PRIMS Full-text transcription (HTML)
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William Lovell.
We make ourselves fools, to disport ourselves; And spend our flatteries, to drink those men, Vpon whose age we roid it up again, With poisenous spite and ensy. Who lives, that's not Depraved, or depraves? who dies, that bears Not one spurn to their graves of their friend's gift? (Shakspeare. )
Dritter Band.
Berlin und Leipzig,beyCarl Auguſt Nicolai.1796.
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William Lovell. Erſtes Buch.

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1. William Lovell an Roſa.

Es iſt nicht anders, ich ſtehe wirklich hier, und ſehe nach den weißen, ſchroffen Klippen hinauf, die mich ſo entzuͤckten, als ich damals von England Abſchied nahm. Ich bin endlich wieder zuruͤckgekommen, und alles Vorige liegt hinter mir; es iſt nicht anders, und konnte vielleicht nicht anders werden.

Ich glaubte daß mich eine frohe Ruͤhrung ergreifen wuͤrde, wenn ich den Boden meines Vaterlandes wieder betraͤte, aber duͤrr und ver - druͤßlich bin ich noch immer, noch immer fuͤh - le ich dieſelbe widrige Empfindung in mir, mit der ich landete.

Ich danke dem Andrea unaufhoͤrlich, daß ich jetzt in den widerwaͤrtigſten Situationen mit einer großen Kaͤlte in das Leben ſehen kann, denn ein Gefuͤhl das er mir gegeben hat, be -6 gleitet mich allenthalben. Die Veraͤchtlichkeit der Welt liegt in ihrer groͤßten Betruͤbniß vor mir, ich ſtoße ſie nur um ſo geringſchaͤtzender von mir, je wunderbarer ich mir ſelbſt erſchei - ne. Durch meine Ahndungen und ſeltſamen Gefuͤhle, hat er mich vom Daſeyn einer frem - den Geiſterwelt uͤberzeugt, ich habe eigenmaͤch - tig meinen Zweifeln ein Ziel geſetzt, und ich freue mich jetzt innig, daß ich auf irgend eine Art mit unbegreiflichen Weſen zuſammenhaͤnge, und kuͤnftig mit ihnen in eine noch vertrautere Bekanntſchaft treten werde. Unaufhoͤrlich be - gleitet mich dieſe Ueberzeugung, und alle Gegen - ſtaͤnde umher erſcheinen mir nur als leere For - men, als weſenloſe Dinge. Ich errege oft jene geheimen unbegreiflichen Gefuͤhle in mir, in der Nacht, oder in der Einſamkeit, jene ſeltſamen ſchauernden Ahndungen die uns unwiderſtehlich wunderbaren Maͤchten entgegen draͤngen. So, Freund, iſt die Welt mir in manchen Stunden nichts, als ein buntes, beſtandloſes Schatten - ſpiel, Wogen die den Bach hinunterlaufen oh - ne zu wiſſen wohin.

Alle betruͤbten Stunden die ich hier in Eng - land erleben werde, ſtehen gleichſam noch hin -7 ter den Couliſſen und warten nur auf ihr Stich - wort, um ſchnell hervorzutreten, ich muß in meiner Rolle fortfahren, und vor keinem ploͤtz - lichen Auftritt erſchrecken.

Der noͤrdliche Himmel hier, mit ſeinen gro - ßen und tiefhaͤngenden Wolken, macht einen ſeltſamen Eindruck auf mich, nachdem ich mich in ſo langer Zeit in Italien verwoͤhnt habe. Die Umriſſe der Berge und Waͤlder bilden ſich ſo hart und widrig in dieſer rauhen Luft, ich fuͤhle ſchon jetzt ein Heimweh nach Italiens lauem Himmel, nach Ihnen und Andrea und meinen uͤbrigen Freunden.

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2. Eduard Burton an ſeinen Freund Mortimer.

Wir haben nun endlich unſer gewoͤhnliches Le - ben wieder angefangen, und die Zeit fließt uns eben und ohne widrige Abſchnitte voruͤber. Vie - le Menſchen irren darinnen ſehr, wenn ſie nur immer ſtreben recht viele frohe und glaͤnzende Epochen in ihren Lebenslauf zu bringen, denn jede dieſer Epochen zieht mehrere Tage nach ſich, die durch ihre Nuͤchternheit unſere Seele leer und melancholiſch machen; je einfoͤrmiger und ruhiger die Zeit voruͤberfließt, um ſo mehr genießt man ſeines Lebens. Wir beyde, lieber Freund, haben uns in dieſen Genuß eingelernt, und ich haſſe jetzt das Planmachen, wodurch man immer in einer fernen Zukunft lebt, un - ſinnigerweiſe die Gegenwart verſchleudert, und ſich im Leben gleichſam uͤbereilt, um nur deſto fruͤher zu jenem Ziele zu kommen, das man ſich aufgeſteckt hat.

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Geſtern kam der alte Willy ganz matt und athemlos hier an, um ſeinen Bruder Thomas zu beſuchen. Er war die letzten Meilen, ſo alt er auch iſt, zu Fuß gelaufen, um ſeinen Bruder nur deſto fruͤher zu ſehen. Der alte Mann hat ſich eingebildet, er muͤſſe jetzt ſterben, und dar - um will er noch vorher von Thomas Abſchied nehmen. Die Ermuͤdung, ſo wie ſein Aber - glaube haben es wirklich dahin gebracht, daß er krank geworden iſt, und jetzt im Bette liegt. Er hat mich aber innig durch ſeine Liebe gegen ſeinen Bruder geruͤhrt, den ſeine einge - bildete Klugheit hindert ihn wieder eben ſo zu lieben. Viele Menſchen, beſonders unter den gemeinern, ſchaͤmen ſich ein Herz zu haben, ſo - bald ſie nur einigen Verſtand zu haben glau - ben. Willy ſpricht viel vom Lovell, und mit einer auſſerordentlichen Innbrunſt; mir ſtanden die Traͤhnen in den Augen, als ich ihm zuhoͤr - te. Meine ganze Seele ſtreckt ſich in mir aus, ſo oft ich dieſen Nahmen nennen hoͤre, es iſt jedesmal als wollte man mir einen Vorwurf damit machen, weil er nicht mehr mein Freund iſt. Und konnt 'ich anders handeln? That ich nicht alles um mir ſeine Liebe aufzu -10 bewahren? Aber er hat ſein Herz verſpielt, und kann mich nicht mehr lieben.

Leben Sie wohl, und erſetzen Sie mir durch Ihre Freundſchaft den Verluſt der ſei - nigen.

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3. Thomas an den Herrn Fenton Gaͤrt - ner in Kenſea.

Sie werden es verzeihen werthgeſchaͤtzter Herr, und Kollege, wenn mein Bruder vielleicht eini - ge Tage laͤnger ausbleibt, als er ſich anfangs vorgeſetzt hatte, und Sie indeſſen die Aufſicht des ganzen Gutes beſorgen muͤſſen, denn er iſt hier krank geworden, ſo daß er wohl ſobald noch nicht wird zuruͤckreiſen koͤnnen. Er iſt ein klein wenig naͤrriſch der alte Mann, und das werden Sie eben ſo gut wiſſen als ich. Alte Leute haben, wie man zu ſagen pflegt, ihre wunderlichen Launen, und mein Bruder hat ſie gewiſſermaßen im vollſten Grade.

Er hat mir viel von ihrem Garten erzaͤhlt, und es thut mir recht ſehr leid, daß Sie mit dem wilden Werke ſo viele Muͤhwaltung vorzu - nehmen haben. Ich habe jetzt Gottlob! einen Goͤnner an meinem Herrn, der die Kunſt ſchaͤtzt12 und viel an die Vortreflichkeit des Gartens wendet. Ein ſolcher Goͤnner fehlt Ihnen frey - lich, und doch iſt er gewiſſermaßen unentbehr - lich, um etwas Großes zu Stande zu bringen, denn ohne Geld, und ohne die noͤthigen Arbei - ten laͤßt ſich in dieſer Welt nur wenig aus - richten.

Mein Bruder glaubt, daß er hier wird ſter - ben muͤſſen, denn er iſt noch ſo ſehr von der alten Welt, und wenn ihm etwas traͤumt, ſo glaubt er auch immer, daß es eintreffen muß, was denn die vernuͤnftigen Leute mit Recht einen Aberglauben nennen koͤnnen, denn er weiß wuͤrklich nicht viel von einer beſſern Aufklaͤrung, wie man zu ſagen pflegt. Ich denke aber wohl, daß er in einigen Tagen ſowohl geſun - der, als auch vernuͤnftiger werden wird. Gott gebe ſeinen Seegen dazu, damit er bald wieder an ſeine Geſchaͤfte gehen koͤnne!

Verzeihen Sie uͤbrigens, werthgeſchaͤtzter Herr und Kollege, daß ich mir die Freyheit ge - nommen habe, Ihnen mit meinem ſchlechten Briefe beſchwerlich zu fallen; da aber mein13 Bruder noch bis dato die Feder nicht fuͤhren kann ſo habe ich ſolches fuͤr meine Pflicht ge - halten. Ich wuͤnſche eine fortdauernde Ge - ſundheit und langes Leben, und nenne mich

Ihr werthſchaͤtzender Freund Thomas, Gaͤrtner in Bonſtreet.

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4. William Lovell an Roſa.

Ich treibe mich jetzt wie ein abgeriſſener Zweig in den Fluthen und Wirbeln des wuͤh - lenden Lebens auf und ab. Ohne Ruhe bin ich bald hier, bald dort, bald in einem gemeinen Wirthshauſe, unter den niedrigſten, aber ori - ginellſten Menſchen, bald in einer Geſellſchaft von Spielern, bald auf den oͤffentlichen Spa - ziergaͤngen, bald in den vollgedraͤngten Thea - tern. Ich bin in einer unaufhoͤrlichen Traͤume - rey verſunken, und das Gewuͤhl um mich er - hebt mich und macht mich froh.

In manchen Stunden verlier 'ich mich ſel - ber. Sagen Sie mir, Roſa, ob meine innere Ahndungen Recht haben. Mein Vater, Pietro und Roſaline ſtarben durch mich, Amalia iſt durch mich vielleicht ungluͤcklich geworden; wer weiß wie manches Auge meinetwegen naß iſt, von dem ich nichts weiß, und dem ich mittel - bar und ungekannt Schmerzen uͤberſendet habe. 15 Ich kann manchmal alles vergeſſen, was ich vormals daruͤber dachte, und eine heiße Roͤthe breitet ſich dann von innen heraus uͤber meine Wangen. Und doch, wie wenig ſind alle dieſe Menſchen werth! Wen unter ihnen kann man bedauern? Von wem ſollen wir uns in unſerm Wege zuruͤckhalten laſſen? Ich rich - te mich durch jene hohen Ahndungen und wun - derbaren Gefuͤhle, durch jene goͤttliche Ueber - zeugung wieder auf, deren die uͤbrigen Menſchen entbehren muͤſſen.

So wenige Menſchen mich hier auch ken - nen, ſo huͤte ich mich doch ſehr erkannt zu wer - den. Neulich ſprach ich einen Bekannten des jungen Valois, der mit der Blainville hier - hergereiſt war, er hat ſich wirklich erſchoſſen, aber von der Komteſſe wußte er mir keine Nachricht zu geben.

Manche Straßen hier reden mich mit einer wunderbaren Sprache an, vorzuͤglich die in de - nen Amalia wohnt. Ich bin ſchon mehrmals Ihrem Hauſe voruͤbergegangen, aber weder am Fenſter noch auf irgend einer Promenade habe ich ſie geſehen. Auch noch keine Nachrichten16 habe ich von ihr erhalten koͤnnen, aber ſie muß hier in London ſeyn. Geſtern war ich im Theater, es wurde Macbeth gegeben, und ich war mit einer aͤchten Jugendempfindung in die Darſtellung vertieft. Alle Ideen umgaben mich auf eine wunderbare Weiſe, und die Mu - ſik der Zwiſchenakte machte, daß ich mich ſelbſt und alles um mich her vergaß. Im letzten Akte zog ein Geſicht in einer Loge meine ganze Aufmerkſamkeit auf ſich, denn es glich Ama - lien vollkommen. Ich vergaß das Stuͤck, und ſuchte mir nur die Erinnerung ihrer recht ge - genwaͤrtig zu machen, um ſie mit dieſem Bilde zu vergleichen. Sobald man ein Geſicht beob - achten will, das uns bekannt vorkoͤmmt, ſo ge - raͤth man bald in einen gewiſſen Schwindel und Zweifel, denn alles uͤberzeugt uns und wieder - ſpricht uns dann wieder, man ſchwoͤrt dafuͤr, und laͤugnet es wieder, und alles wechſelt im - mer beynahe in einer Sekunde.

Ich war noch immer verwirrt, und in tie - fen Gedanken, als das Stuͤck ſchon geſchloſſen war. Ich draͤngte mich mit den andern hin - aus, und erwartete an der Treppe die Herun - terkommenden. Viele Geſichter liefen durchein -17 ander, und meine Augen wurden muͤde ſie zu bemerken, um dasjenige was ich erwartete, herauszufinden. Endlich erſchien die Dame die ich fuͤr Amalien hielt, und in einem Augenblicke ſchoß mir die Ueberzeugung durch den Kopf, daß ſie es auch wirklich ſey. Und bey Gott ſie war es! [Hundert] Menſchen liefen mir vor und wieder zuruͤck, es war mir unmoͤglich naͤher zu kommen. Man ſtieß und draͤngte mich und ich ſtieß und draͤngte ebenfalls, und die Geſtalt war verſchwunden. Meine Augen fan - den ſie nachher nicht wieder.

Es muß Amalia geweſen ſeyn, es iſt nicht anders moͤglich. Ihre Schleppe, und der Saum ihres Kleides war mir in dem Momente heilig, als ich ihm nachzufolgen ſtrebte. Ich haßte die Menſchen recht innig, die mich durch ihr wildes widriges Gedraͤnge hinderten ihr zu folgen.

Ich kann es nicht unterlaſſen ganz gegen Sie aufrichtig zu ſeyn, weil ich es gegen irgend jemand ſeyn muß. Und kann ich fuͤr meine Empfindungen, die mich unwillkuͤhrlich ergrei - fen und quaͤlen, und beſeeligen?

Lovell. 3r Bd. B18

Daß nur nicht ein Zufall macht, daß ich auf Mortimer treffe, und er mich erkennt! Am liebſten gehe ich in der Daͤmmerung, oder am Abend ſpatzieren, und es iſt uͤberdies ſchwie - rig, in dieſem großen Gewuͤhle von Menſchen erkannt zu werden.

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5. William Lovell an Roſa.

So bin ich denn endlich wieder hier, hier wo der Fruͤhling meines Lebens zu bluͤhen anfing, und wo ich immer noch einzelne Ruinen davon wiederfinde? Wie iſt hier alles noch ſo, wie ich es damals verließ, jede Hecke, und je - der Teich erinner mich an meine damaligen Empfindungen.

Hier war's, wo Melodien aus jedem Baum - wipfel ſumſeten; hier hing der Morgen-Him - mel voll goldener Hoffnungen; jeder Ton in der Natur klang mir Geſang, und ich ging un - ter einem ewigen lautrauſchenden Koncerte. Und was iſt nun aus allem dem geworden? Und was war es auch das ich hoffte? Ju - gendlich und unbeſonnen kannt 'ich mich ſelbſt nicht, und wußte nicht was ich von mir und der Welt verlangte.

Ich ſaß wieder in demſelben Zimmer des Wirthshauſes, in dem ich damals einen ſo em - pfindſamen Brief an Eduard Burton ſchrieb,B 220wohl gar wenn ich nicht irre, Verſe machte. Es iſt eine niedrige unangenehme Stube, und mir wuͤrde jetzt kein poetiſcher Gedanke dort einfallen. Die Gegend umher, die mir im Mondſchein damals ſo romantiſch vorkam, iſt nichts als ein weiter gruͤner Haideplatz, mit einigen Baͤumen, in der Ferne ſieht man Wald. Wie naͤrriſch war damals die ganze Welt fuͤr mich ausgeputzt!

Auch die Stelle im Walde habe ich wieder - gekannt, auf der ich damals von Amalien Ab - ſchied nahm, als ſie von Bonſtreet nach Lon - don reiſte. Alle dieſe Plaͤtze ſind ſtumm gewor - den, ich finde ſie widerwaͤrtig und armſeelig, da ſie mir damals ſo theuer, ſo uͤberaus theuer waren. Manchmal iſt es, als liefe noch durch die Gebuͤſche ſaͤuſelnd eine der lieblichen Erin - nerungen, aber ſie koͤnnen nicht zu mir, ſie tre - ten ſcheu vor mir zuruͤck.

Verkleidet bin ich ſchon einigemal im Gar - ten hier in Bonſtreet auf und abgegangen. Hier hatten alle Empfindungen, alle Erinnerun - gen in den gruͤnen Lauben, auf den ſchoͤnen Raſenſtellen, unter den dichten Zweigen der Alleen geſchlafen; ſie wachten auf, als mein21 Fuß den Garten betrat, und kamen mir alle ſtuͤrmend entgegen. Alle haben mich begruͤßt, und jeder Baum ſcheint mich zu fragen: wo ich ſo lange geblieben ſey? Ach Roſa! die Traͤ - nen ſtiegen mir in die Augen, und ich konnte keine Antwort geben.

Die hohen Baͤume in der Allee rauſchen noch in gebrochenen Toͤnen einige Stellen des Oſſian, den ich ihr immer am Morgen vor - las; dieſelbe Sehnſucht ergrif mich wieder, als ich oben auf dem Huͤgel dem Fluſſe nachſahe, der ſich zwiſchen dem Felſenufer hindurch win - det; alles iſt mir noch befreundet, nur ich ma - che allen Gegenſtaͤnden ein fremdes Geſicht. Ach! ich bin ein Traͤumer, ich moͤchte ſa - gen: Die lebloſe Natur hat inniger an mir ge - hangen, als je die Menſchen.

Lange ſtand ich vor der Linde ſtill, in der ich meinen und Amaliens Nahmen eingrub. Nur wenig haben ſich die Zuͤge durch den Wachsthum des Baumes veraͤndert. Wie vieles nahm ich mir damals vor, als ich dieſe Zuͤge langſam und bedaͤchtlich dem Baume ein - ſchnitt!

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Vieles im Garten iſt geaͤndert, und ſeit dem Tode des alten Burton mit mehrerem Ge - ſchmacke angelegt. Mich duͤnkt Andrea weiß es ſchon daß Burton geſtorben iſt. Aber alle Veraͤnderungen hier haben mir wehe gethan. Ich wollte manche der alten Anlagen beſuchen, und fand eine neuere, beſſere. Der Gaͤrtner den ich durch einen Zufall traf, hat mir vie - les daruͤher geſagt, er iſt ein Bruder von mei - nem Willy.

Willy ſelbſt iſt hier zum Beſuche, und ich erſchrak, als ich ihm geſtern ploͤtzlich begegnete aber er hat mich nicht erkannt.

Ich habe mich nach manchen Sachen genau erkundiget, und darauf einen Plan gegruͤndet, um in das Haus zu kommen. Daß ich nicht erkannt werde, dafuͤr will ich ſchon ſorgen, und dieſe Schwierigkeit iſt im Grunde die un - bedeutendſte.

Wie ſchwach iſt der Menſch! Seit wie lange glaubte ich nun ſchon, uͤber alle dieſe Eindruͤcke erhaben zu ſeyn, und doch haben ſie mich nun mit neuer Gewalt angefallen, und dann lach 'ich wieder uͤber mich, und finde mich ſelbſt kindiſch.

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Vielleicht iſt es eine Nothwendigkeit, daß der Menſch unaufhoͤrlich mit ſeinem Weſen wechſelt, wenigſtens liegt darin ein großer Ge - nuß ſeines Lebens. Bunt wie das Kamaͤleon traͤgt er bald dieſe bald jene Farbe, je nachdem die Sonne ſcheint, oder ſich verdunkelt.

Leben Sie wohl; bald erhalten Sie von mir naͤhere Nachrichten.

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6. Mortimer an Eduard Burton.

Ich ſchicke Ihnen hier das Manuſkript Ihres Vaters zuruͤck, das ich mit großer Aufmerk, ſamkeit geleſen habe. Wie viele Wege giebt es in unſerm Verſtande, die den Menſchen ſo leicht auf eine falſche Bahn bringen koͤnnen! Die Sucht uͤber uns ſelbſt zu gruͤbeln, liegt in uns, und doch lernen wir beym aufmerkſamſten Studium nichts und alles Einfache, und Gute verliert ſich aus uns bey dieſen Betrachtungen. Der Menſch gewoͤhnt ſich dabey gar zu leicht, ſich nur als ein ſpekulirendes Weſen, als eine abſtrakte Idee anzuſehen, und mit eben den Augen die uͤbrigen Geſchoͤpfe zu betrachten. Ich ſage Ihnen fuͤr Ihr Zutrauen vielen Dank; ſolche Aufſaͤtze ſind Wegweiſer und Leuchtthuͤr - me fuͤr andere Menſchen.

In mir iſt wieder die Sucht aufgewacht, eine kleine Reiſe zu machen, und wenn ich durch nichts gehindert werde, will ich auch die - ſe Neigung naͤchſtens befriedigen. Dann beſu -25 che ich zugleich Sie, und ihre liebenswuͤrdige Schweſter. Amalia iſt auf ein paar Tage in der Stadt geweſen, um Ihre Eltern, und ihren fleißigen Bruder zu beſuchen. In ei - nigen Monathen hoffe ich Vater zu ſeyn, und ich bin neugierig wie mich dieſe neue Wuͤrde kleiden wird.

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7. Emilie Burton an ihre Freundinn Amalie.

Liebe Freundinn, ich fuͤhle mich zum Schreib - tiſche ordentlich mit Gewalt hingezogen, um mich mit Ihnen zu unterhalten. Sie haben ſo oft Ihren Kummer in Briefen gegen mich aus - geſchuͤttet, und ich denke eben daruͤber nach, ob jetzt vielleicht an mich die Reihe iſt. Ich habe oft von Ruͤhrung reden hoͤren und ſelbſt geſprochen, aber bis jetzt iſt es nur ein Wort fuͤr mich geweſen, deſſen eigentliche Bedeutung ich erſt heute habe kennen lernen.

Schon ſeit einigen Tagen haͤlt ſich ein kran - ker armer Menſch in unſerm Hauſe auf, dem mein Bruder aus Mitleid ein klein Zimmer hat einraͤumen laſſen, weil der Gaͤrtner fuͤr ihn bat. Die Bedienten haben ihn bis jetzt ver - pflegt, und wir bekamen ihn faſt gar nicht zu ſehn, denn er hielt ſich immer auſſerordentlich ſtill und eingezogen, und jedermann im Hauſe27 glaubte, daß ſeine Krankheit vorzuͤglich in ei - ner tiefen Melancholie beſtehe.

Mein Bruder war geſtern ausgeritten und ich ſaß allein im Garten. Sie kennen die[Lau - be], in der ich am liebſten bin, wo man nur den einen ſchmalen Gang hinunter ſehn kann und allenthalben von dichten Hecken eingeſchloſ - ſen iſt. Ich las und arbeitete, und bemerkte nach einiger Zeit den Kranken, der tiefſinnig im Gange auf - und abging, bald mit[verſchraͤuk - ten] Armen ſtille ſtand und den Blick ſtarr auf den Boden heftete, bald Blumen abriß und ſie mit ſeinen Thraͤnen benetzte. Ich war auf alle ſeine Bewegungen aufmerkſam, denn aus jeder ſchien ein tiefer Kummer zu ſprechen. Ich weiß ſelbſt nicht, auf welche wunderbare Weiſe mein Herz in mir bewegt ward, es war mir ganz wie bey einer guten Tragoͤdie zu Muthe, wo ein unbekannter Elender unſre ganze Theilnah - me an ſich reißt.

Ich konnte es nicht unterlaſſen, ich mußte aufſtehn und ihm naͤher treten. Er ſchien be - wegt und erſchreckt, als er mich erblickte, er wußte nicht, ob er gehen ſollte, oder bleiben. Ich redete ihn freundlich an, um ihn uͤber ſei -28 nen Kummer zu troͤſten. Er antwortete und jedes Wort enthielt ein tiefes Gefuͤhl ſeines Ungluͤcks, mit jeder Antwort ward meine Ruͤh - rung groͤßer und ich konnte am Ende meine Thraͤnen nicht verbergen.

Was iſt es doch, was unſer Herz oft ſo ge - waltſam zuſammenzieht? Wer kann jene Gefuͤh - le beſchreiben, die wir Ruͤhrung nennen, und wer kann ihre Entſtehung begreifen? Wenn das Mitleid in unſer Herz eintritt, o Freun - dinn, dann breitet es ſich gewaltſam wie mit Engelſchwingen darinn aus, daß unſer armes irdiſches Herz erzittert und ſich zu klein fuͤr den goͤttlichen Fremdling fuͤhlt, dann moͤchten wir in dieſem ſchoͤnen Augenblicke ſterben, weil wir empfinden, daß unſer voriges Leben kalt und duͤrr dagegen war, weil wir es wiſſen, daß die Zukunft nach dieſem ſchoͤnen Augenblicke nur leer und nuͤchtern ſeyn wird: wir moͤchten ganz in wolluͤſtigen Thraͤnen zerfließen, wir koͤn - nen uns nicht daruͤber zufrieden geben, daß wir nach dieſer Seeligkeit noch leben ſollen. Ach das Herz begehrt zu brechen, und die Seele den Flug aufwaͤrts zu nehmen, nein, ich kann keine Worte fuͤr dieſe Gefuͤhle finden, ob29 mir gleich auch jetzt die Augen voll von großen Thraͤnen ſind. Kann es denn wirklich Men - ſchen geben, die nie das Mitleid empfunden haben, die nie Thraͤnen vergoſſen? O denen ſey es erlaubt, die Unſterblichkeit ihrer Seele zu bezweifeln, ihnen ſey es vergoͤnnt, die Men - ſchen zu haſſen, denn ſie muͤſſen es nicht be - greifen koͤnnen, warum man ſie liebt.

Ich kann nicht dafuͤr, liebe Freundinn, daß ich hier deklamirt habe, denn meine ganze See - le hat ſich in mir aufgethan. Sie kennen ja auch dieſe zarten Regungen des Herzens, Sie werden mich verſtehen, und mich keine Schwaͤr - merinn nennen. Mit Maͤnnern kann man uͤber - haupt nicht ſo ſprechen, ſie ſind viel zu ſehr in die Geſchaͤfte des Lebens verwickelt, um ihre Gefuͤhle rein und hell in ihrem Buſen zu behal - ten, ſie handeln und denken und eben dadurch wird alles uͤbrige in ihnen verdunkelt. Nur der Mann von dem ich Ihnen erzaͤhlen wollte, und den ich beynahe ganz vergeſſen haͤtte, nur er, vielleicht unter ſeinem Geſchlechte der Ein - zige, iſt faͤhig mich ganz zu verſtehn, aber er kommt aus der Schule des Ungluͤcks und der30 Leiden, die dem Herzen die verlohrne Menſch - lichkeit wiedergeben.

Zeigen Sie Niemanden dieſen Brief, liebſte Freundinn, denn er iſt nur fuͤr Sie allein ge - ſchrieben, jedes andre Auge wuͤrde ihn entwei - hen und nur uͤber meine Schwachheit ſpotten. So wenige Menſchen verſtehen es, froͤhlich zu ſeyn, und noch weit weniger zu trauern, der Schmerz redet ſie in einer himmliſchen Sprache an und ſie koͤnnen nur mit ihren unbeholfenen, irdiſchen Toͤnen antworten. Wer ſich freuen oder wer weinen will, ziehe ſich ja zu Blumen und zu Baͤumen zuruͤck.

Der Unbekannte redete ſehr herzlich und bald ſchien mir ſeine Sprache ſo bekannt. Es kamen wunderbare Erinnerungen in meine See - le; ich betrachtete ihn genauer und auch ſeine Geſichtszuͤge ſchienen mir nun nicht mehr fremd. O Amalie, welche Empfindung ergriff mich, als ich in dem armen Verſtoßenen, in dem kran - ken Bettler einen alten, wohlbekannten Freund von mir entdeckte, und wie er ſich mir nun ſelbſt zu erkennen gab und viel von den Men -31 ſchen und ihrer Grauſamkeit ſprach, wie Thraͤnenguͤſſe aus ſeinen Augen ſtuͤrzten und er zu meinem Fuͤßen ſank und um Vergebung fleh - te, o Freundinn, ich wußte nicht, ob ich lebte, oder todt ſey, ob ich mich nicht ploͤtzlich im Lande der wunderbarſten Traͤume befinde, ach, ich kann immer noch nicht zu mir ſelber kommen.

Seinen Nahmen darf ich Ihnen noch nicht nennen, ſo wie er auch unſerm ganzen Hauſe ein Geheimniß iſt, aber bald, bald will ich Ih - nen alles aufloͤſen, und Sie werden eben ſo ſehr erſtaunen. Alle Gegenſtaͤnde flimmern mir ſeit dieſem Augenblicke vor den Augen, ich kann nichts recht feſt angreifen, und mein Ge - muͤth iſt zu den ſeltſamſten Vorfaͤllen und Ver - wandlungen vorbereitet. Meine Augen wollen unaufhoͤrlich weinen und jeder freundlich lachen - de Mund ruͤhrt mich innig: eine große Weh - muth hat mir alle Gegenſtaͤnde der Welt in die Ferne geruͤckt und der Schreck beym Erkennen zittert immer noch in mir fort.

Wunderbar gehn die Schickſale und Leiden der Welt und[noch] nie iſt mir dieſer fuͤrchterli -32 che Gang ſo deutlich vor die Augen getreten. Ich habe noch wenig gelitten, und ich moͤchte nun fuͤrchten, daß ich noch viel zu leiden habe.

Sehn Sie, liebe Amalia, ſo melancholiſch hat jener Ungluͤckliche Ihre Freundinn gemacht; der ganze Brief iſt ein Beweis von der Span - nung meiner Phantaſie. Leben Sie recht wohl und gluͤcklich.

8.33

8. Karl Willmont an Mortimer.

Ich habe doch hier, bey aller meiner Philoſo - phie manche ungeduldige Stunde, und ich glau - be, ich habe ſo gut wie jeder andre Verliebte ein Recht dazu. Ich will verſuchen, ob ich mich dadurch zerſtreuen kann, wenn ich an Dich einen Brief ſchreibe.

In den erſten Tagen kam es mir ſo auſſer - ordentlich leicht vor, von Emilien entfernt zu ſeyn, daß ich ordentlich im Stillen wuͤnſchte, man moͤchte mir eine ſchwerere Probe auflegen. Es ging mir grade wie dem Kranken, der eine gefaͤhrliche Kriſis uͤberſtanden hat, ſich in den erſten Tagen nach dieſer ſchon fuͤr geneſen haͤlt, und ſich nicht genug daruͤber wundern kann, wie ihn die uͤbrigen Menſchen noch bedauren: aber bald fuͤhlt er die Krankheit und Mattig - keit in allen ſeinen Gliedern von neuen, er wird von neuem ungeduldig und vergißt die ſchmerzhaften Tage gaͤnzlich, die jetzt hinter ihm liegen. Du wirſt mir wenigſtens zugeben,Lovell. 3r Bd. C34daß der Menſch immer bey dieſer kurioſen Ein - richtung ſeiner Natur die herrlichſten Urſachen hat, unzufrieden zu ſeyn.

Wie unermeßlich lang kommt mir jetzt oft bey meinen Arbeiten ein Bogen vor, den ich vollſchreiben ſoll, da er mir in den erſten Tagen nur wie ein Spatziergang war. Alle dummen und klugen Streiche laufen in der Welt doch wahrhaftig auf eins hinaus. Du nennſt es nun ſelbſt einen vernuͤnftigen Plan, daß ich beym Miniſter angeſtellet bin, und wie wenig hab 'ich daran gedacht, als ich mich anſtellen ließ? Wahrlich, ich ließ mich eben mit der phlegma - tiſchen Unbefangenheit zu ihm ſchleppen, als waͤre die Reiſe nach einem Alehouſe gegangen; meine allerdummſten Streiche haben mir weit mehr Kopfbrechens gekoſtet. Ich glaube, ich koͤnnte der edelſte und tugendhafteſte Mann von der Welt werden, ohne daß ich ein Woͤrt - chen davon wuͤßte. Lieber[Mortimer], wenn das irgend einmal der Fall ſeyn ſollte, ſo ma - che mich doch um des Himmels willen aufmerk - ſam darauf, damit ich nicht ſo in meiner Dummheit hin auſſerordentlich edel bin und ſelbſt gar keine Freude daran habe.

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Du biſt mir zum erſtenmale in Deinem Le - ben mit Deinem neulichen, ſo uͤberaus ernſt - haften Briefe ein wenig naͤrriſch vorgekommen. Seit Du ein Ehemann biſt, fuͤhrſt du einen gewiſſen altklugen Ton und uͤbſt Dich an mir zum kuͤnftigen Erzieher Deiner Kinder. Du biſt bey weitem nicht mehr ſo launigt, als ehe - dem, ich wette, daß Du jetzt nie einen Perio - den anfaͤngſt, ohne zu wiſſen, wie Du ihn en - digen willſt; und doch gefiel mir eben das ſonſt ſo ſehr an Dir, wo Du ſelbſt einen weiſen Spruch zuweilen anhubſt, ohne zu wiſſen, wie er ſchließen ſolle. Du verlierſt vielleicht nach und nach das wahre Leben und wirſt am Ende nur eine Ruine vom ehemaligen Mortimer, wenn ich Dich denn beſuche und Du hinter Deinem Tiſche mit dem ernſthaften Geſichte ſitzeſt; ſo muß ich in Gedanken alle Deine ehe - maligen Vortreflichkeiten in Dich hineinlegen, um nicht auf die Meinung zu gerathen, daß ich den leibhaftigen Grandiſon vor mir ſehe.

Aber laß uns einmahl ernſthaft ſprechen. Dein neulicher Brief kann Dir unmoͤglich ganz Ernſt geweſen ſeyn, denn was Du da von den Geſchaͤften und der Elaſticitaͤt ſagſt, iſt ſo alt -C 236fraͤnkiſch, ſo philoſophiſch und ſo unwahr, daß ich beynahe Luſt haͤtte, Dir alle meine Geſchaͤf - te zu uͤbertragen, damit Du es ſelber mit Haͤn - den griffeſt, wie ſehr Du gelogen haſt. Du haſt in Deiner laͤndlichen Ruhe gut ſprechen, aber wenn Du nur die langweiligſten, unbe - deutendſten Sachen mit einer Emſigkeit und Genauigkeit abſchreiben muͤßteſt, als wenn dar - an die Seeligkeit von zehn Maͤrtyrern hinge, wenn Du es nur ſelber fuͤhlteſt, wie bey einer ſolchen Arbeit die Waͤnde umher immer enger zuſammenruͤcken, und das Herz aͤngſtlich klopft und Du nach dem letzten Worte mit der flie - genden Feder hinrennſt, als wenn das Haus einfallen wollte. Dann holt man Athem, um es von neuem durchzuleſen, und kaum iſt man eine halbe Stunde ausgegangen, ſo findeſt Du ſchon neue Stoͤße, die auf Deine Abfertigung warten. Wo da die Elaſticitaͤt herkommen ſoll, kann ich gar nicht einſehn. Die Ge - danken im Kopfe werden immer duͤnner, und gehn am Ende gar aus; ſtatt daß ich ſonſt Stellen aus dem Triſtram Shandy auswendig wußte, uͤbe ich meine Memorie jetzt an den mancherley Titulaturen.

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Ich bin mir in manchen Stunden ſchon un - gemein abgeſchmackt vorgekommen, daß ich mir ſo viele edelmuͤthige Bedenklichkeiten ausge - dacht und Emilien nicht auf der Stelle gehei - rathet habe. Gluͤck! iſt das nicht das hoͤch - ſte Wort im Leben, unſre erſte Pflicht, ein Wort, gegen das jede Delikateſſe albern er - ſcheint? Doch ich bin einmal eingeſpannt, und ſo werde ich denn auch wohl aushalten muͤſſen.

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9. Emilie Burton an ihre Freundinn Amalie.

Ich bin auf Ihre Antwort begierig, da Ihr Herz mit dem meinigen immer ſo ſympathiſirt hat. Ach, liebe Freundinn, ich kann Ihnen nicht alles ſo ſagen, wie ich es gerne moͤchte, ich ſpare dies Vertrauen noch fuͤr eine andre Zeit auf.

Welch ein Menſch iſt jener Unbekannte, von dem ich Ihnen neulich ſchrieb! Er iſt ganz uͤber das kleinliche Leben hinuͤber, in dem ſich die gewoͤhnlichen Menſchen ſo aͤngſtlich abarbei - ten. Sein Geiſt iſt durch und durch gelaͤutert und gereinigt und er gehoͤrt nicht mehr der Er - de an. Ich kann es nicht unterlaſſen, ihn zu bewundern, ſo oft ich ihn ſehe oder ſpreche, er hat eine andre als die gewoͤhnliche Menſchen - ſprache. Wenn ich an ihn denke, geht im - mer eine innige Ruͤhrung durch meine Bruſt, ich moͤchte faſt beſtaͤndig in ſeiner Geſellſchaft ſeyn, ſein tiefes Urtheil uͤber das und uͤber je -39 nes hoͤren, und ihm mit meinem Troſte den Gram etwas aus ſeinem duͤſtern Angeſichte ſchmeicheln.

Niemand kennt ihn hier und Niemand weiß daß ich ihn kenne, ich muß Ihnen ſeinen Nah - men auch noch verhehlen, weil es ſein Wille ſo iſt und weil er gegruͤndete Urſachen dazu hat.

Es iſt ſo etwas Wunderbares um ihn her, daß man ſich in ſeiner Gegenwart wie in eine andre Welt entruͤckt fuͤhlt. Alle, ſelbſt die all - taͤglichſten Ideen, erhebt er zur hoͤchſten Poeſie, ſo daß er wie ein fremder Geiſt auf dieſer Er - de wandelt. Wenn ich dabey an ſein Ungluͤck denke, ſo kann ich nicht muͤde werden, von ihm zu ſprechen, mich freut es, daß er mich ſeine Freundinn nennt, da ihn kein Weſen auf dieſer Erde weiter liebt. O, denken Sie ſich den ſchrecklichen Gedanken: ich bin das ein - zige Geſchoͤpf, das ſich fuͤr ihn intereſſirt!

Wozu ſind die Millionen Menſchen auf die - ſer Erde, da ſo wenige nur Einen finden, der ſie liebt! Ach, ſie koͤmmt mir wuͤſt und ent - voͤlkert vor, wenn ich daran recht lebhaft den - ke, ſie iſt nur eine große Erdmaſſe, voller ſtum - men Leichen, die in und auf ihr ſind. Sind40 ſich alle die Armſeeligen ſelber genug? Haben ſie kein Beduͤrfniß noch Liebe und Mitempfin - dung? Sie ſterben alle, ohne gelebt zu ha - ben, ſie ſind Leichen, die ſich bewegen, und denn auch die Faͤhigkeit zu eſſen, an die Na - tur abgeben und ſich hinlegen und verweſen.

Nennen Sie mich nicht truͤbſinnig, liebe Amalie, denn es iſt ſo: Der ganze Lebenslauf des Unbekannten enthaͤlt nur dieſe Wahrheit. Leben Sie recht froh und recht gluͤcklich!

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10. William Lovell an Emilie Burton.

Hier ſitz 'ich nun, theureſte Emilie, in mei - nem[engen] einſamen Zimmer und denke und traͤume nur Sie. Mein Fenſter ſtoͤßt auf den Gang, in welchem ich ſchon damals mit Ama - lien ſo oft an Ihrer Seite ſaß Amalie, die mich vergeſſen, die mich niemals geliebt hat. Ach, Ungluͤcklicher! und Du darfſt noch klagen? Hat ſich der huldreichſte Engel nicht deiner mit einem himmliſchen Mitleid an - genommen? Kannſt Du von dieſer irrdiſchen Erde noch mehr Gluͤck, noch eine hoͤhere Won - ne erwarten?

Ach, Emilie, immer, immer moͤcht 'ich bey Ihnen ſeyn und den ſuͤßen Ton Ihrer troͤſten - den Stimme hoͤren, immer den ſanften Augen begegnen, die dem Verſtoßenen, dem Elenden ſo koſtbare Thraͤnen ſchenkten. Die ganze Welt verkennt und verlaͤßt mich. Ihr harter Bruder hat mir ſeine Freundſchaft aufgekuͤndigt. O, mag er ſie zuruͤcknehmen, wenn ich nur die Zu - neigung ſeiner goͤttlichen Schweſter behalte. 42 Was kuͤmmern mich die Augen der uͤbrigen Welt, wenn mich nur die Ihrigen bemerken und nicht zuͤrnend auf mich blicken!

Sie kennen, Sie dulden und lieben den Menſchen, o das hab 'ich daran erfahren, daß Sie mich nicht verſtießen, als ich die freche Erklaͤrung wagte, als ich Ihnen entdeckte, war - um ich verkleidet dieſes Haus betreten habe. O Himmel, was kann ich denn auch fuͤr die heißen Empfindungen meines Herzens? Iſt es ein Verbrechen, Sie zu lieben? O ja ſo bin ich ein Verbrecher, verachten und haſſen Sie mich und mit dem Ende dieſes unertraͤg - lich ſchweren Lebens iſt meine Suͤnde abgebuͤßt. Aber nein, Sie haben mir verziehen, Sie haben ſich meines Elendes mit der Guͤtigkeit eines Engels erbarmt, Sie wollen mich gegen meine wilde Verzweiflung ſchuͤtzen, Sie haben es mir zugeſagt, o warum bin ich denn nicht froh und gluͤcklich? Weil ich immer noch an dieſem Gluͤcke zweifle, weil ich in die - ſem Leben gelernt habe, daß uns alle Hoffnun - gen hintergehn, weil ich es nur fuͤr eine ſchuld - loſe Verſtellung halte, um mich auf einige Ta - ge zu troͤſten. O Emilie! bedenken Sie, wie43 ich denn zu meinem gewoͤhnlichen Leben wieder erwachen werde!

Warum ſollte aber nicht ein Ungluͤcklicher in ſeinem duͤrren Lebenslaufe, unter den unzaͤhli - gen leeren Larven, die ihm begegnen, auch ein - mal einen Bothen des Himmels antreffen, der ihm von oben her Frieden verkuͤndigt? Ach, mein ganzes verſchloſſenes, verwelktes Herz wuͤrde ſich wieder wie eine Blume aufrichten, die ein warmer Fruͤhlingsregen trifft. Ein ſchoͤ - ner Regenbogen wuͤrde den Horizont meines dunkeln Daſeyns umarmen, und Hoffnung, Lie - be, Gluͤck und Seeligkeit wuͤrde aus jedem Sterne der Nacht, wie aus einem goldnen Au - ge auf mich herniederblicken.

Wenn ich leben ſoll, ſo muͤſſen Sie mir die - ſe Hoffnung nicht nehmen; wenn ich laͤcheln ſoll, o ſo muͤſſen Sie ſie erfuͤllen.

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11. Emilie Burton an William Lovell.

Ich halte es fuͤr meine Pflicht, Sie zu beru - higen; doch nein, das Wort iſt zu kalt und aͤngſtlich. Ich bin es meinem klopfenden Herzen ſchuldig: ich kann nicht anders, wenn ich auch wollte. Aber ich will nun ſo und nicht anders. Koͤnnen Sie einen groͤßern Beweis fordern, als daß ich Ihnen ſchreibe, daß ich Ihr Geheimniß verſchweige, daß ich gern und geheim mit Ihnen ſpreche? Ach, koͤnnten Sie alle die Thraͤnen ſehn, die ich um Ihrent - willen vergieße, Sie wuͤrden nicht laͤnger zweifeln.

Und darf ich denn mehr thun? Hab 'ich nicht ſchon zu viel gethan? O ungluͤcklicher Lovell, Sie haben Ihre Emilie vielleicht mit ungluͤcklich gemacht; Sie haben vielleicht den ſchwarzen Saamen in dieſem friedlichen Hauſe ausgeſtreut, und dann, was ſoll ich denn thun? Was ſoll ich denn ſagen?

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O beruhigen Sie ſich und leſen Sie nicht alle Worte zu ernſthaft und aufmerkſam. Mir iſt es, als wenn mein Herz in mir ſprin - gen wollte, ich kann kaum mehr Athem ſchoͤ - pfen.

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12. William Lovell an Emilie Burton.

Und ich ſoll nicht ſeufzen und klagen? Nicht trauern und verzweifeln? Mehr hat Emilie gethan als ſie durfte? O dann wird es ſie auch gereuen, dann, o dreymal ungluͤcklicher Lovell, dann iſt auch kein Herz auf der wei - ten Erde das fuͤr dich ſchluͤge! Ach nein, denn das einzige, das uͤbrig war, bereut es, daß es gewagt hat, dich zu bemitleiden!

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13. Emilie Burton an William Lovell.

Ich fuͤrchtete Ihre Klagen und Ihren bethraͤn - ten Blick, das war's, warum ich Sie heute gern vermeiden wollte. Gott! Und nun Ihr Geſpraͤch im Garten! O ich fuͤhle noch das Erſtarren in allen meinen Adern. O Lovell, Sie haben mich heut viel dulden laſſen, ich ſagte es, Sie machen mich zur Gefaͤhrtinn Ih - res Ungluͤcks.

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14. William Lovell an Emilie Burton.

O wuͤrden Sie die Gefaͤhrtinn meines Un - gluͤcks! Wie ſchnell wuͤrde der arme Lovell der frohſte und gluͤcklichſte unter den Menſchen wer - den! Aber nein, Sie haben ſich ganz deut - lich von mir zuruͤckgezogen; o warum hofft 'ich denn auch noch auf Freuden? Bin ich nicht langſam zum hoͤchſten Elende gereift und nun ſollte ſich ploͤtzlich alles umwandeln? Nein, ich will fort, fort ohne Troſt und Ab - ſchied, uͤber Niemand ſoll mein Elend zur Haͤlf - te kommen; beſſer daß ich vergehe!

O daß ich nie hieher gekommen waͤre! Daß ich nie die letzte Blume gefunden haͤtte, die ein hoͤhniſcher Fuß zertritt! Leben Sie wohl! Ach wohin ſoll ich mich wenden? Wohin? Der Tod wohnt in allen Weltge - genden, fuͤr ein Grab iſt die Erde noch allent - halben gut genug!

15.49

4. William Lovell an Roſa.

O Roſa! was, was ſind die Menſchen? Warum bedauerte ich je Roſalinen und Pietro? Vergaß mich Roſaline, und allen ihren Schmerz nicht auf einen Tag in Ihren Armen? Ama - lie hat mich vergeſſen, und iſt an Mortimer verheiratet, und Emilie, die Schweſter des jungen Burton Doch laſſen Sie mich erſt zu Athem kommen, denn ich muß hier aus vol - lem Halſe lachen; O! gewiß, mein Vater iſt nicht aus Gram uͤber mich geſtorben.

Eduard beſitzt ganz ruhig meine Guͤter, ohne daß ihm ſein zartes Gewiſſen einen Vor - wurf daruͤber macht. Hat er ſie doch in einem rechtmaͤßigen Prozeſſe gewonnen. O! um die - ſe Menſchen ſollte man ſich noch haͤrmen? Man ſollte fuͤrchten ihnen Unrecht zu thun? O, nein! ich bin nun ganz ruhig daruͤber.

Doch ich wollte Ihnen meine Lage ſchildern, ich wollte Ihnen von Emilien erzaͤhlen.

Ich ſtellte mich als ein verarmter Kranker,Lovell. 3r Bd. D50der Gaͤrtner ſprach von mir mit Burton, und dieſer ließ mich in das Schloß bringen, mir ein Zimmer anweiſen, und mich mit Eſſen und Trin - ken verſorgen. Emilie kannte ich ſchon etwas aus vorigen Zeiten, und ich beſchloß mit ihr einen Verſuch zu machen. Ich konnte darauf rechnen, daß ſie vorzuͤglich neugierig war, wer ich ſeyn moͤchte, ich ſuchte daher ihre Aufmerk - ſamkeit noch mehr auf mein ſtilles, melancholi - ſches Weſen zu richten. Es gelang mir. Ihr Bruder war an einem Tage abweſend, und ich ſehe ſie allein nach dem Garten gehen, und ſich in ihre Lieblingslaube ſetzen. O Roſa! Sie hat ſich wirklich ſehr verſchoͤnert, ſeit dem ich ſie nicht geſehen habe; ihr Wuchs iſt ſehr gra - zioͤs, und ihr Auge klug und ſanft.

Sie hat einen gewiſſen Verſtand, den ſie be - ſonders an ſich ſchaͤtzt; ſie hat viele Buͤcher geleſen, und manches daruͤber gedacht, daher iſt ſie im Leben ihrer Sache immer ſehr ge - wiß; ſie meinet daß es keine kritiſche Faͤlle gebe, in denen man zweifeln koͤnne, wie man ſich zu betragen habe. Ich brauche Ihnen, Ro - ſa, wohl nicht zu ſagen, daß dieſe Geſchoͤpfe grade am leichteſten zu gewinnen ſind, daß ſie51 ſelber jedem Plane entgegen laufen, und eben durch ihre Weisheit einfaͤltiger ſind, als die Duͤmmeren.

Ich ging truͤbſinnig in dem Gange auf und ab, der an ihre Laube ſtieß, und ſie bemerkte mich ſehr bald. Sie konnte ihre Neugierde nicht unterdruͤcken, ſondern ſtand auf und trat mir naͤher. Unſer Geſpraͤch nahm eine ſehr ſchwer - muͤthige Wendung, und ich ſagte vieles uͤber die Welt und uͤber die Menſchen, was ich wirk - lich ſo meinte: meine Rolle ward mir alſo da - durch um vieles leichter. Ich bemerkte daß ſie weinen mußte, und als ſie auf die ſtaͤrkſte Art geruͤhrt war, entdeckte ich ihr, wer ich ſey.

Ich konnte auf ihrem Geſichte bemerken, daß die wunderbarſten Empfindungen ſchnell in ih - rem Innern wechſelten. Sie war auf eine ſol - che Ueberraſchung, auf den Schmerz der darinn lag, nicht vorbereitet; um ſie voͤllig zu verwir - ren, ſuchte ich ſie daher noch einmal, und am kraͤftigſten zu uͤberraſchen.

Ich warf mich ploͤtzlich zu ihren Fuͤßen nie - der, und geſtand ihr, daß zu dieſer Verkleidung, zu meinem Aufenthalt im Schloſſe, mich allein eine heftige Liebe zu ihr vermocht habe; dießD 252[ſolle] mein letzter Verſuch ſeyn, ob es irgend ein menſchliches Herz gebe, daß ſich meiner noch annehme, um mich mit dem Leben, und dem Schickſale wieder auszuſoͤhnen. Sie war ſchoͤn, und wie in einem Schauſpiele, ſpielte ich meine Rolle, auf eine wunderbare Weiſe begeiſtert, fort; es gelang mir alles was ich ſagte, ich ſprach mit Feuer und doch ohne Affektation. Sie ſtand unbeweglich vor mir, und wußte im - mer noch nicht, wie ſie alles in ihrem Kopfe reimen ſollte.

Haben Sie mich nicht gehoͤrt, ſchoͤnſte Emi - lie? rief ich aus.

Sie fuhr auf, und gab eine unverſtaͤndliche Antwort, ich erhob mich, und ſetzte meine Klagen fort. Sie erweichte ſich ſehr fuͤr mich und mein Ungluͤck traf ihr Herz. Ich klagte uͤber Amalien und ihren Bruder, uͤber die gan - ze Welt, die mich von ſich geſtoßen habe; ich nahm meine Zuflucht zu ihrem weichen und zaͤrt - lichen Herzen, und ſchwur, daß ſie mich nicht verwerfen koͤnne, ſondern daß ſie mitleidiger ſeyn wuͤrde, als die uͤbrige Welt.

Nie, Roſa, habe ich ſo gut geſprochen, und nie ſo tief empfunden. Es war als wenn ſich53 mein ganzes Herz in mir eroͤffnete, und ich muß - te uͤber mich ſelbſt erſtaunen. Ach was iſt Wahrheit und Ueberzeugung im Menſchen! Ich war jetzt von allem uͤberzeugt was ich da ſagte, ich war ſchwermuͤthig, und in ſie verliebt, ich haͤtte mich wirklich in dieſem Augenblicke ermor - den koͤnnen. O! man rede mir doch kuͤnftig nicht von den Menſchen die ſich verſtellen. Was iſt die Aufrichtigkeit in uns?

Emiliens Ruͤhrung ward immer heftiger, und ſie legte am Ende ihre Hand in die meinige; ſie hatte meinen Worten geglaubt, und ihr Herz neigte ſich mir unwiderſtehlich entgegen. Sie ſagte mir: daß Sie mich troͤſten wolle, wenn ſie mich troͤſten koͤnne, daß ſie mich gern fuͤr mein Ungluͤck entſchaͤdigen wolle, wenn es in ih - rer Gewalt ſtehe. Die ganze Scene ſchloß ſich in der Manier wie ſie angefangen hatte.

Jetzt ſuchte ich ſie nun immer mit den Au - gen: wenn es moͤglich war, ſprach ich ſie allein im Garten, da wir aber oft gehindert wurden, ſuchte ich ihr ein kleines Billet zuzuſtecken. Es ward beantwortet, wie ich gar nicht gehofft hatte; nun hatte ich die deutlichſten Proben ih - rer Liebe. Das Billetſchreiben ging fort, und54 meine Schwermuth machte, daß ich ihr nie we - niger intereſſant vorkam.

Geſtern war ſie ganz allein im Garten, denn ihr Bruder war ausgeritten, um jemand in der Nachbarſchaft zu beſuchen. Es war ge - gen Abend, und ich ſuchte ſie auf. Wir gin - gen auf und ab, und unſer Geſpraͤch ward im - mer hitziger, und verwickelter; wir kamen zur Laube zuruͤck, der Mond ſchien, und wir ſetz - ten uns auf die Raſenbank nieder.

Sie war ſehr weich geſtimmt, und ich be - merkte die Thraͤnen deutlich, die heimlich aus ihren Augen troͤpfelten; raſch umarmte ich ſie, und kuͤßte ihre Thraͤnen weg, dann fielen meine Lippen auf ihren zarten Mund. Sie wußte nicht, was ſie antworten ſollte, ſie war voͤllig in meiner Gewalt, davon war ich innig uͤber - zeugt. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schul - ter, und fing laut an zu weinen, dann umarmte ſie mich freywillig, und druͤckte einen herzlichen Kuß auf meine Lippen. Ich liebte ſie innig in dieſer Minute, ich druͤckte ſie an meine Bruſt, und unſere Seufzer begegneten ſich. Ungewiß war alles umher und in mir, ich wußte nicht ob ich Amalien, oder ſie, oder55 Roſalinen in den Armen hielt; der ganze Sturm meiner Sinnlichkeit wachte in mir auf, und ſie war gefallen, als ſie es noch kaum bemerkt hatte.

Als ſie wieder ihrer Sinne maͤchtig wurde, wußte ſie nicht, ob ſie mir Vorwuͤrfe machen, oder ob ſie weinen ſollte. Ich troͤſtete ſie durch Kuͤſſe, wir gingen ſtumm Hand in Hand aus dem Garten, am Eingange kuͤßte ich ſie noch einmahl, dann ging ſie fort.

Ich ging im Mondlicht durch die dicht be - laubten Gaͤnge; jetzt fiel mir ein, daß ſie mit dem jungen Wilmont ſo gut wie verlobt ſey. Ich wußte nicht, ſollte ich lachen, oder heiße,[brennende] Thraͤnen vergießen: mein Mund zog ſich zum hoͤhniſchen Laͤcheln, und große Thraͤ - nen fielen aus meinen Augen.

Iſt das der Menſch, und der edlere Menſch? Welch elendes, veraͤchtliches Gewuͤrme! Was mag ſie jetzt denken, wenn ſie uͤberlegt, wohin ſie von ihrer regen Empfindſamkeit gefuͤhrt iſt?

Ich koͤnnte meine Eitelkeit ſehr naͤhren, und mir einbilden, ſie liebe mich ganz unbeſchreib - lich, und nur dieſe graͤnzenloſe Liebe habe den Fall ihrer Tugend verurſacht. Aber die Schwaͤ - che des Menſchen allein hat ſie dorthin getrie -56 ben. Und wenn ſie mich auch liebte, wie koͤnnt 'ich eitel darauf werden? Denn was iſt Liebe? Ein voruͤbergehend dunkel Gefuͤhl, und ein Wort. Sie liebt vielleicht auf ei - nige Tage den Begriff des Ungluͤcklichen in mir, und haßt mich, wenn ſie mich naͤher kennen lernt.

Burton bringt mich auf, ſo oft ich ihn nur ſehe; ſchon mehr als einmal war ich im Begriffe, mich ihm zu entdecken, um meiner Hitze nur freyen Lauf zu laſſen, aber bald, bald muß ich ihn fuͤr das ſtrafen, was er gegen mich verbro - chen hat.

Leben Sie wohl! Da ich dieſen Brief jetzt nicht gut fortſchicken kann, ſo will ich ihn ſo - lange liegen laſſen, bis Sie ihn zugleich mit einem zweiten erhalten.

57

16. Eduard Burton an Mortimer.

Wie ſoll ich dieſen Brief anfangen, mein Freund, wie ſoll ich ihn endigen? Noch nie bin ich auf dieſe Art erſchuͤttert geweſen, noch nie ſo ſehr aller meiner Beſinnung beraubt. Ich ſitze hier einſam auf meinem Zimmer und weine, und bin noch immer erſtarrt. Daß ich das erleben mußte! Haben Sie Geduld mit mir, lieber Mor - timer, ich kann mich noch immer nicht troͤſten.

Seit einigen Tagen hatte ich einen armen Kranken in meinem Hauſe aufgenommen, der mich durch einem meiner Leute um eine Frey - ſtaͤtte auf einige Tage hatte bitten laſſen. Man beſchrieb ihn mir als ſo ſchwermuͤthig, und un - gluͤcklich daß ich mich lebhaft fuͤr ihn intereſſirte.

Ich ließ mir heute am Morgen, wie ge - woͤhnlich, ein Glas Wein vom Bedienten brin - gen, er ſtellte es hin, und ich wollte eben zu fruͤhſtuͤcken anfangen, als der alte Willy ploͤtz - lich bleich und mit weinenden Augen herein - ſtuͤrzte, und mich beſchwur den Wein nicht an -58 zuruͤhren; ich wußte nicht was ich ſagen ſollte; und Willy ſtand immer noch wie in einer Be - geiſterung vor mir.

Ich fragte ihn endlich: was ihm fehle; ich glaubte er ſey wahnſinnig geworden, er wollte nicht beſtimmter antworten, er zitterte am gan - zen Koͤrper, er ſtammelte und vermochte nicht deutlich ein Wort hervor zu bringen. In den Wein iſt etwas hinein geſchuͤttet! rief er endlich laut. Ich weiß ſelbſt nicht, wie mich die Verwirrung darauf brachte, daß ich ihn fragte: ob er es gethan habe? Aber ſein Zittern, ſeine Angſt, ſeine bleiche Geſtalt ſchie - nen mir ein ſolches Geſtaͤndniß vorzubereiten. Da weinte der alte Mann, und ſchluchzte laut, ſein Gemuͤth ward durch dieſen Argwohn noch verwirrter; ehe ich es bemerkte faßte er zitternd nach dem Glaſe, und trank es aus.

Seine Kraͤfte verließen ihn, er ſank in ei - nen Stuhl; ich rief um Huͤlfe, und es waͤhrte nicht lange, ſo offenbarten ſich die Wirkungen eines Giftes. Er war faſt ohne Beſinnung, und wollte doch noch immer nicht ſprechen; ſein Bruder warf ſich auf ihn, und bedeckte ihn mit Thraͤnen und Kuͤſſen, alle weinten und59 drangen in ihn, daß er reden ſollte. Ich konn - te bei dieſem Anblicke meine Thraͤnen nicht zu - ruͤckhalten, ich konnte nicht begreifen, wie ſich das Raͤthſel aufloͤſen wuͤrde. Wie von einer hohen Angſt gedruͤckt, rief er nun ploͤtzlich den Nahmen Lovell aus. Ach! und der Ton ſchnitt durch mein Herz, er ſagte ſeinem Bruder ein Paar Worte heimlich, alle erſtarrten jener fremde verſtellte Kranke, Niemand anders als Lovell war es, er hatte den Wein vergiftet.

Was ich in dieſer Minute empfand kann ich nicht beſchreiben. Wie duͤrftig ich mich ploͤtz - lich fuͤhlte, daß ich ein Menſch war! Ach, Mortimer es giebt Stunden, im Leben, deren Hefen ſelbſt das hoͤchſte Gluͤck nicht aus dem Herzen wieder wegſpuͤhlen kann, das fuͤhle ich jetzt innig. Mein ganzes kuͤnftiges Leben iſt durch dieſen Augenblick krank geworden; ein Pfeil iſt in meine Bruſt gedrungen, den ich nicht wieder werde herausziehen koͤnnen, ohne zu verbluten.

Es war ſchrecklich, wie dem alten Willy jetzt ſeine zu raſche That gereute, wie er dann weinte und ſchluchzte, weil er den Nahmen ſei - nes Herrn genannt hatte, und wie er dann60 wieder nicht leben wollte, wie er ſich freuete, daß er ſterben muͤßte, weil ſein Lovell die Bahn der Tugend ſo ganz verlaſſen habe. Dann phan - taſirte er wieder und war mit ſeinen Gedanken weit weg, und kam nur wieder zu ſich, um uͤber Lovell von neuem[zu] / choice > weinen.

Wie wenn ich aus einem Traume erwacht waͤre und die Begriffe noch nicht zu ordnen wuͤßte, ſo ſtand ich unter ihnen, ich konnte jetzt nicht an die Menſchheit, nicht an die Freund - ſchaft glauben. Ach! und mein Kopf ſchwin - delt noch jetzt.

Endlich verlangte der ſterbende Willy ſeinen Herrn noch einmahl zu ſprechen. Man hohlte ihn. Alles im Zimmer ging mit mir herum. Ich ſah wie Willy niederſank, ſich auf ſeine Hand beugte und ſie kuͤßte, er war es, ich erkannte ihn, und taumelte aus dem Zim - mer und fand mich dann auf ein Sopha nie - dergeſunken.

Wie ſchwer mein Herz in mir pochte! Mir ward leichter, als die Thraͤnen endlich ausbrachen. Aber ganz leicht wird mir nie wieder werden.

61

Willy iſt geſtorben.

Ich habe die Vorhaͤnge herunter gelaſſen denn das Licht beleidigt meine Augen. Mein Kopf ſchmerzt heftig. Ich fuͤhle ein inniges Mitleiden mit mir ſelber, und doch moͤchte ich mich haſſen und verabſcheuen.

Iſt es denn moͤglich: daß dies aus dem Menſchen werden kann? O Freund! ich moͤchte ſterben. In einzelnen Sekunden fuͤh - le ich eine ſeelige Ruhe durch mein Herz ge - hen, und dieß habe ich ſchon einige mahl fuͤr den Anfang des Todesſchlafes gehal - ten.

Aber ich muß mich ermannen. Ich muß den ganzen Vorfall meiner ſchwachen reitz - baren Schweſter zu verbergen ſuchen; ich muß fuͤr Lovells Sicherheit bedacht ſeyn! Wo werde ich den Muth hernehmen, nur die Augen aufzuſchlagen? Aber es muß ſeyn.

Leben Sie recht, wohl lieber Freund. Was iſt ſo ploͤtzlich aus mir und meinem Hauſe geworden!

Ach! die arme Amalia! Es iſt wohl am beſten, Sie verſchweigen ihr alles; wie62 ſoll ihr Herz das ertragen, da ſchon das mei - nige bricht? Ich wuͤnſche manchmal, ich haͤtte das Gift getrunken, dann waͤre mir jetzt beſſer.

63

17. Eduard Burton an Mortimer.

Mein Brief hat Sie gewiß recht ſehr erſchreckt; auch Sie muͤſſen truͤbe und melancholiſch ſeyn, da Sie ihn auch gekannt haben, da auch Sie ſein Freund waren. Jetzt bin ich etwas mehr geſammelt, ich habe ihn geſprochen, und ich zwinge mich ruhiger zu ſeyn.

Ich ging auf ſein Zimmer, er war fin - ſter und in ſich verſchloſſen, er wollte mich nicht anſehen. So mußt 'ich ihn nach ſo langer Zeit wieder finden!

Lovell! rief ich unwillkuͤhrlich aus.

Was verlangen Sie, ſagte er ſchwer und mit einem unterdruͤckten Tone.

Es fiel nun eine dichte Scheidemauer zwi - ſchen uns. Ich hatte ihn nicht ſo erwartet. Er war mir ploͤtzlich ganz fremd geworden, und ich konnte unmoͤglich darauf kommen, ihn um64 ſeine Abſichten zu fragen, und um die Gruͤnde ſeiner Verkleidung oder Niedertraͤchtigkeit.

Dies iſt alſo der Menſch, indem mein Geiſt den Bruder ehemals zu entdecken glaubte; dieſem wollt 'ich mein ganzes Leben wi[d]men?

Er hat ſich außerordentlich veraͤndert, er iſt bleich und entſtellt, ſein Auge unruhig, ſein Blick ſtarr, ganz das Bild eines Menſchen der mit ſich ſelber zerfallen iſt.

Willy's Tod iſt ruchtbar geworden, und ich muß ihn noch in dieſer Nacht fortzuſchaffen ſuchen, um ihn den Gerichten und dem Gefaͤng - niſſe zu entziehen.

Waͤr 'es zu verwundern wenn ich in dieſer Situation alle Beſinnung[verloͤhre]? Ach ich ſagte Ihnen ich waͤre ruhiger, ich bin blos noch verwirrter, und das hat meinen ſcharfen Schmerz etwas abgeſtumpft.

So iſt meine Jugend wiedergekehrt, ſo ſind meine Traͤume in Erfuͤllung gegangen! Er ſollte hier nahe bey mir in Waterhall woh - nen, wir wollten uns faſt taͤglich ſehen, wir wollten nur Ein Leben genießen, und gleichſam mit Einer Seele haushalten, und nun! War - um hat das Schickſal alles ſo umgeaͤndert, undmir65mir nichts, gar nichts uͤbrig gelaſſen? Wenn meine Augen noch weinen koͤnnten, wuͤrd 'ich unaufhoͤrlich weinen. Und koͤnnten denn mei - ne Thraͤnen alles wieder umaͤndern?

Haben Sie Geduld mit mir, lieber Morti - mer. Ich weiß nicht, welchen Eindruck alle dieſe Vorfaͤlle auf Sie gemacht haben.

Lovell. 3r. Bd. E66

18. Eduard Burton an Mortimer.

Er iſt fort; es iſt Nacht, und ich will Ihnen noch ſchreiben, weil ich doch nicht ſchla - fen kann.

