PRIMS Full-text transcription (HTML)
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William Lovell.
Zweyter Band.
Berlin und Leipzig,beyCarl Auguſt Nicolai.1796.
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Geſchichte des Herrn William Lovell. Erſtes Buch.

A 2[4][5]

1. Willy an ſeinen Bruder Thomas.

Gottes Seegen moͤge zu Dir kommen, lieber Bruder, ſo wie er mich nun ganz verlaſſen hat. Wenn Du in Deinem Herzen noch an den ar - men Willy denkſt, ſo bete fuͤr mich, daß ich bald unſer gutes Engliſches Ufer wiederſehe, und Dich mitten drinn im ſchoͤnen gottesfuͤrch - tigen Lande, wo alle Menſchen meinen frommen, einfaͤltigen Glauben haben, und die ganze Chri - ſtenheit einen ſtillen, eintraͤchtigen Wandel fuͤhrt. Hier ſcheint zwar die Sonne ſchoͤner und waͤrmer, weil es Gottes gnaͤdiger Wille iſt, daß ſie auch uͤber die Gottloſen ſcheinen ſoll: aber nach meiner Einſicht thut er daran gar nicht ganz recht.

6

Du biſt noch immer beim alten Lord[Burton], nicht wahr Thomas? Der Garten in Bon - ſtreet iſt noch ſchoͤn und friſch, und der Fiſcher Peter ſpielt noch jeden Abend auf der Schall - mey? Ach mir iſt, als koͤnnt ich Dich jetzt ſo mit Deinen uͤbereinandergeſchlagenen krum - men Beinen vor dem Thor des Hofes ſitzen ſehn, wo ich ſonſt immer ehemals ſaß und den luſtigen Schallmeyklang anhoͤrte, der alle Bau - ren und ſelbſt das liebe Vieh froͤhlich machte, wenn es von der Weide zuruͤck kam: hier ſitz ich jetzt in meinem kleinen dunkeln Kaͤm - merchen, und weine, daß ich nicht bei Dir bin. Nun, Gott wird alles zum Beſten lenken.

Du wirſt mir abmerken, daß ich in der Fremde gar nicht mehr ſo vergnuͤgt bin, wie ehemals; Lachen hat ſeine Zeit und Weinen hat ſeine Zeit. Freilich wohl! Aber es iſt doch nicht Recht, daß man einen alten Mann ſo zur Betruͤbniß zwingt, der ſich wegen der Seelen anderer Menſchen abhaͤrmt, daß ihm kein Biſſen Brod und kein Tropfen Wein mehr ſchmeckt. Wir ſind hier jetzt ſo luſtig, Bruder, daß wir ſogar auf dem Rande von Felſen tanzen und ſpringen; ich ſah einmal einen Jungen, der7 aus purem liebem Muthwillen in einen tiefen Brunnen fiel und elendiglich erſaufen mußte. Ich kann nicht ſchwimmen, Thomas, ich bin zu alt, um jemand wieder aus dem Waſſer ans Tageslicht zu ziehn. Was Herr William denkt, kann ich nicht wiſſen, aber Gott mag ihm bei - ſtehn, wenn er ganz verlaſſen iſt.

Du wirſt aus meinen Jammerliedern nicht recht klug werden koͤnnen, lieber Bruder! Ach, wohl dem Manne, dem das Elend eine Walliſiſche Mundart ſpricht, und der nicht ſitzet, wo die Spoͤtter ſitzen, noch wandelt den Weg der Gottloſen, den ich jetzt alle Tage mit mei - nem Herrn gehn muß. Er iſt nicht mehr derſelbe, er iſt voͤllig ausgetauſcht, er bringt ſein Geld durch, als wenn er die Schatzkammer haͤtte; aber das Geld iſt doch am Ende immer nur ein irdiſches Gut, an dem Gott keinen Wohlgefal - len hat, aber ſeine Seele, Tom, ſeine Seele, die er von Gott geliehen bekommen hat, und die er ihm dereinſt wieder bezahlen ſollte, ver - ſchwendet er auch, als wenn Seelen nur ſo auf allen Jahrmaͤrkten zum Kaufe ſtaͤnden. Wenn er ſich nicht bald wieder aͤndert, wird es mit ſeiner Rechnung an dem großen Wechſeltage8 uͤbel ausſehen. Doch richtet nicht, ſo werdet ihr auch nicht gerichtet.

Ja, Bruder, unſre heilige Schrift iſt jetzt noch mein einziger Troſt in meinen truͤben Jammerſtunden; Du glaubſt gar nicht, was fuͤr Kraft in dem Buche ſteckt. Ich packte es ſo ſorgfaͤltig mit in meinen Koffer ein, und ich ſitze nun oft ganze Stunden und leſe ſo andaͤch - tig, als wenn ich bald vor Gott gefuͤhrt und ein Engel aus mir gemacht werden ſollte. Man kann nicht wiſſen, wie ſchnell ſich manchmal etwas fuͤgt; es iſt noch nicht aller Tage Abend, und ſollte ich den großen Schritt thun muͤſſen, ſo denke ich in meinem Examen nicht ganz ſchlecht zu beſtehen.

Sage mir einmahl, lieber Bruder, warum manche Menſchen ſo dumm, und bei allem ih - ren eingebildeten Verſtande vor Dummheit or - dentlich wie vor den Kopf geſchlagen ſind? daß ſie die große breite Heerſtraße des goͤttlichen Worts durchaus nicht ſehn wollen, die ihnen vor den Fuͤßen ſteht, und ſich lieber durch ei - nen dichten wildverwachſenen Wald einen Weg hauen, ſich immer in dem Geſtraͤuche reiſſen, und ſtehen und ſich weiß machen, ſie haben die9 ſchoͤnſte Chauſſee von der Welt vor ſich! Mein Herr und Herr Roſa bilden ſich immer ein, ich verſtehe ihre hohen freigeiſteriſchen Reden gar nicht, die ſie manchmal fuͤhren, wenn ich dabey bin. Ach, ich verſtehe alles recht gut, wie ſie es gerne moͤgen wollen; wenn man in ſeinem dummen einfaͤltigen Herzen den Gedanken an Gott, und den Glauben an ihn ſo recht warm und kraͤftiglich fuͤhlt, ſo faßt man auch recht gut den Sinn von all den irdiſchen Irrlehrern, die in der Finſterniß wandeln, und da aus den Haͤnden ihre Augen machen muͤſſen. Aber wir ſind beſſer dran, Thomas, die wir vom Herrn erleuchtet ſind, wir ſehn mit unſern ei - genen Augen, wir fuͤhlen mit unſerm eigenen Herzen, die Gott uns mit auf die Welt gab und ſeinen Stempel drein ſetzte: ſie haben nach - gemachte Herzen, die im Sturm und Ungewit - ter nicht ausdauern, die in der Hitze zergehen und in der Kaͤlte zuſammenſchrumpfen. Gott hat mir einen Glauben gegeben, der fuͤr alle Tage in der Woche aushaͤlt, und des Sonntags ſchenkt er mir zuweilen noch eine fromme chriſt - liche Erleuchtung, daß es mir wie ein Magnet durch meine Seele geht und ſie wieder jung und10 friſch macht: nicht ſolche Erſcheinungen, Tho - mas, die bei uns manche naͤrriſche Leute haben; ſo eine ſanfte, ſtille Waͤrme, wie das erſte Thau - wetter im Fruͤhjahr. Darum koͤnnt ich mich auch immer noch troͤſten, wenn das ganze Un - gluͤck nicht grade meinen Herrn betraͤfe, den ich ſo auſſerordentlich von ganzer Seele lieb habe, daß ich fuͤr ihn ſterben koͤnnte, wenn es ſeyn muͤßte; aber er macht ſich aus dieſer Liebe gar nichts mehr: ich wuͤrde gegen einen Hund, der aus meiner Hand lieber, als von einem andern ſein Stuͤckchen Brod aͤße, mehr Andaͤchtigkeit haben. Die Maͤdchen und Weiber hier mit ih - rem gezierten und hochfahrenden Weſen ſind ihm lieber, ſo ein Herr Roſa, der nicht an Gott und Ewigkeit glaubt, iſt ſein Herzensfreund, ſolche Leute, die ihren Verſtand fuͤr thurmgroß halten, wenn ſie den Himmel mit allen ſeinen Sternen nicht ſehen wollen, und ſich einbilden, ſie koͤnnten dies alles auch ſo und noch beſſer machen, wenn ſie nur Zeit und Handwerkszeug haͤtten. Gott mag ihnen vergeben und ein Ein - ſehn in ihre Narrheit haben; die Hunde bellen den Mond an, und wenn der Mond ſo denkt wie ich, ſo nimmt er es ihnen gewiß nicht uͤbel.

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Ein Traum, ſagt man freilich wohl, iſt nur ein Schaum; aber ein Schiffer hat mir doch ein - mal erzaͤhlt, daß es auf dem Meere einen ge - wiſſen kurioſen Schaum gebe, der ordentlich Sturm und Schiffbruch voraus prophezeihe! Koͤnnt es denn nicht auch mit manchen Traͤu - men dieſelbe Bewandniß haben? So hatt ich ſchon in Frankreich einen gar bedenklichen Traum, damals, als der gute Herr Mortimer von uns wieder nach England zuruͤckreiſte. Wir alle ſtanden nehmlich unten an einem hohen, ho - hen Berge, ich, mein Herr, Herr Mortimer, Herr Balder und der Italiaͤner Roſa; oben wollten ſie alle gerne hinauf, aber Herr Mor - timer wurde muͤde und ſetzte ſich unten in einer ſchoͤnen gruͤnen Stelle nieder. Mit einemmale war ich weg und ich konnte gar nicht klug dar - aus werden, wo ich geblieben waͤre; die drei uͤbrigen gingen den Berg hinauf, und Herr Balder hatte einen ſehr wunderlichen Gang; als ſie faſt oben waren, fiel Herr Balder herunter, und aus dem Italiaͤner ward ein ganz fremder, unbekannter Menſch. Jetzt ging nun ein ſchwar - zer, alter Pudel dicht hinter meinem Herrn, hielt immer den Kopf dicht uͤber der Erde, und12 ging ſo recht aufmerkſam und liebreich; Du kennſt wohl die naͤrriſche Art an den Pudeln, Thomas, wenn ſie ſo zutraulich und geſetzt hin - ter einem hergehen. Oben ſtand Herr William und ſah ſo recht dreiſt in den tiefen fuͤrchterli - chen Abgrund hinein, als wenn er da in den Steinklippen zu Hauſe gehoͤrte: ich kann es nicht leiden, Thomas, wenn ein Menſch ſo recht oben auf einer Felſenklippe nicht etwas ſchwind - licht wird, denn es liegt in der Natur und es iſt eine Art von Frechheit, ſich nicht da oben ein bischen zu fuͤrchten. Nein, wie geſagt, Herr William that das gar nicht, ſondern gra - de umgekehrt, er buͤckte ſich noch ſo recht muth - willig uͤber. Der Hund, der mein Gemuͤth haben mußte, faßte ihn beim Rockſchooß, um ihn feſt zu halten; Herr William ſah ſich ſo mit ſeinen großen Augen um, und gab dem redlichen Pudel, einen tuͤchtigen Stoß mit dem Fuße, daß der Hund ſich zuſammenkruͤmmte, umkehrte und mit einem recht klaͤglichen Gewinſel den Berg hinunter trabte, ſo langſam, als wenn er zur Leiche ginge. In der Mitte ſah ſich der Hund noch einmal um, und ſo, wie ich es voraus ge - dacht hatte, fiel der Herr William jetzt ploͤtzlich in das Felſenthal hinunter.

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Nun, Thomas, moͤgt ich wohl ein groß Stuͤck Geld darauf wetten, daß Niemand anders als Ich der Pudel geweſen iſt? Herr Mortimer wollte auf dieſen Traum damals gar nicht ach - ten; aber er iſt mir heute wieder recht lebhaft eingefallen.

Wie geſagt, ich wollte, ich koͤnnte nach Eng - land zuruͤckreiſen; gebe Gott, daß ſich bald dazu eine Gelegenheit findet, denn es gefaͤllt mir nun in den fremden Laͤndern hier gar nicht mehr. Vielleicht geht aber noch alles wieder gut: lebe recht wohl, lieber Bruder, und bleibe Du mein guter Freund, ich bin gewiß zeitlebens

der Deinige.

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2. William Lovell an ſeinen Freund Eduard Burton.

Dein Brief, lieber Freund, der mich troͤſten, der mir den Zuſammenhang der Dinge im wah - ren Geſichtspunkte zeigen ſollte, iſt zu ſpaͤt ge - kommen. Ich war vielleicht ſchon ruhig, als Du die Feder anſetzteſt, um mich zu beruhigen. Es iſt ſo etwas Jaͤmmerliches in allen Bekuͤm - merniſſen dieſer Sterblichkeit, daß der Gram ſchon von ſelbſt verſchwindet, wenn man ihn nur genauer ins Auge faßt. Sollt ich jammern und klagen, weil nicht jeder meiner uͤbereilten Wuͤn - ſche in Erfuͤllung geht? Da muͤßt ich mein ganzes Leben verklagen und ich waͤre ein Thor. Das Flehen der Sterblichen ſchlaͤgt gegen die tauben Gewoͤlbe des Himmels, weil alles ſich in einem nichtigen ſchwindelnden Zirkeltanz dreht, nach Genuͤſſen greift, die nur der Wiederſchein von wuͤrklichen Guͤtern ſind, und ſo jeder fuͤhlt, wie ihm ſein getraͤumtes Gluͤck aus den Haͤnden entſchwindet. Wer aber vorher weiß, welche15 Gerichte er an dieſer Tafel findet, der waͤhlt klug aus und koſtet von jedem, wenn die Nach - barn hungrig vom Tiſche gehn, indem ſie auf ei - ne Lieblingsſpeiſe warteten, die nicht aufgetra - gen wurde. Und iſt es nicht ſo leicht, den Kuͤchenzettel von dieſem Leben zu erhalten?

Du wirſt mir ſchon nach dieſem Tone mei - nes Briefes glauben, daß ich voͤllig getroͤſtet bin, ich glaube jetzt, oder bilde mir es ein, alle Par - thien dieſes Lebens uͤberblicken zu koͤnnen, daß mich keine Anlage dieſes ſeltſam geordneten Parks uͤberraſcht, daß ich es weiß, wenn ich durch krumme Labyrinthe auf meine Fußſtapfen zuruͤckgekehrt bin, und den Zaun recht gut be - merke, der ſich hinter Gebuͤſche verſtecken ſoll. Ich bin ſogar ſeitdem in eine muthwillige Lau - ne gefallen, in einen gewiſſen humoriſtiſchen Rauſch, in welchem mir die Freuden und Leiden dieſes Lebens weder wuͤnſchenswuͤrdig noch ver - abſcheuungswerth erſcheinen, es iſt alles um mich her ein breiter, muͤhſam erfundener Scherz, der, wenn man ihn zu genau beobachtet und anato - mirt, nuͤchtern erſcheint: aber wenn man ſich auf dieſer Maskerade dem Lachen und der gu - ten Laune gutwillig hingiebt, ſo verfliegt der16 Spleen, und wir fuͤhlen es, daß wir auch im Lachen weiſe ſeyn koͤnnen.

Iſt denn uͤberhaupt nicht alles auf dieſer Erde ein und eben daſſelbe? Wir druͤcken uns ſelbſt die Augen feſt zu, um nur nicht dieſe Wahrheit zu bemerken, weil dadurch die Schran - ken einfallen, die Menſchen von Menſchen tren - nen. Ich koͤnnte hier viel wieder erzaͤhlen, was ich vordem meinem guten Mortimer nicht glau - ben wollte, denn bloß durch dieſen Eigenſinn unterſcheiden ſich die Charaktere der Menſchen; wir wuͤrden alle einen Glauben haben, wenn wir uns nicht von Jugend auf ein Schema machten, in das wir uns nach und nach muͤh - ſam hineintragen, das Geruͤſt und Sparrwerk eines Syſtems, und daraus unſere eingebildete Wahrheit herausſchreien, und dem Nachbar ge - genuͤber nicht glauben wollen, der in einem an - dern Kaͤfig ſteckt und eine andre Lehre predigt. Frei ſtehe der kuͤhnere Menſch, ohne Stangen und Latten die ihn umgeben, in der hohen Na - tur da, aus Baumwipfeln und Morgenroth zie - he er ſeine Philoſophie, und ſchreite wie ein Rieſe uͤber die Zwerge hinweg, die wie Ameiſen zwiſchen ſeinen Fuͤßen kriechen und ſich mit klaͤg -licher17licher Emſigkeit mit Sandkoͤrnern ſchleppen, um den gewaltigen Bau aufzufuͤhren, den ein einzi - ger Fußtritt aus ſeinen Wurzeln hebt.

Was wollt ich nun mit mir ſelber, als ich jene Briefe an Dich und an meinen Vater ſchrieb, in welchem ich ſo flehentlich um Ama - lien bat? Bin ich denn in dieſem Namen, in dieſem Laut eingekerkert, daß meine Seele nach ihrem Beſitz und nach Freiheit ſchmachtet? Denn was iſt unſre ſogenannte Liebe anders, als dieſe nichtswuͤrdige Einbildung, daß wir ein Weſen, das erſte beſte zu unſrer Gottheit ſtem - peln, und alle Gebete und Gedanken nach ihm hinrichten? Kannte ich denn Amaliens See - le hinglaͤnglich in den paar Wochen, in welchen ich ſie ſah, um ihre Freundſchaft zu wuͤn - ſchen? Und wenn ich nun auch ihr Freund bin, wenn mein Verſtand auch ihre Vorzuͤge er - kannt, welcher Unſinn, daß ich mit kindiſchen Gefuͤhlen dieſe Achtung zu ſinnlicher Liebe aus - dehne? daß ich verlange, Amalie ſoll meine Frau werden?

Ich muß uͤber mich und meinen Zuſtand la - chen, wenn ich laͤnger fortfahre, mir ihn deutlich zu entwickeln. Daß wir Sinnlichkeit haben,Lovell. 2r Bd. B18iſt keineswegs veraͤchtlich und kann es nicht ſeyn, und doch ſtreben wir unaufhoͤrlich, ſie uns ſelber abzuleugnen und ſie mit unſerer Ver - nunft in eins zu ſchmelzen, um nur in jedem der voruͤberfliegenden Gefuͤhle uns ſelbſt achten zu koͤnnen. Denn freilich iſt nichts als Sinnlich - keit das erſte bewegende Rad in unſerer Ma - ſchine, ſie waͤlzt unſer Daſeyn von der Stelle, und macht es froh und lebendig; ein Hebel, der in uns hineinreicht, und mit kleinen Gewich - ten große Laſten zieht. Alles, was wir als Schoͤn und Edel traͤumen, greift hier hinein, Sinnlichkeit und Wolluſt ſind der Geiſt der Muſik, der Mahlerei und aller Kuͤnſte, alle Wuͤnſche der Menſchen fliegen um dieſen Pol, wie Muͤcken um das brennende Licht. Schoͤn - heitsſinn und Kunſtgefuͤhl ſind nur andere Dia - lekte und Ausſprachen, ſie bezeichnen nichts wei - ter, als den Trieb des Menſchen zur Wolluſt; an jeder reizenden Form, an jedem Bilde des Dichters weidet ſich das trunkene Auge, die Gemaͤhlde, vor denen der Entzuͤckte niederkniet, ſind nichts als Einleitungen zum Sinnengenuß, jeder Klang, jedes ſchoͤngeworfene Gewand winkt ihn dorthin; daher ſind Boccaz und Arioſt19 die groͤßten Dichter, und Titian und der muth - willige Correggio ſtehen weit uͤber Domi - nichino und den frommen Raphael.

Ich halte ſelbſt die Andacht nur fuͤr einen abgeleiteten Kanal des rohen Sinnentriebes, der ſich in tauſend mannichfaltigen Farben bricht, und auf jede Stunde unſers Lebens Einen Funken wirft. Da mir die Augen nun dar - uͤber geoͤfnet ſind, will ich mich geduldig in mein Schickſal ergeben, ich darf kein Engel ſeyn, aber ungeſtoͤrt will ich als Menſch da - hin wandeln, ich will mich huͤten, mir ſelbſt um mein Daſeyn aͤngſtigende Schranken zu ziehn. So iſt mir der Name Amalie fremd geworden; war meine hohe, taumelnde, hingegebene Liebe, etwas anders, als das rohe Streben nach ih - rem Beſitze? ein Gefuͤhl, das wir uns von Ju - gend auf verkuͤnſteln, und uns das ſimple Ge - maͤhlde unſers Lebens mit unſinnigen Arabesken verderben. Darum eben verachtet der Greis dieſe jugendlichen Aufwallungen und wilden Spruͤnge des Gefuͤhls, weil er zu gut erfahren hat, wohin ſich alle dieſe glaͤnzende Meteore am Ende ſenken; ſie fallen wieder wie Raketen zur Erde und verloͤſchen. Aber dieſe GreiſeB 220ſind zugleich fuͤr Kuͤnſte und Enthuſiasmus todt, weil die Bluͤthe der Sinnlichkeit fuͤr ſie abge - bluͤht iſt, die Seele iſt in ihnen ausgeloſchen, und ſie ſind nur noch die matte Abbildung eines Lebendigen.

Ich will dem Pfade folgen, der ſich vor mir ausſtreckt, die Freuden begegnen uns, ſo lange die Spitzen in unſern Sinnen noch ſcharf ſind. Das ganze Leben iſt ein taumelnder Tanz; ſchwenkt wild den Reigen herum, und laßt alle Inſtrumente noch lauter durcheinander klingen! Laßt das bunte Gewuͤhl nicht ermuͤden, damit[uns] nicht die Nuͤchternheit entgegen koͤmmt, die hinter den Freuden lauert, und ſo immer wilder und wilder im jauchzenden Schwunge, bis uns Sinne und Athem ſtocken, die Welt ſich vor unſern Augen in Millionen flimmernde Regen - bogen zerſpaltet, und wir wie verbannte Geiſter auf ſie von einem fernen Planeten herunterblik - ken. Eine hohe bachantiſche Wuth entzuͤnde den frechen Geiſt, daß er nie wieder in den Armſe - ligkeiten der gewoͤhnlichen Welt einheimiſch werde!

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3. William Lovell an Roſa.

Warum ſchwaͤrmen Sie ſchon wieder in Nea - pel herum und verlaſſen Ihren Freund? Ich mag nicht Ihr Begleiter ſeyn, weil ich Baldern fuͤrchte, ſein Anblick und ſeine Art des Wahn - ſinns ſchneiden durch mein Herz. Ich fuͤhle mich hier in manchen Stunden auſſerordentlich einſam, ich gehe aus, um Sie zu ſehen und ver - geſſe, daß Sie nicht in Rom ſind. Ich habe ſo eben einen Brief an meinen Freund Eduard geſiegelt und die Thraͤnen ſtehen mir noch heiß in den Augen; alles, was ich je empfand, kam ungeſtuͤm, wie ein Waldſtrom in meine Seele zuruͤck, ich unterdruͤckte dis Gefuͤhl, das immer heftiger in mir emporquoll und ſchrieb endlich in einer Angſt, die zur Wuth ward, ich trotzte mir ſelber und ergab mich einer blinden Sucht zu uͤbertreiben, mußte aber den Brief ploͤtzlich abbrechen, weil die Thraͤnen endlich ihrer Feſ - ſeln ledig wurden und ich laut ſchluchzend und klagend in meinen Seſſel ſank. Wie aus den22 Wolken ſchwindelte ich herunter, alles, was mich aufrecht erhielt, verließ mich treulos; der Menſch iſt ein elendes Geſchoͤpf!

Ja das Blendwerk der jugendlichen Phanta - ſie iſt jetzt von meinen Augen genommen, ich habe mich uͤber meine Empfindungen belehrt, und verachte mich jetzt eben da, wo ich mir einſt als ein Gott erſchien, aber ach, Roſa, ich wuͤnſche mir jetzt in manchen Stunden dis kin - diſche Blendwerk zuruͤck. Was iſt aller Genuß der Welt am Ende, und warum wollen wir die Taͤuſchung nicht beibehalten, die uns auf jedem Felſen einen Garten finden laͤßt?

Und iſt denn meine jetzige Meinung nicht vielleicht eben ſo wohl Taͤuſchung, als meine vorhergehende? Mir faͤllt es erſt jetzt ein, daß beide Anſichten der Welt und ihrer Schaͤz - ze einſeitig ſind und es ſeyn muͤſſen, alles liegt dunkel und raͤthſelhaft vor unſern Fuͤßen, wer ſteht mir dafuͤr ein, daß ich nicht einen weit groͤßeren Irrthum gegen einen kleineren eingetauſcht habe?

Als ich mich ſo meiner vorigen Exiſtenz er - innerte, als ich alle Scenen, die mich ſonſt ent - zuͤckten, meinen Augen voruͤbergehen ließ, als23 ich an die[Ausſichten] des Lebens dachte, wie ſie damals vor mir lagen, o Roſa, wie eine unter - gehende Sonne beſchien mich der blaſſe Strahl, ohne mich zu erwaͤrmen; es fiel eine ſeltſame, raͤthſelhafte Ahndung meine ſchwankende Seele an, ich kann Ihnen meinen Zuſtand unmoͤg - lich deutlich machen. Mir war’s, als kaͤme es wie eine goͤttliche Offenbarung auf mich her - ab, es gingen die verſchloſſenen Thuͤren in mei - nem Innerſten auf, und ich ſchaute in die ſelt - ſame verworrene Werkſtatt meiner Seele. Wie wuͤſt und ungeordnet lag alles umher, was ich ſo ſchoͤn und zierlich aufgepackt glaubte, in al - len Gedanken fand ich ungeheure Kluͤfte, die ich aus trunknem Leichtſinn vorher uͤberſehen hatte, das ganze Gebaͤude meiner Ideen fiel zuſammen, und ich erſchrak vor der leeren Ebene, die ſich durch mein Gehirn ausſtreckte. Nun ſtiegen al - le Erinnerungen noch ſchoͤner und goldener in mir auf, die Vergangenheit ſtand noch friſcher und lebendiger vor mir, und ich ſah nur, wie viel ich verloren hatte und konnte keinen Ge - winn entdecken.

Iſt in jeglichem Lebenslaufe nicht vielleicht eine ſchoͤne blumenreiche Stelle, aus der ſich ein Bach24 ergießt, und dem Wanderer durch ſein ganzes Daſeyn friſch und erquickend nachfolgt? Hier muß er dann anfangen ſein Gluͤck zu gruͤnden; Liebe, Freundſchaft und Wohlwollen wandeln in dieſer ſchoͤnen Gegend, und warten nur darauf, daß er ihre Hand ergreife, um ihn zu begleiten. Wenn nun der Menſch hindurchgeht und nicht auf den Geſang der Voͤgel horcht, die ihn an - rufen, daß er hier verweilen ſolle, wenn er wie ein nuͤchterner Traͤumer einen oͤden Pfad ſucht, und der Quelle voruͤbergeht, wenn ihm Liebe und Freundſchaft, alle zarten Empfindun - gen vergebens nachwinken, und er lieber nach dem Gekraͤchze des heiſern Raben hinhorcht, ach, ſo verliert er ſich endlich in Wuͤſten von Sand, in verdorrte Gegenden des Waldes; alles hinter ihm iſt zugefallen und er kann den Ruͤckweg nicht entdecken; er erwacht endlich und fuͤhlt die Einſamkeit um ſich her.

Lieber Roſa, was ſagen Sie zu dieſem Brie - fe und zu Ihrem Freunde? ſo weit hatte ich geſchrieben, als ich unwillig die Feder nieder - warf, und im rothen Abendſchein durch die Straßen ging. Bald floß mein Blut ſchneller durch meine Adern, als mir ſo manche von den25 bekannten Geſichtern begegneten, als ich unſre Donna Bianka an ihrem Fenſter ſah. Die Einſamkeit, die engen Waͤnde ſind es, die uns verdruͤßlich und melancholiſch machen; mit der freieren Luft athmet der Menſch eine freiere Seele ein, und fuͤhlt ſich wie der Adler, der ſich mit regerem Fluͤgelſchlag uͤber die finſtern Wolken hinaushebt. Ich komme jetzt eben von der ſchoͤnen Bianka zuruͤck, und mein Brief iſt mir unverſtaͤndlich. Ich bin oft dar - auf gefallen, daß man nur immer ſuchen ſollte, recht viele Menſchen und ihre Gemuͤthsart und Anſicht der Dinge kennen zu lernen, wir verlie - ren uns ſonſt gar zu leicht in klaͤgliche Traͤume - reien: aber jedes neue Geſicht und jedes fremde Wort eroͤfnet uns die Augen uͤber unſre Irrthuͤmer. Ich kann oft einem ein - faͤltigen Menſchen wie einem Orakel zuhoͤ - ren, weil er mich durch ſeine Reden in einen ganz neuen Geſichtspunkt ſtellt, weil ich mich ſo in ihn hineindenken kann, und dabei zugleich meine eigene Gemuͤthsſtimmung vergleiche, daß ich ſelbſt in ſeinem einfaͤltigſten Geſchwaͤtz einen tiefen gedankenreichen Sinn entdecke. Bei Wei - bern vorzuͤglich habe ich aus jedem geſproche -26 nen Worte, ſelbſt aus dem unbedeutendſten etwas gelernt.

Bianka laͤßt gruͤßen; ſie iſt ein liebenswuͤr - diges Geſchoͤpf. Wir ſprachen heute lange dar - uͤber, wie ich ſie zuerſt durch Sie haͤtte kennen lernen; ich finde ſie jetzt noch ſchoͤner als da - mals, ihr großes feuriges Auge hat einen Strahl in ſeiner Gewalt, der bis ins Innerſte des Her - zens dringt, ſie hat alle meine Sinne in Auf - ruhr geſetzt, und ich habe ſie verlaſſen, auf die ſchoͤnſte gluͤcklichſte Art beruhigt.

Ich werde von ihr und von Ihnen traͤumen; antworten Sie mir bald.

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4. Roſa an William Lovell.

Ihr Brief hat mich ſehr amuͤſirt, lieber Freund; er macht ſo ein wahres Gemaͤhlde des Menſchen aus, daß ich ihn oft geleſen habe. Vorzuͤg - lich luſtig iſt die Schwermuth, mit der er an - hebt; und der Uebergang aus dieſem Adagio in das geſetzte und feſte Andante iſt ſo uͤberra - ſchend und doch ſo natuͤrlich, daß mir alles ſo deutlich war, als haͤtte ich es ſelbſt geſchrieben. Ich denke, Sie werden noch oͤfter aͤhnliche Er - fahrungen an ſich machen, und die Klagen wer - den ſich, wenn Sie ſonſt wollen, eben ſo kalt und philoſophiſch ſchließen, wie dieſer Brief es thut. Es iſt leider eben ſo demuͤthigend als wahr, daß bei Ihrer Melancholie nicht die phi - loſophiſche, ſondern die mediciniſche Unterſu - chung die richtigere war. Bianka hat ſie von ei - ner Krankheit geheilt, die kein Weiſer, kein Dichter, kein Spaziergang, kein Gemaͤhlde, kei - ne Muſik heilen konnte.

Die klemmende unbekannte Sehnſucht, die ſo oft den Buſen des Juͤnglings und des auf -28 keimenden Maͤdchens zuſammenzieht, was iſt ſie anders, als das Vorgefuͤhl der Liebe? Und was iſt die Liebe mit allen ihren froͤhlichen Qualen und ihren peinigenden Freuden weiter, als das Draͤngen nach dem Genuſſe, dem Ziele, nach wel - chem jeder rennt, ohne es zu glauben? Meinen Sie nicht, daß wenn man den Petrarka in ſei - ne Mutterſprache uͤberſetzte, ſeine langweiligen Gedichte die luſtigſte Lektuͤr von der Welt ſeyn muͤßten?

Gruͤßen Sie Bianka von mir und weihen Sie ihr eine Ihrer feurigſten Oden, denn ſie hat es um Sie verdient. Dieſe Maͤdchen ver - dienen nicht nur mit dem Roſenkranze der Liebe, ſondern auch mit der eichenlaubigen Buͤrgerkro - ne geſchmuͤckt zu werden. Dante war gewiß eben ſo enthaltſam, als Sie, ſonſt haͤtte er ſein finſteres Gedicht nicht geſchrieben, an deſſen Exiſtenz wir nichts gewonnen haben: folgen Sie meinem Rathe, denn nur der Phlegmatiſche wird nicht bei einer aͤhnlichen Art zu leben duͤ - ſter und melancholiſch.

Ich ſehe die Gegenden um Neapel und die Maͤdchen der Stadt mehr, als den finſtern Bal - der, der wie eine Mumie in einer Katakombe29 in ſeinem Zimmer liegt, und ſelbſt das Licht der Sonne verachtet, weil es ihm ein Bild der Froͤhlichkeit iſt. Ich moͤchte, wenn ich ein Dichter waͤre, nichts als lachende Satyren ſchrei - ben, ohne Bitterkeit und ſchiefe Spitzen; wenn man die Menſchen genauer anſieht, ſo giebt es keinen, den man bemitleiden kann, ſie erſchuͤttern nur das Zwergfell und die Thraͤnen ſind bei den Menſchen nur eine andre Art zu lachen, eben ſo wolluͤſtig, ohne traurig zu machen. Beides Schwaͤche, aber liebenswuͤrdige Schwaͤche der Muskeln, ein Krampf, ohne den die Geſichter ganz ihre Mannichfaltigkeit verlieren wuͤrden. Ihr Shakſpear hat nie ſo etwas wahres ge - ſagt, als wenn er den Puck zum Oberon ſagen laͤßt: Lord, what fools these mortals be! Leſen Sie die Stelle und den ganzen Zuſam - menhang im[Mid] summer nights dream, ſie iſt der beſte Kommentar uͤber meine Meinung.

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5. Balder an William Lovell.

Ich will Worte ſchreiben, William, Worte, das, was die Menſchen ſagen und denken, Freund - ſchaft und Haß, Unſterblichkeit und Tod ſind auch nur Worte. Wir leben jeder einſam fuͤr ſich, und keiner vernimmt den an - dern, antwortet aber wieder Zeichen aus ſich heraus, die der Fragende eben ſo wenig ver - ſteht; aber ſo wie unſer ganzes Leben ein un - nuͤtzes Treiben und Draͤngen iſt, das elendeſte und veraͤchtlichſte Poſſenſpiel, ohne Sinn und Bedeutung, ſo will ich Dir in einer ſchwermuͤ - thig luſtigen Stimmung einen Brief ſchreiben, uͤber den Du lachen ſollſt.

Ich weiß ſelbſt nicht, warum ich ſchreibe, aber eben ſo wenig weiß ich, warum ich Athem ſchoͤpfe. Es iſt alles nur um die Zeit aus - zufuͤllen und etwas zu thun, die elende Sucht das Leben mit ſogenannten Geſchaͤften auszufuͤl - len, Laͤnder erobern, Menſchen bekehren, oder Seifenblaſen machen, eine Sucht, die bei31 der Geburt unſerer Seele eingeimpft iſt, denn ſonſt wuͤrde ſchon der Knabe die Augen zu - machen, ſich vom langweiligen Schauſpiel ent - fernen und ſterben; dieſe Wuth alſo etwas zu thun macht, daß ich Papier und Feder nehme und Gedanken ſchreiben will, das un - ſinnigſte, was der Menſch ſich vorſetzen kann.

Ich wette Du lachſt ſchon jetzt, ſo wie ich uͤber den Anfang meines Briefes gelacht habe, daß mich die Bruſt ſchmerzt. Du lieſeſt den ganzen Brief nehmlich nur aus Dir heraus und ich ſchreibe Dir im Grunde keinen Buchſtaben. Aber mags ſeyn. Bin ich doch auch wohl ehe - dem ein Thor geweſen, ganze Buͤcher mit Ver - gnuͤgen durchzuleſen, und mir einzubilden, daß ich den Geiſt des Verfaſſers dicht vor meinen Augen habe. Mein Bedienter iſt gutwillig ge - nug und ſo geſchaͤftig, mir Papier, Dinte, Fe - der und alles uͤbrige zu beſorgen, als wenn von dieſem meinem Schreiben das Heil ganzer Laͤn - der abhinge. Daß es noch Menſchen giebt, die das, was man Geſchaͤfte nennt, ernſthaft treiben koͤnnen, iſt das wunderbarſte in der Welt: oder, ob ſie noch gar nicht darauf gefallen ſind, ſich ſelbſt und andre naͤher zu betrachten, wie32 laͤcherlich, poſſenhaft und weinerlich alles, alles, ſelbſt Sterben und Verweſen iſt?

Manche von den Menſchen, die mich beſu - chen, geben ſich viele Muͤhe ſich zu meinem kran - ken Verſtande herabzulaſſen, wenn ſie von ihren wichtigen Armſeligkeiten ſprechen. Sie glau - ben, ich verſtehe ſie nicht, wenn ich uͤber dem duͤſtern Abgrunde meiner Seele bruͤte, und ſetzen mir dann auf eine ekelhafte Art ihre Zwergge - danken auseinander. Ich hoͤre ſie in meiner Spannung zuweilen wie aus einer tiefen Ferne in meine Seele hineinreden, wie ein unartiku - lirter Waſſerfall, der gegen die Ufer ſchlaͤgt, ich antworte ihnen mit Worten, ohne ſie zu uͤberle - gen, und ſie verlaſſen mich mit tiefem Bedauern und halten mich fuͤr hoͤchſt ungluͤckſelig, weil ich ihre tiefen Ideen nicht verſtehe, wie ſie meinen.

Neulich war ich in einer Geſellſchaft von ei - nigen Menſchen, die ſich untereinander Freunde nannten. Es waren Kuͤnſtler, und zwei darun - ter hielten ſich fuͤr Dichter. Man hatte mich aus Mitleid gebeten, um mich zu zerſtreuen und meinen truͤben Geiſt aufzuheitern. Ich ſaß wie eine Statuͤe unter ihnen, und hoͤrte dabei jedes Wort, das ſie ſprachen. Man machte ſichgegen -33gegenſeitige Komplimente, einer ſprach von den ungeheuern Talenten des andern, ließ aber da - bei doch ſeinen Neid ziemlich deutlich hervor - blicken. Der eine ſprach von ſeinen Idyllen, die einer ſeiner Feinde in einer gelehrten Schrift heruntergeſetzt habe, weil er ihm ſeinen großen Ruhm beneide, er bat die andern Dichter eine Satyre auf dieſe Zuruͤckſetzung zu ſchreiben, und man ſprach mit einem Eifer und Feuer von der ganzen Kinderei, als wenn das Wohl der Welt darauf beruhe. Der Dichter ſprach immer lang - ſam und accentuirte jedes Wort hart und feier - lich; der andere bildete ſich wieder ein lebhafter zu ſeyn, und ſchrie und ſprach ſchneller, jeder hielt es fuͤr nothwendig, irgend etwas Charak - teriſtiſches an ſich zu haben, damit nicht die großen Seelen ſo leicht miteinander verwechſelt wuͤrden. Ach das Brauſen von Muͤhlraͤdern iſt verſtaͤndiger und angenehmer als das Klappern der menſchlichen Kinnbacken, der Menſch ſteht unter den Affen, eben deswegen, weil er die Sprache hat, denn ſie iſt die klaͤglichſte und un - ſinnigſte Spielerei; mir gingen hundert wil - de Gedanken mit harten Tritten durch den Kopf, alle dieſe Menſchen wurden ploͤtzlich ſoLovell. 2. Bd. C34weit von mir weggeruͤckt, daß ich ſie nur noch wie Larven in einem fernen Nebel daͤmmern ſah, daß ich ihr Gekreiſch wie Sumſen von Grillen hoͤrte, ich ſtand in einer fernen Welt und gebot herrſchend uͤber die niedrigen Schwatz - thiere, tief unter mir. Ich ward begeiſtert und ſtand prophetiſch auf und rief den Fleiſch - maſſen zu: O ihr Armſeligen! ihr Ver - blendeten! Merkt ihr denn nicht auf eure Nichtigkeit und bedenkt nicht, was ihr ſeyd? Klumpen von todter Erde, die uͤber kurzem wie - der in Staub verwehen; deren Andenken wie Schatten von Wolken voruͤberfliegen, euer Leben faͤhrt wie ein Rauch dahin und euer Ruhm iſt eine halbe Stunde, in der ein muͤſſiger Schwaͤtzer von euch ſpricht und euch verachtet. Und ihr ſteht, als[wenn] ihr Erde und Himmel beherrſchtet, du haͤltſt dich fuͤr Gott und beteſt dich ſelber an, weil du jaͤmmerliche Verſe ge - zimmert haſt! Ihr werdet ſterben, ſter - ben: die Verweſung empfaͤngt euch und fragt nicht nach eurem uͤberirdiſchen Genie! Die Hunde wuͤhlen einſt eure Gebeine aus, und fragen nicht darnach, ob daß derſelbe Kopf war, der einſt Stanzen ſchrieb! O Eitelkeit, du35 nichtswuͤrdigſter Theil des Menſchen! Thie - re und Baͤume ſind in ihrer Unſchuld vereh - rungswuͤrdiger, als die veraͤchtliche Sammlung von Staub, die wir Menſch nennen!

Ich kann mich nicht erinnern, was ich ohn - gefaͤhr weiter geſagt haben mag: aber ich ver - achtete ſie ſo tief, daß ich ſie mit den Fuͤßen haͤtte zertreten koͤnnen, daß ich es fuͤr eine Wohlthat an ihnen ſelbſt hielt, ſie zu vernich - ten. Als ich zum gewoͤhnlichen Leben zu - ruͤckkehrte, fand ich mich von ihren Armen feſt gehalten, man hatte meine Wuth gefuͤrchtet und man ſchafte den uͤberlaͤſtigen Redner nach Hauſe.

Koͤnnt ich nur Worte finden, um die Ver - achtung zu bezeichnen, in der mir alles erſcheint, was Menſch heißt! Mein Arzt iſt ſehr fuͤr meine Geſundheit beſorgt, weil es ſein Gewerbe mit ſich bringt. Wenn ich nicht gern vom Wet - ter mit ihm ſpreche, findet er meine Umſtaͤnde bedenklicher, will es mich aber nie merken laſ - ſen, daß er mich fuͤr wahnſinnig erklaͤrt. Er giebt mir viele kuͤhlende Mittel[und] behandelt mich wie eine todte Maſchine, ob er mir gleich ſelber ſo erſcheint. Er ſchuͤttelt zu allen mei - nen verwirrten Gedanken den Kopf, weil er ſieC 236nicht in ſeinen Buͤchern gefunden hat, und im Grunde bin ich wahnſinnig, weil ich nicht dumm und phlegmatiſch bin. Daß Gewohnheit und Dummheit die Menſchen ſo wie ein dicker Ne - bel umgeben kann, aus dem ſie nie herauszu - ſchreiten vermoͤgen! Lag er nicht von Jugend auf wie eine Gewitterwolke in mir, die ich mir ſelbſt mit Armſeligkeiten verdeckte und mir log, ich ſei froh? Kuͤndigte ſich nicht oft der innerſte dunkle Genius durch einen Ton an, dem ich ei - genſinnig mein Ohr verſtopfte? Ich verſtel - le mich nicht mehr und bin wahnſinnig! Wie vernuͤnftig die Menſchen doch ſind!

O ich muß fort, fort, ich will in wilden Waͤldern die Seelen ſuchen, die mich mehr ver - ſtehn, ich will Kinder erziehn, die mit mir ſym - pathiſiren: es iſt nur nicht Mode ſo zu denken, wie ich, weil es nicht eintraͤglich iſt.

Ich ſpiele mit den Menſchen, die zu mir kommen wie mit bunten Bildern. Ich gab mir neulich die Muͤhe, mich zu dem dummen Ge - ſchwaͤtze meines Arztes herunter zu laſſen; wir ſprachen uͤber Stadtneuigkeiten, uͤber Anekdo - ten, die er ungemein laͤcherlich fand; ich lieh ihm meine Zunge zum Dreinklingen und er37 fand, daß ich mich ungemein beſſere. Mit Selbſt - zufriedenheit verließ er mich und ich konnt es nicht unterlaſſen, ihm nach unſrer feierlichen Unterhaltung ein ſo lautes Gelaͤchter nachzu - ſchicken, daß er ſich erblaſſend umſah und wie - der alle Hofnung verloren gab.

Ich habe ehedem einen Menſchen gekannt, der taub, ſtumm und blind war. Keine Seele ſchien ſich in ihm zu offenbaren, und er war vielleicht der Weiſeſte unter den Sterblichen.

Roſa haͤlt ſich fuͤr ſehr klug und ſieht mich immer mit Mitleid an, und ich moͤchte nicht er ſeyn; ein Narr, den jeder Blick eines Maͤd - chens entzuͤckt, der immer, wenn er ſpricht, Epi - gramme drechſelt und ſeine Worte nur fuͤr ein dankbares Laͤcheln verkauft; deſſen Lebenslauf kleine Zirkel ſind, die er unaufhoͤrlich von neuem durchlaͤuft. Wenn er ſtirbt, wird ihm die Schaam gewiß am meiſten weh thun, daß er ordentlich verweſen muß.

Ich wohne jetzt in meinem Garten vor dem Thore. Wie auf der See treiben meine Ge - danken ungeſtuͤm hin und wieder, ich fuͤrchte mich vor dem blauen gewoͤlbten Himmel uͤber mir, der dort gebogen wie ein Schild uͤber der38 Erde ſteht, unter welchem wir Gewuͤrme wie gefangene Muͤcken ſumſen und nichts ſehen und nichts kennen und fuͤhlen. Ich mag auch gar nichts mehr denken und erſinnen. Es geht ein Sturm durch die Woͤlbung und die fernen Waͤlder zittern rauſchend, die See fuͤrch - tet ſich und murmelt leiſe und verdroſſen, es donnert fern ab im Himmel, als wenn ein Ge - witter zurecht gelegt wird, und der Werkmeiſter unachtſam den Donner zu fruͤh aus der Hand fallen laͤßt.

Ich ſchreibe beim heftigſten Gewitter. Es brauſt mit Hagel und Regenguͤſſen und der Sturmwind und Donner ſtimmen ſich, und einer ſingt dem andern den tobenden Wechſelgeſang nach. Wie fliehende Heere jagen Wolken Wol - ken, und die Sonne flimmert bleich auf fernen Bergen, die ganz weit weg wie goldene Kinder - jahre in der Sturmfinſterniß daſtehen; das Meer ſchlaͤgt hohe Wogen und donnert in ſeinem ei - genthuͤmlichen Ton. Ich lache und wuͤnſche das Wetter immer lauter und lauter, und ſchreie dazwiſchen und ſchelte den Donner furchtſam brauſe und ſtuͤrme wirbelnd, und[reiße] die Er - de und ihre Gebilde zuſammen, damit ein an - dres Geſchlecht aus ihren Ruinen hervorgehe!!

39

Die Alltaͤglichkeit koͤmmt wieder und das Wetter fliegt weiter. Wie eine reiſende Komoͤ - diantentruppe ſpielen die Wolken in einer an - dern Gegend nun daſſelbe Schauſpiel, dort zit - tern andre Menſchen jetzt, wie vor kurzem hier viele bebten, und alles verfliegt und ver - ſchwindet und kehrt wieder, ohne Abſicht und Zuſammenhang.

Ich fuͤrchte mich des Nachts nicht mehr. Als ich neulich allein um Mitternacht in mei - nem Zimmer ſtand und aus dem Fenſter den Zug der truͤben Wolken ſah, und mir alles wie Menſchengedanken und Empfindungen am Him - mel dahinzog, als ich ſichtbarlich in Dunſtgeſtalt manche Erinnerung vor mir fliegen ſah, und ich zu ruhen und zu ſterben wuͤnſchte, da drehte ich mich ploͤtzlich leiſe um, wie wenn mich ein Wind anders ſtellte. Und alle meine Vor - fahren ſaßen, ſtill und in Maͤnteln eingehuͤllt an meinem Tiſche, ſie bemerkten mich nicht und aßen mit den nackten Gebiſſen von den Speiſen, heimlich reckten ſie die duͤrren Todtenarme aus den ſchwarzen Gewaͤndern hervor, um kein Ge - raͤuſch zu machen und nickten gegenſeitig mit den Schaͤdeln. Ich kannte ſie alle, aber ich weiß40 nicht woran. Als ich meinen Vater bemerkte und daran dachte, wie vielen Kummer, wie vie - len Verdruß ich ihm gemacht haͤtte, mußte ich weinen, daß er jetzt ſo abgehaͤrmt und jaͤmmer - lich ausſah, und verſchaͤmt das nackte Gerippe mehr verdeckte als die andern. Sie hoͤrten mich ſchluchzen und gingen ſtill wie mit boͤſem Ge - wiſſen zur Thuͤr hinaus, aber doch ſo langſam und geſetzt, daß ſie glauben mußten, ich haͤtte ſie nicht bemerkt. Wenn wir ohne Schau - der unter unſern Moͤbeln ſitzen, warum wollen wir uns denn vor Todtengerippen fuͤrchten? Aus dem Gebeine der Thiere arbeiten ſich die Menſchen Putz heraus, und entſetzen ſich vor den naͤher verwandten Knochen.

Ich durchſtrich noch in derſelben Mitternacht das todte Gefilde, und rief alle Geſpenſter her - bei und gab ihnen Gewalt uͤber mich. Ich rief es in alle Winde, aber ich ward nicht gehoͤrt. Die Klocken ſchlugen aus der Ferne und ſpra - chen ſo langſam und feierlich wie betende Prie - ſter, Waͤlder und Winde ſangen Grabgeſang, und prophezeiten allem, was da lebt, den unaus - bleiblichen Tod, aber alle Geſchoͤpfe ſchliefen feſt und hoͤrten nichts davon, der Mond ſah weinend41 in die verſchleierte Welt hinein; es giebt nichts mehr, das mich entſetzt; und das macht mich betruͤbt. Der menſchliche Geiſt kann alle Ideen ſehr ſchnell erſchoͤpfen, weil er nur weni - ge faſſen kann. Er hat wie ein Monochord nur ſehr wenige Toͤne.

Lebe wohl, wenn es in dieſer Welt moͤglich iſt; ſei recht gluͤcklich, mag ich nicht hinzufuͤgen, weil es kein Gluͤck giebt, als zu ſterben, und ich weiß, daß Du den Tod fuͤrchteſt. Ich habe ſchon oft heimliche Verwuͤnſchungen ausgeſtoßen und graͤßliche Spruͤche verſucht, um die Gegen - ſtaͤnde um mich her in andre zu verwandeln. Aber noch hat ſich mir kein Geheimniß enthuͤllt, noch hat die Natur nicht meinen Bezauberun - gen geantwortet: es iſt graͤßlich, nichts mehr zu lernen und keine neue Erfahrung zu machen, ich muß fort, in die Wildniſſe der Appenninen und Pyrenaͤen hinein, oder einen noch kuͤr - zern Weg in das kalte wuͤrmervolle Grab.

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6. William Lovell an Roſa.

Die kleinen Bitterkeiten in Ihrem Briefe ha - be ich recht gut verſtanden, und ich gebe zu, daß Sie im Ganzen Recht haben moͤgen. Der Scherz eines Freundes kann auf keine Weiſe beleidigen.

Balder hat mitten in den Ausbruͤchen ſeines Wahnſinns einen Brief an mich geſchrieben, in dem mir manche Ideen dunkel ſind, er iſt ent - weder ſeiner Heilung nahe, oder gefaͤhrlicher krank, als je. Was ich in ſeinem Briefe ver - ſtanden habe, hat mich betruͤbt. Laſſen Sie doch ja etwas Acht auf ihn geben, er ſcheint die Idee zu haben, ſich von Neapel zu entfernen. Er gewinnt freilich wenig, wenn man ihm das Leben erhaͤlt, aber es ſollte mir leid um ihn thun, wenn er ganz zu Grunde ginge.

43

7. Roſa an William Lovell.

Ihr Rath, lieber Freund, iſt zu ſpaͤt gekom - men, Balder iſt fort, Niemand weiß wohin. Ob er entflohen iſt, ob er ſich ermordet hat, al - les iſt ungewiß. Ich weiß nicht, ob Sie ſich noch ſo wie ehemals fuͤr ihn intereſſiren; wenn dis der Fall waͤre, ſo wuͤrde mir dieſe Entfernung Ihrentwegen ſehr ſchmerzhaft ſeyn. Er iſt in den letzten Tagen zuweilen bis auf die hoͤchſte Stufe der Raſerei gekommen, in einer Geſellſchaft von Fremden hat er neulich alle mit den veraͤchtlichſten Reden beſchimpft, ge - ſchaͤndet und endlich bewußtlos mit dem Meſſer nach ihnen geſtochen. Er iſt zu beklagen, ſein Tod waͤre Gewinn fuͤr ihn. Gruͤßen Sie Bianka und Ihre uͤbrigen ſchoͤnen Freundinnen von mir, nur keine von den ſproͤden Tugendhaf - ten, die uns ſo oft zur Laſt gefallen ſind. Le - ben Sie recht wohl und vergeſſen Sie Balder.

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8. Karl Willmont an ſeinen Freund Mortimer.

Du wunderſt Dich gewiß uͤber dieſen Brief, beſonders wenn Du bemerkſt, von wo aus er datirt iſt. Wundre ich mich doch ſelbſt daruͤ - ber, ich kann es Dir alſo nicht uͤbel nehmen. Du haſt mich nun gewiß ſpaͤteſtens in dieſen Tagen in London vermuthet, und ich ſelbſt war feſt uͤberzeugt, daß ich morgen dort ſeyn wuͤrde, und nun ſitz ich ploͤtzlich hier auf Burtons Gut und fange einen Brief an Dich an, der eine Entſchuldigung, Erzaͤhlung, wie es gekom - men, und das Verſprechen, daß Du mich nun eheſtens ſehen wirſt, enthalten ſoll.

Die Entſchuldigung, Mortimer, magſt Du mir erlaſſen. In Glasgow ſaß ich wochen - lang in dem Hauſe eines alten Onkels, ohne zu wiſſen, wie ich die Zeit hinbringen ſollte. Wie wir uns gewundert haben! Ich dachte un - aufhoͤrlich an Emilien und an die Zukunft. Man wollte mich gern luſtig haben, aber ich hatte al -45 le Elektricitaͤt verlohren, und war dumm und gefuͤhllos; ſelbſt der Wein konnte nur auf einzelne Minuten meine frohe Laune zuruͤck - bringen.

Langeweile iſt gewiß die Qual der Hoͤlle, denn bis jetzt habe ich keine groͤßere kennen ge - lernt; die Schmerzen des Koͤrpers und der See - le beſchaͤftigen doch den Geiſt, der Ungluͤckliche bringt doch die Zeit mit Klagen hinweg, und unter dem Gewuͤhl ſtuͤrmender Ideen verfliegen die Stunden ſchnell und unbemerkt: aber ſo wie ich daſitzen und die Naͤgel betrachten, im Zim - mer auf und niedergehn, um ſich wieder hinzu - ſetzen, die Augenbraunen reiben, um ſich auf ir - gend etwas zu beſinnen, man weiß ſelbſt nicht worauf; dann wieder einmal aus dem Fenſter zu ſehen, um ſich nachher zur Abwechſelung aufs Sopha werfen zu koͤnnen, ach Mortimer, nenne mir eine Pein, die dieſem Krebſe gleich kaͤme, der nach und nach die Zeit verzehrt, und wo man Minute vor Minute mißt, wo die Ta - ge ſo lang und der Stunden ſo viel ſind, und man dann doch nach einem Monate uͤberraſcht ausruft: Mein Gott, wie fluͤchtig iſt die Zeit! Wo ſind denn dieſe vier Wochen geblieben?

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Oft aͤrgerte ich mich, daß ich noch in Schott - land war, und machte doch nicht die kleinſten Anſtalten zur Abreiſe, ich fuͤhrte mit meinen Verwandten das elendeſte und platteſte Leben von der Welt; ein Viehverkaͤufer genießt es auf eine geſundere Art, ja ein Menſch, der mit einem armſeligen Schattenſpiel von einem Dor - fe zum andern wandert und in jedem ſeine elen - den Spaͤße wiederholt, beſchaͤftigt ſich geiſtrei - cher, als ich in dieſer ganzen unermeßlichen lan - gen Zeit gethan habe. Mein Blut war ſo traͤ - ge und phlegmatiſch, daß ich manchmal meine Finger gegen die Tiſchecke ſchlug, um mir nur Schmerz zu machen, mich zu aͤrgern und zu er - hitzen, denn nichts iſt niedriger, als wenn in der Sanduhr unſers Koͤrpers ſo recht gemach ein Tropfen nach dem andern langſam und zoͤgernd unſer Leben abmißt, je mehr die Stroͤme des Bluts durcheinander rauſchen, und freilich die Maſchine etwas mehr abnutzen, um ſo heller und deutlicher lebt der Menſch. Ich wuͤnſche oft in Glasgow mit Sehnſucht, daß ein Gezaͤnk oder Schlaͤgerei auf der Gaſſe vorfallen moͤgte, damit ich nur etwas haͤtte, wofuͤr ich mich in - tereſſiren koͤnnte, es ward mir am Ende wichtig,47 wenn der dicke Mann im benachbarten Hauſe einen andern Rock als gewoͤhnlich trug. Ich ſchaͤme mich noch jetzt dieſes Lebens, ſo qualvoll und langſam, ſo ſchleichend und doch ſo ohne Ruhe, wie eine Schnecke leben muß, die bei ih - ren Wanderungen ihr Schaalenhaus verlohren hat, und es im heißen Sonnenſchein wiederſucht.

Endlich dacht ich an Dich und an London, an die Zerſtreuungen dort, an alle die philoſophi - ſchen Geſpraͤche, die wir miteinander fuͤhren koͤnnten: ich unterdruͤckte es gewaltſam, wenn mir auch dieſe Ausſicht manchmal langweilig vorkommen wollte. Ich entſchloß mich kurz, nahm von allen meinen Freunden und Bekann - ten zaͤrtlichen Abſchied, ſetzte mich zu Pferde, und ritt mit friſchem Leben erfuͤllt davon.

Mein Herz ſchlug immer gewaltiger, je mehr Meilen ich auf Engliſchem Boden zuruͤcklegte. Ei! dacht ich, ein paar Tage mehr oder weni - ger! und beſchloß dicht vor Bonſtreet voruͤber - zureiten, aber ja niemand da zu beſuchen, es koͤnne doch von ohngefaͤhr ſeyn, daß ich Emilien durch das Gartenthor erblickte. Ich machte gar keinen Plan, wie ich mich nehmen wuͤrde, wenn dis der Fall ſeyn wuͤrde, denn ich handle ſehr48 gern aus dem Stegereif und habe mich von je - her beſſer dabei befunden, denn meine duͤmmſte[n]Streiche waren immer die, die aus einem weit - laͤuftigen recht vernuͤnftigen Plan entſtanden.

Ich ritt ſo in Gedanken vertieft hin und naͤ - herte mich dem Landhauſe Burtons fruͤher als ich geglaubt hatte. Ein junger Menſch zu Fuß fragt mich ploͤtzlich, wo der Weg nach Bon - ſtreet gehe, er ſei bis zur naͤchſten Stadt ge - fahren und habe ſich nun verirrt. Ich fuͤhrte ihn auf den Weg und ritt gedankenvoll neben ihm hin. Warum ſollt ich nicht den jungen Burton auf einen halben Tag beſuchen duͤrfen? ſagt ich zu mir ſelbſt. Am Ende ſieht mich ſelbſt der Vater gern. Und koͤnnte mich nicht jemand von ohngefaͤhr durch das Dorf reiten ſehn, Emilie es erfahren und fuͤr die groͤßte Gleichguͤltigkeit auslegen? Ich koͤnnte uͤber - dis zum Lord ſagen, daß ich deßwegen einen klei - nen Umweg genommen haͤtte, um den Bothen, der ihn ſprechen wollte, gewiß und ſicher nach Bonſtreet zu bringen. Ach ich hatte noch hundert andre Vorſtellungen, tauſend Stimmen in mir, die alle laut riefen: ich ſolle und muͤſſe im Schloſſe abſteigen! Ich gehorchte, dennwas49was thut man nicht alles, um nur eines ſolchen Laͤrmens los zu werden?

Ich ſprach den jungen Burton, den Vater und Emilien. Sie iſt doch ſehr ſchoͤn, und ſo gut, ſo liebenswuͤrdig! Iſt es hier Suͤnde, wenn man wuͤnſcht? Alle Federn meines Weſens haben neue Spannkraft erhalten, ich denke mit Schrecken an meinen Aufenthalt in Schottland. Hier leb ich doch, noch hab ich nicht ein einzigmal gegaͤhnt; die Stunden verfliegen mir wie Minuten, und ich erobre ein Laͤcheln, einen freundlichen Blick nach dem an - dern von Emilien! O heiliger Lovell, ſtehe mir in meiner Liebe bei! Eduard hat mir ſeltſame Sachen von ihm erzaͤhlt, er muß ſich ſehr geaͤndert haben; indeß ich gebe auf dieſe Aenderungen nicht viel, je mehr er auf der an - dern Seite uͤbertreibt, um ſo eher kann er zu derſelben Narrheit zuruͤck kommen, in der er ehmals zu Hauſe war. Ich kann mir aber jetzt ſeinen ehmaligen Zuſtand recht lebhaft den - ken, ich habe ihm damals doch etwas Unrecht gethan.

Emilie ſcheint ſehr auf ſich Acht zu geben; ich kann manchmal nicht klug daraus werden,Lovell. 2r Bd. D50ob dieſe Kaͤlte und Zuruͤckgezogenheit erzwungen oder natuͤrlich iſt.

Schreibe mir ja, denn ſonſt habe ich noch einen Vorwand laͤnger hier zu bleiben, als ich ſollte, weil ich dann noch auf Deinen Brief warten wuͤrde. [Eduard] laͤßt Dich gruͤßen; er iſt ein vortrefflicher, herzensguter Menſch, und der Vater iſt wieder ganz freundlich gegen mich und dann wieder ploͤtzlich fremde, abwechſelnd wie Herbſtwetter; ich habe ſchon dieſe Geſichter bei mehreren reichen Leuten gefunden, ſie ſetzen mich leicht in Verlegenheit. Lebe wohl und antworte bald.

51

9. Mortimer an ſeinen Freund Karl Willmont.

Wenn du noch nicht bald des ſeltſamen Her - umtreibens uͤberdruͤßig biſt, ſo weiß ich nicht, was ich von Dir denken ſoll. Ich habe Dich ſchon ſehnlich erwartet, ſo ſehr, daß ich es erſt jetzt erfahren habe, wie ſehr Du mein Freund biſt. Ich kann nichts rechts thun und denken, weil ich noch immer Deine Ankunft als einen Abſchnitt anſehe, hinter welchem mein Leben von neuem beginnen ſoll. Oft iſt es mir ſelt - ſam, daß Du nach einer ſo langen Entfernung nun wieder da ſeyn ſollſt; ich bin Dir ſchon vor dem Thore entgegen gegangen; ich laufe ans Fenſter, wenn ich den Trab eines Pferdes hoͤre. Tauſend Ideen moͤcht ich Dir gern mittheilen und Deine Meinung erfahren.

William Lovell iſt ſich ſelbſt kaum mehr aͤhn - lich, und es iſt wuͤrklich ſeltſam, wenn man be - denkt, daß ein Menſch nichts Fremdartiges in ſich hineinnehmen kann, und daß dieſer Leicht -D 252ſinn, dieſe epikuriſche Freigeiſterei ſchon damals in ihm unentwickelt lagen, als wir ihn kann - ten.

Manches ſtimmt mich oft recht melancholiſch, ſo unrecht es auch ſeyn mag, wenn man es iſt: der alte Melun iſt in Paris an einer Auszeh - rung geſtorben, die Comteſſe mit ihrem Liebha - ber entlaufen, niemand weiß wohin. Daß ſo viele von den Leuten, die ich gekannt habe, ſchon begraben ſind! daß ſich ſchon ſo manche dem Ver - derben in die Arme geworfen haben!

