Es iſt nicht anders, ich ſtehe wirklich hier, und ſehe nach den weißen, ſchroffen Klippen hinauf, die mich ſo entzuͤckten, als ich damals von England Abſchied nahm. Ich bin endlich wieder zuruͤckgekommen, und alles Vorige liegt hinter mir; es iſt nicht anders, und konnte vielleicht nicht anders werden.
Ich glaubte daß mich eine frohe Ruͤhrung ergreifen wuͤrde, wenn ich den Boden meines Vaterlandes wieder betraͤte, aber duͤrr und ver - druͤßlich bin ich noch immer, noch immer fuͤh - le ich dieſelbe widrige Empfindung in mir, mit der ich landete.
Ich danke dem Andrea unaufhoͤrlich, daß ich jetzt in den widerwaͤrtigſten Situationen mit einer großen Kaͤlte in das Leben ſehen kann, denn ein Gefuͤhl das er mir gegeben hat, be -6 gleitet mich allenthalben. Die Veraͤchtlichkeit der Welt liegt in ihrer groͤßten Betruͤbniß vor mir, ich ſtoße ſie nur um ſo geringſchaͤtzender von mir, je wunderbarer ich mir ſelbſt erſchei - ne. Durch meine Ahndungen und ſeltſamen Gefuͤhle, hat er mich vom Daſeyn einer frem - den Geiſterwelt uͤberzeugt, ich habe eigenmaͤch - tig meinen Zweifeln ein Ziel geſetzt, und ich freue mich jetzt innig, daß ich auf irgend eine Art mit unbegreiflichen Weſen zuſammenhaͤnge, und kuͤnftig mit ihnen in eine noch vertrautere Bekanntſchaft treten werde. Unaufhoͤrlich be - gleitet mich dieſe Ueberzeugung, und alle Gegen - ſtaͤnde umher erſcheinen mir nur als leere For - men, als weſenloſe Dinge. Ich errege oft jene geheimen unbegreiflichen Gefuͤhle in mir, in der Nacht, oder in der Einſamkeit, jene ſeltſamen ſchauernden Ahndungen die uns unwiderſtehlich wunderbaren Maͤchten entgegen draͤngen. So, Freund, iſt die Welt mir in manchen Stunden nichts, als ein buntes, beſtandloſes Schatten - ſpiel, Wogen die den Bach hinunterlaufen oh - ne zu wiſſen wohin.
Alle betruͤbten Stunden die ich hier in Eng - land erleben werde, ſtehen gleichſam noch hin -7 ter den Couliſſen und warten nur auf ihr Stich - wort, um ſchnell hervorzutreten, ich muß in meiner Rolle fortfahren, und vor keinem ploͤtz - lichen Auftritt erſchrecken.
Der noͤrdliche Himmel hier, mit ſeinen gro - ßen und tiefhaͤngenden Wolken, macht einen ſeltſamen Eindruck auf mich, nachdem ich mich in ſo langer Zeit in Italien verwoͤhnt habe. Die Umriſſe der Berge und Waͤlder bilden ſich ſo hart und widrig in dieſer rauhen Luft, ich fuͤhle ſchon jetzt ein Heimweh nach Italiens lauem Himmel, nach Ihnen und Andrea und meinen uͤbrigen Freunden.
Wir haben nun endlich unſer gewoͤhnliches Le - ben wieder angefangen, und die Zeit fließt uns eben und ohne widrige Abſchnitte voruͤber. Vie - le Menſchen irren darinnen ſehr, wenn ſie nur immer ſtreben recht viele frohe und glaͤnzende Epochen in ihren Lebenslauf zu bringen, denn jede dieſer Epochen zieht mehrere Tage nach ſich, die durch ihre Nuͤchternheit unſere Seele leer und melancholiſch machen; je einfoͤrmiger und ruhiger die Zeit voruͤberfließt, um ſo mehr genießt man ſeines Lebens. Wir beyde, lieber Freund, haben uns in dieſen Genuß eingelernt, und ich haſſe jetzt das Planmachen, wodurch man immer in einer fernen Zukunft lebt, un - ſinnigerweiſe die Gegenwart verſchleudert, und ſich im Leben gleichſam uͤbereilt, um nur deſto fruͤher zu jenem Ziele zu kommen, das man ſich aufgeſteckt hat.
9Geſtern kam der alte Willy ganz matt und athemlos hier an, um ſeinen Bruder Thomas zu beſuchen. Er war die letzten Meilen, ſo alt er auch iſt, zu Fuß gelaufen, um ſeinen Bruder nur deſto fruͤher zu ſehen. Der alte Mann hat ſich eingebildet, er muͤſſe jetzt ſterben, und dar - um will er noch vorher von Thomas Abſchied nehmen. Die Ermuͤdung, ſo wie ſein Aber - glaube haben es wirklich dahin gebracht, daß er krank geworden iſt, und jetzt im Bette liegt. Er hat mich aber innig durch ſeine Liebe gegen ſeinen Bruder geruͤhrt, den ſeine einge - bildete Klugheit hindert ihn wieder eben ſo zu lieben. Viele Menſchen, beſonders unter den gemeinern, ſchaͤmen ſich ein Herz zu haben, ſo - bald ſie nur einigen Verſtand zu haben glau - ben. Willy ſpricht viel vom Lovell, und mit einer auſſerordentlichen Innbrunſt; mir ſtanden die Traͤhnen in den Augen, als ich ihm zuhoͤr - te. Meine ganze Seele ſtreckt ſich in mir aus, ſo oft ich dieſen Nahmen nennen hoͤre, es iſt jedesmal als wollte man mir einen Vorwurf damit machen, weil er nicht mehr mein Freund iſt. — Und konnt 'ich anders handeln? — That ich nicht alles um mir ſeine Liebe aufzu -10 bewahren? — Aber er hat ſein Herz verſpielt, und kann mich nicht mehr lieben.
Leben Sie wohl, und erſetzen Sie mir durch Ihre Freundſchaft den Verluſt der ſei - nigen.
Sie werden es verzeihen werthgeſchaͤtzter Herr, und Kollege, wenn mein Bruder vielleicht eini - ge Tage laͤnger ausbleibt, als er ſich anfangs vorgeſetzt hatte, und Sie indeſſen die Aufſicht des ganzen Gutes beſorgen muͤſſen, denn er iſt hier krank geworden, ſo daß er wohl ſobald noch nicht wird zuruͤckreiſen koͤnnen. Er iſt ein klein wenig naͤrriſch der alte Mann, und das werden Sie eben ſo gut wiſſen als ich. Alte Leute haben, wie man zu ſagen pflegt, ihre wunderlichen Launen, und mein Bruder hat ſie gewiſſermaßen im vollſten Grade.
Er hat mir viel von ihrem Garten erzaͤhlt, und es thut mir recht ſehr leid, daß Sie mit dem wilden Werke ſo viele Muͤhwaltung vorzu - nehmen haben. Ich habe jetzt Gottlob! einen Goͤnner an meinem Herrn, der die Kunſt ſchaͤtzt12 und viel an die Vortreflichkeit des Gartens wendet. Ein ſolcher Goͤnner fehlt Ihnen frey - lich, und doch iſt er gewiſſermaßen unentbehr - lich, um etwas Großes zu Stande zu bringen, denn ohne Geld, und ohne die noͤthigen Arbei - ten laͤßt ſich in dieſer Welt nur wenig aus - richten.
Mein Bruder glaubt, daß er hier wird ſter - ben muͤſſen, denn er iſt noch ſo ſehr von der alten Welt, und wenn ihm etwas traͤumt, ſo glaubt er auch immer, daß es eintreffen muß, was denn die vernuͤnftigen Leute mit Recht einen Aberglauben nennen koͤnnen, denn er weiß wuͤrklich nicht viel von einer beſſern Aufklaͤrung, wie man zu ſagen pflegt. — Ich denke aber wohl, daß er in einigen Tagen ſowohl geſun - der, als auch vernuͤnftiger werden wird. Gott gebe ſeinen Seegen dazu, damit er bald wieder an ſeine Geſchaͤfte gehen koͤnne!
Verzeihen Sie uͤbrigens, werthgeſchaͤtzter Herr und Kollege, daß ich mir die Freyheit ge - nommen habe, Ihnen mit meinem ſchlechten Briefe beſchwerlich zu fallen; da aber mein13 Bruder noch bis dato die Feder nicht fuͤhren kann ſo habe ich ſolches fuͤr meine Pflicht ge - halten. — Ich wuͤnſche eine fortdauernde Ge - ſundheit und langes Leben, und nenne mich
Ihr werthſchaͤtzender Freund Thomas, Gaͤrtner in Bonſtreet.
Ich treibe mich jetzt wie ein abgeriſſener Zweig in den Fluthen und Wirbeln des wuͤh - lenden Lebens auf und ab. Ohne Ruhe bin ich bald hier, bald dort, bald in einem gemeinen Wirthshauſe, unter den niedrigſten, aber ori - ginellſten Menſchen, bald in einer Geſellſchaft von Spielern, bald auf den oͤffentlichen Spa - ziergaͤngen, bald in den vollgedraͤngten Thea - tern. Ich bin in einer unaufhoͤrlichen Traͤume - rey verſunken, und das Gewuͤhl um mich er - hebt mich und macht mich froh.
In manchen Stunden verlier 'ich mich ſel - ber. Sagen Sie mir, Roſa, ob meine innere Ahndungen Recht haben. Mein Vater, Pietro und Roſaline ſtarben durch mich, Amalia iſt durch mich vielleicht ungluͤcklich geworden; wer weiß wie manches Auge meinetwegen naß iſt, von dem ich nichts weiß, und dem ich mittel - bar und ungekannt Schmerzen uͤberſendet habe. 15— Ich kann manchmal alles vergeſſen, was ich vormals daruͤber dachte, und eine heiße Roͤthe breitet ſich dann von innen heraus uͤber meine Wangen. — Und doch, — wie wenig ſind alle dieſe Menſchen werth! Wen unter ihnen kann man bedauern? Von wem ſollen wir uns in unſerm Wege zuruͤckhalten laſſen? — Ich rich - te mich durch jene hohen Ahndungen und wun - derbaren Gefuͤhle, durch jene goͤttliche Ueber - zeugung wieder auf, deren die uͤbrigen Menſchen entbehren muͤſſen.
So wenige Menſchen mich hier auch ken - nen, ſo huͤte ich mich doch ſehr erkannt zu wer - den. Neulich ſprach ich einen Bekannten des jungen Valois, der mit der Blainville hier - hergereiſt war, er hat ſich wirklich erſchoſſen, aber von der Komteſſe wußte er mir keine Nachricht zu geben.
Manche Straßen hier reden mich mit einer wunderbaren Sprache an, vorzuͤglich die in de - nen Amalia wohnt. Ich bin ſchon mehrmals Ihrem Hauſe voruͤbergegangen, aber weder am Fenſter noch auf irgend einer Promenade habe ich ſie geſehen. Auch noch keine Nachrichten16 habe ich von ihr erhalten koͤnnen, aber ſie muß hier in London ſeyn. — Geſtern war ich im Theater, es wurde Macbeth gegeben, und ich war mit einer aͤchten Jugendempfindung in die Darſtellung vertieft. Alle Ideen umgaben mich auf eine wunderbare Weiſe, und die Mu - ſik der Zwiſchenakte machte, daß ich mich ſelbſt und alles um mich her vergaß. — Im letzten Akte zog ein Geſicht in einer Loge meine ganze Aufmerkſamkeit auf ſich, denn es glich Ama - lien vollkommen. Ich vergaß das Stuͤck, und ſuchte mir nur die Erinnerung ihrer recht ge - genwaͤrtig zu machen, um ſie mit dieſem Bilde zu vergleichen. Sobald man ein Geſicht beob - achten will, das uns bekannt vorkoͤmmt, ſo ge - raͤth man bald in einen gewiſſen Schwindel und Zweifel, denn alles uͤberzeugt uns und wieder - ſpricht uns dann wieder, man ſchwoͤrt dafuͤr, und laͤugnet es wieder, und alles wechſelt im - mer beynahe in einer Sekunde.
Ich war noch immer verwirrt, und in tie - fen Gedanken, als das Stuͤck ſchon geſchloſſen war. Ich draͤngte mich mit den andern hin - aus, und erwartete an der Treppe die Herun - terkommenden. Viele Geſichter liefen durchein -17 ander, und meine Augen wurden muͤde ſie zu bemerken, um dasjenige was ich erwartete, herauszufinden. Endlich erſchien die Dame die ich fuͤr Amalien hielt, und in einem Augenblicke ſchoß mir die Ueberzeugung durch den Kopf, daß ſie es auch wirklich ſey. — Und bey Gott ſie war es! —[Hundert] Menſchen liefen mir vor und wieder zuruͤck, es war mir unmoͤglich naͤher zu kommen. Man ſtieß und draͤngte mich und ich ſtieß und draͤngte ebenfalls, und die Geſtalt war verſchwunden. Meine Augen fan - den ſie nachher nicht wieder.
Es muß Amalia geweſen ſeyn, es iſt nicht anders moͤglich. Ihre Schleppe, und der Saum ihres Kleides war mir in dem Momente heilig, als ich ihm nachzufolgen ſtrebte. Ich haßte die Menſchen recht innig, die mich durch ihr wildes widriges Gedraͤnge hinderten ihr zu folgen.
Ich kann es nicht unterlaſſen ganz gegen Sie aufrichtig zu ſeyn, weil ich es gegen irgend jemand ſeyn muß. Und kann ich fuͤr meine Empfindungen, die mich unwillkuͤhrlich ergrei - fen und quaͤlen, und beſeeligen?
Lovell. 3r Bd. B18Daß nur nicht ein Zufall macht, daß ich auf Mortimer treffe, und er mich erkennt! — Am liebſten gehe ich in der Daͤmmerung, oder am Abend ſpatzieren, und es iſt uͤberdies ſchwie - rig, in dieſem großen Gewuͤhle von Menſchen erkannt zu werden.
So bin ich denn endlich wieder hier, hier wo der Fruͤhling meines Lebens zu bluͤhen anfing, und wo ich immer noch einzelne Ruinen davon wiederfinde? — Wie iſt hier alles noch ſo, wie ich es damals verließ, jede Hecke, und je - der Teich erinner mich an meine damaligen Empfindungen.
Hier war's, wo Melodien aus jedem Baum - wipfel ſumſeten; hier hing der Morgen-Him - mel voll goldener Hoffnungen; jeder Ton in der Natur klang mir Geſang, und ich ging un - ter einem ewigen lautrauſchenden Koncerte. — Und was iſt nun aus allem dem geworden? — Und was war es auch das ich hoffte? — Ju - gendlich und unbeſonnen kannt 'ich mich ſelbſt nicht, und wußte nicht was ich von mir und der Welt verlangte.
Ich ſaß wieder in demſelben Zimmer des Wirthshauſes, in dem ich damals einen ſo em - pfindſamen Brief an Eduard Burton ſchrieb,B 220wohl gar wenn ich nicht irre, Verſe machte. Es iſt eine niedrige unangenehme Stube, und mir wuͤrde jetzt kein poetiſcher Gedanke dort einfallen. Die Gegend umher, die mir im Mondſchein damals ſo romantiſch vorkam, iſt nichts als ein weiter gruͤner Haideplatz, mit einigen Baͤumen, in der Ferne ſieht man Wald. Wie naͤrriſch war damals die ganze Welt fuͤr mich ausgeputzt!