Die Erde koͤmmt mir vor wie ein dunkles Reich von Schatten, wie ein Traumland, wo - rinn nichts weſentlich, nichts beſtaͤndig iſt; der Schein des Tages iſt ein betruͤgeriſches Licht, nur das Dunkel der Nacht, iſt die wahre Far - be dieſer duͤſtern Kugel. Wir ſehen dunkle Schatten in der Ferne ſtehen, und nennen ſie Freundſchaft und Liebe, als Fremdlinge ziehen ſie voruͤber, und ein ſchwaͤrzeres Dunkel folgt ihnen nach. Die Menſchen ſehen in dieſer ſchwarzen Nacht nur aus, wie eine dichtere Finſterniß, kein Strahl in ihrem Herzen, ach! kein Funke in ihrer Bruſt. Dies Gefuͤhl67 das mich jetzt durchdringt, hatten gewiß die Einſiedler, die ſich in ſchwarzen einſamen Waͤl - dern anbauten, und mit Felſen und Baͤumen die Geſellſchaft der Menſchen vertauſchten. Die ſtillſte Einſamkeit iſt mir jetzt erwuͤnſcht, der ferne Geſang der Nachtigall ſtoͤrt mein Ge - muͤth, das Rauſchen der Baͤume toͤnt mir zu froh und heiter. Ich glaube nicht, daß ich ihn wiederſehe, und wenn ich ſeine Briefe noch ein - mahl uͤberleſe, ſo ſcheint es wie ein goldener Traum in meine Seele hinein. Alles Schoͤ - ne und Poetiſche in der Natur iſt ploͤtzlich fuͤr mich untergeſunken, ich ſehe nur Tod und Ver - weſung, ich kann an keinen Edelſinn mehr glau - ben, ja ich kann meinem eigenen Herzen nicht vertrauen. Die Blumen und Kraͤuter, die Pflan - zen von denen ſich der Menſch naͤhrt, kommen mir vor wie verfuͤhreriſche Winke, wie bunte Nichtswuͤrdigkeiten, die aus der finſtern kalten Erde ein boshafter Daͤmon emporſteckt, um uns wie Kinder zutraulich zu machen; wir fol - gen nach, argwoͤhnen nichts, und werden ſo in unſer ſchwarzes, enges Grab gelockt.

E 268

Ich bin ſehr erhitzt, weil ich einige Naͤch - te nicht geſchlafen habe, und ich weiß nicht genau was ich niederſchreibe.

Um Mitternacht eroͤffnete ich Lovell's ver - ſchloſſenes Zimmer. Es war alles ſtill im Hau - ſe, die Bedienten ſchliefen, ich hatte die Schluͤſ - ſel zu mir geſteckt, und eine Laterne angezuͤn - det. Ich ſagte ihm er ſolle mir folgen, weil er in meinem Hauſe nicht mehr ſicher ſey. Er antwortete nichts, ſondern betrachtete mich mit einem duͤſtern Blicke und ſtand auf.

Wir gingen uͤber die ſchallenden Gaͤnge, und ich ſah mich zuweilen nach ihm um; ein bleicher Schein meines Lichtes fiel auf ſein Ge - ſicht, und entſtellte es auf eine wunderbare Weiſe. Ich ſchloß das Haus auf, und wie - der hinter mir zu. Der Himmel war dick und ſchwarz rund umher bezogen.

Wie im Traume ging ich mit ihm fort, keiner von uns ließ einen Laut vernehmen, wie zwey Geſpenſter ſchlichen wir durch den Garten. Es war mir wunderbar, als wir den Lauben und den Baͤnken voruͤbergingen, wo ich ſo oft mit69 ihm geſeſſen hatte; die Baͤume neigten ſich weh - muͤtig, als wir unter ihren Wipfeln hinweg - gingen. Arm in Arm war ich ſonſt hier mit Lovell auf und abgegangen, hier hatte ſich uns mit Entzuͤcken die Welt Oſſians und Shakſpears aufgeſchloſſen, hier hatte ich ihn am Morgen zuerſt geſucht, und noch der Abend traf uns in dieſen Gebuͤſchen, wenn die uͤbrigen ſchon laͤngſt zu den Zimmern zuruͤckgekehrt waren, hier hatte er mir ſein ganzes Herz enthuͤllt, und ich ihm das meinige; o! und nun gingen wir mit dicht verſchleierten Seelen nebeneinander; kein Mund oͤffnete ſich, keine Hand ſtreckte ſich nach einem Drucke aus.

Wir kamen an das Gartenthor, und ich benutzte dieſen Stillſtand, um ihm einen Wech - ſel in die Hand zu geben. Er ſagte nichts, ſon - dern ſteckte ihn mechaniſch ein. Stillſchwei - gend gingen wir nun wieder den Fußſteig im Walde hinab, die Laterne ſchoß nur einzelne bleiche Strahlen durch die ſchwarze Nacht des Forſtes, alle Baͤume ſahen ſeltſam aus. In ein zelnen Momenten grauſte mir vor der Einſamkeit, mein Herz zitterte wenn ich mir wiederhohl -70 te, daß die Geſtalt die neben mir gehe Lovell ſey.

So waren wir an die Graͤnze von Bon - ſtreet gekommen. Ich ſtand ſtill, er ebenfalls. Ich konnte ihn nicht anſehen, und nicht ſpre - chen; und doch ſchien er es zu erwarten, daß ich ihm etwas ſagen ſollte. Im Herzen arbei - teten tauſend Empfindungen durch einander, und ich wartete nur auf einen Laut von ihm, ach! um ihm um den Hals zu fallen, um zu weinen[und] ihm alles zu vergeben. Aber er blieb ſtumm, und jedes Wort blieb in mei - ne Bruſt zuruͤckgedraͤngt. Wir ſtanden im - mer noch ſtill, und die Zeit ſchien mit uns ſtill zu ſtehen, und nur auf den erſten Ausbruch der Angſt zu warten, um alles in einem raſcheren Laufe wieder einzuhohlen.

Hier muß ich zuruͤck gehen, ſagte ich end - lich mit ſchwacher Stimme, und kehrte mich um. Es war als wenn ſich die ganze Welt, und mein eignes Herz von mir abwendete, und ich ſtand wieder, und ſah nach dem ſtummen tief in ſich verſunkenen Lovell hin. Der Bru - der des Miſſethaͤters kann in der Stunde der71 Hinrichtung nicht mehr empfinden als ich jetzt fuͤhlte.

Er redete immer nicht, und es ging ploͤtz - lich wie ein eiskalter Wind durch das Innerſte meines Herzens, ich haßte ihn jetzt nicht, aber ich wendete mich gleichguͤltig um, und ging ei - nige Schritte in den Wald zuruͤck. Das Licht war herunter gebrannt, und die Laterne erloſch; ich hoͤrte ſeinen Fußtritt, der ſich von mir entfernte. Dickes Dunkel war um - her, und der glimmende Docht beleuchtete nur auf einen Augenblick noch eine kleine gruͤne Stelle auf dem Boden.

O! jetzt haͤtt 'ich ihn gegen uͤber haben moͤgen! ich haͤtte ihn mit Thraͤnen und Kuͤſſen erſtickt. Sein Schritt toͤnte ſchon viel ſchwaͤcher, ach! ich ſehe ihn nicht wieder, ſagte ich zu mir ſelber, und die Thraͤnen ran - nen heiß und dicht gedraͤngt uͤber meine Wan - gen. Ich ſehe ihn nicht wieder, und es iſt Lovell! Ich wollte ihm nach, und ſtieß an einen Baum, ich ſank zur Erde, und rief ſo laut als ich konnte, von gewaltigem Schluch - zen unterbrochen: Lebe wohl, recht wohl! Ich weiß nicht ob er mich gehoͤrt hat, ob er es verſtanden hat.

72

Ich lag auf der feuchten Erde, und ſtreck - te mich ganz aus, ich verbarg mein heißes Ge - ſicht in dem naſſen Graſe. Ich ſchlief beynahe ein.

Kalt und ohne Beſinnung ſuchte ich dann den Ruͤckweg. Wie ein großes eiſernes Ge - faͤngniß, hing der dunkle Himmel um mich her.

In meinem Zimmer ſitze ich nun hier, und die Morgenroͤthe bricht ſchon hervor. Lovell ſieht ſie jetzt auch, und unſere truͤben Gedanken begegnen ſich vielleicht.

Ach Freund, mich quaͤlt eine gewaltige Unruhe; habe ich nicht dem Armen zu viel gethan? Bin ich nicht verfuͤhrt worden, ſchon ſeinen letzten Brief an mich zu ernſthaft zu nehmen? Warum habe ich ihn nicht ſo wie die vorigen beantwortet? Alles waͤre dann vielleicht anders geworden. Ich war viel zu ſehr von mir eingegommen, und darum verletz - te dieſer Brief meine Eitelkeit. Ich konnte nicht wiſſen in welcher Stimmung er geſchrie - ben war; und doch war ich meiner Sache ſo gewiß, daß ich anfing, Lovell perlohren zu ge -73 ben. O! es war unrecht von mir, es war ſchlecht, Mortimer, wenn Sie aufrichtig ſind. Ich bin nun Schuld an Lovell's Verzweif - lung, und an ſeinem Ungluͤcke; ich verdiene ſei - nen Haß und ſeine Verachtung, und das war es auch, warum er nicht mit mir ſprechen wollte. O! wenn ich nur einen Haͤndedruck von ihm mit genommen haͤtte: ſo koͤnnte ich mich doch zufrieden geben.

Jetzt geht er nun einſam auf dem kalten Felde, und weicht den Menſchengeſichtern aus, und ich bin die Urſache daß er ſich vor ihnen fuͤrchtet! Sein Eduard, der Freund ſeiner Kindheit, iſt von ihm abgefallen, jedes Menſchen Auge kuͤndiget ihm nun Krieg an. Wohin ſoll ich mich vor mir ſelbſt verbergen?

Wenn er nur geſagt haͤtte: Eduard, lebe wohl, o! ſo haͤtt 'ich doch die Hoffnung, daß er mir vielleicht vergeben habe. Aber ich ſcheuchte ihn mit meiner Hartherzigkeit zuruͤck.

Wie ſoll ich kuͤnftig einem fuͤhlenden Men - ſchen unter die Augen treten? Ach wie ſehr bin ich in mir ſelber gedemuͤthiget! Ich74 kann nicht weiter, mein Koͤrper zittert, ich will mich ſchlafen legen. Leben Sie recht wohl, lieber Mortimer, verachten Sie mich nicht, und ſtoßen Sie mich nicht zuruͤck; ich will beſſer werden, ich verſpreche es Ihnen.

75

19. Eduard Burton an Mortimer.

Sie werden von meinen Briefen beſtuͤrmt, lie - ber Mortimer. Man weckt mich eben mit einer ſchrecklichen Nachricht auf: Emilie wird vermißt!

Ein Schlag trift nach dem andern mein Herz. Wo kann ſie ſeyn? Sie wird al - lenthalben geſucht, und ich ſitze hier und zittre in banger Erwartung.

Noch keine Nachricht! noch keine Spur! Man geht auf dem Gange. Nein! Sie iſt es nicht. Gott! wo kann ſie ſeyn! Sie kann nicht fort ſeyn, und doch iſt ſie nicht da, und es iſt ſchon ſpaͤt nach Mittag.

Ich will ſie ſelbſt ſuchen. Aber vielleicht iſt ſie nur im Garten ſpatzieren gegangen; vielleicht hat ſie im Dorfe eine arme Familie beſucht.

76

Willy wird ſo eben begraben; wenn ſie nur von dem ganzen Vorfalle[nichts] erfahren hat!

Wie mein Herz klopft! Mein Blut draͤngt ſich gewaltig nach meinen Augen.

Noch keine Nachricht! Sie iſt nicht im Garten, ſie iſt nicht im Dorfe.

Ich bin auf ihrem Zimmer geweſen, und das Raͤthſel hat ſich nun auf eine ſchreckliche Art aufgeloͤſt. In eben dieſer Nacht, in der ich um Lovell klagte, iſt ſie entflohn und mit ihm entflohn. Koͤnnen Sie es glauben, koͤn - nen Sie's nur denken? Alle Begriffe in meinem Kopfe verwirren ſich. Beyde waren einver - ſtanden. O Lovell! Nun haſt du meinem Herzen den letzten Stoß gegeben.

Ich lege Ihnen den unvollendeten Brief bey, den ſie an ihre Freundin geſchrieben hat. Sie thun wohl am beſten, ihn ihrer Gattin nicht in die Haͤnde zu geben. Haͤtt 'ich ihn ſelber nicht geleſen!

O! ich beſchwoͤre Sie, eilen Sie wenn ſie irgend etwas von meiner ungluͤcklichen Schwe - ſter hoͤren; eilen Sie, ſie zu retten.

77

Nun bin ich ganz einſam, nun iſt mir nichts uͤbrig geblieben, und ich habe nun wenigſtens den Troſt, daß ich nichts mehr verlieren kann.

Aber daß ſie ſich ſo weit verirren konnte! O Gott! Warum brechen alle Leiden ſo ploͤtz - lich uͤber mich herein?

78

20. Einlage des vorigen Briefes. Emilie Burton an ihre Freundinn Amalie.

Endlich, endlich muß ich es Ihnen bekennen, daß jener Unbekannte, von dem ich ſprach, Lo - vell iſt. Sie werden erſchrecken, Sie wer - den bey dem Nahmen zittern; O! Amalie, Sie haben ihn nie gekannt, Sie haben ſein Herz nie genug gewuͤrdiget. Wie waͤre es moͤglich geweſen, daß ich ſeinen Thraͤnen, ſei - nen Klagen haͤtte widerſtehen koͤnnen? Sein Jammer hat mein Herz getroffen, und nein, Amalie, ich kann mir keine Vorwuͤrfe daruͤber machen.

Ach der Arme! er iſt von der ganzen Welt verſtoßen, und hoͤhniſch von jedem Herzen zuruͤck - gewieſen, er ſieht ſich um, ob ſich nicht noch irgendwo ihm eine Seele wohlwollend entgegen neigt, und nirgends, nirgends. Ohne Freun -79 de, ohne Liebe muß er ſeinen Kummer tragen; ja Amalia, ich habe mein Gluͤck dem ſeinigen aufgeopfert, ich will ihm folgen, und ſeine har - ten Schickſale mit ihm theilen. Mein Bru - der hat kein Herz, da er ihn ſo unbarmherzig verſtoßen kann, ich bin die einzige in der Welt die ihn liebt, die einzige die ihn wieder mit der Welt und den Menſchen verſoͤhnen wird. Iſt mein ganzes Leben nicht verdienſtlich genug, wenn ich dieſe eine Seele von der Verzweiflung gerettet habe?

In dieſer Nacht fliehe ich mit ihm fort, ich folge ihm, wohin er mich fuͤhrt. Ach Amalie! Sie haben ihn ſchnell vergeſſen. Der Wagen haͤlt eine Meile von hier im Wal - de, um Ein Uhr bin ich dort. Ich kann von meinem Bruder nicht Abſchied nehmen, weil er jetzt Lovell haßt. Ich aber kann mich nicht von ihm trennen, ich habe ihm meine Liebe und Seele zugeſchworen, dieſe Liebe hat ſein Leben gerettet, ſie wird ihm ſeinen Fruͤhling wieder - bringen.

Meinetwegen war er hier in Bonſtreet ungekannt, gleich am zweiten Tage entdeckte er ſich mir. Er gehoͤrt mir nur einzig an, und80 niemand weiter in der Welt, ſo wie ich allein die Seinige bin.

Und wenn ich ihn auch nicht liebte, ſo wuͤrd 'ich ihm doch folgen, ſo innig hat er mich erſchuͤttert, ſo ſehr bin ich von ſeinen ſchweren Leiden durchdrungen. Ich wuͤrde ihm meine Gegenliebe heucheln, blos um ihn wieder zu troͤ - ſten, mit Freuden wuͤrde ich mein eigenes Herz aufopfern, blos um das ſeinige zu retten.

Sie werden mich eine Schwaͤrmerinn nen - nen, aber glauben ſie mir, ich kann nicht an - ders, Amalia. Wenn er fort iſt, was ſollt 'ich dann noch hier bey meinem Bruder im ein - ſamen Schloſſe? hier unter den kalten, wieder - waͤrtigen Geſichtern? Nein ich muß ihm fol - gen, auch wenn ich nicht wollte.

Gruͤßen Sie Ihren Bruder. Ich weiß nicht was er ſagen wird, aber ich kann meinem Schickſale nicht entgegen handeln. Jeder muß nach ſeiner Ueberzeugung leben, und ich fuͤhle in mir daß ich recht thue. Ich fuͤrchte Karls Hitze, ſuchen Sie ihn daher zu beruhigen, wenn es irgend moͤglich iſt. Er hat mich nie recht herzlich geliebt, das habe ich immer ſehr deut -lich81lich empfunden, ſo wenig wie ich ihn lieben konnte.

Wie in der Zukunft alles werden wird, kann ich jetzt nicht wiſſen, aber in dieſem Au - genblicke kuͤmmert es mich wenig.

Ich haͤtte Ihnen noch mehr zu ſagen, aber die Zeit wird zu kurz; gruͤßen Sie Mortimer, entſchuldigen Sie mich bei den harten Men - ſchen, die mich verdammen, und bleiben Sie immer meine Freundinn.

Ihrem Bruder ſagen Sie: er ſoll mich ver - geſſen, und es wird auch geſchehen. Sie ſelbſt, liebſte Freundinn

Lovell. 3r Bd. F82

21. William Lovell an Roſa.

Wie moͤgen Sie in Rom und Tivoli leben? Ich denke kaum noch an meine Exiſtenz, ſo bunt und verworren wirft ſich alles uͤber einander. Ich fange Zufaͤlle und Bege[be]nheiten auf, ohne zu wiſſen, was ich mit ihnen thun ſoll.

Wenn ich aus meinem Herzen nur den in - nigen Widerwillen fortſchaffen koͤnnte, mit dem ich jede menſchliche Geſtalt betrachte, wenn ich den Neid unterdruͤcken koͤnnte, gegen jedermann, der laͤchelt und froh iſt! Warum muͤſſen ſich Tauſende unter den nichtswuͤrdigen Menſchen gluͤcklich fuͤhlen, und nur ich allein bin in mir ſelbſt zu Boden getreten?

Sie ſehn aus der Ueberſchrift, daß ich nicht mehr in Bonſtreet bin, alles iſt mißlungen, ich bin in Verzweiflung. Eduard hat triumphirt und ich bin beſiegt. Doch nein, ich habe mich wenigſtens an ihm geraͤcht.

Als ich in Bonſtreet war, erwachte alles in mir, wie er die Guͤter meines Vaters gewiß83 auf eine unrechtmaͤßige Weiſe beſitze, wie mir nun nichts uͤbrig ſey, als das unbedeutende Waterhall und das armſeelige Kenſea. Der Haß ſtand verdoppelt in meiner Bruſt auf, wenn ich bedachte, daß dieß derſelbe Menſch ſey, der immer ſo viel uͤber Edelmuth und Tugend ge - ſchwatzt habe. Es kam mir von neuem in den Sinn, wie mir von je alle Plane mißlangen, wie der heimtuͤckiſche Mortimer mir nun Ama - lien entriſſen hat, wie ſie ſelbſt mich ſo ſchnell vergeſſen konnte, der Eigenſinn meines Vaters, die Niedertraͤchtigkeit des alten Burton, o alles kam ſo friſch und neu in meine Seele, daß ich mit den Zaͤhnen knirſchte, daß ich wuͤ - thend daran dachte, wie armſeelig es um mein eignes Her; ausſehe, daß ich mir zuͤrnend vor - nahm, mich endlich zu raͤchen, Bosheit gegen Bosheit zu ſetzen und durch einen großen Streich dem Kriege ein Ende zu machen. Wir koͤnnen nichts anders thun, als ſiegen oder beſiegt werden; die ſogenannte Tugend iſt nur Geſchwaͤtz und beſteht meiſtentheils nur in Traͤgheit oder Einfalt, bey den andern iſt ſie erzwungen, oder haͤngt mit ihr[e]m Vortheile zuſammen; ſie iſt eben ſo gut ein Gewerbe, wie irgend ein anderes.

F 284

Meine Liebſchaft mit der abgeſchmackten Emilie ging indeſſen immer ihren Gang fort. Durch meine zerſtoͤrte Zufriedenheit bin ich nun wenigſtens manchem aberwitzigen Maͤdchen inter - eſſant; wahrlich, bey jedem Verluſt iſt doch im - mer noch irgend ein Gewinn.

Nach jenem Abend, von dem ich Ihnen neulich erzaͤhlte, wußte ſie nicht recht, wie ſie ſich mit mir nehmen ſolle, ihre Empfindſamkeit war etwas geſtoͤrt, und ihr eigentliches Gefuͤhl mehr in Bewegung gebracht. Aber ſie empfand es jetzt, daß ſie mir einzig angehoͤre, ſie war leicht dahin zu bereden, daß ſie mit mir ent - fliehen wolle, ja ſie war auf dem Wege, es mir ſelber anzutragen, wenn ich es nicht gethan haͤtte. Tag und Stunde ward feſtgeſetzt, und ſie war mit ihrem Plane und ihrer hohen Auf - opferung außerordentlich zufrieden.

O uͤber die Abgeſchmacktheit der Menſchen! Ich kenne nichts Alberners und Veraͤchtlichers, als dies Geſchlecht. Der Kluͤgere thut Recht, ſie zu haſſen und zu verfolgen.

Ich glaubte ſchon in jeder Ruͤckſicht ſicher zu ſeyn und dennoch hatte mich ein Menſch im Schloſſe erkannt, mein alter Bedienter Willy. 85Ohne daß ich es merkte, war er auf alle meine Bewegungen ſehr aufmerkſam, er beobachtete mich beſtaͤndig und ſeine Blicke waren mir oft aͤngſtlich. Die Liebe dieſes Menſchen hat mich von je verfolgt, und jetzt hat ſie mich elend, ja unſinnig gemacht. Ich haßte Eduard aus dem tiefſten Herzen und dachte dabey unauf - hoͤrlich an meine Auftraͤge, unbemerkt, wie ich glaubte, ſchuͤttete ich an einem Morgen ein fei - nes Gift in ein Glas mit Wein, um mich ſo zu raͤchen und alles wieder gut zu machen.

Bald darauf entſteht ein gewaltig Gelaufe im Hauſe, Thuͤren werden zugeſchlagen, man ſchreit laut nach Huͤlfe, ich werde endlich mit Gewalt von meinem Zimmer herunter geſchleppt, und Willy hat mich bemerkt, Eduard ge - warnt, und endlich in einer Art von Verruͤk - kung und um zu beweiſen, daß er Recht habe, ſelbſt den Wein getrunken. Er war ſchon halb ohne Bewußtſeyn, das Gift wirkte auf den al - ten ſchwachen Koͤrper unmittelbar, das in dem ſtaͤrkern, jugendlichern erſt nach einigen Wochen ſeine Folgen gezeigt haͤtte. Willy kuͤßte mei - ne Haͤnde, weinte und klagte, ich war voͤllig betaͤubt. Er ſank zu meinen Fuͤßen nieder und86 beſchwur mich auf meine Seeligkeit bedacht zu ſeyn. Ich wußte nicht, was ich ſagen ſollte und ward endlich geruͤhrt. Ich weinte laut, und mir war zu Muthe, wie einem Kinde. Wil - ly's Bruder konnte ſich uͤber deſſen Tod gar nicht zufrieden geben, er heulte laut und die Bedien - ten weinten mit ihm. Das ganze Zimmer er - toͤnte vom Klaggeſchrei, Eduard war nicht zu - gegen.

Aber bald verſiegten meine Thraͤnen, ein kalter Haß ging durch mein Herz und durch meine ganze Bruſt, ich ſah mich mit gleichguͤltigem Auge um, ob nicht in jedem Winkel eine Furie ſtuͤnde, mit Schlangen in den Haaren. Ich wuͤnſchte ſie alle herbey, und ich haͤtte mich vor keiner entſetzt. Ich berechnete jetzt, wie lan - ge der Schmerz wohl noch in allen dieſen Men - ſchen kaͤmpfen wuͤrde, und es war intereſſant zu beobachten, wie nach und nach die gewoͤhnliche Traͤgheit zu jedem zuruͤckkehrte. Sie erſchienen mir nun wie unbeholfene Maſchinen, die an groben Faͤden bewegt werden, ſie drehen die verſchiedenen Gliedmaßen nach vorgeſchriebenen Regeln, und ſetzen ſich dann wieder in Ruhe. Keiner ſchien mir lebendig und ich ging kalt auf87 mein Zimmer zuruͤck und konnte mich gar nicht davon uͤberzeugen, daß Willy geſtorben ſey.

Und was iſt denn das Leben, und was iſt es denn mehr, wenn einer von ihnen ſich um einige Tage fruͤher in die Erde legt? Rafft Krieg und Peſt nicht Tauſende hinweg? Wer - den nicht Tauſende Schlachtopfer ihrer Leiden - ſchaften? Und wenn ich unverſehends die Hand ausſtrecke und ploͤtzlich einer zu Boden ſtuͤrzt, das ſollte mich kuͤmmern und mir Ruhe und Schlaf rauben? Man ſollte gar nichts in der Welt ernſthaft nehmen. Eine ſchreckliche Seuche koͤmmt mir vor, wie ein ungeſchickter Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu - ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man kann nur daruͤber lachen.

Am andern Tage kam Eduard auf mein Zimmer. O wie verhaßt war mir ſeine kalte, philoſophiſche Mine, der mitleidige Blick, mit dem er mich von oben herab betrachtete! Wie zerreißen die Menſchen unſer Herz, die ſich fuͤr edel und vollendet halten und nie etwas erfah - ren und gelitten haben! die in ihrer ſichern Landheimath von den Wogen und Stuͤrmen des Meers, von Schiffbruch und ſchrecklichen Ge -88 fahren, wie von Fabeln reden hoͤren und laͤchelnd den Kopf ſchuͤtteln! Welche Geduld iſt hier eiſern genug, um nicht zu brechen? Man moͤch - te bei einem ſolchen Anblicke raſend werden!

O ihr Sichern und Ueberzeugten! ihr rich - tet, und wiſſet nicht, was ihr thut. Ihr wuͤr - felt mit plumpen Haͤnden darum, was ihr gut und was ihr boͤſe nennen wollt, ihr ſeid kalte und alberne Zuſchauer, die eine Tragoͤdie in ei - ner Sprache ſpielen ſehen, die ſie nicht verſte - hen, und die ſich nur zunicken und bedeutende Winke geben, um einer vor dem andern ſeine Unwiſſenheit zu verbergen.

Eduard ſprach nur wenig mit mir, er ſpielte den gnaͤdigen Herrn; es war mir lieb, daß er bald ging. Er verdiente nicht, daß ich ihm antwortete, und er bemerkte es recht gut, wie ſehr ich ihn verachtete.

Es nahte ſich die Nacht, in der ich mit Emilien entfliehen wollte. Ich war eben im Be - griffe aus dem Fenſter zu klettern, als ſich die Thuͤr eroͤffnete und Burton mit einer kleinen Laterne hereintrat. Er ſagte mir, ich ſolle ihm folgen, weil ich in ſeinem Hauſe nicht mehr ſicher ſey. Wir gingen ſtillſchwei -89 gend durch den Garten und er gab mir ein Pa - pier in die Hand, das, wie ich nachher geſehen habe, ein anſehnlicher Wechſel war. Hinter dem Garten liegt ein Wald und wir gingen auf einem ſchmalen gewundenen Fußſteige. Ich war - tete immer darauf, daß Burton ſprechen ſolle, aber er war heimtuͤckiſch und ſtill. In meinem Innern war ich duͤrr und ausgeſtorben, alles kam mir vor, wie ein Scherz, und aus einer gewiſſen Furcht haͤtt ich ein paarmahl die Stil - le beinahe durch ein lautes Gelaͤchter unter - brochen.

Wir ſtanden endlich ſtill. Wir ſchwiegen und wie druͤckende Gewitterluft aͤngſtigten mich dieſe Minuten. Ich ſuchte nach Gedanken um das Graͤßliche, das darin lag, zu verſcheuchen, ich wollte fort, und verzoͤgerte dann gern wieder den Moment der Trennung, es war eine von jenen ſeltſamen Pauſen, in denen die Seele unſchluͤſſig iſt, ob ſie uͤber den Koͤrper gebieten ſoll, in denen ſie an ihrem Willen zweifelt und ſich an der traͤgen Maſchine nicht auf eine be - denkliche Probe ſtellen will.

Durch ein Paar Worte unterbrach Eduard das Stillſchweigen und ging zuruͤck; er kehrte90 wieder um, als wenn er etwas vergeſſen haͤtte, dann ging er wieder, und eine große Thraͤne preßte ſich in mein Auge, eine Angſt draͤngte fuͤrchterlich aus der Bruſt zur Kehle hinauf; mir war, als wenn ich erſticken ſollte. Ich ging einige Schritte und ſuchte durch meinen lauten Gang mein Schluchzen zu uͤbertoͤnen. Ich ſah zuruͤck, er hatte die Laterne ſchon ausge - loͤſcht, damit ich ihn nur deſto fruͤher aus dem Geſichte verlieren moͤchte.

Was empfand ich in dieſem Augenblicke! Roſa, Sie koͤnnen es nicht begreifen. Ich ha - be ihn noch vor einigen Jahren ſo innig geliebt, ich glaubte damals, daß es ihm eine Kleinigkeit ſey, ſein Leben fuͤr mich zu verſpruͤtzen und jetzt, in dieſer Stunde meines Lebens, in der er wußte, daß er mich nie wiederſehen wuͤrde, jetzt ließ er mich gehen, ohne ein Wort zum Abſchiede zu ſagen, ohne meine Hand zu neh - men, ohne ein Lebewohl! Ich habe ihm ſo oft die Hand gedruͤckt, ohne daß er es verdiente, er haͤtte es ja wohl auch jetzt thun koͤnnen, und wenn es auch nur Verſtellung geweſen waͤre.

Doch beſſer, daß es nicht geſchehen iſt. Ich war zu weich; haͤtt 'er nur ein gutes Wort ge -91 ſagt, ſo waͤr ich ihm an die Bruſt geſtuͤrzt, und haͤtte ihm alles bekannt, ich waͤre wieder in meine Kindheit zuruͤckgeſunken, ich haͤtte alle meine Erfahrungen abgeſchworen; ich haͤtte ihm die Flucht Emiliens, und alles entdeckt, ich waͤ - re in der gewaltigen Ruͤhrung vielleicht zu Grun - de gegangen. Er verdiente es nicht, wie ſehr ich ihn liebte; alles kam mir zuruͤck, was er mir einſt geweſen war,[und] was ich von ihm gehofft hatte; es war mir als wenn er mich riefe, und ich ſtand ſtille und wollte umkehren, aber es war nur der Schall des Windes im Forſte.

Ich wußte immer noch nicht, ob ich nicht dennoch zuruͤckgehen ſollte; je weiter ich fort - ſchritt, je aͤngſtlicher klopfte mein Herz, ach und er hat ſich nicht nach mir umgeſehen, er hat nicht weiter an mich gedacht.

Ich war zweifelhaft, ob ich nach dem Or - te hingehen ſollte, wo Emilie auf mich wartete. Alles war mir jetzt zuwider. Ich haͤtte mich niederwerfen moͤgen, und weinen und ſterben. Aber mein Haß kehrte endlich zuruͤck. Sonder - bar! daß er mich ſelbſt auf den Weg nach Emi - lien hatte bringen muͤſſen, den ich ohne ihn in92 der finſtern Nacht vielleicht verfehlt haͤtte! Sie hatte ſchon ſeit einer halben Stunde aͤngſt - lich auf mich gewartet, ich ſetzte mich in den Wagen, und wir fuhren davon.

Emilie hielt mich feſt in ihren Armen; der Wind ging ſcharf, und ein feiner Regen trieb in den halb offenen Wagen hinein. Meine Le - bensgeiſter waren erſchoͤpft; ich ſchlief ein, und erwachte nur, als ſich ein blaſſes Morgenroth am Himmel herauf zog.

Wie nuͤchtern kam mir die ganze Welt mit ihren Bergen, Waͤldern und Menſchen entgegen! Ich hatte angenehm getraͤumt, und die wuͤrkli - che Natur ſtand ſchroff und unbeholfen vor mir da; Emilie neben mir, mit ihrer affektirten hochbetruͤbten Miene. Wie ein bettelhaftes Win - keltheater kam mir die ganze Welt vor, o! ich haͤtte aus ihr entlaufen moͤgen. Und was wuͤrde mich noch auf dieſer truͤben Dunſtkugel zuruͤckhalten, wenn es nicht die Hoffnung waͤre, Sie, Andrea, und meine uͤbrigen Freunde bald wieder zu ſehen? mich der unbekannten, geheim - nißvollen Welt noch mehr zu naͤhern, und als der Schuͤler einer hoͤhern Weisheit mit Recht jede irdiſche verachten zu koͤnnen?

93

Ich bin mit Burtons Schweſter unter frem - den Nahmen hieher gereiſet, und ich merke es ſehr deutlich, daß ſie es ſich ſelber nicht geſte - hen will, daß ſie ſich nicht mehr ſo ſehr fuͤr mich intereſſiret. Natuͤrlicher weiſe! weil es wahrſcheinlich ja gewiß iſt, daß ich gegen ſie kaͤlter geworden bin.

Leben Sie wohl. Sie werden dieſen Brief mit einem fruͤhern zu gleicher Zeit erhalten.

94

22. Eduard Burton an ſeinen Freund Mortimer.

Wie ich mich jetzt hier einſam fuͤhle, lieber Mortimer, kann ich Ihnen nicht beſchreiben. Ich gehe oft noch in Gedanken nach dem Zim - mer meiner Schweſter, um ſie dort anzutreffen; ich ſuche ſie im Garten auf, und gehe mit wei - nenden Augen jeder Laube voruͤber, weil ſie nicht drinnen ſitzt. Ich fuͤhle jetzt nicht mehr recht deutl[i]ch warum ich lebe, denn alle Weſen, die mit mir in ſo naher Beziehung ſtanden ſind mir entriſſen. Sollte ich auch meine Schwe - ſter niemals wieder ſehen? Wenn ich nur wuͤßte, wo ich ſie ſuchen ſollte, wenn nur nicht ein Fieber meinen Koͤrper erſchoͤpft haͤtte. Und dann iſt es ja ihr Wille geweſen, mich zu verlaſſen; Sie wuͤrde mich jetzt nicht einmal gerne ſehen.

O! wie vielen Menſchen habe ich Unrecht95 gethan! War ich durch ein kraͤnkendes, men - ſchenfeindliches Mißtrauen nicht Urſache, daß der arme, geaͤngſtete Willy nach dem Gifte griff, und es austrank, um mich von ſeiner Unſchuld zu uͤberzeugen? Ich habe ſeit dem oft an den alten frommen Mann gedacht, und ich kann mich recht in ſeine Seele verſetzen; halb wahn - ſinnig, aus Gram uͤber Lovell den er ſo innig liebte, in der ſchrecklichſten Verlegenheit, mich zu warnen, und doch ſeinen Herrn nicht zu ver - rathen, uͤberraſcht und erſchreckt durch meinen Argwohn, von allen Seiten gedraͤngt, greif[t]er zerſtreut und unwillkuͤrlich nach dem Tode, um nur ſeinem Leben ein Ende, und ſeine Un - ſchuld deutlich zu machen. Haͤtt 'ich ihm nicht mit Liebe entgegen gehen ſollen, um ſei - nen Jammer zu lindern? Ach Mortimer, ich war es, der ihm die ſchrecklichſte Minute ſei - nes Daſeyns erleben ließ; ich war Schuld an ſeinem Tode.

Hab 'ich nicht durch eigne Schuld Lovells Seele verlohren? Konnt' ich ihn nicht vielleicht mir und ſich ſelber wiedergeben? Ich war geſpannt, und mein Schmerz hatte mich ſoweit uͤberwaͤltigt, daß ich unmenſchlich war. Durch96 meine Kaͤlte habe ich meine Schweſter von hier vertrieben; kein Menſch liebt mich, keiner fragt nach mir, alle fliehen weit von mir weg, um mich nur aus dem Geſichte zu verliehren.

Nein, Mortimer! ich will mich nie wieder ſo uͤberraſchen laſſen. Ich will alle Menſchen, ohne irgend eine Ausnahme, lieben, und mir ſo ihre Gegenliebe verdienen. Ach! wenn auch Schwaͤchen und Gebrechen an ihnen ſichtbar ſind, ſie ſollen mich dadurch nicht wieder zu - ruͤckſtoßen, denn eben das ſind ihre Kennzeichen daß ſie Menſchen und meine Bruͤder ſind. Warum wollen wir denn auch immer die Beſ - ſern, und die Schlechtern von einander ſondern? Koͤnnen wir es mit dieſen ſchwachen irdiſchen Augen? Ach! Mortimer, wenn wir ſie alle lieben, ſo thun wir keinem Unrecht. Muͤſ - ſen ſie nicht alle in einer kurzen Zeit ſterben und in Staub zerfallen? Wir ſollten uns be - ſtaͤndig in Acht nehmen, keines dieſer gebrech - lichen Gebilde zu verletzen. Moͤgen ſie doch lachen und uns haſſen und verfolgen; o! ich will lieber von Tauſenden betrogen werden, als Einem Unrecht thun.

Koͤnnt '97

Koͤnnt 'ich nur alles wieder gut machen! Aber Lovell iſt fort, und es iſt zu ſpaͤt. Wir koͤnnen unſere Uebereilungen gewoͤhnlich nur bereuen; und eben das ſollte uns bewe - gen, uns mehr vor ihnen in Acht zu nehmen.

Lovell. 3r Bd. G98

23. William Lovell an Roſa.

Ich bin wieder hier auf dem großen Tummel - platz einer dichtgedraͤngten, geraͤuſchvollen Welt. Ich konnte unmoͤglich laͤnger in Emiliens Ge - ſellſchaft bleiben, die mir mit ihrer aufdringli - chen Liebe alle Laune verdarb. Sie iſt noch[in] Nottingham, und ich habe bey ihr eine noth - wendige Reiſe nach einer der naͤchſten Staͤdte vorgegeben. Wenn ſie erfaͤhrt daß ich nicht dort bin, mag ſie zu ihrem Bruder zuruͤck - kehren.

Der Haß und die Liebe der Menſchen iſt mir jetzt in einem gleich hohen Grade zuwider, es ſoll ſich keiner um mich kuͤmmern, ſo wie ich nach keinem zuruͤckſehe, um ihn mit einem freundlichen oder verdruͤßlichen Geſichte zu be - trachten. Fuͤr mich giebt es nichts Widri - gers als das Aufdringen der Menſchen, um mir ihre Freundſchaft, ihre Liebe zu ſchenken; es ſind Narren die nicht wiſſen, was ſie mit ſich ſelber machen ſollen, und daher andere Nar -99 ren noͤthig haben, um mit ihnen aus Langewei - le zu ſympathiſiren. Wie veraͤchtlich iſt die kin - diſche Empfindſamkeit einer Emilie, die gleich - ſam ſeit Jahren darauf gewartet hat, um ihre tragiſche Aufopferung an den Mann zu bringen. Sollte ich nun ein ſo großer Thor ſeyn, und ihre theatraliſche Affektation fuͤr Ernſt nehmen, und mich wunder! wie ſehr geruͤhrt fuͤhlen? Man kann wirklich etwas beſſeres thun, als je - de Narrheit der Menſchen mitmachen, und der iſt der veraͤchtlichſte Thor, der dieſe Narrheiten abgeſchmackt findet, und ſich dennoch ſcheut ſie als Kindereyen zu behandeln. Sie weint jetzt vielleicht, und bald trocknet ſie aus Langeweile ihre Thraͤnen, dann iſt ſie boͤſe auf mich, dann ſchaͤmt ſie ſich vor ſich ſelber, und dann hat ſie mich vergeſſen.

Daß ſie ſich ſelbſt auf einige Zeit ihr haͤus - liches Gluͤck zerſtoͤrt hat, iſt ihre eigene Schuld; daß ſie ſich nach dem Uebereinkommen jetzt vor manchen Menſchen ſchaͤmen muß, kann mir zu kei - nem Vorwurfe gereichen. Ich uͤbte eine Rolle an ihr, und ſie kam mir mit einer andern ent - gegen, wir ſpielten mit vielem Ernſte die Kom - poſition eines ſchlechten Dichters, und jetzt thutG 2100es uns wieder leid, daß wir die Zeit ſo verdor - ben haben.

Ich bin indeſſen durch Kenſea gereiſt, den Ort wo ich jetzt eigentlich wohnen ſollte. Ein altes gothiſches Gebaͤude ſteht hier in ei - ner wuͤſten waldigen Gegend, der Garten iſt verwildert, alle Bedienten ſehen aus wie Bar - baren, das ganze Haus hat ein kaltes unbeque - mes[Anſehen], viele Fenſter ſind zerſchlagen, die eine Mauer hat Riſſe. O! mit welchem Wi - derwillen habe ich alles betrachtet! Hier ſollt 'ich leben, in einer dunkeln, langweiligen druͤckenden Einſamkeit? Von der ganzen Welt abgeriſſen, wie ein vertriebener Bettler? einer ſcheuen Eule gleich, die vor dem laͤſtigen Tageslichte endlich einen duͤſtern Schlupfwinkel findet? Nein, die ganze weite Welt ſteht mir freundlich offen, und ich kehre dem einſiedleri - ſchen Schloſſe veraͤchtlich den Ruͤcken. So wie ich hier leben wuͤrde, kann ich es allenthalben; und in einem fremden Lande, unter einem an - dern Klima wuͤrde mich keine Sklaverey ſo hart druͤcken.

Ich lebe hier in London unter dem bunten Gewuͤhle; ich ſpiele und mache anſehnliche Ge -101 winnſte. Dies raſche und doch ungewiſſe Leben, in dem die Leidenſchaften unaufhoͤrlich in Bewe - gung geſetzt ſind, hat einen großen Reitz fuͤr mich. Und welche lehrreiche Schule, um hier die Menſchen erſt voͤllig verachten zu lernen! Wie der niedrigſte Eigennutz, die kleinſten Be - gierden ſich in den Geſichtern ſo hart und wi - drig abſpiegeln! Wie jeder nur alles fuͤr ſich[hinraffen] moͤchte, und dem Verluſt und der Ver - zweiflung ſeines Nachbars gelaſſen zuſieht. Ich bin ſchon einigemal ſchwach genug geweſen, meinen Gewinnſt wieder zuruͤck zu geben, um nur die Mienen der Niedertraͤchtigen, die mir ſo unausſtehlich waren, wieder aufzuheitern. Dann nennt man mich großmuͤthig und edel. O, es iſt um toll zu werden!

Lange werde ich es unter dieſen Menſchen nicht mehr aushalten, ich muß zu Ihnen zu - ruͤck. Ich ſehe Italien jetzt als mein Vaterland an, denn Andrea iſt dort. Ich erſtaune oft, mich hier unter dieſen gemeinen Menſchen zu finden, wenn ich an die wunderbare Welt denke mit der er mich vertraut machte. Ich kann Ihnen die Empfindung nicht beſchreiben, die mich zu - weilen ſchon mitten in einem Geſpraͤche befallen102 hat, wenn ich ploͤtzlich daran dachte: daß ich ſonſt mit Andrea geſprochen hatte. In dieſen Augenblicken fuͤhle ich mich hier ganz am un - rechten Orte, ich fuͤhle eine Sehnſucht fortzu - gehn, daß ich mich dann nicht zu laſſen weiß. Ich moͤchte oft alle wunderbaren Phantome her - beyrufen, die mir dort voruͤbergiengen; ich moͤchte mich in die grauenvolle Nacht hinunter - tauchen, aus der die Schauder emporſteigen, die ſo gewaltig das ſchwache menſchliche Herz ergreifen und es beynahe zerdruͤcken. O! wenn doch die Zeit erſt wieder da waͤre, in der mei - ne ungeduldige Bruſt voͤllig mit Wundern ge - ſaͤttiget wuͤrde, in der ich voͤllig die Erde und ihre Menſchen und auch mich ſelbſt vergeſſen koͤnnte!

103

24. Emilie Burton an William Lovell.

Lieber Lovell, Sie halten nicht Wort, Sie ſind nun ſchon ſechs Tage laͤnger ausgeblieben, als Sie mir bey Ihrer Abreiſe verſprochen hat - ten. O ſechs ewig lange Tage und heute iſt es ſchon der ſiebente. Gott! wenn Sie nicht ge - zaͤhlt haͤtten, wenn Ihnen die Tage nicht ſo lang wie mir vorgekommen waͤren!

Ach nein, William, ſo lang koͤnnen ſie Ih - nen nicht geworden ſeyn, aber das kann und will ich auch nicht verlangen; denn mir war, als wenn die Zeit indeſſen ſtill ſtaͤnde und mir langſam und bedaͤchtig einen Tropfen ihres Schmerzes nach dem andern auf das Herz fal - len ließe. Ich habe viel unterdeß gelitten, und ich fuͤrchte, daß ich krank werde. Mein Kopf iſt in Verwirrung und alle meine Glieder zittern.

Ach Lovell, kehre ſchnell, ſchnell zuruͤck. Ich weiß mich in der Einſamkeit nicht zu laſ - ſen: ach, ich bedarf Deiner Huͤlfe in mehr als einer Ruͤckſicht, Du weißt, daß ich kein Ver -104 moͤgen mitnehmen konnte, und das wenige, das ich hatte, iſt fort. Was ſoll ich anfangen, wenn Du noch laͤnger ausbleibſt? Aber nein, Du koͤmmſt, Du biſt nicht grauſam, Du biſt nicht leichtſinnig; und beides muͤßteſt Du ſeyn, wenn Dich meine Bitte nicht ruͤhrte.

Ich werde hier auf das benachbarte Dorf ziehn, das uns beyden auf der Reiſe hieher ſo ſehr gefiel, dort wirſt Du mich antreffen.

Mein Brief wird Dich doch finden? Es waͤre ein Ungluͤck, wenn Du nicht grade da waͤ - reſt, und er muͤßte einen Tag oder noch laͤnger liegen bleiben. Lovell, ich wuͤrde untroͤſtlich ſeyn.

Ich habe ſchlimm getraͤumet, denn es war im Schlafe als habeſt Du mich verlaſſen und ich hoͤrte Dich ganz deutlich uͤber meine Schwaͤche und meine Liebe lachen. Da that ſich die ganze Welt wie ein Gefaͤngniß eng und immer enger uͤber mir zuſammen, alles Helle wurde dunkel, die ganze Zukunft war ſchwar; und ohne Mor - genroth. Aber nein, Du liebſt mich? nicht wahr Lovell? O, die Traͤume werden uns nur geſchickt, um unſer armes Leben zu aͤngſti - gen; ſchon von Kindheit auf haben ſie mich da - durch gequaͤlt, daß ſie mir alles als nichtig und105 veraͤchtlich zeigten, was ich ſo innig liebte. Ich will mich dadurch nicht irre machen laſſen.

Aber warum biſt Du noch nicht gekommen? O Lovell, wenn Dir meine Liebe zur Laſt gefallen waͤre! Mir faͤllt jetzt ſo manches ein, was ich wohl ehedem in Buͤchern geleſen, und nachher wieder vergeſſen habe. O, es waͤre ſchrecklich! Aber wie koͤnnte Liebe und Wohl - wollen Dich aͤngſtigen, wie koͤnnteſt Du es ver - geſſen, daß ich Dir alles aufgeopfert habe? Ach nein, waͤr 'es moͤglich, o ſo wuͤrd' ich wuͤnſchen, daß ich dann auch alles vergeſſen koͤnnte.

Du ſiehſt, wie ſchwermuͤthig ich geworden bin; das macht bloß die Einſamkeit und weil ich Dich nicht ſprechen hoͤre. Du haſt mir zu - erſt Deine Liebe angetragen, und jetzt ſollteſt Du mich vergeſſen? Ich habe um Dich Ta - ge und Naͤchte hindurch geweint, und Du ſoll - teſt jetzt nicht kommen, um meine Thraͤnen zu trocknen? Nein, es iſt nicht moͤglich, wenn ich daran glauben koͤnnte, o ſo waͤre mir beſſer ich waͤre nie gebohren worden.

Meine Schwachheit nimmt zu, ich fuͤhle mich ſehr krank; glaube ja nicht, William, daß106 ich uͤbertreibe, komm ja ſogleich; und findeſt Du mich denn vielleicht etwas beſſer, als Du glaub - teſt; ſo ſey nur, ohne daß ich es ſage, uͤber - zeugt, daß mich die Hoffnung, Dich wieder zu ſehen, ſtaͤrker machte.

107

25. Karl Wilmont an Mortimer.

Himmel! was habe ich hier erfahren muͤſſen! Unbefangen reiſt 'ich von London hieher, weil es mir dort keine Ruhe mehr ließ, und nun bin ich hier, o Mortimer, nicht wie im Traum und doch nicht wie wachend, mit ko - chendem Herzen und ohne Beſinnung, entſchloſ - ſen etwas zu thun, und doch weiß ich nicht, was. O der ſchoͤnen Reiſe! meiner Aus - ſichten, meines Gluͤcks!

Kann ich Worte finden, um Dir zu ſagen, was ich denke und fuͤhle? Ich bin bis jetzt wie ein Kind durch die Welt gegangen, und ich nehme nun mit Entſetzen wahr, daß ſie weit ſeltſamer, weit abgeſchmackter, und weit un - gluͤckſeliger iſt, als ich geglaubt hatte. O ich moͤchte mir den Kopf an einen Baum zerſtoßen, ich moͤchte mich ſelbſt zerreiſſen, daß es ſo und nicht anders iſt. Wer konnte nun dieſen Schlag erwarten? Hab 'ich hierbey irgend etwas108 verſchuldet? Eine unſichtbare Gewalt greift nach meinem Herzen und zerquetſcht es, und ich kann nichts weiter thun, als an der Wunde ſterben.

Mit meinen Geſchaͤften hat es nun von ſelbſt ein Ende, mit meinem Gluͤcke, vielleicht mit meinem Leben. Emilie hat mich alſo nie geliebt? O, was iſt doch der Menſch! Wer kann ihn verſtehn, wer darf uͤber ihn urtheilen? Und ich haͤtte ſie nicht geliebt? O das iſt eine ſchreckliche Luͤge! Ich konnte nicht wei - nen, und ich ſchaͤmte mich, die Empfindungen meines heißen Herzens bey jeder Gelegenheit zu aͤußern; o ich war zu gut um Emilien zu ge - fallen, ich putzte meine Empfindungen zu wenig auf, ich konnte nicht luͤgen, ſo wie der nieder - traͤchtige Lovell, o Emilie! ſo warſt Du denn auch nur eins der gewoͤhnlichen Weiber, die es nicht unterlaſſen koͤnnen, ſogar ihre Em - pfindungen zu ſchminken, die die natuͤrlichen guten Menſchen verachten, und ihre Zuneigung den Elenden ſchenken, die ſie durch Grimaſſen und ſtudirte Seufzer, durch theatraliſche Stel - lungen und auswendig gelernte Worte unter - halten!

109

Nie hab 'ich einen Menſchen ſo wie dieſen Lovell gehaßt! Sein Name brennt ſchmerzhaft in meiner Bruſt, wenn ich ihn nur durch einen Zufall nennen hoͤre. Es flimmert mir alles vor den Augen, wenn ich an ihn denke; ich koͤnnte ihn mit den Zaͤhnen zerreißen, den nichtswuͤrdi - gen Komoͤdianten! Aber ich werde ihn ir - gend einmal finden und dann ſoll er mir Stand halten und Rechenſchaft ablegen: dann ſoll er mir nicht entfliehen, und er ſoll mir alles dop - pelt bezahlen.

O daß uns der Gedanke der Rache im Un - gluͤcke nicht erquicken kann! O ich Thor! daß ich in London ſaß und mit dem Fleiße einer Ameiſe arbeitete! Dies iſt mein Lohn. War bey dieſer Emilie meine uͤbertriebene, un - gehirnte Delikateſſe wohl angewendet? Doch, ſie hat mich nie geliebt, o wenn ich mich nur davon[uͤberzeugen] koͤnnte! Aber ich werde von meinen unſtaͤten Gedanken hiehin und dorthin geworfen, keine Idee wird in meinem Kopfe einheimiſch. Ach, Emilie! Wo biſt Du jetzt vielleicht und ſprichſt reuig meinen Na - men aus? Koͤnnt 'ich Dich finden und dann mich raͤchen!

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Ich moͤchte ſo lange Wein trinken, bis ich alle Beſinnung verloͤhre und mich denn zum fe - ſten Schlafe hinwerfen, denn mir iſt wie einem Moͤrder, der von allen Seiten verfolgt wird. Ich kann mir ſelber nicht entfliehn.

Ich muß ſie ſuchen, ich muß ihn finden, ich will das ganze Land nach ihnen durchſtrei - chen; irgend wo muͤſſen ſie ſeyn. Lebe wohl, bis ich Dich ſelbſt auf meinem Zuge beſuche.

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26. William Lovell an Roſa.

Ich habe anſehnliche Summen gewonnen, und ich denke bald damit England zu verlaſſen. Es iſt nichts leichter, als eine Rolle in der Welt zu ſpielen und es giebt tauſend Arten ſich in - tereſſant zu machen. Man riß ſich nach mir, weil ich mir in London einen ſonderbaren ita - liaͤniſchen Namen gegeben hatte und immer viele Seltſamkeiten von mir vermuthen ließ; ich erzaͤhlte zuweilen einigen Freunden aben - theuerliche Bruchſtuͤcke aus einer erdichteten Ge - ſchichte, die es dann nicht unterließen, ſie Je - dermann wieder unter dem Siegel der Verſchwie - genheit anzuvertrauen. Man war in allen Fa - milien neugierig, mich kennen zu lernen, in vielen Geſellſchaften gab ich den Ton an und entſchied, wenn ſtreitige Faͤlle vorkamen. Man fand mich ungemein klug, weil ich ein paarmal etwas geſagt hatte, was ich ſelbſt nicht ver - ſtand, man dachte daruͤber nach, und es gab112 mir ſelbſt Stoff zum Spekuliren. Es laͤßt ſich fuͤr und gegen jede Idee in der Welt ſprechen, und es iſt daher gar keine Kunſt, mit jeder - mann zu ſtreiten, und da ich nach meiner Ueber - zeugung immer der Skeptiker ſeyn muß und ihn manchmal noch mehr ſpiele, als ich es bin, ſo wird es mir leicht, ſelbſt den Geſcheidteſten ſcheinbar zu beſiegen. Frauenzimmern beſonders gefiel ich ungemein, erſtlich, weil ich blaß und krank ausſahe, dann weil ſie mich fuͤr einen Fremden und fuͤr eine Art von Atheiſten hiel - ten. Sie moͤgen nichts in der Welt ſo gern bewundern, als wovor ſie ſich fuͤrchten, ja Furcht und Bewunderung iſt bey ihnen einer - ley. Sie boten immer ihren ganzen Verſtand auf, um eben die Ideen zu aͤußern, die ich meinte, und ſtets trafen ſie auf ganz verſchiedene. Ihr Verſtand beſteht uͤberhaupt mehr in Schlau - heit, als Ueberlegung; ſie uͤberlegen, nachdem ſie einen Schluß gemacht haben, und ihre Phi - loſophie iſt aus Eigenſinn entſtanden, und wird daher immer mit Hartnaͤckigkeit vertheidigt. Sie kennen die Menſchen nie, die ſie lieben, weil ſie ſich keine der Bemerkungen, die ſie uͤber dieſe gemacht haben, eingeſtehn, und keinWeſen113Weſen iſt daher ſo leicht zu hintergehn, als ein verliebtes Weib. Wen ſie haſſen, kennen ſie bis auf ſeine verſteckteſten Zuͤge, ja ſie kennen ihn beſſer, als er ſich ſelbſt, ſie finden ſeine vor - zuͤglichſten Schwachheiten heraus und beweiſen dar - aus augenſcheinlich, daß aus ihnen zugleich das fließe, was die uͤbrigen Menſchen an einem ſol - chen gut und lobenswuͤrdig nennen. Wenn ſie neue Ideen in ihren Kopf aufnehmen; ſo be - ſteht ihr Denken darin, daß ſie ſelbſt ihre vo - rigen Gedanken uͤberliſten und ſie dann deſpo - tiſch vertreiben, ohne ſie nachher auch nur der Muͤhe werth zu halten, daß ſie daruͤber ſpre - chen, und wer das Ungluͤck hat, dieſe Ideen grade zu aͤußern, den halten ſie unter allen Einfaͤltigen fuͤr den Einfaͤltigſten. In jedem Luſtrum wechſeln ſie mit einigen Hauptgedanken, die ſich ganz verſchieden organiſiren, je nachdem ſie heyrathen, oder ledig bleiben; je aͤlter ſie werden, je mehr beleidigt man ſie durch Nach - laͤßigkeiten und um ſo weniger durch wirkliche Beleidigungen: aber ſelbſt in der hoͤchſten Ver - traulichkeit, ſelbſt in der aufrichtigſten Stim - mung kann man es nie dahin bringen, daß ein Weib gegen einen Mann ganz aufrichtig ſey. Lovell. 3r. Bd. H114denn das Gefuͤhl verlaͤßt ſie nie, daß die Maͤn - ner ein fremdartiges Thiergeſchlecht ſind, und dieſe verletzen durch ihre Unbeholfenheit ihren feinern Sinn auch unaufhoͤrlich. Wer bis in ſein zwanzigſtes Jahr nur unter Weibern lebte, muͤßte nachher alle Maͤnner betruͤgen koͤnnen.

Wie komme ich aber zu dieſer weitlaͤuftigen Charakteriſtik? Nichts kam mir in den Ge - ſellſchaften ſo abgeſchmackt vor, als das Draͤn - gen der jungen und alten Maͤnner, um bey Ti - ſche neben irgend einem weiblichen Geſchoͤpfe zu ſitzen, wie ſie ſich dann gluͤcklich prieſen und affektirten, als wenn dies ihnen mehr, als alles gaͤlte. Wenn man dies Geſchlecht erſt gekannt und genoſſen hat, ſo kann man durch dieſe Zie - rerey ganz ſchwermuͤthig werden. Aber unſer Leben laͤuft in einer ewigen Affektation fort, und wer ſie nicht mitmacht, den nennen die Uebrigen einen affektirten Narren.

Manche unter den vorzuͤglichſten Schoͤnhei - ten haͤtten mich vielleicht gar geheyrathet, wenn ich haͤtte darauf ſchwoͤren wollen, daß ich ent - weder bald ſterben oder Zeitlebens ſo naͤrriſch bleiben wuͤrde. Keins von beyden war mein115 Wille, und ich ließ mich daher gar nicht in naͤhere Traktaten ein.

Ich ward endlich des Gewuͤhls muͤde und reiſte ab. Ich konnte es nicht unterlaſſen, Ro - ger - place zu beſuchen, den Ort, wo Mortimer mit Amalien wohnt: von hier erhalten Sie die - ſen Brief. Es trieb mich faſt wieder meinen Willen hieher, und nun will ich Amalien noch einigemal ſehn und dann abreiſen.

Sie geht alle Morgen mit Mortimer ſpazie - ren, denn es iſt eine angenehme Allee vor ih - rem Hauſe, die ſich in einen ſchoͤnen Wald ver - liehrt; dann trinken ſie Thee. Amalie iſt recht heiter und Mortimer hat ſich ganz umgeaͤndert, er kommt mir weit menſchlicher oder vielmehr weiblicher vor. Amalie ſieht aͤlter und verſtaͤn - diger aus. Ich habe einigemal des Abends unter den rauſchenden Baͤumen gelegen und nach ihren Fenſtern hinaufgeſehn. Ich war geſtern in Verſuchung, hineinzuſteigen. Mein Herz kocht Haß und Wuth gegen Mortimer, und doch wuͤßt 'ich jetzt grade nicht warum. Aber ich hatte Amalien nicht vergeſſen, ich log es nur mir und andern, und darum haͤtte ſie auch mich nicht vergeſſen ſollen; und Mortimer, derH 2116meine Liebe gegen ſie ſo tief verachtete, haͤtte ſie mir nicht entreißen ſollen! O und was iſt es denn mehr? Wuͤrde ich ihrer nicht eben ſo wie Emiliens uͤberdruͤßig werden? Doch nein, denn dieſe habe ich nie geliebt.

Es iſt eine ſehr haͤßliche Aufwaͤrterinn im Hauſe, dieſe will ich zu ſprechen ſuchen; es muͤßte ſonderbar kommen, wenn ich ſie nicht auf meine Seite braͤchte. Wenn ich erſt die ge - nauern Umſtaͤnde weiß; ſo laͤßt ſich auf dieſe vielleicht ein kluger Plan gruͤnden.

Ob Amalie auch zu den Weibern gehoͤrt, von denen ich vorher ſprach? Ich habe ſie da - mals zu ſehr geliebt, um ſie zu beobachten und damals haßt 'und liebt' ich die Menſchen uͤber - haupt noch, ohne ſie vorher zu kennen. Jeder Menſch hat eine Periode im Leben, in der Lie - be und Freundſchaft mit der Selbſtliebe zuſam - men fallen; von beyden weiß er ſich dann keine Gruͤnde anzugeben.

Leben Sie wohl und gruͤßen Sie Andrea.

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27. William Lovell an Roſa.

Es giebt Stunden im Leben, Roſa, in denen ſich uns der Idealismus faſt unwiderſtehlich auf - draͤngt, Zufaͤlle treten oft zuſammen, ſo kin - diſch wunderbar au einander gereiht, daß wir die Welt umher auf einzelne Augenblicke fuͤr ein Hirngeſpinnſt halten muͤſſen. Ich bin noch immer in dieſer Stimmung, wenn ich an alles zuruͤckdenke; es kommt mir oft in der Welt nichts ſo ſeltſam vor, als daß irgend ein Zufall mit einem fruͤheren zuſammenhaͤngt, ſo daß wir oft wirklich auf die Idee von dem ge - fuͤhrt werden, was die Menſchen gewoͤhnlich Schickſal nennen.

Ich habe nehmlich in jener haͤßlichen Auf - waͤrterinn, von der ich Ihnen ſagte, eine alte Bekannte wiedergefunden. Ich ſuchte ſie auf, und wir waren bald mit einander vertraut, ſie nannte meinen wahren Namen, und ich erſchrak. Es war, als wenn ein boͤſer Genius aus ihr118 ſprach, der mich nun meinen Feinden verrathen wuͤrde. Ich betrachtete ſie genauer, und konn - te mich doch durchaus nicht erinnern, ſie ir - gendwo geſehn zu haben. Endlich entdeckte ſie ſich mir, und o Himmel! es war Nie - mand anders, als die Comteſſe Blainville!

Lange wollte ich es nicht glauben. Die Blainville, jenes junge, lebhafte, reizende Weib, und hier ſtand ein Ungeheuer vor mir, von Pockengruben entſtellt, einaͤugig, mit allen moͤg - lichen Widrigkeiten reichlich ausgeſtattet, und dennoch war ſie es, ſelbſt unter der gro - ben Huͤlle lagen einige ihrer ehemaligen Zuͤge, wie fern, verborgen.

Ihre Geſchichte kann ich Ihnen mit weni - gen Worten ſagen. Der Graf Melun ſtarb bald, nach dem er ſie geheyrathet hatte, ſie ließ ſich durch ihren Liebhaber den Chevalier Valois zu jeder Verſchwendung verleiten; ſie verließ mit ihm Paris und gieng nach England, ihr Ver[m]oͤgen war bald vom Valois verſpielt, ſie ward krank, denn die Blattern offenbarten ſich an ihr, der Chevalier erſchoß ſich, ſie ge - nas, aber ihre Schoͤnheit, ihre Jugend war jetzt zugleich mit ihrem Vermoͤgen dahin. Sie119 ſuchte Huͤlfe bey den Menſchen, weil ſie dieſe nicht kannte, und dieſe ſtießen ſie veraͤchtlich von ſich, wie ſie es auch in[] ihrer Stelle ge - than[haben] wuͤrde; zur druͤckendſten Armuth er - niedrigt, ſuchte ſie endlich Dienſte, und Amalie, hier in Roger-place, nahm ſich ihrer an. Und hier muß ich ſie nun treffen; meine beyden Ge - liebten in einem ſeltſamen Kontraſte neben ein - ander.

Ich habe ihr das ſtrengſte Stillſchweigen ge - lobt, ſo wie ſie mir: Mortimer, der ſie einſt ſo ſchoͤn fand, weiß es nun nicht, daß ſie in ſeinem Hauſe wohnt. Sie liebt mich noch, wie es ſcheint; o Roſa, Sie ſollten ſie jetzt ſehn!

Es iſt ſchauderhaft, wenn ich uͤberlege, daß dies Ungeheuer doch ſchon damals verlarvt in dem ſchoͤnen Weibe lag, das ich umarmte, bey jedem Weibe und Maͤdchen faͤllt mir jetzt der Gedanke ein: Die Alte, die mit grauen Haaren, abge - fallen, mit rothen Augen und auf einer Kruͤcke voruͤber hinkt, war auch einmal jung und hatte ihre Anbeter, ſie dachte damals nicht daran, daß ſie ſich aͤndern koͤnne; ihrem begeiſterten Liebhaber fiel es nicht ein, uͤber ſich ſelbſt zu lachen, denn er kannte die Geſtalt nicht, gegen120 die er ſeine Deklamationen richtete. O hin - weg davon! Aber was ſind alle Freuden dieſer Welt? Es iſt mir ein widriger An - blick, wenn ich ein Paar gehn ſehe, das zaͤrt - lich gegen einander thut. In der Kindheit wuͤn - ſchen wir uns Glasperlen, dann Liebe, dann Reichthum, dann Geſundheit, dann nur noch das Leben; auf jeder Station glauben wir wei - ter gekommen zu ſeyn und fahren doch im Kreiſe herum, ſo daß wir nie ſagen koͤnnen: jene Ge - gend liegt jetzt fern von mir.

121

28. William Lovell an Roſa.

Ich muß zuruͤckkehren, denn ich weiß mich hier in England nicht mehr zu laſſen. O es giebt Menſchen, die noch unendlich tiefer ſtehen, als ich, die Schandthaten mit einer Kaͤlte be - gehn, als wenn ſie gar nicht anders koͤnnten und muͤßten.

Ich zittre noch, wenn ich daran denke, wie tief ich haͤtte ſinken koͤnnen, wie nahe ich dem Verſuche war, der mich ganz aus der Reihe der Menſchen ausgerottet haͤtte. Ich fuͤhle es, daß ich bisher in meiner Frechheit zu weit gieng, ich war meiner ſelbſt zu ſehr verſichert, und dachte nicht daran, wie nahe jedes Verbrechen, wie dicht es mir vor den Fuͤßen lag. Meine Empfindung verabſcheut das Laſter, ob mir gleich die Sophismen des Verſtandes beweiſen wollen, daß es kein Laſter giebt, und auch Sie, Roſa, und auch Andrea, es iſt unmoͤglich, Sie koͤnnen nicht davon uͤberzeugt ſeyn.

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Ich will England verlaſſen, um wieder zu mir ſelbſt zu kommen. O, lieber Roſa, ertra - gen Sie heute noch einmal meine Stimmung, ſo wie Sie es ſchon ſo oft gethan haben; ich fuͤhle mich heute ſo ganz anders, als ſonſt, ſo ganz von dem Muthe verlaſſen, der gewoͤhnlich aus mir ſpricht. Alles iſt noch die Folge einer Begebenheit, die mich in Roger - place zu Bo - den geworfen hat.

Ich kann Ihnen die Empfindungen nicht be - ſchreiben, mit denen ich dort herumgieng; bald im Haß gegen Mortimer, der mir unausloͤſch - lich ſchien und doch bald wieder von einer tie - fen Selbſtverachtung verdraͤngt ward, dann war mir alles gleichguͤltig und ich ſtand wie ein muͤßiger Zuſchauer in der Welt da, der an ih - ren mannichfaltigen Rollen keinen Antheil be - kommen hatte. Wenn ich denn Amalien wie - der ſah, o ſo ergriff mich eine ſo heiße, ſo ei - ne bruͤnſtige Sehnſucht, ſie in meine Arme zu ſchließen, an meinen Mund, an mein ſchlagendes Herz zu druͤcken, ſie nur in Einem armſeligen Au - genblicke mein nennen zu koͤnnen, daß mich ein Zittern und eine Fieberhitze ergriff. Es war, als gehoͤrte es zu meinem Leben, als ſey es der123 letzte und einzige Zweck, weswegen ich bisher gelebt haͤtte, ihr nur noch einmal zu ſagen, daß ich noch lebe, daß ich ſie noch, wie ehemals, liebe. Ich glaubte, daß ich nach dieſem Augen - blicke ruhig und zufrieden ſeyn wuͤrde, daß ich dann Tod und Leben mit gleich feſtem Auge be - trachten koͤnnte. Alle Empfindungen meiner fruͤheren Jugend kamen zuruͤck, ich wuͤnſchte im Momente der Erkennung an ihrem Halſe zu ſterben, kein Gefuͤhl und keinen Gedanken weiter nach dieſem Stillſtande meiner Seele zu erleben. O waͤr 'ich, waͤr' ich geſtorben! Tod und Grab ſind das einzige Aſyl des verfolgten Elen - den. Duͤrft 'ich dieſe Wohnung der Ruhe be - ſuchen, losgeſchuͤttelt vom wilden Getuͤmmel der lebendigen Welt: aber alles, worauf ich mich freute, koͤmmt mir kalt und freudenleer naͤ - her, und geht ſo voruͤber, ich bleibe einſam zu - ruͤck, und ſehe dem Zuge nach, der ſich nicht weiter um mich kuͤmmert. Ich will auch auf keine Freude weiter hoffen, ich will die kalte Luft als meinen Freund umfangen, ich will todt ſeyn, in der todten Maſſe, die mich umgiebt, kein Gefuͤhl ſoll mir naͤher treten, ich will alle Sehnſucht, alles Schmachten nach Liebe in die -124 ſem Buſen vertilgen und mir wie ein frecher, hohnſprechender Bettler ſelber genuͤgen, ach, meine Sehnſucht iſt jetzt nach der Verweſung hingerichtet, nach der kalten Erde, die endlich dies klopfende Herz zur Ruhe bringen wird. Mir iſt, als ſollt' ich mit dem Meſſer dem ſie - denden Blute einen freyen Ausweg machen, das in meinem Hals draͤngt und nach dem Gehirne ſtroͤmt.