Was iſt es uͤberhaupt fuͤr ein armſeeliges Ding um das, was man gewoͤhnlich Ausbil - dung nennt. In den meiſten Faͤllen iſt es nur Veraͤnderung. Wie weiſe habe ich mich ſo oft in meinem zwanzigſten Jahre gefuͤhlt, daß ich mich uͤber manche Narrheiten des Menſchen - geſchlechts erhaben fuͤhlte: und jetzt ruͤcken mir manche der Thorheiten ſo nahe, daß ſie ſich, wenn das Verhaͤltniß ſo fortſchreitet, bald mit meinem innerſten Selbſt vereinigen werden.

Du wirſt bemerken, daß ich hier vorzuͤglich von meiner Liebe zu Amalien ſpreche. Eine Liebe, die vielleicht noch gluͤhender iſt, als die, mit der Lovell ſie einſt begluͤckte. Er hat ſie53 vergeſſen, und fuͤhlt ſich groͤßer; ich habe meine Unempfindlichkeit abgelegt, und fuͤhle mich edler. Sie iſt mir weit ergebener als ehemals, aber es thut mir ſehr leid, daß ſie fuͤr meinen Verſtand Achtung, eine viel zu uͤbertriebene Achtung em - pfindet. Alle Gefuͤhle, die ich ihr zeige, haͤlt ſie nur fuͤr Spiele meines Witzes, und ſie behaͤlt ſich daher beſtaͤndig in ihrer Gewalt. Auch ſie hat den leichtſinnigen William etwas mehr vergeſſen; nur ſeh ich, wie zuweilen die alten Erinnerungen in ihrer Seele wieder aufwachen, und ſie dann meinen Umgang ploͤtzlich fade und abgeſchmackt findet.

Die Seelen ſind viel werth, die ſich noch nicht ganz der Mode und der ſogenannten Le - bensart zum Opfer gebracht haben. Sie ſind ſehr ſelten, und man ſollte ſie darum koͤſtlich achten.

Gruͤße Eduard Burton und komme bald nach London.

54

10. Der Lord Burton an den Advokaten Jackſon.

Ich bin Ew. Wohledlen fuͤr die Nachrichten, die mir Dieſelben durch den jungen Fenton ha - ben zukommen laſſen, außerordentlich verbunden. Ich freue mich uͤber den Eifer und uͤber die Thaͤ - tigkeit, mit welchem Sie unaufhoͤrlich zu mei - nem Beſten beſchaͤftigt ſind, ich gebe Ihnen von neuem die Verſicherung meiner ewigen unveraͤn - derlichen Dankbarkeit. Ich bin uͤberzeugt, daß Ihre Bemuͤhungen nun bald ſichtbarere Folgen haben werden, die bis jetzt ein unguͤnſtiger Zu - fall immer noch zuruͤckgehalten hat. Eilen Sie aber, damit meine Hoffnungen nicht immer nur Hoffnungen bleiben, damit ich endlich aufhoͤre, mit jedem Tage wieder meinen Genuß auf viele Tage aufzuſchieben. Ich bin alt, und nicht mehr ſo fuͤr Hoffnungen gemacht, wie der juͤn - gere Mann, die Unentſchiedenheit aͤngſtigt mich, und je gewiſſer ich meiner Sache zu ſeyn glau - be, um ſo mehr Einwuͤrfe und Zweifel fallen55 mir wieder ein: alles dies beſchaͤftigt meine Seele zu ſehr, und macht ſie unruhig. Das Alter kann dieſe Wogen nicht ſo leicht in Ruhe legen, als es der Juͤngling kann. Vor zwanzig Jahren wuͤrde mich dieſer Prozeß beſchaͤftigt und zugleich unterhalten haben; aber jetzt kann ich nur in dem entſcheidenden Moment einen freu - digen Moment erblicken. Sie ſehen, wie feſt ich darauf vertraue, daß ſich alles zu meinem Vortheile entſcheiden wird, aber Sie ſehn auch zugleich, wie noͤthig es iſt, daß Sie meinen Beſorgniſſen ſo fruͤh als moͤglich ein Ziel ſetzen. Denn ich finde es ſehr natuͤrlich und billig, daß Sie in Ihrer Lage durch Aufſchub und Verlaͤn - gerung meine Dankbarkeit verlaͤngern und meine Verbindlichkeit vermehren wollen. Sie glauben, daß ich jetzt in einer gewiſſen Abhaͤngigkeit von Ihnen exiſtire, bey der Sie unvermerkt einen Theil meiner Schwaͤchen nach dem andern fuͤr ſich erobern koͤnnen. Ich finde an dieſer Klug - heit nichts zu tadeln, ſondern ſie iſt lobenswuͤr - dig, und der iſt ein Thor, der in dem verwor - renen Wechſel des Lebens nicht die wiederkeh - rende Fluth geſchickt benutzt, um ſein Fahrzeug flott zu machen. Sie ſehen, wie ſehr ich Ih -56 ren Verſtand ſchaͤtze; nur muß ich Ihnen ſagen, daß Ihre Klugheit bey mir unnuͤtz iſt, der ich mich Ihnen außerordentlich verbunden erkenne, wenn der Prozeß auch morgen geendigt iſt, und der ich Sie grade eben ſo belohnen wuͤrde, als wenn das Endurtheil noch einige Jahre hindurch von einem Tage zum andern aufgeſchoben wuͤrde. Sie koͤnnen auf die Art alle Intereſſen, die Sie gewinnen wollen, auf eine weit ſchnellere und entſchiedenere Art zuſammenziehn, als wenn Sie auf ein langweiliges Sparen ausgingen das am Ende denn doch ungewiß ſeyn duͤrfte. Fuͤr Ihre Sorgfalt mir den jungen Fenton zu ſchicken, muß ich Ihnen Dank ſagen; nur geſtehe ich Ihnen zugleich, daß ich die Nothwendigkeit die - ſer Abgeſandſchaft nicht eingeſehen habe. Durf - ten Sie alle dieſe nicht außerordentlich bedeu - tende Nachrichten keiner Poſt vertrauen? In dieſem Falle treiben Sie die Beſorglichkeit zu weit, und kein Mann handelt gut und richtig, wenn er aͤngſtlich handelt. Sie duͤrfen alſo nur kuͤnftig dreiſter verfahren, und nicht einen Mit - wiſſer unſers Geheimniſſes erſchaffen, der uns beiden auf jeden Fall zur Laſt faͤllt. Wenigſtens kommt es meinem Verſtande ſo vor, und ich57 denke, auch Sie werden mir darin vollkommen recht geben, denn jeder andre, als ich, wuͤrde dadurch in Ihrer Hand ſtehn, und einem ſo billigen Manne, wie Sie, muß es weh thun, wenn man auch nur auf einen Augenblick einen ſolchen Gedanken von ihm hegen koͤnnte. Ich wuͤrde mich aber auf keinen Fall abhalten laſ - ſen, ſo zu handeln, wie ich mir zu handeln vorgeſetzt habe. Ich habe ſchon oft mit meinen Freunden uͤber den Satz geſtritten, daß es ſo gut wie unmoͤglich ſey, einem Manne, dem ſeine Plane ernſt ſind, das Kleinſte oder das Groͤßte in den Weg zu legen, das er nicht wieder fort - ſchaffen, oder ſelbſt zu ſeinem Vortheile brauchen koͤnnte. Ich habe ſchon manchen meiner Ver - folger mit ſeinen eigenen Waffen geſchlagen, denn nichts iſt dem Manne von Kopf unertraͤg - licher, als zu ſehn, wie jeder nach den Faͤden greifen will, an denen er regiert wird, ich halte es nicht fuͤr unmoͤglich, ſie alle durchzuſchnei - den, ſo daß dann der Menſch frey und unge - hindert ſeinen Weg fortgeht. Ew. Wohledlen ſind mir auch noch den letzten meiner Briefe ſchuldig, den Sie mir nach unſerm Ueberein - kommen ſogleich haͤtten zuruͤckſchicken ſollen. Sie58 verzeihen, daß ich Sie an dieſe Zerſtreuung er - innert habe, eben ſo, daß ich Ihnen mit ei - nem ſo weitlaͤuftigen Briefe zur Laſt gefallen bin. Die Zeit eines jeden Geſchaͤfftmannes iſt edel und faſt unbezahlbar, ich bitte um Vergebung, wenn ich Ihre beſſere Gedanken mit meinen ſchlech - tern unterbrochen habe; ſollte ich aber ſo gluͤck - lich geweſen ſeyn, Ihren Eifer von neuem zur Beſchleunigung des Prozeſſes etwas anzufeuren, ſo haben wir beide bei dieſem kleinen Stillſtan - de gewonnen, und in dieſer Hoffnung bin ich

Ihr Goͤnner und Freund Lord Burton.

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11. Roſa an Andrea Coſimo.

Deine Meinung iſt auch vollkommen die mei - nige. So ſonderbar das klingen mag, wenn ein junger Menſch dies einem alten Manne ſagt, ſo iſt es mir doch wahrſcheinlich, daß ich hierin recht habe. Es iſt ſchwer, ſich in den Stand - punkt zu ſtellen, aus welchem ein Greis die Welt anſieht, allein gewiß nicht unmoͤglich. Ich finde es ſo wahr, was Du in Deinem neulichen Brief ſagſt, es iſt ſo ſchwer und wieder ſo leicht, die Seelen der Menſchen zu beherrſchen, wenn man nur etwas die Faͤhigkeit beſitzt, ſich in die Geſinnungen anderer zu verſetzen, ihre Verſchiedenheiten zu bemerken, und dann Faſ - ſung und Gleichmuͤthigkeit genug zu behalten, um in keinem Augenblicke ihnen ſein eignes Selbſt darzuſtellen. So wie die Sprache nur in konventionellen Zeichen beſteht, und jeder - mann doch mit dem andern ſpricht, ob er gleich recht gut weiß, daß jener durch ſeine Worte vielleicht keinen Begriff ſo bekoͤmmt, wie er60 es wuͤnſche: eben ſo ſollte aller unſer Umgang beſchaffen ſeyn. Ich ſpreche mit dem Franzoſen franzoͤſiſch und mit dem Italiaͤner ſeine Mutter - ſprache; eben ſo rede ich mit jedermann nur die Meinungen, die er verſteht, das heißt, die ich ihm zutraue, ich ſuche mich ſelbſt ihm niemahls aufzudraͤngen, ſondern ich locke ſeine Seele all - gemach uͤber ſeine Lippen, und gebe ihm ſeine eigne Worte anders gewandt in’s Ohr zuruͤck. Welche Geſinnungen ſtehen dann in uns ſo feſt und hell, um ſie fremden Gemuͤthern aufzudraͤn - gen? Und wenn es der Fall ſeyn koͤnnte, wo finde ich Bruͤcken, um ſie nach fremden Ufern hinuͤberzuſchlagen? welchen Haken ſoll der Geiſt auswerfen, um mit einer fremden Seele zu en - tern?

So ging ich lange Zeit mit Lovell um, ohne daß er es wußte, ich ſprach mich ganz in ihn hinuͤber, und er erſtaunte nicht wenig uͤber die Sympathie unſrer Seelen, und traute mir nun jeden ſeiner fluͤchtigſten Gedanken, jede ſeiner ſeltſamen Empfindungen zu. Diejenigen, die er nicht bey mir wahrzunehmen glaubte, hielt er bald von ſelbſt fuͤr unreif und thoͤrigt, dagegen fing er emſig einen hingeworfenen Wink von61 mir auf, und dachte lange uͤber den darin lie - genden Sinn. In kurzer Zeit taͤuſchte er ſich ſelbſt ſo, daß er unſre Seelen fuͤr verſchwiſtert hielt, nur daß ihm die meinige einige Jahre voraus ſey.

Nichts iſt dem Menſchen ſo natuͤrlich, als Nachahmungsſucht. Lovell ward in einigen Mo - nathen eine bloße Kopie nach mir. Jeder Aus - ſpruch, jedes Wort, das wir fuͤr klug nehmen, ruͤckt an der Form unſrer Seele, und ſo hat ſich Lovell ganz von ſelbſt die Philoſophie er - ſchaffen, die ich gern fuͤr ihn bilden wollte. Er iſt feurig und lebhaft, daher iſt es ihm nicht moͤglich, ſo wie viele Menſchen thun, unent - ſchieden zwiſchen zwey Meinungen zu ſtehn, und ſich im Schwanken fuͤr keine zu intereſſiren. Was er fuͤr Wahrheit nimmt, ergreift er mit einem Eifer, wie der andaͤchtige Enthuſiaſt die Bildſaͤule der Madonne umfaͤngt. Er verachtet jetzt tief alle Meinungen, die ſeinen jetzigen wi - derſprechen, und die beſte Art allen Ruͤckfaͤllen vorzubeugen, ſcheint mir die, ihn mit allen moͤg - lichen Einwuͤrfen ſelber bekannt zu machen; nur ſtelle ich immer die guten und ſchlechten Ideen ganz neben einander, und indem er dieſe uͤber -62 ſieht, erſcheinen ihm auch jene geringfuͤgiger: oder wenn wir zuweilen uͤber Gedanken und Charaktere unintereſſanter oder ſtupider Men - ſchen ſprechen, lege ich dieſen alles in den Mund, was ihn vielleicht in manchen einſamen Stun - den beunruhigen moͤchte. So kann ihn keine Idee uͤberraſchen, und ſeine fruͤhern Gefuͤhle ſtehn in einer zu großen Entfernung, als daß ſie ihn wieder erreichen koͤnnten.

Die Eitelkeit iſt gewiß das Seil, an wel - chem die Menſchen am leichteſten zu regieren ſind; ſobald man es nur dahin bringen kann, daß ſie ſich ihrer geſtrigen Empfindung ſchaͤmen, handeln ſie morgen gewiß anders; ein Freund oder Bekannter darf ihnen nur zu verſtehen ge - ben, was er fuͤr groß haͤlt, und morgen ſuchen ſie ſich ihm in dieſer Groͤße unvermerkt zu praͤ - ſentiren. Die Sucht ſich auszubilden, iſt im Grunde nur die Sucht zu gefallen, und zu erſt denen, die uns umgeben; ſo formt ſich der Menſch wider ſeinen Willen, und ſteht am Ende ſeiner Wanderſchaft ſchwer behangen mit einem Troͤdelkram erlogner Meinungen und Gefuͤhle.

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Ich habe Dir meine Auslegung uͤber Deine Ideen zu geben geſucht, und uͤberreiche Dir er - roͤthend meine Uebung; eine Verbeſſerung von Dir wird mehr werth ſeyn, als mein ganzer Brief, nur laß mich es wiſſen, wo ich Dich vielleicht mißverſtanden habe.

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12. Andrea Coſimo an Roſa.

Dein Brief hat mir gefallen, weiter kann ich Dir gar nichts daruͤber ſagen. Nicht eben des - wegen, weil ich ſo ganz Deiner Meinung bey - trete, oder weil ich glaubte, daß Du alles, was ich Dir neulich ſchrieb, ganz ſo, wie ich es wuͤnſchte, gefaßt habeſt, ſondern weil ich in dieſem Briefe Dich ſo ganz wieder finde. O ihr Menſchenkenner! die ihr aus der Seele der Menſchen ein Exempel macht, und dann mit euren armſeeligen fuͤnf Specien hineinaddirt und dividirt! Ihr wollt einen Aufriß von einem Gebaͤude machen, das Ihr nicht kennt. Ich habe von je die freche Hand bewundert, die mit dem Raͤthſelhafteſten und Unbegreiflichſten gewoͤhnlich ſo umgeht, wie ein Bildhauer mit ſeinem Marmor; er wird geſchlagen und ge - ſchliffen, als wenn alle die heruntergeriſſenen Stuͤcke nun wirklich von dem Weſen getrennt waͤren, und am Ende ein Bild daraus entſtuͤn - de, wie man es zu ſeinem Wohlgefallen, oderzu65zu ſeiner Bequemlichkeit haben wollte. Wenn nun ploͤtzlich eine lange zuruͤckgehaltene Empfin - dung wie ein Waldſtrom in die Seele zuruͤck - ſchießt? O biete denn einmahl im Moment der Ueberraſchung deine Rednerkuͤnſte auf, ſuche die Schleuſe, die ihn wieder zuruͤckdraͤngt! Dankt Gott, daß der Menſch die Konſequenz nicht hat, auf die ihr eure Berechnungen gruͤndet, denn dadurch allein trifft er oft zufaͤlliger Weiſe mit euren Exempeln zuſammen.

Du ſprichſt uͤber die Eitelkeit gut und rich - tig, weil Du uͤber Dich ſelbſt ſprichſt. Es iſt gar nicht noͤthig, daß die Menſchen aufrichtig ſind, man findet ihre Meinung doch unter dem Wuſt von Luͤgen heraus. Aber glaube mir, daß bey Dir nur ein Paar Zufaͤlle noͤthig waͤren, um Dich aus Deiner Philoſophie, oder Ueber - zeugung, oder Stimmung (nenn es wie Du willſt) herauszuwerfen. Die meiſten Menſchen gehoͤren gern zu irgend einer Schule, alle Vor - zuͤge und Vortrefflichkeiten ihrer Vorgaͤnger ziehn ſie dann ſtillſchweigend auf ſich, weil ſie den Nahmen ihrer Anhaͤnger tragen: ſie haben es gern, wenn ſie alle Meinungen und Empfindun - gen wie in einem Schema vor Augen haben,Lovell. 2r Bd. E66daß ſie in vorkommenden Faͤllen nur unter den gemachten Linien und Eintheilungen nachſuchen duͤrfen, um nicht im Zweifel zu bleiben; daher ſind ſie aber auch meiſtentheils ſo leicht aus ih - ren Ueberzeugungen herauszuſchrecken.

Bey Lovell magſt Du uͤbrigens im Ganzen Recht haben, aber er iſt auch unter den Men - ſchen einer von denen, die ich die Scheidemuͤnze nennen moͤchte. Er gehoͤrt nicht zu den freyen Geiſtern, die jede Einſchraͤnkung der Seele verachten, er verachtet nur die, die ihm grade unbequem iſt, und ſeine Verachtung iſt dann Haß. Er findet ſich und alles was er denkt, viel zu wichtig, als daß es nicht ſehr leicht ſeyn ſollte, auch ſeine innerſten Gedanken von ihrem Throne zu ſtoßen. Wenn er die Menſchen aber wie voruͤbergehende Bilder, und ihre Ge - ſinnungen, wie das zufaͤllige Kolorit anſaͤhe, dann ſollte es dir gewiß unmoͤglich werden, ir - gend etwas auf ihn zu wirken.

Jeder Menſch iſt im Grunde geſcheidter wie der andere, nur will dies keiner von ihnen glau - ben. Die Ecke des einen greift in die Fuge des andern, und ſo entſteht die ſeltſame Ma - ſchinerie, die wir das menſchliche Leben nennen. 67Verachtung und Verehrung, Stolz und Eitel - keit, Demuth und Eigenſinn: alles eine blinde, von Nothwendigkeiten umgetriebene Muͤhle, de - ren Geſauſe in der Ferne wie artikulirte Toͤne klingt. Vielleicht iſt es keinem Menſchen gege - ben, alles aus dem wahren Standpunkte zu be - trachten, weil er ſelbſt irgendwo als umgetrie - benes und treibendes Rad ſteckt.

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13. Amalie Wilmont an ihre Freundinn Emilie Burton.

Sie ſind es ſchon gewohnt, liebe Emilie, mei - ne unintereſſanten Briefe zu leſen, ich habe alſo nicht viel zu beſorgen, wenn ich Ihnen noch einmal ſchreibe. Es iſt gewiß nicht Eitelkeit oder Stolz, wenn ich niemals von Neuigkeiten oder wichtigen Vorfaͤllen, ſondern immer nur von mir ſpreche, und von dem, was mir zu - ſtoͤßt. Ich habe mich leider von Jugend auf daran gewoͤhnt, mich nur mit mir ſelbſt und mit dem kleinen Zirkel zu beſchaͤfftigen, der mich umgiebt. Wenn mir eine Krankheit meiner Eltern, eine Reiſe meines Bruders, oder das Ungluͤck eines Freundes wichtig iſt; ſo vergeſſe ich daruͤber die ganze uͤbrige Welt, und weine oder freue mich, ganz fuͤr mich, wenn indeß auch in einem entfernten Erdtheile vielleicht eine ganze Nation untergeht.

Ach, liebe Freundinn, wenn ich doch bey Ihnen waͤre, oder Sie bey mir ſeyn koͤnnten! 69Das iſt die wiederholte Klage in allen meinen Briefen; ich ſehne mich, wenn ich allein bin, mit einem unbeſchreiblichen Gefuͤhle nach Ihrem Garten hin, ich gehe in Gedanken durch alle Gaͤnge ſpatzieren, und hoͤre Ihr angenehmes und unterrichtendes Geſpraͤch. Ach, in Ihrer Ge - ſellſchaft wuͤrde ich gewiß froͤhlicher ſeyn, denn Sie wuͤrden mir zeigen, wie ungereimt mein Schmerz iſt, es wuͤrde mir manches gleichguͤlti - ger werden, was mir jetzt ſo außerordentlich wichtig vorkoͤmmt: an Ihrer Seite habe ich im vorigen Jahre ſo viel gelernt; ach, ich wuͤrde gewiß ruhig werden, und Sie wuͤrden viele mei - ner Zweifel aufloͤſen, die mich jetzt aͤngſtigen.

Lovell hat mich vergeſſen, ich muß es mit jedem Tage mehr glauben, und alle Nachrich - ten von ihm beſtaͤtigen es. Ach und es iſt auch recht gut, daß ich nicht eine Urſache mehr wer - de, ſeinem kranken Vater Kummer zu machen. Er koͤmmt mir jetzt nur vor, wie ein Bild aus einem Traume der Kindheit, ſchoͤn und glaͤn - zend, aber entfernt und unkenntlich.

Mortimer ſpricht oft uͤber alle dieſe Gegen - ſtaͤnde ſehr klug, und uͤberredet mich manchmal auf ganze Tage; nur ſagt er denn zuweilen wie -70 der etwas, das meiner Seele ganz fremd und zuwider iſt. In den recht verſtaͤndigen Men - ſchen liegt zuweilen eine zuruͤckſtoßende Kaͤlte, man ſchaͤmt ſich oft etwas zu ſagen, was man fuͤr wahr haͤlt, weil man nicht gleich die paſ - ſendſten Worte dazu findet. Ich glaube, daß Mortimer mir nur in manchen Sachen recht giebt, um mir nicht zu widerſprechen, weil er mich fuͤr zu einfaͤltig haͤlt, ihn ganz zu verſtehen. Sein Herz iſt nicht warm genug, er hat zu ſehr die Welt und die Menſchen kennen gelernet. Und doch fuͤhl ich mich ihm zuweilen ſo geneigt, er koͤmmt mir oft wieder beſſer und edler als Lovell vor, deſſen Enthuſiasmus ſo unſtaͤt und ohne Ausdauer war; ich denke denn daruͤber nach, wie ich mit Mortimer leben wuͤrde, und gewoͤhne mich ordentlich an dieſe Vorſtellung. Es kann auch ſeyn, daß er ſich ſehr nach mir bequemte, wenigſtens thut er es jetzt auffallend, und wir lebten ſo vielleicht recht gluͤcklich mit einander. Wenn mir nur nicht immer wieder ſo manches von meinen vorigen Empfindungen zuruͤckkaͤme! dann iſt mir, wie wenn man von großen Schaͤtzen traͤumt, und ploͤtzlich in der ſtillen duͤrftigen Nacht aufwacht: man ſucht71 mit den Haͤnden nach den Perlen und Diaman - ten, und ſtoͤßt ſich an der harten Wand.

Bin ich nicht thoͤrigt? Was ſagen Sie da - zu, liebe, nachſichtige Freundinn? Ich bin ein Kind, nicht wahr, das iſt Ihre ganze Mei - nung?

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14. Emilie Burton an Amalie Willmont.

Ihre Briefe, theuerſte Freundinn! ſind mir um ſo lieber, je mehr Sie darin von ſich ſpre - chen. Ich wollte, ich koͤnnte bey Ihnen ſeyn, oder Ihnen in Ihrer Lage Rath ertheilen, aber leider iſt mir beides unmoͤglich. Das Herz des Menſchen liegt mit dem Verſtande ſo oft im Kampfe, heute ſcheint uns das thoͤricht, was uns geſtern edel vorkam, daß ich eben ſo wenig ſagen mag: Handeln Sie nach Ihrem Herzen als: ziehn Sie die Vernunft zu Rathe.

Ihr Bruder iſt jetzt hier, und will morgen abreiſen, ich wuͤnſchte ich koͤnnte ihn begleiten, ſtatt daß ich ihm jetzt nur dieſen unbedeutenden Brief mitgeben kann. Er hat mir viel von Ih - nen erzaͤhlen muͤſſen, viel von Ihren Kinderjah - ren und Ihren fruͤhern Spielwerken; es giebt nichts Reitzenders, als die Kleinigkeiten genau kennen zu lernen, an denen ſich ſchoͤne Seelen hinaufranken, um ſchoͤn zu wachſen. Mit Wohl - gefallen denke ich oft daran, welche Kindereyen73 ich mit meinem Bruder trieb, und welchen wich - tigen Einfluß dieſe auf uns beide gehabt haben. Schon in der Kindheit hatte mein Bruder den ernſten feſten Blick, mit dem er jetzt in’s Leben ſieht; ſchon als Kind war Ihr Karl ſo muth - willig und liebenswuͤrdig, und Sie eben ſo weich, als Sie beide jetzt ſind. Ich hoffe, Ihr Bruder wird auch ſo gut ſeyn, Ihnen von mir vieles zu wiederholen, was ich mit ihm geſpro - chen habe, und ſo kann ich mich eines weitlaͤuf - tigen und ermuͤdenden Briefes uͤberheben, in den ich doch nichts von der Herzlichkeit legen kann, mit der ich Sie umarmen wuͤrde.

Mein Bruder laͤßt herzlich gruͤßen; o wir ſehn uns gewiß und bald einmahl wieder!

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15. William Lovell an Roſa.

Mir ſcheint es, als zoͤgen Sie ſich jetzt, wenn Sie hier ſind, mehr von mir zuruͤck. Die Ur - ſache davon kann ich nicht auffinden, und ich wuͤnſche ſehr, daß es nur Schein ſeyn moͤge.

Ich lebe hier in einem Taumel von einem Tage zum andern, ohne Ruhepunkt oder Still - ſtand fort. Mein Gemuͤth iſt in einer ewigen Empoͤrung, und alles vor meinen Augen hat eine tanzende Bewegung. Durchſchwaͤrmte Naͤch - te und wiederholte Trunkenheit machen, daß mir die Welt ganz anders erſcheint, nicht froͤh - licher oder betruͤbter, aber weit ſeltſamer und unwichtiger. Man urtheilt nur denn uͤber das Leben am richtigſten, wenn man im eigentlichen Sinne recht viel lebt, nicht nur den Becher ei - ner jeden Freude koſtet, ſondern ihn bis auf die Hefen leert, und ſo durch alle Empfindungen geht, deren der Menſch faͤhig iſt. Mein Blut fließt unbegreiflich leicht, und meine Ima - gination iſt angefriſcht, und erſtreckt ſich auf alle Ideen des menſchlichen Geiſtes.

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Mit der erſten Gelegenheit denke ich meinen Willy nach England zuruͤckzuſchicken; mit ſei - nem altvaͤterſchen Weſen und ſeiner gutgemein - ten Ueberklugheit faͤllt er mir zur Laſt. Er will mit aller Gewalt mein Freund ſeyn, und es moͤchte hingehn, wenn er nur nicht den Bedien - ten ganz daruͤber vergaͤße. Als ich neulich ſpaͤt in der Nacht, oder vielmehr[ſchon] gegen Mor - gen mit dem froͤhlichſten Rauſche nach Hauſe kam, hielt er mir eine pathetiſche Rede, und verdarb mir meine Laune. Er will gern fort, und ſein Wille ſoll geſchehn.

Sie munterten mich ehedem auf, das Leben zu genießen, und jetzt ſind Sie zuruͤckgezogener als ich. Kommen Sie her, damit ich den ver - worrenen Rauſch in Ihrer Geſellſchaft genieße, und meine Sinne noch trunkener werden. Ich bin eben bey unſrer Signora Bianca geweſen, die das Muſter der Zaͤrtlichkeit iſt, ſie kann den theuren Roſa immer noch nicht vergeſſen, und ſpricht mit Enthuſiasmus von ihm; Sie thun unrecht, das zaͤrtliche Geſchoͤpf ſo ganz zu vernachlaͤſſigen, Ich habe noch viele andre Gruͤße zu beſtellen, die Sie mir erlaſſen moͤgen, genug, Sie ſtehn bey allen unſern ſchoͤnen Bekanntſchaf -76 ten im beſten Angedenken. Ich bin auf heut Abend zur ſchwarzaͤugigen wolluͤſtigen Laura hin - beſtellt, die jetzt ſchon meine ganze Phantaſie beſchaͤfftigt.

Wer kann[die] unbegreiflichen Launen zaͤhlen und beſchreiben, die im Menſchen wohnen? Die ſeit einigen Wochen in mir erwacht ſind, und aus meinem Leben das bunteſte und wunder - lichſte Gemaͤhlde bilden? Frohſinn und Melan - cholie, ſeltſame Ideen in der ungeheuerſten Ver - bindung, ſchweben und gaukeln vor meinen Au - gen, ohne ſich meinem Kopfe oder Herzen zu naͤhern. Man nenne doch die ſchoͤne Erweckung der innerſten Gefuͤhle nicht Rauſch! Man ſehe nicht mit Verachtung auf den Menſchen hinab, dem ſich ploͤtzlich in der gluͤcklichſten Er - hitzung neue Thore der Erfahrungen aufthun, dem neue Gedanken und Gefuͤhle wie ſchießende Sterne durch die Seele fliegen, und einen blau - goldnen Pfad hinter ſich machen.

O Wein! du herrliche Gabe des Himmels! fließt nicht mit dir ein Goͤttergefuͤhl durch alle unſre Adern? Flieht nicht dann alles zuruͤck, was uns in ſo manchen unſrer kalten Stunden demuͤthigt? Nie ſtehn wir in uns ſelbſt auf77 einer ſo hoch erhabnen Stufe, als wenn die Augen wie Sterne funkeln, und der Geiſt, wie eine Maͤnade wild durch alle Regionen der frechſten und wildeſten Gedanken ſchwaͤrmt. Dann pochen wir auf unſre Groͤße, und ſind unſer Seele und Unſterblichkeit gewiß, kein lahm - kriechender Zweifel holt den fliegenden Geiſt ein; wir durchſchauen wie mit Seherblicken die Welt, wir bemerken die Kluͤfte in unſern Gedanken und Meinungen, und fuͤhlen mit lachendem Wohlbehagen, wie Denken und Fuͤhlen, Traͤu - men und Philoſophiren, wie alle unſre Kraͤfte und Neigungen, alle Triebe, Wuͤnſche und Ge - nuͤſſe nur Eine, Eine glaͤnzende Sonne ausma - chen, die nur in uns ſelbſt zuweilen ſo tief hin - unterſinkt, daß wir ihre verſchiedene Strah - lenbrechung fuͤr unterſchiedene getrennte Weſen halten.

Spotten Sie nicht, Roſa, wenn ich Ihnen ſage, daß jetzt eben dieſe Gluth des Weins aus mir ſpricht: oder ſpotten Sie vielmehr, ſo viel Sie wollen, denn auch das gehoͤrt zu den Vor - trefflichkeiten des Menſchen. Ich fuͤhle es jetzt lebhaft, wie alles, alles was mich umgiebt, in Einem Range ſteht. Der Wein laͤßt mich78 ſo fuͤhlen und ſprechen, ein andres Nahrungs - mittel, das dem Menſchen die ſogenannte Nuͤch - ternheit laͤßt, aͤußert ſich in andern Ideen, und der quaͤlende Hunger legt dem Menſchen wieder andere Geſinnungen in den Mund. Wer von allen hat nun Recht?

Ha! welche Weſen ſind es, die das Thor
Der dunkeln Ahndungen entriegeln?
Was hebt den Geiſt auf goldbeſchwingten Flügeln
Zum ſternbeſäten Himmelplan empor?
Es ſchlägt der ſchwarze Vorhang ſich zurücke,
Und wundervolle Scenen thun ſich auf,
Seltſame Gruppen meinem ſtarren Blicke:
Wie Traumerinnrung ſtehn ſie da! mit friſchem
Glücke
Beginn ich froh den neuen Lebenslauf!
Ich fühle mich von jeder Schmach entbunden,
Die uns vom ſchönen Taumel rückwärts hält,
Die jämmerlichen Ketten ſind[verſchwunden],
Mit Freudejauchzen ſtürzen goldne Stunden
Raſch auf mich ein, und ziehn mich tanzend
durch die Welt.
Es ſammlen ſich aus den verborgnen Klüften
Die Freuden, wie Mänaden um mich her,
Es klingen ungeſehne Lieder in den Lüften,
Es wogt um mich ein ungeſtümes Meer,
Und Töne, Jauchzen, Wonne ſchwebt auf Blu -
mendüften,
Und alles ſtürmt um mich, ſo wie ein wildes Heer.
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Ich ſteh im glanzgewebten Feenlande,
Und ſehe nicht zur dürren Welt zurück,
Es feſſeln mich nicht irrdiſchſchwere Bande,
Entſprungen bin ich kühn dem meiſternden Ver -
ſtande,
Und taumelnd von dem neugefundnen Glück!
Hinweg mit allen leeren Idealen,
Mit Kunſtgefühl und Schönheitsſinn,
Die Stümper quälen ſich zumahlen,
Und nagen an den dürren Schaalen
Und ſtolpern über alle Freuden hin.
Hinweg mit Kunſtgeſchwätz und allen Muſen,
Mit Bilderwerk, lebloſen Puppentand,
Hinweg! ich greife nach der warmen Lebenshand,
Mich labt der ſchön geformte lebensvolle Buſen.
Ach, alles flieht wie trübe Nebelſchatten
Was ihr mit kargem Sinne ſchenken wollt;
Nur der beſucht Elyſiums ſchöne Matten,
Nur dem iſt jede Gottheit hold,
Der keinem Sinnentrug ſein Leben zollt.
Der nicht in Luſtgefilden ſchweift,
Und ſich an Dunſtphantomen weidet,
Durch kranke Wehmuth und Begeiſtrung ſtreift,
Nein, der die ſchlanke Nymphe raſch ergreift,
Die ſich zum kühlen Bad entkleidet.
Ihm iſt’s vergönnt zum Himmel ſich zu ſchwingen.
Es ſinkt auf ihn der Götter Flammenſchein,
Er hört das Chor von tauſend Sphären klingen,
Er wagt es zum Olymp hinauf zu dringen,
Und wagt es nur, ein Menſch zu ſeyn.
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Sie haben ſchon oft uͤber meine Verſe ge - ſpottet, und hier gebe ich Ihnen eine neue und noch beſſere Gelegenheit, denn ich habe die Syl - ben und ihre Laͤngen und Kuͤrzen nicht nachzaͤh - len moͤgen; ein ſo korrekter Kritiker, wie Sie, findet alſo fuͤr ſeine Bemerkungen Stoff genug.

Ich durchſchweife oft in meinen abentheuer - lichen Stimmungen die Stadt, und labe mich in der magiſchen Nacht an den wunderbaren und raͤthſelhaften Bildern der aͤußern Gegenſtaͤnde. Oft ſchwebt die Welt mit ihren Menſchen und Zufaͤlligkeiten wie ein beſtandloſes Schattenſpiel vor meinen Augen. Oft erſchein ich mir dann ſelbſt, wie ein mitſpielender Schatten, der koͤmmt und geht, und ſich wunderlich geberdet, ohne zu wiſſen warum. Die Straßen kommen mir dann nur vor, wie Reihen von nachgemach - ten Haͤuſern mit ihren naͤrriſchen Bewohnern, die Menſchen vorſtellen; und der Mondſchein, der ſich mit ſeinem wehmuͤthigen Schimmer uͤber die Gaſſen ausſtreckt, iſt wie ein Licht, das fuͤr andere Gegenſtaͤnde glaͤnzt, und durch einen Zufall auch in dieſe elende laͤcherliche Welt hineinfaͤllt.

Denn81

Dann ſchweif ich im wundervollſten Genuß der Phantaſie auf den freyen Plaͤtzen und zwi - ſchen den Ruinen umher, und ergoͤtze mich an den Geſtalten, die voruͤbergehn und mein Ge - fuͤhl nicht kennen, und von mir nichts wiſſen. Am liebſten aber begleite ich irgend eines der voruͤberſtreifenden Maͤdchen, oder beſuche eine meiner Bekantinnen, und traͤume mir, wenn mich ihre wolluͤſtigen Arme umfangen, ich liege und ſchwelge an Amaliens Buſen. Nichts macht mir dann meine eingebildete, alte ſchwaͤr - meriſche Liebe ſo abgeſchmackt und laͤcherlich, als dieſer vorſaͤtzliche Betrug.

Wie ſeltſam wird mir oft, wenn ich einem Maͤdchen nachfolge, die mich in ihre finſtre enge Wohnung fuͤhrt, wo ein Krucifix uͤber dem Bette haͤngt, und die Bilder der Madonne und von Maͤrtyrern neben Schminktoͤpfen und ſchmutzi - gen Glaͤſern mit Schoͤnheitswaſſern; oder wenn ich im Gedraͤnge von Lazaroni’s und Handar - beitern in einer Herberge hinter einer andern ſtehe, und mit eben ſo vieler Andacht den poͤ - belhaften Spaͤßen eines Pulicinello zuhoͤre, mit der ich ehedem den Shakſpear ſah. Das Leben iſt nichts, wenn man es nicht auf dieLovell. 2r Bd. F82ſinnlichroheſte Art genießt; der Widerſchein der Wolluſt faͤllt auf alle Gegenſtaͤnde, und faͤrbt auch die unintereſſanteſten mit einem goldenen Schimmer. Amalie iſt auch nur einer von den wandelnden Schatten, die Zeit ergreift ſie eben ſo, wie mich, und wirft das abgenutzte, veraltete Bild in ihre dunkeln Tiefen, in die kein Auge dringt, und wo die Marionetten von tauſend Jahrhunderten in bunter Vermiſchung aufgehaͤuft uͤbereinander liegen.

Leben Sie wohl, und kommen Sie nach Rom, es iſt endlich Zeit, kommen Sie gleich nach Empfang dieſes Briefes; ein wiederkehrender Freund erregt eben die Empfindung in uns, wie dem Kinde der wiederkehrende Fruͤhling.

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16. Willy an ſeinen Bruder Thoma’s.

Jetzt muß ich fort, Thomas, ich muß nach England, oder der Gram macht, daß ich mich hier in dem fremden, fatalen Lande muß begra - ben[laſſen]. Ach, wer haͤtte das wohl noch vor einem Jahre gedacht! Wer mir es geſagt haͤtte, den haͤtte ich fuͤr einen Luͤgner geſcholten, oder ihn wohl gar geſchlagen, wenn es ſich ſonſt haͤtte thun laſſen. Aber kein Menſch kann auf ſolche Sachen fallen, das iſt gewiß, weil bey der ganzen Geſchichte der boͤſe Feind ſein Spiel haben muß, das glaube ich nunmehr gewiß und ganz feſtiglich. Ach Thomas, wenn man jetzt noch nach Dir ſchlagen und ſtoßen wollte, Leu - te, die Du haſt groß werden ſehn, es wuͤrde mir wie kalt Waſſer durch die ganze Seele gehn, ja, und ſo muß Dir nun auch als einem red - lichen Bruder zu Muthe werden, wenn Du ſo was von mir hoͤrſt, da ich noch aͤlter bin, als Du biſt. Mein Herr, ach, denke Dir, letzt kam er ganz betrunken nach Hauſe, wie erF 284faſt alle Tage oder Naͤchte thut, und ich hatte die ganze lange kalte Nacht auf ihn wachen muͤſ - ſen, ich dachte an ſeinen alten kranken Vater, und die Thraͤnen kamen mir daruͤber in meine beiden Augen. Ich ſtellte ihm alſo ſeinen gan - zen Lebenswandel vor, und daß er ſich beſſern und aͤndern ſolle, ich ſagte ihm alles ſo recht aus meinem alten ehrlichen Herzen heraus, und da, Thomas, lachte er mich aus, wie ein wah - rer Heide. Da wurde ich denn auch hitzig, denn ich bin auch nur ein Menſch, lieber Bru - der, und jetzt ſchon alt und ſchwaͤchlich, gebrech - lich und baufaͤllig, ich fuhr ſo mit etlichen gott - ſeeligen Redensarten und Kernſpruͤchen heraus, und da lieber Bruder, ſeit der Zeit iſt mir, wie einem armen Suͤnder zu Muthe, da ſchlug er mit dem kleinen Stocke nach mir, den er noch aus unſerm lieben England mitgenommen hat, mit demſelben Stocke, den ich ihm noch in London gekauft habe; haͤtt ich das wohl da - mahls denken koͤnnen!

Nun laͤßt es mir hier keine Ruhe mehr, ich habe viel geweint, denn ich bin einmahl etwas weibiſch, ich kann es immer nicht vergeſſen, und der junge Lovell kommt mir nun ganz an -85 ders vor; ich kann ihn nicht mehr mit derſel - ben Liebe anſehn, ich bin ſo kleinmuͤthig und ſo gedemuͤthigt, als wenn ich Jemand ermordet haͤtte, welches Gott Zeit meines Lebens verhuͤ - ten moͤge.

Und ſollt ich zu Fuße nach England gehn, ſo muß ich jetzt fort, und ſollt ich heimlich wie ein Schelm fortlaufen, ſo kann ich nicht hier bleiben. Ach Bruder, ſtirb mir ja nicht vor - her, denn ſonſt haͤtt ich ja gar keine Freunde auf dieſer Erde mehr, ſondern lebe im Gegen - theil recht wohl, bis Dich muͤndlich wiederſieht

Dein armer Bruder Willy.

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17. Andrea Coſimo an Roſa.

Du haͤtteſt immer noch hier bleiben koͤnnen, und nicht mit der Eile die Bitte Deines Lovell zu erfuͤllen noͤthig gehabt. Ich melde Dir nur, daß ſich der junge Valois in England erſchoſ - ſen hat. Man ſollte ſich mit ſolchen armſeeli - gen Seelen gar nicht einlaſſen, die am Ende nicht einmal Muth genug haben, ihr Daſeyn zu ertragen. Das iſt wieder der Ausgang eines Deiner klugen und fein erſonnenen Projekte; entſchuldige Dich nun, oder geſtehe Deine Be - ſchaͤmung, je nachdem Du es am natuͤrlichſten findeſt.

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18. Eduard Burton an William Lovell.

Deine Briefe, ſo wie der Gedanke an Dich betruͤben mich ſeit einiger Zeit außerordentlich. Ach William, ich moͤchte Dir alles ſchicken, was Du mir ehemahls geſchrieben haſt, dann ſollteſt Du Dich ſelbſt wie in einem Gemaͤhlde betrachten, und Dich fragen: bin ich dieſem Bilde noch aͤhnlich? Aber ich fuͤrchte, Du wirfſt alles ungeleſen ins Feuer, obgleich die That wahrlich, wenigſtens halb ſo ſtrafbar waͤre, als wenn Du einen lebenden Zeugen Deiner Thorheiten vernichteteſt.

Koͤnnt ich doch eben ſo warm ſprechen, und die Feder mit eben der[Kunſt] der Ueberredung fuͤhren, wie Du! Aber alle Talente, die auch ehedem vielleicht in mir lagen, ſind jetzt durch Deine Abtruͤnn[i]gkeit von unſerm Bunde gede - muͤthigt, ich fuͤhle mich wie verſtoßen und ent - erbt, und ſeh, indem ich ſchreibe, uͤber die Wieſe nach der mittaͤgigen fernen Gegend, als wenn Du dort vom Huͤgel herunter kommen88 muͤßteſt, als wenn dann die ganze ehemalige Zeit wieder da waͤre. Ich traͤume und phan - taſire wie ein Kind, und weiß nicht, was ich mit meiner uͤbeln Laune anfangen ſoll.

Sollten wir denn nun wirklich ganz von ein - ander geriſſen ſeyn? Ach ja, es iſt, denn ich erkenne in Deinem Briefe den Lovell nicht wie - der, den ich ehemals liebte. Damals war Dein Leben und Deine Art zu fuͤhlen, wie ein ſanfter, leiſe murmelnder Bach, den meine Wel - len mit einer ſtillern und unmuſikaliſchern Melo - die begleiteten jetzt erſcheinſt Du wie ein Waſ - ſerſturz, dem ich erſchrocken aus dem Wege trete. Ach, William, ich gebe Dir ja zu, daß Du in manchen Ruͤckſichten jetzt kluͤger ſeyn magſt, als vordem, aber ich beſchwoͤre Dich, kehre, wenn es moͤglich iſt, zu jener kindlichen Einfalt zuruͤck. Ach ja wohl, wenn es moͤg - lich iſt!

Eine ſchwarze Ahndung geht mir durch die Seele, daß Du vielleicht den altvaͤteriſchen lah - men Ton in meinem Briefe belachſt, und mir mit einer neuen, noch frechern Dithyrambe ant - worteſt. Aber wenn Du es nun deutlich be - merkt haſt, wie vieles, was man wahr und89 groß nennt, in ſich ſelbſt zuſammen faͤllt, wenn man den Grund des Gebaͤudes unterſuchen will; ſo wage es nun auch, Dich ſelbſt wie ein Mann anzuruͤhren, und den Stoff Deiner eigenen Ge - danken naͤher zu betrachten. Sey aufrichtig ge - gen Dich ſelbſt, und Du findeſt denn vielleicht, daß Du in denſelben Fehler gefallen biſt, den Du ſo hitzig vermeiden wollteſt, daß Du ein eifriger Syſtematiker biſt, indem Du auf alle Syſteme ſchimpfſt.

Haſt Du wohl den wahren Geſichtspunkt, wenn Du jetzt mit ſo vielem Muthwillen, mit ſolcher verachtenden Ereiferung uͤber Dein vori - ges Weſen ſprichſt? Wir ſollten doch immer daran denken,[daß] jede unſrer jetzigen Meinun - gen mit einer fruͤheren zuſammenhaͤngen muß, daß die vorhergehende die ſpaͤtere erzeugt, und daß aus unſern jetzigen Ideen wieder neue her - vorgehen werden und muͤſſen, und daß wir uns ſo durch unmerkliche Abſtufungen endlich wieder einer laͤngſt veralteten Vorſtellungsart naͤhern koͤnnen: alles dies ſollte uns bewegen, nicht immer aus den vorigen Wohnungen unſrer See - len Ruinen zu ſchlagen, um aus dem jetzigen Pallaſte mit lachendem Spotte auf ſie hindeuten90 zu koͤnnen. Wie den Aufenthalt meiner Kind - heit, wie meine alten Bilderbuͤcher liebe ich al - les, was ich einſt dachte und empfand, und oft draͤngt ſich eine Vorſtellung aus den fruͤhſten Knabenjahren auf mich ein, und belehrt mich uͤber meine jetzigen Ideen. Der Menſch iſt ſo ſtolz, ſich fuͤr vollendet zu halten, wenn er ſein ganzes voriges Leben fuͤr verworfen an - ſieht, und wie ungluͤckſeelig muͤßte der ſeyn, der nicht mit jedem Tage etwas Neues an ſich auszubeſſern faͤnde, der das ſchoͤnſte und intereſ - ſanteſte Kunſtwerk gaͤnzlich aufgeben muͤßte, mit dem ſich die menſchliche Seele nur immer be - ſchaͤfftigen kann: die allmaͤhlige hoͤchſtmoͤgliche Vollendung ihrer ſelbſt.

Was ſoll ich Dir ſagen, William? Ich fuͤhl es, daß alle Worte vergebens ſind, wenn ſich der Gegner einer eigenſinnigen, rechthaberiſchen Sophiſterey ergeben hat, die am Ende doch nur einſeitig iſt. Dieſe mit der Leidenſchaft verbun - den iſt der Syrenengeſang, dem vielleicht kein Sterblicher widerſtehen kann, wenn er nicht wie der griechiſche Held von der Unmoͤglichkeit zu - ruͤckgehalten wird. Und es kann ſeyn, daß auch dann die giftigen Toͤne durch das ganze91 Leben nachklingen, daß die Seele beſtaͤndig wie eine verſengte Aehre, ſelbſt im Wachsthume, die Spur davon behaͤlt. Dein Vater iſt ſehr krank, und ich fuͤhle, daß ich es auch werden kann, wenn ich recht lebhaft an Dich denke; wir gewoͤhnen uns ſo leicht daran, das Ungluͤck, das wir nicht wuͤrklich vor uns ſehen, als eine poetiſche Fiktion zu betrachten, daß alle Jam - mertoͤne gleichſam unbefiedert in uns anſchlagen. Aber wenn ich mich dann zu Dir hinverſetze, wenn mir die Buͤcher in die Hand fallen, die wir ehemals zuſammen laſen, und ich noch ein - zelne Papierzeichen finde, oder angeſtrichne Stel - len von Dir entdecke. O komm zuruͤck, komm zuruͤck, William! Gedenke der ſuͤßen Har - monien, die Dich ſonſt umſchwebten, ein from - mer kindlicher Sinn wohnte Dir im Buſen, Du machteſt Dir das Kleinſte groß, und vergaßeſt daruͤber das Große; eine Blume war fuͤr Dich bedeutend, und ihr Verwelken merkwuͤrdig, in - dem Dich politiſche Streitigkeiten und Parthey - kaͤmpfe nicht kuͤmmerten: ach vergieb, daß ich Dich damals ſo oft dieſes zarten Kunſtſinns wegen ſchalt, ich ſehe jetzt mit Bedauern ein, daß die Seelen feinere Fuͤhlfaͤden haben, die92 ſich um Thautropfen und Lilien mit Wohlbeha - gen legen, als die ſich an Felſen anſaugen muͤſ - ſen, um mit einer ungeheuren Maſſe Ein We - ſen zu werden, damit ſie ſich ſelber intereſſiren. Ich dachte Dich dahin zu lenken, wo ich zu ſtehen glaubte, und Du biſt nun, wie mit zu ſtark gewachſenen Fluͤgeln unwiſſend uͤber das Ziel hinausgeflogen, das ich Dir ſetzen wollte.

Wenn Dir jetzt Amalie und ihre Liebe ſo abgeſchmackt erſcheint, in welchem Lichte muß dann unſre Freundſchaft vor Dir ſtehn? War ſie nicht auch ein Werk jugendlicher Begeiſte - rung, das Beduͤrfniß einer ſchoͤnen Eingeſchraͤnkt - heit des Gemuͤthes? War ich nicht etwas ei - ferſuͤchtig, als ich zuerſt Deine Neigung zu Amalien bemerkte? Betruͤbte ich mich nicht[in - nerlich], daß Deine Liebe zu einem andern We - ſen ſich nun unendlich hoͤher hob, als zu mir? Ach Lieber, unterſuche doch ums Himmelswillen nicht die kleinen Widerſpruͤche, die Kindereyen und Albernheiten, die ſo oft in unſern edelſten Neigungen und Gefuͤhlen liegen. Es iſt der gruͤne duftloſe Stengel der Blume, aber beide koͤnnen nur zuſammen exiſtiren. Was iſt der Menſch nach Deinen Ideen, die ſich doch93 in ſich ſelber widerſprechen? Die nichtswuͤrdigſte Verbindung ſeelenloſer Glieder, was giebt Dir denn nun dieſen feurigen Enthuſiasmus fuͤr Deine Meinung, wenn Du nichts mehr, als dieſe verworfene Maſchine biſt? Und koͤnnteſt Du ihn ohne jene edlere Gefuͤhle haben; ſo waͤrſt Du eben durch dieſe trunkene Schwaͤr - merey das veraͤchtlichſte unter allen denkbaren Weſen.

Ueberlege, daß das Leben eines ſo reizbaren Geiſtes, als der Deinige iſt, nur einer magi - ſchen Laterne gleicht, die an der Wand die bun - ten Gegenſtaͤnde abſpiegelt, die ihr vorgehalten werden: daß es nur Sinnenreiz iſt, was aus Dir ſpricht, nicht die innere, durch Gefuͤhl und Nachdenken gereifte Ueberzeugung. Gieb mir wenigſtens zu, daß dies moͤglich ſeyn kann, und unterſuche Dich genauer, und kehre zuruͤck, wenn Du es ſo findeſt. Ach es ſind viel - leicht nur die wiederholten Spruͤche eines kal - ten, verſchloſſenen Freundes, der mich aus Deinem Herzen verdraͤngt hat, deſſen Philoſo - phie nichts als ein blendendes Feuerwerk ſeyn ſoll, das ſeine Eitelkeit ſeinen Freunden giebt, und die Du, thoͤrichter Juͤngling, aus uͤbel -94 verſtandener Anhaͤnglichkeit in Dein Herz auf - nimmſt. O, vergieb mir, William, es iſt wahrlich nicht Haͤrte, die aus mir ſpricht, nur mein herzliches Gefuͤhl, das ich mir und Dir unmoͤglich verbergen kann.

Gieb Deiner Seele einmahl das traurige Feſt, laß die wehmuͤthigen tragiſchen Empfin - dungen ungehindert zu Dir kommen, und denke recht lebhaft mich, Deinen Vater und Ama - lien! denke ſie mit der Fruͤhlingsempfindung wieder, wenn Du jemals fuͤr ſie empfunden haſt, und Deine ganze Liebe nicht Affektation war. Mir ſchien es, als wuͤrde Dir in einem Deiner letzten Briefe die Entſagung Amaliens gar zu leicht, weil Du nun um ſo erlaubter Deine neue Lebensbahn antreten konnteſt. Wie komme ich zu dieſem Argwohn gegen mei - nen William? Ach, in manchen Augenblicken tritt es, wie der boͤſe Feind, zwiſchen uns, und will mein Herz ganz dem Deinigen abwendig machen; aber es ſoll gewiß nicht geſchehn.

Waͤreſt Du mir nicht zu wichtig; ſo koͤnnte ich Dir noch von meinem und Deinem Vater manche Umſtaͤnde ſchreiben, Dich auf manches vorbereiten, Dir zeigen, wie oft mit dem Un -95 gluͤcke das Gluͤck des Menſchen zuſammenhaͤngen koͤnne; aber ich will lieber ſchließen. Findeſt Du noch einiges Intereſſe fuͤr Deine ehemali - gen Wuͤnſche; ſo ſoll Dich der naͤchſte Brief von mir weitlaͤuftig daruͤber unterrichten.

Lebe wohl, lebe wohl, theurer William! ant - worte mir bald, und zeige mir, daß Du noch etwas von Deinem ehemaligen Gefuͤhle fuͤr Dei - nen Eduard uͤbrig haſt. Es iſt mir aͤngſt - lich den Brief zu ſchließen, weil ich nicht weiß, ob ich Dich im mindeſten uͤberzeugt habe, aber ich kann kein Wort mehr hinzuſetzen. In man - chen Rechtshaͤndeln des Lebens kann nur das Gefuͤhl allein das Wort fuͤhren, ein Haͤndedruck, eine Thraͤne erſetzt eine ganze Abhandlung, ach und meine Thraͤnen kannſt Du ja nicht ſehn, die Seufzer hab ich nicht niedergeſchrieben. Lebe wohl.

96

19. William Lovell an Eduard Burtou.

Ja, Freund, Geliebter, Einziger, ich will, ich muß Dir antworten. Welchen Eindruck hat Dein Brief auf mich gemacht! O wie ein Gewitter iſt jedes Wort durch meinen Buſen gegangen, und die Fruͤhlingsſonne iſt auf ein - zelne Momente zwiſchen den Regenſchauern zu - ruͤckgekehrt. Ich wollte Dir ſo vieles ſagen, und weiß nun keine Worte zu finden. Ich bin beklemmt, die Angſt draͤngt mein Blut nach der Kehle, ach, ein Blutſturz wuͤrde mir Lin - derung ſchaffen, und meinem Herzen ein Lab - ſal ſeyn. Und doch koͤnnt ich nicht froh ſeyn, ich moͤchte mein ganzes Daſeyn in ſtuͤrzenden Thraͤnenguͤſſen dahin weinen, um nur der druͤcken - den Buͤrde des Lebens los zu werden. Wenn ich an mein voriges Gluͤck denke, und der ge - ſtrige Taumel noch wie ein Dampf voll unge - heurer Geſtalten vor meinen truͤben Augen zit - tert, Du haſt gewaltig an die Kette geriſſen, die unſre Seelen an einander bindet, die Wunde,die97die ſich geſpaltet hat, iſt ſchmerzhafter, als jene, die Du haſt heilen wollen.

Ach Eduard, wenn ich nicht meinen Vater fuͤrchtete, ſo floͤg ich jetzt nach England zuruͤck, und ſtuͤrzte als reuiger und beſchaͤmter Suͤnder vor Amaliens Fuͤßen nieder, daß ſie mir ver - gaͤbe, oder ich den Tod von ihrer Hand em - pfinge.

Es iſt wie Wetterleuchten am Horizont mei - nes Lebens, wie Klocken, die aus der Ferne den Goͤtterlaͤſterer zur Kirche und zur Strafe ru - fen. Vergieb Du mir zuerſt, mein Eduard, ach, weiß ich denn nicht, daß, wenn mein Schickſal in Deiner Hand ſtaͤnde, ich der Gluͤcklichſte der Menſchen waͤre!

Moͤcht ich wenigſtens nicht wieder von die - ſem Taumel der Angſt erwachen, die mich all - maͤchtig ergriffen hat, ach ich fuͤhle ſchon jetzt die duͤſtere entſetzliche Leere, die ihr folgen wird. Lebe wohl, Theureſter meiner Seele, und erquicke mich durch Deine Briefe, ſo wie Du mir durch dieſen den letzten Muth entriſſen haſt.

Ich kann nicht weiter.

Lovell. 2r Bd. G98

20. Der Advokat Jackſon an den Lord Burton.

Hochwohlgebohrner Herr,

Ich bin den Befehlen, die mir Ew. Gnaden neulich zukommen ließen, auf das[treulichſte] ge - folgt. So viel es von mir abhaͤngen konnte, habe ich den Gang des Prozeſſes beſchleunigt, und ich bin feſt uͤberzeuget, daß ich jetzt ſo viel gethan habe, als nur in meinen Kraͤften ſtand. Dieſelben werden auch Ihre neulichen Briefe allbereits zuruͤck erhalten haben, ſo daß ich den Befehlen, die Sie mir ertheilten, die genauſte Folge geleiſtet habe.

Jetzt hat ſich nun ein Vorfall ereignet, der den ganzen Prozeß in kurzer Zeit voͤllig beendi - gen koͤnnte, aber leider zu Ew. Gnaden Nach - theil. Neulich ſaß ich noch ſpaͤt in der Nacht in einem Zimmer auf dem Lovellſchen Landgute, das mir der Lord eingeraͤumt hat, um dort zu99 arbeiten. Man hat mir die Erlaubniß gegeben, alles zu durchſuchen, wo ich irgend nur Belege und Papiere zur Aufklaͤrung der Sache zu fin - den hoffte. Ich hatte ſchon ganz, ſo wie der Lord, die Hoffnung aufgegeben, die bewußten Dokumente, die die Beſcheinigung der Bezah - lung enthalten, jemahls aufzufinden, ich hatte ſchon alles durchforſcht, was mir zu meinem Endzwecke nur irgend merkwuͤrdig ſchien. Jetzt gerieth ich in der Nacht uͤber eine Schublade, die ich ſchon oft aufgezogen habe, und entdecke in dieſer einen verborgenen Kaſten, ich oͤffne ihn mit zitternder Hand, und finde, daß mich meine Ahndung nicht betrogen hatte. Die be - wußten wichtigen Dokumente ſind nunmehr in meiner Hand.

Ich wuͤrde es fuͤr Ungerechtigkeit halten, wenn ich nunmehr ſogleich den Prozeß zu Lo - vells Vortheil beendigte, wie es jetzt allerdings nur eine Kleinigkeit waͤre. Ich glaubte, ich ſey es Ew. Hochwohlgebohrn ſchuldig, Denen - ſelben zuvor wenigſtens von dieſer Begebenheit Nachricht zu ertheilen, um zu erfahren, ob SieG 2100nicht noch vielleicht neue und wichtige Gruͤnde vorzubringen haͤtten, die nachher etwas von ih - rer Kraft verlieren moͤchten; oder ob Dieſelben nicht uͤberhaupt zuvor die Dokumente in Au - genſchein nehmen wollten, um ihre Rechtmaͤßig - keit zu pruͤfen. Ich darf ſie aber auf keinen Fall der Poſt anvertrauen, und Ew. Gnaden haben mir, einen Bothen zu ſenden, ausdruͤck - lich unterſagt: es bleibt mir alſo kein andrer Weg uͤbrig, als Ew. Gnaden zu erſuchen, die Reiſe hieher ſelber zu machen, oder mich nach Bonſtreet kommen zu laſſen; oder ich koͤnnte Ihnen auch auf dem halben Wege bis Not - tingham entgegen kommen. Ganz, wie Sie es befehlen.

Bis ich das Gluͤck gehabt habe, Ew. Gna - den perſoͤnlich zu ſprechen, bleibt dieſer ganze Vorfall uͤbrigens ein Geheimniß.

Daß ich es nicht am Dienſteifer habe fehlen laſſen, wird ein ſo ſcharfſichtiger Beobachter, als Ew. Herrlichkeiten ſind, gewiß nicht zu be - merken unterlaſſen haben; wie ſehr ihn Die - ſelben werden zu ſchaͤtzen wiſſen, dies zu erfah - ren, haͤngt von der erſten muͤndlichen Unterre -101 dung ab, der ich mit großen Erwartungen ent - gegen ſehe. In der tiefſten Verehrung habe ich die Ehre mich zu nennen.

Ew. Herrlichkeiten treuergebenſter Diener Jackſon.

102

21. William Lovell an Roſa.

Sie fragten mich geſtern, was mir fehle. Was hilft es mir, wenn ich nicht ganz aufrich - tig bin. Ich will es Ihnen geſtehen, daß ein Brief des jungen Burton mir allen Muth und alle Laune genommen hatte. Die Vergangen - heit kam ſo freundlich auf mich zu, und war ſo glaͤnzend, wie mit einem Heiligenſchein umge - ben. Sie werden ſagen: Das iſt ſie immer, und zwar aus keinem andern Grunde, als weil ſie Vergangenheit iſt. Aber nein, es lag noch etwas anders darin, ein Etwas, das ich nicht beſchreiben kann, und das ich um alles nicht noch einmahl fuͤhlen moͤchte.

Sie werden vielleicht die Erfahrung an ſich gemacht haben, daß nichts uns ſo ſehr demuͤ - thigt, als wenn uns ploͤtzlich uͤber irgend eine Sache oder Perſon die Augen aufgethan wer - den, die wir bis dahin mit Enthuſiasmus ver - ehrt, ja faſt angebetet haben. Der nuͤchterne Schwindel, der dann durch unſern Kopf faͤhrt,103 die Nichtswuͤrdigkeit, in der wir uns ſelbſt er - ſcheinen, alles dies und Reue und Mißbehagen, alle uͤble Launen in Einem truͤben Strome, al - les ſtuͤrzte auf mich zu, und ergriff mich und riß mich mit ſich fort. Alles, was ich empfun - den und gedacht hatte, gieng wie in einem al - les verſchlingenden Chaos unter, alle Kennzei - chen, an denen ich mich unter den gewoͤhnlichen Menſchen heraushob, giengen wie Lichter aus und ploͤtzlich verarmt, ploͤtzlich zur Selbſtverach - tung hinabgeſunken, war ich mir ſelbſt zur Laſt, und Himmel und Erde lagen, wie die Mauern eines engen Gefaͤngniſſes, um mich.