Auch die Stelle im Walde habe ich wieder - gekannt, auf der ich damals von Amalien Ab - ſchied nahm, als ſie von Bonſtreet nach Lon - don reiſte. Alle dieſe Plaͤtze ſind ſtumm gewor - den, ich finde ſie widerwaͤrtig und armſeelig, da ſie mir damals ſo theuer, ſo uͤberaus theuer waren. Manchmal iſt es, als liefe noch durch die Gebuͤſche ſaͤuſelnd eine der lieblichen Erin - nerungen, aber ſie koͤnnen nicht zu mir, ſie tre - ten ſcheu vor mir zuruͤck.
Verkleidet bin ich ſchon einigemal im Gar - ten hier in Bonſtreet auf und abgegangen. Hier hatten alle Empfindungen, alle Erinnerun - gen in den gruͤnen Lauben, auf den ſchoͤnen Raſenſtellen, unter den dichten Zweigen der Alleen geſchlafen; ſie wachten auf, als mein21 Fuß den Garten betrat, und kamen mir alle ſtuͤrmend entgegen. Alle haben mich begruͤßt, und jeder Baum ſcheint mich zu fragen: wo ich ſo lange geblieben ſey? Ach Roſa! die Traͤ - nen ſtiegen mir in die Augen, und ich konnte keine Antwort geben.
Die hohen Baͤume in der Allee rauſchen noch in gebrochenen Toͤnen einige Stellen des Oſſian, den ich ihr immer am Morgen vor - las; dieſelbe Sehnſucht ergrif mich wieder, als ich oben auf dem Huͤgel dem Fluſſe nachſahe, der ſich zwiſchen dem Felſenufer hindurch win - det; alles iſt mir noch befreundet, nur ich ma - che allen Gegenſtaͤnden ein fremdes Geſicht. — Ach! ich bin ein Traͤumer, — ich moͤchte ſa - gen: Die lebloſe Natur hat inniger an mir ge - hangen, als je die Menſchen. —
Lange ſtand ich vor der Linde ſtill, in der ich meinen und Amaliens Nahmen eingrub. Nur wenig haben ſich die Zuͤge durch den Wachsthum des Baumes veraͤndert. — Wie vieles nahm ich mir damals vor, als ich dieſe Zuͤge langſam und bedaͤchtlich dem Baume ein - ſchnitt! —
22Vieles im Garten iſt geaͤndert, und ſeit dem Tode des alten Burton mit mehrerem Ge - ſchmacke angelegt. — Mich duͤnkt Andrea weiß es ſchon daß Burton geſtorben iſt. — Aber alle Veraͤnderungen hier haben mir wehe gethan. Ich wollte manche der alten Anlagen beſuchen, und fand eine neuere, beſſere. Der Gaͤrtner den ich durch einen Zufall traf, hat mir vie - les daruͤher geſagt, er iſt ein Bruder von mei - nem Willy.
Willy ſelbſt iſt hier zum Beſuche, und ich erſchrak, als ich ihm geſtern ploͤtzlich begegnete aber er hat mich nicht erkannt.
Ich habe mich nach manchen Sachen genau erkundiget, und darauf einen Plan gegruͤndet, um in das Haus zu kommen. Daß ich nicht erkannt werde, dafuͤr will ich ſchon ſorgen, und dieſe Schwierigkeit iſt im Grunde die un - bedeutendſte.
Wie ſchwach iſt der Menſch! — Seit wie lange glaubte ich nun ſchon, uͤber alle dieſe Eindruͤcke erhaben zu ſeyn, und doch haben ſie mich nun mit neuer Gewalt angefallen, und dann lach 'ich wieder uͤber mich, und finde mich ſelbſt kindiſch.
23Vielleicht iſt es eine Nothwendigkeit, daß der Menſch unaufhoͤrlich mit ſeinem Weſen wechſelt, wenigſtens liegt darin ein großer Ge - nuß ſeines Lebens. — Bunt wie das Kamaͤleon traͤgt er bald dieſe bald jene Farbe, je nachdem die Sonne ſcheint, oder ſich verdunkelt.
Leben Sie wohl; bald erhalten Sie von mir naͤhere Nachrichten.
Ich ſchicke Ihnen hier das Manuſkript Ihres Vaters zuruͤck, das ich mit großer Aufmerk, ſamkeit geleſen habe. Wie viele Wege giebt es in unſerm Verſtande, die den Menſchen ſo leicht auf eine falſche Bahn bringen koͤnnen! Die Sucht uͤber uns ſelbſt zu gruͤbeln, liegt in uns, und doch lernen wir beym aufmerkſamſten Studium nichts und alles Einfache, und Gute verliert ſich aus uns bey dieſen Betrachtungen. Der Menſch gewoͤhnt ſich dabey gar zu leicht, ſich nur als ein ſpekulirendes Weſen, als eine abſtrakte Idee anzuſehen, und mit eben den Augen die uͤbrigen Geſchoͤpfe zu betrachten. — Ich ſage Ihnen fuͤr Ihr Zutrauen vielen Dank; ſolche Aufſaͤtze ſind Wegweiſer und Leuchtthuͤr - me fuͤr andere Menſchen.
In mir iſt wieder die Sucht aufgewacht, eine kleine Reiſe zu machen, und wenn ich durch nichts gehindert werde, will ich auch die - ſe Neigung naͤchſtens befriedigen. Dann beſu -25 che ich zugleich Sie, und ihre liebenswuͤrdige Schweſter. — Amalia iſt auf ein paar Tage in der Stadt geweſen, um Ihre Eltern, und ihren fleißigen Bruder zu beſuchen. — In ei - nigen Monathen hoffe ich Vater zu ſeyn, und ich bin neugierig wie mich dieſe neue Wuͤrde kleiden wird.
Liebe Freundinn, ich fuͤhle mich zum Schreib - tiſche ordentlich mit Gewalt hingezogen, um mich mit Ihnen zu unterhalten. Sie haben ſo oft Ihren Kummer in Briefen gegen mich aus - geſchuͤttet, und ich denke eben daruͤber nach, ob jetzt vielleicht an mich die Reihe iſt. Ich habe oft von Ruͤhrung reden hoͤren und ſelbſt geſprochen, aber bis jetzt iſt es nur ein Wort fuͤr mich geweſen, deſſen eigentliche Bedeutung ich erſt heute habe kennen lernen.
Schon ſeit einigen Tagen haͤlt ſich ein kran - ker armer Menſch in unſerm Hauſe auf, dem mein Bruder aus Mitleid ein klein Zimmer hat einraͤumen laſſen, weil der Gaͤrtner fuͤr ihn bat. Die Bedienten haben ihn bis jetzt ver - pflegt, und wir bekamen ihn faſt gar nicht zu ſehn, denn er hielt ſich immer auſſerordentlich ſtill und eingezogen, und jedermann im Hauſe27 glaubte, daß ſeine Krankheit vorzuͤglich in ei - ner tiefen Melancholie beſtehe.
Mein Bruder war geſtern ausgeritten und ich ſaß allein im Garten. Sie kennen die[Lau - be], in der ich am liebſten bin, wo man nur den einen ſchmalen Gang hinunter ſehn kann und allenthalben von dichten Hecken eingeſchloſ - ſen iſt. Ich las und arbeitete, und bemerkte nach einiger Zeit den Kranken, der tiefſinnig im Gange auf - und abging, bald mit[verſchraͤuk - ten] Armen ſtille ſtand und den Blick ſtarr auf den Boden heftete, bald Blumen abriß und ſie mit ſeinen Thraͤnen benetzte. Ich war auf alle ſeine Bewegungen aufmerkſam, denn aus jeder ſchien ein tiefer Kummer zu ſprechen. Ich weiß ſelbſt nicht, auf welche wunderbare Weiſe mein Herz in mir bewegt ward, es war mir ganz wie bey einer guten Tragoͤdie zu Muthe, wo ein unbekannter Elender unſre ganze Theilnah - me an ſich reißt.
Ich konnte es nicht unterlaſſen, ich mußte aufſtehn und ihm naͤher treten. Er ſchien be - wegt und erſchreckt, als er mich erblickte, er wußte nicht, ob er gehen ſollte, oder bleiben. Ich redete ihn freundlich an, um ihn uͤber ſei -28 nen Kummer zu troͤſten. Er antwortete und jedes Wort enthielt ein tiefes Gefuͤhl ſeines Ungluͤcks, mit jeder Antwort ward meine Ruͤh - rung groͤßer und ich konnte am Ende meine Thraͤnen nicht verbergen.
Was iſt es doch, was unſer Herz oft ſo ge - waltſam zuſammenzieht? Wer kann jene Gefuͤh - le beſchreiben, die wir Ruͤhrung nennen, und wer kann ihre Entſtehung begreifen? — Wenn das Mitleid in unſer Herz eintritt, o Freun - dinn, dann breitet es ſich gewaltſam wie mit Engelſchwingen darinn aus, daß unſer armes irdiſches Herz erzittert und ſich zu klein fuͤr den goͤttlichen Fremdling fuͤhlt, dann moͤchten wir in dieſem ſchoͤnen Augenblicke ſterben, weil wir empfinden, daß unſer voriges Leben kalt und duͤrr dagegen war, weil wir es wiſſen, daß die Zukunft nach dieſem ſchoͤnen Augenblicke nur leer und nuͤchtern ſeyn wird: wir moͤchten ganz in wolluͤſtigen Thraͤnen zerfließen, wir koͤn - nen uns nicht daruͤber zufrieden geben, daß wir nach dieſer Seeligkeit noch leben ſollen. Ach das Herz begehrt zu brechen, und die Seele den Flug aufwaͤrts zu nehmen, — nein, ich kann keine Worte fuͤr dieſe Gefuͤhle finden, ob29 mir gleich auch jetzt die Augen voll von großen Thraͤnen ſind. — Kann es denn wirklich Men - ſchen geben, die nie das Mitleid empfunden haben, die nie Thraͤnen vergoſſen? — O denen ſey es erlaubt, die Unſterblichkeit ihrer Seele zu bezweifeln, ihnen ſey es vergoͤnnt, die Men - ſchen zu haſſen, denn ſie muͤſſen es nicht be - greifen koͤnnen, warum man ſie liebt. —
Ich kann nicht dafuͤr, liebe Freundinn, daß ich hier deklamirt habe, denn meine ganze See - le hat ſich in mir aufgethan. Sie kennen ja auch dieſe zarten Regungen des Herzens, Sie werden mich verſtehen, und mich keine Schwaͤr - merinn nennen. Mit Maͤnnern kann man uͤber - haupt nicht ſo ſprechen, ſie ſind viel zu ſehr in die Geſchaͤfte des Lebens verwickelt, um ihre Gefuͤhle rein und hell in ihrem Buſen zu behal - ten, ſie handeln und denken und eben dadurch wird alles uͤbrige in ihnen verdunkelt. Nur der Mann von dem ich Ihnen erzaͤhlen wollte, und den ich beynahe ganz vergeſſen haͤtte, nur er, vielleicht unter ſeinem Geſchlechte der Ein - zige, iſt faͤhig mich ganz zu verſtehn, aber er kommt aus der Schule des Ungluͤcks und der30 Leiden, die dem Herzen die verlohrne Menſch - lichkeit wiedergeben.
Zeigen Sie Niemanden dieſen Brief, liebſte Freundinn, denn er iſt nur fuͤr Sie allein ge - ſchrieben, jedes andre Auge wuͤrde ihn entwei - hen und nur uͤber meine Schwachheit ſpotten. So wenige Menſchen verſtehen es, froͤhlich zu ſeyn, und noch weit weniger zu trauern, der Schmerz redet ſie in einer himmliſchen Sprache an und ſie koͤnnen nur mit ihren unbeholfenen, irdiſchen Toͤnen antworten. Wer ſich freuen oder wer weinen will, ziehe ſich ja zu Blumen und zu Baͤumen zuruͤck.
Der Unbekannte redete ſehr herzlich und bald ſchien mir ſeine Sprache ſo bekannt. Es kamen wunderbare Erinnerungen in meine See - le; ich betrachtete ihn genauer und auch ſeine Geſichtszuͤge ſchienen mir nun nicht mehr fremd. — O Amalie, welche Empfindung ergriff mich, als ich in dem armen Verſtoßenen, in dem kran - ken Bettler einen alten, wohlbekannten Freund von mir entdeckte, — und wie er ſich mir nun ſelbſt zu erkennen gab und viel von den Men -31 ſchen und ihrer Grauſamkeit ſprach, — wie Thraͤnenguͤſſe aus ſeinen Augen ſtuͤrzten und er zu meinem Fuͤßen ſank und um Vergebung fleh - te, — o Freundinn, ich wußte nicht, ob ich lebte, oder todt ſey, — ob ich mich nicht ploͤtzlich im Lande der wunderbarſten Traͤume befinde, — ach, ich kann immer noch nicht zu mir ſelber kommen.
Seinen Nahmen darf ich Ihnen noch nicht nennen, ſo wie er auch unſerm ganzen Hauſe ein Geheimniß iſt, aber bald, bald will ich Ih - nen alles aufloͤſen, und Sie werden eben ſo ſehr erſtaunen. — Alle Gegenſtaͤnde flimmern mir ſeit dieſem Augenblicke vor den Augen, ich kann nichts recht feſt angreifen, und mein Ge - muͤth iſt zu den ſeltſamſten Vorfaͤllen und Ver - wandlungen vorbereitet. Meine Augen wollen unaufhoͤrlich weinen und jeder freundlich lachen - de Mund ruͤhrt mich innig: eine große Weh - muth hat mir alle Gegenſtaͤnde der Welt in die Ferne geruͤckt und der Schreck beym Erkennen zittert immer noch in mir fort.
Wunderbar gehn die Schickſale und Leiden der Welt und[noch] nie iſt mir dieſer fuͤrchterli -32 che Gang ſo deutlich vor die Augen getreten. Ich habe noch wenig gelitten, und ich moͤchte nun fuͤrchten, daß ich noch viel zu leiden habe.
Sehn Sie, liebe Amalia, ſo melancholiſch hat jener Ungluͤckliche Ihre Freundinn gemacht; der ganze Brief iſt ein Beweis von der Span - nung meiner Phantaſie. — Leben Sie recht wohl und gluͤcklich.
Ich habe doch hier, bey aller meiner Philoſo - phie manche ungeduldige Stunde, und ich glau - be, ich habe ſo gut wie jeder andre Verliebte ein Recht dazu. — Ich will verſuchen, ob ich mich dadurch zerſtreuen kann, wenn ich an Dich einen Brief ſchreibe.
