anfänge seiner Wirksam - keit in Galiläa beschreiben, stellen die Synoptiker unter den Kranken, welche Jesus geheilt habe, die δαιμονιζομέ - νους1)Dass die ihnen bei Matthäus zugesellten σεληνιαζόμενοι nur eine besondere Art von Dämonischen sind, deren Krankheit sich nämlich nach dem Mondwechsel zu richten schien, zeigt Matth. 17, 14 ff., wo aus einem σεληνιαζόμενος ein δαιμόνιον ausgetrieben wird. oben an (Matth. 4, 24. Marc. 1, 34.), und diese spielen durchweg in ihren summarischen Berichten von der Wirksamkeit Jesu in gewissen Gegenden eine Hauptrolle6Zweiter Abschnitt.(Matth. 8, 16 f. Marc. 1, 39. 3, 11 f. Luc. 6, 18.). Auch seinen Jüngern theilt Jesus vor allem Andern die Voll - macht mit, Dämonen auszutreiben (Matth. 10, 1. 8. Marc. 3, 15. 6, 7. Luc. 9, 1.), was ihnen zu ihrer besondern Freude wirklich nach Wunsch gelang (Luc. 10, 17. 20. Marc. 6, 13.).

Ausser diesen summarischen Angaben aber werden uns auch die Heilungen mehrerer Dämonischen im Einzel - nen erzählt, so daſs wir uns eine ziemlich genaue Vorstel - lung von dem eigenthümlichen Zustand dieser Leute ma - chen können. Gleich bei demjenigen, dessen Heilung in der Synagoge zu Kapernaum die Evangelisten als die er - ste dieser Art setzen (Marc. 1, 23 ff. Luc. 4, 33 ff. ), fin - den wir einestheils eine Alterirung des Selbstbewuſstseins, vermöge deren der Besessene in der Person des Dämon redet, was sich auch bei andern Dämonischen, wie bei den Gadarenischen (Matth. 8, 29 f. parall. ), wiederholt; anderntheils Krämpfe und Convulsionen mit wildem Ge - schrei. Dieses krampfhafte Wesen findet sich bei jenem Dämonischen, der zugleich als Mondsüchtiger bezeichnet ist (Matth. 17, 14 ff. parall. ) deutlich als Fallsucht ausge - bildet; denn das plözliche Niederstürzen, oft an gefährli - chen Orten, das Brüllen, Zähne knirschen und Schäumen sind bekannte Symptome der Epilepsie2)Vergl. die Stellen alter Ärzte bei Winer, bibl. Realwörterb. 1, S. 191.. Die andre Seite, die Störung des Selbstbewuſstseins, erscheint besonders bei dem Gadarenischen Besessenen, neben dem, daſs gleich - falls der Dämon, oder vielmehr eine Mehrheit von solchen als Subjekt aus ihnen spricht, zum menschenscheuen Wahn - sinn mit Anfällen einer gegen sich und Andre wüthenden Tobsucht gesteigert3)Rabbinische u. a. Stellen s. bei Winer, a. a. O. S. 192.. Doch nicht blos Wahnsinnige und Epileptische, sondern auch Stumme (Matth. 9, 32. Luc. 11,7Neuntes Kapitel. §. 88.14. Matth. 12, 22. ist der δαιμονιζόμενος κωφὸς zugleich τυφλὸς), und an gichtischer Verkrümmung des Körpers Leidende (Luc. 13, 11. ff. ) werden mehr oder minder be - stimmt als Dämonische bezeichnet.

Die in den Evangelien vorausgesezte, auch von de - ren Verfassern getheilte Vorstellung von diesen Leidenden ist die, daſs ein böser, unreiner Geist (δαιμόνιον, πνεῦμα ἀκάϑαρτον) oder mehrere, sich ihrer bemächtigt haben (da - her ihr Zustand durch δαιμόνιον ἔχειν, δαιμονίζεσϑαι be - zeichnet wird), welche nun aus ihnen reden (so Matth. 8, 31. οἱ δαίμονες παρεκάλουν αὐτὸν λέγοντες), und ihre Glied - maſsen nach Belieben in Bewegung setzen (so Marc. 9, 20. τὸ πνεῦμα ἐσπάραξεν αὐτὸν), bis sie bei der Heilung, mit Gewalt ausgetrieben, den Menschen verlassen (ἐκβάλλειν, ἐξέρχεσϑαι). Nach der evangelischen Darstellung hatte auch Jesus diese Ansicht von der Sache. Zwar, wenn er zum Behuf der Heilung von Besessenen den in ihnen befindli - chen Dämon anredet (wie Marc. 9, 25. Matth. 8, 32. Luc. 4, 35.): so könnte man dieſs allerdings mit Paulus4)ex. Handb. 1, b, S. 475; vgl. Hase, L. J., §. 60. 2te Auflage. als Eingehen in die fixe Idee dieser mehr oder minder verrück - ten Personen ansehen, wozu der psychische Arzt, um wir - ken zu können, sich bequemen muſs, so sehr er von dem Ungrund jener Vorstellung überzeugt sein mag. Allein wenn nun Jesus auch in Privatunterhaltungen mit seinen Jüngern diesen nicht allein niemals etwas zur Untergrabung jener Vorstellung sagt, sondern vielmehr wiederholt aus der Vor - aussetzung eines dämonischen Grundes jener Zustände heraus spricht (so, ausser dem Auftrag: δαιμόνια ἐκβάλ - λετε Matth. 10, 8. noch Luc. 10, 18. ff. und besonders Matth. 17, 21. parall. : τοῦτο τὸ γένος, sc. δαιμονίων, οὺκ ἐκπορεύε - ται κ. τ. λ. ), wenn er in einer rein theoretischen Ausfüh - rung, vielleicht ebenfalls im engeren Kreise seiner Jünger, eine ganz den damaligen Volksvorstellungen sich anschlies -Bogen 1. ist S. 7 u. 8 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.8Zweiter Abschnitt.sende Beschreibung vom Ausgehen der Dämonen, ihrem Umirren in der Wüste und ihrer verstärkten Rückkehr giebt (Matth. 12, 43 ff. ): so kann man nur ein Zurechtma - chen der Vorstellungen Jesu nach den unsrigen darin se - hen, wenn sonst unbefangene Forscher, wie Winer5)a. a. O. S. 191., Je - sum die Meinung des Volks von der Ursache dieser Krank - heiten nicht theilen, sondern sich ihr nur anbequemen lassen. Um von jedem Gedanken an bloſse Accommoda - tion abzukommen, darf man sich nur die zulezt bemerkte Stelle genauer ansehen. Zwar hat man das Beweisende derselben dadurch zu umgehen gesucht, daſs man sie bild - lich nahm, oder gar als eine Parabel bezeichnete6)Gratz, Comm. z. Matth. 1, S. 615.. Dabei, wenn wir monstra von Ausdeutungen, wie diejenige, wel - che nach Calmet noch Olshausen giebt7)b. Comm. 1, S. 424. Es sei vom jüdischen Volk die Rede, das vor dem Exil durch den Teufel in Form der Abgötterei, nach demselben durch den schlimmeren des Pharisäismus besessen gewesen., bei Seite lassen, kommt das Wesentliche der Erklärung des vorgeblichen Bildes immer darauf hinaus, daſs oberflächliche Bekehrung zu der Sache Jesu einen nur um so schlimmern Rückfall nach sich ziehe8)so Fritzsche, in Matth. p. 447.. Allein ich möchte wissen, was uns denn überhaupt berechtigt, von der eigentlichen Auffassung dieser Rede abzuweichen? In den Sätzen selbst liegt kei - ne Andeutung, ebensowenig in der anderweitigen Darstel - lungsweise Jesu, welcher sonst nirgends sittliche Verhält - nisse in das Bild dämönischer Zustände hüllt, sondern wo er noch, wie hier, von ἐξέρχεσϑαι der bösen Geister spricht, wie Matth. 17, 21. dieſs eigentlich will verstanden wissen. Aber in dem Zusammenhang der Erzählung? Lukas (11, 24, ff. ) stellt den in Frage stehenden Ausspruch hinter die Vertheidigung Jesu gegen die pharisäische Beschuldigung,9Neuntes Kapitel. §. 88.die Dämonen durch Beelzebul auszutreiben, ohne Zwei - fel irrig, wie wir gesehen haben, aber doch wohl zum Be - weis, daſs er sie eigentlich von wirklichen Dämonen ver - standen hat. Auch Matthäus stellt den Ausspruch in die Nähe jener Beschuldigung und Apologie, doch schiebt er die Zeichenforderung nebst Jesu Gegenäusserungen dazwi - schen, und läſst Jesum am Schlusse die Nutzanwendung machen: οὕτως ἔςαι καὶ τῇ γενεᾷ ταύτῃ τῇ πονηρᾷ. Dadurch giebt er freilich der Rede eine bildliche Beziehung auf den sittlich-religiösen Zustand seiner Zeitgenossen, aber ohne Zweifel nur so, daſs er die vorangeschickte Beschrei - bung des vertriebenen und wiederkehrenden Dämons ei - gentlich von Besessenen gemeint hat, hierauf aber diesen Hergang auch wieder als Bild des moralischen Zustandes seiner Zeitgenossen wendet. Jedenfalls giebt Lukas, der diesen Beisaz nicht hat, die Rede Jesu, wie Paulus sich ausdrückt, als eine Warnung vor dämonischer Recidive. Daſs nun die meisten jetzigen Theologen ohne bestimmten Vorschub von Seiten des Matthäus, und in bestimmtem Widerspruch gegen Lukas, den Ausspruch bloſs bildlich fassen wollen, dieſs scheint nur in der Scheue seinen Grund zu haben, Jesu eine so ausgeführte Dämonologie zuzuschrei - ben, wie sie in den eigentlich gefaſsten Worten liegt. Ei - ner solchen aber entgeht man auch abgesehen von dieser Stelle dennoch nicht. Matth. 12, 25 f. 29. spricht Jesus von einem Reich und Haushalt des Teufels in einer Weise, welche über das blos Figürliche augenscheinlich hinaus - geht, besonders aber ist die schon angeführte Stelle, Luc. 10, 18 20. von der Art, daſs sie selbst einem Paulus, der sonst den geheiligten Personen der christlichen Urge - schichte so gerne die Einsichten unsers Zeitalters leiht, das Geständniſs abnöthigt, das Satansreich sei Jesu durchaus nicht bloſs Symbol des Bösen gewesen, und er habe na - mentlich wirkliche Dämonenbesitzungen angenommen. Denn, sagt er ganz richtig, da hier Jesus nicht zu den Kranken,10Zweiter Abschnitt.nicht zum Volk, sondern zu solchen spreche, welche selbst von dergleichen Krankheiten nach seiner Anleitung befrei - ten, so sei es nicht als bloſse Anbequemung erklärbar, wenn er ihr τὰ δαιμόνια ὑποτάσσεται ἡμῖν bestätigend wieder aufnehme, und ihre Befähigung zur Heilung der Dämonischen als eine Gewalt über die δύναμις τοῦ ἐχϑροῦ beschreibe9)exeg. Handb. 2, S. 566.. Ebenso treffend hat derselbe Theologe an andern Orten dem Anstoſs, welchen solche, deren Bildung mit dem Glauben an Dämonenbesitzungen sich nicht ver - trägt, an dem Ergebniſs nehmen könnten, daſs Jesus jenen Glauben gehabt habe, durch die Bemerkung vorgebeugt, daſs selbst der ausgezeichnetste Geist eine unrichtige Zeit - vorstellung beibehalten könne, sofern sie nicht gerade im Bereich seines besondern Nachdenkens liege[10)a. a. O. 1, b, S. 483. 2, S. 96.].

Erläuternd für die neutestamentlichen Vorstellungen von den Dämonischen sind die Ansichten, welche wir bei andern mehr oder minder gleichzeitigen Schriftstellern über diese Materie finden. Die allgemeinen Begriffe von Einflüssen böser Geister auf den Menschen, welche Melan - cholie, Wahnsinn, Epilepsie zur Folge haben, waren zwar schon frühe bei Griechen11)Daher wurde δαιμονᾷν, κακοδαιμονᾷν = μελαγχολᾷν, μαινεσϑαι, gebraucht, und Hippokrates musste die Ableitung der Epi - lepsie von dämonischem Einfluss bestreiten. s. bei Wetstein, S. 282 ff. wie bei Hebräern12)Man vergleiche die רוּחַ רָעָה טֵאֵת יְהוָֹה, welche den Saul melancholisch machte, 1. Sam. 16, 14. Ihr Einfluss auf Saul wird durch בִּעֲתַּתּוּ, sie überfiel ihn, ausgedrückt. verbrei - tet: aber die bestimmtere Vorstellung, daſs die bösen Gei - ster in den Leib des Menschen fahren und von demselben Besiz nehmen, hat sich nachweislich doch erst ziemlich spät, in Folge allgemeiner Verbreitung der orientalischen,11Neuntes Kapitel. §. 88.namentlich persischen, Pneumatologie unter Hebräern und Griechen ausgebildet13)s. Creuzer, Symbolik, 3, S. 69 f. ; Baur, Apollonius von Tyana und Christus, S. 144.. Daher denn bei Josephus die Rede von δαιμόνια τοῖς ζῶσιν εἰσδυόμενα14)Bell. jud. 7, 6, 3., ἐγκαϑεζόμε - να15)Antiq. 6, 11, 2. von dem Zustand Sauls., und dieselben Vorstellungen auch bei Lucian16)Philopseud. 16. und Philostratus17)vita Apollon. 4, 20, 25., vgl. Baur, a. a. O. S. 38 f. 42. In - dessen spricht auch schon Aristoteles, de mirab. 166. ed Bekk., von δαίμονί τινι γενομένοις κατόχοις. .

Über die Natur und Herkunft dieser Geister finden wir in den Evangelien nichts ausdrücklich bemerkt, als daſs sie zum Haushalt des Satan gehören (Matth. 12, 26 ff. parall. ), weſswegen denn, was einer von ihnen thut, auch geradezu dem Satan zugeschrieben wird (Luc. 13, 16). Durch Josephus18)a. a. O. des bell j.:τὰ γρ καλούμενα δαιμόνια πονηρῶν ἐςιν ἀνϑρώπων πνεύματα, τσῖς ζῶσιν εἰσδυόμενα καὶ κτείνοντα τοὺς βοηϑείας μὴ τυγχάνοντας., Justin den Märtyrer19)Apoll. 1, 18. und Philo - stratus20)a. a. O. 3, 38., mit welchen auch rabbinische Schriften über - einstimmen21)s. Eisenmenger, entdecktes Judenthum, 2, S. 427., erfahren wir nun aber, daſs diese Dämo - nien von Hause aus eigentlich abgeschiedene Seelen böser Menschen seien, und neuere Theologen haben keinen An - stand genommen, diese Ansicht von ihrer Herkunft auch dem N. T. unterzulegen22)Paulus, exeg. Handb. 2, S. 39; L. J. 1, a, S. 217. Er be - ruft sich hiefür namentlich auf Matth. 14, 2., wo Herodes auf das Gerücht von Jesu Wunderthaten hin sagt:ου῟τός ἐςιν Ἰωάννης βαπτιςὴς, αὐτὸς ἠγέρϑη ἀπὸ τῶν νεκρῶν·worin Pau - lus die rabbinische Ansicht vom עיבור findet, vermöge des -. Näher bestimmen jedoch12Zweiter Abschnitt.Justin und die Rabbinen vorzugsweise die Seelen der Rie - sen, der Abkömmlinge jener Engel, welche sich mit den Töchtern der Menschen vermischten, und die Rabbinen ferner noch die Seelen der in der Sündfluth Umgekomme - nen und der Theilhaber am babylonischen Thurmbau als Plagegeister für die Überlebenden23)Justin. Apol. 2, 5. Eisenmenger, a. a. O. S. 428 ff., womit auch die Klementinen zusammenstimmen, nach welchen gleichfall; jene zu Dämonen gewordenen Riesenseelen sich als die stärkeren an menschliche Seelen zu hängen, und in Men - schenleiber zu fahren suchen24)Homil. 8, 18 f. 9, 9 f.. Da nun in der ersteren weiter lautenden Stelle Justin den Heiden aus ihren ei - genen Vorstellungen heraus die Unsterblichkeit beweisen will, so ist die Ansicht von den Dämonen als Seelen Ver - storbener überhaupt, welche er dort äussert, zumal sein Schüler Tatian sich ausdrücklich gegen diese Vorstellung erklärt25)Orat. contra Graecos, 16., schwerlich als seine eigene zu betrachten; Josephus aber entscheidet für die im N. T. zum Grunde22)sen (im Unterschied vom ג גו oder der eigentlichen See - lenwanderung, d. h. der Versetzung abgeschiedener Seelen in eben sich bildende Kinderleiber) zu der Seele eines Le - benden die eines Verstorbenen als verstärkender Zusaz sich gesellt (s. Eisenmenger, 2. S. 85 ff.). Allein, dass in dem ἠγέρϑη nicht diese, sondern die Vorstellung einer wirklichen Auferstehung des Täufers liege, hat u. A. Fritzsche z. d. St. gezeigt, und wenn auch jene, so wäre doch hier von einem ganz andern Verhältniss die Rede, als von dem der dämoni - schen Besitzung. Hier wäre es nämlich ein guter Geist, der in einen Propheten zur Verstärkung seiner Kraft übergegan - gen wäre, wie nach späterer jüdischer Vorstellung Seths Seele zu der des Moses, und wieder Moses und Aarons Seelen zu der des Samuel sich gesellt haben (Eisenmenger, a. a. O.), woraus aber die Möglichkeit eines Übergangs böser Seelen in Lebende noch keineswegs folgen würde.13Neuntes Kapitel. §. 88.liegende Ansicht deſswegen nichts, weil sich seiner grie - chischen Bildung wegen sehr fragt, ob er jene Lehre in der ursprünglich jüdischen, oder in gräcisirter Gestalt wiedergiebt. Darf man nun annehmen, daſs die Dämo - nenlehre zu den Hebräern von Persien her gekommen sei: so waren die Dew's der Zendreligion bekanntlich vor der Menschenwelt entstandene, von Hause aus böse Geister, an welchen der Hebraismus für sich nur den lezteren, dem Dualismus angehörigen Zug, nicht aber den ersteren, zu verwischen veranlaſst sein konnte. So wurden die Dämonen in der hebräischen Ansicht die gefallenen Engel von 1 Mos. 9, die Seelen ihrer Kinder, der Riesen, und der groſsen Verbrecher vor und unmittelbar nach der Sündfluth überhaupt, welche die Volksvorstellung allmäh - lig in das Übermenschliche hinaufgesteigert hatte; über den Kreis dieser Seelen jedoch, die man sich als den Hofstaat des Satans denken mochte, lag in den Vorstel - lungen der Hebräer kein Grund herabzusteigen. Ein sol - cher lag nur in der mit der hebräischen zusammentreffen - den griechisch-römischen Bildung: diese hatte keinen Satan, also auch keinen eigenthümlichen, ihm dienenden Geisterstaat, wohl aber hatte sie ihre Manen, Lemuren u. dgl., sämmtlich abgeschiedene Menschengeister, welche die Lebenden beunruhigten. Produkt nun der Ausglei - chung jener jüdischen Vorstellungen, mit diesen griechisch - römischen scheint die Darstellungsweise des Josephus und Justin, wie auch der späteren Rabbinen zu sein: daſs aber auch schon im N. T. eine solche zu finden sei, folgt hieraus nicht. Sondern, wenn wir hier diese gräcisirte Vorstellungsweise nicht positiv angezeigt finden, wie sie es denn nirgends ist, vielmehr an einigen Orten die - monen mit dem Satan als sein zugehöriger Haushalt in Verbindung gesezt sind: so müssen wir, bei der sonsti - gen (soweit keine Umbildung in christlichem Sinne ein - trat) unvermischt jüdischen Denkweise der synoptischen14Zweiter Abschnitt.Evangelien, vielmehr jene rein und ursprünglich jüdische Vorstellung als die ihrige voraussetzen.

Die ältere Theologie nun hat bekanntlich, in Betracht der Auktorität Jesu und der Evangelisten, die Ansicht von einem wirklichen Besessensein jener Menschen durch Dämonen zu der ihrigen gemacht. Die neuere Theologie dagegen, besonders seit Semler26)s. dessen Commentatio de daemoniacis quorum in N. T. fit mentio, und umständliche Untersuchung der dämonischen Leu - te. Schon zu Origenes Zeit geben übrigens die Ärzte von dem Zustand der angeblich Besessenen natürliche Erklärun - gen, s. Orig. in Matth. 17, 15., in Betracht der auf - fallenden Ähnlichkeit, welche zwischen dem Zustand der neutestamentlichen Dämonischen und mancher natürlich Kranken unsrer Zeit stattfindet, hat angefangen, auch das Übel von jenen aus natürlichen Ursachen abzuleiten, und die im N. T. vorausgesezte übernatürliche Ursache auf Rechnung der Vorstellungen jener Zeit zu schreiben. Daſs, wo in jetziger Zeit Epilepsie, Wahnsinn und selbst eine, dem Zustand der neutestamentlichen Besessenen ähn - liche Alteration des Selbstbewusstseins vorkommen, doch nicht leicht mehr an dämonischen Einfluſs gedacht wird, hat seinen Grund einerseits darin, daſs der fortgeschrittenen Natur - und Seelenkunde jezt mehr Mittel und Anknü - pfungspunkte zur natürlichen Erklärung jener Zustände zu Gebote stehen, theils darin, daſs man die Widersprü - che, welche in der Vorstellung des Besessenseins liegen, wenigstens dunkel zu erkennen angefangen hat. Denn abgesehen von den oben auseinandergesezten Schwierig - keiten, welche die Annahme der Existenz von Teufel und Dämonen überhaupt drücken, so mag man sich das Ver - hältniſs zwischen dem Selbstbewuſstsein und den leibli - chen Organen denken wie man will, immer ist doch das schlechterdings nicht vorzustellen, wie das Band zwischen beiden so lose sein sollte, daſs ein fremdes Selbstbewuſst -15Neuntes Kapitel. §. 88.sein sich einschieben, und mit Verdrängung des zum Or - ganismus gehörigen, diesen in Besiz nehmen könnte. So ergiebt sich für jeden, welcher die Erscheinungen der Gegenwart mit aufgeklärten, und doch die Erzählungen des N. Ts. noch mit orthodoxen Augen betrachtet, der Widerspruch, daſs dasselbe, was jezt aus natürlichen Ursachen kommt, zu Jesu Zeiten übernatürlich müsste verursacht gewesen sein.

Diesen undenkbaren Unterschied der Zeiten wegzu - bringen, und doch dem N. T. nichts zu vergeben, läugnet Olshausen, welchen wir für diesen Punkt füglich als Re - präsentanten der mystischen Theologie und Philosophie jetziger Zeit betrachten können, Beides, sowohl daſs jezt alle dergleichen Zustände natürlich, als daſs damals alle übernatürlich verursacht gewesen seien. Was unsre Zeit betrifft, so fragt er, wenn die Apostel in unsre Irrenhäu - ser träten, wie sie manche der Kranken in denselben nennen würden27)b. Comm. 1, S. 296. Anm.? Allerdings, antworten wir, würden sie viele derselben Besessene nennen, vermöge ihrer Zeit - und Volksvorstellung nämlich, und nicht vermöge aposto - lischer Erleuchtung, so daſs also der herumführende Mann von Fach sie mit Recht eines Bessern zu belehren suchen würde, und daraus gegen die Natürlichkeit jener Zustände in unserer Zeit lediglich nichts folgen kann. Von der Zeit Jesu behauptet der genannte Theologe, auch von den Juden seien dieselben Krankheitsformen, je nach der ver - schiedenen Entstehungsart das einemal für dämonisch ge - halten worden, das andremal nicht, so daſs z. B. einer, der durch organische Verletzung des Gehirns wahnsinnig, oder der Zunge stumm geworden war, nicht für dämonisch gegolten haben würde, sondern nur ein solcher, dessen Zustand mehr oder minder auch psychisch veranlaſst ge - wesen sei. Beispiele einer solchen, im Zeitalter Jesu ge -16Zweiter Abschnitt.machten Unterscheidung bleibt uns Olshausen, wie sich von selbst versteht, schuldig. Wo hätten auch die dama - ligen Juden die Kenntniſs der verborgenen natürlichen Ursachen solcher Zustände hergenommen, wo die Krite - rien, einen durch Miſsbildung des Gehirns entstandenen Wahnsinn oder Blödsinn von psychologisch verursachtem zu unterscheiden? Waren sie nicht ganz und gar auf die äussere Erscheinung und zwar in ihren gröberen Um - rissen, angewiesen? Diese aber ist bei einem Epileptischen mit seinem plözlichen unvorhergesehenen Niederstürzen und seinen Convulsionen, bei einem Wahnsinnigen mit seinem Irrereden, namentlich wenn er, durch Rückwirkung der Volksvorstellungen auf seinen Zustand, in der Person ei - nes Dritten spricht, von der Art, daſs sie auf eine fremde den Menschen beherrschende Macht hinweist, und daſs folg - lich sobald einmal der Glaube an dämonische Besitzungen im Volke gegeben ist, alle dergleichen Zustände auf solche zurückgeführt werden werden, wie wir dieſs im N. T. fin - den; wogegen bei Stummheit und gichtischer Verkrümmung oder Lähmung die Herrschaft einer fremden Macht schon weniger entschieden indicirt ist, und diese Leiden also bald gleichfalls einem besitzenden Dämon zugeschrieben werden können, bald auch nicht, wie wir jenes bei den schon erwähnten Stummen Matth. 9, 32. 12, 22. und bei der verkrümmten Frau, Luc. 13, 11, dieses bei dem κωφὸς μογιλάλος Marc. 7, 32 ff. und bei den mancherlei Paralyti - schen, deren in den Evangelien gedacht wird, finden; wo - bei übrigens die Entscheidung für die eine oder andre An - sicht gewiſs nicht von Erforschung der Entstehungsweise, sondern lediglich von der äussern Erscheinung ausgegan - gen ist. Haben demnach die Juden, und mit ihnen die Evangelisten, die beiden Hauptarten der hiehergehörigen Zustände auf dämonischen Einfluſs zurückgeführt, so bleibt für den, der sich durch ihre Ansicht gebunden glaubt, oh - ne sich doch der Bildung unsrer Zeit entziehen zu wollen,17Neuntes Kapitel. §. 88.die grelle Ungleichheit, dieselben Krankheiten in der ei - nen Zeit sämmtlich als natürliche, in der andern sämmtlich als übernatürliche denken zu müssen.

Die schlimmste Schwierigkeit aber erwächst für den Olshausen'schen Vermittlungsversuch zwischen der jüdisch - neutestamentlichen Dämonologie und der Bildung unsrer Zeit daraus, daſs dieses leztere Element in ihm der An - nahme persönlicher Dämonen widerstrebt. Dasselbe, der Bildung des gedachten Theologen durch die Naturphiloso - phie angehörige Streben, das im N. T. als ein Heer dis - creter Individuen Gedachte emanatistisch in das Con - tinuum einer Substanz aufzulösen, welche zwar einzelne Kräfte aus sich hervortreten, diese jedoch nicht zu selbst - ständigen Individuen sich fixiren, sondern als Accidenzien wieder in die Einheit der Substanz zurückkehren läſst, dieses Streben sahen wir schon in Olshausen's Angelolo - gie hindurchleuchten, und entschiedener tritt es nun in der Dämonologie hervor. Dämonische Persönlichkeiten sind zu widrig, bei den angeblich Besessenen namentlich das, wie es Olshausen selbst ausdrückt28)S. 295 f., Stecken zweier Subjekte in Einem Individuum zu undenkbar, als daſs man sich eine solche Vorstellung zumuthen könnte. Daher wird überall nur in schwebender Allgemeinheit von einem Rei - che des Bösen und der Finsterniſs geredet, und zwar ein persönlicher Fürst desselben vorausgesezt, aber unter den Dämonen nur die einzelnen Ausflüsse und Wirkungen ver - standen, in welchen das böse Princip sich manifestirt. Da - her, und hieran ist Olshausen's Ansicht von den Dämo - nen am bestimmtesten zu ergreifen, ist es ihm zu viel, daſs Jesus den Dämon im Gadarener um seinen Namen gefragt haben soll: so bestimmt kann doch Christus die von dem Ausleger bezweifelte Persönlichkeit jener Ausflüsse des finstern Reiches nicht vorausgesezt haben; weſswegenDas Leben Jesu II. Band. 218Zweiter Abschnitt.denn das τί σοι ὄγο α; (Marc. 5, 9.) als Frage nach dem Namen nicht des Dämon, sondern des Menschen aufgefaſst wird29)S. 302, nach dem Vorgang von Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 474., gegen allen Zusammenhang offenbar, da die Ant - wort: λεγεὼν, keineswegs als Miſsverstand, sondern als die rechte, von Jesus gewollte Antwort erscheint.

Sind nun aber die Dämonen, nach Olshausen's An - sicht, unpersönliche Kräfte, so ist es die Gesezmäſsigkeit des Reichs der Finsterniſs in seinem Verhältniſs zum Licht - reich, was sie leitet und zu ihren verschiedenen Funktio - nen bewegt. Von dieser Seite müſste also, je schlimmer der Mensch wird, desto enger der Zusammenhang zwi - schen ihm und dem Reiche des Bösen sich knüpfen, und der engste denkbare Zusammenhang, das Eingehen der fin - stern Macht in die Persönlichkeit des Menschen, d. h. die Besessenheit, müſste immer bei den Schlechtesten eintreten. Dieſs finden wir aber geschichtlich gar nicht so, die - monischen erscheinen in den Evangelien nur so weit als Sünder, wie alle Kranke Vergebung der Sünde nöthig ha - ben, und die gröſsten Sünder, wie ein Judas, bleiben von der Besessenheit verschont. Die gewöhnliche Vorstellung, mit ihren persönlichen Dämonen, entgeht diesem Wider - spruch. Zwar hält auch sie, wie wir dieſs z. B. in den Klementinen finden, daran fest, daſs nur durch die Sünde der Mensch dem Dämon den Zugang zu sich eröffne30)Homil. 8, 19.: doch bleibt hier immer noch ein Spielraum für die indivi - duelle Willkühr des Dämon, welcher aus nicht zu berech - nenden subjektiven Gründen oft den Schlechteren vorüber - gehen, auf den weniger Schlechten aber Jagd machen kann31)Wie sich Asmodi die Sara und ihre Männer zum Plagen und Umbringen ausersieht, nicht weil jene oder diese besonders schlecht waren, sondern weil Sara's Schönheit ihn anzog, Tob. 6, 12. 15.. Werden hingegen, wie von Olshausen, die -19Neuntes Kapitel. §. 88.monen nur als die Aktionen der Macht des Bösen in ihrem durch Gesetze geregelten Verhältniſs zur Macht des Guten betrachtet, so ist jede Willkühr und Zufälligkeit ausge - schlossen, und deſswegen hat die Abweichung der Conse - quenz, daſs nach seiner Theorie eigentlich immer die Schlimm - sten besessen sein sollten, Olshausen sichtbare Mühe ver - ursacht. Von dem scheinbaren Kampf zweier Mächte in den Dämonischen ausgehend, ergreift er zunächst den Aus - weg, daſs nicht bei denjenigen, welche sich ganz dem - sen ergeben, und somit eine innere Einheit ihres Wesens behalten, sondern nur bei denen, in welchen noch ein in - neres Widerstreben gegen die Sünde vorhanden sei, der Zustand des Besessenseins eintrete32)S. 294.. So aber, zum rein moralischen Phänomen gemacht, müſste dieser Zustand weit häufiger vorkommen, es müſste jeder heftige innere Kampf in dieser Form sich äussern, und namentlich dieje - nigen, welche sich später dem Bösen ganz ergeben, ihren Durchgang durch eine Periode des Kampfs, also des Be - sessenseins, nehmen. Daher fügt auch Olshausen noch ein physisches Moment hinzu, daſs nämlich das Böse im Men - schen vorwiegend seinen leiblichen Organismus, insbeson - dere das Nervensystem geschwächt haben müsse, wenn er für den dämonischen Zustand empfänglich sein solle. Al - lein wer sieht nicht, zumal solche Zerrüttungen des Ner - vensystems auch ohne sittliche Verschuldung eintreten kön - nen, daſs auf diese Weise der Zustand, welchen man der dämonischen Macht als eigenthümlicher Ursache vindiciren wollte, zum groſsen Theil auf natürliche Gründe zurück - geführt, und somit dem eigenen Zwecke widersprochen wird? Daher wendet sich Olshausen von dieser Seite auch bald wieder weg, und verweilt bei der Vergleichung des δαιμονιζόμενος mit dem πονηρὸς, statt daſs er ihn mit dem Epileptischen und Wahnsinnigen zusammenstellen sollte,2 *20Zweiter Abschnitt.aus deren Vergleichung allein auf den Besessenen ein Licht zurückgeworfen werden kann. Durch dieses Herüberspie - len der Sache vom physiologisch - psychologischen Gebiete auf das moralisch-religiöse ist der Excurs über die Dämo - nischen zu einem d[er]unbrauchbarsten geworden, die im Olshausen'schen Buche zu finden sind33)Er füllt S. 289 298..

Lassen wir also die unerfreulichen Versuche, die neutestamentlichen Vorstellungen von den Dämonischen zu modernisiren, und unsre jetzigen Begriffe zu judaisiren, fassen wir vielmehr auch in diesem Punkte das N. T. auf, wie es sich giebt, ohne jedoch durch die Zeit - und Volks - vorstellungen in demselben uns für weitere Forschungen die Hände binden zu lassen.

Den bisher ermittelten Vorstellungen vom Wesen der Dämonischen gemäſs gestaltete sich auch das Heilverfahren mit solchen Personen, namentlich bei den Juden. Da die Krankheitsursache nicht, wie bei natürlichen Übeln als ein unpersönlicher Gegenstand oder Zustand, wie ein ungesun - der Saft, eine krankhafte Spannung oder Schwäche, son - dern als ein selbstbewuſstes Wesen angesehen wurde: so suchte man auf dieselbe auch nicht blos mechanisch, che - misch und dergl., sondern logisch, durch das Wort, zu wir - ken. Man sprach dem Dämon zu, sich zu entfernen, und um diesem Zuspruch Nachdruck zu geben, knüpfte man ihn an die Namen von Wesen, welchen man Macht über das Reich der Dämonen zuschrieb. Daher als Hauptmittel gegen dämonische Besitzungen die Beschwörung34)s. die Anm. 16. angeführte Lucianische Stelle., sei es bei dem Namen Gottes, oder der Engel, oder eines andern übermächtigen Wesens, wie des Messias (A. G. 19, 13.), und mittelst gewisser Formeln, die man von Salomo her - zuleiten pflegte35)Joseph. Antiq. 8, 2, 5.. Übrigens wurden hiemit auch gewisse21Neuntes Kapitel. §. 89.Wurzeln36)Joseph. a. a. O., Steine37)Gittin, f. 67. 2., Räucherungen und Amulete38)Justin. Mart. dial. c. Tryph. 85. in Verbindung gesezt, ebenfalls, wie man glaubte, aus Salo - monischer Überlieferung. Da nun die Ursache von derglei - chen Übeln nicht selten wirklich eine psychische war, oder doch im Nervensystem lag, auf welches sich von geistiger Seite unberechenbar einwirken läſst, so täuschte jenes psy - chologische Verfahren nicht durchaus, sondern es konnte oft wirklich durch die im Kranken erregte Meinung, daſs vor einer Zauberformel der ihn besitzende Dämon sich nicht länger halten könne, eine Hebung des Übels bewirkt wer - den, wie denn Jesus selbst zugiebt, daſs auch jüdischen Beschwörern dergleichen Kuren bisweilen gelingen (Matth. 12, 27.). Von Jesus aber lesen wir, daſs er ohne ander - weitige Mittel und ohne Beschwörung bei einer andern Macht durch sein bloſses Wort die Dämonen ausgetrieben habe, und es sind die hervorstechendsten Heilungen dieser Art, von welchen uns die Evangelien berichten, nunmehr in Erwägung zu ziehen.

§. 89. Jesu Dämonenaustreibungen, einzeln betrachtet.

Unter den einzelnen Erzählungen, welche uns in den drei ersten Evangelien von den Kuren Jesu an Dämoni - schen gegeben werden, ragen besonders drei hervor: die Heilung eines Dämonischen in der Synagoge zu Kapernaum, die der von einer Menge Dämonen besessenen Gadarener, und endlich die des Mondsüchtigen, welchen die Jünger nicht im Stande gewesen waren zu heilen.

Wie nach Johannes die Wasserverwandlung, so ist nach Markus (1, 23 ff. ) und Lukas (4, 33 ff. ) die Heilung eines Besessenen in der Synagoge von Kapernaum das er -22Zweiter Abschnitt.ste Wunder, das sie von Jesu seit seiner Rückkehr von der Taufe nach Galiläa zu erzählen wissen. Jesus hatte mit gewaltigem Eindruck gelehrt: als auf einmal ein an - wesender Besessener in der Rolle des ihn besitzenden - mons aufschrie, er wolle mit ihm nichts zu schaffen haben, er kenne ihn als den Messias, welcher gekommen sei, sie, die Dämonen, zu verderben; worauf Jesus dem Dämon zu schweigen und auszufahren gebot, was unter Geschrei und Zuckungen von Seiten des Kranken und zum groſsen Er - staunen der Menge über solche Gewalt Jesu geschah.

Hier könnte man sich allerdings mit rationalistischen Auslegern die Sache so vorstellen: wenn der Kranke, der einem lichten Augenblick in die Synagoge getreten war, von der gewaltigen Rede Jesu einen Eindruck bekommen, und dabei einen der Anwesenden von ihm als dem Mes - sias hatte sprechen hören, so konnte in ihm leicht die Vor - stellung sich bilden, der ihn besitzende unreine Geist kön - ne mit dem heiligen Messias nicht zusammenbestehen, wo - durch er in Paroxysmus gerathen, und seine Furcht vor Jesu in der Rolle des Dämon aussprechen mochte. Sah aber Jesus einmal den Menschen so gestimmt: was war ihm näher gelegt, als, die Meinung desselben von seiner Ge - walt über den Dämon zu benützen und diesem das Aus - fahren zu gebieten, was dann nach den Gesetzen der See - lenheilkunde, da der Irre von seiner fixen Idee aus ergrif - fen wurde, gar wohl günstigen Erfolg haben konnte, weſs - wegen Paulus diesen Fall für die Veranlassung hält, durch welche Jesus zuerst auf den Gedanken geführt worden sei, seine messianische Geltung zu Heilung von dergleichen Kran - ken zu benützen1)exeg. Handb. 1, b. S. 422; L. J. 1, a, S. 218..

Doch erhebt sich gegen diese natürliche Vorstellung von der Sache auch manche Schwierigkeit. Daſs Jesus der Messias sei, soll ihr zufolge der Kranke durch die Leute23Neuntes Kapitel. §. 89.in der Synagoge erfahren haben. Davon schweigt der Text nicht blos, sondern er widerspricht einer solchen Annah - me aufs Bestimmteste. Sein Wissen um Jesu Messiani - tät hebt der aus dem Menschen redende Dämon durch das οἶδά σε τίς εἶ κ. τ. λ. deutlich als ein ihm nicht von Men - schen zufällig Mitgetheiltes, sondern als ein ihm vermöge seiner dämonischen Natur wesentlich Zukommendes heraus. Ferner, wenn Jesus ihm ein φιμώϑητι! zuruft, so bezieht sich dieſs eben auf das, was der Dämon zuvor von seiner Messianität ausgesagt hatte, wie ja auch sonst von Jesu erzählt wird, daſs er

οὐκ ἤφιε λαλεῖν τὰ δαιμόνια, ὅτι ἤδει - σαν αὐτὸν (Marc. 1, 34. Luc. 4, 41.), oder, ἵνα μὴ φανερὸν αὐτὸν ποιήσωσιν

(Marc. 3, 12.); glaubte also Jesus durch das dem Dämon aufgelegte Schweigen das Bekanntwerden seiner Messianität verhindern zu können, so muſs er der Meinung gewesen sein, daſs nicht der Besessene durch das Volk in der Synagoge etwas von derselben gehört habe, vielmehr umgekehrt dieses es von dem Besessenen erfahren könnte; wie denn auch in der Zeit des ersten Auftritts Jesu, in welche die Evangelisten den Vorfall verlegen, noch Niemand an seine Messianität gedacht hat.

Fragt es sich demnach, wie, ohne Mittheilung von aussen, der Dämonische Jesum als Messias durchschaut haben könne? so beruft sich Olshausen auf die unnatür - lich gesteigerte Nerventhätigkeit, welche in dämonischen Personen wie in somnambülen ein verstärktes Ahnungsver - mögen, eine Art von Hellsehen hervorbringe, vermöge des - sen ein solcher Mensch gar wohl die Bedeutung Jesu für das ganze Geisterreich habe erkennen können2)b. Comm. 1, 296.. Allein abgesehen von den starken Zweifeln, welchen die Wirk - lichkeit eines solchen Hellsehens bei Somnambülen noch unterliegt, so schreibt die evangelische Darstellung jene Kunde nicht einem Vermögen des Kranken, sondern des24Zweiter Abschnitt.in ihm wohnenden Dämons zu, wie dieſs auch allein den damaligen jüdischen Vorstellungen angemessen ist. Der Messias sollte erscheinen, um das dämonische Reich zu stürzen (ἀμολέσαι ἡμᾶς, vgl. 1 Joh. 3, 8. Luc. 10, 18 f.), den Teufel sammt seinen Engeln in den Feuerpfuhl zu werfen (Matth. 25, 41. Offenb. 20, 10.)3)vgl. Bertroldt, Christol. Jud. §§. 36. 41., und daſs nun die Dämonen denjenigen, der ein solches Gericht über sie zu üben bestimmt war, als solchen erkennen würden, er - gab sich von selbst4)Nach Pesikta in Jalkut Schimoni 2, f. 56, 3. (s. Bertholdt, p. 185.) erkennt auf ähnliche Weise der Satan den unter dem Throne Gottes präexistirenden Messias mit Schrecken als den - jenigen, qui me, sagt er, et omnes gentiles in infernum prae - cipitaturus est.. Da wir demnach einerseits eine wirkliche Existenz von Dämonen in jenen Leidenden nicht annehmen, das jedoch ebenso schwer uns denken können, daſs jene Menschen selbst vermöge einer Hellsehergabe Je - sum zu einer Zeit, wo ihn sonst noch Niemand, und viel - leicht er sich selbst noch nicht, für den Messias hielt, als solchen erkannt haben; andrerseits aber dieses Erkanntwer - den des Messias von den Dämonen so ganz mit den volks - thümlichen Vorstellungen zusammentreffen sehen: so müs - sen wir wohl vermuthen, daſs in diesem Punkte die evan - gelische Tradition mehr diesen Vorstellungen, als der hi - storischen Wahrheit gemäſs sich gebildet habe5)Fritzsche, in Marc. p. 35: In multis evangeliorum locis ho mines legas a pravis daemonibus agitatos, quum primum con - spexerint Jesum, eum Messiam esse, a nemine unquam de hac re commonitos, statim intelligere. In qua re hac nostri scriptores ducti sunt sententia, consentaneum esse, Satanae satellites facile cognovisse Messiam, quippe insignia de se supplicia aliquando sumturum.. Hiezu war um so mehr Veranlassung, je rühmlicher für Jesum eine solche Anerkennung von Seiten der Dämonen war. 25Neuntes Kapitel. §. 89.Wie ihm, da die Erwachsenen ihn verkannten, aus dem Munde der Kinder Lob zubereitet war (Matth. 21, 16.), wie er, falls die Menschen schwiegen, überzeugt war, daſs die Steine schreien würden (Luc. 19, 40.): so muſste es angemessen scheinen, den, welchen sein Volk, das zu ret - ten er gekommen war, nicht anerkennen wollte, von den Dämonen anerkannt werden zu lassen, deren Zeugniſs, weil sie nur Verderben von ihm zu gewarten hatten, unpar - teiisch, und wegen ihrer höheren geistigen Natur zuver - lässig war.

Haben wir in der zulezt betrachteten Heilungsgeschichte eines Dämonischen eine von der einfachsten Gattung gehabt: so begegnet uns in der Erzählung von der Heilung der be - sessenen Gadarener (Matth. S, 28 ff. Marc. 5, 1 ff. Luc. 8, 26 ff. ) eine höchst zusammengesezte, indem wir hier, ne - ben mehreren Abweichungen der Evangelisten, statt Eines Dämons viele, und statt des einfachen Ausfahrens derselben ein Fahren in eine Schweineheerde haben.

Nach einer stürmischen Überfahrt über den galiläischen See an das östliche Ufer begegnet Jesu nach Markus und Lukas ein Dämonischer, welcher sich in den Grabmälern jener Gegend aufhielt6)Ein Lieblingsaufenthalt der Rasenden, s. Lightfoot u. Schött - gen z. d. St., und der unreinen Geister, s. die rabbinischen Stellen bei Wetstein. und mit furchtbarer Wildheit ge - gen sich selbst7)Dass das κατακόπτειν ἑαντὸν λίϑοις, welches Markus dem Be - sessenen zuschreibt, in lichten Augenblicken als Busse für seine Verschuldung von ihm geschehen sei, gehört zu den Unrichtigkeiten, zu welchen Olshausen durch seinen falschen, moralisch-religiösen Standpunkt in Betrachtung dieser Er - scheinungen verführt wird, da doch bekannt genug ist, wie gerade in den Paroxysmen solcher Kranken die selbstzerstö - rende Wuth eintritt. und andere zu wüthen pflegte; nach Matthäus waren es ihrer zwei. Es ist erstaunlich, wie26Zweiter Abschnitt.lange sich hier die Harmonistik mit elenden Ausflüchten, wie, daſs Markus und Lukas nur Einen nennen, weil die - ser durch Wildheit sich besonders ausgezeichnet, oder Matthäus zwei, weil er den dem Wahnsinnigen zur Auf - sicht beigegebenen Begleiter mitgezählt habe, und dergl.8)s. die Sammlung von dergleichen Erklärungen bei Fritzsche, in Matth. p. 327. beholfen hat, bis man eine wirkliche Differenz zwischen beiden Relationen zugeben mochte. Hiebei hat man, in Erwägung dessen, daſs dergleichen Rasende ungesellig zu sein pflegen, der Angabe der beiden mittlern Evangelisten den Vorzug gegeben, und die Verdoppelung des Einen - monischen bei dem ersten daraus erklärt, daſs die Mehr - heit der δαίμονες, von welchen in der Erzählung die Rede war, dem Referenten zu einer Mehrheit von δαιμονιζόμενοι geworden sei9)so Schulz, über das Abendmahl, S. 309; Paulus z. d. St.; Hase, L. J. §. 75.. Allein so entschieden ist die Unmöglich - keit, daſs zwei Rasende in der Wirklichkeit sich zusam - mengesellen, oder vielleicht auch nur in der ursprünglichen Sage zusammengestellt wurden, denn doch nicht, daſs hierauf allein schon ein Vorzug des Berichts bei Markus und Lukas vor dem bei Matthäus sich begründen lieſse. Wenigstens wenn man fragt, welche der beiden Darstel - lungen der Sache leichter aus der andern, als der ursprüng - lichen, in der Überlieferung sich habe bilden können? so wird man die Möglichkeit auf beiden Seiten gleich groſs finden. Denn wenn auf die oben angezeigte Weise die mehreren Dämonen zu der Vorstellung auch von mehreren Dämonischen Anlaſs geben konnten, so läſst sich ebenso umgekehrt sagen: in der dem Faktum näheren Darstellung des Matthäus, wo von Besessenen sowohl als von Dämo - nen in der Mehrzahl die Rede war, trat das specifisch Ausserordentliche dieses Falls nicht genug hervor, daſs auf27Neuntes Kapitel. §. 89.Ein Individuum mehrere Dämonen kamen, und indem man, um dieses Verhältniſs hervorzuheben, sich beim Wiederer - zählen so ausdrücken muſste, daſs in Einem Menschen mehrere Dämonen sich befunden haben, so konnte dieſs leicht Veranlassung werden, daſs nach und nach dem Plu - ral der Dämonen gegenüber der Besessene in den Singular gesezt wurde. Im Übrigen ist in diesem ersten Eingang die Erzählung des Matthäus kurz und allgemein, die der beiden andern ausführlich malend, woraus man gleichfalls nicht ermangelt hat, auf die gröſsere Ursprünglichkeit der lezteren zu schlieſsen10)Schulz, a. a. O.. Gewiſs aber kann ebensowohl die Ausführung, in welche sich Lukas und Markus thei - len, daſs der Besessene kein Kleid an sich geduldet, alle Fesseln zerrissen, und sich selbst mit Steinen geschlagen habe, eine willkührliche Ausmalung der einfachen Bezeich - nung χαλεποὶ λίαν sein, welche Matthäus nebst der Folge, daſs Niemand jenen Weg habe gehen können, giebt, als diese eine ungenaue Zusammenfassung von jener.

Die Eröffnung der Scene zwischen dem oder den - monischen und Jesus geschieht hier wie oben durch einen angstvollen Zuruf des Dämonischen in der Person des ihn besitzenden Dämons, daſs er mit Jesus, dem Messias, von welchem er nur Qualen zu erwarten hätte, nichts zu schaf - fen haben wolle. Die zur Erklärung der Erscheinung, daſs der Dämonische Jesum sogleich als Messias erkannt, gemachten Postulate, daſs Jesus damals wohl auch schon auf dem peräischen Ufer als Messias genannt worden sei11)Schleiermacher, über den Lukas, S. 127., oder daſs dem Menschen (welchem seiner Wildheit wegen Niemand nahe kommen konnte!) einige von den mit Je - su über den See Gekommenen gesagt haben, dort sei der Messias an's Land gestiegen12)Paulus, L. J. 1, a, S. 252., sind gleicherweise grund -28Zweiter Abschnitt.los, als offenbar ist, wie auch hier dieselbe jüdisch-christ - liche Voraussetzung über das Verhältniſs der Dämonen zum Messias wie oben diesen Zug der Erzählung hervor - gebracht hat13)s. Fritzsche, in Matth. S. 329.. Indeſs tritt hier noch eine Differenz der Berichte ein. Nach Matthäus nämlich rufen die Besesse - nen, wie sie Jesu ansichtig werden: τί ἡμῖν καὶ σοὶ ; ἦλ - ϑες βασανίσαι ἡμᾶς; nach Lukas fällt der Dämonische Jesu zu Füſsen, und bittet ihn: μή με βασανίσῃς· nach Markus endlich läuft er von ferne herbei, um Jesum fuſs - fällig bei Gott zu beschwören, daſs er ihn nicht quälen möchte. Wir haben also wieder einen Klimax: bei Mat - thäus ein schreckenvolles Abwehren des unerwünscht kom - menden Jesus: bei Lukas eine bittende Annäherung an den gegenwärtigen; bei Markus sogar ein eiliges Aufsu - chen des noch entfernten. Die Erklärer, von Markus aus - gehend, müssen selbst zugeben, daſs das Herzulaufen eines Dämonischen zu Jesu, den er doch fürchtet, etwas Wider - sprechendes sei, weſswegen sie sich durch die Annahme helfen, der Mensch, als er sich gegen Jesum hin in Bewe - gung sezte, sei in einem lichten Augenblick gewesen, in welchem er vom Dämon befreit zu werden wünschte, und erst durch die Erhitzung des Laufens14)Natürliche Geschichte, 2, 174., oder durch die Anrede Jesu15)Paulus, ex. Handb. 1, b. S. 473; Olshausen, S. 302. sei er in den Paroxysmus gerathen, in welchem er in der Rolle des Dämons um Unterlassung der Austreibung bat. Allein in den zusammenhängenden Wor - ten bei Markus: ἰδὼν ἔδραμε καὶ προσεκύ ησε καὶ κράξας εἶπε· ist keine Spur von einem Wechsel seines Zustandes zu finden, und es bleibt so das Unwahrschein - liche seiner Darstellung; denn der wirklich Besessene hät - te sich, wenn er den gefürchteten Messias von ferne erkann - te, eher so schnell wie möglich davongemacht, als sich ihm29Neuntes Kapitel. §. 89.genähert, und wenn auch dieſs, so konnte er, der sich durch einen Gott feindseligen Dämon besessen glaubte, Jesum doch gewiſs nicht bei Gott beschwören, wie Mar - kus den Dämonischen thun läſst16)Diess finden auch Paulus S. 474. und Olsmausen S. 303. auf - fallend.. Kann demnach sei - ne Darstellung hier die ursprüngliche nicht sein, so ist die des Lukas ihr zu verwandt, und eigentlich nur um die Züge des Herzulaufens und Beschwörens einfacher, als daſs wir sie für die dem Faktum nächste ansehen könnten. Son - dern die am reinsten gehaltene ist ohne Zweifel die des Matthäus, deren schreckenvolle Frage: ἦλϑες ὧδε πρὸ καιροῦ βασανίσαι ἡμᾶς; einem Dämon, der als Feind des Messiasreichs vom Messias keine Schonung zu erwarten hatte, weit natürlicher steht, als die Bitte um Schonung bei Markus und Lukas, wenn gleich Philostratus in einer Erzählung, die man als Nachbildung dieser evangelischen ansehen könnte, sich an die leztere Form gehalten hat17)Es ist diess die Erzählung von der Entlarvung einer Empusa durch Apollonius von Tyana, vit. Ap. 4, 35; bei Baur S. 145..

Während man nach dem Bisherigen glauben muſste, die Dämonen haben hier wie in der ersten Erzählung, oh - ne daſs etwas von Seiten Jesu vorangegangen war, ihn auf die beschriebene Weise angesprochen: so holen nun die zwei mittleren Evangelisten nach, Jesus habe nämlich dem unsaubern Geiste geboten gehabt, den Menschen zu verlassen. Es fragt sich, wann Jesus dieſs gethan ha - ben soll. Das Nächste wäre: ehe der Mensch ihn anre - dete; aber mit dieser Anrede ist bei Lukas das προσέπεσε, und mit diesem weiter rückwärts das ἀνακρ[ά]ξας so eng verbunden, daſs man den Befehl Jesu vor den Schrei und Fuſsfall als deren Ursache setzen müſste. Nun aber ist als Ursache davon vielmehr der bloſse Anblick Jesu ange - geben, so daſs man bei Lukas nicht sieht, wo jenes Gebot30Zweiter Abschnitt.Jesu seine Stelle finden soll. Noch schlimmer ist es bei Markus, wo der Zuruf Jesu durch eine ähnliche Verket - tung der Sätze sogar vor das ἔδραμε zurückgeschoben wird, so daſs Jesus sonderbarerweise schon aus der Ferne dem Dämon das ἔξελϑε zugerufen haben müſste. Wenn auf diese Weise bei den beiden mittleren Evangelisten ent - weder die vorangeschickte zusammenhängende Darstellung oder der darauffolgende Zusaz unrichtig sein muſs: so fragt sich nur, was von beiden eher den Schein des Unhi - storischen wider sich habe? Und hier hat selbst Schleier - macher eingeräumt, wenn in der ursprünglichen Erzählung von einem vorausgegangenen Gebote Jesu die Rede gewe - sen wäre, so würde dieses gewiſs in seiner rechten Stelle vor der Bitte der Dämonen, und mit Anführung der eig - nen Worte Jesu gegeben worden sein; wogegen seine je - zige Stellung als Nachtrag, und ebenso seine abgekürzte Fassung in der oratio obliqua (bei Lukas; erst Markus wandelt sie nach seiner Weise in oratio recta um) sehr stark die Vermuthung begründe, daſs es auch nur ein er - klärender Nachtrag des Referenten aus eigener Conjektur sei18)a. a. O. S. 128. Wenn er nun aber diese unrichtige Ergän - zung von Seiten des Lukas daraus erklärt, dass sein Bericht - erstatter vermuthlich beim Schiff beschäftigt und etwas zu - rückgeblieben, dem Anfang der Scene mit dem Dämonischen nicht angewohnt habe, so ist diess ein gar zu neugieriger Scharfsinn neben der veralteten Annahme eines möglichst unmittelbaren Verhältnisses der evangelischen Berichte zu den Thatsachen.. Und zwar ist es ein höchst störender, indem er der ganzen Scene nachträglich eine andre Gestalt giebt, als sie von vorne herein zeigte. Zuerst nämlich war sie auf ein zuvorkommendes Erkennen und Bitten des Dämo - nischen angelegt: nun aber fällt der Erzähler aus seiner Rolle, und in der Meinung, der Bitte des Dämons um Schonung müsse ein harter Befehl Jesu vorangegangen sein,31Neuntes Kapitel. §. 89.bemerkt er nachfolgend, daſs Jesus vielmehr mit seinem Gebote zuvorgekommen.

An die Nachholung dieses Gebots schlieſst sich nun bei Markus und Lukas die Frage Jesu an den Dämon an: τί σοι ὄνομα; worauf sich eine Mehrheit von Dämonen zu erkennen giebt, und als ihren Namen λεγεὼν bezeich - net, eine Zwischenhandlung, von welcher Matthäus nichts hat. Wie wäre es nun, wenn, wie der vorige Zusaz ei - ne nachträgliche Erklärung des Vorhergehenden, so diese Frage und Antwort eine vorausgeschickte Einleitung des Folgenden wäre? und ebenso nur aus den eigenen Mitteln der Sage oder des Referenten? Der sofort von den - monen ausgesprochene Wunsch nämlich, in die Schweine - heerde zu fahren, sezt zwar auch bei Matthäus eine Mehr - heit von Dämonen in jedem der beiden Besessenen voraus, weil doch die Zahl der bösen Geister beiläufig der Zahl der Schweine entsprechend gedacht werden muſs: eben dieses Entsprechen aber der beiderseitigen Anzahl schien noch besonders hervorgehoben werden zu müssen. Was nun bei Thieren eine Heerde, das ist bei Menschen und höheren Wesen ein Heer, oder genauer eine Heeresabthei - lung, und da lag, wenn eine gröſsere Abtheilung bezeich - net werden sollte, nichts näher, als die römische Legion, welche Matth. 26, 53. auf die Engel, wie hier auf die - monen angewendet ist. Daſs es nun aber, auch abgese - hen von dieser näheren Bestimmung, mehrere Dämonen ge - wesen sein sollen, welche hier in Einem Individuum ihre Wohnung aufgeschlagen hatten, ist als undenkbar zu be - zeichnen. Denn wenn man zwar so viel etwa noch sich vorstellig machen kann, wie Ein Dämon mit Unterdrückung des menschlichen Bewuſstseins, sich eines menschlichen Or - ganismus bemächtigen könne: so geht einem doch alle Vor - stellung aus, sobald man gar viele einen Menschen besi - zende dämonische Persönlichkeiten sich denken soll. Denn da dieses Besitzen nichts Andres ist, als, sich zum Sub -32Zweiter Abschnitt.jekt des Bewuſstseins in einem Individuum machen, das Bewuſstsein aber in der Wirklichkeit nur Eine Spitze, Ei - nen Mittelpunkt haben kann: so ist jedenfalls das schlech - terdings nicht zu denken, daſs zu gleicher Zeit mehrere Dämonen von einem Menschen sollten Besiz nehmen kön - nen, und es könnte die mehrfache Besitzung immer nur von einem successiven Wechsel des Besessenseins durch verschiedene Dämonen verstanden werden, und nicht wie hier ein ganzes Heer derselben zugleich im Menschen sein und zugleich ihn verlassen.

Darin nun stimmen weiterhin alle Erzählungen überein, daſs die Dämonen (um nicht, wie Markus sagt, ausser Lan - des, oder nach Lukas in den Abgrund verwiesen zu wer - den) Jesum um die Erlaubniſs gebeten haben, in die be - nachbarte Schweineheerde zu fahren, daſs ihnen dieſs von Jesu gestattet worden, und sofort durch ihre Einwirkung sämmtliche Schweine (Markus, man darf nicht fragen, aus welchen Mitteln, bestimmt ihre Zahl auf 2000) in den See gestürzt und ersoffen seien. Bleibt man hier auf dem Standpunkt der Berichte, welche durchaus wirkliche - monen voraussetzen, stehen, so fragt es sich: wie können Dämonen, eingeräumt auch, daſs sie von Menschen Be - siz nehmen können, wie können sie aber, als in jedem Fall vernünftige Geister, den Wunsch haben und errei - chen, in thierische Bildungen einzugehen? Jede Religion und Philosophie, welche die Seelenwanderung verwirft, muſs aus demselben Grunde auch die Möglichkeit eines sol - chen Überganges läugnen, und Olshausen stellt vollkom - men richtig die gadarenischen Säue im N. T. mit Bileams Esel im alten als ein ähnliches σκάνδαλον καὶ πρόσκομμα zusammen19)S. 305. Anm.. Diesem ist er aber durch die Bemerkung, daſs hier nicht an ein Eingehen der einzelnen Dämonen in die einzelnen Schweine, sondern an ein bloſses Einwirken33Neuntes Kapitel. §. 89.sämmtlicher bösen Geister auf die Thiermasse zu denken sei, mehr ausgewichen, als daſs er darüber hinweggekom - men wäre. Denn das εἰσελϑεῖν εἰς τοὺς χοίρους, wie es dem ἐξελϑεῖν ἐκ τοῦ ἀνϑρώπου gegenübersteht, kann doch unmög - lich etwas Anderes bedeuten, als daſs die Dämonen in das - selbe Verhältniſs, in welchem sie bisher zu den besessenen Menschen gestanden, nunmehr zu den Schweinen getre - ten seien; auch konnte sie vor der Verbannung ausser Lands oder in den Abgrund nicht ein bloſses Einwirken, sondern nur ein wirkliches Einwohnen in den Leibern der Thiere bewahren: so daſs jenes σκάνδαλον stehen bleibt. Unmöglich also kann jene Bitte von wirklichen Dämonen, sondern nur etwa von jüdischen Wahnsinnigen vorgebracht worden sein, nach den Vorstellungen ihres Volks. Ohne leibliche Hülle zu sein, macht diesen zufolge den bösen Geistern Qual, weil sie ohne Leib ihre sinnlichen Lüste nicht befriedigen können20)Clem. hom. 9, 10.; waren sie daher aus den Menschen ausgetrieben, so muſsten sie in Thierleiber zu fahren wünschen, und was taugte für ein πνεῦμα ἀκάϑαρτον besser, als ein ζῶον ἀκάϑαρτον, wie das Schwein war? 21)Fritzsche, in Matth. p. 332. Nach Eisenmenger 2, 447 ff. hal - ten sich, der jüdischen Vorstellung gemäss, die Dämonen überhaupt gern an unreinen Orten auf, und in Jalkut Rube - ni f. 10, 2. (bei Wetstein) findet sich die Notiz: Anima ido - lolatrarum, quae venit a spiritu immundo, vocatur porcus.So weit könnten also die Evangelisten in diesem Punkt das Faktische richtig wiedergeben, indem sie nur ihrer Vor - stellung gemäſs den Dämonen zuschrieben, was vielmehr die Kranken aus ihrem Wahne heraus sprachen. Nun aber, wenn es weiter heiſst, die Dämonen seien in die Schweine gefahren, berichten da die Evangelisten nicht eine offenbare Unmöglichkeit? Paulus meint, auch hier, wie sonst immer, identificiren die Evangelisten die besesse - nen Menschen mit den sie besitzenden Dämonen, und schrei -Das Leben Jesu II. Band. 334Zweiter Abschnitt.ben also das εἰσελϑεῖν εἰς τοὺς χοίρους den lezteren zu, wäh - rend doch in der Wirklichkeit nur die ersteren ihrer fixen Idee gemäſs auf die Schweine losgerannt seien22)a. a. O. S. 474. 485. Ebenso Winer, b. Realw. 1, S. 192.. Hier lieſse sich zwar des Matthäus ἀπῆλϑον εἰς τοὺς χοί - ρους, für sich genommen, etwa noch von einem Losrennen auf die Heerde verstehen; aber nicht nur muſs Paulus selbst einräumen, daſs das εἰσ ελϑόντες der beiden andern Synoptiker ein wirkliches Hineingehen in die Schweine bezeichne, sondern es hat auch Matthäus, wie die beiden andern, vor dem ἀπῆλϑον ein ἐξελϑόντες οἱ δαίμονες (sc. ἐκ τῶν ἀνϑρώπων), wodurch also die in die Schweine fah - renden Dämonen von den Menschen, aus welchen sie vor - her wichen, deutlich genug unterschieden sind23)Fritzsche, in Matth. S. 330.. So er - zählen also unsre Berichterstatter hier nicht blos wirklich Vorgefallenes, gefärbt durch die Vorstellungsweise ihrer Zeit, sondern hier haben sie einen Zug, der gar nicht auf diese Weise vorgefallen sein kann.

Neuen Anstoſs macht die Wirkung, welche die - monen in den Schweinen hervorgebracht haben sollen. Kaum in dieselben gefahren nämlich sollen sie die ganze Heerde angetrieben haben, sich in den See zu stürzen, wobei man mit Recht fragt, was denn die Dämonen nun durch das Fahren in die Thiere gewonnen haben, wenn sie diese alsbald vernichteten, und sich somit der so sehr erbetenen leidlichen Interimswohnung selbst wieder be - raubten24)Paulus, a. a. O. S. 475 f.? Die Vermuthung, die Absicht der Dämonen bei Vernichtung der Schweine sei gewesen, die Gemüther der Eigenthümer durch diesen Verlust gegen Jesum einzu - nehmen, was auch erfolgt sei25)Olshausen, S. 307., ist zu weit hergeholt; die andre, daſs der mit Geschrei auf die Heerde losstür -35Neuntes Kapitel. §. 89.zende Dämonische sammt den im Schrecken davonlaufen - den Hirten die Schweine scheu gemacht und in's Wasser gejagt habe26)Paulus, S. 474., würde, wenn sie auch nicht nach dem Obi - gen dem Text zuwider wäre, doch nicht hinreichen, um das Ertrinken einer Heerde von 2000 Stücken nach Mar - kus, oder überhaupt nur einer groſsen Heerde, nach Mat - thäus, zu erklären. Die Ausflucht, daſs wohl nur ein Theil der Heerde ersoffen sei27)Paulus, S. 485; Winer, a. a. O., hat in der evangelischen Er - zählung nicht den mindesten Halt. Vermehrt wird für diesen Punkt die Schwierigkeit durch die nahe liegende Reflexion auf den nicht geringen Schaden, welchen das Ertrinken der Heerde den Eigenthümern brachte, und des - sen mittelbarer Urheber Jesus gewesen wäre. Die Ortho - doxen, wenn sie Jesum in irgend einer Wendung dadurch rechtfertigen wollen, daſs durch Zulassung des Übergangs der Dämonen in die Schweine die Heilung des Besessenen möglich gemacht worden sei, und daſs doch gewiſs Thiere getödtet werden dürfen, damit die Menschen lebendig wer - den28)Olshausen, a. a. O., bedenken nicht, daſs sie hiedurch auf die für ih - ren Standpunkt inconsequenteste Weise die absolute Macht Jesu über das dämonische Reich beschränken. Die Aus - kunft aber, Jesus habe, sofern die Schweine Juden gehör - ten, diese für ihre gewinnsüchtige Übertretung des Gesetzes strafen wollen29)Ders. ebendas., überhaupt habe er aus göttlicher Voll - macht gehandelt, welche oft zu höheren Zwecken Einzel - nes zerstöre, und durch Bliz, Hagel und Überschwemmung vieler Menschen Habe vernichten lasse30)Ullmann, über die Unsündlichkeit Jesu, in seinen Studien, 1, 1, S. 51 f., worüber Gott3 *36Zweiter Abschnitt.der Ungerechtigkeit anzuklagen, albern wäre31)Olshausen, a. a. O., dieſs ist wieder die auf orthodoxem Standpunkt unerlaubteste Vermischung des Standes der Erniedrigung Christi mit dem seiner Erhöhung, ein schwärmerisches Hinausgehen über das besonnene paulinischeγενόμενον ὑπὸ νόμον(Gal. 4, 4.) undἑαυτὸν ἐκένωσε(Phil. 2, 7.), welches uns Jesum völlig entfremdet, indem es ihn auch in Bezug auf die sittliche Beurtheilung seiner Handlungen über das Maaſs des Mensch - lichen hinaushebt. Es blieb daher nur noch übrig, das vom Standpunkt der natürlichen Erklärung vorausgesezte Hin - einrennen der Dämonischen unter die Schweine und deren dadurch herbeigeführten Untergang als etwas Jesu selbst Unerwartetes, für das er also auch nicht verantwortlich sei, darzustellen32)Paulus.: im offensten Widerspruch gegen de evangelische Darstellung, welche Jesum die Erfolge, sofern er sie auch nicht geradezu bewirkt, doch auf's Bestimmte - ste vorhersehen läſst33)s. Ullmann.. Es scheint daher auf Jesu die Beschuldigung eines Eingriffs in fremdes Eigenthum liegen zu bleiben, wie denn Gegner des Christenthums diese Er - zählung sich längst gehörig zu Nutze gemacht haben34)z. B. Woolston, Disc. 1, S. 32 ff.; wenigstens wäre Pythagoras in ähnlichem Falle weit billi - ger verfahren, da er die Fische, deren Loslassung er von den Fischern, die sie gefangen hatten, auswirkte, ihnen baar bezahlt haben soll35)Jamblich. vita Pythag. no. 36. ed. Kiessling..

Bei diesem Gewebe von Schwierigkeiten, welche na - mentlich der Punkt mit den Schweinen in die vorliegende Erzählung bringt, ist es kein Wunder, daſs man in Bezug auf diese Anekdote früher als bei den meisten andern aus dem öffentlichen Leben Jesu angefangen hat, die durch - gängige historische Realität der Erzählung zu bezweifeln,37Neuntes Kapitel. §. 89.und insbesondere den Untergang der Schweine mit der durch Jesum bewirkten Austreibung der Dämonen aus - ser Beziehung zu setzen. So fand Krug in der Stellung beider Erfolge ein in der Tradition entstandenes ὕςερον πρότερον. Die Schweine seien schon vor der Landung Je - su durch den Sturm, der während seiner Überfahrt - thete, in den See gestürzt worden, und als Jesus nachher den Dämonischen heilen wollte, habe entweder er selbst, oder einer aus seinem Gefolge, den Menschen beredet, sei - ne Dämonen seien bereits in jene Schweine gefahren, und haben sie in den See gestürzt; was dann als wirklich so erfolgt aufgenommen und weiter gesagt worden sei36)In der Abhandlung über genetische oder formelle Erklärungs - art der Wunder, in Henke's Museum 1, 3, S. 410 ff. Zu lo - ben ist hier auch das Bewusstsein davon, dass die Darstel - lung bei Matthäus die einfachere, die der beiden andern Evangelisten die ausgeschmücktere ist.. K. Ch. L. Schmidt läſst, als Jesus an's Land stieg, die Hirten ihm entgegen gehen, indessen von den sich selbst überlassenen Schweinen mehrere in das Wasser stürzen, und da nun um eben diese Zeit Jesus dem Dämon auszu - fahren geboten habe, so haben die Umstehenden Beides in Causalzusammenhang gesezt37)Exeg. Beiträge, 2, 109 ff.. Ohne weitere Bemerkung erkennt man in diesen Erklärungsversuchen, an der gros - sen Rolle, welche in denselben das zufällige Zusammen - treffen verschiedener Umstände spielt, die ungeschickte Vermischung der mythischen Erklärung mit der natürli - chen, wie sie den ersten Unternehmungen auf dem mythi - schen Standpunkt eigen gewesen ist. Da diese Vermischung darin besteht, daſs von dem Unglaublichen in einer Er - zählung, statt es aus Zeitvorstellungen herzuleiten, eine historische aber wunderlose Grundlage angenommen wird: so fragt sich, ob in der Zeit der muthmaſslichen Bildung38Zweiter Abschnitt.der evangelischen Erzählungen sich Vorstellungen finden, aus welchen sich der Zug mit den Schweinen in der vor - liegenden Geschichte erklären lieſse?

Eine hiehergehörige Zeitmeinung hatten wir schon, nämlich die, daſs Dämonen nicht ohne Leib sein wollen, und, daſs sie gerne an unreinen Orten seien, weſswegen ihnen die Leiber von Schweinen am besten taugen muſs - ten: indeſs erklärt sich hieraus der Zug noch nicht, daſs sie die Schweine in das Wasser gestürzt haben sollen. Doch auch hiefür fehlt es nicht an erklärenden Notizen. Josephus berichtet von einem jüdischen Beschwörer, der durch Salomonische Formeln und Mittel die Dämonen aus - trieb, daſs er, um die Anwesenden von der Realität sei - ner Austreibungen zu überführen, in die Nähe des Beses - senen ein Wassergefäſs gestellt habe, welches der ausfah - rende Dämon umwerfen und dadurch den Zuschauern au - genscheinlich zeigen muſste, daſs er aus dem Menschen heraus sei38)Antiq. 8, 2, 5:βουλόμενος δὲ πεῖσαι καὶ παραςῆσαι τοῖς παρα - τυγχάνουσιν Ἐλεάζαρος, ὅτι ταύτην ἔχει ἰσχὺν, ἐτίϑει μικρὸν ἔμπροσϑεν ἤτοι ποτήριον πλῆρες ὕδατος ποδόνιπτρον, καὶ τῷ δαιμονίῳ προσέταττεν ἐξιόντι τοῦ ἀνϑρώπου ταῦτ̕ ἀνατρέψαι, καὶ παρασχεῖν ἐπιγνῶναι τοῖς ὁρῶσιν, ὅτι καταλέλοιπε τὸν ἄνϑρωπον.. Auf ähnliche Weise wird von Apollonius von Tyana erzählt, daſs er einem Dämon, der einen Jüng - ling besessen hatte, befohlen habe, sich mit einem sicht - baren Zeichen zu entfernen, worauf derselbe sich erbot, ein in der Nähe befindliches Standbild umzuwerfen, wel - ches dann zum groſsen Erstaunen aller Anwesenden wirk - lich in dem Augenblick umfiel, als der Dämon den Jüng - ling verlieſs39)Philostr. v. Ap., 4, 20; bei Baur, a. a. O. S. 39.. Galt hienach das in Bewegung Setzen ei - nes nahen Gegenstandes ohne körperliche Berührung als die sicherste Probe der Realität einer Dämonenaustreibung: so durfte diese Probe auch Jesu nicht fehlen, und zwar,39Neuntes Kapitel. §. 89.wenn jener Gegenstand bei einem Eleazar nur μικρὸν von dem Beschwörer und dem Kranken entfernt, mithin der Gedanke an eine Täuschung nicht ganz ausgeschlossen war, so räumt in Bezug auf Jesum Matthäus, hierin ausmalen - der als die beiden andern, durch die Bemerkung, daſs die Schweineheerde μακρὰν geweidet habe, auch den lezten Rest einer solchen Möglichkeit hinweg. Daſs nun aber diese Probe hier nicht blos an Einem Gegenstande, son - dern an mehreren sich zeigte, dieſs hatte seinen Grund in einer andern Rücksicht, welche mit der bisher ausgeführ - ten sich verband. Jesus sollte nämlich nicht bloſs gewöhn - liche Besessene, wie den der ersten von uns betrachteten Geschichte, geheilt haben, sondern die schwierigsten Ku - ren dieser Art sollten ihm gelungen sein. Den gegenwär - tigen Fall als einen von äusserster Schwierigkeit darzustel - len, darauf ist von vorne herein die ganze Erzählung mit ihrer grellen Schilderung von dem furchtbaren Zustand des Gadareners angelegt. Zu dem Complicirten eines solchen Falles gehörte nun aber besonders, daſs die Besitzung kei - ne einfache, sondern wie bei Maria Magdalena,

ἀφ̕ ῆς δαιμόνια ἑπτὰ ἐξεληλύϑει

(Luc. 8, 2.), oder bei der dämo - nischen Recidive, wo der ausgetriebene Dämon mit sieben ärgeren wiederkommt (Matth. 12, 45.), eine mehrfache war, weſswegen denn hier selbst diese Zahlen noch überboten, und der Darstellung des Markus zufolge gegen 2000 - monen in Einem Menschen zu denken sind. Daher nun für die mehreren Dämonen die mehreren Gegenstände, als welche durch den Zutritt oben erwähnter Vorstellungen Thiere und näher Schweine bestimmt wurden. Die Ein - wirkung der aus dem Menschen vertriebenen Dämonen aber, wie sie an einem Wassergefäſs oder Standbild durch nichts augenscheinlicher sich zeigen konnte, als dadurch, daſs dasselbe gegen sein natürliches, durch das Gesez der Schwere bestimmtes Verhalten umfiel: so konnte sie an Thieren durch nichts sicherer sich bethätigen, als wenn40Zweiter Abschnitt.diese, ihrem natürlichen Lebenstrieb zuwider, sich zu er - säufen veranlaſst wurden. Nur diese Entstehung unserer Erzählung aus dem Zusammentreffen verschiedener Zeitvor - stellungen und Interessen erklärt auch den oben bemerkten Widerspruch, daſs die Dämonen zuerst die Schweine als Aufenthalt sich erbitten, und unmittelbar darauf diesen Aufenthalt selbst zerstören. Jene Bitte nämlich ist, wie gesagt, aus der Vorstellung von der Scheue der Dämonen vor Körperlosigkeit erwachsen, diese Zerstörung aber aus der hiemit gar nicht zusammenhängenden von einer Aus - treibungsprobe; was Wunder, wenn aus so heterogenen Vorstellungen zwei widersprechende Züge in der Erzäh - lung henvorgiengen?

Die dritte und lezte ausführlich erzählte Dämonenaus - treibung hat das Eigenthümliche, daſs zuerst die Jünger vergeblich die Heilung versuchen, hierauf aber Jesus die - selbe mit Leichtigkeit vollbringt. Sämmtliche Synoptiker nämlich (Matth. 17, 14 ff. ; Marc. 9, 14 ff. ; Luc. 9, 37 ff. ) berichten einstimmig, wie Jesus mit seinen drei Vertraute - sten vom Verklärungsberge herabgekommen sei, habe er seine übrigen Jünger in der Verlegenheit gefunden, daſs sie einen besessenen Knaben, welchen sein Vater zu ih - nen gebracht hatte, nicht im Stande gewesen seien zu heilen.

Auch in dieser Erzählung findet eine Abstufung statt von der gröſsten Einfachheit bei Matthäus bis zur gröſsten Ausführlichkeit der Schilderung bei Markus, was denn auch hier wieder die Folge gehabt hat, daſs man den Be - richt des Matthäus als den der Thatsache am fernsten ste - henden den Relationen der beiden andern nachsetzen zu müssen glaubte40)Schulz, S. 319.. Im Eingang läſst Matthäus Jesum, vom Berge herabgestiegen, zu dem ὄχλος stoſsen, hierauf den Vater des Knaben zu ihm treten und ihn fuſsfällig um41Neuntes Kapitel. §. 89.Heilung desselben bitten; nach Lukas kommt ihm der ὄχλος entgegen; nach Markus endlich sieht Jesus um die Jün - ger viel Volks und Schriftgelehrte, die mit ihnen streiten, das Volk, wie es seiner ansichtig wird, läuft hinzu und be - grüſst ihn, er aber fragt, was sie streiten? worauf der Vater des Knaben das Wort nimmt. Hier haben wir in Bezug auf das Benehmen des Volks wieder einen Klimax: aus dem zufälligen Zusammentreffen mit demselben bei Matthäus war schon bei Lukas ein Entgegenkommen des Volks geworden, und dieses steigert nun Markus zu einem Herbeilaufen, um Jesum zu begrüſsen, wozu er noch das abenteuerliche ἐξεϑαμβήϑη fügt. Was in aller Welt hatte das Volk, wenn Jesus mit einigen Jüngern daherkam, so sehr zu erstaunen? Dieſs bleibt durch alle andern Erklä - rungsgründe, die man aufgesucht hat, so unerklärt, daſs ich den Gedanken des Euthymius nicht so absurd finden kann, wie Fritzsche ihn dafür ausgiebt, es sei an dem eben vom Verklärungsberg herabgestiegenen Jesus noch et - was von dem himmlischen Glanz, der ihn dort umleuchtet hatte, sichtbar gewesen, wie bei Moses, als er vom Sinai herunterkam (2 Mos. 34, 29 f.). Daſs unter diesem Volks - gedränge zufällig auch Schriftgelehrte sich befunden ha - ben, welche den Jüngern wegen der miſslungenen Heilung zusezten und sie in einen Streit verwickelten, ist zwar an und für sich gar wohl denkbar, aber im Zusammenhang mit jenen Übertreibungen hinsichtlich des Verhaltens der Menge muſs auch dieser Zug verdächtig werden, zumal die beiden andern Berichterstatter ihn nicht haben; so daſs, wenn sich zeigen läſst, auf welche Weise der Referent dazu kommen konnte, ihn aus eigener Combination hinzu - zufügen, wir ihn mit höchster Wahrscheinlichkeit fallen lassen dürfen. In Bezug auf die Fähigkeit Jesu, Wunder zu thun, hieſs es bei Markus früher einmal (8, 11.) bei Gelegenheit der Forderung eines himmlischen Zeichens von den Pharisäern: ἤρξαντο συζητεῖν αὐτῷ, und so lieſs er42Zweiter Abschnitt.denn hier, wo die Jünger sich unfähig zum Wunderthun zeigten, die groſsentheils zur pharisäischen Sekte gehöri - gen γραμματεῖς als συζητοῦντας τοῖς μαϑηταῖς auftreten. Auch in der folgenden Schilderung der Umstände des Kna - ben findet dieselbe Abstufung in Bezug auf die Ausführ - lichkeit statt, nur daſs Matthäus das σεληνιάζεται eigen hat, welches man ihm nie hätte zum Vorwurf machen sol - len41)Wie Schulz a. a. O. zu thun scheint., da die Herleitung periodischer Krankheiten vom Monde im Zeitalter Jesu nichts Ungewöhnliches war42)s. die von Paulus ex. Handb. 1, b, S. 569, und von Winer, 1, S. 191 f. angeführten Stellen.. Dem Markus ist die Bezeichnung des den Knaben besitzen - den πνεῦμα als ἄλαλον (V. 17.) und κωφὸν (V. 25.) eigen - thümlich; es konnte nämlich das Ausstossen unartikulir - ter Laute während des epileptischen Anfalles als Stumm - heit, und das für jede Anrede unzugängliche Verhalten des Kranken als Taubheit des Dämons angesehen werden.

Wie der Vater Jesum von dem Gegenstand des Streits und der Unfähigkeit seiner Jünger, den Knaben zu hei - len, unterrichtet hat, bricht Jesus in die Worte aus: γενεὰ ἄπιςος καὶ διεςραμμένη κ. τ. λ. Vergleicht man bei Mat - thäus den Schluſs der Erzählung, wo Jesus den Jüngern auf die Frage, warum sie den Kranken nicht haben hei - len können, zur Antwort giebt: διὰ τὴν ἀπιςίαν ὑμῶν, und hieran die Schilderung der bergeversetzenden Macht schlieſst, welche ein auch nur senfkorngroſser Glaube ha - be (V. 19 ff. ): so kann man nicht zweifelhaft sein, daſs nicht auch jene unwillige Anrede sich auf die Jünger be - ziehe, in deren Unfähigkeit, den Dämon auszutreiben, Jesus einen Beweis ihres noch immer mangelhaften Glau - bens fand43)so Fritzsche z. d. St.. Diese schlieſsliche Erklärung des Unver - mögens der Jünger aus ihrer ἀπιςία läſst Lukas weg, und43Neuntes Kapitel. §. 89.Markus thut ihm nicht nur dieses nach, sondern flicht auch V. 21 24. eine ihm eigenthümliche Zwischenscene zwi - schen Jesus und dem Vater ein, in welcher er zuerst Ei - niges über die Krankheitsumstände theils aus Matthäus, theils aus eigenen Mitteln nachholt, hierauf aber den Va - ter zur πίςις aufgefordert werden, und sofort mit Thränen die Schwäche seines Glaubens und den Wunsch einer Stär - kung desselben aussprechen läſst. Dieses zusammengenom - men mit der Notiz von den streitenden Schriftgelehrten, wird man nicht irre gehen, wenn man bei Markus und wohl auch bei Lukas die Anrede: γενεὰ ἄπιςος, auf das Publikum im Unterschied von den Jüngern, nach Markus namentlich auch auf den Vater des Knaben bezieht, des - sen Unglaube hier als der Heilung hinderlich, wie ander - wärts (Matth. 9, 2.) der Glaube der Angehörigen als der - selben förderlich dargestellt wird. Da aber beide Evange - listen diesen Sinn dadurch hervorbringen, daſs sie die Er - klärung der Unwirksamkeit der Jünger aus ihrer ἀπιςία sammt dem Ausspruch über die Berge versetzende Macht des Glaubens hier weglassen: so fragt sich, ob die an - dern Verbindungen, in welche sie diese Reden stellen, pas - sender als die bei Matthäus sind? Bei Lukas nun steht der Ausspruch: wenn ihr Glauben habt, wie ein Senfkorn u. s. f. (denn das διὰ τὴν ἀπιςίαν ὑμῶν haben beide gar nicht), nur mit der geringen Variation, daſs statt des Ber - ges ein Baum genannt ist, 17, 5. 6. ausser aller Verbin - dung weder mit dem Vorhergehenden noch Folgenden als ein versprengtes Redestück kleinster Gröſse, mit der ohne Zweifel nach Art von Luc. 11, 1. und 13, 23. gemachten Einleitung, daſs die Jünger Jesum bitten: πρόσϑες ἡμῖν πίςιν· Markus giebt die Sentenz vom Berge versetzen - den Glauben als Nutzanwendung zu der Geschichte vom verfluchten Feigenbaum, wo sie auch Matthäus wieder hat. Aber dazu paſst, wie wir bald sehen werden, der Aus - spruch gar nicht, sondern, wenn wir nicht ganz darauf44Zweiter Abschnitt.verzichten wollen, etwas von dem Anlaſs zu wissen, bei welchem er gethan worden ist, so müssen wir die Ver - bindung bei Matthäus als die ursprüngliche annehmen; denn zu einer den Jüngern miſslungenen Kur paſst er vor - trefflich. Ausser dem Zwischenspiel mit dem Vater hat Markus die Scene auch dadurch noch effektvoller zu ma - chen gesucht, daſs er während jener Zwischenhandlung ei - nen Volkszulauf entstehen, nach Austreibung des Dämons den Knaben ὡσεὶ νεκρὸν, so daſs Viele sagten, ὅτι ἀπέϑα - νεν, hinsinken, und von Jesu, wie er sonst bei Todten that (Matth. 9, 25.), durch ein κρατεῖν τῆς χειρὸς aufgerichtet und ins Leben zurückgerufen werden läſst.

Während nach vollendeter Kur Lukas durch eine kurze Hinweisung auf das Erstaunen des Volkes schlieſst, lassen die ersten Synoptiker beide die Jünger, als sie mit Jesu allein sind, die Frage an ihn richten, warum sie nicht im Stande gewesen seien, den Dämon auszutreiben? was er nun bei Matthäus zunächst auf die erwähnte Weise aus ihrem Unglauben, bei Markus aber daraus erklärt, daſs τοῦτο τὸ γένος ἐν οὐδενὶ δύναται ἐξελϑεῖν, εἰ μὴ ἐν προσευχῇ καὶ νηςείᾳ, was auch Matthäus nach den Reden über Un - glauben und Glaubensmacht noch hinzufügt. Dieſs scheint nun bei Matthäus eine üble Zusammensetzung zu geben; denn wenn zu der Heilung Fasten und Beten erforderlich war: so hätten die Jünger, falls sie nicht vorher gefastet hatten, auch mit dem festesten Glauben den Dämon nicht auszutreiben vermocht44)Schleiermacher, S. 150.. Ob nun die Auskunft genüge, die beiden von Jesu namhaft gemachten Gründe der Un - wirksamkeit der Jünger dadurch zu vereinigen, daſs man Fasten und Beten eben als Stärkungsmittel des Glaubens betrachtet45)Köster, Immanuel, S. 197; Fritzsche z. d. St., oder ob mit Schleiermacher eine Zusam - menstellung von nicht zusammengehörigen Aussprüchen an -45Neuntes Kapitel. §. 89.zunehmen sei, bleibe hier dahingestellt. Daſs übrigens ei - ne solche geistige und leibliche Diät des Exorcisten auf den Besessenen von Wirkung sein sollte, hat man befremdlich gefunden, und indem man eine solche mit Porphyrius46)de abstinent. 2, p. 204 und 417 f. s. Winer, 1, S. 191. eher dem Kranken angemessen dachte, hat man die προσ - ευχὴ καὶ νηςεία als eine dem Besessenen, um die Kur ra - dikal zu machen, gegebene Vorschrift angesehen47)Paulus, ex. Handb. 2, S. 471 f.. Al - lein in offenbarem Widerspruch gegen die Erzählung. Denn wenn Fasten und Beten von Seiten des Kranken zum Gelingen der Kur erforderlich gewesen wäre: so hätten wir eine allmählige Heilung und keine plözliche, was doch alle Kuren sind, die in den Evangelien von Jesu erzählt werden, und wie namentlich diese durch das καὶ ἐϑεραπεύ - ϑη παῖς ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης bei Matthäus, so wie durch das zwischen ἐπετίμησε κ. τ. λ. und ἀπέδωκε κ. τ. λ. hin - eingestellte ἰάσατο bei Lukas deutlich genug bezeichnet ist. Freilich will Paulus jenen Ausdruck des Matthäus gerade zu seinem Vortheil wenden, indem er ihn so ver - steht, von jener Zeit an sei nun der Knabe durch Anwen - dung der vorgeschriebenen Diät allmählig vollends gesund geworden. Allein man darf nur dieselbe Formel, wo sie sonst in den Evangelien als Schluſsformel von Heilungsge - schichten vorkommt, betrachten, um sich von der Unmög - lichkeit jener Deutung zu überzeugen. Wenn z. B. die Geschichte von der Heilung der Blutflüssigen mit der Be - merkung schlieſst (Matth. 9, 22.): καὶ ἐσώϑη γυνὴ ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης, so wird man dieſs doch nicht überse - zen wollen: et exinde mulier paulatim servabatur, son - dern es kann nur heiſsen: servata erat, servatam se prae - buit, ab illo temporis momento. Ein Anderes, worauf sich Paulus beruft, um zu beweisen, daſs Jesus hier ein fortzusetzendes Heilverfahren eingeleitet habe, ist das ἀπέ -46Zweiter Abschnitt.δωκεν αὐτὸν τῷ πατρὶ αὐτοῦ bei Lukas, was nach ihm ziem - lich überflüssig wäre, wenn es nicht ein Übergeben zu be - sonderer Fürsorge bezeichnen sollte. Allein ἀποδίδωμι heiſst nicht zunächst übergeben, sondern zurückgeben, und so liegt in dem Satze nur der Sinn: puerum, quem sa - nandum acceperat, sanatum reddidit, oder, daſs er den einer fremden Gewalt, des Dämons, verfallenen Sohn den Eltern als den ihrigen zurückgegeben habe. Endlich, wie willkürlich ist es, wenn Paulus das ἐκπορεύεται (Matth. V. 21.) in der engeren Bedeutung eines völligen Weggehens vom vorläufigen Ausfahren, was schon auf das Wort Jesu (V. 18.) geschehen sei, unterscheidet. So daſs uns auch hier keine successive Kur berichtet ist, sondern, wie sonst immer, eine momentane, weſswegen denn auch die προσευχὴ und νηςεία nicht als Vorschrift für den Patienten gefaſst werden können.

Zu dieser ganzen Geschichte muſs eine analoge Er - zählung aus 2 Kön. 4, 29 ff. verglichen werden. Hier will der Prophet Elisa einen gestorbenen Knaben dadurch wie - der zum Leben bringen, daſs er seinen Knecht Gehasi mit seinem Stabe sendet, welchen dieser dem Todten auf das Angesicht legen soll; aber das Vornehmen des Knechts bleibt ohne Erfolg, und Elisa muſs selbst kommen und den Knaben in's Leben rufen. Das gleiche Verhältniſs, wie in dieser A. T. lichen Geschichte zwischen dem Propheten und seinem Diener, sehen wir in der N. T. lichen Erzählung zwischen dem Messias und seinen Jüngern, daſs diese oh - ne ihn nichts thun können, daſs aber er, was ihnen zu schwer ist, mit Sicherheit vollbringt. Ebendamit aber se - hen wir auch die Tendenz beider Erzählungen: sie ist, durch Hinweisung auf den Abstand zwischen ihm und selbst seinen vertrautesten Schülern den Meister zu heben; oder, wenn wir die vorliegende evangelische Erzählung mit der von dem gadarenischen Besessenen zusammenhalten, so können wir sagen: wie jener früher erwogene Fall an47Neuntes Kapitel. §. 89.sich selbst als einer von höchster Schwierigkeit geschildert wurde, so dieser durch das Verhältniſs, in welches die demselben gewachsene Kraft Jesu zu der, wenn auch sonst noch so groſsen, doch hier nicht ausreichenden Kraft sei - ner Jünger gestellt wird.

Von den übrigen, kürzer erzählten Dämonenaustrei - bungen ist die Heilung eines dämonisch Stummen und ei - nes ebenso Blindstummen oben bei Gelegenheit des daran sich knüpfenden Vorwurfs eines höllischen Bündnisses, so wie die der zusammengebückten Frau in der allgemeinen Betrachtung über die Dämonischen bereits genügend zur Sprache gekommen; die der besessenen Tochter des kana - näischen Weibes aber (Matth. 15, 22 ff. Marc. 7, 25 ff. ) hat nur das Eigenthümliche, daſs sie von Jesu durch ein Wort aus der Entfernung bewirkt wird, wovon später.

Wenn nun den evangelischen Berichten zufolge in allen diesen Fällen die Austreibung des Dämons Jesu ge - lungen ist: so bemerkt Paulus, daſs diese Art von Heilun - gen, unerachtet sie für das Ansehen Jesu bei der Menge das Meiste gewirkt habe, doch an sich die leichteste ge - wesen sei, und auch de Wette will für die Heilung der Dämonischen, aber auch nur für sie, eine psychologische Erklärung gelten lassen48)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 438. L. J. 1, a, S. 223; de Wette, bibl. Dogm. §. 222, Anm. c.; Bemerkungen, welchen wir nicht werden umhin können beizutreten. Denn sehen wir als die wirkliche Grundlage des Zustands der Dämonischen bald eine Art von Verrückung, bald krampfhafte Stimmung des Nervensystems an, so wissen wir, daſs auf psychische und Nervenkrankheiten am ehesten auch psychisch einzu - wirken ist, eine Einwirkung, zu welcher bei dem über - wiegenden Ansehen Jesu als Propheten und später selbst als des Messias alle Bedingungen vorhanden waren. Nun aber findet unter solchen Zuständen eine bedeutende Abstu -48Zweiter Abschnitt.fung statt, je nachdem sich die psychische Verrückung mehr oder weniger auch schon körperlich fixirt hat, und die Verstimmung des Nervensystems mehr oder minder ha - bituell geworden und in die übrigen Systeme übergegangen ist. Es stellt sich also der Kanon: je mehr das Übel blos in einer Verstimmung des Gemüthes lag, auf welches Je - sus unmittelbar durch sein Wort geistig wirken konnte, oder in einer leichteren des Nervensystems, auf welches er durch Vermittlung des Gemüths gewaltigen Eindruck zu machen im Stande war: desto eher war es möglich, daſs Jesus λόγῳ (Matth. 8, 16.) und παραχρῆμα (Luc. 13, 13.) dergleichen Zuständen ein Ende machen konnte; je mehr aber umgekehrt das Übel sich auch schon als kör - perliche Krankheit festgesezt hatte, desto schwerer ist an - zunehmen, daſs Jesus im Stande gewesen sei, auf rein psy - chologische Weise und augenblicklich Hülfe zu schaffen. Ein zweiter Kanon ergiebt sich daraus, daſs, um bedeutend geistig einwirken zu können, das ganze Ansehen Jesu als Propheten mitwirken muſste, weſswegen er in Zeiten und Gegenden, wo er längst in diesem Rufe stand, leichter auf jene Weise wirken konnte, als wo nicht.

An diese beiden Maſsstäbe die evangelischen Erzäh - lungen gehalten, steht der ersten von dem Vorgang in der Synagoge zu Kapernaum, sobald man nur davon abgeht, sie als durchaus historisch zu betrachten, nicht mehr all - zuviel entgegen. Denn ob sie gleich so lautet, als hätte der Dämon Jesum aus sich selbst erkannt, so kann doch theils der in jenen Gegenden bereits sich ausbreitende Ruf Jesu, theils seine gewaltige Rede in der Synagoge auf den - monischen den Eindruck, wenn auch nicht, daſs Jesus der Messias sei, wie die Evangelisten sagen, doch, daſs er ein Prophet sein müsse, gemacht, und so seinem Worte Nach - druck gegeben haben. Was aber den Zustand des Kran - ken betrifft, so wird uns nur von der fixen Idee desselben, besessen zu sein, und von krampfhaften Anfällen gemeldet,49Neuntes Kapitel. §. 89.welche möglicherweise von der leichteren Art gewesen sein könnten, der sich auf psychologischem Wege beikom - men lieſs. Schwieriger in beiden Hinsichten ist die Hei - lung der Gadarener. Denn einmal war Jesus am jenseiti - gen Ufer nicht so bekannt, und dann wird uns der Zustand derselben als ein so heftiger und eingewurzelter Wahnsinn geschildert, daſs hier schwerlich ein Wort Jesu genügen konnte, um dem schrecklichen Zustand ein Ende zu ma - chen. Hier reicht somit die natürliche Erklärung von Pau - lus nicht hin, sondern, wenn überhaupt noch etwas von der Erzählung stehen bleiben soll, so müſste man anneh - men, daſs, wie andre Theile derselben, so namentlich die Schilderung von dem Zustande des Kranken sagenhaft über - trieben sei. Ebendieſs wäre in Bezug auf die Heilung des mondsüchtigen Knaben anzunehmen, da eine von Kindheit an (Marc. V. 21.) dauernde, so heftige und in bestimmten Perioden sich wiederholende Epilepsie etwas zu sehr im Körper eingewurzeltes ist, als daſs die Möglichkeit einer so schnellen reinpsychologischen Hülfe glaublich sein könn - te. Daſs aber selbst Stummheit und vieljährige Verkrüm - mung, welche doch nicht mit Paulus als bloſse närrische Einbildung, man dürfe nicht reden oder sich aufrichten49)ex. Handb. z. d. St., genommen werden kann, auf ein Wort gewichen sei, wird man ohne vorgefaſste dogmatische Meinungen sich nicht überreden können. Am wenigsten endlich läſst sich denken, daſs auch ohne das Imposante seiner Gegenwart der Wunderthäter aus der Ferne habe wirken können, wie dieſs Jesus auf die Tochter des kananäischen Weibes ge - than haben soll.

So sehr sich also der Natur der Sache nach annehmen lieſse, daſs Jesus manche an vermeintlich dämonischer Ver - rückung oder Nervenstörung leidende Personen auf psychische Weise durch die Übermacht seines Ansehens und Wortes ge -Das Leben Jesu II. Band. 450Zweiter Abschnitt.heilt habe: so augenscheinlich ist es doch (wenn man nicht mit Venturini50)Natürliche Geschichte u. s. f. 2, S. 429. und Kaiser51)Bibl. Theologie, 1, S. 196. annehmen will, Kranke die - ser Art haben sich nicht selten geheilt geglaubt, wenn nur durch Jesu Einwirkung die Krisis gebrochen war, und die Referenten haben sie dafür ausgegeben, weil sie nichts Weiteres von ihnen erfuhren und also von der wahrschein - lich wiedergekehrten Krankheit nichts wuſsten), daſs die Sage auch in diesem Felde nicht gefeiert, sondern die leichteren Fälle, welche allein auf jene Weise kurirt wer - den konnten, mit den schwersten und complicirtesten ver - tauscht hat, auf welche eine psychologische Heilart gar keine Anwendung finden konnte52)Zu den vorübergehenden Verstimmungen, auf welche Jesus psychologisch eingewirkt haben kann, lässt sich vielleicht auch der Fieberanfall der Schwiegermutter Petri zählen, wel - chen Jesus nach Matth. 8, 14 ff. parall. gehoben hat.. Ob sich hiemit die obige Verweigerung jedes Zeichens von Seiten Jesu verei - nigen lasse, oder ob, um diese begreiflich zu finden, auch solche psychologisch erklärbare Heilungen, welche aber doch nur als Wunder erscheinen konnten, Jesu abgespro - chen werden müssen, und ob hinwiederum nach Entzie - hung auch dieser Grundlage die Ausbildung so vieler Wun - dererzählungen von Jesu sich erklären lasse? soll hier nur als Frage aufgestellt werden.

Werfen wir schlieſslich noch einen Blick auf das jo - hanneische Evangelium, welches von Dämonischen und de - ren Heilung durch Jesum nichts hat, so ist dieſs dem Apo - stel Johannes, dem voraussezlichen Verfasser, nicht selten als ein Zeichen geläuterter Ansichten zum Vortheil ange - rechnet worden53)So mehr oder minder von Eichhorn, in der allg. Bibliothek, 4, S. 435; Herder, von Gottes Sohn u. s. f., S. 20; Weg -. Allein, wenn der genannte Apostel51Neuntes Kapitel. §. 89.an wirkliche Teufelsbesitzungen nicht glau 'te, so hatte er als Verfasser des vierten Evangeliums, der gewöhnlichen Ansicht von seinem Verhältniſs zu den Synoptikern zufol - ge, die bestimmteste Veranlassung, sie zu berichtigen, und der Verbreitung einer nach seiner Ansicht falschen Mei - nung durch eine Darstellung dieser Heilungen vom richti - gen Gesichtspunkt aus vorzubeugen. Doch wie konnte der Apostel Johannes zur Verwerfung der Ansicht, daſs jene Krankheiten ihren Grund in dämonischen Besitzungen ha - ben, kommen? Sie war nach Josephus jüdische Volksan - sicht in jener Zeit, von der ein palästinischer Jude, der, wie Johannes, erst in späteren Jahren in das Ausland wanderte, nicht mehr im Stande war, sich loszumachen; sie war, der Natur der Sache und den synoptischen Be - richten zufolge, Ansicht Jesu selbst, seines angebeteten Mei - sters, von welcher der Lieblingsjünger gewiſs keinen Fin - ger breit abzuweichen geneigt war. Theilte aber Johan - nes mit seinen Volksgenossen und Jesu selbst die Annah - me wirklicher Dämonenbesitzungen, und bildete die Hei - lung solcher Personen einen Haupttheil, ja vielleicht die eigentliche Grundlage der angeblichen Wunderthätigkeit Jesu: wie kommt es, daſs er dessenungeachtet in seinem Evangelium ihrer keine Erwähnung thut? Daſs er sie übergangen habe, weil die übrigen Evangelisten genug der - gleichen Geschichten aufgenommen hatten, sollte man doch endlich aufhören zu sagen, da er ja mehr als Eine von ih - nen schon berichtete Wundergeschichte wiederholt hat, und sagt man, diese habe er wiederholt, weil sie der Be - richtigung bedurften: so haben wir bei Erwägung der syn - optischen Relationen von den Heilungen der Dämonischen gesehen, daſs bei manchen derselben eine Zurückführung auf die einfache geschichtliche Grundlage gar sehr am Orte53)scheider, Einl. in das Evang. Joh. S. 313.; de Wette, bibl. Dogm. §. 269.4 *52Zweiter Abschnitt.gewesen wäre. So bliebe noch, daſs Johannes aus Anbe - quemung an die griechische Cultur der Kleinasiaten, unter welchen er geschrieben haben soll, die ihnen unglaublichen oder anstössigen Dämonengeschichten aus seinem Evange - lium weggelassen hätte. Aber konnte und durfte wohl, muſs man auch hier fragen, ein Apostel aus bloſser Ac - commodation an die feinen Ohren seiner Zuhörer einen so wesentlichen Zug des Wirkens Jesu zurückbehalten? Ge - wiſs vielmehr deutet auch dieses Stillschweigen auf einen Verfasser hin, welcher die Wirksamkeit Jesu nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus einer durch helle - nischen Einfluſs modificirten Tradition kannte, in welcher daher die der höheren griechischen Bildung weniger ent - sprechenden Dämonenaustreibungen entweder ganz ver - schwunden, oder doch so zurückgetreten waren, daſs sie vom Verfasser des Evangeliums übergangen werden konnten.

§. 90. Heilungen von Aussätzigen.

Unter den Kranken, welche Jesus heilte, spielen ge - mäſs dem leicht Hautkrankheiten erzeugenden Klima von Palästina die Aussätzigen eine Hauptrolle. Wo Jesus der synoptischen Erzählung zufolge die Abgesandten des Täu - fers auf die faktischen Beweise seiner Messianität hinweist (Matth. 11, 5.), führt er unter diesen auch das λεπροὶ κα - ϑαρίζονται auf; wo er seine Jünger bei der ersten Aus - sendung zu allerhand Wunderthaten bevollmächtigt, stellt er die Reinigung der Aussätzigen oben an (Matth. 10, 8.), und zwei Fälle von solchen Heilungen werden uns im Ein - zelnen erzählt.

Der eine Fall ist allen Synoptikern gemeinschaftlich, wiewohl sie ihn in verschiedenen Zusammenhang stellen. Matthäus nämlich läſst Jesu bei'm Herabgehen von dem Berge, auf welchem er die Bergrede gehalten (8, 1 ff. ), die übrigen in unbestimmter Stellung am Anfang seiner gali -53Neuntes Kapitel. §. 90.läischen Wirksamkeit (Marc. 1, 40 ff. Luc. 5, 12 ff. ) einen Aussätzigen begegnen, der ihn fuſsfällig um Heilung an - fleht, und diese auch durch eine Berührung Jesu erhält, welcher ihn sofort anweist, sich dem Gesetze (3 Mos. 14, 2 ff. ) gemäſs dem Priester zur Reinerklärung zu stellen. Der Zustand des Menschen wird von Matthäus und Mar - kus einfach durch λεπρὸς, von Lukas sogar durch πλήρης λέπρας bezeichnet. Nach Paulus freilich war eben dieses Vollsein von Aussaz ein Symptom der Heilbarkeit, indem das Ausschlagen und Abblättern des Aussatzes auf der gan - zen Haut die Reinigungskrisis bezeichne, und demgemäſs stellt sich jener Ausleger den Hergang folgendermaſsen vor1)Excg. Handb. 1, b, S. 698 ff.. Der Aussätzige geht Jesum als den Messias um ein Gut - achten über seinen Zustand und nach Befund um eine Rein - erklärung an (εἰ ϑέλεις, δύνασαί με καϑαρίσαι), welche ihm den Gang zum Priester entweder ersparen, oder doch eine tröstliche Hoffnung auf denselben mitgeben sollte. Je - sus, indem er sich zu einer Untersuchung bereit erklärt (ϑέλω), streckt die Hand aus, um ihn zu befühlen, ohne daſs doch der vielleicht noch ansteckende Kranke ihm zu nahe käme, und nach genauer Untersuchung spricht er als Ergebniſs derselben die Überzeugung aus, daſs die Krank - heit nicht mehr ansteckend sei (καϑαρίσϑητι), worauf sich denn wirklich bald und leicht (εὐϑέως) der Aussaz vollende ganz verlor.

Hier ist vor Allem die Behauptung, der Aussätzige sei gerade in der Reinigungskrise gewesen, dem Texte fremd, welcher bei den zwei ersten Evangelisten von Aussaz schlechtweg spricht, während das πλήρης λέπρας des drit - ten nichts Andres bedeuten kann, als das A. T. liche מְצׄרׇע ַ ׇ ֶג (2 Mos. 4, 6. 4 Mos. 12, 10. 2 Kön. 5, 27.), was dem Zusammenhang nach jedesmal den höchsten Grad54Zweiter Abschnitt.des Aussatzes bezeichnet. Daſs das καϑαρίζειν nach he - bräischem und hellenistischem Sprachgebrauch auch bloſs reinerklären bedeuten könne, ist zwar nicht in Abrede zu stellen, nur müſste es diese Bedeutung in dem ganzen Ab - schnitt beibehalten. Daſs nun aber, nachdem von Jesu erzählt war, er habe das καϑαρίσϑητι gesprochen, Mat - thäus noch ein καὶ εὐϑέως ἐκαϑαρίσϑη κ. τ. λ. in dem Sin - ne, daſs also der Kranke wirklich von Jesu reinerklärt worden sei, hinzugefügt haben sollte, ist der albernen Tau - tologie wegen so undenkbar, daſs hier, aber dann auch im ganzen Abschnitt, das καϑαρίζεσϑαι von wirklichem Gereinigtwerden zu nehmen ist. An das

λεπροὶ καϑαρίζον - ται

(Matth. 11, 5.) undλεπροὺς καϑαρίζετε(Matth. 10, 8.), wo doch das leztere Wort weder bloſse Reinerklärung, noch auch etwas Anderes als in der vorliegenden Erzäh - lung bezeichnen kann, genügt es zu erinnern. Woran aber die natürliche Deutung der Anekdote am entschiedensten scheitert, das ist die Zerreissung des ϑέλω, καϑαρίσϑητι. Wer wird sich überreden können, daſs diese in allen drei Berichten unmittelbar verbundenen Worte durch eine ziem - liche Pause getrennt gewesen, daſs das ϑέλω bei oder ei - gentlich vor dem Befühlen, das καϑαρίσϑητι aber nach demselben gesprochen worden sei, da doch sämmtliche Evangelisten beide Worte ohne Unterschied während der Berührung gesprochen sein lassen? Gewiſs würde, wenn der angegebene Sinn der ursprüngliche wäre, wenigstens Einer der Evangelisten, statt des ἥψατο αὐτοῦ Ἰησοῦς λέ - γων· ϑέλω, καϑαρίσϑητι, sagen: . ἀπεκρίνατο· ϑέλω, καὶ ἁψάμενος αὐτοῦ εἶπε· καϑαρίσϑητι. Ist aber das καϑαρί - σϑητι in Einem Zuge mit ϑέλω gesprochen, so daſs Jesus lediglich in Folge seines Willens, ohne dazwischeneinge - tretene Untersuchung, das καϑαρίζεσϑαι eintreten lieſs: so kann dieſs unmöglich eine Reinerklärung, wozu es einer vorgängigen Untersuchung bedurfte, sondern muſs ein wirk - liches Reinmachen gewesen sein. In diesem Zusammenhang55Neuntes Kapitel. §. 90.ist dann auch das ἅπτεσϑαι nicht von untersuchender Be - rührung zu verstehen, sondern, wie sonst immer in sol - chen Erzählungen, von heilender.

Für seine natürliche Erklärung dieses Vorgangs beruft sich Paulus auf den Kanon, daſs überall in einer Erzäh - lung das Gewöhnliche und Ordentliche vorausgesezt wer - den müsse, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angege - ben sei2)a. a. O. S. 705 u. sonst., ein Kanon, welcher an der der ganzen rationa - listischen Auslegung eigenthümlichen Zweideutigkeit leidet, was für uns, und was für die auszulegenden Schriftsteller gewöhnlich und ordentlich ist, nicht zu unterscheiden. Allerdings, wenn ich einen Gibbon vor mir habe, so darf ich in seinen Erzählungen, sofern er nicht ausdrücklich das Gegentheil anmerkt, nur natürliche Ursachen und Vor - gänge voraussetzen, weil von der Bildung eines solchen Schriftstellers aus das Übernatürliche höchstens als selten - ste Ausnahme denkbar ist: schon anders verhält sich dieſs bei einem Herodot, in dessen Vorstellungsweise das Ein - greifen höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und aus - ser der Ordnung ist, und vollends in einer auf jüdischem Boden gewachsenen Anekdotenreihe, deren Zweck ist, ein Individuum als höchsten Propheten, als mit Gott innigst verbundenen Menschen darzustellen, versteht sich das Über - natürliche so sehr von selbst, daſs jener rationalistische Kanon sich dahin umkehrt: wo in solchen Erzählungen auf Erfolge Gewicht gelegt ist, welche, als natürliche be - trachtet, keine Wichtigkeit haben würden, da müſsten übernatürliche Ursachen ausdrücklich ausgeschlossen sein, wenn nicht, daſs solche im Spiele gewesen, als Ansicht des Erzählers vorausgesezt werden sollte. In der vorlie - genden Geschichte ist überdieſs das Ausserordentliche des Hergangs dadurch hinlänglich angedeutet, daſs es heiſst, auf Jesu Wort habe den Kranken der Aussaz alsbald ver -56Zweiter Abschnitt.lassen. Freilich weiſs Paulus, wie schon bemerkt, diese Angabe auf eine allmählige natürliche Genesung zu deuten, da εὐϑέως, wodurch die Evangelisten die Zeit derselben bestimmen, je nach dem verschiedenen Zusammenhange das einemal sogleich bedeute, das andremal nur bald und un - gehindert. Dieſs eingeräumt, soll nun das bei Markus in unmittelbarem Zusammenhang folgende εὐϑέως ἐξέβαλεν αὐτὸν (V. 43.) sagen wollen, bald und ungehindert habe Jesus den Geheilten hinausgetrieben? Oder soll in zwei aufeinander folgenden Versen das Wort in verschiedenem Sinne genommen werden?

Ist somit nach der Absicht der evangelischen Referen - ten von einem augenblicklichen Verschwinden des Aussatzes auf das Wort und die Berührung Jesu hin die Rede: so ist, sich dieſs denkbar zu machen, freilich noch eine ganz andre Aufgabe, als die, das augenblickliche Zurechtbrin - gen eines mit fixer Idee Behafteten, oder einen bleibend stärkenden Eindruck auf einen Nervenkranken sich vorzu - stellen. Daſs eine, in Folge tiefer Verderbniſs der Säfte durch den hartnäckigsten und bösartigsten aller Ausschläge zerfressene Haut durch ein Wort und eine Berührung au - genblicklich rein und gesund geworden sein sollte, dieſs ist, weil es etwas einer langen Reihe von Vermittlungen Bedürftiges als unmittelbar eingetreten darstellt, so undenk - bar3)vgl. Hase, L. J. §. 86., daſs es jeden, der ausserhalb gewisser Vorurtheile steht (was der Kritiker immer soll), unwillkührlich an das Fabelreich erinnern muſs. Und im fabelhaften Gebiet mor - genländischer, näher jüdischer Sage finden wir wirklich das plötzliche sowohl Entstehen als Verschwindenmachen des Aussatzes zuerst. Als Jehova den Moses zum Behuf seiner Sendung nach Ägypten mit der Fähigkeit, allerlei Zeichen zu thun, ausrüstete, hieſs er ihn unter Anderem auch seine Hand in den Busen stecken, und als er sie57Neuntes Kapitel. §. 90.herauszog, war sie von Aussaz bedeckt: er muſste sie noch einmal hineinstecken, und beim abermaligen Heraus - ziehen war sie wieder rein (2 Mos. 4, 6. 7.). Später, we - gen eines Empörungsversuchs gegen Moses, wurde seine Schwester Mirjam plözlich mit Aussaz geschlagen, aber auf die Fürbitte des Moses bald wieder geheilt (4 Mos. 12, 10 ff.). Besonders aber spielt unter den Wunderthaten des Pro - pheten Elisa die Heilung eines Aussätzigen, deren auch Je - sus (Luc. 4, 27.) gedenkt, eine bedeutende Rolle. Der sy - rische Feldherr Naëman, welcher am Aussaz litt, wandte sich an den israëlitischen Propheten um Hülfe; dieser lieſs ihm die Weisung geben, er solle sich siebenmal im Jordan waschen, worauf auch wirklich der Aussaz wich, welchen aber der Prophet später veranlaſst war, auf seinen betrü - gerischen Diener Gehasi überzutragen (2 Kön. 5.). Ich wüſste nicht, was wir ausser diesen A. T. lichen Vorgän - gen noch weiter bedürfen sollten, um die Entstehung der evangelischen Anekdote erklärbar zu finden. Was der er - ste Goël in Jehova's Auftrag vermochte, das, wie gesagt, muſste auch der zweite zu thun im Stande sein, und oh - nehin hinter einem Propheten durfte der Propheten gröſs - ter nicht zurückbleiben. Waren hienach ohne Zweifel schon in dem jüdischen Messiasbilde dergleichen Heilungen mit - begriffen, so waren noch bestimmter die Christen, welche den Messias in Jesu wirklich erschienen glaubten, veran - laſst, seine Geschichte durch solche aus der mosaischen und prophetischen Sage genommene Züge zu verherrlichen, nur daſs sie dem milden Geiste des neuen Bundes (Luc. 9, 55 f.) gemäſs die strafende Seite jener alten Wunder weglieſsen.

Etwas mehr Schein hat die rationalistische Berufung auf den Mangel einer ausdrücklichen Angabe, daſs eine wunderbare Reinigung vom Aussaz gemeint sei, bei der Erzählung von den zehn Aussätzigen, welche dem Lukas eigenthümlich ist (17, 12 ff.). Hier nämlich verlangen we -58Zweiter Abschnitt.der die Kranken ausdrücklich die Heilung, sondern sie ru - fen nur: ἐλέησον ἡμᾶς, noch thut Jesus ein hierauf sich beziehendes Machtwort, sondern er weist sie nur an, sich den Priestern zu zeigen, was man denn rationalistischer - seits nicht säumt, dahin zu erklären, daſs Jesus, nach ge - nommener Kenntniſs von ihrem Zustand, sie ermuntert ha - be, sich der priesterlichen Visitation zu unterwerfen; dieſs habe wirklich ihre Reinsprechung zur Folge gehabt, und der Samariter sei umgekehrt, um Jesu für seinen ermuthi - genden Rath zu danken4)Paulus, L. J., 1, b, S. 68.. Allein so angelegentlich, wie es hier beschrieben wird, durch ein πίπτειν ἐπὶ πρόσωπον, dankt man nicht für einen bloſsen Rath, noch weniger konnte Jesus verlangen, daſs um des Erfolgs dieses Ra - thes willen alle Zehne hätten umkehren sollen, und zwar um Gott die Ehre zu geben soll man nun sagen dafür, daſs er Jesum befähigt habe, ihnen einen so guten Rath zu ertheilen? Nein, sondern hier wird eine reellere Lei - stung vorausgesezt, und diese giebt die Erzählung wirklich an, wenn sie sowohl die Umkehr des Samariters durch ἰδὼν ὅτι ἰάϑη begründet, als auch Jesum den Grund, wa - rum er von Allen Dank erwartet hätte, durch ὅχὶ οἱ δέκα ἐκαϑαρίσϑησαν; aussprechen läſst, was Beides doch nur höchst gezwungen so erklärt werden kann, daſs, weil sie gesehen, daſs Jesus mit seiner Reinerklärung recht gehabt, der eine wirklich umgekehrt sei, ihm zu danken, die übri - gen aber hätten umkehren sollen. Entscheidend aber ge - gen die natürliche Erklärung ist der Saz: ἐν τῷ ὑπάγειν αὐτοὺς ἐκαϑαρίσϑησαν. Wollte hier nach jener Deutung der Referent bloſs sagen: wie die Kranken, beim Priester angekommen, sich ihm zeigten, wurden sie für rein er - klärt: so muſste er wenigstens setzen: πορευϑέντες ἐκα - ϑαρίσϑησαν: wogegen nun die absichtsvolle Wahl des ἐν τῷ ὑπάγειν unwidersprechlich zeigt, daſs von einem Rein -59Neuntes Kapitel. §. 90.werden während des Hingehens die Rede ist. Auch hier also haben wir eine wunderbare Aussazheilung, welche eben denselben Schwierigkeiten unterliegt, aber auch eben - so in ihrer Entstehung erklärbar scheint, wie die vorige Anekdote.

Doch es kommt bei dieser Erzählung noch etwas Ei - genthümliches in Betracht, das sie von der vorigen unter - scheidet. Es ist hier keine simple Heilung, ja die Hei - lung ist nicht einmal eigentlich die Hauptsache, diese liegt vielmehr in dem verschiedenen Betragen der Geheilten, und die Frage Jesu: οὐχὶ οἱ δέκα ἐκαϑαρίσϑησαν κ. τ. λ. (V. 17 f.) bildet die Spitze des Ganzen, welches hiemit ganz moralisch schlieſst und zum Behuf der Belehrung erzählt zu sein scheint5)Schleiermacher, über den Lukas, S. 215.. Namentlich daſs der als Muster der Dankbarkeit Erscheinende gerade ein Samariter ist, muſs bei demjenigen Evangelisten auffallen, welchem auch die Lehrrede vom barmherzigen Samariter eigenthümlich ist. Wie nämlich in dieser zwei Juden, ein Priester und ein Levit, sich unbarmherzig beweisen, ein Samariter da - gegen musterhaft barmherzig: so steht hier neun undank - baren Juden ein Samariter als der einzig Dankbare ge - genüber. Wie daher, sofern doch die plötzliche Heilung dieser Kranken nicht historisch sein kann, wenn wir auch hier, wie dort, eine von Jesu vorgetragene Parabel vor uns hätten, welche die Dankbarkeit, wie jene die Barm - herzigkeit, am Beispiel eines Samariters darstellen sollte, nur aber geschichtlich verstanden worden wäre? Dieſs wäre dann so, wie man schon behauptet hat, daſs es mit der Versuchungsgeschichte sich verhalte. Doch eben in Bezug auf diese haben wir gesehen, daſs und warum Je - sus nie sich selbst unmittelbar in einer Gleichniſsrede auf - treten lassen konnte, und dieſs müſste er hier gethan ha - ben, wenn er von zehn Aussätzigen erzählt hätte, die er60Zweiter Abschnitt.einmal geheilt habe. Wollen wir daher den Gedanken, hier etwas ursprünglich Parabolisches zu haben, nicht fal - len lassen, so hätten wir uns die Sache so zu denken, daſs aus der Sage von Heilungen, welche Jesus auch an Aus - sätzigen vollbracht habe, einerseits, und andrerseits aus Parabeln, in welchen Jesus, wie in der vom barmherzigen Samariter, Individuen dieses angefeindeten Volkes als Mu - ster verschiedener Tugenden aufstellte, die urchristliche Sage diese Erzählung zusammengewoben habe, welche eben - daher halb Wundererzählung, halb Parabel ist.

§. 91. Blindenheilungen.

Eine der ersten Stellen unter den von Jesu geheilten Kranken nehmen, gleichfalls nach der Natur des Landes1)s. Winer, Realw. d. A. Blinde., die Blinden ein, von deren Heilung wiederum nicht bloſs in den allgemeinen Schilderungen, welche die Evangelisten (Matth. 15, 30 f. Luc. 7, 21.) oder Jesus selbst (Matth. 11, 5.) von seiner messianischen Thätigkeit geben, die Re - de ist, sondern auch einige einzelne Fälle ausführlich be - richtet werden. Und zwar mehrere als von den Heilun - gen der zulezt beschriebenen Art, ohne Zweifel weil die Blindheit, als ein Leiden des feinsten und complicirtesten Organs, mehrere abweichende Behandlungsweisen zulieſs. Eine dieser Blindenheilungen ist sämmtlichen Synoptikern gemeinsam; die andern sind (sofern wir den dämonischen Blindstummen des Matthäus hier nicht wieder zählen) je eine dem ersten, zweiten und vierten Evangelisten eigen - thümlich.

Gemeinsam ist den drei synoptischen Evangelien die Erzählung, daſs Jesus auf seiner lezten Reise nach Jeru - salem bei Jericho eine Blindenheilung verrichtet habe (Matth. 26, 29. parall. ): aber bedeutende Differenzen finden statt61Neuntes Kapitel. §. 91.sowohl in Bestimmung des Objekts der Heilung, indem Matthäus zwei Blinde hat, die beiden andern nur Einen, als auch in Bezug auf das Lokal derselben, indem Lukas sie bei'm Einzug, Matthäus und Markus bei'm Auszug aus Jericho vor sich gehen lassen; auch wissen von der Berührung, mittelst welcher nach dem ersten Evangelisten Jesus die Blinden heilt, die beiden andern Berichterstat - ter nichts. Von diesen Differenzen mag sich die lezte durch die Bemerkung, daſs Markus und Lukas die Berüh - rung, die sie verschweigen, darum nicht läugnen, etwa - sen lassen: schwieriger ist die erste, welche die Zahl der Geheilten betrifft. Hier hat man bald mit Zugrundlegung des Matthäus gesagt, es möge sich einer von beiden Blin - den besonders ausgezeichnet haben, weſswegen in die er - ste Überlieferung er allein gekommen sei; Matthäus aber als Augenzeuge habe ergänzend den zweiten Blinden hin - zugefügt. So widersprechen weder Lukas und Markus dem Matthäus, denn sie läugnen nirgends, daſs nicht noch mehrere als nur der von ihnen hervorgehobene Blinde ge - heilt worden seien; noch Matthäus den beiden andern, denn wo Zwei seien, da sei auch Einer2)Gratz, Comm. z. Matth. 2, S. 323.. Allein wenn der einfache Erzähler von Einem Individuum spricht (und sogar, wie Markus, dessen Namen nennt), an welchem et - was Ausserordentliches geschehen sei: so hat er offenbar der Angabe, es sei an zwei Individuen vorgegangen, still - schweigend widersprochen, was ausdrücklich zu thun er keine Veranlassung hatte. Wenn man sich aber auf die andre Seite wendet, und, die Einzahl des Markus und Lu - kas zum Grunde legend, von Matthäus, der hier wohl nicht Augenzeuge gewesen sei, vermuthet, sein Referent habe vielleicht den Führer des Blinden für einen zweiten Blin - den angesehen3)Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 44.: so ist damit schon ein wahrer Wider -62Zweiter Abschnitt.spruch zugegeben, nur unnöthigerweise eine höchst unwahr - scheinliche Veranlassung desselben erdacht. Daſs die drit - te Differenz, des ἐκπορετομένων ἀπὸ und ἐν τῷ ἐγγίζειν εἰς Ἱεριχὼ, unlösbar sei, kann, wen die Worte nicht überzeu - gen, aus den gewaltsamen Ausgleichungsversuchen lernen, welche von Grotius bis Paulus darüber aufgestellt wor - den sind.

Besser haben daher die älteren Harmonisten4)Schulz, Anmerkungen zu Michaelis, 2, S. 105. gethan, welchen deſswegen auch neuere Kritiker beigefallen sind5)Sieffert, a. a. O. S. 104., wenn sie mit Rücksicht auf die zulezt besprochene Diffe - renz hier zweierlei Begebenheiten unterschieden, und an - nahmen, Jesus habe zuerst bei'm Einzug in Jericho (nach Lukas), dann wieder bei'm Auszug (nach Matthäus und Markus) einen Blinden geheilt. Mit der andern Abwei - chung, rücksichtlich der Zahl, glauben diese Harmonisten durch die Voraussetzung fertig zu werden, Matthäus habe die beiden Blinden, den vor und den hinter Jericho ge - heilten, zusammengezählt, und die Heilung von beiden hinter Jericho versezt. Allein, wenn man der Angabe des Matthäus rücksichtlich der Lokalität der Heilung so viel Gewicht beilegt, um ihr und der des Markus zufolge zwei Heilungen, die eine vor, die andre hinter der Stadt anzu - nehmen: so weiſs ich nicht, warum seine abweichende Zahlangabe nicht ebensoviel Geltung haben soll, und Storr scheint mir consequenter zu verfahren, wenn er, auf bei - de Differenzen gleiches Gewicht legend, annimmt, daſs Je - sus zuerst bei'm Einzug nach Jericho Einen Blinden (Lu - kas), dann bei'm Auszug von da zwei Blinde (Matthäus) geheilt habe6)Über den Zweck der ev. Geschichte und der Br. Joh. S. 345.. Kommt nun aber hiebei Matthäus zu sei - nem vollen Rechte, so ist dieſs hingegen dem Markus ver - weigert. Denn wenn dieser, wie hier geschieht, um sei -63Neuntes Kapitel. §. 91.ner Ortsangabe willen mit Matthäus zusammengestellt ist, so geschieht hiebei seiner Zahlangabe Gewalt, welche für sich vielmehr eine Zusammenstellung mit Lukas erheischen würde: so daſs, wenn man keine seiner Angaben beein - trächtigen will, was man bei dieser Verfahrungsart nicht darf, er von beiden gleicherweise getrennt werden muſs. So hätten wir drei verschiedene Blindenheilungen bei Je - richo: 1) die Heilung Eines Blinden bei'm Einzug, 2) die eines weiteren bei'm Auszug, und 3) die Heilung zweier Blinden bei'm Auszug, also zusammen vier Blinde. Den zweiten und dritten Fall nun auseinanderzuhalten, ist frei - lich schwierig. Denn wenn doch Jesus zu zwei verschie - denen Thoren zu gleicher Zeit nicht ausgezogen sein kann, so will sich ebensowenig das vorstellen lassen, daſs er, bloſs auf der Durchreise begriffen, nach dem ersten Aus - zug wieder in die Stadt zurückgekehrt, und später noch einmal ausgezogen wäre. Überhaupt aber, drei so ganz ähnliche Vorfälle hier zusammentreffen zu lassen, will kaum angehen. Schon die Häufung von Blindenheilungen muſs befremden. Besonders aber wird das Benehmen der Begleiter Jesu unbegreiflich, welche, hatten sie einmal bei'm Einzug gesehen, daſs das ἐπιτιμᾷν τῷ τυφλῷ, ἵνα σιωπήσῃ nicht in Jesu Sinne sei, indem er ihn ja zu sich rief, dieſs doch nicht bei dem Auszug, und zwar zweimal, wieder - holt haben werden. Storr'n freilich stört diese Wiederho - lung nicht in der Annahme von wenigstens zwei Vorfäl - len dieser Art, denn Niemand wisse ja, ob diejenigen, welche hinter Jericho Stille geboten, nicht ganz andre ge - wesen seien, als die vor der Stadt das Gleiche gethan hatten; wenn aber auch, so wäre eine solche Wiederho - lung eines von Jesu faktisch miſsbilligten Benehmens zwar unschicklich gewesen, aber darum nicht unmöglich, da auch die Jünger, welche der ersten Speisung angewohnt hatten, doch vor der zweiten wieder gefragt haben, wo Brot für so Viele herzunehmen sei? allein das heiſst aus64Zweiter Abschnitt.der Wirklichkeit einer Unmöglichkeit auf die der andern argumentirt, wie wir bald genug bei Betrachtung des doppelten Speisungswunders sehen werden. Doch nicht allein das Benehmen der Begleiter, sondern überhaupt fast alle Züge der Begebenheit müſsten sich auf die unbegreif - lichste Weise wiederholt haben. Einmal wie das andere der Ruf der Blinden: ἐλέησον ἡμᾶς, oder με, υἱὲ Δαυίδ! hierauf (nach dem ihnen von der Umgebung auferlegten Stillschweigen,) der Befehl Jesu, sie zu ihm zu bringen; seine Frage, was sie von ihm wollen? ihre Antwort: se - hend werden; seine Gewährung ihres Wunsches, worauf sie ihm dankbar nachfolgen. Daſs sich dieſs Alles drei - mal, oder auch nur zweimal so wiederholt haben sollte, ist eine der Unmöglichkeit gleichkommende Unwahrschein - lichkeit, und es müsste entweder nach der von Sieffert in solchen Fällen angewandten Hypothese eine sagenhafte Assimilation verschiedener Fakta, oder eine traditionelle Variation einer einzigen Begebenheit angenommen werden. Fragt man sich, um hier zu entscheiden: was konnte, ein - mal eine Vermittlung durch die Sage vorausgesezt, leichter geschehen, das Eine, daſs dieselbe Geschichte bald von Einem, bald von Mehreren, bald vom Einzug, bald vom Aus - zug erzählt wurde? so braucht man das Andre gar nicht erst dazuzudenken, da jenes Erstere so ohne Vergleichung wahrscheinlich ist, daſs man keinen Augenblick zweifeln kann, es als wirklich vorauszusetzen. Reducirt man aber so die scheinbar mehreren Fakta auf wenigere, so bleibe man nur nicht mit Sieffert bei der Reduktion auf zwei stehen, da hiebei nicht allein die Schwierigkeiten hinsicht - lich der Wiederholung desselben Hergangs bleiben, son - dern auch die Consequenz verlangt, wenn man die eine Abweichung (in der Zahl) als unwesentlich aufgiebt, auch von der andern (im Lokal) zu abstrahiren. Stellt sich nun, wenn hier nur Eine Begebenheit erzählt werden soll, die weitere Frage, welche der verschiedenen Erzählungen65Neuntes Kapitel. §. 91.wohl die ursprüngliche sei? so wird die Ortsangabe zu keiner Entscheidung helfen, da genau ebensogut vor als hinter Jericho ein Blinder zu Jesu stoſsen konnte. Eher wird man in Bezug auf die Zahl Grund haben, sich zu entscheiden, und zwar zu Gunsten des Lukas und Markus für bloſs Einen Blinden. Keineswegs zwar aus dem von Schleiermacher angegebenen Grunde, weil Markus, der durch die Angabe, wie der Blinde geheiſsen, eine genauere Bekanntschaft mit den Verhältnissen beurkunde, auch nur Einen habe7)a. a. O. S. 237., da dem so oft auf eigne Hand individuali - sirenden Markus am wenigsten bei den ihm eigenthümli - chen Namen zu trauen sein dürfte; sondern aus dem Grun - de, weil sich denn doch, diesen Fall mit der Erzählung von dem Gadarenischen Besessenen zusammengehalten, ei - ne Neigung des ersten Evangeliums zu Verdopplungen nicht verkennen läſst.

Vielleicht war die Verdoppelung des Blinden bei Mat - thäus durch die Erinnerung an die demselben Evangelisten eigenthümliche Erzählung von einer früheren Heilung zweier Blinden (9, 27 ff. ) veranlaſst. Hier, gleichfalls im Wegge - hen, nämlich von dem Ort, wo er die Tochter des ἄρχων wiedererweckt hatte, folgen Jesu zwei Blinde nach, (die bei Jericho sitzen) und rufen ähnlich wie dort den Da - vidssohn um Erbarmen an, der sie sofort auch hier, wie dort nach Matthäus, durch Handauflegung heilt. Daneben finden sich freilich nicht geringe Abweichungen: von ei - nem Stillegebot der Begleiter Jesu steht hier nichts, und während bei Jericho Jesus die Blinden sogleich zu sich ruft, kommen sie in dem früheren Falle erst zu ihm, als er wieder zu Hause ist; ferner, während er dort sie fragt, was sie von ihm wollen? fragt er hier gleich, ob sie das Vertrauen haben, daſs er sie heilen könne? endlich das Verbot, Niemand etwas zu sagen, ist dem früheren FallDas Leben Jesu II. Band. 566Zweiter Abschnitt.eigenthümlich. Bei diesem Verhältniſs beider Erzählun - gen könnte wohl eine Assimilation in der Art stattgefunden haben, daſs dem Matthäus die zwei Blinden und die Berüh - rung Jesus aus der ersten Anekdote in die zweite, die Form des Rufs der Kranken aber aus der zweiten in die erste hineingekommen wäre.

Wie beide Geschichten angelegt sind, scheint für ei - ne natürliche Erklärung sich wenig darzubieten. Dennoch haben die rationalistischen Ausleger eine solche zu veran - stalten gewuſst. Daſs Jesus in dem früheren Falle die Blinden fragt, ob sie Vertrauen zu ihm haben, erklärt man dahin, Jesus habe sich überzeugen wollen, ob sie ihm wohl bei der Operation festhalten und seine weiteren Vor - schriften pünktlich befolgen würden8)Paulus, L. J. 1, a, S. 249.; erst zu Hause hier - auf, um ungestört zu sein, habe er ihr Übel untersucht, und als er in demselben ein heilbares (nach Venturini9)Natürliche Geschichte des Propheten von Naz. 2, S. 216. durch den feinen Staub jener Gegenden bewirktes) Übel erkannte, die Leidenden versichert, daſs ihnen nach dem Maaſs ihres Zutrauens geschehen solle. Hierauf sagt Pau - lus nur kurz, Jesus habe das Hinderniſs ihres Sehens ent - fernt; aber auch er muſs sich etwas Ähnliches mit Ven - turini denken, welcher Jesum die Augen der Blinden mit einem scharfen, von ihm vorher zubereiteten Wasser be - streichen, und sie so von dem entzündeten Staube reini - gen läſst, worauf in Kurzem ihr Gesicht zurückgekehrt sei. Allein auch diese natürliche Erklärung hat nicht die mindeste Wurzel im Text; denn weder kann in der von den Kranken geforderten πίςις etwas Andres, als, wie immer in ähnlichen Fällen, das Vertrauen auf Jesu Wun - dermacht, gefunden werden, noch in dem ἥψατο eine chir - urgische Operation, sondern lediglich jenes Berühren, welches bei so vielen evangelischen Heilungswundern, sei67Neuntes Kapitel. §. 91.es als Zeichen oder als Leiter der heilenden Kraft Jesu, er - scheint; von weiteren Vorschriften zur völligen Herstel - lung ist ohnehin nichts zu bemerken. Nicht anders verhält es sich mit der Heilung der Blinden bei Jericho, wo über - dieſs die zwei mittleren Evangelisten nicht einmal einer Berührung gedenken.

Sollen aber auf diese Weise nach dem Sinne der Re - ferenten auf das bloſse Wort oder die Berührung Jesu hin Blinde augenblicklich sehend geworden sein: so werden wohl ähnliche Bedenklichkeiten hier eintreten, wie in dem vorigen Fall mit den Aussätzigen. Denn ein Augenübel, es mag noch so leicht sein, wie es nicht ohne manchfache Vermittlung entstanden ist, so wird es noch weniger un - mittelbar auf ein Wort oder eine Berührung hin weichen wollen, sondern es erfordert sehr complicirte theils chirur - gische theils medicinische Behandlung, und so vornehmlich die Blindheit, wenn sie überhaupt heilbarer Art ist. Wie sollten wir uns auch die plötzliche heilende Einwirkung ei - nes Wortes und einer Hand auf ein erblindetes Auge vor - stellen? rein wunderbar und magisch? das hieſse das Den - ken über die Sache aufgeben; oder magnetisch? allein es ist ohne Beispiel, daſs auf dergleichen Übel der Magnetis - mus von Einfluſs gewesen; oder endlich psychisch? aber die Blindheit ist etwas vom Seelenleben so Unabhängiges, selbstständig Körperliches, daſs an eine, namentlich plöz - liche, Hebung derselben von geistiger Seite her nicht zu denken ist. Wir müssen folglich bekennen, daſs eine ge - schichtliche Auffassung dieser Erzählungen uns mehr als nur schwer fällt, und es kommt nun darauf an, ob wir die Entstehung unhistorischer Sagen dieser Art wahrschein - lich machen können.

Die Stelle ist bereits angeführt, wo nach dem ersten und dritten Evangelium Jesus den Gesandten des Täufers gegenüber, welche ihn zu fragen hatten, ob er der ἐρχό - μενος sei, sich auf seine Thaten beruft, und vor allem An -5 *68Zweiter Abschnitt.dern hervorhebt, daſs τυφλοὶ ἀναβλέπουσι, zum deutli - lichen Beweis, daſs namentlich auch solche, an Blinden verrichtete Wunder vom Messias erwartet wurden, wie ja jene Worte aus Jes. 35, 5, einer messianisch gedeute - ten Weissagung, genommen sind, und auch in einer oben angeführten rabbinischen Stelle unter den Wundern, wel - che Jehova in der messianischen Zeit ausführen werde, das hervorgehoben ist, daſs er oculos caecorum aperict, id quod per Elisam fecit10)s. Band 1, S. 73, Anm.. Eine eigentliche Blindheit nun hat Elisa nicht geheilt, sondern nur einmal seinem Diener die Augen für eine Wahrnehmung aus der über - sinnlichen Welt eröffnet, und dann eine in Folge seines Gebets über seine Feinde verhängte Verblendung wieder aufhören lassen (2 Kön. 17 20.). Diese Thaten des Elisa nun faſste man, ohne Zweifel in Rücksicht auf die jesaia - nische Stelle, geradezu als Eröffnung erblindeter Augen auf, wie wir aus jener rabbinischen Stelle sehen, und so wurden vom Messias auch Blindenheilungen erwartet11)Auch sonst finden wir, dass in jener Zeit Männern, die für Lieblinge der Gottheit galten, das Vermögen wunderbarer Heilung, namentlich auch der Blindheit, zugeschrieben zu werden pflegte. So erzählen uns Tacitus, Hist. 4, 81., und Sueton, Vespas. 7, in Alexandrien habe sich an den kürzlich Imperator gewordenen Vespasian ein Blinder, angeblich nach einer Weisung des Gottes Serapis, mit der Bitte gewendet, ihn durch Benetzung seiner Augen mit seinem Speichel zu heilen, was Vespasian mit dem Erfolge gethan habe, dass der Blinde augenblicklich das Gesicht wieder erhielt. Da Taci - tus die Richtigkeit dieser Erzählung ganz besonders ver - bürgt, so dürfte Paulus wohl nicht Unrecht haben, wenn er die Sache als Veranstaltung schmeichlerischer Priester an - sieht, welche durch subornirte Scheinkranke den Kaiser in den Ruf des Wunderthäters, und dadurch ihren Gott, dessen Rath den Vorgang veranlasst hatte, bei ihm in Gunst setzen wollten. Exeg. Handb. 2, S. 56 f. Jedenfalls aber sehen wir. 69Neuntes Kapitel. §. 91.Nahm nun die urchristliche Gemeinde, wie sie aus den Juden hervorgegangen war, Jesum für das messianische Subjekt, so muſste sie die Tendenz haben, ihm auch alle messianischen Prädikate, und so auch das in Rede stehen - de, zuzuschreiben.

Die dem Markus eigenthümliche Erzählung von einer Blindenheilung bei Bethsaida (8, 22 ff. ) ist, neben der gleichfalls nur bei ihm zu findenden von der Heilung ei - nes schwerredenden Tauben (7, 32 ff. ), welche wir deſs - wegen hier mitberücksichtigen, die Lieblingserzählung aller rationalistischen Ausleger. Wären uns doch, rufen sie aus, auch sonst bei den evangelischen Heilungsgeschichten wie hier die erklärenden Nebenumstände aufbehalten, so wür - de, daſs Jesus nicht durch bloſse Machtsprüche heilte, hi - storisch zu erweisen, und für tiefer Forschende sogar die natürlichen Mittel seiner Heilungen zu entdecken sein12)So ungefähr Paulus, ex. Handb. 2, S. 312. 391.! So ist, vorzüglich aus Veranlassung dieser Erzählungen, welchen sich dann aber auch einzelne Züge aus andern Theilen des zweiten Evangeliums anschlieſsen, Markus in neuester Zeit auch von solchen, die sonst dieser Ausle - gungsweise nicht eben geneigt sind, als Patron der natür - lichen Erklärung dargestellt worden13)de Wette, Beitrag zur Charakteristik des Evangelisten Mar - kus, in Ullmann's und Umbreit's Studien 1, 4, 789 ff. Vgl. Röster, Immanuel, S. 72..

Was nun unsre beiden Heilungen betrifft, so ist den rationalistischen Auslegern schon das eine gute Vorbedeu - tung, daſs Jesus beide Kranke vom Volke weg besonders nimmt, aus keinem andern Grunde, wie sie glauben, als um ihren Zustand ärztlich zu untersuchen, und zu sehen,11)hieraus, was man in jener Zeit auch ausserhalb Palästina's von einem Manne erwartete, welcher, wie Tacitus sich hier über Vespasian ausdrückt, einen favor e coelis und eine in - clinatio numinum genoss.70Zweiter Abschnitt.ob sich helfen lasse oder nicht. Eine solche Untersuchung finden die bezeichneten Erklärer vom Evangelisten selbst angezeigt, wenn nach ihm Jesus dem Tauben die Finger in die Ohren steckte, wobei er die Taubheit als eine heil - bare, vielleicht nur durch verhärtete Feuchtigkeit im Ohr entstandene, gefunden, und hierauf, gleichfalls mit den Fingern, das Hinderniſs des Gehörs entfernt habe. Wie das ἔβαλε τοὺς δακτύλους εἰς τὰ ὦτα, so wird auch das ἥψα το τῆς γλώσσης von einer chirurgischen Operation verstan - den, durch welche Jesus das Zungenband bis auf den er - forderlichen Punkt gelöst, und dem erstarrten Organ sei - ne Gelenkigkeit wieder gegeben habe, und ebenso wird das ἐπιϑεὶς τὰς χεῖρας αὐτῷ bei dem Blinden dahin erklärt, Jesus habe vielleicht durch ein Drücken der Augen die verdickte Linse herausgebracht. Eine weitere Hülfe findet diese Erklärungsweise darin, daſs Jesus beidemale, an der Zunge des Schwerredenden und an den Augen des Blin - den, Speichel anwandte. Schon für sich hat der Speichel, besonders nach älteren Ärzten14)Plin. H. N. 28, 7. u. a. St. bei Wetstein., eine für die Augen heilsa - me Kraft; da er indeſs so schnell in keinem Falle wirkt, um eine Blindheit und einen Fehler der Sprachorgane mit Einemmale entfernen zu können, so wird für beide Fälle vermuthet, Jesus habe den Speichel nur gebraucht, um ein Arzneimittel, wahrscheinlich ein ätzendes Pulver, anzu - feuchten, wobei sowohl der Blinde nur das Ausspucken ge - hört, von den eingemischten Medikamenten aber nichts ge - sehen, als auch der Taube nach dem Geist der Zeit die natürlichen Mittel wenig beachtet, oder die Sage sie nicht weiter aufbewahrt habe. Wird hierauf in der Erzählung vom Tauben die Heilung nur einfach angegeben, so zeich - net sich die vom Blinden noch dadurch aus, daſs sie die Wiederherstellung seines Gesichts umständlich als eine suc - cessive beschreibt. Nachdem Jesus die Augen des Kran -71Neuntes Kapitel. §. 91.ken auf die beschriebene Weise behandelt hatte, fragte er denselben, εἴ τι βλέπει; gar nicht, bemerkt Paulus, wie ein Wunderthäter, der des Erfolges sicher ist, sondern recht wie ein Arzt, der nach gemachter Operation den Patienten probiren läſst, ob ihm geholfen sei. Der Kran - ke erwiedert, er sehe, aber erst undeutlich, so daſs ihm die Menschen wie Bäume erscheinen. Hier kann nun der rationalistische Erklärer siegreich, wie es scheint, den orthodoxen fragen: wenn Jesu die göttliche Kraft zu Be - wirkung von Heilungen zu Gebote stand, warum heilte er den Blinden nicht sogleich vollständig? Wenn ihm das Übel einen Widerstand entgegensezte, den er nicht schon bei'm ersten Versuch zu überwinden vermochte, wird daraus nicht klar, daſs seine Kraft eine endliche, gewöhnlich menschliche gewesen ist? Hierauf legte Jesus noch ein - mal Hand an die Augen des Kranken, um der ersten Ope - ration nachzuhelfen, und nun erst war die Kur vollendet15)Paulus, a. a. O. S. 312 f. 392 ff. ; natürliche Geschichte, 3, S. 31 ff. 216 f. Röster, Immanuel, S. 188 ff..

Die Freude der rationalistischen Ausleger an diesen Erzählungen des Markus ist durch die trockene Bemer - kung zu stören, daſs auch hier die Umstände, welche die natürliche Erklärung möglich machen sollen, nicht vom Evangelisten selbst angegeben, sondern von den Auslegern untergeschoben sind. Denn bei beiden Heilungen giebt Markus nur den Speichel her, das wirksame Pulver aber streuen Paulus und Venturini darein, wie auch nur sie es sind, die aus dem Legen der Finger in die Ohren zu - erst ein Sondiren, dann ein Operiren, und aus dem ἐπι - τιϑέναι τὰς χεῖρας ἐπὶ τοὺς ὀφϑαλμοὺς sprachwidrig statt eines Handauflegens ein chirurgisches Handanlegen machen. Auch das Beiseitenehmen der Kranken bezieht sich dem Zusammenhang zufolge (7, 36. 8, 20.) auf die Absicht Je - su, den wunderbaren Erfolg geheim zu halten, nicht auf72Zweiter Abschnitt.das Verlangen, in Anwendung der natürlichen Mittel un - gestört zu sein: so daſs der rationalistischen Erklärung alle Stützen sinken und die orthodoxe sich ihr auf's Neue gegenüberstellen kann. Diese nimmt die Berührung und den Speichel entweder als Herablassung zu den Kranken, welchen dadurch nahe gelegt werden sollte, wessen Macht sie ihre Heilung zu verdanken hätten16)Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 590 f., oder als ein lei - tendes Medium der geistigen Kraft Christi, an dessen Ge - brauch er jedoch nicht gebunden gewesen sei17)Olshausen, b. Comm. 1, S. 510.; das Suc - cessive der Heilung aber sucht man dann theils so zu wen - den, daſs Jesus durch die halbe Heilung zuvor den Glau - ben des Blinden habe beleben wollen, und erst als dieser gewachsen war, den nunmehr Würdigen ganz wiederher - gestellt habe18)bei Kuinöl, in Marc. p. 110.; oder vermuthet man, dem Blinden, bei seinem tiefgewurzelten Leiden, wäre eine plötzliche Hei - lung vielleicht schädlich gewesen19)Olshausen, S. 509..

Allein durch diese Versuche, namentlich die lezte Ei - genheit der evangelischen Erzählung zu deuten, begeben sich die supranaturalistischen Theologen, welche sie vor - bringen, selbst auf Einen Boden mit den Rationalisten, in - dem sie nicht minder als jene in den Text hineintragen, was in demselben nicht von ferne angedeutet ist. Denn wo ist in dem Heilverfahren Jesu mit dem Kranken irgend eine Spur, daſs er zuerst nur darauf ausgegangen sei, sei - nen Glauben zu prüfen und zu stärken? in welchem Falle statt des nur seinen äussern Zustand betreffenden ἐπηρώτα αὐτὸν εἴ τι βλέπει; vielmehr wie Matth. 9, 28. ein πιςεύεις ὅτι δύναμαι τοῦτο ποιῆσαι; stehen müſste. Vollends aber die Vermuthung, eine plötzliche Kur möchte schädlich ge - wesen sein! Der heilende Akt eines Wunderthäters ist73Neuntes Kapitel. §. 91.doch (namentlich nach Olshausen's Ansicht) nicht als der bloſs negative der Wegräumung eines Übels, sondern zu - gleich als der positive einer Mittheilung neuen Lebens und frischer Kraft an das leidende Organ zu betrachten, bei welcher von Schädlichkeit ihres plözlichen Eintritts nicht die Rede sein kann. Da somit kein Grund sich ausfin - dig machen läſst, aus welchem Jesus absichtlich dem au - genblicklichen Wirken seiner Wunderkraft Einhalt gethan hätte, so müſste sie nur ohne seinen Willen von aussen durch die Macht des eingewurzelten Übels gehemmt wor - den sein, was aber der ganzen evangelischen Vorstellung von der selbst dem Tod überlegenen Wundermacht Jesu entgegen ist, folglich nicht Meinung unsres Evangelisten sein kann. Sondern die Absicht des Markus, wenn wir seine ganze schriftstellerische Eigenthümlichkeit erwägen, kann auch hier auf nichts Andres als auf Veranschauli - chung gehen. Alles Plözliche aber ist schwer sich zur Anschauung zu bringen: wer eine geschwinde Bewegung einem Andern deutlich machen will, der macht sie ihm zuerst langsam vor, und ein schneller Erfolg wird nur dann recht vorstellbar, wenn ihn der Erzähler durch al - le seine Momente hindurchführt; weſswegen denn ein Re - ferent, dem es darum zu thun ist, in seiner Erzählung der Vorstellungskraft seiner Leser möglichst zu Hülfe zu kom - men, auch die Neigung zeigen wird, wo möglich überall das Unmittelbare zu vermitteln und an dem plözlichen Erfolg doch das Successive seines Eintritts hervorzukehren. So glaub - te hier Markus oder sein Gewährsmann viel für die An - schaulichkeit zu thun, wenn er zwischen die Blindheit des Mannes und die völlige Herstellung seiner Sehkraft die halbfertige Heilung oder das Sehen der Menschen wie Bäu - me einschob, und das eigne Gefühl wird jedem sagen, daſs dieser Zweck vollkommen erreicht ist. Darin aber liegt, wie auch Andre bemerkt haben20)Fritzsche, Comm. in Marc. p. XLIII., so wenig eine74Zweiter Abschnitt.Hinneigung des Markus zu natürlicher Auffassung solcher Wunder, daſs er ja vielmehr nicht selten die Wunder zu vergrössern bemüht ist, wie wir theils bei'm Gadarener gesehen haben, theils noch öfters werden bemerken kön - nen. Auf ähnliche Weise wird dann auch das zu beur - theilen sein, daſs Markus namentlich in diesen ihm eigenen Erzählungen (aber auch sonst, wie 6, 13, wo er bemerkt, daſs die Jünger die Kranken mit Öl gesalbt haben) die Anwendung äusserer Mittel und Manipulationen bei den Heilungswundern hervorhebt. Daſs diese Mittel, wie be - sonders der Speichel, in der damaligen Volksansicht nicht als natürlich wirkende Ursachen der Heilung galten, davon kann schon die oben angeführte Erzählung von Vespasian üherzeugen, so wie Stellen jüdischer und römischer Auto - ren, nach welchen das Anspucken als magisches Mittel, vornehmlich gegen Augenübel, galt21)s. d. St. bei Wetstein und Lightfoot zu Joh. 9, 6.. Sondern Olshau - sen giebt ganz die damalige Vorstellung, wenn er Berüh - rung, Speichel u. dgl. für die Conduktoren der dem Wun - dermann inwohnenden höheren Kraft erklärt. Nur frei - lich diese Ansicht auch zu der unsrigen machen könnten wir nur dann, wenn wir mit Olshausen von einer Parallele der Wunderkraft Jesu mit der animalisch magnetischen ausgiengen, eine Vergleichung, welche zur Erklärung der Wunder Jesu, insbesondere des vorliegenden, unzureichend und darum überflüssig ist. Wir schreiben daher jene Mit - tel lediglich auf Rechnung des Evangelisten. Auf diese kommt dann ohne Zweifel auch das Besondernehmen der Kranken, die übertreibende Beschreibung der Verwunde - rung des Volks (ὑπερπερισσῶς ἐξεπλήσσοντο ἅπαντες, 7, 37.), und das strenge Verbot, Niemand von den Heilun - gen etwas zu sagen. Dieses Geheimhalten gab der Sache ein mysteriöses Ansehen, welches auch nach andern Stel - len dem Markus gefallen zu haben scheint. Zu dem My -75Neuntes Kapitel. §. 91.steriösen gehört bei der Heilung des Tauben auch das ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανὸν ἐςέναξε (7, 34.). Denn wozu hier seufzen? über das Elend des Menschengeschlechts22)so nach Euthymius Fritzsche, in Marc. p. 304., das Jesu aus viel traurigeren Fällen längst bekannt sein muſste? oder wollen wir durch die Erklärung, daſs jener Ausdruck nichts weiter, als stilles Beten oder lautes Spre - chen bedeute23)Ersteres Kuinöl, Lezteres Schott., der Schwierigkeit ausweichen? Wer den Markus kennt, wird vielmehr den übertreibenden Er - zähler darin erkennen, daſs er Jesu eine tiefe Gemüths - bewegung bei einem Anlaſs zuschreibt, der eine solche gar nicht hervorbringen konnte, aber von derselben begleitet sich nur um so geheimniſsvoller ausnahm. Ganz vorzüg - lich aber scheint mir etwas Mysteriöses darin zu liegen, daſs Markus das gebietende Wort, mit welchem Jesus die Ohren des Tauben aufthut, in seiner ursprünglichen syri - schen Form: ἐφφαϑὰ, wiedergiebt, wie bei der Erweckung der Tochter des Jairus nur unser Evangelist (5, 41.) das ταλιϑὰ κοῦμι hat. Man sagt wohl, dieſs seien nichts we - niger als Zauberformeln gewesen24)Hess, Gesch. Jesu, 1, S. 391. Anm. 1.; allein, daſs Markus diese Machtworte so gerne in der seinen Lesern, denen er sie ja erklären muſs, fremden Ursprache wiedergiebt, be - weist doch, daſs er eben dieser ihrer ursprünglichen Form eine besondere Bedeutung beigelegt haben muſs, welche dem Zusammenhang zufolge nur eine magische scheint ge - wesen sein zu können. Diese Neigung zum Mysteriösen können wir rückwärts blickend nun auch in der Anwen - dung jener äusseren Mittel finden, welche zum Erfolg in keinem Verhältniſs stehen; denn eben darin besteht ja das Mysterium, daſs mit einer inadäquaten, endlichen Form ein unendlicher Inhalt, mit einem scheinbar unwirksamen Mittel die kräftigste Wirkung sich verbindet.

76Zweiter Abschnitt.

Haben wir nun oben die einfache Erzählung sämmt - licher Synoptiker von der Blindenheilung bei Jericho nicht für historisch halten können, so sind wir dieſs bei der ge - heimniſsvollen Schilderung des Einen Markus von der Heilung eines Blinden bei Bethsaida noch weniger im Stan - de, sondern wir müssen sie als ein Produkt der Sage mit mehr oder weniger Zuthaten des evangelischen Referen - ten ansehen, und ebenso die von ihm mit gleicher Eigen - thümlichkeit erzählte Heilung des κωφὸς μογιλάλος. Denn auch bei dieser lezteren Geschichte fehlen uns neben den schon ausgeführten negativen Gründen gegen ihre histori - sche Glaubwürdigkeit die positiven Veranlassungen ihrer mythischen Entstehung nicht, da die Weissagung auf die messianische Zeit: τότε-ὦτα κωφῶν ἀκου̍σονται τρανη δὲ ἔςαι γλῶσσα μογιλάλων (Jes. 35, 5. 6. ) vorhanden war, und nach Matth. 11, 5. eigentlich verstanden wurde.

So günstig der natürlichen Erklärung auf den ersten Anblick die eben betrachteten Erzählungen des Markus zu sein schienen: so ungünstig und vernichtend, sollte man glauben, müsse die johanneische Erzählung, Kap. 9., auf sie fallen, wo nicht von einem Blinden schlechtweg, des - sen zufällig eingetretenes Übel leichter wieder zu heben sein mochte, sondern von einem Blindgeborenen die Rede ist. Doch wie die Ausleger dieser Richtung scharfsichtig sind, und den Muth nicht bald verlieren, so wissen sie auch hier manches ihnen Günstige zu entdecken. Vor Al - lem den Zustand des Kranken finden sie, so bestimmt auch das τυφλὸν ἐκ γενετῆς zu lauten scheint, doch nur unge - nau bezeichnet. Die Zeitbestimmung zwar, welche darin liegt, enthält sich Paulus, wiewohl ungern und eigentlich nur halb, umzustoſsen: um so mehr muſs er dann aber an der Qualitätsbestimmung des Zustandes zu rütteln suchen. Τυφλὸς müsse nicht gerade totale Blindheit bezeichnen, und wenn Jesus den Kranken anweise, zum Siloateich zu gehen, nicht sich führen zu lassen, so müsse derselbe noch77Neuntes Kapitel. §. 91.einigen Schein des Augenlichts gehabt haben, um selbst den Weg dahin finden zu können. Noch mehr Hülfe sehen die rationalistischen Ausleger in dem Heilverfahren Jesu. Gleich Anfangs (V. 4.) sage er, er müsse wirken ἕως ἡμέρα ἐςὶν, in der Nacht lasse sich nichts mehr anfangen: Beweis genug, daſs er den Blinden nicht mit einem blo - sen Machtwort zu heilen im Sinne gehabt habe, was er auch bei Nacht hätte aussprechen können, daſs er viel - mehr eine künstliche Operation habe vornehmen wollen, zu welcher er freilich das Tageslicht bedurfte. Der πηλὸς ferner, welchen Jesus mittelst seines Speichels macht und dem Blinden auf die Augen streicht, ist ja der natürlichen Auslegung noch günstiger als das bloſse πτύσας bei'm vo - rigen Fall, weſswegen denn aus demselben die Fragen und Vermuthungen wie Pilze in üppiger Fülle aufschies - sen. Woher wuſste Johannes, fragt man, daſs Jesus nichts weiter als Speichel und Staub zu der Augensalbe nahm? war er selbst dabei, oder hatte er es blos aus der Erzäh - lung des geheilten Blinden? Dieser konnte aber bei dem schwachen Schimmer, den er nur hatte, nicht genau se - hen, was Jesus vornahm, er konnte vielleicht, wenn Je - sus, während er aus andern Ingredienzien eine Salbe mischte, zufällig auch ausspuckte, auf den Wahn verfal - len, aus dem Ausgespuckten sei die Salbe entstanden. Noch mehr: hat Jesus, während oder ehe er etwas auf die Augen strich, nicht auch etwas aus denselben wegge - nommen, weggestrichen, oder sonst etwas daran verän - dert, was der Blinde selbst und die Umstehenden leicht für Nebensache ansehen konnten? Endlich das dem Blin - den gebotene Waschen im Teiche dauerte vielleicht mehrere Tage, war eine längere Badekur, und das ἦλϑε βλέπων sagt nicht, daſs er nach dem ersten Bade, sondern daſs er zu seiner Zeit, nach Vollendung der Kur, sehend wie - derkam25)Paulus, Comm. 4, S. 472 ff..

78Zweiter Abschnitt.

Allein, um von vorne anzufangen, so wird hier dem ἡμέρα und νὺξ eine Bedeutung gegeben, welche selbst ei - nem Venturini zu seicht gewesen ist26)Natürliche Gesch. 3, S. 215., und namentlich dem Zusammenhang mit V. 5. zuwiderläuft, welcher durch - aus eine Beziehung der Worte auf den baldigen Hingang Jesu erheischt27)s. Tholuck und Lücke z. d. St.. Was aber von etwaigen medicinischen Ingredienzien des πηλὸς vermuthet wird, ist um so boden - loser, als hier nicht wie bei dem vorigen Fall gesagt wer - den kann, es werde nur das angegeben, was der Blinde durch das Gehör oder einen leichten Lichtschimmer wahr - nehmen konnte, da ja dieſsmal Jesus den Kranken nicht allein, sondern in Gegenwart seiner Jünger vornahm. Über die weitere Vermuthung vorangegangener chirurgi - scher Operationen, durch welche die im Texte allein an - gegebene Bestreichung und Waschung zur Nebensache wird, ist nichts zu sagen, als daſs man an diesem Beispiele sieht, wie zügellos die einmal eingelassene natürliche Erklärung sich alsbald gebärdet, und die klarsten Worte des Textes durch die Gebilde ihrer eigenen Combination verdrängt. Wenn ferner daraus, daſs Jesus den Blinden zum Tei - che gehen hieſs, gefolgert wird, er müsse noch einen Schein des Lichts gehabt haben, so ist dagegen zu be - merken, daſs Jesus demselben nur angab, wohin er sich begeben (ὑπάγειν) solle; wie er dieſs näher angreifen wollte, ob allein gehen oder einen Führer nehmen, das überlieſs er ihm selber. Endlich wenn das engverbun - dene ἀπῆλϑεν οῦ͗ν καὶ ἐνίφατο καὶ ἦλϑε βλέπων (V. 7, vgl. V. 11.) zu einer mehrwöchigen Badekur auseinander - gezogen wird, so ist dieſs gerade, wie wenn man das veni, vidi, vici übersetzen wollte: nach meiner Ankunft recognoscirte ich mehrere Tage, lieferte hierauf in gehöri - gen Zwischenzeiten unterschiedliche Schlachten, und blieb endlich Sieger.

79Neuntes Kapitel. §. 91.

Es läſst uns also auch hier die natürliche Erklärung im Stiche, und wir behalten einen von Jesu wunderbar geheilten Blindgeborenen. Daſs unsre obigen Zweifel ge - gen die Realität der Blindenheilungen hier, wo es sich von angeborener Blindheit handelt, in verstärktem Maaſse wiederkehren, ist natürlich. Und zwar kommen hier noch einige besondere kritische Gründe hinzu. Keiner der drei ersten Evangelisten weiſs etwas von dieser Heilung. Nun aber, wenn doch in der Gestaltung der apostolischen Tra - dition und in der Auswahl, welche sie unter den von Jesu zu erzählenden Wundern traf, irgend ein Verstand gewe - sen sein soll, so muſs sich diese nach den zwei Gesichts - punkten gerichtet haben: erstlich, die gröſseren Wunder vor den scheinbar minder bedeutenden auszuwählen, und zweitens diejenigen, an welche sich erbauliche Erörterun - gen knüpften, vor denen, bei welchen dieſs nicht der Fall war. In der ersteren Rücksicht war nun offenbar die Hei - lung eines von Geburt an Blinden, als die ungleich schwie - rigere, vor der eines Blinden schlechthin auszuwählen, und man begreift nicht, wenn doch Jesus wirklich einen Blind - geborenen sehend gemacht hat, warum davon nichts in die evangelische Tradition und also in die synoptischen Evangelien gekommen ist. Freilich konnte mit dieser Rück - sicht auf die Gröſse des Wunders die andere auf die Er - baulichkeit der daran sich knüpfenden Reden nicht selten collidiren, so daſs ein minder auffallendes, aber durch die Gespräche, die es veranlaſste, fruchtbareres Wunder ei - nem auffallenderen, aber bei welchem das Leztere weni - ger zutraf, vorgezogen werden mochte. Allein die Hei - lung des Blindgeborenen bei Johannes ist von so merkwür - digen Gesprächen, zuerst Jesu mit den Jüngern, dann des Geheilten mit der Obrigkeit, endlich Jesu mit dem Geheilten, begleitet, wie von dergleichen bei den synopti - schen Blindenheilungen keine Spur ist, Gespräche, von welchen, wenn auch nicht der ganze dialogische Verlauf,80Zweiter Abschnitt.so doch gnomische Perlen, wie V. 4. 5. 39., sich auch für die Darstellung der drei ersten Evangelisten trefflich eig - neten. Diese hätten also nicht umhin gekonnt, statt der sowohl weniger merkwürdigen, als auch minder erbauli - chen Blindenheilungen, welche sie haben, die Heilung des Blindgeborenen aufzunehmen, wenn dieselbe in der evangelischen Überlieferung, aus welcher sie schöpften, befindlich gewesen wäre. Der allgemeinen evangelischen Verkündigung konnte sie möglicherweise unbekannt blei - ben, wenn sie an einem Orte und unter Umständen vor - gefallen war, die ihre Ausbreitung nicht begünstigten, also wenn sie in einem Winkel des Landes ohne weitere Zeu - gen verrichtet worden war. Aber Jesus vollbringt sie ja vielmehr zu Jerusalem, im Kreise seiner Jünger, mit gröſs - tem Aufsehen in der Stadt, und zum höchsten Anstoſs bei der Obrigkeit: da muſste die Sache bekannt werden, wenn sie anders geschehen war, und da wir sie in der gewöhn - lichen Evangelientradition nicht als bekannt antreffen, so entsteht der Verdacht, sie möchte vielleicht gar nicht ge - sehehen sein.

Aber der Gewährsmann ist doch der Apostel Johan - nes. Wenn dieſs nur nicht, ausser dem unglaublichen, also schwerlich von einem Augenzeugen herrührenden In - halt des Berichts, auch noch aus einem andern Grund un - wahrscheinlich würde. Der Referent erklärt nämlich den Namen des Teiches Σιλωὰμ durch das griechische ἀπεςαλ - μένος (V. 7.): eine falsche Erklärung, denn ein Abge - schickter heiſst שָׁלוּחַ, wogegen שׁלחַֹ der wahrscheinlich - sten Erklärung zufolge einen Wasserguſs bedeutet28)s. Paulus und Lücke z. d. St.. Der Evangelist wählte aber jene Deutung, weil er zwischen dem Namen des Teichs und der Sendung des Blinden zu demselben eine bedeutungsvolle Beziehung suchte, und sich also vorgestellt zu haben scheint, der Teich habe durch81Neuntes Kapitel. §. 91.besondere Fügung den Namen des Gesendeten bekommen, weil dereinst vom Messias zur Offenbarung seiner Herr - lichkeit ein Blinder zu demselben gesendet werden sollte29)so Euthymius und Paulus z. d. St.. Nun konnte allerdings ein Apostel eine grammatisch un - richtige Erklärung geben, sofern er nur nicht als inspirirt vorausgesetzt wird, und auch ein geborener Palästinenser konnte sich in Etymologieen hebräischer Worte irren, wie das A. T. selber zeigt: doch aber sieht eine Spielerei die - ser Art eher wie das Machwerk eines entfernter Stehen - den als eines Augenzeugen aus. Der Augenzeuge hatte an dem angeschauten Wunder und den vernommenen Reden genug Bedeutungsvolles: erst bei dem entfernter Stehen - den konnte die Mikrologie eintreten, daſs er auch aus den kleinsten Nebenzügen eine Bedeutung herauszupressen such - te. Tholuck und Lücke stossen sich stark an einer sol - chen, wie der Leztere sich ausdrückt, an Unsinn streifen - den Allegorie, welche sie ebendeſswegen sich nicht für jo - hanneisch aufreden lassen wollen, sondern als eine Glosse betrachten. Da jedoch alle kritischen Auktoritäten, bis auf Eine, minder bedeutende, dieselbe bieten, so ist eine solche Behauptung die baare Willkühr, und man hat nur die Wahl, ob man mit Olshausen auch an diesem Zug als einem apostolischen sich erbauen30)b. Comm. 2, S. 230, wo er jedoch das ἀπεςαλμένος auf den von Gott ausgehenden Geistesstrom bezieht., oder mit den Proba - bilien denselben mit unter die Merkmale von dem nicht apostolischen Ursprung des vierten Evangeliums zählen will31)S. 93..

Was nun aber den Verfasser des vierten Evangeliums, oder die Überlieferung, aus welcher er schöpfte, veran - lassen konnte, unzufrieden mit den Blindenheilungen, von welchen die Synoptiker berichten, die vorliegende Erzäh -Das Leben Jesu II. Band. 682Zweiter Abschnitt.lung auszubilden, liegt schon in dem bisher Ausgeführten. Es ist schon von Andern die Bemerkung gemacht, wie das vierte Evangelium zwar wenigere, aber um so stärkere Wun - der von Jesu erzähle32)Köster, Immanuel, S. 79; Bretschneider, Probab. S. 122.. So, wenn die übrigen Evange - lien simple Paralytische haben, welche Jesus heilt, hat das vierte Evangelium einen, der 38 Jahre lang gelähmt war; wenn Jesus in jenen eben Verstorbene wiederbelebt, ruft er in diesem einen schon vier Tage in der Gruft Gelege - nen, bei welchem bereits der Eintritt der Verwesung zu vermuthen war, in das Leben zurück; ebenso hier statt einfacher Blindenheilungen die Heilung eines Blindgebore - nen, eine Steigerung der Wunder, wie sie der apolo - getisch dogmatischen Tendenz dieses Evangeliums ganz angemessen ist. Auf welchem Wege hiebei der Verfasser des Evangeliums oder die particuläre Tradition, welcher er folgte, zu den einzelnen Zügen der Erzählung kommen konnte, ergiebt sich leicht. Das πτύειν war bei magischen Augenkuren gewöhnlich; der πηλὸς lag als Surrogat einer Augensalbe nahe und kommt auch sonst bei zauberhaften Proceduren vor33)Wetstein z. d. St.; der Befehl, sich im Siloateich zu wa - schen, kann der Verordnung Elisa's, daſs der aussätzige Naëman sich siebenmal im Jordan baden solle, nachge - bildet sein. Die Verhandlungen, welche sich an die Hei - lung knüpfen, gehen theils aus der, auch von Storr be - merklich gemachten Tendenz des johanneischen Evangeliums hervor, sowohl die Heilung als die angeborne Blindheit des Menschen möglichst urkundlich zu machen und zu verbür - gen, daher das wiederholte Verhör des Geheilten selbst und sogar seiner Eltern; theils drehen sie sich um die symbo - lische Bedeutung der Ausdrücke: τυφλὸς und βλέπων, ἡμέρα und νὺξ, wie sie zwar auch den Synoptikern nicht fremd ist, noch specifischer jedoch in den johanneischen Bilder - kreis gehört.

83Neuntes Kapitel. §. 92.

§. 92. Heilungen von Paralytischen. Ob Jesus Krankheiten als Sündenstrafen betrachtet habe.

Ein wichtiger Zug in der johanneischen Heilungsge - schichte des Blindgeborenen ist übergangen worden, weil er erst in Verbindung mit einem entsprechenden in der synoptischen Erzählung von der Heilung eines Paralyti - schen (Matth. 9, 1 ff. Marc. 2, 1 ff. Luc. 5, 17 ff. ), die wir demnächst zu betrachten haben, richtig gewürdigt werden kann. Hier nämlich erklärt Jesus dem Kranken zuerst: ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι σου, und hierauf, als Beweis, daſs er zu solcher Sündenvergebung Vollmacht habe, heilt er ihn, wobei die Beziehung auf die jüdische Ansicht nicht verkannt werden kann, daſs das Übel und namentlich die Krankheit des Einzelnen Strafe seiner Sünde sei; eine An - sicht, welche, in ihren Grundzügen im A. T. angelegt (3 Mos. 26, 14 ff. 5 Mos. 28, 15 ff. 2 Chron. 21, 15. 18 f.), von den späteren Juden auf's Bestimmteste ausgesprochen wurde1)Nedarim f. 41, 1. (bei Schöttgen, 1, S. 93.): Dixit R. Chija fil. Abba: nullus aegrotus a morbo suo sanatur, doncc ipsi omnia peccata remissa sint.. Hätten wir nun bloſs jene synoptische Erzäh - lung, so müſsten wir glauben, Jesus habe die Ansicht sei - ner Zeit - und Volksgenossen über diesen Punkt getheilt, indem er ja seine Befugniſs, Sünden (als Grund der Krank - heit) zu vergeben, durch eine Probe seiner Fähigkeit, Krankheiten (die Folgen der Sünde) zu heilen, beweist. Allein, sagt man, es finden sich andre Stellen, wo Jesus die - ser jüdischen Meinung geradezu widerspricht, und daraus folgt, daſs, was er dort zum Paralytischen sprach, bloſse Accommodation an die Vorstellungen des Kranken zur För - derung seiner Heilung war2)Hase, L. J. §. 73. Fritzsche, in Matth. S. 335..

Die Hauptstelle, welche man hiefür anzuführen pflegt,6 *84Zweiter Abschnitt.ist eben die Einleitung der zulezt betrachteten Geschichte vom Blindgeborenen (Joh. 9, 1 3). Hier nämlich legen die Jünger, wie sie den Mann, den sie als von Geburt an Blinden kennen, am Wege stehen sehen, Jesu die Fra - ge vor, ob seine Blindheit Folge seiner eigenen, oder der Sünde seiner Eltern sei? Der Fall war für die jüdische Vergeltungstheorie besonders schwierig. Von Übeln, wel - che einem Menschen erst im Verlauf seines Lebens zuge - stossen sind, wird der auf eine gewisse Seite sich einmal neigende Beobachter leicht irgend welche eigne Verschul - dungen dieses Menschen als Ursache ausfindig machen oder doch voraussetzen. Von angeborenen Übeln dagegen gab zwar die althebräische Ansicht (2 Mos. 20, 5. 5 Mos. 5, 9. 2 Sam. 3, 29.) die Erklärung an die Hand, daſs durch die - selben die Sünden der Vorfahren an den Nachkommen heimgesucht werden; allein, wie für das menschliche Recht das mosaische Gesez selbst festsezte, daſs Jeder nur für eigene Vergehungen solle gestraft werden können (5 Mos. 24, 16. 2 Kön. 14, 6.), und auch in Bezug auf die göttli - che Strafgerechtigkeit die Propheten ein Gleiches ahnten (Jer. 31, 30. Ezech. 18, 19 f.): so ergab sich für angebo - rene Übel dem rabbinischen Scharfsinn der Ausweg, sol - che Menschen mögen wohl schon in Mutterleibe gesündigt haben3)Sanhedr. f. 91, 2. und Bereschith Rabba f. 38, 1. (bei Light - foot S. 1050): Antoninus interrogavit Rabbi (Judam): a quo - nam tempore incipit malus affectus praevalere in homine? an a tempore formationis ejus (in utero), an a tempore pro - cessionis ejus (ex utero)? Dicit ei Rabbi: a tempore for - mationis ejus. , und diese Meinung war es ohne Zweifel auch, welche die Jünger bei ihrer Frage V. 2. voraussetzten Wenn ihnen nun Jesus zur Antwort giebt, weder um ei - ner eignen noch um einer Sünde seiner Eltern willen sei jener Mensch blind zur Welt gekommen, sondern um durch85Neuntes Kapitel. §. 92.die Heilung, welche er als Messias an ihm vollziehen soll - te, die Wundermacht Gottes zur Anschauung zu bringen: so wird dieſs insgemein so verstanden, als hätte damit Je - sus jene ganze Meinung, daſs Krankheit und sonstiges Übel wesentlich Sündenstrafe sei, verworfen. Allein ausdrück - lich spricht hier Jesus nur von dem Falle, der ihm eben vorlag, daſs dieses bestimmte Übel hier nicht in der Ver - schuldung des Individuums, sondern in höheren göttlichen Absichten seinen Grund habe; einen allgemeineren Sinn und die Verwerfung der ganzen jüdischen Ansicht in jenem Ausspruch zu finden, könnte man nur durch andre be - stimmter dahin lautende Ausspräche ein Recht bekommen. Da nun aber dem Obigen zufolge in den synoptischen Evan - gelien eine Erzählung sich findet, welche, einfach aufge - faſst, vielmehr ein Einstimmen Jesu in die herrschende Meinung enthält, so würde sich fragen, was leichter an - gehe, jenen synoptischen Ausspruch Jesu als Accommoda - tion, oder den johanneischen nur mit Bezug auf den vor - liegenden Fall zu fassen? eine Frage, welche Jeder zu Gunsten des lezten Gliedes entscheiden wird, der einerseits die Schwierigkeiten der Accommodationshypothese in ihrer Anwendung auf die evangelischen Aussprüche Jesu kennt, und andrerseits sich klar macht, daſs in der betreffenden Stelle des vierten Evangeliums eine allgemeinere Beziehung des Ausspruchs gar nicht angedeutet ist.

Freilich darf nach richtigen Interpretationsgrundsätzen ein Evangelist nicht unmittelbar aus einem andern erläu - tert werden, sondern es bliebe in unsrem Falle wohl mög - lich, daſs, während die Synoptiker Jesu jene Zeitansicht zuschreiben, der höher gebildete Verfasser des vierten Evangeliums ihn dieselbe verwerfen lieſse: allein daſs auch er jene Abweisung der Zeitansicht von Seiten Jesu nur auf den einzelnen Fall bezog, beweist er durch die Art, wie er ein andermal Jesum reden läſst. Wenn dieser näm - lich zu dem achtunddreiſsigjährigen Kranken Joh. 5. nach86Zweiter Abschnitt.seiner Wiederherstellung warnend sagt: μηκέτι ἁμάρτανε, ἵνα μὴ χεῖρόν τί σοι γένηται (V. 14.), so ist dieſs so gut, als wenn er einem zu Heilenden zuruft: ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι σου, beidemale nämlich wird Krankheit als Sün - denstrafe hier aufgehoben, dort angedroht. Doch auch hier wissen die Erklärer, denen es unwillkommen ist, von Jesu eine Ansicht, welche sie verwerfen, anerkannt zu finden, dem natürlichen Sinne auszuweichen. Jesus soll das be - sondre Übel dieses Menschen als eine natürliche Folge gewisser Ausschweifungen erkannt, und ihn vor Wieder - holung derselben gewarnt haben, weil dieſs eine gefährli - chere Recidive herbeiführen könnte4)Paulus, Comm. 4, S. 264 Lücke, 2, S. 22.. Allein der Denk - weise des Zeitalters Jesu liegt die Einsicht in den natürli - chen Zusammenhang gewisser Ausschweifungen mit gewis - sen Krankheiten als deren Folgen weit ferner als die An - sicht von einem positiven Zusammenhang der Sünde über - haupt mit der Krankheit als deren Strafe; es müſste also, wenn wir dennoch den Worten Jesu den ersteren Sinn sollten unterlegen dürfen, dieser sehr bestimmt in der Stel - le angezeigt sein. Nun aber ist in der ganzen Erzählung von einer bestimmten Ausschweifung des Menschen nicht die Rede, das von Jesu ihm zugerufene μηκέτι ἁμάρτανε be - zeichnet nur Sündigen überhaupt, und eine Unterredung Jesu mit dem Kranken, in welcher er denselben über den Zusammenhang seines Leidens mit einer bestimmten Sünde belehrt hätte, zu suppliren,5)Wie Tholuck z. d. St. thut., ist die willkührlichste Fik - tion. Welche Auslegung, wenn man, um einem dogmatisch unangenehmen Ergebniſs auszuweichen, die eine Stelle (Joh. 9.) zu einer nicht in ihr liegenden Allgemeinheit erweitert, die andere (Matth. 9.) durch die Accommodationshypothe - se eludirt, der dritten (Joh. 5.) einen modernen Begriff gewaltsam aufdrängt: statt daſs, wenn man nur die erste87Neuntes Kapitel. §. 92.Stelle nicht mehr sagen läſst als sie sagt, die beiden an - dern in ihrem zunächst liegenden Sinn nicht im Mindesten angetastet zu werden brauchen!

Doch man bringt noch eine weitere, und zwar syn - optische Stelle herbei, um Jesu die Erhabenheit über die bezeichnete Volksmeinung zu vindiciren. Wie ihm nämlich einmal von Galiläern erzählt wurde, welche Pilatus bei'm Opfern hatte niederhauen lassen, und von andern, welche durch den Einsturz eines Thurmes verunglückt waren (Luc. 13, 1 ff. ), wobei die Erzähler, wie man glauben muſs, zu erkennen gaben, daſs sie jene Unglücksfälle für göttliche Strafen der besondern Verworfenheit jener Leute ansehen, erwiederte Jesus, sie möchten ja nicht glauben, jene Men - schen seien besonders schlecht gewesen; sie selbst seien um nichts besser, und sehen daher, falls sie sich nicht be - kehren, einem gleichen Untergang entgegen. Es ist in der That nicht klar, wie man in dieser Äusserung Jesu eine Verwerfung jener Volksansicht finden kann. Wollte Jesus gegen diese sprechen, so muſste er entweder sagen: ihr seid ebenso groſse Sünder, wenn ihr auch nicht auf die gleiche Weise leiblich zu Grunde gehet; oder: glaubet ihr, daſs jene Menschen ihrer Sünde wegen zu Grunde ge - gangen seien? nein! dieſs sieht man an euch, die ihr un - erachtet eurer Schlechtigkeit doch nicht ebenso zu Grunde gehet. So dagegen, wie der Ausspruch Jesu bei Lukas lautet, kann der Sinn desselben nur dieser sein: daſs jene Menschen schon jezt ein solcher Unfall betroffen hat, be - weist nichts für ihre besondre Schlechtigkeit, so wenig das, daſs ihr bisher von dergleichen verschont geblieben seid, für eure gröſsere Würdigkeit beweist; vielmehr werden früher oder später über euch kommende ähnliche Strafge - richte eure gleiche Schlechtigkeit beurkunden wodurch also das Gesez des Zusammenhangs zwischen Sünde und Unglück jedes Einzelnen bestätigt, nicht umgestoſsen wür - de. Diese vulgär-hebräische Ansicht von Krankheit und88Zweiter Abschnitt.Übel steht nun allerdings im Widerspruch mit jener esote - rischen, essenisch-ebionitischen, die wir im Eingang der Bergrede, im Gleichniſs vom reichen Mann und sonst ge - funden haben, nach welcher vielmehr die Gerechten in die - sem Äon die Leidenden, Armen, Kranken sind: allein bei - de Ansichten liegen einmal in den Äusserungen Jesu für eine unbefangene Exegese zu Tage, und der Widerspruch, welchen wir zwischen beiden finden, berechtigt uns we - der, die eine Klasse von Aussprüchen gewaltsam zu deu - ten, noch auch, sie Jesu abzusprechen, da wir nicht be - rechnen können, wie er den Widerstreit zweier ihm von verschiedenen Seiten der damaligen jüdischen Bildung her gebotenen Weltanschauungen für sich gelöst haben mag.

Was nun die oben erwähnte Heilung betrifft, so las - sen die Synoptiker Jesum den Boten des Täufers gegen - über sich namentlich auch darauf berufen, daſs durch sei - ne Wundermachtχωλοὶ περιπατοῦσιν(Matth. 11, 5.), und ein andermal wundert sich das Volk, wie es neben andern Geheilten auch χωλοὺς περιπατοῦντας und κυλλοὺς ὑγιεῖς er - blickt (Matth. 15, 31.). An der Stelle der χωλοὶ werden anderwärts παραλυτικοὶ aufgeführt (Matth. 4, 24.), und namentlich sind in den detaillirten Heilungsgeschichten, welche wir über diese Art von Kranken haben, (wie Matth. 9, 1 ff. parall. 8, 5 ff. parall. ) nicht χωλοὶ, sondern παρα - λυτικοὶ genannt. Der Kranke Joh. 5, 5. gehörte wohl zu den χωλοῖς, von welchen V. 3. die Rede gewesen war; ebendaselbst sind ξηροὶ aufgeführt, und so finden wir Matth. 12, 9 ff. parall. die Heilung eines Menschen, der eine χεὶρ ξηρὰ hatte. Da jedoch die drei zulezt angeführten Hei - lungen von Gliederkranken unter andern Rubriken uns wiederkehren werden: so bleibt hier nur die Heilung des Paralytischen Matth. 9, 1 ff. parall. zu beleuchten übrig.

Da die Definitionen, welche die alten Ärzte von der παράλυσις geben, zwar alle auf Lähmung, aber unentschie -89Neuntes Kapitel. §. 92.den, ob totale oder partiale, gehen6)Man sehe sie bei Wetstein, N. T. 1, S. 284, und in Wahl's Clavis u. d. A. nach., und überdieſs von den Evangelisten kein strenges Festhalten an der medicini - schen Kunstsprache zu erwarten ist, so müssen wir, was sie unter Paralytischen verstehen, aus ihren eignen Be - schreibungen von dergleichen Kranken entnehmen. In unsrer Stelle nun erfahren wir von dem παραλυτικὸς, daſs er auf einer κλίνη getragen werden muſste, und daſs, ihn zum Aufstehen und Tragen seines Bettes zu befähigen, für ein nie gesehenes παράδοξον galt, woraus wir also auf eine Lähmung wenigstens der Füſse schlieſsen müssen. Während von Schmerzen und einem hitzigen Charakter der Krankheit in unsrem Falle nicht die Rede ist, wird ein solcher in der Geschichte Matth. 8, 6. unverkennbar vor - ausgesezt, wenn der Centurio von seinem Knechte sagt: βέβληται-παραλυτικὸς, δεινῶς βασανιζόμενος, so daſs wir also unter der παράλυσις in den Evangelien bald eine schmerzlos lähmende, bald eine schmerzhaft gichtische Gliederkrankheit zu verstehen hätten7)vgl. Winer, Realw. 1 Aufl. S. 776. und Fritzsche, in Matth. p. 194..

In Schilderung der Scene, wie der Paralytische Matth. 9, 1 ff. parall. zu Jesu gebracht wird, findet zwischen den drei Berichten eine merkliche Abstufung statt. Matthäus sagt einfach, wie Jesus von einem Ausflug an das jensei - tige Ufer nach Kapernaum zurückgekehrt sei, habe man ihm einen Paralytischen, auf einem Lager hingestreckt, ge - bracht. Lukas beschreibt genau, wie Jesus, von einer groſsen Menge, namentlich von Pharisäern und Schrift - gelehrten, umgeben, in einem Hause lehrte und heilte, und wie die Träger des Paralytischen, weil sie vor der Volks - menge nicht durch die Thüre zu Jesu gelangen konnten, den Kranken durch das Dach zu ihm niederlieſsen. Be -90Zweiter Abschnitt.denkt man die Struktur morgenländischer Häuser, auf de - ren plattes Dach aus dem oberen Stockwerk eine Öffnung führte8)Winer, a. a. O. u. d. A. Dach., und nimmt man den rabbinischen Sprachgebrauch hinzu, in welchem der via per portam (דרך פתחים) die via per tectum (דרך גגין) als nicht minder ordentlicher Weg, namentlich um in das ὑπερῷον zu gelangen, gegen - übergestellt wird: so kann man unter dem καϑιέναι διὰ τῶν κεράμων schwerlich etwas Anderes verstehen, als daſs die Träger, welche entweder mittelst einer unmittelbar von der Strasse dahin führenden Treppe, oder vom Dache des Nachbarhauses aus auf das platte Dach des Hauses, in welchem Jesus sich befand, gelangt waren, den Kranken sammt seinem Bette durch die im Dachboden bereits be - findliche Öffnung, wie es scheint an Stricken, zu Jesu her - abgelassen haben. Markus, der in der Verlegung der Sce - ne nach Kapernaum mit Matthäus, in Schilderung des gros - sen Gedränges und der dadurch veranlaſsten Besteigung des Daches mit Lukas zusammenstimmt, geht, ausserdem, daſs er die Zahl der Träger auf viere festsezt, darin noch wei - ter als Lukas, daſs er dieselben, ohne Rücksicht auf die schon vorher vorhandene Thüre, das Dach abdecken und durch eine erst aufgegrabene Öffnung den Kranken hinun - terbefördern läſst.

Fragen wir auch hier, in welcher Richtung, ob auf - wärts oder abwärts, der Klimax wohl eher entstanden sein möge, so hat die auf der Spitze desselben stehende Erzäh - lung des Markus so viel Schwieriges, daſs sie wohl kaum für die der Wahrheit nächste wird angesehen werden kön - nen. Denn nicht allein von Gegnern ist gefragt worden, wie denn das Dach habe aufgegraben werden können, oh - ne die darunter Befindlichen zu beschädigen10)Woolston, Disc. 4.? sondern9)Lightfoot, p. 601.91Neuntes Kapitel. §. 92.auch Olshausen räumt ein, daſs die Zerstörung der oberen, mit Ziegeln bedeckten Fläche etwas Abenteuerliches ha - be11)1, S. 310 f.. Diesem auszuweichen nehmen manche Erklärer an, Jesus habe entweder im inneren Hofe12)Köster, Immanuel, S. 166. Anm. 66., oder vor dem Hause13)So scheint es Paulus zu meinen, L. J. 1, a. S. 238. Anders ex. Handb. 1, b, S. 505. unter freiem Himmel gelehrt, und die Träger ha - ben nur von der Brustwehr des Daches ein Stück heraus - gebrochen, um den Kranken bequemer herunterlassen zu können. Allein sowohl die Bezeichnung: διὰ τῶν κεράμων bei Lukas, als die Ausdrücke des Markus machen diese Auffassung unmöglich, indem hier weder ςέγη Brustwehr des Dachs, noch ἀποςεγάζω das Durchbrechen von dieser, ἐξορύττω aber doch nur das Aufgraben eines Loches be - deuten kann. Bleibt hiemit das Aufbrechen des oberen Dachbodens, so wird dieſs auch noch deſswegen unwahr - scheinlich, weil es bei der in jedem Dache befindlichen Thüre völlig überflüssig war. Daher hat man sich durch die Annahme zu helfen gesucht, daſs die Träger zwar die im Dache schon vorher befindliche Thüre benüzt, diese aber, weil sie für die Lagerstatt des Kranken zu eng ge - wesen, durch Wegbrechen der umgebenden Ziegellagen er - weitert haben14)So Lightfoot, Ruinöl, Olshausen z. d. St.; allein auch hiebei bleibt das Gefährli - che, und die Worte lauten von einer eigens gemachten, nicht blos erweiterten Öffnung im Dache.

So gefährlich und überflüssig aber ein solches Begin - nen in der Wirklichkeit war, so leicht läſst sich erklären, wie Markus, in weiterer Ausmalung des Berichtes von Lukas begriffen, auf diesen Zug verfallen konnte. Lukas hatte gesagt, man habe den Kranken hinabgelassen, so daſs er ἔμπροσϑεν τοῦἸησοῦ herunterkam. Wie konnten die Leute ge -92Zweiter Abschnitt.rade diese Stelle treffen, fragte sich Markus, wenn Jesus nicht zufällig unter der Thüre des Daches stand, als da - durch, daſs sie das Dach in der Gegend, unter welcher sie Jesum befindlich wuſsten, aufbrachen, (ἀπεςέγασαν τὴν ςέγην ὅπου ἦν15)s. Fritzsche, in Marc. S. 52.? ein Zug, den Markus um so lieber aufnahm, weil er den keine Mühe scheuenden Eifer, wel - chen das Zutrauen zu Jesu den Leuten einflöſste, in das stärkste Licht zu setzen geeignet war. Aber eben aus dem lezteren Interesse scheint auch schon die Abweichung des Lukas von Matthäus hervorgegangen zu sein. Bei Mat - thäus nämlich, der die Träger den Paralytischen auf dem gewöhnlichen Wege zu Jesu bringen läſst, indem er ohne Zweifel das mühselige Herbeischleppen des Kranken auf seinem Lager für sich schon als Probe ihres Glaubens an - sah, tritt es doch minder bestimmt hervor, worin Jesus ihre πίςις gesehen haben soll. Wurde nun die Geschichte ursprünglich so, wie sie im ersten Evangelium lautet, vor - getragen, so konnte leicht der Reiz entstehen, ein mehr hervortretendes Zeichen ihres Zutrauens für die Träger ausfindig zu machen, welches, sofern man die Scene zu - gleich in groſsem Volksgedränge vor sich gehen lieſs, am angemessensten in dem ungewöhnlichen Wege bestanden zu haben scheinen konnte, welchen die Leute einschlugen, um ihren Kranken zu Jesu zu bringen.

Doch auch die Darstellung des Matthäus können wir nicht für treuen Bericht von einem Faktum halten. Man hat zwar den Erfolg dadurch als einen natürlichen darzu - stellen gesucht, daſs man den Zustand des Kranken nur für Nervenschwäche erklärte, bei welcher das Schlimmste die Einbildung des Kranken, sein Übel müsse als Sünden - strafe fortdauern, gewesen sei16)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 498. 501.; man hat sich auf ana - loge Fälle schneller psychischer Heilung von Lähmungen93Neuntes Kapitel. §. 93.berufen17)Bengel, Gnomon, 1, S. 245. ed. 2. Paulus, S. 502, nimmt auch hier wieder ein offenbares Mährchen aus Livius 2, 36, als natürlich erklärbare Geschichte., und eine länger fortgesezte Nachkur ange - nommen18)Paulus, a. a. O. S. 501.; allein das Erste und Lezte ist reine Will - kühr; wenn aber an den angeblichen Analogieen auch et - was Wahres sein sollte, so ist es doch immerhin ohne Vergleichung leichter möglich gewesen, daſs Heilungsge - schichten von χωλοῖς und παραλυτικοῖς den messianischen Erwartungen gemäſs sich in der Sage bilden, als daſs sie wirklich erfolgen konnten. In der schon angeführten Stelle des Jesaias nämlich, 35, 6, war von der messianischen Zeit auch verheiſsen: τότε ἁλεῖται ὡς ἐλαφος χωλὸς, und in demselben Zusammenhang, V. 3., war den γόνατα πα - ραλελυμένα ein ἰσχύσατε zugerufen, was, wie die übrigen damit zusammenhängenden Züge, später eigentlich verstan - den und als Wunderleistung vom Messias erwartet worden sein muſs, da sich, wie schon erwähnt, Jesus, zum Be - weis, daſs er der ἐρχόμενος sei, auch darauf, daſs χωλοὶ περιπατοῦσι, berief.

§. 93. Unwillkührliche Heilungen.

Etlichemale in ihren allgemeinen Angaben über die hei - lende Thätigkeit Jesu bemerken die Synoptiker, daſs Kranke aller Art Jesum nur zu berühren, oder am Saum seines Kleides zu fassen gesucht haben, um geheilt zu werden, was dann auf die Berührung hin auch wirklich erfolgt sei (Matth. 14, 36. Marc. 3, 10. 6, 56. Luc. 6, 19.). Hier wirkte also Jesus nicht, wie wir es bis jezt immer gefun - den haben, mit bestimmter Richtung auf einzelne Kranke, sondern, ohne daſs er von jedem besondre Notiz nehmen konnte, auf ganze Massen; sein Vermögen zu heilen er - scheint hier nicht, wie sonst, an seinen Willen, sondern94Zweiter Abschnitt.an seinen Leib und dessen Umhüllungen gebunden; er spendet nicht selbstthätig Kräfte aus, sondern muſs sich dieselben unwillkührlich abgewinnen lassen.

Auch von dieser Gattung der Heilungswunder ist uns ein detaillirtes Beispiel aufbehalten, in der Geschichte von der blutflüssigen Frau, welche sämmtliche Synoptiker wie - dergeben, und sie auf eigenthümliche Weise mit der Ge - schichte von der Auferweckung der Tochter des Jairus so verflechten, daſs auf dem Hinweg zu dessen Hause Jesus die Frau geheilt haben soll (Matth. 9, 20 ff. Marc. 5, 25 ff. Luc. 8, 43 ff.). Vergleichen wir die Darstellung des Vorgangs bei den verschiedenen Evangelisten, so könn - ten wir dieſsmal versucht sein, die des Lukas für die ur - sprüngliche zu halten, weil aus ihr die gleichmäſsige Ver - bindung der bezeichneten zwei Geschichten sich vielleicht erklären lieſse. Wie nämlich die Leidenszeit der Frau von sämmtlichen Referenten, so wird von Lukas, welchem Markus folgt, auch das Lebensalter des Mädchens auf zwölf Jahre gesezt, eine Gleichheit der Zahl, welche wohl im Stande gewesen könnte, die beiden Geschichten in der evangelischen Überlieferung zusammenzugesellen. Doch die - ses Moment steht viel zu vereinzelt, um für sich eine Ent - scheidung herbeizuführen, welche nur aus einer durchge - führten Vergleichung der drei Berichte nach ihren einzel - nen Zügen hervorgehen kann. Matthäus nun bezeichnet die Frau einfach als γυνὴ αἱμοῤῥοοῦσα δώδεκα ἔτη, was ei - nen so lange andauernden starken Blutverlust, vermuth - lich in Form zu reichlicher Menstruation, bedeutet. Lu - kas, der angebliche Arzt, zeigt sich hier seinen Kunstver - wandten keineswegs hold, sondern sezt hinzu, die Frau habe ihr ganzes Vermögen an Ärzte gewendet, ohne daſs diese ihr hätten helfen können. Markus, noch ungünsti - ger, fügt bei, daſs sie von den vielen Ärzten viel habe leiden müssen, und daſs es durch dieselben, statt besser, vielmehr schlimmer mit ihr geworden sei. Die Umgebung95Neuntes Kapitel. §. 93.Jesu, als die Frau zu ihm tritt, bilden nach Matthäus seine Jünger, nach Markus und Lukas drängende Volks - massen. Nachdem nun alle drei Berichterstatter erzählt haben, wie die Frau, ebenso schüchtern als vertrauens - voll, von hinten herzugetreten sei und den Saum von Jesu Gewand berührt habe, melden Markus und Lukas, sie sei alsbald geheilt worden, Jesus aber habe das Ausgehen ei - ner Kraft gefühlt und gefragt, wer ihn berührt habe? Als die Jünger befremdet erwiedern, wie er denn bei so all - gemeinem Drängen und Drücken des Volks eine einzelne Berührung habe unterscheiden können? beharrt er nach Lukas auf seiner Behauptung, nach Markus blickt er su - chend um sich, die Thäterin ausfindig zu machen. Auf dieses kommt nach beiden die Frau zitternd herbei, fällt ihm zu Füſsen und bekennt Alles, worauf er ihr die be - ruhigende Versicherung giebt, daſs ihr Glaube ihr gehol - fen habe. Diesen complicirten Hergang hat Matthäus nicht, sondern läſst nach der Berührung Jesum sich umschauen, die Frau entdecken, ihr die Rettung durch ihren Glauben verkündigen, und sofort ihre Heilung erfolgen.

Die vorgelegte Differenz ist so erheblich, daſs man sich nicht zu sehr wundern darf, wenn Storr zwei ver - schiedene Heilungen blutflüssiger Frauen annehmen woll - te1)Über den Zweck der evang. Gesch. und der Br. Joh. S. 351 f.. Wurde er aber hiezu noch mehr durch die bedeu - tenderen Abweichungen bestimmt, welche in der mit vor - liegender Heilungsgeschichte verflochtenen Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Jairus sich finden: so wird es eben durch diese Verflechtung vollends unmöglich, sich vorzustellen, daſs Jesus zweimal, beidemale im Hin - weg zur Wiederbelebung der Tochter eines jüdischen ἄρ - χων, eine zwölf Jahre lang mit dem Blutfluſs behaftete Frau geheilt haben solle. Wenn in Betracht dessen die Kritik längst für die Einheit der faktischen Grundlage un -96Zweiter Abschnitt.serer drei Erzählungen sich entschieden hat, so hat sie zugleich den Berichten des Markus und Lukas, ihrer grös - seren Anschaulichkeit wegen, den Vorzug gegeben2)Schulz, a. a. O. S. 317; Olshausen, 1, S. 322.. Al - lein, gleich von vorne, wenn doch von Markus Jeder zu - geben wird, daſs sein Zusaz: ἀλλὰ μᾶλλον εἰς τὸ χεῖ - ρον ἐλϑοῦσα, als Ausmalung des οὐκ ἴσχυσεν ὑπ̕ οὐδενὸς ϑε - ραπευϑῆναι bei Lukas, auf seine eigene Rechnung kommt: so scheint dieser Zug bei Lukas gleichfalls nur eine selbst - erschlossene Ergänzung des αἱμοῤῥοοῦσα δώδεκα ἔτη zu sein, welches Matthäus ohne Zusaz wiedergiebt. War die Frau so lange krank, dachte man, so wird sie in dieser Zeit viel mit Ärzten zu thun gehabt haben, und weil zugleich im Contrast gegen die Ärzte, welche nichts ausgerichtet hatten, die Wundermacht Jesu, welche augenblicklich Hülfe schaffte, in um so glänzenderem Lichte erschien: so bildeten sich in der Sage oder bei den Referenten jene Zusätze. Wie nun, wenn es mit den übrigen Differenzen sich ebenso verhielte? Daſs die Frau auch nach Matthäus Jesum nur von hinten berührte, drückte das Bestreben und die Hoffnung aus, verborgen zu bleiben; daſs Jesus sich sogleich nach ihr umsah, darin lag, daſs er ihre Berüh - rung gefühlt haben muſste. Jene Hoffnung der Frau wurde erklärlicher und dieses Gefühl Jesu um so wundervoller, je mehr Menschen Jesum umgaben und drängten: daher wurde aus dem Geleite der μαϑηταὶ bei Matthäus von den beiden andern ein συνϑλίβεσϑαι durch die ὄχλοι gemacht. Da zugleich in dem auch von Matthäus erwähnten Um - schauen Jesu nach der Berührung die Voraussetzung lag, daſs er diese auf eigenthümliche Weise empfunden habe, so bildete sich weiterhin die Scene aus, wie Jesus, ob - gleich von allen Seiten gedrängt, doch jene einzelne Be - rührung an der Kraft, die sie ihm entlockte, herausfühlt, und so wurde das einfache ἐπιςραφεὶς καὶ ἰδὼν αὐτὴν des97Neuntes Kapitel. §. 93.Matthäus zu einem fragenden und die Thäterin aus der Menge heraussuchenden Sichumwenden, welches das Ge - ständniſs der Frau zur Folge hatte, umgebildet. Endlich, weil als das Eigenthümliche dieser Heilungsgeschichte, auch nach ihrer Gestalt im ersten Evangelium, das Ausgehen ei - ner Heilkraft aus Jesu noch ehe er die hülfesuchende Per - son gesehen hatte, sich bemerklich macht: so bestrebte man sich bei'm Weitererzählen der Geschichte immer mehr, unmittelbar nach der Berührung den Erfolg eintreten, und Jesum auch nach demselben noch längere Zeit über die Thäterin in Ungewiſsheit sein zu lassen (Lezteres im Wi - derspruch mit der sonstigen Voraussetzung eines höheren Wissens Jesu); so daſs sich von allen Seiten die Erzäh - lung des ersten Evangeliums als die frühere und einfachere, die der beiden andern als spätere und ausgeschmücktere Formation der Sage zu erkennen giebt.

Was nun den gemeinschaftlichen Inhalt der Erzählungen betrifft, so ist in neuerer Zeit beiden, orthodoxen wie ra - tionalistischen Theologen das Unwillkührliche des heilenden Einwirkens Jesu ein Anstoſs gewesen. Gar zu sehr hierin stimmen Paulus und Olshausen zusammen3)ex. Handb. 1, b, S. 524 f.; bibl. Comm. 1, S. 324 f.; vgl. Köster, Immanuel, S. 201 ff. werde hiedurch die Wirksamkeit Jesu in das Gebiet des Physi - schen herabgezogen; Jesus erscheine da wie ein Magne - tiseur, welcher bei der heilenden Berührung nervenschwa - cher Personen einen Abgang an Kraft verspürt; wie eine geladene elektrische Batterie, die bei'm Betasten sich ent - ladet. Eine solche Vorstellung von Christo, meint Ols - hausen, verbiete das christliche Bewuſstsein, welches sich vielmehr genöthigt finde, die in Jesu wohnende Kraftfülle als durchaus beherrscht durch seinen Willen, und diesen geleitet durch das Bewuſstsein von dem sittlichen Zustande der zu heilenden Personen, sich zu denken. DeſswegenDas Leben Jesu II. Band. 798Zweiter Abschnitt.wird nun vorausgesezt, Jesus habe die Frau auch ungese - hen wohl erkannt, und mit Rücksicht auf ihre Fähigkeit, durch diese leibliche Hülfe auch geistig gewonnen zu wer - den, seine heilende Kraft wohlbedacht in sie ausströmen lassen, sich aber, um ihre falsche Scham zu brechen und sie zum offenen Bekenntniſs zu treiben, gestellt, als ob er nicht wüſste, wer ihn berührt habe. Allein das christliche Bewuſstsein, d. h. in dergleichen Fällen nichts Anderes, als die fortgeschrittene religiöse Bildung unsrer Zeit, wel - che die alterthümlichen Vorstellungen der Bibel nicht zu den ihrigen machen will, hat zu schweigen, wo es eben nicht auf dogmatische Aneignung, sondern rein auf exege - tische Ermittlung der biblischen Vorstellungen ankommt. Wie von der Einmischung dieses angeblich christlichen Be - wuſstseins alle Verirrungen der Exegese herrühren, so hat es auch hier den genannten Ausleger von dem offenbaren Sinn der Berichte abgeführt. Denn nicht nur lautet in den beiden ausführlicheren Erzählungen die Frage Jesu: τίς μου ἥψατο; in der Art, wie er sie bei Lukas wieder - holt und bei Markus durch ein suchendes Umherblicken bekräftigt, durchaus als eine ernstlich gemeinte, wie ja überhaupt die Bemühung dieser beiden Evangelisten dahin geht, das Wunderbare an der Heilkraft Jesu dadurch in ein besonders helles Licht zu setzen, daſs durch bloſse glaubige Berührung seines Gewandes, ohne daſs er die be - rührende Person erst zu kennen, oder ein Wort zu ihr zu spre - chen brauchte, Heilung von ihm zu erlangen gewesen sei: sondern auch ursprünglich schon in der kürzeren Darstel - lung des Matthäus liegt in dem προσελϑοῦσα ὄπισϑεν ἥψα - το und ἐπιςραφεὶς ἰδὼν αὐτὴν deutlich dieſs, daſs Jesus erst nachträglich die Frau kennen gelernt habe, nachdem bereits die heilende Kraft in sie ausgeströmt war. Läſst sich somit eine der Heilung vorausgegangene Kenntniſs der Frau und ein specieller Wille, ihr zu helfen, bei Jesu nicht nachweisen, so bliebe für denjenigen, welcher keine un -99Neuntes Kapitel. §. 93.willkührliche Äusserung der Heilkraft Jesu annehmen will, nur übrig, einen beständigen allgemeinen Willen, zu heilen, in ihm vorauszusetzen, mit welchem dann nur der Glau - be im Kranken zusammentreffen durfte, um die wirkliche Heilung hervorzubringen. Allein daſs, unerachtet eine specielle Willensrichtung auf die Heilung dieser Frau in Jesu nicht vorhanden war, sie durch ihren bloſsen Glauben, auch oh - ne Berührung seines Kleides gesund geworden wäre, ist gewiſs nicht die Vorstellung der Evangelisten, sondern es tritt hier an die Stelle des individuellen Willensaktes von Seiten Jesu die Berührung von Seiten des Kranken; diese ist es, welche statt des ersteren die in Jesu ruhende Kraft zur Äusserung bringt: so daſs mithin das Materialistische der Vorstellung auf diesem Wege nicht zu vermeiden ist.