Ich erinnerte mich jetzt der truͤbſeligen Au - genblicke, die mich ſo oft im heftigſten Taumel der Sinne ergriffen hatten; der widrigen Em - pfindungen, die ſo oft ſchon mein Herz zuſam - menzogen, ſo vieler Vorſtellungen, die mich un - ablaͤßig wie Geſpenſter verfolgt hatten. Wo - zu bin ich ſo umſtaͤndlich? Blos um Ihnen zu zeigen, wie aufrichtig ich bin; ich weiß, Sie werden meine Schwaͤche verachten, aber dem Freunde muß man keine Thorheit verbergen. Heilen Sie mich von meinen Albernheiten, und104 beweiſen Sie dadurch, daß ich Ihnen nicht ganz gleichguͤltig bin.

Doch ich eile zu einer Begebenheit, die wich - tiger iſt, und die mich im Grunde ſchon alles hat vergeſſen laſſen. Ich verſuchte meinen Lieb - lings, Zeitvertreib, der mich am erſten troͤſtet; ich ſtreifte in der Daͤmmerung durch enge und unbekannte Gaſſen; ergoͤtzte mich, wenn ich ei - ner Kirche vorbeygieng, an dem Gedanken, daß ich jetzt mitten in der Stadt gehe, deren Nahme mir in den Knabenjahren ſo ſchoͤn und aben - theuerlich geklungen hatte. Ich verirrte mich endlich in den kreuzenden Straßen, und gerieth, als es ſchon ziemlich ſpaͤt war, an die Porta Capena. Ich gieng hindurch.

Sie kennen dort vor dem Thore die ſeltſa - men und an manchen Stellen ſchauerlichen Rui - nen. Es ward dunkler, und ich fuͤrchtete mich endlich; ich erinnerte mich eines Menſchen, von dem ich glaubte, ich weiß aber nicht warum, daß ich ihn nothwendig hier treffen muͤßte. Ich wollte umwenden, und ſah ſeitwaͤrts einige kleine unbedeutende Huͤtten in einer ziemlichen Ent - fernung; in einer von dieſen brannten die Fen - ſter hell und freundlich. Ich hatte einen unwi -105 derſtehlichen Trieb nach dieſem[Hauſe] hin, und fand nach vieler Muͤhe einen kleinen Fußſteig, der mich dorthin fuͤhrte. Die Toͤne einer Laute kamen mir ſilbern durch die ſtille Nacht entgegen, und ich wagte nicht, den Fuß hoͤrbar aufzuſetzen. Baͤume fluͤſterten geheimnißvoll da - zwiſchen, und vor dem Hauſe goß ſich ein gold - ner Lichtſtreif durch das kleine Fenſter auf den gruͤnen Raſen. Es war, als wenn ich mich ei - nem Feenpallaſte naͤherte. Jetzt ſtand ich dicht vor dem Fenſter, und ſah in eine kleine, nett aufgeputzte Stube hinein. Eine alte Frau ſaß in einem abgenutzten Lehnſtuhle, und ſchien zu ſchlummern, ihr Kopf, mit einem reinen weißen Tuche umwickelt, nickte von einer Seite zur an - dern. Auf einem niedrigen Fußſchemmel ſaß ein Maͤdchen mit einer Laute, ich konnte nur das freundliche Geſicht ſehen, die kaſtanienbraune Locken, die unter einer Kopfbinde zuruͤckgepreßt waren, die freundlichen hellen Augen, die fri - ſche Roͤthe der Lippen

Ich ſtand wie bezaubert, und vergaß ganz, wo ich war. Mein Ohr folgte den Toͤnen, und mein Auge jeder, auch der unmerklichſten Be - wegung des Maͤdchens. Ich ſah wie in eine106 neue Welt hinein, und alles kam mir ſo ſchoͤn und reizend vor, es ſchien mir das hoͤchſte Gluͤck in dieſer Huͤtte zu leben, und dem Saitenſpiele des Maͤdchens zuzuhoͤren, dem Geſchwaͤtze der Alten und den kleinen Grillen in den Waͤn - den. Das Maͤdchen ſtand auf, das Licht zu putzen, das heruntergebrennt war, und ich gieng ſcheu zuruͤck, denn ſie trat dicht an’s Fenſter. Der ſchlankeſte Wuchs, die Umriſſe, wie von dem Buſen der Grazien entlehnt, ſogar den weißeſten Arm konnte ich noch auf meinem ſchnel - len Ruͤckzuge bemerken. Ich wagte es nicht, naͤher zu kommen, und ſah nur Schatten hin und her fahren und uͤber den Raſen hinzittern. Ich ſtand da, wie ein Suͤnder im Orkus, der ſich fuͤrchtet, jetzt vor den ernſten Minos geru - fen zu werden.

Die Lautentoͤne waren jetzt verſtummt, und als ich endlich wieder naͤher trat, ſah ich eben die Alte durch eine kleine Thuͤr in die angraͤn - zende Kammer wanken. Das Maͤdchen ſtand mit herabrollenden Locken in der Mitte des Zim - mers, und loͤſte halbſchlaͤfrig das Buſentuch auf. O Roſa, ich habe bis jetzt noch gar kein Weib geſehn, ich habe nicht gewußt, was107 Schoͤnheit iſt; gehen Sie mit Ihren Antiken und Gemaͤhlden; dieſe lebendigen, ſchoͤngeſchlun - genen zarten Umriſſe hat noch kein Mahler dar - zuſtellen gewagt. Ploͤtzlich ſah ſie auf, wie aus einer Zerſtreuung erwachend, und trat an’s Fenſter. In demſelben Augenblicke thaten ſich Fenſterladen vor, und das Licht und die herr - liche Scene, die es beleuchtet hatte, verſchwand.

Ich fuhr wie aus einem Traume auf; wie man im Bette nach dem Gegenſtande faßt, von dem man getraͤumet hat, ſo ſah ich mich be - taͤubt nach allen Seiten um, ſie zu entdecken. Wie oͤde kam mir alles umher vor! Die Baͤu - me erſchienen mir wie Ruinen, nur das kleine Haus war fuͤr mich bewohnt und freundlich. Ich taumelte in die Stadt, und traͤumte die ganze Nacht nur von dem ſchoͤnen unbekannten Maͤdchen.

Heute am Morgen war mein erſter Weg durch die Porta Capena. Es war mir ſchwer, die Haͤuſer zu entdecken, ſo verdummt war ich geſtern. Endlich fand ich ſie auf. Aber es war mir doch alles anders. Ein kleiner Gar - ten, faſt nicht groͤßer, als mein Zimmer, iſt neben dem Hauſe mit einem baͤueriſchen Staket108 umgeben, darin ſtand das Maͤdchen, o ich kann - te ſie gleich wieder, und mein Herz ſchlug ſchon, noch ehe ſie mein Auge ſah. Aber aller Ver - ſtand und alle Ueberlegung verließ mich, ich wagte es kaum, das goͤttliche Geſchoͤpf zu gruͤßen, ſie dankte fremd, warum laͤchelte ſie mich nicht an? Ihr Laͤcheln muß wohlthun, wie die Fruͤhlingsſonne. Ich habe tauſend Plane im Kopfe. Sie war fort, als ich wieder umkehrte. Ich habe keine Ruhe, ich werde heut am Abend wieder dort ſeyn; wenn ich in der Gegend ſtehe, iſt mir zu Muth, wie in meiner Kindheit, wenn ich die ſchoͤnen und abentheuerlichen Maͤrchen hoͤrte, die die jugend liche Phantaſie gaͤnzlich aus dieſer Welt ent - ruͤcken.

109

22. Emilie Burton an Amalie Wilmont.

Sie verlangen alſo durchaus und unbedingt meine Meynung? Nun gut, ſo kann ich nichts weiter thun, als Ihnen ſagen, wie ich an Ihrer Stelle handeln wuͤrde. Ich darf Sie wohl nicht erſt daran erinnern, liebe Freundinn, daß das im Grunde ſehr wenig geſagt iſt, denn der wichtigſte Umſtand iſt eben der, daß Sie nicht Emilie ſind. Indeß wir wollen den Ver - ſuch wagen, da es Ihr Wille iſt.

Lovell hat Sie gaͤnzlich vergeſſen, und Mor - timer liebt ſie: beides geſtehn Sie ſelber ein. Mortimer kann durch Sie gluͤcklich werden, Lo - vell nicht mehr: Sie ſchaͤtzen Lovell nicht mehr, wie ehedem, ſondern lieben im Grunde Morti - mer aufrichtiger, als ihn; mich duͤnkt, hier ſollte keine lange Unterſuchung der Frage ent - ſtehen: Was zu thun ſey? Die Erinnerungen, die Sie quaͤlen, ſollten Sie vielmehr durch Ihre Vernunft unterdruͤcken, als ihnen nachhaͤngen;110 denn alles, was uns und andern zur Laſt faͤllt, ſollte man nie recht nahe auf ſich zukommen laſſen. Wir verderben uns durch kraͤnkliche Ein - bildungen ſo oft unſer Leben; ich habe es nur gar zu oft bemerkt, wie jene ſogenannten fei - nern Empfindungen nur eine Art von Eigenſinn ſind, mit welchem man ſich auf gewiſſe Ideen heftet, daß ich von je gewuͤnſcht habe, ich und alle meine Freunde moͤchten von dieſer Krank - heit verſchont bleiben.

Schelten Sie mich keine Vernunftſchwaͤtze - rinn, liebſte Freundinn, ich ſage nur, wie ich denke, und denke vielleicht nur ſo, weil ich die Erfahrungen nicht gemacht habe, mit denen Sie bekannt geworden ſind: ich bin auch vielleicht weniger reizbar, ich habe vielleicht nie geliebt, kurz, ich kann am Ende nur meine bisher ge - ſammelten Ideen vortragen, und das Laͤcherliche liegt blos darin, daß ein Frauenzimmer ſo ernſt - haft und zuſammenhaͤngend ſchreiben will. Meine Amalie wird dieſes Vorurtheil nicht haben, und Ihre herzlichſte Freundinn daher billiger beur - theilen.

Aber wenn Sie nun einen ſchaͤtzbaren und verſtaͤndigen Mann durch Ihre Hand wuͤrklich111 gluͤcklich machen koͤnnten? Und wenn es nun auch durch eine kleine Aufopferung geſchehen muͤßte? Wuͤrden Sie ſich wirklich ſo lange bedenken? Sie liebten vielleicht Lovell nur, weil Ihr wohlwollendes zartes Gemuͤth einen Gegenſtand noͤthig hatte, an dem es ſich aͤußern konnte. Tragen Sie jetzt alle dieſe Gefuͤhle auf Mortimer uͤber, und Sie werden beide gluͤck - lich ſeyn.

Mein Vater hat eine Geſchaͤfftsreiſe nach London gemacht, ich glaube, er wird Sie und Ihren Bruder beſuchen.

Leben Sie recht wohl, und nehmen Sie meinen Brief ja nicht wichtiger, als er ſeyn ſoll. Gruͤßen Sie Ihren Bruder.

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23. Mortimer an Karl Willmont.

Mit Erſtaunen hab ich von Deiner Schweſter gehoͤrt, daß Du ſchon wieder, und zwar von neuem nach Bonſtreet gereiſ’t biſt! O du un - ſteter Landſtreicher! Moͤchteſt Du doch auch erſt einen Ort gefunden haben, wo Du Luſt bekaͤ - meſt, Dich anzuſiedeln. So biſt Du mir nun ſchon wieder entlaufen, ehe ich noch angefangen habe, Dich recht zu genießen.

Wuͤnſche mir Gluͤck, Karl, denn alles was ich wuͤnſchte, iſt nun in Erfuͤllung gegangen. Deine Schweſter hat ſich ploͤtzlich entſchloſſen; ſie will die Meinige werden. Ich danke Gott, daß es endlich ſo weit gekommen iſt. Die Verlobung iſt bey Deinen Eltern geſtern ge - feyert, und in einem Monathe ohngefaͤhr zieh ich nach dem kleinen Landgute in der Naͤhe von Southampton, und ſeyre dann meine Hochzeit mit Amalien. Ich verſetze mich ſchon ganz in die ſtillen haͤuslichen Scenen, und ertraͤume mir nicht das Gluͤck aus einem Feenlande, ſon -dern113dern rechne nur auf ein kleines, irdiſches Gluͤck, und das wird mir nun gewiß nicht fehlen.

Mein Landhaus liegt angenehm, und hat umher die reizendſten Spatziergaͤnge, ich will nun dort nach meinem Herumſtreifen den laͤnd - lichen Freuden leben.

Was Deine Schweſter ſo ploͤtzlich beſtimmt hat, weiß ich nicht. Meine ausdauernde Liebe, mein Gefuͤhl, das ſich immer gleich blieb, ſcheint ſie endlich uͤberzeugt zu haben, daß nur dies die wahre Liebe ſey. Ich habe Dir heute nichts mehr zu ſagen. Lebe wohl.

Lovell. 2r Bd. H114

24. Karl Willmont an Mortimer.

Ja wohl bin ich wieder Dir und der Stadt entlaufen. Aber ich verdiente auch wahrhaftig nicht den unbedeutendſten Blick von Emilien, wenn ich eine ſo ſchoͤne Gelegenheit ungenutzt gelaſſen haͤtte. Du weißt, daß der alte Bur - ton ſeines Prozeſſes wegen in London war: da er grade einige Haͤuſer in der Nachbarſchaft be - ſuchte, kam er auch zu uns. Er war außeror - dentlich vergnuͤgt, und dann ſind die Menſchen gewoͤhnlich hoͤflich und freundlich; er ließ ſich mit mir in ein weitlaͤuftiges Geſpraͤch ein, und da ich ihm unter andern erzaͤhlte, ich haͤtte ſchon laͤngſt die ſchoͤnen Seen in Northumber - land beſuchen wollen; ſo ſchlug er mir vor, es jetzt beym ſchoͤnſten Fruͤhlingswetter zu thun, und ihn bis Bonſtreet zu begleiten. Ich ver - ſprach es, ohne mich zu bedenken, und mußte Wort halten; und ſo rollte ich ſchon am fol -115 genden Morgen mit leichtem Herzen durch das Thor von London.

Und wie[vergnuͤgt] bin ich daruͤber, daß ich nicht ein ſo großer Narr geweſen bin, zuruͤck zu bleiben. Emilie freute ſich ſehr, als ſie mich ſo unerwartet wiederſah. Wir haben viel mit einander geſprochen, wir ſind ſehr zaͤrtlich ge - weſen, und es koͤmmt mir nun ganz naͤrriſch vor, daß ich ordentlich wieder abreiſen ſoll. Indeſſen darf ich doch nicht zu lange hier blei - ben, um mir kein Dementi zu geben, ich muß ſogar nach Northumberland reiſen, um dem Lord und allen Menſchen nicht wie ein Narr vorzukommen.

Wie manches in der Welt muß man nicht blos andern Leuten zu Gefallen thun! In - deß mag auch dies unangenehme Geſchaͤfft noch voruͤbergehn, wie ſo viele andere; es iſt hier ſchoͤn, ich will die paar Tage, die ich hier zu - bringe, recht geizig genießen, und fuͤr die Zu - kunft den Himmel ſorgen laſſen. Denn wie es am Ende noch mit meiner Liebſchaft ablaufen ſoll, kann ich wahrhaftig nicht einſehn.

Wer weiß aber, wie wunderbar ſich manch - mal alles fuͤgt! Ich habe Leute gekannt,H 2116die auf einen Gewinnſt, den ſie im Lotto hof - ten, Schulden machten. Sie waren weiſe, und ich will Ihnen nachahmen.

Aus den Bergen in Northumberland erhaͤltſt Du wieder einen Brief von mir.

117

25. Amalie Wilmont an Emilie Burton.

Ich bin Ihrem Rathe gefolgt, liebſte Freun - dinn, um nur endlich der marternden Unruhe los zu werden. Ich bin mit Mortimer verlobt, und fuͤhle mich recht froh und leicht. Sie haben recht, es ſind meiſtentheils nur kraͤnkliche Einbildungen, mit denen wir uns aͤngſtigen, Sorgen, deren zehnter Theil nur aus Wirklich - keit beſteht, das uͤbrige iſt Traumgeſtalt. Ich denke mir jetzt mein zukuͤnftiges Leben recht ſchoͤn und froh. Mortimer iſt weit herzlicher, als ich je von ihm geglaubt haͤtte, denn er freute ſich uͤber meine Einwilligung ſo ſehr, daß es mich bey einem ſo geſcheuten Manne ordent - lich uͤberraſchte. Er findet mich gewiß viel zu gut und verſtaͤndig, ich weiß es zu gut, daß ich kindiſch und voller Thorheiten bin: ach, wenn er ſich nur nicht ſo mit mir betrogen fin - det, wie ich mich an Lovell geirrt habe.

118

Wir werden beide kuͤnftig recht einſam woh - nen, in keiner großen Stadt, ſelbſt von einer großen Heerſtraße abgelegen. Ach, ſo wird ja nun endlich doch mein Lieblingswunſch erfuͤllt, in der freyen Natur zu leben. Ich bedarf um froh zu ſeyn keiner Zerſtreuung und keiner großen Geſellſchaften; ich wuͤnſche, daß uns Niemand beſuche, als gute Freunde, ſo wie Sie und Ihr Bruder, dann wollten wir dort einmal das ſchoͤne Leben von neuem fuͤhren, das ich bey Ihnen im vorigen Fruͤhjahre genoß, als ich zu - erſt Lovell kennen lernte.

Doch, ich wollte ja nicht mehr an ihn den - ken. Ich ſoll mich ja mehr in meiner Gewalt haben, wie Sie mir ſelbſt gerathen haben. Ich finde auch, daß ich es ſo ziemlich gelernt habe; nur manchmal widerſtreben mir thoͤrichte Erinnerun - gen. O ich werde gewiß, auch wenn ich zu - weilen an Lovell denke, an Mortimers Seite gluͤcklich ſeyn. Er koͤmmt mir jetzt immer vor, wie ein geſtorbener Bruder, und ich muß noch manchmal weinen, aber es ſind nicht mehr die brennenden Thraͤnen, die ich ehemals vergoß.

Sie ſehen, daß ich immer bleibe, wie ich war. Ich habe Sie ſchon oft um dieſen ſchoͤ -119 nen graden Sinn beneidet, den ich nie erlangen werde.

Mein Bruder hat Ihren Vater nach Bon - ſtreet begleitet, und mich duͤnkt, ich habe die Urſache errathen. Sind Sie gar nicht be - gierig, ſie zu wiſſen? Doch ſtill, ich darf wohl uͤber meine, aber nicht uͤber die Geheim - niſſe andrer Leute ſchwatzen. Das letztere iſt unerlaubt, wenn das erſte nur kindiſch iſt.

120

26. Roſa an William Lovell.

Sie dauern mich mit Ihrer neuen Liebſchaft. Roſaline mag nach Ihrer Beſchreibung ein ganz huͤbſches Maͤdchen ſeyn, aber Sie ſind und blei - ben doch wahrhaftig ein Schwaͤrmer. Und die Noth bekannt mit ihr, und von ihr erhoͤrt zu werden! Lieber Lovell, haben Sie denn Ihren ganzen Curſum mit ſo geringem Nutzen gemacht? Es iſt hoͤchſt unrecht, daß Sie noch von irgend einem Maͤdchen koͤnnen in Ver - legenheit geſetzt werden!

Wenn Sie einmal ſo ſehr von ihr entzuͤckt ſind, ſo muͤſſen Sie alles verſuchen, ihr naͤher zu kommen. Es giebt nichts verdrießlichers, als Leute zu ſehn, die ein Gut uͤber alles wuͤn - ſchen, und nicht die kleinſten Mittel anwenden, ſeiner habhaft zu werden. Ich wollte, ich koͤnn - te Troclus ſeyn, um meinen armen Pandaͤus zu121 beruhigen. Wenn gar nichts helfen ſollte (wor - an ich zweifle) muͤſſen Sie ihr die Ehe verſpre - chen; am dritten Tage glaubt ſie das Maͤhrchen, und am vierten iſt ſie die Ihrige. Am zehnten ſpaͤteſtens wird ſie Ihnen denn doch nicht mehr wie eine Gottheit erſcheinen.

Nehmen Sie meinen Brief nicht uͤbel, ich bin hier durch einen Zufall in eine Stimmung verſetzt, in welcher mir Ihre Anbetung eines kleinen unbedeutenden Maͤdchens nothwendig kin - diſch erſcheinen muß.

Wenn mancher von unſern armſeligen Be - kannten dies Billet ſaͤhe, wuͤrde er mich mit hochweiſer Miene Ihren Verfuͤhrer nennen, und Wunder meinen, wie viel er dabey daͤchte. Ich hoͤre von ſo manchen Menſchen dies unſchuldige Wort auf ſo unſchuldige Leute anwenden, daß ich jetzt immer daruͤber lachen muß. Es giebt keinen groͤßern Unſinn, als zu glauben, daß der Verſtand auf unſre Gefuͤhle und Hand - lungen Einfluß habe, und nun gar, daß eine fremde Idee jemals die meinige werden koͤnne, wenn ich ſie nicht ſchon vorher gehabt habe.

122

Leben Sie wohl, und geben Sie mir von Ihren Progreſſen Nachricht. Ich werde dieſes Abentheuer als den guten oder ſchlechten Plan einer Komoͤdie anſehn; zeigen Sie ſich daher im dramatiſchen Fache, wenigſtens als ein eben ſo guter, wo moͤglich noch beſſerer Dichter, als Sie bis jetzt im Lyriſchen gethan haben.

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27. William Lovell an Roſa.

Es iſt alles vergebens. Ich bin mir in mei - nem Leben noch nicht ſo einfaͤltig vorgekommen, als ſeit einigen Tagen. Oder ſollte das ſeltſame Ding, was in einem Lande Schande, im andern Ehre bringt, woran keiner glaubt, und wogegen die ganze Natur ſich empoͤrt, ſollte die ſo - genannte weibiſche Tugend hier wirklich ein - mal kein Vorurtheil ſeyn? Und doch iſt es nicht moͤglich, mein Benehmen iſt nur linkiſch und ungeſchickt. Das Maͤdchen mit dieſen glaͤnzen - den Augen muß Temperament haben, nur ver - ſteh ich nicht die Kunſt, Sinnlichkeit, Eigen - liebe und Eigennutz bey ihr auf die wahre Art in Bewegung zu ſetzen.

Spotten Sie uͤbrigens, wie Sie wollen, es iſt gewiß ein himmliſches Geſchoͤpf!

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28. William Lovell an Eduard Burton.

Ich bin Dir noch die Nachricht ſchuldig, daß ich mich jetzt beſſer befinde, und daß ich nun - mehr bey kaͤlterem Blute Deinen Brief gruͤnd - licher zu verſtehen glaube. Was Du gegen mei - ne Ideen ſagſt, iſt ſehr wahr und gegruͤndet; allein jeder Menſch hat ſeine eigene Philoſophie, und die langſamere oder ſchnellere Cirkulation des Blutes macht im Grunde die Verſchieden - heit in den Geſinnungen der Menſchen aus. Daher haſt Du in Deiner Perſon voͤllig Recht, und ich in der meinigen nicht Unrecht. Das iſt eben das Hohe in der menſchlichen Seele, daß ſich ihr einfacher Strahl in ſo unendlich mannigfaltige Farben brechen kann; ich gebe Dir zu, daß keine von allen die wahre ſey, aber eben ſo wenig kannſt Du behaupten, jene iſt ganz verwerflich, weil jedes Auge jede Farbe anders ſieht, und Du das vielleicht Blau nennſt, was mir als Roth erſcheint.

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Doch wir wollen daruͤber nicht weiter diſpu - tiren. Du irrſt aber darin voͤllig, wenn Du meinſt, daß meine Gedanken nur Wiederholun - gen von fremden ſind. Von Jugend auf habe ich die Menſchen gehaßt und verachtet, die nur das Echo andrer ſind, denn ihnen fehlt das Kennzeichen der Menſchen; in die Klaſſe dieſer klaͤglichen Geſchoͤpfe wirſt Du mich hoffentlich niemals geworfen haben; und dann ließe ſich wohl immer noch die Frage aufwerfen, ob es bey einem Menſchen von einigem Verſtande moͤg - lich ſey, ihn zu einer andern Denkungs - oder Handelsweiſe zu verleiten, bey der ſeine ſoge - nannte Moralitaͤt litte.

Schilt mich nicht wieder einen Sophiſten, denn ich will nun einmal recht kalt und ge - maͤßigt ſprechen. Denke Dir den Fall, daß man einen guten unbefangenen Menſchen nach und nach ſo betaͤubt, daß er unvermerkt in ir - gend eine Handlung hineintaumelt, die unſere ſtrengere Moral nicht gut heißen kann; bey die - ſem Umſtande iſt nur zweyerley moͤglich. Ent - weder er iſt nach begangener That eben ſo un - ſchuldig, als vorher, er hat ſie, ohne den Vor - ſatz Boͤſes thun zu wollen, ausgefuͤhrt: nun ſo126 iſt er zwar im Angeſichte des buchſtaͤblichen Ge - ſetzes ſchuldig, aber wahrlich nicht in den Au - gen der Vernunft, die nicht blos die grobe aͤußere, meiſtentheils nur zufaͤllige Erſcheinung, ſondern den innern boshaften Sinn beſtraft, ſelbſt wenn dieſer keine Handlungen hervor[b]ringt. Der zweyte Fall iſt alſo nun dieſer: daß ſchaͤnd - liche Handlungen aus einem ſchaͤndlichen Vor - haben entſtehen. Wie kann aber meine Seele fremde Ueberzeugung wirklich als die ihrige annehmen? Wo willſt Du den Punkt, den Mo - ment auffinden, in welchem eine reine Seele zu einer ſchlechten wird? Geſchieht es durch einen Zufall: wie iſt es moͤglich, daß ſich da - durch ein Flecken im Geiſte erzeugt, da er nur immer gute Gedanken und Vorſaͤtze faſſen kann? Durch die Meinung eines andern? Er wird mit reinem Sinne den fremden nicht begreifen, und wenn er ihn begreift, ſo ſetzt dies ſchon voraus, daß er ſelbſt verdorben ſey. Du wirſt Dich aus dieſem Labyrinthe von Wider - ſpruͤchen nicht herausfinden koͤnnen; nimm alſo meine Meinung an, und gieb mir zu, daß Deine Furcht gaͤnzlich ungegruͤndet iſt.

Aber unmoͤglich kann mein verſtaͤndiger Eduard127 zu den Thoren gehoͤren, die nur ihres Gleichen lieben koͤnnen; ich weiß, wie entfernt er von dieſem Sektirergeiſte iſt, daher brauch ich nicht zu heucheln, wenn ich von ſeiner Meinung ab - weiche, um nur ſeine Freundſchaft nicht zu ver - lieren. Ich darf mich daher eben ſo dreiſt wie ſonſt unterſchreiben, meines geliebten Freundes

zaͤrtlicher Freund William Lovell.

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29. Walter Lovell an ſeinen Sohn William.

Lieber Sohn,

Ich weiß nicht, ob Du noch immer auf Dei - nen ungluͤcklichen Vater zuͤrneſt, Deine ſparſa - men und wortkargen Briefe laſſen es mich be - fuͤrchten. Ich habe Dir bis jetzt unausgeſetzt das verlangte Geld geſchickt, ohne bisher ein Wort daruͤber zu verlieren, ob Du gleich in je - dem Vierteljahre mehr als im vorigen gebraucht haſt. Du findeſt hierbey auch den Wechſel, den Du ſo ungeſtuͤm gefordert haſt; nur zwingen mich diesmal die aͤußern Umſtaͤnde, einige Wor - te hinzuzufuͤgen, die Dir und mir gleich unan - genehm ſeyn muͤſſen.

Ich habe ſeit mehrern Jahren nur in Dir und in der Ausſicht einer ſchoͤnen Zukunft ge - lebt: aber ſeit einem halben Jahre hat ſich Dein Herz von Deinem Vater abwendig gemacht; ich wuͤßte kaum, daß Du noch lebteſt, wenn Deine Briefe, in denen Du mich, wie ein ungeſtuͤmerGlaͤu -129Glaͤubiger um Geld mahneſt, mich nicht mittel - bar davon benachrichtigt haͤtten. Ich gab Dir alles gern, denn ich habe mein Vermoͤgen von je als ein Mittel angeſehn, Dich gluͤcklich zu machen; ich war dabey uͤberzeugt, daß ſich das Herz meines William wieder erweichen wuͤrde, und ſo ließ ich Deinen Thorheiten freyen Lauf.

Wenn Du aus dieſem Briefe ſchließeſt, daß ich wieder krank bin, ſo irrſt Du nicht. Ich bin es, und vielleicht gefaͤhrlicher, als je. Ich fuͤhle die Lebenskraft gleichſam nur noch tro - pfenweiſe durch meinen Koͤrper rinnen, darum kehre bald nach England zuruͤck, theurer Sohn, damit ich Dich noch wiederſehe, und mir we - nigſtens noch Ein Gluͤck auf dieſer Erde uͤbrig bleibt.

Ich kann nicht[umhin], meine anfaͤngliche Drohung zu erfuͤllen, denn Du mußt ja doch einmal alles erfahren. Meine ſchoͤne ertraͤumte Zukunft, der Glanz unſers Hauſes, Deine Groͤße, alle meine Hoffnungen ſind dahin, und auf ewig zernichtet! Ich habe meinen Prozeß verlohren, und Burton iſt jetzt Herr meiner Laͤndereyen. Wie es moͤglich geworden, auf welchen Wegen er dahin gekommen iſt, dasLovell. 2r Bd. J130alles kann ich nicht begreifen: aber genug, daß es geſchehen iſt! Mir bleibt nun nichts wei - ter uͤbrig, als die kleinen beiden Guͤter in Hamp - ſhire, wo ich in dem alten verfallenen Hauſe freylich noch zum Sterben Raum genug finde. Ich ſehe es ſchon voraus, wie ſich alle meine Bekannten, die mir bisher ſchmeichelten, zu - ruͤckziehen werden. Man kuͤmmert ſich ſo wenig um den Ungluͤcklichen, der ſich aus der großen Welt verliert, alles iſt kalt und empfindungs - los, wie die Lichter am Firmamente, wenn ein Stern herunterſinkt. Dies iſt das paſſendſte Bild meines Ungluͤcks.

Burton beſuchte mich ſchadenfroh einige Ta - ge vorher, ehe das Urtheil meines Prozeſſes ge - ſprochen ward. Er war ungewoͤhnlich freund - lich, er betrachtete das Haus und den Garten aufmerkſam, ſchon als ſein Eigenthum, und ich will ihm auch mein hieſiges Gut verkaufen, um nicht in der Naͤhe von London zu leben.

Troͤſte Dich, mein Sohn, und wenn Du viel - leicht von dieſem Schlage weniger getroffen ſeyn ſollteſt, als ich, ſo verſuche Deinen Vater zu troͤſten. Ich ziehe in zwey Wochen von hier131 fort, Du weißt alſo, wohin Du Deinen Brief zu addreſſiren haſt.

Daß Du jetzt weniger Aufwand machen mußt; daß es das letztemal iſt, daß ich Dir einen ſo anſehnlichen Wechſel ſchicke, brauche ich wohl nicht erſt hinzuzufuͤgen. Ach mein Sohn! ſtaͤnde Dein Gluͤck in meiner Hand! Doch ich will abbrechen; ich befinde mich ſehr uͤbel. Lebe wohl.

J 2132

30. William Lovell an Roſa.

Ich habe mancherley Nachrichten aus Eng - land, die mich intereſſiren ſollten, allein ich kann einzig an die ſchoͤne Roſaline denken. Him - mel! welch ein Maͤdchen! Ich ſehe unaufhoͤr - lich die hellen braunen Augen vor mir, ich kann nichts anders denken, als ihren Gang und ih - ren ſchlanken Wuchs. Ich habe ſie ſeitdem mehr als einmal geſprochen; aber alles iſt ver - gebens. Sie hat eine Menſchenſcheu, die un - uͤberwindlich iſt, ſie geht mir aus dem Wege, und wenn ich vor ihr ſtehe, ſchlaͤgt ſie die Au - gen zur Erde, und ſieht mich nicht einmal an. Es iſt, als wenn ich zu dem Maͤdchen hinge - zaubert waͤre, ich habe noch[nie] ein Geſchoͤpf mit dieſer Heftigkeit, ich moͤchte ſagen, mit dieſem Wahnſinne geliebt. So wie ich nur die Augen ſchließe, ſteht ſie vor mir; ich bin ſeit einigen Tagen wie verruͤckt.

Ich mag weder Bianka noch Laura ſehen; jedes andre Maͤdchen erſcheint mir langweilig133 und abgeſchmackt. Ach Roſaline! Ich moͤchte nach ihrem Hauſe hinuͤberfliegen, oder unſicht - bar neben ihr ſeyn. Sie ſpotten blos, weil Sie kaͤlteres Blut haben, weil Sie ſie nicht kennen.

Ich habe jetzt eine Idee, die ſich gewiß aus - fuͤhren laͤßt, und die mir ganz ohne Zweifel weiter hilft. Naͤchſtens ein mehreres davon; dann will ich Ihnen alles weitlaͤuftig auseinan - der ſetzen. Ja es ſoll foͤrmlich der intriguante Plan einer Komoͤdie werden.

O wie lebt man anders, wenn man ein We - ſen kennt, fuͤr das man lebt! Alles ſteht in meinem Kopfe in Bezug mit Roſalinen. Die menſchliche Seele iſt doch ein kleines, armſeli - ges Ding: denn ganz daſſelbe ſagt der Dichter und der religioͤſe Schwaͤrmer auch von ſeiner Kunſt. Der Philoſoph findet allenthalben ſeine Syſteme wieder, der Gelehrte zieht alles nach ſeinem Mittelpunkte. O, ſo will ich denn einzig fuͤr ſie leben! Sie ſoll die Sonne ſeyn, um die wie Planeten meine Gedanken und Sy - ſteme laufen. Leben Sie wohl.

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31. Willy an ſeinen Bruder Thomas.

Ich bin jetzt hier, Thomas, ſo Gott will, et - was beſſer dran, darum werde ich auch wohl noch eine Zeitlang hier bleiben. Mit meinem Herrn ſteh ich wieder auf einem recht guten Fuß, er hat mir alles ganz ordentlich abgebeten, und er iſt ſeit etlichen Tagen weit freundlicher mit mir, als er Zeit ſeines Lebens geweſen iſt. Es iſt gar nicht moͤglich, Thomas, daß man auf ihn recht boͤſe ſeyn kann, ich habe ſogleich alles vergeſſen und vergeben. Mir iſt wieder ganz wohl und leicht, aber doch gar nicht ſo, wie im vorigen Jahre, ich reiſe doch ſobald als moͤglich fort, ich kann nicht hier bleiben.

Sieh, Thomas, die ganze Geſchichte hat, ſo wie man zu ſagen pflegt, ihren Haken. Mein Herr iſt da vor dem Thore einem Maͤd - chen gut, da wohn ich jetzt, ach, nein Tho - mas, glaube nichts Boͤſes von mir. Ich kann wahrhaftig nicht dafuͤr, daß ich es meinem Herrn verſprochen habe, das ich mich ſo ſehr135 weit eingelaſſen habe. Ich ſtellte ihm alles ganz ordentlich und chriſtlich vor, aber da half kein Reden und Ermahnen, er wußte mir auf alle meine Worte ſehr ſchoͤn Beſcheid zu geben, ſo daß ich am Ende gar nicht mehr wußte, was ich ſagen ſollte, und wie ein alter Narre vor ihm ſtand, ſo weichherzig hatte er mich gemacht. Er ſagte, daß er dem Maͤdchen ſo ganz wun - derſehr gut ſey, daß er ſterben wuͤrde, wenn ich ihm nicht den Gefallen thaͤte, und, da konnt ich’s denn nicht uͤber’s Herz bringen. Nun war mir die Freude auch noch etwas Neues, daß ich wieder gut Freund mit ihm war; das hat denn auch viel dabey gethan.

Nun wohn ich hier vor dem einen Thore recht huͤbſch, recht wie auf dem Lande, und mir iſt manchmal, als wenn ich in Bonſtreet waͤre. Aber ich weiß doch auch recht gut, daß es nicht ganz recht iſt, und ich graͤme mich in manchen Stunden recht ſehr daruͤber, daß ich den Schritt gethan habe; aber der Menſch iſt doch ein gar zu ſchwaches Geſchoͤpf, und denn bin ich meinem[Herrn] Lovell gar zu gut, als daß ich ihm was abſchlagen koͤnnte, wenn er mich ſo recht herzbrechend darum bittet. Je136 nun, Gott muß ja bey ſo vielen Sachen ein we - nig durch die Finger ſehn, ſo mag er mir denn auch einmal von ſeiner Gnade etwas zukommen laſſen.

Lebe wohl, lieber Bruder. Du haſt mir lange nicht geſchrieben, thu es doch naͤchſtens einmal wieder, und ſage mir Deine Bedenklich - keiten daruͤber, und wie man es aͤndern muͤßte. Bis dahin lebe wohl.

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32. William Lovell an Roſa.

Ich habe Ihnen ſeit einigen Tagen keine Nach - richten gegeben, weil ich ſo vielerley einzurich - ten und zu beſorgen hatte, daß mir wirklich kei - ne Zeit uͤbrig blieb.

Ich habe nach vielen Umſtaͤnden meinen al - ten Willy beredet, in die benachbarte leerſte - hende Huͤtte neben Roſalinen einzuziehen; dort gilt er fuͤr meinen Vater, einen alten Venetia - ner, der hieher gekommen iſt, um in Rom ſein duͤrftiges Auskommen zu finden. Ich heiße An - tonio. Ich bin nun den groͤßten Theil des Tages in einer gemeinen Tracht, die mich recht gut verſtellt, bey Willy. Wir haben ſchon mit unſern Nachbarinnen Bekanntſchaft gemacht, die gegen Leute, die, ſo arm wie ſie ſcheinen, außerordentlich zuvorkommend ſind. So iſt al - les im ſchoͤnſten Zuge, und ich verſpreche mir den gluͤcklichſten Fortgang.

Was das Maͤdchen naͤrriſch iſt! Sie hat nun ſchon viel mit mir geſprochen, und iſt außer -138 ordentlich zutraulich und redſelig. Sie hat eine bezaubernde lebhafte Laune, und hat mich, wenn ich nicht ſehr irre, gern. Doch ich zweifle noch, denn in nichts in der Welt irrt man ſo leicht.

Wenn ich ein Mahler waͤre, ſchickt ich Ih - nen ihr Bild, und Sie ſollten dann ſelbſt ent - ſcheiden, ob ich wohl zu viel von ihr ſpreche. Wie verſteinert betracht ich oft die reizendſte Form, die je aus den Haͤnden der ſchaffenden Natur gieng, den ſanften, zartgewoͤlbten Bu - ſen, der ſich manchmal bey einer haͤuslichen Be - ſchaͤfftigung halb enthuͤllt, den ſchoͤnſten klei - nen Fuß, der kaum im Gange die Erde be - ruͤhrt. O weh! ich bemerke, daß ich woͤrt - lich wiederhole, was ſchon die abgeſchmackteſten Dichter geſagt haben.

Ich lebe hier gewiß ſo romantiſch, als es nur moͤglich iſt; es kommt mir oft gar nicht vor, wie ein ordentliches Leben auf dieſer Erde. Einen großen Theil des Tages bin ich in der kleinen Huͤtte, und ſehe Roſalinen im kleinen Garten arbeiten; ich ſehe in der Ferne Leute, die ſtolz voruͤber fabren und reiten, und ich be - daure ſie, denn ſie kennen Roſalinen nicht; ſie jagen muͤhſam nach Vergnuͤgen, und denken nicht139 daran, daß die hoͤchſte Seligkeit hier in einer ſeitwaͤrts gelegenen Huͤtte wohnt. Mittags und Abends eſſ ich bey Roſalinen, das haben wir gleich am zweyten Tage mit einander richtig ge - macht; wir ſparen, wie die Alte bemerkte, bei - de dabey. Ach, Roſa, wie wenig braucht der Menſch, um gluͤcklich zu ſeyn! Ich gebe, ſeit - dem ich hier wohne, nicht den hundertſten Theil von meinem Gelde aus, und bin froh. Dar - an denkt man ſo ſelten in jenem Taumel; aber wie viel gehoͤrt auch wieder zum Gluͤcke! Wuͤrd ich dieſe dumpfe Eingeſchraͤnktheit ertra - gen, wenn mir Roſaline nicht dieſe Huͤtte zum Pallaſte machte? O jetzt verſteh ich erſt dieſen ſo oft gebeauchten und gemißbrauchten Ausdruck.

Es thut mir leid, wenn ich fortgehen muß, um zu thun, als wenn ich irgendwo arbeitete. Einmal habe ich ſchon auf den einſamen Spatzier - gaͤngen, die ich dann mache, die Alte getroffen, die in einem Korbe duͤrre Reiſer ſammlete. Ich muß mich alſo in Acht nehmen, und ich kleide mich daher oft bey Willy um, und ſchleiche mich nach der Stadt.

Mir iſt alles duͤrre und unangenehm, jedes Geſicht widrig. Und warum liebt ſie mich nicht140 ſo, wie ich ſie anbete? Mein Leben iſt ein raſtloſes Treiben ungeſtuͤmer Wuͤnſche, wie ein Waſſerrad vom heftigen Strome umgewaͤlzt, jetzt iſt das unten, was eben noch oben war, und der Schaum der Wogen rauſcht und wirbelt durch einander, und macht den Blick des Be - trachtenden ſchwindlicht.

141

33. Roſa an William Lovell.

Sie fangen an mit Ihrer Geſchichte recht amuͤ - ſant zu werden. Es iſt ja alles ſo ſchoͤn, wie man es nur im beſten Romane verlangen kann. Ich wuͤnſche Ihnen Gluͤck, denn es iſt gewiß, daß nichts uns unſer trocknes, proſaiſches Le - ben ſo poetiſch macht, als irgend eine ſeltſame Situation, in die wir uns ſelber verſetzen. Im Grunde beſteht unſer ganzes Leben nur aus ſol - chen Situationen, und ich tadle Sie daher gar nicht, wenn Sie ſich Ihre Empfindungen ſo lebhaft als moͤglich machen. Fahren Sie nur fort, eben ſo aufrichtig gegen mich zu ſeyn, als bisher, ſo werden mir Ihre Nachrichten viel Vergnuͤgen machen. Seyn Sie aber auch, wenn es irgend moͤglich iſt, aufrichtig gegen ſich ſelbſt: denn ſonſt entſteht am Ende eine gewiſſe fade Leere, die man ſich mit Enthuſiasmus auszufuͤl - len zwingt; dies ſind die widrigſten Epochen des Lebens. Man quaͤlt ſich dann, das Intereſſe noch an denſelben Gegenſtaͤnden zu finden, weil142 es uns ſcheint, als machten ſie unſern Werth aus. Jede Illuſion aber, die kein Vergnuͤgen macht, muß man emſig vermeiden. Man ſollte ſich uͤberhaupt von Jugend auf daran gewoͤhnen, die aͤußern Gegenſtaͤnde um ſich nur als Spie - gel zu betrachten, in denen man ſich ſelber wahr - nimmt, um in keinem Augenblicke des Lebens von ihnen abzuhaͤngen. Je mehr alles um uns her von uns abhaͤngt, um ſo ſklaviſcher es uns gehorcht, um ſo hoͤher ſteht unſer Verſtand. Denn darin kann die Vernunft des Menſchen unmoͤglich beſtehen, ſeltſame Dinge zu erfinden, oder zu begreifen, ſondern damit er durch ſie ihm gleichgeſchaffne Weſen nach ſeiner Willkuͤhr lenke. Auf die Art kann der kluge Menſch Al - len gebieten, mit denen er nahe oder fern in Verbindung ſieht. Die Herrſchaft des Verſtan - des iſt die unumſchraͤnkteſte, und Roſaline wird gewiß bald unter dem Gebote meines verſtaͤndi - gen Freundes ſtehn, wenn er ſich nicht von ihr beherrſchen laͤßt, und ſelbſt ſeine Vernunft un - terdruͤckt. Ich wuͤnſche Ihnen Gluͤck, um nie in dieſen Fall zu kommen.

143

34. William Lovell an Roſa.

Es iſt gewiß, daß man unter unſchuldigen Menſchen ſelbſt wieder unſchuldig wird. Jetzt kommen mir manche meiner Ideen zu gewagt vor, die mir ſonſt ſo natuͤrlich ſchienen; ich bin hier in der kleinen Huͤtte demuͤthiger, ja ich fuͤhl es, daß ich ganz einer von den Menſchen werden koͤnnte, die ich mir bisher gar nicht deutlich denken konnte; die in einer engen dun - keln Stube geboren, nur ſo weit ihre Wuͤnſche richten, als ſie um ſich ſehen koͤnnen; die mit einem Gebete erwachen und ſchlafen gehen, Maͤhr - chen hoͤren und im Stillen uͤberdenken, mit ei - nem dumpfen, langſamen Fleiße eine Handarbeit lernen, und nichts ſo ſehnlich als den Abend und die Schlafſtunde erwarten. O Roſa, wenn man dies Leben naͤher kennen lernt, ſo verliert es ſehr viel von ſeiner druͤckenden Beklemmung. Wir machen aus unſerm Leben ſo gern Ein un - unterbrochnes Vergnuͤgen, und ſuchen Unan - nehmlichkeiten muͤhſam auf, um die Freude durch144 den Kontraſt zu wuͤrzen: bey dieſen Menſchen aber iſt jedes unerwartete Vergnuͤgen ein Weih - nachtsfeſt, wie ein ploͤtzlicher Sonnenblick an ei - nem kalten Regentage ſcheint es hell und friſch in ihre Seele hinein. Ich werde mich kuͤnftig huͤten, die Menſchen mit dumpferen Sinne ſo ſehr zu verachten. Ich komme am Ende auf den Gedanken, daß alle Menſchen im Grunde gleich gluͤcklich ſind.

Wenn ich in meinem kleinen Beſitzthume jetzt auf, und abgehe, uͤber das Feld und nach der Stadt hinuͤber ſehe, Roſalinens Stimme von neben an hoͤre, und ich mich ſo recht ruhig und gluͤcklich fuͤhle, der Tag ohne Verdruß und Wi - derwillen ſich ſchließt; ſo komme ich manchmal auf den Gedanken, in dieſer Lage zu bleiben, hier ein Bauer zu werden, und das reinſte, fri - ſcheſte Gluͤck des Lebens zu genießen. Viel - leicht bliebe ich hier immer froh[und][zufrieden], vielleicht! ach, die Wuͤnſche, die Neigungen des Menſchen! Welcher boͤſe Genius hat dieſem Bilde, als es vollendet war, ſo viel der widerſprechenden Triebe beygemiſcht!

Doch hinweg davon. O Roſa, nennen Sie mir ein Schauſpiel, das dem an Reiz gleichkaͤme,145kaͤme, wenn ſich eine ſchoͤne, unbefangne Seele mit jeder Stunde mehr entwickelt. Wir ſind jetzt bekannter mit einander, ich und Roſaline, ich habe ſie taͤglich geſehn und geſprochen, mein anſcheinendes Ungluͤck hat ſie geruͤhrt. Sie iſt ſo das reine Bild einer Maͤdchenſeele, ohne die feinere Ausbildung, die die Erſcheinung zu - gleich verſchoͤnert und entſtellt. Da uns die Verſchiedenheit des Standes kein Hinderniß in den Weg gelegt hat, ſo ſind wir auf einem recht vertrauten Fuße mit einander. Wir ſitzen oft im finſtern Winkel, und ſprechen uͤber unſer Schickſal, ſie erzaͤhlt mir Familiengeſchichten, oder wunderbare Maͤhrchen, die ſie mit außer - ordentlicher Lebhaftigkeit vortraͤgt; dann ſingt ſie wieder ein kleines Volkslied, und begleitet es mit den Toͤnen der Laute. Es giebt kei - ne Muſik weiter, als dieſe kleinen, taͤndelnden, faſt kindiſchen Lieder, die ſo gleichſam im ſim - peln Gang des Geſanges das Herz auf der Zun - ge tragen, und wo nicht Toͤne, wie ungeheure Wogen ſteigen und fallen, und ſich in einen wilden Zug miſchen, der kreiſchend ſich durch alle Tonarten ſchleppt, und dann in ein Chor aller ſtuͤrmenden Inſtrumente verſinkt. Das HerzLovell. 2r Bd. K146bleibt um ſo leerer, je voller das Ohr iſt; die Seele kann nur dieſen ſtillen Geſang ſo recht aus dem Grunde genießen, hier ſchwimmt ſie mit dem ſilbernen Strome in ferne dunkle Ge - genden hinunter, die leiſeſten Ahndungen erwa - chen in den Winkeln, und gehn ſtill durch das Herz und Ruͤckerinnerung eines fruͤhern Daſeyns, wunderbares Vorgefuͤhl der Unſterblichkeit ruͤhrt die Seele an.

Wenn ich ihr gegenuͤber ſitze, o wie Feuer weht mich ihr Athem an! Ich habe ihr ſchon an den Buſen ſtuͤrzen wollen, und dieſe Reize mit unzaͤhligen Kuͤſſen bedecken; ich traͤume oft ſo lebhaft vor mir hin, daß ich nachher unge - wiß bin, ob ich es nicht ſchon gethan habe. Es reißt mich eine unbekannte Kraft zu ihr hinuͤber, die Toͤne ihrer Laute klingen mir oft ſchmerzhaft im Kopfe nach und bald, bald muß es ſich aͤndern, oder ich verliere den Verſtand.

Der Arme, er merkt nicht, daß es ſchon geſchehn iſt! werden Sie ausrufen. Sie ſehn, daß ich Ihnen ſelhſt die Waffen gegen mich in die Hand gebe. Ach ich mag an keine witzigen Einfaͤlle denken, ich mag mir nicht meine heißen147 Gefuͤhle zerlegen, um ihre Beſtandtheile kennen zu lernen, ich mag es nicht, und ſelbſt wenn es wahr ſeyn ſollte. Und alles zugegeben, ſo glaͤnzt in dieſer Sinnlichkeit ſo viel erhabner Geiſt, daß ich keine andre platoniſche Liebe brauche.

Als ihre Mutter neulich ſchlafen gegangen war, und ich mit ihr vor der Thuͤre ſaß, ent - deckt ich ihr meine Liebe. Sie war geruͤhrt und zaͤrtlich, und ſagte mir ſehr naiv, daß ſie ſchon einen Braͤutigam habe, und mich daher nicht lieben duͤrfe, wenn ſie auch herzlich gern wolle. Es iſt ein armer Fiſcher, der jetzt einer kleinen Erbſchaft wegen zu Fuße nach Calabrien gegangen iſt; ſie beſchrieb ihn mir ſogleich, und geſtand mir ganz unverholen, daß er ſo huͤbſch nicht ſey, als ich. Daſſelbe Maͤdchen, das mich vor einigen Wochen keines freundlichen Blickes wuͤrdigte! O ihr Menſchenkenner, wann wer - det ihr das Herz der Weiber ergruͤnden koͤnnen!

Sie ruͤhrte mich, als ſie mir die Einrich - tung ihrer kuͤnftigen kleinen Wirthſchaft be - ſchrieb. Wie beſchraͤnkt ſind die Wuͤnſche die - ſer Menſchen! Wenn ich an meine Verſchwen - dung denke, wie ein weggeworfner oder verſpiel -K 2148ter Theil meines Vermoͤgens dies herrliche Ge - ſchoͤpf gluͤcklich machen wuͤrde! Ich lerne viel in dieſen Huͤtten, Roſa, ich glaube, ich lerne hier mehr ein Menſch ſeyn, und mich fuͤr das Ungluͤck der Menſchen intereſſiren. Und ſie ſollte hier fuͤr einen armſeligen Schiffer aufgebluͤht ſeyn? Fuͤr einen Verworfenen, der ſich vielleicht gluͤcklich ſchaͤtzen wuͤrde, wenn er mein Bedienter werden koͤnnte? Nimmer - mehr! Dagegen muß ich Vorkehrungen tref - fen, und ich denke, das Beſte iſt ſchon geſchehen. Wir nennen uns Du, und zuweilen, wenn ſie ausgehen muß, oder ich in der Stadt bin, giebt ſie bey meinem Willy Briefe fuͤr mich ab. Neulich ſaß ſie auf einem niedrigen Schemel, und ſchaukelte ſich waͤhrend dem Erzaͤhlen ein wenig, ploͤtzlich wollte ſie fallen, ich fing ſie auf, und meine Hand kam durch[einen] Zufall auf ihre ſchoͤne, feſte Bruſt zu liegen. Wir ſprachen weiter, ich zog die Finger nicht zuruͤck, ſondern ſpielte an dem Buſentuche wie in Ge - danken, ſie ſah mich erroͤthend und halblaͤchelnd an, und ließ es geſchehen, indem ſie in der Rede fortfuhr.

Sie iſt ſich mit ihren dunkeln Trieben ſelbſt149 ein Raͤthſel: ſie kommt mir in manchen Augen - blicken mit ihrer Unſchuld wie eine heilige Prie - ſterinn, oder wie eine unverletzliche Gottheit vor; und dann wieder die feurigen Augen! Der muthwillige Zug um den Mund!

Ich habe neulich in der Ferne fuͤr mich ein paar ſchalkhafte italiaͤniſche Liedchen geſungen, und ich ertappte ſie geſtern, wie ſie eben, wie unwillkuͤhrlich, die erſten Takte griff, und den Anfang ſang. Ploͤtzlich hielt ſie inne, ward ohne zu lachen roth, und legte die Laute fort, gleichſam wie eine gefaͤhrliche, nicht genug ver - ſchwiegene Freundinn. Ich kenne nichts ſchoͤ - ners, als dieſe ungeſchminkte Natur zu ſtudi - ren; o ſie wird, ſie muß die Meinige werden! Stammelnd hab ich ihr die Ehe verſprochen, und, das weiß Gott! wenigſtens halb im Ernſt.

So eben ſeh ich ſie vor die Thuͤre treten, ich gehe zu ihr; leben Sie wohl.

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35. Roſaline au Anthonio.

Du biſt ſchon wieder fort, Lieber, und ich glaubte Dich ſo gewiß zu treffen. Ich ließ Dich geſtern gern die Laute mitnehmen, und that, als merkt ich es nicht, weil ich ſie heut wieder abholen wollte. Du boͤſer Menſch! mich vergebens kommen zu laſſen! Dein Vater ſieht immer ſo verdrießlich aus, ich glaube, es will ihm noch gar nicht bey uns gefallen: ich ſcheue mich vor ihm, weil er mich immer ſo ernſthaft anſieht. Komm doch ja heut Abend, ich will Dir ein neues Lied ſpielen, das ganz wie auf Dich gemacht iſt. Komm ja und bleib huͤbſch lange. Die Abende ſind jetzt ſo ſchoͤn, und wir wollen denn noch mit einander ſingen. Aber Du mußt nicht wieder boͤſe werden, ich will ja auch kein Wort wieder vom armen Pietro ſprechen.

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36. Anthonio an Roſaline.

Nein, Liebe, ſprich nicht wieder von ihm, denn ſein Nahme geht mir immer wie ein Dolch - ſtoß durch’s Herz. Ich hoffe immer noch, daß er nie wieder zuruͤck kommen wird; wer weiß was ihm begegnet iſt, da er gar keine Nach - richten von ſich giebt. Thut es mir nicht ſelber weh, daß ich ſo oft von Deiner Seite muß? Du haͤtteſt mich aber gewiß getroffen, wenn ich daran gedacht haͤtte, daß Du kommen koͤnnteſt.

O Roſaline, laß die Geſaͤnge, die den kran - ken Reſt meines Herzens zerſchmelzen, und mei - ne Seele ganz mit ſich nehmen. Leb ich nicht ſchon ganz bey Dir, nur allein in Deiner Ge - genwart? Keine Arbeit will mir jetzt von der Hand gehn, da ich immer nach der Gegend hin - ſehe, in welcher Dein Haus ſteht. Ach, wenn Du mich doch ſo lieben koͤnnteſt, wie ich Dich liebe! o Roſaline, welche Ausſicht wuͤrde ſich mir eroͤffnen! O ja, ja, ſinge das Lied - chen, wenn es ſo wie auf mich gemacht iſt,152 und wenn von einem weichherzigen Maͤdchen und einem erhoͤrten Liebhaber darin die Rede iſt, o ſo laß es auch denn noch auf mich paſſend wer - den. Ich ſehe Dich gewiß heut Abend, ich blei - be mit Dir vor der Thuͤre ſitzen, ach, koͤnnt ich zeitlebens nur um Dich ſeyn, koͤnnt ich ewig den ſuͤßen Ton Deiner Stimme hoͤren! Alles, was ich vernehme, klingt mir wie Dein Geſang, ſo tief bin ich in Traͤume verſunken, ich fahre auf, wenn man meinen Namen nennt, wenn jemand mich ruft. O glaub es, glaub es theures Maͤdchen, daß ich nie ohne Dich wuͤrde leben koͤnnen: daß ich fuͤr Dich alles, ſelbſt das Gewagteſte und Schrecklichſte ausfuͤhren koͤnnte.

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37. Roſaline an Anthonio.

Und warum wurdeſt Du denn nun doch ſo ver - drießlich, als ich geſtern das Liedchen ſang? Was willſt Du von mir? Seh ich Dich nicht gern kommen und ungern fortgehen? Denk ich nicht fleißig an Dich? Hab ich nicht geſtern die verſprochenen Kuͤſſe gewiſſenhaft abbezahlt, und ſogar noch einige, ich weiß nicht wie viel, mehr gegeben? Was kannſt Du denn noch ver - langen? Aber Du machſt mich immer mit traurig, und ich weiß gar nicht, was ich Dir zu Gefallen thun kann; Dir iſt nichts recht, und Du weißt gewiß ſelbſt nicht, was Du willſt. Siehſt Du, ich kann auch einmal boͤſe werden, aber gewiß nur jetzt, nicht, wenn ich Dich vor mir ſehe, dann hab ich alles ver - geſſen, woruͤber ich klagen koͤnnte.

Meine Mutter hat heute ſchon ein ernſthaf - tes Geſpraͤch mit mir gehabt, ich ſoll nicht ſo viel bey Dir ſeyn, hat ſie geſagt. Ich ſeh aber nicht, warum. Sie iſt alt und ein wenig ei - genſinnig, faſt ſo ein Gemuͤth, wie Dein Va -154 ter; Du gefaͤllſt ihr nicht recht, denn Du biſt ihr etwas zu leichtſinnig. Du mußt daruͤber nicht boͤſe werden, ſie iſt ſchon alt, und das macht es, denn wer moͤgte Dich wohl ſonſt nicht gern leiden? Jeder Menſch, der Dich ſieht, muß Dein Freund ſeyn. Nur das ernſthafte, finſtre Weſen kleidet Dich gar nicht, das kann ich Dich verſichern, Du koͤmmſt mir dann mit einemmal ganz fremd vor; ſchaff es ab.

Auch mit Deinem Vater biſt Du nicht recht gut, der meint es mit ſeinen Ermahnungen doch gewiß ſehr rechtſchaffen. Mach es, wie ich, ich laſſe meine Mutter oft lange reden, und thu, als hoͤr ich ihr zu, und denke unterdeſſen an Dich.

Aber wie viel hab ich nun an Dir getadelt! Ach glaube nur nichts davon, das iſt grade ſo, als wenn ich ein Lied von boͤſen Menſchen ſinge, ich kann immer nicht daran glauben. Ich habe meine Altklugheit nur vom Hoͤrenſagen. Noch eins, ſey heut Abend etwas artiger, als geſtern, denn ſonſt werd ich noch den Hund abrichten, daß er Dich beißen ſoll. Adieu, und komm huͤbſch fruͤh.

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38. William Lovell an Roſa.

O Roſa, warum bin ich nicht zufrieden und gluͤcklich? Warum bleibt ein Wunſch nur ſo lange Wunſch, bis er erfuͤllt iſt? Hab ich nicht alles,[was] ich verlangte? und dennoch werd ich immer weiter vorgedraͤngt, und auch im hoͤch - ſten Genuſſe lauert gewiß ſchon eine neue Be - gierde, die ſich ſelbſt nicht kennt. Welcher boͤſe Geiſt iſt es, der uns ſo durch alle Freuden an - winkt? Er lockt uns von einem Tage zum an - dern hinuͤber, wir folgen betaͤubt, ohne zu wiſ - ſen, wohin wir treten, und ſinken ſo in einer veraͤchtlichen Trunkenheit in unſer Grab. Ich ſchwoͤre Ihnen, daß mir in manchen Momenten aller Genuß der Sinne[verabſcheuungswuͤrdig] erſcheint, daß ich mich vor mir ſelber ſchaͤme, wenn ich dieſe holden Zuͤge betrachte, dieſe Un - ſchuld, die ſich auf der weißen reinen Stirn abſpiegelt; es iſt mir manchmal, als wenn mich eine Gottheit durch ihre hellen Augen anſchaute, und ich erroͤthe dann wie ein Knabe.

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Neulich war ich in der hoͤchſten Verwirrung; ſie hatte eines von den neuern Liedern gehoͤrt, und ſpielte es mir in ihrer Unbefangenheit am Abende vor, weil es ihr ſo paſſend auf mich ſchien. Fuͤhlen Sie, wie mir zu Muthe ward, wie gedemuͤthigt. Es war wirklich das Lied, welches mich durch einen Zufall zuerſt auf die Idee meiner Verkleidung fuͤhrte, und[aus] dem ich ſogar meinen Nahmen Anthonio entlehnt habe. Kann die bitterſte Satyre mich tiefer er - niedrigen, als dieſes kindliche, fromme, un - ſchuldige Weſen? Nie hab ich vor einem Men - ſchen ſo in aller Nacktheit geſtanden, nie bin ich ſo durch und durch beſchaͤmt worden. Bey jedem andern Maͤdchen wuͤrd ich uͤberzeugt ſeyn, ſie habe mich vollkommen errathen; allein ich ſchwoͤre Ihnen, daß es hier nicht der Fall iſt.

Und was iſt denn nun von einer andern Sei - te mein ganzes aͤngſtliches Gefuͤhl? Wozu alle dieſe ſeltſamen Windungen? Ich liebe ſie, und ſie liebt mich. Ich kann ja kein Gluͤck eines fremden Weſens berechnen, oder mir vorſtellen; folglich iſt das Aufſuchen meines eigenen Gluͤcks die einzige Regel, die wir in dieſem Leben an - wenden koͤnnen. Ich glaube, das Mißvergnuͤ -157 gen, noch nicht ganz gluͤcklich zu ſeyn, iſt es, was mir meine Lage verbittert: die Armſelig - keit, nicht irgend einen Schluß recht lebhaft zu faſſen, und ungeſtoͤrt nach ihm zu handeln.

Sie haben nie ein Weſen, wie dieſe Roſa - line, gekannt, und Sie kennen daher auch die ſchoͤnſte Bluͤthe des Vergnuͤgens nicht. Sie ſoll - ten ſie ſehn, wie ſie mir entgegen laͤuft, und denn wieder ſtille ſteht, und ploͤtzlich thut, als habe ſie nur irgend einen Gegenſtand geſucht; die Liſt, die ſie bey aller frommen Unſchuld hat, und die jedem Maͤdchen mit auf die Welt gegeben wird, und die, wenn ich ſo ſagen darf, die Unſchuldigen noch unſchuldiger macht. Die Mutter ſchlief neulich in ihrem Lehnſtuhle, und ich kuͤßte ſie, indem ſie neben mir ſaß; von ohngefaͤhr ſchallte der Kuß etwas ſtaͤrker, und die Mutter wachte auf; in demſelben Augen - blicke aber hatte ſie ihren kleinen Hund ſchon ein wenig gezwickt, ſo daß er ſchreien mußte, und die Mutter keinen Argwohn ſchoͤpfte.