Was werden Sie zur Blainville ſagen? Was empfinden, wenn Sie es hoͤren, wie tief der Menſch ſinken kann? Seit ſie mich erkannt hatte, verfolgte ſie mich unaufhoͤrlich mit ihren freundſchaftlichen Liebkoſungen, ſie erinnerte mich an unſere Vertraulichkeit in Paris und auf welche Art ſie mich damals hintergangen habe; ich ſpottete uͤber mich ſelbſt, und wuͤnſch - te doch innerlich die Unſchuld und Unbefangen - heit jener Zeit zuruͤck. Ich entdeckte ihr mei - nen Wunſch, Amalien nur einmal zu ſehn und zu ſprechen, und ſie verſprach mir ein Mittel auszufinden, wenn ich mich dazu verſtehen woll - te, ihr eine Nacht hindurch Geſellſchaft zu lei - ſten. O Freund, wie kamen mir in dieſer Nacht Liebe, Wolluſt, und alle Freuden dieſer Welt vor!

125

» Ein ungeſaͤuberter Garten, wo alles in » Saamen ſchießt und mit Unkraut und Diſteln » uͤberwachſen iſt; o pfuy, pfuy der Welt! «

Ich erroͤthe noch jetzt, wenn ich daran zu - ruͤckdenke; es iſt, als wenn ich von je alle Gelegenheiten begierig ergriffen haͤtte, um mich ſelbſt zu erniedrigen. In dieſer Nacht verſprach mir die Blainville, eine Gelegenheit zu verſchaf - fen, Amalien im Garten hinter dem Hauſe al - lein zu ſprechen. Mortimer reiſe am folgenden Morgen fort, und ſie wolle denn auf dem Abend einen gewaltigen Rauch und ein unſchaͤd - liches Feuer erregen, ein gewaltiges Geſchrey erheben, alle Bedienten wuͤrden mit den An - ſtalten beſchaͤftigt ſeyn und Amalie wuͤrde ſich[auf] ihren Rath nach dem Garten retten; dann wolle ſie mir das Haus eroͤffnen und mich zu Amalien fuͤhren.

Schon fruͤh am Morgen ſah ich Mortimer zu Pferde ſteigen und wegreiten. Mit welcher Un - ruhe erwartete ich den Untergang der Sonne! Amalie ließ ſich nicht blicken, und ich konnte auch die Blainville nicht wieder ſprechen. End - lich ward es Abend; ich gieng in der Allee vor dem Hauſe auf und ab, die Baͤume rauſchten126 gewaltig und verkuͤndigten ein herannaͤherndes Gewitter, ich ſah ein Licht in Amaliens Zim - mer brennen und mein Her; klopfte aͤngſtlich und ungeſtuͤm. Die letzte Blume meines Gluͤcks ſollte jetzt gewaltſam hervorgetrieben werden, und meine ganze Seele war nach dieſem Au - genblicke hingeſpannt.

Der Himmel ward dunkler, her Wind ſauſ - te ſtaͤrker und ich ſah bange und unverwandt nach dem Hauſe hin. Kein[Laut] von innen, vom Dorfe aus der Ferne hoͤrt 'ich den Nacht - waͤchter und das Bellen der Hunde.

Endlich ſah ich einen ſtarken Rauch aus dem Fenſter von der Seite dringen. Es blieb noch immer ruhig. O wie beklommen ward mir, als jetzt eine Nachtigall uͤber mir in den Baͤu - men laut zu ſchlagen anfieng. Sie koͤnnen es nicht faſſen und nicht begreifen, Roſa, kein Menſch kann mir dies Gefuͤhl nachempfinden.

Die Bedienten mußten ſchon ſchlafen gegan - gen ſeyn, denn es regte ſich nichts im ganzen Hauſe und doch ſtieg ſchon eine helle Flamme aus dem Fenſter zum Dache hinauf, der Rauch ſtieg in groͤßern Wolken zum Himmel und waͤlz - te ſich nach der Vorderſeite hin. Es entſtand127 noch immer kein Geſchrey, die Blainville eroͤff - nete mir auch nicht die Thuͤr; das Licht in Amaliens Zimmer blieb ruhig an ſeiner Stelle. Ich zitterte vor Ungeduld, vor Angſt und Ver - gnuͤgen. Wie man im Traume zuweilen auf ei - ner ſchwindelnden Hoͤhe ſteht, ſich vor dem Ab - grunde entſetzt und dennoch weiß, daß man hin - unter ſtuͤrzen wird, wie man denn in unbeſchreib - licher Angſt den Augenblick des Hinabfallens wuͤnſcht, ſo, grade ſo kamen mir dieſe Sekun - den vor. Ich konnte nicht begreifen, wo die Blainville ſo lange zoͤgerte: ich gieng heftig auf und ab und ſtand dann wieder ſtill, ich traute meinen Augen und meinen Ohren nicht, daß al - les, gegen die Abrede, noch ſtill blieb und ſich die Thuͤr noch immer nicht eroͤffnete, und den - noch ruͤckte die Zeit unaufhaltſam und fuͤrchter - lich weiter. Die Flammen brannten hell zum Dache hinauf, Ziegel ſtuͤrzten herunter, der Wi - derſchein zitterte in den gruͤnen Baͤumen, das ganze Haus war mit Rauch umgeben und jetzt glaubte ich eine ſchwache Stimme zu hoͤren, die nach Huͤlfe rief. Als ich noch ungewiß war, was ich thun ſollte, eroͤffnete ſich Amaliens Fenſter, ſie ſah heraus und fuhr mit einem128 Schrey des Entſetzens wieder zuruͤck: lauter und geaͤngſtigter rief ſie dann um Huͤlfe; das Zim - mer war voller Rauch, ich ſah es deutlich, Da fiel mir ploͤtzlich eine Stelle aus einem ih - rer Briefe ein, den ſie mir Unwuͤrdigen noch nach Paris ſchickte und in dem ſie mit liebens - wuͤrdiger Beſorglichkeit ſchrieb, weil ſie ſeit lange keine Nachrichten von mir erhalten hatte:

Ich ſehe Sie ohnmaͤchtig gegen die Wellen kaͤmpfen, oder in einem bren - nenden Hauſe vergebens nach Rettung rufen.

Das ſchrieb ſie mir damals als ich ſie uͤber die elende Blainville vergeſſen hatte, dieſelbe Blainville, die jetzt die verzehrenden Flammen gegen ihre Wohlthaͤterinn ausſchickte. Wie ein Wirbelwind faßte es mich nun an, es war das Schickſal ſelbſt, das mich allmaͤchtig ergriff; ich nahm eine große Leiter und legte ſie an das Fenſter, ich wußte nicht, was ich that. Ich ſtand in Amaliens Zimmer, ſie lag oh - ne Beſinnung auf einem Sofa. Ich druͤckte ſie[an] meine Bruſt, meine Arme umſchloſſen ihren zarten Koͤrper und ſo trug ich ſie die Leiter hin - ab und legte ſie auf eine Raſenſtelle unter denBaͤu -129Baͤumen nieder. Sie ſah mich mit einem matten Blicke an, ich kniete neben ihr nieder. Alle meine Sinne wandten ſich gleichſam um, ich dachte nichts, und ſah ſie nur vor mir liegen, und die holden blauen Augen und den ſanften, menſchenfreundlichen Mund, von dem ſonſt mein Nahme ſo oft getoͤnt war. Sie zitterte und ich ſtammelte einige Woͤrte[r, i]ch weiß ſelbſt nicht was, dann druͤckt ich mein Ge - ſicht an ihren Buſen, ich wuͤnſchte zu ſterben; meine heiſſe Wange ruhte dann an der ihri - gen, und ſie war kalt, ich hielt ſie fuͤr todt und umarmte ſie noch einmahl, ein verworrenes Getuͤmmel umgab das brennende Haus, dann ſtand ich auf und eilte fort, ſie rief mir et - was nach, ich habe es nicht verſtanden. Ich wollte umkehren, aber mir ſelbſt zum Trotze ging ich weiter.

Im Walde ſank ich unter einem alten Bau - me nieder. Ich hoͤrte ein Geſchrey aus der Ferne, und große Funken ſtiegen zum Him - mel und erloſchen dann: ich ſah ihnen kalt nach, und weinte endlich laut und heftig: Die Winde rauſchten durch den Wald und wie Millionen ſcheltender und verhoͤhnender Zun -Lovell. 3r Bd. J130gen bewegten ſich die Blaͤtter toͤnend umher; verlaſſen von allem was lebt, verlaſſen von der lebloſen Natur ſtieß ich meinen Kopf verzwei - felnd gegen den Stamm des Baumes: eine wuͤ - ſte Dunkelheit erfuͤllte mein Inneres, ich war von mir ſelbſt abgetrennt, und betrachtete und bemitleidete mich als ein fremdartiges Weſen. O ich haͤtte nur einen Hund haben moͤgen, der ſich winſelnd an mich gedruͤckt haͤtte, er haͤtte mich getroͤſtet, ich haͤtte ihn fuͤr meinen Freund gehalten.

Das Gewitter brach jetzt herein. Laute Donnerſchlaͤge hallten den Wald hinab und Re - genguͤſſe rauſchten durch die Baͤume. Die gan - ze Natur ſchien zu erwachen und ſich zu ent - ſetzen. Blitze flogen durch das Dunkel und ſchie - nen mich zu ſuchen, Thiere winſelten aus der Ferne, Eulen flogen ſcheu umher, und die gro - ßen Wolken arbeiteten ſich muͤhſam durch den Himmel. Vom Regen durchnaͤßt ſchlief ich endlich ein, als ſich das Getoͤſe vermindert hatte.

Der Morgen grauete als ich erwachte, der Traum verflog und uͤbergab mich meiner eigenen Exiſtenz wieder. Ich wandte keinen Blick zuruͤck, ſondern ging in gerader Richtung fort;131 jedem Menſchen ging ich aus dem Wege, ich ſchlich um die Doͤrfer herum.

Ich freue mich jetzt daruͤber, daß ich Ama - lien gerettet habe; aber fuͤr Mortimer! Doch ich will fort; ſie ſoll mich weiter nicht kuͤmmern, ich will ſie und Alles vergeſſen.

Sie ſehn mich bald wieder.

J 2132

29. Mortimer an Eduard Burton.

Ich ſchreibe, um Ihnen einen ſonderbaren Vorfall zu melden. Ich bin innig erſchuͤttert und ich wuͤnſche nur, daß dieſe Begebenheit fuͤr Amalien keine uͤblen Folgen haben moͤge.

Vorgeſtern ritt ich nach einem Dorfe ohn - gefaͤhr dreyßig Meilen von hier, weil ich ge - hoͤrt hatte, daß ſich dort ſeit einiger Zeit ein Frauenzimmer aufhalte, von der man nicht ge - nau wiſſe wer ſie ſey. Manches in der Beſchrei - bung paßte auf Ihre ungluͤckliche Schweſter, ſo daß ich ſogleich hineilte, ſie ſelbſt zu ſehen. Es war aber die Tochter eines armen Edel - manns, die ſich nach vielen erlittenen Ungluͤcks - faͤllen mit ihrem armen Vater in das Dorf niedergelaſſen hatte. Ich war von ihrer Erzaͤh - lung geruͤhrt, und kehrte ſchon geſtern wieder zuruͤck. Wie erſtaunt 'ich aber als ich naͤ - her kam, und mein Wohnhaus ſo ganz verwuͤ - ſtet fand! Allenthalben die deutlichſten Spuren133 eines Brandes und ein Nebengebaͤude rauchte ſelbſt jetzt noch. Amalie war krank.

Ich erfuhr, daß an dem Abend meiner Ab - weſenheit wirklich Feuer ausgekommen, das aber bald durch die Anſtalten und durch einen einfal - lenden Regenguß geloͤſcht worden ſey. Amalie war als noch niemand weiter das Feuer bemerkt hatte, von einem Fremden gerettet, den niemand weiter nachher geſehn hatte.

Das Ganze erhielt aber noch ein weit aben - theurlicheres Anſehn, als man jetzt die erſtickte Charlotte fand, die ſich in der Angſt oder Zer - ſtreuung aus einer verſchloſſenen Thuͤre nicht hatte retten koͤnnen, ob ſie gleich den Schluͤſſel in der Taſche hatte. Man fand zugleich eine Brieftaſche bey ihr, die ich unterſuchte, und zu meinem Erſtaunen aus einigen Papieren ſah, daß eben dieſe haͤßliche Charlotte die Comteſſe Blainville war, die ich in Paris gekannt hatte. Seit dieſer Entdeckung habe ich allerhand ſeltſame Vermuthungen, die auf der einen Seite aber ſo unwahrſcheinlich ſind, daß ich ſie Ihnen nicht einmahl mittheilen mag. Ich danke Gott, daß derganze Vorfall ſich noch ſo gluͤcklich geendigt hat.

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Amalie weiß noch immer nicht das ungluͤck - liche Schickſal Ihrer Schweſter, ſie will daher durchaus einen Brief an dieſe einlegen; ich kann ihr ihr Verlangen nicht abſchlagen, ohne Ver - dacht bei ihr zu erregen, ihr aber noch weniger die Geſchichte ihrer Freundinn entdecken, weil es ſie jetzt zu ſehr erſchuͤttern wuͤrde. Sie erhalten alſo in dieſem Briefe zugleich einen andern an Ihre Schweſter.

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30. (Einlage des vorigen Briefes.) Amalie an ihre Freundinn Emilie Burton.

Schon ſeit lange, liebe Emilie, habe ich auf Briefe von Ihnen gehofft, ich wollte Ihnen nicht eher antworten, bis Sie mir Ihrem Verſpre - chen gemaͤß den Nahmen des intereſſanten Un - bekannten genannt haͤtten. Ihr Stillſchweigen aber und ein Vorfall, den Sie ſchon durch Mor - timers Brief werden erfahren haben, macht daß ich Ihnen fruͤher ſchreibe. Ach, Emilie, ich habe die Furcht des Todes auf eine recht fuͤrch - terliche Art empfunden. Ich las am Abend, weil ich allein und Mortimer auf einige Tage verreiſt war; ich war muͤde und wollte ſchon ſchlafen gehen, als ich in meinem Zimmer einen Rauch bemerkte. Ich konnte nicht begreifen, wo er herkaͤme; ich ging umher, der Dampf verſtaͤrkte ſich, ich muſte huſten, in einem Au -136 genblicke aber ward er ſo ſtark, daß ich zu er - ſticken fuͤrchtete; ich wollte das Zimmer verlaſ - ſen, allein ich hatte die Thuͤr ſchon verſchloſſen, und konnte jetzt in der Dunkelheit, in der Verwirrung den Schluͤſſel nirgends finden. Das Athmen ward mir ſchwer, und ich fuͤhlte es, wie mich mein Bewußtſeyn nach und nach ver - ließ. Ich rief nach Huͤlfe, aber meine Stimme war nur ſchwach. In der groͤßten Angſt oͤfnete ich endlich das Fenſter und Dampf und Feuer - flammen fuhren mir entgegen. Niemand war in der Naͤhe, ich ſah einen unvermeidlichen furchtbaren Tod vor und neben mir: ich ſank ohnmaͤchtig nieder. Wie in einem Wagen fuͤhlte ich mich nun fortgefuͤhrt, eine kalte Luft wehte mich an, ich erwachte und lag unter den Baͤumen vor meinem Hauſe. Es war finſter, die Flammen erhellten die Nacht; Getuͤmmel von Bedienten in der Ferne, und ein Unbekann - ter kniete neben mir. Ich wußte nicht, ob ich traͤumte, oder wachte; der Fremde, der mich gerettet hatte, ſchloß mich in ſeine Arme, ich bin Lovell! keuchte er mir mit erſtickter Stimme entgegen. Mein Bewußtſeyn ver - ließ mich wieder; die ſeltſamſten Bilder, die137 fernſten Erinnerungen gingen durch meinen Kopf o Lovell, Ungluͤcklicher, lieber Lovell! rief ich ihm laut nach, denn er war ſchon da - von geeilt.

O was empfand ich nun, liebſte Emilie! Ich habe ſo oft gewuͤnſcht ihn nur noch ein - mahl zu ſehen, und nun koͤmmt er und verſchwin - det in demſelben Augenblicke wieder. Warum hab 'ich ihm nicht manches ſagen koͤnnen, was ich ſchon ſeit ſo langer Zeit auf dem Herzen habe? Warum iſt er hieher gekommen, und durch welchen Zufall muß er es gerade ſeyn der mich rettet? Ich habe ihm nicht einmahl danken koͤnnen, ach! ich habe viel deswegen geweint, daß ich ihn nicht geſprochen habe.

Die Bedienten trugen mich in's Garten - haus; ein ſchreckliches Gewitter tobte jetzt in der Luft; alles vereinigte ſich, mich zu be - truͤben.

Die arme Charlotte hat man in einem Zim - mer todt gefunden; o wie bemitleide ich ſie, da ich ſelbſt das Schreckliche ihrer Lage em -138 pfunden habe! Sie hat ſich gewiß nicht[ret - ten] koͤnnen; auch daruͤber habe ich geweint. Ach wie viel Ungluͤck, liebe Freundinn, giebt es im menſchlichen Leben!

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31. Eduard Burton an Mortimer.

Wie hat mich die Einlage Ihres Briefes von neuem geruͤhrt! Es iſt keine Emilie mehr hier, an die ich ſie, wie wohl ſonſt geſchah, haͤtte abgeben koͤnnen. Und noch immer keine Nachrichten von meiner Schweſter? Wil - mont iſt umhergeſtrichen und wiedergekommen; er hat nichts von ihr erfahren koͤnnen. Er will jetzt von neuem umherreiſen; ich fuͤrchte fuͤr ſeine Geſundheit. Sie haben eine Un - gluͤckliche getroffen, die Sie anfangs fuͤr meine Schweſter gehalten haben, und auch Wilmont hat mir von mehrern erzaͤhlt, die ihn oft auf die Vermuthung brachten, daß es wohl die ar - me Emilie ſeyn koͤnnte. Sehn Sie, Mortimer, wie viele Menſchen noch außer uns leiden. Wenn ich doch nur in dieſem Gedanken einigen Troſt finden koͤnnte!

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Das Gefuͤhl der Einſamkeit quaͤlt mich faſt zu Tode, alle Zimmer ſind mir zu eng, die Luft im Garten iſt mir nicht frey genug. Unaufhoͤrlich traͤume ich von Emilien; giebt es einen Kummer, der groͤßer waͤre, als den man uͤber einen lieben Gegenſtand empfindet?

Ich wuͤnſche es oft innig, krank zu wer - den, und ſo zu ſterben, denn es iſt ja doch niemand, der uͤber mich weinen wuͤrde. Ich ſuche den Armen wohl zu thun, aber was iſt das dagegen, wenn ich Emilien wohl thun, wenn ich den ungluͤcklichen Lovell wieder zu meinem Freunde machen koͤnnte? Jedes All - moſen, das ich gebe, jede Linderung, die ich verſchaffe, iſt nur ein kleiner Abtrag von mei - ner großen Schuld.

Ich war vor einiger Zeit ſchwach genug, daß ich Emilien und Lovelln an dunkeln Stel - len meines Gartens Denkmaͤhler errichten woll - te; ich vergaß uͤber dieſe kindiſche Spielerey meinen Schmerz waͤrend eines halben Tages, aber da ich wieder einige ihrer Kleidungs - ſtuͤcke ſah, da ich meinen Schreibtiſch oͤffnete,141 und mir etwas Geſchriebenes von ihr in die Haͤnde fiel, o da kam der Jammer von neuem uͤber meine Seele, und ich empfand es, daß mein armes, zerriſſenes Herz keiner Denkmaͤh - ler brauche, um zu trauern. Es iſt betruͤbt, daß wir alles gern putzen und verſchoͤnern moͤ - gen und oft uͤber den Putz und die Zufaͤlligkei - ten die Sache ſelbſt vergeſſen. Dein blo - ßer Nahme, Emilie, ruft alles in meine Seele zuruͤck; alle Erinnerungen ehemaliger Freude, jede Liebkoſung von Dir, jeden Scherz, die Spiele der Kinderjahre, ach Mortimer, ich moͤchte manchmal verzweifeln, wenn es mir ſo ganz friſch wieder einfaͤllt, daß alles nun wirk - lich voruͤber iſt, daß es nicht aͤngſtliche Einbil - dung von mir, ſondern daß es wir klich iſt. O ich glaube, daß ich nicht genug leiden, daß ich nicht laut genug klagen kann.

Koͤnnt 'ich doch die Vergangenheit zuruͤck - rufen! O ihre zaͤrtlichſte Liebe ſollte mir nun gewiß nicht entgehen, ſie ſollte jetzt gewiß nicht vor mir fliehen! Aus uͤbelverſtande - ner Maͤnnlichkeit, mit einem ſchlecht ange -142 brachten Ernſte war ich von je zu kalt gegen ſie: ich fuͤhlte oft die ſchoͤnſte bruͤderliche Liebe, die waͤrmſte Zuneigung gegen[ſie], daß ich haͤtte an ihre Bruſt ſinken moͤgen und ſie umarmen und kuͤſſen, als waͤre ſie eben von einer ſchweren Krankheit geneſen, oder als waͤre ſie von einer langen Reiſe zuruͤckge - kommen. Aber dann uͤberraſchte mich wieder die kleinliche Furcht, nicht fuͤr affektirt oder ſonderbar zu gelten, und ich blieb in dem ge - woͤhnlichen Tone des Umgangs; ich war oft gegen ihr herzlichſten Aeußerungen zuruckſto - ßend, und das hat ſie mir am Ende fremd ge - macht; ſie hat mir ihre Gefuͤhle nicht zuge - traut und aus Verdruß und Schmerz hat ſie ein naͤher verwandtes Herz ſuchen wollen: Auch gegen Lovell war ich immer zu kalt, ich fuͤhlte ſeine Uebertreibung in der Freundſchaft, und um nicht in denſelben Fehler zu fallen, war ich froſtig. O die Menſchen wiſſen es gar nicht, ſie koͤnnen es nicht wiſſen, wie ſehr ich ſie liebe, und darum moͤcht' ich ſie wieder hier haben, um ihnen alles zu ſa - gen, und mich zu erkennen zu geben, um wie ein Verirrter die Heimath wieder zu fin -143 den. Aber, ach! der Ruͤckweg iſt mir ver - ſchloſſen; ich bin in meinen gegenwaͤrtigen Ge - fuͤhlen eingekerkert und ſie werden meine Hei - math bleiben.

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32. William Lovell an Roſa.

Sie erhalten jetzt aus England meinen letzten Brief, denn in einigen Tagen will ich abreiſen. Ich habe meinen Muth wieder, den ich neulich ganz verlohren hatte; ich bin wandelbarer wie Protheus oder ein Kamaͤleon, das gebe ich Ih - nen gern zu. Die Nichtswuͤrdigkeit des gan - zen Menſchengeſchlechts hat mich von neuem ge - troͤſtet, ich gebe mich uͤber mich ſelbſt zufrieden, weil ich ſo ſeyn muß und nicht anders ſeyn kann.

Die Betruͤbniß iſt ſo gut eine Trunkenheit, wie die Freude, beide verfliegen, und um ſo fruͤher, je heftiger ſie ſind: im Augenblicke des Affekts aber will man nur ſchwer daran glau - ben, und dies iſt auch ſehr gut, denn[ſonſt] wuͤr - den wir nur immer ein traͤges phlegmaͤtiſches Daſeyn ſchleppen, das nicht aus der Stelle will; alle Leidenſchaften werden wie muntre Pferde angeſpannt, um die ſchwerfaͤllige Maſſe uͤber Huͤgel und Berge, durch Thaͤler und Stroͤme,immer145immer zu und unaufhaltſam fortzureißen: wo - hin? daran denkt man nur, wenn man wie - der Schritt vor Schritt weiter ſchleicht.

Ich ſehne mich jetzt oft nach der Einſamkeit, denn ich bin mit den Menſchen zu bekannt, als daß ſie noch Intereſſe fuͤr mich haben koͤnnten. Sie taͤuſchen mich nicht mehr und alles Ver - gnuͤgen an dieſem Schauſpiele iſt dahin, es er - ſcheint mir fade und abgeſchmackt. Die Men - ſchen ſind weit beſſer dran, die ſich und ihre ſogenannten Bruͤder noch gar nicht kennen, denn ihnen ſieht das Leben bunt und angenehm aus, ſie trauen jedem und werden von jedem betro - gen; eine Ueberraſchung folgt dicht auf die an - dere, und ſie bleiben in einer beſtaͤndigen Ver - wickelung, in einem unaufhoͤrlichen Erſtaunen. Aber jetzt laͤchle ich und druͤcke die Hand, ich mache Gebehrden, wie man es verlangt, und ſammle andre von andern ein und doch bin ich dabey nicht beſchaͤftigt. Ich ſchwoͤre, wie die uͤbrigen, auf tauſend Sachen, und weiß nicht, wovon die Rede iſt, ich bejahe und ver - neine und bin dieſer und dann wieder jener, ei - ne Kugel, die ſich nach allen Seiten wenden kann, aber wie langweilig, wie zuwider iſtLovell, 3r Bd. K146mir nun auch jedes Geſicht! Keiner erreget mei - ne Aufmerkſamkeit, weil ich ihn bis auf ſeinen kleinſten Gedanken auswendig weiß.

Ich ſprach in einem meiner Briefe uͤber die Weiber, aber o Himmel! was ſind denn die Maͤnner? Wenn ich die Menſchen achten muͤßte; ſo wuͤrde ich mir doch nur die Weiber auswaͤhlen, denn dis unbeholfene, lin - kiſche, aufgeblaſene und kriechende Thier, das wir Mann nennen, o ich kenne nichts ver - aͤchtlichers, als dieſe widerſprechende Miſchung von Verſtand und Narrheit, Feſtigkeit und ver - aͤnderlichem Weſen. In der Jugend haͤngen die Maͤnner von den Blicken, von dem Laͤcheln der Weiber ab: ſie ſuchen zu gefallen und for - men ſich nach hingeworfenen Winken, ſie halten ſich fuͤr die Herren der Welt und laſſen ſich ei - ner Nichtswuͤrdigkeit wegen tyranniſiren. Ihre kuͤhnſten Wuͤnſche, ihre frechſten Plane ſind nur Lakayen und nachtretendes Gefolge der ſinnlichen Begierde. Der ſtupide Bauer ſchaͤtzt ſich gluͤck - lich, wenn der vorbeyfahrende Miniſter ſeinem Gruße dankt, er glaubt einfaͤltig, es ſey ihm nur allein geſchehn, und unterlaͤßt nicht, es der ganzen Dorfſchaft zu erzaͤhlen: und der Miniſter147 ſieht dreymahl oͤfter in den Spiegel, wenn ihn ein Maͤdchen angelaͤchelt hat, das ihn bis da - hin kalt betrachtete. Nach jedem Betruge glaubt der Mann, das ſey nun auch das letzte Weib, das ihn hintergangen habe: er haͤlt am folgenden Tage eine andere fuͤr vollſtaͤndig tu - gendhaft, er ſchwoͤrt darauf, alle uͤbrigen waͤren nichts werth geweſen, aber dieſe nur, dieſe ſey ordentlich fuͤr ihn gebohren, dann iſt er auf je - den Blick eiferſuͤchtig, dann faͤngt er jedes aus - geſprochene Wort auf, damit es ja kein anders Ohr, als das ſeinige, begluͤcke. Ein ewiger, raſtloſer Kampf, beſtaͤndige Disharmonie, alle Kraͤfte und Anlagen widerſprechen ſich, er will herrſchen, und iſt Sklave, er will lieben und haßt, Blicke lenken ihn gegen ſeinen Willen, er verachtet die Eitelkeit und iſt ſelbſt eitel, er, o er verdient wahrlich am Ende nicht, daß man ſich die Muhe giebt, uͤber ihn zu ſpre - chen!

Wenn nun das Blut langſamer durch die Adern fließt, dann treten die Leidenſchaften nach und nach in den Hintergrund zuruͤck. Das Hirngeſpinnſt des Stolzes beſetzt den Thron al - lein. Vorher konnte der Mann nur von Wei -K 2148bern regiert werden, jetzt aber von jedermann. Kinder haben ihn in den Haͤnden und werfen ſich ihn abwechſelnd, wie ein Spielzeug, zu. Wer ihm ſchmeichelt, iſt ſein Freund, und ſelbſt wenn er das Grobe, das Unzuſammenhaͤngende in der Schmeicheley bemerkt, ſo beleidigt ſie ihn doch nicht, er laͤßt ſich freywillig fangen, er glaubt ſelbſt an alle Vortrefflichkeiten, die ihm der unverſchaͤmteſte Poet in einem Geburts - tagsgedichte beylegt. Er iſt eine Blume, die von allen Inſekten ausgeſogen wird, er denkt uͤber ſich ſelbſt nie mehr nach, ſondern hat ſich voͤllig unter fremden Urtheilen gebeugt, er kennt ſich ſelbſt nur vom Hoͤrenſagen, und meint, an - dre Leute haͤtten fuͤr unſre Vorzuͤge und Fehler ein ſchaͤrferes Auge, als wir ſelbſt. Der groͤßte Dummkopf kann dann dieſe Maſchine zu ſei - nem Vortheile regieren, und der kluͤgere Menſch wird die ganze Welt nur fuͤr eine große Fabrik anſehn, in der dieſe Maſchinen hingeſtellt ſind, und die er zu ſeinem Vortheile in den Gang bringen muß.

Ich will fort, und zu Ihnen zuruͤckkehren, ich brenne vor Begierde, von Andrea mehr zu149 erfahren, und zu lernen; je mehr ich dieſe Welt haſſe und verachte, je mehr fuͤhle ich mich zu je - ner uͤberirdiſchen hinzugezogen, die mir Andrea aufſchließen will. Dieſe Bekanntſchaft iſt die letzte frohe Ausſicht, die ich habe.

Leben Sie wohl!

150

33. Emilie Burton an Mortimer.

Sie werden erſtaunen, indem Sie dieſen Brief eroͤffnen; Sie werden vielleicht unwillig, wenn Sie die Unterſchrift ſehen, aber der Freund - ſchaft wegen, die Sie fuͤr meinen Bruder ha - ben, wuͤrdigen Sie mich, meine Worte anzu - hoͤren. Mein ungluͤcklicher Irrthum wird Ihnen ſchon bekannt ſeyn, verſchonen Sie mich alſo mit der Erzaͤhlung, wie ich elend ward. O theurer Freund (wenn ich Sie noch ſo nennen darf) wuͤßten Sie, wie viel ich gelitten habe, Sie wuͤrden mir gern vergeben.

Ich ſcheue mich an meinem Bruder zu ſchrei - ben, ich ſchaͤme und fuͤrchte mich ihn zu ſehn; ich habe ihn zu ſehr beleidigt. Seine Liebe wuͤrde mir weh thun. Ich verließ ihn in ei - ner Trunkenheit, in einer Raſerey, ich wuß - te nicht was ich that. Ich folgte einem Unwuͤrdigen, dem ich mein ganzes Herz gege - ben hatte. Ich bildete mir mancher - ley ein; ach, ſchon auf dem Wege, ſchon151 eine Stunde nachher, als ich das Haus verlaſ - ſen hatte, erwacht 'ich; der glaͤnzende Irrthum, die Taͤuſchung, die Eigenliebe, alles verſchwand; ich ſah ein, daß Lovell mich nicht liebte, ach! und ich entdeckte in meinem eigenen Herzen, daß es ihn nie geliebt hatte. Ich ſah meine Ver - aͤchtlichkeit ein, die erzwungene Spannung einer hochfliegenden Phantaſie, die Sucht etwas Ei - genes und Beſonderes zu empfinden, ach, wie ich mich ſeit der Zeit verachtet und gehaßt ha - be! Aber ich habe hinlaͤnglich dafuͤr gelit - ten. O theureſte, theureſte Amalie, vergieb mir, daß ich mich immer uͤber Dir erhaben fuͤhlte, daß ich Dein Betragen und Deine Ge - fuͤhle unaufhoͤrlich meiſterte. O Gott! wie groß, wie heilig erſcheinſt Du mir jetzt in Dei - nem einfaͤltigen Wandel!

Ich kann die Feder kaum halten, ich fuͤhle mich ſehr ſchwach. Er hat mich ver - laſſen, unter fremden Menſchen lieg ich hier oh - ne Huͤlfe, krank, auf dem Todtenbette, das fuͤhl 'ich; der Gram, die Verzweiflung, ſie ha - ben die Kraft meines Lebens hinwegg nommen. O, er haͤtte mich doch nicht ſo verlaſſen ſollen, das hatt' ich doch nicht um ihn verdient!

152

Warum verließ ich jenes ruhige, ſchoͤne Gluͤck, das bei mir wohnte; Liebe und Wohlwollen, die mich von allen Seiten umgaben? Ach! mein Bruder! wenn er mir nur vergeben hat! wenn er nur keine Thraͤne um ſeine unwuͤrdige Schweſter vergießt! Doch wuͤnſcht 'ich ihn zu ſehn, ihn um Vergebung zu bitten: ach, ich wuͤrde ſeinen Anblick nicht aushalten koͤnnen.

Erbarmen Sie ſich meiner und beſuchen Sie mich; helfen Sie mir; vergelten Sie den armen Leuten hier, was ſie an mir gethan haben.

O Amalie! liebſte Freundinn! wenn ich Ihr Angeſicht noch einmahl ſehen koͤnnte!

Ich kann nicht weiter.

153

34. Mortimer an Eduard Burton.

O Freund, ſeyn Sie ein Mann, bezaͤhmen Sie Ihren Gram. Ihre Schweſter iſt nicht mehr. Ich fand ſie bloß um ſie ſterben zu ſehn.

Meine Augen ſind noch immer von Thraͤ - nen naß, ob ich gleich faſt nie geweint habe; aber dieſe Scenen haben mich ganz erſchuͤttert und alle Standhaftigkeit in mir umgeworfen. Sie nannte Ihren Nahmen oft, ſie wuͤnſchte Sie herbey, ſie laͤßt Sie durch mich um Ver - zeihung bitten. Wilmont war grade bey mir, als der Brief ankam, er ritt mit mir hieher. Als ſie ihn ſah, wandte ſie mit der groͤßten Betruͤbniß ihr Geſicht abwaͤrts. Karl ſah f[]rch - terlich aus. Er ſtarrte mit ſeinen Augen immer gerade vorwaͤrts, ſie ſchluchzte, ein gro - ßer Krampf druͤckte an ihrem matten Herzen, o ich wuͤnſche eine ſolche Scene nicht noch ein - mahl zu erleben.

154

Troͤſten Sie ſich; und doch kann ich Ihnen nichts zu Ihrem Troſte ſagen: ich bedarf ſelbſt eines troͤſtenden Freundes.

O Lovell! wie viele Seufzer und[Thraͤnen] brennen auf Deiner Seele!

Leben Sie wohl, ich kann nichts weiter hin - zufuͤgen.

155

20. Karl Wilmont an Eduard Burton.

So iſt es denn aus, voͤllig aus! Alle Hoff - nungen ſind todt! Ach Emilie! Emilie! O koͤnnt 'ich Dir folgen! Aber bald; erſt muß ich aber den Niedertraͤchtigen aufſuchen[und] ſtrafen. Er kann nicht mehr in England ſeyn, ich will fort und ihn finden. Dann, Emilie, ſehn wir uns wieder. Sie nannte ſeinen Nahmen, noch ehe ſie ſtarb; es war ein Feldgeſchrei zur Rache!

Leben Sie wohl, Freund! Troͤſten Sie ſich, ich will nicht getroͤſtet ſeyn. Mortimer nann - te meinen neulichen Brief unmenſchlich und er hat Recht, ich bin kein Menſch mehr, ich mag es nicht ſeyn; ein Daͤmon der Rache bin ich, der jetzt durch die Welt zieht, die Strafe, die den Verbrecher aufſucht. Leben Sie wohl!

156

36. Eduard Burton an Mortimer.

Ich kann mich kaum uͤberwinden, Ihnen einige Worte zu ſchreiben. Meine Haͤnde zittern, Thraͤnenguͤſſe haben meine Augen verdunkelt. O Gott! ich habe ſie nicht noch einmal geſehn! Sie hat ſich in der Stunde des Todes nicht an mich gewandt. Siehſt Du, Eduard, ſo wirſt du geliebt! Ach, was kann ich ſagen? Ich kann nur ſchluchzen und jammern! Mußte es ſo mit Emilien endigen? Und durch Lovell, durch Lovell mußte mir dieſer Jammer zubereitet werden? O Emilie! haͤtteſt Du mir vertraut, fruͤher vertraut, ſo haͤtte ja noch alles koͤnnen gut werden! Aber nun, wuͤſt und todt iſt alles; keine Ausſicht, keine Hoffnung!

Der Kirchhof ſieht mir ſo ſchoͤn und freund - lich aus; ich wuͤnſchte dort zu ruhen.

Ach Willy! Du thateſt Recht, daß Du ſtarbeſt. Was giebt es hier fuͤr Freu - den?

[157]

William Lovell. Zweites Buch.

[158][159]

1. Andrea Coſimo an Adriano.

Du biſt nun ſchon ſeit zwey Wochen von Rom entfernt, und noch habe ich keine Nachrichten von Dir erhalten. Welche Geſchaͤfte koͤnnen Dich in Florenz ſo ſehr beſchaͤftigen, daß Du Deinem Freunde nicht eine kleine, armſeelige Stunde ſchenkſt? Findeſt Du es gar nicht der Muͤhe werth, auch in der Entfernung unſern Umgang fortzuſetzen? und uͤberdieß kann ich bis jetzt noch gar nicht einſehen, warum dieſe Entfernung aus Rom nothwendig war. Deine Eltern und Ver - wandten hatten bis dahin ohne Deine Perſon leben koͤnnen: und ich kann nicht begreifen was Deine Gegenwart jetzt ſo unentbehrlich machen ſollte. Willſt Du Dich wieder in jene enge160 Welt verkriechen, die Du ſeit einem Jahre mit ſo vieler Freude verlaſſen haſt? Biſt Du in Deiner Vaterſtadt von kleinlichen Verhaͤltniſſen geſeſſelt, die ſo oft den Menſchen anders ſtellen und ihn anders handeln laſſen, als er es mit freyerem Willen thun wuͤrde? Dann ſollteſt Du wenigſtens den Rath eines aͤltern Freundes hoͤ - ren. Wenn es kein ander Mittel giebt, muß man ſolche Verbindungen mit Gewalt zerreiſſen, man muß Eine unangenehme Stunde veranlaſſen, um ſich tauſend zu erſparen. Aber ich fuͤrchte, Du biſt zu einem ſolchen Entſchluſſe zu ſchwach, Du duldeſt lieber taͤgliche Martern als nur auf eine Viertelſtunde die Pein auf die Menſchen zu wenden die Dir das Leben verbittern; glaube mir, daß man jede Verbindung aufheben kann, wenn man nur ernſtlich will; dem feſten, eigen - ſinnigen Muthe erliegt am Ende jeder Menſch. Oder ſollteſt Du vielleicht Thor genug ſeyn, Dich in Florenz verliebt zu haben und deshalb nicht zu uns zuruͤkkehren? Nun, ſo wuͤnſche ich Dir recht baldige Erhoͤrung, damit Du ſchnell wieder in einen Menſchen verwandelt werdeſt.

Ich bin es uͤberdruͤſſig, noch weiter etwas hinzuzuſetzen; antworte mir wenigſtens auf die -ſen161ſen Brief, damit ich die Urſache erfahre, warum du mich ſo ganz vernachlaͤſſiget haft. Oft ſind wir nur unbeſonnen und veraͤchtlich, weil wir uns den Magen verdorben haben; es kann ſeyn, daß Du krank biſt; in dieſem Falle hoffe ich, daß wir uns wieder ſehen, ſobald Du Dich ge - beſſert haſt. Lebe wohl.

Lovell. 3r. Bd. L162

2. Adriano an Andrea Coſimo.

Ich freue mich uͤber Deinen Brief, weil er mir ein Beweis Deiner Freundſchaft iſt, und es thut mir jetzt ſehr leid, daß ich Dir nicht ſchon fruͤher Nachricht von mir gegeben habe. Deine Vermuthungen finden bey mir nicht ſtatt, denn ich bin weder verliebt, noch in einer aͤngſtlichen Lage feſtgehalten, ſondern mein Aufenthalt hier iſt nur die Erfuͤllung einer Pflicht, an die mich mein Herz ſchon laͤngſt erinnerte. Mein edler Freund wird nicht von mir verlangen, daß ich jetzt ploͤtzlich meine Eltern, die kraͤnklich ſind, verlaſſe, die die Gegenwart eines geliebten Sohnes, wo nicht heilen aber doch in einen leidlichern Zuſtand verſetzen kann. Glaube nicht, daß dies eine Empfindſamkeit iſt, die ich aus Affektation in meine Lage hineinlege, um das Druͤckende derſelben nicht zu fuͤhlen; ich denke, ich bin nie in Verſuchung geweſen, in dieſen Fehler zu fallen; es ſollte mir uͤberhaupt wehe thun, wenn Du uͤber dieſen Brief ſpotten koͤnn -163 teſt, wenn ich mir dadurch deinen Unwillen zu - zoͤge. Ich bin aber uͤberzeugt, daß Du mich wahr - haft liebſt, und ich kann daher unbekuͤmmert ſeyn. Sobald es moͤglich iſt, ſehe ich Dich wie - der; ich nenne mich indeß immer noch

Deinen Freund, Adriano.

L 2164

3. Adriano an Francesko.

Schon ſeit ich von Rom entfernt bin, wollte ich Ihnen ſchreiben, ja ich wollte Sie ſchon vor meiner Abreiſe einmahl muͤndlich ſprechen, allein eine gewiſſe Bloͤdigkeit hielt mich immer davon zuruͤck. Ich bin wirklich darin ungluͤck - lich, daß ich meinem Verſtande gegen die uͤbri - gen Menſchen zu wenig zutraue, ich muß erſt in einen gewiſſen Enthuſiasmus gebracht wer - den, und dann traue ich meinen Ueberzeugun - gen vielleicht wieder zu viel: wenn ich alſo bis jetzt gegen Sie zuruͤckhaltend war, ſo ſchieben Sie es allein auf dieſe Unentſchloſſenheit, auf kein Mißtrauen, das ich wahrlich gegen Sie am wenigſten kenne.

Andrea hat mir geſchrieben, und ſein Brief iſt ein Beweis ſeines Unwillens daruͤber, daß ich Rom verlaſſen habe; und dennoch, was kann ihm an mir liegen, da er andre Freunde hat, mit denen er oͤfter und lieber umgeht? Was kann ihn wenigſtens bewegen, mir einen ſol -165 chen Brief zu ſchreiben? Doch, ich will oh - ne Umſchweife zu Ihnen ſprechen.

Seit einem Jahre kenne ich Sie und An - drea, und ich hielt im Anfange Andrea's Be - kanntſchaft fuͤr das hoͤchſte Gluͤck meines Lebens. Er gab meinem Geiſte eine gewiſſe enthuſiaſtiſche Richtung, die ich bis dahin noch nicht gekannt hatte. Meine Seele ward durch ihn fuͤr muͤn - dig erklaͤrt, und ſie erſchrak im erſten Augen - blicke uͤber das große Vermoͤgen, das ihr jetzt ploͤtzlich zu Gebote ſtand, und eben dieſes Er - ſchrecken war die Urſache, daß ich es viel zu hoch anrechnete; ich hatte viel gewonnen, aber doch noch nicht die Kunſt, mich ſelbſt zu beobachten, und richtig zu ſchaͤtzen. Es liegt vielleicht et - was Wahres darin, daß der Menſch, der zuerſt den ganzen Gebrauch ſeines Verſtandes lernt, dem Verliebten gleicht, beide bringen ſich und ihren Zuſtand viel zu hoch in Anſchlag, beide halten den Gegenſtand ihrer Liebe fuͤr den ein - zigen in der Welt. Andrea nahm mir Vorur - theile und Irrthuͤmer; ich hatte vieles bis da - hin angenommen, ohne je daruͤber gedacht zu haben, meine eigene Seele war mir gleichſam fremd geblieben, und ich hatte das große Feld166 des Denkens nicht gekannt, und auch keine Sehnſucht nach dieſer Bekanntſchaft gefuͤhlt. Andrea lehrte mich die große Kunſt, alles auf mich ſelbſt zu beziehn und ſo die ganze Natur meinem Innern naͤher zu ruͤcken. Wie hab 'ich dieſen Mann damahls verehrt! mit welcher Lie - be habe ich in der erſten Zeit an ihm gehan - gen!

Nicht, daß ich ihn nicht noch jetzt achtete, aber meine ehemalige Liebe hat er verlohren. Er hat oft uͤber mich geſpottet, daß ich mit meinem Verſtande immer nur grade aus will, und alle Gedanken rechts und links am Wege liegen laſſe, er hat mir immer eine gewiſſe Ein - falt zugeſprochen, und ich weiß, daß mich ſein Scherz nie erbittert hat, denn er hatte voll - kommen Recht: es fehlt meinem Geiſte jene Faͤ - higkeit gaͤnzlich, durch das ganze Gebiet ver - wandter Gedanken zu ſtreifen, eine Ueberzeugung zu finden, und gegenuͤber den Zweifel dazu zu ſuchen, alle Kombinationen zu ahnden und ſie dann mit dem Scharfſinne wuͤrklich zu entdek - ken, mit den Analogien zu ſpielen, und die ent - fernteſte kuͤhn mit der erſten zu verbinden; mein Blick iſt beſchraͤnkt, die Natur hat mir wie167 einem Zugpferde die Augen zu beiden Seiten bedeckt, und ich kann immer nur die gebahn - te Straße vor mir ſehen. Draͤnge mein Blick in die ungeheuren Abgruͤnde der Zweifelſucht, die neben meinem Wege liegen, und ſaͤhe er ſeit - waͤrts die unuͤberſteiglichen Gebirge, ſo wuͤrde ich vielleicht ſcheu werden, und mein wilder Geiſt uͤber unebene Wege mit mir davon rennen, um ſich in die Abgruͤnde zu ſtuͤrzen.

Ich fand daher die Zweifelſucht, als die erſte Veranlaſſung des Denkens ſehr ehrwuͤrdig, aber ich erſchrak vor dem Gedanken immer nur zweifeln zu koͤnnen, keine Wahrheit, keine Ueberzeugung aus dem großen Chaos der kaͤmpfenden Gedanken zu erringen. Wenn der Geiſt zweifeln muß, und ſich auf dieſes Be - duͤrfniß die wahre Verehrung des Skeptizismus gruͤndet, ſo verlangt eben dieſer Geiſt auch end - lich einen Ruhepunkt, eine Ueberzeugung und ich kann alſo darauf auch die Nothwendigkeit der Ueberzeugungen gruͤnden.

Sollten wir denn auch die troſtloſe Aus - ſicht haben, unſer Leben hindurch zu denken, Gedanken gegen Gedanken und Zweifel gegen Zweifel unaufhoͤrlich abzuwaͤgen, indeß die Wa -168 ge ewig in einem ermuͤdenden Gleichgewichte ſteht? Sollte unſer Geiſt nur immer die Reihe von Gedanken wie bunte Bilder muſtern, ohne ſich ſelbſt in einem einzigen zu erkennen?

Als die Zeit voruͤber war, in der mich meine Eitelkeit vorzuͤglich an Andrea knuͤpfte, glaubte ich doch in ihm ſelbſt eine gewiſſe Unvol - lendung zu entdecken, die Sucht, mehr durch ſeine Gedanken zu glaͤnzen und zu erſchrecken, als die Wahrheit und das letzte Beduͤrfniß der Seele zu ſuchen. Er verachtet die uͤbrigen Menſchen ſo wie ſich ſelbſt, ihm iſt daher nichts in ſeinem Innern ehrwuͤrdig, er ſpielt mit den Menſchen nur ſo wie mit ſeinen Gedanken, er iſt nichts als ein gefaͤhrlicher philoſophiſcher Charlatan, bey dem ein witzi - ger Einfall und ein ſcharfſinniger und gro - ßer Gedanke einerlei iſt, der ſich ſelbſt bis auf den Grund zu kennen glaubt, indem er nur ſeine Faͤhigkeiten und Anlagen bemerkt hat. Er iſt, wenn ich mich ſo ausdruͤcken darf, die Skitze zu einer kolloſſaliſchen Figur, aber die Vollen - dung, die Vertheilung des Lichtes und Schat - tens fehlt ihm gaͤnzlich.

169

Sie werden dies nur fuͤr eine Hypotheſe annehmen, wofuͤr ich es auch nur ausgeben will, denn ich kann Ihnen nur beſchreiben, wie mir Andrea vorgekommen iſt. Andern ſcheint er vielleicht nicht ſo, und es iſt dann nur noth - wendige Bedingung meiner Art zu denken, daß ich ihn ſo und nicht anders ſehe.

Ich glaube, daß Sie mich kennen und daß Sie es mir zutrauen, wie gern ich mich unter den groͤßern Faͤhigkeiten einer hoͤhern Seele beuge; ich werde mich nie daruͤber wundern, wenn ein Freund eine Gefaͤlligkeit von mir und Nachſicht gegen ſeine Meinungen verlangt, denn es werden ſich Gelegenheiten finden, wo ich von ihm daſſelbe fordre; aber welcher Freund[w]ird den andern tyranniſiren wollen, wie es Andrea doch unaufhoͤrlich that? Hielt er uns nicht alle wie ein Heer von Dienern, die auf alles ſchwoͤren mußten was er ſagte, die be - ſtimmt waren, ihm in den wunderlichſten und ſeltſamſten Grillen nachzugeben? Ja, iſt es Ihnen nie eingefallen, daß er uns nicht viel - leicht zu noch ſchlimmeren Abſichten gemiß -170 braucht hat? O gewiß, nur waren Sie zu gutmuͤthig, den Argwohn in ſich deutlich werden zu laſſen und meine Zuruͤckhaltung ver - anlaßte die Ihrige.

Wozu waren jene ſeltſamen naͤchtlichen Verſammlungen, in denen er uns immer in eine gewaltſame Spannung zu verſetzen ſuchte? Ich war Thor genug, einigemal dort mit Hef - tigkeit zu deklamiren, um von einer Schaar von Dummkoͤpfen bewundert zu werden, die bei Andrea in der veraͤchtlichſten Knechtſchaft ſte - hen. Aus welchen Urſachen kettete Andrea den jungen Lovell ſo feſt an ſich? Wozu jene Gaukeleyen und Erſcheinungen, von denen Sie doch ſo wenig wie ich werden hintergangen ſeyn, und die den jungen Englaͤnder faſt wahnſinnig machten? Ich ſtand ſeitwaͤrts und zum erſten - male ſchlich ſich ein verachtender Widerwille gegen Andrea in mein Herz. Wozu Lovell's ge - heimnißvolle Abreiſe? Was will er mit die - ſem jungen Menſchen, und warum muß er uns als mittelbare Maſchinen brauchen, ſeine Plane, ſeyen ſie auch welche ſie wollen, durchzu - ſetzen?

Alle dieſe Gedanken fielen mir ſchon ſeit171 lange ein, aber ich traute mir ſelber nicht. Ich hatte Andrea ſonſt ſo ſehr verehrt, daß ich es fuͤr wahrſcheinlicher hielt, daß ich ſeine Groͤße nicht begreifen koͤnne, als daß er nicht ganz groß ſeyn ſollte: aber ſeit ich hier in einem ruhigern Leben und unter einfachern und ein - faͤltigern Menſchen bin, koͤmmt mir alles von Rom aus ſo ſeltſam wie ein Traum vor. An - drea erſcheint mir in einem andern Lichte und alles, was ſonſt in mir nur ferne, leiſe Ahn - dung war, iſt nun zur Gewißheit geworden. Aus dieſem Grunde werde ich nicht nach Rom zuruͤckkehren, um mich nach und nach dem An - drea und ſeinen Geſellſchaftern fremd zu machen; denn moͤgen Sie es Einfalt nennen oder wie ſie wollen, ich habe jetzt vor ihm und ſeinen Mey - nungen eine gewiſſe Scheu; ich moͤchte mein Herz und meinen Verſtand beruhigen, und er wuͤrde alles anwenden um beides zu zerſtoͤren. Ich koͤnnte leicht durch neue Wendungen zu einer vielleicht noch ſchlimmern Verehrung hin - geriſſen werden, wer weiß, welche Schwaͤchen er noch in mir entdeckte, die er zu ſeinem Vor - theile nuͤtzen koͤnnte! Freilich iſt es etwas Thoͤrichtes, ſich vor ſich ſelber und vor etwas,172 das man noch nicht kennt, zu fuͤrchten, aber vieles Thoͤrichte iſt ſehr menſchlich, das fuͤhl 'ich, und vielleicht eben darum gut, und des - wegen will ich nach dieſem Gefuͤhle handeln. Ich bin nicht leichtſinnig genug, um ein Roſa, und nicht Enthuſiaſt genug, um ein Lovell zu werden, und beide ſind vielleicht ſchon ſehr ungluͤcklich.

Sagen Sie mir uͤber meinen Brief Ihre aufrichtige Meynung. Leben Sie wohl.

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4. Franzesco an Adriano.

Mich freut das Zutrauen, das Sie in Ihrem Briefe zeigen, ich kann Ihnen nichts weiter darauf antworten als, daß ich glaube, Sie ha - ben Recht, und daß ich ſogar darauf ſchwoͤren wollte, daß Sie Recht haben. Sie kennen mich ſehr gut, wenn Sie meynen, daß ich im Stillen eben ſo wie Sie uͤber Andrea gedacht habe, aber ich geſtand mir ſelbſt nicht, wie ich dachte, es war mir grade ſo wie einem, der ſich ſelbſt gern eine Krankheit ablaͤugnen moͤchte, um ſich nur eine langweilige, muͤhſeelige Kur zu erſparen. Nun ich aber die erſte Medicin genommen habe, kann ich unmoͤglich wieder zu - ruͤcktreten, ohne alles zu verderben.

So wie man ſich an alles in der Welt ge - woͤhnt, ſo hatte ich mich auch daran gewoͤhnt, unſern Andrea zu bewundern, ich ſchob da - bey immer die Schuld auf mich, wenn mir mancherley an ihm ſeltſam und abentheuerlich174 vorkam. Man kann wirklich annehmen, daß wir, ſo wie Andrea und alle Menſchen, in einem gewiſſen Grade wahnſinnig oder toll ſind, wir glauben es aber nur von denen, bei denen dieſe Tollheit eine ſolche Konſiſtenz erhalten hat, daß ſie zur ſichtbaren Einheit wird und daß man ſie als ein ſeltſames Kunſtwerk betrachten kann. Aber jedermann hat irgend etwas an ſich, das wahrhaftig nicht im mindeſten mit ſeinem ordi - naͤren, ſogenannten Verſtande zuſammenhaͤngt. Ich habe Leute geſehen, die Geſchmack hatten, und die abgeſchmackteſten verſchimmelten Schar - teken mit einem ſolchen Eifer zuſammenkauften, als wenn es ihre Lieblingsſchriftſteller geweſen waͤren; andere, die philoſophiſche Schriften uͤber alles ruͤhmten und von einigen behaupte - ten, daß man ſie nicht oft genug leſen koͤnne, die ſie aber nie laſen; Freigeiſter giebt es, die vor ihrem Schatten zittern, Aberglaͤubiſche, deren Handlungen ewig ihren Ueberzeugungen widerſprechen. Es iſt als wenn dieſer Kampf von ungleichartigem Weſen in uns das hervor - braͤchte, was wir einen gewoͤhnlichen Menſchen nennen; wer von dieſer Kompoſition abweicht, auf der einen oder andern Seite ausſchweift175 und alle Tollheit oder allen Verſtand in ſich erſtickt, der iſt einer von jenen ungewoͤhnlichen Menſchen, die wir wohl anſtaunen, aber nicht begreifen koͤnnen, einer von jenen ſchrecklichen Magiern, die wir in Felſenſchluͤften, oder in Tollhaͤuſern beſuchen; wir uͤbrigen ſtehn am Kreuzwege zwiſchen einem Heiligen und einem Wahnſinnigen. So macht 'ich mir im An - drea jenes Naͤrriſche zum menſchlichen, und fand ihn darum nur um ſo liebenswuͤrdiger, es war das, was ſeine Glorie verdunkelte, die wahre Narrenkappe, an der man den Menſchen von den Thieren und den Engeln unterſcheiden kann.

Andrea gab dem kalten, einfachen Men - ſchen ſehr viele Bloͤßen. Er geht mit ſeinen ſo - genannten Freunden auf eine ſeltſame Art um, er ſcheint ſelbſt muthwillig das von ſich zu ent - fernen, was man Zutrauen und Wohlwollen nennt, um es dann doch auf einem andern muͤhſeeligern Wege wieder zu ſuchen; er ließ uns in Zweifel, ob wir ſeine Geiſtererſcheinun - gen fuͤr Spaß oder Ernſt nehmen ſollten, aber alles dies ſchrieb ich auf die Rechnung der ſchon oft erwaͤhnten Tollheit, die mich nach und176 nach anſteckte, ſo daß ſie mir am Ende gar nicht mehr ſeltſam vorkam, ſo ſehr ſie mir auch im Anfange aufgefallen war. Jetzt aber bin ich ganz und gar Ihrer Meinung, ich ahnde Plane und Maſchinerien, und dies wird mich bewegen, mich ebenfalls von Andrea zuruͤckzu - ziehn. Wenn es nur moͤglich iſt! Ich bin zu bequem, um große Schritte zu thun und die kleinen dienen bei einem ſolchen Menſchen nur dazu, uns ihm wieder naͤher zu bringen. Wir ſollten an Roſa ſchreiben, vielleicht daß er uns die beſten Winke geben koͤnnte, da er immer mit Andrea am vertrauteſten geweſen iſt. Sagen Sie mir doch, wie Sie uͤber dieſen Vorſchlag urtheilen.

Lovell iſt mir immer als ein Narr vorge - kommen, aber ſeine Narrheit iſt eine tragiſche, und das thut mir um ſo mehr leid, da ich ihm gut bin.

5.177

5. Adriano an Francesko.

Sie zweifeln an der Moͤglichkeit, ſich von Andrea loszumachen? Er ſelbſt ſagt in einem andern Bezuge in ſeinem Briefe an mich, daß es uns leicht ſey, uns von jeder Verbindung loszureißen, und daß dem ſtandhaften Eigen - ſinne endlich ein jeder Menſch erliege. Ich glaube nur, daß Sie bei dieſem Entſchluſſe ei - nige kuͤhne Schritte werden thun muͤſſen, denn beides laͤßt ſich unmoͤglich vereinigen, ſich von ihm zu entfernen und ihm doch dieſe Entfer - nung unmerklich zu machen. Je mehr Sie ihn auf die Bemerkung hinleiten, um ſo viel leich - ter haben Sie Ihr Spiel gewonnen, denn er wird gewiß nicht mehr als Einen vergeblichen Verſuch anſtellen, Sie wieder zuruͤckzubringen, dazu verachtet er die Menſchen viel zu ſehr. Ob Roſa unſrer Meinung ſeyn werde, iſt eine andre Frage: und wenn er auch unſre Ueberzeu - gung hat, ob er dann auch zu uns uͤbertretenLovell. 3r Bd. M178werde. Ich kann mir Verhaͤltniſſe denken, die den Menſchen nach und nach ſo verſtricken, daß ſein Wille gaͤnzlich zum Schweigen gebracht wird, daß er in eine〈…〉〈…〉 aviſche Abhaͤngigkeit verſinkt; dies iſt vielleicht mit Roſa der Fall. Schreiben Sie ihm indeſſen, wenn er ſich noch in Tivoli aufhaͤlt.

179

6. Francesko an Adriano.

Ich bin Ihrem Rathe gefolgt und ich finde, daß ſelbſt Unbequemlichkeiten bei weitem nicht ſo unbequem ſind, als man ſich im Anfange vorſtellt. Andrea hat mein veraͤndertes Betra - gen bemerkt, aber er ſcheint keine beſondre Theilnahme daruͤber zu aͤußern. Es iſt wirklich gut, daß Sie mich in Ihrem neulichen Briefe auf alles aufmerkſam gemacht haben. Warum ſollen wir denn nicht auf unſre eigne Hand vernuͤnftig ſeyn duͤrfen, und immer nur auf die Beſtaͤtigung dieſes Andrea warten? Darf er denn nur unſerm Kopfe das Privilegium er - theilen, zu denken? Ich koͤnnte es niemals uͤber's Herz bringen, irgend einen Menſchen auf eine aͤhnliche Art zu beherrſchen; ich wuͤrde mich vor mir ſelber ſchaͤmen.

Hat denn nicht jede Schule und jede Sekte etwas ſehr Veraͤchtliches? Muß jeder Stifter und jedes Oberhaupt einem Baͤrenfuͤhrer glei -M 2180chen, der ſeine Untergebenen zu gewiſſen Kuͤn - ſten abrichtet, die ſie nach ſeinem Belieben wiederholen? Warum ſoll ich nun nicht ſo den - ken duͤrfen, wie mir der Kopf gewachſen iſt?

Ich habe an Roſa geſchrieben und ich bin auf die Antwort begierig.

181

7. Roſa an Francesko.

Sie haben mir durch Ihren Brief ſehr weh gethan, lieber Francesko. Soll ich Ihnen ſa - gen, daß Sie Recht haben, ſoll ich den Ver - ſuch machen, Ihnen das Gegentheil zu beweiſen? Beides wag 'ich nicht. Schon ſeit lange bin ich von allen Seiten mit Irrthuͤmern und Zwei - feln umgeben; ich kann keinen Schritt vor und keinen zuruͤck thun, ohne zu ſtraucheln. Wie glucklich ſind Sie und Adriano, da Sie ſich ſo ungebunden fuͤhlen, da Sie uͤberzeugt zu ſeyn glauben!

Sie koͤnnen ſich meine Lage vielleicht gar nicht vorſtellen. In einer Ungewißheit, daß ich daruͤber wuͤrfeln moͤchte, wie ich von Andrea denken ſoll, bald zu einer tiefen Verehrung hingeriſſen, bald von einem niedrigen Argwohn angelockt, mir bewußt, wie ſehr ich gegen mich ſelbſt geheuchelt und wie viel ich ihm zu danken habe, o Francesko, es waͤre um182 wahnſinnig zu werden, wenn man dieſen Ge - danken nachhaͤngen wollte. Was habe ich je gedacht, was nicht urſpruͤnglich aus Andrea's Kopfe gekommen waͤre? Ich fuͤhle und bekenne meine Schwaͤche. Sollte ich ihn aufgeben, ſo wuͤrde ich mit ihm alles dahin geben, was mich zuſammenhaͤlt, ich habe ſo vieles gethan, um ihm nahe zu kommen und alles ſollte nun ver - geblich ſeyn!

Und dann iſt es unmoͤglich! Ich kann Ih - nen nicht ſagen, warum, aber glauben Sie mir, es iſt unmoͤglich. Wenn der Menſch wuͤß - te, zu welchen Folgen ihn ein ganz gleichguͤltig ſcheinender Schritt fuͤhren koͤnnte, er wuͤrde es nicht wagen, den Fuß aus der Stelle zu ſetzen.

Am wenigſten kann ich mir jene Luͤgen vergeben, die ich mir ſelber vorſagte; in einer gewiſſen Spannung ſucht man das Wunderbare und ſtellt ſelbſt das Gewoͤhnliche auf eine ſelt - ſame Weiſe. Dieſe Uebertreibung druͤckt mein Herz ſchwer nieder, ob ich gleich nicht ganz Ihrer Meynung ſeyn kann, daß Andrea nicht in einem hohen Grade Verehrung verdiene; wenn wir ihn auch nicht begreifen koͤnnen,183 ſo berechtigt uns das noch gar nicht, ihn gaͤnz - lich zu verwerfen.

Ich habe oft abgeſetzt und war ſehr oft ungewiß, ob ich den Brief abſchicken ſollte. Moͤgen Sie ihn indeß nehmen, wie Sie wollen, bey einem billigdenkenden Manne wird er mich entſchuldigen.

184

8. Andrea Coſimo an Roſa.

Alle meine Freunde ſcheinen mir jetzt fremd zu werden. Adriano iſt nach Florenz gereiſt und koͤmmt nicht zuruͤck, den wohlbeleibten Fran - cesko habe ich ſchon ſeit einer Woche nicht ge - ſehn, und auch Du laͤſſeſt nichts von Dir hoͤren. Es ſcheint, als waͤre ich euch allen zu alltaͤglich geworden und als muͤßtet ihr mich eine Weile ungenuͤtzt liegen laſſen, um mich neu und un - terhaltend zu finden. Es iſt mir neu, daß man auf die Art ein Spiel aus mir macht, das nur als Seltenheit beluſtigen kann und oft wieder - holt ſchaal und ermuͤdend wird. Wie ver - aͤchtlich ſind jene Menſchen, die ſich aus kindi - ſcher Furchtſamkeit von mir entfernen, weil vielleicht manches, was ich ihnen ſagte, eine gewiſſe Bloͤdigkeit in ihrem Innern verurſachte, daß ſie ſich ſelbſt als Raͤthſel, oder als bejam - mernswuͤrdige Maſchinen vorkamen. Sie ziehn als Knechte an dem Joche ihrer Vorurtheile185 und Irrthuͤmer, ſie ſind die erniedrigten Laſt - thiere beſtandloſer Traͤume, die ſie aͤngſtigen duͤrfen, weil ſie nicht wagen die Augen aufzu - thun und zu erwachen. Moͤgen ſie denn in ih - rem Schlummer liegen bleiben und die wirkliche Welt und ſich ſelbſt nie kennen lernen.

Aber warum habe ich Dich ſeit ſo langer Zeit nicht geſehen, warum haſt Du mir nicht geſchrieben? Gehoͤrſt Du etwa auch zu jenen Menſchen, die einen Gedanken nicht zu denken wagen, weil er ihre bequeme Verdauung ſtoͤrt? Iſt das Eure Freundſchaft und Eure Seelen - ſtaͤrke? Willſt Du den elenden Lovell nachah - men, der nicht weiß, was er denken und was er empfinden ſoll? Der uͤber die Erde in ſeiner Einfalt geht, ſich in Dornen ritzt und meynet, unterirdiſche Rieſen ſtaͤchen nach ihm mit ge - waltigen Speeren? Der ſich uͤber Vorfaͤlle ent - ſetzt, mit denen Kinder ſchon vertraut ſeyn ſoll - ten? Habe ich mich darum aus dem großen Haufen der Menſchen zuruͤckgezogen, um unter den ausgewaͤhlten Freunden dieſelbe veraͤcht - liche Brut anzutreffen, der ich entrinnen wollte?