Einen Schritt weiter muſs die rationalistische Ausle - gung gehen, welcher nicht bloſs, wie dem modernen Su - pranaturalismus, ein unbewuſstes, sondern überhaupt das Ausgehen heilender Kräfte von Jesu unglaublich ist, wel - che aber doch die Evangelisten geschichtlich wahr erzäh - len lassen will. Nach ihr wurde Jesus zu der Frage, wer ihn berührt habe, lediglich dadurch veranlaſst, daſs er sich im Vorwärtsgehen aufgehalten fühlte; daſs die Empfindung einer δύναμις ἐξελϑοῦσα die Veranlassung gewesen sei, is - bloſser Schluſs zweier Referenten, von welchen der eine Markus, es auch bloſs als eigene Bemerkung giebt, und nur Lukas es der Frage Jesu einverleibt; die Genesung der Frau wurde durch ihr exaltirtes Zutrauen bewirkt, vermöge dessen sie bei der Berührung des Saumes Jesu in allen Nerven zusammenschauderte, wodurch vielleicht eine plözli - che Zusammenziehung der erweiterten Blutgefäſse herbei - geführt wurde; übrigens konnte sie im Augenblick nur meinen, nicht gewiſs wissen, geheilt zu sein, und erst nach und nach, vielleicht in Folge des Gebrauchs von Mit - teln, die ihr Jesus anrieth, wird das Übel sich völlig ver -7 *100Zweiter Abschnitt.loren haben4)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 524 f. 530; L. J. 1, a, S. 244 f.; Venturini, 2, S. 204 ff. ; Köster a. a. O.. Allein wer wird sich die schüchterne Be - rührung einer kranken Frau, deren Absicht war, verbor - gen zu bleiben, und deren Glaube auch durch das leiseste Anstreifen Heilung zu erlangen gewiſs war, als ein Anfas - sen, das Jesum im Gehen aufhielt, vorstellen? was für ein mächtiges Vertrauen ferner auf die Macht des Vertrauens gehört zu der Annahme, daſs es ohne Hinzutritt einer rea - len Kraft von Seiten Jesu einen zwölfjährigen Blutfluſs geheilt oder auch nur gemindert habe? endlich aber, wenn die Evangelisten einen selbstgemachten Schluſs (daſs eine Kraft von ihm ausgegangen) Jesu in den Mund gelegt, und eine nur successiv eingetretene Wiederherstellung als eine momentane beschrieben haben sollen: so fällt mit dem Auf - geben dieser Züge die Bürgschaft für die historische Rea - lität der ganzen Erzählung, aber ebendamit auch die Ver - anlassung hinweg, sich mit der natürlichen Erklärung ver - gebliche Mühe zu machen.

In der That auch, betrachten wir nur die vorliegende Erzählung etwas näher, und vergleichen sie mit verwand - ten Anekdoten, so können wir über ihren eigentlichen Cha - rakter nicht im Zweifel bleiben. Wie hier und an eini - gen andern Stellen von Jesu erzählt wird, daſs durch blo - se Berührung seines Kleides Kranke genesen seien: so be - richtet die Apostelgeschichte, daſs die σουδάρια und σιμι - κίνϑια des Paulus, wenn man sie auflegte (19, 11 f.), und von Petrus selbst der Schatten, wenn er auf einen fiel (5, 15.), Kranke aller Art gesund gemacht habe, und apo - kryphische Evangelien lassen durch die Windeln und das Waschwasser des Kindes Jesu eine Masse von Kuren ver - richtet werden5)s. das Evangelium infantiae arabicum.. Von diesen lezteren Geschichten weiſs Jedermann, daſs er sich mit denselben auf dem Gebiet der101Neuntes Kapitel. §. 93.Sage und Legende befindet; aber wodurch sollen sich von diesen Kuren durch die Windeln Jesu die Heilungen durch die Schweiſstücher Pauli unterscheiden, als etwa dadurch, daſs jene von einem Kinde, diese von einem Erwachsenen ausgehen? Gewiſs, stände die leztere Nachricht nicht in einem kanonischen Buche, so würde sie Jedermann für fa - belhaft halten: und doch soll die Glaubwürdigkeit der Er - zählungen nicht aus dem vorausgesezten Ursprung des Buchs, das sie enthält, sondern die Ansicht von dem Buche muſs aus der Beschaffenheit seiner einzelnen Erzählungen er - schlossen werden. Zwischen diesen Heilungen durch die Schweiſstücher aber und denen durch die Berührung des Saums am Kleide findet wieder kein wesentlicher Unter - schied statt. Beidemale eine Berührung von Gegenständen, welche nur in äusserem Zusammenhang mit dem Wunder - thäter stehen; nur daſs dieser Zusammenhang bei den abgelegten Schweiſstüchern ein unterbrochener, bei dem Gewande noch ein fortdauernder ist; beidemale aber werden Erfolge, welche doch auch der orthodoxe Stand - punkt nur aus dem geistigen Wesen jener Männer ablei - ten, und als Akte ihres mit dem göttlichen einigen Willens betrachten kann, zu physischen Wirkungen und Ausflüs - sen gemacht. Steigt hiemit die Sache vom religiösen und theologischen Standpunkt auf den natürlichen und physi - kalischen herunter, weil ein Mensch mit einer solchen sei - nem Körper inwohnenden und ihn als Atmosphäre umflies - senden Heilkraft zu den Gegenständen der Naturkunde, nicht mehr der Religion, gehören würde: so findet sich die Naturwissenschaft ausser Stands, eine solche Heilkraft durch sichere Analogieen oder klare Begriffe festzustellen, und es fallen also jene Heilungen, vom objektiven Gebiet auf das subjektive vertrieben, der Psychologie zur Begutach - tung anheim. Diese wird nun allerdings, wenn sie die Macht der Einbildung und des Glaubens in Rechnung nimmt, für möglich erachten, daſs ohne eine wirkliche102Zweiter Abschnitt.Heikraft in dem vermeintlichen Wunderthäter, einzig durch das überschwengliche Zutrauen des Kranken zu demsel - ben, körperliche Leiden, welche mit dem Nervensystem in engerem Zusammenhang stehen, geheilt werden können: wenn nun aber die Psychologie geschichtliche Belege hie - für aufsucht, so wird die Kritik, welche sie hiebei zu Hül - fe zu nehmen hat, bald finden, daſs eine weit gröſsere Zahl von dergleichen Kuren durch den Glauben Anderer erdich - tet, als durch den angeblich dabei Betheiligter verrichtet worden ist. So wäre es zwar keineswegs an sich un - möglich, daſs durch den starken Glauben an eine selbst den Kleidern und Tüchern Jesu und der Apostel inwoh - nende Heilkraft manche Kranke bei Berührung derselben wirklich Besserung verspürt hätten: aber mindestens eben - sogut läſst sich denken, daſs man erst später, als nach dem Tode jener Männer ihr Ansehen in der Gemeinde im - mer höher stieg, dergleichen sich glaubig erzählt habe, und es kommt auf die Beschaffenheit der Berichte hierüber an, für welche von beiden Annahmen man sich zu entscheiden hat. An den allgemeinen Angaben nun in den Evangelien und der A. G., welche ganze Massen auf jene Weise ku - rirt werden lassen, ist eben diese Häufung jedenfalls tra - ditionell; die detaillirte Geschichte aber, welche wir bis - her untersucht haben, hat darin, daſs sie die Frau ganze zwölf Jahre lang an einer sehr hartnäckigen und am we - nigsten blos psychisch zu heilenden Krankheit leiden, und die Heilung, statt durch die Einbildung der Kranken, durch eine Jesu fühlbar entströmte Kraft vor sich gehen läſst, so viel Mythisches, daſs wir eine historische Grundlage gar nicht mehr herausfinden können, und das Ganze als Sage betrachten müssen.

Was diesem Zweige der evangelischen Wundersage im Unterschied von andern sein Dasein gegeben hat, ist nicht schwer zu sehen. Der sinnliche Glaube des Volks, unfä - hig, das Göttliche mit dem Gedanken zu ergreifen, strebt,103Neuntes Kapitel. §. 94.es immer mehr in das materielle Sein herabzuziehen. Da - her muſste nach der späteren Meinung der heilige Mann als Knochenreliquie Wunder thun, Christi Leib in der ver - wandelten Hostie gegenwärtig sein, und ebendaher auch nach einer schon frühe ausgebildeten Vorstellung die Heil - kraft der neutestamentlichen Männer an ihrem Leib und dessen Bedeckungen haften. Je weniger man Jesu Worte faſste, desto mehr hielt man auf das Fassen seines Man - tels, und je mehr man sich von der freien Geisteskraft des Apostels Paulus entfernte, desto getroster lieſs man seine Heilkraft im Schweiſstuch nach Hause tragen.

§. 94. Heilungen in die Ferne.

Von jenen unwillkührlichen Heilungen sind nun sol - che, welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigent - lich das gerade Gegentheil. Geschehen jene durch bloſse körperliche Berührung, ohne besondern Willensakt: so er - folgen diese durch den bloſsen Willensakt ohne leibliche Berührung oder auch nur räumliche Nähe. Zugleich aber muſs man sagen: war die Heilkraft Jesu so materiell, daſs sie bei der bloſsen leiblichen Berührung unwillkührlich sich entlud, so kann sie nicht so geistig gewesen sein, daſs der bloſse Wille sie auch über bedeutende Entfernungen hin - übergetragen hätte; war sie aber so geistig, um auch oh - ne leibliche Gegenwart zu wirken, so kann sie nicht so materiell gewesen sein, um ohne Willen sich zu entladen. Da wir nun jene reinphysische Wirkungsweise Jesu be - zweifelt haben: so bliebe uns für diese geistige freier Raum, und die Entscheidung über dieselbe wird also rein von der Untersuchung der Berichte und der Sache selber abhängen.

Als Proben einer solchen in die Ferne wirkenden Heil - kraft Jesu berichten uns Matthäus und Lukas die Heilung des kranken Knechts eines Hauptmanns zu Kapernaum, Johannes die des kranken Sohns eines βασιλικὸς ebenda -104Zweiter Abschnitt.selbst (Matth. 8, 5 ff. Luc. 7, 1 ff. Joh. 4, 46 ff. ); ferner Matthäus (15, 22 ff. ) und Markus (7, 25 ff. ) die Heilung der Tochter des kananäischen Weibes, wovon, da die leztere in der summarischen Relation nichts Eigenthümliches hat, nur die ersteren beiden hier zu untersuchen sind. Die gewöhnliche Ansicht nämlich über die bezeichneten Erzäh - lungen ist die, daſs zwar Matthäus und Lukas dasselbe, Johannes aber ein von diesem verschiedenes Faktum mel - de, da sein Bericht von dem der beiden andern in folgen - den Zügen abweiche: 1) der Ort, von wo aus Jesus hei - le, sei bei den Synoptikern der Aufenthaltsort des Kran - ken, Kapernaum, nach Johannes ein davon verschiedener, nämlich Kana; 2) die Zeit, in welche die Synoptiker die Begebenheit setzen, nämlich beide unmittelbar hinter die Heimkehr Jesu nach der Bergrede, sei von der im vierten Evangelium angegebenen, ebenso unmittelbar nach der Rück - kehr Jesu vom ersten Pascha und seiner Wirksamkeit in Samaria, verschieden; 3) der Kranke sei nach jenen der Sklave, nach diesem der Sohn des Bittstellers; die wich - tigsten Abweichungen aber finden 4) in Hinsicht des Bitt - stellers selber statt, indem er im ersten und dritten Evan - gelium eine Militärperson (ein ἑκατόνταρχος), im vierten ein Hofbeamter (βασιλικὸς), nach jenen (laut V. 10 ff. bei Matth.) ein Heide, nach diesem ohne Zweifel als Jude zu denken sei; hauptsächlich aber werde er nach den Synop - tikern von Jesu als Muster des innigsten, demüthigsten Glaubens belobt, weil er ja Jesum in der Zuversicht, daſs er auch aus der Ferne heilen könne, verhinderte, in sein Haus zu gehen: nach Johannes dagegen werde er umge - kehrt, weil er die Gegenwart Jesu in seinem Hause zum Behuf der Heilung für nöthig hielt, wegen seines schwa - chen, der σημεῖα und τέρατα bedürftigen Glaubens geta - delt1)s. die Ausführungen von Paulus, Lücke, Tholuck und Ols - hausen z. d. St..

105Neuntes Kapitel. §. 94.

Diese Abweichungen sind allerdings bedeutend genug, um von einem gewissen Gesichtspunkt aus um ihretwillen auf der Verschiedenheit des dem synoptischen und des dem johanneischen Berichte zum Grunde liegenden Faktischen zu beharren: nur sollte man, wenn man es von dieser Seite so genau nimmt, sich über die Abweichungen, welche auch zwischen den beiden synoptischen Berichten stattfinden, nicht verblenden. Schon in Bezeichnung der Person des Leidenden stimmen sie nicht ganz zusammen: Lukas heiſst ihn einen δοῦλος ἔντιμος des Hauptmanns, bei Matthäus nennt dieser ihn παῖς μου, was ebensowohl einen Sohn als einen Diener bedeuten kann, und dadurch, daſs der Hauptmann V. 9, wo er von seinem Knechte spricht, den Ausdruck: δοῦλος gebraucht, während der Geheilte V. 13. wieder als παῖς αὐτοῦ bezeichnet wird, eher im ersteren Sinne erklärt zu sein scheint. In Betreff seines Leidens wird der Mensch von Matthäus als ein παραλυτικὸς δει - νῶς βασανιζόμενος geschildert, von welcher Krankheitsform Lukas nicht allein schweigt, sondern, indem er zu dem unbe - stimmten: κακῶς ἔχων noch ἤμελλε τελευτᾷν sezt, Manchen eine andere Krankheit vorauszusetzen scheint, da die Pa - ralyse sonst nicht als schnell tödtende Krankheit vor - komme2)Schleiermacher, über den Lukas, S. 92.. Als die bedeutendste Differenz aber geht durch die ganze Erzählung diese hindurch, daſs Alles, was nach Matthäus der Centurio unmittelbar selbst thut, bei Lukas durch Gesandtschaften vermittelt ist, indem er hier zuerst schon, nicht wie bei Matthäus persönlich, sondern durch die πρεσβυτέρους τῶν Ἰουδαίων Jesum um die Heilung ersucht, dann aber von dem Betreten seines Hauses ihn wiederum nicht selbst zurückhält, sondern durch einige Freunde ab - mahnen läſst. Zur Ausgleichung dieser Differenz pflegt man sich auf die Regel: quod quis per alium facit etc. zu be -106Zweiter Abschnitt.rufen3)Augustin, de consens. evang. 1, 20; Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 709; Köster, Immanuel, S. 63.. Soll damit, wie es auf dem Standpunkt der so urtheilenden Erklärer nicht anders denkbar ist, gesagt sein, Matthäus habe wohl gewuſst, daſs zwischen dem Hauptmann und Jesu Alles durch Mittelspersonen verhan - delt worden sei, dennoch aber habe er der Kürze wegen mittelst jener Redefigur ihn selbst mit Jesu sprechen las - sen: so hat Storr vollkommen recht mit der Gegenbemer - kung, daſs wohl schwerlich irgend ein Geschichtschreiber jene Metonymie so beharrlich durch eine ganze Erzählung hindurchführen würde, und zwar in einem Falle, wo ei - nerseits die Redefigur sich keineswegs so von selbst verrathe, wie z. B. wenn einem Feldherrn zugeschrieben wird, was seine Soldaten thun, und wo andrerseits gerade auf den Um - stand, ob die Person selbst oder durch Andere gehandelt habe, zur vollen Erkennbarkeit ihres Charakters etwas an - komme4)Über den Zweck u. s. f. S. 351.. Mit löblicher Consequenz hat daher Storr, wie er der bedeutenden Differenzen wegen die Erzählung des vierten Evangeliums auf ein anderes Faktum beziehen zu müssen glaubte, als die des ersten und dritten, ebenso um der Abweichungen willen, welche er zwischen den Berich - ten der lezteren beiden fand, auch diese für Erzählungen zweier verschiedenen Begebenheiten erklärt. Wundert man sich, daſs zu drei verschiedenen Malen ein so ganz ähnli - cher Heilungsfall an dem gleichen Orte vorgekommen sein soll (denn auch nach Johannes lag und genas der Kranke in Kapernaum): so verwundert sich Storr seinerseits, wie man im Mindesten unwahrscheinlich finden könne, daſs in Kapernaum zu verschiedenen Zeiten zwei Hauptleute einen kranken Knecht, und wieder ein andermal ein Hofbeamter einen kranken Sohn gehabt, daſs der zweite Hauptmann (des Lukas) von der Geschichte des ersten gehört, sich auf107Neuntes Kapitel. §. 94.ähnliche Art an Jesum gewendet, und sein Beispiel ebenso durch Demuth zu übertreffen gesucht habe, wie der erste Hauptmann (Matth.), dem die frühere Geschichte des Hof - manns (Joh.) bekannt gewesen sei, das schwache Vertrauen dieses lezteren habe übertreffen wollen, und daſs endlich Jesus alle drei Patienten auf dieselbe Weise aus der Ferne geheilt habe. Allein der Vorfall, daſs ein vornehmer Be - amter von Kapernaum Jesum um die Heilung eines Ange - hörigen bat, und Jesus aus der Entfernung so auf diesen einwirkte, daſs um dieselbe Zeit, da Jesus das heilende Wort sprach, der Kranke zu Hause genas, ist so einzig in seiner Art, daſs eine dreimalige Wiederholung dessel - ben unmöglich angenommen werden kann, und auch schon eine bloſs zweimalige Schwierigkeiten hat; weſswegen der Versuch gemacht werden muſs, ob nicht die drei Berichte auf Eine Grundlage zurückgeführt werden können.

Hier ist nun die am allgemeinsten für verschiedenartig gehaltene Erzählung des vierten Evangelisten nicht allein in den schon angegebenen Grundzügen der synoptischen verwandt, sondern in manchen bemerkenswerthen Einzel - heiten stimmt einer oder der andere der beiden synopti - schen Referenten genauer mit Johannes zusammen als mit dem andern Synoptiker. So, während in dem Zuge, daſs er den Kranken als παῖς bezeichnet, Matthäus mindestens ebensowohl mit dem johanneischen υἱὸς übereinstimmend gefunden werden kann, als mit dem δοῦλος des Lukas, tref - fen Matthäus und Johannes darin entschieden zusammen, daſs nach beiden der kapernaitische Beamte sich unmittel - bar an Jesum selber wendet, und nicht, wie bei Lukas, durch Vermittler. Dagegen stimmt der johanneische Be - richt mit dem des Lukas gegen den Matthäus in der Be - schreibung des Zustandes überein, in welchem der Lei - dende sich befunden haben soll: beide wissen nichts von der παράλυσις, von welcher Matthäus spricht, sondern be - zeichnen den Kranken als dem Tode nahe, Lukas durch108Zweiter Abschnitt.ἤμελλε τελευτᾷν, Johannes durch ἤμελλεν ἀποϑνήσκειν, wozu der leztere V. 52 nachträglich bemerkt, daſs die Krankheit von einem πυρετὸς begleitet gewesen. In Dar - stellung der Art, wie Jesus die Heilung des Kranken voll - zog, und wie dessen Genesung erfolgte, steht Johannes wieder auf Seiten des Matthäus gegen den Lukas. Wäh - rend nämlich dieser eine ausdrückliche Versicherung Jesu, daſs der Knecht geheilt sei, gar nicht hat, lassen jene bei - den ihn sehr übereinstimmend zu dem Beamten sagen, der eine: ὕπαγε, καὶ ὡς ἐπίςευσας γενηϑήτω σοι, der andere: πορεύου, υἱός σου ζῇ, und auch der Schluſs des Matthäus: καὶ ἰάϑη παῖς αὐτοῦ ἐν τῇ ὥρᾳ ἐκείνῃ, stimmt wenigstens der Form nach mehr zu der johanneischen Angabe, bei ge - haltener Nachfrage habe der Vater gefunden, daſs ἐν ἐκείνῃ τῇ ὥρᾳ, in welcher Jesus jenes Wort gesprochen, sein Sohn gesund geworden sei, als zu der des Lukas, daſs die zurückgekehrten Boten den kranken Knecht gesund ange - troffen haben. In einem andern Punkte dieses Schlusses wendet sich nun aber die Zustimmung des Johannes von Matthäus wieder zu Lukas zurück. Bei beiden nämlich ist von einer Art von Gesandtschaft die Rede, welche zu - lezt noch aus dem Hause des Beamten tritt: bei Lukas eine Anzahl von Freunden des Hauptmanns, welche Jesum abhalten sollen, sich selbst zu bemühen; bei Johannes Knechte, welche jubelnd ihrem Herrn entgegenziehen und ihm die Kunde von der Genesung seines Sohnes bringen. Gewiſs, wo drei Erzählungen so durcheinander verschlun - gen sind, wie diese, darf man nicht bloſs zwei derselben für identisch erklären und eine als verschiedene stehen las - sen, sondern man muſs die drei Berichte entweder alle auseinander halten, oder alle zusammenwerfen, wie Lez - teres nach älteren Vorgängern Semler gethan5)s. bei Lücke, 1, S. 552., und Tho - luck wenigstens für möglich erklärt hat, es zu thun. Nur suchen solche Ausleger dann die Abweichungen der drei109Neuntes Kapitel. §. 94.Berichte so zu erklären, daſs keiner der Evangelisten et - was Falsches gesagt haben soll. Den Stand des Bittstel - lers betreffend sucht man den βασιλικὸς des Johannes zum Militärbeamten zu machen, wovon dann das ἑκατόνταρχος der beiden andern nur nähere Bestimmung wäre; was aber den Hauptpunkt, das Benehmen des Bittstellers, betrifft, so könnten, meint man, die verschiedenen Erzähler ver - schiedene Seiten der Sache in der Art hervorgehoben ha - ben, daſs Johannes nur das Frühere wiedergäbe, wie sich Jesus über die anfängliche Schwäche des Glaubens in dem Bittenden beklagte, die Synoptiker nur das Spätere, wie er seinen schnell gewachsenen Glauben belobte. Wie man auf noch leichtere Weise die Hauptdifferenz zwischen den beiden synoptischen Berichten, in Hinsicht der mittelbaren oder unmittelbaren Bittstellung, ausgleichen zu können meinte, ist bereits angegeben worden. Dieses Bestreben, die Widersprüche der drei Relationen auf gütlichem Wege auszugleichen, ist ein falsches. Es bleibt dabei: die Syn - optiker haben sich den Bittsteller als einen Centurio ge - dacht, der vierte Evangelist als einen Hofbeamten; jene als glaubensstark, dieser als der Stärkung noch bedürftig; Johannes und Matthäus stellten sich vor, er habe sich un - mittelbar, Lukas, er habe sich aus Bescheidenheit nur mit - telbar an Jesum gewendet6)Fritzsche, in Matth. p. 310: discrepat autem Lucas ita a Matthaei narratione, ut centurionem non ipsum venisse ad Jesum, sed per legatos cum eo egisse tradat; quibus dissi - dentibus pacem obtrudere, boni nego interpretis esse..

Wer stellt nun die Sache auf die rechte, und wer auf irrige Weise dar? Nehmen wir zuerst die beiden Synop - tiker für sich, so ist nur Eine Stimme der Erklärer, daſs Lukas die genauere Darstellung gebe. Schon das will man unwahrscheinlich finden, daſs der Kranke nach Matthäus ein Paralytischer gewesen sein sollte, da bei dem Ungefähr - lichen dieses Leidens der bescheidene Hauptmann schwer -110Zweiter Abschnitt.lich Jesum gleich bei'm Eintritt in die Stadt in Beschlag genommen haben würde7)Schlkiermacher, a. a. O. S. 92 f.: als ob ein sehr schmerzhaf - tes Übel, wie das von Matthäus beschriebene, nicht mög - lichst schnelle Abhülfe wünschenswerth machte, und als ob es ein unbescheidener Anspruch gewesen wäre, Je - sum noch vor seiner Nachhausekunft um ein heilendes Wort zu ersuchen. Vielmehr das umgekehrte Verhält - niſs zwischen Matthäus und Lukas wird durch die Be - merkung wahrscheinlich, daſs das Wunder und also auch das Übel des wunderbar Geheilten in der Überlieferung sich nie verkleinert, sondern stets vergröſsert, daher eher der arggeplagte Paralytische zum μέλλων τελευτᾷν gestei - gert, als dieser zu einem bloſs Leidenden herabgesezt wer - den mochte. Hauptsächlich aber die doppelte Gesandtschaft bei Lukas ist nach Schleiermacher etwas, das nicht leicht erdacht wird. Wie, wenn sich dieser Zug vielmehr sehr deutlich als einen erdachten zu erkennen gäbe? Während bei Matthäus der Hauptmann Jesum auf sein Erbieten, mit ihm gehen zu wollen, durch die Einwendung zurück - zuhalten sucht: κύριεοὐκ εἰμὶ ἱκανὸς, ἵνα μου ὑπὸ τὴν ςέγην εἰσέλϑῃς, läſst er bei Lukas durch die abgesandten Freunde noch hinzusetzen: διὸ οὐδὲ ἐμαυτὸν ἠξίωσα πρός σε ἐλϑεῖν, womit deutlich genug der Schluſs angegeben ist, auf wel - chem diese Gesandtschaft beruhte. Erklärte sich der Mann für unwürdig, daſs Jesus zu ihm komme, dachte man, so hat er wohl auch sich selbst nicht für würdig gehalten, zu Jesu zu kommen, eine Steigerung der Demuth des Mannes, durch welche sich auch hier der Bericht des Lukas als der secundäre zu erkennen giebt. Den ersten Anstoſs zu diesen Gesandtschaften scheint übrigens das andere Inter - esse gegeben zu haben, die Bereitwilligkeit Jesu, in des Heiden Haus zu gehen, durch eine vorgängige Empfehlung desselben zu motiviren. Das ist ja das Erste, was die πρεσβύτεροι τῶν Ἰουδαίων, nachdem sie Jesu den Krankheits -111Neuntes Kapitel. §. 94.fall berichtet, hinzusetzen, ὅτι ἄξιός ἐςιν παρέξει τοῦτο· ἀγαπᾷ γὰρ τὸ ἔϑνος ἡμῶν κ. τ. λ., ähnlich, wie gleichfalls bei Lukas, in der A. G. 10, 22., die Boten des Cornelius dem Petrus, um ihn zu einem Gang in dessen Haus zu vermögen, auseinandersetzen, daſs er ein ἀνὴρ δίκαιος καὶ φοβου̍μενος τὸν ϑεὸν, μαρτυρου̍μενός τε ὑπὸ ὅλουτοῦἔϑνους τῶν Ἰουδαίων sei. Daſs die doppelte Gesandtschaft nicht ursprüng - lich sein kann, erhellt am deutlichsten daraus, daſs durch dieselbe die Erzählung des Lukas alle Haltung verliert. Bei Matthäus hängt Alles wohl zusammen: der Hauptmann zeigt Jesu zuerst nur den Zustand des Kranken an, und überläſst entweder ihm selber, was er nun thun wolle, oder es kommt ihm, ehe er seine Bitte stellt, Jesus mit seinem Anerbieten, sich in sein Haus zu begeben, zuvor, was nun der Hauptmann auf die bekannte Weise ablehnt. Welches Benehmen dagegen, wenn nach Lukas der Centurio Jesu zu - erst durch die jüdischen Ältesten sagen läſst, er möchte kom - men (ἐλϑὼν) und seinen Knecht heilen, hierauf aber, wie Jesus wirklich kommen will, gereut es ihn wieder, ihn dazu veranlaſst zu haben, und er begehrt nur ein wunder - thätiges Wort von ihm. Daſs die erste Bitte nur von den Ältesten, nicht von dem Centurio ausgegangen8)Kuinöl, in Matth. S. 221 f., diese Aus - kunft läuft den ausdrücklichen Worten des Evangelisten entgegen, welcher durch die Wendung: ἀπέςειλε πρεσβυ τέρους ἐρωτῶν αὐτὸν die Bitte als vom Hauptmann selber ausgegangen darstellt; daſs aber dieser mit dem ἐλϑὼν nur gemeint haben sollte, Jesus möchte sich in die Nähe seines Hauses begeben, und nun wie er gesehen, daſs Jesus so - gar in sein Haus treten wolle, dieſs abgelehnt habe, wäre doch wohl zu ungereimt, als daſs man es dem sonst ver - ständigen Manne zutrauen könnte, von welchem aber eben - deſshalb noch weniger eine so wetterwendische Umstim - mung zu erwarten ist, wie sie im Texte des Lukas liegt. 112Zweiter Abschnitt.Wie aber dieser dazukam, die Bitte der ersten Gesandt - schaft durch eine zweite zurücknehmen zu lassen, dieſs ent - deckt uns ein unscheinbarer Verräther, der Ausdruck: κύριε, μὴ σκύλλου nämlich, welcher in unsrer Erzählung dem Lukas eigenthümlich ist. Diese Formel erinnert an die ähnliche, welche derselbe Evangelist, und nach ihm Markus, in der Geschichte von der Tochter des Jairus gebraucht, wo, nachdem vor Jesu Ankunft im Hause das Mädchen gestorben ist, ein Bote von da dem mit Jesu sich nähernden Vater mit der Erinnerung: μὴ σκύλλε τὸν διδά - σκαλον, entgegenkommt (8, 49.). Der Hauptmann, welcher Jesum nicht in sein Haus bemühen will, erinnerte ihn an den Boten, der dem Jairus wehrte, den Lehrer in sein Haus zu bemühen, und wie hier, so lieſs er nun auch dort der Ablehnung eine Aufforderung, in das Haus zu kom - men, vorangehen. Da zu einer solchen Contre-ordre nur bei Jairus, in dessen Hause sich seit der ersten Aufforde - rung durch den Tod der Tochter die Lage der Dinge ver - ändert hatte, keineswegs aber bei dem Centurio, dessen Knecht noch immer im gleichen Zustande war, ein Grund vorlag, so kann der Zug mit der widerrufenden Botschaft nur aus jener Geschichte, wenn sie gleich erst nach der unsrigen kommt, in diese herübergewandert sein, nicht aber umgekehrt.

Da von der Identification aller drei Geschichten die neueren Erklärer sich hauptsächlich durch die Furcht ab - gehalten finden, Johannes möchte dabei in das Licht eines solchen gestellt werden, der die Scene nicht genau genug aufgefaſst, und wohl gar das Hauptmoment übersehen ha - be9)Tholuck, S. 102 f. Hase, §. 68. Anm. 2.: so würden sie also, wenn sie eine Vereinigung dennoch wagen wollten, dem vierten Evangelium so viel möglich die ursprünglichste Darstellung der Sache vindici - ren, eine Voraussetzung, die wir sofort aus der Beschaf -113Neuntes Kapitel. §. 94.fenheit der Berichte heraus zu prüfen haben. Das nun, daſs dem vierten Evangelisten der Bittende ein βασιλικὸς ist, nicht, wie den übrigen, ein ἑκατόνταρχος, ist ein in - differenter Zug, aus welchem sich für keinen Theil etwas schlieſsen läſst, und ebenso kann es mit der Abweichung in Betreff des Verhältnisses des Kranken zum Bittsteller sich zu verhalten scheinen. Indessen, wenn man in Bezug auf den lezteren Punkt sich fragt: welche der drei Bezeich - nungsweisen eignet sich am ehesten dazu, die beiden an - dern aus sich haben entstehen zu lassen? so wird man wohl schwerlich annehmen können, daſs aus dem johanneischen υἱὸς in absteigender Linie zuerst unbestimmt ein παῖς, dann ein δοῦλος geworden sei, und auch die umgekehrte aufsteigende Richtung ist hier minder wahrscheinlich, als das Mittlere, daſs aus dem zweideutigen παῖς, welches wir im ersten Evangelium finden, in zwei Richtungen das ei - nemal ein Knecht, wie bei Lukas, das andremal ein Sohn, wie bei Johannes, gemacht worden sein mag. Daſs die Be - zeichnung des Zustandes, in welchem sich der Leidende befand, bei Johannes wie bei Lukas sich zu der bei Mat - thäus als Steigerung, mithin als die spätere verhalte, ist bereits oben bemerkt. Der Unterschied in der Ortsan - gabe würde auf dem jetzigen Standpunkt der verglei - chenden Evangelienkritik ohne Zweifel so beurtheilt wer - den, daſs in der apostolischen Tradition, aus welcher die Synoptiker schöpften, der Ort, von welchem aus Jesus das Wunder verrichtete, mit dem, in welchem der Kranke lag, zusammengeflossen, das minder bekannte Kana von dem berühmten Kapernaum verschlungen worden sei, Jo - hannes aber, als Augenzeuge, das Genauere aufbewahrt habe. Allein so erscheint das Verhältniſs nur, wenn man den vierten Evangelisten als Augenzeugen schon voraus - sezt: sucht man, wie man soll, rein aus der Beschaffen - heit der Berichte heraus zu entscheiden, so stellt sich ein ganz anderes Ergebniſs heraus. Es wird hier eine Hei -Das Leben Jesu II. Band. 8114Zweiter Abschnitt.lung aus der Ferne berichtet, in welcher das Wunder um so gröſser erscheint, je weiter die Distanz zwischen dem Heilenden und Geheilten ist. Wird nun die mündliche Überlieferung, wenn sich die Erzählung in dieser fort - pflanzt, eine Neigung haben, jene Entfernung, und damit das Wunder, zu verkleinern, so daſs wir in der Darstel - lung des Johannes, der Jesum die Heilung von einem Orte aus verrichten läſst, von welchem der Hofbeamte erst am andern Tag bei dem Geheilten ankommt, die ursprüngliche, in der der Synoptiker dagegen, welche Jesum mit dem kranken Knecht in derselben Stadt sich befinden lassen, die traditionell umgebildete Erzählung hätten? Nur das Um - gekehrte kann der Sage gemäſs gefunden werden, und auch hierin also zeigt sich der johanneische Bericht als ein abgeleiteter. Besonders gemacht zeigt sich noch die Pünktlichkeit, mit welcher im vierten Evangelium die Stun - de der Genesung des Kranken ausgemittelt wird. Aus dem einfachen, auch sonst am Schlusse von Heilungsgeschichten vorkommenden ἰάϑη ἐν τῇ ὥρᾳ ἐκείνῃ des Matthäus ist ei - ne Nachfrage des Vaters nach der ὥρα ἐν κομψότερον ἔσχε, eine Antwort der Knechte: ὅτι χϑὲς, ὥραν ἑβδόμην, ἀφῆκεν αὐτὸν πυρετὸς, und endlich das Resultat, daſs ἐν ἐκείνῃ τἥἥὥρᾳ, ἐν εἶπεν αὐτῷ . υἱός σουζῇ, die - ser wirklich gesund geworden sei, gemacht: eine ängstli - che Genauigkeit, eine Quälerei mit der Rechnung, welche weit mehr das Streben des Referenten, das Wunder zu constatiren, als den ursprünglichen Hergang der Sache zu zeigen scheint. Darin, daſs er den βασιλικὸς persönlich mit Jesu verhandeln läſst, hat der Verfasser des vierten Evan - geliums mehr als der des dritten die ursprüngliche Ein - fachheit der Erzählung bewahrt, wiewohl er, wie bemerkt, in den entgegenkommenden Knechten einen Anklang an die zweite Botschaft des Lukas hat. In dem Hauptdiffe - renzpunkt aber, der den Charakter des Bittstellers betrifft, könnte man mit Anwendung unsers eigenen Maſsstabes dem115Neuntes Kapitel. §. 94.Johannes den Vorzug vor den beiden andern Referenten zuerkennen wollen. Denn wenn diejenige Erzählung die mehr sagenhafte ist, welche ein Bestreben nach Vergröſse - rung oder Verschönerung zu erkennen giebt: so könnte man sagen, es zeige sich der Bittende, der nach Johannes ziemlich schwach im Glauben gewesen sei, bei den Synop - tikern zu einem Glaubensmuster verschönert. Allein nicht auf Verschönerung überhaupt, sondern nur in Beziehung auf ihren Hauptzweck, welcher bei den Evangelien die Verherrlichung Jesu ist, geht die Sage oder ein dichtender Referent aus, und hienach wird man in doppelter Hinsicht die Verschönerung auf Seiten des vierten Evangeliums fin - den. Einmal, wie es überhaupt darauf ausgeht, die Über - legenheit Jesu durch den Contrast mit der Schwäche de - rer, die mit ihm zu thun haben, hervorzuheben, konnte es auch hier sein Interesse sein, den Bittsteller eher schwach - als starkgläubig darzustellen, wobei ihm jedoch die Erwie - derung, welche es Jesu in den Mund legt: ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τέρατα ἴδητε, οὐμὴ πιςεύσητε, doch wohl zu hart ge - rathen ist, weſswegen sie denn auch die meisten Erklärer in Verlegenheit sezt. Zweitens aber konnte es unschick - lich erscheinen, daſs Jesus von seinem anfänglichen Vor - saz, in das Haus des Kranken zu gehen, sich nachher wieder abbringen lieſs, und so fremdem Einfluſs zu folgen schien; man konnte es für angemessener halten, die Hei - lung aus der Ferne als seinen ursprünglichen Vorsaz, und nicht erst durch einen Andern ihm eingeredet, darzustel - len. Sollte nun aber, wie dieſs die Überlieferung an die Hand gab, der Bittsteller doch eine Einrede gethan haben, so muſste diese die entgegengesetzte Richtung als bei den Synoptikern bekommen, nämlich, Jesum zu einem Gange in das Haus des Kranken bestimmen zu wollen.

Fragt es sich nun um die Möglichkeit und den nähe - ren Hergang des vorliegenden Ereignisses, so glaubt die natürliche Erklärung am leichtesten mit der Erzählung8 *116Zweiter Abschnitt.des vierten Evangeliums zurechtzukommen. Hier, wird be - merkt, sage Jesus nichts davon, daſs er die Heilung des Kranken bewirken wolle, sondern er versichere den Vater nur, daſs das Leben seines Sohnes ausser Gefahr sei ( υἱός σου ζῇ), und auch der Vater, wie er finde, daſs das Besserwerden seines Sohnes mit der Zeit, um welche er mit Jesus gesprochen, zusammenfalle, schlieſse keineswegs, daſs Jesus die Heilung aus der Ferne bewirkt habe. So sei diese Geschichte nur die Probe davon, daſs Jesus, ver - möge gründlicher Kenntnisse in der Semiotik, im Stande gewesen sei, auf gegebene Beschreibung der Umstände ei - nes Kranken hin eine richtige Prognose über den Verlauf seiner Krankheit zu stellen; daſs jene Beschreibung hier nicht mitgetheilt sei, daraus folge nicht, daſs sie Jesus sich nicht habe geben lassen; ein σημεῖον aber werde diese Probe (V. 54.) genannt, als Zeichen einer von Jo - hannes zuvor noch nicht angedeuteten Fertigkeit Jesu, die Genesung eines besorglich Kranken vorauszusagen10)Paulus, Comm. 4, S. 253 f. Venturini, 2, S. 140 ff. Vgl. Hase, §. 68. Al - lein, abgesehen von dieser Miſsdeutung des Wortes σημεῖον und jener Einschwärzung eines im Text nicht angedeute - ten Gesprächs, erschiene bei dieser Ansicht von der Sa - che der Charakter und selbst der Verstand Jesu im zweideutigsten Lichte. Denn, wenn wir schon denjenigen Arzt für unvorsichtig halten würden, welcher auf selbst - genommenen Augenschein hin bei einem Fieberkranken, den man so eben noch für sterbend hielt, die Genesung verbürgte, und dadurch seinen Kredit auf das Spiel sez - te: um wie viel vermessener hätte Jesus gehandelt, wenn er auf die bloſse Beschreibung eines Laien hin die Ge - fahrlosigkeit des Umstandes versichert hätte? Ein solches Benehmen können wir uns an ihm deſswegen nicht den - ken, weil es der Analogie seines sonstigen Verfahrens, und117Neuntes Kapitel. §. 94.dem Eindruck, welchen sein Charakter bei den Zeitgenos - sen zurücklieſs, geradezu widersprechen würde. Hat al - so Jesus die Genesung des Fieberkranken auch nur vor - ausgesagt, ohne sie zu bewirken, so muſs er doch auf zu - verläſsigere Weise als durch natürliches Räsonnement von derselben versichert gewesen sein, er muſs sie auf über - natürliche Art gewuſst haben. Diese Wendung hat der neueste Erklärer des Johannes der Sache zu geben versucht. Er stellt die Frage, ob wir hier ein Wunder des Wissens oder des Wirkens haben? und da nun von einer unmit - telbaren Wirkung des Wortes Jesu nirgends die Rede sei, sonst aber im vierten Evangelium gerade das höhere Wis - sen Jesu besonders hervorgehoben werde, so erklärt er sich dahin, Jesus habe vormöge seiner höheren Natur nur gewuſst, daſs in jenem Augenblicke die Krankheit sich zum Leben entschied11)Lücke 1, S. 550 f.. Allein die öftere Hervorhebung des - heren Wissens Jesu in unserem Evangelium beweist hie - her nichts, da es ebenso oft auf sein höheres Wirken auf - merksam macht. Ferner, wenn von übernatürlichem Wis - sen Jesu die Rede ist, wird dieſs sonst deutlich angegeben (wie 1, 49. 2, 25. 6, 64.), und so würde Johannes, wenn eine übernatürliche Kunde von der ohnehin erfolgten Ge - nesung des Knaben gemeint wäre, Jesum wohl auch hier auf ähnliche Weise, wie dort zu Nathanaël, zu dem Vater sprechen lassen, daſs er seinen Sohn bereits in er - träglicherem Zustande auf seinem Bette erblicke. Nicht nur aber ist von höherem Wissen nichts angedeutet, son - dern eine wunderbare Wirksamkeit deutlich genug zu ver - stehen gegeben. Wenn nämlich von einem μέλλων ἀπο - ϑνήσκειν die plözliche Genesung gemeldet ist, so will man zunächst die Ursache wissen, welche diese unerwartete Wendung herbeigeführt habe, und wenn nun ein Bericht, der auch sonst auf das Wort seines Helden hin Wunder erfolgen läſst, eine Versicherung desselben, daſs der Kran -118Zweiter Abschnitt.ke lebe, mittheilt, so kann nur das falsche Bestreben, das Wunderbare zu vermindern, der Anerkenntniſs im Wege stehen, daſs der Erzähler in diesem Worte die Ursache jener Veränderung angeben wolle.

Bei der synoptischen Erzählung ist mit der Annahme einer bloſsen Prognose nicht abzukommen, da hier der Vater (Matth. V. 8.) eine heilende Einwirkung verlangt, und Jesus ihm (V. 13.) eben diese seine Bitte gewährt. Dadurch schien sich bei der Entfernung Jesu von dem Kranken, welche alle physische wie psychische Einwirkung unmöglich machte, der natürlichen Erklärung jeder Weg zu verschlieſsen: wenn nicht Ein Zug der Erzählung unerwartete Hülfe ge - boten hätte. Die Vergleichung nämlich, welche der Cen - turio zwischen sich und Jesu anstellt, daſs, wie er nur ein Wort sprechen dürfe, um durch seine Soldaten und Die - ner dieſs und jenes ausgerichtet zu sehen, so auch Jesum es nur ein Wort koste, seinem Knechte zur Gesundheit zu verhelfen, konnte man möglicherweise so pressen, daſs, wie auf Seiten des Hauptmanns, so auch auf Seiten Jesu an menschliche Mittelspersonen gedacht wurde. Demnach soll nun der Hauptmann Jesu haben vorstellen wollen, er dürfe nur zu einem seiner Jünger ein Wort sprechen, so werde dieser mit ihm gehen und seinen Knecht gesund machen, was sofort auch wirklich geschehen sein soll12)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 710 f.; natürliche Geschichte, 2, S. 285 ff.. Allein, da dieſs der erste Fall wäre, daſs Jesus durch sei - ne Jünger heilen lieſs, und der einzige, daſs er sie unmit - telbar zu einer bestimmten Heilung abschickte: wie konn - te dieser eigenthümliche Umstand sogar in der sonst so ausführlichen Erzählung des Lukas stillschweigend vor - ausgesetzt werden? warum, da dieser Referent in Aus - spinnung der übrigen Rede der Abgesandten nicht spar - sam ist, geizt er mit den paar Worten, welche Alles auf -119Neuntes Kapitel. §. 94.geklärt haben würden, wenn er nämlich zu dem εἰπὲ λόγῳ, ἑνὶ τῶν μαϑητῶν σου oder dergleichen etwas gesezt hätte? Vollends aber am Schlusse der Erzählung, wo der Erfolg ge - meldet wird, kommt diese Deutung nicht blos durch das Stillschweigen der Referenten, sondern durch einen positi - ven Zug bei Lukas in die übelste Verlegenheit. Lukas schlieſst nämlich mit der Notiz, daſs die Freunde des Haupt - manns bei ihrer Rückkehr in dessen Haus den Knecht be - reits gesund gefunden haben. Soll ihn nun Jesus dadurch wiederhergestellt haben, daſs er den Abgesandten einen oder mehrere seiner Jünger mitgab, so konnte es mit dem Kranken erst von da an, als die Abgesandten mit den Jüngern im Hause ankamen, allmählig besser werden, nicht aber konnten sie ihn bei ihrer Ankunft schon her - gestellt finden. Paulus freilich sezt voraus, die Abgesandten haben sich bei den Reden Jesu noch etwas verweilt, und so seien die Jünger vor ihnen angekommen: aber wie sich jene so unnöthig haben verweilen mögen, und wie der Evangelist neben der Absendung der Jünger nun auch noch das Zurückbleiben der Abgesandten habe verschwei - gen können, enthält er sich zu erklären. Mag man nun statt dessen als dasjenige, was den Soldaten des Haupt - manns auf Seiten Jesu entspricht, Krankheitsdämonen13)so schon Clem. homil. 9, 21; jezt Fritzsche, in Matth. 313., oder dienstbare Engel14)Wetstein, N. T. 1, p. 349; vgl. Olshausen, 1, S. 269., oder blos das Wort und die Heilkräfte Jesu15)Köster, Immanuel, S. 195. Anm. denken: jedenfalls bleibt uns eine wunderbare Wirksamkeit in die Ferne.

Diese Art des Wirkens Jesu nun hat nach dem Zuge - ständniſs selbst solcher Ausleger, welche sonst das Wun - derbare nicht scheuen, darin etwas besonders Schwieri - ges, daſs durch den Mangel der persönlichen Gegenwart Jesu und ihres wohlthätigen Eindrucks auf den Kranken120Zweiter Abschnitt.uns jede Möglichkeit genommen ist, die Heilung durch ein Analogon des Natürlichen uns denkbar zu machen16)Lücke, 1, S. 550.. Nach Olshausen zwar hat auch diese Fernwirkung ihre Analogieen, nämlich im thierischen Magnetismus17)b. Comm. 1, S. 268.. Ich will dieſs nicht geradezu bestreiten, sondern nur auf die Schranken aufmerksam machen, innerhalb deren sich mei - nes Wissens diese Erscheinung im Gebiete des Magnetis - mus immer hält. In die Ferne hin wirken kann nach den bisherigen Erfahrungen nur theils der Magnetiseur oder ein anderes im magnetischen Rapport mit ihr stehendes In - dividuum auf die somnambüle Person, wo also der Fern - wirkung immer eine unmittelbare Berührung vorausgegan - gen sein muſs, was in dem Verhältniſs Jesu zu dem Kran - ken unsrer Erzählung nicht gegeben ist; theils kommt eine solche Wirkungsart bei den Somnambülen selbst oder an - dern in zerrüttetem Nervenzustand befindlichen Menschen vor, was wiederum auf Jesum keine Anwendung findet. Geht also ein solches Heilen entfernter Personen, wie es in unsern Erzählungen Jesu zugeschrieben wird, über je - nes Äusserste natürlicher Wirksamkeit, wie wir es im Magnetismus und den verwandten Erscheinungen finden, noch weit hinaus: so wird uns durch jene Erzählungen, sofern sie historische Geltung ansprechen, Jesus zu einem übernatürlichen Wesen, und ehe wir ein solches uns als wirklich denken, verlohnt es sich auf unserem kriti - schen Standpunkt, zuvor noch zu untersuchen, ob die betrachtete Erzählung nicht auch ohne historischen Grund dennoch habe entstehen können? zumal sich, daſs sie sagenhafte Ingredienzien enthalte, schon an den ver - schiedenen Formationen zeigt, welche sie in den drei evan - gelischen Berichte erhalten hat. Und hier erhellt es nun von selbst, daſs das wunderbare Heilen Jesu durch Berüh -121Neuntes Kapitel. §. 94.rung des Kranken, wie wir es z. B. bei dem Aussätzigen Matth. 8, 3. und den Blinden Matth. 9, 29. antreffen, ver - möge eines nahe liegenden Klimax zunächst zum Heilen Gegenwärtiger mittelst des bloſsen Wortes, wie bei den Dämonischen, den Aussätzigen Luc. 17, 14. und andern Kranken, dann aber zur Herstellung selbst Abwesender durch ein Wort sich steigern konnte, wie denn schon im A. T. ein Analogon hievon besonders herausgehoben ist. Wie nämlich nach 2. Kön. 5, 9 ff. der syrische Feldherr Naëman vor die Wohnung des Propheten Elisa kam, um sich vom Aussaz heilen zu lassen, gieng dieser nicht selbst zu ihm heraus, sondern sandte ihm einen Boten und lieſs ihn zu siebenmaliger Waschung im Jordan anweisen. Dar - über wurde der Syrer so ungehalten, daſs er, ohne die Anweisung des Propheten zu berücksichtigen, wieder heim - ziehen wollte. Er habe erwartet, erklärt er, der Prophet werde zu ihm hertreten und unter Anrufung Gottes mit der Hand über die aussätzige Stelle fahren; daſs nun aber der Prophet, ohne selbst etwas an ihm vorzunehmen, ihn an den Jordan verweist, das macht ihn muthlos und ärger - lich, weil, wenn es auf Wasser ankäme, er solche zu Hause besser als hier hätte haben können. Man sieht aus dieser A. T. lichen Darstellung: das Ordentliche, was man von einem Propheten erwartete, war, daſs er anwesend mit körperlicher Berührung heilen könne; daſs er es auch entfernt und ohne Berührung vermöge, wurde nicht vor - ausgesetzt. Daſs Elisa dennoch auf die letztere Weise die Kur des aussätzigen Feldherrn vollbringt, (denn das Wa - schen war es auch hier so wenig als Joh. 9., was den Kranken gesund machte, sondern die Wundermacht des Propheten, welche ihre Wirksamkeit an diese äussere Handlung zu knüpfen für gut fand), dadurch bewies er sich als einen besonders ausgezeichneten Propheten, und nun der Messias, durfte der auch in diesem Stücke hinter dem Propheten zurückbleiben? So zeigt sich unsre N. T. liche122Zweiter Abschnitt.Erzählung als nothwendiges Gegenbild jener A. T. lichen. Wie dort der Kranke an die Möglichkeit seiner Wieder - herstellung nicht glauben will, wenn der Prophet nicht aus seinem Hause heraus zu ihm trete: so zweifelt hier nach der einen Redaktion der für den Kranken Bittende ebenso an der Möglichkeit der Heilung, wenn nicht Jesus in sein Haus trete, nach der andern im Gegentheil ist er von der Wirksamkeit der Heilkraft Jesu auch ohne das überzeugt, und nach beiden gelingt hier Jesu wie dort dem Propheten auch dieser besonders schwierige Wunderakt.

§. 95. Sabbatheilungen.

Groſsen Anstoſs erregte den evangelischen Nachrichten zufolge Jesus dadurch, daſs er nicht selten seine Heilungs - wunder am Sabbat verrichtete, wovon ein Beispiel den drei Synoptikern gemeinschaftlich ist, zwei dem Lukas eigen - thümlich, und zwei dem Johannes.

In jener den drei ersten Evangelisten gemeinschaftli - chen Erzählung sind zwei Fälle vermeinter Sabbatsenthei - ligung verbunden, das Ährenraufen der Jünger (Matth. 12, 1. parall. ) und die durch Jesum vollbrachte Heilung des Menschen mit der verdorrten Hand (V. 9 ff. parall.). Nach der auf dem Felde vorgefallenen Verhandlung über das Ährenraufen fahren die beiden ersten Evangelisten so fort, wie wenn Jesus unmittelbar von dieser Scene weg in die Synagoge desselben nicht näher bezeichneten Orts sich verfügt, und hier aus Anlaſs der Heilung des Men - schen mit der verdorrten Hand abermals einen Streit über die Heiligung des Sabbats gehabt hätte. Offenbar aber waren diese beiden Geschichten ursprünglich nur der Ähn - lichkeit des Inhalts wegen zusammengestellt, weſswegen hier Lukas zu loben ist, daſs er durch die Worte: ἐν ἑτέ - ρῳ σαββάτῳ den chronologischen Zusammenhang zwischen123Neuntes Kapitel. §. 95.beiden ausdrücklich zerschnitten hat1)Schleiermacher, über den Lukas, S. 80 f.. Die weitere Un - tersuchung, wessen Erzählung hier die ursprünglichere sei, können wir durch die Bemerkung erledigen, daſs, wenn die von Matthäus den Pharisäern in den Mund gelegte Frage, ob es erlaubt sei, am Sabbat zu heilen, als ein Stück von gemachtem Dialogisiren bezeichnet wird2)Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 50., dessen ebensogut dieselbe Frage beschuldigt werden kann, welche die zwei mittleren Evangelisten Jesu leihen, und noch dazu ihre belobte3)Schleiermacher, a. a. O. Schilderung, wie Jesus den Kranken in die Mitte treten heiſst, und später strafende Blicke ringsumher wirft, einer gemachten Anschaulichkeit.

Das Übel des Kranken war nach den übereinstimmen - den Nachrichten eine χεὶρ ξηρὰ oder ἐξηραμμένη. So un - bestimmt diese Bezeichnung ist, so macht es sich doch die natürliche Erklärung allzuleicht, wenn sie mit Paulus nur eine durch Hitze angegriffene4)ex. Handb. 2, S. 48 ff., oder gar nach Venturini's Ausdruck eine verstauchte Hand5)Natürliche Geschichte, 2, S. 421. darunter versteht. Son - dern wenn wir, um die Bedeutung der N. T. lichen Be - zeichnungsweise zu bestimmen, billig auf das A. T. zu - rückgehen, so finden wir 1. Kön. 13, 4. eine Hand, wel - che im Ausstrecken ἐξηράνϑη (וַ ׅיבַ ), als unfähig geschil - dert, an den Leib zurückgezogen zu werden, so daſs also an Lähmung und Starrheit der Hand, und, bei Verglei - chung des von einem Epileptischen gebrauchten ξηραίνεσϑαι Marc. 9, 18., zugleich an ein Saftloswerden und Schwin - den zu denken ist6)Winer, b. Realw. 1, S. 796.. Dafür nun aber, daſs Jesus dieses und andre Übel mit natürlichen Mitteln behandelt habe, wird aus der vorliegenden Erzählung ein sehr scheinbares124Zweiter Abschnitt.Argument abgeleitet. Nur ein solches Heilen, sagt man, war am Sabbat verboten, welches mit irgend einer Be - schäftigung verbunden war: also müssen die Pharisäer, wenn sie, wie es hier heiſst, von Jesu eine Übertretung der Sabbatsgesetze durch Heilen erwarteten, gewuſst ha - ben, daſs er nicht durch das bloſse Wort, sondern durch Medicamente und chirurgische Operationen zu heilen pfleg - te7)Paulus, a. a. O. S. 49. 54. Köster, Immanuel, S. 185 f.. Da indessen, wie Paulus selbst anderswo anführt, am Sabbat das Heilen auch nur durch eine sonst erlaubte Beschwörung verboten war8)a. a. O. S. 83., aus tract. Schabbat., da ferner zwischen den Schulen Hillel's und Schammai's ein Streit obwaltete, ob auch nur das Trösten der Kranken am Sabbat erlaubt sei9)Schabbat, f. 12, 1, bei Schöttgen, 1, p. 123., und da überdieſs nach Paulus eigener Bemerkung die äl - teren Rabbinen im Punkte des Sabbats strenger waren als diejenigen, von welchen die uns vorliegenden Schriften über diesen Gegenstand herstammen10)a. d. zulezt a. O.: so konnten die Heilungen Jesu, auch ohne daſs natürliche Mittel dabei in's Spiel kamen, von chicanirenden Pharisäern unter die Kategorie von Sabbatsverletzungen gezogen werden. Dem Haupteinwand gegen die rationalistische Erklärung, der aus dem Schweigen der Evangelisten von natürlichen Mitteln hergenommen wird, glaubt Paulus für unsern Fall durch die Wendung zu begegnen, daſs damals in der Synagoge keine zur Anwendung gekommen seien, sondern Jesus habe sich die Hand vorzeigen lassen, um zu sehen, wie die bisher von ihm angeordneten Mittel (also werden der - gleichen doch fingirt) geholfen hätten, und da habe er sie bereits völlig geheilt gefunden; denn daſs sie bereits wie - derhergestellt gewesen sei, nicht daſs sie nun plötzlich ge - sund geworden, bedeute das ἀποκατεςάϑη sämmtlicher Re -125Neuntes Kapitel. §. 95.ferenten. Allerdings sagt dieser Aorist: sie war herge - stellt und wurde es nicht erst während des Ausstreckens, welches ohne vorangegangene Heilung so wenig möglich gewesen wäre als 1. Kön. 13, 4. das Anziehen: aber sie war es geworden durch das Wort Jesu, welches die Evan - gelisten mittheilen, nicht durch natürliche Mittel, welche nur von den Erklärern ersonnen sind11)Fritzsche, in Matth. p. 427; in Marc. S. 79..

Gleich sehr entscheidend aber für die Nothwendigkeit, hier eine Wunderheilung anzunehmen, wie für die Mög - lichkeit, die Entstehung der Anekdote zu erklären, ist die nähere Vergleichung der bereits erwähnten A. T. lichen Er - zählung 1. Kön. 13, 1 ff. Als ein Prophet aus Juda dem am Götzenaltar räuchernden Jerobeam mit dem Untergang des Altars und des Götzendienstes drohte, und der König mit ausgestreckter Hand den Unglückspropheten zu grei - fen befahl, da vertrocknete plötzlich seine Hand, so daſs er sie nicht mehr zurückziehen konnte, und der Altar zer - fiel. Wie aber auf Ersuchen des Königs der Prophet Je - hova um Wiederherstellung der Hand bat, konnte sie jener wieder an sich ziehen, und sie wurde, wie sie vorher ge - wesen war12)1 Kön. 13, 4. LXX:καὶ ἰδοὺ ἐξηράνϑη χεὶρ αὐτοῦ, .6:καὶ ἐπέςρεψε τὴν χεῖρα τοῦ βασιλέως πρὸς αὐτὸν, καὶ ἐγένετο καϑὼς τὸ πρότερον.Matth. 12, 10:καὶ ἰδοὺ ἄν - ϑρωπος ἠν τὴν χεῖρα ἔχων ξη - ράν(Marc. ἐξηραμμένην). 13:τότε λέγει τῷ ἀνϑρώπῳ· ἔκτεινον τὴν χεῖρά σου· καὶ ἐξέ - τεινε· καὶ ἀποκατεςάϑη ὑγιὴς ὡς ἄλλη.. Auch Paulus vergleicht hier diese Erzäh - lung, aber nur um auch auf sie seine natürliche Erklärungs - weise durch die Bemerkung anzuwenden, Jerobeams Zorn habe leicht eine vorübergehende krampfhafte Erstarrung der Muskeln u. s. w. in der gerade mit Heftigkeit aus - gestreckten Hand hervorbringen können. Wem fällt es126Zweiter Abschnitt.aber nicht vielmehr in die Augen, daſs wir hier eine Sage zur Verherrlichung des monotheistischen Prophe - tenthums und zur Brandmarkung des israëlitischen Göz - zendiensts in der Person seines Urhebers Jerobeam vor uns haben? Der Mann Gottes weissagt dem Götzenaltar schnellen wunderbaren Ruin; der abgöttische König streckt freventlich die Hand gegen den Gottesmann aus; die Hand erstarrt, der Götzenaltar zerfällt in Staub, und nur auf die Fürbitte des Propheten wird der König wiederhergestellt: wer mag hier über wunderbaren oder natürlichen Hergang rechten, wo man eine offenbare Mythe vor sich hat? Und wer kann ferner in unsrer evangelischen Erzählung eine Nachbildung jener A. T. lichen verkennen, wobei nur dem Geiste des Christenthums gemäſs die Vertrocknung der Hand nicht als Strafwunder eintritt, sondern als natürliche Krank - heit dargestellt, und Jesu nur die Heilung zugeschrieben, ebendeſswegen auch nicht wie dort die Ausstreckung der Hand zur verbrecherischen Ursache und zum pönalen Ha - bitus der Krankheit, das Anziehen derselben aber zum Zei - chen der Genesung gemacht wurde, sondern die Hand, wel - che bis dahin krankhaft angezogen war, nach vollbrachter Heilung wieder ausgestreckt werden kann. Daſs auch sonst um jene Zeit im Orient den Lieblingen der Götter das Vermögen zu dergleichen Heilungen zugeschrieben wurde, sehen wir aus einer schon früher angeführten Erzählung, in welcher dem Vespasian neben einer Blindenheilung auch die Wiederherstellung einer kranken Hand zugeschrieben wird13)Tacit. Histor. 4, 81.

Nicht selbstständig übrigens und als Zweck für sich tritt in dieser Geschichte das Heilungswunder auf, sondern die Hauptsache ist, daſs es am Sabbat geschieht, und die Spitze der Anekdote liegt in den Worten, durch welche Jesus seine heilende Thätigkeit am Sabbat gegen die Pha -127Neuntes Kapitel. §. 95.risäer rechtfertigt, bei Lukas und Markus nämlich durch die Frage, was am Sabbat eher angehe, Gutes zu thun oder Böses, ein Leben zu erhalten, oder zu verderben? bei Mat - thäus, neben einem Stück von dieser Rede, durch das Dik - tum von der sabbatlichen Rettung des in die Grube gefal - lenen Schaafs. Lukas, welcher diese Gnome hier nicht hat, legt sie mit der Abweichung, daſs statt des πρόβατον ein ὄνος βοῦς, und statt der Grube der Brunnen steht, bei Gelegenheit der Heilung eines ὑδρωπικὸς Jesu in den Mund (14, 5.), eine Erzählung, an welcher überhaupt die Ähn - lichkeit mit der bisher erwogenen auffällt. Jesus speist bei einem Pharisäerobersten, wo man, wie dort in der Syna - goge nach den zwei mittleren Evangelisten, auf ihn lauert (hier: ἠσαν παρατηρου̍μενοι, dort: παρετήρουν); es ist ein Wassersüchtiger da, wie dort ein Mensch mit verdorrter Hand; wie dort nach Matthäus die Pharisäer Jesum fra - gen: εἰ ἐξεςι τοῖς σάββασι ϑεραπεύειν; nach Markus und Lukas Jesus sie fragt, ob es erlaubt sei, am Sabbat ein Leben zu retten u. s. f.: so legt er ihnen hier die Frage vor: εἰ ἔξέςι τῷ σαββάτῳ ϑεραπεύειν; worauf, wie dort, die Gefragten schweigen (dort Markus: οἱ δὲ ἐσιώπων, hier Lukas: οἱ δὲ ἡσύχασαν); endlich als Epilog der Hei - lung, wie dort bei Matthäus als Prolog, das Diktum von dem in den Brunnen gefallenen Thiere. Eine natürliche Erklärung, wie sie auch von diesem Heilungswunder gege - ben worden ist14)Paulus, ex. Handb. 2, S. 341 f., erscheint hier ganz besonders als ver - lorene Mühe, wo wir gar keine besondere Geschichte vor uns haben, die auf eigenem historischen Fundamente ruh - te, sondern eine bloſse Variation über das Thema der Sab - batheilungen und die Gnome von dem verunglückten Last - thier, welche dem einen (Matthäus) in Verbindung mit der Wiederherstellung einer dürren Hand, dem andern (Lu - kas) mit der Heilung eines Wassersüchtigen, einem drit -128Zweiter Abschnitt.ten in noch anderer Verbindung zukommen konnte; denn auch noch einer dritten Heilungsgeschichte ist ein ähnlicher Ausspruch beigesellt. Lukas nämlich erzählt 13, 10 ff. die von Jesu am Sabbat vollzogene Heilung einer dämonisch zusammengebückten Frau, wo auf die Beschwerde des Syn - agogenvorstehers Jesus die Frage zurückgiebt, ob denn nicht jeder am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe löse und zur Tränke führe? eine Frage, in wel - cher die Variation der obigen nicht zu verkennen ist. So ganz identisch erscheint diese Geschichte mit der zulezt er - wähnten, daſs Schleiermacher daraus, daſs bei der zwei - ten nicht auf die vorhergehende zurückgewiesen, und so die Wiederholung durch das Eingeständniſs entschuldigt ist, schlieſst, es könne Luc. 13, 10 14, 5. nicht von demsel - ben Verfasser hintereinander geschrieben sein15)a. a. O. S. 196..

Haben wir hienach gleich nicht drei verschiedene Vorfälle hier, sondern nur drei verschiedene Rahmen, in welche die Sage das unvergeſsliche, wahrhaft volksthümli - che Diktum von dem am Sabbat zu rettenden oder zu ver - sorgenden Hausthier gefaſst hat: so muſs doch, scheint es, wenn wir Jesu eine so originelle und angemessene Re - de nicht absprechen wollen, irgend eine, am Sabbat vor - gefallene Heilung zum Grunde liegen. Nur nicht gerade eine wunderbare. Sondern wie Lukas in der zulezt an - geführten Stelle jenen Ausspruch mit der Heilung einer dämonischen Frau verbindet, so könnte er von Jesu bei Ge - legenheit einer jener Heilungen von Dämonischen, deren natürliche Möglichkeit wir unter gewissen Einschränkun - gen zugegeben haben, gethan worden sein; oder kann Je - sus auch, wenn er bei Krankheitsfällen unter seiner Ge - sellschaft in Anwendung der üblichen Medikamente auf den Sabbat keine Rücksicht nahm, jene Appellation an den praktischen Menschenverstand zu seiner Rechtfertigung129Neuntes Kapitel. §. 95.nöthig gehabt haben; oder endlich, wenn an der Annahme rationalistischer Erklärer etwas Wahres ist, daſs Jesus in orientalischer, namentlich essenischer Weise neben der Seelenheilung auch mit leiblicher sich befaſst habe, so kann er hiebei, wenn er der Aufforderung hiezu auch am Sabbat nicht widerstand, zu einer solchen Apologie ver - anlaſst gewesen sein; nur daſs wir dann immer nicht mit jenen Auslegern in den einzelnen übernatürlichen Heilun - gen, welche die Evangelien melden, die zum Grunde lie - genden natürlichen aufsuchen dürften, sondern wir müſs - ten eingestehen, daſs uns diese ganz verloren, und jene an ihre Stelle getreten seien16)Treffend Winer, b. Realw. 1, S. 796: man sollte sich doch bescheiden, [von den Heilungen Jesu] nicht in den ein - zelnen Fällen eine natürliche Erklärung geben zu wol - len, und immer bedenken, dass die Verbannung des Wun - derbaren aus der Wirksamkeit Jesu, so lange die Evan - gelien geschichtlich betrachtet werden, nie - mals gelingen kann. . Übrigens müssen es nicht einmal Heilungen überhaupt gewesen sein, an welche sich jener Ausspruch Jesu knüpfte, sondern jeder als Lebens - rettung oder Lebenserhaltung zu betrachtende und mit äus - serer Geschäftigkeit verbundene Dienst, den er oder seine Jünger leisteten, konnte ihm der pharisäischen Partei ge - genüber Anlaſs zu einer solchen Vertheidigung werden.

Von den zwei Sabbatheilungen des vierten Evange - liums ist die eine schon mit den Blindenheilungen betrach - tet worden; die andere (5, 1 ff. ), welche unter den Hei - lungen der Paralytischen vorgenommen werden konnte, lieſs sich, weil doch der Kranke nicht mit jenem Ausdruck bezeichnet ist, hieher versparen. In den Hallen des Teichs Bethesda in Jerusalem fand Jesus einen schon 38 Jahre, wie aus dem Folgenden erhellt, an Lähmung kranken Men - schen, welchen er mit einem Worte zum Aufstehen und Heimtragen seines Bettes befähigt, dadurch jedoch, weil esDas Leben Jesu II. Band. 9130Zweiter Abschnitt.Sabbat war, die Feindschaft der jüdischen Hierarchen auf sich ladet. Auf eigene Weise glaubten seit Woolston17)Disc. 3. Manche mit dieser Geschichte durch die Annahme fertig zu werden, daſs Jesus hier nicht einen wirklich Leiden - den geheilt, sondern nur einen verstellten Kranken entlarvt habe18)Paulus, Comm. 4, S. 263 ff. L. J. 1, a, S. 298 ff.. Der einzige Grund, der mit einigem Schein hie - für angeführt werden kann, ist, daſs der Gesundgemachte Jesum seinen Feinden als denjenigen angebe, der ihm am Sabbat sein Bette zu tragen befohlen habe (V. 15. vgl. 11 ff. ), was sich nur dann erklären lasse, wenn Jesus ihm etwas Unwillkommenes erwiesen hatte. Allein jene Anzeige konnte er auch entweder in guter Meinung machen, wie der Blind - geborene (Joh. 9, 11. 25. ), oder wenigstens in der unschul - digen, den Vorwurf der Sabbatsverletzung von sich auf einen Stärkeren abzuwälzen19)s. Lücke und Tholuck z. d. St.. Daſs der Mensch wirk - lich krank, und zwar an einem langwierigen Übel krank gewesen sei, giebt wenigstens der Evangelist als seine Ansicht, wenn er ihn als τριάκοντα καὶ ὀκτὼ ἔτη ἔχων ἐν τῇ ἀσϑενείᾳ bezeichnet (V. 5.), wovon Paulus seine früher vorgetragene gewaltsame Erklärung, nach welcher er die 38 Jahre auf das Lebensalter, nicht auf die Krankheitszeit des Mannes bezog, neuerlich selbst nicht mehr vertreten mag20)vgl. mit Comm. 4, S. 290. das L. J. 1, a, S. 298.. Unerklärlich bleibt bei jener Ansicht von dem Vorfall auch, was Jesus bei einer späteren Begegnung zu dem Geheilten sprach (V. 14.): ἴδε ὑγιὴς γέγονας· μηκέτι ἁμάρτανε, ἵνα μὴ χεῖρόν τί σοι γένηται. Paulus selbst sieht sich durch diese Worte genöthigt, ein wirkliches, nur un - bedeutendes Unwohlsein bei dem Menschen vorauszuse - zen, d. h. das Unzureichende seiner Grundansicht von dem Vorfall selbst einzugestehen, so daſs wir also hier ein Wunder, und zwar keines der geringsten, behalten.

131Neuntes Kapitel. §. 95.

Was nun die historische Glaubwürdigkeit der Erzäh - lugn betrifft, so kann man es allerdings auffallend finden, daſs einer so groſsartigen Wohlthätigkeitsanstalt, wie Jo - hannes Bethesda beschreibt, weder Josephus noch die Rab - binen Erwähnung thun, zumal, wenn die Volksmeinung an den Teich eine wunderbare Heilkraft knüpfte21)Bretschneider, Probab. S. 69.: doch führt dieſs noch keine Entscheidung herbei. Daſs in der Beschreibung des Teiches ein fabelhafter Volksglaube liegt, und vom Referenten acceptirt zu werden scheint (wenn auch V. 4. unächt ist, so liegt jener Glaube doch in der κίνησις τοῦ ὕδατος V. 3. und dem ταραχϑῇ V. 7.), beweist gegen die Wahrheit der Erzählung nichts, da auch ein Augenzeuge und Jünger Jesu den betreffenden Volksglau - ben getheilt haben kann. Daſs nun aber ein seit 38 Jah - ren in der Art gelähmter Mensch, daſs er zum Gehen un - fähig auf einem Bette liegen muſste, durch ein Wort völlig wiederhergestellt worden sein soll, dieſs denkbar zu ma - chen, reicht weder die Annahme psychologischer Einwir - kung (der Mensch kannte ja Jesum nicht einmal, V. 13.), noch irgend welche physische Analogie (wie Magnetismus u. dergl. ) auch nur von ferne hin, sondern wenn dieſs wirklich erfolgt ist, so müssen wir den, durch welchen es erfolgte, über alle Grenzen des Menschlichen und Natürli - chen hinausheben. Dagegen hätte man das, daſs Jesus aus der Menge von Kranken, welche in den Hallen von Be - thesda sich befanden, nur diesen einzigen zur Heilung aus - erkor, niemals bedenklich finden sollen22)Wie Hase, L. J. §. 92., da die Heilung dessen, der am längsten krank lag, zur Verherrlichung der messianischen Wunderkraft nicht nur besonders geeignet, sondern auch hinreichend war. Dennoch knüpft sich an - drerseits eben an diesen Zug die Vermuthung eines mythi - schen Charakters der Erzählung. Auf einem groſsen Schau -9 *132Zweiter Abschnitt.platz der Krankheit, wo alle mögliche Leidende ausgestellt sind, tritt der groſse Wunderarzt Jesus auf, und wählt sich denjenigen, der am hartnäckigsten leidet, heraus, um durch Wiederherstellung desselben die glänzendste Probe seiner Heilkraft abzulegen. Wie wir es bereits als die Weise des vierten Evangeliums kennen, statt der extensiv gröſseren Masse synoptischer Wundergeschichten wenige, aber desto intensivere zu geben: so hat es auch hier durch die Erzählung von der Heilung eines 38 Jahre lang Ge - lähmten alle synoptischen Berichte von Heilungen glieder - kranker Personen, von welchen die am längsten leidende bei Lukas 13, 11. nur als eine γυνὴ πνεῦμα ἔχουσα ἀσϑενείας ἔτη δέκα καὶ ὀκτὼ bezeichnet war, bei Weitem überbo - ten. Ohne Zweifel war dem Evangelisten eine, obwohl, wie wir dieſs auch sonst schon fanden, ziemlich unbestimmte Kunde von dergleichen Heilungen Jesu, namentlich der des Paralytischen Matth. 9, 2 ff. parall., zugekommen, da der heilende Zuruf und der Erfolg der Heilung hier bei Jo - hannes fast wörtlich ebenso, wie dort namentlich bei Mar - kus, angegeben ist23)Marc. 2, 9:(τί ἐςιν εὐκοπώτερον, εἰπεῖν -- --) ἔγειρε, ᾄρόν σουτὸν κράββατον καὶ περιπάτει;10: ἔγειρε, ᾄρον τὸν κράββατόν σου καὶ ὕπαγε εἰς τὸν οῖκόν σου.12:καὶ ἠγέρϑη εὐϑέως, καὶ ᾄρας τὸν κράββατον ἐξῆλϑεν ἐναντίον πάντων.Joh. 5, 8:ἔγειραι, ᾄρον τὸν κράββατόν σου, καὶ περιπάτει. 9: καὶ εὐϑέως ἐγένετο ὑγιὴς ἄνϑρωπος, καὶ ῇρε τὸν κράβ - βατον αὑτοῦκαὶ περιεπάτει.. Auch davon, daſs in der synopti - schen Erzählung jene Heilung zugleich als ein Akt der Sündenvergebung erscheint, ist in der vorliegenden johan - neischen Geschichte noch eine Spur, indem Jesus, wie er133Neuntes Kapitel. §. 96.dort den Kranken vor der Heilung mit einem ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι beruhigt, so hier nach der Heilung ihn durch das μηκέτι ἁμάρτανε κ. τ. λ. verwarnt. Die so aus - geschmückte Heilungsgeschichte aber wurde zugleich zur Sabbatheilung gemacht, weil das darin vorkommende Ge - heiſs, das Bette hinwegzutragen, als der geeignetste An - laſs zum Vorwurf der Sabbatentheiligung erscheinen mochte.

§. 96. Todtenerweckungen.

Drei Todtenerweckungen wissen die Evangelisten von Jesu zu erzählen, davon eine den drei Synoptikern ge - meinschaftlich, eine dem Lukas, und eine dem Johannes eigenthümlich ist.

Die gemeinsame ist diejenige, welche von Jesu an ei - nem Mädchen verrichtet worden, und in allen drei Berich - ten mit der Erzählung von der blutflüssigen Frau verbun - den ist (Matth. 9, 18 f. 23 26. Marc. 5, 22 ff. Luc. 8, 41 ff.). In der näheren Bezeichnung des Mädchens und ihres Va - ters weichen die Synoptiker ab, indem Matthäus den Va - ter, ohne einen Namen zu nennen, unbestimmt als ἄρχων εἷς, die beiden andern aber als Synagogenvorsteher Na - mens Ἰάειρος einführen, und ebendieselben auch die Toch - ter als zwölfjährig, Lukas noch ausserdem als das einzige Kind ihres Vaters, bestimmen, wovon Matthäus nichts weiſs. Bedeutender ist die weitere Differenz, daſs nach Matthäus der Vater das Mädchen Jesu gleich Anfangs als gestorben ankündigt, und ihre Wiederbelebung verlangt, während er nach den beiden andern sie noch lebend, ob - wohl in den letzten Zügen, verlieſs, um Jesum zur Verhü - tung ihres wirklichen Todes herbeizuholen, und erst, wie Jesus mit ihm auf dem Wege war, Leute aus seinem Hau - se mit der Nachricht kommen, daſs das Mädchen indeſs gestorben, und nun jede weitere Bemühung Jesu vergeb - lich sei. Auch die Umstände bei der Wiederbelebung wer -134Zweiter Abschnitt.den verschieden beschrieben, indem Matthäus namentlich davon nichts weiſs, daſs Jesus nach den beiden andern Referenten nur den engsten Ausschuſs seiner Jünger, den Petrus und die Zebedaiden, als Zeugen mitgenommen ha - ben soll. Diese Abweichungen hat z. B. Storr so bedeu - tend gefunden, daſs er zwei verschiedene Fälle annahm, in welchen unter ähnlichen Umständen die Tochter das ei - nemal eines weltlichen ἄρχων (Matthäus), das andremal eines Synagogarchen Jairus (Markus und Lukas) vom To - de erweckt worden sei1)Über den Zweck des Joh. S. 351 ff.. Daſs nun aber, was Storr noch dazu annimmt, und was auf diesem Standpunkt an - genommen werden muſs, Jesus nicht blos zweimal ein Mäd - chen vom Tode erweckt, sondern auch beidemale unmittel - bar vorher eine Frau vom Blutfluſs geheilt haben soll, ist ein Zusammentreffen, welches sich durch die vage Bemer - kung Storr's, es können sich zu verschiedenen Zeiten gar wohl sehr ähnliche Dinge zutragen, um nichts wahrschein - licher wird. Muſs man somit einräumen, daſs die Evan - gelisten nur Eine Begebenheit erzählen, so sollte man doch des weichlichen Bestrebens sich entschlagen, eine völlige Übereinstimmung ihrer Erzählungen herauszubringen. Denn weder kann das ἄρτι ἐτελεύτησε bei Matthäus, wie Kuinöl will2)Comm. in Matth. p. 263. Welche Argumentation:verba [NB. Matthaei]: ἄρτι ἐτελεύτησεν non possunt latine reddi: jam mortua est; nam, auctore [NB.] Luca, patri adhuc cum Christo colloquenti nuntiabat servus, filiam jam exspirasse, ergo [auetore Matthaeo?] nondum mortua erat, cum pater ad Jesum accederet., est morti proxima heiſsen, noch läſst sich das ἐσχάτως ἔχει und ἀπέϑνησκε bei Markus und Lukas von bereits erfolgtem Tode verstehen, zumal bei beiden die Todesnachricht den Vater später als etwas Neues hinter - bracht wird3)Vergl. über diese falschen Ausgleichungsversuche Schleier -.

135Neuntes Kapitel. §. 96.

Hat daher die neuere Kritik mit Recht hier eine Ab - weichung der Relationen zugegeben, so findet sie die ge - nauere Darstellung des Hergangs einstimmig auf Seiten der mittleren Evangelisten, sei es, daſs man mit Schonung des Matthäus in seiner Darstellung eine Abkürzung findet, wie sie auch von einem Augenzeugen veranstaltet sein könn - te4)Olshausen, 1, S. 323., oder daſs man diese mindere Genauigkeit als Zeichen eines nichtapostolischen Ursprungs des ersten Evangeliums ansieht5)Schleiermacher, a. a. O. S. 131 ff. ; Schulz, über das Abendm. S. 316 f.. Daſs nun Markus und Lukas den von Matthäus verschwiegenen Namen des Bittstellers angeben, und auch seinen Stand genauer als jener bestimmen, kann ebenso - wohl zu Ungunsten, als, wie gewöhnlich, zu Gunsten je - ner beiden ausgelegt werden, da die namentliche Bezeich - nung der Personen, wie schon früher bemerkt, nicht sel - ten Zuthat der späteren Sage ist, wie die blutflüssige Frau erst in der Tradition eines Joh. Malala Veronika6)s. Fabricius, Cod. apocr. N. T. 2, S. 449 ff., das kananäische Weib erst in den Klementinen Justa heiſst7)Homil. 2, 19., und die beiden Mitgekreuzigten Jesu erst im Evangelium Nicodemi Gestas und Demas8)Cap. 10.. Das μονογενὴς des Lu - kas ohnehin dient nur, die Scene rührender zu machen, und das ἐτῶν δώδεκα konnte er und nach ihm Markus aus der Geschichte der Blutflüssigen heraufnehmen. Die Dif - ferenz, daſs nach Matthäus das Mädchen schon Anfangs als gestorben, nach den beiden andern erst als sterbend angekündigt wird, müſste man sehr oberflächlich angese - hen haben, wenn man dieselbe nach unserem eigenen Ka - non zu Ungunsten des Matthäus unter dem Vorwand ge -3)macher, über den Lukas, S. 132. und Fritzsche, in Matth. p. 347 f.136Zweiter Abschnitt.brauchen zu können glaubte, daſs bei ihm das Wunder vergrössert sei. Denn auch bei den beiden andern wird hernach der Tod des Mädchens gemeldet, und daſs er nach Matthäus einige Augenblicke früher eingetreten sein müſs - te, kann keine Vergröſserung des Wunders heiſsen. Um - gekehrt muſs man sagen, daſs bei den beiden andern die Wundermacht Jesu, zwar nicht objektiv, wohl aber subjek - tiv gröſser, weil gesteigert durch den Contrast und das Unerwartete, erscheine. Dort, wo Jesus gleich Anfangs um eine Todtenerweckung gebeten wird, leistet er nicht mehr, als von ihm verlangt war: hier dagegen, wo er, nur um eine Krankenheilung ersucht, eine Todtenerweckung voll - bringt, thut er mehr als die Betheiligten bitten und ver - stehen; dort, wo das Vermögen, Todte zu erwecken, vom Vater bei Jesu vorausgesezt wird, ist das Ungemeine eines solchen Vermögens noch nicht so hervorgehoben, als hier, wo der Vater zunächst nur das Vermögen, die Kranke zu heilen, voraussezt, und als der Tod eingetreten ist, von jeder weiteren Hoffnung abgemahnt wird. In der Art, wie die Ankunft und das Verfahren Jesu im Leichenhause be - schrieben wird, ist Matthäus bei seiner Kürze wenigstens klarer als die andern mit ihren weitläuftigen Berichten. Denn daſs Jesus, im Hause angelangt, die bereits zur Lei - che versammelten Pfeifer sammt der übrigen Menge aus dem Grunde weggewiesen habe, weil es hier keine Leiche geben werde, ist vollkommen verständlich; warum er aber nach Markus und Lukas ausserdem auch seine Jünger bis auf jene drei von dem vorzunehmenden Schauspiel ausge - schlossen haben soll, davon ist ein Grund schwer einzu - sehen. Daſs eine gröſsere Anzahl von Zuschauern phy - sisch oder psychologisch ein Hinderniſs der Wiederbele - bung gewesen wäre, kann man nur unter Voraussetzung eines natürlichen Hergangs sagen: war es ein Wunder, so könnte man den Grund jener Ausschlieſsung nur in der minderen Fähigkeit der Ausgeschlossenen suchen, wel -137Neuntes Kapitel. §. 96.cher aber eben durch die Anschauung eines solchen Wun - ders hätte aufgeholfen werden sollen. Vielmehr scheint es nach Allem, als hätten die zwei späteren Synoptiker, welche auch im Gegensaz gegen die Schluſsformel des Mat - thäus, daſs das Gerücht von diesem Ereigniſs sich im ganzen Lande verbreitet habe, den Zeugen desselben von Jesu das strengste Stillschweigen auflegen lassen, den Vorgang als ein Mysterium betrachtet, zu welchem ausser den nächsten Angehörigen nur der engste Ausschuſs der Jünger gezogen worden sei. Vollends auf das von Schulz herausgehobene, daſs, während Matthäus Jesum das Mäd - chen nur einfach bei der Hand nehmen läſst, Markus und Lukas uns die Worte, welche er dazu gesprochen, der er - stere sogar in der Ursprache, zu überliefern wissen, kann entweder kein Gewicht gelegt werden, oder nur in entge - gengeseztem Sinne. Denn daſs Jesus, wenn er bei Aufer - weckung eines Mädchens etwas sprach, sich ungefähr der Worte: παῖς ἐγείρουbedient haben werde, dieſs konnte wohl auch der vom Faktum entfernteste Erzähler auf ei - gene Hand sich vorstellen, und bei Markus gar das ταλιϑὰ κοῦμι als Zeichen einer besonders ursprünglichen Quelle, aus welcher der Evangelist geschöpft habe, anse - hen, heiſst das Näherliegende vergessen, daſs er es ebenso leicht aus dem Griechischen seines Gewährsmanns über - tragen haben kann, um, wie bei jenem ἐφφαϑὰ, das geheim - niſsvolle Lebenswort in seiner ursprünglichen fremden Spra - che, also nur um so mysteriöser klingend, wiederzugeben. Gerne werden wir uns demnach dessen bescheiden, mit Schleiermacher'schem Scharfsinn auszumachen, ob der ur - sprüngliche Gewährsmann der Erzählung des Lukas einer von den drei zugelassenen Jüngern gewesen, und ob der - selbe, der sie ursprünglich berichtete, sie auch niederge - schrieben habe9)a. a. O. S. 129 f.?

138Zweiter Abschnitt.

In Bezug nun auf den vorauszusetzenden wirklichen Hergang der Sache tritt die natürliche Erklärung hier ganz besonders zuversichtlich auf, indem sie Jesu eigene Versicherung für sich zu haben glaubt, daſs das Mädchen nicht wirklich todt sei, sondern nur in einem schlafähnlichen Zustand der Ohnmacht sich befinde, und nicht bloſs entschie - den rationalistische Ausleger, wie Paulus, oder halbratio - nalistische, wie Schleiermacher, sondern auch entschieden supranaturalistische Theologen, wie Olshausen, glauben um der bezeichneten Erklärung Jesu willen hier an keine Todtenerweckung denken zu dürfen10)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 526. 31 f. Schleiermacher, a. a. O. S. 132. Olshausen, 1, S. 327.. Der zulezt ge - nannte Erklärer legt besonders auf den Gegensaz in der Rede Jesu Gewicht, und meint, weil zu dem οὐκ ἀπέϑανε noch das ἀλλὰ καϑεύδει gesezt sei, so könne der erstere Ausdruck nicht bloſs so gefaſst werden: sie ist nicht todt, indem ich den Vorsaz habe, sie zu erwecken wunder - lich, da doch dieser Zusaz gerade anzeigt, daſs sie nur in - sofern nicht gestorben sei, als Jesus sie zu erwecken ver - möge. Man beruft sich ferner auf die Erklärung Jesu über den Lazarus, Joh. 11, 14, welche mit ihrem Λάζαρος ἀπέ - ϑανε der gerade Gegensaz zu unserem οὐκ ἀπέϑανε τὸ κορά - σιον sei. Aber vorher hatte Jesus doch auch von Lazarus gesagt: αὕτη ἀσϑένεια ουκ ἔςι πρὸς ϑάνατον (V. 4.) und: Λάζαρος φίλος ἡμῶν κεκοίμηται (V. 11.), also ganz die - selbe Leugnung des Todes und Behauptung eines bloſsen Schlafes, wie hier, und doch bei einem wirklich Gestorbe - nen. Gewiſs hat demnach Fritzsche recht, wenn er den Sinn der Worte Jesu in unsrer Stelle so angiebt: puel - lam ne pro mortua habetote, sed dormire existimatote, quippe in vitam mox redituram. Ohnehin, wenn Mat - thäus 11, 5. Jesum sagen läſst: νεκροὶ ἐγείρονται, so seheint er, der sonst keine Todtenerweckung erzählt, eben an die - se gedacht haben zu müssen.

139Neuntes Kapitel. §. 96.

Doch auch abgesehen von der falschen Deutung der Worte Jesu hat diese Erklärung noch manche andere Schwierigkeiten. Zwar, daſs sowohl an sich bei manchen Krankheiten Zustände eintreten können, welche dem Tode täuschend ähnlich sehen, als auch insbesondere bei dem schlechten Zustand der Heilkunde unter den damaligen Ju - den eine Ohnmacht leicht für wirklichen Tod genommen werden konnte, ist nicht in Abrede zu stellen. Nun aber, woher soll Jesus gewuſst haben, daſs gerade bei diesem Mädchen ein bloſser Scheintod stattfand? Erzählte ihm auch der Vater den Gang der Krankheit noch so genau, ja, war er mit den Umständen des Mädchens vielleicht vorher schon bekannt, wie die natürliche Erklärung sup - ponirt, immer fragt sich, wie er hierauf so viel bauen konn - te, um, ohne das Kind noch gesehen zu haben, im Wi - derspruch gegen die Versicherung der Augenzeugen, es, nach der rationalistischen Deutung seiner Worte, bestimmt für nicht gestorben zu erklären? Dieſs wäre Vermessenheit gewesen und Unklugheit dazu, wenn nicht anders Jesus auf übernatürlichem Wege von dem wahren Thatbestand sichere Kenntniſs hatte, womit aber der Standpunkt der natürlichen Erklärung verlassen wäre. Nach Jesu Ankunft bei der angeblich Scheintodten schiebt nun Paulus zwi - schen das ἐκράτησε τῆς χειρὸς αὐτῆς und das ἠγέρϑη τὸ κοράσιον, was, bei Matthäus schon enge genug verbunden, die beiden andern Evangelisten durch εὐϑέως und παρα - χρῆμα noch näher zusammenrücken, eine längere Zeit der ärztlichen Behandlung ein, und Venturini weiſs die ange - wandten Mittel sogar im Einzelnen namhaft zu machen11)Natürliche Geschichte, 2, S. 212.. Mit Recht hält gegen solche Willkührlichkeiten Olshausen daran fest, daſs nach der Ansicht der Erzähler der bele - bende Ruf Jesu, und wir können hinzusetzen, die Berüh -140Zweiter Abschnitt.rung seiner mit göttlicher Macht gerüsteten Hand, das Me - dium der Erweckung des Mädchens gewesen sei.

Bei der dem Lukas eigenthümlichen Erweckungsge - schichte (7, 11 ff. ) fehlt der natürlichen Erklärung die Handhabe, die in der zulezt betrachteten der Ausspruch Jesu bot, in welchem er den wirklich erfolgten Tod des Mädchens zu leugnen schien. Dennoch fassen die ratio - nalistischen Ausleger Muth, und knüpfen ihre Hoffnungen hauptsächlich daran, daſs Jesus V. 14. den im Sarge lie - genden Jüngling anredet: anreden aber, sagen sie, könne man doch nicht einen Todten, sondern nur einen solchen, den man des Hörens fähig erkannt habe oder vermuthe12)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 716. Anm. und 719 f.. Allein dieser Kanon würde auch beweisen, daſs die Tod ten alle, welche am Ende der Tage Christus auferwecken wird, nur Scheintodte seien, da sie sonst nicht, wie es doch ausdrücklich heiſst (Joh. 5, 28. vgl. 1. Thess. 4, 16.), seine Stimme hören könnten, er würde also zu viel be - weisen. Allerdings muſs, wer angeredet wird, als hörend und in gewissem Sinne lebend vorausgesezt werden, aber hier nur insofern, als die Stimme des Todtenerweckers auch in erstorbene Ohren dringen kann. Nächstdem wer - den wir zwar die Möglichkeit, daſs bei der jüdischen Un - sitte, die Todten schon einige Stunden nach deren Ver - scheiden zu begraben, leicht ein bloſs Scheintodter zu Grabe getragen werden konnte, zugeben müssen13)Ders. a. a. O. S. 723.: alles Weitere aber, wodurch gezeigt werden soll, daſs diese Möglichkeit hier Wirklichkeit gewesen, ist ein Gewebe von Erdichtungen. Um zu erklären, wie Jesus, auch ohne den Vorsaz, hier ein Wunder zu thun, sich mit dem Lei - chenzuge einlassen, wie er auf die Vermuthung, der zu Begrabende möchte vielleicht nicht wirklich todt sein, kom - men konnte, wird zuerst fingirt, die beiden Züge, der141Neuntes Kapitel. §. 96.Leichenzug und der Zug der Begleiter Jesu, seien gerade unter dem Stadtthor zusammengetroffen, und da sie einan - der den Weg sperrten, eine Weile aufgehalten worden: geradezu gegen den Text, der erst als Jesus den Sarg anfaſste, die Träger stillestehen läſst. Durch die Erzäh - lung der näheren Umstände des Todesfalls, die er sich während des Stillstands habe geben lassen, gerührt, sei nun Jesus zu der Mutter getreten, und habe, ohne Bezug auf eine zu vollbringende Todtenerweckung, rein nur als tröstenden Zuspruch, die Worte: μὴ κλαῖε zu ihr gespro - chen14)so auch Hase, L. J. §. 87.. Allein was wäre doch das für ein leerer, an - maſsender Tröster, welcher einer Mutter, die ihren einzi - gen Sohn begräbt, nur geradezu das Weinen verbieten wollte, ohne weder reale Hülfe durch Wiederbelebung des Gestorbenen, noch ideale durch ausgesuchte Trostgründe ihr zu bieten? Das Leztere thut nun Jesus nicht: soll er also nicht ganz unzart aufgetreten sein, so muſs er das Erstere im Sinn gehabt haben, und dazu macht er auch alle Anstalt, indem er absichtlich den Sarg anhält und die Träger zum Stehen bringt. Vor dem erweckenden Ruf Jesu schiebt nun die natürliche Erklärung den Umstand ein, daſs Jesus an dem Jüngling irgend ein Lebenszeichen bemerkt, und auf dieses hin entweder unmittelbar, oder nach vorgängiger Anwendung von Medikamenten15)Venturini, 2, S. 293., jene Worte gesprochen habe, welche ihn vollends erwecken halfen. Allein abgesehen davon, daſs jene Zwischenmo - mente in den Text nur eingeschoben sind, und das starke: νεανίσκε, σοὶ λέγω, ἐγέρϑητι, eher dem Machtbefehl eines Wunderthäters als dem Belebungsversuch eines Arztes ähn - lich sieht: wie konnte Jesus, wenn er sich bewuſst war, den Jüngling als lebenden schon angetroffen, nicht selbst erst ihn vom Tode zurückgerufen zu haben, mit gutem Ge -142Zweiter Abschnitt.wissen die Lobpreisungen hinnehmen, welche dem Bericht zufolge die zuschauende Menge dieser That wegen ihm als groſsem Propheten zollte? Nach Paulus war er selber un - gewiſs, wie er den Erfolg anzusehen habe; aber eben wenn er nicht überzeugt war, den Erfolg sich selber zu - schreiben zu dürfen, so erwuchs ihm die Pflicht, alles Lob in Bezug auf denselben abzulehnen, und er kommt, wenn er dieſs nicht that, in ein zweideutiges Licht, in welchem er nach der übrigen evangelischen Geschichte, sofern sie unbefangen aufgefaſst wird, keineswegs steht. Auch hier also müssen wir anerkennen, daſs der Evan - gelist uns eine wunderbare Todtenerweckung erzählen will, und daſs nach ihm auch Jesus seine That als ein Wunder angesehen haben muſs16)vgl. Schleiermacher, a. a. O. S. 103 f..

Je weniger bei der dritten Todtenerweckungsgeschich - te, welche dem johanneischen Evangelium (Kap. 11.) ei - genthümlich ist, weil wir an Lazarus keinen eben Gestor - benen, oder auf dem Weg zum Grabe Befindlichen, son - dern einen schon mehrere Tage Begrabenen vor uns ha - ben, an eine natürliche Erklärung gedacht werden zu kön - nen scheint: desto künstlicher und ausführlicher hat sie sich gerade in Bezug auf diese Erzählung ausgebildet. Und zwar ist hier neben der streng und consequent rationali - stischen Auslegungsweise, welche den evangelischen Be - richt durchaus als geschichtlich festhaltend, alle Theile des - selben natürlich zu deuten sich anheischig macht, auch noch jene andere aufgetreten, welche einzelne Züge des Berichts als solche ausscheidet, die erst nach dem Erfolg hinzugesezt seien, womit also schon ein Schritt in die my - thische Erklärung hinüber gemacht worden ist.

Auf die nämlichen Prämissen wie bei der vorigen Er - zählung gestüzt, daſs sowohl an sich als wegen der jüdi - schen Sitten ein Begrabener wohl nach viertägigem Auf -143Neuntes Kapitel. §. 96.enthalt in einer Felsengruft wieder zum Leben habe kom - men können eine Möglichkeit, die wir als solche auch hier nicht bestreiten , beginnt die natürliche Erklärung17)Paulus, Comm. 4, S. 535 ff. L. J. 1, b, S. 55 ff. mit der Voraussetzung, die wir vielleicht schon nicht mehr ebenso passiren lassen sollten, daſs bei dem Boten, den ihm die Schwestern mit der Krankheitsnachricht sandten, Jesus sich genau nach den Umständen der Krankheit er - kundigt haben werde, und nun soll die Antwort, welche er dem Boten gab (V. 4.): αὕτη ἀσϑένεια ουκ ἔςι πρὸς ϑάνατον κ. τ. λ. eben nur als Schluſs aus den von dem Bo - ten eingezogenen Nachrichten seine Überzeugung ausdrü - cken, daſs die Krankheit nicht tödtlich sei. Mit einer sol - chen Ansicht von dem Zustande des Freundes würde aller - dings das auf's Beste zusammenstimmen, daſs Jesus nach erhaltener Botschaft noch zwei Tage in Peräa blieb (V. 6.), indem er nach jener Voraussetzung seine Anwesenheit in Bethanien für nicht so dringend nothwendig erachten konnte. Nun aber, wie kommt es, daſs er nach Abfluſs dieser zwei Ta - ge nicht nur entschlossen ist, dahin zu reisen (V. 8.), sondern auch von dem Zustand des Lazarus eine ganz andre Ansicht, ja die bestimmte Kunde von seinem Tode hat, welchen er den Jün - gern zuerst verblümt (V. 11.), dann offen (V. 14.) ankündigt? Hier erhält die bezeichnete Erklärungsart einen bedeuten - den Riſs, den sie durch die Fiktion eines zweiten Boten18)Im L. J. 2, b (Textübersetzung) S. 46. scheinen gar nach der im Evangelium erwähnten Sendung noch drei weitere vorausgesezt zu werden., welcher nach Verfluſs der zwei Tage Jesu die Nachricht von des Lazarus indeſs erfolgtem Ableben gebracht habe, nur um so auffallender macht. Denn von einem zweiten Boten kann wenigstens der Verfasser des Evangeliums nichts gewuſst haben, sonst müſste er seiner Erwähnung thun, da die Verschweigung desselben der ganzen Erzäh -144Zweiter Abschnitt.lung eine andre Farbe giebt, die nämlich, daſs Jesus auf wunderbare Weise von dem Tode des Lazarus Kenntniſs gehabt habe. Daſs sofort Jesus, als er entschlossen war, nach Bethanien zu reisen, zu den Jüngern sagte, er wolle den eingeschlummerten Lazarus aufwecken (κεκοίμηται ἐξυπνίσω V. 11.), wird auf diesem Standpunkt so er - klärt, Jesus müsse aus den Nachrichten des Boten, der den Tod des Lazarus meldete, irgendwie abgenommen ha - ben, daſs derselbe nur in einem soporösen Zustand sich befinde. Allein hier so wenig als oben können wir Jesu die unkluge Vermessenheit zutrauen, ehe er noch den an - geblich Verstorbenen gesehen hatte, die bestimmte Versi - cherung, daſs er noch lebe, zu geben19)vgl. C. Ch. Flatt, etwas zur Vertheidigung des Wunders der Wiederbelebung des Lazarus, in Süskind's Magazin, 14tes Stück, S. 93 ff.. Auch das hat auf diesem Standpunkt seine Schwierigkeit, daſs Jesus zu seinen Jüngern (V. 15.) sagt, er freue sich um ihretwillen, vor und bei des Lazarus Tode nicht zugegen gewesen zu sein, ἵνα πιςεύσητε. Die Paulus'sche Erklärung dieser Worte, als ob Jesus gefürchtet hätte, der in seiner Gegen - wart erfolgte Tod hätte sie im Glauben an ihn wankend machen können, hat nicht allein das von Gabler Bemerk - te gegen sich, daſs πιςεύω nicht geradezu nur das Nega - tive: den Glauben nicht verlieren, bedeuten kann, was vielmehr durch eine Phrasis, wie: ἵνα μὴ ἐκλείπῃ πίςις ὑμῶν (s. Luc. 22, 32.) ausgedrückt sein müſste20)Gabler's Journal für auserlesene theol. Literatur, 3, 2, S. 261, Anm., son - dern es ist auch nirgendsher eine solche Vorstellung der Jünger von Jesu als dem Messias nachzuweisen, mit wel - cher das Sterben eines Menschen, oder näher eines Freun - des, in seiner Gegenwart unverträglich gewesen wäre.

Von Jesu Ankunft in Bethanien an wird die evange - lische Erzählung der natürlichen Erklärung etwas günsti -145Neuntes Kapitel. §. 96.ger. Zwar die Anrede der Martha an ihn (V. 21 f.): - re er zugegen gewesen, so würde ihr Bruder nicht gestor - ben sein, ἀλλὰ καὶ νῦν οἶδα, ὅτι, ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν ϑεὸν, δώσει σοι ϑεὸς, scheint unverkennbar die Hoffnung aus - zusprechen, daſs Jesus auch den schon Gestorbenen in das Leben zurückzurufen vermöge; allein daſs sie auf die fol - gende Zusicherung Jesu: ἀναςήσεται ἀδελφός σου, klein - müthig erwiedert: ja, am jüngsten Tage (V. 24.), thut al - lerdings einer Erklärung Vorschub, welche nun rückwärts auch der obigen Äusserung der Martha (V. 22.) den unbe - stimmten Sinn unterlegt, auch jezt noch, unerachtet er ihren Bruder nicht bei'm Leben erhalten habe, glaube sie an Jesum als an denjenigen, welchem Gott Alles, was er bitte, gewähre, d. h. als den Liebling der Gottheit, den Messias. Allein nicht πιςεύω sagte Martha dort, sondern οἶδα, und die Wendung: ich weiſs, daſs das und das ge - schieht, wenn du nur willst, ist eine gewöhnliche indirekte Form der Bitte, und hier um so unverkennbarer, da der Gegenstand der Bitte aus dem vorausgeschickten Gegensatze dahin klar wird, daſs Martha sagen will: den Tod des Bruders zwar hast du nicht verhindert, aber auch jezt ist es noch nicht zu spät, sondern auf deine Bitte wird ihn Gott dir und uns wieder schenken. Ein Wechsel der Stim - mung, wie er dann in Martha angenommen werden muſs, deren kaum geäusserte Hoffnung in der Erwiederung V. 24. bereits wieder erloschen ist, kann bei einem Weibe, wel - ches hier und sonst als von sehr beweglicher Natur sich zeigt, nicht zu sehr befremden, und wird in unserem Falle durch die Form der vorangegangenen Zusicherung Jesu (V. 23.) hinlänglich erklärt. Auf ihre indirekte Bitte näm - lich hatte Martha eine bestimmte gewährende Zusage er - wartet: da nun Jesus nur ganz allgemein und mit einem Ausdruck antwortet, welchen man auf die Auferstehung am Ende der Dinge zu beziehen gewohnt war (ἀναςήσεται), so giebt sie halb empfindlich halb kleinmüthig jene Erklä -Das Leben Jesu II. Band. 10146Zweiter Abschnitt.rung21)Flatt, a. a. O. S. 102 f.. Eben jene so allgemein lautende Äusserung Je - su aber, so wie die noch unbestimmteren, V. 25 f: ἐγώ εἰμι ἀνάςασις κ. τ. λ., glaubt man nun rationalistischer - seits dahin deuten zu können, Jesus selbst sei von der Er - wartung eines ausserordentlichen Erfolgs noch entfernt ge - wesen, deſswegen tröste er die Martha bloſs mit der allge - meinen Hoffnung, daſs er, der Messias, den an ihn Glau - bigen die einstige Auferstehung und ein seliges Leben ver - schaffen werde. Da jedoch Jesus oben (V. 11.) zu seinen Jüngern zuversichtlich von einem Aufwecken des Lazarus gesprochen hatte, so müſste er indessen umgestimmt wor - den sein, wozu kein Anlaſs zu finden ist. Auch beruft sich Jesus V. 40, wo er, im Begriff, zur Erweckung des Lazarus zu schreiten, zu Martha sagt: ουκ εἶπόν σοι, ὅτι, ἐὰν πιςεύσῃς, ὄψει τὴν δόξαν τοῦ ϑεοῦ offenbar auf V. 23, in welchem er also schon die vorzunehmende Wiederbele - bung vorhergesagt haben will. Daſs er diese nicht be - stimmter bezeichnet, und das kaum gegebene Versprechen in Bezug auf den ἀδελφὸς V. 25 f. wieder in allgemeine Verheiſsungen für den πιςεύων überhaupt verhüllt, ge - schieht, um den Glauben der Martha zu prüfen und zu stärken22)Flatt, a. a. O., Lücke und Tholuck z. d. St..

Wie nun Maria mit Begleitung herauskommt, und durch ihr Weinen auch Jesus bis zu Thränen erschüttert wird, das ist ein Punkt, auf welchen sich die natürliche Erklärung mit besonderer Zuversicht beruft und fragt, ob Jesus, wenn ihm die Wiederbelebung des Freundes jezt schon gewiſs gewesen wäre, nicht vielmehr mit der innig - sten Freude sich seiner Gruft genähert haben würde, aus der er ihn im nächsten Augenblick lebend wieder hervor - rufen zu können sich bewuſst war? Hiebei wird dann das ἐνεβριμήσατο (V. 33.) und ἐμβριμώμενος (V. 38.) von ge -147Neuntes Kapitel. §. 96.waltsamem Zurückdrängen des Schmerzens über den Tod des Freundes verstanden, der sich hierauf in dem ἐδάκρυ - σεν Luft gemacht habe. Allein sowohl nach der Etymolo - gie, nach welcher es fremere in aliquem oder in se heiſst, als nach der Analogie des N. T. lichen Sprachgebrauchs, wo es Matth. 9, 30. Marc. 1, 43. 14, 5. immer nur im Sinne von increpare aliquem vorkommt, bezeichnet ἐμβριμᾶσϑαι eine Bewegung des Zorns, nicht des Schmerzens, und zwar müſste es hier, wo es nicht mit dem Dativ einer andern Person, sondern mit τῷ πνεύματι und ἐν ἑαυτῷ verbunden ist, von einem stillen, verhaltenen Unwillen verstanden wer - den. In diesem Sinne würde es V. 38, wo es zum zwei - tenmal vorkommt, ganz wohl passen, denn in der voran - gegangenen Äusserung der Juden: οὐκ ἠδύνατο οὗτος, ἀνοίξας τοὺς ὀφϑαλμοὺς τοῦ τυφλοῦ, ποιῆσαι ἵνα καὶ οὗτος μὴ ἀποϑάνῃ; liegt jedenfalls ein σκανδαλίζεσϑαι, indem Jesu frühere That sie an seinem jetzigen Benehmen, und dieses hinwiederum an jener irre machte. Wo aber das erstemal von einem ἐμβριμᾶσϑαι die Rede ist, V. 33, scheint zwar das allgemeine Weinen Jesum eher zu einer wehmüthigen als unwilligen Bewegung haben veranlassen zu können: doch war auch hier eine starke Miſsbilligung der sich zei - genden ὀλιγοπιστία möglich. Daſs hierauf Jesus selbst in Thränen ausbrach, beweist nur, daſs sein Unwille über die γενεὰ ἄπιςος um ihn her sich in Wehmuth auflöste, nicht aber, daſs Wehmuth von Anfang an seine Empfin - dung war. Endlich, daſs die Juden (V. 36.) die Thränen Jesu als Zeichen auslegten, πῶς ἐφίλει αὐτὸν, dieſs scheint eher gegen als für diejenigen zu sprechen, welche die Ge - müthsbewegung Jesu als Schmerz über den Tod des Freun - des und Mitgefühl mit dessen Schwestern betrachten, da, wie der Charakter der[johanneischen] Darstellung überhaupt eher einen Gegensaz zwischen dem wirklichen Sinn des Be - nehmens Jesu und der Art, wie die Zuschauer es auffaſs - ten, erwarten läſst, so insbesondere οἱ Ἰουδαῖοι in diesem10 *148Zweiter Abschnitt.Evangelium sonst immer diejenigen sind, welche Jesu Worte und Thaten theils miſsverstehen, theils miſsdeuten. Man beruft sich freilich noch auf den sonst so milden Charak - ter Jesu, welchem die Härte nicht angemessen sei, mit wel - cher er hier der Maria und den Übrigen ihr so natürliches Weinen übelgenommen haben müſste23)Lücke, 2, S. 388.: allein dem jo - hanneischen Christus ist eine solche Denkweise keineswegs fremd. Derjenige, welcher dem βασιλικὸς, der ihm mit der unverfänglichen Bitte, zur Heilung seines Sohnes in sein Haus zu kommen, entgegentrat, den Verweis gab: ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τϑ; έρατα ἴδητε, ουμὴ πιςεύσητε (4, 48.); der die Jünger, welche sich an der harten Rede des 6ten Kapitels gestossen hatten, so schneidend mit einem τοῦτο ὑμᾶς σκαν - δαλίζει; und μὴ καὶ ὑμεῖς ϑέλετε ὑπάγειν; anlieſs (6, 61. 67. ); der seine eigene Mutter, als sie bei der Hochzeit zu Kana ihm den Weinmangel klagte, durch das harte: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ, γύναι; abwies (2, 4.); der also jedesmal dann am unwilligsten wurde, wenn Menschen, sein höheres Thun und Denken nicht begreifend, sich kleinmüthig oder zu - dringlich zeigten: der war hier ganz besonders zu ähnli - chem Unwillen veranlaſst. Ist bei dieser Erklärung der Stelle von einem Schmerz Jesu über den Tod des Lazarus gar nicht die Rede, so fällt auch die Hülfe weg, welche die natürliche Erklärung des ganzen Hergangs in diesem Zuge zu finden glaubt; indeſs auch bei der anderen Deu - tung läſst sich die augenblickliche Rührung durch das Mit - gefühl mit den Weinenden gar wohl mit der Voraussicht der Wiederbelebung vereinigen24)Flatt a. a. O. S. 104 f. Lücke, a. a. O.. Und wie hätten sich auch die Worte der Juden V. 37. nach der Behauptung natürlicher Erklärer geeignet, die Hoffnung, daſs Gott auch jezt vielleicht etwas Auszeichnendes für ihn thun werde, in Jesu zuerst anzuregen? Nicht die Hoffnung, daſs er149Neuntes Kapitel. §. 96.den Todten wiedererwecken könne, sondern nur die Ver - muthung, daſs er vielleicht den Kranken am Leben zu er - halten im Stande gewesen wäre, sprachen ja die Juden aus; es hatte also schon früher Martha durch die Äusse - rung, daſs auch jezt noch der Vater ihm gewähren werde, was er bitte, mehr gesagt: so daſs, wenn dergleichen Hoffnungen erst von aussen in Jesu angeregt wurden, die - selben schon früher angeregt sein muſsten, und namentlich vor jenem Weinen Jesu, auf welches man sich dafür, daſs sie noch nicht angeregt gewesen, zu berufen pflegt.

Daſs die Äusserung der Martha, als Jesus den Stein vom Grabe zu nehmen befiehlt: κύριε, ἤδη ὄζει (V. 39.), für die wirklich schon eingetretene Verwesung und also gegen die Möglichkeit einer natürlichen Wiederbelebung nichts beweise, da sie auch bloſser Schluſs aus dem τεταρ - ταῖος sein kann, ist auch von supranaturalistischen Aus - legern eingeräumt worden25)Flatt, S. 106; Olshausen, 2, S. 269.. Hierauf aber die Worte, mit welchen Jesus, die Einrede der Martha ablehnend, auf der Öffnung des μνημεῖον besteht (V. 40.), daſs sie, wenn sie nur glaube, τὴν δοξαν τοῦ ϑεοῦ sehen werde, wie konnte er diese aussprechen, wenn er sich seiner Macht, den Lazarus zu erwecken, nicht auf's Bestimmteste bewuſst war? Nach Paulus sagte jener Ausspruch nur allgemein, daſs der Vertrauensvolle auf irgend eine Weise eine herr - liche Äusserung der Gottheit erlebe. Allein welche herr - liche Äusserung der Gottheit war denn hier, bei Eröffnung der Gruft eines seit vier Tagen Begrabenen zu erleben, wenn nicht die, daſs er auferweckt werden sollte? und im Gegensaz vollends gegen die Versicherung der Martha, daſs den Bruder bereits die Verwesung ergriffen haben müs - se, was können jene Worte für einen Sinn haben, als, hier sei der Mann, der Verwesung zu wehren? Um aber ganz sicher zu erfahren, was die δόξα τοῦ ϑεοῦ in unserer150Zweiter Abschnitt.Stelle sagen will, darf man nur auf V. 4. zurücksehen, wo Jesus gesagt hatte, die Krankheit des Lazarus sei nicht πρὸς ϑάνατον, sondern ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ ϑεοῦ, κ. τ. λ. Hier erhellt doch wohl aus dem Gegensaz: nicht zum To - de, unabweisbar, daſs die δόξα τοῦ ϑεοῦ die Verherrlichung Gottes durch das Leben, also, sofern er jezt bereits todt war, durch die Wiederbelebung des Lazarus bedeutet, eine Hoffnung, welche Jesus gerade im entscheidendsten Augenblick nicht anzuregen wagen konnte, ohne eine - here Gewiſsheit zu haben, daſs sie in Erfüllung gehen wer - de26)Flatt, S. 97 f.. Daſs er sofort nach Eröffnung der Gruft, noch ehe er dem Todten das δεῦρο ἔξω! zugerufen, bereits dem Vater für die Erhörung seiner Bitte dankt, dieſs wird vom Standpunkt der natürlichen Erklärung als der klarste Be - weis dafür angeführt, daſs er den Lazarus nicht durch je - nes Wort erst in das Leben gerufen, sondern beim Hinein - blick in die Gruft ihn bereits wiederbelebt gefunden haben müsse. Ein solches Argument sollte man von Kennern des johanneischen Evangeliums in der That nicht erwarten. Wie gewöhnlich ist es diesem nicht, z. B. in dem Ausspruch: ἐδοξάσϑη υἱὸς τ. ., das erst noch Bevorstehende und nur erst Angelegte als bereits Verwirklichtes darzustellen; wie passend war es namentlich hier, die Gewiſsheit der Erhö - rung dadurch hervorzuheben, daſs sie als bereits gesche - hene bezeichnet wurde? Und welcher Fiktionen bedarf es nun ferner, um zu erklären, theils wie Jesus das in den Lazarus zurückgekehrte Leben bemerken, theils wie er wieder zum Leben gelangt sein konnte! Zwischen dem Weg - nehmen des Steins, sagt Paulus, und Jesu Dankgebet liegt der Moment des überraschenden Erfolgs; damals muſs Je - sus, noch um einige Schritte entfernt, den Lazarus als ei - nen Lebenden erkannt haben. Woran? müssen wir fra - gen, und wie so schnell und sicher? und warum nur er151Neuntes Kapitel. §. 96.und Niemand sonst? Erkannt möge er ihn haben an Be - wegungen, vermuthet man. Aber wie leicht konnte er sich hierin täuschen bei einem in dunkler Felsengruft lie - genden Todten; wie voreilig, wenn er, ohne erst genauer untersucht zu haben, so schnell und bestimmt die Über - zeugung, daſs er lebe, aussprach! Oder, wenn die Bewe gungen des Todtgeglaubten stark und unverkennbar waren, wie konnten sie den Umstehenden entgehen? Endlich, wie konnte Jesus in seinem Gebet das bevorstehende Faktum als Erkennungszeichen seiner göttlichen Sendung darstel - len, wenn er sich bewuſst war, die Wiederbelebung des Lazarus nicht bewirkt, sondern nur entdeckt zu haben? Für die natürliche Möglichkeit eines Wiederauflebens des schon Begrabenen wird unsre Unkenntniſs der näheren Um - stände seines vermeintlichen Todes, das schnelle Begraben bei den Juden, hierauf die kühle Gruft, die stark duften - den Specereien, und endlich der warme Luftzug angeführt, welcher mit der Abwälzung des Steins belebend in die Gruft strömte. Alle diese Umstände jedoch führen nicht über den niedrigsten Grad der Möglichkeit, welcher der höchsten Unwahrscheinlichkeit gleich ist, hinaus, womit dann die Gewiſsheit, mit welcher Jesus den Erfolg vorausverkün - digt, unvereinbar bleiben muſs27)vgl. auch hierüber vorzüglich Flatt und Lücke..

Eben diese bestimmten Vorhersagen, als das Haupthin - derniſs einer natürlichen Erklärung dieses Abschnitts, sind es daher, welche man, noch vom rationalistischen Stand - punkt aus, durch die Annahme beseitigen wollte, daſs sie nicht von Jesu selbst herrühren, sondern ex eventu vom Referenten hinzugefügt sein mögen. Paulus selbst fand wenigstens das ἐξυπνίσω αὐτὸν (V. 11.) gar zu bestimmt, und wagte daher die Vermuthung, daſs der Erzähler nach dem Erfolge ein milderndes Vielleicht, das Jesus hinzuge -152Zweiter Abschnitt.sezt hatte, weggelassen habe28)So im Commentar, 4, S. 537; im L. J. 1, b, S. 57, und 2, b, S. 46. wird diese Vermuthung nicht mehr angewendet.. Diese Auskunft hat Gabler in erweiterte Anwendung gebracht. Nicht bloſs über den bezeichneten Ausspruch theilt er die Paulus'sche Vermuthung, sondern schon V. 4. ist er geneigt, das ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ ϑεοῦ nur auf Rechnung des Evangelisten zu schreiben; ebenso V. 15., bei dem χαίρω δἰ ὑμᾶς, ἵνα πιςεύ - σητε, ὅτι ουκ ἤμην ἐκεῖ, vermuthet er eine kleine, von Jo - hannes nach dem Erfolg angebrachte Verstärkung; endlich auch bei den Worten der Martha, V. 22.: ἀλλὰ καὶ νῦν οἶδα κ. τ. λ. giebt er dem Gedanken an einen eigenen Zu - saz des Referenten Raum29)a. a. O. S. 272 ff. Wie Gabler diese Äusserungen nicht von Jesu, sondern nur von Johannes, so glaubte sie Dieffenbach, in Bertholdt's krit. Journal, 5, S. 7 ff., auch nicht von Jo - hannes ableiten zu können, und da er das übrige Evangelium für johanneisch hielt, so erklärte er jene Stellen für Inter - polationen.. Durch diese Wendung hat die natürliche Auslegungsweise sich selbst als unfähig be - kannt, mit der johanneischen Erzählung fertig zu wer - den. Denn wenn sie, um sich an derselben geltend ma - chen zu können, mehrere, gerade der bezeichnendsten Stellen ausmerzen muſs, so gesteht sie damit eben, daſs die Erzählung, so wie sie vorliegt, eine natürliche Deu - tung nicht zuläſst. Zwar sind die Stellen, deren Unver - träglichkeit mit der rationalistischen Erklärungsart durch Ausscheidung derselben eingestanden wird, sehr sparsam gewählt: allein aus der obigen Darstellung erhellt, daſs, wollte man alle in diesem Abschnitt vorkommende Züge, welche der natürlichen Ansicht vom ganzen Hergang wi - derstreben, auf Rechnung des Evangelisten schreiben, am Ende nur nicht gar Alles, was hier verhandelt wird, als spätere Erdichtung angesehen werden müſste. Hiemit ist, was bei den früher betrachteten zwei Berichten von Tod -153Neuntes Kapitel. §. 96.tenerweckungen wir gethan haben, bei der lezten und merkwürdigsten Geschichte dieser Art von den verschiede - nen auf einander gefolgten Erklärungsversuchen selbst voll - zogen worden, nämlich die Sache auf die Alternative zu treiben, daſs man von der evangelischen Erzählung entwe - der den Hergang als übernatürlichen hinnehmen, oder, wenn man ihn als solchen unglaublich findet, den histori - schen Charakter der Erzählung leugnen muſs.

Um in diesem Dilemma für alle drei hiehergehörige Erzählungen eine Entscheidung zu finden, müssen wir auf den eigenthümlichen Charakter derjenigen Art von Wundern zurückgehen, welche wir hier vor uns haben. Wir sind bis jezt durch eine Stufenleiter des Wunderbaren aufge - stiegen. Zuerst Heilungen von Geisteskranken; dann von allen Arten leiblich Kranker, deren Organismus aber doch noch nicht bis zum Entweichen des Geistes und Lebens zerrüttet war; nunmehr die Wiederbelebung solcher Kör - per, aus welchen das Leben bereits geflohen ist. Dieser Klimax des Wunderbaren ist zugleich eine Stufenreihe des Undenkbaren. Das nämlich haben wir uns zwar etwa noch vorstellen können, wie eine geistige Störung, bei welcher von den körperlichen Organen nur das dem Geiste zunächst angehörige Nervensystem sich einigermaſsen angegriffen zeigte, auch auf dem rein geistigen Wege des bloſsen Wor - tes, Anblicks, Eindrucks Jesu gehoben werden mochte: je weiter aber in das Körperliche eingedrungen das Übel sich zeigte, desto undenkbarer war uns eine Heilung die - ser Art. Wo bei Geisteskranken das Gehirn bis zur wil - desten Tobsucht, bei Nervenkranken das Nervensystem bis zu periodischer Epilepsie zerrüttet war, da konnten wir uns schon schwer vorstellen, wie durch jene geistige Ein - wirkung bleibende Hülfe geschafft worden sein sollte; noch schwerer, wo die Krankheit ausser allem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Geistigen sich zeigte, wie bei Aus - saz, Blindheit, Lähmung und dergleichen. Immer aber154Zweiter Abschnitt.war doch hier noch etwas vorhanden, woran die Wunder - kraft Jesu, sofern wir sie uns doch geistiger Art denken müssen, sich wenden konnte; es war doch noch ein Be - wuſstsein in den Menschen, auf welches Eindruck zu ma - chen, und durch dessen Vermittlung möglicherweise auch auf den Körper solcher Personen zu wirken war. Nun aber bei Todten ist das anders. Der Gestorbene, dem mit dem Leben auch das Bewuſstsein entflohen ist, hat den lez - ten Anknüpfungspunkt für die Einwirkung des Wunder - thäters verloren, er nimmt ihn nicht mehr wahr, bekommt keinen Eindruck mehr von ihm, da ihm selbst die Fähig - keit, Eindrücke zu bekommen, auf's Neue verliehen wer - den muſs. Diese aber zu verleihen, oder beleben im ei - gentlichen Sinn, ist eine schöpferische Thätigkeit, welche von einem Menschen ausgeübt zu denken, wir unsre Un - fähigkeit bekennen müssen.

Doch auch innerhalb unsrer drei Todtenerweckungs - geschichten selbst findet ein unverkennbarer Klimax statt. Mit Recht hat schon Woolston bemerkt, es sehe aus, wie wenn von diesen drei Erzählungen jede zu der vorange - henden an Wunderbarem hätte hinzufügen wollen, was dieser noch fehlte30)Disc. 5.. Die Jairustochter erweckt Jesus noch auf demselben Lager, auf welchem sie so eben ver - schieden war; den nainitischen Jüngling schon im Sarg und auf dem Wege zur Bestattung; den Lazarus endlich nach viertägigem Aufenthalt in der Gruft. War es in je - ner ersten Geschichte nur durch ein Wort angezeigt, daſs das Mädchen den unterirdischen Mächten verfallen gewe - sen: so wurde dieſs in der zweiten Geschichte durch den Zug, daſs man den Jüngling bereits vor die Stadt hinaus zu Grabe getragen habe, auch für die Anschauung ausge - prägt, am entschiedensten aber ist der längst in der Gruft verschlossene Lazarus als ein bereits der Unterwelt an -155Neuntes Kapitel. §. 96.gehöriger geschildert, so daſs, wenn die Wirklichkeit des Todes im ersten Falle bezweifelt werden konnte, dieſs bei'm zweiten schon schwerer, bei'm dritten so viel wie unmöglich ist31)Bretschneider, Probab. S. 61.. In dieser Abstufung steigt dann auch die Schwierigkeit, die drei Begebenheiten sich denkbar zu machen: wenn anders, wo die Sache selbst undenkbar ist, zwischen verschiedenen Modificationen derselben eine Stei - gerung der Undenkbarkeit stattfinden kann. Wäre näm - lich eine Todtenerweckung überhaupt möglich, so müſste sie wohl eher möglich sein bei einem so eben verschiede - nen, noch lebenswarmen Individuum, als bei einem erkal - teten, das schon zu Grabe getragen wird, und wiederum bei diesem eher als bei einem solchen, an welchem wegen bereits viertägigen Aufenthalts im Grabe der Anfang der Verwesung als eingetreten vorausgesezt, und daſs sich diese Voraussetzung bestätigt habe, wenigstens nicht ver - neint wird.

Doch auch abgesehen von dem Wunderbaren ist von den betrachteten Geschichten immer die folgende theils in - nerlich unwahrscheinlicher, theils äusserlich unverbürgter als die vorhergehende. Was die innere Unwahrscheinlich - keit betrifft, so tritt ein Moment derselben, welches an sich zwar in allen, und somit auch in der ersten liegt, doch bei der zweiten besonders hervor. Als Motiv, war - um Jesus den Jüngling zu Nain erweckte, wird hier das Mitleiden mit seiner Mutter bezeichnet (V. 13.). Damit ist nach Olshausen eine Beziehung dieser Handlung auf den Erweckten selbst nicht ausgeschlossen. Denn der Mensch, bemerkt er, kann als bewuſstes Wesen nie bloſs als Mittel behandelt werden, wie es hier der Fall wäre, wenn man die Freude der Mutter als alleinigen Zweck Jesu bei der Auferweckung des Jünglings betrachten woll - te32)1, S. 276.. Hiedurch hat Olshausen auf dankenswerthe Weise156Zweiter Abschnitt.die Schwierigkeit dieser und jeder Todtenerweckung nicht gehoben, sondern in's Licht gestellt. Denn der Schluſs, daſs, was an sich, oder nach geläuterten Begriffen, nicht erlaubt oder schicklich ist, von den Evangelisten Jesu nicht zugeschrieben werden könne, ist ein durchaus unerlaubter: vielmehr müſste, die Reinheit des Charakters Jesu voraus - gesezt, wenn ihm die Evangelien etwas Unerlaubtes zu - schreiben, auf die Unrichtigkeit ihrer Erzählungen ge - schlossen werden. Daſs nun Jesus bei seinen Todtenerwe - ckungen darauf Rücksicht genommen hätte, ob sie den zu erweckenden Personen, vermöge des Seelenzustands, in welchem sie gestorben waren, zu Gute kommen oder nicht, davon finden wir keine Spur; daſs, wie Olshausen an - nimmt, bei den leiblich Erweckten auch die geistige Erwe - ckung habe eintreten sollen und eingetreten sei, wird nir - gends gesagt; überhaupt treten diese Erweckten, auch den Lazarus nicht ausgenommen, nach ihrer Erweckung durch - aus zurück, weſswegen Woolston fragen konnte, warum doch Jesus gerade diese unbedeutenden Personen dem Tode entrissen habe, und nicht einen Täufer Johannes oder ei - nen andern allgemein nüzlichen Mann? Wollte man sagen, er habe es als den Willen der Vorsehung erkannt, daſs diese Männer, einmal gestorben, im Tode blieben: so hätte er, scheint es, von allen einmal Gestorbenen so denken müssen, und es wird in lezter Beziehung keine andere Ant - wort übrig bleiben, als diese: weil man von berühmten Männern urkundlich wuſste, daſs die durch ihren Tod ent - standene Lücke durch kein Wiederaufleben ausgefüllt wor - den war, so konnte die Sage, was sie von Todtenerwe - ckungen zu erzählen Lust hatte, nicht an solche Namen knüpfen, sondern muſste unbekannte Subjekte wählen, bei welchen jene Controle wegfiel.

Ist dieser Anstoſs allen drei Erzählungen gemein, und tritt bei der zweiten nur eines zufälligen Ausdrucks we - gen sichtbarer hervor: so ist dagegen die dritte Erzählung157Neuntes Kapitel. §. 96.voll von ganz eigenthümlichen Schwierigkeiten, indem das ganze Benehmen Jesu und zum Theil auch der übrigen Personen nicht wohl zu begreifen ist. Wie Jesus die Nachricht von der Krankheit des Lazarus und die darin enthaltene Bitte der Schwestern, nach Bethanien zu kom - men, erhält, bleibt er noch zwei Tage an Ort und Stelle, und sezt sich erst, nachdem er seines Todes gewiſs gewor - den, nach Judäa in Bewegung. Warum dieſs? Daſs es nicht geschah, weil er etwa die Krankheit für ungefährlich gehalten hätte, ist oben gezeigt, da er vielmehr den Tod des Lazarus voraussah. Daſs es ebensowenig Gleichgültig - keit gegen diesen war, wird vom Evangelisten (V. 5.) aus - drücklich bemerkt. Was also sonst? Lücke vermuthet, Jesus sei vielleicht eben in einer besonders gesegneten Wirk - samkeit in Peräa begriffen gewesen, welche er um des La - zarus willen nicht sogleich habe abbrechen wollen, indem er für Pflicht gehalten habe, seinem höheren Beruf als Lehrer den geringeren als heilender Wunderthäter und helfender Freund nachzusetzen33)Comm. 2, S. 376.. Allein neben dem, daſs er hier ganz wohl das Eine thun und das Andre nicht las - sen konnte, nämlich entweder einige Jünger zur Fortse - zung seiner Wirksamkeit in jener Gegend zurücklassen, oder den Lazarus, sei es durch einen Jünger, oder durch die Macht seines Willens in die Ferne heilen, schweigt ja unser Referent völlig über eine solche Veranlassung des längeren Verweilens Jesu, es darf sich also diese Ansicht von demselben nur dann erst, und zwar als bloſse Ver - muthung, hören lassen, wenn vom Evangelisten kein an - derer Grund von Jesu Verweilen angedeutet ist. Dieser liegt aber, worauf auch Olshausen aufmerksam macht, ganz offen in der Erklärung Jesu V. 15., deſswegen sei es ihm lieb, daſs er bei Lazarus Tode nicht gegenwärtig gewesen sei, weil für den Zweck, den Glauben der Jün -158Zweiter Abschnitt.ger zu stärken, die Wiederbelebung des Gestorbenen wirk - samer sein werde, als die Heilung des nur erst Kranken hätte sein können. Absichtlich also hatte Jesus den La - zarus erst sterben lassen, um durch seine wunderbare Er - weckung sich um so mehr Glauben zu verschaffen. Das - selbe im Ganzen fassen Tholuck und Olshausen nur zu mo - ralisch, wenn sie von einer pädagogischen Absicht Jesu reden, den Seelenzustand der Bethanischen Familie und seiner Jünger zu vollenden34)Tholuck, S. 202. Olshausen, 2, S. 260., da es doch nach Ausdrü - cken, wie ἵνα δοξασϑῇ υἱὸς τ. ϑ. (V. 4. ), vielmehr mes - sianisch um Verbreitung und Befestigung des Glaubens an Jesum als Gottessohn, zunächst freilich in jenem engsten Kreise, zu thun war. Hier ruft zwar Lücke: nimmer - mehr! so willkührlich und eigensinnig hat der Helfer in der Noth, der edelste Menschenfreund, nie gehandelt35)a. a. O., und auch de Wette macht darauf aufmerksam, daſs Jesus sonst niemals seine Wunder absichtlich herbeigeführt oder vergröſsert habe36)Andachtsbuch, 1, S. 292 f.. Allein wenn beide hieraus schlieſsen, es müsse also Jesum irgend etwas Äusseres, ein anderwei - tiges Berufsgeschäft, abgehalten haben: so ist dieſs im Obigen schon als dem Bericht zuwiderlaufend erwiesen, so daſs, wenn jene Männer mit Recht darauf beharren, der wirkliche Jesus habe so nicht handeln können, das aber nur mit Unrecht leugnen, daſs der Verfasser des vierten Evangeliums seinen Jesus so handeln lasse, nichts Ande - res übrig bleibt, als aus dieser Incongruenz des johannei - schen Christus und des denkbar wirklichen mit den Pro - babilien37)S. 59 f. 79. auf den unhistorischen Charakter der johan - neischen Erzählung zu schlieſsen.

Auch das angebliche Benehmen der Jünger V. 12. f. muſs befremden. Wenn ihnen Jesus doch, sofern jeden -159Neuntes Kapitel. §. 96.falls ihre drei Koryphäen dabei gegenwärtig gewesen wa - ren, schon den Tod der Jairustochter als einen bloſsen Schlaf dargestellt hatte: wie konnten sie dann, wenn er nun von Lazarus sagte: κεκοίμηται und ἐξυπνίσω αὐτον, an einen natürlichen Schlaf denken? Aus einem gesunden Schlaf weckt man doch wohl einen Patienten nicht, und so muſste den Jüngern alsbald einfallen, daſs hier vielmehr in dem Sinn, wie bei jenem Mädchen, von einer κοίμησις die Rede sei. Daſs statt dessen die Jünger das tiefer Ge - meinte so oberflächlich verstehen, das ist ja ganz nur die Lieblingsmanier des vierten Evangelisten, die wir schon an einer Reihe von Beispielen kennen gelernt haben. Es war ihm traditionell der Sprachgebrauch Jesu zu Ohren gekommen, den Tod nur als einen Schlaf zu bezeichnen, und alsbald ergab sich in seiner, zu dergleichen Antithe - sen geneigten Phantasie für diese Bilderrede ein entspre - chendes Miſsverständniſs.

Was die Juden V. 37. sagen, ist, die Wahrheit der synoptischen Todtenerweckungen vorausgesezt, schwer be - greiflich. Die Juden berufen sich auf die Heilung des Blindgeborenen (Joh. 9.), und machen den Schluſs, daſs derjenige, welcher diesem zum Gesicht verholfen, wohl auch im Stande gewesen sein müſste, den Tod des Laza - rus zu verhindern. Wie verfallen sie auf dieses heterogene und unzureichende Beispiel, wenn ihnen doch in den bei - den Todtenerweckungen gleichartigere vorlagen, und sol - che, welche selbst noch für den Fall des bereits erfolgten Todes Hoffnung zu geben geeignet waren? Vorangegangen waren aber jene galiläischen Todtenerweckungen dieser judäischen in jedem Fall, weil Jesus nach dieser nicht mehr nach Galiläa kam; auch konnten jene Vorgänge in der Hauptstadt nicht unbekannt geblieben sein, zumal es ja von beiden ausdrücklich heiſst, das Gerücht von densel - ben habe sich εἰς ὅλην τὴν γῆν ἐκείνην, ἐν ὅλῃ τῇ Ἰουδαίᾳ καὶ ἐν πάσῃ τῇ περιχώρῳ verbreitet. Den wirklichen Juden160Zweiter Abschnitt.also hätten diese Fälle näher gelegen: da der vierte Evan - gelist sie auf etwas weit weniger Naheliegendes sich be - rufen läſst, so wird wahrscheinlich, daſs er von jenen Vorgängen nichts gewuſst hat; denn daſs die Berufung nur ihm, nicht den Juden selber angehört, zeigt sich schon darin, daſs er sie gerade auf diejenige Heilung sich bezie - hen läſst, welche er nächstzuvor erzählt hatte.

Ein starker Anstoſs liegt auch in dem Gebete, welches V. 41 f. Jesu in den Mund gelegt wird. Nachdem er dem Vater für die Erhörung gedankt, sezt er hinzu, er für sich wisse wohl, daſs der Vater ihn jederzeit erhöre, und nur um des Volkes willen, um ihm Glauben an seine göttliche Sendung beizubringen, spreche er diesen besonderen Dank aus. Zuerst also giebt er seiner Rede eine Beziehung auf Gott, hinterher aber sezt er diese Beziehung zu einer nur um des Volks willen gemachten herunter. Und dieſs nicht nur so, wie Lücke will, daſs Jesus für sich zwar bloſs still gebetet haben würde, um des Volks willen aber sein Gebet laut spreche (denn für das bloſs stille Beten liegt in der Gewiſsheit der Erhörung kein Grund), sondern in dem Sinne, daſs er für sich dem Vater nicht für einen einzelnen Erfolg, wie gleichsam überrascht, zu danken brauche, da er der Gewährung im Voraus gewiſs sei, also Wunsch und Dank zusammenfallen, überhaupt sein Verhältniſs zum Vater nicht in einzelnen Akten der Bitte, der Erhörung und des Danks sich bewege, sondern ein beständiger und stetiger Austausch dieser gegenseitigen Funktionen sei, aus wel - chem an und für sich kein einzelner Dankakt in dieser Weise sich aussondern würde. Wenn nun allerdings in Bezug auf die Bedürfnisse des Volks und aus Sympathie mit demselben in Jesu ein solcher einzelner Akt hervorge - treten sein könnte: so müſste doch, wenn in dieser Stel - lung Wahrheit gewesen sein soll, Jesus ganz im Mitgefühl aufgegangen sein, den Standpunkt des Volks zu dem sei - nigen gemacht, und so in jenem Augenblicke doch auch161Neuntes Kapitel. §. 96.aus eigenem Trieb und für sich selber gebetet haben. Hier aber hat er kaum zu beten angefangen, so steigt ihm schon die Reflexion auf, daſs er nicht in eigenem Bedürfnisse bete, er betet also nicht aus lebendigem Gefühl, sondern aus kalter Accommodation, und dieſs muſs man anstöſsig, ja widrig finden. In keinem Falle darf, wer auf diese Wei - se nur zur Erbauung Anderer betet, es diesen sagen, es geschehe nicht von seinem, sondern nur von ihrem Stand - punkt aus, weil ein lautes Gebet auf die Hörer nur dann Eindruck machen kann, wenn sie voraussetzen, daſs der Spre - chende mit ganzer Seele dabei sei. Wie mochte also Je - sus sein angefangenes Gebet durch diesen Zusaz unwirk - sam machen? Drängte es ihn, vor Gott ein Bekennt - niſs des wahren Bestands der Sache abzulegen, so konnte er dieſs im Stillen thun; daſs er es laut aussprach, und in Folge dessen auch wir es hier lesen, dieſs könnte nur auf die spätere Christenheit, auf die Leser des Evange - liums, berechnet gewesen sein. Während nämlich zur Erweckung des Glaubens in der umstehenden Menge er - klärtermaſsen das Dankgebet nöthig war, konnte der fort - geschrittene Glaube, wie ihn das vierte Evangelium voraus - sezt, sich an demselben stossen, weil es aus einem zu un - tergeordneten, und namentlich zu wenig stetigen Verhält - niſs des Sohns zum Vater hervorgegangen scheinen konn - te; es muſste folglich jenes Gebet, das für die gegenwär - tigen Hörer nöthig war, für die späteren Leser wieder annullirt, oder auf den Werth einer bloſsen Accommodation restringirt werden. Diese Rücksicht aber kann unmöglich schon Jesus, sondern nur ein später lebender Christ ge - habt haben. Dieſs hat schon früher ein Kritiker gefühlt, und daher den 42. Vers als unächten Zusaz von späterer Hand aus dem Texte werfen wollen38)Dieffenbach, über einige wahrscheinliche Interpolationen im Evangelium Johannis, in Bertholdt's krit. Journal, 5, S. 8 f.. Da jedoch diesesDas Leben Jesu II. Band. 11162Zweiter Abschnitt.Urtheil von allen äusseren Gründen verlassen ist, so müſste man, wenn jene Worte doch nicht von Jesu sein können, annehmen, wozu Lücke früher nicht ganz ungeneigt war39)Comm. z. Joh. 1te Aufl. 2, S. 310., der Evangelist habe Jesu jene Worte nur geliehen, um die in V. 41. vorangegangenen zu erläutern. Ganz gewiſs ha - ben wir hier Worte, die Jesu vom Evangelisten nur gelie - hen sind: aber, wenn einmal diese, wer steht uns dann auch hier dafür, daſs es nur mit diesen sich so verhält? In einem Evangelium, in welchem wir schon so viele Re - den als bloſs geliehene erkannt haben, im Zusammenhang einer Erzählung, welche an allen Enden historische Un - denkbarkeiten hat, ist die Schwierigkeit eines einzelnen Verses nicht ein Zeichen, daſs er nicht zum Übrigen, son - dern in Verbindung mit dem Übrigen davon, daſs das Ganze nicht in die Klasse historischer Compositionen gehört40)So auch der Verf. der Probabilien S. 61..

Was für's Andere die Abstufung zwischen den drei Erzählungen in Rücksicht auf die äussere Beglaubigung be - trifft, so hat schon Woolston richtig beobachtet, wie auf - fallend es sei, daſs nur die Erweckung der Jairustochter, in welcher das Wunderbare am wenigsten hervortrete, bei drei Evangelisten vorkomme, die beiden andern aber je nur bei Einem41)Disc. 5., und zwar, indem es bei der Erweckung des Lazarus noch weit weniger begreiflich ist, wie sie bei den übrigen fehlen kann, als bei der Erweckung des naini - tischen Jünglings, so ist auch hier ein vollständiger Kli - max vorhanden.

Daſs die zulezt genannte Begebenheit nur allein vom Verfasser des Lukasevangeliums erzählt ist, daſs insbeson - dere Matthäus und Markus sie nicht neben oder statt der Erzählung von dem erweckten Mädchen haben, macht in mehr als Einer Hinsicht Schwierigkeit42)Vgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 103 ff.. Schon über -163Neuntes Kapitel. §. 96.haupt als Todtenerweckung, sollte man glauben, da deren nach unsern Berichten nur wenige vorgekommen waren, und diese von ausgezeichneter Beweiskraft sind, es müſste die Evangelisten nicht verdrossen haben, neben der einen auch noch die zweite aufzunehmen, da es ja Matthäus für der Mühe werth gehalten hat, z. B. von Blindenheilungen drei Proben zu berichten, welche doch weit weniger Ge - wicht hatten, wo er also weit eher mit Einer hätte ab - kommen, und statt der übrigen noch eine oder die ande - re Todtenerweckung aufnehmen können. Gesezt aber auch, die zwei ersten Evangelisten wollten aus einem nicht mehr zu ermittelnden Grunde nicht weiter als Eine Todtener - weckungsgeschichte geben, so sollten sie, muſs man mei - nen, weit eher die vom Jüngling zu Nain, sofern sie von derselben wuſsten, ausgewählt haben, als die von der Jai - rustochter, weil sie, wie oben ausgeführt, eine entschiede - nere und auffallendere Todtenerweckung war. Geben sie dessen ungeachtet nur die leztere, so kann von der andern wenigstens Matthäus nichts gewuſst haben; dem Markus freilich lag sie wahrscheinlich im Lukas vor, aber er war schon 3, 7. oder 20. von Lukas 6, 12. (17.) zu Matthäus 12, 15. übergesprungen, und kehrt erst 4, 35. (21 ff. ) zu Lukas 8, 22. (16 ff. ) zurück43)Saunier, über die Quellen des Markus, S. 66 ff., wo er dann die Erweckung des Jünglings (Luc. 7, 11 ff. ) bereits hinter sich hat. Die nunmehr entstehen - de zweite Frage: wie kann die Wiederbelebung des Jüng - lings, wenn sie wirklich vorgegangen war, dem Verfasser des ersten Evangeliums unbekannt geblieben sein? hat, auch abgesehen von dem voraussezlich apostolischen Ur - sprung dieses Evangeliums, doch nicht geringere Schwie - rigkeiten als die vorige. Waren doch ausser vielem Vol - ke auch μαϑηταὶ ἱκανοὶ dabei; der Ort Nain kann, wie Josephus seine Lage im Verhältniſs zum Thabor bestimmt, nicht fern von dem gewöhnlichen galiläischen Schauplaz11 *164Zweiter Abschnitt.der Thätigkeit Jesu gewesen sein44)vgl. Winer, b. Realw. d. A.; endlich verbreitete sich ja das Gerücht von dem Ereigniſs, wie natürlich, weit umher (V. 17.). Schleiermacher meint, die nichtapostoli - schen Verfasser der ersten Aufzeichnungen aus dem Le - ben Jesu haben weniger gewagt, die vielbeschäftigten Apo - stel um Notizen anzugehen, sondern mehr die Freunde Je - su zweiter Ordnung aufgesucht, und hiebei haben sie sich natürlich am meisten an diejenigen Orte gewendet, wo sie die reichste Ernte hoffen konnten, nach Kapernaum und Jerusalem: was sich, wie die in Rede stehende Todtener - weckung, an andern Orten zugetragen, das habe nicht so leicht Gemeingut werden können. Allein diese Vorstellung der Sache ist theils zu subjektiv, indem sie die Verbreitung der Kunde von Jesu Thaten durch Nachfrage einzelner Liebhaber und Anekdotensammler gehen läſst, theils, was damit zusammenhängt, liegt von dergleichen Geschichten die irrige Ansicht zum Grunde, als wären sie an den Plätzen, wo sie vorgegangen, wie träge Klumpen zu Boden gefallen, desselben Orts als todte Schätze verwahrt, und nur denen, die sich an Ort und Stelle bemühten, vorgezeigt worden: statt daſs dieselben, vielmehr von dem Ort, wo sie sich begeben oder gebildet haben, lebendig auffliegen, allenthalben umherschweifen, und nicht selten das Band, das sie mit dem Ort ihrer Entstehung verknüpft, ganz zer - reissen, wie wir an unzähligen wahren oder erdichteten Geschichten täglich sehen, welche als an den verschieden - sten Orten vorgefallen dargestellt werden. Hat sich ein - mal eine solche Erzählung gebildet, so ist sie die Substanz, die angebliche Lokalität das Accidens, keineswegs, wie Schlei - ermacher es wendet, der Ort die Substanz, an welche die Er - zählung als Accidens gebunden wäre. Läſst es sich dem - nach nicht wohl denken, wie eine Begebenheit dieser Art, wenn sie wirklich vorgefallen war, ausser der allgemei - nen Überlieferung bleiben, und daher dem Verfasser des165Neuntes Kapitel. §. 96.ersten Evangeliums unbekannt sein konnte: so ergiebt sich aus der Thatsache, daſs er nichts von derselben weiſs, ein Schluſs gegen ihr wirkliches Vorgefallensein.

Doch mit ungleich schwererem Gewicht fällt dieser Zweifelsgrund auf die Erzählung des vierten Evangeliums von der Auferweckung des Lazarus. Wuſsten die Verfas - ser oder Sammler der drei ersten Evangelien von dieser, so konnten sie aus mehr als Einem Grunde nicht umhin, sie in ihre Schriften aufzunehmen. Denn erstlich ist sie unter sämmtlichen von Jesu vollbrachten Todtenerweckungen, ja unter seinen sämmtlichen Wundern überhaupt dasjenige, dem der Charakter des Wunderbaren am unverkennbarsten aufgeprägt ist, und welches daher, wenn es gelingt, einen von seiner historischen Realität zu überzeugen, eine vor - züglich starke Beweiskraft hat45)Man erinnere sich der bekannten Äusserung von Spinoza., weſswegen die Evan - gelisten, sie mochten schon eine oder zwei andre Todten - erweckungen erzählt haben, doch nicht überflüssig finden konnten, auch diese noch hinzuzufügen. Zweitens aber griff sie, laut der johanneischen Darstellung, entscheidend in die Entwickelung des Schicksals Jesu ein, indem nach 11, 47 ff. der vermehrte Zulauf zu Jesu und das groſse Aufsehen, was die Wiederbelebung des Lazarus herbeige - führt hatte, das Synedrium zu jener Berathschlagung ver - anlaſste, bei welcher der blutige Rath des Kaiphas gege - ben wurde und Eingang fand. Diese doppelte, dogmatische sowohl als pragmatische Wichtigkeit des Ereignisses muſste die Synoptiker nöthigen, es zu erzählen, wenn sie davon wuſsten. Indeſs die Theologen haben allerlei Gründe aus - findig gemacht, warum jene Evangelisten, auch wenn ih - nen die Sache bekannt war, doch nichts von derselben sol - len haben erzählen mögen. Die einen waren der Meinung, zur Zeit der Abfassung der drei ersten Evangelien sei die Geschichte noch in aller Munde, mithin ihre Aufzeichnung166Zweiter Abschnitt.überflüssig gewesen46)Whitby, Annot. 2. d. St.; Andre vermutheten umgekehrt, man habe das weitere Bekanntwerden derselben verhüten wollen, um dem noch lebenden Lazarus, welcher nach Joh. 12, 10. wegen des an ihm geschehenen Wunders von den jüdischen Hierarchen verfolgt wurde, oder seiner Familie, keine Ge - fahr zu bereiten, was in der späteren Zeit, als Johannes sein Evangelium schrieb, nicht mehr zu befürchten gewe - sen sei47)So Grotius, Herder; auch Olshausen bekennt sich vermu - thungsweise zu dieser Ansicht, 2, S. 256 f. Anmerk.. Zwar heben sich nun diese beiden Gründe auf's Schönste gegenseitig auf, und sind auch jeder für sich kaum einer ernsthaften Widerlegung werth: doch sollen, weil ähnliche Ausflüchte auch sonst noch öfter als man glauben möchte, angewendet werden, einige Gegenbemer - kungen nicht gespart sein. Die Behauptung, als in ihrem Kreise allgemein bekannt sei die Wiederbelebung des La - zarus von den Synoptikern nicht aufgezeichnet worden, beweist zu viel, indem auf diese Weise gerade die Haupt - punkte im Leben Jesu, seine Taufe im Jordan, sein Tod und seine Auferstehung, hätten unbeschrieben bleiben müs - sen. Es dient aber eine solche Schrift, die, wie unsre Evangelien, in einer religiösen Gemeinde entsteht, keines - wegs bloſs dazu, Unbekanntes bekannt zu machen, son - dern auch das bereits Bekannte festzuhalten. Gegen die andre Erklärung ist schon von Andern bemerkt worden, das Bekanntwerden dieser Geschichte unter Nichtpalästi - nensern, für welche Markus und Lukas schrieben, habe dem Lazarus nichts schaden können; aber auch der Ver - fasser des ersten Evangeliums, falls er in und für Palästina geschrieben, würde wohl schwerlich aus Rücksicht auf La - zarus, welcher, ohne Zweifel Christ geworden, wenn er auch im unwahrscheinlichen Fall zur Zeit der Abfassung des ersten Evangeliums noch gelebt haben sollte, so wenig167Neuntes Kapitel. §. 96.als seine Familie sich weigern durfte, um des Namens Christi willen zu leiden, ein Faktum verschwiegen haben, in welchem sich dessen Herrlichkeit so besonders geoffen - bart hatte. Die gefährlichste Zeit für Lazarus war nach Joh. 12, 10. die gleich nach seiner Wiederbelebung, und schwerlich konnte eine so spät kommende Erzählung diese Gefahr erhöhen oder erneuern; überhaupt muſste in der Ge - gend von Bethanien und Jerusalem, von woher dem La - zarus die Gefahr drohte, der Vorgang so bekannt sein und im Andenken bleiben, daſs durch Aufzeichnung desselben nichts zu verderben war48)s. diese Argumente zerstreut bei Paulus und Lücke z. d. ALsch. ; bei Gabler in der angef. Abhandl. S. 238 ff. und Hase, L. J. §. 119. Einen neuen Grund, warum namentlich Matthäus von der Auferweckung des Lazarus schweige, hat Heydenreich (über die Unzulässigkeit der mythischen Auffas - sung, 2tes Stück, S. 42.) ausgedacht. Der Evangelist habe sie übergangen, weil sie mit einer Zartheit und Lebendig - keit des Gefühls dargestellt und behandelt sein wolle, zu welcher er sich nicht fähig gefühlt habe. Daher habe der bescheidene Mann sich lieber gar nicht an die Geschichte wagen wollen, als sie in seiner Erzählung an rührender Kraft und Erhabenheit verlieren lassen. Welche eitle Beschei - denheit diess gewesen wäre!.

Bleibt es also, daſs die Synoptiker von der Auferwe - ckung des Lazarus, von welcher sie nichts erzählen, auch nichts gewuſst haben können, so entsteht auch hier die zweite Frage, wie dieſs Nichtwissen möglich war? Die mysteriöse Antwort Hase's, der Grund dieser Auslassung sei in den gemeinsamen Verhältnissen verborgen, unter welchen die Synoptiker überhaupt von allen früheren Vor - fällen in Judäa schweigen, läſst wenigstens dem Aus - druck nach ungewiſs, ob damit zu Ungunsten des vierten Evangeliums oder der übrigen entschieden sein soll. Ge - rade dieses Beste an der Hase'schen Antwort hat die neue - ste Kritik des Matthäusevangeliums etwas zufahrend ver -168Zweiter Abschnitt.dorben, indem sie jene gemeinsamen Verhältnisse eiligst dahin bestimmte, daſs durch die Unbekanntschaft mit einer Geschichte, die einem Apostel habe bekannt sein müssen, die Synoptiker sich sämmtlich als Nichtapostel beurkun - den49)Schneckenburger, über den Urspr. S. 10.. Durch diese Verzichtleistung auf den aposto - lischen Ursprung des ersten Evangeliums wird sein und der andern Nichtwissen um den Vorgang mit Lazarus noch keineswegs erklärlich. Denn bei der Merkwürdigkeit des Faktums, da es ferner im Mittelpunkte des jüdischen Lan - des vorgefallen war, groſses Aufsehen erregt hatte, und die Apostel als Augenzeugen zugegen gewesen waren: ist gar nicht einzusehen, wie es nicht in die allgemeine Über - lieferung, und aus ihr in die synoptischen Evangelien hätte kommen sollen. Man berief sich darauf, daſs diesen Evan - gelien galiläische Sagen, d. h. mündliche Erzählungen und schriftliche Aufsätze der galiläischen Freunde und Beglei - ter Jesu zum Grunde liegen; diese seien bei der Auferwe - ckung des Lazarus nicht zugegen gewesen, und haben sie also nicht in ihre Denkwürdigkeiten aufgenommen; die Verfasser der ersten Evangelien aber, indem sie sich streng an diese galiläischen Nachrichten hielten, haben die Bege - benheit gleichfalls übergangen50)Gabler, a. a. O. S. 240 f.. Allein so streng läſst sich die Scheidewand zwischen Galiläischem und Judäi - schem nicht ziehen, daſs der Ruf eines Ereignisses wie die Auferweckung des Lazarus nicht auch nach Galiläa hätte hinübertönen müssen; war es auch nicht in einer Festzeit vorgefallen, wo (wie Joh. 4, 45.) viele Galiläer Augen - zeugen sein konnten, so waren doch die Jünger, gröſsern - theils Galiläer, dabei (V. 16.), und muſsten, sobald sie nach Jesu Auferstehung wieder nach Galiläa kamen, das Faktum überall auch in dieser Provinz ausbreiten; oder vielmehr muſsten schon vorher, an dem lezten von Jesu169Neuntes Kapitel. §. 96.besuchten Paschafest, die festbesuchenden Galiläer die stadtkundige Begebenheit erfahren haben. Daher findet auch Lücke diese Gabler'sche Erklärung ungenügend; wenn er aber seinerseits das Räthsel durch die Bemerkung lösen will, daſs die ursprüngliche evangelische Überlieferung, welcher die Synoptiker gefolgt seien, die Leidensgeschichte wenig pragmatisch, also auch ohne Rücksicht auf diese Begebenheit, als das geheime Motiv des Mordbefehls ge - gen Jesum, dargestellt habe, und erst der in die innere Geschichte des Synedriums eingeweihte Johannes im Stande gewesen sei, diese Ergänzung zu geben51)Comm. z. Joh. 2, S. 402.: so könnte zwar hiemit der eine Grund entkräftet zu sein scheinen, der die Synoptiker nöthigen muſste, jene Begebenheit auf - zunehmen, der nämlich, welcher von ihrer pragmatischen Wichtigkeit hergenommen ist; wenn aber hinzugesezt wird, als Wunder an sich und ohne jene näheren Umstände be - trachtet, habe sie sich leicht unter den übrigen Wunderer - zählungen verlieren können, von welchen wir in den drei ersten Evangelien eine zum Theil zufällige Auswahl ha - ben: so erscheint die synoptische Wunderauswahl eben nur dann als eine zufällige, wenn man, was hier erst bewie - sen werden soll, schon voraussezt, daſs die johanneischen Wunder historisch seien, und ist sie nicht bis zum Ver - standlosen zufällig, so kann sie ein solches Wunder nicht verloren haben52)Darf ich mich auch auf eine erst zu druckende Schrift bezie - hen, so werden wir in den Schleiermacher'schen Vorlesun - gen über das Leben Jesu zur Erklärung des fraglichen Still - schweigens darauf verwiesen werden, dass die synoptischen Evangelien überhaupt das Verhältniss Jesu zur Bethanischen Familie ignoriren, weil vielleicht die Apostel eine vertraute persönliche Verbindung dieser Art nicht in die allgemeine Tradition haben übergehen lassen wollen, aus welcher jene Evangelisten schöpften: mit dem Verhältniss Jesu zu dieser.

170Zweiter Abschnitt.

Diese und ähnliche Erwägungen sind es wohl gewe - sen, welche einen der neuesten Sprecher in der Streitsa - che des ersten Evangeliums zu einer Rüge der Einseitig - keit veranlaſsten, mit welcher man die obige Frage immer nur zum Nachtheil der Synoptiker und namentlich des Matthäus beantwortet habe, ohne daran zu denken, daſs ebenso nahe eine dem vierten Evangelium gefährliche Ant - wort liege53)Kern, über den Ursprung des Evang. Matth. Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 110., und auch uns schrecken Lücke's Bannstrah - len, welcher auch in der neuen Ausgabe demjenigen, der aus dem Schweigen der Synoptiker auf Erdichtung dieser Erzählung und Unächtheit des johanneischen Evangeliums schlieſst, eine Akrisie sonder Gleichen und gänzlichen Man - gel an Einsicht in das Verhältniſs unsrer Evangelien zu einander (wie es nämlich die geistliche Sicherheit der Theo - logen, auch durch die zum Theil treffenden Winke der Proba -52)Familie überhaupt sei nun auch dieses einzelne auf sie sich beziehende Faktum unbekannt geblieben. Allein was sollte die Apostel zu einem solchen Zurückhalten bewogen haben? sollen wir denn an geheime, oder mit Venturini an zarte Verbindungen denken? sollte bei Jesu nicht auch ein sol - ches Privatverhältniss des Erbaulichen viel gehabt haben? Wirklich enthalten ja die Proben, welche uns Johannes und Lukas von dem Verhältniss Jesu zu der bezeichneten Fami - lie geben, dessen viel, und aus der Erzählung des Lezteren von dem Besuch Jesu bei Martha und Maria sehen wir zu - gleich, dass auch die apostolische Verkündigung keineswegs abgeneigt war, etwas von jenem Verhältniss sehen zu lassen, sofern es allgemeines Interesse gewähren konnte. In dieser Hinsicht ragte nun aber die Auferweckung des Lazarus als eminentes Wunder ohne Vergleichung weiter als jener Be - such mit seinem ἑνός ἐςι χρεία über das Privatverhältniss Je - su zur Bethanischen Familie hinaus: das vorausgesezte Stre - ben, dieses geheim zu halten, konnte der Verbreitung von jener nicht in den Weg treten.171Neuntes Kapitel. §. 96.bilien nicht aufgerüttelt, noch immer festhält) vorwirft, nicht so sehr, um uns von der bestimmten Erklärung zu - rückzuhalten, daſs wir die Erweckungsgeschichte des La - zarus für die wie innerlich unwahrscheinlichste, so äusser - lich am wenigsten beglaubigte halten, und auch diesen Ab - schnitt in Verbindung mit den bisher beleuchteten als Kenn - zeichen der Unächtheit des vierten Evangeliums betrachten.

Sind auf diese Weise alle drei evangelische Todtener - weckungsgeschichten durch negative Gründe mehr oder minder zweifelhaft gemacht, so fehlt jezt nur noch der po - sitive Nachweis, daſs leicht auch ohne historischen Grund die Sage, Jesus habe Todte erweckt, sich bilden konnte. Vom Messias wurde bei seiner Ankunft nach rabbini - schen54)Bertholdt, Christol. Jud. §. 35. wie nach N. T. lichen Stellen (z. B. Joh. 5, 28 f. 6, 40. 44. 1. Kor. 15. 1. Thess. 4, 16.) die Auferweckung der Todten erwartet. Nun war aber die παρουσία des Mes - sias Jesus in der Ansicht der ersten Gemeinde durch sei - nen Tod in zwei Stücke gebrochen: in seine erste vorbe - reitende Anwesenheit, welche mit seiner menschlichen Ge - burt begann und mit der Auferstehung und Himmelfahrt schloſs, und in die zweite, noch zu erwartende Ankunft in den Wolken des Himmels, um den αἰὼν μέλλων wirk - lich zu eröffnen. Da es der ersten Parusie Jesu an der von einem Messias erwarteten Herrlichkeit gefehlt hatte, so wurden die groſsartigen Bethätigungen messianischer Macht, wie namentlich die allgemeine Todtenerweckung, in die zweite, noch bevorstehende Parusie verlegt. Doch muſste, zum Unterpfand für das zu Erwartende, auch schon durch die erste Anwesenheit die Herrlichkeit der zweiten in einzelnen Proben hindurchgeschimmert, Jesus seinen Beruf, einst alle Todte zu erwecken, schon bei sei - ner ersten Ankunft durch Erweckung einiger Todten be - urkundet haben, er muſste, um seine Messianität gefragt,172Zweiter Abschnitt.unter den Kriterien derselben auch das νεκροὶ ἐγείρονται (Matth. 11, 5.) haben aufführen und seinen Aposteln dieselbe Vollmacht ertheilen können (Matth. 10, S. vgl. A. G. 9, 40. 20, 10.), namentlich aber als genaues Vorspiel davon, daſs einst

πάντες οἱ ἐν τοῖς μνημείοις ἀκου̍σονται τῆς φωνῆς αὐτοῦ καὶ ἐκπορεύσονται

(Joh. 5, 28 f.), einem

τέσσαρας ἡμέρας ἤδη ἔχοντι ἐν τῷ μνημείῳ φωνῇ μεγάλῃ das δεῦρο ἔξω

zu - gerufen haben (Joh. 11, 17. 43.). Für die Entstehung de - taillirter Erzählungen von einzelnen Todtenerweckungen lagen überdieſs im A. T. die geeignetsten Vorbilder. Die Propheten Elias (1. Kön. 17, 17 ff. ) und Elisa (2. Kön. 4, 18 ff. ) hatten Todte erweckt, und darauf berufen sich jüdische Schriften als auf ein Vorbild der messianischen Zeit55)s. die Band 1, S. 73. angeführte Stelle aus Tanchuma.. Objekt ihrer Todtenerweckungen war bei bei - den ein Kind, nur ein Knabe, wie in der den Synoptikern gemeinsamen Erzählung ein Mädchen; beide erweckten es, wie Jesus die Jairustochter, noch auf dem Bette; beide so, daſs sie sich allein in die Todtenkammer begaben, wie Jesus dort Alle ausser wenigen Vertrauten hinauswies; nur braucht wie billig der Messias die mühsamen Mani - pulationen nicht vorzunehmen, durch welche die Prophe - ten zu ihrem Zwecke zu gelangen suchen. Elia im Beson - dern erweckte den Sohn einer Wittwe, wie Jesus zu Nain that; er begegnete der Sareptanischen Wittwe (aber vor dem Tod ihres Sohnes) am Thor, wie Jesus mit der Nainitischen (nach ihres Sohnes Tod) unter dem Stadtthor zusammentraf; endlich wird mit denselben Worten beidemale gemeldet, wie der Wunderthäter den Sohn der Mutter zurückgegeben ha - be56)1 Kön. 17, 23. LXX:καὶ ἔδωκεν αὐτὸ τῇ μητρὶ αὐτοῦ.Luc. 7, 16:καὶ ἔδωκεν αὐτὸν τῇ μητρὶ αὐτοῦ.. Selbst ein bereits in's Grab Gelegter, wie Lazarus, wur - de durch Elisa erweckt (2 Kön. 13, 21.), nur daſs damals der Prophet längst todt war, und die Berührung seiner Gebeine den173Neuntes Kapitel. §. 97.zufällig darauf geworfenen Leichnam belebte; zwischen den zuvor angeführten A. T. lichen Todtenerweckungen aber und der des Lazarus besteht darin eine Ähnlichkeit, daſs Jesus, während er bei den beiden andern geradezu gebie - tend auftritt, bei dieser zu Gott betet, wie Elisa und namentlich Elia gethan hatte. Während nun Paulus auch auf diese A. T. lichen Erzählungen seine an den evangeli - schen vollzogene natürliche Erklärung ausdehnt: haben wei - tersehende Theologen längst bemerkt, daſs die N. T. lichen Todtenerweckungen nichts Anderes als Mythen seien, ent - standen aus der Neigung der ältesten Christengemeinde, ihren Messias dem Vorbilde der Propheten und dem mes - sianischen Ideale gemäſs zu machen57)So der Verf. der Abhandlung über die verschiedenen Rücksich - ten, in welchen der Biograph Jesu arbeiten kann, in Ber - tholdt's krit. Journal, 5, S. 237 f. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 202. Eine der Erweckung des Jünglings zu Nain auffal - lend ähnliche Todtenerweckung weiss Philostratus von sei - nem Apollonius zu erzählen: Wie es nach Lukas ein Jüng - ling, der einzige Sohn einer Wittwe, war, der schon vor die Stadt hinausgetragen wurde: so ist es bei Philostratus ein erwachsenes, schon dem Bräutigam verlobtes Mädchen, dessen Bahre Apollonius begegnet. Der Befehl, die Bahre niederzusetzen, die blosse Berührung und wenige ausgespro - chene Worte reichen hier wie dort hin, den Todten wieder zum Leben zu bringen (Baur, Apollonius v. Tyana und Christus, S. 145). Ich möchte wissen, ob vielleicht Paulus oder wer sonst Lust hätte, auch diese Erzählung natürlich zu erklären; wenn man sie aber, wie man wohl nicht um - hin kann, als Nachbildung der evangelischen fassen muss:.

§. 97. Sturm -, See - und Fischgeschichten.

Wie überhaupt, wenigstens nach der Darstellung der drei ersten Evangelisten, die Umgegend des galiläischen174Zweiter Abschnitt.Sees Hauptschauplaz der Thätigkeit Jesu war: so steht auch eine ziemliche Anzahl seiner Wunder mit dem See in unmittelbarer Beziehung. Eines von dieser Gattung, der dem Petrus bescheerte wunderbare Fischzug, hat sich uns bereits zur Betrachtung dargeboten; übrig sind nun noch die wunderbare Stillung des Sturms, der, während Jesus schlief, auf dem See entstanden war, bei den drei Synop - tikern; das Wandeln Jesu auf dem See, gleichfalls wäh - rend eines Sturms, bei Matthäus, Markus und Johannes, die Zusammenfassung der meisten dieser Momente, welche der Anhang des vierten Evangeliums in die Zeit nach der Auferstehung verlegt; endlich der von Petrus zu erangeln - de Stater bei Matthäus.

Die zuerst genannte Erzählung (Matth. S, 23 ff. parall. ) will uns ihrer eigenen Schluſsformel zufolge Jesum als denjenigen darstellen, welchem οἱ ἄνεμοι καὶ ϑάλασσα ὑπακου̍0223; σιν. Es wird also, wenn wir den bisherigen Wun - derklimax verfolgen, hier nicht bloſs vorausgesezt, daſs Jesus auf den menschlichen Geist und durch diesen auf den Körper psychologisch, oder auf den vom Geist verlassenen menschlichen Organismus neu belebend, auch nicht bloſs, wie in der früher erwogenen Fischzugsgeschichte, daſs er auf die vernunftlose aber lebendige Natur, sondern, daſs er selbst auf die leblose unmittelbar bestimmend habe einwirken können. Durch ein richtiges Bewuſstsein davon, wie eine solche Gewalt über die äussere Natur mit der Bestimmung Jesu für die Menschheit und ihre Erlösung57)so gehört schon eine vorgefasste Meinung von dem Charak - ter der N. T. lichen Bücher dazu, um der Consequenz aus - zuweichen, dass ebenso die in ihnen sich findenden Todten - erweckungen nur minder absichtlich entstandene Nachbildun - gen jener A. T. lichen seien, welche selbst aus dem Glauben des Alterthums an die den Tod bezwingende Kraft gottge - liebter Männer (Herkules, Äsculap), und näher aus den - dischen Begriffen von einem Propheten abzuleiten sind.175Neuntes Kapitel. §. 97.an sich nicht zusammenhänge, ist Olshausen auf den Ver - such geführt worden, das Naturereigniſs, welchem Jesus hier Einhalt thut, in eine Beziehung zur Sünde, und da - mit zum Beruf Jesu zu setzen. Die Stürme sind ihm die Krämpfe und Zuckungen der Natur, und als solche Fol - gen der Sünde, welche in ihrer furchtbaren Wirksamkeit auch die physische Seite des Daseins zerrüttet hat1)b. Comm. 1, S. 287.. Al - lein nur eine Naturbeobachtung, welche über dem Einzel - nen das Allgemeine vergiſst, kann Stürme, Gewitter u. dgl. die im Zusammenhang des Ganzen ihre nothwendige Stelle und wohlthätige Wirkung haben, als Übel und Abnormi - täten betrachten, und eine Weltansicht, welche im Ernst der Meinung ist, vor und ohne den Sündenfall würde es keine Stürme und Gewitter, wie andrerseits keine Gift - pflanzen und reissende Thiere, gegeben haben, streift man weiſs nicht, soll man sagen, an das Schwärmerische oder an das Kindische. Wozu aber, wenn sich die Sache auf diese Weise nicht fassen läſst, bei Jesu eine solche Macht über die Natur? Als Mittel, ihm Glauben zu erwe - cken, war sie unzureichend und überflüssig; denn einzelne Gläubige fand Jesus auch ohne diese Art von Machtbewei - sen, und allgemeinen Anhang verschafften ihm auch diese nicht. Als Bild der ursprünglichen Herrschaft des Men - schen über die äussere Natur, zu deren Wiedererlangung er bestimmt ist, kann sie ebensowenig betrachtet werden, denn der Werth dieser Herrschaft besteht eben darin, daſs sie eine vermittelte, durch das fortgesetzte Nachdenken und die vereinigte Anstrengung von Jahrhunderten der Natur abgerungene, nicht aber eine unmittelbare, magische ist, welche nur ein Wort kostet. So ist in Bezug auf den Theil der Natur, von welchem hier die Rede ist, der Kompaſs, das Dampfschiff, eine ungleich wahrere Verwirk - lichung der Herrschaft des Menschen über dieselbe, als176Zweiter Abschnitt.die Beschwichtigung des Meeres durch ein bloſses Wort gewesen wäre. Die Sache hat aber noch eine andere Sei - te, indem die Herrschaft des Menschen über die Natur nicht bloſs eine in sie eingreifende, praktische, sondern auch eine immanente oder theoretische ist, vermöge wel - cher der Mensch, auch wo er äusserlich der Macht des Elementes unterliegt, doch innerlich nicht von derselben besiegt wird, sondern in der Überzeugung, daſs die Na - turgewalt nur das Natürliche an ihm zu zerstören vermö - ge, sich in der Selbstgewiſsheit des Geistes über den mög - lichen Untergang seiner Natürlichkeit emporhebt. Diese geistige Macht, sagt man, bewies Jesus, indem er mitten im Sturme ruhig schlief, und, von den zagenden Jüngern aufgeweckt, ihnen Muth einsprach. Da jedoch, wenn Muth bewiesen werden soll, wirkliche Gefahr vorhanden sein muſs, für Jesum aber, sofern er sich als die unmit - telbare Macht über die Natur wuſste, eine solche gar nicht vorhanden war: so hätte er auch von dieser theoretischen Macht keine wahre Probe hier abgelegt.

In beiden Hinsichten hat die natürliche Erklärung in der evangelischen Erzählung nur das Denkbare und Wün - schenswerthe Jesu zugeschrieben finden wollen, nämlich einerseits verständige Beobachtung des Gangs der Witte - rung, andererseits hohen Muth bei wirklicher Gefahr des Untergangs. Das ἐπιτιμᾷν τοῖς ἀνέμοις soll nur in einem Sprechen über den Sturm, in einigen Ausrufungen über seine Heftigkeit, das Stillegebieten in der auf Beobachtung gewisser Zeichen gegründeten Voraussage bestanden haben, daſs der Sturm sich nun wohl bald legen werde, und der Zuspruch an die Jünger soll, wie jener bekannte von - sar, nur aus dem Vertrauen hervorgegangen sein, daſs ein Mann, auf welchen in der Weltgeschichte gerechnet sei, nicht so leicht durch Zufälle aus seiner Bahn herausge - worfen werde. Daſs hierauf die im Schiff Befindlichen die Stillung des Sturms als Wirkung der Worte Jesu angese -177Neuntes Kapitel. §. 97.hen haben, beweise nichts, da ja Jesus ihre Deutung nir - gends billige2)so Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 468 ff. Venturini, 2, S. 166 ff. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 197. Auch Hase, §. 74, findet die - se Ansicht möglich.. Doch auch miſsbilligt hat er sie nicht, unerachtet er den Eindruck wohl bemerken muſste, wel - chen von der bezeichneten Ansicht aus der Erfolg auf die Leute gemacht hatte; er müſste also absichtlich, wie Ven - turini wirklich annimmt, ihre hohe Meinung von seiner Wundermacht nicht haben stören wollen, um sie desto fester an sich zu knüpfen. Noch ganz abgesehen hievon aber, wie sollte die natürlichen Vorzeichen von dem Ende des Sturmes Jesus, der nie einen Beruf auf dem See ge - habt hatte, besser verstanden haben, als ein Petrus, Ja - kobus, Johannes, welche von Jugend an auf demselben einheimisch waren3)Hase, a. a. O.? Endlich, wie konnte, wenn Mat - thäus, zwar damals noch nicht in der Gesellschaft Jesu, doch ohne Zweifel von den übrigen Jüngern als Augen - zeugen den Hergang vernommen hat, von diesen dem blo - sen Räsonniren Jesu über das Wetter der Sinn eines ἐπι - τιμᾷν gegeben werden?

Es bleibt also dabei: so, wie die Evangelisten uns den Vorgang erzählen, müssen wir in demselben ein Wun - der erkennen; dieses nun aber vom exegetischen Ergeb - niſs zum wirklichen Faktum zu erheben, fällt nach dem oben Ausgeführten äusserst schwer, woraus gegen den hi - storischen Charakter der Erzählung ein Verdacht erwächst. Näher jedoch läſst sich, den Matthäus zum Grund gelegt, gegen die Erzählung bis zur Mitte von V. 26. nichts ein - wenden, sondern Jesus könnte bei seinen öfteren Fahrten auf dem galiläischen See wirklich einmal geschlafen haben, als ein Sturm ausbrach, die Jünger könnten ihn mit Sehre - cken erweckt, er aber ruhig und gefaſst das τί δειλοί ἐςε, ὀλιγόπιςοι; zu ihnen gesprochen haben. Was dann wei -Das Leben Jesu II. Band. 12178Zweiter Abschnitt.ter folgt, das ἐπιτιμῆν τῇ ϑαλάσσῃ, welches Markus wie - der mit seiner bekannten Vorliebe für solche Machtworte mit den angeblich eigenen Ausdrücken Jesu nach griechi - scher Übersetzung (σιώπα, πεφίμωσο!) wiedergiebt, der Erfolg und der Eindruck, könnte in der Sage hinzugefügt worden sein. Daſs ein solches ἐπιτιμᾷν τῇ ϑαλάσσῃ Jesu angedichtet werden konnte, dazu lag die Veranlassung im A. T. Hier wird in poëtischen Darstellungen des Durch - gangs der Israëliten durch das rothe Meer Jehova als der - jenige bezeichnet, welcher ἐπετίμησε τῇ ἐρυϑρᾷ ϑαλάσσῃ (Ps. 106, 9. LXX. vgl. Nahum 1, 4.), daſs sie zurückwei - chen sollte. Da nun das Werkzeug dieser Zurückweisung des rothen Meers Moses gewesen war (2 Mos. 14, 16. 21. ), so lag es nahe, seinem groſsen Nachfolger, dem Messias, eine ähnliche Funktion zuzuschreiben, wie denn wirklich nach rabbinischen Stellen in der messianischen Zeit ein ähnliches Austrocknen des Meeres, von Gott ohne Zwei - fel durch den Messias bewirkt, erwartet wurde, wie einst Moses eines herbeigeführt hatte4)s. Band 1, S. 73, Anmerk.. Daſs Jesu hier statt des Austrocknens nur ein Stillen des Meers zuge - schrieben wird, erklärt sich, wenn man den Sturm und die dabei von Jesu bewiesene Fassung historisch nimmt, eben aus dem Anknüpfen des Mythischen an diese ge - schichtliche Grundlage, wo ein Austrocknen des Sees, da sie ja zu Schiffe waren, nicht an der Stelle gewesen wäre.

Immerhin indeſs ist es ohne sicheres Beispiel, und auch an sich unwahrscheinlich, daſs auf den Stamm eines wirklichen Vorfalls ein mythischer Zusaz in der Art ge - pfropft worden wäre, daſs jener völlig unverändert blieb. Und Ein Zug ist schon in jenem bisher als historisch vor - ausgesezten Stücke, welcher, näher angesehen, sich doch eher dafür giebt, in der Sage gedichtet, als wirklich so vorgefallen zu sein. Daſs nämlich Jesus vor dem Aus -179Neuntes Kapitel. §. 97.bruch des Sturmes einschlief, und auch als er ausbrach, nicht sogleich erwachte, das war nicht seine That, son - dern Zufall; eben dieser Zufall aber ist es, welcher der ganzen Scene erst ihre volle Bedeutung giebt; denn der im Sturm schlafende Jesus ist durch den Contrast, wel - cher darin liegt, ein nicht minder sinnvolles Bild, als der nach so vielen Stürmen im Schlaf an der heimischen Insel landende Odysseus. Daſs nun Jesus wirklich bei'm Aus - bruch eines Sturms geschlafen, kann zwar von Ungefähr in Einem Falle unter zehn geschehen sein: auch in den neun Fällen aber, wo es nicht geschehen war, sondern Je - sus nur überhaupt im Sturme gefaſst und muthig sich zeig - te, würde, glaube ich, die Sage ihren Vortheil so weit ver - standen haben, daſs sie den Contrast der Seelenruhe Jesu mit dem Toben der Elemente, wie er sich für den Ge - danken in den Worten Jesu ausdrückte, so für die An - schauung in das Bild des im Schiffe (oder wie Markus malt5)vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 82., auf einem Kissen im Hintertheil des Schiffs) schla - fenden Jesus zusammenfaſste. Wenn so, was in Einem Falle vielleicht sich wirklich ereignet hat, in neun Fällen von der Sage producirt werden muſste: so ist doch wohl wahrscheinlicher, daſs wir hier einen dieser neun, als daſs wir jenen Einen Fall vor uns haben. Bliebe auf die - se Weise als historische Grundlage nichts mehr übrig, als daſs Jesus im Gegensaz zu tobenden Meereswellen den Glaubensmuth seiner Jünger in Anspruch genommen, so muſs er dieſs nicht gerade mitten in einem Seesturm oder überhaupt zur See gethan haben, sondern, so gut er bild - lich sagen konnte: wenn ihr Glauben habt nur eines Senf - korns groſs, so seid ihr im Stande, zu diesem Berg zu sprechen: hebe dich weg und wirf dich in's Meer (Matth. 21, 21.), oder zu diesem Baume: entwurzle dich und pflan - ze dich in den Meeresgrund (Luc. 17, 6.), und beides mit12 *180Zweiter Abschnitt.Erfolg (καὶ ὑπήκ0223σεν ἂν ὑμῖν, Luc.): so konnte auch, sei es er sich des Bildes bedienen, oder die Sage es ihm nach - bildend leihen, daſs demjenigen, der Glauben habe, Wind und Wellen auf das Wort gehorsam seien (ὅτι καὶ τοῖς ἀνέμοις ἐπιτάσσει καὶ τῷ ὕδατι, καὶ ὑπακου̍0223; σιν αὐτῷ Luc.). Bringen wir nun noch in Rechnung, was auch Olshausen bemerkt, und Schneckenburger belegt hat6)Über den Ursprung u. s. f. S. 68 f., daſs der Kampf des Gottesreichs mit der Welt in der ersten christ - lichen Zeit gerne mit einer Fahrt durch einen stürmischen Ocean verglichen wurde: so sieht man, wie leicht die Sa - ge dazu kommen konnte, aus der Parallele mit Moses, aus Äusserungen Jesu, und aus ihrer Vorstellung von ihm als demjenigen, welcher das Schifflein des Gottesreichs durch die empörten Wogen des κόσμος sicher hindurchsteuert, eine solche Erzählung zusammenzusetzen. Oder, abgese - hen hievon, die Sache nur allgemein vom Begriff eines Wunderthäters aus betrachtet, findet man z. B. auch ei - nem Pythagoras ähnliche Macht über Sturm und Unwetter zugeschrieben7)Nach Jamblich. vita Pyth. 135, ed. Kiessling, wurden von Pythagoras erzählt ἀνέμων βιαίων χαλαζῶν τε χύσεως παραυτίκα κατευνήσεις καὶ κυμάτων ποταμίων τε καὶ ϑαλασοίων ἀπευδιασμοὶ πρὸς εὐμαρῆ τῶν ἑταίρων διάβασιν. Vgl. Porphyr. v. P. 29. ders. Ausg..

Verwickelter als diese erste ist die andere See - und Sturmgeschichte, welche dem Lukas fehlt, dagegen aber neben Matth. 14, 22 ff. und Marc. 6, 45 ff. sich auch bei Johannes, 6, 16 ff., findet, wo der Sturm die in der Nacht allein schiffenden Jünger überfällt, und sofort Jesus, über den See daherwandelnd, zu ihrer Rettung erscheint. Wäh - rend auch hier mit Jesu Eintritt in das Schiff wunderba - rer Weise der Sturm sich legt, bildet doch den eigentli - chen Knoten der Erzählung dieſs, daſs in derselben der181Neuntes Kapitel. §. 97.Leib Jesu von einem Gesetze, welches sonst ausnahmslos alle menschlichen Leiber in seinen Banden hält, von dem Gesez der Schwere, so sehr ausgenommen erscheint, daſs er im Wasser nicht nur nicht unter -, sondern selbst nicht einsinkt, vielmehr über die Wellen wie über festen Boden sich emporhält. Da müſste man sich den Leib Jesu in ir - gend einer Art als einen ätherischen Scheinkörper denken, wie die Doketen thaten, eine Vorstellung, welche, wie von den Kirchenvätern als eine irreligiöse, so von uns als eine abenteuerliche zurückgewiesen werden muſs. Zwar sagt Olshausen, an einer höheren Leiblichkeit, geschwän - gert mit Kräften einer höheren Welt, dürfe eine solche Erscheinung nicht befremden8)a. a. O. S. 491.: doch das sind Worte, mit welchen sich kein bestimmter Gedanke verbindet. Wenn man die den Leib verklärende und vollendende Thätigkeit des Geistes Jesu, statt sie als eine solche zu fassen, welche seinen Leib den psychischen Gesetzen der Lust und Sinn - lichkeit immer vollständiger entnahm, vielmehr so versteht, daſs derselbe durch sie den physischen Gesetzen der Schwe - re enthoben worden sei: so ist dieſs ein Materialismus, von welchem, wie oben, schwer zu entscheiden ist, ob man ihn mehr phantastisch nennen soll oder kindisch. Ein Jesus, der im Wasser nicht einsänke, wäre ein Gespenst, und die Jünger in unserer Erzählung hätten ihn nicht mit Un - recht dafür gehalten. Auch daran müssen wir uns erin - nern, daſs bei seiner Taufe im Jordan Jesus diese Eigen - schaft nicht zeigte, sondern ordentlich wie ein anderer Mensch untertauchte. Hatte er nun auch damals schon die Fähigkeit, sich über der Wasserfläche zu halten, und wollte sie nur nicht gebrauchen? und war es also ein Akt seines Willens, sich schwer oder leicht zu machen? oder aber, wie Olshausen vielleicht sagen würde, war er zur Zeit seiner Taufe im Proceſs der Läuterung seines Körpers noch182Zweiter Abschnitt.nicht so weit gekommen, daſs ihn das Wasser frei getra - gen hätte, sondern so weit hätte er es erst später gebracht? Fragen, die wir nur machen, um einen Blick in den Abgrund von Ungereimtheiten zu eröffnen, in welche man sich bei der supranaturalistischen Deutung dieser Erzäh - lung verwickelt.

Sie zu vermeiden, hat die natürliche Erklärung man - cherlei Wendungen genommen. Am kühnsten hat Paulus geradezu behauptet, es stehe gar nicht im Text, daſs Je - sus auf dem Meere gegangen, das Wunder in dieser Stelle sei lediglich ein philologisches, indem das περιπατεῖν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης nur, wie 2 Mos. 14, 2. das ςρατοπεδεύειν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης ein Lagern, so ein Wandeln über dem Meer, d. h. am erhabenen Ufer desselben, bedeute9)Paulus, Memorabilien, 6. Stück, No. V.; ex. Handb. 2, S. 238 ff.. Der Be - deutung der einzelnen Worte nach ist diese Erklärung mög - lich: ihre wirkliche Anwendbarkeit aber muſs sich erst aus dem Zusammenhang ergeben. Dieser nun läſst die Jün - ger 25 30 Stadien weit gefahren sein (Joh.) oder mitten im See sich befinden (Matth. u. Mark. ), und nun heiſst es, Jesus sei auf sie zu -, und zwar so nahe, daſs er mit ih - nen sprechen konnte, an das Schiff herangekommen, περι - πατῶν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης wie konnte er dieſs, wenn er am Ufer blieb? Dieser Instanz auszuweichen, vermuthet Paulus, die Jünger seien in der stürmischen Nacht wohl nur am Ufer hingefahren: was dem ἐν μέσῳ τῆς ϑαλάσ - σης, wenn es auch allerdings nicht mathematisch genau, sondern nach populärer Redeweise zu nehmen ist, zu ent - schieden widerspricht, um in weitere Rücksicht kommen zu können. Tödtlich aber verlezt sich diese Auffassungs - weise an der Stelle, wo Matthäus auch von Petrus sagt, daſs er καταβὰς ἀπὸ τοῦ πλοίουπεριεπάτησεν ἐπὶ τὰ ὕδατα (V. 29.), was, da unmittelbar darauf von καταποντίζεσϑαι183Neuntes Kapitel. §. 97.die Rede ist, doch wohl kein Wandeln am Ufer sein kann, und wenn dieses nicht, dann auch nicht das wesentlich ebenso bezeichnete Wandeln Jesu10)Gegen die höchst gewaltsame Auskunft, welche hier Paulus traf, s. Storr, Opusc. acad. 3, p. 288..

Aber, wenn Petrus bei seinem περιπατεῖν ἐπὶ τὰ ὕδατα zu sinken anfieng, könnte da nicht bei ihm sowohl als bei Jesus an ein Schwimmen auf dem See oder an ein Waten durch seine Untiefen zu denken sein? Beide Ansichten sind wirklich aufgestellt worden11)Jene von Bolten, Bericht des Matthäus z. d. St., diese in Henre's neuem Magazin, 6, 2, S. 327 ff.. Allein das Waten müſste durch περιπατεῖν διὰ τ. ϑ. ausgedrückt, um das Schwimmen zu bezeichnen aber doch irgend einmal in den parallelen Stellen der uneigentliche Ausdruck mit dem ei - gentlichen vertauscht sein; abgesehen davon, daſs 25 30 Stadien im Sturm zu schwimmen, oder bis gegen die Mitte des gewiſs nicht so weit hinein seichten Sees zu waten, beides gleich unmöglich sein muſste, ferner ein Schwim - mender nicht leicht für ein Gespenst gehalten werden konn - te, und endlich die Bitte des Petrus um besondere Erlaub - niſs, es Jesu nachzuthun, und daſs er wegen Mangels an Glauben es nicht vermochte, auf etwas Übernatürliches hinweist12)vgl. Paulus und Fritzsche z. d. St..

Das Räsonnement, worauf auch hier die natürliche Ausle - gungsweise beruht, hat bei dieser Gelegenheit Paulus in einer Weise ausgesprochen, an welcher der zum Grunde liegende Irrthum besonders glücklich in die Augen fällt. Die Frage, sagt er, bleibe in solchen Fällen immer die, ob die Möglichkeit eines nicht ganz genauen Ausdrucks von Seiten der Schriftsteller, oder eine Abweichung vom Na - turlauf das Wahrscheinlichere sei? Man sieht, wie falsch das Dilemma gestellt ist, da es vielmehr nur heiſsen sollte,184Zweiter Abschnitt.ob es wahrscheinlicher sei, daſs der Verfasser sich unge - nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder daſs er eine Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede: was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem immerwährenden Paulus'schen Reden von Unterscheidung des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar - aus, daſs unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs, daſs ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche nicht annehmen und berichten konnte13)s. die treffliche Stelle bei Fritzsche, Comm. in Matth. p. 505.: um also das Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise des Geschichtlichen auszuschlieſsen ist. Und in dieser Hin - sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei - genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig sind.

Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem Meer gegen die Jünger dahergekommen, καὶ ἤϑελε παρελϑεῖν αὐτοὺς, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet Fritzsche diese Stelle so, daſs Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber mit eben so vielem Rechte fragt Paulus: hätte etwas zweck - loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames Wunder zu thun, ohne daſs es gesehen werden sollte? Nur daſs man deſswegen nicht mit diesem Ausleger den Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der185Neuntes Kapitel. §. 97.Stelle dem Geist unsres Schriftstellers vollkommen ange - messen ist. Nicht zufrieden mit der Darstellung seines Ge - währsmanns, daſs Jesus mit besondrer Rücksicht auf die Jünger dieſsmal einen so ausserordentlichen Weg gemacht habe, giebt er durch jenen Zusaz der Sache die Wendung, als wäre Jesu ein solches Gehen auf dem Wasser so na - türlich und gewöhnlich gewesen, daſs er auch ohne Rück - sicht auf die Jünger, wo ihm ein Wasser im Wege lag, seine Straſse über dasselbe so unbedenklich, wie über fe - stes Land, nahm. Daſs nun ein solches Gehen bei Jesu ha - bituell gewesen, dieſs würde am entschiedensten eine Ols - hausen'sche Leibesverklärung, mithin das Undenkbare, vor - aussetzen, wodurch sich dieser Zug als einer der stärk - sten von jenen zu erkennen giebt, durch welche das zweite Evangelium sich hin und wieder der apokryphischen Über - treibung nähert14)Des Markus Neigung zum Übertreiben zeigt sich auch in der Schlussformel, V. 51 (vgl. 7, 37): καὶ λίαν ἐκ περισσοῦ ἐν ἑαυτοῖς ἐξίςαντο καὶ ἐϑαύμαζον, worin man doch nicht mit Paulus (2, S. 266) eine Missbilligung des unverhältnissmäs - sigen Erstaunens wird finden wollen..

Auf andre Weise findet sich bei Matthäus das Wun - derbare des Vorgangs, nicht sowohl gesteigert, als verviel - fältigt, indem er ausser Jesu auch den Petrus einen, wie - wohl nicht ganz gut abgelaufenen, Versuch im Gehen auf dem Meere machen läſst. Diesen Zug macht ausser dem Stillschweigen der beiden Correferenten auch seine eigne Natur verdächtig. Auf das Wort Jesu hin und durch sei - nen anfänglichen Glauben vermag Petrus wirklich eine Zeit lang auf dem Wasser zu gehen, und erst als Furcht und Kleingläubigkeit ihn ergreift, fängt er unterzusinken an. Was sollen wir nun hievon denken? Vermochte Je - sus mittelst eines verklärten Leibes auf dem Wasser zu ge - hen: wie konnte er dem Petrus, der eines solchen Kör -186Zweiter Abschnitt.pers sich nicht erfreute, zusprechen, ein Gleiches zu thun? oder wenn er durch ein bloſses Wort den Leib des Petrus vom Gesez der Schwere dispensiren konnte, ist er dann noch ein Mensch? und wenn ein Gott, wird dieser auf den Einfall eines Menschen hin so spielend Naturgesetze cessiren lassen? oder endlich, soll der Glaube die Kraft haben, augenblicklich den Körper des Gläubigen leichter zu machen? Der Glaube hat freilich eine solche Kraft, näm - lich in der kaum erwähnten bildlichen Rede Jesu, nach wel - cher der Gläubige Berge und Bäume in's Meer zu versetzen, und warum nicht auch auf dem Meere zu wandeln? im Stande ist. Und daſs nun, sobald der Glaube weiche, auch das Gelingen aufhöre, dieſs konnte in keinem der zwei er - steren Bilder so geschickt dargestellt werden, wie in dem lezten durch die Wendung: so lange einer Glauben habe, vermöge er ungefährdet auf dem wogenden Meere einher - zuschreiten, sobald er aber Zweifeln Raum gebe, sinke er unter, wenn nicht Christus helfend ihm die Hand reiche. Das also werden die Grundgedanken der von Matthäus ein - geschobenen Erzählung sein, daſs Petrus auf die Festigkeit seines Glaubens zu viel vertraut habe, durch das plözliche Schwachwerden desselben in groſse Gefahr gekommen, aber durch Jesus gerettet worden sei, ein Gedanke, wel - cher sich Luc. 22, 31 f. wirklich ausgesprochen findet, wenn Jesus zu Simon sagt: σατανᾶς ἐξῃτήσατο ὑμᾶς τοῦ συνιᾶσαι ὡς τὸν σῖτονς ἐγὼ δὲ ἐδεήϑην περὶ σοῦἵνα μὴ ἐκλείπῃ πίςις σου. Dieſs sagt Jesus dem Petrus mit Be - zug auf seine bevorstehende Verleugnung: diese war der Fall, wo sein Glaube, kraft dessen er sich so eben noch erboten hatte, mit Jesu καὶ εἰς φυλακὴν καὶ εἰς ϑάνατον πορεύεσϑαι, wankend wurde, wenn nicht der Herr durch seine Fürbitte ihm neue Stärke verschafft hätte. Nehmen wir dazu die schon erwähnte Neigung der ersten christli - chen Zeit, die den Christen anfechtende Welt unter dem Bilde eines wilden Meeres darzustellen: so werden wir187Neuntes Kapitel. §. 97.nicht umhin können, mit einem der neuesten Kritiker in dem sich muthig zum Gehen auf dem Meer anschickenden, bald jedoch kleinmüthig untersinkenden, aber von Jesu emporgehaltenen Petrus eine in der Sage gebildete allego - risch-mythische Darstellung jener Glaubensprobe zu fin - den, welche der so stark sich dünkende Jünger so schwach bestanden, und nur durch höheren Beistand glücklich über - standen hat15)Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 68 f..

Doch auch der Relation des vierten Evangeliums fehlt es nicht an einigen eigenthümlichen Zügen, die einen un - historischen Charakter verrathen. Von jeher hat es den Harmonisten Kreuz gemacht, daſs nach Matthäus und Mar - kus das Schiff erst ungefähr in der Mitte des Sees sich befand, als Jesus demselben begegnete: nach Johannes aber bald vollends das jenseitige Ufer erreicht gehabt haben soll; daſs nach jenen Jesus wirklich noch in das Schiff stieg, und darauf der Sturm sich legte: nach Johannes dagegen die Jünger ihn zwar in das Schiff nehmen wollten, die wirkliche Aufnahme aber durch das sogleich erfolgte An - landen überflüssig gemacht wurde. Zwar fand man auch hier Ausgleichungen in Menge: das zu λαβεῖν gesezte ἤϑε - λον sollte bald abundiren, bald, wie wenn es ἐϑέλοντες ἔλαβον hieſse, die freudige Aufnahme bezeichnen, bald nur den ersten Eindruck beschreiben, welchen das Erkennen Jesu auf die Jünger gemacht habe, wobei die später wirk - lich erfolgte Aufnahme in das Schiff verschwiegen sei16)s. bei Lücke und Tholuck.. Doch zu einer solchen Deutung liegt der einzige Anlaſs in der unbefugten Vergleichung der Synoptiker: in der Er - zählung des Johannes für sich liegt nicht nur kein Grund dafür, sondern ein entschiedener dagegen. Denn der hin - zugefügte Saz: εὐϑέως τὸ πλοῖον ἐγένετο ἐπὶ τῆς γῆς, εἰς ἣν ὑπῆγον, wenn er auch nicht durch δὲ, sondern durch188Zweiter Abschnitt.καὶ angeknüpft ist, kann doch nur adversativ in dem Sinn genommen werden, daſs es zur wirklichen Aufnahme Jesu in das Schiff unerachtet der Bereitwilligkeit der Jünger doch nicht gekommen sei, weil sie sich bereits am Ufer befunden haben. In Betracht dieser Differenz hat Chrysostomus zwei verschiedene Gänge Jesu auf dem Meer angenommen, und wenn er sagt, bei dem zweiten Fall, den Johannes erzäh - le, sei Jesus nicht in das Schiff gestiegen, ἵνα τὸ ϑαῦμα μεῖζον ἐργάσηται17)Homil. in Joann. 43.: so werden wir diese Absicht auf den Evangelisten übertragend sagen, wenn Markus das Wunder dadurch vergrössert habe, daſs er Jesu die Ab - sicht, an den Jüngern vorbei über den ganzen See hinüber - zuwandeln, unterlegte: so gehe Johannes noch weiter, in - dem er ihn diese Absicht wirklich ausführen, und ohne Aufnahme in das Schiff bis an das jenseitige Ufer gelan - gen lasse. Doch nicht nur zu vergrössern, sondern auch fester zu begründen und zu constatiren hat der vierte Evan - gelist das vorliegende Wunder gesucht. Nach den Syn - optikern sind die einzigen Gewährsmänner desselben die Jünger, welche Jesum auf dem Meer daherschreiten sa - hen: Johannes fügt zu diesen wenigen unmittelbaren Ge - währsmännern eine Masse von mittelbaren hinzu, näm - lich das Volk, das bei der Speisung versammelt gewesen war. Dieses nämlich, wie es am andern Morgen Jesum nicht mehr an Ort und Stelle findet, berechnet nach ihm, 1) zu Schiff könne Jesus nicht über den See gekommen sein, denn a) das Fahrzeug der Jünger habe er nicht mitbestie - gen (V. 22.), b) ein andres Fahrzeug sei nicht dagewesen (ebendas. ); daſs er aber 2) auch nicht zu Land hinüber - gekommen sei, ist darin enthalten, daſs das Volk, als es sofort über den See fährt, ihn bereits am jenseitigen Ufer findet (V. 25.), wohin er zu Lande in der kurzen Zwi - schenzeit schwerlich gelangen konnte. So bleibt in der189Neuntes Kapitel. §. 97.Darstellung des vierten Evangeliums, indem alle natürlichen Wege des Hinüberkommens Jesu abgeschnitten werden, nur ein übernatürlicher übrig, und diese Folgerung ist von der Menge in der verwunderten Frage wirklich gezogen, welche sie an Jesum, als sie ihn am jenseitigen Ufer fin - det, macht: πότε ὧδε γέγονας; Da diese ganze Controle des wunderbaren Übergangs Jesu an der schnellen Überfahrt der Menge hängt: so beeilt sich der Evangelist, zum Be - huf von dieser ἄλλα πλοιάρια herbeizuschaffen (V. 23.). Nun ist die überfahrende Menge (V. 22. 26 ff. ) als diejeni - ge bezeichnet, welche Jesus wunderbar gespeist hatte, und diese belief sich (nach V. 10.) auf 5000 Menschen. Wenn von diesen auch nur , ja nur $$\tfrac{1}{10}$$ hinüberfuhr, so bedurfte es hiezu, nach der richtigen Bemerkung der Pro - babilien, einer ganzen Flotte von Schiffen, namentlich wenn man an Fischernachen denkt; nimmt man aber Frachtschiffe an, so werden diese nicht gerade alle die Richtung nach Kapernaum gehabt, oder dem Begehren des Volks zulieb ihre ursprüngliche Richtung abgeändert haben. Es scheint also diese ganze Volksüberfahrt nur gemacht zu sein18)Bretschneider, Probabil. S. 81., theils um das Wandeln Jesu auf dem Meer durch eine Controle zu bestätigen, theils, wie wir später noch sehen werden, um Jesum, welcher der allgemeinen Überlieferung zufolge unmittelbar nach der Speisung an das andre Ufer des Sees sich begeben hatte, noch mit dem Volk über die Speisung reden lassen zu können.

Nach Hinwegnahme dieser, den einzelnen Erzählungen eigenthümlichen Auswüchse des Wunderhaften bleibt im - mer noch der Stamm des Wunders, daſs nämlich Jesus eine bedeutende Strecke weit auf dem Meer gewandelt ha - be, mit aller oben auseinandergesezten Unwahrscheinlich - keit eines solchen Faktums zurück. Doch hat uns die Auflösung jener Nebenzüge, indem wir die Anlässe ihrer190Zweiter Abschnitt.unhistorischen Entstehung entdeckten, die Auffindung sol - cher Anlässe auch für die Haupterzählung erleichtert, und damit die Auflösung auch dieser selbst möglich gemacht. Daſs die Gewalt Gottes und des mit ihm einigen mensch - lichen Geistes über die Natur von den Hebräern und er - sten Christen gerne unter dem Bilde einer Übermacht über die tobenden Meereswellen vorgestellt wurde, haben wir aus dem vorigen Beispiel gesehen. In der Erzählung des Exodus stellt sich diese Übermacht so dar, daſs das Meer durch einen Wink aus seiner Stelle verjagt, und so dem Volk Gottes ein trockener Weg durch seinen Grund geöff - net wurde; in der zuvor betrachteten N. T. lichen Erzäh - lung so, daſs das Meer an seiner Stelle blieb, und nur so weit zur Ruhe gewiesen wurde, daſs Jesus und seine Jün - ger zu Schiff gefahrlos über dasselbe hinübergelangen konn - ten: in der jezt vorliegenden Anekdote wird aus der zwei - ten der Zug beibehalten, daſs das Meer an seiner Stelle bleibt, zugleich jedoch aus der ersten der herbeigeholt, daſs zu Fuſs, nicht zu Schiffe hinübergewandelt wird, doch, mit Rücksicht auf den andern Zug, nicht durch seinen Grund, sondern über seine Oberfläche. Daſs sich auf sol - che Weise die Anschauung der Übermacht des Wunder - thäters über Wasserwogen fortbildete, dazu läſst sich theils im A. T., theils in den Meinungen des Zeitalters Jesu noch nähere Veranlassung finden. Unter den Wundern des Elisa wird neben dem, daſs er mittelst seines Mantels den Jordan getheilt, und so trockenen Fuſses habe hin - durchgehen können (2 Kön. 2, 14.), auch das erzählt, daſs er ein in's Wasser gefallenes Eisen schwimmend gemacht habe (2 Kön. 6, 6.): eine Übermacht über das Gesez der Schwere, welche der Wunderthäter wohl auch am eige - nen Leibe geltend machen, und so, wie es Hiob 9, 8. LXX. von Jehova heiſst, als περιπατῶν ὡς ἐπ̕ ἐδάφους ἐπὶ ϑαλάσσης sich darstellen konnte. Von Wunderthätern, die auf dem Wasser gehen konnten, wuſste man sich um die Zeit Jesu191Neuntes Kapitel. §. 97.Vieles zu erzählen. Abgesehen von eigenthümlich griechi - schen Vorstellungen19)s. die Stellen bei Wetstein, p. 417 f., so schrieb die orientalisch-grie - chische Sage dem Hyperboreer Abaris einen Pfeil zu, auf welchem er über Flüsse, Meere und Abgründe schwe - bend sezte20)Jamblich. vita Pythagorae 136, vgl. Porphyr. 29.; der gemeine Volksglaube lieh manchen Thaumaturgen die Fähigkeit, auf dem Wasser zu gehen21)Lucian. Philopseudes, 13.: und es erscheint so die Möglichkeit, daſs sich aus allen diesen Elementen und Veranlassungen eine gleiche Sage auch über Jesum bilden konnte, ungleich gröſser, als die eines wirklichen Vorgangs dieser Art, womit unsre Rechnung geschlossen ist.