Ich erhitze ſie oft lebhaft durch boshaft ge - ſchlungene[Umarmungen] und wolluͤſtige Kuͤſſe, die ſie erwiedert, ohne zu wiſſen, was ſie thut. Sie preßt ſich denn aͤngſtlich an meine Bruſt,158 und ſtoͤßt beklemmte Seufzer aus. Ja, ich mache ſie ſelbſt gluͤcklich, wenn ich ſie uͤber ihr eignes Weſen aufklaͤre, ſie wird ſich ſelbſt im Kelche der Wonne berauſchen, und mir noch fuͤr mein hoͤchſtes Gluͤck Dank ſagen.

Werden Sie nicht bald nach Rom zuruͤck - kehren? Ich[vermiſſe] taͤglich Ihre Geſellſchaft, vorzuͤglich, wenn ich nicht bey Roſalinen bin. In Rom fang ich an, allen Leuten fremd zu werden, ich mag Niemand beſuchen, ich mag nichts thun: ſchon ſeit lange aͤngſtigt mich ein Brief, den ich an meinen Vater ſchreiben muß, ich kann nichts anders denken und ſprechen.

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39. Walter Lovell an ſeinen Sohn William.

Ich bekomme keine Antwort auf meinen Brief, und ich werde mit jedem Tage ſchwaͤcher. Der Arzt findet es jetzt bedenklich, und ich fuͤhl es, daß die Uhr meines Lebens zu Ende gelaufen iſt. Alles wird mir gleichguͤltig, was mir ſonſt wichtig war, meine ehemaligen Plane ha - be ich voͤllig vergeſſen, komm alſo ohne alle Scheu nach England zuruͤck, lieber Sohn, heirathe, wenn Du durchaus willſt, Amalien, ich will und kann nichts weiter dagegen einwenden, nur brich Dein Schweigen und komm. Ach, wenn Du willſt, muß ich Dich freilich auch noch we - gen einer meiner Briefe um Vergebung bitten, ich meinte es gut mit Dir, und damals war auch die Lage der Sachen anders.

Wenn der Wind hier durch den Wald blaͤſ’t, und die losgegangenen Tapeten im Nebenzimmer rauſchen und klatſchen, o dann, lieber William, fuͤhl ich mich ſo einſam, ſo heimathlos. Ich ſehe160 troſtlos dem truͤben Beſchluß eines truͤben Le - bens entgegen. Ich ſehe keine Freunde, keine andre Geſichter, als die meiner Bedienten, alle haben ſich von mir zuruͤckgezogen, und ich be - finde mich wohl dabey. Nur Dich wuͤnſch ich bey Tage und in der Nacht zu mir her; ich war ein Thor, daß ich muͤhſam erſt ein Gebaͤu - de meines Gluͤckes auffuͤhren wollte, und nicht die Freuden annahm, die mir das Schickſal an der Bruſt meines Sohnes, in den Armen einer guten Tochter, vielleicht in einem Zirkel von froͤhlichen Enkeln anbot. Jetzt iſt mir die Binde geloͤſt, und es iſt vielleicht zu ſpaͤt. Doch nein, mein William giebt mir gewiß Freude und Troſt zuruͤck; wer weiß, welche einſamen Gegenden er ſchon durcheilt, um ſeinen alten kranken Vater noch wieder zu ſehn! Wo Du auch ſeyſt, Gott ſey mit Dir!

40.161

40. Roſaline an Anthonio.

Die ganze, ganze lange Nacht hab ich nicht ſchlafen koͤnnen. Und daran biſt blos Du Schuld! Immer war mir, als ſchliefeſt Du neben mir, ich hatte Dich in meinen Armen, und wachte von Deinen Kuͤſſen auf. Als der Mond durch eine Ritze der Fenſterladen in meine Stube ſchien, und der Strahl ſich ſo uͤber den Boden goß und an der Decke ſchimmerte, hab ich recht herzlich geweint, weil ich mich zum erſtenmal im Leben ſo einſam fuͤhlte. O Du boͤſer Menſch kannſt die Noth gar nicht verantworten, die Du mir machſt. Mein Vater iſt todt und meine Mutter ſtirbt auch vielleicht bald; wenn nun Pietro nicht zuruͤck koͤmmt, ſo biſt Du der ein - zige Menſch auf der Welt, der mir noch bey - ſtehn kann. Aber wenn Du alle meine Liebe nicht verdienteſt! Ach Anthonio, Du haſt Dich ſo oft uͤber meine Luſtigkeit gefreut, ich bin nur froͤlich, wenn ich Dich ſehe, Du ſiehſt, wie betruͤbt ich werde, wenn ich allein bin. DrumLovell. 2r Bd. L162ſollten wir uns gar nicht trennen, dann wuͤr - den wir beide immer recht vergnuͤgt ſeyn.

Du bleibſt jetzt oft viel laͤnger weg, als an - fangs. Du freuſt Dich nicht mehr wie ſonſt daruͤber, wenn ich Dir einen Kuß gebe; ſage mir, was hab ich Dir gethan, du Unzufried - ner? Oder iſt es die Sitte in Eurem Lande, daß man immer ſo ernſt und verdrießlich iſt?

163

41. Anthonio an Roſaline.

Was Du mir gethan haſt, liebſtes, beſtes Maͤd - chen? Nichts, als daß Du mich nicht eben ſo ſehr liebſt, wie ich Dich liebe. Warum ver - laͤßt Du mich oft ſo ploͤtzlich? Warum darf ich nicht in der Nacht bey Dir bleiben, wenn Du Dich ohne mich ſo einſam fuͤhlſt? Die wahre Liebe iſt mit dieſem Eigenſinne unbekannt. Wenn Du mich nur hier ſaͤheſt, wie ich oft in der Nacht nach Deinem Hauſe hinuͤber blicke, wie ich nicht ſchlafen kann, und mir ſchweigend Deine Lieder wiederhole, um mich nur etwas zu beruhigen, wie ich Dein Bild tauſend und tauſendmal kuͤſſe, das ich neulich bey Dir zeich - nete! Das Papier iſt von meinen Thraͤnen naß; das Haus wird mir zu enge, und ich ſchweife im truͤben Mondlichte dann zwiſchen den Rui - nen umher, und Deine Geſtalt begleitet mich allenthalben. O Roſaline, dieſes Zagen, dieſe Angſt kennſt Du nicht, denn ſonſt wuͤrdeſt Du meinen Zuſtand mehr bemitleiden. Nein, Hart - herzige! Du kennſt die Liebe nicht, denn DuL 2164verhoͤhnſt meine Empfindung. Undankbare! Du weideſt Deine Eitelkeit an meinem Gram, und wirſt Dich uͤber meine Verzweiflung freuen! Stand ich nicht geſtern noch eine Stunde laͤn - ger vor Deiner Thuͤre, und Du kamſt nicht wie - der, wie Du mir verſprochen hatteſt? Spielteſt Du nicht, um mich zu kraͤnken, dies verhaßte Lied von dem Anthonio? Nein, Du betruͤgſt mich nur mit einem Schein von Liebe, Du freuſt Dich daruͤber, daß Du mich gedehmuͤthigt haſt, und alle Deine Kuͤſſe, Deine Umarmun - gen ſind Heucheley. Labe Dich an meinem An - blicke, wenn Du mich wahnſinnig gemacht haſt!

O vergieb mir, Theure, wenn ich Dir Un - recht thue! Betruͤben moͤcht ich Dich nicht.

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42. Roſaline an Anthonio.

Du kannſt das Lied vom Anthonio nicht lei - den? Mein liebſtes Lied, weil es Deinen Nah - men fuͤhrt? Ach, Lieber, wie unrecht thuſt Du mir! Dir zum Poſſen ſoll ich es ſingen, und ich will mich dadurch troͤſten, weil ich nicht wieder herausgehn konnte. Die Mutter war boͤſe und hatte mir es ſtreng verboten, und ich muß ihr doch gehorchen. Sie will nicht gern, daß ich ſo viel bey Dir bin. Nein, wenn es Dir nicht gefaͤllt, will ich das Lied nie mehr ſpielen, ſo ſehr ich es auch liebe. Ich Dich kraͤnken! Ach, Anthonio, wie ſollt ich das koͤn - nen? Wenn Du da biſt, ſchaͤm ich mich nur immer zu ſagen, wie gut ich Dir bin: man hat keine Worte dazu, ich muͤßte neue ausden - ken,[und] das geht denn nicht. Aber wenn Du ſo weggegangen biſt, und ich Dir nun nachſehe, oder wenn ich einen Deiner Briefe leſe, ſieh, ſo kehrt ſich mir das ganze Herz um, und ich moͤchte Dir nachrennen, Dich vor der ganzen Welt in meine Arme druͤcken, Dein liebes Ge -166 ſicht kuͤſſen, und in Thraͤnen vergehn, und ru - fen: Ja, Menſchen ſeht es, Baͤume und Berge hoͤrt es, ſo, ſo lieb ich ihn; was kuͤmmert ihr mich alle, wenn er mir nur, der einzig Theure in der Welt, uͤbrig bleibt? Sieh, wenn Du nichts nach mir fragteſt; ſo koͤnnt ich zu Dei - nen Fuͤßen niederknien, und um Deine Liebe bitten; ich koͤnnte meine Religion verlaſſen und nicht mehr zur goͤttlichen Madonne beten, wenn Du es wollteſt: ich koͤnnte mit Dir in fremde, wuͤſte Laͤnder ziehn, wo man andre Sprachen ſpricht, wo, wie man mir einſt erzaͤhlt hat, Eis und Winter faſt immer die Luft zuſammen zieht; o ich koͤnnte fuͤr Dich ſterben, alles, alles, nur Dich nicht vergeſſen, nur nicht Deinen Tod, oder Deine Verachtung uͤberleben. Ach, kannſt Du mich noch unempfindlich und undankbar ſchelten? Kannſt Du noch auf mein liebes Lied boͤſe ſeyn?

167

43. Anthonio an Roſaline.

Nein, ich will Dein Lied nicht mehr ſchelten, liebe Roſaline. Ich habe Dir und ihm Unrecht gethan, und ich will es ihm abbitten: Schicke mir zur Verſoͤhnung die Abſchrift, die Du da - von haſt, ich will es zu Deinen Briefen, zu Deinem Bilde legen, neben Deiner Locke; mehr kann ich ihm zur Ehre doch nicht thun. Wie hat mich Dein lieber Brief geruͤhrt! O, ich habe ihn um Vergebung gebeten, und will es muͤndlich bey Dir wiederholen. Bin ich Dir wirklich ſo theuer, als Du da ſchreibſt? Ich kann es nicht glauben, und glaub es doch ſo gern. Deine Stimme klingt mir, wie ein Ton aus einem Traume, der mir die Schaͤtze der Erde verſpricht, und dem die wirkliche Natur nicht Wort halten kann. Ach nein! die Liebe macht das Unmoͤgliche leicht. Sie erſetzt uns jedes Gluͤck der Erde.

168

44. Roſaline an Anthonio.

Siehſt Du nun wohl, daß ich Recht habe? Dafuͤr will ich Dir nun auch das Lied ſo zier - lich und ſchoͤn abſchreiben, als es mir nur im - mer moͤglich iſt.

Der Arme und die Liebe.
Es kam an einem Pilgerſtab
Wohl uͤber’s graue Meer
Ein Wandersmann in’s Thal hinab,
Von fremden Landen her.
Erbarmt euch meiner, rief er aus,
Ich komm aus fernem Land,
Verlohren hab ich Gut und Haus,
Anthonio genannt.
Die Eltern ſtarben mir ſchon lang,
Ich war noch ſchwach und klein,
War ohne Gut, war ohne Rang,
Und Niemand dachte mein.
169
Da nahm ich dieſen Wanderſtab
Und trat die Reiſe an,
Stieg hier ins friſche Thal hinab,
Fleh euer Mitleid an.
Da ging er wohl von Thuͤr zu Thuͤr,
Ging hier und wieder dort,
Ward abgewieſen dort und hier,
Und ſchlich ſich weinend fort.
» Was ſuchſt Du in der Fremde Gluͤck?
» Wir ſind Dir nicht verwandt!
» Geh, wo Du her koͤmmſt, nur zuruͤck,
» Biſt nicht aus unſerm Land.
» Genug der Freunde leiden Noth,
» Der Landsmann ſucht hier Troſt,
» Fuͤr ſie waͤchſt unſer ſchoͤnes Brodt,
» Fuͤr[ſie] der ſuͤße Moſt. «
Still und beſchaͤmt mit Ach und O!
Schlich er die Straße hin,
Da ruft es ſanft: Anthonio!
Ein Maͤdchen winkt ihn hin.
O nimm von meiner Armuth an,
Spricht ſie mit frommen Sinn,
Ich gebe was ich geben kann,
Nimm alles, alles hin.
170
Lucindes blaues Auge weint,
Er dankt mit heißem Kuß,
Und ſieh! die Liebenden vereint
Ein raſcher Thraͤnenguß.
Ach nein, Du biſt mir nicht verwandt,
Dennoch erbarm ich mich,
Und biſt Du gleich aus fremden Land,
So lieb ich dennoch Dich.
Die Liebe kennt nicht Vaterland,
Sie macht uns alle gleich.
Ein jedes Herz iſt ihr verwandt,
Sie macht den Bettler reich!

Ich habe ſchon oft verſucht, ſtatt Lucinde Roſaline zu ſingen, allein es will nicht in den Takt paſſen, und das thut mir ſehr leid. Wir wollen heut Abend einmal verſuchen, ob wir das Lied nicht noch ein wenig abaͤndern koͤnnen. Du mußt mir helfen, denn Du weißt ja damit Beſcheid. Ich leſe Deine Verſe alle Tage, und verſteh ſie jedesmal etwas beſſer. O ich bin in manchen Stunden ordentlich ſtolz auf Dich, und daß[Du] unter den tauſend, tau[-]ſend Maͤdchen grade mich nur einzig und allein liebſt. Und doch wieder nicht ſtolz, nur ſo froh,171 daß ich dann dem Himmel mit weinenden Au - gen danke, daß er es ſo gelenkt hat, daß Du mich aufgefunden haſt. Warum meine Mutter nicht ganz ſo denken will, wie ich? Ich kann gar nicht begreifen, wie man etwas gegen Dich haben kann. Alle[Menſchen] ſollten ſo ſeyn, wie Du, ſo waͤre das die ſchoͤnſte Welt. Adieu, und bleibe ja heut laͤnger.

172

45. Anthonio an Roſaline.

Alſo heut, wuͤrklich nun heut! So iſt denn doch endlich die zoͤgernde Stunde herange - ſchlichen, die mich vollkommen gluͤcklich machen ſoll. O wie dank ich Dir! Aber Du wirſt doch Wort halten?

173

46. William Lovell an Roſa.

Es iſt wunderbar, wie lange ich in dem Vor - hofe der Seeligkeit aufgehalten werde; tauſend Zufaͤlle vereinigen ſich, um mich immer wieder von der hoͤchſten Wonne zu entfernen. Roſaline iſt mein, unbedingt mein. Sie hatte ſich neulich fuͤr meine Bitten erweicht, und mir verſprochen, mich in der Nacht heimlich zu ſich kommen zu laſſen, aber die Mutter wurde krank, und ſie mußte bey ihrem Bette wachen. Welche Nacht hatt ich! Die Sehnſucht regte ſich mit allen ihren Gefuͤhlen in mir, ich[konnte] nicht eine Minute ſchlafen, und doch auch nicht wa - chen. Ich lag in einer Art von Betaͤubung, in der ſich Bilder auf Bilder draͤngten, und mein kleines Zimmer zum Tummelplatze der verwor - renſten Scenen machten. Es war eine Art von Fieberzuſtand, in welchem mir hundert Sachen einfielen, uͤber die ich noch lange werde denken und traͤumen koͤnnen.

174

Sie hat ſich mir gaͤnzlich dahin gegeben, ſie ſteht in meiner Willkuͤhr. Aber verdammte Kleinigkeiten, die ſich nicht berechnen laſſen, werfen ſich immer wieder dazwiſchen. Aber ich muß den letzten und vollkommenen Sieg er - fechten, oder ich verdiene es nicht, Ihr Freund zu ſeyn.

175

47. William Lovell an Roſa.

Es iſt um raſend zu werden! Alles iſt dahin! Alle meine Ruhe, alle meine Liebe, iſt gaͤnzlich, durchaus verlohren! Ich kenne mich kaum wie - der, ich verachte und haſſe mich ſelbſt, ob ich gleich nur auf den Zufall fluchen ſollte. Den - ken Sie nur ſelbſt, alles war beſtimmt und feſt gemacht, Roſaline war ſo zaͤrtlich gegen mich, wie ſie noch nie geweſen iſt, ſie war voͤllig da - von uͤberzeugt, daß ich ſie heirathen wollte, und bey Gott ich haͤtt es auch gethan; ſie hatte mir die geſtrige Nacht zugeſagt, und ich erwar - tete mit Ungeduld die Adendroͤthe; tauſend Ideen gingen durch meinen traͤumenden Sinn, ich konnte mir meine Phantaſien und Hoffnungen gar nicht als wuͤrklich denken, o und ſie ſind es auch nun nicht geworden! Ich ſtehe hier wie ein Schulknabe, der ſeinen Lehrer fuͤrchtet, ich bin beſchaͤmt und verworfen: geſtern kam noch bey Tiſche ein alter Mann als Bothe, der Pie - tro’s, des armſeligen Fiſchers, des Braͤutigams176 Zuruͤckkunft anſagte. In wenigen Tagen wird er hier ſeyn. Ich war wie vom Schlage getroffen, alle meine Sinne waren gelaͤhmt, bleich, und wie aus der Ferne hoͤrt ich nur die genaueren Nachrichten, die der Schurke mit - brachte. Schon das verdammte Geſicht des Kerls, als er zur Thuͤre hereintrat, kuͤndigte mir nichts Gutes an. Es war eine von den Phyſiognomien, die dazu gemacht ſind, Un - gluͤcksbothſchaften zu bringen.

[Und] dann die Freude der Mutter! Die ſtille Beſchaͤmung Roſalinens, die mir ploͤtzlich durch die bloße Nachricht ganz abgewandt wurde! O mich wundert, daß ich nicht den Verſtand ver - lohren habe! Sie weicht mir ſeitdem aͤngſtlich aus, ſie iſt kalt und fremde, und ich ſtehe auf demſelben Punkte, auf dem ich mich am erſten Tage unſrer Bekanntſchaft befand. Ich koͤnn - te den Kerl ermorden, der ſich ſo ungerufen zwiſchen uns draͤngt, und all mein Gluͤck und meine ſchoͤnen Traͤume vernichtet. Warum haͤngen wir ſo oft von nichtswuͤrdigen Zufaͤllig - keiten ab! Und nun jetzt, jetzt, da ſich ſo eben alle meine Wuͤnſche kroͤnen wollten. Wenn ich ſie ſehe, mit all ihren Reizen, unddie177die Phantaſie mir die heiligen von keinem Blicke entweihen vor die[Augen] zaubert! Wenn ich mich in ihre nackten Arme, an ihren entbloͤßten Buſen denke, die keuſche Schaam im Streite mit der wolluͤſtigen Begierde, alles mir ſo ganz hingegeben, ich im hoͤchſten Taumel verſunken und nun geht ſie mir voruͤber, und kennt mich nicht, und heut Abend war das letzte Ziel mei - nes Gluͤcks! Ich koͤnnte ſie ergreifen, und im Gefuͤhle der Begierde erwuͤrgen, und wuͤ - thend an ihrem Buſen ſterben. Rathen Sie mir, Roſa, was iſt zu thun? Ich habe allen Verſtand, alle Beſinnung voͤllig verlohren.

Lovell. 2r Bd. M178

48. Roſa an William Lovell.

Ich kann Ihnen keinen Rath ertheilen, lieber Freund, denn ich habe mich noch nie in einer aͤhn - lichen Lage befunden; ich kann daher auch nicht einmal wiſſen, wie ich an Ihrer Stelle handeln wuͤrde. Freilich ſollte es nicht moͤglich ſeyn, daß ein Zufall uns das ploͤtzlich naͤhme, was wir fuͤr unſer hoͤchſtes Gluͤck halten, in deſſen Beſitz wir ſchon ſind: indeſſen es geſchieht alle Tage, und dies iſt der Inhalt der meiſten menſch - lichen Klagen. Ihre Wuth gegen den Braͤuti - gam, der ſo ploͤtzlich aus den Wolken faͤllt, iſt ſehr verzeihlich. Aber Sie ſollten doch Mittel dagegen verſuchen; unſer ganzes Leben erſcheint mir immer als ein Kampf mit dem Schickſale, es uͤberliſtet uns in jedem Augenblicke, aber wir muͤſſen uns nicht ſogleich fuͤr uͤberwunden erkennen, ſondern Liſt gegen Liſt ſetzen. Dieſer Streit macht unſer Daſeyn intereſſant, er macht,179 daß wir uns niche ſo demuͤthig abhaͤngig von einer blinden unbekannten Macht fuͤhlen. Doch ich weiß, Sie haben zwar Staͤrke genug, dieſe Ideen zu denken, aber nicht nach ihnen zu handeln. Ihre Gefuͤhle bleiben immer nur innerlich in Ihnen.

M 2180

49. William Lovell an Roſa.

Ihren Brief habe ich erſt jetzt bey meiner Zu - ruͤckkunft gefunden. Sie haben Recht, und ich habe nach Ihrem Rathe gehandelt, ohne ihn zu kennen.

Ich bin noch wie im Traume, es iſt Nacht, indem ich Ihnen ſchreibe, und ich weiß noch immer nicht, was morgen geſchehen wird. Seit einer Stunde bin ich von einer kleinen Reiſe zuruͤck gekommen, ich bin muͤde und kann doch nicht ſchlafen. Die Ankunft Pietro’s hatte mir alle Laune verdorben; ich wußte den Weg, den er kommen, und wann er anlangen wuͤrde. Ich ritt auf die Straße nach Neapel; bey Ro - ſalinen ſchuͤtzte ich eine nothwendige Arbeit vor, die ich in der Stadt zu Ende bringen muͤßte. Hinter Sezza liegt ein einzelnes einſames Haus, dort erwartete ich den Boͤſewicht, den ich ſchon im innerſten Herzen haßte, noch ehe ich ihn geſehn hatte. Er wollte geſtern Abend dort ankommen, und kam nicht. Endlich that181 ſich nach Mitternacht die Thuͤr auf, und er trat herein, er hatte noch gegenuͤber ein kleines Dorf beſucht, und hatte ſich jetzt bey unruhi - gem Wetter uͤber den Fluß ſetzen laſſen; dadurch war er ſo lange aufgehalten. Nun ich ihn vor mir ſah, war er mir noch mehr zuwider. Ein ganz gemeiner Menſch, der kaum ſprechen kann, verdruͤßlich oben drein, und zwar deswe - gen, weil die gehoffte Erbſchaft nicht ſo anſehn - lich iſt, als er erwartet hatte. Das widrigſte Gemiſch von baͤuriſchem und ſchurkiſchem We - ſen, ſchmutzig und gefraͤßig; dieſes Thier ging jetzt dem Beſitze der goͤttlichen Roſaline entge - gen, von der er in ſeinem ganzen Leben nicht die kleinſte ihrer Vortrefflichkeiten verſtehen wird.

Er brach auf, weil er gern bald nach Rom wollte; es war Mondſchein, und er fuͤhlte ſich noch friſch. Ich ritt dieſelbe Straße, und ſtieg vom Pferde, um mit ihm zu ſprechen. Der Schaͤndliche ſprach von Roſalinen, wie er von einem Mittagseſſen ſprach, ohne alle Theilnah - me, er wolle ſie blos des ganz kleinen Vermoͤ - gens wegen heirathen, das ihre Mutter beſitze. Ich weiß nicht, wie es kam, alles umher um - gab mich, ſo wie ein Traum, ich zog ploͤtzlich182 einen Dolch und ſtieß nach ihm, verfehlte aber, und ſtreifte ihn bis zur Haͤlfte hinunter. Ich ſtieg wieder zu Pferbe und jagte davon, indem ich immer noch ſeine Stimme hinter mir, bald lauter, bald ſchwaͤcher hoͤrte. Es war ganz unwillkuͤhrlich geſchehn, und wie leicht haͤtte es kommen koͤnnen, daß ich ihn ermordet haͤtte!

Die Nacht und der heutige Tag ſind mir in einem ununterbrochenen Schwindel verfloſſen. Ich erwarte den Schurken in jeder Minute. Ich haͤtte vielleicht einen Handel mit ihm tref - fen koͤnnen, daß er weiter keine Anſpruͤche auf Roſalinen machen ſolle, wenn ich bey kaltem Blute geweſen waͤre; ich weiß nun nicht, wie alles ſich endigen wird. O ich bin boͤſe auf mich ſelbſt; ich muß es Ihnen geſtehn, Roſa, ich freue mich inniglich, daß mir der toͤdtliche Streich mißgluͤckte, ich fuͤhle es, daß ich ewig dieſe raſche That bereuen wuͤrde. Sagen Sie mir dagegen, was Sie wollen, es empoͤrt ſich das Gefuͤhl, die Menſchen, ſo wie die lebloſen Gegenſtaͤnde zu gebrauchen, und ſie nur fuͤr Mit - tel anzuſehn, uns ſelbſt froh zu machen.

Waͤre Pietro nicht dazwiſchen gekommen, ſo183 haͤtt ich Roſalinen geheirathet, waͤre mit ihr nach England gezogen, und haͤtte ihr und der Natur gelebt.

Wenn ich es noch thun koͤnnte! Was hin - dert mich, mich der Mutter zu entdecken? Aber der Braͤutigam koͤnnte einen Verdacht auf mich werfen: er wird nun vielleicht etwas laͤnger bleiben, da ihn die Wunde wahrſcheinlich am Gehen hindert, und dieſe paar Tage will ich noch in Roſalinens Geſellſchaft genießen. Ich bin zu muͤde, leben Sie wohl.

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50. William Lovell an Roſa.

Ich habe mehrere Tage[hindurch] in einer Ver - worrenheit aller Begriffe und Empfindungen ge - lebt; ich mochte Ihnen nicht ſchreiben, weil ich zu traͤge war. Jetzt aber will ich Ihnen den Verfolg meiner Liebſchaft melden, und ich bin auf Ihre Antwort aͤußerſt begierig.

Ich habe ſo eben eine halbe Flaſche Cyper - wein getrunken, und meine Hand zittert, in - dem ich ſchreibe; ich bin aͤußerſt froh und zu - frieden, und mir iſt ſo leicht, daß ich bey je - dem Abſatze aus vollem Halſe lachen muß. Wil - ly ſieht mich von der Seite mit mißtrauiſchen Augen an, und ſcheint dabey halb eingeſchlafen. Das Leben iſt das allerluſtigſte und laͤcherlichſte, was man ſich denken kann; alle Menſchen tum - meln ſich wie klappernde Marionetten durch ein - ander, und werden an plumpen Draͤthen regiert, und ſprechen von ihrem freyen Willen. Heut am Morgen kam die Nachricht von Pietro’s Tode, man hatte den Leichnam an der Land -185 ſtraße gefunden, und ein Voruͤbergehender hatte ihn zufaͤlliger[Weiſe] erkannt. Sagen Sie, was Sie wollen, es iſt nicht moͤglich, daß ich Schuld an ſeinem Tode ſeyn ſollte, wenigſtens kann ich es nicht glauben. Er iſt von Natur geſtorben, und was kuͤmmert er mich nun weiter? An jener unbedeutenden Streifwunde kann unmoͤglich ein ſo rauher, eiſenfeſter Menſch verbluten: und wenn es der Fall ſeyn koͤnnte, ſo wuͤrde ich es wahrhaftig nur ſehr laͤcherlich finden, daß wir, wie eine geſprungene Flaſche, auslaufen koͤnnen, und mit den wenigen rothen Tropfen alle un - ſere Plane und Gedanken, die ganze Zukunft, in der wir leben konnten, alles was wir noch haͤtten thun koͤnnen. Aber wie geſagt, ich glau - be es nicht, und kein Menſch wird mich davon uͤberreden.

Es war ein groß Geheul im Hauſe, vorzuͤg - lich von der Alten; Roſaline graͤmte ſich auch, aber ich bemerkte deutlich, wie ſie ſich im Stil - len von leiſen Gedanken troͤſten ließ. Ich ging fort, weil mir die Scene zur Laſt fiel, und fand Nachmittag Roſalinen allein, in Thraͤnen gebadet. Die Alte war ausgegangen, und kam vor dem Abende nicht wieder. O wie ſie ſchoͤn186 war, als ſie auf dem Fußſchemel ſaß, und den Kopf auf den weißen Arm auf dem Seſſel ſtuͤtz - te! Wie ſich die Umriſſe aller Glieder an ein - ander ſchmiegten, und das reizendſte Bild, wie hingegoſſen, da lag! Ich vergaß alles, und verſchlang die vereinigte Schoͤnheit mit gierigen Blicken. Sie ſank weinend in meine Arme, und ihre Thraͤnen lockten die meinigen hervor. Ich fuͤhlte ihr Herz klopfen, ich kuͤßte ſie, ſie war ganz Schmerz, und ließ mich alles thun, was ich wollte. Meine Phantaſie war erhitzt, und ich loͤſ’te leiſe und behende des Buſentuch ab, ſie wehrte ſich nur halb, und verbarg ſich an meiner Bruſt. Meine Augen verſchlangen die Reize, meine Finger beruͤhrten den ſchoͤnſten elaſtiſchen Buſen, und ſie ſah mich ſeufzend, halb drohend und halb laͤchelnd, an. O Roſa, ich werde von neuem trunken, wenn ich mich nur dieſer Scene erinnre. Wir ſprachen da - bey immer von ihrem Ungluͤcke, und eben durch die Thraͤnen war ſie weicher geworden, und ihre Sinnlichkeit mehr als ſonſt gereizt. Bald wurden ihr[meine] Scherze zu dreiſt, ſie ſtand auf und lief in ihre Kammer, ich folgte ihr nach. Sie bat, ſie weinte von neuem, und187 druͤckte mich dann heftig in ihre Arme, indeß ich mich ungeſtoͤrt damit beſchaͤfftigte, ſie aus - zukleiden. Welche himmliſche Reize entwickel - ten ſich nach und nach unter meinen geſchaͤffti - gen Haͤnden! Die letzte Huͤlle ſank, und ſie ſtand nun nackt mit ſchamhafter Roͤthe und bren - nendem Auge vor mir. O Roſa, ich werde es nie, nie vergeſſen; dieſen weißen Buſen und dieſen zarten Lilienhals, die ſchlanken Seiten und die blendend weißen Schenkel, alles im ſchoͤnſten Ebenmaaße, in einer gruͤnen Daͤmme - rung die mediceiſche Venus vor mir, indem vor dem Fenſter das gruͤne Weinlaub zitterte, und einen Flimmerſchein durch das Gemach warf. Mein Buſen kochte, meine Haͤnde zitterten. In zwey Minuten war auch ich entkleidet, ſie hatte ſich ganz vergeſſen, und flehte mein Mit - leid an und ſtuͤrzte zu meinen Fuͤßen. Ich druͤck - te ſie an mich, ſie zitterte, die zarten Muskeln des Koͤrpers ſpielten wie die leiſeſten Wellen eines Baches durcheinander. Unvermerkt ſank ſie auf ihr Bette und ich mit ihr, und nun verlohr ich alle Beſinnung, ich ſah nur den ſchoͤnen Buſen, unter dem zum Halſe hinauf die feinſten blauen Adern liefen, ich verſank in188 ein Meer von Wolluſt, und dachte nichts, ich empfand nur ſie, die holde, himmliſche Roſa - line, ein jeder Pulsſchlag in mir jauchzte, wie Geiſtergeſaͤnge klang es um mich her, und wie ein wilder Orkan von lauter Wonne und Wohl - laut ſtuͤrmte es durch meinen Geiſt.

O mag alles um mich dunkel und ungewiß liegen, kein ander Gefuͤhl giebt uns Befriedi - gung, kein Genuß des Geiſtes erquickt uns. Nur hier, hier verſammlet ſich alles, was durch unſer ganzes Leben an Freuden und ſeeligen Em - pfindungen bey einzelnen Gelegenheiten zerſtreut liegt. Nur dies iſt der einzige Genuß, in wel - chem wir die kalte, wuͤſte Leere in unſerm In - nern nicht bemerken, wir verſinken in Wolluſt, und die hohen rauſchenden Wogen ſchlagen uͤber uns zuſammen, dann liegen wir im Abgrunde der Seeligkeit, von dieſer Welt und von uns ſelber abgeriſſen. Nein, nur fuͤr ſie, fuͤr Roſalinen allein will ich jetzt leben; Pietro iſt ausgeblieben, und ich nehme ſie mit mir, ich hab es verſprochen, nur ihr zu leben, und ich will ihr und mir mein Verſprechen halten.

Alles daͤmmert vor meinen Augen, und ich ſehe ſie immer noch vor mir ſtehen, halb in ſich189 geſchmiegt, halb an mich gedruͤckt. Nein, keine andre Erinnerung verdient ſeit dieſem Augen - blicke einen Platz in meiner Seele, ich moͤch - te zu ihr hinuͤber ſtuͤrzen, aber die Mutter iſt jetzt dort. Ueber die elende Narrheit! daß es unſre ſogenannte Tugend, unſre Lebensweiſe mit ſich bringt, daß wir nicht ſo gluͤcklich ſeyn duͤrfen, als wir ſeyn koͤnnten! Die Men - ſchen haben ordentlich darauf ſtudiert, alle ihre Freuden ſchon in der Geburt zu erſticken; da muß erſt Hochzeit, Trauung gehalten werden, tauſend unangenehme und widrige Sachen um ſich her verſammlet, Gluͤckwuͤnſche von alten Narren und Muhmen, damit ja das allerhoͤch - ſte, der himmliſchſte Genuß im Menſchen zum niedrigſten und langweiligſten Spaße herabgewuͤr - digt werde, damit wir uns ja auf keinen Au - genblick von dieſer jaͤmmerlichen Erde entfernen, und aus ihrem Dunſtkreiſe von Armſeligkeiten mit den Fluͤgeln der Wonne hinuͤber heben.

Sie haͤtten ſie ſehn ſollen, Roſa, wie Schaam und Wonne in den hellen Augen kaͤmpften: wie ſie mich zuruͤckſtoßen wollte, und doch nur feſter an ſich druͤckte; wie ſie klagen wollte, und doch ihren Mund meinen wolluͤſtigen Kuͤſſen darbot. 190 Nein, bis jetzt hab ich noch nie dieſen Genuß empfunden; das Vergnuͤgen an anderen Weibern iſt nur wie ein Vorgefuͤhl, eine Ahndung dieſer Seeligkeit. In den Armen der Blainville fuͤhlt ich nur den Anfang des Rauſches, und log mir eine Entzuͤckung der Goͤtter; Reue und Ueber - druß bemeiſterten ſich meiner ſehr bald. Laura, Bianka und alle uͤbrigen dieſer Zunft ſind ver - worfene Geſchoͤpfe, die ihre Entzuͤckungen heu - cheln, und nach dem Preiſe erhoͤhn. Roſa - line, Roſaline iſt das einzige Weib in der Welt, die uͤbrigen ſind ihr nur gleichſam nachgemacht.

Ich fange jetzt wuͤrklich an, ſchlaͤfrig zu wer - den; die Traumbilder, die mich begruͤßen wol - len, tanzen ſchon jetzt um mich herum, und necken mich. Alle haben die entkleidete Roſa - line in ihrer Mitte. Ich werfe mich aufs Lager. Willy, ſey ich, iſt ſchon zu Bette gegan - gen; in Rom ſchlaͤgt es drey Uhr. Leben Sie recht wohl, lieber Roſa; ich beneide jetzt keinen Menſchen, ſondern bedaure ſie alle. Noch nie hab ich mich ſo daruͤber gefreut, daß ich Lovell hin.

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51. Roſaline an Anthonio.

Ach, Anthonio, Anthonio! Komm doch ſo - bald, als moͤglich. Ich getraue mich gar nicht, meine Mutter anzuſehn; alles was ich ſonſt gern that, iſt mir jetzt zur Laſt, mir iſt, als gehoͤrt ich gar nicht mehr in dieſes Haus. Ich moͤchte einſam und unbemerkt im Winkel ſitzen, und den ganzen Tag uͤber weinen. Ach, An - thonio! was haſt Du aus mir gemacht? Ich lebte ſo ſtill vor mich hin, und war mit allem zufrieden, und jetzt iſt mir das ganze Haus zu enge, ich denke unaufhoͤrlich an Dich und an geſtern, und mit einer quaͤlenden Unruhe; mein Herz ſchlaͤgt ſchwer und gewaltſam. O komm heut recht fruͤh, damit ich nur wieder ein paar Augen finde, die ich anſehn darf, und die ich, ach! ſo gern betrachte.

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52. Roſaline an Anthonio.

Und war das nun wohl recht geſtern auf dem Spatziergange! Ich war in mir ſo froh und heiter, recht ſtill und zufrieden, und Du, ach, Anthonio, Du weißt es gar zu gut, daß ich Dir nichts abſchlagen kann, und das macht Dich ſo ſtark und dreiſt, weil ich nur zu ſchwach bin. Aber habe Mitleid mit mir. Ach, was kann mir nun alles noch helfen? Meine Laute macht mir keine Freude mehr, meine Mutter iſt mir oft in der Seele zuwider; und doch moͤcht ich ihr manchmal um den Hals fallen, und ihr al - les, alles ſagen. Aber es haͤlt mir die Zunge feſt, es draͤngt mir in der Kehle, daß mir die Sprache verſagt. Ich[weine] viel, und ſie meynt, es ſey um den armen Pietro. Ach Antho - nio, halte nur Dein Verſprechen, ich beſchwoͤre Dich bey der Mutter Gottes, denn ſonſt bin ich gaͤnzlich verlohren.

53.193

53. William Lovell an Roſa.

Wenn man recht froh und zufrieden lebt, in einer ſchoͤnen Einfoͤrmigkeit, den einen Tag, ſo wie den andern, ſo ſchreibt man ungern, weil man nichts zu ſchreiben hat. Ich habe mich mit Roſalinen nun ganz gut eingerichtet, und ich fuͤhle nach langer Zeit die ſchoͤne Behaglich - keit wieder, die Erfuͤllung aller Wuͤnſche zu ſehn, ohne jenen Sturm des Bluts, ohne jenes aͤngſtliche Herzklopfen, das aus unſerm Leben unangenehme Abſchnitte macht. Jetzt aber fließt mir die Zeit ruhig voruͤber, und jeder Spazier - gang, faſt jeder Beſuch bey Roſalinen macht uns eine Gelegenheit, der Goͤttinn der Liebe ein Opfer zu bringen. Ich waͤre ganz gluͤcklich, wenn mich der Eigenſinn und die Launen Roſa - linens nicht zuweilen ſtoͤrten. Daß ſich doch keine von den Armſeligkeiten ihres Geſchlechtes losmachen kann! Wir ſtreiten zuweilen, und es iſt nichts widriger, als ein Zank mit einem Maͤdchen, das man gern hat; alle wollen be -Lovell. 2r Bd. N194lehren; alle, ſelbſt die unbedeutendſten, wollen hofmeiſtern. Bald bin ich ihr zu ernſthaft, bald zu vergnuͤgt, an meinem Willy hat ſie großen Antheil genommen, ich ſoll mit ihm, als mei - nem Vater, freundſchaftlicher umgehn. Indeß, ich will mir meine angenehme Lage nicht ver - bittern. Leben Sie wohl.

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54. William Lovell an Roſa.

Ich habe nach langer Zeit wieder einmal Lau - ra und die ſchoͤne Bianka beſucht. Mich wun - dert ſehr, daß ich nicht ſchon eher darauf ge - fallen bin, meine Ergoͤtzungen mannichfaltiger zu machen. Warum[muß] der Menſch ſelbſt in ſeinen Vergnuͤgungen einſeitig und eigenſinnig ſeyn? Roſaline dringt jetzt in mich, daß ich ſie heirathen ſoll, und ich glaube, unter ſolchen Umſtaͤnden kann einem ein jedes Maͤdchen zuwi - der werden; dabey hat ſie ihr kindliches unbe - fangenes Weſen verlohren, und ſpricht jetzt ſo altklug und uͤberlegt. Lieber Freund! Wodurch entſteht doch die Philoſophie unſrer Weiber?

Mein Willy will nach England, und jetzt waͤre die beſte Gelegenheit, ſeiner los zu wer - den: einer meiner Bekannten reiſt dorthin, und will ihn herzlich gerne mitnehmen. Aber frey - lich wuͤrde denn mein ganzes Verhaͤltniß mit Roſalinen geſtoͤrt! Ich weiß noch gar nicht, wie ich das alles einrichten ſoll. Kommen Sie doch nach Rom, ich beſchwoͤre Sie, ich vermiſſe Sie bey jeder Gelegenheit.

N 2196

55. Roſa an William Lovell.

Ja ich will nur endlich kommen, denn es ſcheint mir ſelbſt, als wenn Sie meiner[beduͤrf - ten]. Lieber Freund, Sie ſind in Ihren Brie - fen nicht mehr ſo aufrichtig, als Sie es an - fangs waren; Sie fangen an, ſich zu maskiren, aber ich ſehe gar nicht warum. Schaͤmen Sie ſich zu geſtehen, daß Ihre Leidenſchaft nun nach dem Genuſſe nicht mehr jenes ſtuͤrmende, draͤn - gende Gefuͤhl iſt, voller Ahndung und Ungewiß - heit? Sagen Sie es nur dreiſt heraus, denn die Schuld davon liegt nicht an Ihnen, ſon - dern an der Einrichtung unſrer Natur, der wir uns unbedingt unterwerfen muͤſſen. Erinnern Sie ſich, was ich Ihnen mit prophetiſchem Geiſte ſchon in einem meiner fruͤhern Briefe ſagte, daß man ſich nie zwingen muͤſſe, mit Enthuſiasmus die Leere auszufuͤllen, die ſich oft ploͤtzlich in alle unſre Gefuͤhle reißt, denn dies iſt die hoͤchſte Quaal des Lebens, die wahre Tortur der Seele. Geben Sie ſich und Ihren197 Empfindungen nach,[denn] alle Ihre Schwuͤre, alle Ihre poetiſchen Betheurungen haben Sie im Grunde gar nicht gethan, ſondern es ſind nur nothwendige Aeußerungen des Gefuͤhls, das Sie damals hatten; Sie haben nicht geſprochen, ſondern Ihre Leidenſchaft; dieſe iſt jetzt fort, und mit ihr das Weſen, das Sie ſo ſprechen ließ. Doch muͤndlich ein Mehreres. In we - nigen Tagen bin ich ſelbſt in Rom; dann will ich doch auch Ihre Gottheit ſehn und ſprechen.

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56. Willy an ſeinen Bruder Thomas.

Gottlob, Bruder, der Tag der Erloͤſung iſt nun endlich da. Ach, mir iſt recht froh und leicht, faſt ſo, wie wenn ich manchmal von ei - nem recht ſchlimmen Traume aufwache, und mich im warmen ſichern Bette wieder finde; ich kann nun doch endlich nach England zuruͤck rei - ſen. Ein Franzoſe, ein Bekannter meines Herrn, auch ſo einer von den Herzensfreunden, reiſ’t nach England; je nun, er iſt immer noch gut genug, daß ich mit ihm reiſen kann, und doch nun meinen lieben Bruder wiederſehe. Ich haͤt - te auch hier das gotteslaͤſterliche Leben nicht mehr aushalten koͤnnen, das kannſt Du mir glauben, lieber Thomas; ich war hier ganz, wie unter Heyden und Tuͤrken gerathen, und hatte keinen einzigen frohen Augenblick. Mein Herr iſt verlohren, der boͤſe Feind hat ihn gaͤnzlich und ganz und gar eingenommen: lauter Ungluͤck hat er angeſtiftet. Da iſt hier ein armes, blut - armes und unſchuldiges Kind, ein huͤbſches199 Maͤdchen, die hat er verfuͤhrt, das merk ich ſo aus ihrem ſtillen, jammernden Weſen. Ich mag Dir nur nicht alles ſchreiben, wie ich es denke, und es iſt Unrecht von mir, daß ich ſo denke: aber ich kann nicht dafuͤr, lieber Bruder, die Gedanken kann man ſich nicht geben und nicht nehmen, ſie kommen ganz ungerufen, und quaͤ - len uns oft eben ſo, wie Muͤcken und Stechflie - gen. Die ſind ſehr haͤufig, und auch ſo bey mir die ſchlimmen Gedanken. Nun ich den - ke, Gott wird mich ſchon wieder zurecht brin - gen, ſobald ich nur wieder auf unſerm from - men, vaͤterlichen Boden ſtehe. O wie freue ich mich, Dich und meinen alten Herrn, den gu - ten Lord Lovell wieder zu ſehn! Grade, wie ſich ein Kind auf den heiligen Chriſt freut, ſo iſt mir zu Muthe. Lebe wohl bis dahin, beſter Bruder.

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57. Roſaline an Anthonio.

Wo bleibſt Du doch, Anthonio, daß ich Dich geſtern gar nicht geſehn habe? Willſt Du mich denn ganz allein laſſen? Ach, ich habe viel zu Gott und ſeinen Engeln gebetet, aber mir iſt keine Erhoͤrung geworden, recht ohne Troſt bin ich vom Himmel, wie eine Suͤnderin, ab - gewieſen. Die Saiten auf meiner Laute ſind[geſprungen], und ich mag keine neue auf - ziehn: meine Laute, die ich von Kindheit auf kenne, die ich ſonſt ſo innig liebte. Siehſt Du, ſo weit iſt es ſchon mit mir gekommen. Die Thraͤnen ſind eine Gabe des Himmels, ich kann manchmal ordentlich gar nicht weinen, wenn ich es auch ſo gerne moͤchte. O komm, komm, Anthonio, ich bin ſonſt wie ein Kind, das ſich im Walde verirrt hat. Alles erſchreckt mich, aber wenn Du da biſt, iſt es wieder wie ein Fruͤhlingsſchein um mich her. Wenn ich Dich heut nicht ſehe, kann ich wieder die ganze Nacht nicht ſchlafen; mir faͤllt ſo mancherley ein, wovor mir graut. Ach, wohl dem ar - men Pietro, daß er todt iſt!

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58. Roſaline an Anthonio.

Ja wohl moͤcht ich ſterben, ſterben, Anthonio. Du koͤmmſt alſo nicht und ſiehſt nach der kran - ken Roſaline, der Du ſonſt ſo viel von Deiner innigen Liebe vorgeſprochen haſt? Ach, bleib noch ein paar Tage laͤnger, und Du koͤmmſt dann vergebens, um ſie zu ſuchen. Wer iſt nun treulos? Hab ich es nicht immer gefuͤrch - tet, daß Du ſo ſeyn wuͤrdeſt? Wenn ich erſt todt bin, ſo will ich Dir erſcheinen, Dich gewiß auffinden, und Deine Seele martern. Dein Vater iſt auch fort; Gott, wie mag das alles zuſammenhaͤngen? Ich will den Brief zu Dir hinuͤbertragen, ich weiß nicht, ob Du ihn erhalten wirſt. Ach, was kann es mir auch helfen? Mein Bild, das Du gezeichnet hat - teſt, lag bey Dir auf dem Boden, man hatte ſchon darauf getreten, es war ganz unkenntlich, ach, und es ſieht mir jetzt gewiß ſehr aͤhnlich. Siehſt Du, ſo iſt Deine Liebe! Ach Anthonio, wenn Du ſchon ſo biſt, welche Ungeheuer muͤſ - ſen dann die uͤbrigen Maͤnner ſeyn! Ich202 habe Dein Halstuch mitgenommen, und bewahr es wie ein Heiligthum. Ach Du geliebter Boͤſewicht, wohl verſteh ich es jetzt, was ich ſonſt nicht begreifen konnte, wenn Menſchen ſich vom Boͤſen verſuchen ließen; Deine Geſtalt, Dein Weſen hat er dann angenommen. Ich kann nicht weiter, ich muß laut ſchluchzen; ſollt ich Dich denn auch heut nicht wieder ſehn?

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59. Roſaline an William Lovell.

Ja, ja, nun iſt mein Ungluͤck gewiß. Gott, ich werd es nicht uͤberleben. Welche Oſtern hab ich gefeyert! es ſind die letzten, das fuͤhl ich. Du biſt alſo nicht der, fuͤr den Du Dich ausgiebſt? O Himmel! Mein Anthonio iſt ein Betruͤger! Mein Anthonio? Nein, Du biſt nicht mein; Du biſt mir fremd, Du biſt vornehm, Du kannſt nie der Meinige werden. Und jetzt koͤnnt ich Dich auch nicht mehr lieben. Ach, wo iſt alles, alles ſo ploͤtzlich hingekommen, was ich fuͤr Dich em - pfand? Haſt Du mich denn wirklich nicht in dem Hofe der Peterskirche geſehn? O ge - wiß, denn Deine Augen waren immer nach mir hingerichtet. Aber Du ſchaͤmſt Dich jetzt mei - ner, Du, ich ſollte Dich[nicht] ſo nen - nen, denn Du biſt nicht meines Gleichen, Du liebſt mich nicht. Mein Herz klopfte aͤngſt - lich, ich kannte Dich gleich am Ziehen der204 rechten Augenbraune, an der Art zu laͤcheln, an dem kleinen Flecke am Munde, ich wollte mich zu Dir draͤngen, ich konnte nicht; ich dachte in Ohnmacht zu ſinken. Ich konnte nicht den heiligen Vater anſehn, als er den Seegen ſprach, denn ich ſahe nur Dich, Dich einzig und allein in der ungeheuren Volksver - ſammlung; meine Mutter ſtand hinter mir, und blieb zuruͤck, als ich mich vordraͤngte. Ach wohin wollt ich mich draͤngen? Lebe wohl, ich ſterbe bald, der Seegen des heiligen Vaters iſt meine Einſeegnung zum Grabe geweſen. Und Du warſt ſo froh, ach Anthonio, vergieb, daß ich Dich immer noch bey dieſem ſchoͤnen Nahmen nenne, Anthonio, o was kann ich ſagen! Mein Kopf ſchwindelt. So eben ſang meine Mutter ſtill vor ſich hin eins von unſern alten Liedern. Ach, dieſe Lieder kennen mich nicht mehr, ſie wollen mich nicht mehr troͤſten. Nein, ich will auch nicht ge - troͤſtet ſeyn, ich will verzweifeln, ich will wahn - ſinnig werden, und ſo zu Dir rennen, ſo Dir mit fliegenden Haaren wild vor die Augen tre - ten, und Dich verlachen, wenn Du mich dann205 nicht mehr kennſt. Ich glaube, mir iſt im Kopfe eine Ader geſprungen, ich blute heftig, und bin wie betaͤubt. O Ungetreuer, mit die - ſem Blatte empfaͤngſt Du zugleich meine Bluts - tropfen; bald ſoll man meine Leiche vor Dir voruͤber tragen; freue Dich dann Deines Werks!

206

60. Roſaline an William Lovell.

Verwuͤnſchungen, Fluͤche hinter Dir her! Sie werden Dich ereilen und ergreifen. Nein, ich kann nicht laͤnger im Hauſe bey meiner Mut - ter bleiben, ich kann nicht laͤnger in dieſer Welt bleiben, wo jeder Baum, jeder Grashalm mich an Dich erinnert. Mir iſt ſeltſam, ich will durch die Welt wandern, und Dich ſuchen, und wenn ich ſterbe, ſieh! dann treff ich Dich doch jenſeits, denn Du mußt auch ſterben; da kannſt Du meinen Vorwuͤrfen nicht entlaufen. O weh Dir, Anthonio, daß Du ſterben mußt; dann wird Dir das Verzeichniß Deiner Suͤn - den, aller, von der kleinſten, bis zur groͤßten, verleſen. Mir iſt der Tod ein Troſt, Dir wird er wehe thun. Ich hab es ſchon lange heim - lich geglaubt, aber keinem Menſchen und auch Dir nicht ſagen moͤgen, daß Du an Pietro’s Tode Schuld biſt. O wehe Dir, wenn es ſo iſt! Ich werde hingejagt vom unbekann - ten Geiſte in Tod und Grab, es brennt in207 meinen Eingeweiden, und die Fluthen der Ti - ber ſollen dieſe Flammen loͤſchen. Aber ich muß Dich noch ſehn vorher, ich will Dir Deine Briefe zuruͤck bringen; ich will ach, ich weiß ſelbſt nicht, was ich will; ſterben gewiß.

208

61. Leonore Silva an William Lovell.

Ach, gnaͤdiger Herr! Sie verzeihen es wohl einer alten Frau, wenn ſie ſich unterſteht, Ih - nen zur Laſt zu fallen. Meine Tochter, die letzte Stuͤtze meines Alters, iſt todt; Gott mag ihrer Seele gnaͤdig ſeyn! Sie iſt in die Tiber geſprungen, geſtern am Abend; vorher iſt ſie die ganze Stadt durchlaufen, und hat immer nach Ihnen gefragt. Auf der Bruͤcke nach St. An - gelo ſtand ſie endlich ſtill, und ſah in’s Waſſer, ſie deutete auf den Mondſchein, und ſagte: ſie wolle jetzt in das goldene Paradies; ein Mann, der dort ſtand, hat es ganz deutlich gehoͤrt: ſo ſtuͤrzte ſie ſich vom Gelaͤnder hinunter. Man zog ſie todt ans Land. Ach, lieber gnaͤdiger Herr, nun bin ich ganz verlaſſen, erzeigen Sie mir doch die Ehre, mich noch einmal zu be - ſuchen, und eine arme, alte, verlaßne Frau et - was zu unterſtuͤtzen. Verzeihen Sie meine Dreiſtigkeit, der Kummer hat mich ganz nieder - gebeugt. Gott ſey Roſalinens Seele gnaͤdig; ich bete fleißig einen Roſenkranz zu ihrem Heil.

Wil -[209]

William Lovell. Zweytes Buch.

Lovell. 2r Bd. O[210][211]

1. William Lovell an Roſa.

Wenn man ſich noch einige Zeit nach dem ge - endigten Schauſpiele verweilt, wie dann der Vorhang wieder in die Hoͤhe geht, und einzelne Stuͤcke von Dekorationen an den kahlen Waͤn - den haͤngen, Waffen und Ruͤſtungen zerſtreut auf dem Boden liegen, die emſigen Aufſeher die Lich - ter ausloͤſchen und ſammeln, hin und wieder ein ſchlechter Schauſpieler noch mit tragiſchem Schrit - te auf - und niedergeht, und ſeine Rolle nicht vergeſſen kann: ſo, Roſa, in dieſem armſeligen Lichte erſcheint mir jetzt das Leben. Alles ſieht mir ſo abgetragen und duͤrftig aus. Die Menſchen ſind mir nichts als ſchlechte Komoͤdianten, Tugend - helden oder witzige Koͤpfe, Liebhaber oder zaͤrt - liche Vaͤter, nachdem es ihre Rolle mit ſich bringt, die ſie ſo ſchlecht, wie es nur immerO 2212eine wandernde Truppe thun kann, zu Ende ſpielen. Auch ich bin unter dem Haufen einer der Mitſpieler, und ſo wie ich die andern ver - achte, werde ich wieder von ihnen verachtet.

Warum ſchlagen ſo oft die hoͤchſten Wogen in unſrer Seele, und dann ſo ploͤtzlich ein traͤ - ger dumpfer Stillſtand? So wie das mooſige, ſchlammige Geſtade bey der Ebbe. O ich moͤchte mir wieder Stuͤrme in dieſe traͤge Blut - maſſe wuͤnſchen, Gefuͤhle, die die Thraͤnen aus ihren tiefen Kerkern reißen, Seufzer und Schmerz, Quaal und Wolluſt, um wieder in den Kreis der uͤbrigen Menſchen zu treten, den ich jetzt aus der Ferne anſchaue und verachte.

Willy und ſein altes, gutmuͤthiges Geſicht fehlt mir in jeder Stunde, er war ſehr froh, daß er ſein Vaterland wieder ſehen ſollte. Wie gern ſich der Menſch doch an Erinnerungen und lebloſe Gegenſtaͤnde feſſelt, und jeden Berg und einheimiſchen Baum fuͤr einen Freund und Wohl - thaͤter anſieht!

Roſalinens Mutter iſt befriedigt, und alles mit ihr abgethan, ich glaube, ſie wird nicht lange leben, und alſo auch meiner Unterſtuͤtzung213 nicht auf lange beduͤrfen, ſie war ſehr ſchwach, als ich ſie ſah. Wie die Faͤden eines We - berſtuhls flimmert und zittert das menſchliche Leben vor meinen Augen, ein ewiges Wechſeln und Durcheinanderſchießen, und dabey doch das langweilige, ewige Einerley!

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2. Roſa an William Lovell.

Ja wohl, lieber Freund, es iſt um die Men - ſchen ein ſeltſames Ding! Ein Raͤthſel, das keiner je ganz aufloͤſen wird. Es quaͤlt und aͤngſtigt den Geiſt; indeſſen muͤſſen wir wenig - ſtens ſo viel zugeben, daß es ihn eben deswegen auch beſchaͤfftigt und unterrichtet, wir muͤſſen uns nur nie ſcheuen, einen Gedanken ganz zu Ende zu denken, unbekuͤmmert, wohin er uns fuͤhren koͤnnte. Sie fuͤhlen es jetzt recht leb - haft, wie alles, was wir wiſſen und glauben, Nichts ſey, aber bemerken Sie nur auch, wie Ihre Zweifel und Ihre nuͤchternen Gefuͤhle, die daraus entſtehen, ebenfalls nichts Feſtes, Un - wandelbares ſind. Alles geht und zieht durch unſern Buſen, alle Eindruͤcke exiſtiren fuͤr uns nur, in ſofern ſie ihre Spuren zuruͤck laſſen: aber eben dies ſollte uns bewegen, nie ganz und einzig in der Gegenwart zu leben; denn ſie iſt in unſrer Exiſtenz das Unzuverlaͤßigſte.

Beſuchen Sie mich heut wieder vor dem215 Thore in meinem Garten, wir wollen muͤndlich ein Mehreres daruͤber ſprechen, ſeit ich neulich Rom verlaſſen habe, habe ich vieles gelernt und erfahren, und manches iſt in meiner Seele wan - kend gemacht, was ich noch vor kurzem fuͤr fel - ſenfeſt hielt.

Ich habe Ihnen noch einen kleinen Vorfall nicht erzaͤhlt, den ich jetzt in der Eile nachho - len will. Ich ſprach Roſalinen im heftigſten Ausbruche ihres Kummers; ſie war wirklich ſchoͤn: bald ward ſie zutraulicher, da ſie hoͤrte, ich ſey Ihr Freund, und ſo gelang es mir un - vermerkt, ſie von ihrem Kummer etwas abzu - ziehn, und eben die Freuden bey ihr zu genießen, die Sie mir damals ſo poetiſch beſchrieben ha - ben. Ich mag nichts weiter hinzuſetzen. Lie - ber Freund, was iſt der Menſch? Auch davon heut Abend ein Mehreres.

216

3. Eduard Burton an William Lovell.

Indem ich dieſen Brief anfange, William, weiß ich nicht recht, was ich Dir ſagen will, noch weniger, wie ich es Dir ſagen ſoll. In meinem Sinn und Herzen liegt alles hell und klar, meine Meinung iſt nicht Sophiſterey oder Leidenſchaft, die mir der Moment eingiebt, ſon - dern meine Ideen ſind gleichſam Ein Strom, der in der fernſten Kindheit entſpringt, und ſo in gerader Richtung durch mein Leben fließt. Deine Gedanken ſind einzelne Fragmente, die Dir vielleicht in der jedesmaligen Stimmung unumſtoͤßlich ſcheinen, weil ſie eben durch dieſe Stimmung hervorgebracht ſind, die Dir aber vielleicht ſelbſt am folgenden Tage unverſtaͤnd - lich ſind. Du verachteſt mich gewiß, wenn ich von Grundſaͤtzen rede, nach denen man handeln muͤſſe, aber ſeit ich Dich genauer kenne, iſt dieſe Ueberzeugung eben durch Dich bey mir um ſo lebendiger geworden: dieſe Grundſaͤtze muͤſſen gleichſam der Faden ſeyn, an den wr217 unſre uͤbrigen Gedanken und unſteten Empfin - dungen reihen, und der ſie alle regiert. Wi - derlegen kann ich Dir Deinen Beweis nicht, daß kein Menſch den andern verfuͤhren koͤnne, aber, ſo wie mich duͤnkt, bedarf er auch keiner Widerlegung. Der Menſch fuͤhlt den Einfluß andrer, ja ſelbſt der lebloſen Natur auf ſein Herz und ſeinen Verſtand viel zu ſehr, als daß er ſich je dieſen Einfluß ablaͤugnen koͤnnte. Du behaupteſt zwar, daß Alles, was der Menſch denkt und empfindet, ſchon von je in ihm gele - gen habe, und daß die aͤußern Gegenſtaͤnde nur veraͤchtliche Zufaͤlligkeiten ſind, daß alles dies grade jetzt, und zu keiner andern Zeit in ihm geweckt werde: daß ein unſchuldiger Menſch nie ſchuldig werden koͤnne, ſo wie der eigentliche Boͤſewicht nie rein geweſen ſey: biſt Du wirklich gar nicht darauf gefallen, daß Du hier mit Deiner ſophiſtiſchen Freygeiſterey die graͤß - liche orthodoxe Praͤdetermination der Seelen vertheidigeſt? Du geſtehſt immer, und es iſt Dein Glaubensbekenntniß, daß der Menſch nichts wiſſen koͤnne, und doch willſt Du dies ſo ge - nau wiſſen? Wenn Du an allem zweifelſt, ſo muͤſſen Dir eben deswegen auch Deine Zweifel218 verdaͤchtig werden, und ſo kaͤmeſt Du denn viel - leicht auf einem muͤhſeligern Wege zu demſelben Punkte, auf welchem ich ſtehe: daß ſich der bloͤd - ſichtige Menſch gewiſſen Geſetzen, die ihm ſein Genius aus dem Herzen zurnft, blind unterwer - fen muͤſſe. Glaube wenigſtens, daß der Menſch unmoͤglich ſo ſeyn koͤnne, wie er Dir erſcheint, wenn Du ihn mit Deinen Sophismen anato - mirſt, Du ſiehſt dann zwar lauter wirkliche Be - ſtandtheile, aber eben deswegen, weil Du ein Ganzes in Theile zerlegt haſt, iſt es nicht das Ganze mehr. Daher ſind alle Deine Folgerun - gen gar nicht auf den Menſchen anwendbar, er iſt nicht ſo, trotz dem, das Du behaupteſt, er muͤſſe ſo ſeyn, und darum kann ich mich von Deinem neulichen ſcharfſinnigen Beweiſe ſo we - nig uͤberzeugen, daß ich Dich vielmehr vom Gegentheile uͤberzeugen moͤchte.

Vergieb mir meine Weitſchweifigkeit, und daß ich, um Dich zu uͤberfuͤhren, ſelbſt in den ſpitzen getadelten Ton Deiner Briefe falle: ich weiß, alles, was ich ſage, iſt unnoͤthig, denn Du glaubſt Deine Behauptung nicht, ich ſage alles dies blos, weil mich eben Dein neulicher Brief von der Sache uͤberzeugt hat, die er wi -219 derlegen ſollte, daß Deine Gedanken nur die Wiederholung fremder ſind; ſchon daß Du uͤber eine blos hingeworfene Idee einen eigenen Brief ſchreibeſt, hat mich davon uͤberfuͤhrt. Aber vergieb mir, denn ich will Dir nicht gern wehe thun.