In den erſten Tagen kam es mir ſo auſſer - ordentlich leicht vor, von Emilien entfernt zu ſeyn, daß ich ordentlich im Stillen wuͤnſchte, man moͤchte mir eine ſchwerere Probe auflegen. Es ging mir grade wie dem Kranken, der eine gefaͤhrliche Kriſis uͤberſtanden hat, ſich in den erſten Tagen nach dieſer ſchon fuͤr geneſen haͤlt, und ſich nicht genug daruͤber wundern kann, wie ihn die uͤbrigen Menſchen noch bedauren: aber bald fuͤhlt er die Krankheit und Mattig - keit in allen ſeinen Gliedern von neuen, er wird von neuem ungeduldig und vergißt die ſchmerzhaften Tage gaͤnzlich, die jetzt hinter ihm liegen. — Du wirſt mir wenigſtens zugeben,Lovell. 3r Bd. C34daß der Menſch immer bey dieſer kurioſen Ein - richtung ſeiner Natur die herrlichſten Urſachen hat, unzufrieden zu ſeyn.
Wie unermeßlich lang kommt mir jetzt oft bey meinen Arbeiten ein Bogen vor, den ich vollſchreiben ſoll, da er mir in den erſten Tagen nur wie ein Spatziergang war. Alle dummen und klugen Streiche laufen in der Welt doch wahrhaftig auf eins hinaus. Du nennſt es nun ſelbſt einen vernuͤnftigen Plan, daß ich beym Miniſter angeſtellet bin, und wie wenig hab 'ich daran gedacht, als ich mich anſtellen ließ? Wahrlich, ich ließ mich eben mit der phlegma - tiſchen Unbefangenheit zu ihm ſchleppen, als waͤre die Reiſe nach einem Alehouſe gegangen; meine allerdummſten Streiche haben mir weit mehr Kopfbrechens gekoſtet. — Ich glaube, ich koͤnnte der edelſte und tugendhafteſte Mann von der Welt werden, ohne daß ich ein Woͤrt - chen davon wuͤßte. — Lieber[Mortimer], wenn das irgend einmal der Fall ſeyn ſollte, ſo ma - che mich doch um des Himmels willen aufmerk - ſam darauf, damit ich nicht ſo in meiner Dummheit hin auſſerordentlich edel bin und ſelbſt gar keine Freude daran habe.
35Du biſt mir zum erſtenmale in Deinem Le - ben mit Deinem neulichen, ſo uͤberaus ernſt - haften Briefe ein wenig naͤrriſch vorgekommen. Seit Du ein Ehemann biſt, fuͤhrſt du einen gewiſſen altklugen Ton und uͤbſt Dich an mir zum kuͤnftigen Erzieher Deiner Kinder. Du biſt bey weitem nicht mehr ſo launigt, als ehe - dem, ich wette, daß Du jetzt nie einen Perio - den anfaͤngſt, ohne zu wiſſen, wie Du ihn en - digen willſt; und doch gefiel mir eben das ſonſt ſo ſehr an Dir, wo Du ſelbſt einen weiſen Spruch zuweilen anhubſt, ohne zu wiſſen, wie er ſchließen ſolle. Du verlierſt vielleicht nach und nach das wahre Leben und wirſt am Ende nur eine Ruine vom ehemaligen Mortimer, wenn ich Dich denn beſuche und Du hinter Deinem Tiſche mit dem ernſthaften Geſichte ſitzeſt; ſo muß ich in Gedanken alle Deine ehe - maligen Vortreflichkeiten in Dich hineinlegen, um nicht auf die Meinung zu gerathen, daß ich den leibhaftigen Grandiſon vor mir ſehe.
Aber laß uns einmahl ernſthaft ſprechen. — Dein neulicher Brief kann Dir unmoͤglich ganz Ernſt geweſen ſeyn, denn was Du da von den Geſchaͤften und der Elaſticitaͤt ſagſt, iſt ſo alt -C 236fraͤnkiſch, ſo philoſophiſch und ſo unwahr, daß ich beynahe Luſt haͤtte, Dir alle meine Geſchaͤf - te zu uͤbertragen, damit Du es ſelber mit Haͤn - den griffeſt, wie ſehr Du gelogen haſt. Du haſt in Deiner laͤndlichen Ruhe gut ſprechen, aber wenn Du nur die langweiligſten, unbe - deutendſten Sachen mit einer Emſigkeit und Genauigkeit abſchreiben muͤßteſt, als wenn dar - an die Seeligkeit von zehn Maͤrtyrern hinge, wenn Du es nur ſelber fuͤhlteſt, wie bey einer ſolchen Arbeit die Waͤnde umher immer enger zuſammenruͤcken, und das Herz aͤngſtlich klopft und Du nach dem letzten Worte mit der flie - genden Feder hinrennſt, als wenn das Haus einfallen wollte. Dann holt man Athem, um es von neuem durchzuleſen, und kaum iſt man eine halbe Stunde ausgegangen, ſo findeſt Du ſchon neue Stoͤße, die auf Deine Abfertigung warten. — Wo da die Elaſticitaͤt herkommen ſoll, kann ich gar nicht einſehn. — Die Ge - danken im Kopfe werden immer duͤnner, und gehn am Ende gar aus; ſtatt daß ich ſonſt Stellen aus dem Triſtram Shandy auswendig wußte, uͤbe ich meine Memorie jetzt an den mancherley Titulaturen.
37Ich bin mir in manchen Stunden ſchon un - gemein abgeſchmackt vorgekommen, daß ich mir ſo viele edelmuͤthige Bedenklichkeiten ausge - dacht und Emilien nicht auf der Stelle gehei - rathet habe. — Gluͤck! iſt das nicht das hoͤch - ſte Wort im Leben, unſre erſte Pflicht, ein Wort, gegen das jede Delikateſſe albern er - ſcheint? — Doch ich bin einmal eingeſpannt, und ſo werde ich denn auch wohl aushalten muͤſſen.
Ich bin auf Ihre Antwort begierig, da Ihr Herz mit dem meinigen immer ſo ſympathiſirt hat. — Ach, liebe Freundinn, ich kann Ihnen nicht alles ſo ſagen, wie ich es gerne moͤchte, ich ſpare dies Vertrauen noch fuͤr eine andre Zeit auf.
Welch ein Menſch iſt jener Unbekannte, von dem ich Ihnen neulich ſchrieb! — Er iſt ganz uͤber das kleinliche Leben hinuͤber, in dem ſich die gewoͤhnlichen Menſchen ſo aͤngſtlich abarbei - ten. Sein Geiſt iſt durch und durch gelaͤutert und gereinigt und er gehoͤrt nicht mehr der Er - de an. Ich kann es nicht unterlaſſen, ihn zu bewundern, ſo oft ich ihn ſehe oder ſpreche, er hat eine andre als die gewoͤhnliche Menſchen - ſprache. — Wenn ich an ihn denke, geht im - mer eine innige Ruͤhrung durch meine Bruſt, ich moͤchte faſt beſtaͤndig in ſeiner Geſellſchaft ſeyn, ſein tiefes Urtheil uͤber das und uͤber je -39 nes hoͤren, und ihm mit meinem Troſte den Gram etwas aus ſeinem duͤſtern Angeſichte ſchmeicheln.
Niemand kennt ihn hier und Niemand weiß daß ich ihn kenne, ich muß Ihnen ſeinen Nah - men auch noch verhehlen, weil es ſein Wille ſo iſt und weil er gegruͤndete Urſachen dazu hat.
Es iſt ſo etwas Wunderbares um ihn her, daß man ſich in ſeiner Gegenwart wie in eine andre Welt entruͤckt fuͤhlt. Alle, ſelbſt die all - taͤglichſten Ideen, erhebt er zur hoͤchſten Poeſie, ſo daß er wie ein fremder Geiſt auf dieſer Er - de wandelt. Wenn ich dabey an ſein Ungluͤck denke, ſo kann ich nicht muͤde werden, von ihm zu ſprechen, mich freut es, daß er mich ſeine Freundinn nennt, da ihn kein Weſen auf dieſer Erde weiter liebt. — O, denken Sie ſich den ſchrecklichen Gedanken: ich bin das ein - zige Geſchoͤpf, das ſich fuͤr ihn intereſſirt!
Wozu ſind die Millionen Menſchen auf die - ſer Erde, da ſo wenige nur Einen finden, der ſie liebt! — Ach, ſie koͤmmt mir wuͤſt und ent - voͤlkert vor, wenn ich daran recht lebhaft den - ke, ſie iſt nur eine große Erdmaſſe, voller ſtum - men Leichen, die in und auf ihr ſind. Sind40 ſich alle die Armſeeligen ſelber genug? Haben ſie kein Beduͤrfniß noch Liebe und Mitempfin - dung? — Sie ſterben alle, ohne gelebt zu ha - ben, ſie ſind Leichen, die ſich bewegen, und denn auch die Faͤhigkeit zu eſſen, an die Na - tur abgeben und ſich hinlegen und verweſen.
Nennen Sie mich nicht truͤbſinnig, liebe Amalie, denn es iſt ſo: Der ganze Lebenslauf des Unbekannten enthaͤlt nur dieſe Wahrheit. — Leben Sie recht froh und recht gluͤcklich! —
Hier ſitz 'ich nun, theureſte Emilie, in mei - nem[engen] einſamen Zimmer und denke und traͤume nur Sie. Mein Fenſter ſtoͤßt auf den Gang, in welchem ich ſchon damals mit Ama - lien ſo oft an Ihrer Seite ſaß — Amalie, die mich vergeſſen, die mich niemals geliebt hat. — Ach, Ungluͤcklicher! und Du darfſt noch klagen? Hat ſich der huldreichſte Engel nicht deiner mit einem himmliſchen Mitleid an - genommen? — Kannſt Du von dieſer irrdiſchen Erde noch mehr Gluͤck, noch eine hoͤhere Won - ne erwarten?
Ach, Emilie, immer, immer moͤcht 'ich bey Ihnen ſeyn und den ſuͤßen Ton Ihrer troͤſten - den Stimme hoͤren, immer den ſanften Augen begegnen, die dem Verſtoßenen, dem Elenden ſo koſtbare Thraͤnen ſchenkten. Die ganze Welt verkennt und verlaͤßt mich. Ihr harter Bruder hat mir ſeine Freundſchaft aufgekuͤndigt. — O, mag er ſie zuruͤcknehmen, wenn ich nur die Zu - neigung ſeiner goͤttlichen Schweſter behalte. —42 Was kuͤmmern mich die Augen der uͤbrigen Welt, wenn mich nur die Ihrigen bemerken und nicht zuͤrnend auf mich blicken!
Sie kennen, Sie dulden und lieben den Menſchen, o das hab 'ich daran erfahren, daß Sie mich nicht verſtießen, als ich die freche Erklaͤrung wagte, als ich Ihnen entdeckte, war - um ich verkleidet dieſes Haus betreten habe. — O Himmel, was kann ich denn auch fuͤr die heißen Empfindungen meines Herzens? — Iſt es ein Verbrechen, Sie zu lieben? — O ja ſo bin ich ein Verbrecher, verachten und haſſen Sie mich und mit dem Ende dieſes unertraͤg - lich ſchweren Lebens iſt meine Suͤnde abgebuͤßt. — Aber nein, Sie haben mir verziehen, Sie haben ſich meines Elendes mit der Guͤtigkeit eines Engels erbarmt, Sie wollen mich gegen meine wilde Verzweiflung ſchuͤtzen, Sie haben es mir zugeſagt, — o warum bin ich denn nicht froh und gluͤcklich? — Weil ich immer noch an dieſem Gluͤcke zweifle, weil ich in die - ſem Leben gelernt habe, daß uns alle Hoffnun - gen hintergehn, weil ich es nur fuͤr eine ſchuld - loſe Verſtellung halte, um mich auf einige Ta - ge zu troͤſten. — O Emilie! bedenken Sie, wie43 ich denn zu meinem gewoͤhnlichen Leben wieder erwachen werde!
Warum ſollte aber nicht ein Ungluͤcklicher in ſeinem duͤrren Lebenslaufe, unter den unzaͤhli - gen leeren Larven, die ihm begegnen, auch ein - mal einen Bothen des Himmels antreffen, der ihm von oben her Frieden verkuͤndigt? — Ach, mein ganzes verſchloſſenes, verwelktes Herz wuͤrde ſich wieder wie eine Blume aufrichten, die ein warmer Fruͤhlingsregen trifft. Ein ſchoͤ - ner Regenbogen wuͤrde den Horizont meines dunkeln Daſeyns umarmen, und Hoffnung, Lie - be, Gluͤck und Seeligkeit wuͤrde aus jedem Sterne der Nacht, wie aus einem goldnen Au - ge auf mich herniederblicken.
Wenn ich leben ſoll, ſo muͤſſen Sie mir die - ſe Hoffnung nicht nehmen; wenn ich laͤcheln ſoll, o ſo muͤſſen Sie ſie erfuͤllen.
Ich halte es fuͤr meine Pflicht, Sie zu beru - higen; — doch nein, das Wort iſt zu kalt und aͤngſtlich. — Ich bin es meinem klopfenden Herzen ſchuldig: ich kann nicht anders, wenn ich auch wollte. Aber ich will nun ſo und nicht anders. — Koͤnnen Sie einen groͤßern Beweis fordern, als daß ich Ihnen ſchreibe, daß ich Ihr Geheimniß verſchweige, daß ich gern und geheim mit Ihnen ſpreche? — Ach, koͤnnten Sie alle die Thraͤnen ſehn, die ich um Ihrent - willen vergieße, Sie wuͤrden nicht laͤnger zweifeln.
Und darf ich denn mehr thun? — Hab 'ich nicht ſchon zu viel gethan? — O ungluͤcklicher Lovell, Sie haben Ihre Emilie vielleicht mit ungluͤcklich gemacht; Sie haben vielleicht den ſchwarzen Saamen in dieſem friedlichen Hauſe ausgeſtreut, — und dann, — was ſoll ich denn thun? Was ſoll ich denn ſagen? —
45O beruhigen Sie ſich und leſen Sie nicht alle Worte zu ernſthaft und aufmerkſam. — Mir iſt es, als wenn mein Herz in mir ſprin - gen wollte, ich kann kaum mehr Athem ſchoͤ - pfen. —
Und ich ſoll nicht ſeufzen und klagen? Nicht trauern und verzweifeln? — Mehr hat Emilie gethan als ſie durfte? — O dann wird es ſie auch gereuen, dann, — o dreymal ungluͤcklicher Lovell, — dann iſt auch kein Herz auf der wei - ten Erde das fuͤr dich ſchluͤge! — Ach nein, denn das einzige, das uͤbrig war, bereut es, daß es gewagt hat, dich zu bemitleiden! —
Ich fuͤrchtete Ihre Klagen und Ihren bethraͤn - ten Blick, das war's, warum ich Sie heute gern vermeiden wollte. — Gott! Und nun Ihr Geſpraͤch im Garten! — O ich fuͤhle noch das Erſtarren in allen meinen Adern. — O Lovell, Sie haben mich heut viel dulden laſſen, ich ſagte es, Sie machen mich zur Gefaͤhrtinn Ih - res Ungluͤcks.