Mit den bisher betrachteten Seeanekdoten hat die Joh. 21. erzählte φανέρωσις Jesu ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης τῆς Τιβεριά - δος so auffallende Ähnlichkeit, daſs wir, obwohl das vierte Evangelium den Vorfall in die Tage der Auferstehung Je - su verlegt, doch nicht umhin können, wie wir sie schon früher ihrem einen Theile nach mit der Erzählung vom Fischzug Petri in Verbindung brachten, so nun ihren an - dern Bestandtheil mit dem Wandeln Jesu und Petri auf dem Meer in Parallele zu setzen. Beidemale wird in dem noch nächtlichen Dunkel des Frühmorgens Jesus von den im Schiffe befindlichen Jüngern erblickt, nur daſs er bei dem späteren Falle nicht wie in dem früheren auf dem Meere geht, sondern am Ufer steht, und die Jünger nicht durch Sturm, sondern nur durch die Fruchtlosigkeit ihrer Fischerarbeit in Verlegenheit gesezt sind. Beidemale fürch - ten sie ihn: dort, weil sie ihn für ein Gespenst halten, hier wagt es keiner, zu fragen, wer er sei, εἰδότες, ὅτι Κύριός ἐςιν. Im Besondern aber findet die dem ersten Evangelium eigenthümliche Scene mit Petrus in der genann - ten Stelle des vierten ihre Parallele. Wie Petrus dort,192Zweiter Abschnitt.als der über den See einherschreitende Jesus sich zu er - kennen giebt, ihn um die Erlaubniſs bittet, zu ihm über das Wasser hingehen zu dürfen: so wirft er sich hier, sobald der am Ufer stehende Jesus erkannt ist, in das Wasser, um auf dem kürzesten Wege schwimmend zu ihm zu gelangen. Da auf diese Weise, was in jener früheren Erzählung ein wunderbares Wandeln auf dem Meere, in der vorliegenden in Bezug auf Jesum ein wunderloses Ste - hen am Ufer, in Bezug auf den Petrus aber ein natürli - ches Schwimmen ist, somit die leztere Geschichte fast wie eine rationalistische Paraphrase der ersteren lautet: so hat es nicht an solchen gefehlt, welche wenigstens von der pe - trinischen Anekdote im ersten Evangelium behaupteten, daſs sie eine traditionelle Umbildung des Zugs Joh. 21, 7. in's Wunderhafte sei22)Schneckenburger, über den Urspr. S. 68.. Diese Vermuthung auch auf das Meerwandeln Jesu auszudehnen, wird die jetzige Kritik dadurch abgehalten, daſs diesen Zug das als apostolisch vorausgesezte vierte Evangelium selbst in der früheren Er - zählung hat; wogegen wir auf unserem Standpunkt es gar wohl möglich finden werden, daſs demselben vierten Evangelisten dieselbe Geschichte in zwiefacher Form zu Ohren gekommen, und von ihm an verschiedenen Orten seiner Erzählung einverleibt worden sei. Indessen, wenn beide Geschichten verglichen werden sollen, so dürfen wir nicht schon zum Voraus die eine, Joh. 21., als die ur - sprüngliche, die andere, Matth. 14. parall., als die abge - leitete setzen, sondern müssen erst fragen, welche von bei - den sich eher zum Einen oder Andern eigne? Allerdings nun, wenn wir dem bewährten Kanon folgen, daſs die wunderhaftere Erzählung die spätere sei, so erscheint die von Joh. 21. in Bezug auf die Art, wie Jesus in die Nähe der Jünger, und Petrus zu ihm gelangt, als die ursprüng - liche. Aber aufs Engste hängt mit jenem Kanon der an -193Neuntes Kapitel. §. 97.dre zusammen, daſs die einfachere Erzählung die frühere, die zusammengeseztere die spätere ist, wie das Conglome - rat später als die einfache Steinbildung, und nach die - sem Kanon wäre umgekehrt die Erzählung Joh. 21. die ab - geleitete, da in ihr die bezeichneten Züge noch mit dem wunderbaren Fischzug verflochten sind, während sie in der früheren Erzählung für sich ein Ganzes ausmachen. Allerdings zwar kann auch ein gröſseres Ganze in kleinere Stücke zersplittern: doch solchen Bruchstücken sehen die getrennten Erzählungen vom Fischzug und vom Wandeln auf dem Meere keineswegs ähnlich, welche vielmehr jede als wohlgeschlossenes Ganze sich verhalten. Aus dieser Ver - flechtung mit dem Wunder des Fischzugs, wozu noch kommt, daſs der ganze Vorgang um den auferstandenen Jesus, der an sich schon ein Wunder ist, sich dreht, wird nun auch erklärlich, wie, gegen die sonstige Regel, die oft bezeich - neten beiden Züge in der späteren Darstellung ihr Wun - derhaftes verlieren konnten, indem sie nämlich durch die Verbindung mit anderweitigem Wunderbaren zu bloſsen Nebenzügen, zur natürlichen Staffage heruntergesezt wur - den. Ist aber auf diese Weise die Erzählung Joh. 21. ei - ne durchaus abgeleitete, so ist sie in Bezug auf ihren hi - storischen Werth bereits mit denjenigen Erzählungen be - urtheilt, welche ihre Grundlage bilden.

Sehen wir, ehe wir weiter gehen, auf die bisher durch - laufene Reihe von Sturm -, See - und Fischgeschichten zu - rück, so finden wir, daſs zwar die eine äusserste der an - dern durchaus unähnlich ist, indem in der einen bloſs von Fischen, in der andern bloſs vom Sturm gehandelt wird: doch aber, je nachdem man sie aufstellt, hängt jede mit der folgenden durch einen gemeinsamen Zug zusammen. Die Erzählung von der Berufung der Menschenfischer (Matth. 4, 18 ff. parall. ) eröffnet die Reihe; mit dieser hat die vom Fischzug des Petrus (Luc. 5, 1 ff. ) die Gnome von Men - schenfischern gemein, aber das Faktum des Fischzugs istDas Leben Jesu II. Band. 13194Zweiter Abschnitt.ihr eigenthümlich; dieser leztere kehrt Joh. 21. wieder, wo noch das morgenliche Stehen Jesu am Ufer und das Hinüberschwimmen des Petrus dazukommt; dieſs Stehen und Schwimmen erscheint Matth. 14, 22 ff. parall. als Ge - hen auf dem Meer, und zugleich ist ein Sturm und dessen Aufhören mit Jesu Eintritt in das Schiff hinzugefügt; Matth. 8, 23 ff. parall. endlich steht die Stillung des Sturms durch Jesum für sich allein.

Entfernter von den bisher betrachteten Erzählungen steht die Geschichte Matth. 17, 24 ff. Zwar findet sich auch hier wie bei einigen von jenen eine Anweisung Jesu an den Petrus zum Fischfang, welcher, wie zwar nicht aus - drücklich gesagt ist, doch vorausgesezt werden muſs, der Erfolg entspricht: aber theils soll nur Ein Fisch, und zwar mit dem Angel, gefangen werden, theils ist die Hauptsache die, daſs in seinem Maule ein Geldstück gefunden werden soll, um damit die Tempelsteuer für Jesus und Petrus, um welche der leztere angegangen war, zu bezahlen. Diese Erzählung, wie sie zunächst sich giebt, hat eigenthümliche Schwierigkeiten, welche Paulus gut auseinandersezt, und auch Olshausen nicht in Abrede stellt. Wenn nämlich Fritzsche mit Recht bemerkt, zwei wunderbare Stücke seien in dieser Geschichte: das eine, daſs der Fisch einen Stater im Maule haben sollte, das andere, daſs Jesus dieſs vorherwuſste, so erscheint theils jenes und damit auch die - ses als abenteuerlich, theils das ganze Wunder als unnö - thig. Zwar, daſs Fische Metalle und Kostbarkeiten im Leibe gehabt haben, wird auch sonst erzählt23)Die Beispiele s. bei Wetstein z. d. St., und ist nicht unglaublich: daſs aber ein Fisch ein Geldstück im Maule haben und darin behalten sollte, während er zu - gleich nach dem Angel schnappt, das fand auch Dr. Schnap - pinger24)Die heil. Schrift des n. Bundes 1, S. 314. 2te Aufl. unbegreiflich. Der Anlaſs des Wunders aber195Neuntes Kapitel. §. 97.konnte weder Geldmangel sein: denn wenn auch damals gerade kein Vorrath in der gemeinsamen Kasse war, so befand sich doch Jesus in dem befreundeten Kapernaum, wo er auf natürlichem Weg zu dem nöthigen Gelde gelan - gen konnte, man müſste denn mit Olshausen das Entleh - nen durch Zusammenwerfen mit dem Betteln gegen das von Jesu zu beobachtende decorum divinum finden; noch konnte Jesus nach so vielen Proben seiner Wunderkraft auch dieses Wunder noch nöthig finden, um den Petrus im Glauben an seine Messianität zu bestärken.

Deſswegen ist es nicht zu verwundern, wenn ratio - nalistische Ausleger gesucht haben, eines Wunders, das auch Olshausen das schwierigste in der ganzen evangeli - schen Geschichte nennt, um jeden Preis sich zu entledigen: es kommt nur auf die Art an, wie sie dieſs angegriffen haben. Der Nerv der natürlichen Erklärung des Faktums liegt darin, daſs man in der Anweisung Jesu das εὑρήσεις nicht vom unmittelbaren Finden eines Staters im Fische, sondern von einem mittelbaren Erwerben dieses Geldbe - trags durch Verkauf des Erangelten versteht25)Paulus, ex. Handb. 2, 502 ff. vgl. Hase, L. J. §. 111.. Daſs das angezeigte Wort auch diese Bedeutung haben kann, ist zu - zugeben, nur muſs, daſs es diese und nicht seine gewöhn - liche Bedeutung habe, im einzelnen Falle aus dem Zusam - menhang erhellen. Wenn es also in unsrem Fall hieſse: nimm den ersten besten Fisch, trage ihn auf den Markt, κἀκεῖ εὑρήσεις ςατῆρα, so wäre jene Erklärung an der Stelle; da statt dessen dem εὑρήσεις vielmehr ein ἀνοίξας τὸ ςόμα αὐτοῦ vorhergeht, da also nicht ein Ort zum Ver - kaufen, sondern nur ein Ort am Fisch angegeben ist, wo der Stater erlangt werden sollte, so kann nur an ein unmittelbares Finden des Geldstücks in diesem Theile des Fischs gedacht werden26)vgl. Storr im Flatt'schen Magazin, 2, S. 68. ff.. Wozu wäre auch das Öffnen13 *196Zweiter Abschnitt.des Fischmauls ausdrücklich bemerkt, wenn nicht eben in demselben das Begehrte gefunden werden sollte? Paulus findet darin nur die Anweisung, den Fisch ungesäumt vom Angel zu lösen, um ihn lebendig zu erhalten und desto eher verkäuflich zu machen. Zu dem Befehl, das Maul des Fisches zu öffnen, könnte allerdings, wenn sonst nichts dabei stände, die Herausnahme des Angels als Zweck und Erfolg hinzugedacht werden: da aber εὑρήσεις νατῆρα da - beisteht, so ist unverkennbar dieses als nächster Zweck des Maulöffnens bezeichnet. Das Gefühl, daſs, so lange von einem Aufthun des Maules am Fisch in der Stelle die Rede sei, auch der Stater als in demselben zu findender vorausgesezt werde, bewog die rationalistischen Erklärer, das ςόμα wo möglich auf ein anderes Subjekt als den Fisch zu beziehen, und da war nur der Fischer, Petrus, übrig. Da nun aber das ςόμα durch das dabeistehende αὐτοῦan den Fisch gebunden scheint, so hat Dr. Paulus, den Vor - schlag eines Freundes, statt αὐτοῦεὑρήσεις geradezu ἀνϑ - ευρήσεις zu lesen, mildernd oder überbietend, das stehen gelassene αὐτοῦ von ςόμα getrennt, adverbialisch genommen, und übersezt: du darfst dann nur deinen Mund aufthun, um den Fisch feilzubieten, so wirst du auf der Stelle (αὐτοῦ) einen Stater für denselben ausbezahlt bekommen. Wie konnte aber, muſste man noch fragen, in dem fischreichen Kaper - naum ein einziger Fisch so theuer bezahlt werden? daher nahm dann Paulus das τὸν ἀναβάντα πρῶτον ἰχϑὺν ᾆρον collectiv: nimm allemal den Fisch, der dir zuerst aufstöſst, und mache so fort, bis du eines Staters werth eran - gelt hast.

Werden wir durch die Reihe von Gewaltthätigkeiten, welche zur natürlichen Erklärung dieser Erzählung - thig sind, wieder zu derjenigen zurückgewiesen, welche hier ein Wunder findet, und erscheint uns doch nach dem früher Bemerkten dieses Wunder als abenteuerlich und unnöthig, mithin als unglaublich: so bleibt nichts übrig,197Neuntes Kapitel. §. 98.als auch hier ein sagenhaftes Element vorauszusetzen. Dieſs hat man so versucht, daſs man ein wirkliches aber natürliches Faktum als zum Grunde liegend annahm, daſs nämlich Jesus einmal den Petrus angewiesen habe, so lan - ge zu fischen, bis die Tempelsteuer erangelt wäre, woraus dann die Sage entstanden sei, der Fisch habe die Steuer - münze im Maule gehabt27)Kaiskr, bibl. Theol. 1, S. 200. vgl. Hase a. a. O.. Diesen immer ungenügenden Mittelweg zwischen natürlicher und mythischer Erklärung zu vermeiden, denken wir uns lieber als Veranlassung die - ser Anekdote das vielbenüzte Thema von einem Fischfang des Petrus auf der einen, und die bekannten Erzählungen von Kostbarkeiten, die im Leibe von Fischen gefunden worden, auf der andern Seite. Petrus war, wie wir aus Matth. 4, Luc. 5, Joh. 21. wissen, in der evangelischen Sage der Fischer, welchem Jesus in verschiedenen Formen, zunächst symbolisch, dann eigentlich, den reichen Fang bescheert hatte. Das Werthvolle des Fangs tritt nun hier als Geldmünze heraus, welche, wie dergleichen Dinge sonst im Bauche von Fischen, so durch eine Steigerung des Wunders gleich im Maule des Fisches gefunden werden sollte. Daſs es gerade der zur Tempelsteuer erforderliche Stater ist, könnte durch eine wirkliche Äusserung Jesu über sein Verhältniſs zu dieser Abgabe, welche zufällig mit jener Anekdote in Verbindung kam, veranlaſst sein, oder könnte umgekehrt der in der Sage vom Fischfang zu - fällig vorhandene Stater an die Tempelabgabe, welche für zwei Personen eben so viel betrug, und den darauf be - züglichen Ausspruch Jesu erinnert haben.

In diesen mährchenhaften Ausläufer endigen die See - und Fisch-Anekdoten.

§. 98. Die wunderbare Speisung.

Wie in den zulezt betrachteten Geschichten Jesus be -198Zweiter Abschnitt.stimmend und besänftigend auf die vernunftlose und selbst auf die leblose Natur einwirkte: so wirkt er in denjenigen Erzählungen, zu deren Betrachtung wir jezt fortschreiten, sogar vermehrend nicht allein auf Naturgegenstände, son - dern selbst auf künstlich verarbeitete Naturprodukte.

Daſs Jesus zubereitete Nahrungsmittel auf wunderbare Weise vermehrt, mit wenigen Broten und Fischen eine groſse Menschenmenge gespeist habe, erzählen uns mit sel - tener Einstimmigkeit sämmtliche Evangelisten (Matth. 14, 13 ff. Marc. 6, 30 ff. Luc. 9, 10 ff. Joh. 6, 1 ff.). Und glauben wir den beiden ersten von ihnen, so hat Jesus dieſs nicht bloſs Einmal gethan, sondern Matth. 15, 32 ff. Marc. 8, 1 ff. wird eine zweite Speisung erzählt, bei der es im Wesentlichen ebenso wie bei der ersten zugieng. Sie fällt der Zeit nach etwas später; der Ort ist etwas an - ders bezeichnet, und die Dauer des Aufenthalts der Menge bei Jesu abweichend angegeben; auch ist, was mehr besa - gen will, das Gröſsenverhältniſs zwischen dem Speisevor - rath und der Menschenmenge ein verschiedenes, indem das erstemal mit 5 Broten und 2 Fischen 5000, das zweitemal mit 7 Broten und wenigen Fischen 4000 Mann gesättigt werden, und dort 12, hier 7 Körbe mit Brocken übrig bleiben. Demungeachtet ist nicht nur die Substanz der Geschichte auf beiden Seiten ganz dieselbe: Sättigung ei - ner Volksmenge mit unverhältniſsmäſsig wenigen Nahrungs - mitteln, sondern auch die Ausmalung der Scene ist in den Grundzügen ganz analog: beidemale das Lokal eine einsa - me Gegend in der Nähe des galiläischen Sees; beidemale die Veranlassung des Wunders ein zu langes Verweilen des Volks bei Jesu; beidemale bezeigt Jesus Lust, die Menge aus eigenen Mitteln zu speisen, was die Jünger als eine unmögliche Sache betrachten; beidemale besteht der disponible Speisevorrath in Broten und Fischen; beidemale läſst Jesus die Leute sich lagern und theilt ihnen nach gesprochenem Dankgebet durch Vermittlung seiner Jünger199Neuntes Kapitel. §. 98.aus; beidemale werden sie vollkommen satt, und es kann noch eine unverhältniſsmäſsig groſse Menge übrig gebliebe - ner Brocken in Körbe gesammelt werden; endlich einmal wie das andere sezt Jesus nach vollbrachter Speisung über den See.

Bei dieser Wiederholung desselben Faktums macht na - mentlich die Frage Schwierigkeit, ob es wohl denkbar sei, daſs die Jünger, nachdem sie selbst mitangesehen hatten, wie Jesus mit wenigen Nahrungsmitteln eine groſse Menge zu speisen vermochte, dennoch bei einem zweiten ähnli - chen Fall jenen ersten spurlos vergessen gehabt, und ge - fragt haben sollten: πόϑεν ἡμῖν ἐν ἐρημίᾳ ἄρτοι τοσοῦτοι, ὥςε χορτάσαι ὄχλον τοσοῦτον; Wenn man sich für eine sol - che Vergeſslichkeit der Jünger darauf beruft, daſs sie auf ähnliche unbegreifliche Weise die Erklärungen Jesu über sein bevorstehendes Leiden und Sterben vergessen gehabt haben, als dasselbe eintrat1)Olshausen, 1, S. 512. Die ebendas. in der Anmerkung gel - tend gemachte Instanz, dass laut des ἄρτους ουκ ἐλάβομεν Matth. 16, 7. die Jünger auch nach der zweiten Speisung noch sich nicht gemerkt hatten, wie man in der Nähe des Menschen - sohns keine Speise für den Leib mitzunehmen brauche, be - weist desswegen nichts, weil die Umstände hier ganz andere waren. Dass aus der wunderbaren Sättigung des zufällig in der Wüste verspäteten Volks die Jünger nicht den beque - men Schluss zogen, welchen der bibl. Comm. daraus zieht, kann ihnen nur zur Ehre gereichen., so ist es ja ebenso noch eine obschwebende Frage, ob nach so deutlichen Voraussagen Jesu sein Tod den Jüngern so unerwartet hätte sein kön - nen? Denkt man sich aber zwischen beide Speisungen eine längere Zeit und eine Anzahl analoger Fälle hinein, wo aber Jesus nicht für gut gefunden habe, auf wunderbare Weise zu helfen2)Ders. ebendas., so sind dieſs theils reine Erdichtungen, theils bliebe auch so unbegreiflich, wie die gar zu spre -200Zweiter Abschnitt.chende Ähnlichkeit der Umstände vor der zweiten Spei - sung mit denen vor der ersten auch nicht Einen der Jün - ger an diese sollte erinnert haben. Mit Recht behauptet daher Paulus, hätte Jesus schon einmal die Menge durch ein Wunder gespeist gehabt, so würden bei'm zweiten Mal die Jünger auf seine Erklärung, er möge das Volk nicht nüchtern entlassen, ihn getrost zur Wiederholung des vo - rigen Wunders aufgefordert haben.

Jedenfalls daher, wenn Jesus zu zwei verschiedenen Malen eine Volksmenge mit unverhältniſsmäſsig geringem Vorrath gesättigt hat, müſste man mit einigen Kritikern annehmen, daſs aus der Erzählung von der einen Bege - benheit viele Züge in die von der andern übergegangen, und so beide, ursprünglich sich unähnlicher, in der münd - lichen Überlieferung immer mehr ausgeglichen worden seien, wobei also namentlich die zweifelnde Frage der Jünger nur das erste, nicht aber auch das zweitemal vorgekom - men sein könnte3)Gratz, Comm. z. Matth. 2, S. 90 f. Sieffert, über den Urspr. S. 97.. Für eine solche Assimilation kann der Umstand zu sprechen scheinen, daſs der vierte Evan - gelist, der namentlich in den Zahlangaben auf Seiten der ersten Speisung des Matthäus und Markus ist, doch von deren zweiter Speisungsgeschichte die Züge hat, daſs eine Anrede Jesu, nicht der Jünger, die Scene eröffnet, und daſs das Volk zu Jesu auf einen Berg kommt. Allein wenn man hiebei die Grundzüge: Wüste, Speisung des Volks, Aufsammeln der Brocken, auf beiden Seiten stehen läſst, so ist auch ohne jene Frage der Jünger immer noch un - wahrscheinlich genug, daſs eine solche Scene sich auf so ganz ähnliche Weise wiederholt haben sollte; läſst man hin - gegen auch jene allgemeinen Züge bei der einen Geschichte fallen, so ist nicht weiter einzusehen, wie man die Treue der evangelischen Erzählung in Bezug auf den Hergang der201Neuntes Kapitel. §. 98.zweiten Speisung auf allen Punkten in Anspruch nehmen, und doch an der Angabe, daſs eine solche vorgefallen, festhalten kann, zumal nur Matthäus und der ihm folgen - de Markus von derselben wissen.

Daher haben neuere Kritiker, mit mehr4)Thiess, krit. Commentar, 1, S. 168 ff. Schulz, über d. Abendm. S. 311. vgl. Fritzsche, in Matth. p. 523. oder weni - ger5)Schleiermacher, über den Lukas, S. 145. Sieffert a. a. O. S. 95 ff. Hase, §. 97. Entschiedenheit, die Ansicht ausgesprochen, es sei hier ein und dasselbe Faktum durch Miſsverstand des er - sten Evangelisten, welchem der zweite folgte, verdoppelt worden. Von der wunderbaren Speisung seien verschie - dene Erzählungen im Umlauf gewesen, welche namentlich in den Zahlangaben von einander abwichen, und nun habe der Verfasser des ersten Evangeliums, welchem jede Wun - dergeschichte weiter ein willkommener Fund, und der deſs - halb zu kritischer Reduktion zweier verschieden lautenden Erzählungen der Art wenig geeignet war, beide in seine Sammlung aufgenommen. Dann erklärt sich vollkommen, wie bei der zweiten Speisung die Jünger noch einmal so ungläubig sich äussern können: weil nämlich auch die zweite Geschichte da, wo der Verfasser des ersten Evan - geliums sie hernahm, die einzige und erste gewesen war, und der Evangelist verwischte diesen Zug nicht, weil er überhaupt die beiden Erzählungen ganz so, wie er sie hörte oder las, seiner Schrift einverleibt zu haben scheint, was sich unter Anderem auch in der Constanz zeigt, mit welcher er und der ihm nachschreibende Markus nicht nur in der Darstellung der Begebenheiten selbst, sondern auch in der späteren Erwähnung derselben Matth. 16, 9 f. Marc. 8, 19 f. bei der ersten Speisung die Körbe durch κόφινοι, bei der zweiten durch σπυρίδες bezeichnet6)vgl. Saunier a. a. O. S. 105.. Freilich202Zweiter Abschnitt.wird mit Recht behauptet, daſs der Apostel Matthäus un - möglich einerlei für zweierlei habe aufgreifen, und eine gar nicht vorgefallene neue Geschichte erzählen können7)Paulus, ex. Handb. 2, S. 315. Olshausen, 1, S. 512.: aber die Wirklichkeit einer doppelten Speisung folgt nur dann hieraus, wenn man den apostolischen Ursprung des ersten Evangeliums schon voraussezt, der doch erst zu be - weisen ist. Wenn ferner Paulus einwirft, die Verdoppe - lung jenes Faktums wäre ohne allen Vortheil für die Sache des Evangelisten gewesen, und Olshausen dieſs näher da - hin entwickelt, daſs die Sage die zweite Speisungsgeschichte nicht so einfach und nüchtern, wie die erste, gelassen ha - ben würde: so kann dieses begehrliche Reden, es sei et - was keine Erdichtung, weil es als solche noch ausge - schmückter sein müſste, eigentlich geradezu abgewiesen werden, weil es, jedes bestimmten Maſsstabs entbehrend, unter allen Umständen wiederkehren, und am Ende das Mährchen selbst nicht mährehenhaft genug finden wird; insbesondre aber hier ist es deſswegen völlig leer, weil es die Erzählung von der ersten Speisung als eine historisch genaue voraussezt: haben wir in dieser schon ein sagenhaf - tes Produkt, so braucht sich die Variation davon, die zweite Speisungsgeschichte, nicht noch durch besondre traditio - nelle Züge auszuzeichnen. Doch nicht bloſs nicht in's Wun - derbarere ist die Erzählung von der zweiten Speisung ge - genüber von der ersten ausgeschmückt, sondern, indem sie, die Menge der Nahrungsmittel vermehrend, die Zahl der Gesättigten vermindert, verringert sie damit das Wun - der, und in diesem Antiklimax findet man die sicherste Bürgschaft für die Wirklichkeit der zweiten Speisung, in - dem, wer zu der ersten noch eine weitere hinzudichten wollte, dieselbe wohl auch überboten, und statt der 5000 Menschen nicht 4000, sondern 10,000 gesezt haben würde8)Olshausen, S. 513.. 203Neuntes Kapitel. §. 98.Auch diese Argumentation beruht auf der unbegründeten Voraussetzung, daſs die erste Speisung historisch sei, wo - bei Olshausen selbst den Gedanken hat, daſs einer wohl auch die zweite für die historische Grundlage, und die er - ste für die sagenhafte Zuthat ansehen könnte, und dann verhielte sich die erdichtete zur wahren, wie gefordert wür - de, als Steigerung. Wenn er nun aber hiegegen bemerkt, wie unwahrscheinlich es sei, daſs der unlautere Referent das ächte Faktum als das geringere nachbringe, und das falsche voranstelle, vielmehr wolle ein solcher die Wahr - heit überbieten, und stelle deſshalb immer das Erdichtete als das Glänzendere hinten an: so zeigt er damit auf's Neue, daſs er sich auf die mythische Ansicht von den bi - blischen Erzählungen nicht einmal soweit versteht, als zu ihrer Beurtheilung nöthig ist. Denn von einem unlauteren Referenten, welcher absichtlich die wahre Speisungsge - schichte hätte überbieten wollen, spricht hier Niemand, und am wenigsten erklärt irgend wer den Matthäus für ei - nen solchen, sondern, mit vollkommenster Redlichkeit, ist die Meinung, hatte der eine von 5000, der andre von 4000 Gesättigten geschrieben, ebenso redlich schrieb der erste Evangelist Beides nach, und eben weil er völlig arg - und absichtslos zu Werke gieng, kam es ihm auch nicht dar - auf an, welche von beiden Geschichten voran - oder nach - stehe, die bedeutendere oder die von minderem Belange, son - dern er lieſs sich hierin durch zufällige Umstände, wie daſs er die eine mit Begebenheiten zusammengestellt fand, die ihm die früheren, die andre mit solchen, die ihm die späteren schienen, bestimmen. Hiemit haben wir indeſs bloſs das negative Resultat, daſs der doppelten Erzählung der ersten Evangelien nicht zwei verschiedene Begebenheiten können zum Grunde gelegen haben: welche, und ob überhaupt eine von beiden historisch begründet sei, muſs Gegenstand einer eigenen Untersuchung werden.

Wenn, um dem magischen Scheine auszuweichen, wel -204Zweiter Abschnitt.chen das vorliegende Wunder vor andern hat, Olshausen dasselbe mit dem Gemüthszustand der betheiligten Perso - nen in Beziehung sezt, und die wunderbare Speisung durch den geistlichen Hunger der Menge vermittelt wissen will: so ist dieſs nur ein zweideutiges Reden, das bei dem ersten Versuch, den Sinn desselben festzustellen, in Nichts zer - fällt. Denn bei Heilungen z. B. besteht nach der hier vor - ausgesezten Ansicht jene Vermittlung darin, daſs das Ge - müth des Kranken sich der Einwirkung Jesu glaubig öff - net, so daſs bei fehlendem Glauben auch der Wunderkraft Jesu der erforderliche Anknüpfungspunkt im Menschen fehlt: hier also ist die Vermittlung eine reale. Sollte nun hier dieselbe Art von Vermittlung stattgehabt, und also bei denjenigen von der Menge, welche etwa unglaubig wa - ren, die sättigende Einwirkung Jesu keinen Eingang ge - funden haben: so müſste hier die Sättigung wie dort die Heilung als etwas von Jesu geradezu und ohne vorange - gangene Vermehrung der äusserlich vorhandenen Nahrungs - mittel in dem Leibe der Hungrigen Gewirktes angesehen werden. Allein eine solche Vorstellung von der Sache wird, wie Paulus mit Recht erinnert, und auch Olshausen an - deutet, durch die Bemerkung der Evangelisten abgeschnit - ten, daſs unter die Menge wirklich Speisen vertheilt wor - den seien, daſs von diesen jeder, so viel er wollte, genos - sen habe, und daſs am Ende noch mehr als ursprünglich vorräthig gewesen, übrig gebiieben sei. Die hierin liegende äusserlich und objektiv vorgegangene Vermehrung der Nah - rungsmittel kann nun doch nicht durch den Glauben des Volks auf reale Weise vermittelt gedacht werden, so daſs jener Glaube zum Gelingen der Brotvermehrung mitwirken muſste, die Vermittlung kann vielmehr nur eine teleologi - sche gewesen sein, d. h. daſs um eines gewissen Gemüths - zustands der Menge willen Jesus die Speisung vornahm. Eine solche Vermittlung aber giebt mir nicht die mindeste Hülfe, mir den fraglichen Vorgang denkbarer zu machen,205Neuntes Kapitel. §. 98.denn nicht, warum es so, sondern wie es zugegangen sei, ist die Frage. So beruht mithin Alles, was Olshausen hier gethan zu haben glaubt, um das Wunder denkbarer zu machen, auf der Amphibolie des Ausdrucks: Vermittlung, und es bleibt die Undenkbarkeit einer unmittelbaren Ein - wirkung des Willens Jesu auf die vernunftlose Natur die - ser Geschichte mit den zulezt erwogenen gemein.

Doch eigenthümlich vor den andern ist ihr die Schwie - rigkeit, daſs hier nicht bloſs wie bisher von einer den Naturgegenständen ertheilten Richtung oder Modifikation, sondern von einer Vermehrung derselben, und zwar in's Ungeheure, die Rede ist. Zwar ist uns nichts alltäglicher, als Wachsthum und Vermehrung der Naturgegenstände, wie sie z. B. vom Samenkorn in den Parabeln vom Säe - mann und vom Senfkorn dargestellt ist. Allein diese ge - schieht erstlich nicht ohne Zutritt anderer Naturdinge, wie Erde, Wasser, Luft, so daſs auch hier, nach dem bekann - ten Saz der Naturlehre, nicht eigentlich die Substanz ver - mehrt, sondern nur die Accidenzien verwandelt werden; zweitens geschieht dieser Proceſs so, daſs er seine verschie - denen Stadien in entsprechenden Zeitdistanzen zurücklegt. Hier dagegen, bei der Vermehrung der Nahrungsmittel durch Jesus, findet weder das Eine noch das Andere statt: das Brot in der Hand Jesu hängt nicht mehr, wie der Halm, auf welchem die Frucht wuchs, mit dem mütterli - chen Boden zusammen, noch geschieht seine Vermehrung allmählig, sondern plözlich.

Das aber eben soll das Wunderbare an der Sache sein, und namentlich nach der lezteren Seite hin das gegenwär - tige Wunder ein beschleunigter Naturproceſs genannt wer - den können. Was von der Aussaat bis zur Ernte in drei Vierteljahren geschieht, soll da in Minuten unter der Aus - theilung der Speise geschehen sein; denn einer Beschleu - nigung seien die Naturentwicklungen fähig, und einer wie206Zweiter Abschnitt.groſsen, das sei nicht zu bestimmen9)So nach Pfenninger, Olshausen, 1, S. 489 f. vgl. Hase, §. 97.. Ein beschleunig - ter Naturproceſs wäre es gewesen, wenn in Jesu Hand je ein Korn hundertfältige Frucht getragen und zur Reife gebracht, und er die vermehrten Körner aus immer vollen Händen dem Volke hingeschüttet hätte, um sie von diesem zerreiben, kneten und backen, oder in der Wüste, wo sie waren, roh aus den Hülsen heraus geniessen zu lassen; wenn er einen lebendigen Fisch genommen, und die Eier in dessen Leibe plözlich hervorgerufen, befruchtet, und zu ausgewachsenen Fischen gemacht hätte, welche dann die Jünger oder das Volk hätten sieden oder braten mögen. So hingegen nimmt er nicht Korn in die Hand, sondern Brot, und auch die Fische müssen, so wie sie in Stücken ausgetheilt werden, irgendwie zubereitet, vielleicht, wie Luc. 24, 42. vgl. Joh. 21, 9. gebraten, oder eingesalzen ge - wesen sein. Hier ist also auf beiden Seiten kein reines, lebendiges Naturprodukt mehr, sondern ein todtes und durch Kunst modificirtes; um ein solches in einen Naturproceſs jener Art zu versetzen, hätte Jesus vor Allem durch seine Wunderkraft aus dem Brot wieder Körner, aus den Brat - fischen wieder rohe und lebende machen, dann geschwind die beschriebene Vermehrung vornehmen, endlich sämmt - liches Vermehrte vom Naturzustand in den künstlichen zu - rückversetzen müssen. So wäre mithin dieses Wunder zu - sammengesezt 1) aus einer Wiederbelebung, welche alle sonst in den Evangelien erzählte an Mirakulosität überträ - fe; 2) aus einem höchst beschleunigten Naturproceſs, und 3) aus einem unsichtbar vorgenommenen und ebenfalls höchst beschleunigten Kunstproceſs, indem alle die langen Proce - duren des Müllers und Bäckers auf der einen, und des Kochs auf der andern Seite durch Jesu Wort in einem Au - genblick müſsten vor sich gegangen sein. Wie mag also Olshausen sich selbst und den glaubigen Leser durch den207Neuntes Kapitel. §. 98.annehmlich klingenden Ausdruck: beschleunigter Naturpro - ceſs, täuschen, wenn doch dieser die Sache, von der die Rede ist, nur zum dritten Theil bezeichnet?

Wie sollen wir uns nun ein solches Wunder zur An - schauung bringen, und in welchen Moment des Hergangs es versetzen? In Betreff des Lezteren sind nach der An - zahl der in unsrer Erzählung handelnden Gruppen drei Ansichten möglich, indem entweder in den Händen Jesu, oder in denen der austheilenden Jünger, oder endlich erst in denen des empfangenden Volks die Vermehrung vor sich gegangen sein kann. Die leztere Vorstellung ist theils bis zum Abenteuerlichen minutiös, wenn man sich Jesum und die Apostel denken will, mit Behutsamkeit, daſs es doch ja ausreichen möge, Krümchen vertheilend, die in den Hän - den der Empfänger zu Stücken anschwellen, theils wäre es nicht wohl möglich gewesen, für eine Masse von 5000 Mann aus 5 Broten, welche nach hebräischer Sitte, und da sie ja ein Knabe trug, nicht sehr groſs können gewesen sein, und vollends aus 2 Fischen für jeden ein, wenn auch noch so kleines, Stückchen herauszubringen. Unter den zwei übrigen Vorstellungsweisen finde ich es mit Olshau - sen am angemessensten, daſs unter den schöpferischen Hän - den Jesu sich die Nahrungsmittel vermehrt, und er neue und immer neue Stücke den vertheilenden Jüngern gebo - ten habe. Zur Anschauung kann man sich dann den Vor - gang auf die doppelte Art zu bringen sucher, daſs man entweder sich vorstellt, so oft ein Brotkuchen und ein Fisch zu Ende war, sei aus den Händen Jesu ein neuer gekommen, oder man denkt sich, die einzelnen Brotku - chen und Fische seien gewachsen, so daſs, wie ein Stück abgebrochen wurde, es sich so lange wieder ergänzte, bis berechnetermaſsen die Reihe an den folgenden kommen konnte. Die erstere Vorstellung scheint dem Texte fremd zu sein, welcher, wenn er von Brocken ἐκ τῶν πέντε ἄρτων spricht (Joh. 6, 13.), schwerlich eine Vermehrung dieser208Zweiter Abschnitt.Anzahl voraussezt, und so bleibt nur die zweite, durch deren poëtische Ausmalung Lavater der orthodoxen An - sicht einen schlechten Dienst erwiesen hat10)Jesus Messias, 2. Bd. No. 14. 15 und 20.. Denn die - ses Wunder gehört zu denjenigen, welche nur so lange einigermaſsen glaublich erscheinen können, als man sie im Halbdunkel einer unbestimmten Vorstellung zu halten weiſs: sobald man dieselben an's Licht ziehen und in al - len Theilen genau anschauen will, lösen sie sich in Nebel - gebilde auf. Brote, die in den Händen des Austheilenden wie angefeuchtete Schwämme aufquellen, Bratfische, wel - chen, wie dem lebendigen Krebs die abgerissenen Scheeren allmählig, so die abgebrochenen Theile plözlich wieder wach - sen, gehören offenbar nicht in das Reich der Wirklich - keit, sondern in ein ganz anderes.

Wie groſsen Dank verdient daher auch hier die ratio - nalistische Auslegung, wenn es wahr ist, daſs sie uns von der Zumuthung, ein so unerhörtes Wunder anzunehmen, auf die leichteste Weise zu befreien weiſs. Hören wir Dr. Paulus11)exeg. Handb. 2, S. 205 ff., so wollen die Evangelisten gar kein Wun - der erzählen, und das Wunder ist erst von den Erklä - rern in ihren Bericht hineingetragen worden. Was sie er - zählen, ist nach ihm nur so viel, daſs Jesus seinen gerin - gen Vorrath an Lebensmitteln habe austheilen lassen, und daſs in Folge dessen die ganze Menge genug zu essen be - kommen habe. Hier sei jedenfalls das Mittelglied ausge - lassen, welches näher angebe, wie es möglich gewesen, daſs, unerachtet Jesus nur so wenige Lebensmittel zu bie - ten hatte, dennoch die groſse Volksmasse habe gesättigt werden können. Ein sehr natürliches Mittelglied aber er - gebe sich aus der historischen Combination der Umstände. Da nach Vergleichung von Joh. 6, 4. die Menge wahrschein - lich zum gröſseren Theil aus einer Festkaravane bestan -209Neuntes Kapitel. §. 98.den habe, so könne sie nicht ohne alle Speisevorräthe ge - wesen, und nur einigen Ärmeren vielleicht der Vorrath bereits ausgegangen gewesen sein. Um nun die besser Ver - sehenen zur Mittheilung an die, denen es fehlte, zu ver - anlassen, habe Jesus ein Mahl veranstaltet, und sei mit eigenem Beispiele in der Mittheilung dessen, was er und seine Jünger von ihrem geringen Vorrath entbehren konn - ten, vorangegangen; dieser Vorgang habe Nachahmung gefunden, und so sei, indem Jesu Brotaustheilung eine allgemeine Mittheilung veranlaſste, der ganze Volkshaufe satt geworden. Allerdings müsse man dieses natürliche Mittelglied in den Text erst hineindenken; da jedoch das übernatürliche, welches man gewöhnlich annehme, die wun - derbare Brotvermehrung, ebenso wenig ausdrücklich ange - geben sei, sondern beide gleicherweise hinzugedacht wer - den müssen: so könne man nicht anders, als für das na - türliche sich entscheiden. Doch das hier behauptete glei - che Verhältniſs der beiden Mittelglieder zum Text findet in der That nicht statt. Sondern, während zum Behuf der natürlichen Erklärung ein neues austheilendes Subjekt (die besser Versehenen unter der Menge), und ein neues ausgetheiltes Objekt (deren Vorräthe), sammt der Handlung des Austheilens von diesen hinzugedacht werden muſs: be - gnügt sich die supranaturalistische Erklärung mit dem vor - handenen Subjekt (Jesu und seinen Jüngern), Objekt (de - ren kleinem Vorrath) und dessen Austheilung, und läſst nur die Art hinzudenken, wie dieser Vorrath zur Sätti - gung der Menge zulänglich gemacht wurde, indem er sich nämlich unter Jesu (oder seiner Jünger) Händen wunder - bar vermehrte. Wie kann man hier noch behaupten, dem Text liege keines von beiden Mittelgliedern näher als das andere? Daſs die wunderbare Vermehrung der Brote und Fische verschwiegen ist, erklärt sich daraus, daſs dieser Vorgang selbst sich nicht für die Anschauung festhalten lassen will, daher besser nur nach dem Erfolg bezeichnetDas Leben Jesu II. Band. 14210Zweiter Abschnitt.wird: wie aber will man erklären, daſs von der durch Jesum hervorgerufenen Mittheilsamkeit der übrigen mit Vor - rath Versehenen nichts gesagt ist? Zwischen das

ἔδωκε τοῖς μαϑηταῖς, οἱ δὲ μαϑηταὶ τοῖς ὄχλοις

(Matth. 14, 19.) und καὶ ἔφαγον πάντες καὶ ἐχορτάσϑησαν (V. 20.) jene Mittheilung der Andern hineinzudenken, ist reine Willkühr, wogegen durch dasκαὶ τοὺς δύο ἰχϑύας ἐμέρισε πᾶσι(Marc. 6, 41.) unverkennbar angezeigt ist, daſs nur die 2 Fische und also auch nur die 5 Brote das Objekt der Thei - lung für Alle waren12)Olshausen, 1, S. 488.. Ganz besonders aber kommt die - se natürliche Erklärung mit den Körben in Verlegenheit, welche, nachdem Alle satt geworden, Jesus noch mit den übrig gebliebenen Brocken füllen lieſs. Wenn hier der vierte Evangelist sagt:

συνήγαγον οὖν, καὶ ἐγέμισαν δώδεκα κοφίνους κλασμάτων ἐκ τῶν πέντε ἄρτων τῶν κριϑίνων, ἐπερίσσευσε τοῖς βεβρωκόσιν

(6, 13.): so scheint doch hiedurch deutlich genug gesagt zu sein, daſs eben von je - nen 5 Broten, nachdem 5000 Mann sich von denselben gesättigt, noch 12 Körbe voll Brocken, also mehr als der ursprüngliche Vorrath betragen hatte, übrig geblieben seien. Hier hat daher der natürliche Erklärer die abenteuerlich - sten Wendungen nöthig, um dem Wunder auszuweichen. Zwar, wenn die Synoptiker nur schlechtweg sagen, man habe die Überreste des Mahls gesammelt, und mit densel - ben 12 Körbe gefüllt, so könnte man vom Standpunkt der natürlichen Erklärung etwa denken, Jesus habe aus Ach - tung für die Gottesgabe auch das, was die Versammlung von den eigenen Vorräthen liegen lieſs, durch seine Jün - ger aufsammeln lassen. Allein, wie das, daſs das Voik das übrig Gebliebene liegen lieſs und nicht zu sich steckte, anzudeuten scheint, daſs es die gereichten Nahrungsmittel als fremdes Eigenthum behandelte: so scheint Jesus, in - dem er es ohne Weiteres durch seine Jünger einsammeln211Neuntes Kapitel. §. 98.läſst, es als sein Eigenthum zu betrachten. Daher nimmt denn Paulus das ᾖραν κ. τ. λ. der Synoptiker nicht von einem auf das Essen erst gefolgten Aufsammeln des nach Sättigung der Menge Übriggebliebenen, sondern von dem Überfluſs ihres geringen Vorraths, welchen die Jünger, nachdem sie das für Jesum und sie selbst Erforderliche zurückgethan, vor dem gemeinsamen Mahle und um ein solches zu veranlassen, herumgetragen haben. Wie kann aber, wenn nach ἔφαγον καὶ ἐχορτάσϑησαν unmittelbar καὶ ᾖραν folgt, damit auf die Zeit vor dem Essen zurückge - sprungen sein? müſste es nicht nothwendig wenigstens ᾖραν γὰρ heiſsen? Ferner, wie kann, nachdem eben gesagt war, das Volk habe sich satt gegessen, τὸ περισσεῦσαν, vollends wenn, wie bei Lukas, αὐτοῖς dabei steht, etwas Anderes als das vom Volk Übergelassene bedeuten? Endlich, wie ist es möglich, daſs von 5 Broten und 2 Fischen, nachdem Jesus und seine Jünger ihren Bedarf genommen, oder selbst ohne dieſs, 12 Körbe zur Austheilung an das Volk gefüllt werden konnten? Doch noch seltsamer geht es bei Erklä - rung der johanneischen Stelle zu. Wegen der Anweisung Jesu, das Übriggebliebene zu sammeln, ἵνα μή τι ἀπόληται, scheint der folgenden Angabe, daſs sie von dem Überschuſs der 5 Brote 12 Körbe gefüllt haben, die Beziehung auf die Zeit nach dem Mahle nicht entzogen werden zu können, wobei dann ohne wunderbare Brotvermehrung nicht abzu - kommen wäre. Lieber reiſst daher Paulus von dem στν - ήγαγονοὖ; ν das in Einem fortlaufende καὶ ἐγέμισαν δώδεκα κοφίνους κ. τ. λ. ab, und läſst nun hier die Rede, noch här - ter als bei den Synoptikern, ohne alle Andeutung auf Ein - mal in das Plusquamperfectum und in die Zeit vor dem Mahle zurückspringen.

Auch hier demnach löst die natürliche Erklärung ih - re Aufgabe nicht: dem Texte bleibt sein Wunder, und wenn wir Gründe haben, dieses unglaublich zu finden, so müssen wir untersuchen, ob die Erzählung des Textes14 *212Zweiter Abschnitt.wirklich Glauben verdiene? Für ihre ausgezeichnete Glaub - würdigkeit führt man gewöhnlich die Übereinstimmung sämmtlicher 4 Evangelisten in derselben an: aber diese Übereinstimmung ist so vollständig nicht. Zwar die Dif - ferenzen, welche zwischen Matthäus und Lukas, und wie - der zwischen diesen beiden und dem auch hier ausmalen - den Markus stattfinden, ferner zwischen sämmtlichen Syn - optikern und Johannes darin, daſs jene den Vorgang schlechtweg an einen τόπος ἔρημος, dieser ihn auf ein ὄρος versezt, und daſs den Synoptikern zufolge die Handlung durch eine Anrede der Jünger, nach Johannes durch ei - ne Frage Jesu eröffnet ist (zwei Züge, worin, wie bereits bemerkt, die johanneische Erzählung sich dem Bericht des Matthäus und Markus von der zweiten Speisung nähert), endlich noch die Differenz, daſs die Reden, welche die drei ersten Evangelisten unbestimmt τοῖς μαϑηταῖς in den Mund legen, der vierte in seiner individualisirenden Wei - se namentlich dem Philippus und Andreas leiht, welcher leztere auch als Träger der Brote und Fische bestimmt ein παιδάριον angiebt, diese Abweichungen können wir als minder wesentlich übergehen, um nur an Eine uns zu hal - ten, welche tiefer eingreift. Während nämlich nach den synoptischen Berichten Jesus die Volksmenge zuerst lange belehrt und ihre Kranken geheilt hatte, und erst durch den einbrechenden Abend und die bemerkte Verspätung veranlaſst wurde, sie noch zu speisen: ist bei Johannes, sobald er nur die Augen aufhebt und das Volk heranzie - hen sieht, Jesu erster Gedanke der, welchen er in der Frage an den Philippus ausspricht: woher Brot nehmen, um diese zu speisen? oder, da er dieſs nur πειράζων frag - te, wohlwissend, τί ἤμελλε ποιεῖν, der Vorsaz, hier eine wunderbare Speisung zu veranstalten. Wie konnte denn aber Jesu bei'm ersten Herannahen des Volks sogleich die Aufgabe entstehen, ihm zu essen zu geben? Deſshalb kam es ja gar nicht zu ihm, sondern um seiner Lehre und213Neuntes Kapitel. §. 98.Heilkraft willen. Er muſste sich also ganz aus eigenem Antrieb jene Aufgabe stellen, um seine Wundermacht in einer recht ausgezeichneten Probe zu beweisen. Aber that er auch je sonst ein Wunder so ohne Noth und selbst oh - ne Veranlassung, ganz eigenwillig, nur um ein Wunder zu verrichten? Ich weiſs es nicht stark genug auszusprechen, wie unmöglich hier das Essen Jesu erster Gedanke sein, wie unmöglich er dem Volk sein Speisungswunder in die - ser Weise aufdringen konnte. Hier geht also die synopti - sche Darstellung, in welcher das Wunder doch einen An - laſs hat, der des vierten Evangelisten bedeutend vor, wel - cher, zum Wunder eilend, die nöthige Motivirung dessel - ben überspringt, und Jesum die Gelegenheit zu demselben machen, nicht abwarten läſst. So konnte ein Augenzeuge nicht erzählen, und wenn somit der Bericht desjenigen Evangeliums, welchem man jezt die gröſste Auktorität ein - räumt, als unhistorisch bei Seite gestellt werden muſs: so sind bei den übrigen die oben beregten Schwierigkei - ten der Thatsache hinreichende Gründe, ihre historische Zuverlässigkeit zu bezweifeln, besonders wenn sich neben diesen negativen auch positive Gründe auffinden lassen, welche eine unhistorische Entstehung unsrer Erzählung denkbar machen.

Solche Veranlassungen finden sich wirklich sowohl innerhalb der evangelischen Berichte selbst, als ausserhalb ihrer in der A. T. lichen Geschichte und dem jüdischen Volksglauben. In ersterer Beziehung ist es bemerkenswerth, daſs sowohl bei den Synoptikern als bei Johannes an die durch Jesum vollzogene Speisung mit eigentlichem Brote mehr oder minder unmittelbar Reden Jesu von Brot und Brotmasse in uneigentlichem Sinne angehängt sind, näm - lich hier die Aussprüche vom wahren Himmels - und Le - bensbrot, das Jesus gebe (Joh. 6, 27 ff. ), dort die vom fal - schen Sauerteig der Pharisäer und Sadducäer, nämlich ih - rer falschen Lehre und Heuchelei (Matth. 16, 5 ff. Marc. 214Zweiter Abschnitt.8, 14 ff. vgl. Luc. 12, 1.), und beiderseits wird diese bild - liche Rede Jesu 'irrig von eigentlichem Brot verstanden. Hienach läge die Vermuthung nicht allzufern, wie in den angeführten Stellen das Volk und die Jünger, so habe auch die erste christliche Überlieferung das von Jesu uneigent - lich Gemeinte eigentlich gefaſst, und wenn er sich etwa in bildlicher Rede bisweilen als denjenigen dargestellt hat - te, welcher dem verirrten und hungernden Volke das wah - re Lebensbrot, die beste Zukost, zu reichen vermöge, wo - mit er vielleicht den Sauerteig der Pharisäer in Gegensaz stellte: so habe dieſs in der Sage, ihrer realistischen Rich - tung gemäſs, die Wendung genommen, als ob Jesus wirk - lich einmal in der Wüste hungernde Volksmassen wunder - bar gespeist hätte. Wenn das vierte Evangelium die Re - den vom Himmelsbrot als veranlaſst durch die Speisung hinstellt, so könnte das Verhältniſs leicht umgekehrt dieſs gewesen sein, daſs die Entstehung dieser Geschichte durch jene Rede veranlaſst war, zumal auch der Eingang der jo - hanneischen Erzählung mit seinem: πόϑεν ἀγοράσομεν ἄρ τους, ἵνα φάγωσιν οὖτοι; sich gleich bei'm ersten Anblick des Volks in Jesu Munde eher denken läſst, wenn er da - mit auf eine Speisung durch das Wort Gottes (vgl. Joh. 4, 32 ff. ), auf eine Stillung des geistigen Hungers (Matth. 5, 6.) anspielte, um das höhere Verständniſs seiner Jün - ger zu üben (πειο ίζων), als wenn er wirklich an leibliche Sättigung gedacht, und seine Jünger nur in der Hinsicht auf die Probe gestellt haben soll, ob sie sich dabei auf seine Wunderkraft verlassen würden. Weniger ladet zu einer solchen Ansicht die Erzählung der Synoptiker ein: durch die bildlichen Reden vom Sauerteig für sich konnte die Entstehung der Speisungsgeschichte nicht veranlaſst werden, und da so nit das johanneische Evangelium in Be - zng auf jenen Schein eigentlich allein steht, so ist es dem Charakter desselben doch angemessener, zu vermuthen, daſs es die traditionell überkommene Wundererzählung zu bild -215Neuntes Kapitel. §. 98.lichen Reden im alexandrinischen Geschmacke verwendet, als daſs es uns die ursprünglichen Reden aufbewahrt ha - be, aus welchen die Sage jene Wundergeschichte gespon - nen hätte.

Sind nun vollends die ausserhalb des N. T. s liegen - den möglichen Veranlassungen zur Entstehung der Spei - sungsgeschichte sehr stark: so werden wir den aufgenom - menen Versuch, dieselbe aus N. T. lichen Stoffen zu con - struiren, wieder fallen lassen müssen. Und hier erinnert uns gleich der vierte Evangelist durch die dem Volke in den Mund gelegte Erwähnung des Manna, jenes Himmels - brots, welches Moses in der Wüste den Vorfahren zu es - sen gegeben habe (V. 31.), an einen der berühmtesten - ge der israëlitischen Urgeschichte (2 Mos. 16.), welcher sich ganz dazu eignete, daſs in der messianischen Zeit ein Nachbild desselben erwartet wurde, wie wir denn wirk - lich aus rabbinischen Schriften wissen, daſs unter denjeni - gen Zügen, welche vom ersten Goël auf den zweiten über - getragen wurden, das Verleihen von Himmelsbrot eine Hauptstelle einnahm13)S. den 1. Band, S. 73, Anm.. Und wenn das mosaische Manna sich dazu hergiebt, als Vorbild des von Jesu auf wunder - bare Weise vermehrten Brotes angesehen zu werden: so könnten die Fische, welche Jesus ebenso wunderbar ver - mehrte, daran erinnern, wie auch durch Moses nicht nur in dem Manna ein Brotsurrogat, sondern auch in den Wachteln eine Fleischspeise dem Volk zu Theil geworden war (2 Mos. 16, 8. 12. 13. 4 Mos. 11, 4 Ende). Ver - gleicht man diese mosaischen Erzählungen mit unsrer evan - gelischen, so findet sich auch in den einzelnen Zügen ei - ne auffallende Ähnlichkeit. Das Lokal ist beidemale die Wüste; die Veranlassung des Wunders hier wie dort die Besorgniſs, das Volk möchte in der Wüste Mangel leiden, oder gar durch Hunger zu Grunde gehen: in der A. T. -216Zweiter Abschnitt.lichen Geschichte die vorlaute, mit Murren verbundene des Volks, in der N. T. lichen die kurzsichtige der Jünger und die menschenfreundliche Jesu. Steht hierauf mit der An - weisung des lezteren an die Jünger, sie sollen dem Volk zu essen geben, in welcher schon sein Vorhaben einer wunderbaren Speisung liegt, die Zusage parallel, welche Jehova dem Moses gab, das Volk mit Manna (2 Mos. 16, 4.) und mit Wachteln (2 Mos. 16, 12. 4 Mos. 11, 18 20) zu speisen: so ist ganz besonders sprechend die Ähnlich - lichkeit des Zuges der evangelischen Erzählung, daſs die Jünger es als Unmöglichkeit ansehen, für eine so groſse Volksmasse in der Wüste Nahrungsmittel herbeizuschaffen, mit dem, was der A. T. liche Bericht den Moses gegen die Verheiſsung Jehova's, das Volk mit Fleisch zu sätti - gen, zweifelnd einwenden läſst (4 Mos. 11, 21 f.). Wie nämlich die Jünger, so findet auch Moses die Menge des Volks zu groſs, als daſs er für möglich halten könnte, es hinreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen; wie jene fragen, woher in der Wüste so viele Brote nehmen? so fragt Moses ironisch, ob sie denn Schafe und Rinder (was sie nicht hatten) schlachten sollen? und wie die Jünger ein - wenden, daſs nicht einmal durch die erschöpfendste Aus - gabe von ihrer Seite dem Bedürfniſs gründlich abgeholfen werden könnte: so hatte Moses in einer andern Wendung erklärt, um das Volk so, wie Jehova verhieſs, sättigen zu können, müſste das Unmögliche geschehen (die Fische aus dem Meer herbeikommen), Einwendungen, auf welche dort Jehova, wie hier Jesus, nicht achtet, sondern das Volk zur Empfangnahme der wunderbaren Speise sich - sten heiſst.

So analog übrigens der Hergang der ausserordentlichen Speisung auf beiden Seiten ist, so findet sich doch der we - sentliche Unterschied, daſs im A. T. beidemale, bei dem Manna wie bei den Wachteln, von wunderbarer Beischaf - fung zuvor nicht vorhandener Speise, im neuen aber von217Neuntes Kapitel. §. 98.wunderbarer Vermehrung eines schon vorhandenen, aber unzureichenden Vorraths die Rede ist, so daſs die Kluft zwischen der mosaischen Erzählung und der evangelischen zu groſs wäre, um diese unmittelbar aus jener ableiten zu können. Sehen wir uns hier nach einem Mittelglied um, so trifft es sich ganz sachgemäſs, daſs zwischen Moses und den Messias auch in diesem Stück die Propheten eintreten. Von Elias ist es bekannt, wie durch ihn und um seinet - willen der geringe Vorrath an Mehl und Öl, den er bei der Wittwe zu Zarpath fand, wunderbar vermehrt, oder näher während der ganzen Dauer einer Hungersnoth zu - reichend erhalten wurde (1 Kön. 17, 8 16.). Noch wei - ter, und mehr zur Ähnlichkeit mit der evangelischen Er - zählung entwickelt findet sich diese Wundergeschichte bei Elisa (2. Kön. 4, 42 ff.). Dieser will, wie Jesus in der Wüste mit 5 Broten und 2 Fischen 5000, so während ei - ner Hungersnoth mit 20 Broten (welche, wie die von Jesu vertheilten bei Johannes, als Gerstenbrote bezeichnet wer - den) nebst etwas zerriebenem Getreide (כַּרְמֶל, LXX: πα - λάϑας) 100 Menschen speisen, ein Miſsverhältniſs zwischen Vorrath und Mannschaft, welches sein Diener, wie dort Jesu Jünger, in der Frage ausdrückt, was denn für 100 Mann dieſs Wenige solle14)2. Kön. 4, 43. LXX:τί δῶ τοῦτο ἐνώπιον ἑκατὸν ἀνδρῶνJoh. 6, 9:ἀλλὰ ταῦτα τί ἐςιν εἰς τοσουτους;? Elisa wie Jesus läſst sich dadurch nicht irren, sondern befiehlt dem Diener, das Vorhandene dem Volk zu essen zu geben, und wie in der evangelischen Erzählung das Sammeln der übriggebliebenen Brocken, so wird auch in der A. T. lichen am Schlusse das besonders hervorgehoben, daſs unerachtet von dem Vor - rath so Viele gegessen hatten, doch noch Überschuſs sich218Zweiter Abschnitt.herausgestellt habe15)Ebendas. V. 44:καὶ ἔφαγον, καὶ κατέλιπον κατὰ τὸ ῥῆμα Κυρίου.Matth. 14, 20:καὶ ἔφαγον πάν - τες καὶ ἐχορτάσϑησαν, καὶ ῇραν τὸ περισσεῦον τῶν κλασμάτων κ. τ. λ.. Die einzige Differenz ist hier ei - gentlich noch die geringere Zahl der Brote und die gröſsere des gesättigten Volks auf Seiten der evangelischen Erzäh - lung; allein wer weiſs nicht, daſs überhaupt die Sage nicht leicht nachbildet, ohne zugleich zu überbieten, und wer sieht nicht, daſs es insbesondre der Stellung des Messias völlig angemessen war, seine Wunderkraft zu der eines Elisa, was das Bedürfniſs natürlicher Mittel betrifft, in das Verhältniſs von 5 zu 20, was aber die übernatürliche Leistung, in das von 5000 zu 100 zu setzen? Paulus frei - lich, um die Folgerung abzuschneiden, daſs, wie die bei - den A. T. lichen, so auch die ihnen so auffallend ähnliche evangelische Erzählung mythisch zu fassen sei, dehnt auch auf jene den Versuch einer natürlichen Erklärung aus, den er an dieser durchgeführt, und läſst den Ölkrug der Witt - we durch Beiträge der Prophetenschüler voll erhalten wer - den, die 20 Brote aber für 100 Mann vermöge einer lo - benswerthen Mäſsigkeit derselben zureichen16)ex. Handb. 2, S. 237 f., eine Er - klärung, welche in dem Maaſse noch weniger verführe - risch ist, als die entsprechende der N. T. lichen Erzählung, in welchem bei jener vermöge ihrer gröſseren Zeitentfer - nung weniger kritische (und vermöge ihres nur mittelba - ren Verhältnisses zum Christenthum auch weniger dogma - tische) Beweggründe vorhanden sind, an ihrer historischen Richtigkeit festzuhalten.

Diese mythische Deduktion der Speisungsgeschichte vollständig zu machen, fehlt nichts mehr, als die Nach - weisung, daſs auch die späteren Juden noch von besonders heiligen Männern glaubten, es werde durch ihren Einfluſs219Neuntes Kapitel. §. 99.geringer Speisevorrath zureichend gemacht, und auch mit solchen Notizen hat uns der uneigennützige Sammler - fleiſs von Dr. Paulus beschenkt, wie namentlich, daſs zur Zeit eines besonders heiligen Mannes die wenigen Schau - brote zur Sättigung der Priester bis zum Überfluſs zuge - reicht haben17)Joma f. 39, 1:Tempore Simeonis justi benedictio erat super duos panes pentecostales et super decem panes προϑέσεως, ut singuli sacerdotes, qui pro rata parte acciperent quantitatem olivae, ad satietatem comederent, imo ut adhuc reliquiae superessent.. Consequenterweise sollte der genannte Ausleger auch diese Erzählung natürlich, etwa gleichfalls durch die Mäſsigkeit jener Priester, zu erklären suchen: doch die Geschichte steht ja nicht im Kanon, daher kann er sie unbedenklich für ein Mährchen halten, und räumt ihrer auffallenden Ähnlichkeit mit der evangelischen nur so viel ein, daſs vermöge des durch jene rabbinische No - tiz dokumentirten Glaubens der Juden an dergleichen Spei - severmehrungen auch die N. T. liche Erzählung von judai - sirenden Christen frühzeitig in gleichem (wunderhaftem) Sinne habe aufgefaſst werden können. Allein laut unsrer Untersuchung ist der evangelische Bericht in diesem Sinne schon abgefaſst, und lag dieser Sinn im Geist der jüdischen Volkssage, so ist die evangelische Erzählung ohne Zweifel ein Produkt derselben.

§. 99. Jesus verwandelt Wasser in Wein.

An die Speisungsgeschichte läſst sich die Erzählung des vierten Evangeliums (2, 1 ff. ) anreihen, daſs Jesus bei einer Hochzeit zu Kana in Galiläa Wasser in Wein verwandelt habe. Nach Olshausen sollen beide Wunder unter dieselbe Kategorie zusammenfallen, indem beidemale ein Substrat vorhanden sei, dessen Substanz modificirt220Zweiter Abschnitt.werde1)b. Comm. 2, S. 74.. Allein hiebei ist der logische Unterschied über - sehen, daſs in der Speisungsgeschichte die Modification des Substrats eine bloſs quantitative, eine Vermehrung des be - reits in dieser Eigenschaft Vorhandenen, ist (Brot wird nur mehr Brot, aber bleibt Brot): wogegen bei der Hochzeit zu Kana das Substrat qualitativ modificirt, aus etwas nicht bloſs mehr dergleichen, sondern ein Anderes (aus Wasser Wein) wird, somit eine eigentliche Trans - substantiation vor sich geht. Zwar giebt es qualitative Ver - änderungen, welche naturgemäſs erfolgen, und deren plöz - liche Hervorbringung von Seiten Jesu noch leichter denk - bar wäre, als eine ebenso schnelle Vermehrung des Quan - tums, wie z. B. wenn er plözlich Most zu Wein, oder Wein zu Essig gemacht haben würde: denn dieſs wäre nur ein beschleunigtes Hindurchführen desselben vegetabi - lischen Substrats, des Traubensafts, durch verschiedene ihm natürliche Zuständlichkeiten; wogegen es schon wun - derbarer wäre, wenn Jesus dem Saft einer andern Pflan - zenfrucht, z. B. des Apfels, die Qualität des Traubensafts ertheilt hätte, ob er gleich hiebei doch immer noch inner - halb der Grenzen desselben Naturreichs stehen geblieben wäre. Hier nun aber, wo Wasser in Wein verwandelt wird, ist von einem Naturreich in das andere, vom Ele - mentarischen in das Vegetabilische übergesprungen, ein Wunder, welches so weit über dem Speisungswunder steht, als wenn Jesus dem Rath des Versuchers Gehör gegeben, und aus Steinen Brot gemacht hätte.

Auch auf diese, wie auf die vorige Wundererzählung wendet Olshausen, nach Augustin2)In Joann. tract. 8: Ipse vinum fecit in nuptiis, qui omni anno hoc facit in vitibus., die Kategorie eines beschleunigten Naturprocesses an, so daſs hier nichts An - dres geschehen sein soll, als in accelerirter Weise dassel -221Neuntes Kapitel. §. 99.be, was in langsamer Entwickelung sich jährlich am Wein - stock darstelle. Diese Betrachtungsweise wäre in dem Fall gegründet, wenn das Substrat, auf welches Jesus ein - wirkte, dasselbe gewesen wäre, aus welchem naturgemäſs der Wein hervorzugehen pflegt: hätte er eine Weinrebe zur Hand genommen, und diese plözlich zum Blühen und Tragen reifer Trauben gebracht, so lieſse sich dieſs ein beschleunigter Naturproceſs nennen. Auch so übrigens hät - ten wir noch keinen Wein, und brachte Jesus aus der zur Hand genommenen Rebe sogleich auch diesen hervor, so muſste er noch ein unsichtbares Surrogat des Kelterns, also einen beschleunigten Kunstproceſs hinzufügen, so daſs auch so schon die Kategorie des beschleunigten Naturprocesses unzureichend würde. Doch wir haben ja keine Rebe als Substrat dieser Weinproduktion, sondern Wasser, und hiebei könnte von einem beschleunigten Naturproceſs nur dann mit Fug gesprochen werden, wenn jemals aus Was - ser, sei es auch noch so allmählig, Wein entstände. Hier wird nun der Sache die Wendung gegeben, daſs allerdings aus Wasser, aus der durch Regen u. dgl. in die Erde ge - brachten Feuchtigkeit, die Rebe ihren Saft ziehe, den sie sofort zur Produktion der Traube und des in ihr enthal - tenen Weines verwende, so daſs folglich allerdings jähr - lich vermöge eines natürlichen Processes aus Wasser Wein entstehe3)So, von Olshausen gebilligt, Augustin a. a. O.: sicut enim, quod miserunt ministri in hydrias, in vinum conversum est opere Domini, sic et quod nubes fundunt, in vinum conver - titur ejusdem opere Domini.. Allein abgesehen davon, daſs das Wasser nur Eine der elementarischen Potenzen ist, welche die Rebe zu ihrer Fruchtbarkeit nöthig hat, und daſs zu demselben noch Erde, Luft und Licht hinzukommen müssen: so könnte doch weder von einer, noch von allen diesen elementari - schen Potenzen zusammen gesagt werden, daſs sie die222Zweiter Abschnitt.Traube oder den Wein hervorbringen, daſs also Jesus, wenn er aus Wasser Wein hervorbrachte, dasselbe, nur schneller, gethan habe, was sich in allmähligem Processe jährlich wiederhole, sondern auch hier wieder sind we - sentlich verschiedene logische Kategorieen verwechselt. Wir mögen nämlich das Verhältniſs des Produkts zum Pro - ducirenden, von welchem es sich hier handelt, unter die Kategorie von Kraft und Äusserung, oder von Ursache und Wirkung stellen: niemals wird gesagt werden können, daſs das Wasser die Kraft oder die Ursache sei, welche Trau - ben und Wein hervorbringe, sondern die Kraft, welche deren Entstehung verursacht, ist immer nur die vegetabi - lische Individualität des Weinstocks, zu welcher sich das Wasser nebst den übrigen elementarischen Agenzien nur wie die Solicitation zur Kraft, wie die Veranlassung zur Ursache verhält. D. h. ohne Einwirkung von Wasser, Luft u. s. f. kann allerdings die Traube nicht entstehen, so wenig als ohne die Rebe; aber der Unterschied ist, daſs in der Rebe die Traube an sich oder dem Keime nach bereits vorhanden ist, welchem Wasser u. s. f. nur zur Entwicklung verhelfen: in diesen elementarischen Wesen dagegen ist die Traube weder actu noch potentia vorhan - den, sie können dieselbe auf keine Weise aus sich, son - dern nur aus einem Andern, der Rebe, entwickeln. Aus Wasser Wein machen heiſst also nicht, eine Ursache schnel - ler als auf natürlichem Wege erfolgen würde, zur Wirk - samkeit bringen, sondern ohne Ursache, aus der bloſsen Veranlassung, die Wirkung entstehen lassen, oder bestimm - ter auf das Organische bezogen, ein organisches Produkt ohne den producirenden Organismus aus dem bloſsen un - organischen Material, oder vielmehr nur aus Einem Be - standtheil dieses Materials, hervorrufen: ungefähr wie wenn Einer aus Erde, ohne Dazwischenkunft der Getreidepflan - ze, Brot, aus Brot, ohne es vorher durch einen thierischen Körper assimiliren zu lassen, Fleisch, aus Wein auf eben223Neuntes Kapitel. §. 99.dieselbe Weise Blut gemacht haben sollte. Will man sich daher nicht bloſs auf das Unbegreifliche eines Allmachts - worts Jesu berufen, sondern mit Olshausen den Proceſs, der in dem fraglichen Wunder enthalten sein müſste, nach Art eines Naturprocesses sich näher bringen: so muſs man nur nicht, um die Sache scheinbarer zu machen, einen Theil der dazu gehörigen Momente verschweigen, sondern alle hervorstellen, welche dann folgende gewesen sein müſs - ten: 1) Zu dem elementarischen agens des Wassers müſste Jesus die Kraft der übrigen oben genannten Elemente ge - fügt, dann aber 2) was die Hauptsache ist, die organische Individualität der Rebe ebenso unsichtbar herbeigeschafft haben; 3) hätte er nun den natürlichen Proceſs dieser Ge - genstände mit einander, das Blühen und Fruchttragen der Rebe sammt dem Reifen der Traube bis zum Augenblick - lichen beschleunigt; 4) hierauf den Kunstproceſs des Pres - sens u. s. f. unsichtbar und plözlich geschehen lassen, und endlich 5) den weiteren Naturproceſs der Gährung wieder bis zum Augenblicklichen beschleunigen müssen. Auch hier demnach ist die Bezeichnung des wunderbaren Vorgangs als beschleunigten Naturprocesses nur von zwei Momenten unter fünfen hergenommen, während deren drei unter die - sen Gesichtspunkt sich gar nicht bringen lassen, von wel - chen doch die beiden ersten, namentlich das zweite, von einem Belange sind, der selbst den bei der Speisungsge - schichte von dieser Vorstellungsweise vernachlässigten Mo - menten nicht zukam: so daſs also von einem beschleunig - ten Naturproceſs hier so wenig wie dort die Rede sein kann4)Auch Lücke, 1, S. 405. findet die Analogie mit dem bezeich - neten Naturprocess mangelhaft und undeutlich, und weiss sich hierüber nur dadurch einigermassen zu beruhigen, dass ein ähnlicher Übelstand auch bei dem Speisungswunder statt - finde.. Da aber allerdings diese Kategorie die einzige224Zweiter Abschnitt.oder äusserste ist, unter welcher wir dergleichen Vorgän - ge unserem Vorstellen und Begreifen näher bringen kön - nen: so ist mit der Unanwendbarkeit jener Kategorie auch die Undenkbarkeit des Vorgangs dargethan.

Doch nicht allein in Bezug auf die Möglichkeit, son - dern auch auf die Zweckmäſsigkeit und Schicklichkeit ist das vorliegende Wunder in Anspruch genommen worden. Zwar der in älteren5)Bei Chrysostomus, homil. in Joann. 21. und neueren6)Woolston, Disc. 4. Zeiten gemachte Vorwurf, daſs es Jesu unwürdig sei, sich nicht allein in Gesellschaft von Trunkenen betreten zu lassen, sondern ihrer Trunkenheit durch seine Wunderkraft noch Vorschub zu thun, ist als übertrieben abzuweisen, indem, wie die Erklärer mit Recht bemerken, aus dem ὅταν μεϑυσϑῶσι (V. 10.), welches der ἀρχιτρίκλινος in Bezug auf den ge - wöhnlichen Hergang bei dergleichen Mahlen bemerkt, für den damaligen Fall nichts mit Sicherheit gefolgert werden kann. So viel jedoch bleibt immer, was nicht allein Pau - lus und die Probabilien7)p. 42. bemerklich machen, sondern auch Lücke und Olshausen als eine bei'm ersten Anblick sich aufdringende Bedenklichkeit zugestehen, daſs nämlich Jesus durch dieses Wunder nicht, wie er sonst pflegte, irgend einer Noth, einem wirklichen Bedürfniſs abhalf, sondern nur einen weiteren Reiz der Lust herbeischaffte; nicht sowohl hülfreich, als vielmehr gefällig sich erwies; mehr nur so zu sagen ein Luxuswunder, als ein wirklich wohlthätiges verrichtete. Sagt man hier, es sei ein hinrei - chender Zweck des Wunders gewesen, den Glauben der Jünger zu befestigen8)Tholuck, z. d. St., was nach V. 11. auch wirklich die Folge war: so muſs man sich erinnern, daſs bei den übrigen Wundern Jesu in der Regel nicht allein das For -225Neuntes Kapitel. §. 99.male derselben, d. h. daſs sie ausserordentliche Erfolge waren, etwas Wünschenswerthes, nämlich den Glauben der Anwesenden, zur Folge hatte, sondern auch ihrem Materialen, d. h. daſs sie in Heilungen, Speisungen u. dgl. bestanden, eine wohlthätige Absicht zum Grunde lag. Bei dem gegenwärtigen Wunder fehlt diese Seite, und Paulus hat so Unrecht nicht, wenn er auf den Widerspruch auf - merksam macht, welcher darin liege, daſs Jesus zwar dem Versucher gegenüber jede Aufforderung zu solchen Wun - dern, die, ohne materiell wohlthätig, und durch ein drin - gendes Bedürfniſs gefordert zu sein, nur formell etwa Glau - ben und Bewunderung wirken könnten, abgewiesen, und nun doch ein solches Wunder gethan haben sollte9)Comm. 4, S. 151 f..

Man war daher supranaturalistischerseits auf die Wen - dung angewiesen, nicht Glauben überhaupt, welcher eben - so gut oder noch besser durch eine auch materiell wohl - thätige Wunderhandlung zu bewirken war, sondern eine ganz specielle, eben nur durch dieses Wunder zu bewir - kende Überzeugung habe Jesus durch dasselbe hervorbrin - gen wollen. Und hier lag nun nichts näher, als durch den Gegensaz von Wasser und Wein, um welchen sich das Wunder dreht, an den Gegensaz zwischen dem βαπτίζων ἐν ὕδατι (Matth. 3, 11.), der zugleich ein οἶ νον μὴ πίνων war (Luc. 1, 15. Matth. 11, 18.), und demjenigen, wel - cher, wie er mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufte, so auch die feurige, geistreiche Frucht des Weinstocks sich nicht versagte, und daher οἰνοπότης gescholten ward (Matth. 11, 19.), erinnert zu werden, um so mehr, da das vierte Evangelium, welches die Erzählung von der Hoch - zeit zu Kana enthält, in seinen ersten Abschnitten beson - ders die Tendenz zeigt, vom Täufer zu Jesu herüberzufüh - ren. Daher haben denn Herder10)Von Gottes Sohn u. s. f. nach Johannes Evangelium, S. 131 f. und nach ihm einigeDas Leben Jesu II. Band. 15226Zweiter Abschnitt.Andere11)C. C. Flatt, über die Verwandlung des Wassers in Wein, in Süskind's Magazin, 14. Stück, S. 86 f. Olshausen a. a. O. S. 75 f. angenommen, Jesus habe durch jenes Vorneh - men seinen Jüngern, von welchen mehrere vorher Schü - ler des Täufers gewesen waren, das Verhältniſs seines Geistes und Amtes zu dem des Johannes versinnlichen, und den Anstoſs, welchen sie etwa an seiner liberaleren Lebensweise nehmen mochten, durch das Wunder nieder - schlagen wollen. Allein hier tritt nun dasjenige ein, was gleichfalls selbst Freunde dieser Auslegung als auffallend her - vorheben12)Olshausen a. a. O., daſs Jesus das sinnbildliche Wunder nicht be - nüzt, um durch erläuternde Reden seine Jünger über sein Verhältniſs zum Täufer aufzuklären. Wie nöthig eine sol - che Auslegung war, wenn das Wunder nicht seinen spe - ciellen Zweck verfehlen sollte, erhellt sogleich daraus, daſs der Referent nach V. 11. dasselbe gar nicht in diesem Sinn, als Veranschaulichung einer besondern Maxime Je - su, sondern ganz allgemein, als φανέρωσις seiner δόξα, ver - standen hat13)Auch Lücke findet jene symbolische Deutung zu weit herge - holt, und zu wenig im Tone der Erzählung begründet. S. 406.. War also doch jene specielle Verständi - gung Jesu Zweck bei dem vorliegenden Wunder, so hat ihn der Verfasser des vierten Evangeliums, d. h. nach der Voraussetzung jener Erklärer sein empfänglichster Schüler, miſsverstanden, und Jesus, diesem Miſsverständniſs vorzu - beugen, auf unzweckmäſsige Weise versäumt; oder, wenn man dieses Beides nicht annehmen will, so bleibt es dabei, daſs Jesus den allgemeinen Zweck, seine Wunderkraft zu zeigen, gegen seine sonstige Weise durch eine Handlung zu erreichen gesucht hätte, an deren Stelle er eine nüzli - chere scheint haben setzen zu können.

Auch das unverhältniſsmäſsige Quantum Weins, wel - ches Jesus den Gästen gewährt, muſs in Erstaunen setzen. 227Neuntes Kapitel. §. 99.6 Krüge, jeder 2 bis 3 μετρητὰς fassend, gäben, wenn der dem hebräischen Bath entsprechende attische μετρητὴς, zu römischen amphoris oder 21 Würtembergischen Maaſsen, verstanden ist, 252 378 Maaſs14)Wurm, de ponderum, mensurarum etc. rationibus ap. Rom. et Graec. p. 123. 126. Vgl. Lücke, z. d. St.. Welches Quan tum für eine Gesellschaft, die bereits ziemlich getrunken hatte! Welche ungeheuren Krüge! ruft auch Dr. Paulus aus, und wendet nun Alles an, um die Maaſsangabe des Tex - tes zu verkleinern. Auf die sprachwidrigste Weise giebt er dem ἀνὰ statt seiner distributiven eine zusammenfassen - de Bedeutung, so daſs die 6 Hydrien nicht jede, sondern zusammen 2 bis 3 Metreten enthalten haben sollen, und auch Olshausen getröstet sich nach Semler dessen, daſs ja nirgends bemerkt sei, das Wasser aller Krüge sei in Wein verwandelt worden. Allein das sind Ausflüchte: wem die Herbeischaffung eines so verschwenderisch und gefährlich groſsen Quantums von Seiten Jesu unglaublich ist, der muſs daraus auf einen unhistorischen Charakter der ganzen Er - zählung schlieſsen.

Eigenthümliche Schwierigkeit macht bei dieser Er - zählung auch das Verhältniſs, in welches sie Jesum zu sei - ner Mutter und diese zu ihm sezt. Nach des Evangelisten ausdrücklicher Angabe war dieses Wunder die ἀρχὴ τῶν σημείων Jesu: und doch zählt seine Mutter so bestimmt darauf, er werde hier ein Wunder thun, daſs sie ihm den eingetretenen Weinmangel nur anzeigen zu dürfen glaubt, um ihn zu übernatürlicher Abhülfe zu bewegen, und selbst als sie eine abweisende Antwort erhält, verliert sie diese Hoffnung so wenig, daſs sie den Dienern Anweisung giebt, der Winke ihres Sohnes gewärtig zu sein (V. 3. 5.). Wie sollen wir diese Erwartung eines Wunders bei Jesu Mut - ter erklären? sollen wir die johanneische Angabe, die Was - serverwandlung sei das erste Zeichen Jesu gewesen, nur15 *228Zweiter Abschnitt.auf die Zeit seines öffentlichen Lebens beziehen, für seine Jugend aber die apokryphischen Wunder der Kindheits - evangelien voraussetzen? oder wenn dieſs schon Chrysosto - mus mit Recht zu unkritisch gefunden hat15)Homil. in Joann. z. d. St., sollen wir lieber vermuthen, Maria habe, vermöge ihrer durch die Zeichen bei Jesu Geburt bewirkten Überzeugung, daſs er der Messias sei, auch Wunder von ihm erwartet, und, wie vielleicht schon bei einigen früheren, so nun auch bei die - sem Anlaſs, wo die Verlegenheit groſs war, eine Probe je - ner Kraft von ihm verlangt16)Tholuck, z. d. St.? Wenn nur jene frühe Überzeugung der Angehörigen Jesu von seiner Messiani - tät in etwas wahrscheinlicher, und namentlich die ausseror - dentlichen Ereignisse der Kindheit, durch welche sie hervor - gebracht worden sein soll, mehr beglaubigt wären! wozu noch kommt, daſs, auch den Glauben der Maria an die Wunderkraft ihres Sohnes vorausgesezt, immer nicht er - hellt, wie sie unerachtet seiner abweisenden Antwort doch noch zuversichtlich erwarten konnte, er werde gerade bei dieser Gelegenheit sein erstes Wunder thun, und bestimmt zu wissen glauben, er werde es gerade so thun, daſs er die Diener dazu gebrauchen würde. Dieſs bestimmte Wis - sen der Maria selbst um die Modalität des zu verrichtenden Wunders scheint auf eine vorangegangene Eröffnung Je - su gegen sie zu deuten, und so sezt Olshausen voraus, Jesus habe seiner Mutter über das Wunder, das er vor - hatte, einen Wink gegeben gehabt. Wann aber sollte die - se Eröffnung geschehen sein? schon wie sie zu der Hoch - zeit giengen? da müſste also Jesus vorausgesehen haben, daſs es an Wein gebrechen würde, in welchem Falle dann aber Maria nicht wie von einer unerwarteten Verlegenheit ihn von dem οἶνον ουκ ἐχουσι in Kenntniſs setzen konnte. Oder erst nach dieser Anzeige, also in Verbindung mit den229Neuntes Kapitel. §. 99.Worten: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ γύναι; κ. τ. λ. ? aber hiemit läſst sich eine so entgegengesezte Eröffnung gar nicht in Ver - bindung denken, man müſste sich denn die abweisenden Worte laut, die zusagenden aber leise, bloſs für Maria, gesprochen vorstellen, was eine Komödie veranstalten hieſse. Begreift man somit auf keine Weise, wie Maria ein Wunder, und gerade ein solches, erwarten konnte, so lieſse sich der ersteren Schwierigkeit zwar durch die Annah - me scheinbar ausweichen, daſs Maria nicht in Erwartung eines Wunders, sondern nur so, wie sie sich in allen schwierigen Fällen bei ihrem Sohne Raths erholte, sich auch in diesem an ihn gewendet habe17)Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 135. Vgl. auch Calvin, z. d. St.: aber seine Erwiederung zeigt, daſs er in den Worten seiner Mutter die Aufforderung zu einem Wunder gefunden hatte, und die Anweisung, welche Maria den Dienern giebt, bleibt ohnehin bei dieser Annahme unerklärt.

Die Erwiederung Jesu auf die Anmahnung seiner Mut - ter (V. 4.) ist ebenso oft auf übertriebene Weise getadelt18)z. B. von Woolston a. a. O. als auf ungenügende gerechtfertigt worden. Man mag im - merhin sagen, das hebräische מַה־לִּי וָלָךְ, dem das τί ἐμοὶ καὶ σοὶ entspreche, komme z. B. 2. Sam. 16, 10. auch als gelinder Tadel vor19)Flatt, a. a. O. S. 90; Tholuck, z. d. St., oder sich darauf berufen, daſs mit dem Amtsantritt Jesu sein Verhältniſs zur Mutter, was die Wirksamkeit betrifft, sich gelöst habe20)Olshausen, z. d. St.: gewiſs durfte doch Jesus auf die Gelegenheiten, seine Wundermacht in Anwendung zu bringen, mit Bescheidenheit aufmerksam gemacht werden, und so wenig derjenige, welcher ihm ei - nen Krankheitsfall mit hinzugefügter Bitte um Hülfe an - zeigte, eine Schmähung verdiente, so wenig und noch we - niger Maria, wenn sie einen eingetretenen Mangel mit bloſs230Zweiter Abschnitt.hinzugedachter Bitte um Abhülfe zu seiner Kenntniſs brach - te. Ein Anderes wäre es gewesen, wenn Jesus den Fall nicht geeignet, oder gar unwürdig gefunden hätte, ein Wun - der an denselben zu knüpfen: dann hätte er die auffor - dernde Anzeige als Reizung zu falscher Wunderthätigkeit (wie in der Versuchungsgeschichte) hart abweisen mögen; so hingegen, da er bald darauf durch die That zeigte, daſs er den Anlaſs allerdings eines Wunders werth finde, ist schlechterdings nicht einzusehen, wie er der Mutter ihre Anzeige, die ihm nur vielleicht einige Augenblicke zu frü - he kam, verdenken konnte21)Vgl. auch die Probabilien, p. 41 f..

Den zahlreichen Schwierigkeiten der supranaturalisti - schen Auffassung hat man auch hier durch natürliche Deu - tung der Geschichte zu entfliehen versucht. Von der Sitte ausgehend, daſs bei jüdischen Hochzeiten Geschenke an Wein oder Öl gewöhnlich waren, und davon, daſs Jesus, der 5 neugeworbene Schüler als ungeladene Gäste mitbrach - te, einen Mangel an Wein voraussehen konnte, nimmt man an, des Scherzes wegen habe Jesus sein Geschenk auf un - erwartete und geheimniſsvolle Weise anbringen wollen. Die δόξα, welche er durch diese Handlung offenbarte, ist hie - nach nur seine Humanität, welche gehörigen Ortes auch einen Spaſs zu machen nicht verschmähte; die πίςις, die er sich dadurch bei seinen Jüngern zuwege brachte, ist das freudige Anschlieſsen an einen Mann, welcher nichts von dem drückenden Ernste zeigte, den man sich vom Messias prognosticirte. Die Mutter wuſste um den Vor - saz des Sohnes und mahnt ihn, wie es ihr Zeit schien, denselben zur Ausführung zu bringen; er aber erinnert sie scherzend, ihm nicht durch Vorschnelligkeit den Spaſs zu verderben. Daſs er Wasser einschöpfen lieſs, scheint zu der scherzhaften Täuschung gehört zu haben, welche er beabsichtigte; daſs, als auf Einmal Wein statt Was -231Neuntes Kapitel. §. 99.sers in den Krügen sich fand, dieſs für eine wunderbare Verwandlung gehalten wurde, ist leicht begreiflich in ei - ner späten Nachtstunde, wo man schon ziemlich getrunken hatte; daſs endlich Jesus die Hochzeitleute über den wah - ren Thatbestand nicht aufklärte, war die natürliche Con - sequenz, die hervorgebrachte scherzhafte Täuschung nicht selbst zerstören zu wollen22)Paulus, Comm. 4, S. 150 ff. ; L. J. 1, a, S. 169 ff. ; Natür - liche Geschichte, 2, S. 61 ff.. Wie übrigens die Sache zugegangen, durch welche Veranstaltung Jesus den Wein an die Stelle des Wassers gebracht, dieſs, meint Paulus, lasse sich nicht mehr ausmachen; genug, wenn wir wis - sen, daſs Alles natürlich vor sich gegangen sei. Da aber nach der Annahme dieses Auslegers der Evangelist sich der Natürlichkeit des Erfolgs im Allgemeinen bewuſst war, warum hat er uns keinen Wink darüber gegeben? Wollte er auch den Lesern die Überraschung bereiten, welche Je - sus den Zuschauern bereitet hatte, so muſste er sie doch hinterher auflösen, um die Täuschung nicht bleibend zu machen. Namentlich durfte er nicht den irreführenden Ausdruck gebrauchen, daſs Jesus durch diesen Akt τὴν δόξαν αὑτοῦ (V. 11.), was in der Sprache seines Evangeliums nur dessen höhere Würde bedeuten kann, geoffenbart ha - be; er durfte den Vorfall kein σημεῖον nennen, was ein Übernatürliches involvirt; er durfte endlich nicht durch den Ausdruck: τὸ ὕδωρ οἶνον γεγενημένον (V. 9.), noch we - niger unten (4, 46.) durch die Bezeichnung Kana's mit ὅπου ἐποίησεν ὕδωρ οἶνον, den Schein erregen, als stimmte er der wunderhaften Auffassung des Vorgangs bei23)Vgl. hierüber Flatt a. a. O. S. 77 ff. und Lücke, z. d. Absch.. Die - se Schwierigkeiten suchte der Verfasser der natürlichen Geschichte durch die Einräumung zu umgehen, daſs der Referent selbst, Johannes, die Sache für ein Wunder an - gesehen habe und als solches erzähle. Indeſs, abgesehen232Zweiter Abschnitt.von der unwürdigen Art, wie er diesen Irrthum des Evan - gelisten erklärt24)Er giebt dem μεϑύσκεσϑαι V. 10. eine Beziehung auch auf den Johannes., wäre es von Jesu nicht wohl denkbar, daſs er auch seine Schüler in der Täuschung der übrigen Gäste erhalten, und nicht wenigstens ihnen eine Aufklä - rung über den wirklichen Hergang der Sache gegeben ha - ben sollte. Man müſste daher annehmen, der Referent die - ses Vorfalls im vierten Evangelium sei keiner von Jesu Schülern gewesen, was jedoch über die Sphäre dieser Er - klärungsweise hinausgeht. Doch auch zugegeben, daſs der Referent selbst, wer er immer sein möge, in der Täuschung derer, welche in dem Vorgang ein Wunder sahen, befan - gen gewesen sei, wobei also seine Darstellungsweise und die von ihm gebrauchten Ausdrücke begreiflich würden: so ist Jesu Verfahren und Handlungsweise desto unbegreif - licher, wenn kein wirkliches Wunder im Spiel war. Warum richtete er die Darbringung des Geschenks mit raffinirtem Fleiſse so ein, daſs es als wunderbare Bescheerung er - scheinen muſste? warum lieſs er namentlich die Gefäſse, in welche er sofort den Wein zu bringen im Sinne hatte, vorher mit Wasser voll machen, dessen nothwendige Wie - derentfernung am unbemerkten Vornehmen der Sache nur hinderlich sein konnte? wenn man nicht mit Woolston an - nehmen will, er habe dem Wasser nur durch zugegossene Liqueure einen Weingeschmack ertheilt. Das Gefühl die - ser doppelten Schwierigkeit, theils das Hineinbringen des Weins in die bereits mit Wasser gefüllten Krüge denkbar zu machen, theils Jesum von dem Verdacht freizusprechen, als hätte er den Schein einer wunderbaren Verwandlung des Wassers erregen wollen, mag es gewesen sein, was den Verfasser der natürlichen Geschichte bewog, den Zusam - menhang zwischen dem eingefüllten Wasser und dem spä - ter zum Vorschein gekommenen Wein ganz zu zerreissen233Neuntes Kapitel. §. 99.durch die Annahme, das Wasser habe Jesus holen lassen, weil es auch daran fehlte, und er den wohlthätigen Ge - brauch des Waschens vor und nach der Tafel empfehlen wollte, den Wein aber habe er hernach aus einer anstos - senden Kammer, wohin er ihn gestellt hatte, herbeibrin - gen lassen eine Auffassung, bei welcher freilich entwe - der die Trunkenheit sämmtlicher Gäste und namentlich des Referenten als ziemlich bedeutend angenommen werden müſste, wenn sie den aus der Kammer gebrachten Wein für einen aus den Wasserkrügen geschöpften angesehen haben sollen, oder die täuschende Veranstaltung Jesu als sehr fein angelegt, was mit seiner sonstigen Geradheit sich nicht verträgt.

In dieser Klemme zwischen der supranaturalen und der natürlichen Erklärung, von welchen auch hier die eine so wenig als die andre genügen kann, müſsten wir nun mit dem neuesten Ausleger des vierten Evangeliums warten, bis es Gott gefällt, durch weitere Entwicklungen des be - sonnenen christlichen Denkens die Lösung dieser Räthsel zu allgemeiner Befriedigung herbeizuführen25)Lücke, S. 407. , wenn uns nicht ein Ausweg schon dadurch angezeigt wäre, daſs wir die betreffende Geschichte nur bei dem Einen Jo - hannes finden. War sie, einzig in ihrer Art wie sie ist, zugleich das erste Zeichen Jesu, so muſste sie, wenn auch damals noch nicht alle Zwölfe mit Jesu waren, doch die - sen allen bekannt werden, und wenn auch unter den übri - gen Evangelisten kein Apostel ist, doch in die allgemeine Tradition und von da in die synoptischen Aufzeichnungen übergehen: so, da sie nur Johannes hat, scheint die An - nahme, daſs sie in einem den Synoptikern unbekannten Sa - gengebiet erst entstanden, leichter als die andere, daſs sie aus dem ihrigen so frühzeitig verschwunden sei; es kommt nur darauf an, ob wir im Stande sind, nachzuweisen, wie234Zweiter Abschnitt.auch ohne historischen Grund eine solche Sage sich gestal - ten konnte. Kaiser verweist hiefür auf den abenteuerli - chen Geist des verwandelnden Orients: aber diese Instanz ist so unbestimmt, daſs Kaiser allerdings noch die Voraus - setzung eines wirklich vorgefallenen humanen Scherzes Jesu nöthig hat26)bibl. Theol. 1, S. 200., womit er in der unglücklichen Mitte zwi - schen mythischer und natürlicher Erklärung stehen bleibt, aus welcher man nicht eher herauskommt, als bis man be - stimmtere, näher liegende mythische Anhalts - und Entste - hungspunkte für eine Erzählung herbeizuschaffen im Stande ist. Im gegenwärtigen Falle nun braucht man weder bei'm Orient überhaupt, noch bei Verwandlungen im Allgemei - nen stehen zu bleiben, da sich bestimmt Wasserverwand - lungen im engeren Kreise der hebräischen Urgeschichte finden. Neben einigen Erzählungen, daſs Moses den Israë - liten in der Wüste aus dürrem Felsen Wasser verschafft habe (2. Mos. 17, 1 ff. 4. Mos. 20, 1 ff. ), eine Wasser - bescheerung, welche, nachdem sie in modificirter Weise sich in der Geschichte Simson's wiederholt hatte (Richt. 15, 18 f.), auch in die messianischen Erwartungen übergetra - gen wurde27)In der Band 1, S. 73. Anm. angeführten Stelle aus Midrasch Koheleth heisst es unter Anderem: Goël primus ascendere fecit puteum: sie quoque Goël postremus ascendere faciet aquas etc., ist die erste dem Moses zugeschriebene Wasserverwandlung jene Umwandlung alles Wassers in Ägypten in Blut, welche unter den sogenannten zehn Pla - gen aufgeführt wird (2. Mos. 7, 17 ff.). Neben dieser mutatio in deterius findet sich aber in der Geschichte des Moses auch eine am Wasser vollzogene mutatio in melius, indem er bitteres Wasser nach Jehova's Anweisung süſs machte (2. Mos. 14, 23 ff. ), wie später auch Elisa ein un - gesundes Wasser gut und unschädlich gemacht haben soll235Neuntes Kapitel. §. 99.(2. Kön. 2, 19 ff.). Wie, laut der angeführten rabbinischen Stelle, die Wasserbescheerung, so scheint unsrer johannei - schen Erzählung zufolge auch die Wasserverwandlung von Moses und den Propheten auf den Messias übergetragen worden zu sein, mit denjenigen Modificationen jedoch, wel - che in der Natur der Sache lagen. Konnte nämlich auf der einen Seite eine Veränderung des Wassers in's Schlim - mere, wie jene mosaische Verwandlung desselben in Blut, konnte ein solches Strafwunder dem milden Geiste des als Messias erkannten Jesus nicht wohl angemessen gefunden werden: so konnte andrerseits eine solche Veränderung in's Bessere, welche, wie die Vertreibung der Bitterkeit oder Schädlichkeit, innerhalb der species des Wassers ste - hen blieb, und nicht, wie jene Verwandlung in Blut, die Substanz des Wassers selbst änderte, für den Messias ungenügend erscheinen; beides zusammengenommen aber, eine Veränderung des Wassers in's Bessere, welche zu - gleich eine specifische Veränderung seiner Substanz wäre, muſste beinahe von selbst eine Verwandlung in Wein ge - ben. Diese ist nun von Johannes so erzählt, wie es zwar nicht der Wirklichkeit, um so mehr aber dem Geist seines Evangeliums angemessen gefunden werden muſs. Denn so undenkbar, geschichtlich betrachtet, die Härte Jesu ge - gen seine Mutter erscheint: so ganz im Geiste des vierten Evangeliums ist es, seine Erhabenheit als des göttlichen λόγος durch ein solches Benehmen gegen Bittende (wie Joh. 4, 48.), und selbst gegen seine Mutter, auf die Spitze zu stellen28)Vgl. die Probabilien, a. a. O.. Ebenso im Geiste dieses Evangelisten ist es auch, den festen Glauben, welchen Maria unerachtet der abweisenden Antwort Jesu behielt, dadurch herauszu - heben, daſs er sie in einer historisch unmöglichen Ahnung selbst von der Art und Weise, wie Jesus das Wunder ver -236Zweiter Abschnitt.richten würde, die oben besprochene Anweisung den Die - nern geben läſst.

§. 100. Jesus verwünscht einen unfruchtbaren Feigenbaum.

Die Anekdote von dem Feigenbaum, welchen Jesus, weil er, hungrig, keine Früchte auf ihm fand, durch sein Wort verdorren machte, ist den zwei ersten Evangelien eigenthümlich (Matth. 21, 18 ff. Marc. 11, 12 ff. ), wird aber von ihnen mit Abweichungen erzählt, welche auf die An - sicht von der Sache von Einfluſs sind. Und zwar schien die eine dieser Abweichungen des Markus von Matthäus der natürlichen Erklärung so günstig zu sein, daſs man namentlich auch mit Rücksicht auf sie dem Evangelisten neuerlich eine Tendenz zu natürlicher Ansicht von den Wundern Jesu zugeschrieben, und um dieser einen, günsti - gen Abweichung willen ihn auch bei der andern, ziemlich unbequemen, die sich in vorliegender Erzählung findet, in Schutz genommen hat.

Bliebe es nämlich bei der Art, wie der erste Evange - list den Erfolg der Verwünschung Jesu angiebt: καὶ ἐξη - ράνϑη παραχρῆμα συκῆ (V. 19.), so würde es wohl schwer halten, hier mit einer natürlichen Erklärung anzukommen, da auch die gewaltsame Paulus'sche Deutung, nach wel - cher das παραχρῆμα nur weiteres menschliches Zuthun, nicht aber eine längere Zeitfrist ausschlieſsen soll, doch nur auf unbefugtem Herübertragen des Markus in den Matthäus beruht. Bei Markus nämlich verwünscht Jesus den Baum am Morgen nach seinem Einzug in Jerusalem, und erst am folgenden Morgen bemerken die Jünger im Vor - übergehen, daſs der Baum verdorrt ist. Durch diese Zwi - schenzeit, welche Markus zwischen der Rede Jesu und dem Verdorren des Baumes offen läſst, drängt sich nun die natürliche Erklärung der ganzen Geschichte ein, darauf fuſsend, daſs in dieser Frist der Baum wohl auch durch na -237Neuntes Kapitel. §. 100.türliche Ursachen habe verdorren können. Demgemäſs soll nun Jesus an dem Baume neben dem Mangel an Früch - ten auch sonst noch eine Beschaffenheit bemerkt haben, aus welcher er ein baldiges Absterben desselben prognosti - cirte, und dieses Prognostikon soll er ihm in den Worten: von dir wird wohl Niemand mehr Früchte zu essen be - kommen, gestellt haben. Als die Hitze des Tages die Vor - aussage Jesu unvermuthet schnell verwirklichte, und die Jünger dieſs am andern Morgen bemerkten, da erst sez - ten sie diesen Erfolg mit den Worten Jesu vom vorigen Morgen in Verbindung, und begannen diese als Verwün - schung aufzufassen; eine Deutung, welche übrigens Jesus nicht bestätigt, sondern den Jüngern zu Gemüthe führt, mit nur einigem Selbstvertrauen werden sie nicht bloſs solche schon physiologisch bemerkbare Erfolge voraussa - gen, sondern noch viel Schwereres wissen und bewirken können1)Paulus, ex. Handb., 3, a, S. 157 ff.. Allein gesezt auch, die Angabe des Markus wäre die richtige, so bleibt doch auch so die natürliche Er - klärung unmöglich. Denn die Worte Jesu bei Markus (V. 14.): μηκέτι ἐκ σοῦ εἰς τὸν αἰῶνα μηδεὶς καρπὸν φάγοι, müſsten, wenn sie bloſs eine Vermuthung, was wohl ge - schehen werde, enthalten sollten, nothwendig ein ἂν bei sich haben, und in dem μηκέτι ἐκ σοῦκαρπὸς γένηται des Matthäus ist ohnehin der Befehl nicht zu verkennen, ob - gleich Paulus auch hier mit einem bloſsen mag werden abkommen möchte. Auch daſs Jesus den Baum selbst an - redet, so wie das feierliche εἰς τὸν αἰῶνα, welches er hin - zufügt, spricht gegen eine simple Voraussage und für die Verwünschung; Paulus fühlt dieſs wohl, und deutet daher mit unerlaubter Gewaltsamkeit das λέγει αὐτῇ zu einem Sagen in Beziehung auf den Baum um, während er das εἰς τὸν αἰῶνα durch die Übersetzung: in die Folgezeit hin, abschwächt. Doch gesezt auch, die Evangelisten hätten aus238Zweiter Abschnitt.ihrer irrigen Ansicht von dem Vorgang heraus die Worte Jesu über den Feigenbaum in etwas verändert, und Jesus also wirklich dem Baum nur ein Prognostikon gestellt: so hat er doch, als das Vorausgesagte eingetreten war, den Erfolg seiner übernatürlichen Einwirkung zugeschrieben. Denn wenn er das, was er in Bezug auf den Feigenbaum geleistet, als ein ποιεῖν bezeichnet (V. 21. bei Matth.), so kann schon dieſs nur gezwungen auf eine bloſse Voraus - sage bezogen werden; namentlich aber, wenn er es dem Bergeversetzen gegenüberstellt, so muſs, wie dieses nach jeder möglichen Deutung doch immer ein Bewirken ist, ebenso auch jenes als eine Einwirkung auf den Baum ge - faſst werden; jedenfalls muſste Jesus dem κατηράσω des Petrus (V. 21. Marc.) entweder widersprechen, oder war sein Stillschweigen darüber Zustimmung. Schreibt demnach Jesus das Verdorren des Baums hinterher seiner Einwir - kung zu, so hat er entweder auch schon durch seine An - rede an denselben eine Einwirkung beabsichtigt, oder er hat den zufälligen Erfolg zur Täuschung seiner Jünger ehr - geizig miſsbraucht, ein Dilemma, in welchem uns die Worte Jesu, wie sie von den Evangelisten referirt sind, entschie - den auf die erstere Seite hinweisen.

Unerbittlich also werden wir von diesem natürlichen Erklärungsversuch auf die supranaturalistische Auffassung zurückgedrängt, so schwierig diese auch gerade bei vorlie - gender Geschichte ist. Was sich gegen die physische Mög - lichkeit einer solchen Einwirkung sagen lieſse, übergehen wir, nicht zwar, als ob wir mit Hase uns anheischig ma - chen könnten, sie aus der natürlichen Magie zu begrei - fen2)L. J. §. 128., sondern weil eine andere Schwierigkeit die Unter - suchung schon vorher abschlieſst, und gar nicht bis zur Erwägung der physischen Möglichkeit kommen läſst. Die - ser entscheidende Anstoſs betrifft die moralische Möglich -239Neuntes Kapitel. §. 100.keit einer solchen Handlung von Seiten Jesu. Was er hier vollzieht, ist ein Strafwunder. Ein solches findet sich sonst in den kanonischen Berichten über das Leben Jesu nicht: nur die apokryphischen Evangelien sind, wie oben bemerkt wurde, voll davon. In einem der kanonischen Evangelien findet sich vielmehr eine gleichfalls schon öfters angeführ - te Stelle, Luc. 9, 55 f., welche es als Bewuſstsein Jesu ausspricht, daſs eine Benützung der Wunderkraft, um Stra - fe zu üben und Rache zu nehmen, dem Geiste seines Be - rufs widerspreche, und dasselbe Bewuſstsein spricht der Evangelist über ihn aus, wenn er das jesaianische: κάλα - μον συντετριμμένον ουκατεάξει κ. τ. λ. auf ihn anwendet (Matth. 12, 20). Diesem Grundsaz und seinem sonstigen Verfahren gemäſs hätte Jesus vielmehr einen dürren Baum neubeleben, als einen grünen verdorren machen müssen, und um seine dieſsmalige Handlungsweise zu begreifen, müſsten wir Gründe nachzuweisen im Stande sein, wel - che er gehabt haben könnte, von dem dort ausgesprochenen Grundsaz, welcher keine Zeichen der Unächtheit gegen sich hat, in diesem Falle abzugehen. Die Gelegenheit, bei welcher er jenen Grundsaz aufstellte, war die aus An - laſs der Weigerung eines samarischen Dorfs, Jesum und seine Jünger gastlich aufzunehmen, an ihn gerichtete Fra - ge der Zebedaiden, ob sie nicht nach der Weise des Elias Feuer auf das Dorf herabregnen lassen sollen? worauf sie Jesus an die Eigenthümlichkeit des Geistes mahnt, dem sie angehören, mit welcher ein so verderbendes Thun sich nicht vertrage. In unserem Falle hatte es Jesus nicht wie dort mit Menschen, die sich unrecht gegen ihn betragen hatten, sondern mit einem Baume zu thun, den er nicht in der erwünschten Verfassung traf. Statt daſs nun hierin ein besonderer Grund läge, von jener Regel abzugehen, ist vielmehr der Hauptgrund, welcher in jenem ersten Falle möglicherweise zur Verhängung eines Strafwunders hätte bewegen können, bei diesem zweiten nicht vorhanden. Der240Zweiter Abschnitt.moralische Zweck der Strafe nämlich, den Gestraften zur Einsicht und Anerkenntniſs seines Fehlers zu bringen und dadurch zu bessern, fällt einem Baume gegenüber völlig weg, und selbst von Strafe als Vergeltung kann bei einem unfreien Naturgegenstande nicht die Rede sein3)Augustin, de verbis Domini in ev. sec. Joann. sermo 44: Quid arbor fecerat, fructum non afferendo? quae culpa ar - boris infoecunditas?. Sich gegen einen leblosen Gegenstand, den man eben nicht im erwünschten Zustand findet, zu ereifern, wird mit Recht als Mangel an Bildung ausgelegt; in solcher Entrüstung bis zur Zerstörung des Gegenstandes fortzugehen, wird selbst für roh und unwürdig angesehen, und Woolston hat so Unrecht nicht, wenn er behauptet, an jedem Andern als an Jesu würde eine solche Handlung streng getadelt werden4)Disc. 4.. Zwar bei wirklich objektiv und habituell feh - lerhafter Beschaffenheit eines Naturgegenstandes kann es wohl etwa geschehen, daſs der Mensch ihn aus dem Wege räumt, um einen bessern an seine Stelle zu setzen, wozu übrigens immer nur der Eigenthümer die gehörige Auffor - derung und Befugniſs hat (vgl. Luc. 13, 7.). Daſs aber dieser Baum, weil er eben damals keine Früchte bot, auch im folgenden Jahre keine getragen haben würde, verstand sich keineswegs von selbst, und auch in der Erzählung wird das Gegentheil angedeutet, wenn Jesus seine Verwün - schung so ausdrückt, daſs auf dem Baume nie mehr Früch - te wachsen sollen, was also ohne diesen Fluch voraussez - lich doch noch geschehen sein würde.

War so die üble Beschaffenheit des Baums keine ha - bituelle, sondern nur eine vorübergehende, so war sie, wenn wir dem Markus weiter folgen, nicht einmal eine ob - jektive, sondern rein subjektiv nur in dem zufälligen Ver - hältniſs des Baums zu dem augenblicklichen Wunsch und241Neuntes Kapitel. §. 100.Bedürfniſs Jesu gegründet. Denn nach einem Zusaz, wel - cher die zweite Eigenthümlichkeit des Markus in dieser Erzählung bildet, war eben damals nicht Feigenzeit (V. 13.), es war also kein Fehler, vielmehr ganz in der Ordnung, daſs auch dieser Baum damals keine hatte, und Jesus, an den es schon Wunder nehmen muſs, daſs er so zur Un - zeit Feigen auf dem Baum erwartete, hätte wenigstens, als er keine fand, sich auf das Ungegründete seiner Erwar - tung besinnen, und eine so ganz unbillige Handlung, wie die Verwünschung war, unterlassen sollen. Schon Kirchen - väter stieſsen sich an diesem Zusaz des Markus, und fan - den unter Voraussetzung desselben das Verfahren Jesu ganz besonders räthselhaft5)Orig. Comm. in Matth. Tom. 16, 29: δὲ Μάρκος ἀναγράψας τὰ κατὰ τὸν τόπον, ἀπεμφαῖνόν τι ὡς πρὸς τὸ ῥητὸν προσέϑηκε, ποιήσας, ὅτι ουγὰρ ἠν καιρὸς σύκων· Εἴποι γὰρ ἄν τις· εἰ μὴ καιρὸς σύκων ἠν, πῶς ἠλϑεν . ὡς εὑρήσων τι ἐν αὐτῇ, καὶ πῶς δικαίως εὶπεν αὐτῇ· μηκέτι εἰς τὸν αἰῶνα ἐκ σοῦμηδεὶς καρπὸν φάγῃ;vgl. Augustin a. a. O.; Woolston aber spottet nicht mit Unrecht, wenn ein Kentischer Bauer im Frühjahr Obst in seinem Garten suchte, und die Bäume umhiebe, welche kei - nes haben, so würde er von Jedermann ausgelacht wer - den. Die Ausleger haben durch eine bunte Reihe von Con - jekturen und Deutungen der Schwierigkeit dieses Zusatzes zu entgehen gesucht. Von der einen Seite hat man den Wunsch, daſs doch die schwierigen Worte lieber gar nicht dastehen möchten, geradezu in die Hypothese verwandelt, sie mögen wohl spätere Glosse sein6)Touph emendd. in Suidam, 1, p. 330 f.. Andrerseits, da, wenn ein Zusaz der Art dastehen sollte, eher die umge - kehrte Angabe zu wünschen war, daſs damals Feigenzeit gewesen, um nämlich Jesu Erwartung, und seinen Unwil - len, als er sie getäuscht sah, begreifen zu können: so hat man auf verschiedene Weise die Negation aus dem SatzeDas Leben Jesu II. Band. 16242Zweiter Abschnitt.zu entfernen gesucht, theils ganz gewaltsam, indem man statt οὐ οὗ las, nach ἦν interpungirte, hinter σύκων ein zwei - tes ἦν supplirte, und übersezte: ubi enim tum versaba - tur, tempus ficuum erat7)Heinsius u. A., bei Fritzsche z. d. St.; theils abgeschmackt, durch Verwandlung des Satzes in einen Fragesaz: nonne enim etc.8)Maji Obs. s. bei dems.; theils dadurch, daſs das καιρὸς σύκων von der Zeit der Feigenärnte genommen, und so in dem Zusaz die An - gabe, die Feigen seien noch nicht weggelesen, d. h. noch auf den Bäumen gewesen, gefunden wird9)Dahme, in Henke's n. Magazin, 2. Bd. 2. Heft, S. 252. Auch Kuinöl, in Marc. p. 150 f., wofür man sich auf das καιρὸς τῶν καρπῶν Matth. 21, 34. beruft. Al - lein wie unter diesem Ausdruck, der eigentlich nur das antecedens der Ärnte, das Vorhandensein der Früchte auf Äckern oder Bäumen bezeichnet, wenn er in einem affirma - tiven Satze steht, das consequens, die mögliche Fruchtein - sammlung, nur in der Art verstanden sein kann, daſs das antecedens, das Dasein der Früchte auf dem Felde, mit - eingeschlossen bleibt, folglich ἔςι καιρὸς καρπῶν nur so viel bedeuten kann: die (reifen) Früchte stehen auf den Äckern, und sind demnach zur Einsammlung bereit: ebenso wird, wenn jener Ausdruck in einem negativen Satze steht, zu - erst das antecedens, das Befindlichsein der Früchte auf dem Acker, Baum u. dgl., und erst mittelst dessen das conse - quens, die Einsammlung der Früchte, aufgehoben; ουκ ἔςι καιρὸς σύκων heiſst also: die Feigen sind nicht auf den Bäu - men gegenwärtig, und somit auch nicht zum Einsammeln bereit, keineswegs aber umgekehrt: sie sind noch nicht eingesammelt, und stehen also noch auf den Bäumen. Aber nicht nur diese unerhörte Redefigur, daſs, während der Form nach das antecedens aufgehoben wird, dem Sinne nach nur das consequens aufgehoben, das antecedens aber243Neuntes Kapitel. §. 100.gesezt sein soll, sondern noch eine andere, die man bald Synchysis, bald Hyperbaton nennt, muſs bei dieser Erklä - rung angenommen werden. Denn als Angabe, daſs damals die Feigen noch auf den Bäumen gewesen, giebt der in Rede stehende Zusaz nicht den Grund, warum Jesus auf jenem Baume keine fand, sondern, warum er welche er - wartete, er sollte also nicht hinter ουδὲν εῦρεν κ. τ. λ., sondern nach ἦλϑεν, εἰ ἄρα εὑρήσει κ. τ. λ. stehen, eine Versetzung, welche aber nur beweist, daſs diese ganze Erklärung gegen den Text läuft. Überzeugt einerseits, daſs der Zusaz des Markus das Obwalten günstiger Umstände für das Vorhandensein von Feigen auf jenem Baume ver - neine, aber andrerseits doch bemüht, Jesu Erwartung zu rechtfertigen, suchten andre Erklärer jener Verneinung statt des allgemeinen Sinns, daſs es überhaupt nicht an der Jahrs - zeit gewesen sei, wovon Jesus nothwendig hätte Notiz ha - ben müssen, den particulären zu geben, daſs nur besondre Umstände, welche Jesu nicht nothwendig bekannt sein muſs - ten, der Fruchtbarkeit des Feigenbaums entgegengestanden haben. Ein ganz specielles Hinderniſs wäre es gewesen, wenn etwa der Boden, in welchem der Baum wurzelte, ein unfruchtbarer gewesen wäre, und wirklich soll nach Einigen καιρὸς σύκων einen für Feigen günstigen Boden be - zeichnen10)s. bei Kuinöl, z. d. St.; Andere, mit mehr Achtung vor der Wortbe - deutung von καιρὸς, bleiben zwar bei der Erklärung von günstiger Zeit, nur daſs sie diese nicht universell von ei - ner stehend und alljährlich der Feigen ermangelnden Jah - reszeit, sondern nur von einem einzelnen, zufällig den Fei - gen ungünstigen Jahrgang verstehen11)Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 175. Olshausen, b. Comm. 1, S. 782 f.. Allein καιρὸς ist zunächst die rechte Zeit im Gegensaz zur Unzeit, nicht eine günstige gegenüber einer ungünstigen; nun aber kann, wenn16 *244Zweiter Abschnitt.einer, auch in einem unfruchtbaren Jahrgang, zu der Zeit, in welcher sonst die Früchte zu reifen pflegen, solche sucht, doch nicht gesagt werden, daſs es zur Unzeit sei, viel - mehr könnte ein Miſsjahr gerade dadurch bezeichnet wer - den, daſs, ὅτε ἦλϑεν καιρὸς τῶν καρπῶν, man nirgends welche gefunden habe. Jedenfalls, wenn der ganze Jahr - gang die Feigen, eine in Palästina so häufige Frucht, nicht begünstigte, muſste Jesus dieſs fast ebensogut wissen, als wenn die unrechte Jahrszeit war: so daſs das Räthsel bleibt, wie Jesus über eine Beschaffenheit des Baums, wel - che in Folge ihm bekannter Umstände nicht anders sein konnte, so ungehalten sein mochte.

Allein erinnern wir uns doch nur, wer es ist, dem wir jenen Zusaz verdanken. Es ist Markus, welcher in seinem erläuternden, veranschaulichenden Bestreben so Man - ches aus seinem Eignen zusezt, und dabei, wie längst an - erkannt ist, und auch wir auf unsrem Wege schon zur Genüge gefunden haben, nicht immer auf die überlegteste Weise zu Werke geht. So hier nimmt er gleich das erste Auffallende, was ihm begegnet, daſs der Baum keine Früchte hatte, und ist eilig mit der Erklärung bei der Hand, es werde die Zeit nicht gewesen sein; merkt aber nicht, daſs er, indem er physikalisch die Leerheit des Baums erklärt, dadurch das Verfahren Jesu moralisch unerklär - lich macht. Auch die oben erwähnte Abweichung von Mat - thäus in Betreff der Zeit, innerhalb welcher der Baum verdorrte, ist, weit entfernt, eine gröſsere Urkundlichkeit des Markus in dieser Erzählung12)Wie Sieffert meint, über den Ursprung u. s. f. S. 113 ff. Vergl. dagegen meine Recens, in den Jahrh. f. wiss. Kritik, Nov. 1834., oder eine Neigung zu natürlicher Erklärung des Wunderbaren zu beweisen, wieder nur aus demselben veranschaulichenden Bestreben, wie der zulezt betrachtete Zusaz, hervorgegangen. Das245Neuntes Kapitel. §. 100.Bild eines auf ein Wort hin plözlich verdorrenden Baums fällt der Einbildungskraft schwer zu vollziehen: wogegen es nicht übel dramatisch genannt werden kann, den Pro - ceſs des Verdorrens hinter die Scene zu verlegen, und erst von dessen Resultate die später Vorübergehenden Ansicht nehmen zu lassen. Mit seiner Behauptung übrigens, es sei damals, etliche Tage vor Ostern, keine Zeit für Feigen ge - wesen, hätte, auf die klimatischen Verhältnisse Palästina's gesehen, Markus insofern recht, als in so früher Jahrszeit die frisch getriebenen Feigen jenes Jahrgangs noch nicht reif waren, indem die Frühfeige oder Boccore doch erst um die Mitte oder gegen Ende Juni's, die eigentliche Fei - ge, die Kermus, aber gar erst im Augustmonat reif wird. Dagegen konnte um die Osterzeit noch vom vorigen Herbst und über den Winter her die dritte Frucht des Feigen - baums, die späte Kermus, hie und da auf einem Baume angetroffen werden13)s. Paulus, a. a. O. S. 168 f.; Winer, b. Realw. d. A. Fei - genbaum., wie denn nach Josephus ein Theil von Palästina (das Uferland des galiläischen Sees, freilich fruchtbarer, als die Gegend um Jerusalem, wo die frag - liche Geschichte vorgieng) σῦκον δέκα μησὶν ἀδιαλείπτως χορηγεῖ14)bell. jud. 3, 10, 8..

Doch wenn wir auch auf diese Weise die allerdings erschwerende Notiz des Markus, daſs der Mangel des Baums kein wirklicher gewesen, sondern nur Jesu ver - möge einer irrigen Erwartung so erschienen sei, auf die Seite gebracht haben: so bleibt uns doch auch nach Mat - thäus noch das Miſsverhältniſs, daſs Jesus wegen eines vielleicht bloſs vorübergehenden Mangels einen Naturgegen - stand zu Grunde gerichtet hätte. Weil ihn hiezu weder ökonomische Rücksichten, da er nicht Eigenthümer des Baumes war, noch auch moralische Absichten auf einen246Zweiter Abschnitt.bewuſstlosen Naturgegenstand bewogen haben können, so hat man den Ausweg ergriffen, als das eigentliche Ob - jekt, auf welches Jesus hier wirken wollte, die Jünger zu substituiren, den Baum aber und was Jesus an ihm that, als bloſses Mittel seiner Absicht auf jene zu betrach - ten. Dieſs ist die symbolische Auffassung, durch welche schon die Kirchenväter, und nun auch die meisten ortho - doxen Theologen unter den Neueren, die Handlungsweise Jesu von dem Vorwurf des Unpassenden zu befreien ge - meint haben. Nicht Erboſsung über den Baum, der sei - nem Hunger keine Stillung bot, war hienach die Stimmung Jesu bei diesem Akte, sein Zweck nicht schlechtweg die Vertilgung des unfruchtbaren Gewächses: sondern mit Be - sonnenheit hat er die Gelegenheit eines früchteleer befun - denen Baumes dazu benüzt, den Jüngern durch eine sym - bolische Handlung anschaulicher und unvergeſslicher als durch Worte die Wahrheit zu machen, die nun entweder speciell so gefaſst werden kann, daſs das jüdische Volk, welches beharrlich keine Gott und dem Messias gefälligen Früchte bringe, zu Grunde gehen werde, oder allgemeiner so, daſs überhaupt jeder, der von guten Werken so ent - blöſst sei, wie dieser Baum von Früchten, einem ähnlichen Strafgerichte entgegenzusehen habe15)Ullmann, über die Unsündlichkeit Jesu, in seinen Studien, 1, S. 50. Sieffert, a. a. O. S. 115 ff. Olshausen, 1, S. 783 f.. Mit Recht indeſs fordern andre Ausleger, wenn Jesus mit der Handlung dieſs bezweckte, so hätte er sich irgendwie darüber erklä - ren müssen16)Paulus, a. a. O. S. 170; Hase, L. J. §. 128; auch Sieffert, a. a. O.; denn war bei seinen Gleichniſsreden eine Auslegung nöthig, so war sie bei einer Handlung um so unentbehrlicher, je mehr diese ohne eine derartige Hin - weisung auf einen ausser ihr liegenden Zweck als Zweck für sich selbst gefaſst werden muſste. Zwar lieſse sich auch247Neuntes Kapitel. §. 100.hier, wie sonst, annehmen, Jesus habe wohl zur Verstän - digung seiner Jünger über das von ihm Vollzogene noch etwas gesprochen, was jedoch die Referenten, mit dem Wunderfaktum zufrieden, weggelassen haben. Allein sollte Jesus eine Deutung seiner Handlung im angegebenen sym - bolischen Sinne gegeben haben, so hätten die Evangelisten diese Rede nicht bloſs verschwiegen, sondern eine falsche an deren Stelle gesezt; denn sie lassen Jesum nach seinem Vornehmen mit dem Baume nicht schweigen, sondern aus Anlaſs einer verwundrungsvollen Frage seiner Jünger, wie es mit dem Baume zugegangen, eine Erläuterung geben, welche aber nicht jene symbolische, sondern von ihr ver - schieden, ja ihr entgegengesezt ist. Denn wenn Jesus ih - nen sagt, sie sollen sich über das Verdorren des Feigen - baums auf sein Wort hin nicht wundern, mit nur weni - gem Glauben werden sie noch Gröſseres zu thun im Stande sein: so legt er das Hauptgewicht auf sein Thun in der Sache, nicht auf den Zustand und das Leiden des Baums als Symbole; er hätte also, wenn doch auf das Leztere sein Absehen gieng, zweckwidrig zu seinen Jüngern ge - sprochen, oder vielmehr, wenn er so sprach, kann jenes seine Absicht nicht gewesen sein. Ebendamit fällt auch Sieffert's, ohnehin aus der Luft gegriffene Hypothese, daſs Jesus zwar nicht nach, wohl aber vor jenem Akte, auf dem Weg zum Feigenbaum hin, über den Zustand und die Zukunft des israëlitischen Volks mit seinen Jüngern Gespräche geführt habe, zu welchen die symbolische Ver - wünschung des Baums nur als von selbst verständlicher Schluſsstein gefügt worden sei; denn alles durch jene Ein - leitung etwa angebahnte Verständniſs des fraglichen Aktes hätte, zumal bei der Neigung der Zeit zum Mirakulösen, durch jenes Nachwort, welches nur die wunderbare Seite des Faktums berücksichtigte, wieder zu Nichte gemacht werden müssen. Mit Recht hat daher Ullmann den hin - zugefügten Worten Jesu so weit nachgegeben, daſs er der248Zweiter Abschnitt.von ihm zulässig gefundenen symbolischen Auffassung die andere noch vorzieht, welche auch sonst schon vorgetra - getragen war17)Heydenreich, in den theol. Nachrichten, 1814, Mai, S. 121 ff., Jesus habe durch die Wunderhandlung den Seinigen einen neuen Beweis seiner Machtvollkommen - heit geben wollen, um dadurch ihr Vertrauen auf ihn für die bevorstehenden Gefahren zu stärken. Oder vielmehr, da eine specielle Beziehung auf das bevorstehende Leiden nirgends hervorgehoben, und in den Worten Jesu nichts enthalten ist, was er nicht auch schon früher gesagt hätte (Matth. 17, 20. Luc. 17, 6.): so muſs man mit Fritzsche als die Ansicht der Referenten ganz allgemein diese aus - sprechen, Jesus habe seinen Unwillen über die Unfrucht - barkeit des Feigenbaums als Gelegenheit zur Verrichtung eines Wunders benüzt, dessen Zweck nur der allgemeine aller seiner Wunder war, sich als Messias zu beurkun - den18)Comm. in Matth. p. 637.. Ganz in dem von Fritzsche gezeichneten19)Comm. in Marc. p. 481: Male vv. dd. in eo haeserunt, quod Jesus sine ratione innocentem ficum aridam reddidisse videretur, mirisque argutiis usi sunt, ut aliquod hujus rei consilium fuisse ostenderent. Nimirum apostoli, evangelistae et omnes primi temporis Christiani, qua erant ingeniorum simplicitate, quid quantumque Jesus portentose fecisse dice - retur, curarunt tantummodo, non quod Jesu in edendo mi - raculo consilium fuerit, subtiliter et argute quaesiverunt. Geist der Referenten spricht daher Euthymius, wenn er alles Grübeln über den besondern Zweck der Handlung verbie - tet, und nur im Allgemeinen auf das Wunder in ihr zu sehen ermahnt20)Μὴ ἀκριβολογοῦ, διατί τετιμώρηται τὸ φυτὸν, ἀναίτιον ὄν· ἀλλὰ μόνον ὅρα τὸ ϑαῦμα, καὶ ϑαύμαζε τὸν ϑαυματουργόν. . Keineswegs aber folgt daraus, daſs auch wir uns des Nachdenkens hierüber enthalten, und ohne Weiteres das Wunder glaubig hinnehmen müſsten: vielmehr können wir uns der Bemerkung nicht erwehren,249Neuntes Kapitel. §. 100.daſs das besondere Wunder, welches wir hier haben, we - der aus dem allgemeinen Zweck des Wunderthuns über - haupt, noch aus irgend einem besondern Zweck und Grund als wirklich von Jesu verrichtet sich erklären läſst, viel - mehr in jeder Hinsicht seiner Theorie wie sonstigen Praxis widerstrebt, und deſswegen mit gröſserer Bestimmtheit als irgend ein andres, auch abgesehen von der Frage über die physische Möglichkeit, für ein solches erklärt werden muſs, welches Jesus nicht wirklich verrichtet haben kann.

Indem uns nun aber noch der positive Nachweis der - jenigen Veranlassung obliegt, durch welche, auch ohne ge - schichtlichen Grund, eine solche Erzählung entstehen konn - te: so finden wir in unsrer gewöhnlichen Quelle, dem A. T., zwar wohl manche bildliche Reden und Erzählungen von Bäumen und von Feigenbäumen insbesondere, aber keine, welche zu unsrer Erzählung eine so specifische Ver - wandtschaft hätte, daſs wir sagen könnten, diese sei jener nachgebildet. Statt dessen aber dürfen wir im N. T. nicht weit blättern, so finden wir schon, zuerst in des Täufers (Matth. 3, 10.), dann in Jesu eigenem Munde (7, 19.) die Gnome von dem Baum, der, weil er keine gute Frucht trägt, abgehauen und in's Feuer geworfen wird, und wei - terhin (Luc. 13, 6 ff. ) findet sich dieses Thema zu der fin - girten Geschichte eines Herrn ausgeführt, welcher auf ei - nem Feigenbaum in seinem Weinberge drei Jahre lang ver - geblich Früchte sucht, und deſswegen denselben umhauen lassen will, wenn nicht durch die Fürbitte des Gärtners ihm noch eine einjährige Frist ausgewirkt würde. Schon Kirchenväter haben in der Verwünschung des Feigenbaums nur eine thatsächliche Ausführung der Parabel vom Fei - genbaum gefunden21)Ambrosius, Comm. in Luc. z. d. St.; freilich in dem Sinne der vorhin angeführten Erklärung, daſs Jesus selbst den damaligen Zustand und das bevorstehende Schicksal des jüdischen250Zweiter Abschnitt.Volks wie früher durch eine bildliche Rede, so damals durch eine symbolische Handlung habe darstellen wollen; was, wie wir gesehen haben, undenkbar ist. Dennoch werden wir uns der Vermuthung nicht erwehren können, daſs wir hier ein und dasselbe Thema in drei verschiedenen Gestalten vor uns haben, zuerst in concentrirtester Form als Gnome, dann zur Parabel erweitert, und endlich zur Geschichte realisirt; wobei wir nur nicht annehmen, daſs Jesus, was er zweimal durch Worte, zulezt auch noch durch eine Handlung dargestellt, sondern, daſs die Tradi - tion, was sie als Gnome und parabolische Geschichte vor - fand, auch vollends zur wirklichen Begebenheit gemacht habe. Daſs in dieser wirklichen Geschichte das Ende des Baums ein etwas andres ist, als was ihm in der Gnome und Gleichniſsrede angedroht wird, nämlich Verdorren statt des Umgehauenwerdens, darf nicht zum Anstoſs ge reichen. Denn war die Parabel einmal zur wirklichen Geschichte, mit dem Subjekt Jesus, geworden, war also ihr ganzer didaktischer und symbolischer Gehalt in der äus - seren Handlung aufgegangen: so muſste diese, sollte sie noch Gewicht und Interesse haben, als Wunderhandlung sich bestimmen, also die durch Axt und Hauen natürlich vermittelte Vertilgung des Baums in ein unmittelbares Ver - dorren auf das Wort Jesu sich verwandeln. Zwar scheint gegen diese Ansicht von der Erzählung, nach welcher ihr innerster Kern doch kein andrer als ein symbolischer blie - be, sich ebendasselbe, was gegen die oben erwogene, ein - wenden zu lassen, daſs nämlich die daran sich knüpfen - de Rede Jesu einer solchen Auffassung widerstrebe. Al - lein bei unsrer Ansicht von den Berichten sind wir befugt, zu sagen, daſs mit der Umwandlung der Parabel zur Ge - schichte in der Tradition auch der ursprüngliche Sinn von jener verloren gieng, und, indem das Wunderbare als der Nerv der Sache betrachtet zu werden anfieng, irrigerweise jene, die Wundermacht und Glaubenskraft betreffende Re -251Neuntes Kapitel. §. 100.de damit verknüpft wurde. Sogar die besondere Veranlas - sung, warum gerade die Rede vom Bergeversetzen an die Erzählung vom Feigenbaum angeknüpft ist, läſst sich mit Wahrscheinlichkeit nachweisen. Die Glaubenskraft, wel - che hier durch ein von Erfolg begleitetes Sprechen zu einem Berge: ἄρϑητι καὶ βλήϑητι εἰς τὴν ϑάλασσαν dargestellt ist, findet sich anderswo (Luc. 17,6. ) versinnbildlicht durch ein ebenso wirksames Sprechen zu einer Art von Feigenbaum (συκάμινος): ἐκριζώϑητι καὶ φυτεύϑητι ἐν τῇ ϑαλάσσῃ. So erinnerte der verwünschte Feigenbaum, sobald sein Ver - dorren als Wirkung der Wunderkraft Jesu gefaſst wurde, an den durch die wunderbare Kraft des Glaubens zu ver - pflanzenden Baum oder Berg, und so wurde dieses Diktum jenem Faktum angehängt. Hier also gebührt dem dritten Evangelium der Preiſs, welches uns die Parabel von der unfruchtbaren συκῆ, und die Gnome von der durch den Glauben zu verpflanzenden συκάμινος getrennt und rein, jede in ihrer ursprünglichen Form und Bedeutung, erhal - ten hat: während die beiden andern Synoptiker die Para - bel zur Geschichte umgebildet, die Gnome aber (in etwas andrer Form) zu einer falschen Deutung jener angeblichen Geschichte verwendet haben.

252Zweiter Abschnitt.

Zehntes Kapitel. Jesu Verklärung und lezte Reise nach Jerusalem.

§. 101. Die Verklärung Jesu als wunderbarer äusserer Vorgang.

Mit den bisher untersuchten Wundererzählungen konnte die Geschichte von der Verklärung Jesu auf dem Berge nicht mehr verbunden werden, nicht bloſs weil sie kein von Jesu verrichtetes Wunder, wie jene, vielmehr ein an ihm vorgegangenes betrifft, sondern auch weil sie als ein für sich stehender Moment im Leben Jesu hervortritt, welche der Gleichartigkeit wegen nur etwa mit der Taufe und Auferstehung zusammengestellt werden könnte; wie denn Herder mit Recht diese drei Begebenheiten als die drei lichten Punkte himmlischer Beurkundung im Leben Jesu bezeichnet hat1)Vom Erlöser der Menschen nach unsern drei ersten Evan - gelien, S. 114..

So, wie sich die synoptische Erzählung (Matth. 17, 1 ff. Marc. 9, 2 ff. Luc. 9, 28 ff. ) denn im vierten Evan - gelium fehlt die Geschichte dem ersten Anblick darbie - tet, haben wir hier einen wirklichen äusseren und zwar wunderbaren Vorgang: als Jesus 6 8 Tage nach seiner ersten Leidensverkündigung mit seinen drei vertrautesten Jüngern einen hohen Berg bestieg, waren diese Zeugen, wie mit Einem Male sein Angesicht und selbst seine Klei - der in überirdischem Glanze sich verklärten, wie zwei ehrwürdige Gestalten aus dem Geisterreich, Moses und253Zehntes Kapitel. §. 101.Elias, erschienen, sich mit ihm zu unterreden, und wie endlich aus einer lichten Wolke eine himmlische Stimme Jesum für Gottes Sohn, dem sie Gehör zu schenken hät - ten, erklärte.

Diese wenigen Züge der Geschichte regen eine Men - ge Fragen an, um deren Sammlung sich Gabler ein be - sonderes Verdienst erworben hat2)In einer Abhandlung über die Verklärungsgeschichte, in s. neuesten theol. Journal, 1. Bd. 5. Stück, S. 517 ff. Vgl. Bauer, hebr. Mythol. 2, S. 233 ff.. Bei jedem der drei Momente des Vorgangs, dem Glanze, der Todtenerschei - nung, und der Stimme, läſst sich sowohl nach der Mög - lichkeit, als nach dem zureichenden Zwecke fragen. Wo - her soll vorerst der ausserordentliche Glanz an Jesum ge - kommen sein? Bedenkt man, daſs von einem μεταμορφοῦ - σϑαι Jesu die Rede ist, so scheint nicht an ein bloſses Be - schienenwerden von aussen her, sondern an eine von innen kommende Verklärung gedacht werden zu müssen, so zu sagen an ein momentanes Durchleuchten der göttlichen δόξα durch die menschliche Hülle, wie auch Olshausen diese Begebenheit als einen Hauptmoment in dem Läuterungs - und Verklärungsprocesse faſst, in welchem er die Leiblich - keit Jesu während seines ganzen Lebens bis zur Himmel - fahrt begriffen denkt3)b. Comm. 1, S. 534 f.. Allein, ohne das schon oben Gesagte hier weiter auszuführen, daſs Jesus entweder kein wahrer Mensch war, oder die mit ihm während seines Le - bens vorgegangene Läuterung eine andere gewesen sein muſs, als welche in einem Licht - und Leichtwerden des Körpers bestand: so ist in keinem Falle zu begreifen, wie an einem solchen Verklärungsproceſs ausser seinem Lei - be auch seine Kleider theilnehmen konnten. Möchte man dieses lezteren Punktes wegen lieber an eine Beleuchtung von aussen denken, so wäre dieſs dann keine Metamorpho -254Zweiter Abschnitt.se, von welcher doch die Evangelisten sprechen: so daſs also diese Scene zu keiner in sich zusammenstimmenden Anschauung gebracht werden kann, wofern man nicht et - wa mit Olshausen beides verbunden, Jesum sowohl strah - lend als bestrahlt, sich denken will. Aber war dieser Glanz auch möglich: immer bleibt doch die Frage, wozu er denn gedient haben soll? Sagt man, was am nächsten liegt: um Jesum zu verherrlichen, so war der geistigen Verherr - lichung gegenüber, welche Jesus durch Rede und That sich selber gab, diese physische durch glänzende Beleuch - tung eine sehr unwesentliche, und fast kindisch zu nen - nen; soll sie aber dennoch zur Erhaltung des allzuschwa - chen Glaubens nöthig gewesen sein, so müſste sie vor der Menge, oder doch vor dem weiteren Kreise der Jünger, nicht aber vor dem engsten Ausschluſs der kräftigsten vor - genommen, mindestens den wenigen Augenzeugen nicht die Mittheilung gerade für die am meisten kritische Zeit, bis zur Auferstehung, untersagt worden sein. Mit ver - stärkter Kraft kehren diese beiden Fragen bei dem zweiten Moment in unserer Geschichte, bei der Erscheinung der beiden Verstorbenen, wieder. Können abgeschiedene See - len den Lebenden erscheinen? und wenn, wie es scheint, die beiden Gottesmänner mit ihrem vormaligen, nur ver - klärten, Leibe sich zeigten, woher nahmen sie diesen nach biblischer Vorstellung vor der allgemeinen Auf - erstehung? Zwar bei Elias, der ohne Ablegung des Kör - pers gen Himmel fuhr, macht dieſs weniger Schwierig - keit: allein Moses war doch gestorben, und sein Leich - nam begraben worden. Vollends aber zu welchem Zweck sollten die beiden groſsen Todten erschienen sein? Die evangelische Darstellung, indem sie die beiden Gestal - ten als συλλαλοῦντες τῷ . darstellt, scheint den Zweck der Erscheinung in Jesum zu setzen; näher, wenn Lukas recht hat, bezog sich dieselbe auf das Jesu bevorstehende Lei - den und Sterben. Aber angekündigt können sie ihm dieſs255Zehntes Kapitel. §. 101.nicht erst haben, da der einstimmigen Angabe der Synop - tiker zufolge schon eine Woche vorher er selbst es voraus - gesagt hatte (Matth. 16, 21 parall.). Daher vermuthet man, durch Moses und Elias sei Jesus nur von den näheren Umständen und Verhältnissen seines Todes genauer unter - richtet worden4)Olshausen, a. a. O. S. 537.; allein einerseits ist es der Stellung, welche die Evangelien Jesu zu den alten Propheten geben, nicht angemessen, daſs er von ihnen Belehrung bedurft haben soll, andrerseits hatte Jesus schon früher sein Lei - den mit so genauen Zügen vorhergesagt, daſs die speciel - leren Eröffnungen aus der Geisterwelt nur etwa das πα - ραδίδοσϑαι τοῖς ἔϑνεσιν und ἐμπτύεσϑαι, wovon er erst später sagt (Matth. 20, 19. Marc. 10, 34.), betroffen haben könnten. Oder sollte die an Jesum zu machende Mitthei - lung nicht sowohl in einer Belehrung, als in einer Stär - kung für sein bevorstehendes Leiden bestehen: so ist um diese Zeit noch keine Spur eines Gemüthszustands bei Je - su vorhanden, welcher einen Beistand dieser Art zu er - heischen scheinen konnte; für das spätere Leiden aber hätte diese so frühe Stärkung doch nicht hingereicht, wie wir daraus sehen, daſs in Gethsemane eine weitere nöthig war. Werden wir so, wiewohl bereits gegen die Anlage des Textes, zu dem Versuch veranlaſst, ob sich der Er - scheinung nicht vielleicht eine Beziehung auf die Jünger geben lasse, so reicht der Zweck der Glaubensstärkung überhaupt zur Begründung einer so besondern Veranstal - tung theils als zu allgemein nicht aus, theils müſste Jesus in der Parabel vom reichen. Mann den leitenden Grundsaz der göttlichen Fügungen in dieser Beziehung falsch gedeu - tet haben, wenn er ihn dahin aussprach, daſs, wer den Schriften des Mosses und der Propheten und wie viel mehr, wer dem gegenwärtigen Christus kein Gehör schenke, auch durch einen wiederkehrenden Todten nicht256Zweiter Abschnitt.zum Glauben gebracht werden würde, weſswegen denn eine solche Erscheinung, wenigstens zu jenem Zwecke, von Gott nicht verfügt werde. Der speciellere Zweck, die Jünger von der Übereinstimmung der Lehre und Schick - sale Jesu mit Moses und den Propheten zu überzeugen, war zum Theil schon erreicht, zum Theil aber wurde er es erst nach dem Tode und der Auferstehung Jesu und der Ausgieſsung des Geistes, ohne daſs die Verklärung in die - ser Hinsicht irgend Epoche gemacht hätte. Endlich die Stimme aus der lichten Wolke (ohne Zweifel der Schechi - nah) ist, gleich der bei der Taufe, eine Gottesstimme; aber wie authropomorphistisch muſs die Vorstellung von Gott sein, welche ein wirkliches hörbares Sprechen Got - tes für möglich hält: oder wenn hier nur von einer Mit - theilung Gottes an das geistige Ohr die Rede sein soll5)Olshausen, S. 539. vgl. 178., so ist damit die Sache in das Visionäre hinübergespielt, und in eine ganz andere Betrachtungsweise übergesprungen.

§. 102. Die natürliche Auffassung der Erzählung in verschiedenen Formen.

Den ausgeführten Schwierigkeiten derjenigen Ansicht, welche die Verklärung Jesu als wunderbare und zwar äus - sere Begebenheit betrachtet, hat man dadurch zu entgehen gesucht, daſs man den ganzen Vorgang in das Innere der dabei betheiligten Personen verlegte. Hiebei braucht das Wunderbare nicht sogleich aufgegeben zu werden, nur scheint es als ein im menschlichen Innern gewirktes Wun - der einfacher und denkbarer zu sein. Man nimmt daher an, daſs durch göttliche Einwirkung das geistige Wesen der drei Apostel, und wohl auch Jesu selbst, bis zur Ekstase gesteigert worden sei, in welcher sie entweder wirklich mit der höheren Welt in Berührung traten, oder deren Gestalten auf's Lebendigste selbst produci -257Zehntes Kapitel. §. 102.ren konnten, d. h. man denkt sich den Vorgang als Vi - sion1)So Tertull. adv. Marcion. 4, 22; Herder, a. a. O. S. 115 f., welchen auch Gratz, Comm. z. Matth. 2, S. 163 f. 169. bei - stimmt.. Allein die erste Stütze dieser Auffassung, daſs ja Matthäus selbst durch den Ausdruck: ὅραμα (V. 9.) die Sache als einen bloſs subjektiven, visionären Vorgang be - zeichne, weicht alsbald, wenn man sich erinnert, daſs we - der in der Wortbedeutung von ὅραμα das Merkmal des bloſs Innerlichen liegt, noch auch der N. T. liche Sprach - gebrauch den Ausdruck nur für innere, sondern, wie A. G. 7, 31., ebenso auch für äussere Anschauungen verwendet2)Fritzsche, in Matth. p. 552. Olshausen, 1, S. 533.. Die Sache selbst betreffend aber ist es unwahrscheinlich, und auch in der Schrift beispiellos, daſs Mehrere, wie hier Drei oder Viere, an demselben Gesichte Theil gehabt hät - ten3)Olshausen, a. a. O.; wozu noch kommt, daſs die ganze schwierige Frage nach der Zweckmäſsigkeit einer solchen wunderbaren Ver - anstaltung auch bei dieser Auffassung der Sache wiederkehrt.

Diesen Anstoſs zu vermeiden, haben daher Andere den Vorgang zwar im Innern der betheiligten Personen belas - sen, aber als Produkt einer natürlichen Thätigkeit der Seele, das Ganze mithin für einen Traum erklärt4)Rau, symbola ad illustrandam Evv. de metamorphosi J. Chr. narrationem; Gabler, a. a. O. S. 539 ff. Ruinöl, Comm. z. Matth. p. 459 ff.. Wäh - rend oder nach einem von Jesu oder ihnen selbst gespro - chenen Gebete, in welchem des Moses und Elias gedacht, und ihre Ankunft als messianischer Vorläufer gewünscht worden war, schliefen dieser Auffassung zufolge die drei Jünger ein, und träumten, indem wohl auch die von Jesu genannten Namen jener Beiden in ihre schlaftrunkenen Oh - ren hineintönten, als ob Moses und Elias gegenwärtig - ren und Jesus sich mit ihnen unterhielte, was ihnen auchDas Leben Jesu II. Band. 17258Zweiter Abschnitt.bei'm ersten, trüben Erwachen noch einen Augenblick vor - schwebte. Wie die vorige Erklärung auf das ὅραμα des Matthäus, so stüzt sich diese darauf, daſs Lukas die Jün - ger als βεβαρημένοι ὕπνψ, und erst gegen das Ende der Scene wieder als διαγρηγορήσαντες bezeichnet (V. 32.). Auf die Handhabe, welche der dritte Evangelist hiemit der natürlichen Erklärung bietet, wird nun ein bedeutender Vor - zug seiner Erzählung vor der der beiden ersten begründet, indem die neueren Kritiker erklären, daſs durch diese und andre Züge, welche die Begebenheit dem Natürlichen - her bringen, die Darstellung bei Lukas sich als die ur - sprüngliche, die des Matthäus dagegen durch Weglassung derselben sich als die abgeleitete erweise, da bei der wunder - süchtigen Richtung jener Zeit wohl Niemand solche, das Wunder mindernde Züge, wie das Schlafen der Jünger, hinzugedichtet haben würde5)Schulz, über das Abendmahl, S. 319; Schleiermacher, über den Lukas, S. 148 f.; vgl. auch Köster, Immanuel, S. 60 f.. Diese Schluſsweise wür - den wir zu der unsrigen machen müssen, wenn wirklich der bezeichnete Zug nur im Sinne der natürlichen Erklä - rung aufgefaſst werden könnte. Hier dürfen wir uns aber nur erinnern, wie bei einer andern Scene, in welcher das nach Lukas bei der Verklärung Jesu angekündigte Leiden in Erfüllung zu gehen anfieng, und bei welcher nach dem - selben Evangelisten gleichfalls eine himmlische Erscheinung Jesu zu Theil wurde, in Gethsemane nämlich, die Jünger ebenso, und zwar nach sämmtlichen Synoptikern, als καϑ - εύδοντες erscheinen (Matth. 26, 40 parall.). Konnte hier schon die bloſs äussere, formelle Ähnlichkeit beider Sce - nen einen Referenten zur Übertragung des Zugs vom Schlaf in die Verklärungsgeschichte veranlassen: so konnte ihm noch mehr der Sinn und Inhalt dieses Zugs auch hier an seinem Orte scheinen. Durch das Schlafen der Jünger nämlich, eben während mit ihrem Meister das Wichtigste259Zehntes Kapitel. §. 102.vorgeht, wird ihr unendlicher Abstand von ihm, ihre Un - fähigkeit, seine Höhe zu erreichen, und seine Überlegenheit bezeichnet; der Prophet, der Empfänger einer Offenba - rung, ist unter den gewöhnlichen Menschen wie ein Wa - chender unter Schlafenden: weſswegen es sich ganz von selbst ergab, wie bei dem tiefsten Leiden, so auch hier bei der höchsten Verherrlichung Jesu die Jünger als schlaf - trunkene darzustellen. Ist somit dieser Zug so weit ent - fernt, der natürlichen Erklärung Vorschub zu thun, daſs er vielmehr das an Jesu vorgegangene Wunder durch ei - nen Contrast heben will: so sind wir auch nicht mehr be - fugt, den Bericht des Lukas als den ursprünglichen anzu - sehen, und auf seine Angabe eine Erklärung des Vorfalls zu bauen, sondern umgekehrt werden wir an jenem Zu - saz, in Verbindung mit dem schon erwähnten V. 31., seine Darstellung als abgeleitete und ausgeschmückte erkennen6)Diese Einsicht hat Bauer, a. a. O. S. 237, Fritzsche, p. 556, und zum Theil auch Paulus, ex. Handb. 2, S. 447 f., und uns mehr an die der beiden ersten Evangelisten hal - ten müssen. Fällt auf diese Weise die Hauptstütze derje - nigen Auffassung, welche hier nur einen natürlichen Traum der Apostel sicht, so hat diese ausserdem noch eine Menge innerer Schwierigkeiten. Sie sezt nur die drei Jünger als träumend voraus, und läſst Jesum wachen, also nicht in der Illusion begriffen sein. Die ganze evangelische Dar - stellung lautet aber so, als ob Jesus so gut wie die Jün - ger die Erscheinung gehabt hätte; namentlich konnte er, wenn das Ganze nur ein Traum der Jünger war, ihnen nicht hernach sagen: μηδενὶ εἴπητε τὸ ὅραμα, wodurch er sie ja eben in der Meinung bestärkt hätte, daſs es etwas Besonderes und Wunderbares gewesen sei. Hatte aber auch Jesus keinen Theil an dem Traum, so bleibt es doch immer noch unerhört, daſs drei Personen zu gleicher Zeit einen und denselben Traum haben sollten. Dieſs haben die17 *260Zweiter Abschnitt.Freunde dieser Erklärung eingesehen, und daher soll nun eigentlich nur der feurige Petrus, der ja auch allein spre - che, so geträumt, die Referenten aber vermöge einer Syn - ekdoche allen drei Jüngern zugeschrieben haben, was nur Einem von ihnen begegnet war. Allein daraus, daſs Pe - trus auch hier wie sonst den Sprecher macht, folgt nicht, daſs auch er allein jenes Gesicht gehabt habe, wovon das Gegentheil aus den klaren Worten der Evangelisten durch keine Redefigur entfernt werden kann. Doch die in Rede stehende Erklärung der Sache bekennt ihre Unzulänglich - keit noch deutlicher. Nicht nur das laute Aussprechen der Namen des Moses und Elias von Seiten Jesu muſs in den Traum der Jünger unterstützend hineinspielen, sondern auch ein Gewitter wird zu Hülfe genommen, welches in denselben durch sein Blitze das Bild von überirdischem Glanz, und durch seine Donnerschläge das von Gesprächen und Himmelsstimmen hineingebracht, und sie auch nach ihrem Erwachen noch einige Zeit in der Täuschung erhal - ten haben soll. Doch daſs die Jünger nach Lukas eben bei ihrem Erwachen (διαγρηγορήσαντες) die zwei Männer bei Jesu stehen sahen, sieht nicht wie eine bloſse aus dem Traum in das Wachen herübergenommene Täuschung aus, weſswegen denn Kuinöl die weitere Annahme herbeizieht, daſs, während die Jünger schliefen, wirklich zwei unbe - kannte Männer zu Jesu gekommen seien, welche die Er - wachenden sofort mit ihren Träumen in Verbindung ge - bracht, und für Moses und Elias gehalten haben. Durch diese Wendung der Ansicht sind nun alle diejenigen Mo - mente, welche die auf einen Traum zurückgehende Auf - fassung als innerlich vorschwebende betrachten sollte, wie - der nach aussen getreten, indem die Vorstellung eines Lichtglanzes durch die Blitze, die Meinung, Stimmen zu hören, durch den Donner, endlich die Vorstellung von zwei bei Jesu anwesenden Personen durch die wirkliche Gegenwart zweier Unbekannten hervorgebracht worden261Zehntes Kapitel. §. 102.sein soll. Das Alles konnten die Jünger eigentlich nur im Wachen wahrnehmen, und fällt somit die Voraussetzung eines Traums als eine überflüssige hinweg.

Besser daher, sofern sie darin, daſs ihrer Drei an Einem Traume theilgenommen haben müſsten, eine eigen - thümliche Schwierigkeit hat, den Faden, welcher nach dieser Erklärungsart den Vorgang noch an das Innere knüpft, ganz abgerissen, und Alles wieder in die Aussen - welt verlegt, so daſs wir, wie zuerst einen übernatürli - chen, so nun einen natürlichen äusseren Hergang vor uns haben. Den Jüngern bot sich etwas Objektives dar: so erklärt sich, wie es mehrere zugleich wahrnehmen konn - ten; sie täuschten sich wachend über das Wahrgenomme - ne: natürlich, weil sie alle in demselben Vorstellungskreis, in derselben Stimmung und Lage sich befanden. Dieser Ansicht zufolge ist das Wesentliche der Scene auf dem Berge eine geheime Zusammenkunft, welche Jesus beab - sichtigte, und zu diesem Behufe die drei zuverlässigsten seiner Jünger mit sich nahm. Wer die zwei Männer wa - ren, mit welchen Jesus zusammenkam, wagt Paulus nicht zu bestimmen; Kuinöl vermuthet heimliche Anhänger in der Art des Nikodemus; nach Venturini waren es Esse - ner, Jesu geheime Verbündete. Ehe diese noch eintrafen, betete Jesus, und die Jünger, nicht zur Theilnahme gezo - gen, schliefen ein; denn den von Lukas an die Hand ge - gebenen Schlaf, wiewohl traumlos, behält diese Erklärung gerne bei, um bei eben erst Erwachten die Täuschung wahrscheinlicher zu machen. An fremden Stimmen, die sie bei Jesu hörten, wachen sie auf, sehen Jesum, der wahrscheinlich auf einem höheren Punkte des Berges, als wo sie sich gelagert hatten, stand, in einem ungewöhnli - chen Glanz, der von den ersten Morgenstrahlen, welche, vielleicht durch nahe Schneelagen zurückgeworfen, auf Je - sum fielen, herrührte, von ihnen aber in der ersten Über - raschung für übernatürliche Verklärung gehalten wurde;262Zweiter Abschnitt.sie erblicken die beiden Männer, welche aus unbekannten Gründen der schlaftrunkene Petrus, und nach ihm die Übri - gen, für Moses und Elias halten; ihre Bestürzung steigt, als sie die beiden Unbekannten in einem lichten Morgen - nebel, der sich, wie sie weggehen wollten, herabsenkte, verschwinden sehen, und aus dem Nebelgewölk einen der - selben die Worte: οὖτός ἐςιν κ. τ. λ. rufen hören, welche sie unter diesen Umständen für eine Himmelsstimme halten muſsten7)Paulus, ex. Handb. 2, 436 ff. L. J. 1, b, S. 7 ff. Natürliche Geschichte, 3, S. 256 ff.. Diese Erklärung, welcher auch Schleiermacher sich geneigt zeigt8)a. a. O., findet, wie die vorige, besonders in Lukas eine Stütze, weil bei diesem die Behauptung, die beiden Männer seien Moses und Elias gewesen, weit we - niger zuversichtlich als bei Matthäus und Markus ausge - sprochen werde, und mehr nur als Einfall des schlaftrun - kenen Petrus erscheine. Dieſs bezieht sich darauf, daſs, während die beiden ersten Evangelisten geradezu sagen: ὤφϑησαν αὐτοῖς Μωσῆς καὶ Ἠλίας, Lukas, wie es scheint behutsamer, von ἄνδρες δύο spricht, οἵτινες ἦσαν Μωσῆς καὶ Ἠλίας, wobei dann die erstere Bezeichnung den objek - tiven Thatbestand, die zweite dessen subjektive Deutung enthalten soll. Allein dieser Deutung pflichtet der Refe - rent, wenn er doch οἵτινες ἦσαν, und nicht ἐνομίζοντο, sagt, offenbar bei; weſswegen er also zuerst nur von zwei Män - nern spricht, und erst nachher ihre Namen nennt, davon kann die Absicht nicht gewesen sein, dem Leser eine be - liebige andere Deutung offen zu lassen, sondern nur die, das Geheimniſsvolle der ausserordentlichen Scene durch die anfängliche[Unbestimmtheit] des Ausdrucks nachzubil - den. Hat somit diese Erklärung ebensowenig als die bis - her betrachteten in einer der evangelischen Erzählungen eine Stütze: so hat sie zugleich nicht mindere Schwierig -263Zehntes Kapitel. §. 103.keiten als jene in sich selbst. Die Morgenbeleuchtung auf ihren vaterländischen Bergen muſsten die Jünger so weit kennen, um sie von himmlischer Glorie unterscheiden zu können; wie sie auf die Meinung kamen, daſs die bei - den Unbekannten Moses und Elias seien, ist zwar bei kei - ner der bisher vorgelegten Ansichten leicht, am schwersten aber bei dieser, zu erklären; wie Jesus, dem ja Petrus durch seinen Antrag, die zu erbauenden σκηνὰς betreffend, die Täuschung der Jünger zu erkennen gab, ihnen diese nicht benahm, ist unbegreiflich; weſswegen Paulus sich zu der Annahme flüchtet, Jesus habe die Anrede des Pe - trus überhört; die ganze Ansicht von geheimen Verbün - deten Jesu ist eine mit Recht verschollene, und endlich hätte derjenige dieser Verbündeten, welcher aus der Wolke heraus jene Worte zu den Jüngern sprach, sich eine un - würdige Mystification erlaubt.

§. 103. Die Verklärungsgeschichte als Mythus.

Wie immer also, so finden wir uns auch hier, nach - dem wir den Kreis der natürlichen Erklärungen durchlau - fen haben, zu der übernatürlichen zurückgeführt; aber ebenso entschieden von dieser abgestoſsen, müssen wir, da eine natürliche Auslegung der Text verbietet, die textge - mäſse supranaturale aber historisch festzuhalten aus ratio - nalen Gründen unmöglich fällt, uns dazu wenden, die Aussagen des Textes kritisch zu untersuchen. Diese sollen zwar bei vorliegender Erzählung besonders zuverläſsig sein, da das Faktum von drei Evangelisten, welche namentlich auch in der genauen Zeitbestimmung auffallend zusammen - treffen, erzählt, und überdieſs vom Apostel Petrus (2 Petr. 1, 17.) bezeugt werde1)Paulus, ex. Hdb. S. 446; Gratz, 2, S. 165 f. Olshausen, 1, S. 533.. Jene übereinstimmende Zeitan -264Zweiter Abschnitt.gabe, (sofern die ἡμέραι ὀκτὼ des Lukas, je nachdem man zählt, mit den ἡμέραις ἓξ der andern dasselbe sagen) ist allerdings auffallend; sie läſst sich aber, sammt dem, daſs nach allen drei Referenten auf die Verkündigungsscene die Heilung des dämonischen Knaben folgt, den die Jünger nicht hatten heilen können, schon durch die Entstehung der synoptischen Evangelien aus stehend gewordener evan - gelischer Verkündigung erklären, von welcher es nicht höher Wunder nehmen darf, daſs sie manche Anekdoten ohne objektiven Grund auf bestimmte Weise zusammen gruppirt, als daſs sie oft Ausdrücke, in welchen sie hätte variiren können, durch alle drei Redaktionen hindurch festgehalten hat2)Vgl. de Wette, Einleit, in das N. T. §. 79.. Die Beurkundung der Geschichte durch die drei Synoptiker aber wird wenigstens für die gewöhn - liche Ansicht von dem Verhältniſs der vier Evangelien durch das Schweigen des johanneischen sehr geschwächt, indem nicht einzusehen ist, warum dieser Evangelist eine so wichtige Begebenheit, welche zugleich seinem System so angemessen, und eigentlich die anschauliche Verwirkli - chung seines Ausspruchs im Prolog (V. 14.): καὶ ἐϑεασά - μεϑα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς μονογενοῦς παρὰ πατρὸς, war, nicht aufgenommen haben soll. Der abgenuzte Grund, er habe die Begebenheit als durch seine Vorgänger be - kannt voraussetzen können, ist neben seiner allgemeinen Unrichtigkeit hier noch besonders deſswegen unbrauchbar, weil von den Synoptikern dieſsmal keiner Augenzeuge ge - wesen war, also an ihren Erzählungen durch einen, der, wie Johannes, die Scene miterlebt hatte, noch Manches zu berichtigen und zu erläutern sein muſste. Man hat sich daher nach einem andern Grund für diese und ähnli - che Auslassungen im vierten Evangelium umgesehen, und einen solchen in der antignostischen, näher antidoketischen Tendenz zu finden geglaubt, welche man aus den johannei -265Zehntes Kapitel. §. 103.schen Briefen auch auf das Evangelium übertrug. In der Verklärungsgeschichte, wird hienach behauptet, habe der Jesum umleuchtende Glanz, die Verwandlung seines Aus - sehens in das Überirdische, der Meinung Vorschub lei - sten können, als sei seine menschliche Gestalt nur eine Schein - hülle gewesen, durch welche zu Zeiten seine wahre, über - menschliche Natur hindurchgeleuchtet habe; sein Verkehr mit alten Prophetengeistern habe auf die Vermuthung füh - ren können, er möge vielleicht selbst nur eine solche wie - dergekommene Seele eines A. T. lichen Frommen sein, und um solchen irrigen Meinungen, welche unter gnosti - sirenden Christen sich frühzeitig zu bilden anfiengen, kei - ne Nahrung zu geben, habe Johannes diese und ähnliche Geschichten lieber unterdrückt3)So Schneckenburgen, Beiträge, S. 62 ff.. Allein abgesehen davon, daſs es der apostolischen παῤῥησία nicht entspricht, mög - lichen Miſsbrauchs bei Einzelnen wegen Hauptfakta der evangelischen Geschichte zu unterdrücken, so müſste Jo - hannes hiebei doch mit einiger Consequenz verfahren sein, und alle Erzählungen, welche eine doketische Miſsdeutung in gleichem Maaſse mit der gegenwärtigen hervorrufen konnten, aus dem Kreise seiner Darstellung ausgeschlos - sen haben. Nun erinnert sich aber sogleich Jeder an die Geschichte vom Wandeln Jesu auf dem See, welche min - destens ebensosehr wie die Verklärungsgeschichte die Mei - nung von einem bloſsen Scheinkörper Jesu hervorruft, und doch auch von Johannes aufgenommen ist. Die Wich - tigkeit freilich eines Vorfalls konnte hier noch einen Un - terschied begründen, so daſs von zwei Erzählungen mit gleich stark doketischem Schein Johannes dennoch gröſse - rer Wichtigkeit wegen die eine aufnahm, die minder wich - tige aber weglieſs. Hier nun aber wird doch wohl Nie - mand behaupten wollen, der Gang Jesu auf dem See ste - he an Wichtigkeit der Verklärungsgeschichte voran oder266Zweiter Abschnitt.auch nur gleich; Johannes muſste, wenn es ihm um Ver - meidung des doketisch Scheinenden zu thun war, in jeder Hinsicht vor Allem jene erste Geschichte unterdrücken: da er es nicht gethan hat, so kann er auch jenes Princip nicht gehabt haben, welches daher nie als Grund der ab - sichtlichen Auslassung einer Geschichte im vierten Evan - gelium gebraucht werden darf, sondern es bleibt, was na - mentlich diese Begebenheit betrifft, dabei, daſs sein Ver - fasser nichts oder doch nichts Genaues von derselben ge - wuſst haben kann. Freilich kann dieses Ergebniſs nur denen eine Instanz gegen den historischen Charakter der Verklärungsgeschichte sein, welche das vierte Evangelium als Werk eines Apostels betrachten, so daſs also wir aus diesem Stillschweigen nicht gegen die Wahrheit der Er - zählung argumentiren können: aber uns beweist auch umgekehrt die Übereinstimmung der Synoptiker nichts für dieselbe, indem wir schon mehr als Eine Erzählung, in welcher drei, ja alle vier Evangelien zusammenstimmen, für unhistorisch haben erklären müssen. Was endlich das angebliche Zeugniſs des Petrus betrifft, so ist wegen der mehr als zweifelhaften Ächtheit des zweiten Briefs Petri die allerdings auf unsre Verklärungsgeschichte be - zügliche Stelle als Beweis für die historische Wahrheit derselben jezt auch von orthodoxen Theologen aufgegeben worden4)Olshausen, S. 533. Anm..

Dagegen haben wir ausser den oben angezeigten Schwie - rigkeiten, welche in dem wunderhaften Inhalt der Er - zählung liegen, noch einen weiteren Grund gegen die historische Geltung der Verklärungsgeschichte, die Un - terredung nämlich, welche den beiden ersten Evangelisten zufolge die Jünger unmittelbar nachher mit Jesu geführt haben sollen. Wenn nämlich im Herabsteigen vom Verklä - rungsberge die Jünger Jesum fragen:

τί ου͑͂ν οἱ γραμματεῖς267Zehntes Kapitel. §. 103.λέγουσιν, ὅτι Ἠλίαν δεῖ ἐλϑεῖν πρῶτον

(Matth. V. 10.); so klingt dieſs ganz, wie wenn etwas vorangegangen wäre, woraus sie hätten abnehmen müssen, Elias werde nicht er - scheinen, und gar nicht, wie wenn sie eben von einer Er - scheinung desselben herkämen, da sie in diesem Falle nicht unbefriedigt fragen, sondern zufriedengestellt sagen muſs - ten: εἰκότως ου͑͂ν οἱ γραμματεῖς λέγουσιν κ. τ. λ .5)s. Rau im angef. Programm, bei Gabler, neuest. theol. Jour - nal 1, 3, S. 506.. Daher wird denn die Frage der Jünger von den Erklärern so ge - deutet, als ob sie nicht eine Elias-Erscheinung überhaupt, sondern an der eben gehabten nur ein gewisses Merkmal vermiſst hätten, das nämlich, daſs nach der Ansicht der Schriftgelehrten Elias bei seinem Auftritt wirksam und re - formatorisch in das Leben der Nation eingreifen sollte, wo - gegen er bei der eben gehabten Erscheinung ohne weitere Wirksamkeit sogleich wieder verschwunden war6)Fritzsche, in Matth. p. 553; Olshausen, 1, S. 541. Noch weniger genügende Auskünfte bei Gabler, a. a. O. und bei Maithaei, Religionsgl. der Apostel, 2, S. 596.. Diese Erklärung wäre zulässig, wenn das ἀποκαταςήσει πάντα in der Frage der Jünger stünde: statt dessen aber steht es bei beiden Referenten (Matth. V. 11. Marc. V. 12.) nur in der Antwort Jesu, so daſs die Jünger auf äusserst verkehrte Weise das, was sie eigentlich vermiſsten, das ἀποκαϑιςάνειν, verschwiegen, und nur das ἔρχεσϑαι ge - nannt haben müſsten, was sie nach der gehabten Erschei - nung nicht vermissen konnten. Wie aber die Frage der Jünger keine gehabte Elias-Erscheinung, vielmehr das Ge - fühl des Mangels einer solchen voraussezt: so auch die Ant - wort, welche ihnen Jesus giebt. Denn wenn er erwie - dert: wohl haben die Schriftgelehrten recht, wenn sie sa - gen, Elias müsse vor dem Messias kommen; dieſs ist aber kein Grund gegen meine Messianität, da mir bereits ein268Zweiter Abschnitt.Elias in der Person des Täufers vorangegangen ist, wenn er somit seine Jünger gegen den aus der Erwartung der γραμματεῖς zu ziehenden Zweifel durch Verweisung auf den ihm vorangegangenen uneigentlichen Elias zu ver - wahren sucht: so kann eine Erscheinung des eigentlichen Elias unmöglich vorausgegangen sein, sonst müſste Jesus zu allererst auf diese Erscheinung, und nur etwa weiter - hin auch auf den Täufer, hingewiesen haben7)Diess gesteht auch Paulus zu, 2, S. 442.. Die un - mittelbare Verbindung dieses Gesprächs mit jener Erschei - nung kann also nicht historisch sein, sondern nur der Ähn - lichkeit zulieb gemacht, weil in beiden von Elias die Rede ist8)Schleiermacher, über den Lukas, S. 149.. Doch nicht einmal mittelbar und durch Zwischen - begebenheiten getrennt kann einer solchen Rede eine Er - scheinung des Elias vorangegangen sein, da, wenn auch noch so lange nachher, sowohl Jesus als die drei Augen - zeugen unter seinen Jüngern sich derselben erinnern muſs - ten, und nie so sprechen konnten, als ob eine solche gar nicht stattgefunden hätte. Selbst aber auch nach einer solchen Unterredung kann eine Erscheinung des wirklichen Elias der orthodoxen Vorstellung von Jesu gemäſs nicht wohl stattgefunden haben. Denn zu deutlich spricht er hier seine Ansicht aus, daſs der eigentliche Elias gar nicht zu erwarten, sondern der Täufer Johannes der verheiſsene Elias gewesen sei: wäre also dennoch später eine Erschei - nung des wirklichen Elias noch eingetreten, so hätte sich Jesus geirrt, was gerade diejenigen, welchen an der hi - storischen Realität der Verklärungsgeschichte am meisten liegt, am wenigsten annehmen können. Schlieſsen sich so - mit jene Erscheinung und diese Unterredung geradezu aus, so fragt sich, welches von beiden Stücken eher aufgegeben werden kann? Und hier ist der Inhalt der Unterredung durch Matth. 11, 14. vgl. Luc. 1, 17., so bestätigt, die269Zehntes Kapitel. §. 103.Verklärungsgeschichte aber durch alle Arten von Schwie - rigkeiten so unwahrscheinlich gemacht, daſs die Entschei - dung nicht zweifelhaft sein kann. Es scheinen demnach, wie oben schon einige Male, so auch hier zwei von ganz verschiedenen Voraussetzungen ausgehende und wohl auch in verschiedenen Zeiten entstandene Erzählungsstücke auf ziemlich ungeschickte Weise zusammengesezt worden zu sein; das die Unterredung enthaltende Stück nämlich geht von der, wahrscheinlich früheren, Ansicht aus, die Weis - sagung in Betreff des Elias sei eben nur in Johannes in Erfüllung gegangen; wogegen das Stück von der Verklä - rung, ohne Zweifel späteren Ursprungs, sich damit nicht begnügt, daſs in der messianischen Zeit Jesu Elias unei - gentlich im Täufer aufgetreten sei: er muſste auch persön - lich und eigentlich, wenn auch nur in vorübergehender Erscheinung, sich gezeigt haben.

Um nun zu begreifen, wie eine solche Erzählung auf sagenhaftem Wege entstehen konnte, ist der zuerst zu er - wägende Zug, an dessen Betrachtung sich die aller übri - gen am leichtesten anreiht, der sonnenartige Glanz des Angesichts und das helle Leuchten der Kleider Jesu. Das Schöne und Majestätische ist dem Orientalen, und ins - besondere dem Hebräer, ein Leuchtendes; der Dichter des hohen Lieds vergleicht seine Geliebte mit der Morgenröthe, dem Monde, der Sonne (6, 9.); die von Gottes Segen un - terstüzten Frommen werden der Sonne in ihrer Macht verglichen (Richt. 5, 31.), und namentlich das jenseitige Loos der Gerechten wird dem Glanz der Sonne und der Gestirne zur Seite gesezt (Dan. 12, 3. Matth. 13, 43.)9)Vgl. Jalkut Simeoni P. 2, f. 10, 3. (bei Wetstein, p. 435.): Facies justorum futuro tempore similes erunt soli et lunae, coelo et stellis, fulguri etc.. Daher erscheint nicht allein Gott im Lichtglanz, und Engel mit glänzendem Angesicht und leuchtenden Gewändern (Ps. 270Zweiter Abschnitt.50, 2. 3. Dan. 7, 9 f. 10, 5. 6. Luc. 24, 4. Offenb. 1, 13 ff. ), sondern auch die Frommen des hebräischen Alter - thums, wie Adam vor dem Fall, und unter den folgenden namentlich Moses und Josua, werden mit einem solchen Licht - glanz vorgestellt10)Bereschith Rabba 20, 29 (b. Wetstein): Vestes lucis vestes Adami primi. Pococke, ex Nachmanide (ebendas. ): Fulgida facta fuit facies Mosis instar solis, Josuae instar lunae; quod idem affirmarunt veteres de Adamo., wie denn die spätere jüdische Sage auch ausgezeichneten Rabbinen in erhöhten Augenblicken über - irdischen Glanz verlieh11)In Pirke Elieser, 2, findet sich nach Wetstein die Angabe, inter docendum radios ex facie ipsius, ut olim e Mosis fa - cie, prodiisse, adeo ut non dignosceret quis, utrum dies esset an nox. . Am berühmtesten ist das leuch - tende Antliz des Moses geworden, von welchem 2. Mos. 34, 29 ff. die Rede ist, und von ihm wurde, wie in an - dern Stücken, so auch in diesem ein Schluſs a minori ad majus auf den Messias gemacht, was schon der Apostel Paulus 2. Kor. 3, 7 ff. andeutet, wiewohl er dem Moses als dem διάκονος τοῦ γράμματος nicht Jesum, sondern, ge - mäſs der Veranlassung seines Schreibens, die Apostel und christlichen Lehrer als διακόνους τοῦ πνεύματος gegenüber - stellt, und die den Glanz des Moses überbietende δόξα die - ser lezteren erst als Gegenstand der ἐλπὶς im zukünftigen Leben erwartet. Eigentlich aber war doch am Messias selbst ein dem des Moses entsprechender, ja ihn überstrah - lender Glanz zu erwarten, und eine jüdische Schrift, wel - che von unsrer Verklärungsgeschichte keine Notiz nimmt, argumentirt ganz im Geiste der Juden der ersten christli - chen Zeit, wenn sie geltend macht, Jesus könne nicht der Messias gewesen sein, da ja sein Angesicht nicht den Glanz des Angesichts Mosis, geschweige einen höheren, gehabt habe12)Nizzachon vetus, p. 40, ad Exod. 34, 33. (b. Wetstein): Ecce. Solche Einwürfe, wie sie ohne Zweifel schon271Zehntes Kapitel. §. 103.die ersten Christen theils von Juden hören, theils sich selber machen muſsten, konnten nicht anders, als in der ältesten Gemeinde eine Tendenz erzeugen, jenen Zug aus dem Leben des Moses im Leben Jesu nachzubilden, ja zu überbieten, und statt eines leuchtenden Angesichts, das sich mit einem Tuche verdecken lieſs, ihm einen auch über die Gewänder sich ergieſsenden Strahlenglanz, wenn auch nur vorübergehend, zuzuschreiben.

Daſs die Verklärung des Angesichts von Moses zum Vorbild für Jesu Verklärung gedient habe, beweist aber überdieſs eine Reihe einzelner Züge. Moses bekam seinen Glanz auf dem Berge Sinai: auch von Jesu Verklärung ist ein Berg der Schauplaz; Moses hatte bei einer früheren Besteigung des Bergs, welche mit der späteren, nach der sein Angesicht glänzend wurde, leicht zusammenflieſsen konnte, ausser den 70 Ältesten besonders noch drei Ver - traute, Aaron, Nadab und Abihu, zur Theilnahme an der Anschauung Jehova's mit sich auf den Berg genommen (2. Mos. 24, 1. 9 11.): so nimmt nun auch Jesus seine drei vertrautesten Jünger mit sich, um, so viel ihre Kräfte es vermöchten, Zeugen des erhabenen Schauspiels zu sein, und ihre nächste Absicht war nach Luc. V. 28. προσεύ - ξασϑαι: gerade wie Jehova den Moses mit den Dreien und den Ältesten auf den Berg kommen heiſst, um von ferne anzubeten. Wie hernach, als Moses mit Josua den Sinai bestieg, die δόξα Κυρίου als νεφέλη den Berg bedeckte (V. 15 f. LXX), wie Jehova aus der Wolke heraus dem12)Moses magister noster felicis memoriae, qui homo merus erat, quia Deus de facie ad faciem cum eo locutus est, vultum tam lucentem retulit, ut Judaei vererentur accedere: quanto igi - tur magis de ipsa divinitate hoc tenere oportet, atque Jesu faciem ab uno orbis cardine ad alterum fulgorem diffundere conveniebat? At non praeditus fuit ullo splendore, sed re - liquis mortalibus fuit simillimus. Quapropter constat, non esse in eum credendum. 272Zweiter Abschnitt.Moses rief, bis dieser endlich in die Wolke zu ihm hin - eingieng (V. 16 18.): so haben wir auch in unsrer Er - zählung eine νεφέλη φωτὸς, welche Jesum und die himm - lischen Erscheinungen beschattet, eine φωνὴ ἐκ τῆς νεφέλης, und bei Lukas ein εἰσελϑεῖν der Drei in die Wolke. Was die Stimme aus der Wolke zu den Jüngern spricht, ist im ersten Theil die messianische Deklaration, welche, aus Ps. 2, 7. und Jes. 42, 1. zusammengesezt, schon bei Jesu Taufe vom Himmel erscholl; im zweiten Theil ist sie aus den Worten genommen, mit welchen Moses in der früher angeführten Stelle des Deuteronomium (18, 15.) der ge - wöhnlichen Deutung zufolge dem Volk den künftigen Mes - sias ankündigt und es zur Folgsamkeit gegen denselben er - mahnt13)Aus dieser Vergleichung mit der Bergbesteigung des Moses lässt sich vielleicht auch die Zeitbestimmung der ἡμέραι ἕξ ableiten, durch welche die zwei ersten Evangelisten das ge - genwärtige Ereigniss von dem zulezt erzählten trennen. Denn auch die eigentliche Geschichte von den Begegnissen des Moses auf dem Berge beginnt mit der gleichen Zeitbestim - mung, indem es heisst, nachdem 6 Tage lang die Wolke den Berg bedeckt hatte, sei Moses zu Jehova berufen worden (V. 16.), eine Zeitbestimmung, welche, obgleich der Aus - gangspunkt ein ganz anderer war, für die Eröffnung der Je - sum betreffenden Verklärungsscene beibehalten werden mochte..

Durch die Verklärung auf dem Berge war Jesus sei - nem Vorbild, Moses, an die Seite gestellt, und da es in den Erwartungen der Juden lag, daſs nach Jes. 52, 6 ff. die messianische Zeit nicht nur Einen, sondern mehrere Vorläufer haben14)s. Bertholdt, Christologia Judaeorum §. 15. S. 60 ff., und unter Andern namentlich auch der alte Gesezgeber zur Zeit des Messias erscheinen soll - te15)Debarim Rabba 3. (Wetstein): Dixit Deus S. B. Mosi: per vitam tuam, quemadmodum vitam tuam posuisti pro Israëlitis in hoc mundo, ita tempore futuro, quando Eliam prophetam: so war für dessen Erscheinung kein Moment ge -273Zehntes Kapitel. §. 103.eigneter, als der, in welchem der Messias auf dieselbe Wei - se, wie einst er, auf einem Berge verherrlicht wurde. Zu ihm gesellte sich dann von selbst derjenige, welcher nach Mal. 3, 23. am bestimmtesten als messianischer Vor - läufer, und zwar nach den Rabbinen zugleich mit Moses, erwartet wurde. Erschienen beide Männer dem Messias, so ergab sich von selbst, daſs sie sich mit ihm unterredet haben werden, und fragte sich's um einen Inhalt dieser Unterredung, so lag vom lezten Abschnitt her nichts näher, als das bevorstehende Leiden und Sterben Jesu, welches ohnehin als das eigentliche messianische Geheimniſs des N. T. sich am ehesten zu einer solchen Unterhaltung mit Wesen einer andern Welt eignete, weſswegen man sich wundern muſs, wie Olshausen behaupten kann, auf die - sen Inhalt des Gesprächs hätte die Mythe nicht kommen können. So hätten wir also hier einen Mythus, dessen Tendenz die gedoppelte ist, erstens, die Verklärung des Mo - ses an Jesu in erhöhter Weise zu wiederholen, und zwei - tens, Jesum als den Messias mit seinen beiden Vorläufern zusammenzubringen, durch diese Erscheinung des Gesetz - gebers und des Propheten, des Gründers und des Reforma - tors der Theokratie, Jesum als den Vollender des Gottes - reichs, als die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten, darzustellen, und seine messianische Würde noch überdieſs durch eine Himmelsstimme bekräftigen zu lassen16)Für einen Mythus erklärt diese Erzählung Bertholdt, Chri - stologia Jud. §. 15. not. 17; Schulz, über das Abendmahl, S. 319. giebt wenigstens ein Mehr und Minder des Mythi - schen in den verschiedenen evangelischen Relationen der Ver - klärungsgeschichte zu, und Fritzsche, in Matth. p. 448 f. u. 456, führt die mythische Ansicht von derselben nicht oh - ne Zeichen von Beistimmung auf. Vergl. auch Kuinöl, in Matth. p. 459, und Gratz, 2, S. 161 ff..

15)ad ipsos mittam, vos duo eodem tempore venietis. Vgl. Tan - chuma f. 42, 1, bei Schöttgen, 1, S. 149.

Das Leben Jesu II. Band. 18274Zweiter Abschnitt.

An diesem Beispiel läſst sich schlieſslich besonders augenscheinlich zeigen, wie die natürliche Erklärung, in - dem sie die historische Gewiſsheit der Erzählungen fest - halten will, die ideale Wahrheit derselben verliert, gegen die Form den Inhalt aufgiebt: wogegen die mythische durch Aufopferung des geschichtlichen Leibes solcher Erzählun - gen doch die Idee derselben, welche ihr Geist und ihre Seele ist, erhält und rettet. War nämlich der natürlichen Erklärung zufolge der Lichtglanz um Jesum ein zufälliges optisches Phänomen, und die beiden Erschienenen entwe - der Traumbilder oder unbekannte Menschen: wo bleibt da die Bedeutung der Begebenheit? wo ein Grund, eine solche ideenlose, gehaltleere, auf gemeiner Täuschung und Aberglauben beruhende Anekdote in die Evangelien aufzu - nehmen? Dagegen, wenn ich nach der mythischen Auffas - sung in dem evangelischen Berichte zwar keine wirkliche Begebenheit finden kann, so behalte ich doch einen Sinn und Inhalt der Erzählung, weiſs, was die erste Christen - gemeinde sich bei derselben gedacht, und warum die Ver - fasser der Evangelien ihr eine so wichtige Stelle in ihren Denkschriften eingeräumt haben17)Auch Plato im Symposion (p. 223. B. ff. Steph.) verherrlicht seinen Sokrates dadurch, dass er auf natürlichem und ko - mischem Grunde eine ähnliche Gruppe veranstaltet, wie die Evangelisten hier auf tragischem und übernatürlichem. Nach einem Trinkgelage überwacht Sokrates die Freunde, welche schlafend um ihn liegen: wie hier die Jünger um den Herrn; mit Sokrates wachen nur noch zwei grossartige Gestalten, der tragische Dichter und der komische, die beiden Elemen - te des früheren griechischen Lebens, welche Sokrates in sich.

§. 104. Abweichende Nachrichten über die lezte Reise Jesu nach Jerusalem.

Bald nach der Verklärung auf dem Berge lassen die Evangelisten Jesum die verhängniſsvolle Reise antreten,275Zehntes Kapitel. §. 104.welche ihn seinem Leiden entgegenführte. Über den Ort, von welchem er bei dieser Reise ausgieng, und den Weg, welchen er nahm, weichen die evangelischen Nachrichten von einander ab. Stimmen über den Ausgangspunkt die Synoptiker zusammen, indem sie sämmtlich Jesum von Ga - liläa aufbrechen lassen (Matth. 19, 1. Marc. 10, 1. Luc. 9, 51., in welcher lezteren Stelle zwar Galiläa nicht aus - drücklich genannt ist, aber aus dem Vorhergehenden, wo nur von Galiläa und Galiläischen Ortschaften die Rede war, so wie aus der im Folgenden erwähnten Reise durch Samarien, sich von selbst ergiebt1)Schleiermacher, über den Lukas, S. 160.): so scheinen sie doch über den Weg, welchen Jesus von da nach Judäa ge - wählt habe, von einander abzugehen. Zwar sind die An - gaben zweier von ihnen in diesem Punkte so dunkel, daſs sie der harmonisirenden Exegese Vorschub zu leisten schei - nen könnten. Am klarsten und bestimmtesten sagt Mar - kus, Jesus habe seinen Weg über Peräa genommen: aber sein ἔρχεται εἰς τὰ ὅρια τῆς Ἰουδαίας διὰ τοῦ πέραν τοῦ Ἰορ - δάνου ist schwerlich etwas Anderes, als die Art, wie er sich den schwerverständlichen Ausdruck des Matthäus, dem er in diesem Abschnitt folgt, erklären zu dürfen glaub - te. Was dieser mit seinem μετῇρεν ἀπὸ τῆς Γαλιλαίας καὶ ἦλϑεν εἰς τὰ ὅρια τῆς Ἰουδαίας πέραν τοῦἸορδάνου eigentlich sagen will, ist in der That dunkel. Denn wenn die Er - klärung: er kam in den Theil von Judäa, welcher jenseits des Jordans liegt2)Kuinöl und Gratz z. d. St., gleicherweise gegen Geographie wie17)vereinigte: wie mit Jesu der Gesezgeber und der Prophet sich unterreden, die beiden Säulen des A. T. lichen Lebens, welche Jesus in höherer Weise in sich zusammenschloss; wie bei Plato endlich auch Agathon und Aristophanes ein - schlafen, und Sokrates allein das Feld behält: so verschwin - den im Evangelium Moses und Elias zulezt, und die Jünger sehen nur noch Jesum allein.18 *276Zweiter Abschnitt.Grammatik verstöſst, so ist die Deutung, zu welcher die Vergleichung des Markus die meisten Ausleger geneigt macht, daſs Jesus nach Judäa gekommen sei durch das Land jenseits des Jordans3)So z. B. Lightfoot, z. d. St., auch nach der von Fritzsche angebrachten Modifikation wenigstens nicht ohne gramma - tische Schwierigkeit. Bleibt indeſs so viel in jedem Fall, daſs auch Matthäus wie Markus Jesum von Galiläa nach Judäa den weiteren Weg über Peräa nehmen läſst: so scheint dagegen Lukas ihn den näheren, durch Samaria, zu führen. Zwar ist sein Ausdruck 17, 11, daſs Jesus auf seiner Reise nach Jerusalem διήρχετο διὰ μέσου Σαμαρείας καὶ Γαλιλαίας, kaum klarer, als der eben erwogene des Matthäus. Der gewöhnlichen Wortbedeutung nach scheint er auszusagen, Jesus habe zuerst Samarien, dann Galiläa, queer durchschnitten, um so nach Jerusalem zu kommen. Aber diese Aufeinanderfolge ist verkehrt; denn gieng er von einem galiläischen Orte aus, so muſste er zuerst das übrige Galiläa, und dann erst Samarien durchreisen. Man hat deſswegen dem διέρχεσϑαι διὰ μέσου die Bedeutung ei - nes Hinziehens auf der Grenze zwischen Galiläa und Sa - marien gegeben4)Wetstein, Olshausen z. d. St.; Schleiermacher, a. a. O. S. 164. 214., und nun den Lukas mit den beiden er - sten Evangelisten durch die Voraussetzung vereinigt, Jesus sei auf der galiläisch-samarischen Grenze bis zum Jordan hingereist, habe hierauf diesen überschritten, und sei so - fort durch Peräa nach Judäa und Jerusalem gewandert. Diese leztere Voraussetzung verträgt sich aber mit Luc. 9, 51 ff. nicht; denn wenn dieser Stelle zufolge Jesus nach dem Aufbruch aus Galiläa alsbald einem samarischen Dor - fe zugeht, und hier übeln Eindruck macht, ὅτι τὸ πρόσω - πον αὐτοῦ ἦν πορευόμενον εἰς Ἱερουσαλήμ: so lautet dieſs ganz, wie wenn er die Richtung von Galiläa durch Sama -277Zehntes Kapitel. §. 104.rien nach Judäa gehabt hätte, und wir werden am besten thun, mit unbefangenen Exegeten hier eine Abweichung der synoptischen Evangelien anzuerkennen5)Fritzsche, in Marc. p. 415:Marcus Matthaei 19, 1. se au - ctoritati h. 1. adstringit, dicitque, Jesum e Galilaea (cf. 9, 33.) profectum esse per Peraeam. Sed auctore Luca 17, 11. in Judaeam contendit per Samariam itinere brevissimo.. Erst gegen das Ende des Weges Jesu vereinigen sie sich wieder, indem laut ihres übereinstimmenden Berichts Jesus nach Jerusa - lem von Jericho her gekommen ist (Matth. 20, 29. parall. ), ein Ort, welcher übrigens mehr dem über Peräa, als dem durch Samarien gekommenen Galiläer auf der geraden Straſse lag.

Ist auf diese Weise unter den Synoptikern zwar in Rücksicht auf den von Jesu eingeschlagenen Weg ein Streit, aber doch in Bezug auf den Ausgangspunkt und das lezte Stück des Wegs Übereinstimmung: so weicht der johan - neische Bericht in beiden Hinsichten von ihnen ab. Ihm zufolge nämlich ist es gar nicht Galiläa, von wo Jesus zur lezten Paschareise aufbricht, sondern schon vor dem Laub - hüttenfest des vorigen Jahrs hatte er jene Provinz, zum leztenmal, wie es scheint, verlassen (7, 1. 10. ); daſs er zwi - schen diesem und dem Fest der Tempelweihe (10, 22.) wie - der dahin gekommen wäre, wird wenigstens nicht gesagt; nach diesem Feste aber begab er sich nach Peräa und blieb daselbst (10, 40.), bis ihn die Krankheit und der Tod des Lazarus nach Judäa, und in die nächste Nähe Jerusalems, nach Bethanien, rief (11, 8 ff.). Der Nachstellungen seiner Feinde wegen zog er sich von hier bald wieder zurück, doch, weil er das bevorstehende Pascha besuchen wollte, nur bis in das Städtchen Ephraim, unweit der Wüste (11, 54.), von wo aus er dann, ohne daſs eines Aufenthalts in Jericho gedacht würde, das auch von Ephraim aus, wie man dessen Lage gewöhnlich bestimmt, nicht im Wege lag, nach Jerusalem zum Feste sich begab.

278Zweiter Abschnitt.

Eine so totale Abweichung muſste die Harmonisten in ungewöhnliche Geschäftigkeit versetzen. Der Aufbruch aus Galiläa, dessen die Synoptiker gedenken, soll nach ih - nen nicht der Aufbruch zum lezten Pascha, sondern zum Fest der Tempelweihe gewesen sein6)Paulus, 2, S. 293, 554. Vgl. Olshausen, 1, S. 583., unerachtet er von Lukas durch das ἐν τῷ συμπληροῦσϑαι τὰς ἡμέρας τῆς ἀνα - λήψεως αὐτοῦ (9, 51.) unverkennbar als Aufbruch zu dem - jenigen Feste, auf welchem Leiden und Tod Jesu warte - ten, bezeichnet ist, und sämmtliche Synoptiker die hier be - gonnene Reise mit jenem festlichen Einzug in Jerusalem endigen lassen, welcher auch dem vierten Evangelium zu - folge unmittelbar vor dem lezten Paschafest erfolgt ist7)Schleiermacher, a. a. O. S. 159.. Soll hienach der Aufbruch aus Galiläa, von welchem sie erzählen, der zum Enkänienfest, die Ankunft in Jerusalem aber, welche sie melden, die zum späteren Pascha gewe - sen sein: so müſsten sie das nach dieser Voraussetzung zwischen beiden Punkten Liegende, nämlich Jesu Ankunft und Aufenthalt in Jerusalem zum Fest der Tempelweihe, seine Reise von da nach Peräa, von Peräa nach Bethanien, und von hier nach Ephraim, ganz übergangen haben. Scheint hieraus zu folgen, daſs jene Berichterstatter von allem Diesem auch nichts gewuſst haben: so soll vielmehr, wie geltend gemacht wird, Lukas dadurch, daſs er bald nach der Abreise aus Galiläa Jesum auf Schriftgelehrte stoſsen lasse, die ihn auf die Probe stellen wollen (10, 25 ff. ), dann ihn in dem Jerusalem benachbarten Bethanien zeige (10, 38 ff. ), hierauf ihn wieder rückwärts an die Grenzscheide von Samarien und Galiläa versetze (17, 11.), und erst als - dann ihn zum Pascha in Jerusalem einziehen lasse (19, 29 ff. ), deutlich genug darauf hinweisen, daſs zwischen je - ner Abreise und dieser Ankunft Jesus schon einmal nach Judäa und Jerusalem, und von da wieder zurück gereist279Zehntes Kapitel. §. 104.sei8)Paulus, 2, S. 294 ff.. Allein, wenn die Schriftgelehrten ohnehin nichts beweisen, so ist auch von Bethanien nirgends die Rede, sondern nur von einer Einkehr Jesu bei Martha und Ma - ria, welche der vierte Evangelist in jenes Dorf versezt, woraus jedoch nicht folgt, daſs auch der dritte sie ebenda - selbst wohnhaft, und also Jesum, wenn er bei ihnen war, in der Nähe von Jerusalem sich gedacht habe. Daraus aber, daſs so sehr lange nach der Abreise (9, 51 17, 11.) Jesus erst auf der Grenze zwischen Galiläa und Samarien erscheint, folgt nur, daſs wir hier keine geordnet fort - schreitende Erzählung vor uns haben. Doch selbst Mat - thäus soll nach dieser harmonisirenden Ansicht von jenen Zwischenbegebenheiten gewuſst, und sie für den genauer Zusehenden angedeutet haben; sein μετῇρεν ἀπὸ τῆς Γα - λιλαίας nämlich soll als Andeutung der Reise Jesu auf die Enkänien eine Diegese abschlieſsen, das καὶ ἠλϑεν εἰς τὰ ὅρια τῆς Ἰουδαίας πέραν τοῦ Ἰορδάνου dagegen mit Angabe der Ausweichung von Jerusalem nach Peräa (Joh. 10, 40.) einen neuen Abschnitt eröffnen; wobei übrigens zugestan - den wird, daſs ohne die Data des Johannes Niemand auf eine solche Zerreissung der Worte des Matthäus kommen würde9)Paulus, a. a. O. 295 f. 584 f.. Dergleichen Künsteleien gegenüber ist für denje - nigen, welcher die Richtigkeit des johanneischen Berichts voraussezt, kein anderer Weg übrig, als der von der neue - sten Kritik eingeschlagene, nämlich die Autopsie des Mat - thäus, der die Reise nur ganz kurz behandelt, aufzugeben, von Lukas aber, der einen ausführlichen Reisebericht hat, anzunehmen, daſs er oder ein von ihm benüzter Sammler zwei verschiedene Berichte, von welchen der eine die frü - here Reise Jesu auf das Fest der Tempelweihe, der andre seine lezte Paschareise betraf, zusammengefügt habe, ohne zu ahnen, daſs zwischen die Abreise Jesu aus Galiläa und280Zweiter Abschnitt.seinen Einzug in Jerusalem vor dem Pascha noch ein frü - herer Aufenthalt in Jerusalem, sammt andern Reisen und Begebenheiten, fiel10)Schleiermacher, a. a. O. S. 161 f. Sieffert, über den Urspr. S. 104 ff. Dem ersteren stimmt in Beziehung auf Lukas auch Olshausen bei a. a. O..

Auf eigene Weise kehrt sich nun aber im Verlauf des Berichts von der oder den lezten Reisen Jesu das Verhält - niſs zwischen den synoptischen Evangelien und dem johan - neischen um. Wie nämlich zuerst auf Seite der ersteren eine groſse Lücke sich zeigte, indem sie eine Masse von Zwischenbegebenheiten und Zwischenaufenthalten übergien - gen, welche Johannes giebt: so scheint nun gegen das En - de des Reiseberichts auf Seiten des lezteren eine, wenn auch kleinere, Lücke einzutreten, indem er nichts davon hat, daſs Jesus über Jericho nach Jerusalem gekommen ist. Man kann zwar sagen, Johannes habe, unerachtet den Synoptikern zufolge eine Blindenheilung und der Be - such bei Zacchäus in dieselbe fiel, doch diese Durchreise übergehen können; allein es fragt sich, ob in seiner Dar - stellung ein Durchgang durch Jericho überhaupt Raum ha - be? Auf dem Wege von Ephraim nach Jerusalem liegt die genannte Stadt nicht, sondern bedeutend östlich ab; man hilft sich daher durch die Voraussetzung, von Ephraim aus habe Jesus allerlei Nebenreisen gemacht, auf einer von diesen sei er nach Jericho gekommen, und von hier dann nach Jerusalem gezogen11)Tholuck, Comm. z. Joh. S. 219; Olshausen, 1, S. 771 f..

Jedenfalls herrscht hienach in den evangelischen Nach - richten von der lezten Reise Jesu eine besondere Uneinig - keit, indem er der vulgären, synoptischen Tradition zufol - ge aus Galiläa über Jericho, und zwar nach Matthäus und Markus durch Peräa, nach Lukas durch Samaria, gereist wäre, dem vierten Evangelium zufolge aber von Ephraim281Zehntes Kapitel. §. 105.her gekommen sein müſste: Angaben, zwischen welchen eine Vereinigung unmöglich, aber auch die Wahl sehr schwierig ist.

§. 105. Abweichungen der Evangelien in Hinsicht auf den Ausgangs - punkt des Einzugs Jesu in Jerusalem.

Selbst über den Schluſs der Reise Jesu, über die lezte Station vor Jerusalem, sind die Evangelisten nicht ganz ei - nig. Während es nach den Synoptikern das Ansehen hat, als sei Jesus von Jericho aus ohne längeren Zwischenauf - enthalt an demselben Tage bis nach Jerusalem gekommen (Matth. 20, 34. 21, 1 ff. parall. ): läſst ihn das vierte Evan - gelium von Ephraim zunächst nur bis Bethanien gehen, hier übernachten, und erst am folgenden Tag seinen Einzug in die Hauptstadt halten (12, 1. 12 ff.). Um beide Darstel - lungen zu vereinigen, sagt man, bei der nur summarischen Erzählung der Synoptiker sei es nicht zu verwundern, daſs sie das Übernachten in Bethanien nicht ausdrücklich berühren, ohne es deſswegen leugnen zu wollen; es finde somit kein Widerspruch zwischen ihnen und Johannes statt, sondern, was jene kurz zusammenfassen, lege dieser in seine weiteren Momente auseinander1)Tholuck, S. 218; Olshausen, 1, S. 771.. Allein während Matthäus Bethanien gar nicht nennt, thun die beiden an - dern Synoptiker dieser Ortschaft auf eine Weise Erwäh - nung, welche der Annahme, daſs Jesus daselbst über - nachtet habe, entschieden widerstrebt. Wenn sie nämlich erzählen, ἁς ἤγγισεν εἰς Βηϑφαγῆ καὶ Βηϑανίαν, habe sich Jesus aus dem nächsten Dorf einen Esel holen lassen, und sei sofort auf diesem in die Stadt eingeritten: so kann man sich zwischen die so verbundenen Vorgänge unmöglich eine Nacht hineindenken, sondern die Erzählung lautet so, als ob unmittelbar auf die Sendung Jesu der Eigenthümer den282Zweiter Abschnitt.Esel verabfolgt, und unmittelbar nach der Ankunft des Esels Jesus sich zum Einzug angeschickt hätte. Auch läſst sich, wenn Jesus in Bethanien über Nacht zu bleiben im Sinne hatte, auf keine Weise ein Zweck seiner Sendung nach dem Esel ausfindig machen. Denn soll das Dorf, in welches er schickte, eben Bethanien gewesen sein: so hatte er, wenn erst auf den andern Morgen ein Reitthier zu be - stellen war, nicht nöthig, die Jünger vorauszuschicken, sondern konnte füglich warten, bis sie in Bethanien ange - kommen waren; daſs er aber, ehe er noch in Bethanien angelangt war, und sich umgesehen hatte, ob nicht hier ein Esel zu finden sei, über dieses nächstgelegene Dorf hinaus nach Bethphage geschickt haben sollte, um dort auf den andern Morgen einen Esel aufzubieten, entbehrt vol - lends aller Wahrscheinlichkeit, und doch sagt wenigstens Matthäus entschieden, daſs der Esel in Bethphage geholt worden sei. Dazu kommt, daſs, der Darstellung des Mar - kus zufolge, als Jesus in Jerusalem ankam, bereits die ὀψία angebrochen (11, 11.), und es ihm deſswegen nur noch möglich war, sich in Stadt und Tempel vorläufig um - zusehen, worauf er mit den Zwölfen sich nach Bethanien zurückzog. Nun läſst sich zwar das nicht beweisen, was schon behauptet worden ist, daſs das vierte Evangelium den Einzug vielmehr auf den Morgen verlege: aber das muſs man fragen, warum denn Jesus, wenn er nur von dem nahen Bethanien kam, nicht bälder von da aufgebro - chen ist, um in Jerusalem auch noch etwas, das der Rede werth wäre, thun zu können? Die späte Ankunft Jesu in der Stadt, wie sie Markus behauptet, erklärt sich offen - bar nur aus dem längeren Wege von Jericho her: kam er bloſs von Bethanien, so gieng er von hier schwerlich so spät erst weg, daſs er, nachdem er die Stadt sich nur angesehen, wieder nach Bethanien umkehren muſste, um am folgenden Tag zeitiger von da aufzubrechen, woran ihn aber auch schon am vorigen nichts gehindert hatte. 283Zehntes Kapitel. §. 105.Freilich ist in seiner Verlegung der Ankunft Jesu in Je - rusalem auf den späten Abend Markus von den beiden an - dern Synoptikern nicht unterstüzt, indem diese Jesum noch am Tage seiner Ankunft die Tempelreinigung vornehmen, und Matthäus ihn selbst noch Heilungen verrichten und sich gegen die Hohenpriester und Schriftgelehrten verant - worten läſst (Matth. 21, 12 ff. ): allein auch ohne jene Zeit - angabe entscheidet die Continuität der Momente des Hin - kommens gegen jene Flecken, der Sendung der Jünger, der Ankunft des Esels, und des Einreitens, gegen die Mög - lichkeit, in die Erzählung der Synoptiker ein Bethanisches Nachtquartier einzuschieben.

Bleibt es auf diese Weise dabei, daſs die drei ersten Evangelisten Jesum geradezu von Jericho aus, ohne Auf - enthalt in Bethanien, der vierte aber ihn nur von Betha - nien her nach Jerusalem ziehen läſst: so müssen sie, wenn sie beiderseits recht haben sollen, von zwei verschiedenen Einzügen reden, wie dieſs neuerlich von mehreren Kritikern vermuthet worden ist2)Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 92 ff. 98 ff. Schlkiermacher, über den Lukas, S. 244 f.. Ihnen zufolge zog Jesus zuerst (was die Synoptiker erzählen), mit der Festkarawane ge - radezu nach Jerusalem, und es erfolgte hiebei, wie er sich durch die Besteigung des Thiers bemerklich machte, von Seiten der Mitreisenden unvorbereitet eine laute Huldigung, welche den Einzug in einen Triumphzug verwandelte. Nach - dem er sich am Abend nach Bethanien zurückgezogen, gieng ihm dann am folgenden Morgen (was Johannes er - zählt), eine groſse Volksmenge entgegen, um ihn einzu - holen, und als er auf dem Weg von Bethanien her mit derselben zusammentraf, wiederholte sich, dieſsmal vorbe - reitet von Seiten seiner Anhänger, die Scene des gestrigen Tags in noch gröſserem Maſsstabe. Dieser Unterscheidung eines früheren Einzugs Jesu in Jerusalem, ehe man hier284Zweiter Abschnitt.von seiner Ankunft wuſste, und eines späteren, nachdem man schon erfahren hatte, daſs er in Bethanien sei, ist die Differenz günstig, daſs nach der synoptischen Erzäh - lung die Huldigenden nur προάγοντες und ἀκολουϑοῦντες (Matth. V. 9.), nach der johanneischen aber ὑπαντήσαντες (V. 13. 18. ) sind. Fragt man nun aber: warum geben denn unsre sämmtlichen Referenten jeder nur Einen Ein - zug, und findet sich bei keinem derselben von zweien eine Spur? so bekommt man in Bezug auf den Johannes die Antwort, dieser verschweige den ersten Einzug wahrschein - lich deſswegen, weil er ihn nicht mitgemacht habe, indem er während desselben nach Bethanien möge verschickt ge - wesen sein, um die Ankunft Jesu anzumelden3)Schleiermacher, a. a. O.. Da in - deſs nach unsern Grundsätzen, wenn vom Verfasser des vierten Evangeliums, dann auch von dem des ersten vor - ausgesezt werden darf, daſs er der in der Überschrift ge - nannte Apostel gewesen: so fragt man vergebens, wohin denn nun bei'm zweiten Einzug Matthäus solle verschickt gewesen sein, daſs er von diesem nichts zu erzählen wuſs - te? da sich bei dem wiederholten Gang von Bethanien nach Jerusalem kein Anlaſs einer solchen Sendung denken läſst. Übrigens auch in Bezug auf den Johannes ist sie reine Er - dichtung; abgesehen davon, daſs, auch wenn die beiden Evangelisten nicht persönlich zugegen waren, sie doch von einer im Kreise der Jünger so vielbesprochenen Begeben - heit, wie der feierliche Einzug gewiſs auch in seiner Wie - derholung war, das Genaueste erfahren muſsten. Haupt - sächlich aber, wie die Erzählung der Synoptiker nicht so lautet, als ob nach dem von ihnen beschriebenen Einzug noch ein zweiter erfolgt wäre: so ist die johanneische von der Art, daſs vor dem Einzug, dessen sie Meldung thut, ein anderer unmöglich gedacht werden kann. Ihr zufolge gehen nämlich am Tag vor dem johanneischen Einzug, also der Voraussetzung gemäſs an demselben Tage mit dem syn -285Zehntes Kapitel. §. 105.optischen, viele Juden von Jerusalem nach Bethanien hin - aus, weil sie von Jesu Ankunft gehört hatten, und nun ihn und den von ihm erweckten Lazarus sehen wollten (V. 9. vgl. 12.). Allein wie konnten sie am Tag des syn - optischen Einzugs hören, daſs Jesus in Bethanien sei? an jenem Tage gieng ja Jesus Bethanien vorbei oder durch, und zog gerade nach Jerusalem, von wo er nach allen Er - zählungen erst so spät Abends nach Bethanien hinausge - gangen sein kann, daſs Juden, die nun erst von Jerusa - lem aus dahin giengen, nicht mehr hoffen konnten, ihn noch sehen zu können4)vgl. Lücke, 2, S. 432. Anm.. Wofür mochten sie aber nur sich die Mühe nehmen, Jesum in Bethanien aufzusuchen, da sie ihn doch an jenem Tag in Jerusalem selber hatten? gewiſs müſste es in diesem Falle nicht bloſs heiſsen, sie seien ουδιὰ τὸν Ἰησοῦν μόνον, ἀλλ̕ ἵνα καὶ τὺν Λάζαρον ἴδωσι, gekommen, sondern, Jesum haben sie zwar in Jeru - salem selbst gesehen gehabt, nun aber haben sie auch noch den Lazarus sehen wollen, und seien deſswegen nach Be - thanien gegangen; wogegen der Evangelist, welcher Leute von Jerusalem aus, um Jesum zu sehen, nach Bethanien gehen läſst, unmöglich vorausgesezt haben kann, daſs eben an diesem nämlichen Tage Jesus in Jerusalem zu sehen gewesen sei. Auch das Weitere, wenn es bei Johannes heiſst, am folgenden Tag habe man in Jerusalem gehört, daſs Jesus dahin komme (V. 12.), klingt gar nicht so, wie wenn Jesus schon am Tag vorher daselbst gewesen wäre, sondern als ob man von Bethanien aus erfahren hätte, daſs er heute vollends hereinkommen würde; so wie auch der Empfang, den man ihm sofort bereitet, nur als Verherr - lichung seines ersten Eintritts in die Hauptstadt einen rech - ten Sinn hat, bei seiner zweiten Dahinkunft aber nur et - wa dann füglich hätte veranstaltet werden können, wenn Jesus Tags zuvor unbemerkt und ungeehrt hereingekom -286Zweiter Abschnitt.men wäre, und man dieſs am folgenden Tag hätte nach - holen wollen: wogegen, wenn schon der erste Einzug so glänzend war, der Pomp des zweiten eine müssige Wie - derholung gewesen wäre. Und zwar müſsten sich bei'm zweiten alle Züge des ersten wiederholt haben, was, mag man es mehr als absichtliche Veranstaltung Jesu, oder als zufällige Fügung der Umstände betrachten, immer höchst unwahrscheinlich bleibt. Von Jesu ist es nicht wohl zu begreifen, wie er ein Schauspiel wiederholen mochte, das, Einmal bedeutsam, in seiner Wiederholung matt und zweck - los war5)Hase, L. J. §. 124.; die Umstände aber müſsten auf unerhörte Wei - se zusammengetroffen haben, wenn beidemale dieselben Eh - renbezeugungen von Seiten des Volks, dieselben Äusserun - gen des Neides von Seiten seiner Gegner eingetreten sein, auch beidemale ein an die Weissagung des Zacharias erin - nerndes Reitthier zu Gebote gestanden haben sollte. Man könnte daher die Sieffert'sche Assimilationshypothese zu Hülfe nehmen, und voraussetzen, die beiden Einzüge, ur - sprünglich mehr verschieden, seien durch traditionelle Ver - mischung sich so ähnlich geworden: wenn nicht überhaupt die Annahme, daſs den evangelischen Erzählungen hier zwei verschiedene Fakta zum Grunde liegen, eines andern Umstands wegen unmöglich würde.