Noch an dem Graͤnzſteine meines Lebens186 treffe ich die Uebertellgung an, daß jenes menſch - liche Gepraͤge in jedem Bilde ſteht, das wir antreffen; ſo verſchiedenartig es auch ſcheint, ſo iſt es doch nur ein Stempel.

Wenn Du aber ſo ſehr von Deiner Wahr - heit uͤberzeugt biſt, ſo mache den Verſuch, mich zu widerlegen. Biete alle Deine Seelenkraͤfte auf, um mich aus dem Felde zu ſchlagen, das ich bis jetzt behauptet habe Welchen Gedan - ken haſt Du je ausgeſprochen, den ich Dir nicht geliehen habe? Wer anders als ich hat Dich aus einer kuͤmmerlichen Exiſtenz heraus - gehoben und Dich mit dem Leben bekannt ge - macht? Was waͤrſt Du ohne mich und was wuͤrde aus Dir werden, wenn ich Dich jetzt ploͤtzlich wieder fallen ließe?

Moͤgt Ihr doch alle zu Eurer Sklaverey wieder zuruͤckkehren, da Ihr mit der Freyheit nicht umzugehen wißt! Ihr liebt die Feſſeln und euren Block, an den ihr geſchloſſen ſeyd, um nur nicht in die Gefahr zu gerathen, in der Irre zu gehn. Ich brauche euch nicht; ich habe nichts weiter von euch gelernt, als daß ich meinen Irrthum einſehe, daß ich euch noch fuͤr etwas beſſer hielt, als ihr wirklich ſeid.

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9. Roſa an Andrea Coſimo.

Du irrſt, Andrea, wenn Du mein Stillſchwei - gen fuͤr etwas mehr als eine gewoͤhnliche Nach - laͤſſigkeit in der Freundſchaft haͤltſt. Wie koͤnn - te ich es je vergeſſen, was Du mir warſt, ſeit ich Dich kennen lernte? Wie kannſt Du von mir glauben, daß jene Menſchen mehr als Du auf mich wuͤrken koͤnnten? Ich muͤßte alles vergeſſen, was ich je gedacht und von Dir ge - lernt habe. Wie Schulknaben kommen ſie mir vor, die ihrem Meiſter entlaufen wollen. Sie dachten damals nur, um Dir einen Gefallen zu erzeigen, nicht um ſich ſelbſt wohl zu thun; ihr Magen liegt ihnen jetzt naͤher am Herzen als der Kopf, ſie kehren unter den großen Hau - fen ihrer Bruͤder zuruͤck, und bitten jeden, den ſie auf dem Kaffeehauſe treffen, in Gedanken um Verzeihung, daß ſie irgend einmal haben kluͤger ſeyn wollen als er. Sie gehn nun und graſen auf der duͤrren Gemeinweide des Wiſ -188 ſens und Denkens, ſie ſchonen ihrer Seele und ihrer neuen Kleider, um ſie nicht zu fruͤh abzu - tragen und auf die Feſttage nichts uͤbrig zu be - halten. O mir ekelt, wenn ich mir ihren Zuſtand recht lebhaft vorſtelle; ſie kommen mir vor, wie Knaben, die auf einem Karouſſel nach Ringen ſtechen, und wenn ſie einen erwiſchen, ſich nach Beifall umſehn und Wunder! meynen was ſie erobert haben. Nein, Andrea, zu dieſen wird ſich Roſa nie geſellen koͤnnen, und wenn er es auch noch weniger verdiente, Dein Freund zu ſeyn. Aber Du biſt ſeit einiger Zeit unwillig auf mich. Was kann ich fuͤr Lovell?

Ich mache mich eben fertig, um nach Rom zu reiſen. Ich will Dir zeigen, wie ſehr ich Dich liebe, wie ſehr ich Dich verehre und auf welche Art Du mir Unrecht gethan haſt.

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10. Roſa an Francesko.

Ich ſchrieb Ihnen neulich in der Eil, um nur Ihren Brief zu beantworten, aber jetzt habe ich der Sache reiflicher nachgedacht, und ich ſchreibe Ihnen jetzt, um Ihnen meine ernſtliche Meinung zu ſagen.

Ihr Argwohn und Ihre Beſorgniſſe hatten mich auf einige Tage angeſteckt, denn es macht eine große Veraͤnderung in unſerm Gemuͤthe, wenn man uns einen bekannten und geliebten Freund ploͤtzlich in einer andern Geſtalt darzu - ſtellen ſucht. Was ſind aber alle jene Beſorg - niſſe, die Sie in Ihrem Briefe aͤußerten, wenn man ſie genauer betrachtet? Vieles iſt in der Welt nur Redensart, wenn man es unterſucht, was ausgeſprochen ſehr wichtig klingt; und dies iſt, wie ich glaube, auch hier der Fall. Sie fragen: wozu koͤnnen nicht Andrea's Behauptun - gen fuͤhren? Ich glaube, daß man ſo etwas niemals fragen muͤſſe: denn es kann doch nichts190 ſchlimmers daraus entſtehn, als daß dieſe Nei - gung zum Forſchen, dieſer Trieb nach dem Un - endlichen, ja dieſe Furcht vor uns ſelber ſchon in uns iſt. Was kann von außen zu meiner Seele hinzukommen; und wie klein heißt das von mir ſelber denken, daß eine Gedankenreihe, ein Mechanismus meines Gehirns, mich ver - derben koͤnne? Es iſt die Furcht der Kinder, die ſich ſcheuen, den Namen Satans auszuſpre - chen, weil er ihnen unmittelbar darauf erſchei - nen koͤnnte. Man bekaͤmpfe Gedanken durch Gedanken und ſehe dann, welche als Sieger zu - ruͤckbleiben.

Ich komme jetzt nach Rom, aber ich bitte Sie, nicht weiter mit mir daruͤber zu ſprechen, denn ich werde immer dieſer Meinung bleiben.

191

11. William Lovell an Roſa.

Ich bin auf der Ruͤckreiſe nach Italien, ich ſchreibe Ihnen dieſen Brief aus Paris. Hier befinde ich mich beſſer, als auf der Reiſe hie - her; wenn man die Menſchen in einem dicht gedraͤngten Gewuͤhle ſieht, ſo ſind ſie weit er - traͤglicher, aber in armſeeligen Doͤrfern oder kleinen Staͤdten, in der Einſamkeit mit einigen von ihnen zuſammengebannt, o eine ſolche Sklaverei macht jedesmal einen ſchrecklichen Eindruck auf mein Herz. Man ſieht ſie dann ſo einzeln und abgeriſſen, und jede Armſeelig - keit an ihnen erſcheint dann vergroͤßert. Wie ſie alles nur auf ſich, einzig auf ſich beziehn! Wie der armſeeligſte Bauer meynt, daß man ihm ſein Haus und ſeinen wuͤſten Garten be - neide, wie jeder von der Narrheit und von den Schwaͤchen des andern ſpricht, ihn muſtert und ſich ſo unendlich uͤber ihm erhaben fuͤhlt! Wie keiner daran denkt, daß er einſt mit192 den Wuͤrmern und den wilden Blumen des Kirchhofs verwandt werden wird, ach! wie ſie den ekelhaften Koͤrper, jeglicher auf ſeine eigene Art, ausputzen und verherrlichen! O, ich moͤchte gar nicht daran denken, wenn ſich mir dieſe Gedanken nicht unaufhoͤrlich auf - draͤngten.

Hier in den betaͤubenden Zirkeln, in denen ſich alle Maſchinen auf die lebendigſte Weiſe bewegen, und jeder den andern durch witzige Einfaͤlle, oder durch Reichthum, oder Gluͤck, oder Schoͤnheit verdraͤngt, hier in dieſen bunten abwechſelnden Scenen iſt mir um vieles beſſer. Man ruͤhrt ſich mit unter den beweglichen Pup - pen, man lacht, trinkt und ſpielt, und vergißt dabey, daß man ein Menſch iſt; eben je mehr man unter ihnen iſt, je mehr vergißt man, daß man zu ihnen gehoͤrt.

Ich ſpiele viel und ich habe bei weitem nicht ſo viel Gluͤck, als in England. Ta - deln Sie mich nicht, denn iſt nicht alles, was wir Genuß der Seele nennen, etwas das dar - auf hinauslaͤuft? Ob ich mit Worten, oder Karten, Definitionen, Wuͤrfeln oder Verſen ſpiele, gilt das nicht alles gleich? An dieKarten193Karten und ihre wunderbaren, unerwarteten Abwechſelungen kann man alle Empfindungen knuͤpfen; das Gluͤck ſteigt und faͤllt, wie Ebbe und Fluth, mit jedem Spiele beginnt ein neues Schickſal und unſer Innres bewegt ſich harmo - niſch mit den Abwechſelungen der bunten Bil - der. Die Seele intereſſirt ſich fuͤr dieſe gefaͤrb - ten Zeichen und wird vertraut mit ihnen, und das Leben bleibt in einem unaufhoͤrlichen mun - tern Schwunge, die Leidenſchaften ſinken nie unter, Freude und Schreck wechſeln und jagen immer ſchneller und ſchneller das Blut durch die Adern, was koͤmmt gegen dieſe Empfin - dungen das unbeholfene Geld in Rechnung, das man zuweilen verliert? Jeder Menſch braucht eine Erſchuͤtterung, der eine ſucht ſie im Theater, der andere in irgend einem Ste - ckenpferde, dem er ſich mit der innigſten Liebe hingiebt; ein andrer macht Plane, ein vierter iſt verliebt, das Spiel erſetzt mir alles, es entfernt mich vom Bewußtſeyn meiner ſelbſt und taucht mich in dunkle Gefuͤhle und wunder - bare Traͤumereyen unter. Es iſt oft, als kaͤme man dem eigenſinnigen Gange des Zufalls auf die Spur, als ahndete man die Regel, nachLovell. 3r Bd. N194der ſich die durch einander gezogenen Kreiſe bewegen.

Auf der Fahrt von Southampton nach Guernſey hatten wir einen heftigen Sturm. Der Blitz zerſplitterte den einen Maſt und die Wogen donnerten und brauſten fuͤrchterlich. Wir alle kaͤmpften mit der Furcht des Todes und dicke Nacht lag um uns her. Die Winde ſtrichen pfeifend uͤber das empoͤrte einſame Meer hin, und beim Leuchten des Blitzes ſahn wir den Aufruhr der Fluth; das Geſchrey der Matroſen dazwiſchen, das Wehklagen der Ge - aͤngſtigten, o es waren fuͤrchterliche Stun - den! Nie hab 'ich mich ſo verlaſſen gefuͤhlt und dem blinden Ohngefaͤhr ſo gaͤnzlich Preis gegeben. Mit der Kaͤlte der Verzweiflung er - wartete ich rieſengroße Wogen, die das Schiff verſchlaͤngen, krachende Blitze, die es zerſchmet - terten, den Orkan, der es auf eine Klippe ſchleuderte. Eine fremde, bis dahin unbekannte Gewalt, die Liebe zum Leben, der Inſtinkt alles Lebendigen ſtand in meiner Bruſt auf[und] be - herrſchte mich und mein Bewußtſeyn. Ich lernte zum erſtenmale die Furcht, die Angſt vor dem Tode kennen; ich klammerte mich an den195 Maſt ſo feſt, als wenn ich das Schiff durch meine eigne Kraft uͤber den Fluthen empor hal - ten wollte. Ich wuͤnſchte nur zu leben, und vergaß jedes andere Gluͤck und Elend der Erde; der Tod war mir jetzt ein graͤßliches, rieſen - maͤßiges Ungeheuer, das ſeine Hand kalt und unerbittlich nach mir ausſtreckte; von allen Sei - ten hatten mich ſeine Waͤchter eingeſperrt und das Entrinnen war unmoͤglich! Wie lieb ge - wann ich in dieſen Augenblicken den Arm, der mich an den gefuͤhlloſen Maſt kettete, wie ſehr liebt' ich mich ſelbſt!

Das Wetter ward endlich ruhiger und alle erwachten wie aus einem ſchweren Traume, das Land, das wir erreichten, kam uns ſo neu und doch wie ein alter Freund vor.

Ich mag nicht noch eine ſolche Stunde er - leben, und wie leicht iſt es moͤglich, daß ſie mich ploͤtzlich uͤberraſcht. Ach, noch weit entſetzlicher iſt das einſame Krankenbette, in das der Tod nach und nach mit hineinkriecht, ſich mit uns unter einer Decke verbirgt und ſo vertraulich thut. Ich entſetze mich in man - chen Stunden davor, daß ich irgend einmal ſterben muß; man denkt daran nur ſo ſeltenN 2196ernſthaft, und doch iſt es wahr. Wie zittert der Suͤnder vor dem Tage ſeiner Hinrichtung und kann einer von uns dieſem Schickſale entgehn? Ach, das Leben iſt veraͤchtlich und fuͤrchterlich, aber der Tod iſt entſetzlich und abſcheulich; der arme, geaͤngſtigte Menſch ſteht in der Mitte und weiß nicht, wonach er grei - fen ſoll. Wie kaltbluͤtig uns die Dichter immer Sterbliche! anreden, und wie wenig wir ſelbſt meiſtentheils dabey empfinden!

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12. Eduard Burton an Mortimer.

Wie geht es Ihnen, lieber Mortimer? Ich habe lange keine Nachrichten von Ihnen bekom - men. Der alte Sir Ralph mit ſeiner Toch - ter, von denen Sie mir jetzt ſchreiben, wohnt jetzt in meiner Gegend, und er ſcheint ſich in ſeinem einſamen Hauſe recht wohl zu befinden. Es iſt eine Erquickung meines Herzens, es iſt eine Schuld, die ich abbezahle, wenn ich dieſen Leuten wohl thue. Ich beſuche ſie oft, und ich muß Ihnen geſtehn, daß ihr Umgang mich faſt am meiſten getroͤſtet hat.

Der alte Mann, der gut erzogen war, und nun am Rande des Grabes in die ſchrecklichſte Armuth verſinkt, halb blind, mit allen Bequem - lichkeiten des Lebens vertraut, und nun ploͤtz - lich von allem entbloͤßt, der gern ein Stricker ſeyn moͤchte, wenn er nur koͤnnte, der ſein Elend ſo innig fuͤhlt und ſich doch, ſo ſehr er Huͤlfe wuͤnſcht, davon zu ſprechen ſchaͤmt: er198 iſt mir nach und nach ſo intereſſant geworden, daß es mir vorkoͤmmt, als fehle mir irgend et - was, wenn ich ihn an einem Tage nicht ge - ſehn habe.

Seine Tochter iſt ein reizendes Bild der Unſchuld, ohne alle Praͤtenſion und voller Schaam. Sie wundert ſich uͤber Gluͤck und Ungluͤck gleich wenig in der Welt, und nicht aus Standhaftigkeit, ſondern weil ſie ſo unbe - fangen iſt, daß ſie glaubt, es muß ſo ſeyn. Sie iſt ein erwachſenes Kind, das mit allen Gegenſtaͤnden ſpielt, die es erreichen kann. O wohl dir, gluͤckliches Weſen! Wie bunt und luftig ſieht dir ſelbſt in deinem Elende die Welt aus, du gehſt mit neugierigem Auge hin - durch, und betrachteſt eifrig jede Nichtswuͤr - digkeit als etwas ſehr Merkwuͤrdiges. Sie ge - nießt das Leben wie man ſonſt nur ein Kunſt - werk genießt, es iſt ihr ein großer Jahrmarkt, mit nett ausgeputzten Seltenheiten.

Ach ich denke an Emilien zuruͤck. Alle meine Sorgen, alle ſchlafloſen Naͤchte fallen mir ein, wenn ich ein liebenswuͤrdiges Geſicht ſehe. Wo ich mich freuen will, tritt mir eine ſchwarze Erinnerung entgegen, und wenn ich199 mich zuweilen vergeſſe, ſo mache ich mir nach - her uͤber meinen Leichtſinn nur deſto ſchmerz - haftere Vorwuͤrfe. Als nun ihr Rauſch nach und nach entfloh, was muß Sie da gelitten haben! als ſie ſich die Entdeckungen in dem Innern ihrer Seele geſtand und alles wie nich - tiges ſchaales Spielzeug da lag, das ſie in der Entfernung immer mit ſo vieler Ehrerbietung betrachtet hatte. Ihre hohe Empfindung hatte ſie fuͤr etwas Einziges gehalten, ſie hatte un - vollendete ſchoͤne Eigenſchaften darinn geahn - det und ſich ſelbſt als ein Weſen betrachtet, das mit ſeinen großen und mannigfaltigen Faͤ - higkeiten unbekannt ſey. Dies iſt der gefaͤhr - lichſte Stolz im Menſchen, er macht ihn frech und zuverſichtlich auf Gaben, die er nicht be - ſitzt, und ungluͤcklich, wenn die Seele endlich ſelbſt jene eingebildeten Schwingen verſuchen will. Wenn das Sterben ein Erwachen vom Leben iſt, ſo war ſie ſchon vor dem Tode auf eine aͤhnliche Art erwacht, das beweißt ihr letzter Brief. Sie muß es innig gefuͤhlt haben, daß ſie nur getraͤumt und nicht gelebt habe; wie muß ſie erſchrocken geweſen ſeyn, als ſie200 ſich beim Erwachen an einem ſo fernen und fremden Orte wiederfand?

Ach Emilie! Dein Name toͤnt in meinen Ohren ſo ſuͤß, meine ganze Kindheit liegt in dem Laute. Ich ſchwaͤrme oft und bilde mir ein, daß ſie mich hoͤrt, daß ſie es ſieht, wenn ich ihre Papiere kuͤſſe und mit meinen Thraͤnen benetze. Ich habe aus dem Ge - daͤchtniß ihr Bildniß gezeichnet, und es iſt, nach meiner Meinung, ſehr aͤhnlich, bey jedem Zuge, der mir gelang, entſtuͤrzten Thraͤnen - ſtroͤme meinen Augen, es war als wenn ſie ſelbſt ploͤtzlich wieder aus dem Papiere hervor - brechen wuͤrde, und mir ſagen, alles, alles ſey nur eine unnuͤtze Angſt geweſen, daß ſie mir dann, wie in der Kindheit, den Kopf herum - drehen wuͤrde, und ich muͤßte dann uͤber den grauſamen Schelmſtreich lachen. Ach! Mor - timer, wir ſind und bleiben immer Kinder, wir ſchaͤmen uns nur am Ende unſers Spiel - zeugs.

Was mich in meinen Schmerzen am mei - ſten niederſchlug, war, daß die Natur und alle Gegenſtaͤnde umher ſo kalt und empfindungslos ſchienen. In mir ſelbſt war der Mittelpunkt201 aller Empfindungen, und je mehr ich aus mir hinausging, je weiter lagen die Empfindungen auseinander, die in meinem Herzen dicht neben einander wohnten. Aus dieſer Urſache fuͤhlt ſich der Ungluͤckliche in der Welt unter allen Geſchoͤpfen ſo fremd, denn man nimmt auf ſei - nen Schmerz nie Ruͤckſicht genug, man achtet ihn nie ſo, wie er es wuͤnſcht. Die Menſchen, die mich umgaben, trockneten bald ihre Augen, andre hatten nie geweint, noch entferntere Emilien nie gekannt. Ich ſchalt auf alle und war ungerecht. Dieſes mannichfaltige und wi - derſprechende Intereſſe der großen Menſchheit ſollte uns im Gegentheile im Ungluͤcke troͤſten, denn dadurch wird unſer Egoismus bekaͤmpft.

Leben Sie wohl und antworten Sie mir bald.

202

13. Mortimer an Eduard Burton.

Es iſt im Leben nicht anders, es wechſelt alles wie Sonne und Mond, wie Licht und Finſter - niß. Hoffnung und Furcht iſt die Lebenskraft, die unſer Herz in Bewegung erhaͤlt und in je - dem Moment der Leidenſchaft ſollten wir ſchon auf dieſe Abwechslung rechnen. Das Leben iſt nichts anders, als ein ewiges Laviren zwiſchen Klippen und Sandbaͤnken, die Freude verdirbt unſer Herz eben ſo ſehr als die Quaal, und eine feſte Ruhe und gleichfoͤrmige Heiterkeit iſt unmoͤglich. Ungluͤck macht menſchenfeindlich, mißtrauiſch, verſchloſſen, der Menſch wird da - durch ein finſtrer Egoiſt, und indem er auf alles reſignirt, hat er den Stolz ſich ſelbſt zu genuͤgen. Das Gluͤck iſt die Mutter der Eitel - keit, ſelbſt der Vernuͤnftigſte wird ſich im Stil - len fuͤr wichtiger halten, als er iſt; Eitelkeit und Selbſtſucht laſſen den Menſchen vielleicht nie ganz los, im ewigen Kampfe mit ihnen be -203 ſteht am Ende ſein Verdienſt; und ſelbſt, daß der Menſch irgend etwas Verdienſtliches an ſich haben will, iſt wieder Eitelkeit.

Ich ſpreche aus dem Herzen, lieber Bur - ton. Ich bin noch einer von den kaͤltern Men - ſchen, und doch bin ich immer mit Wogen ge - ſtiegen und geſunken. Wenn ich einmal me - lankoliſch wuͤrde, ſo koͤnnte ich mit Hamlet ſagen: » Ich bin noch keiner der Schlimmſten, » und doch koͤnnt 'ich mich ſolcher Ver - » brechen anklagen, daß es beſſer waͤre, » man haͤtte mich nicht geboren. « Im Gluͤcke war ich ſtolz und eigenſinnig, beim kleinſten Ungluͤcke glaubt' ich, daß es mir nur allein begegne, jedermann hatt 'ich dann im Ver[d]achte, daß er mich verfolge und haſſe, ich hielt die Menſchen ſogleich fuͤr viel beſſer und ſchlechter, als ich war; ich uͤbertrieb alles auf eine kindiſche Art, um mir nur recht ungluͤck - lich, zuweilen, um mir ſelbſt nur recht ſchlecht vorzukommen. Ich unterſchied mich von an - dern nur dadurch, daß ich weniger ſprach und mich mehr verſtellte, daß ich einige Philoſophe - me herſagte, die mir immer zu Gebote ſtan -204 den und die die Augen der Menſchen verblen - deten. Wahrlich, wir ſind am Ende alle Bruͤder einer Mutter.

Trauen Sie es mir wohl zu, daß ich lange fuͤr mich glaubte, Lovell habe mein Haus an - gezuͤndet, weil er mir meinen Frieden beneide? Ich hatte eben keine Gruͤnde zu dieſem Arg - wohne, als mein mißtrauiſches Herz. Aber ich habe es ihm auch mit dieſem Herzen wieder abgebeten.

Von welchen Zufaͤlligkeiten hing es nun vielleicht ab, daß ich nicht wirklich ſchlecht wurde? Und wer ſteht mir denn dafuͤr daß ich am Ende gut bin, wie ich es glaube?

Ach, ich muß die Feder niederlegen, denn iſt nicht auch das, daß ich ſo uͤber mich ſpreche, wieder Eitelkeit? Es giebt gewiſſe Gedanken, die man zu den Curioſitaͤten der Seele rech - nen ſollte. Ich moͤchte dieſe Idee gerne weiter ausſpinnen, denn ich habe eine Ahn - dung, daß noch mehrere Gedanken in ihr lie - gen, aber mein Kopf verſagt mir ſeine Dienſte: in dieſer chaotiſchen Dunſtkugel koͤmmt nur ſelten die Geſtalt zum Vorſcheine, die man zitirt.

205

Ich bete alle Naͤchte fuͤr Amaliens Nieder - kunft und es iſt nicht wieder die Hoffnung, die mir dieſe Laune giebt, die vielleicht unbarm - herzig genug gegen ihre Melankolie anrennt? Aber verzeihen Sie mir und dem Menſchen, und leben Sie wohl.

206

14. Eduard Burton an Mortimer.

Ihr Brief hat mich nicht beleidigt, ſondern getroͤſtet. Warum verſtand ich jenen, der mich zuerſt gegen Lovell aufbrachte, nicht eben ſo gut? Bin ich denn nicht aller derſelben Schwaͤchen ſchuldig, ach! und noch vielen andern. Eben unſer Herz, das uns von innen veredelt und beſſert, indem Empfindungen auf und nieder - ſteigen, um es zu erwaͤrmen und zu reinigen, eben dies bewegt uns am Ende wieder, dieſe Empfindungen fuͤr ganz etwas Einziges zu hal - ten, ſie viel zu hoch uns ſelber anzurechnen, und dadurch eine Scheidemauer zwiſchen uns und die uͤbrigen Menſchen zu ziehn. In Lo - vell's Bekenntniſſen finde ich jetzt mich ſelbſt wieder, nur daß er uͤbertreibt, wie denn alles uͤbertrieben iſt, was man abſondert, um es einzeln hinzuſtellen, damit es andre faſſen und207 begreifen. Unſer Sprechen beſteht darinn, daß wir ganze Haufen von Ideen als Eine Idee hinſtellen, wir nehmen die Phantaſie zu Huͤlfe, um der fremden Seele zu erlaͤutern, was uns ſelbſt nur halb deutlich iſt; und auf dieſe Art entſtehn Gemaͤhlde, die dem kaͤlteren Geiſte, der nicht geſpannt iſt, Mißgeburten ſcheinen. Es iſt ein Fluch, der auf der Sprache des Menſchen liegt, daß keiner den andern verſtehen kann, und dies iſt die Quelle alles Haders und aller Verfolgung; die Sprache iſt ein toͤdt - liches Werkzeug, das uns wie unvorſichtigen Kindern gegeben iſt, um einer den andern zu verletzen. Ach, habe ich nicht dadurch Lo - vell und Emilien verlohren?

Vielleicht verſtehn Sie mich auch nicht ganz, denn Ihr Brief hat mich in eine gewiſſe Erhitzung verſetzt, in der mir dieſe Ideen ſehr gelaͤufig ſind.

Ich ſehe Ralph und ſeine Tochter taͤglich. Sie iſt in ihrer Unſchuld verehrungswuͤrdig, und dieſe Menſchen ſoͤhnen mich nach und nach mit der Welt und ihren Bewohnern wieder208 aus. Ich wuͤnſche Sie bald als einen gluͤck - lichen Vater begruͤßen zu koͤnnen. Es iſt doch recht erfreulich, wenn jeder die kleine Stelle, auf der er ſteht, fuͤr die vornehmſte auf der Erde haͤlt.

15.209

15. Mortimer an Eduard Burton.

Es iſt endlich entſchieden, lieber Freund, Amalie iſt außer Gefahr, und ich bin der Va - ter eines jungen hoffnungsvollen Sohnes. Man kann nicht in die Zukunft ſehn, ſonſt wuͤrde ich mich vielleicht noch mehr freuen, als es ge - ſchieht; Amalie iſt ſehr gluͤcklich.

Ob denn auch bey mir jene Eitelkeit ein - treten wird, die mir an andern Vaͤtern oft ſo ſehr mißfallen hat? Man kann freilich fuͤr nichts ſtehn, am wenigſten fuͤr irgend eine menſchliche Schwaͤche, allein ich glaube es doch nicht. Ich habe ſchon ſehr genau auf mich Acht gegeben, aber ich muß Ihnen geſtehn, daß mir das Schreyen meines Kindes eben ſo unharmo - niſch vorkoͤmmt, als das aller uͤbrigen, daß ich es nicht ſchoͤn finde, ſo wie es bis jetzt iſt, daß ich auch noch keinen Funken von Verſtand oder Genie an ihm entdeckt habe; ich habe Vaͤter gekannt, die darinn unendlich ſcharfſichtigerLovell. 3r Bd. O210waren, als ich, die es uͤbel nahmen, wenn ſich jemand beym Gekreiſch ihres Sohnes die Ohren zuhielt, oder meynte, daß er die Fragen, die man an ihn that, wohl noch nicht verſtehn moͤchte. Es giebt nichts Widrigers, als das Geziere der Eltern mit ihren Kindern, die be - wundert werden, wenn ſie den Mund oder die Augen aufthun.

Ich bin nicht ſo luſtig, als es neue Vaͤter gewoͤhnlich zu ſeyn pflegen; der Anblick des Kindes macht mich ſehr ernſthaft. Kann ich wiſſen, von welchen Zufaͤlligkeiten, die ſchon jetzt eintreten und die ich nicht einmal bemerke, ſein kuͤnftiges Schickſal abhaͤngt? Die ganze unendliche Schaar der Gefuͤhle und Erfahrun - gen wartet auf ihn, um ihn nach und nach in Empfang zu nehmen. Gluͤck und Ungluͤck wech - ſelt, er wird in alle Thorheiten eingeweiht und glaubt ſich in jeder verſtaͤndig. So treibt er den Strom des Lebens hinunter, um endlich wieder, wie wir alle, unterzugehn.

Wenn ich lange uͤber ſo etwas nachdenke, koͤmmt mir das Leben, ſelbſt bey meiner gluͤck - lichen Situation, unangenehm vor. Es kann auch nicht das letzte und hoͤchſte ſeyn, da wir211 ſo oft das Leere und Unzuſammenhaͤngende dar - inn empfinden. Jedesmal, wenn wir ernſthaft werden, ohne zu wiſſen warum, erinnern wir uns vielleicht dunkel eines beſſeren ehemaligen Zuſtandes. Dem Schwaͤrmer iſt es vielleicht gegoͤnnt, dieſe fluͤchtigen Erinnerungen feſtzu - halten, und er entfernt ſich daher mit jedem Tage mehr vom gewoͤhnlichen Leben.

Auf dieſem Wege koͤnnte man aber auf eine recht vernuͤnftige Art verruͤckt werden, und dieſer Zuſtand mag nun in ſich ſelbſt ſo vor - treflich ſeyn, als er will, ſo ſieht er doch in der Entfernung zu abſchreckend aus, als daß ich ihm ſollte naͤher kommen.

Leben Sie recht wohl und ſchreiben Sie mir bald einen recht heitern Brief.

O 2212

16. Adriano an Francesko.

Jetzt zeigen ſich die Folgen, lieber Francesko, von Andrea's Groll. Er muß auch hier viele Freunde haben, die ſeinem Winke gehorchen, denn ganz gegen alle Erwartung habe ich die Rathsſtelle nicht bekommen, um die ich mich bewarb. Alle Wahrſcheinlichkeiten waren fuͤr mich, denn die meiſten Leute, die Einfluß haben konnten, waren meine Freunde oder Verwand - ten, und dennoch fiel ich durch. Es iſt am kluͤg - ſten, wenn ich mich nicht ſehr dieſes mißlunge - nen Verſuchs wegen kuͤmmere; ich werde jetzt mit meinen Eltern auf einem Landhauſe in der Naͤhe der Stadt leben. Im Grunde iſt mir eine Wohlthat geſchehn, denn ich habe nun alle Zeit fuͤr mich, und habe nicht noͤthig, mich mit unangenehmen Geſchaͤften zu quaͤlen. Nur meinem Vater thut es leid, der mich gern in Thaͤtigkeit ſehn moͤchte, und weil er daruͤber ver - drußlich iſt, bin ich es auch.

213

17. Francesko an Adriano.

Danken Sie doch Gott, daß Sie durchgefal - len ſind, lieber Freund; Sie wiſſen Ihr Gluͤck gar nicht zu ſchaͤtzen, wenn Sie nur irgend be - truͤbt daruͤber ſind. Ich erſchrecke immer, wenn ich nur das Wort, Geſchaͤfte, nennen hoͤre. Sie ſind gewiß noch nie in Geſchaͤften geweſen, daß Sie eine Sehnſucht darnach fuͤhlen, oder ſie irgend jemand zu Gefallen uͤbernehmen wol - len. Ich war ſonſt einmal eingeſpannt, und da kann ich aus der Erfahrung ſprechen. Lieber Freund, es giebt gar nichts ſo Fuͤrchterliches, als wenn man irgend etwas zu thun bat; da ſitzt man denn in ſeinem Stuhle, die Geſchaͤfte vor einem hoch aufgepackt, und je laͤnger man ſich beſinnt, je hoͤher werden ſie: dann ſoll man ausgehn und allerhand beſorgen, und man bliebe lieber zu Hauſe; ein andermal muß man zu Hauſe bleiben, und man ginge bey dem ſchoͤnen Wetter lieber ſpatzieren. Nein, lieber Freund,214 glauben Sie mir, wenn ich ein Dichter waͤre, mein erſtes Gedicht waͤre ein Lob der Faul - heit; aber ich lobe ſie dadurch vielleicht am beſten, daß ich keine Verſe auf ſie mache.

Wenn Andrea uns jetzt zu verfolgen ſucht, ſo muͤſſen wir uns entweder gar nicht darum kuͤmmern, oder gleiches mit gleichem zu vergel - ten trachten: aber das erſte iſt bey weitem be - quemer, und darum finde ich dies Mittel auch vorzuͤglicher. Ich wuͤnſche nichts ſo ſehr, als daß er mich in Ruhe laſſe, ich will ihm gewiß nicht zur Laſt fallen.

215

18. Roſa an Adriano.

Sie kommen alſo wirklich nicht zu uns zuruͤck? Wir alle ſprechen unaufhoͤrlich von Ihnen, wir alle wuͤnſchen Sie wieder in unſre Geſellſchaft. Ich habe gehoͤrt, daß Sie in Florenz Verdruͤß - lichkeiten haben, Sie ſollten daher wieder nach Rom kommen, um ſich zu zerſtreuen, Andrea findet gewiß Mittel Sie zu troͤſten. Wer ei - genſinnig war, Adriano, hat nur noch ſelten ſeine Abſichten durchgeſetzt, und wenn die Um - ſtaͤnde ſich nicht nach uns fuͤgen wollen, ſo zeigt ſich der Menſch eben darinn am vernuͤnftigſten, daß er ſich nach ihnen fuͤgt: denn was ſoll er auch ſonſt thun? Jeder Menſch kann und darf zwar ſeine eigne Meinung haben, und es iſt ge - wiſſermaßen gut, wenn er es in dieſem Leben ſo weit gebracht hat, aber ſehr oft iſt es unſre Pflicht, dieſe Meinung zu verlaͤugnen und auf eine Zeitlang die Geſinnung eines andern zu adoptiren. Was iſt es auch fuͤr ein Opfer, das216 ich dadurch bringe? Wir ſind oft einem Frenn - de zu Gefallen zuruͤckhaltend, und ſollten es zu unſerm eigenen Vortheile nicht ſeyn duͤrfen? Sagen Sie mir doch, wo hier das Vernuͤnftige, oder das Philoſophiſche liegt? Ich bemerke nur eine kleinliche Eingeſchraͤnktheit, Vorurtheil ſtatt eines freyeren Sinnes. Sie haben viel - leicht jetzt Zeit genug uͤbrig, mir nur mit eini - gen Zeilen zu antworten.

217

19. Adriano an Roſa.

Sie irren, Roſa, wenn Sie vielleicht glaub - ten, daß Ihre Spoͤtterey mich aufbringen wuͤr - de, noch mehr aber, wenn Sie der Meinung waren, mich dadurch zu uͤberzeugen. Ich mag und kann Ihnen hier meine Gruͤnde nicht weit - laͤuftig auseinander ſetzen, warum ich jetzt noch nicht nach Rom zuruͤckkehren werde. Ich wuͤnſch - te durch mein ganzes Leben einen geraden Weg vor mir zu haben, den ich uͤberſehn kann, von dem ich weiß, wohin er mich fuͤhrt. Ich mag lieber nicht weit kommen, als mich auf's Unge - wiſſe einem unbekannten Fußſteige vertrauen.

Das Gleichniß wird Ihnen vielleicht laͤ - cherlich duͤnken, aber mags! Es iſt vielleicht nothwendig, daß manche Menſchen uns verach - ten, damit uns andre wieder ſchaͤtzen. Ich beſitze freilich nicht jene Faͤhigkeit, jede Mei - nung ſogleich zu verſtehn und in ihr zu Hauſe zu ſeyn, ich bin ungelenk genug, manches fuͤr218 Unſinn zu halten, weil ich es nicht begreifen kann, aber verzeihen Sie mir[meine] Schwaͤche ſo wie ich Ihre Groͤße bewundre. Ich ſpotte jetzt nicht, Roſa, ſondern es iſt mein voͤlliger Ernſt; ich habe uͤber mich ſelbſt nachgedacht und gefunden, daß alle meine Schwaͤchen mit meinen beſſern Seiten zuſammenhaͤngen, wie es vielleicht bey jedem Menſchen iſt: die ge - waltſamen Aenderungen ſind auf jeden Fall immer ein ſehr mißliches Unternehmen, es giebt keine ſo geſchickte Hand, die mit dem Unkraute nicht zugleich die guten Pflanzen ausraufte. Laſſen Sie mich darum lieber ſo, wie ich bin, Sie moͤchten mich ſonſt ganz verderben.

Auch daß ich dies fuͤrchte, iſt eins von den Vorurtheilen, die Sie verlachen Aber, lieber Freund, entkleiden Sie den Menſchen von allen Vorurtheilen, und ſehn Sie dann, was Ihnen uͤbrig bleibt. Genau genommen, muͤßten wir an allem, und ſelbſt wieder an den Zweifeln zweifeln, denn jede Meinung iſt am Ende doch nur Vorurtheil, Sie koͤnnen ſich fuͤr keine verbuͤrgen Die Sucht, ganz als freyer Menſch zu handeln, fuͤhrt am Ende wie - der den ſchlimmſten Vorurtheilen, oder dem219 Wahnſinne entgegen. Ich will lieber manches glauben, um nur mit mir ſelbſt zur Ruhe zu kommen. Sagen Sie mir aufrichtig, ob Sie es ſind, ob es auf Ihrem Wege moͤglich iſt?

Doch laſſen Sie mich lieber die ganze Un - terſuchung abbrechen, denn ſie fuͤhrt doch zu nichts.

220

20. Roſa an Andrea Coſimo.

Gieb jene elenden Menſchen auf, denn Du haſt nichts an ihnen verlohren. Sie fuͤrchten ſich vor ſich ſelbſt und noch mehr vor jeder fremden Seele; man ſollte wahrlich am Ende glauben, unſer Geiſt ſey den Geſetzen der Elek - tricitaͤt unterworfen, ſo wunderbar ſtoßen ſich manche Verſtandskraͤfte zuruͤck und wollen ſich unter keinen Bedingungen naͤher kommen. Lies ſelbſt den einfaͤltigen Brief, den mir Adriano geſchrieben hat; nach ſeiner Meinung beſtand der Suͤndenfall unſrer Eltern darinn, daß ſie ihr erſtes Vorurtheil ablegten. Schon wenn ich einen Menſchen auf dieſe Art ſprechen hoͤre, wird es mir in der Seele bange; die Aengſtlich - keit, mit der ſie gewoͤhnlich Verſtand und Dummheit, Vorurtheil und Aufklaͤrung abſon - dern wollen, thut mir immer innerlich weh. Daß die Thoren nicht fuͤhlen, wie laͤcherlich ſie werden, indem ſie ſich ſelber ſo wichtig221 und ernſthaft vorkommen. Sie ſind der Mit - telpunkt der Welt, und nachdem ſie ſich fuͤr dieſe oder jene Meinung erklaͤren, wird die Weltgeſchichte eine andere Wendung nehmen. Ich glaube, Du wirſt dieſen Adriano nie entbehren.

222

21. Andrea Coſimo an Roſa.

Wenn ich oft das Heer der Sterne betrachte und mir dabey die Nichtigkeit des ganzen menſch - lichen Lebens einfaͤllt, ſo moͤcht 'ich zuweilen alle meine Plane und Ideen aufgeben. Allein die wahre Standhaftigkeit beſteht darinn, auch von ſeinen eignen Ideen nicht abzuhaͤngen, ſon - dern ſich ſelbſt wie einen fremdartigen Gegen - ſtand zu beherrſchen. Ich habe A〈…〉〈…〉 auf - gegeben, er iſt ein Thor, aber Du ein noch groͤßerer, daß Du meinteſt, ihn durch einen Brief zuruͤckbringen zu koͤnnen.

223

22. Roſa an Francesko.

Warum hoͤren wir gar keine Neuigkeiten von unſerm launigen Francesko? Maulen Sie auch mit mir, ſo wie Ihr ernſthafter Freund Adriano? Laſſen Sie ihn gehn, denn er weiß vor lauter Philoſophie nicht, was er thut. Haben Sie ſich vielleicht an Andrea geſtoßen, ſo bedenken Sie auch, daß jedermann ſeine Freunde zu pruͤfen wuͤnſcht, und daß ſich Ih - nen bey Gelegenheit alle Zweifel aufklaͤren werden. Es iſt aber unbillig, um mich keines haͤrtern Ausdrucks zu bedienen, wenn man ſchon im Voraus uͤberzeugt iſt; dann helfen freilich keine Einwendungen. Warum wollen Sie aber fuͤr eine Sache ſchwoͤren, von der Sie nicht unterrichtet ſind? Sie thun eben da - durch das Unrecht, das Sie gerne vermeiden wollten: dieſe Aengſtlichkeit iſt bey weitem ge - faͤhrlicher, als eine dreiſte Zuverſicht.

224

23. Francesko an Roſa.

Sie ſind ſehr guͤtig, daß Sie ſich meiner noch erinnern etwas, das ich aus Ihrem neulichen Briefe nicht ſchließen konnte. Sie ſprechen von Gefahren, und ſagten doch ſelbſt, daß ſie ſich in ei - ner Gefahr befaͤnden, die groͤßer iſt, als jede an - dre, die mich vielleicht einſt treffen kann. Jene dreiſte Zuverſicht hat mich nun einmal verlaſſen und ich weiß nun nicht, wie ich ſie wiederbe - kommen ſoll. Ihr neulicher Brief war auch eben nicht gar zu zuverſichtlich ein Beweis, daß es leichter ſey, einen Rath zu ertheilen, als ihn zu befolgen. Sie tadeln meine Philo - ſophie, aber die Ihrige iſt mir viel zu ſpitzfin - dig, als daß ſie mir bequem ſeyn ſollte, und ich liebe die Bequemlichkeit ſo ſehr, daß ich ſie ſogar beym Denken mit in Betrachtung ziehe.

Moͤgen Sie uͤbrigens dieſe Erklaͤrung fuͤr Scherz nehmen, denn ich glaube ſogar, daß wir einen viel zu großen Unterſchied zwiſchen Ernſtund225und Scherz machen. In manchen Stunden koͤmmt mir nichts auf der Welt ernſthaft vor. Ob ich mich in Andrea geirrt habe, weiß ich nicht: aber in welchem Menſchen irrt man ſich wohl nicht? Sie irren ſich in mir und ich wahrſcheinlich in Ihnen. Und warum iſt uns denn Andrea ſo nothwendig? Koͤnnen wir beyde nicht auch ohne ihn Freunde ſeyn? Ich ſehe wenigſtens die Hinderniſſe nicht. Leben Sie wohl.

Lovell. 3r. Bd. P226

24. Bianka an Laura.

Beſuchen Sie mich doch, liebſte Freundinn, ich habe den ganzen Tag geweint. Der Arzt hat mir heute Morgen endlich angekuͤndigt, daß ich die Schwindſucht habe. Ich weiß vor Be - truͤbniß nicht zu bleiben. Ich habe gebeich - tet, allein ich bin nur wenig getroͤſtet; kommen Sie und heitern Sie mich durch einige luſtige Erzaͤhlungen auf.

Wen haben Sie denn jetzt zum erklaͤrten Liebhaber? O erzaͤhlen Sie mir doch von ihm recht viele Thorheiten, damit mir die Welt nur wieder etwas luſtig vorkoͤmmt. Ob denn die Schwindſucht immer ſo gefaͤhrlich ſeyn mag, als man ſagt? Ach, liebe Freundinn, der Gedanke an den Tod iſt ſehr bitter Wenn Sie nicht kommen, weiß ich nicht, wie ich den Abend zubringen ſoll. Ich werde dann wieder weinen und beten. Aber kommen Sie ja, ich beſchwoͤre Sie.

227

25. Laura an Bianka.

Ich kann Sie heute unmoͤglich beſuchen, aber morgen. Alle unſre Bekanntſchaften haben mich verlaſſen und ich habe eine Zeitlang recht ein - ſam gelebt; aber ſeit geſtern habe ich wieder einen guten Freund angetroffen. Mit Ihrer Krankheit wird es mit der Zeit wohl beſſer werden, Sie muͤſſen nur nicht die Hoffnung verlieren, denn die Hoffnung iſt die beſte Arz - ney. Wenn Sie aber wirklich die Schwind - ſucht haͤtten, ſo koͤnnte dieſe Krankheit fuͤr andre leicht anſteckend ſeyn; wenigſtens ſagt man es ſo. Aber ich will doch morgen zu Ih - nen kommen, aber Sie muͤſſen auch huͤbſch hei - ter und luſtig ſeyn, denn wenn ich jemand ſehe, der weint, ſo werde ich gleich mit betruͤbt, und nichts in der Welt faͤllt mir ſo zur Laſt, als die Betruͤbniß. Man ſollte nie betruͤbt ſeyn, wenn man es moͤglich machen koͤnnte, es iſt ſo nicht viel an dieſer Welt, und wir muͤſſen ſieP 2228uns alſo nicht noch muthwillig verbittern. Der junge Lovell hat mir ſonſt mit ſeinem ſauren Geſichte manche boͤſe Stunde gemacht und ich weiß nicht, warum mir an einem Manne die Ernſthaftigkeit noch fataler iſt, als an einem Frauenzimmer. Schicken Sie mir doch etwas von Ihrer Schminke, die meinige iſt zu Ende und ich kann noch keine neue bekommen. Es iſt doch wirklich unangenehm, daß die Haut davon ſo gelb wird, ich bemerke das ſeit drey Wochen: auf jedem Topfe ſteht, daß die Schminke unſchaͤdlich ſey, und doch iſt es dann nicht wahr, wenn man es unterſucht. Was haben Sie fuͤr einen Arzt? Armes Kind, ich kann mir Ihre Betruͤbniß recht denken und Sie haben auch Urſache dazu; aber Sie muͤſſen ſich dennoch troͤſten, denn das Klagen und Weinen macht es doch nur ſchlimmer. Wenn Sie aus - gehn duͤrfen, ſo kommen Sie heute vor Abend etwas zu mir.

229

26 William Lovell an Roſa.

Ich weiß nicht, warum ich immer noch hier bin. Ich ſollte endlich zuruͤckkehren. Es iſt unbegreifliche Traͤgheit von mir, daß ich noch nicht in Rom bin. Wie kann man ſo ganz von aller Kraft, von aller innern Staͤrke verlaſſen ſeyn!

Mein Gluͤck im Spiele hat aufgehoͤrt und doch bin ich an den Tiſch wie feſtgezau - bert. Wenn ich Karten ſehe, laͤuft mein Blut lebendiger und ich traͤume nur von gluͤcklichen, oder ungluͤcklichen Spielen. Ich verſtehe jetzt, was man unter der Leidenſchaft des Spiels ſa - gen will. Ich habe ſchon anſehnlich verlohren, das Geld was ich aus England mitbrachte und einen großen Theil von B. Geſchenk: ich aͤrgre mich daruͤber nicht, aber uͤber die platte Freude der jaͤmmerlichen Menſchen, die von mir gewinnen. Sie halten das blinde Gluͤck fuͤr einen Vorzug, der ihnen eigenthuͤmlich iſt,230 ſie verachten mich, indem ich verliere. Ich lerne jetzt zuerſt den Werth des Geldes empfin - den, und kann doch nicht zuruͤck, wenn ich die verdammten Bilder ſehe. Rathen Sie mir, was ich thun ſoll. Und weiß ich nicht alles im voraus, was Sie ſagen werden? O, es iſt um toll zu werden, daß man ſo naͤrriſch iſt!

Der Begriff von Zeit iſt mir jetzt fuͤrchter - lich. Wenn ich einen Tag vor mir habe, ohne zu wiſſen, was ich mit ihm anfangen ſoll, o, und dann den Blick uͤber die leere Wuͤſte von langweiligen Wochen hinaus! Und wieder eine Stunde nach der andern von der Zeit zu betteln, ſich vor dem Gedanken des Todes zu entſetzen! Wie elend iſt der Menſch, daß er ſterben muß und wie hoͤchſt ungluͤckſeelig muͤßte er ſeyn, wenn er ewig lebte! Wie toll und un - ſinnig iſt unſer Leben durch dieſe unaufhoͤrlichen Widerſpruͤche!

Sie kennen die Menſchen auch, Roſa, und Sie verachten ſie eben ſo, wie ich. O, ich moͤchte in manchen Stunden ein Komplott ge - gen dieſe Thiere machen, ſchwarze Verraͤtherey, daß keiner auf der Erde zuruͤckbliebe.

Wie veraͤchtlich iſt alles um mich her,231 durch ſeine Sinnlichkeit, die ihn unerbittlich an Nichtswuͤrdigkeiten feſſelt. Alles, was Freu - de, Schoͤnheit, Genuß und Witz heißt, bezieht ſich immer unmittelbar auf die groͤbſte Sinnlich - keit; das Menſchengeſchlecht ermuͤdet nicht bey denſelben froſtigen Spaͤßen, die Phantaſie be - koͤmmt keinen Ekel vor ſich ſelber. O, mir zit - tert oft das Herz, wenn ich die Menſchen um mich her lachen ſehe, wenn ich junge Leute be - trachte, die ſich in ihrer Veraͤchtlichkeit ſo gluͤcklich fuͤhlen. Kein Gedanke hebt dies Ge - ſchlecht uͤber ſeine jaͤmmerliche Eingeſchraͤnktheit hinaus. Ach, wenn ich dann aus ihrer Geſell - ſchaft unter den freyen Himmel trete, und die ewige Schaar der unendlichen Welten uͤber mei - nem Kopfe funkeln, wenn ich mich mit Schwindeln in die Millionen dieſer Erden verliere und andre und noch hoͤhere ahnde, wenn ich den Mond betrachte und Staͤdte, Berge und Waͤl - der auf ſeiner Scheibe entdecken moͤchte, und ich komme dann zu mir und zur gewoͤhnlichen Heimath meiner Gedanken zuruͤck! Karten, Wuͤrfel und unzuͤchtige Geſpraͤche. Die Seele laͤugnet ſich ſelbſt ihre Schwingen ab und wohnt mit Wohlbehagen in einem ſchmutzigen Kerker,232 weil der Aether und die Sonne und jede freye und glaͤnzende Bahn eine ſtrenge Rechenſchaft von ihr fordert.

O Roſa! Wie oft erwachen jetzt kindliche Gefuͤhle in meiner Bruſt, die wie unvermuthete, laͤngſtvergeſſene Freunde bey mir einkehren und den Hauch des ehemaligen Fruͤhlings mit ſich bringen. Bilder von Gegenden, die mich ſonſt ſchwermuͤthig entzuͤckten, kommen in mein Ge - muͤth und machen mich von neuem melankoliſch: es reichen ſuͤße Stimmen uͤber alle Abgruͤnde zu mir heruͤber und nennen ſehnſuchtsvoll und anlockend meinen Namen. Ach, wie unaus - ſprechlich ungluͤcklich macht mich alles! Und dann kehre ich zu den Karten und zu meinen gemeinen Geſellſchaftern zuruͤck.

Oft, wenn ich mich in wuͤſte Traͤume ver - liere und die Erde mit allen ihren Schaͤtzen wie ausgebrannte Schlacken vor mir lieget, geht Amaliens Name wie die erſte Blume nach dem Winter in meinem Herzen auf. Wie von vor - uͤberfliegenden Engeln werd 'ich dann gegruͤßt, wie Morgenroth umgiebt es mich, das muͤhſam nach mir hinuͤberklimmt. Dann moͤcht' ich die unendlichen Gefilde des Himmels vergeſſen und233 zur Erde, wie zu einer lieben Huͤtte zuruͤckkeh - ren. Ach, meine Traͤume ſind mehr werth, als die Wirklichkeit! Und mußt 'ich erſt die Wirklichkeit ſo kennen lernen, um auf dieſe Art traͤumen zu koͤnnen?

234

27. Karl Wilmont an Mortimer.

Ich habe keine Ruhe und kann ihn auch nicht finden. Es iſt mir oft, als triebe es mich in ein Haus hinein, daß er dort ſeyn muͤſſe, und wenn ich hineintrete, iſt er doch nicht da. Eine unbeſchreibliche Ungeduld quaͤlt mich Tag und Nacht, ich traͤume nur von ihm, und oft glaub 'ich am Morgen, daß er zu mir in das Zimmer hereintrete. Ich laufe an oͤffentlichen Oertern herum, ohne zu ſehn und zu hoͤren. Dann em - poͤrt ſich meine Wuth in mir von neuem und eine gaͤnzliche Erſchlaffung aller Kraͤfte folgt dieſer Anſpannung. Wenn ich an alles zu - ruͤckdenke, ſo moͤchte ich manchmal an der Wirklichkeit zweifeln, ich gerathe dann in einen Taumel, in dem mir alles gleichguͤltig iſt. Dann koͤnnt' ich meine Rache aufgeben und mich mit Lovell verſoͤhnen.

Ach, wie koͤmmt mir das Leben vor? Von Thorheiten wird es zuſammengehalten, damit235 es nicht zerfaͤllt; je aͤlter und ſchwaͤcher der Menſch wird, je mehrere dieſer Narrheiten fal - len ihm aus, und der Tod beſteht am Ende darinn, daß die letzte Thorheit aus dem Men - ſchen ſpringt und ſo dem Geiſte Platz macht; und ſo ſterbe ich vielleicht, wenn ich meine Ra - che ganz aufgebe. Denn was will ich denn da - mit, oder was kann ſie mir helfen? Man moͤchte zuweilen alles nur fuͤr Scherz halten.

Ich verzweifle an mir ſelber; ich wuͤnſchte, dies klaͤgliche Leben waͤre erſt zu Ende, damit mir beſſer und ruhiger wuͤrde. Und doch muß ich ihn ſuchen und finden, dann werde ich ſterben! Lebe wohl.

236

28. Eduard Burton an Mortimer.

Was ſagen Sie, lieber Freund, wenn ich ganz offenherzig gegen Sie werde? Doch weiß ich nicht ſchon Ihre Meinung im Voraus? Und es kann ſeyn, daß eben dies die Urſache iſt, warum ich noch frage.

Ich ſehe den alten Ralph und ſeine Toch - ter taͤglich, Betty hat ſich meines Herzens be - maͤchtigt, ich kann es mir ſelber nicht ablaͤug - nen, mein Blut fließt wieder froher durch die Adern, die Welt und das Leben ſind mir wie - der lieb. Wenn ich ihr nun meine Hand gebe und ich dann ein ſtilles und gluͤckliches Leben mit ihr fuͤhre; kann ich mehr und anders wuͤnſchen? Das Bild Ihres haͤuslichen Gluͤcks hat mich zuerſt auf dieſen Wunſch gefuͤhrt. Ich mag nichts weiter hinzuſetzen; leben Sie wohl.

237

29. Mortimer an Eduard Burton.

Was kann ich Ihnen ſagen? Erwarten Sie keine langweiligen Spaͤße von mir, denn ich be - trachte jetzt manche Dinge in der Welt recht ernſthaft; ich ließ es mir wohl ehedem zu Schul - den kommen, uͤber manche Arten des menſchli - chen Gluͤcks zu ſpotten, aber die Zeiten ſind jetzt voruͤber. Heyrathen Sie das Maͤdchen und kuͤmmern Sie ſich um die ganze uͤbrige Welt nicht; ſo lautet mein Rath. Es freut mich, daß die Menſchen dadurch gluͤcklich wer - den, die ich damals ſo innig bemitleidete, als ich ſie zum erſtenmale ſah.

Mein kleiner Georg iſt friſch und geſund, Amalie laͤßt gruͤßen.

238

30. Ralph Blackſtone an Eduard Burton.

Dieſelben haben mir geſtern Ihre guͤtige Mei - nung eroͤffnet und ich will nun nach der bewil - ligten Bedenkzeit meine Meinung uͤber den guͤ - tigen Antrag ſagen. Sie erhalten ihn hiemit ſchriftlich, wie wir ausgemacht hatten. Ich kann uͤber die Ehre und uͤber den guͤtigen Vor - ſchlag nichts ſagen, ich kann nichts dagegen einwenden, gnaͤdiger Herr, als daß wir es nicht verdienen. Doch das Gluͤck verdient der Menſch nie, und habe ich doch auch mein bisheriges Ungluͤck nicht verdient. Ich bin, indem ich ſchreibe, geruͤhrt bis zu Thraͤnen, meine Augen thun mir weh und das Schreiben wird mir[ungemein] ſauer, denn ich habe ſeit lange keine Feder in die Hand genommen. Mag es denn alſo geſchehn wie der Himmel will; meine Tochter betet Sie an, noch aber weiß ſie keine Sylbe von dem Plane. Sie239 wird vor Freude aus den Wolken fallen, ſie wird ſich in ihrem Gluͤcke nicht zu finden wiſ - ſen. Doch, das lernt ſich bald, leichter als Elend, die menſchliche Natur neigt mehr zum Gluͤcke hin, und das iſt auch natuͤrlich. Ich bin aber ſelbſt wie im Traume, denn ich flehte freilich wohl oft zu Gott um Lindrung meines Elends, aber doch nicht um ſo viel Freude und Ehre; dergleichen freche Gedanken ſind mir nie in den Sinn gekommen. Ich glaube, daß manche Menſchen ſchon auf dieſer Welt zu En - geln werden, und zu ſolchen Menſchen gehoͤren Sie ganz gewiß und ohne Zweifel: ſolche Men - ſchen muß es geben, damit man an Gott und an ſeine Barmherzigkeit glaubt. Nehmen Sie meine Schreiberey nicht uͤbel, gnaͤdiger Herr, in der Jugend wußte ich eine Buͤchſe gut loszuſchießen, aber mich nicht in Worten gut auszudruͤcken, und Sie wiſſen, wie es geht, im Alter holt man ſo etwas nur ſelten nach: aber Sie nehmen wohl den guten Willen fuͤr die That, und ich wuͤnſchte wirklich von Her - zen, es ſtuͤnde hier eine recht feine und zierliche Antwort, die Hand und Fuß haͤtte, wie man zu ſagen pflegt, und Lebensart verriethe und240 in lauter ehrerbietigen Ausdruͤcken abgefaßt waͤre. Es iſt mir aber nicht gegeben, und ich nenne mich auf meine einfaͤltige Art

Ihren ergebenſten Freund und Diener, Ralph Blackſtone.

31.241

31. William Lovell an Roſa.

Und ſollt 'ich den letzten Pfennig wagen und verlieren, ſo muß ich weiter ſpielen und entwe - der nichts uͤbrig behalten, oder meinen Verluſt wieder gewinnen! Rund iſt das Rad der Gluͤcks - goͤttinn und ſie iſt blind. Ich will es mit dem Zufalle und mit allen Teufeln aufnehmen; blei - ben Sie mir doch, bleibt mir doch Andrea uͤbrig. Was iſt Furcht und Vorſicht? Schwache Stuͤtzen des Schwachen! Ich kann auch ohne ihre Huͤlfe auskommen, und es iſt bis jetzt geſchehn. Trinken, trinken will ich, bis ſich alle Zufaͤlle nach meinem tollen Willen bequemen, und wenn alles ſchief geht, je nun, ſo darf ich ja nur an Sie ſchreiben und die Summen Geldes kommen auf meinen Wink zu mir heruͤbergeflogen. Nicht wahr, da kann ich der uͤbrigen jaͤmmerlichen Menſchen lachen?

Tod und Hoͤlle! Ich habe von je im Stil - len vermuthet, daß Andrea große Schaͤtze be -Lovell. 3r. Bd. Q242ſitzt, und ich bin ja doch, wie Sie wiſſen wer - den, ſein beſter Freund! Mir wird er's ja nicht fehlen laſſen, wenn es ſo weit kommen ſollte, oder ich wuͤrde ihn oͤffentlich fuͤr einen Schurken erklaͤren! Oeffentlich, verſtehn Sie mich wohl, das will viel ſagen.

Ich bin ſchon darauf aus geweſen, die dunkeln heimlichen Regeln in den Hazardſpielen ausfindig zu machen, es liegt gewiß alles nur an Kleinigkeiten, allein ich kann es nicht deut - lich herauskriegen. Je nun, mag's laufen! Ich will einmal mit Andrea daruͤber ſprechen.

Ich freue mich darauf, daß ich ihn wieder ſehe. Er ſoll mir Geiſter zitiren, bis mir der Verſtand vergeht; das ſoll ein luſtiges Leben werden. Mit einer Wette habe ich zwey Bou - teillen Champagner gewonnen und die ſind nun faſt leer; ich muß jetzt ſo armſeelig wetten, ſehn Sie, weil ich, unter uns geſagt, nicht mehr viel Geld uͤbrig habe. So geht's in der Welt!

Was machen Sie jetzt? Ich habe ſeit lan - ge nichts von Ihnen gehoͤrt. Wie koͤmmt das? Sie ſind im Briefſchreiben noch ſaumſeeliger als ich, das iſt ein großer Fehler von einem243 Menſchen, der ein guter Freund ſeyn will. Apropos von guten Freunden! Ich glaube, ich habe keinen einzigen mehr in Paris, ſeit die Leute merken, daß ich kein Geld mehr habe: das iſt eine magnetiſche Kraft des Metalls, die man bis jetzt noch nicht bemerkt hat; die Naturgeſchichte koͤnnte dadurch eine große Ver - beſſerung leiden. Denn was die Leute oft Liebe, Inſtinkt, Sympathie, haͤusliches Gluͤck nen - nen, was iſt es oft anders, als die Attrak - tion des gemuͤnzten Metalles?

Ich muß fort. Man wartet beym Spiel - tiſche auf mich. Es waͤre doch viel, wenn man das Gluͤck nicht zwingen koͤnnte. Sterben will ich eher, als verlieren: die Leute nennen es Aberglauben, wenn man manches beym Spiele beobachtet, aber ich habe mir eine Menge von Sachen ausgedacht, die gewiß helfen, und die kein Aberglauben ſind. Was nennen wir denn Aberglauben? Haben wir eine andre Weisheit? Eine ohne Aberglauben? Am Ende iſt es ein Aberglaube, daß ich exiſtire; ein Satz, den ich ſo auf gut Gluͤck annehme, weil es mir ſo vorkoͤmmt. Aber wer iſt jenes Ich, dem es ſo vorkoͤmmt? Die Frage kann mirQ 2244keiner beantworten, und das waͤre doch wahr - haftig aͤußerſt nothwendig.

Leben Sie wohl, Roſa, und ſchicken Sie mir bey Gelegenheit etwas Geld; denn wenn ich auch gewinne, es kann nie ſchaden, wenn man Geld hat, das werden Sie hoffentlich auch zugeben. Was machen unſre uͤbrigen Freunde? Ich kann mir denken, wie ſich Andrea nach mir ſehnt, troͤſten Sie ihn, denn ich werde bald zuruͤckkommen.

245

32. Betty an Amglie.

O liebſte, liebſte Freundinn! Ich kann Ihnen noch immer nicht beſchreiben, wie mir zu Mu - the iſt. Wir haben Sie recht hieher gewuͤnſcht und Ihre Kraͤnklichkeit recht bedauert; bey der Hochzeit nehmlich. Mein Vater hat mir frei - lich wohl geſagt, ich ſoll mich in meinem Gluͤcke nicht uͤbernehmen, aber das laͤßt ſich leicht ſa - gen und ſchwer thun. Ich weiß immer noch nicht, wie mir zu Muthe iſt, ich ziehe mich manchmal am Arme, um zu erwachen. Wenn ich im Garten, oder im Dorfe ſpatzieren gehe, ſo gruͤßen mich alle Leute ſehr freundlich und betrachten mich als ihre Herrſchaft, Eduard darf ich bey ſeinem Vornamen und ihn Du nennen, denſelben Menſchen, den ich bis jetzt nur aus der Ferne, wie eine Gottheit, angebe - tet habe. Mein Vater iſt froͤhlich und hat einigemal vor Ruͤhrung geweint, mit ſeinen ſchwachen Augen kannte er mich geſtern in den246 neuen Kleidern ſelbſt nicht, ach, liebſte Freundi[n]n, kann man wohl dem Himmel fuͤr eine ſolche Veraͤnderung genug danken? Gewiß nicht. Wenn doch meine Mutter noch lebte und alle dieſe Herrlichkeiten ſaͤhe! Die iſt nun im Kummer und Elend geſtorben, und jetzt koͤnnte ich ſie ſo ſchoͤn troͤſten. Aber es hat nicht ſeyn ſollen, und es iſt, ſo wie es iſt, ſchon Gluͤck genug. Wer haͤtte das damals gedacht, als Sie mich und meinen Vater mit ſo himmliſcher Guͤte in unſrer Armuth unter - ſtuͤtzten? O, und Eduard iſt ein himmliſcher Menſch; er laͤßt es mich gar nicht fuͤhlen, daß ich ohne ihn nichts war, er ſpricht mit mir, als wenn ich ſein Gluͤck gemacht haͤtte. So gute Menſchen, wie ihn, giebt es gewiß nicht viele. Sie haͤtten nur hier den Aufwand bey der Hochzeit ſehn ſollen; nun, Herr Mortimer kann Ihnen ja erzaͤhlen, ob es nicht koſtbar war. Beſuchen Sie uns doch ſobald Sie koͤnnen.

247

33. Amalie an Betty.

Ich freue mich uͤber Ihr Gluͤck, liebſte Freun - dinn, faſt eben ſo ſehr, als Sie ſelbſt. Es giebt nichts Erfreulichers, als den Anblick von gluͤcklichen Menſchen. Ach! man ſieht ſie in dieſer Welt ſo ſelten. Bleiben Sie immer ſo vergnuͤgt, als Sie jetzt ſind, und erhalten Sie mir Ihre Freundſchaft. Ich werde Sie beſu - chen, ſobald ich wieder Kraͤfte geſammelt habe.

248

34. Betty an Amalie.

Wie freue ich mich, Sie wieder zu ſehn und Ihnen hier alles zu zeigen! Ich getraue mich oft noch gar nicht, zu thun, als wenn ich hier zu Hauſe waͤre. Geben Sie mir einen Rath, wie ich mir immer die Liebe Eduards erhalten kann, auf welche Art ich ſein Wohlwollen und ſeine Zuneigung verdienen ſoll. Er thut mir alles zu Gefallen, wenn er nur irgend glaubt, daß es mir Vergnuͤgen machen koͤnnte, er iſt ſo gut, daß ich mich immer ſchaͤme, daß ich nicht beſſer bin: aber ich will das zuſammengezogen von ihm lernen. Mein Vater laͤßt ſich Ihnen recht ſehr empfehlen; der alte Mann beſchaͤftigt ſich jetzt vorzuͤglich mit dem Gartenbau und mit der Jagd; die Jagd iſt ihm etwas recht Neues, und er trift ordentlich noch, ſo ſchwach auch ſeine Augen ſind. Es wird jetzt uͤber -249 haupt vielleicht mit ſeinen Augen beſſer, da er froͤhlicher lebt und ſich nicht mehr ſo zu graͤmen braucht, wie ſonſt. Leben Sie wohl, liebſte Freundinn, und ſpotten Sie nicht uͤber meine Briefe.