O wuͤrden Sie die Gefaͤhrtinn meines Un - gluͤcks! Wie ſchnell wuͤrde der arme Lovell der frohſte und gluͤcklichſte unter den Menſchen wer - den! — Aber nein, Sie haben ſich ganz deut - lich von mir zuruͤckgezogen; — o warum hofft 'ich denn auch noch auf Freuden? — Bin ich nicht langſam zum hoͤchſten Elende gereift und nun ſollte ſich ploͤtzlich alles umwandeln? — — Nein, ich will fort, fort ohne Troſt und Ab - ſchied, uͤber Niemand ſoll mein Elend zur Haͤlf - te kommen; beſſer daß ich vergehe! —
O daß ich nie hieher gekommen waͤre! — Daß ich nie die letzte Blume gefunden haͤtte, die ein hoͤhniſcher Fuß zertritt! — Leben Sie wohl! — Ach wohin ſoll ich mich wenden? — Wohin? — Der Tod wohnt in allen Weltge - genden, fuͤr ein Grab iſt die Erde noch allent - halben gut genug!
O Roſa! was, was ſind die Menſchen? — Warum bedauerte ich je Roſalinen und Pietro? Vergaß mich Roſaline, und allen ihren Schmerz nicht auf einen Tag in Ihren Armen? — Ama - lie hat mich vergeſſen, und iſt an Mortimer verheiratet, und Emilie, die Schweſter des jungen Burton — Doch laſſen Sie mich erſt zu Athem kommen, denn ich muß hier aus vol - lem Halſe lachen; — O! gewiß, mein Vater iſt nicht aus Gram uͤber mich geſtorben. —
Eduard beſitzt ganz ruhig meine Guͤter, ohne daß ihm ſein zartes Gewiſſen einen Vor - wurf daruͤber macht. Hat er ſie doch in einem rechtmaͤßigen Prozeſſe gewonnen. — O! um die - ſe Menſchen ſollte man ſich noch haͤrmen? — Man ſollte fuͤrchten ihnen Unrecht zu thun? — O, nein! ich bin nun ganz ruhig daruͤber.
Doch ich wollte Ihnen meine Lage ſchildern, ich wollte Ihnen von Emilien erzaͤhlen.
Ich ſtellte mich als ein verarmter Kranker,Lovell. 3r Bd. D50der Gaͤrtner ſprach von mir mit Burton, und dieſer ließ mich in das Schloß bringen, mir ein Zimmer anweiſen, und mich mit Eſſen und Trin - ken verſorgen. Emilie kannte ich ſchon etwas aus vorigen Zeiten, und ich beſchloß mit ihr einen Verſuch zu machen. Ich konnte darauf rechnen, daß ſie vorzuͤglich neugierig war, wer ich ſeyn moͤchte, ich ſuchte daher ihre Aufmerk - ſamkeit noch mehr auf mein ſtilles, melancholi - ſches Weſen zu richten. Es gelang mir. Ihr Bruder war an einem Tage abweſend, und ich ſehe ſie allein nach dem Garten gehen, und ſich in ihre Lieblingslaube ſetzen. — O Roſa! Sie hat ſich wirklich ſehr verſchoͤnert, ſeit dem ich ſie nicht geſehen habe; ihr Wuchs iſt ſehr gra - zioͤs, und ihr Auge klug und ſanft.
Sie hat einen gewiſſen Verſtand, den ſie be - ſonders an ſich ſchaͤtzt; ſie hat viele Buͤcher geleſen, und manches daruͤber gedacht, daher iſt ſie im Leben ihrer Sache immer ſehr ge - wiß; ſie meinet daß es keine kritiſche Faͤlle gebe, in denen man zweifeln koͤnne, wie man ſich zu betragen habe. Ich brauche Ihnen, Ro - ſa, wohl nicht zu ſagen, daß dieſe Geſchoͤpfe grade am leichteſten zu gewinnen ſind, daß ſie51 ſelber jedem Plane entgegen laufen, und eben durch ihre Weisheit einfaͤltiger ſind, als die Duͤmmeren.
Ich ging truͤbſinnig in dem Gange auf und ab, der an ihre Laube ſtieß, und ſie bemerkte mich ſehr bald. Sie konnte ihre Neugierde nicht unterdruͤcken, ſondern ſtand auf und trat mir naͤher. Unſer Geſpraͤch nahm eine ſehr ſchwer - muͤthige Wendung, und ich ſagte vieles uͤber die Welt und uͤber die Menſchen, was ich wirk - lich ſo meinte: meine Rolle ward mir alſo da - durch um vieles leichter. Ich bemerkte daß ſie weinen mußte, und als ſie auf die ſtaͤrkſte Art geruͤhrt war, entdeckte ich ihr, wer ich ſey.
Ich konnte auf ihrem Geſichte bemerken, daß die wunderbarſten Empfindungen ſchnell in ih - rem Innern wechſelten. Sie war auf eine ſol - che Ueberraſchung, auf den Schmerz der darinn lag, nicht vorbereitet; um ſie voͤllig zu verwir - ren, ſuchte ich ſie daher noch einmal, und am kraͤftigſten zu uͤberraſchen.
Ich warf mich ploͤtzlich zu ihren Fuͤßen nie - der, und geſtand ihr, daß zu dieſer Verkleidung, zu meinem Aufenthalt im Schloſſe, mich allein eine heftige Liebe zu ihr vermocht habe; dießD 252[ſolle] mein letzter Verſuch ſeyn, ob es irgend ein menſchliches Herz gebe, daß ſich meiner noch annehme, um mich mit dem Leben, und dem Schickſale wieder auszuſoͤhnen. — Sie war ſchoͤn, und wie in einem Schauſpiele, ſpielte ich meine Rolle, auf eine wunderbare Weiſe begeiſtert, fort; es gelang mir alles was ich ſagte, ich ſprach mit Feuer und doch ohne Affektation. — Sie ſtand unbeweglich vor mir, und wußte im - mer noch nicht, wie ſie alles in ihrem Kopfe reimen ſollte.
Haben Sie mich nicht gehoͤrt, ſchoͤnſte Emi - lie? rief ich aus.
Sie fuhr auf, und gab eine unverſtaͤndliche Antwort, ich erhob mich, und ſetzte meine Klagen fort. Sie erweichte ſich ſehr fuͤr mich und mein Ungluͤck traf ihr Herz. Ich klagte uͤber Amalien und ihren Bruder, uͤber die gan - ze Welt, die mich von ſich geſtoßen habe; ich nahm meine Zuflucht zu ihrem weichen und zaͤrt - lichen Herzen, und ſchwur, daß ſie mich nicht verwerfen koͤnne, ſondern daß ſie mitleidiger ſeyn wuͤrde, als die uͤbrige Welt.
Nie, Roſa, habe ich ſo gut geſprochen, und nie ſo tief empfunden. Es war als wenn ſich53 mein ganzes Herz in mir eroͤffnete, und ich muß - te uͤber mich ſelbſt erſtaunen. — Ach was iſt Wahrheit und Ueberzeugung im Menſchen! Ich war jetzt von allem uͤberzeugt was ich da ſagte, ich war ſchwermuͤthig, und in ſie verliebt, ich haͤtte mich wirklich in dieſem Augenblicke ermor - den koͤnnen. O! man rede mir doch kuͤnftig nicht von den Menſchen die ſich verſtellen. Was iſt die Aufrichtigkeit in uns?
Emiliens Ruͤhrung ward immer heftiger, und ſie legte am Ende ihre Hand in die meinige; ſie hatte meinen Worten geglaubt, und ihr Herz neigte ſich mir unwiderſtehlich entgegen. Sie ſagte mir: daß Sie mich troͤſten wolle, wenn ſie mich troͤſten koͤnne, daß ſie mich gern fuͤr mein Ungluͤck entſchaͤdigen wolle, wenn es in ih - rer Gewalt ſtehe. Die ganze Scene ſchloß ſich in der Manier wie ſie angefangen hatte.
Jetzt ſuchte ich ſie nun immer mit den Au - gen: wenn es moͤglich war, ſprach ich ſie allein im Garten, da wir aber oft gehindert wurden, ſuchte ich ihr ein kleines Billet zuzuſtecken. — Es ward beantwortet, wie ich gar nicht gehofft hatte; nun hatte ich die deutlichſten Proben ih - rer Liebe. Das Billetſchreiben ging fort, und54 meine Schwermuth machte, daß ich ihr nie we - niger intereſſant vorkam.
Geſtern war ſie ganz allein im Garten, denn ihr Bruder war ausgeritten, um jemand in der Nachbarſchaft zu beſuchen. Es war ge - gen Abend, und ich ſuchte ſie auf. Wir gin - gen auf und ab, und unſer Geſpraͤch ward im - mer hitziger, und verwickelter; wir kamen zur Laube zuruͤck, der Mond ſchien, und wir ſetz - ten uns auf die Raſenbank nieder.
Sie war ſehr weich geſtimmt, und ich be - merkte die Thraͤnen deutlich, die heimlich aus ihren Augen troͤpfelten; raſch umarmte ich ſie, und kuͤßte ihre Thraͤnen weg, dann fielen meine Lippen auf ihren zarten Mund. Sie wußte nicht, was ſie antworten ſollte, ſie war voͤllig in meiner Gewalt, davon war ich innig uͤber - zeugt. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schul - ter, und fing laut an zu weinen, dann umarmte ſie mich freywillig, und druͤckte einen herzlichen Kuß auf meine Lippen. — Ich liebte ſie innig in dieſer Minute, ich druͤckte ſie an meine Bruſt, und unſere Seufzer begegneten ſich. Ungewiß war alles umher und in mir, ich wußte nicht ob ich Amalien, oder ſie, oder55 Roſalinen in den Armen hielt; der ganze Sturm meiner Sinnlichkeit wachte in mir auf, und ſie war gefallen, als ſie es noch kaum bemerkt hatte.
Als ſie wieder ihrer Sinne maͤchtig wurde, wußte ſie nicht, ob ſie mir Vorwuͤrfe machen, oder ob ſie weinen ſollte. Ich troͤſtete ſie durch Kuͤſſe, wir gingen ſtumm Hand in Hand aus dem Garten, am Eingange kuͤßte ich ſie noch einmahl, dann ging ſie fort.
Ich ging im Mondlicht durch die dicht be - laubten Gaͤnge; jetzt fiel mir ein, daß ſie mit dem jungen Wilmont ſo gut wie verlobt ſey. — Ich wußte nicht, ſollte ich lachen, oder heiße,[brennende] Thraͤnen vergießen: mein Mund zog ſich zum hoͤhniſchen Laͤcheln, und große Thraͤ - nen fielen aus meinen Augen.
Iſt das der Menſch, und der edlere Menſch? Welch elendes, veraͤchtliches Gewuͤrme! — Was mag ſie jetzt denken, wenn ſie uͤberlegt, wohin ſie von ihrer regen Empfindſamkeit gefuͤhrt iſt?
Ich koͤnnte meine Eitelkeit ſehr naͤhren, und mir einbilden, ſie liebe mich ganz unbeſchreib - lich, und nur dieſe graͤnzenloſe Liebe habe den Fall ihrer Tugend verurſacht. — Aber die Schwaͤ - che des Menſchen allein hat ſie dorthin getrie -56 ben. — Und wenn ſie mich auch liebte, wie koͤnnt 'ich eitel darauf werden? — Denn was iſt Liebe? — Ein voruͤbergehend dunkel Gefuͤhl, und ein Wort. — Sie liebt vielleicht auf ei - nige Tage den Begriff des Ungluͤcklichen in mir, und haßt mich, wenn ſie mich naͤher kennen lernt. —
Burton bringt mich auf, ſo oft ich ihn nur ſehe; ſchon mehr als einmal war ich im Begriffe, mich ihm zu entdecken, um meiner Hitze nur freyen Lauf zu laſſen, aber bald, bald muß ich ihn fuͤr das ſtrafen, was er gegen mich verbro - chen hat.
Leben Sie wohl! Da ich dieſen Brief jetzt nicht gut fortſchicken kann, ſo will ich ihn ſo - lange liegen laſſen, bis Sie ihn zugleich mit einem zweiten erhalten.
Wie ſoll ich dieſen Brief anfangen, mein Freund, wie ſoll ich ihn endigen? — Noch nie bin ich auf dieſe Art erſchuͤttert geweſen, noch nie ſo ſehr aller meiner Beſinnung beraubt. Ich ſitze hier einſam auf meinem Zimmer und weine, und bin noch immer erſtarrt. — Daß ich das erleben mußte! — Haben Sie Geduld mit mir, lieber Mor - timer, ich kann mich noch immer nicht troͤſten.
Seit einigen Tagen hatte ich einen armen Kranken in meinem Hauſe aufgenommen, der mich durch einem meiner Leute um eine Frey - ſtaͤtte auf einige Tage hatte bitten laſſen. Man beſchrieb ihn mir als ſo ſchwermuͤthig, und un - gluͤcklich daß ich mich lebhaft fuͤr ihn intereſſirte.
Ich ließ mir heute am Morgen, wie ge - woͤhnlich, ein Glas Wein vom Bedienten brin - gen, er ſtellte es hin, und ich wollte eben zu fruͤhſtuͤcken anfangen, als der alte Willy ploͤtz - lich bleich und mit weinenden Augen herein - ſtuͤrzte, und mich beſchwur den Wein nicht an -58 zuruͤhren; ich wußte nicht was ich ſagen ſollte; und Willy ſtand immer noch wie in einer Be - geiſterung vor mir.
Ich fragte ihn endlich: was ihm fehle; ich glaubte er ſey wahnſinnig geworden, er wollte nicht beſtimmter antworten, er zitterte am gan - zen Koͤrper, er ſtammelte und vermochte nicht deutlich ein Wort hervor zu bringen. — In den Wein iſt etwas hinein geſchuͤttet! rief er endlich laut. — Ich weiß ſelbſt nicht, wie mich die Verwirrung darauf brachte, daß ich ihn fragte: ob er es gethan habe? Aber ſein Zittern, ſeine Angſt, ſeine bleiche Geſtalt ſchie - nen mir ein ſolches Geſtaͤndniß vorzubereiten. — Da weinte der alte Mann, und ſchluchzte laut, ſein Gemuͤth ward durch dieſen Argwohn noch verwirrter; ehe ich es bemerkte faßte er zitternd nach dem Glaſe, und trank es aus.
Seine Kraͤfte verließen ihn, er ſank in ei - nen Stuhl; ich rief um Huͤlfe, und es waͤhrte nicht lange, ſo offenbarten ſich die Wirkungen eines Giftes. Er war faſt ohne Beſinnung, und wollte doch noch immer nicht ſprechen; ſein Bruder warf ſich auf ihn, und bedeckte ihn mit Thraͤnen und Kuͤſſen, alle weinten und59 drangen in ihn, daß er reden ſollte. Ich konn - te bei dieſem Anblicke meine Thraͤnen nicht zu - ruͤckhalten, ich konnte nicht begreifen, wie ſich das Raͤthſel aufloͤſen wuͤrde. — Wie von einer hohen Angſt gedruͤckt, rief er nun ploͤtzlich den Nahmen Lovell aus. Ach! und der Ton ſchnitt durch mein Herz, er ſagte ſeinem Bruder ein Paar Worte heimlich, — alle erſtarrten — jener fremde verſtellte Kranke, — Niemand anders als Lovell war es, — er hatte den Wein vergiftet.