Auf den ersten Anblick zwar scheint es die Annah - me von zwei verschiedenen Einzügen zu unterstützen, wenn man bemerkt, daſs Johannes seinen Einzug den Tag nach jenem Bethanischen Mahle, bei welchem Jesus unter merk - würdigen Umständen gesalbt wurde, vor sich gehen läſst, die beiden ersten Synoptiker dagegen (denn Lukas weiſs von einer zu Bethanien und in dieser Periode des Lebens Jesu gehaltenen Mahlzeit bekanntlich nichts) ihren Ein - zug diesem Mahle vorangehen lassen; wodurch also, ganz der obigen Voraussetzung gemäſs, der synoptische Einzug287Zehntes Kapitel. §. 106.als der frühere, der johanneische als der spätere erschiene. Dieſs wäre gut, wenn nur nicht Johannes seinen Einzug so früh, die Synoptiker dagegen ihr Bethanisches Mahl so spät setzen würden, daſs jener unmöglich nach diesem erst erfolgt sein kann. Nach Johannes nämlich kommt Je - sus 6 Tage vor dem Pascha nach Bethanien, und zieht am folgenden Tag in Jerusalem ein (12, 1. 12. ): das Bethani - sche Mahl der Synoptiker dagegen (Matth. 26, 6 ff. parall. ) kann höchstens 2 Tage vor dem Pascha gehalten worden sein (V. 2.), so daſs, wenn der synoptische Einzug vor dem johanneischen Mahl und Einzug stattgefunden haben soll, dann nach allem Diesem den Synoptikern zufolge noch eine zweite Bethanische Mahlzeit angenommen wer - den müſste. Allein zwischen den hiebei vorauszusetzen - den zwei Mahlzeiten fände nun ebenso, wie zwischen den beiden Einzügen, bis in's Einzelste hinein die auffallendste Ähnlichkeit statt, und das Sichverflechten von zwei der - gleichen Doppelbegebenheiten ist so verdächtig, daſs man hier schwerlich die Auskunft wird anwenden mögen, es seien zwei Einzüge und Mahlzeiten, die einander ursprüng - lich weit unähnlicher gesehen haben, in der Tradition durch Übertragung von Zügen aus der einen Begebenheit in die andere sich so ähnlich geworden, wie wir sie jezt ha - ben: sondern hier, wenn irgendwo, ist es leichter, sofern einmal die Urkundlichkeit der Berichte aufgegeben wird, sich vorzustellen, daſs in der Überlieferung Eine Bege - benheit variirt, als daſs durch dieselbe zwei Begebenhei - ten assimilirt worden seien6)Vgl. Bd. 1, §. 85..

§. 106. Näherer Hergang bei dem Einzug. Zweck und historische Realität desselben.

Während das vierte Evangelium zuerst die Jesu ent - gegenströmende Menge ihm ihre Huldigung darbringen,288Zweiter Abschnitt.und dann erst die kurze Angabe folgen läſst, daſs Jesus einen jungen Esel, dessen er habhaft wurde, bestiegen ha - be: ist bei den Synoptikern das Erste, was sie geben, ein ausführlicher Bericht, wie Jesus zu dem Esel kam. Als er nämlich in die Nähe von Jerusalem, gegen Bethphage und Bethanien am Ölberg hingekommen, habe er zwei sei - ner Jünger in das vor ihnen liegende Dorf geschickt, mit der Weisung, wenn sie hineinkämen, würden sie und nun sagt Matthäus, eine Eselin angebunden, und ein Fül - len bei ihr, die beiden andern, ein Füllen, auf welchem noch Niemand gesessen habe, angebunden finden, das (die) sollen sie losbinden und ihm bringen, etwaige Ein - wendungen des Eigenthümers aber durch die Bemerkung, der Herr bedürfe seiner (ihrer), niederschlagen; dieſs sei so geschehen, und die Jünger haben auf die Thiere nach Matthäus, nach den beiden andern auf das Eine Thier , ihre Kleider unterbreitend, Jesum gesezt.

Das Auffallendste in diesen Berichten ist offenbar die Angabe des Matthäus, daſs Jesus nicht bloſs, da doch nur er allein reiten wollte, zwei Esel requirirt, sondern daſs er auch wirklich auf beide sich gesezt haben soll. Zwar, wie natürlich, hat es nicht an Versuchen gefehlt, das Er - stere zu erklären, und das Leztere zu beseitigen. Das Mutterthier soll Jesus mit dem Füllen, auf welchem er ei - gentlich reiten wollte, haben holen lassen, damit das jun - ge, noch saugende Thier desto eher gehen möchte1)Paulus, 3, a, S. 115; Kuinöl, in Matth. p. 541., oder soll die an das Junge gewöhnte Mutter von selbst nachge - laufen sein2)Olshausen, 1, S. 776.; allein ein noch durch Saugen an die Mutter gewöhntes Thier gab der Eigner schwerlich zum Reiten her. Das noch üblere Reiten auf zwei Thieren suchen die einen dadurch zu beseitigen, daſs sie sehr schwachen Au - ctoritäten zufolge und gegen alle kritischen Grundsätze bei289Zehntes Kapitel. §. 106.der Angabe vom Auflegen der Kleider statt ἐπάνω αὐτῶν lesen: ἐπ̕ αὐτὸν (τὸν πῶλον), worauf sodann bei der Anga - be, daſs Jesus sich darauf gesezt habe, das ἐπάνω αὐτῶν auf die über das Eine Thier gebreiteten Kleider bezogen wird3)Paulus, a. a. O. S. 143 f.. Ohne Änderung der Lesart glaubten Andere durch Annahme einer Enallage numeri4)Glassius, Phil. s. p. 172. u. A. oder dadurch auszukommen, daſs sie vor αὐτῶν ἑνὸς supplirten5)Kuinöl, a. a. O. S. 543; Gratz, 2, S. 347., Con - structionen, die den Zeiten des Faustrechts in der N. T. - lichen Grammatik angehören, von welchen man sich freuen könnte, daſs sie durch Winer und Fritzsche vorüber seien, wenn nicht auch Olshausen noch bemerkte, das ἐπάνω αὐ - τῶν sei nichts als ungenauer Ausdruck, indem die beiden Thiere als zusammengehörig betrachtet, und daher, was das eine betraf, auch auf das andere übergetragen worden sei. Laut seiner Worte muſs sich der Evangelist vielmehr vorgestellt haben, Jesus sei auf zwei Thieren geritten, was als abwechselndes Reiten auf dem einen und andern gedacht6)so Fritzsche, in Matth. p. 630., für eine so kurze Strecke eine unnöthige Un - bequemlichkeit gewesen wäre, auf jede andre Weise aber völlig undenkbar ist, und uns an die übrigen Evangelisten verweist, deren Angabe nur Eines Reitthiers sich mit der des Matthäus durch die gewöhnliche Bemerkung, sie nen - nen nur das Füllen, auf welchem Jesus geritten sei, und lassen die Eselin, als Nebensache, weg, nicht ausgleichen läſst. Fragt sich somit, wie denn Matthäus auf seine abenteuerliche Vorstellung gekommen ist? so haben, ob - wohl auf wunderliche Weise, diejenigen auf den rechten Punkt hingewiesen, welche vermutheten, Jesus habe in seiner Anrede an die Jünger, und Matthäus in seiner Ur - schrift, der Stelle des Zacharias (9, 9.) zufolge für denDas Leben Jesu II. Band. 19290Zweiter Abschnitt.Einen Begriff des Esels mehrerer Ausdrücke sich bedient, woraus sofort der griechische Übersetzer des ersten Evan - geliums miſsverständlich mehrere Thiere gemacht habe7)Eichhorn, allgem. Bibliothek, 5, S. 896 f. vgl. Bolten, Be - richt des Matthäus, S. 317 f.. Allerdings sind die gehäuften Bezeichnungen des Esels in je - ner Stelle: הֲמוֺר וְעַיר בֶּן־אֲתֹנוֺת ὑποζύγιον καὶ πῶλον νέον, LXX, der Anlaſs der Verdoppelung desselben im er - sten Evangelium, indem nämlich die copula, welche im Hebräischen erklärend gemeint war, als hinzufügend genommen, und statt ein Esel, d. h. ein Eselsfüllen u. s. w. vielmehr ein Esel sammt einem Eselsfüllen in der Stelle gefunden wurde8)s. Fritzsche, z. d. St.. Allein diesen Fehler kann nicht erst der griechische Übersetzer gemacht haben, welcher schwerlich, wenn er in der ganzen Erzählung des Matthäus nur Einen Esel gefunden hätte, rein aus der Pro - phetenstelle heraus ihn verdoppelt, und so oft sein Original von Einem Esel sprach, den zweiten hinzugefügt, oder statt des Singulars den Plural gesezt haben würde: sondern ein solcher muſs den Verstoſs begangen haben, dessen ein - zige schriftlich fixirte Quelle die Prophetenstelle war, aus welcher er mit Zuziehung der mündlichen Tradition seine ganze Erzählung herausspann, d. h. der Verfasser des er - sten Evangeliums, welcher sich freilich hiedurch, wie die neuere Kritik mit Recht behauptet, unwiederbringlich um den Ruhm eines Augenzeugen bringt9)Schulz, über das Abendm. S. 310 f.; Sieffert, über den Urspr. S. 107 f..

Ist dieser Miſsgriff dem ersten Evangelium eigen, so haben hinwiederum auch die beiden mittleren einen Zug für sich, welchen vermieden zu haben dem Verfasser des ersten zum Vortheil gereicht. Auf das Schleppende zwar291Zehntes Kapitel. §. 106.soll nur beiläufig aufmerksam gemacht werden, was darin liegt, daſs, nachdem bei allen drei Synoptikern Jesus den zwei abgeschickten Jüngern genau vorherb zeichnet hatte, wie sie den Esel finden, und womit sie den Eigenthümer desselben zufrieden stellen sollten, nun Markus und Lu - kas sich und dem Leser die Mühe nicht sparen, ausführ - lich und genau das Alles als eingetroffen zu wiederholen (Marc. V. 4 ff. Luc. V. 32 ff. ), während Matthäus (V. 6.) geschickt durch ein ποιήσαντες καϑὼς προσέταξεν αὐτοῖς . sich abfindet dieſs, als bloſs die Form betreffend, soll hier nicht weiter geltend gemacht werden. Das aber be - trifft den Inhalt der Sache, daſs nach Markus und Lukas Jesus ein Thier verlangte, ἐφ̕ ουδεὶς πώποτε ἀνϑρώπων ἐκάϑισε, ein Zug, von welchem Matthäus nichts weiſs. Man begreift hier nicht, wie sich Jesus das Vorwärtskom - men durch die Wahl eines noch nicht zugerittenen Thiers absichtlich erschweren mochte, welches, wenn er es nicht durch göttliche Allmacht in Ordnung hielt (denn bei dem ersten Ritt auf einem solchen Thier reicht auch die gröſs - te menschliche Reitkunst nicht aus), gewiſs manche Stö - rung des festlichen Zugs herbeigeführt haben wird, zumal ihm kein Vorangehen des Mutterthiers zu Statten kam, welches nur im Kopfe des ersten Evangelisten mitgelaufen ist. Dieser Unannehmlichkeit hat Jesus gewiſs nicht ohne triftigen Grund sich ausgesezt, und ein solcher scheint na - he genug zu liegen in der Ansicht des Alterthums, wel - cher zufolge, nach Wetstein's Ausdruck, animalia, usibus humanis nondum mancipata, sacra habebantur: so daſs also Jesus für seine geheiligte Person und zu dem hohen Zwecke seines messianischen Einzugs auch nur ein heili - ges Thier hätte gebrauchen mögen. Näher erwogen jedoch wird man dieſs eitel finden, und wunderlich dazu; denn dem Esel konnte man es nicht ansehen, daſs er noch nicht geritten war, ausser an der Ungebärdigkeit, mit welcher er den ruhigen Fortschritt des feierlichen Zuges gestört19 *292Zweiter Abschnitt.haben würde10)Dass jener Grund für die Maassregel Jesu nicht genüge, hat auch Paulus gefühlt; denn nur aus dem verzweifelnden Su - chen nach einem reelleren und mehr specifischen Grunde ist es zu erklären, dass er hier das einzige Mal mystisch wird, und an die Erklärung Justins des Märtyrers (die als ὑποζύγιον bezeichnete Eselin bedeute die Juden, der noch nicht gerit - tene Esel die Heiden, dial. c. Tryph. 53.), den er sonst im - mer als Urheber der verkehrten kirchlichen Bibeldeutungen bekämpft, sich anschliessend, wahrscheinlich zu machen sucht, Jesus habe durch Besteigung eines noch nicht gerittenen Thiers sich als Stifter und Regenten einer neuen Religions - gesellschaft ankündigen wollen. Exeg. Handb. 3, a, S. 116 ff.. So wenig wir auf diese Weise begrei - fen, wie Jesus in dem Besteigen eines nicht zugerittenen Thiers eine Ehre gesucht haben kann, so begreiflich wer - den wir es finden, daſs schon frühe die christliche Gemein - de es seiner Ehre schuldig zu sein glaubte, ihn nur auf einem solchen Thiere reiten, wie später ihn nur in einem ungebrauchten Grabe liegen zu lassen, was in ihre Denk - würdigkeiten aufzunehmen, die Verfasser der mittleren Evangelien kein Bedenken trugen, weil ihnen freilich bei'm Schreiben der nichtzugerittene Esel nicht die Unbequem - lichkeit verursachte, welche er Jesu bei'm Reiten verur - sacht haben müſste.

Wenn in die bisher erwogenen beiden Schwierigkei - ten die Synoptiker sich theilen, so ist eine andre ihnen allen gemeinschaftlich, die nämlich, welche in dem Um - stand liegt, daſs Jesus so zuversichtlich zwei Jünger nach einem Esel sendet, den sie im nächsten Dorf in der und der Situation finden würden, und daſs der Erfolg seiner Voraussage so genau entspricht. Das Natürlichste könnte scheinen, hier an eine vorangegangene Verabredung zu denken, welcher zufolge zur bestimmten Stunde am be - zeichneten Orte ein Reitthier für Jesum bereit gehalten293Zehntes Kapitel. §. 106.worden sei11)Natürliche Geschichte, 3, S. 566 f.; allein wie konnte er eine solche Verabre - dung in Bethphage getroffen haben, da er eben von Jeri - cho kam? Daher findet auch Paulus dieſsmal etwas An - deres wahrscheinlicher, daſs nämlich in den an der Haupt - straſse nach Jerusalem gelegenen Dörfern um die Fest - zeiten viele Lastthiere zum Vermiethen an die Wallfahrer bereit gestanden haben werden; wogegen jedoch zu be - merken ist, daſs Jesus gar nicht wie vom nächsten besten, sondern von einem bestimmten Thiere spricht. Man wun - dert sich daher, wenn man es bei Olshausen nur als ver - muthlichen Sinn der Referenten bezeichnet findet, daſs dem einziehenden Messias Alles durch Fügung Gottes zur Hand gewesen sei, wie er dessen eben bedurfte, so wie, daſs derselbe Ausleger die Voraussetzung nothwendig findet, die Besitzer des Thiers seien mit Jesu befreundet gewesen, da vielmehr die gleichsam magische Gewalt hier dargestellt werden soll, welche, sobald er nur wollte, dem bloſsen Na - men des Κύριος inwohnte, bei dessen Nennung der Besi - zer des Esels den Esel, wie später (Matth. 26, 18. parall. ) der Inhaber des Saals den Saal unweigerlich zu seiner Disposition stellte. Zu dieser göttlichen Fügung zu Gun - sten des Messias, und der unwiderstehlichen Kraft seines Namens kommt noch das höhere Wissen, durch welches Jesu hier ein entferntes Verhältniſs, das er für seine Be - dürfnisse benützen konnte, offen vor Augen lag.

Ist dieſs der Sinn und die Absicht der Evangelisten bei den angegebenen Zügen ihrer Erzählung: so kann man sich nicht verhehlen, daſs gerade eine solche Anwendung und Probe des höheren Wissens Jesu, welche in dem Be - merken eines im nächsten Dorf angebundenen Esels be - steht, so wie eine solche Macht seines Namens, welcher der Eigenthümer eines Lastthiers nicht widerstehen kann,294Zweiter Abschnitt.als ziemlich kleinlicht erscheinen muſs. Zu gut kennen wir auch bereits die Neigung der urchristlichen Sage, solche Proben der höheren Natur ihres Messias zu geben (man denke an die Berufung der zwei Brüderpaare; die genaue - ste Analogie aber hat die eben angeführte, unten näher zu betrachtende Art, wie Jesus das Lokal für seine lezte Mahlzeit mit den Zwölfen bestellen läſst), als daſs wir uns der Vermuthung enthalten könnten, auch hier nur ein Ge - bilde jener Neigung vor uns zu haben. Dieſs wird um so wahrscheinlicher, wenn wir nachzuweisen im Stande sind, warum sich hier des Fernsehen Jesu gerade als Wissen um einen angebundenen Esel zeigt, wie eine solche Nachwei - sung allerdings möglich ist. Über der im ersten und vier - ten Evangelium citirten Stelle aus Zacharias nämlich, wel - che vom Einreiten des sanftmüthigen Königs nur überhaupt auf einem Esel handelt, versäumt man gewöhnlich, eine andere A. T. liche Stelle zu berücksichtigen, welche näher den angebundenen Esel des Messias enthält. Es ist dieſs die Stelle 1 Mos. 49, 11, wo der sterbende Jakob zu Juda von jenem שילה sagt (LXX): δεσμεύων πρὸς ἄμπε - λον τὸν πῶλον αὐτοῦ καὶ τῇ ἕλικι τὸν πῶλον τῆς ὄνουαὐτοῦ. Justin der Märtyrer faſst auch diese mosaische Stelle, wie jene prophetische, als Weissagung auf den Einzug Jesu, und behauptet daher geradezu, das Füllen, welches Jesus holen lieſs, sei an einen Weinstock gebunden gewesen12)Apol. I, 32:τὸ δέ· δεσμεύων πρὸς ἄμπελον τὸν πῶλον αὐτοῦ σύμβολον δηλωτικὸν ὴν τῶν γενησομένων τῷ Χριςῷ καὶ τῶν ὑπ̕ αὐτοῦ πραχϑησομένων· πῶλος γάρ τις ὄνου εἱςήκει ἔν τινι εἰσόδῳ κώμης πρὸς ἄμπελον δεδεμένος, δν ἐκέλευσεν ἀγαγεῖν αὐ - τῷ κ. τ. λ.. Auch die Juden deuteten nicht nur überhaupt jenen Schi - lo vom Messias, wie sich schon in den Targumim nach - weisen läſst13)s. Schöttgen, horae, 2, p. 146., sondern namentlich auch das Anbinden295Zehntes Kapitel. §. 106.des Esels wurde vom Messias erwartet, und zwar, weil man mit der Stelle aus der Genesis die des Zacharias com - binirte, bei seinem Einzug in Jerusalem14)Bereschith Rabba ad Gen. 49, 11. (bei Schöttgen, 2, S. 105): quando Messias Hierosolymam veniet ad redimendum Israëli - tas, tunc ligat asinum suum eique insidet et Hierosolymam venit.. Daſs jene Weissagung Jakobs von keinem unsrer Evangelisten ange - führt wird, beweist höchstens, daſs sie bei'm Niederschrei - ben der vorliegenden Erzählung sich derselben nicht aus - drücklich bewuſst waren: daſs sie aber auch demjenigen Kreise, in welchem die Anekdote sich zuerst bildete, nicht vorgeschwebt habe, kann es keineswegs beweisen. Für einen Durchgang der Erzählung durch mehrere Hände von solchen, welche sich der ursprünglichen Beziehung auf die Stelle der Genesis nicht mehr bewuſst waren, spricht al - lerdings auch dieſs, daſs sie der Weissagung nicht mehr ganz ähnlich ist. Sollte eine vollkommene Übereinstimmung stattfinden, so müſste Jesus, nachdem er dem Zacharias zufolge auf dem Esel in die Stadt geritten war, diesen bei'm Absteigen an einer Weinrebe angebunden haben, statt daſs er ihn jezt im nächsten Dorf (nach Markus von einer Thüre am Wege) losbinden läſst, wodurch aber zugleich dieſs noch erreicht wurde, daſs mit der Erfüllung jener beiden Weissagungen noch eine Probe des übernatürlichen Wis - sens Jesu und der magischen Kraft seines Namens verbun - den werden konnte. Im vierten Evangelium fehlt mit der Beziehung auf die mosaische Stelle der Zug vom angebun - denen Esel und dessen Abholung, und es wird mit allei - niger Rücksicht auf die des Zacharias kurz gesagt: εὑρὼν δὲ . ὀνάριον, ἐκάϑισεν ἐπ̕ αὐτό (V. 14.).

Das Nächste, was nun in Betracht kommt, ist die Huldigung, welche Jesu vom Volke dargebracht wird. Nach296Zweiter Abschnitt.allen Relationen ausser der des Lukas bestand diese im Abhauen von Baumzweigen, welche man nach den beiden Synoptikern auf den Weg streute, nach Johannes, der - her Palmzweige angiebt, Jesu, wie es scheint, entgegen - trug; ferner nach allen ausser Johannes im Breiten von Kleidern auf den Weg. Dazu kam ein jubelnder Zuruf, von welchem alle mit unbedeutenden Modificationen die Worte: εὐλογημένος ἐρχόμενος ἐν ὀνόματι Κυρίου haben, ferner alle ausser Lukas das ὡσαννὰ, alle endlich die Be - grüſsung als König oder Sohn Davids. Hier ist zwar das בָּרוּך הַבָּא בְּשֵׁם יְהוָֺה aus Ps. 118, 26. eine gewöhnliche Be - grüſsungsformel für Festbesuchende gewesen, und auch das dem vorhergehenden Verse desselben Psalms entnom - mene הוֺשׁׅיעָה נָּא war ein gewöhnlicher Ruf am Laubhütten - fest und am Pascha15)vgl. Paulus z. d. St.; aber das hinzugesezte τῷ υἱῷ Δαυὶδ und βασιλεὺς τοῦ Ἰσραὴλ zeigt, daſs man jene all - gemeinen Formeln hier speciell auf Jesum als den Messias anwandte, ihn in eminentem Sinne willkommen heiſsen, und seinem Unternehmen Glück wünschen wollte. In Be - treff der Subjekte, welche die Huldigung darbringen, bleibt Lukas im engsten Kreise stehen, er knüpft nämlich das Breiten der Kleider auf den Weg (V. 36.) an das Vorher - gehende so an, daſs es scheint, als schriebe er es, wie das Legen der Kleider auf den Esel, nur den Jüngern zu, wie er denn die Loblieder ausdrücklich nur ἅπαν τὸ πλῆϑος τῶν μαϑητῶν anstimmen läſst; Matthäus und Markus da - gegen lassen diese Huldigungen von den begleitenden Volks - massen ausgehen. Dieſs vereinigt sich indessen leicht; denn wenn Lukas von dem πλῆϑος τῶν μαϑητῶν spricht, so ist dieſs der weitere Kreis der Anhänger Jesu, und andrer - seits ist der πλεῖςος ὄχλος bei Matthäus doch auch nur die Gesammtheit der ihm Günstigen unter der Menge. Wäh -297Zehntes Kapitel. §. 106.rend nun aber die Synoptiker innerhalb der Grenzen des mit Jesu reisenden Festzugs bleiben, läſst Johannes, wie schon oben erwähnt, die ganze Feierlichkeit von solchen ausgehen, die von Jerusalem aus Jesu entgegenzogen (V. 13.), wogegen dann die mit Jesu kommende Menge den Einho - lenden die von ihm vollbrachte Auferweckung des Laza - rus bezeugt, um deren willen nach Johannes die feierliche Einholung von Jerusalem aus veranstaltet war (V. 17 f.). Diesen Beweggrund können wir, da wir die Wiederbele - bung des Lazarus oben kritisch bezweifelt haben, nicht gelten lassen; mit seinem angeblichen Grunde aber wird auch das Faktum der Einholung selbst erschüttert, zumal wenn wir bedenken, wie die Würde Jesu es zu erfordern scheinen konnte, daſs ihn die Davidsstadt feierlich einge - holt habe, und wie es auch sonst zu den Eigenthümlich - keiten der Darstellung des vierten Evangeliums gehört, vor der Ankunft Jesu zu den Festen die erwartungsvollen Re - den des Volks über ihn zu referiren (7, 11 ff. 11, 56.).

Der lezte Zug in dem vor uns liegenden Gemälde ist der Unwille der Feinde Jesu über die starke Anhänglich - keit des Volks an ihn, welche sich bei dieser Gelegenheit zeigte. Nach Johannes (V. 19.) sprachen die Pharisäer zu einander: da sehen wir, daſs unser bisheriges (scho - nendes) Verfahren nichts nüzt; alle Welt hängt ihm ja an (wir werden anders einschreiten müssen). Nach Lukas (V. 39 f.) wandten sich einige Pharisäer an Jesum selbst mit dem Ansinnen, seinen Schülern Stillschweigen aufzu - legen, worauf er ihnen zur Antwort giebt, wenn diese nicht rufen, würden die Steine schreien. Während Lukas und Johannes dieſs noch auf dem Zuge vor sich gehen las - sen, ist es bei Matthäus erst nachher, als Jesus mit dem Festzug im Tempel angekommen war, und die Kinder auch hier fortfuhren, Hosianna dem Sohne Davids zu rufen, daſs die Hohenpriester und Schriftgelehrten Jesum auf den298Zweiter Abschnitt.Unfug, wofür sie es hielten, aufmerksam machten, worauf er sie mit einer Sentenz aus Ps. 8, 3. (ἐκ ςόματος νηπίων καὶ ϑηλαζόντων κατηρτίσω αἶνον) zurückweist (V. 15 f.), eine Sentenz, die also hier, unerachtet sie im Original sich augenscheinlich auf Jehova bezieht, auf Jesum angewendet wird. Die von Lukas an den Einzug angeknüpfte Klage Jesu über Jerusalem wird unten noch in Betrachtung kommen.

Unzweideutig sprechen Johannes und insbesondere Mat - thäus durch sein τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν, ἵνα πληρωϑῇ κ. τ. λ. den Gedanken aus, die Absicht zunächst Gottes, indem er diese Scene veranstaltete, dann aber auch des Messias Je - sus, als Mitwissers und Theilnehmers der göttlichen Rath - schlüsse, sei gewesen, durch diese Gestaltung seines Ein - zugs eine alte Weissagung zu erfüllen. Wenn Jesus in der Stelle des Zacharias, 9, 9.16)So wie Matthäus das Orakel anführt, ist es eine Zusammen - setzung einer jesaianischen Stelle mit der des Zacharias. Denn das εἴπατου τῇ ϑυγατρὶ Σιὼν ist aus Jes. 62, 11, das Weitere aus Zach. 9, 9., wo die LXX, etwas abweichend, hat: ἰδοὺ βασιλεύς σου ἔρχεταί σοι δίκαιος καὶ σωζων αὐτὸς πραῢς καὶ ἐπιβεβηκὼς ἐπὶ ὑποζύγιον καὶ πῶλον νέον. , eine Weissagung auf sich als den Messias sah, so kann dieſs nicht Erkenntniſs des höheren Princips in ihm gewesen sein, da, wenn die Prophetenstelle auch nicht auf einen historischen Fürsten, wie Usia17)Hitzig, über die Abfassungszeit der Orakel Zach. 9 14., in den theol. Studien, 1830, 1, S. 36 ff. bezieht die vorangeben - den Verse auf die Kriegsthaten dieses Königs, also den ge - genwärtigen wohl auf seine friedlichen Tugenden. oder Johannes Hyrcanus18)Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 121 ff., sondern auf ein messianisches Individuum zu beziehen ist19)Rosenmüller, Schol. in V. T. 7, 4, S. 274 ff., dieses wohl als friedlicher, aber doch als weltlicher Fürst, und zwar im ruhigen Besiz von Jerusalem, also ganz anders299Zehntes Kapitel. §. 106.als Jesus, gedacht werden muſs. Wohl aber scheint Je - sus auf natürlichem Wege zu jener Beziehung haben kom - men zu können, indem die Rabbinen die Stelle des Zacha - rias mit groſser Übereinstimmung auf den Messias deute - ten20)In der Thl. 1. S. 73. Anm. citirten Cardinalstelle aus Mi - drasch Coheleth wird gleich Anfangs das Zacharianische pau - per et insidens asino auf den Goël postremus bezogen. Die - ser Esel des Messias wurde sofort mit dem des Abraham und Moses für identisch gehalten, s. Jalkut Rubeni f. 79, 3. 4, bei Schöttgen, 1. S. 169, vgl. Eisenmenger, entdecktes Ju - denthum, 2, S. 697 f.. Namentlich wissen wir, daſs, weil die unschein - bare Ankunft, welche hier vom Messias vorhergesagt war, im Widerspruch zu stehen schien mit der glänzenden, wel - che Daniel vorherverkündigt hatte, dieſs dahin ausgegli - chen zu werden pflegte, daſs, je nachdem sich das jüdi - sche Volk würdig beweisen würde oder nicht, sein Mes - sias in der herrlichen oder in der geringen Gestalt erschei - nen solle21)Sanhedrin f. 98, 1 (bei Wetstein): Dixit R. Alexander:R. Josua f. Levi duobus inter se collatis locis tanquam contra - riis visis objecit: scribitur Dan. 7, 13: et ecce cum nubi - bus coeli velut filius hominis venit. Et scribitur Zach. 9, 9: pauper et insidens asino. Verum haec duo loca ita inter se conciliari possunt: nempe, si justitia sua mereantur Israëli - tae, Messias veniet cum nubibus coeli: si autem non mere - antur, veniet pauper, et vehetur asino.. War nun auch zur Zeit Jesu diese Unter - scheidung noch nicht ausgebildet, sondern nur erst über - haupt eine Beziehung der Stelle Zach. 9, 9. auf den Mes - sias: so konnte doch Jesus sich etwa die Vorstellung ma - chen, daſs jezt, bei seiner ersten Parusie, die Weissagung des Zacharias, einst aber bei seiner zweiten die des Da - niel an ihm in Erfüllung gehen müsse. Doch wäre auch das Dritte möglich, daſs entweder ein zufälliges Einreiten300Zweiter Abschnitt.Jesu auf einem Esel von den Christen später auf diese Weise gedeutet, oder daſs, damit kein messianisches Attribut ihm fehle, der ganze Einzug frei nach den beiden Weissagun - gen und der dogmatischen Voraussetzung eines höheren Wissens in Jesu ausgemalt worden wäre.

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Dritter Abschnitt. Geschichte des Leidens, Todes, und der Auferstehung Jesu.

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Erstes Kapitel. Verhältniss Jesu zu der Idee eines lei - denden und sterbenden Messias; seine Reden von Tod, Auferstehung und Wiederkunft.

§. 107. Ob Jesus sein Leiden und seinen Tod in bestimmten Zügen vorhergesagt habe?

Den Evangelien zufolge hat Jesus seinen Jüngern mehr als Einmal, und schon geraume Zeit vor dem Erfolg1)Was er ganz in der Nähe des Erfolgs, in den lezten Tagen seines Lebens, noch von einzelnen Umständen seines Lei - dens vorhersagte, kann erst weiter unten, in der Geschichte jener Tage, in Betrachtung kommen., vorausgesagt, daſs ihm Leiden und gewaltsamer Tod be - vorstehe. Und zwar blieb er, wenn wir den synoptischen Nachrichten trauen, nicht bei Voraussagung dieses Schick - sals im Allgemeinen stehen, sondern bestimmte den Ort seines Leidens vorher, nämlich Jerusalem; die Zeit dessel - ben: daſs eben auf dieser Festreise ihn sein Schicksal er - eilen würde; die Subjekte, von welchen er zu leiden ha - ben würde (ἀρχιερεῖς, γραμματεῖς, ἔϑνη); die wesentliche Form seines Leidens: Kreuzigung in Folge eines Richter - spruchs; auch Nebenzüge sagte er voraus: daſs es an Geis - selhieben, Spott und Verspeien nicht fehlen würde (Matth. 16, 21. 17, 12. 22 f. 20, 17 ff. 26, 12. mit den Parall., Luc. 13, 33.). Zwischen den Synoptikern und dem Ver - fasser des vierten Evangeliums findet hier ein dreifacher304Dritter Abschnitt.Unterschied statt. Für's Erste lauten bei dem Lezteren die Voraussagen Jesu nicht so klar und deutlich, sondern sind meistens in dunkler Bilderrede vorgetragen, von welcher der Referent wohl auch selbst gesteht, daſs sie den Jün - gern erst nach dem Erfolge klar geworden sei (2, 22.). Ausser einer bestimmten Äusserung, daſs er sein Leben freiwillig lassen werde (10, 15 ff. ), spielt in diesem Evan - gelium Jesus auf seinen bevorstehenden Tod besonders ger - ne durch den Ausdruck ὑψοῦν, ὑψοῦσϑαι, an, welcher zwi - schen Erhöhung an das Kreuz und zur Herrlichkeit schwankt (3, 14. 8, 28. 12, 32.), und vergleicht die ihm bevorstehen - de Erhöhung mit der der ehernen Schlange in der Wüste (3, 14.), wie bei Matthäus sein Schicksal mit dem des Jo - nas (12, 40.); dann spricht er auch von einem Weggehen, wohin man ihm nicht folgen könne (7, 33 ff. 8, 21 f.), wie bei den Synoptikern von einem Kelch, den er trinken müsse, und welchen mit ihm zu theilen seinen Jüngern schwer fallen dürfte (Matth. 20, 22. parall.). Sind auf diese Weise die johanneischen Leidensverkündigungen min - der deutlich als die synoptischen: so fängt dagegen bei Jo - hannes Jesus weit früher mit diesen Verkündigungen an. Bei den Synoptikern fallen die bestimmteren Vorhersagen alle theils unmittelbar vor, theils auf die lezte Reise; nur die dunkle Rede vom Zeichen des Jonas fiele früher; wogegen im vierten Evangelium Jesus bereits bei seinem ersten Festbesuch auf seinen bevorstehenden Tod hinzudeu - ten anfängt. Endlich, wenn den drei ersten Evangelisten zu - folge Jesus jene Voraussagungen nur dem vertrauten Kreise der Zwölfe mittheilt, spricht er sie bei Johannes dem Volk und selbst seinen Feinden gegenüber aus.

Bei der kritischen Prüfung dieser evangelischen Nach - richten werden wir vom Speciellen zum Allgemeinen in der Art fortschreiten, daſs wir zuerst fragen: ist es glaublich, daſs Jesus so viele einzelne Züge des auf ihn wartenden Schick - sals vorausgewuſst habe? hierauf untersuchen, ob über -305Erstes Kapitel. §. 107.haupt ein Vorauswissen und Voraussagen seines Leidens von Seiten Jesu wahrscheinlich sei; wobei dann der Un - terschied zwischen der synoptischen und johanneischen Dar - stellung von selbst zur Sprache kommen wird.

Wie Jesus die einzelnen Umstände seines Leidens und Sterbens so genau vorherwissen konnte, davon giebt es eine doppelte Erklärungsweise, eine supranaturale und eine na - türliche. Die erstere scheint ihre Aufgabe durch die ein - fache Berufung darauf lösen zu können, daſs vor dem pro - phetischen Geiste, welcher Jesu in höchster Fülle inwohn - te, von Anfang an sein Schicksal in allen einzelnen Zügen ausgebreitet gelegen haben müsse. Da indessen Jesus selbst bei seinen Leidensverkündigungen ausdrücklich sich auf das A. T. berief, dessen Weissagungen auf ihn in allen Stü - cken erfüllt werden müſsten (Luc. 18, 31. vgl. 22, 37. 24, 25 ff. Matth. 16, 21. 26, 54.): so darf die orthodoxe Betrachtungsweise diese Hülfe nicht verschmähen, sondern muſs der Sache die Wendung geben, Jesus habe, lebend und webend in den Weissagungen des A. T., aus ihnen mit Hülfe des ihm inwohnenden Geistes jene Specialitäten schöpfen können2)vgl. Olshausen, b. Comm. 1, S. 528.. Demnach müſste Jesus, während die Kunde von der Zeit seines Leidens, wenn er diese nicht etwa aus Daniel oder einer ähnlichen Quelle berechnet ha - ben soll, seinem prophetischen Vorgefühl überlassen bliebe, auf Jerusalem als den Ort seines Leidens und Todes durch Betrachtung des Schicksals früherer Propheten als Typus des seinigen in der Art gekommen sein, daſs der Geist ihm sagte, wo so viele Propheten, da müsse nach höherer Consequenz auch der Messias den Tod erleiden (Luc. 13, 33.); auf seinen Untergang in Folge förmlicher Verurtheilung müſste ihn etwa dieſs geführt haben, daſs Jes. 53, 8. von einem über den Knecht Gottes verhängten מׅשְׁפָּט, und V. 12. davon die Rede ist, daſs er ἐν τοῖς ἀνό -Das Leben Jesu II. Band. 20306Dritter Abschnitt.μοις ε̕λογίσϑη (vgl. Luc. 22, 37.); seine Verurtheilung durch die Obersten des eigenen Volks hätte er vielleicht aus Ps. 118, 22. geschlossen, wo οἱ οἰκοδομοῦντες, welche den Eck - stein verworfen haben, nach apostolischer Deutung (A. G. 4, 11.) die jüdischen Obern sind; seine Übergabe an die Heiden konnte er darin finden, daſs in mehreren A. T. li - chen Klagliedern, die sich messianisch deuten lieſsen, die plagenden Subjekte als רְשָׁעׅים, d. h. als Heiden, erschei - nen; daſs sein Tod gerade der Kreuzestod sein würde, könn - te er theils aus dem Typus der am Holz aufgehängten eher - nen Schlange 4. Mos. 21, 8 f. (vgl. Joh. 3, 14.), theils aus dem Durchgraben der Hände und Füſse Ps. 22, 17. LXX. abgenommen haben; endlich den Hohn und die Miſshand - lung aus Stellen, wie im angeführten Psalm V. 7 ff. Jes. 50, 6. u. dgl. Soll nun der Jesu inwohnende Geist, wel - cher ihm der orthodoxen Ansicht zufolge die Beziehung dieser Weissagungen und Vorbilder auf sein endliches Schick - sal erkennbar machte, ein Geist der Wahrheit gewesen sein: so muſs sich die Beziehung auf Jesum als der wahre und ursprüngliche Sinn jener A. T. lichen Stellen nachwei - sen lassen. Um aber nur bei den Hauptstellen stehen zu bleiben, so hat jezt eine gründliche, grammatisch-histori - sche Auslegung für Alle, die sich aus dogmatischen Vor - aussetzungen hinauszusetzen im Stande sind, überzeugend nachgewiesen, daſs in denselben nirgends vom Leiden Chri - sti, sondern Jes. 50, 6. von den Miſshandlungen, welche der Prophet zu erdulden hatte3)Gesenius, Jesaias, 3, S. 137 ff. ; Hitzig, Comm. z. Jes. S. 550., Jes. 53. von den Drang - salen des Prophetenstandes, oder noch wahrscheinlicher des israëlitischen Volks, die Rede sei4)Gesenius, a. a. O. S. 158 ff. ; Hitzig, S. 577 ff.; daſs Ps. 118. von der unerwarteten Rettung und Erhöhung des Volks oder eines Fürsten desselben gehandelt werde5)de Wette, Comm. zu den Psalmen, S. 224 ff., 3te Aufl., so wie, daſs Ps. 22. 307Erstes Kapitel. §. 107.ein bedrängter Exulant spreche6)Ders. ebendas., S. 514 ff.; daſs aber gar im 17ten Vers dieses Psalms von der Kreuzigung Christi die Rede sei (da doch, auch die unwahrscheinlichste Erklärung des כארי durch perfoderunt vorausgesezt, dieſs in keinem Falle eigentlich, sondern nur bildlich zu verstehen, das Bild aber nicht von einer Kreuzigung, sondern von einer Jagd oder einem Kampf mit wilden Thieren hergenommen wäre7)Paulus, exeg. Handb. 3, b, S. 677 ff. und de Wette z. d. St., dieſs wird jezt nur noch von Solchen behauptet, mit wel - chen es sich nicht verlohnt zu streiten. Sollte demnach Jesus auf übernatürliche Weise vermöge seiner höheren Natur in diesen Stellen eine Vorandeutung der einzelnen Züge seines Leidens gefunden haben: so wäre, da eine solche Beziehung nicht der wahre Sinn jener Stellen ist, der Geist in Jesu nicht der Geist der Wahrheit gewesen; es wird also der orthodoxe Erklärer, sofern er sich nur dem Lichte unbefangener Auslegung des A. T. nicht ver - schlieſst, aus eigenem Interesse zu der natürlichen Ansicht hingetrieben, daſs nicht höhere Eingebung, sondern eigene Combination Jesum auf eine solche Auslegung der A. T. li - chen Stellen und auf die Voraussicht der einzelnen Züge seines künftigen Schicksals geführt habe.

Daſs es die herrschende Priesterpartei sein würde, der er unterliegen müſste, dieſs, kann man hienach sagen8)s. diese Ansicht ausgeführt bei Fritzsche, Comm. in Marc. p. 381 f., war leicht vorauszusehen, da diese theils vorzüglich gegen Jesum erbittert, theils im Besiz der erforderlichen Macht war; daſs sie Jerusalem zum Schauplaz seiner Verurthei - lung und Hinrichtung machen würde, ebenfalls, da hier der Mittelpunkt ihrer Stärke war; daſs er, von den Ober - sten seines Volks verurtheilt, den Römern zur Hinrichtung würde übergeben werden, folgte aus der damaligen Be -20 *308Dritter Abschnitt.schränkung der jüdischen Gerichtsbarkeit; daſs gerade der Kreuzestod über ihn verhängt werden würde, konnte ver - muthet werden, da diese Todesart bei den Römern na - mentlich gegen Aufrührer verfügt zu werden pflegte; daſs endlich Geiſselung und Verspottung nicht fehlen würde, lieſs sich gleichfalls aus römischer Sitte und der Roheit damaligen Gerichtsverfahrens zum Voraus berechnen. Doch, genauer die Sache erwogen, wie konnte denn Je - sus so gewiſs wissen, ob nicht Herodes, der eine gefährli - che Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hatte (Luc. 13, 31.), der Priesterpartei zuvorkommen, und zu dem Morde des Täufers auch den seines Nachfolgers fügen würde? Und wenn er auch gewiſs sein zu dürfen glaubte, daſs ihm nur von Seiten der Hierarchie her wirkliche Gefahr drohe, wer versicherte ihn denn, daſs nicht einer ihrer tumultua - rischen Mordversuche (vgl. Joh. 8, 59. 10, 31.) doch end - lich gelingen, und er also, wie später Stephanus, ohne weitere Förmlichkeit, und ohne vorgängige Ablieferung an die Römer, seinen Tod auf ganz andre Weise, als durch die römische Strafe der Kreuzigung, finden könne? End - lich, wie konnte er so zuversichtlich behaupten, daſs ge - rade der nächste Anschlag, nach so vielen miſslungenen, sei - nen Feinden glücken, und eben die jezt bevorstehende Festreise seine lezte sein würde? Indessen kann auch die natürliche Erklärung hier die A. T. lichen Stellen zu Hülfe nehmen und sagen, Jesus habe, sei es durch An - wendung einer unter seinen Volksgenossen damals übli - chen Auslegungsweise, oder von eigenthümlichen Ansichten geleitet, in den schon angeführten Schriftstellen näheren Aufschluſs über den Hergang bei dem ihm als Messias be - vorstehenden gewaltsamen Ende gefunden9)s. Fritzsche, a. a. O.. Allein wenn schon dieſs schwer zu beweisen sein möchte, daſs bereits zu Lebzeiten Jesu alle diese verschiedenen Stellen auf den309Erstes Kapitel. §. 107.Messias bezogen worden seien; daſs aber Jesus selbststän - dig, vor dem Erfolg, auf eine solche Beziehung ganz hete - rogener Stellen gekommen sei, ebenso schwer denkbar ist: so wäre das vollends dem Wunder ähnlich, wenn einer so falschen Deutung der Erfolg doch wirklich entsprochen haben sollte; überdieſs aber reichen die A. T. lichen Orakel und Vorbilder nicht einmal hin, um alle einzelnen Züge in der Vorherverkündigung Jesu, namentlich die genaue Zeitbe - stimmung, zu erklären.

Kann somit Jesus weder auf übernatürliche noch auf natürliche Weise eine so genaue Vorkenntniſs der Art und Weise seines Leidens und Todes gehabt haben: so hat er sie überhaupt nicht gehabt, und was ihm die Evan - gelisten davon in den Mund legen, ist als vaticinium post eventum anzusehen10)Paulus, ex. Handb. 2, S. 415 ff. ; Ammon, bibl. Theol. 2, 377 f.; Kaiser, bibl. Theol., 1, S. 246. Auch Fritzsche, a. a. O., räumt diess zum Theil ein.. Hiebei hat man nicht ermangelt, den synoptischen Berichten gegenüber den johanncischen zu erheben, indem eben die speciellen Züge der Voraussa - gung, welche Jesus nicht so gegeben haben kann, nur bei den Synoptikern sich finden, während Johannes ihm nur unbestimmte Andeutungen in den Mund lege, und von die - sen seine nach dem Erfolg gemachte Auslegung derselben unterscheide, zum deutlichen Beweis, daſs wir in seinem Evangelium allein die Reden Jesu unverfälscht in ihrer ur - sprünglichen Gestalt besitzen11)Bertholdt, Einleitung in d. N. T. S. 1305 ff. ; Wegscheider, Einleit. in das Evang. Johannis, S. 271 f.. Allein näher betrachtet verhält es sich nicht so, daſs auf den Verfasser des vier - ten Evangeliums nur die Schuld irriger Deutung der übri - gens unverfälscht erhaltenen Aussprüche Jesu fiele, son - dern an Einer Stelle wenigstens hat er, zwar dunkel, aber doch unverkennbar, die Vorausbezeichnung seines Todes310Dritter Abschnitt.als Kreuzestodes ihm in den Mund gelegt, mithin die eige - nen Worte Jesu nach dem Erfolg verändert. Wenn näm - lich Jesus bei Johannes sonst passivisch von einem ὑψω - ϑῆναι des Menschensohns spricht, so konnte er hiemit zwar möglicherweise seine Erhebung zur Herrlichkeit meinen, wiewohl dieſs 3, 14. wegen der Vergleichung mit der mo - saischen Schlange, die bekanntlich an einer Stange er - höht worden ist, bereits schwer fällt: aber wenn er nun 8, 28. das Erhöhen des Menschensohns als That seiner Feinde darstellt (ὅταν ὑψώσητε τὸν υἱὸν τ. . ), so konn - ten diese ihn nicht unmittelbar zur Herrlichkeit, sondern nur zum Kreuz erheben, und Johannes muſs also, wenn unser obiges Resultat gelten soll, diesen Ausdruck selbst gebildet, oder doch die aramäischen Worte Jesu schief übersezt haben, und er fällt daher mit den Synoptikern im Wesentlichen unter eine Kategorie. Daſs er übrigens gröſstentheils das Bestimmte, was er sich dabei dachte, Je - sum in dunkeln Ausdrücken vortragen lieſs, dieſs hat in der ganzen Manier dieses Evangelisten seinen Grund, des - sen Neigung zum Räthselhaften und Mysteriösen hier der Forderung, Weissagungen, die nicht verstanden worden waren, auch unverständlich einzurichten, auf erwünschte Art entgegenkam.

Jesu auf diese Weise eine Vorherverkündigung der einzelnen Züge seines Leidens, namentlich der schmachvol - len Kreuzigung, aus dem Erfolge heraus in den Mund zu legen, dazu war die urchristliche Sage hinlänglich ver - anlaſst. Je mehr der gekreuzigte Christus Ἰουδαίοις μὲν σκάνδαλον, Ἕλλησι δὲ μωρία war (1 Kor. 1, 23.): desto mehr that es Noth, diesen Anstoſs auf alle Weise hinweg - zuschaffen, und wie hiezu unter dem Nachhergeschehenen besonders die Auferstehung, als gleichsam die nachträg - liche Aufhebung jenes schmachvollen Todes, diente: so muſste es erwünscht sein, jener anstöſsigen Katastrophe auch schon vorläufig den Stachel zu benehmen, was311Erstes Kapitel. §. 108.nicht besser, als durch eine solche Vorherverkündigung, geschehen konnte. Denn wie das Unbedeutendste, prophe - tisch vorausverkündigt, durch solche Aufnahme in den Zu - sammenhang eines höheren Wissens Bedeutung gewinnt: so hört das Schmählichste, sobald es als Moment ei - nes göttlichen Heilplans vorhergesagt wird, auf, schmäh - lich zu sein, und wenn dann vollends eben derjeni - ge, über welchen es verhängt ist, zugleich den propheti - schen Geist besizt, es vorauszusehen und vorauszusagen: so beweist er sich, indem er nicht bloſs leidet, sondern auch das göttliche Wissen um sein Leiden ist, als die ideale Macht über dasselbe. Noch weiter ist hierin der vierte Evangelist gegangen, indem er es der Ehre Jesu schuldig zu sein glaubte, ihn auch als die reale Macht über sein Leiden, als denjenigen, welchem nicht fremde Gewalt die ψυχὴ entreisse, sondern der sie mit freiem Willen hinge - be, darzustellen (10, 17 f.), eine Darstellung, zu welcher übrigens Matth. 26, 53, wo Jesus die Möglichkeit behaup - tet, zu Abwendung seines Leidens den Vater um Engelle - gionen zu bitten, bereits ein Ansaz ist.

§. 108. Jesu Todesverkündigung im Allgemeinen; ihr Verhältniss zu den jüdischen Messiasbegriffen; Aussprüche Jesu über den Zweck und die Wirkungen seines Todes.

Ziehen wir auf diese Weise von den Äusserungen, welche die Evangelisten Jesu über sein bevorstehendes Schick - sal in den Mund legen, alles dasjenige ab, was die nähere Bestimmtheit dieser Katastrophe betrifft: so bleibt uns doch noch so viel, daſs Jesus überhaupt vorherverkündigt habe, ihm stehe Leiden und Tod bevor, und zwar insofern in den A. T. lichen Orakeln dem Messias ein solches Schick - sal vorausbestimmt sei. Da nun aber die angeführten A. - T. lichen Hauptstellen, welche von Leiden und Tod handeln, nur mit Unrecht auf den Messias bezogen werden, und312Dritter Abschnitt.auch andere, wie Dan. 9, 26, Zach. 12, 10, diese Bezie - hung nicht haben1)Daniel, übersezt und erklärt von Bertholdt, 2, S. 541 ff. 660 ff. Rosenmüller, Schol. in V. T. 7, 4, S. 339 ff.: so werden sich wiederum gerade die Orthodoxen am meisten hüten müssen, dem übernatürli - chen Princip in Jesu eine so falsche Deutung der betre - fenden Weissagungen zuzuschreiben. Daſs statt dessen Je - sus möglicherweise durch rein natürliche Combinationen das allgemeine Resultat herausgebracht haben könnte: da er die Hierarchie seines Volks sich zur unversöhnlichen Feindin gemacht, so habe er, sofern er aus der Bahn sei - nes Berufs nicht zu weichen fest entschlossen war, von ihrer Rachsucht und Übermacht das Äusserste zu fürch - ten (Joh. 10, 11 ff. ); daſs er aus dem Schicksal mehrerer früheren Propheten (Matth. 5, 12, 21, 33 ff. Luc. 13, 33 f.), und einzelnen dahin gedeuteten Weissagungen auch sich ein ähnliches Ende prognosticiren, und demgemäſs den Sei - nigen voraussagen konnte, es stehe ihm früher oder spä - ter ein gewaltsamer Tod bevor, das sollte man nicht mehr mit unnöthiger Überspannung des supranaturalisti - schen Standpunkts leugnen, sondern der rationalen Be - trachtungsweise der Sache einräumen2)de Wette, de morte Christi expiatoria, in dessen Opuscula theol., p. 130. Hase, L. J. §. 106..

Es kann auffallen, wenn wir nach diesem Zugeständ - niſs noch die Frage machen, ob es der N. T. lichen Dar - stellung zufolge auch wahrscheinlich sei, daſs Jesus wirk - lich jene Voraussage gegeben habe? da ja eine allgemeine Vorherverkündigung des gewaltsamen Todes das Mindeste ist, was die evangelischen Nachrichten zu enthalten schei - nen. Die Meinung mit dieser Frage ist aber die, ob der Erfolg, namentlich das Benehmen der Jünger, in den Evan - gelien so beschrieben werde, daſs eine vorausgegangene Er - öffnung Jesu über sein bevorstehendes Leiden damit ver -313Erstes Kapitel. §. 108.einbar sei. Von den Jüngern nun bemerken die Evange - listen ausdrücklich, daſs sie in die Reden Jesu von dem ihm bevorstehenden Tode und der Auferstehung sich nicht allein nicht haben finden können, in dem Sinne, daſs sie die Sache sich nicht zurechtzulegen, mit ihren vorgefaſs - ten Messiasbegriffen nicht zu reimen wuſsten, wie Petrus, wenn er Jesu auf die erste Todesverkündigung hin zurief:ἵλεώς σοι Κύριε· ουμὴ ἔςαι σοι τοῦτο(Matth. 16, 22.), son - dern wenn Lukas dasοἱ δὲ ἠγνόουν τὸ ῥῆμαdes Markus (9, 32.) so weiter ausführt:

καὶ ἦν παρακεκαλυμμένον ἀπ̕ αἰτῶν ἵνα μὴ αἴσϑωνται αὐτό

(9, 45.): so ist hiemit selbst das einfache Wortverständniſs, das Fassen, wovon die Re - de ist, den Jüngern abgesprochen. So trifft sie denn auch hernach die Verurtheilung und Hinrichtung Jesu völlig un - vorbereitet, und vernichtet deſswegen alle Hoffnungen, die sie auf ihn als Messias gesezt hatten (Luc. 24, 20 f.:

ἐςαύρωσαν αὐτόν· ἡμεῖς δὲ ἠλπίζομεν, ὅτι αὐτός ἐςιν μέλ - λων λυτροῦσϑαι τὸν Ἰσραήλ

). Allein hatte Jesus mit den Jüngern so ganz παῤῥησίᾳ (Marc. 8, 32.) von seinem Tode gesprochen, so muſsten sie seine klaren Worte nothwen - dig auch fassen, und hatte er ihnen seinen Tod als gegrün - det in den messianischen Weissagungen des A. T., mithin zur Bestimmung des Messias gehörig, nachgewiesen, so konnten sie nach seinem wirklich erfolgten Tode den Glau - ben an seine Messianität nicht so ganz verlieren. Mit Un - recht zwar hat der Wolfenbüttler Fragmentist in dem Be - nehmen Jesu, wie es die Evangelisten schildern, Spuren auffinden wollen, daſs auch ihm selbst sein Tod unerwar - tet gekommen sei: aber das Resultat, welches er zieht, behält, auch wenn bloſs auf das Benehmen der Jünger ge - sehen wird, seine Gültigkeit, daſs nämlich, nach demsel - ben zu urtheilen, Jesus den Jüngern keine vorläufige Mit - theilung über seinen bevorstehenden Tod gemacht haben könne, sondern sie scheinen bis auf die lezte Zeit hinaus in diesem Stück die gewöhnliche Ansicht gehabt, und erst314Dritter Abschnitt.nachdem sie der Tod Jesu unerwartet getroffen, aus dem Erfolg das Merkmal des Leidens und Sterbens in ihren Messiasbegriff aufgenommen zu haben3)Vom Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 114 ff. 153 f.. Allerdings müs - sen wir hier das Dilemma stellen: entweder sind die An - gaben der Evangelisten von dem Nichtverstehen der Jün - ger und ihrer Uberraschung bei'm Tode Jesu unhistorisch übertrieben, oder sind die bestimmten Aussprüche Jesu über den ihm bevorstehenden Tod ex eventu gemacht, und er kann nicht einmal im Allgemeinen seinen Tod als zu seinem messianischen Schicksal gehörig vorhergesagt haben. In beiden Hinsichten konnte die Sage zu unhistorischen Darstellungen veranlaſst sein: zur Erdichtung einer Vor - aussage seines Todes im Allgemeinen durch dieselben Grün - de, welche oben als Motive geltend gemacht worden sind, ihm die Vorherverkündigung der einzelnen Züge seines Leidens in den Mund zu legen; zur Fiktion eines so völ - ligen Unverstandes von Seiten der Jünger aber konnte man sich theils durch die Neigung veranlaſst sehen, die Tiefe des von Jesu eröffneten Mysteriums von einem leidenden Messias mittelst des Nichtverstehens der Jünger zu heben, theils dadurch, daſs man in der evangelischen Verkündi - gung die Jünger vor der Ausgieſsung des Geistes den zu bekehrenden Juden und Heiden verähnlichte, welche Al - les eher, als den Tod des Messias, begreifen konnten.

Um dieses Dilemma einer Entscheidung entgegenzufüh - ren, müssen wir zuvörderst die damaligen Zeitvorstellun - gen über den Messias darauf ansehen, ob wohl das Merk - mal des Leidens und Sterbens schon vor und unabhängig von Jesu Tod in denselben enthalten war oder nicht. War es schon zu Lebzeiten Jesu jüdische Vorstellung, daſs der Messias eines gewaltsamen Todes sterben müsse: so hat es alle Wahrscheinlichkeit, daſs auch Jesus diese Vorstel - lung in seine Überzeugung aufgenommen und seinen Jün -[315]Erstes Kapitel. §. 108.gern mitgetheilt habe, welche dann um so weniger in die - sem Stücke so unbelehrt bleiben und vom wirklichen Er - folg so ganz darniedergeschlagen werden konnten; war dagegen jene Vorstellung vor Jesu Tode nicht unter seinen Landsleuten verbreitet, so bleibt es zwar immer noch mög - lich, daſs Jesus durch eigenes Raisonnement auf dieselbe kommen konnte, aber eben so möglich ist dann, daſs die Jünger erst nach dem Erfolg das Merkmal des Leidens und Todes in ihren Messiasbegriff aufgenommen haben.

Die Frage, ob die Vorstellung von einem leidenden und sterbenden Messias zu Jesu Zeit bereits unter den Ju - den verbreitet gewesen sei, gehört zu den schwierigsten, und über welche die Theologen noch am wenigsten zum Einverständniſs gekommen sind. Und zwar liegt die Schwie - rigkeit der Frage nicht in theologischem Parteiinteresse, so daſs man hoffen könnte, mit dem Aufkommen unparteii - scher Forschung werde sich die Verwicklung lösen, da vielmehr, wie Stäudlin treffend nachgewiesen hat4)Über den Zweck und die Wirkungen des Todes Jesu, in der Göttingischen Bibliothek, 1, 4, S. 252 ff., so - wohl das orthodoxe als das rationalistische Interesse jedes auf beide Seiten hintreiben kann, weſswegen wir denn auch auf beiden Seiten Theologen von beiden Parteien fin - den5)s. das Verzeichniss bei de Wette a. a. O. S. 6 ff. Die be - deutendsten Stimmen für das Vorhandensein der fraglichen Vorstellung schon zu Lebzeiten Jesu haben abgegeben Stäud - lin in der angef. Abh. in der Gött. Biblioth. 1, S. 233 ff. und Hengstenberg, Christologie des A. T., 1, a, S. 270 ff. b, S. 290 ff. ; für die entgegengesezte Ansicht de Wette, in der angef. Abh., Opusc. S. 1 ff.: sondern die Schwierigkeit der Sache liegt in dem Mangel an Nachrichten, und in der Unsicherheit derjeni - gen, welche vorhanden sind. Wenn das alte Testament die Lehre von einem leidenden und sterbenden Messias ent - hielte, so würde hieraus allerdings mit mehr als bloſser316Dritter Abschnitt.Wahrscheinlichkeit folgen, daſs sie auch unter den Juden zu Jesu Zeit vorhanden gewesen: so hingegen, da nach den neuesten Untersuchungen wohl die Lehre von einer in der messianischen Zeit vorzunehmenden Sühnung des Volks (Ezech. 36, 25. 37, 23. Zach. 13, 1. Dan. 9, 24.) sich im A. T. findet, aber keine Spur davon, daſs diese Sühnung durch Leiden und Tod des Messias zu Stande kommen sol - le6)de Wette, bibl. Dogm. §. 201 f. Baumgarten-Grusius, bibl. Theol. §. 54.: so ist von dieser Seite her keine Entscheidung der vorgelegten Frage zu erwarten. Näher liegen der Zeit Je - su die A. T. lichen Apokryphen: aber da diese überhaupt vom Messias schweigen, so kann auch von jenem speciellen Zug im Bilde desselben keine Rede sein7)s. de Wette, a. a. O. §. 189 ff.; so wie auch von den beiden das fragliche Zeitalter am nächsten berüh - renden Schriftstellern, Philo und Josephus, der leztere die messianischen Hoffnungen seiner Nation verschweigt8)vgl. de Wette, a. a. O. §. 193., der erstere wohl messianische Zeiten und einen messiasartigen Helden, aber nichts von einem Leiden desselben hat9)Gfrörer, Philo, 1, S. 495 ff.. Es bleiben also nur das N. T. und die späteren jüdischen Schriften als Quellen übrig.

Im N. T. hat es fast durchaus das Ansehen, als hätte an einen leidenden und sterbenden Messias unter den mit Jesu lebenden Juden Niemand gedacht. Wenn der Mehr - zahl der Juden die Lehre vom gekreuzigten Messias ein σκάνδαλον war; wenn die Jünger Jesu in seine wiederhol - ten deutlichen Todesverkündigungen sich nicht finden konn - ten: so sieht dieſs doch gar nicht aus, als ob die Lehre von einem leidenden Messias unter den Juden jener Zeit im Umlauf gewesen wäre; vielmehr stimmt mit diesen Um - ständen die Behauptung völlig überein, welche der vierte Evangelist dem jüdischen ὄχλος in den Mund legt (12, 34.),317Erstes Kapitel. §. 108.sie haben aus dem νόμος gelernt, ὅτι χριςὸς μένει εἰς τὸν αἰῶνα10)Eine Stelle aus dem eigentlichen νόμος möchte hier schwer zu finden sein; de Wette, de morte, S. 72. denkt an Jes. 9, 5, Lücke, z. d. St. an Ps. 110, 4. Dan. 7, 14. 2, 44.. Doch eine allgemeine Geltung der Idee des lei - denden Messias unter den damaligen Juden behaupten auch jene Theologen nicht, sondern die Hoffnung auf einen welt - lichen, endlos regierenden Messias als die herrschende einräumend, halten sie nur daran fest, worin selbst der Wolfenbüttler Fragmentist mit ihnen übereinstimmt11)Vom Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 179 f., daſs eine minder zahlreiche Partei, nach Stäudlin namentlich die Essener, nach Hengstenberg der bessere, erleuchtetere Theil des Volks überhaupt, einen solchen Messias angenommen habe, welcher zunächst in Niedrigkeit erscheinen, und erst durch Leiden und Tod zur Herrlichkeit eingehen würde. Hiefür beruft man sich besonders auf zwei Stellen, eine aus dem dritten, und eine aus dem vierten Evangelium. Wie Jesus als unmündiges Kind im Tempel zu Jerusalem dargestellt wird, spricht der greise Simeon unter andern Weissagungen, namentlich über den Widerspruch, welchen ihr Sohn einst finden werde, zu Maria auch die Worte:καὶ σοῦ δὲ αὐτῆς τὴν ψυχὴν διελεύσεται ῥομφαία(Luc. 2, 35.), wodurch ihr mütterlicher Schmerz über den Tod ihres Soh - nes bezeichnet, also die Ansicht, daſs dem Messias ein ge - waltsamer Tod bevorstehe, als eine schon vor Christo vor - handene dargestellt zu werden scheint. Noch deutlicher liegt die Idee von einem leidenden Messias in den Worten, welche das vierte Evangelium (1, 29.) den Täufer bei'm Anblick Jesu sprechen läſst, er sei ἀμνὸς τοῦ ϑεοῦ αἴ - ρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου, ein Ausspruch, welcher, in seiner Beziehung auf Jes. 53., im Munde des Täufers gleich - falls dafür sprechen würde, daſs die Vorstellung eines süh - nenden Leidens des Messias schon vor Jesu vorhanden ge -318Dritter Abschnitt.wesen sei. Allein beide Stellen sind bereits oben als un - historisch nachgewiesen, und es darf daraus, daſs die ur - christliche Sage geraume Zeit nach dem Erfolge sich be - wogen fand, Personen, welche sie für gottbegeisterte hielt, eine Vorkenntniſs des göttlichen Rathschlusses hinsichtlich des Todes Jesu in den Mund zu legen, keineswegs gefol - gert werden, daſs wirklich schon vor dem Tode Jesu die - se Einsicht vorhanden gewesen. Schlieſslich wird das noch geltend gemacht, daſs die Evangelisten und Apostel die Idee eines leidenden und sterbenden Messias im A. T. nachweisen, woraus man schlieſsen zu dürfen glaubt, daſs diese Deutung der betreffenden A. T. lichen Stellen damals unter den Juden nicht unerhört gewesen sei. Allerdings berufen sich Petrus (A. G. 3, 18. 1. Petr. 1, 11 f.) und Paulus (A. G. 26, 22 f. 1. Kor. 15, 3.) auf Moses und die Propheten als Verkündiger des Todes Jesu, und Phi - lippus deutet dem äthiopischen Eunuchen die Stelle Jes. 53. auf die Leiden Christi (A. G. 8, 35.): allein, da die ge - nannten Männer alles dieſs nach dem Erfolg sprachen und schrieben, so haben wir keine Sicherheit, ob sie nicht auch bloſs aus dem Erfolg heraus, und ohne sich an eine unter ihren jüdischen Zeitgenossen übliche Auslegungsweise an - zuschlieſsen, jenen A. T. lichen Stellen eine Beziehung auf das Leiden des Messias gegeben haben12)s. de Wette, de morte Chr. p. 73 f..

Wenn auf diese Weise die Annahme, daſs die in Frage stehende Idee schon zu Jesu Lebzeiten unter seinen Volks - genossen vorhanden gewesen sei, im N. T. keinen festen Grund hat: so fragt sich jezt, ob ein solcher vielleicht in den späteren jüdischen Schriften zu finden ist. Zu den äl - testen uns übrigen Schriften dieser Klasse gehören die bei - den chaldäischen Paraphrasen von Onkelos und Jonathan, und von diesen pflegt das Targum des lezteren, der rab -319Erstes Kapitel. §. 108.binischen Tradition zufolge eines Schülers von Hillel d. Ä.,13)vgl. Gesenius, Jesaias, 2 Thl., S. 66; de Wette, Einleitung in das A. T. §. 59. 3te Ausg., für die Vorstellung von einem leidenden Messias deſswegen an - geführt zu werden, weil es die Stelle Jes. 52, 13 53, 12. auf den Messias beziehe. Allein mit der Auslegung dieser Stelle im Targum Jonathan hat es die eigene Bewandtniſs, daſs dasselbe zwar den Abschnitt im Allgemeinen messianisch deutet, so oft aber von Leiden und Tod die Rede wird, recht absichtlich und meistens höchst gewaltsam entweder diese Begriffe vermeidet, oder auf ein anderes Subjekt, das Volk Israël, ausbeugt: zum deutlichen Beweise, daſs dem Verfasser Leiden und gewaltsamer Tod mit dem Begriff des Messias unvereinbar geschienen habe14)Wörtliche Übers. nach Hitzig: 52, 14:Gleichwie sich Viele vor ihm entsetz - ten, also entstellt, nicht menschlich, war sein Anse - hen, und seine Gestalt nicht die der Menschenkin - der u. s. f. 53, 4: Allein unsre Krank - heiten er trug sie, und un - sere Schmerzen lud er sich auf, und wir achteten ihn geschlagen, getroffen von Gott und gequält.Targum Jonathan:Quemadmodum per multos dies ipsum exspectârunt Is - raëlitae, quorum contabuit inter gentes adspectus et splen - dor (et evanuit) e filiis homi - num etc. Idcirco pro delictis nostris ipse deprecabitur, et ini - quitates nostrae propter eum condonabuntur, licet nos reputati simus contusi, plagis affecti et afflicti.Auch Origenes erzählt, c. Cels. 1, 55, wie ein λεγόμενος παρὰ Ἰουδαίοις σοφὸς seiner christlichen Deutung der jesaianischen Stelle entgegengehalten habe: ταῦτα πεπροφητεῦσϑαι ὡς περὶ. Doch dieſs soll eben der Anfang der Abirrung vom wahren Sinn des Orakels sein, zu welcher die späteren Juden ihr fleischli - cher Sinn und die Opposition gegen das Christenthum ver - leitet habe: die älteren Ausleger haben, sagt man, in der320Dritter Abschnitt.jesaianischen Stelle einen leidenden und sterbenden Messias gefunden. Allerdings bezeugen Abenesra, Abarbanel und Andre, manche alte Lehrer haben Jes. 53. auf den Mes - sias bezogen15)s. bei Schöttgen, 2, S. 182 f. Eisenmenger, entdecktes Ju - denthum, 2, S. 758.: allein einige dieser Angaben lassen dun - kel, ob nicht ebenso bloſs stückweise, wie Jonathan, und bei allen bleibt zweifelhaft, ob die Erklärer, von denen sie sprechen, zum Alter Jonathan's hinaufreichen, was ohnehin von den Theilen des Buchs Sohar, welche die bezeichnete Stelle auf den leidenden Messias deuten16)bei Schöttgen, 2, S. 181 f., unwahrscheinlich ist. Diejenige Schrift aber, welche ne - ben Jonathan noch am nächsten an die Zeit Jesu hinanrei - chen möchte, das pseudepigraphische vierte Buch Esra, der wahrscheinlichsten Rechnung zufolge kurz nach der Zerstörung Jerusalems unter Titus abgefaſst17)de Wette, de morte Chr. expiatoria, a. a. O. S. 50., erwähnt zwar des Todes des Messias, aber nicht eines leidensvollen, sondern nur eines solchen, wie er nach der langen Dauer des messianischen Reichs der allgemeinen Auferstehung vor - angehen sollte18)Cap. 7, 29.. Die Vorstellung von groſsen Drangsa - len allerdings, welche gleichsam als Geburtswehen des Messias (הבלי המישיח, vgl. ἀρχὴ ὠδίνων Matth. 24, 8.) der messianischen Zeit vorangehen würden, ist ohne Zweifel schon vor Christo verbreitet gewesen19)Schöttgen, 2, S. 509 ff. Schmidt, Christologische Fragmente, in seiner Bibliothek, 1, S. 24 ff. Bertholdt, Christol. Jud. §. 13., und ebenso frü - he scheint an die Spitze dieser, besonders das Volk Israël bedrängenden Übel der ἀντίχριςος gestellt worden zu sein, welchen der χριςὸς zu bekämpfen haben würde (2 Thess. 14)ἑνὸς τοῦ ὅλου λαοῦ, καὶ γενομένουἐν τῇ διασπορᾷ, καὶ πληγέντος, ἵνα πολλοὶ προσήλυτοι γέγωνται.321Erstes Kapitel. §. 108.2, 3 ff. )20)Schmidt, a. a. O.; Bertholdt, a. a. O. §. 16.: aber, indem er denselben auf übernatürliche Weise, τῷ πνεύματι τοῦςόματος αὺτοῦ, vernichten sollte, so war hierin noch kein Leiden für den Messias enthalten. Dennoch finden sich Stellen, in welchen von einem Leiden des Messias, und zwar von einem stellvertretenden für das Volk, die Rede ist21)Pesikta in Abkath Rochel, bei Schmidt, S. 47 f.: allein theils ist dieſs nur ein Lei - den, kein Sterben des Messias; theils trifft es denselben entweder vor seiner Herabkunft in das irdische Leben, in seiner Präexistenz22)Sohar, P. 2, 85, 2., bei Schmidt, S. 48 f., oder in der Verborgenheit, in wel - cher er sich von seiner Geburt bis zu seinem messianischen Auftritt hält23)Gemara Sanhedrin f. 98, 1, bei de Wette, de morte Chr. p. 95 f., und bei Hengstenberg, S. 292.; theils ist das Alter dieser Vorstellungen zweifelhaft, und sie könnten nach einigen Spuren erst von der Zerstörung des jüdischen Staats durch Titus sich zu datiren scheinen24)Sohar, P. 2, f. 82, 2. bei de Wette, S. 94: Cum Israëlitae essent in terra sancta, per cultus religiosos et sacrificia quae faciebant, omnes illos morbos et poenas e mundo sustule - runt; nunc vero Messias debet auferre eas ab hominibus.. Indessen fehlt es in jüdischen Schrif - ten keineswegs an Stellen, in welchen geradezu behaup - tet wird, daſs ein Messias auf gewaltsame Weise umkom - men werde: allein diese betreffen nicht den eigentlichen Messias, den Abkömmling Davids, sondern einen andern, aus der Nachkommenschaft Josephs und Ephraims, wel - cher dem ersteren in untergeordneter Stellung beigegeben wurde. Dieser Messias ben Joseph sollte dem Messias ben David vorangehen, die zehn Stämme des ehmaligen Reichs Israël mit den zwei Stämmen des Reichs Juda ver - einigen, hierauf aber im Kriege gegen Gog und Magog durch das Schwert umkommen, worauf die Stelle Zach. 12, 10. bezogen wurde25)s. Bertholdt, a. a. O. §. 17.. Doch von diesem zweiten, ster -Das Leben Jesu II. Band. 21322Dritter Abschnitt.benden Messias fehlen vor der babylonischen Gemara, wel - ehe im 5ten und 5ten Jahrhundert nach Christo gesammelt ist, und dem in Bezug auf sein Alter höchst zweifelhaften Buch Sohar, die sicheren Spuren26)de Wette, de morte Chr. p. 112. vgl. 53 ff..

Obschon es hienach nicht nachweislich und selbst nicht wahrscheinlich ist, daſs die Vorstellung von einem leiden - den Messias zu Jesu Zeit schon unter den Juden vorhan - den gewesen: so bliebe doch immer möglich, daſs auch ohne solchen Vorgang Jesus selbst durch Beobachtung der Verhältnisse, und Vergleichung derselben mit A. T. lichen Erzählungen und Weissagungen, auf den Gedanken gekom - men wäre, daſs Leiden und Sterben zum Amt und zur Bestimmung des Messias gehöre; wobei dann aber na - türlicher wäre, daſs er allmählig erst im Laufe seiner öf - fentlichen Wirksamkeit diese Überzeugung gefaſst, und sie hauptsächlich nur seinen Vertrauten mitgetheilt, als daſs er sie schon von Anfang an gehabt, und sie vor Gleich - gültigen, ja Feinden, ausgesprochen hätte: dieses die Art, wie Johannes, jenes, wie die Synoptiker die Sache dar - stellen.

Auch in Bezug auf die Äusserungen Jesu über den Zweck und die Wirkungen seines Todes können wir, wie oben bei der Vorherverkündigung des Todes selbst, einen mehr natürlichen Gesichtspunkt von einem mehr suprana - turalistischen unterscheiden. Wenn Jesus im vierten Evan - gelium sich mit dem treuen Hirten vergleicht, der für sei - ne Schafe das Leben lasse (10, 11. 15. ): so kann dieſs den ganz natürlichen Sinn haben, daſs er von seinem Hir - ten - und Lehramte nicht zu weichen gesonnen sei, sollte auch in Führung desselben der Tod ihm drohen (morali - sche Nothwendigkeit seines Todes)27)Hase, L. J. §. 108.; der ahnungsvolle Ausspruch in demselben Evangelium (12, 24.), wenn das323Erstes Kapitel. §. 108.Samenkorn nicht in die Erde fallend ersterbe, bleibe es einsam, ersterbe es aber, so bringe es viele Frucht, läſst eine ebenso rationale Erklärung von der siegenden Kraft jedes Märtyrertods für eine Idee und Überzeugung zu (mo - ralische Wirksamkeit seines Todes)28)Ders. ebendas.; endlich, was sich in den johanneischen Abschiedsreden so oft wiederholt, es sei den Jüngern gut, daſs Jesus hingehe, denn ohne sei - nen Hingang könnte der παράκλητος nicht zu ihnen kom - men, der ihn in ihnen verklären, und sie in alle Wahrheit leiten werde, darin könnte man die ganz natürliche Über - legung Jesu finden, daſs ohne die Aufhebung seiner sinnli - chen Gegenwart die bis dahin noch so sinnlichen messia - nischen Vorstellungen seiner Jünger nicht vergeistigt wer - den würden (psychologische Wirksamkeit seines Todes)29)Ders. ebendas. und §. 109.. Mehr der supranaturalistischen Betrachtungsweise gehört dasjenige an, was Jesus bei der Stiftung des Abendmahls spricht. Denn wenn zwar das, was die beiden mittleren Evangelisten ihn hiebei sagen lassen, daſs das dargereichteποτήριον τὸ αἷμα τῆς καινῆς διαϑήκης(Marc. 14, 24.), καινὴ διαϑήκη ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ(Luc. 22, 20.) sei, nur so viel zu bedeuten scheinen könnte: wie durch die blutigen Opfer am Sinai der Bund des alten Volkes mit Gott, so werde durch sein, des Messias, Blut in höherer Weise der Bund der neuen um ihn sich sammelnden Gemeinde besiegelt: so verschmilzt hingegen in der Relation des Mat - thäus, wenn er (26, 28) Jesum hinzusetzen läſst, sein Blut werde vergossen für Viele εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν, die Vor - stellung des Bundesopfers mit der von einem Sühnopfer, und auch bei den beiden andern ist durch den Zusaz: τὸ περὶ πολλῶν oder ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυνόμενον, über das bloſse Bundesopfer zum Sühnopfer hinausgegangen. Wenn fer - ner im ersten Evangelium (20, 28.) Jesus sagt, er müsse21 *324Dritter Abschnitt.δοῦναι τὴν ψυχὴν αὑτοῦλύτρον ἀντὶ πολλῶν: so ist dieſs ohne Zweifel auf Jes. 53. zu beziehen, wo, nach einer, dem He - bräer auch sonst geläufigen Vorstellung (Jes. 43, 3. Prov. 21, 18.) dem Tode des Knechts Jehova's eine sühnende Beziehung auf die übrige Menschheit gegeben wird.

Hienach könnte Jesus durch psychologische Reflexion darauf gekommen sein, wie zuträglich der geistigen Ent - wicklung seiner Jünger eine solche Katastrophe sein wer - de, und nationalen-Vorstellungen gemäſs mit Berücksichti - gung A. T. licher Stellen selbst auf die Idee einer sühnen - den Kraft seines messianischen Todes. Indessen könnte doch namentlich das, was die Synoptiker Jesum von sei - nem Tod als Sühnopfer sagen lassen, mehr dem nach Je - su Tode ausgebildeten System anzugehören, und was der vierte Evangelist ihm über die Beziehung seines Todes zum Paraklet in den Mund legt, ex eventu gesagt zu sein scheinen, so daſs auch bei diesen Aussprüchen Jesu über den Zweck seines Todes eine Sonderung des Allgemeinen vom Speciellen vorgenommen werden müſste.

§. 109. Bestimmte Aussprüche Jesu über seine künftige Auferstehung.

Mit nicht minder klaren Worten als seinen Tod, und mit einer besonders genauen Zeitbestimmung, hat den evan - gelischen Nachrichten zufolge Jesus auch seine Auferste - hung verausverkündigt. So oft er seinen Jüngern sagte, des Menschen Sohn werde am Kreuze getödtet werden, sezte er hinzu: καὶ τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἀναςήσεται oder ἐγερ - ϑήσεται (Matth. 16, 21. 17, 23. 20, 19. parall. vgl. 17, 9. 26, 32. parall.).

Aber auch von dieser Vorherverkündigung heiſst es, die Jünger haben sie nicht gefaſst, so wenig, daſs sie sogar miteinander stritten, τί ἐςι τὸ ἐκ νεκρῶν ἀναςῆναι (Marc. 325Erstes Kapitel. §. 109.9, 10.); und gemäſs diesem Nichtverstehen zeigen sie so - fort nach dem Tode Jesu keine Spur einer Erinnerung, daſs ihnen ein auf das Sterben folgendes Auferstehen Je - su vorhergesagt war, keinen Funken von Hoffnung, daſs diese Zusage in Erfüllung gehen werde. Als die Freunde den vom Kreuz abgenommenen Leichnam in das Grab gelegt hatten, nahmen sie (Joh. 19, 40.) oder behielten sich die Frauen (Marc. 16, 1. Luc. 23, 56.) die Einbal - samirung vor, was man doch nur bei einem solchen thut, welchen man als eine Beute der Verwesung betrachtet; als an dem Morgen, welcher nach N. T. licher Rechnung den vorausbestimmten Auferstehungstag eröffnete, die Frauen zum Grabe giengen, dachten sie so wenig an eine vorher - gesagte Auferstehung, daſs ihnen die vermuthliche Schwie - rigkeit, den Stein vom Grab zu wälzen, Besorgniſs mach - te (Marc. 16, 3.); als Maria Magdalena und später Petrus das Grab leer fanden, hätte ihr erster Gedanke sein müs - sen, daſs nun die Auferstehung wirklich erfolgt sei, wenn eine solche vorausgesagt war: statt dessen vermuthet jene, der Leichnam möchte gestohlen sein (Joh. 20, 2.), Petrus aber verwundert sich bloſs, ohne auf eine bestimmte Ver - muthung zu kommen (Luc. 24, 12.); als die Weiber den Jüngern von der gehabten Engelerscheinung sagten, und sich des Auftrags der Engel entledigten, hielten die Jün - ger ihre Aussage theils für leeres Geschwäz (λῆρος Luc. 24, 11.), theils wurden sie zu schreckenvollem Erstaunen erregt (ἐξέςησαν ἡμᾶς, Luc. 24, 21 ff. ); als Maria Magda - lena, und hernach die Emmauntischen Jünger, die Eilfe versicherten, den Auferstandenen selbst gesehen zu haben, schenkten sie auch dieser Aussage keinen Glauben (Marc. 16, 11. 13. ), wie später Thomas sogar der Versicherung seiner Mitapostel nicht (Joh. 20, 25.); endlich, als Jesus selbst in Galiläa den Jüngern erschien, gaben noch nicht alle den Zweifel auf (οἱ δὲ ἐδίςασαν, Marc. 28, 17.). Dieſs Alles muſs man wohl mit dem Wolfenbüttler Fragmenti -326Dritter Abschnitt.sten1)Vgl. seine belebte und schlagende Ausführung, vom Zweck u. 8. f. S. 121 ff. unbegreiflich finden, wenn Jesus seine Auferstehung so klar und bestimmt vorhergesagt hatte.

Zwar, wie das Benehmen der Jünger nach Jesu Tod gegen eine solche von Jesu gegebene Voraussage spricht, so scheint das seiner Feinde dafür zu sprechen. Denn daſs nach Matth. 27, 62 ff. die Hohenpriester und Pha - risäer an das Grab Jesu sich von Pilatus eine Wache erbitten, hat nach ihrer eigenen Erklärung darin seinen Grund, daſs Jesus bei seinem Leben noch gesagt haben sollte: μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἐγείρομαι. Allein diese Erzäh - lung des ersten Evangeliums, die wir erst unten näher würdigen können, entscheidet noch nichts, sondern tritt nur auf die eine Seite des Dilemma, so daſs wir nun sa - gen müssen: wenn die Jünger nach dem Tode Jesu sich wirklich so benahmen, dann kann weder er seine Aufer - stehung vorhergesagt, noch können die Juden aus Rück - sicht auf eine solche Vorherverkündigung eine Wache an sein Grab bestellt haben; oder, wenn die beiden lezteren Angaben richtig sind, können die Jünger sich nicht so be - nommen haben.

Die Schärfe dieses Dilemma hat man dadurch abzu - stumpfen versucht, daſs man den oben angeführten Vorher - verkündigungen nicht den eigentlichen Sinn einer Wieder - kehr des gestorbenen Jesu aus dem Grabe, sondern nur den uneigentlichen eines neuen Aufschwungs seiner unter - drückten Lehre und Sache unterlegte2)So namentlich Herder, vom Erlöser der Menschen, S. 133 ff. vgl. Ruinöl, Comm, in Matth. p. 444 f.. Wie die A. T. - lichen Propheten, wurde gesagt, die Wiederherstellung des israëlitischen Volks zu neuem Wohlergehen unter dem Bil - de einer Auferstehung der Todten darstellen (Jes. 26, 19. Ezech. 37.), wie sie die kurze Frist, innerhalb welcher327Erstes Kapitel. §. 109.unter gewissen Bedingungen diese Wendung der Dinge zu erwarten wäre, durch den Ausdruck bezeichnen, in zwei bis drei Tagen werde Jehova das Geschlagene aufrichten und das Getödtete wiederbeleben (Hos. 6, 2.3)LXX:ὑγιάσει ἡμᾶς μετὰ δύο ἡμέρας· ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ ἐξα - ναςησόμεϑα, καὶ ζησόμεϑα ἐνώπιον αὐτοῦ.), eine Zeit - angabe, welche auch Jesus unbestimmt für eine kurze Zeit gebrauche (Luc. 13, 32.): so wolle er mit dem Ausdruck, er werde nach seinem Tode τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἀναςῆναι, nichts Anderes sagen, als, wenn auch er der Gewalt seiner Fein - de unterliegen und getödtet werden sollte, so werde das von ihm begonnene Werk doch nicht untergehen, sondern in kurzer Zeit einen neuen Aufschwung nehmen. Diese von Jesu bloſs bildlich gemeinten Redensarten haben die Apostel, nachdem Jesus leiblich auferstanden war, eigent - lich genommen, und für Weissagungen auf seine persön - liche Wiederbelebung angesehen. Daſs nun in den ange - führten Prophetenstellen das הׇיׇה, קוּם und הֵקׅיץ nur den an - gegebenen tropischen Sinn habe, ist richtig, aber in Stellen, deren ganzer Zusammenhang tropisch ist, und wo namentlich das dem Wiederbeleben vorangegangene Schlagen und Töd - ten selbst nur einen figürlichen Sinn hatte. Daſs dage - gen hier, wo die ganze vorhergehende Reihe von Ausdrü - cken, das παραδίδοσϑαι, κατακρίνεσϑαι, ςαυροῦσϑαι, ἀπο - κτείνεσϑαι u. s. f., eigentlich zu nehmen war, auf Einmal mit dem ἐγερϑῆναι und ἀναςῆναι eine uneigentliche Bedeu - tung eintreten sollte, würde doch ein unerhörter Absprung sein; dessen nicht zu gedenken, daſs Stellen, wie Matth. 26, 32, wo Jesus sagt: μετὰ τὸ ἐγερϑῆναί με προάξω ὑμᾶς εἰς τὴν Γαλιλαίαν, nur bei der eigentlichen Bedeutung des ἐγείρεσϑαι einen Sinn haben. Ebenso steht die Zeitbe - stimmung des dritten Tages an den beiden Stellen, auf welche man sich für die ungenaue und sprichwörtliche Be - deutung einer kurzen Zeit überhaupt beruft, in einem Zu -328Dritter Abschnitt.sammenhang, welcher von selbst auf einen solchen Sinn des Ausdrucks führt, indem in der Prophetenstelle vor dem ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ μετὰ δύο ἡμέρας, in der evan - gelischen aber vor dem τῇ τρίτῃ σήμερον καὶ αὔριον steht: wogegen in allen Stellen, wo Jesus seine Auferstehung verkündigt, jede solche Veranlassung, von dem bestimmten Sinn des Ausdrucks abzugehen, fehlt4)vgl. Süskind, einige Bemerkungen über die Frage, ob Jesus seine Auferstehung bestimmt vorhergesagt habe? in Flatt's Magazin, 7, S. 203 ff.. Hat also Jesus wirklich die Ausdrücke, und in dem Zusammenhang, ge - braucht, wie die Evangelisten sie ihm in den Mund legen, so kann er durch dieselben nicht blos uneigentlich den baldigen Sieg seiner Sache haben verkündigen wollen, son - dern seine Meinung muſs die gewesen sein, er selbst wer - de drei Tage nach seinem gewaltsamen Tod auf's Neue in das Leben zurückkehren.

Da jedoch Jesus, dem Benehmen seiner Jünger nach seinem Tode zufolge, seine Auferstehung nicht mit deutli - chen Worten vorherverkündigt haben kann: so haben sich andre Ausleger zu der Einräumung verstanden, die Evan - gelisten haben den Reden Jesu nach dem Erfolg eine Be - stimmtheit gegeben, welche sie in Jesu Mund noch nicht gehabt haben; sie haben das, was Jesus bildlich vom Auf - schwung seiner Sache nach seinem Tode gesagt habe, nicht bloſs eigentlich verstanden, sondern es dieser Auffassung gemäſs auch so umgeformt, daſs, wie wir es jezt lesen, wir es allerdings eigentlich verstehen müssen5)Paulus, a. a. O. 2, S. 415 ff. Hase, L. J. §. 109.. Doch nicht alle betreffenden Reden Jesu seien auf diese Weise verändert, sondern hie und da auch noch seine ursprüng - lichen Ausdrücke stehen geblieben.

329Erstes Kapitel. §. 110.

§. 110. Bildliche Reden, in welchen Jesus seine Auferstehung vorher - verkündigt haben soll.

Schon zu Anfang seiner öffentlichen Wirksamkeit hat dem vierten Evangelium zufolge Jesus die ihm feindlich ge - sinnten Juden in bildlicher Rede auf seine künftige Auf - erstehung hingewiesen (2, 19 ff.). Nachdem während sei - nes ersten messianischen Festbesuchs der Marktunfug im Tempel ihn zu jenem Schritte heiligen Eifers bewogen hat - te, von welchem oben die Rede gewesen, und wie nun die Juden ihn um ein Zeichen angiengen, durch welches er sich als einen Gottgesandten legitimiren sollte, der zur Vornahme solcher Gewaltmaſsregeln Befugniſs hätte, giebt ihnen Jesus die Antwort: λύσατε τὸν ναὸν τοῦτον, καὶ ἐν τρισὶν ἡμέραις ἐγερῶ αὐτόν. Die Juden nahmen diese Wor - te in dem Sinn, welcher, da sie im Tempel gesprochen wurden, am nächsten lag, und hielten Jesu entgegen, daſs er diesen Tempel, zu dessen Bau man 46 Jahre gebraucht habe, wohl schwerlich, wenn er zerstört wäre, in 3 Tagen wieder aufzurichten im Stande sein dürfte; aber der Evan - gelist belehrt uns, dieſs sei nicht die Meinung Jesu gewe - sen, sondern dieser habe, wie übrigens den Jüngern erst nach seiner Auferstehung klar geworden sei, von dem ναὸς τοῦ σώματος αὑτοῦ geredet, d. h. also durch das Abbrechen und Wiederaufbauen des Tempels auf seinen Tod und seine Auferstehung hingedeutet. Giebt man hiebei auch zu, was indessen gemäſsigte Ausleger leugnen1)z. B. Lücke, 1, S. 426; vgl. dagegen Tholuck, S. 75., daſs Jesus die Ju - den mit ihrer Forderung eines gegenwärtigen Zeichens (wie er es auch Matth. 12, 39 f. gethan haben soll) füglich auf seine einstige Auferstehung, als das gröſste und namentlich für seine Feinde beschämendste Wunder in seiner Ge - schichte, habe verweisen können: so muſste diese Hinwei - sung doch von der Art sein, daſs sie möglicherweise ver -330Dritter Abschnitt.standen werden konnte (wie Matth. a. d. a. St. Jesum ganz unumwunden sich erklären läſst). So hingegen, wie wir hier den Ausspruch Jesu haben, konnte er, als ihn Jesus that, unmöglich in diesem Sinne begriffen werden. Denn wer im Tempel von der Zerstörung dieses Tempels spricht, dessen Rede wird Jedermann auf eben das Tem - gebäude, in welchem er sich befindet, beziehen. Es müſs - te demnach Jesus, als er das τὸν ναὸν τοῦτον sprach, auf seinen Leib gedeutet haben, was auch die Freunde dieser Erklärung meistens voraussetzen2)s. Tholuck, a. a. O.. Allein für's Erste sagt der Evangelist von einem solchen Gestus nichts, un - erachtet es in seinem Interesse lag, zur Unterstützung sei - ner Deutung denselben hervorzuheben. Für's Andere hat Gabler mit Recht darauf aufmerksam gemacht, wie matt und schaal es gewesen wäre, einer Rede, welche nach Al - lem, was in ihr Wort, also Logisches war, sich auf das Tempelgebäude bezog, durch einen bloſsen Zusaz von Mi - mischem eine ganz andere Beziehung zu geben. Hat sich aber Jesus dieser Hülfe bedient, so konnte sein Fingerzeig nicht unbemerkt bleiben; es muſsten die Juden eher dar - über mit ihm rechten, wie er zu dem Übermuth komme, seinen Leib ναὸς zu nennen, oder wenn auch dieſs nicht, so konnten doch in Folge jener Aktion die Jünger nicht bis nach der Auferstehung Jesu über den Sinn seiner Re - de im Dunkeln bleiben3)Henke, Joannes apostolus nonnullorum Jesu apophthegmatum in evang. suo et ipse interpres. In Porr's und Ruperti's Syl - loge Comm. theol. 1, S. 9; Gabler, Recension des Henke '- schen Programms im neuesten theol. Journal, 2, 1, S. 88; Lücke, z. d. St..

Durch diese Schwierigkeiten fand sich die neuere Exegese gedrungen, die johanneische Auslegung der Wor - te Jesu als eine ex eventu gemachte Miſsdeutung zu ver - lassen, und zu versuchen, unabhängig von der Erklärung331Erstes Kapitel. §. 110.des Referenten in den Sinn der räthselhaften Rede einzu - dringen, welche er Jesu in den Mund legt4)So, ausser Henke im angef. Programm, Herder, von Gottes Sohn nach Johannes Evang., S. 135 f.; Paulus, Comm. 4, S. 165 f. L. J. 1, a, S. 173 f.; Lücke, z. d. St.. Der Auf - fassung der Juden, welche die Worte Jesu auf ein wirkli - ches Abbrechen und Wiederaufbauen des Nationalheilig - thums bezogen, kann man nicht beistimmen wollen, ohne Jesu gegen seinen sonstigen Charakter eine in's Ungeheu - re getriebene leere Groſssprecherei zuzuschreiben. Sieht man sich deſswegen nach einem irgendwie uneigentlichen Verstande des Ausspruchs um, so begegnet man in demsel - ben Evangelium zuerst der Stelle 4, 21 ff., wo Jesus der Samariterin verkündigt, es komme nächstens die Zeit, wo man nicht mehr ἐν Ἱεροσολύμοις den Vater anbeten, son - dern ihn als Geist geistig verehren werde. Eine Abro - girung des vermeintlich allein gültigen Tempelcultus zu Je - rusalem könnte das λύειν des ναὸς auch in unsrer Stelle ursprünglich bedeutet haben. Diese Auffassung wird durch eine Erzählung der Apostelgeschichte, 6, 14., bestätigt. Stephanus, welcher, wie es scheint, den in Frage stehen - den Ausspruch Jesu adoptirt hatte, wurde von seinen An - klägern beschuldigt, geäussert zu haben, ὅτι Ἰησοῦς Να - ζωραῖος οὖτος καταλύσει τὸν τόπον τοῦτον, καὶ ἀλλάξει τὰ ἔϑη, παρέδωκε Μωϋσῆς, wo demnach als Folge des Tem - pelabbruchs eine Änderung der mosaischen Religionsver - fassung, ohne Zweifel eine Vergeistigung derselben, be - zeichnet wird. Dazu kommt noch eine Stelle in den synoptischen Evangelien. Dieselben Worte beinahe, wel - che bei Johannes Jesus selbst ausspricht, kommen in den zwei ersten Evangelien (Matth. 26, 60 f. Marc. 14, 57 f.) als Anklage falscher Zeugen gegen ihn vor, und hier hat Markus den Zusaz, daſs er den abzubrechenden ναὸς als χειροποίητος, den von Jesus neu zu bauenden als ἄλλος,332Dritter Abschnitt.ἀχειροποίητος bezeichnet, was derselbe Gegensaz von sinn - licher und geistiger Religionsverfassung zu sein scheint. Demgemäſs läſst sich nun auch die johanneische Stelle so erklären: das ist das Zeichen meiner Vollmacht, daſs ich im Stande bin, an die Stelle des mosaischen Ceremonialdien - stes in kürzester Frist einen neuen, geistigen Gottesdienst zu setzen. Allein, abgesehen von der minder bedeuten - den Schwierigkeit, daſs bei Johannes nicht wie bei den Synoptikern das Subjekt gewechselt, und der neuzuer - richtende ναὸς als ἄλλος, sondern durch αὐτὸς als dersel - be mit dem zerstörten bezeichnet wird5)Storr, in Flatt's Magazin, 4, S. 199., so läſst sich na - mentlich das ἐν τρισὶν ἡμέραις nach dem oben Ausgeführ - ten auch hier nicht ohne Weiteres in dem unbestimmten Sinne von kurzer Zeit fassen6)Tholuck und Olsmausen, z. d. St.: in seiner genauen Bedeu - dung genommen aber paſst es nur als Termin der Aufer - stehung Jesu, nicht aber der Vergeistigung des Religions - wesens.

So von beiden Erklärungen in gleicher Weise augezo - gen und abgestoſsen, flüchtet sich Olshausen zu einem Dop - pelsinn, welcher indeſs nicht zwischen der johanneischen und der zulezt dargelegten symbolischen, sondern zwischen der johanneischen Deutung und der jüdischen die Mitte hält, indem Jesus nur, um die Juden abzuweisen, sie zum Abbrechen ihres Tempels, als zu etwas Unmöglichem, auf - gefordert, und unter dieser nie eintreffenden Bedingung sich zum Bau eines neuen erboten haben soll; so jedoch, daſs neben diesem ostensibeln Sinn für die Menge noch ein verborgener hergieng, der den Jüngern erst nach der Auf - erstehung klar wurde, nach welchem ναὸς den Leib Jesu bezeichnete. Allein jene an die Juden gerichtete Aufforde - rung sammt dem darangehängten Erbieten wäre ein un - würdiger Muthwille, die darin verborgene Andeutung für333Erstes Kapitel. §. 110.die Jünger eine nuzlose Spielerei gewesen, und überhaupt ist ein Doppelsinn dieser Art in der Rede eines verständi - gen Menschen unerhört. Da man auf diese Weise an der Erklärbarkeit der johanneischen Stelle ganz verzweifeln möchte, so beruft sich der Verfasser der Probabilien dar - auf, daſs die Synoptiker die Zeugen, welche vor Gericht behaupteten, Jesus habe jenen Ausspruch gethan, als ψευ - δομάρτυρας bezeichnen, woraus er folgert, daſs Jesus so etwas, wie Johannes ihn hier sprechen lasse, gar nicht gesagt habe, und sich somit einer Erklärung der johannei - schen Stelle überhebt, indem er sie als ein Figment des vierten Evangelisten betrachtet, welcher die Verläumdung jener Ankläger sowohl erklären, als durch eine mystische Deutung der Worte Jesu habe abwenden wollen7)Probabil. p. 23 ff.. Al - lein theils folgt aus der synoptischen Bezeichnung jener Zeugen als falscher nicht, daſs der Ansicht jener Evange - listen zufolge Jesus gar nichts von dem, wessen sie ihn beschuldigten, gesagt habe, da er es ja auch nur etwas an - ders gesagt oder anders gemeint haben kann, theils ist, wenn er gar nichts der Art gesagt haben soll, schwer zu erklären, wie die falschen Zeugen auf jene Aussage, und namentlich auf das sonderbare ἐν τρισὶν ἡμέραις gekommen sein sollen.

Wenn hienach bei jeder Deutung des Ausspruchs, aus - ser bei der unmöglichen auf den Leib Jesu, das ἐν τρισὶν ἡμέραις einen Anstoſs bildet: so werden wir, wie es scheint, auf diejenige Relation des Ausspruchs hingewiesen, in wel - cher jene Zeitbestimmung fehlt, d. h. auf die Relation der Apostelgeschichte. Hier wird Stephanus nur beschuldigt, gesagt zu haben, ὅτι . Ναζ. οὖτος καταλύσει τὸν τόπον τοῦτον (τὸν ἅγιον), καὶ ἀλλάξει τὰ ἔϑη παρέδωκε Μωϋσῆς. Das Falsche an dieser Aussage denn auch die Zeugen gegen Stephanus werden als μάρτυρες ψευδεῖς bezeichnet 334Dritter Abschnitt.könnte der zweite Saz sein, welcher mit eigentlichen Wor - ten von einer Änderung der mosaischen Religionsverfas - sung spricht, und statt dessen Stephanus wohl in der oben ausgeführten figürlichen Bedeutung gesagt haben: καὶ πάλιν οἰκοδομήσει αἰτὸν, oder καὶ ἄλλον (ἀχειροποίητον) οἰκοδομήσει.

Hatte nun in diesem Sinne auch schon Jesus jenen Ausspruch, aber ohne die Bestimmung der drei Tage, ge - than, und dadurch unter den Juden bedeutenden Anstoſs erregt, so lag es nach seiner Auferstehung nahe, den zu zerstörenden und wiederaufzubauenden Tempel als Bezeich - nung des Leibes Jesu aufzufassen, um theils den jüdischen Beschuldigungen auszuweichen, theils eine Weissagung der Auferstehung mehr zu haben. Einmal aber den Ausspruch auf die Auferstehung bezogen, ergab es sich von selbst, daſs zuerst auch das bei der Bestimmung von dieser solenne ἐν τρισὶν ἡμέραις hineingetragen, und dann weiterhin das ἄλλον in αὐτὸν, das οἰκοδομήσω in ἐγερῶ verwandelt wurde.

Wie hier durch das Bild vom abzubrechenden und neu aufzubauenden Tempel, so soll Jesus bei einer andern Ge - legenheit durch das Vorbild des Propheten Jonas auf seine Auferstehung im Voraus hingedeutet haben (Matth. 12, 39 ff. vgl. 16, 4. Luc. 11, 29 ff.). Als die Schriftgelehrten und Pharisäer ein σημεῖον von ihm zu sehen verlangten, soll Jesus ihr Ansinnen durch die Erwiederung zurückgewiesen haben, daſs einer so schlimmen γενεὰ kein Zeichen gege - ben werde, als τὸ σημεῖον Ἰωνᾶ τοῦ προφήτου, welches in der ersten Stelle bei Matthäus Jesus selbst dahin erklärt: wie Jonas drei Tage und drei Nächte ἐν τῇ κοιλίᾳ τοῦ κήτους ge - wesen sei, so werde auch des Menschen Sohn drei Tage und drei Nächte ἐν τῇ καρδίᾳ τῆς γῆς zubringen. An der zweiten Stelle, wo Matthäus Jesu diesen Ausspruch leiht, wiederholt er die angegebene Deutung nicht; Lukas aber in der Parallelstelle erklärt denselben nur so: καϑὼς γὰρ ἐγένετο Ἰωνᾶς σημεῖον τοῖς Νινευΐταις, οὑτως ἔςαι καὶ υιὸς335Erstes Kapitel. §. 110.τοῦ ἀνϑρώπουτῇ γενεᾷ ταύτῃ. Gegen die Möglichkeit, daſs Jesus die Auslegung des Jonaszeichens, welche ihm Mat - thäus, V. 40., in den Mund legt, selbst gegeben habe, läſst sich Verschiedenes einwenden. Das zwar, daſs Jesus von drei Tagen und drei Nächten, welche er im Herzen der Erde zubringen werde, deſswegen nicht habe sprechen können, weil er nur einen Tag und zwei Nächte im Grabe gewesen sei8)Paulus, ex. Handb. z. d. St., wird sich schwerlich entgegenhalten las - sen, da der N. T. liche Sprachgebrauch entschieden die Ei - genheit hat, den Aufenthalt Jesu im Grabe, weil er den Tag vor dem Sabbat durch den Abend, und den nach dem Sabbat durch den Morgen noch berührte, einen dreitägigen zu nennen; wurde aber einmal dieser Eine Tag sammt zwei Nächten für drei volle Tage genommen, so war es nur eine Umschreibung dieses Vollseins, daſs zu den Ta - gen auch noch die Nächte gesezt wurden, was sich ohne - hin in der Vergleichung mit den drei Tagen und Nächten des Jonas von selbst ergab9)vgl. Fritzsche und Olshausen, z. d. St.. Dagegen wäre es, wenn Jesus von dem σημεῖον Ἰωνᾶ die Erklärung gab, welche ihm Matthäus leiht, eine so klare Voraussagung seiner Auferstehung gewesen, daſs aus denselben Gründen, wel - che nach dem Obigen den eigentlichen Vorausverkündigun - gen derselben entgegenstehen, Jesus auch diese Erklärung nicht gegeben haben kann. Jedenfalls muſste sie die nach V. 49. anwesenden Jünger zu einer Frage an Jesum ver - anlassen, wo sich dann nicht einsehen läſst, warum er ih - nen die Sache nicht vollends klar gemacht, also mit eigent - lichen Worten seine Auferstehung vorherverkündigt haben sollte. Kann er aber dieſs nicht gethan haben, weil sonst die Jünger nach seinem Tod sich nicht so benommen ha - ben könnten, wie sie sich den evangelischen Nachrichten zufolge benahmen: so kann er auch nicht durch jene Ver -Bogen 21. ist S. 335 u. 336 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.336Dritter Abschnitt.gleichung des ihm bevorstehenden Sehicksals mit dem des Jonas eine Frage der Jünger hervorgerufen haben, welche er, wenn sie an ihn gestellt wurde, auch beantworten muſste, aber dem Erfolg nach nicht beantwortet haben kann.

Aus diesen Gründen hat sich die neuere Kritik dahin ausgesprochen, daſs die Matthäische Erklärung des σημεῖον Ἰωνᾶ eine post eventum vom Evangelisten gemachte Deu - tung sei, welche er fälschlich Jesu in den Mund lege10)Paulus, ex. Handb. 2, S. 97 ff. Schulz, über das Abendm. S. 317 f.. Wohl hat hienach Jesus die Pharisäer auf das σημεῖον Ἰωνᾶ verwiesen, aber nur in dem Sinn, in welchem es Lukas ihn erklären läſst, daſs, wie Jonas selbst, seine bloſse Ge - genwart und seine Buſspredigt, ohne Wunder, den Ninevi - ten als göttliches Zeichen genügt habe: so auch seine Zeit - genossen, statt nach Wunderzeichen zu haschen, sich an seiner Person und Predigt genügen lassen sollen. Diese Auffassung ist die einzige dem Zusammenhang der Rede Jesu auch bei Matthäus und näher der Parallele zwi - schen dem Verhältniſs der Nineviten zu Jonas und dem der Königin des Südens zu Salomo angemessene. Wie es die σοφία Σολομῶνος war, durch welche die leztere von den En - den der Erde sich herbeigezogen fühlte: so bei Jonas auch nach dem Ausdruck des Matthäus lediglich sein κήρυγμα, auf welches hin die Nineviten Buſse thaten. Das Futurum in dem Satze bei Lukas: οὓτως ἔςαι καὶ υἱὸς τ. . τῇ γενεᾷ ταύτῃ (σημεῖον), von welchem man glauben möchte, es könne nicht auf den gegenwärtigen Jesus und seine Pre - digt, sondern müsse auf etwas Künftiges, wie seine Aufer - stehung, bezogen werden, geht in der That nur auf die künftige κρίσις, in welcher sich hervorstellen wird, daſs, wie für die Nineviten Jonas, so für die damals lebenden Ju - den Jesus als σημεῖον berechnet war. Frühzeitig muſs jedoch, wie wir aus dem ersten Evangelium ersehen, dem Schicksal des Jonas eine typische Beziehung auf den Tod und die Auferste - hung Jesu gegeben worden sein, indem die erste Gemeinde für337Erstes Kapitel. §. 110.die so anstössige Katastrophe ihres Messias mit Ängstlich - keit überall im A. T. Vorbilder und Weissagungen auf - suchte.

Noch einige Aussprüche Jesu finden sich im vierten Evangelium, welche schon als verhüllte Weissagungen der Auferstehung gefaſst worden sind. Die Rede vom Wai - zenkorn zwar, 12, 24, bezieht sich zu augenscheinlich nur auf das durch seinen Tod zu fördernde Werk Jesu, als daſs sie hier weiter in Betracht kommen könnte. Aber in den johanneischen Abschiedsreden finden sich einige Aus - sprüche, welche noch immer Manche von der Auferstehung verstehen möchten. Wenn Jesus sagt: ich werde euch nicht verwaist lassen, ich komme zu euch; noch kurze Zeit, so sieht die Welt mich nicht mehr, ihr aber sehet mich; über ein Kleines, so werdet ihr mich nicht mehr sehen, und wieder über ein Kleines, so werdet ihr mich sehen u. s. f. (14, 18 ff. 16, 16 ff. ): so glauben Manche, die - se Reden, mit dem Verhältniſs von μικρὸν καὶ πάλιν μικρὸν, mit dem Gegensaz zwischen ἐμφανίζειν ἡμῖν (τοῖς μαϑη - ταῖς) καὶ ουχὶ τῷ κόσμῳ, mit dem von ganz persönlichem Wiedersehen lautenden πάλιν ὄψομαι und ὄψεσϑε, können auf nichts Anderes, als auf die Auferstehung bezogen wer - den, welche eben das kurz auf das Nichtsehen gefolgte Sehen, und zwar ein persönliches und auf die Freunde Jesu eingeschränktes, gewesen sei11)Süskind, a. a. O. S. 184 ff.. Allein dieses ver - heiſsene Wiedersehen beschreibt Jesus hier zugleich auf eine Weise, welche für die Tage der Auferstehung nicht ganz passen will. Wenn das ὅτι ἐγὼ ζῶ (14, 19.) seine Auferstehung bedeuten soll, so weiſs man gar nicht, was in diesem Zusammenhang das καὶ ὑμεῖς ζήσεσϑε heiſsen will; wenn Jesus sagt, bei jenem Wiedersehen werden seine Jünger sein Verhältniſs zum Vater erkennen, und ihn nichts mehr zu fragen brauchen (14, 20. 16, 23.): soDas Leben Jesu II. Band. 22338Dritter Abschnitt.machten sie ja noch am lezten Tage ihres Zusammenseins mit ihm nach der Auferstehung eine, und zwar im Sinn des vierten Evangeliums recht unverständige, Frage an ihn (A. G. 1, 6.); endlich, wenn er verspricht, daſs zu demjenigen, der ihn liebe, er und der Vater kommen und Wohnung bei ihm machen werden: so wird vollends klar, daſs Jesus hier nicht von einem leiblichen, sondern von seinem geistigen Wiederkommen durch den παράκλη - τος redet12)s. Lücke z. d. St.. Hat jedoch auch diese Erklärung ihre Schwie - rigkeiten, indem hinwiederum das ὄψεσϑέ με und ὄψομαι ὑμᾶς auf jene bloſs geistige Wiederkunft nicht ganz passen will: so müssen wir die Lösung dieses scheinbaren Wi - derspruchs auf die genauere Beleuchtung dieser Aussprü - che an einer späteren Stelle versparen, und erinnern einst - weilen nur, daſs aus den johanneischen Abschiedsreden, deren Untermischung mit eignen Gedanken des Evangeli - sten jezt selbst von Freunden des vierten Evangeliums zu - gestanden ist, am wenigsten ein Beweis in dieser Sache genommen werden kann.

Nach allem diesem könnte der Ausweg noch übrig zu sein scheinen, daſs Jesus zwar allerdings über die ihm bevorstehende Auferstehung sich nicht geäussert, nichts desto weniger aber sie für sich vorhergewuſst habe. Wuſs - te er seine Auferstehung vorher, so wuſste er sie entwe - der auf übernatürliche Weise, vermöge des ihm inwohnen - den prophetischen Geistes, höheren Princips, wenn man will, seiner göttlichen Natur: oder er wuſste sie auf na - türliche Weise, durch verständige menschliche Überle - gung. Allein ein übernatürliches Vorherwissen jenes Er - eignisses ist auch hier, wie in Beziehung auf den Tod, we - gen der Beziehung undenkbar, in welche Jesus dasselbe zum A. T. sezt. Nicht bloſs in Stellen nämlich, wie Luc. 18, 31, welche, als Vorhersagungen, nach dem Ergebniſs339Erstes Kapitel. §. 110.unsrer lezten Untersuchung, uns schon nicht mehr als hi - storisch gelten können, stellt Jesus seine Auferstehung, wie sein Leiden und seinen Tod, als ein τελεσϑῆναι πάν - των τῶν γεγραμμένων διὰ τῶν προφητῶν τῷ υἱῷ τοῦ ἀνϑρώ - που dar, sondern auch nach dem Erfolg hält er den an seiner Auferstehung zweifelnden Jüngern vor, sie hätten glauben sollen

ἐπὶ πᾶσιν οἷς ἐλάλησαν οἱ προφῆται, daſs nämlich ταῦτα ἔδει παϑεῖν τὸν Χριςὸν, καὶ εἰσελϑεῖν εἰς τὴν δόξαν αὑτοῦ

(Luc. 24, 25 f.). Laut des Verfolgs der Erzählung hat Jesus sofort diesen Jüngern (den Emmaun - tischen) alle von ihm handelnden Schriftstellen, ἀρξάμενος ἀπὸ Μωσέως καὶ ἀπὸ πάντων τῶν προφητῶν, wozu weiter unten auch noch die ψαλμοὶ gesezt werden (V. 45.), aus - gelegt; im Einzelnen jedoch wird uns keine Stelle angege - ben, welche und wie sie Jesus auf seine Wiederbelebung gedeutet hätte, ausser daſs aus Matth. 12, 39 f. folgen wür - de, er habe das Schicksal des Propheten Jonas als Vor - bild des seinigen betrachtet, und aus der späteren aposto - lischen Deutung, als muthmaſslichem Nachhall der seinigen, geschlossen werden könnte, daſs er, wie nachmals die Apo - stel, hauptsächlich in Ps. 16, 8 ff. (A.G. 2, 25 ff. 13, 35.), Jes. 53. (A.G. 8, 32 ff. ), Jes. 55, 3. (A.G. 13, 34.), und dann etwa noch in Hos. 6, 2. solche Weissagungen gefun - den habe. Allein das Schicksal des Jonas hat mit dem Schicksal Jesu nicht einmal recht eine äusserliche Ähn - lichkeit, und das ihn betreffende Buch trägt seinen Zweck so sehr in sich selber, daſs derjenige es gewiſs nicht nach seinem wahren Sinn und der Absicht seines Verfassers deu - tet, der ihm oder einem Zuge desselben eine vorbildliche Beziehung auf Ereignisse der Zukunft unterlegt; Jes. 55, 3. ist so augenscheinlich heterogen, daſs man kaum begreift, wie die Stelle nur mit der Auferstehung Jesu hat in Be - ziehung gebracht werden können; Jes. 53. bezieht sich ent - schieden auf ein in immer neuen Gliedern wiederaufleben - des Collektivsubjekt; Hosea 6. unverkennbar bildlich auf22 *340Dritter Abschnitt.Volk und Staat Israël; endlich die Hauptstelle, Ps. 16., kann nur auf einen Frommen gedeutet werden, welcher durch Jehova's Hülfe einer Todesgefahr zu entrinnen hofft, und zwar nicht in der Art, daſs er, wie Jesus, aus dem Grabe wieder hervorgehen, sondern gar nicht wirklich in dasselbe versezt werden würde, versteht sich, dieſs nur vor der Hand, und mit dem Vorbehalt, seiner Zeit aller - dings der Natur den Tribut zu entrichten13)s. de Wette, z. d. St., was auf Jesum wiederum nicht passen würde. Hätte also ein über - natürliches Princip in Jesu, ein prophetischer Geist, ihn in diesen A. T. lichen Geschichten und Stellen eine Voran - deutung seiner Auferstehung finden lassen: so könnte, da in keiner derselben eine solche Beziehung wirklich liegt, der Geist in ihm nicht der Geist der Wahrheit, sondern er müſste ein Lügengeist gewesen sein, das übernatürliche Princip in ihm nicht ein göttliches, sondern ein dämoni - sehes. Bleibt, um dieser Consequenz zu entgehen, dem für verständige Auslegung des A. T. s zugänglichen Supra - naturalisten nichts übrig, als das Vorherwissen Jesu von seiner Auferstehung als ein natürlich-menschliches zu be - haupten: so war die Auferstehung, als Wunder betrach - tet, ein Geheimniſs des göttlichen Rathschlusses, in wel - ches einzudringen dem menschlichen Verstand vor dem Er - folg unmöglich war; als natürlicher Erfolg angesehen aber war sie der unberechenbarste Zufall, wenn man nicht ei - nen von Jesu und seinen Verbündeten planmäſsig herbei - geführten Scheintod annehmen will.

Also nach dem Erfolg erst ist so Voraussicht wie Voraussage der Auferstehung Jesu beigelegt, und nun war es auch bei der bodenlosen Willkühr jüdischer Exegese den Jüngern und Verfassern der N. T. lichen Schriften ein Leichtes, im A. T. Vorbilder und Weissa - gungen auf die Wiederbelebung ihres Messias aufzufinden. 341Erstes Kapitel. §. 111.Nicht als ob sie dieſs mit schlauer Absichtlichkeit, und selbst von der Nichtigkeit ihrer Auslegungs - und Schluſs - weise überzeugt, gethan hätten, wie der Wolfenbüttler Fragmentist und Andre seines gleichen lästern: sondern wie es dem, der in die Sonne gesehen, ergeht, daſs er noch längere Zeit, wo er hinsieht, ihr Bild erblickt: so sahen sie, durch ihre Begeisterung für den neuen Messias ge - blendet, in dem einzigen Buche, das sie lasen. dem A. T., ihn überall, und ihre, in dem wahren Gefühl der Befrie - digung tiefster Bedürfnisse gegründete Überzeugung, daſs Jesus der Messias sei, ein Gefühl und eine Überzeugung, die auch wir noch ehren, griff, sobald es sich um refle - xionsmäſsige Beweise handelte, nach Stützen, welche längst gebrochen sind, und selbst durch das eifrigste Bemühen einer hinter der Zeit zurückgebliebenen Exegese nicht mehr haltbar gemacht werden können.

§. 111. Die Reden Jesu von seiner Parusie. Kritik der verschie - denen Auslegungen.

Doch nicht allein daſs er drei Tage nach seinem To - de wieder aufleben werde, um sich seinen Freunden zu zeigen, sondern auch, daſs er später einmal, mitten in der Drangsalszeit, welche auch die Zerstörung des Tempels in Jerusalem herbeiführen sollte, in den Wolken des Himmels kommen werde, um die gegenwärtige Weltperiode abzu - schlieſsen, und durch ein allgemeines Gericht die künftige zu beginnen, hat Jesus den evangelischen Nachrichten zu - folge vorausgesagt (Matth. 24. und 25. Mare. 13. Lue. 17, 22 37. 21, 5 36.).

Als Jesus zum leztenmale aus dem Tempel gieng (Lu - kas hat diese Bestimmung nicht) und seine Jünger (Lu - kas unbestimmt: Einige) ihn auf den herrlichen Bau be - wundernd anfmerksam machten, gab er ihnen die Versi - cherung, daſs alles, wie sie es da sehen, von Grund aus342Dritter Abschnitt.zerstört werden würde (Matth. 24, 1. 2. parall.). Auf die Frage der Jünger, wann dieſs geschehen, und was das Zeichen der ihrer Ansicht nach damit zusammenhängenden Ankunft des Messias sein werde (V. 3.), warnt sie Jesus, sich nicht durch Leute, welche sich fälschlich für den Messias ausgeben, und durch die Meinung, gleich nach den ersten Vorzeichen müsse die erwartete Katastrophe folgen, irreführen zu lassen; denn Kriege und Kriegsge - rüchte, Kämpfe von Völkern und Reichen gegeneinander, Hungersnoth, Pest und Erdbeben da und dort, seien nur die ersten Anfänge des der Ankunft des Messias vorange - henden Elends (V. 4 8.). Auch sie selbst, seine Anhän - ger, werden zuvor noch Haſs, Verfolgung und Mord über sich ergehen lassen müssen; Treulosigkeit, Verrath, Täu - schung durch falsche Propheten, Lieblosigkeit und allge - meines Sittenverderben werde unter den Menschen einreis - sen, zugleich aber müsse die Botschaft vom Messiasreich noch vorher in der ganzen Welt verkündigt werden; nach allem diesem erst könne das Ende der jetzigen Weltperio - de eintreten, auf welches mit Standhaftigkeit harren müs - se, wer an dem Glücke der künftigen Antheil bekommen wolle (V. 9 14.). Ein näheres Vorzeichen schon von dieser Katastrophe sei die Erfüllung des Danielischen Ora - kels (9, 27.) von dem an heiliger Stätte aufzustellenden Verwüstungsgräuel (nach Lukas, 21, 20, die Umstellung Jerusalems durch Kriegsheere); wenn dieses eintrete, dann sei es (nach Lukas, weil die Verödung Jerusalems be - vorstehe, welche Luc. 19, 43 f. in einer Anrede Jesu an die Stadt durch περιβαλοῦσιν οἱ ἐχϑροί σου χάρακά σοι, καὶ περικυκλώσουσί σε καὶ συνέξουσί σε πάντοϑεν, καὶ ἐδαφιοῦσί σε καὶ τὰ τέκνα σου; ἐν σοὶ, καὶ ουκ ἀφήσουσιν ἐν σοὶ λίϑον ἐπὶ λίϑῳ näher bestimmt ist) die höchste Zeit zur schleu - nigsten Flucht, bei welcher alle am schnellen Fortkommen Gehinderte zu bedauern, und von welcher, daſs sie in kei - ne ungünstige Zeit fallen möge, angelegentlich zu wünschen343Erstes Kapitel. §. 111.sei; denn es trete dann eine beispiellose Drangsalszeit ein (nach Luc. V. 24. hauptsächlich darin bestehend, daſs vom Volk Israël viele umkommen, andere gefangen weggeführt, Jerusalem aber eine vorherbestimmte Periode hindurch von Heiden zertreten werden werde), welche nur durch gnadenvolle Abkürzung ihrer Dauer von Seiten Gottes aus Rücksicht auf die Erwählten erträglich werde (V. 15 22.). Um diese Zeit werden falsche Propheten und Messiase durch Wunder und Zeichen zu täuschen suchen, und da oder dort den Messias zu zeigen versprechen: da doch ein Messias, der irgendwo verborgen wäre und aufgesucht werden müſste, kein wahrer sein könne, indem dessen An - kunft wie das Leuchten des Blitzes eine plözliche, überall - hin dringende Offenbarung sei, und ebensobald sich um ihn die ihm bestimmten Anhänger sammeln werden (V. 23 28.). Unmittelbar nach dieser Drangsalszeit werde sich nun durch Verfinsterung von Sonne und Mond, durch Herabfallen der Sterne und Erschütterung aller Kräfte des Himmels, die Erscheinung des Messias einleiten, welcher sofort zum Schrecken der Erdenbewohner mit groſser Herrlichkeit in den Wolken des Himmels daherkommen, und alsbald durch Engel mit Trompetenschall seine Er - wählten von allen Enden der Erde zusammenrufen lassen werde (V. 29 31.). An den vorgenannten Zeichen sei die Nähe der angegebenen Katastrophe so sicher, wie an dem Ausschlagen des Feigenbaums die Nähe des Sommers, zu erkennen; noch das gegenwärtige Zeitalter werde, bei al - lem was sicher sei, das Alles erleben, obgleich der genaue - re Termin nur Gott allein bekannt sei (V. 32 36.). Wie aber die Menschen seien (das Folgende haben Markus und Lukas theils gar nicht, theils nicht in diesem Zusammen - hang), so werden sie auch die Ankunft des Messias, wie einst die der Sündfluth, mit leichtsinniger Sicherheit her - anrücken lassen (V. 37 39.): und doch werde es ein äusserst kritischer Zeitpunkt sein, der diejenigen, welche344Dritter Abschnitt.in den nächsten Verhältnissen gestanden, ganz entgegen - geseztem Loos überantworten werde (V. 40. 41.). Darum sei Wachsamkeit noth (V. 42.), wie immer, wenn von ei - nem entscheidenden Erfolge der Zeitpunkt seines Eintref - fens unbekannt sei, was sofort durch das Bild vom Haus - herrn und Dieb (V. 43. 44. ), vom Knechte, dem der ver - reisende Herr die Aufsicht über das Hauswesen anver - traut (V. 45 51.), ferner von den klugen und thörichten Jungfrauen (25, 1 13.), endlich von den Talenten (V. 14 30.), veranschaulicht wird. Hierauf folgt eine Beschrei - bung des feierlichen Gerichts, welches der Messias über alle Völker halten, und in welchem er nach der Rücksicht, ob einer die Pflichten der Menschenliebe beobachtet oder hintangesezt habe, Seligkeit oder Verdammniſs zuerkennen werde (V. 31 46.) .1)Vgl. über den Inhalt und Zusammenhang dieser Reden Fritzsche, in Matth. p. 695 ff..

In diesen Reden kündigt also Jesus bald (εὐϑέως, 24, 29.) nach derjenigen Drangsal, in welcher wir (nament - lich nach der Darstellung des Lukasevangeliums) die Bela - gerung von Jerusalem und die Zerstörung des Tempels er - kennen müssen, und so, daſs es die Generation seiner Zeit - genossen ( γενεὰ αὕτη V. 34.) noch erleben werde, seine sichtbare Wiederkunft in den Wolken und das Ende der gegenwärtigen Zeitperiode an. Da nun bald vor 1800 Jah - ren die Zerstörung des jüdischen Tempels erfolgt, und eben - solange her die Zeitgenossenschaft Jesu ausgestorben, seine sichtbare Wiederkunft aber und das von ihm mit dersel - ben in Verbindung gesezte Weltende noch immer nicht ein - getreten ist: so scheint insofern die Vorherverkündigung Jesu eine irrige gewesen zu sein. Schon in der ältesten christlichen Zeit, da die Wiederkunft Christi sich länger verzog, als man sich gedacht hatte, standen, nach 2. Petr. 3, 3 f., Spötter mit der Frage auf: ποῦ ἐςιν ἐπαγγελία345Erstes Kapitel. §. 111.τῆς παρουσίας αὐτοῦ ἀφ̕ ἧς γὰρ οἱ πατέρες ἐκοιμήϑησαν, πάντα οὓτω διαμένει ἀπ̕ ἀρχῆς κτίσεως. In neuerer Zeit ist die nachtheilige Folgerung, welche aus dem bezeichneten Verhältniſs gegen Jesum und die Apostel sich scheinbar ziehen läſst, von Niemand schneidender ausgesprochen wor - den, als von dem Wolfenbüttler Fragmentisten. Keine Verheiſsung in der ganzen Schrift, meint er, sei auf der einen Seite bestimmter vorgetragen, auf der andern offen - barer falsch befunden worden, als diese, welche doch eine der Grundsäulen des gesammten Christenthums bilde. Und zwar sieht er darin nicht einen bloſsen Irrthum, sondern einen absichtlichen Betrug der Apostel (denen, und nicht Jesu selbst, er jenes Versprechen und die es enthaltenden Reden zuschreibt), hervorgegangen aus der Nothwendig - keit, die Leute, von deren Beiträgen sie ihren Unterhalt ziehen wollten, durch das Versprechen einer nahen Beloh - nung anzulocken, und kennbar an der Kahlheit, mit wel - cher sie den aus dem allzulangen Verzug der Wiederkunft Christi erwachsenden Zweifeln, wie Paulus im 2ten Thes - salonicherbrief durch Versteckspielen mit dunkeln Redens - arten, und gar Petrus in seiner zweiten Epistel durch das Ungeheure einer Berufung auf die göttliche Zeitrechnung, in welcher 1000 Jahre = einem Tage seien, zu entgehen suchen2)Vom Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 184. 201 ff. 207 ff..

Der tödtlichen Wunde, welche man durch solche Fol - gerungen aus dem vor uns liegenden Abschnitt dem Chri - stenthum beibringen wollte, muſste natürlich die Exegese auf jede Weise auszubeugen suchen. Und zwar näher, in - dem der ganze Knoten darin besteht, daſs Jesus mit etwas nunmehr längst Vergangenem in unmittelbaren Zeitzusam - menhang etwas noch immer Zukünftiges zu setzen scheint, so waren die drei Auswege möglich: entweder zu leugnen, daſs Jesus zum Theil auch von etwas jezt schon Vergan -346Dritter Abschnitt.genem spreche, und ihn von lauter noch immer Zukünfti - gem reden zu lassen; oder zu leugnen, daſs ein Theil sei - ner Rede etwas noch jezt Zukünftiges betreffe, somit die ganze Voraussagung auf etwas bereits hinter uns Liegen - des zu beziehen; oder endlich zwar zuzugeben, daſs der Vortrag Jesu theils auf Solches, was uns schon ein Ver - gangenes, theils auf Solches, was uns noch ein Zukünf - tiges ist, sich beziehe, aber zu leugnen, daſs er zwischen beidem eine unmittelbare Zeitfolge behauptet habe.

In der urchristlichen Erwartung der Wiederkunft Christi noch lebend, und zugleich in geregelter Exegese nicht so geübt, um über einige Härten einer sonst erwünschten Er - klärung nicht hinwegsehen zu können, bezogen einige Kir - chenväter, wie Irenäus und Hilarius3)Jener adv. haeres. 5, 25; dieser Comm. in Matth. z. d. St. Vergl. über die verschiedenen Auslegungen dieses Abschnitts das Verzeichniss bei Schott, Commentarius in eos J. Chr. sermones, qui de reditu ejus ad judicium agunt, p. 73 ff., den ganzen Ab - schnitt von seinem Anfang Matth. 24, bis zu seinem Ende Kap. 25, auf die noch bevorstehende Wiederkunft Christi zum Gericht. Allein, indem diese Auslegungsweise so - gleich einräumt, von vorne herein habe Jesus als Typus dieser lezten Katastrophe die Zerstörung Jerusalems ge - braucht: so giebt sie damit sich selbst wieder auf, denn was heiſst jenes Zugeständniſs anders, als daſs der Anfang der fraglichen Reden zunächst den Eindruck mache, wie wenn von der Zerstörung Jerusalems, also etwas bereits Vergangenem, die Rede wäre, und daſs nur eine weitere Reflexion und Combination demselben eine Beziehung auf etwas noch in der Zukunft Liegendes geben könne?

Der neuere Rationalismus, welchem in seinen natura - listischen Anfängen jede Hoffnung auf die Wiederkunft Christi zu Nichte geworden war, und welcher, um das ihm Miſsfällige aus der Schrift wegzubringen, jede exege - tische Gewaltthat sich erlaubte, warf sich deſswegen auf347Erstes Kapitel. §. 111.die entgegengesezte Seite, und wagte den Versuch, die be - treffenden Reden Jesu in ihrem ganzen Verlauf nur auf die Zerstörung Jerusalems, und was ihr zunächst voran - gieng und folgte, zu beziehen4)Bahrdt, Übersetzung des N. T. s, 1, S. 1103, 3te Ausg. ; Eckermann, Handbuch der Glaubenslehre, 2, S. 579. 3, S. 427. 437. 709 ff., und Andere, bei Schott, a. a. O.. Dieser Auslegung zu - folge soll das Ende, von welchem die Rede ist, nur das Aufhören der jüdisch-heidnischen Weltgestaltung; das von der Ankunft Christi in den Wolken Gesagte nur bildliche Bezeichnung der Verbreitung und des Siegs seiner Lehre; die Versammlung der Völker zum Gericht und die Verwei - sung der einen in die Seligkeit, der andern in die Ver - dammniſs ein Bild für die beglückenden Folgen sein, wel - che die Aneignung der Lehre und Sache Jesu, und für die Übel, welche die Gleichgültigkeit oder gar Feindschaft ge - gen dieselbe mit sich führe. Allein hiebei wird ein Ab - stand der Bilder von den Ideen angenommen, der sowohl an sich unerhört, als im Besondern hier nicht denkbar ist, wo Jesus zu jüdisch Gebildeten redend, wissen muſste, daſs sie, was er von Ankunft des Messias in den Wolken, vom Gericht und Ende der gegenwärtigen Weltperiode sagte, im eigentlichsten Verstande nehmen würden.

Läſst auf diese Weise die Rede Jesu ihrer ganzen Länge nach weder auf die Zerstörung des jüdischen Staats, noch auf die Vorgänge am Ende der Dinge sich beziehen: so müſste sie auf etwas von beidem Verschiedenes bezogen werden, wenn jedesmal an einem und ebendemselben Zug jene gedoppelte Unmöglichkeit haften würde. So aber liegt die Sache nicht, sondern während auf das ferne Ende der Welt nicht bezogen werden kann, was Matth. 24, 2. 3. 15 ff. von Verwüstung des Tempels u. s. w. gesagt wird: kann umgekehrt auf die Zerstörung Jerusalems das nicht gehen, was 25, 31 ff. von dem durch des Menschen Sohn348Dritter Abschnitt.zu haltenden Gericht verkündigt ist. Indem hienach in der Rede Jesu von vorn herein die Beziehung auf die Zerstö - rung Jerusalems, nach hinten zu aber die auf das Ende der Dinge die vorwiegende ist: so wird eine Theilung mög - lich, in der Art, daſs der erste Theil der Rede auf jenen näheren, der zweite auf diesen entfernteren Erfolg bezo - gen werden kann. Dieſs ist der von den meisten neueren Exegeten eingeschlagene Mittelweg, bei welchem es sich nur fragt, wo der Einschnitt zu machen ist, welcher beide Theile von einander trennt. Da es eine Spalte sein müſs - te, in welche voraussezlich die ganze Zeit von der Zerstö - rung Jerusalems bis zum jüngsten Tag, also muthmaſslich ein Zeitraum von mehreren Jahrtausenden hineinfiele: so sollte sie, muſs man denken, kenntlich bezeichnet, und folglich leicht und mit Übereinstimmung zu finden sein. Es ist kein gutes Vorzeichen für die ganze Voraussetzung, daſs man diese Übereinstimmung vergeblich sucht, vielmehr an den verschiedensten Örtern der Rede Jesu jener Ab - schnitt gefunden worden ist.

Da auf der einen Seite so viel entschieden zu sein schien, daſs wenigstens der Schluſs des 25ten Kapitels, von V. 31. an, mit den Reden von dem feierlichen Gericht, welches der Messias, von den Engeln umgeben, über alle Völker halten werde, nicht auf die Zeit der Zerstörung Jerusalems bezogen werden könne: so glaubten manche Theologen hier die Grenze abstecken, und bis 25, 30. zwar die Beziehung auf das Ende des jüdischen Staates festhal - ten zu können, von da an aber zum Weltgericht am Ende der Dinge übergehen zu müssen5)So Lightfoot, z. d. St. Flatt, Comm. de notione vocis βα - σιλεία τῶν ουρανῶν, in Velthusen's u. A. Sammlung, 2, 461 ff. Jahn, Erklärung der Weissagungen Jesu von der Zerstörung Jerusalems u. s. w., in Bengel's Archiv 2, 1, S. 79 ff., und Andere, s. bei Schott, S. 75 f.. Auffallen muſs bei die -349Erstes Kapitel. §. 111.ser Erklärung schon dieſs, die groſse Kluft, welche der - selben zufolge zwischen 25, 30. und 31. stattfinden müſste, durch ein einfaches δὲ bezeichnet zu sehen. Dann aber wird hiebei nicht nur das von Sonnen - und Mondsfinster - nissen, Erdbeben, und herabfallenden Sternen Gesagte als bloſses Bild für den Untergang des jüdischen Staats und Cultus erklärt, sondern, daſs 24, 31. vom Messias gesagt ist, er werde auf den Wolken kommen, das soll heis - sen: unsichtbar; mit Macht, das heiſse: nur durch seine Wirkungen bemerkbar; mit vieler Herrlichkeit, d. h. mit einer solchen, die aus jenen Wirkungen werde erschlossen werden können; die alle Völker zusammentrompetenden ἄγγελοι aber sollen die predigenden Apostel sein6)So namentlich Jahn, in der angeführten Abh..

Fällt hiemit der Versuch, von hinten herein gehend bei 25, 30. abzutheilen, durch die Unfähigkeit, das weiter vorwärts Liegende zu erklären, in sich selbst zusammen: so lag es nahe, von vorneherein zu sehen, bis wohin die Beziehung auf die nächste Zukunft nothwendig festzuhal - ten sei, und da ergab sich der erste Ruhepunkt hinter 24, 28; denn was bis dahin von Krieg und andrer Noth, vom Gräuel im Tempel, von der Nothwendigkeit schleuni - ger Flucht, um beispiellosem Elend zu entgehen, gesagt ist, das kann aus der Beziehung zur Zerstörung Jerusa - lems ohne die gröſste Gewalt nicht gerissen werden; was aber folgt, vom Erscheinen des Menschensohns in den Wol - ken u. s. f., erheischt eben so dringend eine Beziehung auf die lezten Dinge7)So Storr, Opusc. acad. 3, S. 34 ff. Paulus, exeg. Handb. 3, a, S. 346 f. 402 f.. Hiebei jedoch scheint es zuvörderst unbe - greiflich, wie man den ungeheuren Zeitraum, welcher auch bei dieser Erklärung zwischen den einen und andern Theil der Rede fällt, gerade zwischen zwei Verse hineinlegen kann, welche Matthäus durch eine Partikel der kürzesten350Dritter Abschnitt.Zeit (εὐϑέως) verbindet. Man hat diesem Übelstand durch die Behauptung auszuweichen versucht, daſs εὐϑέως hier nicht die schnelle Folge der einen Begebenheit auf die an - dere, sondern nur das unerwartete Eintreten eines Ereig - nisses bezeichne, und also hier nur so viel gesagt werde: plözlich einmal (unbestimmt, wie lange) nach jenen Be - drängnissen bei der Zerstörung Jerusalems werde der Mes - sias sichtbar erscheinen. Abgesehen davon jedoch, daſs eine solche Deutung von εὐϑέως, wie Olshausen richtig sieht, ein bloſser Nothbehelf ist, so ist durch dieselbe nicht einmal wirklich geholfen, indem nicht allein der parallele Markus V. 24. durch sein ἐν ἐκείναις ταῖς ἡμέραις μετὰ τὴν ϑλίψιν ἐκείνην die von hier an gemeldeten Erfolge in dieselbe Zeitreihe mit den zuvor erzählten verlegt, sondern auch kurz hernach übereinstimmend in allen Relationen (Matth. V. 34. parall. ) die Versicherung sich findet, daſs alles dieſs noch von der gegenwärtigen Generation erlebt werden würde. Da auf diese Weise der Annahme, daſs von V. 29. an Alles auf die Wiederkunft Christi zum Weltgericht gehe, durch den 34ten Vers Vernichtung drohte: so wurde nunmehr, wie schon der Wolfenbüttler klagt8)a. a. O. S. 188., das Wort γενεὰ gefoltert, daſs es der Voraus - setzung nicht mehr entgegen sein sollte. Bald muſste es die jüdische Nation9)Storr, a. a. O. S. 39. 116 ff., bald die Anhängerschaft Jesu10)Paulus, z. d. St. bedeuten, und von der einen oder andern sollte Jesus sa - gen, sie werde, unbestimmt in der wievielten Generation, bei'm Eintritt jener Katastrophe noch vorhanden sein. So den gedachten Vers zu erklären, daſs er eine Zeitbestim - mung gar nicht enthalte, soll selbst nothwendig sein in Rücksicht auf den gleichfolgenden 35ten: da nämlich in diesem Jesus den Zeitpunkt jener Katastrophe zu bestim -351Erstes Kapitel. §. 111.men für unmöglich erkläre, so könne er nicht unmittelbar vorher eine solche Bestimmung gegeben haben durch die Versicherung, daſs seine Zeitgenossen noch Alles erleben würden. Indeſs diese angebliche Nöthigung, das γενεὰ so zu deuten, ist längst aus dem Wege geschafft durch die Unterscheidung zwischen der ungefähren Bezeichnung des Zeitraums, über den das fragliche Ereigniſs nicht hinaus - fallen werde (γενεὰ), welche Jesus giebt, und der genau en Bestimmung des Zeitpunkts (ἡμέρα καὶ ὥρα), in welchem es eintreten werde, die er nicht geben zu können versi - chert11)s. Kuinöl, in Matth. S. 649.. Doch selbst die Möglichkeit, γενεὰ auf eine der an - gegebenen Arten zu deuten, verschwindet, wenn man er - wägt, daſs in Verbindung mit einem Verbum der Zeit und ohne sonstiges Prädikat γενεὰ unmöglich eine andre als seine ursprüngliche Bedeutung: Generation, Zeitalter, ha - ben kann; daſs in einen Zusammenhang, welcher die Zu - kunft des Messias durch Zeichen zu bestimmen sucht, ein Ausspruch übel passen würde, der, statt über den Ein - tritt jener Katastrophe etwas auszusagen, vielmehr von der Dauer des jüdischen Volks oder der christlichen Gemeinde handelte, von welcher gar nicht die Rede war; daſs auch schon V. 33. in dem ὑμεῖς, ὅταν ἴδητε πάντα τανῦτα, γινώσκ ετε κ. τ. λ. vorausgesetzt ist, die Angeredeten wür - den die Annäherung des fraglichen Ereignisses noch erle - ben; endlich daſs an einer andern Stelle (Matth. 16, 28. parall. ) die Versicherung, die Ankunft des Menschensohns noch zu erleben, statt von der γενεὰ αὕτη geradezu von τισὶ τῶν ὦδε ἑςώτων gegeben wird, wodurch aufs Ent - scheidendste dargethan ist, daſs Jesus auch an unsrer Stelle unter jenem Ausdruck das Geschlecht seiner Zeitgenossen verstanden hat, welches noch nicht ausgestorben sein soll - te, bis jene Katastrophe eintreten würde12)vgl. den Wolfenbüttler Fragmentisten, a. a. O. S. 190 ff. Schott, a. a. O. S. 127 ff..

352Dritter Abschnitt.

Findet sich demnach nach V. 34. etwas, das auf ein dem Zeitalter Jesu sehr nahes Ereigniſs zu beziehen ist: so kann nicht schon von V. 29. an die Rede Jesu auf das entfernte Ende der Welt gehen, sondern man muſs den Einschnitt noch etwas weiter hinaus, etwa nach V. 35. oder 42. setzen13)Jenes Süskind, vermischte Aufsätze, S. 90 ff. ; dieses Kuinöl, in Matth. p. 653 ff.. Allein hiebei behält man dann Aussprüche im Rücken, welche der Deutung auf die Zeit von Jerusa - lems Zerstörung, die man dem Abschnitt bis zu den be - zeichneten Versen geben will, widerstreben, man muſs in dem Reden von dem herrlichen Kommen Christi auf den Wolken und dem Versammeln aller Völker durch Engel (V., 30 f.) dieselben ungeheuren Tropen finden, an welchen, wie wir oben gesehen haben, eine andere Abtheilung ge - sch eitert ist.

Hat auf diese Weise der Ausspruch V. 34, welcher, sammt der vorangehenden Bilderrede vom Feigenbaum (V. 32 f.) und der angehängten Bekräftigung (V. 35.), auf ein sehr nahes Ereigniſs sich beziehen muſs, sowohl ohnehin vorwärts Reden, welche nur auf die ferne Katastrophe ge - hen können, als auch rückwärts bereits eben solche: so scheint er in dem Context der übrigen Rede als Oase von eigen thümlichem Sinn mitten inne zu liegen. So nimmt Schott an, nachdem Jesus bis V. 26. von der Zerstörung Jerusalems gesprochen, sei er zwar V. 27. auf die Ereig - nisse am Ende der jetzigen Weltperiode übergegangen, V. 32. aber komme er auf das die Zerstörung Jerusalems Betreffende zurück, und fahre erst V. 36. wieder über das Weltende zu sprechen fort14)s. dessen Commentarius, z. d. St.. Allein das heiſst in der Verzweiflung den Text zerhacken; denn so unordentlich und springend kann Jesus, noch dazu ohne in der An - einanderreihung der Sätze eine Andeutung zu geben, un - möglich gesprochen haben.

353Erstes Kapitel. §. 111.

Das soll er auch nicht, meint die neueste Kritik, son - dern auf Rechnung der Referenten soll es kommen, ver - schiedene, nicht zusammengehörige Aussprüche Jesu nicht in der besten Ordnung aneinandergefügt zu haben. Mat - thäus freilich, räumt Schulz ein, stelle sich diese Reden als in Einem Zuge gesprochen vor, und nur Willkühr oder Gewalt könne sie in dieser Hinsicht auseinanderreissen: schwerlich aber habe Jesus selbst sie in diesem Zusammen - hang und mit diesem Totalgepräge vorgetragen15)Über das Abendmahl, S. 315 f.. Die verschiedenen Momente seiner Zukunft, meint Sieffert, seine unsichtbare Parusie zur Zerstörung Jerusalems, und seine eigentliche am Ende der Dinge, möge Jesus zwar nicht ausdrücklich gesondert haben, doch habe er sie si - cher auch nicht positiv verbunden, sondern, was er still - schweigend aneinanderreihte, das sei den Evangelisten der Dunkelheit des Gegenstandes wegen in einander verflossen. Und indem hier zwischen Matthäus und Lukas die Diffe - renz wiederkehrt, daſs, was Matthäus in Einem Zusam - menhang gesprochen sein läſst, bei Lukas an verschiedene Stellen vertheilt ist, wozu noch kommt, daſs er manches von Matthäus Mitgetheilte theils gar nicht, theils anders giebt: so glaubte sich Schleiermacher17)Über den Lukas, S. 215 ff. 265 ff. berechtigt, die Composition des Matthäus geradezu aus Lukas zu rectifi - eiren und zu behaupten, während bei Lukas die zwei ge - trennten Reden, 17, 22 ff. und 21, 5 ff., jede ihren guten Zusammenhang und ihre unzweifelhafte Beziehung haben, sei bei Matthäus (Kap. 24. und 25.) durch Vermengung jener beiden Vorträge und Hinzufügung anderweitiger Re - destücke sowohl der Zusammenhang verdorben, als die Be - ziehung verdunkelt worden. Soll nun aber in der Rede Luc. 21. für sich genommen nichts sein, was über die Be -16)Über den Ursprung des ersten kanon. Evang. S. 119 ff.Das Leben Jesu II. Band. 23354Dritter Abschnitt.ziehung auf die Einnahme Jerusalems und das damit Zu - sammenhängende hinausgienge: so findet sich doch auch hier (V. 27.) das τότε ὄψονται τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώπου ἐρχό - μενον ἐν νεφέλῃ, und wenn dieſs Schleiermacher als bloſses Bild für die zu Tage kommende religiöse Bedeutung der zuvorbeschriebenen politischen und Naturbegebenheiten er - klärt: so ist dieſs eine Gewaltsamkeit, an welcher seine ganze Ansicht von dem Verhältniſs der beiden Berichte scheitert. Wenn auf diese Weise in der Verknüpfung des Endes aller Dinge mit der Zerstörung des Tem - pels zu Jerusalem Matthäus keineswegs allein steht, son - dern Lukas sie gleichfalls macht, und ohnehin Markus, der in diesem Abschnitt einen Auszug aus Matthäus giebt: so mag zwar vielleicht auch in dieser Rede Jesu, wie in an - dern, die sie mittheilen, Manches zu verschiedenen Zeiten Ge - sprochene zusammengestellt sein; aber zu der Annahme hat man kein Recht, daſs gerade das auf jene beiden nach un - srer Vorstellung so weit auseinanderliegenden Begebenhei - ten sich Beziehende das Nichtzusammengehörige sei, zumal wir aus der übereinstimmenden Darstellung der übrigen N. T. lichen Schriften ersehen, daſs die erste Gemeinde die Wiederkunft Christi sammt dem Ende der gegenwärtigen Weltperiode als nahe bevorstehend erwartete (s. 1. Kor. 10, 11. 15, 51. Phil. 4, 5, 1. Thess. 4, 15 ff. Jac. 5, 8. 1. Petr. 4, 7. 1. Joh. 2, 18. Offenb. 1, 1. 3. 3, 11. 22, 7. 10. 12. 20..

Ist hiemit der lezte Versuch gescheitert, die groſse Kluft, welche auf unsrem heutigen Standpunkt zwischen der Zerstörung Jerusalems und dem Ende aller Dinge be - festigt ist, auch in die vorliegenden Reden hineinzubrin - gen: so sind wir thatsächlich belehrt, daſs jene Trennung eben nur unsre Vorstellung ist, die wir in die Darstellung des Textes nicht hineintragen dürfen. Und wenn wir er - wägen, daſs wir die Vorstellung von jener Kluft nur der Erfahrung der vielen Jahrhunderte verdanken, welche seit355Erstes Kapitel. §. 112.der Zerstörung Jerusalems verflossen sind: so muſs es uns leicht werden, uns zu denken, wie der Urheber dieser Reden, welcher diese Erfahrung noch nicht hinter sich hatte, die Vorstellung hegen konnte, daſs bald nach dem Fall des jüdischen Heiligthums, nach jüdischer Vorstellung des Mittelpunkts der jetzigen Welt, es auch mit dieser selbst ein Ende nehmen, und der Messias zum Gericht er - scheinen werde.

§. 112. Ursprung der Reden über die Parusie.

In dem zulezt gezogenen Resultat über die unsrer Be - trachtung vorliegenden Reden ist nun aber etwas enthal - ten, welches zu vermeiden alle bisher beurtheilten falschen Erklärungsversuche gemacht worden sind. Hat nämlich Jesus sich vorgestellt und ausgesprochen, daſs bald nach dem Falle des jüdischen Heiligthums seine sichtbare Wiederkunft und das Ende der Welt erfolgen werde, wäh - rend nun seit jener ersten Katastrophe fast 1800 Jahre hingegangen sind, ohne daſs die andere eingetreten wäre: so hat er in diesem Stücke geirrt, und wer nun auch der exegetischen Evidenz so viel nachgiebt, um in jenem Re - sultate über den Sinn der vorliegenden Reden mit uns über - einzustimmen, der sucht doch aus dogmatischen Rücksich - ten dieser Consequenz desselben auszuweichen. Bekannt - lich hat Hengstenberg in Bezug auf die Gesichte der he - bräischen Propheten die Ansicht aufgebracht, welche auch bei Andern, z. B. bei Olshausen, Beifall gefunden, es ha - ben sich dem geistigen Schauen dieser Männer die zukünf - tigen Dinge nicht in dem Medium der Zeit, sondern des Raums, gleichsam als groſse Tableaus, dargeboten, wo - bei, wie dieſs bei Gemälden oder Fernsichten der Fall ist, das Entfernteste oft unmittelbar hinter dem Nächsten zu stehen geschienen, Vorder - und Hintergrund sich miteinan - der vermengt haben, und diese Theorie von einem per -23 *356Dritter Abschnitt.spectivischen Schauen soll nun auch auf Jesum, nament - lich in Bezug auf die vorliegenden Reden, ihre Anwen - dung finden1)Hengstenberg, Christologie des A. T., 1, a, S. 305 ff.. Allein, was Paulus schlagend bemerkt hat2)ex. Handb. 3, a, S. 403., wie derjenige, welcher in einer äusserlich gegebe - nen Perspective die Distanzen nicht zu unterscheiden weiſs, sich in einer optischen Täuschung befindet, d. h. irrt: ebenso wird bei einer innerlichen Perspective von Vorstel - lungen, wenn es so etwas giebt, das Übersehen der Di - stanzen ein Irrthum genannt werden müssen, und es zeigt somit diese Theorie nicht, daſs jene Männer nicht geirrt haben, sondern erklärt vielmehr nur, wie sie leicht irren konnten. Auch Olshausen hält daher diese, von ihm sonst adoptirte Betrachtungsweise nicht für zureichend, in ge - genwärtigem Fall allen Schein des Irrthums von Jesu zu ent - fernen, und sucht deſswegen aus der eigenthümlichen Natur des Faktums, von dessen Voraussage es sich handelt, noch besondere Rechtfertigungsgründe abzuleiten3)b. Comm. 1, S. 874 ff.. Für's Erste soll es zur ethischen Bedeutsamkeit der Lehre von Christi Wiederkunft gehören, daſs diese jeden Augenblick für möglich, ja wahrscheinlich, gehalten werde. Allein hiedurch sind bloſs Äusserungen, wie Matth. 24, 37 ff. gerechtfer - tigt, wo Jesus zur Wachsamkeit ermahnt, weil Niemand wissen könne, wie bald der entscheidende Augenblick kom - me; keineswegs aber solche, wie 24, 34, wo er versichert, noch vor Ablauf eines Menschenalters werde alles in Er - füllung gehen; denn das Mögliche denkt sich, wer eine richtige Vorstellung hat, eben als möglich, das Wahrschein - liche als wahrscheinlich, und wenn er bei der Wahrheit bleiben will, stellt er es eben so dar: wer hingegen das nur Mögliche oder Wahrscheinliche als Wirkliches sich vorstellt, der irrt, und wer es, ohne es selbst so vorzu -357Erstes Kapitel. §. 112.stellen, doch um eines religiösen oder moralischen Zweckes willen dafür ausgiebt, der hat sich eine pia fraus erlaubt. Weiter bemerkt Olshausen, die Ansicht, daſs die Zukunft Christi zunächst bevorstehe, habe ihre Wahrheit darin, daſs wirklich die ganze Weltgeschichte ein Kommen Chri - sti sei, ohne daſs jedoch hiedurch sein abschlieſsendes Kom - men am Ende der Dinge ausgeschlossen wäre. Allein, wenn Jesus als nächstbevorstehend bewiesenermaſsen sein eigentliches, abschliessendes Kommen darstellt, in Wahr - heit aber nur sein uneigentliches, fortwährendes Kommen auch in der nächsten Zeit schon eingetreten ist: so hat er diese beiden Arten seines Kommens verwechselt. Das Lez - te, was Olshausen anführt, weil die Beschleunigung oder Verzögerung der Wiederkunft Christi von dem Benehmen der Menschen, also von der Freiheit, abhänge, so sei seine Weissagung nur bedingt zu verstehen, steht und fällt mit dem Ersten: denn etwas Bedingtes unbedingt darstellen, heiſst eine irrige Vorstellung verbreiten.

Auch Sieffert hält in ähnlicher Weise die Gründe, durch welche Olshausen die Bestimmungen Jesu über sei - ne Wiederkunft dem Gebiete des Irrthums zu entnehmen sucht, für ungenügend, dennoch aber meint er, dem christ - lichen Bewuſstsein sei es unmöglich, Jesu eine getäuschte Erwartung zuzuschreiben4)Über den Ursprung u. s. f. S. 119.. In keinem Falle würde dieſs berechtigen, in der Rede Jesu diejenigen Elemente, wel - che auf den näheren, und welche auf den nach unserer Einsicht entfernteren Erfolg sich beziehen, willkührlich von einander zu scheiden: sondern wenn wir Gründe hätten, einen solchen Irrthum von Seiten Jesu für undenkbar zu halten, so würden wir überhaupt die Reden von der Par - usie ihm absprechen müssen. Indeſs, vom orthodoxen Standpunkt betrachtet, fragt man nicht zuerst, was einem heutigen christlichen Bewuſstsein beliebe, von Christo an -358Dritter Abschnitt.zunehmen oder nicht, sondern, was von Christo geschrie - ben stehe, ist die Frage, worein sich dann das Bewuſst - sein wird zu schicken suchen müssen so gut es geht; ra - tional die Sache angesehen aber hat ein solches auf Vor - aussetzungen ruhendes Gefühl, wie das sog. christliche Be - wuſstsein ist, in wissenschaftlichen Verhandlungen keine Stimme, und ist, so oft es sich in solche mischen will, durch ein einfaches: mulier taceat in ecclesia! zur Ord - nung zu weisen.

Fragt es sich nun, ob wir vielleicht andre Gründe haben, die Weissagungen Matth. 24. 25. parall. Jesu ab - zusprechen, so können wir unsre Untersuchung an die Be - hauptung supranaturalistischer Theologen anknüpfen, was Jesus hier voraussage, habe er nicht auf dem natürlichen Wege verständiger Berechnung, sondern nur auf übernatür - liche Weise vorherwissen können5)s. z. B. Gratz, Comm. z. Matth. 2, 444 ff.. Schon das Allgemei - ne, daſs der Tempel zerstört, und Jerusalem verwüstet werden würde, konnte nach dieser Ansicht nicht so sicher vorausgewuſst werden. Wer hätte vermuthen können, fragt man, daſs die Juden so weit in ihrer Raserei gehen wür - den, daſs jener Ausgang herbeigeführt werden muſste? wer konnte berechnen, daſs gerade solche Kaiser solche Procu - ratoren schicken würden, welche durch Niederträchtigkeit und Schwäche zur Empörung reizten? Noch auffallender ist dann, daſs manche einzelne Züge, die Jesus vorhersag - te, wirklich eingetroffen sind. Die Kriege, Seuchen, Erd - beben, Hungersnöthen, welche er prophezeihte, lassen sich in der folgenden Geschichte wirklich nachweisen; die Verfolgungen seiner Anhänger sind ohnehin eingetreten; die Voraussagung von falschen Propheten, und zwar na - mentlich von solchen, die durch Versprechen von Wun - derzeichen das Volk in die Wüste locken würden (Matth. 24, 11. 24 ff. parall. ), läſst sich mit einer auffallend ähnli -359Erstes Kapitel. §. 112.chen Stelle aus Josephus Schilderung der lezten Zeiten des jüdischen Staats vergleichen6)Antiq. 20, 8, 6 (vgl. bell. jud. 2, 13, 4.):Ο[]δὲ γόητες καὶ ἀπατεῶνες ἄνϑρωποι τὸν ὄχλον ἔπειϑον αὐτοῖς εἰς τὴν ἐρημίαν ἕπεσϑαι. Δείξειν γὰρ ἔφασαν ἐναργῆ τέρατα καὶ σημεῖα, κατὰ τὴν τοῦ ϑεοῦ πρόνοιαν γενόμενα. Καὶ πολλοὶ πεισϑέντες τῆς ἀφροσὑνης τιμωρίας ὑπέσχον· ἀναχϑέντας γὰρ αὐτες Φῆλιξ ἐκό - λασεν. die κυκλοὺμένη ὑπὸ ςρα - τοπέδων Ἱερουσαλὴμ bei Lukas, womit der χἄραξ zu ver - gleichen ist, welcher nach Luc. 19, 43 f. um Jerusalem ge - zogen werden sollte, kann in dem Umstand wiedergefun - den werden, daſs nach Josephus Zeugniſs Titus Jerusalem durch eine Mauer einschlieſsen lieſs7)Bell. jud. 5, 12, 1. 2.; so wie endlich auch das auffallen kann, daſs die Angaben: ουκ ἀφεϑήσεται λίϑος ἐπὶ λίϑῳ in Bezug auf den Tempel, und ἐδαφιοῦσί σε (Luc. 19, 44.) in Bezug auf die Stadt, in wörtliche Erfül - lung gegangen sind.

Wenn nun aus der Unmöglichkeit, dergleichen in na - türlicher Weise vorauszusehen, auf orthodoxem Standpunkt eine übernatürliche Einsicht Jesu gefolgert wird: so un - terliegt die Annahme einer solchen auch hier den gleichen Schwierigkeiten, wie oben bei den Vorherverkündigungen des Todes und der Auferstehung. Denn nach Matthäus (24, 15.) und Markus (13, 14.) hat Jesus das Eintreten der Katastrophe an die Erfüllung des durch Daniel von einem βδέλυγμα τῆς ἐρημώσεως Geweissagten geknüpft, folglich Dan. 9, 27. (vgl. 11, 31. 12, 11.) auf ein Ereigniſs bei der Zerstörung Jerusalems durch die Römer bezogen. Denn was Paulus behauptet, Jesus habe hier nur einen Ausdruck von Daniel entlehnt, ohne jenen Ausspruch des Propheten als Weissagung auf etwas zu seiner Zeit noch Künftiges zu betrachten, wird hier besonders durch den Zusaz: ἀναγινώσκων νοείτω, undenkbar. Nun aber darf es auf dem360Dritter Abschnitt.jetzigen Standpunkt der Kritik als entschieden angesehen werden, daſs die angezeigten Stellen im Daniel auf die Entweihung des Heiligthums unter Antiochus Epiphanes sich beziehen8)Bertholdt, Daniel übersezt und erklärt, 2, S. 668 ff. ; Pau - lus, exeg. Handb. 3, a, S. 340 f., also die Deutung derselben, welche die Evangelisten hier Jesu leihen, eine falsche ist. Eine sol - che aber kann ihm nicht aus seiner höheren Natur gekom - men, sondern er müſste hierin seiner menschlichen Gei - steskraft überlassen gewesen sein. Doch eben, wie er mittelst dieser im Stande gewesen sein sollte, einen von so vielen Zufälligkeiten abhängigen Erfolg mit seinen Ein - zelheiten vorauszusehen, ist unbegreiflich, und man wird von hier aus auf die Vermuthung geführt, daſs diese Re - den in der Bestimmtheit, wie wir sie hier lesen, nicht vor dem Erfolg, mithin nicht von Jesu, gesprochen, son - dern nach dem Erfolg ihm als Weissagung in den Mund gelegt worden seien. So nimmt z. B. Kaiser an, Jesus ha - be nur bedingt, für den Fall, daſs die Nation sich nicht durch den Messias retten lieſse, dem Tempel und der Stadt ein schreckliches Schicksal durch die Römer gedroht, und dieſs in prophetischen Bildern beschrieben: die unbedingte Haltung aber und die genaueren Bestimmungen seien sei - ner Rede erst post eventum gegeben worden9)bibl. Theol. 1, S. 247..

Im Gegensaz gegen diese beiden Ansichten, von einer übernatürlichen, und einer erst nach dem Erfolge gemach - ten Weissagung, sucht man von einer dritten Seite her die Möglichkeit darzuthun, daſs, was hier vorausgesagt wird, wirklich schon Jesus natürlicherweise habe wissen kön - nen10)Paulus, Fritzsche, z. d. Absch.. Auf das Allgemeine, die Zerstörung des Tem - pels und die Einnahme Jerusalems, konnte er, sagt man, durch den Schluſs kommen, daſs Gott alle Hindernisse des361Erstes Kapitel. §. 112.von ihm begonnenen Werkes, also auch den Tempel zu Jerusalem, in welchem, als der Basis des Priestercultus, er eines der stärksten erkannte, aus dem Wege räumen würde. Allein auf einen, wenn er aus bloſs menschlicher Berechnung hervorgieng, so äusserst unsichern Schluſs konnte Jesus ohne die keckste Vermessenheit keine so feier - liche Versicherung, und namentlich die Gewiſsheit nicht bauen, daſs die Zerstörung noch im Lauf eines Menschen - alters eintreten werde. Wenn man aber das besonders be - fremdlich gefunden hat, daſs mit einzelnen Zügen der Weis - sagung Jesu der Erfolg zusammengetroffen sein soll: so wird eben dieses Zusammentreffen in Anspruch genommen. Das Jerusalem prophezeihte κυκλοῦσϑαι ὑπὸ ςρατοπέδων werde von Titus bei Josephus gerade als unausführbar be - zeichnet11)b. j. 5, 12, 1:Κυκλὡσασϑαί τε γὰρ τῇ ςρατιᾷ τὴν πόλιν, διὰ τὸ μέγεϑος καὶ δυςχωρίαν ουκ εὐμαρὲς εῖναι καὶ σφαλερὸν ἄλλως πρὸς τὰς ἐπιϑέσεις.; ebenso, wenn das Aufwerfen eines χάραξ um die Stadt vorausgesagt werde, so melde Josephus, daſs, nachdem der erste Versuch eines χῶμα durch Brandstif - tung von Seiten der Belagerten vereitelt worden, Titus vom Aufwerfen weiterer Dämme abgestanden sei12)b. j. 5, 11, 1 ff. 12, 1.; von falschen Messiasen, die in der Zeit von Jesu Tod bis zur Zerstörung Jerusalems aufgestanden wären, melde die Ge - schichte nichts; die Völkerbewegungen und Naturerschei - nungen in jener Periode seien bei Weitem nicht so bedeu - tend gewesen, wie sie hier geschildert werden; namentlich aber sei in diesen Reden gar keine Zerstörung Jerusalems, sondern nur des Tempels, der Stadt aber bloſs ἐρήμωσις und πατεῖσϑαι ὑπὸ ἐϑνῶν vorhergesagt: lauter Abweichun - gen der Weissagung vom Erfolg, welche nicht stattfinden würden, wenn entweder ein übernatürlicher Blick in die Zukunft, oder ein vaticinium post eventum im Spiele wäre. 362Dritter Abschnitt.Immer indeſs bleibt doch die merkwürdige Thatsache von den falschen Propheten, die das Volk in die Wüste lock - ten, und ungenau wohl auch als ψευδόχριςοι bezeichnet werden konnten; das περιβαλοῦσι χάρακα behält seine Rich - tigkeit, da ja vor dem Mauerbau wirklich χώματα aufge - führt worden waren; die auf mehreren Seiten von den Feinden umlagerte Stadt konnte wohl κυκλουμένη ὑπὸ ςρα - τοπέδων heiſsen; der Stadt wird wenigstens bei Lukas, wenn man die 21, 20. ihr gedrohte ἐρήμωσις mit dem ἐδα - φιοῦσί σε καὶ ουκ ἀφήσουσιν ἐν σοὶ λίϑον ἐπὶ λίϑῳ 19, 44. vergleicht, offenbar die wirkliche Zerstörung vorhergesagt, und daſs der bei Matthäus und Markus, wenn auch nur dem Tempel, gedrohte Untergang doch in der bestimmten Frist erfolgte, ist ein auffallendes Zusammentreffen: so daſs, Alles zusammengenommen, geurtheilt werden muſs, ohne sonstige Hülfe, als verständige Combination der Umstände, wäre Jesus in seiner Zeit nicht im Stande gewesen, eine so bestimmte Voraussage mit solcher Sicherheit zu geben.

Eine solche Hülfe soll nun aber die jüdische Zeitvor - stellung von den Umständen gewesen sein, welche der An - kunft des Messias vorausgehen würden. Falsche Prophe - ten und Messiase, Krieg, Theurung und Seuchen, Erdbe - ben und Bewegungen am Himmel, überhandnehmende Sit - tenlosigkeit, galten als die nächsten Vorboten des Messias - reichs: daher, sagt man, finden wir sie auch hier voraus - gesagt, und dürfen nicht kleinlich von jedem Zuge die Er - füllung in der Geschichte auffinden wollen13)Fritzsche, in Matth. p. 699 ff.. Wirklich finden sich nun bei den Propheten in Bezug auf die Tage des Kommens Jehova's (Jes. 13, 9 ff. Joël 2, 11. 4, 15. Zeph. 1, 14 ff. Hagg. 2, 7. Zach. 14, 1 ff. Mal. 3, 1 ff. ) so analoge Beschreibungen der demselben vorangehenden und es begleitenden Drangsale, und ohnehin in späteren jüdischen Schriften Aussprüche, welche mit diesen evan -363Erstes Kapitel. §. 112.gelischen so viel Verwandtschaft haben14)s. die Stellen bei Schöttgen, 2, S. 509 ff. ; Bertholdt, §. 13; Schmidt, Biblioth. 1, S. 24 ff., daſs man nicht zweifeln kann, es sei hier aus einem Kreise von Zeitvor - stellungen heraus über die Zeit der Ankunft des Messias gesprochen. Aber ob der Hauptzug in dem vorliegenden Gemälde, die Zerstörung des Tempels und Verödung der Stadt, sich ebenso als ein Theil der allgemeinen Vorstel - lungen zur Zeit Jesu nachweisen läſst, ist eine andere Frage. Zwar findet sich in jüdischen Schriften die Mei - nung, die Geburt des Messias treffe mit der Zerstörung des Heiligthums zusammen15)s. bei Schöttgen, 2, S. 525 f.: aber diese Vorstellung hat sich offenbar erst nach dem Untergang des Tempels gebildet, um aus dem tiefsten Punkte des Unglücks die Quelle des Trostes entspringen zu lassen. Josephus findet im Daniel neben dem auf Antiochus Bezüglichen auch eine Weissa - gung auf die Vernichtung des jüdischen Staats durch die Römer16)Antiq. 10, 11, 7. Nachdem er das kleine Horn auf Antiochus gedeutet, sezt er kurz hinzu: Τὸν αὐτὸν δὲ τρόπον Δανιῆλος καὶ περὶ τῆς τῶν Ῥωμαίων ἡγεμονίας ἀνέγραψε, καὶ ὅτι ὑπ̕ αὐ - τῶν ἐρημωϑήσεται (τὸ ἔϑνος ἡμῶν). Auf die Römer bezog er ohne Zweifel die vierte, eiserne Monarchie, Dan. 2, 40, wie ausser dem κρατήσει εἰς ἅπαν, was er ihr zuschreibt, beson - ders daraus erhellt, dass er ihre Zerstörung durch einen Stein für etwas noch Zukünftiges erklärt, Antiq. 10, 10, 4:ἐδήλωσε δὲ καὶ περὶ τοῦ λίϑου Δανιῆλος τῷ βασιλεῖ, ἀλλ̕ ἐμοὶ μὲν ουκ ἔδοξε τουτο ἱςορεῖν, τὰ παρελϑόντα καὶ τὰ γεγενημένα συγγρά - φειν, ου τὰ μέλλοντα ὀφείλοντι. Den Stein nämlich deutet Daniel 2, 44. auf das himmlische Rönigreich, welches das eiserne zerstören, selbst aber ewig bleiben werde, ein messiani - scher Zug, auf welchen sich Josephus nicht weiter einlassen will. Dass nach richtiger Auslegung die eisernen Schenkel des Bildes das macedonische, die aus Thon und Eisen ge -, und, so wenig dieſs die ursprüngliche Bezie - hung von irgend einem der Danielischen Gesichte ist:364Dritter Abschnitt.wenn man nur einmal, sei es aus welchem Grunde immer, zur Zeit Jesu einen Theil jener Weissagungen auf etwas noch Bevorstehendes bezog, so scheint nichts mehr im Wege zu stehen, daſs nicht auch Jesus diese Ansicht seiner Zeit sollte getheilt haben können. Wie nun die Juden zur Zeit Jesu den weit frühere Zeitverhältnisse betreffenden Weis - sagungen Daniels eine Beziehung auf noch bevorstehende Ereignisse geben konnten, erklärt sich aus dem gleichen Grunde, wie das, daſs die Christen jetziger Zeit der vol - len Verwirklichung von Matth. 24. 25. noch entgegensehen. Da nämlich nach dem Untergang der aus Thon und Eisen gemischten Reiche, und des Hornes, das die Gottesläste - rungen ausstoſsen und gegen die Heiligen streiten sollte, alsbald das Kommen des Menschensohns in den Wolken und der Eintritt des ewigen Reichs der Heiligen geweis - sagt, diese Erfolge aber nach der Überwindung des Antio - chus keineswegs sofort eingetreten waren: so war man ver - anlaſst, mit diesem himmlischen Reiche auch die ihm un - mittelbar vorangestellten Drangsale durch das gemischte Reich und das Horn, worunter namentlich die Entweihung des Heiligthums genannt war, erst noch einmal von der Zukunft zu erwarten. Schwerer zu erklären ist, wie die vorausgesagte Entweihung des Tempels und Verwüstung der Stadt zur Erwartung einer völligen Zerstörung werden konnte. Zwar lieſs sich das hebräische מְשֹׁמֵם bei Daniel und ἐρήμωσις der LXX. in dieser Bedeutung fassen: aber es fragt sich, welches Interesse die Juden zu Jesu Zeit haben konnten, gerade das Schrecklichste aus dem Pro - pheten herauszulesen? Bei der abgöttischen Anhänglichkeit und Ehrfurcht des Juden für seinen Tempel ist es nicht begreiflich, wie er, ohne durch einen Text gezwungen zu16)mischten Füsse aber die aus dem macedonischen entstande - nen Reiche, also namentlich das syrische, bezeichnen, darüber vgl. de Wette, Einl. in das A. T. §. 254.365Erstes Kapitel. §. 112.sein, sich dazu verstehen konnte, eine Zerstörung seines hochgeachteten Heiligthums als bevorstehend zu denken17)s. Tholuck, Comm. z. Joh. S. 365.. Nur in einer dem Judenthum und namentlich dem Tempel - dienst feindlichen Partei, scheint es, konnte sich vor der wirklichen Zerstörung des Tempels, bei den Juden selbst erst mit diesem Erfolg eine solche Auslegung der Danielischen Stelle bilden. Zu Jesu Lebzeiten aber war sein und seiner Anhänger Gegensaz gegen den Tempeldienst noch nicht entwickelt, da ja er selbst sich vielmehr des Tempels gegen Entweihungen annahm (Matth. 21, 12 f. parall. ), und nach seiner Himmelfahrt die Jünger im Tem - pel sich versammelten (Luc. 24, 53.). Von hier aus also kann die Vermuthung entstehen, es mögen diese Reden in der Bestimmtheit, wie sie jezt vor uns liegen, nicht von Jesu selbst, noch aus seiner Zeit, herrühren, sondern spä - ter in einer Periode entstanden sein, in welcher jener Ge - gensaz entwickelt oder die Zerstörung des Tempels bereits erfolgt war.

Daſs die Weissagungen, wie wir sie im ersten Evan - gelium lesen, noch vor dem Falle des jüdischen Heiligthums aufgezeichnet sein müssen, hat man daraus geschlossen, daſs diesem Evangelium zufolge unmittelbar nach diesem Ereigniſs die Zukunft Christi eintreten soll, was, nachdem der Tempel bereits zerstört war, nicht mehr ebenso erwar - tet werden konnte18)de Wette, Einl. in das N. T. §. 97.. Vergleicht man die Darstellung im dritten Evangelium, so ist hier nicht allein das εὐϑέως ver - mieden, sondern auch zwischen die Zerstörung Jerusalems und die Zeichen der Ankunft des Messias ausdrücklich eine Zwischenzeit eingeschoben, während welcher Ἱερουσαλὴμ ἔςαι πατουμένη ὑπὸ ἐϑνῶν, ἄχρι πληρωϑῶσι καιροὶ ἐϑνῶν (21, 24.). Dazu kommt, daſs das Gemälde der Verwü - stung, soweit es Jerusalem betrifft, bei Lukas weit be -366Dritter Abschnitt.stimmter als bei Matthäus gehalten ist. Zwar, daſs dem Tempel die Zerstörung bevorstehe, ist bei beiden schon in der ersten kurzen Antwort Jesu an die Jünger auf's Be - stimmteste erklärt. Aber im Verlauf der entwickelnden Rede heiſst es nun bei Matthäus bloſs, wenn das von Da - niel vorausgesetzte βδέλυγμα τῆς ἐρημώσεως an heiliger Stätte stehe, dann solle man schleunige Flucht ergreifen, denn es trete eine beispiellose ϑλίψις ein (24, 15 22.). Ganz anders Lukas: das geheimniſsvolle Zeichen aus Da - niel hat er in die klar ausgesprochene Umzingelung Jeru - salems durch feindliche Heere verwandelt; die alsdann - thige Flucht durch die bevorstehende ἐρήμωσις der Stadt motivirt; die eintretenden Drangsale als Rache über das jüdische Volk näher bestimmt; diesem blutige Niederlage und Zerstreuung unter alle Völker, der Stadt Besiznahme durch die Heiden vorhergesagt (21, 20 24.). Dasselbe Verhältniſs zwischen den beiden Evangelien findet bei der Wehklage Jesu über Jerusalem statt, deren, in der Form, wie sie Lukas wiedergiebt, bereits Erwähnung geschehen ist. Bei Matthäus schlieſst das den Reden über die Parusie unmittelbar vorangehende 23te Kapitel V. 37. mit einer An - rede an Jerusalem, in welcher Jesus klagt, daſs diese Stadt seine treuen Bemühungen um sie undankbar zurück - gewiesen habe, wofür ihr nun auch ἐρήμωσις ihres οἶκος, Verödung ihres Heiligthums, bevorstehe. Während den gleichen Ausspruch Lukas früher, 13, 34 f., stellt, legt er Jesu, wie er am Schluſs seiner lezten Festreise Jeru - salem erblickt, eine Anrede in den Mund, welche nur als die bestimmtere Ausführung jenes Ausspruchs erscheinen kann, indem hier, wie schon oben angegeben, von einem um Jerusalem aufzuführenden χάραξ, von περικυκλοῦν, συν - έχειν πάντοϑεν, ἐδαφιοῦν, die Rede ist (19, 41 ff.). Da so - mit Lukas einerseits dasjenige, was in der Weissagung des Matthäus nicht in Erfüllung gehen zu wollen schien (das εὐϑέως) beseitigt, andrerseits das Ungenaue derselben in367Erstes Kapitel. §. 112.Übereinstimmung mit dem Erfolge näher bestimmt hat: so wird man nicht umhinkönnen, mit geprüften Kritikern in dem Unterschied dieser beiden Darstellungen den eines va - ticinium ante und post eventum zu finden19)de Wette, a. a. O. und §. 101.. Scheinen wir hiedurch in die Annahme, welche wir eben vermei - den wollten, daſs nämlich vor der wirklichen Zerstörung Jerusalems und des Tempels eine solche Katastrophe ge - weissagt worden sei, in Bezug auf die Darstellung des er - sten Evangeliums zurückzufallen: so bleibt es uns doch un - benommen, die Entstehung des Orakels in seiner Form bei Matthäus so nahe als möglich an die Zerstörung Jerusa - lems hinanzurücken, und uns zu denken, wie der Verfas - ser des Buchs Daniel mitten unter den Kämpfen seiner Na - tion mit Antiochus Epiphanes, doch da es sich für die Israë - liten schon zum Sieg zu wenden begann, den baldigen Sturz des Tyrannen, die Ankunft des Menschensohns in den Wolken, und den Eintritt des ewigen Reichs der Hei - ligen geweissagt hatte20)de Wette, Einl. in das A. T. §. 257.: ebenso seien mitten unter der Bedrängniſs des jüdischen Kriegs und der Belagerung der Stadt, doch da die Sache der Juden sich schon zum Unter - gange neigte, und namentlich der Tempel, als der den Römern wohlbekannte Herd des jüdischen Nationalgefühls, verloren gegeben werden muſste, die vorliegenden Orakel mit dem Troste des sogleich nach der gegenwärtigen Drang - sal eintretenden messianischen Reiches in der Form, wie das erste Evangelium sie giebt, entstanden, und hierauf nach dem Erfolg in der Art, wie wir sie jezt im dritten Evangelium lesen, umgebildet worden: so daſs wir also bei Lukas ein vaticinium post eventum, bei Matthäus aber nicht sowohl eines ante eventum, als in eventu vor uns hätten.

Eine andere Einwendung gegen die Ächtheit der syn - optischen Reden über die Parusie hat auf unsrem Stand -368Dritter Abschnitt.punkt nicht dieselbe Kraft, die sie auf dem jezt gewöhnli - chen der vergleichenden Evangelienkritik hat, nämlich das Fehlen jeder ausführlichen Schilderung der künftigen Par - usie Jesu im johanneischen Evangelium21)s. Hase, L. J. §. 130.. Zwar die Grundbestandtheile der Lehre von der Wiederkunft Chri - sti sind auch im vierten Evangelium nicht zu verkennen22)Die hiehergehörigen Stellen finden sich zusammengestellt und erläutert bei Schott, Commentarius etc. p. 364 ff., vgl. Lücke, z. dens.. Jesus schreibt sich in demselben das einstige Gericht und die Auferweckung der Todten zu (Joh. 5, 21 30.), wel - che leztere als Moment der Zukunft Christi in den eben erwogenen synoptischen Reden nicht hervortritt, aber sonst im N. T. nicht selten in jenem Zusammenhang vorkommt (z. B. 1 Kor. 15, 23. 1 Thess. 4, 16.). Wenn Jesus im vierten Evangelium bisweilen leugnet, zum Gericht in die Welt gekommen zu sein (3, 17. 8, 15. 12, 47.), so gilt dieſs theils nur von seiner ersten Anwesenheit, theils wird es durch entgegengesezte Äusserungen, wo er vielmehr be - hauptet, zum Gerichtigekommen zu sein, (9, 39 vgl. 8, 16.), auf den Sinn eingeschränkt, daſs nur ein liebloses, par - tikularistisches Richten seine Sache nicht sei. Wenn fer - ner der johanneische Jesus von dem Glaubenden sagt: ου κρίνεται (3, 18. 5, 24.), so ist dieſs in demselben Sinn zu verstehen, wie wenn es von dem Ungläubigen heiſst: ἤδη κέκριται (3, 18.), daſs nämlich die Anweisung des verdien - ten Looses für jeden nicht erst dem künftigen Gericht am Ende der Dinge aufbehalten sei, sondern mit seiner in - nern Beschaffenheit schon jezt jeder das ihm gebührende Schicksal in sich trage, und wie Jesus in demselben Evan - gelium ein andermal durch die Versicherung, denjenigen, welcher sein Wort gehört habe, ohne zu glauben, richte nicht er, sondern λόγος, ὃν ἐλάλησα, κρινεῖ αὐτὸν ἐν τῇ369Erstes Kapitel. §. 112.ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ (12, 48.), nur so viel ausdrücken will, daſs die Verdammniſs der Ungläubigen nicht ein willkührlicher subjektiver Akt seiner Person, sondern ein nothwendiger, objektiver der Sache selbst sei. Dadurch ist ein bevorste - hender solenner Gerichtsakt, an welchem das jezt erst an sich Vorhandene zur feierlichen Offenbarung gelangt, nicht ausgeschlossen, wie denn in der zulezt angeführten Stelle die Zuerkennung der Verdammniſs, und sonst auch die Er - theilung der Seligkeit (5, 28 f. 6, 39 f. 54.), an den jüngsten Tag und die Auferstehung geknüpft wird. Ebenso sagt ja auch bei Lukas Jesus in demselben Zusammenhang, in welchem er seine Wiederkunft als eine noch bevorstehen - de äussere Katastrophe beschreibt, 17, 20 f., das Reich Got - tes komme nicht μετὰ παρατηρήσεως·ουδὲ ἐροῦσιν· ἰδοὺ ὧδε, ἰδοὺ ἐκεῖ· ἰδοὺ γὰρ, βασιλεία τοῦ ϑεοῦ ἐντὸς ὑμῶν ἐςίν. Auch daſs seine Wiederkunft in Kurzem bevorstehe, soll nach einer gewissen Deutung seiner Worte der johannei - sche Jesus geäussert haben. Die schon erwähnten Aus - sprüche in den Abschiedsreden nämlich, wo Jesus seinen Jüngern verspricht, sie nicht verwaist zurückzulassen, son - dern, hingegangen zum Vater, in Kurzem (16, 16.) wie - der zu ihnen zu kommen (14, 3. 18. ), sind nicht selten auch von der Wiederkunft Christi am Ende der Tage verstan - den worden23)s. bei Tholuck, S. 259.; aber wenn man von dieser nämlichen Wiederkunft Jesum sagen hört, daſs er bei derselben nur seinen Jüngern, nicht aber der Welt sich offenbaren wer - de (14, 19. vgl. 22.): so kann man unmöglich an die Wie - derkunft zum Gericht denken, wo Jesus sich Guten und Bösen ohne Unterschied zu offenbaren gedachte. Beson - ders räthselhaft ist noch im Anhang des vierten Evange - liums, K. 21, von dem Kommen Jesu die Rede. Auf die Frage des Petrus, was es mit dem Apostel Johannes wer - den solle, erwiedert hier Jesus: ἐὰν αὐτὸν ϑέλω μένειν,Das Leben Jesu II. Band. 24370Dritter Abschnitt.ἕως ἔρχομαι, τί πρὸς σέ; (V. 22.) was, wie hinzugesezt wird, die Christen so verstanden, als sollte Johannes gar nicht sterben, indem sie das ἔρχεσϑαι auf die lezte Wie - derkunft Christi bezogen, bei welcher die sie Erlebenden, ohne den Tod zu schmecken, verwandelt werden sollten (1 Kor. 15, 51 f.). Aber, sezt der Verfasser berichtigend hinzu, Jesus habe nicht gesagt, der Jünger werde nicht sterben, sondern nur, wenn er wolle, daſs er bleibe, bis er komme, was es den Petrus angehe? Hiedurch kann der Evangelist zweierlei berichtigen wollen. Entweder schien es ihm unrichtig, das Bleiben, bis Jesus komme, ge - radezu mit nicht sterben zu identificiren, d. h. also das Kommen, von welchem hier Jesus sprach, für das lezte, welches dem Tod ein Ende machen sollte, zu nehmen, und dann müſste er sich ein unsichtbares Kommen Christi, et - wa in der Zerstörung Jerusalems, darunter gedacht haben24)vgl. Tholuck, z. d. St.. Oder hielt er es für irrig, was Jesus nur hypothetisch ge - sagt hatte: wenn er auch etwa das Angegebene wollte, so gienge das doch den Petrus nichts an, kategorisch zu fas - sen, als ob es Jesu wirklicher Wille gewesen wäre, wo - bei dann das ἔρχομαι seine gewöhnliche Bedeutung be - hielte25)So Lücke, auch Tholuck, z. d. St. Schott, p. 409..

Finden sich hienach allerdings die Grundzüge der Leh - re von der Parusie auch im vierten Evangelium Jesu in den Mund gelegt, so finden wir doch nirgends etwas von der ausführlichen sinnlichen Schilderung des äussern Her - gangs bei derselben, und der mit ihr zusammenhängenden Vorgänge, wie wir sie in den synoptischen Evangelien le - sen. Dieses Verhältniſs macht bei der gewöhnlichen An - sicht von dem Ursprung der Evangelien, namentlich des vierten, nicht wenig Schwierigkeit. Wenn Jesus wirklich so ausführlich und feierlich, wie ihn die Synoptiker davon371Erstes Kapitel. §. 112.reden lassen, von seiner Wiederkunft gesprochen, und die richtige Erkenntniſs und Beobachtung der Zeichen dersel - ben als etwas so Wichtiges behandelt hat: so ist es unbe - greiflich, wie der Verfasser des vierten Evangeliums das Alles übergehen konnte, wenn er anders ein unmittelba - rer Schüler Jesu war. Das gewöhnliche Reden, er habe dieſs aus den Synoptikern oder der mündlichen Verkündi - gung als bekannt vorausgesezt, reicht hier um so weniger aus, je mehr alles, was Weissagung ist, namentlich einer so ersehnten und gefürchteten Katastrophe, der Miſsdeu - tung bloſssteht, wie wir aus der zulezt erwähnten Berich - tigung sehen, welche der Verfasser von Joh. 21. an der Meinung seiner Zeitgenossen über die dem Johannes von Jesu gegebene Verheiſsung anzubringen für nöthig fand. Hier also ein verständigendes Wort zu reden, wie zweck - mäſsig und verdienstlich wäre es gewesen, besonders da die Darstellung des ersten Evangeliums, welche sogleich auf die Zerstörung des Tempels das Ende der Dinge fol - gen lieſs, je näher jenes Ereigniſs kam, und noch mehr als es vorüber war, immer bedenklicher und anstössiger wer - den muſste, und wer war eher im Stande, eine solche Be - richtigung zu geben, als der Lieblingsjünger, zumal wenn er nach Marc. 13, 3. der einzige Evangelist war, der den Erörterungen Jesu über diesen Gegenstand angewohnt hat - te? Daher sucht man auch hier einen besondern Grund seines Stillschweigens in der angeblichen Bestimmung sei - nes Evangeliums für nichtjüdische, idealisirende Gnostiker, für deren Standpunkt jene Schilderungen nicht gepaſst ha - ben, und deſshalb weggelassen worden seien26)Olshausen, 1, S. 870.. Allein gerade solchen Lesern gegenüber wäre es eine pflichtwi - drige Nachgiebigkeit, eine Bestärkung in ihrer idealisiren - den Richtung gewesen, wenn Johannes ihnen zulieb die reale Seite an der Wiederkunft Christi hätte zurücktre -24 *372Dritter Abschnitt.ten lassen. Dem Hang dieser Leute, das äusserlich Ge - schichtliche des Christenthums zu verflüchtigen, muſste der Apostel dadurch entgegentreten, daſs er eben diese Seite gebührend hervorhob; wie er in seinem Brief ihrem Do - ketismus gegenüber die Leiblichkeit Jesu premirt, so muſs - te er im Gegensaz gegen ihren Idealismus an der Wieder - kunft Christi die äusseren Momente ihres Eintritts mit be - sonderem Fleiss hervorkehren. Statt dessen spricht er selbst fast wie ein Gnostiker, und sucht die Wiederkunft Christi von der Bedeutung eines äussern, zukünftigen Vor - gangs immer wieder in das Innere und die Gegenwart zu - rückzurufen. Es ist also nicht so übertrieben, wie Ols - hausen meint, wenn Fleck behauptet, daſs die synoptische und die johanneische Darstellung der Lehre Jesu von sei - ner Wiederkunft sich ausschlieſsend zu einander verhal - ten27)Fleck, de regno divino, p. 483.; sondern, wenn der Verfasser des vierten Evange - liums ein Apostel ist, so können die Reden, welche die drei ersten Evangelisten Jesu über seine Parusie in den Mund legen, nicht so von ihm gesprochen worden sein, und umgekehrt. Doch, wie gesagt, dieses Arguments kön - nen wir uns nicht bedienen, da wir die Voraussetzung ei - nes apostolischen Ursprungs für das vierte Evangelium längst aufgegeben haben. Auf unserem Standpunkt kön - nen wir uns nun aber das Verhältniſs der johanneischen Darstellung zur synoptischen vollkommen erklären. In Pa - lästina, wo sich die in den drei ersten Evangelien aufge - zeichnete Tradition bildete, wurde frühzeitig die daselbst verbreitete Lehre von einer feierlichen Ankunft des Mes - sias in ihrer ganzen palästinischen Sinnlichkeit in die christ - liche Verkündigung aufgenommen, und nach der Zerstö - rung Jerusalems noch näher bestimmt: wogegen in dem hellenistisch-theosophischen Kreise, in welchem das vierte Evangelium entstand, diese Idee ihr sinnliches Gewand ab -373Erstes Kapitel. §. 112.streifte, und die Wiederkunft Christi zu dem zwischen ei - nem realen und idealen, gegenwärtigen und künftigen Vor - gang schwebenden Mittelding wurde, wie sie im vierten Evangelium erscheint.

Können nach dem Obigen die ausführlichen Reden, welche die drei ersten Evangelisten Jesu über seine Par - usie in den Mund legen, nicht von ihm selber herrühren: so fragt sich, ob er nicht doch im Allgemeinen gehofft und verheiſsen hat, einst als Messias herrlich zu erscheinen? Hielt er sich in irgend einem Abschnitt seines Lebens für den Messias, woran nicht zu zweifeln ist, und bezeichnete er sich als den υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου, so muſste er, scheint es, auch das Kommen in den Wolken erwarten, welches die - sem bei Daniel zugeschrieben ist: nur fragt es sich, ob er dieſs als eine Verherrlichung gedacht habe, welche noch während seines Lebens eintreten würde, oder als etwas, das ihm erst nach seinem Tode bevorstände? Nach Aus - sprüchen wie Matth. 10, 23. 16, 28. könnte man das Er - stere vermuthen; dabei bleibt jedoch immer möglich, daſs, wenn ihm später sein Tod gewiſs wurde, seine Vorstel - lung die leztere Form annahm, aus welcher heraus dann Matth. 26, 64. gesprochen wäre.

374Dritter Abschnitt.

Zweites Kapitel. Anschläge der Feinde Jesu; Verrath des Judas; leztes Mahl mit den Jüngern.

§. 113. Entwicklung des Verhältnisses Jesu zu seinen Feinden.

Als die Feinde Jesu erscheinen in den drei ersten Evan - gelien am häufigsten die Φαρισαῖοι καὶ γραμματεῖς1)s. Winer's bibl. Realwörterb. d. A. A., wel - che in ihm den verderblichsten Feind ihres Satzungswe - sens erkannten, und neben diesen beiden die ἀρχιερεῖς und πρεσβύτεροι, welche als Häupter des äusseren Tempelcul - tus und der auf diesen gegründeten Hierarchie mit demje - nigen, der bei jeder Gelegenheit auf den inneren Gottes - dienst des Gemüths als die Hauptsache hinwies, sich nicht befreunden konnten. Sonst treten wohl auch die Σαδδου - καῖοι unter den Gegnern Jesu auf (Matth. 16, 1. 22, 23 ff. parall. vgl. Matth. 16, 6 ff. parall. ), deren Materialismus Manches an seinen Ansichten zuwider sein muſste, und die Herodische Partei (Marc. 3, 6. Matth. 22, 16. parall. ), welche, wie dem Täufer, so auch seinem Nachfolger ab - hold war. Das vierte Evangelium, obwohl es einigemale die ἀρχιερεῖς und Φαρισαῖοι nennt, bezeichnet die Feinde Jesu doch am häufigsten durch den allgemeinen Ausdruck: οἱ Ἰουδαῖοι, was vom späteren, christlichen Standpunkt aus gesprochen ist.

Übereinstimmend berichten sämmtliche vier Evangeli - sten, daſs die bestimmteren Anschläge der pharisäisch-hier -375Zweites Kapitel. §. 113.archischen Partei gegen Jesum von einem Verstoſs dessel - ben gegen die den Sabbat betreffenden Satzungen ihren Anfang genommen haben. Als Jesus den Menschen mit der vertrockneten Hand am Sabbat wiederhergestellt hatte, sezt Matthäus hinzu: οἱ δὲ Φαρισαῖοι συμβουλιον ἐλαβον κατ̕ αὐτοῦ, ὅπως αὐτὸν ἀπολέσωσιν (12, 14. vgl. Marc. 3, 6. Luc. 6, 11.), und ebenso bemerkt Johannes bei der sabbat - lichen Heilung am Teich Bethesda: καὶ διὰ τοῦιο ἐδίωκον τὸν . οἱ Ἰουδαῖοι, und fährt, nachdem er noch einen Aus - spruch Jesu gemeldet, fort: διὰ τοῦτο ου͑͂ν μᾶλλον ἐζήτουν αὐ - τὸν οἱ Ἰουδαῖοι ἀποκτεῖναι (5, 16. 18.).

Sogleich nach diesem Anfangspunkt aber gehen die synoptische und die johanneische Darstellung des fraglichen Verhältnisses auseinander. Bei den Synoptikern giebt den nächsten Anstoſs die Vernachlässigung des Waschens vor Tisch von Seiten Jesu und seiner Jünger und die schar - fen Ausfälle, welche er, darüber zur Rede gestellt, ge - gen den kleinlichten Satzungsgeist und die damit verbun - dene Heuchelei und Verfolgungssucht der Pharisäer und Gesezkundigen macht, wo es dann am Ende heiſst, sie ha - ben tiefen Groll gegen ihn gefaſst, und ihn auszuholen, ihm verfängliche Reden abzulocken gesucht, um Grund zur An - klage gegen ihn zu gewinnen (Luc. 11, 37 54. vgl. Matth. 15, 1 ff. Marc. 7, 1ff.). Auf seiner lezten Reise nach Je - rusalem lieſsen die Pharisäer Jesu eine Warnung vor He - rodes zukommen (Luc. 13, 31.), die wahrscheinlich nur den Zweck hatte, ihn aus der Gegend wegzubringen. Den nächsten Hauptanstoſs nimmt die hierarchische Partei an der auffallenden Huldigung, welche Jesu bei'm Einzug in Jerusalem vom Volke dargebracht wird, und an der Tem - pelreinigung, zu welcher er sofort schreitet: doch etwas Ge - waltsames gegen ihn zu unternehmen, hielt sie sein star - ker Anhang unter dem Volk noch zurück (Matth. 21, 15 f. Marc. 11, 18. Luc. 19, 39. 47 f.), was auch der einzige Grund war, warum sie nach der scharfen Zeichnung durch376Dritter Abschnitt.das Gleichniſs von den Weingärtnern sich seiner Person nicht bemächtigte (Matth. 21, 45 f. parall.). Nach diesen Vorgängen bedurfte es kaum mehr der antipharisäischen Rede Matth. 23, um kurz vor dem Pascha die Hohenprie - ster, Schriftgelehrten und Ältesten, d. h. das Synedrium, in den Palast des Hohenpriesters zu einer Berathung zu - sammenzuführen, ἵνα τὸν . δόλῳ κρατήσωσι καὶ ἀποκτεί - νωσιν (Matth. 26, 3 ff. parall.).

Auch im vierten Evangelium zwar wird der groſse An - hang Jesu unter dem Volk einigemale als der Grund be - zeichnet, warum ihn seine Feinde haben wollen festnehmen lassen (7, 32. 44. vgl. 4, 1 ff. ), und sein feierlicher Einzug in Jerusalem erbittert sie auch hier (12, 19.); bisweilen wird ihrer Mordanschläge ohne Angabe einer Veranlassung ge - dacht (7, 1. 19. 25. 8, 40.): aber den Hauptanstoſs geben in diesem Evangelium die Aussagen Jesu über seine höhere Würde. Schon bei jener Sabbatheilung reizte das haupt - sächlich die Juden auf, daſs Jesus dieselbe durch Beru - fung auf die ununterbrochene Thätigkeit Gottes, als seines Vaters, rechtfertigte, worin nach ihrer Meinung ein blas - phemisches ἴσον ἑαυτὸν ποιεῖν τῷ ϑεῷ lag (5, 18.); wenn er von seiner göttlichen Sendung sprach, suchten sie ihn zu greifen (7, 30. vgl. 8, 20.); auf die Behauptung, vor Abraham sei er, hoben sie Steine gegen ihn auf (8, 59.); dasselbe thaten sie, als er äusserte, er und der Vater seien Eins (10, 31.), und wie er behauptete, der Vater sei in ihm, und er im Vater, suchten sie sich abermals seiner zu bemächtigen (10, 39.). Was aber den Ausschlag giebt nach der Darstellung des vierten Evangeliums, und die feindliche Partei zu förmlicher Beschluſsnahme gegen Je - sum veranlaſst, ist die Auferweckung des Lazarus. Als diese That den Pharisäern gemeldet wurde, veranstalteten sie und die Hohenpriester eine Synedriumssitzung, in wel - cher sie in Erwägung zogen, wenn Jesus fortfahre, so viele σημεῖα zu thun, werde ihm zulezt Alles anhängen,377Zweites Kapitel. §. 113.und dann die Römer zerstörend einschreiten; worauf der Hohepriester Kaiphas den verhängniſsvollen Ausspruch that, es sei besser, daſs Ein Mensch für das Volk sterbe, als daſs das ganze Volk zu Grunde gehe. Nun war sein Tod beschlossen, und es wurde jedem zur Pflicht gemacht, sei - nen Aufenthaltsort anzuzeigen, um sich seiner Person be - mächtigen zu können (11, 46.).

In Bezug auf diese Differenz bemerkt die neuere Kri - tik, daſs wir aus den synoptischen Berichten die tragische Wendung des Schicksals Jesu gar nicht begreifen würden, und nur Johannes einen Blick in die stufenweise Steige - rung der Spannung zwischen der hierarchischen Partei und Jesu uns eröffne, kurz, daſs namentlich auch in die - sem Stück die Darstellung des vierten Evangeliums als eine pragmatische sich zeige, was die der übrigen nicht sei2)Schneckenburger, über den Ursprung, S. 9 f. Lücke, 1, S. 133. 159. 2, S. 402.. Allein, was hier an stufenweisem Fortschreiten die johan - neische Erzählung voraushaben soll, ist schwer einzusehen, da ja gleich die erste bestimmtere Angabe über das sich bildende Miſsverhältniſs (5, 18.) in dem ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν τῷ ϑεῷ das Höchste des Anstoſses, in dem ἐζήτουν αὐτὸν ἀποκτεῖναι aber das Höchste der Feindseligkeit enthält, so daſs Alles, was weiter von der Feindschaft der Ἰουδαῖοι er - zählt wird, bloſse Wiederholung ist, und nur der Syne - driumsbeschluſs Kap. 11. als Fortschritt zum Bestimmteren sich darstellt. In diesem Sinne fehlt aber auch der syn - optischen Darstellung der Fortschritt nicht, von dem un - bestimmten ἐνεδρεύειν und διαλαλεῖν, τί ἂν ποιήσειαν τῷ Ἰησοῦ (Luc. 11, 54. 6, 11.), oder, wie es bei Matthäus (12, 14.) und Markus (3, 6.) bestimmter lautet, συμβου - λιον λαμβάνειν ὅπως αὐτὸν ἀπολέσωσιν, bis zu dem in Be - zug auf Art (δόλῳ) und Zeit (μὴ ἐν τῇ ἑορτῇ) nunmehr genau bestimmten Beschlusse (Matth. 26, 4 f. parall.). 378Dritter Abschnitt.Näher wird nun aber den drei ersten Evangelisten beson - ders das zum Vorwurf gemacht, daſs sie in der Auferwe - ckung des Lazarus diejenige Begebenheit übergangen ha - ben, welche für die lezte Wendung des Schicksals Jesu entscheidend geworden sei3)Vgl., ausser den angeführten Kritikern, Hug, Einleit. in das N. T. 2, S. 215.. Müssen dagegen wir, mit Rücksicht auf das obige Resultat unsrer Kritik dieser Wun - dererzählung, vielmehr die Synoptiker loben, daſs sie nicht eine Begebenheit zum Wendepunkt des Schicksals Jesu machen, welche gar nicht wirklich vorgefallen ist: so be - urkundet sich der vierte Evangelist auch durch die Art, wie er den dadurch veranlaſsten Mordbeschluſs berichtet, keineswegs als einen solchen, dessen Auktorität uns die Wahrheit seiner Erzählung verbürgen könnte. Das zwar, daſs er, ohne Zweifel nach einer abergläubischen Zeitvor - stellung4)Hierüber am richtigsten Lücke, 2, S. 407 ff., dem Hohenpriester die Gabe der Prophetie zu - schreibt, und seinen Ausspruch für eine Weissagung auf den Tod Jesu hält, dieſs würde für sich noch keineswegs beweisen, daſs er nicht ein Augenzeuge und Apostel könnte gewesen sein5)Wie die Probabilien meinen, S. 94. .. Das aber ist mit Recht bedenklich gefun - den worden, daſs unser Evangelist den Kaiphas als ἀρχιε - ρεὺς τοῦ ἐνιαυτοῦ ἐκείνου bezeichnet (11, 49.), also vorauszu - setzen scheint, diese Würde sei, wie manche römische Ma - gistraturen, eine jährige gewesen, da sie doch ursprüng - lich eine lebenslängliche war, und auch in jener Zeit der römischen Oberherrschaft nicht regelmäſsig jährlich, son - dern so oft es der Willkühr der Römer gefiel, abwechselte. Auf die Auktorität des vierten Evangeliums hin gegen die sonstige Sitte und unerachtet des Stillschweigens des Jose - phus anzunehmen, Hannas und Kaiphas haben vermöge ei - ner Privatübereinkunft jährlich gewechselt6)Hug, a. a. O. S. 221., dazu mag379Zweites Kapitel. §. 113.sich, wer Lust hat, entschlieſsen; ἐνιαυτοῦ unbestimmt für χρόνου zu nehmen7)Kuinöl, z. d. St., ist wegen der doppelten Wiederho - lung desselben Ausdrucks V. 51. und 18, 13. unzulässig; daſs in jener Zeit das Hohepriesterthum so häufig wech - selte, und einige Hohepriester nicht länger als ein Jahr in ihrer Stelle belassen wurden8)Paulus, Comm. 4, S. 579 f., berechtigte unsern Schrift - steller nicht, den Kaiphas als Hohenpriester eines Jahrs zu be - zeichnen, welcher gerade vielmehr eine Reihe von Jahren, namentlich während der ganzen Dauer von Jesu öffentli - cher Wirksamkeit, jene Stelle bekleidete; daſs aber endlich Johannes soll sagen wollen, im Todesjahr Jesu sei Kaiphas Hoherpriester gewesen, ohne dadurch frühere und spätere Jahre auszuschlieſsen, in welchen er dieses Amt gleich - falls bekleidet habe9)Lücke, z. d. St. geht ebensowenig. Denn wenn die Zeit, in welche eine Begebenheit fällt, als ein gewisses Jahr bezeichnet wird, so muſs dieſs darin seinen Grund haben, daſs entweder die Begebenheit, deren Zeit bestimmt werden soll, oder das Datum, nach welchem man dieselbe bestimmen will, mit dem Jahreswechsel zusammenhängt. Entweder muſs also der Erzähler im vierten Evangelium der Meinung gewesen sein, von Jesu Tod, zu welchem sie damals den Anschlag machten, sei auf jenes ganze Jahr, aber weiter nicht, eine Fülle von Geistesgaben, unter wel - chen auch die prophetische Gabe des damaligen Hohenprie - sters, ausgeflossen10)Lightfoot, z. d. St.: oder, wenn dieſs eine gesuchte Er - klärung ist, so muſs er den Kaiphas als Hohenpriester eben nur jenes Jahrgangs sich vorgestellt haben. Wenn also Lücke schlieſst, da nach Josephus der damalige Hoheprie - ster dieses Amt zehn Jahre hintereinander verwaltet habe, so könne Johannes mit dem ἀρχιερεὺς τοῦ ἐνιαυτοῦ ἐκείνου380Dritter Abschnitt.nicht gemeint haben, das hohepriesterliche Amt sei damals jährig gewesen: so kehrt sich dieser Schluſs, da das Zu - tageliegen dieser Meinung in den Worten des Evangeliums sicherer ist, als daſs dessen Verfasser Johannes gewesen, in den der Probabilien um: da das vierte Evangelium hier eine Vorstellung von der Dauer des Hohenpriesteramtes zeige, die man in Palästina nicht haben konnte, so könne der Verfasser desselben kein Palästinenser gewesen sein11)Probabil. a. a. O..