Ach ich ſollte in einem ernſtern Tone, mit tiefer Trauer ſprechen, denn welche Nachricht hab ich Dir zu hinterbringen! Dein Vater iſt nicht mehr, Gram und Krankheit haben end - lich ſeinem muͤrben Leben ein Ende gemacht, das gleichſam nur noch an Einem Faden hing. Ach, William, ich kann Dir unmoͤglich alles ſagen, was ich denke. Mit weinenden Au - gen habe ich die Papiere geſiegelt, die ich Dir hierbey uͤberſchicke, halte ſie in Ehren, denn es ſind die letzten Federzuͤge Deines Vaters, er muß oft in ſeinen einſamen Stunden nach Dir hinuͤbergedacht, nach Dir ſich hingeſehnt ha - ben. Auch mein Vater iſt jetzt krank, und ich habe viel mit ſeiner Pflege zu thun; ach, William, wenn man fuͤrchtet, daß jemand, den wir ſo wohl kannten, nun von uns ſcheiden will, nach einem unbekannten Lande hin, und er ſelbſt uns dann fremde wird, o dann ma -220 chen wir unſre Liebe und Sorgfalt doppelt, wir vergeſſen uns ſelbſt, und eben deswegen vieles, was wir ehedem an ihm tadelten,

Amalie Wilmont iſt mit Deinem Freunde Mortimer verheirathet. Ich weiß nicht, wie Du dieſe Nachricht aufnehmen wirſt; mir iſt oft wie einem melancholiſchen Zuſchauer zu Muthe, der im Schauſpiele mit Widerwillen den Schluß des Stuͤcks herannahen ſieht, wie ſich alles ver - laͤuft, die Hauptperſonen ausbleiben, die mun - tern Scherze ſchon erſtorben ſind, endlich faͤllt der Vorhang, und unſre Freuden, unſre Theilnahme, unſer Leben, alles, was wir hat - ten, iſt dahin!

221

4. Einlage des vorigen Briefes.

Die groͤßte Schwachheit des Menſchen iſt, Plane fuͤr die Zukunft zu machen, und doch be - ſteht darin das Leben: auf nichts ſollte man vertrauen, denn nie entſpricht die Zukunft un - ſern Erwartungen, wenn ſie zur Gegenwart wird, und wir ſelbſt und unſre innerſten Empfindun - gen ſind eben ſo gut dem Wechſel unterworfen, wie alles, was uns umgiebt. Reut mich nicht jetzt, was mir vordem Freude machte? Ach mein Sohn, koͤnnt ich Dich nur in meine Ar - me ſchließen, wie froh wollt ich denn daruͤber ſeyn, daß ich von meinem Traume erwacht bin!

Wie alles von mir zuruͤck weicht, was mich ſonſt aufrecht erhielt! Meine Haͤnde zittern, mein Gedaͤchtniß wird ſchwach, und alle ſchoͤ - nen Vorſtellungen verfliegen, wie die Duͤnſte ei - nes Rauſches. Mein ganzes Leben liegt wie ein dunkler Abgrund da, in den ich hineintau - melte, ohne Beſinnung da lag, und mich jetzt222 muͤhſam an den feuchten Waͤnden zum Lichte empor arbeite.

Nein, ich kann den Tod nicht fuͤrchten, der mir in jeder Stunde naͤher tritt, ich ſehe ihm mit feſten Augen, ja mit einer Art von Sehn - ſucht entgegen. Jeder Klang iſt verſunken, nur eine innige Wehmuth ſchlaͤgt unermuͤdet ihre Toͤne in mir an, ſo wie ſich jedes froͤhliche Ge - raͤuſch in den ziehenden ernſten Kirchengeſang verliert. Alle Gedanken ſind nach dem Grabe hingerichtet, Sonnenaufgang und Untergang, alle Erſcheinungen der Natur ſind mir Bothen, die mich dorthin rufen. Ich begreife die Veraͤndrung nicht, die in mir vorgegangen iſt, vieles ſteht verjuͤngt, wie in der Kindheit vor mir, ja ich bin wieder zum Kinde geworden, und gehe nun durch daſſelbe roſenrothe Thor wieder aus dem Leben hinaus, durch welches ich eintrat. So iſt mein ganzer Lebenslauf nur ein Kreis geweſen, indem ich immer glaubte, in[grader] Richtung fortzugehen. Die Welt mit allen Freuden und Leiden liegt hinter mir, wie ein weites Gebirge, das der Nebel unkenntlich macht, nur das Thal, in welchem ich Ruhe223[finden] ſoll, ſeh ich deutlich vor mir. Schwarze, im Winde flatternde Todtengewaͤnder mit tiefen ſteifen Falten, Graͤber und Todtengerippe ſtehn vor meinen Augen, ohne daß ich mich, wie ſonſt, davor entſetze: iſt nicht alles um uns her Tand und Spiel, womit wir uns ſo ernſthaft beſchaͤfftigen? Wie wir die Truͤmmern alter Pallaͤſte beſuchen und ausmeſſen, ſo ſollten wir mit Kuͤnſtleraugen das Knochengebaͤude des Men - ſchen betrachten, und das erhabene Kunſtwerk bewundern, von dem uns dort in nackter Ent - bloͤßung gleichſam die Latten und Grundlinien hingelegt ſind, wie die Contoure einer Zeich - nung neben dem Menſchen, dem vollendeten Ge - maͤhlde. Wie ein veraltetes Kleid legen wir den Koͤrper ab, Blumen, Graͤſer und Inſekten naͤhren ſich von unſerm Stoff, ſo wie wir von der Pflanzennatur unſer Daſeyn erbetteln, aber der Geiſt ſchwingt ſich aufwaͤrts, und ſieht mit Ruhe auf die Verweſung ſeines Koͤrpers hinab.

O koͤnnt ich den raſchen Juͤngling, koͤnnt ich Dich lieber Sohn nur einen Blick ſo in die Welt und ihren durch einander gezogenen ver -224 wirrten Wirbel hinein werfen laſſen, wie ich jetzt alles ſehe. Der Kuͤnſtler wirft oft eine wunderbare Erleuchtung in unſre Seele, indem er laͤngſt bekannte und oft geſehene Gegenſtaͤnde in ſeinem Gemaͤhlde ſo ordnet und zuſammen ſtellt, ein eignes Kolorit und ſeltſame Zufaͤllig - keiten hinzufuͤgt, daß ſeine Darſtellung eine neue und wunderſame Bedeutung erhaͤlt. Aber fuͤr meine Gefuͤhle und Ideen hat die gewoͤhnliche Sprache, das fuͤhl ich, gar keine Worte, ich muͤßte eine Art von Gedicht ſchreiben, um Dich etwas naͤher in meine Atmosphaͤre zu ziehn, ſo wie vielleicht alles recht Gute und Verſtaͤndige immer ein Gedicht ſeyn muͤßte, weil das, was den Menſchen ganz befriedigen ſoll, ſein Gefuͤhl und ſeinen Verſtand zugleich ausfuͤllen muß. Reine Saͤtze der Vernunft auf die gruͤndlichſte Weiſe hintereinander geſtellt, laſſen die groͤßere Haͤlfte im Menſchen leer, und noch Niemand iſt auf dieſe Weiſe geaͤndert oder gebeſſert wor - den. Koͤnnt ich Dir doch, wie durch tauſend Hohlſpiegel, das Bild ſo zuwerfen, wie ich es vor mir ſehe, o William, Du wuͤrdeſt es nicht der Muͤhe werth finden zu leben, alles das tief verachten, was die gewoͤhnlichen Menſchen Froͤh -lichkeit225lichkeit und Lebensgenuß nennen. Nichts macht mich ernſthafter, als ein lachendes Geſicht, als jene hohe Feſttage im menſchlichen Leben, wo man recht darauf ſinnt, und ſich zwingt, alles Gewoͤhnliche abzulegen; aber die[neuen] Kleider veralten ebenfalls, und werden veraͤchtlich in ei - nen Winkel hingeworfen. Die Zeit rinnt Tropfen fuͤr Tropfen unmerklich und unaufhaltſam fort, und alles iſt dann leer und voruͤber, in den Wind zerſtreut und verflogen, daß der Menſch ſich wie berauſcht umſieht, und nicht begreifen kann, wo alles ihm unter den[Haͤnden] fortge - kommen iſt, was er innig an ſein Herz geheftet glaubte. Ein Bauer hat heute hier in mei - nem Dorfe Hochzeit gemacht, der Zug ging vor meinem Hauſe voruͤber, und ich mußte ihnen aus dem Fenſter Gluͤck wuͤnſchen, ja die freude - trunkenen Menſchen ließen mir nicht eher Ruhe, bis ich mich in ihre Wohnung tragen ließ, um an dem Getuͤmmel, an den Anſtalten, die ſchon ſeit Wochen gemacht waren, und nun endlich, endlich gebraucht und verbraucht wurden, Theil zu nehmen. Fuͤr die beiden Neuvermaͤhlten war dieſer Tag nun der wichtigſte, ſeit die Welt ſteht; ſie meynen, daß von dieſem Tage einLovell. 2r Bd. P226Abſchnitt durch die Zeit in ganz Europa gehe, daß alles um ihre Hochzeit wiſſe, und jede Seele ſie beneide: ſie geben ſich der ſtuͤrmenden Freude und dem lauten Lachen Preis, ach! und beden - ken nicht, daß ſich alle Empfindungen, frohe und traurige, in uns, wie in einem Behaͤltniſſe ſammlen, daß dies Vermoͤgen ihrer Froͤhlichkeit in einigen Stunden verſchwendet wird, und daß ſie dann in einer nuͤchternen Leerheit darben, und froͤhliche Minuten erbetteln, die ſie jetzt wegwer - fen. Wenn ihr bey der Feldarbeit ſchwitzt, und un - ter dem Joche der Duͤrftigkeit ſeufzt, ach ſo werdet ihr ſehr bald den heutigen Tag vergeſ - ſen, eure Kinder werden euch nicht ſo entzuͤcken, als an dem Tage ihrer Geburt, wenn ſich nach und nach die Leiden entwickeln, die ihr um ih - rentwillen duldet; die ſeidnen ſchoͤngeſchuͤrzten Quaͤſte auf eurem Bette werden alt und un - kenntlich, und den Kindern zum Spiele herun - tergeriſſen werden, die die Braut geſtern mit ſo emſiger Zierlichkeit aufſteckte, die neugeweißte Stube wird von der Lampe und vom Feuer ſchwarz geraͤuchert, eure glatten Geſichter legen ſich in Falten,[Zwietracht] und Zank, Krank - heit und Gram hemmen den Strom eures Le -227 bens, der euch jetzt ſo eben und glaͤnzend er - ſcheint. Ach William, ich dachte an den frohen Tag zuruͤck, der mich mit Deiner Mut - ter verband; wie alles ſich verwandelt hat, und nichts in mir dem Lovell aͤhnlich ſieht, der ich an jenem Tage war. Und doch, William, wenn ich Dir nur die Anſtalten zu Deiner Hochzeit haͤtte beſorgen helfen, ach ich waͤre gewiß ſchwach genug geweſen, alles zu vergeſſen, und in der Einfalt des menſchlichen Herzens zu glauben, die Natur ſchließe uns von ihren harten Ge - ſetzen aus, und alles werde ſo golden und freund - lich bleiben. Und iſt dies auf der andern Seite nicht vielleicht die hoͤchſte Weisheit des Menſchen? Muß ich nicht vielleicht alle Zirkel um mich her aus meinem Mittelpunkte ziehen?

Ich will immer anfangen einen Brief an Dich zu ſchreiben, und nehme die Feder und ſchreibe mancherley[nieder], und vergeſſe Dich dabey. Dann faͤllſt Du mir ploͤtzlich wieder ein, und der ganze Brief wird dann durch einen Zu - fall abgebrochen, und es iſt mir unmoͤglich den Faden wieder zu finden. So habe ich ſchon ei - nige Blaͤtter vollgeſchrieben, aber ich habe ſieP 2228vergebens geſucht. Wenn ich die Augen zu - mache, unterrede ich mich mit Dir und trage Dir allen Gram und alle Sorgen vor. Ich finde dabey nichts zu lachen, denn was thun unſre Briefe denn anders? Vielleicht daß ſich in einem andern Leben die entfernten Gedanken ſchneller und edler zuſammenfinden, als durch Sprache und todte Zeichen; vielleicht daß wir dann erſt beſitzen, was wir jetzt nur zum Lehn erhalten haben; vielleicht thut ſich uns dann das Verſtaͤndniß auf, daß alle, alle Menſchen das Gute wollten und hatten, aber daß die grobe unbeholfene Außenſeite nicht gelenk genug war; und ſo finde ich denn, William, daß Du mir auch jetzt nicht entfremdet biſt. Der Ge - danke beruhigt mich, und macht mich heiter.

Keine Antwort von Dir! Kein Laut aus der fernen Gegend heruͤber! Wie ich mich hinſehne, wie ſich oft mein Geiſt in mir aus - ſtreckt, als wenn er zu Dir hinuͤberreichen woll - te. Ich erinnre mich mancher Kindermaͤrchen, und kann Stundenlang an das Wuͤnſchhuͤtchen denken, das einen ploͤtzlich von einem Orte zum229 andern verſetzt; dann koͤnnt ich Dich ſehn und an Deinen Hals fliegen. Aber es iſt unrecht, daß Du mir nicht ſchreibſt; wodurch hab ich das um Dich verdient? Kannſt Du noch immer jenes Briefes wegen auf Deinen Vater zuͤrnen? Ich habe Dich ſchon um Verzei - hung gebeten, und will es noch einmal thun.

Mir ſind die Schilderungen der Schlachten nicht fuͤrchterlich, die ſonſt ſo leicht unſre Phan - taſie erſchrecken. Hier faͤllt ein Mann zur Rech - ten, dort zur Linken, ſtreifende Kugeln quet - ſchen ganze Glieder nieder, Koͤpfe und blutbe - ſpruͤtzte Arme liegen umher, und der Soldat marſchirt mit geradem Sinn den Gefahren ent - gegen, ſieht nicht nach ſeinem Kameraden links, nicht nach ſeinem gefallenen Bruder zur Rech - ten, tritt auf den Leichnam, der vor ihm liegt. Ich kann dieſen Muth nicht bewundern, denn thun wir alle etwas anders im gewoͤhnlichen Leben? Freunde ſterben zur Rechten und zur Linken, und wir gehn dreiſt und grade fort, als wuͤrde uns der Tod niemals ereilen: wir erſchrecken nicht vor dem Gifte, das dieſen und230 jenen wohl von uns Gekannten hinrichtete. Wir haben nur unſre Plane und Entwuͤrfe im Auge, ach und bemerken es nicht, daß die Zeit hinter uns ſchleicht, und uns unvermerkt in Staub und Aſche verwandelt. O wehe der menſchlichen Eitelkeit! Wohl dem, der ſich aus dem Stru - del rettet, der uns alle mit ſich fortwaͤlzt! Die hoͤchſte einzige Weisheit des Menſchen iſt: nicht dieſem elenden Goͤtzen zu opfern, dem, wie dem[Moloch], alle unſre Kinder in die gluͤhen - den Arme gelegt werden. Ach William, es giebt kein einziges ernſthaftes Geſchaͤfft in die - ſer Zeitlichkeit, als zu ſterben.

Ach ja wohl koͤnnte der Menſch viel beſſer ſeyn, wenn er immer in ſich den kurzen Raum des Lebens bedaͤchte. Wie wuͤrden wir alles mit Liebe umfangen, wie warm jedem Gegen - ſtande, dem wir nahe ſind, die Hand druͤcken, wenn wir immer bedaͤchten: ach, auch dieſes Gebild zerfaͤllt in kurzem, und Du weißt dann nicht, wohin es gekommen iſt; es ſehnt ſich nach Deiner Liebe, o gieb ſie ihm, ſo lange Du es noch vor Dir ſiehſt. Mein Vater231 ſteht jetzt vor mir, und mahnt mich an allen Gram, den ich ihm ſo oft ohne Urſache machte, wie wenig ihm mein Herz in ſo manchen Stun - den entgegen kam. Auf ſeinem Sarge und jetzt hab ich es recht lebhaft gefuͤhlt, wie viel ich ihm haͤtte ſeyn koͤnnen. Auch Du, William, wirſt einſt nach wir in den Wind ſeufzen, und meinen Grabhuͤgel fragen, ob ich Dir denn auch ganz und aus vollem Herzen vergeben habe; ja, ja, geliebter Sohn, laß keinen Seufzer der Reue dann in Deinem Buſen aufſteigen; ach freylich habe ich in manchen Stunden ſehr auf Dich ge - zuͤrnt, aber alles, alles iſt jetzt fort, und mein Herz iſt nur mit reiner Liebe angefuͤllt.

Ich habe einen Blick hinab ins Thal des Todes gethan, und nun taumeln alle Weſen dieſer Welt nuͤchtern und leer meinen Augen voruͤber. Alles ſind nur Larven, die ſich ein - ander ſelbſt nicht kennen, wo einer dem andern voruͤbergeht, und ihm ein holes Wort giebt, das jener durch ein unverſtaͤndliches Zeichen be - antwortet. Wie wuͤſt iſt mir ſeitdem, und wie alles durch einander verworren! alles wie232 truͤbe und unkenntliche Schatten eines veralte - ten Gemaͤhldes. Ich weiß mich kaum noch des geſtrigen Tages zu erinnern, in der Zukunft wandelt mein Geiſt, wie einen Fremden betrach - te ich mich ſelbſt, und wuͤnſche den Augenblick meines Todes.

Nur Dich, William, vermiß ich noch, ſonſt nichts in der Welt, ich uͤberſehe mein Leben und alle meine Erfahrungen gleichſam in einem Regiſter. Unſre heftigen Begierden, unſre Ent - zuͤckung und Verzweiflung entſteht nur daher, weil wir uns ſelbſt und den kleinen Punkt un - ſers Lebens, auf dem wir grade ſtehen, zu ſehr vor Augen haben, uͤber unſer kleines Ungluͤck denken wir nicht daran, daß in demſelben Mo - mente viele Tauſende unendlich elender ſind, als wir, daß ſich der Nachbar indeſſen freut, und in dieſer Froͤlichkeit vielleicht ſchon unbe - merkt die Quelle kuͤnftiger Truͤbſale ſprudelt. Alles iſt mir jetzt gleich, nur nach Dir ſehnt ſich noch mein ſchwaches, vaͤterliches Herz. Du biſt krank, mein Sohn, es leidet keinen Zweifel, ſonſt wuͤrdeſt Du ſchon vor mir ſtehen.

233

Mein Herz arbeitet ſchwer in mir, nur unwillig thut es die letzten muͤhſeligen Schlaͤge, der Tod hat es mit ſeiner kalten Hand beruͤhrt, und die Lebenskraft hinweggenommen, das Licht des Tages flieht. Lebe wohl.

234

5. William Lovell an Eduard Burton.

Ja wohl verfliegt alles und geht hinweg, und ich bin der betruͤbte Zuſchauer des Poſſenſpiels. Mein Vater iſt alſo todt, und Amalie verhey - rathet? O moͤge es beyden gutgehen, das iſt alles, was ich zu dieſer Nachricht ſagen kann. Was iſt es denn nun mehr? Iſt es nicht ſo, und muß es nicht ſo ſeyn? Der Tho - ren, die ſich die Haare ausraufen, wenn ein Vorfall eintrifft, der nothwendig iſt, und der in der Natur der Dinge gegruͤndet liegt! Tod koͤnnte nicht ohne Leben und Leben nicht ohne Tod ſeyn. Mag es dahin gehn, was mir einſt ſo werth und theuer war, denn was koͤn - nen wir in dieſer Welt unſern Beſitz nennen?

O ihr Menſchen mit euren geprieſenen Grund - ſaͤtzen! den Pfeilern, an denen ihr euch lehnt, und die ſogenannten ſchwaͤcheren Menſchen um euch her verachtet! Was iſt denn dieſe eure geprieſene Vernunft? Dieſe Seelenſtaͤrke, mit der ihr euch bruͤſtet? Alles iſt nur Feigheit,235 weil ihr euch ſelbſt und euren Gefuͤhlen nicht vertraut; oder vielmehr ihr habt kein Gefuͤhl, aller menſchliche Inſtinkt iſt in euch untergegan - gen, und ihr behelft euch nun mit elenden For - meln, die ihr muͤhſam erfunden habt, um eure Bloͤße zu[decken]!

Welcher Menſch iſt denn der edlere derje - nige, der ſtets nach dem Gefuͤhle handelt, das ihn grade in dieſem Momente beſeelt und er - greift, das ihn wie ein Gott im Buſen vor - waͤrts treibt, und er nun geht, ohne mit feiger Aengſtlichkeit hinter ſich zu blicken? Oder der, der nur als ein Sklave nach einem Geſetze ſucht, nach dem er handeln muͤſſe, weil es ihm laͤſtig faͤllt, frey zu ſeyn, und er alſo auch die Frey - heit nicht verdient? Der Menſch iſt nur denn geadelt, wenn er aus ſtillen unbewußten Gefuͤh - len auf die Art gut iſt, wie das Thier durch Inſtinkt, Nahrung und Geſundheit erwirbt, wie die Pflanze von innen herauswaͤchſt, wider ih - ren Willen.

Die Grundſaͤtze werden von den Menſchen nur erfunden, um in einer traͤgen Bequemlich - keit ihr Leben ſo vor ſich hin zu treiben, und in jedem Moment das Ganze uͤberſehn zu koͤn -236 nen. Sie haben es in irgend einem Augenblicke ihres Daſeyns recht lebendig gefuͤhlt, daß kein Gedanke und keine Vorſtellung feſt und uner - ſchuͤtterlich in uns ſtehen, daß eine ſtroͤmende Empfindung, die oft ploͤtzlich hereinbricht, das niederreißt und hinwegfuͤhrt, was oft ſeit Jah - ren muͤhſam aufgebaut wurde; darum haben ſie etwas erfinden wollen, was die Gefuͤhle wie mit eiſernen Klammern an einander haͤlt, ſie haben die meiſten Saiten der Laute zerriſſen, um alle Toͤne im Gedaͤchtniſſe zu behalten, und ſich durch keinen Klang uͤberraſchen und verwir - ren zu laſſen. Aber wohl dem Menſchen, der dieſe duͤrre Bahn verlaͤßt, auf der er ſich erniedrigt fuͤhlen muß, der ſich vor keinem Ge - fuͤhl und Gedanken in ſich ſelber entſetzt, der alle Seegel ſeines Geiſtes anſpannt, und alle Flaggen im Winde fliegen laͤßt, ihm allein iſt es vergoͤnnt, ſich ſelber und ſeine geheimen Wunder in der Bruſt kennen zu lernen; er fin - det[tauſend] Widerſpruͤche in ſich ſelber, alle Toͤne ſchlagen in ihm an, und er bildet aus allen eine reiche Harmonie, die freylich dem groͤberen Ohre unverſtaͤndlich iſt; er ſammlet alle die Tauſend der ſeltſamen Erfahrungen, um237 ſich endlich uͤber ſein eignes Weſen zu be - ruhigen.

Ich habe mit Andacht die Blaͤtter von der Hand meines Vaters geleſen; ſeine Stimme toͤnt wie die Stimme eines unſichtbaren Geiſtes jenſeit eines breiten Stromes zu mir heruͤber; er ſagt in ſeiner Verklaͤrung mit andern Wor - ten eben das, was ich ſo eben behauptet habe. O Du, der Du ſo ſicher ſtehſt, mit ſo vieler Eitelkeit Dich ſelbſt und Deine Vollendung be - trachteſt, bedenke, daß wir allgeſammt nur ſchwache Sterbliche ſind, und ſo wie Du glaubſt, daß ich endlich noch zu Deiner Meinung uͤber - treten werde, ſo bin ich uͤberzeugt, daß Dich nur Dein Eigenſinn hindert, meine Gedanken fuͤr richtiger zu halten, als Du bisher gethan haſt.

Ihr Edlen und Vollendeten! die ihr aus dem verklaͤrten Himmel mit Hohn auf die Welt hinunterſeht, und doch ſo ſehr den gefallenen Engeln aͤhnlich ſeyd! Glaubſt Du nicht, daß ich Deinen ganzen Brief verſtanden habe, ſelbſt die Stellen, von denen Du vielleicht glaubteſt, ich wuͤrde den Sinn, der ſie niederſchrieb, nicht entdecken? Warum haſt Du mir keine Sylbe238 von dem verlohrnen Prozeſſe meines Vaters ge - ſchrieben? Er iſt verlohren, und mein Va - ter und Amalie ſind mir auch verlohren! Du konnteſt es aber nicht unterlaſſen, mir die Krankheit Deines Vaters zu melden, weil Dir die Hoffnung Deiner baldigen unumſchraͤnkten Freyheit zu ſehr im Sinne lag; eine heimliche Freude fuͤhrte bey dieſer Stelle Deine Feder, das wirſt Du mir nie ablaͤugnen koͤnnen, wenn Du aufrichtig biſt. Um Dich aber vor Dir ſelbſt zu rechtfertigen, gebieten Dir Deine Grund - ſaͤtze die Wartung des Kranken, die Liebe eines Sohnes fuͤr ihn, o mehr kannſt Du ja gar nicht thun, Du beweinſt dann noch ſeinen Tod, und welch ein vortrefflicher Menſch biſt Du nicht bey alle dem! O hinweg mit dieſen Grundſaͤtzen, mit allen aͤhnlich klingendem Galimathias! Larven, die den Eigennutz verbergen ſollen, die der Duͤnkel erfunden hat, um ſich zu verſchoͤnern. O glaube mir, man kennt die Menſchen, wenn man ſich ſelbſt kennt. Und ich kann Dir auch dieſen Eigennutz, dieſe heimliche Freude nicht veruͤbeln, nur hin ich ver - druͤßlich, daß Du alles ſo abſichtlich zu verſtecken ſuchſt, und mit glaͤnzendem Firniß anzuſtreichen.

239

Du ziehſt Dich von mir zuruͤck, ſeit unſre Meinungen ſich getrennt haben, und Deine Freundſchaft fuͤr mich entſtand vielleicht blos, weil ich Deine Eitelkeit naͤhrte. Ich ſchien ein ſo ſchoͤnes Echo von Dir zu werden, eine Kopie von Dir, die das Original nur um ſo mehr he - ben ſollte, Deine ganze Liebe aͤußerte ſich im Hofmeiſtern, und eben darum wurdeſt Du ei - ferſuͤchtig, weil Du in dem irrigen Wahne ſtan - deſt, ich ſpreche jetzt die Worte eines andern nach. O welche Wuth hat die Menſchen denn beſeſſen, daß ſie ſtets ihre Meinungen ver - breiten wollen! Daß ſie aus allen, mit de - nen ſie umgehen, Spiegel zu ſchleifen ſuchen, in denen ſich ihre eigne werthe Perſon praͤſen - tirt! Wo iſt denn hier die reine, geprieſene Liebe? O ihr Prahler, die ihr euch ſelber ſo augenſcheinlich widerſprecht!

Ach, wenn ich den truͤben Strom meiner Erfahrungen hinuntergehe, und daran denke, aus wie ſeltſamen Vorfaͤllen ſich ſo oft mein Leben zuſammenfuͤgte! Wie gedemuͤthigt ſtehe ich dann an denſelben Plaͤtzen, an denen ich mich ehemals ſo groß und edel fuͤhlte, blos weil ich mir ſelber meine innern Empfindungen ab -240 ſtritt. Eitelkeit, ſagt ich, verband uns viel - leicht, und ich moͤchte jetzt hinzuſetzen, daß ich nicht mehr daran zweifle.

Erinnerſt Du Dich noch des Tages, an wel - chem zuerſt aus einer langweiligen Bekanntſchaft unſre[ſogenannte] Freundſchaft entſtand? Wir waren auf einem Spatziergange, es war ein ſchoͤner Tag, und wir beſtiegen den Berg, auf welchem ſchauerlich und wild die Ruinen eines alten Schloſſes liegen. Du kletterteſt mir mit jugendlichem Muthe voran, um mich in der Kuͤhnheit zu uͤbertreffen, und mein Wettei - fer vermehrte ſich mit Deiner Geſchicklichkeit. Wir ſtanden oben, und ſahen mit Entzuͤcken in die romantiſche Gegend hinab; ich hatte Dich bewundert, aber Dir war es noch nicht genug, Du ſtellteſt Dich jetzt auf den aͤußerſten Punkt eines hervorragenden, zerbroͤckelten Geſteins, ſo daß mir hinter Dir ſchwindelte. Ich ſah Dich frey in der Luft ſchweben, und eine unbegreif - liche Luſt ergriff mich, Dich von der Spitze des Felſen in die Tiefe hinunterzuſtoßen; je mehr ich mich dieſer Begierde erwehren wollte, deſto heftiger ward ſie in mir; endlich um mich ſelbſt zu uͤberwaͤltigen, riß ich Dich mit gewaltigenArmen241Armen zuruͤck, und ſchloß Dich an meine Bruſt, und weinte laut; Du weinteſt mit, denn Du glaubteſt, meine Thraͤnen waͤren nur Zeugen meiner Liebe, meiner Beſorglichkeit fuͤr Dich; und ſo band Dich ein bloßer, ſchrecklicher Irr - thum an mich. Haͤtte ich Dir mein Gefuͤhl ge - ſtanden; ſo haͤtteſt Du mich mit Abſcheu zu - ruͤckgeſtoßen, und einen verworfenen Menſchen genannt: Du waͤreſt von dem Augenblicke an mein Feind geworden. Aber jetzt geſteh ich Dir dies Gefuͤhl, weil Du doch immer ſo ſtren - ge Wahrheit verlangſt; wie ſich dieſer ganze Brief in dem verkleinernden Glaſe Deiner Seele abſpiegeln wird, kann ich nicht berechnen. Wer ſich ſelbſt etwas naͤher kennt, wird die Menſchen fuͤr Ungeheuer halten. Lebe wohl.

Lovell. 2r. Bd. Q242

6. Mortimer an Eduard Burton.

Ich vereinige meine mit Amaliens Bitten, um Sie zu bewegen, uns mit Ihrer Schweſter hier auf einige Tage zu beſuchen. Ich finde mich hier außerordentlich gluͤcklich und froh. Ach, lieber Freund, folgen Sie meinem Beyſpiele, verlieben Sie ſich, und heirathen Sie dann, dies iſt die ſchoͤnſte Epoche, das fuͤhl ich jetzt innig, die der Menſch erleben kann. Mag man doch vom Genuſſe der Philoſophie und von den wunderbaren Empfindungen, die uns das Stu - dium der ſchoͤnen Wiſſenſchaften gewaͤhren ſoll, ſprechen, was man will, es giebt immer Au - genblicke im Leben, in denen der Menſch die Leere fuͤhlt, die ihn dabey umgiebt, wie wenig alle ſeine Beſchaͤfftigungen mit ihm ſelbſt zuſam - menhaͤngen. Aber wenn zwey Seelen mit ein - ander verbunden ſind, und der eine den andern mit jedem Tage mehr verſteht, und ſich ihr Band immer feſter ſchlingt, wenn man ſelbſt243 neue Schwachheiten entdeckt, und dabey doch ſieht, wie innig dieſe mit den Vortrefflichkeiten zuſammenhaͤngen, o ſo fuͤhlt man ſich feſt an dieſe Erde gekettet, auf der man vorher nur Gaſt und Fremdling war. Der Baum, der ſchon verdorren will, und den der Gaͤrtner nun ploͤtz - lich in andere fruchtbare Erde ſetzt, ſo daß ſich ſeine Wurzeln mit neuer Kraft ausſtrecken und durch den Boden ſchlagen, dieſem Baume muß ohngefaͤhr ſo zu Muthe ſeyn, wie mir jetzt ge - gen ehedem in meinem freyen Stande war, als ich mich noch fuͤr nichts, als fuͤr mich ſelbſt intereſſirte.

Laͤcheln Sie immerhin uͤber mich, was thut es mir? Nennen Sie mich einen Schwaͤrmer, und ich will Ihnen danken. Zeigen Sie mir den Menſchen, der im Grunde nicht ſchwaͤrmt, wenn er ſich froh und gluͤcklich fuͤhlt.

Ich weiß es ſelbſt recht gut, daß, ſo wenig ich auch eigentlicher enthuſiaſtiſcher Verliebter bin, ich doch ſelbſt nach einigen Monathen noch etwas kaͤlter ſprechen werde, als jetzt; aber wahr - lich blos darum, weil ich mich dann an mein Gluͤck ſchon etwas gewoͤhnt habe, nicht, weil ich es weniger innig fuͤhlen werde. Ach, wir wol -Q 2244len lieber die ganze Unterſuchung fahren laſſen, ſo ſehr der Menſch auch dahin neigt, alle ſeine Empfindungen zu zergliedern, ob ſie es gleich nicht vertragen wollen.

Daß die meiſten Leute in einem bejammerns - wuͤrdigen Irrthume ihre Sinnlichkeit fuͤr hohe Liebe und fuͤr das Ebenbild der Gottheit hal - ten, iſt gewiß, und hat mir ſelbſt ehedem zu manchen witzigen Einfaͤllen Gelegenheit gegeben: aber die Zeit iſt jetzt voruͤber, wo mir der hoͤ - here Menſch nicht denkbar war, der beide Em - pfindungen in eine verbindet, und eben dadurch beyde veredelt. Wenn der Menſch ſich in kei - ner Stunde durch dieſe Verbindung geſtoͤhrt fuͤhlt, dann glaub ich hat er ſeine ſchoͤnſte Vol - lendung als Mann erhalten, er iſt uͤber niedri - ger Wolluſt und uͤber ſchaaler, fein ausgeſpon - nener und langweiliger Zaͤrtlichkeit gleich weit erhaben.

Mein Landſitz begruͤßte uns mit einem der ſchoͤnſten Tage, als wir hieher zogen, und das Wetter iſt ſich ſeitdem faſt gleich geblieben. Ich lerne mich jetzt in die Reize des Landlebens und einer ſchoͤnen Einfoͤrmigkeit ein, die in der Ferne oft ſo langweilig ausſieht, aber nur des -245 wegen, weil ſie nicht wie eine Weyhnachtspy - ramide mit Freuden ausgeputzt iſt, die ins Au - ge fallen; aber der ſtille, leiſe Genuß, der un - ſer Herz ausfuͤllt, ohne daß es ſelbſt der Ge - genſtand unſerer Liebe weiß, dies iſt eigentlich die reinſte Freude dieſer Erde, durch keine Wor - te und durch kein Klapperwerk entweiht. Can - daules fuͤhlte ſich gewiß nicht gluͤcklich, als er durchaus einen Zeugen ſeines Gluͤckes haben wollte: in den meiſten Faͤllen iſt eine ſolche ſtuͤr - mende Prunkgluͤckſeligkeit nur Eitelkeit; wir ſind nur gluͤcklich, damit uns andere beneiden ſol - len. Hinweg damit, und hinweg mit aller Deklamation daruͤber!

Kommen Sie und ſehn Sie mich ſelbſt und mein kleines Paradies um mich her; Neid, mehr zu beſitzen, Widerſtreben gegen eine Eingeſchraͤnkt - heit, die uns doch ſo wohlthaͤtig und noͤthig iſt, dieſe Laſter ſind es, die jeden Menſchen aus ſeinem Paradieſe vertreiben, das er ſonſt unge - ſtoͤrt genießen koͤnnte: ach, und wer einmal uͤber die gluͤckliche Graͤnze gekommen iſt, dem ſtellt ſich auch ein Engel mit einem feurigen Schwerdte entgegen, daß er nicht zuruͤck kann. Unſere vo -246 rige Seeligkeit ſieht dann in der Ferne ſo duͤrf - tig aus, wie mit entblaͤtterten Baͤumen und verdorrten Gebuͤſchen. Leben Sie wohl, Sie ſehn ſchon, daß ich zum Poeten gewor - den bin.

247

7. Amalie Wilmont an Emilie Burton.

Mortimer ſchreibt nach Bonſtreet, und ich will alſo einen Brief an Sie, liebſte Freundin, mit einlegen. Ich bin hier außerordentlich froh und geſund, ich wuͤnſche, daß Sie uns hier be - ſuchten, und mit uns die friſche Luft und an - genehme Gegend genoͤſſen. Kommen Sie, ſo - bald Sie koͤnnen. Ich bin in große Ver - ſuchung gekommen, Ihnen meinen hieſigen Auf - enthalt zu beſchreiben, weil ich gern ſchwatze, wenn ich mich ſo recht gluͤcklich fuͤhle.

Sehn Sie, vor unſerm Hauſe iſt eine große Allee von ſchoͤnen Baͤumen, die weit hinunter gehn, bis ſie ſich in ein angenehmes Waͤldchen verlieren; unter den Baͤumen trinken wir des Morgens Thee, und gehn dann ſpazieren. Auf der andern Seite des Hauſes hat man eine ſchoͤne weite Ausſicht uͤber Wieſen und Ebenen, die alle ſo friſch, wie hingegoſſen da liegen: ich kenne ſchon alle Doͤrfer in der Naͤhe, und ſo248 weit mein Auge ſieht, bin ich nun zu Hauſe. Bey unſrer Wohnung iſt zugleich ein ſehr ſchoͤ - ner Garten mit Teichen und niedlichen Bruͤcken, alles ſo huͤbſch hell und natuͤrlich, nicht mit Felſen vollgepackt, oder voll aͤngſtlicher dunkler Alleen bergauf und ab, die einen nur ermuͤden und aͤngſtigen, und aus denen man ſich oft gar nicht wieder herausfinden kann; nein, dieſer Garten ſieht recht aus wie das Leben eines gluͤck - lichen Menſchen; dunkle Alleen mit hohen Baͤu - men, die ſich oben wie das Dach einer Kirche woͤlben, die wie ſeine ernſten ſchoͤnen Tage da - ſtehu, in denen er ſich und die Zukunft jenſeits des Grabes denkt; Blumenſtuͤcke, in denen ſich immer die Winde jagen, und blaue und rothe Schmetterlinge mit ihren breiten Fluͤgeln ſich herumtreiben, das Bild ſeiner launigen Stun - den, in denen ohne Zuſammenhang Eine frohe Empfindung die andre draͤngt; kleine Gebuͤſche, die zerſtreut wie die heitern Tage umher ſtehen, wo man ſich ſchon im voraus auf einen andern freut, der ſo nahe iſt, daß man ihn und viele andre bequem mit den Augen abreichen kann.

Und denn die Menſchen hier! Ich gehe Sonntags mit großer Andacht in die Kirche,249 was ich in der dumpfen Stadt niemals konnte. Dort war mir immer, als wenn ich von Einem Gefaͤngniſſe in das andre ginge. Aber hier iſt alles, ſelbſt die Art, wie man zu Gott be - tet und ihm dankt, weit natuͤrlicher; man kann ſich hier die alten Erzaͤhlungen von der großen Froͤmmigkeit, von der hohen Liebe der Men - ſchen zu Gott und unter einander recht lebhaft denken. O liebe Freundinn! ich fuͤhle, daß ich hier nach und nach weit beſſer werde, als ich ſonſt war, ich lerne die Menſchen mehr ken - nen, und liebe ſie mehr, ich bin nicht ſo eitel auf mich, wie wohl ſonſt in manchen Stunden, weil man ſich gar zu leicht von ſeinen Bekann - tinnen drehen und verdrehen laͤßt, aber ich ach - te mich hier in der freyen Natur mehr, und bin, wenn ich ſo ſagen darf, manchmal ordent - lich wie ſtolz auf mich. Ich ſollte meynen, der gluͤckliche Menſch muͤßte ſich immer ſo fuͤh - len. In den erſten Tagen war mir alles hier ſo einſam, von Eltern und vom Bruder entfernt, alles kam mir, wie eine Wildniß vor. Mortimer, der viel gereiſt iſt, und ſich nicht mehr erinnern kann, wie lieb man das Haus hat, wo man gebohren iſt, laͤchelte250 uͤber mich, und dies truͤbſelige Gefuͤhl verlohr ſich auch ſehr bald.

Was mich am meiſten froh macht, iſt, daß ich nun doch oft Gelegenheit habe, manchen Armen zu troͤſten, und auf Tage gluͤcklich zu machen. Ach, wie viel hab ich oft in Lon - don gelitten, wenn ich aus dem Fenſter, aus dem warmen Zimmer das Elend der Menſchen ſah, und gern helfen wollte und nicht konnte. Ich verſchenkte oft alles, was ich hatte, und ſchaͤmte mich innerlich, wenn ich berechnete, wie viel mir mein unnuͤtzer Putz, Tapeten, Spitzen und dergleichen Kindereyen koſteten, die ich noch alle haͤtte entbehren koͤnnen. Ich wein - te oft, wenn ich nichts mehr wegzugeben hatte, und gelobte kindiſch, wie viel ich einſt thun wollte, wenn ich einmal durch einen Zufall reicher wuͤrde. Jetzt ſind mir die Gemaͤhlde des Jammers aus den Augen geruͤckt, und ich bilde mir ein, daß ploͤtzlich alle getroͤſtet ſind, und im Ueberfluſſe leben, weil ich ſie nicht mehr vor mir ſehe. Hier hab ich freyere Hand, weil ich mehr dazu anwenden darf, und weniger Ge - genſtaͤnde meines Mitleids finde. Es iſt das ſchoͤnſte Gefuͤhl, einen Armen wieder auf einen251 Tag beruhigt zu haben, der wie eine lange Wuͤſte vor ihm lag, durch die er noch wandern[muͤßte]. Die Maͤnner ſind doch ſeltſame Weſen! Mein Mortimer gehoͤrt nicht zu den haͤrteſten, und doch ſcheint er in manchen Stunden fuͤr die kleinern Empfindungen ganz gefuͤhllos. Ich hatte neulich einen ordentlichen Streit mit ihm. Schon ſeit einigen Wochen trieb ſich hier eine arme Franzoͤſinn herum, ſie ſchien aus einem guten buͤrgerlichen Hauſe, und erzaͤhlte viel von ihren Eltern, die ihr fruͤh in der Jugend ge - ſtorben waren, und von mancherley Ungluͤcksfaͤl - len, die ſie ſeitdem erduldet hatte. Ich will gerne glauben, daß manches davon erdichtet war; aber verdient ein Ungluͤcklicher darum we - niger unſer Mitleid, weil er es nicht jedem Fremden vertrauen will, durch welche Schwaͤ - chen er ſo ungluͤcklich ward? Ich dachte mich in die Lage der Frau hinein, und wollte ſie in meine Dienſte nehmen, aber Mortimer ſetzte ſich dagegen, und zwar aus keinem beſſern Grun - de, als weil ſie ausgezeichnet haͤßlich und dabey einaͤugig ſey, er ſagte, daß er einem ſolchen Weſen nie trauen koͤnne. Bedenken Sie, liebe Emilie, blos weil ſie haͤßlich war! Aber252 ich gab mich nicht eher zufrieden, bis mein klei - ner Eigenſinn die Oberhand behalten hatte; und ſo iſt jetzt die Duͤpuͤis, oder Charlotte, wie wir ſie auch nennen, Aufwaͤrterinn in meinem Hau - ſe. Wollten wir alle Phyſiognomien, die uns nicht anziehen, als fremde, widerwaͤrtige Weſen betrachten, wie oft wuͤrden wir da un - gerecht ſeyn! Aber ich muß aufhoͤren zu ſchwatzen; leben Sie wohl, theure Freundinn.

253

8. Eduard Burton an Mortimer.

Ich beneide Ihnen Ihr ruhiges, anſpruchloſes Gluͤck, und wuͤnſchte, ich koͤnnte ein Zeuge da - von ſeyn, aber die Krankheit meines Vaters, die mit jedem Tage bedenklicher wird, vernich - tet alle aͤhnliche Pla[ͤ]ne und Entwuͤrfe. Sein muͤrriſches Weſen, mit ſeiner Schwachheit ver - bunden, der Groll, den er auf die ganze Welt geworfen hat, verderben mir alle Laune; indeſ - ſen trag ich dieſe Schwaͤchen des Alters gern, und ſehe alles nur als eine nothwendige Aeuße - rung ſeiner Krankheit an. Aber dann hat mir noch ein Brief von Lovell ſo alle Munter - keit, alle Energie des Herzens genommen, daß ich mich recht innig bedraͤngt fuͤhle, von tau - ſend Empfindungen angefallen, die ich bisher gar nicht kannte. Ich bemerke jetzt zuerſt einen ungeheuren Irrthum, der mich durch mein gan - zes Leben begleitet hat, der jetzt zum erſtenmale in ſeiner ganzen Graͤßlichkeit auf mich zutritt; ich fuͤhle es, daß ich bisher einſam gelebt habe,254 und meinen Schatten fuͤr meinen Freund hielt, und ihn liebte; ſind wir denn alle nicht vor die - ſer Selbſttaͤuſchung geſichert, daß wir unſere Empfindungen in andre uͤbertragen, und ſo uns nur ſelbſt aus ihnen herausleſen? Ich lege Ihnen Lovells Brief bey; bis jetzt konnte ich mir ihn bey jedem Briefe recht lebhaft vorſtel - len, ich ſah im Geiſte alle den jugendlichen Leichtſinn, gepaart mit der Reue und einer in - nern Langeweile, wie er dann von neuem noch lauter in ſeine Harfe ſchlug, und mir noch poe - tiſcher ſchrieb, um ſich ſelbſt zu betaͤuben; ich ſah jede Mine und Geberde, und nahm darum nicht alles ganz ſo ernſthaft, wie es auf dem Papiere ſtand. Aber ploͤtzlich iſt mir Lovell ganz fremd geworden, er hat gleichſam die ganze Lar - ve abgenommen, und erſcheint nun in ſeiner na - tuͤrlichen Geſtalt: dieſer Menſchenhaß, dieſe Ver - achtung ſeiner Selbſt, die nur aus[Bewußtſeyn] der Verworfenheit entſtehen kann, dies Geſtaͤnd - niß o ſagen Sie, wuͤrden Sie fuͤr einen ſol - chen Menſchen je einen freundſchaftlichen Zug empfinden koͤnnen? Dieſen Brief kann ich unmoͤglich beantworten, denn ich wuͤrde keine Worte finden koͤnnen; und wozu auch die Ant -255 wort, da ich es innig fuͤhle, daß er mich ganz und auf ewig von Eduard getrennt hat? Eine Frau, die ihren Mann geliebt hat, kann den Scheidebrief nicht mit einer tieferen Ruͤhrung betrachten, als mit der ich dieſen Brief an - ſehe. Oder, ſagen Sie, Mortimer, ſollte es moͤglich ſeyn, daß dies nur ein Gemaͤhlde des Menſchen ſey, und daß jeder nur die Seiten zeige, die der Zufall bey ihm herausgetrieben hat? Aber nein, es iſt nicht moͤglich, koͤnnt ich mich davon uͤberzeugen, o ſo wuͤrd ich mich ſtill und beſchaͤmt niederſetzen, und heiße Thraͤ - nen daruͤber vergießen, daß ich ein Menſch bin, und dann ſterben. Aber nein, es iſt nicht moͤg - lich, kein aͤhnliches Gefuͤhl hat ſich je in mir geregt, nein, die Menſchen ſind beſſer, denn ich bin beſſer, und welche Anmaßung, daß ich eine Ausnahme vom Geſchlechte ſeyn ſollte? Und doch will immer noch die Liebe gegen Lo - vell wieder zu mir zuruͤck! Ich bin voller Schmerzen und Unruhe; leben Sie recht wohl; den beſten Gruß an Ihre Gattinn.

256

9. William Lovell an Roſa.

Sie haben Recht, Roſa, daß uns das Unge - woͤhnliche und Seltſame ſehr oft naͤher liegt, als wir gemeiniglich glauben, ja, daß es oft mit dem Gewoͤhnlichen ganz daſſelbe iſt, nur daß es ſich hier in einer andern Beziehung zeigt, als dort. Ich habe ſo eben den Brief Balders vor mir, und ver - gleiche ihn mit einigen Ideen meines Vaters, die er kurz vor ſeinem Tode niederſchrieb, und ich finde, daß beide daſſelbe nur mit andern Worten ſagen, daß ich alles ſelbſt ſchon außerordentlich oft gedacht, nur niemals ausgedruͤckt habe. Die verſchiedenartigſten Meinungen der Menſchen, zwiſchen denen ungeheure Kluͤfte befeſtigt ſchei - nen, vereinigen ſich wieder im Gefuͤhle, die Worte, die aͤußern Kleider der Seele, ſind es nur, die ſie verſchieden erſcheinen laſſen. Unſre kuͤhnſten[Gedanken], unſre frechſten Zweifel, die alles vertilgen, und gleichſam durch eine unge - heure Leere ſtreifen, durch ein Land, das ſie ſelbſt entvoͤlkert haben, beugen ſich wieder untereinem257einem Gefuͤhle, das die verlaßne Wuͤſte wieder anbaut. Die verſchiedenen Gedankenſyſteme der Menſchen ſind nur zufaͤllige Kunſtwerke, die je - der ſich ſo oder ſo aufbaut, und mit dieſen oder jenen Zierrathen aufputzt, je nachdem es ihm gutduͤnkt. So wie dieſer die Tragoͤdie, jener die Komoͤdie liebt, ein andrer das lyriſche, ein andrer das didaktiſche Gedicht; ſo macht ſich der eine die ſtoiſche, der andre die akademiſche oder epikuriſche Philoſophie zu eigen; aber alles ſind nur die Außenwerke des Menſchen, das Gefuͤhl iſt er ſelbſt, das Gefuͤhl iſt die Seele, der Geiſt, die Philoſophie der Buchſtabe die - ſes Geiſtes; todte Zeichenſchrift, wenn der Menſch ſich nicht am Ende uͤber alle Philoſo - phie und Syſteme, ſelbſt uͤber das Syſtem der Syſtemloſigkeit erhebt. Dieſes Gefuͤhl ſtoͤßt ſo Zweifel als Gewißheit um, es ſucht und bedarf keiner Worte, ſondern befriedigt ſich in ſich ſelbſt, und der Menſch, der auf dieſen Punkt gekom - men iſt, kehrt zu irgend einem Glauben zuruͤck, denn Glaube und Gefuͤhl iſt eins: ſo wird ſelbſt der wildeſte Freygeiſt am Ende religioͤs, ja er kann ſelbſt das werden, was die Menſchen ge - woͤhnlich einen Schwaͤrmer nennen, und wobeyLovell. 2r Bd. R258ſich die meiſten, die das Wort ausſprechen, nichts denken. Irgend ein Glaube draͤngt ſich der Seele auf, bey allen Menſchen ein und eben derſelbe, nur erſcheint er verſchieden, weil ihn die grobe, unbeholfene Sprache entſtellt. Und wenn es kein Gefuͤhl in uns geben kann, das uns nicht auf Wirklichkeit hinweiſt, das nicht mit dem wirklichen Dinge gleichſam kor - reſpondirt, ſo laͤßt ſich aus dem Hange zum Wunderbaren gewiß weit mehr folgern, als man bißher gethan hat. Das Bewußtſeyn unſrer Seele und der tiefe innige Wunſch nach Un - ſterblichkeit, das Gefuͤhl, das uns in ferne un - bekannte Regionen hinuͤber draͤngt, ſo daß wir uns eine Nichtexiſtenz gar nicht denken koͤnnen, dieſe Gefuͤhle ſprechen am lauteſten und innig - ſten fuͤr das Daſeyn der Seele, ſo wie fuͤr ihre Fortdauer. Aber wenn ich nun dieſen uͤber - zeugendſten von allen Beweiſen auch auf die Exiſtenz der Geſpenſter, auf das Daſeyn von ungeheuren Wundern und Schrecklichkeiten an - wenden wollte? Und laſſe ich ihn hier fallen, ſo faͤllt er dort von ſelbſt. Und was nennen wir denn Wunder? Die Menſchen bezeichnen damit blos das Ungewoͤhnliche, nicht das an259 ſich Wunderbare, denn in manchen Stunden koͤnnt ich mich vor einem Baume, einem Thie - re, ja vor mir ſelbſt innerlich entſetzen. Wer ſind die fremden Geſtalten, die mich umgeben und ſo bekannt mit mir thun? Mein Auge hat ſich von meiner Kindheit an ſie gewoͤhnt, und mein Sinn ſich vertraulich an ihre Formen ge - ſchmiegt; aber wenn ich dieſe Bekanntſchaft auf - hebe, und ſie mir als neu und zum erſtenmale ge - funden vorſtelle? O und wer bin ich ſelbſt? Wer iſt das Weſen, das aus mir heraus ſpricht? Wer das Unbegreifliche, das die Glieder mei - nes Koͤrpers regiert? Oft kommt mir mein Arm, wie der eines Fremden entgegen; ich erſchrak neulich heftig, als ich uͤber eine Sache denken wollte, und ploͤtzlich meine kalte Hand an mei - ner heißen Stirn fuͤhlte. Ich erinnre mich aus meiner Kindheit, daß uns die weite Natur mit ihren Bergen in der Ferne, mit dem ho - hen gewoͤlbten blauen Himmel, mit den tauſend belebten Gegenſtaͤnden wie mit einem gewalti - gen Entſetzen ergreifen kann; dann ſtreift der Geiſt der Natur unſerm Geiſte voruͤber, und ruͤhrt ihn mit ſeltſamen Gefuͤhlen an, die wan - kenden Baͤume ſprechen in verſtaͤndlichen ToͤnenR 2260zu uns, und es iſt, als wollte ſich das ganze Gemaͤhlde ploͤtzlich zuſammen rollen, und das Weſen unverkleidet hervortreten und ſich zeigen, das unter der Maſſe liegt und ſie belebt; wir wagen es nicht den großen Moment abzuwarten, ſondern entfliehn, ohne hinter uns zu ſehen, und halten uns an einer von den tauſend Kin - dereyen feſt, die uns in den gewoͤhnlichen Stun - den intereſſiren. Oft iſt mir jetzt, als woll - te das Gewand der Gegenſtaͤnde entfliehen wie von einem Sturmwinde ergriffen und ohnmaͤch - tig faͤllt mein Geiſt zu Boden, und die Gewoͤhn - lichkeit kehrt an ihre Stelle zuruͤck. In uns ſelber ſind wir gefangen und mit Ketten zuruͤck - gehalten; der Tod zerreißt vielleicht die Feſſeln, und die Seele des Menſchen wird gebohren.

Aber ſagen Sie mir, Roſa, warum mir ſonſt dieſe Gedanken fern blieben, ob ſie gleich in mir lagen? Warum ich Balders Worte da - mals nicht verſtand, ob ſie ihm gleich im Stil - len mein Geiſt nachſprach, ſo wie er ſie ſchon lange vor ihm ſo geſprochen hatte? Warum ſind wir uns ſelbſt oft ſo fremd, und das Naͤchſte261 in uns ſo fern? Wir ſehn oft in uns hinein, wie durch ein kuͤnſtlich verkleinerndes Glas, das die Hand, die ich mir vorhalte, tauſendma[l]kleiner macht, und wie auf hundert Fuß von mir entruͤckt.

262

10. Roſa an William Lovell.

Ich kann Ihre Frage nicht ſo beantworten, lieber Freund, daß Sie mit meiner Antwort zufrieden ſeyn werden. Die Gedanken und Em - pfindungen drehen ſich im Menſchen wie zwey Zirkel herum, die ſich in Einem Punkte beruͤh - ren, an dieſem wiſſen wir nicht zu unterſchei - den, was Idee und Gefuͤhl iſt, und wir halten uns dann fuͤr vollendet. Die Zirkel drehn ſich weiter, und wir glauben uns dann wieder ver - ſtaͤndiger, weil wir beydes zu ſondern wiſſen. Der Menſch iſt ſich ſelbſt ſo raͤthſelhaft, daß er entweder gar nicht uͤber ſich nachdenken, oder aus dieſem Nachdenken ſein Hauptſtudium ma - chen muß: wer in der Mitte ſtehen bleibt, fuͤhlt ſich unbefriedigt und ungluͤcklich. Ich ſinne oft dem Gange meiner Ideen nach, und ver - wickele mich nur um ſo tiefer in dieſe Labyrin - the, je mehr ich nachſinne. So viel iſt gewiß, daß wir gewoͤhnlich viel zu ſehr den gegenwaͤr - tigen Moment vor Augen haben, und daruͤber263 unſer ganzes voriges Leben außer Acht laſſen; die gegenwaͤrtige Empfindung verſchlingt alle fruͤheren, und die jetzige Idee macht, daß uns alle vorhergehenden nicht mehr als Ideen, ſon - dern als kindiſche ungeſchickt entworfene Skitzen erſcheinen. Daher laͤugnen wir uns ſo oft un - ſre innerſte Ueberzeugung ab; und ſo wie der Moͤrder den noch halbbelebten Leichnam aͤngſt - lich mit Erde bedeckt, ſo verſcharren wir muth - willig Empfindungen, die ſich in uns zum Be - wuſtſeyn empor arbeiten wollen. O, wenn wir doch Teleskope erfinden koͤnnten, um in das tiefe Firmament unſrer Seele zu ſchauen, die Milchſtraße der Ahndungen zu beobachten, die nie unſerm eigentlichen Geiſte naͤher ruͤcken, ſondern wie Nebelflor die Sonne in uns ver - dunkeln, ohne daß man ſagen kann: jetzt ge - ſchieht es!

Die Traͤume ſind vielleicht unſre hoͤchſte Phi - loſophie, die Schluͤſſe der Schwaͤrmer ſind fuͤr uns deswegen vielleicht unverſtaͤndlich und luͤcken - voll, weil wir es nicht begreifen, wie in ihnen Vernunft und Gefuͤhl vereinigt iſt. So koͤmmt mir das jetzt ehrwuͤrdig vor, was ich noch vor einem halben Jahre belachte, und ich moͤchte264 jetzt manchmal uͤber das laͤcheln, was mir da - mals ſo wichtig erſchien. Es iſt nichts in uns Feſtes, lieber William, mit unſrer veraͤn - derten Nahrung werden wir andere Menſchen; je nachdem unſer Blut ſchnell oder langſam fließt, ſind wir ernſthaft oder luſtig; ſollten alle dieſe Erſcheinungen von gar keinem Geſetze in oder außer uns abhaͤngen, wie wenig Werth haͤtten dann die jedesmaligen Reſultate! Doch oft ſcheint das aͤußerlich Zufall, was eine lange berechnete innerliche Nothwendigkeit war; und ſo gleicht der Menſch vielleicht den Trauerſpie - len ihres Shackſpear, wo, wie Sie mir ſelber oft geſagt haben, der Schluß ſo oft von einem ploͤtzlich eintretenden Vorfalle abzuhaͤngen ſcheint, da er doch ſchon in den erſten Verſen des Stuͤcks, in allen Kombinationen gegruͤndet liegt, und daher nothwendig war.

Wir uͤberſehn immer nur die Stelle unſers Lebens, auf der wir ſtehn, und alle unſre Ge - danken, Empfindungen und Handlungen ſind nur auf dieſer Stelle einheimiſch, jeder ſteht anders, alle Geſinnungen brechen ſich in verſchiedenen265 Richtungen, und laufen nur fuͤr den gerade aus, in dem ſie ſind; daher wollen wir, wenn wir nichts anders ſeyn koͤnnen, nachſichtig ſeyn, und nicht den Nachbar beurtheilen und tadeln, der uns von unſerm Standpunkte vielleicht in einer ſeltſamen Verkuͤrzung erſcheint.

266

11. William Lovell an Roſa.

Es muͤßte nichts ſchoͤner ſeyn, als ſich ſelbſt recht genau kennen zu lernen, und, lieber[Freund], wenn man ſich recht fleißig beobachtet, warum ſollte es der Menſch nicht auch hierin zu einer gewiſſen mechaniſchen Fertigkeit bringen koͤnnen, wie in ſo manchen andern Sachen, die uns doch ſo durchaus geiſtig vorkommen? ſo daß wir am Ende eine Feſtigkeit des Blickes erhal - ten, der die ungewiſſen, flatternden Geſtalten feſt und ſtehend werden laͤßt. Mir ſind wenig - ſtens ſeit einiger Zeit tauſend Sachen aus den fernſten Jahren, aus den verworrenſten Gemuͤths - ſtimmungen eingefallen, an die ich bisher ent - weder gar nicht dachte, oder ſie mir doch nicht ſo deutlich aus einander ſetzen konnte. Man ſteigt vielleicht immer hoͤher, alles erſcheint dann immer mehr als Zufaͤlligkeit, was wir jetzt als unſer Weſen betrachten, bis wir uns unſerm eigentlichen Selbſt immer mehr naͤhern, je mehr wir unſer jetziges Selbſt aus den Augen ver -267 liehren. Wenn ich manchmal in der Abend - daͤmmerung ſitze und uͤber mich ſinne, da iſt es manchmal, als ſchwingt ſich mir etwas im Her - zen empor, ein Gefuͤhl, das mich uͤberraſcht und erſchreckt und dabey doch ſo ſtill und ſee - lig befriedigt: ich greife dann mit dem Gedaͤcht - niß, wie mit einer Hand darnach, um es mir ſelber aufzubewahren. Aber ſonderbar, Roſa, es iſt in mir, und verſchwindet mir dann doch gaͤnzlich wieder, ſo daß ich ſeiner nicht habhaft werden kann. Alle meine Gedanken ſtehn mir zu Gebot, alle meine Erinnerungen und An - ſchauungen; aber dies iſt ein Gefuͤhl, das fei - ner und geiſtiger iſt, als alles uͤbrige; aber was iſt es und woher koͤmmt es und wohin geht es, wenn es nicht mehr in mir bleibt? Sollten dieſe Zuſtaͤnde vielleicht eben ſo in uns ſeyn, wie das Sonnenlicht in einer glaͤſernen Flaſche, das koͤmmt und geht, ſo wie die Wolken ziehn; ſie kann nichts dazu thun, und bildet ſich doch vielleicht ein, alles waͤren nur Erleuchtungen, die ſie willkuͤhrlich in ſich ſelbſt hervorbraͤchte.

Wie mag es uͤberhaupt wohl um unſre Will - kuͤhr ſtehn? Wer weiß, was es iſt, was uns regelt und regiert, welcher Geiſt, der außer uns268 wohnt, und nur allmaͤchtig und unwiderſtehlich in uns hineingreift. Aus meinen Kinderjahren fallen mir manche Tage ein, wo ich unaufhoͤr - lich etwas Graͤuliches und Entſetzliches denken mußte, wo ich ſtatt meinem ſtillen Gebete Gott mit den graͤßlichſten Fluͤchen laͤſterte und daruͤber weinte, und es doch nicht unterlaſſen konnte, wo es mich unwiderſtehlich draͤngte, meine Ge - ſpielen zu ermorden, und ich mich oft ſchlafen legte, blos um es nicht zu thun, nun Roſa, damals war ich gewiß unſchuldig und unverdor - ben, und doch war dieſe Entſetzlichkeit in mir einheimiſch, was war es denn nun, das mich trieb, und mit graͤßlicher Hand in mei - nem Herzen wuͤhlte? Mein Wille und mei - ne[Empfindung] ſtraͤubten ſich dagegen, und doch gewaͤhrte mir dieſer Zuſtand wieder innige Wolluſt.

O wir ſollten uͤberhaupt zu unſern Kinder - jahren in die Schule gehn, und das lernen, was wir ſo gern verlernen, und es dann mit nichtiger Eitelkeit die Ausbildung unſerer Seele nennen. Es iſt, als wenn noch ein fluͤchtiger Schein einer fruͤheren Exiſtenz in die zarten Kinderjahre hineinſpiegelte, wie der Widerſchein269 eines Glanzes, bedeutend und doch raͤthſelhaft; wie Toͤne klingt es heruͤber, durch die der Wind faͤhrt, die einzeln ſchallen, und in denen man doch Zuſammenhang wahrnimmt.