Was ich in dieſer Minute empfand kann ich nicht beſchreiben. Wie duͤrftig ich mich ploͤtz - lich fuͤhlte, daß ich ein Menſch war! — Ach, Mortimer es giebt Stunden, im Leben, deren Hefen ſelbſt das hoͤchſte Gluͤck nicht aus dem Herzen wieder wegſpuͤhlen kann, das fuͤhle ich jetzt innig. — Mein ganzes kuͤnftiges Leben iſt durch dieſen Augenblick krank geworden; ein Pfeil iſt in meine Bruſt gedrungen, den ich nicht wieder werde herausziehen koͤnnen, ohne zu verbluten.
Es war ſchrecklich, wie dem alten Willy jetzt ſeine zu raſche That gereute, wie er dann weinte und ſchluchzte, weil er den Nahmen ſei - nes Herrn genannt hatte, und wie er dann60 wieder nicht leben wollte, wie er ſich freuete, daß er ſterben muͤßte, weil ſein Lovell die Bahn der Tugend ſo ganz verlaſſen habe. Dann phan - taſirte er wieder und war mit ſeinen Gedanken weit weg, und kam nur wieder zu ſich, um uͤber Lovell von neuem[zu] / choice > weinen.
Wie wenn ich aus einem Traume erwacht waͤre und die Begriffe noch nicht zu ordnen wuͤßte, ſo ſtand ich unter ihnen, ich konnte jetzt nicht an die Menſchheit, nicht an die Freund - ſchaft glauben. — Ach! und mein Kopf ſchwin - delt noch jetzt.
Endlich verlangte der ſterbende Willy ſeinen Herrn noch einmahl zu ſprechen. Man hohlte ihn. Alles im Zimmer ging mit mir herum. Ich ſah wie Willy niederſank, ſich auf ſeine Hand beugte und ſie kuͤßte, — er war es, — ich erkannte ihn, und taumelte aus dem Zim - mer und fand mich dann auf ein Sopha nie - dergeſunken.
Wie ſchwer mein Herz in mir pochte! — Mir ward leichter, als die Thraͤnen endlich ausbrachen. — Aber ganz leicht wird mir nie wieder werden.
61Willy iſt geſtorben. —
Ich habe die Vorhaͤnge herunter gelaſſen denn das Licht beleidigt meine Augen. — Mein Kopf ſchmerzt heftig. — Ich fuͤhle ein inniges Mitleiden mit mir ſelber, — und doch moͤchte ich mich haſſen und verabſcheuen.
Iſt es denn moͤglich: daß dies aus dem Menſchen werden kann? — O Freund! ich moͤchte ſterben. In einzelnen Sekunden fuͤh - le ich eine ſeelige Ruhe durch mein Herz ge - hen, und dieß habe ich ſchon einige mahl fuͤr den Anfang des Todesſchlafes gehal - ten. — —
Aber ich muß mich ermannen. — Ich muß den ganzen Vorfall meiner ſchwachen reitz - baren Schweſter zu verbergen ſuchen; ich muß fuͤr Lovells Sicherheit bedacht ſeyn! — Wo werde ich den Muth hernehmen, nur die Augen aufzuſchlagen? — Aber es muß ſeyn. —
Leben Sie recht, wohl lieber Freund. — Was iſt ſo ploͤtzlich aus mir und meinem Hauſe geworden!
Ach! die arme Amalia! — Es iſt wohl am beſten, Sie verſchweigen ihr alles; wie62 ſoll ihr Herz das ertragen, da ſchon das mei - nige bricht? — Ich wuͤnſche manchmal, ich haͤtte das Gift getrunken, dann waͤre mir jetzt beſſer.
Mein Brief hat Sie gewiß recht ſehr erſchreckt; auch Sie muͤſſen truͤbe und melancholiſch ſeyn, da Sie ihn auch gekannt haben, da auch Sie ſein Freund waren. — Jetzt bin ich etwas mehr geſammelt, ich habe ihn geſprochen, und ich zwinge mich ruhiger zu ſeyn.
Ich ging auf ſein Zimmer, er war fin - ſter und in ſich verſchloſſen, er wollte mich nicht anſehen. — So mußt 'ich ihn nach ſo langer Zeit wieder finden!
Lovell! rief ich unwillkuͤhrlich aus. —
Was verlangen Sie, ſagte er ſchwer und mit einem unterdruͤckten Tone.
Es fiel nun eine dichte Scheidemauer zwi - ſchen uns. Ich hatte ihn nicht ſo erwartet. Er war mir ploͤtzlich ganz fremd geworden, und ich konnte unmoͤglich darauf kommen, ihn um64 ſeine Abſichten zu fragen, und um die Gruͤnde ſeiner Verkleidung oder Niedertraͤchtigkeit.
Dies iſt alſo der Menſch, indem mein Geiſt den Bruder ehemals zu entdecken glaubte; dieſem wollt 'ich mein ganzes Leben wi[d]men?
Er hat ſich außerordentlich veraͤndert, er iſt bleich und entſtellt, ſein Auge unruhig, ſein Blick ſtarr, ganz das Bild eines Menſchen der mit ſich ſelber zerfallen iſt.
Willy's Tod iſt ruchtbar geworden, und ich muß ihn noch in dieſer Nacht fortzuſchaffen ſuchen, um ihn den Gerichten und dem Gefaͤng - niſſe zu entziehen.
Waͤr 'es zu verwundern wenn ich in dieſer Situation alle Beſinnung[verloͤhre]? — Ach ich ſagte Ihnen ich waͤre ruhiger, ich bin blos noch verwirrter, und das hat meinen ſcharfen Schmerz etwas abgeſtumpft.
So iſt meine Jugend wiedergekehrt, — ſo ſind meine Traͤume in Erfuͤllung gegangen! Er ſollte hier nahe bey mir in Waterhall woh - nen, wir wollten uns faſt taͤglich ſehen, wir wollten nur Ein Leben genießen, und gleichſam mit Einer Seele haushalten, und nun! — War - um hat das Schickſal alles ſo umgeaͤndert, undmir65mir nichts, gar nichts uͤbrig gelaſſen? — Wenn meine Augen noch weinen koͤnnten, wuͤrd 'ich unaufhoͤrlich weinen. — Und koͤnnten denn mei - ne Thraͤnen alles wieder umaͤndern?
Haben Sie Geduld mit mir, lieber Morti - mer. — Ich weiß nicht, welchen Eindruck alle dieſe Vorfaͤlle auf Sie gemacht haben.
Er iſt fort; es iſt Nacht, und ich will Ihnen noch ſchreiben, weil ich doch nicht ſchla - fen kann.
Die Erde koͤmmt mir vor wie ein dunkles Reich von Schatten, wie ein Traumland, wo - rinn nichts weſentlich, nichts beſtaͤndig iſt; der Schein des Tages iſt ein betruͤgeriſches Licht, nur das Dunkel der Nacht, iſt die wahre Far - be dieſer duͤſtern Kugel. — Wir ſehen dunkle Schatten in der Ferne ſtehen, und nennen ſie Freundſchaft und Liebe, als Fremdlinge ziehen ſie voruͤber, und ein ſchwaͤrzeres Dunkel folgt ihnen nach. Die Menſchen ſehen in dieſer ſchwarzen Nacht nur aus, wie eine dichtere Finſterniß, kein Strahl in ihrem Herzen, ach! kein Funke in ihrer Bruſt. — Dies Gefuͤhl67 das mich jetzt durchdringt, hatten gewiß die Einſiedler, die ſich in ſchwarzen einſamen Waͤl - dern anbauten, und mit Felſen und Baͤumen die Geſellſchaft der Menſchen vertauſchten. — Die ſtillſte Einſamkeit iſt mir jetzt erwuͤnſcht, der ferne Geſang der Nachtigall ſtoͤrt mein Ge - muͤth, das Rauſchen der Baͤume toͤnt mir zu froh und heiter. Ich glaube nicht, daß ich ihn wiederſehe, und wenn ich ſeine Briefe noch ein - mahl uͤberleſe, ſo ſcheint es wie ein goldener Traum in meine Seele hinein. — Alles Schoͤ - ne und Poetiſche in der Natur iſt ploͤtzlich fuͤr mich untergeſunken, ich ſehe nur Tod und Ver - weſung, ich kann an keinen Edelſinn mehr glau - ben, ja ich kann meinem eigenen Herzen nicht vertrauen. Die Blumen und Kraͤuter, die Pflan - zen von denen ſich der Menſch naͤhrt, kommen mir vor wie verfuͤhreriſche Winke, wie bunte Nichtswuͤrdigkeiten, die aus der finſtern kalten Erde ein boshafter Daͤmon emporſteckt, um uns wie Kinder zutraulich zu machen; wir fol - gen nach, argwoͤhnen nichts, und werden ſo in unſer ſchwarzes, enges Grab gelockt.
E 268Ich bin ſehr erhitzt, weil ich einige Naͤch - te nicht geſchlafen habe, und ich weiß nicht genau was ich niederſchreibe. —
Um Mitternacht eroͤffnete ich Lovell's ver - ſchloſſenes Zimmer. Es war alles ſtill im Hau - ſe, die Bedienten ſchliefen, ich hatte die Schluͤſ - ſel zu mir geſteckt, und eine Laterne angezuͤn - det. Ich ſagte ihm er ſolle mir folgen, weil er in meinem Hauſe nicht mehr ſicher ſey. Er antwortete nichts, ſondern betrachtete mich mit einem duͤſtern Blicke und ſtand auf.
Wir gingen uͤber die ſchallenden Gaͤnge, und ich ſah mich zuweilen nach ihm um; ein bleicher Schein meines Lichtes fiel auf ſein Ge - ſicht, und entſtellte es auf eine wunderbare Weiſe. — Ich ſchloß das Haus auf, und wie - der hinter mir zu. Der Himmel war dick und ſchwarz rund umher bezogen.
Wie im Traume ging ich mit ihm fort, keiner von uns ließ einen Laut vernehmen, wie zwey Geſpenſter ſchlichen wir durch den Garten. — Es war mir wunderbar, als wir den Lauben und den Baͤnken voruͤbergingen, wo ich ſo oft mit69 ihm geſeſſen hatte; die Baͤume neigten ſich weh - muͤtig, als wir unter ihren Wipfeln hinweg - gingen. — Arm in Arm war ich ſonſt hier mit Lovell auf und abgegangen, hier hatte ſich uns mit Entzuͤcken die Welt Oſſians und Shakſpears aufgeſchloſſen, hier hatte ich ihn am Morgen zuerſt geſucht, und noch der Abend traf uns in dieſen Gebuͤſchen, wenn die uͤbrigen ſchon laͤngſt zu den Zimmern zuruͤckgekehrt waren, — hier hatte er mir ſein ganzes Herz enthuͤllt, und ich ihm das meinige; — o! und nun gingen wir mit dicht verſchleierten Seelen nebeneinander; kein Mund oͤffnete ſich, keine Hand ſtreckte ſich nach einem Drucke aus.
Wir kamen an das Gartenthor, und ich benutzte dieſen Stillſtand, um ihm einen Wech - ſel in die Hand zu geben. Er ſagte nichts, ſon - dern ſteckte ihn mechaniſch ein. — Stillſchwei - gend gingen wir nun wieder den Fußſteig im Walde hinab, die Laterne ſchoß nur einzelne bleiche Strahlen durch die ſchwarze Nacht des Forſtes, alle Baͤume ſahen ſeltſam aus. In ein zelnen Momenten grauſte mir vor der Einſamkeit, mein Herz zitterte wenn ich mir wiederhohl -70 te, daß die Geſtalt die neben mir gehe Lovell ſey.
So waren wir an die Graͤnze von Bon - ſtreet gekommen. Ich ſtand ſtill, er ebenfalls. Ich konnte ihn nicht anſehen, und nicht ſpre - chen; und doch ſchien er es zu erwarten, daß ich ihm etwas ſagen ſollte. Im Herzen arbei - teten tauſend Empfindungen durch einander, und ich wartete nur auf einen Laut von ihm, ach! um ihm um den Hals zu fallen, um zu weinen[und] ihm alles zu vergeben. — Aber er blieb ſtumm, und jedes Wort blieb in mei - ne Bruſt zuruͤckgedraͤngt. — Wir ſtanden im - mer noch ſtill, und die Zeit ſchien mit uns ſtill zu ſtehen, und nur auf den erſten Ausbruch der Angſt zu warten, um alles in einem raſcheren Laufe wieder einzuhohlen.
Hier muß ich zuruͤck gehen, ſagte ich end - lich mit ſchwacher Stimme, und kehrte mich um. — Es war als wenn ſich die ganze Welt, und mein eignes Herz von mir abwendete, und ich ſtand wieder, und ſah nach dem ſtummen tief in ſich verſunkenen Lovell hin. Der Bru - der des Miſſethaͤters kann in der Stunde der71 Hinrichtung nicht mehr empfinden als ich jetzt fuͤhlte.
Er redete immer nicht, und es ging ploͤtz - lich wie ein eiskalter Wind durch das Innerſte meines Herzens, ich haßte ihn jetzt nicht, aber ich wendete mich gleichguͤltig um, und ging ei - nige Schritte in den Wald zuruͤck. — Das Licht war herunter gebrannt, und die Laterne erloſch; — ich hoͤrte ſeinen Fußtritt, der ſich von mir entfernte. — Dickes Dunkel war um - her, und der glimmende Docht beleuchtete nur auf einen Augenblick noch eine kleine gruͤne Stelle auf dem Boden.
O! jetzt haͤtt 'ich ihn gegen uͤber haben moͤgen! ich haͤtte ihn mit Thraͤnen und Kuͤſſen erſtickt. — Sein Schritt toͤnte ſchon viel ſchwaͤcher, — ach! ich ſehe ihn nicht wieder, ſagte ich zu mir ſelber, und die Thraͤnen ran - nen heiß und dicht gedraͤngt uͤber meine Wan - gen. — Ich ſehe ihn nicht wieder, und es iſt Lovell! — Ich wollte ihm nach, und ſtieß an einen Baum, ich ſank zur Erde, und rief ſo laut als ich konnte, von gewaltigem Schluch - zen unterbrochen: Lebe wohl, recht wohl! — Ich weiß nicht ob er mich gehoͤrt hat, ob er es verſtanden hat.
72Ich lag auf der feuchten Erde, und ſtreck - te mich ganz aus, ich verbarg mein heißes Ge - ſicht in dem naſſen Graſe. Ich ſchlief beynahe ein.
Kalt und ohne Beſinnung ſuchte ich dann den Ruͤckweg. Wie ein großes eiſernes Ge - faͤngniß, hing der dunkle Himmel um mich her.
In meinem Zimmer ſitze ich nun hier, und die Morgenroͤthe bricht ſchon hervor. Lovell ſieht ſie jetzt auch, und unſere truͤben Gedanken begegnen ſich vielleicht.