Auch von den weiteren Angaben über die Punkte, durch welche Jesus der Hierarchie seines Volkes anstöſsig geworden sei, sind nur diejenigen glaublich, welche die Synoptiker allein oder mit Johannes gemein haben: die dem lezteren eigenthümlichen nicht. Von dem Gemein - schaftlichen war der Anstoſs an seinem feierlichen Einzug und der starken Anhänglichkeit des Volks an ihn, die sich dabei zeigte, ebenso natürlich, als die Erbitterung über sein Reden und Thun gegen die Sabbatsvorschriften, worin im - mer lezteres bestanden haben mag; dagegen ist die Art, wie dem vierten Evangelium zufolge die Juden an den Äus - serungen Jesu über sich als Sohn Gottes Anstoſs genom - men haben sollen, nach einer früheren Auseinandersetzung12)1. Band, §. 59. ebenso undenkbar, als es in der Ordnung ist, daſs die Po - lemik gegen den Pharisäismus, welche ihm die drei ersten Evangelien leihen, die Getroffenen verdrieſsen muſste. So ist über die Ursachen und Motive der Reaktion, welche gegen Jesum sich bildete, in der johanneischen Darstellung kein neuer und tieferer Aufschluſs zu holen: aber was die Synoptiker bieten, reicht auch vollkommen hin, jene Erscheinung zu begreifen.

§. 114. Jesus und sein Verräther.

Unerachtet im Rathe der Hohenpriester und Ältesten381Zweites Kapitel. §. 114.beschlossen worden war, die Festzeit erst vorübergehen zu lassen, weil eine in diesen Tagen an Jesu verübte Gewalt - that unter der Masse ihm günstiger Festbesucher leicht ei - nen Aufstand erregen konnte (Matth. 26, 5. Marc. 14, 2.): so wurde diese Rücksicht doch durch die Leichtigkeit über - wogen, mit welcher einer seiner Jünger ihn in ihre Hän - de zu liefern sich anheischig machte. Judas nämlich, oh - ne Zweifel von seiner Abstammung aus der[judäische] Stadt Kerioth (Jos. 15, 25.) Ἰσκαριώτης genannt, gieng den Syn - optikern zufolge wenige Tage vor dem Paschafest zu den Vorstehern der Priesterschaft, und erbot sich, Jesum ih - nen in der Stille zu überliefern, wofür sie ihm Geld, nach Matthäus dreissig Silbersekel (ἀργύρια), versprachen (Matth. 26, 14 ff. parall.). Von einer solchen vorläufigen Verhand - lung des Judas mit den Feinden Jesu meldet das vierte Evangelium nicht nur nichts, sondern scheint auch sonst die Sache so darzustellen, als hätte Judas erst bei der lez - ten Mahlzeit den Entschluſs gefaſst und sogleich ausge - führt, Jesum an die Priesterschaft zu verrathen. Dassel - be εἰσελϑεῖν des Satan in Judas nämlich, welches Lukas (22, 3.) vor seinen ersten Gang zu den Hohenpriestern, und ehe noch zum Paschafest Anstalt gemacht ist, sezt, läſst der Verfasser des vierten Evangeliums bei diesem Mahle eintreten, ehe Judas die Gesellschaft verlieſs (13, 27.): zum Beweis, wie es scheint, daſs nach der Ansicht dieses Evangelisten Judas erst jezt den verrätherischen Gang ge - macht hat. Zwar schon vor dem Mahle, bemerkt derselbe (13, 2.), habe der Teufel dem Judas in's Herz gegeben gehabt, Jesum zu verrathen, und dieses τοῦ διαβόλου βεβλη - κότος εἰς τὴν καρδίαν wird gemeiniglich dem εἰσῆλϑε σατα - νᾶς bei Lukas gleichgesezt, und von dem Entschlusse zum Verrath verstanden, in dessen Folge Judas zu den Hohen - priestern gegangen sei: allein, war er schon damals mit denselben einig geworden, so war der Verrath bereits voll - zogen, und man weiſs dann kaum, was das εἰσῆλϑεν εἰς382Dritter Abschnitt.αὐτὸν σατανᾶς bei'm lezten Mahle noch bedeuten soll, da das Hinausführen derer, welche Jesum greifen sollten, kein neuer Teufelsentschluſs, sondern nur die Vollziehung des bereits gefaſsten war. Der Ausdruck bei Johannes V. 27. bekommt im Unterschied von V. 2. nur dann einen ganz passenden Sinn, wenn man das βάλλειν εἰς τὴν καρδίαν von dem Aufsteigen des Gedankens, das εἰσελϑεῖν aber von dem Reifen desselben zum Entschluſs versteht, also nicht voraussezt, daſs Judas schon vor dem Mahle den Hohen - priestern eine Zusage gemacht habe1)Dass nach der johanneischen Darstellung Judas erst vom Mahle weg zum erstenmal zu den Hohenpriestern gegangen sei, hat auch Lightfoot anerkannt (horae, p. 465.), aber mit desswegen das von Johannes erzählte Mahl für ein früheres als das synoptische gehalten.. Stehen sich aber auf diese Weise die Angabe der Synoptiker, daſs Judas schon einige Zeit vor der Ausführung seines Verraths mit den Feinden Jesu in Unterhandlung gestanden, und die jo - hanneische, daſs er erst unmittelbar vor der That sich mit ihnen in Verbindung gesezt habe, entgegen: so ent - scheidet sich zwar Lücke in der Art für den Johannes, daſs er behauptet, erst nach dem Aufbruch vom lezten Mahl (Joh. 13, 30.) habe Judas den Gang zu den Hohen - priestern gemacht, welchen die Synoptiker (Matth. 26, 14 f. parall. ) vor das Mahl versetzen2)Comm. z. Joh. 2, S. 484.: aber er thut dieſs nur der vorausgesezten Auctorität des Johannes zulieb; denn wenn auch, wie er bemerkt, bei eben einbrechender Nacht Judas mit den Priestern noch recht gut unterhan - deln konnte: so ist doch, die Sache ohne Voraussetzung betrachtet, die Wahrscheinlichkeit ohne Vergleichung mehr auf Seiten der Synoptiker, welche der Sache doch einige Zeit lassen, als des Johannes, bei welchem Alles Knall und Fall geht, und Judas, allerdings wie besessen, nach383Zweites Kapitel. §. 114.Einbruch der Nacht noch davonrennt, um mit den Prie - stern zu unterhandeln, und unmittelbar darauf zur That zu schreiten.

Über die Motive, welche den Judas bewogen haben, sich mit den Feinden Jesu gegen ihn zu verbinden, erfah - ren wir aus den drei ersten Evangelien nur, daſs er von den Hohenpriestern Geld bekommen habe. Dieſs würde, besonders nach der Erzählung bei Matthäus, wo Judas, ehe er den Verrath zusagt, die Frage macht: τί ϑέλετέ μοι δοῦναι; für Hab - und Gewinnsucht als Triebfeder sprechen. Bestimmteres Licht wirft hierauf noch die Angabe des vierten Evangeliums (12, 4 ff. ), schon bei dem Bethanischen Mahle habe Judas sich über die Salbung, als eine unnö - thige Verschwendung, geärgert; er habe nämlich den Beu - tel geführt, sei aber an demselben zum Dieb geworden; wornach also anzunehmen wäre, daſs die Habsucht des Judas, durch das, was er der Gesellschaftscasse abstehlen konnte, nicht mehr befriedigt, durch die Überlieferung Je - su an die reiche und mächtige Priesterpartei nachhal - tigeren Gewinn zu machen gehofft habe. Man wird es dem Verfasser des vierten Evangeliums Dank wissen müs - sen, daſs er uns durch die Aufbewahrung dieser Notizen, welche den übrigen Evangelisten fehlen, die That des Ju - das einigermaſsen begreiflich gemacht hat, sobald sich seine Angaben als historisch begründet zeigen. Hier ist nun aber in Bezug darauf, daſs gerade Judas jene Rüge ausgesprochen habe, schon oben ausgeführt worden, wie unwahrscheinlich es sei, daſs die Sage diesen Zug verlo - ren haben sollte3)1. Band, S. 721 f.: wie wahrscheinlich dagegen eine sa - genhafte Entstehung desselben ist, erhellt leicht. Das Be - thanische Mahl stand in der evangelischen Überlieferung dem Ausgang des Lebens Jesu durch den Verrath des Ju - das nahe: wie leicht konnte einem der Gedanke aufsteigen384Dritter Abschnitt.jener engherzige Tadel edler Freigebigkeit könne nur von dem habsüchtigen Judas ausgegangen sein? Daſs der Tadel zugleich auf Verkaufen der Salbe zum Besten der Armen drang, konnte im Munde des Judas nur ein Vorwand ge - wesen sein, hinter welchem sich sein Eigennuz versteckte: eignen Vortheil aber konnte er von dem Verkauf jener Sal - be nur dann erwarten, wenn er sich erlaubte, von dem er - lösten Gelde etwas zu unterschlagen, und dieſs konnte er wiederum nur, wenn er Cassenführer war. Zeigt sich so auch von dem Zuge, daſs Judas κλέπτης ἦν καὶ τὸ γλωσ σόκομον εἶχε, eine unhistorische Entstehung als möglich: so ist nun zu untersuchen, ob sich Gründe zu der Annahme finden, daſs es sich wirklich so verhalte?

Hier muſs ein andrer Punkt hinzugenommen werden, in welchem die Synoptiker und Johannes differiren, näm - lich das Vorherwissen Jesu von des Judas Verrätherei. Bei den Synoptikern zeigt Jesus diese Kunde erst am lez - ten Mahle, also zu einer Zeit, wo die That des Judas ei - gentlich schon geschehen war, und noch kurz vorher, wie es scheint, ahnte Jesus noch so wenig davon, daſs einer der Zwölfe ihm verloren gehen würde, daſs er ihnen al - len, wie sie da waren, bei der Palingenesie ein Sitzen auf 12 Richterstühlen verhieſs (Matth. 19, 28.). Nach Johan - nes dagegen versichert Jesus schon um die Zeit des vor - lezten Pascha, also ein Jahr vor dem Erfolg, einer von den Zwölfen sei ein διάβολος, womit er, laut der Be - merkung des Evangelisten, den Judas, als seinen künf - tigen Verräther, meinte (6, 70.); denn, wie kurz vorher (V. 64.) bemerkt war, ᾔδει ἐξ ἀρχῆς Ἰησοῦς, τίς ἐςιν παραδώσων αὐτόν. Hienach hätte also Jesus von Anfang seiner Bekanntschaft mit dem Judas gewuſst, daſs dieser ihn verrathen würde, und nicht bloſs diesen äussern Erfolg hätte er vorhergesehen, sondern, da er ja wuſste, was im Menschen war (Joh. 2, 25.), so hätte er auch die Triebfe - dern des Judas durchschaut, daſs er nämlich aus Habsucht385Zweites Kapitel. §. 114.und Geldgier jene That begehen würde. Und dabei soll er ihn zum Casseführer gemacht, d. h. ihn auf einen Posten gestellt haben, auf welchem sein Hang, sich auf jede, wenn auch unrechte Art Gewinn zu schaffen, die reichste Nah - rung bekommen muſste? er soll ihn durch Gelegenheit zum Dieb gemacht, und sich, wie absichtlich, an ihm einen Ver - räther groſs gezogen haben? Schon vom ökonomischen Standpunkt aus betrachtet: wer vertraut denn einem eine Casse an, von dem er weiſs, daſs er sie bestiehlt? dann pädagogisch: wer stellt den Schwachen auf einen Plaz, der gerade seine schwache Seite so beständig in Anspruch nimmt, daſs vorauszusehen ist, er müsse früher oder spä - ter unterliegen? Nein in der That, so hat Jesus mit den ihm zunächst anvertrauten Seelen nicht gespielt, so nicht das Gegentheil von dem ihnen erwiesen, was er sie beten lehrte: μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμὸν (Matth. 6, 13.), daſs er den Judas, von welchem er vorauswuſste, er werde aus Gewinnsucht sein Verräther werden, zum Casseführer er - nannt haben könnte; oder wenn er ihn dazu machte, so kann er jenes Vorherwissen nicht gehabt haben.

Um in dieser Alternative zu einer Entscheidung zu gelangen, müssen wir jenes Vorherwissen für sich nehmen, und sehen, ob es abgesehen von dem Cassenamt des Judas wahrscheinlich ist oder nicht? Auf die Frage nach der psychologischen Möglichkeit wollen wir uns nicht einlassen, da es ja immer frei steht, sich auf die göttliche Natur in Jesu zu berufen; aber von der moralischen Möglichkeit wird es sich fragen, ob es bei jener Voraussicht zu recht - fertigen sei, daſs Jesus den Judas unter die Zwölfe ge - wählt, und in diesem Kreise behalten habe? Da durch diese Berufung sein Verrath als solcher erst möglich wur - de, so scheint Jesus, wenn er diesen vorherwuſste, und den Judas doch berief, ihn absichtlich in jene Sünde hin - eingezogen zu haben. Man wendet ein, durch den Um - gang mit Jesu sei dem Judas ja auch die Möglichkeit ge -Das Leben Jesu II. Band. 25386Dritter Abschnitt.geben worden, jenem Abgrund zu entgehen4)Diesen und die folgenden Gründe s. bei Olshausen, 2, S. 458 ff.: aber Jesus hatte ja vorausgesehen, daſs sich diese Möglichkeit nicht verwirklichen würde; man sagt weiter, auch in andern Kreisen würde das in Judas gelegene Böse sich, nur in andrer Form, entwickelt haben, was schon stark determi - nistisch klingt; so wie vollends die Behauptung, es sei kei - ne wahre Hülfe für den Menschen, wenn das Böse, wozu der Keim in ihm liegt, nicht zur Ausbildung komme, auf Consequenzen zu führen scheint, wie sie Röm. 3, 8. 6, 1 f. verworfen sind. Und auch nur von der gemüthlichen Sei - te angesehen, wie konnte Jesus es ertragen, einen Men - schen, von welchem er wuſste, daſs er sein Verräther werden, und alle Unterweisung an ihm fruchtlos bleiben würde, die ganze Zeit seines öffentlichen Lebens hin - durch um sich zu haben? muſste ihm durch denselben nicht jede Stunde traulichen Zusammenseins mit den Zwöl - fen verkümmert werden? Gewiſs triftige Gründe müſsten es gewesen sein, um deren willen Jesus sich dieses Widri - ge und Harte aufgelegt hätte. Solche Grunde und Zwecke konnten sich entweder auf den Judas beziehen, und hier also in der Absicht bestehen, ihn zu bessern, welche aber durch die bestimmte Voraussicht seines Verbrechens zum Voraus abgeschnitten war; oder sie bezogen sich auf Je - sum selbst und sein Werk, so daſs er die Überzeugung gehabt hätte, wenn die Erlösung durch seinen Tod zu Stan - de kommen solle, müsse auch einer sein, der ihn verra - the5)Olshausen, a. a. O.. Allein zu jenem Zwecke war nach christlicher Vor - aussetzung nur der Tod Jesu ein unentbehrliches Mittel: ob dieser aber mittelst eines Verraths, oder wie sonst, her - beigeführt wurde, hatte für den Erlösungszweck kein Mo - ment, und daſs es den Feinden Jesu auch ohne den Judas387Zweites Kapitel. §. 114.früher oder später gelungen sein würde, ihn in ihre Ge - walt zu bekommen, ist unleugbar; daſs aber der Verrä - ther unentbehrlich gewesen, um Jesu Tod eben am Pascha - fest, das sein typisches Vorbild enthält, zu Stande zu bringen6)Ein solches Argument liesse sich aus dem ableiten, was Ols - hausen, 2, S. 387 unten und 388 oben sagt.: mit solchen Spielereien wird man uns doch heutiges Tags nicht mehr hinhalten wollen.

Läſst sich somit auf keine Weise eine genügende Ab - sicht ausfindig machen, welche Jesum bewegen konnte, in der Person des Judas wissentlich seinen Verräther an sich zu ziehen und um sich zu behalten: so scheint entschieden, daſs er ihn als solchen nicht im Voraus gekannt haben kann. Schleiermacher, um nicht durch Leugnung dieses Vorherwissens der johanneischen Auctorität zu nahe zu tre - ten, zweifelt lieber daran, daſs Jesus die Zwölfe rein selbstständig ausgewählt habe, und indem nun dieser Kreis sich mehr durch freies Anschlieſsen der Jünger von selbst gebildet haben soll, so könne Jesus leichter darüber ge - rechtfertigt werden, daſs er den sich zudrängenden Judas nicht zurückwies, als wenn er ihn aus freier Wahl zu sich gezogen hätte7)Über den Lukas, S. 88.. Allein die Auctorität des Johannes wird hiedurch doch verlezt, da ja gerade er Jesum zu den Zwölfen sagen läſst: ουχ ὑμεῖς με ἐξελέξασϑε, ἀλλ̕ ἐγὼ ἐξε λεξάμην ὑμᾶς (15, 16. vgl. 6, 70.); übrigens einen bestimm - ten Wahlakt auch weggedacht, so brauchte es doch, da - mit einer beständig um Jesum bleiben durfte, seiner Erlaub - niſs und Bestätigung, und schon diese konnte er mensch - licherweise einem Manne nicht geben, von welchem er wuſste, daſs er durch dieses Verhältniſs zu ihm der schwärzesten Frevelthat entgegenreife; sich aber ganz, wie man sagt, in den Standpunkt Gottes zu versetzen, und um der Möglichkeit der Besserung willen, von der er doch vorauswuſste, daſs25 *388Dritter Abschnitt.sie nie zur Wirklichkeit werden würde, den Judas in sei - ner Gesellschaft zu lassen, das wäre eine göttliche Un - menschlichkeit, nichts Gottmenschliches, gewesen. So schwer es hienach hält, die Angabe des vierten Evange - liums, daſs Jesus von Anfang an den Judas als seinen Ver - räther gekannt habe, als historisch festzuhalten: so leicht entdeckt sich, was auch ohne geschichtlichen Grund zu ei - ner solchen Darstellung bewegen konnte. Daſs der von einem seiner eignen Schüler an Jesu begangene Verrath ihm in den Augen seiner Feinde zum Nachtheil gereichte, ist natürlich, wenn wir auch nicht von Celsus wüſsten, daſs er in der Rolle eines Juden Jesu vorwarf, ὅτι ὑφ̕ ὦν ὠνόμαζε μαϑητῶν προυδόϑη, zum Beweis, daſs er we - niger als jeder Räuberhauptmann die Seinigen an sich zu fesseln vermocht habe8)Orig. c. Cels. 2, 11 f.. Wie nun die aus dem schmähli - chen Tode Jesu zu ziehende üble Folgerung durch die Behauptung, er habe seinen Tod lange vorhergewuſst, am besten abgeschnitten zu werden schien: ebenso das, was man aus dem Verrath des Judas Schlimmes gegen Jesum ableitete, durch die Angabe, daſs er von Anfang an den Verräther durchschaut habe, und dem, was ihm dieser be - reitete, hätte entgehen können, mithin mit Freiheit und aus höheren Rücksichten sich seiner Treulosigkeit ausge - sezt habe9)vgl. Probabil. p. 139.; womit zugleich noch der Vortheil zu gewin - nen war, der in jeder angeblich eingetroffenen Voraussa - gung für den Vorausverkündigenden liegt, und welchen der vierte Evangelist naiv seinen Jesus aussprechen läſst, wenn er ihm nach der Bezeichnung des Verräthers bei'm lezten Mahle die Worte leiht: ἀπ̕ ἄρτι λέγω ὑμῖν πρὸ τοῦ γενέσϑαι, ἵνα, ὅταν γένηται, πιςεύσητε, ὅτι ἐγώ εἰμι (13, 19.) in der That das beste Motto zu allen vaticiniis post eventum. Diese beiden Zwecke wurden desto voll -389Zweites Kapitel. §. 114.kommener erreicht, je weiter zurück im Leben Jesu dieses Vorherwissen gesezt wurde, woraus sich also erklärt, wa - rum der Verfasser des vierten Evangeliums, nicht zufrie - den damit, daſs nach der gewöhnlichen Darstellung Jesus bei'm lezten Mahl den Verrath des Judas vorherverkündigt haben sollte, sein Wissen um denselben schon in die An - fänge des Zusammenseins Jesu mit Judas verlegte10)Noch weiter rückwärts wird, nicht das Wissen Jesu um sei - nen Verräther, aber doch ein bedeutsames Zusammentreffen mit demselben, im apokryphischen evangelium infantiae ara - bicum c. 35., bei Fabricius 1, p. 197 f., bei Thilo, 1, p. 108 f. gesezt. Hier wird ein dämonischer Knabe, der im Anfall mit den Zahnen um sich biss, zu dem Kinde Jesus gebracht, er beisst nach ihm, und weil er es mit den Zähnen nicht errei - chen kann, versezt er ihm einen Schlag auf die rechte Seite, worauf das Jesuskind weint, der Satan aber einem wüthen - den Hunde ähnlich aus dem Knaben fährt. Hic autem puer, qui Jesum percussit et ex quo Satanas sub forma canis exi - vit, fuit Judas Ischariotes, qui illum Judaeis prodidit..

Ist hiemit ein so frühes Wissen Jesu um die Ver - rätherei des Judas als unhistorisch beseitigt, so wäre Raum für die Angabe gemacht, daſs Judas den Beutel der Ge - sellschaft Jesu geführt habe, was sich nur mit jenem Vor - auswissen nicht zu vertragen schien, wogegen nun, wenn sich Jesus überhaupt in Judas irrte, er in eben diesem Irr - thum ihm auch die Casse anvertraut haben könnte. Allein durch die Nachweisung, daſs die johanneische Darstellung in Bezug auf das Wissen Jesu um seinen Verräther eine gemachte sei, ist die Glaubwürdigkeit derselben in dieser Sache so erschüttert, daſs man auch zu jener Angabe kein rechtes Vertrauen fassen kann. Hat der Verfasser des vierten Evangeliums das Verhältniſs zwischen Jesu und Judas an der Jesum betreffenden Seite ausgemalt: so wird er schwerlich die Seite des Judas unverziert gelassen ha - ben; hat er die Thatsache, daſs Jesus verrathen worden390Dritter Abschnitt.ist, dadurch eingeleitet, daſs er Jesum dieſs Schicksal vor - hersehen lieſs, so mag leicht das Andere, daſs er den Ju - das seine Gewinnsucht durch untreue Führung des Beutels voraus schon zeigen läſst, nur Einleitung dazu sein, daſs Judas Jesum verrathen hat. Doch, müssen wir auch die johanneischen Winke über den Charakter und die Motive des Judas aufgeben: immerhin behalten wir auch in den oben dargelegten Angaben der Synoptiker die bestimmte - ste Hinweisung auf Habsucht als Grundtriebfeder seiner That.

§. 115. Verschiedene Ansichten über den Charakter des Judas und die Motive seines Verraths.

Von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten hat es sol - che gegeben, welche mit dieser Ansicht der N. T. lichen Schriftsteller von dem Beweggrund des Judas und mit ih - rem durchaus verwerfenden Urtheil über denselben (vgl. A. G. 1, 16 ff. ) nicht übereinstimmen zu können glaubten, und zwar können wir sagen, daſs diese Abweichung theils aus übertriebenem Supranaturalismus, theils aus einem ra - tionalistischen Hange hervorgegangen ist.

Ein überspannter Supranaturalismus konnte von dem im N. T. selbst an die Hand gegebenen Gesichtspunkt aus, daſs der Tod Jesu, im göttlichen Weltplan beschlossen, zum Heil der Menschheit gedient habe, nun auch den Ju - das, durch dessen Verrath der Tod Jesu herbeigeführt wor - den ist, nur als ein Werkzeug in der Hand der Vorsehung, als einen Mitarbeiter an der Erlösung der Menschheit be - trachten. In dieses Licht konnte er dadurch gestellt wer - den, daſs man ihm ein Wissen um jenen göttlichen Rath - schluſs lieh, und die Vollziehung desselben als bewuſsten Zweck seines Verrathes sezte. Diese Betrachtungsweise finden wir wirklich bei der gnostischen Partei der Kaini - ten, welche den alten Häresiologen zufolge den Judas für denjenigen hielten, welcher sich über die beschränkte -391Zweites Kapitel. §. 115.dische Ansicht der übrigen Jünger zur Gnosis erhoben, und dieser gemäſs Jesum verrathen habe, weil er erkannte, daſs durch seinen Tod das Reich der die Welt beherrschenden niederen Geister gestürzt werden würde1)Iren. adv. haer. 1, 35:Judam proditorem solum prae ce - teris cognoscentem veritatem perfecisse proditionis myste - rium, per quem et terrena et coelestia omnia dissoluta di - cunt.Epiphan. 38, 3: Einige Kainiten sagen, Judas habe Jesum als einen πονηρὸν verrathen, weil er das gute Gesez auflösen wollte; ἄλλοι δὲ τῶν αὐτῶν, ουχί, φασιν, ἀλλὰ ἀγαϑὸν αὐτὸν ὄντα παρέδωκε κατὰ τὴν ὲπουράνιον γνῶσιν. ἔγνωσαν γάρ, φησιν, οἱ ἄρχοντες, ὅτι, ἐὰν Χριςὸς παραδοϑῇ ςαυρῷ, κενοῦται αὐτῶν ἀσϑενὴς δύναμις. καὶ τοῦτό, φησι, γνοὺς Ἰουδας, ἔσπευσε καὶ πάντα ἐκίνησεν, ὥςε παραδοῦναι αὐτὸν, ἀγαϑὸν ἔργον ποιήσας ἡμῖν εἰς σωτηρίαν. καὶ δεῖ ἡμᾶς ἐπαινεῖν καὶ ἀποδιδόναι αὐτῷ τὸν ἔπαινον, ὅτι δι 'αὐτοῦ κατεσκευάσϑη ἡμῖν τοῦ ςαυροῦσωτη - ρἰα καὶ διὰ τῆς τοιαύτης ὑποϑέσεως τῶν[ἄνω] ἀποκάλυφις. . Andere in der älteren Kirche räumten zwar ein, daſs Judas Jesum aus Gewinnsucht verrathen habe; doch soll er nicht erwartet haben, daſs Jesus getödtet werden würde, sondern der Meinung gewesen sein, er werde, wie schon öfters, so auch dieſsmal, durch seine übernatürliche Macht seinen Feinden entgehen2)Theophylact. ad Matth. 27, 4.; eine Ansicht, welche bereits den Übergang zu den neueren Rechtfertigungen des Verräthers bildet.

Wie die bezeichnete supranaturalistische Erhebung des Judas bei den Kainiten zunächst von ihrer Opposition ge - gen das Judenthum ausgieng, kraft deren sie sich zum Grundsaz gemacht hatten, alle von den jüdischen Verfas - sern des alten, oder den judaisirenden des neuen Testa - ments getadelte Personen zu ehren und umgekehrt: so ver - spürte der Rationalismus, besonders in seinem ersten Un - willen über die lange Knechtschaft der Vernunft in den Fesseln der Auetorität, einen gewissen Reiz in sich, wie392Dritter Abschnitt.die von der orthodoxen Ansicht seiner Meinung nach zu sehr vergötterten biblischen Personen ihres Nimbus zu ent - kleiden, so die in eben dieser Ansicht verdammten oder zurückgesetzten zu vertheidigen und zu heben. Daher, was das A. T. betrifft, die Erhebung Esau's über Jakob, Saul's über Samuel; im neuen der Martha über die Maria, die Lobreden auf den zweifelnden Thomas, und nun sogar die Apologie des Verräthers Judas. Den Einen war er ein Verbrecher aus beleidigter Ehre: die Art, wie Jesus ihn bei der Bethanischen Mahlzeit gezüchtigt, die Zurücksezung überhaupt, die er im Vergleich mit andern Jüngern erfuhr, verwandelte seine Liebe zu dem Lehrer in Haſs und Rach - gier3)Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 249. Ähnlich auch Klopstock im Messias.. Andere haben sich mehr der von Theophylakt auf - behaltenen Vermuthung angeschlossen, daſs Judas gehofft haben möge, Jesus werde auch dieſsmal seinen Feinden entgehen. Dieſs faſsten die Einen noch supranaturalistisch so, als hätte Judas erwartet, Jesus werde sich durch An - wendung seiner Wunderkraft in Freiheit setzen4)K. Ch. L. Schmidt, exeg. Beiträge, 1. Thl. 2ter Versuch, S. 18 ff. ; vgl. denselben in Schmidt's Bibliothek, 3, 1, S. 163 ff.; conse - quenter auf ihrem Standpunkt muthmaſsten Andere, Judas möge wohl erwartet haben, wenn Jesus gefangen wäre, werde ein Volksaufstand zu seinen Gunsten ausbrechen und ihn befreien5)Paulus, ex Hdb. 3, b, S. 451 ff. L. J. 1, b, S. 143 ff. Hase, L. J. §. 132.. Judas wird hienach als ein solcher vor - gestellt, der, darin übrigens den andern Jüngern gleich, das Messiasreich irdisch und politisch sich dachte, und daher unzufrieden war, daſs Jesus die Gunst des Volks so lange nicht benüzte, um sich zum messianischen Herrscher aufzuwerfen. Veranlaſst nun entweder durch Bestechungs -393Zweites Kapitel. §. 115.versuche des Synedriums, oder durch das Gerücht von des - sen Plane, Jesum nach dem Fest insgeheim zu verhaften, habe Judas diesem Anschlag, der Jesum verderben muſste, zuvorzukommen, und eine Verhaftung noch während des Fests zu Stande zu bringen gesucht, wo er gewiſs hoffen zu können glaubte, Jesum durch einen Volksaufstand befreit, ebendamit aber genöthigt zu sehen, sich endlich dem Volk in die Arme zu werfen, und zur Gründung seiner Herr - schaft den entscheidenden Schritt zu thun. Da er Jesum von der Nothwendigkeit seiner Gefangennehmung, und daſs er in drei Tagen sich wieder erheben werde, spre - chen hörte, habe er dieſs als Zeichen der Einstimmung Je - su in seinen Plan genommen, in diesem Wahne dessen übrige abmahnende Reden theils überhört, theils falsch ge - deutet, namentlich das ποιεῖς, ποίησον τάχιον als eine wirkliche Ermunterung Jesu zur Ausführung seines Vor - habens aufgefaſst. Die 30 Silberlinge habe er von den Priestern genommen, entweder um seine wahre Absicht hinter den Schein der Habsucht zu verbergen, und ihnen dadurch jeden Verdacht zu benehmen, oder habe er neben der Erhebung zu einer der ersten Stellen im Reich seines Meisters, die er erwartete, auch jenen kleinen Vortheil noch mitnehmen wollen. Aber Judas habe sich in zwei Punkten verrechnet: einmal, indem er nicht bedach - te, daſs nach der durchschmausten Paschanacht das Volk nicht frühe zu einem Aufstand wach sein würde; zweitens, indem er nicht erwog, daſs das Synedrium eilen würde, Jesum in die Hände der Römer zu bringen, denen ein Volksaufstand ihn schwerlich zu entreissen im Stande war. So soll nun Judas entweder ein verkannter braver Mann (Schmidt); oder ein Getäuschter sein, der aber kein gemei - ner Charakter, vielmehr in seiner Verzweiflung noch ein Trümmer apostolischer Gröſse war (Hase); oder soll er, zwar durch ein schlechtes Mittel, doch einen guten Zweck haben erreichen wollen (Paulus).

394Dritter Abschnitt.

Gegen die zuerst ausgeführte Ansicht nun, welche den Verrath des Judas aus gekränktem Ehrgeiz ableitet, ist in Bezug auf den Verweis bei'm Bethanischen Mahle, auf den man so groſses Gewicht legt, schon bei andrer Gelegen - heit die Bemerkung der neuesten Kritik gekehrt worden, daſs die Milde jenes Verweises, wie sie namentlich aus der Vergleichung mit der weit schärferen Zurechtweisung des Petrus, Matth. 16, 23, erhelle, in gar keinem Verhält - niſs zu dem Groll stände, den er in Judas erregt haben soll6)1. Band, S. 714, Vgl. noch Hase, a. a. O.; daſs dieser aber sonst Zurücksetzung gegen seine Mitjünger erfahren habe, davon fehlt uns jede Spur. Die andre Ansicht, welche dem Judas die Hoffnung auf Befrei - ung Jesu unterlegt, fuſst hauptsächlich darauf, daſs er, nachdem ihm die Ablieferung Jesu an die Römer und die Unvermeidlichkeit seines Todes zu Ohren gekommen, in Verzweiflung gerathen sei, als Beweis, daſs er einen ent - gegengesetzten Erfolg erwartet hatte. Allein nicht bloſs der unglückliche Erfolg, wie Paulus meint, sondern ebenso auch der glückliche, oder das Gelingen des Verbrechens, zeigt dasselbe, welches man sich vorher unter tausend Entschuldigungsgründen verschleierte, in seiner schwarzen, eigenthümlichen Gestalt. Das real gewordene Verbrechen wirft die Maske ab, die man dem nur erst idealen, im Ge - danken vorhandenen, leihen konnte, und so wenig die Reue manches Mörders, wenn er den Gemordeten vor sich liegen sieht, beweist, daſs er den Mord nicht wirklich be - absichtigt habe: ebenso wenig kann die des Judas, als er Jesum ohne Rettung sah, beweisen, daſs er nicht voraus - berechnet hatte, es werde Jesum das Leben kosten. Un - möglich aber, sagt man ferner, kann Habsucht die Triebfe - der des Judas gewesen sein; denn wenn es ihm um Ge - winn zu thun war, so konnte ihm nicht entgehen, daſs die fortdauernde Cassenführung in der Gesellschaft Jesu395Zweites Kapitel. §. 115.ihm mehr abwerfen würde, als die elenden 30 Silberlinge, unsres Gelds 20 25 Thaler, die er bekam, was bei den Juden die Vergütung für einen verlezten Sklaven, ein Tag lohn auf 4 Monate war. Allein eben die 30 Silberlinge sucht man vergeblich bei allen Berichterstattern ausser Mat - thäus. Johannes schweigt völlig über einen dem Judas von den Priestern zu Theil gewordnen Lohn; Markus und Lukas sprechen unbestimmt von ἀργύριον, das sie ihm ver - sprochen haben, und auch den Petrus läſst die Apostelge - seichte (1, 18.) nur von einem μισϑὸς reden, der dem Ju - das zu Theil geworden sei. Matthäus aber, der allein jene bestimmte Summe hat, läſst uns zugleich keinen Zweifel über den historischen Werth seiner Angabe. Er citirt nämlich, nachdem er das Ende des Judas berichtet (27, 9 f.), eine Stelle aus Zacharias (11, 12 f.; aus Irrthum schreibt er Jere - mias), in welcher ebenfalls 30 Silberlinge als Preiſs vor - kommen, zu welchem einer angeschlagen worden sei. Zwar sind in der Prophetenstelle die 30 Silberlinge kein Kauf - preiſs, sondern ein Lohn, der damit Bezahlte ist der Je - hova's Person vorstellende Prophet, und durch die geringe Summe wird die Geringschätzung angezeigt, welche die Juden gegen so viele göttliche Wohlthaten sich zu Schul - den kommen lieſsen7)Rosenmüller, Schol. in V. T. 7, 4, S. 318 ff.. Wie leicht aber konnte ein christ - licher Leser durch diese Stelle, in welcher von einem schmählich geringen Preiſse (ironisch אֶדֶר הַיְקׇר) die Rede war, um welchen die Israëliten einen im Orakel Redenden angeschlagen haben, an seinen Messias erinnert werden, der um ein seinem Werthe gegenüber jedenfalls geringes Geld seinen Feinden verkauft worden war, und er konnte nun aus dieser Stelle heraus den Preiſs bestimmen, der dem Judas für die Überlieferung Jesu bezahlt worden war. Hienach geben die τριάκοντα ἀργύρια durchaus keinen Punkt ab, auf den sich derjenige stützen könnte, welcher bewei -396Dritter Abschnitt.sen will, der geringe Lohn könne es nicht gewesen sein, was den Judas zum Verräther machte; denn wie gering oder bedeutend der Lohn war, welchen Judas bekam, wis - sen wir geschichtlich gar nicht.

Da alle andern Gründe, welche für edlere Triebfedern des Judas sprechen sollen, noch schwächer als die unter - suchten sind: so finden wir uns immer wieder auf die Ge - winnsucht zurückgewiesen, welche uns durch die evange - lischen Nachrichten an die Hand gegeben ist, und sollte diese als Motiv zu einem solchen Schritte nicht genügen, so ist es besser gethan, die Unmöglichkeit, hierüber in's Klare zu kommen, offen zu bekennen, als durch luftiges Pragmatisiren die mangelhaften Data aufzuputzen8)Vgl. auch Fritzsche, in Matth. p. 759 f..

§. 116. Bestellung des Paschamahls.

Am ersten Tag der ungesäuerten Brote, an dessen Abend das Paschalamm geschlachtet werden muſste, also den Tag vor dem eigentlichen Feste, welches aber an dem - selben Abend noch seinen Anfang nahm, d. h. den 14ten Nisan, soll Jesus, nach den zwei ersten Evangelien auf eine von den Jüngern an ihn gerichtete Anfrage, nach Mat - thäus unbestimmt, welche und wie viele, nach Markus zwei Jünger, welche Lukas als den Petrus und Johannes be - zeichnet, zur Stadt geschickt haben (vielleicht von Betha - nien aus), um für die Festmahlzeit ein Lokal zu bestellen, und die weiteren Anordnungen zu treffen (Matth. 26, 17 ff. parall.). Was Jesus diesen Jüngern für eine Weisung ge - geben, darin stimmen die drei Berichterstatter nicht ganz überein. Nach allen schickt er sie zu einem Manne, bei welchem sie nur im Auftrag des διδάσκαλος ein Lokal zur Paschafeier begehren dürften, um sogleich eines eingeräumt zu kekommen; aber theils wird dieses Lokal von den bei -397Zweites Kapitel. §. 116.den andern näher als von Matthäus bezeichnet, nämlich als ein groſses oberes Zimmer, welches bereits mit Polstern versehen, und zum Empfang von Gästen zugerichtet sei, theils wird namentlich die Art, wie sie den Eigenthümer desselben auffinden sollten, von jenen anders als von die - sem angegeben. Matthäus nämlich läſst Jesum nur sagen, sie sollten hingehen πρὸς τὸν δεῖνα, die übrigen aber, sie würden, in die Stadt getreten, einem Menschen begegnen, welcher ein κεράμιον ὕδατος trage, dem sollten sie in das Haus, in welches er gehe, folgen, und daselbst mit dem Hausherrn unterhandeln.

In dieser Erzählung hat man eine Menge von Anstös - sen gefunden, welche Gabler in einer eigenen Abhandlung zusammengestellt hat1)Über die Anordnung des lezten Paschamahls Jesu; in seinem neuesten theol. Journal, 2, 5, S. 441 ff.. Schon das ist aufgefallen, daſs Jesus erst am lezten Tage an die Bestellung des Mahles denken soll, ja nach den beiden ersten Evangelisten noch durch die Jünger daran erinnert werden muſs, da doch bei dem groſsen Andrang von Menschen in der Paschazeit (2,700,000 nach Josephus2)bell. jud. 6, 9, 3.) die städtischen Lokale bald vergeben waren, und die meisten Fremden vor der Stadt unter Zelten campiren muſsten. Um so sonderbarer ist dann, daſs demunerachtet die Boten Jesu das verlangte Zimmer nicht schon besetzt finden, sondern der Eigenthü - mer, als hätte er Jesu Bestellung geahnt, es für ihn auf - gehoben, und bereits für ein Gastmahl zugerichtet hatte. Und dessen versieht sich Jesus so gewiſs, daſs er den Haus - eigenthümer nicht erst fragen läſst, ob er bei ihm ein Lo - kal zur Paschamahlzeit bekommen könne, sondern ohne Weiteres, wo das für ihn geeignete Lokal sei? oder nach Matthäus ihm nur ansagen läſst, bei ihm werde er das Pa - scha essen; wozu noch kommt, daſs nach Markus und Lu -398Dritter Abschnitt.kas Jesus sogar dieſs weiſs, was für ein Zimmer und in welchem Theil des Hauses ihnen eingeräumt werden würde. Besonders auffallend ist nun aber nach diesen beiden die Art, wie die Jünger den Weg zu dem betreffenden Hause finden sollen. Lautet nämlich bei Matthäus das ὑπάγετε εἰς τὴν πόλιν πρὸς τὸν δεῖνα einfach so, als hätte zwar Je - sus den Namen dessen, zu dem sie gehen sollten, genannt, der Referent aber ihn nicht mehr angeben wollen oder können: so bezeichnet bei den beiden andern Berichter - stattern Jesus den Jüngern das Haus, in das sie zu gehen hätten, durch einen Wasserträger, dem sie begegnen wür - den. Wie konnte nun Jesus in Bethanien, oder wo er war, diesen zufälligen Umstand vorherwissen, wenn an - ders nicht vorher verabredet worden war, daſs um diese Zeit ein Knecht aus jenem Hause mit einem Krug Wasser sich zeigen, und auf die Boten Jesu warten sollte? Auf eine vorhergegangene Verabredung schien den rationalisti - schen Erklärern Alles in unsrer Erzählung hinzuweisen, und durch diese Voraussetzung zugleich alle Schwierigkei - ten derselben sich zu lösen. Die so spät erst ausgeschick - ten Jünger konnten nur dann noch ein Lokal unbesezt fin - den, wenn dieſs von Jesu vorher bestellt worden war, nur dann konnte er dem Hausbesitzer so kategorisch sich an - sagen lassen, wenn er mit ihm schon früher Abrede ge - nommen hatte; aus einer solchen erklärt sich auch Jesu genaue Kenntniſs von dem Lokal, und endlich, wovon aus - gegangen wurde, seine Gewiſsheit, daſs die Jünger einem Wasserträger aus jenem Hause begegnen würden. Den Um - schweif dieser Bezeichnung des Hauses, der durch einfa - che Nennung des Namens vom Eigenthümer zu vermeiden war, soll Jesus gemacht haben, um das Lokal des abzu - haltenden Mahles nicht vor der Zeit dem Verräther bekannt werden zu lassen, der sonst vielleicht schon dort ihn auf störende Weise überfallen haben würde3)so Gabler, a. a. O.; ähnlich Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 481..

399Zweites Kapitel. §. 116.

Allein diesen Eindruck macht die evangelische Erzäh - lung durchaus nicht. Von einer Verabredung, vorgängigen Bestellung, hat sie nichts; vielmehr scheint das εὐρον καϑ - ὼς εἴρηκεν αὐτοῖς bei Markus und Lukas darauf hinwei - sen zu sollen, daſs Jesus Alles, wie es sich später wirk - lich fand, vorauszusagen im Stande war; eine furchtsame Vorsicht ist nirgends angedeutet, vielmehr weist Alles auf eine wundersame Voraussicht hin. Näher ist hier, wie oben bei der Bestellung des Reitthieres zum Einzug in Jerusalem, das zwiefache Wunder vorhanden, daſs ei - nerseits für Jesu Bedürfnisse Alles bereit ist, und der Gewalt seines Namens Niemand zu wiederstehen vermag; andrerseits aber Jesus in entfernte Verhältnisse einen Blick zu werfen, und das Zufälligste vorherzusagen im Stande ist4)Richtig, nur mit zu specieller Beziehung auf das Jesu bevor - stehende Leiden, giebt Beza, zu Matth. 26, 18., als Zweck dieser Vorherbezeichnung an, ut magis ac magis intellige - rent discipuli, nihil temere in urbe magistro eventurum, sed quae ad minutissimas usque circumstantias penitus perspecta haberet.. Es muſs befremden, daſs diese so unab - weisbar sich darbietende supranaturalistische Auffassung des vorliegenden Berichts dieſsmal selbst Olshausen zu umgehen sucht, mit Gründen, durch welche die meisten Wundergeschichten umzustoſsen wären, und welche man sonst nur von Rationalisten zu hören gewohnt ist. Dem unparteiischen Ausleger, sagt er5)b. Comm. 2, S. 385 f., gebe die Erzählung nicht das Geringste an die Hand, das die wunderhafte Auffassung rechtfertigte man glaubt sich bereits in Pau - lus Commentar versetzt; wollten die Referenten ein Wun - der erzählen, so hätten sie ausdrücklich bemerken müssen, es habe keine Verabredung stattgefunden ganz das ra - tionalistische Begehren, wenn eine Heilung als wunderba - re anerkannt werden sollte, so müſste die Anwendung na -400Dritter Abschnitt.türlicher Mittel ausdrücklich geleugnet sein; auch ein Zweck dieses Wunders sei nicht einzusehen, insbesondere eine Glaubensstärkung der Jünger sei damals nicht nöthig, und nach den früheren erhabeneren Wundern durch dieses we - niger bedeutende nicht zu erreichen gewesen Gründe, durch welche ebenso namentlich auch die ganz ähnliche Erzählung von der Vorherbezeichnung des Esels bei'm Ein - zug, welche doch Olshausen als wunderbar festhält, aus dem Kreise des Übernatürlichen ausgeschlossen werden würde.

Eben dieser früheren Erzählung nun aber ist die ge - genwärtige so auffallend analog, daſs über die historische Realität der einen nicht anders als über die der andern geur - theilt werden kann. Hier wie dort hat Jesus ein Bedürfniſs, für dessen schleunige Befriedigung von Gott so gesorgt ist, daſs Jesus die Art dieser Befriedigung auf's Genauste vorherweiſs; hier bedarf er einen Spcisesaal, wie dort ein Reitthier; hier wie dort sendet er zwei Jünger aus, um die Bestellung zu machen; hier giebt er ihnen einen be - gegnenden Wasserträger als Kennzeichen für das Haus an, wie dort der angebundene Esel das Zeichen war; hier wie dort weist er die Jünger an, dem Eigenthümer nur ihn, hier als διδάσκαλος, wie dort als κύριος, zu nen - nen, um sogleich die unweigerliche Gewährung seines Ver - langens auszuwirken; beidemale entspricht der Erfolg sei - ner Voraussage genau. Auch bei dieser Erzählung, wie bei der früheren, fehlt der hinreichende Zweck, welchem zulieb ein solches mehrfaches Wunder könnte veranstaltet worden sein; wogegen der Grund ebenso leicht wie bei jener in die Augen fällt, vermöge dessen sich in der ur - christlichen Sage die Wundererzählung ausgebildet ha - ben mag.

Was schlieſslich das Verhältniſs der Evangelien in dieser Erzählung betrifft, so wird gewöhnlich die des Mat - thäus tief unter die der zwei andern Synoptiker gesezt, und401Zweites Kapitel. §. 116.als die spätere und abgeleitete betrachtet6)Schulz, über das Abendmahl, S. 321; Schleiermacher, über den Lukas, S. 280.. Vor Allem soll der Umstand mit dem Wasserträger, welchen jene beiden geben, dem ursprünglichen Faktum angehören, in der Sage aber, bis sie an Matthäus kam, verloren gegangen, und nun das räthselhafte ὑπάγετε πρὸς τὸν δεῖνα an seine Stel - le gesetzt worden sein. Allein, wie wir gefunden haben, ist der δεῖνα vielmehr unverfänglich, der Wasserträger aber im höchsten Grade räthselhaft7)s. Theile, über die lezte Mahlzeit Jesu, in Winer's und Engel - hardt's neuem krit. Journal, 2, S. 169. Anm.. Noch weniger läſst sich darin, daſs Matthäus die abgeschickten Jünger nicht wie Lukas als den Petrus und Johannes bezeichnet, eine Spur finden, daſs die Erzählung des dritten Evangeliums die ursprünglichere sei. Denn wenn Schleiermacher sagt, dieser Zug habe wohl im Hindurchgehen[durch] mehrere Hände verloren gehen, nicht leicht aber durch eine spätere Hand hinzukommen können, so ist die leztere Behauptung ohne Grund. So unwahrscheinlich es ist, daſs zu einer so rein ökonomischen Bestellung Jesus gerade die beiden er - sten Apostel verwendet haben sollte, so leicht läſst sich denken, daſs zuerst unbestimmt, wie wir bei Matthäus lesen, eine Sendung der oder einiger Jünger erzählt wur - de, deren Zahl hierauf, vielleicht aus der Erzählung von der Sendung nach dem Esel, auf zwei festgesezt, und die - se Stellen endlich, da es von einer Auswahl zu einem Ge - schäft von späterhin hoher Bedeutung der Bereitung des lezten Mahles Jesu sich handelte, durch die beiden ersten Apostel ausgefüllt wurden. So daſs hier selbst Markus sich der ursprünglichen Wahrheit wieder mehr genähert zu haben scheint, indem er die von Lukas an die Hand gegebenen Namen der beiden Jünger in seine Erzählung nicht aufnahm.

Das Leben Jesu II. Band. 26402Dritter Abschnitt.

§. 117. Abweichende Angaben über die Zeit des lezten Mahles Jesu.

Meldet der vierte Evangelist von der bisher bespro - chenen Bestellung der Paschamahlzeit nichts, so weicht er auch in Bezug auf das Mahl selbst auffallend von den übrigen ab. Abgesehen nämlich von der durchgehenden Differenz im Inhalt der Scene, von welcher erst später die Rede werden kann, scheint er, was die Zeit des Mah - les betrifft, es mit eben der Bestimmtheit als eine vor dem Pascha gehaltene Mahlzeit zu geben, wie die Synoptiker als das Paschamahl selbst.

Wenn diesen zufolge der Tag, an welchem die Jün - ger von Jesu zur Bestellung des Mahles angewiesen wur - den, bereits πρώτη τῶν ἀζύμων war, ἐν ἐδει ϑύεσϑαι τὸ πάσχα (Matth. 26, 17. parall. ): so kann das darauf gefolgte Mahl kein anderes als eben das Paschamahl ge - wesen sein; wenn ferner die Jünger Jesum fragen: ποῦ ϑέλεις ἑτοιμάσωμέν σοι φαγεῖν τὸ πάσχα (ebendas. ); wenn es hierauf von denselben heiſst: ἡτοίμασαν τὸ πάσχα (Matth. V. 19. parall. ), und sofort von Jesu: ὀψίας γενομέ - ης ἀνέκειτο μειὰ τὼν δώδεκα (V. 20.): so wäre das Mahl, zu welchem man sich hier niederlieſs, schon überflüssig als das Paschamahl bezeichnet, wenn auch nicht Lukas (22, 15.) Jesum dasselbe mit den Worten eröffnen lieſse: ἐπιϑυ - μίᾳ ἐπεϑύμησα τοῦιο τὸ πάσχα φαγεῖν μεϑ̕ ὑμῶν. Wenn dagegen das vierte Evangelium seine Erzählung von dem lezten Mahle mit der Zeitbestimmung: πρὸ δὲ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα, eröffnet (13, 1.), so scheint das δεῖπνον, dessen es unmittelbar darauf (V. 2.) gedenkt, ebenfalls noch vor das Paschafest zu fallen, zumal in der ganzen johannei - schen Schilderung dieses Abends, welche namentlich in Bezug auf die an das Mahl sich knüpfenden Reden höchst ausführlich ist, jede Erwähnung und selbst jede Anspie - lung darauf, daſs hier das Paschamahl gefeiert werde,403Zweites Kapitel. §. 117.fehlt. Wenn ferner die Aufforderung Jesu an den Verrä - ther nach dem Essen, was er thue, schnell zu thun, von den Jüngern dahin miſsverstanden wird, ὅτι λέγει αὐιῷ· ἀγόρασον, ὦν χρείαν ἔχομεν εἰς τὴν ἑορτήν (V. 29.): so be - zogen sich die Festbedürfnisse doch hauptsächlich auf das Paschamahl, und kann folglich die so eben vollendete Mahl - zeit nicht wohl schon das Paschamahl gewesen sein. Wenn es dann (18, 28.) weiter heiſst, am folgenden Morgen seien die Juden nicht in das heidnische Prätorium gegangen, ἵνα μὴ μιανϑῶσιν, ἀλλ̕ ἵνα φάγωσι τὸ πάσχα: so scheint auch hienach die Paschamahlzeit noch bevorgestanden zu haben. Dazu kommt, daſs (19, 14.) eben dieser folgende Tag, an welchem Jesus gekreuziget wurde, als παρασκευὴ τοῦ πάσχα bezeichnet wird, d. h. als derjenige Tag, an des - sen Abend erst das Paschalamm verzehrt werden sollte auch, wenn von dem zweiten Tag nach jener Mahlzeit, wel - chen Jesus im Grabe zubrachte, gesagt wird: ἦν γὰρ με - γάλη ἡμέρα ἐκείνου τοῦσαββάτου (19, 31.): so scheint die - se besondere Feierlichkeit eben daher gerührt zu haben, daſs auf jenen Sabbat der erste Paschatag fiel, also das Osterlamm nicht schon am Abend der Gefangennehmung Jesu gefeiert worden war, sondern erst am Abend seines Begräbnisses gehalten wurde.

Diese Abweichungen sind so bedeutend, daſs manche Ausleger, um die Evangelisten nicht in Widerspruch mit - einander kommen zu lassen, auch hier die alte probate Auskunft angewendet haben, sie reden gar nicht von der - selben Sache, Johannes meine eine ganz andre Mahlzeit als die Synoptiker. Das johanneische δεῖπνον ist hienach ein gewöhnliches Abendessen, ohne Zweifel in Bethanien; bei diesem nahm Jesus die Fuſswaschung vor, sprach vom Verräther, und fügte, nachdem dieser die Gesellschaft ver - lassen, noch andere Reden tröstenden und ermahnenden Inhalts hinzu, bis er endlich am Morgen des 14ten Nisan durch die Worte: ἐγείρεσϑε, ἄγωμεν ἐντεῦϑεν (14, 31.), die26 *404Dritter Abschnitt.Jünger zum Aufbruch von Bethanien und zum Gang nach Jerusalem ermahnte. Hier fallen nun die Synoptiker ein, indem sie ihn auf dem Wege nach Jerusalem die zwei Jünger zur Bestellung des Mahls aussenden lassen, hierauf das Paschamahl einfügen, von welchem Johannes schweigt, und seinerseits erst wieder mit den nach dem Paschamahl gehaltenen Reden (15, 1 ff. ) eingreift1)So Lightfoot, horae, p. 463 ff. ; Hess, Geschichte Jesu, 2, S. 273 ff., auch Venturini, 3, S. 634 ff.. Diesem Versuch gegenüber, durch Beziehung der beiderseitigen Erzählun - gen auf ganz verschiedene Vorfälle den Widerspruch zu vermeiden, kehrt sich nun aber die in mehreren Zügen unverkennbare Identität beider Mahlzeiten heraus. Abge - sehen nämlich von einzelnen Stücken, die sich gleicherwei - se in beiden Relationen finden, will offenbar Johannes wie die Synoptiker das lezte Mahl schildern, welches Jesus mit seinen Schülern gehalten hat. Darauf deutet schon die Einleitung der johanneischen Erzählung hin: denn der Be - weis, der ihr zufolge hier gegeben werden soll, wie Je - sus die Seinigen εἰς τέλος geliebt habe, lieſs sich am pas - sendsten aus seinem lezten geselligen Zusammensein mit denselben entnehmen. Ebenso weisen die nach dem Mahle geführten Reden auf unmittelbar bevorstehenden Abschied hin, und an die Mahlzeit und die Reden schlieſst sich auch bei Johannes unmittelbar der Hingang nach Gethsemane und die Gefangennehmung Jesu an. Freilich sollen dieser Ansicht zufolge die zulezt genannten Vorgänge nur an die - jenigen Gespräche sich unmittelbar anknüpfen, welche bei dem späteren, von Johannes übergangenen, Mahle geführt worden sind (Kap. 15 17.): allein, daſs zwischen 14, 31. und 15, 1. der Verfasser des vierten Evangeliums auf be - wuſste Weise das ganze Paschamahl ausgelassen habe, dieſs, obwohl es das wunderliche ἐγείρεσϑε, ἄγωμεν ἐν - τεῦϑεν nicht übel zu erklären scheinen könnte, wird wohl405Zweites Kapitel. §. 117.Niemand mehr im Ernst behaupten wollen. Doch, dieſs auch zugegeben, so sagt ja schon 13, 38. Jesus dem Petrus seine Verleugnung mit der Zeitbestimmung: ουμὴ ἀλέκτωρ φωνήσῃ, voraus, wie er nur bei der lezten Mahlzeit sprechen konnte, und nicht, wie hier vorausgesezt wird, bei einer früheren2)Eine ungenügende Auskunft giebt Lightfoot, p. 482 f..

Dieser Ausweg also muſs verlassen, und zugestan - den werden, daſs sämmtliche Evangelisten von der gleichen Mahlzeit, der lezten, welche Jesus mit seinen Jüngern hielt, reden wollen. Und hiebei schien die Billigkeit, die man jedem Autor schuldig ist, und besonders den biblischen schuldig zu sein glaubte, den Versuch zu erfordern, ob nicht, ungeachtet sie Einen und denselben Vorgang in meh - reren Beziehungen äusserst abweichend darstellen, dennoch beide Theile recht haben könnten. Es müſste sich also, was die Zeit betrifft, zeigen lassen, entweder, daſs auch die drei ersten Evangelisten wie der vierte nicht ein Pa - schamahl, oder, daſs auch dieser wie jene ein solches ge - ben wolle. Ein altes Fragment3)Fragm. ex Claudii Apollinaris libro de Paschate, in Chron. Paschal. ed. du Fresne. Paris 1688. p. 6 f. praef. hat die Aufgabe auf dem ersteren Wege zu lösen versucht, indem es leugnet, daſs Matthäus das lezte Mahl Jesu auf den Abend des 14ten Nisan, als die eigentliche Zeit für das Paschamahl, und sein Leiden auf den 15ten Nisan, als den ersten Tag des Paschafestes, setze; allein es ist nicht abzusehen, wie die ausdrücklichen Hinweisungen auf das Pascha in den Synoptikern beseitigt werden sollen. Weit allgemeiner ist daher in neuern Zeiten der Versuch gemacht werden, den Johannes auf die Seite der übrigen herüberzuziehen4)s. namentlich Tholuck und Olshausen, z. d. Absch.. Sein πρὸ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα (13, 1.) glaubte man durch die Beobachtung beseitigen zu können, wie ja an diese406Dritter Abschnitt.Worte nicht unmittelbar das δεῖπνον, sondern nur die Be - merkung sich anschlieſse, daſs Jesus gewuſst habe, nun sei seine Stunde gekommen, und daſs er die Seinigen bis an's Ende geliebt habe; erst im folgenden Vers sei dann vom Mahle die Rede, auf welches also jene Zeitbestimmung sich nicht beziehe. Worauf soll sie sich dann aber bezie - hen? auf das Wissen, daſs seine Stunde gekommen sei? dieſs ist nur eine Nebenbemerkung; oder auf die bis zum Ende bewahrte Liebe? zu dieser aber kann eine so spe - cielle Zeitbestimmung nur dann gehören, wenn sie als ein äusserer Liebesbeweis gemeint ist, und als solcher bethä - tigte sie sich eben bei jenem Mahle, welches also immer der Punkt bleibt, der durch jene Tagsbestimmung fixirt werden soll. Daher vermuthet man ferner, das πρὸ τῆς ἑορτῆς sei aus Anbequemung an die Griechen geredet, für welche Johannes geschrieben habe: weil diese den Tag nicht wie die Juden mit dem Abend begannen: so sei ih - nen das am Anfang des ersten Paschatags gehaltene Mahl als eine Mahlzeit am Vorabend des Pascha erschienen. Allein welcher verständige Schriftsteller, wenn er einen möglichen Miſsverstand des Lesers vermuthet, schreibt dann lieber gleich so, wie der Leser ihn miſsverstehen wird? Schwieriger noch ist 18, 28, wo die Juden am Morgen nach Jesu Gefangennehmung das Prätorium nicht betreten, um sich nicht zu verunreinigen, ἀλλ̕ ἵνα φάγωσι τὸ πάσχα. Doch glaubte man nach Stellen, wie 5 Mos. 13, 1. 2., wo sämmtliche in der Paschazeit zu schlachten - de Opfer durch den Ausdruck פֶּסַח bezeichnet sind, τὸ τάσχα hier von den übrigen während der Paschawoche darzubringenden Opfern, namentlich von der gegen Ende des ersten Festtags zu verzehrenden Chagiga, verstehen zu dürfen. Allein schon Mosheim hatte richtig bemerkt, daraus, daſs bisweilen das Paschalamm einschlieſslich der übrigen in der Paschazeit zu bringenden Opfer durch πά - σχα bezeichnet werde, folge keineswegs, daſs auch diese407Zweites Kapitel. §. 117.übrigen Opfer mit Ausschluſs des Paschalamms so genannt werden können5)Diss. de vera notione coenae Domini, zu Cudworth. syst. intell. p. 22. not. 1.. Dagegen suchten nunmehr die Freun - de jener Ansicht zu ihrer Deutung der johanneischen No - tiz durch die Bemerkung zu nöthigen, daſs an der Pa - schamahlzeit, die in den Spätabend, also schon in den Anfang des folgenden Tages fiel, das Betreten eines heid - nischen Hauses am Morgen, als eine nur den laufenden Tag hindurch dauernde Verunreinigung, nicht verhindert haben würde: wohl aber am Genusse der Chagiga, welche am Nachmittag, also noch an demselben Tag mit der am Morgen zugezogenen Verunreinigung, gegessen wurde, so daſs also nur diese, nicht jene gemeint sein könne. Allein theils wissen wir nicht, ob der Eintritt in ein heidnisches Haus nur für den Tag verunreinigte, theils waren, wenn sich dieſs auch so verhielt, die Juden durch eine Verun - reinigung am Morgen doch an der Selbstvornahme der vor - bereitenden Geschäfte, die in den Nachmittag des 14ten Nisan fielen, wie am Schlachten der Lämmer im Tempel - vorhof, verhindert. Um endlich auch die Stelle 19, 14. in ihrem Sinn zu deuten, nehmen die Harmonisten παρασκευὴ τοὺ πάσχα von dem Rüsttag auf den Sabbat in der Oster - woche, eine Gewaltsamkeit, welche wenigstens in 19, 31, wo die παρασκευὴ als Rüsttag auf den Sabbat bezeichnet ist, keine Hülfe findet, weil hieraus nur erhellt, daſs der Evangelist die Vorstellung hat, der erste Paschatag sei da - mals auf den Sabbat gefallen6)Diese Gegenbemerkungen s. besonders bei Lücke z. d. Absch. und bei Sieffert, über den Urspr. S. 127 ff..

Im Gefühl der Unmöglichkeit, die Vereinigung der Syn - optiker mit Johannes in dieser einfachen Weise zu Stan - de zu bringen, haben andere Ausleger eine complicirtere408Dritter Abschnitt.Auskunft ergriffen. Der Schein, als ob die Evangelisten das lezte Mahl Jesu auf verschiedene Tage verlegten, soll darin seine Wahrheit haben, daſs wirklich damals entwe - der die Juden oder Jesus das Paschamahl auf einen andern Tag verlegt hatten. Die Juden, sagen die einen, um der Unbequemlichkeit auszuweichen, welche darin lag, daſs in jenem Jahre der erste Paschatag auf den Freitag fiel, also zwei Tage hintereinander als Sabbate hätten gefeiert wer - den müssen, haben das Paschamahl auf den Freitag Abend verlegt, weſswegen sie am Tag der Kreuzigung sich noch vor Verunreinigung in Acht zu nehmen hatten; Jesus aber, streng am Gesetze haltend, habe es zur gehörigen Zeit, am Donnerstag Abend, gefeiert, so daſs sowohl die Synopti - ker recht haben, wenn sie das lezte Mahl Jesu als ein wirkliches Paschaessen beschreiben, als auch Johannes, wenn er die Juden erst Tags darauf dem Osterlamm ent - gegensehen lasse7)Calvin zu Matth. 26, 17.. Indeſs hätte in diesem Fall Markus mit seiner Angabe, daſs an dem Tag, ὅτε τὸ πάσχα ἔϑυον (V. 12.), auch Jesus es habe zurichten lassen, doch nicht recht; was aber die Hauptsache ist, so gieng es zwar in gewissen Fällen an, das Pascha einen Monat später, dann aber auch am 15ten desselben, zu feiern, von einer Verle - gung auf einen späteren Tag desselben Monats hingegen findet sich nirgends eine Spur. Lieber wandte man sich daher auf die andre Seite, und nahm an, Jesus habe das Pascha auf einen früheren Tag verlegt. Aus rein persön - lichem Bedürfniſs, meinten Einige, in der Voraussicht, daſs er um die eigentliche Zeit des Paschamahls schon im Grabe ruhen werde, oder doch seines Lebens bis dahin nicht mehr sicher sei, habe er in ähnlicher Weise, wie von jeher diejenigen Juden, welche an der Festreise ge - hindert waren, und wie die jetzigen Juden alle, ohne ein geopfertes Lamm, mit bloſsen Surrogaten desselben, ein409Zweites Kapitel. §. 117.πάσχα μνημονευτικὸν gefeiert8)Grotius, zu Matth. 26, 18.. Allein erstlich hätte so Jesus nicht, wie Lukas sagt, das Pascha an dem Tag, ἐν ἔδει ϑύεσϑαι τὸ πάσχα, auch gefeiert, dann aber hält, wer die bloſse Gedächtniſsfeier begeht, mit Aufgebung der für das Pascha bestimmten Örtlichkeit (Jerusalem) doch die Zeit desselben (Abend vom 14ten auf den 15ten Nisan) unverbrüchlich fest: wogegen Jesus dasselbe gerade umge - kehrt, zwar an dem gewöhnlichen Ort, aber zu ungewöhn - licher Zeit, gefeiert haben müſste, was ohne Beispiel ist. Gegen diesen Vorwurf des Unerhörten und Eigenmächtigen hat man die von Jesu angeblich vorgenommene Verlegung dadurch zu schützen gesucht, daſs man ihn mit einer gan - zen Partei seiner Volksgenossen das Pascha früher als die übrigen feiern lieſs. Wie nämlich von der jüdischen Par - tei der Karäer oder Scripturarier bekannt ist, daſs sie von den Rabbaniten oder Traditionariern namentlich auch in der Bestimmung des Neumonds abweichen, indem sie be - haupten, die Art der lezteren, den Neumond nach dem astronomischen Calcul festzusetzen, sei eine Neuerung, wo - gegen sie, der alten, gesezlichen Sitte getreu, denselben nach der empirischen Beobachtung der Phase des Neulichts bestimmen: so sollen schon zu Jesu Zeit die Sadducäer, von welchen die Karäer abstammen sollen, den Neu - mond und mit ihm das von demselben abhängige Oster - fest anders als die Pharisäer bestimmt, und Jesus, als Geg - ner der Tradition und Freund der Schrift, sich hierin an sie angeschlossen haben9)Iken, Diss. philol. theol. Vol. 2, p. 416 ff.. Allein abgesehen davon, daſs der Zusammenhang der Karäer mit den alten Sadducäern eine bloſse Vermuthung ist, so ist es ja eben der gegrün - dete Vorwurf der Karäer, daſs die Bestimmung des Neu - monds durch den Calcul erst nach der Zerstörung des Tem - pels durch die Römer aufgekommen sei: so daſs also zur410Dritter Abschnitt.Zeit Jesu eine solche Abweichung noch gar nicht stattge - funden haben kann; ohnehin vom Paschafest findet aus je - ner Zeit sich keine Spur, daſs es von verschiedenen Par - teien an verschiedenen Tagen gefeiert worden wäre10)s. Paulus, exeg. Handbuch 3, a, S. 486 ff.. Angenommen jedoch, jene Differenz in der Bestimmung des Neumonds habe schon damals[obgewaltet], so würde die Festsetzung desselben nach der Phase, welcher Jesus ge - folgt sein soll, eher ein späteres als ein früheres Pascha zur Folge gehabt haben; weſswegen denn wirklich Einige vermutheten, Jesus möge sich vielmehr an den astronomi - schen Calcul gehalten haben11)Michaelis, Anm. zu Joh. 13..

Ausser dem, was sich auf diese Weise gegen jeden einzelnen der Versuche, die Angaben der Evangelisten über die Zeit des lezten Mahles Jesu gütlich zu vereinigen, sa - gen läſst, entscheidet gegen alle zusammen ein Umstand, welchen erst die neueste Kritik gehörig hervorgehoben hat. Es verhält sich nämlich mit diesem Widerstreite nicht so, daſs unter gröſstentheils harmonirenden Stellen nur etwa Eine Äusserung von scheinbar entgegengeseztem Sinne vor - käme, wobei man dann sagen könnte, der Verfasser habe sich hier eines ungenauen Ausdrucks bedient, der aus den übrigen Stellen zu erklären sei: sondern alle Zeitbestim - mungen der Synoptiker sind von der Art, daſs nach ihnen Jesus das wahre Pascha noch mitgefeiert haben müſste, alle johanneischen dagegen so, daſs er es nicht mitge - feiert haben kann12)Sieffert, a. a. O.; Hase, L. J. §. 124.. Da sich auf diese Weise zwei un - ter sich differirende Gesammtheiten evangelischer Stellen gegenüberstehen, die auf zwei verschiedene Grundansich - ten der Referenten über die Sache hinweisen: so kann es, wie Sieffert sehr wahr bemerkt, nicht mehr als wissen - schaftliche Auslegung, sondern nur als unwissenschaftliche411Zweites Kapitel. §. 117.Willkühr und Eigensinn betrachtet werden, wenn man auf Nichtanerkennung der Differenz zwischen den synoptischen Evangelien und dem vierten bestehen will.

So hat sich denn die neuere Kritik dazu verstehen müs - sen, auf einer oder der andern Seite einen Irrthum anzu - nehmen, und zwar war es, ausser den gangbaren Vorur - theilen für das johanneische Evangelium, ein bedeutender Grund, welcher zu nöthigen schien, den Irrthum auf die Seite der Synoptiker zu verlegen. Schon jenes alte, an - geblich Apollinarische Fragment wendet gegen die Mei - nung, daſs Jesus τῇ μεγάλῃ ἡμέρᾳ τῶν ἀζύμων ἔπαϑεν, ein, daſs sie ἀσύμφωνος τῷ νόμῳ sei, und so ist auch neuerlich wieder bemerkt worden, der auf das lezte Mahl Jesu fol - gende Tag werde von allen Seiten so werktäglich behan - delt, daſs sich nicht denken lasse, er sei der erste Pa - schatag, und folglich das Mahl am Abend vorher das Pa - schamahl gewesen. Jesus feire ihn nicht, indem er, was in der Paschanacht verboten war, sich aus der Stadt ent - ferne; seine Freunde nicht, indem sie seine Bestattung noch zu besorgen anfangen, und sie nur wegen Anbruchs des nächsten Tags, des Sabbats, unvollendet lassen; noch weniger die Mitglieder des Synedriums, indem sie nicht nur ihre Diener aus der Stadt zur Verhaftung Jesu sen - den, sondern auch persönlich Gerichtssitzung, Verhör, Ur - theil und Klage bei dem Procurator vornehmen; überhaupt zeige sich durchaus nur die Furcht, den folgenden Tag, der am Abend nach der Kreuzigung anbrach, zu entheili - gen, nirgends eine Sorge für den laufenden: lauter Zei - chen, daſs die synoptische Darstellung jenes Mahls als ei - nes Pascha ein späterer Irrthum sei, da in der übrigen Erzählung dieser Evangelisten selbst das Richtige, daſs Je - sus den Tag vor dem Pascha gekreuzigt worden, noch un - verkennbar durchscheine13)Theile, a. a. O. 157 ff. ; Sieffert und Lücke a. a. O.. Diese Bemerkungen sind al -412Dritter Abschnitt.lerdings von Gewicht. Zwar die erste könnte man durch den Widerstreit der jüdischen Bestimmungen über jenen Punkt vielleicht entkräften14)Pesachin f. 65, 2, bei Lightfoot, p. 654:Paschate primo te - netur quispiam ad pernoctationem. Gloss. : Paschatizans tene - tur ad pernoctandum in Hierosolyma nocte prima. Dagegen Tosaphoth ad tr. Pesachin 8: In Paschate Aegyptiaco dici - tur: nemo exeat usque ad mane. Sed sic non fuit in se - quentibus generationibus, quibus comedebatur id uno loco et pernoctabant in alio.Vgl. Schneckenburger, Beiträge, S. 9.; der lezten und stärksten die Thatsache entgegenhalten, daſs Verhören und Richten an Sabbaten und Festen bei den Juden nicht nur erlaubt, sondern für solche Tage wegen des Volksandrangs selbst ein gröſseres Gerichtslokal vorhanden gewesen sei, wie denn auch nach dem N. T. selbst die Juden an der ἡμέρα μεγάλη des Laubhüttenfests Diener ausschickten, um Je - sum zu greifen (Joh. 7, 44 f.), und am Feste der Tem - pelweihe ihn steinigen wollten (Joh. 10, 31.), Herodes aber während der ἡμέραι τῶν ἀζύμων den Petrus gefangen se - zen läſst, und vielleicht in eben diesen Tagen Jakobus den älteren hatte hinrichten lassen (A. G. 12, 2 f.)15)Tholuck, S. 244 f.. Daſs Jesu Hinrichtung am Paschafest habe vorgenommen werden dürfen, dafür beruft man sich theils darauf, daſs die Exe - cution durch römische Soldaten geschehen, übrigens auch nach jüdischer Sitte üblich gewesen sei, die Hinrichtung bedeutender Verbrecher auf eine Festzeit zu versparen, um durch dieselbe auf eine desto gröſsere Menge Eindruck zu machen16)Tract. Sanhedr. f. 89, 1. bei Schöttgen, 1, p. 224, vgl. Pau[-]lus, a. a. O. S. 492. und Tholuck, a. a. O.. Allein nur so viel ist erweislich, daſs während der Festzeit, also bei'm Pascha an den fünf mittleren, we - niger feierlichen Tagen, Verbrecher verurtheilt und hinge - richtet werden konnten, nicht aber, daſs dieſs auch am ersten und lezten Paschatag, welche Sabbatsrang hatten,413Zweites Kapitel. §. 117.zulässig gewesen sei17)Fritzsche, in Matth. p. 763 f. vgl. 755. Lücke, 2, S. 614.; wie denn auch nach dem Talmud Jesus am ערב פםח d. h. am Vorabend des Pascha, gekreu - zigt worden ist18)Sanhedr. f. 43, 1, bei Schöttgen, 2, S. 700.. Ein Anderes wäre es, wenn, wie Dr. Baur nachzuweisen sucht, in dem Wesen und der Bedeu - tung des Pascha als eines Sühnfestes die Hinrichtung von Verbrechern, als blutige Sühne für das Volk, gelegen hät - te, und die von den Evangelisten angemerkte Sitte, auf das Fest einen Gefangenen loszulassen, zu der Hinrichtung eines andern nur als die Kehrseite, wie die beiden Böcke und Sperlinge jüdischer Sühn - und Reinigungsopfer, sich verhielte19)Über die ursprüngliche Bedeutung des Passahfestes u. s. w. Tübinger Zeitschrift f. Theol. 1832, 1, S. 90 ff..

Leicht konnte freilich die urchristliche Tradition auch auf unhistorischem Wege dazukommen, Jesu leztes Mahl mit dem Osterlamm, und seinen Todestag mit dem Pascha - fest zu combiniren. Da nämlich schon in der apostolischen Zeit der Tod Jesu mit der Schlachtung des Paschalamms verglichen wurde (1. Kor. 5, 7.), das christliche Abend - mahl aber von selbst an die Paschamahlzeit erinnerte: so lag es nahe genug, die Hinrichtung Jesu auf den ersten Paschatag zu verlegen, und seine lezte Mahlzeit, bei wel - cher er das Abendmahl gestiftet haben sollte, als das Pa - schamahl zu betrachten. Freilich, wenn der Verfasser des ersten Evangeliums als Apostel und Selbsttheilnehmer an dem lezten Mahle Jesu vorausgesezt wird, bleibt es schwer zu erklären, wie er zu einem solchen Irrthum kommen konnte. Wenigstens reicht es nicht hin, sich mit Theile darauf zu berufen, je mehr das lezte mit ihrem Meister gehaltene Mahl den Jüngern über alle Paschamahle gegan - gen sei, desto weniger sei ihnen auf die Zeit desselben, ob es am Paschaabend selbst, oder einen Tag früher gehalten414Dritter Abschnitt.worden war, angekommen20)a. a. O. S. 167 ff.. Denn der erste Evangelist läſst dieſs nicht etwa nur unbestimmt, sondern er spricht ausdrücklich von einem Paschamahl, und so konnte sich ein wirklicher Theilnehmer desselben, wenn er auch noch so lange Zeit nach jenem Abend schrieb, unmöglich täu - schen. Die Augenzeugenschaft des ersten Evangelisten al - so wird man bei dieser Ansicht aufgeben, und ihn sammt den beiden mittleren aus der Tradition schöpfen lassen müssen21)Sieffert, a. a. O. S. 144 ff. Lücke, S. 628 ff.. Der Anstoſs daran, daſs sämmtliche Synopti - ker, also alle diejenigen, welche uns die vulgäre Evange - lientradition der ersten Zeit aufbehalten haben, in einem solchen Irrthum übereinstimmen sollen22)Fritzsche, in Matth. p. 763. Kern, über den Ursprung des Evang. Matth. in der Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 98., läſst sich viel - leicht durch die Bemerkung aus dem Wege räumen, daſs, so allgemein in den judenchristlichen Gemeinden, in wel - chen doch die evangelische Überlieferung sich ursprünglich gebildet hat, das jüdische Pascha noch mitgefeiert wurde, so allgemein sich auch der Versuch darbieten muſste, dem - selben durch die Beziehung auf den Tod und das lezte Mahl Jesu eine christliche Bedeutung zu geben.

Ebensowohl aber lieſse sich, die Richtigkeit der syn - optischen Zeitbestimmung vorausgesezt, denken, wie Jo - hannes irrig dazukommen konnte, den Tod Jesu auf den Nachmittag des 14ten Nisan, und seine lezte Mahlzeit auf den Abend vorher zu verlegen. Wenn nämlich dieser Evangelist in dem Umstand, daſs dem gekreuzigten Chri - stus die Beine nicht zerschlagen wurden, eine Erfüllung des ὀςοῦν ου συντριβήσεται αὐτῷ (2 Mos. 12, 46.) findet: so konnte ihn diese Beziehung des Todes Jesu auf das Osterlamm zu der Vorstellung veranlassen, daſs um die - selbe Zeit, in welcher die Paschalämmer geschlachtet wur -415Zweites Kapitel. §. 118.den, am Nachmittag des 14ten Nisan, Jesus am Kreuze gelitten und den Geist aufgegeben habe23)vgl. Suicer, thesaur. 2, S. 613., also die am Abend vorher gefeierte Mahlzeit noch nicht das Pascha - mahl gewesen sei24)Eine andere Ansicht über die Veranlassung des Irrthums in 4ten Evangelium geben die Probabilien, S. 100 ff..

Ist auf diese Weise eine mögliche Veranlassung zum Irrthum auf beiden Seiten vorhanden, und findet die inne - re Schwierigkeit der synoptischen Zeitbestimmung, die vielfache Verletzung des ersten Paschatags, theils in den angeführten Bemerkungen einigermaſsen ihre Erledigung, theils in der Zusammenstimmung dreier Evangelisten ein Gegengewicht: so ist vor der Hand nur der unauflösliche Widerstreit der beiderseitigen Darstellungen anzuerkennen, eine Entscheidung aber, welche die richtige sei, noch nicht zu wagen.

§. 118. Differenzen in Betreff der Vorgänge beim lezten Mahle Jesu.

Doch nicht allein in Bezug auf die Zeit des lezten Mahles Jesu, sondern auch auf dasjenige, was bei demsel - ben vorgegangen sein soll, gehen die Evangelisten von einander ab. Die Hauptdifferenz findet zwischen den syn - optischen und dem vierten Evangelium statt; näher aber - verhält es sich so, daſs nur Matthäus und Markus genau zusammenstimmen, Lukas schon ziemlich abweicht, doch im Ganzen mit seinen beiden Vorgängern immer noch ein - stimmiger ist, als mit seinem Nachfolger.

Gemeinsam ist sämmtlichen Evangelisten, ausser dem Mahle selbst, daſs über demselben von dem bevorstehenden Verrath des Judas gesprochen wird, und daſs während oder nach demselben Jesus dem Petrus seine Verleugnung vorherverkündigt. Aber abgesehen davon, daſs bei Johan -416Dritter Abschnitt.nes die Bezeichnung des Verräthers eine andere und ge - nauere, auch von einem Erfolg begleitet ist, von welchem die übrigen nichts wissen; daſs ferner bei demselben nach dem Mahle gedehnte Abschiedsreden sich finden, welche den andern fehlen: so ist der Hauptunterschied der, daſs, während den Synoptikern zufolge Jesus bei dieser lezten Mahlzeit das Abendmahl eingesezt hat, er bei Johannes vielmehr eine Fuſswaschung mit den Jüngern vornimmt.

Die drei Synoptiker unter sich haben die Stiftung des Abendmahls sammt der Verkündigung des Verraths und der Verleugnung gemein; aber Abweichung findet zwischen den beiden ersten und dem dritten schon in der Anord - nung dieser Stücke statt, indem bei jenen die Verkündi - gung des Verraths, bei diesem die Stiftung des Abendmahls voransteht; die Vorhersagung der Verleugnung des Petrus aber nach Lukas, wie es scheint, noch im Speisesaal, nach den beiden andern aber erst auf dem Hinweg zum Oelberg vor sich geht. Dann aber bringt Lukas auch einige Stücke bei, welche die beiden ersten Evangelisten entweder gar nicht, oder nicht in diesem Zusammenhang haben: in ganz anderem Zusammenhang steht bei ihnen der Rangstreit und die Verheiſsung des Sitzens auf Thronen; wogegen die Rede von den Schwertern vergeblich bei ihnen gesucht wird.

In seiner Abweichung von den beiden ersten Evan - gelisten hat der dritte einige Annäherung an den vier - ten. Gemeinsam nämlich ist dem Lukas und Johannes, daſs, wie dieser in der Fuſswaschung eine auf Rangstreit sich beziehende symbolische Handlung nebst angehängten Demuthsreden hat: so Lukas wirklich einen Rangstreit und darauf bezügliche Reden meldet, welche nicht ganz ohne Analogie mit den johanneischen sind; daſs ferner auch bei ihm wie bei Johannes die Reden vom Verräther das Mahl nicht eröffnen, sondern erst nach einer symbolischen Hand - lung eintreten; endlich daſs auch er die Verleugnung des Petrus noch im Lokal der Mahlzeit verkündigt werden läſst.

417Zweites Kapitel. §. 118.

Am meisten Schwierigkeit macht hier natürlich die Differenz, daſs bei Johannes die von den Synoptikern ein - stimmig berichtete Einsetzung des Abendmahls fehlt, und an ihrer Statt eine ganz andere Handlung Jesu, eine Fuſs - waschung, gemeldet wird. Freilich, wenn man sich durch den ganzen bisherigen Verlauf der evangelischen Geschich - te mit der Annahme hindurchgeholfen hat, Johannes habe den Zweck gehabt, die übrigen Evangelien zu ergänzen, so kommt man auch über diese Schwierigkeit so gut oder so schlecht wie über die andern alle hinweg. Die Ein - setzung des Abendmahls, heiſst es, fand Johannes bei den drei ersten Evangelisten auf eine Weise erzählt schon vor, welche mit seiner eigenen Erinnerung völlig übereinstimm - te, weſswegen er sich denn nicht bewogen fand, sie zu wiederholen1)Paulus, 3, b, S. 499. Olshausen, 2, S. 294.. Allein, wenn wirklich der vierte Evange - list von den schon in den drei ersten Evangelien aufge - zeichneten Geschichten nur diejenigen noch einmal erzäh - len wollte, an deren Darstellung er etwas zu berichtigen oder zu ergänzen fand: warum erzählt er dann die Spei - sungsgeschichte, an der er nichts irgend Erhebliches zu bessern weiſs, noch einmal, die Stiftung des Abendmahls dagegen nicht, bei welcher ihn doch schon die Differen - zen der Synoptiker in Anordnung der Scene und Fassung der Worte Jesu, hauptsächlich aber der Umstand, daſs sie, nach seiner Darstellung irrig, jene Einsetzung am Pa - schaabend vorgehen lassen, zur Mittheilung eines authen - tischen Berichts hätte veranlassen müssen? Mit Rücksicht auf diese Schwierigkeit giebt man nun wohl die Behaup - tung auf, der Verfasser des vierten Evangeliums habe eine Kenntniſs von den drei ersten, und die Absicht, sie zu ergänzen und zu berichtigen, gehabt: doch aber soll er die vulgäre mündliche Evangelientradition gekannt und bei seinen Lesern vorausgesezt, und in dieser Rücksicht dieDas Leben Jesu II. Band. 27418Dritter Abschnitt.Stiftung des Abendmahls, als allgemein bekannte Geschich - te, übergangen haben2)Lücke, 2, S. 484 f.. Allein dieser Zweck einer evan - gelischen Schrift, nur das minder Bekannte zu erzählen, das Bekannte aber zu übergehen, läſst sich eigentlich gar nicht denken. Die schriftliche Aufzeichnung geht ja aus von Miſstrauen gegen die mündliche Überlieferung; sie will diese nicht bloſs ergänzen, sondern auch befestigen, und so kann sie gerade die Hauptpunkte, welche, wie sie als die meistbesprochenen der Entstellung am meisten ausge - sezt sind, so die genaueste Aufbewahrung wünschenswerth machen, am wenigsten übergehen: ebenso demnach auch Jo - hannes die Stiftung des Abendmahls nicht, an dessen Ein - setzungsworten, wenn wir die verschiedenen N. T. lichen Relationen vergleichen, frühzeitig entweder Zusätze oder Weglassungen müssen gemacht worden sein. Aber, sagt man weiter, die Stiftung des Abendmahls zu erzählen, war für den Zweck des johanneischen Evangeliums von keiner Bedeutung3)Olshausen, a. a. O.. Wie? für den allgemeinen Zweck desselben, seine Leser zu überzeugen, ὅτι Ἰησοῦς ἐςιν Χριςὸς, υἱὺς τοῦ ϑεοῦ (20, 31.), sollte die Mittheilung ei - ner Scene nicht von Belang gewesen sein, in welcher er als Stifter einer καινὴ διαϑήκη erscheint? und für den be - sonderen Zweck des betreffenden Abschnitts, Jesu bis an's Ende sich gleich gebliebene Liebe ins Licht zu setzen (13, 1.), sollte es nichts ausgetragen haben, zu erwähnen, wie er seinen Leib und sein Blut den Seinen als Speise und Trank dargeboten, und damit seinen Worten Joh. 6. Realität gegeben habe? Doch, dem Johannes soll es hier wie überall vorzugsweise nur um die tieferen Reden Jesu zu thun gewesen sein, und deſswegen soll er die Einsetzung des Abendmahls übergangen, und erst mit den auf die Fuſs - waschung bezüglichen Reden seine Erzählung begonnen ha -419Zweites Kapitel. §. 118.ben4)Sieffert, über den Urspr. S. 152.. Allein diese Demuthsreden kann nur ein verhär - tetes Vorurtheil für das vierte Evangelium für tiefer aus - geben, als dasjenige, was Jesus bei Einsetzung des Abend - mahls von dem Genusse seines Leibes und Blutes im Brot und Weine sagt.

Die Hauptsache ist nun aber, daſs uns die Harmoni - sten nachweisen, wo denn Johannes, wenn er doch selbst voraussetzen soll, Jesus habe bei dieser lezten Mahlzeit das Abendmahl gestiftet, dieses übersprungen habe, daſs sie uns in der johanneischen Darstellung dieses lezten Abends die Fuge zeigen, in welche sich jener Vorgang ein - passen läſst. Sehen wir uns in den Commentaren um, so scheint mehr als Eine Stelle sich zu solcher Einschiebung vortrefflich zu eignen. Olshausen meint, am Ende des 13ten Kapitels, nach der Verkündigung der Verleugnung des Petrus, sei die Stiftung des Abendmahls hineinzuden - ken: mit dieser habe sich die Mahlzeit geschlossen, und die folgenden Reden von 14, 1. an habe Jesus nach dem Aufbruch vom Tische stehend im Saale noch gesprochen5)2, S. 310. 381 f.. Allein hier scheint sich Olshausen, um zwischen 13, 38. und 14, 1. einen Ruhepunkt zu bekommen, der Täuschung hinzugeben, als ob das ἐγείρεσϑε, ἄγωμεν ἐντεῦϑεν, bei welchem er Jesum vom Tische sich erheben und das folgen - de noch stehend sprechen läſst, schon hier, am Ende des 13ten Kapitels, stände, da es doch erst am Ende des 14ten sich findet. An unsrer Stelle ist kein Raum, um eine Sce - ne wie das Abendmahl einzuschalten. Jesus hatte von sei - nem Hingang, wohin ihm die Seinigen nicht folgen könn - ten, gesprochen, und das vermessene Erbieten des Petrus, das Leben für ihn zu lassen, durch die Voraussage seiner Verleugnung zurückgewiesen: nun, 14, 1 ff., beruhigt er die hiedurch erschütterten Gemüther wieder, indem er sie27 *420Dritter Abschnitt.auf den Glauben und die segensreichen Wirkungen seines Hingangs verweist. Durch den festen Zusammenhalt die - ser Redetheile zurückgewiesen, rücken andre Ausleger weiter hinauf, und glauben nach dem Abgang des Verrä - thers, 13, 30, die schicklichste Stelle zur Einschiebung des Abendmahls zu finden, indem der Hingang des Judas, um seinen Verrath zu vollenden, leicht die Todesgedanken in Jesu rege machen konnte, welche der Stiftung des Abend - mahls zum Grunde liegen6)Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 497.. Allein nicht nur wenn man mit Lücke u. A. das ὅτε ἐξῆλϑε zu dem folgenden λέγει Ἰησοῦς zieht, sondern auch ohne dieſs hat das νῦν ἐδοξάσϑη υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου κ. τ. λ. (V. 31.), und was Jesus wei - terhin (V. 33.) von seinem baldigen Hingang spricht, sei - ne nächste Beziehung unverkennbar auf den Weggang des Judas. Denn wenn das δοξάζειν im vierten Evangelium im - mer die Verherrlichung Jesu bedeutet, welcher ihn sein Lei - den entgegenführt, so war eben mit dem Gang des verlore - nen Jüngers zu denen, welche Leiden und Tod über Je - sum brachten, seine Verherrlichung und sein baldiger Min - gang entschieden. Hängen auf diese Weise die Verse 31 33. untrennbar mit V. 30. zusammen: so kann man sich bewogen finden, mit dem Abendmahl wieder etwas herab - zurücken, und es dahin zu stellen, wo dieser Zusammen - hang ein Ende zu haben scheinen kann: und so läſst denn Lücke die Einsetzung desselben zwischen V. 33. und 34. in der Art fallen, daſs, nachdem Jesus V. 31 33. die durch das Hinausgehen des Verräthers zerstreuten und er - schrockenen Gemüther beruhigt und auf das Abendmahl vorbereitet habe, er nun V. 34 f. an die Austheilung dessel - ben das neue Gebot der Liebe knüpfe. Allein, wie sonst schon bemerkt worden ist7)Meyer, Comm. über den Joh. z. d. St., wenn V. 36. Petrus mit Be - ziehung auf V. 33. Jesum fragt, wo er denn hingehe? so421Zweites Kapitel. §. 118.kann unmöglich nach jenem Ausspruch Jesu V. 33. das Abendmahl eingesezt worden sein, weil sonst Petrus das ὑπάγω durch das σῶμα διδόμενον und αἷμα ἐκχυνόμενον er - klärt, jedenfalls aber sich eher zu einer Frage über die Bedeutung dieser lezteren Ausdrücke veranlaſst finden muſs - te. Man muſs daher abermals aufwärts gehen, nur noch weiter als Paulus gethan hat; hier aber bietet sich, da von V. 30. bis hinauf zu V. 18. in Einem Zuge vom Ver - räther die Rede ist, das Gespräch über diesen aber sich wiederum untrennbar an die Fuſswaschung und die Deu - tung derselben schlieſst, bis zum Anfang des Kapitels kei - ne Stelle dar, an welcher die Abendmahlsstiftung einge - fügt werden könnte. Hier jedoch soll sie sich nach ei - nem der neuesten Kritiker auf eine Weise einreihen las - sen, welche den Verfasser des Evangeliums von dem Vor - wurf ganz befreie, durch eine[scheinbar] continuirlich fort - schreitende, und doch das Abendmahl überspringende Dar - stellung den Leser irre gemacht zu haben. Denn gleich von Anfang mache sich Johannes gar nicht anheischig, vom Mahle selbst und was dabei vorgefallen, etwas zu erzäh - len, sondern nur was nach dem Mahle sich begeben, wol - le er berichten; wie denn das δείπνουγενομένου nach seiner natürlichsten Bedeutung heiſse: nachdem die Mahlzeit vor - über war, das ἐγείρεται ἐκ τοῦ δείπνου aber deutlich zeige, daſs die Fuſswaschung etwas erst nach dem Essen Vorge - nommenes gewesen sei8)Sieffert, S. 152 ff.. Allein, wenn es von Jesu nach vollbrachter Fuſswaschung heiſst: ἀναπεσὼν πάλιν (V. 12.), so war folglich die Mahlzeit noch nicht vorüber, als er sich zur Fuſswaschung erhob, und das ἐγείρεται ἐκ του δείπνου will sagen, daſs er aus dem Mahle heraus, das Essen, oder wenigstens das vorläufige zu Tische Sitzen unterbre - chend, zu jenem Geschäfte aufgestanden sei. Das δείπου γενομένου aber heiſst so wenig: nachdem ein Mahl gehal -422Dritter Abschnitt.ten war, als τοῦ . γενομένουἐν Βηϑανίφ (Matth. 26, 6.) sa - gen will: nachdem Jesus in Bethanien gewesen war, son - dern, indem uns durch jene Wendung Johannes den Ver - lauf der Mahlzeit selbst9)Vgl. Lücke, S. 468., wie Matthäus durch diese die Dauer des Bethanischen Aufenthalts Jesu, vorführt, so macht er sich damit anheischig, uns alles, was während jener Mahlzeit Merkwürdiges vorfiel, zu berichten, und wenn er nun die bei derselben vorgefallene Stiftung des Abendmahls nicht meldet, so bleibt dieſs ein Sprung, der ihm den Vorwurf zuzieht, lückenhaft erzählt, und gerade das Wichtigste übergangen zu haben.

Wie sich also im Allgemeinen kein Grund denken lieſs, warum Johannes, wenn er einmal von diesem lez - ten Abend sprach, die Stiftung des Abendmahls übergan - gen haben sollte: so findet sich auch im Einzelnen keine Stelle, wo sie in den Verlauf seiner Darstellung eingescho - ben werden könnte, und es bleibt somit nichts übrig, als die Annahme, er erzähle sie nicht, weil er nichts von der - selben gewuſst habe. Nämlich von dem Abendmahl als christlichem Ritus wuſste er wohl, wie sein 6tes Kapitel zeigt, und muſste davon wissen, da es, wie wir aus den paulinischen Briefen abnehmen können, schon in der er - sten Zeit allgemein in der Christenheit verbreitet war: das aber kann ihm unbekannt gewesen sein, daſs und unter welchen Umständen Jesus das Abendmahl förmlich einge - sezt haben sollte. Einen so hochgehaltenen Gebrauch auf die Auctorität Jesu selbst zurückzuführen, lag zwar auch ihm nahe, nur that er dieſs aus Unbekanntschaft mit je - ner synoptischen Stiftungsscene, so wie aus Vorliebe für das Geheimniſsvolle, vermöge welcher er Jesu gerne Aus - sprüche in den Mund legte, die, für den Augenblick un - verständlich, erst aus dem späteren Erfolge Licht bekommen haben sollten, nicht so, daſs er Jesum wirklich schon den423Zweites Kapitel. §. 118.Ritus einsetzen, sondern nur so, daſs er ihn dunkle Wor - te von der Nothwendigkeit, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken, sprechen lieſs, welche, nur aus dem nach seinem Tode in der Gemeinde aufgekommenen Abendmahls - ritus verständlich, als indirekte Stiftung von diesem ange - sehen werden konnten.

Daſs, so wenig als Johannes von der Einsetzung des Abendmahls, die Synoptiker von der Fuſswaschung etwas gewuſst haben können, weil sie derselben keine Erwäh - nung thun, dieſs kann theils wegen der minderen Wich - tigkeit der Sache und der hier mehr fragmentarischen Darstellung dieser Evangelisten nicht so bestimmt behaup - tet werden, theils hat, wie oben bemerkt, Lukas in dem Rangstreit V. 24 ff. etwas, das mit jener Fuſswaschung, als Anlaſs derselben, zusammenzuhängen, manchen Erklä - rern geschienen hat10)Sieffert, S. 153. Paulus und Olshausen, z. d. St.. Ist nun aber in Bezug auf diesen Rangstreit bereits oben dargelegt, wie er, in den Zusam - menhang der vorliegenden Scene nicht passend, nur einer zufälligen Ideenassociation des Erzählers seine Stelle ver - danke11)1. Band, S. 699 f.: so könnte die Fuſswaschungsscene bei Johan - nes nur die sagenhafte Ausführung einer synoptischen De - muthsrede zu sein scheinen. Wenn nämlich bei Matthäus (20, 26 ff.) Jesus seine Jünger ermahnt, wer unter ihnen groſs sein wolle, der solle der andern διάκονος sein, gleich - wie er nicht gekommen sei, διακονηϑῆναι, ἀλλὰ διακονῆ - σαι, und wenn er dieſs hier bei Lukas (22, 27.) in der Frage ausdrückt: τίς γὰρ μείζων; ἀνακείμενος, δια - κονῶν; und mit der Hinweisung verbindet: ἐγὼ δέ εἰμι ἐν μέσῳ ὑμῶν ὡς διακονῶν: so könnte zwar sehr wohl Je - sus selbst für gut gefunden haben, diesen Ausspruch durch ein wirkliches διακονεῖν inmitten seiner, die Rolle der ἀνα - κείμενοι spielenden Jünger zu veranschaulichen, ebensogut424Dritter Abschnitt.aber könnte man, sofern die Synoptiker von einem solchen Vornehmen schweigen, die Vermuthung fassen, es möge, sei es die Sage, wie sie dem vierten Evangelisten zu Oh - ren kam, oder er selbst, aus jenem Diktum dieses Faktum herausgesponnen haben12)Zu weit hergeholt ist, was die Probabilien, S. 70 f., über die Entstehung dieser Anekdote vermuthen.. Und ohne daſs ihm gerade, der Darstellung des Lukas gemäſs, jener Ausspruch Jesu als während der lezten Mahlzeit gethan zugekommen zu sein brauchte, ergab es sich aus dem ἀνακεῖσϑαι und δια - κονεῖν von selbst, daſs die Versinnlichung dieses Verhält - nisses an ein Mahl geknüpft wurde, welches dann aus leicht denkbaren Gründen am schicklichsten das lezte ge - wesen zu sein scheinen konnte.

Daſs hierauf nach der Darstellung bei Lukas Jesus die Jünger als solche anredet, welche bei ihm in seinen Bedrängnissen beharrt haben, und ihnen dafür verheiſst, daſs sie mit ihm in seinem Reich zu Tische sitzen, und auf Thronen die 12 Stämme Israëls richten sollen (V. 28 30.), das scheint in den Zusammenhang einer Scene nicht zu passen, in welcher er unmittelbar vorher einem der Zwölfe den Verrath, unmittelbar nachher einem andern die Ver - leugnung vorhergesagt haben soll, und in einen Zeitpunkt, in welchem die eigentlichen πειρασμοὶ erst bevorstanden. So wie nach einer früheren Betrachtung die Scene bei Lu - kas von vorne herein angelegt ist, dürfen wir den Grund der Einschaltung dieses Redestücks schwerlich in etwas Anderem, als in einer zufälligen Ideenassociation, suchen, vermöge welcher etwa der Rangstreit der Jünger den Re - ferenten an den ihnen von Jesu verheiſsenen Rang, und die Rede vom Aufwartenden und zu Tische Sitzenden an das ihnen versprochene zu Tische Sitzen im messianischen Reiche erinnern mochte.

In Bezug auf das folgende Gespräch, wo Jesus sei -425Zweites Kapitel. §. 119.nen Jüngern bildlich sagt, von nun an würde es Noth thun, sie kauften sich Schwerter, so feindlich werde man ihnen von allen Seiten entgegentreten, sie aber ihn eigent - lich verstehen, und auf zwei in der Gesellschaft vorräthige Schwerter verweisen, möchte ich am liebsten Schleierma - cher'n beistimmen, welcher der Meinung ist, um das in der folgenden Erzählung vorkommende Hauen des Petrus mit dem Schwert zu bevorworten, habe der Referent dieses Redestück hiehergestellt13)Über den Lukas, S. 275..

Die übrigen Differenzen in Bezug auf das lezte Mahl werden im Verlauf der folgenden Untersuchungen zur Spra - che kommen.

§. 119. Verkündigung des Verraths und der Verleugnung.

Wenn mit der Angabe, daſs Jesus von jeher seinen Verräther gekannt und durchschaut habe, der vierte Evan - gelist allein steht: so stimmen darin alle viere zusammen, daſs er bei seinem lezten Mahle vorhergesagt habe, einer seiner Jünger werde ihn verrathen.

Doch findet zuerst schon darin eine Differenz statt, daſs, während den beiden ersten Evangelisten zufolge die Reden vom Verräther die Scene eröffnen, und namentlich der Stiftung des Abendmahls vorangehen (Matth. 26, 21 ff. Marc. 14, 18 ff. ): Lukas erst nach eingenommenem Mahl und gestifteter Gedächtniſsfeier (22, 21 ff.) Jesum von dem bevorstehenden Verrathe sprechen läſst; bei Johannes geht das auf den Verräther sich Beziehende während und nach der Fuſswaschung vor (13, 10 30.). Die an sich unbe - deutende Frage, welcher Evangelist hier recht habe, ist den Theologen aus dem Grund überaus wichtig, weil je nach der Entscheidung derselben sich die andere Frage zu beantworten scheint, ob auch der Verräther das Abend -426Dritter Abschnitt.mahl noch mitgenossen habe? Weder mit der Idee des Abendmahls, als des Mahls der innigsten Liebe und Ver - einigung, schien sich die Theilnahme eines so fremdarti - gen Glieds an demselben zu vertragen, noch auch mit der Liebe und Barmherzigkeit des Herrn das, daſs er sollte einen Unwürdigen zur Erhöhung seiner Schuld das Abend - mahl haben mitgenieſsen lassen1)Olshausen, 2, S. 380.. Diesem gefürchteten Umstand glaubte man dadurch zu entgehen, daſs man, der Anordnung des Matthäus und Markus folgend, die Be - zeichnung des Verräthers der Stiftung des Abendmahls vorangehen lieſs, und da man nun aus Johannes wuſste, daſs, nachdem er sich entdeckt und bezeichnet sah, Judas aus der Gesellschaft gegangen sei: so glaubte man anneh - men zu dürfen, daſs erst nach dieser Entfernung des Ver - räthers Jesus die Einsetzung des Abendmahls vorgenommen habe. Allein diese Abhülfe kommt nur durch unerlaubte Vermischung des Johannes mit den Synoptikern zu Stande. Denn von einer Entfernung des Judas aus der Gesellschaft weiſs eben nur der vierte Evangelist, und er allein hat auch diese Annahme nöthig, weil nach ihm Judas erst jezt seine Unterhandlungen mit den Feinden Jesu anknüpft, also, um mit ihnen einig zu werden, und Bedeckung von ihnen zu erhalten, eine etwas längere Zeit brauchte: bei den Synoptikern dagegen ist keine Spur, daſs der Verrä - ther die Gesellschaft verlassen hätte, es ist Alles so erzählt, wie wenn er erst bei dem allgemeinen Aufbruch, statt di - rekt in den Garten, zu den Hohenpriestern gegangen wäre, von welchen er dann, da die Unterhandlungen schon vor - her angeknüpft waren, unverzüglich die nöthige Mannschaft zur Verhaftung Jesu erhalten konnte. Mag also in Anord - nung der Scene Lukas oder Matthäus recht haben: nach sämmtlichen Synoptikern hat Judas, der ihnen zufolge sich2)So Lücke, Paulus, Olshausen.427Zweites Kapitel. §. 119.gar nicht vor der Zeit aus der Gesellschaft entfernte, das Abendmahl mitgenossen.

Aber auch in der Art und Weise, wie Jesus seinen Verräther bezeichnet haben soll, weichen die Evangelisten nicht unbedeutend von einander ab. Bei Lukas giebt Jesus nur kurz die Versicherung, daſs die Hand seines Verräthers mit ihm über Tische sei, worauf die Jünger unter sich fra - gen, wer es wohl sein möge, der so etwas zu thun im Stande wäre? Bei Matthäus und Markus sagt er zuerst, einer der Anwesenden werde ihn verrathen, und als von den Jüngern ihn jeder einzeln fragt, ob er es sei? erwie - dert er: der mit ihm in die Schüssel tauche; bis endlich nach einem über den Verräther ausgesprochenen Wehe dem Matthäus zufolge auch Judas jene Frage thut, worauf ihm Jesus eine bejahende Antwort giebt. Bei Johannes deu - tet Jesus zuerst während und nach der Fuſswaschung an, daſs nicht alle anwesenden Jünger rein seien, daſs viel - mehr die Schrift erfüllt werden müsse: der mit mir das Brot iſst, erhebt die Ferse gegen mich. Dann sagt er ge - radezu, einer von ihnen werde ihn verrathen, und als die Jünger forschend einander anblicken, wen er wohl meine, läſst Petrus durch den zunächst an Jesu liegenden Johan - nes fragen, wer es sei? worauf Jesus erwiedert, der, wel - chem er den Bissen eintauche und gebe, was er sofort dem Judas thut, mit beigefügter Erinnerung, die Ausführung seines Vorhabens zu beschleunigen; worauf dieser die Ge - sellschaft verläſst.

Die Harmonisten sind auch hier schnell damit fertig gewesen, die verschiedenen Scenen ineinander einzuschie - ben und miteinder verträglich zu machen. Da soll Jesus auf die Frage der einzelnen Jünger, ob sie es seien, zu - erst mit lauter Stimme erklärt haben, einer seiner Tisch - genossen werde ihn verrathen (Matth.); hierauf soll Jo - hannes leise gefragt haben, wer es näher sei, und Jesus ihm ebenso leise die Antwort ertheilt: der, dem er den428Dritter Abschnitt.Bissen gebe (Joh.); dann soll auch Judas, gleichfalls lei - se, gefragt haben, ob er es sei, und Jesus ebenso seine Frage bejaht haben (Matth.); endlich aber soll auf eine antreibende Mahnung Jesu der Verräther aus der Gesell - schaft gegangen sein (Joh.)3)Kuinöl, in Matth. p. 707.. Allein daſs die zwischen Jesus und Judas gewechselte Frage und Antwort, welche Matthäus mittheilt, leise gesprochen worden sei, davon be - merkt der Evangelist nichts, auch läſst es sich nicht wohl denken, wenn man nicht das Unwahrscheinliche vorausse - zen will, daſs Judas auf der andern Seite wie Johannes auf der einen neben Jesu gelegen habe; war aber die Ver - handlung laut, so konnten die Jünger nicht, wie Johannes erzählt, das ποιεῖς ποίησον τάχιον auf so wunderliche Weise miſsverstehen, und mit einer stotternden Frage von Seiten des Judas und leichthin gesprochenen Antwort Jesu wird man sich nicht im Ernst beruhigen können4)Wie Olshausen, 2, S. 402. S. dagegen Sieffert, S. 148 f.. Auch das ist nicht wahrscheinlich, daſs Jesus, nachdem er schon die Erklärung gegeben: der mit mir in die Schüssel taucht, wird mich verrathen, zur bestimmteren Bezeich - nung des Verräthers nun noch selbst ihm einen Bissen ein - getaucht haben sollte: sondern beides ist wohl dasselbe, nur verschieden referirt. Erkennt man aber einmal dieſs mit Paulus und Olshausen an, so hat man bereits dem ei - nen oder andern Bericht so viel vergeben, daſs man sich auch über die Schwierigkeit, welche in der ausdrücklichen Antwort liegt, die Matthäus Jesum dem Verräther geben läſst, nicht mit Zwang hinüberhelfen, sondern eingestehen sollte, hier zwei abweichende Berichte vor sich zu ha - ben, deren einer nicht darauf berechnet ist, durch den andern ergänzt zu werden.

Ist man mit Sieffert und Fritzsche zu dieser Einsicht gekommen: so fragt sich nur noch, welchem von beiden429Zweites Kapitel. §. 119.Berichten als dem ursprünglichen der Vorzug zu geben sei? Sieffert hat diese Frage mit groſser Entschiedenheit zu Gunsten des Johannes beantwortet, nicht bloſs, wie er be - hauptet, vermöge des Vorurtheils für die angebliche Au - genzeugenschaft dieses Evangelisten, sondern auch, weil sich seine Erzählung in diesem Abschnitt durch innere Wahrheit und malerische Anschaulichkeit auf's Unverkenn - barste vor der des Matthäus auszeichne, welcher leztern die Spuren der Autopsie auch hier durchaus fehlen. Wäh - rend nämlich Johannes das Genaueste über die Art zu sa - gen wisse, wie Jesus den Verräther bezeichnet habe: klinge die Erzählung des ersten Evangeliums so, als ob seinem Verfasser nur die allgemeine Notiz, daſs Jesus seinen Ver - räther auch persönlich bezeichnet habe, zugekommen ge - wesen wäre5)a. a. O. S. 147 ff.. Wenn in dieser Hinsicht allerdings von der runden Antwort, die Jesus bei Matthäus (V. 25.) dem Judas giebt, nicht geleugnet werden kann, daſs sie ganz darnach aussieht, nach jener Notiz auf ziemlich trockene Weise gemacht zu sein, und in sofern der verblümteren, also doch immer wahrscheinlicheren Art, wie Johannes diese Bezeichnung wendet, nachsteht: so ist dagegen zwi - schen dem ἐμβάψας oder ἐμβαπτόμενος μετ̕ ἐμοῦ bei den zwei ersten Evangelisten, und dem johanneischen ἐγὼ βάψας τὸ ψωμίον ἐπιδώσω, das Verhältniſs ein ganz an - deres; hier nämlich ist offenbar die gröſsere Bestimmtheit der Bezeichnung, mithin die geringere Wahrscheinlichkeit des Berichts, auf Seiten des vierten Evangeliums. Bei Lukas bezeichnet Jesus den Verräther nur als einen der mit ihm bei Tische Sitzenden, und auch von dem ἐμβά - ψας κ. τ. λ. bei Matthäus und Markus ist die Deutung, welche Kuinöl und Henneberg6)Comm. über die Geschichte des Leidens und Todes Jesu, z. d. St. von demselben geben: ei -430Dritter Abschnitt.ner von meinen Tischgenossen, unbestimmt welcher, so irreleitend nicht, wie Olshausen sie dafür ausgiebt. Denn auch auf die Frage der einzelnen Jünger: bin ich's? konnte ja Jesus theils immer noch eine ausweichende Ant - wort zu geben für gut finden, theils verhielt sich zu dem früheren: εἷς ἐξ ὑμῶν παραδώσει με (V. 21.), nach Kuin - öl's richtiger Bemerkung jene Antwort auch in diesem Sin - ne als angemessene Steigerung, indem sie das den Verrath noch besonders gravirende Moment der Tischgenossenschaft hervorhob. Wenn auch die Verfasser der beiden ersten Evangelien den fraglichen Ausdruck bereits so verstanden, als ob gerade Judas mit Jesu die Hand in die Schüssel ge - taucht, und somit jene Äusserung ihn persönlich bezeich - net hätte: so zeigt doch die Parallele bei Lukas, und bei Markus das dem ἐμβαπτόμενος vorgesezte εἷς ἐκ τῶν δώ - δεκα, daſs ursprünglich jenes nur Epexegese von diesem war, wenn es gleich vermöge des Wunsches, eine recht bestimmte Vorherbezeichnung des Verräthers von Seiten Je - su zu haben, frühzeitig in jenem andern Sinne genommen wurde. Haben wir aber so einmal eine sagenhafte Steige - rung der Bestimmtheit jener Bezeichnung: so ist auch die Art, wie das vierte Evangelium den Verräther bezeichnet werden läſst, in diese Reihe zu ziehen, und zwar müſste sie nach Sieffert die ursprüngliche gewesen sein, von wel - cher alle übrigen ausgegangen wären. Nun aber ist sie, wenn wir das σὺ εἶπας des Matthäus zum Voraus preiſsge - ben, die bestimmteste Bezeichnungsweise, zu welcher sich der Ausdruck: meiner Tischgenossen einer, nur als ganz unbestimmt verhält, und auch der Wink: derjenige, wel - cher jezt eben mit mir in die Schüssel taucht, war noch weniger direkt, als wenn Jesus selbst ihm den Bissen ein - tauchte und reichte. Ist es denn nun im Geist der alten Sage, die bestimmteste Bezeichnung, wenn Jesus eine sol - che gegeben hatte, fallen zu lassen, und auf unbestimmte - re zu reduciren, also das Wunder des Vorherwissens Je -431Zweites Kapitel. §. 119.su zu verringern? Gewiſs vielmehr das Umgekehrte: so daſs Matthäus neben dem unhistorischen Bestimmten doch zugleich noch das ursprüngliche Unbestimmte aufbewahrt, Johannes dagegen dieses ganz verloren, und nur jenes be - halten hat.

Geben wir auf diese Weise dasjenige, was von per - sönlicher Bezeichnung des Verräthers durch Jesum erzählt wird, als post eventum gebildet, auf, so bleibt uns doch die allgemeine Voraussicht und Vorhersage Jesu noch, daſs überhaupt einer seiner Schüler und Tischgenossen ihn ver - rathen werde. Doch auch schon dieſs hat Schwierigkei - ten. Daſs Jesus auf den im Kreise seiner Vertrautesten brütenden Verrath von Andern aufmerksam gemacht wor - den wäre, davon findet sich in den Evangelien keine Spur: nur aus der Schrift scheint er auch dieses Verhängniſs her - ausgelesen zu haben. Wiederholt erklärt Jesus, durch den ihm bevorstehenden Verrath werde die Schrift erfüllt (Joh. 13, 18. 17, 12. vgl. Matth. 26, 24. parall. ), und im vierten Evangelium (13, 18.) führt er als diese γραφὴ aus Ps. 41, 10. die Worte an: τρώγων μετ̕ ἐμοῦ τὸν ἄρτον, ἐπῇρεν ἐτ̕ ἐμὲ τὴν πτέρναν αὑτοῦ. Die Psalmstelle bezieht sich entweder auf die bekannten treulosen Freunde Davids, Ahitophel und Mephiboseth, oder, wenn der Psalm nicht Davidisch ist, auf Unbekannte, die mit dem Dichter des - selben in ähnlichem Verhältniſs standen7)s. de Wette, z. d. Ps.. Von messiani - scher Beziehung ist so wenig eine Spur, daſs selbst Tho - luck und Olshausen den angegebenen Sinn als den ur - sprünglichen anerkennen. Nun soll aber nach dem Lezte - ren in dem Schicksal Davids sich das des Messias abspie - geln; nach dem Ersteren sogar David selbst auf göttlichen Antrieb oft Ausdrücke von sich gebraucht haben, welche specielle Hinweisungen auf die Schicksale Jesu enthielten. Wenn aber Tholuck dazusezt, David selbst habe in der432Dritter Abschnitt.Begeisterung diesen tieferen Sinn seiner Aussprüche nicht immer ganz begriffen: was ist dieſs anders, als ein Zuge - ständniſs, daſs durch die Deutung auf Christum solchen Stellen ein anderer Sinn gegeben werde, als den der Ver - fasser ursprünglich in dieselben gelegt hat? Daſs nun Je - sus aus dieser Psalmstelle vor dem Erfolg durch natürli - che Überlegung sollte herausgelesen haben, ihm stehe Ver - rath durch einen Freund bevor, ist um so undenkbarer, als sich keine Spur findet, daſs der Psalm unter den Ju - den messianisch gedeutet worden wäre: daſs aber das Gött - liche in Jesu ihm eine solche Deutung an die Hand gege - ben habe, ist deſswegen unmöglich, weil es eine falsche Deutung ist. Vielmehr nach dem Erfolg erst wurde der Psalmstelle eine Beziehung auf den Verrath des Judas ge - geben. Das durch den gewaltsamen Tod des Messias über - raschte Gemüth seiner ersten Anhänger muſs man sich in ängstlicher Geschäftigkeit denken, dieses Schicksal des - selben zu begreifen, was aber bei jüdisch Gebildeten nicht hieſs, es mit Bewuſstsein und Vernunft, sondern mit der Schrift in Einklang bringen. So fanden sie nicht nur sei - nen Tod, sondern auch, daſs er durch die Treulosigkeit eines seiner Freunde zu Grunde gehen würde, und selbst das weitere Schicksal und Ende des Verräthers (Matth. 27, 9 f. A. G. 1, 20.) im A. T. vorhergesagt, und um für den Verrath eine A. T. liche Auctorität zu finden, bot sich am meisten jene Stelle aus Ps. 41, wo der Verfasser über Miſshandlung durch einen seiner Vertrautesten Klage führt. Diese Belege aus dem A. T. konnten die Schreiber der N. - T. lichen Geschichte entweder als ihre und Anderer Reflexio - nen bei Meldung des Erfolgs hinzusetzen, wie die Verfasser des ersten Evangeliums und der Apostelgeschichte, wo sie das Ende des Judas referiren: oder, was noch schlagen - der war, sie konnten sie Jesu selbst schon vor dem Er - folg in den Mund legen, wie der Verfasser des vierten Evangeliums hier thut. Der Psalmist hatte mit seinem433Zweites Kapitel. §. 119.אׂכֵ חְמִי einen solchen gemeint, der überhaupt das Brot mit ihm zu theilen pflege: leicht aber konnte es als die Bezeichnung eines solchen angesehen werden, der jezt eben mit dem in der Weissagung Gemeinten esse, und so wurde als Scene der Vorherbezeichnung ein Mahl Jesu mit seinen Jüngern, und wegen der Nähe des Erfolgs am schicklichsten das lezte, gewählt. An die Worte der Psalm - stelle übrigens band man sich in der Art, wie man Jesum den Verräther bezeichnen lieſs, weiter nicht, sondern nahm statt des τρώγων μετ̕ ἐμοῦ τὸν ἄρτον entweder das syno - nyme μετ̕ ἐμοῦ ἐπὶ τῆς τραπέζης, wie Lukas, oder, da den Synoptikern zufolge dieses lezte Mahl ein Paschamahl war, so wählte man mit Bezug auf die dem Paschamahl eigen - thümliche Tunke das ἐμβαπτόμενος μετ̕ ἐμοῦ εἰς τὸ τρυ - βλίον, wie Markus und Matthäus. Dieſs, zuerst ganz syn - onym dem τρώγων κ. τ. λ., als Bezeichnung irgend ei - nes seiner Tischgenossen, wurde bald, da man eine per - sönliche Bezeichnung haben wollte, durch Miſsverstand so gewendet, als ob Judas zufällig zugleich mit Jesu in die Schüssel gegriffen hätte, und endlich wurde, um die Be - zeichnung möglichst unmittelbar zu machen, der von Ju - das zugleich mit Jesu in die Schüssel getauchte Bissen vom vierten Evangelisten in einen solchen verwandelt, den Jesus dem Verräther eingetaucht und gegeben habe.

Auch sonst ist in der johanneischen Darstellung die - ser Scene Manches, was gar nicht natürlich, wie Sieffert will, sondern vielmehr gemacht erscheint. Die Art, wie Petrus sich der Vermittlung des Schooſsjüngers bedienen muſs, um von Jesu einen näheren Wink über den Verrä - ther herauszubringen, wie sie den Synoptikern fremd ist, so gehört sie auch nur zu der unhistorischen Wendung, welche, wie oben auseinandergesezt, das vierte Evangelium dem Verhältniſs der beiden Apostel giebt. Die unter ei - ner Handlung der Freundschaft, wie das Reichen des Bis - sens, verborgene Bezeichnung im schlimmen Sinne fernerDas Leben Jesu II. Band. 28434Dritter Abschnitt.hat immer etwas Unwahres und Widriges, was man auch von zum Grunde liegenden Absichten, den Verräther noch zu rühren u. dergl., erdenken mag. Endlich auch das ποιεῖς, ποίησον τάχιον, man mag es zu mildern suchen, wie man will8)s. Lücke und Tholuck, z. d. St., ist doch immer hart, und mit einem gewissen Troz dem herein - brechenden Schicksal gegenüber gesprochen, und ehe ich die Worte durch irgend eine Künstelei als von Jesu gesprochene rechtfertige, stimme ich lieber dem Verfasser der Probabilien bei, welcher in denselben das Bestreben des vierten Evan - gelisten sieht, die gewöhnliche Darstellung, welcher zu - folge Jesus den Verrath vorauswuſste und nicht hinderte, durch die Wendung, er habe den Verräther sogar zur Beschleunigung seines Vorhabens aufgefordert, zu über - bieten9)p. 62: reliqui quidem narrant evangelistae, servatorem sci - visse proditionis consilium, nec impedivisse; ipsum vero ex - citâsse Judam ad proditionem, nemo eorum dicit, neque con - venit hoc Jesu. .

Wie dem Judas den Verrath, so soll Jesus dem Pe - trus die Verleugnung vorhergesagt haben, und zwar mit der besonders genauen Zeitbestimmung, daſs, ehe am näch - sten Frühmorgen der Hahn (nach Markus zweimal) krähe, Petrus ihn dreimal verleugnet haben werde (Matth. 26, 33 ff. parall. ), was den Evangelien zufolge auf's Genauste eingetroffen ist. Nicht mit Unrecht ist hier von rationa - listischer Seite bemerkt worden, die Erstreckung der Se - hergabe auf solche Nebenzüge, wie der Hahnenschrei, müs - se Befremden erregen; ebenso, daſs Jesus, statt zu war - nen, vielmehr den Erfolg wie unvermeidlich vorhersage10)Paulus, exeg. Handb. 3, b, S. 538. L. J. 1, b, S. 192. Hase, L. J. §. 137., was allerdings ganz nach der Art des tragischen Fatums der Griechen lautet, wo der Mensch in das ihm vom Ora -435Zweites Kapitel. §. 119.kel Vorhergesagte, indem er es vermeiden will, dennoch hineingeräth. Freilich, wenn dann Paulus weder das ου φωνήσει σήμερον ἀλέκτωρ, noch das ἀπαρνεῖσϑαι, noch das τρὶς in der genauen, wörtlichen Bedeutung gesprochen wis - sen will, sondern der ganzen Rede nur den ungefähren und problematischen Sinn giebt: so leicht zu erschüttern sei die vermeinte Festigkeit des Jüngers, daſs zwischen jezt und dem nächsten Morgen schon Ereignisse eintreten können, die ihn veranlassen würden, mehr als Einmal an ihm irre und ihm untreu zu werden: so ist dieſs nicht die rechte Art, die Schwierigkeit des evangelischen Be - richts aus dem Wege zu räumen; die Jesu in den Mund gelegten Worte stimmen mit dem nachherigen Erfolg so genau überein, daſs hier an ein bloſs zufälliges Zusammen - treffen nicht gedacht werden kann. Sondern in diesem Zusammenhang von lauter vaticiniis post eventum werden wir auch hier annehmen müssen, daſs, nachdem wirklich Petrus in jener Nacht Jesum mehrmals verleugnet hatte, die Vorherverkündigung davon Jesu in den Mund gelegt wurde, mit der üblichen Zeitbestimmung vom Hahnen - schrei11)vgl. Lightfoot und Paulus, z. d. St., und mit der Reduktion auf die runde Zahl von drei Verleugnungsfällen. Daſs diese Zeit - und Zahlbe - stimmung in der evangelischen Überlieferung stehend blieb (ausser daſs Markus, ohne Zweifel durch eine willkührli - che Künstelei, um dem τρὶς der Verleugnung gegenüber auch den Hahnenschrei durch eine Zahl zu bestimmen, von einem zweimaligen Rufen des Hahns spricht), dieſs scheint sich aus der Anschaulichkeit und Behaltbarkeit jener früh - zeitig gewählten Ausdrücke, die sich ganz zu einer ste - henden Bestimmung eigneten, ohne allzu groſse Schwierig - keit zu erklären.

Daſs endlich Jesus auch den übrigen Jüngern vor - aussagt, sie werden in der bevorstehenden Nacht alle an28 *436Dritter Abschnitt.ihm irre werden, ihn verlassen und sich zerstreuen (Matth. 26, 31. parall. vgl. Joh. 16, 32.), hat wohl ebensowenig Anspruch, als wirkliche Weissagung festgehalten zu wer - den, zumal hier die zwei ersten Evangelisten in dem γέ - γραπται γάρ· πατάξω τὸν ποιμένα, καὶ διασκορπισϑήσουται τὰ πρόβατα τῆς ποίμνης, die A. T. liche Stelle (Zach. 13, 7.) selber an die Hand geben, welche, zunächst von den Anhängern Jesu zur eigenen Verständigung über den Tod ihres Meisters und dessen zunächst traurige Folgen auf - gesucht, bald Jesu selbst als Vorhersagung dieser Erfolge in den Mund gelegt wurde.

§. 120. Die Einsetzung des Abendmahls.

Bei dem lezten Mahle war es, nach dem Bericht der drei ersten Evangelisten, mit welchem auch der Apostel Paulus (1 Kor. 11, 23 ff. ) zusammenstimmt, daſs Jesus dem ungesäuerten Brot und dem Weine, was nach der Sit - te des Paschafestes1)vgl. über diese vornämlich Lightfoot, horae p. 474 ff., und Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 511 ff. er als Familienhaupt unter seine Schüler zu vertheilen hatte, eine Beziehung auf seinen na - he bevorstehenden Tod gegeben hat. Während des Essens nämlich soll er einen Brotkuchen genommen, nach gespro - chenem Dankgebet ihn gebrochen und seinen Jüngern ge - reicht haben, mit der Erklärung: τοῦτό ἐςι τὸ σῶμά μου, wozu Paulus und Lukas noch setzen: τὸ ὑπὲρ ὑμῶν διδό - μενον oder κλώμενον, und ebenso hierauf, bei Paulus und Lukas nach dem Essen, soll er ihnen einen Becher Weins mit den Worten hingegeben haben: τοῦτό ἐςι τὸ αἷμά μου, τὸ τῆς καινῆς διαϑήκης, oder, nach Paulus und Lu - kas: καινὴ διαϑήκη ἐν τῷ αἵματί μου τὸ περὶ πολλῶν, oder ὑπὲρ ὑμῶν, ἐκχυνόμενον, wozu Matthäus noch sezt:437Zweites Kapitel. §. 120.εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν, Paulus aber, was er und Lukas auch schon oben bei'm Brote hatten: τοῦτο ποιεῖτε (Paulus bei'm Wein ὁσάκις ἂν πίνητε) εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν).

Der Streit der Confessionen über die Bedeutung die - ser Worte, ob sie eine Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi, oder ein Vorhandensein von Leib und Blut Christi mit und unter jenen Elementen, oder endlich dieſs ausdrücken, daſs Brot und Wein Chri - sti Leib und Blut bedeuten sollen, ist als obsolet zu be - zeichnen, und sollte wenigstens exegetisch deſswegen nicht mehr nachgeführt werden, weil er auf einer unrichtigen Disjunktion beruht. Nur in der Übertragung in das ab - straktere Bewuſstsein des Abendlandes und der neuern Zeit zerfällt dasjenige, was der alte Orientale sich unter sei - nem τοῦιό ἐςι dachte, in jene verschiedenen Möglichkeiten der Bedeutung, welche wir, wenn wir den ursprünglichen Gedanken in uns nachbilden wollen, gar nicht auf diese Weise trennen dürfen. Erklärt man die fraglichen Worte von Verwandlung: so ist das zu viel und zu bestimmt; nimmt man sie von einer Existenz cum et sub specie etc.: so ist dieſs zu künstlich; übersezt man aber: dieſs bedeutet: so hat man zu wenig und zu nüchtern gedacht. Den Schrei - bern unsrer Evangelien war das Brot im Abendmahl der Leib Christi; aber hätte man sie gefragt, ob also das Bro - verwandelt sei? so würden sie es verneint; hätte man ih - nen von einem Genuſs des Leibes mit und unter der Gestalt des Brots gesprochen: so würden sie dieſs nicht verstan - den; hätte man geschlossen, daſs mithin das Brot den Leib bloſs bedeute: so würden sie sich dadurch nicht be - friedigt gefunden haben.

Hierüber also verlohnt es sich nicht, weiter zu strei - ten; eher kann die Frage interessiren, ob Jesus jene ei - genthümlich bedeutsame Brot - und Weinaustheilung nur als einen Akt des Abschieds von seinen Jüngern, oder ob er dieselbe in der Absicht vorgenommen habe, daſs sie438Dritter Abschnitt.auch nach seinem Hingang von seinen Anhängern zum An - denken an ihn gefeiert werden sollte? Hätten wir bloſs die Berichte der beiden ersten Evangelisten dieſs geben hier selbst orthodoxe Theologen zu2)Süskind, in der Abhandlung: hat Jesus das Abendmahl als einen mnemonischen Ritus angeordnet? in s. Magazin 11, S. 1 ff. so wäre kein entschei - dender Grund zu der lezteren Annahme vorhanden: allein entscheidend scheint bei Paulus und Lukas der Zusaz: τοῦτο ποιεῖτε εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν, welchem zufolge Jesus of - fenbar die Absicht hatte, ein Gedächtniſsmahl zu stiften, das nach Paulus die Christen feiern sollten, ἄχρις οὖ ἂν ἔλϑη. Allein eben von diesen Zusätzen hat man neuerlich vermuthet, sie möchten nicht ursprünglich Worte Jesu ge - wesen sein, sondern bei der Abendmahlsfeier in der ersten Gemeinde möge der austheilende Vorsteher die Gemeinde - glieder aufgefordert haben, dieses Mahl auch ferner zum Andenken Christi zu wiederholen, und aus diesem urchrist - lichen Ritual seien dann die Worte zu der Rede Jesu ge - schlagen worden3)Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 527.. Gegen diese Vermuthung sollte man nicht mit Olshausen die Auctorität des Apostels Paulus in der Überspannung geltend machen, daſs laut seiner Versi - cherung: παοέλαβον ἀπὸ τοῦ Κυρίου, er hier aus einer un - mittelbaren Offenbarung Christi, ja daſs Christus selbst hier aus ihm spreche: da doch, wie selbst Süskind zugege - ben, und neuerlich Schulz auf's Bündigste bewiesen hat4)Über das Abendmahl, S. 217 ff., παραλαμβάνειν ἀπό τινος nicht ein unmittelbares Bekom - men von einem, sondern nur ein mittelbares Überkommen von einem her, also durch Überlieferung, bedeuten kann. Hat aber Paulus jenen Zusaz nicht von Jesu selbst gehabt: so glaubt zwar Süskind beweisen zu können, er müsse ihm von einem Apostel mitgetheilt oder mindestens bestä - tigt worden sein, und meint in der Weise seiner Schule439Zweites Kapitel. §. 120.durch eine Reihe abstrakter Disjunktionen sichere Mauth - linien ziehen zu können, welche das Eindringen einer un - historischen Sage in diesem Stücke verhindern sollen: al - lein die strenge Urkundlichkeit unsrer Tage darf von einer werdenden Religionsgesellschaft nicht erwartet werden, de - ren an verschiedenen Orten befindliche Theile noch keinen geordneten Zusammenhang und meistens nur mündlichen Verkehr hatten. Hienach das τοῦτο ποιεῖτε κ. τ. λ. für ei - nen späteren Zusaz zu den Worten Jesu zu halten, dazu darf man sich allerdings nicht durch falsche Gründe bewe - gen lassen, wie daſs es gegen die Demuth Jesu verstoſsen haben würde, sich selbst eine Gedächtniſsfeier zu stiften5)Kaiser, bibl. Theol. 2, a, S. 39. Stephani, das h. Abendm. S. 61. u. dergl. : wohl aber wird neben dem Stillschweigen der beiden ersten Evangelisten das in Betracht kommen, daſs, wie überhaupt eine Gedächtniſsfeier natürlicher aus dem Bedürfniſs der Zurückbleibenden, als aus dem Plane des Scheidenden hervorgeht, so auch jene Worte weit eher dar - nach lauten, das Bewuſstsein der ersten Gemeinde, als eine Verordnung Jesu auszusprechen.

Demnach soll nun bei'm Anblick des gebrochenen Brots und ausgegossenen Weines Jesum eine Ahnung seines na - hen gewaltsamen Todes angewandelt, er soll in jenem ein Bild seines hinzurichtenden Leibes, in diesem seines zu vergieſsenden Blutes erblickt, und diesen augenblicklichen Eindruck gegen seine Jünger ausgesprochen haben6)Paulus, a. a. O. S. 519 ff. Raiser, a. a. O. S. 37 ff.. Ei - nen solchen tragischen Eindruck aber konnte Jesus nur be - kommen, wenn er seinen gewaltsamen Tod mit Bestimmt - heit in der Nähe sah. Er müſste also namentlich um den Verrath des Judas gewuſst haben, der sein Ende beschleu - nigte: aber eben hievon haben wir uns kritisch noch nicht überzeugen können, sondern eine Zurücktragung aus dem440Dritter Abschnitt.Erfolg vermuthen müssen. Spricht nun Jesus bei der Darreichung des Brotes und Kelches so bestimmt von dem, was ihm bevorstand, als ob es schon geschehen wäre: wie, wenn wir hier wirklich nur die Worte von solchen hät - ten, denen der Tod Jesu ein schon Geschehenes war, und welche nun ihre Gedanken über denselben dem scheiden - den Meister in den Mund legten? Wein und Brot hatte Jesus, wenn er wirklich noch das Pascha mit seinen Jün - gern feierte, sammt dem Fleisch des Lamms ihnen ausge - theilt, und nach jüdischer Sitte erklärende Worte dazu ge - sprochen, welche der Erinnerung an den Auszug aus Ägyp - ten gewidmet waren7)2 Mos. 12, 26 f. ist den Israëliten geboten, wenn ihre Kinder sie fragen werden, was sie da feiern, sollen sie antworten: es ist das Paschaopfer Jehova's, der die Kinder Israël ver - schonte in Ägypten, u. s. f. Diess wurde nun zum Ritual bei der Paschafeier, (s. Lightfoot, p. 475 f.:)admovetur ite - rum mensa, et tum dicit ille (pater familiâs): hoc est Pa - scha, quod comedimus ideo, quia Deus transiit per domos patrum nostrorum in Aegypto. Elevat manu sua azyma et dicit: azyma haec comedimus, quia non erat spatium fari - nae conspersae patrum nostrorum ut fermentaretur etc.. Als nun so überraschend schnell auf jenes Pascha der gewaltsame Tod Jesu gefolgt war: da wurde seinen Anhängern am Paschafest eben das das Wich - tigste, daſs es Jesus noch kurz vor seinem Tode mit ihnen gefeiert hatte; die Erklärungen, welche er ihnen nach der Sitte des Festes von dem alten Ursprung desselben gegeben hatte, fielen hinweg, und an ihre Stelle traten Erklärun - gen, welche gleichsam den neuen, christlichen Ursprung dieser Feier, nämlich den Tod Jesu, betrafen. Der ersten Christengemeinde war hinfort das am Pascha gebrochene Brot nicht mehr Erinnerung an die Drangsal ihrer Väter in Ägypten, sondern an die Leiden ihres Messias, ebenso war der Becher ein כום הברכה für sie insofern, als sie in seinem rothen Weine das vergossene Blut ihres Messias er -441Zweites Kapitel. §. 120.blickten, und diese Deutungen wurden Jesu statt derjeni - gen, welche er der Sitte gemäſs bei jenem lezten Mahl gegeben hatte, in den Mund gelegt. Daſs zur Vergegen - wärtigung des Leibes Jesu nicht das Paschalamm, sondern das Brot genommen wurde, hatte seinen Grund vielleicht in der Scheue, dem Hauptbestandtheil des Paschamahls sei - ne jüdische Bedeutung zu nehmen, so wie in der frühzei - tig hervortretenden Neigung, dieses Gedächtniſsmahl vom Pascha zu lösen, und in öfterer Wiederholung zu begehen. Daſs aber bei dem das Blut Jesu vorstellenden Weine die Bezeichnung: τὸ αἷμα τῆς καινῆς διαϑήκης gewählt wurde, hat seinen Grund in der Rücksicht auf die Stelle 2. Mos. 24, 8, wo Moses von dem Blut, mit welchem er zur Ab - schlieſsung des Bundes zwischen Jehova und dem Volk in Bezug auf das Sinaitische Gesez die Israëliten besprengte, sagt: ἰδοὺ τὸ αἷμα τῆς διαϑήκης, ἧς διέϑετο Κύριος πρὸς ὑμᾶς περὶ πάντων τῶν λόγων τουτων (LXX.).

Doch daſs Jesus bei jenem Mahle bereits sein unmit - telbar bevorstehendes Ende vorhergesehen, scheint die Ver - sicherung zu beweisen, welche er nach sämmtlichen syn - optischen Berichten seinen Jüngern giebt, daſs er von dem Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken werde, bis er es neu genieſsen werde im Reich seines Vaters. Sehen wir jedoch, wie bei Lukas dieser Versicherung in Bezug auf den Wein die Erklärung Jesu vorangeht, das Pascha werde er nicht mehr genieſsen bis zur Erfüllung im Got - tesreich, so ist wohl ursprünglich auch unter dem γέννημα τῆς ἀμπέλου nicht Wein überhaupt, sondern speciell der Paschatrunk verstanden gewesen, wovon man auch bei Mat - thäus und Markus in dem τουτου, welches sie zu γεννήματος setzen, eine Spur entdecken kann. Von Mahlzeiten im messianischen Reich sprach Jesus, gemäſs den Vorstellun - gen seiner Zeit, öfters, und so mag er erwartet haben, daſs in demselben namentlich das Paschamahl mit besonde - rer Feierlichkeit werde begangen werden. Wenn er nun442Dritter Abschnitt.versichert, dieses Mahl nicht mehr in diesem, sondern erst in jenem Äon wieder zu genieſsen: so liegt darin erstens nicht, wie, wenn er von Essen und Trinken überhaupt spräche, daſs schon in den nächsten Tagen, sondern nur, daſs vor Ablauf eines Jahrs das Verweilen in dieser vor - messianischen Weltordnung für ihn ein Ende haben wer - de; dieses Ende aber, zweitens, muſs er sich keineswegs durch seinen Tod, sondern kann sich dasselbe auch durch den Eintritt des messianischen Reichs herbeigeführt gedacht haben, und die bestimmte Versicherung, welche die Evan - gelisten ihm in den Mund legen, kann vielleicht nur ein Wunsch gewesen sein. Wie nämlich die späteren Juden bei der Paschamahlzeit sprachen: dieſs Pascha feiern wir praesenti anno heic, futuro in terra Israël8)Paulus, ex. Hdb. 3, b, S. 514, aus Rittangkl, libra veritatis et de Paschate tractatus.: so konnte vor der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung des Volks der messianisch-gesinnte Israëlit bei'm Pascha wün - schen, es nur dieſsmal noch im עולם הזה, das nächstemal im Reiche des Messias zu feiern9)Wenigstens bei den späteren Juden wurde das Paschafest in eine Beziehung zum Messias gesezt, und die Befreiung Israëls durch ihn eben in der Paschanacht erwartet. Tanchuma p. 75, 1 (bei Wetstein): XV die Nisan natus est Isaacus, eo liberati sunt ex Aegypto, et eodem liberabuntur ex scr - vitute regnorum. Vgl. Schemoth R. 18. und Rosch haschana f. 11, 1. bei Wetstein zu Matth. 26, 26. und Rittangel bei Paulus, a. a. O. S. 515..

443Drittes Kapitel. §. 121.

Drittes Kapitel. Gang nach dem Oelberg, Gefangenneh - mung, Verhör, Verurtheilung und Kreuzigung Jesu.

§. 121. Jesu Seelenkampf im Garten.

Den synoptischen Berichten zufolge gieng Jesus sogleich nach Beendigung des Mahles und Absingung des Hallel, wie er überhaupt während dieser Festzeit ausserhalb Jerusa - lems zu übernachten pflegte (Matth. 21, 17. Luc. 22, 39.), hin - aus an den Oelberg, in ein χωρίον (bei Joh. κῆπος), Gethsema - ne genannt (Matth. 26, 30. 36. parall. ), wohin ihn Johan - nes, mit der ausdrücklichen Erwähnung, daſs es über den Bach Kidron gegangen sei, erst nach einer langen Reihe von Abschiedsreden (Kap. 14 17.), auf welche wir später zu reden kommen werden, aufbrechen läſst. Während an die Ankunft Jesu im Garten Johannes unmittelbar die Ge - fangennehmung knüpft: schieben die Synoptiker noch die - jenige Scene dazwischen, welche man als den Seelenkampf Jesu zu bezeichnen pflegt.

Ihre Berichte hierüber sind nicht gleichlautend. Nach Matthäus und Markus nimmt Jesus, indem er die übrigen Jünger zurückbleiben heiſst, seine drei Vertrautesten, den Petrus und die Zebedaiden, mit sich, wird von Bangigkeit und Zagen überfallen, erklärt den Dreien, bis zum Tode betrübt zu sein, und reiſst sich auch von ihnen, indem er sie wach zu bleiben ermahnt, los, um für sich ein Gebet verrichten zu können, in welchem er, das Angesicht auf die Erde gebeugt, in der bekannten Weise um Abwendung444Dritter Abschnitt.des Leidenskelchs fleht, übrigens Alles dem Willen seines Vaters anheimstellt. Wie er wieder zu den Jüngern kommt, findet er sie schlafend, ermahnt sie abermals zur Wach - samkeit, entfernt sich dann noch einmal und wiederholt das vorige Gebet, worauf er seine Jünger wieder schla - fend antrifft. Zum drittenm I entfernt er sich nun, um das Gebet zu wiederholen, und wiederkommend findet er zum drittenmal die Jünger schlafend, erweckt sie aber jezt, um dem nahenden Verräther entgegenzugehen. Von den beiden Dreizahlen, welche in dieser Erzählung der bei - den ersten Evangelisten eine Rolle spielen, hat Lukas nichts, sondern nach ihm entfernt sich Jesus von sämmtlichen Jün - gern, nachdem er sie zur Wachsamkeit ermahnt, ungefähr auf eines Steinwurfs Weite, und betet knieend, nur Ein - mal, aber fast mit denselben Worten, wie ihn die beiden andern beten lassen, kehrt dann zu den Jüngern zurück und erweckt sie, weil Judas mit der Schaar sich nähert. Dafür hat nun aber Lukas in der einzigen Gebetsscene, von welcher er weiſs, zwei Umstände, die den übrigen Be - richterstattern fremd sind, daſs nämlich während des Ge - bets, unmittelbar ehe der heftigste Seelenkampf eintrat, ein Engel erschienen sei, Jesum zu stärken, während der darauf gefolgten ἀγωνία aber Jesus Schweiſs, wie zur Er - de fallende Blutstropfen, vergossen habe.

Von jeher ist an diesem Vorgang in Gethsemane An - stoſs genommen worden, weil in demselben Jesus eine Schwäche und Todesfurcht zu zeigen scheint, welche man ihm unangemessen glauben könnte. Ein Celsus und Ju - lian haben, in Rücksicht ohne Zweifel auf die groſsen Mu - ster eines sterbenden Sokrates und anderer heidnischen Weisen, das Zagen Jesu vor dem Tode geschmäht1)Orig. c. Cels. 2, 24: λέγει ( Κέλσος) · τί οῦν ποτνιᾶται, καὶ ὀδύρεται, καὶ τὸν τοῦ ὀλέϑρου φόβον εὔχεται παραδραμεῖν, λέγων κ. τ. λ. ; Julian in einem Fragment Theodor's von Mops; ein445Drittes Kapitel. §. 121.Vanini sein eigenes Benehmen bei bevorstehender Hinrich - tung kühn über das von Jesu gestellt2)Gramond. hist. Gall. ab exc. Henr. IV. L. 3, p. 211:Lu - cilius Vanini dum in patibulum trahitur Christo illudit in haec eadem verba: illi in extremis prae timore imbellis sudor: ego imperterritus morior., und im evange - lium Nicodemi schlieſst der Satan aus dieser Scene, daſs Christus ein bloſser Mensch gewesen3)Evang. Nicod. c. 20, bei Thilo, 1, S. 702 ff.:ἐγὼ γὰρ οἰδα, ὅτι ἄνϑρωπός ἐςι, καὶ ἤκουσα αὐτοῦ λέγοντος· ὅτι περιλυπός ἐςιν ψυχή μου ἕως ϑανάτου.. Die Ausflucht des Apokryphums, die Betrübniſs Jesu sei nur Verstellung ge - wesen, um dem Teufel zum Kampf mit ihm Muth zu ma - chen4)Ebendas. S. 706, erwiedert Hades dem Satan:εἰ δὲ λέγεις, ὅτι ἤκουσας αὐτοῦφοβουμένου τὸν ϑάνατον, παίζων σε καὶ γελῶν ἔφη τοῦτο, ϑέλων, ἵνα σε ἁρπάσῃ ἐν χειρὶ δυνατῇ., ist nur das Eingeständniſs, daſs es eine wirkliche Betrübniſs jener Art bei Jesu nicht zu denken weiſs. Da - her berief man sich auf den Unterschied der beiden Na - turen in Christo, und schrieb die Betrübniſs und die Bitte um Abnahme des ποτήριον der menschlichen, die Ergebung in das ϑέλημα des Vaters aber der göttlichen Natur zu5)So schon Origenes, c. Cels. 2, 25.. Da jedoch dieſs theils eine unzulässige Trennung im We - sen Jesu zu setzen, theils das Zagen auch nur seiner menschlichen Natur vor bevorstehenden körperlichen Lei - den ihm nicht wohl anzustehen schien: so gab man seiner Bangigkeit einen geistigen Bezug, und machte sie zu einer sympathetischen, indem es nun die Ruchlosigkeit des Ju - das, die Gefahr, welche seinen Jüngern drohte, und das Schicksal, welches seinem Volke bevorstand, gewesen sein1)vestia, bei Münter, Fragm. Patr. graec. Fasc. 1, p. 121:ἀλλὰ καὶ τοιαῦτα προσεύχεταί, φησιν, ., οἷα ἄϑλιος ἄνϑρω - πος, συμφορὰν φέρειν εὐκόλωςουδυνάμενος, καὶ ὑπ̕ ἀγγέλου, ϑεὸς ὢν, ἐνισχύεται.446Dritter Abschnitt.soll, was ihm solche Traurigkeit verursachte6)Hieron. Comm. in Matth. z. d. St.: Contristabatur non ti - more patiendi, qui ad hoc venerat, ut pateretur, sed propter infelicissimum Judam, et scandalum omnium apostolorum, et rejectionem populi Judaeorum, et eversionem miserae Hieru - salem. . Seine Spitze erreichte dieses Streben, den Schmerz Jesu von al - ler sinnlichen Beimischung und Beziehung auf seine eigene Person zu reinigen, in der kirchlich gewordenen Ansicht, daſs Jesus in das Mitgefühl der Sündenschuld der ganzen Menschheit versezt gewesen sei, und Gottes Zorn über die - selbe stellvertretend empfunden habe7)Calvin, Comm. in harm. evangg. zu Matth. 26, 37:Non mortem horruit simpliciter, quatenus transitus est e mundo, sed quia formidabile Dei tribunal illi erat ante oculos, judex ipse incomprehensibili vindicta armatus, peccata vero nostra, quorum onus illi erat impositum, sua ingenti mole eum pre - mebant.Vgl. Luther's Hauspostille, die erste Passionspredigt.; wobei nach der Ansicht von Einigen sogar der Teufel selbst mit Jesu ge - rungen haben soll8)Lightfoot, p. 884 f..

Doch von einem solchen Grunde der Bangigkeit Je - su steht nichts im Texte, vielmehr, wie sonst (Matth. 20, 22 f. parall. ), so muſs auch hier das ποτήριον, um dessen Abnahme Jesus bittet, von seinem eigenen körperlichen Leiden und Tode verstanden werden. Zugleich liegt jener kirchlichen Ansicht eine unbiblische Vorstellung von der Stellvertretung zum Grunde. Jesu Leiden ist allerdings auch schon in der Vorstellung der Synoptiker ein stell - vertretendes für die Sünden Vieler; allein die Stellvertre - tung besteht nach ihnen nicht darin, daſs Jesus unmittel - bar diese Sünden und das ihretwegen der Menschheit ge - bührende Leiden zu empfinden bekäme: sondern für jene Sünden, und um ihre Strafe aufzuheben, wird ihm ein per - sönliches Leiden aufgelegt. Wie ihn also am Kreuze nicht447Drittes Kapitel. §. 121.direkt die Sünden der Welt, und der auf diese sich be - ziehende Zorn Gottes, sondern die ihm beigebrachten Wun - den, sammt seiner ganzen jammervollen Lage, in welche er freilich um der Sünden der Menschheit willen versezt war, schmerzten: so war es der Vorstellung der Evangeli - sten zufolge auch in Gethsemane nicht unmittelbar das Ge - fühl des Elends der Menschheit, sondern das Vorgefühl seines eigenen, allerdings an der Stelle der Menschheit zu übernehmenden Leidens, was ihn in jene Bangigkeit ver - sezte.

Von der unhaltbar befundenen kirchlichen Ansicht des Seelenkampfs Jesu ist man in neuerer Zeit einerseits in rohen Materialismus zurückgefallen, indem man die Stim - mung, welche man ethisch rechtfertigen zu können ver - zweifelte, zu einer rein physischen machte, und Jesu in Gethsemane eine Übelkeit zustossen lieſs9)Thikss, krit. Comm. S. 418 ff.; eine Ansicht, welche Paulus mit einer Strenge, die er nur fleissiger auch gegen seine eigenen Erklärungen hätte kehren sollen, für eine unschickliche, textwidrige Umdeutung erklärt, dabei aber dennoch die Heumann'sche Hypothese nicht unwahr - scheinlich findet, daſs zu dem innern Schmerz eine leib - liche Erkältung in dem vom Kidron durchschnittenen Thal - grund wenigstens hinzugekommen sei10)a. a. O. S. 554 f. Anm. 549.. Von der andern Seite hat man der Scene mit moderner Empfindsamkeit auf - zuhelfen gesucht, und das Freundschaftsgefühl, den Tren - nungsschmerz, die Abschiedsgedanken, als dasjenige betrach - tet, was Jesu Inneres so zerrissen habe11)Schuster, zur Erläuterung des N. T., in Eichhorn's Biblioth. 9, S. 1012 ff.; oder ein trü - bes Gemisch von dem Allem, von selbstischem und theil - nehmendem, sinnlichem und geistigem Schmerz vorausge - sezt12)Hess, Geschichte Jesu, 2, S. 322 ff. Kuinöl, in Matth. p. 719.. Paulus deutet das εἰ δυνατόν ἐςι, παρελϑέτω τὸ448Dritter Abschnitt.ποτήριον als rein moralische Ängstlichkeit Jesu, ob es wirklich Gottes Wille sei, daſs er sich dem nächstbevor - stehenden Angriff hingebe, ob es nicht vielmehr gottgefäl - liger wäre, dieser Gefahr noch auszuweichen: er macht zur bloſsen Anfrage an Gott, was offenbar die dringendste Bitte ist.

Während Olshausen sich in die kirchliche Ansicht zu - rückwirft, und den Machtspruch thut, die Ansicht, als hätte das äusserliche, körperliche Leiden den Kampf in Jesu hervorgerufen, müsse als eine das Wesen seiner Erschei - nung vernichtende entfernt werden: haben Andere richti - ger anerkannt, daſs hier allerdings der zum Affekt ge - wordene Wunsch, des bevorstehenden furchtbaren Leidens überhoben zu sein, die Schauer der sinnlichen Natur vor ihrer Vernichtung, sich zeigen13)Ullmann, über die Unsündlichkeit Jes, in s. Studien, 1, S. 61. Hasert, ebendas. 3, 1, S. 66 ff. Was nun aber auch von jeher bemerkt worden ist, um eine solche Weichheit der Stimmung Jesu von jedem Vorwurfe zu befreien: daſs die schleunige Überwindung der widerstrebenden Sinnlich - keit jeden Schein des Sündhaften wieder entferne14)Ullmann, a. a. O.; daſs das Beben der sinnlichen Natur vor ihrer Vernichtung zu ihren wesentlichen Lebensäusserungen gehöre15)Hasert, a. a. O.; daſs, je reiner die menschliche Natur in einem sei, desto em - pfindlicher sie gegen Schmerz und Vernichtung sich ver - halte16)Luther, in der Predigt vom Leiden Christi im Garten.; daſs das Durchempfinden und Überwinden des Schmerzes gröſser sei als eine stoische Unempfindlichkeit gegen denselben17)Ambrosius in Luc. Tom. 10, 56.: immer bleibt doch die auch von Ols - hausen getheilte Bedenklichkeit, daſs ein solches Zagen vor körperlichem Schmerz und Tod Jesum unter einen Sokra - tes und manche Andere herunterzusetzen scheinen könnte. 449Drittes Kapitel. §. 121.Deſswegen sollte wohl derjenige auf den Dank besonders der Orthodoxen rechnen dürfen, der es unternimmt, die Glaubwürdigkeit der betreffenden Erzählungen kritisch zu untersuchen.

Auch hier indessen dürfen wir die Kritik nicht erst an - fangen, welche vielmehr, namentlich durch die eigenthümli - che Darstellung des dritten Evangeliums, schon längst her - vorgerufen worden ist. Der stärkende Engel hat, wie aus dogmatischen Gründen der alten Kirche, so der neueren Auslegung aus kritischen Gründen, zu schaffen gemacht. Ein altes Scholion, in Betracht, ὅτι τῆς ἰσχύος τοῦ ἀγγέλου ουκ ἐπεδέετο ὑπὸ πάσης ἐπουρανίου δυνάμεως φόβῳ καὶ τρό - μῳ προςκυνουμενος καὶ δοξαζόμενος, faſst das dem Engel zugeschriebene ἐνισχύειν als ein für stark Erklären, d. h. als Darbringung einer Doxologie18)In Matthaei's N. T. p. 447.; wogegen Andere lie - ber, als Jesum einer Stärkung durch einen Engel bedürf - tig sein zu lassen, den ἄγγελος ἐνισχύων zum bösen Engel machen, welcher gegen Jesum Gewalt brauchen wollte19)Lightfoot, a. a. O.. Wenn nun auch die Orthodoxen durch die Unterscheidung des Standes der Erniedrigung und Entäusserung bei Christo von dem Stande seiner Erhöhung, oder auf ähnliche Wei - se, den Stachel der dogmatischen Bedenklichkeit längst ab - gestumpft haben: so hat sich an deren Stelle nur um so entschiedener ein kritisches Bedenken ausgebildet. In Er - wägung des Verdachts, welchen nach früheren Bemerkun - gen angebliche Angelophanien jederzeit gegen sich haben, hat man auch in dem hier erscheinenden Engel bald einen Menschen20)Venturini, 3, 677. und vermuthungsweise auch Paulus S. 561., bald ein Bild für die von Jesu wiederge - wonnene Ruhe21)Eichhorn, allg. Bibl. 1, S. 628. Thiess, z. d. St. finden wollen. Doch der eigentliche Ort für den kritischen Angriff auf die EngelerscheinungDas Leben Jesu II. Band. 29450Dritter Abschnitt.war durch den Umstand angezeigt, daſs Lukas der einzige ist, von welchem wir dieselbe erfahren22)vgl. hierüber und über das Folgende Gabler, im neuesten theol. Journal, 1, 2, S. 109 ff. 3, S. 217 ff.. Sind laut der gewöhnlichen Voraussetzung das erste und vierte Evange - lium apostolischen Ursprungs: warum schweigt dann Mat - thäus, der doch im Garten war, von dem Engel, warum besonders Johannes, der unter den Dreien in der Nähe Jesu sich befand? Sagt man: weil sie, schlaftrunken, wie sie waren, und immerhin in einiger Entfernung, noch dazu bei Nacht, ihn nicht bemerkten, so fragt sich, woher Lu - kas die Notiz bekommen haben soll23)vgl. Julian bei Theod. v. Mopsv. in Münter's Fragm. Patr. p. 121 f.? Daſs, sofern die Jünger die Erscheinung nicht selbst beobachtet hatten, Je - sus ihnen noch in jener Nacht von derselben sollte erzählt haben, ist wegen der gespannten Stimmung jener Stun - den, und der unmittelbar nach der Zurückkunft Jesu zu seinen Jüngern erfolgten Annäherung des Judas wenig wahrscheinlich; ebenso, daſs er in den Tagen der Auf - erstehung es ihnen sollte mitgetheilt, und diese Kunde nun nur dem dritten Evangelisten, an welchen sie doch bloſs mittelbar gelangte, der Aufzeichnung werth geschie - nen haben. Da auf diese Weise Alles gegen den histori - schen Charakter der Engelerscheinung sich vereinigt: war - um sollten wir nicht auch sie, wie alle, namentlich in der Kindheitsgeschichte Jesu uns vorgekommenen Erscheinun - gen dieser Art, mythisch fassen? Schon Gabler hat die Ansicht vorgetragen, daſs man in der ältesten Gemeinde den schnellen Übergang von der heftigsten Gemüthsbewe - gung zu der ruhigsten Ergebung, welcher in jener Nacht an Jesu bemerklich war, sich der jüdischen Denkweise ge - mäſs durch die Dazwischenkunft eines stärkenden Engels erklärt, und diese Erklärung sich in die Erzählung ge -451Drittes Kapitel. §. 121.mischt haben möge, und Schleiermacher findet als das Wahrscheinlichste, daſs man diese, von Jesu selbst als schwer bezeichneten Augenblicke zeitig durch Engelerschei - nungen hymnisch verherrlicht, und der Referent im drit - ten Evangelium dieses ursprünglich bloſs poëtisch Gemeinte geschichtlich genommen habe24)Über den Lukas, S. 288.. Ob diese Auffassung ge - nügt, ob sie nicht etwas als geschichtlich zum Grunde legt, was selbst noch zum Mythischen gerechnet werden muſs, kann sich erst weiter unter zeigen.

Nicht minder anstöſsig als die Stärkung durch den Engel ist schon frühzeitig der andere dem Lukas eigen - thümliche Zug, der blutige Schweiſs, gefunden worden. Wenigstens scheint es dieser vor Allem gewesen zu sein, welcher die Weglassung der ganzen Einschaltung bei Lu - kas V. 43. und 44. aus mehreren alten Evangelienexempla - ren veranlaſst hat. Denn wie die Orthodoxen, welche nach Epiphanius25)Ancoratus, 31. die Stelle ausmerzten, hauptsächlich den tiefsten Grad der Bangigkeit, der sich in dem Blutschweiſs ausdrückt, gescheut zu haben scheinen: so können beson - ders die doketisch Gesinnten unter denen, welche die Stel - le nicht lasen26)s. bei Wetstein, S. 807., nur jenen Schweiſs perhorrescirt haben. Erhob man auf diese Weise früher aus dogmatischen Rück - sichten gegen die Schicklichkeit des Blutschweiſses Jesu Zweifel: so hat man dieſs in neuerer Zeit aus physiologi - schen Gründen gegen die Möglichkeit desselben gethan. Zwar werden für das Vorkommen von blutigem Schweiſs von Aristoteles27)De part. animal. 3, 15. bis auf die neueren Naturforscher herun - ter28)s. bei Michaelis, Anm. z. d. St. und Kuinöl, in Luc. p. 691 f. Auctoritäten aufgeführt: aber man findet eine sol - che Erscheinung immer nur als höchste Seltenheit und als29 *452Dritter Abschnitt.Symptom bestimmter Krankheiten erwähnt. Daher macht Paulus auf das ὡσεὶ aufmerksam, welchem zufolge hier nicht geradezu von einem Blutschweiſs, sondern nur von einem mit Blut vergleichbaren Schweiſs die Rede sei: die - se Vergleichung aber bezieht er nur auf die dichte Tro - pfenbildung, und auch Olshausen stimmt ihm so weit bei, daſs die rothe Farbe des Schweiſses nicht nothwendig in der Vergleichung enthalten sei. Allein im Zusammenhang einer Erzählung, welche ein Vorspiel des blutigen Todes Jesu ge - ben will, wird es doch immer das Natürlichste bleiben, die Vergleichung des Schweiſses mit Blutstropfen in ihrem vollen Sinne zu nehmen. Ferner kehrt nun aber hier noch gewichtiger als bei der Engelserscheinung die Fra - ge zurück, wie Lukas zu dieser Notiz gekommen ist, oder, um alle Fragen, die sich hier ganz wie oben gestalten, zu übergehen, wie die Jünger aus der Entfernung und in der Nacht das Herabfallen blutiger Tropfen vom Leibe Je - su bemerken konnten? Zwar soll nach Paulus nicht ge - sagt sein, daſs der Schweiſs herabgefallen sei, sondern, indem das καταβαίνοντες statt auf ἱδρὼς vielmehr auf die nur zur Vergleichung herbeigezogenen ϑρόμβοι αἵματος sich beziehe, so sei nur gemeint, daſs ein Schweiſs, so dicht und schwer wie fallende Blutstropfen, auf Jesu Stirne ge - standen habe. Allein ob es heiſst: der Schweiſs fiel wie Blutstropfen auf die Erde, oder: er war wie auf die Erde fallende Blutstropfen, wird wohl ziemlich auf Eines hin - auslaufen; wenigstens wäre die Vergleichung eines auf der Stirne stehenden Schweiſses mit zur Erde träufelndem Blute ungeschickt, vollends wenn mit dem Fallen auch die Farbe des Bluts aus der Vergleichung wegbleiben, und von dem ὡσεὶ ϑρόμβοι αἵματος καταβαίνοντες εἰς τὴν γῆν ei - gentlich nur das ὡσεὶ ϑρόμβοι einen bestimmten Sinn haben soll. Nehmen wir also, da wir den Umstand weder be - greifen, noch uns denken können, woher der Referent ei - ne historische Kunde von demselben haben sollte, lieber453Drittes Kapitel. §. 121.auch diesen Zug mit Schleiermacher als einen poëtischen, welchen der Evangelist geschichtlich genommen, oder bes - ser als einen mythischen, dessen Entstehung sich leicht aus dem Trieb erklären läſst, das Vorspiel des Leidens Jesu am Kreuze, was dieser Kampf im Garten war, da - durch zu vervollständigen, daſs nicht bloſs das psychische Moment jenes Leidens in der Bekümmerniſs, sondern auch das physische in dem Blutschweiſs sollte vorgebildet ge - wesen sein.

Dieser Eigenthümlichkeit des Lukas gegenüber ist sei - nen beiden Vorgängern, wie gesagt, die doppelte Dreizahl, der Jünger, und der Entfernungen und Gebete Jesu, eigen. Können wir hier an der ersteren keinen besondern An - stoſs nehmen, so hat doch die zweite etwas Befremden - des. Man hat zwar ein so unstetes Hinundhergehen, ein so schnell wechselndes Sichentfernen und Wiederkommen, ganz der Stimmung angemessen gefunden, in welcher Je - sus damals war29)Paulus, a. a. O. S. 549., und ebenso in der Wiederholung des Gebets eine sachgemäſse Steigerung, eine immer vollstän - digere Ergebung in den Willen des Vaters nachgewie - sen30)Theile, in Winer's und Engelhardt's krit. Journal, 2, S. 353.. Allein daſs die beiden Referenten die Gänge Je - su zählen, von ἐκ δευτέρου und ἐκ τρίτου sprechen, zeigt schon, daſs ihnen gerade an der Dreizahl besonders viel gelegen war; wenn dann Matthäus zwar dem zweiten Ge - bet einen von dem des ersten etwas verschiedenen Aus - druck zu geben weiſs, beim dritten aber Jesum nur τὸν αὐτὸν λόγον wiederholen läſst, was Markus schon bei'm zweiten Male thut: so wird vollends deutlich, daſs sie in Verlegenheit waren, die beliebte Dreizahl der Gebete mit gehörigem Inhalt auszufüllen. Nach Olshausen soll Mat - thäus mit seinen drei Akten dieses Kampfs schon deſshalb gegen Lukas recht haben, weil diese drei auf Jesum mit -454Dritter Abschnitt.telst der Furcht gemachten Angriffe den drei Angriffen mittelst der Lust in der Versuchungsgeschichte parallel stehen. Diese Parallele ist gegründet, nur führt sie auf das entgegengesezte Resultat von demjenigen, welches Olshau - sen aus ihr ziehen will. Denn was ist nun wahrscheinli - cher: daſs in beiden Fällen die dreimalige Wiederholung des Angriffs ihren objektiven Grund in einer verborgenen Gesezmäſsigkeit des Geisterreichs gehabt habe31)Wie etwa Mephistopheles dreimal klopfen und hereingerufen werden muss., mithin als wirklich historisch anzusehen sei; oder daſs ihr bloſs subjektiver Grund in der Manier der Sage liege, und dem - nach das Vorkommen dieser Zahl uns hier so sicher wie oben bei der Versuchungsgeschichte auf etwas Mythisches hinweise?

Rechnen wir also Engel, Blutschweiſs, und die drei - malige Wiederholung der Entfernung und des Gebets Jesu als mythische Zuthaten ab: so bliebe vorläufig als histori - scher Kern das Faktum, daſs Jesus an jenem Abend im Garten in ein heftiges Zagen hineingerathen sei, und Gott um Abwendung seines Leidens. mit Vorbehalt jedoch der Unterwerfung unter seinen Willen, gebeten habe: wobei es indeſs unter Voraussetzung der gewöhnlichen Ansicht vom Verhältniſs unserer Evangelien nicht wenig befremden muſs, daſs dem johanneischen Evangelium selbst diese Grund - züge der in Rede stehenden Geschichte fehlen.

§. 122. Verhältniss des vierten Evangeliums zu den Vorgängen in Geth - semane. Die johanneischen Abschiedsreden und die Scene bei Anmeldung der Hellenen.

Das Verhalten des Johannes zu den bisher erwogenen Erzählungen der Synoptiker hat zunächst die zwei Seiten, daſs er erstlich von dem, was diese geben, nichts hat, und455Drittes Kapitel. §. 122.zweitens statt dessen etwas hat, was mit dem von den Syn - optikern Erzählten unvereinbar scheint.

Was die erste, negative, Seite betrifft, so ist bei der gewöhnlichen Voraussetzung über den Verfasser des vier - ten Evangeliums und die Richtigkeit des synoptischen Be - richtes zu erklären, wie es kommt, daſs Johannes, der doch den beiden ersten Evangelien zufolge einer der drei gewesen ist, welche Jesus als die näheren Zeugen seines Kampfes mit sich nahm, den ganzen Vorgang mit Still - schweigen übergeht? Auf seine Schläfrigkeit während des - selben darf man sich nicht berufen, da, wenn diese ein Hinderniſs war, sämmtliche Evangelisten, nicht Johannes allein, von der Sache schweigen müſsten. Daher zieht man auch hier das Vulgäre heran, er übergehe die Scene, weil er sie schon bei den Synoptikern sorgfältig genug darge - stellt gefunden habe1)Olshausen, 2, S. 429.. Allein zwischen den beiden ersten Synoptikern und dem dritten findet ja eine so bedeutende Differenz statt, daſs sie den Johannes, wenn er auf ihre Darstellungen Rücksicht nahm, auf's Dringendste auffordern muſste, in diesem Streit ein vermittelndes Wort zu spre - chen. Wenn aber auch nicht aus den vor ihm liegenden Arbeiten seiner Vorgänger, so soll Johannes doch haben voraussetzen können, daſs aus der evangelischen Tradition jene Geschichte seinen Lesern hinlänglich bekannt sein wer - de2)Tholuck, S. 315. Lücke, 2, S. 591.. Doch, da aus dieser Tradition die so sehr abwei - chenden Darstellungen der Synoptiker hervorgegangen sind, so muſs in ihr selbst schon frühzeitig ein Schwanken ge - wesen, und die Sache bald so bald anders erzählt worden, folglich auch von hier aus an den Verfasser des vierten Evangeliums die Aufforderung ergangen sein, diese schwan - kenden Erzählungen durch seine Auctorität zu berichtigen. Daher hat man neuestens auf etwas ganz Besonderes ge -456Dritter Abschnitt.rathen, daſs nämlich Johannes die Vorgänge in Gethsema - ne deſswegen übergehe, um nicht durch Erwähnung des stärkenden Engels der ebionitischen Meinung Vorschub zu thun, das Höhere in Christo sei ein Engel gewesen, der sich mit ihm bei der Taufe verbunden habe, und damals, vor dem Antritt des Leidens, wie man glauben konnte, wieder von ihm geschieden sei3)Schneckenburger, Beiträge, S. 65 f.. Allein, auch abgesehen davon, daſs wir diese Hypothese schon sonst als unzurei - chend gefunden haben, die Auslassungen im johanneischen Evangelium zu erklären, so muſste Johannes, wenn er ei - ne engere Beziehung Jesu auf Engel vermeiden wollte, auch noch andere Stellen aus seinem Evangelium weglas - sen: vor allen, worauf Lücke aufmerksam macht4)Comm. 1, S. 177 f., 1, 52. den Ausspruch von den über ihm auf - und absteigenden Engeln, dann aber auch das, zwar nur als Vermuthung etlicher Umstehenden gegebene, ἄγγελος αὐτῷ λελάληκεν 12, 29. Nahm er aber aus irgend einem Grunde an dem Engel im Garten ganz besondern Anstoſs: so konnte doch hierin nur ein Grund liegen, mit Matthäus und Markus die Dazwischenkunft des Engels, nicht aber die ganze, von der Angelophanie wohl trennbare Geschichte wegzulassen.

Will sich nun schon das Fehlen der Begebenheit bei Johannes nicht erklären lassen: so wächst die Schwierig - keit, wenn wir dasjenige erwägen, was derselbe statt die - ser Scene im Garten über die Stimmung Jesu in den lez - ten Stunden vor seiner Gefangennehmung mittheilt. Näm - lich an der gleichen Stelle zwar, welche die Synoptiker dem Seelenkampf anweisen, hat Johannes nichts, indem er nach Jesu Ankunft im Garten sogleich die Verhaftung er - folgen läſst: aber unmittelbar vorher, bei und nach dem lezten Mahl, hat er Reden, von einer Stimmung beseelt, auf welche dergleichen Scenen, wie sie laut der synopti -457Drittes Kapitel. §. 122.schen Berichte im Garten vorgegangen sein sollen, nicht wohl gefolgt sein können. In den Abschiedsreden bei Jo - hannes nämlich, Kap. 14 17, spricht Jesus ganz wie ei - ner, der das bevorstehende Leiden innerlich schon völlig überwunden hat; von einem Standpunkt, welchem der Tod in den Strahlen der auf ihn folgenden Herrlichkeit ver - schwimmt; mit einer göttlichen Ruhe, die in der Gewiſs - heit ihrer Unerschütterlichkeit heiter ist: wie konnte ihm unmittelbar darauf diese Ruhe in der heftigsten Gemüths - bewegung, diese Heiterkeit in Todesbetrübniſs untergehen, und er aus dem schon gewonnenen Sieg wieder zum schwan - kenden Kampf, in welchem er der Stärkung durch einen En - gel bedurfte, zurücksinken? In jenen Abschiedsreden ist er es durchaus, welcher aus der Fülle seiner inneren Klar - heit und Sicherheit die zagenden Freunde beruhigt: und nun soll er bei den schlaftrunkenen Schülern geistigen Bei - stand gesucht haben, indem er sie mit ihm zu wachen bat; dort ist er der heilsamen Wirkungen seines bevorstehenden Todes so gewiſs, daſs er die Jünger versichert, es sei gut, daſs er hingehe, sonst käme der παράκλητος nicht zu ih - nen: nun soll er hier wieder gezweifelt haben, ob sein Tod auch wirklich des Vaters Wille sei; dort zeigt er ein Bewuſstsein, welches in der Nothwendigkeit des To - des dadurch, daſs es diese begreift, die Freiheit wieder - findet, so daſs sein Sterbenwollen mit dem göttlichen Wil - len, daſs er sterben solle, eins ist: hier gehen diese bei - den Willen so auseinander, daſs sich der subjektive unter den absoluten zwar freiwillig, aber doch nur schmerzhaft, beugt. Und diese beiden so entgegengesetzten Stimmungen sind nicht etwa durch eine zwischeneingetretene schrecken - de Begebenheit, sondern nur durch den geringen Zeitraum getrennt, welcher während des Gangs aus Jerusalem über den Kidron nach dem Oelberg verlief: ganz als wäre Je - su in jenem Bache, wie den Seelen im Lethe, alle Erinnerung an die vorangegangenen Reden und Stimmungen versunken.

458Dritter Abschnitt.

Man beruft sich zwar auf den Wechsel der Stimmun - gen, welcher natürlich, je näher dem entscheidenden Mo - ment, desto schneller werde5)Lücke, 2, S. 592 ff.; auf die Thatsache, daſs nicht selten im Leben gläubiger Personen eine plözliche Entziehung der höheren Lebenskräfte, eine Gottverlassen - heit, eintrete, welche den doch erfolgenden Sieg erst wahr - haft groſs und bewundernswerth mache6)Olshausen, 2, S. 429 f.. Allein diese leztere Ansicht verräth ihren ungeistigen Ursprung aus ei - nem imaginirenden Denken (welchem die Seele etwa wie ein See erscheinen kann, der, je nachdem die zuführen - den Kanäle verschlossen, oder deren Schleusen geöffnet werden, ebbt oder fluthet) sogleich durch die Widersprü - che, in welche sie nach allen Seiten sich verwickelt. Der Sieg Christi über die Todesfurcht soll erst dadurch seine rechte Bedeutung gewinnen, daſs, während ein Sokrates nur siegen konnte, indem er im vollen Besiz seiner gei - stigen Kraftfülle blieb, Christus über die ganze Macht der Finsterniſs auch in der Verlassenheit von Gott und der Fülle seines Geistes, durch seine bloſse menschliche ψυχὴ, zu siegen im Stande war : ist dieſs nicht der roheste Pelagianismus, der grellste Widerspruch gegen Kirchenlehre wie gegen gesunde Philosophie, welche glei - cherweise darauf bestehen, daſs ohne Gott der Mensch nichts Gutes thun, nur durch seinen Harnisch die Pfeile des Bösewichts zurückschlagen könne? Um diesem Wi - derspruch gegen die Ergebnisse eines wirklichen Denkens zu entgehen, muſs jenes phantasirende Denken einen Wi - derspruch mit sich selbst hinzufügen, sofern nun in dem stärkenden Engel (welcher beiläufig auch gegen allen Wort - verstand der Stelle zu einer bloſs innerlichen Erscheinung, die Jesus hatte, umgedeutet wird) dem in der höchsten Verlassenheit ringenden Jesu ein Zufluſs geistiger Kräfte459Drittes Kapitel. §. 122.zu Theil geworden sein soll, so daſs er also doch nicht, wie vorher gerühmt worden war, ohne, sondern mit Hül - fe göttlicher Kräfte gesiegt hätte: wenn nämlich nach Lu - kas der Engel vor dem lezten, heftigsten Momente des Kampfs, um Jesum für denselben zu stärken, erschienen sein soll. Doch ehe man so offenbar sich selbst wider - spricht, widerspricht man lieber versteckt dem Text, und so verdreht nun Olshausen die Stellung der Momente, in - dem er ohne Weiteres annimmt, die Stärkung sei nach dem dreimaligen Gebete, also nach bereits errungenem Sie - ge, eingetreten, zu welchem Behuf dann das nach Erwäh - nung des Engels stehende καὶ γενόμενος ἐν ἀγωνίᾳ ἐκτενέςε - ρον προσηύχετο mit höchster Willkühr als Plusquamper - fectum gedeutet wird.

Doch auch abgesehen von dieser sinnlichen Ausmalung des Grundes, welcher den schnellen Wechsel in Jesu Stim - mung herbeigeführt haben soll, ist die Annahme eines solchen auch an sich von vielen Schwierigkeiten gedrückt. Näher nämlich wäre, was hier bei Jesu stattfände nicht ein blo - ser Wechsel, sondern ein Rückfall der bedenklichsten Art. Namentlich in dem sogenannten hohenpriesterlichen Gebete, Joh. 17, hatte Jesus seine Rechnung mit dem Vater völlig abgeschlossen; jedes Zagen in Bezug auf das, was ihm be - vorstand, lag hier bereits so weit hinter ihm, daſs er über sein eigenes Leiden kein Wort verlor, und nur der Drang - sale gedachte, welche seinen Freunden drohten; den Haupt - inhalt seiner Unterhaltung mit dem Vater bildete die Herr - lichkeit, in welche er sofort einzugehen, und die Selig - keit, welche er den Seinigen erworben zu haben hoffte: so daſs sein Hingang zum Schauplaz der Gefangennehmung ganz den Charakter hat, dem innerlich und wesentlich be - reits Vollzogenen nur noch die äussere Verwirklichung als accidentelle Beigabe hinzuzufügen. Wenn nun Jesus nach diesem Abschlusse die Rechnung mit Gott noch einmal er - öffnete, wenn er, nachdem er sich schon Sieger gemeint,460Dritter Abschnitt.noch einmal in ängstlichen Kampf zurücksank: müſste er da nicht sich fragen lassen: warum hast du, statt in eiteln Hoffnungen der Herrlichkeit zu schwelgen, dich nicht lie - ber bei Zeit mit dem ernsten Gedanken des bevorstehenden Leidens beschäftigt, um dir durch solche Vorbereitung die gefährliche Überraschung durch das Herannahen desselben zu ersparen? warum hast du Triumph gerufen, ehe du gekämpft hattest, um dann bei Annäherung des Kampfs mit Beschämung um Hülfe rufen zu müssen? In der That, nach der in jenen Abschiedsreden, und besonders im Schluſs - gebet, ausgesprochenen Gewiſsheit des bereits errungenen Siegs wäre das Herabsinken in eine Stimmung, wie sie die Synoptiker schildern, ein sehr demüthigender Rückfall ge - wesen, welchen Jesus nicht vorausgesehen haben könnte, sonst würde er sich vorher nicht so selbstgewiſs ausgespro - chen haben, welcher demnach beweisen würde, daſs er sich über sich selbst getäuscht, daſs er sich für stärker genommen hätte, als er sich wirklich fand, und daſs er jene zu hohe Meinung von sich nicht ohne einige Vermes - senheit ausgesprochen hätte. Wer nun dieſs dem sonstigen, ebenso besonnenen als bescheidenen Wesen Jesu nicht an - gemessen findet, der wird sich zu dem Dilemma gedrun - gen fühlen, daſs entweder die johanneischen Abschiedsre - den, und namentlich das Schluſsgebet, oder aber die Vor - gänge in Gethsemane nicht historisch sein können.

Schade, daſs bei der Entscheidung hierüber die Theo - logen mehr von dogmatischen Vorurtheilen, als von kriti - schen Gründen ausgegangen sind. Usteri's Behauptung we - nigstens, daſs nur die johanneische Darstellung der Stim - mung Jesu in seinen lezten Stunden die richtige, die der Synoptiker aber unhistorisch sei7)Commentatio critica, qua Evangelium Joannis genuinum esse ostenditur, p. 57 ff., wird man nur aus der Anhänglichkeit ihres Urhebers an die Paragraphen der461Drittes Kapitel. §. 122.Schleiermacher'schen Dogmatik erklärlich finden, in wel - cher der Begriff der Unsündlichkeit Christi auf eine Weise gespannt wird, die selbst das Kleinste von Kampf aus - schlieſst; denn daſs, abgesehen von solchen Voraussetzun - gen, die johanneische Darstellung der lezten Stunden Jesu eine natürlichere und sachgemäſsere wäre, möchte schwer nachzuweisen sein. Eher könnte umgekehrt Bretschneider recht zu haben scheinen, wenn er für die Synoptiker die gröſsere Natürlichkeit und innere Wahrheit der Schilde - rung in Anspruch nimmt8)Probab. p. 33 ff. In einer etwaigen dritten Ausgabe möge doch Olshausen endlich den Verf. der Probabilien aus der Reihe derer wegstreichen, welche die synoptische Erzählung vom Kampf in Gethsemane mit Rücksicht auf das Stillschwei - gen des Augenzeugen Johannes für irrig halten (2, S. 428.)!: wenn nur nicht die Art, wie ihm an den von Johannes in diesen Zeitpunkt gestellten Reden hauptsächlich das Dogmatische und Metaphysische zuwider ist, an den Ursprung seiner ganzen Polemik ge - gen den Johannes aus dem Widerwillen seiner kritischen Reflexionsphilosophie gegen den speculativen Gehalt des vierten Evangeliums erinnerte.

Ganz übrigens hat, wie auch die Probabilien bemer - ken, Johannes die Beängstigung Jesu in Bezug auf seinen bevorstehenden Tod nicht übergangen, nur daſs er sie schon an einer früheren Stelle, Joh. 12, 27 ff., eingefügt hat. Bei aller Verschiedenheit der Verhältnisse (da die von Johannes beschriebene Scene unmittelbar nach dem Einzug Jesu in Jerusalem vorgeht, als ihn mitten unter der Menge einige zum Fest gekommene Hellenen, ohne Zweifel Proselyten des Thors, zu sprechen wünschten) und des Hergangs selbst, findet doch zwischen diesem Vorfall und dem, welchen die Synoptiker in den lezten Abend des Lebens Jesu und in die Einsamkeit des Gartens versetzen, eine auffallende Übereinstimmung statt. Wie Jesus hier seinen Jüngern erklärt:

περίλυπός ἐςιν ψυχή μου ἕως ϑα -462Dritter Abschnitt.νάτου (Matth. 26, 38.): so sagt er dort: νῦν ψυχή μου τε - τάρακται

(Joh. 12, 27.); wie er hier betet,

ἵνα, εἰ δυνα - τόν ἐςι, παρέλϑῃ ἀπ̕ αὐτοῦ ὥρα

(Marc. 14, 35.): so bit - tet er dort:πάτερ, σῶσόν με ἐκ τῆς ὥρας ταύτης(Joh. ebds. ); wie er aber hier sich durch die Restriktion:

ἀλλ̕ ουτί ἐγὼ ϑέλω, ἀλλὰ τί σύ

, beruhigt (Marc. 14, 36.): so dort durch die Reflexion:

ἀλλὰ διὰ τοῦτο ἦλϑον εἰς τὴν ὥραν ταύτην

(Joh. ebendas. ); endlich, wie hier ein

ἄγγελος ἐνι - σχύων

Jesu erscheint (Luc. 22, 43.): so ereignet sich auch dort etwas, das einige der Umstehenden zu der Äusserung veranlaſst:ἄγγελος αὐτῷ λελάληκεν(Joh. V. 29.). Durch diese Ähnlichkeit bewogen, haben neuere Theologen den Vorgang Joh. 12, 27 ff. mit dem in Gethsemane für iden - tisch erklärt; wobei es nur darauf ankam, auf welche von beiden Seiten der Vorwurf ungenauer Erzählung und na - mentlich unrichtiger Stellung fallen sollte.

Der Richtung der neueren Evangelienkritik gemäſs ist zunächst den Synoptikern aufgebürdet worden, in dieser Sache sich geirrt zu haben. Die wahre Veranlassung des Seelenkampfs Jesu sollte nur bei Johannes zu finden sein, in der Annäherung jener Hellenen nämlich, welche ihm durch Philippus und Andreas den Wunsch zu erkennen gaben, ihn zu sehen. Diese haben ihm ohne Zweifel An - träge machen wollen, Palästina zu verlassen, und unter den auswärtigen Juden fortzuwirken; ein solcher Antrag habe einen Reiz für ihn enthalten, sich der drohenden Ge - fahr zu entziehen, und dieſs ihn auf einige Augenblicke in einen Zustand von Zweifel und innerem Kampf gesezt, welcher jedoch damit geendigt habe, daſs er die Hellenen nicht vor sich lieſs9)Goldhorn, über das Schweigen des Joh. Evang. über den Seelenkampf Jesu in Gethsemane, in Tzschirner's Magazin f. christl. Prediger, 1, 2, S. 1 ff.. Das heiſst nun nichts Anderes, als mit einem, durch doppeltes, kritisches wie dogmatisches463Drittes Kapitel. §. 122.Vorurtheil geschärften Gesicht zwischen den Zeilen des Textes gelesen; denn von einem solchen Antrag, den die Hellenen beabsichtigt hätten, ist bei Johannes keine Spur: da es doch, gesezt auch, der Evangelist habe von dem Plan der Hellenen durch diese selber nichts gewuſst, den Reden Jesu anzumerken sein müſste, daſs sich seine Ge - müthsbewegung auf einen solchen Antrag bezog. Nach dem Zusammenhang der johanneischen Darstellung hatte das Be - gehren der Hellenen keinen andern Grund, als daſs sie durch den feierlichen Einzug und das viele Reden der Leute von Jesu begierig geworden waren, den gefeierten Mann zu sehen und kennen zu lernen, und die Gemüthsbewe - gung, in welche Jesus bei diesem Anlaſs hineingerieth, hieng mit ihrem Begehren nur so zusammen, daſs Jesus dadurch veranlaſst wurde, an die baldige Verbreitung sei - nes Reichs in der Heidenwelt, und an die unerläſsliche Bedingung von dieser, an seinen Tod, zu denken. Je ver - mittelter und entfernter aber hienach die Vorstellung sei - nes bevorstehenden Todes Jesu vor die Seele trat: desto weniger ist zu begreifen, wie sie ihn so stark erschüttern konnte, daſs er sich gedrungen fühlte, den Vater um Ret - tung aus dieser Stunde anzuflehen, und wenn er einmal im Vorgefühl des Todes im Innersten erbebt haben soll, so scheinen die Synoptiker dieses Zagen an eine richtigere Stelle, in die unmittelbarste Nähe des beginnenden Lei - dens, zu verlegen. Auch das fällt bei der johanneischen Darstellung weg, was die Synoptiker zur Rechtfertigung der Bangigkeit Jesu an die Hand geben, daſs in der Ein - samkeit des Gartens und der Nacht, deren Schauer ihn überfielen, sich eine solche Gemüthsbewegung eher begrei - fen, und ihre unverholene Äusserung im Kreise von lauter Vertrauten und Würdigen sich wohl rechtfertigen zu las - sen scheint. Denn nach Johannes befiel jene Erschütterung Jesum am hellen Tage, mitten unter dem zuströmenden Volke, wo man sonst leichter die Fassung behält, oder vor464Dritter Abschnitt.welchem man doch, des möglichen Miſsverständnisses we - gen, stärkere Gemüthsbewegungen in sich verschlieſst.

Weit eher wird man daher der Ansicht Theile's zustim - men können, daſs der Verfasser des vierten Evangeliums die von den Synoptikern richtig eingefügte Begebenheit an einen falschen Ort gestellt habe10)s. die Recens. von Usteri's Comment. crit., in Winer's und Engelhardt's n. kr. Journal, 2, S. 359 ff.. Da Jesus zur Einlei - tung einer Antwort an die Hellenen, welche den durch den Einzug Verherrlichten sprechen wollten, gesagt hatte: ja, die Stunde meiner Verherrlichung ist da, aber der Ver - herrlichung durch den Tod (12, 23. f.): so habe dieſs den Erzähler verleitet, statt die wirkliche Antwort Jesu an die Hellenen sammt dem weiteren Verfolg anzugeben, vielmehr Jesum sich ausführlich über die innere Nothwendigkeit sei - nes Todes verbreiten zu lassen, wo er dann fast unbewuſst auch die Schilderung des inneren Kampfs, den Jesus rück - sichtlich seiner freiwilligen Aufopferung zu bestehen hatte, eingeflochten habe, welchen er deſswegen später, an sei - ner eigentlichen Stelle, übergehe. Eigen ist hiebei nur, daſs Theile der Meinung ist, eine solche Umstellung habe dem Apostel Johannes selbst begegnen können. Daſs sich ihm der Vorgang in Gethsemane, da er während desselben schlaftrunken gewesen, nicht tief eingeprägt habe, und daſs derselbe überdem durch den schnell darauf erfolgten Kreuzestod in den Hintergrund seines Bewuſstseins gerückt worden sei, dadurch könnte man etwa erklärt finden, wenn er ihn ganz übergangen, oder nur summarisch dar - gestellt hätte, keineswegs aber, daſs er ihn an unrechter Stelle eingefügt hat. So viel muſste er doch, wenn er un - erachtet seiner damaligen Schläfrigkeit von dem Vorgang Notiz genommen hatte, behalten, daſs jene eigenthümliche Stimmung Jesum hart vor dem Anfang seines Leidens, und in Nacht und Einsamkeit befallen habe: wie konnte er je -465Drittes Kapitel. §. 122.mals seine Erinnerung so weit verleugnen, daſs er die Sce - ne in weit früherer Zeit, am hellen Tag und unter vielem Volke vorgehen lieſs? Um nicht auf diese Weise die Ächt - heit des johanneischen Evangeliums zu gefährden, bleiben Andere dabei, mit Berufung darauf, daſs eine solche Stim - mung im lezten Abschnitte des Lebens Jesu mehrmals ha - be vorkommen können, die Identität der beiden Scenen zu leugnen11)Hase, L. J. §. 134. Lücke, 2, S. 591 f. Anm..

Allerdings finden zwischen der synoptischen Darstel - lung des Seelenkampfs Jesu und der johanneischen, auch ausser der verschiedenen äusseren Stellung, im Inhalt bei - der Vorgänge noch bedeutende Differenzen statt, indem namentlich die johanneische Erzählung Züge enthält, wel - che in den Berichten der drei ersten Evangelisten über den Vorfall in Gethsemane keine Analogie finden. Wenn nämlich zwar das Flehen des johanneischen Jesus um Ret - tung aus dieser Stunde bei den Synoptikern vollkommen anklingt: so fehlt es doch für die bei Johannes hinzuge - fügte Bitte: πάτερ, δόξασόν σου τὸ ὄνομα (12, 28.), an ei - ner Parallele; ferner, wenn zwar in beiden Darstellungen von einem Engel die Rede ist, so ist doch von einer Him - melsstimme, welche im vierten Evangelium die Meinung, es sei ein Engel im Spiel gewesen, veranlaſst, bei den Syn - optikern keine Spur. Sondern solche Himmelsstimmen fin - den wir in diesen Evangelien nur bei der Taufe und wie - der in der Verklärungsgeschichte, an welche leztere auch die Bitte des johanneischen Jesus: πάτερ, δόξασόν σουτὸ ὄνομα, erinnern kann. In der synoptischen Beschreibung der Verklärung zwar findet sich der Ausdruck: δόξα und δοξάζειν nicht, dagegen läſst der zweite Brief Petri Jesu bei der Verklärung τιμὴν καὶ δόξαν zu Theil werden, und die Himmelsstimme aus der μεγαλοπρεπὴς δόξα erschallen (1, 17 f.). So bietet sich denn zu den beiden bisdaher be -Das Leben Jesu II. Band. 30466Dritter Abschnitt.trachteten Erzählungen noch eine dritte als Parallele dar, indem die Scene Joh. 12, 27 ff., wie einerseits durch die Bekümmerniſs und den Engel mit dem Vorgang in Geth - semane, so andrerseits durch die Bitte um Verklärung und die gewährende Himmelsstimme mit der Verklärungsge - schichte zusammenhängt. Und nun sind zwei Fälle mög - lich: entweder ist die johanneische Erzählung die einfa - che Wurzel, aus welcher auf traditionellem Wege durch Scheidung der in ihr enthaltenen Elemente die beiden syn - optischen Anekdoten von der Verklärung und dem Seelen - kampf hervorgewachsen sind: oder sind diese lezteren die ursprünglichen Gestaltungen, aus deren Auflösung und Ver - schwemmung in der Sage die johanneische Erzählung als gemischtes Produkt zusammengeflossen ist; worüber nur die Beschaffenheit der drei Anekdoten entscheiden kann. Daſs nun die synoptischen Erzählungen von der Verklä - rung und dem Seelenkampf klare Gemälde mit bestimmt ausgebildeten Zügen sind, kann für sich nichts beweisen, da, wie wir zur Genüge gefunden haben, eine aus sagen - haftem Boden erwachsene Erzählung ebensogut, als eine rein historische, jene Eigenschaften besitzen kann. Wäre also die johanneische Darstellung jenes Auftritts nur minder klar und bestimmt gehalten, so könnte sie deſswegen doch für den ursprünglichen, einfachen Bericht gehalten wer - den, aus welchem sich durch die ausschmückende und ma - lende Arbeit der Überlieferung jene farbigeren Gebilde herausentwickelt hätten. Nun aber fehlt es der johannei - schen Erzählung nicht bloſs an Bestimmtheit, sondern an Übereinstimmung mit den umgebenden Verhältnissen und mit sich selbst. Wo Jesu Antwort auf das Gesuch der Hellenen bleibt, und wo diese selber hinkommen, weiſs Niemand; die plözliche Beklemmung Jesu und die Bitte um eine Ehrenerklärung von Seiten Gottes sind nicht ge - hörig motivirt. Ein solches Gemisch unzusammengehöri - ger Theile ist aber immer das Kennzeichen eines secundä -467Drittes Kapitel. §. 122.ren Produkts, eines zusammengeschwemmten Conglomerats: und so scheint denn der Schluſs gerechtfertigt, daſs in der johanneischen Erzählung die beiden synoptischen Anekdo - ten von der Verklärung und vom Seelenkampf zusammen - geflossen seien. Hatte dem Verfasser des vierten Evange - liums die Sage, wie es scheint, schon ziemlich verwa - schen und nur in unbestimmten Umrissen, von jenen bei - den Vorfällen Kunde zugeführt: so konnten ihm leicht, wie sein Begriff von δοξάξειν diese Zweiseitigkeit von Lei - den und Herrlichkeit hat, beide sich vermengen; was er in der Erzählung des Seelenkampfs von einer Anrede Jesu an den Vater vernommen hatte, konnte er mit der göttli - chen Stimme aus der Verklärungsgeschichte als Antwort darauf verbinden; dieser Stimme, deren näherer Inhalt, wie die Synoptiker ihn geben, ihm nicht berichtet war, gab er aus der allgemeinen Vorstellung von dieser Begeben - heit, als einer Jesu zu Theil gewordenen δόξα, den In - halt: καὶ ἐδόξασα, καὶ πάλιν δοξάσω, und um auf diese göttliche Erwiederung zu passen, muſste der Anrede Jesu ausser der Bitte um Rettung noch die um Verklärung hin - zugefügt werden; der stärkende Engel, von welchem der vierte Evangelist vielleicht auch etwas vernommen hatte, wurde als Ansicht der Leute von dem Ursprung der Him - melsstimme mit aufgenommen; in Betreff des Zeitpunkts wurde zwischen dem der Verklärung und dem des Seelen - kampfs die ungefähre Mitte gehalten, wobei die Wahl der Verhältnisse aus Unkenntniſs der ursprünglichen übel ausfiel.

Sehen wir von hier auf die Frage zurück, von wel - cher wir ausgegangen sind, ob wir eher die johanneischen Abschiedsreden Jesu als historisch festhalten, und dagegen die synoptische Darstellung der Scene in Gethsemane auf - geben wollen, oder umgekehrt: so werden wir vermöge des Ergebnisses unsrer eben geführten Untersuchung zu der lezteren Annahme geneigter sein. Die Schwierigkeit, welche schon darin liegt, daſs man kaum begreift, wie30 *468Dritter Abschnitt.Johannes diese langen Reden Jesu genau behalten konnte, hat Paulus durch die Vermuthung zu lösen geglaubt, daſs der Apostel wohl schon am nächsten Sabbat, während Je - sus im Grabe lag, die Gespräche des vorigen Abends sich in die Erinnerung zurückgerufen, und sie vielleicht auch niedergeschrieben habe12)L. J. 1, b, S. 165 f.. Allein in jener Zeit der Nie - dergeschlagenheit, welche auch Johannes theilte, wäre er wohl nicht im Stande gewesen, diese Reden wiederzuge - ben, ohne ihr eigenthümliches Colorit der ruhigsten Heiter - keit zu verwischen; sondern, wie der Wolfenbüttler sagt, wenn die Evangelisten in den paar Tagen nach Jesu Tode die Erzählung von seinen Reden und Thaten hätten zu Pa - pier bringen sollen, so würden, da sie selber keine Hoff - nung mehr hatten, auch alle verheiſsenden Reden aus ih - ren Evangelien weggeblieben sein13)Vom Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 124.. Daher hat auch - cke, in Betracht der eigenthümlich johanneischen Ausdrucks - weise, welche sich namentlich in dem Schluſsgebet findet, die Behauptung, daſs Jesus mit denselben Worten gespro - chen habe, welche ihm Johannes in den Mund legt, oder die Behauptung der Authentie dieser Reden im engsten Sinn, aufgegeben, aber nur um ihre Authentie im weiteren Sinn, die Ächtheit des Gedankeninhalts, desto fester zu halten14)2, S. 588 f.. Doch auch gegen diesen hat der Verfasser der Probabilien seinen Angriff gewendet, indem er namentlich in Bezug auf Kap. 17. fragt, ob es denkbar sei, daſs Je - sus in der Erwartung des gewaltsamsten Todes nichts An - gelegeneres zu thun gehabt habe, als mit Gott von seiner Person, seinen bisherigen Leistungen, und der zu erwarten - den Herrlichkeit sich zu unterhalten? und ob es deſswe - gen nicht vielmehr alle Wahrscheinlichkeit habe, daſs die - ses Gebet nur aus dem Sinne des Schriftstellers geflos -469Drittes Kapitel. §. 122.sen sei, welcher durch dasselbe theils seine Lehre von Je - sus als dem fleischgewordenen λόγος bestätigen, theils das Ansehen der Apostel befestigen wollte15)a. a. O.? In dieser Aus - stellung liegt das Richtige, daſs das fragliche Schluſsgebet nicht als ein unmittelbarer Erguſs, sondern als Produkt der Reflexion, eher als eine Rede über Jesum, denn als eine Rede von ihm erscheint. Überall zeigt sich in dem - selben das Denken eines solchen, der schon weit vorwärts im Erfolge steht, und deſswegen die Gestalt Jesu bereits in fernem, verklärendem Duft erblickt, ein Zauber, wel - chen er dadurch vermehrt, daſs er seine, auf der Höhe einer fortgeschrittenen Entwicklung der christlichen Ge - meinde entsprungenen Gedanken von dem Gründer dersel - ben schon vor ihrer eigentlichen Entstehung ausgesprochen sein läſst. Aber auch in den vorhergehenden Abschiedsre - den erscheint Manches aus dem Erfolg heraus gesprochen. Der ganze Ton derselben erklärt sich doch am natürlich - sten, wenn die Reden Werk eines solchen sind, welchem der Tod Jesu bereits ein Vergangenes war, dessen Schreck - lichkeit in den segensreichen Folgen und der andächtigen Betrachtungsweise der Gemeinde sich gelind aufgelöst hat - te. Im Einzelnen ist, abgesehen von dem über die Wieder - kunft Gesagten, auch diejenige Wendung der christlichen Sache, welche man als Sendung des heiligen Geistes zu bezeichnen pflegt, in den Äusserungen über den Paraklet und dessen über die Welt zu haltendes Gericht (14, 16 ff. 25 f. 15, 26. 16, 7 ff. 13 ff. ) mit einer Bestimmtheit voraus - gesagt, welche auf die Zeit nach dem Erfolge hinzuwei - sen scheint.

Indem aber auch von dem nächstbevorstehenden Er - folge, dem Leiden und Tod Jesu, das bestimmte Voraus - wissen in diesen Abschiedsreden liegt (13, 18 ff. 33. 38. 14, 30 f. 16, 5 ff. 16. 32 f.), tritt die johanneische Darstel -470Dritter Abschnitt.lung mit der synoptischen auf Einen Boden, da auch die - se auf der Voraussetzung der genauesten Voraussicht der Stunde und des Augenblicks, wann das Leiden eintreten werde, ruht. Nicht allein bei'm lezten Mahle und bei'm Hinausgehen an den Ölberg zeigte sich dieses Vorherwis - sen nach den drei ersten Evangelien, indem, wie im vier - ten, dem Petrus eine Verleugnung, ehe der Hahn krähen werde, vorhergesagt wird; nicht nur beruht der ganze Seelenkampf im Garten auf der Voraussicht des in den nächsten Augenblicken bevorstehenden Leidens: sondern am Ende dieses Kampfes weiſs Jesus sogar auf die Minu - te hin zu sagen, daſs jezt der Verräther heranrücke (Matth. 26, 45 f.). Zwar behauptet Paulus, Jesus habe die Trup - pe der Häscher von ferne schon aus der Stadt heranrücken sehen, was allerdings, da sie Fackeln hatten, von einem Garten am Ölberg aus vielleicht möglich war; allein ohne vorher von den Planen seiner Feinde unterrichtet zu sein, konnte Jesus nicht wissen, daſs es auf ihn abgesehen sei, und jedenfalls berichten es die Evangelisten als Probe des übernatürlichen Wissens Jesu. Vom höheren Princip in ihm kann nun aber, wenn dem Obigen zufolge nicht das Vorherwissen der Katastrophe überhaupt und ihrer einzel - nen Momente, dann auch nicht das ihres Zeitpunkts, aus - gegangen sein; daſs ihm aber auf natürlichem Wege, durch geheime Freunde im Synedrium, oder wie sonst, die Kun - de von dem vernichtenden Schlage zugekommen wäre, wel - chen die jüdischen Herrscher mit Hülfe eines seiner Jün - ger in der nächsten Nacht gegen ihn zu führen beabsichtig - ten, davon haben wir keine Spur in unsern Berichten, und sind also auch nicht befugt, dergleichen etwas voraus - zusetzen. Sondern so, wie es uns die Referenten als Be - weis seines höheren Wissens geben, müssen wir es ent - weder hinnehmen, oder, wenn wir dieſs nicht können, so folgt vorerst nur das Negative, daſs sie uns hier mit Un - recht eine solche Probe erzählen, woran dann zunächst471Drittes Kapitel. §. 122.nicht das Positive grenzt, daſs jenes Wissen wohl nur ein natürliches gewesen, sondern das, daſs die evangelischen Erzähler ein Interesse gehabt haben müssen, eine überna - türliche Kunde Jesu von seinem bevorstehenden Leiden zu behaupten, ein Interesse, welches schon oben auseinander - gesezt worden ist.

Was nun aber der Grund war, das Vorherwissen zu einem wirklichen Vorgefühl zu steigern, und so die Scene in Gethsemane auszubilden, liegt gleichfalls nahe. Einer - seits nämlich giebt es keine augenscheinlichere Probe, daſs von einem Erfolg oder Zustand ein Vorherwissen stattge - funden hat, als wenn es bis zur Lebendigkeit eines Vor - gefühls gestiegen ist, andrerseits muſs das Leiden um so furchtbarer erscheinen, wenn es schon im bloſsen Vorge - fühl dem dazu Bestimmten Angst bis zum blutigen Schweiſs und die Bitte um Enthebung auspreſst. Ferner zeigte sich das Leiden Jesu in höherem Sinn als ein freiwilliges, wenn er, ehe es äusserlich an ihn kam, sich innerlich in dassel - be ergab; und endlich muſste es der urchristlichen An - dacht erwünscht sein, den eigentlichen Kern dieses Lei - dens den profanen Augen, welchen er am Kreuze ausge - sezt war, zu entziehen, und als ein Mysterium in den engeren Kreis einiger Geweihten zu verlegen. Zur Ausstattung dieser[Scene] bot sich neben der Schilderung des Schmer - zens und Gebets, welche sich von selbst ergab, theils das von Jesu selber (Matth. 20, 22 f.) zur Bezeichnung seines Leidens gebrauchte Bild eines ποτήριον, theils A. T. liche Stellen in Klagepsalmen, 42, 6. 12. 43, 5., wo in der LXX. die ψυχὴ περίλυπος vorkommt, wobei das ἕως ϑανάτου Jon. 4, 9. um so näher lag, da Jesus hier wirklich dem Tode entgegengieng. Frühzeitig muſs diese Darstellung entstan - den sein, weil sich schon im Hebräerbrief (5, 7.) eine An - spielung, ohne Zweifel auf diese Scene, findet. Es war al - so zu wenig gesagt, wenn Gabler die Engelserscheinung für mythis he Einkleidung der Thatsache erklärte, daſs472Dritter Abschnitt.Jesus sich im tiefsten Schmerze jener Nacht plözlich ge - stärkt gefühlt habe: da vielmehr jener ganze Seelenkampf, weil auf unerweislichen Voraussetzungen ruhend, aufge - geben werden muſs.