Als Kind traͤumt ich einſt, die ganze Welt ginge unter, und aus allen den ungeheuren Maſ - ſen ſchmolzen einzelne Toͤne heraus, die ſich nun durch den leeren Raum ſpielend bewegten und um einander gaukelten, und ſich verſchlan - gen und bunt durch einander wuͤhlten. Bald verſank der helle Ton in den tiefern, und denn erklang ein wunderbares Gemiſch; bald ſpaltete ſich ein dumpfer tiefer Klang, wie ein Farben - ſtrahl in viele helle Streifen, die wie Sonnen - ſtrahlen hochklingend ausfuhren, und wieder in den muͤtterlichen Ton zuruͤckfielen. Ich hoͤrte das wunderbarſte Konzert, das mich in der un - geheuren Leere mit Schwindel erfuͤllte, ſo daß ich bald nichts mehr hoͤrte, und in einen tiefen bewußtloſen Schlaf verſank.

Ich weiß, daß dies fuͤr die meiſten Men - ſchen Unſinn iſt, aber vielleicht ließe ſich in die - ſer Ahndung der Wahrheit (denn das ſind ge - wiß immer dieſe Spiele der Phantaſie) ein ſehr tiefer Sinn erforſchen, wenn meine Beobach -270 tung eben ſo fein waͤre, als der Sinn, der dieſe Erſcheinung hervorbrachte, wenn ich nicht von den Armen des Irdiſchen zu feſt gehalten wuͤr - de, und ſich immer wieder neue Bilder zwiſchen mein Auge und den beobachteten Gegenſtand ſchoͤben: kurz, wenn ich mich in einer eben ſo gluͤcklichen Himmelsverklaͤrung, in einem aͤhn - lichen Traume kommentiren koͤnnte.

271

12. Karl Willmont an Emilie Burton.

Erſchrecken Sie nicht, ums Himmels willen nicht, theuerſte Freundinn, wenn Sie dieſen Brief eroͤffnen und die Unterſchrift gewahr wer - den; leſen Sie ihn lieber zu Ende, und thun Sie, als wuͤßten Sie nicht von wem er kaͤme; o erſtaunen Sie wenigſtens ſo ſehr, daß Sie in Gedanken immer weiter leſen, und ſich nur beym Schluſſe von Ihrer Verwunderung erho - len koͤnnen. Hoͤren Sie mich wider Ihren Wil - len, ſo wie ich wider meinen Willen unaufhoͤr - lich an Sie denken muß. Und doch, was werde ich Ihnen nun ſagen? Meine Feder und mein Kopf ſtockt; ich hatte keine Ruhe, ich wurde hin - und hergetrieben, und eine unbekannte Gewalt mahnte mich, an Sie zu ſchreiben, nun gut, und hier ſitze ich, und weiß wahrhaftig nicht eine Sylbe, nach - dem ich den Anfang niedergeſchrieben habe.

Meine Gedanken wandern von Oſten nach Weſten und von Suͤden nach Norden, und gehn272 nach allen Richtungen, und kommen aus allen Richtungen, wie die Ameiſen in den Stock meines Kopfes zuruͤck, und alle ſchleppen ſo ſchwer und muͤhſam, ich denke wunder welche neue Syſteme und Erfindung, welche unendliche Rechnungen und Aufloͤſungen von algebraiſchen Raͤthſeln ſie mit ſich fuͤhren, die Entdeckung vielleicht, die Meereslaͤnge zu meſſen, oder den Luftball zu dirigiren, und wenn ich ſie nun am Eingange muſtere, ſo ſchleppt ſich dieſer mit ihrem Bilde, dieſer mit einer lahmen Son - nette, jener mit einem kuͤnſtlichen Seufzer, die - ſer mit einer Anekdote, die Sie irgend einmal erzaͤhlt haben, ach, und koͤnnen Sie mir et - was ſchoͤners bringen? Ich lege alles auf den Winter und die theure Zeit hin, und denke mich in der Einſamkeit daran zu erquicken. Ach, eine bitterſuͤße Erquickung!

Ich moͤchte manchmal alle Leute, die das Ungluͤck und unſre verdammten Verhaͤltniſſe er - funden haben, zum Henker wuͤnſchen! Muͤſſen wir denn in dieſer oͤden lumpigen Welt noch ſo thun, als wenn wir wunder wie viel gewonnen haͤtten, wenn man uns die ſchwarzen Brand - ſtellen zeigt, an denen vorher ſo herrliche Baͤumeſtanden?273ſtanden? Es iſt jetzt in der ganzen Welt ein ungluͤckliches Jahr, ein Mißwachs an Gluͤck, das Unkraut, das zwar auch Bluͤthen hat, hat den Weitzen verdraͤngt, und keiner von den Arbeitern will es merken, und wenn einer hie und da uͤber die herrliche Erndte die Achſeln zuckt, ſo wird er noch obenein fuͤr einen Feld - dieb erklaͤrt, und mit Hunden gehetzt und mit Verwuͤnſchungen verfolgt.

Ich reiſte von London hieher, um ruhiger zu werden, und ich bin nun unzufriedener, als je. O Emilie,[verzeihen] Sie den rauhen Ton meines Briefes, verzeihen Sie den ganzen Brief, ach verzeihen Sie mir, daß ich ſo un - beſchreiblich an Ihnen hange.

Wir ſprechen taͤglich von Ihnen und von Ihrem lieben Bruder, wir erſetzen uns durch haͤufige Erzaͤhlungen von Ihnen Ihre Gegen - wart, ſo gut wir es koͤnnen: aber ich denke leider nur deſto oͤfter an Sie, je mehr von Ih - nen geſprochen wird, um ſo mehr fuͤhl ich Ihre Entfernung.

Wir pflanzen und ſaͤen im Garten, und ha - ben alle eine gluͤckliche Hand. Meine Schwe - ſter wird hier ganz zur Baͤuerinn, und lebt inLovell. 2r Bd. S274ihren Stauden und Blumen, und pflegt jeder mit einer muͤtterlichen Sorgfalt; ich ſuche in - deß von einem Ende des Gartens zum andern, im Felde und im berachbarten Walde ein Et - was, das ich ſelbſt nicht kenne; ich ſtrebe Sie zu vergeſſen, und mich Ihrer recht lebhaft zu erinnern. Neulich ſaͤeten wir alle Kreſſe, und recht zierlich die Nahmen unſrer ganzen Fami - lie; ich ſaͤete ein E, und gab vor, es ſey Ihr Bruder Eduard, Ihnen aber will ich geſtehn, daß es Emilie war, und ſehn Sie meine Freu - de: mein E ſteckte zuerſt ſeine kleinen gruͤnen Koͤpfchen aus der lockern Erde hervor, und ſah ſich nach mir um, und nun ſteht es in voller friſcher Gruͤne, ſchoͤn geſchlungen und ſanft; ich werde ſchon ſorgen, daß es nicht abgeſchnitten werde, ſondern mir einbilden, die kleinen Stau - den lernen Ihren Nahmen ſaͤuſeln, wenn ſie groͤßer werden.

Wie kindiſch Ihnen mein ganzer Brief vor - kommen mag! Ich ſchaͤme mich, denn es iſt gewiß der ſchlechteſte, den ich in meinem Leben geſchrieben[habe], und daß der nun gerade in Ihre Haͤnde gerathen muß!

Es wird Abend, und mein Truͤbſinn nimmt275 zu, je mehr die Sonne hinuntergeht; o noch eine Bitte, theuerſte Freundinn, wenn Sie[die - ſen] Brief zu Ende geleſen haben, ſo wuͤrdigen Sie mich einer kleinen Antwort, wenn es auch nur einige Worte ſind, die Sie meiner Schwe - ſter einlegen, damit ich doch ſo ſtolz ſeyn kann, daß ich etwas von Ihrer Hand beſitze, das ein - zig und allein an mich gerichtet iſt.

Ich ſiegle ſchnell, und ſchicke den Brief fort, damit ich mich nicht von neuem ſchaͤme.

S 2276

13. Emilie Burton an Karl Willmont.

Ich fuͤhle es zwar recht gut, daß ich nicht ſchreiben ſollte, allein es iſt derſelbe Fall, wie mit Ihnen, ich thu es wider meinen Willen. Lieber, ſeltſamer Freund, warum machen Sie ſich muthwillig Ihr Leben ſo unruhig und freu - denleer? Wenn ich Sie uͤberfuͤhren koͤnnte, daß Sie unrecht haben, ſo ſollte mich ein ſehr lan - ger Brief gar nicht gereuen, aber ich glaube, daß Sie ſich ſelbſt alles eben ſo gut und noch beſſer ſagen, was ich Ihnen ſagen koͤnnte, da - her iſt meine Weisheit uͤberfluͤßig. Es iſt zwar ſchon eine alte Bemerkung, daß die Menſchen nie ſo ſind, wie ſie ſeyn ſollten und koͤnnten; allein verſuchen Sie es einmal, dieſe Bemer - kung durch Ihre Handlungen zu widerlegen, und Sie werden finden, daß es weit leichter iſt, als man gemeiniglich glaubt. Wenn ich muͤnd - lich mit Ihnen ſprach, waren Sie oft gutmuͤ - thig genug, mir Recht zu geben und zu thun, als hielten Sie ſich fuͤr uͤberzeugt, aber ich277 wette, daß Sie jetzt, indem ich Sie nicht ſehe, die Achſeln uͤber mich zucken. So ſind die Maͤnner, ihre Freundſchaft iſt Galanterie, und dieſe Galanterie verbietet ihnen, offenherzig zu ſeyn, weil ſie uns fuͤr ſo thoͤrigt und ſchwach halten, daß wir nur Schmeicheleyen und Kom - plimente ertragen[koͤnnen].

Mein Vater iſt ſehr ſchwach, und ich bin ſehr um ihn beſorgt: dieſer Kummer hat mir alle gute Laune geraubt.

Sehn Sie, wie freygebig ich bin! Sie ver - langten nur einige Worte,[und] ich ſchicke Ih - nen einen ganzen Brief, der noch uͤberdies mo - raliſchen Inhalts iſt. Gruͤßen Sie Ihre lie - be Schweſter, und leben Sie recht wohl.

278

14. Willy an ſeinen Bruder Thomas.

Lieber Bruder, mir koͤmmt nun unſer liebes England ſchon ganz nahe vor, ſo weit es mir auch bey meiner erſten Reiſe war. Ich bin jetzt ſchon wieder in Paris, und meine uͤbrige Reiſe iſt mir nur noch wie ein Traum. Ach lieber Bruder, es war mir alles recht ſonderbar, als ich wieder durch dieſelben Gegenden und Stein - gebirge reiſte, durch die ich mir meinem Herrn Lovell gefahren bin; oft war ich ſo in Gedan - ken, daß ich meinte, ich reiſe noch mit ihm, und dann war ich ſo zutraulich und behende mit dem Franzoſen, wie mit meines gleichen. Ich wurde recht betruͤbt, wenn ich dann beym hel - len Scheine der Lichter das fremde Geſicht ſah, und ich hatte dann ein ordentliches Heimweh nach meinem Herrn, wenn er mich auch nicht mehr liebt.

Sey nicht boͤſe uͤber mich, lieber Bruder, wenn ich mich ſo gar ſehr darauf freue, Dich wieder zu ſehn; ich kann es eben ſo wenig lei -279 den, wie Du, wenn alte Leute ſich wie die Kinder gebaͤrden, es iſt auch gar nicht mein Fall, und ich mache immer nur ſo viel unnuͤtzes Geſchwaͤtz, weil ich zu dem Rechten, was ich Dir ſagen will, die Worte nicht finden kann. Es iſt doch mit dem Menſchen eine kurioſe Ein - richtung! Ich kann uͤberhaupt mit dem Spre - chen und Schreiben noch immer nicht recht ins Reine kommen, es laufen mir immer tauſend Worte aus dem Munde heraus, die ich nicht haben wollte, und das ſind die unnuͤtzen Wor - te, die ich ſo wenig wie ein andrer Menſch ge - brauchen kann, die aͤchten und gediegenen aber ſitzen mir inwendig feſt, und wollen ſich nicht los arbeiten. Noch naͤrriſcher iſt es, daß ich manchmal wohl auch ſo einen recht vernuͤnfti - gen Brocken herausbringen koͤnnte, aber dann iſt mir, als wenn ich mich ordentlich ſchaͤmte, ſo geſcheut wie andre Menſchen zu ſeyn, und ich rede denn lieber dumm, um nur die Laſt wieder los zu werden. Ich glaube, Thomas, es giebt mehr ſolche Leute, wie ich bin, und die Anzahl der Dummen iſt nicht ſo groß, als man gewoͤhnlich glaubt, drum hab ich auch immer einen ordentlichen Reſpekt vor jedem ein -280 faͤltigen Menſchen, weil ich immer meyne, er traͤgt unter ſeinem ſchlechten Ueberrocke ein koſt - bares Unterfutter.

Wenn ich erſt zu Hauſe bin, und Dich be - ſuche, will ich Dir ſehr viel von meiner Reiſe erzaͤhlen. Das iſt denn doch am Ende meine ganze Freude, die ich in der langen Zeit ge - habt habe.

Hier in Paris bin ich ordentlich wie zu Hau - ſe, ſo bekannt iſt mir noch alles, und alles iſt noch gerade ſo, wie damals, als ich hier war. Es iſt eine naͤrriſche Gotteswelt, in der wir le - ben, und ſie koͤnnte gewiß beſſer ſeyn, wenn alle Menſchen ſich nur fuͤr Arbeiter in dem Weinberge hielten, aber alle wollen eſſen, und viele thun doch gar nichts, ſondern verderben noch im Gegentheile die Reben, und ſtoͤren an - dre Menſchen in der Arbeit; und das ſoll denn heißen, daß ſie den ganzen Weinberg regieren und in Ordnung halten.

In mehr die Menſchen nach obenhin klettern, je mehr vergeſſen ſie, daß ſie auch nur Men - ſchen ſind, ſie kennen dann ihre armen Bruͤder nicht mehr, und Gott nicht mehr. Die Got tesfurcht wohnt uͤberhaupt nur bey den armen281 und geringen Leuten, die haben ſie als ein or - dentliches Privilegium und wie ein Schmerzen - geld, weil ſie viel irdiſche Uebel zu leiden ha - ben; ſie duͤrfen ſich auch in ihrem Stande der Furcht des Herrn nicht ſchaͤmen; ſie iſt ihr ein - ziger Hausrath und beſtes Einkommen. Ich denke an alle die Sachen, weil ich Dir ſchon damals ſchrieb, lieber Bruder, daß es mir hier nicht gefalle. Jetzt geh ich nun in keine Komoͤ - die, aber es thut mir auch gar nicht leid. Wenn die Leute, die da ſo mit Bequemlichkeit uͤber eine Prinzeſſinn weinen, die ihren Galan nicht heirathen ſoll, nur wuͤßten, wie viel und groͤße - res Elend es in der Welt giebt. Aber darum wollen ſie ſich nicht bekuͤmmern, und es ruͤhrt keinen, weil die armen Menſchen nicht ſo ge - putzt ſind, und ſich nicht mit ſo ſchoͤnen Reden ausſteuern koͤnnen.

In die Kirchen darf ich nicht allzugut hin - eingehn, ſonſt wuͤrd ich es oͤfter thun; aber ich koͤnnte mir bey Gott eine Verantwortung zuziehn, und die Muſik, das Meſſeleſen und die abgoͤttiſchen Gebraͤuche koͤnnten auch meinem Glauben einen heimlichen Schaden beybringen; denn welcher Menſch kann ſo ganz und gar fuͤr282 ſich gut ſagen? Meidet das Boͤſe, ſo werdet ihr mit ihm in keine Bekanntſchaft gerathen; und ſo haͤtte mein Herr William nur immer denken ſollen, ſo waͤre er gewiß noch derſelbe fromme Herr, der er war. Sieh, lieber Bru - der, da haſt Du nun wieder ſolch weitlaͤuftiges und einfaͤltiges Geſchwaͤtz von mir, wie ich es nicht beſſer habe machen koͤnnen. Gott ſegne Dich und erhalte Dich geſund, denn in einigen Wochen bin ich bey Dir!

Willy, Dein Bruder.

283

15. William Lovell an Roſa.

Ich war durch unſer geſtriges Geſpraͤch außer - ordentlich erhitzt, und ging, wie berauſcht, nach Hauſe. Es waren ſo viele der fernſten Erinne - rungen in mir geweckt, die noch immer in wie - derholten Gaͤngen durch meinen Buſen zogen. Es iſt manchmal, als wollte ſich das Raͤthſel in uns ſelber aufſchließen, als ſollten wir ploͤtz - lich die Anwendung aller unſrer Empfindungen und ſeltſamen Erfahrungen kennen lernen. Die Nacht umgab mich mit hundertfachen Schauern, der monderhellte durchſichtige Himmel woͤlbte ſich wie ein Kryſtall uͤber mir, und ſpiegelte die ſeltſamſten Empfindungen wie Schatten in dieſe Welt hinein. Roſalinens wehmuͤthige Geſtalt war mit unter den bunten Schatten, ſie ging neben mir, und verlohr ſich im krauſen Dunkel jedes Baums, und ſtand im hellen Mondſcheine wieder da: wie Tapeten voll ſelt - ſamer Geſchichten gewirkt, hing die ganze Na - tur um mich her. Vergangenheit und Zukunft284 waren auf eine[wunderbare] Weiſe dargeſtellt, ich ahndete eine Menge von truͤben und froͤh - lichen Empfindungen gleichſam im voraus.

Es faͤllt mir oft ein, warum ich gerade ſo und nicht anders empfinde, und warum ich vor - zuͤglich auf dieſe Frage gefuͤhrt bin, die mir ge - wiß in keiner andern Seelenſtimmung beyfallen wuͤrde. Die Vorſtellung unſrer Individualitaͤt iſt die ſeltſamſte, die uns uͤberraſchen kann.

Ich bin aͤußerſt begierig, nun endlich den wunderbaren Mann kennen zu lernen, von dem wir faſt taͤglich geſprochen haben. Ich kann mir ſehr gut einen Menſchen vorſtellen, der ei - ne unumſchraͤnkte Gewalt uͤber alle Gemuͤther hat, die ihn umgeben; aber es muß das inter - eſſanteſte Studium ſeyn, einen ſolchen naͤher kennen zu lernen, ſelbſt zu fuͤhlen, auf welche Art er an unſern Ideen und Gefuͤhlen reiſt, und ſich ſo gleichſam zu ihm hinaufzuheben, in dem wir lernen, wie er auf uns wuͤrkt, und er begreift, wie er auf uns wuͤrken kann. Ich wuͤnſche ſeine Bekanntſchaft, und fuͤrchte mich doch vor unſrer erſten Unterredung. Sie haben gewiß viel zu freundſchaftlich das Wort gefuͤhrt, und er findet mich vielleicht einfaͤltig und abge285 ſchmackt, denn ſo ſehr ich auch eine Zeitlang die hoͤhere Achtung vor allen Menſchen hatte, ſo war es mir doch leichter, mit ihnen umzu - gehn, und mein Benehmen freyer, als jetzt, da ich die meiſten verachte. Wenn ich einen Mann von Verſtand zum erſtenmale ſehe, bin ich leicht in Verlegenheit, ich fuͤhle mich ſo entfernt von ihm, die fremde Art, dieſelben Gedanken, die ich habe, zwar auch zu denken, aber in ſeinen Begriffen anders zu ordnen, macht mich ver - wirrt, und durch die Bemuͤhung, mich ihm recht verſtaͤndlich zu machen und naͤher zu brin - gen, werd ich immer weiter von ihm entfernt, vorzuͤglich aber, wenn ich noch obenein bemerke, daß er ſich nach mir bequemen will. Ich wollte, man koͤnnte ſich immer erſt nach eini - gen Vorreden kennen lerneu, ſo wie man manche Schriftſteller nur nach einigen vorausgeſchickten, allgemeinen Ideen verſtehen kann. Leben Sie wohl.

286

16. Roſa an William Lovell.

Ihre Beſorgniſſe, lieber Freund, ſind unge - gruͤndet; der Mann, von dem wir geſprochen haben, gehoͤrt nicht zu jenen verſtaͤndigen Leu - ten, die mit dem Fragmente ihrer Vernunft ſo ungeſchickt umgehn, es ſo linkiſch handhaben und widerwaͤrtig regieren, daß man von ih - rer Aufklaͤrung keinen Genuß empfaͤngt, ſondern nur Verworrenheit der Begriffe, und Reſultate, die fremd und unpaſſend unter den eigenen Mo - bilien unſers Gehirnes ſtehen. Dieſem Manne wird es leicht, ſich alle Gedanken, ſelbſt die entfernteſten, zu vergegenwaͤrtigen, und ſie zu ſeinen eigenen zu machen, fuͤr ihn giebt es keine fremde Seele, und darum behandelt er keine mit der Verachtung, die wir ſo oft an andern ſogenannten verſtaͤndigen Menſchen, mit ſo tie - fem innerlichen Widerſtreben gewahr werden. Wenn ich Ihnen ſage, daß er Sie vielleicht ſchon beſſer kennt, als Sie glauben, ſo iſt da - durch wahrſcheinlich alle Ihre Furcht gehoben, und damit Ihre Bekanntſchaft nicht beym erſtenmale287 jene ſteife, widerwaͤrtige Art erhalte, mit der man nach hergebrachten Formeln, wie in einem Spiele, ſich ſeltſam genug die gegenſeitige Ver - traulichkeit abgewinnen will, ſo ſollen Sie ihn auf einem Spatziergange treffen, wenn Sie heut Abend nach Sonnenuntergange die Ruinen vor dem Kapeniſchen Thore beſuchen.

Leben Sie wohl.

288

17. William Lovell an Roſa.

O Freund, welche ſeltſame Nacht hab ich ge - habt! welche Empfindungen hab ich kennen ge - lernt! Wie verhuͤllte Spiegel hing es in meinem Innern, heut iſt der Vorhang hinun - tergezogen, und ich erblicke mich ſelbſt in ver - aͤnderter Geſtalt, und tauſend ſeltſame Gegen - ſtaͤnde um mich her.

Ich kann immer noch nicht zur Ruhe und zur Beſinnung kommen; ich weiß noch immer nicht, was ich denke oder ſchreibe; ich liege noch wie in einem Traume, und hefte mein Auge auf das Papier und die hingeſchriebenen Worte, um zu erwachen.

Ein andermal, morgen will ich Ihnen er - zaͤhlen, wenn ich etwas beruhigter bin. Ich werfe mich ins Bette, um mich vor dem Grauen zu verbergen, das mir nachſchleicht.

18.289

18. William Lovell an Roſa.

Ich habe zu Ihnen geſchickt, und vom Bothen leider vernehmen muͤſſen, daß ſie ſchon wieder nach Tivoli abgereiſt ſind, ich haͤtte Sie ſo gern geſprochen und Ihren Rath und Beyſtand erbeten.

Ich habe in dieſer Nacht nur wenig geſchla - fen, und bin im Schlafe von unangenehmen Traͤumen verfolgt. Ach Freund, ich kann Ih - nen unmoͤglich ſagen, was ich alles empfunden und gelitten habe, mir iſt, als wenn ſich vom geſtrigen Abende eine Epoche durch mein ganzes kuͤnftiges Leben ausſtrecken wuͤrde, viele Ahn - dungen ſind mir naͤher getreten, und tauſend ungewiſſe Zweifel haben ſich inniger mit[meiner] Natur[verbunden].

Ich gieng vor das Kapeniſche Thor. Der letzte Schimmer der Abendroͤthe glaͤnzte in dem durchſichtigen Mooſe, das an den Ecken der Gebaͤude haͤngt, alles umher vereinigte ſich zu großen Maſſen, und die Schatten kamen immerLovell. 2r Bd. T290groͤßer von Oſten her, ich wandelte mit ſtillem Erſtaunen und vorbereitender Furcht unter den Ruinen, und dachte an meinen Vater und Ro - ſalinen, und an jene Zeit, als dieſe Truͤmmern hier ſtattliche Landhaͤuſer waren. O ich bin heut ruhig genug, um Ihnen alles weitlaͤuſtig zu beſchreiben, das helle Morgenlicht glaͤnzt uͤber mein Papier, und ich ſchildere Ihnen mei - ne geſtrige Empfindung nur wie eine poetiſche Fiktion.

Ach iſt nicht alles nur Erfindung und Ge - dicht, was vergangen iſt? Die Gegenwart iſt nur ein Traum, die Vergangenheit dunkle Er - innerungen aus dem Traume, die Zukunft eine Schattenwelt, deren wir uns einſt auch nur mit Muͤhe erinnern werden.

In Roſalinens Fenſtern brannte kein Licht, keine Lautentoͤne erklangen durch die Nacht, kei - ne Schatten bewegten ſich auf dem gruͤnen Ra - ſen. Ich konnte es nicht unterlaſſen, dicht zum verlaſſenen Hauſe hinzugehn, und meine Arme, wie in Gedanken, nach dem veroͤdeten Gebaͤude auszuſtrecken: ich konnte es nicht begreifen, war - um die Huͤtte jetzt unbewohnt war, alles in meinen Erinnerungen war ſo ungewiß und doch291 ſo quaͤlend, ich trat ſchnell vom Hauſe hinweg, und die Welt lag ſo duͤrr und ausgeſtorben da, ich hoͤrte Menſchenſchritte, die dumpf und unerquicklich in der Einſamkeit wiederhallten, Voͤgel mit ziehenden Geſaͤngen und rauſchende Baͤume, alles, alles umher, wie muͤhſam zu - ſammengebracht, um die Todtenſtille zu unter - brechen. Jeder Ton hatte ſeinen Klang verloh - ren, der uns entzuͤckt und begeiſtert, jeder Ge - genſtand die Bedeutung, die ihm unſre erhitzte Phantaſie beylegt. Die Berge ſtanden fern hin - auf wie Todtenhuͤgel, das ganze Menſchenge - ſchlecht kam mir arm und bejammernswuͤrdig vor, wie ſie alle mit den Fuͤßen ſchon in ihren Graͤbern wandeln, und immer tiefer und tiefer unterſinken, nach Huͤlfe ſchreyen, und klaͤglich die Haͤnde ausſtrecken, aber kein Voruͤbergehen - der ſie hoͤrt und keiner ſich der armen Verlaſſe - nen erbarmt. Keine Daͤmmerung und Mor - genroͤthe wollte ſich an meinem Horizonte em - porringen, unermuͤdet lag die melancholiſche Nacht mit ihren Fluͤgeln uͤber mir, ach und ich konnte nicht weinen und ſchluchzen, ich konn - te meinen heißen duͤrren Jammer nicht in Thraͤ - nen und Toͤne aufloͤſen, kein Mitleid mit mirT 2292ſelbſt ſtieg wie eine Blume in meinem Herzen auf, um mich mit ihrem poetiſchen Dufte zu laben, keine goldene Taͤuſchung kam meinen muͤden Sinnen zu Huͤlfe; ich fuͤhlte mich wie in einem Gefaͤngniſſe unter Millionen Elenden ver - riegelt, duͤrr und kalt die Mauern um uns her, ach ich glaubte nicht der einzig Verſtoßene zu ſeyn, und konnte mich darum nicht troͤſten.

Ich hatte vergeſſen, wen ich erwartete, als mir eine ſchreckliche, ach nur zu bekannte Geſtalt naͤher trat. Die Furchtbarkeit meiner Em - pfindung kam in ſichtbarer Bildung auf mich zu, und ich entſetzte mich innig. Was ſoll ich hier von kindiſchen Traͤumereyen reden, an die ich ſelbſt nicht glauben kann, warum ſoll ich mich wie ein Knabe geberden, wenn mich ein ſeltſamer oder auch nicht ſeltſamer Zufall uͤber - raſcht? Aber es mag ſeyn, mir iſt als habe mein Vater ſchon dieſen wundervollen Andrea gekannt, den ich nun zum drittenmale mit in - nigem Entſetzen und in immer naͤhern Beziehun - gen auf mich geſehen habe.

Ich weiß nicht, was ich geſprochen haben mag, ich weiß eben ſo wenig, was jener ſagte, und was mich umgab. Wie wenn alle meine293 ſeltſamſten Traͤume wirklich wuͤrden, wie wenn ich jetzt zum eigentlichſten Leben erwachen woll - te, wie wenn die ganze Natur mich ploͤtzlich feſthielte, und jeder Baum und jeder Stern mit geheimnißvollen Winken auf mich hindeutete, wie wenn ſich jetzt jedes Raͤthſel von der Kette, die es lange zuruͤckhielt, losreißen wollte, ſo Roſa, o ich habe keine Worte fuͤr dies Ge - fuͤhl, ſo wie einem Verbrecher, der ſich ploͤtzlich in ſeinen widerſprechenden Luͤgen gefan - gen fuͤhlt, und dem nun das Wort im Munde erſtarrt, ſo war mir in meinem Innern.

Im innerſten Grauſen ſprach ich beherzt, ja frech, ſo wie im Rauſche; der Alte ſchien[ver - wundert]. Ich ſagte tauſend Dinge, die ich nie gedacht habe, und die ich auch nur in dieſen Augenblicken zur Haͤlfte dachte; ich war mir meiner ſelbſt nur dunkel und ungewiß bewuſt, und es ſtand kein fremder Mann vor mir; ich ſprach nur zu mir ſelber, und wie Wolken, Lich - ter und Schatten flatterten Gedanken durch mei - nen Kopf, wie wunderbare Toͤne von fremden ziehenden Voͤgeln erſcholl es in meinem Innern, wie Mondſchein, mit dem der Glanz der Mor - genroͤthe kaͤmpft, und beide ihre ſtrahlenden Ge -294 webe durch einander ſpinnen, ſo ſeltſam erleuch - tet war mein Gemuͤth.

Wir gingen auf und ab, und ich hoͤrte ihn ſprechen wie einen fernen Waſſerfall, wie raͤth - ſelhafte Donner, die beym Sonnenſchein aus der Ferne den gerundeten Himmel hinan - klimmen. Wir verließen die Ruinen, und ich folgte ihm ſchweigend nach ſeiner Wohnung.

Ein blaſſes Licht erhellte ſein altes, abge - zehrtes Geſicht, in dem jede Falte und jeder Zug eine andere Sprache redeten. Wie wenn ſich ploͤtzlich der wohlbekannte Bruder an der Seite des Bruders in einen alten Mann um - wandelt, ſo muͤßte jener die Empfindungen ha - ben, die mich peinigten. Er ward mir ſo be - kannt, und blieb mir doch ſo fremd, ich mußte ihn lieben und haſſen, o ich haͤtt ihn erwuͤrgen moͤgen, um nur des Kampfes, um nur der Zwei - fel los zu werden. Und ich kannte ihn den - noch, und ſein Bild war von Jugend auf tief meiner Phantaſie eingepraͤgt!

Es iſt ein muͤhſames Geſchaͤfft zu leben, un - aufhoͤrliche Zweifel und Furcht, Pein und Angſt, das ganze Heer der Erinnerungen, alle jagen uns durch furchtbare Waldlabyrinthe, wo wir295 in jedem dunklern Gange, in jeder neuen Kruͤm - mung ein ſeltſames und grauenvolles Unding er - warten, wir haben nicht Zeit zu uͤberlegen, nicht Zeit, vor uns zu ſehn, nicht Athem, um zu klagen, bis wir niederſtuͤrzen, und alle Furchtbarkeiten zugleich uͤber uns herfallen, und das ereilte Wild zerfleiſchen. Bis man erwacht, heißen unſre Phantaſien Traͤume, bis dahin un - ſer Daſeyn Leben.

Ich trat ans Fenſter. Ein kleiner Raſen - platz und Roſalinens Huͤtte gerade vor mir; ich ſah in dem kleinen Garten deutlich die wanken - den Malven ſtehn, und der Mond ſtieg jetzt dunkelroth herauf, und ſah zuerſt in ihr Fenſter hinein, und fand ſie nicht. Der Alte muß mich hier oft geſehn haben, wie ein Geiſt hat er mich umgeben, ich ſchaͤmte mich nicht vor ihm, ſondern ſah ihm nur um ſo unbefangener ins Auge. Dann flog ich mit meinen Gedan - ken zu Roſalinen hinuͤber, und ich ſah ſie ſitzen, und ſtumm und zwecklos in die Saiten der Laute ſchlagen, ich troͤſtete ſie uͤber ihren Tod, und ſah ein bitteres Laͤcheln auf ihrem Geſichte; dann hoͤrt ich mich von meinem Vater rufen, mit denſelben Toͤnen, mit denen er mich in der296 Kindheit zu ſich lockte, ich hoͤrte den großen Hund, den treuſten Freund meiner Knabenjahre, bellen, und alles verſchwand dann, und ich ſaß dem alten freundlich melancholiſchen An - drea und ſeinem gruͤbelnden Auge gegenuͤber.

Und jetzt ſitz ich hier und bin einſam, und ſehe ihn doch im nebenſtehenden Stuhle ſitzen. Ich werde ihn wiederſehn und werde anders fuͤhlen, und er wird vergehen, ſo wie ich, und keiner wird[unſrer] denken.

297

19. Bianca an Lovell den Liebling ihrer Seele.

Iſt es Dir denn moͤglich, mich ſo ganz zu ver - geſſen? Unſere munteren Geſellſchaften haben an Dir ihre Seele verlohren, und jede Freude iſt ſtumm und ſitzt verlaſſen im Winkel. Denkſt Du gar nicht mehr an unſere heiligen Bachana - le zuruͤck und an die ſtuͤrmende Froͤhlichkeit, die uns ſo wild und goͤttergleich begeiſtert? Sind Dir Deine ſchwermuͤthige Traͤumereyen und dein leeres Nachſinnen lieber als das Maͤdchen das Dich ſo innig liebt? Schenke uns wenigſtens den heutigen Abend, den wir allen Scherzen gewidmet haben und laß mich durch ein paar Worte die Du mit dem Boten zuruͤckſchicken kannſt Deinen Entſchluß erfahren.

Bianca.

Ich komme.

W. Lovell.

298

20. Roſa an Andrea Coſimo.

D meine Reiſe hieher eine Art von Ver - bannung iſt, faͤllt mir immer ſchwerer auf das Herz, je mehrere Tage ich von Rom entfernt bin. Daß ich gerade in dieſem Zeitpunkte Dei - nen Umgang entbehren muß! Zu einer Zeit, wo ich mich immer mehr zu Dir hingedraͤngt fuͤhle, wo ſich gleichſam die Fluͤgel meiner Seele von einander falten, um mich deſto inniger an Dein Herz zu ſchließen. Du haſt mich ſeit einiger Zeit mit neuen Ideen und Gefuͤhlen uͤberſchuͤt - tet und eine neue Welt hat ſich in mir eroͤff - net, eine Schaubuͤhne, die unaufhoͤrlich mit den wunderbarſten Scenen wechſelt. Ich be - trachte mein Leben ſeit jenem merkwuͤrdigen Abende als ein neues, es hat ſich mir ein Weg zu deiner Seele gebahnt, den ich weiter zu verfolgen brenne. Aber warum verwirfſt Du mich und wuͤrdigſt mich nicht Deines fernern Vertrauens? Darf ich den Argwohn ſchoͤpfen, daß Du Dich dem jugendlichen Lovell inniger299 hingiebſt? Was kannſt du jezt noch ferner mit ihm wollen, da ſein Vater todt iſt? Iſt es mir uͤberhaupt erlaubt, zuweilen uͤber Deine Plane im Stillen nachzugruͤbeln, und zuweilen einen wuͤrklichen Eigenſinn und weitlaͤuftige mir un - nuͤtz ſcheinende Maſchinerie anzutreffen? Doch ich will ſchweigen, um mir nicht Dein Mißfal - len zuzuziehn.

300

21. Andrea Coſimo an Roſa.

Es kann und ſoll nicht anders ſeyn als es iſt, uͤberlaß es mir meine Plane zu erſinnen und zu regieren, wenn ſie Dir gleich noch wunderlicher erſcheinen ſollten. Was kuͤmmert es Dich, wenn ich mir ein ſeltſames Spielwerk erleſe, das mir die Zeit ausfuͤllt und auf meine eigene Art meinen Geiſt beſchaͤftigt? Wenn ich bemerke, auf welche ſonderbare Art die eine Seele auf die andere wirken kann? Du haſt wohl mehre - re Naͤchte unter Karten und Wuͤrfeln hinge - bracht; ſo vergoͤnne mir, daß ich mir aus Men - ſchen ein Gluͤcksſpiel und ernſthaft laͤcherliches Lotto bilde, daß ich ihre Seelen gleichſam ent - koͤrpert vor mir ſpielen laſſe, und ihre Ver - nunft und ihr Gefuͤhl wie Affen an Ketten hin - ter mir fuͤhle, und danke dann dem Himmel, daß ich Dich als Freund und nicht als Spiel zeug gebrauche.

301

22. William Lovell an Roſa.

Sie fragen mich: wie ich lebe. Ich bin ſeit langer Zeit in einer Verfaſſung, daß ich nicht ohne Sie leben kann. Ich habe Sie immer noͤthig, um jeden Gedanken und jedes Gefuͤhl in Ihren Buſen auszuſchuͤtten. Mir iſt jetzt oft zu Muthe als waͤren Fluͤgel an mei - ne Bruſt gewachſen die mich immer hoͤher und hoͤher heben und durch die ich bald die Erde mit ihren Armſeligkeiten aus den Augen ver - lieren werde.

Ich ſehe jetzt den alten Andrea taͤglich; ich habe noch nie einen Menſchen mit dieſer hohen Bewunderung betrachtet, ich habe aber auch noch nie eine Seele angetroffen, die alles, was ſonſt ſchon einzeln die Menſchen vortreflich macht, ſo in ſich vereinigte. Die Erinnerung macht mir jetzt eine ſeltſame Empfindung, daß ich ehedem vor ſeiner Geſtalt zuruͤckſchauder -302[te]; und doch will ſich noch zuweilen ein quaͤlendes dunkles Andenken in mir empor ar - beiten. O Roſa, koͤnnte man ſich doch in manchen Stunden vor ſich ſelber verbergen! Ach was kann uns nicht betruͤben, und uns mit ſcharfen Empfindungen anfallen, da wir alle ſo nackt und wehrlos ſind? Je mehr man die Menſchen lieben moͤchte, um ſo mehr wird man mißtrauiſch ſeyn, ob ſie es auch verdienen; kei - ner kennt den andern, jede Geſinnung geht ver - larvt durch unſern eigenen Buſen: wer ver - mag es, das Edle vom Unedlen zu ſondern?

Schon ſeit lange hatte mir Andrea verſpro - chen mich in eine Geſellſchaft von Maͤnnern zu fuͤhren, die ſich um ihn, wie um einen Mittel - punkt verſammelt haben, und ſo gleichſam eine Schule bilden; ich brannte, um ſie kennen zu lernen. Geſtern wurde ich dort eingefuͤhrt.

Mir war waͤhrend der Zeit manches durch den Sinn gegangen, der Argwohn als wenn Andrea das Haupt irgend einer geheimen Ge - ſellſchaft ſey, da man ſagt, daß unſer Zeitalter von der Wuth beſeſſen ſey, auf dieſe Art ſelt -303 ſam und geheimnißvoll zu wirken. Ich hatte ſo manches von abentheuerlichen und unſinnigen Ce - remonien ſogar in Buͤchern geleſen, und alles war mir immer als aͤußerſt abgeſchmackt erſchie - nen; ich machte mich daher gegen Gebraͤuche und Einweihungsfeyerlichkeiten gleichſam feſt, und als ich Andrea hinbegleitete, war mir das Gefuͤhl ſehr gegenwaͤrtig, daß nichts auf mich wirken wuͤrde, was ſonſt unſre Phantaſie ſo leicht in Aufruhr ſetzt. Ich erſtaunte und ſchaͤmte mich zu gleicher Zeit als ich ohne wei - tere Umſtaͤnde in ein Haus und dann in einen geraͤumigen Saal gefuͤhrt ward, in welchem ſich die Geſellſchaft ſchon verſammelt hatte. Ich hatte mich gegen Abentheuerlichkeiten gewaffnet und doch uͤberlief mich nun ein feyerliches Grauen als mir jeder von ihnen auf eine ſimple Art die Hand gab und mich als Freund und Bruder begruͤßte. Ich ſtand verſteinert unter ihnen wie damals, als ich das erſte große Ra - phaelſche Gemaͤhlde betrachtete, denn noch nie habe ich ſo viele charaktervolle Koͤpfe neben ein - ander geſehn, noch nie hab ich in einer großen Geſellſchaft ein ſo ruhiges und gedankenreiches Geſpraͤch gehoͤrt.

304

Als ich mich etwas genauer umſah, entdeck - te ich bald mehrere Bekannte, die mit mir Naͤchte durchſchwaͤrmt, oder beym Spiele durch - wacht hatten. Sie kennen ja auch den launi - gen witzigen Francesco, der uns mit ſeinen Einfaͤllen ſo oft unterhalten hat, aber in dieſer Geſellſchaft war es mir nicht moͤglich, uͤber ihn zu lachen, oder einen Spaß von ihm zu fordern, ſo ernſt und ehrwuͤrdig ſaß er unter den uͤbri - gen,[von] denen manche ihm aufmerkſam zuhoͤr - ten. Adriano, an deſſen Einfalt wir uns ſo oft beluſtigt haben, hatte einen großen Zirkel um ſich her verſammelt und ſprach mit großem Enthuſiasmus und eben ſo vielem Verſtande; ich konnte nicht muͤde werden ihn anzuhoͤren, und mich uͤber meinen bisherigen Irrthum zu verwundern. Es war mir, als waͤre ich ploͤtz - lich in die Geſellſchaft von abgeſchiedenen Gei - ſtern entruͤckt, die im Tode alles Irrdiſche von ſich werfen, und ſelbſt ihren Bruͤdern unkennt - lich ſind. Alle begegneten dem alten Andrea mit der ausgezeichnetſten Achtung, alle beugten ſich vor ihm, wie vor einem hoͤheren Weſen, und meine Ehrfurcht vor meinem alten Freun - de ward dadurch nur um ſo groͤßer.

Es305

Es iſt, als wenn uns in der ſtillen Nacht tiefere Gedanken und ernſtere Betrachtungen be - gruͤßten, denn mit jeder Stunde ward die Ge - ſellſchaft feyerlicher, der Gegenſtand ihres Ge - ſpraͤchs erhabener. Ich habe nie mit dieſer An - dacht in einem Tempel geſtanden, noch in kei - nem Buche habe ich dieſe Gedanken gefunden, die mich hier durchdrangen. In ſolchen Stun - den vergißt man ſeine vorige Exiſtenz gaͤnzlich, und nur die Gegenwart iſt deutlich in unſerer Seele. Ich werde dieſe Nacht nie vergeſſen.

Wir gingen erſt am Morgen auseinander. Ein gluͤhendes Roth ſtreckte ſich am Horizont empor und faͤrbte Daͤcher und Baumwipfel; die freye Morgenluft und der helle Himmel kontra - ſtirten ſeltſam mit dem dunklen naͤchtlichem Zim - mer. Schaaren von Voͤgeln durchflatterten die Luft mit muntern Toͤnen, die Bewohner der Stadt ſchliefen faſt noch alle und unſere Schrit - te hallten die Straßen hinab. Koͤnnt ich begreifen warum dieſe ſinnlichen Eindruͤcke mich ſtets ſo innig ruͤhren! Der friſche Morgen iſt mir immer das Bild eines frohen und thaͤtigen Lebens, die Luft iſt geſtaͤrkt und theilt uns ih -Lovell. 2r Bd. U306re Staͤrke mit, das wunderbare Morgenroth ſtroͤmt eine Erinnerung der fruͤheſten Kindheit herauf und faͤllt in unſer Leben und unſere ge - woͤhnlichen Empfindungen hinein, wie wenn ein rother Strahl an den eiſernen Staͤben eines Kerkers zittert, in dem ein Gefangener nach Freyheit ſeufzt.

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23. Roſa an William Lovell.

Auch ich, lieber Lovell, fuͤhle mich jetzt, ohne ihre Geſellſchaft, einſam. Die Freundſchaft wird unſerer Seele ſchon darum ein unentbehrliches Beduͤrfniß, weil ſie immer ein Herz ſucht, dem ſie ſich ganz und in jeder Stunde mittheilen darf. Die Trennung unterbricht dieſe ſchoͤne Harmonie, denn die Briefe ſind nur lahme und ungeſchickte Boten, ſie wiſſen die Stimmung nicht, in der ſie uns antreffen, wenn ſich im muͤndlichen Geſpraͤche die Seelen faſt unmittel - bar beruͤhren. Ich kann mir Sie und den al - ten Andrea recht lebhaft bey einander denken, ich ſehe Ihren Enthuſiasmus, denn ich weiß es aus eigener Erfahrung, wie viel dieſer Greis nur durch einige Worte auf unſere Seele ver - mag. Ich kenne auch das Raͤthſelhafte und faſt Furchtbare das ihn umgiebt, er erſcheint uns in jeder Stunde in einer veraͤnderten Geſtalt und es koſtet ihn nichts, ſich und eine ganze Ge -U 2308ſellſchaft ploͤtzlich in einen andern Ton zu ſtim - men; alle Ideen des menſchlichen Geiſtes ſtehen ihm auſſerordentlich behende zu Gebote, er kann ſich in jede Meynung kleiden, und es iſt daher ſchwer, ja beynahe unmoͤglich, ſeine wahre von ſeinen erborgten abzuſondern. Ich habe ſchon oft den Argwohn gehegt, daß er fuͤr jeden Men - ſchen mit dem er umgeht, eine eigne Maske hat, er iſt alle Ideen und Stimmungen des Menſchen durchlaufen, ein jeder findet ſich daher in ihm ſelber wieder. Seltſam aber iſt es, daß ein ſolcher Mann alles, nur nicht einen ge - wiſſen Eigenſinn verbergen kann, den zu mas - kiren ſelbſt dem Unerfahrenſten nur wenig koſtet, er verachtet die Menſchen im Allgemeinen und jeden insbeſondere, und in manchen Stunden iſt er ſchwach genug, daß er ſich dieſe Verach - tung merken laͤßt, um einen recht vollkomme - nen Triumph zu genießen. Ich glaube, auch Sie werden bald dieſe Bemerkungen an ihm machen, und dies wuͤrde mir dann um ſo mehr eine Beſtaͤtigung ſeyn, daß ich mich nicht ge - irrt haͤtte. Es klingt freylich etwas anmaßend, daß ich einen ſo tiefen Menſchen durchſchauen und beurtheilen will, indeß kann ich es viel -309 leicht eben darum, weil ich ſeine Vortreflichkei - ten verſtehe und bewundere, und wie Sie in Ihrem Briefe ſagen: man iſt vielleicht um ſo argwoͤhniſcher, je mehr man wuͤnſcht, die Men - ſchen zu lieben.

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24. William Lovell an Roſa.

Soll ich es Ihnen geſtehen, Roſa, daß mir Ihr Brief gewiſſermaßen wehe gethan hat? Denn es iſt einmal eine Schwaͤche der menſch - lichen Seele die ſie vielleicht nie ablegen kann, daß ihr gewiſſe Bemerkungen Schmerzen ma - chen. Beim Anblicke aller Vortreflichkeiten ſcheint das menſchliche Herz mit der Bewundrung zugleich einen gewiſſen Neid zu fuͤhlen: iſt der Eifer, irgend einem Muſter aͤhnlich zu werden, wohl etwas anders? Wir ſuchen daher gern bey vorzuͤglichen Menſchen eine Seite heraus, die unſerm Tadel unterworfen ſeyn koͤnnte, bloß um uns ſelbſt als beſſer zu achten. Dieſer Neid iſt der Quell von allem, was wir in den gewoͤhnlichen Bedeutungen im Menſchen Gut und Schlecht nennen, und eben darum, weil ich dies einſehe, ſollte mich Ihr Brief auf keine Weiſe unzufrieden gemacht haben. Ich kann uͤber meinen alten Freund durchaus nicht Ihrer Meynung ſeyn, am wenigſten kann ich jene311 Schwaͤche an ihm finden, die Sie bemerkt ha - ben wollen. Er iſt fuͤr mich eine Koloſſalſtatue unter den gewoͤhnlichen Menſchenbildern, ich finde ſtets in ihm einen Hauptgedanken und die - ſelbe erhabene Gemuͤthsſtimmung; er verſetzt mich jedesmal, oft wider meinen Willen in die ſeltſamſten Empfindungen, wie es ſonſt zuweilen wohl nur wunderbare Toͤne koͤnnen, die unſre Seele gewaltſam nach dunklen, ſeltſamen Ge - genden entfuͤhren.

Wenn ich mich oft betrachte und mich ſtumm in Gedanken verliere, ſo moͤcht ich ihn in man - chen Stunden fuͤr ein fremdes, uͤbermenſchliches Weſen halten, ich habe mir im Stillen manche wunderbare Traͤume ausgeſponnen, die ich mich ſchaͤmen wuͤrde, Ihnen ſo mit kaltem Blute niederzuſchreiben, ſo ſehr ſie auch meine Phan - taſie gefangen halten. Er begegnet oft auf eine unbegreifliche Weiſe meinen Schwaͤrmereyen mit einem einzigen Worte, das ſie mir deutli - cher macht, und in ein helleres Licht ſtellt.

Neulich war ich durch ſeine Reden in eine ungewoͤhnlich feyerliche Stimmung verſetzt, er312 ſprach von meinem geſtorbenen Vater und ſchil - derte ihn genau nach ſeiner Geſichtsbildung und Sprache. Ich war geruͤhrt und er fuhr fort, ja er ſprach endlich ganz mit ſeinem Tone und ſagte einige Worte, die ſich mein Vater ange - woͤhnt hatte, und die ich unendlich oft von ihm gehoͤrt habe. Ich fuhr auf, weil ich dach - te, mein Vater ſey wirklich zugegen, ich frag - te ihn, ob er ihn gekannt habe und er betheu - erte das Gegentheil; ich war in die Jahre mei - ner Kindheit entruͤckt und ſah ſtarr auf die Wand, um nicht in meiner Taͤuſchung geſtoͤrt zu werden. Ploͤtzlich fuhr wie ein Blitz ein Schatten uͤber die Wand hinweg, der ganz die Bildung meines Vaters hatte, ich erkannte ihn und er war verſchwunden, ſeltſame Toͤne, wie ich ſie nie gehoͤrt habe, klangen ihm nach, das ganze Gemach ward finſter und der alte Andrea ſaß gleichguͤltig neben mir, als wenn er nichts bemerkt haͤtte.

Ein gewaltiger Schauder zog meine Seele heftig zuſammen, alle meine Nerven zuckten maͤchtig, und mein ganzes Weſen kruͤmmte ſich erſchrocken, als wenn ich unvorſichtig an die313 Thore einer fremden Welt geklopft haͤtte, und ſich zu meiner Vernichtung die Fluͤgel oͤffneten und tauſend Gefuͤhle auf mich einſtuͤrzten, die der gewoͤhnliche Menſch zu tragen zu ſchwach iſt. Andrea erſcheint mir jetzt als ein Thuͤrhuͤter zu jenem unbekannten Hauſe, als ein Uebergang al - les Begreiflichen zum Unbegreiflichen. Vielleicht loͤſt Ein Aufſchluß alle Raͤthſel in und auſſer uns, unſer Gefuͤhl und unſre Phantaſie reichen vielleicht mit unendlichen Hebeln da hinein, wo unſre Vernunft ſchier zuruͤckbleibt; am En - de verſchwindet alle Taͤuſchung, wenn wir auf einen Gipfel gelangen, der der uͤbrigen Welt die hoͤchſte und unſinnigſte Taͤuſchung ſcheint. Balder koͤmmt mit ſeinen Erſcheinungen in mei - ne Seele zuruͤck, o Roſa, was iſt Unſinn und was Vernunft? Alles Sichtbare haͤngt wie Teppiche mit gaukelnden Farben und nachge - ahmten Figuren um uns her, was dahinter liegt wiſſen wir nicht, und wir nennen den Raum, den wir fuͤr leer halten, das Gebiet der Traͤume und der Schwaͤrmerey, keiner wagt den dreiſten Schritt naͤher, um die Tapeten wegzuheben, hinter den Couliſſen zu blicken und das Kunſtwerk der aͤuſſern Sinne ſo zu zerſtoͤ -314 ren, aber wenn, o Roſa, nein ich ſchwin - dele, es iſt mir innerlich alles ſo deutlich und ich kann keine Worte finden; aber ich mag ſie auch nicht ſuchen. Sie werden ebenfalls dieſe Gefuͤhle kennen und mir alles uͤbrige erlaſſen.

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25. Roſa an William Lopell.

Sie haben zum Theil recht, lieber Freund. Ihre Gefuͤhle kann ich auf keine Weiſe tadeln, denn ich bin zu gut mit dieſen bekannt, aber lieber Freund, kann denn der große Menſch nicht das Groͤſte und Kleinſte in ſich vereinigen und liegt nicht eben darinn ſeine hoͤchſte Groͤße? Doch ich will lieber abbrechen, denn wir ſtrei - ten beyde am Ende nur uͤber Worte.

Manche Ihrer Gedanken uͤber Andrea ſind mir aus der Seele geſchrieben, in ſeiner Ge - genwart fuͤhle ich mich immer wie in der Naͤhe eines Ueberirrdiſchen. Auch manches iſt mir be - gegnet, was ich mir auf keine Art zu erklaͤren weiß. Als ich neulich mit ihm hier in Tivoli war, waren wir faſt taͤglich zuſammen und un - ſer Geſpraͤch fiel vorzuͤglich auf den Aberglau - ben und die wunderbare Welt, vor der unſer Geiſt ſo oft ſteht, und dringend Einlaß begehrt. Meine Phantaſie ward mit jedem Tage mehr erhitzt, alle meine bisherigen Zweifel verlohren immer mehr von ihrem Gewicht; Sie koͤnnen ſich316 vorſtellen, welchen ſeltſamen Eindruck Ihre Briefe damals auf mich machen mußten, in denen Sie immer mit ſo vielem Eifer von Ro - ſalinen ſprachen. An einem ſchoͤnen Abende ſchweiften wir vor den Thoren umher, unſre Geſpraͤche wurden immer ernſthafter und ich vergaß es daruͤber ganz, zur engen unange - nehmen Stadt zuruͤckzukehren. Es war indeß dunkle Nacht geworden und wir trennten uns. Alle meine Begriffe waren verwirrt, die Fin - ſterniß ward noch dichter und ich naͤherte mich, wie es ſchien, immer noch nicht der Stadt. Ich verſuchte einen neuen Weg, weil ich glaub - te, ich habe mich verirrt, und ſo ward ich immer ungewiſſer. Die Einſamkeit und die Todtenſtille umher, erregte mir eine gewiſſe Bangigkeit; ich ſtrengte mein Auge noch mehr an, um ein Licht von der Stadt her zu ent - decken, aber vergebens. Endlich bemerkt ich, daß ich einen Huͤgel hinanſtiege und nach eini - ger Zeit befand mich oben, neben der Kirche des heiligen Georgs. Der Wind zitterte in den Fenſtern und pfiff durch die gegenuͤberliegenden Ruinen, ich glaubte in der Kirche gehn zu hoͤ - ren und ich irrte mich nicht; mit hallenden317 Tritten kamen zwey unbekannte Maͤnner aus dem Gewoͤlbe und fragten mich, was ich ſuche. Ihre unbekannte Geſtalt, der feyerliche Ton ih - rer Stimme und eine kleine Blendlaterne, die nur mich und den einen von ihnen beleuchtete, machte mich ſchaudern. Ich fragte furchtſam nach dem Wege zur Stadt, und der eine von ihnen erbot ſich, mich bis an das Thor zu bringen, der andre verſprach ſo lange bey der Kirche zu warten.

Die kleine Laterne erhellte ſparſam[unſern] Weg und[Baͤume] und Stauden glitten uns, mit einem durchſichtigen Gruͤn bekleidet, voruͤber, mein Begleiter war ſtumm und ich ging wie im Traume hinter ihm. Jetzt waren wir nahe am Thore und der Mann mit der Laterne ſtand ſtill; wir nahmen mit wenigen Worten Abſchied nnd ein breiter Schimmer fiel auf ſein Geſicht. Ich fuhr zuſammen, denn es war ganz das blei - che Antlitz einer Leiche, die Augen waren wie weit hervorgetrieben, die Lippen blaß und wie in einem Todtenkrampfe verzerrt: ich glaubte ein Geſpenſt zu ſehn, und erſchrak nur noch inni - ger, als ich nach einigen Augenblicken die Zuͤge Andrea’s erkannte. Jetzt wandte er ſich um,318 und ging zuruͤck, ich ſtand noch wie verſteinert, und rief endlich laut und halb wahnſinnig: Andrea! In demſelben Augenblicke ver - ſchwand die Geſtalt und das Licht, und betaͤubt und zitternd ging ich in die Stadt.

Aber wie fuhr ich zuſammen, als mir Andrea vor meiner Wohnung entgegentrat und mich fragte, wo ich ſo lange geblieben ſey. Ich konnte ihm nur wenige Worte ſagen und die ganze Nacht hindurch lag ich in einem ab - wechſelnden Fieber.

Und war es nicht eben die Geſtalt unſers Andrea, mit Schrecken denke ich daran, die der ungluͤckliche Balder ſo oft in den Exaltatio - nen ſeiner Phantaſie beſchrieb? Und doch hatte er ihn niemals geſehen. Wer weiß, ob er mich nicht jetzt umgiebt, indem ich die - ſen Brief ſchrieb, und jeden Gedanken kennt, den ich denke!

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26. Andrea Coſimo an Roſa.

Warum hab ich von Dir Argwoͤhniſchen, nicht ſchon einen zweiten Brief erhalten? Ich bin auf Nachrichten von Dir begierig, weil ich mich von je fuͤr Dich intereſſirt habe. Ob Du es in dem Grade, wie ich Dich ſchaͤtze und lie - be, verdienſt, iſt eine andre Frage; indeſſen muß man ſich darum bey den Menſchen nie bekuͤm - mern; mein Eigenſinn, den Du an mir neulich getadelt haſt, beſteht bloß darin, daß ich nie einen Gegenſtand wieder fahren laſſe, den mei - ne Zuneigung einmal ergriffen hat; nur unter - laß die Forderung, daß ich Dir, wie ein Kind, von meinen Gedanken Rechenſchaft ablegen ſoll. Erwarte erſt das Ende jeder Pruͤfung, um mei - nes ganzen Vertrauens werth zu ſeyn und be - gnuͤge Dich jetzt damit, daß Du von allen der Erſte biſt, der Anſpruͤche darauf machen kann. Wenn Dir alſo meine Liebe oder Achtung noch irgend etwas werth iſt, ſo verſchone mich mit aͤhnlichen Briefen, als Dein letzter war.

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27. William Lovell an Roſa.

Ich habe nie, Roſa, mit dieſem Blicke ins Le - ben geſehn; wie voruͤbereilendes Schattenwerk, wie wandelnder Rauch, der uͤber die Heide ſchreitet, ſo nichtig fliegt alles durcheinander. Ich weiß nicht, ob ich wache oder traͤume, den - ke oder raſe, die widerwaͤrtigſten Gedanken und Geſtalten haben ſich innig mit einander ver - knuͤpft, und tauſend Zweifel und Irrthuͤmer, Schrecken und Truggeſtalten haͤngen wie ein Netz um mich her, das mich nicht wieder frey giebt.

Mein Herz iſt die Hoͤle des Aeolus gewor - den, in dem alle Stuͤrme durch einander mur - ren und ſich mit wildem Grimme von ihren Ket - ten losreißen wollen. O, laſſen Sie mich die - ſen Andrea begreifen, und ich will mich zu - frieden geben und ich will alles uͤbrige ver - geſſen.

Iſt die Welt nicht ein großes Gefaͤngniß, in dem wir alle wie elende Miſſethaͤter ſitzen,und321und aͤngſtlich auf unſer Todesurtheil warten? O wohl den Verworfenen, die bey Karten oder Wein, bey einer Dirne oder einem langweili - gen Buche ſich und ihr Schickſal vergeſſen koͤnnen!

Doch der ſchwarze Tag bricht endlich, end - lich herein. Er kann nicht ausbleiben. Alle vorhergehenden Tage waren nur Vorbereitungen zum letzten ſchrecklichen. Die finſtre Parze fin - det endlich die Stelle, wo ſie den Faden zer - reißt. O wehe uns, Roſa, daß wir geboren wurden!

O des klagenden Thoren! mit ohnmaͤchtiger Kraft ſperrt ſich das arme Thier, in den Stall zu gehn, wo das ſchlachtende Meſſer ſeiner war - tet. Die Zeit, dieſer unbarmherzige Henkers - knecht, ſchleppt Dich hinein, das Thor ſchlaͤgt hinter Dir zu und Du ſtehſt einſam unter dei - nen Moͤrdern.

Was kann der Menſch wollen und vollbrin - gen? Was iſt ſein Thun und Streben?

O daß wir wandern koͤnnten in ein frem - des, andres Land; ausziehn aus der Knecht - ſchaft, in der uns unſre Menſchheit gefangen haͤlt!

Lovell. 2r Bd. X322

Graͤßlich werden wir zuruͤckgehalten, und die Kette wird immer kuͤrzer und kuͤrzer. Alle taͤu - ſchenden Freuden ſchlagen rauſchend die Fluͤgel aus einander und ſind im Umſehn entflogen. Der Putz des Lebens veraltet und zerfaͤllt in Lumpen; alle Gebrechen werden ſichtbar.

Einſam ſteh ich, mir ſelbſt meine Qual und mein Henker, in der Ferne hoͤr ich die Ketten der andern raſſeln. Schauder ſtehn vor un - ſerm Gefaͤngniſſe zur Wacht. Da laͤßt ſich keiner beſtechen, eiſenfeſt und unwandelbar ſtehn ſie da.

Ich habe den Ruf vom jenſeitigen Ufer ge - hoͤrt; ich habe den ſeltſamen Wink verſtanden, und das Boot eilt ſchon heruͤber, mich abzu - holen; ich trage meine Suͤnden in meiner Hand und gebe ſie als Faͤhrgeld ab. Die Wo - gen rauſchen, es ſchwankt das Boot, das Steuer aͤchzt, und bald tret ich an das duͤſtre fremde Geſtade, und in doppelter Vereinigung kommen mir alle meine Schmerzen entgegen.

Geſtern war ich bey Andrea und ſeiner Ge - ſellſchaft. Sie ſprachen viel durcheinander und ſaßen in Reihen hinab, wie gefuͤllte Bilder aus Erde. Alle waren mir fremd und armſeelig,323 mit allen, ſelbſt mit dem wunderbaren Andrea hatt ich ein inniges Mitleiden. Sie waren ernſt und feierlich, und mir war, als muͤßt ich la - chen. Daß Gedanken und Vorſtellungen den ſogenannten Frohſinn aus unſerm Geſichte ver - jagen koͤnnen, iſt bejammernswuͤrdig.

Ich ſtreckte meine Hand aus und beruͤhrte den naͤchſtſitzenden; und wie ins Reich der Ver - nichtung griff ich hinein und war ein Glied der zerbroͤckelnden Kette. Ich gehoͤrte nun mit zum Haufen, und war mir ſelber fremd und armſeelig, ſo wie die uͤbrigen.

Aller Augen waren ſtarr auf die Wand ge - heftet, in allen ſpiegelte ſich der Widerſchein des Todes. Die Kerzen brannten dunkler, die Vorhaͤnge rauſchten geheimnißvoll, das Blut in meinen Adern wollte aufſieden und erſtarrte.

Toͤne ſchlugen das Ohr mit ſeltſamer Be - deutung, wie Arabeskengebilde fuhr es durch meinen Sinn; ich erwartete etwas Fremdgeſtal - tetes und lechzte nach etwas Ungeheuerm. Und ich vergaß hinter mir zu ſehn und ſtand unter meinen Freunden einſam, wie in einem Walde von verdorrten Baͤumen.

Schatten fielen von oben herunter und ſan -X 2324ken in den Boden. Daͤmpfe ſtanden wie Saͤu - len im Gemache, Daͤmmerung wankte hin und wieder wie ein Vorhang. Die Seele vergaß ſich ſelbſt und ward ein Bild von dem, was ſie umgab.

Es kreiſte und wogte gewaltig durch einan - der, wie ein Unding das zum Entſtehen reif wird, ſo kaͤmpfte die Maſſe gegen ſich ſelbſt. Es ſchritt naͤher und glich einer Nebelgeſtalt; vor mir voruͤber wie ein pfeifender Wind, und o, Roſaline!