Ach Freund, mich quaͤlt eine gewaltige Unruhe; — habe ich nicht dem Armen zu viel gethan? — Bin ich nicht verfuͤhrt worden, ſchon ſeinen letzten Brief an mich zu ernſthaft zu nehmen? — Warum habe ich ihn nicht ſo wie die vorigen beantwortet? Alles waͤre dann vielleicht anders geworden. — Ich war viel zu ſehr von mir eingegommen, und darum verletz - te dieſer Brief meine Eitelkeit. Ich konnte nicht wiſſen in welcher Stimmung er geſchrie - ben war; und doch war ich meiner Sache ſo gewiß, daß ich anfing, Lovell perlohren zu ge -73 ben. — O! es war unrecht von mir, es war ſchlecht, Mortimer, wenn Sie aufrichtig ſind. — Ich bin nun Schuld an Lovell's Verzweif - lung, und an ſeinem Ungluͤcke; ich verdiene ſei - nen Haß und ſeine Verachtung, und das war es auch, warum er nicht mit mir ſprechen wollte. — O! wenn ich nur einen Haͤndedruck von ihm mit genommen haͤtte: ſo koͤnnte ich mich doch zufrieden geben.
Jetzt geht er nun einſam auf dem kalten Felde, und weicht den Menſchengeſichtern aus, und ich bin die Urſache daß er ſich vor ihnen fuͤrchtet! — Sein Eduard, der Freund ſeiner Kindheit, iſt von ihm abgefallen, jedes Menſchen Auge kuͤndiget ihm nun Krieg an. — Wohin ſoll ich mich vor mir ſelbſt verbergen? —
Wenn er nur geſagt haͤtte: Eduard, lebe wohl, o! ſo haͤtt 'ich doch die Hoffnung, daß er mir vielleicht vergeben habe. — Aber ich ſcheuchte ihn mit meiner Hartherzigkeit zuruͤck.
Wie ſoll ich kuͤnftig einem fuͤhlenden Men - ſchen unter die Augen treten? — Ach wie ſehr bin ich in mir ſelber gedemuͤthiget! — Ich74 kann nicht weiter, mein Koͤrper zittert, — ich will mich ſchlafen legen. — Leben Sie recht wohl, lieber Mortimer, verachten Sie mich nicht, und ſtoßen Sie mich nicht zuruͤck; ich will beſſer werden, ich verſpreche es Ihnen.
Sie werden von meinen Briefen beſtuͤrmt, lie - ber Mortimer. — Man weckt mich eben mit einer ſchrecklichen Nachricht auf: — Emilie wird vermißt!
Ein Schlag trift nach dem andern mein Herz. — Wo kann ſie ſeyn? — Sie wird al - lenthalben geſucht, und ich ſitze hier und zittre in banger Erwartung. —
Noch keine Nachricht! noch keine Spur! Man geht auf dem Gange. Nein! Sie iſt es nicht. — Gott! wo kann ſie ſeyn! — Sie kann nicht fort ſeyn, und doch iſt ſie nicht da, und es iſt ſchon ſpaͤt nach Mittag. —
Ich will ſie ſelbſt ſuchen. — Aber vielleicht iſt ſie nur im Garten ſpatzieren gegangen; — vielleicht hat ſie im Dorfe eine arme Familie beſucht. —
76Willy wird ſo eben begraben; wenn ſie nur von dem ganzen Vorfalle[nichts] erfahren hat!
Wie mein Herz klopft! — Mein Blut draͤngt ſich gewaltig nach meinen Augen. —
Noch keine Nachricht! Sie iſt nicht im Garten, ſie iſt nicht im Dorfe. — — —
Ich bin auf ihrem Zimmer geweſen, und das Raͤthſel hat ſich nun auf eine ſchreckliche Art aufgeloͤſt. — In eben dieſer Nacht, in der ich um Lovell klagte, iſt ſie entflohn und mit ihm entflohn. — Koͤnnen Sie es glauben, koͤn - nen Sie's nur denken? Alle Begriffe in meinem Kopfe verwirren ſich. — Beyde waren einver - ſtanden. — O Lovell! Nun haſt du meinem Herzen den letzten Stoß gegeben. —
Ich lege Ihnen den unvollendeten Brief bey, den ſie an ihre Freundin geſchrieben hat. — Sie thun wohl am beſten, ihn ihrer Gattin nicht in die Haͤnde zu geben. — Haͤtt 'ich ihn ſelber nicht geleſen! —
O! ich beſchwoͤre Sie, eilen Sie wenn ſie irgend etwas von meiner ungluͤcklichen Schwe - ſter hoͤren; eilen Sie, ſie zu retten.
77Nun bin ich ganz einſam, nun iſt mir nichts uͤbrig geblieben, und ich habe nun wenigſtens den Troſt, daß ich nichts mehr verlieren kann.
Aber daß ſie ſich ſo weit verirren konnte! — O Gott! Warum brechen alle Leiden ſo ploͤtz - lich uͤber mich herein?
Endlich, endlich muß ich es Ihnen bekennen, daß jener Unbekannte, von dem ich ſprach, Lo - vell iſt. — Sie werden erſchrecken, Sie wer - den bey dem Nahmen zittern; — O! Amalie, Sie haben ihn nie gekannt, Sie haben ſein Herz nie genug gewuͤrdiget. — Wie waͤre es moͤglich geweſen, daß ich ſeinen Thraͤnen, ſei - nen Klagen haͤtte widerſtehen koͤnnen? — Sein Jammer hat mein Herz getroffen, und nein, Amalie, ich kann mir keine Vorwuͤrfe daruͤber machen.
Ach der Arme! er iſt von der ganzen Welt verſtoßen, und hoͤhniſch von jedem Herzen zuruͤck - gewieſen, er ſieht ſich um, ob ſich nicht noch irgendwo ihm eine Seele wohlwollend entgegen neigt, und nirgends, nirgends. — Ohne Freun -79 de, ohne Liebe muß er ſeinen Kummer tragen; ja Amalia, ich habe mein Gluͤck dem ſeinigen aufgeopfert, ich will ihm folgen, und ſeine har - ten Schickſale mit ihm theilen. — Mein Bru - der hat kein Herz, da er ihn ſo unbarmherzig verſtoßen kann, ich bin die einzige in der Welt die ihn liebt, die einzige die ihn wieder mit der Welt und den Menſchen verſoͤhnen wird. — Iſt mein ganzes Leben nicht verdienſtlich genug, wenn ich dieſe eine Seele von der Verzweiflung gerettet habe?
In dieſer Nacht fliehe ich mit ihm fort, ich folge ihm, wohin er mich fuͤhrt. — Ach Amalie! Sie haben ihn ſchnell vergeſſen. — Der Wagen haͤlt eine Meile von hier im Wal - de, um Ein Uhr bin ich dort. Ich kann von meinem Bruder nicht Abſchied nehmen, weil er jetzt Lovell haßt. Ich aber kann mich nicht von ihm trennen, ich habe ihm meine Liebe und Seele zugeſchworen, dieſe Liebe hat ſein Leben gerettet, ſie wird ihm ſeinen Fruͤhling wieder - bringen.
Meinetwegen war er hier in Bonſtreet ungekannt, gleich am zweiten Tage entdeckte er ſich mir. Er gehoͤrt mir nur einzig an, und80 niemand weiter in der Welt, ſo wie ich allein die Seinige bin.
Und wenn ich ihn auch nicht liebte, ſo wuͤrd 'ich ihm doch folgen, ſo innig hat er mich erſchuͤttert, ſo ſehr bin ich von ſeinen ſchweren Leiden durchdrungen. Ich wuͤrde ihm meine Gegenliebe heucheln, blos um ihn wieder zu troͤ - ſten, mit Freuden wuͤrde ich mein eigenes Herz aufopfern, blos um das ſeinige zu retten.
Sie werden mich eine Schwaͤrmerinn nen - nen, aber glauben ſie mir, ich kann nicht an - ders, Amalia. — Wenn er fort iſt, was ſollt 'ich dann noch hier bey meinem Bruder im ein - ſamen Schloſſe? hier unter den kalten, wieder - waͤrtigen Geſichtern? — Nein ich muß ihm fol - gen, auch wenn ich nicht wollte.
Gruͤßen Sie Ihren Bruder. — Ich weiß nicht was er ſagen wird, aber ich kann meinem Schickſale nicht entgegen handeln. — Jeder muß nach ſeiner Ueberzeugung leben, und ich fuͤhle in mir daß ich recht thue. — Ich fuͤrchte Karls Hitze, ſuchen Sie ihn daher zu beruhigen, wenn es irgend moͤglich iſt. — Er hat mich nie recht herzlich geliebt, das habe ich immer ſehr deut -lich81lich empfunden, ſo wenig wie ich ihn lieben konnte. —
Wie in der Zukunft alles werden wird, kann ich jetzt nicht wiſſen, aber in dieſem Au - genblicke kuͤmmert es mich wenig.
Ich haͤtte Ihnen noch mehr zu ſagen, aber die Zeit wird zu kurz; gruͤßen Sie Mortimer, — entſchuldigen Sie mich bei den harten Men - ſchen, die mich verdammen, und bleiben Sie immer meine Freundinn.
Ihrem Bruder ſagen Sie: er ſoll mich ver - geſſen, und es wird auch geſchehen. Sie ſelbſt, liebſte Freundinn — —
Wie moͤgen Sie in Rom und Tivoli leben? Ich denke kaum noch an meine Exiſtenz, ſo bunt und verworren wirft ſich alles uͤber einander. Ich fange Zufaͤlle und Bege[be]nheiten auf, ohne zu wiſſen, was ich mit ihnen thun ſoll.
Wenn ich aus meinem Herzen nur den in - nigen Widerwillen fortſchaffen koͤnnte, mit dem ich jede menſchliche Geſtalt betrachte, wenn ich den Neid unterdruͤcken koͤnnte, gegen jedermann, der laͤchelt und froh iſt! — Warum muͤſſen ſich Tauſende unter den nichtswuͤrdigen Menſchen gluͤcklich fuͤhlen, und nur ich allein bin in mir ſelbſt zu Boden getreten?
Sie ſehn aus der Ueberſchrift, daß ich nicht mehr in Bonſtreet bin, alles iſt mißlungen, ich bin in Verzweiflung. Eduard hat triumphirt und ich bin beſiegt. — Doch nein, ich habe mich wenigſtens an ihm geraͤcht.
Als ich in Bonſtreet war, erwachte alles in mir, wie er die Guͤter meines Vaters gewiß83 auf eine unrechtmaͤßige Weiſe beſitze, wie mir nun nichts uͤbrig ſey, als das unbedeutende Waterhall und das armſeelige Kenſea. Der Haß ſtand verdoppelt in meiner Bruſt auf, wenn ich bedachte, daß dieß derſelbe Menſch ſey, der immer ſo viel uͤber Edelmuth und Tugend ge - ſchwatzt habe. Es kam mir von neuem in den Sinn, wie mir von je alle Plane mißlangen, wie der heimtuͤckiſche Mortimer mir nun Ama - lien entriſſen hat, wie ſie ſelbſt mich ſo ſchnell vergeſſen konnte, der Eigenſinn meines Vaters, die Niedertraͤchtigkeit des alten Burton, — o alles kam ſo friſch und neu in meine Seele, daß ich mit den Zaͤhnen knirſchte, daß ich wuͤ - thend daran dachte, wie armſeelig es um mein eignes Her; ausſehe, daß ich mir zuͤrnend vor - nahm, mich endlich zu raͤchen, Bosheit gegen Bosheit zu ſetzen und durch einen großen Streich dem Kriege ein Ende zu machen. Wir koͤnnen nichts anders thun, als ſiegen oder beſiegt werden; die ſogenannte Tugend iſt nur Geſchwaͤtz und beſteht meiſtentheils nur in Traͤgheit oder Einfalt, bey den andern iſt ſie erzwungen, oder haͤngt mit ihr[e]m Vortheile zuſammen; ſie iſt eben ſo gut ein Gewerbe, wie irgend ein anderes.
F 284Meine Liebſchaft mit der abgeſchmackten Emilie ging indeſſen immer ihren Gang fort. Durch meine zerſtoͤrte Zufriedenheit bin ich nun wenigſtens manchem aberwitzigen Maͤdchen inter - eſſant; wahrlich, bey jedem Verluſt iſt doch im - mer noch irgend ein Gewinn.
Nach jenem Abend, von dem ich Ihnen neulich erzaͤhlte, wußte ſie nicht recht, wie ſie ſich mit mir nehmen ſolle, ihre Empfindſamkeit war etwas geſtoͤrt, und ihr eigentliches Gefuͤhl mehr in Bewegung gebracht. Aber ſie empfand es jetzt, daß ſie mir einzig angehoͤre, ſie war leicht dahin zu bereden, daß ſie mit mir ent - fliehen wolle, ja ſie war auf dem Wege, es mir ſelber anzutragen, wenn ich es nicht gethan haͤtte. Tag und Stunde ward feſtgeſetzt, und ſie war mit ihrem Plane und ihrer hohen Auf - opferung außerordentlich zufrieden.
O uͤber die Abgeſchmacktheit der Menſchen! Ich kenne nichts Alberners und Veraͤchtlichers, als dies Geſchlecht. Der Kluͤgere thut Recht, ſie zu haſſen und zu verfolgen.
Ich glaubte ſchon in jeder Ruͤckſicht ſicher zu ſeyn und dennoch hatte mich ein Menſch im Schloſſe erkannt, mein alter Bedienter Willy. 85Ohne daß ich es merkte, war er auf alle meine Bewegungen ſehr aufmerkſam, er beobachtete mich beſtaͤndig und ſeine Blicke waren mir oft aͤngſtlich. Die Liebe dieſes Menſchen hat mich von je verfolgt, und jetzt hat ſie mich elend, ja unſinnig gemacht. — Ich haßte Eduard aus dem tiefſten Herzen und dachte dabey unauf - hoͤrlich an meine Auftraͤge, unbemerkt, wie ich glaubte, ſchuͤttete ich an einem Morgen ein fei - nes Gift in ein Glas mit Wein, um mich ſo zu raͤchen und alles wieder gut zu machen.
Bald darauf entſteht ein gewaltig Gelaufe im Hauſe, Thuͤren werden zugeſchlagen, man ſchreit laut nach Huͤlfe, ich werde endlich mit Gewalt von meinem Zimmer herunter geſchleppt, — und Willy hat mich bemerkt, Eduard ge - warnt, und endlich in einer Art von Verruͤk - kung und um zu beweiſen, daß er Recht habe, ſelbſt den Wein getrunken. Er war ſchon halb ohne Bewußtſeyn, das Gift wirkte auf den al - ten ſchwachen Koͤrper unmittelbar, das in dem ſtaͤrkern, jugendlichern erſt nach einigen Wochen ſeine Folgen gezeigt haͤtte. — Willy kuͤßte mei - ne Haͤnde, weinte und klagte, ich war voͤllig betaͤubt. Er ſank zu meinen Fuͤßen nieder und86 beſchwur mich auf meine Seeligkeit bedacht zu ſeyn. Ich wußte nicht, was ich ſagen ſollte und ward endlich geruͤhrt. Ich weinte laut, und mir war zu Muthe, wie einem Kinde. — Wil - ly's Bruder konnte ſich uͤber deſſen Tod gar nicht zufrieden geben, er heulte laut und die Bedien - ten weinten mit ihm. Das ganze Zimmer er - toͤnte vom Klaggeſchrei, Eduard war nicht zu - gegen.