Hiemit fällt das oben gestellte Dilemma weg, indem wir nicht bloſs eine von beiden, sondern beide Darstellun - gen der lezten Stunden Jesu vor seiner Gefangennehmung als unhistorisch bezeichnen müssen. Nur so viel bleibt von einem Unterschied des geschichtlichen Werths zwischen der synoptischen Erzählung und der johanneischen, daſs, während jene, so zu sagen, eine mythische Bildung erster Potenz ist, diese die zweite Potenz traditioneller Gestal - tung zeigt, oder näher ist jene schon eine Bildung zweiten, und somit diese des dritten Grades. Ist nämlich die den Synoptikern und dem Johannes gemeinsame Dar - stellung, daſs Jesus sein Leiden vorhergewuſst habe, die erste Umgestaltung, welche die fromme Sage mit der wirk - lichen Geschichte Jesu vornahm: so ist die Angabe der Synoptiker, er habe sein Leiden sogar vorherempfunden, die zweite Stufe des Mythischen; daſs er es aber, obwohl er es vorhergewuſst, und auch früher einmal (Joh. 12, 27 ff. ) vorhergeschmeckt, doch schon lange zum Voraus völlig überwunden, und demselben, als es unmittelbar be - vorstand, mit unerschütterter Ruhe in's Auge geblickt ha - be, diese Darstellung des johanneischen Evangeliums ist die dritte und höchste Stufe andächtiger, aber unge - schichtlicher, Verschönerung.

§. 123. Gefangennehmung Jesu.

Genau zusammentreffend mit der Erklärung Jesu an die schlafenden Jünger, daſs eben jezt der Verräther nache, soll, während er noch redete, Judas mit einer bewaffneten Macht herangerückt sein (Matth. 26, 47. parall. vol. Joh. (S, 3.). Diese Schaar kam den Synoptikern zufolge von473Drittes Kapitel. §. 123.den Hohenpriestern und Ältesten, und war nach Lukas von den ςρατηγοῖς τοῦ ἱεροῦ angeführt, also wahrscheinlich eine Abtheilung Tempelsoldaten, an welche sich übrigens, aus der Bezeichnung als ὄχλος und ihrer theilweisen Bewaff - nung mit ξύλοις zu schlieſsen, noch anderes Gesindel tumultuarisch angeschlossen zu haben scheint; der Darstel - lung bei Johannes zufolge, welcher neben den ὑπηρέταις τῶν ἀρχιερέων καὶ φαρισαίων von einer σπεῖρα und einem χιλίαρχος, ohne Erwähnung tumultuarischer Bewaffnung, spricht, scheint es, als hätten sich die jüdischen Obern auch eine Abtheilung römischen Militärs zur Unterstützung ausgebeten gehabt1)s. Lücke, z. d. St. Hase, L. J. §. 135..

Während sofort nach den drei ersten Evangelisten Ju - das vortritt und Jesum küſst, um ihn durch dieses verab - redete Zeichen der anrückenden Schaar als denjenigen kennt - lich zu machen, welchen sie zu greifen hätte: geht laut des vierten Evangeliums umgekehrt Jesus ihnen, wie es scheint, vor den Garten hinaus (ἐξελϑὼν), entgegen, und bezeichnet sich selbst als denjenigen, welchen sie suchen. Diese abweichenden Darstellungen zu vereinigen, haben Einige den Hergang sich so gedacht, daſs, um eine Ver - haftung seiner Jünger zu verhüten, Jesus gleich zuerst dem Haufen entgegengegangen sei, und sich zu erkennen gege - ben habe; hierauf erst sei Judas hervorgetreten, und habe ihn durch den Kuſs bezeichnet2)Paulus ex., Handb. 3, b, S. 567.. Allein, hatte sich Je - sus bereits selbst zu erkennen gegeben, so konnte Judas den Kuſs ersparen; denn daſs die Leute der Angabe Jesn, er sei es, den sie suchen, nicht geglaubt, und noch auf die Bekräftigung derselben durch den Kuſs des bestoche - nen Jüngers gewartet haben, kann nicht gesagt werden, wenn nach der Angabe des vierten Evangeliums jenes ἐγά εἰμι so starken Eindruck auf sie machte, daſs sie zu Bo -474Dritter Abschnitt.den sanken. Deſswegen haben Andere die Ordnung der Scenen in der Art umgekehrt, daſs zuerst Judas, voran - tretend, Jesum durch den Kuſs bezeichnet, dann aber, noch ehe der Haufe in den Garten eindringen konnte, Je - sus zu ihnen hinaustretend sich zu erkennen gegeben ha - be3)Lücke, 2, S. 599. Hase, a. a. O. Olshausen, 2, S. 435.. Allein, wenn ihn Judas bereits durch den Kuſs be - zeichnet, und er den Zweck des Kusses so gut verstanden hatte, wie es sich in seiner Erwiederung auf denselben Luc. V. 48. ausspricht: so brauchte er sich nicht noch be - sonders zu erkennen zu geben, da er schon kenntlich ge - macht war; es zum Schutze der Jünger zu thun, wer eben - so überflüssig, da er an dem verrätherischen Kusse mer - ken muſste, es sei darauf abgesehen, ihn aus seinem Ge - folge herauszufangen; that er es bloſs um seinen Muth zu zeigen, so war dieſs fast etwas schauspielerisch; überhaupt aber kommt dadurch, daſs Jesus zwischen den Judaskuſs und das gewiſs unmittelbar darauf erfolgte Eindringen der Schaar hinein dieser noch mit Fragen und Anreden entge - gengetreten sein soll, in sein Benehmen eine Hast und Eil - fertigkeit, welche ihm unter diesen Umständen so übel an - steht, daſs die Evangelisten schwerlich beabsichtigen, ihm eine solche zuzuschreiben. Man sollte demnach anerken - nen, daſs von den beiden Darstellungen keine darauf be - rechnet ist, durch die andere ergänzt zu werden4)Wie mag Lücke die Auslassung des Judaskusses im johan - neischen Evangelium daraus erklären, dass er gar zu bekannt gewesen sei, und wie hiezu als Analogie das anführen, dass Johannes auch die Verhandlung des Verräthers mit dem Syn - edrium übergehe? da zwar diese Verhandlung als etwas hinter der Scene Vorgegangenes wohl übergangen werden konnte, keineswegs aber etwas, das, wie jener Kuss, so ganz im Vordergrund und Mitteipunkt der Handlung gesche - hen war., indem jede die Art, wie Jesus erkannt wurde, und wie Judas dabei thätig war, auf andere Weise faſst. Daſs Judas475Drittes Kapitel. §. 123.ὁδηγὸς τοῖς συλλαβοῦσι τὸν Ἰησοῦν gewesen (A. G. 1, 16.), darin stimmen alle Evangelien zusammen. Nun aber, wäh - rend nach der synoptischen Darstellung zum Geschäft des Judas ausser der Ortsbezeichnung auch noch die Bezeich - nung der Person gehört, welche durch den Kuſs geschieht: läſst Johannes die Thätigkeit des Verräthers mit der Be - zeichnung des Orts ihr Ende erreichen, und ihn nach der Ankunft an Ort und Stelle müſsig bei den Übrigen stehen (εἱςήκει δὲ καὶ Ἰουδας μετ̕ αὐτῶν. V. 5.). Warum die jo - hanneische Darstellung dem Judas das Geschäft der per - sönlichen Bezeichnung Jesu nicht ertheilt, ist leicht zu se - hen: damit nämlich Jesus nicht als ein Überlieferter, son - dern als ein sich selbst Überliefernder, somit sein Leiden in höherem Grad als frei übernommenes erscheinen möchte. Man darf sich nur erinnern, wie von jeher die Gegner des Christenthums Jesu seinen Weggang aus der Stadt in den abgelegenen Garten als schimpfliche Flucht vor seinen Fein - den aufrechneten5)So sagt der Jude des Celsus bei Orig. c. Cels. 2, 9:ἐπειδὴ ἡμεῖς ἐλέγξαντες αὐτὸν καὶ καταγνόντες ἠξιοῦμεν κολάζεσϑαι, κρυπτόμενος μὲν καὶ διαδιδράσκων ἐπονειδιςότατα ἑάλω., um es begreiflich zu finden, daſs früh - zeitig unter den Christen eine Neigung entstand, die Art, wie er sich bei seiner Verhaftung benahm, noch in höhe - rem Grade, als dieſs in der gewöhnlichen Evangelientradi - tion der Fall war, im Lichte einer freiwilligen Hingabe er - scheinen zu lassen.

Reiht sich nun bei den Synoptikern an den Judaskuſs eine einschneidende Frage Jesu an den Verräther, so schlieſst sich bei Johannes an das von Jesu gesprochene: ἐγώ εἰμι die Erwähnung, daſs vor diesem Machtworte die zu seiner Verhaftung gekommene Schaar zurückgewichen und zu Bo - den gefallen sei, so daſs Jesus seine Erklärung wiederho - len, und die Leute gleichsam ermuthigen muſste, ihn zu greifen. Hierin will man neuerdings kein Wunder mehr476Dritter Abschnitt.erblicken, sondern psychologisch soll der Eindruck Jesu auf diejenigen unter der Schaar, welche ihn schon sonst öfters gesehen und gehört hatten, gewirkt haben; wobei man sich auf die Beispiele aus dem Leben eines Marius, eines Coligny u. A. beruft6)Lücke, 2, S. 597 f. Olshausen, 2, S. 435. Vgl. Tholuck, S. 319.. Allein weder nach der syn - optischen Darstellung, laut deren es der Bezeichnung Jesu durch den Kuſs, noch auch nach der johanneischen, nach welcher es der Erklärung Jesu, daſs er es sei, bedurfte, war Jesus dem Haufen genauer, am wenigsten auf eine tiefere Weise, bekannt; jene Beispiele aber beweisen nur, daſs bisweilen der gewaltige Eindruck eines Mannes mör - derische Hände Einzelner oder Weniger gelähmt hat, nicht aber, daſs ein ganzes Detachement von Gerichtsdienern und Soldaten nicht bloſs zurückgewichen, sondern zu Boden gefallen wäre. Was soll es nützen, wenn Lücke zuerst Einige, dann den ganzen Haufen, niederstürzen läſst, wo - durch es vollends unmöglich wird, sich die Sache auf ernst - hafte Weise vorzustellen? Wir kehren daher zu den Alten zurück, welche hier allgemein ein Wunder anerkannten. Der Christus, welcher durch ein Wort seines Mundes die feindlichen Schaaren niederwirft, ist kein anderer, als der - jenige, welcher nach 2. Thess. 2, S. den Antichrist ἀνα - λώσει τῷ πνεύματι τοῦ ςόματος αὑτοῦ, d. h. aber nicht der historische, sondern der Christus der jüdischen und ur - christlichen Phantasie. Der Verfasser des vierten Evange - liums insbesondere, der so oft bemerkt hatte, wie die Feinde Jesu und ihre Schergen ausser Stands gewesen seien, Hand an ihn zu legen, weil seine Stunde noch nicht gekommen gewesen sei (7, 30. 32. 44 ff. S, 20.), war veranlaſst, nun, als die Stunde erschienen war, den wirklich gemachten Versuch zunächst noch einmal auf recht eklatante Weise miſslingen zu lassen, zumal dieſs ganz mit dem Interesse477Drittes Kapitel. §. 123.zusammenstimmte, welches in der Beschreibung dieser gan - zen Scene ihn beherrscht, die Verhaftung Jesu rein als Akt seines freien Willens darzustellen. Indem Jesus die Soldaten durch die Macht seines Wortes niederwirft, giebt er ihnen eine Probe, was er vermöchte, wenn es ihm um Befreiung zu thun wäre, und wenn er sich nun unmittel - bar darauf greifen läſst, so erscheint dieſs als die freiwil - ligste Hingabe. So giebt Jesus im vierten Evangelium eine faktische Probe jener Macht, welche er im ersten nur mit Worten ausdrückt, wenn er zu einem seiner Jünger sagt: δοκεῖς, ὅτιουδύναμαι ἄρτι παρακαλέσαι τὸν πατέρα μου, καὶ παραςήσει μοι πλείους δώδεκα λεγεῶνας ἀγγέλων (V. 53.);

Nachdem hierauf der Verfasser des vierten Evangeliums einen früher richtig auf die geistige Bewahrung seiner Schü - ler bezogenen Ausspruch Jesu (17, 12.), daſs er keinen der ihm von Gott Anvertrauten verloren habe, sehr unrichtig in der Sorgfalt erfüllt gefunden, welche Jesus angewen - det habe, daſs seine Jünger nicht mit ihm verhaftet wür - den, stimmen nun sämmtliche Evangelisten darin zusam - men, daſs, als die Soldaten Hand an Jesum zu legen an - fiengen, einer seiner Anhänger das Schwert gezogen, und des Hohenpriesters Knecht ein Ohr abgehauen habe, was von Jesu miſsbilligt worden sei. Doch haben Lukas und Johannes jeder einen eigenthümlichen Zug. Abgesehen da - von, daſs beide das von den Vormännern unbestimmt ge - lassene Ohr als das rechte näher bestimmen, nennt der lez - tere nicht bloſs den verwundeten Knecht mit Namen, son - dern bemerkt auch, daſs der hauende Jünger Petrus ge - wesen sei. Warum die Synoptiker den Petrus nicht nen - nen, hat man auf verschiedene Weise zu erklären versucht. Daſs sie den zur Zeit der Abfassung ihrer Evangelien noch lebenden Apostel nicht durch Nennung seines Namens ha - ben compromittiren wollen7)Paulus, ex. Hdb. 3, b, S. 570., gehört zu den mit Recht478Dritter Abschnitt.verschollenen Fiktionen einer falsch pragmatisirenden Exe - gese; daſs sie aber auch sonst die Namen meistens über - gehen8)Ders. ebendas., ist in dieser Allgemeinheit nicht einmal von Mat - thäus wahr, welcher wohl unberühmte, gleichgültige Per - sonen ungenannt läſst, wie einen Jairus, einen Bartimäus: daſs aber aus einer Petrusanekdote, welche so sehr in die Rolle dieses Apostels paſste, der wirkliche Matthäus, oder auch nur die vulgäre Evangelientradition, so frühzeitig und allgemein den Namen verloren haben sollte, wird man nicht sehr glaublich finden. Weit eher könnte ich mir das Um - gekehrte denkbar machen, daſs die Anekdote ursprünglich ohne Namensangabe umgelaufen wäre (und warum sollte nicht auch ein sonst minder ausgezeichneter unter den An - hängern Jesu denn nach den Synoptikern scheint es nicht einmal nothwendig einer der Zwölfe gewesen sein zu müssen dessen Name daher eher zu vergessen war, Muth und Übereilung genug gehabt haben, in jenem Zeit - punkt das Schwert zu ziehen?), ein späterer Referent aber eine solche Handlungsweise dem raschen Charakter des Petrus besonders angemessen gefunden, und sie deſswegen aus eigener Combination ihm zugeschrieben hätte. Dann brauchen wir uns auch nicht für die Möglichkeit, daſs Jo - hannes den Namen des Knechts wissen konnte, auf seine Bekanntschaft im hohenpriesterlichen Hause zu berufen9)Wie Lücke, Tholuck und Olshausen z. d. St., so wenig Markus, um zur Kenntniſs des Namens von je - nem Blinden zu gelangen, einer besondern Bekanntschaft in Jericho bedurfte.

Lukas hat bei dieser Schwertscene das Eigenthümli - che, daſs nach ihm Jesus das Ohr des Knechts, wie es scheint durch ein Wunder, wieder geheilt hat. Während Olshausen die zufriedene Anmerkung macht, dieser Um - stand erkläre am besten, wie Petrus sich unverlezt zu -479Drittes Kapitel. §. 123.rückziehen konnte das Erstaunen über die Heilung wer - de die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen haben: verfolgt Paulus selbst bis nach Gethsemane den Herrn mit natürlicher Erklärung seiner Wunder. Jesus soll das verwundete Ohr durch Befühlung (ἁψάμενος) un - tersucht, und sofort angegeben haben, was zum Behuf der Heilung zu thun sei (ἰάσατο αὐτόν): hätte er ihn durch ein Wunder geheilt, so müſste doch auch ein Erstaunen der Anwese den gemeldet sein. Solche Quälerei ist dieſs - mal besonders unnöthig, da das Alleinstehen des Lukas mit dem fraglichen Zug und der ganze Zusammenhang der Scene uns deutlich genug sagt, was wir von der Sache zu halten haben. Jesus, der so vieles Leiden, an welchem er unschuldig war, durch seine Wunderkraft gehoben hat - te, der sollte ein Leiden, welches einer von seinen Jüngern aus Anhänglichkeit an ihn, also mittelbar er selbst, verur - sacht hatte, ungeheilt gelassen haben? Dieſs muſste man bald undenkbar finden, und so dem Schwertstreich des Petrus eine Wunderheilung von Seiten Jesu die lezte in der evangelischen Geschichte sich anschlieſsen.

Hieher, unmittelbar vor seine Abführung, stellen die Synoptiker den Vorwurf, welchen Jesus den zu seiner Gefangennehmung Gekommenen machte, daſs sie ihn, der ihnen durch sein tägliches öffentliches Auftreten im Tem - pel die beste Gelegenheit gegeben habe, sich seiner auf die einfachste Weise zu bemächtigen, ein schlimmes An - zeichen für die Reinheit ihrer Sache mit so vielen Um - ständen, wie einen Räuber hier aussen aufsuchen. Das vier - te Evangelium läſst ihn etwas Ähnliches später zu Annas sagen, dessen Erkundigung nach seinen Schülern und sei - ner Lehre er auf die Öffentlichkeit seines ganzen Wirkens, auf sein Lehren in Tempel und Synagoge, verweist (18, 20 f.). Wie wenn er von Beidem vernommen hätte, sowohl daſs Jesus so etwas dem Hohenpriester, als daſs er es bei sei - ner Gefangennehmung gesagt habe, läſst Lukas die Ho -480Dritter Abschnitt.henpriester und Ältesten selbst bei der Verhaftung gegen - wärtig sein, und Jesum hier auf jene Weise zu ihnen sprechen, was gewiſs nur Irrthum ist10)Schleiermacher, über den Lukas, S. 290..

Nach den zwei ersten Evangelisten fliehen nun alle Jünger, wobei Markus den speciellen Zug hat, daſs ein Jüngling, der eine Leinwand um den bloſsen Leib ge - worfen hatte, als man ihn greifen wollte, mit Zurück - lassung der Leinwand nackt davongeflohen sei. Abge - sehen von den müssigen Vermuthungen älterer und selbst neuerer Erklärer, wer dieser Jüngling gewesen sein - ge, hat man mit Unrecht aus dieser Notiz auf nahe Gleich - zeitigkeit des Markusevangeliums geschlossen, weil eine sol - che kleine, namenlose Anekdote nur in der Nähe der Per - sonen und Begebenheiten habe interessiren können11)Paulus, ex. Hdb. 3, b, S. 576.: da doch dieser Zug selbst uns, in der weitesten Zeitferne, noch eine lebendige Anschauung von dem panischen Schre - eken und der schnellen Flucht der Anhänger Jesu giebt, und also dem Markus, woher er ihn auch bekommen, und wie spät auch geschrieben haben mag, willkommen sein muſste.

§. 124. Jesu Verhör vor dem Hohenpriester.

Von dem Orte der Gefangennehmung lassen die Syn - optiker Jesum zum Hohenpriester, dessen Namen, Kaiphas, jedoch hier nur Matthäus nennt, Johannes aber zu Annas, dem Schwiegervater des damaligen Hohenpriesters, und von diesem erst zu Kaiphas, geführt werden (Matth. 26, 57 ff. parall. Joh. 18, 12 ff.). Und zwar wird, wie es scheint, von dem Verhör bei Kaiphas, welches den Syn - optikern zufolge das Entscheidende war, im vierten Evan - gelium nichts erzählt, nur aus der Verhandlung vor Annas481Drittes Kapitel. §. 124.wird einiges Nähere mitgetheilt. Nichts lag daher der Har - monistik näher, als die Annahme, wie sie sich z. B. schon bei Euthymius findet, Johannes habe vermöge seines Er - gänzungszwecks das von den Synoptikern übergangene Ver - hör vor Annas nachgeholt, das vor Kaiphas aber, weil es von seinen Vorgängern ausführlich genug beschrieben war, übergangen1)Paulus, a. a. O. S. 577. Olshausen, S. 244.. Diese Ansicht, daſs Johannes und die Syn - optiker von ganz verschiedenen Verhören reden, wird auch dadurch bestätigt, daſs der Inhalt des Verhörs auf beiden Seiten ein ganz verschiedener ist. Während nämlich bei dem, welches die Synoptiker beschreiben, nach Matthäus und Markus zuerst die falschen Zeugen gegen Jesum auf - treten, hierauf der Hohepriester ihn fragt, ob er sich wirk - lich für den Messias ausgebe, und auf die Bejahung da - von ihn der Blasphemie und des Todes schuldig erklärt, woran sich Miſshandlungen schlieſsen: so wird in dem von Johannes geschilderten Verhör Jesus nur nach seinen Jün - gern und nach seiner Lehre gefragt, worauf er sich auf die Öffentlichkeit seines Wirkens beruft, und nachdem er hierüber von einem Diener miſshandelt worden war, ohne daſs ein Urtheil gefällt wäre, weiter geschickt.

Doch, wenn gleich der eigentliche, Jesum betreffende Inhalt der beiden Verhöre ein verschiedener ist, scheint die Identität einer nebenherspielenden Begebenheit sie wie - der zu identificiren, indem sowohl Johannes als die Syn - optiker, jeder Theil während des von ihm beschriebenen Verhörs, Jesum von Petrus verleugnet werden läſst. Um dem Widerspruch zu entgehen, daſs die Verleugnung des Petrus nach den drei ersten Evangelien während des Ver - hörs vor Kaiphas, nach dem vierten bei Annas vorgefal - len sein müſste, hat man in der Darstellung des lezteren Evangeliums Spuren zu entdecken gewuſst, welche darauf zu deuten schienen, daſs auch sein Bericht von einem Ver -Das Leben Jesu II. Band. 31482Dritter Abschnitt.hör bei Kaiphas zu verstehen sei. Gleich von Anfang näm - lich, nachdem von Annas, als dem πενϑερὸς τοῦ Καΐάφα, die Rede gewesen, fand man es sonderbar, daſs nun eine nähere Bezeichnung des lezteren, als Urhebers von jenem verhängniſsvollen Rath, Joh. 11, 50, folge, wenn doch so - fort nicht ein von ihm, sondern von dem ersteren vorge - nommenes Verhör erzählt werden sollte. Dann sei auch in der Beschreibung des Verhörs selbst durchaus vom Pa - laste und von Fragen τοῦ ἀρχιερέως die Rede, wie doch Johannes sonst nirgends den Annas, sondern nur den Kai - phas nenne. Daſs aber auf diese Weise schon von V. 15. an von etwas bei Kaiphas Vorgegangenem die Rede sein sollte, scheint wegen V. 24. unmöglich, weil es hier erst heiſst, Annas habe Jesum zu Kaiphas geschickt, so daſs er also bis dahin bei Annas gewesen sein muſs. Schnell be - sonnen sezte man daher den 24ten Vers dahin, wo man ihn brauchte, nämlich hinter V. 13, und schob die Schuld, daſs er jezt weit später gelesen wird, auf die Nachläs - sigkeit der Abschreiber2)So z. B. Erasmus z. d. St.. Da diese Umstellung, in ihrer Verlassenheit von kritischen Auctoritäten, als die willkühr - lichste Gewalthülfe erscheinen muſste, so hat man sofort versucht, ob sich nicht der Notiz V. 24, ohne sie wirk - lich aus ihrem Orte zu rücken, doch eine solche Deutung geben lieſse, daſs sie dem Sinne nach hinter V. 13. zu ste - hen käme, d. h. man nahm das ἀπέςειλεν als Plusquamper - fekt, und stellte sich vor, Johannes wolle hier nachholen, was er bei V. 13. zu bemerken vergessen, daſs nämlich Annas Jesum alsbald zu Kaiphas geschickt habe, folglich das beschriebene Verhör von diesem vorgenommen worden sei3)So Tholuck, Lücke z. d. St.. Hiebei muſs man die allgemeine Möglichkeit einer solchen enallage temporum zugeben, aber ebenso muſs darauf beharrt werden, daſs dieselbe nicht ohne Andeu -483Drittes Kapitel. §. 124.tung im Zusammenhang sein darf. So, wenn hier etwa V. 23. auf Einmal Kaiphas als gegenwärtig genannt wäre, und nun V. 24. folgte: ἀπέςειλε γὰρ κ. τ. λ., so stände einer solchen Auffassung nichts im Wege: nun aber ist sie durch nichts der Art unterstüzt. Überhaupt, wie Ols - hausen richtig bemerkt, wer sich dem Eindruck der jo - hanneischen Erzählung allein überlieſse, würde nie auf eine andere Ansicht kommen können, als daſs sie ein Verhör vor Annas geben wolle; nur die Vergleichung der Synop - tiker kann auf eine andere Deutung führen: zu einem so schlechten Schriftsteller aber wird man doch den Johannes nicht machen wollen, daſs er durch seine Darstellung un - vermeidliche Miſsverständnisse veranlaſst haben sollte, die nur durch Zuhülfenehmen anderer Berichterstatter über denselben Gegenstand zu lösen wären.

Es bleibt also dabei: Johannes erzählt ein anderes Verhör als die Synoptiker, jener eines vor Annas, diese eines vor Kaiphas. Ἀρχιερεὺς konnte er den gewesenen Hohenpriester, der zugleich der Schwiegervater des regie - renden war, so gut nennen als Lukas, 3, 2; die ausführ - liche Bezeichnung des Kaiphas aber konnte bei dessen erst - maliger Wiedererwähnung nach dem berühmten Rathschlag passend scheinen, auch wenn unmittelbar darauf nicht et - was bei ihm Vorgefallenes zu berichten war. Warum man Jesum zuerst zu Annas führte, läſst sich aus dem Einfluſs erklären, welchen dieser Mann, auch laut A. G. 4, 6, nach seinem Rücktritt von der hohenpriesterlichen Stelle noch im - mer ausgeübt zu haben scheint. Daſs nun aber der vierte Evangelist von dem Verhör vor Kaiphas nichts Näheres angiebt, ist um so auffallender, da in dem vor Annas, nach seiner eigenen Darstellung, nichts entschieden worden ist, mithin die Gründe und der Akt der Verurtheilung Jesu durch das jüdische Gericht in seinem Evangelium durchaus fehlen. Dieſs aus dem Ergänzungszweck erklären, heiſst dem Johannes ein gar zu verkehrtes Verfahren zur Last31 *484Dritter Abschnitt.legen, da, wenn er das übergieng, was die Andern schon hatten, ohne anzudeuten, daſs er es nur deſswegen weg - lieſs, er berechnen konnte, dadurch nur Verwirrung, und gegen sich den Schein eines falschen Berichts, zuwege zu bringen. Die Meinung, daſs das Verhör vor Annas das Hauptverhör gewesen sei, und deſswegen das andre über - gangen werden dürfe, kann er auch nicht wohl gehabt haben, da er keinen Beschluſs, der in jenem gefaſst wor - den wäre, anzugeben weiſs; wuſste er aber endlich das Verhör vor Kaiphas als das Hauptverhör, und gab doch keine nähere Auskunft darüber, so ist freilich auch dieſs kein geschicktes Verfahren zu nennen.

In der Darstellung des Verhörs bei Kaiphas finden zwischen den beiden ersten Synoptikern und dem dritten mehrfache Abweichungen statt. Während nach jenen bei - den, als man Jesum in den hohenpriesterlichen Palast brach - te, die Schriftgelehrten und Ältesten bereits versammelt waren, und nun noch in der Nacht über ihn Gericht hiel - ten, wobei zuerst Zeugen auftraten, dann der Hoheprie - ster ihm die entscheidende Frage vorlegte, auf deren Beantwortung hin die Versammlung ihn des Todes schul - dig erklärte: wird nach der Darstellung im dritten Evan - gelium Jesus die Nacht über im Palast des Hohenpriesters nur einstweilen verwahrt und von der Dienerschaft miſs - handelt, bis erst mit Tagesanbruch das Synedrium sich ver - sammelt, und nun, ohne daſs vorher Zeugen auftreten, der Hohepriester durch jene entscheidende Frage die Ver - urtheilung beschleunigt. Daſs nun die Mitglieder des ho - hen Raths schon in der Nacht, während Judas mit der Wache ausgerückt war, zur Empfangnahme Jesu sich ver - sammelt haben, könnte man unwahrscheinlich finden, und insofern die Darstellung des dritten Evangeliums vorziehen wollen, welches sie erst bei Tagesanbruch zusammenkom - men läſst4)So Schleiermacher, über den Lukas, S. 295.: wenn sich Lukas nur nicht diesen Vortheil485Drittes Kapitel. §. 124.dadurch selbst wieder entzöge, daſs er die Hohenpriester und Ältesten bei der Gefangennehmung im Garten zugegen sein läſst, ein Eifer, der sie wohl auch getrieben haben würde, sich alsbald zur schleunigen Beschluſsnahme zu - sammenzuthun. Indeſs auch bei Matthäus und Markus ist das wunderlich, daſs, nachdem sie uns das ganze Verhör sammt der Beschluſsnahme erzählt haben, sie doch noch (27, 1. und 15, 1.) sagen: πρωΐας δὲ γενομένης συμβουλιον ἐλαβον, so daſs es scheint, die Synedristen haben, wenn nicht gar sich am Morgen wieder versammelt, da sie doch die ganze Nacht beisammen gewesen waren, doch jezt erst einen Be - schluſs gegen Jesum gefaſst, der schon in der nächtlichen Versammlung gefaſst worden war5)Schleiermacher a. a. O., vgl. Fritzsche, z. d. St. des Matth.. Daſs Lukas die Ver - handlung mit den ψευδομάρτυρες übergeht, erklärt Schleier - macher aus dem Umstand, daſs der Verfasser dieses Stücks im dritten Evangelium zwar vom Garten herein dem Zuge, der Jesum geleitete, gefolgt, vom hohenpriesterlichen Pa - last aber mit den meisten Übrigen ausgeschlossen worden sei, mithin das in diesem Vorgefallene nur vom Hörensagen erzähle. Allein ein so nahes Verhältniſs des Berichterstat - ters in diesem Abschnitt des Lukasevangeliums zur Thatsa - che kann, um aus dem Folgenden nichts zu anticipiren, auch nur um des Einen Zugs willen von der Heilung des ver - wundeten Knechts nicht angenommen werden. Sondern in der Überlieferung, bis sie zu ihm gelangte, muſs jene Notiz abhanden gekommen sein, von welcher schon oben bei einer andern Gelegenheit hat gehandelt werden müssen6)S. 331 ff..

Wie Jesus auf die Aussage der falschen Zeugen nichts erwiederte, fragte ihn den beiden ersten Evangelisten zu - folge der Hohepriester, im dritten Evangelium ohne jene Veranlassung das Synedrium, ob er wirklich der Messias (der Sohn Gottes) zu sein behaupte? was er nach jenen486Dritter Abschnitt.beiden ohne Weiteres durch σὺ εἰπας und ἐγ῎ εἰμι bejaht, und hinzusezt, daſs sie von jezt an, oder demnächst (ἀπ̕ ἄρτι), des Menschen Sohn zur Rechten der göttlichen Macht sitzen, und in den Wolken des Himmels kommen sehen würden; nach Lukas hingegen erklärt er zuerst, daſs ihn seine Antwort doch nichts nützen werde, fügt übrigens hinzu, von jezt an werde des Menschen Sohn zur Rech - ten der göttlichen Macht sitzen, worauf ihn Alle gespannt fragen, ob er demnach der Sohn Gottes sei? was er be - jaht. Hier spricht also Jesus die Erwartung aus, durch seinen Tod nunmehr zu der Herrlichkeit des messianischen Sitzens zur Rechten Gottes, nach Ps. 110, 1, den er schon Matth. 22, 44. auf den Messias gedeutet hatte, einzugehen. Wie lange er auch vielleicht seine messianische Verherrli - chung sich ohne Vermittlung durch den Tod gedacht ha - ben mag, weil eine solche Vermittlung in den Vorstel - lungen der Zeit ihm nicht scheint an die Hand gegeben gewesen zu sein: jezt, gefangen, von seinen Anhängern verlassen, dem erbitterten Synedrium gegenüber, muſste er einsehen, daſs, wenn er überhaupt noch die Überzeu - gung von seiner Messianität festhalten wollte, er zu seiner messianischen Verherrlichung nur durch den Tod eingehen könne; so daſs vielleicht eben jene lezte Noth des gefan - genen Jesus die Geburtsstunde der Idee eines sterbenden Messias war. Wenn den zwei ersten Evangelisten zufolge Jesus zu dem καϑήμενον ἐκ δεξιῶν τῆς δυνάμεως noch καὶ ἐρχόμενον ἐπττῶν νεφελῶν τοῦουρανοῦ sezt, so sagt er, wie schon früher, seine baldige Parusie, und zwar hier be - stimmt als Wiederkunft, voraus. Nach Olshausen soll das ἀπ̕ ἄρτι des Matthäus nur auf καϑήμενον κ. τ. λ. bezogen werden, weil es zu ἐρχόμενον κ. τ. λ. nicht passen würde, indem sich nicht denken lasse, wie Jesus sich damals schon als demnächst Kommenden habe darstellen können: eine lediglich dogmatische Bedenklichkeit, welche auf unsrem Standpunkt nicht stattfindet, auf keinem aber die gramma -487Drittes Kapitel. §. 124.tische Auslegung so weit, wie hier bei Olshausen, verder - ben sollte. Auf die gedachte Erklärung Jesu zerreiſst nach Matthäus und Markus der Hohepriester seine Kleider, er - klärt Jesum der Blasphemie für überwiesen, und die Ver - sammlung erkennt ihn des Todes schuldig, wie auch nach Lukas die Versammelten bemerken, nun brauche es kein weiteres Zeugniſs mehr, da die verbrecherische Aussage von Jesu selbst vor ihren Ohren gethan worden sei.

Hieran schlieſst sich dann bei den beiden ersten Evan - gelisten die Miſshandlung Jesu, welche Lukas schon vor das Verhör, Johannes in das Verhör des Annas verlegt, wahrscheinlicher, weil man nicht mehr genau wuſste, wo diese Miſshandlungen vorgefallen waren, als weil sie zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Verhältnis - sen wiederholt worden wären. Die Verübung dieser Miſs - handlungen wird bei Johannes und Lukas ausdrücklich dort einem ὑπηρέτης, hier den ἄνδρες συνέχοντες τὸν . zu - geschrieben; dagegen müssen bei Markus, wenn er im Folgenden die ὑπηρέτας von ihnen unterscheidet, die τινὲς ἐμπτύοντες einige von den πάντες sein, welche ihn eben vorher verurtheilt hatten, und auch bei Matthäus, der, oh - ne ein neues Subjekt zu setzen, nur durch τότε ἤρξαντο fortfährt, sind es offenbar die Synedristen selbst, welche sich jene unwürdigen Handlungen erlauben, was Schleier - macher mit Recht unwahrscheinlich gefunden, und insofern die Darstellung des Lukas der des Matthäus vorgezogen hat7)a. a. O.. Die Miſshandlung besteht bei Johannes in einem Backenstreich (ῥάπισμα), welchen ein Diener, wegen einer vermeintlich unbescheidenen Rede gegen den Hohenprie - ster, Jesu giebt; bei Matthäus und Markus ist es Ver - speiung des Angesichts (ἐνέπτυσαν εἰς τὸ πρόσωπον αὐτοῦ), Schläge auf den Kopf und Backenstreiche, wozu, auch nach Lukas, das kam, daſs er bei verhülltem Haupt ge -488Dritter Abschnitt.schlagen und höhnend aufgefordert wurde, seinen messia - nischen Seherblick durch Angabe des Thäters zu beurkun - den8)Dass Matthäus hier der Verhüllung nicht gedenkt, ist eine Nachlässigkeit seiner Darstellung, da ohne jene Notiz das προφήτευσον κ. τ. λ. keinen rechten Sinn hat.. Nach Olshausen hat der Geist der Weissagung es nicht unter seiner Würde gehalten, diese Rohheiten im Einzelnen vorherzuverkündigen, und zugleich die Gemüths - verfassung zu zeichnen, welche der Heilige Gottes der un - heiligen Menge entgegenstellte. Richtig wird hiezu Jes. 50, 6 f. angeführt (LXX): τὸν νῶτόν μουδέδωκα εἰς μάςι - γας, τὰς δὲ σιαγόνας μου εἰς ῥαπίσματα, τὸ δὲ πρόσωπόν μουουκ ἀπέςρεψα ἀπὸ αἰσχύνης ἐμπτυσμάτων κ. τ. λ., vgl. Mich. 4, 14, und für die Art, wie Jesus das Alles ertrug, die bekannte Stelle Jes. 53, 7, wo vom Knecht Gottes das Schweigen unter den Miſshandlungen hervorgehoben wird. Allein, daſs Jes. 50, 4 ff. eine Weissagung auf den Mes - sias sei, ist ebenso gegen den Zusammenhang des Abschnitts, wie bei Jes. 53.9)s. Gesenius z. d. Absch.: folglich müſste das Zusammentreffen des Erfolgs mit diesen Stellen entweder menschlich beabsich - tigt, oder rein zufällig gewesen sein. So wenig nun die Diener und Soldaten bei ihren Miſshandlungen die Absicht gehabt haben werden, Weissagungen an Jesu in Erfüllung gehen zu lassen: so wenig wird man diesem selbst das Affektirte zuschreiben wollen, aus dieser Absicht geschwie - gen zu haben; aus dem bloſsen Zufall aber ein solches, aller - dings, wie Olshausen sagt, in's Einzelne gehendes, Zusam - mentreffen herzuleiten, ist immer miſslich. So wahrschein - lich es also auch der rohen Sitte jener Zeit zufolge ist, daſs der gefangene Jesus miſshandelt, und unter Andrem auch so miſshandelt worden ist, wie die Evangelisten es beschreiben: so läſst sich doch kaum verkennen, daſs ihre Schilderungen nach Weissagungen gemacht sind, welche man, da Jesus einmal als Leidender und Miſshandelter ge -489Drittes Kapitel. §. 125.geben war, auf ihn bezog; ebenso, wie angemessen es auch dem Charakter Jesu ist, diese Miſshandlungen geduldig er - tragen, und unbefugte Fragen mit edlem Schweigen zurück - gewiesen zu haben: so hätten doch schwerlich die Evan - gelisten dieſs so oft und angelegentlich hervorgehoben10)Matth. 26, 63. vgl. Markus 14, 61: δὲ . ἐσιώπα. Matth. 27, 12: ἐδὲν ἀπεκρίνατο. Matth. 27, 14. vgl. Marc. 15, 5: καὶ ουκ ἀπεκρίνατο αὐτῷ πρὸς ουδὲ ἓν ῥῆμα, ὥςε ϑαυμάζειν τὸν ἡγεμόνα λίαν. Luc. 23, 9: αὐτὸς δὲουδὲν ἀπεκρίνατο αὐτῷ. Joh. 19, 9: δὲ . ἀπόκρισιν ουκ ἔδωκεν αὐτῷ. , wenn es ihnen nicht darum zu thun gewesen wäre, da - durch A. T. liche Orakel als erfüllt zu zeigen.

§. 125. Die Verleugnung des Petrus.

Bei der Abführung Jesu aus dem Garten lassen die zwei ersten Evangelisten im Augenblick zwar alle Jünger die Flucht ergreifen, doch folgt auch bei ihnen, wie bei den übrigen, Petrus von ferne, und weiſs sich mit dem Zuge Eingang in den Hof des hohenpriesterlichen Palasts zu verschaffen. Während den Synoptikern zufolge Petrus allein es ist, der diese Probe von Muth und Anhänglichkeit an Jesum, die ihm aber bald genug zur tiefsten Demüthi - gung ausschlagen sollte, ablegt: gesellt ihm das vierte Evan - gelium den Johannes bei, und zwar so, daſs es dieser ist, welcher durch seine Bekanntschaft mit dem Hohenpriester dem Petrus Zutritt zu dessen Palast verschafft eine Ab - weichung, die mit dem ganzen eigenthümlichen Verhältniſs, in welches dieses Evangelium den Petrus zu Johannes sezt, schon früher erwogen worden ist1)1. Bd. S. 559..

Sämmtlichen Evangelisten zufolge war es in dieser αὐλὴ, daſs Petrus, eingeschüchtert durch die bedenkliche Wen -490Dritter Abschnitt.dung der Sache Jesu und die hohenpriesterliche Diener - schaft, die ihn umgab, den entstandenen und wiederholt geäusserten Verdacht, daſs er zu den Anhängern des ver - hafteten Galiläers gehöre, durch wiederholte Versicherun - gen, ihn nicht zu kennen, niederzuschlagen suchte. Doch, wie bereits angedeutet, schon in Bezug auf den Inhaber dieses Lokals findet eine Abweichung zwischen dem vier - ten Evangelium und den übrigen statt, indem die Verleug - nung nach diesen im Palast des regierenden Hohenpriesters, Kaiphas, vorgeht, nach jenem im Palaste des Annas we - nigstens begonnen, und wahrscheinlich auch fortgesezt wird. Entschieden fällt bei Johannes die erste Verleugnung (18, 17.), wenn wir die im lezten §. beurtheilten Ausgleichungs - versuche als abgethan betrachten, während des Verhörs vor Annas, da sie nach der Notiz, daſs Jesus zu Annas (V. 13.), und vor der, daſs er zu Kaiphas geführt worden sei (V. 24.), steht; da nun aber die zwei weiteren Akte der Verleugnung auf die Erwähnung der Abführung zu Kaiphas erst folgen (V. 25 27.), und unmittelbar nach ihnen die Ablieferung an den Pilatus erzählt wird (V. 28.): so scheinen der zweite und dritte Verleugnungsakt auch nach Johannes während des Verhörs vor Kaiphas, in des - sen Palaste, vorgegangen zu sein. Allein diese Verschie - denheit der Lokalität für die erste Verleugnung und die beiden folgenden, welche ein theilweises Zusammentreffen des vierten Evangeliums mit den übrigen wäre, hat in der johanneischen Darstellung selbst ein Hinderniſs. Nachdem die erste, schon an der Pforte des Palastes von Annas vor - gefallene Verleugnung gemeldet ist, heiſst es, die Diener - schaft habe sich der Kälte wegen ein Kohlenfeuer ange - macht, ἠν δὲ καὶ μετ̕ αὐτῶν Πέτρος ἑςὼς καὶ ϑερμαινό - μενος (V. 18.). Wenn nun später die Erzählung von der zweiten und dritten Verleugnung fast mit den nämlichen Worten: ἦν δὲ Σίμων Πέτρος ἑςὼς καὶ ϑερμαινόμενος (V. 25.) sich eröffnet: so kann man nicht anders denken, als durch491Drittes Kapitel. §. 125.jene erste Erwähnung des Kohlenfeuers, und daſs Petrus zu demselben getreten, solle der Umstand eingeleitet wer - den, daſs die zweite und dritte Verleugnung an diesem Feuer, also gleichfalls noch im Hause des Annas, vorge - fallen sei. Zwar sprechen die Synoptiker (Marc. V. 54. Luc. V. 55.) auch im Hofe des Kaiphas von einem Feuer, an welchem Petrus (nur hier sitzend, wie bei Johannes stehend) sich gewärmt habe: doch daraus folgt nicht, daſs auch Johannes im Hofe des regierenden Hohenpriesters ein ähnliches Feuer sich gedacht habe, wie er nur bei Annas eines solchen gedenkt. Wer daher die Vermuthung des Euthymius zu künstlich findet, daſs die Wohnungen des Annas und Kaiphas vielleicht einen gemeinschaftlichen Hof - raum gehabt, und folglich Petrus nach der Abführung Jesu vom ersteren zum lezteren an demselben Feuer habe ste - hen bleiben können, der nimmt lieber an, die zweite und dritte Verleugnung sei dem Johannes zufolge nicht nach, sondern eben während der Abführung Jesu von Annas zu Kaiphas geschehen2)So Schlkiermacher, über den Lukas, S. 289. Olshausen, 2, S. 445..

Bleibt somit die Differenz der Evangelien in Bezug auf die Örtlichkeit der Verleugnung eine totale, so haben die Einen zu Gunsten des Johannes sich dahin entschieden, daſs die versprengten Jünger über diese Scenen nur frag - mentarische Nachrichten gehabt, und der in Jerusalem nicht einheimische Petrus selbst nicht gewuſst habe, in welchen Palast er zu seinem Unglück hineingekommen war, son - dern er, und nach ihm die ersten Evangelisten, haben ge - meint, die Verleugnungen seien im Hofe des Kaiphas vor - gefallen, was jedoch der in der Stadt und dem hohenprie - sterlichen Palast bekanntere Johannes berichtige3)So Paulus, a. a. O. S. 577 f.. Al - lein auch das Unglaubliche zugegeben, daſs Petrus irrig492Dritter Abschnitt.gemeint haben sollte, im Palaste des Kaiphas geleugnet zu haben, so hätte doch gewiſs Johannes, der in diesen Ta - gen um den Petrus war, seine Aussage gleich damals be - richtigt, so daſs jene irrige Meinung sich gar nicht hätte fixiren können. Umgekehrt, den Synoptikern recht gege - ben hat man aus Respect vor Johannes immer nur so, daſs man durch eine jener Künsteleien diesen gütlich auf ihre Seite zu ziehen, und auch das von ihm Berichtete als et - was im Lokal des Kaiphas Vorgefallenes darzustellen suchte. Statt dessen müſste aber vielmehr, wer den Synoptikern recht geben wollte, den Johannes; des Irrthums beschuldi - gen, wie, wer ihm beistimmt, die Synoptiker; ein Dilem - ma, in welchem uns für die eine oder andere Seite zu ent - scheiden, wir nicht die erforlichen Mittel haben.

In Bezug auf die einzelnen Akte der Verleugnung stim - men sämmtliche Evangelisten darin zusammen, daſs es de - ren, gemäſs der Vorhersage Jesu, drei gewesen seien; aber in der Beschreibung derselben weichen sie von einander ab. Zuerst Orte und Personen betreffend, geschieht nach Jo - hannes die erste Verleugnung bereits bei'm Eintritt des Pe - trus gegen eine παιδίσκη ϑυρωρός (V. 17.): bei den Syn - optikern erst im innern Hofraum, wo Petrus am Feuer saſs, gegen eine παιδίσκη (Matth. V. 69 f. parall.). Die zweite geschieht nach Johannes (V. 25.) und auch nach Lukas, der wenigstens keine Veränderung des Standpunkts anmerkt (V. 58.), am Feuer: bei Matthäus (V. 71.) und Markus (V. 68 ff. ), nachdem Petrus in den vorderen Hof (πυλων, προαύλιον) hinausgegangen war; ferner nach Jo - hannes gegen mehrere, nach Lukas gegen Einen Mann; nach Matthäus gegen eine andere, nach Markus gegen die - selbe Magd, vor welcher er das erstemal geleugnet hatte. Die dritte Verleugnung geschah nach Matthäus und Mar - kus, die keine Ortsveränderung gegen die zweite bemer - ken, gleichfalls im vorderen Hof: nach Lukas und Johan - nes, sofern sie gleichfalls keines Lokalwechsels gedenken,493Drittes Kapitel. §. 125.ohne Zweifel noch im inneren, am Feuer; ferner nach Matthäus und Markus gegen mehrere Umstehende: nach Lukas gegen Einen: nach Johannes bestimmt gegen einen Anverwandten des im Garten verwundeten Knechts. Was für's Andere die Reden betrifft, welche bei dieser Gele - genheit gewechselt werden, so sind die Anreden der Leute bald an Petrus selbst, bald an die Umstehenden gerichtet, um sie auf ihn aufmerksam zu machen, und lauten die bei - den ersten Male ziemlich gleich dahin, daſs auch er einer von den Anhängern des eben Verhafteten zu sein scheine; nur bei'm drittenmal, wo die Leute ihren Verdacht gegen Petrus motiviren wollen, gebrauchen sie nach den Synop - tikern als Beweisgrund seinen galiläischen Dialekt, bei Jo - hannes beruft sich der Verwandte des Malchus darauf, ihn im Garten bei Jesu gesehen zu haben; wo die erstere Mo - tivirung ebenso natürlich, als die zweite, sammt der Be - zeichnung dessen, der sie vorbrachte, als eines Verwand - ten jenes Malchus, künstlich und gemacht klingt, um die Beziehung jenes Schwertstreichs auf Petrus recht fest in die Erzählung zu verweben. In den Antworten des Petrus findet die Abweichung statt, daſs er nach Matthäus schon die zweite, nach Markus erst die dritte, bei den beiden andern gar keine seiner Verleugnungen durch einen Schwur bekräftigt; bei Matthäus ist dann an der dritten Verleug - nung die Steigerung dadurch hervorgebracht, daſs zu dem ὀμνύειν noch das καταναϑεματίζειν gefügt ist, was den an - dern gegenüber allerdings als übertreibende Darstellung erscheinen kann.

Diese so verschieden erzählten Verleugnungen derge - stalt ineinander einzuschieben, daſs kein Evangelist einer unrichtigen, ja auch nur ungenauen Darstellung beschuldigt werden müſste, war nun ganz ein Geschäft für die Harmo - nisten. Nicht nur die älteren, supranaturalistischen Aus - leger, wie Bengel, haben sich diesem Geschäft unterzo - gen, sondern auch neuestens noch hat sich Paulus viele494Dritter Abschnitt.Mühe gegeben, die verschiedenen, von den Evangelisten erzählten Verleugnungsakte in schickliche Ordnung und pragmatischen Zusammenhang zu bringen. Nach ihm ver - leugnet Petrus den Herrn

  • 1) vor der Pförtnerin (1te Verleugnung bei Johannes);
  • 2) vor mehreren am Feuer Stehenden (2te bei Joh.);
  • 3) vor einer Magd am Feuer (1te bei den Synoptikern);
  • 4) vor einem, der nicht näher bezeichnet wird (2te bei Lukas);
  • 5) bei'm Hinausgehen in den vordern Hof vor einer Magd (2te bei Matthäus und Markus. Aus dieser Verleugnung müſste Paulus consequenterweise zwei machen, da die Magd, welche die Umstehenden auf den Petrus aufmerksam macht, nach Markus dieselbe mit No. 3., nach Matthäus aber eine andere war);
  • 6) vor dem Verwandten des Malchus (dritte bei Joh.);
  • 7) vor einem, der ihn am galiläischen Dialekt erkennen will (dritte bei Lukas), welchem sofort
  • 8) mehrere Andere beistimmen, gegen welche sich Pe - trus noch stärker betheuert, Jesum nicht zu kennen (dritte bei Matthäus und Markus).

Indeſs durch solche vom Respect vor der Glaubwür - digkeit der Evangelisten eingegebene Auseinanderhaltung ihrer Berichte kam man in Gefahr, die noch wichtigere Glaubwürdigkeit Jesu anzutasten; denn dieser hatte von dreimaligem Verlengnen gesprochen: nun aber soll Petrus, je nachdem man mehr oder minder consequent im Ausein - anderhalten ist, 6 9 mal verleugnet haben. Die ältere Exegese half sich durch den Kanon: abnegatio ad plures plurium interrogationes facta uno paroxysmo, pro una numeratur4)Bengel, im Gnomon.. Allein auch die Zulässigkeit einer solchen Zählung eingeräumt, so müſsten, da jeder der vier Referen -495Drittes Kapitel. §. 125.ten zwischen den einzelnen von ihm berichteten Verleug - nungen meistens gröſsere oder kleinere Zwischenzeiten be - merklich macht, allemal gerade die von verschiedenen Evan - gelisten erzählten, also eine von Matthäus berichtete mit einer von Markus u. s. f., in Einem Zuge geschehen sein: was eine durchaus willkührliche Voraussetzung ist. Daher hat man sich neuerlich lieber darauf berufen, daſs das τρὶς im Munde Jesu nur eine runde Zahl für ein wiederholtes Verleugnen gewesen sei, und daſs Petrus, einmal in die Verlegenheit vermeintlicher Nothlügen versunken, seine Be - theurungen eher gegen 6 7, als bloſs gegen drei argwöh - nisch Fragende wiederholt haben möge5)Paulus, a. a. O. S. 578.. Allein, wenn man auch nach Lukas (V. 59 f.) die Zeitdistanz von der ersten Verleugnung bis zur lezten zu mehr als einer Stun - de anschlägt, so ist doch ein solches Fragen aller Leute an allen Enden und Ecken, und daſs bei diesem so allge - meinen Verdacht Petrus doch frei ausgieng, höchst unwahr - scheinlich, und wenn die Erklärer die Stimmung des Pe - trus während dieser Scene als eine völlige Betäubung be - schreiben6)Hess, Geschichte Jesu, 2, S. 343., so geben sie hiemit vielmehr die Stimmung an, in welche der Leser hineingeräth, der in ein solches Gedränge von immer sich wiederholenden Fragen und Ant - worten gleichen Inhalts, dem sinn - und endlosen Fort - schlagen einer in Unordnung gekommenen Uhr vergleich - bar, sich hineinversetzen soll. Mit Recht hat Olshausen die Bemühung, dergleichen Differenzen wegzuschaffen, als eine unbelohnende von der Hand gewiesen: doch sucht er theils selbst unmittelbar darauf an einigen Punkten dieser Erzählung die Abweichungen auf gezwungene Weise aus - zugleichen, theils, wenn er darauf besteht, daſs gerade drei Verleugnungen vorgefallen, so hat doch wieder Pau - lus das Richtigere gesehen, wenn er das absichtliche Be -496Dritter Abschnitt.streben der Evangelisten bemerklich macht, eben eine drei - fache Ableugnung herauszubringen. Dieses Streben haben sie zunächst mit Rücksicht auf die Vorhersagung Jesu: allein, daſs dieser gerade so bestimmt von drei Verleugnungs - fällen gesprochen haben sollte, ist ebenso unwahrschein - lich, als daſs er, wenn er den Ausdruck: τρὶς, gebrauchte, dieſs bloſs sprüchwörtlich gemeint habe. Sondern beide Dreizahlen sind wohl auch hier, wie sonst so oft, in der Sage entstanden, so daſs, was an jenem Abend vielleicht zu wiederholten Malen (nur nicht 8 9 mal) vorgekommen war, auf dreimal fixirt, und demgemäſs auch Jesu eine Vorherverkündigung eben dieser Zahl von Verleugnungen in den Mund gelegt wurde.

Den Endpunkt und gleichsam die Katastrophe der ganzen Verleugnungsgeschichte führt nach allen Berichten der Vorhersagung Jesu gemäſs das Krähen des Hahns her - bei. Nach Markus kräht derselbe schon nach der ersten Verleugnung (V. 68.), und dann nach der dritten zum zwei - tenmal: bei den übrigen nur Einmal, nach dem lezten Ver - leugnungsakt. Während mit diesem Datum Johannes sei - ne Darstellung beschlieſst, fügen Matthäus und Markus noch hinzu, daſs Petrus bei dem Hahnenschrei sich der Voraussagung Jesu erinnert und geweint habe; Lukas aber hat die eigenthümliche Ausführung, daſs bei'm Krähen des Hahns Jesus sich umgewendet, und den Petrus angesehen habe, worauf dieser, der Voraussage Jesu eingedenk, in bitteres Weinen ausgebrochen sei. Da nun aber nach den beiden ersten Evangelisten Petrus nicht in demselben Lo - kal mit Jesu, sondern ἔξω (Matth. V. 69.) oder κάτω (Marc. V. 66.) ἐν τῇ αὐλῇ, also Jesus innen oder oben im Palast war, so muſs man fragen, wie denn Jesus die Verleugnun - gen des Petrus habe mit anhören, und hierauf ihn ansehen können? Auf das Leztere bekommt man gewöhnlich die Antwort, Jesus sei jezt eben aus dem Palast des Annas in den des Kaiphas abgeführt worden, und habe im Vor -497Drittes Kapitel. §. 125.übergehen den schwachen Jünger bedeutend angesehen7)Paulus und Olshausen z. d. St. Schleiermacher, a. a. O. S. 289.. Allein von einem solchen Abführen weiſs Lukas nichts; auch lautet sein ςραφεὶς Κύριος ἐνέβλεψε τῷ Πέτρῳ nicht sowohl, wie wenn Jesus im Gehen, als wie wenn er, abgewendet stehend, sich nach Petrus umgesehen hätte; endlich aber ist durch jene Voraussetzung noch nicht er - klärt, wie Jesus zur Kenntniſs von den Verleugnungen des Jüngers gekommen war, da er bei dem Getümmel die - ses Abends doch nicht wohl, wie Paulus meint, im Zim - mer den auf dem Hof lautredenden Petrus hören konnte. Freilich findet sich jene ausdrückliche Unterscheidung des Ortes, wo Jesus, von dem wo Petrus war, bei Lukas nicht, sondern nach ihm könnte auch Jesus einige Zeit im Hof sich haben aufhalten müssen: allein theils ist hier die Darstellung der andern an sich wahrscheinlicher, theils macht auch die eigene Erzählung des Lukas von den Ver - leugnungen von vorne herein nicht den Eindruck, als ob Jesus in unmittelbarer Nähe gewesen wäre. Man hätte sich übrigens die Hypothesen zur Erklärung jenes Blicks ersparen können, wenn man auf den Ursprung dieses Zugs einen kritischen Blick gerichtet hätte. Schon die Unklar - heit, mit welcher der in der ganzen früheren Verhandlung hinter die Scene gerückte Jesus hier auf einmal einen Blick in dieselbe wirft, hätte, zusammengenommen mit dem Still - schweigen der übrigen Evangelisten, ein Fingerzeig sein sollen, wie es mit dieser Notiz steht. Dann, wenn hinzu - gesezt wird, als Jesus den Petrus anblickte, habe sich die - ser des Worts erinnert, welches Jesus früher über seine bevorstehende Verleugnung zu ihm gesprochen hatte: so hätte man bemerken können, wie der Blick Jesu nichts Andres ist, als die zur äussern Anschauung gemachte Er - innerung des Petrus an die Worte seines Meisters. Zeigt die hierin einfachste johanneische Erzählung nur objektivDas Leben Jesu II. Band. 32498Dritter Abschnitt.das Eintreffen der Verheiſsung Jesu durch das Krähen des Hahnes an; fügen die zwei ersten Evangelisten hiezu auch den subjektiven Eindruck, welchen dieses Zusammentref - fen auf den Petrus machte: so wendet Lukas dieſs wieder objektiv, und läſst die schmerzhafte Erinnerung an die Worte des Meisters als einen durchbohrenden Blick von diesem in das Innere des Jüngers dringen.

§. 126. Der Tod des Verräthers.

Auf die Nachricht, daſs Jesus zum Tode verurtheilt sei, läſst das erste Evangelium (27, 3 ff. ) den Judas, von Reue ergriffen, zu den Hohenpriestern und Ältesten eilen, um die 30 Silberlinge, mit der Erklärung, daſs er einen Unschuldigen verrathen habe, ihnen zurückzugeben. Als aber diese höhnisch alle Verantwortlichkeit für jene That auf ihn allein schieben: geht Judas, nachdem er das Geld im Tempel hingeworfen, von Verzweiflung getrieben, weg, und erhängt sich. Die Synedristen hierauf kaufen um das von Judas zurückgegebene Geld, welches sie als Blutgeld nicht in den Tempelschaz legen zu dürfen glauben, einen Töpfersacker, zum Begräbniſs für Fremde. Hiezu bemerkt der Evangelist zweierlei: erstlich, daſs eben dieser Art der Erwerbung wegen das Grundstück bis auf seine Zeit Blut - acker genannt worden sei, und zweitens, daſs durch die - sen Gang der Sache eine alte Weissagung sich erfüllt ha - be. Während die übrigen Evangelisten über das Ende des Judas schweigen, finden wir dagegen in der Apostel - geschichte (1, 16 ff. ) einen Bericht über dasselbe, welcher von dem des Matthäus in mehreren Stücken abweicht. Petrus, wo er die Ergänzung der apostolischen Zwölfzahl durch die Wahl eines neuen Mitgliedes in Antrag bringt, findet angemessen, zuvor an die Art, wie die Lücke im Apostelkreise entstanden war, d. h. an den Verrath und das Ende des Judas, zu erinnern; und sagt in lezterer Bezie -499Drittes Kapitel. §. 126.hung, der Verräther habe für den Lohn seiner Schandthat ein Grundstück sich erworben, sei aber jählings herabge - stürzt, und mitten entzweigeborsten, so daſs alle Einge - weide herausgetreten seien; das Grundstück aber habe man, weil die Sache in ganz Jerusalem bekannt gewor - den, ἀκελδαμὰ, d. h. Blutland, geheiſsen. Wozu dann der Referent den Petrus bemerken läſst, daſs dadurch zwei Psalmstellen in Erfüllung gegangen seien.

Zwischen diesen beiden Berichten findet eine doppelte Abweichung statt: die eine über die Todesart des Judas, die andere darüber, wann und von wem das Grundstück erworben worden sei. Was das Erstere betrifft, so ist es nach Matthäus Judas selbst, welcher aus Reue und Ver - zweiflung Hand an sich legt: wogegen in der A. G. von keiner Reue des Verräthers die Rede ist, und sein Tod nicht als Selbstmord, sondern als zufälliger, oder näher vom Himmel zur Strafe verhängter Unglücksfall erscheint; ferner ist es bei Matthäus der Strick, durch welchen er sich den Tod giebt: nach der Darstellung des Petrus ist es ein Sturz, der durch ein gräſsliches Bersten des Lei - bes seinem Leben ein Ende macht. Wie thätig von jeher die Harmonisten gewesen sind, diese Abweichungen auszu - gleichen, mag man bei Suicer1)Thesaurus, s. v. ἀπάγχω. und Kuinöl nachlesen: hier sollen nur kurz die Hauptversuche aufgeführt wer - den. Da die bezeichnete Abweichung ihren Hauptsiz in den Worten ἀπήγξατο bei Matthäus, und πρηνὴς γενόμενος bei Lukas hat: so lag es am nächsten, zuzusehen, ob nicht der eine dieser Ausdrücke auf die Seite des andern zu ziehen wäre. Dieſs hat man mit ἀπήγξατο auf verschie - dene Weise versucht, indem dieses Wort bald nur die Beängstigungen des bösen Gewissens2)Grotius., bald eine Krank -32 *500Dritter Abschnitt.heit in Folge derselben3)Heinsius., bald jeden aus Schwermuth und Verzweiflung gewählten Tod bedeuten sollte4)Perizonius., wozu dann erst das πρηνὴς γενόμενος κ. τ. λ. der Apostelgeschichte das Genauere nachbringe, daſs die Todesart, zu welcher den Judas das böse Gewissen und die Verzweiflung trieb, der Sturz von steiler Höhe herunter gewesen sei. Andere haben umgekehrt das πρηνὴς γενόμενος dem ἀπήγξατο an - zupassen gesucht, in der Art, daſs es nichts Anderes aus - drücken sollte, als dasjenige als Zustand, was das ἀπήγξατο als Handlung: wenn dieses durch se suspendit, so sollte jenes durch suspensus übersezt werden5)So die Vulgata und Erasmus. S. gegen alle diese Deutungen Kuinöl, in Matth. p. 743 ff.. Der offenba - ren Gewaltsamkeit dieser Versuche gegenüber haben An - dere mit Schonung der natürlichen Bedeutung der beider - seitigen Ausdrücke die abweichenden Berichte durch die Annahme vereinigt, daſs Matthäus einen früheren, die A. G. einen späteren Moment in dem Hergang bei dem Ende des Judas berichte. Und zwar hielten einige der älteren Er - klärer beide Momente so weit auseinander, daſs sie in dem ἀπήγξατο nur einen miſslungenen Versuch zum Selbstmord sahen, welchen Judas, indem der Baumast, an den er sich hängen wollte, sich bog, oder aus sonst einer Ursa - che, überlebte, bis später die Strafe des Himmels durch das πρηνὴς γενόμενος ihn ereilte6)Oekumenius zu A. G. 1: Ἰουδας ουκ ἐναπέϑανε τῇ ἀγχόνῃ, ἀλλ̕ἐπεβίω, κατενεχϑεὶς πρὸ τοῦ ἀποπνιγῆναι. Vgl. Theophy - lakt zu Matth. 27, und ein Schol. Ἀπολιναρίου bei Matthaki.. Allein, da Matthäus sein ἀπήγξατο offenbar in der Meinung und Absicht sezt, von dem Verräther das Lezte zu berichten: so hat man in neuerer Zeit die beiden Momente, in deren Bericht sich das erste Evangelium und die A. G. theilen sollen, näher zusammengezogen, und angenommen, Judas habe sich auf501Drittes Kapitel. §. 126.einer Höhe an einem Baume aufhängen wollen, da aber der Strick riſs, oder der Baumast brach, sei er über schrof - fe Klippen und spitze Gesträuche, die seinen Leib zer - fleischten, bis in's Thal heruntergestürzt7)So, nach Casaubonus, Paulus, 3, b, S. 457; Kuinöl, in Matth. 747 f., und mit halber Beistimmung Olshausen, 2, S. 455 f. Selbst Fritzsche ist durch den langen Weg bis zu diesen lezten Kapiteln des Matthäus so matt gemacht, dass er sich bei dieser Ausgleichung beruhigt, und unter Voraussetzung derselben behauptet, dass die beiden Berichte amicissime conspiriren.. Doch schon der Verfasser einer Abhandlung über die lezten Schicksale des Judas in Schmidt's Bibliothek8)2. Band, 2. Stück, S. 248 f. hat es auffallend ge - funden, wie getreulich sich nach dieser Annahme die bei - den Erzähler in die Nachricht getheilt haben müſsten, in - dem nicht etwa der eine das Unbestimmte, der andere das Bestimmtere berichte, sondern beide erzählen bestimmt, nur der eine den ersten Theil der Begebenheit ohne den zweiten, der andere den zweiten, ohne den ersten zu be - rühren, und Hase behauptet mit Recht, beide Berichter - statter haben jeder nur den von ihm aufgenommenen That - bestand gekannt, da sie sonst die andere Hälfte nicht hät - ten auslassen können9)L. J. §. 132..

Nachdem wir so an der ersten Differenz die Vereini - gungsversuche haben scheitern sehen, fragt sich nun, ob die andere, die Erwerbung des Grundstücks betreffende, sich leichter beilegen läſst. Sie besteht darin, daſs bei Mat - thäus erst nach des Judas Entleibung die Synedristen für das von ihm zurückgelassene Geld einen Acker (und zwar von einem Töpfer eine Bestimmung, die in der A. G. fehlt) erkaufen: wogegen nach der A. G. Judas selbst noch das Grundstück für sich erwirbt, und auf demselben vom jähen Tode ereilt wird; so daſs nach diesem Bericht502Dritter Abschnitt.das Grundstück von dem darauf vergossenen Blute des Verräthers, nach jenem von dem am Kaufpreiſs desselben klebenden Blute Jesu ἀγρὸς oder χωρίον αἵματος genannt worden zu sein scheint. Hier ist nun die Ausdruckswei - se des Matthäus so bestimmt, daſs an ihr nicht wohl zu Gunsten der andern Nachricht gedeutelt werden kann: wohl aber hat das ἐκτήσατο in der A. G. eingeladen, es nach Matthäus umzudeuten. Durch den Verrätherlohn, soll die Stelle der A. G. sagen wollen, erwarb er einen Acker: nicht unmittelbar, sondern mittelbar, indem er durch die Zurückgabe des Geldes Veranlassung zum Ankauf eines Grundstücks gab; nicht für sich, sondern für das Syne - drium oder das allgemeine Beste10)s. Kuinöl, in Matth. p. 748.. Doch so viele Stel - len man auch aufführen mag, in welchen das κτᾶσϑαι in der Bedeutung: für einen Andern erwerben: vorkommt, so muſs doch in diesem Falle nothwendig die andre Per - son, für welche einer erwirbt, angegeben oder angedeutet sein, und wenn dieſs, wie in der Stelle der A. G., nicht der Fall ist, so bleibt es bei der Bedeutung: für sich selbst erwerben11)s. Schmidt's Biblioth. a. a. O. S. 251 f.. Dieſs hat Paulus gefühlt, und daher der Sache die Wendung gegeben, von Judas, der durch den schauderhaften Sturz auf eine Leimengrube der Anlaſs ge - worden sei, daſs dieses Grundstück den Synedristen ver - kauft wurde, habe Petrus wohl ironisch sagen können, er habe noch im Tode durch den Fall seines Leichnams ein schönes Besizthum sich angeeignet12)Paulus, 3, b, S. 457 f. Fritzsche, p. 799.. Doch diese Deu - tung ist theils an sich geschraubt, theils zeigt das γενηϑή - τω ἔπαυλις αὐτοῦ ἔρημος, welches der Petrus der A. G. im Folgenden aus den Psalmen anführt, daſs er sich das Grund - stück als wirkliches Eigenthum des Judas gedacht habe, wel - ches zur Strafe durch seinen Tod verödet worden sei.

503Drittes Kapitel. §. 126.

Da sich hienach weder die eine noch die andre Dif - ferenz auf gütlichem Wege ausgleichen läſst, so hat schon Salmasius eine wirkliche Abweichung der beiden Berichte zugestanden, und Hase glaubt diese Erscheinung, ohne den apostolischen Ursprung der beiden Angaben zu gefähr - den, aus der gewaltigen Bewegung jener Tage erklären zu können, in welcher nur das Faktum des Selbstmords von Judas bekannt geworden, über den näheren Hergang des - selben aber verschiedene Gerüchte geglaubt worden seien. Allein in der A. G. ist von einem Selbstmord gar nicht die Rede, und daſs nun zwei Apostel, wie Matthäus und Petrus, wenn das erste Evangelium von jenem, die Rede in der A. G. aber von diesem herrühren soll, über den in ihrer nächsten Nähe erfolgten Tod ihres ehmaligen Mit - apostels so sehr im Dunkeln geblieben wären, daſs der ei - ne ihn eines zufälligen, der andre eines selbstgewählten Todes sterben lieſs, ist schwer zu glauben. Daſs daher nur eine der beiden Relationen als apostolisch festgehalten werden könne, hat der Verfasser der schon erwähnten Ab - handlung in Schmidt's Bibliothek richtig eingesehen. Und zwar ist er bei der Wahl zwischen beiden von dem an und für sich richtigen Grundsaz ausgegangen, daſs die minder auf Verherrlichung eingerichtete Erzählung die glaub - würdigere sei; weſswegen er denn der Darstellung der A. G., welche den verherrlichenden Zug der Reue des Judas und seines Bekenntnisses von Jesu Unschuld nicht hat, vor der des ersten Evangeliums den Vorzug giebt. Doch wie es immer ist bei zwei sich widersprechenden Berichten, daſs der eine den andern nicht nur durch sein Stehen ausschlieſst, sondern auch durch sein Fallen miterschüt - tert: so haben wir auch hier, wenn diejenige Darstellung der Sache, welche das Ansehen des Apostels Matthäus für sich gel - tend macht, aufgegeben ist, keine Bürgschaft mehr für die andere, welche sich dem Apostel Petrus in den Mund legt.

Dürfen wir somit beide Berichte auf einen Fuſs be -504Dritter Abschnitt.handeln, nämlich als Sagen, von welchen erst auszumachen ist, wie weit ihr geschichtlicher Kern, und wie weit das traditionell Aufgetragene geht: so müssen wir die Anhalts - punkte betrachten, an welche die Erzählungen sich knü - pfen. Hier zeigt sich ein beiden gemeinsamer, neben zwei andern, deren einen jede für sich eigen hat. Gemeinschaft - lich ist beiden Relationen das Datum, daſs es in oder bei Jerusalem ein Grundstüek gegeben habe, das ἀγρὸς oder χωρίον αἵματνς, in der Ursprache nach der Angabe der A. G. ἀκελδαμὰ, hieſs. Da in dieser Notiz zwei sonst so ganz auseinandergehende Berichte zusammentreffen, und überdieſs der Verfasser des ersten Evangeliums sich darauf beruft, daſs noch zu seiner Zeit jener Name des Ackers vorhanden gewesen sei: so darf die Existenz eines so be - nannten Grundstücks wohl nicht bezweifelt werden. Daſs es eine wirkliche Beziehung auf den Verräther Jesu ge - habt habe, ist schon weniger gewiſs, da unsre beiden Re - lationen diese Beziehung verschieden angeben: der eine den Judas selbst das Gut erwerben, der andere es erst nach seinem Tod um die 30 Silberlinge gekauft werden läſst. Wir können daher nur so viel sagen, daſs die ur - christliche Sage jenem Blutacker frühzeitig eine Beziehung auf den Verräther gegeben haben muſs. Warum aber in verschiedener Weise, davon ist der Grund in dem andern Anhaltspunkt unsrer Erzählungen zu suchen, in den A. - T. lichen Stellen nämlich, welche die Referenten, jeder übrigens andere, als erfüllt durch das Schicksal des Judas anführen.

In der Stelle der A. G. wird Ps. 69, 26. und Ps. 109, 8. in dieser Weise angeführt. Der leztere ist ein Psalm, wel - chen die ersten Christen aus den Juden gar nicht umhin konnten, auf das Verhältniſs des Judas zu Jesu zu bezie - hen. Denn nicht nur spricht der Verfasser (angeblich Da - vid, ohne Zweifel aber ein weit späterer13)s. de Wette, z. d. Ps.) von vorne her -505Drittes Kapitel. §. 126.ein von solchen, die falsch und giftig wider ihn reden, und ihm für seine Liebe Haſs zurückgeben, sondern von V. 6. an, wo die Verwünschungen angehen, wendet er sich gegen eine einzelne Person, so daſs die jüdischen Aus - leger an Doëg, Davids Verleumder bei Saul, dachten, und ebenso natürlich die Christen an den Judas. Aus diesem Psalm ist hier derjenige Vers herausgelesen, welcher, von der Übertragung des Amts an einen andern handelnd, ganz auf den Fall des Judas zu passen schien. Der andre Psalm redet zwar unbestimmter von solchen, die den Verfasser ohne Ursache hassen und verfolgen: doch ist er, ebenfalls angeblich Davidisch, dem andern an Inhalt und Manier so ähnlich, daſs er als Parallele zu jenem gelten, und wenn aus jenem, dann auch aus diesem Verwünschungen auf den Verräther angewendet werden konnten14)Auch sonst im N. T. sind Stellen dieses Psalms messianisch angewendet, wie V. 5. Joh. 15, 25; V. 10. Joh. 2, 17, und Joh 19, 28 f., wahrscheinlich V. 22.. Hatte nun Judas wirklich um seinen Verräthersold ein Gut gekauft, welches hernach wegen seines auf demselben erfolgten gräſslichen Endes öde liegen blieb: so ergab es sich von selbst, aus diesem Psalm gerade diejenige Stelle, welche den Feinden Verödung ihrer ἔπαυλις anwünscht, auf ihn zu beziehen. Wie es jedoch bei der Abweichung des Mat - thäus zweifelhaft ist, ob Judas selbst sich jenes Grundstück erkauft habe und auf demselben verunglückt sei: so war auch schwerlich den Juden das Stück Land, auf welchem der Verräther Jesu geendet hatte, so abscheulich, um es als Blutland öde liegen zu lassen, sondern diese Benen - nung hatte wohl einen andern, nicht mehr zu ermittelnden, Ursprung gehabt, und die Christen haben sie in ihrem Sin - ne umgedeutet, so daſs wir nicht aus einem wirklichen Besizthum des Judas die Anwendung der Psalmstelle und die Benennung jenes öden Platzes, sondern aus diesen bei -506Dritter Abschnitt.den Momenten die Sage von einem Besiz des Judas ablei - ten müssen. Waren nämlich die genannten beiden Psal - men einmal auf den Verräther Jesu bezogen, und in de - ren einem ihm Verödung seiner ἔπαυλις (LXX) gewünscht: so muſste er vorher im Besiz einer solchen gewesen sein, und diese, dachte man sich, wird er wohl um den Lohn seines Verraths erkauft haben. Oder vielmehr, daſs man aus jenen Psalmen gerade die Verödung der ἔπαυλις be - sonders hervorhob, scheint in der nahe liegenden Voraus - setzung seinen Grund gehabt zu haben, daſs eben an et - was, das er sich um sein Sündengeld erworben, der Fluch sich geäussert haben werde: etwas Erwerbliches aber ist unter dem, was die gedachten Psalmen aufführen, nur die ἔπαυλις. Dieser Wendung der Sache kam nun auf erwünsch - te Weise das in der Nähe Jerusalems gelegene ἀκελδα - μὰ entgegen, welches, je weniger man den wahren Ur - sprung seiner Benennung und des an ihm haftenden Ab - scheus kannte, desto leichter sich dazu hergab, von der urchristlichen Sage für sich verwendet, und als die ἔπαυλις ἠρημωμένη des Verräthers betrachtet zu werden.

Statt dieser Psalmstellen führt das erste Evangelium als erfüllt durch das endliche Benehmen des Judas eine Stelle angeblich aus Jeremias an, für welche sich aber nur bei Zacharias, 11, 12 f., etwas Entsprechendes findet, weſswegen man jezt ziemlich allgemein eine Verwechslung der Namen von Seiten des Evangelisten voraussezt15)Doch s. andere Vermuthungen bei Kuinöl z. d. St.. Wie Matthäus durch den Grundgedanken dieser Stelle einen unbillig geringen Preiſs für den im Orakel Redenden zu einer Anwendung auf den Verrath des Judas, der um ein schnödes Geld seinen Meister gleichsam verkauft hatte, sich veranlaſst finden konnte, ist schon oben auseinander - gesezt16)§. 115.. Nun war in der Prophetenstelle dem Urheber507Drittes Kapitel. §. 126.des Orakels von Jehova befohlen, das schlechte Geld, womit er abgelohnt worden war, in das Gotteshaus, und zwar אֶל־הַיּוֺצֵר, zu werfen, und er bemerkt, daſs er dieſs ge - than habe. Der Hinwerfende ist im Orakel dieselbe Per - son mit dem Sprechenden, also mit dem des geringen Prei - ses werth Geachteten, weil hier das Geld nicht Kaufpreiſs, sondern Lohn ist, folglich eben von dem so schlecht Be - lohnten eingenommen wird, und nur von diesem wieder hingeworfen werden kann: in der Anwendung des Evan - gelisten dagegen, wo das Geld ein Kaufpreiſs ist, war ein anderer als der so gering Angeschlagene als derjenige zu denken, welcher das Geld eingenommen und wieder hin - geworfen habe. War der um so geringen Preiſs Verkaufte Jesus: so konnte der, welcher das Geld eingezogen hatte und wieder hinwarf, nur sein Verräther sein. Daher heiſst es nun von diesem, er habe die ἀργίρια ἐν τῷ ναιῷ hinge - worfen, entsprechend dem וָאַשְׁלׅיךְ אֹתוֺ בֵית יְהוָֺה in der Pro - phetenstelle, obwohl gerade diese Worte in der höchst ent - stellenden Anführung des Matthäus fehlen. Nun aber stand neben dem בֵית יְהוָֺה, wohin das Geld geworfen worden war, noch der Beisaz: אֶל־הַיּוֺצֵר Die LXX. übersezt: εἰς το χωνευτήριον, in den Schmelzofen; jezt vermuthet man mit Grund, es sei אֶל־הַיּוֺצָר, in den Schatz, zu lesen17)Hitzig, in Ullmann's und Umbreit's Studien, 1830, 1, S. 35. Gesenius, im Lex., vgl. Rosenmüller's Scholia in V. T. 7, 4, S. 320 ff.; der Verfasser unsres Evangeliums blieb bei der wörtlichen Übersetzung durch κεραμεύς. Was aber der Töpfer hier thun, warum ihm das Geld gegeben werden sollte, muſste ihm zunächst ebenso unverständlich sein, wie uns, wenn wir bei der gewöhnlichen Lesart bleiben. Nun fiel ihm aber der Blutacker ein, welchem, wie wir aus der A. G. sehen, die christliche Sage eine Beziehung auf den Judas gegeben hatte, und so ergab sich die willkommene Combination, je -508Dritter Abschnitt.ner Acker sei es wohl gewesen, für welchen dem κεραμεὺς die 30 Silberlinge erlegt werden muſsten. Da aber der Töpfer nicht im Tempel zu denken war, und doch laut der Prophetenstelle die Silberlinge in den Tempel gewor - fen worden waren: so wurde das Hinwerfen in den Tem - pel von dem Abgeben an den Töpfer getrennt. Muſste je - nes dem Judas zugeschrieben werden, hatte er also einmal das Geld aus der Hand gegeben: so konnte nicht mehr er selbst das Grundstück von dem Töpfer kaufen, sondern dieſs muſsten mit dem hingeworfenen Gelde Andere thun. Wer diese gewesen sein muſsten, ergab sich von selbst: warf Judas das Geld hin, so wird er es denen hingewor - fen haben, von welchen er es erhalten hatte; warf er es in den Tempel, so fiel es dessen Vorstehern in die Hände, auf beide Weise also den Synedristen. Der Zweck, wel - chen diese bei dem Ankauf des Grundstücks gehabt haben muſsten, ergab sich vielleicht aus der wirklichen Benützung jenes öden Platzes. Sollte endlich Judas den Lohn seines Verraths von sich geworfen haben: so konnte dieſs, muſste man schlieſsen, nur aus Reue geschehen sein, und wie wird sich diese ferner geäussert haben? Daſs er sich zum Guten zurückgewendet hätte, davon wuſste man nichts: folglich wird die Reue in ihm zur Verzweiflung geworden sein, und er das Ende des aus Davids Geschichte bekann - ten Verräthers Ahitophel genommen haben, von welchem es 2. Sam. 17, 23. heiſst: ἀνέςη καὶ ἀπῆλϑεν καὶ ἀπήγ - ξατο, wie von Judas hier: ἀνεχώρησε καὶ ἀπελϑὼν ἀπήγξατο.

Eine auf den Papias zurückgeführte Überlieferung scheint sich mehr nur an die Relation der Apostelgeschichte anzuschlieſsen. Ökumenius führt aus dem genannten Tra - ditionensammler an, daſs Judas zum abschreckenden Bei - spiel der Gottlosigkeit dermaſsen am Leibe aufgeschwollen sei, daſs er, wo ein Wagen durchfahren konnte, nicht mehr durchkam, und endlich, von einem Wagen gequetscht,509Drittes Kapitel. §. 126.zerborst und alle Eingeweide ausschüttete18)Oecumn. ad Act. 1.:τοῦτο δὲ σαφέςερον ἱςορεῖ, Παπίας, Ἰωάτνου τοῦ ἀποςόλου μαϑητής· μέγα ἀσεβείας ὑπόδειγμα ἐν τουτῳ τῷ κόσμῳ περιεπάτησεν Ἰουδας. Πρησϑεὶς γὰρ ἐπὶ τοοοῦτον τὴν σάρκα, ὥςε μὴ δύνασϑαι διελϑεῖν, ἁμάξης ῥᾳδίως διερχομένης, ὑπὸ τῆς ἁμάξης ἐπιέσϑη, ὥςε τὰ ἔγκατα αὐτοῦ ἐκκενωϑῆναι.. Die lezte Angabe ist ohne Zweifel ein Miſsverstand der alten Sage; denn der durchfahrende Wagen war ursprünglich in keine unmittelbare Berührung mit dem Leib des Judas gebracht, sondern nur als Maaſs für dessen Dicke gebraucht, und dieſs wurde später irrig so aufgefaſst, als ob ein vorüber - fahrender Wagen den aufgeschwollenen Judas zerquetscht hätte. Wirklich finden wir daher nicht allein bei Theo - phylakt und in einem alten Scholion19)s. oben Anm. 6. ohne bestimmte Zurückführung auf den Papias, sondern auch in einer Ca - tene mit genauer Anführung seiner ἐξηγήσεις, die Sache ohne jenen Zusaz erzählt20)In Münter's Fragm. Patr. 1, p. 17 ff. Die Stelle lautet übri - gens sehr ähnlich der des Oekumenius, und überbietet sie zum Theil noch: τοῦτο δὲ σαφέςερον ἱςορεῖ Παπίας, Ἰωάννου μαϑητὴς, λέγων οὑ̍τωςἐν τῷ τετάρτῳ τῆς ἐξηγήσεως τῶν κυριακῶν λόγων· μέγα δὲ ἀσεβείας ὑπόδειγμα ἐν τουτῳ τῷ κόσμῳ περιεπά - τησεν Ἰουδας· πρησϑεὶς ἐπὶ τοσοῦτον τῆν σάρκα, ὥςε μηδὲ ὁπόϑεν ἅμαξα ῥᾳδίως διέρχεται, ἐκεῖνον δύνασϑαι διελϑεῖν, ἀλλὰ μηδε αὐτὸν μὸνον τὸν ὄγκον τῆς κεφαλῆς αὐτοῦ τὰ μὲν γὰρ βλέφαρα τῶν ὀφϑαλμῶν αὐτοῦ (Cod. Venet.: φασὶ τοσοῦτον ἐξοιδῆσαι, ὡς αὐτὸν μὲν καϑόλου τὸ φῶς μὴ βλέπειν) μηδὲ ὑπὸ ἰατροῦ διόπτρας ὀφϑῆναι δύνασϑαι κ. τ. λ. Μετὰ πολλὰς δὲ βασάνους καὶ τιμωρίας ἐν ἰδίῳ, φασὶ, χωρίῳ τελευτήσαντος κ. τ. λ. . Das ungeheure Anschwel - len des Judas, von welchem in diesen Stellen die Rede ist, sollte wohl ursprünglich nur eine Erklärung für das Zerplatzen und Ausschütten der Eingeweide sein, und ebenso könnte man die Wassersucht, in welche Theophy - lakt ihn verfallen läſst, wiederum nur als eine Erklärung510Dritter Abschnitt.dieses Anschwellens betrachten: indessen, wenn man in dem, A. G. 1, 20. auf den Judas angewendeten Ps. 109. unter andern Vorwürfen auch den liest: εἰσῆλϑεν (nach dem Hebräischen vielleicht besser εἰσελϑέτω, sc. κατάρα) ὡσεὶ ἵδωρ εἰς τὰ ἔγκατα αὐτοῦ (V. 18. LXX. ): so könnte doch möglicherweise die νόσος ὑδερικὴ auch aus dieser Stelle geholt sein, wie der Zug der monströsen Beschrei - bung, welche der angebliche Papias von dem Zustande des Judas macht, daſs er nämlich wegen ungeheuren Anschwel - lens der Augenlieder das Tageslicht nicht mehr habe sehen können, an V. 24. des andern Judaspsalms erinnern dürfte, wo unter den Verwünschungen namentlich auch die vor - kommt: σκοτισϑήτωσαν οι ὀφϑαλμοὶ αὐτῶν τοῦ μὴ βλέπειν, eine Verhinderung am Sehen, welche, einmal den ge - schwollenen Leib des Judas vorausgesezt, als Zuschwellen der Augenlieder sich gestalten muſste. Hat so die an A. G. 1. sich anschlieſsende Tradition ihre Ansicht von dem Ende des Judas hauptsächlich nach Ausdrücken der be - zeichneten beiden Psalmen weitergebildet, und ist in jener Stelle der A. G. selbst die Angabe von dem Verhältniſs des Judas zu dem Landgut ebendaher entnommen: so liegt die Vermuthung nicht allzufern, daſs auch schon, was die A. G. über das Ende des Verräthers sagt, aus derselben Quelle geflossen sein möge. Daſs er eines frühzeitigen Todes ge - storben, kann historisch sein: aber auch wenn nicht, so war ein früher Tod schon Ps. 109, in demselben Sten Vers, welcher die Verleihung der ἐπισκοπὴ an einen Andern ent - hielt, in den Worten: γενηϑήτωσαν αἱ ἡμέραι αὐτοῦ ὀλίγαι, ihm verkündigt, und fast möchte man glauben, daſs auch der Tod durch einen jähen Fall aus Ps. 69, 23., wo es heiſst: γενηϑήτω τράπεζα αὐτῶν εἰς σκάνδαλον (לְמוֺקֵשׁ), entstanden sei.

Schwerlich also wissen wir von Judas auch nur soviel gewiſs, daſs er auf gewaltsame Weise vor der Zeit um's Leben gekommen: sondern wenn er, wie nach seinem Aus -511Drittes Kapitel. §. 127.tritt aus der Gesellschaft Jesu natürlich war, für diese in die Dunkelheit zurücktrat, in welcher die historische Kun - de von seinem weiteren Schicksal erlosch: so konnte die christliche Sage ungehindert alles das an ihm in Erfüllung gehen lassen, was die Weissagungen und Vorbilder des A. T. dem falschen Freunde des Davidssohnes drohten, und konnte selbst an eine bekannte unheilige Stätte in der Nähe Jerusalems das Andenken seines Verbrechens knüpfen.

§. 127. Jesus vor Pilatus und Herodes.

Nach sämmtlichen Evangelisten war es Morgens, als die jüdischen Obern Jesum, nachdem sie ihn des Todes schuldig erkannt hatten1)Nach Babyl. Sanhedrin, bei Lightfoot, p. 486, wo es heisst: judicia de capitalibus finiunt eodem die, si sint ad absolu - tionem; si vero sint ad damnationem, finiuntur die soquen - te wäre diess Verfahren ungesezlich gewesen., (fesseln nach Joh. 18, 12. war er schon im Garten bei der Gefangennehmung gefesselt wor - den; Lukas erwähnt des Bindens gar nicht und) zu dem römischen Procurator Pontius Pilatus führen lieſsen (Matth. 27, 1 ff. parall. Joh. 18, 28.). Hiezu nöthigte sie nach Joh. 18, 31. der Umstand, daſs dem Synedrium die Befug - niſs, Todesstrafen (ohne römische Genehmigung) zu voll - ziehen, abgenommen war2)Ausser dem johanneischen: ἡμῖν ουκ ἔξεςιν ἀποκτεῖναι ουδένα, spricht für diesen Stand der Dinge nur noch eine dunkle und schwankend ausgelegte Tradition, Avoda Zara f. 8, 2 (Lightfoot, p. 1123 f.):Rabh Cahna dicit, cum aegrotaret R. Ismaël bar Jose, miserunt ad eum, dicentes: dic nobis, o Domine, duo aut tria, quae aliquando dixisti nobis nomine patris tui. Dicit iis quadraginta annis ante excidium templi migravit Synedrium et sedit in tabernis. Quid sibi vult haec traditio? Rabh Isaac, bar Abdimi dicit: non ju - dicârunt judicia mulctativa. Dicit R. Nachman bar Isaac:: jedenfalls indeſs muſste dieſs -512Dritter Abschnitt.mal die jüdische Regierung wünschen, die Römer in die Sache zu ziehen, weil nur deren Macht ihr gegen einen ϑόρυβος ἐν τῷ λαῷ, den sie von einer Hinrichtung Jesu während der Festzeit befürchtete (Matth. 26, 5. parall. ), Sicherheit gewähren konnte.

Bei'm Prätorium angekommen, blieben, nach der Dar - stellung des vierten Evangeliums, die Juden aus Scheue vor levitischer Verunreinigung aussen, Jesus aber wurde in das Innere des Gebäudes geführt, so daſs Pilatus ab - wechslungsweise, wenn er mit den Juden verhandeln woll - te, herauskommen, wenn er aber Jesum inquirirte, hin - eingehen muſste (18, 28 ff.). Die Synoptiker stellen im Verfolg Jesum mit Pilatus und den Juden in Einem und demselben Lokal vor, da bei ihnen Jesus die Anklagen der Juden unmittelbar hört, und vor Pilatus beantwortet. Da sie, wie Johannes, die Verurtheilung unter freiem Himmel vorgehen lassen (nach derselben lassen sie ja Jesum in das Prätorium hineingeführt werden, Matth. 27, 27., und Matthäus wie Johannes 19, 13., läſst den Pilatus das βῆμα besteigen, V. 19., welches nach Josephus3)De bell. jud. 2, 9, 3. unter freiem Himmel stand), ohne im Verhältniſs zum Verhör einer Ortsveränderung zu gedenken: so haben sie sich wahr - scheinlich die ganze Verhandlung, aber, abweichend von Johannes, auch Jesum selbst, auf jenem Vorplaz gedacht.

2)ne dicat, quod non judicârunt judicia mulctativa, sed quod non judicârunt judicia capitalia womit noch die Notiz bei Josephus, Antiq. 20, 9, 1., verglichen werden kann, dass es ουκ ἐξὸν ῆν Ἀνάνῳ (dem Hohenpriester) χωρὶς τῆς ἐκείνου (des Procurators) γνώμης καϑίσαι συνέδριον. Dagegen könnte zwar die ohne Zuziehung der Römer erfolgte Hinrichtung des Ste - phanus, A. G. 7, zu sprechen scheinen: allein diess war ein tumultuarischer Akt, unternommen vielleicht im Vertrauen auf die Abwesenheit des Pilatus. Vgl. über diesen Punkt Lücke, 2, S. 631 ff.

513Drittes Kapitel. §. 127.

Die erste Frage des Pilatus an Jesum ist nach allen. Evangelien: σὺ εἰ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων, d. h. der Mes - sias? Bei den zwei ersten Evangelisten ist diese Frage ohne Einleitung durch eine Klage der Juden (Matth. V. 11. Marc. V. 2.); bei Johannes fragt Pilatus, aus dem Präto - rium heraustretend, die Juden, was sie gegen Jesum zu klagen hätten (18, 19.)? worauf sie ihm mit einem kaum begreiflichen Troz erwiedert haben sollen: εἰ μὴ οὖτος ἦν κακοποιὸς, ουκ ἄν σοι παρεδώκαμεν αὐτὸν, wodurch sie kei - neswegs sich versprechen konnten, dem Römer die Bestä - tigung auf die schnellste Weise abzudringen4)Wie Lücke annimmt, S. 631., sondern nur ihn zu erbittern. Nachdem ihnen Pilatus hierauf mit ebenso unglaublicher Gelindigkeit zur Antwort gegeben: so mögen sie ihn nehmen und nach ihrem Gesez richten indem er an ein todeswürdiges Verbrechen nicht gedacht zu haben scheint , und die Juden ihm ihre Incompetenz zur Vollziehung von Todesstrafen entgegengehalten haben: geht der Procurator hinein, und legt Jesu gleich die be - stimmte Frage vor, ob er der König der Juden sei? wel - che somit hier gleichfalls nicht gehörig eingeleitet ist. Nur bei Lukas ist dieſs der Fall, welcher zuerst die Anklagen der Synedristen gegen Jesum aufführt, daſs er das Volk aufwiegle, und zur Verweigerung der Steuer an den - sar reize, indem er sich für χριςὸν βασιλέα ausgebe (23, 2.).

Begriffe man auf diese Weise aus der Relation des Lukas, wie Pilatus sofort die Frage an Jesum richten konnte, ob er der König der Juden sei? so ist bei ihm um so dunkler, wie auf die bejahende Antwort Jesu hin Pila - tus ohne Weiteres den Anklägern erklären konnte, an dem Beklagten keine Schuld zu finden. Er muſste doch erst den Grund oder Ungrund der Anklage auf Volksaufwiege - lung untersuchen, und auch über den Sinn, in welchem sich Jesus für den βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων ausgab, sich mitDas Leben Jesu II. Band. 33514Dritter Abschnitt.ihm verständigen, ehe er sein ουδεν εὑρίσκω αἴτιον ἐν τῷ ἀνϑρώπῳ τουτῳ aussprechen konnte. Bei Matthäus und Markus folgt zwar auf die Bejahung Jesu, der König der Juden zu sein, noch sein den Pilatus befremdendes Schwei - gen gegenüber den gehäuften Anklagen der Synedristen, auch wird hierauf nicht eine bestimmte Erklärung, daſs an Jesu keine Schuld zu finden sei, sondern bloſs der Versuch des Procurators gemeldet, Jesum durch die Zusammenstel - lung mit Barabbas in Freiheit zu setzen: doch auch nur, was ihn zu diesem Versuch bewog, geht aus den genann - ten Evangelien nicht hervor. Hinlänglich klar dagegen wird dieser Punkt im vierten Evangelium. Nach der Frage des Pilatus, ob er wirklich der Judenkönig sei, befremdet zwar die Gegenfrage Jesu, ob er dieſs von sich selbst, oder auf Eingebung Anderer rede? Man kann einen Be - klagten, möge er immer sich unschuldig wissen, zu einer solchen Frage nicht befugt finden, weſswegen man denn auch auf allerlei Arten versucht hat, derselben einen er - träglicheren Sinn zu geben; allein, um bloſs eine Zurück - weisung der Beschuldigung als einer widersinnigen zu sein5)Calvin, z. d. St., ist die Frage Jesu zu bestimmt: als Erkundigung aber, ob der Procurator das βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων im römischen (ἀφ̕ ἑαυτοῦ) oder im jüdischen Sinne (ἄλλοι σοι εἶπον) meine6)Lücke und Tholuck, z. d. St., zu unbestimmt. Auch faſst es Pilatus nicht so, sondern als unbefugte Frage, auf welche es noch sehr milde ist, daſs er zunächst zwar ungeduldig die zweite Gegen - frage macht, ob er denn ein Jude sei, um durch sich selbst von einem so specifisch jüdischen Verbrechen Notiz haben zu können? hierauf aber gutwillig erklärt, die Juden und de - ren Obere seien es ja, durch welche er ihm überliefert worden, er möge also über das ihm von diesen zur Last gelegte Vergehen sich näher aussprechen. Auf dieses nun515Drittes Kapitel. §. 127.aber giebt ihm Jesus eine Antwort, welche, zusammenge - nommen mit dem Eindruck seiner ganzen Erscheinung, dem Procurator allerdings die Überzeugung von seiner Unschuld beibringen konnte. Er erwiedert nämlich, seine βασιλεία sei nicht ἐκ τοῦ κόσμου τουτου, und führt den Beweis hiefür aus dem ruhigen, passiven Verhalten seiner Anhänger bei seiner Gefangennehmung (V. 36.). Auf die weitere Frage des Pilatus, da Jesus sich hiemit eine βασιλεία, wenn gleich keine irdische, zugeschrieben hatte, ob er also doch für einen König sich ausgebe? erwiedert er, allerdings sei er das, doch nur insofern er zum Zeugniſs der Wahrheit geboren sei; worauf von Seiten des Pilatus das bekannte: τί ἐςιν ἀλήϑεια; erfolgt. Ob nun gleich an dieser lezteren Wendung das eigenthümlich johanneische Colorit im Ge - brauch des Begriffs von ἀλήϑεια, wie weiter oben das Un - gefügige in der Gegenfrage Jesu, auffällt: so begreift man doch nach dieser Darstellung, wie Pilatus sofort hinaus - treten, und den Juden erklären konnte, keine Schuld an ihm zu finden. Doch könnte leicht ein andrer Punkt gegen diesen Bericht des Johannes bedenklich machen. Wenn ihm zufolge das Verhör Jesu im Innern des Prätoriums vor sich gieng, welches kein Jude betreten mochte: wer soll dann das Gespräch des Procurators mit Jesu gehört, und als Gewährsmann dem Verfasser des vierten Evangeliums zugebracht haben? Die Ansicht älterer Erklärer, daſs Je - sus selbst nach der Auferstehung den Jüngern diese Ver - handlungen erzählt habe, ist als abenteuerlich aufgegeben; die neuere, daſs vielleicht Pilatus selbst die Quelle der Nachrichten über das Verhör gewesen sei, ist kaum min - der unwahrscheinlich, und ehe ich mir, wie Lücke, damit hälfe, daſs Jesus am Eingang des Prätoriums stehen ge - blieben sei, und somit die aussen Zunächststehenden bei einiger Aufmerksamkeit und Stille (?) die Unterredung haben hören können, würde ich mich noch lieber auf die Umgebungen des Procurators, der schwerlich mit Jesu al -33 *516Dritter Abschnitt.lein war, berufen. Leicht könnten wir indeſs hier ein Ge - spräch haben, das nur der eignen Combination des Evan - gelisten seinen Ursprung verdankt, und in diesem Falle dürfte man sich dann nicht so viele Mühe in Bezug auf den eigentlichen Sinn der Frage des Pilatus: was ist Wahr - heit? geben, da dieſs nur die beliebte dialogische Figur des vierten Evangeliums wäre, bei tiefen Eröffnungen von Seiten Jesu die Zuhörer Fragen entweder des Miſsverstands oder des gar nicht Verstehens machen zu lassen; wie 12, 34. die Juden fragen: τίς ἐςιν οὖτος υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου so hier Pilatus: τί ἐςιν ἀλήϑεια7)Vgl. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 252.;

Vor der Diversion mit Barabbas, welche nun bei den übrigen folgt, hat Lukas ein eigenthümliches Zwischen - spiel. Auf die Erklärung des Pilatus nämlich, an dem Beklagten keine Schuld zu finden, bleiben hier die Hohen - priester sammt ihrem Anhang unter der Menge dabei, Jesus rege das Volk auf durch seine Wirksamkeit als Lehrer von Galiläa bis Jerusalem; Pilatus faſst Galiläa in's Ohr, fragt, ob der Beklagte ein Galiläer sei? und wie dieſs bestätigt wird, ergreift er es als eine willkommene Gelegenheit, sich des unwillkommenen Handels zu entle - digen, schickt also dem Tetrarchen von Galiläa, dem zur Festzeit in Jerusalem anwesenden Herodes Antipas, Jesum zu, mit der Nebenabsicht vielleicht, was wenigstens der Erfolg war, den kleinen Fürsten durch solchen Respect vor seinem Forum sich zu verbinden. Herodes, heiſst es, sei darüber erfreut gswesen, weil er nach dem Vielen, was er schon von Jesu gehört hatte, längst wünschte, ihn zu sehen, in der Hoffnung, er würde vielleicht ein Wunder zum Besten geben. Der Tetrarch habe nun verschiedene Fragen an ihn gerichtet, auch die Synedristen harte Kla - gen gegen ihn erhoben, Jesus aber keine Antwort gege - ben; worauf dann Herodes mit seinen Soldaten sich zum517Drittes Kapitel. §. 127.Spotte gewendet, und endlich Jesum in einem Prachtgewand zu Pilatus zurückgeschickt habe (23, 4 ff.). Diese Erzäh - lung des Lukas hat, sowohl in ihr selbst, als in ihrem Verhältniſs zu den übrigen Evangelien, mehreres Befremd - liche. Gehörte wirklich Jesus als Galiläer unter die Ge - richtsbarkeit des Herodes, wie Pilatus durch die Übergabe des Beklagten an ihn anzuerkennen scheint: wie kam es, daſs Jesus, nicht nur der sündlose des orthodoxen Systems, sondern auch der gegen die bestehende Obrigkeit unter - würfige der Geschichte vom Zinsgroschen, ihm die schul - dige Antwort versagte? wie, daſs ihn Herodes ohne Wei - teres wieder von seinem Forum zurückschickte? Mit Ols - hausen zu sagen, es habe sich im Verhör bei Herodes er - geben, daſs Jesus nicht in Nazaret und Galiläa, sondern in Bethlehem, also in Judäa, geboren war, ist theils eine unerlaubte Bezugnahme auf die Geburtsgeschichte, von de - ren Angaben sich im ganzen seitherigen Verlauf des Lu - kasevangeliums keine Spur mehr gefunden hat, theils wür - de wohl eine so ganz zufällige Geburt in Judäa, wie sie Lukas darstellt, während die Eltern Jesu vor - und nachher, und auch Jesus selber, in Galiläa ansässig blieben, Jesum zu keinem Judäer gemacht haben; hauptsächlien aber muſs man fragen, durch wen denn die judäische Abkunft Jesu an den Tag gekommen sein soll, da es von Jesu heiſst, er habe keine Antwort gegeben, den Juden aber jene Ab - kunft nach Allem, was wir wissen, unbekannt war? Eher mag man das Stillschweigen Jesu aus der unwürdigen, nicht den Ernst des Richters, sondern bloſse Neugier verrathen - den Art der Fragen des Herodes, und die Zurücksendung an Pilatus daraus erklären, daſs doch nicht allein die Ver - haftung, sondern auch ein Theil der Wirksamkeit Jesu in das Gebiet des Pilatus gefallen war. Warum aber berich - ten die übrigen Evangelisten von dieser ganzen Zwischen - scene nichts? Namentlich wenn man den Verfasser des vierten Evangeliums als den Apostel Johannes sich denkt,518Dritter Abschnitt.ist schwer einzusehen, wie man diese Auslassung erklären will. Die gewöhnliche Hülfe, er habe die Abführung zu Herodes aus den Synoptikern und überhaupt als bekannt vorausgesezt, schlägt hier nicht an, da ja nur der Eine Lukas die Geschichte meldet, sie also nicht sehr verbrei - tet gewesen zu sein scheint; die Vermuthung, sie - ge ihm wohl zu unerheblich gewesen sein8)Schleiermacher, über den Lukas, S. 291., verliert da - durch ihren Boden, daſs Johannes auch das Verhör bei Annas, das doch ebenso wenig entscheidend war, zu be - schreiben nicht verschmäht; überhaupt ist, wie auch Schlei - ermacher zugesteht, die johanneische Erzählung dieser Vorgänge so zusammenhängend, daſs sich nirgends eine Fu - ge zeigen will, um eine solche Zwischenscene einzuschie - ben. Flüchtet sich daher auch Schleiermacher zulezt zu der Vermuthung, es möge wohl dem Johannes die Abfüh - rung Jesu zu Herodes entgangen sein, weil sie auf einer entgegengesezten Seite, als wo der Jünger stand, durch ei - me Hinterthüre, geschehen sei, dem Lukas aber eine Kun - de von derselben zugekommen, weil sein Gewährsmann ebenso eine Bekanntschaft im Hause des Herodes gehabt habe, wie Johannes in dem des Annas: so ist jene erstere Vermuthung eben nur eine Hinterthüre, die leztere aber ei - ne verzweifelte Fiktion. Setzen wir freilich den Verfas - ser des vierten Evangeliums nicht als Apostel voraus: so verlieren wir die Unterlage, um gegen die Erzählung des Lukas den Hebel anzusetzen, welche jedenfalls, da schon Justin von der Abführung zu Herodes weiſs9)Dial. c. Tryph. 103., von sehr frühem Ursprung ist. Immerhin indessen bleibt theils das Stillschweigen der übrigen Evangelisten in einem Abschnitt, wo sonst über die Hauptstadien der Entwicklung von Je - su Sache Übereinstimmung zu herrschen pflegt, theils die innere Schwierigkeit der Erzählung so bedenklich, daſs die519Drittes Kapitel. §. 127.Vermuthung offen bleiben muſs, die Anekdote sei aus dem Bestreben entstanden, Jesum vor alle möglicherweise in Je - rusalem zusammenzubringende Richterstühle zu stellen, von allen nicht hierarchischen Behörden ihn zwar verächtlich be - handelt, aber doch seine Unschuld laut oder stillschweigend anerkannt werden, ihn selbst aber vor allen seine gleich - mäſsige Haltung und Würde behaupten zu lassen. Wäre dieſs von der vorliegenden Erzählung, mit welcher der drit - te Evangelist allein steht, anzunehmen: so würde sich eine ähnliche Vermuthung auch für das Verhör vor Annas er - geben, mit welchem wir den vierten Evangelisten allein - stehend gefunden haben.

Nachdem er Jesum von Herodes zurückgesandt be - kommen hatte, berief nun dem Lukas zufolge Pilatus die Synedristen und das Volk wieder zu sich, und erklärte, auf das mit dem seinigen übereinstimmende Urtheil des Herodes gestüzt, Jesum mit einer Züchtigung loslassen zu wollen, wozu er die Sitte, am Paschafest einen Gefange - nen frei zu lassen10)Man zweifelt, ob diese Sitte, von welcher wir ohne das N. T. nichts wissen würden, römischen oder jüdischen Ur - sprungs war; vgl. Fritzsche und Paulus z. d. St. Baur, über die ursprüngliche Bedeutung des Passahfestes u. s. f. Tüb. Zeitschr. f. Theol. 1832, 1, S. 94., benützen konnte. Dieser bei Lu - kas etwas verkürzte Umstand tritt bei den übrigen, na - mentlich bei Matthäus, deutlicher heraus. Da nämlich die Befugniſs, sich einen Gefangenen loszubitten, dem ὄχλος zukam: so suchte Pilatus, wohl wissend, daſs nur der Neid der Groſsen Jesum verfolgte, die bessere[Stimmung] des Volks für ihn zu benützen, und um dasselbe zur Be - freiung Jesu eigentlich zu nöthigen, stellte er ihn, den er, zum Theil zwar aus Spott gegen die Juden, zum Theil aber um sie von seiner Hinrichtung, als für sie selbst schimpf - lich, abzubringen, Messias oder Judenkönig nannte, zur520Dritter Abschnitt.Auswahl mit einem δέσμιος ἐπίσημος, Barabbas11)Einer Lesart nach hiess dieser Mensch mit seinem vollen Namen Ἰησοῦς Βαραββᾶς, was hier nur desswegen bemerkt wird, weil Ols - hausen es merkwürdig gefunden hat. Indem nämlich bar Abba Sohn des Vaters bedeutet, so ruft Olshausen aus: Alles, was an dem Erlöser Wesen war, erschien bei dem Mörder als Carricatur! und findet den Vers anwendbar: ludit in hu - manis divina potentia rebus. Wir können in dieser Olshau - sen'schen Betrachtung nur einen lusus humanae impotentiae finden., zu - sammen, welchen Johannes als λῃςὴς, Markus und Lukas aber als einen solchen, der wegen Aufruhrs und Mords verhaftet war, bezeichnen. Der Plan schlug aber fehl, da das Volk, subornirt, wie die zwei ersten Evangelisten an - merken, von seinen Oberen, mit groſser Einstimmigkeit die Freigebung des Barabbas, und für Jesum die Kreuzigung verlangte.

Als ein besonderes Gewicht, das bei Pilatus noch in die Wagschale Jesu fiel, und ihn bewog, den Versuch mit Barabbas auf's Nachdrücklichste geltend zu machen, wird von Matthäus das angeführt, daſs, wie der Procura - tor auf dem Richterstuhl saſs, seine Gemahlin12)Im Evang. Nicodemi und bei späteren Kirchengeschichtschrei - bern heisst sie Procula, Πρόκλη. Vgl. hierüber Thilo, Cod. Apecr. N. T., p. 522, Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 640 f. ihn in Folge eines ängstigenden Traumes warnen lieſs, sich ja nichts gegen jenen Gerechten zu Schulden kommen zu las - sen (27, 19.). Nicht allein Paulus, sondern auch Olshau - sen erklärt diesen Traum als natürliches Ergebniſs aus dem - jenigen, was die Frau des Pilatus von Jesu und seiner am vorigen Abend erfolgten Gefangennehmung gehört haben mochte; wozu man noch die Notiz des Evangel. Nicodemi als erklärende Vermuthung ziehen kann, daſs dieselbe eine ϑεοσεβὴς und ἰουδαΐζουσα gewesen sei13)Cap. 2, S. 520. bei Thilo.. Indessen, wie521Drittes Kapitel. §. 127.immer im N. T., namentlich im Matthäusevangelium, Träu - me als höhere Schickung betrachtet werden: so ist auch dieser gewiſs in der Ansicht des Referenten non sine nu - mine gewesen, und es muſs sich daher ein Grund seiner Zuschickung denken lassen. Sollte der Traum wirklich den Tod Jesu hintertreiben, so müſste man vom orthodoxen Standpunkt aus, auf welchem dieser Tod zur Seligkeit der Menschen nothwendig war, auf die Vermuthung einiger Alten kommen, der Teufel möge es gewesen sein, welcher der Frau des Procurators jenen Traum eingab, um den Versöhnungstod zu verhindern14)Ignat. ad Philippens. 4: φοβεῖ δὲ (der Teufel) τὸ γὐναιον, ἐν ὀνείροις αὐτὀ καταταράττων καὶ παύειν πειρᾶται τὰ κατὰ τὸν ςαυρόν. Vgl. Thilo, p. 523. Die Juden im Evang. Nicod., c. 2. p. 524, erklären den Traum für ein Zauberstück von Jesu: γόης ἐςὶ ἰδοὺ ὀνειρόπεμπτω ἔπεμψε πρὸς τὴν γυναῖκά σου.; sollte der Tod Jesu nicht verhindert werden, so könnte der Zweck des Trau - mes nur auf Pilatus oder seine Gattin gehen. Allein dem Pilatus konnte eine so spät kommende Warnung wohl nur die Schuld vermehren, ohne ihn von dem bereits halb ge - thanen Schritt zurückbringen zu können; daſs aber seine Gattin durch den Traum bekehrt worden sei, wie Manche angenommen haben15)z. B. Theophylakt, s. Thilo p. 523., ist theils nirgendsher bekannt, theils spricht sich in der Erzählung nicht dieser Zweck aus. Sondern, wie schon die Figur des Pilatus in der evangelischen Erzählung so gehalten ist, daſs dem blinden Hasse der Volksgenossen Jesu das unparteiische Urtheil eines Heiden gegenüberstehen soll: so wird nun auch sei - ner Gattin ein Zeugniſs für Jesum abgewonnen, um, wie nach Matth. 21, 16. aus dem Munde der νηπίων καὶ ϑη - λαζόντων, so nunmehr aus dem Munde eines schwachen Weibes, ihm ein Lob zu bereiten, welches, zur Mehrung seines Gewichts, aus einem bedeutungsvollen Traume ab -522Dritter Abschnitt.geleitet wird. Je mehr man, um diesen wahrscheinlich zu machen, auch aus der Profangeschichte dergleichen Träume anführt, welche einer blutigen Katastrophe be - ängstigend und warnend vorangeschritten sind16)Wie Paulus und Kurnöl z. d. St., welche namentlich an den Traum von Cäsar's Gernahlin in der Nacht vor seiner Ermor - dung erinnern.: desto mehr wird der Verdacht angeregt, daſs, wie die meisten von diesen, so auch der Traum in unsrer Stelle nach dem Erfolge gemacht sein möge, um dessen tragische Wirkung zu erhöhen.

Wie nun die Juden auf wiederholtes Befragen des Pi - latus die Loslassung für Barabbas, für Jesum aber die Kreu - zigung, stürmisch und beharrlich verlangen: lassen die bei - den mittleren Evangelisten ihn in ihr Begehren sofort wil - ligen, Matthäus aber schiebt noch eine Ceremonie und ei - ne Wechselrede dazwischen (27, 24 ff.). Nach ihm näm - lich läſst sich Pilatus Wasser geben, wascht sich damit die Hände vor dem Volk, und erklärt sich für unschuldig am Blute dieses Gerechten. Die Handwaschung als Rein - erklärung von einer Blutschuld war specifisch jüdische Sitte, nach 5. Mos. 21, 6 f.17)Vgl. Sota, 8, 6.. Man hat unwahrschein - lich gefunden, daſs der Römer diese jüdische Gewohnheit hier nachgeahmt habe, und deſswegen sich darauf berufen, wie jedem, der seine Unschuld feierlich erklären will, nichts leichter, als eine solche Handwaschung, einfallen könne18)Faitzsche, in Matth. p. 808.. Allein, am ohne Anhalt an einer gewohnten Sitte eine symbolische Handlung gleichsam im Augenblick zu erfinden, oder auch nur in einen fremden Volksge - brauch sieh hineinzuwerfen, dazu gehört, daſs dem, wel - cher eine solche Handlung vornimmt, an demjenigen, was er durch dieselbe bezeichnen will, ungemein viel gelegen523Drittes Kapitel. §. 127.sei. So ungemein viel aber konnte nicht sowohl dem Pi - latus daran gelegen sein, seine Unschuld an der Hinrich - tung Jesu zu bezeugen, als vielmehr den Christen daran, auf diese Weise die Unschuld ihres Messias bezeugen zu lassen; woraus der Verdacht erwächst, daſs vielleicht erst ihnen die Handwaschung des Pilatus ihre Entstehung ver - danken möge. Diese Vermuthung bestätigt sich, wenn wir den Ausspruch erwägen, mit welchem Pilatus jene sym - bolische Handlung begleitet haben soll: ἀϑῶός εἰμι ἀπὸ τοῦ αἵματος τοῦ δικαίου τουτου. Denn, daſs der Richter öf - fentlich und emphatisch den, welchen er doch der härte - sten Bestrafung hingab, einen δίκαιος genannt haben soll - te , findet auch Paulus so in sich widersprechend, daſs er hier, gegen die sonstige Weise seiner Auslegung, an - nimmt, der Erzähler interpretire selbst, was Pilatus seiner Meinung nach bei der Handwaschung gedacht haben müs - se. Zu verwundern ist, daſs ihm das ebenso Unwahrscheiu - liche nicht auffällt, was den Juden bei dieser Gelegenheit in den Mund gelegt ist. Nachdem nämlich Pilatus sich für unschuldig an dem Blut Jesu erklärt, und durch das hinzugefügte: ὑμεῖς ὄψεσϑε, die Verantwortung auf die Juden übergewälzt hatte, soll nach Matthäus πᾶς λαὸς gerufen haben: τὸ αἷμα αὐτοῦ ἐφ̕ ἡμᾶς καὶ ἐπὶ τὰ τέκνα ἡμῶν. Allein dieſs ist doch augenscheinlich nur vom Stand - punkt der Christen aus gesprochen, die in dem Unglück, welches bald nach Jesu Tode in immer verstärkten Schlä - gen über die jüdische Nation hereinbrach, nichts Andres, als die Blutschuld von der Hinrichtung Jesu her erblick - ten: so daſs also diese ganze dem ersten Evangelium ei - genthümliche Episode im höchsten Grade verdächtig ist.

Nach Matthäus und Markus lieſs nun Pilatus Jesum geisseln, um ihn sofort zur Kreuzigung abführen zu las - sen. Die Geisselung erscheint hier ganz so, wie nach - mischer Sitte das virgis caedere dem securi percutere,524Dritter Abschnitt.und bei Sclaven die Geisselung der Kreuzigung, voranzugehen pflegte19)Vgl. besonders die von Wetstein zu Matth. 27, 26. ange - führten Stellen.. Bei Lukas erscheint sie ganz anders. Während es dort heiſst: τὸν δὲ . φραγελλώσας παρέδωκεν ἵνα ςαυρω - ϑῇ: erbietet sich hier Pilatus wiederholt, V. 16 und 22: παιδεύσας αὐτὸν ἀπολύσω, d. h. wie dort das Geisseln als einleitendes Accidens der Hinrichtung erscheint: so hier als ableitendes Surrogat derselben; Pilatus will durch diese Züchtigung den Hass der Feinde Jesu befriedigen, und sie bewegen, von dem Verlangen seiner Hinrichtung abzuste - hen. Während es aber bei Lukas zur wirklichen Geisse - lung nicht kommt, weil auf den wiederholten Vorschlag des Pilatus die Juden in keiner Weise eingehen wollen: so läſst dieser bei Johannes Jesum wirklich geisseln, stellt ihn sofort mit dem Purpurkleid und Dornenkranz dem Volke vor, und versucht, ob nicht sein kläglicher Anblick, mit der wiederholten Erklärung seiner Unschuld verbun - den, einen Eindruck auf die erbitterten Gemüther machen möchte; aber auch dieſs ist vergebens (19, 1 ff.). Es be - steht somit zwischen den Evangelisten in Betreff der Geis - selung Jesu ein Widerspruch, welchen man nicht mit Paulus dadurch ausgleichen darf, daſs man das τὸν . φρα - γελλὠσας παρέδωκεν ἵνα ςαυρωϑῇ bei Matthäus und Mar - kus so umschreibt: Jesus, den er schon vorher hatte geis - sein lassen, um ihn zu retten, hatte dieſs vergeblich er - duidet, indem er nun doch zur Kreuzigung hingegeben wurde. Sondern, die Differenz der Berichte zugebend, muſs man nur fragen, welcher von beiden die gröſsere hi - storische Wahrscheinlichkeit für sich habe? Wiewohl sich nun freilich nicht nachweisen läſst, daſs Geisselung vor der Kreuzigung ausnahmslose römische Sitte gewesen - re: so ist es doch andrerseits auch einzig aus harmoni - stischem Bestreben, wenn behauptet wird, daſs nur, wenn525Drittes Kapitel. §. 127.einer besonders hart gestraft werden sollte, vor der Kreu - zigung noch die Geisselung verhängt worden sei20)Paulus, a. a. O. S. 647., und folglich Pilatus, der gegen Jesum nicht grausam sein woll - te, ihn nur in der besondern Absicht, welche Lukas und Johannes melden, und welche auch bei ihren beiden Vor - männern hinzuzudenken sei, könne haben geisseln lassen. Weit wahrscheinlicher ist es vielmehr, daſs in der Wirk - lichkeit zwar die Geisselung nur so, wie die zwei ersten Evangelisten berichten, als Vorspiel zur Hinrichtung, vor - genommen worden ist, die christliche Sage aber, wie ihr zum Zeugniſs gegen die Juden am Charakter des Pilatus diejenige Seite besonders willkommen war, vermöge wel - cher er Jesum zu retten sich auf verschiedene Weise be - strebt haben soll, so nun auch die Notiz von der Geisse - lung benüzt habe, um an ihr einen neuen Befreiungsver - such des Pilatus zu gewinnen. Diese Benützung erscheint im dritten Evangelium nur erst als eine begonnene, indem hier das Geisselnlassen bloſse Erbietung des Pilatus ist: wogegen im vierten die Geisselung wirklich vollzogen, und zu einem weiteren Akt des Drama verwendet wird.

An die Geisselung schlieſst sich bei den zwei ersten Evangelisten und dem vierten die Miſshandlung und Ver - spottung Jesu durch die Soldaten, welche ihm ein Pur - purkleid umlegten, einen Kranz von Dorngesträuch ihm auf das Haupt sezten21)Durch die Auseinandersetzung von Paulus, S. 649 f., gewinnt es alle Wahrscheinlichkeit, dass der ςέφανος ἐξ ἀκανϑῶν nicht ein Kranz aus spitzen Dornen war, sondern von dem näch - sten besten Heckengesträuch genommen, um durch die vilis - sima corona, spineola (Plin. H. N. 21, 10.) Jesum zu ver - höhnen., nach Matthäus ihm auch einen Rohr - stab in die Hand gaben, und in dieser Vermummung ihn theils als Judenkönig begrüſsten, theils schlugen und miſs -526Dritter Abschnitt.handelten22)Eine ähnliche Vermummung eines Menschen, um einen Drit - ten zu verhöhnen, führt aus Philo, in Flaccum, Wetstein an, p. 533 f.. Lukas weiſs hier von keiner Verhöhnung durch die Soldaten, wohl aber hat er in seiner Erzählung von der Abführung Jesu zu Herodes etwas Ähnliches, in - dem er hier den Herodes σὺν τοῖς ςρατεύμασιν αὐτοῦ Jesum verspotten, und ihn in einer ἐσϑὴς λαμπρὰ zu Pilatus zu - rücksenden läſst. Manche nehmen an, dieſs sei dasselbe Pur - purgewand, welches nachher die Soldaten des Pilatus Je - su zum zweitenmal angezogen haben; aber vielmehr drei - mal müſste, wenn wir den Johannes dazunehmen, und zu - gleich keinen der Synoptiker des Irrthums beschuldigen wol - len, mit Jesu diese Vermummung vorgenommen worden sein: zuerst bei Herodes (Lukas); hierauf ehe Pilatus Je - sum den Juden vorführte, um durch das: ἴδε ἄνϑρωπος, ihr Mitleid rege zu machen (Joh.); endlich noch einmal, nachdem er den Soldaten zur Kreuzigung überlassen war (Matth. und Markus). Dieſs ist nun ebenso unwahrschein - lich, als es wahrscheinlich ist, daſs die Evangelisten eine und dieselbe Vermummung, von der sie gehört, an ver - schiedene Orte und Zeiten verlegt und verschiedenen Per - sonen zugeschrieben haben.

Während bei den zwei ersten Evangelisten vor der Geisselung Jesu die Gerichtsverhandlung bereits geschlos - sen ist, bei'm dritten auf die Nichtannahme des παιδεύσας αὐτὸν ἀπολύσω von Seiten der Juden Pilatus Jesum zur Kreuzigung hingiebt: spinnt sich im vierten Evangelium die Gerichtsscene folgendermaſsen noch weiter. Als auch die Vorstellung des gegeisselten und vermummten Jesus nichts fruchtet, sondern beharrlich seine Kreuzigung verlangt wird, ruft der Procurator entrüstet den Juden zu, so - gen sie selbst ihn hinnehmen und kreuzigen, denn er fin - de keine Schuld an ihm. Die Juden erwiedern, nach ih -527Drittes Kapitel. §. 127.rem Gesez müsse er sterben, da er sich selbst zum νἱὸς ϑεοῦ gemacht habe; eine Bemerkung, welche dem Pilatus abergläubische Furcht einjagt, weſswegen er Jesum noch - mals in das Prätorium hineinführt, und nach seiner (ob wirklich himmlischen?) Abkunft fragt, worauf ihm aber Je - sus keine Antwort giebt, und, als ihm der Procurator mit der ihm zustehenden Gewalt über sein Leben Schrecken einjagen will, ihn auf die höhere Macht, die ihm diese Gewalt gegeben habe, verweist. Zwar strebte in Folge dieser Reden Pilatus (noch angelegentlicher als bisher), Jesum zu befreien: endlich aber fanden nun die Juden das rechte Mittel, ihn nach ihrem Willen zu stimmen, indem sie die Bemerkung hinwarfen, wenn er Jesum loslasse, der sich dem Cäsar als Usurpator gegenüberstellte, sei er kein φίλος τοῦΚαίσαρος. So, durch eine mögliche An - schwärzung bei Tiberius eingeschüchtert, besteigt er den Richterstuhl, und greift, da er seinen Willen nicht durch - setzen kann, zum Hohn gegen die Juden, in der Frage, ob sie denn wollen, daſs er ihren König kreuzigen solle? worauf sie aber, die zulezt mit so sichtbarem Erfolg an - genommene Stellung behauptend, erklären, von keinem - nig, als von dem Cäsar, wissen zu wollen. Jezt willigt der Procurator darein, Jesum zur Kreuzigung führen zu lassen, zu welchem Behuf man ihm, wie die zwei ersten Evangelisten bemerken, den Purpurmantel auszog, und sei - ne eigenen Kleider wieder anlegte.

§. 128. Die Kreuzigung.

Schon über den Hingang Jesu zum Ort der Kreuzi - gung differiren die Synoptiker und Johannes, indem dem lezteren zufolge Jesus das Kreuz selber dahin trug (19, 17.), während die ersteren melden, man habe es an seiner statt einem Simon von Cyrene aufgelegt (Matth. 27, 32. parall.). Die Commentatoren zwar, wie wenn es sich von selbst ver -528Dritter Abschnitt.stände, vereinigen diese Angaben dahin: zuerst habe Je - sus selbst das Kreuz zu tragen versucht, hierauf aber, als es sich zeigte, daſs er zu erschöpft war, habe man es dem Simon aufgeladen1)So Paulus, Kuinöl, Tholuck und Olshausen in den Comm.. Allein wenn Johannes sagt: καὶ βα - ςάζων τὸν ςαυρὸν αὑτοῦ ἐξῆλϑεν εἰς Γολγαϑᾶ· ὅπου αὐτὸν ἐςαύρωσαν: so sezt er offenbar nicht voraus, daſs auf dem Weg dahin Jesu das Kreuz abgenommen worden wäre2)Fritzsche, in Marc. 684:Significat Joannes, Jesum suam crucem portavisse, donec ad calvariae locum pervenisset.. Es scheint aber die von den Synoptikern so einstimmig ge - gebene Notiz von dem untergeschobenen Simon um so we - niger abgewiesen werden zu können, je weniger sich ein Anlaſs, aus dem sie erdichtet worden sein könnte, auffin - den läſst. Wohl aber könnte dieser individuelle Zug im Kreise der der Entstehung des vierten Evangeliums unbe - kannt geblieben sein, und der Verfasser desselben sich ge - dacht haben, daſs der allgemeinen Sitte zufolge Jesus selbst das Kreuz werde haben tragen müssen. Sämmtliche Syn - optiker bezeichnen jenen Simon als einen Κυρηναῖος, d. h. wahrscheinlich einen, aus der libyschen Stadt Cyrene, wo viele Juden wohnten3)Joseph. Antiq. 14, 7, 2., zum Fest nach Jerusalem Gekom - menen. Nach allen wurde er auf gewaltsame Weise zum Tragen des Kreuzes gebracht, was aber weder für, noch gegen die Annahme, daſs er Jesu günstig gewesen, benüzt werden kann4)Dafür benüzt es z. B. Grotius; dagegen Olshausen 2, S. 481.. Nach Lukas und Markus kam der Mann gerade ἀπ̕ ἀγροῦ, und wie er am Kreuzigungszug vorüber - gehen wollte, verwendete man ihn zur Unterstützung Jesu. Markus bezeichnet ihn noch bestimmter als πατὴρ Ἀλεξάν - δρου καὶ Ῥουφου, ohne Zweifel, weil dieſs in der ersten Ge - meinde bekannte Männer waren (vgl. A. G. 19, 33. Röm. 16, 13. 1. Tim. 1, 20. 2. Tim. 4, 14.)5)Vgl. Paulus und Fritzsche z. d. St., an welche er,529Drittes Kapitel. §. 128.es ist nicht zu entscheiden, ob mit oder ohne geschichtli - chen Grund, den Simon anknüpft.

Auf dem Hinweg zum Richtplaz, meldet Lukas, sei eine groſse Volksmasse, namentlich auch Weiber, wehkla - gend Jesu nachgefolgt, deren Klagen er aber auf sie selbst und ihre Kinder verwiesen habe, mit Hinsicht auf die schrecklichen Zeiten, welche bald über sie hereinbrechen würden (23, 27 ff.). Die Züge sind theils aus der Rede über die Parusie, Luc. 21, 23, entlehnt, da, wie dort den Schwangeren und Säugenden in jener Zeit Wehe gerufen war, so hier gesagt wird, es kommen ἡμέραι, in welchen αἱ ςεῖραι, καὶ κοιλίαι αἳ οὐκ ἐγέννησαν, καὶ μαςοὶ οἳ οὐκ ἐϑή - λασαν, werden glücklich gepriesen werden; theils ist aus Hosea 10, 8. geborgt, denn das τότε ἄρξονται λέγειν τοῖς ὄρεσι κ. τ. λ. ist beinahe wörtlich die alexandrinische Über - setzung jener Stelle.

Den Plaz der Hinrichtung nennen sämmtliche Evange - listen Golgatha, das chaldäische נֻּלְנַּלְתָּא, und erklären diese Bezeichnung durch κρανίου τόπος oder κρανίον (Matth. V. 33. parall.). Der letzteren Bezeichnung nach könnte es schei - nen, der Ort sei von seiner schädelförmigen Figur so ge - nannt gewesen; wogegen die erstere Erklärung und wohl auch die Natur der Sache wahrscheinlicher macht, daſs er seiner Bestimmung als Richtplaz und den daselbst be - findlichen Gerippen und Schädeln der Hingerichteten seine Benennung verdankte. Wo dieser Plaz gelegen habe, ist nicht bekannt, doch ohne Zweifel ausserhalb der Stadt; auch daſs er ein Hügel gewesen, wird nur vermuthet6)s. Paulus und Fritzsche z. d. Abschn. Winer, b. Realw. d. A. Golgatha..

Den Hergang nach der Ankunft Jesu auf dem Richt - plaz erzählt Matthäus (V. 34 ff. ) in etwas sonderbarer Fol - ge. Zuerst erwähnt er des Jesu angebotenen Tranks; dann, daſs, nachdem sie ihn an das Kreuz geschlagen, die Sol -Das Leben Jesu II. Band. 34530Dritter Abschnitt.daten seine Kleider vertheilt haben; hierauf, wie sie sich niedersezten, um ihn zu bewachen; nach diesem die dem Kreuz gegebene Überschrift, und nun erst wird, und zwar nicht als Nachholung, sondern durch eine Partikel der Zeit - folge (τότε) die Notiz angeknüpft, daſs man mit ihm zwei Räuber gekreuzigt habe. Während Markus dem Matthäus folgt, nur daſs er statt der Angabe der Bewachung des Kreuzes eine Zeitbestimmung hat, berichtet Lukas richti - ger zuerst die Kreuzigung der beiden Verbrecher mit Jesu, dann erst die Kleiderverloosung, und in ähnlicher Abfolge auch Johannes. Deſswegen aber die Verse bei Matthäus umzustellen (34. 37. 38. 35. 36. ), wie schon vorgeschlagen wurde7)von Wassenbergh, in der Diss. de trajectionibus N. T. zu Valckenaer's scholae in II. quosd. N. T. 2, p. 31., ist unerlaubt, und man muſs vielmehr auf dem Verfasser des ersten Evangeliums hier die Beschuldigung liegen lassen, daſs er über dem Bestreben, von den Haupt - vorgängen bei der Kreuzigung Jesu nur keinen zu überge - hen, die natürliche Zeitfolge vernachlässigt habe8)Vgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 295. und Fritzsche, in Matth. p. 814..

Was die Art der Kreuzigung betrifft, ist jezt kaum mehr etwas streitig, als nur die Frage, ob dem Gekreu - zigten ausser den Händen auch die Füſse angenagelt wor - den seien? Die Bejahung dieser Frage liegt ebenso im Interesse der orthodoxen, wie die Verneinung in dem der rationalistischen Ansicht. Von Justin dem Märtyrer an9)Apol. I, 35. Dial. c. Tryph. 97. bis auf Hengstenberg10)Christologie des A. T. 1, a, S. 182 ff. und Olshausen finden die Ortho - doxen in den angenagelten Füſsen Jesu eine Erfüllung der Weissagung Ps. 22, 17, wo die LXX. ὤρυξαν χεῖράς μου καὶ πόδας übersezt: allein im Grundtext ist schwerlich von Durchbohren, in keinem Fall von einer Kreuzigung die Rede; auch wird die Stelle im N. T. nirgends auf Chri -531Drittes Kapitel. §. 128.stum angewendet. Den Rationalisten hingegen wird es theils leichter, den Tod Jesu für bloſsen Scheintod zu er - klären, theils nur dann möglich, zu begreifen, wie er nach der Auferstehung sogleich wieder gehen konnte, wenn an den Füſsen keine Verwundung stattgefunden hatte: allein vielmehr, wenn es sich geschichtlich ergäbe, daſs wirklich auch die Füſse Jesu angenagelt waren, müſste gefolgert werden, daſs die Wiederbelebung und das Wandeln nach derselben entweder auf übernatürliche Weise, oder gar nicht, geschehen sei. Neuestens stehen sich besonders zwei gelehrte und gründliche Untersuchungen dieses Punk - tes, von Paulus und von Bähr, jene gegen, diese für die Annagelung der Füſse, gegenüber11)Paulus, im exeg. Handbuch 3, b, S. 669 754; Bähr, in Tholuck's liter. Anzeiger für christl. Theol. 1835, No. 1 6.. Aus der evangeli - schen Erzählung kann die erstere Ansicht vor Allem das für sich geltend machen, daſs weder jene Psalmstelle, die doch unter Voraussetzung einer Fuſsannagelung dem Prag - matismus der Evangelisten so nahe lag, irgendwo benüzt, noch in der Auferstehungsgeschichte neben den Nägelmah - len in den Händen und der Seitenwunde einer Wunde in den Füſsen gedacht ist (Joh. 20, 20. 25. 27. ): wogegen die andere Ansicht sich nicht ohne Grund darauf beruft, daſs Luc. 24, 39. Jesus die Jünger auffordert: ἴδετε τὰς χεῖ - ράς μου καὶ τοὺς πόδας μου, wo zwar, daſs die Füſse durch - bohrt gewesen, nicht gesagt, aber auch schwer zu begrei - fen ist, wie, bloſs um von der Realität seines Körpers überhaupt zu überzeugen, Jesus gerade die Füſse vorge - zeigt haben soll. Daſs unter den Kirchenvätern auch sol - che, welche, vor Constantin lebend, die Kreuzigung noch aus eigener Anschauung kennen konnten, wie Justin und Tertullian, die Füſse Jesu angenagelt werden lassen, ist von Gewicht, und wenn man auch aus der Bemerkung des lezteren: qui (Christus) solus a populo tam insigniter34 *532Dritter Abschnitt.crucifixus est12)Adv. Marcion. 3, 19., schlieſsen könnte, der Psalmstelle zu - lieb haben diese Väter angenommen, Christus sei ausnahms - weise mit Durchbohrung auch der Füſse gekreuzigt wor - den: so wird doch, wenn er vorher die Durchbohrung der Hände und Füſse die propria atrocia crucis nannte, klar, daſs jene Worte nicht eine ausgezeichnete Art der Kreuzigung, sondern die so auffallend mit der Weissagung zusammentreffende Todesart der Kreuzigung bedeuten. Un - ter den Stellen der Profanscribenten ist die wichtigste die Plautinische, wo, allerdings als ausnahmsweise verschärfte Kreuzigung, offigantur bis pedes, bis brachia vorkommt13)Mostellaria 2, 1.. Hier fragt es sich: soll das Ungewöhnliche in dem bis be - stehen, so daſs als das auch sonst Übliche die einfache Anheftung sowohl von Füſsen als Händen vorausgesetzt wird; oder soll das bis offigere der Hände, d. h. daſs beide Hän - de angenagelt wurden, das Gewöhnliche gewesen, das An - nageln beider Füſse aber als ausserordentliche Verschär - fung hinzugekommen sein? wovon jeder das Erstere den Worten angemessener finden wird. Hienach scheint sich mir dermalen das Übergewicht der historischen Gründe auf Seiten derer zu neigen, welche behaupten, daſs Jesu am Kreuz beides, Hände und Füſse, angenagelt worden seien.

Noch vor der Kreuzigung war es laut der beiden er - sten Evangelisten, daſs Jesu ein Getränk angeboten wur - de, welches Matthäus (V. 34.) als ὄξος μετὰ χολῆς μεμιγ - μένον, Markus (V. 23.) als ἐσμυρνισμένον οἶνον bezeichnet, das aber beiden zufolge Jesus, bei Matthäus nachdem er es vorher gekostet, nicht zu sich nehmen mochte. Da man nicht begreift, zu welchem Zwecke man unter den Essig Galle gemischt haben möge, so erklärt man gewöhnlich die χολὴ des Matthäus, aus dem ἐσμυρνισμένον des Markus, von bittern vegetabilischen Ingredienzien, wie namentlich533Drittes Kapitel. §. 128.Myrrhe, und liest dann auch statt ὄξος entweder gerade - zu οἶνον, oder versteht doch jenes von saurem Wein14)s. Kuinöl, Paulus, z. d. St., um so das betäubende Getränk aus Wein und starken Spe - cereien herauszubringen, welches nach jüdischer Sitte den Hinzurichtenden zur Abstumpfung des Schmerzgefühls ge - reicht zu werden pflegte15)Sanhedrin, f. 43, 1, bei Wetstein, p. 635:Dixit R. Chaja, f. R. Ascher, dixisse R. Chasdam: exeunti, ut capite plecta - tur, dant bibendum granum turis in poculo vini, ut aliene - tur mens cjus, sec. d. Prov. 31, 6: date siceram pereunti et vinum amaris anima.. Allein wenn auch der Text diese Lesart, und die Worte diese Erklärungen zulieſsen, so würde doch wohl Matthäus gegen die Hinausdeutung der wirklichen Galle und des Essigs aus seiner Erzählung sehr protestiren, weil ihm dadurch die Erfüllung der Wor - te des auch sonst messianisch gebrauchten Unglückspsalms 69, V. 22. (LXX): καὶ ἔδωκαν εἰς τὸ βρῶμά μου χολὴν, καὶ εἰς τὴν δίψαν μου ἐπότισάν με ὄξος, verloren gienge. Diesem Orakel gemäſs meint Matthäus unstreitig wirkliche Galle mit Essig, und aus der Vergleichung des Markus darf nur die Frage genommen werden, ob es wahrscheinlicher sei, daſs der Vorgang, wie ihn Markus darstellt, das Ursprüng - liche gewesen, was erst Matthäus zu genauerer Ähnlichkeit mit der Weissagung umgeformt, oder ob Matthäus ursprüng - lich den Zug aus der Psalmstelle geschöpft, Markus aber ihn hinterher zu gröſserer geschichtlicher Wahrscheinlich - keit umgebildet habe?

Um hierüber entscheiden zu können, müssen wir auch die beiden andern Evangelisten mit in die Betrachtung ziehen. Von einer Tränkung Jesu mit Essig nämlich mel - den alle viere, und auch jene beiden, welche den mit Gal - le vermischten Essig, oder den Myrrhenwein, als den er - sten Trank, der Jesu geboten wurde, haben, wissen spä - ter noch von einer Tränkung mit bloſsem Essig zu sagen. 534Dritter Abschnitt.Nach Lukas war das ὄξος προσφέρειν eine Verhöhnung, welche die Soldaten gegen Jesum, wie es scheint, nicht sehr lange nach der Kreuzigung, noch vor der Finsterniſs, vornahmen (V. 36 f.); nach Markus reichte kurz vor dem Ende, drei Stunden nach Entstehung der Finsterniſs, ei - ner der Umstehenden auf den Ruf Jesu: mein Gott u. s. w., ihm, gleichfalls in spöttischer Absicht, mittelst eines auf ein Rohr gesteckten Schwammes Essig dar (V. 36.); nach Matthäus bot ihm einer der Umstehenden auf eben jenen Ruf hin und auf dieselbe Weise den Essig, aber in guter Absicht, wie man daraus sieht, daſs die Spötter ihn davon abhalten wollten (V. 48 f.)16)s. Fritzsche, z. d. St.; wogegen es bei Johannes auf den ausdrücklichen Ruf: διψῶ, ist, daſs einige einen Schwamm in ein in der Nähe stehendes Gefäſs mit Essig tauchten, und auf einem Ysopstengel zum Munde Jesu brachten (V. 29.). Man hat daher drei verschiedene Ver - suche, Jesum zu tränken, angenommen: den ersten vor der Kreuzigung, mit dem betäubenden Tranke (Matth. und Markus), den zweiten nach der Kreuzigung, wo ihm die Soldaten zum Hohne von ihrem gewöhnlichen Getränk, ei - ner Mischung aus Essig und Wasser, posca genannt17)vgl. Paulus z. d. St., boten (Lukas), und endlich die dritte Tränkung, welche auf den klagenden Ruf Jesu erfolgte (Matth. Mark. und Joh.)18)So Kuinöl, in Luc. p. 710 f. Tholuck, p. 342.. Allein, will man einmal Ungleichlautendes aus - einanderhalten, so muſs man auch folgerecht verfahren: soll die von Lukas berichtete Tränkung von der des Mat - thäus und Markus wegen einer Zeitdifferenz verschieden sein, so ist die des Matthäus von der des Markus durch eine Differenz der Absicht verschieden, und wiederum ist das, was Johannes berichtet, nicht dasselbe mit dem was die beiden ersten Synoptiker, da es ja auf einen ganz an -535Drittes Kapitel. §. 128.dern Ruf Jesu erfolgt. So bekämen wir im Ganzen fünf Tränkungen, und könnten wenigstens nicht wohl begreifen, warum Jesus, nachdem ihm schon dreimal Essig zum Mun - de geführt war, noch zum viertenmal zu trinken verlangt hätte. Müssen wir demnach auf Vereinfachung bedacht sein: so ist aber keineswegs nur die Tränkung bei den zwei ersten Evangelisten und dem vierten wegen des Zu - sammentreffens der Zeit und der Art der Darreichung für Eine zu erklären, sondern ebenso die des Markus (und mittelst dieser die übrigen) mit der des Lukas wegen Gleich - heit der höhnischen Absicht. So bleiben uns zwei Trän - kungen, die eine vor der Kreuzigung, die andre nach der - selben, und beide haben, die erstere an der jüdischen Sit - te mit dem betäubenden Trank für Hinzurichtende, die an - dre an der römischen, vermöge welcher die Soldaten zu Expeditionen, dergleichen auch die Vollziehung der Hin - richtung eine war, ihre posca mit sich zu führen pflegten, einen historischen, an der Weissagung Ps. 69. aber einen prophetischen Haltpunkt. Beide Haltpunkte wirken entge - gengesezt: der prophetische erregt Verdacht, ob auch wirk - lich der Erzählung etwas Geschichtliches zum Grunde lie - ge; der historische macht es zweifelhaft, daſs die ganze Sache nur aus Weissagungen sollte herausgesponnen sein.

Doch überblicken wir noch einmal die verschiedenen Berichte, so sind ihre Abweichungen ganz von der Art, wie sie aus verschiedener Anwendung der Psalmstelle ent - stehen konnten. Da in derselben von Galleessen und Essigtrinken die Rede war, so scheint die Sage zunächst das Erstere, als undenkbar, bei Seite gelassen, und die Erzählung gebildet zu haben, die wir bei allen vier Evan - gelisten finden, daſs Jesus am Kreuz mit Essig getränkt worden sei. Dieſs konnte man entweder als Handlung des Mitleids, wie Matthäus und Johannes, oder des Spottes, mit Markus und Lukas, betrachten. Da auf diese Weise zwar das ἐπότισάν με ὄξος, noch nicht aber auch das536Dritter Abschnitt.εἰς τὴν δίψαν μου des Orakels ausdrücklich erfüllt war, so hielt es der Verfasser des vierten Evangeliums für wahr - scheinlich, daſs Jesus auch wirklich die Empfindung des Durstes geäussert, d. h. διψῶ gerufen habe; ein Ruf, den er ausdrücklich als Erfüllung der γραφὴ, worunter ohne Zweifel die genannte Psalmstelle (vgl. Ps. 22, 16.) ver - standen ist, bezeichnet, und zwar, indem er das ἵνα τε - λειωϑῇ γραφὴ durch εἰδὼς Ἰησοῦς, ὅτι πάντα ἤδη τε - τέλεςαι einleitet, so scheint er fast sagen zu wollen, die Erfüllung der Weissagung sei die eigene Absicht Jesu bei jenem Ausruf gewesen: allein mit solchem typologischen Spiel wird kein am Kreuz im Todeskampf Begriffener sich abgeben, sondern nur sein in ruhiger Lage befindlicher Biograph. Indeſs, auch hiedurch war immer nur die eine Hälfte jenes messianischen Verses, die auf den Essig be - zügliche, erfüllt: die von der Galle handelnde, welche als Inbegriff aller Bitterkeit zu einer Beziehung auf den lei - denden Messias ganz besonders geeignet schien, war noch übrig. Zwar, daſs χολὴ als βρῶμα gegeben worden sei, was die Psalmstelle strenggenommen verlangte, blieb als un - denkbar bei Seite gestellt: wohl aber schien es dem ersten Evangelisten, oder wem er hier folgt, thunlich, die Galle als Ingredienz unter den Essig zu mischen, eine Mischung, welche dann freilich Jesus, des übeln Geschmacks wegen, nicht trinken konnte. Der zweite Evangelist, mehr auf den pragmatischen als auf den prophetischen Zusammen - hang bedacht, machte dann, mit Beziehung auf eine jüdi - sche Sitte, aus dem Essig mit Galle bittern Myrrhenwein, und lieſs Jesum diesen, ohne Zweifel aus Scheue vor Be - räubung, ausschlagen. Da aber diesen beiden Evangelisten neben der Erzählung von dem mit Galle gemischten Essig auch noch die ursprüngliche, von bloſsem Essig, zugekom - men war: so wollten sie diese durch jene nicht verdrän - gen lassen, und stellten daher beide nebeneinander. Hie - mit soll keineswegs geleugnet werden, daſs Jesu vor der537Drittes Kapitel. §. 128.Kreuzigung ein solcher Mischtrank, und nachher noch Es - sig möge gereicht worden sein, da jenes, wie es scheint, ge - wöhnlich, und dieses bei dem Durst, welcher die Gekreu - zigten plagt, natürlich war: nur so viel soll gesagt sein, daſs die Evangelisten diesen Umstand, und zwar in so ver - schiedenen Wendungen, nicht deſswegen erzählen, weil sie historisch wuſsten, er sei auf diese oder jene Weise wirk - lich vorgekommen, sondern weil sie dogmatisch überzeugt waren, er müsse jener Weissagung zufolge, die sie aber ver - schiedentlich anwandten, sich ereignet haben.

Während oder unmittelbar nach der Kreuzigung läſst Lukas Jesum sprechen: πάτερ, ἄφες αὐτοῖς· οὺ γὰρ οἴδασι τί ποιοῦσι (V. 34.), eine Fürbitte, die man bald auf die Soldaten, die ihn kreuzigten, beschränkt19)Kuinöl, in Luc. p. 710., bald auf die eigentlichen Urheber seines Todes, die Synedristen und Pi - latus, ausdehnt20)Olshausen, S. 484.. So angemessen eine solche Bitte den sonstigen Grundsätzen Jesu über Feindesliebe ist (Matth. 5, 44.), und so viele innere Glaubwürdigkeit von dieser Seite die Notiz des Lukas hat: so ist doch, zumal er mit derselben allein steht, darauf aufmerksam zu machen, daſs möglicherweise dieser Zug aus dem für messianisch gehal - tenen Abschnitt Jes. 53. genommen sein könnte, wo es im lezten Vers, in demselben, aus welchem auch das μετὰ ἀνόμων ἐλογίσϑη entlehnt ist, heiſst: וְלַפּשְׁעִים יַפְנִּיעַ, was zwar die LXX. unrichtig durch διὰ τὰς ἀνομίας αὐτῶν παρ - εδόϑη, aber bereits das Targum Jonathan durch pro pec - catis (sollte heiſsen peccatoribus) deprecatus est wie - dergiebt.

Daſs mit Jesu zugleich δύο κακοῦργοι, welche Mat - thäus und Markus als λῃςὰς bezeichnen, in der Art ge - kreuzigt worden seien, daſs sein Kreuz in der Mitte stand, darin stimmen die Evangelisten zusammen, und Markus,538Dritter Abschnitt.wenn sein 28ter Vers ächt ist, sieht darin eine wörtliche Erfüllung des jesaianischen: μετὰ ἀνόμων ἐλογίσϑη, welches nach Luc. 22, 37. Jesus schon am Abend vorher als eine demnächst an ihm zu erfüllende Weissagung angeführt hatte. Von dem weiteren Verhalten dieser Mitgekreuzigten berich - tet uns Johannes nichts; die beiden ersten Synoptiker las - sen sie Schmähungen gegen Jesum ausstoſsen (Matth. 27, 44. Marc. 15, 32.): wogegen Lukas erzählt, nur der eine von ihnen habe sich dieſs erlaubt, sei aber von dem andern zurechtgewiesen worden (23, 39 ff.). Um diese Dif - ferenz auszugleichen, haben die Erklärer die Voraussetzung gemacht, zuerst mögen wohl beide Verbrecher Jesum ge - schmäht haben, dann aber durch die ausserordentliche Fin - sterniſs der eine umgestimmt worden sein21)So Chrysostomus u. A.; neuere ha - ben sich auf eine enallage numeri berufen22)Beza und Grotius.: gewiſs aber nur diejenigen recht gesehen, welche eine wirkliche Diffe - renz zwischen Lukas und seinen Vormännern zugaben23)Paulus, S. 763. Fritzsche, in Matth. p. 817.. Offenbar haben von dem Genaueren, was jener über das Verhältniſs der beiden Mitgekreuzigten zu Jesu zu berich - ten weiſs, die zwei ersten Evangelisten nichts gewuſst. - her erzählt nämlich Lukas, als der eine der beiden Ver - brecher Jesum durch die Aufforderung höhnte, wenn er wirklich der Messias sei, sich und sie zu befreien, habe ihm der andere solchen Hohn gegen einen, mit dem er doch das gleiche Schicksal, und zwar als Schuldiger mit dem Unschuldigen, theile, ernstlich verwiesen, Jesum aber gebeten, wenn er in seiner βασιλεία kommen werde, sei - ner zu gedenken; worauf ihm Jesus das Versprechen ge - geben habe, noch heute werde er mit ihm ἐν τῷ παραδεί - σψ sein. An dieser Scene ist von vorn herein nichts An - stöſsiges, bis zu der Anrede des zweiten Mitgekreuzigten539Drittes Kapitel. §. 128.an Jesum. Denn um von einem am Kreuz Hängendenein einstiges Kommen zur Errichtung des Messiasreichs zu er - warten, dazu gehörte das ganze System von einem ster - benden Messias, welches die Apostel vor der Auferstehung nicht begriffen, und welches somit ein λῃςὴς vor ihnen gefaſst haben müſste. Dieſs ist so unwahrscheinlich, daſs es kein Wunder ist, wenn Manche in der Bekehrung des Räubers am Kreuz ein Wunder haben sehen wollen24)s. Thilo, Cod. apocr. I. S. 143. Weitere apokryphische Nach - richten von den beiden Mitgekreuzigten finden sich im evang. infant. arab. c. 23, bei Thilo, p. 92 f., vgl. die Anm. p. 143; im ev. Nicod. c. 9. 10, Thilo, p. 581 ff. c. 26, p. 766 ff., und es wird durch die Annahme, welche die Erklärer zu Hülfe rufen, der Mensch werde wohl kein gemeiner, son - dern ein politischer Verbrecher, vielleicht einer der συ - ςασιαςῶν des Barabbas, gewesen sein25)Paulus und Kuinöl, z. d. St., nur noch un - denkbarer. Denn war er ein zum Aufruhr geneigter Is - raëlit, der auf Befreiung seines Volks vom römischen Jo - che hinarbeiten wollte: so war gewiſs auch seine Idee vom Messias am weitesten davon entfernt, einen politisch so ganz vernichteten, wie Jesus damals war, als solchen anzuerkennen. Man darf aber nur ein Auge für Sagen - bildung haben, so wird man sie hier besonders kenntlich wiederfinden. Zwei Übelthäter waren mit Jesu gekreuzigt, so viel hatte die Geschichte, oder auch dieſs schon die Weissagung Jes. 53, 12, an die Hand gegeben. Sie hiengen zunächst als stumme Personen da, wie wir sie im vierten Evangelium finden, in dessen Entstehungsgebiet nur die einfache Nachricht, daſs sie mit Jesu gekreuzigt worden, gedrungen war. So unbenüzt aber konnte sie die Sage in die Länge unmöglich lassen: sie öffnete ihnen den Mund, und da sie übrigens nur von Schmähungen der Umgeben - den zu berichten hatte, so lieſs sie in den allgemeinen Hohn540Dritter Abschnitt.gegen Jesum auch die beiden Übelthäter, zunächst ohne nähere Angabe ihrer Reden, einstimmen (Matth. und Mar - kus). Doch die Mitgekreuzigten lieſsen sich noch besser benützen. Hatte ein Pilatus Zeugniſs für Jesum abgelegt, zeugte bald darauf ein römischer Centurio, ja die ganze wunderbar aufgeregte Natur für ihn: so werden auch sei - ne beiden Leidensgenossen, wiewohl Verbrecher, gegen den Eindruck seiner Gröſse nicht ganz verschlossen geblieben sein, sondern, wenn zwar der eine, der ursprünglichen Gestaltung der Sage gemäſs, lästerte, so muſste wohl der andere sich in entgegengeseztem Sinn geäussert, und Glau - ben an Jesus als den Messias bewiesen haben (Lukas). Ganz im Geist der jüdischen Denk - und Redeweise ist dann seine Anrede an Jesum und dessen Antwort; denn das Pa - radies war nach damaliger Vorstellung derjenige Theil der Unterwelt, welcher die Seelen der Frommen in der Zwi - schenzeit zwischen ihrem Tod und der Auferstehung be - herbergen sollte; um eine Stelle im Paradies und ein gnädi - ges Andenken im künftigen Äon bittet der Israëlite Gott, und so hier den Messias26)Confessio Judaei aegroti, bei Wetstein, p. 820: da por - tionem meam in horte Edenis, et memento mei in seculo fu - turo, quod absconditum est justis.Andere Stellen s. bei ebendems., p. 819., und von einem ausgezeich - net frommen Manne glaubte man, daſs er den in seiner Sterbestunde Anwesenden mit sich in das Paradies einfüh - ren könne27)Cetuboth f. 103, bei Wetstein, p. 819:Quo die Rabbi mo - riturus erat, venit vox de coelo, dixitque: qui praesens aderit morienti Rabbi, ille intrabit in paradisum..

Dem Kreuz Jesu wurde nach römischer Sitte28)s. Wetstein z. d. St. des Matthäus. eine ἐπιγραφὴ (Marc. Luc.), ein τίτλος (Joh.), angeheftet, der τὴν αἰτίαν αὐτοῦ (Matth. Marc.) enthielt, welche nach sämmt - lichen Evangelisten durch die Worte: βασιλεὺς τῶν Ἰου -541Drittes Kapitel. §. 128.δαίων bezeichnet war. Lukas und Johannes melden, daſs diese Aufschrift in drei Sprachen zu lesen gewesen sei, und der leztere giebt noch die Notiz, daſs die jüdischen Obern den Spott, der in dieser Fassung der Überschrift gegen ihre Nation lag, wohl gefühlt, und deſshalb den Pilatus, jedoch vergeblich, um Abänderung derselben ge - beten haben (V. 21 f.).

Von den Soldaten, welche Jesum gekreuzigt hatten, deren Zahl Johannes auf vier angiebt, berichten die Evan - gelisten einstimmig, daſs sie die Kleider Jesu mit Anwen - dung des Looses unter sich vertheilt haben. Nach dem römischen Gesez de bonis damnatorum29)Angeführt bei Wetstein, p. 536, womit übrigens die Text - berichtigung von Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 761, zu ver - gleichen ist. fielen die Klei - dungsstücke der Hingerichteten als spolia den Vollstreckern des Urtheils zu, und insofern hat jene Angabe der Evan - gelisten einen historischen Anhaltspunkt. Doch, wie die meisten Züge dieser lezten Scene im Leben Jesu, hat sie auch einen prophetischen. Bei Matthäus zwar ist die An - führung der Stelle Ps. 22, 19. ohne Zweifel eingeschoben, sicher ächt dagegen dasselbe Citat bei Johannes (19, 24.): ἵνα γραφὴ πληρωϑῇ λέγουσα (wörtlich nach der LXX). διεμερίσαντο τὰ ἱμάτιά μου ἑαυτοῖς, καὶ ἐπὶ τὸν ἱματισμόν μουἔβαλον κλῆρον. Auch hier hat nach der Versicherung der orthodoxen Ausleger der Verfasser des Psalms, David, nach einer höheren Leitung, im Zustand der Begeisterung solche bildliche Ausdrücke gewählt, welche bei Christo in eigentlichem Sinne zugetroffen sind30)Tholuck, S. 341.. Vielmehr aber gab David, oder wer sonst der Urheber des Psalms ist, als ein Mann von dichterischem Geist jene Ausdrücke nur bildlich, im Sinne von gänzlichem Unterliegen; aber die kleinlichte, prosaische Auslegungsweise der späteren Ju -542Dritter Abschnitt.den, welche die Evangelisten ohne ihre Schuld theilten, und von welcher sich die orthodoxen Theologen, aber durch eigne Schuld, nach 18 Jahrhunderten noch immer nicht frei gemacht haben, glaubte jene Worte eigentlich nehmen, und in diesem Sinn als am Messias erfüllt nach - weisen zu müssen. Ob nun die Evangelisten die Klei - derverloosung mehr aus historischen Nachrichten, die ih - nen zu Gebote standen, oder aus der prophetischen Stelle, welche sie verschiedentlich auslegten, geschöpft haben, muſs aus der Vergleichung ihrer Berichte sich ergeben. Diese weichen darin von einander ab, daſs, während den Synoptikern zufolge sämmtliche Kleider durch das Loos vertheilt wurden, was schon aus dem διεμερίσαντο τὰ ἱμά - τια αὐτοῦ, βάλλοντες κλῆρον bei Matthäus (V. 35.) und der ähnlichen Wendung des Lukas (V. 34.), am entschieden - sten aber aus dem Zusaz des Markus: τίς τί ᾄρῃ (V. 24.), erhellt: bei Johannes die übrigen Stücke ohne Loos ver - theilt, und nur um das Unterkleid geloost wird (V. 23 f.). Diese Abweichung wird gewöhnlich viel zu leicht genom - men, und stillschweigend so behandelt, als ob die Dar - stellung der Synoptiker zur johanneischen sich nur wie die unbestimmtere zur bestimmteren verhielte. Kuinöl über - sezt mit Rücksicht auf den Johannes das Matthäische διεμερίζοντο βάλλοντες geradezu durch: partim divide - bant, partim in sortem conjiciebant; allein so läſst sich nicht theilen, sondern das διεμερίζοντο giebt an, was, das βάλλοντες κλ., wie sie es gethan haben: ohnehin über das τίς τί ᾄρῃ schweigt Kuinöl still, weil hierin unverkennbar liegt, daſs sie um mehrere Stücke geloost haben, während sich nach Johannes das Loos nur auf Ein Kleidungsstück bezog. Fragt es sich nun, welche von beiden widerspre - chenden Angaben die richtige sei, so wird auf dem jetzi - gen Standpunkt der vergleichenden Evangelienkritik die Antwort ohne Zweifel so lauten, daſs der Augenzeuge Jo - hannes das Richtige gebe, den Synoptikern aber sei nur543Drittes Kapitel. §. 128.das Unbestimmte zu Ohren gekommen, daſs bei der Ver - theilung der Kleider Jesu die Soldaten das Loos in An - wendung gebracht haben, und dieſs haben sie aus Unkennt - niſs der näheren Verhältnisse so verstanden, als ob über sämmtliche Kleidungsstücke Jesu das Loos geworfen wor - den wäre. Allein, wenn schon der Umstand, daſs gerade Johannes allein es ist, der die Psalmstelle ausdrücklich anführt, eine vorzügliche Berücksichtigung derselben von seiner Seite beweist, so ist überhaupt diese Abweichung der Evangelisten eine solche, welche einer verschiedenen Auslegung jener Stelle auf's Genaueste entspricht. Wenn der Psalm von einem Vertheilen der Kleider und Verloo - sen des Gewandes redet, so ist im Sinne des hebräischen Parallelismus das zweite nur nähere Bestimmung des er - sten, und in richtigem Verständniſs hievon setzen die Syn - optiker das eine der beiden Verba in's Participium. Wer aber entweder diese Eigenheit des hebräischen Sprachge - brauchs nicht berücksichtigte, oder ein Interesse hatte, je - den einzelnen Zug der Weissagung als besonders erfüll - ten herauszuheben, der konnte jene näher bestimmende copula als hinzufügend fassen, und so in dem Verloosen einen von dem Vertheilen verschiedenen Akt finden. Dann muſste auch der ἱματισμὸς (לְבוּשׁ), welcher ursprünglich ein synonymum von ἱμάτια (בְּגָדִים) war, ein von diesen verschiedenes Kleidungsstück werden, dessen nähere Be - stimmung, weil sie im Wort auf keine Weise lag, dem Belieben überlassen blieb. Der vierte Evangelist bestimmte es als χιτὼν, und weil er seinen Lesern auch einen Grund schuldig zu sein glaubte, warum auf dieses Stück ein von der Vertheilung der übrigen so verschiedenes Verfahren angewendet worden sei, brachte er heraus, der Grund, warum man das Unterkleid lieber verloosen als zertheilen wollte, werde wohl gewesen sein, daſs es keine das Zer - trennen begünstigenden Nähte gehabt (ἄῤῥαφος), aus Einem544Dritter Abschnitt.Stück gewoben (ὑφαντὸς δἰ ὅλου) gewesen sei31)Die Ausleger merken hiezu an, dass auch das Kleid des - dischen Hohenpriesters von dieser Beschaffenheit war. Jo - seph. antiq. 3, 7, 4. Die richtige Ansicht von obiger Diffe - renz ist bereits in den Probabilien aufgestellt, p. 80 f.. Da ha - ben wir also bei dem vierten Evangelisten ganz dasselbe Verfahren, wie wir es in der Geschichte des Einzugs auf Seiten des ersten gefunden haben: beidemale die Verdopp - lung eines ursprünglich einfachen Zugs aus falscher Fas - sung der copula im hebräischen Parallelismus; nur ist der erste Evangelist an jener Stelle darin noch weniger willkühr - lich, als hier der vierte, daſs er uns wenigstens mit der Auf - spürung des Grundes verschont, warum damals für Einen Rei - ter zwei Esel haben requirirt werden müssen. Je mehr sich auf diese Weise die Darstellung des bezeichneten Punkts bei den Evangelisten abhängig zeigt von der Art, wie je - der jene vermeintlich prophetische Psalmstelle verstand: de - sto weniger scheint eine sichere historische Kunde an ih - rer Darstellung Theil gehabt zu haben, und wir wissen demnach nicht, ob bei der Vertheilung der Kleider Jesu das Loos angewendet, ja ob überhaupt unter dem Kreuze Jesu eine Kleidertheilung vorgenommen worden ist; so zuversichtlich sich Justin gerade auch für diesen Zug auf die Akten des Pilatus beruft, welche er nie gesehen hatte32)Apol. I, 35..

Von dem Benehmen der bei'm Kreuze Jesu anwesen - den Juden meldet uns Johannes nichts; Lukas läſst das Volk zuschauend dastehen, und nur die ἄρχοντες und die Soldaten Jesum durch die Aufforderung, sich zu retten, wenn er der Messias sei, wozu von Seiten der lezteren noch das Anbieten des Essigs kommt, verhöhnen (V. 35 ff.); Matthäus und Markus haben von einem Spott der Solda - ten hier nichts, dafür aber lassen sie ausser den ἀρχιερεῖς, γραμματεῖς und πρεσβύτεροι noch die παραπορευόμενοι -545Drittes Kapitel. §. 128.sterungen gegen Jesum ausstoſsen (V. 39 ff. 29 ff.). Die Äusserungen dieser Leute beziehen sich theils auf frühere Reden und Thaten Jesu, wie der Spott: καταλύων τὸν ναὸν καὶ ἐν τρισὶν ἡμέραις οἰκοδομῶν, σῶσον σεαυτὸν (Matth. Mark. ) auf die gleichlautende Rede, die man Jesu zu - schrieb, der Vorwurf aber: ἄλλους ἔσωσεν, ἑαυτὸν οὐ δύναται σῶσαι oder σωσάτω ἑαυτὸν (bei allen dreien) auf seine Hei - lungen sich bezieht. Theils aber ist das Benehmen der Juden gegen den Gekreuzigten nach demselben Psalm ge - zeichnet, von welchem Tertullian mit Recht sagt, daſs er totam Christi passionem in sich enthalte33)Adv. Marcion. a. a. O.. Wenn wir nämlich bei Matthäus und Markus lesen: οἱ δὲ παρα - πορευόμενοι ἐβλασφήμουν (Lukas von den ἄρχοντες: ἐξε - μυκτήριζον) αὐτὸν, κινοῦντες τὰς κεφαλὰς αὑτῶν καὶ λέγον - τες· so ist dieſs doch gewiſs nichts Anderes, als was Ps. 22, 8. (LXX. ) steht: πάντες οἱ ϑεωροῦντές με ἐξεμυκτήρι - σάν με, ἐλάλησαν ἐν χείλεσιν, ἐκίνησαν κεφαλὴν, und hierauf bei Matthäus die den Synedristen geliehenen Worte: πέ - ποιϑεν ἐπὶ τὸν ϑεὸν, ῥυσάσϑω νῦν αὐτὸν, εἰ ϑέλει αὐτὸν, sind ganz dieselben mit den Worten des folgenden Verses in jenem Psalm: ἤλπισεν ἐπὶ Κύριον, ῥυσάσϑω αὐτόν· σω - σάτω αὐτὸν, ὅτι ϑέλει αἰτόν. Kann nun zwar jenes Spot - ten und Kopfschütteln der Feinde Jesu, unerachtet die Zeichnung desselben nach einer A. T. lichen Stelle abge - schattet ist, dennoch gar wohl wirklich so vor sich gegan - gen sein: so verhält es sich dagegen mit dieser den Spöt - tern geliehenen Rede anders. Worte, die, wie die ange - gebenen, im A. T. den Feinden des Frommen in den Mund gelegt sind, konnten die Synedristen nicht adoptiren, oh - ne damit sich selbst als Gottlose hinzustellen, wovor sie sich wohl gehütet haben werden. Nur die christliche Sage, wenn sie einmal den Psalm auf das Leiden Jesu, und na - mentlich auf seine lezten Stunden, anwandte, konnte auchDas Leben Jesu II. Band. 35546Dritter Abschnitt.diese Worte den jüdischen Obern in den Mund legen, und darin die Erfüllung einer Weissagung finden.

Daſs von den Zwölfen einer bei der Kreuzigung Jesu zugegen gewesen wäre, davon melden die zwei vorderen Evangelisten nichts; sie erwähnen bloſs mehrerer galiläischen Frauen, von welchen sie drei namhaft machen, nämlich Maria Magdalena, Maria, die Mutter des kleinen Jako - bus und des Joses, und Matthäus die Mutter der Zebe - daiden, nach der gewöhnlichen Ansicht dieselbe, welche Markus Salome nennt (Matth. V. 55 f. Marc. V. 40 f.): die Zwölfe scheinen sich nach ihnen von ihrer Flucht bei Jesu Gefangennehmung noch nicht wieder gesammelt ge - habt zu haben34)Justin, Apol. I, 50. und sonst, spricht gar von Abfall und Verleugnung aller Jünger nach der Kreuzigung Jesu.. Bei Lukas dagegen sind unter den πάντες οἱ γνωςοὶ αὐτοῦ, welche er der Kreuzigung zusehen läſst (V. 49.), wohl auch die Zwölfe mitzubegreifen: das vierte Evangelium aber nennt von den Jüngern ausdrück - lich denjenigen, ὸν ἠγάπα ., d. h. den Johannes, als anwesend, und unter den Frauen, neben Maria Magdalena und der von Klopas benannten, statt der Mutter der Ze - bedaiden die eigene Mutter Jesu. Und zwar, während nach allen übrigen Berichten die Bekannten Jesu μακρόϑεν stehen, müſsten dem vierten Evangelium zufolge Johannes und die Mutter Jesu in der nächsten Nähe des Kreuzes gestanden haben, da nach dessen Bericht Jesus vom Kreuz herunter den Johannes zum Stellvertreter in dem kindlichen Verhältniſs zu seiner Mutter beruft (V. 25 ff.). Wenn Olshau - sen den Widerspruch, welcher zwischen der synoptischen Angabe und der johanneischen Voraussetzung von der Stel - lung der Bekannten Jesu zu seinem Kreuze stattfindet, durch die Vermuthung zu heben meint, daſs dieselben An - fangs zwar ferne gestanden, späterhin aber einige nahe an das Kreuz herangetreten seien: so ist hiegegen zu be -547Drittes Kapitel. §. 128.merken, daſs die Synoptiker gerade am Schluſs der Kreu - zes - und Todesscene, unmittelbar vor der Kreuzabnahme, jener Stellung der Angehörigen Jesu gedenken, also vor - aussetzen, daſs sie dieselbe bis zum Ende der Scene ein - genommen haben, was wir der furchtsamen Stimmung der Jünger in jenen Tagen, und namentlich der weiblichen Schüchternheit, ganz angemessen finden müssen. Könnte man zwar von der mütterlichen Zärtlichkeit vielleicht den Heroismus eines näheren Hinzutretens erwarten: so macht dagegen das völlige Schweigen der Synoptiker, als der In - terpreten der gewöhnlichen evangelischen Tradition, die historische Realität jenes Zuges zweifelhaft. Die Synopti - ker können weder von der Anwesenheit der Mutter Jesu bei'm Kreuz etwas gewuſst haben: sonst würden sie vor allen andern Frauen sie als die Hauptperson namhaft ma - chen; noch scheint von einem engeren Verhältniſs dersel - ben zu Johannes etwas bekannt gewesen zu sein: wenig - stens läſst die Apostelgeschichte (1, 13 f.) die Mutter Jesu mit den Zwölfen überhaupt, seinen Brüdern und den Frauen zusammensein. Wie aber die Kunde von jener rüh - renden Gegenwart und diesem merkwürdigen Verhältniſs verloren gehen konnte, begreift sich wenigstens nicht so leicht, als wie sie in dem Kreise, aus welchem das vierte Evangelium hervorgegangen ist, hat entstehen können. Müssen wir uns nach früher erwogenen Spuren diesen Kreis als einen solchen denken, in welchem der Apostel Johannes besondere Verehrung genoſs, weſswegen ihn denn unser Evangelium aus der Dreizahl der genaueren Ver - trauten Jesu heraushebt, und allein zum Lieblingsjünger macht: so konnte zur Besiegelung dieses Verhältnisses nichts Schlagenderes gefunden werden, als die Angabe, daſs Jesus die theuerste Hinterlassenschaft, seine Mutter (in Beziehung auf welche, wie auf den angeblichen Lieblings - jünger, ohnehin die Frage nahe lag, ob sie denn in dieser lezten Noth von der Seite Jesu gewichen seien?), dem Jo -35 *548Dritter Abschnitt.hannes gleichsam leztwillig übergeben, diesen somit an sei - ne Stelle gesezt, ihn zum vicarius Christi gemacht habe.

Ist die Anrede Jesu an die Mutter und den Jünger dem vierten Evangelium eigenthümlich: so findet sich um - gekehrt der Ausruf: ἠλὶ, ἠλὶ, λαμὰ σαβαχϑανί; nur in den zwei ersten Evangelien (Matth. V. 46. Marc. V. 34.). Die - ser Ausruf und der innere Zustand, aus welchem er her - vorgegangen, wird, wie der Seelenkampf in Gethse - mane, von der kirchlichen Ansicht als ein Theil des stell - vertretenden Leidens Jesu gefaſst. Da man sich jedoch auch hier das Auffallende nicht verbergen konnte, welches darin liegt, daſs das bloſs äusserliche, körperliche Leiden Jesum bis zum Gefühl der Gottverlassenheit niedergedrückt haben sollte, während es vor und nach ihm solche gege - ben hat, welche unter ebenso groſsen Martern doch die Fassung und Stärke des Geistes beibehalten haben: so hat die kirchliche Ansicht auch hier zu dem körperlichen Lei - den als den eigentlichen Grund jener Stimmung Jesu ein Zurückweichen Gottes von seinem Innern, eine Empfin - dung des göttlichen Zorns, hinzugefügt, was an der Stelle der Menschen, die es eigentlich als Strafe verdient hätten, über ihn verhängt worden sei35)s. Calvin, Comm. in harm. evv. zu Matth. 27, 46. Olshau - sen z. d. St.. Wie aber bei den kirch - lichen Voraussetzungen über die Person Christi ein Zurück - weichen Gottes von seinem Innern gedacht werden kann, mögen die Vertheidiger dieser Ansicht selbst zusehen. Soll es die menschliche Natur in ihm gewesen sein, die sich so verlassen fühlte: so wäre ihre Einheit mit der göttlichen unterbrochen, also die Grundlage der Persönlichkeit Chri - sti nach jenem System aufgehoben gewesen; oder die gött - liche: so hätte sich die zweite Person in der Gottheit von der ersten losgerissen; der aus beiden Naturen bestehen - de Gottmensch aber kann es ebensowenig gewesen sein,549Drittes Kapitel. §. 128.was sich gottverlassen fühlte, da dieser ja eben die Ein - heit und Unzertrenntheit des Göttlichen und Menschlichen ist. So durch den Widerspruch dieser supranaturalisti - schen Erklärung zu der natürlichen Ableitung jenes Aus - rufs aus dem Gefühl des äusseren Leidens zurückgewor - fen, und doch von der Annahme, daſs durch dieses Jesus so tief sollte gebeugt gewesen sein, abgestossen, hat man dem Ausruf einen milderen Sinn unterzulegen versucht. Da es die Anfangsworte des für diesen lezten Abschnitt im Leben Jesu classischen Ps. 22. sind, dieser Psalm aber mit klagender Schilderung tiefsten Leidens zwar beginnt, doch im Verlauf zu froher Hoffnung der Rettung sich aufschwingt: so hat man angenommen, die Worte, welche Jesus unmit - telbar ausspricht, geben nicht seine ganze Empfindung, sondern, indem er den ersten Vers ausspreche, citire er damit den ganzen Psalm, namentlich auch seinen freudi - gen Schluſs, gleich als wollte er sagen: auch ich zwar, wie der Verfasser jenes Psalms, scheine jezt von Gott ver - lassen, aber an mir, wie an ihm, wird sich nur um so mehr die Hülfe Gottes verherrlichen36)So Paulus, Gratz z. d. St. Schleiermacher, Glaubenslehre, 2, S. 154. Anm.. Allein, that Je - sus jenen Ausruf in Bezug auf die Umstehenden, um sie der baldigen Wendung seines Schicksals zu versichern: so hätte er es auf die zweckwidrigste Weise angegriffen, wenn er gerade diejenigen Worte des Psalms ausgespro - chen hätte, welche vom tiefsten Elend handeln, und er hätte statt des ersten Verses eher einen der Verse vom 10ten bis 12ten, oder vom 20ten bis zum Ende anführen müssen; wollte er aber durch jenen Ruf nur seiner eignen Empfindung Luft machen: so würde er nicht diesen Vers gewählt haben, wenn nicht eben das in diesem, sondern das in den folgenden ausgesprochene Gefühl sein eigenes in diesem Augenblick gewesen wäre. War es aber sein550Dritter Abschnitt.eigenes, und, nach Beseitigung übernatürlicher Erklärungs - gründe, aus seiner damaligen äussern Calamität hervorge - gangen: so konnte derjenige, welcher, wie die Evange - lien von Jesu berichten, das Leiden und Sterben längst in seinen Messiasbegriff aufgenommen, mithin als göttliche Führung begriffen hatte, das nunmehr wirklich eingetre - tene schwerlich als eine Gottverlassenheit beklagen, son - dern der Gedanke würde sehr nahe liegen, Jesus habe sich in früher gehegten Erwartungen durch die unglückliche Wendung seines Schicksals getäuscht gefunden, und so in Durchführung seines Plans von Gott verlassen geglaubt37)So der Wolfenbüttler, vom Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 153.. Doch auf solche Vermuthungen hätten wir dann erst uns einzulassen, wenn jener Ausruf Jesu historisch sicher be - gründet wäre. In dieser Hinsicht würde uns zwar das Stillschweigen des Lukas und Johannes nicht so sehr an - fechten, daſs wir zu Erklärungen desselben unsre Zuflucht nähmen, wie die: Johannes habe den Ausruf verschwie - gen, um nicht der gnostischen Ansicht Vorschub zu thun, als hätte der leidensunfähige Äon Jesum damals schon ver - lassen gehabt38)Schneckenburger, Beiträge, S. 66 f.; wohl aber macht das Verhältniſs der Worte Jesu zum 22ten Psalm diesen Zug verdächtig. War nämlich der Messias einmal als leidender aufgefaſst, und wurde jener Psalm gleichsam als ein Programm seines Lei - dens benüzt, wozu es keineswegs des Anlasses bedurfte, daſs Jesus am Kreuz eine Stelle desselben wirklich ange - führt hatte: so muſsten die Anfangsworte des Psalms, wel - che das Gefühl des tiefsten Leidens aussprechen, sich ganz besonders eignen, dem gekreuzigten Messias in den Mund gelegt zu werden. In diesem Fall könnte dann auch die auf jenen Ausruf Jesu sich beziehende Spottrede39)Nach Olshausen, S. 495, ist ein solcher Sinn der Rede mit der551Drittes Kapitel. §. 128.Umstehenden, ὅτι Ἠλίαν φωνεῖ οὖτος u. s. w., nur so ent - standen sein, daſs dem Wunsch, für diese Scene dem Psalm gemäſs verschiedene Spottreden zu bekommen, der Gleichklang des ἠλὶ in dem Jesu geliehenen Ausruf mit dem auf den Messias bezogenen Elias entgegengekommen wäre.

Über den lezten Laut, welcher von dem sterbenden Jesus vernommen wurde, differiren die Evangelisten. Nach den beiden ersten war es bloſs eine φωνὴ μεγάλη, mit welcher er verschied (V. 50. 37. ); nach Lukas das Gebet: πάτερ, εἰς χεῖράς σου παραϑήσομαι τὸ πνεῦμά μου (V. 46.); nach Johannes das kurze τετέλεςαι, worauf er das Haupt neigte und verschied (V. 30.). Hier lassen sich die zwei ersten Evangelisten mit je einem oder dem andern der fol - genden durch die Annahme vereinigen: was jene unbe - stimmt als lauten Schrei bezeichnen, und was man nach ihrer Darstellung für einen unartikulirten Schmerzenslaut halten könnte, davon geben diese näher die Worte an. Schwerer hingegen fällt die Vereinigung der zwei lezten Evangelien miteinander. Denn soll nun Jesus zuerst sei - ne Seele Gott befohlen, und hierauf noch: es ist vollbracht! gerufen haben, oder umgekehrt: so ist beides gleichsehr gegen die Absicht der Evangelisten, da des Lukas καὶ ταῦ -39)keiner Sylbe angedeutet, vielmehr soll schon jezt sich ein heimlicher Schauder über die Gemüther ausgebreitet, und die Spötter bei dem Gedanken gebebt haben, Elias möchte im Wetter erscheinen. Allein wenn sofort unter dem Vor - wand, zusehen zu wollen, εἰ ἔρχεται Ἠλίας, σώσων αὐτὸν, ei - ner, der Jesu zu trinken geben will, davon abgemahnt wird, so ist doch hiedurch jener Vorwand deutlich genug als ein höhnischer bezeichnet, und gehört also der Schauder und das Beben nur der unwissenschaftlichen Stimmung des bibl. Commentators an, in welcher er sich namentlich der Lei - densgeschichte, als einem mysterium tremendum gegenüber befindet, und welche ihn auch schon in Pilatus eine Tiefe finden liess, die ihm die Evangelisten nirgends geben.552Dritter Abschnitt.τα εἰπὼν ἐξέπνευσεν, nicht mit Paulus durch bald nach - dem er dieses gesprochen, verschied er wiedergegeben werden kann, und Johannes schon dem Worte nach einen lezten, abschlieſsenden Ausruf geben will, welchen aber der eine so, der andre anders dachte. Dem Lukas scheint die für das Sterben Jesu gewöhnliche Formel: παρέδωκε τὸ πνεῦμα, zu einer ausdrücklichen Übergabe des Geistes an Gott von Seiten Jesu geworden zu sein, und mit Rück - icht auf die Stelle Ps. 31, 6. (LXX): (κύριε) εἰς χεῖράς σου παραϑήσομαι τὸ πνεῦμά μου eine Stelle, die sich we - gen der genauen Ähnlichkeit dieses Psalms mit dem 22ten leicht darbot, sich zu jenem Ruf ausgebildet zu haben. Wogegen der Verfasser des vierten Evangeliums mehr aus der Situation Jesu heraus ihm einen Ausruf geliehen zu haben scheint, indem er ihn durch das τετέλεςαι die Voll - endung seines Werks, oder die Erfüllung sämmtlicher Weissagungen (mit Ausnahme natürlich dessen, was sich erst noch in der Auferstehung vollenden und erfüllen soll - te) aussprechen läſst.

Doch nicht bloſs diese lezten, sondern auch schon die früheren Reden Jesu am Kreuz lassen sich nicht so, wie man gemeiniglich glaubt, ineinanderschieben. Man zählt gewöhnlich sieben Worte Jesu am Kreuze: allein so viele hat kein einzelner Evangelist, sondern die beiden ersten haben nur Eines: den Ruf ἠλὶ, ἠλὶ κ. τ. λ. ; Lukas hat drei: die Bitte für die Feinde, die Verheiſsung an den Mitge - kreuzigten, und die Übergabe des Geistes in des Vaters Hände; Johannes hat gleichfalls drei, aber andere: die Anrede an Mutter und Jünger, das διψῶ, und das τετέλε - ςαι. Hier lieſsen sich die Fürbitte, die Verheiſsung, und die Anempfehlung der Mutter wohl in solcher Aufeinan - derfolge denken: aber das διψῶ und das ἠλὶ verwickeln sich bereits, indem nach beiden Ausrufungen das Gleiche, die Tränkung mit Essig durch einen auf ein Rohr gesteck - ton Schwamm, erfolgt sein soll. Nimmt[man] hiezu die553Drittes Kapitel. §. 128.Verwicklung des τετέλεςαι und des πάτερ κ. τ. λ. : so soll - te man wohl einsehen und zugestehen, daſs keiner der Evangelisten bei den Worten, welche er Jesu am Kreuz in den Mund legt, auf diejenigen, welche der andre ihm leiht, gerechnet, und von denselben etwas gewuſst habe; vielmehr mahlt diese Scene jeder auf seine Weise, je nach - dem er oder die ihm zu Gebot stehende Sage nach dieser oder jener Weissagung oder sonstigen Rücksicht die Vor - stellung von derselben ausgebildet hatte.

Eigenthümliche Schwierigkeit macht hier noch die Stundenzählung. Nach sämmtlichen Synoptikern fand ἀπὸ ἕκτης ὥρας ἕως ὥρας ἐννάτης (nach unsrer Rechnung von Mittags 12 bis Nachmittags 3 Uhr) die Finsterniſs statt; nach Matthäus und Markus war es um die leztere Stun - de, daſs Jesus über Gottverlassenheit klagte und bald dar - auf den Geist aufgab; nach Markus war es ὥρα τρίτη (Vorm. 9 Uhr) gewesen, als sie Jesum kreuzigten (V. 25.). Dagegen hat nach Johannes (19, 14.) um die sechste Stun - de, wo nach Markus Jesus bereits drei Stunden am Kreu - ze hieng, Pilatus erst über ihn zu Gericht gesessen. Dieſs ist, wenn nicht, wie zu Hiskias Zeiten, der Sonnenzeiger rückwärts gegangen sein soll, ein Widerspruch, der sich weder durch gewaltsame Änderung der Lesart, noch durch Berufung auf das ὡσεὶ bei Johannes, oder auf die Unfähigkeit der Jünger, unter so schmerzvollen Eindrü - cken die Stunde genau zu beobachten, heben läſst; höch - stens vielleicht dadurch, wenn sich beweisen lieſse, daſs das vierte Evangelium durchaus von einer andern Stunden - zählung als die übrigen ausgehe40)So Rettig, exegetische Analekten, in Ullmann's und Umbreit's Studien, 1830, 1. S. 106 ff. Vgl. über die verschiedenen Aus - gleichungsversuche Lücke z. d. St. des Joh..

554Dritter Abschnitt.

Viertes Kapitel. Tod und Auferstehung Jesu.

§. 129. Die Naturerscheinungen bei'm Tode Jesu.

Der Tod Jesu war nach den evangelischen Berichten von ausserordentlichen Erscheinungen begleitet. Schon drei Stunden vorher soll eine Finsterniſs sich verbreitet, und bis zu seinem Verscheiden gedauert haben (Matth. 27, 45. parall. ); im Augenblick des Todes sei der Vorhang im Tempel von oben an bis unten aus zerrissen, die Erde ha - be gebebt, die Felsen sich gespalten, die Gräber sich auf - gethan, und viele Leiber heiliger Verstorbenen seien aufer - standen, in die Stadt gekommen, und Vielen erschienen (Matth. V. 51 ff. parall.). In diese Nachrichten theilen sich übrigens die Evangelien sehr ungleich: nur das erste enthält sie alle; das zweite und dritte bloſs die Finster - niſs und den zerrissenen Vorhang; das vierte aber weiſs von allen diesen Zeichen nichts.

Nehmen wir sie einzeln nach der Reihe vor, so kann zuerst das σκότος, welches, während Jesus am Kreuze hieng, entstanden sein soll, keine gewöhnliche, durch Dazwi - sehenkunft des Mondes vermittelte Sonnenfinsterniſs gewe - sen sein1)Das Evang. Nicodemi lässt die Juden sehr unverständig be - haupten: ἔκλειψις ἡλίου γέγονε κατὰ τὸ εἰωϑός. c. 11, p. 592 bei Thilo., da es ja am Pascha, also um die Zeit des Voll -555Viertes Kapitel. §. 129.monds, war. Indem nun aber auch die Evangelien nicht bestimmt von einer ἔκλειψις τοῦἡλίου sprechen, sondern die beiden ersten nur überhaupt von σκότος, wozu das dritte etwas genauer: καὶ ἐσκοτίσϑη ἥλιος sezt, was aber gleich - falls von jeder Art der Verdunkelung des Sonnenlichts ge - sagt werden kann: so lag es nahe, statt einer astronomi - schen an eine atmosphärische Ursache dieser Finsterniſs zu denken, und sie von verdunkelnden Dämpfen in der Luft, wie sie zumal vor Erdbeben herzugehen pflegen, abzuleiten2)So Paulus und Kuinöl, z. d. St.; Hase, L. J. §. 143.. Daſs solche Verdunkelungen der Luft über ganze Länder sich ausbreiten können, ist richtig; aber wenn auch die ὅλη oder πᾶσα γῆ, über welche sich diese Finster - niſs erstreckt haben soll, nicht mit Fritzsche als der ganze Erdkreis genommen wird, so zeigt doch der Zusammen - hang, in welche sie die Evangelisten stellen, deutlich genug, daſs sie sich etwas Wunderbares dachten; wobei dann aber das Suchen nach einem denkbaren Grund und Zweck des Wunders in die Frage nach seiner historischen Realität sich verwandeln muſs. Für diese beriefen sich die Kirchenvä - ter auf Zeugnisse heidnischer Schriftsteller, von welchen namentlich Phlegon in seinen χρονικοῖς jene Finsterniſs angemerkt haben sollte3)Tertull. Apologet. c. 21. Orig. c. Cels. 2, 33. 59.: allein wenn man die bei Euse - bius wahrscheinlich aufbewahrte Stelle des Phlegon ver - gleicht, so ist in dieser nur die Olympiade, schwerlich das Jahr, in keinem Fall die Jahrszeit und der Tag dieser Finsterniſs bestimmt4)Euseb. can. chron. ad Ol. 202. ann. 4. Vgl. Paulus, S. 765 ff.. Neuere berufen sich auf ähnliche Fälle aus der alten Geschichte, von welchen namentlich Wetstein eine reiche Sammlung angelegt hat. Er bringt aus griechischen und römischen Schriftstellern die Notizen von den Sonnenfinsternissen bei, welche bei der Wegnah -556Dritter Abschnitt.me des Romulus, bei'm Tode Cäsars5)Serv. ad Virgil. Georg. 1,465 ff. : Constat, occiso Caesare in Senatu pridie Idus Martiarum, solis fuisse defectum ab ho - ra sexta usque ad noctem., und ähnlichen Er - eignissen, stattgefunden; er führt Stellen an, welche die Vorstellung aussprechen, daſs Sonnenfinsternisse den Sturz von Reichen, den Tod von Königen bedeuten; endlich weist er A. T. liche (Jes. 50, 3. Joël 3, 20. Amos 8, 9. vgl. Jer. 15, 9.) und rabbinische Stellen nach, in welchen theils die Verfinsterung des Tageslichts als das göttliche Trauerco - stüm beschrieben6)Echa R. 3, 28., theils der Tod groſser Lehrer mit dem plözlichen Untergang der Sonne am Mittag verglichen7)R. Bechai Cod. Hakkema:Cum insignis Rabbinus fato con - cederet, dixit quidam: iste dies gravis est Israëli, ut cum sol occidit ipso meridie., theils die Ansicht vorgetragen wird, daſs bei dem Tode hoher hierarchischen Beamten, wenn ihnen die lezte Eh - re nicht erwiesen werde, die Sonne sich zu verfinstern pflege8)Succa, f. 29, 1:Dixerunt doctores: quatuor de causis sol deficit: prima, ob patrem domus judicii mortuum, cui exe - quiae non fiunt ut decet etc.. Aber statt Stützen der Glaubwürdigkeit der evangelischen Erzählung zu sein, sind diese Parallelen eben - so viele Prämissen zu dem Schlusse, daſs wir auch hier nur eine aus verbreiteten Vorstellungen entsprungene christ - liche Sage haben, welche den tragischen Tod des Messias von der ganzen Natur durch ihr solennes Trauercostüm mitfeiern lassen wollte9)s. Fritzsche, z. d. St..

Das zweite Prodigium ist das Zerreissen des Tem - pelvorhangs, ohne Zweifel des inneren, vor dem Allerhei - ligsten, indem das diesen bezeichnende פָּרֹכֶת von der LXX. durch καταπέτασμα wiedergegeben zu werden pflegt. Auch dieſs Zerreissen des Vorhangs glaubte man als natürliches557Viertes Kapitel. §. 129.Ereigniſs deuten zu können, indem man es als Wirkung der Erderschütterung ansah. Allein von dieser ist, wie schon Lightfoot richtig bemerkt, eher begreiflich, wie sie feste Körper, dergleichen die nachher erwähnten πέτραι sind, als wie sie einen dehnbaren, freihängenden Vorhang zu zerreissen im Stande war. Daher soll nun nach Paulus Annahme der Vorhang im Tempel ausgespannt, unten und auf den Seiten befestigt gewesen sein. Allein theils ist dieſs bloſse Vermuthung, theils, wenn das Erdbeben die Wände des Tempels so stark erschütterte, daſs ein, ob auch ausgespannter, doch immer noch dehnbarer Vorhang zerriſs: so wäre von solcher Erschütterung wohl eher et - was am Gebäude eingefallen, wie nach dem Hebräerevan - gelium geschehen sein soll10)Hieron. ad Hedib. ep. 149, 8. (vgl. Comm. z. d. St.): in evangelio autem, quod hebraicis literis scriptum est, legimus, non velum templi scissum, sed superliminare templi mirae magnitudinis corruisse.: wenn man nicht mit Kuin - öl die weitere Vermuthung hinzufügen will, der Vorhang sei vor Alter mürbe, und daher auch durch eine kleine Er - schütterung zu zerreissen gewesen. Daſs in keinem Fall unsre Berichterstatter an einen solchen Causalzusammen - hang gedacht haben, beweist des zweiten und dritten Evan - gelisten Schweigen von dem Erdstoſs, und bei dem er - sten das, daſs er desselben erst nach dem Zerreissen des Vorhangs gedenkt. Müssen wir demnach dieses Ereigniſs, wenn es sich wirklich zugetragen haben soll, als wunder - bares festhalten: so müſste der göttliche Zweck bei dessen Hervorbringung dieser gewesen sein, auf die jüdischen Zeitgenossen einen starken Eindruck von der Bedeutsam - keit des Todes Jesu hervorzubringen, und den ersten Ver - kündigern des Evangeliums etwas an die Hand zu geben, worauf sie sich in ihren Beweisführungen stützen könnten. Allein, wie auch Schleiermacher herausgehoben hat, nir -558Dritter Abschnitt.gends sonst im N. T., weder in den apostolischen Brie - fen, noch in der A. G., noch im Brief an die Hebräer, auf dessen Wege es fast nicht umgangen werden konnte, ge - schieht dieses Faktums eine Erwähnung: sondern bis auf diese trockene synoptische Notiz ist jede Spur desselben verloren, was schwerlich der Fall sein könnte, wenn es wirklich einen Stüzpunkt apostolischer Beweisführung ge - bildet hätte. Es müſste also die göttliche Absicht bei Veranstaltung dieses Wunders durchaus verfehlt worden sein, oder, da dieſs undenkbar ist, so kann es nicht um dieses Zweckes willen, d. h. aber, da sich ein andrer nicht denken läſst, gar nicht geschehen sein. In anderer Weise kommt freilich ein eigenthümliches Verhältniſs Jesu zum jüdischen Tempelvorhang im Hebräerbrief zur Spra - che. Während vor Christo nur die Priester in das Heili - ge, in das Allerheiligste aber nur der Hohepriester Ein - mal des Jahrs mit dem Sühnungsblute Zutritt gehabt habe, sei Christus als ewiger Hoherpriester mittelst seines eignen Blutes εἰς τὸ ἐσώτερον τοῦ καταπετάσματος, in das Aller - heiligste des Himmels, eingegangen, womit er der πρόδρο - μος der Christen geworden sei, und auch ihnen den Zu - gang dahin eröffnet, eine αἰώνιον λύτρωσιν gestiftet habe (6, 19 f. 9, 6 12. 10, 19 f.). Diese Metaphern findet auch Paulus unsrer Erzählung so verwandt, daſs er es möglich findet, diese zu den Fabeln zu rechnen, welche nach dem Henke'schen Programm e figurato genere dicendi abzulei - ten sind; wenigstens sei die Sache, wenn auch wirklich vorgefallen, doch den Christen vorzüglich wegen jener, den Bildern des Hebräerbriefs verwandten symbolischen Be - deutsamkeit wichtig gewesen, daſs nämlich durch Christi Tod der Vorhang des jüdischen Cultus zerrissen, der Zutritt zu Gott ohne Priester durch προσκυνεῖν ἐν πνεύ - ματι jedem eröffnet sei. Ist aber, wie gezeigt, die histo - rische Wahrscheinlichkeit des fraglichen Ereignisses so schwach, dagegen die Anlässe, aus welchen die Erzählung559Viertes Kapitel. §. 129.ohne historischen Grund sich bilden konnte, so bedeutend: so ist es folgerichtiger, mit Schleiermacher den Vorgang als geschichtlichen ganz aufzugeben, in Erwägung, daſs sobald man anfieng, das Verdienst Christi unter den im Brief an die Hebräer herrschenden Bildern darzustellen, ja schon bei den ersten, leisesten Übergängen zu dieser Lehrweise, bei der ersten Aufnahme der Heiden, die man zum jüdischen Cultus nicht verpflichtete, und die also auch ohne Antheil an den jüdischen Sühnungen blieben, solche Darstellungen in die christlichen Hymnen [und die evan - gelischen Erzählungen] kommen muſsten11)Über den Lukas, S. 293..

Über das folgende: γῆ ἐσείσϑη, καὶ αι πέτραι ἐσχίσ - ϑησαν, kann nur im Zusammenhang mit dem Vorhergehen - den geurtheilt werden. Ein Erdbeben, welches Felsen zer - reiſst, ist als natürliche Erscheinung möglich: nicht sel - ten aber kommt es auch als mythische Ausschmückung ei - nes groſsen Todesfalles vor, wie Virgil bei Cäsars Tode nicht allein die Sonne sich verfinstern, sondern auch von ungewohnter Erschütterung die Alpen erzittern läſst12)Georg. 1, 463 ff.. Da wir nun die vorhergemeldeten Prodigien nur aus die - sem lezteren Gesichtspunkt haben fassen können, und da überdieſs gegen die historische Begründung der jezt vorlie - genden Züge ihr alleiniges Vorkommen bei Matthäus spricht: so werden wir auch sie nur so ansehen, wie Fritzsche sagt:Messiae obitum atrocibus ostentis, quibus, quantus vir quummaxime exspirâsset, orbi terrarum indicaretur, illustrem esse oportebat.

Das lezte, gleichfalls dem ersten Evangelium eigen - thümliche Wunderzeichen bei'm Tode Jesu ist die Eröff - nung der Gräber, der Hervorgang vieler Todten aus den - selben, und deren Erscheinung in Jerusalem. Diesen Vor - gang sich denkbar zu machen, fällt besonders schwer. An560Dritter Abschnitt.sich schon ist weder klar, wie es diesen althebräischen ἁγίοις13)Nur an solche, nicht an sectatores Christi, wie Kuinöl will, ist zu denken. Im evang. Nicodemi, c. 17, sind es allerdings auch Verehrer Jesu, welche bei dieser Gelegenheit auferste - hen, nämlich Simeon (aus Luc. 2.) und seine beiden Söhne; die Mehrzahl aber bilden auch nach diesem Apocryphum, wie nach der ἀναφορὰ Πνλάτου (Thilo, p. 810.), nach Epipha - nius, orat. in sepulcrum Chr. 275, Ignat. ad Magnes. 9. u. A. (vgl. Thilo, p. 780 ff.) A. T. liche Personen, wie Adam und Eva, die Patriarchen und Propheten. nach dieser Auferstehung ergangen sein soll14)Vgl. die verschiedenen Meinungen bei Thilo, p. 783 f. noch auch ist über den Zweck einer so ausserordentli - chen Veranstaltung etwas Genügendes auszumitteln15)Vgl. besonders Eichhorn, Einl. in d. N. T. 1, S. 446 ff.. Rein in den Auferweckten selbst scheint der Zweck nicht gelegen zu haben, da sich sonst kein Grund denken lies - se, warum sie alle eben im Momente des Todes Jesu aufer - weckt wurden, und nicht jeder in dem durch den Gang sei - ner eigenen Entwicklung bedingten Zeitpunkte. War aber die Ueberzeugung Anderer der Zweck: so wäre dieser noch weniger erreicht worden als bei dem Wunder des zerrissenen Vorhangs, da auf die Erscheinung der Heili - gen nicht nur in den apostolischen Briefen und Reden jede Berufung fehlt, sondern auch unter den Evangelisten Mat - thäus mit seiner Erwähnung derselben allein steht. Eine besondere Schwierigkeit erwächst aus der wunderlichen Stellung, welche zwischen den scheinbar zusammengehöri - gen Momenten der Begebenheit die Zeitbestimmung μετὰ τὴν ἔγερσιν αὐτοῦ einnimmt. Denn wenn man diese Worte zum Vorhergehenden zieht, also die verstorbenen From - men im Augenblick des Todes Jesu nur wiederbelebt wer - den, aus den Gräbern aber erst nach seiner Auferstehung gehen läſst: so wäre dieſs eine Qual für Verdammte, nicht ein Lohn für Heilige gewesen; verbindet man dagegen jene561Viertes Kapitel. §. 129.Zeitbestimmung mit dem Folgenden, so daſs die Aufer - weckten zwar gleich nach ihrer bei'm Tode Jesu erfolg - ten Wiederbelebung auch aus den Gräbern hervorgegan - gen sein, aber erst nach seiner Auferstehung sollen in die Stadt haben gehen dürfen: so sucht man von dem Lezte - ren vergeblich irgend einen Grund. Diese Schwierigkei - ten zu vermeiden, ist es eine grobe Gewalthülfe gewesen, die ganze Stelle ohne kritische Gründe für eingeschoben zu erklären16)Stroth, von Interpolationen im Evang. Matth. In Eichhorn's Repertorium, 9, S. 139.; feiner ist die Art, wie die rationalisti - schen Erklärer durch Beseitigung des Wunderbaren in dem Ereigniſs auch die übrigen Schwierigkeiten wegzuräumen suchen. Wie bei'm Zerreissen des Vorhangs wird auch hier meistens an das Erdbeben angeknüpft: durch dieses sollen mehrere Grabmäler, namentlich auch von Prophe - ten, geöffnet worden sein, in welchen man, sei es, daſs sie verschüttet, oder verwest, oder von wilden Thieren ge - raubt worden waren, keine Leichen mehr gefunden habe. Als nun nach Jesu Auferstehung die ihm Geneigten unter den Bewohnern Jerusalems voll von Auferstehungsgedanken gewesen, so haben diese Gedanken, zusammen mit den leer - gefundenen Gräbern, Träume und Visionen in ihnen er - regt, in welchen sie die in jenen Gräbern beigesezt ge - wesenen frommen Vorfahren zu sehen geglaubt haben17)So Paulus und Kuinöl, z. d. St., welcher leztere diese Er klärung eine mythische nennt.. Allein die leergefundenen Gräber hätten auch mit der Kunde von Jesu Auferstehung zusammen schwerlich sol - che Träume hervorgebracht, wenn nicht schon vorher un - ter den Juden die Erwartung geherrscht hätte, der Mes - sias werde die verstorbenen frommen Israëliten auferwe - cken. War aber diese Erwartung vorhanden, so konnte aus derselben, eher als Träume, vielmehr die Sage vonDas Leben Jesu II. Band. 36562Dritter Abchnitt.einer bei'm Tode Jesu geschehenen Auferstehung der Hei - ligen hervorgehen, weſswegen Hase mit Recht die Voraus - setzung von Träumen fallen läſst, und allein mit den leer - gefundenen Gräbern auf der einen und jener jüdischen Erwartung auf der andern Seite auszureichen sucht18)L. J. §. 148.. Näher angesehen indeſs, wenn einmal diese Vorstellung vorhanden war, so bedurfte es keiner wirklichen Eröff - nung der Gräber, um einem solchen Mythus Entstehung zu geben, und so hat Schneckenburger die leergefundenen Gräber aus seiner Rechnung weggelassen19)Über den Ursprung, S. 67.. Wenn nun aber er statt dessen von visionären Erscheinungen spricht, welche, durch Jesu Auferstehung angeregt, seine Anhänger in Jerusalem gehabt haben: so ist dieſs ebenso einseitig, wie wenn Hase, die Träume weglassend, an der Graböffnung festhält; da, wenn einmal das eine, dann auch das andere dieser engverbundenen Momente als historisch aufgegeben werden muſs.

Freilich ist hiegegen nicht ohne Schein bemerkt wor - den, daſs zur Erklärung des Entstehens eines solchen My - thus die angeführte jüdische Erwartung nicht ausreiche20)Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 798.. Die Erwartung war näher diese. Vom Apostel Paulus (1 Thess. 4, 16. vrgl. 1 Kor. 15, 22. f.) und bestimmter aus der Apokalypse (20, 4. f.) wissen wir, daſs die ersten Christen bei der Wiederkunft Christi eine Auferstehung der From - men erwarteten, welche mit Christo 1000 Jahre regieren sollten; erst nach dieser Zeit sollten dann auch die übri - gen auferstehen, und von dieser zweiten Auferstehung wurde jene als ἀνάςασις πρώτη, oder τῶν δικαίων (Luc. 14, 14.) wofür Justin ἁγία ἀνάςασις hat21)Dial. c. Tryph. 113. unterschie - den. Doch dieſs ist schon die christianisirte Form der563Viertes Kapitel. §. 129.jüdischen Vorstellung; diese bezog sich nicht auf die Wie - derkunft, sondern auf die erste Ankunft des Messias, und erwartete bei dieser nur die Auferstehung der Israëli - ten22)s. die Sammlung hiehergehöriger Stellen bei Schöttgen, 2, p. 570 ff., und in Bertholdt's Christol. §. 35.. In die Zeit der ersten Parusie des Messias ver - legt nun zwar auch die Nachricht bei Matthäus jene Auferweckung: aber warum sie dieselbe gerade an seinen Tod knüpft, dafür liegt allerdings in der jüdischen Er - wartung an und für sich kein Grund, und in der Modifi - cation, welche die Anhänger Jesu an dieser Erwartung anbrachten, hätte, wie es scheint, eher ein Anlaſs gelegen, die Auferweckung der Frommen mit seiner Auferste - hung zu verbinden, zumal die Anknüpfung an seinen Tod mit der sonstigen urchristlichen Vorstellung in Wider - spruch zu kommen scheint, welcher zufolge Jesus πρωτότοκος ἐκ τῶν νεκρῶν (Kol. 1, 18. Offenb. 1, 5), ἀπαρχὴ τῶν κεκοιμη - μένων (1 Kor. 15, 20.) ist. Doch wir wissen ja nicht, ob diese Vorstellung die allgemeine war, und wenn die Ei nen der eminenten Würde Jesu schuldig zu sein glaub - ten, ihn als den ersten der Auferstandenen zu betrachten, so bieten sich doch auch Gründe dar, welche Andere be - wegen konnten, schon bei seinem Tod einige Fromme auf - erstehen zu lassen. Einmal der äussere: da unter den Prodigien bei Jesu Tod auch ein Erdbeben hervorgehoben ist, und in der Beschreibung seiner Heftigkeit dem πέτραι ἐσχίσϑησαν sich leicht das auch sonst bei Schilderung hef - tiger Erdbeben vorkommende23)s. die von Wetstein gesammelten Stellen. μνημεῖα ἀνεῴχϑησαν bei - gesellen konnte: so war bier ein einladender Anknüpfungs - punkt für die Auferstehung der Frommen gegeben. Aber auch aus dem Innern der Vorstellung vom Tode Jesu her - aus, wie sie sich frühzeitig in der christlichen Gemeinde ausbildete, daſs nämlich derselbe das eigentlich erlösende36 *564Dritter Abschnitt.Moment seiner Wirksamkeit ausmache, und namentlich durch den daran geknüpften Hinabgang zum Hades (1 Petr. 3, 19. f.) die früher Verstorbenen aus demselben befreit worden seien24)s. diese Vorstellung weiter ausgeführt im evang. Nicod. cap. 18 ff., konnte sich ein Anlaſs ergeben, gerade durch den Tod Jesu die Bande des Grabes für die alten Frommen gesprengt werden zu lassen. Ohnehin wurde durch diese Stellung noch entschiedener als durch eine Verbindung mit Jesu Wiederbelebung die Auferweckung der Gerech - ten nach jüdischer Vorstellung in die erste Parusie des Messias gesezt, eine Vorstellung, welche in judaisirenden Kreisen der ersten Christenheit gar wohl noch in einer solchen Erzählung nachklingen konnte, während ein Paulus und auch der Verfasser der Apokalypse bereits auch die ἀνάςασις πρώτη in die zweite, erst zu erwartende Ankunft des Messias verlegten. Mit Rücksicht auf diese Vorstellung scheint es dann, daſs, wahrscheinlich vom Verfasser des ersten Evangeliums selbst, das μετὰ τὴν ἔγερσιν αὐτοῦ als Restriction angebracht wurde.