Sie war es, ganz, wie ſie lebte. Sie warf einen Blick auf mich und wie ein Meſſer traf er meine Augen, wie ein Berg mein Herz. Ich ſtraͤubte mich gegen meine innerliche Empfin - dung und es zog mich ihr nach; ich ſtuͤrzte laut ſchreiend nach ihrem Gewande und ſtieß mit dem Kopfe an die Mauer.

Ich erſchrak nicht, verwunderte mich nicht und erwachte auch nicht. Wie andre Elemente umgab mich alles, ich ſah die Freunde wieder, ich hoͤrte wieder die Baͤume und Waſſer, die ganze Muͤhle der gewoͤhnlichen Welt, mit allen ihren Gaͤngen.

Andrea und die uͤbrigen waren ſtumm und325 kalt, aber ſie ſtanden fern, fern von mir hinun - ter, ich kannte ſie alle und verſtand ſie nicht, ich kam zuruͤck und war nicht unter ihnen.

Man oͤffnete die Fenſter; die Morgenluft brach herein, der Himmel war wie eine Platte buntgeſtreifter Marmor, die Waͤnde der Welt waren wie immer mit ihren ſeltſamen Gewaͤch - ſen ausgelegt, und wie ein wildes Thier, ſo fiel eine nuͤchterne Empfindung mein Herz an.

Wo ſteht die letzte Empfindung, daß ich zu ihr gehe? Wo wandeln die ſeltſamſten Gefuͤhle, daß ich mich unter ſie miſche? Daß ich von dieſem Traume erwache und einen andern noch feſter traͤume!

Wolken fliehn und kommen wieder, das ſelt - ſamſte Morgenroth wird Tagesſchein. So wird es mit dieſem Herzen gehn. Leider, daß ich das ſchon jetzt empfinde!

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28. William Lovell an Roſa.

Wie alles mich immer beſtimmter zu jenen Schrecken hinwinkt, denen ich entfliehen wollte! Wie es mich verfolgt und draͤngt, und doch die graͤßliche Leere in mir nicht ausfuͤllt! Wie in einem Ocean ſchwimm ich mit unnuͤtzer Anſtrengung umher; kein Schiff, kein Geſtade, ſo weit das Auge reicht! unerbittlich ſtreckt ſich das wilde Meer vor mir aus, und Nebel ſtrei - chen verſpottend wie Ufer herum, und ver - ſchwinden dann wieder.

Nebelbaͤnke ſind unſer Wiſſen und alles, was unſere Seele zu beſitzen glaubt; der Zwei - fel rauft das Unkraut zuſammt dem Getraide aus, und in der leeren Wuͤſte ſchießen andre Pflanzen mit friſcher Kraft hervor, deren Far - ben noch ſchoͤner und glaͤnzender ſpielen. Der Menſch muß denken und eben darum glauben, ſchlafen und alſo traͤumen; es iſt moͤglich, daß alle Geſtalten nur in mir wandeln, alles zie - hende Schattenbilder in der Hoͤlung meines Au -327 ges, Schwingungen meiner Gehirnfibern, die ich nach dem allgemeinen Uebereinkommen die aͤußern Gegenſtaͤnde benenne.

Der Wechſel der Jahreszeiten zerſtoͤrt die Berge und Felſen, die ewigen Pfeiler der Erde zerbroͤckeln ſich durch Regenguͤſſe, der Menſch durch den Lauf ſeines Bluts, ein Todtenwurm in ihm, der ihn von innen heraus zernagt. Je - des Ding iſt Bild und Gegenbild zugleich, es erklaͤrt ſich ſelbſt und man ſollte nie fragen: Wie haͤngt dieſe Erſcheinung mit jener zuſam - men? Der Geiſt des Forſchens iſt die Erb - ſuͤnde, die uns von unſern erſten gefallenen Eltern angeſtammt iſt.

Alles, was ich ſonſt meine Gefuͤhle nannte, liegt todt und geſchlachtet um mich her, zer - pfluͤcktes Spielzeug meiner unreifen Jugend, die zerſchlagene magiſche Laterne, mit der ich meine Zeit vertaͤndelte; bunte Farben und Schattenſpielwerk!

Ich nenne mir manchmal den Nahmen Amalte oder Roſaline, um alles, wie mit einem Zauberſpruche, wieder zum Leben zu er - wecken, aber auch die Erinnerung iſt abgebluͤht, und wenn ich mein ganzes Leben hinunterſehe,328 ſo iſt mir, als wenn ich uͤber ein abgemaͤhtes Stoppelfeld blicke; ein truͤber Herbſt wandelt naͤher, der Nebel wird dichter, und der letzte Sonnenſchein erliſcht auf den fernen Bergen.

Ich moͤchte in manchen Stunden von hier reiſen und eine ſeltſame Natur mit ihren Wun - dern aufſuchen, ſteile Felſen erklettern, und in ſchwindelnde Abgruͤnde hinunterkriechen, mich in Hoͤlen verirren, und das dumpfe Rauſchen unterirrdiſcher Waſſer vernehmen, ich moͤchte Indiens ſeltſame Geſtraͤuche beſehen, und aus den Fluͤſſen Waſſer ſchoͤpfen, deren Nahme mich ſchon in den Kindermaͤrchen erquickte, Stuͤrme moͤcht ich auf dem Meere erleben, und die Aegyptiſchen Pyramiden beſuchen; o Roſa, wohin mit dieſer Ungenuͤgſamkeit? und wuͤrde ſie mir nicht ſelbſt zum Orkus und in Elyſium folgen?

Und lern und erfahr ich denn nicht hier in Rom genug? Genuͤgt mir nicht dies tiefe wun - derbare Leben, in dem die Wunder mit den Stunden wechſeln? Wohin von hier? Das Ge - wand der ganzen Erde iſt kahl und duͤrftig, o Balder, ich moͤchte dich in den tiefen Ge -329 birgen aufſuchen, um von Dir zu lernen und mit Dir zu leben.

Sollte es moͤglich ſeyn, daß ich ſchon hin - ter dem Vorhang ſtaͤnde, der die jenſeitige Welt von den hieſigen Menſchen ſondert? Es iſt viel - leicht und ich erſchrecke nicht mehr vor dem Gedanken.

Mein Geiſt knuͤpfet ſich immer vertrauter an Andrea, ich verſtehe ihn, ſo viel ſich zwey Menſchen verſtehen koͤnnen, die immer das Nehmliche meynen und ganz etwas anders ſpre - chen; in jedem Koͤrper liegt die Seele, wie ein armer Gequaͤlter in dem Stiere des Phalaris, ſie will ihren Jammer und ihre Schmerzen aus - druͤcken, und die Toͤne verwandeln ſich und die - nen zur Beluſtigung der umgebenden Menge. Sein feiner Sinn vermiſcht ſtets die Vernunft mit ſeinem innerſten Gefuͤhle, er baut ſich kei - ne Ueberzeugungen, um bequem in ihnen zu wohnen, er ſucht nichts in ſich zu veraͤndern und auszurotten.

Doch ich vergeſſe ganz, was ich erzaͤhlen wollte. Man vergißt uͤber Worte ſich und al - les uͤbrige, wir ſprechen ſelten von uns ſelbſt, ſondern meiſt nur daruͤber, wie wir von uns330 ſprechen koͤnnten, jeder Brief iſt eine Abhand - lung voll erlogener Saͤtze mit einem falſchen Titel uͤberſchrieben, und ſo moͤcht ich denn gern fortfahren zu ſchwatzen, wenn mich mein Gefuͤhl nicht zu ſehr aͤngſtigte und zur Erzaͤhlung einer ſeltſamen Begebenheit hinriſſe.

Es war vorgeſtern, als ich[mit] einer großen Geſellſchaft zu einem praͤchtigen maskirten Bal - le fuhr. Ich liebe dieſe Maskeraden, weil ſie mich ſtets in eine froͤlich wehmuͤthige Stim - mung verſetzen. Das Rauſchen der ſeltſamen Geſtalten durch die Saͤle und auf den Treppen, das raͤthſelhafte Geziſche und Gefluͤſter, die Unbekanntſchaft mit allen Menſchen umher, al - les iſt fuͤr mich ein ſtilles Gedicht uͤber das menſchliche Leben, ein Schauſpiel, worin die Schauſpieler ſelbſt ihre Rollen nicht verſtehn, und ſie dennoch meiſterhaft darſtellen. Ich ſah hier Pantalons und Pierrot’s durcheinander ſpringen, die Muſik klang verworren in das bunte Geraͤuſch hinein, die Kerzen flimmerten durch die Saͤle und glaͤnzten gegen den Putz von ſchoͤnkoeffirten Damen, ich ſtand an einen Pfeiler gelehnt und ſah ohne Sehnſucht und ohne Ruhe in das große Findelhaus der menſch -331 lichen Narrheiten hinein. Von je hat mich die Maske, die mich nach und nach erhitzt, die gezwungene Art, aus den ausgeſchnittenen Au - gen hervorzuſehn, in eine Art von Trunkenheit verſetzt; es waͤhrte daher nicht lange, ſo ſpielte alles nur, wie eine Traumgeſtalt um mich her - um, und ich fuhr manchmal heftig auf, um mich nur wach zu erhalten; ich konnte in man - chen Momenten gar nicht glauben, daß ich wirklich lebe, ſo ſeltſam umgab mich alles; wie den Kindern war mir, die durch einen rothen geſchliffenen Stein die Sonne und die wunder - bar geſpaltene Welt umher betrachten. Es war als ſaͤhe ich in einen ſchiefhaͤngenden Spiegel hinein, der mir eine andere weit entfernte Welt darſtellte, die unſer Geiſt nur zuweilen fluͤchtig beſucht, wenn unſer Koͤrper in tiefen Traͤumen liegt.

Eine weibliche Geſtalt ſtrich kokettirend zu wiederholtenmalen bey mir voruͤber. Ich hatte ſchon oft das Rauſchen ihres ſeidnen Gewandes gehoͤrt und ward jetzt erſt aufmerkſamer. Mir war, als wenn ſie mich recht gefliſſentlich vor allen uͤbrigen Masken auszeichnete und eine Bekanntſchaft mit mir ſuchte. Wir naͤherten332 uns mit den gewoͤhnlichen Formeln, und mir ward es wunderbar leicht, recht abgeſchmackt zu ſeyn; es ſammleten ſich daher bald mehrere Karrikaturmasken, die mich ungemein witzig fanden. Die Eitelkeit, (die gewiß wie ein elektriſcher Drath bis in das tiefſte Fundament der Seele geht) ward in mir wach, und die Gegenſtaͤnde umher erhielten eine beſtimmtere Form, ich bemuͤhte mich nun, die Lobſpruͤche meiner Bewunderer zu verdienen und mir die Zuneigung der unbekannten ſchoͤnen Maske zu erhalten. Das Gelaͤrm umher war lauter, mir aber bedeutender als bis jetzt, ich ſah wieder mit freyen Blicken umher und fand mich willig in die Thorheiten der bunten Bilder, die wie ein belebtes magiſches Kartenſpiel um mich ſprangen.

O was iſt der Menſch mit ſeinen Empfln - dungen, die ſo oft an den letzten Grundſtein ſeines Gebaͤudes ruͤhren und dann wieder ver - ſchwinden und ſich vielleicht nie wieder anmel - den? Meine Sinnlichkeit erwachte und ich ver - folgte die unbekannte Maske bald durch das dickſte Gedraͤnge, ich begleitete ſie, als ſie in333 eins der Zimmer ging, um ſich mit Eis zu er - quicken.

Hier ſah ich den ſchoͤnen[Wuchs] genauer und die zarten Arme, ich bat und flehte, aber ſie wollte um keinen Preis die Maske vom Ge - ſichte nehmen.

Ich verlohr ſie im Saale wieder aus den Augen, deſſen Getoͤn und Gebrauſe mir jetzt nach der augenblicklichen Ruhe, nach der ſtil - lern Erleuchtung des Zimmers innig zuwider war. Ich ging noch ein paarmal auf und ab, verlohr mich wieder in Traͤumereyen, und ging dann fort, um in meinen Wagen zu ſteigen. Zu meinem Erſtaunen finde ich die oft geſuchte Maske vor der Thuͤr, ſie vermißt ihren Wagen ich biete ihr den meinigen an, und, o welche Freude! ſie ſchlaͤgt das Anerbieten nicht aus.

Nun waren wir allein im Wagen, und ich wandte alle meine Beredſamkeit an, um ſie zu bewegen, die entſtellende Maske abzunehmen. Sie thut es endlich mit einer kaltbluͤtigen Be - wegung, und o, die Haare richten ſich mir noch empor, Roſaline ſitzt ne - ben mir!

334

Sie warf mir einen drohenden Blick zu, und wie ein lauter Donnerſchlag warf es ſich in in den Wagen hinein. Nun hoͤrt ich bloß das Raſſeln der Raͤder, wie eine ganz ferne Kaskade, ich fand mich am Morgen in mei - nem Zimmer wieder.

Alles iſt Trug und Schein um uns her, aber warum wir uns ſelbſt Phantaſien erſchaffen, die unſer Inneres ſo gewaltig umruͤtteln, o wer kann das ergruͤnden?

Meine Haͤnde zittern noch, wenn ich daran denke, und doch iſt es voruͤber und ich zweifle jetzt ſelbſt daran, daß es war. Weiß ich doch kaum, was ich jetzt thue und denke.

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29. William Lovell an Andrea Coſimo.

In manchen Stunden, wenn ich ſo recht in - nig fuͤhle, wie alles umher und in uns nur Dunſt und Rauch iſt, moͤcht ich Dich fragen: aber was iſt denn der Menſch und ſein eigentli - ches Selbſt? Was koͤnnen wir in ihm gut und boͤſe, thoͤricht und verſtaͤndig nennen? Alles iſt ein voruͤberaehend Raͤthſel, fades Wortſpiel und langweiliger Zeitvertreib.

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30. Andrea Coſimo an William Lovell.

Jedermann hat ſeine eigene Stimme und nur wenige wiſſen, was ſie mit dieſer ſagen wollen. Die ganze Welt iſt nichts als ein Gemaͤhlde, wo jedes Auge die Farben anders ſieht. Auch meine Worte gehoͤren nur mir zu und paſſen im Munde keines andern.

Warum ſuchen wir immer nur Unterſchiede zu machen? Alles in der Natur hat ſeinen na - hen und fernen Endzweck, wenn wir ihn auch nicht gewahr werden, weil wir Menſchen ſind, und immer wider unſern Willen uns ſelbſt zur Axe des Univerſums machen und machen muͤſ - ſen. Eben ſo iſt es in uns ſelber. Die Unterſchiede erfand nur der bloͤdere Sinn, um die Menſchen in Reihen zu ſtellen; welcher Edle hatte nicht dieſelben Neigungen und Triebe, dieſelben Vorſaͤtze, die der faßte, den wir ei - nen Boͤſewicht nennen? Der Menſch kann nur unterſcheiden nach den Erſcheinungen, die aͤu -ßer -337ßerlich und zufaͤllig aus ſeinem Bruder heraus - treten. Ich moͤchte keinen verdammen und kei - nen vergoͤttern, es iſt alles Ein Gefolge, in dieſelben Gewaͤnder eingehuͤllt, mir alle gleich unkenntlich und gleich gut, ein Trauerzug, der auf Bergeswegen dahin geht, und hinter einem dunkeln Walde verſchwindet.

Lovell. 2r Bd. Y338

31. Andrea Coſimo an William Lovell.

Freylich, lieber William, taͤuſcht uns alles in und außer uns, aber eben deswegen ſollte uns auch nichts hintergehen koͤnnen. Wo ſind denn nun die Quaalen, von denen ich ſo oft muß re - den hoͤren, die unſre Irrthuͤmer, unſre Zwei - felſucht, der erſte Sonnenſtrahl unſerer Ver - nunft uns erſchaffen? Es iſt die Zeit, die auf ihrem Wege durch die große weite Welt auch durch unſer Inneres zieht, und dort alles auf eine wunderbare Weiſe veraͤndert. Veraͤnderung iſt die einzige Art, wie wir die Zeit bemerken, und weil wir die Faͤhigkeit haben zu denken, haben wir auch zugleich die Fertigkeit verſchie - denartige Gedanken hervorzubringen. Weil ei - ne Gedankenfolge uns ermuͤdet und am Ende nicht mehr beſchaͤftigt, ſo macht eben dies eine andere nothwendig; und dies nennen die Men - ſchen gewoͤhnlich eine Veraͤnderung ihres Cha - rakters und ihrer Seele, weil ſie ſich immer viel zu wichtig finden, und ſich gern uͤber und339 uͤber ſo mit Lichtern beſtecken moͤchten, daß man ſie aus dem Glanze gar nicht heraus finden kann. Kann ſich denn aber das Weſen veraͤn - dern, das wir unſre Seele nennen? Hat es Theile, die von ihm losgeriſſen, oder die ihm angeſetzt werden? Wechſelt es ſich mit einem andern aus? O Freund, wir wechſeln mit den Federn mit denen wir ſchreiben, die Seele mit ihrem Spielzeuge, den Gedanken, die von ihr ſelbſt ganz unabhaͤngig und nur ein feineres Spiel der Sinne ſind.

Alles, was wir in uns kennen, iſt Sinn - lichkeit, dorthin fuͤhren alle Fußtapfen, die wir in der einſamen Wuͤſte entdecken, zu dieſer ein - zigen Hoͤle werden wir immer wieder zuruͤckge - fuͤhrt, ſo ſeltſam ſich der Weg auch kruͤmmen mag. Nur in der Sinnlichkeit koͤnnen wir uns begreifen, und ſie regiert und ordnet das Ge - webe, das wir immer von unſerm Geiſte ge - trieben glauben. Bloß hierauf koͤnnen ſich alle Plane und Entwuͤrfe, Wuͤnſche und ſtille Ahn - dungen gruͤnden; in dieſer Koͤrperwelt bin ich mir ſelbſt nur mein erſtes und letztes Ziel, denn der Koͤrper ordnet alles nur fuͤr ſeinen Koͤrper an, er findet bloß Koͤrper in ſeinem Wege, undY 2340eine Verbindung zwiſchen ihm und dem Geiſte iſt fuͤr unſer Faſſungsvermoͤgen unbegreiflich. Die Seele ſtehet tief hinab in einem dunkeln Hintergrunde und lebt im weiten Gebaͤude fuͤr ſich, wie ein eingekerkerter Engel: ſie haͤngt mit dem Koͤrper und ſeinen vielfachen Theilen eben ſo wenig zuſammen, wie der Verbrecher mit der Stadt in der er gefangen ſitzt; wie man eben ſo wenig glauben wuͤrde, daß alle Straßen mit den Thoren und Thuͤrmen umher bloß fuͤr den Gefangenen angelegt waͤren.

Was kann ich alſo fuͤr meine Seele thun, die wie ein unaufgeloͤſtes Raͤthſel in mir wohnt? die dem ſichtbaren Menſchen die groͤßte Will - kuͤhr laͤßt, weil ſie ihn auf keine Weiſe beherr - ſchen kann? und wie kann ein Koͤrper gut oder boͤſe ſeyn? Er iſt, das iſt ſein Verbrechen und ſeine Tugend, ſein Daſeyn iſt ſeine Stra - fe, und ſeine Wohlthat, und wer hat dies nicht ſchon in ſich ſelber empfunden?

Damit die veraͤchtlichen Maſchinen ſich bruͤ - ſten koͤnnen, haben ſie Nahmen und Unterſchie - de wie bunte, klaͤgliche Ordenszeichen erfun - den; nur der Poͤbel hat die tiefe Achtung vor dieſen.

341

Was bleibt uns uͤbrig, William, wenn wir alle leere Nahmen verbannen wollen? Frei - lich nichts zu philoſophiren und mit Enthuſias - mus fuͤr die Tugend und gegen das Laſter zu reden, kein Stolz, kein Gepraͤnge mit Redens - arten, aber immer noch eben ſo viel Raum um zu leben.

Die Empfindung geht daher einen kuͤrzern und richtigern Weg, als der gruͤbelnde Ver - ſtand; denn das Gefuͤhl iſt der Haushofmeiſter unſerer Maſchine, der erſte Oberaufſeher, der dem alten pedantiſchen Verſtande alles uͤberlie - fert, der es weitlaͤuftig und auf ſeine ihm ei - gene Art bearbeitet. Gefuͤhl und Verſtand ſind zwey nebeneinander laufende Seiltaͤnzer, die ſich ewig ihre Kunſtſtuͤcke nachahmen, einer ver - achtet den andern und will ihn uͤbertreffen.

Wenn wir nicht bloße Maſchinen ſind, ſo reißt ſich die Seele einſt gewiß von allem los, was ſie ſo laͤſtig gefangen haͤlt, ſie wird nicht ſchließen und unterſcheiden, nicht ahnden und glauben, ſondern im raſchen, reißenden Fluge nach ihrem ungekannten Vaterlande eilen, wo ſie wirken und ungefeſſelt dauern kann.

Wenigen wundervollen Menſchen war es vielleicht gegoͤnnt, ſich ſchon hier, von den342 Gauklern, ihren Sinnen, noch umgeben, ken - nen zu lernen, und in ihre innerſte, verbor - genſte Tiefe zu ſchauen. Aber die Natur wi - derſtrebt mit allen ihren Kraͤften, ſie ſind ſelt - ſame Wunderdinge, die ſich vor ſich ſelber ent - ſetzen; die Fugen ſind geriſſen, der Geiſt ſieht unmittelbar, ohne Sinne und ohne das Mittel - glas des Verſtandes, in das Daſeyn und die Gegenſtaͤnde hinein und der Koͤrper ſchaudert unter heftigen Zuckungen.

343

32. Balder an William Lovell.

Heut ſcheint die Sonne freundlich und ich den - ke an Deinen Nahmen, denn er iſt wie blauer Himmel. Da war mir, als hoͤrt ich Deinen Gang hinter mir in den Gebuͤſchen und ich ſah mich um. Aber der Wind kletterte nur in den Baͤumen umher, und pfluͤckte einige reife Blaͤt - ter, die er der Erde, ſeiner Mutter, zum Ver - zehren hinlegte. Nun hab ich noch in meiner Schreibtafel ein Blatt Papier und ich will es nehmen, und jetzt mit Dir ſprechen; vielleicht findet ſich einſt ein Mann, der es zu Dir hin - uͤbertraͤgt.

Wechſelnd gehn des Baches Wogen
Und er fließet immer zu,
Ohne Raſt und ohne Ruh,
Fühlt er ſich hinabgezogen,
Seinem dunkeln Abgrund zu.
Alſo auch des Menſchen Leben,
Liebe, Tanz und Saft der Reben
Sind die Wellenmelodie,
Sie verſtummt ſpa[ͤ]t oder früh.
344
Ewig gehn die Sterne unter,
Ewig geht die Sonne auf,
Taucht ſich roth ins Meer hinunter,
Roth beginnt ihr Tages-Lauf.
Nicht alſo des Menſchen Leben,
Seine Freuden bleiben aus,
Iſt er nur dem Tod gegeben,
Er behält ihn dort im dunkeln Haus.

So werd ich jetzt gezwungen, nach einem gewiſſen Klange zu reden, der wie ein Waſſer - fall in meiner Seele auf - und niederſteigt. Mich beſuchen oft Leute in meiner einſamen Wald - wohnung, und ſagen es ganz laut, ſo daß ich es hoͤre, ich ſey ein Prophet von Gott geſandt. Die guten Leute meinen es aber in ihrem Sin ne recht gut, nur ſchieben ſie das meiſte auf meinen Bart, der mir wider meinen Willen ſo lang gewachſen iſt.

Die Sonne ſpielt froͤhlich zwiſchen den dun - kelgruͤnen Zweigen herab und ich ſehe, wie je des Thier ſich in ihr goldnes Netz ſo gern und willig faͤngt. Die ganze Natur iſt begeiſtert und die Waldvoͤgel ſingen lange und ſchoͤne Lie - der, und die Baͤume ſtimmen drein mit lautem ehrwuͤrdigem Rauſchen und wie Harfenſaiten345 zittert und klingt alles[um] mich her, und ich ſinge innerlich Geſaͤnge, ohne daß ich es weiß.

Alte graue Helden treten
So vertraulich zu mir her,
Ehrfurchtsvolle Prieſter beten,
Und es rauſcht das griech’ſche Meer.
Circe’s Weberſtühle ſauſen,
Die Charybdis ſtrudelt wild,
Pan erwacht, die Wälder brauſen,
Jäger ſtarren und es flieht das Wild.
Lanzenkämpfer taumeln rüſtig,
Sich auf Roſſen auf und her,
Und Arioſt erſinnet liſtig,
Seine wundervolle Mähr
Vom Orlando, Rodomant,
Ach in ſeinen Liedern ſonnt
Sich der Dichter, plötzlich bricht er ab
Ihn verſchlingt das offne Grab.
Ach und keine Verſe ſprechen
Sanften Troſt dem Armen zu,
Alle Harfenſaiten brechen
Um ihn her die fürchterlichſte Ruh.

Ich denke noch daran, daß wir oft uͤber al - les ſprachen, was ich jetzt immer wirklich vor mir ſehe.

Alle dieſe Leute ſind nicht todt, ſondern nur verdunkelt, ſie kommen, wenn ich ſie rufe, und vertragen ſich bruͤderlich mit mir.

346

Denkſt Du noch zuweilen an mich, wie ich an Dich und Deine Thorheiten denke? Es iſt mir jetzt ein neues ruhiges Leben angegangen, ich weiß es nicht zu ſagen, wie ſehr ich inner - lich froh bin. Eine andere ſtillere Seele iſt in mich eingegangen, und die hat uͤber mich eine beſſere Herrſchaft angefangen.

Ich weiß nicht in welchem Waldgebirge ich wohne, denn ich erkundige mich nie mehr nach Nahmen. Es ſieht um meine Wohnung wun - derlich und doch ſchoͤn aus. Felſen ſtehn hoch und ernſthaft da, und Ulmen und Pappeln, und an den ſenkrechten Waͤnden haͤngt der Epheu dick wie Rieſenlocken herunter. Es iſt alles hier um mich lebendig und voll Freundſchaft, die Baͤume gruͤßen mich, wenn ich aufwache, der Himmel zieht purpurroth uͤber meinen Kopf weg und ſeine bunten Lichter ſpielen um mich herum und necken mich. Ach Freund, wenn man die Blumen und Pflanzen naͤher kennen lernt, was ſie dann anders ſind, als man ge - woͤhnlich glaubt, ſie ſind kluͤger als die Leute denken, und haben auch mehr Gewalt, als man meint. Die Menſchenwiſſenſchaft kennt nur ei - nen Theil ihrer geheimen Kraft.

347
Blumen ſind uns nah befreundet,
Pflanzen unſerm Blut verwandt,
Und ſie werden angefeindet,
Und wir thun ſo unbekannt.
Unſer Kopf lenkt ſich zum Denken
Und die Blume nach dem Licht,
Und wenn Nacht und Thau einbricht
Sieht man ſich die Blätter ſenken.
Wie der Menſch zum Schlaf einnickt,
Schlummert ſie in ſich gebückt.
Schmetterlinge fahren nieder,
Summen hier und ſummen dort,
Summen ihre träge Lieder,
Kommen her und ſchwirren fort,
Und wenn Morgenroth den Himmel ſäumt,
Wacht die Blum und ſagt, ſie hat geträumt,
Weiß es nicht, daß voll von Schmetterlingen
Alle Blätter ihres Kopfes hingen.

O was wuͤrden die Menſchen in der Nacht erblicken, wenn ſie ploͤtzlich in ihren Traͤumen aufwachen koͤnnten. Der Traum ſteht vor ih - nen und weiß wenn der Menſch nicht mehr ſchlaͤft, der gewoͤhnliche Betrug giebt auf den erſten Wink Acht und rennt wieder an ſeine Stelle. Aber ich war einmal krank und ſah alles mit Augen, und griff es mit dieſen Haͤn - den, mit denen ich jetzt ſchreibe, ich weiß ſelbſt nicht warum; da hielt ein jedes Wunder or -348 dentlich ſtand und ich lachte uͤber die andern Menſchen.

Auch die Voͤgel und die Thiere, die Berge und die Felſen ſind anders, als die Menſchen ſich einbilden wollen es zu wiſſen. Es iſt nur zu weitlaͤuftig, ſonſt koͤnnt ich hier viel davon ſchreiben und es wuͤrde doch weder Dir noch einem andern Menſchen nuͤtzen, denn wer’s nicht ſchon vorher weiß, kann mich doch immer nicht verſtehn. So geht es mit allem Guten. Jeder Menſch ſpielt ſein eigenes Inſtrument und hat einen andern Takt und ein anderes Lied abzuſpielen.

Da hab ich hier in einem Felſen einen Menſchen gefunden, der alles ſo ſehn kann, wie ich. Daß ſich die Klugen doch ſo gern aus der Welt zuruͤckziehn! Aber in der Einſamkeit denkt und fuͤhlt die Seele anders, ſie wird nicht durch das unordentliche Gezwitſcher und Gepolter unterbrochen. In der freyen Natur iſt alles mit der Seele verwandt und auf einen Ton geſtimmt, in jedes Lied ſtimmt ſie frey - willig ein und iſt das Echo und eben ſo oft der Vorſaͤnger von allem was ich denke: ein kleiner Vogel kann mir vielen Verſtand in mei -349 nen Kopf hereinlocken. Der Menſch iſt taub und kann mich nicht reden hoͤren; aber wozu brauchen Menſchen die Sprache? Sie iſt unnuͤtz und eine ſeltſame Erfindung. Sie iſt erfunden, um zu luͤgen, nicht um die Wahrheit zu reden, denn ſonſt waͤre ſie beſſer und verſtaͤndlicher; ein boshafter Luͤgner weiß alles damit zu ma - chen, dem Verſtaͤndigen faͤllt ſie zur Laſt.

Wir leben wie Bruͤder bey einander und er hat gar kluge Einfaͤlle. Uns beiden kommt die Welt anders vor, wie den uͤbrigen Leuten, und doch iſt die Kunſt nur ſo klein und einfach.

Ich halte mir auch Tauben, die ganz zahm geworden ſind und doch ihren natuͤrlichen Muth und Verſtand behalten haben. Ich habe ſehr viel von ihnen gelernt, wenn ſie manchmal ſo unter ſich mit dem Kopfe nickten und girrten und ſich ihre Zeichen machten, mit denen ſie manchmal uͤber den Menſchen ſpotten. Dieſe und die Laͤmmer, die mit mir eſſen, ſind die unſchul - digſten und beſten Geſchoͤpfe von der Welt, und wenn ſie Dich kennten, wuͤrden ſie Dich gruͤßen laſſen. Es iſt nur um die Reiſe zu thun, ſo koͤnnteſt du hier mit mir leben.

350

Von den großen Dingen, die ich weiß, kann und darf ich Dir nichts ſchreiben. Es iſt bloß darum ein Geheimniß, weil Du es nicht ver ſtehn wuͤrdeſt.

Den Nahmen Gottes denen nennen,
Die ihn nicht mit dem Herzen kennen,
Iſt Miſſethat.
Es hängen um mich Geiſterchöre,
Und ſprechen laut, daß ich es höre;
Sie halten Rath.
» Laß Menſch jetzt deine Zunge ſchweigen,
» Bis ſich die runden Jahre neigen, «
So tönt’s herab;
» Was willſt du vor der Zeit enthüllen?
» Den Durſt nach dieſer Weisheit ſtillen
» Ja Tod und Grab! «

Und ſo will ich denn lieber enden, um mir kein Mißfallen zuzuziehn.

Lebe wohl, William, ſo ſchreibe ich hier in meinen Bergen. Die Stauden winken mir, zu ihnen zu kommen, und ein Wort mit ihnen zu ſprechen, denn ſie halten alle viel von mir; meinen Roſen muß ich noch Waſſer zu trinken geben, und dann muß ich die kranke Pappel beſuchen, die der Wind eingeknickt hat. Es iſt ganz mein freyer Wille, aber ich habe es mir ſelbſt zum Geſetze gemacht; ich helfe ihnen351 in vielen Sachen, und die Blumen und Baͤu - me hier wuͤrden ſich ſehr graͤmen, wenn ich einmal fortzoͤge.

Die Laͤmmer wundern ſich, weil ich ſchrei - be, was ſie von mir noch nicht geſehn haben. Die unſchuldigen Thiere koͤnnen nur auf ihre Art ſprechen, und es iſt auch eben ſo gut.

Lebe recht wohl, ich will das Blatt einem fremden Manne geben.

352

33. William Lovell an Roſa.

Wohin ſoll ich mich mit meinen Gedanken und Empfindungen wenden? Ueberall bin ich mir fremd, und uͤberall find ich mit meinen Ideen einen wundervollen Zuſammenhang. Der hoͤchſte Klang des Schmerzes und der Quaal fließt wieder in den ſanften Wohllaut der Freu - de ein, das Veraͤchtliche ſteht erhaben und die Erhabenheit faͤllt zu Boden. Wie im Abgrunde der See Geſchmeide und Koſtbarkeiten unter Schlamm und neben verweſeten Gerippen glaͤn - zen, ſo ſeltſam liegt alles in meinem Innern durcheinander.

Es funkelt Gold in wilden Trümmern,
Tief im verborgenen Geſtein,
Ich ſehe ferne Schätze ſchimmern,
Mich lockt der räthſelhafte Schein.
Und hinter mir fällt es zuſammen,
Ha! um mich her ein enges Grab,
Die Welt, der Tag entflieht, die Flammen
Der Kerzen ſinken, ſterben ab.
Die
353
Die Hand klopft zitternd an die Wände,
Der unterirrd’ſche Wandrer ſchaut
Nach Licht und Rettung, ohne Ende
Das Dunkel! Ihn erquickt kein Laut.
Er hämmert in den Felsgemächern
Mit einer dumpfen Lebensgier,
Gefangen von den dunkeln Rächern,
Zur Strafe ſeiner Wißbegier.
Da äugelt aus der fernſten Ritze
Ein blaues Lichtchen nach mir hin,
Ich krieche zu der ſchroffen Spitze,
Und taſte mit entzücktem Sinn,
Und ach, es iſt das Goldgeſtein,
Das mich zuerſt hieher verſucht,
Nun labt mich nicht der Flimmerſchein,
Der boshaft mich zuerſt verſucht.
Es ſehnt der Geiſt ſich nach dem Bande,
Das ihn mit zarter Feſſel hielt,
Als er ſich wie im Vaterlande
In ſeiner ſtillen Bruſt gefühlt.
Doch fern ach! liegt das heimiſche Geſtade,
Am wilden Taurien verirrt,
Kniet er umſonſt und flehet Gnade,
Das blut’ge Opfermeſſer klirrt!
Doch Blumen blühn in dieſen Schrecken,
Die hell mit rothem Purpur glühn,
Die Todesſchatten, die ihn decken,
Sie laſſen prächt’ge Funken ſprühn.
Lovell. 2r. Bd. Z
354
Liegt alles nur im Sinnenglücke?
Vereint ſich jeder Ton zum Chor?
Für tauſend Ströme eine Brücke?
Gehn alle Pilger durch daſſelbe Thor?
So öffnet mir die dunkeln Reiche,
Daß ich ein Wandrer drinnen geh,
Daß ich nur einſt das Ziel erreiche
Und jedes Wunder ſchnell verſteh.
Eröffnet mir die finſtern Pforten,
An denen ſchwarze Wächter ſtehn,
Laßt alle gräßlichen Kohorten,
Mit mir durch jene Pfade gehn!
Je wildre Schrecken mich ergreifen,
Je höher mich der Wahnſinn hebt,
So lauter alle Stürme pfeifen,
Je ängſtlicher mein Buſen bebt,
So inniger heiß ich willkommen
Was gräßlich ſich mir näher ſchleift,
Dem irrd’ſchen Leben abgenommen,
Zum Geiſterumgang nun gereift.
Alles Wilde, was ich je gedacht,
Alle Schrecken, die ich je empfunden,
Rückerinn’rung aus der trübſten Nacht,
Grauen meiner ſchwärzſten Stunden,
O vereinigt euch mit meinen Freuden,
Stürmet alle um mich her,
Schlinget euch an alle meine Leiden,
Fluthet um mich gleich dem wilden Meer,
Daß das Morgenroth ſich in dem Abgrund ſpiegle,
Graun und Schrecken meine Heymath ſey,
355
Daß der Wahnſinn immer raſcher mich beflügle,
Und zum dunkeln Thor der Hölle zügle,
Nur Erynnen! giebt mich von den Zweifeln frey!

O Roſa, hier haͤtten Sie nun von neuem Gelegenheit, uͤber mich zu ſpotten, aber ich fin - de immer mehr, daß man manches nur in Ver - ſen und in einer Art von Wahuſinn ſagen koͤn - ne, die proſaiſche Sprache widerſpricht dieſem Unſinn in jeder Zeile.

Leſen Sie doch aufmerkſam Balders wun - derbaren Brief, der wie der Geſang eines frem - den, verirrten Vogels zu uns heruͤbertoͤnt.

Ich moͤchte Ihnen gern noch ſo vieles ſchrei - ben und kann keine Worte und keine Begriffe finden, es iſt alles in mir wuͤſt und verlaſſen, wie eine Gegend nach einem Erdbeben.

Ich kann in mir ſelber keine Ruhe finden. Geben Sie mir nur Eine Ueberzeugung und ich bin zufrieden. Dieſer Zweifel iſt der Henker, der unſre Seele auf die Folter legt. Andrea mag mir dagegen ſagen, was er will: es iſt die Arbeit der Danaiden in der Unterwelt, immer wieder von neuem und ſtets von neuem dieſelben Gedanken ohne Erfolg durch unſern Kopf rin - nen zu laſſen.

Z 2356

34. Willy an ſeinen Bruder Thomas.

Lieber Bruder.

Ich habe Dich alſo doch nun wirklich endlich geſehen, und ich bin nun wieder umgekehrt, und ſitze und denke hier in Kenſea wieder an Dich, wo ich nach dem Willen meines lieben verſtorbenen Herrn als ein Verwalter bleiben ſoll, bis mein Herr William aus Italien zuruͤckkoͤmmt. Wie iſt die Zeit und das menſchliche Leben doch ſo gar fluͤchtig! Es iſt nicht anders, als wenn wir nur ſolche Bilder waͤren, die auf den Schießplaͤtzen den Schuͤtzen oft vorbeygezogen werden, man ſieht ſie kaum, ſo ſind ſie auch ſchon wieder weg.

Hier leb ich nun recht ruhig und von der ganzen Welt abgeſondert. Ich denke oft an den guten alten Lord Lovell, der nun auch geſtor - ben iſt, und an alles, was ich ſo Zeit meines Lebens erfahren habe. Ich bin innerlich recht zur Ruhe gekommen und es iſt mir, als wenn ich mich immerfort im Stillen graͤmte. Das357 iſt nun hier daſſelbe Haus, in das ich als ein junger Burſche ſo munter und flink eintrat und mir alles in der Welt ſo herrlich und wie an - geputzt vorkam; ich dachte immer: Ey, Willy, du biſt jung, wie vieles Gluͤck kann Dir noch begegnen, nur friſch und munter! Ich ſchrieb Dir damals auch einen langen und recht uͤber - muͤthigen Brief, denn ich bildete mir auf die blanken Treſſen auf meinem Rocke nicht wenig ein; es war mir mein Blut ſo warm, daß ich ordentlich glaubte, die ganze Welt ſey nur mir zu Gefallen erſchaffen. Und nun, lieber Bru - der, wenn ich daran denke, wie manche ſchwe - re Krankheit ich ſeitdem uͤberſtanden habe, wie oft es Dir ſo recht ſchlecht gegangen iſt, daß ich herzlich weinen mußte, was alles der gute Lord Lovell gelitten hat, wie wir uns beyde nur im Grunde wenig geſehn hatten, wie ich mit der Herrſchaft bald hier und bald da ge - wohnt habe, und wie ich nun als ein alter ab - gelebter Mann wieder uͤber dieſelbe Schwelle ſchritt, uͤber die ich als ein junger Burſche ſprang, o lieber Bruder, ſo kann ich Dir gar nicht ſagen, wie ſeltſam mir dabey zu Mu - the wird. Ich moͤchte ſagen, ich haͤtte mich358 damals bloß in einen jungen Menſchen verklei - det, oder mich nur jung angeſtellt, ſo unnatuͤr - lich koͤmmt es mir von damals vor. Herr Mor - timer und ſeine Frau iſt einmal hier durchge - fahren und er hat mich bey der Gelegenheit be - ſucht. Er iſt munter und geſund und dabey recht freundlich gegen mich.

Ich gehe fleißig in die Kirche und halte mich jetzt mit meinen Gedanken mehr zu Gott, als jemals. Alles uͤbrige iſt doch nur eitel und vergaͤnglich.

Der Garten hier iſt gegen ehemals recht verwildert und ich kann ihn mit dem Gaͤrtner unmoͤglich wieder recht in Ordnung bringen; das liebe Unkraut hat ſich allenthalben einge - ſchlichen und tiefe Wurzel gefaßt; wir thun bei - de was wir koͤnnen, aber es will immer nichts fruchten.

Bleib ja geſund, lieber Bruder, daß wir uns vor unſerm Tode noch einmal ſehn koͤnnen, endlich muß es doch an’s Sterben gehn, da hilft kein Widerſtreben und dann wollen wir ſanft und geruhig in dem Herrn entſchlafen.

359

35. Thomas an ſeinen Bruder Willy.

Deine Briefe, lieber Willy, ſind mir jetzt immer gar zu fromm. Es iſt freylich wohl wahr, daß man ſich in Deinem Alter von dem Irrdiſchen etwas abziehen kann, und man thut ganz recht und wohl daran, aber alles Ding, Willy, hat auch ſein Maaß und Ziel. Wir ſind in der Welt, um zu arbeiten, und etwas zu thun und dazu moͤchte man alle Kourage verliehren, wenn man immer nur an die Ver - gaͤnglichkeit der Dinge denken wollte, darum bilde ich mir manchmal ein, daß manches, was ich thue und verfertige, ewig dauern wuͤrde, und mir iſt ganz wohl dabey zu Muthe.

Was du mir von Deinem Garten ſchreibſt, will ich gar gern glauben, weil Du und der Gaͤrtner vielleicht nicht mit dem Dinge umzu - gehen wiſſen. Auch gehoͤren zu ſolchem Werke viele Arbeiter und Gartenknechte, wie du wohl auch hier an meinem Garten in Bonſtreet wirſt geſehn haben; die Natur haͤngt einmal nach360 dem Verwildern hin, und darum muß man Tag und Nacht dagegen arbeiten.

Der alte Lord Burton iſt recht gefaͤhrlich krank und ich glaube, daß er ſchon zum Grabe reif iſt. Die Unterthanen ſind alle vergnuͤgt, und ſeine Kinder ſind die einzigen, die ich wei - nen ſehe. Es iſt ihre Pflicht, als Kinder, ſonſt hat er von den andern nicht leicht eine Thraͤne verdient; er bekehrt ſich vielleicht noch in ſeinen letzten Stunden, welches ich von Her - zen wuͤnſchen will. Auf den Sohn hoffen wir aber alle recht mit Sehnſucht, und ich denke, es ſoll denn auch mit meinem Garten hier ein ander Anſehn gewinnen. Ich habe mit allen meinen Herrſchaften bisher immer Ungluͤck ge - habt; die alte Dame in Waterhall ließ den Garten faſt ganz verwildern, und der alte Lord Burton hat gar keinen recht guten Geſchmack, und man darf ihm nichts einmal dagegen ſagen, ſonſt wird er noch obendrein boͤſe. So alt ich bin, ſo hoͤr ich es doch gerne, wenn fremde Herrſchaften ſo den Garten und den Fleiß des Gaͤrtners loben, und der Sohn, der junge Herr, hat auch ſchon manchmal mit mir daruͤber ge - ſprochen, auſſer ſeit ſein Vater ſo krank iſt, wo361 er ordentlich melancholiſch geworden iſt. Man ſoll den hieſigen Garten gewiß weit und breit loben, die Leute ſollen weit hieher reiſen, um ihn zu ſehn. Siehſt Du, Willy, noch in mei - nen alten Tagen denke ich Ehre einzulegen, ich thue nicht ſo verzagt wie du. Lebe wohl und bleibe nur geſund.

362

36. Andrea Coſimo an William Lovell.

Iſt denn Dein umherſchweifendes, unruhiges Gemuͤth nun endlich zur Ruhe gebracht? Deine wilden Zweifel ſind aufgeloͤſt und Du wirſt Dich und die Welt wieder unbefangener betrachten koͤnnen. Ich habe alles fuͤr Dich gethan, was ich thun konnte, und der ungeſtuͤmſte Zweifler haͤtte dadurch befriedigt werden muͤſſen.

363

37. William Lovell an Andrea Coſimo.

Ich danke Dir, daß Du mich endlich aus den verworrenen Labyrinthen wieder zum Lichte des Tages gefuͤhrt haſt, denn meine Seele erlag allen den ungeduldigen Zweifeln. Aber jetzt ord - net ſich alles Unſtaͤte und Umherſchweifende in meinem Gemuͤthe wie an Faͤden die alle in Ei - nem Mittelpunkte zuſammentreffen. Du haſt mich von der Wirklichkeit einer wunderbaren Welt uͤberzeugt und alles hat ſich in mir zu - frieden gegeben, alle Ideen und Empfindungen nehmen wieder ihre natuͤrliche Stelle ein und die Harmonie mit mir ſelbſt iſt hergeſtellt.

364

38. William Lovell an Roſa.

Endlich, Freund, bin ich beruhigt, ich habe die hoͤchſten Spannungen der Phantaſie uͤber - ſtanden und ein gewoͤhnlicheres Leben nimmt ſeinen Anfang. Andrea hat mich endlich von ſeiner Lehre uͤberzeugt und ich fuͤhle mich inner - lich beruhigt, ich bin an eine ſtille ruhige In - ſel nach einem wilden Sturme verſchlagen. Fol - gen Sie meinem Beyſpiele, Roſa, und werfen Sie ſich einer Ueberzeugung in die Arme, um beruhigt zu werden. Ueberzeugungen muß der Menſch haben, um ſein Daſeyn ertragen zu koͤnnen, um nicht vor ſich ſelbſt und dem Ab - grunde den er in ſeinem Innern entdeckt zuruͤck - zuſchaudern. Ich mag dieſe Nothwendigkeit keine Schwaͤche nennen, denn durch Glaube und Ueberzeugung fuͤhlt ſich der Menſch ſtark; ſeine Zweifel waren nur ziehende Wogen die ihn an das feſte Geſtade trugen.

365

39. Mortimer an Eduard Burton.

Ich habe ſeit lange, theurer Freund, keine Nachrichten von Ihnen erhalten, und ich gera - the faſt in die Beſorgniß, daß Sie ebenfalls krank ſind. Mit Ihrem Vater hat es ſich wahr - ſcheinlich nicht gebeſſert, denn ſonſt wuͤrden Sie mir wohl einige Nachricht davon gegeben ha - ben.

Ich fuͤhle mich in der Einfoͤrmigkeit des Landlebens noch immer ſehr gluͤcklich; es ſchei - nen mir lauter Mißverſtaͤndniſſe zu ſeyn, wenn die Menſchen ſo aͤmſig nach ihrem Gluͤcke ſu - chen, ſelten denkt man ſich bey dem Worte Gluͤck etwas deutliches, und die Wandrer gehn nun oft auf wunderbaren Wegen um das Ziel herum. Amalia iſt eben ſo froh und geſund, als ich bin, und ich moͤchte ſagen, daß ſie mit jedem Tage heiterer wird.

Ich habe mich jetzt daran gewoͤhnt, eine[eigene] Haushaltung zu fuͤhren, und ich und meine Frau haben uns noch nie geſtritten, ein366 paar recht freundſchaftliche Zaͤnkereyen abgerech - net, die uͤber ein haͤsliches Weib entſtanden, die Amalia aus zu großer Gutherzigkeit in ihre Dienſte genommen hat. Dies Weſen hat ganz das Anſehen einer verzauberten Fee, wenigſtens habe ich noch in keinem Maͤhrchen eine Be - ſchreibung von einer haͤßlichern gefunden, ihre Phyſiognomie iſt mir im hoͤchſten Grade zuwi - der, es iſt nicht meine Schuld, wenn ich ſie zugleich fuͤr boshaft halten muß.

Leben Sie recht wohl und antworten Sie mir bald.

367

40. Eduard Burton an Mortimer.

Ich konnte Ihnen bisher nicht ſchreiben, theu - rer Freund, weil die Krankheit meines Vaters, die mit jedem Tage zunahm, mich zu ſehr[be - ſchaͤftigte] und zerſtreute. Sie ahnden es viel - leicht aus dieſem Anfange, daß er nicht mehr iſt, und dieſe Nachricht war es, die der Inn - halt meines Briefes werden ſollte. Ja Morti - mer, er hat endlich alle Schmerzen die ihn fol - terten uͤberſtanden, und auch ich bin nun ruhi - ger. Seine Seele ſchied ſchwer von ihrem Koͤr - per, der ſie doch nicht mehr zuruͤckhalten konn - te; ich kann es nicht unterlaſſen, ihn ſtets von neuem zu beweinen, wenn es mir wieder lebhaft einfaͤllt, daß er nicht mehr iſt, ſo viel ich auch in manchen Stunden von ihm habe leiden muͤſ - ſen. Ach, ich habe alles, alles vergeſſen, denn er war in ſeinen letzten Stunden ſo freundlich und zaͤrtlich gegen mich; er haͤtte ſich mit der ganzen Welt ſo gern verſoͤhnt, und ſprach oft mit vieler Ruͤhrung von Lovell, ſeinem geſtorbe -368 nen Feinde. Vor ſeinem Tode hat er noch viele Papiere verbrannt, die er mit naſſen Au - gen betrachtete.

Leben Sie recht wohl und gluͤcklich, ich wer - de Sie auf einige Tage beſuchen, um mich zu zerſtreuen. Morgen iſt das Begraͤbniß.

[369]

William Lovell. Drittes Buch.

Lovell. 2r Bd. A a[370][371]

1. Eduard Burton an Mortimer.

Mein Sinn iſt wieder frey, und die Natur umher wieder heiter. Die tiefe Traurigkeit kann mit allem Rechte zu den gefaͤhrlichen Krank - heiten gerechnet werden. Ich bin jetzt geneſen, und der Schmerz der Ruͤckerinnerung iſt weit ſanfter und geiſtiger; wenn ich jetzt nur noch einige Geſchaͤfte in Ordnung gebracht habe, ſo ſehn Sie mich auf einige Tage in Ihrer Woh - nung.

Wozu die Klagen, die ungeſtuͤmen Stuͤrme gegen ein unabaͤnderliches und gewiß guͤtiges Schickſal? Er iſt hinab, zur Ruhe gegan - gen, und es iſt menſchlich die Arme nach dem Verſchwindenden auszuſtrecken; aber war denn das Leben ſein Gewinn und ſein Gluͤck? Der Menſch betrachte den Himmel mit ſeiner Son - ne und mit ſeinen Sternen, und alle aͤngſtlichenA a 2372Zweifel in ſeiner Bruſt werden vergehen, das Wohlwollen das wir in uns ſelbſt empfinden, iſt die Seele der ganzen Natur, ein Strom aus dem allgemeinen Meer der Liebe, aus Gott der ſich in jedes Herz mit leiſem Rieſeln ſenkt. Der gemeinſte und der hoͤchſte Sinn haben hier nur einen und denſelben Troſt.

Aus jeder herben Empfindung entſpringen bald froͤliche Gefuͤhle und ich glaube, daß mei - ne Schweſter ſchon jetzt mit Hoffnungen ihre Phantaſie ſchmuͤckt, die ſie bis jetzt unterdruͤk - ken mußte. Es iſt mir nie ſo recht gelungen, ihr eigentlicher Vertrauter zu werden, aber ich verarge ihr dies neue Leben nicht, obgleich Lo - vell in ſeiner jetzigen Stimmung ſchreckliche Saͤtze darinn uͤber die Menſchen entdecken wuͤr - de. O wie ſchmerzt es mich, ſo oft ich die - ſen Nahmen niederſchreibe!

Leben Sie recht wohl, Emilie laͤßt Ihre Gattinn herzlich gruͤßen.

373

2. Karl Wilmont an ſeinen Freund Mortimer.

Du[vermutheſt] mich vielleicht noch in Bon - ſtreet und wunderſt Dich den Brief von London datirt zu ſehn? Nein, Mortimer, ich wuͤnſchte nicht, daß Du lange in Deinem Erſtaunen bleiben moͤgeſt, denn ich fuͤhle es, daß ich hier ſeyn muß.

Ich habe vier gluͤckliche Tage in Bonſtreet, an Emiliens Seite verlebt, und bey Gott, es hat mich noch nicht einen Augenblick gereuet, daß ich wieder ſo ſchnell abgereiſt bin. Ich ſollte unwuͤrdig genug ſeyn, Sie ſogleich mit ihrer reichen Ausſteuer zu heyrathen und dann gemaͤchlich von ihrem Vermoͤgen zu leben? Es kam bloß auf mich an, aber bey der erſten Nachricht von Burtons Tode ging mir der Ge - danke durch[den] Kopf, daß ich ein unwuͤrdiger Menſch waͤre, wenn ich es thaͤte. Du weißt, daß ich mehrere gute Empfehlungen an den Mi - niſter hatte, und er nahm mich freundlicher374 auf als ich erwarten konnte: bey ihm arbeite ich jetzt. Ich theilte Emilien ſogleich als ich in Bonſtreet ankam meinen Plan mit und ſie konnte ihn auf keine Weiſe mißbilligen. Das Bewußtſeyn ihrer Liebe begleitet mich an mei - nen Arbeitstiſch und die ſchwerſten Geſchaͤfte laͤcheln mich an; wir ſind beyde noch jung, und ſo mag unſere Vereinigung noch immer ein Jahr oder etwas laͤnger aufgeſchoben bleiben; in dieſer Zeit denke ich befoͤrdert zu werden und ihr dann doch mit einem kleinen Gluͤcke entge - gen zu kommen.

Ich laͤchle uͤber mich ſelber wie ich bisher alles ernſtere, feſtere Leben verabſaͤumt habe, ſie nur ſo oft als moͤglich zu ſehn ſuchte, und daß ich jetzt hier ſitze, freywillig von ihr ver - bannt und mir noch aus meinem kaͤltern Sinn ein großes Verdienſt mache. Aber bisher war ſie mir ungeiſt und ich verlaͤngre nun gern mei - ne poetiſche Idyllenexiſtenz, das goldne Zeital - ter der reinen Liebe, das doch nachher auf im - mer verlohren iſt.

Meine Lebensgeiſter ſind ſehr munter, und mir iſt immer als wenn ich bey Emilien waͤre. Die Stadt mit allen ihren Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten gefaͤllt mir, denn ich375 bin wie mit einer neuen und kluͤgern Jugend beſchenkt. Wie herrlich das Leben mit ſeinem Treiben und ſeinem Gewuͤhle vor mir liegt! Wer wollte ſich nicht gern unter die Schwim - mer auf dieſem glaͤnzenden Strome miſchen?

Zuweilen mache ich mir Vorwuͤrfe daruͤber, daß ich innerlich ſo froh bin. Die Menſchen, (und ich mit eingerechnet,) ſind ausgemachte Nar - ren. Einen truͤben, verkehrten Sinn, in dem ſich alle Gegenſtaͤnde dunkel und unkenntlich ab - ſpiegeln, halten Sie vie[l]leichter fuͤr den Rahm der Tugend, als die frohe Gemuͤthsſtimmung. Ich freue mich ja nicht uͤber Burtons Tod, nicht daß er mir aus dem Wege gegangen iſt, o nein, nur uͤber die Ebene, die ploͤtzlich, ohne mein Zuthun, vor meinen Fuͤßen liegt. Die Menſchen ſind darinn ganz gute Geſchoͤpfe, und wohl mir, daß auch ich mir jetzt ſo recht wichtig und bedeutend vorkomme, daß ich alle Vorſtellungen auf mich und mein kuͤnftiges Gluͤck beziehe! Man laſſe doch alle große kos - mopolitiſche Plane, allen Kummer uͤber Welt - begebenheiten fahren, und liebe ſich und die Menſchen recht innig, die der guͤtige Himmel dicht um uns angepflanzt hat! Dieſer Empfin -376 dung, dieſem Vorſatze will ich folgen, und Du mein lieber Mortimer, biſt mit unter meine Ge - liebten eingeſchloſſen; aber auch meine Schwe - ſter die Du gruͤßen ſollſt, und jeden der ſonſt im Hauſe nach mir fraͤgt, ſelbſt die haͤsliche Charlotte nicht abgerechnet, die Dir ſo zuwi - der iſt.

377

3. Mortimer an Karl Willmont.

Deinen Gruß an Charlotten magſt Du bey der erſten Gelegenheit ſelbſt beſtellen, denn ich ſpreche nur ungern mit ihr, die uͤbrigen ſind beſorgt und alle ſagen von Herzen Dank, daß du Dich ihrer mit einem ſo froͤhlichen Wohl - wollen erinnerſt. Dein Brief, Karl, hat mir ſehr gefallen, denn eine liebenswuͤrdige Menſch - lichkeit fuͤhrt darinn das Wort, wir ſollten alle ſo empfinden, und die Menſchen wuͤrden ſich aus dieſer duͤrren Erde einen Garten machen.

Nein, du brauchſt dir keine Vorwuͤrfe zu machen, lieber, unbefangener Menſch. Liegt es denn nicht in unſerer Natur, daß wir das Gluͤck willkommen heißen, wo wir es finden? Deine Seele hat ihre Unſchuld behalten und Du wirſt nie ſchlecht empfinden, und wenn auch bey der Betruͤbniß andrer Dein Mund ſich zum frohſten Lachen zieht.

Mit Deinem Plane bin ich ebenfalls ſehr zufrieden, die Thaͤtigkeit wird Dich zum Manne378 machen, denn das iſt der große Vortheil der Beſchaͤftigung, daß ſie unſern Geiſt reifer macht, wenn ſie gleich in ſich ſelbſt oft keinen großen Werth hat. Die meiſten Menſchen wiſſen im - mer nicht, was ſie mit ihrer Zeit anfangen ſollen, wenn ſie nicht von einer geordneten Thaͤtigkeit mitgenommen werden, ſie werden dann nur gar zu leicht auch im Geiſte muͤſſig und faul und ſind nachher fuͤr jede Arbeit un - brauchbar, wenn ſie auch gerne arbeiten wollten, ihr Daſeyn wird dann durch ewige unbedeuten - de Zerſtreuungen zerſchnitten und ſie werden ſich ſelbſt zur Laſt. Du wirſt bald fuͤhlen wie Dein Geiſt durch eine nicht uͤbertriebene und verworrene Thaͤtigkeit elaſtiſcher wird und Emi - lie wird mehr als einen Gewinn davon haben.

Alle Deine Wuͤnſche moͤgen in Erfuͤllung gehn, nur erliege nicht unter Deinen Vorſaͤtzen.

379

4. Emilie Burton an ihre Freundinn Amalie.

Morgen, liebe Freundinn, reiſe ich mit meinem Bruder von hier ab, um Sie auf einige Tage zu beſuchen. Ich bin jetzt wie aus einem Ker - ker erloͤſt, ſeit ich nicht mehr ſo traurig bin; man fuͤhlt nie ſo tief, wie wenig alle Vernunft - gruͤnde vermoͤgen, man bemerkt nie ſo ſehr, wie ſchwach wir ſind, als wenn ein recht hefti - ger Schmerz unſre Seele durchdringt. Alle unſre Freuden und Hoffnungen fliehen dann ploͤtzlich hinweg, und bleiben in einer unkennt - lichen Ferne ſtehn; die Verzweiflung breitet ſich in unſerm ganzen Innern aus und wir kommen uns ſelber als Kinder vor, daß wir uns uͤber irgend etwas freuen konnten.

Aber nach einem heftigen Schmerze, wenn die Bruſt ſich erſt durch Schluchzen freyern Athem gemacht hat, fuͤhlen wir unſer Leben dann auch mit friſchem Wohlbehagen; und wie freue ich mich jetzt, Sie nach einer ſo langen380 Trennung wieder zu ſehn! Mein Herz wird ſich in Ihrem Geſpraͤche erleichtert fuͤhlen, und Sie werden mir dann ſo vieles, ſo mancherley erzaͤhlen muͤſſen. Ich erſchrecke manchmal innig, wenn ich ploͤtzlich daran denke, wie al - les ſich in und um uns veraͤndert; wie manches iſt jetzt anders als es noch vor einem Jahre war, und wie anders waren wir, als wir noch zwey Jahre juͤnger waren! Mich befaͤllt es manch, mal, daß ich glaube, der Menſch koͤnne fuͤr nichts in ſich gut ſagen; und wie betruͤbt iſt dieſer Gedanke!

Warum fang ich an ſo weitlaͤuftig zu wer - den, da wir uns nun bald muͤndlich ſprechen? Denken Sie wohl noch zuweilen an den ar - men Lovell? Was er jetzt treiben mag, der ar - me in ſich verungluͤckte Menſch! Ich moͤch - te ihn wohl noch einmal wieder ſehn. Le - ben Sie wohl.

381

5. Bianka an William Lovell.

Ich ſehe Dich jetzt nur ſo ſelten, Du eigenſin - niger Traͤumer! und dann nur auf einzelne fluͤchtige Augenblicke! Es iſt mir eingefallen, wenn ich manchmal Dein verdruͤßliches Geſicht anſehe, daß Du ſelbſt nichts weißt, was Du von Dir und von mir haben willſt. Umſonſt werden alle Scherze und jeder Muthwille wach, wenn Du bey mir biſt; Du bleibſt in Deiner Verſchloſſenheit, und laͤchelſt nur zuweilen halb mitleidig, halb erzwungen, um mich nur nicht raſend zu machen. Iſt das derſelbe Lovell den ſich vor einem Jahre mein luͤſternes Auge wuͤnſchte?

Laura iſt bey mir und wir haben eben von Deiner unertraͤglichen Laune geſprochen. Daß wir uns ſo an Dich gewoͤhnt haben, ja daß wir Dich ſo lieben, iſt um zu verzweifeln! Es fehlt nicht viel, daß wir Sonnette auf Dich machten; aber nimm Dich in Acht, daß es nicht im Ernſte Satyren werden!

382

O ihr Maͤnner! ſeyd ihr nicht unbegreifliche Thoren, daß Ihr erſt mit ſo vielen Erniedri - gungen um unſre Gunſt bettelt, und ſie verach - tet, wenn ihr endlich erhoͤrt ſeyd! Muͤßteſt Du Dich nicht hoch gluͤcklich ſchaͤtzen, daß zwey roͤ - miſche Maͤdchen, ich und meine Freundinn Lau - ra, Dich ſo lieben? nicht fuͤr Dein Geld, ſon - dern weil Du Lovell biſt. Aber Du biſt ein kalter, noͤrdlicher Satan, der mich martert und mich mit meiner innigen Liebe veraͤchtlich ſtehn laͤßt und voruͤbergeht! Ich will auch nicht mehr an Dich denken, ich will Dich bey andern Maͤnnern vergeſſen!

Aber beſuche mich nur heut noch, wenn Du Dich nicht beſſer zu beſchaͤftigen weißt, ich will meine ganze Phantaſie aufbieten, Dich froͤhli - cher zu machen.

Haſt du Verdruß, Haͤndel und Prozeſſe viel - leicht in Deinem Vaterlande? O laß alles fahren und freue Dich des Lebens und der Lie - be! Was iſt alles uͤbrige? Nicht der Muͤhe werth um davon zu reden. O das habe ich Dich ſo oft an meinem Buſen beſchwoͤren hoͤren, Du Ungetreuer! Komm und ſey jetzt nicht383 meineidig, ſondern wiederhole Deinen Schwur. Wenn Du es willſt, ſoll Laura bey mir bleiben.