250

35. William Lovell an Roſa.

Lieber Roſa, ich habe nun mein Vermoͤgen voͤllig, durchaus verloren. Ich erinnere mich dunkel meines neulichen Briefes und ſeines In - halts, verzeihen Sie mir, er mag enthalten, was er will, denn ich ſchrieb ihn in einer Stimmung, in der ich mich ſelbſt nicht kannte. Es geſchieht zuweilen, daß wir gegen unſern Willen etwas ſagen oder thun, was der Freund immer als voͤllig ungeſchehen anſehn muß. Ich weiß nicht, wie ich zu Ihnen nach Italien kommen ſoll: ich bereue jetzt meinen Wahnſinn und verachte mich eben dieſer Reue wegen. Haͤtt 'ich jetzt nur die Haͤlfte, nur das Viertel von jenen Summen zuruͤck, die ich in England als Dummkopf an Dummkoͤpfe verſchenkte! Gegen mich iſt keiner ſo großmuͤthig geweſen, die uͤbrigen Menſchen ſind kluͤger, und halten ihren Gewinnſt fuͤr ihr foͤrmliches Eigenthum. O, in welcher Welt iſt man gezwungen zu le -251 ben! Alles zieht ſich von mir zuruͤck, meine vertrauteſten Freunde kennen mich nicht mehr, wenn ſie mir auf der Straße begegnen, und noch vor kurzem waren ſie lauter Hoͤflichkeit, lauter Demuth. Im Grunde iſt das menſch - liche Geſchlecht und vor allem der kultivirte Theil deſſelben eine große Heerde von Kanni - balen. Im gewoͤhnlichen Umgange ſieht man Verbeugungen gegen einander, die hoͤchſte Auf - merkſamkeit, daß keiner den andern verletze, oder auf irgend eine Art beleidige, man thut als wuͤrde man durch Hochachtung, durch Blicke und Komplimente begluͤckt, o, und wenn dieſe Menſchen dadurch reich werden koͤnnten, ſie zerriſſen denſelben Gegenſtand lebendig mit den Haͤnden, ja mit den Zaͤhnen. Es hat hier Kerls gegeben, die mir eine entfallene Fe - der, eine kleine Muͤnze, mit der groͤßten Ehr - erbietung wieder reichten, zehn beeiferten ſich um die Wette, mir den Dienſt zu thun, und jetzt wuͤrden alle zehn mir keinen Thaler geben, und wenn ſie mich dadurch von dem Verhun - gern retten koͤnnten. Noch nie, als jetzt, habe ich den Druck der Armuth gefuͤhlt und ihre Leiden ſind fuͤrchterlich, man kann leicht252 die Menſchen verachten, wenn ſie ſich mit ihrer Verehrung zu uns draͤngen, aber jetzt wird es mir ſchwer. Ich wage es kaum, den Reichen in's Geſicht zu ſehn, ich habe eine ſklaviſche Ehrfurcht vor den Vornehmen, und es iſt mir, als gehoͤrte ich gar nicht in die Welt hinein, als waͤre es nur eine vergoͤnnte Gnade, daß ich die Luft einathme und lebe; ich fuͤhle mich in der niedrigſten Abhaͤngigkeit. Dulden Sie es nicht, lieber Roſa, daß Ihr Freund auf dieſe Art leidet, machen Sie es mir moͤglich, daß ich Sie und Italien wiederſehe, Sollte es noͤthig ſeyn, ſo entdecken Sie Andrea meine Lage, und er wird keinen Augenblick zaudern und ſich bedenken. Sollt' ich hier noch laͤnger bleiben muͤſſen? Schon leb 'ich unter den nie - dern Volksklaſſen und eſſe in den Wirthshaͤu - ſern in der Geſellſchaft von gemeinen Leuten, die jetzt auf ihre Art eben ſo hoͤflich gegen mich ſind, wie noch vor kurzem die Reichen; wenn ich nun auch das wenige Geld ausgegeben habe, ſo werden ſie mich ebenfalls verachten und lau - fen laſſen. Jede Bezeugung der Hoͤflichkeit kraͤnkt mich jetzt innig, weil ſie mich an meine ganze Lage erinnert. Retten Sie mich, Freund,253 und ohne Zoͤgern, ich beſchwoͤre Sie! Sie ha - ben von meiner Verlegenheit keinen Begriff; jene Summen, die wir ehedem der armſeeligen Bianka und Laura gaben, waͤren jetzt große Schaͤtze fuͤr mich, ich beneide manchem Bettler das, was ich ihm in beſſern Zeiten gab, ich habe noch nie eine ſolche Ehrfurcht vor dem Gelde empfunden. Denken Sie ſich das hin - zu, was Ihnen ein Freund ſagen koͤnnte, um Sie zu bewegen: doch, ich vergeſſe, mit wem ich ſpreche; ich weiß ja, daß ich zu Roſa rede, alle meine Beſorgniſſe ſind unnuͤtz, die gemeinen Menſchen leben nur hier. Es reut mich jetzt lebhaft, daß ich nicht ſchon fruͤher abgereiſt bin, allein bin ich darum um ſo beſſer dran? Leben Sie wohl, ich ſehe mit Sehn - ſucht einer Antwort entgegen.

254

36. Roſa an William Lovell.

Ihre Briefe, lieber William, haben die leb - hafteſte Theilnahme bey mir erregt. Ich halte es fuͤr den betruͤbteſten Anblick, wenn ein Freund, der unſer Herz ſo nahe angeht, ſich und ſeine Vorſaͤtze ſo ſehr aus den[Augen] ver - liert. Ihre Briefe ſind alle ein Beweis eines gewiſſen zerruͤtteten Zuſtandes, der Sie verhin - dert, ſich ſelbſt in Ihrer Gewalt zu haben. Mit Freuden wuͤrde ich Sie aus Ihrer unan - genehmen Lage ziehn, wenn es auf irgend eine Art in meiner Gewalt ſtaͤnde, aber ich weiß nicht, ob Sie es nie bemerkt haben, als Sie hier waren, (wenn es nicht iſt, ſo muß ich es Ihnen jetzt offenherzig geſtehn) daß ich in der allergroͤßten Abhaͤngigkeit von Andrea lebe. Er ſucht mich ſelbſt immer in einer gewiſſen Ver - legenheit zu erhalten, aus Urſachen, die ich frei - lich nicht begreifen kann. Er iſt eigenſinnig, ſo ſehr er mir auch meiſtentheils gewogen ſcheint,255 und ich darf nicht leicht irgend etwas Wichti - ges, oder nur Auffallendes gegen ſeine Einwil - ligung thun. Ich habe ihn ſeit lange nicht ge - ſehn, ſo ſehr ich ihn auch ſeit einiger Zeit auf - geſucht habe, es war mir daher unmoͤglich, ihm Ihre Lage zu entdecken, und ich kann mich auch nicht verbuͤrgen, ob er etwas oder viel fuͤr Sie zu thun im Stande waͤre, da ich ihm ſchon zur Laſt falle, da er Sie immer fuͤr reich ge - halten hat, und da es vielleicht der Fall iſt, daß Sie ſeine Auftraͤge nicht auf die gluͤcklichſte Art ausgerichtet haben. Doch, wie ich Ihnen ſage, alles dies kann ich nicht beurtheilen, und ich hoffe, daß er ſich ganz zu Ihrem Beſten erklaͤren wird, ſobald ich ihn ſpreche.

Mich wundert nur, und es iſt mir in der Welt unbegreiflich, wie Sie ſo gaͤnzlich unvor - ſichtig handeln konnten. Die Art Ihrer Ver - ſchwendung ſcheint Sie gar nicht beluſtigt zu haben, und dennoch konnten Sie dieſem Hange nicht widerſtehn. Sie verachten die Menſchen, und dennoch haben Sie recht darnach geſtrebt, ſich von ihnen abhaͤngig zu machen, weil Sie das Druͤckende der Abhaͤngigkeit noch nie em - pfunden haben. Warum riſſen Sie ſich nicht256 aus Ihren langweiligen Zirkeln los und kamen fruͤher zuruͤck? Sie haͤtten mir, Ihrem Freunde, dadurch die Unannehmlichkeit erſpart, Ihnen eine ſo dringende Bitte abſchlagen zu muͤſſen. Ueberhaupt, um aufrichtig zu[reden], wie konnte der verſtaͤndige Lovell in den Irrthum jener ge - meinen Menſchen verfallen, die morgen auf mein Eigenthum Anſpruch machen, weil ich geſtern mit ihnen in Geſellſchaft luſtig geweſen bin. Das iſt eben das Kennzeichen der rohern Menſchen, die nicht eine Stunde vertraulich ſeyn koͤnnen, ohne auf den Gedanken zu kom - men, zu borgen, ſie ſetzen dadurch ſich und den andern in eine fatale Situation. Die feinern Menſchen werden immer ſuchen neben einan - der, ſtatt einer durch den andern, zu leben: ſie werden jeden andern Dienſt eher, als die Unterſtuͤtzung durch das Eigenthum, verlangen, denn auf jeden Fall muß der andre ſich deran - giren, er muß ſich Bequemlichkeiten verſagen, die ihm vielleicht zu Beduͤrfniſſen geworden ſind. Doch alles das, lieber Lovell, ſagt 'ich nicht im Bezuge auf Sie, denn koͤnnt' ich Ihnen helfen, ſo wuͤrde ich es ſogleich, ohne weitere Einleitung, thun, denn es iſt mir ebenein257ein Beweis von der Groͤße Ihrer Verlegenheit, daß Sie alle dieſe Vorſtellungen bey Seite ge - ſetzt haben, aber um ſo mehr bedaure ich es auch, daß ich nicht im Stande bin, Ihnen zu helfen. Leben Sie recht wohl indeß, und ſuchen Sie bald zu uns zu kommen, ich will mit Andrea Ihrentwegen ſprechen, ſobald ich ihn finde.

Lovell. 3r Bd. R258

37. William Lovell an Roſa.

Es iſt gut, Roſa, alles was Sie mir da ſchreiben, und doch auch wieder nicht gut. Sie haben Recht, und doch kann ich es nicht glau - ben; am Ende iſt alles einerley. Nur Vor - wuͤrfe haͤtten Sie mir nicht machen ſollen, denn dieſe habe ich wenigſtens nicht ſo verdient. In der Geſellſchaft muß man vergeſſen, daß man unter Menſchen lebt; und ich will es auch ver - geſſen. O der ſchoͤnen, der theuren Freund - ſchaft! Doch laſſen Sie es gut ſeyn, Roſa, ich will nicht weiter daran denken. Ich war ein Thor, auf Huͤlfe zu hoffen, das ſehe ich jetzt ſehr deutlich ein, vergeſſen Sie es auch und rechnen Sie es zu meinen uͤbrigen Thor - heiten, die Sie ſo oft bemitleidet haben.

Und was will ich denn auch mehr? Lebe ich nicht hier noch eben ſo, wie ſonſt? Was kann man mehr verlangen, als zu leben? Ich bin jetzt mit dem Elende der ungluͤcklichſten259 Geſchoͤpfe vertraut, keine Menſchenklaſſe iſt mir nun mehr fremd; ich habe viel erfahren und gelernt. Ich wohne jetzt unter Bett - lern und lebe in ihrer Geſellſchaft, ich ſehe es, wie ſich die Menſchheit im niedrigſten Aus - wurfe zeigt, wie alle Anlagen, alle Niedertraͤch - tigkeiten hier in ihrer ſchoͤnſten Bluͤthe pran - gen: es zerreißt mir oft das Herz, wenn ich den Anblick des Jammers genau betrachte, wie ſie von allen Beduͤrfniſſen entbloͤßt ſind und ihre Sinnlichkeit ſie beherrſcht, wie ſie gierig verſchlingen was ſie zuſammengebettelt haben und ohne Thraͤnen fuͤr ihr eignes Elend ſind; wie ſie ſich verlaͤumden und gegenſeitig verachten, wie es unter ihnen ſelbſt Prahler und Ver - ſchwender giebt, ach! was ſoll man zu den Menſchen ſagen?

Neulich lag ich im Sonnenſchein in der Ecke eines freyen Platzes. Ein altes zerlump - tes Weib kam und fuͤhrte ihren blinden Sohn an der Hand; ſie ſetzten ſich nicht weit von mir nieder. Mutter, fing der Blinde an, es brennt mir ſo auf den Augen, die[Sonne] ſcheint gewiß, wie Du immer ſagſt. Ja, ſagte die Mutter, liebes Kind, ſetze Dich hierR 2260nieder und ruhe aus. Er hob langſam den Kopf in die Hoͤhe, als wenn er den Himmel und ſeinen Sonnenſchein ſuchen wollte.

Die Alte kramte nun jetzt ihre Beute aus. Brod mit Stuͤcken rohen Fleiſches, einige kleine Wuͤrſte, Kuchen, alles lag vermiſcht in einem ſchmutzigen leinenen Sacke; ſie biß oft von den einzelnen Stuͤcken mit großer Gier etwas ab; dann gab ſie dem Sohne einen Kuchen und be - fahl ihm, hier zu bleiben und ihre Ruͤckkehr abzuwarten.

Der Junge betaſtete den Kuchen mit allen Zeichen der Freude und des Wohlbehagens: er drehte den Kopf oft nach der Sonne, als wenn er ſich gewaltig anſtrengte, um endlich einmal zu ſehn. Ein anderer Bettelbube ſchlich ſich indeſſen naͤher, hob ploͤtzlich den Kuchen von der Erde auf und lief ſchnell davon. Der Blinde ſuchte nun ſeine Nahrung, auf die er ſich gefreut hatte, und fand ſie nicht; ſchwermuͤ - thig ſenkte er den Kopf nieder, und wie an alle Leiden gewoͤhnt und auf alle moͤgliche Ungluͤcksfaͤlle vorbereitet, legte er ſich hin und ſchlief ein. Sein Schlaf war wie ein Ausruhn in einer beſſern Welt. Ich ſchlich mich davon, um261 nicht, wenn die Mutter zuruͤckkaͤme, fuͤr den Dieb angeſehn zu werden.

Dies iſt das Bild der Menſchheit! O, wie iſt meine Phantaſie mit Schmutz und ekel - haften Bildern angefuͤllt! Wie oft leid 'ich hier in der groͤßten Verſammlung der Menſchen heimlichen Hunger, und keiner weiß es, und keiner fragt darnach. O Amalie, wenn Du es wuͤßteſt, gewiß, Du wuͤrdeſt mir helfen. Doch nein, nein, auch Du gehoͤrſt den Men - ſchen an; Du wuͤrdeſt Dir eine Bequemlichkeit verſagen muͤſſen, die Dir vielleicht zum Be - duͤrfniſſe geworden iſt. Ich wuͤrde Dich nicht darum bitten, wenn ich Dich auch vor dem Lager meines Elends voruͤbergehen ſaͤhe. Es ſoll aber anders werden! Es muß ſich aͤn - dern! Es giebt keine Liebe und ich kann bey dieſer keine Huͤlfe ſuchen; ich muß mir durch mich ſelber helfen. Iſt es nicht ſchaͤndlich, daß ich hier liege und in meiner Traͤgheit jede Gelegenheit vorbeyſchluͤpfen laſſe? Es iſt endlich Zeit, daß ich mich zuſammenraffe. Sie werden mich nicht tadeln, Roſa, und Sie ha - ben auch kein Recht dazu. Leben Sie wohl, bis Sie einen beſſern Brief von mir erhalten.

262

38. William Lovell an Roſa.

Es iſt gelungen, Roſa, es iſt gelungen, und ich bin wieder muthiger. Ich Thor! daß ich nun ſchon ſeit lange die Menſchen kenne und dieſe Kenntniß doch noch nicht benutzte! Nein, ich will nicht mehr ruhig neben ihnen, ſondern durch ſie leben. Sie haben Unrecht, Roſa, of - fenbar Unrecht, denn unſer Verſtand, die Noth - wendigkeit, alles fordert uns dazu auf. Sie haben mir muͤſſen Stand halten, das Gluͤck hat mir gehorchen muͤſſen, und alles iſt nun wieder gut.

Schon ſeit lange waren mir durch eine zu - faͤllige Bekanntſchaft einige Spielerkniffe gelaͤu - fig geworden, die ich naͤrriſch genug war, nie - mals anzuwenden. Ich Narr ſaß immer mit meinen ehrlichen Haͤnden da und hob toͤlpiſch und unbeholfen die Karten ab, indeß mein Geld und mit ihm die Achtung der Menſchen, aller Lebensgenuß, jede Freude von meiner263 Seite ſchwanden. Wenn ich mir jetzt nicht als der groͤßte Dummkopf vorkomme, Roſa, ſo ſol - len Sie mich nie wieder Ihren Freund nennen: ich that in meiner Einfalt mehr, als je die be - ruͤhmteſten Philoſophen, zuſammengenommen, gethan haben, ich war ehrlich, in der ſchlimm - ſten Situation meines Lebens, ich verſchenkte mein Geld, wenn ich gewonnen hatte, und war die Großmuth ſelbſt, ich uͤbte die groͤßte Selbſt - verlaͤugnung aus, indem ich beim verdruͤßlich - ſten Verluſte, der mich elend machte, kalt blieb und ganz vergaß, daß ich ein Betruͤger ſeyn konnte. O der dummen, ungehirnten Ehrlich - keit! Nachher lag ich mit meiner Ehrlichkeit auf den Marktplaͤtzen und bettelte, ſtatt zu morden, ich flehte das Wohlwollen der Men - ſchen an, ſtatt ihnen ihr Eigenthum mit Ge - walt zu entreißen: o Himmel! es waren oft dieſelben Menſchen, die durch mich waren reich geworden und die mir nun ſo kalt und mit ſo vieler Verachtung voruͤbergingen, als wenn ich der unbekannteſte und verworfenſte Gegenſtand waͤre! Und doch hatten ſie mich wahrſcheinlich, ja gewiß, um mein Geld betrogen, und ſie fuhren jetzt durch ihren Diebſtahl in Kutſchen264 und ich lag mit meiner Ehrlichkeit am Wege und bettelte! Das empoͤrt[j]eden Menſchen und auch mein Blut ward endlich erhitzt. Ich ſchwur mir ſelbſt, daß es anders werden ſollte, und wahrhaftig, es iſt nun auch anders gewor - den. Ich that nichts weiter, als daß auch ich meinen Beytrag zum allgemeinen Betruge lie - ferte, daß ich die Kuͤnſte ſpielen ließ, die in meiner Gewalt waren. Warum gab es Nar - ren, die ſich mit mir einließen? Sie haben mir nur meine verlorne Zeit und die Niedertraͤch - tigkeit ihrer Bruͤder bezahlt: jetzt iſt nun alles wieder von allen Seiten richtig; ich bin ſogar mit den Menſchen auf eine gewiſſe Art wieder ausgeſoͤhnt, ſoviel man ſich mit ihnen wieder ausſoͤhnen kann, wenn man ſie einmal gekannt hat, und waͤr 'es[auch] nur in dem kleinen Raume einer Stunde.

Ich ſpielte anfangs nur niedrig und nach und nach hoͤher und immer hoͤher. Sie haͤtten ſehn ſollen, Roſa, wie alle die Menſchen ſich wieder um mich verſammelten, und mir ſchmei - chelten, und herzlich gegen mich waren, die mich noch vor wenigen Tagen auf der Straße hatten liegen und hungern laſſen. Ihrer aller265 Leben, aller Vermoͤgen ſtand mir zu Gebote; man bewunderte die ſeltſame Laune des kuͤhnen Englaͤnders, der ſich ſo gut habe verſtellen koͤn - nen, um ſich auf einige Zeit mit dem Elende der menſchlichen Natur recht bekannt zu machen. Ich haͤtte jedem eine Piſtole vor den Kopf ſchießen moͤgen, wenn ich nicht gehofft haͤtte, von ihnen zu gewinnen und mich ſo zu raͤchen. Es geſchah; mein eignes ſchoͤnes Geld floß in meine Boͤrſe zuruͤck, und je reicher ich wurde, je mehr Freunde bekam ich wieder. Die ganze Welt mit allen ihren Freuden war mir nun wieder aufgeſchloſſen. O Geld! allmaͤchtiges Geld! Ich will deinen Beſitz kuͤnftig nicht wie - der ſo gutmuͤthig fahren laſſen, ich habe dich nun erſt kennen und ſchaͤtzen gelernt, ich ver - ehre deine Allmacht!

Ich moͤchte in manchen Stunden anfangen, meine eigne Geſchichte und meine Empfindun - gen uͤber mich und die Menſchen niederzuſchrei - ben. Wenn ich mich ſo mancher Buͤcher erin - nere, die ich ehedem geleſen habe, und in de - nen uns die tugendhaften Menſchen ſo viele Langeweile machen, indeß die Laſterhaften wie Vogelſcheuchen daſtehn, um die Leſer ſchaaren -266 weiſe, wie Sperlinge, von der Bahn des Boͤ - ſen zuruͤckzuſchrecken, und mir dann einfaͤllt, daß irgend ein eingebildeter Dummkopf ſich hin - ſetzen koͤnnte, um meine Geſchichte, die er Stuͤckweiſe durch die dritte oder vierte Hand erfahren hat, bedaͤchtig aufzuſchreiben, ſo moͤchte ich lachen und ſelbſt die Feder nehmen, nicht zu meiner Rechtfertigung, denn dieſe brauche ich nicht, ſondern bloß um zu zeigen, wie ich bin und wie ich denke. Meilenweit ſtehn jene Armſeeligen, die in drey Buͤchern die Men - ſchen ſtudirt haben und die ſie nun ſelbſt ſchildern wollen, von der Menſchheit zu - ruͤck. Sie haben nichts erfahren und nichts geduldet, ſie ſind nur von den kleinlich - ſten Leidenſchaften geſtreift, kein Sturm iſt an ihrem Herzen voruͤbergefahren, und voll Ver - trauen ſetzen ſie ſich nieder und maßen ſich an, die Herzen der Menſchen zu richten und ihre Gefuͤhle darzuſtellen. Wie jaͤmmerlich wuͤrde ich mich in einem ſolchen Buche ausnehmen! Wie wuͤrde der Verfaſſer unaufhoͤrlich meine guten Anlagen bedauern und uͤber die Verderbt - heit meiner Natur jammern, und gar nicht ahnden, daß alles ein und eben daſſelbe iſt,267 daß ich von je ſo war, wie ich bin, daß von je alles berechnet war, daß ich ſo ſeyn mußte. Doch, keiner wird ſo naͤrriſch ſeyn, ſich um mich und meine Geſchichte zu bekuͤmmern; im Herzen eines jeden Bekannten ſteht ſie anders geſchrieben, und alle, nur ich ſelbſt, leſen ſie vielleicht falſch.

Jetzt will und kann ich zu Ihnen zuruͤck - kehren; ich bin ſchon auf dem Wege. Ich habe alles vergeſſen, Roſa, und Sie duͤrfen mir ohne Scheu oder Zuruͤckhaltung naͤher kommen; ich hoffe, auch Sie haben alles das von mir vergeſſen, was mich in Ihrer Geſellſchaft in Verlegenheit ſetzen koͤnnte: fuͤr vernuͤnftige Menſchen muß nie eine Verlegenheit entſtehen koͤnnen, denn das hoͤchſte, was ſie thun koͤnnen, iſt, daß ſie geſtehn, daß ſie irgend einmal Nar - ren waren, und das verſteht ſich ja immer von ſelbſt, und ſie ſind von neuem Narren, indem ſie es geſtehn. Alſo koͤnnen wir beyde daruͤber ganz ruhig ſeyn. Gruͤßen Sie vor allen Dingen Andrea; er wird doch nicht krank ſeyn, da Sie ihn damals ſo lange nicht geſehn hat - ten? Leben Sie wohl, bald ſeh 'ich Sie wieder.

268

39. Ralph Blackſtone an Mortimer.

Wie befinden Sie ſich, lieber Freund, wenn ich Sie ſo nennen darf? Doch, warum ſollte ich es nicht duͤrfen? Sie ſind ja mein beſter und mein aufrichtiger Freund; ohne Ihre Huͤlfe waͤre ich ja damals ſchon mit meiner Tochter Todes verblichen. Ach, ich glaubte damals nicht, unter den Menſchen noch Huͤlfe und Er - barmen anzutreffen, und da kamen Sie gerade und fanden mich durch einen gluͤcklichen Zu - fall. Was waͤre aus mir geworden, wenn Sie mich nicht angetroffen haͤtten? Ich kann es immer noch nicht vergeſſen. Manche Menſchen wiſſen gar nicht, was Elend heißt, und ſie koͤnnen ſich die große menſchliche Noth, aber auch die menſchliche Dankbarkeit nicht vorſtel - len, und es iſt ihnen nicht zu verargen, wenn ſie glauben, es gaͤbe gar keine dankbare Men - ſchen. Es giebt auch viele undankbare Leute in269 der Welt, aber ich denke, daß ich nicht zu dieſen gehoͤre; nachher giebt es ſolche, die, wenn ſie aus der Armuth in einen gewiſſen Wohlſtand verſetzt ſind, ſich nachher ihrer ehe - maligen Armuth ſchaͤmen und wuͤnſchen, daß alle Menſchen die Wohlthaten und Unterſtuͤz - zungen vergeſſen moͤchten, die ſie ihnen in ſchlimmern Zeiten erwieſen haben, ja ſie ſuchen ſie ſogar ſelbſt zu vergeſſen, und daraus ent - ſteht wieder eine andre Art von Undankbarkeit, die aus einer falſchen Schaam herruͤhrt; man kann nicht ſagen, daß die Urſache ganz ſchlecht ſey, aber der Erfolg davon wird oft recht nie - dertraͤchtig. Ich glaube, daß der Menſch auf recht verſchiedenen Wegen ſchlimm werden kann, aber dafuͤr hat der Menſch auch ſeinen Verſtand, um ſich vor ſolchen Abwegen zu huͤ - ten. Nehmen Sie mir mein weitlaͤuftiges Ge - ſchwaͤtz nicht uͤbel, denn es kommt wirklich aus dem Herzen. Ich lebe hier ſehr froh und vergnuͤgt, wie ein Vogel in den Luͤften und in den gruͤnen Baumzweigen. Ich ſuche, ſoviel es mir in meinem Alter noch moͤglich iſt, mei - nem Schwiegerſohne auf irgend eine Art nuͤtz -270 lich zu ſeyn, ich fuͤhre daher eine fleißige Auf - ſicht uͤber den Garten, und mit meinen Augen beſſert er ſich taͤglich und zuſehends, ſo daß ich dieſem Geſchaͤfte mit Bequemlichkeit vorſte - hen kann. Mit dem Gaͤrtner, der ein etwas eigenſinniger, aber ſonſt ganz guter Mann iſt, habe ich manchen Streit, er bildet ſich ein, einen gewiſſen guten Geſchmack zu haben und will mir den Garten immer viel zu kuͤnſtlich machen. Man muß aber bey einem Manne eine Schwaͤche uͤberſehn, wenn er ſonſt gute und lobenswuͤrdige Eigenſchaften hat, und die kann man wirklich dem alten Thomas nicht ſo ganz und geradezu abſtreiten: nur hat er ein Ungluͤck, welches vielen aͤltern Leuten begegnet, daß er ſich fuͤr kluͤger haͤlt, als er wirklich iſt, er macht mir daher oft mit ſeinen langwierigen Geſpraͤchen eine ziemliche Langeweile. Er wurde neulich ſehr boͤſe, als er manches, was er ein - gerichtet hatte, wieder einreißen mußte, aber die Ordnung machte es noͤthig. Die Jagd hatte mein Schwiegerſohn und ſein ſeeliger Vater faſt ganz eingehn laſſen, aber ich denke ſie noch mit Gottes Huͤlfe wieder in Flor zu bringen. 271Es waͤre ſonſt wirklich um das ſchoͤne und herr - liche Revier Schade.

Meine Tochter iſt immer munter und ver - gnuͤgt, dabey iſt ſie außerordentlich geſund und liebt ihren Mann ungemein; und wie ſollte es auch moͤglich ſeyn, daß ſie ihn nicht liebte? Jedes Kind muß ihm gut ſeyn, und ich habe hier auch noch keinen Menſchen getroffen, der ihn nicht leiden moͤchte; ſelbſt die ſchlechten Menſchen moͤgen ihn gern, nur von einem ge - wiſſen Lovell habe ich hier unter der Hand manches gehoͤrt, der ſein unverſoͤhnlicher Feind ſeyn ſoll, das muß dann gewiß ein aͤußerſt ſchlechter Menſch ſeyn. Er iſt aus Italien hieher gekommen und hat hier die Italiaͤniſche Mode mit Vergiften einfuͤhren wollen, aber das geht in unſerm England nicht ſo, wie er vielleicht gedacht hat, und darum hat er auch heimlich wieder abreiſen muͤſſen. Man ſagt, er ſey in der Fremde geſtorben, und ein ſolcher Menſch verdient auch nicht, daß er lebt, denn er wendet ſein Leben nur zum Schaden und zur Aergerniß ſeiner Nebenchriſten an, und das iſt auf keinen Fall recht und loͤblich. Ich habe dieſen ganzen Brief meiner Tochter272 diktirt, weil ſie ſchneller und fertiger ſchreibt, als ich. Leben Sie recht wohl und gluͤcklich; ich nenne mich

Ihren aufrichtigen Freund Ralph Blackſtone.

40.273

40. Betty an Amalie.

Wie befinden Sie ſich, theuerſte Amalie? Wenn Sie eben ſoviel an mich denken, wie ich an Sie, ſo denken Sie recht oft an mich; doch das darf ich nicht hoffen. Sie ſind immer ſo gut und Ihre Briefe ſind ſo gut, daß ich glaube, ich koͤnnte auf Erden keine beſſere Freundinn finden. Nach Eduard liebe ich Sie und mei - nen alten lieben Vater am meiſten, der zwar zuweilen etwas viel ſpricht, es aber doch immer herzlich gut meint. Manche Leute haben ihm daraus zuweilen einen Vorwurf gemacht, aber man laſſe doch den alten Mann, wenn es ihm nur Vergnuͤgen macht. Sehn Sie, in ſeinem Elende konnte er ſich manchmal recht gut troͤ - ſten, wenn er ſelbſt lange Reden uͤber das Un - gluͤck, oder uͤber ſeine Standhaftigkeit hielt; er ſagte ſelbſt, daß im Sprechen eine große Erleichterung ſtecke. Freilich, wird mein Vater keinem andern Menſchen ſo liebenswuͤrdig vor -Lovell. 3r Bd. S274kommen, wie ich ihn ſehe, indeſſen wird ihn doch gewiß jeder fuͤr einen guten und recht - ſchaffenen Mann halten, und das iſt fuͤr mich weit mehr, als die Liebenswuͤrdigkeit. Mich freut es immer von neuem, daß er ſich jetzt ſo gluͤcklich fuͤhlt, da er wieder Bedienten befehlen, und ausreiten, und Anordnungen uͤber die Jagd treffen kann, und Eduard thut ihm alles Er - ſinnliche zu Gefallen.

Mir iſt oft recht ſonderbar zu Muthe, wenn ich jetzt unter Eduards Buͤchern manche wiederfinde, die ich in meiner ungluͤcklichen Lage las und die mich oft troͤſteten; ich habe ſie von neuem und mit einer unbeſchreib - lichen Sehnſucht durchgeleſen, ſie haben mich wieder geruͤhrt und ich halte ſie in großen Ehren. Ach, von je hab 'ich unſern armen Otway recht innig bemitleidet, der ſo großen Mangel litt, um den ſich Niemand kuͤmmerte, und[aus] dem doch ſo oft ein recht himmliſcher Engel ſchreibt: wie konnten die Menſchen ſo wenig fuͤr ihn ſorgen! Sie verdienen es gar nicht, daß ſie ihn leſen duͤrfen. Ich moͤchte alle jene Buͤcher wieder zuruͤckhaben, mit denen ich im truͤben Wetter ſo vertraut275 ward, die ich mit verweinten Augen und mit einem mattklopfenden Herzen las: ich kann mich in manchen Stunden ſo zuruͤckfuͤhlen, daß ich noch jetzt uͤber manche Vorfaͤlle von neuem wei - nen muß, und wenn ich dann meine Thraͤnen auf den Wangen fuͤhle, ſo iſt mir oft ploͤtzlich, als waͤre alles noch eben ſo, als waͤren alle bisherigen Freuden nur ein leichter Schlummer geweſen. Wenn man erſt uͤber das Ungluͤck hinuͤber iſt, ſo erinnert man ſich ſeiner mit einer gewiſſen ſtillen und unbeſchreiblichen Freude. Leben Sie recht wohl.

S 2276

41. William Lovell an Roſa.

Ich bin wohl recht der Narr des Schickſals, moͤcht 'ich mit Lear ausrufen. Hierhin und dorthin werd' ich geſtoßen; wie eine wunderbare Seltenheit gehe ich durch alle Haͤnde, jeder - mann betrachtet mich genau, und ich kann es nicht unterlaſſen, mich uͤber mich ſelbſt zu ver - wundern. Ich weiß noch nicht, wie Sie die - ſen Brief erhalten werden, aber ich muß mich zerſtreuen, ich muß mich beſchaͤftigen, und dar - um ſchreibe ich Ihnen. Ich bin nun hier in einer ganz neuen Situation, ich kann nicht fort und moͤchte doch nicht gerne bleiben: doch, ich will Ihnen ruhig erzaͤhlen, wie ich hieherge - kommen bin.

Ich reiſete mit meinem neuerworbenen Gelde von Chambery aus, mein Herz war ziemlich leicht, mein Gemuͤth zuweilen heiter geſtimmt, die ganze Welt kam mir vor wie eine große Raͤuberhoͤle, in der alles gemeinſchaftliches Gut277 iſt und jedermann ſoviel an ſich reißt, als er bekommen kann; kaum beſitzt er es, ſo wird es ihm von neuem entriſſen, um auch dem neuen Eroberer nicht zum Genuſſe zu dienen. Ich vergab Burton, ich vergab mir ſelbſt, denn je - dermann thut nur, was er vermoͤge ſeiner Be - ſtimmung thun muß: wir ſind von Natur ei - gennuͤtzig, und durch dieſe Einrichtung der Na - tur Raͤuber, die ſich deſſen, wonach ſie geluͤſtet, mit Gewalt oder mit Schlauheit zu bemaͤchti - gen ſuchen. Dies iſt der Grundſatz der Politik im Großen und Kleinen, es giebt keine andre Philoſophie wie dieſe und es kann keine andre geben, denn jedes Syſtem naͤhert ſich dieſer Klugheit mehr oder weniger, ſie iſt mehr oder weniger darinn verſteckt, alle Spitzfindigkeiten des Verſtandes ruhen am Ende auf dem Egoismus. Warum ſollen wir alſo nicht gleich lieber den einfachen Satz annehmen, vor dem jedermann zuruͤckzuſchrecken affektirt und an den doch jeder glaubt?

Ich bin ſeit kurzer Zeit mehr mit mir einig geworden, das heißt eigentlich, ich be - trachte die Ideen kaͤlter, die ich bis jetzt nur ahndete und deren dunkles Vorgefuͤhl mich in278 eine Art von Erſchuͤtterung ſetzte. Ich habe jene Gutmuͤthigkeit abgelegt, die mich vor an - dern oft ſo laͤcherlich und mich ſelbſt ſo unru - hig machte. Ich ertrug ſonſt die Affektation der Menſchen mit einer unglaublichen Geduld. Stundenlang konnte ich einem zuhoͤren, der ſich fuͤr einen ungluͤcklichen oder verfolgten Tugend - haften hielt, ohne eine Mine zu verziehen. Welche Unverſchaͤmtheit beſitzen dieſe Menſchen, alle ihre Lehrſaͤtze, alle ihre niedrige Heucheley einem Weſen vorzutragen, das vor ihnen ſteht und an dem ſie doch einen Kopf gewahr wer - den! Kann man ſie beſſer beſtrafen, als wenn man ihnen zeigt, wie ſehr man ſie verachtet, wenn man ſie dadurch bewegt, ſich ſelbſt auf eine Stunde zu verachten? Ich that es jetzt und ward in der ganzen Welt als ein Boshaf - ter verſchrieen: jene jaͤmmerlichen Weſen ſpra - chen mir das menſchliche Gefuͤhl ab, weil ich mit ihren klaͤglichen, zuſammengeflickten Leiden nicht ſympathiſiren wollte. Bosheit iſt nichts, ein Wort; es giebt keine Bosheit; dieſen Satz will ich gegen die ganze Welt vertheidigen.

Aber ich wollte Ihnen ja meine Geſchichte erzaͤhlen. Von Chambery machte ich die Reiſe279 zu Pferde. Es war ein wunderbarer Weg, und ich verirrte mich, ich hatte die große Straße ganz verlaſſen und befand mich nun auf Neben - wegen, die bald ausgingen, bald dahin zuruͤck - zukehren ſchienen, woher ich kam. Ich fand nur einzelne Huͤtten, in denen ich einkehren konnte, und die Kohlenbrenner, oder Holzhau - er, die ich dort traf, wußten den Weg ſelber nicht, den ich ſuchte. An einem Morgen, als ich einen ſteilen Huͤgel hinaufritt, befiel mich eine ſeltſame Beklemmung ſo gewaltig, als wenn ſie mein Herz zerdruͤcken wollte, alles um mich her war mir ploͤtzlich ſo bekannt, keine dunkle, ſondern eine ganz deutliche Erinnerung trat mir entgegen, daß ich an dieſem Platze ſchon geweſen ſey. Ein wuͤſter Rauch lag auf den fernen Bergen, und eine grauenvolle Daͤm - merung machte die tiefen Abgruͤnde noch furcht - barer. Mit gewaltigem Schrecken ergriff mich das Gefuͤhl der Einſamkeit, es war, als wenn mich die Gebirge umher mit entſetzlichen Toͤnen anredeten; ich ward ſcheu, als ich die großen und wilden Wolkenmaſſen ſo frech am Himmel uͤber mir haͤngen ſah. Ich ſtand mit dem Pferde ſtill, um uͤber meinen eigenen Zuſtand280 nachzuſinnen: jetzt brach ein Sonnenſtrahl her - ein und ich erkannte ploͤtzlich mich und die Ge - gend. Es war dieſelbe, Roſa, Sie werden ſich ihrer noch erinnern, in der ich von Raͤu - bern angefallen wurde, als ich mit Ihnen zuerſt nach Italien reiſte: es war derſelbe Ort, an welchem mich Ihre verkleidete Geliebte ſo tapfer vertheidigte. Die Spitzen der fernen Berge hoben ſich wieder, wie damals, golden aus dem Nebel heraus, das tiefe Thal flim - merte in tauſend bunten Sonnenſtreifen: ein Wagen fuhr den großen Weg muͤhſam den Berg herauf. Ich bildete mir ein, daß Sie mit Balder darinn ſaͤßen, Willy vorne auf dem Bock: ich ſah genauer hin und es war mir ſogar, als koͤnnte ich die Geſichtszuͤge des alten Willy erkennen. Ich folgte dem Wagen mit den Augen und konnte mich immer noch nicht von meinen Traͤumereyen losreißen, als ein Schuß, der mein Pferd zu Boden ſtreckte, mich aus meiner Betaͤubung aufriß. Vier Menſchen ſtuͤrzten aus dem Gebuͤſche auf mich zu: alles war mir wie ein wiederholtes Poſſen - ſpiel und ich ſah mich kalt nach dem blonden Ferdinand um, daß er mir mit ſeinem Hirſch -281 faͤnger zur Huͤlfe eilen ſolle. Aber er kam nicht, er war nicht da, und ich gab mich ohne Ge - genwehr gefangen; ich uͤbergab den Raͤubern ſelbſt alles Geld, das ich bey mir hatte: ſie ſchienen uͤber meine Kaltbluͤtigkeit erſtaunt. Man ſchleppte mich auf geheimen Wegen zu ihrer Wohnung. Ich wußte immer noch nichts von mir ſelbſt, nicht aus Verzweiflung, ſondern weil ich ungewiß war, ob ich ſchliefe, oder wachte, ich glaubte, ich duͤrfte mir nur recht ernſthaft Muͤhe geben, aufzuwachen, und es wuͤrde auch geſchehen, das heißt, ich wuͤrde ſterben.

Als ich einige Stunden ſo zugebracht hatte, ſchlug mir ein anſehnlicher Mann vor, ein Mitglied ihrer Geſellſchaft zu werden. Sie er - rathen es vielleicht, Roſa, daß ich ohne alles Bedenken dieſen Vorſchlag annahm. Dieſer laͤcherlich wunderbare Umſtand fehlte meinem Leben noch bis jetzt, er ſchloß ſich ſo herrlich an alles Vorhergehende, er beſtaͤrkte mich ſo in meinem Traume, ich war ſo uͤberzeugt, daß ich hier ſeyn muͤſſe und nicht anderswo ſeyn koͤnne, daß ich den Raͤubern, als ſie mich kaum gefragt hatten, ſchon mein Jawort gab. 282 Und ſagen Sie ſelbſt, was kann unſer Leben anders ſeyn, als ein leeres groteskes Traum - bild? Wir halten es immer fuͤr etwas ſo ernſt - haftes, und es iſt eine plumpe, unzuſammen - haͤngende Farce, der nuͤchterne, verdorbene Ab - hub einer alten, beſſern Exiſtenz, eine Kinder - komoͤdie ex tempore, eine ſchlechte Nachaͤffung eines eigentlichen Lebens.

Jetzt ſitze ich nun hier in einer tiefen Ein - ſamkeit, denn alle meine Gefaͤhrten ſind aus - gegangen. Der Wind pfeift durch die gewun - denen Felſen, die Zweigen knarren laut und die todte Stille wiederholt jeden Schall. Nichts als Felſen, Baͤume und ferne Gebirge ſieht mein Auge, das Geſchrey des Wildes toͤnt durch die feyerliche Ruhe. Einzelne Wolken ziehn ſchwer durch die Gebirge; der Sonnen - ſchein geht und koͤmmt wieder. Warum ſitz 'ich nun hier und denke und ſchreibe an Sie? Was ſoll ich hier? Und doch kann ich noch nicht fort: die Raͤuber haben aus meinem Aeußern geſchloſſen, ich koͤnnte ein tuͤchtiges Mitglied ihrer Geſellſchaft werden, und darum wollen ſie mich behalten. Aus einem verdorbenen Menſchen wird vielleicht noch283 ein ganz guter Raͤuber aus mir. Zum Men - ſchen bin ich verdorben, das heißt, daß ich fuͤr einen Menſchen jetzt viel zu gut bin: man muß ſeinen Verſtand und ſeine Gefuͤhle nur bis auf einen gewiſſen Punkt aufklaͤren, tauſend Dinge muß man blindlings und auf gut Gluͤck anneh - men,[um] ein Menſch zu bleiben. Leben Sie wohl, ich will in dieſem Briefe bey Gele - genheit fortfahren, weil ich noch nicht einſehe, auf welche Art Sie ihn bekommen ſollen.

Es iſt Nacht, und ich muß jetzt ſchreiben, weil ich meinen Geſellſchaftern nicht gerne die - ſen Brief ſehen laſſen moͤchte. Ich habe eigent - lich nichts zu ſchreiben, aber ich bin nicht ru - hig genug, um einzuſchlafen. Es liegen einige erbeutete franzoͤſiſche Tragoͤdien da, die mich aber anekeln: ich aͤrgre mich, daß ich nichts von Shakſpear hier habe, der mein Gefuͤhl vielleicht noch mehr empoͤrte, um es zu be - ruhigen.

Ich komme mir hier in der dunkeln einſa - men Huͤtte wie ein vertriebener Weiſer vor, der die Welt und ihre Albernheiten verlaſſen284 hat. Wenn ich mir einen ſolchen Eremiten recht lebendig vorſtelle, ſo wird mir gleich recht verſtaͤndig zu Muthe. Balder ſollte jetzt mit mir dieſe Wuͤſte bewohnen, ich wuͤrde jetzt recht leicht mit ihm ſympathiſiren.

Ich moͤchte ſcherzen, um die Schauer von mir zu entfernen, die mich umgeben. Der Wind rauſcht einſam uͤber die Waͤlder daher und die Sterne ſtehn wehmuͤthig uͤber Baͤume und Felſen: Mondſchein ſchimmert heruͤber und dichte Schatten fallen von den Bergen herun - ter. Ich ſtrecke in Gedanken die Hand aus, um der Hand eines Freundes zu begegnen, vor - zuͤglich ſehn 'ich mich nach dem alten ehrlichen Willy: ich bilde mir ein, er ſitzt neben mir und fuͤhre ein tiefſinniges Geſpraͤch mit ihm. Es iſt, als wollten wohlbekannte Stimmen aus der Wand herausreden, und ich entſetze mich vor jedem Schalle. Wirft das Licht nicht ſelt - ſame Schatten gegen die Mauer? Wer kann wiſſen, was ein Schatten iſt und was er zu bedeuten hat? Schlaͤfrige Nachtſchmetterlinge ſind zum offnen Fenſter hereingeſchluͤpft und wuͤſt' und traͤge ſummen ſie jetzt durch das Ge - mach: in immer engern Kreiſen treiben ſie ſich285 um die Flamme des Lichtes, um ſich zu ver - ſengen und zu ſterben. Ein Zweig des Bau - mes klatſcht gegen mein Fenſter, er faͤhrt auf und nieder und verdeckt mir bald die Sterne, bald zeigt er ſie mir im blaͤulicht gruͤnen Luft - raume. Ich weiß nicht, warum mich alles er - ſchreckt, warum der Himmel mit ſeinen Ster - nen ſo wehmuͤthig uͤber mir ſteht. In der Einſamkeit liegt eine Bangigkeit, die unſre ganze Seele zuſammenzieht; wir entſetzen uns vor der großen, ungeheuren Natur, wenn kein Sonnenſchein die große Scene beleuchtet und unſern Blick und unſre Aufmerkſamkeit auf die einzelnen Parthien richtet, ſondern wenn die Finſterniß alles zu einem unuͤberſehlichen Chaos vereinigt. Dann gehen wir voͤllig im wilden, ungeheuern Meere unter, wo Wogen ſich auf Wogen waͤlzen und alles geſtaltlos und ohne Regel durcheinander fluthet. Nirgends kann man ſich feſthalten; unſre Welt ſieht dann aus wie eine ehemalige Erde, die ſo eben in der Zertruͤmmerung begriffen iſt und wir werden unbemerkt mit verſchlungen.

Ich wuͤnſche in Rom zu ſeyn und Andrea zu ſehn und zu ſprechen. Das Leben hier286 mißfaͤllt mir ſeiner Einfoͤrmigkeit wegen, mein Geiſt muß jetzt einen andern Schwung nehmen, oder ich gebe mich ſelbſt verloren. Eine groͤßere Seele muß mich jetzt beſchuͤtzen, oder ein Elend, wie es vielleicht noch keinem Menſchen zu Theil ward, iſt mein Loos.

Wer iſt das, der unter unſern Wipfeln hinweggeht? ſo ſcheinen mir die Baͤume nach - zurufen; jede Wolke und jeder Berg macht eine drohende Gebehrde, ach, und die Menſchen um mich her! ſie demuͤthigen mich am meiſten. Auf eine betruͤbte Art ſind ſie ſich ſelbſt genug, ihre Traͤgheit und einen jaͤmmerlichen Leichtſinn halten ſie fuͤr Staͤrke der Seele; ſie bemerken die Leere in ihrem Geiſte nicht, die Anlage im Verſtande, die ohne die mindeſte Vollendung liegen blieb. Sie ſind nichts als redende Bil - der, die den Menſchen und mich verachten, weil ſie ſich ſelbſt nicht achten koͤnnen.

Sie ſprechen oft viel von einem Rudolpho und Pietro, die ſich immer durch ihre Brav - heit ausgezeichnet haͤtten und die bey einem Ueberfalle umgekommen waͤren. Sie wiſſen es nicht, Roſa, daß ſie durch mich und durch Ihren Ferdinand umkamen; ſie wuͤrden mich287 ſogleich ermorden, wenn ich es ihnen entdeckte. Ich habe ihre Leichenſteine beſuchen muͤſſen, die ihnen die ganze Geſellſchaft geſetzt hat; ſie dienen dieſen Menſchen zur Kirche.

Warum koͤnnt 'ich nicht naͤchſtens Roſali - nen, oder meinen Vater wiederfinden? In dieſer ſeltſamen Welt iſt nichts unmoͤglich.

Der Morgen bricht an, der Mondſchein wird bleicher, ich will mich niederlegen, um noch einige Stunden zu ſchlafen. Jetzt habe ich vor dem Schaudern Ruhe: die Geſpenſterzeit iſt voruͤber. Sie lachen vielleicht, Roſa, leben Sie wohl.

Ich durchſuche heute meine Brieftaſche und finde noch ein altes, uraltes Blatt darinn; es iſt ein Gedicht, das ich einſt auf Amaliens Geburtstag machte. Das Papier iſt ſchon gelb und abgerieben, die Worte kaum noch zu leſen: darinn lag ihre Silhouette, die ich im Garten in Bonſtreet an einem ſchoͤnen Nachmittage ſchnitt. Mein ganzes Herz hat ſich bey dieſen Entdeckungen umgewandt. Alles Ehemalige, Laͤngſtverfloſſene und Laͤngſtvergeſſene koͤmmt zu288 mir zuruͤck, ich ſehe ſie vor mir ſtehn, ich hoͤre die Baͤume im Garten von Bonſtreet rauſchen, die ganze Landſchaft zaubert ſich vor meine Au - gen hin. Ich will Ihnen die Phantaſie hie - herſetzen, die mich ſo innig geruͤhrt hat.

Erſter Genius.
Wo find 'ich wohl den Bruder?
Schwärmt er im Regenbogen?
Schwebt er auf jener Wolke?
Bald müſſen wir uns finden,
Die Sonne ſinkt ſchon unter.
Zweyter Genius.
Hier bring 'ich Thau von Blumen,
Den Duft von jungen Roſen,
Und aus der Abendröthe
Die kleinen goldnen Punkte;
Nun laß uns fürder eilen
Und holden Abendſchimmer
Ihr auf die Wangen ſtreuen,
Den Mund ihr röther färben,
Mit lichter Ätherbläue
Die ſanften Augen tränken,
Und in die blonden Locken
Die goldnen Lichter ſtreuen,
Die wir vom Regenbogen,
Vom Abendſchein erbeutet.
Beyde289
Beyde.
Wir ſchweben auf Blumen,
Wir tanzen auf Wolken
Vorüber dem Mond.
Es leuchten uns freundlich
Zum nächtlichen Tanze
Die Stern 'und der Mond.
Dann ſammeln wir Blumen,
Dann ſuchen wir Kräuter,
Von uns nur gekannt,
Und kehren zum Schutze
Der glücklichſten Menſchen
Vom Wandern zurück.
Der Dichter.
Schützende Genien, wenn ihr zu ihr flieget
Und die Schönſte mit neuer Schönheit ſchmücket,
O ſo hört noch, höret die fromme Bitte:
Nehmet die Seufzer, nehmt die ſchönſten Thränen,
Tragt das treueſte Herz als Gabe zu ihr,
Dann ach! wird ſie meiner gewiß gedenken!

Die Verſe ſind ſchlecht und die ganze Idee iſt geſucht, aber ich ſchrieb es damals mit der waͤrmſten Empfindung nieder; meine SpannungLovell, 3r Bd. T290erlaubte mir es nicht, mich in die Schranken einer natuͤrlichen und einfachen Empfindung zu halten. Jedes Wort dieſes Gedichts bringt mir tauſend ſuͤße und ſchmerzliche Erinnerungen zuruͤck, die Vergangenheit zieht mir ſchaden - froh durch das Herz, noch ſchoͤner vielleicht, als ſie damals war.

Seid mir gegrüßt, ihr frohen goldnen Jahre,
So ſehr ihr auch mein Herz mit Wehmuth füllt!
Ach! damals! damals! immer ſtrebt mein Geiſt
zurück
In jenes ſchöne Land, das einſt die Heimath war.
Das goldne, tiefgeſenkte Abendroth,
Des Mondes zarter Schimmer, der Geſang
Der Nachtigallen, jede Schönheit gab
Mir freundlich ſtillen Gruß, es labte ſich
Mein Geiſt an allen wechſelnden Geſtalten
Und ſah im Spiegel friſcher Phantaſie
Die Schönheit ſchöner: Willig fand die Anmuth
Zum Ungeheuren ſich, und alles band ſich ſtets
In reine Harmonie zuſammen. Doch
Entſchwunden iſt die Zeit, das eh'rne Alter
Des Mannes trat in alle ſeine Rechte.
Mich kennt kein zartes, kindliches Gefühl,
Zerriſſen alle Harmonie, das Chaos
Verwirrter Zweifel ſtreckt ſich vor mir aus.
Von jäher Felſenſpitze ſchau 'ich ſchwindelnd
291
In ſchwarze, wüſte, wildzerrißne Klüfte.
Ein wilder Reigen dreht ſich gräßlich unten,
Ein freches Hohngelächter ſchallt herauf,
Und bleiche Fackeln zittern hin und her.
Dämonen, fürchterliche Larven feyern
Mit raſchem Schwung ein nächtlich Luſtgelage.
Wer iſt der ſchwarze Rieſe unter ihnen?
Er nennt ſich Tod und ſtreckt den bleichen Arm
Nach mir herauf! Hinweg du Gräßlicher!
Was rührt ſich in den Bäumen? Iſt's mein Vater?
Er will zu mir! er kömmt mit Roſalinen
Und langſam geht Pietro hinter ihm,
Auch Willy's Kopf ſtreckt ſich aus feuchtem Grabe!
Hinweg! ich kenn' euch nicht! zur Höll '
hinab!!
Doch laut und immer lauter rauſcht die Waldung,
Es brauſt das Meer und ſchilt mit allen Wogen,
Und in mir klopft ein ängſtlich feiges Herz.
Ihr alle richtet mich? verdammt mich alle?
Du ſelbſt biſt gegen Dich? O Thor, laß ja
Den Geiſt in dir, den frechen Dämon nie
Gebändigt werden! Laß das Schickſal zürnen,
Laß Lieb' und Freundſchaft zu Verräthern werden,
Laß alles treulos von dir fallen: ha! was kümmern
Dich Luftgeſtalten? ſey dir ſelbſt genug!

Was meinen Sie, Roſa? Wenn ich uͤber mich ſelbſt ein Trauerſpiel machte, muͤßteT 2292ſich da dieſe Tirade nicht am Schluſſe des vier - ten Akts ganz gut ausnehmen?

Die Raͤuber verachten mich jetzt von Her - zen, weil ſie ſehn, daß ich zu ihrem Gewerbe ganz unbrauchbar bin. Sie gehn aus und laſ - ſen mich meiſtentheils zuruͤck, um die Wohnun - gen zu bewachen.

Einer von ihnen iſt erſchoſſen. Ich bin zu - weilen der Zeuge der niederſchlagendſten Sce - nen, ich moͤchte mir oft ſelber entfliehen. Ich bin wieder allein und ſchwarze Gewitter - wolken bedecken den ganzen Horizont. Wie wuͤſte und verlaſſen iſt alles um mich her! Der Blitz zuckt durch den ſchwarzen Wolken - vorhang und ein Donnerſchlag laͤuft krachend durch die Gebuͤrge. Ein wildes Gebrauſe von Regen und Hagel ſtuͤrzt herab, alle Baͤume wanken bis in ihren Wurzeln.

Ich erinnere mich meines Aufenthaltes in Paris. Wie iſt es moͤglich, daß manche Menſchen, die ich dort kannte, noch den Wunſch nach dem Leben haben koͤnnen? Von allem, was das Leben theuer und ange -293 nehm macht, waren ſie entbloͤßt, ſie mußten ſich unter Schimpf und Verfolgung von einem Tage zum andern hinuͤberbetteln, ſie wurden von Noth und Mangel erdruͤckt und dennoch ſahen ſie dem naͤherſchreitenden Tode mit einer bleichen Wange entgegen. Ich kann es nicht begreifen und wuͤrde es in einer Erzaͤh - lung nicht glauben.

Nein, ich muß mir vor mir ſelber endlich Ruhe ſchaffen. Soll mir alles nur draͤuen und kein Weſen liebevoll die Hand nach mir ausſtrecken? Iſt fuͤr mich der Name Freund - ſchaft und Wohlwollen todt? Und wenn der Himmel noch lauter zuͤrnte, ſo will ich mich dennoch nicht entſetzen. In einer noch hoͤhern Wildheit, im ſtuͤrmendſten Wahnſinne will ich einen Zufluchtsort ſuchen und mich dort gegen alles verſchanzen! Ich will ſo lange trinken bis mir Sinne, Athem und Bewußtſeyn entgehn, und ſo als ein taumelnder Schatten zum Orkus wandern, damit mir dort alles noch ſeltſamer und unbegreiflicher erſcheine.

Hoch moͤcht 'ich mit den Stuͤrmen durch294 des Himmels Woͤlbung fahren, mich in das ſchaͤumende Meer werfen und gegen die don - nernden Wogen kaͤmpfen, mit den Abgruͤnden, mit den tiefen, undurchdringlichen Schachten der Erde will ich mich vertraut machen und endlich, endlich irgendwo die Ruhe entdecken.

Und warum will ich ruhig ſeyn? Warum dies laͤcherliche Streben nach einer Empfindung, die an ſich nichts iſt? die nur aus einer Ab - weſenheit von Gefuͤhlen entſteht? Nein, ich will anfangen, in den Folterſchmerzen, im Kampfe des Gewiſſens meine Freuden zu finden! Alle Verbrecher, alle Boͤſewichter ſollen leben! Der Tugend, der Gottheit zum Trotz ſollen ſie ſich nicht elend fuͤhlen! ich will es ſo und ich hab 'es mir ſelber zugeſchworen.

Mit meinen jaͤmmerlichen Geſellen iſt nichts anzufangen, ſie trinken und ſpielen nicht. Raub und Mord und Mord und Raub iſt ihr einziges Beginnen, und wenn ſie ſpielen, iſt man in Gefahr, von ihnen umgebracht zu werden.

Wie mir der Kopf, wie mir alle Sinne ſchwindeln. Es giebt nichts Hoͤheres im Menſchen, als den Zuſtand der Bewußtloſigkeit;295 dann iſt er gluͤcklich, dann kann er ſagen, er ſey zufrieden. Und ſo wird er im Tode ſeyn. Dumpfe Nacht liegt dann uͤber mir, kein Stern leuchtet zu mir in den finſtern Abgrund hinein, kein Schall aus der Oberwelt findet den Weg dahin, unaufloͤslich an gaͤnzliche Vergeſſenheit gebunden lieg 'ich dann da und bin nicht mehr ich ſelbſt, ich kenne mich nicht mehr und die Steine umher ſind meine Bruͤder, nun, warum ſollt' ich mich denn alſo vor dem Tode fuͤrchten? Er iſt nichts, er hebt die Furcht auf, er iſt die letzte Spitze, in der alle menſch - liche Gefuͤhle und Beſorgniſſe zuſammenlaufen und in Nichts zerſchmelzen.

Wohl mir, wenn der Tod erſt mein Ge - hirn und Herz zertreten hat, wenn Steine uͤber mir liegen und Gewuͤrme von meinem Leich - name zehren!

Der Menſch iſt nichts als ein alberner Poſ - ſenreißer, der den Kopf hervorſteckt, um Fraz - zen zu ziehn, dann druͤckt er ſich wieder zuruͤck in eine ſchwarze Oeffnung der Erde und man hoͤrt nichts weiter von ihm.

Mein Blut laͤuft ſchmerzhaft ſchnell durch meine Adern. Aber es wird einſt ſtille ſtehn,296 kein Wein wird es dann ſchneller herumtreiben und nach dem Gehirne jagen, es wird ſtehn und verweſen.

Wo die Menſchen bleiben! Wenigſtens mag ich noch jetzt nicht allein ſeyn, dazu habe ich im Tode noch Zeit genug.

Reiſen Sie ja nicht hieher, Roſa, glauben Sie mir, wir wuͤrden Sie ohne alle Barmher - zigkeit rechtſchaffen pluͤndern, denn hier gilt keine Freundſchaft, keine Ausnahme der Perſon. Ja, wir ſchonen nicht einmal andrer Diebe; ſo ſtrenge halten wir auf Gerechtigkeit.

O Freund, was kann der Menſch denken und niederſchreiben, wenn er ohne Beſinnung iſt! Jetzt, da ich nuͤchtern bin, ſchaͤme ich mich vor mir ſelber, ich wache in mir ſelbſt auf, und alles wird zu nichte, was ſchon in ſich ſelbſt ſo nichtig war. Seit ich hier bin, iſt mein Herz mehr zerriſſen als je, ich habe mich nie vorher mit dieſen Augen betrach - tet. In der duͤſtern Einſamkeit reißen ſich alle Sophismen, alle Truggeſtalten mit Gewalt von mir los, ich fuͤhle mich von allen jenen Kraͤf -297 ten verlaſſen, die mir ſonſt ſo willig zu Gebote ſtanden. Eine ſchreckliche Nuͤchternheit befaͤllt mich, wenn ich an mich ſelbſt denke, ich fuͤhle meine ganze Nichtswuͤrdigkeit, wie jetzt nichts in mir zuſammenhaͤngt, wie ich ſo gar nichts bin, nichts, wenn ich aufrichtig mit mir ver - fahre. O es iſt ſchrecklich, Roſa! ſich ſelbſt in ſeinem Innern nicht beherbergen zu koͤnnen, leer an jenen Stellen, auf denen man ſonſt mit vorzuͤglicher Liebe verweilte, alles wuͤſt durch - einander geworfen, was ich ſonſt nach einer ſchoͤnen und zwangloſen Regel dachte und em - pfand: von den niedrigſten Leidenſchaften hin - geriſſen, die ich verachte und die mich dennoch auf ewig zu ihrem Sklaven gemacht haben. Ohne Genuß umhergetrieben, raſtlos von die - ſem Gegenſtande zu jenem geworfen, in einer unaufhoͤrlichen Spannung, ſtets ohne Befriedi - gung, luͤſtern mit einer verdorbenen, in ſich ſelbſt verweſten Phantaſie, ohne friſche Lebens - kraft, von einem zerſtoͤrten Koͤrper zu einer druͤckenden Melankolie gezwungen, die mir un - aufhoͤrlich die große Rechnung meiner Suͤnden vorhaͤlt; nein, Roſa, ich kann mich ſelber nicht mehr ertragen. Waͤre Andrea nicht, ſo298 wuͤrde ich wuͤnſchen, ewig ein Kind geblieben zu ſeyn, der Duͤmmſte zu ſeyn, den Sie nicht eines Wortes, nicht Ihres Anblicks wuͤrdigen, ach, ich waͤre zufrieden auch mit Ihrer Verach - tung, ich wuͤrde von keiner andern Heimath wiſſen und mich in der dunkeln, beſchraͤnkten Huͤtte gluͤcklich fuͤhlen. Aber ich weiß, daß noch nicht alles verloren iſt, die groͤßere und beſſere Haͤlfte meines Lebens iſt noch zuruͤck. Andrea hat den Schluͤſſel zu meiner Exiſtenz, und er wird mir wieder ein freyeres Daſeyn aufſchließen: er wird mich in eine hoͤhere Welt hinuͤberziehn und ich werde dann die Harmonie in meinem Innern wieder antreffen. So muß es ſeyn, oder es giebt fuͤr mich keinen Troſt auf dieſer weiten Erde, keinen Troſt im Grabe, vielleicht keinen Troſt in einer Unſterblichkeit. Glauben Sie nicht, Roſa, daß ich in einer truͤ - ben Laune uͤbertreibe, daß ich mich mit Be - ſchuldigungen uͤberlade, um mir nur die Ent - ſchuldigung wieder deſto leichter zu machen: nein, ich habe dies in allen Stimmungen em - pfunden, ſelbſt im Wahnſinne der Trunken - heit, ſchwebte dieſe Ueberzeugung fuͤrchterlich deutlich vor meinen Augen, nur habe ich ſie299 mir ſelber abgelaͤugnet; ich kann jetzt mit die - ſen Luͤgen nicht weiter kommen, ein unbeſtech - licher, unſichtbarer Genius verdammt mich von innen heraus, und was mich am meiſten zu Boden wirft, iſt, daß ich mir nicht als ein Ungeheuer, ſondern als ein veraͤchtlicher, ge - meiner Menſch erſcheine. Waͤre das erſtere der Fall, ſo laͤge in der Vorſtellung ſelbſt ein Stolz und alſo auch ein Troſt. O, Sie glauben es nicht, wie abgeſchmackt ich mir vor - komme, wenn ich irgend einen Schluß machen, oder etwas Geſcheutes ſagen will, alles erſcheint mir dann ſo ohne Zuſammenhang mit mir ſel - ber, ſo aus der Luft geriſſen, ſo im Wider - ſpruche mit dem jaͤmmerlichen Lovell, daß ich wie ein Schulknabe erroͤthen moͤchte.

Sie ſehn, Roſa, ich muß zuruͤck und An - drea muß mich von mir ſelbſt erloͤſen.

300

42. Amalie an Betty.

Ihre Briefe, liebſte Freundinn, ſind mir im - mer ſehr willkommne Bothen. Ich finde dar - inn den natuͤrlichen Menſchen und ſehr oft mich ſelber wieder; Sie ſagen mir manchmal ſehr viel, indem Sie gar nichts zu ſagen glau - ben. Bleiben Sie ſtets in dieſer ſchoͤnen Un - befangenheit und Sie werden immer gluͤcklich ſeyn und Ihren Eduard immer gluͤcklicher ma - chen, Sie ſtehn im reizendſten Bluͤthenalter des Lebens, genießen Sie Ihrer jugendlichen und ſpielenden Phantaſie. Ich habe es bisher nie glauben moͤgen, daß ſich der Menſch innerlich ſo veraͤndern koͤnne, daß ihm ſeine Einbildung die Welt umher und ſeine Traͤume weniger friſch und bunt abſpiegelte: allein ſo ſehr ich dies auch fuͤr eine bloße Redensart hielt, ſo habe ich doch jetzt die Erfahrung an mir ſelber gemacht. Manches, was mir ſonſt erhaben vorkam, faͤllt mir jetzt als kindiſches Spielwerk301 auf, und manches Gemeinere hat jetzt mein Sinn geadelt. Manche Traͤumereyen und ſelt ſame Gefuͤhle liegen mir jetzt nicht ſo nahe wie ſonſt, ich fuͤhle mich mit feſteren Ketten an die Erde geſchloſſen und ich liebe ſie mehr, als ich meine vorige Freiheit liebte. Ich halte jetzt das Leben nicht mehr fuͤr einen Taumel, ſon - dern ich finde es ernſthafter, ob es mir gleich proſaiſcher vorkoͤmmt: man ſollte nie ein ande - res ſuchen, um das Wirkliche zu finden, denn ſonſt lockt uns leicht die abentheuerliche Wen - dung ſo ſehr an, daß wir der Ruͤckkehr ver - geſſen.

Vergeben Sie mir mein Geſchwaͤtz, liebe Betty, aber Sie werden vielleicht eben ſo em - pfinden, wenn Sie Mutter ſind; ich wollte Ihnen nur meine jetzige Empfindung ſchildern und in dieſem Beſtreben ward die Beſchreibung zu weitlaͤuftig. Ich komme mir jedesmal ein - faͤltig vor, wenn ich etwas Ernſthaftes ſagen will, und doch liegt das Ernſthafte meinem Herzen immer ſo nahe. Die Affektation ſcheint in der menſchlichen Natur ſo einheimiſch zu ſeyn, daß, wenn wir uns auch nicht zieren, doch immer ein leiſer Verdacht in uns anſchlaͤgt,302 es koͤnnte doch wohl mit dem ganzen Weſen nur Affektation ſeyn, denn wir haben uns hun - dert und tauſendmal auf dieſer Schwaͤche ertappt, und das verleidet uns dann am Ende alle ern - ſten Empfindungen. Man traut den Frauen - zimmern auch immer ſo wenig Verſtand zu, daß wir uns am Ende ſelbſt an dieſes Vorur - theil gewoͤhnen und vielleicht wirklich daruͤber dumm werden; denn ſehr oft iſt man das, was man zu ſeyn glaubt, und nur deswegen, weil man es glaubt.

Mein kleiner Georg hat gluͤcklich die Zaͤhne uͤberſtanden, und ich glaube, ich koͤnnte noch laͤnger und noch weitlaͤuftiger ſchwatzen, wenn ich mir nicht mit Gewalt Einhalt thaͤte. Leben Sie wohl.