Ihre Beschreibung der Vorgänge bei dem Tode Jesu schlieſsen die Synoptiker mit einer Angabe des Eindrucks, welchen dieselben, zunächst auf den wachhabenden römi - schen Centurio, gemacht haben. Nach Lukas (V. 47.) war dieser Eindruck durch τὸ γενόμενον, d. h., da er die Finsterniſs schon früher, zulezt aber nur das Verschei - den Jesu mit lautem Gebet gemeldet hat, durch eben die - ses leztere hervorgebracht, wie denn Markus, den Lukas gleichsam auslegend, den Hauptmann dadurch, daſs Jesus οὓτω κράξας ἐξέπνευσεν, zu dem Ausruf: ἄνϑρωπος οὖτος υἱὸς ἦν ϑεοῦ, veranlaſst werden läſst (V. 39.). Bei Lukas nun, der als die lezten Laute Jesu ein Gebet giebt, ist wohl etwa zu begreifen, wie durch dieses erbauliche Ende der Hauptmann zu einer vortheilhaften Ansicht von Jesu565Viertes Kapitel. §. 130.gebracht werden mochte: wie hingegen aus dem Verschei - den mit lautem Geschrei auf die Würde eines Gottessohns geschlossen werden konnte, will auf keine Weise einleuch - ten. Die passendste Beziehung aber giebt dem Ausruf des Centurio Matthäus, welcher denselben durch das Erd - beben und die übrigen Vorfälle bei'm Tode Jesu veran - laſst sein läſst: wenn nur nicht die historische Realität dieser Rede des Hauptmanns mit der ihrer angeblichen Veran - lassungen stände und fiele. In der Angabe der Worte des Centurio hingegen hat hinwiederum Lukas die histo - rische Wahrscheinlichkeit besser, als seine beiden Vor - männer, beobachtet. Denn Jesum als υἱὸς ϑεοῦ erklärt im jüdischen Sinne hat der römische Krieger schwerlich: er konnte es nur im Sinne der heidnischen Götterzeugungen; in diesem Sinne aber melden die Evangelisten wenig - stens seinen Ausspruch nicht, sondern sie wollen hier selbst einen Heiden für die Messianität Jesu zeugen las - sen: wogegen, daſs er, wie Lukas berichtet, Jesum als ἄνϑρωπος δίκαιος bezeichnet hätte, an sich wohl möglich wäre, wenn nicht mit der ganzen Darstellung der Kreu - zigungs - und Todesscene auch dieser Schluſsstein dersel - ben verdächtig würde zumal bei Lukas, der zu dem Eindruck auf den Hauptmann noch den auf die übrige Volksmenge fügt, und diese mit Zeichen der Reue und Trauer in die Stadt zurückkehren läſst, ein Zug, welcher nicht sowohl anzugeben scheint, was die Juden wirklich empfunden und gethan, als was sie nach christlicher An - sicht hätten thun und empfinden sollen.

§. 130. Der Lanzenstich in die Seite Jesu.

Während die Synoptiker Jesum von der ὥρα ἐννάτη, d. h. Nachmittags 3 Uhr, wo er verschied, bis zu der ὀψία, d. h. wohl bis gegen 6 Uhr Abends, am Kreuze hängen lassen, ohne daſs weiter etwas mit ihm vorgienge: schiebt[566]Dritter Abschnitt.der vierte Evangelist eine merkwürdige Zwischenscene ein. Nach ihm baten nämlich die Juden, um zu verhüten, daſs nicht durch das Hängenbleiben der Gekreuzigten der be - vorstehende besonders heilige Sabbat entweiht würde, den Procurator, es möchte durch Zerschlagung der Beine ihr Tod beschleunigt, und sie sofort abgenommen werden. Die hiezu beauftragten Soldaten vollzogen dieſs an den bei - den neben Jesu gekreuzigten Verbrechern: wie sie aber an Jesu die Zeichen des bereits eingetretenen Todes bemerk - ten, hielten sie bei ihm ein solches Vornehmen für über - flüssig, und begnügten sich, in seine Seite einen Speerstich zu machen, worauf Blut und Wasser herausfloſs (19, 31 37.).

Diese Thatsache wird gewöhnlich als Hauptbeleg für die Wirklichkeit des Todes Jesu angesehen, und im Ver - hältniſs zu ihr der aus den Synoptikern zu führende Be - weis für unzulänglich gehalten. Nach derjenigen Rech - nung nämlich, welche den längsten Zeitraum giebt, der des Markus, hieng Jesus von der dritten bis neunten, also 6 Stunden, am Kreuze, ehe er starb; wenn, wie Manchen wahrscheinlich gewesen ist, bei den beiden andern Synop - tikern die mit der sechsten Stunde eingetretene Finsterniſs zugleich den Anfang der Kreuzigung bezeichnet, so hieng nach ihnen Jesus nur drei Stunden lebend am Kreuze, und wenn wir bei Johanne die jüdische Stundenzählung voraussetzen, und ihm die gleiche Ansicht vom Zeitpunkt des Todes Jesu zuschreiben: so müſste, da er um die sechste Stunde den Pilatus erst das Urtheil sprechen läſst, Jesus nach nicht viel über zwei Stunden Kreuzigung be - reits gestorben sein. So schnell aber tödtet die Kreuzigung sonst nicht: was theils aus der Natur dieser Strafe, wel - che nicht durch starke Verwundung ein schnelles Verblu - ten, sondern mehr nur durch Ausspannung der Glieder ein allmähliges Erstarren hervorbringt, sich ergiebt; theils aus den eigenen Angaben der Evangelisten erhellt, nach567Viertes Kapitel. §. 130.welchen Jesus unmittelbar vor dem Augenblick, den sie für den lezten hielten, noch Kraft zum lauten Rufen hat - te, auch die beiden Mitgekreuzigten nach jener Zeit noch am Leben waren; theils endlich durch Beispiele von sol - chen zu belegen ist, welche mehrere Tage lebend am Kreuz zugebracht haben, und erst durch Hunger u. dgl. allmählig ge - tödtet worden sind1)Das Hiehergehörige findet sich zusammengestellt bei Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 781 ff. ; Winer, bibl. Realwörterbuch 1, S. 672 ff. ; und Hase, §. 144.. Daher haben Kirchenväter und ältere Theologen die Ansicht aufgestellt, Jesu Tod, der auf na - türlichem Wege noch nicht so bald erfolgt sein würde, sei auf übernatürliche Weise, entweder durch ihn selber, oder durch Gott, beschleunigt worden2)Jenes Tertullian, dieses Grotius, s. bei Paulus, S. 784, Anm.; Ärzte und neuere Theologen haben sich auf die gehäuften körperlichen und Seelenleiden berufen, welche Jesus den Abend und die Nacht vor seiner Kreuzigung zu dulden hatte3)so Gruner u. A. bei Paulus, S. 782 ff. Hase, a. a. O.: doch auch sie lassen noch die Möglichkeit offen, daſs, was den Evangelisten der Eintritt des Todes schien, nur eine durch Stockung des Blutumlaufs herbeigeführte Ohnmacht gewe - sen sei, und erst der Speerstich in die Seite den Tod Je - su entschieden habe.

Doch eben über diesen Speerstich, über den Ort, an welchem, das Instrument, durch welches, und die Art und Weise, wie er beigebracht worden, über seinen Zweck und seine Wirkung, waren von jeher die Meinungen sehr ver - schieden. Das Instrument bezeichnet der Evangelist als eine λόγχη, was ebensogut den leichteren Wurfspieſs, als die schwere Lanze bedeuten kann: so daſs wir über den Umfang der Wunde im Ungewissen bleiben. Die Art, wie die Wunde beigebracht wurde, beschreibt er durch νύσσειν: dieſs bedeutet aber bald eine tödtliche Verwundung, bald568Dritter Abschnitt.ein leichtes Ritzen, ja einen Stoſs, der nicht einmal Blut giebt; wir wissen also nicht, wie tief die Wunde gieng: wiewohl, wenn Jesus nach der Auferstehung den Thomas in die Nägelmahle zwar den Finger, in, oder auch nur an die Seitenwunde aber die Hand legen läſst (Joh. 20, 27.), der Stich eine bedeutende Wunde gemacht zu haben scheint. Doch dabei kommt es vor Allem noch auf die Stelle der Verwundung an. Diese bestimmt Johannes als die πλευρὰ, wo freilich, wenn der Stich an der linken Seite zwischen den Ribben bis in das Herz drang, der Tod unausbleiblich erfolgen muſste: allein jener Ausdruck kann ebensowohl die rechte Seite als die linke, und an beiden jeden Ort von der Schulter bis zur Hüfte bedeuten. Die meisten dieser Punkte würden sich freilich von selbst bestimmen, wenn die Absicht des Kriegers mit dem Lanzenstich gewesen wäre, Jesum, sofern er noch nicht gestorben wäre, zu töd - ten; denn in diesem Falle würde er ohne Zweifel am tödt - lichsten Plaz und so tief wie möglich gestochen haben. Allein diese Absicht ist zweifelhaft, und der Zusammen - hang der Stelle scheint eher dafür zu sprechen, daſs der Soldat durch den Stich vorerst nur erforschen wollte, ob der Tod wirklich schon eingetreten sei, was er aus dem Hervorflieſsen von Blut und Wasser aus der Wunde sicher abnehmen zu können glaubte.

Aber freilich über diese Folge des Speerstichs ist man am allerwenigsten einig. Die Kirchenväter haben, in Betracht, daſs aus Leichen kein Blut mehr flieſse, in dem aus Jesu Leichnam hervorgequollenen αἷμα καὶ ὕδωρ ein Wunder, ein Zeichen seiner höhern Natur, gefunden4)Orig. c. Cels. 2, 36: τῶν μὲν οὺν ἄλλων νεκρῶν σωμάτων τὸ αἷμα πήγνυται, καὶ ὕδωρ καϑαρὸν οὐκ ἀποῤῥεῖ̕ τοῦ δε κατὰ τὸν Ἰησοῦν νεκροῦ σώματος, τὸ παράδοξον, καὶ περὶ τὸ νεκρὸν σῶμα ῆν αἷμα καὶ ὕδωρ ἀπὸ τῶν πλευρῶν προχυϑέν. Vgl. Euthymius z. d. St.: ἐκ νεκροῦ γὰρ ἀνϑρώπου, κᾄν μυριάκις νύξῃ τις, οὐκ. 569Viertes Kapitel. §. 130.Neuere, von der gleichen Erfahrung ausgehend, haben in dem Ausdruck eine Hendiadys gesehen, und denselben von noch flüssigem Blute, einem Zeichen des noch nicht, oder doch eben erst erfolgten Todes, verstanden5)Schuster, in Eichhorn's Bibl. 9, S. 1036 ff.. Da jedoch das Blut für sich schon ein Flüssiges ist, so kann das zu αἷμα gesezte ὕδωρ nicht bloſs den flüssigen Zustand von jenem bedeuten, sondern muſs eine besondere Beimischung bezeichnen, welche das aus der Wunde Jesu flieſsende Blut enthielt. Um sich diese zu erklären, und zugleich die möglichst sichere Todesprobe zu bekommen, sind An - dere auf den Einfall gerathen, das dem Blute beigemisch - te Wasser sei wohl aus dem von der Lanze getroffenen Herzbeutel gekommen, in welchem sich, namentlich bei sol - chen, die unter starker Beängstigung sterben, eine Quan - tität Flüssigkeit sammeln soll6)Gruner, Comm. de morte J. Chr. vera, p. 47.. Allein ausserdem, daſs das Eindringen der Lanze in das Pericardium bloſse Vor - aussetzung ist, so ist theils, wo keine Wassersucht statt - findet, das Quantum jener Flüssigkeit so gering, daſs ihr Ausfluſs nicht in die Augen fiele; theils ist es nur ein einziger kleiner Fleck vorn an der Brust, wo das Pericar - dium so getroffen werden kann, daſs eine Entleerung nach aussen möglich ist: in allen andern Fällen würde, was ausflieſst, in das Innere der Brusthöhle sich ergieſsen7)Vgl. Hase, a. a. O.. Ohne Zweifel geht vielmehr der Evangelist von der bei jeder Aderlässe zu machenden Erfahrung aus, daſs das Blut, sobald es aufgehört hat, im Lebensprocesse begriffen zu sein, sich in Blutkuchen, placenta, und Blutwasser, serum, zu zersetzen anfängt, und will nun daraus, daſs am Blute Jesu sich bereits diese Scheidung gezeigt habe,4)ἐξελεύσεται αἷμα. ὑπερφυὲς τοῦτο τὸ πρᾶγμα, καὶ τρανῶς διδάσ - κον, ὅτι ὑπὲρ ἄνϑρωπον νυγείς.570Dritter Abschnitt.dessen wirklich erfolgten Tod beweisen8)Winer, a. a. O.. Ob nun aber dieses Ausflieſsen von Blut und Wasser in bemerkbarer Sonderung eine mögliche Todesprobe ist, ob Hase und Wi - ner recht haben, wenn sie behaupten, bei tieferen Ein - schnitten in Leichen quelle bisweilen das so zersezte Blut heraus, oder die Kirchenväter, wenn sie dieſs für so un - erhört hielten, daſs sie es bei Jesu als ein Wunder anse - hen zu müssen glaubten, ist noch eine andere Frage. Mir hat ein ausgezeichneter Anatom den Stand der Sache fol - gendermaſsen angegeben. Für gewöhnlich pflegt binnen einer Stunde nach dem Tod das Blut in den Gefäſsen zu gerinnen, und sofort bei Einschnitten nichts mehr auszu - flieſsen; nur ausnahmsweise, bei gewissen Todesarten, wie Nervenfieber, Erstickung, behält das Blut im Leich nam seine Flüssigkeit. Wollte man nun den Tod am Kreuz etwa unter die Kategorie der Erstickung stellen, was jedoch wegen der langen Zeit, welche die Gekreuzigten oft noch am Leben blieben, und bei Jesu insbesondere weil er ja bis zulezt gesprochen haben soll, unthunlich scheint, oder wollte man annehmen, so bald schon nach dem Augenblick des Todes sei der Stich in die Seite erfolgt, daſs er das Blut noch flüssig fand, was den Berichten unangemessen ist, welchen zufolge Jesus schon Nachmit - tags drei Uhr gestorben war, die Leichen aber erst Abends 6 Uhr abgenommen sein muſsten: so wäre, wenn der Stich ein gröſseres Blutgefäſs traf, Blut, aber ohne Wasser, aus geflossen; war aber der Tod Jesu vor etwa einer Stunde erfolgt, und sein Leichnam im gewöhnlichen Zustand: so floſs gar nichts aus. Also entweder Blut, oder nichts: Wasser und Blut in keinem Fall, weil sich serum und pla - centa in den Gefäſsen des Leichnams gar nicht so sondert, wie im Geschirr nach der Aderlässe. Schwerlich also hat der Urheber dieses Zugs im vierten Evangelium das αἷμα571Viertes Kapitel. §. 130.καὶ ὕδωρ selbst aus der Seite Jesu als Zeichen des erfolg - ten Todes kommen sehen: sondern weil er bei Blutlässen schon jene Scheidung im ersterbenden Blute gesehen hat - te, und ihm anlag, eine sichere Probe für den Tod Jesu zu bekommen, lieſs er aus dessen verwundetem Leichnam jene geschiedenen Bestandtheile kommen.

Daſs sich dieſs mit Jesu wirklich zugetragen habe, und sein Bericht davon, als auf Autopsie gegründet, zu - verlässig sei, versichert übrigens der Evangelist aufs An - gelegentlichste (V. 35.). Nach Einigen deſswegen, um do - ketische Gnostiker, welche die wahre Leiblichkeit Jesu leugneten, zu widerlegen9)Wetstein und Olshausen, z. d. St.; vgl. Hase, a. a. O.: allein wozu dann die Erwäh - nung des ὕδωρ? Nach Andern wegen der merkwürdigen Erfüllung zweier Weissagungen durch jenes Vornehmen mit der Leiche Jesu10)Lücke, z. d. St.: aber, wie Lücke selber sagt, wenn allerdings auch sonst Johannes selbst in Nebenpunkten ei - ne Erfüllung der Schrift sucht, so legt er doch nirgends ein so ausserordentliches Gewicht darauf, wie er hier nach dieser Auffassung thun würde. Daher scheint es immer noch die natürlichste Annahme zu sein, daſs Johannes durch jene Versicherungen die Wahrheit des Todes Jesu bekräftigen wolle11)so Less, Auferstehungsgeschichte, S. 95 f. Tholuck z. d. St., die Hinweisung auf die Schrifterfül - lung aber nur als weiteren, erläuternden Zusaz beifüge. Der Mangel einer historischen Spur, daſs schon zur Zeit der Abfassung des johanneischen Evangeliums der Verdacht eines Scheintods Jesu rege gewesen, beweist bei der Man - gelhaftigkeit der Nachrichten, die uns über jene Zeit zu Gebote stehen, nicht, daſs ein so nahe liegender Verdacht nicht wirklich in dem Kreise, in welchem das genannte Evangelium entstand, zu bekämpfen gewesen ist, und daſs dasselbe nicht, wie zur Mittheilung von Auferstehungs -572Dritter Abschnitt.proben, so auch eine Todesprobe mitzutheilen veranlaſst gewesen sein kann12)Vgl. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 253.. Ist doch auch schon im Evange - lium des Markus ein ähnliches Bestreben sichtbar. Wenn dieser von Pilatus, als Joseph sich den Leichnam Jesu aus - bat, sagt: ἐϑαύμασεν, εἰ ἤδη τέϑνηκε (V. 44.): so lautet dieſs ganz, als wollte er dem Pilatus eine Verwunderung leihen, die er von manchen seiner Zeitgenossen über den so gar schnell erfolgten Tod Jesu muſste äussern hören, und wenn er sofort den Procurator von dem Centurio si - chere Kundschaft einziehen läſst, daſs Jesus πάλαι ἀπέ - ϑανε: so scheint er mit der Bedenklichkeit des Pilatu. zu - gleich die seiner Zeitgenossen beschwichtigen zu wollen; wobei er aber von einem Lanzenstich nichts gewuſst ha - ben kann, sonst hätte er ihn, als die sicherste Bürgschaft des wirklich erfolgten Todes, nicht unerwähnt gelassen: so daſs die Darstellung bei Johannes als weitere Ausbil - dung eines schon bei Markus sichtbaren Triebs der Sage erscheint.

Diese Ansicht von der johanneischen Erzählung wird auch noch durch die Anführung A. T. licher Weissagungen bestätigt, welche der Referent in diesem Vorgang erfüllt sieht. Durch den Lanzenstich sieht er Zach. 12, 10. er - füllt, wo das von Johannes richtig und besser als von der LXX. übersezte: וְהִבִּיטוּ אַלַי אֵת אֲשֶׁר דָּקָרוּ von Jehova zu den Israëliten geredet ist, in dem Sinne, daſs sie an ihn, den sie so schwer gekränkt, sich einst wieder wenden wür - den13)Ro[s]enmüller, Schol. in V. T. 7, 4, p. 340.. Ist schon das דָּקַר, durchbohren, etwas, das, ei - gentlich gefaſst, eher gegen einen Menschen, als gegen Je - hova scheint unternommen werden zu können, und wird diese Deutung durch die abweichende Lesart: אֵלָיו, un - terstüzt: so muſste das Folgende in dieser Auffassung be -573Viertes Kapitel. §. 130.stärken, da nun in der dritten Person fortgefahren wird: und sie werden um ihn klagen, wie um ein einziges Kind und um einen Erstgeborenen. Daher wurde diese Stelle von den Rabbinen auf den Messias ben Joseph gedeutet, welcher im Krieg vom Schwert durchbohrt werden soll - te14)s. bei Rosenmüller, z. d. St. Schöttgen, 2, p. 221. Bertholdt, §. 17, not. 12., und von Christen konnte sie, wie so manche Stel - len in Unglückspsalmen, auf ihren Messias bezogen wer - den, indem das Durchbohren zunächst vielleicht entweder tropisch, oder von dem Durchnageln der Hände (und Füſse) bei der Kreuzigung verstanden wurde (vgl. Offenb. 1, 7.), bis es endlich einer, der eine zuverlässigere Todesprobe, als die Kreuzigung an sich ist, zu haben wünschte, als ein besondres Durchbohren mit der Lanze faſste.

Ist aus den zusammentreffenden Interessen, eine To - desprobe, und eine buchstäbliche Erfüllung der Weissa - gung zu gewinnen, der Zug mit dem Lanzenstich hervor - gegangen: so gehört das Übrige nur zur Motivirung die - ses Zuges. Ein Stich als Todesprobe war nur nöthig, wenn Jesus frühzeitig vom Kreuz abgenommen werden sollte, was nach jüdischem Gesez (5. Mos. 21, 22. Jos. 8, 29. 10, 26 f. eine Ausnahme 2. Sam. 21, 6 ff. )15)vgl. Joseph. b. j. 4, 5. 2. Sanhedrin 6, 5. bei Lightfoot, p. 499. jedenfalls vor Nacht, insbesondere aber dieſsmal, was Johannes allein heraushebt, vor Anbruch des Paschafestes, geschehen muſs - te. War Jesus ungewöhnlich schnell gestorben, und soll - ten doch auch die beiden mit ihm Gekreuzigten abgenom - men werden, so muſste man bei diesen den Tod gewalt - sam beschleunigen, was etwa durch das crurifragium ge - schehen konnte, welches sich auch sonst, theils in Verbin - dung mit der Kreuzigung, theils als Todesstrafe für sich findet16)s. Wetstein und Lücke z. d. St.. Da dieſs an dem bereits gestorbenen Jesus nicht574Dritter Abschnitt.zu geschehen brauchte, so gab dieſs zur Anwendung des ; ςοῦν οὺ συντρίψετε ἀπ̕ αὐτοῦ aus dem Pascharitual, 2 Mos. 12, 42. LXX., um so mehr Veranlassung, als, wie schon früher bemerkt, der getödtete Jesus mit dem Paschalamm verglichen zu werden pflegte.

§. 131. Begräbniss Jesu.

Während der Leichnam Jesu nach römischer Sitte am Kreuz hätte hängen bleiben müssen, bis Witterung, Vögel und Verwesung ihn verzehrten1)Vgl. Winer, 1, S. 802.; nach jüdischer aber vor Abend abgenommen auf dem unehrlichen Begräbniſs - plaz der Hingerichteten verscharrt worden wäre2)Sanbedrin, bei Lightfoot, p. 499. erbat sich den evangelischen Nachrichten zufolge ein angesehe - ner Anhänger des Getödteten vom Procurator seinen Leich - nam, der ihm nach römischem Gesez3)Ulpian. 48, 24, 1 ff. nicht verweigert, sondern alsbald verabfolgt wurde (Matth. 27, 57. parell.). Dieser Mann, welchen alle Evangelien Joseph nennen und von Arimathäa stammen lassen, war nach Matthäus ein reicher Mann und Schüler Jesu, doch dieſs, wie Johannes hinzufügt, bloſs heimlich, gewesen; die beiden mittleren Evangelisten bezeichnen ihn als ein ehrenwerthes Mitglied des hohen Raths, als welches er übrigens, wie Lukas be - merkt, zu der Verurtheilung Jesu seine Stimme nicht ge - geben hatte, und lassen ihn messianischen Erwartungen zugethan sein. Daſs wir hier eine allmählig in's Bestimm - tere ausgearbeitete Personalbezeichnung haben, fällt in die Augen. Im ersten Evangelium ist Joseph ein Schüler Jesu und das muſs wohl derjenige gewesen sein, der sich unter so ungünstigen Umständen nicht scheute, seines Leichnams sich anzunehmen; daſs er nach demselben Evan -575Viertes Kapitel. §. 131.gelium ein ἄνϑρωπος πλου̍σιος gewesen sein soll, läſst schon an Jes. 53, 9. denken, wo es heiſst: וַיִּתֵּן אֶת־רְשָׁעִים קִבְרוֺ וְאֶת־עָשִׁיר בְּמֹתָיו was möglicherweise von einem Begräbniſs bei Reichen verstanden, und so die Quelle wenigstens von diesem Prädikat des Joseph von Arimathäa werden konn - te. Daſs er messianischen Ideen ergeben war, was Lukas und Markus hinzufügen, folgte aus seinem Verhältniſs zu Jesu von selbst; daſs er ein βουλευτὴς gewesen, was die - selben Evangelisten versichern, ist freilich eine neue No - tiz: daſs er aber als solcher nicht in die Verurtheilung Jesu eingestimmt haben konnte, ergab sich wieder von selbst; endlich, daſs er seine Anhänglichkeit an Jesum bisher geheim gehalten, was Johannes anmerkt, hängt mit der eigenthümlichen Stellung zusammen, welche dieser Evangelist gewissen vornehmen Anhängern, wie nament - lich dem im Folgenden dem Joseph beigesellten Nikode - mus, zu Jesu giebt: so daſs nicht eben angenommen wer - den muſs, was jeder folgende Evangelist weiter als der vorhergehende giebt, beruhe auf eben so vielen histori - schen Notizen, die er vor den übrigen voraus hatte.

Während die Synoptiker die Bestattung Jesu durch Joseph allein verrichten, und nur noch die Frauen zu - sehen lassen, führt Johannes als Gehülfen dabei, wie gesagt, den Nikodemus auf, eine Notiz, über deren Ver - läſslichkeit schon oben, wo Nikodemus zum erstenmal vorkam, gehandelt worden ist4)1. Band, S. 632.. Dieser bringt zum Be - huf der Einbalsamirung Jesu Specereien, nämlich eine Mi - schung von Myrrhen und Aloë, in der Quantität von un - gefähr 100 Pfunden, herbei. Vergeblich hat man sich be - müht, dem von Johannes hier gebrauchten λίτρα die Be - deutung des lateinischen libra zu entziehen und die eines kleineren Gewichts unterzuschieben5)Michaelis, Begräbniss und Auferstehungsgeschichte, S. 68 ff.: indeſs möge für576Dritter Abschnitt.jene auffallend groſse Quantität einstweilen die Bemerkung Olshausen's genügen, daſs das Übermaſs natürlicher Aus - druck der Verehrung jener Männer für Jesum gewesen sei. Im vierten Evangelium vollziehen nun gleich nach der Kreuzabnahme die beiden Männer die Einbalsamirung nach jüdischer Sitte, indem sie den Leichnam mit den Specereien in Leintücher wickeln; bei Lukas sorgen die Frauen nach ihrer Heimkehr vom Grabe Jesu für Spece - reien und Salben, um nach dem Sabbat die Einbalsami - rung vorzunehmen (23, 56. 24, 1.); bei Markus kaufen sie die ἀρώματα erst nach Verfluſs des Sabbats (16, 1.); bei Matthäus aber ist von einer Einbalsamirung des Leichnams Jesu gar nicht, sondern nur von Einwickelung in reine Leinwand die Rede (27, 59.).

Hier hat man zuerst die Differenz zwischen Markus und Lukas in Bezug auf die Zeit des Einkaufs der Spe - cereien dadurch ausgleichen zu können gemeint, daſs man den einen von beiden Referenten auf die Seite des andern herüberzog. Am leichtesten schien Markus nach Lukas umgedeutet werden zu können, durch die Annahme einer enallage temporum, indem sein vom Tag nach dem Sab - bat gesagtes ἠγόρασαν, als Plusquamperfectum genommen, dasselbe zu sagen schien, wie des Lukas Angabe, daſs die Frauen schon vom Begräbniſsabend her die Specereien in Bereitschaft gehabt haben6)So Grotius; Less, Auferstehungsgeschichte, S. 165.. Allein gegen diese Ausglei - chung ist bereits vom Wolfenbüttler Fragmentisten mit siegreichem Unwillen bemerkt worden, daſs der zwischen eine Zeitbestimmung und die Angabe eines Zwecks hin - eingestellte Aorist unmöglich etwas Anderes, als das um jene Zeit zu diesem Zweck Geschehene, also hier das zwi - schen διαγενομένου τοῦ σαββάτου und ἵνα ἐλϑοῦσαι ἀλείψωσιν αὐτὸν gestellte ἠγόρασαν ἀρώματα nur einen nach Verfluſs des Sabbats vorgenommenen Einkauf bedeuten könne7)s. das fünfte Fragment, in Lessing's viertem Beitrag zur Ge -. 577Viertes Kapitel. §. 131.Daher hat Michaelis, welcher die Widerspruchslosigkeit der Begräbniſs - und Auferstehungsgeschichte gegen die Angriffe des Fragmentisten zu retten unternahm, sich auf die andere Seite geschlagen, und den Lukas dem Markus zu conformiren gesucht. Wenn Lukas schreibt: ὑποςρέ - ψασαι δὲ ἡτοίμασαν ἀρώματα καὶ μῦρα: so soll er damit nicht sagen wollen, daſs sie unmittelbar nach der Rück - kehr, also noch am Begräbniſsabend, diese Einkäufe ge - macht hätten, vielmehr durch den Zusaz: καὶ τὸ μὲν σάβ - βατον ἡσύχασαν κατὰ τὴν ἐντολὴν, gebe er selbst zu verste - hen, daſs es erst nach Verfluſs des Sabbats geschehen sei, da zwischen ihrer Rückkehr vom Grab und dem Anbruch des Sabbats mit 6 Uhr Abends keine Zeit zum Einkaufen mehr übrig gewesen war8)Michaelis, a. a. O. S. 102 ff.. Allein, wenn Lukas zwischen ὑποςρέψασαι und ἡσύχασαν sein ἡτοίμασαν stellt: so kann dieſs ebensowenig etwas erst nach der Sabbatruhe Vorge - fallenes bedeuten, als bei Markus das auf ähnliche Art in die Mitte gestellte ἠγόρασαν etwas, das vor dem Sab - bat wäre geschehen gewesen. Man hat daher neuerlich zwar eingesehen, daſs man jedem dieser beiden Evangeli - sten in Betreff des Ankaufs der Specereien seinen eige - nen Sinn lassen müsse: doch glaubte man den Schein des Irrthums auf der einen oder andern Seite durch die An - nahme entfernen zu können, die noch vor dem Sabbat bereiteten Specereien haben nicht zugereicht, und deſswe - gen die Frauen dem Markus zufolge wirklich nach dem Sabbat noch weitere dazugekauft9)Kuinöl, in Luc. p. 721.. Das müſste aber doch ein ungeheurer Specereiverbrauch gewesen sein, wenn zuerst der von Nikodemus herbeigebrachte Centner nicht gereicht, und deſswegen die Frauen noch Abends vor dem7)schichte und Literatur, S. 467 f. Vgl. über diese Differenzen auch Lessing's Duplik.Das Leben Jesu II. Band. 37578Dritter Abschnitt.Sabbat weitere Specereien bereit gelegt hätten, dann aber wäre auch dieſs als zu wenig befunden worden, und sie hätten am Morgen nach dem Sabbat noch etwas Weiteres dazugekauft.

So nämlich müſste man doch consequenterweise auch den zweiten Widerspruch lösen, welcher zwischen den zwei mittleren Evangelisten zusammen und dem vierten statt - findet, daſs nämlich nach diesem Jesus bei seiner Grable - gung mit 100 Pfund Salben einbalsamirt worden, nach je - nen dagegen die Einbalsamirung bis nach dem Sabbat vor - behalten war. Nun waren aber der Materie nach die 100 Pfund Myrrhen und Aloë mehr als genug: was fehlte, und nach dem Sabbat nachgeholt werden sollte, könnte nur etwa die Form gewesen sein, d. h. daſs die Specereien noch nicht auf die rechte Weise an dem Leichnam angebracht waren, weil hierin der Anbruch des Sabbats unterbro - chen hatte10)So Tholuck, z. d. St.. Allein, wenn wir den Johannes hören, so war die Beisetzung Jesu am Abend seines Todes καϑως ἔϑος ἐςὶ τοῖς Ἰουδαίοις ἐνταφιάζειν, d. h. rite, in aller Form, vorgenommen worden, indem der Leichnam μετὰ τῶν ἀρωμάτων in ὀϑόνια gebunden wurde (V. 40.), was eben das Ganze der jüdischen Einbalsamirung war, wel - cher somit nach Johannes auch in Betreff der Form nichts mehr fehlte11)s. den Fragmentisten, a. a. O., S. 469 ff.; abgesehen davon, daſs, wenn doch die Weiber nach Markus und Lukas neue Specereien kaufen und in Bereitschaft stellen, die Einbalsamirung des Niko - demus auch materiell unvollständig gewesen sein müſste. Da somit an der Bestattung Jesu, wie sie Johannes er - zählt, objektiv nichts gefehlt haben kann: so soll sie doch subjektiv für die Weiber eine nicht vorgenommene gewe - sen sein, d. h. sie sollen nicht gewuſst haben, daſs Jesus579Viertes Kapitel. §. 131.bereits durch Nikodemus und Joseph einbalsamirt war12)Michaelis, a. a. O., S. 99 f., Kuinöl und Lücke lassen zwi - schen dieser Auskunft und der vorigen die Wahl.. Man erstaunt über eine solche Behauptung, da man doch bei den Synoptikern ausdrücklich liest, daſs die Frauen bei der Bestattung Jesu zugegen gewesen seien, und nicht bloſs den Ort (ποῦ τίϑεται, Markus), sondern auch die Art, wie er beigesezt wurde (ὡς ἐτέϑη, Lukas) mit angesehen haben.

Die dritte diesen Punkt betreffende Abweichung, wel - che zwischen Matthäus und den übrigen insofern stattfin - det, als jener überhaupt von keiner Einbalsamirung, we - der vor noch nach dem Sabbat, weiſs, hat man, weil sie bloſs im Schweigen eines Referenten besteht, bisher wenig berücksichtigt, und selbst der Wolfenbüttler gab zu, daſs in der von Matthäus gemeldeten Einwickelung in reine Lein - wand die jüdische Einbalsamirung bereits mitenthalten sei. Allein dieſsmal möchte doch wohl ex silentio ein Ar - gument sich ziehen lassen. Wenn man in der Erzählung von der Bethanischen Salbung das Wort Jesu liest, durch ihre That habe die Frau die Salbung seines Leibes zum Begräbniſs anticipirt (Matth. 26, 12. parell. ): so hat dieſs zwar allerdings in allen Relationen seinen Sinn, einen ganz besonders treffenden aber doch bei Matthäus, nach dessen weiterer Erzählung bei'm Begräbniſs Jesu keine Salbung stattfand, und nur hieraus scheint sich auch das besondere Gewicht, welches die evangelische Tradition auf jene Handlung der Frau legte, genügend zu erklären. War dem als Messias Verehrten bei seinem Begräbniſs im Drang der ungünstigen Umstände die gebührende Ehre der Einbalsamirung nicht geworden: so muſste freilich der Blick seiner Anhänger mit besonderem Wohlgefallen auf einer Begebenheit aus dem lezten Abschnitt seines Lebens ruhen, wo eine demuthsvolle Verehrerin, wie wenn sie37 *580Dritter Abschnitt.geahnet hätte, daſs dem Todten diese Ehre versagt sein werde, sie dem Lebenden erwiesen hatte. Von hier aus würde sich dann auch die verschiedene Darstellung der lezten Salbung bei den übrigen Evangelisten in das Licht einer stufenweisen Entwickelung der Sage stellen. Bei Markus und Lukas steht es noch, wie bei Matthäus, fest, daſs der Leichnam Jesu nicht wirklich einbalsamirt wor - den ist: so war ihm aber doch, sagte man über das erste Evangelium hinausschreitend, die Einbalsamirung zuge - dacht, dem Hingang der Frauen zu seinem Grab am Mor - gen nach dem Sabbat lag diese Absicht zum Grunde, de - ren Ausführung nur seine Auferstehung zuvorkam. Im vierten Evangelium dagegen floſs jene bei dem Lebenden anticipirte, und diese dem Todten zugedachte Salbung in eine mit dem Todten vorgenommene zusammen, neben welcher übrigens, nach der Art der Sagenbildung, die Beziehung auch der früheren Salbung auf das Begräbniſs Jesu stehen blieb.

Der Leichnam Jesu wurde sofort nach sämmtlichen Referenten in einer Felsengruft beigesezt, welche mit ei - nem groſsen Stein verschlossen wurde. Matthäus bezeich - net dieses Grabmal als καινὸν, was Lukas und Johannes genauer dahin bestimmen, daſs noch Niemand in demsel - ben beigesezt gewesen sei. Beiläufig gesagt, hat man ge - gen diese Neuheit des Grabes ebenso Ursache, miſstrau - isch zu sein, wie bei der Geschichte des Einzugs Jesu gegen den ungerittenen Esel, da hier wie dort die Versuchung unwiderstehlich nahe lag, auch ohne historischen Grund das heilige Behältniſs des Leibes Jesu als ein noch durch keine Leiche verunreinigtes vorzustellen. Auch in Bezug auf dieses Grabmal indeſs zeigt sich eine Abweichung der Evangelisten. Nach Matthäus war es das Eigenthum des Joseph, welches er selbst hatte in Felsen hauen lassen, und auch die beiden andern Synoptiker, indem sie den Joseph ohne Weiteres über das Grab verfügen lassen, schei -581Viertes Kapitel. §. 131.nen von der gleichen. Voraussetzung auszugehen. Nach Johannes hingegen war nicht das Eigenthumsrecht des Jo - seph auf das Grab der Grund, warum man Jesum in das - selbe legte, sondern, weil die Zeit drängte, legte man ihn in die frische Gruft, welche in einem benachbarten Garten sich befand. Auch hier hat die Harmonistik auf beiden Seiten ihre Künste versucht. Matthäus sollte zur Übereinstimmung mit Johannes gebracht werden durch die Observation, daſs eine Handschrift seines Evangeliums das zu μνημείῳ gesezte αὑτοῦ weglasse, eine alte Übersetzung aber statt ἐλατόμησεν ἦν λετατομημένον gelesen ha - be13)Michaelis, a. a. O., S. 45 ff.: als ob nicht diese Änderungen wahrscheinlich selbst schon dem harmonistischen Bestreben ihr Dasein zu verdanken hätten! Daher hat man, auf die andere Seite sich wendend, bemerkt, die johanneischen Worte schlieſsen gar nicht aus, daſs nicht Joseph könnte der Eigenthümer der Gruft gewesen sein, da ja beide Gründe, die Nähe, und daſs das Grab dem Joseph gehörte, zusammengewirkt haben können14)Kuinöl, in Matth. p. 786. Hase, §. 145.. Vielmehr aber schlieſst die Nähe als her - ausgehobener Beweggrund das Eigenthumsverhältniſs aus: ein Haus, in welches ich bei einfallendem Regen der - he wegen trete, ist nicht mein eigenes, ich müſste denn Besitzer mehrerer Häuser, eines nahen und eines ent - fernteren, sein, von welchen das leztere meine eigentli - che Wohnung wäre, und ebenso ein Grab, in welches einer einen Verwandten oder Freund, der für sich kein Grabmal hat, der Nähe wegen legt, kann nicht sein eige - nes sein, er müſste denn mehrere Gräber besitzen, und den Todten bei besserer Muſse in ein anderes bringen wollen, was aber in unserm Falle, da das nahe Grab durch seine Neuheit zur Beisetzung Jesu in demselben vor allen andern sich eignete, nicht wohl denkbar ist. Bleibt so582Dritter Abschnitt.auch hier der Widerspruch, so scheint im Innern beider entgegengesezten Angaben kein Grund zur Entscheidung für die eine oder andere zu liegen15)Aus einer Verwechslung des dem Richtplaz benachbarten κῆπος, wo Jesus, nach Johannes, begraben wurde, und des Gartens Gethsemane, wo er gefangen worden war, scheint die Angabe des evang. Nicodemi geflossen zu sein, Jesus sei gekreuzigt worden ἐν τῷ κήπῳ, ὅπου ἐπιάσϑη. C. 9, p. 580. bei Thilo..

§. 132. Die Wache am Grabe Jesu.

Am folgenden Tag, als am Sabbat1)Τῇ ῆπαύριον, ἥτις ἐςὶ μετὰ τὴν παρασκευὴν, ist freilich eine wunderliche Umschreibung des Sabbats, da es eine Verkeh - rung ist, einen feierlichen Tag als den Tag nach dem Vor - tag zu bezeichnen: doch muss man bei dieser Deutung blei - ben, so lange man derselben nicht auf natürlichere Weise, als Schneckenburger in seiner Chronologie der Leidenswoche, Beiträge S. 3 ff., auszuweichen weiss., sollen nun nach Matthäus (27, 62 ff. ) die Hohenpriester und Pharisäer bei Pilatus zusammengekommen sein, und ihn, mit Rücksicht auf die Voraussage Jesu, er werde nach dreien Tagen auf - erstehen, gebeten haben, eine Wache an sein Grab zu stel - len, damit nicht seine Anhänger von der durch jene Vor - aussage erregten Erwartung Gelegenheit nehmen, seinen Leichnam zu stehlen, und ihn sofort für auferstanden aus - zugeben. Pilatus gewährt ihre Bitte, und so gehen sie hin, versiegeln den Stein, und stellen die Wache vor das Grab. Als nun (dieſs muſs hier anticipirt werden) die Auferste - hung Jesu erfolgte, sezte die mit derselben verbundene Engelerscheinung die Wächter so in Furcht, daſs sie ὡσεὶ νεκροὶ wurden, übrigens doch sofort in die Stadt eilten, und den Hohenpriestern die Anzeige von dem Vorfall mach - ten. Diese, nachdem sie sich in einer Versammlung darü -583Viertes Kapitel. §. 132.ber berathen, bestachen die Soldaten, daſs sie vorgeben sollten, die Jünger haben bei Nacht den Leichnam gestoh - len; woher sich, wie der Referent hinzusezt, dieses Ge - rücht verbreitete, und bis auf seine Zeit erhielt (28, 4, 11 ff.).

Bei dieser, dem ersten Evangelium eigenthümlichen Erzählung hat man allerlei Bedenken gefunden, welche der Wolfenbüttler Fragmentist und nach ihm Paulus am scharf - sinnigsten in's Licht gestellt haben2)Ersterer a. a. O. S. 437 ff., lezterer im exeg. Handb. 3, b, S. 837 ff. Vgl. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 253.. Die Schwierigkei - ten liegen zuvörderst darin, daſs weder die erforderlichen Bedingungen dieses Vorgangs, noch seine nothwendigen Folgen in der übrigen N. T. lichen Geschichte gegeben sind. In ersterer Hinsicht ist es nicht zu begreifen, wie die Syn - edristen zu der Notiz kommen konnten, daſs drei Tage nach seinem Tode Jesus wieder in das Leben zurückkeh - ren solle: da selbst bei seinen Jüngern von einer solchen Kunde keine Spur sich findet. Sie sagen: ἐμνήσϑημεν ὅτι ἐκεῖνος πλάνος εἶπεν ἔτι ζῶν κ. τ. λ. Soll dieſs heiſsen, sie erinnern sich, ihn selber davon reden gehört zu haben: so sprach laut der evangelischen Nachrichten Jesus seinen Feinden gegenüber nie bestimmt von seiner Auferstehung; die bildlichen Reden aber, welche seinen vertrauten Schü - lern unverständlich blieben, konnten die an seine Denk - und Ausdrucksweise weniger gewöhnten jüdischen Hierar - chen gewiſs noch weniger verstehen. Wollen aber die Syn - edristen bloſs sagen, sie haben von Andern gehört, daſs Jesus jenes Versprechen gegeben habe: so könnte diese Nachricht nur von den Jüngern ausgegangen sein; aber diese, welche weder vor noch nach dem Tode Jesu eine Ahnung von bevorstehender Wiederbelebung hatten, konn - ten auch in Andern diese Vorstellung nicht erregen ab - gesehen davon, daſs wir die Jesu geliehenen Vorherverkün - digungen seiner Auferstehung sämmtlich als unhistorisch584Dritter Abschnitt.haben von der Hand weisen müssen. Wie aber bei den Feinden Jesu diese Kenntniſs, so ist bei seinen Freunden, den Aposteln und übrigen Evangelisten ausser Matthäus, ihr Schweigen von einem ihrer Sache so günstigen Umstand nicht zu begreifen. Zwar das ist zu modern, was der Wolfenbüttler den Jüngern anmuthet, sie hätten sich dar - über, daſs eine Bewachung des Grabes angeordnet worden, alsbald Brief und Siegel von Pilatus erbitten müssen: doch so viel bleibt, daſs es auffallen muſs, in der apostolischen Verkündigung nirgends eine Berufung auf eine so schla - gende Thatsache zu finden, und auch in den Evangelien, ausser dem ersten, jede Spur davon zu vermissen. Man hat dieſs Stillschweigen daraus zu erklären versucht, daſs ja durch die Bestechung der Wache von Seiten des Syne - driums die Berufung auf sie eine fruchtlose geworden sei3)Michaelis, Begräbniss - und Auferstehungsgeschichte, S. 206. Olshausen, 2, S. 506.: allein um solcher offenbaren Lüge willen giebt man die Wahrheit nicht sogleich auf, und jedenfalls in der Ver - antwortung der Anhänger Jesu vor dem Synedrium muſs - te die Erwähnung jener Thatsache eine schlagende Waffe sein. Halb verloren giebt man schon, wenn man sich da - hin zurückzieht, die Jünger haben wohl von dem wahren Hergang nicht sogleich, sondern erst spät, als die Wächter anfiengen, denselben auszuschwatzen, Kenntniſs bekom - men4)Michaelis, a. a. O.. Denn brachten die Wächter im Augenblick auch bloſs das Mährchen von dem Diebstahl vor, und gaben al - so zu, daſs sie bei'm Grabe aufgestellt gewesen: so konn - ten die Anhänger Jesu sich den wahren Thatbestand schon construiren, und sich dreist auf die Wächter berufen, wel - che von etwas ganz Anderem, als einem Leichendiebstahl, müſsten Zeugen gewesen sein. Doch damit man nicht etwa die Ungültigkeit des Arguments aus der bloſs negati -585Viertes Kapitel. §. 132.ven Thatsache des Stillschweigens anrufe, so wird von einem Theil der Anhängerschaft Jesu, nämlich von den Frauen, etwas positiv erzählt, was sich mit der Wache am Grabe nicht verträgt. Nicht bloſs wollen nämlich die Frauen, welche am Morgen nach dem Sabbat zum Grabe giengen, die Salbung vollenden, was sie nicht hoffen konn - ten, thun zu dürfen, wenn sie wuſsten, daſs eine Wache vor das Grab gestellt, und dieses noch dazu versiegelt war5)Den lezteren Punkt übersieht Olshausen, wenn er a. a. O. sagt, die Wache habe ja nicht den Befehl gehabt, die voll - ständige Bestattung Jesu zu hindern.: sondern nach Markus besteht ihre ganze Bedenk - lichkeit während des Hinausgehens darin, wer ihnen wohl den Stein vom Grabe wälzen werde? zum deutlichen Be - weis, daſs sie von den Wächtern nichts wuſsten, welche entweder einen auch noch so leichten Stein wegzunehmen ihnen nicht gestattet, oder, wenn dieſs, dann wohl auch den schwereren ihnen hülfreich weggewälzt, in jedem Fall al - so die Bedenklichkeit wegen der Schwere des Steins über - flüssig gemacht haben würden. Daſs aber die Aufstellung der Wache den Weibern sollte unbekannt geblieben sein, ist bei dem Aufsehen, welches alles das Ende Jesu Betref - fende in Jerusalem machte (Luc. 24, 18.), sehr unwahr - scheinlich.

Doch auch innerhalb der Erzählung ist Alles voll von Schwierigkeiten, indem nach dem Ausdruck von Pau - lus keine einzige der in derselben anftretenden Personen ihrem Charakter gemäſs handelt. Schon daſs Pilatus den jüdischen Obern ihr Gesuch um eine Wache ich will nicht sagen, ohne Weigerung, aber so ganz ohne Spott, gewährt haben soll, muſs nach seinem bisherigen Beneh - men gegen sie auffallen6)Olshausen freilich ist es auch hier noch immer so schauer - lich zu Muth, dass er den Pilatus bei dieser Mittheilung; obwohl dieſs von Matthäns in586Dritter Abschnitt.seiner summarischen Darstellung auch nur übergangen sein könnte. Befremdender ist, daſs die Wächter zu der bei der Strenge römischer Kriegszucht sehr gefährlichen Lüge, sie haben ihren Dienst durch Schlafen versäumt, sich so leicht hergaben, zumal sie bei dem gespannten Verhältniſs des Synedriums zum Procurator nicht wissen konnten, wie viel ihnen die von dem ersteren zugesagte Vermittlung nützen würde. Am undenkbarsten aber ist das angebliche Benehmen der Synedristen. Zwar die Schwierigkeit, wel - che darin liegt, daſs sie am Sabbat zu dem heidnischen Procurator giengen, sich am Grabe verunreinigten, und ei - ne Wache ausrücken lieſsen, hat der Wolfenbüttler auf die Spitze gestellt; aber ihr Benehmen, als die vom Grab zurückgekehrte Wache die Auferstehung Jesu meldete, ist in der That ein unmögliches. Sie glauben der Aussage der Soldaten, daſs Jesus auf wundervolle Weise aus sei - nem Grabe auferstanden sei. Wie konnte dieſs der hohe Rath, der eines guten Theils aus Sadducäern bestand, glaublich finden? Nicht einmal die Pharisäer in demselben, welche in thesi die Möglichkeit der Auferstehung behaup - teten, konnten bei der geringen Meinung, die sie von Jesu hatten, an die seinige zu glauben geneigt sein, zumal die Aussage im Munde der weggelaufenen Wächter ganz wie eine zur Entschuldigung eines Dienstfehlers ersonnene - ge lautete. Statt daſs somit die wirklichen Synedristen bei einer solchen Aussage der Soldaten erbittert gesagt haben würden: ihr lügt! ihr habt geschlafen und ihn stehlen las - sen, aber das werdet ihr theuer bezahlen müssen, wenn es erst vom Procurator untersucht werden wird, statt des - sen bitten sie dieselben noch schön: lügt doch, ihr habt geschlafen und ihn stehlen lassen, bezahlen sie noch dazu theuer für diese Lüge, und versprechen, sie bei'm Procura -6)der Synedristen von unbeschreiblichen Gefühlen durchschau - ert werden lässt, S. 505.587Viertes Kapitel. §. 132.tor zu entschuldigen. Man sieht, dieſs ist ganz aus der christlichen Voraussetzung von der Realität der Auferste - hung Jesu gesprochen, eine Voraussetzung, welche aber ganz mit Unrecht auf die Mitglieder des Synedriums über - getragen wird. Auch darin liegt eine, nicht bloſs vom Fragmentisten aufgesuchte, sondern selbst von orthodoxen Auslegern7)Olshausen, S. 506. anerkannte Schwierigkeit, daſs das Syne - drium in einer ordentlichen Versammlung und nach förm - licher Berathung sich entschlossen haben soll, die Soldaten zu bestechen, und ihnen eine Lüge in den Mund zu geben. Daſs auf diese Weise ein Collegium von 70 Männern ein Falsum zu begehen amtlich beschlossen haben sollte, ist, wie Olshausen richtig sagt, zu sehr gegen das Decorum, das natürliche Anstandsgefühl, einer solchen Versammlung. Die Auskunft, es sei eine bloſse Privatversammlung gewe - sen, da ja nur von den ἀρχιερεῖς und πρεσβύτεροι, nicht auch von den γραμματεῖς gesagt sei, sie haben die Solda - ten zu bestechen den Beschluſs gefaſst8)Michaelis, a. a. O. S. 198 f., liefe auf das Wunderliche hinaus, daſs bei dieser Zusammenkunft die γραμματεῖς, bei dem kurz vorher in derselben Angelegen - heit gemachten Gang zum Procurator aber, wo die Schrift - gelehrten durch die ihre Mehrheit bildenden Pharisäer ver - treten sind, die πρεσβύτεροι gefehlt haben müſsten: woraus aber vielmehr erhellt, daſs das Synedrium, weil, es jedes - mal durch vollständige Aufzählung seiner Bestandtheile zu bezeichnen, unbequem war, nicht selten durch Erwähnung nur einiger oder Eines von denselben angezeigt wurde. Bleibt es somit dabei, daſs nach Matthäus der hohe Rath in förmli - cher Sitzung die Bestechung der Wächter beschlossen ha - ben müſste: so konnte eine solche Niederträchtigkeit doch wohl nur die Erbitterung der ersten Christen, unter denen unsre Anekdote entstanden ist, dem Collegium als solchem zutrauen.

588Dritter Abschnitt.

Diese Schwierigkeiten der vorliegenden Erzählung des ersten Evangeliums hat man schon so drückend gefunden, daſs man sie durch die Annahme einer Interpolation zu entfernen suchte9)Stroth, in Eichhorn's Repertorium, 9, S. 141., was neuerlich dahin gemildert worden ist, daſs die Anekdote zwar nicht vom Apostel Matthäus selbst, doch auch nicht von einer unsrem Evangelium sonst fremden Hand herrühren, sondern von dem griechischen Übersetzer des hebräischen Matthäus eingeschoben sein sollte10)Kern, über den Ursprung des Ev. Matth. Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 100 f. vgl. 123.. Gegen das Erstere ist der Mangel jeder kriti - schen Begründung entscheidend; die Berufung der andern Ansicht auf den unapostolischen Charakter der Anekdote würde eine Ausscheidung derselben aus dem Context der übrigen Erzählung nur dann begründen, wenn der apo - stolische Ursprung des Übrigen schon bewiesen wäre; Man - gel an Zusammenhang mit dem Übrigen aber findet so we - nig statt, daſs vielmehr Paulus recht hat mit der Bemer - kung, ein Interpolator (oder einschiebender Übersetzer) würde sich schwerlich die Mühe gegeben haben, sein Ein - schiebsel an drei Orte (27, 62 66. 28, 4. 11 15.) zu ver - theilen, sondern er hätte es an Einer, höchstens zwei Stel - len zusammengedrängt. Auch so leichten Kaufs läſst sich die Sache nicht abmachen, wie Olshausen will, daſs näm - lich die ganze Erzählung apostolisch, und im Übrigen rich - tig sein soll, nur darin habe der Evangelist geirrt, daſs er die Bestechung im vollen Rath beschlossen werden lasse, da die Sache wahrscheinlich von Kaiphas allein unter der Hand abgemacht worden sei: als ob diese Rathsversamm - lung die einzige Schwierigkeit der Erzählung wäre, und als ob, wenn in Bezug auf sie, dann nicht auch in andern Beziehungen Irrthümer sich eingeschlichen haben könn - ten11)Hase, L. J. §. 145..

589Viertes Kapitel. §. 132.

Mit Recht macht Paulus darauf aufmerksam, wie Matthäus selbst durch seine Notiz: καὶ διεφημίσϑη λό - γος οὖτος παρὰ Ἰουδαίοις μέχρι τῆς σήμερον, auf ein verläum - derisches jüdisches Gerücht als die Quelle seiner Erzäh - lung hinweise. Wenn nun aber Paulus der Meinung ist, die Juden selbst haben ausgesprengt, sie hätten eine Wa - che an Jesu Grab gestellt, diese aber seinen Leichnam steh - len lassen: so ist dieſs ebenso verkehrt, wie wenn Hase vermuthet, das bezeichnete Gerücht sei zuerst von den Freunden Jesu ausgegangen, und hernach von seinen Fein - den modificirt worden. Denn was die erstere Annahme betrifft, so hat schon Kuinöl richtig darauf hingewiesen, daſs Matthäus bloſs die Aussage vom Leichendiebstahl, nicht die ganze Erzählung von Aufstellung einer Wache, als - disches Gerücht bezeichne; auch läſst sich kein Grund den - ken, warum die Juden sollten ausgesprengt haben, es sei am Grabe Jesu eine Wache aufgestellt gewesen. Wenn Paulus sagt, man habe dadurch die Behauptung, der Leib Jesu sei von seinen Jüngern gestohlen worden, den Leicht - gläubigen um so glaublicher machen wollen: so müſsten das allerdings sehr Leichtgläubige gewesen sein, die nicht bemerkt hätten, daſs eben durch die aufgestellte Wache die Entfernung des Leichnams Jesu mittelst eines Diebstahls unwahrscheinlich werde. Paulus scheint sich die Sache etwa so vorzustellen: die Juden haben für die Behauptung eines Diebstahls gleichsam Zeugen stellen gewollt, und hiezu die aufgestellten Wächter fingirt. Aber daſs die Wächter mit offenen Augen ruhig zugesehen hätten, wie die Anhänger Jesu dessen Leichnam wegnahmen, konnte doch den Ju - den Niemand glauben; sahen sie aber nichts davon, weil sie schliefen, so gaben sie auch keine Zeugen ab, indem sie dann nur durch einen Schluſs zu dem Resultat kom - men konnten, der Leichnam möge gestohlen worden sein: das aber konnte man ohne sie ebensogut. Keineswegs also kann die Wache schon zum jüdischen Grundstock der vor -590Dritter Abschnitt.liegenden Sage gehört haben, sondern das unter den Ju - den verbreitete Gerücht bestand, wie auch der Text sagt, nur darin, daſs die Jünger den Leichnam gestohlen haben sollten. Indem die Christen diese Verläumdung zu wider - legen wünschten, bildete sich unter ihnen die Sage von ei - ner am Grab Jesu aufgestellten Wache, und nun konnten sie jener Verläumdung dreist durch die Frage entgegentre - ten: wie kann der Leichnam entwendet worden sein, da ihr ja eine Wache am Grab aufgestellt, und den Stein ver - siegelt hattet? Und weil, wie wir im Verlauf der Unter - suchung es selbst erprobt haben, einer Sage erst dann ih - re Grundlosigkeit völlig nachgewiesen ist, wenn es gelingt, zu zeigen, wie sie auch ohne historischen Grund sich bil - den konnte: so versuchte man von christlicher Seite, ne - ben der Aufstellung des vermeintlich wahren Thatbestan - des, zugleich die Genesis der falschen Sage nachzuweisen, indem man die verbreitete jüdische Lüge aus einer Anstif - tung des Synedriums und seiner mit der Wache vorgenom - menen Bestechung herleitete. Gerade das Umgekehrte von dem ist also wahr, was Hase sagt, die Sage sei wohl un - ter den Freunden Jesu entstanden, und von seinen Fein - den modificirt worden: die Freunde hatten nur dann erst Veranlassung, eine Wache zu erdichten, wenn die Feinde vorher von einem Diebstahl gesprochen hatten.

§. 133. Erste Kunde der Auferstehung.

Daſs die erste Kunde von dem eröffneten und leeren Grab Jesu am zweiten Morgen nach seinem Begräbniſs durch Frauenmund an die Jünger gekommen, darin stim - men die vier Evangelisten überein: aber in allen näheren Umständen weichen sie auf eine Weise von einander ab, welche der Polemik eines Wolfenbüttler Fragmentisten den reichsten Stoff geboten, und dagegen den Harmonisten und Apologeten vollauf zu thun gegeben hat, ohne daſs bis jezt591Viertes Kapitel. §. 133.eine befriedigende Vermittlung zwischen beiden Parteien zu Stande gekommen wäre.

Sehen wir von der an die Abweichungen der Begräb - niſsgeschichte sich anschlieſsenden Differenz in Angabe des Zweckes ab, welchen die Frauen bei ihrem Gang zum Grabe hatten, indem sie nach den beiden mittleren Evan - gelisten eine Salbung mit dem Leichnam Jesu vorzuneh - men gedachten, nach den beiden andern nur einen Besuch am Grabe machen wollten, so findet zuerst in Bezug auf die Zahl der Frauen, welche diesen Gang machen, die manchfachste Abweichung statt. Nach Lukas sind es un - bestimmt viele, nämlich nicht allein diejenigen, welche er 23, 55. als συνεληλυϑυῖαι τῷ . ἐκ τῆς Γαλιλαίας bezeich - net, und von welchen er 24, 10. Maria Magdalena, Johan - na und Maria Jakobi namhaft macht, sondern auch noch τινὲς σὺν αὐταῖς (24, 1.). Bei Markus sind es bloſs drei Frauen, nämlich zwei von denen, die auch Lukas nennt, die dritte aber, statt der Johanna, Salome (16, 1.). Mat - thäus hat diese dritte, über welche die zwei mittleren Evangelisten differiren, gar nicht, sondern bloſs die beiden Marien, über welche sie einig sind (28, 1.). Johannes endlich hat nur die Eine von diesen, die Magdalenerin (20, 1.). Die Zeit, in welcher die Frauen zum Grabe gehen, wird gleichfalls nicht ganz gleichförmig bestimmt; denn wenn auch des Matthäus ὀψὲ σαββάτων, τῇ ἐπιφωσ - κου̍σῃ εἰς μίαν σαββάτων keine Differenz macht1)Vgl. Fritzsche z. d. St., und Kern, Tüb. Zeitschr. 1834, 2, S. 102 f., so ist doch der Zusaz des Markus: ἀνατείλαντος τοῦ ἡλίου mit dem johanneischen σκοτίας ἔτι οὓσης und dem ὄρϑρου βαϑέως des Lukas im Widerspruch. Über den Zustand, in welchem die Frauen zuerst das Grab erblickten, scheint wenigstens zwischen Matthäus und den drei übrigen eine Abweichung stattzufinden. Nach diesen sehen sie, wie sie näher kom -592Dritter Abschnitt.men, und nach dem Grabe hinblicken, den Stein bereits durch unbekannte Hand von demselben abgewälzt: woge - gen die Erzählung des ersten Evangelisten ganz so lautet, als hätten sie selbst noch die Abwälzung durch einen En - gel mitangesehen. Manchfaltiger werden die Abwei - chungen in Bezug auf dasjenige, was die Frauen weiter am Grabe sahen und erfuhren. Nach Lukas gehen sie in das Grab hinein, finden den Leib Jesu nicht, und indem sie hierüber betroffen sind, stehen zwei Männer in strah - lenden Gewändern bei ihnen, welche ihnen seine Aufer - stehung verkündigen. Bei Markus, der sie gleichfalls in die Gruft hineingehen läſst, sehen sie nur Einen Jüngling in weiſsem Kleide auf der rechten Seite nicht stehen, son - dern sitzen, der ihnen dieselbe Kunde ertheilt. Bei Matthäus bekommen sie diese Nachricht ehe sie in das Grab hineingehen von dem Engel, der nach Abwälzung des Steins sich auf den - selben gesezt hatte. Nach Johannes endlich läuft Maria Magdalena, sobald sie den Stein abgenommen sieht, ohne eine Engelerscheinung gehabt zu haben, in die Stadt zu - rück. Auch das Verhältniſs, in welches die Jünger Jesu zu der ersten Kunde von seiner Auferstehung gesezt werden, ist in den verschiedenen Evangelien ein verschie - denes. Nach Markus sagen die Frauen aus Furcht Nie - mand etwas von der gehabten Engelerscheinung; nach Jo - hannes weiſs Maria Magdalena dem Johannes und Petrus, zu welchen sie vom Grabe hinweg eilt, nichts zu sagen, als daſs Jesus daraus weggenommen sei; nach Lukas be - richten die Frauen den Jüngern überhaupt, nicht bloſs zweien derselben, die gehabte Erscheinung; nach Mat - thäus aber kam ihnen, wie sie zu den Jüngern eilen woll - ten, Jesus selbst noch in den Weg, und sie konnten auch dieſs schon den Jüngern mittheilen. Daſs einer von die - sen auf die Nachricht der Frauen selbst zum Grab gegan - gen wäre, davon sagen die zwei ersten Evangelien nichts; nach Lukas gieng Petrus hinaus, fand es leer, und kehrte593Viertes Kapitel. §. 133.verwundert wieder um, und aus Luc. 24, 24. ist zu erse - hen, daſs noch andere Jünger ausser ihm in ähnlicher Weise dahin gegangen waren; nach dem vierten Evan - gelium war Petrus von Johannes begleitet, welcher sich hiebei von der Auferstehung Jesu überzeugte. Diesen Gang machte dem Lukas zufolge Petrus, nachdem er bereits durch die Weiber von der Engelerscheinung benachrich - tigt war: laut des vierten Evangeliums aber giengen die beiden Jünger zum Grabe, ehe ihnen Maria Magdalena von einer solchen hatte sagen können; denn erst, als die - se mit denselben Beiden den zweiten Gang zum Grabe ge - macht hatte, und die Apostel wieder umgekehrt waren, sah sie nach dem vierten Evangelium, sich in das Grab - mal bückend, zwei Engel in weissen Kleidern, oben und unten an der Stelle, wo Jesus gelegen hatte, sitzen, wel - che sie fragten, warum sie weine? und als sie sich um - wendete, erblickte sie gar Jesum selbst, wovon auch bei Markus, V. 9, eine abgerissene Notiz sich findet, mit dem Beisaz, daſs sie diese Nachricht seinen ehemaligen Beglei - tern gebracht habe.

Die meisten von diesen Enantiophanieen glaubte man auch hier durch Auseinanderhaltung des verschieden Lau - tenden zu lösen, indem man statt Einer manchfaltig dar - gestellten, eine Manchfaltigkeit verschiedener Scenen her - ausbrachte; wozu dann noch die gewöhnlichen grammati - schen u. a. Kunststücke der Harmonistik kamen. Damit Markus dem σκοτίας ἔτι οὓσης bei Johannes nicht wider - spräche, entblödete man sich nicht, sein ἀνατείλαντος τοῦ ἡλίου durch orituro sole zu übersetzen2)Kuinöl, in Marc. p. 194 f.; damit Matthäus nicht im Widerspruch gegen die übrigen zu sagen schie - ne, die Weiber haben die Abwälzung des Steins durch den Engel mitangesehen: so sollte καὶ ἰδοὺ eine Nachholung von etwas früher Geschehenem einleiten, und ἀπεκύλισε fürDas Leben Jesu II. Band. 38594Dritter Abschnitt.das Plusquamperfektum stehen,3)Michaelis, a. a. O. S. 112. eine Ausflucht, welche zwar Lessing noch gestatten wollte, die neueste Kritik aber nicht mehr gestatten will4)Schneckenburger, über den Urspr. des ersten kanon. Evang. S. 62 f. Vgl. den Wolfenbüttler Fragmentisten in Lessing's viertem Beitrag, S. 472 ff., und Lessing's Duplik, Werke, Carlsr. Ausg. 24. Thl. S. 137 f.. In Bezug auf die Zahl und den Gang der Frauen wurde zunächst geltend gemacht, daſs auch nach Johannes, ob er gleich die Magdalena allein namhaft mache, mit dieser noch mehrere Frauen zum Grab gegangen sein müssen, da er sie ja nach ihrer Rück - kehr von demselben zu den beiden Jüngern sagen läſst: οὐκ οἴδαμεν, ποῦ ἔϑηκαν αὐτὸν,5)Michaelis, S. 150 ff. ein Plural, der allerdings auf verschwiegene weitere Personen deutet, mit welchen Magdalena, sei es am Grab selbst, oder auf dem Rück - weg, ehe sie zu den Aposteln kam, über den Gegenstand verhandelt hatte. So gieng also, sagt man, Magdalena mit andern Weibern, von denen die übrigen Evangelisten, dieser mehrere, jener wenigere, namhaft machen, zum Grabe: da sie aber zurückkommt, ohne daſs sie, wie die übrigen Frauen, einen Engel gesehen hatte, so wird nun angenommen, sie sei, sobald sie den Stein weggewälzt sah, allein zurückgelaufen, was man durch ihre heftige Gemüthsart, als einer ehedem Dämonischen, motivirt6)Paulus, exeg. Handb. 3, b, S. 825.. Während sie zur Stadt zurückeilte, hatten nun die übri - gen Frauen die Erscheinungen, von welchen die Synopti - ker sprechen. Allen, wird behauptet, erschienen die En - gel innerhalb des Grabs; denn daſs einer aussen auf dem Stein gesessen, ist bei Matthäus nur Plusquamperfektum: als die Frauen kamen, hatte er sich bereits in das Grab zurückgezogen, da ja nach ihrer Unterhaltung mit ihm die595Viertes Kapitel. §. 133.Frauen als ἐξελϑοῦσαι ἐκ τοῦ μνημείου bezeichnet werden7)Michaelis, S. 117.: wobei nur übersehen ist, daſs zwischen der ersten Anrede des Engels und dem ἐξελϑοῦσαι seine Aufforderung an die Frauen steht, mit ihm (in das Grab) zu kommen, und den Ort zu betrachten, wo Jesus gelegen hatte. Wenn nach den beiden ersten Evangelisten die Frauen nur Einen, nach dem dritten aber zwei Engel sehen: so behilft sich selbst Calvin mit der ärmlichen Auskunft der Synek - doche, so daſs zwar sämmtliche Evangelisten von zwei Engeln wissen, Matthäus und Markus aber nur desjenigen von ihnen, der das Wort führte, Erwähnung thun sollen. Andere lassen verschiedene Frauen hier Verschiedenes se - hen: die einen, von welchen Matthäus und Markus spre - chen, sahen nur Einen Engel, die andern, von welchen Lukas erzählt, und welche früher oder auch später als die vorgenannten kamen, sahen zwei8)Michaelis, S. 146. Schon Celsus stiess sich an dieser die Zahl der Engel betreffenden Differenz, und Origenes verwies ihn darauf, dass die Evangelisten verschiedene Engel mei - nen: Matthäus und Markus den, der den Stein abgewälzt hatte, Lukas und Johannes diejenigen, welche als Berichter - statter für die Frauen aufgestellt waren. c. Cels. 5, 56.; allein Lukas läſst dieselben beiden Marien den Aposteln von einer Erschei - nung zweier Engel referiren, welche nach seinen Vormän - nern nur Einen Engel gesehen hatten. Auch den Rück - weg sollen die Frauen in getrennten Gruppen gemacht ha - ben, so daſs denen, von welchen Matthäus spricht, Jesus begegnen konnte, ohne von denen des Lukas gesehen zu werden, und die des Markus vor Schrecken Anfangs Nie - mand etwas sagen, die übrigen aber, und auch jene selbst später, die Jünger in Kenntniſs setzen konnten9)Paulus, z. d. St. des Matth.. Auf die durch mehrere Frauen erhaltene Nachricht hin geht dem Lukas zufolge Petrus zum Grab, findet es leer, und38 *596Dritter Abschnitt.kehrt verwundert wieder um. Aber schon geraume Zeit vor den übrigen Weibern war nach dieser Hypothese Mag - dalena zurückgelaufen, und hatte den Petrus und Johan - nes mit herausgeführt. Es müſste also zuerst auf die un - vollständige Kunde der Magdalena vom leeren Grabe hin Petrus mit Johannes hinausgegangen sein, hernach auf die Nachricht der Frauen von der Engelerscheinung noch ein - mal allein: wobei besonders auffallend wäre, daſs, wäh - rend sein Begleiter gleich bei'm ersten Gange zum Glauben an Jesu Wiederbelebung gelangte, er selbst durch den zweiten Gang nicht weiter als bis zur Verwunderung es gebracht haben sollte. Überdieſs sind, wie der Wolfenbütt - ler Fragmentist schon gut herausgehoben hat, die Erzäh - lungen des dritten Evangeliums von dem Gang des Petrus allein, und des vierten von dem des Petrus und Johannes so auffallend selbst bis auf die Worte einander ähnlich10)Ich setze die vom Wolfenbüttler (a. a. O. S. 477 f.) entwor - fene Tabelle hieher: 1) Luc. 24, 12: Petrus lief zum Grabe, ἔδραμεν. Joh. 20, 4: Petrus und Johannes liefen, ἔτρεχον.2) Luc. V. 12: Petrus kuckte hinein, παρακύψας. Joh. V. 5: Johannes kuckte hinein, παρακύψας.3) Luc. V. 12: Petrus sahe die Tücher allein liegen, βλέ - πει τὰ ὀϑόνια κείμενα μόνα. Joh. V. 6. 7 : Petrus sahe die Tücher liegen, und das Schweisstuch nicht mit den Tüchern lie - gen: ϑεωρεῖ τὰ ὀϑόνια κείμενα, καὶ τὸ σου - δάριον οὐ μετὰ τῶν ὀϑονίων κείμενον. 4) Luc. V. 12: Petrus gieng heim, ἀπῆλϑε πρὸς ἑαυτόν. Joh. V. 10: Petrus und Johannes giengen wieder heim, ἀπῆλϑον πάλιν πρὸς ἑαυτου̍ς. , daſs die meisten Ausleger hier bloſs Einen Gang, nur bei Lukas den Begleiter des Petrus verschwiegen, finden, wo - für sie sich auf Luc. 24, 24. berufen können. Ist aber der durch Magdalena's Zurückkunft veranlaſste Gang der597Viertes Kapitel. §. 133.beiden Apostel mit dem durch die Rückkehr der Weiber veranlaſsten des Petrus ein und derselbe: dann ist auch die Rückkehr der Frauen keine doppelte; sind sie aber miteinander umgekehrt: so sollten sie auch das Gleiche ge - sehen haben, und da die Evangelisten sie Verschiedenes sehen lassen, so ist dieſs ein Widerspruch. Nachdem nun die beiden Apostel umgekehrt sind, ohne einen Engel gesehen zu haben, erblickt die zurückgebliebene Maria, wie sie in das Grab hineinsieht, auf Einmal deren zwei. Welch wunderliches Versteckspielen der Engel nach der harmoni - stischen Zusammenfügung dieser Erzählungen! Zuerst zeigt sich dem einen Trupp der Weiber nur Einer; dann einem andern deren zwei; vor den Jüngern hierauf verbergen sich beide; nach deren Abgang aber kommen beide wie - der zum Vorschein. Um dieſs unterbrechende Verschwin - den zu entfernen, hat Paulus die der Magdalena zu Theil gewordene Erscheinung vor die Ankunft der beiden Jün - ger gestellt: aber durch diese gewaltsame Umstellung der vom Berichterstatter gewählten Ordnung nur ein Bekennt - niſs der Unmöglichkeit abgelegt, die Erzählungen der ver - schiedenen Evangelisten auf diese Weise ineinander einzu - schieben. Hierauf, wie sich Magdalena vom Hineinse - hen in das Grab aufrichtet und umschaut, sieht sie Jesum hinter sich stehen. Nach Matthäus erschien Jesus der Magdalena und der andern Maria, als diese bereits auf dem Rückweg in die Stadt begriffen, mithin vom Grabe entfernt waren. So wäre also Jesus zuerst der Maria Magdalena allein hart am Grabe, hierauf ihr in Gesell - schaft einer andern Frau auf dem Wege erschienen. Um das Zwecklose dieser in so kurzer Frist wiederholten Er - scheinung Jesu vor derselben Person zu vermeiden, hat man die obige Behauptung benüzt, von den Frauen, von welchen Matthäus spreche, habe sich Magdalena schon früher getrennt gehabt11)Kuinöl, in Matth. p. 800 f.: allein dann wäre es, da Mat -598Dritter Abschnitt.thäus ausser der Magdalena nur noch die andere Maria hat, nur eine einzige Frau gewesen, welcher auf dem Rück - weg Jesus erschien: während doch Matthäus durchaus von mehreren spricht (ἀπήντησεν αὐταῖς u. s. f.).

Um diesem unsteten Hinundherrennen der Jünger und Frauen, dem phantasmagorischen Erscheinen, Verschwin - den und Wiedererscheinen der Engel, und der zwecklosen Häufung der Erscheinungen Jesu vor derselben Person, wie sie bei dieser harmonistischen Methode herauskommt, zu entgehen, müssen wir jeden Evangelisten für sich be - trachten, dann bekommen wir von jedem ein ruhiges Bild mit einfachen, würdigen Zügen: Einen Gang der Frauen, oder nach Johannes zwei; Eine Engelerscheinung; Eine Erscheinung Jesu nach Johannes und Matthäus, und Ei - nen Gang Eines oder zweier Jünger nach Lukas und Jo - hannes.

Doch zu jenen materiellen Schwierigkeiten der har - monistischen Einschiebungsmethode gesellt sich noch die formelle Frage, wie es denn unter den Voraussetzungen jener Ansicht komme, daſs aus der Fülle des Geschehenen jeder Re - ferent ein andres Stück für sich herausgeschnitten, von den vielen Gängen und Erscheinungen keiner alle, und fast keiner dieselben wie sein Nachbar, sondern meistens nur jeder Eine, und jeder wieder eine andere zur Darstellung ausgewählt habe? Die plausibelste Antwort auf diese Fra - ge hat Griesbach in einem eigenen Programm über diesen Gegenstand gegeben12)Progr. de fontibus, unde Evangelistae suas de resurrectione Domini narrationes hauserint. Opusc. acad. ed. Gabler, Vol. 2, p. 241 ff., indem er annahm, jeder Evange - list gebe die Art und Weise wieder, wie ihm gerade zu - erst die Auferstehung Jesu bekannt geworden war. Johan - nes habe die erste Nachricht durch Maria Magdalena er - halten, und so erzähle er auch nur, was er von dieser er -599Viertes Kapitel. §. 133.fahren habe; dem Matthäus (denn die Jünger haben, als festbesuchende Fremde, ohne Zweifel in verschiedenen Quartieren der Stadt gewohnt) sei die erste Kunde durch diejenigen Weiber zugekommen, welchen auf dem Rück - weg vom Grabe Jesus selbst erschienen war, und so thei - le er denn nur das von diesen Erlebte mit. Doch hier scheitert diese Erklärung bereits daran, daſs theils bei Matthäus unter den Frauen, welche auf dem Rückweg die Christophanie haben, auch Magdalena ist, theils bei Johannes Magdalena nach ihrem zweiten Gang, auf welchem ihr Jesus erschienen war, nicht mehr zu Johannes und Petrus allein, son - dern zu den μαϑηταῖς überhaupt gieng, und ihnen die gehabte Erscheinung und den erhaltenen Auftrag mittheilte: so daſs also Matthäus in jedem Fall auch von der Erscheinung Je - su vor Magdalena wissen muſste13)Vgl. Schneckenburger a. a. O. S. 64 f. Anm.. Wenn dann ferner nach dieser Hypothese Markus die Auferstehungsgeschich - te so, wie er sie im Hause seiner zu Jerusalem lebenden Mutter (A. G. 12, 12.), Lukas, wie er sie von der bei ihm allein genannten Johanna erfahren hatte, erzählen soll: so muſs man sich über die Zähigkeit verwundern, mit wel - cher hienach jeder an der zufällig zuerst vernommenen Erzählung hängen geblieben wäre, da doch gerade über die Auferstehung Jesu der Austausch der Erzählungen un - ter seinen Anhängern der lebhafteste sein, und so die Vor - stellungen über das erste Bekanntwerden derselben sich ausgleichen muſsten. Diese Schwierigkeit zu heben, hat Gries - bach weiter angenommen, die Jünger haben wohl im Sinne gehabt, die unzusammenstimmenden Berichte der Frauen zu vergleichen und in Ordnung zu bringen, als aber der wie - derbelebte Jesus selbst in ihre Mitte getreten sei, haben sie dieſs unterlassen, weil sie nun nicht mehr auf die Aus - sagen der Weiber, sondern auf die selbstgehabten Erschei - nungen ihren Glauben gegründet haben: allein eben, je600Dritter Abschnitt.mehr auf diese Weise die Nachrichten der Weiber in den Hintergrund traten, desto weniger ist zu begreifen, wie fernerhin jeder so starr an demjenigen hängen bleiben konnte, was ihm zufällig zuerst diese oder jene Frau be - richtet hatte.

Es ist also die Abweichung der evangelischen Erzäh - lungen hier von der Art, daſs immer der Urheber der ei - nen von den in der andern gemeldeten Umständen nichts gewuſst haben kann. Da aber diese Umstände den Apo - steln vollständig bekannt gewesen sein müssen: so können wenigstens nicht zwei Berichte unter unsern vieren aposto - lischen Ursprungs sein, sondern wir müssen entweder einen als apostolisch zum Grunde legen, und nach ihm die übri - gen, als sagenhaft, berichtigen, oder alle zusammen in die Kategorie schwankender Sagen verweisen14)So Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 254 ff..

Aus der Zahl derjenigen Berichte über das erste Kund - werden der Auferstehung Jesu, welche auf den Rang aut - optischer Urkunden Anspruch haben, ist der des ersten Evangeliums durch die neuere Kritik weggeräumt worden15)Schulz, über das Abendmahl, S. 321 f. Schneckenburger a. a. O. S. 61 ff., ohne daſs wir uns über diese Ungunst, wie in andern Fäl - len, als über eine ungerechte, beklagen könnten. Denn in mehrerlei Beziehungen zeigt sich dieſsmal die Erzählung des ersten Evangeliums um eine Stelle weiter vorwärts in der Ausbildung der Tradition, als die der übrigen Evan - gelien. Einmal, daſs die wunderbare Eröffnung des Gra - bes von den Frauen noch mitangesehen worden, wofern dieſs Matthäus sagen will, dieſs konnte sich, wenn es wirklich der Fall gewesen war, schwerlich so, wie bei den übrigen Evange - listen, wieder verlieren, wohl aber sich nach und nach frei in der Überlieferung bilden; ferner, daſs die Abwälzung des Steins durch den Engel geschehen sei, beruht offenbar nur auf601Viertes Kapitel. §. 133.der Combination eines solchen, welcher die Frage, wie denn wohl der groſse Stein vom Grabe gekommen, und die Wächter bei Seite geschafft worden seien, nicht besser beantworten zu können glaubte, als wenn er zu Beidem den Engel be - nüzte, welchen ihm die umlaufenden Erzählungen von der den Frauen zu Theil gewordenen Erscheinung boten, wo - zu er ferner das Erdbeben, als weitere Verherrlichung der Scene, sezte. Aber auch ausserdem ist in der Erzählung des Matthäus noch ein Zug, der nichts weniger als histo - risch klingen will. Nachdem den Frauen bereits der En - gel die Auferstehung Jesu verkündigt, und sie mit dem Auftrag an die Jünger gesendet hatte, daſs sie nach Ga - liläa gehen sollen, dort werde ihnen der Auferstandene er - scheinen: begegnet ihnen dieser selbst, und wiederholt den Auftrag an die Jünger. Dieſs ist ein wunderlicher Über - fluſs. Zum Inhalt des Auftrags, den die Engel den Frauen gegeben, hatte Jesus nichts mehr hinzuzufügen; mithin müſste er denselben nur noch haben bekräftigen und glaub - hafter machen wollen. Allein bei den Frauen bedurfte es weiterer Beglaubigung nicht, denn sie waren ja schon durch die Nachricht des Engels χαρᾶς μεγάλης voll, also gläubig; bei den Jüngern aber reichte auch jene Bekräf - tigung nicht hin, denn sie blieben selbst auf den Bericht derjenigen, welche Jesum gesehen zu haben versicher - ten, bis sie ihn selbst zu sehen bekamen, ungläubig. Es scheinen sich also hier zweierlei Relationen über die erste Kunde der Auferstehung in einander verwickelt zu haben, von welchen die eine die Weiber durch Engel, die andre durch Jesum selbst von seiner Wiederbelebung in Kenntniſs gesezt und an die Jünger abgeschickt werden lieſs die leztere offenbar die spätere.

Der dem Berichte des Matthäus entzogene Vorrang der Autopsie wird auch hier wie sonst dem johanneischen zu - erkannt. So charakteristische Züge, sagt Lücke, wie, daſs bei'm Gang zum Grabe der ἄλλος μαϑητὴς schneller als Pe -602Dritter Abschnitt.trus gegangen, und vor ihm an Ort und Stelle gekommen sei, beurkunden die Ächtheit des Evangeliums auch dem Zweifelsüchtigsten. Allein hier hat Lücke, bei uns wenig - stens, ganz die unrechte Saite angeschlagen. Denn eben diesen Zug haben wir oben als einen von denjenigen uns gemerkt, welche dem eigenthümlichen Bestreben des vier - ten Evangeliums angehören, den Johannes über den Pe - trus zu stellen16)Band 1, S. 560.. Wir haben dieſs hier genauer zu be - trachten, indem wir den Bericht des Lukas über den Gang des Petrus mit dem Berichte des vierten Evangeliums über den Gang der beiden Jünger vergleichen. Nach Lukas (24, 12.) läuft Petrus zum Grabe: nach Johannes (20, 3 ff.) Petrus und der Lieblingsjünger zusammen, doch so, daſs der leztere schneller läuft, und zuerst zum Grabe kommt. Im dritten Evangelium bückt sich Petrus in das Grab hin - ein, und sieht die leeren Tücher: im vierten thut Johan - nes dieſs, und sieht dasselbe. Nun von einem Hineinge - hen in die Gruft hat der dritte Evangelist gar nichts: der vierte aber läſst zuerst den Petrus hineingehen und die Tücher genauer besichtigen, dann auch den Johannes, und diesen mit dem Erfolge, daſs er an die Wiederbelebung Jesu zu glauben anfängt17)Über diesen Sinn des ἐπίςευσεν, und dass ihm das οὓπω γὰρ ᾔδεισαν τὴν γραφὴν κ. τ. λ. nicht widerspricht, das Richtige bei Lücke z. d. St.. Daſs hier von Einem und demselben Vorfall die Rede sei, ist oben durch die genaue Analogie selbst des Ausdrucks wahrscheinlich gemacht wor - den. Es fragt sich also nur, welches wohl die ursprüng - liche, dem Faktum nähere Erzählung gewesen sei? Wenn die des Johannes: dann müſste sich also dessen Name all - mählig aus der Überlieferung verloren haben, und der Gang dem Einen Petrus zugeschrieben worden sein, was sich bei dem alle andern verdunkelnden Ansehen des Petrus gar wohl denken lieſse. Hiebei würde man, diese beiden603Viertes Kapitel. §. 133.parallelen Erzählungen für sich betrachtet, sich beruhigen können: allein im Zusammenhang mit der ganzen verdäch - tigen Stellung, welche das vierte Evangelium dem Johan - nes, gegenüber von Petrus, ertheilt, muſs auch hier das umgekehrte Verhältniſs der beiden Berichte wahrscheinli - cher werden. Wie bei dem Gang in den hohenpriesterli - chen Palast, so wird auch bei dem zum Grabe Jesu nur allein im vierten Evangelium dem Petrus Johannes beige - geben; wie er dort den Petrus einführt, so läuft er ihm hier voran, und wirft den ersten Blick in das Grab, was wiederholt hervorgehoben wird. Daſs sofort Petrus zuerst in das Grab hineingeht, ist nur der Schein eines Vorzugs, der ihm aus Rücksicht auf die vulgäre Vorstellung von ihm eingeräumt wird; denn nach ihm geht ja auch Johan - nes hinein, und zwar mit einem Erfolg, wie Petrus sich dessen nicht rühmen konnte, daſs er nämlich an die Auf - erstehung Jesu als der Erste gläubig wurde. Aus diesem Bestreben, den Johannes zum Erstgebornen der Gläubigen an Jesu Auferstehung zu machen, erklärt sich dann auch die Abweichung, daſs nach dem Bericht des ein - zigen vierten Evangeliums Magdalena, noch ehe sie einen Engel gesehen, zu den beiden Jüngern zurückeilt. Denn hätte sie schon vorher eine Engelerscheinung gehabt, wel - cher sie dann so wenig als die Frauen bei Matthäus miſs - traut haben würde, so wäre ja sie die erste Gläubige ge - wesen, und hätte vor Johannes einen Vorzug gewonnen: was nun dadurch vermieden ist, daſs sie bloſs mit der Wahrnehmung des leeren Grabs und der hiedurch erreg - ten Unruhe zu den beiden Jüngern kommt. Auch das er - klärt sich unter dieser Voraussetzung, daſs das vierte Evangelium die vom Grab zurückkehrende Frau nicht zu den Jüngern überhaupt, sondern nur zu Petrus und Jo - hannes gehen läſst. Da nämlich die der ursprünglichen Erzählung nach an sämmtliche Jünger gebrachte Nach - richt nach Lukas zunächst nur den Petrus zu einem Gang604Dritter Abschnitt.an das Grab veranlaſste, wie denn auch nach Markus (V. 7.) die Botschaft der Frauen ganz besonders für Pe - trus bestimmt war: so konnte sich leicht die Vorstellung bilden, die Nachricht sei nur an diesen gekommen, wel - chem dann der vierte Evangelist seinen Zwecken gemäſs noch den Johannes beigesellen muſste. Daſs derselbe Evan - gelist statt der mehreren Frauen nur die Eine Magdalena hat, dieſs könnte freilich unter andern Umständen als das Ursprüngliche angesehen werden, woraus die synopti - sche Darstellung durch Generalisirung entstanden wäre: ebensogut jedoch können die übrigen Frauen als minder bekannt hinter Magdalena zurückgetreten sein. Nun erst, nachdem die beiden Jünger bei'm Grab gewesen wa - ren, und sein Johannes Glauben gewonnen hatte, konnte der Verfasser des vierten Evangeliums die Erscheinung der Engel und Jesu selbst einfügen, welche den Weibern zu Theil geworden sein sollte, und welche entweder er, oder schon die ihm zu Gebote stehende Tradition auf die Eine Maria Magdalena beschränkt hatte. Die Ausmalung der Scene, mit dem anfänglichen Nichterkennen u. s. f., macht der geistreichen und gefühlvollen Manier des Ver - fassers Ehre: indeſs findet sich auch hier ein ähnlicher un - historischer Überfluſs, wie bei Matthäus. Denn hier ha - ben die Engel der Magdalena nicht, wie bei den übrigen Evangelisten den Frauen, die Auferstehung Jesu zu ver - kündigen, und ihr einen Aufschluſs zu geben, sondern sie fragen sie nur: τί κλαίεις; worauf sie ihnen das Ver - schwinden des Leichnams Jesu klagt, aber, ohne weitern Aufschluſs abzuwarten, wendet sie sich sofort um, und sieht Jesum stehen. Wie also bei Matthäus die Erschei - nung Jesu, welche doch noch nicht die eigentliche und rechte sein soll, eine überflüssige Zugabe zu der Engeler - scheinung ist: so hier die Engelerscheinung eine müſsig prunkende Einleitung zur Erscheinung Jesu.

Sehen wir hierauf den dritten Bericht, den des Mar -605Viertes Kapitel. §. 133.kus, darauf an, ob nicht er vielleicht der dem Faktum nächste sein möchte: so ist er auf eine Weise in sich zer - rissen und aus ungefügigen Bestandtheilen zusammenge - sezt, daſs an ein solches Verhältniſs nicht zu denken ist. Nachdem nämlich bereits erzählt war, daſs am Frühmor - gen des Tags nach dem Sabbat die Frauen zum Grabe Jesu gekommen, und durch einen Engel von seiner Aufer - stehung benachrichtigt worden seien, aus Furcht aber Niemand etwas von der gehabten Erscheinung gesagt ha - ben (16, 1 8.): wird nun (V. 9.), als ob weder von der Auferstehung, noch von der Zeit derselben, die Rede ge - wesen wäre, fortgefahren: ἀναςὰς δὲ πρωῒ πρώτῃ σαββά - των ἐφάνη πρῶτον Μαρίᾳ τῇ Μαγδαληνῇ. Dieser Zug paſst auch deſshalb zu der vorangegangenen Erzählung nicht, weil diese gar nicht auf eine der Magdalena besonders zugedachte Erscheinung eingerichtet ist, sondern, da sie mit zwei andern Frauen durch einen Engel von Jesu Auf - erstehung benachrichtigt wird, so konnte ihr vorher Jesus noch nicht erschienen sein, nachher aber, auf dem Weg zur Stadt, war sie mit den übrigen Frauen zusammen, wo sie dann wirklich nach Matthäus miteinander die Chri - stophanie hatten. Ob man deſswegen den Schluſs des Markusevangeliums, von V. 9. an, als einen späteren Zu - saz ansehen darf18)Wie z. B. Paulus und Fritzsche., ist zwar wegen des Mangels an hin - reichenden kritischen Gründen zweifelhaft; in jedem Fall aber haben wir hier einen Bericht, welchen der Verfas - ser aus verschiedenartigen Elementen der umgehenden Sa - ge, welche er nicht zu beherrschen wuſste, ohne klare Anschauung von dem Hergang der Sache und der Aufein - anderfolge der Momente, eilfertig zusammengesezt hat.

In der Erzählung des Lukas wäre zwar übrigens kein besonderer Anstoſs: doch aber hat sie ein verdächtiges Element, die Engelerscheinung, und zwar in der Zwei -606Dritter Abschnitt.zahl, mit den übrigen gemein. Was sollten die Engel bei dieser Scene? Matthäus sagt uns: den Stein von der Gruft wälzen; wogegen schon Celsus bemerkt hat, daſs nach der orthodoxen Voraussetzung der Gottessohn hiezu keiner sol - chen Hülfe benöthigt sein konnte:19)Bei Orig. c. Cels. 5, 52: γὰρ τοῦ ϑεοῦ παῖς, ὡς ἔοικεν, οὐκ ἐδύνατο ἀνοῖξαι τὸν τάφον, ἀλλ̕ ἐδεήϑη ἄλλου ἀποκινήσοντος τὴν πέτραν. nur etwa schicklich mochte er sie finden. Bei Markus und Lukas erscheinen die Engel mehr nur als diejenigen, welche den Weibern Nachricht und Aufträge ertheilen sollten: allein da nach Matthäus und Johannes unmittelbar darauf Jesus selber erschien und jene Aufträge wiederholte, so war die Be - stellung durch Engel überflüssig. Es bleibt daher nichts übrig, als zu sagen: die Engel gehörten zur Verherrli - chung der groſsen Scene, als himmlische Dienerschaft, welche dem Messias die Thür aufzuthun hatte, durch welche er ausgehen wollte; als Ehrenwache an der Stelle, welche der Getödtete so eben lebendig verlassen hatte. Hier ist nun aber eben die Frage: giebt es einen solchen Prunk in dem wirklichen Haushalt Gottes, oder nur in der kindlichen Vorstellung, welche sich die Vorzeit von demselben machte?

Man hat sich daher verschiedentlich Mühe gegeben, die Engel der Auferstehungsgeschichte in natürliche Er - scheinungen zu verwandeln. Gieng man hiebei von dem Bericht des ersten Evangeliums aus, und erwog, daſs dem Engel eine ἰδέα ὡς ἀςραπὴ, als Wirkung die Abwälzung des Steins und die Betäubung der Hüter zugeschrieben, auch mit seiner Erscheinung eine Erderschütterung in Ver - bindung gesezt wird: so lag es nicht mehr fern, entwe - der an einen Bliz zu denken, welcher mit erschütterndem Schlage den das Grabmal schlieſsenden Stein auf die Seite geschmettert und die Hüter zu Boden geworfen habe;607Viertes Kapitel. §. 133.oder an ein Erdbeben, welches, begleitet von aus der Erde schlagenden Flammen dieselben Wirkungen hervorgebracht habe, wobei denn das Feurige und Übermächtige der Er - scheinung von den wachhabenden Soldaten für einen En - gel gehalten worden sei20)Schuster, in Eichhorn's allg. Biblioth. 9, S. 1034 ff. Kuinöl, in Matth. p. 799.. Allein theils der Umstand, daſs der Engel sich auf den abgewälzten Stein gesezt, theils und noch mehr die Notiz, daſs er mit den Wei - bern geredet haben soll, macht diese Hypothese unzu - reichend. Man hat sie deſswegen durch die Annahme zu ergänzen gesucht, der hohe Gedanke, Jesus sei auferstan - den, welcher aus Veranlassung des leergefundeneu Grabs in den Frauen entstand, und allmählig der anfänglichen Zweifel Meister wurde, sei von den Frauen nach orienta - lischer Denk - und Redeweise einem Engel zugeschrieben worden21)Friedrich, über die Engel in der Auferstehungsgeschichte. In Eichhorn's a. Bibl. 6, S. 700 ff. Kuinöl, a. a. O.. Wie aber, daſs in sämmtlichen Evangelien die Engel als gekleidet in weisse, strahlende Gewänder dargestellt werden? soll auch das orientalische Bilderrede sein? Der Orientale kann wohl etwa einen guten Gedan - ken, der ihm kommt, als einen bezeichnen, den ihm ein Engel zugeflüstert habe: aber nun noch die Kleidung und das Aussehen dieses Engels zu beschreiben, das geht über das Maaſs des bloſsen Bildes auch im Orient hinaus. Bei der Beschreibung im ersten Evangelium könnte man etwa den angeblichen Bliz zu Hülfe nehmen und vermuthen, was den Frauen bei'm Anblick desselben durch den Sinn fuhr, das haben sie einem Engel zugeschrieben, welchen sie mit Rücksicht auf jenen Bliz als einen glänzend gekleideten schilderten. Allein nach den übrigen Evangelisten sa - hen die Weiber die Abwälzung des Steins ex hypothesi durch den Bliz nicht mehr mit an, sondern, wie sie in das Grab giengen oder schauten, erschienen ihnen ganz608Dritter Abschnitt.ruhig die weissen Gestalten. Hienach muſs es etwas im Grabe gewesen sein, was in ihnen den Gedanken an weiſs - gekleidete Engel erregte; im Grabe aber lagen nach Lukas und Johannes die weissen Leintücher, in welche der Leich - nam Jesu gewickelt gewesen war: diese, welche von den ruhigeren und beherzteren Männern einfach als solche er - kannt wurden, konnten, sagt man, von furchtsamen und aufgeregten Weibern in der dunkeln Gruft bei täuschen - der Morgendämmerung gar wohl für Engel gehalten wer - den22)So eine Abhandlung in Eichhorn's a. Bibl. 8, S. 629 ff., und in Schmidt's Bibl. 2, S. 545 f.; auch Bauer, hebr. Mythol. 2, S. 259.. Doch wie sollten die Frauen, welche doch erwarten muſsten, einen weiſseingewickelten Todten in der Gruft zu finden, durch den Anblick jener Tücher auf so ganz besondere Gedanken gekommen sein, und zwar gerade darauf, was ihnen damals am fernsten lag, dieſs mögen wohl Engel sein, welche die Auferstehung ihres hingerichteten Lehrers ihnen ankündigen wollen? Wie sonderbar aber, muſste man von anderer Seite her den - ken, hier so viele künstliche Vermuthungen aufzustellen, was wohl die Engel gewesen sein mögen, da doch unter den vier Berichten zwei uns ausdrücklich sagen, was sie gewesen sind, nämlich natürliche Menschen, wenn ja Markus seinen Engel als νεανίσκον, Lukas die seinigen als ἄνδρας δύο bezeichnet23)Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 829. 55. 60. 62.. Wer sollen nun aber diese Männer gewesen sein? Hier ist wieder Thür und Thor geöffnet für die Annahme von geheimen Verbündeten Jesu, welche dieſsmal selbst den Jüngern unbekannt gewesen sein müssten: es werden dieselben gewesen sein, welche bei der sogenannten Verklärungsgeschichte mit ihm zusam - menkamen, vielleicht Essener, welche sich weiſs zu klei - den pflegten und was dergleichen aus der Mode ge -609Viertes Kapitel. §. 134.kommene Vermuthungen eines Bahrdtisch-Venturini'schen Pragmatismus mehr sind. Oder will man lieber ein rein zufälliges Zusammentreffen postuliren; oder endlich mit Paulus die Sache in einem Dunkel lassen, aus welchem, sobald man es durch bestimmte Gedanken aufzuhellen ver - sucht, doch immer wieder die Gestalten der geheimen Ver - bündeten hervortreten? Der richtige Sinn wird auch hier vielmehr die Gestalten der jüdischen Volksvorstellung er - kennen, durch welche die urchristliche Tradition die Auf - erstehung ihres Messias verherrlichen zu müssen glaubte; eine Ansicht, durch welche sich zugleich die Differenzen in Zahl und Erscheinungsweise jener überirdischen We - sen von selbst auf die kunstloseste Weise lösen24)Fritzsche, in Marc. z. d. St. Nemo quispiam primi tem - poris Christianis tam dignus videri poterat, qui de Messia in vitam reverso nuntium ad homines perferret, quam ange - lus, Dei minister, divinorumque consiliorum interpres et ad - jutor. Dann über die Differenzen in Bezug auf die Anzahl der Engel u. s. f.: Nimirum insperato Jesu Messiae in vi - tam reditui miracula adjecere alii alia, quae Evangelistae re - ligiose, quemadmodum ab suis auctoribus acceperant, literis mandârunt.. Eben hiemit ist aber auch anerkannt, daſs wir in sämmtlichen evangelischen Darstellungen dieser ersten Kunde der Auf - erstehung nur traditionelle Berichte vor uns haben.

§. 134. Galiläische und judäische, paulinische und apokryphische Er - scheinungen des Auferstandenen.

Wohl die bedeutendste von allen in der Auferstehungs - geschichte vorkommenden Differenzen betrifft die Frage, welches der von Jesu beabsichtigte Hauptschauplaz seiner Erscheinungen nach der Auferstehung gewesen sei? Die beiden ersten Evangelien lassen Jesum noch vor seinemDas Leben Jesu II. Band. 39610Dritter Abschnitt.Tode bei'm Hinausgang an den Ölberg den Jüngern die Zusage machen: μειὰ τὸ ἐγερϑῆναί με προάξω ὑμᾶς εἰς τὴν Γαλιλαίαν (Matth. 26, 32. Marc. 14, 28.); dieselbe Versicherung giebt am Auferstehungsmorgen der Engel den Weibern mit dem Zusaz: ἐκεῖ αὐτὸν ὄψεσϑε (Matth. 28, 7. Marc. 16, 7.), und bei Matthäus ertheilt über alles die - ses Jesus in eigener Person den Weibern den Auftrag, den Jüngern zu sagen: ἵνα ἀπέλϑωσιν εἰς τὴν Γαλιλαίαν, κᾀκεῖ με ὄψονται (28, 10.). Bei Matthäus wird sofort wirklich die Abreise der Jünger nach Galiläa, und die Erscheinung, welche sie dort von Jesu hatten (die einzige den Jüngern zu Theil gewordene, deren Matthäus gedenkt), gemeldet; Markus bricht, nachdem er die Bestürzung be - schrieben, in welche die Engelerscheinung die Frauen ver - sezt habe, auf die schon erwähnte räthselhafte Art ab, hängt einige Erscheinungen Jesu an, welche, da zwischen der ersten, die als unmittelbar nach der Auferstehung er - folgt, nothwendig in Jerusalem zu denken ist, und den folgenden keine Ortsveränderung bemerkt, und der Zusam - menhang mit der früheren Weisung nach Galiläa aufgeho - ben ist, sämmtlich als Erscheinungen in und um Jerusa - lem betrachtet werden müssen. Johannes weiſs von einer Weisung der Jünger nach Galiläa nichts, und läſst Jesum am Abend des Auferstehungstages und acht Tage später den Jüngern in Jerusalem sich zeigen; doch wird in dem angehängten Schluſskapitel eine Erscheinung am galiläischen See beschrieben. Bei Lukas dagegen ist nicht bloſs von einer galiläischen Erscheinung keine Spur, und Jerusalem mit der Umgegend zum alleinigen Schauplaz der Christo - phanieen, welche dieses Evangelium hat, gemacht, sondern es wird auch Jesu, wie er am Abend nach der Auferste - hung den versammelten Jüngern in Jerusalem erscheint, die Weisung in den Mund gelegt: ὑμεῖς δὲ καϑίσατε ἐν τῇ πόλει (was die A. G. 1, 4. bestimmter negativ durch ἀπὸ Ἱεροσολύμων μὴ χωρίζεσϑαι ausdrückt), ἕως οὖ ἐνδύ -611Viertes Kapitel. §. 134.σησϑε δύναμιν ἐξ ὕψους (24, 49.). Hier muſs zweierlei ge - fragt werden: 1) wie kann Jesus die Jünger zu einer Reise nach Galiläa angewiesen, und ihnen doch zugleich geboten haben, bis Pfingsten in Jerusalem zu bleiben? und 2) wie konnte er sie darauf verweisen, in Galiläa sich ih - nen zu zeigen, wenn er doch im Sinn hatte, noch am nämlichen Tag ihnen in und bei Jerusalem zu erscheinen?

Den ersteren Widerspruch, welcher zunächst zwi - schen Matthäus und Lukas stattfindet, hat Niemand schär - fer hingestellt, als der Wolfenbüttler Fragmentist. Ist es wahr, schreibt er, was Lukas sagt, daſs Jesus gleich am ersten Tage seiner Auferstehung seinen Jüngern in Jeru - salem erschienen ist, und befohlen hat, da zu bleiben, und nicht von da weg zu gehen bis Pfingsten: so ist es falsch, daſs er ihnen befohlen habe, in derselben Zeit nach dem äussersten Galiläa zu wandern, um ihnen da zu erscheinen, und umgekehrt1)In Lessing's Beiträgen, a. a. O. S. 485.. Die Harmonisten gaben sich zwar die Miene, als wäre dieser Einwurf unbedeutend, und bemerk - ten nur kurz, die Anweisung, in einer Stadt zu bleiben, sei kein Stadtarrest, und schlieſse also Spaziergänge und Nebenreisen nicht aus, sondern nur die Verlegung des Wohnsitzes von Jerusalem weg und das Ausgehen in alle Welt zur Predigt des Evangeliums habe Jesus den Jün - gern bis zu jenem Termin verbieten wollen2)Michaelis, S. 259 f. Kuinöl, in Luc. p. 743.. Allein ein Spaziergang ist die Reise von Jerusalem nach Galiläa doch wohl nicht, sondern der weiteste Zug, den der Jude im Inland machen konnte; ebenso wenig war es für die Apo - stel eine Nebenreise, vielmehr eine Rückreise in ihre Hei - math; was aber Jesus durch jene Weisung den Jüngern untersagen wollte, kann weder das Ausgehen in alle Welt zur Verkündigung des Evangeliums gewesen sein, wozu sie vor der Ausgieſsung des Geistes gar keinen Trieb in39 *612Dritter Abschnitt.sich verspürten; noch die Verlegung des Wohnsitzes von Jerusalem weg, wo sie nur als festbesuchende Fremde sich aufhielten: sondern eben von der Reise muſs sie Jesus ha - ben zurückhalten wollen, welche zu machen ihnen am nächsten lag, d. h. von der Rückkehr in ihre Heimath Ga - liläa nach Verfluſs der Festtage. Überdieſs worüber auch Michaelis gesteht, sich wundern zu müssen wenn Lu - kas durch jenes Verbot Jesu die Reise nach Galiläa nicht ausschlieſsen will, warum erwähnt er derselben mit kei - nem Wort? und ebenso, wenn Matthäus sich bewuſst war, daſs seine Hinweisung nach Galiläa sich mit dem Befehl, in der Hauptstadt zu bleiben, vertrage, warum hat er die - sen, sammt den jerusalemischen Erscheinungen, übergan - gen? gewiſs ein deutlicher Beweis, daſs jeder von beiden einer andern Grundansicht vom Schauplaz der Erscheinun - gen des auferstandenen Jesus gefolgt ist.

In diesem Gedränge, zwei an demselben Tag gegebene entgegengesezte Befehle zusammenzureimen, bot die Ver - gleichung der Apostelgeschichte eine erwünschte Hülfe durch Unterscheidung der Zeiten dar. Hier findet sich nämlich der Befehl Jesu, Jerusalem nicht zu verlassen, in seine lezte Erscheinung, 40 Tage nach der Auferstehung, un - mittelbar vor der Himmelfahrt, verlegt; am Schlusse des Lukasevangeliums ist es gleichfalls die lezte mit der Him - melfahrt schlieſsende Zusammenkunft, in welcher jener Befehl ertheilt wird, und wenn man nun gleich, die ge - drängte Darstellung des Evangeliums für sich genommen, glauben müſste, das Alles sei noch am Tage der Auferste - hung selbst vorgegangen: so ersehe man doch, heiſst es, aus der A. G. desselben Verfassers, daſs zwischen V. 43 und 44. im lezten Kapitel seines Evangeliums die 40 Tage von der Auferstehung bis zur Himmelfahrt mitten inne lie - gen. Hiemit aber verschwinde auch der scheinbare Wider - spruch jener beiden Weisungen: denn gar wohl könne, wer zuerst zwar zu einer Reise nach Galiläa angewiesen613Viertes Kapitel. §. 134.hatte, 40 Tage später, nachdem diese Reise gemacht und man in die Hauptstadt zurückgekehrt war, nunmehr jede weitere Entfernung von da verboten haben3)Schleiermacher, über den Lukas, S. 299 f. Paulus, S. 910.. Allein so wenig der zu befahrende Widerspruch verschiedener N. T. - lichen Schriftsteller ein Grund sein darf, von der natürli - chen Deutung ihrer Aussprüche abzugehen, so wenig kann man hiezu durch die Furcht berechtigt sein, es möchte sonst ein und derselbe Autor in verschiedenen Schriften sich widersprechen, da, wenn die eine etwas später als die andere geschrieben ist, der Schriftsteller in der Zwi - schenzeit über Manches anders berichtet worden sein kann, als er es bei Abfassung der ersten Schrift war. Daſs dieſs in Bezug auf die Begebenheiten vor und zunächst nach der Auferstehung bei Lukas wirklich der Fall war, werden wir z. B. aus der Vergleichung von Luc. 24, 53. mit A. G. 1, 13. später noch sehen: womit denn jeder Grund ver - schwindet, zwischen das ἔφαγεν V. 43. und εἶπε δὲ V. 44. gegen den Augenschein eines unmittelbaren Zusammen - hangs beinahe 6 Wochen Zwischenzeit einzuschieben, eben - so aber auch die Möglichkeit, die entgegengesezten Befehle Jesu bei Matthäus und Lukas durch Unterscheidung der Zeiten zu vereinigen.

Indeſs, gesezt auch, dieser Widerspruch lieſse sich auf irgend eine Weise heben, so würden dennoch, selbst ohne jenen ausdrücklichen Befehl, welchen Lukas meldet, auch die bloſsen Fakta, wie sie bei ihm und seinem Vor - mann und Nachfolger erzählt sind, mit der Weisung, wel - che Jesus bei Matthäus den Jüngern ertheilt, unvereinbar blei - ben. Denn haben ihn, fragt der Wolfenbüttler, die sämmt - lichen Jünger zu zweien Malen in Jerusalem gesehen, ge - sprochen, betastet und mit ihm gespeist: wie kann es sein, daſs sie, um ihn zu sehen, die weite Reise nach Galiläa haben614Dritter Abschnitt.thun müssen4)a. a. O. S. 486.? Die Harmonisten erwiedern zwar dreist, damit, daſs Jesus den Jüngern sagen lasse, in Galiläa wer - den sie ihn sehen, sei keineswegs gesagt, daſs sie ihn sonst nirgends, namentlich nicht in Jerusalem, sehen würden5)Griesbach, Vorlesungen über Hermeneutik des N. T., mit Anwendung auf die Leidens - und Auferstehungsgesch. Chri - sti, herausgegeben von Steiner, S. 314.. Allein, so wenig, wer zu mir sagt: geh 'nach Rom, dort wirst du den Pabst sehen, meinen kann, der Pabst werde zwar zuvor noch durch meinen jetzigen Aufenthaltsort kom - men, und da von mir gesehen werden können, hernach aber soll ich auch noch nach Rom gehen, um ihn dort wieder zu sehen: so wenig würde der Engel bei Matthäus und Markus, wenn er von der jerusalemischen Erscheinung noch am nämlichen Tage etwas geahnt hätte, den Jüngern gesagt haben: geht nach Galiläa, dort wird sich euch Je - sus zeigen, sondern: seid nur getrost, hierselbst in Jerusa - lem werdet ihr ihn vor Abend noch zu sehen bekommen. Wozu die Verweisung auf das Entferntere, wenn ein gleich - artiges Näheres dazwischenlag? und wozu eine Bestellung der Jünger nach Galiläa durch die Weiber, wenn Jesus vorhersah, am nämlichen Tage noch die Jünger persön - lich zu sprechen? Mit Recht beharrt die neuere Kritik auf dem, was schon Lessing geltend gemacht hat6)Duplik, Werke, 24. Band, S. 204., daſs kein Vernünftiger seinen Freunden durch eine dritte Per - son eine spätere Zusammenkunft zu freudigem Wiederse - hen an einem entfernten Ort anberaumen lasse, wenn er noch an demselben Tag und öfters am gegenwärtigen Or - te sie zu sehen gewiſs sei7)Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kanon. Evang., S. 17 f.. Kann mithin der Engel und Jesus selbst, als sie am Morgen durch die Frauen die Jün - ger nach Galiläa beschieden, noch nichts davon gewuſst615Viertes Kapitel. §. 134.haben, daſs er am Abend desselben Tags bei und in Jeru - salem sich ihnen zeigen werde: so muſs er also am Mor - gen noch im Sinne gehabt haben, sogleich nach Galiläa zu gehen, im Verlaufe des Tags aber auf andre Gedanken gekommen sein. Von jenem anfänglichen Vorsaz findet sich nach Paulus8)ex. Handb. 3, b, S. 835. auch bei Lukas eine Spur, in der Wan - derung Jesu nach dem in der Richtung gegen Galiläa hin gelegenen Emmaus; als Grund der Abänderung des Plans aber vermuthet derselbe Ausleger, welchem hierin Olshau - sen beistimmt9)b. Comm. 2, S. 524., den Unglauben der Jünger, wie er sich Jesu namentlich bei Gelegenheit des Gangs nach Emmaus zu erkennen gegeben hatte. Wie sich eine solche irrige Berechnung von Seiten Jesu mit der orthodoxen Ansicht von seiner Person vertrage, möge hiebei Olshausen zuse - hen; aber auch rein menschlich betrachtet, liegt kein ge - nügender Grund jener Umstimmung vor. Namentlich seit Jesus von den beiden Emmauntischen Jüngern erkannt wor - den war, durfte er gewiſs sein, daſs das Zeugniſs der Män - ner die Aussage der Weiber so beglaubigen würde, um die Jünger wenigstens mit glimmenden Funken des Glau - bens und der Hoffnung nach Galiläa zu führen. Überhaupt aber, wenn eine Umstimmung, und eine Verschiedenheit des Plans Jesu vor und nach derselben stattfand: warum giebt dann kein Evangelist von einem solchen Wendepunkt Nachricht, sondern spricht Lukas so, wie wenn er von dem ursprünglichen Plan; Matthäus, wie wenn er von ei - ner späteren Abänderung desselben nichts wüſste; Johan - nes, als ob der Hauptschauplaz der Erscheinungen des Auf - erstandenen Jerusalem gewesen, und er nur nachträglich auch einmal nach Galiläa gekommen wäre; endlich Mar - kus so, daſs man wohl sieht, er hat die anfängliche Wei - sung nach Galiläa, welche er aus Matthäus, und die fol -616Dritter Abschnitt.genden Erscheinungen in Jerusalem und der Umgegend, welche er aus Lukas, und woher sonst noch, schöpfte, auf keine Weise zu vereinigen gewuſst oder auch nur ge - sucht, sondern sie roh und widersprechend, wie er sie fand, zusammengestellt?

Muſs man demnach mit der neuesten Kritik des Mat - thäusevangeliums den Widerspruch zwischen diesem und den übrigen in Bezug auf die Lokalität der Erscheinungen Jesu nach der Auferstehung anerkennen: so fragt es sich, ob man derselben auch darin beistimmen kann, daſs sie ohne Weiteres die Darstellung des ersten Evangeliums ge - gen die der übrigen aufgiebt? 10)Wie Schulz, über das Abendmahl, S. 321. Schneckenburger, a. a. O.Stellen wir, abgesehen von vorausgeseztem apostolischen Ursprung des einen oder andern Evangeliums, die Frage: welche der beiden abwei - chenden Darstellungen eignet sich mehr dazu, als traditio - nelle Um - und Weiterbildung der andern angesehen zu werden? so können wir hier, ausser der allgemeinen Be - schaffenheit der Erzählungen, noch auf einen einzelnen Punkt sehen, an welchem beide sich auf charakteristische Weise berühren. Dieſs ist die Anrede der Engel an die Frauen, in welcher nach sämmtlichen Synoptikern Gali - läa's erwähnt wird, aber auf verschiedene Weise. Bei Matthäus sagt der Engel, wie schon erwähnt, von Jesu: ποοάγει ὑμᾶς εἰς τὴν Γαλιλαίαν ἰδοὺ εἶπον ὑμῖν (28, 7.). Bei Markus sagt er dasselbe, nur daſs er statt des lezte - ren Zusatzes, durch welchen bei Matthäus der Engel seine eignen Worte den Frauen einprägen will, den Zusaz hat: καϑὼς εἶπεν ὑμῖν, mit welchem er sie auf die frühere Vor - hersage Jesu über diesen Gegenstand zurückweist. Ver - gleichen wir zunächst diese beiden Darstellungen: so könnte leicht das bekräftigende εἶπον ὑμῖν überflüssig und nichts - sagend erscheinen, und dagegen die Zurückweisung auf617Viertes Kapitel. §. 134.Jesu frühere Vorhersagung durch εἶπεν passender, und darauf könnte man die Vermuthung begründen, daſs hier vielleicht Markus das Richtige und Ursprüngliche, Mat - thäus aber ein nicht ohne Miſsverständniſs Abgeleitetes ha - be11)Wesswegen Michaelis, S. 118 f., auch bei Matthäus εῖπεν für die ursprüngliche Lesart hält.. Ziehen wir nun aber auch den Bericht des Lukas in die Vergleichung herein: so wird auch hier, wie bei Markus, durch ein μνήσϑητε, ὡς ἐλάλησεν ὑμῖν ἔτι ὢν ἐν τῇ Γαλιλαίᾳ, λέγων κ. τ. λ. auf eine frühere Vorhersage Jesu zurückgewiesen, aber nicht auf eine nach Galiläa weisende, sondern auf eine in Galiläa gegebene. Hier fragt sich: ist es wahrscheinlicher, daſs das ursprünglich zur Bestimmung des Lokals, in welchem die Weissagung der Auferstehung gegeben wurde, hinzugesezte Galiläa später irrig als Bestimmung desjenigen Lokals, wo der Aufer - standene erscheinen wollte, umgedeutet worden ist, oder umgekehrt? Dieſs muſs sich darnach entscheiden, in wel - cher von beiden Stellungen die Erwähnung Galiläa's inni - ger in den Zusammenhang paſst. Daſs nun bei Verkün - digung der Auferstehung Alles darauf ankam, ob und wo der Auferstandene zu sehen sei, erhellt von selbst; weni - ger lag, wenn auf eine frühere Weissagung zurückgewie - sen werden sollte, daran, wo diese gegeben worden war. Hienach könnte man schon von dieser Vergleichung der Stellen aus es wahrscheinlicher finden, daſs es ursprüng - lich geheiſsen haben möge, der Engel habe die Jünger nach Galiläa gewiesen, um dort den Auferstandenen zu sehen (Matth.); hierauf aber, als die Erzählungen von ju - däischen Erscheinungen Jesu die galiläischen verdrängt hatten, habe man das Galiläa in der Engelrede dahin um - gestellt, daſs es nun hieſs, schon in Galiläa habe Jesus sei - ne Auferstehung vorhergesagt (Lukas); worauf dann Mar - kus vermittelnd eingetreten zu sein scheint, indem er mit618Dritter Abschnitt.Lukas das ειπον, in εἶπεν verwandelt, auf Jesum bezog, Galiläa aber mit Matthäus als Schauplaz nicht der frühe - ren Vorhersagung, sondern der bevorstehenden Erschei - nung Jesu beibehielt.

Ziehen wir hierauf die allgemeine Beschaffenheit der beiden Erzählungen und die Natur der Sache in Betracht, so stehen der Annahme, daſs Jesus nach seiner Auferste - hung den Jüngern wirklich mehreremale in und bei Jeru - salem erschienen sei, die Kunde hievon aber aus der Tra - dition, wie sie dem ersten Evangelium zum Grunde lag, sich verloren habe, dieselben Schwierigkeiten entgegen, und die entgegengesezte hat eben so viel für sich, wie wir dieſs bei einer früheren Untersuchung in Bezug auf die mehreren Festreisen und judäischen Aufenthalte Jesu ge - funden haben12)1. Band, S. 440 f.. Daſs die jerusalemischen Erscheinun - gen des Auferstandenen in Galiläa, wo dieser Vorausse - tzung nach die Matthäustradition sich bildete, unabsicht - lich, also durch völliges Verschwinden der Kunde von denselben, in Vergessenheit gekommen wären, läſst sich bei der Wichtigkeit gerade dieser Erscheinungen, welche, wie die vor den versammelten Eilfen und vor Thomas, die sichersten Zeugnisse für die Realität der Auferstehung enthielten, und bei dem organisirenden Einfluſs der Ge - meinde in Jerusalem, nicht wohl denken; daſs man aber in Galiläa von den judäischen Erscheinungen Jesu zwar gewuſst, der Verfasser des ersten Evangeliums aber sie absichtlich verschwiegen haben sollte, um seiner Provinz allein die Ehre derselben zu erhalten, dieſs sezt einen ga - liläischen Particularismus, eine Opposition der dortigen Christen gegen die Gemeinde zu Jerusalem voraus, wovon uns jede geschichtliche Spur abgeht. Das andre Mögliche hingegen, daſs vielleicht, nachdem ursprünglich bloſs ga - liläische Erscheinungen des Auferstandenen bekannt ge -619Viertes Kapitel. §. 134.wesen waren, in der Überlieferung allmählig immer mehr judäische und jerusalemische hinzugefügt, und durch diese endlich jene ganz verdrängt worden sein mögen, läſst sich durch mancherlei Gründe zur Wahrscheinlichkeit erheben. Schon der Zeit nach war die Kunde von der Auferste - hung Jesu um so schlagender, je unmittelbarer seine Er - scheinungen auf Begräbniſs und Wiederbelebung gefolgt waren: sollte er aber erst in Galiläa erschienen sein, so fand eine solche unmittelbare Aufeinanderfolge nicht statt; ferner war es eine natürliche Vorstellung, daſs sich die Auferstehung Jesu an Ort und Stelle seines Todes durch Erscheinungen documentirt haben müsse; endlich aber der Vo wurf, daſs Jesus nach seiner angeblichen Wiederbele - bung nur den Seinigen, und zwar in einem Winkel von Galiläa, erschienen sei, war dadurch einigermaſsen zurück - gewiesen, wenn man sich darauf berufen konnte, daſs er vielmehr in der Hauptstadt, mitten unter seinen ergrimm - ten Feinden, aber freilich von diesen weder zu sehen noch zu greifen, als Auferstandener gewandelt habe. Hatte man aber einmal mehrere Erscheinungen Jesu nach Judäa und Jerusalem verlegt, so verloren die galiläischen ihre Wichtigkeit, und konnten hinfort entweder in der unter - geordneten Weise, wie im vierten Evangelium, nachge - tragen werden, oder auch, wie im dritten, ganz ausfallen. Da diesem, vom Standpunkt möglicher Sagenbildung aus sich ergebenden Resultat hier nicht wie oben in der Un - tersuchung über den Schauplaz der Wirksamkeit des le - benden Jesus vom Gesichtspunkt der Verhältnisse und Ab - sichten Jesu aus ein umgekehrtes sich entgegensezt: so brauchen wir hier die Entscheidung nicht dahingestellt zu lassen, sondern dürfen im Widerspruch gegen die jetzige Kritik zu Gunsten des ersten Evangeliums entscheiden, dessen Bericht über das Erscheinen des Auferstandenen ohnehin als der einfachere und minder schwierige sich empfehlen wird.

620Dritter Abschnitt.

Was nun die Erscheinungen des auferstandenen Jesus im Einzelnen betrifft, so hat deren das erste Evangelium zwei: eine am Auferstehungsmorgen vor den Frauen (28, 9. f.), und eine, unbestimmt wann, vor den Eilfen in Ga - liläa (28, 16. ff.). Markus hat, in übrigens bloſs summa - rischer Angabe, drei: die erste, welche am Morgen der Auferstehung der Maria Magdalena (16, 9. f.), eine an - dere, welche zwei auf's Land gehenden Jüngern (16, 12.), und eine dritte, welche den zu Tische sitzenden Eilfen, ohne Zweifel in Jerusalem, zu Theil geworden ist (16, 14.). Lukas erzählt zwar nur zwei Erscheinungen: die vor den Emmauntischen Jüngern am Auferstehungstag (24, 13. ff. ) und die lezte, vor den Eilfen und andern Jüngern zu Je - rusalem, nach 24, 36. ff. am Abend desselben Tags, nach A. G. 1, 4. ff. vierzig Tage später; aber wenn den Emma - untischen Wanderern bei ihrem Eintritt zu den Aposteln diese, noch ehe Jesus in ihre Mitte getreten ist, entgegen - rufen: ἠγέρϑη Κύριος ὄντως, καὶ ὤφϑη Σίμωνι (24, 34.): so wird hier eine dritte Erscheinung vorausgesezt, welche dem Petrus allein zu Theil geworden war. Johannes hat vier dergleichen Erscheinungen: die erste, welche der Maria Magdalena am Grabe zu Theil wurde (20, 14. ff. ); die zweite, welche die Jünger zu Jerusalem bei verschlosse - nen Thüren hatten (20, 19. ff. ); die dritte, acht Tage spä - ter, ebenfalls in Jerusalem, bei welcher Thomas sich überzeugte (20, 26. ff. ); die vierte, unbestimmt wann, am galiläischen See (21.). Hier ist nun aber auch eine Nach - richt des Apostels Paulus zu berücksichtigen, welcher 1 Kor. 15, 5. ff., wenn man die ihm selbst zu Theil ge - wordene Christophanie abrechnet, fünf Erscheinungen des Auferstandenen aufzählt, ohne sie jedoch näher zu be - schreiben: zuerst eine dem Kephas gewordene; dann eine vor den Zwölfen; hierauf eine vor mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal; weiter eine vor Jakobus, und endlich eine vor sämmtlichen Aposteln.

621Viertes Kapitel. §. 134.

Wie fügen wir nun diese verschiedenen Erscheinun - gen in einander ein? Den Anspruch darauf, die erste zu sein, macht bei Johannes, und ausdrücklicher noch bei Markus, die der Maria Magdalena zu Theil gewordene. Die zweite müsste das Zusammentreffen Jesu mit den vom Grab zurückkehrenden Weibern, bei Matthäus, gewesen sein; da aber unter diesen Magdalena gleichfalls war, und keine Spur vorhanden ist, daſs sie schon vorher den Auf - erstandenen hätte gesehen gehabt: so können, wie bereits bemerkt, diese beiden Erscheinungen nicht auseinanderge - halten werden, sondern wir haben über Eine und dieselbe eine schwankende Relation. Daſs Paulus, welcher in der angeführten Stelle spricht, als wollte er alle Erscheinun - gen des wiederbelebten Christus aufzählen, von denen er wuſste, die bezeichnete übergeht, kann man daraus erklä - ren, daſs er Weiber nicht als Zeugen aufführen wollte. Da die Ordnung, in welcher er seine Christophanien wie - dergiebt, der Reihe von εἶτα und ἔπειτα und dem Schluſs mit ἔσχατον nach zu urtheilen, die Zeitfolge zu sein scheint13)s. Billroth's Commentar z. d. St.: so wäre nach ihm die Erscheinung vor Ke - phas die erste einem Manne zu Theil gewordene gewesen. Dieſs würde sich mit der Darstellung des Lukas gut ver - tragen, bei welchem den Emmauntischen Wanderern bei ih - rem Eintritt die Jünger zu Jerusalem mit der Nachricht entgegenkommen, daſs Jesus wirklich auferstanden und dem Simon erschienen sei, was möglicherweise noch vor dem Zusammentreffen mit jenen beiden der Fall gewesen sein könnte. Als die nächste Erscheinung müſste aber hierauf nach Lukas die zulezt genannte gezählt werden, welche Paulus nicht erwähnen würde, etwa weil er nur die Aposteln zu Theil gewordenen, und von den übrigen bloſs solche, welche vor gröſseren Massen erfolgt waren, aufzuführen gedachte, oder wahrscheinlicher, weil er von622Dritter Abschnitt.derselben nichts wuſste. Markus 16, 12. f. meint offenbar dieselbe Erscheinung; der Widerspruch, daſs, während bei Lukas die versammelten Jünger den von Emmaus Kom - menden mit dem gläubigen Ruf: ἠγέρϑη Κύριος κ. τ. λ. entgegentreten, bei Markus die Jünger auch auf die Nach - richt jener beiden hin noch nicht geglaubt haben sollen, rührt wohl nur von einer Übertreibung des Markus her, welcher den Contrast der überzeugendsten Erscheinungen Jesu mit dem fortdauernden Unglauben der Jünger nicht aus den Händen lassen will. An die Emmauntische schlieſst sich bei Lukas unmittelbar die Erscheinung Jesu in der Versammlung der ἕνδεκα und anderer an. Diese hält man gemeiniglich für identisch mit der paulinischen Erschei - nung vor den δώδεκα, und mit dem, was Johannes berich - tet, daſs am Abend nach der Auferstehung Jesus bei ver - schlossenen Thüren zu den Jüngern, in deren Versamm - lung übrigens Thomas fehlte, eingetreten sei. Hiegegen darf man zwar das ἕνδεκα des Lukas, da doch nach Jo - hannes nur zehn Apostel dabei gewesen sind, ebenso we - nig urgiren, als bei Paulus das δώδεκα, wo doch in jedem Fall Judas abgerechnet werden muſs; auch scheint die bei den beiden Evangelisten ganz gleiche Beschreibung des Her - beikommens Jesu durch ἕςη ἐν μέσῳ αὐτῶν und ἕςη εἰς τὸ μέσον, und die Anführung des Gruſses: εἰρήνη ὑμῖν, auf Identität beider Erscheinungen hinzuweisen; indeſs, wenn man bedenkt, wie das Betasten des Leibes Jesu, welches bei Johannes erst in die acht Tage spätere Er - scheinung fällt, und das Essen vom Bratfisch, welches Jo - hannes erst bei der noch späteren galiläischen Erscheinung hat, von Lukas in jene jerusalemische am Tag der Aufer - stehung verlegt wird: so erhellt, daſs wie man nun sa - gen will entweder der dritte Evangelist hier mehrere Vorgänge in Einen zusammengezogen, oder der vierte Ei - nen in mehrere auseinander geschlagen hat. Diese jerusa - lemische Erscheinung vor den Aposteln könnte aber, wie623Viertes Kapitel. §. 134.oben bemerkt, nach Matthäus gar nicht stattgehabt haben, da dieser Evangelist die ἕνδεκα, um Jesum zu sehen, nach Galiläa wandern läſst. Markus und Lukas knüpfen an dieselbe die Himmelfahrt an, schlieſsen also alle späteren Erscheinungen aus. Der Apostel Paulus hat als die nächste Erscheinung die vor 500 Brüdern, welche man ge - wöhnlich mit derjenigen für identisch hält, die Matthäus auf einen Berg in Galiläa verlegt14)Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 897. Olshausen 2, S. 541.: allein bei dieser sind nur die ἕνδεκα als gegenwärtig angegeben, und auch die Gespräche, welche Jesus mit ihnen führt, scheinen, als vorwiegend amtliche Instruktionen, mehr für diesen en - geren Kreis zu passen. Demnächst führt Paulus eine dem Jakobus zu Theil gewordene Erscheinung auf, von der auch im Hebräerevangelium des Hieronymus sich eine apo - kryphische Nachricht findet, nach welcher sie aber die erste von allen gewesen sein müſste15)Hieron. de viris illustr. 2: Evangelium quoque, quod appel - latur secundum Hebraeos, post resurrectionem Salvatoris refert: Dominus autem, postquam dedisset sindonem servo sacerdotis (wahrscheinlich in Bezug auf die Wache am Grab, welche hier aus einer römischen zu einer priesterlichen ge - macht wäre; s. Credner, Beiträge zur Einleitung in das N. T. S. 406 f.) ivit ad Jacobum et apparuit ei. Juraverat enim Jacobus, se non comesturum panem ab illa hora, qua biberat calicem Domini, donec videret eum resurgentem a dormientibus (wie undenkbar ein solches Gelübde bei der Hoffnungslosigkeit der Jünger, darüber vergl. Michaelis, S. 122.). Rursusque post paululum: Afferte, ait Dominus, mensam et panem. Statimque additur: Tulit panem et be - nedixit ac fregit, et dedit Jacobo justo et dixit ei: frater mi, comede panem tuum, quia resurrexit filius hominis a dor - mientibus.. Hierauf wäre für jene Erscheinung Raum, bei welcher dem vierten Evan - gelium zufolge acht Tage nach der Auferstehung Jesu Tho -624Dritter Abschnitt.mas überzeugt worden sein soll; womit Paulus genau über - einstimmen würde, wenn wirklich sein τοῖς ἀποςόλοις πᾶ - σιν (V. 7.), vor welchen er seine fünfte Erscheinung vor - gehen läſst, von einer Plenarversammlung der Eilfe, im Unterschied von der früheren, bei welcher Thomas gefehlt hatte, zu verstehen wäre: was aber, weil Paulus auch diese als eine Erscheinung vor τοῖς δώδεκα bezeichnet hat - te, unmöglich angeht, sondern der Apostel versteht sowohl unter δώδεκα als unter οἱ ἀπόςολοι πάντες die sämmtli - chen, damals übrigens um Einen Mann unvollzähligen Apo - stel im Gegensaz gegen die einzelnen Individuen (Kephas und Jakobus), von welchen er beidemale unmittelbar vor - her als von solchen gesprochen hatte, denen eine Christo - phanie zu Theil geworden. Soll aber dennoch die fünfte paulinische Erscheinung Jesu mit der dritten johannei - schen identisch sein: so würde nur um so deutlicher er - hellen, daſs die vierte paulinische, vor den 500 Brüdern, nicht die galiläische des Matthäus sein kann. Da nämlich bei Johannes die dritte in Jerusalem statt fand, die vierte aber in Galiläa: so müſsten also Jesus und die Zwölfe nach den ersten jerusalemischen Erscheinungen nach Galiläa ge - gangen und auf dem Berge zusammengekommen sein; hier - auf hätten sie sich wieder nach Jerusalem begeben, wo Jesus sich dem Thomas zeigte; dann wieder nach Galiläa, wo die Erscheinung am See erfolgte; endlich zur Himmel - fahrt wieder nach Jerusalem. Um dieſs zwecklose Hin - undherwandern zu vermeiden, und doch jene beiden Er - scheinungen combiniren zu können, verlegt Olshausen die Erscheinung vor Thomas nach Galiläa: ein unerlaubter Gewaltstreich, da nicht nur zwischen dieser und der vor - hergehenden, eingestandnermaſsen jerusalemischen, Erschei - nung keiner Ortsveränderung gedacht, sondern der Ver - sammlungsort ganz auf dieselbe Weise beschrieben ist, ja der Zusaz: τῶν ϑυρῶν κεκλεισμένων, nur an die Hauptstadt denken läſst, weil in dem von priesterlichem Haſs gegen625Viertes Kapitel. §. 134.Jesum weniger inficirten Galiläa sich der Grund jenes Ver - schlieſsens, der φόβος τῶν Ἰουδαίων, nicht ebenso denken läſst. Erst da also, wo mit der acht Tage nach der Auferstehung erfolgten die frühern judäischen Erscheinun - gen zu Ende sind, bekämen wir Raum, die galiläischen des Matthäus und Johannes einzufügen. Mit diesen hat es nun aber die eigene Bewandtniſs, daſs jede von beiden die erste, und die des Matthäus noch ausserdem zugleich die lezte zu sein den Anspruch macht16)Lessing, Duplik, S. 199 ff.. Durch seine ganze Darstellung nicht nur, sondern ausdrücklich durch den Zusaz: οὖ ἐτάξατο αὐτοῖς . zu dem galiläischen ὄρος, auf welches die Eilfe giengen, bezeichnet Matthäus diese Er - scheinung als diejenige, auf welche Jesus am Auferste - hungsmorgen, zuerst durch den Engel, dann persönlich, verwiesen hatte; nun aber verabredet man nicht eine zweite Zusammenkunft in einer Gegend, indem man die erste un - bestimmt läſst: folglich muſs, da ein unvorhergesehenes früheres Zusammentreffen bei der evangelischen Vorstellung von Jesu sich nicht denken läſst, jene Zusammenkunft, weil die verabredete, auch die erste galiläische gewesen sein. Kann somit die Erscheinung am See Tiberias bei Johan - nes unmöglich vor die auf dem Berg bei Matthäus ge - sezt werden: so will die leztere jene ebensowenig nach sich dulden, da sie einen förmlichen Abschied Jesu von seinen Jüngern enthält; auch wüſste man gar nicht, wie man die johanneische Erscheinung nach der eigenen Angabe des Evangelisten als die dritte φανέρωσις des auferstande - nen Christus vor seinen μαϑηταῖς (21, 14.) herausbrin - gen wollte, wenn auch noch jene des ersten Evange - liums ihr vorangegangen sein sollte. Indeſs, auch wenn man jene voranstellt, bleibt die Verlegenheit mit die - ser johanneischen Erzählung groſs genug. Zwar die Er - scheinungen vor den Weibern dürfen wir abrechnen, weilDas Leben Jesu II. Band. 40626Dritter Abschnitt.Johannes selbst die der Magdalena zu Theil gewordene wohl erzählt, aber nicht zählt: nun aber, wenn wir die dem Kephas gewordene als die erste zählen, und die Em - mauntische als die zweite: so würde zwischen diese und die vor den Eilfen am Abend des Auferstehungstags in Jerusalem diese galiläische als die dritte fallen, was eine ganz unmöglich schnelle Ortsveränderung voraussetzen wür - de; ja, wenn jene Erscheinung vor den versammelten Eil - fen diejenige ist, bei welcher nach Johannes Thomas fehl - te: so fiele die dritte Erscheinung bei Johannes vor seine erste. Vielleicht aber, wenn wir den Ausdruck: ἐφανε - ρώϑη τοῖς μαϑηταῖς αὑτοῦ betrachten, dürfen wir nur sol - che Erscheinungen von Johannes gezählt uns denken, wel - che vor mehreren Jüngern zugleich sich ereigneten, so daſs also die Erscheinungen vor dem einzigen Petrus und Ja - kobus abzurechnen wären. Dann wäre als die erste zu zählen die den beiden Emmauntischen Jüngern geworde - ne, als die zweite die vor den versammelten Eilfen am Abend des Auferstehungstags: so daſs nunmehr in die acht Tage zwischen dieser und der vor Thomas die Reise nach Ga - liläa zwar etwas bequemer fiele, aber auch so die drit - te Erscheinung bei Johannes wenigstens vor seine zweite. Es erschienen also wohl dem Verfasser des vierten Evan - geliums zwei Jünger, wie die, denen Jesus auf dem Weg nach Emmaus begegnete, als eine zu geringe Zahl, um ei - ne nur so vielen zu Theil gewordne Christophanie als ein φανεροῦσϑαι τοῖς μαϑηταῖς zu zählen. Dann wäre also der Eintritt in die Jüngerversammlung am Abend die erste Er - scheinung; hierauf wären die 500 Brüder, welchen sich Jesus auf Einmal zeigte, gewiſs zahlreich genug, um in Anschlag gebracht zu werden: so daſs also nach dieser, dann aber immer wieder vor der dem Thomas und den ἀποςόλοις πᾶσι gewordenen, welche Johannes als die zwei - te zählt, seine dritte, die galiläische, eingeschoben werden müſste. Vielleicht aber ist jene Erscheinung Jesu vor den627Viertes Kapitel. §. 134.Fünfhunderten später zu setzen, so daſs nach jenem Ein - tritt Jesu in die Jüngerversammlung zunächst die Scene mit Thomas, nach dieser die am galiläischen See, und hier - auf erst der den Fünfhunderten gewährte Anblick folgen würde. Dann aber müſste, wenn doch die Erscheinung vor Thomas dieselbe sein soll mit der fünften bei'm Apo - stel Paulus, dieser die beiden lezten Erscheinungen, wel - che er aufzählt, umgestellt haben, wozu doch kein Grund vorhanden war: vielmehr lag es näher, die Erscheinung vor 500 Brüdern, als die gewichtigste, zulezt zu stellen. Es bliebe also nichts übrig, als zu sagen, Johannes habe unter den μαϑηταῖς immer nur eine gröſsere oder kleine - re Versammlung von Aposteln verstanden, unter den Fünf - hunderten aber seien keine Apostel gewesen, deſswegen habe er auch diese übergangen, und so mit Recht die Er - scheinung am See Tiberias als die dritte gezählt: wenn diese nämlich vor der auf dem galiläischen Berge stattge - funden haben könnte, was nach dem Obigen undenkbar ist. Es bleibt also nichts übrig, als zu bekennen, der vier - te Evangelist zähle nur diejenigen Erscheinungen Jesu vor seinen Jüngern, welche er selbst erzählt hatte, und davon wird der Grund schwerlich gewesen sein, daſs ihm die übrigen aus irgend welchen Ursachen minder bedeu - tend schienen, sondern, daſs er nichts von denselben wuſs - te. Wie denn auch wiederum Matthäus mit seiner lez - ten galiläischen Erscheinung nichts von den jerusalemischen des Johannes gewuſst haben kann; denn wenn sich in der ersten von diesen beiden zehn Apostel, in der zweiten aber selbst Thomas von der Realität der Auferstehung Jesu über - zeugt hatten: so konnten nicht bei jener späteren Erschei - nung auf dem galiläischen Berge noch einige von den Eil - fen Zweifel haben (οἱ δὲ ἐδίςασαν V. 17.). Endlich aber, wenn Jesus hier seinen Jüngern schon die lezten Befehle, lehrend und taufend in alle Welt zu gehen, und die Zusa - ge, alle Tage bis zum Ende des gegenwärtigen Äon bei ih -40 *628Dritter Abschnitt.nen zu sein, was ganz Worte eines Scheidenden sind, ge - geben hatte: so kann er nicht später noch einmal, wie die Apostelgeschichte im Eingang meldet, bei Jerusalem ihnen die lezten Aufträge ertheilt, und Abschied von ihnen ge - nommen haben. Nach dem Schluſs des Lukasevangeliums fällt dieser Abschied im Gegentheil viel früher, als er nach Matthäus zu denken wäre, und der Schluſs des Markus - evangeliums legt dem noch am Tag der Auferstehung zu Jerusalem von seinen Jüngern Scheidenden zum Theil die - selben Worte in den Mund, welche nach Matthäus in Ga - liläa, und jedenfalls später als am Auferstehungstag, ge - sprochen sind. Darauf, daſs die zwei Bücher des Ei - nen Lukas in Bezug auf den Zeitraum, während dessen Jesus nach seiner Auferstehung noch erschien, so weit von einander abgehen, daſs das eine diesen Zeitraum als ein - tägig, das andere als vierzigtägig bestimmt, kann erst tie - fer unten nähere Rücksicht genommen werden.

Wenn so die verschiedenen evangelischen Referenten der Erscheinungen Jesu nach seiner Auferstehung nur in wenigen derselben zusammenstimmen; wenn die Lokalbe - zeichnung des einen die von den übrigen berichteten Er - scheinungen ausschlieſst; die Zeitbestimmung eines andern für die Erzählungen der übrigen keine Frist läſst; die Zäh - lung eines Dritten ohne alle Rücksicht auf die andern an - gelegt ist; endlich unter mehreren von verschiedenen Re - ferenten berichteten Erscheinungen jede die lezte sein will, und doch mit den übrigen nichts gemein hat: so müſste man absichtlich blind sein wollen, wenn man nicht aner - kennen würde, daſs keiner der Berichterstatter das, was der andere berichtet, kannte und voraussezte, daſs je - der die Sache wieder anders gehört hatte, daſs somit über die Erscheinungen des auferstandenen Jesus frühzei - tig nur schwankende und vielfach variirte Gerüchte im Um - lauf waren17)Vgl. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 254 ff..

629Viertes Kapitel. §. 135.

Dadurch wird übrigens die Stelle aus dem ersten Ko - rintherbrief nicht erschüttert, welcher, unzweifelhaft ächt, etwa um das Jahr 59 nach Christo, mithin noch keine 30 Jahre nach seiner Auferstehung, geschrieben ist18)de Wette, Einl. in das N. T. §. 132.. Die - ser Nachricht müssen wir das glauben, daſs viele zur Zeit der Abfassung des Briefs noch lebende Mitglieder der er - sten Gemeinde, namentlich die Apostel, überzengt waren, Erscheinungen des auferstandenen Christus gehabt zu haben. Da jedoch Paulus keine dieser Erscheinungen näher beschreibt, so ist aus ihm über die Abweichung der Evangelisten, nament - lich in Hinsicht der Lokalität, keine Entscheidung zu ent - nehmen.

§. 135. Die Qualität des Leibs und Wandels Jesu nach der Auferstehung.

Wie haben wir uns nun aber diese Fortsetzung des Lebens Jesu nach der Auferstehung, und namentlich die Beschaffenheit seines Leibes in dieser Periode, vorzustel - len? Zu dem Ende müssen wir die einzelnen Erzählun - gen von den Erscheinungen des Auferstandenen noch ein - mal durchsehen. Nach Matthäus begegnet (ἀπήντησεν) Je - sus am Auferstehungsmorgen den vom Grabe zurückeilen - den Weibern, sie erkennen ihn, umfassen verehrungsvoll seine Füſse, worauf er zu ihnen spricht. Bei der zweiten Zusammenkunft auf dem galiläischen Berge sehen ihn die Jünger (ἰδόντες), doch zweifeln einige noch, und auch hier spricht Jesus zu ihnen. Von der Art, wie er kam und gieng, wird hier nichts Näheres gesagt. Bei Lukas gesellt sich Jesus zu zwei Jüngern, die auf dem Weg von Jeru - salem in das benachbarte Dorf Emmaus waren (ἐγγίσας συνεπορεύετο αὐτοῖς); diese erkennen ihn unterwegs nicht, was Lukas einem durch höhere Einwirkung in ihnen her -630Dritter Abschnitt.vorgebrachten subjektiven Hinderniſs (οἱ ὀφϑαλμοὶ αὐτῶν ἐοὐρατοῦντο, τοῦ μὴ ἐπιγνῶναι αὐτὸν), und erst Markus, der dieses Ereigniſs in wenige Worte zusammendrängt, einer objektiven Veränderung seiner Gestalt zuschreibt (ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ). Auf dem Weg unterhält sich Jesus mit den bei - den, begleitet sie nach der Ankunft im Dorf auf ihre Ein - ladung in ihr Quartier, sezt sich mit ihnen zu Tische und übernimmt nach seiner Gewohnheit das Brechen und Ver - theilen des Brotes. In diesem Augenblick weicht von den Augen der Jünger der wunderbare Bann, und sie erken - nen ihn1)Dass es die bei'm Brotbrechen sich enthüllenden Nägelmahle in den Händen gewesen seien, an welchen hier Jesus er - kannt wurde (Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 882. Kuinöl, in Luc. p. 734.), ist ohne alle Andeutung im Text.: aber in demselben Moment wird er ihnen plöz - lich unsichtbar (ἄφαντος ἐγένετο ἀπ̕ αὐτῶν). Ebenso plöz - lich, wie er hier verschwand, scheint er sich unmittelbar nachher in der Versammlung der Jünger gezeigt zu haben, wenn es heiſst, er sei mit Einem Male in ihrer Mitte ge - standen (ἔςη ἐν μέσῳ αὐτῶν), und sie, hierüber erschrocken, haben geglaubt, einen Geist zu sehen. Um ihnen diese ängstigende Meinung zu benehmen, zeigte ihnen Jesus seine Hände und Füſse, und forderte sie zum Betasten auf, damit sie durch die Wahrnehmung seines σάρκα καὶ ὀςέα enthaltenden Leibes sich überzeugen könnten, daſs er kein Gespenst sei; auch lieſs er sich ein Stück Brat - fisch und etwas von einem Honigkuchen geben, und ver - zehrte es vor ihren Augen, worauf sich Petrus in der A. G. einmal zu berufen scheint, wenn er sich und die übrigen Jünger Jesu als solche bezeichnet, οἵτινες συνε - φάγομεν καὶ συνεπίομεν αὐτῷ μετὰ τὸ ἀναςῆναι αὐτὸν ἐκ νεκρῶν (10, 41.). Die dem Simon zu Theil gewordene Er - scheinung läſst Lukas durch ὤφϑη bezeichnen, was auch Paulus im ersten Korintherbrief für alle dort aufgezählten631Viertes Kapitel. §. 135.Christophanieen gebraucht, und sämmtliche Erscheinungen des Auferstandenen während der vierzig Tage faſst Lukas A. G. 1, 3. in dem Ausdruck ὀπτανόμενος, A. G. 10, 40. durch ἐμφανῆ γενέσϑαι, zusammen; ähnlich wie Markus die Erscheinung vor Magdalena durch ἐφάνη, die vor den wandernden Jüngern und vor den Eilfen durch ἐφανερώ - ϑη, Johannes aber die Erscheinung am See Tiberias durch ἐφανέρωσεν ἑαυτὸν bezeichnet, und sämmtliche Christopha - nieen, die er erzählt hat, unter den Ausdruck ἐφανερώϑη faſst. Bei Markus und Lukas kommt hierauf als Schluſs des irdischen Wandels des Auferstandenen dieſs hinzu, daſs er vor den Augen der Jünger weggenommen, und (durch eine Wolke, nach A. G. 1, 9.) zum Himmel emporgetragen wurde. Im vierten Evangelium steht Jesus zuerst, als Maria Magdalena sich vom Grabe umwendet, hinter ihr, doch erkennt sie ihn auch auf eine Anrede hin nicht, son - dern hält ihn für den Gärtner, bis er sie (mit dem ihr so wohl bekannten Tone) bei Namen nennt. Wie sie ihm hierauf ihre Verehrung bezeigen will, hält sie Jesus durch die Worte μή μου ἅπτου ab, und sendet sie mit Botschaft zu den Jüngern. Die zweite johanneische Erscheinung Je - su fiel unter besonders merkwürdigen Umständen vor. Die Jünger waren aus Furcht vor den feindlich gesinnten Ju - den bei verschlossenen Thüren versammelt: da kam auf einmal Jesus, stellte sich in ihre Mitte, begrüſste sie, und zeigte ihnen wahrscheinlich bloſs dem Gesicht seine Hände und seine Seite, um sich als den Gekreuzigten kennt - lich zu machen. Als Thomas, der damals nicht zugegen gewesen war, durch den Bericht seiner Mitjünger von der Realität dieser Erscheinung sich nicht überzeugen lieſs, und zu dem Ende die Wundenmale Jesu selbst zu sehen und zu betasten verlangte: gewährte ihm Jesus bei einer acht Tage darauf unter denselben Umständen wiederholten Erscheinung auch dieſs, indem er ihn die Nägelmale in seinen Händen und die Stichwunde in seiner Seite befüh -632Dritter Abschnitt.len lieſs. Endlich bei der Erscheinung am galiläischen See stand Jesus in der Morgendämmerung, unerkannt von den im Schiff befindlichen Jüngern, am Ufer, fragte sie um ein Gericht Fische, und wurde hierauf an dem reichen Fischzug, den er ihnen gewährte, von Johannes erkannt, doch so, daſs die an's Land gestiegenen Jünger nicht wag - ten, ihn zu fragen, ob er es wirklich sei. Hierauf v er - theilte er Brot und Fische unter sie, wovon er ohne Zwei - fel selbst auch mitgenoſs, und hatte hernach mit Johannes und Petrus eine Unterredung2)Von demjenigen Theil dieser Unterredung, welcher den Jo - hannes betrifft, ist schon oben die Rede gewesen. Den Pe - trus anlangend bezieht sich die dreimal wiederholte Frage Jesu: ἀγαπᾷς oder φιλεῖς με; der gewöhnlichen Ansicht nach auf seine Verleugnung; dem ὅτε ἦς νεώτερος, ἐζώννυες σεαυ - τὸν καὶ περιεπάτεις ὅπου ἤϑελες· ὅταν δὲ γηράσῃς, ἐκτενεῖς τὰς χεῖράς σου καὶ ἄλλος σε ζώσει καὶ οἴσει ὅπουοὐ ϑέλεις (V. 18 f.) aber wird vom Evangelisten selbst die Deutung gegeben, Je - sus habe es zu Petrus gesprochen, σημαίνων, ποίῳ ϑανάτῳ δοξάσει τὸν ϑεόν. Diess müsste auf die Kreuzigung gehen, was der kirchlichen Sage zufolge (Tertull. de praescr. haer. 36. Euseb. H. E. 2, 25.) die Todesart des Petrus war, und auf welche im Sinne des Evangelisten auch das ἀκολοὐϑει μοι V. 20 und 22. (d. h. folge mir in der gleichen Todesart) hinzuweisen scheint. Allein gerade der Hauptzug bei dieser Deutung, das ἐκτενεῖς τὰς χεῖρας, ist hier so gestellt, dass die Beziehung auf die Kreuzigung unmöglich wird, nämlich vor die Abführung, wohin man nicht will; umgekehrt das Gür - ten, was doch nur das Binden zum Behuf der Abführung bedeu - ten kann, sollte vor dem Ausstrecken der Hände am Kreuze stehen. Sieht man von der Deutung ab, welche der Refe - rent, wie auch Lücke (S. 703.) zugesteht, ex eventu, den Worten Jesu giebt: so scheinen diese nichts als den Ge - meinplaz von der Hülflosigkeit des Alters im Gegensaz zu der Rüstigkeit der Jugend zu enthalten, worüber auch das οἴσει ὅπου οὐϑέλεις nicht hinausgeht. Der Verf. von Joh. 21. aber, dem die Worte, sei es als Ausspruch Jesu, oder wie.

633Viertes Kapitel. §. 135.

Sind nun die beiden Hauptvorstellungen, die man von dem Leben Jesu nach seiner Auferstehung haben kann, die, daſs man dasselbe entweder als ein natürliches, voll - kommen menschliches, demgemäſs auch seinen Leib fort - während den physischen und organischen Gesetzen unter - worfen, sich denkt, oder daſs man sein Leben bereits als ein höheres, übermenschliches, und seinen Leib als einen übernatürlichen, verklärten, sich vorstellt: so sind die zu - sammengestellten Berichte von der Art, daſs zunächst jede der beiden Vorstellungsweisen sich auf gewisse Züge in denselben berufen kann. Die menschliche Gestalt mit ihren natürlichen Gliedmaſsen, die Möglichkeit, an derselben wieder erkannt zu werden, die Fortdauer der Wundenma - le, das menschliche Reden, Gehen, Brotbrechen: das Alles scheint für ein völlig natürliches Leben Jesu auch nach der Auferstehung zu sprechen. Könnte man doch noch Zweifel hegen, und vermuthen, es möge wohl auch eine höhere, himmlische Leiblichkeit ein solches Aussehen sich geben und solche Funktionen verrichten können: so wer - den doch alle Bedenklichkeiten durch die zwei weiteren Züge niedergeschlagen, daſs Jesus nach der Auferstehung irdische Nahrung genossen und sich hat betasten lassen. Wenn dergleichen wohl in alten Mythen auch höhe - ren Wesen zugeschrieben sein mag, wie das Essen den drei himmlischen Gestalten, von welchen Abraham einen Besuch erhält (1. Mos. 18, 8.), die Tastbarkeit dem mit Jakob ringenden Gott (1. Mos. 32, 24 ff. ): so muſs doch darauf beharrt werden, daſs in der Wirklich - keit Beides nur bei Wesen mit materiellem, organischem Leibe vorkommen kann. Daher finden denn nicht allein die rationalistischen, sondern auch orthodoxe Ausleger in2)sonst, bekannt waren, glaubte sie in der Weise des vierten Evangeliums als verdeckte Weissagung auf den Kreuzestod des Petrus verwenden zu können.634Dritter Abschnitt.diesen Zügen den unumstöſslichen Beweis, daſs Leib und Leben Jesu nach der Auferstehung noch immer als natür - lich menschliche gedacht werden müssen3)Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 834 ff. L. J. 1, b, S. 265 ff. Vgl. Hase, L. J. §. 149. Michaelis, a. a. O. S. 251 f. Tholuck, S. 352.. Diese Behaup - tung unterstüzt man noch durch die Bemerkung, daſs in dem Befinden des Auferstandenen sich ganz derjenige Fort - schritt zeige, welcher bei der allmähligen natürlichen Ge - nesung eines schwer Verwundeten zu erwarten sei. In den ersten Stunden nach der Auferstehung müsse er sich noch in der Nähe des Grabes halten; am Nachmittag rei - chen seine Kräfte zu einem Gang nach dem benachbarten Emmaus; erst später finde er sich im Stande, die weitere Reise nach Galiläa zu unternehmen. Dann auch in dem Betastenlassen finde der bemerkenswerthe Fortschritt statt, daſs am Auferstehungsmorgen zwar Jesus der Maria Mag - dalena verbiete, ihn anzurühren, weil sein verwundeter Leib noch zu leidend und empfindlich war: acht Tage später aber, nachdem seine Heilung weiter fortgeschritten war, fordre er selber den Thomas zur Berührung seiner Wunden auf. Selbst auch das, daſs Jesus nach seiner Auferstehung so selten und kurz mit seinen Jüngern zu - sammen war, zeugt nach diesen Erklärern dafür, daſs er seinen natürlichen menschlichen Leib aus dem Grabe wie - dergebracht hatte, indem eben ein solcher von der Verwun - dung und Qual am Kreuze her sich so schwach fühlen muſste, um nach kurzen Momenten der Thätigkeit immer wieder längere Zwischenperioden ruhiger Zurückgezogen - heit nöthig zu haben.

Da indeſs, wie wir gesehen haben, die N. T. lichen Erzählungen ebenso auch Züge enthalten, welche die ent - gegengesezte Vorstellung von der Leiblichkeit Jesu nach der Auferstehung begünstigen: so muſs die bisher dargelegte635Viertes Kapitel. §. 135.Ansicht es über sich nehmen, auch diese, ihr scheinbar feindlichen Züge so zu deuten, daſs sie ihr nicht mehr widersprechen. Hier nun scheinen schon die Ausdrücke, durch welche die Erscheinungen Jesu eingeführt zu wer - den pflegen, namentlich ὤφϑη, wodurch auch die Erschei - nung im feurigen Busch, 2 Mos. 3, 2. LXX; ὀπτανόμενος, wie die Erscheinung des Engels Tob. 12, 19.; ἐφάνη, wie die Engelerscheinungen Matth. 1. und 2. bezeichnet sind, auf etwas Übermenschliches hinzuweisen. Bestimmter aber steht dem natürlichen Gehen und Kommen, welches bei einigen Scenen vorausgesezt werden kann, in andern ein plözli - ches Erscheinen und Verschwinden; der Annahme eines gewöhnlichen menschlichen Körpers das öftere Nichter - kanntwerden, ja die ausdrückliche Erwähnung einer ἑτέρα μορφὴ, entgegen: hauptsächlich aber scheint der Betast - barkeit des Leibes Jesu die Eigenschaft zu widerstreben, welche ihm Johannes, dem ersten Eindruck seiner Worte zufolge, leiht, durch verschlossene Thüren einzugehen. Allein, daſs Maria Magdalena Jesum Anfangs für den κηπουρὸς hielt, davon glauben selbst solche Ausleger, wel - che sich sonst vor dem Wunderbaren keineswegs scheuen, den Grund darin suchen zu dürfen, daſs Jesus von dem Gärtner, der wohl in der Nähe der Gruft seine Wohnung gehabt haben möge, sich einen Anzug habe geben lassen; wozu sowohl hier als bei dem Gang nach Emmaus die Entstellung des Angesichts Jesu durch die Qualen der Kreuzigung beigetragen haben möge, und eben nur dieses beides soll auch durch die ἑτέρα μορφὴ bei Markus aus - gedrückt werden4)Tholuck z. d. St., vgl. Paulus, exeg. Handb. 3, b, S. 866. 881. Eine ähnliche natürliche Erklärung hat neuestens - cke von Hug angenommen.. Denselben Emmauntischen Jüngern habe sich Jesus sofort in der freudigen Bestürzung, wel - che das plözliche Wiedererkennen des Todtgeglaubten ver -636Dritter Abschnitt.ursachte, leicht auf die natürlichste Weise unbemerkt ent - ziehen können, was dann von ihnen, denen die ganze Sache mit Jesu Wiederbelebung ein Wunder war, für ein überirdisches Verschwinden gehalten worden sei5)Paulus, a. a. O., S. 882.. Auch in dem ἔςη ἐν μέσῳ αὐτῶν oder εἰς τὸ μέσον liege, zumal bei Johannes, wo das ordentliche ἦλϑεν und ἔρχεται dabeistehe, nichts Übernatürliches, sondern nur die über - raschende Ankunft eines Solchen, von dem man gerade ge - sprochen hat, ohne ihn zu erwarten, und für ein πνεῦμα haben ihn die Versammelten gehalten, nicht weil er auf wunderbare Weise eingetreten war, sondern weil sie an die wirkliche Wiederbelebung des Gestorbenen nicht glau - ben konnten6)Paulus, a. a. O., S. 883. 93. Lücke, 2, S. 684 f.. Selbst der Zug endlich, von welchem man meinen sollte, er sei gegen die Ansicht von dem Le - ben des Auferstandenen als einem natürlich menschlichen entscheidend, das ἔρχεσϑαι ϑυρῶν κεκλεισμένων bei Johan - nes, ist längst sogar von orthodoxen Theologen so gedeutet worden, daſs es jener Ansicht nicht mehr entgegen ist. Abgesehen von Erklärungen, wie die Heumann'sche, die ϑῦραι seinen nicht die des Versammlungshauses der Jün - ger, sondern überhaupt die Thüren in Jerusalem, und die Angabe, daſs sie verschlossen gewesen, sei eine Bezeich - nung derjenigen Stunde in der Nacht, in welcher man die Thüren zu schlieſsen gepflegt habe, der φόβος τῶν Ἰουδαίων aber gebe nicht den Grund des Thürschlieſsens, sondern des Zusammenseins der Jünger an, so bezeichnet selbst Calvin die Meinung, daſs der Leib des Auferstandenen per medium ferrum et asseres hindurchgedrungen sei, als pueriles argutiae, zu welchen der Text keine Veranlas - sung gebe, welcher nicht sage, Jesus sei per januas clau - sas eingedrungen, sondern nur, er sei plözlich unter seine Jünger getreten, cum clausae essent januae7)Calvin, Comm. in Joh. z. d. St. p. 363 f. ed. Tholuck.. Dennoch637Viertes Kapitel. §. 135.hält Calvin den Eintritt Jesu, von welchem hier Johan - nes spricht, als ein Wunder fest, welches dann näher dahin zu bestimmen wäre, Jesus sei eingetreten, cum fo - res clausae fuissent, sed quae Domino veniente subito patuerunt ad nutum divinae majestatis ejus8)So Suicer, Thes. s. v. ϑύρα. Vgl. Michaelis, S. 265.. Wäh - rend neuere Orthodoxe nur das Unbestimmte festhalten, daſs bei diesem Eintritt Jesu etwas Wunderbares unausgemacht, welcher Art stattgefunden habe9)Tholuck und Olshausen z. d. St.: hat der Rationalis - mus aus demselben das Wunderbare vollends ganz zu ver - bannen gewuſst. Die verschlossenen Thüren seien Jesu von Menschenhänden geöffnet worden, was Johannes nur deſswegen zu berichten unterlasse, weil es sich von selbst verstehe, ja abgeschmackt gewesen wäre, wenn er gesagt hätte: sie machten ihm die Thüren auf, und er gieng hinein10)Griesbach, Vorlesungen über Hermeneutik, S. 305. Paulus, S. 835. Vgl. Lücke, 2, S. 683 ff..

Allein bei dieser Deutung des ἔρχεται τῶν ϑυρῶν κε - κλεισμένων sind die Theologen keineswegs unbefangen gewe - sen. Am wenigsten Calvin; denn wenn er sagt, die Pa - pisten behaupten ein wirkliches Durchdringen des Leibes Jesu durch geschlossene Thüren deſswegen, ut corpus Christi immensum esse nulloque loco contineri obtine - ant: so sträubt er sich mithin gegen jene Auslegung der johanneischen Worte nur deſswegen so, um der ihm an - stöſsigen Lehre von der Ubiquität des Leibes Jesu keine Stütze zu geben. Die neueren Ausleger dagegen hatten das Interesse, dem Widerspruch auszuweichen, welcher nach unsern Einsichten darin liegt, daſs ein Körper zu - gleich aus fester Materie bestehen, und doch durch andre feste Materie ungehindert sollte hindurchgehen können; allein, da wir nicht wissen, ob dieſs auch auf dem Stand -638Dritter Abschnitt.punkt der N. T. lichen Schriftsteller ein Widerspruch war, so giebt uns die Scheue vor einem solchen kein Recht, je - ner Deutung, sofern sie als die textgemäſse sich zeigen sollte, uns zu entziehen. Hier könnte man nun allerdings das τῶν ϑυρῶν κεκλεισμένων zunächst lediglich als Bezeich - nung des ängstlichen Zustandes fassen, in welchen die Jünger durch die Hinrichtung Jesu versezt waren. Doch, schon daſs diese Notiz bei der Erscheinung Jesu vor Tho - mas wiederholt ist, erregt Bedenken, da, wenn durch die - selbe weiter nichts, als das Angegebene, gesagt sein soll, es sich kaum verlohnte, sie zu wiederholen11)s. Tholuck, z. d. St.. Wenn nun bei diesem zweiten Fall jener Grund, warum die Thü - ren verschlossen waren, weggelassen, dagegen mit dem τῶν ϑυρῶν κεκλεισμένων das ἐρχεται unmittelbar verbunden ist: so wird der Schein zur Wahrscheinlichkeit, daſs durch jene Notiz zugleich die Art des Kommens Jesu näher be - stimmt werden solle12)Vgl. Olshausen, 2, S. 531. Anm.. Ist ferner mit der wiederhol - ten Angabe, Jesus sei bei verschlossenen Thüren gekom - men, wiederholt das ἔςη εἰς τὸ μέσον verbunden, was, auch in Verbindung mit ἦλϑεν, wozu es sich als nähere Bestimmung verhält, immer ein plözliches Dastehen Jesu, ohne daſs man ihn hatte kommen sehen, ausdrückt: so er - hellt aus diesen Zügen zusammen unleugbar wenigstens so viel, daſs hier von einem Kommen ohne die gewöhnli - chen Vermittlungen, mithin von einem wunderbaren, die Rede ist. Daſs aber dieses Wunder nicht in einem Drin - gen durch die Dielen der Thüre bestanden habe, dafür berufen sich auch die Wunderfreunde unter den Auslegern sehr zuversichtlich darauf, daſs es ja nirgends heiſse, er sei διὰ τῶν ϑυρῶν κεκλεισμένων hereingekommen13)So, ausser Calvin, Lücke, a. a. O.; Olshausen, 530 f.. Al - lein das wollen die Evangelisten auch gar nicht bestimmen,639Viertes Kapitel. §. 135.daſs Jesus, wie Michaelis sich ausdrückt, gerade durch die Poren des Holzes an der Thüre in das Zimmer ge - drungen sei, sondern ihre Meinung ist nur, die Thüren seien verschlossen gewesen und geblieben, und doch habe Jesus auf Einmal im Zimmer gestanden, welchem also Wände, Thüren, kurz alle materiellen Zwischenlagen, kein Hinderniſs gewesen seien, hereinzukommen. Statt ihrer un - billigen Forderung an uns also, ihnen im Texte des Jo - hannes eine Bestimmung nachzuweisen, welche dieser gar nicht geben will, müssen wir vielmehr von ihnen verlangen, uns zu erklären, warum er das wunderbare Aufgehen der Thüren, wenn er ein solches voraussezte, nicht her - vorgehoben hat? In dieser Hinsicht ist es sehr unglücklich, daſs Calvin sich auf A. G. 12, 6. ff. beruft, wo von Pe - trus erzählt werde, er sei aus dem verschlossenen Kerker entkommen, ohne daſs jemand daran denke, die Thüren seien verschlossen geblieben, und er durch die Bretter hin - durchgedrungen. Natürlich nicht, weil hier von der ei - sernen Gefängniſspforte, welche zur Stadt führte, ausdrück - lich gesagt wird: ἥτις αὐτομάτη ἠνοίχϑη αὐτοῖς (V. 10), eine Bemerkung, welche, weil sie eine schöne Anschauung des Wunders giebt, gewiſs auch unser Evangelist nicht beidemale weggelassen haben würde, wenn er an ein wun - derbares Aufspringen der Thüre gedacht hätte. So we - nig aber in dieser johanneischen Erzählung das Überna - türliche sich beseitigen oder vermindern läſst: so wenig will die natürliche Erklärung der Ausdrücke genügen, mit welchen Lukas das Kommen und Gehen Jesu bezeichnet. Denn wenn nach diesem Evangelisten sein Kommen ein ἵςασϑαι ἐν μέσῳ τῶν μαϑητῶν, sein Gehen ein ἄφαντος γίνεσϑαι ἀπ̕ αὐτῶν war: so läſst das Zusammentreffen die - ser Züge, miteingerechnet noch der Schrecken der Jün - ger und ihren Wahn, er sei ein Gespenst, schwerlich an etwas Anderes, als an ein wunderbares Erscheinen den - ken. Ohnehin, wenn man sich das zwar etwa noch vorstel -640Dritter Abschnitt.len könnte, wie Jesus in ein von Menschen erfülltes Zimmer auf natürliche Weise unbemerkt hineinkommen konnte: so läſst sich doch das auf keine Weise anschaulich machen, wie es ihm sollte möglich gewesen sein, den zwei Emma - untischen Jüngern, mit welchen er, wie es scheint, allein zu Tische saſs, unbemerkt und ohne daſs sie ihm nachge - hen konnten sich zu entziehen14)Olshausen, a. a. O. S. 530..

Daſs Markus unter der ἑτέρα μορφὴ eine wunderbar veränderte Gestalt verstehe, hätte man niemals leugnen sollen15)vgl. Fritzsche, in Marc., p. 723.; doch hat dieſs weniger Gewicht, weil es nur des Referenten eigene Erklärung des Umstandes ist, wel - chen Lukas, aber anders erklärt, an die Hand gab, daſs die beiden Wanderer Jesum nicht erkannt haben. Daſs Maria Magdalena Jesum für den Gärtner hielt, war nach der Ansicht des Evangelisten schwerlich Folge entlehnter Gärtnerkleider: sondern, daſs sie ihn nicht kannte, wird man sich dem Geist der Erzählung gemäſs entweder durch ein κρατεῖσϑαι der Augen Magdalena's, oder aus einer ἑτέρα μορφὴ Jesu erklären müssen; daſs sie ihn aber für den Gärtner ansah, kam dann einfach daher, daſs sie ihn im Garten traf. Auch eine Entstellung Jesu durch die Qualen der Kreuzigung, und ein allmähliges Heilen seiner Wunden anzunehmen, sind wir durch die evangelischen Nachrichten nicht berechtigt. Das johanneische μή μου ἅπτου, wenn es Abwehr einer schmerzlichen Berührung sein soll - te, stünde im Widerspruch nicht bloſs mit Matthäus, nach welchem Jesus an demselben Auferstehungsmorgen durch die Frauen seine Füſse umfassen lieſs, sondern auch mit Lukas, welchem zufolge er noch am nämlichen Tage die Jünger auffordert, ihn zu betasten, und es früge sich als - dann, welche Darstellung die richtige wäre? Aber es liegt ja im Zusammenhang gar nichts, was darauf hin -641Viertes Kapitel. §. 135.wiese, daſs Jesus sich das ἅπτεσϑαι eben als etwas Schmerz - haftes verbitte, sondern dieſs kann aus verschiedenen Gründen geschehen sein: aus welchem, ist bei der Dun - kelheit der Stelle bis jezt nicht zur Entscheidung ge - bracht16)Die verschiedenen Erklärungen s. bei Tholuck und Lücke, welcher leztere eine Änderung der Lesart nöthig findet..

Die wunderlichste Verkehrung aber ist es, wenn ge - sagt wird, die seltenen und kurzen Zusammenkünfte Jesu mit seinen Jüngern nach der Auferstehung beweisen, daſs er für längere und häufigere Anstrengungen noch zu schwach, also ein natürlich Genesender, gewesen sei. Eben wenn er auf diese Weise körperlicher Pflege bedürftig war, so sollte er nicht selten, sondern immer bei seinen Jüngern gewesen sein, welche die nächsten waren, von denen er eine solche Pflege zu erwarten hatte. Denn wo soll er nun in den langen Zwischenzeiten zwischen seinen Erscheinungen sich aufgehalten haben? in der Einsamkeit? im Freien? in der Wüste und auf Bergen? Das war kein Aufenthalt für einen Kranken, und es bleibt nichts übrig, als er müſste bei geheimen Verbündeten, von welchen selbst seine Jünger nichts wuſsten, verborgen gewesen sein. Ein solches Geheimhalten seines eigentlichen Aufent - halts aber selbst vor seinen Schülern, denen er nur sel - ten, und mit Absicht plözlich sich einstellend und wieder entfernend, sich zeigte, wäre ein Spielen unter der Decke, ein falscher Schein des Übernatürlichen gewesen, welchen er ihnen vorgemacht hätte, der uns Jesum und seine ganze Sache in einem Lichte erscheinen lieſse, welches dem Gegenstand selbst, wie er in den Quellen vor uns liegt, fremd, nur durch die Blendlaterne moderner, übrigens bereits wieder verschollener Vorstellungen auf denselben geworfen ist. Die Ansicht der Evangelisten ist keine andere, als daſs der Auferstandene nach jenen kur -Das Leben Jesu II. Band. 41642Dritter Abschnitt.zen Erscheinungen unter den Seinigen sich wie ein höhe - res Wesen in die Unsichtbarkeit zurückgezogen habe, und aus dieser wieder, wo und wann er es zweckmäſsig fand, hervorgetreten sei.

Endlich, wie will man sich bei der Voraussetzung, daſs Jesus durch die Auferstehung in ein rein natürliches Leben zurückgekehrt sei, das Ende desselben denken? Consequenterweise muſs man ihn, sei es längere17)Brennecke, biblischer Beweis, dass Jesus nach seiner Aufer - stehung noch 27 Jahre leibhaftig auf Erden gelebt, und zum Wohle der Menschheit in der Stille fortgewirkt habe. 1819. oder kürzere Zeit nach seiner Wiederbelebung eines natürlichen Todes sterben lassen, wie auch Paulus andeutet, daſs der allzu heftig afficirte Leib Jesu, unerachtet er sich von der todtähnlichen Erstarrung am Kreuz wieder erholt hatte, doch durch natürliches Kränkeln und verzehrendes Fieber vollends aufgerieben worden sei18)a. a. O. S. 793. 925.. Daſs dieſs wenigstens die Ansicht der Evangelisten vom Ende ihres Christus nicht sei, ist offenbar, da ihn die einen von ihnen wie einen Unsterblichen von den Jüngern Abschied nehmen, die an - dern ihn sichtbar in den Himmel sich erheben lassen. Vor der Himmelfahrt also spätestens müſste, wenn bis dahin Jesus einen natürlich menschlichen Leib beibehalten hatte eine Veränderung mit demselben vorgegangen sein, welche, ihn zum Aufenthalt in den himmlischen Regionen befähigte, es müſste die Schlacke der groben Leiblichkeit nieder - gefallen, und nur etwa der feinste Extrakt derselben mit - emporgestiegen sein. Davon aber, daſs von dem zum Him - mel sich erhebenden Jesus irgend ein materieller Überrest zurückgeblieben, melden die Evangelisten nichts, und da es die zuschauenden Jünger doch bemerkt haben müſsten, so bleibt für diese Ansicht am Ende nichts, als die Aus - kunft jenes Theologen aus der Tübinger Schule, das Resi -643Viertes Kapitel. §. 135.duum von Jesu Leiblichkeit sei jene Wolke gewesen, die ihn bei der Himmelfahrt umhüllte, in welche sich, was materiell an ihm war, aufgelöst habe und gleichsam ver - pufft sei19)Noch etwas über die Frage: warum haben die Apostel Mat - thäus und Johannes nicht ebenso wie die zwei Evangelisten Markus und Lukas die Himmelfahrt ausdrücklich erzählt? In Süskind's Magazin, 17, S. 165 ff.. Da somit die Evangelisten das Ende des ir - dischen Wandels Jesu nach der Auferstehung weder als einen natürlichen Tod sich vorstellen, noch bei der Him - melfahrt irgend einer mit seinem Körper vorgegangenen Veränderung gedenken, überdieſs aus der Zeit zwischen der Auferstehung und Himmelfahrt Dinge von Jesu berich - ten, welche von einem natürlichen Leib undenkbar sind: so können sie sich sein Leben seit der Auferstehung nicht als ein natürliches, sondern nur als ein übernatürliches, und seinen Leib nicht als einen organisch materiellen, sondern nur als einen verklärten vorgestellt haben.

Dieser Vorstellung widersprechen auf dem Stand - punkt der Evangelisten auch diejenigen Züge nicht, wel - che die Freunde der rein natürlichen Ansicht vom Leben des Auferstandenen für sich geltend zu machen pflegen. Daſs Jesus aſs und trank, das sezte in dem bezeichneten Vorstellungskreise so wenig ein wirkliches Bedürfniſs bei ihm voraus, als das Mahl, welches Jehova mit zwei En - geln bei Abraham einnahm: Essenkönnen ist hier kein Be - weis für Essenmüssen. Daſs er sich betasten lieſs, war der einzig mögliche Beweis gegen die Vermuthung, ein körperloses Gespenst möge den Jüngern erschienen sein; auch Götterwesen erschienen in alterthümlicher, nicht bloſs griechischer, sondern (nach der oben angeführten Stelle, 1 Mos. 32, 24.) auch hebräischer Vorstellung, bis - weilen betastbar, im Unterschied von wesenlosen Schatten, unerachtet sie sonst an die Gesetze der Materialität so we -41 *644Dritter Abschnitt.nig gebunden sich zeigten, als der betastbare Jesus, wenn er doch plözlich verschwinden, und in verschlossene Zim - mer ohne Hinderniſs eindringen konnte20)Das Unbestimmte der hier zum Grunde liegenden Vorstel - lung drückt Origenes gut aus, wenn er, c. Cels. 2, 62. von Jesu sagt: καὶ ἦν γε μετὰ τὴν ἀνάςασιν αὑτοῦ ὡσπερεὶ ἐν με - ϑορίῳ τινὶ τῆς παχύτητος τοῦ πρὸ του πάϑοῦς σώματος, καὶ τοῦ γυμνὴν τοιου̍του σώματος φαίνεσϑαι ψυχήν. .

Eine ganz andere Frage ist, ob auch auf unserem, durch genauere Naturkenntniſs gebildeten Standpunkt jene beiderlei Züge sich vertragen? Und da werden wir frei - lich sagen müssen: ein Leib, der sichtbare Speise genieſst, muſs auch selbst ein sichtbarer sein; der Genuſs der Spei - se sezt einen Organismus voraus, der Organismus aber ist organisirte Materie, und diese hat die Eigenschaft nicht, in beliebigem Wechsel verschwinden und wieder sichtbar werden zu können. Ganz besonders aber, wenn der Leib Jesu sich betasten lieſs, und Fleisch und Knochen zu füh - len gab, so zeigte er damit die Widerstandskraft der Materie, und zwar wie sie ihr als fester eigenthümlich ist: wenn er dagegen in verschlossene Häuser und Zimmer, ungehindert durch dazwischenliegende Wände und Thüren, einzugehen im Stande war, so bewies er hiedurch, daſs eben diese Widerstandskraft der festen Materie ihm nicht zukam; indem er also nach den evangelischen Berichten dieselbe Eigenschaft um dieselbe Zeit gehabt und nicht ge - habt haben müſste: so zeigt sich die evangelische Darstel - lung der Leiblichkeit Jesu nach der Auferstehung als eine in sich widersprechende. Und zwar ist dieser Wieder - spruch nicht etwa von der Art, daſs er sich unter die ver - schiedenen Berichterstatter vertheilte, sondern der Be - richt Eines und desselben Evangelisten schlieſst jene wider - sprechenden Züge in sich. Der kurze Bericht des Mat - thäus zwar enthält in dem ἐκράτησαν αὐτοῦ τοὺς πόδας (V. 9.) 645Viertes Kapitel. §. 136.nur das Moment der Betastbarkeit, ohne daſs ebenso ein entgegengeseztes hervorgehoben wäre; bei Markus umge - kehrt spricht sein ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ (V. 12.) für etwas Über - natürliches, ohne daſs andrerseits auch wieder das Gegen - theil bestimmt vorausgesezt würde: dagegen spricht bei Lukas das Sichbetastenlassen und Essen ebenso bestimmt für organische Materialität, als das plözliche Erscheinen und Verschwinden gegen eine solche; ganz besonders hart aber stoſsen die Glieder dieses Widerspruchs im vierten Evangelium zusammen, wo Jesus, unmittelbar nachdem er in das verschlossene Gemach unberührt durch Wände und Thüren eingedrungen ist21)Mit der Fähigkeit Jesu, durch verschlossene Thüren zu drin - gen, fanden manche Kirchenväter und orthodoxe Theologen das nicht recht vereinbar, dass zum Behuf der Auferstehung Jesu vorher der Stein vom Grabe gewälzt worden sein solle, und behaupteten daher: resurrexit Christus clauso sepulcro, sive nondum ab ostio sepulcri revoluto per angelum lapide. Quenstedt, theol. didact. polem. 3, p. 542., sich von dem zweifelnden Thomas berühren läſst.

§. 136. Die Debatte über die Realität des Todes und der Aufer - stehung Jesu.

Der Saz: ein Todter ist wiederbelebt worden, ist aus zwei so widersprechenden Bestandtheilen zusammen - gesezt, daſs immer, wenn man den einen festhalten will, der andere zu verschwinden droht. Ist er wirklich wie - der zum Leben gekommen, so liegt es nahe, zu denken, er werde nicht ganz todt gewesen sein; war er aber wirk - lich todt, so hält es schwer, zu glauben, daſs er wieder lebendig geworden sei.

Bei einer richtigen Ansicht über das Verhältniſs von Seele und Leib, welche diese beiden nicht abstrakt ausein -646Dritter Abschnitt.anderhält, sondern sie zugleich in ihrer Identität, die Seele als die Innerlichkeit des Leibs, den Leib als die Äusserlich - keit der Seele begreift, weiſs man schon gar nicht, wie man sich die Wiederbelebung eines Todten nur vorstellen, geschweige denn sie verstehen solle. Haben die Kräfte und Thätigkeiten des Leibes einmal aufgehört, in denjenigen regierenden Mittelpunkt zusammenzulaufen, welchen wir die Seele nennen, deren Thätigkeit, oder vielmehr sie selbst, in der ununterbrochenen Niederhaltung aller andern im Körper möglichen Processe unter der höheren Einheit des organischen Lebensprocesses, welche bei'm Menschen zugleich die Basis des Geistigen ist, besteht: so tre - ten in den verschiedenen Theilen des Körpers jene andern, niedrigern Principien als herrschend auf, deren Geschäft in seiner Fortsetzung die Verwesung ist. Haben diese ein - mal die Herrschaft angetreten: so werden sie nicht geneigt sein, sie an den vorigen Herrn, die Seele, zurückzugeben; oder vielmehr ist dieſs deſswegen unmöglich, weil, ganz abgesehen von der Frage über die Unsterblichkeit des mensch - lichen Geistes, mit ihrer Herrschaft und Thätigkeit, wel - che ihre Existenz ist, die Seele als solche zu sein aufhört, mithin bei einer Wiederbelebung, selbst wenn man sich auf ein Wunder berufen wollte, dieſs geradezu in der Er - schaffung einer neuen Seele bestehen müſste.

Nur der populärgewordene Dualismus in Bezug auf das Verhältniſs von Leib und Seele begünstigt die Mei - nung von der Möglichkeit einer eigentlichen Wiederbele - bung. Da wird die Seele in ihrem Verhältniſs zum Kör - per wie der Vogel vorgestellt, welcher, wenn auch eine Weile aus dem Käfig entflogen, doch wieder eingefangen und in denselben zurückgebracht werden kann, und an der - gleichen Bilder hält sich ein imaginirendes Denken, um die Vorstellung der Wiederbelebung festzuhalten. Doch selbst auf dem Standpunkte dieses Dualismus versteckt sich die Undenkbarkeit eines solchen Vorgangs mehr, als daſs sie647Viertes Kapitel. §. 136.sich eigentlich verringerte. Denn so gleichgültig und un - lebendig, wie bei einer Schachtel und deren Inhalt, darf man sich doch das Zusammensein des Leibs und der Seele auch bei der abstraktesten Trennung nicht denken, son - dern die Gegenwart der Seele bringt im Körper Wirkun - gen hervor, welche hinwiederum die Möglichkeit jener Ge - genwart der Seele in ihm bedingen. Sobald also die Seele den Körper verlassen hat, werden in diesem diejenigen Thätigkeiten stille stehen, welche nach der dualistischen Vorstellungsweise die unmittelbarsten Äusserungen des Ein - flusses der Seele waren, ebendamit werden die Organe dieser Thätigkeiten, Gehirn, Blut u. s. f., zu stocken und starr zu werden beginnen, und zwar wird diese Verände - rung mit dem Augenblick des wirklichen Todes ihren An - fang nehmen. Könnte es also auch der entflohenen Seele einfallen, oder sie durch einen Andern dazu genöthigt wer - den, ihren vorigen Wohnsiz, den Körper, wieder aufzu - suchen: so würde sie ihn doch nach den ersten Augenbli - cken schon in seinen edelsten Theilen unbewohnbar und für ihren Dienst untauglich finden. Wiederherstellen aber, wie ein krankes Glied, könnte sie die unbrauchbar gewor - denen unmittelbarsten Organe ihrer Wirksamkeit auf kei - ne Weise, da sie, um irgend etwas im Körper zu wirken, des Dienstes eben dieser Organe bedarf: sie müſste also, ob auch wieder in den Leib zurückgebannt, denselben doch geradezu vermodern lassen, weil sie keinen Einfluſs auf ihn auszuüben im Stande wäre; oder es müſste zu dem Wunder ihrer Zurückführung in den Körper das zwei - te einer Restaurirung ihrer abgestorbenen körperlichen Or - gane hinzukommen ein unmittelbares Eingreifen Gottes in den gesezlichen Verlauf des Naturlebens, wie es geläu - terten Ansichten von dem Verhältniſs Gottes zur Welt wi - derspricht.

Sehr bestimmt hat daher die neuere Bildung in Be - zug auf Jesum das Dilemma aufgestellt, daſs er entweder648Dritter Abschnitt.nichtwirklich gestorben, oder nicht wirklich auferstan - den sei.

Der Rationalismus hat sich vorwiegend der ersteren Annahme zugewendet. Die kurze Zeit, welche Jesus am Kreuze hieng, zusammengenommen mit der sonst bekann - ten Langsamkeit des Kreuzestodes, die ungewisse Beschaf - fenheit und Wirkung des Lanzenstichs (welchen wir nicht einmal für historisch halten konnten), schienen die Wirk - lichkeit des Todes zweifelhaft zu machen. Daſs die Voll - strecker der Kreuzigung, wie die Jünger selbst, keinem solchen Zweifel Raum geben, würde sich ausser der all - gemeinen Schwierigkeit, tiefe Ohnmachten und synkoptische Erstarrungen vom wirklichen Tode zu unterscheiden, aus dem niedrigen Stande der medicinischen Kenntnisse in je - ner Zeit erklären; wogegen wenigstens Ein Beispiel, daſs ein vom Kreuz Abgenommener wieder genas, ein erfolg - tes Wiederaufleben auch bei Jesu denkbar zu machen schien. Dieses Beispiel findet sich bei Josephus, welcher berichtet, daſs von drei gekreuzigten Bekannten, die er von Titus losgebeten habe, nach der Abnahme vom Kreuze zwei gestorben, einer aber mit dem Leben davongekom - men sei .1)Joseph. vita, 75: πεμφϑεὶς δὲ ὑπὸ Τίτου Καίσαρος σὺν Κερεαλίῳ καὶ χιλίοις ἱππεῦσιν εἰς κώμην τινὰ Λεκώαν λεγομένην, πρὸς κα - τανόησιν, εἰ τόπος ἐπιτήδειός ἐςι χάρακα δέξασϑαι, ὡς ἐκεῖϑεν ὑποςρέφων εἶδον πολλοὺς αἰχμαλώτους ἀνεςαυρωμένους, καὶ τρεῖς γνωρίσας συνήϑεις μοι γενομέτους, ἤλγησα τὴν ψυχὴν, καὶ μετὰ δακρύων προσελϑὼν Τίτῳ εἰπον. δ̕ εὐϑὺς ἐκέλευσεν καϑαι - ρεϑέκτας αὐτοὺς ϑεραπείας ἐπιμελεςάτης τυχεῖν. καὶ οἱ μὲν δύο τελευτῶσιν ϑεραπευόμενοι, δὲ τρίτος ἔζησεν. Aus dieser Stelle argumentirt besonders Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 786, und im Anhang, S. 929 ff.. Wie lange diese Leute am Kreuz gehangen hatten, bemerkt Josephus nicht; doch da er sie mit sei - ner Expedition nach Thekoa in der Art in Verbindung bringt, daſs er sie bei seiner Rückkehr von da erblickt649Viertes Kapitel. §. 136.habe, so müssen sie wohl eben während dieser Expedition gekreuzigt worden sein, und da diese, vermöge der gerin - gen Entfernung des genannten Orts von Jerusalem, mög - licherweise in Einem Tage beendigt sein konnte, so hat - ten sie wohl nicht über Einen Tag, vielleicht noch kürzer, am Kreuz gehangen. Wenn nun von drei Gekreuzigten, welche schwerlich viel länger gehangen hatten, als Jesus, der nach Markus von Morgens 9 Uhr bis Abends gegen 6 Uhr am Kreuze sich befand, und welche, wie es scheint, noch mit den Zeichen des Lebens herabgenommen wurden, bei der sorgfältigsten ärztlichen Pflege nur Einer davon kam: wie unwahrscheinlich muſs es werden, daſs Jesus, welcher bereits mit allen Zeichen des Todes vom Kreuze genom - men worden war, ohne Anwendung ärztlicher Mittel ganz von selbst wieder zum Leben gekommen sei? 2)Bretschneider, über den angeblichen Scheintod Jesu am Kreu - ze, in Ullmann's und Umbrett's Studien, 1832, 3, S. 625 ff. Hug, Beiträge zur Geschichte des Verfahrens bei der Todes - strafe der Kreuzigung, Freiburger Zeitschr. 7, S. 144 ff.

Diese beiden Momente: ein Rest des bewuſsten Le - bens, und sorgfältige ärztliche Behandlung, haben indeſs nach einer gewissen Ansicht auch bei Jesus nicht gefehlt, wenn sie gleich von den Evangelisten verschwiegen wer - den. Hienach hat Jesus, weil er keinen andern Weg sah, die herrschende Messiasidee von ihren sinnlich-politischen Beimischungen zu reinigen, sich der Kreuzigung ausge - sezt, dabei aber sich darauf verlassen, durch ein frühzei - tiges Neigen des Hauptes seine baldige Abnahme vom Kreuz zu bewirken, und hernach von heilkundigen Män - nern unter seinen geheimen Verbündeten wiederhergestellt zu werden, um zugleich durch den Schein einer Wieder - belebung das Volk zu begeistern3)Baurdt, Ausführung des Plans und Zwecks Jesu. Vgl. dage - gen Paulus, ex. Handb. 3, b, 793 f.. Von dieser Absicht - lichkeit haben Andere wenigstens Jesum freigesprochen,Bogen 41. ist S. 649 u. 650 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.650Dritter Abschnitt.und ihn wirklich in todähnlichen Schlummer versinken lassen, seinen Anhängern aber von vorn herein den Plan zugeschrieben, den durch einen Trank scheintodt gemach - ten und frühe vom Kreuz abgenommenen in das Leben zurückzurufen4)Xenodoxien (nicht Xenodochien, wie Winer und Hase citi - ren), in der Abh.: Joseph und Nikodemus. Vgl. dagegen Klaiber's Studien der würtemb. Geistlichkeit, 2, 2, S. 84 ff.. Allein von allem dem deuten die Quel - len nichts an, und es zu vermuthen, haben wir keinen Grund. Verständige Freunde der natürlichen Erklärung, welchen dergleichen Ausgeburten eines zügellosen Prag - matisirens zuwider sind, haben daher zur Erklärung von Jesu Wiederbelebung, statt eines Rests von bewuſstem Le - ben in ihm, mit der Lebenskraft sich begnügt, welche auch nach dem Schwinden des Bewuſstseins im Innersten des jugendkräftigen Körpers Jesu zurückgeblieben war, und statt absichtlicher Pflege durch Menschenhände auf den wohlthätigen Einfluſs aufmerksam gemacht, welchen die um seinen Leib gelegten zum Theil wohl öligten Substanzen auf Heilung seiner Wunden, und, zusammengenommen mit der von dem Dufte der Specereien geschwängerten Luft in der Höhle, auf Wiedererweckung des Gefühls und Bewuſstseins Jesu gehabt haben müssen5)Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 785 ff. L. J. 1, b, S. 281 ff.; wozu man wohl auch noch als entscheidendes Moment die Erschütterung und den Blizstrahl fügte, welcher am Auferstehungsmorgen das Grabmal Jesu eröffnet habe6)Schuster, in Eichhorn's a. Bibl. 9, S. 1053.. Hiegegen haben jedoch Andere darauf aufmerksam gemacht, wie die kalte Luft in einer Höhle am wenigsten etwas Belebendes haben konnte; wie starke Arome in einem verschlossenen Raume vielmehr betäubend und erstickend wirken7)Winer, b. Realw. 1, S. 674.; die gleiche Wirkung müſste ein in die Gruft schlagender Blizstrahl651Viertes Kapitel. §. 136.gehabt haben, wenn dieser nicht bloſse Erdichtung ratio - nalistischer Ausleger wäre.

Unerachtet aller dieser Unwahrscheinlichkeiten jedoch, welche die Ansicht gegen sich hat, daſs Jesus aus einem bloſsen Scheintode durch natürliche Ursachen wieder zum Leben gekommen sei, bleibt sie doch insoweit möglich, daſs, wenn uns die Wiederbelebung Jesu sicher verbürgt wäre, wir aus der Entschiedenheit des Erfolgs die Lücken der Berichte über den Hergang der Sache ergänzen, und der bisher vorgetragenen Ansicht, mit Abweisung jedoch aller bestimmten Vermuthungen, beitreten könnten. Ver - bürgt wäre uns die Auferstehung Jesu, wenn sie von un - parteiischen Zeugen auf bestimmte und zusammenstimmen - de Weise beurkundet wäre. Aber eben die Unparteilich - keit der angeblichen Zeugen für die Auferstehung Jesu ha - ben die Gegner des Christenthums von Celsus bis auf den Wolfenbüttler Fragmentisten herab in Anspruch genom - men. Nur seinen Anhängern habe sich Jesus gezeigt: warum nicht auch seinen Feinden, um auch sie zu über - zeugen, und durch ihr Zeugniſs der Nachwelt jede Ver - muthung einer absichtlichen Täuschung von Seiten seiner Jünger zu benehmen? 8)Orig. c. Cels. 2, 63: Μετὰ ταῦτα Κέλσος οὐκ εὐκαταφρονή - τως τὰ γεγραμμένα κακολογῶν, φησὶν, ὅτι ἐχρῆν, εἴπερ ὄντως ϑείαν δύναμιν ἐκφῇναι ἤϑελεν ., αὐτοῖς τοῖς ἐπηρεάσασι καὶ τῷ καταδικάσαντι καὶ ὅλως πᾶσιν ὀφϑῆναι. 67: οὐ γὰρ ἐπὶ τοῦτ̕ ἐπέμφϑη τὴν ἀρχὴν, ἵνα λάϑῃ. Vgl. den Wolfenbüttler, bei Lessing, S. 450. 60. 92 ff. Woolston, Disc. 6. Spinoza, ep. 23. ad Oldenburg. p. 558 f. ed. Gfrörer.So wenig ich nun auch von den Erwiederungen der Apologeten auf diesen Einwand halten kann, von dem Origeneischen ἐφείδετο γὰρ καὶ τοῦ κατα - δικάσαντος καὶ τῶν ἐπηρεασάντων χριςὸς, ἵνα μὴ παταχ - ϑῶσιν ἀορασίᾳ9)a. a. O. 67. an, bis auf die Meinungen der Neueren,Bogen 41. ist S. 651 u. 652 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.652Dritter Abschnitt.welche durch das Schwanken zwischen der Behauptung, durch eine solche Erscheinung wären die Feinde Jesu zum Glauben gezwungen worden, und der andern, sie würden auch auf eine solche hin nicht geglaubt haben, sich selbst widerlegen10)Vgl. Mosheim, in seiner Übersetzung der Schrift des Orige - nes gegen den Celsus, z. d. angef. St. Michaelis, Anm. zum fünften Fragment, S. 407.: so kann doch jenem Einwurf das entge - gengehalten werden, daſs die Anhänger Jesu durch ihre Hoffnungslosigkeit, welche, wie sie aus der Zusammenstim - mung der Berichte erhellt, so der Natur der Sache voll - kommen angemessen ist, hier zum Range unparteiischer Zeugen sich erheben. Hätten sie eine Auferstehung Jesu erwartet, und sollten wir diese nun allein auf ihr Zeug - niſs hin glauben: so wäre allerdings die Möglichkeit, und vielleicht Wahrscheinlichkeit, wenn nicht eines absichtli - chen Betrugs, doch unwillkührlicher Selbsttäuschung von ihrer Seite vorhanden; diese verschwindet aber in dem Grade, als die Jünger Jesu nach seinem Tode alle Hoff - nung verloren haften. Zwar rührt nun nach den Ergeb - nissen unsrer bisherigen Untersuchungen keines der Evan - gelien unmittelbar von einem Jünger Jesu her: doch, da aus den paulinischen Briefen und der Apostelgeschichte gewiſs ist, daſs die Apostel selbst die Überzeugung hatten, den Auferstandenen gesehen zu haben, so könnten wir uns an den N. T. lichen Zeugnissen für die Auferstehung immer - hin genügen lassen, wenn nur diese Zeugnisse theils be - stimmt genug wären, theils unter einander, und jedes mit sich selbst, zusammenstimmten. Nun aber ist das in sich einstim - mige und auch sonst gewichtigste Zeugniſs des Paulus so allgemein und unbestimmt, daſs es für sich uns über die sub - jektive Thatsache, die Jünger seien von der Auferstehung Jesu überzeugt gewesen, nicht hinausführt; die bestimm - teren Erzählungen der Evangelien dagegen, in welchen die653Viertes Kapitel. §. 136.Auferstehung Jesu als objektive Thatsache erscheint, sind ihrer aufgezeigten Widersprüche wegen nicht als Zeug - nisse zu gebrauchen, überhaupt ist ihr Bericht über den Wandel Jesu nach seiner Auferstehung kein in sich zu - sammenhängender, der uns eine klare historische An - schauung der Sache gäbe, sondern ein fragmentarischer11)Hase, L. J. §. 149., der uns mehr eine Reihe von Visionen, als eine fortlau - fende Geschichte zur Anschauung bringt.

Vergleicht man mit diesem Bericht über die Wieder - belebung Jesu den bestimmten in sich einstimmigen über seinen Tod: so muſs man in dem oben gestellten Dilemma auf die andre Seite sich neigen, und eher die Realität der Auferstehung, als die des Todes in Anspruch zu nehmen sich veranlaſst finden. Auf diese Seite ist daher schon Cel - sus getreten, indem er die angeblichen Erscheinungen Jesu nach der Auferstehung entweder aus Selbsttäuschung sei - ner Anhänger, namentlich der Weiber, im Traum oder Wachen, oder was ihm noch wahrscheinlicher war, aus ab - sichtlichem Betrug ableitete12)Bei Orig. c. Cels. 2, 55: τίς τοῦτο εἶδε; (die durchbohrten Hände Jesu, und überhaupt seine Erscheinungen nach der Auf - erstehung) γυνὴ πάροιςρος, ὡς φατὲ, καὶ εἴ τις ἄλλος τῶν ἐκ τῆς αὐτῆς γοητείας, ἤτοι κατά τινα διάϑεσιν ὀνειρώξας, κατὰ τὴν αὐτοῦ βου̍λησιν δόξῃ πεπλανημένῃ φαντασιωϑεὶς, ὅπερ δὴ μυ - ρίοις συμβέβηκεν· , ὅπερ μᾶλλον, ἐκπλῆξαι τοὺς λοιποὺς τῇ τερα - τείᾳ ταύτῃ ϑελήσας, καὶ διὰ τοῦ τοιούτου ψεύσματος ἀφορμὴν ἄλ - λοις ἀγύρταις παρασχεῖν. , und Neuere, wie na - mentlich der Wolfenbüttler Fragmentist, haben sich an die jüdische Beschuldigung bei Matthäus angeschlossen, daſs die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen, und hernach die Erzählungen von seiner Auferstehung und den Erschei - nungen nach derselben auf übel zusammenstimmende WeiseBogen 41. ist S. 653 u. 654 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.654Dritter Abschnitt.fingirt haben13)Das 5te Fragment, in Lessing's 4tem Beitrag. Woolston, Disc. 8.. Dieser Verdacht ist schon durch die Bemerkung des Origenes niedergeschlagen, daſs eine selbst - erfundene Lüge die Jünger unmöglich zu einer so stand - haften Verkündigung der Auferstehung Jesu unter den gröſsten Gefahren hätte begeistern können14)a. a. O. 56., und mit Recht bestehen noch jezt die Apologeten darauf, daſs der ungeheure Umschwung von der tiefen Niedergeschlagenheit und gänzlichen Hoffnungslosigkeit der Jünger bei dem Tode Jesu zu der Glaubenskraft und Begeisterung, mit welcher sie am folgenden Pfingstfest ihn als Messias verkündigten, sich nicht erklären lieſse, wenn nicht in der Zwischen - zeit etwas ganz ausserordentlich Ermuthigendes vorgefal - len wäre, und zwar näher etwas, das sie von der Wie - derbelebung des gekreuzigten Jesus überzeugte15)Ullmann, was sezt die Stiftung der christlichen Kirche durch einen Gekreuzigten voraus? In s. Studien, 1832, 3, S. 589 f. (Röhr) Briefe über den Rationalismus, S. 28. 236. Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 826 f. Hase, §. 146.. Daſs aber dieses Überzeugende gerade eine wirkliche Erschei - nung des Auferstandenen, daſs es überhaupt ein äusserer Vorgang gewesen sein müsse, ist damit noch keineswegs be - wiesen. Man könnte, wenn man auf supranaturalem Boden bleiben wollte, etwa mit Spinoza eine im Innern der Jün - ger auf wunderbare Weise bewirkte Vision annehmen, welche den Zweck gehabt hätte, ihnen nach ihrer Fas - sungskraft und der Vorstellungsweise ihrer Zeit anschau - lich zu machen, daſs Jesus durch sein tugendhaftes Le - ben vom geistigen Tode auferstanden sei, und denen, wel - che seinem Beispiel folgen, eine ähnliche Auferstehung verleihe16)Spinoza, a. a. O.:Apostolos omnes omnino credidisse, quod Christus a morte resurrexerit, et ad coelum revera ascende -. Um aus dem Zauberkreis des Supranatura -655Viertes Kapitel. §. 136.lismus in Betreff dieser Erscheinungen herauszukommen, haben Andere nach natürlichen äusseren Veranlassungen gesucht, welche die Meinung erregen konnten, Jesus sei auferstanden und als Auferstandener gesehen worden. Den ersten Anstoſs, vermuthete man, habe das gegeben, daſs am zweiten Morgen nach dem Begräbniſs sein Grab leer gefunden wurde, dessen Leintücher zuerst für Engel, dann für eine Erscheinung des Auferstandenen selbst gehal - ten worden seien17)Versuch über die Auferstehung Jesu, in Schmidt's Bibliothek, 2, 4, S. 545 ff.: allein, wenn der Leib Jesu nicht neubelebt aus dem Grabe hervorgegangen ist, wie soll er denn herausgekommen sein? Da müſste man ja wieder an Diebstahl denken: wenn man nicht aus der Andeutung bei Johannes, daſs Jesus der Eile wegen in ein fremdes Grab gelegt worden, die Vermuthung herleiten will, daſs vielleicht der Eigenthümer der Gruft den Leichnam habe entfernen lassen, was aber die Jünger nachträglich hätten erfahren müssen, und was in jedem Fall an der vereinzel - ten Angabe des vierten Evangeliums eine zu schwache Grundlage hat.