Aber bald verſiegten meine Thraͤnen, ein kalter Haß ging durch mein Herz und durch meine ganze Bruſt, ich ſah mich mit gleichguͤltigem Auge um, ob nicht in jedem Winkel eine Furie ſtuͤnde, mit Schlangen in den Haaren. Ich wuͤnſchte ſie alle herbey, und ich haͤtte mich vor keiner entſetzt. — Ich berechnete jetzt, wie lan - ge der Schmerz wohl noch in allen dieſen Men - ſchen kaͤmpfen wuͤrde, und es war intereſſant zu beobachten, wie nach und nach die gewoͤhnliche Traͤgheit zu jedem zuruͤckkehrte. Sie erſchienen mir nun wie unbeholfene Maſchinen, die an groben Faͤden bewegt werden, ſie drehen die verſchiedenen Gliedmaßen nach vorgeſchriebenen Regeln, und ſetzen ſich dann wieder in Ruhe. Keiner ſchien mir lebendig und ich ging kalt auf87 mein Zimmer zuruͤck und konnte mich gar nicht davon uͤberzeugen, daß Willy geſtorben ſey.
Und was iſt denn das Leben, und was iſt es denn mehr, wenn einer von ihnen ſich um einige Tage fruͤher in die Erde legt? Rafft Krieg und Peſt nicht Tauſende hinweg? Wer - den nicht Tauſende Schlachtopfer ihrer Leiden - ſchaften? Und wenn ich unverſehends die Hand ausſtrecke und ploͤtzlich einer zu Boden ſtuͤrzt, das ſollte mich kuͤmmern und mir Ruhe und Schlaf rauben? — Man ſollte gar nichts in der Welt ernſthaft nehmen. Eine ſchreckliche Seuche koͤmmt mir vor, wie ein ungeſchickter Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu - ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man kann nur daruͤber lachen.
Am andern Tage kam Eduard auf mein Zimmer. O wie verhaßt war mir ſeine kalte, philoſophiſche Mine, der mitleidige Blick, mit dem er mich von oben herab betrachtete! Wie zerreißen die Menſchen unſer Herz, die ſich fuͤr edel und vollendet halten und nie etwas erfah - ren und gelitten haben! die in ihrer ſichern Landheimath von den Wogen und Stuͤrmen des Meers, von Schiffbruch und ſchrecklichen Ge -88 fahren, wie von Fabeln reden hoͤren und laͤchelnd den Kopf ſchuͤtteln! — Welche Geduld iſt hier eiſern genug, um nicht zu brechen? Man moͤch - te bei einem ſolchen Anblicke raſend werden!
O ihr Sichern und Ueberzeugten! ihr rich - tet, und wiſſet nicht, was ihr thut. Ihr wuͤr - felt mit plumpen Haͤnden darum, was ihr gut und was ihr boͤſe nennen wollt, ihr ſeid kalte und alberne Zuſchauer, die eine Tragoͤdie in ei - ner Sprache ſpielen ſehen, die ſie nicht verſte - hen, und die ſich nur zunicken und bedeutende Winke geben, um einer vor dem andern ſeine Unwiſſenheit zu verbergen.
Eduard ſprach nur wenig mit mir, er ſpielte den gnaͤdigen Herrn; es war mir lieb, daß er bald ging. Er verdiente nicht, daß ich ihm antwortete, und er bemerkte es recht gut, wie ſehr ich ihn verachtete.
Es nahte ſich die Nacht, in der ich mit Emilien entfliehen wollte. Ich war eben im Be - griffe aus dem Fenſter zu klettern, als ſich die Thuͤr eroͤffnete und Burton mit einer kleinen Laterne hereintrat. Er ſagte mir, ich ſolle ihm folgen, weil ich in ſeinem Hauſe nicht mehr ſicher ſey. Wir gingen ſtillſchwei -89 gend durch den Garten und er gab mir ein Pa - pier in die Hand, das, wie ich nachher geſehen habe, ein anſehnlicher Wechſel war. Hinter dem Garten liegt ein Wald und wir gingen auf einem ſchmalen gewundenen Fußſteige. Ich war - tete immer darauf, daß Burton ſprechen ſolle, aber er war heimtuͤckiſch und ſtill. In meinem Innern war ich duͤrr und ausgeſtorben, alles kam mir vor, wie ein Scherz, und aus einer gewiſſen Furcht haͤtt ich ein paarmahl die Stil - le beinahe durch ein lautes Gelaͤchter unter - brochen.
Wir ſtanden endlich ſtill. Wir ſchwiegen und wie druͤckende Gewitterluft aͤngſtigten mich dieſe Minuten. Ich ſuchte nach Gedanken um das Graͤßliche, das darin lag, zu verſcheuchen, — ich wollte fort, und verzoͤgerte dann gern wieder den Moment der Trennung, — es war eine von jenen ſeltſamen Pauſen, in denen die Seele unſchluͤſſig iſt, ob ſie uͤber den Koͤrper gebieten ſoll, in denen ſie an ihrem Willen zweifelt und ſich an der traͤgen Maſchine nicht auf eine be - denkliche Probe ſtellen will.
Durch ein Paar Worte unterbrach Eduard das Stillſchweigen und ging zuruͤck; er kehrte90 wieder um, als wenn er etwas vergeſſen haͤtte, dann ging er wieder, und eine große Thraͤne preßte ſich in mein Auge, eine Angſt draͤngte fuͤrchterlich aus der Bruſt zur Kehle hinauf; mir war, als wenn ich erſticken ſollte. Ich ging einige Schritte und ſuchte durch meinen lauten Gang mein Schluchzen zu uͤbertoͤnen. — Ich ſah zuruͤck, er hatte die Laterne ſchon ausge - loͤſcht, damit ich ihn nur deſto fruͤher aus dem Geſichte verlieren moͤchte.
Was empfand ich in dieſem Augenblicke! — Roſa, Sie koͤnnen es nicht begreifen. — Ich ha - be ihn noch vor einigen Jahren ſo innig geliebt, ich glaubte damals, daß es ihm eine Kleinigkeit ſey, ſein Leben fuͤr mich zu verſpruͤtzen — und jetzt, in dieſer Stunde meines Lebens, in der er wußte, daß er mich nie wiederſehen wuͤrde, jetzt ließ er mich gehen, ohne ein Wort zum Abſchiede zu ſagen, ohne meine Hand zu neh - men, ohne ein Lebewohl! Ich habe ihm ſo oft die Hand gedruͤckt, ohne daß er es verdiente, er haͤtte es ja wohl auch jetzt thun koͤnnen, und wenn es auch nur Verſtellung geweſen waͤre.
Doch beſſer, daß es nicht geſchehen iſt. Ich war zu weich; haͤtt 'er nur ein gutes Wort ge -91 ſagt, ſo waͤr ich ihm an die Bruſt geſtuͤrzt, und haͤtte ihm alles bekannt, ich waͤre wieder in meine Kindheit zuruͤckgeſunken, ich haͤtte alle meine Erfahrungen abgeſchworen; ich haͤtte ihm die Flucht Emiliens, und alles entdeckt, ich waͤ - re in der gewaltigen Ruͤhrung vielleicht zu Grun - de gegangen. — Er verdiente es nicht, wie ſehr ich ihn liebte; alles kam mir zuruͤck, was er mir einſt geweſen war,[und] was ich von ihm gehofft hatte; — es war mir als wenn er mich riefe, und ich ſtand ſtille und wollte umkehren, aber es war nur der Schall des Windes im Forſte.
Ich wußte immer noch nicht, ob ich nicht dennoch zuruͤckgehen ſollte; je weiter ich fort - ſchritt, je aͤngſtlicher klopfte mein Herz, — ach und er hat ſich nicht nach mir umgeſehen, er hat nicht weiter an mich gedacht.
Ich war zweifelhaft, ob ich nach dem Or - te hingehen ſollte, wo Emilie auf mich wartete. Alles war mir jetzt zuwider. Ich haͤtte mich niederwerfen moͤgen, und weinen und ſterben. Aber mein Haß kehrte endlich zuruͤck. Sonder - bar! daß er mich ſelbſt auf den Weg nach Emi - lien hatte bringen muͤſſen, den ich ohne ihn in92 der finſtern Nacht vielleicht verfehlt haͤtte! — Sie hatte ſchon ſeit einer halben Stunde aͤngſt - lich auf mich gewartet, ich ſetzte mich in den Wagen, und wir fuhren davon.
Emilie hielt mich feſt in ihren Armen; der Wind ging ſcharf, und ein feiner Regen trieb in den halb offenen Wagen hinein. Meine Le - bensgeiſter waren erſchoͤpft; ich ſchlief ein, und erwachte nur, als ſich ein blaſſes Morgenroth am Himmel herauf zog.
Wie nuͤchtern kam mir die ganze Welt mit ihren Bergen, Waͤldern und Menſchen entgegen! Ich hatte angenehm getraͤumt, und die wuͤrkli - che Natur ſtand ſchroff und unbeholfen vor mir da; Emilie neben mir, mit ihrer affektirten hochbetruͤbten Miene. Wie ein bettelhaftes Win - keltheater kam mir die ganze Welt vor, o! ich haͤtte aus ihr entlaufen moͤgen. — Und was wuͤrde mich noch auf dieſer truͤben Dunſtkugel zuruͤckhalten, wenn es nicht die Hoffnung waͤre, Sie, Andrea, und meine uͤbrigen Freunde bald wieder zu ſehen? mich der unbekannten, geheim - nißvollen Welt noch mehr zu naͤhern, und als der Schuͤler einer hoͤhern Weisheit mit Recht jede irdiſche verachten zu koͤnnen?
93Ich bin mit Burtons Schweſter unter frem - den Nahmen hieher gereiſet, und ich merke es ſehr deutlich, daß ſie es ſich ſelber nicht geſte - hen will, daß ſie ſich nicht mehr ſo ſehr fuͤr mich intereſſiret. Natuͤrlicher weiſe! weil es wahrſcheinlich ja gewiß iſt, daß ich gegen ſie kaͤlter geworden bin.
Leben Sie wohl. Sie werden dieſen Brief mit einem fruͤhern zu gleicher Zeit erhalten.
Wie ich mich jetzt hier einſam fuͤhle, lieber Mortimer, kann ich Ihnen nicht beſchreiben. Ich gehe oft noch in Gedanken nach dem Zim - mer meiner Schweſter, um ſie dort anzutreffen; ich ſuche ſie im Garten auf, und gehe mit wei - nenden Augen jeder Laube voruͤber, weil ſie nicht drinnen ſitzt. — Ich fuͤhle jetzt nicht mehr recht deutl[i]ch warum ich lebe, denn alle Weſen, die mit mir in ſo naher Beziehung ſtanden ſind mir entriſſen. — Sollte ich auch meine Schwe - ſter niemals wieder ſehen? — Wenn ich nur wuͤßte, wo ich ſie ſuchen ſollte, wenn nur nicht ein Fieber meinen Koͤrper erſchoͤpft haͤtte. — Und dann iſt es ja ihr Wille geweſen, mich zu verlaſſen; Sie wuͤrde mich jetzt nicht einmal gerne ſehen.
O! wie vielen Menſchen habe ich Unrecht95 gethan! War ich durch ein kraͤnkendes, men - ſchenfeindliches Mißtrauen nicht Urſache, daß der arme, geaͤngſtete Willy nach dem Gifte griff, und es austrank, um mich von ſeiner Unſchuld zu uͤberzeugen? Ich habe ſeit dem oft an den alten frommen Mann gedacht, und ich kann mich recht in ſeine Seele verſetzen; halb wahn - ſinnig, aus Gram uͤber Lovell den er ſo innig liebte, in der ſchrecklichſten Verlegenheit, mich zu warnen, und doch ſeinen Herrn nicht zu ver - rathen, uͤberraſcht und erſchreckt durch meinen Argwohn, — von allen Seiten gedraͤngt, greif[t]er zerſtreut und unwillkuͤrlich nach dem Tode, um nur ſeinem Leben ein Ende, und ſeine Un - ſchuld deutlich zu machen. — Haͤtt 'ich ihm nicht mit Liebe entgegen gehen ſollen, um ſei - nen Jammer zu lindern? — Ach Mortimer, ich war es, der ihm die ſchrecklichſte Minute ſei - nes Daſeyns erleben ließ; ich war Schuld an ſeinem Tode.
Hab 'ich nicht durch eigne Schuld Lovells Seele verlohren? Konnt' ich ihn nicht vielleicht mir und ſich ſelber wiedergeben? — Ich war geſpannt, und mein Schmerz hatte mich ſoweit uͤberwaͤltigt, daß ich unmenſchlich war. Durch96 meine Kaͤlte habe ich meine Schweſter von hier vertrieben; kein Menſch liebt mich, keiner fragt nach mir, alle fliehen weit von mir weg, um mich nur aus dem Geſichte zu verliehren.
Nein, Mortimer! ich will mich nie wieder ſo uͤberraſchen laſſen. Ich will alle Menſchen, ohne irgend eine Ausnahme, lieben, und mir ſo ihre Gegenliebe verdienen. Ach! wenn auch Schwaͤchen und Gebrechen an ihnen ſichtbar ſind, ſie ſollen mich dadurch nicht wieder zu - ruͤckſtoßen, denn eben das ſind ihre Kennzeichen daß ſie Menſchen und meine Bruͤder ſind. Warum wollen wir denn auch immer die Beſ - ſern, und die Schlechtern von einander ſondern? Koͤnnen wir es mit dieſen ſchwachen irdiſchen Augen? Ach! Mortimer, wenn wir ſie alle lieben, ſo thun wir keinem Unrecht. — Muͤſ - ſen ſie nicht alle in einer kurzen Zeit ſterben und in Staub zerfallen? Wir ſollten uns be - ſtaͤndig in Acht nehmen, keines dieſer gebrech - lichen Gebilde zu verletzen. Moͤgen ſie doch lachen und uns haſſen und verfolgen; — o! ich will lieber von Tauſenden betrogen werden, als Einem Unrecht thun.
Koͤnnt '97Koͤnnt 'ich nur alles wieder gut machen! Aber Lovell iſt fort, und es iſt zu ſpaͤt. — Wir koͤnnen unſere Uebereilungen gewoͤhnlich nur bereuen; und eben das ſollte uns bewe - gen, uns mehr vor ihnen in Acht zu nehmen.
Ich bin wieder hier auf dem großen Tummel - platz einer dichtgedraͤngten, geraͤuſchvollen Welt. Ich konnte unmoͤglich laͤnger in Emiliens Ge - ſellſchaft bleiben, die mir mit ihrer aufdringli - chen Liebe alle Laune verdarb. — Sie iſt noch[in] Nottingham, und ich habe bey ihr eine noth - wendige Reiſe nach einer der naͤchſten Staͤdte vorgegeben. Wenn ſie erfaͤhrt daß ich nicht dort bin, mag ſie zu ihrem Bruder zuruͤck - kehren.