303

43. Ralph Blackſtone an Mortimer.

Es geht alles gluͤcklich und uͤber die Maaßen wohl mit den Verbeſſerungen; ich halte es fuͤr meine Schuldigkeit, Ihnen einige ſummariſche Nachrichten davon zu geben, weil Sie ſich fuͤr den hieſigen Garten vorzuͤglich intereſſirten. Die alten Linden, die vertrocknet waren, ſind abgehauen und ausgegraben, es fand ſich der Name Ihrer Gemahlin in der einen, neben ihr ſtand Lovell eingeſchnitten; man hat junge Birken dort geſetzt; der Teich iſt ausgetrocknet, weil der Garten doch an Waſſer Ueberfluß hat: einiges Nadelholz am Abhange des Berges iſt fortgeſchafft, weil es oben die ſchoͤne, herrliche Ausſicht einſchraͤnkte. Manche kleine Verbeſſe - rungen werden Sie noch antreffen, wenn Sie ſich wieder ſelbſt einmal herbemuͤhen wollten; der Garten kann ſich nun bald vor jedem Ken - ner ſehen laſſen; manches freilich koͤnnte beſſer ſeyn, aber man muß nicht alles in der Welt304 auf die beſte Art haben wollen. ſonſt bleibt es am Ende ganz ſchlecht. An mir liegt frei - lich nicht die Schuld, ſondern immer nur an dem Gaͤrtner Thomas, von dem ich Ihnen ſchon neulich ſchrieb, daß ich vielen Streit mit ihm haͤtte; ein Menſch, der ſeinen wahren und aͤchten Geſchmack gar nicht ausgebildet hat und der nun doch immer in allen Sachen Recht ha - ben will. Nun iſt das eine ſehr große und faſt unausſtehliche Praͤtenſion, ſelbſt von einem ſehr geſcheidten Menſchen, und nun vollends von einem Manne, der nicht drey vernuͤnftige Gaͤr - ten Zeit ſeines ganzen Lebens geſehn hat. Aber es iſt ein ſchlimmer Umſtand bey dieſem Manne, er wird ſehr gekraͤnkt, wenn man ihm zu ſehr widerſpricht, oder ganz gegen ſeinen Willen handelt, er hat eine Art von empfindſamen Ei - genſinn, den man gar nicht brechen kann, ohne ihm ſelber das Herz zu brechen. Er war neu - lich heftig geruͤhrt, als ich ein Blumenbeet an - gebracht hatte, von dem er nichts wußte. Er hielt mir das Unrecht, das ich ihm, als einem ſo alten Manne, thue, daß ich ſeinen Reſpekt bey den Gartenknechten vermindre, recht be - weglich vor, und ich alter Narr ließ michuͤber -305uͤbertoͤlpeln und wurde ordentlich mit geruͤhrt. Seit der Zeit ſind wir nun ſehr gute Freunde, ich thue ihm ſehr vieles zu Gefallen und er thut mir auch dagegen manches zu Gefallen: ich habe es mir uͤberlegt, daß ich lieber den Garten und den guten Geſchmack, als einen lebendigen Menſchen etwas kraͤnken will, und darum ſehe ich jetzt durch die Finger und laſſe manchmal fuͤnfe gerade ſeyn.

Von der Jagd ſind Sie eben ſo wenig, wie mein Schwiegerſohn, ein großer Liebhaber, und darum will ich Ihnen von ihren Fortſchrit - ten lieber nichts erzaͤhlen. Mein Schwieger - ſohn iſt Willens, das benachbarte Gut Water - hall zu kaufen, und ich glaube, daß er ver - nuͤnftig daran thut, denn es iſt zu einem ſehr billigen Preiſe zu haben. Ich empfehle mich Ihrer fernern Gewogenheit und nenne mich

Ihren ergebenſten Freund Ralph Blackſtone.

Lovell. 3r. Bd. U306

44. William Lovell an Roſa.

Wohin ſoll ich mich wenden? Ein entſetz - licher Schreck hat mich bis hieher gejagt, und nun weiß ich nicht, ob ich hier bleiben, ob ich ruͤckwaͤrts, oder vorwaͤrts gehen ſoll.

Die Raͤuber waren endlich meines muͤßigen Lebens uͤberdruͤßig, ſie forderten, daß auch ich ein nuͤtzliches Mitglied der Geſellſchaft werden ſollte. Man gab mir ein Pferd, und ich mußte an einem Morgen mit zwey andern ausreiten.

Wir lagen noch nicht lange am Wege, als ein Reiter in großer Eile voruͤbertrabte, wir lenkten auf einen verborgenen Fußſteig ein, ſo daß wir ihm entgegenkamen. Er ſchien uns nicht zu fuͤrchten, denn er ſuchte nicht auszu - weichen, wir ſtießen auf einander und o Himmel! nie werd 'ich dieſen Augenblick ver - geſſen, Karl Wilmonts Geſicht ſtand vor mir, bleich und entſtellt. Kaum er - kannte er mich, als in ſeinen Augen ein hoͤhe -307 res Feuer aufloderte. Ich ſah' es, wie er nach meinem Blute lechzte, er ſprach den Namen Emilie aus und ſtuͤrzte wie ein wildes Thier auf mich ein. Ich konnte ſeinen Blick nicht aushalten, er zwang mich unwiderſtehlich zu entfliehn: ich hoͤrte ihn hinter mir, indem er graͤßliche Fluͤche ausſtieß; mein Haar ſtand em - por, das Pferd lief mir immer noch nicht ſchnell genug, eine unbeſchreibliche Angſt draͤngte mich vorwaͤrts und ich ſpornte unbarmherzig das Thier. Meine beyden Gefaͤhrten waren weit zuruͤck, und als ich mich nachher noch einmal umſah, war auch Wilmont verſchwun - den.

Wo iſt er geblieben? Soll ich nun nach Rom kommen, ſoll ich nach Frankreich zuruͤckkehren? Wo bin ich vor dieſem Ver - zweifelten ſicher? Aller Muth, der mir ſonſt zu Gebote ſteht, verlaͤßt mich, wenn ich an ihn denke. Er koͤmmt, um mich zu ſuchen; und wenn er mich nun findet? Wie vermag ich's, ihm Stand zu halten?

Tauſend Zweifel peinigen mich. Verdammt ſey dieſe Unentſchloſſenheit!

U 2308

45. Karl Wilmont an Mortimer.

Ich hatte ihn, bey meiner Seele, ich hatte ihn ſchon! Aber er iſt mir wieder entkommen, der ſchaͤndliche Boͤſewicht. Von Raͤubern ward ich in den[P]iemonteſiſchen Alpen angefal - len, und denke Dir, Mortimer, er war unter ihnen. Ich erkannte ihn ſogleich und er er - kannte mich und flohe. Mein lahmer Gaul kam nicht nach. Schon gegen mir uͤber, daß ich ihn erreichen konnte, hatt 'ich ihn gehabt und nun war er wieder von mir hinweggeflohn. Mein Pferd ſtuͤrzte endlich an einem hervorra - genden Stein und brach ein Bein, ich lag eine Weile ohne Beſinnung; als ich wieder zu mir ſelbſt kam, ſah ich ihn nirgends mehr. Aber ich muß ihn finden! Wuͤßt' ich nur, wohin ich mich wenden ſollte! In welchen Schlupf - winkel hat ſich der Elende jetzt vor meiner Wuth verkrochen? Aber daruͤber bin ich309 unbeſorgt; endlich muß ich ihn treffen, Emi - liens Geiſt wird meine ungewiſſen Schritte leiten: fand ich ihn doch da, wo ich ihn am wenigſten vermuthet hatte.

Gruͤße meine Schweſter.

[310][311]

William Lovell. Drittes Buch.

[312][313]

1. Eduard Burton an Mortimer.

Ich muß Ihnen melden, lieber Freund, daß ich noch das angenehme Gut Waterhall gekauft habe, weil es mir bequem liegt und eine ſchoͤne Abwechslung macht, wenn man dort einmal eine Zeitlang wohnen will. Ich koͤnnte mich freilich wohl mit Bonſtreet begnuͤgen, allein die Bedingungen waren ſo vortheilhaft, daß ich der Luſt gar nicht widerſtehn konnte. Jetzt muͤſſen Sie mich bald einmal beſuchen, um die neuen Einrichtungen zu bewundern, die mein Schwie - gervater gemacht hat, er hat Ihnen gewiß et - was davon geſchrieben, denn er ſpricht davon zu jedermann.

314

Man hat mir die zuverlaͤſſige Nachricht ge - geben, daß Lovell in Frankreich geſtorben iſt; ſein Erbe verkauft deſſen Guͤter. Lovell's Andenken wird mir mein ganzes Leben hindurch theuer und ſchmerzhaft ſeyn; ihm iſt gewiß wohl, da er nun geſtorben iſt. Manche Zufaͤlle erneuern noch oft meinen Schmerz, wenn ſie mir die Vergangenheit ſo recht lebhaft in's Ge - daͤchtniß zuruͤckbringen. Doch, die Zeit heilt jede Wunde, dieſen Ausſpruch habe ich an mir ſelbſt als wahr befunden.

315

2. Mortimer an Eduard Burton.

In einigen Wochen komme ich zu Ihnen, und dann will ich mit eigenen Augen die Verwand - lungen in Bonſtreet betrachten, die ich bis jetzt nur aus Beſchreibungen kenne. Ihr Schwie - gervater hat mir in mehreren Briefen davon geſchrieben, und alles hat meine Neugierde aͤußerſt rege gemacht. Der alte Mann hat fuͤr mich einen ſehr liebenswuͤrdigen Charakter, ſeine Schwaͤchen ſind in ihm ſo hervorſtechend und eben darum ſo wenig beleidigend. Durch ge - wiſſe Thorheiten kann mich ein Menſch ſehr zu ſeinem Vortheile ruͤhren, wenn er ſie unbe - fangen zur Schau traͤgt und zwar viel darauf haͤlt, aber doch nicht allen ſeinen Nebenge - ſchoͤpfen damit in den Weg tritt. Ich mag die Eitelkeit nicht ſo grimmig anfeinden, die den Menſchen oft aufrecht haͤlt, wenn ihn alles uͤbrige verlaͤßt; ſie iſt eine gutmuͤthige Thor - heit, die ihn uͤber alle ſeine uͤbrigen Thorhei -316 ten troͤſtet, ſie iſt der Wundarzt in der Welt des Menſchen, und der Menſch leidet gewiß am meiſten, wenn dieſer ſein Chirurgus krank darnieder liegt; wenn ihn die Eitelkeit verlaͤßt, oder er ſeine Eitelkeit verachtet, ſo durchlebt[er] die ungluͤcklichſten Stunden ſeiner Exiſtenz. Wenn ſich nun ein Mann irgend ein Spielzeug ausſucht und ſehr ernſthaft damit umgeht, ſoll man ihn denn deswegen tadeln? Der alte Black - ſtone ruͤhrt mich immer durch ſeine Briefe, der jetzt, der Sorgen entbunden, ſeine Talente wieder will glaͤnzen laſſen; er iſt dabey der gut - muͤthigſte Menſch von der Welt und wuͤnſcht keinen andern zu kraͤnken. An den Thorheiten erkennen wir erſt das recht Menſchliche im Menſchen, ſie machen am Ende den Menſchen aus. Ich will mich uͤber alle Schwaͤchen zu - frieden geben, die ich mit der Zeit noch an mir bemerken ſollte, ſie hoͤren nie auf, und man graͤmt ſich nur daruͤber, indem man an - faͤngt ſich kennen zu lernen, dann will man ſich gern fuͤr uͤberaus vortreflich halten und findet dann ſo viel naͤrriſches Unkraut unter dem Waizen, daß man den Waizen oft gar nicht gewahr wird; iſt man aber erſt mit ſich ſelbſt317 vertraut, ſo iſt man auch an dieſe Ueberraſchun - gen ſo gewoͤhnt, daß man am Ende nicht mehr in die Verſuchung faͤllt, ſich fuͤr vortreflich zu halten, und ſeltſam! eben in dieſer Lage iſt man vielleicht am beſten. Im Grunde ſind uͤberhaupt die Menſchen immer gut, man ſollte ſich nicht anmaßen, uͤber die feinen Nuancen und Schattirungen ein Urtheil zu ſprechen, denn indem mir die eine Thorheit anklebt, muß ich nothwendig eine andre falſch beurtheilen, und durch Thorheit ſind doch Men - ſchen den Menſchen verwandt, und man ſollte nicht immer ſelbſt ſoviel von den Familienfeh - lern ſprechen. Leben Sie recht wohl.

318

3. Thomas an den Herrn Ralph Blackſtone.

Wohlgeborner Herr,

Ich habe die Ehre Ihnen zu melden, daß ich mit den Einrichtungen des hieſigen Gartens, ſo zu ſagen, uͤber Hals und Kopf beſchaͤftigt bin. Es bringt mir viele Muͤhe, aber ich denke immer, es ſoll mir auch einige Ehre bringen, und damit gebe ich mich denn uͤber die Muͤhe zufrieden. Dieſelben werden wiſſen, daß wir in dieſer Welt faſt gar nichts ohne Muͤhe ha - ben, und obgleich die gemeinen Leute immer zu behaupten pflegen, umſonſt ſey der Tod, ſo muͤſſen ſich doch die meiſten ganz außeror - dentlich bemuͤhen, ja faſt quaͤlen, ehe ſie nur an's eigentliche Sterben kommen; ich meyne nehmlich die letzten Zuͤge, in denen man immer zu liegen pflegt; mit dem letzten Athemholen muͤſſen wir das bequeme Luftholen fuͤr unſer ganzes Leben bezahlen.

319

Der Garten hier iſt in einige Unordnung gerathen; ich muß Ew. Wohlgebohren die Ehre haben zu verſichern, daß ich hier ſonſt ſchon einmal Gaͤrtner geweſen bin und noch jeden Buſch und jeden Steg kenne, aber da - mals hatte ich keine freye Hand, denn die gnaͤdige Beſitzerinn hatte, wenn ich der Wahr - heit die Ehre geben ſoll, nicht ſehr viel Ge - ſchmack, es war ihr nur darum zu thun, daß der Garten gruͤn ſey, und damit war dann alles gut und fertig. Dieſelben aber werden wohl einſehn, daß das noch lange keinen Garten ausmacht, und wir beyde wiſſen es am beſten, was wir in Bonſtreet fuͤr Arbeit gehabt haben und gewiß noch haben werden. Seit unſere Eltern aus dem Paradieſe getrieben ſind und auf die Erde ein Fluch gelegt wurde, haͤngt ſie ganz außerordentlich nach dem Verwildern hin, nun muß der Menſch immer dagegen ſtrei - ten und arbeiten, um nur alles in der gehoͤrigen Ordnung zu halten; und ſo ſind die Gaͤrten entſtanden. Die Gartenkunſt iſt gewiß eine große Kunſt, und ich hoͤre, daß man jetzt auch ordentliche gedruckte Buͤcher daruͤber hat, und das verdient ſie auch ganz ohne Zweifel. Ew. 320Gnaden ſchaͤtzen auch die Kunſt nach ihren Wuͤrden und laſſen ſich ſogar ſelbſt mit der Arbeit ein, das muntert dann unſer einen auf, alle ſeine Kraͤfte daran zu wagen. Ich wuͤnſchte nur, ich waͤre erſt hier mit allem fertig, um nach unſerm Bonſtreet zuruͤckkommen zu koͤnnen. Ich empfehle mich Ihrer fernern gnaͤdigen Freundſchaft und habe die Ehre mich zu nennen

Ew. Wohlgebohren ergebenſter Freund und Diener Thomas.

4.321

4. William Lovell an Roſa.

Ich bin jetzt entſchloſſen, zuruͤckzureiſen, ich will in Rom meinen Andrea aufſuchen, bey ihm bleiben und von ihm lernen. Wilmont mag mich dann in ſeiner Geſellſchaft treffen und ich bin uͤberzeugt, der freche Juͤngling wird vor dem Greiſe zuruͤckzittern. Andrea wird ihm dann ſeine Rache und ſeine Wuth als etwas Veraͤchtliches vorſtellen, und ich bin dann ſo vor ihm geſichert. Vermag es dieſer Greis nicht durch einige Worte, uns die Welt und uns ſelbſt als etwas beweinenswuͤrdiges darzuſtellen, wer wuͤrde nicht ſich und alle ſeine Plane dabey vergeſſen? Sind Sie nicht auch der Meinung, daß es in Andrea's Geſellſchaft unmoͤglich ſey, ein gemeiner oder gewoͤhnlicher Menſch zu bleiben? Auf jeden Fall reiſe ich jetzt nach Rom zuruͤck, es iſt wenigſtens der einzige Ort auf der Erde, wo ich mich hin - wuͤnſche.

Lovell. 3r Bd. X322

5. Bianka an Laura.

Es wird mit jedem Tage ſchlimmer, liebſte Laura; es will mir nichts mehr einen rechten Zeitvertreib machen, ſondern alles koͤmmt mir ſo gemein und veraͤchtlich vor. Iſt es nicht genug, daß ich krank bin? Muß mir auch das noch zuſtoßen? Und kein Menſch bekuͤmmert ſich recht um mich, ich bin mir ſelber ganz uͤber - laſſen, waͤr 'es ein Wunder, wenn ich jetzt melankoliſch wuͤrde? Sie beſuchen mich auch faſt gar nicht; iſt Ihre Freundſchaft nur fuͤr die frohen und geſunden Tage? Ach, wenn ſie mich erſt werden begraben haben, werden Sie es gewiß bereuen, und dann iſt es zu ſpaͤt; bedenken Sie das, liebe Laura. Sie ſind frei - lich jetzt geſund und noch ziemlich jung, aber die Zeit wird auch voruͤbergehn, und dann werden Sie ſich eben ſo wie ich nach einer Freundinn umſehn. Glauben Sie mir, liebes323 Kind, die Einſamkeit iſt unſer einem fuͤrchter - lich, man erinnert ſich an tauſend Sachen, die man ſchon laͤngſt vergeſſen zu haben glaubte. Genau genommen, Laura, haben wir nicht recht gelebt; doch, das ſteht nun nicht mehr zu aͤndern.

X 2324

6. Laura an Bianka.

Wie ich es gleich befuͤrchtete, liebſte Freun - dinn, Sie ſind viel zu aͤngſtlich, das verdirbt jedermann die Laune, der Sie beſucht, und ich muß Ihnen aufrichtig geſtehn, daß man Sie eben darum ungern beſucht, denn die menſch - liche Natur hat einen Widerwillen gegen alle Traurigkeit und Finſterniß, alles in der Welt koͤmmt einem dann gleich ſo klein und unbe - deutend vor, und auf dieſe Art nutzt ſich am Ende das Leben ſo wie ein Kleid ab. Sie neh - men auch alles gar zu genau, liebe Bianka; wer wollte es im Leben genau nehmen? Sind nicht Prieſter und Praͤlaten bey uns geweſen und haben ſich mit uns gefreut? Auf ſie faͤllt groͤßere Schuld, als auf uns ſelbſt, denn ſie haben uns in unſerm Lebenswandel beſtaͤrkt. Beichten Sie, liebſte Freundinn, und ſeyn Sie dann außer Sorgen, gegen alles iſt Huͤlfe, nur nicht gegen den Tod, und dieſen werden Sie325 durch Ihre Traurigkeit beſchleunigen. Wenn ich Sie oͤfter beſuchen ſoll, muͤſſen Sie durch - aus luſtig ſeyn. Sie ſagen mir, ich werde alt werden. Ich fange wirklich ſelbſt an, ſo et - was zu merken. Es iſt eine ſchlimme Sache mit der Zeit, die immer ſo unmerklich weiter ruͤckt und die, wenn man ſich dann umſieht, einen ungeheuern Weg zuruͤckgelegt hat. Man muß aber an ſo etwas gar nicht denken, das iſt mein Grundſatz, Bianka, es giebt ja noch tauſend andre Dinge in der Welt, die unſern Verſtand und unſre Phantaſie beſchaͤftigen koͤn - nen. Leben Sie recht wohl, und vergeſſen Sie nicht wieder, was ich Ihnen geſagt habe.

326

7. William Lovell an Roſa.

Ich komme bald, Roſa, ſehr bald, ich brauche nur noch eine kleine Friſt, um auf dem Wege manches zu erfahren, was ich ſchon ſeit lange gerne wiſſen moͤchte. Ich ſagte es ſchon neu - lich, daß es nichts Wunderbares giebt und daß ſich alles um mich her vereinigt, um mich an Seltſamkeiten zu gewoͤhnen.

Ich ſtreifte geſtern Abends durch die Gaſ - ſen der Stadt, der Mondſchein und die kuͤhle Luft lockten mich heraus. Ich wollte mich ein - mal wieder im Taumel der Phantaſie vergeſſen, wie ich mich denn jetzt zuweilen mit Vorſatz in einen gewiſſen poetiſchen Rauſch verſetze, um alle Gegenſtaͤnde anders zu ſehn und zu fuͤhlen. Einzelne Maͤdchen ſtreiften in den einſamen Gaſſen umher, und es waͤhrte nicht lange, ſo folgte ich einer nach ihrer abgelegenen Woh - nung. Warum mich dieſe gerade und keine an - dre anzog, weiß ich nicht zu ſagen.

327

Als in der Stube ein Licht angezuͤndet war, ſah ich ein entſtelltes ſchmutziges Geſchoͤpf vor mir, mit triefenden Augen, von mittlerer Groͤße und, wie alle ihres Gelichters, mit einem ſchamloſen Betragen. Als wir uns ge - nauer betrachteten, ſchrie ſie laut auf, und ich erinnerte mich ihrer Zuͤge dunkel. Sie befreite mich bald von meiner Ungewißheit und nannte mir ihren Namen. Denken Sie ſich mein Er - ſtaunen, Roſa, als ich erfuhr, daß es niemand anders, als die kleine Blondine war, die Sie von Paris mitgenommen hatten, die unter dem Namen Ferdinand Sie begleitete.

Sie wußte jetzt nicht recht, wie ſie ſich mit mir nehmen ſolle; ſie fing an, auf die un - verſchaͤmteſte Weiſe in der Stube umherzu - ſchwaͤrmen, freche Lieder zu ſingen und mich dann in ihre Arme zu ſchließen; ich blieb ernſt - haft, und ploͤtzlich brachen ihre Thraͤnen, wie ein lange zuruͤckgehaltener Strom, hervor, ſie warf ſich in einer Ecke des Zimmers auf den Boden und ſchluchzte laut. Ich war ungewiß, ob ich bleiben ſollte; ihre Stellung ruͤhrte mich, ſie hatte das Geſicht mit den Haͤnden verdeckt, es ſchien, als wollte ſie ſich aus Schaam in328 die Mauern hineindraͤngen. Ich ging endlich zu ihr und richtete ſie auf; ſie wandte ihr Ge - ſicht ab, ſie konnte vor Zittern und heftigem Weinen ſich nicht aufrecht erhalten und ſank in einen kleinen Seſſel. Wie von gewaltigen Kraͤmpfen ward ſie hin und hergeworfen; nach dieſem heftigen Sturme erlebte ſie endlich einen Stillſtand aller Empfindungen, und ſie ſah mich nun mit einem unbeſchreiblich beruhigten Geſichte an.

Ich mußte weinen, Roſa, alle Erinnerun - gen, alle Empfindungen drangen ſo lange auf mich ein, bis ich meiner Schwaͤche freyen Lauf ließ. Dadurch ſchien ſie getroͤſtet und aufge - richtet zu werden. Wir ſprachen nun mitein - ander, die Erhitzung hatte ihr Geſicht angeneh - mer gemacht, ſie ſah nicht mehr ſo verzerrt aus.

Ich glaube, ich habe Ihnen ſchon ehemals erzaͤhlt, daß ſie mich einſt in Rom in einem Billette vor Ihrer Geſellſchaft gewarnt habe, ſie ſagte mir jetzt die Urſache davon, ſie habe einſt durch einen Zufall gehoͤrt, daß Sie irgend einen Plan auf mich haͤtten, der mir ſchaͤdlich ſeyn koͤnnte. Doch dieſe Kinderey iſt laͤngſt329 vergeſſen und ich hoͤrte kaum darnach hin, als ſie mir von neuem davon erzaͤhlte. Es kommt mir jetzt laͤcherlich vor, daß mich jenes kleine Billet und jener Argwohn damals ſo ſehr er - ſchreckten. Es iſt im Laufe des Lebens etwas Laͤppiſches, ſich immer fuͤr verfolgt zu halten, die Menſchen nicht zu verſtehn und ſich auch keine Muͤhe zu geben, ſie kennen zu lernen, ſondern ſtatt deſſen ſie blos zu fuͤrchten. Sie hatten den Plan mich kluͤger zu machen, und es iſt nachher auch geſchehn; freilich, mag das wohl etwas Unerlaubtes ſeyn, etwas, das die meiſten Menſchen fuͤrchten und dem ſie aus dem Wege gehn. Kluͤger zu werden iſt das groͤßte Verbrechen, das man ſich in der Welt nur immer erlauben kann, dadurch empoͤrt man alle Menſchen gegen ſich, es heißt die Ordnung der Dinge umſtoßen und ſich gegen die Geſetze der Natur auflehnen, nach denen der Menſch mit jedem Jahre mehr zuſammenſchrumpfen und in eine immer engere Einfalt hineinkriechen muß. Die ſich von dieſer Nothwendigkeit los - machen, werden daher von allen uͤbrigen Buͤr - gern dieſer Erde verfolgt, die auf Recht und Ordnung halten.

330

Als wir uns beyde etwas getroͤſtet und be - ruhigt hatten, fragte ich ſie um ihre Geſchichte, die mir in dieſem Augenblicke unendlich intereſ - ſant war. Es waren ihr aus einem ehemaligen Leben ſo viele ſchoͤne Fragmente von Unſchuld uͤbrig geblieben, daß ich mich innig ſehnte zu hoͤren, wie ſie gerade ſo tief und immer tiefer geſunken ſey. Sie ſah mich lange mit einem aufmerkſamen Blicke an, dann ſagte ſie, daß ſie meine Neugier befriedigen wolle.

Ich bin noch jetzt geruͤhrt, und ich will ver - ſuchen, Ihnen die eigenen Worte des Maͤdchens herzuſetzen, ſoviel ich mich ihrer noch erinnern kann.

Ich bin, fing ſie an, in einer Vorſtadt von Paris geboren. Das erſte, was ich von der menſchlichen Sprache verſtand, war, daß ich keine Mutter mehr hatte; die erſte Empfin - dung, die ich kennen lernte, war der Hunger. Mein alter Vater ſaß, das iſt meine fruͤhſte Erinnerung, vor meinem Bette und weinte, indem er eine Laute in den Haͤnden hielt, auf der er ein wunderbares Lied ſpielte. Als ich nur ſprechen konnte, ſuchte er mich mit dieſem Inſtrumente bekannt zu machen und mir die Kunſt, es zu ſpielen und mit Geſang zu beglei -331 ten, beyzubringen, ſoviel es in ſeiner Gewalt ſtand. Alle meine Erinnerungen aus der Kind - heit ruhen auf Lautentoͤnen aus, alle meine Empfindungen, mein ganzes Leben iſt aus die - ſen wunderbaren Toͤnen herausgefloſſen; ſie um - ſch[l]ießen wie ein unuͤberſehliches, melodiſches Meer die Graͤnze meiner Erinnerung und mei - ner Kindheit. Fromme Ahndungen und Ge - fuͤhle ſchweben leiſe von dort heruͤber und ziehn langſam meinem Herzen vorbey, es iſt, als wenn mich einer ruft, deſſen Stimme ich nicht kenne, den ich nicht verſtehe. Ach! wenn ich jetzt manchmal in der tiefen einſamen Nacht Lautentoͤne hoͤre, zuweilen dieſelben Lieder, die ich ſonſt ſpielte, o Lovell, mein Herz wollen dieſe Toͤne aus mir herausreißen.

Als ich etwas groͤßer geworden war, mußte ich meinen Vater auf ſeinen Wanderungen durch die Stadt und in den nahgelegenen Gaͤr - ten begleiten. Noch oft ſpaͤt in der Nacht zo - gen wir durch die Straßen, indem mein Vater die Laute ſpielte und ich dazu ſang, und bey manchen Stellen eine kleine Handpauke ſchlug. Wir erhielten auf die Art ein mageres Almo - ſen, das wir am folgenden Tage verzehrten332 Mein Vater fuͤrchtete ſich vor Geſpenſtern, und ſah oft in den Ecken etwas ſtehn, vor dem er ſich innig entſetzte: er theilte mir dieſe unbe - kannte und unbegreifliche Furcht mit, und die Welt und das menſchliche Leben kamen mir dadurch noch ſeltſamer vor. Bey Tage ſaßen wir oft unter einer großen und laͤrmenden Geſellſchaft von gemeinen Leuten, und ließen unſre Lieder hoͤren; das Getuͤmmel, die Ver - ſchwendung, Unmaͤßigkeit und die wenige Auf - merkſamkeit auf uns ruͤhrte mich ganz außeror - dentlich; mein Vater troͤſtete mich dann und ſagte mir, daß dies ſo die Weiſe der Menſchen ſey, daß daraus das menſchliche Leben beſtehe. O wie lebhaft und ſchmerzlich faͤllt mir heute alles, alles wieder ein, was ich immer zu ver - geſſen ſuchte.

Ein paar arme Maͤdchen geſellten ſich zu mir und manchmal waren wir jugendlich luſtig, und es kam mir dann ordentlich vor, als ge - hoͤrte ich auch mit zur Welt, ich war dann in mir ſelber dreiſter. Wenn ich aber wieder unter die uͤbrigen Menſchen trat, ſo ſchlug mich jeder gute Anzug nieder, jede vorbeyfahrende Kutſche beſchaͤmte mich und ich verachtete mich333 ſelbſt eben ſo, wie mich alle uͤbrigen Menſchen verachteten. Die muthwilligen Geſpraͤche der Maͤdchen verſetzten mich dann wieder in einen gewiſſen Rauſch, den ich ſelbſt in der Freude nur als eine Trunkenheit anſah und in denſelben Augenblicken recht gut wußte, daß ich zu einer nuͤchternen Selbſtverachtung, zu einer elenden, kriechenden Geiſtesdemuͤthigung wieder erwachen wuͤrde. Ich verachtete aber meine Freundinnen ganz von Herzen, ja ich weinte uͤber ſie, als ich bald nachher von mei - nem Vater hoͤrte, daß ſie ſich in ein ſchlechtes Haus als gemeine Dirnen hingegeben haͤtten. Wer haͤtte mir damals ſagen koͤnnen, o, und doch iſt es gar nicht wunderbar, es iſt ſo be - greiflich, ach! Lovell, der Menſch iſt in ſich nichts werth.

Unſer Ungluͤck wurde noch vergroͤßert; von innigem Grame, von vielen vergoſſenen Thraͤnen ward mein Vater blind. Ich war ihm jetzt ganz unentbehrlich; ich war jetzt ſein einziger Troſt. Ich that ihm alle Dienſte gern und willig, ich liebte ihn nur um ſo mehr, je un - gluͤcklicher er war. Meine Phantaſie hatte jetzt, bey der gaͤnzlichen Unterdruͤckung von auſſen,334 einen hohen Schwung genommen, ich war innerlich zufrieden, und erſetzte mir durch erha - bene Traͤume den Verluſt der wirklichen Welt.

Spaͤt in der Nacht las ich oft noch die Schilderung der großen Richardſonſchen Men - ſchen, mich erquickte die Welt voll erhabener Geiſter, die mich dann umgab, und ich war uͤberzeugt, daß die Menſchen mich nur nicht genug kennten, um ſich mit mir auszu - ſoͤhnen. Dann war ich uͤber alles Ungemach getroͤſtet, dann war ich uͤber alle Leiden beru - higt, die mich einſt noch treffen koͤnnten. Wel - chen Eindruck machten aber dann wieder die gemeinen Geſichter auf mich, von denen ich durch meinen Geſang ein Almoſen erbetteln mußte: ihre plumpen Spaͤße, ihre groben Zwei - deutigkeiten, die ich ertragen mußte, thaten mir dann innerlich im Herzen wehe. Ich war gezwungen, einer kleinen Muͤnze wegen jede Demuͤthigung zu ertragen. Warum haͤngt der innere Menſch ſo ſehr von der groben aͤußern Natur ab!

Ach, Lovell, was moͤgen Sie von mir den - ken, daß ich jetzt noch ſo ſprechen kann? Nicht wahr, Sie moͤchten laͤcheln? Die Zeit335 geht grauſam mit dem armen Menſchen um; erſt ſtellt ſie ihn als ein ſchoͤnes und liebens - wuͤrdiges Kunſtwerk hin, und dann arbeitet ſie ſo lange an ihm, bis er endlich ſelbſt eine Sa - tyre auf ſeinen ehemaligen Zuſtand wird. Ich bin ganz erhitzt, verzeihen Sie mir meine umſtaͤndliche, poetiſche Erzaͤhlung.

Jetzt kam eine Zeit, die ich nie vergeſſen werde, die mir immer ein Raͤthſel bleiben wird. So widrig mir anfangs die elenden Witzeleyen, die unausſtehlichen Liebkoſungen dieſer gemeinen Menſchen geweſen waren, ſo gewoͤhnte ich mich doch am Ende daran, ja ſie gefielen mir ſogar. Ich horchte waͤhrend dem Singen auf ihren un - zuͤchtigen Witz, und widerholte mir in Gedan - ken die Einfaͤlle, die ich gehoͤrt hatte. Mein Blut war in einer beſtaͤndigen Erhitzung, ich lebte wie in einer unaufhoͤrlichen Trunkenheit. Meine Buͤcher waren mir jetzt zuwider, ſie ka - men mir laͤcherlich vor: die ſchoͤne Natur zog meine Blicke und meine Aufmerkſamkeit nicht mehr auf ſich, ſie kam mir vor wie eine ſtrenge, langweilige Sittenpredigerinn. Meine Phanta - ſie ward in gemeinen und unangenehmen Bil - dern einheimiſch, alle meine vorigen Vorſtel -336 lungen erſchienen mir albern und unwuͤrdig. Zuweilen war es dann wieder, als wenn ich aus meinem Schlafe erwachte: dann erinnerte ich mich meiner vorigen ſchoͤnen Empfindungen, ich bekam dann einen Abſcheu vor mir ſelber, mein Leben kam mir in dieſen Augenblicken wuͤſte und dunkel vor, ich beſchloß, mich zu meinem ſonſtigen Zuſtande zuruͤck zu retten, aber dann trat es mir wieder wie ein ſteiler Berg entgegen, mein gemeiner Sinn ergoͤtzte ſich wider meinen Willen an ſchaͤndlichen Vor - ſtellungen und das ſchoͤne Land der kindlichen Unſchuld lag wieder weit zuruͤck und wie von einem ſchwarzen Nebel verfinſtert. Um dieſe Zeit ſah mich Roſa durch einen Zufall, ich ge - fiel ihm, er kam mir entgegen und ich machte die andre Haͤlfte des Weges, er lehrte mich das Laſter kennen, und ohne Beſinnung, ohne einen Gedanken verließ ich meinen armen, un - gluͤcklichen, blinden Vater, und folgte ihm. Ach, er wird nun wohl ſchon geſtorben ſeyn; aber ich bin beſtraft, ſein Fluch iſt mir nach - gefolgt.

Sie hielt hier ein und weinte von neuem. Ich erinnerte mich jetzt eines alten blindenBett -337Bettlers, den ich in Paris gekannt und der mir ſelbſt einmal von einer undankbaren, ent - laufenen Tochter erzaͤhlt hatte. Es iſt ganz ohne Zweifel derſelbe. An manchen Tagen war er wahnſinnig und ſang wilde und prophetiſche Lieder, indem er dazu auf ſeiner Laute phanta - ſirte: dann liefen ihm die Jungen in den Gaſ - ſen nach, um ihn zu verſpotten.

Sie hatte ſich jetzt wieder erholt und fuhr nun in ihrer Erzaͤhlung fort:

Es erwachte jetzt ein ganz neues Leben in mir, ich ſah mich zum erſtenmale geſchaͤtzt und geliebt, in guten Kleidern, vertraut mit einem Menſchen, den ich noch vor wenigen Tagen als ein fremdartiges Weſen, als einen Gott verehrt hatte. Ich kaufte jetzt alle Zuverſicht, allen Genuß zuruͤck, die ich bis dahin entbehrt hatte. Meine Munterkeit wurde zur Frechheit, denn ich hielt mich fuͤr eines der vorzuͤglichſten Geſchoͤpfe in der Welt, ich hatte den Unter - ſchied unter den Menſchen nie gelernt, ich kannte jetzt nur die reichern und aͤrmern, mir fehlte jetzt zu einem angenehmen Leben nichts, und ich verachtete jetzt alle Menſchen, die nicht ſo gut leben konnten wie ich. In dieſemLovell. 3r Bd. Y338Zuſtande ſah ich Sie, Lovell, und ein Gefuͤhl, wie ich es noch nie gekannt hatte, bemaͤchtigte ſich meiner. Es war die Liebe, die mir bis dahin fremd geblieben war. Ohne zu wiſſen, was ich that, rettete ich Ihr Leben bey jenem Ueberfalle der Raͤuber. Meine Zuneigung wuchs mit jedem Tage, aber ich bemerkte, daß Roſa eiferſuͤchtig wurde. Ach, Lovell, von jetzt lebt 'ich ein ſchweres Leben, denn alle meine Em - pfindungen lagen im Kampfe miteinander, meine Gefuͤhle waren ſo rein und ſchoͤn, und eben durch ſie erhielt ich einen Aufſchluß uͤber meine eigene Veraͤchtlichkeit. Sie wiſſen, wie ich Sie bat, zu mir zu kommen; Roſa uͤberraſchte uns. Seit der Zeit war ich ihm zuwider, ja er haßte mich endlich und uͤberließ mich mei - nem Schickſale. Ich konnte von Ihnen da - mals nichts weiter erfahren, als daß Sie mit einer gewiſſen Roſaline lebten: als ich dies hoͤrte, wagte ich es nicht, zu Ihnen zu kom - men, ich fuͤrchtete mich auch vor Roſa. Es fanden ſich einige Menſchen, die mich einer nach dem andern unterhielten, denn ich war einmal an dieſe Lebensart gewoͤhnt und hatte viele Beduͤrfniſſe. Ich ſank immer tiefer,339 ich verließ Rom und zog von einer Stadt zur andern, und nun, Lovell, Reue im Her - zen, ohne Geld, mit den gemeinſten Geſchoͤpfen verſchwiſtert, krank

Sie konnte nicht weiter ſprechen. Ich war erſchuͤttert, ich gab ihr alles Geld, das ich bey mir hatte, und verließ ſie. Ich will ſie heute beſuchen und ſie mit mehrerem Gelde verſorgen, damit ſie wenigſtens ihre Geſundheit wieder herſtellen kann.

Sie haͤtten ſie nicht ſo ganz verlaſſen ſol - len, Sie haben nicht recht gethan. Doch, bin ich mit Roſalinen nicht noch ſchaͤndlicher umgegangen? Leben Sie wohl.

Y 2340

39. Ralph Blackſtone an Thomas.

Es iſt hier noch immer alles beym Alten, mein lieber Thomas, außer daß im Garten wieder manche kleine Veraͤnderungen vorgefallen ſind. Ich finde doch, daß Er bey allen den Anlagen unentbehrlich iſt, denn die uͤbrigen Menſchen ſind dumm und es iſt nichts mit ihnen anzufangen. Ich habe noch allerhand neue Projekte im Kopfe, die ſich vielleicht noch mit der Zeit ausfuͤhren laſſen. Er muß nur den Garten in Waterhall bald zu Stande zu bringen ſuchen, denn im Grunde gehoͤren wir beyde zuſammen, wenn wir uns auch manchmal ein wenig geſtritten haben. Vier Augen ſehn immer weiter, als zwey, das iſt mein Wahl - ſpruch und ich finde es immer beſtaͤtigt, daß ich daran nicht Unrecht habe. Man muß nur341 immer ſuchen, in der Welt irgend etwas zu Stande zu bringen, es mag auch dann ſeyn, was es will; es iſt zwar nichts merkwuͤrdiges eben, wenn wir den hieſigen Garten beyde ver - ſchoͤnern, es wird immer noch keinen Einfluß auf die Weltgeſchichte haben, aber es iſt dann doch immer ſehr angenehm und ſehr loͤblich. Wenn man im Kleinen etwas Gutes thut, ſo kann man es doch berechnen, wie weit es ſich erſtreckt, und das iſt immer ſehr viel werth; von dem Guten aber, das im Großen geſchieht, oder geſchehn ſoll, kann man nie wiſſen, wie weit es gehn wird, es geht oft gar zu weit und iſt nachher nicht mehr zu aͤndern, eben weil es gleich in der Anlage zu groß war. Er thut mir daher einen ſehr großen Gefallen, lieber Thomas, wenn Er ſobald als moͤglich wieder zuruͤckkommt, mit Ihm kann man re - den, und Er iſt ein Mann, der den Verſtand da hat, wo er hingehoͤrt; das kann man nicht von allen Leuten ſagen, Thomas, denn manche haben ihn in den Fußſohlen, andre im Ruͤcken, andre auf der Zunge, das ſind ſolche Leute, die man zu gar nichts brauchen kann. Er342 ſieht, wie hoch ich ihn ſchaͤtze, und er wird darum machen, daß er bald zuruͤckkoͤmmt. Ich nenne mich

Seinen Freund Ralph Blackſton.

343

9. Betty an Amalie.

Ich glaube Ihren letzten Brief zu verſtehn, liebe Amalie. Es iſt wahr, daß man ſich ge - wiß einmal von dem bunten Spielzeuge des Le - bens trennen muß, aber es iſt denn doch eine betruͤbte Wahrheit, es iſt eine Erfahrung, die ich lieber an mir nicht machen moͤchte. Ich kann es mir noch gar nicht vorſtellen, daß ich irgend einmal in meinem Leben recht geſetzt und verſtaͤndig ſeyn ſollte, ich habe vor tauſend Kleinigkeiten noch eine recht große Achtung und kann nie an etwas Wichtiges denken. Es iſt, als wenn mir ein jeder große Gedanke ordent - lich aus dem Wege ginge, um nur meinem Kopfe nicht zur Laſt zu fallen. Im Grun - de liegt mir die Kinderzeit noch recht nahe und es koͤmmt mir oft vor, als wenn ich nur ſo die Erwachſene ſpielte. Es findet ſich aber alles in der Welt, und ſo wird auch wohl mein Gemuͤth mit der Zeit ernſthafter werden;344 ſchon daß ich darauf gekommen bin, iſt viel - leicht eine heimliche Veranſtaltung dazu. Ach, liebe Amalie, meine Briefe klingen immer recht einfaͤltig, wenn ich ſie von neuem durch - leſe, ich ſcheue mich dann, ſie abzuſchicken, weil ich Ihnen damit gar nichts ſchicke, aber Sie ſind immer ſo gut, ſich irgend etwas Klu - ges herauszuziehn, was Sie im Grunde nur in Ihrem eigenen Kopfe leſen: machen Sie es mit dieſem Briefe wieder eben ſo. Leben Sie recht wohl.

345

10. William Lovell an Roſa.

Es neigt ſich alles zum Ende, mein Leben koͤmmt mir vor, wie eine Tragoͤdie, von der der fuͤnfte Akt ſchon ſeinen Anfang genommen hat. Alle Perſonen treten nach und nach von der Buͤhne und ich bleibe allein uͤbrig.

Ich beſuchte in Padua das Maͤdchen am folgenden Morgen wieder. Meine Ruͤhrung hatte den ganzen Tag uͤber fortgedauert, ich ſtellte mir recht lebhaft vor, wie ſehr ſie mir danken wuͤrde, und als ich nun hinkam, fand ich ſie im hitzigen Fieber, ſo daß ſie mich gar nicht wieder erkannte. Ich ließ das Geſchenk zuruͤck, das ich fuͤr ſie beſtimmt hatte, aber ich hatte ſehr unangenehme Empfindungen. Es war alles ſo leer und proſaiſch in mir, indem ich mir doch noch eine recht erſchuͤtternde Scene gedacht, ja beynahe darauf gehofft hatte. Jetzt war es, als wenn ich zu einer Unbekannten ge - gangen waͤre. Alle meine Empfindungen, als346 ich ſie zuerſt geſehn hatte, kamen mir nun al - bern vor, es war mir, als haͤtte ich nur vor mir ſelber affektirt. Ich reiſte ab, und ein Zufall, oder eine ſeltſame Laune, verſchlug mich nach Genua.

Ich labte mich hier am Anblicke des großen allmaͤchtigen Meeres. Mein Geiſt ward in mir groͤßer und ich fuͤhlte mich einmal wieder uͤber die Menſchen und uͤber die Natur hinausragen. Die unuͤberſehliche F[l]aͤche redete mich erhaben an und ich antwortete ihr innerlich mit be - ſtimmter Kuͤhnheit. Alle meine Sorgen, die mich ſonſt ſo ſchwer druͤckten, waren hinwegge - flogen, und ich war frey und unbeaͤngſtigt. Aber Wolken ſtiegen am fernen Horizonte auf und mit ihnen truͤbe Zweifel in meiner Seele, alles ſtand wieder ſtill, die Uhr zeigte wieder jene traurige, ſchwarze Stunde, ich ward mir ſelbſt wie ein entſprungener Gefangener zu - ruͤckgegeben. O uͤber den verhaßten Wechſel in unſerm Innern!

Ich ging an einem Morgen durch eine ein - ſame Straße, und hinter einem vergitterten Fenſter glaubte ich Balders Geſicht zu ſehn. Ich erſtaunte, ich erkundigte mich unten im347 Hauſe nach ihm, man beſtaͤtigte, daß er dort wohne, und wies mir mit einem Laͤcheln, das ich nicht verſtand, die Treppe nach ſeinem Zim - mer. Ich trat hinein, er war es wirklich, er erkannte mich ſogleich und umarmte mich mit großer Herzlichkeit. Er war gut gekleidet, ſeine Mine war ganz geaͤndert, ſein Auge ſchien heiter und ungetruͤbt. Er war ganz zu den ge - woͤhnlichen Menſchen wieder zuruͤckgekehrt, er war froher und menſchlicher, als er ſelbſt da - mals war, als ich ihn in Paris zuerſt kennen lernte. Mein Erſtaunen war ohne Graͤnzen und ich konnte mich immer noch nicht uͤberzeugen, daß jener ungluͤckliche, wahnſinnige Balder wirklich vor mir ſtehe.

Wir fruͤhſtuͤckten miteinander, und ich konnte nicht muͤde werden, ihn aufmerkſam zu betrachten. Sein Geſicht war voller und ge - ſunder, in ſeinen tiefliegenden Augen waren einige Spuren des Wahnſinnes zuruͤckgeblieben, ob ſie gleich ziemlich hell und lebhaft waren. Alle ſeine Bewegungen waren lebendiger, er war durchaus koͤrperlicher geworden, und des - wegen kam er mir in einzelnen Momenten ganz fremd vor. Das Zimmer war ordentlich und348 aufgeraͤumt, nur an der hintern Wand lag ein großer rother Mantel uͤber den Boden und uͤber Stuͤhlen ausgebreitet.

Balder war ſehr geſpraͤchig, und wir un - terhielten uns von manchen Vorfaͤllen aus der Vergangenheit. Ich bat ihn endlich, mir zu erzaͤhlen, durch welche Zufaͤlle er ſich ploͤtzlich ſo ſehr veraͤndert habe; ſein Geſicht ward trau - riger, indem er daruͤber zu reden anfing; ich will es verſuchen, Roſa, Ihnen ſeine eigenen Worte niederzuſchreiben.

Du wirſt vielleicht, fing er an, meinen ſeltſamen Brief aus den Apenninen erhalten haben, denn daß ich dort gewohnt hatte, er - fuhr ich nachher. Ich kann mich jenes Zuſtan - des nur noch dunkel und mit Muͤhe erinnern. Ich weiß, daß mich ein unaufhoͤrlicher, wun - derbarer Traum umgab. Mein Bewußtſeyn lag gleichſam fern ab in mir verborgen, die aͤußere Natur ſchimmerte nur dunkel in mich hinein, mein Auge ſtarrte vorwaͤrts und die Gegenſtaͤn - de veraͤnderten ſich dem ſtieren, angeſtrengten Blicke. Zu allen meinen Empfindungen und Ideen fuͤhrten gleichſam keine Taſten mehr, die ſie anſchlagen konnten, ſondern eine unbekannte349 Hand fuhr uͤber den Reſonanzboden auf den ge - ſpannten Saiten umher und gab nur dunkle, ver - worrene und einſylbige Toͤne an. Wie in Berg - werken eine Leuchte oft hin und wieder geht und das Licht an den Quarzwaͤnden und dem naſſen Geſtein wunderbar zuruͤckſchimmert, ſo erſchien mir der Gang meiner Vorſtellungen in mir ſelber.

Ploͤtzlich ergriff mich wieder, ſo wie in meinen geſundern Tagen, das Gefuͤhl einer hef - tigen Unruhe, ich fand mich in mir ſelber un - zufrieden. Das fernſtehende proſaiſche Leben kam wieder naͤher auf mich zu und eine unbe - ſchreibliche Sehnſucht zog mich nach ſich. Ich kam zu mir ſelbſt zuruͤck und fand mich wie ſonſt eingeengt und gepreßt, ich wuͤnſchte und wußte nicht was: in der Ferne, in einer an - dern Heimath ſchien alles zu liegen, und ich verließ endlich den Ort, wo ich ſo lange ge - wohnt hatte.

Andre Gegenden begruͤßten mich wieder mit denſelben Empfindungen, die ich ſonſt gehabt hatte, die Zirkel und das Getuͤmmel des menſch - lichen Lebens ergriffen mich von neuem, ich legte meine ſeltſame Kleidung ab und beſchloß350 nach Deutſchland, nach meiner Heimath, zu - ruͤckzureiſen. Es war als wenn ſich die ver - ſchlungenen Gegenſtaͤnde mehr von einander ab ſonderten, was zuſammen gehoͤrte, flog zuſam - men, und ich ſtand in der Mitte der Natur. Die Poſthoͤrner nahmen nun wieder uͤber Berge und Seen nach fernen Gegenden meine Seele mit ſich, der Trieb zur Thaͤtigkeit erwachte wieder und das dumpfe, unverſtaͤndliche Ge - raͤuſch, das mich bisher innerlich betaͤubt hatte, verlor ſich immer ferner und ferner.

Ich hatte noch einiges Geld uͤbrig be - halten und mit dieſem kam ich in Genua an. O Freund, ich wußte nicht, daß ich hier meine fruͤhſte Jugend wiederfinden ſollte, ein neues Leben, um es nachher noch einmal zu verlieren. Ich lernte hier ein Maͤdchen kennen, o Lovell, Du laͤchelſt und verachteſt mich, nein, ich kann Dir nicht ſagen, wer ſie war, Du kannſt es nicht begreifen. Ich hatte ſchon einſt vor langer Zeit meine Hen - riette begraben, ich hatte viel auf ihrem Grabe geweint und hier fand ich ſie nun ganz und gar wieder und ſie hieß Leonore. Ach, wie351 gluͤcklich war ich, als ſie mich wieder liebte, als ſie meine Gattinn ward.

Ich weiß nicht, wie es geſchah, aber jetzt verließ mich alle meine Schwermuth, ich konnte ſelbſt nicht mehr an meinen ehemaligen Zuſtand glauben. Mein Leben war ein gluͤckliches, ge - woͤhnliches Menſchenleben, und keiner meiner Gedanken verlor ſich auf jener wuͤſten Haide, auf der bis dahin meine Seele raſtlos umher - geſtreift war. Ich ließ mir mein Vermoͤgen aus Deutſchland uͤberſchicken, die Familie mei - ner Gattinn war reich, es fehlte meinem Gluͤcke nichts weiter, als daß mich das Schickſal in Ruhe ließ.

Er hielt hier ein und fing an zu weinen. Ich kann nicht ſagen, was ich alles empfand. Iſt dies derſelbe Menſch, ſagte ich zu mir, der ſonſt das Leben mit allen ſeinen Menſchen ſo innig verachtete? der von jeder Menſchen - freude auf ewig losgeriſſen war? Ein Weib alſo konnte jene entſetzlichen Phantaſien ver - ſcheuchen, die ihn belagert hielten? Dabey ergriff mich ein Schauder, daß eben der Bal - der, den ich im heftigſten Wahnſinne geſehn352 hatte, jetzt als ein ganz gewoͤhnlicher Menſch vor mir ſtand.

Er fiel in meine Arme und fing von neuem an zu ſprechen: Ach Lovell! rief er aus, auch dieſe hat mir der Tod entriſſen. Und ich darf den Kirchhof, ich darf ihr Grab nicht beſuchen! Wie ſehn 'ich mich oft nach meiner einſamen Wohnung in den Apenninen zuruͤck!

Ich wollte ihn troͤſten; ich ließ einige Worte uͤber den gewoͤhnlichen Gang des menſch - lichen Lebens fallen.

Recht! rief er mit großer Bitterkeit, das Leben wuͤrde kein Leben ſeyn, wenn es nicht nach dieſer tyranniſchen Vorſchrift gefuͤhrt wuͤrde. Wir ſind nur darum auf kleine arm - ſeelige Augenblicke gluͤcklich, um unſer Ungluͤck nachher deſto ſchaͤrfer zu fuͤhlen. Es iſt der alte Fluch, der auf der Veraͤnderung liegt; Gluͤck muß mit Ungluͤck wechſeln, es iſt nicht anders moͤglich, und eben darinn beſteht unſer Leben und unſer Elend.

Er war heftig erſchuͤttert und ich ging im Zimmer auf und ab; ich naͤherte mich dem Mantel und wollte ihn in Gedanken aufheben. Halt! rief mir Balder ploͤtzlich zu, um Gottes -willen353willen halt ein! Seine Stimme war ganz unkenntlich, ich ſtand erſchrocken ſtill und ſah ihn befremdet an. Da unten, ſagte er mit zitterndem Tone, liegen die Denkmaͤhler, die man Henrietten geſetzt hat. Neugierig hob ich den Mantel auf, und wie entſetzte ich mich, als ich einen dicken Pfahl und ſtarke Ketten erblickte. Einige Glieder der Kette fielen raſſelnd herunter und Balder tobte nun wie ein wildes Geſpenſt im Zimmer auf und ab, er rannte mit dem Kopfe gegen die Waͤnde, er ſchrie und zerfleiſchte ſich das Geſicht, er warf ſich laut lachend auf den Boden nieder.

Boͤſewichter! ſchrie er mit einer graͤßlichen Stimme, ſo geht ihr mit mir um? Das iſt alſo der Menſch? Gebt ſie mir zuruͤck und nehmt dieſe Ketten wieder!

Die Raſerey erſtickte bald ſeine Sprache. Sein Geſicht war jetzt blau und aufgetrieben, alle Glieder ſeines Koͤrpers bewegten ſich mit einer unglaublichen Schnelligkeit, in ſeinen graͤßlichen Bewegungen lag etwas Niedriges und Komiſches, das mein Entſetzen noch ver - mehrte. Jetzt ſprang er auf mich zu und warf mich mit einem gewaltigen Stoße gegen dieLovell. 3r Bd. Z354Wand, er grinzte mich mit einem hoͤhniſchen Laͤcheln an und druͤckte ſeine Fauſt gegen meine Bruſt; es war mir unmoͤglich mich von ihm loszumachen. Noch nie hab 'ich ein ſo inniges Entſetzen gefuͤhlt, als in dieſem Augenblicke: ich wußte nicht mehr, welche verzerrte Geſtalt vor mir ſtand, ich war in Verſuchung, laut aufzuſchreyen und zu ſingen, und aus einem faſt unwiderſtehlichen Triebe Balders graͤßliche Poſſen nachzuahmen. Schon fuͤhlt' ich wie mir Sinne und Bewußtſeyn vergingen, ich mußte mich ganz ſammeln, um im Stande zu ſeyn, nach Huͤlfe zu rufen.

Mehrere Menſchen mit großen Ruthen und Knuͤtteln traten herein. Balder ließ von mir ab. Man ſchleppte ihn nach dem Winkel des Zimmers und ſchloß ihn an den Block. Er ließ alles ruhig geſchehn und laͤchelte nur dazu; als er ſich aber feſtgeſchloſſen fuͤhlte, brach ſeine Wuth von neuem aus, er ſchleuderte ſich wie ein wildes Thier in den Ketten hin und wieder, alle ſeine Sehnen und Muskeln waren ange - ſpannt, ſein Geſicht gluͤhte, ſeine Augen waren keine menſchlichen. Er ſtemmte ſich mit den Ket - ten, um ſich vom Blocke loszureißen, ſo daß355 die Ringe laut erklangen: ſeine Waͤrter ſchlu - gen jetzt ohne Erbarmen auf ihn zu, aber er ſchien keine Empfindung davon zu haben. Un - ter der Anſtrengung aller Kraͤfte ſchien er groͤ - ßer zu werden, ſein Geſicht war rund und gluͤ - hend wie der Vollmond: ich konnte den Anblick nicht laͤnger aushalten, ich verließ ſchnell das Zimmer. Noch unten, noch auf der Straße hoͤrt 'ich ihn ſchreyen; Thraͤnen kamen in meine Augen.

So hab 'ich ihn wieder gefunden; doch be - ruhigen Sie ſich, Roſa, er iſt ſchon nach zweyen Tagen in dieſer Raſerey geſtorben. Alles, was er mir erzaͤhlt hatte, iſt wahr, gleich nach dem Tode ſeiner Frau iſt er wieder raſend geworden, in Zwiſchenzeiten ganz kalt und vernuͤnftig. Die Verwandten ſeiner Frau haben fuͤr ſeinen Unterhalt geſorgt.

Scheint dieſem Ungluͤcklichen der Wahnſinn nicht von der Geburt an ſchon mitgegeben zu ſeyn? Zuerſt ging er langſam alle Grade deſ - ſelben durch, bis er durch eine neue Liebe ſchneller und raſcher zum letzten Extreme hin - getrieben ward. In einigen Tagen ſehn Sie mich in Rom.

Z 2356

11. Adriano an Francesko.

Je laͤnger ich hier bin und je mehr ich uͤber Andrea nachdenke, je ſeltſamer, ich moͤchte ſagen, je alberner koͤmmt er mir vor. Es fuͤ - gen ſich in meinem Gedaͤchtniſſe erſt jetzt ſo manche Zuͤge zuſammen, die mir bedeutender als damals erſcheinen. Es iſt fuͤr mich ſchwer einen Menſchen zu beurtheilen, ſo lange ich ihn vor mir ſehe, ſo lange ſeine Freundſchafts - bezengungen, ſeine Aufmerkſamkeit fuͤr mich meine eigene Aufmerkſamkeit beſtechen. Ich muß Ihnen geſtehn, daß ich mir jetzt nichts Laͤcherlicheres denken kann, als irgend eine ge - heime Geſellſchaft mit großen Anſtalten und tief angelegten Entwuͤrfen; ich begreife jetzt ſelbſt nicht, wie ich mich vor dieſem Gedanken ir - gend einmal fuͤrchten konnte. Ich kann es nicht unterlaſſen, die Menſchen jetzt zu verachten, die ſich ſo ernſthaft in die Mitte der Welt hinſtellen, und dann verlangen koͤnnen, man ſoll357 ſich vor ihnen entſetzen, jeder ſimple Bauer, der auf dem Felde arbeitet und nachher ein Weib nimmt, iſt mir bey weitem ehrwuͤrdiger. Muß denn alles am Menſchen ſchwuͤlſtig und aufgedunſen ſeyn? Will keiner den Weg zu jener Simplicitaͤt gehn, die den Menſchen zum wahren Menſchen macht, und zwar aus[k]einer andern Urſache, als weil uns dieſer Weg zu ſehr vor den Fuͤßen liegt? Es iſt ſehr ſchlimm, daß der feinere Verſtand gewoͤhnlich nur dazu dient, die Einfalt zu verachten, ſtatt daß wir lieber den Verſuch machen ſollten, ob wir nicht auf einem beſſern Wege zu denſelben Reſultaten kommen koͤnnten. Es iſt ein ewiger Streit im ganzen menſchlichen Geſchlechte, und keiner weiß genau, was er von dem andern verlangt; die Menſchen ſtehn ſich wie zwey gedungene Heere gegenuͤber, die ſich einander bekaͤmpfen, ohne daß einer den andern kennt. Ich will dies ganze Leben aufgeben, ich will mich mit mir ſelbſt und mit meinem Verſtande zur Ruhe ſetzen, ſo weit es ſich thun laͤßt; ich bin es uͤberdruͤßig, unnuͤtze Reiſen hin und her zu machen. Mag mein Leben doch recht pro - ſaiſch weiter laufen, dieſer Zweifel ſoll mich358 nun nicht mehr kuͤmmern, denn ich werde es dann nur um ſo hoͤher achten; mein Vater wuͤnſcht, daß ich heirathe, damit er noch Enkel ſieht, und ich will das auch bey der erſten Ge - legenheit thun. Jene ſeltſamen Stimmungen, jene ſonderbaren Exaltationen, mit denen uns Andrea bekannt machen wollte, ſind der verbo - tene Baum im Garten des menſchlichen Lebens, nichts will uns nachher genuͤgen, die Welt thut ſich immer enger und enger zuſammen, nichts genuͤgt dem Menſchen mehr, jede unſchuldige Menſchenfreude tritt ſcheu vor ihm zuruͤck, denn er findet ſie laͤcherlich und abgeſchmackt. Was meinen Sie, Francesko, wollen wir uns nicht unter jene verachteten Spießbuͤrger einſchreiben laſſen? Wir laufen wenigſtens mit der Menge, und koͤnnen uns darum um ſo ſicherer halten.

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12. Francesko an Adriano.

Recht ſo, Adriano! Sie glauben nicht, in welche luſtige Stimmung mich ihr Brief ver - ſetzt hat. Es iſt, als ſeh 'ich uns beyde ſchon verheirathet, die Braͤutigamswochen uͤberſtanden und dann als geſetzte und wohlkonditionirte Ehemaͤnner. Das ganze menſchliche Leben, alle Pla[ͤ]ne, alle Romane und alles was gedacht und getraͤumt wird, laͤuft am Ende denn doch nur auf eine einfache, ganz proſaiſche Heirath hin - aus. Wir ſchließen den Roman unſers Lebens mit dieſer alltaͤglichen, aber ſtets intereſſanten Entwickelung. Ich glaube, Sie haben bey Ihrem Briefe eine Ahndung von meinem Zu - ſtande gehabt. Ich habe hier nehmlich ein Frauenzimmer kennen gelernt, ein Frauen - zimmer, verlangen Sie keine Beſchreibung von mir, denn die iſt mir viel zu umſtaͤndlich, aber wenn ich Ihnen ſage, daß ich ſie inter - eſſant finde, ſo hoffe ich, ich habe Ihnen da -360 mit alles geſagt. Man kann mir von einem Frauenzimmer alles moͤgliche erzaͤhlen, ein guter Freund kann mir ihre Schoͤnheit, ihren Ver - ſtand, ihren Witz, ja ſogar ihren Reichthum loben, ohne daß ich auf den Gedanken fallen werde, der gute Freund moͤchte ſich vielleicht verheirathen: ſobald er mir aber von einem Frauenzimmer ſagt, es ſey intereſſant, ſo faß ich ihn genauer in's Auge, ich betrachte alle ſeine Zuͤge, um zu bemerken, in welcher Ruͤckſicht er ſich nachher als Ehemann veraͤn - dern wird.

Hab 'ich mir nun nicht ſchon ſeit meinem ſechszehnten Jahre eine Menge von vortreflichen Bemerkungen uͤber die Frauenzimmer gemacht? Ich verſichre Sie, wenn ich in irgend einer Sache ſcharfſinnig bin, ſo iſt es in den Beob - achtungen, die ich Ihnen uͤber die Weiber mit - theilen koͤnnte. Wenn ich manchmal alles fuͤr mich allein uͤberlegte, ſo war ich hin - laͤnglich uͤberzeugt, nicht nur, daß mich keine mehr hintergehn wuͤrde, ſondern daß auch nie irgend ein weibliches Geſchoͤpf eine große Ge - walt uͤber mich haben koͤnnte. Die Probe nachher hat aber nie mit dem ausgerechneten361 Exempel zuſammenſtimmen wollen. Ich habe ſchon tauſend Ausnahmen von meinen Regeln gemacht, ja mehr Ausnahmen als Regeln ge - funden und nachher wieder eingeſehn, daß meine Regel doch dauerhafter ſey, als ich vermuthet hatte. Lieber Adriano, ich habe wunderbare Erfahrungen uͤber meine Erfahrungen gemacht, ich habe endlich nach einem muͤhſeeligen Stu - dium eingeſehn, daß ich ein Narr bin. Das Wort iſt leicht ausgeſprochen, aber Sie werden es nicht glauben wollen, wenn ich Ihnen ſage, daß ich zwanzig Jahre daran ſtudiert habe, um die ganze tiefe Bedeutung dieſes kleinen einſyl - bigen Wortes einzuſehn. Wenn wir die Men - ſchen zu kennen glauben, kennen wir ſie viel - leicht am wenigſten, eben weil wir es glauben, weil wir in einer Wiſſenſchaft (in der Men - ſchenkenntniß nehmlich) einen Standpunkt ge - funden zu haben glauben, in der es durchaus keinen giebt: wenn ein Nebel auf der Land - ſchaft liegt, ſo ſcheint uns die Ausſicht oft am weiteſten. Was ich ſagen wollte: fuͤh - len Sie bey dem Namen Caroline nicht eine ganz beſondere Wallung in Ihrem Blute? Ich ſehe im Geiſte ſchon alles voraus, wie es mit362 mir kommen wird, ich will mich geduldig dar - ein ergeben, denn zu aͤndern iſt es doch nicht mehr, weil ich mit ihr ſchon verlobt bin und weil ich auch zweytens gar keine Aenderung wuͤnſche. Zum Gluͤcke habe ich ſo viel Vermoͤ - gen, daß ich und meine kuͤnftige Frau gemaͤch - lich davon leben koͤnnen; dann will ich auch, ſo wie Sie, uͤber alle moͤglichen geheimen Ge - ſellſchaften lachen. Wenn ich etwas duͤnner waͤre, daͤchte ich vielleicht anders, und ich werde vielleicht noch proſaiſcher, wenn ich dicker werde; indeſſen Adriano, wir ſind nach meiner Meinung alt genug, um alle Kindereyen able - gen zu konnen. Man kann ſich aber nicht beſſer gegen Thorheiten waffnen, als wenn man ſich mit einer recht großen Thorheit bepanzert, die uns vom Kopfe bis zu den Fuͤßen bedeckt, und darum eben will ich jetzt heirathen. Ich will mich in alle die Kleinigkeiten, in alle Albernheiten eines gluͤcklichen Ehegatten und uͤbervorſichtigen Vaters einſtudiren, damit alle uͤbrigen Poſſen des Lebens keinen Platz mehr an mir finden, wo ſie einkehren koͤnnten. Man ſichert ſich gegen die Schwaͤrmerey da -363 durch am beſten, daß man fuͤr die Aufklaͤrung ein Schwaͤrmer wird, und ſo will ich es auch meinerſeits machen. Aber mein Geſchwaͤtz, das ich fuͤr einen freundſchaftlichen Brief ausgebe, wird zu weitlaͤuftig; ich breche da - her ab.

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13. William Lovell an Roſa.

Ich bin hier, Roſa, in Rom wieder. Kom - men Sie doch, liebſter Freund, ſo ſchnell als moͤglich, ſogleich zu mir hinuͤber. Ich bin erſt heut Abend hier angekommen, kaum ſeit einer Stunde bin ich hier. Ich wohne in demſelben Hauſe, das ich ſonſt bewohnt habe. Es iſt mir ganz ſeltſam, ich ſehe aus dem Fenſter, und dieſelbe alte, wohlbekannte Straße ſtreckt ſich wieder vor mir aus. Ich habe es nicht unter - laſſen koͤnnen, ich habe ſchon einen Spatzier - gang durch die benachbarten Gaſſen machen muͤſſen. Ich bin vielen Geſichtern begegnet, die mir ſchon damals bekannt waren, weil man ſie immer auf den Straßen ſieht; ich kann Ih - nen nicht beſchreiben, mit welcher Liebe ich die bekannten Pallaͤſte und Kirchen betrachtet habe. Ich moͤchte faſt noch Andrea beſuchen, aber ich will dennoch bis morgen warten. Wie harr 'ich auf den erſten Klang ſeiner Worte!365 wie wohl wird ſein ernſtes Geſicht meinem wun - den Herzen thun! O Andrea! er kann es nicht wiſſen, wie ſehr ich ihn liebe, er wuͤrde mir's nicht glauben, wenn ich's ihm ſagte. In ihm liegt jetzt alles verſammelt, was mir ſonſt theuer und ſchaͤtzenswuͤrdig war. Wie ungeduldig werd' ich den morgenden Tag erwarten! Kommen Sie, Roſa, eilen Sie, ich beſchwoͤre Sie; noch nie hat ein Freund den Freund mit der Ungeduld erwartet, mit der ich Sie hieherwuͤnſche.