Sehr naͤrriſch macht ſich die Feder in mei - nen zum Schreiben ungelenken Fingern aber moͤchten die ungeſchickten verwirrten Streiche doch Zaubercharakter ſeyn, die Dich unaufhalt - ſam herbannten!

384

6. Franzesko an William Lovell.

Sie waren geſtern ganz ohne Zweifel boͤſe auf mich, weil ich Sie mit Adriano bey Ihrer Bianka ſtoͤrte, aber ich hoffe, ich habe mich doch im Ganzen ſo ſchnell wieder entfernt, daß Sie nicht unverſoͤhnlich ſeyn werden. Ich rei - che Ihnen mit aller meiner Gutmuͤthigkeit die Hand zum Frieden, denn es waͤre unverzeihlich, wenn wir beyde noch vor Ihrer Abreiſe Feinde werden ſollten.

Wenn ich nicht etwas zu fett waͤre, ſo wuͤr - de ich Sie begleiten und bey der Gelegenheit auch einmal andre Laͤnder, als Italien zu ſehn bekommen; aber ſo bin ich in mir ſelber gefan - gen, denn das Reiſen bekoͤmmt mir nie. Son - derbar, daß wenn man es ſich gut ſchmecken laͤßt, man es nachher muͤhſam findet, einen Berg zu erklettern. Indeſſen es laſſen ſich nicht alle Genuͤſſe und alle Vortreflichkeiten verbinden.

Wenn385

Wenn ich mir meine neugierige Seele den - ke, die ſo in ſchweren unbeholfenen Feſſeln ſitzt, und doch gern manches Neue lernen und erfah - ren moͤchte, ſo bekomme ich ein ordentliches Mitleiden mit mir ſelber. Als ich noch zuwei - len weit zu Fuße ging, nahm ich mir vor, den groͤßten Theil der Welt recht genau zu[betrach - ten], und jetzt habe ich nun alles im verjuͤngten Maaßſtabe, in Kupferſtichen vor mir und muß mich daran begnuͤgen. Doch, was hat man von einer ganzen Reiſe, wenn man wieder koͤmmt?

Trinken Sie ja nicht gleich kalt Waſſer, wenn Sie aus dem Wagen oder vom Pferde ſteigen, denn ich habe es aus eigner Erfahrung, daß das ſehr ſchaͤdlich iſt.

Bleiben Sie einem Frauenzimmer zu gefal - len nie einen Tag laͤnger an einen Orte; man hat nur Undank davon.

Laſſen Sie fleißig nachſehn ob keine Linſe am Wagen fehlt, damit Ihnen nicht ploͤtzlich ein Rad ablaͤuft und Sie einen gewaltigen Stoß bekommen.

Nehmen Sie auf jeden Fall einige Flaſchen vorzuͤglich guten Wein mit, man weiß ſonſtLovell. 2r Bd. B b386manchmal nicht, was man in den ſchlechten Wirthshaͤuſern anfangen ſoll, wo man oft in den miſerabelſten Speiſen die Zaͤhne bewegt um nur mit dem Wirthe keine Haͤndel zu bekommen.

Die Poſtillione ſind am beſten, wenn ſie halb betrunken ſind.

Wenn Sie Ihren Freunden Naturſeltenhei - ten mitbringen ſollen, ſo iſt es am bequemſten daß Sie dieſe auf der letzten Station kaufen, und dann ſchwoͤren, Sie haͤtten ſie mit eigenen Haͤnden aus dem oder dem Berge gebrochen; man kann manchen Leuten damit eine ſehr froͤ - liche Stunde machen.

Nehmen Sie ſich beſonders vor dem Mor - genthau in Acht; es iſt widerwaͤrtig auf einer Reiſe krank zu werden.

Unterlaſſen Sie es nie, an die Aufwaͤrte - rinnen einige Liebkoſungen wegzuwerfen, Sie bekommen durch dieſes Hausmittel allenthalben weit beſſere Suppen.

Die Rechnungen der Wirthe braucht man nie zu uͤberrechnen, denn richtig addirt werden ſie ſelbſt vom Einfaͤltigſten; man ſpart beym Einſteigen in den Wagen damit einige Zeit.

Ihren Bedienten behandeln Sie ja recht387 ſchlecht, ſonſt iſt er auf der Reiſe Ihr Herr. In einem fremden Lande koͤnnen Sie ihm am meiſten bieten, weil er ſchon Gott dafuͤr dan - ken wird,[wenn] Sie ihn nur wieder zuruͤck bringen.

Ich halte Sie fuͤr meinen wahren Freund, denn ich bin wenigſtens der Ihrige, und darum habe ich Ihnen einige Kenntniſſe mitgetheilt, die ich mir ehemals auf meinen Reiſen abſtra - hirt habe. Der ganze Brief macht wenigſtens daß Sie auf der Reiſe vielleicht an mich zuwei - len denken, damit habe ich ſchon genug und uͤbergenug gewonnen, und gegen unſern Andrea will ich recht damit prahlen, daß ich Ihnen manchen vortreflichen Rath auf den Weg gege - ben habe.

Beſuchen Sie mich aber noch morgen Abend, Sie werden eine Geſellſchaft von luſtigen Freun - den finden.

B b 2388

7. Bianka an William Lovell.

Und Du willſt uns alſo wirklich verlaſſen? Ich ſehe Dich nun in langer Zeit nicht, viel - leicht nie wieder? Willſt Du auf der Rei - ſe zuweilen an Deine Bianka denken? Doch darauf darf ich kaum hoffen und meine Zu - dringlichkeit wird mich Dir nur noch verhaßter machen. Ich habe gehoͤrt, daß Du ſchon mor - gen fruͤh abreiſen willſt und ſo wuͤnſche ich Dir denn alles moͤgliche Gluͤck. Wenn Du mich liebteſt, wuͤrdeſt Du mich heut noch zum letz - tenmale beſuchen, aber ich zweifle, daß Du koͤmmſt. Ich moͤchte Dich ſo gern ſprechen, aber Dir liegt nichts daran, und ſo magſt Du denn gehn. Lebe wohl.

389

8. William Lovell an Roſa.

Ich habe mich nirgends aufgehalten, und dar - um haben Sie bis jetzt noch keinen Brief von mir erhalten, hier aber will ich nun mehrere Tage von den Beſchwerlichkeiten der Reiſe ruhn.

Ich haͤtte nicht noch jenen luſtigen Abend bey unſerm Franzesko genießen ſollen, denn die Einſamkeit, die Entfernung von Ihnen und al - len unſern Freunden druͤckt mich nun um ſo ſchmerzhafter. Schon unter der Munterkeit, unter dem lauten Lachen ſah ich in Gedanken meinen einſamen Wagen zwiſchen duͤſtern Ber - gen fahren, und nun ſitz ich hier in einer frem - den Stadt, ſo ganz abgeſondert, tief in Be - trachtungen und Erinnerungen mancherley Art verſenkt.

Ich wollte vor meiner Abreiſe noch Bianka beſuchen, allein halb war es unmoͤglich, halb hab ich es vergeſſen. Nichts iſt fuͤr mich wi - driger und betruͤbter als jeder Abend vor ei -390 ner Abreiſe, man iſt ermuͤdet und verwirrt vom Einpacken und Anordnen, wobey endlich die Fin - ſterniß hereinbricht, und man mit dem Lichte bald in dieſes, bald in jenes Zimmer wandert, um nur nichts zu vergeſſen; Koffer und Man - telſaͤcke werden dann zugeſchloſſen, und wir werden ſo recht darauf aufmerkſam gemacht, wie unſer ganzes Leben aus ſo elenden Beduͤrf - niſſen zuſammengeflickt iſt, wie wir mit einem Praß von[unnuͤtzen] Nothwendigkeiten beladen, wie wir an uns ſelbſt ſo wenig, ja faſt nichts ſind. Das aͤngſtliche Herumtreiben der Auf - waͤrter, die groͤßere Leere der Zimmer, der Ge - danke der Reiſe, alles giebt dann eine dun - kle Allegorie von der widrigen Maſchinerie des menſchlichen Lebens, wo alle Raͤder und alle Getriebe ſo kreiſchend hervorſchreien, wo das Beduͤrfniß die erſte bewegende Kraft iſt. Dann gehn Berge und Thaͤler wie Schatten meinem Sinn voruͤber, ich erwarte den Anbruch des Tages mit einer Aengſtlichkeit, als wenn ich ſterben ſollte.

Mit dem erſten Ruck des Wagens hoͤren dann gewoͤhnlich meine Beklemmungen auf, ich vergeſſe denn, daß ich den Ort, den ich verlaſ -391 ſe, vielleicht nie, oder mit ganz ungeaͤnderten Gefuͤhlen wiederſehe. Und kann man denn allenthalben zugleich und allenthalben der nem - liche ſeyn? Oder ſollen wir ewig von einem Or - te zum andern ziehn, ach Roſa, ich bin ſehr unzufrieden und verdruͤßlich! gruͤßen Sie Andrea und alle meine Freunde herzlich, ſeyn Sie verſichert, daß ich zuruͤckkehre, ſo bald es moͤglich iſt.

In den wildeſten Gegenden der Piemonteſi - ſchen Gebuͤrge fuͤhlte ich mich oft auf eine ſelt - ſame Art gluͤcklich, ich dachte an den Vorfall mit den Raͤubern, der mir vor ohngefaͤhr an - derthalb Jahren hier begegnete. Ich glaubte oft, daß Balder jetzt aus einem dunkeln Ge - birgpfad heraustreten muͤßte, oder daß Nie - mand anders als Amalie in der Kutſche vor mir fahren koͤnne, oft hatten auch die Geſich - ter, denen ich begegnete, eine auffallende[Aehn - lichkeit] mit jenen, die ich ſuchte. Ich weiß ſelbſt nicht, was mich zu ſo ſeltſamen Erwar - tungen ſtimmte, noch weniger warum ich es ſo innig wuͤnſchte, daß meine Traͤume zur Wirk - lichkeit werden moͤchten.

392

Laſſen Sie mich Ihnen einige Empfindungen mittheilen, hie ich nicht[unterlaſſen] konnte, im Wagen niederzuſchreiben.

Mit truͤben Auge
In finſtrer Nacht,
Geht durch das Leben
Das Kind geleitet
Vom ernſten Fuͤhrer,
Den es nicht kennt.
Im Thal, am lauten Waſſerfall
Stehn beyde Wandrer ſtill,
Der Fuͤhrer ſpricht zum Horchenden:
Sieh, hier bluͤhen alle Blumen,
Alle Wuͤnſche, alle[Freuden],
Pfluͤcke, denn wie fließend Waſſer
Rauſcht das Leben Dir voruͤber.
Fort weicht die Geſtalt
Und tiefbekuͤmmert
Sieht ihr mit langem Blicke
Der einſam Verlaſſene ſchmachtend nach.
Wind ſaͤuſelt in den Blumen,
Wellen murmeln ſo wie zum froͤlichen Tanz,
Da beugt ſich der Fremdling
Und maͤht mit raſchen zitternden Haͤnden
Die kleine Stelle
Auf der er ſteht.
Und Blumen und Graͤſer
Und giftiges Unkraut
Und ſtachlicht Gewuͤrme
393
Fuͤhlt zitternd die Hand.
Und halb erſchrocken
Und halb entſchloſſen
Wirft Graͤſer und Unkraut,
Gewuͤrme und Blumen
Das Kind mit Gewinſel
In die Fluthen des lauten abrollenden Stroms.
» Wo ſind die Freuden?
» Wo ſind meine Wuͤnſche?
» Du haſt mich betrogen
» Und einſam verlaſſen
» Zittr ich noch einmal
» Die Hand nach den taͤuſchenden Blumen zu
ſtrecken. «
Da fließt des Mondes goldnes Licht
Durch Thal und Wieſ und uͤber den Strom
Und raͤthſelhaft ſteht rings die Gegend
Im Glanz des Abends.
» Wo find ich die Heimath?
» Wo find ich Gefaͤhrten?
» Ich ſehe nur Schatten,
» Die dunkel und dunkler
» Vom Strom heruͤber,
» Bald hierhin, bald dorthin
» Wie Wolken gehn.
» Liegt alles jenſeits,
» Was ich mir wuͤnſche
» Und herzlich ſuche?
» Ich hoͤre Toͤne,
» Sind’s ferne Waſſer,
394
» Sind’s toͤnende Waͤlder,
» Sind’s Menſchenſtimmen?
» So fremd und vertraulich,
» So ernſt und ſo freundlich
» Klingts fern heruͤber.
» Ach wie trotzig brauſt der Strom ſein Lied fort,
» Ziehende Voͤgel ſpotten meiner in der Ferne,
» Wolken ſammeln ſich um den Mond und
nehmen ihn mit ſich,
» Ach kein Weſen, das meiner ſich erbarmte.
» Iſt dies das Leben,
» Voll Lieb und[Freude]?
» Wo find ich die ſchoͤne,
» Verlaſſene Heimath?

Wie mag ſich in meinem Vaterlande jetzt alles veraͤndert haben? Wie habe ich mich ſelbſt veraͤndert! Und doch bin ich innerlich noch ſo ſehr daſſelbe Weſen.

Das Wetter iſt ſehr truͤbe und ich will mich niederlegen, um zu ſchlafen.

395

9. Eduard Burton an Mortimer.

Ich ſchicke Ihnen hier einige Papiere, die Sie, wie ich glaube, mit Intreſſe leſen wer - den. Unſre neulichen herzlichen Geſpraͤche ge -[g]en mir ein Recht, nicht geheimnißvoll gegen Sie zu ſeyn, ob ich Sie gleich erſuche, dieſe Blaͤtter in keine andre Haͤnde zu geben, denn ſie ſind[von] meinem Vater.

Vorn habe ich mehrere Bogen weggeſchnit - ten, die, wie es ſcheint, zu Exercitien in der Sprache gedient haben, durch einen Zufall hat er in dieſem Buche dann fuͤr ſich weiter ge - ſchrieben und ſo ſind dieſe Geſtaͤndniſſe entſtan - den. Es giebt vielen Aufſchluß uͤber ſeine Art zu denken und uͤber den Menſchen vielleicht uͤberhaupt. Er hat es ſelbſt ſpaͤterhin ange - merkt, was er in ſeiner Jugend geſchrieben hat.

Mich hat die Lectuͤre betruͤbt und nachden - kend gemacht. Iſt es nicht wunderbar, daß ſich aus einem Schreibebuche der Charakter ei - nes Menſchen zum Theil entwickeln konnte?

396

Auch in ſeiner Krankheit hat er noch daran geſchrieben, er ſuchte das Buch ſelbſt und ließ es ſehr emſig ſuchen, weil er mir es ſelbſt ge - ben wollte, aber es war nirgends zu finden. Jetzt hab ich es bey dem Aufraͤumen der Zim - mer von ohngefaͤhr unter dem Bette entdeckt, in welchem er ſtarb.

Schicken Sie es mir zuruͤck, ſo bald Sie es geendigt haben.

397

10. Einlage des vorigen Briefes.

Ja ja, Herr Wilkens ich habe Ihre Regeln recht gut verſtanden, und vielleicht beſſer als Sie es glauben. Ihr ganzer Unterricht bezieht ſich am Ende dahin, daß ich die Sprache zu meinem Nutzen gebrauchen lerne, und dann iſt der Menſch gebildet. Habe ich mich nicht noch geſtern an einem ſchwierigen Briefe uͤben muͤſ - ſen, in welchem eine gut angebrachte captatio benevolentiae, gleich im Anfange mein Haupt augenmerk ſeyn mußte?

Ich bin ſeit geſtern gegen jedermann beſon - ders gegen die Bedienten ſehr auf meiner Hut, denn ich ſehe in jedem freundlichen Geſichte, in jedem ehrerbietigen Gruß nur eine captatio be - nevolentiae und gegen meinen Vater habe ich ſie ſelbſt auf die gluͤcklichſte Art benutzt, denn ich habe nun endlich die ſchoͤne goldne Uhr, nach der ſo lange mein Sinn trachtete. Nur[muß] ich dafuͤr ſorgen daß niemanden dieſe Be -398 trachtungen uͤber meine Lehrſtunden in die Haͤn - de fallen.

Es iſt aber, als wenn der Unterricht aller meiner Lehrer, ja ſelbſt[meines] Vaters nur da - hin ginge, daß ich luͤgen und mit den Worten ſpielen lernte, wenigſtens iſt die kluge Schmei - cheley gewiß die Poeſie, die am unmittelbarſten auf die Seele wirkt. Ich glaube, alle Com - plimente die meinem Vater gemacht werden, und die er zuruͤckgiebt, ſind nur Repetitionen aus einem fruͤhern Unterrichte.

Ich muß ſelbſt die Probe an den Menſchen machen, die mich umgeben, vorzuͤglich am Koch und am Gaͤrtner. Wenn der Satz richtig iſt, ſo hat vielleicht jedermann eine ſchwache Seite, die man ihm abgewinnen muß, um ihn nach Gefallen zu benutzen. Das waͤre wenigſtens ein ſehr luſtiges Leben, wenn mir ploͤtzlich alle Trauben des Gartens, alle Leckerbiſſen der Kuͤ - che, ja ſelbſt alle Goldſtuͤcke meines[Vaters] zu Gebote ſtaͤnden.

Der Schluͤſſel zur ganzen Welt koͤnnte am Ende nichts anders, als die geprieſene Capta - tio benevolentiae ſeyn.

399

Es muß aber doch Menſchen geben, die auf dieſelben Gedanken gefallen ſind, und ich fuͤrch - te mein Vater und die mehreſten alten Herren die ihn beſuchen, gehoͤren zu dieſen. Gegen dieſe muͤßte man denn wie gegen einen ausge - lernten Schachſpieler ſein Spiel maskiren, ſich als unbefangen und dumm gutmuͤthig ankuͤndi - gen, und ſo ihre Aufmerkſamkeit einſchlaͤfern. Ich will wenigſtens gegen meinen Vater ſehr auf meiner Hut ſeyn, denn wenn man einmal die Spur eines Menſchen entdeckt hat, ſo muß es leicht ſeyn, ihn zu ſeinem verſteckten Lager zu folgen.

Wenn Herr Wilkins nur nicht wieder dar - auf faͤllt, daß ich Verſe machen ſoll, eine and - re Art Luͤgen zu bauen, die ich[verabſcheue], weil ſie zu gar nichts fuͤhrt. Man ſage mir doch ja nicht vor, daß Empfindungen dieſe troſtloſen abgezirkelten Zeilen hervorbringen; ich habe ſchon manchen weinen ſehen, aber nie auf eine aͤhnliche Art ſprechen gehoͤrt. Ich be - greife auch nicht, wie ich oder irgend jemand durch ein fingirtes Trauerſpiel geruͤhrt werden kann. Diejenigen die Traͤhnen vergießen koͤnnen, ſind am Ende wieder eine andere Art400 von Luͤgnern vor ſich ſelber, ſo wie jene, die die herzbrechende Verſe niederſchreiben konnten. So leben wir am Ende auf einer unterhal - tenden abwechſelnden Masquerade, auf der ſich der am beſten gefaͤllt, der am unkenntlichſten bleibt, und luſtig iſt es, wenn ſelbſt die Mas - kenhaͤndler, unſere Geiſtlichen und unſere Leh - rer, von ihren eigenen Larven hintergangen werden.

Gottlob! daß ich endlich von meinen laͤſti - gen Lehrern befreyet bin! Nichts als Worte und Phraſen! Ich habe bey dieſem Unterricht nur die Menſchen kennen gelernt, die ihn mir ertheilten, die ſo ſchwach und bloͤde waren, daß ſie es gar nicht bemerkten, wie ſie von mir und meinem Eigenſinne abhingen.

Nichts kann mich ſo ſehr aufbringen, als die Unbeholfenheit im Menſchen, jene Blind - heit in der ſie nicht ſehen, welche Talente zu ihrem Gebote ſtehen, und wie Fremde ihnen ploͤtzlich Zuͤgel und Gebiß anlegen, und aus ei - nem freyen Thiere ein dienſtbares machen. Durch401Durch ein paar unbeſonnene Streiche iſt der Kammerdiener meines Vaters, der ſonſt ein ge - ſcheuter Menſch iſt, ſo in mein Intereſſe ver - wickelt, daß er es jetzt gar nicht wagt, ehrlich oder gegen mich zu handeln. Der Verwalter iſt der gutherzigſte Narr von der Welt, aber er haͤlt mich fuͤr einen noch groͤßern, und da - durch habe ich ſein unbedingtes Zutrauen ge - wonnen.

In der Sprache muß man ſich gewiſſe Wor - te und Redensarten merken, die wie Zauberge - ſaͤnge dazu dienen, eine gewiſſe Gattung von Leuten einzuſchlaͤfern. Auf jeden Menſchen wuͤrken Worte, nur muß man ihn etwas ken - nen, damit man die rechten nimmt, um ſein Ohr zu bezaubern. Der Verwalter hoͤrt nun gern von Ehrlichkeit der Menſchen reden, er liebt es wenn man auf Niedertraͤchtigkeit ſchimpft; wenn ich dies thue, und die Worte mit einer gewiſſen Hitze ausſpreche, ſo weiß er ſich vor Freuden nicht zu laſſen, und druͤckt mir in ſei - nem Entzuͤcken die Haͤnde. Auf dieſe Art muß man den Schatz unſerer Sprache ſtudiren, um die wahre Art zu ſprechen zu finden. Es faͤllt mir immer ein, daß die Menſchen offenbarLovell. 2r Bd. C c402Narren ſind, die ſo reden wollen, wie ſie den - ken, die ganze Welt dadurch beleidigen, und ſich nur Schaden ſtiften. Ich denke fuͤr mich und ſpreche fuͤr die andern, folglich muß ich nur ſagen, was dieſe gern hoͤren. Es wird auch Niemand erwarten, daß ich die ſogenannte Wahrheit rede, ſo wenig wie ich es von ei - nem andern fordere, denn ſonſt muͤßte ich nie jemanden etwas Schmeichelhaftes ſagen, ſo we - nig wie ich von irgend einem ein Kompliment bekommen wuͤrde. Die Sprache iſt nur dazu erfunden um etwas zu ſagen, was man nicht denkt; und wie ſelten denkt man ſelbſt ohne zu luͤgen!

Die ſogenannten Wahrheitsfreunde ſind da - her Menſchen, die ausgemachte Thoren ſind, die ſelbſt[nicht] wiſſen, was ſie wollen, oder ſie ſind eine andere Art von Luͤgnern. Sie haben ſich in den Kopf geſetzt, daß in ihrer Wahr - heitsſagerey ihr Charakter beſtehe, und ſie ſa - gen daher von ſich und andern Leuten eine Menge Sachen die ſie wirklich nicht denken, ſie wollen ſich auf dieſe Art etwas aus - zeichnen, und ſich freywillig verhaßt machen. Sie ſehen nicht ein, daß unſere ganze Sprache403 ſchon fuͤr die Begriffe und Dinge, die ſie be - zeichnen ſoll, aͤuſſerſt unpaſſend iſt, daß ſchon dieſe die Unwahrheit ſagt, und daß es daher unſere Pflicht iſt, ihr nachzuhelfen.

Der Grund von allen unſern Kuͤnſten, von allen unſern Vergnuͤgungen, von allem was wir denken und traͤumen, was iſt er anders als Unwahrheit? Plane und Entwuͤrfe, Tragoͤ - dien und Luſtſpiele, Liebe und Haß, alles, al - les iſt nur eine Taͤuſchung, die wir in uns ſel - ber erzeugen; unſere Sinne und unſere Phanta - ſie hintergehen uns, unſere Vernunft muß da - her falſche Schluͤſſe machen, alle Buͤcher die geſchrieben ſind, ſind nur Luͤgen, wovon die Letzteren die Erſteren in ihrer Bloͤße darſtellen ſollen; und doch ſoll ich den kleinen Theil mei - nes Koͤrpers, die Zunge, der Wahrheit widmen? Und wenn ich es wollte wie kann ich es?

Mein Vater iſt geſtorben, und die ganze Welt wuͤnſcht mir Gluͤck, mit Worten die wie Kondolenzen geſtellt ſind. Viele ſuchen ſich mir zu empfehlen, und manche darunter meine ſchwa -C c 2404che Seite ausfindig zu machen. Die Menſchen die meinem Vater viel zu danken haben, ziehen ſich ganz zuruͤck, und thun als wenn er nie auf der Erde geweſen waͤre. Alte Weiber, die mich als Kind manchmal auf ihren Schoos ge - nommen haben, praͤſentiren mir ihre Toͤchter, die ſich mit allen Reizen ausſteuern. Die Be - dienten haben Penſionen und ſind froh, ſelbſt der Verwalter dem etwas an ſeinem Gehalte zugelegt iſt. Wo ſind denn nun die Men - ſchen, die ſo viel fuͤhlen wollten? Wer kann denn nun noch mit ſeinen Empfindungen prah - len? Ein Bettler geht unten vorbey den ich weinen ſehe, weil mein Vater ihm woͤchent - lich etwas gab. Er weint weil er fuͤrchtet, daß er jetzt ſein Einkommen einbuͤßen wird. Ich habe ihm etwas heruntergeſchickt, und er geht mit einem frohen Geſichte fort; er weinte vielleicht blos um mein Mitleiden zu erregen.

Die Menſchen ſind gewiß nicht werth, daß man ſie achtet, aber doch muß man ſich die Muͤhe geben, mit ihnen zu leben. Ich will ſie kennen lernen, um nicht von ihnen betrogen zu werden, denn wie kann ich dafuͤr ſtehen, daß nicht irgend einmal meine Eitelkeit, oder ir -405 gend eine andre meiner Schwaͤchen meine Ver - nunft verblendet?

Alles ſchmeichelt mir jetzt, ſelbſt die Men - ſchen von denen ich weiß, daß ſie mich nicht leiden koͤnnen und mich verachten. Alle denken, wenn ſie mich erblicken, an mein Vermoͤgen, und alle Buͤcklinge und Erniedrigungen gelten dieſem Begriff, der nur auf eine zufaͤllige Weiſe mit mir ſelber zuſammengefallen iſt. Die - ſe Vorſtellung von meinem Reichthum beherrſcht alle die Menſchen, die in meine Atmosphaͤre gerathen, und wohin ich trete, folgt mir dieſe Vortreflichkeit nach. Ich kann es alſo niemand verargen, wenn er ſein Vermoͤgen und ſeine Herrſchaft uͤber die Gemuͤther zu vergroͤßern ſucht, denn dadurch wird er im eigentlichſten Verſtande Regent der Welt. Ein goldner Zau - berſtab bewaffnet ſeine Hand, der allen gebeut. Dies iſt das einzige, was noch mehr wuͤrkt, als alle moͤglichen Captationes benevolentiae.

So lange man bey recht vielen Leuten den Gedanken erzeugen kann, daß man ihnen wohl nuͤtzlich ſeyn koͤnnte, hat man recht viele Freunde. Alle ſprechen von Aufopferung und hohen Tugenden, bloß um uns in eine ſolche406 heroiſche Stimmung zu verſetzen. Dieſe Situa - tion aber giebt zugleich Gelegenheit, ſie auf mancherley Art zu nutzen, und ſie ſo zu ver - wickeln, daß ſie am Ende ſchon froh ſind, wenn ſie nur aus den Netzen freygelaſſen werden.

Man lebt in der Geſellſchaft wie ein Fremd - ling, der an eine wilde barbariſche Kuͤſte ver - ſchlagen iſt; er muß ſeine ganze Bedachtſamkeit, alle ſeine Liſt zuſammen nehmen, um nicht der Rotte zu erliegen, die ihn mit tauſendfachen Kuͤnſten beſtuͤrmt. Wenn man es vermeiden kann, daß das Leben ein Hazardſpiel wird, ſo hat man ſchon gewonnen. Seltſam daß alle zu gewinnen trachten, und manche doch die Kar - ten nicht zu ihrem Vortheile miſchen wollen! Fuͤr den Kluͤgern muß es keinen Zufall geben.

Der junge Lovell iſt ein Narr, recht ſo, wie man ſie immer in den Buͤchern findet. Ich habe das wunderbare Gluͤck gehabt, ihn zu mei - nem Freunde zu machen. Er ſpricht gerade ſo wie die Dichter die er ſehr fleißig lieſt, und ich moͤchte wetten er macht ſelber Verſe. Er407 hat mir ſchon in den erſten Tagen alles ver - traut, und es iſt Schade daß ſeine Geheimniſſe ſo unbedeutend und kindiſch ſind. Sein Vater iſt ebenfalls ein einfaͤltiger Menſch, aber er ſcheint mir doch nicht ganz zu trauen, es muß irgend etwas in meinen Mienen oder Gebehr - den liegen, was ich noch wegzuſchaffen ſuchen muß. Unſer Koͤrper muß in allen unſern Wen - dungen mit unſerer Sprache korreſpondiren, und das iſt dann die eigentliche Lebensart.

Freundſchaft iſt eines von den Worten, die im Leben am haͤufigſten genannt werden, und man muß eben ſowohl Freunde als Kleider ha - ben, und von eben ſo verſchiedener Art. Freun - de die mit uns ſpatzieren gehn, und uns Neu - igkeiten erzaͤhlen; Freunde die uns mit Leuten bekannt machen, mit denen wir gern in Con - nexion kommen moͤchten. Freunde die uns ge - gen andere loben, und uns Zutrauen erwerben; andere Freunde, von denen wir im geſellſchaft - lichen Geſpraͤche manches lernen, was zu wiſſen doch nicht unnoͤthig iſt; Freunde die fuͤr uns ſchwoͤren; Freunde die, wenn wir es ſo weit bringen koͤnnen, und die Gelegenheit es erfor - dert, ſich fuͤr uns todt ſchlagen laſſen. Aus408 dem Lovell koͤnnte vielleicht einer von den letz - ten gemacht werden, denn er giebt mir ſelbſt freywillig alle die Faͤden in die Hand, an denen er gelenkt werden kann. Ich halte es fuͤr eine Nothwendigkeit, daß ich mich huͤte, mich ir - gend einem Menſchen zu vertrauen, weil er in demſelben Augenblicke uͤber mir ſteht.

Lovell iſt etwas juͤnger als ich, und er macht vielleicht noch dieſelben Erfahrungen, die ich ſchon jetzt geſammelt habe. Das Alter iſt bey gleichjungen Menſchen oft ſehr verſchieden, und ich bin mir durch einen Zufall vielleicht ſelbſt um viele Jahre vorausgeeilt; ich fuͤhle wenigſtens von dem Jugendlichen und Kindiſchen nichts in mir, daß ich an den meiſten Juͤng - lingen und an Lovell ſo vorzuͤglich bemerke. Mich verleitet die Hitze nie, mich ſelbſt zu vergeſſen; ich werde durch keine Erzaͤhlung in einen Enthuſiasmus verſetzt, der mir ſchaden koͤnnte. Mein Blick richtet ſich immer auf das große Gemaͤhlde des verworrenen menſchlichen Lebens, und ich fuͤhle, daß ich mich ſelbſt zum Mittelpunkte machen, daß ich das Auge wieder auf mich ſelbſt zuruͤck wenden muß, um nicht zu ſchwindeln.

409

Jeder redet im Grunde eine Sprache, die von der des andern voͤllig verſchieden iſt. Ich kann alſo mich, meine Lage, und meinen Vor - theil nur zur Regel meiner Denk - und Handels - weiſe machen, und alle Menſchen treffen zu - ſammen, und gehen einen Weg, weil alle von demſelben Grundſatze ausgehn. Ein buntes Ge - webe iſt ausgeſpannt, an dem ein jeder nach ſeinen Kraͤften und Einſichten arbeitet, ein je - der haͤlt das was er darin thut, fuͤr das Noth - wendigſte; und doch waͤre der eine ohne den andern unnuͤtz. In wiefern mein Nachbar wuͤrkt, kann ich nur errathen, und ich muß daher auf meine eigene Beſchaͤftigungen acht geben.

Viele Menſchen wiſſen gar nicht, was ſie von den uͤbrigen fordern ſollen, und zu dieſen gehoͤrt Lovell. In Gedanken macht er ſehr große Praͤtenſionen an meine Freundſchaft. Ich fordre von den Menſchen nicht mehr, als was ſie mir leiſten; und dies vorher zu wiſſen, iſt der Kalkuͤl meines Umgangs; je gewiſſer ich dieſen rechne, jemehr kenne ich die Menſchen, und das ganze uͤbrige Leben von Zuneigung und Wohlwollen uneigennuͤtziger Freundſchaft,410 und reiner Liebe, iſt nichts als poetiſche Fik - tion, die mir gerade ſo vorkoͤmmt, wie die Gedichte an die Diana und den Apollo in un - ſern Dichtern. Wer ſich daran erluſtigen kann, dem goͤnne ich es recht gern, aber allen dieſen Menſchen die im Ernſte davon ſprechen koͤnnen, iſt die Binde der Kindheit noch nicht von den Augen genommen. Dieſe ſind nuͤtzliche Mobilien fuͤr den aͤltern und kluͤgern Menſchen der ſie auf eine gute Art anzuſtellen weiß.

Immer iſt es mir zuwider geweſen, wenn ich den Nahmen Cromwell nennen hoͤre, oder ihn leſe, um das Muſter eines ſchlechten und ausgearteten Menſchen aufzuſtellen, denn es wird mir faſt bey keinem Charakter ſo leicht und natuͤrlich, mich in ihn hineinzugedenken, und ſo fuͤr mich alle ſeine ſeltſamen Wider - ſpruͤche aufzuloͤſen. Alle die Laſter die man ihm gewoͤhnlich vorwirft, ſind es nur deswegen, weil die Menſchen nicht die Faͤhigkeit beſitzen, ihre Seele in Gedanken mit einem andern Cha -411 rakter zu bekleiden; ſie ſind zu ſehr in ſich ſelbſt eingeſperrt, und dies macht ihren Blick be - ſchraͤnkt. Vielleicht daß die Unterſchiede uͤber - haupt aufhoͤrten, wenn ſich die Menſchen die Muͤhe gaͤben, den Erſcheinungen naͤher zu tre - ten, die ihnen in der Ferne ganz anders ge - formt zu ſeyn ſcheinen.

Cromwell war vielleicht der reinſte und eif - rigſte Schwaͤrmer, als er ſich im Anfange zur Parthey der[Puritaner] ſchlug. Wider ſein Erwarten fand er, daß es leichter ſey, die Menſchen unter ſeinen Geiſt zu beugen, als er im Anfange gedacht hatte. Er durchdrang mit ſeinem ſcharfen Blicke die Gemuͤther aller derer die ihn umgaben, er bemerkte es, auf welchen Armſeligkeiten meiſtentheils das Anſe - hen beruhte, das er unter ſeinen Freunden hat - te, und er ſchaͤmte ſich vor ſich ſelber, und verachtete die Menſchen. Seine Schwaͤrmerey und ſein Enthuſiasmus waren es vorzuͤglich, die die Menge an ihn band, denn der Schwaͤr - mer zieht einen weiten Feuerkreis um ſich her - um, und ſelbſt in die kaͤlteren Menſchen gehen Funken uͤber, die ſie unwillkuͤhrlich mit Liebe und Wohlwollen zu ihrem Anfuͤhrer draͤngen. 412Er ſah ein, daß er in einzelnen Stunden, wenn ihm jener gluͤckliche Enthuſiasmus verließ, die - ſen auf eine erzwungene, und halb gewaltſame Art erſetzen muͤſſe, und er erſtaunte, da er fand, daß die Begeiſterung ſich auf die Art, ſogar wieder ihren Willen, vom Himmel ziehen laſſe. Denn im Menſchen liegt ein ſeltſamer und faſt unbegreiflicher Vorrath von Gefuͤhlen, dicht neben der Ahndung liegt die Empfindung und die Idee die wir ahndeten; der Luͤgner kann auf ſeine eigene Erfindungen ſchwoͤren, oh - ne einen Meineid zu thun, denn er kann in dieſem Augenblicke voͤllig davon uͤberzeugt ſeyn. Die wunderbarſte Geiſtererſcheinung kann vor mir ſtehen, und doch nur von meiner Phanta - ſie hervorgebracht ſeyn. Auf die Art muß - te der große Mann bald zweifelhaft werden, was in ihm wahr, was falſch, was Erdich - tung, was Ueberzeugung ſey, er mußte ſich in manchen Stunden fuͤr nichts als einen gemei - nen Betruͤger, in andern wieder fuͤr ein auser - waͤhltes Ruͤſtzeug des Himmels halten. Wie durcheinander mußte ſich bey ihm alles das ver - wirren, was die gewoͤhnlichen Menſchen ihre Moralitaͤt nennen! kann man nun wohl dieſel -413 ben Forderungen an ihn machen, die man an jene thut?

Des Gluͤck folgte ihm auf ſeinen Fußſtapfen, und welcher Sterbliche kann ſich wohl von der Schwachheit losreißen, den gluͤcklichſten Erfolg ſeiner kuͤhnſten Plane nicht fuͤr den wahren Orakelſpruch der Natur und der Gottheit zu halten? Faſt jeder Ungluͤckliche zweifelt an ſei - nem Werthe, er haͤlt nur gar zu oft ſein Un - gluͤck fuͤr ſeine Strafe. So glaubt der Sieger im Gluͤck ſeinen Lohn zu finden, ſeine Beſtaͤti - gung von oben her. Vom Erfolge beguͤnſtiget, ſchrieb er neue Zirkel in ſeine Plane, und al - les erfuͤllte ſich immer auf die wunderbarſte Weiſe. Durch ein unruhiges thatenreiches, und gluͤckgekroͤntes Leben, ſah er ſich ploͤtzlich wie durch einen muntern Traum an die Spitze des Staats geſtellt, und ſein ganzes voriges Leben war nur Zubereitung und Geruͤſt zu dieſem großen Momente.

An ihm war die Wohlfahrt ſeiner Parthei gekettet; und was war natuͤrlicher und einem Menſchen verzeihlicher, als daß er jetzt ſeine Perſoͤnlichkeit mit ſeiner Sache verwechſelte? Er glaubte fuͤr ſeine Parthey zu kaͤmpfen, wenn414 er nur noch fuͤr ſeine eigene Sicherheit ſtritt, und aus dem Wege raͤumte was ihn in ſeinem Gange hindern koͤnnte. Er mußte ſich gleich groß und gleich wunderbar vorkommen, er moch - te ſich nun als einen Liebling des Himmels be - trachten, oder als einen Helden, der alles durch ſeine eigene Kraft gewonnen, und in Beſitz genommen hatte, ja, dieſe beyden Ge - danken mußten ſich in ſeinem Kopfe beynahe begegnen. Er vertraute ſich jetzt mehr als je - mals, und trauete den Menſchen die ihn um - gaben noch weniger als vordem. Fortuna hat - te ihre volle Urne gleichſam in ſeinen Schoos geſchuͤttet, und er glaubte nun ſelbſt an ihrer Stelle zu ſtehen; ſein Stolz und ſeine Eigen - liebe, die Bewundrung ſeiner ſelbſt iſt daher eben ſo denkbar als verzeihlich.

Er konnte gegen ſeine Freunde nicht dank - bar ſeyn, denn er glaubte durch eigene Kraft alles errungen zu haben, er konnte ſie nicht achten, da er ſie nicht kannte. Ihre Vereh - rung ſeiner aber, ſo wenig Autoritaͤt ſie auch fuͤr ihn haͤtte haben ſollen, trug er doch gern und ganz zu ſeinen Verdienſten uͤber, denn de - nen Menſchen die uns loben, uͤbertragen wir415 gern die Beurtheilung unſers Werths; ja wir glauben oft, daß diejenigen ihn am beſten zu ſchaͤtzen wiſſen, die ſelbſt am meiſten ohne Ver - dienſte ſind. Die groͤßte Inkonſequenz der Menſchen, die Gegend, in der vielleicht in jeder Seele die meiſten Veraͤchtlichkeiten liegen, iſt, wie ich glaube, das Gebiet der Eitelkeit. Jede andre Schwaͤche iſt unzugaͤnglich, oder man muß wenigſtens fein und behutſam die Bruͤcke hinuͤber ſchlagen, um das Ufer nicht ſelbſt einzureißen; aber die Eitelkeit vertraͤgt ſelbſt die Behandlung der rauheſten Haͤnde.

Ich will mir heute ernſthaft vornehmen, nie daran zu glauben, wenn man meinen Gang, meine Haͤuſer, meinen Scharfſinn, oder meine Geſichtsbildung lobt, und wer weiß ob ich nicht darauf falle, mir einzubilden, daß in mei - nem Garten die beſten Blumen ſtehen, und daß hier dann ein elender Schmeichler ſeine volle Erndte findet! Der Himmel iſt vielleicht ſo grauſam mir in den Kopf zu ſetzen, ich haͤtte mehr Geſchmack als andere Menſchen. O! ſtatt memento mori ſollte man in ſeine Ta - ſchenuhr ſetzen laſſen: Huͤte dich vor der Ei - telkeit!

416

Cromwell war ſo gluͤcklich viele wirkliche Freunde zu finden, ob er gleich keinen lieb - te; er konnte ſie zu Aufopferungen auffor - dern, und keiner wagte es, ihn um aͤhnli - che Opfer zu mahnen, da ihn keiner in ſei - ner Gewalt hatte. Alle fuͤrchteten ihn, und er wußte wie weit er jene nicht zu fuͤrchten hatte; er war daher nicht tollkuͤhn. Er hatte es empfunden, wie fein die Graͤnzen im Men - ſchen zwiſchen Empfindungen ſind, die wir Ex - treme nennen, weil wir ſie uns wie den Nord - und Suͤdpol gegen uͤber denken: aber zwiſchen gut und boͤſe, zwiſchen Freund und Feind, dem Pietiſten und Gotteslaͤſterer, dem Patrioten und dem Landesverraͤther liegt nur eine Sekun - de. Cromwell wußte dies, und ſetzte ſeine Freunde daher in keine Spannung gegen ſich.

Je mehr ich ſeinen Charakter uͤberdenke, je menſchlicher finde ich ihn; nur daß er ein großer Menſch, ein leuchtendes Meteor war. Wer ihn ein Ungeheuer nennt, hat nie uͤber ihn, oder uͤber ſich ſelber nachgedacht.

Er hatte das Ungluͤck einen einfaͤltigen Sohn zu haben.

Drey417

Die Menſchen ſind Narren, denn obgleich einer den andern betruͤgt, ſo nehmen ſie doch nichts ſo ſehr uͤbel, als daß ſie betrogen wer - den, beſonders wenn man ſie auf eine andre Art hintergeht, als ſie die uͤbrigen Menſchen taͤuſchen. Lovell iſt mein unverſoͤhnlicher Feind, wenn er erfaͤhrt, daß ich mit daran arbeiten half, ihm ſeine zaͤrtliche Braut zu entfuͤhren, und er wuͤrde es nie zur Entſchuldigung dienen laſſen, daß Waterlov auch mein Freund und ſogar mein Oheim ſey. Aber da der ganze Plan doch verungluͤckt iſt, ſo denke ich mich auf jeden Fall wieder mit ihm zu verſoͤhnen.

Aber Waterlov, ob er gleich mein Oheim iſt, ob er gleich aͤlter iſt, wie ich glaube, als vierzig Jahre, ob er gleich ſchon große Reiſen gemacht hat, iſt dennoch ein weit groͤßerer und in die Augen fallenderer Narr, als der jugend - liche Lovell. Er glaubt alles zu haben, indem er Witz hat, er meint die Menſchen genug zu kennen, wenn er nur weiß, wodurch er ſie zum Lachen bewegen kann, er waͤre vielleicht ein gu - ter Komoͤdiendichter geworden, aber zum Um - gange mit Menſchen iſt er verdorben. ErLovell. 2r. Bd. D d418beklagt ſich uͤber mich, daß ich ihn hintergan - gen habe, ob ich gleich mit ihm einerley Plan verfolgt haͤtte. Aber die beſten und amuͤſante - ſten Koups muͤßten offenbar ganz unterbleiben, wenn es nicht erlaubt ſeyn ſollte, daß ein Schelm den andern hinterginge. Er macht mir Vorwuͤrfe, daß ich nun der Einzige bin, der bey dem ganzen Handel etwas gewonnen hat; aber das war ja eben der Bewegungsgrund, warum ich mich einmengte, weil ich die Ge - wißheit hatte, daß ich auf jeden Fall gewinnen muͤſſe. Wenn ich hintergangen waͤre, ich wuͤrde mich nie beklagen, ſondern mich nur zu raͤchen ſuchen.

Waterlo iſt abgereiſt, und wie ich eben hoͤ - re, geſtorben. Er iſt vielleicht naͤrriſch genug geweſen, ſich ſelbſt umzubringen.

Ich hoffe, es ſoll mir ge[l]ingen, die Toch - ter der reichen Lady Sackville zur Frau zu be - kommen. Die Mutter ſpielt die Aufgeklaͤrte und die Tochter iſt ziemlich empfindſam und419 pietiſtiſch. Die Mutter ſpottet uͤber die Toch - ter, die Tochter zuckt die Achſeln uͤber ihre ir - religioͤſe Mutter. Beyden muß ich beytreten, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Wie platt ſind doch alle die Komoͤdien, in denen eine aͤhnliche Situation dargeſtellt wird! Eine Karrikatur treibt ſich immer zwiſchen allen mit ſchlecht erfundenen Luͤgen herum, um am Ende an allen ſeinen Spoͤttern zu ſcheitern. Ich finde es eben ſo leicht, als ſicher, ſich als Mittelsperſon zwiſchen wiederſprechende Charak - tere einzuſchieben, denn man muß ſich jedem nur unter gewiſſen Bedingungen naͤhern, die aber ſo geſtellt ſeyn muͤſſen, daß jener glaubt, es komme nur auf eine naͤhere Bekanntſchaft, auf ein vertraulicheres Geſpraͤch an, um auch dieſe Bedingungen wegzuſchaffen. Die Mutter glaubt, ich ſpiele nur aus Liebe zu ihrer Toch - ter den Religioͤſen und um dieſe nachher von ihren Irrthuͤmern zuruͤckzubringen; die Tochter iſt uͤberzeugt, nur aus großer Liebe zu ihr fin - de ich die Mutter ertraͤglich. Man darf nur ernſthaft vor ſich ſelber heucheln, ſo iſt die Heucheley das leichteſte Handwerk auf der Er - de. Alle unſere Geſpraͤche in der Welt, unſerD d 2420Umgang, unſre Freundſchaftsbezeugungen, unſre Vergnuͤgungen, alles iſt nur Heucheley, folg - lich kommt es mir als gar nichts Schwieriges, ja nicht einmal als etwas Neues vor, hier ei - ne Art von Rolle zu ſpielen, um eine reiche Frau zu bekommen.

Ich bin ſchon ſo gluͤcklich geweſen, einige Liebhaber zu verdraͤngen, und wenn ich an den Tod oder an andere betruͤbte Gegenſtaͤnde in der Geſellſchaft meiner Geliebten denke, ſo wird es mir ganz leicht, eine melancholiſche Mine zu machen, und empfindſame Sachen zu ſagen. Oft verſchiebe ich viele ernſthafte Betrach - tungen, die ſich mir aufdraͤngen, bis ich dort - hin komme, und Tochter und Mutter ſind im - mer mit mir zufrieden, und ich kann auf die Art noch Zeit in meinen Geſchaͤften ſparen. Dieſe Sparſamkeit koͤmmt mir jetzt ſelber laͤ - cherlich vor, aber genug, daß es mir bequem iſt.

Ich will dieſes Buch aufbewahren, um mir im Alter das Vergnuͤgen zu machen, es wieder durchzuleſen. Man kann dann nur eine richtige Vorſtellung von ſich ſelber haben, wenn man ſolche Proben von den ehemaligen Kleidern auf - bewahrt. Aus dieſem Grunde wuͤrde ich faſt421 in jeder Woche etwas niederſchreiben, wenn ich nicht zu traͤge waͤre.

Warum ſollt ich nicht auf eine recht gute Art den empfindſamen Verliebten ſpielen koͤn - nen, da es viele Dichter giebt, die ſich poe - tiſch irgend eine Liebſchaft erſinnen, um poeti - ſche und herzruͤhrende Verſe daruͤber zu ma - chen? Meine Rolle iſt bey weitem leichter, da ich doch einen wirklichen Gegenſtand, und noch uͤberdies mit einem reichen Vermoͤgen ausgeſtat - tet, vor mir habe.

Eine ſonderbare Empfindung befaͤllt mich, da ich dies alte, ſtaubige Buch wieder in die Haͤnde nehme und durchblaͤttere. Ich kehre aus der Welt und zur Ruhe zuruͤck, und finde hier nun die ſkizzirte Geſchichte meiner Jugendideen. Manches finde ich noch wahr, und ohne daß ich es wußte, habe ich mir waͤhrend meines ge - ſchaͤftigen Lebens den hier beſchriebenen Charak, ter Cromwell’s zum Muſter gewaͤhlt. Gefiel mir dieſer Character, weil verwandte Zuͤge in422 mir lagen; oder entwickelten ſich dieſe, weil ich das Bildniß dieſes Menſchen immer mit Wohl - gefallen betrachtet hatte? Doch dieſe Spiz - findigkeit zerfaͤllt in ſich ſelber.

In der Welt hat mir der Zufall den ver - haßten Lovell ſtets gegen uͤber geſtellt, er kreuz - te durch alle meine Plane und unaufhoͤrlich mußt ich mit ihm kaͤmpfen. Er war gleichſam das aufgeſtellte Ziel, an dem ich meinen Ver - ſtand und Scharfſinn uͤben mußte.

Meine Gemahlinn iſt todt und nur in den letzten Jahren war ich ſo gluͤcklich einen Sohn und eine Tochter von ihr zu bekommen. Ihr iſt jetzt wohl, denn ſie fuͤhlte ſich immer un - gluͤcklich. Sie gehoͤrte zu den Menſchen, die ſich durch abgeſchmackte Erwartungen den Ge - nuß ihres Lebens ſelber verbittern. Man ſollte es ſchon in den Schulen lernen, was man von der Welt und den Menſchen fordern kann, um ſich und andre nachher nicht zu peinigen. Ich war keiner von den Menſchen, wie ſie ihr eini - ge Dichter geſchildert hatten, dieſe luftigen, beſtandloſen Weſen hatte ſie ihrer Phantaſie feſt imprimirt, und an dieſe Schimaͤren maß ſie alle wirkliche Menſchen, die ihr aufſtießen. 423Daß ſich die Menſchen aus dieſem wirklichen proſaiſchen Leben ſo gern einen bunten, ſchoͤn - illuminirten Traum machen wollen, und ſich dann wundern, wenn es unter den Roſen Dor - nen giebt, wenn die Gebilde umher ihnen nicht ſo antworten, wie ſie es mit ihrem traͤumenden Sinne vermuthet hatten! Wer kann es mit dieſen Narren aushalten?

Man gebe mir den abgefeimteſten Schurken, den Menſchen, der in einem Athem zehn Luͤgen ſagt, den Eiteln, der hoch von ſeinem eigenen Werthe aufgeblaſen iſt, den rohen, ungebildeten Menſchen, dem die gemeinſte Lebensart fehlt, und ich will mit allen fertig werden, nur nicht mit dem, der allenthalben die reine Bruderlie - be erwartet, der mit den Menſchen, wie mit Blumen oder Nachtigallen, umgehen will.

Mein Sohn Eduard faͤngt an, mir in einem hohen Grade zu mißfallen. Er wird altklug, ehe er noch Verſtand genug hat, um liſtig zu ſeyn. Solche fruͤhreife Tu - gend iſt gewoͤhnlich nichts, als ein Gefuͤhl424 des Unvermoͤgens, eine Empfindſamkeit, die ſpaͤterhin zur voͤlligen Schwachheit wird.

Emilie iſt halb das Bild ihrer Mutter, und halb eine Kopie nach ihrem Bruder. Ich hoffe beide werden noch richtigere Ideen uͤber das Leben gewinnen. Stolz darf man nicht auf ſich ſeyn, denn das erzeugt eine Menge empfindſa - mer Thorheiten, aber man muß ſich ſchaͤtzen - um ſich nicht unter die uͤbrigen Menſchen zu erniedrigen, um ihnen nicht dadurch unmittel - bar Gelegenheit zu geben, daß ſie Vortheile uͤber uns gewinnen.

Mein Sohn wird mit jedem Tage ein groͤ - ßerer Thor und er laͤßt es mir ſogar merken, daß er mich und meine Grundſaͤtze nicht achtet. Er ſchließt ſich mit Innigkeit an jedes uͤbertrie - bene und unnatuͤrliche Gefuͤhl. Es ſchmerzt ihn nicht, daß er ſich dadurch von meinem Her - zen entfernt, denn er iſt unter Luftgeſtalten ein - heimiſch.

Die Erfahrungen, die mir aus dem Gewuͤhle der Welt hieher gefolgt ſind, haben mich nun425 voͤllig beruhigt. Ich habe es deutlich erfahren, in wie hohem Grade die Menſchen veraͤchtlich ſind. Alle meine jugendlichen Vermuthungen haben ſich erfuͤllt, und es war heilſam, daß ich ſo ausgeruͤſtet unter die boshafte Schaar trat. Argwohn iſt die Wuͤnſchelruthe, die al - lenthalben richtig zeigt, man irrt ſich in keinem Menſchen, wenn man gegen jeden mißtrauiſch iſt, denn ſelbſt die Einfaͤltigſten haben Minuten der Erleuchtung, in denen ſie uns Schaden zu - fuͤgen.

Wenn man mit Leuten umgeht, die aus Un - wiſſenheit, oder weil ſie ſelbſt keinen Grund davon anzugeben wiſſen, rechtſchaffen ſind, ſo muß man ihre Tugend nie auf die Probe ſtel - len, wenn ſie uns dadurch nuͤtzlich bleiben ſol - len; denn in dem Augenblicke, in welchem ſie daruͤber nachdenken, werden ſie verwandelt, und wenn ſie auch ihre Ehrlichkeit noch aus dem gegenwaͤrtigen Gedraͤnge bringen, ſo kann man ſich im naͤchſtfolgenden zweifelhaften Falle nie - mals auf ſie verlaſſen. Wie viel iſt aber die Ehrlichkeit werth, wenn ſie nur darin be - ſteht, daß der Menſch gar nicht weiß, daß man ihm dieſen Vorzug beylegt? Selbſt der Poͤbel426 hat dieſe Armſeligkeit der Tugend bemerkt und ein Sprichwort daruͤber gemacht, daß der ein Dieb bleibt, der nur einmal geſtohlen hat. Scheint es nicht, als wenn es voͤllig etwas Phyſiſches waͤre, was wir im Menſchen immer zum Geiſtigen erheben wollen, daß ſich die Er - ſcheinung durch eine einzige Umwaͤlzung in ei - nem einzigen Momente verlieren kann?

Ich bin darum nur wenig hintergangen, weil ich den Betrug immer als moͤglich vor - ausſetzte.

Ich fuͤhle mich ſehr matt, und meine Ideen werden ſchwach und unſtaͤt. Dies unnuͤtze Buch iſt mit mir alt geworden, es laͤuft zu Ende, ſo wie vielleicht mein Leben. Alles hat fuͤr mich heut dunkle und melancholiſche Umriſſe; Lovell iſt vor einem Monathe geſtorben und ich bin nicht viel aͤlter, als er.

Ich habe nur ſchlecht geſchlafen, und ihn bleich und abgefallen beſtaͤndig in meinen abge - riſſenen Traͤumen geſehn. Sein Andenken ver - folgt mich noch nach ſeinem Tode und mattet meine Kraͤfte ab.

427

Ich bin wieder geſund geweſen und dachte es wuͤrde nun Jahre lang ſo bleiben, und doch bin ich nun von neuem krank geworden. Eine ſeltſame Wehmuͤthigkeit hat mich ergriffen. Der Menſch haͤngt mit allen ſeinen Ideen bloß von ſeinem Koͤrper ab.

Sollte ich Dir doch vielleicht unrecht ge - than haben, alter Lovell? Warum richtet ſich mein Gedanke ſo unaufhoͤrlich nach Dir hin, wie die Magnetnadel nach Norden? Ich habe Dir vergeben, vergieb Du mir auch, unſre Spiele und Kaͤmpfe ſind jetzt geendigt.

Ich fuͤhle mich freundlicher nach meinem Sohne und nach allen Menſchen hingezogen. Wer weiß, in welchem geſundern Theile mei - nes Koͤrpers meine vorige Empfindung lag, wer weiß, aus welchem ungeaͤnderten meine jetzige entſpringt!

Das Leben und alles darin iſt nichts, alles iſt veraͤchtlich und ſelbſt, daß man die Veraͤcht - lichkeit bemerkt.

428

11. William Lovell an Roſa.

Ich bin nun wieder in Paris, das zuerſt die Buͤhne meiner Irrthuͤmer war. Ich weiß nicht wie ich das Gefuͤhl nennen ſoll, mit welchem ich hier herumſtreife. Ich kenne noch die Haͤu - ſer bey denen ich es damals vorzuͤglich bereuete bey denen mich eine beſonders ſchmerzhafte Em - pfindung daruͤber anfiel, daß ich Amalien waͤh - rend einiger Tage vergeſſen hatte.

Ob ſie noch lebt und wie ſie leben mag! Mir koͤmmt alles friſch und neu in die Erinne - rung, was ich ehemals fuͤr ſie empfand.

Die Blainville iſt mit einem Chevalier de Valois von hier fortgegangen, der ſich nach ei - nigen Erzaͤhlungen in[England] erſchoſſen hat. Was aus ihr geworden iſt, weiß man nicht.

In wenigen Tagen reiſe ich von hier ab. Alle Straßen und alle Geſellſchaften ſind mir zuwider.

429

Ich wuͤnſche und fuͤrchte das Engliſche Ufer. Doch kalt und pflegmatiſch dehnt ſich die Zeit weiter und kuͤmmert ſich nicht um un - ſer geaͤngſtigtes, pochendes Herz, es muß doch endlich alles und ſelbſt das Leben voruͤber ſeyn.

430

12. Willy an ſeinen Bruder Thomas.

Lieber Bruder, ich ſchreibe Dir heute einen Brief und in wenigen Tagen mache ich mich auf, um zu Dir zu kommen; denn ich habe kei - ne Ruhe, ich habe keine Raſt, es treibt mich weg und ruft mir in die Ohren, daß ich Dich vor meinem Tode noch einmal ſehen ſoll, daß ich unter Deinen Augen ſterben ſoll.

Schon ſeit einigen Tagen iſt mir ſo gar heimlich und einſam zu Muthe, die Fahne des Kirchthurms knarrt ſo betruͤbt, und wenn ich am Abend am Fenſter ſtehe, iſt es, als wenn ich auf dem Kirchhofe ſchwarze Maͤnner ſtehen ſehe, die mit den Fingern nach mir hinweiſen. Ich habe im Stillen geweint und gebetet und bin mir dabey hier ſo verlaſſen vorge - kommen, und ſo auch alle Menſchen um mich her, ſie waren mir alle fremd. Der Tod treibt ſich hier im Hauſe herum, das iſt nicht anders, lieber Bruder, und nach mir ſucht er,431 das iſt gewiß, und darum will ich fort von von hier und zu Dir hin.

Sieh, ich habe ſo an Dein altes freundli - ches Geſicht gedacht und an Deine Art zu re - den, und an alles, was Du an Dir haſt und was mir immer ſo gefaͤllt und das Dein Nah - me Thomas ſo recht ausdruͤckt und beſchreibt. Und da hab ich geweint und mir die weite Reiſe von neuem vorgenommen. Dieſe Nacht iſt es aber erſt recht gewiß geworden.

Sieh, mir traͤumte, als ſtuͤnde ich in einer wuͤſten, ſchwarzen Gegend, rund mit Bergen eingefaßt. Und oben von den Bergen kuckte ein Kopf heruͤber, und das war mein Herr Lo - vell, ich kannte gleich das alte, blaſſe Geſicht. Da fing ich vor Freude laut an zu ſchreyen, und ich glaubte, mir haͤtte nur immer getraͤumt daß er geſtorben ſey, und jetzt kaͤme es nun heraus, daß es nur eine Einbildung von mir waͤre. Er ſagte ganz freundlich: Guten Tag, lieber Willy! Ich wollte gleich munter die Berge hinaufklettern und ich nahm mir vor, mich nicht zu ſchaͤmen, ſondern ihm dreiſt um den Hals zu fallen. Er mußte es merken, denn er ſagte: Bleib nur Willy, wir ſehn uns432 bald. Und in demſelben Augenblicke wurde ſein Geſicht ganz jaͤmmerlich, noch eingefallener und beynahe wie ein Todtenkopf. Ich fing an zu weinen, als ich das ſah, und ſtreckte die Arme nach ihm aus, aber er ſchuͤttelte ſtillſchweigend mit dem Kopfe, und es war nun, als wuͤrd er ordentlich recht mit Gewalt heruntergezogen. Da konnt ichs nicht laſſen, ſondern ich wollte nachſehn, was aus ihm geworden waͤre, ich fing an zu laufen, um die Berge hinaufzuklet - tern, aber ſieh, da liefen ſie vor mir weg, und ich wurde ungeduldig und rannte immer ſchneller, und die Berge fuhren weg vor mir, geſchwinder wie das beſte Pferd im Wettren - nen. Jetzt ſtanden ſie ganz weit weg, ſo daß ſie nur noch ſo groß ausſahen, wie Kinder - koͤpfe, das war mir bedenklich; ich kehrte mich um, und hinter mir waren die uͤbrigen Berge eben ſo weit weggelaufen. Es war alles um mich her ſo weit, eben und ſchwarz, wie die See. Da kam mir ein großer Schwindel in den Kopf, und ein ſchreckliches Grauſen auf den ganzen Koͤrper, denn ich merkte nun, daß ich den Herrn Lovell als einen Geiſt geſehen hatte. Es war mir immer, als wollte einſchwar -433ſchwarzes Ungeheuer aus dem Himmel herunter - ſchießen, um mich zu verſchlingen, oder als wenn der Himmel ſelber brechen wollte. Ich vergaß alles Vorhergehende beynahe und fuͤrch - tete mich doch noch immer fort; meine ganze unſterbliche Seele kruͤmmte ſich in mir zuſam - men und ich rief den allmaͤchtigen Gott um Huͤlfe an.

Da wacht ich mitten in der dunkeln Nacht muͤde und ermattet auf, und es war mir noch immer, als ſtuͤnde ich noch in der ſchwarzen Wuͤſte.

Siehſt Du, Bruder, der verſtorbene Herr hat mich gerufen, ich muß kommen und nun will ich nur noch von Dir Abſchied nehmen. Es iſt ja ſo nur noch ſo wenige Zeit uͤbrig, in der wir uns lieben und gut ſeyn koͤnnen, wir wollen alſo das wenige noch mitnehmen.

Gott ſeegne meinen Herrn William, ich wuͤnſchte, ich koͤnnte auch von dem noch Ab - ſchied nehmen, und daß er mir noch zur voͤlli - gen Verſoͤhnung die Hand druͤckte, daß ich doch ganz als ein guter Freund von ihm zu ſeinemLovell. 2r Bd. E e434Herrn Vater in den Himmel ankommen koͤnnte und einen Gruß von ihm beſtellen.

Wie geſagt, in etlichen Tagen bin ich bey Dir und wenn Du mich auch wieder fuͤr etwas naͤrriſch haͤltſt, lieber Bruder, ſo mache mir doch ein freundliches Geſicht, wenn ich komme.

Ende des zweyten Theils.

About this transcription

TextWilliam Lovell
Author Ludwig Tieck
Extent443 images; 62188 tokens; 9327 types; 411751 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationWilliam Lovell Zweyter Band Ludwig Tieck. . 434 S. NicolaiBerlinLeipzig1796.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Yw 3891-2<a> Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=450922510

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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ImprintBerlin 2019-12-09T17:35:17Z
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ShelfmarkSBB-PK, Yw 3891-2<a> R
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