Ungleich fruchtbarer ist die Hinweisung auf die pau - linische Stelle 1. Kor. 15, 5 ff, als den geeignetsten Aus -16)rit ego non nego. Nam ipse etiam Abrahamus credidit, quod Deus apud ipsum pransus fuerit cum tamen haec et plura alia hujusmodi apparitiones seu revelationes fuerint, captui et opinionibus eorum hominum accommodatae, quibus Deus mentem suam iisdem revelare voluit. Concludo itaque Christi a mortuis resurrectionem revera spiritualem, et so - lis fidelibus ad eorum captum revelatam fuisse, nempe quod Christus aeternitate donatus fuit, et a mortuis (mortuos hic intelligo eo sensu, quo Christus dixit: sinite mortuos sepe - lire mortuos suos) surrexit, simulatque vita et morte singu - laris sanctitatis exemplum dedit, et eatenus discipulos suos a mortuis suscitat, quatenus ipsi hoc vitae ejus et mortis exemplum sequuntur.656Dritter Abschnitt.gangspunkt in dieser Sache, und den Schlüssel zur Ver - ständigung über alle Erscheinungen Jesu nach seiner Auf - erstehung18)S. die angeführte Abhandlung in Schmidt's Bibl., S. 537. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 258 f.. Wenn nämlich Paulus dort die ihm zu Theil gewordene Christophanie mit den Erscheinungen Je - su in den Tagen nach seiner Auferstehung in Eine Reihe stellt, so berechtigt dieſs, sofern sonst nichts im Wege steht, zu dem Schlusse, daſs, so viel der Apostel wuſste, jene früheren Erscheinungen von derselben Art, wie die ihm gewordene, gewesen seien. Von dieser lezteren nun aber, wie sie uns die Apostelgeschichte (9, 1 ff. 22, 3 ff. 26, 12 ff. ) erzählt, ist es nach den Analysen von Eichhorn19)In seiner allg. Bibliothek, 6, 1, S. 1 ff. und Ammon20)Comm. exeg. de repentina Sauli conversione. In s. opusc. theol. nicht wohl mehr möglich, sie als äussere, objek - tive Erscheinung des wirklichen Christus festzuhalten, und selbst Neander21)Geschichte der Pflanzung und Leitung der christl. Kirche durch die Apostel, 1, S. 75 ff. getraut sich bloſs, eine innere Einwir - kung Christi auf das Gemüth des Paulus sicher zu behaup - ten, die Annahme einer äusseren Erscheinung aber hängt er nur sehr bittweise hinten an, und auch jene innere Ein - wirkung macht er dadurch selbst überflüssig, daſs er die Momente namhaft macht, welche auf natürliche Weise ei - ne solche Revolution in der Gesinnung des Mannes her - vorbringen konnten: die günstigen Eindrücke, welche er da und dort vom Christenthum, von der Lehre, dem Le - ben und Benehmen seiner Anhänger, namentlich auch durch den Märtyrertod des Stephanus, bekommen hatte, und wel - che sein Gemüth in eine Spannung und in einen innern Kampf versetzten, den er wohl einige Zeit gewaltsam, und vielleicht selbst durch verdoppeltes Eifern gegen die neue Sekte, unterdrücken konnte, der sich aber zulezt in einer657Viertes Kapitel. §. 136.entscheidenden geistigen Krisis entladen muſste, von wel - cher es uns bei einem Orientalen nur gar nicht wundern darf, daſs sie die Gestalt einer Christophanie annahm. Haben wir hiemit an dem Apostel Paulus ein Beispiel, daſs starke Eindrücke von der jungen Christengemeinde ein feu - riges Gemüth, das ihr längere Zeit entgegengestrebt hatte, bis zur Christophanie und völligen Sinnesänderung steigern konnten: so wird wohl auch der gewaltige Eindruck der groſsartigen Persönlichkeit Jesu im Stande gewesen sein, seine unmittelbaren Schüler im Kampfe mit den Zweifeln an seiner Messianität, welche sein Tod in ihnen erregt hatte, zu ähnlichen Gesichten zu begeistern. Wer zur Er - klärung der paulinischen Christophanie noch ein äusseres Naturphänomen, wie Bliz und Donnerschlag, zu Hülfe neh - men zu müssen und zu dürfen glaubt, der mag auch die Erklärung der Erscheinungen, welche früher die unmittel - baren Schüler Jesu von dem Auferstandenen zu haben glaubten, durch Voraussetzung ähnlicher Ereignisse sich zu erleichtern suchen22)So die Abhandlung in Schmidt's Bibliothek, und Kaiser, a. a. O.. Nur, wie die Eichhorn'sche Er - klärung des Vorgangs mit Paulus daran scheiterte, daſs sie alle und jede Züge der N. T. lichen Erzählung, wie die Blindheit des Paulus und deren Heilung, die Vision des Ananias u. s. f., als historische festhielt, und diese begreif - lich nur sehr gezwungen in natürliche Erfolge umdeuten konnte: so würde freilich derjenige die psychologische Er - klärung der Erscheinungen des auferstandenen Jesus selbst sich unmöglich machen, welcher alle evangelischen Erzäh - lungen von denselben, namentlich von den Proben, welche Thomas durch Betastung angestellt, und der Auferstandene selbst durch Genuſs von Nahrung abgelegt haben soll, als historische anerkennen wollte, worauf aber diese Erzählun - gen ihrer aufgezeigten Widersprüche wegen nicht den min -Das Leben Jesu II. Band. 42658Dritter Abschnitt.desten Anspruch haben. Die zwei ersten Evangelien, und der Hauptgewährsmann in dieser Sache, der Apostel Pau - lus, erzählen uns von dergleichen Proben nichts, und es ist ganz natürlich, daſs die Christophanieen, welche, so wie sie den Frauen und Aposteln wirklich vorgeschwebt hat - ten, mehr das visionäre Gepräge derjenigen gehabt haben mögen, welche Paulus auf dem Wege nach Damaskus hat - te, einmal in die Tradition aufgenommen, sich vermöge des apologetischen Bestrebens, alle Zweifel an der Realität der - selben abzuschneiden, immer mehr consolidirten, von stum - men Erscheinungen zu redenden, von geisterhaften zu es - senden, von sichtbaren zu handgreiflichen wurden.

Hier kehrt sich jedoch ein Unterschied heraus, wel - cher den Vorgang mit Paulus zur Erklärung jener frühe - ren Erscheinungen mit Einem Male unbrauchbar zu ma - chen scheint. Dem Apostel Paulus nämlich war die Vor - stellung, daſs Jesus auferstanden und mehreren Personen erschienen sei, als Glaube der Sekte, die er verfolgte, ge - geben, er hatte sie nur noch in seine Überzeugung aufzu - nehmen, und durch die Phantasie bis zur eigenen Erfah - rung zu beleben: die älteren Jünger hingegen hatten le - diglich den Tod ihres Messias als Faktum vor sich, die Ansicht einer Auferstehung desselben konnten sie nir - gendsher nehmen, sondern muſsten dieselbe, nach unserer Vorstellung von der Sache, erst produciren; eine Aufga - be, welche über alle Vergleichung hinaus schwieriger zu sein scheint, als die, welche sich später dem Apostel Pau - lus stellte. Um hierüber richtig urtheilen zu können, müs - sen wir uns noch genauer in die Lage und Stimmung der Jünger Jesu nach seinem Tode hineindenken. Er hatte während seines mehrjährigen Zusammenseins mit ihnen im - mer mehr und entschiedener den Eindruck des Messias auf sie gemacht: sein Tod aber, den sie mit ihren Mes - siasbegriffen nicht reimen konnten, hatte diesen Eindruck für den Augenblick wieder vernichtet. Wie sich nun, nach -659Viertes Kapitel. §. 136.dem der erste Schrecken vorüber war, der frühere Ein - druck wieder zu regen begann: entstand in ihnen von selbst das psychologische Bedürfniſs, den Widerspruch der lez - ten Schicksale Jesu mit ihrer früheren Ansicht von ihm aufzulösen, in ihren Begriff vom Messias das Merkmal des Leidens und Todes mitaufzunehmen. Da aber Begreifen bei den Juden jener Zeit eben nur hieſs, etwas aus den heiligen Schriften ableiten: so waren sie an diese gewie - sen, ob nicht in ihnen vielleicht Andeutungen eines lei - denden und sterbenden Messias sich fänden. Dergleichen Andeutungen muſsten sich den Jüngern Jesu, welche sie zu finden wünschten, so fremd auch die Idee eines solchen Messias dem A. T. ist, dennoch in allen denjenigen poëti - schen und prophetischen Stellen darbieten, welche, wie Jes. 53, Ps. 22, die Männer Gottes als geplagt und ge - beugt bis zum Tode darstellten. Das ist es auch, was Lu - kas als das Hauptgeschäft des auferstandenen Jesus bei seinen Zusammenkünften mit den Jüngern heraushebt, daſs er ἀρξάμενος ἀπὸ Μωσέως καὶ ἀπὸ πάντων τῶν προφητῶν, διηρμήνευεν αὐτοῖς ἐν πάσαις ταῖς γραφαῖς τὰ περὶ αὑτοῦ, daſs nämlich ταῦτα ἔδει παϑεῖν τὸν Χριςόν (24, 26 f. 44 ff.). Hatten sie auf diese Weise Schmach, Leiden und Tod in ihre Messiasidee aufgenommen: so war ihnen der schmach - voll getödtete Jesus nicht verloren, sondern geblieben, er war durch den Tod nur in seine messianische δόξα einge - gangen (Luc. 24, 26.), in welcher er unsichtbar mit ihnen war πάσας τὰς ἡμέρας, ἕως τῆς συντελείας τοῦ αἰῶνος (Matth. 28, 20.). Aus dieser Herrlichkeit aber, in welcher er lebte, wie konnte er es unterlassen, den Seinigen Kun - de von sich zu geben? und wie konnten sie, wenn ihnen der Sinn für die bisher verborgene Lehre der Schrift vom sterbenden Messias aufgieng, und in ungewohnter Begei - sterung ihre καρδία καιομένη war (Luc. 24, 32.), umhin, dieſs als Einwirkung ihres verherrlichten Christus auf sie, als ein von ihm ausgehendes διανοίγειν τὸν νοῦν (V. 45.), ja42 *660Dritter Abschnitt.als ein Reden mit ihnen aufzufassen? wie denkbar end - lich ist es, daſs diese Eindrücke bisweilen bei Einzelnen, namentlich Frauen, und bei ganzen Versammlungen bis zur wirklichen Vision sich steigerten, eine Höhe des from - men Enthusiasmus, welche auch sonst bei religiösen Ge - sellschaften, besonders gedrückten und verfolgten, vorzu - kommen pflegt. Sollte aber der gekreuzigte Messias wahr - haft in die höchste Form des seligen Lebens eingegangen sein: so durfte er seinen Leib nicht im Grabe gelassen haben, und wenn nun gerade in solchen A. T. lichen Stel - len, welche eine vorbildliche Beziehung auf das Leiden des Messias zulieſsen, zugleich die Hoffnung sich ausgespro - chen fand: ὅτι οὐκ ἐγκαταλείψεις τὴν ψυχήν μου εἰς ᾅδου, οὐδὲ δωσεις τὸν ὅσιόν σου ἰδεῖν διαφϑοράν (Ps. 16, 10. A. G. 2, 27.); wenn Jes. 53, 10. dem zur Schlachtbank Geführ - ten, Getödteten und Begrabenen nachher noch ein langes Leben verheiſsen war: was lag den Jüngern näher, als ihre frühere jüdische Vorstellung, ὅτι Χριςὸς μένει εἰς τὸν αἰῶνα (Joh. 12, 34.), die ihnen im Tode Jesu unter - gegangen war, durch Vermittlung des Gedankens einer wirklichen Wiederbelebung des Getödteten wiederherzu - stellen, und zwar, da es messianisches Attribut war, einst die Todten leiblich zu erwecken, ihn gleichfalls in Form der ἀνάςασις in das Leben zurückkehren zu lassen?

Indeſs, wenn doch der Leichnam Jesu an einem be - kannten Platze beigesezt war, und an diesem (sofern wir weder einen Diebstahl, noch eine zufällige Entfernung des - selben postuliren mögen) aufgesucht und nachgewiesen werden konnte, ist es schwer zu begreifen, wie die Jün - ger in Jerusalem selbst, und nicht volle zwei Tage nach der Beerdigung, meinen und aussagen konnten, Jesus sei auferstanden, ohne durch den Augenschein am Grabe sich selbst zu widerlegen, und von ihren Widersachern (de - nen sie freilich erst an Pfingsten etwas von der Auferste - hung ihres Messias eröffnet zu haben scheinen) widerlegt661Viertes Kapitel. §. 136.zu werden23)Vgl. Friedrich, in Eichhorn's Bibliothek, 7, S. 223.. Hier ist es nun, wo der mit Unrecht zu - rückgesezte Bericht des ersten Evangeliums lösend und be - friedigend eintritt. Auch nach diesem Evangelium erscheint zwar der Auferstandene einmal noch in Jerusalem, aber nur den Weibern, und so sehr bloſs auf eine folgende Zu - sammenkunft, und zwar auf überflüssige Weise, vorbereitend, daſs schon oben diese Erscheinung bezweifelt, und nur als ei - ne spätere Umgestaltung der Sage von der Engelserscheinung, welche Matthäus neben ihr noch aufnahm, hingestellt wur - de24)Vgl. Schmidt's Bibl. 2, S. 548.. Die Eine Haupterscheinung Jesu nach der Aufer - stehung fällt bei Matthäus nach Galiläa, wohin ein En - gel und Jesus selbst am lezten Abend seines Lebens und am Auferstehungsmorgen auf's Angelegentlichste verweisen, und wohin auch das vierte Evangelium im Nachtrag eine φανέρωσις des Wiederbelebten verlegt. Daſs sich die durch den Schrecken über die Hinrichtung ihres Messias ver - sprengten Jünger in ihre Heimath Galiläa zurückzogen, wo sie nicht, wie in der Hauptstadt Judäa's, dem Siz der Feinde ihres gekreuzigten Christus, nöthig hatten, διὰ τὸν φόβον τῶν Ἰουδαίων die Thüren zu verschlieſsen, war na - türlich; hier war der Ort, wo sie allmählig wieder freier aufathmen, und ihr darniedergeschlagener Glaube an Jesum sich wieder in den ersten Regungen erheben konnte; hier aber auch, wo kein im Grabe nachzuweisen - der Leichnam die kühnen Voraussetzungen widerlegte, konnte sich allmählig die Vorstellung von der Auferstehung Jesu bilden, und bis diese Überzeugung den Muth und die Begeisterung seiner Anhänger so weit gehoben hatte, daſs sie es wagten, in der Hauptstadt mit derselben aufzutre - ten, war es nicht mehr möglich, durch den Leichnam Je - su sich selbst zu überführen, oder von Andern überführt zu werden.

662Dritter Abschnitt.

Nach der Apostelgeschichte zwar sind die Jünger schon am nächsten Pfingstfest, sieben Wochen nach dem Tode Jesu, mit der Verkündigung seiner Auferstehung in Jeru - salem hervorgetreten, und auf die eigene Überzeugung von derselben bereits am zweiten Morgen nach seiner Grable - gung, durch Erscheinungen, die sie hatten, gekommen. Allein wie lange wird es noch anstehen, bis die Art, wie die A. G. den ersten Hervortritt der Jünger Jesu mit Verkündigung der neuen Lehre gerade auf das Fest der Verkündigung des alten Gesetzes verlegt, als eine solche erkannt wird, welche lediglich auf dogmatischem Grunde ruht, mithin historisch werthlos, uns auf keine Weise bindet, jene Zeit der stillen Vorbereitung in Galiläa so kurz zu setzen? Was aber das Andere betrifft wenn sich auch die Stimmung der Jünger erst nach Verfluſs eini - ger Zeit bis zu der Höhe erhoben hatte, welche dazu ge - hörte, daſs dieser oder jener Einzelne und ganze begei - sterte Versammlungen den erstandenen Christus sich auf visionre Weise vergegenwrtigten: so muſste man sich doch denken, daſs er, καϑότι οὐκ ἦν δυνατὸν κρατεῖσϑαι αὐτὸν ὑπὸ τοῦ ϑανάτου (A. G. 2, 24.), nur kurze Zeit im Grabe zugebracht habe. Zur näheren Bestimmung dieses Zeitraums, wenn man sich nicht damit begnügen will, daſs die solenne Dreizahl von Tagen am nächsten lag, mochte sich, mag es nun historisch sein oder nicht, daſs Jesus am Abend vor einem Sabbat begraben worden, die Vor - stellung bieten, daſs er im Grab nur eine Sabbatruhe ge - halten habe, also πρωῒ ποώτη σαββάτων auferstanden sei, was mit der runden Zahl von drei Tagen durch die be - kannte Zählung vereinigt werden konnte25)Ist etwa auch der dreitägige Aufenthalt des Jonas im Wall - fisch von Einfluss auf diese Zeitbestimmung gewesen, wel - cher freilich nur in Einem Evangelium in Beziehung mit der - selben gesezt wird? und die, übrigens im N. T. gar nicht.

663Viertes Kapitel. §. 136.

Hatte sich auf diese Weise die Vorstellung einer Auf - erstehung Jesu gebildet, so konnte diese nicht so einfach vor sich gegangen sein, sondern muſste mit allem Geprän - ge, welches die jüdische Vorstellungsweise bot, umgeben und verherrlicht werden. Der Hauptzierrath, welcher zu diesem Behuf zu Gebote stand, waren Engel: diese muſs - ten daher das Grab Jesu eröffnet, nachdem er hervorge - stiegen war, an der leeren Stätte Wache gehalten, und den Weibern, welche, gleichsam als der beweglichere Vortrab der Anhängerschaft Jesu, und weil ohne Zweifel Weiber die ersten Visionen gehabt hatten, zuerst zum Grabe gehen muſsten, von dem Vorgefallenen Nachricht gegeben haben. Da es Galiläa war, wo ihnen später Je - sus erschien, so wurde die Reise der Jünger dahin, wel - che nichts Anderes, als ihre durch Furcht beschleunigte Rückkehr in die Heimath war, von der Weisung eines Engels abgeleitet, ja Jesus selbst muſste schon vor seinem Tode, und, wie Matthäus gar zu eifrig hinzufügt, auch nach der Auferstehung noch einmal, die Jünger dahin ge - wiesen haben. Je weiter sich aber diese Erzählungen in der Überlieferung fortpflanzten, desto mehr muſste die Verschiedenheit der Lokalität der Auferstehung selbst und der Erscheinungen des Auferstandenen als unbequem ver - schwinden, und, da die Örtlichkeit des Todes und der Auferstehung feststand, die Erscheinungen allmählig in dieselbe Lokalität mit der Auferstehung, nach Jerusalem, verlegt werden, welches als der glänzendere Schauplaz und als Siz der ersten christlichen Gemeinde besonders dazu geeignet war.

25)benüzte, Stelle, Hos. 6, 2. LXX:ὑγιάσει ἡμᾶς μετὰ δύο ἡμέ - ρας· ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ ἐξαναςησόμεϑα, καὶ ζησόμεϑα ἐνώ - πιον αὐτοῦ ?

664Dritter Abschnitt.

Fünftes Kapitel. Die Himmelfahrt.

§. 137. Die lezten Anordnungen und Verheissungen Jesu.

Bei der lezten Zusammenkunft mit seinen Jüngern, welche nach Markus und Lukas mit der Himmelfahrt schloſs, lassen die drei ersten Evangelisten (der vierte hat etwas Ähnliches schon bei der ersten Zusammenkunft) Je - sum leztwillige Verordnungen und Verheissungen geben, welche sich auf die Stiftung und Verbreitung des messia - nischen Reichs auf Erden bezogen. Was die Verord - nungen betrifft, so ernennt bei Lukas, 24, 47. f. A. G. 1, 8.) Jesus scheidend seine Jünger zu Zeugen seiner Mes - sianität, und beauftragt sie, von Jerusalem an bis an die Enden der Erde in seinem Namen μετάνοιαν καὶ ἄφεσιν ἁμαρτιῶν zu verkündigen. Bei Markus (16, 15. f.) weist er sie an, in alle Welt auszugehen, und die frohe Bot - schaft des durch ihn gestifteten Messiasreichs aller Crea - tur zu bringen; wer glaube und sich taufen lasse, wer - de gerettet, wer aber nicht glaube, (im bevorstehenden messlanischen Gericht) verurtheilt werden. Bei Matthäus (28, 19. f.) werden die Jünger ebenfalls beauftragt, πάντα[τἆ]ἔϑνη zu Schülern Jesu zu machen, und dabei wird die Taufe nicht bloſs beiläufig, wie bei Markus, erwähnt, son - dern als ausdrückliche Verordnung Jesu hervorgehoben, und noch dazu als Taufe εἰς τὸ ὄνομα τοῦ πατρὸς καὶ τοῦ υΐοῦ καὶ τοῦ ἁγίου πνεύματος näher bestimmt.

Was hiebei der universellen Tendenz, welche Jesus seiner Taufe und seinem Reiche gegeben haben soll, im665Fünftes Kapitel. §. 137.Wege steht, und wie sie limitirt werden muſs, ist schon früher bemerklich gemacht worden1)Bd. 1. §. 64.. Aber auch der zulezt angegebenen näheren Bestimmung der Taufe steht das ent - gegen, daſs sie im ganzen N. T. einzig in der angeführ - ten Stelle des ersten Evangeliums anzutreffen ist, während in den apostolischen Briefen und der A. G. die Taufe nur als βαπτίζειν εἰς Χριςὸν Ἰησοῦν oder εἰς τὸ ὄνομα τοῦ Κυρίου Ἰησοῦ und auf ähnliche Weise bezeichnet wird (A. G. 2, 38. 8, 16. 10, 48. 19, 5. Röm. 6, 3. Gal. 3, 27.), und erst bei Kirchenschriftstellern, wie Justin2)Apol. I, 61., dieselbe drei - fache Beziehung auf Gott, Jesum und den Geist sich findet. Auch lautet die Formel bei Matthäus schon so ganz wie aus dem kirchlichen Ritual, daſs es nicht wenig Wahrscheinlichkeit hat, sie aus diesem in Jesu Mund übergetragen zu denken. Deſswegen aber diese Stelle als Interpolation aus dem Text zu werfen3)Wie Teller, im excurs. 2. ad Burneti I. de fide et offic. Christ. p. 262., ist man nicht berechtigt, da, wenn man Alles dasjenige in den Evange - lien, was Jesu nicht begegnet, von ihm nicht so gethan und gesprochen sein kann, für eingeschoben erklären woll - te, der Interpolationen leicht zu viele werden dürften. Insofern ist mit Recht von Anderen die Ächtheit der Tauf - formel vertheidigt worden4)Die Schrift von Beckhaus, über die Ächtheit der sog. Tauf - formel, 1794, fand allgemeine Zustimmung.; aber indem ihre Gründe für die Behauptung, dieselbe sei schon von Jesu selbst auf diese Weise vorgetragen worden, nicht ausreichen: ver - einigen sich beide Ansichten in der dritten, daſs diese - here Bestimmung der Taufe zwar dem ursprünglichen Con - text des ersten Evangeliums angehöre, ohne jedoch schon von Jesu so vorgetragen worden zu sein. Überhaupt, sei666Dritter Abschnitt.es, daſs laut des vierten Evangeliums die Jünger schon zu Lebzeiten Jesu tauften, oder daſs sie erst nach seinem Tod diesen Ritus zum Zeichen der Aufnahme in die neue mes - sianische Gesellschaft machten: jedenfalls war es ganz in der Art der Sage, die Anweisung dazu, wie zum Aus - gang in alle Welt, dem scheidenden Christus als lezte Willenserklärung in den Mund zu legen.

Die Verheissungen, welche Jesus scheidend den Sei - nigen giebt, beschränken sich bei Matthäus, wo sie aus - schlieſslich an die Eilfe gerichtet sind, einfach darauf, daſs er, dem als Messias alle Gewalt im Himmel und auf Er - den übertragen worden, auch während des gegenwärtigen αἰὼν immer unsichtbar bei ihnen sei, bis er mit der συντέ - λεια desselben in beständige sichtbare Gemeinschaft mit ih - nen treten werde: ganz der Ausdruck des Bewuſstseins, wie es sich nach Ausgleichung der Schwankungen, welche der Tod Jesu erregt hatte, in der ersten Gemeinde bil - dete. Bei Markus erscheinen die lezten Verheissungen Jesu aus der Volksmeinung genommen, wie sie zur Zeit der Abfassung dieses Evangeliums über die wunderbaren Gaben der Christen gangbar war. Von den σημείοις, wel - che den Gläubigen überhaupt hier verheiſsen sind, mag das λαλεῖν γλώσσαις καιναῖς im Sinne von 1 Kor. 14., nur nicht in dem bereits mythischen von A. G. 2.5)Vgl. Baur, in der Tübinger Zeitschrift für Theologie, Jahr gang 1830, 2, S. 75 ff., in der ersten Gemeinde wirklich vorgekommen sein, ebenso das δαιμόνια ἐκβάλλειν, und auch daſs Kranke durch den Glau - ben an die Kraft der ἐπίϑεσις χειρῶν eines Christen gena - sen, läſst sich auf natürliche Weise denken: dagegen hat das ὄφεις αἴρειν (vgl. Luc. 10, 19.) und der Genuſs tödtli - cher Getränke, ohne Schaden zu nehmen, wohl immer nur in der abergläubischen Volksmeinung eine Stelle gehabt, und am wenigsten hätte Jesus auf dergleichen Dinge als667Fünftes Kapitel. §. 137.Zeichen seiner Jüngerschaft einen Werth gelegt. Bei Lukas ist der Gegenstand der lezten Verheissung Jesu die δύουαμις ἐξ ὕψμις, welche er, gemäſs der ἐπαγγελία τοῦ πατρὸς, den Aposteln schicken, und deren Mittheilung sie in Jerusalem abwarten sollten (24, 49.), und A. G. 1, 5. ff. bestimmt Jesus diese Kraftmittheilung näher als eine Taufe mit dem πνεῦμα ἅγιον, welche nach wenigen Tagen den Jüngern zu Theil werden, und sie zur Verkündigung des Evangeliums befähigen werde. Mit diesen Stellen des Lukas, welche die Mittheilung des heiligen Geistes in die Tage nach der Himmelfahrt setzen, scheint die Nach - richt des vierten Evangeliums im Widerspruch zu stehen, daſs Jesus schon in den Tagen seiner Auferstehung, und zwar bei der ersten Erscheinung im Kreise der Eilfe, ih - nen den heiligen Geist mitgetheilt habe. Joh. 20, 22. f. lesen wir nämlich, daſs Jesus, bei verschlossenen Thüren erscheinend, die Jünger angeblasen und gesprochen habe: λάβετε πνεῦμα ἅγιον, womit er die Befugniſs, Sünden zu erlassen und zu behalten, verbunden habe.

Hätte man über die Mittheilung des πνεῦμα bloſs diese Stelle, so würde jedermann glauben, die Jünger haben es schon damals von dem persönlich gegenwärtigen Jesus, und nicht erst später nach seiner Erhebung zum Himmel, mitgetheilt bekommen. Aber in harmonistischem Interesse hat schon Theodor von Mopsvestia, wie jezt Tholuck, ge - schlossen, das λάβετε bei Johannes müsse in der Bedeu - tung von λήψεσϑε genommen werden, weil ja nach Lukas der heilige Geist den Jüngern erst später, am Pfingstfest, mitgetheilt worden sei. Allein, wie wenn er einer solchen Verdrehung vorbeugen wollte, fügt der johanneische Jesus seinen Worten die sinnbildliche Handlung des Anhauchens hinzu, welche aufs Unverkennbarste das λαμβάνειν des πνεῦμα als ein gegenwärtiges darstellt6)Lücke, Comm. z. Joh. 2, S. 686.. Die Ausleger668Dritter Abschnitt.freilich wissen auch dieses Anblasen zu eludiren, indem sie ihm den Sinn unterlegen: so gewiſs sie Jesus jezt an - hauche, so gewiſs sollen sie künftig den heiligen Geist be - kommen7)Less, Auferstehungsgeschichte, S. 281; Kuinöl, z. d. St.. Allein das Anblasen ist eben so entschie - den Symbol einer gegenwärtigen Mittheilung, als die Hand - auffegung, und wie also diejenigen, auf welche die Apostel die Hände legten, auf der Stelle vom πνεῦμα erfüllt wurden: so muſs sich dieser Stelle zufolge der Verfasser des vierten Evangeliums gedacht haben, die Apostel haben eben damals von Jesu den Geist mitgetheilt bekommen. Um nun weder gegen den klaren Sinn des Johannes leugnen zu müssen, daſs wirklich schon nach der Auferstehung eine Geistes - mittheilung an die Jünger stattgefunden, noch auch mit Lukas in Widerspruch zu kommen, welcher die Ausgies - sung des Geistes später sezt, nehmen jezt die Ausleger gewöhnlich Beides an, daſs sowohl damals als später den Aposteln πνεῦμα verliehen, die frühere Mittheilung am Pfingstfest nur vermehrt und vollendet worden sei. 8)Lücke, S. 687.Oder näher, indem schon Matth. 10, 20. von dem πνεῦμα τοῦ πατρὸς die Rede ist, welches die Apostel bei ihrer ersten Missions - reise unterstützen sollte: so wird angenommen, einige - here Kraft haben sie schon vor jener Reise, bei Lebzeiten Jesu, bekommen; hier, nach der Auferstehung, habe er ihnen diese Kraft erhöht; die ganze Fülle des Geistes aber sei erst am Pfingstfest über sie ausgegossen worden9)s. bei Michaelis, Begräbniss - und Auferstehungsgeschichte, S. 268. Olshausen, 2.. Aber was nun die Unterschiede dieser Stufen gewesen seien, und worin namentlich die dieſsmalige Vermehrung der Geistes - gaben bestanden haben solle, ist, wie schon Michaelis be - merkt hat, nicht abzusehen. War den Aposteln das er - stemal die Wunderkraft (Matth. 10, 1. 8. ) nebst der Gabe der Parrhesie vor Gericht (V. 20.) mitgetheilt worden, so669Fünftes Kapitel. §. 137.könnte es nur etwa noch die richtigere Einsicht in die Geistigkeit seines Reichs gewesen sein, was ihnen Jesus durch das Anblasen verlieh: allein diese hatten sie ja un - mittelbar vor der Himmelfahrt noch nicht, wo sie nach A. G. 1, 6. fragten, ob mit der Geistesmittheilung in den nächsten Tagen die Wiederherstellung des Reichs Israël verbunden sein werde? Nimmt man aber an, nicht neue Vermögen seien den Jüngern bei jeder folgenden Geistes - mittheilung verliehen, sondern das mit allen Vermögen schon in ihnen Vorhandene nur erhöht worden: so muſs es doch auffallen, daſs kein Evangelist neben einer früheren Mit - theilung noch einer späteren Vermehrung gedenkt, son - dern, ausser einer beiläufigen Erwähnung des apologetischen πνεῦμα bei Lukas (12, 12.), welche, weil sie hier nicht, wie bei Matthäus, mit einer Aussendung zusammenhängt, nur als Hinweisung auf die Zeit nach der späteren Aus - gieſsung des Geistes erscheinen kann, gedenkt jeder bloſs Einer solchen, und läſst diese die erste und lezte sein: zum deutlichen Beweis, daſs jene Zusammenstellung dreier derselben, als verschiedener Stufen, nur durch das har - monistische Bestreben in die Urkunden hineingetragen ist.

Drei verschiedene Ansichten also über die Mittheilung des πνεῦμα an die Jünger Jesu finden sich im N. T., wel - che in zweifacher Hinsicht einen Klimax bilden. Der Zeit nach nämlich sezt Matthäus die Mittheilung am frühsten: noch in die Periode des natürlichen Lebens Jesu; Lukas am spätesten: in die Zeit nach seinem völligen Abschied von der Erde; Johannes in eine mittlere Zeit: in die Tage der Auferstehung. Die Fassung des Faktums dieser Mit - theilung aber ist bei Matthäus die einfachste, am wenig - sten sinnliche, indem er keinen besondern und äusserlich anschaulichen Mittheilungsakt hat; Johannes hat bereits einen solchen in der Handlung des Anblasens; bei Lukas in der A. G. ist das sanfte Anhauchen zum heftigen Stur - me geworden, der das Haus bewegt, und mit welchem670Dritter Abschnitt.sich noch andere wunderbare Erscheinungen verbinden. Von diesen beiden Stufenreihen steht die eine zur histori - schen Wahrscheinlichkeit in umgekehrtem Verhältniſs als die andere. Daſs so früh, wie Matthäus berichtet, das πνεῦμα, welches, übernatürlich oder natürlich gefaſst, doch immer die begeisternde Kraft des christlich modifi - cirten Messianismus ist, den Anhängern Jesu zu Theil ge - worden sei, wird durch seine eigene weitere Darstellung widerlegt, laut welcher sie eben jene christliche Modifica - tion, das Moment des Leidens und Todes im Begriff des Messias, noch lange nach jener Aussendung Matth. 10. nicht begriffen hatten, und da jene Instruktionsrede auch sonst Bestandtheile enthält, welche erst auf spätere Zeiten und Verhältnisse passen, so kann leicht auch die fragliche Verheiſsung aus dem späteren Erfolg in jene frühe Zeit zurückgetragen sein. Erst nach dem Tod und der Auf - erstehung Jesu läſst sich die Entwicklung dessen, was das N. T. das πνεῦμα ἅγιον nennt, in den Jüngern denken, und insofern steht die johanneische Darstellung der Wahr - heit näher, als die des Matthäus; doch, da gewiſs nicht schon zwei Tage nach dem Kreuzestode Jesu der im vori - gen §. beschriebene Umschwung in der Stimmung seiner Anhänger erfolgt war, so trifft auch der Bericht des Jo - hannes die Wahrheit nicht so nahe, wie der des Lukas, welcher doch wenigstens 50 Tage zur Ausbildung der neuen Ansichten in den Jüngern Frist giebt. Umgekehrt stellen sich die Erzählungen zur geschichtlichen Wahrheit durch den andern Klimax. Denn je sinnlicher uns die Mittheilung einer geistigen Kraft, je mirakulöser die Aus - bildung einer Stimmung, welche auf natürliche Weise ent - stehen konnte, je momentaner endlich die Entstehung ei - ner Tüchtigkeit, welche nur allmählig sich ausgebildet haben kann, dargestellt ist: desto weiter liegt eine solche Darstellung von der Wahrheit ab, und in dieser Hinsicht stünde ihr also Matthäus am nächsten, Lukas am entfern -671Fünftes Kapitel. §. 137.testen. Erkennen wir somit in der Darstellung des lezteren die am weitesten fortgeschrittene Tradition, so kann es Wun - der nehmen, wie hienach die Überlieferung in entgegenge - sezter Weise gewirkt haben müſste: in Bezug auf die Be - stimmung der Art und Form jener Mittheilung von der Wahrheit entfernend, in Betreff der Zeitbestimmung aber dem Richtigen annähernd. Doch dieſs erklärt sich, sobald man bemerkt, daſs auch zu den Änderungen in der Zeit - bestimmung die Tradition nicht durch kritisches Forschen nach Wahrheit, welches freilich an ihr befremden müſste, sondern durch dieselbe Tendenz, jene Mittheilung als ein - zelnen Wunderakt hinzustellen, verleitet wurde, wie zu der andern Abänderung. Sollte nämlich Jesus durch ei - nen besondern Akt seinen Jüngern das πνεῦμα verliehen haben: so muſste es angemessen erscheinen, diesen Akt in den Stand seiner Verherrlichung, d. h. also entweder mit Jo - hannes in die Zeit nach der Auferstehung, oder noch bes - ser mit Lukas auch noch nach der Himmelfahrt zu ver - setzen, wie ja das vierte Evangelium ausdrücklich bemerkt, zu Jesu Lebzeiten habe es noch kein πνεῦμα ἅγιον gege - ben, ὅτι Ἰησοῦς ἐδέπω ἐδοξάσϑη (7, 39).

Diese Fassung der Ansicht des vierten Evangeliums über die Mittheilung des Geistes an die Jünger bewährt sich als die richtige noch dadurch, daſs sie auf eine frü - her unentschieden gelassene Dunkelheit in diesem Evange - lium ein unerwartetes Licht zurückwirft. In den Abschieds - reden Jesu nämlich konnte der Streit nicht geschlichtet werden, ob das, was Jesus dort von seiner Wiederkunft sagt, auf die Tage seiner Auferstehung, oder auf die Aus - gieſsung des Geistes zu beziehen sei, weil für das Erstere die Beschreibung jener Wiederkunft als eines Wiederse - hens, für das Leztere die Bemerkung, daſs sie in jener Zeit ihn nichts mehr fragen, ihn ganz verstehen würden, gleich entscheidend zu sprechen schien: ein Zwiespalt, der aufs Erwünschteste geschlichtet ist, wenn nach der Ansicht des672Dritter Abschnitt.Referenten die Geistesmittheilung in die Tage der Aufer - stehung fiel. Zunächst zwar sollte man freilich denken, diese Mittheilung, zumal mit derselben bei Johannes die förmliche Ernennung der Jünger zu seinen Abgesandten und die Ertheilung der Vollmacht zur Vergebung und Be - haltung der Sünden verbunden ist (vgl. Matth. 18, 18.), möge sich eher an den Schluſs, als für den Anfang der Erscheinungen des Auferstandenen, und in eine Plenar - versammlung der Apostel eher, als in eine, wo Thomas fehlte, geeignet haben; allein deſswegen mit Olshausen anzunehmen, der Evangelist hänge nur der Kürze wegen die Geistesmittheilung gleich der ersten Erscheinung an, während sie eigentlich in eine spätere Zusammenkunft ge - höre, bleibt immer eine unerlaubte Willkühr, statt deren man vielmehr anerkennen muſs, daſs der Verfasser des vierten Evangeliums diese erste Erscheinung Jesu als die Haupterscheinung, die nach acht Tagen nur als eine Nachholung zu Gunsten des Thomas angesehen hat. Die Erscheinung Kap. 21. ist ohnehin ein Nachtrag, der dem Verfasser, als er das Evangelium schrieb, entweder noch nicht bekannt, oder doch nicht gegenwärtig war.

§. 138. Die sogenannte Himmelfahrt als übernatürliches und als na - türliches Ereigniss.

Über die Himmelfahrt Jesu haben wir im N. T. drei Berichte, welche in Hinsicht der Ausführlichkeit und An - schaulichkeit eine Stufenreihe bilden. Markus, in seinem lezten Abschnitt überhaupt sehr kurz und abgebrochen, sagt nur, nachdem Jesus zum leztenmal mit seinen Jün - gern gesprochen hatte, sei er in den Himmel aufgehoben worden (ἀνελήφϑη) und habe sich zur Rechten Gottes ge - sezt (16, 19.). Kaum anschaulicher heiſst es im Lukas - evangelium: Jesus habe seine Jünger ἐξω ἕως εἰς Βηϑανίαν hinausgeführt, und während er hier mit aufgehobenen673Fünftes Kapitel. §. 138.Händen ihnen den Segen ertheilte, habe er sich von ihnen entfernt (διέςη), und sei zum Himmel erhoben worden (ἀνε - φέρετο), worauf die Jünger anbetend niedergefallen, und sofort mit Freuden nach Jerusalem umgekehrt seien (24, 50 ff.). Im Eingang der Apostelgeschichte führt dieſs Lu - kas weiter aus. Auf dem Ölberg, wo Jesus seinen Jün - gern die lezten Befehle und Verheiſsungen gab, wurde er vor ihren Augen aufgehoben (ἐπήρϑη), und eine Wolke nahm ihn auf, die ihn ihren Blicken entzog. Die Jünger schauten ihm nach, wie er auf der Wolke in den Himmel hinein sich entfernte: da standen plözlich zwei Männer in weiſsen Gewändern bei ihnen, und brachten sie von ihrem Nachsehen durch die Versicherung ab, daſs der ihnen entnommene Jesus auf dieselbe Weise, wie er so eben in den Himmel sich erhoben, wieder vom Himmel kommen werde; worauf sie befriedigt nach Jerusalem umkehrten (1, 1 12.).

Der erste Eindruck dieser Erzählung ist offenbar, daſs sie einen wunderbaren Vorgang, eine wirkliche Er - hebung Jesu in den Himmel, als den Wohnsiz Gottes, und eine Bestätigung desselben durch Engel berichten wolle, wie ältere und neuere Orthodoxe mit Recht behaupten. Es fragt sich nur, ob sie uns auch über die Schwierig - keiten hinüberhelfen können, welche es hat, einen solchen Vorgang sich denkbar zu machen. Die eine Hauptschwie - rigkeit ist, wie ein tastbarer Leib, welcher noch σάρκα καὶ ὀςέα hat, und materielle Nahrung genieſst, für einen über - irdischen Aufenthalt tauge, wie er sich auch nur dem Ge - sez der Schwere so weit zu entziehen vermöge, um eines Aufsteigens durch die Lüfte fähig zu sein? und wie Gott eine so widernatürliche Fähigkeit dem Leib Jesu durch ein Wunder habe geben mögen1)Gabler, im neuesten theol. Journal 3, S. 417, und in der Vorrede zu Griesbach's opusc. acad. p. XCVI. Vgl. Kuinöl, in Marc. p. 222.? Das Einzige, was manDas Leben Jesu II. Band. 43674Dritter Abschnitt.hier etwa noch sagen kann, ist, die gröberen Theile, wel - che der Leib Jesu auch nach der Auferstehung noch hat - te, seien vor der Himmelfahrt noch entfernt worden, und nur das feinste Extrakt seiner Körperlichkeit als Hülle der Seele mit gen Himmel gefahren2)Seiler, bei Kuinöl, a. a. O., S. 223.. Allein da die Jün - ger, welche bei der Himmelfahrt Jesu zugegen waren, nichts davon bemerkten, daſs von seinem Leib ein Resi - duum zurückgeblieben wäre: so führt dieſs entweder auf die oben erwähnte Absurdität einer Verdunstung des Leibs Jesu in Form der Wolke, oder auf den Olshausen'schen Läuterungsproceſs, welcher auch nach der Auferstehung noch nicht, sondern erst im Augenblick der Himmelfahrt vollendet gewesen sei; ein Proceſs, welcher nur wunder - lich schnell in dieser lezten Zeit mit retrograden Bewe - gungen gewechselt haben müſste, wenn doch Jesus bei'm Eindringen in das verschlossene Versammlungszimmer der Jünger einen immateriellen, unmittelbar hierauf, als Tho - mas ihn befühlte, einen materiellen, endlich bei der Him - melfahrt wieder einen immateriellen Leib gehabt haben sollte. Die andere Schwierigkeit liegt darin, daſs nach richtiger Weltvorstellung der Siz Gottes und der Seligen, zu welchem Jesus sich erhoben haben soll, keineswegs im oberen Luftraum, überhaupt an keinem bestimmten Orte zu suchen ist, sondern dieſs gehört nur zur kindlich be - schränkten Vorstellungsweise der alten Welt. Wer zu Gott und in den Bezirk der Seligen kommen will, der, das wissen wir, macht einen überflüssigen Umweg, wenn er zu diesem Behuf in die höheren Luftschichten sich empor - schwingen zu müssen meint, und diesen wird Jesus, je vertrauter er mit Gott und göttlichen Dingen war, gewiſs nicht gemacht haben, noch Gott ihn denselben haben ma - chen lassen3)Vgl. Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 921. de Wette, Religion und Theologie, S. 161.. Man müſste also nur etwa eine göttliche675Fünftes Kapitel. §. 138.Accommodation an die damalige Weltvorstellung annehmen, und sagen, um die Jünger von dem Zurückgang Jesu in die höhere Welt zu überzeugen, habe Gott, obgleich diese Welt der Wirklichkeit nach keineswegs im oberen Luft - raum zu suchen sei, doch das Spectakel einer solchen Er - hebung veranstaltet: was aber Gott zum täuschenden Schau - spieler machen heiſst.

Als einen Versuch, solchen Schwierigkeiten und Un - gereimtheiten uns zu entheben, müssen wir die natürliche Erklärung dieses Faktums willkommen heiſsen4)Wie sie namentlich Paulus giebt, a. a. O. S. 910 ff. L. J. 1, b, S. 318 ff.. Sie un - terscheidet in den evangelischen Erzählungen von der Him - melfahrt das Angeschaute von dem durch Raisonnement Erschlossenen. Freilich, indem es in der A. G. heiſst: βλεπόντων αὐτῶν ἐπήρϑη: so scheint hier eben die Erhe - bung in den Himmel als angeschautes Faktum dargestellt zu werden. Hier soll nun aber ἐπήρϑη nicht eine Erhe - bung über den Boden, sondern nur dieſs bedeuten, daſs Jesus, um die Jünger zu segnen, sich hoch aufgerichtet habe, und ihnen dadurch erhabener erschienen sei. So - fort wird aus dem Schluſs des Lukasevangeliums das διέςη herübergeholt, in der Bedeutung, daſs Jesus, indem er sich von seinen Jüngern verabschiedete, sich entfernter von ih - nen gestellt habe. Hierauf sei in ähnlicher Weise, wie auf dem Verklärungsberg, ein Gewölk zwischen Jesum und die Jünger getreten, und habe ihn, in Verbindung mit den zahlreichen Olbäumen des Bergs, ihren Blicken entzogen, was sie dann auf die Versicherung zweier unbekannten Männer hin für eine Aufnahme Jesu in den Himmel gehal - ten haben. Allein, wenn Lukas in der A. G. das ἐπήρϑη unmittelbar mit der Angabe verbindet: καὶ νεφέλη ὑπέλα - βεν αὐτὸν: so soll doch wohl jene Erhebung die Einleitung zu dem Aufgenommenwerden durch die Wolke sein, was43 *676Dritter Abschnitt.sie nicht ist, wenn sie nur ein Sichaufrichten, sondern nur, wenn sie eine Erhebung über den Boden war, da nur in diesem Falle eine Wolke sich ihm tragend und ver - hüllend unterschieben konnte, was in ὑπέλαβεν enthalten ist. Ebenso, wenn im Lukasevangelium das διέςη ἀπ̕ αὐ - τῶν als etwas ἐν τῷ εὐλογεῖν αὐτὸν αὐτοὺς Vorgegangenes dargestellt wird, so wird doch Niemand, während er ei - nem Andern den Segen ertheilt, von ihm weggehen: wo - gegen es sehr passend erscheint, daſs Jesus während der Ertheilung des Segens an die Jünger in die Höhe gehoben wurde, und so noch von oben herab die segnenden Hände über sie breitete. Die natürliche Erklärung des Verschwin - dens in der Wolke fällt hiemit von selbst hinweg; in der Voraussetzung aber, daſs die zwei Weiſsgekleideten natür - liche Menschen gewesen seien, tritt schlieſslich noch ein - mal besonders stark die Bahrdtisch-Venturinische, von Pau - lus nur verdeckte, Ansicht hervor, daſs mehrere Haupt - epochen im Leben Jesu, besonders seit seiner Kreuzigung, durch geheime Verbündete bewirkt gewesen seien. Und Jesus selbst, wie soll es ihm denn dieser Vorstellung ge - mäſs nach jener lezten Entfernung von seinen Jüngern weiter ergangen sein? Wollen wir mit Bahrdt eine Es - senerloge träumen, in welche er sich nach vollbrachtem Werk zurückgezogen habe? und mit Brennecke dafür, daſs Jesus noch längere Zeit im Stillen zum Besten der Menschheit fortgewirkt habe, auf seine Erscheinung zum Behuf der Bekehrung des Paulus uns berufen, welche doch, die Erzählung der A. G. geschichtlich genommen, mit Umständen und Wirkungen verbunden war, die kein natürlicher Mensch, wenn auch Mitglied eines geheimen Ordens, hervorbringen konnte. Oder will man mit Pau - lus annehmen, bald nach dieser lezten Zusammenkunft sei der angegriffene Leib Jesu den erhaltenen Verletzungen erlegen: so kann dieſs doch nicht wohl in den nächsten Augenblicken, nachdem er so eben noch rüstig mit seinen677Fünftes Kapitel. §. 139.Jüngern zusammen gewesen war, geschehen sein, so daſs die zwei hinzutretenden Männer Zeugen seines Verschei - dens gewesen wären, welche übrigens auch in diesem Fall gar nicht der Wahrheit gemäſs gesprochen hätten; lebte er aber noch längere Zeit, so müſste er die Absicht gehabt haben, von jenem Zeitpunkt an bis zu seinem Ende in der Verborgenheit einer geheimen Gesellschaft zu leben, der dann wohl auch die zwei Weiſsgekleideten angehör - ten, welche den Jüngern, ohne Zweifel mit seinem Vor - wissen, seine Erhebung zum Himmel einredeten, eine Vorstellung, von welcher sich auch hier, wie immer, der gesunde Sinn mit Widerwillen abwendet.

§. 139. Das Ungenügende der Nachrichten über Jesu Himmelfahrt. Deren mythische Auffassung.

Am wenigsten unter allen N. T. lichen Wunderge - schichten war bei der Himmelfahrt ein solcher Aufwand un - natürlichen Scharfsinns nöthig, da die historische Geltung dieser Erzählung so besonders schwach verbürgt ist. Mat - thäus und Johannes, der gewöhnlichen Vorstellung nach die beiden Augenzeugen unter den Evangelisten, erwähnen ihrer nicht; nur Markus und Lukas berichten dieselbe; während auch in den übrigen N. T. lichen Schriften be - stimmte Hinweisungen auf sie fehlen. Doch eben dieses Fehlen der Himmelfahrt im übrigen N. T. leugnen die or - thodoxen Ausleger. Wenn Jesus Lei Matthäus (26, 64.) vor Gericht versichere, von jezt an werde man des Men - schen Sohn zur Rechten der Kraft Gottes sitzen sehen: so sei hiebei doch wohl auch eine Erhebung dahin, mithin eine Himmelfahrt, vorausgesezt; wenn er bei Johannes (3, 13.) sage, keiner sei in den Himmel gestiegen, ausser dem vom Himmel gekommenen Menschensohn, und ein ander - mal (6, 62.) die Jünger darauf verweise, daſs sie ihn einst dahin würden aufsteigen sehen, wo er vorher gewesen sei;678Dritter Abschnitt.ferner, wenn er am Morgen nach der Auferstehung erklä - re, noch nicht zu seinem Vater aufgestiegen zu sein, aber demnächst sich dahin zu erheben (20, 17.): so könne es deutlichere Hinweisungen auf die Himmelfahrt nicht wohl geben; ebenso, wenn die Apostel in den Akten so oft von Erhöhung Jesu zur Rechten Gottes sprechen (2, 33. 5, 31. vgl. 7, 56.), und Paulus ihn als ἀναβὰς ὑπεράνω πάντων τῶν οὐρανῶν (Eph. 4, 10.), Petrus als πορευϑεὶς εἰς οὐρανὸν darstelle (1 Petr. 3, 22.): so könne kein Zweifel sein, daſs sie nicht alle von seiner Himmelfahrt gewuſst ha - ben5)Seiler, bei Kuinöl, a. a. O., S. 221. Olshausen, S. 591 f. Vgl. Griesrach, locorum N. T. ad ascensionem Christi in coelum spectantium sylloge. In s. opusc. acad. ed. Gabler, Vol. 2, S. 484 ff.. Alle diese Stellen jedoch, mit Ausnahme etwa der einzigen Joh. 6, 62., welche von einem ϑεωρεῖν ἀναβαί - νοντα τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώπου spricht, enthalten nur überhaupt eine Erhebung in den Himmel, ohne Andeutung, daſs sie ein äusseres, sichtbares, und zwar von den Jüngern mitan - geschautes Faktum gewesen. Vielmehr, wenn wir 1 Kor. 15, 5 ff. finden, wie Paulus die ihm zu Theil gewordene Erscheinung Jesu, welche lange nach der voraussezlichen Himmelfahrt stattfand, mit den Christophanieen vor dieser Epoche so ohne alle Unterbrechung oder Andeutung ir - gend eines Unterschieds zusammenstellt: so muſs man zweifeln, nicht bloſs, ob alle Erscheinungen, die er ausser der seinigen aufzählt, vor die Himmelfahrt fallen6)Schneckenburger, über den Urspr. u. s. f. S. 19., son - dern, ob der Apostel überhaupt von einer Himmelfahrt als äusserem, den irdischen Wandel des Auferstandenen beschlieſsenden Faktum etwas gewuſst haben könne? In Bezug auf den Verfasser des vierten Evangeliums aber zwingt uns bei seiner Bildersprache das ϑεωρῆτε schwer - lich, ihm ein Wissen um die sichtbare Himmelfahrt Jesu679Fünftes Kapitel. §. 139.zuzuschreiben, da er von einer solchen am Schlusse seines Evangeliums nichts erzählt.

Die Ausleger freilich haben sich alle ersinnliche - he gegeben, das Fehlen einer Erzählung von der Himmel - fahrt im ersten und vierten Evangelium auf eine, der Au - ctorität dieser Schriften, wie der historischen Geltung jenes Faktums, unschädliche Weise zu erklären. Die Himmel - fahrt Jesu zu erzählen, soll den Evangelisten, welche sie verschweigen, theils als unnöthig, theils als unmöglich er - schienen sein. Als unnöthig entweder an und für sich, we - gen der minderen Wichtigkeit des Ereignisses7)Olshausen, S. 593 f., oder mit Rücksicht auf die evangelische Überlieferung, durch wel - che sie allgemein bekannt war8)Selbst Fritzsche, ermattet am Schlusse seines Geschäfts, schreibt in Matth. p. 835: Matthacus Jesu in coelum abitum non commemoravit, quippe nemini ignotum.; Johannes insbesondre soll sie aus Markus und Lukas voraussetzen9)Michaelis, a. a. O. S. 352.; oder end - lich sollen sie dieselbe, als nicht mehr zum irdischen Le - ben Jesu gehörig, in ihren Schriften, die nur der Beschrei - bung dieses Lebens gewidmet waren, übergangen haben10)Die Abhandlung: Warum haben nicht alle Evangelisten die Himme fahrt Jesu ausdrücklich miterzählt? in Flatt's Maga - zin, 8, S. 67.. Allein zum Leben Jesu, und zwar namentlich zu dem räth - selhaften, wie er es nach der Rückkehr aus dem Grabe geführt haben soll, gehörte die Himmelfahrt so nothwen - dig als Schluſspunkt, daſs dieselbe, gleichviel, ob allgemein bekannt oder nicht, ob wichtig oder unwichtig, schon um des ästhetischen Interesses willen, das auch der ungebildete Schriftsteller hat, seiner Erzählung einen Schluſs zu ge - ben, von jedem Evangelienschreiber, der von derselben wuſste, am Ende seines Berichts, wenn auch noch so sum - marisch, erwähnt werden muſste, um den sonderbaren Ein -680Dritter Abschnitt.druck zu vermeiden, welchen das erste, und noch mehr das vierte Evangelium, als in's Unbestimmte auslaufende Erzählungen, machen. Daher sollen nun der erste und der vierte Evangelist einen Bericht über die Himmelfahrt Jesu auch gar nicht für möglich gehalten haben, indem die Augenzeugen, so lange sie ihm auch nachsahen, doch nur sein Emporschweben auf der Wolke, nicht aber sei - nen Eingang in den Himmel und sein Plaznehmen zur Rechten Gottes haben mit ansehen können11)Die zulezt angeführte Abh. des Flatt'schen Magazins.. Allein in der Vorstellungsweise der alten Welt, welcher der Him - mel näher war als uns, galt ein Auffahren in die Wolken schon für eine wirkliche Himmelfahrt, wie wir an Romu - lus und Elias sehen.

Das hienach unleugbare Nichtwissen der genannten Evangelien um die Himmelfahrt nun aber mit der neueren Kritik des ersten Evangeliums diesem als Zeichen nicht apostolischen Ursprungs zum Vorwurf zu machen12)Schneckenburger, a. a. O. S. 19 f., ist hier um so weniger am Ort, da das fragliche Ereigniſs nicht bloſs durch das Stillschweigen zweier Evangelisten, sondern auch durch die Nichtübereinstimmung derer, die es berichten, verdächtig wird. Markus stimmt nicht mit Lukas, ja dieser nicht mit sich selbst überein. Nach dem Bericht des ersteren hat es den Anschein, als hätte Je - sus unmittelbar von dem Mahle, bei welchem er den Eil - fen erschien, also von einem Hause in Jerusalem aus, sich in den Himmel erhoben; denn das ἀνακειμένοις ἐφανε - ρώϑη· καὶ ὠνείδισε καὶ εἶπεν . μὲν οὖν Κύριος, μετὰ τὸ λαλῆσαι αὐτοῖς, ἀνελήφϑη κ. τ. λ. hängt unmittelbar zusammen, und es läſst sich hier nur mit Gewalt eine Ortsveränderung und Zwischenzeit einschieben13)Wie z. B. Kuinöl thut, p. 208 f. 217.. Frei - lich ist eine Himmelfahrt vom Zimmer aus nicht gut sich681Fünftes Kapitel. §. 139.vorzustellen, daher läſst sie Lukas im Freien vor sich ge - hen. Die Differenz in der Ortsangabe, daſs er im Evan - gelium Jesum mit den Jüngern ἕως εἰς Βηϑανίαν hinausge - hen läſst, in den Akten aber die Scene auf das ὄρος τὸ καλου̍μενον ἐλαιῶνα verlegt, kann dem Lukas nicht als Wi - derspruch angerechnet werden, da Bethanien am Ölberg lag; wohl aber die bedeutende Abweichung in der Zeit - angabe, daſs in seinem Evangelium, wie bei Markus, es den Anschein hat, als wäre die Himmelfahrt noch am nämlichen Tag mit der Auferstehung erfolgt: wogegen in der A. G. ausdrücklich bemerkt ist, daſs beide Erfolge durch eine Frist von 40 Tagen getrennt gewesen. Es ist schon angemerkt worden, daſs die leztere Zeitbestimmung dem Lukas in der Zwischenzeit zwischen der Abfassung des Evangeliums und der A. G. zugekommen sein muſs. Von je mehreren Erscheinungen des Auferstandenen man sich erzählte, und an je verschiedenere Orte man sie ver - legte, desto weniger reichte fernerhin die kurze Frist ei - nes Tags für den irdischen Wandel des Auferstandenen zu; daſs aber die nothwendig gewordene längere Zeit ge - rade auf 40 Tage festgesezt wurde, hatte in der Rolle sei - nen Grund, welche bekanntlich diese Zahl in der jüdi - schen und bereits auch in der christlichen Sage spielte. Wie das Volk Israël 40 Jahre in der Wüste, Moses 40 Tage auf dem Sinai gewesen war, er und Elias 40 Tage gefastet, und Jesus selbst vor der Versuchung so lange in der Wüste ohne Nahrung sich aufgehalten hatte, wie alle diese geheimniſsvollen Mittelzustände und Durchgangs - perioden durch die Zahl 40 bestimmt waren: so bot sie sich ganz besonders auch zur Bestimmung der mysteriösen Zwischenzeit zwischen Jesu Auferstehung und Himmelfahrt dar14)Die Rücksicht auf eine Danielische Rechnung bei Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 923. scheint mir zu künstlich..

682Dritter Abschnitt.

Was die Schilderung des Vorgangs selber betrifft, so könnte man das Schweigen des Markus und Lukas im Evangelium von Wolke und Engeln lediglich der Kürze ih - rer Erzählungen zuschreiben wollen; doch da Lukas am Schlusse seines Evangeliums das Verhalten der Jünger, wie sie dem in den Himmel entrückten Jesus fuſsfällige Vereh - rung gebracht und mit groſser Freude sich nach der Stadt zurückbegeben haben, umständlich genug erzählt: so wür - de er ohne Zweifel die ihnen durch Engel zu Theil ge - wordne Kunde als nächsten Grund ihrer Freude bemerk - lich gemacht haben, wenn er schon bei Abfassung seiner ersten Schrift etwas von derselben gewuſst hätte, welche sich hiernach vielmehr allmählig in der Überlieferung aus - gebildet zu haben scheint, um auch diesem lezten Punkt des Lebens Jesu seine Ehre anzuthun, und das unzuläng - liche menschliche Zeugniſs über seine Erhebung in den Himmel durch zweier himmlischen Zeugen Mund bekräf - tigt werden zu lassen. Endlich auch in der Angabe über die Rückkehr der Jünger und was sie nach derselben vor - genommen, findet eine Discrepanz der Berichte statt. Un - gerechnet nämlich, daſs man nach dem Schlusse des Mar - kus: ἐκεῖνοι δὲ ἐξελϑόντες ἐκήρυξαν κ. τ. λ., glauben könnte, die Jünger seien unmittelbar von dem Schauspiel der Himmelfahrt zur Verkündigung in alle Welt ausgegangen, was doch vielleicht nur ein Schein ist, der aus der Kürze und Abgebrochenheit des Schlusses am zweiten Evange - lium entsteht: bestimmt Lukas den Aufenthalt der Jünger von der Himmelfahrt bis zum Pfingstfest in seinen beiden Schriften auf verschiedene Weise. Nach dem Schluſs des Evangeliums nämlich waren die zurückgekehrten Jünger διαπαντὸς ἐν τῷ ἱερῷ, αἰνοῦντες καὶ εὐλογοῦντες τὸν ϑεὸν: nach dem Eingang der A. G. dagegen ἀνέβησαν εἰς ὑπε - ρῷονοὖἦσαν καταμένοντες. Diese Abweichung könnte man durch die Bemerkung ausgleichen wollen, daſs ja der Aufenthalt im Tempel den im oberen Stockwerk eines683Fünftes Kapitel. §. 139.Hauses nicht ausschlieſse: aber, die meiste Zeit im Tem - pel sein (dieſs sagt doch wohl das διαπαντὸς), und, ge - wöhnlich im oberen Stockwerk sich aufhalten (καταμένον - τες) schlieſst einander aus. Man kann in dieser Differenz ein Fortschreiten der christlichen Selbstständigkeit erbli - cken. Zunächst fand man kein Arges darin, die Jünger nach der Rückkehr von Jesu Himmelfahrt im alten Natio - nalheiligthum ihre andächtigen Zusammenkünfte halten zu lassen; bald aber erschien dieſs zu jüdisch, und sie muſs - ten zu dem Ende ein eigenes ὑπερῷον beziehen: von dem jüdischen Tempel trennte sich der christliche Versamm - lungssaal.

Wie hienach diejenigen, welche von einer Himmel - fahrt Jesu wuſsten, diese in Bezug auf die näheren Um - stände sich keineswegs auf dieselbe Weise vorstellten: so muſs es überhaupt vom lezten Schluſs des Lebens Jesu zweierlei Vorstellungsweisen gegeben haben, indem die Einen diesen Schluſs als eine sichtbare Himmelfahrt dachten, die Andern nicht15)Hierüber vgl. besonders Ammon, Ascensus J. C. in coelum historia biblica. In s. opusc. nov. p. 43 ff. ; auch Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 83 ff.. Wenn Matthäus Jesum vor Gericht seine Erhebung zur Rechten der göttlichen Kraft vorher - sagen (26, 64.), und nach seiner Auferstehung ihn versi - chern läſst, daſs ihm nun πᾶσα ἐξουσία ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ γῆς ge - geben sei (28, 18.), dennoch aber von einer sichtbaren Him - melfahrt nichts hat, vielmehr Jesu die Versicherung in den Mund legt: ἐγὼ μεϑ̕ ὑμῶν εἰμι πάσας τὰς ἡμέρας ἕως τῆς συντελείας τοῦ αἰῶνος (V. 20.): so liegt hier offenbar die Vorstellung zu Grunde, daſs Jesus, ohne Zweifel schon bei der Auferstehung, unsichtbar zum Vater aufge - stiegen, zugleich unsichtbar immer um die Seinigen sei, und aus dieser Verborgenheit heraus sich, so oft er es nöthig finde, in Christophanien offenbare; auch der Verfas -684Dritter Abschnitt.ser des vierten Evangeliums und die übrigen N. T. lichen Schriftsteller setzen nur das voraus, was nach dem messia - nischen κάϑου ἐκ δεξιῶν μου, Ps. 110, 1. vorausgesezt wer - den muſste, daſs Jesus sich zur Rechten Gottes erhoben habe, ohne über das Wie etwas zu bestimmen, oder sich die Auffahrt dahin als eine sichtbare vorzustellen. Doch muſste es der urchristlichen Phantasie sehr nahe liegen, diese Erhebung auch zum glänzenden Schauspiele auszu - malen. Lieſs man den Messias Jesus an einem so erhabe - nen Ziele angekommen sein: so wollte man ihm auch auf dem Wege dahin gleichsam nachsehen. Erwartete man seine einstige Wiederkunft vom Himmel nach Daniel als sichtba - res Herabkommen in den Wolken: so ergab es sich von selbst, seinen Hingang zum Himmel als sichtbares Aufstei - gen auf einer Wolke vorzustellen, und wenn Lukas die beiden Weiſsgekleideten, welche nach der Wegnahme Jesu zu den Jüngern traten, sagen läſst: οὖτος Ἰησοῦς, ἀνα - ληφϑεὶς ἀφ̕ ὑμῶν εἰς τὸν οὐρανὸν, ου͑̍τως ἐλεύσεται, ὃν τρόπον ἐϑεάσασϑε αὐτὸν πορευόμενον εἰς τὸν οὐρανόν (A. G. 1, 11.): so darf man dieſs nur umkehren, um die Genesis der Vor - stellung von der Himmelfahrt Jesu zu haben, indem nämlich geschlossen wurde: wie Jesus dereinst vom Himmel wie - derkommen wird: so wird er wohl auch dahin gegangen sein16)So auch Hase, L. J. §. 150..

Neben diesem Hauptmoment treten die A. T. lichen Vorgänge, welche die Himmelfahrt Jesu an der Hinweg - nahme des Henoch (1. Mos. 5, 24. vgl. Sir. 44, 16. 49, 16. Hebr. 11, 5.) und besonders an der Himmelfahrt des Elia (2. Kön. 2, 11. vgl. Sir. 48, 9. 1. Macc. 2, 58.) hat, sammt den griechischen und römischen Apotheosen eines Herakles und Romulus, in den Hintergrund zurück. Ob von den lezteren die Verfasser des zweiten und dritten Evangeliums Kunde hatten, steht dahin; die Notiz von685Fünftes Kapitel. §. 139.Henoch ist zu unbestimmt; bei Elia aber eignete sich der Flammenwagen mit den Feuerrossen für den milderen Geist Christi nicht, statt dessen die Wolke aus der späteren Darstellung der Wegnahme des Moses genommen zu sein scheinen könnte, wenn diese nur sonst nicht zu verschie - den wäre17)Joseph. Antiq. 4, 8, 48. heisst es von Moses: νέφους αἰφνίδιον ὑπὲρ αὐτοῦ ςάντος ἀφανίζεται κατά τινος φάραγγος, er habe aber absichtlich geschrieben, er sei gestorben, damit man nicht seiner Trefflichkeit wegen behaupten möchte, er habe sich πρὸς τὸ ϑεῖον begeben. Philo aber, de Vita Mosis, Opp. ed. Mangey, Vol. 2, p. 179, lässt bloss die Seele des Moses sich in den Himmel erheben.. Nur Ein Zug in der Erzählung der A. G. erklärt sich vielleicht aus der Geschichte des Elias. Als nämlich dieser vor seiner Hinwegnahme von seinem Die - ner Elisa gebeten wurde, ihm sein πνεῦμα in verdoppel - tem Maaſse zurückzulassen: knüpfte der Prophet die Ge - währung dieses Wunsches an die Bedingung: ἐὰν ἴδῃς με ἀναλαμβανόμενον ἀπό σου, καὶ ἔςαι σοιου͑̍τως· καὶ ἐὰν μὴ, οὐ μὴ γένηται (V. 9. f. LXX. ), woraus erhellen könnte, warum Lukas (A. G. 1, 9.) auf das βλεπόντων αὐτῶν ἐπήρϑη Ge - wicht legt, weil nämlich gemäſs dem Vorgang mit Elia dieſs erfordert zu werden schien, wenn die Schüler den Geist des Meisters bekommen sollten.

686

Schlussabhandlung. Die dogmatische Bedeutung des Lebens Jesu.

§. 140. Nothwendiger Übergang der Kritik in das Dogma.

Durch die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung ist nun, wie es scheint, Alles, was der Christ von seinem Je - sus glaubt, vernichtet, alle Ermunterungen, die er aus die - sem Glauben schöpft, sind ihm entzogen, alle Tröstungen geraubt. Der unendliche Schaz von Wahrheit und Leben, an welchem seit achtzehn Jahrhunderten die Menschheit sich groſsgenährt, scheint hiemit verwüstet, das Erhaben - ste in den Staub gestürzt, Gott seine Gnade, dem Men - schen seine Würde genommen, das Band zwischen Him - mel und Erde zerrissen zu sein1)Theologen, welche etwa ähnliche Wendungen gegen mich in Bereitschaft haben, sehen hier, dass ich das selber weiss, und nicht erst durch sie daran erinnert zu werden brauche.. Mit Abscheu wendet sich von so ungeheurem Frevel die Frömmigkeit ab, und aus der unendlichen Selbstgewiſsheit ihres Glaubens heraus thut sie den Machtspruch: eine freche Kritik möge versu - chen, was sie wolle, dennoch bleibe Alles, was von Chri - sto die Schrift aussage und die Kirche glaube, ewig wahr, und dürfe kein Jota davon fallen gelassen werden. So er - giebt sich am Schlusse der Kritik von Jesu Lebensgeschichte die Aufgabe, das kritisch Vernichtete dogmatisch wieder - herzustellen.

687Schluſsabhandlung. §. 140.

Diese Aufgabe scheint zunächst nur eine Forderung des Gläubigen an den Kritiker zu sein, jedem dieser bei - den für sich aber sich nicht zu stellen: der Gläubige als solcher, scheint es, bedarf keiner Wiederherstellung des Glaubens, weil dieser in ihm durch keine Kritik vernich - tet worden ist; der Kritiker als solcher nicht, weil er die - se Vernichtung ertragen kann. So gewinnt es das Anse - hen, als ob der Kritiker, wenn er aus dem Brande, den seine Kritik angerichtet, doch das Dogma noch retten will, für seinen Standpunkt etwas Unwahres unternähme, so - fern er, was ihm selbst kein Kleinod ist, aus Accommo - dation an den Glauben als solches behandelt; in Bezug auf den Standpunkt des Gläubigen aber etwas Überflüssiges, indem er sich mit der Rettung von etwas bemüht, was für den, welchem es angehört, gar nicht gefährdet ist.

Dennoch verhält es sich bei näherer Betrachtung an - ders. Wenn gleich nicht entwickelt, so ist doch an sich in jedem Glauben, der noch nicht Wissen ist, der Zwei - fel mitgesezt; der gläubigste Christ hat doch die Kritik als verborgenen Rest des Unglaubens, oder besser als negati - ven Keim des Wissens, in sich, und nur aus dessen be - ständiger Niederhaltung geht ihm der Glaube hervor, der also auch in ihm wesentlich ein wiederhergestellter ist. Ebenso aber wie der Gläubige an sich Zweifler oder Kri - tiker, ist auch umgekehrt der Kritiker an sich der Gläu - bige. Sofern er sich nämlich vom Naturalisten und Frei - geist unterscheidet, sofern seine Kritik im Geiste des neun - zehenten Jahrhunderts wurzelt und nicht in früheren, ist er mit Achtung vor jeder Religion erfüllt, und namentlich des Inhalts der höchsten Religion, der christlichen, als iden - tisch mit der höchsten philosophischen Wahrheit sich be - wuſst, und wird also, nachdem er im Verlauf der Kritik durchaus nur die Seite des Unterschieds seiner Überzeu - gung vom christlichen Geschichtsglauben hervorgekehrt hat,688Schluſsabhandlung. §. 140.das Bedürfniſs fühlen, nun ebenso auch die Seite der Iden - tität zu ihrem Rechte zu bringen.

Zunächst, indem unsre Kritik zwar in aller Ausführ - lichkeit vollzogen worden, aber nunmehr an dem Bewuſst - sein vorübergegangen ist, fällt sie demselben wieder zur Einfachheit des unentwickelten Zweifels zusammen, gegen welchen sich das glaubige Bewuſstsein mit einem ebenso einfachen Veto kehrt, und nach Zurückweisung desselben das Geglaubte in unverkümmerter Fülle wieder ausbreitet. Indem aber hiemit die Kritik nur beseitigt, nicht überwun - den ist, wird das Geglaubte nicht wahrhaft vermittelt, son - dern bleibt in seiner Unmittelbarkeit. Scheint so, indem gegen diese Unmittelbarkeit abermals die Kritik sich keh - ren muſs, der eben vollendete Proceſs sich zu wiederholen, und wir zum Anfang der Untersuchung zurückgeworfen zu sein: so thut sich doch zugleich eine Differenz hervor, welche die Sache weiter führt. Bisher war Gegenstand der Kritik der christliche Inhalt, wie er in den evange - lischen Urkunden als Geschichte Jesu vorliegt: nun dieser durch den Zweifel in Anspruch genommen ist, reflectirt er sich in sich, sucht eine Freistätte im Innern der Glaubi - gen, wo er aber nicht als bloſse Geschichte, sondern als in sich reflectirte Geschichte, d. h. als Bekenntniſs und Dogma, vorhanden ist. Erwacht daher allerdings auch ge - gen das in seiner Unmittelbarkeit auftretende Dogma, wie gegen jede Unmittelbarkeit, die Kritik als Negativität und Streben nach Vermittlung: so ist diese doch nicht mehr, wie bisher, historische, sondern dogmatische Kritik, und erst durch beide hindurchgegangen, ist der Glaube wahr - haft vermittelt, oder zum Wissen geworden.

Dieses zweite Stadium, welches der Glaube zu durch - laufen hat, müſste eigentlich ebenso wie das erste Ge - genstand eines eigenen Werkes sein: hier soll es nur in seinen Grundzügen verzeichnet werden, um die historische689Schluſsabhandlung. §. 141.Kritik nicht ohne Aussicht auf ihr leztes Ziel abzubrechen, welches erst jenseits der dogmatischen liegt.

§. 141. Die Christologie des orthodoxen Systems.

Der dogmatische Gehalt des Lebens Jesu in seiner Un - mittelbarkeit festgehalten und auf diesem Boden ausgebil - det, ist die orthodoxe Lehre von Christo.

Ihren Grundzügen nach findet sie sich schon im N. T. Die Wurzel des Glaubens an Jesum war die Überzeugung von seiner Auferstehung. Der Getödtete, schien es, wenn auch noch so groſs einst im Leben, könne der Messias nicht gewesen sein: die wundervolle Wiederbelebung be - wies um so stärker, daſs er es war. Durch die Aufer - weckung aus dem Schattenreich befreit, und zugleich über die Sphäre irdischer Menschheit hinausgehoben, war er nun in die himmlischen Regionen versezt, hatte seinen messianischen Siz zur Rechten Gottes eingenommen (A. G. 2, 32. ff. 3, 15. ff. 5, 30. ff. und sonst). Nun erschien sein Tod als Haupttheil seiner messianischen Bestimmung: nach Jes. 53. hatte er ihn für die Sünden des Volks und der Menschheit erlitten (A. G. 8, 32. ff. vgl. Matth. 20, 28. Joh. 1, 29. 36. 1 Joh. 2, 2.); sein am Kreuz vergossenes Blut wirkte, wie dasjenige, welches am Versöhnungsfest der Hohepriester gegen den Deckel der Bundeslade sprengte (Röm. 3, 25.); er war das reine Lamm, durch dessen Blut die Gläubigen losgekauft sind (1 Petr. 1, 18. f.); der ewige, sündlose Hohepriester, der durch Darbringung sei - nes eigenen Leibes mit Einemmale bewirkt hat, was die jüdischen Priester durch unendlich wiederholte Thieropfer nicht auszurichten im Stande waren (Hebr. 10, 10. ff. u. s.). Aber auch von jeher schon konnte der jezt zur Rechten Gottes erhöhte Messias kein gewöhnlicher Mensch gewe - sen sein: nicht bloſs war er mit dem göttlichen Geiste in höherem Maaſs, als je ein Prophet, gesalbt (A. G. 4, 27. Das Leben Jesu II. Band. 44690Schluſsabhandlung. §. 141.10, 38.), und hatte durch Wunder und Zeichen sich als göttlichen Gesandten erwiesen (A. G. 2, 22.), sondern, wie man es sich nun vorstellen mochte, war er entweder überna - türlich durch den heiligen Geist erzeugt (Matth. u. Luc. 1.), oder als Gottes Weisheit und Wort in einen irdischen Leib herabgekommen (Joh. 1.). Da er schon vor seinem menschlichen Auftreten im Schooſs des Vaters, in göttlicher Majestät, gewesen war (Joh. 17, 5.): so war sein Herab - kommen in die Menschenwelt und besonders seine Hingabe in den schmachvollen Tod eine Erniedrigung, die er aus freiem Triebe zum Besten der Menschen auf sich nahm (Phil. 2, 5 ff.). Der Auferstandene und zum Himmel Ge - fahrene, wie er einst zur Auferweckung der Todten und zum Gerichte wiederkehren wird (A. G. 1, 11. 17, 31.): so nimmt er auch jezt schon als Theilhaber an der Weltregierung (Matth. 28, 18.) der Gemeinde sich an (Röm. 8, 34. 1 Joh. 2, 1.), und wie jezt an der Weltregierung, so hat er auch schon an der Weltschöpfung Theil genom - men (Joh. 1, 3, 10. Kol. 1, 16.).

Welche Fülle von beseligenden und erhabenen, er - munternden und tröstlichen Gedanken floſs der ersten Ge - meinde aus diesen Vorstellungen über ihren Christus! Durch die Sendung des Sohnes Gottes in die Welt, durch seine Hingabe für die Welt in den Tod, sind Himmel und Erde versöhnt (2 Kor. 5, 18 ff. Eph. 1, 10. Kol. 1, 20.); durch diese höchste Aufopferung ist den Menschen die Lie - be Gottes sicher verbürgt (Röm. 5, 8 ff. 8, 31 ff. 1 Joh. 4, 9.), und die freudigste Hoffnung ihnen eröffnet. Ist der Sohn Gottes Mensch geworden: so sind die Menschen sei - ne Brüder, als solche gleichfalls Kinder Gottes, und Mit - erben Christi an dem Schatze göttlicher Seligkeit (Röm. S, 16 f. 29.). Das knechtische Verhältniſs der Menschen zu Gott, wie es unter dem Gesez stattfand, hat aufgehört, an die Stelle der Furcht vor den Strafen, mit welchen das Gesez drohte, ist Liebe getreten (Röm. 8, 15. Gal. 4,691Schluſsabhandlung. §. 141.1 ff.). Vom Fluch des Gesetzes sind die Gläubigen dadurch losgekauft, daſs Christus sich für sie demselben hingab, indem er eine Todesart erduldete, auf welche das Gesez den Fluch gelegt hat (Gal. 3, 13.). Nun haben wir nicht mehr das Unmögliche zu leisten, daſs wir alle Forderun - gen des Gesetzes erfüllen müſsten (Gal. 3, 10 f.) eine Aufgabe, welche der Erfahrung zufolge kein Mensch löst (Röm. 1, 18 3, 20.), seiner sündigen Natur nach keiner lösen kann (Röm. 5, 12 ff. ), und welche den, der sie zu lösen strebt, nur immer tiefer in den unseligsten Kampf mit sich selbst verwickelt (Röm. 7, 7 ff. ): sondern wer an Christum glaubt, der versöhnenden Kraft seines Todes ver - traut, der ist von Gott begnadigt; nicht durch Werke und eigene Leistungen, sondern umsonst durch die freie Gna - de Gottes wird der Mensch, der sich ihr hingiebt, vor Gott gerecht, wodurch zugleich alle Selbsterhebung ausgeschlos - sen ist (Röm. 3, 31 ff.). Indem das mosaische Gesez, dem er mit Christo gestorben ist, den Gläubigen nicht mehr verbinden kann (Röm. 7, 1 ff. ), indem namentlich durch das ewige und vollgültige Opfer Christi der jüdische Opfer - und Priesterdienst aufgehoben ist (Hebr.), ist die Schei dewand gefallen, welche Juden und Heiden trennte: diese, sonst fern und fremd der Theokratie, gottverlassen und hoffnungslos in der Welt, sind zur Theilnahme an dem neuen Gottesbunde herbeigerufen, und ihnen freier Zutritt zum väterlichen Gott verschafft worden; so daſs nunmehr die beiden, sonst feindlich getrennten Theile der Menschheit in Frieden miteinander Glieder am Leibe Christi, am gei - stigen Bau seiner Gemeinde sind (Eph. 2, 11 ff.). Jener rechtfertigende Glaube an den Tod Christi aber ist we - sentlich zugleich ein geistiges mit ihm Sterben, nämlich ein Absterben der Sünde, und wie Christus aus dem Tode zu neuem unsterblichem Leben auferstanden ist: so soll auch der an ihn Gläubige aus dem Tod der Sünde zu ei - nem neuen Leben der Gerechtigkeit und Heiligkeit aufer -44 *692Schluſsabhandlung. §. 141.stehen, den alten Menschen abthun und einen neuen an - ziehen (Röm. 6, 1 ff.). Dazu steht ihm Christus selbst mit seinem Geiste bei, welcher diejenigen, die er beseelt, mit geistigem Streben erfüllt und immer mehr von der Knecht - schaft der Sünde frei macht (Röm. 8, 1 ff.). Ja nicht bloſs geistig jezt, sondern einst auch leiblich werden diejenigen, in welchen der Geist Christi wohnt, durch ihn belebt, in - dem Gott durch Christum am Ende dieses Weltlaufs ihre Leiber auferwecken wird, wie er den Leib Christi aufer - weckt hat (Röm. 8, 11.). Christus, den die Bande des To - des und der Unterwelt nicht halten konnten (A. G. 2, 24.), hat beide auch für uns besiegt, und den Gläubigen die Furcht vor diesen höchsten Mächten der Endlichkeit be - nommen (Röm. 8, 38 f. 1 Kor. 15, 55 ff. Hebr. 2, 14 f. Seine Auferweckung, wie sie seinem Tod erst die versöh - nende Kraft verleiht (Röm. 4, 25.), so ist sie zugleich die Bürgschaft unsrer eigenen künftigen Auferstehung, unsres Antheils an Christo in einem künftigen Leben, in seinem messianischen Reiche, zu dessen Seligkeit er bei seiner Wie - derkunft alle die Seinigen einführen wird (1 Kor. 15.). Inzwischen aber dürfen wir uns getrösten, an ihm einen Fürsprecher bei Gott zu haben, der aus eigener Erfah - rung von der Schwäche und Gebrechlichkeit der Menschen - natur, die er selbst angezogen hatte, und in der er in al - len Stücken versucht wurde, doch ohne Sünde, weiſs, wie vieler Nachsicht und Nachhülfe wir bedürfen (Hebr. 2, 17 f. 4, 15 f.).

Den Reichthum dessen, was der Glaube an Christo hatte, in bestimmte Formeln zusammenzufassen, war sei - nen Anhängern schon frühe Bedürfniſs. Sie prieſsen ihn als

Χριςὸς ἀποϑανὼ; ν, μᾶλλον δὲ καὶ ἐγερϑεὶς, ὃς καὶ ἔςιν ἐν δεξιᾷ τοῦ ϑεοῦ, ὃς καὶ ἐντυγχάνει ὑπὲρ ἡμῶν (Röm. 8, 34.); oder genauer hieſs er . Χ. κύριος, γενόμενος ἐκ σπέρματος Δαυὶδ κατὰ σάρκα, ὁρισϑεὶς υἱὸς ϑεοῦ ἐν δυνά - μει κατὰ πνεῦμα ἁγιωσύνης ἐξ ἀναςάσεως νεκρῶν

(Röm. 1,693Schluſsabhandlung. §. 141.3 f.), und als das ὁμολογουμένως μέγα τῆς εἰσεβείας μυςήριον wurden die Wahrheiten hingestellt: ϑεὸς ἐφατερώϑη ἐν σαρκὶ, ἐδικαιώϑη ἐν πνεύματι, ὤφϑη ἀγγέλοις, ἐκηρύχϑη ἐν ἐϑνεσιν, ἐπιςεύϑη ἐν κόσμῳ, ἀνελήφϑη ἐν δόξῃ (1. Tim. 3, 16.).

Anschlieſsend an die Taufformel (Matth. 28, 19.), wel - che durch die Zusammenstellung von Vater, Sohn und Geist gleichsam ein Fachwerk darbot, um den neuen Glauben in dasselbe einzuordnen, bildete sich in der Kirche der er - sten Jahrhunderte die sogenannte regula fidei aus, welche in verschiedenen Formen, bald summarischer, bald ausführ - licher, populärer oder subtiler, sich bei den verschiedenen Vätern findet1)Iren. adv. haer. 1, 10. Tertull. de praescr. haer. 13, adv. Prax. 2, de veland. virg. 1. Orig. de principp. procem. 4., und nach ihrer populären Form endlich im sogenannten apostolischen Symbol zur Ruhe kam, wel - ches, in der Gestalt, in welcher es auch von der evange - lischen Kirche aufgenommen worden ist, im zweiten, aus - führlichsten, Artikel vom Sohn folgende Glaubensmomente hervorhebt:et (credo) in Jesum Christum, filium ejus (Dei patris) unicum, Dominum nostrum; qui concep - tus est de spiritu sancto, natus ex Maria virgine; pas - sus sub Pontio Pilato, crucifixus, mortuus et sepultus, descendit ad inferna; tertia die resurrexit a mortuis, ascendit ad coelos, sedet ad dextram Dei patris omni - potentis; inde venturus est, judicare vivos et mortuos.

Neben dieser volksmäſsigen Form des Glaubensbekennt - nisses in Bezug auf Christum gieng aber zugleich die Aus - bildung einer schärferen theologischen Fassung desselben her, veranlaſst durch die Differenzen und Streitigkeiten, welche sich frühzeitig über einzelne Punkte desselben her - vorthaten. Das Grundthema des christlichen Glaubens, das: λόγος σὰρξ ἐγένετο, oder: ϑεὸς ἐφανερώϑη ἐν σαρκὶ, war von allen Seiten gefährdet, indem bald die Gottheit, bald694Schluſsabhandlung. §. 141.die Menschheit, bald die wahre Vereinigung beider in An - spruch genommen wurde. Diejenigen zwar, welche, wie die Ebioniten, die Gottheit, oder, wie die doketischen Gno - stiker, die Menschheit Christi durchaus aufhoben2)s. Münscher's Dogmengesch., herausgeg. von Cölln, 1, §. 78., schlos - sen sich zu entschieden von der christlichen Gemeinschaft aus, welche ihrerseits den Grundsaz festhielt: daſs ἔδει τὸν μεσίτην ϑεοῦ τε καὶ ἀνϑρώπων διὰ ἰδίας πρὸς ἑκατέρους οἰκειότητος εἰς φιλίαν καὶ ὁμόνοιαν τοὺς ἀμφοτέρους συναγα - γεῖν, καὶ ϑεῷ μὲν παραςῆσαι τὸν ἄνϑρωπον, ἀνϑρώποις δὲ γνωρίσαι τὸν ϑεόν3)Iren. adv. haer. 3, 18, 7.. Aber wenn etwa bloſs die Vollstän - digkeit der einen oder andern Natur geleugnet wurde, wenn Arius wohl ein göttliches, aber geschaffenes und dem höchsten Gott untergeordnetes Wesen in Christo Mensch geworden sein lieſs4)s. Münscher, §. 69 ff., wenn derselbe Christo zwar einen menschlichen Leib zuschrieb, in welchem aber die Stelle der Seele eben jenes höhere Wesen eingenommen habe5)Ebendas. §. 79. Anm. 2., und Apollinaris ausser dem Leib auch noch die Seele Jesu wahrhaft menschlich sein, und nur an die Stelle des drit - ten Princips im Menschen, des νοῦς, das göttliche Wesen treten lieſs6)Ebendas. Anm. 5.: so konnte solchen Ansichten schon eher ein Schein des Christlichen gegeben werden. Dennoch wies das Bewuſstsein der Kirche sowohl die arianische Vorstel - lung von einem in Jesu Mensch gewordnen Untergott ne - ben andern minder wesentlichen Gründen auch deſswegen zurück, weil auf liese Weise in Christo nicht das anschau - bare Ebenbild der Gottheit erschienen wäre7)Ebds. S. 235.; als die arianisch-apollinaristische von einer der menschlichen ψυχὴ oder des menschlichen νοῦς ermangelnden Menschennatur Christi unter Andrem aus dem Grunde, weil nur durch695Schluſsabhandlung. §. 141.die Vereinigung mit einer ganzen und vollständigen Men - schennatur diese nach allen Theilen habe erlöst werden können8)Gregor. Naz. Or. 51. p. 740. B. (bei Münscher, S. 275.): τὸ γὰρ ἀπρόσληπτον ἀϑεράπευτον· δε ἥνωται τῷ ϑεῷ, τοῦτο καὶ σώζεται. .

Doch es konnte nicht bloſs die eine oder andere Seite im Wesen Christi zurückgestellt, sondern auch in Bezug auf ihre Vereinigung in ihm, und zwar wieder auf entge - gengesezte Weise, gefehlt werden. Die andächtige Begei - sterung Vieler glaubte, das neugeschlungene Band zwischen Himmel und Erde nicht eng genug anziehen zu können: in Christo wollten sie Gottheit und Menschheit nicht mehr unterscheiden, und erkannten in ihm, wie er als Eine Per - son erschienen war, auch nur Eine Natur, die des fleisch - gewordenen Gottessohnes, an9)b. Münscher, §. 80 ff.. Der Besonnenheit Ande - rer war eine solche Vermischung des Göttlichen und Mensch - lichen anstössig, es schien ihnen frevelhaft, zu sagen, daſs eine menschliche Mutter Gott geboren habe: nur den Men - schen habe sie geboren, welchen sich der Sohn Gottes zum Tempel auserwählt hatte, und es seien in Christo zwei Na - turen zwar der Verehrung nach verknüpft, aber dem We - sen nach noch immer verschieden10)Ebendas.. Der Kirche schien auf beide Weise das Mysterium der Menschwerdung ge - fährdet: wurden beide Naturen bleibend getrennt gehalten, so war die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen, der innerste Lebenspunkt des Christenthums, zerstört; wur - de eine Vermischung angenommen, so war keine von bei - den Naturen als solche einer Vereinigung mit der andern fähig, somit gleichfalls keine wahre Einheit beider erreicht. Beide Meinungen wurden daher, die leztere in Eutyches, für die erstere nicht ebenso mit Recht Nestorius, ver -696Schluſsabhandlung. §. 141.dammt, und nachdem schon im nicänischen Symbol die wahre Gottheit Christi festgesezt worden war, nunmehr im chalcedonensischen auch seine wahre und vollständige Menschheit, und die Vereinigung beider Naturen in Einer unzertrennten Person, festgestellt11) ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν ὁμολογεῖν υἱὸν τὸν κύριον ἡμῶν . Χ. συμφώνως ἅπαντες ἐκδιδὰσκομεν, τέλειον τὸν αὐτὸν ἐν ϑεότητι, καὶ τέλειον τὸν αὐτὸν ἐν ἀνϑρωπότητι, ϑεὸν ἀληϑῶς καὶ ἄνϑρω - πον ἀληϑῶς τὸν αὐτὸν ἐκ ψυχῆς λογικῆς καὶ σώματος ὁμοου̍σιον τῷ πατρὶ κατὰ τὴν ϑεότητα, καὶ ὁμοου̍σιον τὸν αὐτὸν ἡμῖν κατὰ τὴν ἀνϑρωπότητα, κατὰ πάντα ὅμοιον ἡμῖν χωρὶς ἁμαρτίας· πρὸ αἰώνων μὲν ἐκ τοῦ πατρὸς γεννηϑέντα κατὰ τὴν ϑεότητα, ἐπ̕ ἐσχἀτων δὲ τῶνημερῶν τὸν αὐτὸν δἰ ἡμᾶς καὶ διὰ τὴν ἡμετέ - ραν σωτηρίαν ἐκ Μαρίας τῆς παρϑένου τῆς ϑεοτόκου κατὰ τὴν ἀν - ϑρωπότητα, ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν Χριςὸν, υἱὸν, κύριον, μονογενῆ, ἐκ δύο φύσ[ε]ων ἀσυγχύτως, ἀτρέπτως, ἀδιαιρέτως, ἀχωρίςως γνω - ριζάμενον· οὺδαμοῦ τῆς τῶν φύσεων διαφορᾶς ἀνῃρημένης διὰ τὴν ἕνωσιν, σωζομένης δὲ μᾶλλον τῆς ἰδιὀτητος ἑκατέρας φύσεως, καὶ εἰς ἓν πρόσωπον καὶ μίαν ὑπόςασιν συντρεχούσης· οὐκ εἰς δύο πρόσωπα μεριζόμενον διαιρούμενον, ἀλλ̛ ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν υἱὸν καὶ μονογενῆ, ϑεὸν λόγον, κύριον . Χ.. Und als sich später über den Willen in Christo eine ähnliche Differenz her - vorstellte, wie über seine Natur: so wurde auf dieselbe Weise entschieden, daſs in Christo als dem Gottmenschen zwei unterschiedene Willen, aber nicht uneins, sondern der menschliche dem göttlichen sich unterordnend, anzu - nehmen seien12)Die 6te ökumenische Synode zu Constantinopel sezte fest: δύο φυσικὰ ϑελήματα οὐχ ὑπεναντία, ἀλλ̛ ἑπόμενον τὸ ἀνϑρώ - πινον αὐτοῦ ϑέλημα καὶ ὑποτασσόμενον τῷ ϑείῳ αὐτοῦ καὶ πανσϑενεῖ ϑελήματ[ι]. .

Den Streitigkeiten über das Sein und Wesen Christi gegenüber gieng die Entwicklung der andern Seite, der Lehre von seinem Thun und Wirken, verhältniſsmäſsig still und friedlich vor sich. Die umfassendste Anschauung697Schluſsabhandlung. §. 141.davon war die, daſs der Sohn Gottes durch Annahme der Menschennatur diese geheiligt und vergöttlicht habe13)Athanas. de incarn. 54: αὐτὸς ἐνηνϑρώπησεν, ἵνα ἡμεῖς ϑεο - ποιηϑῶμεν. Hilar. Pictav. de trin. 2, 24: humani generis causa Dei filius natus ex virgine est ut homo factus ex virgine naturam in se carnis acciperet, perque hujus admix - tionis societatem sanctificatum in eo universi generis humani corpus existeret. Andere Äusserungen der Art s. bei Mün - scher, §. 97. Anm. 10., wobei namentlich die Ertheilung der Unsterblichkeit her - vorgehoben wurde14)Münscher, §. 96. Anm. 〈…〉〈…〉., und in gemüthlicher Weise faſste man dieſs Verhältniſs auch so, Gott habe durch den zu - vorkommenden Liebesbeweis, der in der Sendung seines Sohnes liege, die Menschen auf's kräftigste zur Gegenlie - be erweckt15)s. ebendas. S. 421.. An dieser Einen groſsen Wirkung des Er - scheinens Christi wurden aber auch einzelne Seiten her - vorgehoben: auf seine heilsame Lehre, sein erhabenes Bei - spiel aufmerksam gemacht16)Ebendas. §. 96., besonders aber auf den ge - waltsamen Tod, den er erduldet hatte, Gewicht gelegt. Der Begriff der Stellvertretung, der schon im N. T. gege - ben war, wurde weiter ausgeführt: der Tod Jesu bald als ein Lösegeld betrachtet, welches er dem Teufel für die durch die Sünde seiner Gewalt verfallene Menschheit ge - geben habe, bald sollte Gott dadurch die Schuld abgetra - gen, und er in den Stand gesezt worden sein, unbescha - det seiner Wahrhaftigkeit die der Sünde gedrohten Stra - fen der Menschheit zu erlassen, weil Christus sie auf sich genommen hatte17)Ebendas. §. 97.. Diese leztere Vorstellung wurde durch Anselm in seiner Schrift: Cur Deus homo, zu der bekann - ten Satisfaktionstheorie ausgebildet, durch welche zugleich die Lehre von dem Erlösungsgeschäft Christi mit der von698Schluſsabhandlung. §. 141.seiner Person in die engste Verbindung gesezt wurde. Der Mensch ist Gott vollständigen Gehorsam schuldig; der Sün - der aber und dieſs sind alle Menschen entzieht Gott die schuldige Leistung und Ehre. Da nun Gott eine Be - leidigung seiner Ehre vermöge seiner Gerechtigkeit nicht dulden kann: so muſs entweder der Mensch freiwillig Gott wiedergeben, was Gottes ist, ja zur Genugthuung ihm noch mehr leisten, als er ihm entzogen hat, oder muſs Gott dem Menschen mit Gewalt nehmen, was des Menschen ist, d. h. die Glückseligkeit, zu der er geschaffen ist, ihm zur Strafe entziehen. Jenes zu thun ist der Mensch nicht im Stande; denn da er alles Gute, was er thun kann, Gott schuldig ist, um nicht in Sünde zu verfallen, so kann er nichts Gutes übrig haben, um durch diesen Überschuſs die begangene Sünde zu decken. Daſs andrerseits Gott durch ewige Strafen sich Genugthuung verschaffe, dagegen ist sei - ne unveränderliche Güte, kraft welcher er den zur Selig - keit bestimmten Menschen auch wirklich zu dieser führen will. Dieſs kann aber vermöge der göttlichen Gerechtig - keit nicht geschehen, wenn nicht Genugthuung für den Menschen geleistet, und nach Maaſsgabe dessen, was Gott entzogen worden ist, ihm etwas gegeben wird, das gröſser ist, als Alles ausser Gott. Dieſs aber ist nur Gott selbst, und da andrerseits für den Menschen nur der Mensch ge - nugthun kann: so muſs es ein Gottmensch sein, der die Genugthuung leistet. Diese kann näher nicht in thätigem Gehorsam, in sündlosem Leben, bestehen, weil dieſs jedes vernünftige Wesen Gott für sich selbst schon schuldig ist; aber den Tod, der Sünden Sold, auf sich zu nehmen, ist der Sündlose nicht schuldig, und besteht also die Genug - thuung für die Sünde der Menschen im Tod des Gottmen - schen, dessen Belohnung, weil er als Eins mit Gott nicht selbst belohnt werden kann, der Menschheit zu Gute kommt.

Dieses altkirchliche Lehrsystem über die Person und Thätigkeit Christi gieng auch in die Bekenntniſsschriften699Schluſsabhandlung. §. 141.der lutherischen Kirche über, und wurde von den Theo - logen derselben noch künstlicher ausgebildet18)vgl. Form. Concord., Epit. und sol. decl. VIII. p. 605 ff. und 761 ff. ed. Hase. Chemniz, de duabus naturis in Christo li - bellus, und loci theol., loc. 2, de filio. Gerhard, II. th. 1, p. 640 ff. (ed. 1615.). Quenstedt, theol. didact. pol. P. 3. c. 3. Vgl. de Wette, bibl. Dogm. §. 64 ff.. Die Per - son Christi betreffend wurde an der Vereinigung der gött - lichen und menschlichen Natur in Einer Person festgehal - ten: im Akte derselben, der unitio personalis, welche mit der Empfängniſs zusammenfiel, war es die göttliche Natur des Sohnes Gottes, welche die menschliche zur Einheit ih - rer Persönlichkeit aufnahm; der Zustand des Vereinigt - seins, die unio personalis, sollte weder eine wesentliche, noch auch eine bloſs accidentelle, auch keine mystische, oder moralische, am wenigsten eine nur verbale, sondern eine reale und übernatürliche, ihrer Dauer nach aber eine ewige Vereinigung sein. Vermöge dieser Verbindung mit der göttlichen kommen der menschlichen Natur gewisse eigenthümliche Vorzüge zu, namentlich, was zunächst als Mangel erscheint, für sich unpersönlich zu sein, und nur in der Vereinigung mit der göttlichen Natur Persönlich - keit zu haben; ferner Sündlosigkeit, und die Möglichkeit, nicht zu sterben. Doch ausser diesen eigenthümlichen, hat die menschliche Natur Christi in ihrer Vereinigung mit der göttlichen auch gewisse von dieser geliehene Vor - züge. Das Verhältniſs der beiden Naturen ist nämlich nicht ein todtes und äusserliches, sondern eine gegenseiti - ge Durchdringung, περιχώρησις, nicht die Verbindung zweier zusammengeleimten Bretter, sondern wie von Feuer und Metall im glühenden Eisen, oder wie im Menschen von Leib und Seele. Diese communio naturarum äussert sich als communicatio idiomatum, kraft welcher die mensch - liche Natur an den Vorzügen der göttlichen, die göttliche700Schluſsabhandlung. §. 141.an den die Erlösung betreffenden Thätigkeiten der mensch - lichen Theil nimmt. Dieses Verhältniſs spricht sich in den propositionibus personalibus und idiomaticis aus; jenes Sätze, in welchen das Concretum der einen Natur, d. h. die eine Natur, sofern sie in der Person Christi be - griffen ist, von dem der andern prädicirt wird, wie 1 Kor. 15, 47: der zweite Adam ist der Sohn des Höchsten; die - ses Sätze, in welchen theils Bestimmungen der einen oder andern Natur auf die ganze Person (genus idiomaticum), theils Thätigkeiten der ganzen Person auf die eine oder andere Natur (genus apotelesmaticum), theils endlich Attribute der einen Natur auf die andre übergetragen wer - den, was aber nur von der göttlichen auf die menschliche, nicht umgekehrt, möglich ist (genus auchematicum).

In der Bewegung seiner Person mit ihren zwei Na - turen durch die verschiedenen Momente des Erlösungs - werks hat Christus nach dem an Phil. 2, 6 ff. anschlieſsen - den Ausdruck der Dogmatiker einen zweifachen Zustand, statum exinanitionis und exaltationis, durchlaufen. So - fern seine menschliche Natur in ihrer Vereinigung mit der göttlichen gleich bei der Empfängniſs in den Mitbesiz gött - licher Eigenschaften kam, aber von diesen während seines Erdenlebens keinen zusammenhängenden Gebrauch mach - te, so wird dieses irdische Leben Jesu bis zum Tod und Begräbniſs als ein Stand der Erniedrigung mit verschie - denen Stationen betrachtet, wogegen mit der Auferstehung, oder schon mit der Höllenfahrt, der Stand der Erhöhung eintrat, welcher mit der sessio ad dextram patris seine Vollendung erreichte.

Was das Werk Christi betrifft, so schreibt ihm die Dogmatik unsrer Kirche ein dreifaches Amt zu. Als Pro - phet hat er die höchste Wahrheit, den göttlichen Erlösungs - rathschluſs, unter Bekräftigung durch Wunder, der Mensch - heit geoffenbart, und ist für deren Verkündigung noch immer besorgt; als Hoherpriester hat er theils in seinem701Schluſsabhandlung. §. 142.unsträflichen Wandel das Gesez an unsrer Statt erfüllt (obedientia activa), theils in seinem Leiden und Tod die Strafe getragen, die uns gebührte (obedientia passiva), und vertritt uns nun fortwährend bei dem Vater; als - nig endlich regiert er die Welt und insbesondre die Kirche, welche er aus den Kämpfen der Erde zur Herrlichkeit des Himmels führen, und durch Auferstehung und Weltgericht vollenden wird.

§. 142. Bestreitung der kirchlichen Lehre von Christo.

In der Lehre von der Person Christi giengen schon die Reformirten nicht so weit wie die Lutheraner mit, in - dem sie deren lezte, kühnste Folgerung aus der Vereini - gung des Göttlichen und Menschlichen in ihr, die commu - nicatio idiomatum, nicht zugaben. Die lutherischen Dog - matiker selbst lieſsen die Eigenschaften der menschlichen Natur sich nicht an die göttliche, und von dieser wenig - stens nicht alle Eigenschaften, wie z. B. nicht die Ewig - keit, an die menschliche sich mittheilen1)s. die dem locus de pers. et offic. Chr. angehängte Oratio bei Gerhard, a. a. O. p. 719 ff.; was die Re - formirten zu der Einwendung veranlaſste: die Mittheilung der Eigenschaften müsse eine gegenseitige und vollständige sein, oder sei sie gar keine; übrigens werde auch schon durch die bloſs einseitige Mittheilung von Eigenschaften ei - ner unendlichen Natur an eine endliche diese nicht minder in ihrem Wesen aufgehoben, als jene, wenn sie von die - ser Eigenschaften annehmen müſste2)s. Gerhard, II. th. 1, p. 685 ff. Marheineke, instit. symb. §. 71 f.. Wenn sich hiege - gen die lutherischen Dogmatiker dadurch zu decken such - ten, daſs sie die eine Natur die Eigenschaften der andern nur so weit mitbesitzen lieſsen, uti per suam indolem702Schluſsabhandlung. §. 142.potest3)Reinhard, Vorles. über die Dogm., S. 354. Gemäss dem von den Reformirten gegen die Lutheraner geltend gemachten Grundsaz: nulla natura in se ipsam recipit contradictoria. Planck, Gesch. des protest. Lehrb. Bd. VI. S. 782.: so war hiedurch die communicatio idiomatum in der That aufgehoben, wie sie denn auch selbst von den orthodoxen Dogmatikern nach Reinhard fast durchaus auf - gegeben worden ist.

Aber auch die einfache Wurzel dieses verwickelten Idiomentausches, die Vereinigung der göttlichen und mensch - lichen Natur zu Einer Person, traf der Widerspruch. Schon die Socinianer leugneten sie, weil zwei Naturen, deren je - de für sich schon eine Person ausmache, zumal wenn ih - nen so entgegengesezte Eigenschaften zukommen, wie hier die eine unsterblich, die andere sterblich, die eine anfangs - los, die andere entstanden sein solle, sich nicht zu einer Person vereinigen können4)Fausti Socini de Christi natura disputatio. Opp. Bibl. Fr. Pol. 1, p. 784. Catech. Racov. Q. 96 ff. Vgl. Marheineke, instit. symb. §. 96. Auch Spinoza, ep. 21. ad Oldenburg. Opp. ed. Gfrörer, p. 556, sagt:quod quaedam ecclesiae his addunt, quod Deus naturam humanam assumpserit, monui expresse, me, quid dicant, nescire; imo, ut verum fatear, non minus absurde mihi loqui videntur, quam si quis mihi diceret, quod circulus naturam quadrati induerit., und ihnen stimmen die Ra - tionalisten bei, indem sie noch besonders hervorheben, theils daſs die kirchlichen Formeln, durch welche jene Ver - einigung bestimmt werden solle, fast durchaus nur vernei - nend seien, und die Sache nicht anschaulich machen, theils daſs an einem Christus, der mit Hülfe einer einwohnenden göttlichen Natur dem Bösen widerstanden und sich ohne Sünde erhalten hätte, der von solcher Hülfe verlassene Mensch kein wahrhaftes Vorbild haben könnte5)(Röhr) Briefe über den Rationalismus, S. 378 ff. Wegschei - der, Inst. theol. §. 128. Bretschneider, Handb. der Dogm..

703Schluſsabhandlung. §. 142.

Das Wesentliche und Haltbare der rationalistischen Einwürfe gegen diese Lehre hat am schärfsten Schleier - macher zusammengestellt, und auch hierin, wie in vielen Stücken, die negative Kritik des kirchlichen Dogma zum Abschluſs geführt6)Glaubenslehre, 2, §§. 96 98. Indem ich diese Schleier - macher'sche Kritik als vollkommen berechtigt anerkenne, stel - le ich mich in direkten Widerspruch mit dem Urtheil von Rosenkranz, welcher (Jahrb. für wiss. Kritik, 1831. Dec. S. 935 41.) seinen Unwillen nicht zurückhalten kann über die theologisch seichte und philologisch kleinlichte Manier, mit welcher Schleiermacher in diesem Lehrstück das Haupt - dogma des christlichen Glaubens von der Menschwerdung Gottes zu untergraben sucht.Die Verwechslung, auf wel - cher dieses Urtheil beruht, wird sich weiter unten aufdecken.. Vor Allem findet er bedenklich, daſs durch den Ausdruck: göttliche und menschliche Natur, Gött - liches und Menschliches unter Eine Kategorie gestellt wer - de, und zwar unter die Kategorie von Natur, was doch wesentlich nur ein beschränktes, im Gegensaz begriffenes Sein bedeute. Dann aber, statt daſs sonst Eine Natur vie - len Einzelwesen oder Personen gemeinsam sei, solle hier umgekehrt Eine Person an zwei verschiedenen Naturen Theil haben. Sei nun Person eine stetige Lebenseinheit, Natur aber der Inbegriff von Gesetzen, nach welchen die Lebenszustände sich verlaufen: so sei nicht zu begreifen, wie zwei durchaus verschiedene Systeme von Lebenszustän - den in Einen Mittelpunkt zusammenlaufen können. Beson - ders klar wird nach Schleiermacher diese Undenkbarkeit in der Behauptung eines zweifachen Willens in Christo, welchem man folgerichtig auch einen doppelten Verstand zur Seite stellen müſste, wobei dann, wie Verstand und Wille die Persönlichkeit constituiren, die Zerspaltung Chri - sti in zwei Personen entschieden wäre. Zwar sollen die5)2, §. 137 ff. ; auch Kant, Relig. innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 2tes Stück, 2ter Absch. b).704Schluſsabhandlung. §. 142.beiden Willen immer dasselbe wollen: allein theils giebt dieſs nur moralische, nicht persönliche Einheit, theils ist es von göttlichem und menschlichem Willen nicht einmal möglich, indem ein menschlicher Wille, der wesentlich nur Einzelnes und eines um des andern willen will, mit einem göttlichen, dessen Gegenstand das Ganze in seiner Ent - wicklung ist, so wenig das Gleiche wollen kann, als ein discursiver menschlicher Verstand mit dem intuitiven gött - lichen dasselbe denken; woraus zugleich von selbst her - vorgeht, daſs eine Mittheilung der Eigenschaften zwischen den beiden Naturen sich nicht annehmen läſst.

Einer ähnlichen Kritik entgieng auch die Lehre von der Thätigkeit Christi nicht. Abgesehen von dem, was in formeller Hinsicht gegen die Eintheilung derselben in die drei Ämter eingewendet wurde, waren es im prophetischen hauptsächlich die Begriffe von Offenbarung und Wunder, die man in Anspruch nahm, weil sie weder objektiv mit richtigen Vorstellungen von Gott und Welt in ihrem gegen - seitigen Verhältniſs, noch subjektiv mit den Gesetzen des menschlichen Erkenntniſsvermögens sich zu vertragen schie - nen. Unmöglich könne der vollkommene Gott eine Natur geschaffen haben, die von Zeit zu Zeit einer ausserordent - lichen Nachhülfe des Schöpfers bedürfte, noch insbesonde - re eine menschliche Natur, die nicht durch Entfaltung ih - rer mitgegebenen Anlagen ihre Bestimmung zu erreichen vermöchte; unmöglich könne der Unveränderliche bald auf diese, bald auf jene Weise, das einemal mittelbar, das an - dremal unmittelbar, auf die Welt einwirken, sondern im - mer nur auf die gleiche, nämlich an sich und auf das Ganze unmittelbar, für uns aber und auf das Einzelne mittelbar. Eine Unterbrechung des Naturzusammenhangs und der Entwicklung der Menschheit durch unmittelbares Eingrei - fen Gottes anzunehmen, hieſse allem vernünftigen Denken entsagen; im einzelnen Fall aber sei eine Offenbarung und Wunder als solche nicht einmal zuverläſsig zu erkennen,705Schluſsabhandlung. §. 142.weil, um sicher zu sein, daſs gewisse Erscheinungen nicht aus den Kräften der Natur und den Anlagen des mensch - lichen Geistes hervorgegangen seien, eine vollständige Kennt - niſs von diesen, und wie weit sie reichen, erfordert wür - de, deren der Mensch sich nicht rühmen kann7)Spinoza, tract. theol. polit. c. 6. p. 133. ed. Gfrörer, und ep. 23. ad Oldenburg. p. 558 f. Briefe über den Rat., 4ter, 5ter, 6ter, 12ter. Wegscheider, §§. 11. 12. Schleiermacher, §§. 14. 47..

Doch der Hauptanstoſs wurde an dem hohenpriesterli - chen Amte Jesu, an der Lehre von der Versöhnung, ge - nommen. Zunächst war es die anthropopathische Färbung, welche dem Verhältniſs Gottes zur Sünde der Menschen im Anselmischen System gegeben war, was Einwürfe her - vorrufen muſste. Wie es dem Menschen wohl anstehe, Beleidigungen ohne Rache zu verzeihen: so, meinte Socin, könne auch Gott ohne Genugthuung die Beleidigungen, welche ihm die Menschen durch ihre Sünden zufügen, vergeben8)Praelect. theol. c. 15.. Dieser Einwurf wurde von Hugo Grotius durch die Wendung beseitigt, daſs nicht gleichsam in Folge persönlicher Beleidigung, sondern um die Ordnung der moralischen Welt unverlezt zu erhalten, oder vermöge seiner justitia rectoria, Gott die Sünden nicht ohne Ge - nugthuung vergeben könne9)In dem Werk: defensio fidei cath. de satisfactione Chr. adv. F. Socinum.. Indeſs, die Nothwendig - keit einer Genugthuung auch zugegeben, schien doch der Tod Jesu eine solche nicht sein zu können. Während Anselm, und noch entschiedener Thomas von Aquino10)Summa, P. 3. Q. 48. A. 2., von einer satisfactio superabundans sprachen, leugnete Socin, daſs Christus auch nur gleichviel Strafe getragen habe, als die Menschen verdient hätten; denn die Men - schen hätten, jeder einzelne, den ewigen Tod verdient,Das Leben Jesu II. Band. 45706Schluſsabhandlung. §. 142.folglich hätten ebensoviele Stellvertreter als Sünder den ewigen Tod erleiden müssen: wogegen nun der einzige Christus bloſs den zeitlichen Tod, überdieſs als Eingang zur höchsten Herrlichkeit, erduldet habe, und zwar nicht mit seiner göttlichen Natur, daſs man sagen könnte, die - ses Leiden habe unendlichen Werth, sondern mit seiner menschlichen. Wenn hiegegen schon früher dem Thomas gegenüber Duns Scotus11)Comm. in Sentt. L. 3. Dist. 19., und nun wieder zwischen den Orthodoxen und den Socinianern Grotius und die Arminianer den Ausweg ergriffen, an sich zwar sei Christi Verdienst endlich gewesen, wie das Subjekt desselben, seine mensch - liche Natur, und daher zur Genugthuung für die Sünden der Welt unzureichend, aber Gott habe es aus freier Gnade für zureichend acceptirt: so folgte aus der Einräu - mung, daſs Gott mit unzulänglicher Genugthuung sich be - gnügen, also einen Theil der Schuld ohne Genugthuung vergeben könne, nothwendig, daſs er auch die ganze so zu vergeben im Stande sein müsse. Doch auch abgesehen von allen diesen näheren Bestimmungen wurde die Grund - vorstellung selbst, daſs Jemand für Andere Sündenstra - fen auf sich nehmen könne, als eine rohe Übertragung niedrigerer Verhältnisse auf höhere angegriffen. Sittliche Verschuldungen seien keine transmissible Verbindlichkei - ten, es verhalte sich mit ihnen nicht, wie mit Geldschul - den, wo es dem Gläubiger gleichgültig ist, wer sie be - zahlt, wenn sie nur überhaupt bezahlt werden; der Sün - denstrafe sei es vielmehr wesentlich, eben nur über den verhängt zu werden, der sich ihrer schuldig gemacht hat. Kann hienach der sogenannte leidende Gehorsam Christi kein stellvertretender gewesen sein: so noch weniger der12)s. ausser Socin besonders Kant, Relig. innerhalb der Gren - zen der blossen Vernunft, 2tes Stück, 1ter Abschn., c).707Schluſsabhandlung. §. 143.thätige, da er diesen als Mensch für sich selbst schon zu leisten schuldig war13)Töllner, der thätige Gehorsam Christi untersucht. 1768..

In Betreff des königlichen Amtes Christi trat die Hoffnung auf seine einstige Wiederkunft zum Gericht im Bewuſstsein der Gemeinde in dem Maaſse zurück, als die Ansicht von einer gleich nach dem Tode jedes Einzelnen vollständig eintretenden Vergeltung erstarkte, wodurch jener allgemeine Gerichtsakt als überflüssig erscheinen muſste14)Wegscheider, §. 199..

§. 143. Die Christologie des Rationalismus.

An die Stelle des kirchlichen Dogma von Christus, seiner Person und seiner Wirksamkeit, welches sie als in sich widersprechendes, nuzloses, ja der wahren morali - schen Religiosität schädliches verwarfen, sezten nun die Rationalisten eine Lehre, welche, mit Vermeidung jener Widersprüche, Jesum doch noch als eine in gewissem Sinne göttliche Erscheinung festhalten, ja, recht erwogen, ihn weit erhabener hinstellen, und dabei die kräftigsten Antriebe zu praktischer Frömmigkeit enthalten sollte1)Vgl. über das Folgende besonders die Briefe über den Rat. S. 372 ff. Wegscheider, §§. 128. 133. 140..

Ein göttlicher Gesandter, ein besonderer Liebling und Pflegling der Gottheit, sollte Jesus bleiben, sofern er durch die Veranstaltung der Vorsehung mit einem ausge - zeichneten Maaſse geistiger Vorzüge ausgerüstet, unter ein Volk und in ein Zeitalter versezt, und sein Lebensgang so geleitet wurde, wie es seiner Entwicklung zu dem, was er werden sollte, am günstigsten war; sofern namentlich gerade diejenige Todesart über ihn herbeigeführt wurde, welche die Wiederbelebung, von der das Gedeihen seines45 *708Schluſsabhandlung. §. 143.ganzen Werkes abhieng, möglich, und Umstände, welche dieselbe wirklich machten. Glaubt hiemit, auf seine na - türliche Begabung und seine äusseren Schicksale gesehen, die rationalistische Vorstellung von Christo hinter der or - thodoxen nicht wesentlich zurückzubleiben, indem er auch ihr der erhabenste Mensch ist, der je auf Erden lebte, ein Heros, in dessen Schicksalen sich die Vorsehung im höchsten Grade verherrlichte: so glaubt sie, wenn auf die innere Entwicklung und freie Thätigkeit Jesu gesehen wird, die kirchliche Lehre wesentlich zu überbieten. Wäh - rend der kirchliche Christus ein unfreies Automat sei, des - sen Menschheit als todtes Organ des Göttlichen sich ver - halte, sittlich vollkommen handle, weil sie nicht sündigen könne, und ebendeſswegen weder sittliches Verdienst haben, noch Gegenstand der Achtung und Verehrung sein könne: habe nach rationalistischer Ansicht die Gottheit in Jesum nur die natürlichen Bedingungen dessen, was er werden soll - te, gelegt, daſs er es aber wirklich wurde, sei das Re - sultat seiner freien Selbstthätigkeit gewesen. Seine be - wunderungswürdige Weisheit habe er sich durch zweckmä - ſsige Anwendung seiner Verstandeskräfte und gewissenhaf - te Benützung der ihm zu Gebot stehenden Hülfsmittel, sei - ne sittliche Gröſse durch eifrige Ausbildung seiner morali - schen Anlagen, Bezähmung seiner sinnlichen Neigungen und Leidenschaften, und zarte Folgsamkeit gegen die Stimme sei - nes Gewissens, erworben, und eben nur hierauf beruhe das Erhabene seiner Persönlichkeit, das Ermunternde sei - nes Vorbildes.

Die Thätigkeit Jesu anlangend, hat er sich um die Menschheit vor Allem dadurch verdient gemacht, daſs er ihr eine Religionslehre mittheilte, welcher um ihrer Rein - heit und Trefflichkeit willen mit Recht eine gewisse gött - liche Kraft und Würde zugeschrieben wird, und daſs er diese durch das glänzende Beispiel seines eigenen Wandels auf die wirksamste Weise erläuterte und bekräftigte. Die -709Schluſsabhandlung. §. 143.ses prophetische Amt Christi ist bei Socinianern und Ra - tionalisten der Mittelpunkt seiner Thätigkeit, auf welchen sie alles Andere, namentlich was die Kirchenlehre unter dem hohenpriesterlichen Amte begreift, immer wieder zu - rückführen. Der sogenannte thuende Gehorsam hat hier ohnehin nur als Beispiel Werth; aber auch der Tod Je - su sollte die Sündenvergebung nur durch Vermittlung der Besserung bewirken, entweder so, daſs er als Besiegelung seiner Lehre, und Vorbild aufopfernder Pflichterfüllung, den Tugendeifer belebe, oder so, daſs er als Beweis der Liebe Gottes zu den Menschen, seiner Geneigtheit, dem Gebesserten zu vergeben, den sittlichen Muth erhebe2)s. die verschiedenen Ansichten bei Bretschneider, Dogm. 2, S. 353, systematische Entwicklung, §. 107..

Wenn Christus nicht mehr gewesen ist und gethan hat, als diese rationalistische Lehre ihn sein und thun läſst: so sieht man nicht, wie die Frömmigkeit dazu kommt, ihn zu ihrem besondern Gegenstand zu machen, und die Dog - matik, eigene Sätze über ihn aufzustellen. Wirklich haben daher consequente Rationalisten erklärt, was die orthodoxe Dogmatik Christologie nenne, trete im rationalistischen Sy - stem gar nicht als ein integrirender Theil desselben auf, da dieses System zwar aus einer Religion bestehe, die Christus gelehrt habe, nicht aber aus einer, deren Objekt er selbst wäre. Heiſse Christologie Messiaslehre: so sei diese nur eine Hülfslehre für die Juden gewesen; aber auch im ed - leren Sinn, als Lehre von dem Leben, den Thaten und Schicksalen Jesu als göttlichen Gesandten, gehöre sie nicht zum Glaubenssystem, da allgemeine religiöse Wahrheiten mit den Vorstellungen über die Person dessen, der sie zu - erst ausgesprochen, ebensowenig zusammenhängen, als man in dem System der Leibniz-Wolfischen, oder Kantischen, oder Fichte'schen und Schelling'schen Philosophie als phi - losophische Sätze dasjenige aufstelle, was man von der710Schluſsabhandlung. §. 144.Persönlichkeit ihrer Urheber zu halten habe. Nur zur Re - ligionsgeschichte, nicht zur Religion könne das die Person und Wirksamkeit Jesu Betreffende gehören, und der Re - ligionslehre nur entweder als geschichtliche Einleitung vor - angeschickt, oder als erläuternder Nachtrag beigegeben werden3)Röhr, Briefe, S. 36. 405 ff..

Hiemit tritt nun aber der Rationalismus in offenen Widerstreit mit dem christlichen Glauben, indem er dasje - nige, was diesem der Mittelpunkt und Eckstein ist, die Lehre von Christus, in den Hintergrund zu rücken, ja aus der Dogmatik zu verbannen sucht. Ebendamit aber ist auch die Unzulänglichkeit des rationalistischen Systems entschieden, weil es das nicht leistet, was jede Glaubens - lehre leisten soll: dem Glauben, der ihr Gegenstand ist, erstlich den adäquaten Ausdruck zu geben, und ihn zwei - tens mit der Wissenschaft in ein sei es positives, oder negatives Verhältniſs zu setzen. Hier nun ist über dem Bestreben, den Glauben mit der Wissenschaft in Einklang zu bringen, der Ausdruck desselben verkümmert: denn ein Christus, nur als ausgezeichneter Mensch, macht zwar dem Begreifen keine Schwierigkeit, aber ist nicht derjenige, an welchen die Kirche glaubt.

§. 144. Eine eklektische Christologie. Schleiermacher.

Beide Übelstände zu vermeiden, und die Lehre von Christo ohne Beeinträchtigung des Glaubens so zu fassen, daſs die Wissenschaft ihr nicht den Krieg zu erklären braucht1)Schleiermacher, über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben. Studien, 2, 3, S. 481 ff., ist nun das Bestreben desjenigen Theologen ge - wesen, welcher einerseits die negative Kritik des Rationa - lismus gegen die Kirchenlehre vollständig in sich aufge -711Schluſsabhandlung. §. 144.nommen, ja noch geschärft, andrerseits aber doch noch das Wesentliche des positiv christlichen Gehaltes, der dem Rationalismus verloren gegangen war, festzuhalten versucht hat, und daher Vielen in der lezten Zeit der Retter aus der Enge des Supranaturalismus und der Leere des Ratio - nalismus geworden ist. Jene Vereinfachung des Glaubens bringt Schleiermacher dadurch zu Stande, daſs er weder pro - testantisch von der Schriftlehre, noch auch katholisch von den Bestimmungen der Kirche ausgeht, da er auf beide Weise einen bestimmt entwickelten Inhalt bekommen würde, der, in früheren Jahrhunderten entstanden, mit der heuti - gen Wissenschaft sich nothwendig verwickeln müſste: son - dern er geht vom christlichen Bewuſstsein, von der inneren Erfahrung aus, die jeder über das, was er am Christen - thum hat, in sich selber macht, und bekommt so einen Stoff, der als Gefühltes ein minder Bestimmtes ist, dem daher durch dialektische Entwicklung leichter eine Form gegeben werden kann, welche den Forderungen der Wis - senschaft genugthut.

Als Glied der christlichen Gemeinde dieſs ist der Ausgangspunkt der Schleiermacher'schen Christologie2)Glaubenslehre, 2, §§. 92 105. bin ich mir der Aufhebung meiner Sündhaftigkeit und der Mittheilung schlechthiniger Vollkommenheit bewuſst, d. h. ich fühle in dieser Gemeinschaft die Einflüsse eines sünd - losen und vollkommenen Princips auf mich. Diese Einflüsse können von der christlichen Gemeinschaft nicht in der Art ausgehen, daſs die Wechselwirkung ihrer Mitglieder sie hervorbrächte; denn in jedem einzelnen [von diesen ist Sünde und Unvollkommenheit gesezt, und das Zusammen - wirken von Unreinen hat nie etwas Reines zum Resultat gehabt. Sondern der Einfluſs eines solchen muſs es sein, der einestheils jene Unsündlichkeit und Vollkommenheit als persönliche Eigenschaften besaſs, und anderntheils mit der712Schluſsabhandlung. §. 144.christlichen Gemeinschaft in einem Verhältniſs steht, ver - möge dessen diese Eigenschaften von ihm sich ihr mitthei - len können: d. h., da vor dieser Mittheilung die christliche Gemeinschaft als solche nicht vorhanden gewesen sein kann, ihr Stifter war. Was wir in uns als Christen bewirkt finden, daraus schlieſsen wir, wie immer von der Wirkung auf die Ursache geschlossen wird, auf die Wirksamkeit Christi zurück, und aus seiner Wirksamkeit auf seine Person, welche die Fähigkeit gehabt haben muſs, solches zu bewirken.

Näher ist nun, was wir in der christlichen Gemein - schaft in uns finden, eine Kräftigung des Gottesbewuſstseins in seinem Verhältniſs zum sinnlichen, d. h. wir finden es uns erleichtert, die Übermacht der Sinnlichkeit in uns zu brechen, alle Eindrücke, die wir empfangen, auf das re - ligiöse Gefühl zu beziehen, und hinwiederum alle Thätig - keiten aus demselben hervorgehen zu lassen. Nach dem Obigen ist dieſs die Wirkung Christi auf uns, welcher die Kräftigkeit seines Gottesbewuſstseins uns mittheilt, von der Knechtschaft der Sinnlichkeit und Sünde uns befreit, und hiemit der Erlöser ist. In dem Gefühl des gekräftigten Got - tesbewuſstseins, welches der Christ in der Gemeinschaft mit seinem Erlöser hat, werden die Hemmungen seines natürlichen und geselligen Lebens nicht zugleich als Hem - mungen des Gottesbewuſstseins empfunden; sie unterbre - chen nicht die Seligkeit, welche er in seinem innersten re - ligiösen Leben genieſst; was man sonst Übel und göttliche Strafen nennt, ist es für ihn nicht, und insofern es Chri - stus ist, der ihn durch Aufnahme in die Gemeinschaft sei - ner Seligkeit hievon befreit, kommt diesem neben der er - lösenden auch die versöhnende Thätigkeit zu. Hienach allein ist denn auch die kirchliche Lehre von dem dreifa - ehen Amte Christi zu verstehen. Prophet ist er, sofern er nicht anders, als durch das Wort, durch Selbstdarstel - lung überhaupt, die Menschheit an sich ziehen konnte: so713Schluſsabhandlung. §. 144.daſs der Hauptgegenstand seiner Lehre eben seine Person war; Hoherpriester und zugleich Opfer ist er, sofern er, der Sündlose, aus dessen Dasein sich daher auch kein Übel entwickeln konnte, in die Gemeinschaft des sündlichen Lebens der Menschheit eintrat, und die in demselben er - zeugten Übel auf sich nahm, um sofort uns in die Gemein - schaft seines sündlosen und seligen Lebens aufzunehmen, d. h., Sünde und Übel auch in und für uns aufzuheben, und uns vor Gott rein darzustellen; König endlich ist er, sofern er diese Segnungen eben in Form eines Gemeinwe - sens, dessen Haupt er ist, an die Menschheit bringt.

Aus diesem nun, was Christus wirkt, ergiebt sich, was er gewesen ist. Verdanken wir ihm die immer stei - gende Kräftigung unsres Gottesbewuſstseins: so muſs dieſs in ihm in absoluter Kräftigkeit gewesen sein, so daſs es, oder Gott in Form des Bewuſstseins, das allein Wirksame in ihm war, und dieſs ist der Sinn des kirchlichen Aus - drucks, daſs Gott in Christo Mensch geworden ist. Wirkt ferner Christus in uns die immer vollständigere Überwin - dung der Sinnlichkeit: so muſs diese in ihm schlechthin überwunden gewesen sein, in keinem Augenblick seines Lebens kann das sinnliche Bewuſstsein dem Gottesbewuſst - sein den Sieg streitig gemacht, nie ein Schwanken und Kampf in ihm stattgefunden haben, d. h. die menschliche Natur in ihm war unsündlich, und zwar in dem strenge - ren Sinn, daſs er, vermöge des wesentlichen Übergewichts der höheren Kräfte in ihm über die niederen, unmöglich sündigen konnte. Ist er durch diese Eigenthümlichkeit sei - nes Wesens das Urbild, welchem seine Gemeinde sich im - mer nur annähern, nie über dasselbe hinauskommen kann: so muſs er doch sonst könnte zwischen ihm und uns keine wahrhafte Gemeinschaft stattfinden unter den ge - wöhnlichen Bedingungen des menschlichen Lebens sich ent - wickelt haben, das Urbildliche muſs in ihm vollkommen ge - schichtlich geworden sein, jeder seiner geschichtlichen Mo -714Schluſsabhandlung. §. 144.mente zugleich das Urbildliche in sich getragen haben, um dieſs ist der eigentliche Sinn der kirchlichen Formel, daſs die göttliche und menschliche Natur in ihm zu Einer Per - son vereinigt gewesen seien.

Nur so weit läſst sich die Lehre von Christo aus der inneren Erfahrung des Christen ableiten, und so weit wi - derstreitet sie, nach Schleiermacher, auch der Wissen - schaft nicht: was im kirchlichen Dogma darüber hinaus - geht, und gerade das ist es, was die Wissenschaft an - fechten muſs, wie namentlich die übernatürliche Erzen - gung Jesu und seine Wunder, auch die Thatsachen der Auferstehung und Himmelfahrt, so wie die Vorhersagun - gen von seiner Wiederkunft zum Gericht, können nicht als eigentliche Bestandtheile der Lehre von Christo aufge - stellt werden. Denn derjenige, von dessen Einwirkung uns alle Kräftigung unsres Gottesbewuſstseins kommt, kann Christus gewesen sein, auch wenn er nicht leiblich aufer - stand und in den Himmel sich erhob u. s. f.: so daſs wir diese Thatsachen nicht deſswegen glauben, weil sie in un - serer inneren Erfahrung mitgesezt wären, sondern nur weil sie in der Schrift stehen, also nicht sowohl auf religiöse und dogmatische, als vielmehr nur auf historische Weise.

Gewiſs ist diese Christologie eine sehr schöne Ent - wicklung, und in ihr, wie wir später sehen werden, das Möglichste geleistet, um die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in Christo als einem Individuum anschaulich zu machen3)Auch hier befinde ich mich im Gegensaz gegen Rosenkranz, welcher a. a. O. die Schleiermacher'sche Christologie eine gequälte Entwicklung nennt.; allein wenn dieselbe Beides, sowohl den Glauben unverkürzt, als die Wissenschaft unverlezt zu er - halten meint: so muſs gesagt werden, daſs sie sich in Bei - dem täuscht4)Diess ist auch bereits in den namhaftesten Beurtheilungen des Schleiermacher'schen Systems zum Bewusstsein gekom -.

715Schluſsabhandlung. §. 144.

Der Widerstreit mit der Wissenschaft knüpft sich zu - nächst an die Formel, in Christus sei das Urbildliche zu - gleich geschichtlich gewesen. Daſs dieſs ein gefährlicher Punkt sei, ist Schleiermacher'n selbst nicht entgangen. Kaum hat er den bezeichneten Saz aufgestellt, so sagt er sich auch schon, wie schwer es zu denken ist, daſs das Urbildliche in einem geschichtlichen Einzelwesen vollstän - dig zur Wirklichkeit gekommen sein sollte, da wir das Urbild sonst nie in einer einzelnen Erscheinung, sondern nur in einem ganzen Kreise von solchen, die sich gegen - seitig ergänzen, verwirklicht finden. Zwar soll nun die Urbildlichkeit Christi keineswegs auf die tausenderlei Be - ziehungen des menschlichen Lebens sich erstrecken, so daſs er auch für alles Wissen, oder alle Kunst und Geschick - lichkeit, die sich in der menschlichen Gesellschaft entwik - kelt, urbildlich sein müſste, sondern nur für das Gebiet des Gottesbewuſstseins: allein dieſs ändert, wie Schmid mit Recht bemerkt, nichts, da auch das Gottesbewuſstsein in seiner Entwicklung und Erscheinung den Bedingungen der Endlichkeit und Unvollkommenheit unterworfen ist, und wenn auch nur in diesem Gebiete das Ideal in einer einzelnen historischen Person als wirklich anerkannt wer - den soll, dieſs nicht geschehen kann, ohne die Gesetze der Natur durch Annahme eines Wunders zu durchbre - chen. Doch dieſs schreckt Schleiermacher'n keineswegs zurück, sondern eben hier, meint er, sei der einzige Ort, wo die christliche Glaubenslehre dem Wunder in sich Raum geben müsse, indem die Entstehung der Person Christi aur als Resultat eines schöpferischen göttlichen Akts be - griffen werden könne. Zwar soll nun das Wunderbare nur auf den ersten Eintritt Christi in die Reihe des, Da -4)men, vgl. Braniss, über Schleiermacher's Glaubenslehre; H. Schmid, über Schl. Glaubensl. S. 263 ff. Baur, die christl. Gnosis, S. 626 ff., und die angef. Recens. von Rosenkranz.716Schluſsabhandlung. §. 144.seienden beschränkt werden, und seine ganze weitere Ent - wicklung allen Bedingungen des endlichen Daseins unter - worfen gewesen sein: aber dieſs Zugeständniſs kann den Riſs, der durch jene Behauptung in die ganze wissen - schaftliche Weltansicht gemacht ist, nicht heilen, und am wenigsten können vage Analogieen etwas helfen, wie die: so gut es noch jezt möglich sei, daſs Materie sich balle und im unendlichen Raum zu rotiren beginne, müsse die Wissenschaft auch einräumen, es gebe eine Erscheinung im Gebiet des geistigen Lebens, die wir eben so nur als reinen Anfang einer höheren geistigen Lebensentwicklung erklären können5)Im 2ten Sendschreiben..

Zumal man durch diese Vergleichung an das erinnert wird, was Braniss besonders geltend gemacht hat, daſs es den Gesetzen aller Entwicklung zuwider wäre, den An - fangspunkt einer Reihe als ein Gröſstes zu denken, und also hier in Christo, dem Stifter des Gesammtlebens, das die Kräftigung des Gottesbewuſstseins zum Zwecke hat, die Kräftigkeit desselben als schlechthinige vorzustellen, was doch nur das unendliche Ziel der Entfaltung des von ihm gestifteten Gesammtlebens ist. Zwar giebt auch Schleier - macher in gewissem Sinn eine Perfektibilität des Christen - thums zu: aber nicht über das Wesen Christi hinaus, son - dern nur über seine Erscheinung. D. h., die Bedingtheit und Unvollkommenheit der Verhältnisse Christi, der Spra - che, in welcher er sich ausdrückte, der Nationalität, inner - halb deren er stand, habe auch sein Denken und Thun afficirt, aber nur die Aussenseite: der innere Kern des - selben sei dennoch wahrhaft urbildlich gewesen, und wenn nun die Christenheit in ihrer Fortentwicklung in Lehre und Leben immer mehr jene temporellen und nationalen Schranken niederwerfe, in welchen Jesu Thun und Reden sich bewegte: so sei dieſs kein Hinausgehen über Christum,717Schluſsabhandlung. §. 144.sondern nur eine um so vollständigere Darlegung seines inneren Wesens. Allein, wie Schmid gründlich nachgewie - sen hat, ein geschichtliches Individuum ist eben nur das, was von ihm erscheint, sein inneres Wesen wird in seinen Reden und Handlungen erkannt, zu seiner Eigenthümlich - keit gehört die Bedingtheit durch Zeit - und Volksverhält - nisse mit, und was hinter dieser Erscheinung als An sich zurückliegt, ist nicht das Wesen dieses Individuums, son - dern die allgemeine menschliche Natur überhaupt, welche in den Einzelnen durch Individualität, Zeit und Umstände beschränkt, zur Wirklichkeit kommt. Über die geschicht - liche Erscheinung Christi hinausgehen, heiſst also nicht zum Wesen Christi sich erheben, sondern zur Idee der Menschheit überhaupt, und wenn es Christus noch sein soll, dessen Wesen sich darstellt, wenn mit Wegwer - fung des Temporellen und Nationalen das Wesentliche aus seiner Lehre und seinem Leben fortgebildet wird: so könnte es nicht schwer fallen, durch ähnliche Abstraktion auch einen Sokrates als denjenigen darzustellen, über wel - chen in dieser Weise nicht hinausgegangen werden könne.

Wie aber weder überhaupt ein Individuum, noch ins - besondre ein geschichtlicher Anfangspunkt zugleich vorbild - lich sein kann: so will auch, Christum bestimmt als Men - schen gefaſst, die urbildliche Entwicklung und Beschaf - fenheit, welche ihm Schleiermacher zuschreibt, mit den Gesetzen des menschlichen Daseins sich nicht vertragen. Die Unsündlichkeit, als Unmöglichkeit des Sündigens ge - faſst, wie sie in Christo gewesen sein soll, ist eine mit der menschlichen Natur ganz unvereinbare Eigenschaft, da dem Menschen vermöge seiner von sinnlichen wie ver - nünftigen Antrieben bewegten Freiheit die Möglichkeit des Sündigens wesentlich ist. Und wenn Christus sogar von allem innern Kampf, von jeder Schwankung des geistigen Lebens zwischen Gut und Böse, frei gewesen sein soll: so könnte er vollends kein Mensch wie wir gewesen sein,718Schluſsabhandlung. §. 144.da die Wechselwirkung, in welcher bei'm Menschen sowohl die innere Geisteskraft überhaupt mit der auf sie einwirkenden Aussenwelt, als insbesondre die höhere, re - ligiössittliche Kraft mit der sinnlichen Geistesthätigkeit steht, nothwendig als Kampf zur Erscheinung kommt6)Schmid, a. a. O..

So wenig aber auf dieser Seite der Wissenschaft, so wenig thut die in Rede stehende Christologie auf der an - dern Seite dem Glauben genug. Um von denjenigen Punkten abzusehen, wo sie für die kirchlichen Bestimmungen wenig - tens annehmliche Surrogate zu bieten weiſs, über welche sich jedoch gleichfalls streiten lieſse, ob sie völligen Er - saz gewähren7)Vgl. Rosenkranz a. a. O. S. 935 ff., tritt dieſs am schreiendsten in der Be - hauptung hervor, die Thatsachen der Auferstehung und Himmelfahrt gehören nicht wesentlich zum christlichen Glauben. Während doch der Glaube an die Auferstehung Christi der Grundstein ist, ohne welchen die christliche Gemeinde sich nicht hätte aufbauen können, auch jezt noch der christliche Festcyclus, die äussere Darstellung des christlichen Bewuſstseins, keine tödtlichere Verstüm - melung erleiden könnte, als wenn aus demselben das Oster - fest ausgebrochen würde; überhaupt im Glauben der Ge - meinde der gestorbene Christus nicht sein könnte, was er ist, wenn er nicht zugleich der Wiedererstandene wäre.

Zeigt sich an der Schleiermacher'schen Lehre von der Person und den Zuständen Christi besonders ihre doppelte Unzulänglichkeit, in Bezug auf Kirchenglauben und Wis - schaft: so wird aus der Lehre von der Wirksamkeit Chri - sti erhellen, daſs, um dem ersteren nur so weit genug zu thun, als hier geschieht, ein solcher Widerspruch gegen die Grundsätze der lezteren gar nicht nöthig, sondern ein leichteres Verfahren möglich war. Nämlich bloſs auf den719Schluſsabhandlung. §. 144.Rückschluſs von der innern Erfahrung des Christen, als der Wirkung, auf die Person Christi, als die Ursache, gegrün - det, steht die Schleiermacher'sche Christologie auf schwa - chen Füſsen, indem nicht bewiesen werden kann, daſs jene innere Erfahrung nur dann sich erklären lasse, wenn ein solcher Christus wirklich gelebt hat. Schleiermacher selbst hat den Ausweg bemerkt, daſs man ja sagen könn - te, nur veranlaſst durch Jesu relative Vortrefflichkeit habe die Gemeinde ein Ideal absoluter Vollkommenheit entwor - fen, und auf den historischen Christus übergetragen, aus welchem sie nun fortwährend ihr Gottesbewuſstsein stärke und neu belebe: doch diesen Ausweg soll die Bemerkung abschneiden, die sündhafte Menschheit habe vermöge des Zusammenhangs von Willen und Verstand gar nicht das Vermögen, ein fleckenloses Urbild zu erzeugen. Allein, wie treffend bemerkt worden ist, wenn Schleiermacher für die Entstehung seines wirklichen Christus ein Wunder postulirt: so könnten ja wir für die Entstehung des Ideals von einem Christus in der menschlichen Seele dasselbe Recht in Anspruch nehmen8)Baur, a. a. O. S. 653.. Indeſs, es ist gar nicht einmal wahr, daſs die sündhafte menschliche Natur zur Erzeugung eines sündlosen Urbilds unfähig ist. Wird un - ter diesem Ideal nur die allgemeine Vorstellung verstan - den: so ist vielmehr mit dem Bewuſstsein der Unvollkom - menheit und Sündhaftigkeit die Vorstellung des Vollkom - menen und Sündlosen ebenso nothwendig gegeben, wie mit dem der Endlichkeit die des Unendlichen, indem beide Vorstellungen sich gegenseitig bedingen, die eine ohne die andere gar nicht möglich ist. Ist aber die concrete Aus - führung des Bildes mit den einzelnen Zügen gemeint: so kann man zugeben, daſs einem sündhaften Individuum und Zeitalter diese Ausmalung nicht fleckenlos gelingen kann; allein dessen ist ein solches Zeitalter, weil es selbst nicht720Schluſsabhandlung. §. 145.darüber hinaus ist, sich nicht bewuſst, und wenn das Bild nur skizzenhaft ausgeführt ist, und der Beleuchtung noch viel Spielraum läſst: so kann es leicht auch von ei - ner späteren, scharfsichtiger gewordenen Zeit, so lange sie den guten Willen der günstigsten Beleuchtung hat, noch als fleckenlos betrachtet werden.

Hiemit sehen wir, was an dem Vorwurf ist, der Schleiermacher'n so ungehalten machte, daſs sein Chri - stus kein historischer, sondern ein idealer sei: er ist un - gerecht, wenn auf die Meinung Schleiermacher's gesehen wird, denn er glaubte steif und fest, der Christus, wie er ihn construirte, habe wirklich so gelebt; aber gerecht ist er einerseits in Bezug auf den geschichtlichen Thatbe - stand, weil ein solcher Christus immer nur in der Idee vorhanden gewesen ist, in welchem Sinn freilich dem kirchlichen System derselbe Vorwurf noch stärker gemacht werden müſste, weil sein Christus noch viel weniger exi - stirt haben kann; gerecht endlich rücksichtlich der Con - sequenz des Systems, indem, um das zu bewirken, was Schleiermacher ihn bewirken läſst, kein anderer Christus nöthig, und nach den Schleiermacher'schen Grundsätzen über das Verhältniſs Gottes zur Welt, des Übernatürli - chen zum Natürlichen, auch kein andrer möglich ist, als ein idealer und in diesem Sinne trifft der Vorwurf die Schleiermacher'sche Glaubenslehre specifisch, da nach den Prämissen der Kirchenlehre allerdings ein historischer Christus sowohl möglich als nothwendig war.

§. 145. Die Christologie, symbolisch gewendet. Kant. de Wette.

Ist hiemit der Versuch gescheitert, das Urbildliche in Christo mit dem Geschichtlichen zusammenzuhalten: so scheiden sich diese beiden Elemente, das leztere fällt als natürliches Residuum zu Boden, das erstere aber steigt als reines Sublimat in den Äther der Ideenwelt empor. Ge -721Schluſsabhandlung. §. 145.schichtlich kann Jesus nichts Anderes gewesen sein, als eine zwar sehr ausgezeichnete, aber darum doch der Be - schränktheit alles Endlichen unterworfene Persönlichkeit: vermöge dieser ausgezeichneten Persönlichkeit aber regte er das religiöse Gefühl so mächtig an, daſs dieses in ihm ein Ideal der Frömmigkeit anerkannte; wie denn über - haupt eine historische Thatsache oder Person nur dadurch Grundlage einer positiven Religion werden kann, daſs sie in die Sphäre des Idealen erhoben wird1)So Schmid, a. a. O. S. 267..

Schon Spinoza hatte diese Unterscheidung gemacht in der Behauptung, den historischen Christus zu kennen, sei zur Seligkeit nicht nothwendig, wohl aber den idealen die ewige Weisheit Gottes nämlich, welche sich in allen Dingen, im Besondern im menschlichen Gemüth, und al - lerdings in ausgezeichnetem Grad in Jesu Christo geoffen - bart habe, und welche allein den Menschen belehre, was wahr und falsch, gut und böse sei2)Ep. 21. ad Oldenburg. Opp. ed. Gfrörer, p. 556: dico, ad salutem non esse omnino necesse, Christum secundum carnem noscere; sed de aeterno illo filio Dei, h. e. Dei ae - terna sapientia, quae sese in omnibus rebus, et maxime in mente humana, et omnium maxime in Christo Jesu manife - stavit, longe aliter sentiendum. Nam nemo absque hac ad statum beatitudinis potest pervenire, utpote quae sola docet, quid verum et falsum, bonum et malum sit..

Auch nach Kant darf es nicht zur Bedingung der Seligkeit gemacht werden, daſs man glaube, es habe ein - mal einen Menschen gegeben, der durch seine Heiligkeit und sein Verdienst sowohl für sich als auch für alle an - dern genuggethan habe; denn davon sage uns die Ver - nunft nichts; wohl aber sei es allgemeine Menschenpflicht, zu dem Ideal der moralischen Vollkommenheit, welches in der Vernunft liege, sich zu erheben, und durch dessen Vorhaltung sich sittlich kräftigen zu lassen: nur zu diesemDas Leben Jesu II. Band. 46722Schluſsabhandlung. §. 145.moralischen, nicht zu jenem historischen Glauben sei der Mensch verpflichtet3)Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, drittes Stück, 1te Abthl. VII..

Auf dieses Ideal sucht nun Kant die einzelnen Züge der biblischen und kirchlichen Lehre von Christo umzu - deuten. Die Menschheit oder das vernünftige Weltwesen überhaupt in seiner ganzen sittlichen Vollkommenheit ist es allein, was eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Rathschlusses und zum Zweck der Schöpfung machen kann; diese Idee der gottwohlgefälligen Menschheit ist in Gott von Ewigkeit her, sie geht von seinem Wesen aus, und ist insofern kein erschaffenes Ding, sondern sein ein - geborner Sohn, das Wort, durch welches, d. h. um des - sen willen, Alles gemacht ist, in welchem Gott die Welt geliebt hat. Sofern von dieser Idee der moralischen Voll - kommenheit der Mensch nicht selbst der Urheber ist, son - dern sie in ihm Plaz genommen hat, ohne daſs man be - griffe, wie seine Natur für sie habe empfänglich sein kön - nen: so läſst sich sagen, daſs jenes Urbild vom Himmel zu uns herabgekommen sei, daſs es die Menschheit ange - nommen habe, und diese Vereinigung mit uns kann als ein Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen werden. Dieses Ideal der moralischen Vollkommenheit, wie sie in einem von Bedürfnissen und Neigungen abhän - gigen Weltwesen möglich ist, können wir uns nicht an - ders vorstellen, als in Form eines Menschen, und zwar, weil wir uns von der Stärke einer Kraft, und so auch der sittlichen Gesinnung, keinen Begriff machen können, als wenn wir sie mit Hindernissen ringend, und unter den gröſsten Anfechtungen dennoch überwindend uns vor - stellen, eines solchen Menschen, der nicht allein alle Men - schenpflicht selbst auszuüben, und durch Lehre und Bei - spiel das Gute in gröſstmöglichem Umfang um sich her723Schluſsabhandlung. §. 145.auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die stärksten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen zu über - nehmen bereitwillig wäre.

Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Bezie - hung vollständig in sich selbst, und es bedarf keines Bei - spiels in der Erfahrung, um dieselbe zum verbindenden Vorbild für uns zu machen, da sie als solches schon in unserer Vernunft liegt. Auch bleibt dieses Urbild wesent - lich nur in der Vernunft, weil ihm kein Beispiel in der äusseren Erfahrung adäquat sein kann, als welche das Innere der Gesinnung nicht aufdeckt, sondern darauf nur mit schwankender Gewiſsheit schlieſsen läſst. Da jedoch diesem Urbilde alle Menschen gemäſs sein sollten, und folglich es auch können müssen: so bleibt immer möglich, daſs in der Erfahrung ein Mensch vorkomme, der durch Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines gott - wohlgefälligen Menschen gebe; doch auch in dieser Er - scheinung des Gottmenschen wäre nicht eigentlich das, was von ihm in die Sinne fällt, oder durch Erfahrung erkannt werden kann, Objekt des seligmachenden Glau - bens, sondern das in unsrer Vernunft liegende Urbild, welches wir jener Erscheinung unterlegten, weil wir sie demselben gemäſs fänden, aber freilich immer nur in so - weit, als dieſs in äusserer Erfahrung erkannt werden kann. Weil wir alle, obwohl natürlich erzeugte Menschen, uns verbunden und daher im Stande fühlen, selbst solche Bei - spiele abzugeben: so haben wir keine Ursache, in jenem musterhaften Menschen einen übernatürlich erzeugten zu erblicken; ebensowenig hat er zu seiner Beglaubigung Wunder nöthig, sondern neben dem moralischen Glauben an die Idee ist nur noch die historische Wahrnehmung erfor - derlich, daſs sein Lebenswandel ihr gemäſs sei, um ihn als Beispiel derselben zu beglaubigen.

Derjenige nun, welcher sich einer solchen morali -46 *724Schluſsabhandlung. §. 145.schen Gesinnung bewuſst ist, daſs er gegründetes Ver - trauen auf sich setzen kann, er würde unter ähnlichen Versuchungen und Leiden, wie sie an dem Urbilde der Menschheit als Probierstein seiner moralischen Gesinnung vorgestellt werden, diesem unwandelbar anhängig und in treuer Nachfolge ähnlich bleiben, ein solcher Mensch al - lein ist befugt, sich für einen Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens zu halten. Um zu solcher Gesinnung sich zu erheben, muſs der Mensch vom Bösen ausgehen, den alten Menschen ausziehen, sein Fleisch kreuzigen; eine Umänderung, welche wesentlich mit einer Reihe von Schmerzen und Leiden verbunden ist. Diese hat der alte Mensch als Strafen verdient: sie treffen aber den neuen, indem der Wiedergeborene, der sie auf sich nimmt, nur noch physisch, seinem empirischen Charakter nach, als Sin - nenwesen, der alte bleibt, moralisch aber, als intelligib - les Wesen, in seiner veränderten Gesinnung, ein neuer Mensch geworden ist. Sofern er nun in der Sinnesände - rung die Gesinnung des Sohnes Gottes in sich aufgenom - men hat, so kann, was eigentlich ein Stellvertreten des alten Menschen für den neuen ist, als Stellvertretung des Sohnes Gottes, wenn man die Idee personificirt, vorge - stellt und gesagt werden, dieser selbst trage für den Men - schen, für alle, die an ihn praktisch glauben, als Stellver - treter die Sündenschuld, thue durch Leiden und Tod der höchsten Gerechtigkeit als Erlöser genug, und mache als Sachverwalter, daſs sie hoffen können, vor dem Rich - ter als gerechtfertigt zu erscheinen, indem das Leiden, wel - ches der neue Mensch, indem er dem alten abstirbt, im Leben fortwährend übernehmen muſs, an dem Repräsen - tanten der Menschheit als ein für allemal erlittener Tod vorgestellt wird4)a. a. O. 2tes Stück, 1ter Abschn. 3tes Stück, 1te Abthlg..

725Schluſsabhandlung. §. 145.

Auch Kant, wie Schleiermacher, dessen Christologie überhaupt in manchen Beziehungen an die Kantische er - innert5)Wie diess Baur nachweist, christl. Gnosis, S. 660 ff., kommt in der Aneignung der kirchlichen Chri - stologie nur bis zum Tod Christi: von seiner Auferstehung und Himmelfahrt aber sagt er, sie können zur Religion innerhalb der Grenzen der bloſsen Vernunft nicht benüzt werden, weil sie auf Materialität aller Weltwesen führen würden. Wie er indeſs auf der andern Seite diese That - sachen doch wieder als Symbole von Vernunftideen, als Bilder des Eingangs in den Siz der Seligkeit, d. h. in die Gemeinschaft mit allen Guten, gelten läſst: so hat noch bestimmter Tieftrunk erklärt, ohne die Auferstehung wür - de die Geschichte Jesu sich in ein widriges Ende verlie - ren, das Auge sich mit Wehmuth und Widerwillen von einer Begebenheit abwenden, in welcher das Muster der Menschheit als Opfer unheiliger Wuth fiele, und die Scene sich mit seinem ebenso unschuldigen, als schmerzli - chen Tod beschlöſse; es müsse der Ausgang dieser Geschich - te mit der Erfüllung der Erwartung gekrönt sein, zu wel - cher sich die moralische Betrachtung eines jeden unwider - stehlich hingezogen fühle: mit dem Übergang in eine ver - geltende Unsterblichkeit6)Consur des christl. protestantischen Lehrbegriffs, 3, S. 180..

Auf ähnliche Weise schrieb de Wette, wie jeder Geschichte, und insbesondere der Religionsgeschichte, so auch der evangelischen, einen symbolischen, idealen Cha - rakter zu, vermöge dessen sie Ausdruck und Abbild des menschlichen Geistes und seiner Thätigkeiten sei. Die Ge - schichte von der wunderbaren Erzeugung Jesu stelle den göttlichen Ursprung der Religion dar; die Erzählungen von seinen Wunderthaten die selbstständige Kraft des Menschengeistes und die erhabene Lehre des geistigen Selbstvertrauens; seine Auferstehung sei das Bild des726Schluſsabhandlung. §. 145.Siegs der Wahrheit, das Vorzeichen des künftig zu voll - endenden Triumphs des Guten über das Böse; seine Him - melfahrt das Symbol der ewigen Herrlichkeit der Religion. Die religiösen Grundideen, welche Jesus in seiner Lehre ausgesprochen, drücken sich ebenso klar in seiner Ge - schichte aus. Sie ist Ausdruck der Begeisterung, in dem muthvollen Wirken Jesu und der siegreichen Gewalt sei - ner Erscheinung; der Resignation, in seinem Kampf mit der Bosheit der Menschen, der Wehmuth seiner warnen - den Reden, und vor Allem in seinem Tode; Christus am Kreuz ist das Bild der durch Aufopferung geläuterten Menschheit: wir sollen uns alle mit ihm kreuzigen, um mit ihm zu neuem Leben aufzustehen. Endlich die Idee der Andacht ist der Grundton der Geschichte Jesu, indem jeder Moment seines Lebens dem Gedanken an seinen himm - lischen Vater gewidmet ist7)Religion und Theologie, 2ter Abschnitt, Kap. 3. Vgl. bibl. Dogmatik, §. 255; kirchliche, §. 64 ff..

Besonders klar hatte schon früher Horst diese sym - bolische Ansicht von der Geschichte Jesu ausgesprochen. Ob Alles, was von Christo erzählt wird, sagt er, genau so als Geschichte vorgefallen ist, das kann uns jezt ziemlich gleichgültig sein, auch können wir es nicht mehr ausmit - teln. Ja, wenn wir es uns gestehen wollen, so ist dem gebildeten Theil der Zeitgenossen dasjenige, was den alt - gläubigen Christen heilige Geschichte war, nur noch Fabel: die Erzählungen von Christi übernatürlicher Geburt, von seinen Wundern, seiner Auferstehung und Himmelfahrt, müssen, als den Gesetzen unsres Erkenntniſsvermögens widersprechend, verworfen werden. Aber man fasse sie nur nicht mehr bloſs verständig, als Geschichte, sondern mit Gefühl und Phantasie, als Dichtung, auf: so wird man finden, daſs nichts in diesen Erzählungen willkühr - lich gemacht ist, sondern Alles seine Anknüpfungspunkte727Schluſsabhandlung. §. 145.in dem Tiefsten und Gottverwandten des menschlichen Ge - müthes hat. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, läſst sich an die Geschichte Christi Alles anknüpfen, was für das religiöse Vertrauen wichtig, für den reinen Sinn bele - bend, für das zarte Gefühl anziehend ist. Es ist jene Geschichte eine heilig schöne Dichtung des allgemeinen Menschengeschlechts, in der sich alle Bedürfnisse unseres religiösen Triebs vereinigen, und dieſs ist eben die höchste Ehre und der stärkste Beweis für die allgemeine Gültig - keit des Christenthums. Die Geschichte des Evangeliums ist im Grunde die Geschichte der idealisch gedachten all - gemeinen Menschennatur, und zeigt uns in dem Leben des Einzigen, was der Mensch sein soll, und mit ihm verbun - den durch Befolgung seiner Lehre und seines Beispiels wirklich werden kann. Dabei wird nicht geleugnet, daſs dem Paulus, Johannes, Matthäus und Lukas das That - sache und gewisse Geschichte war, was uns jezt nur noch als heilige Dichtung erscheinen kann. Aber es war ihnen auf ihrem Standpunkt aus eben dem inneren Grunde heili - ge Thatsache und Geschichte, aus welchem es uns jezt auf unserem Standpunkt heilige Mythe und Dichtung ist. Nur die Ansichten sind verschieden: die menschliche Natur, und in ihr der religiöse Trieb, bleibt immer derselbe. Jene Männer bedurften in ihrer Welt, zur Belebung der religiösen und moralischen Anlagen in den Menschen ihrer Zeit, Ge - schichten und Thatsachen, deren innersten Kern aber Ideen bildeten: uns sind die Thatsachen veraltet und zweifelhaft geworden, und nur noch um der zum Grunde liegenden Ideen willen die Erzählungen davon ein Gegenstand der Verehrung8)Ideen über Mythologie u. s. w. in Henke's neuem Magazin, 6, S. 454 ff. vgl. Henke's Museum, 3, S. 455..

Diese Ansicht traf zunächst von Seiten des kirchlichen Bewuſstseins der Vorwurf, daſs sie statt des Reichthums728Schluſsabhandlung. §. 145.göttlicher Realität, wie sie der Glaube in der Geschichte Christi findet, eine Sammlung leerer Ideen und Ideale un - terschiebe, statt ein trostreiches Sein zu gewähren, es bei'm drückenden Sollen bewenden lasse. Für die Gewiſs - heit, daſs Gott sich einmal wirklich mit der menschlichen Natur vereinigt hat, bietet die Anmahnung schlechten Er - saz, daſs der Mensch göttlichen Sinnes werden solle; für die Beruhigung, welche dem Gläubigen die durch Chri - stum vollbrachte Erlösung gewährt, ist ihm die Veran - schaulichung der Pflicht kein Äquivalent, sich selbst von der Sünde loszumachen. Aus der versöhnten Welt, in welche ihn das Christenthum versezt, wird der Mensch durch diese Ansicht in eine unversöhnte zurückgeworfen, aus einer seligen in eine unselige; denn wo die Versöh - nung erst zu vollbringen, die Seligkeit erst zu erringen ist, da ist vor der Hand noch Feindschaft und Unselig - keit. Und zwar ist die Hoffnung, aus dieser je ganz her - auszukommen, nach den Principien dieser Ansicht, welche zur Idee nur eine unendliche Annäherung kennt, eine täuschende; denn das nur im endlosen Progreſs zu Errei - chende ist in der That ein Unerreichbares.

Doch nicht allein der Glaube, sondern auch die Wis - senschaft in ihrer neuesten Entwicklung hat diesen Stand - punkt unzureichend befunden. Sie hat erkannt, daſs, die Ideen zum bloſsen Sollen machen, dem kein Sein entspre - che, sie aufheben heiſse: wie das Unendliche als bleiben - des Jenseits des Endlichen festhalten, es verendlichen; sie hat begriffen, daſs das Unendliche im Setzen und Wie - deraufheben des Endlichen sich selbst erhält, die Idee in der Gesammtheit ihrer Erscheinungen sich verwirklicht, daſs nichts werden kann, was nicht an sich schon ist: also auch vom Menschen sich nicht verlangen läſst, sich mit Gott zu versöhnen und göttlichen Sinnes zu werden, wenn diese Versöhnung und Vereinigung nicht an sich schon vollbracht ist.

729Schluſsabhandlung. §. 146.

§. 146. Die speculative Christologie.

Schon Kant hatte gesagt, das gute Princip sei nicht bloſs zu einer gewissen Zeit, sondern vom Ursprung des menschlichen Geschlechts an unsichtbarerweise vom Himmel in die Menschheit herabgekommen und Schel - ling stellte den Saz auf: die Menschwerdung Gottes ist eine Menschwerdung von Ewigkeit1)Vorlesungen über die Methode des academischen Studium, S. 192.. Aber wäh - rend der erstere unter jenem Ausdruck nur die morali - sche Anlage verstanden hatte, welche mit ihrem Ideal und ihrem Sollen von jeher dem Menschen eingepflanzt gewe - sen sei: verstand der leztere unter dem menschgeworde - nen Sohn Gottes das Endliche selbst, wie es im Menschen zum Bewuſstsein kommt, und in seinem Unterschied von dem Unendlichen, mit dem es doch Eins ist, als ein lei - dender und den Verhältnissen der Zeit unterworfener Gott erscheint.

In der neuesten Philosophie ist dieſs weiter so aus - geführt worden2)Hegel's Phänomenologie des Geistes, S. 561 ff. ; desselben Vor - lesungen über die Philos. der Relig. 2, S. 234 ff. Marhei - neke, Grundlehren der christl. Dogmatik, S. 174 ff. Rosen - kranz, Encyklopädie der theol. Wissenschaften, S. 38 ff. 148 ff.. Wenn Gott als Geist ausgesprochen wird, so liegt darin, da auch der Mensch Geist ist, be - reits, daſs beide an sich nicht verschieden sind. Näher ist in der Erkenntniſs Gottes als Geistes, da der Geist we - sentlich dieſs ist, in der Unterscheidung seiner von sich identisch mit sich zu bleiben, im Andern seiner sich selbst zu haben, dieſs enthalten, daſs Gott nicht als sprödes Unendliche ausser und über dem Endlichen verharrt, son - dern in dasselbe eingeht, die Endlichkeit, die Natur und den menschlichen Geist, nur als seine Entäusserung sezt, aus der er ebenso ewig wieder in die Einheit mit sich730Schluſsabhandlung. §. 146.selbst zurückkehrt. So wenig der Mensch als bloſs end - licher und an seiner Endlichkeit festhaltender Geist Wahr - heit hat: so wenig hat Gott als bloſs unendlicher, in sei - ner Unendlichkeit sich abschlieſsender Geist Wirklichkeit; sondern wirklicher Geist ist der unendliche nur, wenn er zu endlichen Geistern sich erschlieſst: wie der endliche Geist nur dann wahrer ist, wenn er in den unendlichen sich vertieft. Das wahre und wirkliche Dasein des Gei - stes also ist weder Gott für sich, noch der Mensch für sich, sondern der Gottmensch; weder allein seine Unend - lichkeit, noch allein seine Endlichkeit, sondern die Be - wegung des Sichhingebens und Zurücknehmens zwischen beiden, welche von göttlicher Seite Offenbarung, von menschlicher Religion ist.

Sind Gott und Mensch an sich Eins, und ist die Re - ligion die menschliche Seite, das werdende Bewuſstsein dieser Einheit: so muſs diese in der Religion auch für den Menschen werden, in ihm zum Bewuſstsein und zur Wirk - lichkeit kommen. Freilich, so lange der Mensch sich selbst noch nicht als Geist weiſs, kann er auch Gott noch nicht als Menschen wissen; ist er noch natürlicher Geist, so wird er die Natur vergöttern; als gesezlicher Geist, der seine Natürlichkeit nur erst auf äusserliche Weise bemei - stert, wird er Gott als Gesezgeber sich gegenüberstellen; aber sind nur einmal im Gedränge der Weltgeschichte beide, jene Natürlichkeit ihres Verderbens, diese Gesez - lichkeit ihres Unglücks, inne geworden: so wird sowohl jene das Bedürfniſs empfinden, einen Gott zu haben, der sie über sich erhebe, als diese einen, der sich zu ihr her - unterlasse. Ist die Menschheit einmal reif dazu, die Wahr - heit, daſs Gott Mensch, der Mensch göttlichen Geschlech - tes ist, als ihre Religion zu haben: so muſs, da die Reli - gion die Form ist, in welcher die Wahrheit für das ge - meine Bewuſstsein wird, jene Wahrheit auf eine gemein - verständliche Weise, als sinnliche Gewiſsheit, erscheinen,731Schluſsabhandlung. §. 146.d. h. es muſs ein menschliches Individuum auftreten, wel - ches als der gegenwärtige Gott gewuſst wird. Sofern die - ser Gottmensch das jenseitige göttliche Wesen und das diesseitige menschliche Selbst in Eins zusammenschlieſst, kann von ihm gesagt werden, daſs er den göttlichen Geist zum Vater, und eine menschliche Mutter habe; sofern sein Selbst sich nicht in sich, sondern in die absolute Substanz reflektirt, nichts für sich, sondern nur für Gott sein will, ist er der Sündlose und Vollkommene; als Mensch von göttlichem Wesen ist er die Macht über die Natur und Wunderthäter; aber als Gott in menschlicher Erscheinung ist er von der Natur abhängig, ihren Bedürfnissen und Leiden unterworfen, befindet sich im Stand der Erniedri - gung. Wird er der Natur auch den lezten Tribut bezah - len müssen? Hebt die Thatsache, daſs die menschliche Natur dem Tod verfällt, nicht die Meinung wieder auf, daſs sie an sich Eins mit der göttlichen sei? Nein: der Gottmensch stirbt, und zeigt dadurch, daſs es Gott mit seiner Menschwerdung Ernst ist; daſs er zu den unter - sten Tiefen der Endlichkeit herabzusteigen nicht ver - schmäht, weil er auch aus diesen den Rückweg zu sich zu finden weiſs, auch in der völligsten Entäusserung mit sich identisch zu bleiben vermag. Näher, sofern der Gott - mensch als der in seine Unendlichkeit reflektirte Geist den Menschen als an ihrer Endlichkeit festhaltenden ge - genübersteht: ist hiemit ein Gegensaz und Kampf gesezt, und der Tod des Gottmenschen als gewaltsamer, durch der Sünder Hände, bestimmt, wodurch zu der physischen Noth noch die moralische der Schmach und Beschuldi - gung des Verbrechens kommt. Findet so Gott den Weg vom Himmel bis zum Grabe: so muſs für den Menschen auch aus dem Grabe der Weg zum Himmel zu finden sein; das Sterben des Lebensfürsten ist das Leben des Sterbli - chen. Schon durch sein Eingehen in die Welt als Gott - mensch zeigte sich Gott mit der Welt versöhnt: näher732Schluſsabhandlung. §. 147.aber, indem er sterbend seine Natürlichkeit abstreifte, zeigte er den Weg, wie er die Versöhnung ewig zu Stan - de bringt, nämlich durch Entäusserung zur Natürlichkeit und Wiederaufhebung derselben identisch mit sich zu blei - ben. Insofern der Tod des Gottmenschen nur Aufhebung seiner Entäusserung und Niedrigkeit ist, ist er in der That Erhöhung und Rückkehr zu Gott, und so folgt auf den Tod wesentlich die Auferstehung und Himmelfahrt.

Indem der Gottmensch, welcher während seines Le - bens den mit ihm Lebenden sinnlich als ein Andrer gegen - überstand, durch den Tod ihren Sinnen entnommen wird, geht er in ihre Vorstellung und Erinnerung ein, wird so - mit die in ihm gesezte Einheit des Göttlichen und Mensch - lichen allgemeines Bewuſstsein, und die Gemeinde muſs die Momente seines Lebens, welche er äusserlich durchlief, in sich auf geistige Weise wiederholen. Im Natürlichen sich schon vorfindend, muſs der Glaubige, wie Christus, dem Natürlichen aber nur innerlich, wie er äusserlich sterben, geistig, wie Christus leiblich, sich kreuzigen und begraben lassen, um durch Aufhebung der Natürlichkeit mit sich als Geist identisch zu sein, und an Christi Selig - keit und Herrlichkeit Antheil zu bekommen.

§. 147. Leztes Dilemma.

Hiemit scheint auf höhere Weise, aus dem Begriff Gottes und des Menschen in ihrem gegenseitigen Verhält - niſs heraus, die Wahrheit der kirchlichen Vorstellung von Christus bestätigt, und so zum orthodoxen Standpunkt, wiewohl auf umgekehrtem Wege, zurückgelenkt zu sein; wie nämlich dort aus der Richtigkeit der evangelischen Geschichte die Wahrheit der kirchlichen Begriffe von Chri - sto deducirt wurde: so hier aus der Wahrheit der Begrif - fe die Richtigkeit der Historie. Das Vernünftige ist auch wirklich, die Idee nicht ein Kantisches Sollen bloſs, son -733Schluſsabhandlung. §. 147.dern ebenso ein Sein; als Vernunftidee nachgewiesen al - so muſs die Idee der Einheit der göttlichen und menschli - chen Natur auch ein geschichtliches Dasein haben. Die Einheit Gottes mit dem Menschen, sagt daher Marheine - ke1)Dogmatik, §. 326., ist in der Person Jesu Christi offenbar und wirk - lich als ein Geschehensein; in ihm war, nach Rosenkranz2)Encyklopädie, S. 160., die göttliche Macht über die Natur concentrirt, er konnte nicht anders wirken, als wunderbar, und das Wunderthun, was uns befremdet, war ihm natürlich; seine Auferstehung, sagt Conradi3)Selbstbewusstsein und Offenbarung, S. 295 f., ist die nothwendige Folge der Vollendung seiner Persönlichkeit, und darf so wenig befremden, daſs es vielmehr befremden müſste, wenn sie nicht erfolgt wäre.

Allein sind denn durch diese Deduktion die Wider - sprüche gelöst, welche an der kirchlichen Lehre von der Person und Wirksamkeit Christi sich herausgestellt ha - ben? Man darf nur mit dem Tadel, welchen gegen die Schleiermacher'sche Kritik der kirchlichen Christologie Rosenkranz in seiner Recension ausgespröchen hat, dasje - nige vergleichen, was der leztere in seiner Encyklopädie an die Stelle sezt: so wird man finden, daſs durch die allge - meinen Sätze von Einheit der göttlichen und menschlichen Natur die Erscheinung einer Person, in welcher diese Einheit auf ausschlieſsende Weise individuell vorhanden gewesen wäre, nicht im Mindesten denkbarer wird. Wenn ich mir denken kann, daſs der göttliche Geist in seiner Entäusserung und Erniedrigung der menschliche, und der menschliche in seiner Einkehr in sich und Erhebung über sich der göttliche ist: so kann ich mir deſswegen noch nicht vorstellen, wie göttliche und menschliche Natur die verschie - denen und doch verbundenen Bestandtheile einer geschicht - lichen Person ausgemacht haben können; wenn ich den734Schluſsabhandlung. §. 147.Geist der Menschheit in seiner Einheit mit dem göttlichen im Verlauf der Weltgeschichte immer vollständiger als die Macht über die Natur sich bethätigen sehe: so ist dieſs etwas ganz Anderes, als einen einzelnen Menschen für ein - zelne willkührliche Handlungen mit solcher Macht ausge - rüstet zu denken; vollends aus der Wahrheit, daſs die auf - gehobene Natürlichkeit das Auferstehen des Geistes sei, wird die leibliche Auferstehung eines Individuums niemals folgen.

Hiemit wären wir also wieder auf den Kantischen Standpunkt zurückgesunken, den wir selbst ungenügend befunden haben; denn wenn der Idee keine Wirklichkeit zukommt, so ist sie leeres Sollen und Ideal. Aber heben wir denn alle Wirklichkeit der Idee auf? Keineswegs, sondern nur diejenige, welche aus den Prämissen nicht folgt. Wenn der Idee der Einheit von göttlicher und mensch - licher Natur Realität zugeschrieben wird, heiſst dieſs so - viel, daſs sie einmal in einem Individuum, wie vorher und hernach nicht mehr, wirklich geworden sein müsse? Das ist ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle andern zu geizen, sondern in einer Manchfaltigkeit von Exemplaren, die sich gegenseitig ergänzen, im Wechsel sich setzender und wiederaufhebender Individuen, liebt sie ihren Reichthum auszubreiten. Und das soll keine wahre Wirklichkeit der Idee sein? die Idee der Einheit von gött - licher und menschlicher Natur wäre nicht vielmehr in un - endlich höherem Sinn eine reale, wenn ich die ganze Mensch - heit als ihre Verwirklichung begreife, als wenn ich ei - nen einzelnen Menschen als solche aussondere? Eine Menschwerdung Gottes von Ewigkeit nicht eine wahrere, als eine in einem abgeschlossenen Punkt der Zeit?

Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, daſs als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht Kantisch unwirkliche, gesetzt wird. In einem Individuum,735Schluſsabhandlung. §. 147.einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Ei - genschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie zusammen. Die Menschheit ist die Vereinigung der bei - den Naturen, der menschgewordene Gott, der zur End - lichkeit entäusserte unendliche, und der seiner Unendlich - keit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters: des Gei - stes und der Natur; sie ist der Wunderthäter: sofern im Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer voll - ständiger der Natur bemächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material seiner Thätigkeit heruntergesezt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang ihrer Entwick - lung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist; sie ist der Sterbende, Auferstehende und gen Himmel Fahrende: sofern ihr aus der Negation ihrer Na - türlichkeit immer höheres geistiges Leben, aus der Aufhebung ihrer Endlichkeit als persönlichen, nationalen und weltli - chen Geistes ihre Einigkeit mit dem unendlichen Geiste des Himmels hervorgeht, Durch den Glauben an diesen Chri - stus, namentlich an seinen Tod und seine Auferstehung, wird der Mensch vor Gott gerecht: d. h. durch die Bele - bung der Idee der Menschheit in sich, namentlich nach dem Momente, daſs die Negation der Natürlichkeit, wel - che selbst schon Negation des Geistes ist, also die Nega - tion der Negation, der einzige Weg zum wahren geistigen Leben für den Menschen sei, wird auch der einzelne des gottmenschlichen Lebens der Gattung theilhaftig.

Dieſs allein ist der absolute Inhalt der Christologie: daſs derselbe an die Person und Geschichte eines Einzel - nen geknüpft erscheint, hat nur den subjektiven Grund, daſs dieses Individuum durch seine Persönlichkeit und seine Schicksale Anlaſs wurde, jenen Inhalt in das allgemeine Bewuſstsein zu erheben, und daſs die Geistesstufe der al -736Schluſsabhandlung. §. 147.ten Welt, und des Volks zu jeder Zeit, die Idee der Menschheit nur in der concreten Figur eines Individuums anzuschauen vermag. In einer Zeit der tiefsten Zerrissen - heit, der höchsten leiblichen und geistigen Noth, versinkt ein reines, als göttlicher Gesandter verehrtes Individuum in Leiden und Tod, und bildet sich in Kurzem der Glaube an seine Wiederbelebung: da muſste jedem das tua res agitur einfallen, und Christus als derjenige erscheinen, welcher, wie Clemens von Alexandrien in etwas anderem Sinne sagt, τὸ δρᾶμα τῆς ἀνϑρωπότητος ὑπεκρίνετο. War in seinem Leiden die äussere Noth, welche die Mensch - heit bedrückte, concentrirt, und die innere abgebildet: so lag in seiner Wiederbelebung der Trost, daſs in solchem Leiden der Geist sich nicht verliere, sondern erhalte, durch die Negation der Natürlichkeit sich nicht verneine, sondern in höherer Weise affirmire. Hatte Gott seinen Pro - pheten, ja seinen Liebling und Sohn, in solches Elend da - hingegeben um der Sünde der Menschen willen: so war auch diese äusserste Grenze der Endlichkeit als Moment im göttlichen Leben erkannt, und lernte der von Noth und Sünde darniedergedrückte Mensch sich in die göttliche Freiheit aufgenommen fühlen. Wie der Gott des Plato auf die Ideen hinschauend die Welt bildete: so hat der Gemeinde, indem sie, veranlaſst durch die Person und Schicksale Jesu, das Bild ihres Christus entwarf, unbe - wuſst die Idee der Menschheit in ihrem Verhältniſs zur Gottheit vorgeschwebt.

Die Wissenschaft unsrer Zeit aber kann das Bewuſst - sein nicht länger mehr unterdrücken, daſs die Beziehung auf ein Individuum nur zur zeit - und volksmäſsigen Form dieser Lehre gehört. Schleiermacher hat ganz recht ge - habt, wenn er sagte, es ahne ihm, daſs bei der speculati - ven Ansicht für die geschichtliche Person des Erlösers nicht viel mehr als bei der ebionitischen übrig bleibe4)Zweites Sendschr.. 737Schluſsabhandlung. §. 147.Die sinnliche Geschichte des Individuums, sagt Hegel, ist nur der Ausgangspunkt für den Geist. Indem der Glaube von der sinnlichen Weise anfängt, hat er eine zeitliche Geschichte vor sich; was er für wahr hält, ist äussere, gewöhnliche Begebenheit, und die Beglaubigung ist die historische, juristische Weise, ein Faktum durch sinnliche Gewiſsheit und moralische Zuverläſsigkeit der Zeugen zu beglaubigen. Indem nun aber der Geist von diesem Äus - seren Veranlassung nimmt, die Idee der mit Gott einigen Menschheit sich zum Bewuſstsein zu bringen, und nun in jener Geschichte die Bewegung dieser Idee anschaut: hat sich der Gegenstand vollkommen verwandelt, ist aus ei - nem sinnlich empirischen zu einem geistigen und göttlichen geworden, der nicht mehr in der Geschichte, sondern in der Philosophie seine Beglaubigung hat. Durch dieses Hinausgehen über die sinnliche Geschichte zur absoluten, wird jene als das Wesentliche aufgehoben, zum Unterge - ordneten herabgesezt, über welchem die geistige Wahrheit auf eigenem Boden steht, zum fernen Traumbild, das nur noch in der Vergangenheit, und nicht wie die Idee in dem sich schlechthin gegenwärtigen Geiste vorhanden ist5)Rel. Phil. 2, S. 263 ff.. Schon Luther hat die leiblichen Wunder gegen die geistli - chen, als die rechten hohen Mirakel, herabgesezt: und wir sollten uns für einige Krankenheilungen in Galiläa auf - here Weise interessiren können, als für die Wunder der Weltgeschichte, für die in's Unglaubliche steigende Ge - walt des Menschen über die Natur, für die unwider - stehliche Macht der Idee, welcher noch so groſse Massen des Ideenlosen keinen Widerstand entgegenzusetzen ver - mögen? uns sollten vereinzelte, ihrer Materie nach unbe - deutende Begebnisse mehr sein, als das universellste Ge - schehen, einzig deſswegen, weil wir bei diesem die Na - türlichkeit des Hergangs, wenn nicht begreifen, doch vor -Das Leben Jesu II. Band. 47738Schluſsabhandlung. §. 147.aussetzen, bei jenen aber das Gegentheil? Das wäre dem besseren Bewuſstsein unserer Zeit in's Angesicht wider - sprochen, welches Schleiermacher richtig und abschlieſsend so ausgedrückt hat: aus dem Interesse der Frömmigkeit könne nie mehr das Bedürfniſs entstehen, eine Thatsache so aufzufassen, daſs durch ihre Abhängigkeit von Gott ihr Bedingtsein durch den Naturzusammenhang aufgehoben würde, da wir über die Meinung hinausseien, als ob die göttliche Allmacht sich gröſser zeigte in der Unterbrechung des Naturzusammenhangs, als in dem geordneten Verlauf desselben6)Glaubenslehre, 1, §. 47.. Ebenso, wenn wir das Menschwerden, Ster - ben und Wiederauferstehen, das: duplex negatio affirmat, als den ewigen Kreislauf, den endlos sich wiederholenden Pulsschlag des göttlichen Lebens wissen: was kann an einem einzelnen Faktum, welches diesen Proceſs dazu bloſs sinnlich darstellt, noch besonders gelegen sein? Zur Idee im Faktum, zur Gattung im Individuum, will unsre Zeit in der Christologie geführt sein: eine Dogmatik, wel - che im Locus von Christo bei ihm als Individuum stehen bleibt, ist keine Dogmatik, sondern eine Predigt.

Aber eben die Predigt, wie diese sich dann zur Dog - matik verhalten solle, und wie überhaupt noch eine christ - liche Predigt möglich sei, wenn die Dogmatik jene Ge - stalt angenommen, ist die bedenkliche Frage, die sich uns hier schlieſslich noch entgegenstellt. Schleiermacher hat gesagt, wenn er sich die immer mehr herannahende Kri - sis in der Theologie denke, und stelle sich vor, er müſs - te dann zwischen einem von beiden wählen, entweder die christliche Urgeschichte wie jede gemeine Geschichte der Kritik preiſszugeben, oder seinen Glauben von der Specu - lation zu Lehen zu nehmen: so würde er für sich allein zwar das Leztere wählen; betrachte er sich aber in der Gemeinde, und vorzüglich als Lehrer derselben: so werde739Schluſsabhandlung. §. 147.er von dieser Seite fort und auf die entgegengesezte hin - übergezogen. Denn der Begriff der Idee Gottes und des Menschen, auf welchem nach der speculativen Ansicht die Wahrheit des christlichen Glaubens beruht, sei freilich ein köstliches Kleinod, aber nur Wenige können es be - sitzen, und ein solcher Privilegirter wolle er nicht sein in der Gemeinde, daſs er unter Tausenden den Grund des Glaubens allein hätte. Hier könne ihm nur wohl sein in der völligen Gleichheit, in dem Bewuſstsein, daſs wir alle auf dieselbe Weise von dem Einen nehmen und dasselbe an ihm haben. Und als Wortführer und Lehrer in der Gemeinde könnte er sich doch unmöglich die Aufgabe stel - len, Alt und Jung ohne Unterschied den Begriff der Idee Gottes und des Menschen beizubringen: vielmehr müſste er ihren Glauben als einen grundlosen in Anspruch neh - men, und könnte ihn auch nur als einen solchen stärken und befestigen wollen. Indem so in der gemeinsamen An - gelegenheit der Religion eine unübersteigliche Kluft befe - stigt werde, bedrohe uns die speculative Theologie mit einem Gegensaz von esoterischer und exoterischer Lehre, welcher den Äusserungen Christi, es sollen Alle von Gott gelehrt sein, gar nicht gemäſs sei: die Wissenden haben allein den Grund des Glaubens, die Nichtwissenden haben nur den Glauben, und erhalten ihn nur auf dem Weg der Überlieferung. Lasse hingegen die ebionitische Ansicht nur wenig von Christo übrig, so sei dieſs Wenige doch Allen gleich zugänglich und erreichbar, und wir bleiben dabei bewahrt vor jeder immer doch in's Römische hin - überspielenden Hierarchie der Speculation7)Im zweiten Sendschreiben.. Hier ist auf gebildete Weise dasjenige ausgesprochen, was man jezt von Vielen, nur in ihrer Art ungebildet, zu hören be - kommt, daſs der speculative und zugleich kritische Theo - log der Gemeinde gegenüber zum Lügner werde. Der47 *740Schluſsabhandlung. §. 147.wirkliche Thatbestand ist hiebei dieser. Die Gemeinde bezieht die kirchliche Christologie auf ein zu gewisser Zeit geschichtlich dagewesenes Individuum: der speculative The - olog auf eine Idee, die nur in der Gesammtheit der Individuen zum Dasein gelangt; der Gemeinde gelten die evangeli - schen Erzählungen als Geschichte: dem kritischen Theolo - gen guten Theils nur als Mythe. Soll er sich nun der Gemeinde mittheilen, so stehen ihm vier Wege offen:

Erstlich der schon in den obigen Äusserungen Schlei - ermacher's abgeschnittene Versuch, die Gemeinde auf sei - nen Standpunkt zu erheben, das Geschichtliche auch für sie in Ideen aufzulösen ein Versuch, der nothwendig fehl - schlagen muſs, weil der Gemeinde alle Prämissen fehlen, durch welche in dem Theologen seine speculative Ansicht vermittelt worden ist, den ebendeſswegen nur ein fana - tisch gewordener Aufklärungstrieb machen könnte.

Der zweite, entgegengesezte Ausweg wäre, sich durchaus auf den Standpunkt der Gemeinde zu versetzen, und für die kirchliche Mittheilung sich aus der Sphäre des Begriffs ganz in die Region der volksthümlichen Vorstel - lung herabzulassen. Dieser Ausweg wird gewöhnlich zu roh gefaſst und beurtheilt. Die Differenz zwischen dem Theologen und der Gemeinde wird für eine totale angese - hen: er müſste, meint man, auf die Frage, ob er an die Geschichte Christi glaube, eigentlich nein sagen, sage aber ja, und dieſs sei eine Lüge. Allerdings, wenn bei'm geist - lichen Vortrag und Unterricht das Interesse ein geschicht - liches wäre, verhielte es sich so: nun aber ist das Inter - esse ein religiöses, es ist wesentlich Religion, was hier mitgetheilt wird, erscheinend in Form von Geschichte, und da kann, wer zwar an die Geschichte als solche nicht gaubt, doch das Religiöse in ihr ebensogut anerkennen, wie wer auch die Geschichte als solche annimmt; es ist nur ein Unterschied der Form, von welchem der Inhalt unberührt bleibt. Deswegen ist es ungebildet, es schlecht -741Schluſsabhandlung. §. 147.weg Lüge zu nennen, wenn ein Geistlicher z. B. von der Auferstehung Christi predigt, indem er diese zwar als einzelnes sinnliches Factum nicht für wirklich, aber doch die Anschauung des geistigen Lebensprocesses, welche darin liegt, für wahr hält. Näher jedoch ist diese Iden - tität des Inhalts nur für denjenigen vorhanden, welcher Inhalt und Form der Religion zu unterscheiden weiſs, d. h. für den Theologen, nicht aber für die Gemeinde, zu wel - cher er spricht: diese kann sich keinen Glauben an die dogmatische Wahrheit z. B. der Auferstehung Christi den - ken, ohne Überzeugung von ihrer historischen Wirklich - keit, und kommt sie dahinter, daſs der Geistliche die lez - tere nicht annimmt, und doch noch von Auferstehung pre - digt, so muſs er ihr als Lügner erscheinen, wodurch das gan ze Verhältniſs zwischen ihm und der Gemeinde zerrissen ist.

So für sich zwar kein Lügner, aber der Gemeinde als solcher erscheinend und sich dessen bewuſst, müſste der Geistliche, wenn er demunerachtet zu der Gemeinde in der Form ihres Bewuſstseins zu reden fortfährt, am Ende doch auch sich selbst als Lügner erscheinen, und sähe sich somit auf den dritten, verzweifelten Ausweg hinge - trieben, den geistlichen Stand zu verlassen. Es hälfe nichts, zu sagen, er solle nur von der Kanzel herab, und statt dessen auf den Katheder steigen, wo er vor solchen, die zum Wissen bestimmt sind, seine wissenschaftliche Ansicht nicht zurückzuhalten brauche; denn wenn derje - nige, welchen der Gang seiner Bildung nöthigte, die geist - liche Praxis aufzugeben, nun viele solche heranzubilden bekäme, die durch ihn zur geistlichen Praxis unfähig würden, so wäre dieſs aus Übel nur ärger gemacht. Den - noch könnte es andrerseits nicht gut für die Kirche gesorgt heiſsen, wenn alle diejenigen, welche der Kritik und Spe - culation bis zu den oben dargelegten Ergebnissen in sich Raum verstatten, aus ihrem Lehrstande heraustreten soll - ten. Denn da würde sich bald kein Geistlicher mehr mit742Schluſsabhandlung. §. 147.solchen Forschungen abgeben wollen, wenn er dadurch Ge - fahr liefe, auf Resultate geführt zu werden, welche ihn nöthigten, aus dem geistlichen Stand zu treten; die Kri - tik und Philosophie würde Eigenthum der Nichttheologen werden, den Theologen aber bliebe nur der Glaube, wel - cher dann den Angriffen der kritischen und speculativen Laien unmöglich in die Länge widerstehen könnte. Doch der mögliche Erfolg hat da, wo es Wahrheit gilt, kein Gewicht, und so soll das eben Gesagte nicht gesagt sein. Das aber bleibt doch, wenn wir auf die Sache selbst se - hen, daſs, wen seine theologischen Studien auf einen Standpunkt geführt haben, auf welchem er glauben muſs, hinter die Wahrheit gekommen, in das innerste Mysterium der Theologie eingedrungen zu sein, der sich nicht ge - neigt oder verpflichtet fühlen kann, nun gerade die Theolo - gie zu quittiren, daſs dieſs vielmehr für einen solchen eine unnatürliche Zumuthung, ja geradezu unmöglich sein muſs.

Er wird also nach einem andern Ausweg suchen, und als solcher bietet sich ein vierter, der, wie die zwei ersten einseitig, der dritte nur eine negative Vermittlung war, so eine positive Vermittlung zwischen den beiden Extremen, dem Bewuſstsein des Theologen und der Ge - meinde, ist. Er wird sich in seiner Mittheilung an die Gemeinde zwar in den Formen der populären Vorstellung halten, aber so, daſs er bei jeder Gelegenheit den geistigen Inhalt, der ihm die einzige Wahrheit der Sache ist, durch - scheinen läſst, und so die allmählige Auflösung jener For - men auch im Bewuſstsein der Gemeinde vorbereitet. Er wird also, um bei dem gewählten Beispiel zu bleiben, am Osterfest zwar von dem sinnlichen Faktum der Auferste - hung Christi ausgehen, aber als die Hauptsache jenes mit Christo Begrabenwerden und Auferstehen hervorheben, worauf schon der Apostel dringt. Diesen Gang nimmt ei - gentlich jeder Prediger, auch der rechtgläubigste, so oft er aus der evangelischen Perikope, über welche er predigt,743Schluſsabhandlung. §. 147.eine Moral zieht: auch darin ist der Übergang von etwas äusserlich Historischem zu einem inneren, Geistigen, vor - handen. Freilich ist der Unterschied nicht zu übersehen, daſs der orthodoxe Prediger die sogenannte Moral derge - stalt auf die Historie seines Textes baut, daſs diese als geschichtliche Grundlage liegen bleibt: wogegen bei dem speculativen Prediger der Übergang von der biblischen Ge - schichte oder kirchlichen Lehre zu der Wahrheit, die er daraus ableitet, die negative Bedeutung einer Aufhebung von jener hat. Genau betrachtet jedoch fehlt auch im Über - gang des orthodoxen Predigers vom evangelischen Text zur Nutzanwendung dieses negative Moment nicht; indem er von der Geschichte zur Lehre fortschreitet, sagt er damit wenigstens so viel: mit der Geschichte ist es nicht gethan, sie ist die Wahrheit noch nicht, sie muſs von einer ver - gangenen zur gegenwärtigen, von einem euch fremden, äusseren Geschehen zu eurer eigensten inneren That wer - den: so daſs es sich mit diesem Übergang auf ähnliche Wei - se verhält, wie mit den Beweisen für das Dasein Gottes, wo das weltliche Dasein, von welchem ausgegangen wird, auch scheinbar zum Grunde liegen bleibt, in der That aber als das wahre Sein negirt, und zum Absoluten aufgehoben wird. Immerhin indessen bleibt es noch ein merklicher Unterschied, ob ich sage: da und sofern dieſs geschehen ist, habt ihr das zu thun und euch dessen zu getrösten, oder: dieſs ist zwar erzählt als einmal geschehen, das Wahre aber ist, daſs es immer so geschieht, und auch an und durch euch geschehen soll. Wenigstens wird die Ge - meinde beides nicht für dasselbe nehmen, und es kehrt somit auch hier die Gefahr zurück, daſs sie hinter diese Differenz komme, und der Prediger ihr, und dadurch auch sich selbst, als Lügner erscheine.

Von hier aus kann dann der Geistliche sich wieder ge - trieben finden, entweder direkt mit der Sprache herauszu - gehen, und das Volk zu seinen Begriffen erheben zu wol -744Schluſsabhandlung. §. 147.len; oder, da dieſs nothwendig miſsglücken muſs, sich behutsam ganz an die Vorstellungsweise der Gemeinde an - zuschmiegen; oder endlich, sofern er auch hier sich leicht verräth, am Ende doch aus der Geistlichkeit zu treten.

Hiemit ist die Schwierigkeit eingestanden, welche die kritisch-speculative Ansicht in der Theologie für das Ver - hältniſs des Geistlichen zur Gemeinde mit sich führt; die Collision dargelegt, in welche der Theolog geräth, wenn es sich fragt, was nun für ihn, sofern er auf solche An - sichten gekommen, weiter zu thun sei? und gezeigt, wie unsere Zeit hierüber noch nicht zur sichern Entscheidung gekommen ist. Aber diese Collision ist nicht durch den Fürwiz eines Einzelnen gemacht, sondern durch den Gang der Zeit und die Entwicklung der christlichen Theologie nothwendig herbeigeführt; sie kommt an das Individuum heran und bemächtigt sich seiner, ohne daſs es sich ihrer erwehren könnte. Oder vielmehr, es kann dieſs mit leich - ter Mühe, wenn es sich nämlich des Studirens und Den - kens enthält, oder wenn dieses nicht, doch des freien Re - dens und Schreibens. Und deren giebt es schon genug in unserer Zeit, und man brauchte sich nicht zu bemühen, ihrer immer mehrere zu machen durch Verunglimpfung derer, welche sich im Geiste der fortgeschrittenen Wissen - schaft vernehmen lassen. Aber auch deren giebt es noch, welche unerachtet solcher Anfechtungen doch frei bekennen, was nicht mehr verborgen werden kann und die Zeit wird lehren, ob mit diesen oder mit jenen der Kirche, der Menschheit, der Wahrheit besser gedient ist.

[745]

Register der erläuterten evangelischen Abschnitte.

(Die römische Ziffer bedeutet den Band, die arabische die Seitenzahl.)

Matthäus.

  • 1,1 17I,105 128. 156166. 1825 I,129 156. 166191.22 f. I,143 151 .25. I,180 191.
  • 2,1 23. I,220 259 .22.23. I,265 278.
  • 3,1. I,309 319. 212 I,319 331 355 363. 1317 I,369 .396.
  • 4,1 11I,396 428 .12. I,353 f.13 17 I,429.445 f.474. 1822 I,520 526 .23. I,429 ff .24. II,5 .88.
  • 57. I,569 587.
  • 5,17. I,497 ff.
  • 6,1 18I,495.
  • 8,1 4II,52 57. 513 II,103 122 .14. 15II,50. 1820 I,298.
  • 8, 21.22. I,526. 2327 II,173 180. 2834 II,17 f.25 40.
  • 9,1 8II,88 93. 913 I,541 54714 17 I,359 361 .18 .19 .23 26 II,133 140. 153156. 171173. 2022 II,94 103. 2731 II,65 69. 3234 I,686 ff. II,6. 35I,678. 3638 I,589.
  • 10,1 4I,548 566 .5.6. I,502 519. 742 I,587 591. 23I,465 .467.
  • 11,1. I,587 f.678. 26 I,331 355. 719 I,359 361. 2024 I,591 f.25 30 I,592 f.
  • 12,1 8I,495.645 f. II,122. 913 I,495. II,122 129.
746Register.
  • 12, 14II,375 ff. 1521 I,476. 2245 I,686 692 .38. 39II,3 5 .39. 40II,334 337. 4345 II,7 9. 4650 I,692 696.
  • 13,1 53I,593 598. 5458 I,446 451.
  • 14, 1.2. II,11 f.3 12 I,364 368. 1321 II,197 219. 2233 II,180 191. 34I,460. 35I,678. 36II,93 f.
  • 15,1 20I,499 f.21 28 I,503 f. II,47. 2939 II,198 219.
  • 16,1 4I,689 692. 512 II,213 215. 1320 II,469 477. 2123 II,303 311 .27. 28I,465. II,351.
  • 17,1 13II,252 274. 1I,557 f.14 21 II,40 47. 21II,7 .22. 23II,303 ff. 2427 II,194 197.
  • 18,1 20I,613 617. 696701. 2135 I,598.
  • 19, 1II,275 f.2 12 I,617 619. 1315 I,701 f.16 26 I,605. 2730 I,489 f.
  • 20,1 16I,598 f.17 19 II,303 ff. 2028 I,697 699.
  • 20,29 34II,60 69.
  • 21,1 11II,281 300 .12. 13I,702 709. 1417 II,297 f.18 22 II,236 251. 2327 I,619. 2832 I,599. 3344 I,606 .45. 46II,375 f.
  • 22,1 14I,609 613. 1546 I,619 625.
  • 23,1 36I,625 630. 37I,444.
  • 24,1 51.25,1 13. 3146. II,341 373.
  • 25,14 30II,606 609.
  • 26,1 5II,376. 613 I,709 731. 1416 II,380 396. 1719 II,396 401. 2029 II,402 442. 3035 II,434 436. 3646 II,443 454. 4756 II,472 480. 5768 II,480 489. 6975 II,489 498.
  • 27, 1II .485. 2II,511. 310 II,498 511. 1131 II,511 527. 3250 .55.56. II,527 553. 5054 II,554 565. 5761 II,574 582. 6266.28,4. 1113. II,582 590.
  • 28,1 10II,590 609 .16. 17II,609 629. 1820 II,666 ff.
747Register.

Markus.

  • 1,2 8I,319 331. 355363. 911 I,369 396 .12. 13I,396 428 .14. 15I,429 .474 .16 20 I,520 526. 2128 II,21 25. 2931 II,50 .32. 33I,682. 34I,475. II,23. 4043 II,52 57.
  • 2,1. 2I,682. 312 II,88 93. 5II,83 88. 1317 I,541 547. 1822 I,360. 2328 I,495 ff.645 f.
  • 3,1 5II,122 129 .6. II,375. 1319 I,548 566. 20I,682 .21 .31 35 I,692 696. 2230 I,686 ff.
  • 4,1 34I,596 f.35 41 II,173 180.
  • 5,1 20II,25 40. 2123. 3543 II,133 140. 153173. 2434 II,94 103.
  • 6,1 6I,447 451. 713 I,587 591. 1429 I,364 368. 3044 II,197 219. 4553 II,180 191. 5456 II,93.
  • 7,1 23I,628 f.24 30 I,503 f.31 37 II,69 76.
  • 8,1 9II,198 203.
  • 8,10 13I,690. II,4 .14.15. II,213 21516 20 II,199. 2226 II,69 76. 2730 I,469 477.31 ff. II,303 ff.
  • 9,1 13II,252 274. 1429 II,40 47. 3032 II,303 ff. 3350 I,578 ff.613 ff.696 ff.
  • 10,1 12I,581 f.617 619. 1316 I,701 f.17 27 I,605. 2831 I,489 f.32 34 II,303 ff. 3545 II,697 699. 4652 II,60 69.
  • 11,1 11II,281 300. 1214. 2026 II,236 251. 1517 I,702 709 .18.19. II,375. 2733 I,619.
  • 12,1 12I,606. 1340 I,619 625.
  • 13,1 37II,341 373.
  • 14, 1.2. II,377. 39 I,709 731 .10. 11II,380 396. 1216 II,396 401. 1721 II,425 43622 25 II,436 442. 2631 II,434 436. 3242 II,443 454. 4352 II,472 480. 5365 II,480 489. 6672 II,489 498.
  • 15,1 20II,511 527. 213740. 41II,527 553 .38. 39II,554 565. 4247 II,574 582.
  • 748
  • 16,1 8II,590 609. 914 II,609 629. 1518 II,666 674 .19. 20II,674 685.

Lukas.

  • 1,5 25I,79 104.26, 38I,129 156. 166180. 3956 I,191 197. 5780 I,79 104.
  • 2,1 5I,198 207. 620 I,208 219. 21I,219 f.22 38 .40. I,254 265. 39I,265 278. 4152 I,279 294.
  • 3, 1I,309 319. 218 I,319 331. 355363 .21. 22I,369 396. 23I,313 319. 2438 I,105 128. 156166.
  • 4,1 13I,396 428 .14. 15I,429 .474 .16 30 I,446 453. 3137 II,21 25 .38. 39II,50.
  • 5,1 11I,532 541. 1214 II,52 57. 1826 II,88 93. 20II,83 88. 2732 I,541 547. 3339 I,360.
  • 6,1 5I,495 ff645 ff. 610 II,122 129. 11II,375. 1216 I,548 566. 2049 I,569 587.
  • 7,1 10II,103 122.
  • 7,11 17II,140 142. 153156162 165. 170173. 1823 I,331 336. 2435 I,359 361. 3650 I,709 731.
  • 8,4 15I,593 597. 1618 I,579. 1921 I,692 .696 .22 25 II,173 180. 2639 II,25 40. 4042. 4956 II,133 140. 153155 .162 .170 173. 4348 II,93 103.
  • 9,1 6I,587 591. 79 II,11 f. vgl .516 .10 17 II,197 219. 1821 I,469 ff. 22II,304 ff. 27II,351. 2836 II,252 274. 3743 II,40 50 .44. 45II,304 ff. 4650 I,613 615. 69670251 56 I,507 ff. 5762 I,526.
  • 10,1. 17I,566 568. 212 I,589 f.13 15 I,591 f.22 24 I,592 f.25 29 I,623 625. 3037 I,599. 3842 I,727 731.
  • 11,1 4I,582 584. 58 I,599. 913 I,585. 1432 I,687 ff. 2426 II,7 9 .27. 28I,694 696 .29. 30II,334 336. 3336 I,579.584 f.
  • 749
  • 11,37 52I,626 629 .53. 54II,375 ff.
  • 12, 1I,682. 1621 I,599. 2234 I,584 f.35 48 II,344. 4959 I,691 f.
  • 13,1 5II,87 f.6 9 II,249 251. 1017 II,128. 1821 I,597 f.23 27 I,587 f.28. 29I,502 ff. 3133 II,375 .34. 35I,444.
  • 14,1 6II,127 f.7 11 I,626 f.16 24 I,609 613.
  • 15,1 32I,599 f.
  • 16,1 13I,600 603. 1431 I,603 605.
  • 17, 6II,251. 11II,276. 1219 II,57 60. 2037 II,341 ff.
  • 18,1 8I,599. 914 I,599. 1517 I,701 f.18 27 I,605. 3134 II,303 ff. 3543 II,60 69.
  • 19,1 10I,547 f.11 27 I,606 609. 2840 II,281 300. 4244 II,342 .362 .45 48 I,702 709.
  • 20,1 8I,358. 919 II,375 f.20 44 I,619 622. 4547 I,625 f.
  • 21,5 36II,341 373.
  • 22,1 6II,374 396. 713 II,396 401. 1420 II,415 ff. 436442. 2123 II,425 434. 2438 I,699 f. II,423 425. 3946 II,443 472. 4753 II,472 480. 5462 II,489 498. 6371 II,480 489.
  • 23,1 25II,511 527. 2649 II,527 553 .44. 45II,554 565. 5056 II,574 582.
  • 24,1 12II,590 609. 1349 II,609 629 .16 .31 .39 42 II,629 645. 2527 .32 .45 f. II,661 f.47 49 II,666 674. 5053 II,674 685.

Johannes.

  • 1, 14I,155 .15.27. 30I,340 ff. 483487. 1930. 36I,331 358 .29 .35 f. I,337 339.348 f. II,317 f.31. 33I,325 331. 3234 I,369 396. 3752 I,520 531.
  • 2,1 11II,219 236. 12I,431 .445 .13 17 I,702 709. 1822 II,329 334. 2325 I,524 .631.
  • 3,1 21I,631 645. 2236 I,341 345.
  • 4,1 3I,437.
  • 750
  • 4,4 42I,511 519. 26I,469 ff. 4345 I,657 660.663 f.46 54 II,103 122.
  • 5, 1I,454 f.2 16 II,85 f.129 133 .16. 18II,375 377. 1747 I,645 649.
  • 6,1 13II,197 219 .14. 15I,491. 1625 II,180 191. 2671 I,649 652. 62I,484 .64.70. 71II,384 389 .68. 69I,554 .558.
  • 7, 1I,438. 29 I,186 .441 .10 13 I,684 .14. 15I,300. 1638 I,652 f.19 f. II,376. 31II,1 ff. 3336 I,652 f.39 I,668 f.40 46 I,684 f.41. 42I,274. 4753 I,631 ff.
  • 8,1 11I,723 731. 1259 I,652 f.48 f. II,5. 57I,457. 58I,485. 59II,376.
  • 9,1 3II,82 88. 441 II,76 82.
  • 10,1 21I,653 f.17 f. II,311. 2229 I,654 f.
  • 10,30 39I,480 .684. II,376. 4042 I,432. 41II,3.
  • 11,1 44II,142 173. 4553 II,378 380. 54I,432. 5557 II,297 .377.
  • 12,1 8I,709 ff. 919 II,281 300. 2030 II,461 472. 3136 II,304. 3743 I,632 .635 .44 50 I,655 657.
  • 13,1. 2II,402 415. 320 II,415 425 .10 .18 .21 38 II,425 436. 20I,660 f.23 26 I,59 f.
  • 14 17II,456 460. 467472.
  • 14,18 ff.16,16 ff. II,337 f.673 f.
  • 14, 31I,661 663.
  • 15,1 5I,654.
  • 17, 5I,483 f.
  • 18,1 11II,472 480. 1227 II,481 498. 2840 II,511 520.
  • 19,1 16II,524 527. 1730 II,527 553. 3137 II,565 574. 3842 II,574 582.
  • 20,1 18II,590 604. 1929 II,609 629. 2123 II,669 674.
  • 21,1 14I,539 541. II,191 193. 1519 II,632 f.20 23 II,369 f.
[751]

Druckfehler und Zusätze.

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  • 64424Wiederspruch Widerspruch
  • 64811geben gaben
  • 66412Lukas,24, Lukas (24,

Zu S.381. Lin.7 9. Genauere Auskunft über die Abstam - mung des Verräthers weiss Olshausen zu geben, wenn er bibl.[752] Comm.2, S.458 Anm. sagt: Vielleicht ist1 Mos.49,17. [: Dan wird eine Schlange sein auf dem Wege, ein Cerast auf dem Fuse - steige, der das Pferd in die Hufen sticht, dass sein Reiter rück - wärts fällt] der Verrath des Judas prophetisch angedeutet, wor - nach man schliessen könnte, dass er aus dem Stamme Dan war.

About this transcription

TextDas Leben Jesu, kritisch bearbeitet
Author David Friedrich Strauß
Extent774 images; 211436 tokens; 23732 types; 1467632 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDas Leben Jesu, kritisch bearbeitet Zweiter Band David Friedrich Strauß. . XII, 750 S., [1] Bl. OsianderTübingen1836.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Bq 800<a>/2 Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=51564269X

Physical description

Antiqua

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Philosophie; Wissenschaft; Theologie; core; ready; china

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:35:04Z
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Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, Bq 800<a>/2 R
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