366

14. William Lovell an Roſa.

Ich weiß nicht, was ich denken, ich weiß nicht, was ich ſagen ſoll. Mein Gemuͤth iſt in der geſpannteſten Unruhe. Sie kommen nicht, Roſa, und ſeit drey Tagen wuͤnſch 'ich Andrea zu ſprechen und er laͤßt mich immer zuruͤckwei - ſen. Er ſey krank, laͤßt er mir ſagen. Was ſoll ich denken? Was ſoll ich beginnen? Kann er mich nicht auch in der Krankheit ſprechen? O, ſchreckliche Gedanken, vernichtende Gedan - ken ſteigen in meinem Gehirne auf. Warum muß er mich zuruͤckweiſen?

Bianka habe ich geſehn, ſie iſt bleich und abgefallen, die Schwindſucht nimmt ihre Kraͤfte hinweg. Ihr Anblick hat mich erſchreckt, denn er brachte ein ſonderbares Bild in meinen Kopf, ich kann mich aber nicht erinnern, wel - ches. Francesko iſt kalt und zuruͤckgezogen, er wird jetzt heyrathen, ich weiß nicht, ob Sie es ſchon wiſſen. Alle uͤbrigen, die ich ſonſt haͤufig367 bey Andrea ſah, thun, als kennten ſie mich nicht. O Himmel! welche Urſache kann es geben, daß Andrea nicht mit mir ſprechen will! Soll dies der Schlußſtein meines truͤben Lebens werden? So ſchaal und nuͤchtern ſollte ſich nun alles endigen? O nein, es iſt nicht moͤglich, er wird mich endlich vor ſich laſſen, und ge - ſchaͤhe es auch nur, um meines Andringens los zu werden. Ich weiß jetzt keinen meiner Sinne recht zu gebrauchen, faſt ohne Bewußtſeyn geh〈…〉〈…〉 ich umher. Erbarmen Sie ſich, Roſa, und kommen Sie zu mir nach Rom, dann wird alles gut werden, dann wollen wir beyde An - drea mit Bitten beſtuͤrmen: laſſen Sie mich jetzt nicht vergeblich bitten, kommen Sie ja.

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15. William Lovell an Roſa.

Ich kann Ihnen kaum ſchreiben. Warum ſind Sie nicht gekommen, oder warum haben Sie mir wenigſtens nicht geantwortet? Ach, ich weiß auch ſelbſt nicht, was ich alles frage.

Ich habe Andrea geſprochen. Mit Zittern ging ich geſtern wieder hin; man ſagte mir, ich koͤnnte hineintreten. Nur in wenigen Momen - ten meines Lebens bin ich von einer Freude ſo ganz und gar durchdrungen geweſen, ſo ſehr durch ein ploͤtzliches, unerwartetes Entzuͤcken uͤberraſcht. O wie theuer, wie unausſprech - lich theuer hab 'ich dieſe kurze Freude bezahlen muͤſſen!

Ich trat in Andrea's Zimmer. Er lag auf einem kleinen Ruhebette und ſchrieb; er hob die Augen bey meinem Eintritte nicht em - por. Er war ſehr eingefallen, ſein ganzes Ge - ſicht war nur ein Skelet von ſeinem ehemaligen, die Augen brannten heftiger als je. Ich wagtees369nicht, mich zu regen, ſo vertraut ich auch ſonſt mit ihm geweſen war, ſondern ich ſtand in einer ehrerbietigen Entfernung. Endlich be - merkte er mich, oder er hoͤrte vielmehr nur auf zu ſchreiben. O Roſa, mit welchem Blicke durchbohrte er mich! Es war, als wenn ſich meine Seele in mir furchtſam zuſammenkruͤmmte, ſo entſetzlich ward ich von dieſem durchſchnei - denden Blicke getroffen.

Nun, Lovell? fragte er mit einer matten Stimme.

Ich wußte nichts zu antworten; ich fing an zu zittern. Alles, was ich je gedacht hatte, ging in raſchen, verwirrten Zuͤgen durch meinen Kopf. Ich wußte mich ſelbſt nicht zu[faſſen].

Was willſt Du? fragte er mit einer eiſigen Winterkaͤlte, mit einem verdammlichen, ſchaͤnd - lichen Tone, als wenn er mich necken und mit meiner ehemaligen Vertraulichkeit verſpot - ten wollte.

Ich konnte mich nicht laͤnger halten: ich mußte laut weinen. Andrea! rief ich, aber er konnte nur mein Schluchzen hoͤren, ſo ſehr er - ſtickte der Ton in ſich ſelber.

Du weinſt? fragte er laͤchelnd.

Lovell, 3r Bd. A a370

Soll ich es nicht? rief ich aus; bin ich nicht ganz elend?

Elend? Und, o Roſa! hoͤren Sie's, fuͤhlen Sie's, wenn es eine andre Menſchen - bruſt, ſo wie ich, fuͤhlen kann, o Roſa, nun fing er an ſo laut und ſo graͤßlich zu la - chen, daß es mir durch Mark und Bein drang, daß ſich mir die Haare aufrichteten. Hab 'ich mich wohl ſchon je in der Welt ſo fremd gefuͤhlt, als ſie mir ploͤtzlich in dieſem Augen - blicke ward?

Ich wußte nicht, ob ich raſete, ob Andrea wahnſinnig ſey; er lachte noch immer fort, und ſo eifrig, als wenn er mit dieſem Lachen der Menſchheit den Kauf aufkuͤndigen wollte. Mein Entſetzen war ihm ein Spaß, meine toͤdtliche Todesblaͤſſe ein luſtiges Spiel.

Wie ich zur Thuͤre wieder hinausgekom - men bin, weiß ich jetzt nicht, aber ich ſtand ploͤtzlich draußen, dann war ich auf der Straße und fremde Menſchengeſichter rannten vor mir voruͤber, und alle waren mir lieber und ver - wandter, als Andrea's Blick.

Wo iſt nun alles hin, was ich hoffte und371 wuͤnſchte? Zukunft und Vergangenheit ſind er - loſchen und die Spuren von beyden gleich unſichtbar. Kann ich jetzt etwas anders thun, als ſterben? Doch, auch dazu gehoͤrt Ruhe.

A a 2372

16. Eduard Burton an Mortimer.

Ich kann Ihnen immer nichts ſchreiben, lie - ber Freund, als daß ich noch gluͤcklich bin und ſo gluͤcklich zu bleiben hoffe; es er - eignen ſich keine Veraͤnderungen hier, außer einigen unbedeutenden im Dorfe, die Sie unmoͤglich intereſſiren koͤnnen. Von unſerm Gar - ten giebt Ihnen mein Schwiegervater Nachricht, ſo daß ich durchaus nicht weiß, was ich Ihnen ſchreiben ſoll. Das Leben fließt uns voruͤber, ohne daß wir daran weiter denken, daß dies das ſogenannte Leben ſey, und da wir ſo un - aufmerkſam ſind, kommen wir auch gar nicht darauf, Bemerkungen uͤber uns ſelbſt zu machen. Es iſt auch eine uͤble Sache um dieſe Bemer - kungen, wir tragen oft erſt nachher das in uns hinein, was wir gerne bemerkt haben moͤchten, und glauben dann ſelbſt daran, um uns nur zu beruhigen.

Die Geſundheit beſteht darin, daß man373 ſeinen Koͤrper nicht empfindet; und wahrhaft gluͤcklich iſt man nur dann, wenn man gar nicht weiß, daß man gluͤcklich iſt.

Betty iſt immer wohl und vergnuͤgt; ich glaube, ſie iſt jetzt ſchwanger. Wir werden in die ſtilleren Freuden des Lebens einge - weiht und die Zukunft zeigt uns aus der Ferne ein großes, bis oben angefuͤlltes Fruchthorn. Das Schickſal ſcheint jetzt immer freundlich gegen uns zu bleiben und wir machen daher auch dem Schickſale ein freundliches Geſicht. Mehr kann offenbar von beyden Partheyen nicht verlangt werden.

Die Freude meines Schwiegervaters macht mich oft ſehr froͤhlich und erfuͤllt mein Herz mit einer milden, warmen Menſchenfreundlich - keit. Der Anblick von gluͤcklichen Menſchen beſſert uns eben ſo gut, ja vielleicht noch ſchoͤ - ner, als der von ungluͤckſeeligen; man kann nichts anders als Wohlwollen empfinden, wenn man Geſichter gegenuͤber ſieht, bey denen ſich in jeder Thorheit, in jeder kleinen Eitelkeit das heiterſte und wohlwollendſte Gemuͤth abſpiegelt. Wer wollte da auf die Schwaͤchen der Menſchen zuͤrnen, wer ſeine Feder ſchaͤrfen, um etwas374 recht bittres und ſchneidendes dagegen zu ſagen? Ich vermoͤchte es nicht, und ſelbſt wenn ich weniger froh und gluͤcklich waͤre.

Gruͤßen Sie Ihre Gattinn; Betty hat mir ſehr viele Gruͤße und Worte aufgetragen, da ſie heute zu traͤge iſt, ſelbſt etwas zu ſchrei - ben. Antworten Sie mir, wie es Ihnen geht, Sie ſind jetzt auch ein ſehr ſaumſeeliger Brief - ſchreiber. Etwas zu beſſern und zu tadeln werden wir an uns finden, ſo lange wir leben, und wir wollen Gott bitten, daß er uns nicht alle Fehler auf einmal nehme.

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17. Mortimer an Eduard Burton.

Ich kann Ihnen ebenfalls nichts anders erzaͤh - len, als was Sie mir in Ihrem Briefe ſchrei - ben: ſoll ich noch hinzuſetzen, daß es mich freut, daß Sie ſo froh und gluͤcklich ſind? Sie wer - den es glauben, wenn Sie es gleich nicht Schwarz auf Weiß haben.

Wenn ich manchmal vor dem Spiegel ſtehe und zu mir ſage: da ſiehſt Du nun den vor - treflichen Herrn Mortimer vor Dir, der ein - mal in Italien und zweymal in Frankreich ge - weſen iſt, der ſo manches Kluge gedacht und ſo manchen Menſchen kennen gelernt hat, ſo muß ich jedesmal uͤber mein Bild im Spie - gel und uͤber mich ſelber lachen. Ich erinnere mich dann der unzaͤhligen Entwuͤrfe und Vor - ſaͤtze, der ſo ſchoͤn berechneten Plane fuͤr mein Leben, der mannichfachen Bemerkungen, die ich uͤber den Menſchen in meiner Seele nieder - geſchrieben und wieder ausgeſtrichen habe. Un -376 ſer Leben iſt nichts, als ein ewiger Kampf der neuen Eindruͤcke mit der eigenthuͤmlichen Bil - dung unſers Geiſtes: wir glauben oft, daß un - ſer Charakter auf immer eine neue Wendung nimmt, und ploͤtzlich ſind wir dann wieder eben ſo, wie wir gewoͤhnlich waren. Ich habe mich uͤber alle Heyrathen luſtig gemacht, bis ich ſelbſt heyrathete; nun glaubte ich, gaͤbe es nichts Ernſthafteres in der Welt, und jetzt waͤre es mir doch wieder moͤglich, in die un - ſchuldigen Scherze mit einzuſtimmen. Es giebt eine Urverfaſſung in uns ſelbſt, die nichts zer - ſtoͤren kann, ſie wird ploͤtzlich wieder da ſeyn, ohne daß wir es ſelbſt begreifen koͤnnen, wie wir uns ſo ſchnell in einen ganz alten ehema - ligen Menſchen haben umaͤndern koͤnnen. Daß wir aber mit einem gewiſſen neuen und beſſern Verſtande zu dieſer alten Verfaſſung zuruͤckkeh - ren, glaube ich ſelbſt, denn ſonſt muͤßte man bey dieſem zirkelmaͤßigen Leben in Verzweiflung fallen: aber ſo liegt in dieſem Wiederkehren ein großer Troſt, der, daß wir uns innerlich nie aus den Augen verlieren koͤnnen, ſoviel wir uns auch manchmal aͤußerlich bemuͤhen, es zu thun.

377

18. William Lovell an Roſa.

So iſt es denn nun aus? voͤllig aus? Ich weiß mich noch immer nicht zu faſſen. Ich moͤchte laut ſchreyen und klagen, ich moͤchte es in die ganze weite Natur hineinheulen, wie elend ich bin. O wie unbeſchreiblich nuͤch - tern und armſeelig endigt ſich nun alles, was mich einſt in ſo hohe Begeiſterung ſetzte, was mir eine ſo ſeelige Zukunft aufſchloß. O eine wilde, blinde Wuth ergreift mich, wenn ich daran denke, wenn ich mir alles und jeden Umſtand von neuem in die Seele zuruͤckrufe: eine Raſerey erſchoͤpft nicht alles, was ich fuͤhle, es giebt keine Aeußerung, die menſchliche Na - tur koͤnnte ſie nicht aushalten, ſo wie ich mei - nen Schmerz und Verluſt darſtellen muͤßte.

Und warum das? werden Sie fragen. Ach, Roſa, bey Ihnen iſt es bloße Neugier, die ſo fragt. Sie ſind ein gluͤcklicher Menſch. Ich kann mein Ungluͤck an den Gefuͤhlen keines378 andern Weſens ermeſſen. So hoͤren Sie denn: Andrea iſt todt.

Ich ſah ihn ſterben. Nie habe ich einen Menſchen in ſeiner letzten Stunde ſo geſehn. Er lachte und verwuͤnſchte dann ſich und die Welt; er ſchien ſelbſt den Tod und ſeine Zuk - kungen als ein laͤcherliches Poſſenſpiel anzuſehn, das keine Aufmerkſamkeit verdiente: er verbarg und unterdruͤckte ſein Zittern, er ſchien die Angſt des Todes zu beſiegen. Ueber mein zerrißnes Herz, uͤber meine zermalmte Gluͤckſee - ligkeit lachte er immer wieder von neuem und ſagte, das kaͤme mir nur ſo vor, weil ich ein Narr ſey. Dann ſtoͤhnte er wieder dazwiſchen, und nannte den Namen Gottes mit bebenden Lippen, und ſchlug dann wieder ein helles Ge - laͤchter auf. Ich konnte mich am Ende nicht mehr finden, wo ich war, in einem Wahnſinns - taumel war ich von der Erde und aus mir ſel - ber hinausgeruͤckt, ich konnte zuletzt mit kaltem, ſtarrem Auge die Todeszuckungen An - drea's betrachten, ſein pochendes Herz, ſeine ſchwer arbeitende Bruſt. Als wenn ein frem - des, ungekanntes Weſen in ihm haͤmmerte und zum Tageslichte heraus wollte, ſo lag er mit379 ſeinen Kraͤmpfen vor mir da, und ich lachte am Ende ſelbſt uͤber die ſeltſamen Verzerrungen ſeines alten Geſichts. Und nun war er todt. Kein Athemzug, kein Pulsſchlag mehr in ihm: es graute mir nicht, ich entſetzte mich nicht vor dem Leichnam, und doch ſtuͤrzte ich mit bebendem Knie zum Zimmer hinaus.

Und nun fuͤhlte ich's mit aller Gewalt des ganzen ſchrecklichen Gefuͤhls, daß nun alles aus ſey, keine Wiederkehr einer Empfin - dung, kein Zittern und Zagen, ſondern alles eine dumpfe, nuͤchterne Gewißheit; alles in ein jaͤmmerliches Grab hineingeſunken, was einſt mein war und mein werden ſollte. Fuͤhlen Sie's, Roſa? Nein, es iſt nicht moͤglich.

O ich koͤnnte ach, was? wahnſin - nig werden! ſterben! ſonſt ſeh 'ich nichts. Ich drohe mir ſelber, um vor mir ſelber zu zittern, ich fuͤhle mich bis in mein innerſtes Weſen hinein vernichtet, bis in die letzte Tiefe meiner Gedanken zerſtoͤrt.

Wollen Sie mich beſuchen? Sie werden es nicht thun, weil ich Sie nicht unterhalten kann. Ich weiß nicht mehr, was ich em - pfinden ſoll: alles in der Welt koͤmmt mir380 gleich armſeelig vor, und ſo iſt es auch. Aber warum es gerade ſo kommen mußte? So, wie ich es am wenigſten erwartete?

O Roſa, wie herzerhebend muͤßte jetzt das Gefuͤhl ſeyn, ſich als einen recht großen Boͤſe - wicht zu kennen; ſich ſelbſt zu fuͤrchten und zu achten: dies Gluͤck war mir nicht gegoͤnnt.

Wollen wir in Geſellſchaft ſterben?

381

19. Adriano an Francesko.

Ich ſehe aus Ihren Briefen, daß wir auf eine beynahe wunderbare Weiſe ſympathiſiren, denn werden Sie es mir wohl glauben wollen, wenn ich Ihnen ſage, daß ich wirklich ſchon Braͤuti - gam bin? Bey einer Heyrath iſt das Gluͤck, ſo wie im ganzen uͤbrigen Leben, ein Zufall, und das lange Waͤhlen iſt daher voͤllig unnuͤtz. Wir leben wie in einem großen Lotto, wo Nieten und Gewinnſte unkenntlich durcheinander liegen, das Ausſuchen und Beſinnen iſt nur laͤcher - lich. So hab 'ich jetzt, ohne es ſelbſt zu wollen, eine Stelle bekommen, die anſehnlicher und eintraͤglicher iſt, als jene, um die ich an - hielt; die feine Klugheit will zwar immer den Gang des Lebens und ſeiner Zufaͤlle errathen, allein ſie irrt ſich doch weit haͤufiger, als ihre Berechnungen eintreffen; ich ſetze die Klugheit darinn, alle Zufaͤlle auf eine Art aufzufangen, daß ſie mir nicht ſchaden koͤnnen, hierbey laͤuft382 man weit weniger Gefahr. Ich wende ſtatt der Vorſicht immer, wenn ich ſo ſagen darf, eine Ruͤckſicht an, denn fuͤr mich iſt es un - moͤglich, mit Vorſichtigkeit vorſichtig zu ſeyn; die Meiſten thun auch hierinnen zu viel, wie in allen Regeln, die ſie ſich im Laufe ihres Lebens abſtrahirt haben; man kann ſelbſt auf Extreme verfallen, indem man immer nur den Mittelweg gehen will.

383

21. Francesko an Adriano.

Wenn Sie Braͤutigam ſind, ſo bin ich im Stande, Ihnen zu melden, daß ich ſchon ein Ehemann bin. Ich halte das lange Entſchlie - ßen ebenfalls fuͤr Thorheit, die Maͤdchen muͤſ - ſen ſuchen je eher je lieber unter die Haube, ſo wie die Maͤnner unter den Pantoffel zu kom - men, denn was hilft es am Ende, wenn man ſich ſeinem Schickſale auch noch ſo lange wider - ſetzt? Wir haben nun das Ende aller unſrer Schickſale erlebt, die, aufrichtig geſprochen, eben nicht ſehr verflochten waren, indeſſen, es iſt beſſer, daß wir ohne vorhergegangene Ver - wickelung die Entwickelung erlebt haben: die Mißverſtaͤndniſſe in dem Luſtſpiele des Lebens ſind fuͤr mich immer etwas aͤußerſt Langweiliges geweſen. Wir treten nunmehr von der Buͤhne der menſchlichen Thorheiten ab und errichten ganz in der Stille ein Privattheater. Ich halte den fuͤr ſehr gluͤcklich, den das Schickſal nicht384 mit in die weitlaͤuftigen Verwickelungen der Welthaͤndel zieht, er ſteht unter einem ſchimmern - den Dache, und man mag mir ſagen, was man will, ein Platzregen macht wenigſtens naß, wenn er auch uͤbrigens unſchaͤdlich ſeyn ſollte.

Andrea iſt hier geſtorben und aus dieſer Urſache haben Sie wahrſcheinlich ein Amt er - halten. Lovell iſt zuruͤckgekommen, und ſieht ſehr krank und verdruͤßlich aus. Er dauert mich inniglich, ſo oft ich ihn ſehe.

21.385

21. Eduard Burton an Mortimer.

Meine Betty hat mir eine Tochter ge - boren, die wir Amalie genannt haben. Warum ſoll ich heucheln und nicht lie - ber geſtehn, daß ich mich ganz außerordentlich freue? Ich habe nicht jene Groͤße der Seele, die mich immer uͤber die Erde und ihre kleinen Gluͤckſeeligkeiten hinuͤberhebt. Das Leben thut ſich bey mir immer enger zuſammen, ich habe alle Reiſen und alle meine jugendlichen Plane aufgegeben, jedem glaͤnzenden Gluͤcke entſagt, aber eben dadurch eroͤffnet ſich mir eine immer hellere Ebene, die Ausſicht der Zukunft wird immer breiter und glaͤnzender. Ungluͤck und Schmerz ſind wie ein heftiger Regen, der zwar die Pflanzen niederſchlaͤgt, ſie aber nachher nur deſto friſcher wieder aufrichtet: ſo iſt es auch vielleicht mit mir und mit meinen Empfindun - gen geweſen. Lovell's Schickſal wird mir im -Lovell. 3r. Bd. B b386mer wie ein Gewicht in meiner Seele liegen und ſo die Spannung derſelben erhalten. Ich habe von ihm viel gelernt, ich habe geſehn, wie leicht bloßer Eigenſinn und die Sucht, et - was Beſonderes zu ſeyn, den Menſchen viel weiter locken koͤnnen, als er anfangs gedacht hat, ich bin dadurch gegen die Ungluͤcklichen toleranter geworden, die wir oft zu ſchnell und zu ſtrenge Boͤſewichter nennen, da wir ihnen nur den Namen der Thoren beilegen ſollten: ihre Thorheit dient uns nur nicht zum Gelaͤch - ter, ſondern wir fuͤrchten ſie, und darum wer - den wir ſo ſtrenge Richter. Es kommt mir in manchen Stunden vor, als waͤre ich ſeit zwey Jahren außerordentlich alt geworden; wenn ich mich zuruͤckerinnere, ſo duͤnken mich dieſe Jahre eine Ewigkeit.

Wir muͤſſen irgend ein Mittel ausfinden, lieber Mortimer, um uns oͤfter zu ſehn; wie waͤr 'es, wenn Sie das nahgelegene Water - hall von mir zu einem billigen Preiſe kauften und Ihr Roger-place einem andern uͤberließen? Dann waͤren wir ganz nahe Nachbarn, dann koͤnnte ich Sie recht genießen. Je mehr ich daruͤber nachdenke, je feſter wird der Gedanke387 bey mir, ſo daß es mir ſehr wehe thun wuͤrde, wenn er Ihnen mißfiele. Ich habe das Gut in einen beſſern Stand ſetzen laſſen, der Garten, der ſonſt ganz verwildert war, iſt wieder einge - richtet, die Gegend um Waterhall iſt bei wei - tem ſchoͤner und intereſſanter, als die um Ro - ger-place: kurz, Sie ſehn wohl ein, ich moͤchte Sie gerne uͤberreden. Antworten Sie, lieber Freund, was Sie zu meinem Vorſchlage denken.

B b 2388

22. Mortimer an Eduard Burton.

Ich wuͤnſche Ihnen Gluͤck und zwar recht von Herzen. Wir koͤnnen jetzt ein recht ſchoͤnes Parallelleben fuͤhren, und ſo langſam und un - vermerkt in das Alter hineinkriechen. Es giebt eine Periode im Leben, in der der Menſch ploͤtzlich alt und reif wird; bey manchen Men - ſchen bleibt dieſe Periode freilich ganz aus, ſie bleiben immer nur Subalternen in der großen Armee, ihnen iſt es nie vergoͤnnt, den Plan und die Abſicht des Ganzen zu uͤberſehn, ſon - dern ſie muͤſſen ſich unter elenden Muthmaßun - gen und laͤcherlichen Hypotheſen abquaͤlen; ſie werden immer fortgetrieben, ohne daß ſie wiſ - ſen, wohin ſie kommen: ich glaube, daß wir beyde uns freyer umſehn[koͤnnen] und jetzt in den Zufaͤllen ſelbſt das Nothwendige entdecken, die Rechenſchaft von ihnen zu fordern verſtehn, warum ſie ſo und nicht anders eintreten. In ſo fern die Kunſt, gluͤcklich zu ſeyn, die Kunſt389 iſt, zu leben, in ſofern beſitzen wir dieſe Kunſt.

Sie haben doch auch den Vorſatz, ſich bey Ihrem Kinde nicht auf eine ſogenannte gute oder feine Erziehung einzulaſſen, keine von den jetzigen Moden mitzumachen, die ſchon die Kin - derſeelen im achten Jahre mit Eitelkeit fuͤllen und ſie ſo verderben. Ich habe beſchloſſen, meinen Georg ganz einfach aufwachſen zu laſ - ſen, ich hoffe, er ſoll auf die Art am erſten ein guter und einfacher Menſch werden; Kinder merken nichts leichter, als wenn ſie mit einer gewiſſen Wichtigkeit behandelt werden; dies iſt die Urſache, warum viele ſich ſchon fruͤh ſelbſt ſehr wichtig vorkommen, jede Art von Affekta - tion wird dadurch bey ihnen erzeugt, ſie halten ſich fuͤr Genie's und außerordentliche Menſchen, und denken nie daran, ſich und der Welt Be - weiſe davon zu geben. Ich bin uͤberzeugt, daß Lovell von ſeinem Vater mit zu vieler Sorg - falt erzogen wurde, und daß dies die erſte Quelle ſeiner Thorheit und ſeines Ungluͤcks war. Die Liebe der Eltern artet gar zu leicht in et - was aus, das keine Liebe mehr iſt, ſondern an laͤcherliche Ziererey und Weichlichkeit graͤnzt,390 beſonders wenn ſie nur ein einziges Kind haben: dies ſoll dann mit allen Vortreflichkeiten uͤber - laden werden, es darf ſich nicht der kleinſten Zugluft des gemeineren Lebens ausſetzen, die doch ſo oft dazu dient, unſern Geiſt abzuhaͤrten und ihn maͤnnlich zu machen, und daher koͤmmt es denn, daß wir an dieſen Sonntagsgeſchoͤpfen meiſtentheils ſo wenig Energie und Kraft be - merken; ein Menſch, der Geſchwiſter hat, iſt ſchon deswegen gluͤcklicher. Ich wurde offenbar nur deswegen beſſer als meine geſtorbenen Bruͤ - der, weil mich meine Eltern vernachlaͤſſigten, ja faſt verachteten; ſie glaubten, ihre Sorgfalt ſey an mir doch verloren, und daher gaben ſie mir die Erlaubniß, mich ſelbſt erziehn zu duͤr - fen: ich erzog mich freilich durch Ungezogenhei - ten, aber immer noch beſſer, als ganz verzogen zu werden. Ich ward haͤufiger gedemuͤthigt, als meine Bruͤder, und eben dadurch ſtolzer; ein gewiſſer Stolz iſt die Feder, die den Menſchen in den Gang bringt, die den Wunſch in ihm erzeugt, von keinen fremden Meinungen und Geſichtern abzuhaͤngen, und die ihm die Kraft giebt, dieſen Wunſch ſich ſelber zu erfuͤllen.

Wenn wir nun alt ſind, erleben wir viel -391 leicht die Freude, daß unſre Kinder ſich ver - heirathen. Doch, ich will mir das nicht in den Kopf ſetzen, wenn dieſe Kinder nicht ſelbſt auf den Gedanken kommen ſollten, wenn ſie nehmlich die Zeit erleben, in der der Menſch ſich verlieben muß. Man ſollte uͤberhaupt keine Plane fuͤr die Zukunft machen, am wenigſten ſolche, deren Ausfuͤhrung nicht von uns ſelber abhaͤngt. Ich bemerke aber, daß ich, ſeit ich Vater geworden bin, unaufhoͤrlich in Sen - tenzen ſpreche; eine Sache, die ich ſonſt nie an einem andern Menſchen leiden konnte, denn es iſt im Grunde nichts weiter, als die Sucht, ſich ſelbſt immer in kleine Stuͤcke zu zerſaͤgen und beſtaͤndig Proben von unſrer Vortreflichkeit herumzureichen: unſern Geiſt in vielen Silhouet - ten abzuzeichnen und dieſe dann aus dem Fen - ſter an die Voruͤbergehenden auszutheilen. Dies iſt die Schwaͤche, wodurch manche Menſchen ſo unausſtehlich werden, als ein moraliſcher Schriftſteller im Umgange nur ſeyn kann, der uns immer ſeine laͤngſtvergeſſenen Buͤcher re - petirt.

Jetzt will ich auf Ihren Vorſchlag kom - men. Der Gedanke iſt mir gewiß eben ſo er -392 freulich, als er Ihnen nur immer ſeyn kann, denn ich waͤre beynahe ſchon bey dem Verkaufe von Waterhall ſo unverſchaͤmt geweſen, Sie zu uͤberbieten, doch es iſt beſſer, daß es nicht geſchehn iſt, denn ich kann es jetzt auf eine ehrlichere Art bekommen. Roger-place kann ich gerade jetzt unter ſehr vortheilhaften Bedin - gungen verkaufen, und alles vereinigt ſich, um mich zu bewegen, nach Waterhall zu ziehn. Amalie hat ſich zwar an den hieſigen Aufent - halt ſehr gewoͤhnt und ſie liebt ihn gewiß auſ - ſerordentlich, indeſſen hat ſie mir doch ſchon ihre Einwilligung gegeben: ſie freut ſich eben - falls ſehr, Ihrer liebenswuͤrdigen Gattinn naͤher zu kommen. Kurz, ich reiſe morgen ab, um Sie zu beſuchen, Waterhall zu ſehn, und mich mit Ihnen uͤber die Bedingungen zu vereinigen: ich denke aber daran, daß ich eben deswegen dieſen Brief hier abbrechen kann.

393

23. Thomas an den Herrn Ralph Blackſtone.

Gnaͤdiger Herr,

Der Garten waͤre nun hier in ſo weit fertig und es fehlt im Grunde nichts weiter als daß ich noch auf den Befehl warte, nach Bonſtreet zuruͤckzureiſen. Ich haͤtte ſelbſt im Anfange nicht gedacht, daß man aus der hieſigen Wild - niß noch ſoviel zu machen im Stande ſey: doch Gottes Seegen und fleißige Arbeit kann bey - nahe Wunderwerke hervorbringen, das bin ich hier gewahr geworden. Wie wuͤrde ſich die alte gnaͤdige verſtorbene Frau wundern, wenn ſie jetzt wieder aus dem Grabe auferſtehn ſollte! Sie wuͤrde gar nicht glauben wollen, daß es daſſelbe Gut ſey, und ſie wuͤrde es ſogar ſchlech - ter finden als vorher, denn darinn kenne ich ſie; ſie war, wenn ich der Wahrheit die Ehre geben ſoll, ein wenig eigenſinnig, wie es denn im Grunde alle alten Frauen ſind, beſonders394 aber die vornehmen: ſie haben dann nur noch an dem Befehlen in der Welt ihre Freude.

Ich bin ordentlich neugierig, Ew. Gnaden und den Garten in Bonſtreet wieder zu ſehn. Es mag ſich unterdeſſen manches auf Ew. Gna - den Befehl veraͤndert haben. Das Erdreich hier in Waterhall iſt beynahe beſſer, als auf unſerm Gute, weil es tiefer liegt, das Waſſer in der Naͤhe macht es friſcher. Das Obſt, das hier gezogen wird, iſt offenbar ſchoͤner, als das unſrige, ich habe es ſelber gegeſſen, und kann daher recht gut daruͤber urtheilen. Ich em - pfehle mich Ihnen, gnaͤdiger Herr, mit der ergebenſten Bitte, mich nun bald nach Hauſe kommen zu laſſen.

Thomas.

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24. Ralph Blackſtone an Thomas.

Es iſt mir ſehr lieb zu hoͤren, lieber Thomas, daß er in Waterhall fertig iſt, er kann ſich alſo aus dieſem Grunde zur Abreiſe nur immer fertig machen. Hier hat ſich indeſſen mancher - ley zugetragen, was wohl große und betraͤcht - liche Veraͤnderungen nach ſich ziehen duͤrfte. Vor allen Dingen muß ich Ihm nur melden, daß ich jetzt Großvater bin und mein Kopf mit allerhand wichtigen Gedanken angefuͤllt iſt. Es iſt eine junge Tochter, die meine Betty zur Welt gebracht hat, und ich uͤberlege eben jetzt immer, wie man ſie wohl am beſten erziehn koͤnnte. Das wendet meine Gedanken nun von dem Garten und von den Baumſchulen gaͤnzlich ab, denn eine junge menſchliche Seele iſt ein zarterer und beſſerer Baum, der den Menſchen naͤher angeht. Ich habe meine Tochter, wie die ganze Welt ſagt, ſehr gut erzogen, ich werde daher auch wohl noch im Stande ſeyn,396 einen kleinen Enkel zu erziehn. Alles dies hat mich bewogen, einen Entſchluß zu faſſen, der Ihm, Thomas, gewiß ſehr lieb ſeyn wird: ich will Ihm naͤhmlich kuͤnftig ganz allein die Ein - richtung und Bearbeitung des Gartens uͤber - laſſen, ich behalte mir nur die Jagd vor, um dort ſo zu ſchalten und zu walten, ſo wie es mich gutduͤnkt. Auch habe ich noch einen an - dern Plan entworfen, nehmlich den, die hieſi - gen Fiſchteiche zu verbeſſern: wir muͤſſen oft Fiſche aus fernen Gegenden kommen laſſen, und das iſt ſehr unangenehm, ſie haben dann bey weitem nicht ihren guten und natuͤrlichen Ge - ſchmack; dem Uebel muß auf irgend eine Art abgeholfen werden, und ich weiß es auch ſchon, wie ich mich dazu anſtellen will. Vielleicht weiß Er mir einen tuͤchtigen Mann vorzuſchla - gen, der unter meiner Aufſicht die Beſorgung uͤber ſich nehmen koͤnnte. Komm 'Er jetzt uͤbrigens nur nach Bonſtreet, oder vielmehr bleibe Er nur da, bis wir Ihn abholen, denn wir alle werden hinreiſen und Herr Mortimer noch obendrein mit uns, denn unter uns geſagt, ich habe ein Voͤgelchen ſingen hoͤren, daß Herr Mortimer das ganze Gut Waterhall gekauft397 hat; doch, das bleibt in den erſten drey Tagen noch unter uns, bis es ihm abgetreten wird, welches ſehr bald geſchehen ſoll. Es iſt uns um eine gute Geſellſchaft in der Naͤhe zu thun, und dazu iſt Herr Mortimer ganz ohne Zweifel ein ſehr tuͤchtiger Mann. Wegen ſeiner Verdienſte, lie - ber Thomas, ſoll Er auch Zulage bekommen, und wenn Er es wuͤnſcht, eine ganz ſtille und ruhige Penſion genießen, denn Er iſt ſchon alt, muß Er wiſſen, und wenn Ihm der Garten nicht gar zu ſehr am Herzen liegt, ſo mag Er nun nur die ganze Arbeit wegwerfen. Lebe Er recht wohl, bis wir uns perſoͤnlich wieder - ſehn; mein Schwiegerſohn laͤßt gruͤßen.

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25. William Lovell an Roſa.

Nun iſt es entſchieden. Es fehlt nichts weiter. Ich kann mich nun hinlegen und ſterben, denn alles, alles iſt voruͤber. Leſen Sie das beygelegte Paket, es iſt von Andrea, es iſt ſein Teſtament, in dem er mich unbarm - herzig verſtoͤßt, in dem er nichts von mir wiſ - ſen will. Es iſt wahrſcheinlich daſſelbe, woran er noch in ſeiner Krankheit ſchrieb, als ich ihn beſuchte.

Kann ich noch etwas ſagen, oder auch nur denken? O Gott, ich bin aus dem Reiche der Schoͤpfung hinausgeworfen. Leſen Sie und fuͤhlen Sie dann, wenn es moͤglich iſt, wie jedes Wort mich zermalmt hat. Ach, Roſa! Es iſt, als wenn ich zuweilen uͤber mich ſelber lachen und ſpotten koͤnnte. Weinen kann ich nicht, und doch wuͤrde es mir wohl thun: ach, jetzt iſt alles einerley.

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26. (Einlage des vorigen Briefes.)

Ich erwarte Deine Zuruͤckkunft, Lovell, und bis dahin will ich fuͤr Dich dieſe Aufſaͤtze ſchrei - ben, damit Du endlich die ſo ſehnlich ge - wuͤnſchte Erklaͤrung erhaͤltſt. Du haſt Recht, wenn Du glaubſt, daß es nicht moͤglich ſey, immer unter Traͤumen umherzugehn, daß der Geiſt endlich nach einer trocknen Ueberzeugung ſchmachtet, und dieſe ſoll Dir auch jetzt wer - den. Ich habe alle Deine Briefe an Roſa geleſen und alles hat mich in meiner Meynung von Dir beſtaͤtigt; ich habe Dich jetzt kennen lernen und Du ſollſt nun auch erfahren, ſoviel es moͤglich iſt, wie ich beſchaffen bin.

Du wirſt aber alle meine Gedanken viel - leicht zu ernſthaft nehmen und ſie eben darum weniger verſtehn: es iſt ſehr Deine Sache, aus allzugroßer Heftigkeit in einer Idee einen ganz andern Gedanken zu finden, als der andere ge - meynt hat. Du gehoͤrſt zu jenen Leſern, die400 in allen Buͤchern nur ſich ſelber ſuchen, und nicht die Faͤhigkeit beſitzen, ſich in fremde Koͤr - per hineinzudenken. Ich hoffe, Du ſollſt durch einige Nachrichten erſchuͤttert, durch manche Ideen ſollſt Du kluͤger werden, und wenn beydes geſchieht, will ich meine Zeit und Muͤhe nicht bereuen. Meine Krankheit zwingt mich zu irgend einer Beſchaͤftigung; ich will Dir alſo dieſe Papiere als ein Denkmal von mir zuruͤcklaſſen, als ein Teſtament, als die Erbſchaft ſelbſt, die Du von mir erwarten kannſt. Wenn Du dadurch auch nur um Eine Idee bereichert wirſt, ſo haſt Du genug ge - wonnen.

Meine Jugend.

So wiſſe denn, daß ich Waterlao heiße und ein Englaͤnder bin. Ich bin mit Deinem Freunde Burton nahe verwandt, denn ich bin der Oheim ſeines Vaters, Du kennſt durch Deinen Vater vielleicht ſchon meinen Namen, ja Du mußt ſogar oft mein Gemaͤhlde geſehn haben, welches in einem von euern Zimmern haͤngt.

Ich401

Ich habe ſchon ſeit lange darauf gedacht, meine Geſchichte kurz niederzuſchreiben, nur habe ich noch nie eine gelegene Zeit dazu finden koͤnnen: jetzt, da ich nichts zu thun habe, da alle meine Bekannten mich verlaſſen, will ich mir die Vergangenheit zuruͤckrufen, um mit ihr und mit mir ſelber zu taͤndeln, ſo wie ich bis - her mit den Menſchen ſpielte.

Mein Vater war ein rauher und ſtrenger Mann, ich war ſein einziges Kind. Er hatte ſein Vermoͤgen in den buͤrgerlichen Kriegen ver - loren, er lebte daher auf dem Lande aͤußerſt ſparſam und eingezogen, die Eitelkeit und die Pracht der Welt kannte ich nur vom Hoͤrenſa - gen. In einem einſamen Thale wuchs ich auf, und faſt immer mir ſelbſt uͤberlaſſen, entwickel - ten ſich in meiner Seele wunderbare Traͤume, die ich fuͤr die Wirklichkeit anſah. Froͤmmig - keit erfuͤllte mein Herz, ich war in einem be - ſtaͤndigen andaͤchtigen Taumel, es verging alles vor meinen Sinnen und Gedanken, wenn ich mir Gott und die Unſterblichkeit vorzuſtellen ſuchte. Heilige Stimmen liefen oft durch den Wald, wenn ich allein dort lag, alle Wipfel vereinigten ſich dann zu einem leiſe brauſendenLovell. 3r. Bd. C c402Chor, und der Geſang der Voͤgel erſchallte munter dazwiſchen, wie ein Wettgeſang der weltlichen Freuden mit dem Seegen des Him - mels. Ich ſchlummerte oft ein und faßte dann die groͤßten und froͤmmſten Entſchließungen; dann hob ich meine Haͤnde kindlich zum Him - mel empor, und alle Gefuͤhle zerrannen in mei - nem Herzen und vereinigten ſich in einen Punkt. Thraͤnen ſtuͤrzten dann aus meinen Au - gen und endigten ſo meinen hohen Taumel. Ich hatte von der großen Liebe Gottes zu den Menſchen gehoͤrt, und dies Gefuͤhl hielt ich fuͤr dieſe Liebe, denn es war, als wenn mein Herz ein magnetiſcher Mittelpunkt waͤre, der vom Himmel unwiderſtehlich angezogen wuͤrde und den die koͤrperliche Huͤlle kaum noch auf der Erde zuruͤckhielte. Mein Vater war ſelbſt im Alter fromm geworden, und ſeine Geſpraͤche dienten ſehr dazu, meine Phantaſie noch mehr zu erhitzen.

Enthuſiasmus.

Ich hielt mich in meinem Sinne, wenn ich die Geſchichte, oder andre Buͤcher uͤber Men -403 ſchen las, fuͤr einen ganz vorzuͤglichen Geiſt. Ich traute keiner andern Bruſt die Empfindun - gen zu, die wie eine ſanftwechſelnde Muſik in meinem Herzen auf und niederſtiegen. Dieſe Vorſtellungen hoben mich uͤber die ganze Natur hinaus, ich vergaß alle Duͤrftigkeiten des Le - bens und war nur in reinen Strahlen ein - heimiſch.

Faſt jeden Menſchen beherrſcht in der Zeit, wenn er vom Kinde zum Juͤnglinge uͤbergeht, ein hoher Enthuſiasmus; der iſt gluͤcklich, der ſehr ſchnell den Zirkel aller taͤuſchenden Empfin - dungen durchlaͤuft, um endlich, wenn er die Runde gemacht hat, ſich ſelber anzutreffen. Die hohe Reizbarkeit dient dazu, uns in tau - ſend Thorheiten zu verwickeln, aber auch, uns uͤber dieſe Thorheiten zu belehren; je feinere Sinnlichkeit ein Menſch beſitzt, um ſo eher iſt es ihm moͤglich, recht fruͤh klug zu werden.

Ich moͤchte den jugendlichen Enthuſiasmus, ſo wie manches Andre im Menſchen, nichts als eine Anlage nennen, die ſich zur Geſchicklich - keit ausbilden laͤßt. Es iſt eine Kunſt, die man ſich durch Uebung erwirbt, keine von den Armſeeligkeiten zu erblicken, die uns in derC c 2404ſpaͤtern Zeit oft zuruͤck und auf der Erde feſt - haͤlt, wenn uns eben ein fliegender Taumel er - greifen will: wir ſtellen in der Jugend alles in einen dunkeln Hintergrund, was vor uns hin die ſchoͤne Ausſicht verdecken koͤnnte. Man nimmt ſich nur vor, ein großer Menſch zu werden, ſo lange man die Menſchen und ſich ſelber nicht kennt: es iſt ein Spiel, das uns erhaben vorkoͤmmt, weil wir uns ſo lange zwin - gen, bis wir es ſo finden. Dem kaͤlteren Men - ſchen erſcheint der Enthuſiasmus gerade ſo, wie derjenige, der kein Spiel verſteht, denen zu - ſieht, die ſich mit vieler Aufmerkſamkeit mit einem ſcharfſinnigen Kartenſpiele beſchaͤftigen.

Der Enthuſiaſt meint, die ganze Welt ſey nur darum da, um ſeine Entwuͤrfe darinn aus - zufuͤhren, die Welt ſey nur darum ſo ſonderbar[aus] Uebeln und Vortreflichkeiten zuſammenge - ſetzt, damit er durch die Ueberwindung der Schwierigkeiten ein deſto groͤßeres Verdienſt er - ringe. Er wuͤrde nicht mehr gut ſeyn wollen, wenn es leicht waͤre, gut zu ſeyn, und wenn es alle Menſchen mit ihm zugleich waͤren.

405

Liebe.

Bey den meiſten Menſchen iſt der Enthu - ſiasmus fuͤr das Große und die Tugend nur eine Vorbereitung zur Liebe, es iſt derſelbe Trieb, der ſich nur in die Allgemeinheit ver - liert und Ideen ſucht, weil er keinen Gegen - ſtand vor ſich hat: die Liebe verarbeitet die Menſchen eine Zeitlang und fuͤhrt ſie nachher zur Sinnlichkeit, einem Wege, auf dem ſie verſtaͤndiger, aber auch weit groͤßere Thoren als vorher werden koͤnnen. Es iſt der Kreuz - weg, auf dem die Meiſten ſich in verwickelten Irrgaͤngen verlieren und umzukehren glauben, wenn ſie immer tiefer in die Wildniß hinein - rennen.

Mein Vater ſtarb, als ich ſechszehn Jahr alt war, ein tauber Schmerz erdruͤckte und ver - finſterte meinen Geiſt, ich glaubte alles verlo - ren zu haben; ein Irrthum, den jeder Menſch beym erſten Verluſte begeht, weil er noch nicht in den Wechſel des Lebens eingelernt iſt. Ich trieb mich lange in der Einſamkeit herum, um meinem Schmerze nachzuhaͤngen und aus ihm nach der erſten Betaͤubung eine Art von Kunſt -406 werk zu bilden, in welchem ich mir wieder ge - fiel. Ich zog nach und nach meine vorigen Ideen in meinen jetzigen Zuſtand hinein, und ſo war es, als wenn ſich ein ſanfter Mond - ſchimmer uͤber mir bildete, in deſſen melancho - liſcher Daͤmmerung ich gerne wandelte.

Ich lernte eine Familie in der Nachbar - ſchaft kennen, oder vielmehr, ich beſuchte ſie nur fleißig, weil mein Vormund mich dort ein - gefuͤhrt hatte. Antonie, die einzige Tochter des Hauſes, lenkte nach kurzer Zeit alle meine Auf - merkſamkeit auf ſich; die Daͤmmerung um mich her ward immer traulicher, und ich hatte am Ende meinen Schmerz vergeſſen, indem ich immer noch ſehr ungluͤcklich zu ſeyn glaubte.

Mein ganzes Leben bekam einen neuen Schwung und es ward mir auf eine andere Art lieb. Alle meine großen Entwuͤrfe fielen zuſam - men, meine große heroiſche Biographie kroch in einen Seufzer ein, ein einziger holdſeeliger Blick erfuͤllte alle meine Wuͤnſche.

In dieſer Zeit iſt man von allen Frauen - zimmern gern geſehn, weil man ſie verehrt und fuͤr goͤttliche Weſen haͤlt; ſie ſind immer in der Geſellſchaft eines jungen unerfahrnen Men -407 ſchen gluͤcklich und unbefangen; je bloͤder, je verlegener er ſich nimmt, je lieber iſt er ihnen, wenn ſie ihn oͤffentlich auch noch ſo ſehr ver - ſpotten. Als ich in mehreren Familien bekannt ward, war ich bey allen Frauenzimmern eine ordentliche Modewaare; alle bildeten ſich ein, daß ſie mich erziehn wollten, um mich zu einem ganz vorzuͤglichen Menſchen zu machen, jede entdeckte in mir Talente, die ſich unter ihrem hohen Schutze gewiß vortreflich in mir entwi - ckeln wuͤrden. Es ward nun an mir ſo fein erzogen, daß ich es ſogar in meiner damaligen Verſtandesbloͤdigkeit bemerkte, man wandte alles an, um mich eitel und verkehrt zu machen, meine Erzieher arbeiteten recht muͤhſam dahin, daß ich ſie verachten mußte, weil ſie eine noch hoͤhere Verehrung von mir erzwingen wollten.

Antonie war das einzige Maͤdchen, das ſich nicht um mich zu kuͤmmern ſchien. Ich hoͤrte ſo oft mit Verachtung von ihr ſprechen, daß ich mir ſelbſt am Ende einbildete, ſie waͤre mir veraͤcht - lich; man ſagte von ihr, daß ſie keinen Ver - ſtand beſitze, und es ſchien auch ſo, denn ſie408 ſprach nur ſelten und ſehr furchtſam mit, wenn die uͤbrigen ihre feinen Ideen auf eine glaͤn - zende Art entwickelten. Wenn ich allein bey ihr war, fuͤhlte ich mich aber auf eine unbe - greifliche Art zu ihr hingezogen, im einfaͤltigen, faſt kindiſchen Geſpraͤche wurde mir dann der Verſtand aller uͤbrigen weit zuruͤckgeruͤckt, ſie intereſſirten mich dann nicht, ich konnte ſie ſelbſt in der Erinnerung nicht achten. Ich wunderte mich oft uͤber dieſe ſeltſamen Wider - ſpruͤche, ich uͤberlegte oft in der Einſamkeit, wodurch ich ſo wunderbar geſtimmt werden koͤnne, daß ich immer die entgegengeſetzte Seite faͤnde und ſie jedesmal fuͤr die wahre hielte. In kurzer Zeit ward dieſer Widerſpruch in mir gehoben, denn ich gab mich gegen meine Ueber - zeugung Antonien ganz hin, die Geſellſchaft aller uͤbrigen Menſchen war mir ſchaal und er - muͤdend, ich lebte nur fuͤr ſie, ich dachte nur ſie, ich traͤumte nur von ihr. Selbſt jetzt in der Erinnerung koͤnnt 'ich mir, ein achtzig - jaͤhriger Greis, jene ſchoͤne Zeit zuruͤckwuͤnſchen.

Vielleicht haben nur wenige Menſchen ſo geliebt, wie ich, denn noch in keinem Dichter habe ich meine damaligen Empfindungen ganz409 wiedergefunden. Es ſind nur Stuͤckwerke, jaͤm - merliche Fragmente, wenn ich andre Menſchen davon reden hoͤre, ihre Phantaſie hat es nicht gewagt, ſich ganz in den reinen Aetherſtrom der Liebe unterzutauchen, ſie haben immer noch aͤngſtlich zur duͤrren Erde zuruͤckgeblickt, als ſie ſich von den allmaͤchtigen Fittigen aufwaͤrts ge - tragen fuͤhlten. Meinem Ohre gab die ganze Natur jetzt nur einen einzigen Ton an, es war als wenn die Poeſie mit himmelbreiten Fluͤgeln uͤber die Welt hinrauſchte, und Sonne, Mond und Sterne anruͤhrte, daß ſie toͤnten: alles Volk ſtand unten und ſtaunte aufwaͤrts, vom neuen Glanz, von der nie gehoͤrten Har - monie betaͤubt und verzaubert.

Ohne daß ich oft vernahm, was ſie ſagte, konnte mich der bloße Ton ihrer Stimme in Entzuͤcken verſetzen, alle meine Gedanken ſchlie - fen gleichſam in Blumen und in ſuͤßen Toͤnen, meine Seele ruhte in der ihrigen aus, und in einem Elemente, das fuͤr den Menſchen zu fein iſt, ſchwamm und ſpielte ich umher.

Meine uͤbrigen Freundinnen ſahen nun mit Hohngelaͤchter auf mich hinab, ſie gaben mich verloren und meinten, ich werde nun eben ſo410 einfaͤltig bleiben, als es meine Geliebte ſey. Ich verſtand Antoniens himmliſche Unſchuld, die ihren eigenen Werth nicht kannte, die ſo - gar erroͤthete, wenn man ſie nur fuͤr gut hielt.

Ich wuͤnſchte tauſendmal, fuͤr Antonien ſterben zu koͤnnen, fuͤr ſie irgend ein Verdienſt zu erringen. Ich wuͤnſchte ſie arm und in Un - gluͤck, um ſie zu retten, in Todesgefahr, ich flehte, daß wenn ſie mich nicht lieben koͤnne, ſo wie ich ſie liebte, der Himmel ſie moͤchte ſterben laſſen, damit ich dann Ruhe haͤtte, da - mit ich auf ihrem Grabhuͤgel ſo lange weinen koͤnnte, bis ich ihr nachſtuͤrbe. Der Menſch kann nie in irgend etwas groß ſeyn, ohne zu - gleich ein Thor zu ſeyn.

Ich bemerkte nur zu bald, daß ſie mich nicht liebte; ſie war zwar immer freundlich ge - gen mich und mehr, wie gegen manchen an - dern, allein ſie war mit mir nie in Verlegen - heit: ſie errieth mich und doch kam ſie mir nicht entgegen, in jedem Worte, das ſie ſprach, fuͤhlte ich es innig, daß ſie mich nicht liebe. Alle meine Empfindungen peinigten mich mit Folterſchmerzen, ich wußte nicht, was ich411 wollte, ich begriff nicht, was ich dachte, alles war im Widerſpruche mit ſich ſelber, die Na - tur umher ward wieder ſtumm, die duͤrre Wirk - lichkeit kroch wieder langſam und traͤge aus ihrem Winkel hervor, in den ſie ſich verſteckt hatte: es war, als wuͤrde das Inſtrument mit allen ſeinen klingenden Saiten in tauſend Stuͤcke geſchlagen.

In einer recht vertraulichen Stunde ge - ſtand ſie mir nun ſelbſt, daß ſie mich nicht lie - ben koͤnne, weil ſie ſchon an einen reichen jun - gen Menſchen verſprochen ſey, dem ſie ihr gan - zes Herz hingegeben habe.

Alles in mir loͤſte ſich auf. Ein tauber Schmerz ſaß in meinem Herzen und dehnte ſich immer weiter und weiter aus, als wenn er das Herz und die Bruſt zerſprengen wollte, und doch kam ich mir zugleich albern und abge - ſchmackt vor. Ich verachtete meine Thraͤnen und Seufzer, ich hielt alles in mir fuͤr Affek - tation, alle lebendige Poeſie flog weit von mir weg, alle Empfindungen zogen voruͤber wie et - was Fremdes, das mir nicht zugehoͤrte.

Der Liebhaber kam, um ſie abzuholen. Sie reiſte ab, und dachte nicht daran, in wel -412 cher Einſamkeit ſie mich zuruͤckließ: ich hatte ihr noch ſelber alles zur Reiſe einpacken helfen. Die Zimmer waren ausgeleert, und in der Mitternachtſtunde ging ich dem oͤden Hauſe voruͤber, und hoͤrte nur noch drinnen eine Wanduhr, die ewig und langweilig ihre wie - derkehrenden Schwingungen abmaß. Es war mir, als hoͤrte ich den Takt, der kalt und em - pfindungslos das menſchliche Leben abmißt: ich ahndete im voraus den Gang der Zeit und alle die truͤben Veraͤnderungen, die ſich traͤge in der Einfoͤrmigkeit abloͤſen und gaͤhnend wie - derkehren.

Melancholie.

Es iſt, als wenn die Liebe wie ein Fruͤh - lingsſchein im Anfange unſers Lebens hingelegt waͤre, damit wir dieſe ſchoͤne Empfindung in uns recht lange naͤhren und fortſetzen, damit uns der ſchoͤnſte Genuß der Seele durch unſer ganzes Leben begleite, und durch die bloße Er - innerung uns dies Leben theuer mache. We - nige nur wagen es, nachdem ſie durch dies goldene Thor gegangen ſind, das Leben und413 ſeine Freuden zu verachten, ſie kommen ſich dadurch ſelbſt als etwas Großes und Erhabenes vor, und dies iſt die eigentliche Grundlage von dem, was die Menſchen gut nennen. Be - gruͤßte uns nicht die Liebe am Eingange des Lebens, ſo wuͤrden ſich alle Menſchen ohne Muͤhe von ihren Vorurtheilen losmachen koͤn - nen, keiner wuͤrde ſich um die Tugend kuͤm - mern und keiner uͤber den Verluſt ſeiner jugend - lichen Gefuͤhle Reue empfinden. Aber ſo wird uns ein Talisman mitgegeben, der uns be - herrſcht, ohne daß wir es wiſſen.

Ich fuͤhlte mich jetzt von der ganzen Welt losgeriſſen, ohne allen Zuſammenhang mit ir - gend etwas, das in ihr war. Oft lag ich ganze Tage hindurch im Walde und weinte, mit unſichtbaren Weſen fuͤhrte ich Geſpraͤche und klagte ihnen mein Leid. Oft war es, als wenn die Natur und die rauſchenden Baͤume meinem Herzen ploͤtzlich naͤher ruͤckten, und ich ſtreckte dann meine Arme aus, um ſie mit einer unnennbaren Liebe zu umfangen, aber dann fiel es wieder vor meine Seele nieder, ich war in meinem Schmerze mit mir ſelber nicht befreun - det, und alles uͤbrige erſchien mir kalt und441[414] ohne Intereſſe. Menſchen, die dann in der Ferne voruͤbergingen, beneidete ich, indem ich ſie verachtete: ein verworrenes Gewuͤhl von tauſend Geſtalten lag druͤckend in meiner Phan - taſie; keine konnte ſich losarbeiten, um als ein einzelnes, anſchauliches Bild dazuſtehn. Dies ſind die Empfindungen eines jungen unentwickel - ten Menſchen, der nach etwas greift, das er ſelbſt nicht kennt.

Das hohe Ideal der Tugend und der Vor - treflichkeit des Menſchen kam jetzt in meine Seele zuruͤck. Ich nahm mir vor, alle meine Gefuͤhle in dieſer Vorſtellung zu verbinden, ich ſah jetzt meine ungluͤckliche Liebe als ein Opfer an, das ich der Tugend und der Nothwendig - keit gebracht hatte. Ich fand in vielen Stun - den Troſt in dieſem Gedanken, und ich nahm mir von neuem vor, ein recht edler und voll - endeter Menſch zu werden, alle die gewoͤhnli - chen Armſeeligkeiten wegzuwerfen und mich ganz der hohen Vorſtellung zu weihen, die mein Herz erweiterte. Dieſer Vorſatz iſt es eigent - lich nur, der den Menſchen ſo oft uͤber dieſe Welt hinuͤberhebt, denn in der langſamen und weitſchweifigen Ausuͤbung geht bald aller En -415 thuſiasmus verloren. Mir ging es aber bey weitem uͤbler. Die Menſchen witterten etwas von meinen Ideen, die ſie Schwaͤrmerey nann - ten, um mich zu beſſern, verfolgten ſie mich nun mit falſchem Witze, mit Sticheleyen auf die gemeinſte Weiſe. Alles, was ich that und ſagte, war ihnen nicht recht und zu jugendlich; ſie ließen mir nicht die Zeit, ſelbſt Erfahrun - gen zu machen, um meine Thorheiten einzu - ſehn, ſondern ich ſollte in einem Treibhauſe kluͤger werden.

Es iſt gewiß leicht, ein großer Menſch zu werden und zu bleiben, wenn ſich uns ſogleich große Ungluͤcksfaͤlle in den Weg werfen, die die Bahn zu verſperren drohen. Dann nimmt ein ſolcher Mann alle ſeine Kraͤfte zuſammen, um keinen Schritt zuruͤck zu thun. Gefaͤngniß und Ketten, Todesgefahr und allgemeiner Haß ſind nur Mittel, die ſeine Seele ſtaͤrken und verhaͤrten, er lebt in einem unaufhoͤrlichen Kampfe gegen die wilden Maſſen, die ihn um - geben, und dieſer Kampf erhaͤlt ihn munter und lebendig. Eigenſinn wird endlich ſeine Haupttugend werden, an dem ſich ſeine uͤbrigen Tugenden nur lehnen, er wird ſich ſelbſt ver -416 achten, wenn er fuͤhlt, daß er innerlich nach - zugeben im Begriff iſt, und auf die Art wird die Spannung ſeiner Seele niemals nachlaſſen. Das Bild eines ſolchen Mannes iſt groß, wenn man will, aber noch groͤßer waͤre der, der ſei - nen Vorſatz durchfuͤhrt, wenn er gleich nicht bemerkt wird, dem nichts Großes entgegengeht, ſondern der in einer ſchaalen Unbedeutenheit lebt und von allen verachtet wird; vor dem der eine Tag ſo wie der andere voruͤbergeht, und um den ſich die Zeit und das Ungluͤck gar nicht zu kuͤmmern ſcheint. Ein ſolcher Menſch wird ſeinen Werth bald aufgeben, alles wird ihm nur ein Hirngeſpinnſt ſcheinen, und er wird entweder zu den ganz gewoͤhnlichen Men - ſchen hinabſinken, oder ſich an dieſen zu raͤchen ſuchen.

Wie oft ward mein guter Wille verkannt und das beſte in mir verhoͤhnt: wem ich mit meiner Freundſchaft entgegen ging, der wies mich kalt zuruͤck, meine jugendliche Empfindung nannte man ſich gemein machen. Alle Menſchen waren kluͤger, verſtaͤndiger und beſſer, als ich, und ich glaubte es am Ende ſelbſt; ich verachtete mich jetzt ohne Grund, ſo wieich417ich mich vorher ohne alle Urſache verehrt hatte; ich hielt es am Ende nicht der Muͤhe werth, an mich ſelbſt zu denken, es war mir laͤcherlich, daß ich mich verbeſſern wollte, die Welt und ich ſelber ward mir gleichguͤltig, und ſo ſchlief ich von einem Tage zum andern hinuͤber, ohne Wuͤnſche und ohne Reue, in mir ſelber ausge - ſtorben und ohne Lebenskraft, neue Bluͤthen zu treiben.

Denn Bluͤthen ſind gewoͤhnlich nur das, was wir ſchon Fruͤchte nennen, und die Fruͤchte ſelbſt ſind fuͤr uns nur deswegen ein Bild der Vollendung, weil ſie unſern Beduͤrfniſſen zu ſtatten kommen: in ihnen liegt der Stamm, der in der Zukunft wieder Bluͤthen und Fruͤchte bringen wuͤrde.

Ploͤtzlich erwachten in mir ganz alte und vergeſſene Traͤume. Bilder von Laͤndern, Land - karten, die ich in meiner Kindheit betrachtet hatte, gingen meiner Phantaſie voruͤber, ich hoͤrte entfernte Stroͤme rauſchen und ſah einen fremden Himmel uͤber mir. Eine unbeſchreib - liche Luſt, die Menſchen und die wohlbekann - ten Gegenden zu verlaſſen, ergriff mich, ich ahndete ſoviel Neues, und in dem Neuen ſo -Lovell. 3r Bd. D d418viel Mannigfaltigkeit, daß ich ploͤtzlich mein Vermoͤgen zuſammenraffte, und in der groͤßten Eile England verließ.

Sinnlichkeit.

Es war alles nicht ſo, wie ich es mir ge - dacht hatte. Ich traf allenthalben dieſelben Menſchen wieder an, eben das flache, abgegrif - fene Gepraͤge, das mich in meiner Heimath innerlich ſo oft empoͤrt hatte. Ich glaubte endlich, es ſey Narrheit, anders ſeyn zu wollen, ich zwang mich in dieſe Form hinein, und nun war ich ihnen lieb.

Schon vorher hatte ich von einigen ſoge[-]nannten Vertrauten gehoͤrt, daß in meinem Geſichte etwas liege, das die Menſchen im Anfange von mir zuruͤckſtieße; eine verborgene Widrigkeit, die man nicht genau zu beſchreiben wiſſe, die mich aber bald laͤcherlich, bald wie - der zu einem Gegenſtande der Furcht mache. Nun wußt 'ich doch, warum die Menſchen mich haßten und verfolgten; weil meine Naſe etwas anders ſtand als ſie es wuͤnſchten, fanden ſie mich verwerflich.

419

Ich uͤberließ mich jetzt dem frohern Genuß des Lebens, alle meine dunkeln Empfindungen loͤſten ſich in Sinnlichkeit auf, ich glaubte, das ſey nur ein Weg dahin geweſen, eine Vorberei - tung zu dieſer Vollkommenheit.

Ich verachtete jetzt alles in mir ſelbſt, was mir als groß und erhaben erſchienen war; mir ſelbſt zum Trotz zeichnete ich mir meine Liebe als das Laͤcherlichſte vor, ich machte mich mit den widrigſten Vorſtellungen vertraut, und galt nun bald allenthalben fuͤr einen witzigen Kopf, weil ich im Grunde den Verſtand verloren hatte.

So durchſchwaͤrmte ich ohne Genuß Ita - lien und Frankreich. Man ſah mich allenthal - ben gern, und allenthalben war ich mir ſelbſt zur Laſt: ich bemerkte endlich mit Schrecken, daß mein kleines Vermoͤgen faſt gaͤnzlich verlo - ren ſey, ich war meinem Vaterlande ganz fremd geworden, weil ich ohngefaͤhr ſechszehn Jahre entfernt geweſen war; ein Zeitraum, der mich jetzt außerordentlich kurz duͤnkte. Mit dem Gelde, das mir uͤbrig blieb, beſchloß ich nun nach England zuruͤckzukehren, weil mir indeß das Alte etwas Neues geworden war. D d 2420Ich betrat das Engliſche Ufer, um hier neue Erfahrungen zu machen.

Klugheit.

Ich kam mit der feſten Ueberzeugung zu - ruͤck, die Menſchen zu kennen. Ich hatte im Laufe meines wilden Lebens nicht unterlaſſen, ſie zu beobachten, aber ich war mir dieſer Be - obachtungen viel zu ſehr bewußt, als daß ſie haͤtten richtig ſeyn koͤnnen. Es iſt ſchwer, die Menſchen in der Gegenwart zu kennen, weit richtiger beurtheilt man ſie in der Entfernung, wenn wir nach und nach die wahrgenommenen Merkmale ſammeln. Ueber meine Freunde in Italien fing ich daher an, ganz richtig zu den - ken, und doch brachten mich die Menſchen, die ich in England traf, von neuem in Verwirrung: ich ſuchte mich in jede Geſtalt, die mir auf - ſtieß, hineinzuſtudiren, und daruͤber geſchah es denn unvermerkt, daß ich ſelbſt manches von dem Menſchen annahm, den ich mir nur ver - ſtaͤndlich machen wollte; es iſt dieſelbe Erfah - rung, die jeder Ueberſetzer macht, der waͤhrend der Arbeit ſein Original zu hoch anſchlaͤgt.

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Meine ehemalige Geliebte traf ich als eine zaͤnkiſche, eigenſinnige Hausfrau wieder, ſelbſt in ihrer Geſtalt waren nur wenige Spuren ihrer ſonſtigen Liebenswuͤrdigkeit zuruͤckgeblieben. Wir gingen mit einander um, wie alle uͤbrigen Menſchen mit einander ſprechen, und alle meine jugendlichen Empfindungen fuͤr ſie erſchienen mir ſchaal und abgeſtanden, alle Feſttage waren fuͤr mich im menſchlichen Leben ausgeſtrichen, und mein Blick verlor ſich in der unabſehlichen Folge der alltaͤglichen Stunden und Vorfaͤlle, von keinem Gefuͤhle aufgeputzt, von keiner Schwaͤrmerey beglaͤnzt. Wie albern erſchien mir jetzt die Erinnerung meines ehemaligen Lebens und meiner jugendlichen Gefuͤhle! Ich trat unter dem Haufen der Menſchen, und be - trachtete jedes Geſicht mit einem kalten Blicke: keiner ging mein Herz naͤher an, als der andre.