Der Haß und die Liebe der Menſchen iſt mir jetzt in einem gleich hohen Grade zuwider, es ſoll ſich keiner um mich kuͤmmern, ſo wie ich nach keinem zuruͤckſehe, um ihn mit einem freundlichen oder verdruͤßlichen Geſichte zu be - trachten. — Fuͤr mich giebt es nichts Widri - gers als das Aufdringen der Menſchen, um mir ihre Freundſchaft, ihre Liebe zu ſchenken; es ſind Narren die nicht wiſſen, was ſie mit ſich ſelber machen ſollen, und daher andere Nar -99 ren noͤthig haben, um mit ihnen aus Langewei - le zu ſympathiſiren. Wie veraͤchtlich iſt die kin - diſche Empfindſamkeit einer Emilie, die gleich - ſam ſeit Jahren darauf gewartet hat, um ihre tragiſche Aufopferung an den Mann zu bringen. Sollte ich nun ein ſo großer Thor ſeyn, und ihre theatraliſche Affektation fuͤr Ernſt nehmen, und mich wunder! wie ſehr geruͤhrt fuͤhlen? — Man kann wirklich etwas beſſeres thun, als je - de Narrheit der Menſchen mitmachen, und der iſt der veraͤchtlichſte Thor, der dieſe Narrheiten abgeſchmackt findet, und ſich dennoch ſcheut ſie als Kindereyen zu behandeln. — Sie weint jetzt vielleicht, und bald trocknet ſie aus Langeweile ihre Thraͤnen, dann iſt ſie boͤſe auf mich, dann ſchaͤmt ſie ſich vor ſich ſelber, und dann hat ſie mich vergeſſen.
Daß ſie ſich ſelbſt auf einige Zeit ihr haͤus - liches Gluͤck zerſtoͤrt hat, iſt ihre eigene Schuld; daß ſie ſich nach dem Uebereinkommen jetzt vor manchen Menſchen ſchaͤmen muß, kann mir zu kei - nem Vorwurfe gereichen. Ich uͤbte eine Rolle an ihr, und ſie kam mir mit einer andern ent - gegen, wir ſpielten mit vielem Ernſte die Kom - poſition eines ſchlechten Dichters, und jetzt thutG 2100es uns wieder leid, daß wir die Zeit ſo verdor - ben haben.
Ich bin indeſſen durch Kenſea gereiſt, den Ort wo ich jetzt eigentlich wohnen ſollte. — Ein altes gothiſches Gebaͤude ſteht hier in ei - ner wuͤſten waldigen Gegend, der Garten iſt verwildert, alle Bedienten ſehen aus wie Bar - baren, das ganze Haus hat ein kaltes unbeque - mes[Anſehen], viele Fenſter ſind zerſchlagen, die eine Mauer hat Riſſe. — O! mit welchem Wi - derwillen habe ich alles betrachtet! — Hier ſollt 'ich leben, in einer dunkeln, langweiligen druͤckenden Einſamkeit? — Von der ganzen Welt abgeriſſen, wie ein vertriebener Bettler? einer ſcheuen Eule gleich, die vor dem laͤſtigen Tageslichte endlich einen duͤſtern Schlupfwinkel findet? — Nein, die ganze weite Welt ſteht mir freundlich offen, und ich kehre dem einſiedleri - ſchen Schloſſe veraͤchtlich den Ruͤcken. So wie ich hier leben wuͤrde, kann ich es allenthalben; und in einem fremden Lande, unter einem an - dern Klima wuͤrde mich keine Sklaverey ſo hart druͤcken.
Ich lebe hier in London unter dem bunten Gewuͤhle; ich ſpiele und mache anſehnliche Ge -101 winnſte. Dies raſche und doch ungewiſſe Leben, in dem die Leidenſchaften unaufhoͤrlich in Bewe - gung geſetzt ſind, hat einen großen Reitz fuͤr mich. Und welche lehrreiche Schule, um hier die Menſchen erſt voͤllig verachten zu lernen! — Wie der niedrigſte Eigennutz, die kleinſten Be - gierden ſich in den Geſichtern ſo hart und wi - drig abſpiegeln! Wie jeder nur alles fuͤr ſich[hinraffen] moͤchte, und dem Verluſt und der Ver - zweiflung ſeines Nachbars gelaſſen zuſieht. — Ich bin ſchon einigemal ſchwach genug geweſen, meinen Gewinnſt wieder zuruͤck zu geben, um nur die Mienen der Niedertraͤchtigen, die mir ſo unausſtehlich waren, wieder aufzuheitern. Dann nennt man mich großmuͤthig und edel. O, es iſt um toll zu werden!
Lange werde ich es unter dieſen Menſchen nicht mehr aushalten, ich muß zu Ihnen zu - ruͤck. Ich ſehe Italien jetzt als mein Vaterland an, denn Andrea iſt dort. Ich erſtaune oft, mich hier unter dieſen gemeinen Menſchen zu finden, wenn ich an die wunderbare Welt denke mit der er mich vertraut machte. Ich kann Ihnen die Empfindung nicht beſchreiben, die mich zu - weilen ſchon mitten in einem Geſpraͤche befallen102 hat, wenn ich ploͤtzlich daran dachte: daß ich ſonſt mit Andrea geſprochen hatte. In dieſen Augenblicken fuͤhle ich mich hier ganz am un - rechten Orte, ich fuͤhle eine Sehnſucht fortzu - gehn, daß ich mich dann nicht zu laſſen weiß. Ich moͤchte oft alle wunderbaren Phantome her - beyrufen, die mir dort voruͤbergiengen; ich moͤchte mich in die grauenvolle Nacht hinunter - tauchen, aus der die Schauder emporſteigen, die ſo gewaltig das ſchwache menſchliche Herz ergreifen und es beynahe zerdruͤcken. O! wenn doch die Zeit erſt wieder da waͤre, in der mei - ne ungeduldige Bruſt voͤllig mit Wundern ge - ſaͤttiget wuͤrde, in der ich voͤllig die Erde und ihre Menſchen und auch mich ſelbſt vergeſſen koͤnnte! —
Lieber Lovell, Sie halten nicht Wort, Sie ſind nun ſchon ſechs Tage laͤnger ausgeblieben, als Sie mir bey Ihrer Abreiſe verſprochen hat - ten. O ſechs ewig lange Tage und heute iſt es ſchon der ſiebente. Gott! wenn Sie nicht ge - zaͤhlt haͤtten, wenn Ihnen die Tage nicht ſo lang wie mir vorgekommen waͤren!
Ach nein, William, ſo lang koͤnnen ſie Ih - nen nicht geworden ſeyn, aber das kann und will ich auch nicht verlangen; denn mir war, als wenn die Zeit indeſſen ſtill ſtaͤnde und mir langſam und bedaͤchtig einen Tropfen ihres Schmerzes nach dem andern auf das Herz fal - len ließe. Ich habe viel unterdeß gelitten, und ich fuͤrchte, daß ich krank werde. Mein Kopf iſt in Verwirrung und alle meine Glieder zittern.
Ach Lovell, kehre ſchnell, ſchnell zuruͤck. Ich weiß mich in der Einſamkeit nicht zu laſ - ſen: ach, ich bedarf Deiner Huͤlfe in mehr als einer Ruͤckſicht, Du weißt, daß ich kein Ver -104 moͤgen mitnehmen konnte, und das wenige, das ich hatte, iſt fort. Was ſoll ich anfangen, wenn Du noch laͤnger ausbleibſt? Aber nein, Du koͤmmſt, Du biſt nicht grauſam, Du biſt nicht leichtſinnig; und beides muͤßteſt Du ſeyn, wenn Dich meine Bitte nicht ruͤhrte.
Ich werde hier auf das benachbarte Dorf ziehn, das uns beyden auf der Reiſe hieher ſo ſehr gefiel, dort wirſt Du mich antreffen.
Mein Brief wird Dich doch finden? — Es waͤre ein Ungluͤck, wenn Du nicht grade da waͤ - reſt, und er muͤßte einen Tag oder noch laͤnger liegen bleiben. Lovell, ich wuͤrde untroͤſtlich ſeyn.
Ich habe ſchlimm getraͤumet, denn es war im Schlafe als habeſt Du mich verlaſſen und ich hoͤrte Dich ganz deutlich uͤber meine Schwaͤche und meine Liebe lachen. Da that ſich die ganze Welt wie ein Gefaͤngniß eng und immer enger uͤber mir zuſammen, alles Helle wurde dunkel, die ganze Zukunft war ſchwar; und ohne Mor - genroth. — Aber nein, Du liebſt mich? nicht wahr Lovell? — O, die Traͤume werden uns nur geſchickt, um unſer armes Leben zu aͤngſti - gen; ſchon von Kindheit auf haben ſie mich da - durch gequaͤlt, daß ſie mir alles als nichtig und105 veraͤchtlich zeigten, was ich ſo innig liebte. Ich will mich dadurch nicht irre machen laſſen.
Aber warum biſt Du noch nicht gekommen? — O Lovell, wenn Dir meine Liebe zur Laſt gefallen waͤre! — Mir faͤllt jetzt ſo manches ein, was ich wohl ehedem in Buͤchern geleſen, und nachher wieder vergeſſen habe. O, es waͤre ſchrecklich! — Aber wie koͤnnte Liebe und Wohl - wollen Dich aͤngſtigen, wie koͤnnteſt Du es ver - geſſen, daß ich Dir alles aufgeopfert habe? — Ach nein, — waͤr 'es moͤglich, o ſo wuͤrd' ich wuͤnſchen, daß ich dann auch alles vergeſſen koͤnnte.
Du ſiehſt, wie ſchwermuͤthig ich geworden bin; das macht bloß die Einſamkeit und weil ich Dich nicht ſprechen hoͤre. Du haſt mir zu - erſt Deine Liebe angetragen, und jetzt ſollteſt Du mich vergeſſen? — Ich habe um Dich Ta - ge und Naͤchte hindurch geweint, und Du ſoll - teſt jetzt nicht kommen, um meine Thraͤnen zu trocknen? — Nein, es iſt nicht moͤglich, wenn ich daran glauben koͤnnte, o ſo waͤre mir beſſer ich waͤre nie gebohren worden.
Meine Schwachheit nimmt zu, ich fuͤhle mich ſehr krank; glaube ja nicht, William, daß106 ich uͤbertreibe, komm ja ſogleich; und findeſt Du mich denn vielleicht etwas beſſer, als Du glaub - teſt; ſo ſey nur, ohne daß ich es ſage, uͤber - zeugt, daß mich die Hoffnung, Dich wieder zu ſehen, ſtaͤrker machte.
Himmel! was habe ich hier erfahren muͤſſen! — Unbefangen reiſt 'ich von London hieher, weil es mir dort keine Ruhe mehr ließ, und nun bin ich hier, — o Mortimer, nicht wie im Traum und doch nicht wie wachend, mit ko - chendem Herzen und ohne Beſinnung, entſchloſ - ſen etwas zu thun, und doch weiß ich nicht, was. — O der ſchoͤnen Reiſe! — meiner Aus - ſichten, meines Gluͤcks!
Kann ich Worte finden, um Dir zu ſagen, was ich denke und fuͤhle? — Ich bin bis jetzt wie ein Kind durch die Welt gegangen, und ich nehme nun mit Entſetzen wahr, daß ſie weit ſeltſamer, weit abgeſchmackter, und weit un - gluͤckſeliger iſt, als ich geglaubt hatte. — O ich moͤchte mir den Kopf an einen Baum zerſtoßen, ich moͤchte mich ſelbſt zerreiſſen, daß es ſo und nicht anders iſt. — Wer konnte nun dieſen Schlag erwarten? Hab 'ich hierbey irgend etwas108 verſchuldet? Eine unſichtbare Gewalt greift nach meinem Herzen und zerquetſcht es, und ich kann nichts weiter thun, als an der Wunde ſterben.
Mit meinen Geſchaͤften hat es nun von ſelbſt ein Ende, mit meinem Gluͤcke, vielleicht mit meinem Leben. — Emilie hat mich alſo nie geliebt? — O, was iſt doch der Menſch! Wer kann ihn verſtehn, wer darf uͤber ihn urtheilen? — Und ich haͤtte ſie nicht geliebt? — O das iſt eine ſchreckliche Luͤge! Ich konnte nicht wei - nen, und ich ſchaͤmte mich, die Empfindungen meines heißen Herzens bey jeder Gelegenheit zu aͤußern; o ich war zu gut um Emilien zu ge - fallen, ich putzte meine Empfindungen zu wenig auf, ich konnte nicht luͤgen, ſo wie der nieder - traͤchtige Lovell, — o Emilie! ſo warſt Du denn auch nur eins der gewoͤhnlichen Weiber, die es nicht unterlaſſen koͤnnen, ſogar ihre Em - pfindungen zu ſchminken, die die natuͤrlichen guten Menſchen verachten, und ihre Zuneigung den Elenden ſchenken, die ſie durch Grimaſſen und ſtudirte Seufzer, durch theatraliſche Stel - lungen und auswendig gelernte Worte unter - halten!
109Nie hab 'ich einen Menſchen ſo wie dieſen Lovell gehaßt! Sein Name brennt ſchmerzhaft in meiner Bruſt, wenn ich ihn nur durch einen Zufall nennen hoͤre. Es flimmert mir alles vor den Augen, wenn ich an ihn denke; ich koͤnnte ihn mit den Zaͤhnen zerreißen, den nichtswuͤrdi - gen Komoͤdianten! — Aber ich werde ihn ir - gend einmal finden und dann ſoll er mir Stand halten und Rechenſchaft ablegen: dann ſoll er mir nicht entfliehen, und er ſoll mir alles dop - pelt bezahlen.
O daß uns der Gedanke der Rache im Un - gluͤcke nicht erquicken kann! — O ich Thor! daß ich in London ſaß und mit dem Fleiße einer Ameiſe arbeitete! — Dies iſt mein Lohn. — War bey dieſer Emilie meine uͤbertriebene, un - gehirnte Delikateſſe wohl angewendet? — Doch, ſie hat mich nie geliebt, — o wenn ich mich nur davon[uͤberzeugen] koͤnnte! Aber ich werde von meinen unſtaͤten Gedanken hiehin und dorthin geworfen, keine Idee wird in meinem Kopfe einheimiſch. — Ach, Emilie! Wo biſt Du jetzt vielleicht und ſprichſt reuig meinen Na - men aus? — Koͤnnt 'ich Dich finden und dann mich raͤchen!
110Ich moͤchte ſo lange Wein trinken, bis ich alle Beſinnung verloͤhre und mich denn zum fe - ſten Schlafe hinwerfen, denn mir iſt wie einem Moͤrder, der von allen Seiten verfolgt wird. Ich kann mir ſelber nicht entfliehn.
Ich muß ſie ſuchen, ich muß ihn finden, ich will das ganze Land nach ihnen durchſtrei - chen; irgend wo muͤſſen ſie ſeyn. — Lebe wohl, bis ich Dich ſelbſt auf meinem Zuge beſuche.
Ich habe anſehnliche Summen gewonnen, und ich denke bald damit England zu verlaſſen. Es iſt nichts leichter, als eine Rolle in der Welt zu ſpielen und es giebt tauſend Arten ſich in - tereſſant zu machen. Man riß ſich nach mir, weil ich mir in London einen ſonderbaren ita - liaͤniſchen Namen gegeben hatte und immer viele Seltſamkeiten von mir vermuthen ließ; ich erzaͤhlte zuweilen einigen Freunden aben - theuerliche Bruchſtuͤcke aus einer erdichteten Ge - ſchichte, die es dann nicht unterließen, ſie Je - dermann wieder unter