Ich erhielt bald in vielen Haͤuſern Zutritt, weil ich, ich weiß nicht durch welchen Zufall, den Namen eines witzigen Kopfes bekommen hatte. Man iſt ſehr oft in der Welt witzig, wenn man auf eine gewiſſe Art einfaͤltig iſt, wenn man jeden Einfall und Gedanken wagt,422 ohne an alle die Ruͤckſichten zu denken, die der kluͤgere Menſch nie aus den Augen verlieren wird. Ich ſprach alles, was mir in den Sinn kam, und machte mich beſonders durch abge - ſchmackte Anekdoten ſehr beliebt; der wahre Witz wird in Geſellſchaften ſelten geachtet und verſtanden, die meiſten Leute haben immer nur die Vorſtaͤdte des Verſtandes und des Witzes kennen gelernt, ſie behalten daher Zeitlebens ihre kleinſtaͤdtiſchen, entfernten Begriffe von dieſen Vortreflichkeiten. Durch den allgemei - nen Beyfall, deſſen ich genoß, ließ ich mich verleiten; immer witziger zu werden, ich fand Behagen an mir ſelbſt, und ſetzte am Ende in meine Armſeeligkeiten einen eben ſo hohen Werth, als es die uͤbrigen Menſchen thaten. Man wird meiſtentheils durch den Umgang ein - faͤltiger und eitler, ſelten kluͤger und beſſer. Ich hatte damals uͤberhaupt gerade ſoviel Ver - ſtand und Erfahrung, um mich ſehr dumm zu betragen, der ganz Einfaͤltige geht einen weit beſſern und ſicherern Weg, als der Menſch, deſſen Klugheit im Wachsthume iſt; die einzig ſchaͤdliche Dummheit iſt jene halbe Klugheit, die ſich allenthalben zurecht finden will, alles423 zu ihrem Vortheile benutzen, das Widerſpen - ſtige auf eine feine Art verbinden und ſo durch einen feinen, unbemerkten Despotismus die ganze Welt regieren. Dieſe Klugheit war eben bey mir gruͤn in die Hoͤhe geſchoſſen, ſo daß ich ſie zwar bemerken, aber noch keine Fruͤchte davon einerndten konnte: dieſe unreife Klugheit kann hoͤchſtens einem Schriftſteller zu Gute kommen, der in ſeinen Buͤchern mit den Men - ſchen machen kann, was er will, ohne daß ſie ſich eben zu ſehr widerſetzen; aber in der wirk - lichen Welt iſt ſie eben der Angelhaken, mit dem dieſe Goldfiſche von kluͤgern Fiſchern ge - fangen werden. Man ſollte daher entweder Zeitlebens einfaͤltig bleiben, oder ſchnell jene gefaͤhrliche Periode der Entwickelung zu uͤber - ſtehen ſuchen.

Damals lernte ich einen jungen Menſchen, Deinen Vater, kennen. Er ſtand noch in der empfindenden Periode, und ich war ihm mit meiner Ausbildung ſo ſehr gewachſen, daß er mich bald fuͤr das Muſter eines Mannes hielt. Er wuͤnſchte nichts ſo ſehr, als meine Freund - ſchaft, und es traf ſich, daß wir in kurzer Zeit recht vertraut mit einander wurden. Er ent -424 deckte mir ſeine Liebe zur Lady Milford, und bat mich um meine Vermittelung, weil ich in dem Hauſe oft war, und viel beym Vater galt. Ich nahm mich ſeiner redlich an, und es kam ſo weit, daß die Verlobung in kurzem gefeyert werden ſollte. Marie Milford war ein trefliches Maͤdchen, die mir mit jedem Tage mehr gefiel, und ohne daß ich ſagen koͤnnte, wie es geſchah, war ich ſelbſt in ſie verliebt, noch ehe ich daran dachte, daß es moͤglich waͤre. Ich dachte jetzt, Lovell von ihr zu entfernen, ich that vieles, ohne genau zu uͤberlegen, was und wie es ſey, und ſo gelang es mir am Ende wirklich, daß ihm der Vater das Haus verbot. Der junge Burton, der Lovells Freund war, ward jetzt heimlich mein Vertrauter, wir errichteten einen ordentlichen Vertrag. So jung dieſer Menſch damals auch war, ſo war er mir dennoch uͤberlegen; ob ich gleich ſein Oheim war, ſo konnte ich es doch nicht unterlaſſen, im Stillen eine große Ach - tung fuͤr ihn zu empfinden. Es zeigte ſich auch in der Folge, daß ich hierinn Recht hatte, ob ich mich gleich im Ganzen in ihm geirrt hatte.

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Marie war ungluͤcklich, und alle meine Bemuͤhungen, ihr Wohlwollen auf mich zu lenken, waren vergebens. Je mehr ſie mir widerſtand, um ſo heftiger wurde meine Be - gierde. Ich glaubte daher, daß dieſe Liebe noch ſtaͤrker ſey, als meine erſte jugendliche zu Antonien. Der Vater ward immer mehr fuͤr mich eingenommen, und er wuͤnſchte nichts ſo ſehnlich, als mich zum Schwiegerſohne zu be - kommen.

Ich hatte Lovell nach und nach und mit einigem Scharfſinne beym Vater verlaͤumdet, ich hatte allen meinen Ausſagen den Anſtrich der Wahrheit zu geben gewußt, aber doch war die ganze Intrigue ohne einen eigentlichen Plan angelegt, ich verließ mich mehr auf den Zufall und auf die Leichtglaͤubigkeit der Menſchen, als auf mich ſelbſt. Ich dachte eigentlich nur ſelten an den Erfolg, ſondern ließ ſich die Ma - ſchine ſelber umtreiben, ſo wie es die meiſten Menſchen machen, die eigentlich mehr ihre Plane ausbeſſern und den uͤblen Folgen derſel - ben aus dem Wege treten, als daß ſie ihre Plane durchſetzen. Dieſe Schlaͤfrigkeit in der Bosheit macht, daß die Menſchen noch ſo426 ziemlich mit einander fertig werden, daß es dem einen nicht ſauer wird, den andern zu uͤberliſten, und daß dieſer ſich wieder nicht ſehr widerſpenſtig erzeigt, uͤberliſtet zu werden.

Die Tochter ſchien mir immer abgeneigter zu werden, und doch war ſie bey Tage und in der Nacht mein einziger Gedanke. Ich gab mein ganzes voriges Leben verloren, und be - ſchloß, durch ihren Beſitz gleichſam von neuem geboren zu werden, mich und mein Gluͤck in jeder Stunde recht bedaͤchtlich zu genießen und mit mir ſelber ernſthafter umzugehen. Es ſchien mir jetzt, als habe ich alle meine Jahre in einem wilden, druͤckenden Rauſche verſchleu - dert, ich erſchrak vor dem Gedanken, leer durch das Leben zu gehn und dann ſo hinzuſterben. Und doch uͤberfiel mich oft die Ueberzeugung, daß es ſo kommen wuͤrde und muͤſſe, denn ich fuͤhlte es in allen Stunden innig, daß ſich Mariens Seele gaͤnzlich von mir zuruͤckneigte, wie eine Blume von dem kalten Schatten. Sie ward in einer Stunde offenherzig und ge - ſtand mir ihr Gefuͤhl, wie alles ſie von mir zuruͤckſtoße, mein Geſicht, mein ganzes Weſen, ein Etwas, das ſie nicht beſchreiben koͤnne,427 das ihr aber voͤllig zuwider und in manchen Stunden ſogar fuͤrchterlich ſey. Jetzt wußte ich, woran ich war, es zog in demſelben Au - genblicke ein grimmiger, ein entſetzlicher Haß durch meine Bruſt, ein Haß gegen die ganze Welt und gegen mich ſelbſt, alle die feinen Nerven der Liebe und des Wohlwollens erſtarr - ten, wie von einem beißenden Froſte getroffen. Alle Bluͤthen meines Geiſtes, alle Selbſtachtung jede Heiligkeit erſtarben in meinem Innern. Aber ich nahm mir nun um ſo feſter vor, ſie unter jeder Bedingung zu beſitzen, ihr und mir zum Trotze; ſie von Lovell loszureißen, war jetzt ſchon meine Gluͤckſeeligkeit.

Der beſtimmte Tag, an dem ich mit ihr verheyrathet werden ſollte, nahte ſich nun wirk - lich; alle Gaͤſte waren da, Muſik ertoͤnte, Ma - rie war traurig und der Vater froh, als Lovell ploͤtzlich hereinſtuͤrzte, der bis dahin in London geweſen war, und nun ſich alles zu meinem Schimpfe entwickelte, indeß ich kaum ein ein - ziges Wort finden konnte.

Alles verließ mich, ich mußte Burton nach meinem Verſprechen einige hundert Pfund ge - ben, die gerade den Reſt meines Vermoͤgens428 ausmachten; er hatte mich wieder meinen Wil - len in ſeiner Gewalt.

Haß.

Ich ſtand einſam da. Ich hatte nur Eine Empfindung in meiner Bruſt, die mein Herz zu zerreißen drohte; ein tiefer, unverſoͤhnlicher, brennender Haß gegen Lovell. Mein ganzes Leben haͤtte ich daran ſetzen moͤgen, um das ſeinige zu verbittern. Ich konnte nicht an ſei - nen Namen denken, ohne vor Wuth zu zittern: mein Innres bewegte ſich auf die gewaltſamſte Weiſe, wenn ich an alle Vorfaͤlle dachte, und ich dann ſein Vorhaben gekroͤnt, ihn gluͤcklich ſah. Ich ſchwur es mir, ihn ewig nicht zu vergeſſen, mich nie im Herzen mit ihm auszu - ſoͤhnen. Mein Leben hatte nun einen Faden gefunden, an dem es ſich hinunterſpinnen konnte.

Ich wußte es zu bewerkſtelligen, daß er Gift bekam, allein er wurde wieder hergeſtellt; eine kleine Genugthuung war es mir, daß Ma - rie im erſten Wochenbette ſtarb, wie ich nach - ber erfuhr, allein die brennende Wunde in429 meiner Bruſt blieb immer offen. Ich verſtand jetzt, was man unter dem Worte Haß begreife, mir war, als wenn mein Leben nun erſt einen Zweck bekommen habe, und daß dieſer in nichts anderm beſtehe, als Lovell unablaͤſſig zu verfol - gen und zu peinigen: mein dunkles ungewiſſes Daſeyn ſchloß ſich hinter mir zu, und eine gewiſſere und ebnere Bahn lag vor mir. Ich empfand, daß dieſer Haß die Hauptempfindung in meinem Leben ſeyn wuͤrde; nach dieſem Mit - telpunkte zog ſich alles. Ich knirſchte mit den Zaͤhnen und verachtete mich ſelbſt, daß ich nichts weiter thun konnte, aber ich ſchwur es dem boͤſen Geiſte in mir, mich zu raͤchen, ſo - bald ſich nur eine Gelegenheit zeigen wuͤrde.

Elend.

Es war jetzt die Zeit gekommen, daß ich die Menſchen wirklich ſollte kennen lernen. Der Menſch iſt nichts, wenn ihm ſeine Nebenge - ſchoͤpfe fremd bleiben, und indem er ſie kennen lernt, verliert er alles, was ihm Werth gab: er iſt ein klaͤgliches und wieder laͤcherliches Raͤthſel.

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Alle Menſchen entfernten ſich nun von mir, ich war von allen Geſellſchaften ausgeſchloſſen, ich ſuchte Huͤlfe oder nur Mitleid, aber ich ward kalt und hoͤniſch zuruͤckgewieſen. Man hatte mich geſucht und an ſich gezogen, und jetzt verachtete mich jeder Dummkopf, ohne daß er ſich einen auch nur halbklugen Grund anzugeben wußte. Ich aͤrgerte mich innig uͤber dieſe Menſchen, die mich vorher ohne alle Ur - ſache geſchaͤtzt hatten, und mich nun ſo ploͤtzlich fallen ließen, und ſich dabey ſo hoch uͤber mir erhaben duͤnkten. Ich war gebrandmarkt, und jedermann vermied mich als einen Angeſteckten, ſie hatten ſonſt einmal etwas von Tugend und Rechtſchaffenheit gehoͤrt, und nun meinten ſie, die Leute koͤnnten wohl gar denken, ſie hielten nicht viel von dieſen hohen Dingen, wenn ſie ſich mit mir abgaͤben. Es waren Menſchen darunter, die nicht ihre einfaͤltigſten Gedanken mit der Sprache von ſich zu geben wußten.

Die weite Welt lag jetzt vor mir, aber ich begriff nicht, wie ich darinn leben wollte. Mein ganzes Vermoͤgen war verloren, ich hatte keine Freunde und keine Ausſichten, keinen Muth, mir ſelber zu vertrauen, um das Ver -431 lorne wieder zu gewinnen. Ich haͤtte in Lon - don eine Zeitlang bleiben koͤnnen, aber ich war es muͤde, Anekdoten zu erzaͤhlen, oder hin und her zu ſchwatzen, und mich abzuquaͤlen, um einen witzigen Einfall zuſammenzubringen. Die Menſchen hatten mir ſelbſt den Muth genom - men, zu ſchmeicheln, um ſo ein kuͤmmerliches Daſeyn durchzuſchleppen.

Und mit Mariens Vermoͤgen haͤtt 'ich ſo gemaͤchlich und ſo bequem leben koͤnnen, ſie haͤtte mich doch vielleicht endlich geliebt, denn es war unmoͤglich, daß der abgeſchmackte, geiſt - loſe Lovell ſie ſo innig wie ich lieben konnte; er allein war die Urſache meines Elendes. So ſprach ich oft mit mir ſelber, und mein Ingrimm ward durch die Menſchen erhoben, auf die ich ſtieß.

Ich reiſte wieder nach Frankreich, und vermied die Geſellſchaft der Menſchen ſoviel als moͤglich. Im Schatten von rauſchenden Waͤldern uͤberlas ich nun oft alle die Erfahrun - gen, die ich in meinem Gedaͤchtniſſe aufbe - wahrt hatte, es thaten ſich viele Lichter da hervor, wo bis jetzt in meiner Seele dickes Dunkel, oder verworrene Daͤmmerung geherrſcht432 hatte. Nichts lehrt uns ſo ſehr die Menſchen verachten, als die Einſamkeit, jede Armſeelig keit dieſes Geſchlechts erſcheint noch aͤrmer, wenn man ſich im einſamen Forſte ihrer erin nert, indem ein Gewitter rabenſchwarze Schat - ten hinunterwirft, und der Donner ungewiß uͤber die zitternden Baumwipfel geht.

Ich ſuchte endlich Huͤlfe bey Menſchen, die ſonſt meine vertrauten Freunde geweſen waren, und denen ich aus ſchlecht angebrachter Gutherzigkeit ſonſt tauſend Dienſte, ſelbſt mit meinem Schaden, geleiſtet hatte. Keiner kannte mich wieder, einige wurden ſogar auf meine Unkoſten witzig, ich ſah jetzt ein, daß Achtung und Freundſchaft nur ſo lange dauern koͤnnen, als jeder der ſogenannten Freunde ohngefaͤhr gleich viel Geld in der Taſche hat; ſie[v]erhalten ſich wie Wageſchaalen, die nur im Gleichge - wichte ſtehn, wenn in jeder von ihnen ein glei - ches Gewicht liegt.

Mitten im volkreichen Paris lebte ich in der groͤßten Einſamkeit, mein letztes Geld war ausgegeben und eine Krankheit uͤberfiel mich. Ich mußte zum Schmaͤhlichſten meine Zuflucht nehmen; auf mein inſtaͤndiges, wiederholtesBitten433Bitten nahm man mich in einem Hospitale auf. Ich kann nicht ſagen, daß man fuͤr mich ſorgte, denn ſelbſt der traͤgſte Gaͤrtner behan - delt die Blumen, die ſchon verwelken wollen, liebreicher und mit mehr Aufmerkſamkeit, als hier die kranken, mit dem Tode ringenden Menſchen gehandhabt wurden. Manche werden dennoch wieder geſund, und zu dieſen gehoͤrte auch ich. Man entließ mich, ein Geiſtlicher gab mir ſogar fromme Wuͤnſche mit, und die Sonne ſchien mir nun wieder auf der freyen Straße entgegen. Ich war noch ſehr ſchwach, abgefallen und bleich, aber dennoch ward Nie - mand zum Mitleiden bewegt. Es giebt gar zu viele Elende! rief man mir von allen Seiten entgegen, weil ſelten ein Menſch ſo gewiſſen, haft iſt, es aufrichtig zu geſtehn, daß er ſich nicht berufen fuͤhle, die Noth des Menſchen zu erleichtern. Ich bettelte gleich dem Ver - worfenſten, aber mein Anzug war noch zu gut, um das fluͤchtige Mitleid gefangen zu nehmen: wer mir einen Sous gab, hielt ſich zugleich fuͤr berufen, mir tauſend Bitterkeiten zu ſagen, die mich noch mehr ſchmerzten, als Hunger und Krankheit, ja manche thaten es gewiß nur,Lovell. 3r Bd. E e434um eine Gelegenheit zu haben, ihre guten Leh - ren an den Mann zu bringen.

Ich ward immer aufgebrachter, und ſah doch ein, daß mein Harm nur laͤcherlich war. Ich ward meines Lebens uͤberdruͤßig, das wie eine Kette um mich lag. Ich ſaß auf dem Pont neuf, und hatte ſchon ſeit Sonnenaufgang das Mitleid der Voruͤbergehenden angefleht. Hunger und Durſt zehrten mich auf, ich erin - nerte mich der Maͤhrchen von wohlthaͤtigen Zauberern und Kobolden, und ſah jedem Vor - uͤbergehenden in's Geſicht, aber alle ſahen zu ſehr den Menſchen aͤhnlich, als daß ich etwas haͤtte hoffen koͤnnen. Die Sonne ging unter, und die rothen Wellen winkten mir, der Fluß ſchien mir ein ſchoͤnes goldenes Bette, in dem ich endlich alle Sorgen und allen Verdruß ver - ſchlafen koͤnne. Immer gingen noch Menſchen voruͤber, und keiner von allen warf mir auch nur die kleinſte Muͤnze zu. Ich beſchloß noch zwoͤlf Voruͤbergehende abzuwarten, und mich dann, wenn mir von dieſen keiner etwas gaͤbe, in den Strom zu ſtuͤrzen.

Da es ſchon ſpaͤt war, gingen die Leute ſchon ſeltner, ich verdoppelte mein Flehn, um435 nicht durch Nachlaͤſſigkeit an meinem Tode Schuld zu ſeyn, aber man hoͤrte nun in der Daͤmmerung noch weniger auf mich. Schon waren elf[Unbarmherzige] voruͤbergegangen, und auch der zwoͤlfte kam und ſah ſich nicht nach meinen Bitten um: ſchon war ich aufgeſtanden, um mich nun koͤpflings uͤber das Gelaͤnder der Bruͤcke in den Strom zu ſtuͤrzen, als ich einen ſingenden Menſchen hoͤrte, der ſich naͤherte. Ich hielt ein, um auch noch mit dieſem einen Verſuch zu machen, von dem ich ſchon im vor - aus uͤberzeugt war, daß er vergeblich ſeyn wuͤrde, denn der Spatziergaͤnger war froh und guter Dinge. Er kam naͤher. Es war ein Betrunkener, der ſich kaum mehr aufrecht zu erhalten[wußte], ſein Bewußtſeyn hatte ihn faſt gaͤnzlich verlaſſen, und er brummte ein unver - ſtaͤndliches Lied zwiſchen den Zaͤhnen hervor. Es kam mir vor wie eine Satyre auf mich ſelbſt und auf die Menſchheit, als ich mit de - muͤthigen Bitten ſein Wohlwollen und ſein chriſtliches Herz in Anſpruch nahm. Er ſtand ſtill, betrachtete mich und lachte dann uͤber mein kuͤmmerliches Ausſehen aus vollem Halſe. Ich haͤtte beynahe mit eingeſtimmt. Mit einemE e 2436widrigen Geſichte griff er jetzt in die Taſche, und zog gaͤhnend eine ſchwere Boͤrſe hervor, er machte ſie auf und gab mir ein Goldſtuͤck: ich dankte und er ging fort. Kaum war er einige Schritte gegangen, als er aus Nachlaͤſ - ſigkeit die Boͤrſe verlor und es nicht bemerkte. So ſchnell ich konnte, lief ich hinzu, und hob ſie auf: er hatte mich nicht geſehen, und ich war ſchon jenſeit der Bruͤcke, als er hinter mir drein keuchte und mich fragte, ob ich ſeine Boͤrſe nicht geſehn habe. Ich verneinte es feſt, und er fing nun an zu ſuchen, er kroch die Bruͤcke auf und ab, und ich mußte ihm helfen, wobey ich denn ſein Ungluͤck ſehr beklagte. Er bog ſich endlich uͤber das Gelaͤnder, ſtieg hin - uͤber, um auch dort nachzuſehn, weil man in der Betrunkenheit ſelbſt gern an den Orten ſucht, wo ſich die Sachen am unwahrſcheinlich - ſten finden, er kam aus dem Gleichgewichte und ſtuͤrzte in das Waſſer. Da ich ihn nicht ſchreyen hoͤrte, ging auch ich ſtillſchweigends fort. Ich weiß nicht, ob man ihn wieder ans Land gezogen hat.

Das Geld machte mich bald wieder an - ſehnlich; außerdem fand ich noch einige bedeu -437 tende Wechſel in der Boͤrſe; ich verließ die Stadt, und ſetzte bey der erſten guͤnſtigen Ge - legenheit die Wechſel in baares Geld um; mit einem nicht unbetraͤchtlichen Vermoͤgen ging ich unter einem erborgten Namen nach Italien.

Verſtand.

Ich kam nun mit dem feſten Vorſatze aus der Schule, beſonnener zu leben. Ich verglich mich mit den uͤbrigen Menſchen, und fand, daß ſie haͤufig, ja meiſtentheils einfaͤltiger waren, als ich, es gereute mich doppelt, daß ich mich ſo von ihnen hatte beherrſchen laſſen. Ich ſah ein, daß wenn ich verſteckter und fei - ner handelte, als ſie, ich ſie alle um deſto eher wuͤrde beherrſchen koͤnnen. Denn ſoviel iſt ge - wiß, daß man die Geſellſchaft entweder verlaſ - ſen muß, oder ſich zum Beherrſcher aufwerfen, oder ſich beherrſchen laſſen. Es iſt traurig ge - nug, daß dies die Definition vom Worte Um - gang iſt.

Ich hatte es an allen Menſchen mit ſo vielem Unwillen bemerkt, daß ſie ſich zuweilen recht kluge Regeln aus ihren Lebenserfahrungen438 abſtrahirt hatten, daß dieſe ihnen aber immer nur dazu dienten, in Geſellſchaften angenehm und ſinnreich zu ſprechen; ſie dachten alle nur, um uͤber ihr Denken zu reden, nicht aber um ihre Reſultate in Ausuͤbung zu bringen. Da - her koͤmmt es dann auch, daß ſie im Denken, ſo wie in einem Hazardſpiele, wagen, daß ſie oft ohne alle Ueberzeugung uͤberzeugt thun, damit ſie nur Gelegenheit finden, ſcharfſinnig zu ſeyn. Dieſe klaͤglichſte von allen Schwaͤchen hatte ich ſchon ſeit lange verachtet; ich nahm mir vor, jeden Gedanken uͤber die Welt und den Menſchen recht genau zu nehmen, ihn treu aufzubewahren, damit er mir nuͤtzen koͤnne. So legte ich es freylich wenig darauf an, uͤber Menſchen gut zu ſprechen, aber deſto mehr, ſie von ihrer wahren Seite zu begreifen.

Jeder Menſch ſucht aus ſeinem Leben et - was recht Bedeutendes zu machen, und jeder glaubt, er ſey der Mittelpunkt des großen Zir - kels. Keiner lebt im Allgemeinen, keiner kuͤm - mert ſich um das große Intereſſe des Ganzen, ſondern jeder weiß in dieſem unendlichen Stuͤcke nur ſeine kleine armſelige Rolle auswendig, die oft nur ſo wenig zum Ganzen beytraͤgt. 439Man kann ſich daher nicht beſſer gegen die veraͤchtlichſten Schwaͤchen der Menſchen, gegen blinde Eitelkeit und kurzſichtigen Stol; waff - nen, als wenn man ſich das bunte Leben im - mer unter dem Bilde eines Schauſpiels vor - ſtellt; es iſt ein wirkliches Drama, weil jeder - mann es dazu zu machen ſtrebt, denn keiner kommt auf den Gedanken, ſo in den Tag, oder in's Blaue hineinzuleben, wie man zu ſagen pflegt, ſondern ſelbſt zum kuͤrzeſten Auf - tritte buͤrſtet ein unbemerkter Bediente ſeinen Hut ab, und will durch die Treſſen auf dem Rocke blenden. Nie muß man ſich ganz an einzelne Menſchen verlieren, ſondern immer daran denken, daß dieſe von andern wieder anders betrachtet werden, als wir ſie betrach - ten; denn ſobald jemand Einfluß auf uns hat, ſo iſt unſer Blick auch ſchon beſtochen.

Vorſaͤtze.

Wie jedermann Vorſaͤtze faßt, waͤr 'es auch nur am Geburts - oder Neujahrstage, ſo faßte ich auch die meinigen. Wer nicht konſe - quent handeln kann, ſollte lieber gleich unbe -440 ſehen alle Handlungen aufgeben, weil er ſich ſonſt beſtaͤndig ſelber etwas in den Weg legen wird, und zwar eben durch den Verſuch, ſich manches aus dem Wege zu raͤumen. Ich hatte nun einmal eine gewiſſe Art zu leben und zu denken angenommen, und ich mußte ſo fort - fahren, oder von neuem in's Hospital oder Narrenhaus geſchickt werden. Ich uͤberlegte aber, was man mir entgegenſetzen koͤnne, und fand es alles abgeſchmackt. Daß die Welt nicht beſtehen koͤnne, wenn alle Menſchen ſo daͤchten und handelten, dieſer Gedanke iſt es ja eben, der einzelne Koͤpfe aufrufen muß, von der ge - woͤhnlichen Art abzuweichen, weil ſie durch die Gewoͤhnlichkeit der andern Menſchen im Stande ſind, ihr falſches Geld fuͤr aͤchtes auszugeben. Sie ſind in dem wilden Kampfe des menſchli - chen Lebens die Heerfuͤhrer, die es wiſſen, wovon die Rede iſt, die uͤbrigen ſind ihre Un - tergebenen, und die aͤcht Tugendhaften die ewige ſchoͤne Urſache, daß dieſer Krieg nie zu Ende koͤmmt, ſie gießen die Kugeln und thei - len ſie gratis beyden Partheyen aus. Der wichtigſte Einwurf iſt nun, daß etwas in uns wohne, das in uns ſchlaͤgt und zittert, wenn441 wir von dem Wege abweichen, von dem man ſagt, daß ihn die Natur vorgezeichnet habe. Aber eben von dieſem unſichtbaren Dinge, oder ſogenanntem Gewiſſen konnt' ich mich nie uͤberzeugen. Es giebt mehrere dergleichen fabel - hafte Traditionen beym Menſchengeſchlechte, wodurch der groͤßte Theil deſſelben wirklich in einer gewiſſen Furcht gehalten wird, die man - chen in muͤßigen Stunden, wenn er nicht zu ſehr gedraͤngt und getrieben wird, tugendhaft machen; es ſind die philoſophiſchen Nebenſtun - den, auf Schreibpapier gedruckt und mit Vignetten verziert. Ich beſchloß, es mit die - ſer unſichtbaren Gewalt aufzunehmen, und ihr nicht minder, als dem gewoͤhnlichen Gerede, das man unter dem Namen Grundſaͤtze ſo oft ableſen hoͤrt, Trotz zu bieten, und bis jetzt habe ich keinen Anſtoß, keinen innern Ruf be - merkt, ob ich gleich jeden Fehler, der mir im Wege lag, mitnahm: es ſind mannigfaltige Suͤnden von mir begangen worden, aber bis jetzt bin ich immer noch ruhig geblieben. So hatte ſich nach und nach das Ideal eines Menſchen veraͤndert, das ich mit ungeuͤbtem Finger in der Kindheit entworfen hatte. Ich442 habe oft jene bekannten tugendhaften Buͤcher geleſen, um mir die Sache recht nahe zu brin - gen, aber weder Poeſie noch Proſa haben in mir etwas angeſchlagen, ob ich mir gleich jene armſeeligen gequaͤlten Menſchen ziemlich deut - lich vorſtellen kann.

Doch ich werde wirklich zu weitlaͤuftig, und Du verſtehſt mich am Ende doch nicht ganz; ich will daher hier mehrere Jahre uͤbergehen, um mich dem Schluſſe meiner Erzaͤhlung zu naͤhern.

Geheime Geſellſchaft.

Als ich etwas aͤlter geworden war, fand ich mich damit nicht beruhigt, daß mich die Menſchen nicht betruͤgen konnten. Jeder Menſch hat irgend ein Spielwerk, ein Steckenpferd, dem er ſich mit ganzer Seele hingiebt, und da jetzt bey mir der Trieb zur Thaͤtigkeit erwachte, ſo wuͤnſchte ich mir auch irgend etwas einzu - richten, worinn ich mit Vergnuͤgen arbeiten koͤnnte. Ich hatte von je einen großen Hang zu Seltſamkeiten in mir verſpuͤrt, und ſo war es auch jetzt die Idee eines geheimen Ordens,443 die mich vorzuͤglich anlockte. Man hatte mir ſo viel davon erzaͤhlt, ich hatte ſo oft behaupten hoͤren, daß es ein außerordentlicher Mann ſeyn muͤſſe, der an der Spitze einer ſolchen Geſell - ſchaft ſtehe, daß ich den Wunſch gar nicht un - terdruͤcken konnte, mich ſelbſt zu einem aͤhnli - chen Oberhaupte aufzuwerfen. Die Menſchen erſchienen mir in einem ſo veraͤchtlichen Lichte, daß ich es fuͤr die leichteſte Sache von der Welt hielt, ſie zu beherrſchen, kurz, ich nahm mir vor, den Verſuch anzuſtellen, moͤgte er gleich ausfallen, wie er wollte.

Ich hielt mich in Rom auf, und man hielt mich fuͤr einen eingebornen Italiaͤner. Mein ſeltſames, eingezogenes Weſen hatte ſchon die Aufmerkſamkeit mancher Leute auf ſich gerich - tet, man konnte aus mir nicht recht klug wer - den, und es geſchah daher ſehr bald, daß ich fuͤr einen intereſſanten, ja fuͤr einen aͤußerſt intereſſanten Menſchen ausgeſchrien wurde, im Grunde nur, weil man nicht ausfindig machen konnte, in welcher Gegend ich geboren war und wovon ich lebte. Ich ward nach und nach mit manchen juͤngern und aͤltern Leuten bekannter, und es ward mir nicht ſchwer, ſie um mich zu444 verſammeln. Ich ſah jetzt erſt ein, wie leicht man die Menſchen in einer gewiſſen Ehrfurcht erhalten koͤnne, alles was ſie nicht recht ver - ſtehen, halten ſie fuͤr etwas ganz außerordent - liches, eben deswegen, weil ſelbſt ſie es nicht begreifen koͤnnen.

Ich ließ nur einige, die ich fuͤr die kluͤ - geren hielt, mit mir vertrauter werden, die uͤbrigen blieben ſtets in einer demuͤthigen Ab - haͤngigkeit. Unſere Geſellſchaft breitete ſich bald in mehrern Staͤdten aus, und bekam ent - fernte Mitglieder, und jetzt war es die Zeit, etwas durchzuſetzen, denn ſonſt waͤre ſie immer nur ein albernes Poſſenſpiel geblieben. Es war mein Zweck, das Vermoͤgen andrer Leute auf ein oder die andre Art in den Schatz der Ge - ſellſchaft zu leiten, und es gluͤckte mir mit manchem. Derjenige, der mehrere Grade be - kommen und viel zum Vortheile der Geſellſchaft gewirkt hatte, konnte dann auf die Theilnahme an dieſer allgemeinen Kaſſe Anſpruͤche machen. So wurden alle mit Hoffnungen hingehalten, und jeder einzelne war zufrieden; nur wenige wußten um den Zweck des Meiſters, und ſelbſt445 dieſe durften nur mehr ahnden, als ſie uͤber - zeugt ſeyn konnten.

Ich fuͤrchtete anfangs, daß kluͤgere Men - ſchen meinem Plane auf den Grund ſehn moͤch - ten, allein dieſe Beſorgniß fand ich in der Folge ſehr ungegruͤndet. Sobald man ſich nur ſelbſt fuͤr geſcheidter haͤlt, als die uͤbrigen Menſchen, finden es dieſe auch ſelbſt ſo. Man muß ſich nur nicht hingeben, ſondern ſich recht koſtbar machen, nie ganz vertraut werden, ſon - dern immer noch mit tauſend Gedanken zuruͤck - zuhalten ſcheinen, ſo geraͤth jeder Beobachter in eine gewiſſe Verwirrung, ſein Urtheil iſt wenigſtens nicht ſicher, und damit iſt ſchon alles gewonnen. Jeder wird ſuchen, einem ſolchen wunderbaren Menſchen naͤher zu kom - men, und um ihn zu ſtudiren wird man es unterlaſſen, ihn zu beobachten: ſelbſt der ſcharf - ſinnigſte Kopf wird beſorgt ſeyn, daß jener ſchon alle ſeine Ideen habe, und jede Wider - legung bey ihm in Bereitſchaft ſtehe. Alle werden auf die Art die Eigenſchaften zu beſiz - zen ſtreben, die ſie jenem zutrauen, und ſo werden ſie am Ende ſelbſt die Faͤhigkeit verlie - ren, eine vernuͤnftige Beobachtung anzuſtellen. 446 Den meiſten Menſchen thut es ordentlich wohl, wenn man ihnen imponirt, und ſie kom - men ſelbſt auf demſelben Wege entgegen. Es waren auch gar nicht die ſcharfſinnigen Koͤpfe, die mir auf die Spur kamen, ſie bemerkten die Bloͤßen gar nicht, die ich gab, als ich mich etwas zu ſehr gehn ließ, als mich Dein ein - faͤltiges Benehmen in England aufbrachte und eine Krankheit mich verdruͤßlich machte; ſon - dern die Einfaͤltigſten reichten mit ihrem kur - zen Sinne gerade ſo weit, um auf meine Schwaͤche zu treffen. Ich kuͤmmerte mich jetzt wenig um die Geſellſchaft, weil ich fuͤhle, daß ſich mein Tod naͤhert, und ſo iſt ſie jetzt bey - nahe eingegangen.

Hang zum Wunderbaren.

Dieſer war es vorzuͤglich, der die Men - ſchen an mich feſſelte, weil alle etwas Außer - ordentliches von mir erwarteten. Die meiſten Leute glauben uͤber dem Aberglauben erhaben zu ſeyn, und doch iſt nichts leichter, als ſie von neuem zu verwickeln. Es liegt etwas Dun - kles in jeder Bruſt, eine Ahndung, die das447 Herz nach fremden unbekannten Regionen hin - zieht. Dieſen Inſtinkt darf man nur benutzen, um den Menſchen aus ſich ſelbſt und uͤber dieſe Erde zu entruͤcken. Ich fand, daß ich gar nicht noͤthig hatte, feine Sophiſtereyen, oder ſeltſam ſchwaͤrmeriſche und doch vernuͤnftig ſcheinende Ideen zu gebrauchen, die die Auf - klaͤrung und den geſunderen Verſtand nach und nach untergruͤben: der Sprung, den dieſe Men - ſchen immer zu thun ſcheinen, iſt wirklich nur ſcheinbar. Deswegen, weil nichts die Unmoͤg - lichkeit der Wunder beweiſen kann, glaubt jedes Herz in manchen Stunden feſt an dieſe Wunder.

So iſt dieſes ſeltſame Gefuͤhl eine Hand - habe, bey der man bequem die Menſchen er - greifen kann. Ich habe dadurch mehr wirken koͤnnen, als durch das kluͤgſte Betragen. Es war mein Grundſatz, daß wenn man die Men - ſchen betruͤgen wolle, man ja nicht darauf aus - gehn muͤſſe, ſie recht fein zu betruͤgen. Viel Feinheit wuͤrde vorausſetzen, daß die andern auch einen feinen Sinn haben muͤſſen, und dann waͤre ſie angewandt, aber eben dadurch verderben recht viele gute Plane, weil ſie viel448 zu ſehr kalkulirt waren, die nahe, unbeholfene Einfalt tritt dazwiſchen und zerreißt alle Faͤden, die zum leiſen Gefangennehmen dienen ſollten. Wer recht vorſichtig und vernuͤnftig iſt, dem wird auch bey der feinſten Machination der Gedanke nahe liegen, daß man wohl darauf ausgehn koͤnne, ihn zu taͤuſchen, und ſo iſt dieſe Feinheit in jedem Falle verlorne Muͤhe. Das Unwahrſcheinliche und Grobe glauben die Menſchen eben darum am erſten, weil es un - wahrſcheinlich iſt, ſie meinen, es muͤſſe denn doch wohl irgend etwas Wahres dahinterſtecken, weil ſich ja ſonſt kein Kind dadurch wuͤrde hin - tergehn laſſen. Ich habe oft uͤber die weiſen Herren lachen muͤſſen, deren Seele ich im vor - aus ſo gut berechnen konnte, daß der Erfolg auch nicht um einen Gran anders war, als ich mir vorgeſtellt hatte.

Haben die Menſchen in die Wiſſenſchaft des Glaubens erſt Einen Schritt hineingethan, ſo iſt nachher kein Aufhalten mehr; ſie fuͤhlen ſich nun uͤber die aufgeklaͤrten Menſchen erha - ben, ſie glauben uͤber den Verſtand hinwegge - kommen zu ſeyn, und jedes Kindermaͤrchen, jede tolle Fiktion hat ſie jetzt in der Gewalt. Ich449Ich koͤnnte viele laͤcherliche Erfahrungen, die ich hieruͤber gemacht habe, niederſchreiben, wenn es nicht zu weitlaͤuftig waͤre.

Roſa.

Schon fruͤh ſuchte ich einen Schildknappen zu bekommen, der mir immer meine Waffen nachtruͤge, damit ich es um ſo bequemer haͤtte. Jedermann wird, wenn er ſich einige Muͤhe giebt, einen Menſchen antreffen, der es uͤber ſich nimmt, auf die Worte ſeines Meiſters zu ſchwoͤren, ihm jeden Gedanken auf ſeine eigene Weiſe nachzudenken, dieſe dann wie Scheide - muͤnze auszugeben, und ſo den Ruf ſeines Herrn mit ſeinem eigenen zugleich zu verherrli - chen. Man trift allenthalben Menſchen, die nichts ſo gern thun, als ſich an einen andern haͤngen, den ſie fuͤr kluͤger halten. Einen ſolchen Schuͤler ſuchte ich mir aus, der zugleich fuͤr andre Abſichten tauglich waͤre. Ich fand bald einen jungen Menſchen, der bey ſeinen armen Eltern in einer ſehr druͤckenden Lage lebte; er ſchien nicht ohne Kopf, er konnte ſchnell etwas auffaſſen, dachte aber nie weiter,Lovell. 3r. Bd. F f450als es ihm vorgeſchrieben war. Dieſe ſchnelle Langſamkeit ſchien mir gerade zu meinem End - zwecke am dienlichſten. Ich nahm ihn zu mir, und lehrte ihn den Genuß eines freyeren Lebens kennen; er ward nach und nach meine haupt - ſaͤchlichſte Maſchine, denn man darf einem jun - gen lebhaften Menſchen nur die Ausſicht auf ein angenehmes, unthaͤtiges Leben geben, ſo kann man ihn zu allem bewegen. Roſa iſt ein ganz ertraͤglicher Menſch, ſein groͤßter Fehler iſt, daß er ſeinen Leichtſinn fuͤr Verſtand haͤlt; er hat gerade ſoviel Scharfſinn, um einzuſehn, daß er einer Stuͤtze bedarf, an der er ſich feſt - halten kann. Ich konnte ihn recht gut gebrau - chen, nur war er thoͤricht genug, daß er zu - weilen ſeine Auftraͤge zu gut beſorgen wollte. So hatte er den Gedanken, den jungen Valois in unſre Geſellſchaft zu ziehn, um das Ver - moͤgen der Blainville hieher zu bekommen, er hatte ſich mit einem Narren eingelaſſen, der mit ſich ſelbſt nicht fertig werden konnte, noch weniger mit der Welt, und der ſich am Ende erſchießen mußte, um nur irgend einen Schluß, eine Art von vollendeter Handlung in ſeinen Le[b]enslauf zu bringen.

451

Das Gefuͤhl hat dieſer Roſa nie gekannt, eben ſo wenig die eigentliche Denkkraft, er hat immer nur geſprochen, und ſich dabey ganz wohl befunden. Fuͤr ſeine treuen Dienſte habe ich ihm das Gut in Tivoli geſchenkt. Ich haͤtte ihn leicht betruͤgen koͤnnen, aber irgend einem Menſchen muß ich ja doch mein Vermoͤ - gen hinterlaſſen; ich hoffe immer noch, er ſoll es ſehr ſchnell verſchwenden.

Balder.

Mit Dir kam dieſes ſeltſame Geſchoͤpf nach Italien, an das Du anfangs ſehr attachirt warſt. Er war mir wegen ſeiner Originalitaͤt intereſſant. Es war eine ſchoͤne Anlage zur Verruͤcktheit in ihm, um die es ſehr Schade geweſen waͤre, wenn ſie ſich nicht entwickelt haͤtte. Da aber die meiſten Menſchen ſelber nicht wiſſen, was in ihnen ſteckt, ſo nahm ich mir vor, den Funken aus dieſem ſeltſamen Steine herauszuſchlagen. Ich habe immer das Seltſame geliebt, und ſo unterhielt es mich denn, als ich ein paarmal als ein Geſpenſt durch ſeine Stube ging, und er nachher nichtF f 2452begreifen konnte, wo ich geblieben ſey. Ich habe ihn nachher fleißig beobachtet, und ich fand zugleich, daß dieſe Vorfaͤlle meine kuͤnf - tige Bekanntſchaft mit Dir ſehr gut praͤparir - ten. Nachher wurde mir dieſer Menſch gleich - guͤltig und langweilig, weil er ſich immer zu aͤhnlich blieb, und er that recht wohl daran, daß er fortlief.

Herr William Lovell.

Ich muß faſt lachen, indem ich Deinen Namen niederſchreibe und nun von Dir die Rede ſeyn ſoll. Soll ich weitlaͤuftig von Dir ſprechen, der Du faſt Nichts biſt?

Ich hatte Nachrichten von Dir und wußte um Deine Reiſe nach Italien. Roſa kam Dir bis Paris entgegen. Mein alter Haß gegen Deinen Vater wachte jetzt mit Gewalt in mir auf, ich glaubte jetzt die beſte Gelegenheit gefunden zu haben, mich an ihm zu raͤchen. Dich ſelbſt wollt 'ich gegen ihn empoͤren, Du ſollteſt von ihm und von Dir ſelber abfallen, dann wollt' ich Dich zuruͤckſchicken. So ließ ich Dich durch alle Grade gehen, um Dich zu einer ſeltſamen453 Misgeburt zu machen. Du kraͤnkteſt Deinen Vater, und er ſtarb nun weit fruͤher, als ich es geglaubt hatte. Ich fuhr indeſſen mit mei - nen Kuͤnſten fort, weil die Maſchinen einmal in den Gang gebracht waren und ich mich daran gewoͤhnt hatte, Dich als mein gehegtes Wild zu betrachten. Du wirſt hier nicht von mir verlangen, daß ich Dir weitlaͤuftig aus - einanderſetze, auf welche plumpe Art Du Dich hintergehen ließeſt, es wuͤrde Deiner Eitelkeit nur zu wehe thun. Es gelang mir, Dich im - mer in Spannung zu erhalten; ein Zuſtand, der am leichteſten die Vernunft verdunkelt. Jetzt hoͤrte ich, daß der alte Burton geſtorben ſey, und ich ſchickte Dich nun mit Auftraͤgen nach England, die Du ſo ungeſchickt wie ein unwiſſender Knabe ausrichteteſt. Wenn Eduard nicht mehr lebte, und ſeine Schweſter Dir zu - gehoͤrte, oder auch aus dem Wege geſchafft war, ſo hatte ich die naͤchſten Anſpruͤche auf das anſehnliche Vermoͤgen dieſer Familie, Du haͤtteſt dann Deine verlornen Guͤter wieder zu - ruͤckbekommen, und alles waͤre in einem ganz guten Zuſtande geweſen. Weil ich Dir aber damals noch nicht ſagen mochte, daß ich Wa -454 terlao ſey, ſo haſt Du Dich wie ein wilder, unſinniger Menſch in Frankreich und England herumgetrieben, haſt da manches fuͤhlen und ſeltſame Dinge denken wollen, die fuͤr Dich gar nicht gehoͤren. Nun wirſt Du zuruͤck - kommen und Dich ſelbſt daruͤber wundern, daß es nicht ſo gegangen iſt, wie Du es Dir vor - genommen hatteſt.

Du haſt Dich bis jetzt uͤberhaupt fuͤr ein aͤußerſt wunderbares und ſeltenes Weſen gehal - ten, und biſt doch nichts weniger; Du verach - teſt jetzt die Menſchen mit einer gewiſſen Groß - ſprecherey, die Dich ſehr ſchlecht kleidet, weil Du nie im Stande ſeyn wirſt, ſie zu kennen, und wenn Du ſie auch kennſt, ſie zu beurthei - len und in das wahre Verhaͤltniß gegen Dich ſelbſt zu ſtellen. Du haſt Dir ſeit lange eine unbeſchreibliche Muͤhe gegeben, Dich zu aͤndern, und Du bildeſt Dir auch ein, gewaltſame Re - volutionen in Deinem Innern erlitten zu haben, und doch iſt dies alles nur Einbildung. Du biſt immer noch derſelbe Menſch, der Du warſt, Du haſt gar nicht die Faͤhigkeit, Dich zu ver - aͤndern, ſondern Du haſt aus Traͤgheit, Eitel - keit und Nachahmungsſucht manches gethan455 und geſagt, was Dir nicht aus dem Herzen kam. Deine Philoſophie war Eigenſinn, alle Deine Gefuͤhle nichts weiter, als ein ewiger Kampf mit Dir ſelber. Du haͤtteſt ein recht ordentlicher, gewoͤhnlicher einfaͤltiger Menſch werden koͤnnen; auf einem Kupferſtich in einer Waldgegend, neben einer jungen Frau ſitzend, wuͤrdeſt Du Dich ganz gut ausgenommen haben, aber nun haſt Du alles daran gewandt, um ein unzuſammenhaͤngender philoſophiſcher Narr zu werden. Ich bin neugierig, Dich zu ſehn, und ſo magſt Du denn hereinkommen. Wahrhaftig, ich kann aufhoͤren, Dich zu be - ſchreiben, denn da ſtehſt Du ja nun leibhaftig vor mir.

Zum Schluß

Einige Worte uͤber mich ſelbſt.

Und wer bin ich denn? Wer iſt das Weſen, das hier ſo ernſthaft die Feder haͤlt, und nicht muͤde werden kann, Worte nieder - zuſchreiben? Bin ich denn ein ſo großer Thor, daß ich alles fuͤr wahr halte, was ich geſagt habe? Ich kann es von mir ſelbſt nicht glau -456 ben. Ich ſetze mich hin, Wahrheit zu predigen, und weiß am Ende auch nicht, was ich thue. Ich habe mich auch in manchen Stunden fuͤr etwas recht Beſonderes gehalten und was bin ich am Ende? War es nicht ſehr naͤrriſch, mich unaufhoͤrlich mit abentheu - erlichen Spielwerken zu beſchaͤftigen, indeß ich in guter Ruhe haͤtte eſſen und trinken koͤnnen? Ich freute mich ſehr, das Haupt einer gehei - men, unſichtbaren Raͤuberbande zu ſeyn, ein Geſpenſt zu ſpielen, und andre Geſpenſter her - beyzurufen, die ganze Welt zum Narren zu haben, und jetzt faͤllt mir die Frage ein, ob ich mich bey dieſer Bemuͤhung nicht ſelber zum groͤßten Narren gemacht habe. Ich bin vielleicht jetzt ernſthafter als je, und doch moͤchte ich uͤber mich ſelber lachen.

Und daß ich mit ſolcher Gutmuͤthigkeit hier ſitze, und noch kurz vor meinem Tode mich mit Schreiben abquaͤle, um eine jaͤm - merliche Eitelkeit zu befriedigen, iſt gar un - begreiflich und unglaublich. Wer iſt das ſeltſame Ich, das ſich ſo mit mit mir ſelber herumzankt? O, ich will die Feder nieder - legen, und bey Gelegenheit ſterben.

457

27. William Lovell an Roſa.

Was ſagen Sie nun zu Andreas grauſamen Erklaͤrungen? Ich kann manche Stellen gar nicht aus dem Gedaͤchtniſſe verlieren. Wie freute ich mich, als mir eine Woche nach ſei - nem Tode dieſe Papiere uͤberreicht wurden! Ich hoffte nun noch eine Art von Beruhigung zu finden, und eben nun war alles voruͤber.

Hab 'ich mein ganzes Leben nicht verſchleu - dert, um dieſem entſetzlichen Menſchen zu ge - fallen, um ihm naͤher zu kommen? War ſein Umgang, die Hoffnung auf ſeinen Betrug nicht die letzte meines Lebens? Doch, das habe ich Ihnen ja oft genug in meinen Briefen geſagt.

Ich mag gar nicht mehr klagen, denn ſelbſt dazu iſt die Kraft in mir erloſchen. Bianka iſt geſtorben, ich beſuchte ſie einige Tage vor ihrem Tode. Sie geſtand mir, daß ſie ſchon ſeit lange etwas auf dem Herzen habe, das ſie mir entdecken muͤſſe. Sie ſagte mir,458 daß ſie durch Andrea, oder eigentlich Water - lao, bewegt worden ſey, auf einer Maskerade mich zu erſchrecken und die Rolle der Roſaline zu ſpielen. Ich betrachtete ſie genauer, und erſchrak, als ich wirklich eine auffallende Aehn - lichkeit entdeckte; ich konnte es aber immer noch nicht begreifen, daß ich mich ſo haͤtte koͤnnen hintergehn laſſen; um mich voͤllig zu uͤberzeugen, ſchminkte ſie ſich daher etwas, faͤrbte die Augenbraunen dunkler, kaͤmmte die Haare in die Stirn hinein, und ſchlug um den Kopf ein lockeres ſeidnes Tuch. Ich ſchrie laut auf, als ſie ſo wieder zu mir hineintrat; gerade ſo trug ſich Roſaline, und ich weiß jetzt, warum ich mich neulich ſo innerlich ent - ſetzte, als ich Bianka beſuchte. Es iſt aber unbegreiflich, wie Kleinigkeiten im Anzuge die Geſichter veraͤndern koͤnnen. Bianka's matter Blick machte, daß ich ſie in einzelnen Sekun - den fuͤr Roſalinens Geiſt hielt: in der Finſterniß und im Wagen war mein Erſchrecken damals noch viel heftiger, weil mich die Geſtalt noch mehr uͤberraſchte. Bianka ſagte mir nun, daß ſie mich ſchon vor meiner Abreiſe aus Ita - lien gern geſprochen haͤtte, aber ich ſey auf459 ihre dringende Bitte nicht zu ihr gekommen, ſonſt haͤtte ſie mir wahrſcheinlich ſchon damals den ganzen Vorfall erzaͤhlt. An manchen Zufaͤlligkeiten haͤngt oft ein wichtiger Theil un - ſers Lebens! Ich erinnere mich jetzt dieſes Bil - lets, und auch, daß ich aus Traͤgheit nicht zu ihr ging.

Ich habe mir oft im Stillen eingebildet, daß Roſaline noch lebe, und daß ich ſie gewiß einmal wiederſehen wuͤrde. Dieſer Gedanke, ſo ſeltſam es auch klingen mag, hat mich heim - lich in manchen Stunden beruhigt, ich glaubte ſelbſt, daß das Weſen, das im Wagen neben mir geſeſſen hatte, die wirkliche Roſaline gewe - ſen ſey, und nun iſt mir auch dieſe Hoff - nung genommen.

Ich darf wohl kaum noch fragen, wie es denn eigentlich mit der Erſcheinung zuſammen - haͤngt, von der Sie mir einmal ſchrieben?

Bianka wird heute begraben. Ich habe ſie geſehn. Laura hat ſie mit Blumen aufgeputzt, und die Leiche ſieht wieder Roſalinen ſo aͤhn - lich, daß mir ein Schauder durch alle Gebeine ging. Ich habe ſchon oft in den Kirchen vor den mit Gold, Blumen und Baͤndern geſchmuͤck -460 ten Reliquien gezittert: die Skelette mit den Kraͤnzen und ihren entbloͤſten Schaͤdeln, das flimmernde Gold und die einzelnen Blumen, die um die leeren Augenhoͤlen wanken, der glaͤ - ſerne Schrank, alles ſchien mir dann ſo ſelt - ſam und raͤthſelhaft zuſammengeſtellt, mich er - ſchreckte hernach auch in den vollen blonden Locken der Blumenkranz. Und ſo lag Bianka vor mir.

Laura ſaß daneben und weinte. Sie nennt die Geſtorbene unaufhoͤrlich ein gutes, liebes Maͤdchen, und putzt ſich ſo ihren Schmerz auf, und idealiſirt ſich ſelbſt und ihren Zuſtand. Es iſt gut, wenn es die Menſchen noch koͤnnen, denn es iſt noͤthig, ſich ſelber etwas vorzuluͤgen; in mir iſt die Kraft und der Wille dazu er - loſchen.

461

28. Roſa an William Lovell.

Lieber Freund, Andrea's Papiere haben mich vielleicht eben ſo gedemuͤthigt, wie Sie dadurch niedergeſchlagen ſind. Ich kann mir jetzt Ihren Zuſtand recht lebhaft denken, ich fuͤhle mit Ihnen.

Sie ſollten mich nicht an jenen Brief er - innern, in dem ich Ihnen von Andrea's wun - derbaren Doppelheit ſagte; ich ſchaͤme mich, ſo oft ich daran denke. Nicht, daß die ganze Sache eine zu Andrea's Beſten erfundene Luͤge geweſen waͤre, ſondern weil ich mich damals von dieſem Menſchen ganz wie ein Kind behan - deln ließ, ſo daß ich mir gleichſam auf ſeinen Befehl tauſend Dinge einbildete und ſie feſt glaubte. Er fand es fuͤr gut, mich noch fruͤ - her als Sie zu verblenden, weil er allen Men - ſchen nur bis auf einen gewiſſen Punkt traute, er wollte mich nicht ganz zu ſeinem eigentlichen Vertrauten machen, weil es denn doch immer462 in meiner Willkuͤhr ſtand, ihn zu verrathen: es war ihm nicht genug, daß ich ihm verbun - den war, er machte es mir unmoͤglich. Ich war zwar uͤber ſeinen Charakter ungewiß, er kam mir aber doch nie ſo nahe, daß ich irgend eine beſtimmte Idee uͤber ihn haͤtte bekommen koͤnnen: ſeine Klugheit beſtand hauptſaͤchlich darinn, daß er alle Gelegenheiten vermied, um naͤher gekannt zu werden, er verlor ſich darum ſo gern in allgemeine Ideen und große Tiraden, um die Aufmerkſamkeit zuweilen von ſich ſelber abzulenken.

Er erhielt mich hier in Tivoli, als er mich beſuchte, in einer ſteten Spannung, alle unſre Geſpraͤche drehten ſich um die wunder - bare Welt, und es koſtete ihm wenig, meine Phantaſie zu erhitzen, denn Sie wiſſen es ſelbſt, in welchem hohen Grade er die Gabe der Dar - ſtellung beſaß. Ich konnte den Wunſch in mir nicht unterdruͤcken, recht wunderbare Erfahrun - gen zu machen, und wenn man dieſen Wunſch recht lebhaft hat, ſo koͤmmt man in Gefahr, dieſe ſeltſamen Erfahrungen auch wirklich anzu - treffen. Die Phantaſie iſt fuͤr jeden Eindruck empfaͤnglicher, und der Verſtand iſt bereit, ſich463 unterdruͤcken zu laſſen. Das Schlimmſte dabey aber iſt eine gewiſſe dunkle, gefaͤhrliche Eitel - keit, die uns mit der Phantaſie im Bunde leicht fuͤr das Gewoͤhnliche etwas Abentheuer - liches unterſchiebt, damit wir nur nicht verge - bens hoffen duͤrfen. So erging es mir in jener Nacht. Andrea ging zur Stadt zuruͤck, und ich war immer noch voll von den ſeltſamen Geſchichten und Ideen, die er mir mitgetheilt hatte, ich verirrte mich, und meine Bangigkeit nahm mit der Finſterniß zu. Endlich traf ich auf jene Menſchen. Der eine, der mich bis an's Thor brachte, hatte ein etwas ſeltſames Geſicht, allein erſt nachher, als mich Andrea ſchon wiedergefunden hatte, fiel es mir ein, daß jener ihm entfernt aͤhnlich ſehe, ja viel - leicht dacht 'ich nur, daß es intereſſant waͤre, wenn er ihm aͤhnlich geſehn haͤtte. So ſtellte meine Phantaſie das Bild zuſammen, und nach einer halben Stunde glaubte ich es ſelbſt, und entſetzte mich[davor]. Auf die Art entſtand jener Brief, und ich war dabey ſelbſt von allem uͤberzeugt, was ich niederſchrieb. Die Phan - taſie hintergeht uns im gewoͤhnlichen Leben oft auf eine aͤhnliche Art, indem ſie uns ihre Ge -464 dichte fuͤr Wahrheit unterſchiebt, am erſten aber dann, wenn wir in einer wunderbaren Spannung leben. Die Luͤgen, die wir uns ſelbſt vorſagen, ſind im Grunde eben ſo unverzeihlich, als die, womit wir andere hintergehn.

465

22. William Lovell an Roſa.

Wie wahr iſt Ihr Brief, und wie ſchlimm iſt's, daß es mit dem Menſchen ſo beſtellt iſt, daß er wahr iſt! O wenn ich doch meine verlornen Jahre von der Zeit zuruͤckkaufen koͤnnte! Ich ſehe jetzt erſt ein, was ich bin und was ich ſeyn koͤnnte. Seit langer Zeit hab 'ich mich beſtrebt, das Fremdartige, Fern - liegende zu meinem Eigenthume zu machen, und uͤber dieſer Bemuͤhung habe ich mich ſelbſt verloren. Es war nicht meine Beſtimmung, die Menſchen kennen zu lernen und ſie zu mei - ſtern, ich ging uͤber ein Studium zu Grunde, das die hoͤheren Geiſter nur noch mehr erhebt. Ich haͤtte mich daran gewoͤhnen ſollen, auch in Thorheiten und Albernheiten das Gute zu fin - den, nicht ſcharf zu tadeln und zu verachten, ſondern mich ſelbſt zu beſſern.

War es mir wohl in meiner Verworfen - heit vergoͤnnt, ſo uͤber die Menſchen zu ſpre -Lovell. 3r Bd. G g466chen? O Amalie! dein heiliger Name macht, daß ich Thraͤnen vergieße. Haͤtte mich Dein ſchuͤtzender Genius nie verlaſſen! Wie gluͤck - lich haͤtt 'ich werden koͤnnen!

Was iſt alles Gruͤbeln und Traͤumen, was alle Freygeiſterey? Luxus und Verſchwendung, bey denen der arme menſchliche Geiſt am Ende darben muß. Ich koͤnnte jetzt in ein Kloſter gehn, ich koͤnnte mich in eine Einſiedeley ver - graben.

467

30. Roſa an William Lovell.

Lieber Lovell, Sie ſollen einſehn, daß ſowohl Andrea als Sie ſich in mir geirrt haben. Ich denke mein Vermoͤgen nicht zu verſchwenden, ſondern auf eine angenehme Weiſe zu genießen, und zwar in Ihrer Geſellſchaft. Sie ſtehn jetzt einſam und verlaſſen in der Welt; kommen Sie zu mir nach Tivoli, hier iſt Raum fuͤr uns beyde, und in einer ſchoͤnen Einſamkeit wird Ihr kranker Geiſt vielleicht etwas wieder hergeſtellt. Denken Sie nicht mehr an meinen unmenſchlichen Brief, den Sie in Paris erhiel - ten, damals war ich gezwungen, ſo zu ſchrei - ben, weil Andrea noch lebte, jetzt aber kann ich nach meinem eignen, beſſern Willen handeln.

Wir ſind durch Andrea kluͤger gemacht, und ſo mag denn ſeine truͤbe, hyperphyſiſche Weisheit fahren! Wir wollen das Leben friſch und ſinnlich genießen und uns um gar nichts anders kuͤmmern. Ich habe eine rechte Sehn -G g 2468ſucht nach Ihnen, kommen Sie ja recht bald. Ich habe hier ſchon alles fuͤr Ihren Aufenthalt eingerichtet: wir wollen, denk 'ich, das Ver - ſaͤumte im Leben wieder einholen. Sie ſollen jetzt erfahren, wie ſehr ich Ihr Freund gewe - ſen bin, ſeit ich Sie kenne, und wie ſehr mich oft die Rolle gedemuͤthigt hat, die ich an Ihrer Seite ſpielen mußte. Ich erwarte Sie alſo in einigen Tagen.

469

31. William Lovell an Roſa.

Ja, Roſa, ich nehme Ihren Vorſchlag an, ich komme zu Ihnen, aber nicht um von neuem ein wildes und unſtetes Leben zu begin - nen, ſondern mich ganz einer dunkeln, traͤume - vollen Einſamkeit zu uͤberlaſſen. Wie troͤ - ſtet mich der Gedanke, dort in Tivoli bey Ihnen zu wohnen! Ich will Ihren Garten bauen, bald auf der Anhoͤhe uͤber die Wieſen und Felder hinſehn, bald mich im tiefen Grunde verlieren und immer an Vergangenheit und Zukunft denken. Was ich an den Menſchen verbrochen habe, will ich durch Sorgfalt an Blumen und Baͤumen wieder abbuͤßen. Wie ein ſchwacher Regenbogen in Gewitterwolken, ſo ſteigt die Ausſicht meines kuͤnftigen Lebens empor: ich glaube, ich koͤnnte dort manches vergeſſen, und in einem tiefen Traume meine vorigen unruhigen Traͤume begraben. Es iſt470 mir, als koͤnnte ich mich freuen, als wuͤrde ich wieder wohl und geſund werden.

Mir faͤllt ein altes Lied ein, das mir einſt in England ein guter Freund uͤberſetzte. Es iſt ein Indianiſches Fruͤhlingslied:

Der Frühling kömmt!
Die Wolken fliehn,
Der Himmel glänzt.
Der Frühling kömmt!
Und Regenbogen
Sind ſeines Wagens
Gleitende Räder.
Blumengekränzt,
In Sonnenſtrahlen,
Schwebt unter ſäuſelnden Winden,
Nieder der Gott.
Tauſend Blumen bekränzen ſein Haupt,
Tauſend Blumen umflechten
Sein blaues Gewand.
Er lächelt,
Aus goldenen Locken,
Vom blauen Gewande,
Fließen zur Erde die Blumen hinab
Es blüht die Flur,
Es grünt der Hain,
Und jeder Zweig
Rauſcht ſüßen Genuß
Dem Frühlingsgotte.
471
Wonnegeſang,
Wonnegeſang,
Rauſcht durch den Palmenhain!
Durch die blühenden Bäume
Säuſelt der Weſt,
Mit den Blüthen ſcherzend.
Da ſchüttelt er Blüthen
Und duftende Blumen,
Auf den grünen Raſen.
Wenn Mondſchein ſie küßt,
Wenn Thau ſie tränkt,
Mondſchein des Frühlings,
Frühlingsthau,
Entſchweben ihnen
Mit leiſem Fluge,
Schöne blaue Schmetterlinge.
In den Blüthen der rauſchenden Bäume,
Unter den Blumen der duftenden Wieſe,
Flattern und ſchwärmen ſie hier und bald dort:
Sie ſuchen die Schweſtern,
Sie ſuchen die Brüder,
In Blüthen und Blumen,
Und küſſen ſie alle.
Haben ſie die Zwillingskinder aufgefunden,
Niſten ſie ſich in dem väterlichen Baum ein,
Bergen ſich in Blüthen oder Blumen,
An der ſüßen Wiederkennung ſterbend.
472

Ja, ich komme bald zu Dir, lieber Roſa. Warum ſollt 'es nicht moͤglich ſeyn, daß die quaͤlenden Geiſter endlich wieder von mir wichen und ich freyer athmete? O wohl dem, der, wie dieſe blauen Schmetterlinge, in der Heimath, zu ſeinen kindlichen Gefuͤhlen wieder zuruͤckeilend, leben und ſterben kann.

Ich will die Welt vergeſſen und ganz von ihr vergeſſen werden. An den einſamſten Plaͤz - zen will ich mir heilige Denkmale errichten, eins fuͤr Amalien, eins fuͤr meinen Vater, ein andres fuͤr Eduard; in einiger Entfernung von ihnen ſoll auch Roſaline ein Andenken bekommen. Dort will ich mich dann der ſtillen Betrachtung und meinen Empfindungen weihen; ich will mir einen ſchoͤnen Gottes - dienſt errichten, und ſo mein Herz wieder rei - nigen. Ich will auf das Rauſchen der Baͤume und Geſtraͤuche ſehen, und mir einbilden, daß ſie zu mir ſprechen: ich will dort wieder zum Kinde werden! Ich hoffe, daß es moͤg - lich iſt. Lebe recht wohl, ſehr bald ſeh 'ich Dich ſelbſt.

473

O ich muß eilen, zu Ihnen zu kommen, ſonſt iſt alles vergebens. Karl Wilmont iſt hier in Rom; ich glaube, er hat mich geſehn. Ich komme ſo ſchnell als moͤglich.

474

32. Karl Wilmont an Mortimer.

Es iſt geſchehn: wir ſind beyde zur Ruhe, er und ich. Von Lovell iſt die Rede. Ich fand ihn in Rom; er erſchrak, als er mich erblickte, und ſuchte ſich ſeit der Zeit vor mir zu ver - bergen. Ich gab immer Acht auf ihn, und traf ihn am folgenden Morgen ganz fruͤh auf der Straße. Er konnte mir nun nicht entrin - nen; er mußte mir folgen.

Ich hatte zwey Piſtolen bey mir; er war ganz ſtill und in ſich verſchloſſen. Wir gingen durch die Porta Capena und von da durch die Ruinen. Er ſchien faſt ganz außer ſich zu ſeyn, denn er ſprach fuͤr ſich mehr verwirrte Reden aus. Wir kamen vor einem kleinen Hauſe vorbey, er ſtand lange ſtill und ſah in das Fenſter hinein, bis ich ungeduldig wurde und ihn weiter trieb. Er ſah auf, brach aus475 einem kleinen nebenliegenden Garten eine Malve ab, und rief mit Verwundrung aus: die Malven bluͤhen ſchon wieder! Dann hef - tete er die Blume auf ſeine Bruſt und ſagte, daß ich nun ſein Herz nicht verfehlen koͤnne.

Wir waren jetzt von der Landſtraße ent - fernt genug. Wir maßen unſre Plaͤtze; er nahm eine Piſtole. Nachdem er ſich noch eini - gemal umgeſehn hatte, druͤckte er los und verfehlte mich: ich ſchoß, und die Blume und ſeine Bruſt waren zerſchmettert. Er war ſchon todt, als ich hinzukam. Ich eilte nach Neapel.

Und jetzt bin ich mit mir unzufrieden. Es iſt mir unbegreiflich, wie das rohe Ge - fuͤhl der Rache mich ſo bezaubern konnte, daß er mich nicht ruͤhrte. Konnt 'ich ihm nicht dies aͤrmliche Leben laſſen, da er außer dieſem vielleicht ſo nicht viel beſeſſen hat? Was iſt mir und Emilien nun damit geholfen, daß er die Luft nicht mehr einathmet? Jetzt iſt es mir undenklich, wie ich ſo handeln konnte. Ach, welch ein armſeeliges Geſchoͤpf iſt der Menſch! Was iſt all ſein Thun und Denken?

Adieu! Ich fahre von hier nach Ame -476 rika. Der Krieg lockt mich dahin; es wird in der Engliſchen Armee wohl eine Stelle fuͤr einen Lebensſatten uͤbrig ſeyn, der ſich dann wenigſtens noch einbilden kann, zum Beſten ſeines Vaterlandes zu ſterben. Gruͤße meine Schweſter und Eduard.

Ende.

About this transcription

TextWilliam Lovell
Author Ludwig Tieck
Extent486 images; 66573 tokens; 8904 types; 439990 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationWilliam Lovell Dritter Band Ludwig Tieck. . 476 S. NicolaiBerlinLeipzig1796.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Yw 3891-3<a> Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=450922537

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LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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